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SCHOOL
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Untersuchungen
Deutschen Staats- und Rechtsgeschichte
herausgegeben
Dr. Otto Gierke,
Professor der Rechte an der Universität Berlin.
XXX.
Der deutsche Reichstag unter König Sigmund
bis zmn Ende der Reichskriege gegen die Hussiten.
1410—1431.
Von
Heinrich W endt,
Dr. phil.
Breslau.
Verlag von Wilhelm Koebner.
1889.
Oö
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Der
Deutsche Reichstag
unter König Sigmund
bis zum Ende der Reicbskriege gegen die Hnssiten.
1410- 1431.
Von
Heinrich Wendt,
Dr. phil
Breslau.
Verlag von Wilhelm Koebner.
1889.
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Inhalts -Verzeichnis.
Seite.
Einleitung
... 1—
6
Capitel 1: Berufung
... 6-
30
Berufung durch den König
6
Berufung durch die Kurfürsten
7
Berufung durch Fremde
10
Der Reichstag beschliesst einen neuen
12
Ausdehnung der Berufung
13
Form der Ladeschreiben
15
Berufungsfristen
16
Übermittelung der Ladeschreiben
17
Erfolg der Ladung
19
Entschuldigungen
20
Unentschuldigtes Ausbleiben
20
Geleite
21
Ort der Reichstage
25
Zeit der Reichstage
30
Capitel 2: Zusammensetzung
. . . 30—
46
T«iln«.hmA 3A
Teilnahme in Person oder durch Vertreter ...
31
Vollmachten
32
Faktische Teilnahme
a) Der König
33
b) Die Kurfürsten
37
c) Die übrigen Stände
40
d) Fremde
43
e) Vertreter der Curie
44
Capitel 3: Formen der Verhandlung
. . . 46— 49
Vorsitz
46
Eröffnung
49
Vorlagen
49
Beratungen
50
Ausschüsse
55
Beschlüsse
58
Bindende Kraft derselben . , , . , . . , .
1448.TG
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Suite
Capltel 4: Genenst&nde der Verhandlung 59 1011
Verpflichtung des Königs zur Befragung der Stände . . 5!)
Landfrieden . . . . . . . . „ . fü
Zoll- und Mttnzweaen 22
Pfahlbürger 73
Rechtspflege 75
Lehnsweseii 8Ü
Reichsvikariat und Feldhanptmannschaft SO
Kriegerische Maasnahmen 86
Das Reichskriegssteuergesetz von 1427 9ö
Romzüge 106
Sonstige auswärtige Beziehungen 107
Capltel 5: Ausfertigung und Ausführung der Beschlüsse . . . 109—117
Ausfertigung durch den König oder seine Vertreter . . . . 109
Kreis der benachrichtigten Stände 112
Inhalt der Ausfertigungen 113
Strafbestimmungen : 113
Entachuldi gungen 115
Ausführung der Beschlüsse 115
Capltel 6: Die Stellung der einzelnen Stände unter Sifllsmund . 117—138
Die Kurfürsten 1 17
Die Fürsten 132.
Die Ritterschaft, . . . . . . . . . . . . . . . . 132
Die Städte . „ . . „ . . . . . . . . . . . . IM
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Einleitung.
(
Die Geschichte des deutschen Reichstages ist in neuerer
Zeit mehrfach einer eingehenden Untersuchung unterzogen wor-
den. In drei monographischen Darstellungen ') liegt, abgesehen
von den allgemeinen Ausführungen der rechts- und verfassungs-
geschichtlichen Werke, die Entwicklung des deutschen Reichs-
tages vom Aufkommen der sächsischen Kaiser bis zum Tode
Karls IV vor uns. Das Jahr 1378 bot für die letzte dieser
drei Arbeiten einen natürlichen Schlusspunkt, da mit diesem
Jahre das Einsetzen der „Deutschen Reichstagakten“ eine gänz-
lich verschiedene Behandlung des Gegenstandes ermöglicht und
erfordert. Einmal gilt es, dem Anwachsen des Materials gegen-
über, die Betrachtung auf kleinere Perioden zu beschränken;
dann aber macht innerhalb dieser die Reichhaltigkeit und gründ-
liche Sichtung des gebotenen Stoffes eine ungleich sorgfältigere
Berücksichtigung der gleichzeitigen politischen Verhältnisse,
welche die Darstellung früherer Zeitabschnitte ablehnen musste,
zur angenehmen Pflicht.
Nicht nur als Verfassungsinstitut, nein auch als Gradmesser
der politischen Bewegungen und Bestrebungen, als Ausdruck
des jeweiligen Überwiegens eines oder des andern der grossen
Componenten des Reichskörpers kann uns jetzt der Reichstag bei
eingehender Betrachtung erscheinen.
') Guba nI)cr Reichstag unter den sächsischen und fränkischen Kaisern.“
Wacker „Der Reichstag unteT den Hohenstauffen“ in „Historische Stu-
dien“ Heft VI Leipzig 1883. — Ehrenberg „Der deutsche Reichstag in den
Jahren 1278 — 1378“ in „Historische Studien“ Heft IX. Leipzig 1888.
Wen dt, Der deutliche Reichstag unter König Sigmund. 1
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2
Für nachstehenden Versuch, dem die Verwertung eines
Teils des in den Reichstagsakten gebotenen Materials als Ziel
vorschwebt, musste die Versuchung naheliegen, au die früheren
Arbeiten anschliessend, den Regierungsantritt Wenzels: 1376
oder 78 als Ausgangspunkt zu wählen. — Ist dies nicht ge-
schehen, beschränkt sich vielmehr unsere mit Sigmunds Wahl
einsetzende Betrachtung für die Zeiten Wenzels und Ruprechts
auf gelegentliche Hinweise, so war der Grund der, dass von
den oben angedeuteten Gesichtspunkten aus der deutsche Reichs-
tag unter Sigmund die grösste Beachtung verdient, ja, das Ver-
ständnis der ganzen folgenden reichsgeschichtlichen Entwicklung,
besonders der grossen Reformbestrebungen unter Friedrich III
und Maximilian von einer Beleuchtung der Reichs- und nicht
zum mindesten der Reichstagsverfassung unter Sigmund auszn-
gehen hat.
Zwei Elemente sind es vor allem, welche dem Strome der
reichsgeschichtlicheu Entwicklung — zwar nicht erst die Rich-
tung, wohl aber die beschleunigte, alles mit elementarer Gewalt
fortreissende Bewegung geben : Sigmunds Weltstellung und seine
Persönlichkeit.
Die Abkehr der Einzelkräfte vom Reichsganzen war eiu
herrschender Zug der Zeit, uud es wäre Torheit, diesen oder
jenen Regenten ausschliesslich dafür verantwortlich machen zu
wollen. Wenn aber ein Fürst den Thron bestieg, nicht um in
zielbewusster, andauernder Thätigkeit im Reiche und für das
Reich noch einmal die Fülle der Machtmittel: wenn nicht zu-
sammeuzufassen zum Heile des Ganzen, so doch ihre Divergenz
möglichst zu hemmen, die Fülle der Conflikte, welche diese
kräftig emporstrebenden territorialen Einzelexistenzen hervor-
rufen mussten, nach Möglichkeit auszugleichen, — sondern um
seine fremden Kronen mit dem, freilich schon verblassten Schim-
mer des römischen Königtums deutscher Nation zu verklären,
dann war an ein Aufhalten, an die Verlangsamung des Auf-
lösungsprocesses nicht mehr zu denken.
Nicht, als hätte es Sigmund unbedingt an Fähigkeit oder
gutem Willen gefelilt. So oft wir ihn in die deutschen Ver-
hältnisse eingreifen sehen, zeigt er die besten Absichten, nicht
selten sogar die klarste Einsicht dessen, was, wie wir jetzt
rückwärts schauend dekretieren können, dem Reiche am meisten
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3
Not tliat. Aber die Basis seiner Macht lag ausserhalb Deutsch-
lands. Es war eben des Reiches Verhängnis , dass die Hilfsquellen
eines Reichsfürsten, der wirklich in deutschen Interessen lebte
und webte, zur Geltendmachung der berechtigten Ansprüche des
Königs und des Reiches nicht mehr ausreichten, dass ferner,
und dies trifft wohl deu Kern der Sache, gerade die Stellung
eines solchen Königs im Reiche, bei jedem Ansprüche, jedem
Lebenszeichen der oberherrlichen Gewalt eine Fülle verletzter
oder nur bedrohter Interessen zum Bunde gegen die Centralge-
walt zusammenrief. Kaum hat man Wenzel, den „ Ent gliederet-
des Reiches“ wegen Versäumung seiner königlichen Pflichten
entsetzt, da bedroht der Marbacher Bund Ruprecht, weil er des
Reiches Stände „von ihren Rechten dringe, “ l) und so bildet
das Reichsfürstentum auf dem Throne, die „durch guten Willen
nur um so trauriger beleuchtete Ohnmacht“ *) König Ruprechts
nur eine spurlos vorübergehende Episode der Reichsgeschichte.
Aber wenn man im Jahre 1410 wieder einen Luxemburger
wählte und zwar den, dessen Machtsphäre und Interessenkreis
noch mehr als die Wenzels dem Reiche ferulagen, mussten sich da
nicht alle die unter diesem gemachten Erfahrungen wiederholen ?
Musste es nicht schliesslich wieder infolge der Teilnahmlosig-
keit des Königs zur Selbsthilfe des Reichs kommen?
Wohl kam es während der Regierung Sigmunds zur Selbst hilfe,
aber in andererWeise. Wir hören wohl davon, dass man Sigmunds
Absetzung plante und erwog, nicht aber, dass man sie that-
sächlich durchzuführen suchte. Einmal ward dies verhindert
durch die stete Hussitengefahr, dann aber auch durch das Be-
wusstsein, dass man es hier doch mit einer bedeutenden, keines
nachhaltigen Wirkens aber gewaltiger Anläufe und grosser
augenblicklicher Kraftentfaltung fähigen Natur zu thuen habe,
die zum änssersten zu treiben nicht geraten war. Andrerseits
musste, wenn der König, wie nur zu oft, den äusseren und
inneren Nöten und Beschwerden des Reiches nicht anders als
mit papierenen Entschlüssen und Willensäusserungen beizukom-
men verstand, wenn ihn die Pflicht gegen sein ungarisches Reich,
*) Waizsäckcr in „Deutsche Reicht agsakten' (künftig citiert: RTA).
Bd. V S. 712.
•) Caro „Das Bündnis von l'anterbury“ S. 53.
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4
seine italienische, polnische, nordische, englische Politik mit den
Reichsinteressen nicht selten in Widerspruch brachte. — dann
musste Deutschland sich selber helfen, statt durch Entsetzung
des Königs : durch oligarchische Zusammenfassung der zum An-
teil an der Reichsleitung durch Recht oder Macht vornehmlich
berufen erscheinenden Potenzen.
Die Entstehungszeit der eigentlichen kurfürstlichen Oli-
garchie sind die letzten Jahre Wenzels, aber ihre Ausbildung
fällt in die Zeiten Sigmunds, besonders in die zweite Periode seiner
Regierung, als Deutschland von zahllosen inneren Wirren zer-
rissen war, die Hussitengefahr immer lauter, immer betäuben-
der an die Tore des Reiches pochte und der König — in Un-
garn die Türken bekämpfte und dabei grossen Weltherrschafts-
plänen nachhing.
Noch eine zweite bedeutungsvolle Erscheinung können wir,
zwar auch nicht ihrem Ursprünge, wohl aber ihrer weiteren
Ausgestaltung, ihrem deutlichen Hervortreten nach in Sigmunds
Zeit verlegen: Die Städte, diese Träger der specifisch wirt-
schaftlichen Richtung im mittelalterlichen Leben, erlangen eine
materielle Macht, welche sie immer mehr zu einem wichtigen,
auf manchen Gebieten sogar ausschlaggebenden Faktor des
Reichslebens macht. Die Städtekriege lehrten, sie fürchten —
die Hussitenkämpfe, sie bedürfen.
Mehr als dass es einer der vornehmsten Artikel im Staats-
katechismus Sigmunds war, mit den Städten zu liebäugeln, um
ihr „gutes Zutrauen“ zu werben , was ihn freilich nicht
hinderte, gegebenen Falles seine guten Freunde deren adligen
Gegnern preiszugeben, — mehr als alle reiclisstädtische Politik
Sigmunds, sprunghaft und unstät, wie sie war, führte die Not
der Hussitenkriege die Städte der vollen Reichsstandschaft
nahe. Höfler1) hat dies zuerst richtig erkannt, indem er zu-
gleich die Verdienste Bertholds v. Henneberg um die Stellung
der Städte auf den Reichstagen auf ihr gebührendes Mass zu-
rückführte. v. Bezold*) belegt diese Auffassung des weiteren ;
*) „Gelehrte Anzeigen der kgl. bayr. Akademie der Wissenschaften,“ Bd.
32 S. 555 ff.; besprochen von Kcusscn „Die politische Stellung der Reichsstädte
mit besonderer Berücksichtigung ihrer Reichsstandschaft unter Kg. Friedrich III
1440—57“ Bonn 1885 (Berliner Diss.).
’) „König Sigmund und die Reichskriege gegen die Husiten.“
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5
neuere Bearbeiter1) haben Höflers Aufstellungen bestätigt und
erweitert. Hätten die Städte damals die volle Reichsstandschaft
angestrebt, — wir werden beweisen müssen, dass und 'warum
dies nicht der Fall war — , so musste es ihnen glücken, jetzt,
wo man ihrer bedurfte, wo eine entschiedene, aufopfernde Mit- _
Wirkung ihrerseits für die Aufgaben des Reichsganzen Aussicht
auf Erfolg bot, die Teilnahme am Reichsregiment im weiten
und weitesten Sinne des Wortes zu erringen. — Ausbildung der
kurfürstlichen Oligarchie, steigende Bedeutung der Städte für
das Reichsleben: beiden Erscheinungen ist von einer Betrach-
tung der Reichstage unter Sigmund aus nachzugehen.
Erscheint nach dem Gesagten die Beschränkung auf die
vorliegende Periode zulässig, so genügt es, noch kurz den Be-
griff des Reichstages, wie er im Nachstehenden gefasst werden
soll, zu berühren. Praktisch wird sich diese Arbeit, wie dem
Material nach, so auch dem Sprachgebrauehe der Reichstags-
akten2) anschliessen. Theoretisch ist von den drei geltenden
Kriterien 3) : Königliche Berufung — Allgemeinheit der Betei-
ligung — Bedeutung der verhandelten Gegenstände — , welche
auch als Einteilungsprincip gedient haben, auszugehen, wenn auch
diese Merkmale für die Definition bald zu eng, bald zu weit
sein mögen.
Am wenigsten kann für unsere Zeit das Kriterium der
königlichen Berufung ansreichen. Wir kennen Tage, welchen
Zahl und Rang ihrer Besucher, die Wichtigkeit ihrer Tagesord-
nung wie ihrer wirklichen Ergebnisse den Rang von Reichs-
tagen unzweifelhaft zuweisen, ohne dass wir von einer könig-
lichen Berufung wüssten.4) Der umgekehrte Fall, dass ein Tag
*) Keussen 1. c. — Gothein „Der gemeiner Pfennig auf dem Reichstage
von Worms“ 1877 Breslauer Diss.
*) fcstgcstellt und begründet durch Waizsäcker RTA 1, S. LIII ff.
') vgl. Ehrenberg 1. c., 3.
4) So bei dem Reichstage von Frankfurt Nov. u. Dcc. 1427, den Kerlcr
selbst, mit übrigens sehr berechtigter Inconscquenz, trotzdem nicht der Kiinig,
sondern der pästlicho Legat, Cardinal Heinrich ihn berufen hat (RTA IX,
59) als „Reichstag“ statt als „Tag des Cardinallegaten“ bezeichnet. Auf dem
Reichstage selbst handelt der Cardinal allerdings mit Autorisation des Königs
(vgl. dessen Schreiben vom 27. Sejit. 1427: RTA IX 61), aber die Berufung
des Reichstages vom 21. Sept. d. J. geht ohne Beteiligung des Königs nur
vom Cardinal unter Mitwirkung der Stände aus.
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6
trotz königlicher Berufung, ja trotz königlicher Anwesenheit ent-
weder gar nicht zu Staude kommt oder in Folge zu schwacher Be-
teiligung zu weiterer Thätigkeit als eigentlicher „Reichstag“ nicht
gelangt, ist natürlich ebenso häufig. — Nur wenig zuverlässiger
ist als Merkmal die Allgemeinheit der Beteiligung. Siehtman
selbst von dem Norden und Osten des Reiches ab, so ist auch
in den Landen um Rhein und Donau: dem eigentlichen Kern des
Reiches, die Teilnahme an den Angelegenheiten desselben viel
zu nngleichmässig, um eine sichere Basis zu bilden. — Ebenso
bietet die Bedeutung der auf den Tagen verhandelten Gegen-
stände und ihr Charakter als „Reichsangelegenheiten“ nur rela-
tive Sicherheit. Huldigungen, Belehnungeu, Beilegung von
Händeln, besonders unter bedeutenden Ständen, siud doch ge-
wiss Reichsangelegenheiten, doch werden sie von Waizsäcker,1)
und zwar jedenfalls mit Recht, von der Aufnahme in die
„Reichstagsakten“ ausgeschlossen.
Keinesfalls wird eines dieser Merkmale für sich, höchstens
eine gleichmässig abwägende Berücksichtigung ihrer aller be-
rechtigen, den oder jenen Tag als Reichstag in Anspruch zu
nehmen oder nicht zu berücksichtigen.
Capitel I.
Berufung.
Die Berufung der Reichsversammlungen ist ein altes könig-
liches Recht.*) Wird es auch während unserer Periode im
Princip nicht angetastet, so ist es doch nur eine notwendige
Folge der ansserdeutschen Stellung Sigismunds und seiner Ab-
kehr vom Reiche, wenn die Berufung mit oder ohne seinen
Willen in andere Hände übergeht. Für uns haben diejenigen
derartigen Fälle die grösste Bedeutung, in denen die königliche
Genehmigung nicht anzunehmen oder wenigstens nicht nach-
zuweisen ist.
') RTA I, S. LV.
*) Wacker 1. c, t) — Ehrenberg l. c. ö.
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7
Die Aktion gegen Wenzel hatte seinerzeit nach einigen
Vorläufern mit der Berufung eines Tages nach Frankfurt
für Mai 1397 begonnen. Der König sollte geladen werden,
falls er aber ansbliebe, der Tag auch ohne ihn vor sich gehen.1)
Natürlich hatte Wenzel gegen dieses Verfahren sogleich pro-
testiert, sich übrigens dadurch aus der Schlinge zn ziehen ge-
sucht. dass er einen Bevollmächtigten wenigstens au die Stadt
Frankfurt sandte.*) Auf dem Tage zu Frankfurt Mai-Juni
1400 betont Wenzels Botschaft gegenüber der kurfürstlichen
Initiative durchaus, freilich fruchtlos, seine königlichen Rechte.
Es erscheint durchaus als eine Anmassung, ein revolutionäres
Verfahren, wenn die Kurfürsten auf eigene Faust Reichsver-
sammlnngen ansschreiben. Die Städteboten erklären zwar auf
den eben erwähnten Protest der Gesandten Wenzels: Die
Fürsten hätten von Alters, „als auch gewonheide hie were“
die Städte zu sich beschieden, und diese müssten Folge
leisten*) — aber diese absichtliche Verwechselung von gelegent-
lichen lokalen und provinziellen Zusammenkünften mit allge-
meinen Reichsversammlungen ist offenbar.
Die erste Ausnahme von der königlichen Berufung unter
Sigismund finden wir, abgesehen von der Ladung des Erz-
bischofs von Trier zum Aachener Krönungstage 1414*) in den
vom Kurfürsten Friedrich von Brandenburg als Reichsverweser
berufenen Tagen von 1419.*) Hier liegt indessen nichts vor, als
einfach eine Vertretung des Königs durch seinen Reichsvikar.
Das erste Mal, wo sich die Kurfürsten als solche,
zunächst allerdings noch neben königlicher Berufung an
die Stände wenden, bezeichnet der Erlass vom Bopparder
Tage 2. März 1421.') Vermöge ihrer kurfürstlichen Stel-
lung, nicht als Beauftragte des Königs, verstärken sie
das königliche Gebot der Kriegshilfe gegen die Hussiten
») RTA II nro 251 (Vgl. S. 418 Z. 17 ff.).
') 1. c. n, 270.
*) 1. c. UI, 140 (S. 188 Z. 6 — 9).
4) Erzbischof Werner v. Trier an Strassbtirg 1. c. VII, 163. — Vcrgl.
dazu 8. 235 (Einleitung zum Kriinungstagc unter A).
5) Zuganimengestellt 1. c. Vn S. 303 ff. (Einleitung zum Constanzer
Reichstage April-Mai 1417 unter H).
*) 1. e. VUI nro 8 (vgl. S. 2).
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8
und fragen, ob die Adressaten gewillt seien, den vom Könige
auf den 13. April 1421 nach Nürnberg berufenen Reichstag zu
besuchen. Den also apostrophierten Ständen muss diese An-
frage etwas seltsam erschienen sein. Basels Antwort vom 24.
März 1421 ‘) verweist gegenüber der Mahnung zur Kriegshilfe
auf die Gesandtschaft, welche seitens der Stadt laut königlicher
Berufung in Nürnberg sich einfinden werde. Die Stadt muss
aber gefürchtet haben, mit diesem Hinweise anzustossen, denn
sie beeilt sich, hinzuzufügen : auch ohne königliche Aufforderung
würde sie dem Begehren des Kurfürsten gewillfahrt haben.*)
Mochten es die Kurfürsten beabsichtigt haben oder nicht:
die vorsichtigen Städter fühlten sofort den Gegensatz zwischen
ihrer Aufforderung und der des Königs heraus.
Seine Räte vertreten Sigmund bei den Mahnschreiben an
städtische Gesandte, welche aus Ungeduld über das Ausbleiben des
Königs denNümberger Reichstag 1421 schon verlassen hatten, dann
aber zurückkehren sollten,3) ferner bei Berufung eines Fürsten-
und Städtetages nach Boppard zum 19. Juli 1421, *) wo der
Kanzler des Königs Bischof Georg von Passau nach vorheriger
Verständigung mit den kurfürstlichen Räten die Ladungen aus-
fertigte.
Selbständig, ja sogar im Gegensatz zu einer ausdrücklichen
Berufung durch den König erfolgt die Ladung zu einer Reichs-
versammlung vom Kurfürstentage zu Wesel 19. Juni 1422 r“) aus.
Sigmund hatte nach Verabredung mit dem Erzbischof Dietrich
von Köln im Frühjahr 1422 einen Reichstag in Nürnberg ab-
halten wollen. Am 8. März erliess der König eine Einladung
auf den 31. Mai nach Regensburg. c) Aber noch vor Ablauf
dieses Termins erfolgte eine Verlegung auf den 1. Juli.7)
‘) KTA Vin nro 13.
’) werc aber uns von sincn kunklichcn gnaden vormals nit gcsehriben
und hettc uwcr gnad uns darumh gcsehriben und solichs an uns begert, so
woltent wir doch uweren gnaden harinnc gerne ze willen gestanden »in . . .“
*) 1. c. VIII nro 26 u. 27.
4) 1. c. nro 78, 83 n. S. 57.
‘) RTA VIII, 111.
*) 1. c. 108.
*) 1. c. 110. — Das» übrigens in diesem neuen BerufungBschrciben der
frühere Termin „mit keinem Worte berührt“ »ei, wie Kerler 1. c. S. 104 Z.
44 bemerkt, ist ein Irrtum, den seine eigene Note 3 zu 8. 124 berichtigt.
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9
Der hieraus entstehenden Verwirrung suchten die Kurfürsten
zu begegnen, indem sie in dem erwähnten Ausschreiben von
Wesel aus Nürnberg als Ort, den 15. Juli als Termin des
Reichstages den übrigen Ständen verkündigten. Dem Könige,
gaben sie an, hätten sie ihren Tag ebenfalls mitgeteilt und
rechneten auf sein Erscheinen.1) Den Konflikt zwischen König
und Kurfürsten und das schliessliche Nachgeben des ersteren,
zu welchem diese doppelte Ladung Veranlassung gaben, haben
wir weiterhin in anderem Zusammenhänge zu berühren.
Fast noch offener ist die Unabhängigkeit, ja sogar der
Gegensatz zu den Intentionen des Königs, in der Einladung
der rheinischen Kurfürsten vom 13. Mai 1423 zu einem Land-
friedenstage in Frankfurt.2) Während, trotz der Misserfolge
von 1422 der König im folgenden Jahre den ganz vergeblichen
Versuch macht, die Kräfte des Reiches wiederum gegen die
Hussiten in Bewegung zu bringen, setzt in Deutschland eine
starke Landfriedensbewegung ein. Die kurfürstliche Oligarchie,
welche soeben den dnrch den mainzisch-pfälzisclien Streit um
das Reichsvikariat veranlassten Riss geschlossen hatte, erkannte
wohl, wie sehr Erfolge in Sachen des Landfriedens, in Befrie-
digung der inneren Bedürfnisse des Reiches ihre Stellung be-
festigen müssten ; man begreift, dass ihnen in ihren Plänen die
plötzliche Kriegslust des Königs höchst störend war. Auf Be-
fehl Sigmunds bringen daher die rheinischen Kurfürsten von
Boppard aus am 12. Mai 1423 den Ständen zwar das Verlan-
gen des Königs, gegen die böhmischen Ketzer zu rüsten, zur
Kenntnis,3) ermahnen aber gleichzeitig, dass nichts, folglich
auch nicht die Vorbereitungen zum böhmischen Feldzuge, sie
an der Beschickung des kurfürstlichen Tages hindern solle.4)
— Überhaupt machten es sich die Kurfürsten bequem, die
Ausführung ihnen unliebsamer Anordnungen des Königs zu ver-
eiteln, selbst wenn sie gezwungen waren, dieselben den Ständen
zu übermitteln. So fordert der König verschiedene Städte auf,
*) 1. c. 111 ani'h 120.
*) KTA Vm, 241.
*) L c. 240.
‘) 1. c. — vgl. S. 288 Z. 2« ff.
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10
einen Reichstag , den der Erzbischof von Mainz ') auf den 30.
November nach Frankfurt oder anderswohin berufen werde, zu
besenden.2) Die Berufung durch den Erzbischof erfolgt zwar,3)
aber ohne ein Wort der Empfehlung, ohne jede Andeutung über
seine oder seiner Mitkurfürsten Absicht, den Reichstag zu be-
suchen.4) Die natürliche Folge war, dass der Tag nicht zu
Stande kam.
Noch einfacher war es für die Kurfürsten, einen könig-
lichen Auftrag zur Berufung eines Reichstags überhaupt nicht
zu erledigen. Der König kündigt am 10. Juni 1425 den Stän-
den die Berufung eines Reichstages nach Wien durch die Kur-
fürsten an;5) die Geleitsbriefe sind ausgestellt,1-') aber die kur-
fürstliche Ladung bleibt aus. Am 8. December sieht sich end-
lich der König genötigt, selbst einen Reichstag nach Wien und
zwar auf den 9. Februar 1426 auszuschreiben.7) — Der Reichs-
tag zu Mainz Februar 1427 wird erst nach Verhandlung des
königlichen Gesandten Graf Hans v. Lupfen mit den Kurfürsten
zu Frankfurt angesetzt. K)
Wir sehen, wie oft der König, zu dauernder Abwesenheit
von Deutschland gezwungen, von einer werkthätigen Teilnahme
an der Reichsleitnng abgehalten, auf den mehr oder minder
guten Willen seiner Kurfürsten bei Bernfung von Reichsver-
sammlungen angewiesen bleibt.
Und dieses Interregnum brachte nicht nur die hervor-
ragendsten Glieder des Reiches in herrschende Stellung, es lud
auch Anssenstehende ein, in die Reichsleitnng einzngreifen, die
Rolle des Oberhauptes zu spielen. Der Sommer des Jahres
1427 sah die deutschen Heere bei Mies und Tachan vor den
Hnssiten sich auflösen : der Herbst sieht einen Ausländer, einen
Cardinal, deutsche Reichstage berufen und leiten und die deut-
schen Fürsten in Zucht nehmen , wie es ihr Herr und König
nie gewagt hätte. Ein „Seitenstück zur Hussitenflucht“ nennt
') als „techant des heiligen ricks.“
*) RTA VIII 283.
») 1. c. 28«.
♦) 1. c. S. 282.
») 1. c. 363.
•) I. c. 362.
5) 1. c. 367.
•) 1. e. IX 1, 3, 4.
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11
v. Bezold *) die Thätigkeit des Cardinallegaten Heinrich, Bischof
von Winchester auf dem Reichstage zu Frankfurt November
1427 mit Recht. Von seinem ersten, nur schwach besuchten
Tage aus benift er einen zweiten Reichstag nach Frankfurt.*)
Seltsam berührt es uns hierbei , die Formeln der königlichen Lade-
schreiben aus dem Munde des fremden Kirchenfftrsten zu hören.3)
Am 21. September 1427 erlässt der Cardinal seine Ladung,
und erst 6 Tage später fertigt der König fern in Ungarn das
Schreiben aas, welches den Legaten zur Thätigkeit im Reiche
aufforderte.4) Was bedurfte es der Ermächtigung des Königs?!
— Die Tage des Jahres 1428, welche mit der Ausführung der
Beschlüsse des letzterwähnten Frankfurter Reichstages sich be-
schäftigen, können wir, trotzdem die direkte königliche Be-
rufung ihnen fehlt, hier ansscheiden, da durch die Übertragung
der Hauptmannschaft seitens des Königs an Friedrich von
Brandenburg5) derselbe zur Vorbereitung aller den Ketzerkrieg
betreffenden M assregeln eine Art Generalvollmacht erhalten
hatte.
Die Wiederherstellung der Gemeinschaft zwischen König
nnd Kurfürsten Ende 1429 macht sich jn dem auf dem Reichs-
tage zu Pressburg geäusserten Wunsche, den König wieder ein-
mal eine Reichsversammlung nicht blos besuchen, sondern auch
selbst einberufen zu sehen,“) geltend. Die hierauf bezüglichen
Erklärungen des Erzbischofs von Mainz in Pressburg gipfeln
in dem Eingeständnis: Wenn sie (d. h. die Kurfürsten) früher
Fürsten und Herren auf Geheiss des Königs berufen hätten,
so wären manche erschienen, manche auch nicht, und es habe
wohl auch geheissen: man habe ja einen römischen König, dem
solche Berufung zustehe.7) Besser konnte die Macht der realen
■) L c. II, 124.
») HTA IX, f>9.
*)„... nrgentissima necessitate impellente de couseusn principnm
electorum impcrii, prelatorum, nobilium ac civitatnm uobis hac vice interessen-
cinm aliain dietam in Frankfordin decrevimus convocandam.“
*) 1. c. 60.
*) l c. 108.
•) 1. c. 8. 341 ff.
*) I. c. 286 art 4: „wen si vor von tosten und lierren nach seinem
baissen gefedert bieten, ain teil wär körnen oder sein rät, der ander gar nicht;
and meinten, sie hieten ain Römisch kilnig, der si zu fodern kiet.
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12
Verhältnisse vor der des Herkommens, die usurpierte, vor der
legitimen ihre Ohnmacht nicht eingestehen.
Aber sowie der Anstoss, den Sigmund durch seine Anwesen-
heit in Deutschland 1430 und 31 gegeben, seine Wirksamkeit
verloren hat, muss das verwaiste Reich wieder anderu Faktoren
seine Leitung übertragen.
Wie milde man Sigmund auch beurteilen mag: unvergessen
muss es ihm doch bleiben, dass er 1431 unter dem Eindrücke der
furchtbaren Katastrophe von Taus Deutschland verlassen konnte,
nicht etwa, um seine Erblande vor den Türken zu beschützen,
sondern um wesentlich aus Eitelkeit und Ehrsucht einer Krone
nachzujagen.1) Einen Reichsverweser ernannte er nicht, „sein
Interesse an Deutschland war erstorben.“ *)
Da richteten sich nach der Abreise des Königs die Rlicke
auf den Kurfürsten von Mainz als obersten geistlichen Fürsten
oder den Pfalzgrafen als Reichsvikar.’) Einer von beiden soll,
meinte man auf dem ergebnislosen Tage zn Frankfurt Oktober
1431, einen neuen Reichstag berufen und „troestlich zu den
dingen tun.“4) Man sieht auch liier: Selbsthilfe des Reiches
bei Vernachlässigung durch den König.
Eine Modifikation des königlichen Berufungsrechtes ist es
nur, wenn ein Reichstag die Berufung des folgenden beschloss,
was ja auch früher schon üblich war.”) In Sigmunds Zeit, zu
deren Signatur ja die ergebnislosen Reichstage ebenso gehören,
') Diese angünstige Beurteilung der Motive für Sigmunds zweiten ita-
lienischen Zug findet sich bei v. Bezold, ferner bei dem neusten Bearbeiter
von Sigmunds italienischer Politik: Kagelmacher „Pilippo Maria Visconti und
König Sigmund“ S. I ff. — Andere Beurteilung bei Kluckhohn „Herzog Wilhelm III
v. Bayern, der Protektor des Baseler Concils etc.“ in „Forschungen zur deutschen
Geschichte II, 533 ff. Ferner Aschbach IIII, 45. Droysen „Geschichte der
preussischen Politik I, 384.
Kluckhohn 1. c. 535. — Franklin „Reichshofgericht“ I, 218. — Die
Einsetzung Herzog Wilhelms v. Bayern als Vertreter des Königs betraf nur
das Concil, nicht das Reich.
*) Das heisst: Vermöge des Kurpfalz znstehenden Vikariatsrechts, nicht
infolge ausdrücklicher königlicher Bestallung.
*) RTA IX, 478 n. 79. — Am 28. September 1431 hatten Kurmainz,
Kurpfalz und der Bischof Johann von Wtlrz bürg ein Schutz nnd Trutzbündnis
gegen die Hnssiten geschlossen. Janssen „Frankfurts Reichscorrespondcuz“
I, 695).
5) Ehrenberg S. 7.
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13
wie später unter Friedrich III, tritt dieser Fall häufig genug
ein. Oft ist die Berufung eines neuen Reichstages das einzige
Resultat der Verhandlungen des alten.
Das Ausbleiben der rheinischen Kurfürsten besiegelte das
Schicksal des Wiener Reichstages Februar 1426. *) Derselbe be-
schloss nichts, als den Zusammentritt eines Reichstages zu Nürn-
berg: 1. Mai 1426.*) Die schwach besuchte Versammlung von
Mainz Februar 1427 vertagte sich bis April nach Frankfurt.®)
Den Tag zu Frankfurt September 1427 verschiebt der Cardinal
von England mit Zustimmung der versammelten Stände4) bis
November.5) Von den Versammlungen in Sachen der Frankfurter
Reichskriegsteuer 1428 bedingt die eine die andere.8) Der Reichs-
tag zu Pressburg December 1429 veranlasst den Tag zu Nürnberg
März 1430,') und auf dem völlig rat- und thatlosen Reichstage
zu Frankfurt wird der Zusammentritt einer neuen Versammlung
wenigstens angeregt.
Betrachten wir die Art, wie die Berufung der Stände zum
Reichstage erfolgte, so haben wir zunächst zu der Frage, wie
weit die Berufung ausgedehnt wurde, Stellung zu nehmen.
Ehrenberg lässt für die von ihm behandelte Zeit (1273—1378)
die Frage, ob alle Stände geladen wurden, bei dem Mangel an
direkten Mitteilungen offen.8) Unter Sigmund ist zwar das
Material bedeutend gewachsen, aber ein absolut sicheres Urteil
lässt sich trotzdem nicht fällen.
Wir besitzen aus der Zeit von 1412—31 etwa 80 Ladeschrei-
ben.*) Natürlich stellen hier die Städte das stärkste Contingent
') RTA vm. 8. 430. — v. Bezold II, 74 t
*) 1. c. VUI, 376.
*) L c. IX, 12 n. 13.
*) Vgl. unsere 8. 11 Note 3.
•) RTA IX, 69.
°) 1. c. 76 art 25, nro 114 u. 130. — v. Bezold II, 131 ff.
>) RTA IX, 290.
•) 1. c. 8.
•) Ihre Zahl unter Wenzel und Ruprecht ist noch sehr gering; z. B.
besitzen wir zu dem grossen Reichstage von Eger 1389 nur ein Schreiben, welches
allerdings den grossen Städtebund umfasst: RTA II, 63. Unter Ruprecht
fehlen uns für die Jahre 1400 und 1401 die Ladeschreiben fast ganz.
— Bei obiger Zahlenangabe ist übrigens der Begriff des Reichstages möglichst
eng gefasst. Alle Tage provinziellen Charakters nnd ohne, wenigstens indirekte
königliche Berufung sind ausgeschlossen, ebenso die Tage von 1428.
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14
und von diesen wieder Strassburg, Frankfurt, der Ulmer Bund,
die elsässischen und fränkischen Städte (Nürnberg); seltener
Regensburg, Erfurt, Cüln. Ein Schreiben an Trier1) ist als
Beitrag zur Geschichte der umstrittenen Reichsunmittelbarkeit
dieser Stadt von Interesse.*)
Schreiben an Reichsfürsten sind selten, der Kurfttrstenstand
ist zweimal, der Herrenstand gar nur einmal vertreten. Natur-
gemäss betreffen die Schreiben, welche der Mainzer Eberhard Win-
decke uns überliefert, Mainz, die bei Andreas von Regensbnrg den
dortigen Bischof. Mehr Aufschluss als diese einzelnen Schrei-
ben gewährt uns für die Frage, wer geladen wurde, ein Ver-
zeichnis der durch den Kämmerer Kourad von Weinsberg zum
Nürnberger Reichstage am 31. Mai 1422 auszufertigenden La-
deschreiben.3) Aber vollen Wert hätte es nur, wenn wir wissen
könnten, wie weit es den Anspruch auf Vollständigkeit machen
kann. Wir vermissen in ihm besonders: die Kurfürsten. — von
Fürsten: die Brauusch weiger, während selbst Pommern und
Meklenburg aufgeführt werden; von Städten fehlt besonders
Cöln,4) dann Aachen; auch niederländische und schlesische
Stände finden wir nicht. Aber selbst wenn wir an der Voll-
ständigkeit des Verzeichnisses zweifeln, brauchen wir nicht an-
zunehmen, dass in der Regel die Gesammtheit der Reiclisstände,
auch nur in irgend weiterem Sinne, zu den Reichstagen be-
rufen wurde. —
Der Kreis der Geladenen war natürlich nicht immer der gleiche.
Wir dürfen annehmen, dass immer nur die zum Besuche der
Reichsversammlungen aufgefordert wurden, welche durch ihre Stel-
lung darauf Anspruch hatten : also natürlich die Kurfürsten1) und
>) RTA VIII, 317.
’) Vgl. Arnold „Verfassungageschichte der deutschen Frcist&dte" II, 424.
— Dasselbe würde auch für die nachweisbare Ladung der Stadt Magdeburg
gelten, aber, wie die Matrikeln von 1422 und 31 beweisen, nahm es die Kanzlei
Sigmunds bei norddeutschen Städten mit der Rcichsuimuttelbarkeit nicht so genau.
*) RTA Vin, 109.
*) dessen Ladeschreiben uns erhalten ist : vgl. Quellenangabe zu 1. c. 108.
*) Wenn das Ladeschreiben zum Reichstage von Breslan 1420 nur „etliche
kurfürsten" als berufen erwähnt, so bezieht dies Kerier wohl mit Recht auf
die noch nicht, belehnten Kurfürsten Otto v. Trier und Albrecht v. Sachsen
(RTA VII S. 394 Note 1).
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15
die bedeutenderen geistlichen und weltlichen Fürsten;1) ferner
die, an deren Erscheinen das Reichsoberhaupt selbst ein In-
teresse hatte oder bei denen es Interesse für die Reichstags-
verhandlungen voraussetzte. Darunter fallen; die Städte*) und
diejenigen Grafen und Herren, welche besondere Ladungen er-
hielten. Den meisten der letzteren wird es wohl obgelegen haben,
auch ohne specielle Aufforderung die Reichstage zu besuchen.
In der Form der Berufungsschreiben weist unsere Zeit
nichts besonders charakteristisches auf, es sei denn, dass man
den Wortreichtum und die hochtönenden Phrasen dafür ansähe,
mit denen Sigmund seine offlciellen Erlasse zu verbrämen
liebt.3)
Die Motivierung der Ladung ist fast durchgehends allge-
mein. Der Unfriede im Reiche und, seit 1420: die böhmische
Ketzerei sind die stehenden Gründe. Gleiclizeitig mit der
Ladung zum Nürnberger Reichstage, März 1430, erfolgt die
Ankündigung: der König werde bei seiner Ladung in deutschen
Landen Hofgericht halten.4) Der Berufung des Reichstages zu
('onstanz, 11. 4. 1417, fügt der König die Aufforderung an die
damit noch Rückständigen hinzu, ihre Regalien endlich aus
seinen Händen zu empfangen.5)
Stiafandrohungeu für Säumige weist, bezeichnender Weise,
in besonderer Schärfe das Berufungsschreiben des Cardinais von
England zum Frankfurter Novembertage, 1427, auf.6) Den
Städten schärft die Ladung meist mit grösserem oder ge-
ringerem Nachdrucke die Forderung ausreichender Vollmachten
■) Dass auch in früherer Zeit nur die bedeutenderen Fürsten regelmassig
geladen wurden vermutet Ficker „Fürstliche Willebriefe nnd Mitbesiegelungen 4
in „Mitteilungen des Institute für Uetreichische Geschichteforschung“ III, 12.
*) Eine Liste der Städte, an welche Nürnberg sein Empfehlungsschreiben
rar kurfürstlichen Ladung nach Nürnberg vom 29. April 1430 sandte, giebt
die Quellenangabe zu BTA IX, 296.
*) Mau vergleiche damit, was Wacker 1. c. 22 über Friedrich II sagt.
*) Dieselbe, BTA IX, 291, erging vielleicht nur an einzelne Stände, denn
während das Ladeschreiben zum Reichstage selbst (1. c. 290) besonders zahl-
reich erhalten ist, verdanken wir den Erlass betreffs des Hofgerichtes nur
Windecke, cap 169.
“) BTA VII, 211. — Aschbach II, 236.
•) BTA IX, 59.
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16
für ihre Gesandte» ein. Und wenn diese ihre „kleinliche aber
meisterhaft durchgeführte Zauderpolitik“ ') auf den Reichstagen
einmal gar zu weit treiben, werden sie vorwurfsvoll an diese
Forderung des Berufungsschreibers erinnert. Bei Einladungen
an Fürsten tritt an Stelle dieses Zusatzes die Mahnung, mög-
lichst in Person zu erscheinen, für deren Befolgung aber der
König selbst, ewig durch andere Aufgaben gefesselt, seinen
Ständen ein möglichst schlechtes Beispiel giebt.
Die Berufungsfristen schwanken natürlich, wie in früherer
Zeit.2) Auffallend kurz erscheinen uns die Fristen gelegentlich
mit Rücksicht darauf, dass die Schreiben Sigmunds „hinten
weit“ in Ungarn erlassen werden. Wenn der König im Lande
und der Kreis der Teilnehmer provinciell beschränkt ist, hat
ja die kurze Frist natürlich nichts auf sich. Aber wenn der
König den Reichstag zu Speier von Pontestura bei Casale aus
am 16. Juni 1414 auf den 8. Juli ansetzt*) oder ans Pressburg
einen Reichstag nach Wien1) am 1. Oktober 1429 auf den
1. November ausschreibt,5) oder den Reichstag von Straubing
aus Kittsee (bei Pressburg) am 20. Juni auf den 6. Juli 1430,6)
so müssen diese Fristen sehr kurz erscheinen.7)
Übrigens halfen sich die Stände in solchen Fällen sehr
einfach: durch Verspätung oder Ausbleiben ; und manchem wird
die Kürze der Zeit einen willkommenen Vorwand geboten haben,
dem Besuche der Versammlung sich zu entziehen.
Mehr noch als kurze Berufungsfristen trägt nicht selten
die Schuld an mangelhaftem Erfolge der Berufung: die unge-
naue Fixierung des Zeitpunktes für den Zusammentritt des
Reichstages, die sich kreuzenden Anordnungen, manchmal: des
Königs und der Kurfürsten, manchmal aber auch des Königs
allein. Wie die Kurfürsten vor dem Reichstage zu Nürnberg
1422 zwei Terminen des Königs einen dritten entgegensetzten,
■) Finke „König Sigmunds reicksstädtische Politik“ S. 36.
’) Wacker 13 ff. — Ehrenberg 10.
’) ETA Vn, 136.
4) wirklich abgehalten 4. — 13. Itec. 1429 in Pressburg.
*) 1. c. IX, 275; — ttbrigens fasst der König hier die Möglichkeit, dass
der Termin zu nahe sei, selbst ins Auge.
•) 1. c. IX, 353.
5) Ein Beispiel ähnlicher kurzer Ladefrist unter Wenzel: 1. c. I, 126.
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17
haben wir gesehen. Zu dem Reichstage, der 1430 zum März
nach Nürnberg berufen war, im Mai aber erst verhandelte, er-
hielten verschiedene Städte1 * * *) doppelte Ladeschreiben, teils auf
den 5., teils auf den 19. März lautend. — Am tollsten ist das
Durcheinander bei dem Reichstage zu Wien, Januar 1425,
dessen eigentümliche Vorgeschichte uns überhaupt noch be-
schäftigen wird.*) Die Bischöfe von Würzburg und Speier als
Bevollmächtigte des Königs einigen sich mit den Kurfürsten auf
den 29. September als Termin des Zusammentrittes.’)
Vor der Besprechung mit den Gesandten der Kurfürsten,
welche über das Erscheinen ihrer Auftraggeber eudgiltig sich
erklären sollten, ladet der König zum 19. November nach Wien.'*)
In der Verhandlung mit den genannten Gesandten nennt er
„gelegentlich“5 *) den 11. November. Eine vierte Zeitangabe
weisen seine nach der Audienz erlassenen Ladeschreibeu auf:
25. November.®) Aber keiner dieser Tage wird schliesslich von
Sigmund eingehalten. Der König, durch Verhandlungen mit
den Türken in Anspruch genommen,7) erschien erst zu Anfang
des folgenden Jahres in Wien.8)
Bezüglich der Art und Weise, wie die Ladeschreiben den
Ständen übermittelt wurden, finden wir wenig neues.
l) Wahrscheinlich auch andere Stände; von Strassburg wissen wir es
aus ETA IX, 307.
*) Vgl. unsere S. 26 ff.
*) Die* ist zu schliessen aus RTA VIII, 318, dann S. 317 Z. 23 ff. in
Verbindung mit 304 und S. 374 note 1. Auch erscheint dieser Termin in der,
freilich Entwurf gebliebenen Instruktion fUr die kurfürstlichen Gesandten an
den KOnig: 1. c. 303 art3a.
«) 1. c. VIII 321 u. 314.
*) ,iu> beraten * sagt der Gesandtschaftsbericht 1. c. 311 art. 11.
•) 1. c. 317, 318, 322.
*) Vgl. Klein-Fessler „Geschichte Ungarns“ II, 367 nach Windecke
cap 119; dazu: Sigmunds Angaben in seinem Schreiben an Grossfürst
Witold v. Litthauen ans Buda vom 25. Nov. 1424 (RTA VIII, 332); in dem-
selben nennt er diese Verhandlungen als Grund seines Fernbleibens von
Wien. — Daraus folgt übrigens auch, dass die ohne Quellenangabe gege-
bene Notiz Aschbachs (III, 451), der König sei den grösseren Teil des Ok-
tobers und Novembers in Wien gewesen, unrichtig ist. Auch Kerler (1. c.
S. 424 Note 4) hat diese Angabe übernommen.
•) v. Besold II, n8.
Wendt, Der deutsche Reichstag uuter König Sigmund. 8
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Das schon erwähnte Ladungsregister Conrads von Weins-
berg1) teilt die Adressaten in 7 landschaftliche Gruppen ein.*)
Wahrscheinlich erhielt je ein Bote eine dieser Gruppen zur
Bereisung zugewieseu. Leidei- ersehen wir aus dem Ver-
zeichnisse nicht, welche Reichsstände besondere Ladeschreiben
erhielten , und welche mit anderen zusammengefasst waren.
Als Regel kann es gelten, dass die königlichen Berufungen
sich an mehrere Städte zusammen richten. Frankfurt wird mit
Friedberg, Gelnhausen. Wezlar, einmal auch mit Mainz zu-
sammen geladen. Letzteres erscheint mit Worms und Speier
verbunden. Die oberrheinischen Städte, Constanz und die See-
städte, Ulm und seine Einung erhalten meist Collektivschreiben.*)
Eine weitere Erleichterung erwuchs der königlichen Kanz-
lei und Kammer daraus, dass bedeutendere Städte die Ueber-
mittlung von Ladeschreiben übernahmen. Nürnberg zeigte sich,
nach Ausweis seiner Rechnungsbücher, vor dem Reichstage zuWien
Februar 1426, 4) Nürnberg Februar 1426, “) und Pressburg Decem-
ber 14298) in dieser Weise gefällig. Ein Beschluss des Frank-
furter Kurf Urstentages, Nov. 1426, ordnete an, dass die 3
geistlichen Kurfürsten die Ladung zum Mainzer Reichstage,
Februar 1427, ihren Suffraganbischöfen einschärfen sollten.
Erzbischof Conrad von Mainz entledigt sich auch dieser Ver-
pflichtung durch ein Schreiben vom 10. December 1426 an den
Bischof Peter von Augsburg.’) Kerlerbezeichnet diese Bestimm-
ung als neu.8) Wir können zum Vergleiche das Schreiben
König Rudolfs an einen Erzbischof9) heranziehen, in dem er
diesem aufgiebt, seinen Suffraganen den Besuch eines ange-
*) RTA VlII, 109.
*) Die Trennung der beiden letzten Gruppen ist auffällig; dio eine um-
fasst: Lübeck und alle Hansestädte, die andere: Hamburg, Wismar, Rostock,
Erfurt, Magdeburg.
*) Die indirekte Anerkennung der Stüdtebilnde, welche hierin liegt , ist
immerhin beachtenswert.
‘) 1. c. 380 art 1.
*) I. c. 410 art 1. — nro 380 art. 1 bezieht sich nicht auf den Tag zu
Nürnberg, wie Kerler S. 443 Note 1 angiebt.
•) 1. c. IX, 288 art 2.
») l. c. 6.
*) l. c. S. 1.
’) Fontes rerum Austriacarum II, 26 p. 240, citiert bei Ehrenberg 12.
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19
sagten Reichstages einzuschärfen. Als Grund für diese Er-
scheinung vermutet Kerler, dass sich wohl früher, wenn es
sich um Besuch eines Tages oder Ausführung seiner Beschlüsse
handelt, gelegentlich Bischöfe hiuter ihre Metropolitanen ver-
steckt haben mochten.')
Gehen wir nun von der Berufung selbst zur Betrachtung
ihres Erfolges über, so wollen wir, was das Erscheinen der
Geladenen betrifft, auf das über die Zusammensetzung der
Reichstage Beizubringende *) verweisen und nur der Pünktlich-
keit ihres Eintreffens einige Worte widmen.
Pünktlichkeit der Erscheinenden ist bei den Reichstagen
Sigmunds so selten, dass Kerler*) bei dem Nürnberger Reichs-
tage von 1421 das rechtzeitige Eintreffen grade der ersten
Reichsfürsten als rühmliche Ausnahme hervorhebt. Beispiele
des Gegenteils sind häufiger: Der Reichstag zu Wien 1426 ist
für den 9. Februar berufen. Am 11. schreiben die Gesandten
Frankfurts von Nürnberg aus nach Hause, sie hätten noch
nichts versäumt; sie wollten deshalb zu Schiffe von Regens-
burg Weiterreisen.4) Und noch Mitte Februar waren manche
Städte über Besuch des Reichstages nicht schlüssig, wie wir
aus einem Schreiben Speiers vom 14. 2.5) entnehmen. Auf
der Reise nach Pressburg, wo die Reichs Versammlung tagte,
die am 1. 11. 1429 zu Wien hatte eröffnet werden sollen,
passirten die Kurfürsten von Mainz und Brandenburg am 14.
November Regensburg.*) — Freilich leistete der König selbst an
Verspätung und Versäumnis das meiste. Deshalb halten es die
Kurfürsten für nötig, in der Instruktion der Gesandten, welche
mit dem Könige wegen Berufung eines Reichstages') verhan-
deln sollen, ausdrücklich zu bemerken, man solle den König
auffordern, die Kurfürsten nicht wieder auf sich warten zu
lassen.8)
*) BTA IX S. 2.
*) Vgl. unsere S. 30 ff.
*) BTA Vffl S. 3 f.
*) I. c. 372.
•) 1. c. 374.
•) 1. c. IX, 273.
*) Nach Begensburg, Ende 1424.
*) „also das unser herren nicht nach iu (den Kiiuig) dürfen harren.“ 1.
e. VIII 303 art 7.
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20
Wer der Ladung nicht Folge leisten wollte und es nicht
vorzog, ohne weiteres auszubleiben, Hess sich entschuldigen,
brieflich oder durch Standesgenossen.1) Die brieflichen Ent-
schuldigungen sind meist sehr allgemein gehalten: Unsicherheit
der Strassen, Fehden, Bedrängnisse aller Art müssen als Grund
oder Vorwand dienen. Cöln entschuldigt sich einmal *) mit
Verweigerung kurpfälzischen Geleites; der Hochmeister des
deutschen Ordens mit zu spät erhaltener Ladung,’) Nürnberg
1430 mit Hussiteugefahr.4) Goslar beantwortet die Ladung
zu einem Tage in der Reichssteuersache 1428 mit Klagen über
seinen Verfall.5)
Bei Entschuldigung durch Standesgenossen wenden sich
die Städte teils an befreundete, teils an die Stadt, in welcher
der Reichstag grade abgehalten wird. So schreibt bei einem
Tage zu Ulm 1420 Frankfurt an Ulm ; *) beim Frankfurter
Reichstage April 1427 entschuldigt sich Augsburg durch Frank-
furt mit versäumter Ladung;7) Hamburg wendet sich im No-
vember 1427, Lübeck October 1431 an Frankfurt.8)
In den Entschuldigungen ausbleibender Stände liegt das
Zugeständnis der Verpflichtung zum Erscheinen und der Straf-
barkeit unbegründeter oder unentschuldigter Versäumnis.
Positive Zeugnisse dafür gewähren uns, ausser gelegentlichen
Wendungen der königlichen Ladeschreiben, charakteristischer
Weise: das Berufungsschreiben und eine Art städtisches Pro-
tokoll des vom Cardinallegaten Heinrich berufenen Frankfurter
') vgl. Ehrenberg 19.
*) RTA VIU, 202.
•) 1. c. IX, 134.
*) 1. c. 302.
*) 1. c. 158 : Sie hätten keinen Herrn und Beschützer ausser dem Reiche
und dem Könige „dem wfj leider to veme sin“ — „ok en is mit uns nein
handelinge der kopenschat noch ran strateu de dartho gan unde wanderinge,
darvan sek stede behelpen, sunder gebuwet tippe berchwerk dat leider gans
rorrallen unde rorgan is.“ — Hit einem ähnlichen Notschrei entschuldigt
sich z. B. Friedberg beim Städtetage zu Frankfurt 1456. Vgl. Janssen II,
195; citiert bei Keussen 1. c. 60 nte 7.
*) RTA Vn, 289.
*) L c. IX, 41.
•) 1. c. IX 67 uud 474.
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21
Reichstages im November 1427. Das Berufungsscbreiben,1) das
sich, wie wir schon gesehen, eng an die königlichen Erlasse
dieser Art anschlieast, droht den Aasbleibenden mit der Strafe
für Begünstigung der Ketzerei.*) Auf dem Reichstage selbst
gedenkt der Cardinal am Schlüsse seiner Eröffnungsrede der
Säumigen; ihre Bestrafung stellt er den Fürsten anheim.3)
Daraus ist übrigens nicht etwa zu schliessen, dass diese
eine regelmässige Obliegenheit des ganzen Reichstages gewesen
sei. Jedenfalls vertreten die Fürsten hierin nur den König,
als dessen ausschliessliches Recht die Bestrafung der Säumigen
in den früheren Perioden durchaus erscheint.4) Von wirklich
vollzogenen Bestrafungen durch die Fürsten hören wir nichts.
„Wenn die Stände dem Rufe des Königs Folge leisteten,
genossen sie beim Kommen, Weilen, Gehen nach uralter ger-
manischer Rechtsanschauung den Schutz des Königs. “ 5)
Mit dem Übergänge so vieler Rechte und Pflichten vom
Reiche an die Territorien finden wir auch, wie das alte könig-
liche Geleite zu den Reichsversammlnngen immer mehr dem
Schutze des betreffenden Territorialherrn weicht. Verfolgen
wir die Entwickeluug dieses territorialen Geleites zurück, so
sind natürlich die „Teidigungstage“ des grossen Städtekrieges,
die ja auch keine Reichsversammlungen sind, auszuschliessen.6)
*) l. c. 59.
*) ,,et hoc sicnd penam fautoris heresis cl infamiae contra contuma-
citer absentes infligi de expresso consensu principuni electornm, prelatorum
et alionnn suprascriptorum decretam cupitis evitare.“
*) nach dem städtischen Protokolle 1. c. IX, 70 art 1 : „und wen er ver-
botet und verechriben hette, zu dem tage zu körnen, tede er lesen ; nu weren
ir eins teils hie und auch ein teil nit ; was nu die pene were von den, die
nit hie weren, daz emphele er den fürsten.
4) Wacker 1. c. 22 ff. — Ehrenberg 22 ff.
*) Ehrenberg 24 — vgl. Wacker 30 f. — Die von Ehrenberg 24 Note 7
angezogeuen Ausführungen Maurers („Geschichte der Städteverfassung iu
Deutschland“ III, 319) beziehen sich auf das königliche Geleite im allgemeinen
ohne specielle Anwendung auf Reichstage.
*) Geleitsverhandlnngen zu diesen: RTA II, 45—50 (Rotenburg-Mer-
gentheim Jannar 1389) U, 59 (Rotenburg- Mergentheim Februar 1389) II,
64—66 n. 68 (Bamberg, anfgegeben zn Gnnsten des Reichstages zu Eger
1389) H, 125 (Nürnberg 1389).
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22
Das erste Auftreten des Geleites durch die Stadt, in wel-
cher der Reichstag abgehalten wird, konstatiert Waizsäcker')
bei dem Fürsten- und Städtetage zn Frankfurt, Jnli 1394. Das
Geleitswesen ist hier noch in der Entwicklung, seine Formen
in der Ausprägung begriffen.')
Beim Tage zn Frankfurt, Mai 1397 , setzt sich , wie es
scheint, der spätere Modus für die Geleitserteilung fest.*) Die
gelegentlich dieses Tages ansgestellten Urkunden dienen spä-
teren vielfach zum Muster. — Das Geleite zum Frankfurter Tage,
Januar-Februar 1400,*) erteilte der Rat erst, nachdem seine
Bedenken durch das Versprechen der Kurfürsten, die Stadt
gegen alle etwaigen ( ’onsequenzen schützen zu wollen,5) gehoben
waren. Geleitsbriefe einer andern Stadt als Frankfurt sind
uns ans dieser Zeit noch nicht erhalten.®)
Eine beachtenswerte Ausnahme von königlicher Geleits-
erteilung bietet uns unter Ruprecht das Reichsoberhaupt selbst:
Zn dem Reichstage von Mainz, October 1405, erteilt der König
Strassbnrg Geleite,7) aber nur „durch unsere lande und ge-
piete,“ also nicht als König, sondern als Kurfürst von der
Pfalz.
Unter Sigmund tritt uns die erste Spur des Geleitswesens
erst 1421 entgegen, und zwar in Nürnberg. Am 14. März 1421
stellt Nürnberg den 4 rheinischen Kurfürsten auf Wunsch einen
Geleitsbrief zum Reichstage am 13. April aus.8) Aber in dem
•) 1. c. II, 379 39 ff
’) Waizsiicker schliesst dies (noch für das Jahr 1397) ans 1. c. II, 265,
wu die Kurfürsten von Ciiln, Trier und Pfalz der Stadt Frankfurt raten, das
Versprechen, welches sic selbst (in nro 254) abgelegt haben: die Stadt wäh-
rend der Bauer des Tages bei etwaigen Ruhestörungen zu schützen, sich auch
von andern Reichsstünden geben zu lassen.
*) Waizsäcker 1. c. II S. 421.
‘) wo es sich uni Wenzels Absetzung handelte.
s) 1. c. III, 112.
*) Warum grade in Frankfurt das Geleitswesen bei Reichstagen am frühsten
augenscheinlich sich entwickelte, wissen wir nicht. Möglich, dass die Lage
des Ortes, möglich anch, dass seine Eigenschaft als Wahlstadt hierzn beige-
trägen hat.
r) weil diese Stadt Mitglied des Marbacher Bundes war. vermutet Waiz-
säcker 1. c. V S. 762 Net* 2.
*) 1. c. VIII, 16.
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23
Begleitschreiben dazu bezeichnet Nürnberg das kurfürstliche
Verlangen als Neuerung.1)
Auch den anderen Städten scheint diese Forderung Anlass
zu Erörterungen gegebeu zu haben. Basel erwiedert auf eine
Anfrage, es habe für den Reichstag nicht uni Geleite geworben,
wer zu demselben komme, stehe im Geleite des Königs.*) Hier
stehen also alte und neue Auffassung einander gegenüber.
Beim folgenden Reichstage zu Nürnberg, Juli 1422, macht
die Stadt bei Ausstellung der Geleitsbriefe für die Kurfürsten
selbst keine Schwierigkeiten, trägt aber Bedenken, das Geleit
auf alle, auch nichtbenaunte Besucher des Reichstages auszu-
dehnen. Auf eine Mahnung des Kurfürsten von Brandenburg
hin giebt sie. indessen ihren Widerstand auf.3)
Von da an stellt Nürnberg, ebenso wie Frankfurt jedem,
der es verlangt, anstandslos Geleitsbriefe aus. Die merkwür-
digsten von diesen, allerdings nicht einen Reichstag betreffend,
sind die Urkunden, welche Nürnberg 1430 den Hussitenführern
auf Veranlassung des Kurfürsten von Brandenburg4) zu einem
Religionsgespräche ausfertigte.8) Geleitsschreiben anderer Städte
aus dieser Periode besitzen wir nicht. Aber wir wissen, dass
die Kurfürsten auf dem Tage zu Mainz, Juli 1424, beschlossen,
’) 1. c. 17 : .und als ewr hochwirdikeit darauf an uns begert hat, eweren
f ürsteulichen gnaden und deu eweren geleit zu geben . . . bitten wir ewr
hochwirdikeit zu wissen, dass wir awsserhalbcn der stat Nürnberg nicht ge-
leite« haben, sunder solicher geleit awsserhalben ewern fürstenlicheu gnaden
und etlichen andern nnsern herren den fürsten und herren znsteen, und wie
wol wir uns unter uns selb nit verneinen, dass unser vordem oder wir so-
licher schriftlicher geleite vormals angesunnen sein, doch . . .“ senden sie
den Geleitsbrief.
’) 1. c. 19: Basel antwortet ,. . . daz uns nit bedunkt notdürftig sin,
unsem hotten gleit ze werbende und ouch darnach nit geworben hand, wand
wir meinent, sid unser . . . herre, der Römsch kung begert hat, daz wir
unser butten . . zu einen gnaden schicken solteut, dass si denn ouch billichen
in sinem geleit riten und fnrer gleitz zu erwerbende nit notdürftig wereut.'
’) I. c. 113—116. — Kerler in Einleitung zum Nürnberger Reichstage
unter IX
* in Ausführung des Bebeinstainer Vertrages, Droysen (Gesell, d. preuss.
Politik I, 366) auf den 6. Februar — durch v. Bezold (III, 44) auf den
11. Februar 1430 angesetzt.
*) RTA IX, 314 — 16: besonders gewürdigt sind diese Schriftstücke durch
t. Bezold ED, 46.
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24
vom Könige zum Besuche eines Reichstages in Wien ausser
seinen Geleitsbriefen und denen des Herzogs von Ostreich auch
solche von der Stadt Wien zu fordern.1) Auch die kurfürst-
liche Gesandtschaft an den König in Sachen desselben Tages
soll Geleite, das die Stadt Regeusburg als Ort des Reichstages
leisten solle, verlangen.*)
Ausser an die Stadt, in welcher der Reichstag statttindeu
sollte, wendete man sich um Geleite auch an die Fürsten, deren
Gebiete zu passiren waren. Als der König die schon erwähnte
kurfürstliche Gesandtschaft bereden wollte, namens ihres Herrn
den Besuch eines Reichstages in Wien zu versprechen, rechnete
er ihr vor, dass der Weg nach Wien für die Kurfürsten voll-
ständig sicher sei. Der Pfalzgraf könne dieselben ungefährdet
nach Wien bringen, „dann er habe das Nyderland an irne.“
Der Bischof von Passau sei ein Bayer und werde nichts ohne
Wissen und Willen des Königs und der bayrischen Herzoge thun,
und für den Herzog von Oesterreich3) könne er ihnen bürgen.
Daneben besteht die königliche Geleitspflicht fort.4) Der
Geleitsbrief, welchen Kurfürst Ludwig von der Pfalz zum Nürn-
berger Reichstag, April 1421, sich ausstellen lässt,5) ist wohl
ein Ausdruck des gespannten Verhältnisses zwischen ihm und
dem Könige.®)
Zu dem Reichstage, den der König Ende 1425 abhalten
will, und den die Kurfürsten ausschreiben sollen, erteilt der
König am 9. Juni denselben freies Geleit.7) Diese Geleitsbriefe
müssen nun den Kurfürsten ungenügend erschienen sein8) denn
■) RTA VIII 301 art 8, auch 303 art 11.
*) 1. c. 309 art 9.
*) seinen Schwiegersohn und späteren Nachfolger Albrecht.
*) Allgemein wird diese erwähnt in der für die Kenntnis der könig-
lichen Competenzen in damaliger Zeit überhaupt sehr instruktiven Bestallungs-
urkunde für den Kurfürsten von Mainz als Keiehsvikar, Nürnberg 1422 1. c.
164 art 4 t.
*) 1. c. 18.
*) Kerler (I. c. 3. 3) macht es sehr wahrscheinlich, „dass der Feind,
gegen den der Kurfürst geschützt werden sollte, das Reichsoberhaupt selbst
war.“
>) 1. c. 362.
*) Dies vermutet Kerler 1. c. 8. 430 woltl mit Recht. Die gegenteiligen
Ausführungen vop Schuster („Der (Konflikt zwischen Sigmund und den Kur-
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das kurfürstliche Ausschreiben unterbleibt, und als der König
endlich selbst einen Reichstag nach Wien beruft, verlangen die
Kurfürsten neue Geleitsschreiben.1)
Zusammenfassend können wir über das Geleitswesen bei
den Reichstagen unserer Periode sagen: Landesherrliches und
königliches Geleit bestehen nebeneinander, aber das erst er e
überwiegt, je länger desto mehr, unverkennbar.
An die Betrachtung der Berufung schliesst sich die Frage
nach Ort und Zeit der Reichstage naturgemäss an. Die Dar-
stellungen früherer Zeitabschnitte, welche auf die Darlegung
der verfassungsmässigen Normen sich beschränken mussten, fan-
den gerade für diesen Punkt wenig Ausbeute. Für unsere Zeit
bietet vor allem die Ortswahl , im Zusammenhänge mit der je-
weiligen politischen Lage beleuchtet, des Interesses genug.
Zweimal schliesst sich an diese eine Kraftprobe zwischen König
und Kurfürsten an.
Zunächst müssen wir hier des Punktes gedenken, bei dem
die Darstellung früherer Epochen die einzige Beschränkung des
Königs in der Ortswahl constatierte : des eisten Reichstages.’)
Bekanntlich fixierte die goldene Bulle als bisheriges Gewohn-
heitsrecht und künftige Norm: dass der erste Reichstag jedes
neuen römischen Königs in Nürnberg abgehalten werden solle.
Ehrenberg hat die Frage, wie weit dies geschehen sei, ftir
die ersten Reichstage Rudolfs bis Karls IV untersucht. Für
Wenzel sieht Waizsäcker die Forderung der goldnen Bulle durch
die Entgegennahme der Huldigung zu Nürnberg, Sommer 1376,
als erfüllt an.3) Sieht man von diesem Tage ab, so hätte aller-
dings Wenzels erster Reichstag zu Rotenburg an der Tauber,
Mai 1377, stattgefunden.
Ruprechts erster Reichstag nach seiner Wahl findet zu
Mainz, December 1400,4) der erste nach seiner Krönung aber
fürsten und die Haltung der Stüdte dazu') S. 70 Note 2 können nicht über
zeugen.
') Vgl. Windecke Cap. 137 und die Angabe Kurfürst Ludwigs von der
Pfalz in einem Schreiben an .Strassburg RTA VIII, 371. — v. Bczold II, 74.
’) Ehrenberg 27 ff.
') RTA I, S. 204 und nro 153.
*) 1. c. IV, S. 204.
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zu Nürnberg, Februar 1401,') statt. — Der erste Reichstag, den
Sigmund nach seiner Wahl berufen, allerdings nicht abgehalten
hat, fällt nach Frankfurt, November 1412,*) dann folgt die Be-
rufung nach Speier, Juli 14 14.3) Der erste Reichstag nach
Sigmunds Krönung versammelt sich zu Constanz.4) Wir kön-
nen es nur natürlich finden, dass die Rücksicht auf das gleich-
zeitig dort tagende Concil die Vorschriften der goldnen Bulle
zurücktreten liess.5)
Mehr Interesse als die Frage des ersten Reichstages hat
es für uns, den Einfluss von Sigmunds ausserdeutscher Stellung,
die Versuche der Kurfürsten, die Zügel des Reiches seinen Hän-
den zu entwinden, grade in der Ortsfrage zu verfolgen.
Der Conflikt zwischen König und Kurfürsten (1422), als
Sigmund die Stände nach Regensburg lud, die Kurf ürsten aber
der königlichen Berufung eine solche nach Nürnberg entgegen-
stellten und wirklich so das Reichsoberhaupt zwangen, ihnen
aus Regensburg nach Nürnberg nachzuziehen, ist durch v. Be-
zold 8) so treffend dargestellt worden, dass es genügt, auf seine
Ausführungen zu verweisen. Etwas näher wollen wir dagegen
die Verhandlungen, welche dem Wiener Reichstage von 1425
vorausgehen, betrachten.
Durch ein förmliches Bündnis, die „Binger Einung“ hatte
sich im Januar 1424 die kurfürstliche Oligarchie constituirt.
Gemeinsamkeit in der Verfechtung ihrer Interessen und in der
Fürsorge für das Reich war ihr Programm. Auf dem Kur-
ffirstentage zu Mainz, Juli 1424, überbrachten nun die Bischöfe
von Wfirzburg und Speier den Kurfürsten die Aufforderung des
Königs, sich bei ihm in Wien zu einem Reichstage einzufinden.
Diese gehen anfangs nicht ohne Sträuben und Bedenken
darauf ein.
■) HTA IV S. 280.
») 1. c. VII, 126.
’) 1. c. 13ö.
•) 1. c. 176.
s) Anhangsweise sei hier bemerkt: König Albrecht hat seinen ersten
Reichstag nach Nürnberg berufen. — Die erste Reichsversammlung unter
Friedrich III, wiederholt nach Nürnberg berufen, findet in Mainz statt (Keussen
1. c. 13 ff). Der erste Reichstag nach Friedrichs Krönung tagt in Frank-
furt (Keussen S. 19).
•) I, 84-88.
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Der in Mainz vereinbarte Entwurf für die kurfürstlichen
Gesandten an den König1) enthält die Zusage ihres Erscheinens
in Wien, aber nur für den Fall, dass der König Regensburg
als Ort ablehnte und durchaus auf Wien bestände. Auf jede
Weise wird aber betont, welch schweres Opfer man dem Könige
bringe. Es sei unerhört, dass die Kurfürsten „soweit von ihren
Landen und Kurfürstentümern“ einem römischen Könige zum
Reichstage nachgefolgt seien.*) Und diese Concession wird be-
gleitet von scharfen drohenden Mahnungen an den König, des
Reiches und der Christenheit sich anzunehmen.
Die Anweisung blieb Entwurf. Die Instruktion, nach welcher
die Gesandten schliesslich handelten,8) enthält die Drohungen nicht,
aber auch nicht die Zusage, nach Wien zu kommen. Der Reichstag
soll entweder vom Könige in Regensbnrg oder von seinen Ver-
tretern in Nürnberg abgehalten werden. Alle Versuche des Königs,
die Kurfürsten zum Besuche einer Reichsversammlung in Wien
oder wenigstens in einer Stadt unterhalb Regensburgs zu be-
wegen,4) scheitern. Die Kurfürsten bleiben fest, und das Reichs-
oberhanpt erliegt abermals. Der Reichstag zu Wien wird aller-
dings, trotz des Ausbleibens der Kurfürsten abgehalten, aber
die Abwesenheit dieser ersten Reichsfttrsten genügt, um ihn re-
sultatlos verlaufen zu lassen.
Die wahrscheinlich unter dem Eindruck der geringen Er-
folge des Frankfurter Geldsteuergesetzes von 1427 und der
Landfriedensbestrebungen von 1429 erfolgende Annäherung der
Kurfürsten an den König, Ende 1429 äussert sich in der Orts-
frage charakteristisch. Die Kurfürsten von Mainz und Bran-
denburg kommen auf die königliche Berufung hin nach Wien,
ja sie sind sogar entschlossen, im Notfälle dem Könige nach
Ungarn zu folgen.5)
Und sie halten wirklich Wort: Als der König durch Krank-
•) RTA Vin, 303.
*) Dabei hatten sie sich 1420 in Breslau, «las sicher nicht minder ent-
legen war als Wien, anstandslos ringefhndcn.
*) 1. c. 309.
*) I. c. 311 bes. art n, 9, 14, 19.
*) Vgl. «len Brief Heinrich Welders, eines Frankfurter Beamten, an
seine Stadt: 1. c. IX, 279.
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heit sich verhindert sah, Pressburg, seine bisherige Residenz.1)
zu verlassen, entschlossen sich die Stände, die Kurfürsten voran,
zu dem „unerhörten Schritte'' iu einer nichtdeutschen Stadt:
Pressburg, zum Reichstage zusammenzutreten.2)
Aber mit der blossen Thatsache ihres Erscheinens war
auch das Entgegenkommen, wenigstens der Fürsten , erschöpft.
Gleich zu Beginn der Beratung über die königlichen Vorlagen;
Landfrieden und Ketzerkrieg, erklärt der Kurfürst von Bran-
denburg: er sehe nicht ab, wie mau in diesen Fragen hier
zu einem Abschluss kommen könne. Es werde heissen, man
habe so wichtige Reichsangelegenheiten „in eiuem winkchel
austragen.“ Das eiuzige was man hier thuen könne, sei, einen
Reichstag in Nürnberg oder Frankfurt zu verabreden.3)
Trotz allen Widerstrebens des Königs beharren die Fürsten
auf ihrem Verlangen: der Reichstag solle, wenn der König
selbst erscheine, in Nürnberg, schicke er nur Gesandte in Frank-
furt stattfinden. Wieder muss sich der König fügen. Am 18.
December 1429 beruft er auf den 19. März 1430 einen Reichs-
tag nach Nürnberg, zu dem er selbst zu erscheinen verspricht,4)
also wörtlich nach der kurfürstlichen Forderung.
Man darf in dem Verhalten der Kurfürsten nicht blossen
Trotz und verrannte Oppositionslust sehen. Ihre, ganz berech-
tigte, Abneigung gegen Reichstage an der Ostgrenze des Reichs
oder gar ausserhalb desselben ist wohl besonders zwei Gründen
zuzuschreiben. Erstens musste die Entlegenheit des Ortes auf
die Zusammensetzung des Reichstages einwirken.3) Finden wir
schon bei Fürsten und Städten Klagen über die schweren Opfer,
die eine weite Reise und langwieriger Aufenthalt in der Feme
erheischten, so musste den kleineren Fürsten, den Grafen und
Herren der Besuch eines weitabliegenden Reichstagsortes voll-
‘) Fessler-Klein 1. c. II, 377 Z. 4 v. u.
») v. Bezold IU, 22 ff.
*) Vgl. die städtischen Gesandtschaftsberichte RTA IX 28tt art 3 nnd
287 art 2.
4) L c. 290.
s) Einen interessanten Beleg für diese Wirkung giebt ein Schreiben
Ulms an Xürdlingen vor dem Nürnberger ßcichstage März 1430 (1. c. 297).
Ulm fürchtet niimlich „da dieser Tag ohne grossen Aufwand zu besuchen“
sei, würden auf demselben die Städte durch Ueberwiegen des Herrenstandes
benachteiligt werden.
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ständig zur Unmöglichkeit werden. Dagegen mussten auf der-
artigen Reichstagen die ausserdeutsche, einer energischen Reichs-
politik aus Princip oder Interesse allezeit feindliche Umgebung
des Königs viel mehr in Wirksamkeit treten.1)
Zweitens bedeuten doch die wiederholten Forderungen der
Kurf Qrsten an den König, einen Reichstag in deutschen Landen
abzuhalten, nichts weiter, als dass er sich des Reiches über-
haupt annehmen solle. Von Ofen, Pressburg oder Wien aus
konnte der König nur mit papiernen Befehlen in Deutschland
Ruhe nnd Ordnung zu schaffen suchen ; thatkräftig eingreifen
konnte er nur in Nürnberg oder Frankfurt.
Abgesehen von dieser principiellen Frage bietet die Orts-
wahl bei den Reichstagen Sigmunds zu Bemerkungen wenig
Anlass. Der Reichstag findet nach alter Gewohnheit meist in
Reichs- oder Freistädten statt. Die Reichstage zu Wien (1425
und 1426), zu Straubing (1430) bezeichnen also Ausnahmen.
Am häufigsten sieht, wie zu Karls IV Zeiten, Nürnberg Reichs-
versammlungen in seinen Mauern. Frankfurt, das unter Wen-
zel besonders bevorzugt wurde, tritt dagegen zurück.*)
■) Vgl. u. a. Droysen 1. c. I 267 u. 68. — Auch bei Wenzel erfahren
wir von einem derartigen Einflüsse seiner Umgebung. Bei der Ermordung
der Königlichen Räte auf dem Karlsstein 1397 ruft Hans von Troppau den-
selben zn: „Ihr seid es, welche Tag und Nacht unserm Herrn Könige raten,
dass er nicht nach Deutschland soll nnd wollt ihn vom römischen Reiche
bringen“ (RT All, 277). Wenn auch die Reichspolitik seitens der Mörder als Motiv
nur vorgeschoben sein mochte (so vermutet Lindner „Geschichte des deut-
schen Reiches unter KOnig Wenzel“ ü, 370), so schliesst da« doch eine Wirk-
samkeit der Ratgeber des Königs in der bezciehneten Richtung nicht ans.
*) Vortrefflich passen auf die für die Ortswahl von uns gefundenen Ver-
hältnisse die Ausführungen des Severinns de Honzambano (Pufendorf) in
„De statu imperii Germania“ (Übersetzung von Bresslan p. 93) Cap. IV § 21,
welche freilich in einen ganz andern Zeit und Causalzusammenhang gehören:
„Was den Sitz des Reichstages betrifft, so ist zwar in der goldnen Bulle be-
stimmt, dass der erste Reichstag in Nürnberg abgehalten werden solle, man
bindet sich aber jetzt nicht mehr daran. In den Capitulationen wird ge-
wöhnlich nur gesagt, dass ein passend gelegener Ort innerhalb des Reiches
unter Zustimmung der Kurfürsten ansgewählt werden 9olle. Aus leicht ein-
zusehenden Gründen wählt man seit langer Zeit eine freie Reichsstadt.
Würde der Kaiser aber z. B. Wien bestimmen, so glaube ich nicht, dass viele
Fürsten erscheinen würden.“
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Bezüglich der Zeit der Reichstage ist nur zu bemerken,
dsss an Stelle der früheren Rücksichtnahme auf kirchliche
Feste1) jetzt lediglich Zweckmässigkeitsgründe wirksam sind.
So finden in der 20 er Jahren, wo kriegerische Massregeln
gegen die Hussiten den Kern der Verhandluugsgegenstände bil-
den, die Reichstage meist im Winter oder Frühjahr statt, um
die Ausführung der Beschlüsse im Sommer zu ermöglichen.*)
Betreffs der Dauer der Reichstage sei daran erinnert, wie
sehr die unzuverlässige und leichtfertige Manier des Königs,
die Stände immer wieder auf sein Kommen zu vertrösten und
zum Warten aufzufordern, manche Reichstage, wie die zu Nürn-
berg 1421 und 30 unnütz in die Länge zog.
Capitel II.
Zusammensetzung.
Die Frage nach der Zusammensetzung der Reichstage Sig-
munds zerfällt naturgemäss in zwei Teile: wer das Recht zur
Teilnahme hatte, und wer von diesem seinem Rechte Gebrauch
machte.
Für den ersteren Punkt bietet unsere Periode nur, soweit
die Städte in Frage kommen, schätzenswertes Material. Im
Zusammenhänge mit der ganzen Stellung der Städte auf den
Reichstagen Sigmunds wird hierauf einzugehen sein. Von den
übrigen Reichsständen: Kurfürsten, Fürsten und Herren kön-
nen wir nur sagen, dass ihr Recht, am Reichstage teilzunehmen,
sich erhielt und befestigte. Erwünschte Auskunft darüber, wer
dieses Recht: das heisst die Reichsstandschaft, besass, geben
uns die unter Sigmnnd einsetzenden Reichsmatrikeln. Wer in
einer solchen angeschlagen wurde, war oder galt als reichsun-
mittelbar.
‘) Wacker 35. — Ehrenberg 38.
*) z. B. setzen die Fürsten auf dem Reichstage zu Pressbnrg dem Ter-
mine, welchen der Küttig für eine nach Nürnberg zu berufende Versammlung
vurgeschlagen batte, dem 1. Hai, ihrerseits den 5. März gegenüber, damit der
Summer nicht wieder ungenutzt verstreiche. (RTA IX, 280 art 24.)
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Mehr noch als die rechtliche wird uns die faktische Teil-
nahme an den Reichstagen beschäftigen. Sie zeigt uns, welche
Faktoren im Reiche, vom Oberhaupte angefangen, dem Reiclis-
leben ihre Aufmerksamkeit noch zuwandten , und welche vom
„Reichszusammenhange sich weggewöhnt“ hatten. Sie zeigt
deutlicher als manches andere den Grad der Auflösung, welche
die alte Verfassung ergriffen hatte.
Die Stände beteiligten sich an den Reichstagen in Person
oder durchVertreter. Natürlich galt das Erscheinen der Fürsten
und Herren in Person als wertvoller und für die Verhandlungen
gedeihlicher. Die grossen Reichstage Sigmunds : Constanz 1415
und 17, Breslau 1420. Nürnberg 1422 und 31 tragen noch ganz
den alten Charakter von Fürstencongressen. Auf andern wieder
überwiegt sehou das Gesaudtenelement. In dem Masse wie das
Interesse der Fürsten an der Reichsleitung überhaupt, nimmt
auch ihr persönliches Eischeinen auf den Reichstagen ab, bis
wir, schon unter Friedrich III, die Reiclistage ganz in Bot-
schafterconferenzen umgewandelt sehen.1)
Unter Sigmund erschien auf dem Reichstage zu Mainz, Fe-
bruar 1427, keiner der Kurfürsten in Person, ja die Pfälzer
Gesandten kehren, als sie dies erfahren, unterwegs wieder um.*)
Von dem Reichstage zu Frankfurt, dem letzten unserer Periode,
der Oktober 1431, bald nach der Katastrophe von Taus zusam-
mentrat, erfahreu wir gar, dass überhaupt nur Gesandte zu-
gegen waren.3)
Ein weniger staatsrechtlich als faktisch sehr bedeutsames
Element der Reichstage bilden die Städteboten. Die grössere
Fülle der Nachrichten lässt die Persönlichkeiten, wenigstens der
bedeutenderen unter ihnen mehr als in früherer Zeit hervor-
treten.
An ihrer Spitze stehen die bedeutendsten Diplomaten Nürn-
bergs: Sebolt Pönzing*) und Peter Volkmeir;8) dann: der lang-
') Züptl ,, Deutsche Rechtsgeschichte“ 3. Auflage 8. 565.
•) RTA IX, 12.
*) 1. e. S. 643 Z 13.
4) nicht „Sigmund Pfinzinger,“ wie Schuster S. 48 Note 2 einen Schreib-
fehlers Kerlers (1. c. VIII S. 384 Note 3) abernehmend angiebt.
*) Näheres über Pfinzing: Städtechroniken I, 86 (Uiman Stromer), 377
Note 6, dann 378 und 380. Über Volkmeir (oder Volekamer) ib. I, 385 Note 2.
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jährige Vertreter Frankfurts, Walter Schwarzenberg, dessen
Berichte l) durch ihre Klarheit und Frische und eine erfreuliche
Beimischung von Humor uns angenehm berühren. Lucas Ingol-
städter vertritt Regensburg, Sebastian Ilsung Augsburg; Ehinger
von Ulm und Bopfinger von Nördlingen sind die gewiegtesten
Staatsmänner der schwäbischen Städte. Die öfter wechselnden
Gesandten Strassburgs liefern uns in ihren Berichten ein un-
schätzbares Material.*)
Die grösseren Städte hatten natürlich immer eigene Ge-
sandtschaften. Kleinere Hessen sich meist durch die bedeuten-
deren mit vertreten. Die Städtebünde und -gruppen entsenden
gemeinsame Bevollmächtigte.
Interessant ist, dass Ulm 1414 vor dem ersten Reichstage
zu Constanz den Vorschlag macht, alle Städte sollten sich nur
durch eine bestimmte Anzahl Gesandte, etwa sechs, zusammen
vertreten lassen.5) Als Grund giebt Ulm an, die Gesandten
könnten am Ende irgendwie vergewaltigt werden.*)
Als wahren Grund vermutet Finke,6) dass man etwaiger
Zersplitterung Vorbeugen wollte.
Unentbehrlich für gedeihlichen Verlauf der Verhandlungen
war ausreichende Bevollmächtigung der Gesandten. Die Lade-
schreiben, besonders wenn sie an Städte gerichtet sind, betonen
diesen Punkt vorzüglich ; und mit Recht, denn die Städteboten
sind Meister in der, überhaupt von den Diplomaten des 15. Jahr-
hunderts gern geübten Kunst, drückenden Zumutungen oder
verfänglichen Erklärungen durch Hinweis auf mangelnde In-
struktion und die Notwendigkeit des „Hintersichbringens“ aus-
zuweichen. Wenigstens gewann man Zeit, oft aber entging
man der Erörterung über den betreffenden Gegenstand über-
haupt. Wie sehr diese Zauderpolitik eine wirksame Geltend-
‘) in grosser Zahl erhalten hei Janssen „Frankfurts Reichscorrespondenz.“
’) Die Städtebotenliste von dem königlichen Städtetage zn Nürnberg
1387 (RTA I, 301) zeigt nnü schon eine Reihe von Namen, welche, freilich
erst in zweiter Generation, zu unsrer Zeit sich wiedertinden ; z. B. vertritt
ein Ilsung Augsburg, ein l'tinzing Nürnberg, ein Ehinger Ulm.
*) 1. c. VII, 178.
4) wan wir besorgen: ist daz alle stette ir botschaft gen Costenz schicken
werden!, das inen deune gewalt zugemnolet werde, der iu nicht lieb werde.
9) „König Sigmunds reichsstädtiscbe Politik1' p. 42.
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machang der städtischen Reichsstandschaft hemmte, werden wir
weiterhin noch sehen. In einzelnen Fällen ging aber auch die
Verschleppung der Verhandlungen von den Fürsten aus.
Den Wiener Reichstag 1426 legen die rheinischen Kur-
fürsten durch die ausdrückliche Erklärung lahm, die Kurfürsten
von Sachsen und Brandenburg kämen auf eigene Faust ohne
Vollmacht ihrerseits nach Wien.1)
In Pressburg December 1429 veranlassen die Kurfürsten
von Mainz und Brandenburg, um einen Reichstag auf deutschem
Boden zu erzwingen, die Gesandten der übrigen Kurfürsten zu
der Erklärung: sie seien zum Eintritt in die Verhandlungen
nicht genügend instruiert.2) Als nun die Städtegesandten, um
dem Könige sich willfährig zu zeigen, plötzlich erklären, sie
hätten ausreichende Vollmacht, sind die Fürsten über dieses
selbständige Auftreten sehr ungehalten.8) Auf dem Frankfurter
Tage 1 131 hatte keiner der erschienenen Gesandten genügende
Vollmacht: jeder war da zu hören, nicht selbst zu raten.4)
Gehen wir nun zur Betrachtung der faktischen Teil-
nahme an den Reichstagen über, und beginnen wir mit dem
Reichsoberhanpte selber.
Nach seiner ersten zwiespältigen Wahl 1410 und der zwei-
ten einhelligen Erwählung 1411 blieb Sigmund noch 3 Jahre
dem Reiche fern. Er betritt deutschen Boden zuerst 1414 in
Basel; seine ersten Tage zu Speier und Koblenz sind verhält-
nismässig wenig besucht.5) Erst der Krönungstag zu Aachen
sieht eine stattlichere Versammlung deutscher Reichsangehöriger
um den König versammelt. Der ideale Schwung und die
geniale Schaffenslust und -kraft, mit welcher Sigmund an die
*) »o schreibt der Kurfürst von der Pfalz an Strassbnrg. RTA VIII, 373.
*) 1. c. IX 286 art 3 — 287 art 2.
*) vgl. v. Bezold III, 23.
4) Ulm schreibt am 12. November an Nördlingen (RTA IX, 484 — S. 643
Z. 18 t) : «... da wiste aber nieman nichtzit ze raten, denne jedermann ge-
fertigt were, ze losen und wolte sich niemen mer gevvalts annemen.“
•) Die Erzählung Windeckes (Cap. 31) , dass der König aus Verdruss
über das Ausbleiben so vieler Fürsten habe ungekrönt nach Ungarn zurilck-
kehren wollen, wird von Lenz ( „ König Sigmund und Heinrich V von Eng-
land*) S. 61 mit Recht als reine Ausschmückung zurückgewiesen. Ihre Ent-
stehung aus irgend welcher im Unmut hingeworfenen Äusserung des Königs
begreift sich ja sehr leicht.
Wen dt. Der deutsche Keiclutag unter König Sigmund 3
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Spitze der conciliaren Bewegung sich stellt, kommen auch dem
Reiche zu gute. Neben dem Concil laufen besonders 1415 aber
auch 1417 deutsche Reichstage einher,*) welche zu den bedeu-
tendsten dieser Epoche gehören.*)
Während des Königs Reise nach Frankreich und England
bekunden 3 Ladungen zu Reichstagen : aus Constanz Juni 1415.
Perpignan Oktober 1415 und Calais Oktober 1410 3) seine Sorge
für das Reich.
Der Schluss des Constanzer Ooncils führt Sigmund Anfang
1419 in seine lange sich selbst überlassenen ungarischen Erb-
lande zurück,4) aber schon der Begiun des nächsten Jahres
sieht ihn, umgeben von einer grossen Reichsversammlung in
Breslau, auf dem Tage, von dem die Reichskriege gegen die
Hussiten recht eigentlich datiren. — Bereits auf dem nächsten
Reichstage, Nürnberg 1421 bilden diese den Hauptgegenstand.
Der König, von den Ständen mit Ungeduld erwartet, kommt
nicht: „ehafter not wegen“ sagt das Nürnberger Schenkbuch,4)
„v il licht ander siner auligender umnuss halp.“ schreiben
die Kurfürsten den Städten von Wesel aus/') Nach Windecke7)
hatte ein Türkeneinfall in Ungarn, wahrscheinlicher aber die
Bedrohung Mährens durch die Hussiten den König vom Reichs-
tage ferngehalten.8)
Bezeichnend ist die Äusserung Sigmunds in dem Schreiben
an seinen Vertreter Bischof Oeorg von Passau, worin er durch
diesen die Kurfürsten bitten lässt, auf ihn zu warten und
hinzufügt: „nu heften wir in (den Kurfürsten) selber geren
‘) Tiber die Grenzen zwischen den Heratungen des Concils, besonders in
der „natio Germanica“ und den Reichstagsverhandlnngeu vergl. Kerler in
seiner Einleitung zum Reichstage von Coustanz 1415 (KTAVJI S. 255 ff.)
*) Aschbacli II, 96 ff. und 226 ff.
3) RTA VII, 194, 95, 96.
*) Kessler-Klein II, 342.
s) RTA VIII S. 48 Z. 18 f.
*) I. c. 49. — Ähnliche Ansdrncksweise in dem Schreiben an Kiinig Wladis-
law v. Polen (1. c. 51). Vgl. ib. S. 65 nte 1.
') Cap. 89.
*) Der Kiinig weilte im März und April 1421 in Mähren (vgl. Sigmunds
Regesten bei Aschbach 111,438). Der Einfall der Türken in Siebenbürgen er-
folgte wohl erst im Sommer (vgl. Aschbach 111, 129. — Kessler-Klein II, 359 f.)
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geschriben und forchten. das wir sie erzürnten und unwillige
machten.“1)
Auf dem Reichstage zu Nürnberg 1422 ist der König an-
wesend. aber erst, nachdem er durch sein Zögern und durch
Verschiebung des ursprünglichen Termins den Kurfürsten zu
ihrem schon erwähnten eigenmächtigen Vorgehen8) Anlass ge-
geben hat. Die Missstimmung gegen Sigmund muss damals
schon allgemein gewesen sein, denn aus Brieg schreibt ein Arzt
des Königs im April 1422 dem Deutschordenshochmeister: er
fürchte, wenn der König nicht, wie er gelobt und geschworen,
in Regensburg sich einfinde, werde er von allen seinen Kronen
und Reichen kommen.8)
Nach dem Nürnberger Reichstage verlässt der König
Deutschland4) auf 8 Jahre. Die Landfriedenstage des Jahres
1423 sind das Werk der Kurfürsten; ein von dem König be-
absichtigter Reichstag zu Frankfurt November 1423 scheitert
an dem passiven Widerstande ebenderselben. Ähnlich ergeht
es mit dem Reichstage zu Wien Januar 1425. In den Ver-
handlungen über denselben zwischen König und Kurfürsten ver-
langen letztere immer wieder, Sigmund in Deutschland zu
sehen.5) Aber der König weigert sich beharrlich. Auch als
der Wiener Reichstag Februar 1426 eine neue Versammlung
im Mai zu Nürnberg beschliesst, spricht das königliche Aus-
schreiben6) nur von einer Gesandtschaft. Aber aus Gründen,
die wir nicht kennen, ändert Sigmund seinen Entschluss. In
einem Erlasse vom 2. 4. 1426 7) sagt er sein Erscheinen in
Person zu, freilich nur, um die Stände doch wieder zu ent-
täuschen. Für den 8. Mai war der Tag berufen, und erst Ende
Juni erfuhr man definitiv, dass auf den König nicht zu rechnen
sei. Als Grund des Ausbleibens giebt ein Schreiben vom 15.
>) RTA VIII, 24.
’) Vgl. u usern S. 8 f.
J) RTA VIII, 118.
4) wenn man von Ostreich absieht.
*j Vgl. besonders die Instruktion fiir die kurfürstlichen Gesandten
1. c. 3o9 und ihren Bericht I. c. 311.
•) 1. c. 375.
’) 1. c. 384.
••
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Mai l) Erkrankung an. Die bestunterrichteten Gewährsmänner
für unsere Zeit: Eberhard Windecke und Andreas von Regens-
burg erzählen das Ausbleiben des Königs, ohne einen Grund
anzugeben.*) — Nürnberg schreibt dem Könige, es habe ihn vor
Kurfürsten und Fürsten nach Möglichkeit „verantwortet.“ s)
Noch mehr als bisher tritt der König in den folgenden
Jahren zurück. Der Reichstag zu Mainz, den seine Gesandten
nm sich sammeln sollen, kommt nicht zn Stande.4) Die
Ausfertigung der Beschlüsse des Frankfurter Reichstages April
1427 b) nennt die königlichen Gesandten nicht.®)
Die beiden Frankfurter Tage Ende 1427 beruft und leitet
der Cardinal Heinrich, genannt: von England. Der grösste
gesetzgeberische und organisatorische Versuch jener Epoche
— freilich nur ein Versuch — das Reichskriegssteuergesetz,
kommt ohne jede Mitwirkung des Staatsoberhauptes zu Stande.
Und wie am Zustandekommen des Gesetzes, so ist der König
auch an den Tagen des Jahres 1428. welche seiner Ausführung
galten, gar nicht beteiligt. Auch die Landfriedensbewegung
von 1429, wie sie ja ganz kurfürstlichen Interessen entspringt,
bedarf des Königs nicht.
Mitten in die Bemühungen um Ausführung des Reichs-
steuergesetzes fiel die Ankündigung Sigmunds an die Städte:
er werde ins Reich kommen und daselbst Friede und Ordnung
schaffen.7) Wenn es Sigmund überhaupt damit Ernst war, so
mag für ihn der Gedanke an Romfahrt und Kaiserkrönung aus-
schlaggebend gewesen sein. — Erst nachdem auf dem Reichs-
tage von Pressburg Ende 1429 die Stände in der Person der
Kurfürsten von Mainz und Brandenburg dem König baldiges
Erscheinen im Reiche dringend an’s Herz gelegt hatten,*) trat
') bta vni .m.
*) Wimlecke Cap. 145; — Andreas v. Regensburg ed. Hüller in , Fontes
rernm Anstriacarum " 1, 6 S. 440.
•) RTA VIII, 404.
4) 1. c. IX, 13.
») 1. e. 33.
*) Die lateinische Ausfertigung, I. c. 30, welche von Vertretern des Königs
spricht, bezeichnet Kerler als Entwurf (1. c. S. 20).
’) RTA IX, 173. — Nachschrift.
•) 1. c. 284 art 4 und 11.
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37
im folgenden Jahre Sigmund wirklich wieder in Deutsch-
land ein.1)
Der Reichstag zu Nürnberg, März — Mai 1430 tagt allerdings
noch ohne den König. Wir sehen hier wieder: fortwährende
Versprechungen und Vertröstungen seitens des Königs und seiner
Räte, Misstrauen und Ungeduld seitens der Stände,11) bis letz-
tere endlich des Wartens müde, ohne das Reichsoberhaupt zu
Rat und That schreiten.
Erst im August versammeln sich zu Straubing deutsche
Reichsstände um Sigmund. Im Februar des folgenden Jahres
schaart sich dann um ihn die glänzendste und bedeutendste
Versammlung, die das Reich seit lange gesehen. — Aber nur
kurze Zeit litt es den König in Deutschland. Kaum hatte sich
die ganze gewaltige Rüstung, welche der Nürnberger Reichstag
in's Leben gerufen, vor dem kriegerischen Ungestüm der Hus-
siten aufgelöst, da trat der König seine Romfahrt an, und auf
dem Reichstage zu Frankfurt Oktober 1431, der unsere Periode
abschliesst, ist weder der König, noch einer der Reichsfürsten
anwesend. —
Je mehr das Reichsoberhaupt der persönlichen Leitung der
Reichsversammlungen , ja damit der Reichsleitung überhaupt,
sich entzog, desto mehr musste die Teilnahme der Kurfürsten
in den Vordergrund treten, wie es sich schon bei Betrachtung der
Berufung uns ergeben hat. In den ersten Jahren Sigmunds
zeigt sich beides noch in geringerem Masse.
Auf seinem ersten Reichstage zu Speier sind nur Kurmainz
und Pfalz anwesend,5) auf dem ersten Fürstentage zu Coblenz
August 1414: Mainz, Köln, Trier, Pfalz,4) in Aachen bei der
Krönung fehlt vom Kurcollegium ausser Böhmen 5) nur Mainz.6)
•) Er verlies« Ungarn zu langer Abwesenheit. — Über die Anstalten
Siginnnds zu seiner Vertretung vgl. Fessler-Klein II, 380.
’) Vgl. z. B. das Sehreiben Walter Schwarzenbergs an Frankfurt (1. c.
IX, 338): Der König habe geschrieben, er werde am 1. Juni in Straubing
sein, ,iz mag gescheen, ich glauben iz net.“ — Nürnberg zieht durch Boten
Erkundigungen über das Kommen Sigmunds eiu (1. c. 341 art 4).
•) HTA VII S. 175.
*) I. c. VII nro 143.
*) das für unsere Periode überhaupt wegfällt.
•) Die Vermutung Aschbachs (I, 409), Kurf ürst Johann v. Mainz sei des-
halb nicht erschienen, weil Sigmund das seinem Bruder Wenzel bei der Wahl
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38
Burggraf Friedlich von Nürnberg vertritt die brandenburgische
Kurstimme, die er schon bei Sigmunds Wahl geführt hatte. —
Auf den Reichstagen zu Constanz waren alle Kurfürsten anwe-
send ; teilweise empfingen sie daselbst ihre Belehnung. ■) —
In Breslau 1420 waren Sachsen, Brandenburg, Trier, vielleicht
auch Mainz versammelt. *) — In Nürnberg 1421 finden wir die
4 rheinischen Kurfürsten,3) ebenso zu Wesel.4) Auf dem Für-
sten- und Städtetage in Görlitz, wo es sich darum handelte,
die schlesischen Stände zum Anschluss an den Nürnberger
Fttrstenbund gegen die Hussiten A) zu bringen , sind alle Kur-
fürsten ausser Pfalz vertreten.6) — Der grosse Reichstag zu
Nürnberg 1422 vereinigt alle Kurfürsten um den König.7) —
Auf dem Tage zu Frankfurt, August 1423, wo das Kur-
collegium den Städten seine Landfriedenspläne vorlegt, sind
Mainz, Trier, Pfalz in Person, die übrigen durch Gesandte er-
schienen.")
Zu dem Reichstage in Wien , Januar 1425 , kam kein
Kurfürst. Der Burgmann aus Friedberg, Richard von Drahe,
der statt dessen von ihnen zum Könige geschickt wurde, war
wohl mehr Bote als Gesandter.9)
Nach Wien, Februar 1426, kommen nur die Kurfürsten
von Sachsen und Brandenburg; ihre rheinischen Collegen hielten
sich ostentativ fern.10)
Zu dem Reichstage in Nürnberg 1426 finden sich Mainz,
Trier, Sachsen in Person, die andern 3 durch Gesandte ein;11)
gegebene Versprechen, ihm zur Kaiserkrone zu verheilen, nicht erfüllt habe,
ist wenig wahrscheinlich.
*) Aschbach II, 38 f, 236 ff.
*) RTA Vn S. 387.
*) 1. c. VIII nro 38 art 4.
*) 1. c. 49 und 63.
») 1. c. 29 und 30.
«) 1. c. 68.
*) 1. c. 129 und 131; auch Windecke Cap. 107 (abgedruckt RTA VIII,
182), wo nbcr Brandenburg fehlt.
s) Windecke Cap. 112.
“) RTA VIII, 335 und 36. — Windecke Cap. 127 nennt irrthümlich den
Kurfürsten von Brandenburg als anwesend.
'») RTA Vni, 373.
“) 1. c. S, 455.
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39
in Mainz Februar 1427 erscheint kein Kurf ttrst persönlich ; *)
in Frankfurt Februar 1427 ist mit Sicherheit nur der Kur-
fürst von Brandenburg nachzuweisen.2) Dem Rufe des Cardi-
nais von England nach Frankfurt leisten Mainz, Cüln, Trier,
Brandenburg in Person, Sachsen durch Gesandte Folge.3)
Zu Heidelberg December 1427 wo es sich um den
Beitritt der Städte zu den Frankfurter Beschlüssen handelte,
waren fünf Kurfürsten in Person und sächsische Gesandte an-
wesend.
Die Tage in Sachen des Steuergesetzes, 1428. zu denen
meist der Kurfürst von Brandenburg als Feldhauptmann und
Vorsitzender der durch das Frankfurter Gesetz bestellten
Centralcommission , aber auch gelegentlich andere Kurfürsten
in Person oder durch Bevollmächtigte sich einfanden, übergehen
wir; ebenso die in der Landfriedenssache berufenen Tage von
1429, auf denen der Kurfürst von Mainz die Hauptrolle spielt.
Nach Pressburg Ende 1429, begeben sich Mainz uud
Brandenburg: die übrigen, mit Ausnahme Cölns, schicken
Vertreter.4)
Auch in Nürnberg, 1430, finden wir nur Mainz und Bran-
denburg in Person.4) In Straubing, der ersten Reichs Versamm-
lung, die der König uacli langer Abwesenheit wieder auf deut-
schem Boden abhält, empfängt ihn nur Friedrich von Brauden-
•) I. e. IX 12 und 13.
*) v. Bezold 11, 08 nt« 1.
•) RTA IX, 89.
4) KTA IX 8. 343. — Kerler (in der Einleitung zum Reichstage zu
Pressburg unter A, 1. c. 8. 341 f.) entnimmt aus einem I, »beschreiben des
Köiiigs an Brandenburg vom 20. August 1429 (1. c. 272) der Königs habe
.auf das Erscheinen der Kurfürsten von Trier. Cüln und Pfalz von vornherein
nicht gerechnet ;“ besonderen Wert lege er nur auf die Anwesenheit von Mainz,
Brandenburg und Sachsen. Als Grund hierfür vermutet er, dass der König
die Trier und Cüln unliebsame kursttehsische Successionsfragc in Pressburg
verhandeln wollte, welche er auch wirklich daselbst verhandelt hat. Iler König
sagtabor in nro 272 nur ;.er habe dem Erzbischof von Mainz auf seine Botschaft ge-
antwortet, der Kurf ürst solle selbst nach Wien kommen, und wer von seinen
Mitknrfürsten (d. h. den rheinischen) nicht selbst komme, dessen Gesandte
solle er wenigstens mit sich bringen.
*) 1. c. 317.
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40
bürg.1) Zu Nürnberg, 1431, endlich ist das ganze Kurcollegium
mit Ausnahme Sachsens erschienen.*) —
Mit den übrigen Reichsständen können wir summarischer
verfahren.
Den Keni der Reichstagsbesucher bildeten Fürsten, Herrn
und Städte Schwabens, Frankens, Bayerns, des Ober- und
Mittelrheins. Innerhalb dieser die wechselnde Teilnahme ver-
folgen zu wollen, würde uns zu weit führen.
Über diese Gebiete hinaus war die Teilnahme an den
Reichsaugelegenheiten und damit auch an den Reichstagen selbst
schon sehr geschwunden. Vor allem, der Zusammenhang
des deutschen Nordens und Ostens ist mit dem Reiche durch-
aus gelockert.
Seit Karl IV die grosse Idee gefasst, Brandenburg und
Böhmen mit den benachbarten Gebieten zu einem grossen
mittel-norddeutschen Reiche unter luxemburgischer Herrschaft
zu vereinigen, und deshalb in die nordische Politik, die Händel
der sächsischen und lauenburgischen Askanier, der Meklenburger,
Schauenburger und Welfen mit Gewalt und List eingegriffen
hatte,3) beachtete man da oben im Norden Kaiser uud Reich
nicht viel. Die norddeutschen Stände wurden noch immer,
wenigstens zu den grösseren Reichstagen, geladen, figurierten
noch immer in den Reichsmatrikeln, thaten aber für das Reich
wenig.
Von norddeutschen Städten können wir auf den Reichs-
tagen Sigmunds Lübeck, ausser in Constanz, wo es sich nicht
um Teilnahme an den Reichsgeschäften, sondern um das Ein-
greifen des Königs und seines Gerichtes in die Verfassungs-
wirren der Stadt handelte,4) bei den Nürnberger Reichstagen
von 1421, 22 und 31, ferner Hamburg 1421 nachweisen.
Von Fürsten erscheinen uns die Braunschweiger öfter
l) 1. o. 367. — Der Pfalzgraf Ludwig lies» «ich durch «einen Bruder
• >tto vertreten.
’) Vgl. die Präsenzlisten 1. e. 448—45 ; in der Liste Tuchers (444) fehlt
Kurtrier.
•) so im Streite um die liineburgische Erbschaft 1355—78.
*) vgl. Wehrmann in .Hansische (ieschichtsblätter* 1878 8. 103 ff. —
Finke p. 72 ff. — Franklin I, 266 ff.
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41
durch Gesandt« vertreten: in Aachen 1414, Nürnberg 1430;
in Person: Breslau 1420, Nürnberg 1431. ') Herzog Erich
von Sachsen - Lauenburg wird bei dem Nürnberger Reichs-
tage von 1422 genannt; später veranlassten ihn seine Be-
mühungen um die sächsische Kur zu regerem Verkehr
mit König und Kurfürsten. Pommersche Fürsten begegnen
uns beim Krönnngstage 1414 und in Nürnberg 1430. Von nord-
deutschen Prälaten finden wir, ausser dem häutiger erscheinen-
den Erzbischof von Magdeburg : die Bischöfe von Verden (Cob-
lenz 1414), Hildesheim (Nürnberg 1426), Lübeck (Nürnberg
1430), Brandenburg (Breslau 1420), Lebns (Nürnberg 1426).
Der deutsche Orden beschickt mehrere Tage Sigmunds;
natürlich mehr um deutsche Hilfe gegen seine polnischen Be-
dränger zu erlangen, als um Reichsgeschäfte zu treiben.
Auch Schlesien bekundet nur unter dem Drucke der Hus-
sitengefahr ein lebhafteres Interesse für die deutschen Reichs-
tage. In seiner Hauptstadt tagte 1420 eine der bedeutendsten
Reichsversammlungen Sigmunds; hier ertönte die erste Kreuz-
predigt gegen die böhmischen Ketzer. Eine stattliche Zahl
schlesischer Fürsten hatte sich um den König versammelt.*)
In Nürnberg 1422 finden wir die Stadt Breslau und 2
schlesische Fürsten ; ebenso 2 Fürsten : 1426 in Wien. Die
Stadt Breslau und fürstliche Räte begegnen uns April 1427 in
Frankfurt; der Bischof von Breslau : 1430 in Straubing; Herzog
Ludwig von Brieg: 1431 in Nürnberg. Die gleiche Gefahr führt
auch die lausitzisclien Stände und Städte, wie Görlitz, Zittau
wiederholt zu den Reichstagen.
Ein besonderes Element der Reichsversammlungen unserer
Epoche bilden die böhmischen Royalisten, welche die stete Be-
drohung durch ihre abgefallenen Landsleute immer wieder auf
die Reichshilfe anwies. Zu Breslau erschien eine stattliche
l) Herzog Wilhelm von Braunschweig lässt sich allerdings nur in der
Zeugenreihe des ritterschaftlichen Entwurfes zum königlichen Pfahlbürgerver-
bote nachweisen (KTA IX, 427), würde aber in derselben kaum Vorkommen,
wenn er nicht in Nürnberg anwesend, oder doch sicher erwartet gewesen wäre.
*) Die Zengenreihe der Scbiedssprnchaurknnde zwischen Polen und dein
deutschen Orden (RTA VII , 260) führt deu Bischof von Breslau und acht
weltliche Fürsten auf.
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42
Vertretung des böhmischen Adels;1) nach Nürnberg 1422 kommen
nach Windecker Präsenzliste*) „sechs heim von Beliem, die do
nit meinent Hussen zu sein,“ geführt, von dem bekannten'
böhmischen Royalisten Ulrich von Rosenberg. Von Städten
sind Pilsen, Eger, Tachan nachzuweisen.3) — Zum Reichstage
zu Wien 1426 ladet der König, wie wir aus einem Schrei-
ben an Ulrich von Rosenberg wissen, auch die „Herren seiner
Partei“ ein.4)
Gesandte von Eger begegnen uns 1426 in Wien, Februar
1427 in Mainz, April und November 1427 in Frankfurt,1) ferner
auf Tagen der Jahre 1428 und 29. Auch in Pressburg 1429
bilden die Böhmen einen wichtigen Bestandteil. In der Er-
öffnungssitzung vor dem Könige erscheinen die Böhmen in einer
Linie mit den übrigen Reichsständen. *) Am Schlüsse der Ver-
handlungen treten sie noch einmal auf. Sie klagen ihre Not
und geben Anweisung, wie man den Ketzern am besten bei-
kommen könne.’)
Wie hier spielen sie auch auf dem Nürnberger Reichstage
von 1481 gewissermassen die Rolle von Sachverständigen. Gleich
in der ersten Geschäftssitzung beschliessen die Stände, „den
von Rosenberg und andre Böhmen“ kommen zu lassen, um
deren Rat zu hören. Als aber diese vorwurfsvoll ihre Not
klagten und energische Unterstützung durch Geld und Truppen
verlangten, schickte man sie wieder nach Hause.8)
Die königliche Bestallungsurkunde für Friedrich von Bran-
denburg als Feldhauptmann 9) nennt unter den Ständen, auf
•) ETA VII 8. 387.
a) Cap. 107 — besser gedruckt in ETA VIII, 182 art 5 — v. Be-
zold 1, 94.
s) aus dem Nürnberger Scheckbuch ETA VIII, 184.
4) 1. c. VIII, 368.
*) Dem Gesandten Egers, Niclas Gumerauer verdanken wir die, abge-
sehen von der städtischen Aufzeichnung 1. c. IX, 70, einzig erhaltenen Ge-
sandtschaftsberichtc zum Frankfurter Eeichstage 1. c. 89 und 90.
«) 1. c. 286 art. 1.
') 1. c. art 28.
*) 1. e. 433 art 1: „und also,1- berichtet der Eatsbote Walter Ehinger am
15. Februar an Ulm, -gefiel es weder den fürsten noch nieman wol, daz man in
gelt geben solt und hiess sie an ir herberg gan.“ — vgl. v. Bczold III, 94.
•) 1. c. 423.
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deren Rat die Nürnberger Beschlüsse gefasst seien, auch: .vil
unser panirherren edlen und getrnwen unser cronec zu Behem.“ —
Diese naturgemäss nur ganz skizzenhafte Betrachtung der
faktischen Teilnahme an den Reichstagen muss, wenn wir die
Verbindung der einzelnen Stände mit dem Reiche vollständig
erkennen wollen, durch das ergänzt werden, was über die
räumliche Erstreckung der Competenz der Reichstage bei einer
ausführlichen Darstellung der Reichsgeschichte unter Sigmund
beigebracht werden könnte. —
Die weitausschauende nur europäische Politik Sigmunds,
über deren Peripetieen der König nicht selten seine nächsten
Sorgen und Pflichten zu vergessen liebte, musste den Reichs-
versammlungen viele fremde Elemente zuführen.
Eine reichausgestattete englische Gesandtschaft ist auf
dem Fürstentage zu Coblenz und bei der Krönung in Aachen
anwesend. *) Die Präsenzliste desselben Coblenzer Tages *)
nennt uns u. a. einen „herzauge von Ruyssen“ 3) dann den Mar-
quis von Montferrat.
Von den Besuchern der Constanzer Versammlung, die ja
in erster Linie zum Concil und nicht zum Reichstage sich ein-
gefnnden hatten, müssen wir absehen.
In Breslau 1420 finden wir, ausser einer englischen Ge-
sandtschaft. die Vertreter des Königs von Polen,4) welche den
Schiedsspruch Sigmunds zwischen ihm und dem deutschen Or-
den entgegennehmen sollten. Beim Nürnberger Reichstage 1422
begegnen wir griechischen,5) englischen, polnischen, savoyischen
Gesandten®). Zn Nürnberg 1430 fand sich ein portugiesischer
Prinz ein.7) Die Präsenzlisten8) des Nürnberger Reichstages
*) Über den Zweck derselben vergl. Lenz 1. c. 35 und 63. — Caro
.Bündnis von Canterbury' 16 ff. — Kerler 1. c. VII, S. 180.
*) RTA TO, 143.
5) wahrscheinlich ein Herzog Sigmund von W'eissmssland (.Kerler 1. c.
S. 200 nte 3), den Caro (.Geschichte Polens III, 446 nte 1) auch beim Con-
stanzer Concil als anwesend constatiert.
4) genannt n. a. RTA VII, 277.
6) Windecke Cap. 107 (RTA VIII, 182 art 4). — Das Nürnberger Schenk-
buch : 1. c. 184 art 7.
•) 1. c. 184.
7) 1. c. IX 317, auch 342 art 3.
") 1. c. 443- 45.
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44
1481 nennen uns einen „Herzog von Tatern,“ *) lerner s&voyische
und mailändische Gesandte.
Endlich finden sich, so oft der König in Person an Heichs-
tagen teilnimmt, ungarische Herren, gelegentlich sogar in gros-
ser Zahl, ein.
Pie Vertreter der Curie nehmen, besonders während der
Reichskriege gegen die Hussiten, unser Interesse in Anspruch.
Auf dem Reichstage zu Nürnberg April 1421 und dem daran
sich anschliessenden Tage zu Wesel wirkt der Cardinal von
Piacenza, Branda, mit Eifer und Erfolg.2) Wahrscheinlich dür-
fen wir ihm einen hervorragenden Einfluss auf die Gründung
des Nürnberger Fürstenbundes gegen die Hussiten zuschreiben.
Auch auf dem Nürnberger Reichstage des folgenden Jahres ist
er thätig. In dem an die Ortswahl anschliessenden Conflikt
zwischen König und Kurfürsten scheint er auf Seiten der letz-
teren zu stehen.3)
Auf dem Reichstage zu Nürnberg 1426 suchte der Cardinal
Orsini den Eifer der deutschen Reichsstände gegen die Hus-
siten zu entflammen.4)
Der bedeutendste Vertreter der Kurie während dieser
Epoche war unstreitbar Henry Beaufort, Bischof von Winchester,
Cardinal von England bei den Deutschen genannt. — Sein Ein-
fluss auf die Geschicke seines Vaterlandes gehört in andern
Zusammenhang, aber auch Deutschland hat seine Wirksamkeit
wiederholt erfahren.
>) RTA IX S. 601 nte 5.
*) v. Besold I, 50.
*) v. Herold I, 84 f. — Dazu passt, dass der Pabst Mai 1422 an den
Grossf (traten Witold schreibt: Die Kurfürsten würden, selbst wenn der König
nnthätig bliebe, (eciara tacente . . . Sigismnndo) die Besitzergreifung Böhmens
durch ihn (Witold) nie zugeben, (v. Bezold 1, 85 nte 1), während er, gleich-
zeitig etwa, es nötig findet, Sigmund sehr energisch zur Bekämpfung der
Ketzerei zti ermahnen : RTA VIII, 106.
*) 1. c. 401. — Ein Schreiben Sigmunds an einen in Nürnberg bei den
Ständen weilenden Kirchenfürsten, worin er sein Ausbleiben rechtfertigt (1.
c. 405), trägt die gleichzeitige Aufschrift: .('ardinali de Anglia pro ejestir-
pacione haeresis.“ Ich möchte diese Notiz lieber für ein Versehen des Schreibers
halten und als Adressaten f'ardinai Orsini annehmeu, als mit Kerler (S. 488
nte 1) an Branda oder gar an Heinrich von Winchester denken. Auch v. Be-
zold II, 78 nte 2 scheint das Schreiben anf Orsini zu beziehen.
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In den Gang des Constanzer Concils, vor allem in den
Streit über die Priorität der Pabstwahl oder des Reformwerkes
greift er bedeutsam ein.1) Nach, freilich nur einem Gewährs-
manne, der aber als Augenzeuge berichtet, nahm er an dem
Kreuzzuge von 1421 Teil.*) Er sah im Sommer 1427 die deut-
schen Heere bei Mies und Tachau vor den Hussiten zerstieben.*)
Unmittelbar darauf unternahm er es, die Kräfte des Rei-
ches gegen die böhmische Rebellion zusammenzufassen, mit
einem kühnen Griffe die Reichsleitung vorübergehend in seine
Hand zu bringen, die Schäden der deutschen Reichs- und Kriegs-
verfassung, die er klar erkannt haben muss, zu heben. Die
Beratungspunkte, welche er auf dem Frankfurter Septembertage
für den Reichstag im November feststellen liess,*) enthüllen
schonungslos die Gründe der steten Misserfolge gegen die Hus-
siten. Vor allem soll unter den Deutschen die vollste Ein-
mütigkeit herrschen, der trotzige Eigenwille, der bisher schon
soviel Unheil gebracht hat, bezähmt werden. Die bisher gel-
tende Heeresordnung soll gründlich geprüft, die Unterstützung
der böhmischen Royalisten, das Verhalten bei Verhandlungen mit
den Ketzern und bei der Eroberung von Städten oder Schlössern,
die Frage, ob die Anwesenheit vieler Fürsten beim Heere er-
spriesslich sei — Alles soll wohl erwogen werden. Sogar den
Landfrieden, als die unerlässliche Vorbedingung für erfolgreiche
Kriegführung, berühren die Artikel. Bei dieser klaren Einsicht
in die Verhältnisse dürfen wir auch den persönlichen Anteil
des Cardinais am Zustandekommen des Frankfurter Reichs-
kriegssteuergesetzes sicher nicht zu gering anschlagen. Der
deutsche Nationalstolz mag sich zu dem Geständnis bequemen,
dass die erste grossartige Organisation, welche jeden Reichs-
angehörigen gleichmässig zu Leistungen für das Ganze heran-
znziehen suchte, der Anregung eines Fremden entsprungen ist.
Entsprechend dieser bedeutenden Anteilnahme übertrugen
auch die Frankfurter Beschlüsse neben dem Kurfürsten Fried-
') Lenz 173 ft
*) Jeban de Waurin ed. Hardy in Scriptt. revr, Britt. V, 324; citiert
bei Lenz 178 Note 3. Die bei v. Bezoid I, 54 f. für die Darstellung ver-
werteten Quellen nennen den Cardinal v. England nicht.
*) ?. Bezoid II, 115 ff.
4) KTA IX, 58 — besprochen durch v. Bezoid II, 124 f.
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46
rieh von Brandenburg dem Cardinal die Leitung des Reichs-
krieges gegen die Ketzer.')
Aber seines Bleibens in Deutschland war nicht lange,
schon im Frühjahr 1428 riefen ihn andere Pflichten aus dem
Reiche ab.*)
Der letzte Vertreter der Curie auf den Reichstagen un-
serer Epoche war der Cardinal Giuliano Cesarini. Zu Nürn-
berg 1431 war es. wo er den deutschen Ständen seinen glühen-
den Feuereifer für die Ausrottung der böhmischen Ketzerei
einzuflössen suchte, wodurch der König zu dem salbungsvollen
Ausspruche sich veranlasst sah: Das sei doch eine besondere
Gnade von Gott und dem Heiligen Geiste, dass die beiden
Häupter der Christenheit, ohne vorherige Verabredung, in dem-
selben Vorhaben einander begegneten.3)
Freilich erwies sich selbst diese schöne Einmütigkeit als
unwirksam, und der Eifer Cesarinis erlosch in der Schmach der
Niederlage von Taus.
Capitel TIT.
Formell der Verhandlung.
Der Vorsitz des Königs auf den Reichstagen geht während
unserer Periode in noch höherem Masse als das königliche Be-
rufungsrecht in andre Hände, über. Manche Reichstage, die
der König wenigstens berufen hatte, werden selbständig von
den Fürsten geleitet.
So tagt der Reichstag zu Nürnberg 1421 zwar auf Grund
der Ladung des Königs, aber nicht unter seiner Leitung. Dessen
Vertreter, Bischof Georg von Passau, hat nur das Ausbleiben
des Königs zu entschuldigen und die Stände zum Warten zu
bewegen. Die von ihm für den 17. April berufene Reichstags-
sitzung4) verfolgt nur diesen doppelten Zweck. Die eigentlichen
■) HTA IX 76 art 34 (S. 10!!) — v. Bezold II. 132.
*) v. Bezold II, 132.
>) HTA IX, 438 (S. 590) — v. Bezold UI, tot.
4) HTA VIII S. 39 Z. 15 ff.
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Verhandlungen nehmen, soweit wir sehen, die Fürsten selb-
ständig in die Hand.1) — Auch der Reichstag zu Nürnberg 1426
tagte jedenfalls unter fürstlichem Vorsitze. Der Graf von
Oettingen, einer der königlichen Gesandten,8) erscheint in den
Verhandlungen mit den Städten durchaus nur als Beauftragter
der Fürsten.3) — Auf dem Reichstage zu Frankfurt November
1427 leitet der Cardinal von England die Verhandlungen ein.
Er ist, es auch wieder, der in feierlicher Schlusssitzung den
Städten die fürstlichen Beschlüsse mitteilt und sie auffordert,
ihre definitive Erklärung über dieselben in einem Monat zu
Heidelberg abzugeben.4)
Andere Reichstage, wie zu Nürnberg 1422 und 31. Press-
burg 1429 tagen noch ganz in alter Weise unter königlicher Lei-
tung. Aber der Vorsitz des Reichsoberhauptes beschränkt sich
auch hier meist auf einzelne grosse. Sitzungen. Die Einzelarbeit
entzieht sich mehr und mehr seinem Einflüsse.
So beginnt der Reichstag zu Pressburg am 4. December
mit einer Antrittsaudienz der Stände beim Könige, an welche
keine Verhandlungen sich anschliessen.5) Am 5. Vormittags
findet die feierliche Eröffnungssitzung statt, in der Sigmund den
Anwesenden für ihr Erscheinen dankt und einen TJeberblick
über die Aufgaben der Reichsversammlung giebt.8) Am Nach-
mittag desselben Tages tritt sodann die erste Geschäftssitzung
unter Leitung des Erzbischofs von Mainz zusammen. Herzog
Albrecht von Oesterreich legt Namens seines königlichen
Schwiegervaters die beiden Beratnngsgegenstände für den Tag:
Landfrieden und Ketzerkrieg vor. Darauf verlässt er mit den
beiden andern Vertretern des Königs die Versammlung und
kehrt erst auf Antrag des Kurfürsten von Brandenburg und
nach Beschluss der Stände zurück.1) Der Anteil des Königs,
wie er uns ans den beiden erhaltenen, sehr eingehenden Be-
•) 1. c. S. 43 Z. 22 ff.
*) 1. c. 392.
*) 1. c. 390 art 1 und i>.
•) 1. c. IX, 70.
») I. c. SW« art 1 (S. 358).
*) 1. e. art. 2.
») 1. c. art 3.
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richten über diesen Tag1) hervortritt, ist wesentlich der, dass
er die Beschlüsse der Stände, bezw. ihrer einzelnen Gruppen,
entgegeunimmt und sowohl unter einander als auch mit seiner
eigenen Auffassung in Einklang zu bringen versucht.
Auch auf dem Nürnberger Reichstage 1431 erscheint der
König zwar als Leiter des Ganzen, an den Einzel Verhandlungen
aber auffallend wenig beteiligt. Beispielsweise ist er in der
Zwölfercommission , welche die Massiegeln gegen die Hussiten
vorbereiten soll, nicht vertreten.*) Ebenso entfernt sich Sig-
mund nach einer Eröffnungsrede aus einer Reichstagssitzung,
als die Verhandlungen beginnen. —
Bei den grossen Versammlungen, welchen Sigmund in Per-
son vorsitzt, zeigt sich seine Neigung aber auch sein Geschick
zu grossen Staatsreden oft in hervorragender Weise.
Selbst die wohl nicht selten stark abgeblassten Berichte
der Städteboten weisen eine Fülle schlagender Bemerkungen
und charakteristischer Wendungen auf. Allgemeine Darlegungen
über die Weltlage und Enthüllungen weitausschauender Pro-
jekte, deren Vortrefflichkeit nur von ihrer Unausführbarkeit
übertroffen wird, Versicherungen seines allerbesten Willens und
Vorwürfe über das geringe Entgegenkommen der Stände, Rück-
blicke auf seine Verdienste um das Reich und Klagen über Un-
dank der Unterthauen wechseln in buntester Weise.3)
Noch mehr wie in seinen Erlassen liebt es der König in
seinen Reden, den Mund voll zu nehmen und im trügerischen
Glanze seiner weltherrlichen Stellung sich zn bespiegeln. Aber
er ist in solchen Momenten „zu sehr Redner und zu wenig Po-
litiker.“ 4) Oratorische Musterleistungen konnten gegenüber dem
■) RTA IX, 286 und 87.
*) Pie Nachrichten , welche ein l'üner (1. c. 433 — S. 678 Z. 17 ff.) mul
ein Strassburger Oesandtschaftsbc rieht ilber die Zusammensetzung dieses Aus-
schusses geben, stimmen zwar nicht ganz Uberein: königliche Vertreter er-
wähnt aber keiner von beiden. Erst in einem späteren Stadium der Ver-
handlungen nehmen vier köuigtiche Räte Teil (1. c. 438 — S. 592 Z. 22).
*) Besonders lehrreich hierfür ist der oben erwähnte Bericht vom Press-
burger Reichstage: 1. c. 286. wahrscheinlich verfasst von Lukas Ingolstetter,
dem Abgeordneten für Regensburg (vgl. S. 358 nte 1), der aus den 9 Tagen
der Reichsversammlung 5 grosse Staatsreden Sigmunds auszugsweise mitteilt.
(I. c. artt 2, 4, 11, 22, 27).
*) v. Bezold III, 24.
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Grolle der Fürsten und dem Misstrauen der Städte die Stelle
besonnenen und zweckmässigen Handelns nicht ausfüllen.
Und leider stand meist die Energie seines Thuens zu der
seines Redens in umgekehrten Verhältnis, so dass treffend be-
merkt worden ist,1) dass Sigmund meist dann zu den grössten
Kraftausdrücken sich versteigt, wenn es ihm um die Sache am
wenigsten Ernst ist, beginnt er erst von „seinen Hals daran
setzen“ oder „in die Grube fahren“ — „Vergiessung seines
Bluts“ oder „Niederlegung seiner Kronen“ zu reden, dann ist
ihm nicht recht zu trauen. —
Die Eröffnung des Reichstages bestand, wie wir schon ge-
sehen haben, darin, dass der König oder sein Vertreter eine
Uebersicht über die allgemeine Lage und die Aufgaben der
Versammlung, also eine Art Thronrede, gab. Daran mag sich
die Feststellung der Präsenzliste , eventuell die Vorlegung der
eingegangenen Entschuldigungsschreiben, die Prüfung der Voll-
machten, sodann die Festsetzung der Tagesordnung angeschlos-
sen haben.*)
Meist waren die der Erledigung durch den Reichstag har-
renden Aufgaben nur allgemein bezeichnet; gelegentlich werden
auch schriftliche Vorlagen erwähnt. Beispielsweise setzt der
Frankfurter Septembertag bestimmte Artikel für den Reichstag
im November fest,®) die auch wirklich zur Durchberatung kom-
men.4) Auch dem Pressburger Reichstage unterbreitet der König
schriftliche Vorlagen.5)
Umgekehrt konnte auch der König die Stände auffordern,
als Grundlage für die Verhandlungen der Reichsversammlung
ihre Wünsche und Anliegen in schriftlicher Fixirung einzureichen.
Eine solche Mahnung enthält das Ausschreiben Sigmunds,
aus Constanz, Juni 1415, 6) vor Antritt seiner Reise nach Frank-
reich und England erlassen. Wer ein „Gebrechen geistlich oder
weltlich“ habe, solle es dem König schriftlich verzeichnet ein-
') Caro „Bündnis von C’unterbury“ S. 89.
*) Vergl. n. a. KTA IX, 70.
*) 1. c. 58. — Vergl. unsere S. 45.
4) 1. c. 70 art 10.
*) 1. c. 286 art 8. — 287 art 3 Schluss.
*) L c. VH, 194.
Wendt, Der deutsche Reichstag unter König Sigmund. 4
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50
reichen „das fride, gerechtikeit , geeichte und gemeyner nuetz
in dem riche widerufgerücket werden.“
Nach seiner Rückkehr, Februar 1417. wiederholt er diese
Aufforderung.1) Ob derselben in weiterem Umfange nachgekom-
men wurde, wissen wir nicht. Eine Frankfurter Aufzeichnung, die
wir hierher zu stellen haben,*) enthält statt Vorschlägen zur Wie-
deraufrichtung von Friede und Ordnung im Reiche nur Frank-
furter Localschmerzen ohne allgemeinere Bedeutung. —
Dass allen irgend wuchtigeren Versammlungen Vorbera-
tungen vorausgingen, ist natürlich. Jedes Ausschreiben einesTages
ist für die einzelnen Städtegruppen das Signal, zu Besprechungen
sich zusammenzufinden. Das Ausschreiben des Nürnberger Reichs-
tages 1422 3) nimmt eine Vorversammlung, zu der die Kur-
fürsten einladen sollen, ausdrücklich in Aussicht. Dass diese
Ladung nicht erfolgte, giebt den Städteboten erwünschte Ge-
legenheit, auf dem Reichstage selbst auf Grund nicht genügen-
der Vollmacht einer definitiven Erklärung über ihre Leistungen
auszuweichen.4)
Was den Gang der Verhandlungen selbst betrifft, so hat
uns vornehmlich die Frage zu beschäftigen, in wieweit die Be-
ratungen den Einfluss ständischer Gliederung erkennen
lassen.
Ein Gegensatz zwischen dem adligen und dem bürgerlichen,
den alten und den neuen Elementen, dem durch historische Tradi-
tion und dem durch seine materielle Macht berechtigten Bestand-
teile, dem Teile der Stände, der „für sich selbst“ anwesend
wTar, also vollste Freiheit der Entschliessung besass und den-
jenigen, welche jedes Wort, jedes Zugeständnis ängstlich ab-
wägen und darauf prüfen mussten, ob es auch im Sinne ihrer
Auftraggeber sei, — ein Gegensatz zwischen Fürsten und Städten
musste sich früh auf den Reichstagen herausbilden. Noch do-
minirte das Kurfürstentum über den Rest des Fürsten- und
Herrenstandes zu sehr, als dass sich dieser, wie später, zu einem
selbstständigen Collegium hätte constituiren können/’) Fürsten
*) RTA VII 211.
*) 1. c. 214. — Finke I. c. 44.
J) 1. c. vm, 108.
•) 1. c. 131 nml 142.
*) v. Besold III, 95.
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Bl
und Städte — Adel und Bürgertum stehen sich bis jetzt noch
allein gegenüber.
Ursprünglich war das Verhältnis unzweifelhaft so, dass nur
König und Fürsten beschlossen, und ihre Abmachungen den
Städten zur Nachachtung mitgeteilt wurden. Während der
Hussitenkriege verschiebt sich das Verhältnis merklich zu Guns-
ten der Städte ; fast von Reichstag zu Reichstag lässt sich diese
Wandlung verfolgen.
In Nürnberg 1422 verständigen sich König und Fürsten
(wie, wissen wir des einzelnen nicht,1) über eine Geldsteuer
(„Schätzung“) zum Kriege gegen die Ketzer. Erst nachdem die
„fürsten, herren, grofen, ritter, knehte, prelaten und alle hotten
die von iren wegen do werent“ *) zugesagt haben , werden die
Städte gefragt. Über die Genesis des Übereinkommens zwischen
König und Fürsten wissen die Städteboten so wenig, dass Zweifel
herrscht, ob von ersterem oder den letzteren der den Städte-
boteu so sehr unsympathische Antrag auf eine Geldsteuer aus-
gegangen ist.3)
Dem Verhältnisse, wie es auf diesem Reichstage geherrscht
haben muss, ganz entsprechend sagt die Instruction für die kur-
fürstlichen Gesandten vor dem Wiener Tage4): „wann uwer
gnad und unser herren die kurfursten sich zuvor in heimlickeit
mit einander underredt haben als sich dann geburet . dann
sollen der König und die Kurfürsten die Mitwirkung der übrigen
Stände zu ihren gemeinsamen Beschlüssen zu erlangen suchen.
Auf dem Reichstage zu Nürnberg 1426 stehen dagegen die
Städte, schon in Folge der Abwesenheit des Königs, den Fürsten
viel selbständiger gegenüber.6)
Zunächst haben die Fürsten die vom Könige auf dem letz-
ten Reichstage zu Wien gemachten Vorschläge betreffs Bekrie-
*) überhaupt sind unsre, durchweg städtischen Aufzeichnungen, nur für
Kenntnis der mit den Städten gepflogenen Verhandlungen ergiebig, über das
was im fürstlichen Lager vorgeht, bleiben die Katsboten meist selbst im unklaren.
*) BTA VIII, 135.
*) „und men meinde, die fürsten hettent den rot geben, also ist uns
für wor geseit, daz der rot und der anslag usser dem kunig gangen ist,
wanne er gerne gelt hette!“
4) 1. c. 309 (S. 369 Z. 42 ff.)
*) Die folgende Darstellung nach BTA VIII, 390.
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gung der Hussiten diskutirt. Das Resultat lassen sie durch
einen Bevollmächtigten (den kurpfälzischen Gesandten Emicho
von Leiningen) den Städteu übermitteln. Diese erklären sich
im allgemeinen für einverstanden. Um eine bestimmtere Er-
klärung der Städte über das, was sie leisten wollten, zu er-
langen, fordern die Fürsten die Entsendung eines Ausschusses
von 6 Städteboten zu ihren Beratungen. Diese geben nach
mehrfachem Drängen schliesslich auch an, was die Städte leis-
ten wollen, als aber das Gebotene den Fürsten nicht genügt,
verweisen die sechs Delegierten das fürstliche Collegium wieder
auf die Gesammtheit der städtischen Vertreter. Eine Verstän-
digung dieser mit den Fürsten kommt nicht zu Stande, und der
in Nürnberg beschlossene „Anschlag“ gegen die Hussiten ent-
behrt städtischer Mitwirkung.1) Uber die Verhandlungen sagt
ein Schreiben Ulms an Nördlingen vom 29. Juni 1426*): es seien
die Kurfürsten, Fürsten, Herren und Städte täglich zusammen-
gewesen „iede parthie unter ir selb, und ouch underwilen als
sich denne gepurte alle zu ainander.“
Auf dem Reichstage zu Frankfurt, November 1427, laufen,
wenigstens anfänglich, die Beratungen der Fürsten und Städte
gleiclimässig nebeneinander her.3)
Beiden wird zuerst ein Landfriedensentwurf vorgelegt ; sie
beraten getrennt, geben aber dann ihr Gutachten über denselben
in gemeinsamer Sitzung ab. Betreffs der Artikel, welche der
Cardinal von England auf dem Septembertage mit den Ständen
für den Reichstag vereinbart hatte, kommt allerdings eine
Einigung zwischen beiden Collegieu nicht zu Stande, da die
Städte sich wieder an dem Vorschläge einer Geldsteuer stossen.
Die Städte bitten schliesslich unter den üblichen demütigen und
bescheidenen Redensarten die Fürsten um Vorlegung eines aus-
gearbeiteten Anschlages,4) der auch, zunächst nur im Entwürfe,
vorgelegt wird,3) freilich ohne Billigung bei den Städten zu
finden. Schliesslich wird trotzdem der fürstliche Entwurf in
endgültiger Fassung : das Frankfurter Reichskriegssteuergesetz,
‘) v. Bezold II, 78.
>) RTA VIII, 407.
*) Das Folgende narli UTA IX, 70.
*) 1. c. art 10.
5) I c. art 27.
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durch den Cardinal den Städten als beschlossen verkündet.')
Das Gesetz ist also schliesslich doch ohne Mitwirkung der
Städte, nur durch Fürsten und Herren »usgearbeitet , und der
Städteboten geschieht auch in den Eingaugsformeln des Gesetzes
keinerlei Erwähnung. Ihre definitive Erklärung bezüglich des-
selben wird ihnen jedoch zu verschieben gestattet.
Ein weiteres interessantes Bild von dem Nebeneiuandertageu
beider Gruppen geben uns die Berichte vom Pressburger Reichs-
tage.2)
Nach der üblichen Eröffnung durch den König legen
dessen Bevollmächtigte den Ständen die Tagesordnung in ge-
meinschaftlicher Sitzung vor. Die Discussion wird unter
Leitung des Erzbischofs von Mainz eröffnet: sofort stellt der
Kurfürst von Brandenburg den Antrag, wegen voraussicht-
lich ungenügender Vollmacht der Erschienenen die Beratungen
auf einen in Anwesenheit des Königs zu Nürnberg oder
Frankfurt abzuhaltenden Reichstag zu verschieben. Die
einzelnen Stände werden aufgefordert, über ihre Vollmachten
sich zu äussern.
Die Gesandten der übrigen Kurfürsten8) geben den beiden
persönlich Erschienenen .ihre Meinung zu verstehen,“ wonach der
Kurfürst von Mainz den Antrag Brandenburgs als Beschluss
der Kurfürsten verkünden. Die Städte 4) zur Abstimmung auf-
gefordert, erklären sich ihrerseits bereit, nach dem Wunsche
des Königs gleich in die Verhandlungen einzntreten, welche
Selbständigkeit die Fürsten sehr verdriesst.
Der Herzog von Ostereich setzt den König von diesen ab-
weichenden Beschlüssen in Kenntnis ; ausserdem sind diese noch
in königlicher Sitzung durch Vertreter beider Stände dem
Reichsoberhaupte officiell mitzuteilen.
Dies geschieht seitens der Fürsten durch den Erzbischof
von Mainz; ehe die Reihe nun an das städtische Collegium
kommt, nimmt der König einige Ratsboten heimlich bei Seite
') 1. c. art 36.
*) 1. c. 266 : Bericht Ingolstetters aus Rcgcnsbnrg (rgl. unsere S. 67
ute 1) nnil 267 : von einem ungenannten Städter, dein Fundorte naeh wahr-
scheinlich einem Strassbnrgcr.
*) nur Mainz und Brandenburg waren in Person anwesend.
4) eine» besonderen „fürstlichen“ Votums wird nicht gedacht.
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f>4
uuil sagt ihuen: er kenne den Beschluss der Städte und dis-
pensire sie von der öffentlichen Antwort. Die ehrlichen Städte-
gesandten sind oder stellen sich überzeugt, dass der König dies
in bester Absicht gethan habe, um sie vor dem Unwillen der
Fürsten zu schützen. In Wahrheit konnte dieses Verfahren
nur eine Liebenswürdigkeit Sigmunds gegen letztere bedeuten;
den Städten erwies er damit, wie v. Bezold *) treffend bemerkt,
einen schlechten Dienst.
Der König versucht darauf nochmals die Stände zu, wenig-
stens vorläufigen, Verhandlungen, als Grundlagen für den
nächsten Reichstag, zu bestimmen, indem er 1) einen Landfrie-
densentwurf zur Verbesserung durch die Stände vorlegt; 2) die
Festsetzung von Ort und Zeit*) für den nächsten Reichstag
verlangt ; 3) zur Beratung über eine Unterstützung der Grenz-
nachbarn der Hussiten gegen diese3) auffordert. Wieder er-
klären sich die Stände gesondert: die Städte sind bereit die
königlichen Vorschläge ad referendum zu nehmen; die Festset-
zung des neuen Reichstages überlassen sie den Fürsten. Diese
in ihrer Antwort bleiben dabei, Alles auf einen unter persön-
licher Teilnahme des Königs in Deutschland abznhaltenden
Reichstag zu verschieben. Bei der Erwiderung des Königs
auf dieses Votum, in der er besonders die Schwierigkeit für
ihn, in’s Reich zu kommen, darlegt, sind nur die Fürsten selbst,
je ein (d. h. fürstlicher) Rat und 6 Städteboten zugegen. Aber
die Fürsten beharren auf ihrem Verlangen, dem sich endlich
die Städte, unter Aufgabe ihrer bisherigen Sonderstellung, an-
schliessen. In der entscheidenden Schlusssitzung wird dem
Könige das vereinigte Begehren beider Gruppen vorgelegt, was
ihn zur Nachgiebigkeit zwingt.
Auf dem Nürnberger Tage 1431 tagen nach der Eröffnung
durch den König beide Stände gemeinschaftlich.4) Die Tages-
>) m, 24.
*) beides ist in dem „eines Tages einig werden“ (RTA IX, 286 art 8)
eingeschlossen.
*) also nicht zur Vorbereitung eines Reichskrieges durch einen allge-
meinen Auschlag.
*) Das Folgende meist nach RTA IX, 433. 85, 38.
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ordming bilden wieder: Lamlfriede und Bekämpfung der Hus-
siteu. Zur Vereinfachung der Beratungen wird eine gemischte
Commission aus fürstlichen und städtischen Bevollmächtigten
gewählt.
In dieser einigt man sich indessen nur über den ersten
Punkt ; iu Sachen der Leistungen für den Hussitenkrieg stehen
wieder Fürsten und Städte einander gegenüber. Der Ausschuss
bringt die Ergebnisse seiner Beratung vor das Plenum,
dieses vor den König. Nach weiteren, allerdings vergeb-
lichen Beratungen . welche unsere Strassburger Gewährs-
männer leider als „zu lang zu schriben“ übergehen,1) ar-
beiten die Kurfürsten „ in irem rate “ die Massregeln für
den Ketzerkrieg aus und legen sie den Städten vor, um ihre
gemeinsamen Beschlüsse dem König übermitteln zu können.
I)a es aber nicht gelingt, sich zu einigen, bringen wiederum
beide Stände gesondert ihre Beschlüsse an den König. Nach
mannigfachen weiteren Beratungen, welche teils innerhalb der
einzelnen Ständegrnppen , teils im Plenum, meist aber in der
Zwölfercommission sich abspielen, kommt es zur Einigung zwischen
König und Fürsten, während es den Städten gelingt, einer
bindenden Zusage vorläufig auszuweichen.*)
Ausser den Verhandlungen, wie die geschilderten, an denen
alle Stände Anteil nehmen, spielen sich natürlich, selbst abge-
sehen von rein persönlichen und privaten Angelegenheiten, Be-
ratungen des Königs und seiner Vertreter mit einzelnen Stän-
den in Fülle auf den Reichstagen ab.
Handelssachen, zuweilen auch Münzaugelegenheiten regelt
der König häufig unter Zuziehung der für solche Fragen am
meisten sachverständigen und interessirten Städte. Diese bleiben
dafür wieder, wo es sich um Fragen des Reichsrechts, Streitig-
keiten unter Fürsten und Verwandtes handelt, ausgeschlossen.”)
Ausschussberatungen treten uns in den verschiedensten
Formen entgegen.
Ausschüsse innerhalb der einzelnen Ständegrnppen finden
wir zum Beispiel 1421 in Nürnberg, wo die anwesenden Städte-
') 1. c. 435 art 4.
*) 1. c. 438 art 18 Schinna; v Bezohl III, 106.
J) Beispiele dafllr: HTA IX, 286 art 6 ; wahrscheinlich auch 435 art 8.
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boten, 44 an der Zahl, die Beratung ihrer Angelegenheiten
einem alle Städtegruppen umfassenden Ausschüsse von 11 Mit-
gliedern übertragen.1)
Seine Städtebundspläne wagt der König auch immer nur
einem kleinen Kreise von Ratsboten anzuvertrauen, so 1415 in
Constanz ä) und 1422 in Nürnberg.3)
Auf dem Nürnberger Reichstage 1430 lassen die Fürsten
ihre Feldzugspläne gegen Böhmen durch eine Abordnung ihrer
Räte ausarbeiten.4)
Die aus beiden Ständegruppen gemischten Commissionen
haben meistens die Form, dass der Gesammtheit der Fürsten
oder wenigstens einer unbeschränkten Zahl ihrer Vertreter eine
bestimmte Anzahl Städteboten beigeordnet wird. Dies finden
wir in Nürnberg 1422 ,5) Frankfurt November 1427, Pressburg
1429. Auch auf dem Reichstage zu Nürnberg 1426, als die
Städte, nach Ansicht der Fürsten, bezüglich der Höhe ihrer
Leistungen für den Hussitenkrieg nicht recht mit der Sprache
heraus wollen, fordern die Fürsten die Entsendung von 6 städ-
tischen Vertretern,0) welche ihnen denn auch Erklärungen, frei-
lich nicht der gewünschten Art, abgeben.
Ein zu gleichen Teilen von Fürsten und Städten gebildeter
Ausschuss wird zum ersten Male 7) auf dem Nürnberger Reichs-
tage 1431 eingesetzt. Die fürstlichen Vorschläge zu diesem
Tage8) nehmen zur Ausarbeitung eines „Anschlages“ gegen die
böhmischen Ketzer eine Commission in Aussicht, zu welcher der
*) 1. c. Vlir, 34. Die vertretenen Städte resp. Gruppen sind: Breisgau
(durch Basel), Strassburg, Mainz-Worms-Speier, die fränkischen Städte, die Bo-
denseestädte, Wetteran (Frankfurt), Schwaben (Ulm), Eisass und Nürnberg.
1 l c. VII, 181 art 1. — Vgl. Heuer „ Städtebnndsbcstrebungen und
König Sigmund“ S. 20.
*) RTA VIII, 131.
‘) L c. IX, 336.
«) 1. c. VIII, 136.
*) 1. c. 390 art 3 und 3 a. — Clilu, Mainz, Strassbnrg, Constanz, Ulm,
Nürnberg entsandten ihre Boten.
*) abgesehen von früheren Teidigungstagen, wie Nürnberg 1383 (RTA I,
8. 418), wo allerdings schon eine ans je 4 Vertretern von Fürsten und Städten
bestehende Commission vorkommt.
s) 1. c. IX, 402 art 5. Die Datierung des Stückes nach Waizsücker in
„Forschungen zur deutschen Geschichte“ XV, 420 ff.
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König 2 oder 3, die anwesenden Kurfürsten und Fürsten je
einen „und auch die stete* Vertreter senden sollen. Günstiger
für letztere ist das Zahlen Verhältnis in dem Ausschüsse, der
auf dem Reichstage zur Erleichterung der Verhandlungen nun
wirklich beschlossen wird.
Die Fürsten schlagen den Städten vor, mit Rücksicht auf
ihre beiderseitige grosse Zahl *) einen Ausschuss von je 6 Mit-
gliedern beider Ständegruppen zu bestellen.
Die Angaben über die faktische Zusammensetzung dieses
Ausschusses sind allerdings widersprechend: Nach einem
Ulmer Gesandtschafts -Berichte vom 15. Februar*) sollten die
Fürsten „etlich,“ also keine bestimmte Zahl, die Städte sechs
Abgeordnete entsenden ; er nennt weiterhin neun fürstliche Be-
vollmächtigte; vier davon sind als kurpfälzische Räte nachzu-
weisen.*) Der Strassbnrger Bericht vom 22. Februar4) nennt als
fürstliche Mitglieder des Ausschusses: Kurtrier in Person, je
einen Vertreter Sachsens, Cölns, der bayerischen Fürsten und
zwei pfälzische Räte. Zu diesen 6 tritt später noch ein Ver-
treter des Kurfürsten von Mainz, worauf auch die in den Aus-
schuss deputierten Städte nm eine sich verstärken.5) Als letz-
tere nennen beide Berichte übereinstimmend : Cöln, Aachen, Ulm,
Nürnberg, Frankfurt, Strassbnrg.
Jedenfalls erkennen wir selbst ans diesen widersprechenden
Angaben, dass die Zusammensetzung der Commission für die
Städte sehr günstig, die Gleichberechtigung ihres Collegiums
praktisch ziemlich anerkannt war.6) —
Zusammenfassend können wir über die Formen der
Verhandlung auf den Reichstagen Sigmunds sagen, dass sie
') sie wären viel, und die Städte auch, lassen sie diesen sagen.
(RTA IX, 432.)
*) 1. c. 433.
*) Kerlers Note 1 zu S. 678.
*) 1. c. 436.
*) v. Bcznld (III, 94) folgt diesen letzteren Angaben, bemerkt aber irr-
tümlich: schliesslich seien sämmtliche Kurfürsten im Ausschüsse vertreten
gewesen. Von einem brandenbnrgischen Bevollmächtigten hören wir aber nichts.
*) Anf den Beichstagen Friedrichs III erscheint die Bedeutung der
Städte anch in den Ausschussverhandlungen sehr gesunken. Vergl. Keussen
21 und 42.
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dem, genugsam bekannten, späteren Brauche schon sehr nahe
kommen.
Der König oder seine Vertreter eröffnen den Reichstag und
legen die Tagesordnung vor. Die Stände, getrennt in den Adel :
Kurfürsten, Fürsten, Grafen, Herren — und die Städte, be-
raten, jede beider Gruppen für sich; in gemeinschaftlicher Sit-
zung suchen sie dann ihre Beschlüsse behufs gemeinsamer Mit-
teilung an den König in Uebereinstiminung zu bringen.1)
Gemeinschaftliche Verhandlungen beider Stände linden häufig
in Ausschüssen statt. Ursprünglich bestehen diese Commis-
sionen aus der Gesammtheit oder Mehrheit der Fürsten und
einer beschränkten Zahl Städteboten ; erst am Schlüsse unserer
Periode treten uns beide Bestandteile des Reichstages im Aus-
schüsse als streng gleichberechtigt gegenüber.2)
Vor dem König giebt der Kurfürst von Mainz das fürst-
liche Votum ab ; das Recht der Städte, in abweichendem Sinne
ihre Stimme abzugebeu, bildet sich in unserer Periode erst
allmählig heraus.
Stimmt das fürstliche Votum mit dem Willen des Königs
überein, so gilt es auch bei ablehnender oder unentschiedener
Haltung der Städte als Reichstagsbeschluss. Diese können
dann nur noch in passivem Widerstande die Wirksamkeit des
Beschlossenen möglichst abzuschwächen suchen.9)
l) Entgegen der Ansicht v. Bezolds (UI, 95) milchte ich, wenigstens
fiir einzelne Fälle, annehiuen, dass schon in unserer Periode beide (Kollegien
gleich zu Anfang, nicht erst „bei hervortretender Meinungsverschiedenheit“
getrennt berieten. In den Einzelsitzungen beschliesst inan, stellt dann in ge-
meinsamen Sitzungen die Resultate gegenüber und sucht sich zu verständigen.
(Vergl. besonders die erwähnten Berichte Uber den Reichstag zn Frankfurt,
November 1427 und zu Pressburg 1429.) Dies passt durchaus zu dem Bilde
des späteren Reichstages mit seinen Relationen und C'orrclationcn. — In der
Ablehnung der Dreizahl der Collegien für unsere Zeit schliesse ich mich
dagegen v. Bezold an.
*) Es sei hier bemerkt, dass die „reiclisstädtische Registratur,“ jene
Sammlung von älteren Reichstagsakten , welche um 1560 von Seiten der
Städte unternommen wurde, mit der Tendenz, die Reichsstandschaft der Städte
schon für die frühere Zeit in möglichst weitem Umfange nachzuweisen (vgl.
Waizsäckcr in RTA I, XIV ff.) auf die Verhandlungen des Nürnberger Reichs-
tages 1431 das grösste Gewicht legt. Vgl. die Auszüge aus der .Registra-
tur“ bei Lilnig „Reichs- Archiv III, 2 S. 591 ff.
3) Der bestimmte Anspruch der Städte „an die Beschlüsse des Kaisers
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Aber diese allgemein bindende Kraft der unter Zustimmung
der Stände erlassenen königlichen Befehle besteht nur noch in
der Theorie. In Wirklichkeit sehen wir die Reichsleitung in
einer mit den Anschauungen des modernen Staates ganz unver-
einbaren Weise mit einzelnen Ständen, besonders den Städten,
über Gehorsam oder Nichtgehorsam verhandeln und paktieren.
Wiederholt erhalten die Städte Fristen, um ihren Beitritt zu
den von König und Fürsten gefassten, theoretisch also absolut
bindenden Beschlüssen zu erklären. So schliesst der Reichstag
zu Frankfurt November 1427 erst einen Monat später in Heidel-
berg ab,1) auch in Nürnberg 1431 erhalten die Städte 4 Wochen
Bedenkzeit.8)
Capitel IY.
Gegenstände der Verhandlung.
Am Anfänge unserer Betrachtung der auf den Reichstagen
verhandelten Gegenstände, der Competenz des Reichstages,
steht die Frage nach der Verpflichtung des Königs, in der
oder jener Angelegenheit eine Reichsversammlung zu berufen
oder umgekehrt: seiner Berechtigung, aus eigener Machtvoll-
kommenheit ohne Mitwirkung der Stände den betreffenden Fall
zu erledigen.
Sichere Normen dafür, in welchen Sachen der König nach
eigenem Gutdünken zu entscheiden befugt, und wo er den Rat
der Stände einzuholen verpflichtet war, kennt das ältere deut-
sche Staatsrecht nicht.*) Als die Grundlage für die Befugnisse
der Reichsstände sieht Ficker4) den freien Willen des Reichs-
und der Fürsten und Herren nicht gebunden zu sein“ (Eichhorn „Deutsche
Rechtsgeschichte* III, 331) ist zu unserer Zeit nicht erhoben worden.
‘) RTA IX, 70 art 39 und 100. — v. Bezold II, 131.
’) 1. c. 409, 415 art 6, S. 585 Z. 29 ff. Die fürstlichen Vorschläge IX,
402 art 20 sprechen sogar davon, dass alle Stände (oder besser : die zur Zeit
nicht in Nürnberg Anwesenden) Itis zum 1. April d. J. nach Nürnberg kom-
men sollten „einer gnaden (dem Könige) in den Sachen auch zuzesagen.“
*) Waitz „Deutsche Verfassungsgeschichte“ VI, 456.
4) „Fürstliche Willebriefe und Mitbesiegelnngen“ in Mitteilungen des
Instituts für österreichische Öeschichtsforscbung UI, 1 ff.
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Oberhauptes au, das sicli gegen nachträgliche Kassierung
etwaiger als ungerecht angefochtener selbständiger Massregeln
durch das Reichsgericht dadurch zu sichern sucht, dass es vor-
her die Zustimmung der Stände einholt.
Dazu kommt der Zwang der jeweiligen politischen Lage
und das immer fester werdende Gewohnheitsrecht, welches, je
länger je mehr, in den oder jenen Fällen die Mitwirkung der
Stände vorzuschreiben beginnt.1)
Diese Gniudauffassung können wir für unsere Zeit in der
Modificatiou gelten lassen, dass die rechtlichen Erwägungen
schwächer, das Gewohnheitsrecht und vor allem : der Druck der
äusseren Verhältnisse entsprechend stärker wird. Der König
holt für seine Verfügungen die Genehmigung des Reichstages
ein, nicht sowohl um sie vor späterer gerichtlicher Anfechtung
zu schützen, sondern damit sie überhaupt Geltung erlangen. Die
Selbstherrlichkeiten innerhalb des Reiches sind schon viel zu
sehr entwickelt, als dass sie ohne ihre eigene ausdrückliche
Genehmigung ihre Interessen unterordneu, ihre Kräfte in den Dienst
des Ganzen stellen sollten. Macht der König einen Versuch,
durch direkten Befehl Leistungen für das Reich anfzulegen, so
findet er kein Gehör.
Ein Beispiel genüge: Wahrscheinlich noch unter dem Ein-
drücke der Erfahrungen von 1422, wo ersieh zu Nürnberg dem
Willen der Fürsten ganz hatte beugen müssen, macht der
König Frühjahr 1423 den Versuch,*) nicht etwa auf Grund der
Nürnberger Beschlüsse, sondern aus eigenster königlicher Macht-
vollkommenheit, die Stände zur Heereshilfe gegen die Hussiten
zu berufen. Der Erlass bleibt, soweit wir sehen, völlig erfolglos.
Die Kurfürsten, welchen die Landfriedensbewegung, die sie
selbst eben in Gang gebracht haben, weit wichtiger ist als ein
Feldzug gegen Böhmen, bringen den Befehl des Königs den
Ständen einfach zur Kenntnis,3) ohne sonst weiter Notiz davon
zu nehmen. Im Gegenteil erfahren wir ausdrücklich, dass sie
nicht die Absicht haben, gegen die Ketzer zu ziehen.4) Der
') Ehrenberg 62 f.
’) In einein Aussclireiben von Kaschiui, 22. April: RTA VIII, 236
(vgl. Kerler S. 277).
*) 1. c. 240.
*) Kerler 1. c. S. 277 Z 30 ff.
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Versuch Sigmunds, über die Köpfe der Fürsten hinweg etwas
zu erreichen, misslingt also vollständig.
Im ganzen mussten naturgemäss unter Sigmunds Regierung
die (Kompetenzen und Funktionen des Reichstages auf Kosten
der Krone eher erweitert werden, als umgekehrt.
Bei Betrachtung der Verhandlungsgegenstände der Reichs-
tage gilt es zweierlei zu betrachten : Einmal müssen wir uns
mit kurzen Andeutungen der Materien begnügen und alles
weitere einer eingehenden Darstellung der politischen Geschichte
König Sigmunds zuweisen. Ferner gilt es häufig, die Grenze zu
ziehen zwischen dem, was auf den Reichsversammlungen und was
durch sie geschah. Bei allen Ereignissen, die wir örtlich oder
zeitlich einem Reichstage zuzuschreiben haben, ist es noch eiue
weitere Frage, ob sie auch wirklich unter verfassungsmässiger
Mitwirkung der Stände erfolgten.
Als die wichtigste Aufgabe für König und Reichstag in
unserer Zeit dürfen wir die Aufrechterhaltuug von Friede und
Recht innerhalb des Reiches, die Sorge für den Landfrieden ,
bezeichnen.
Der Schutz der öffentlichen Sicherheit liegt nach alter
deutscher Rechtsanschanung dem Könige ob.1) Aber jemehr
diese Pflicht anstatt wie früher nur die Ahndung gemeiner Ver-
brechen, jetzt den Ausgleich von Streitigkeiten, die Vermeidung
der Selbsthilfe seitens der einzelnen Territorialgewalten in sich
schloss, desto mehr bedurfte der König zur Aufrechterhaltung
von Friede, Recht und Ordnung der Mitwirkung der Stände.*)
Sigmund zeigt für diesen Teil seiner Herrscherpflichten
gelegentlich grossen Eifer, aber während der langen Jahre
seiner Abwesenheit musste sich auch hier die Selbsthilfe des
Reiches regen. Indessen bringen es alle Landfriedensbestrebun-
gen, ob königlich, ob fürstlich, ob städtisch, schliesslich über
das Stadium des Versuchs fast ausnahmslos nicht hinaus.
') Waitz „Verfassuugsgeschichte“ VI, 419.
*) Einen Überblick Uber die Entwicklung der königlichen Landfriedens-
Verordnungen vom 13. bis 15. Jahrhundert giebt Schweizer in „Vorgeschichte
und Grändung des schwäbischen Bundes“ 112 ff. Besonders ist für die Auf-
fassung des verschiedenen Charakters der Landfrieden älterer nml jüngerer
Zeit auf »eine Ausführungen zu verweisen.
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62
Gleich mit Sigmunds Ankunft in Deutschland 1414 beginnen
seine Bemühungen um den Landfrieden.1)
Auf einem Tage zu Nürnberg lichtet er einen Landfrieden
für Franken ein.8) In Heilbronn unterhandelt er, allerdings
erfolglos, über ein Gesetz auf gleicher Grundlage für Schwaben
und die Rheinlande.8) Aber liier regt sich schon die Unzu-
friedenheit und das Misstrauen der Städte.4)
Auf dem Constanzer Reichstage 1415 legt der König einen
umfassenden Landfriedeusentwurf vor.5) Die Organisation, in
4 unter je einem Hauptmanne stehende Bezirke : Rheinland-Elsass-
Wetterau, Schwaben, Franken, Thüringen-Meissen-Hessen — ge-
teilt, umfasst nunmehr nicht blos den Süden, sondern auch die
Mitte des Reiches. Finke6) vermutet, dass den König „die
Klagen der auf dem Concil mit ihm zusammengetroffenen Ab-
gesandten der nördlich vom Main gelegenen Bezirke“ zu dieser
Erweiterung veranlasst hatten ; mit mehr Wahrscheinlichkeit ist
als Grund das Vorbild früherer Gesetze dieser Art, besonders
des Egerer Landfriedens 1389 7), anzunehmen.
Aber die Haltung der Stände, besonders der Städte gegen
diese Vorlage war ablehnend. Provinzielle Verbände hätten
sich diese zur Not gefallen lasseu. aber eine allgemeine Insti-
tution, in der eine Landschaftsgruppe im Falle der Not der
andern beistehen sollte,8) bildete für ihren Partikularismns
einen unüberwindlichen Stein des Anstosses. Einzelne Gruppen,
besonders die schwäbischen Städte, fühlten sich durch Sonder-
*) Die Landfriedeuspolitik Sigmunds in seiner ersten Periode bis 1418
ist, abgesehen von den Ausführungen Kerlers in den Einleitungen zu RTA
VII, dargestellt durch Finke 1. c. 38 ff. — Die etwa dieselbe Zeit umfassende
Arbeit Weigels „Landfriedeusverliandlungen unter Künig Sigismund“ schliesst
sich sehr eng an Kerlers Darlegungen au.
*) RTA VII, 147. — Finke 38 f.
•) RTA VII, 159. — Finke 39 f.
*) RTA VII S. 238 Z. 5.
6) 1. c. 182. Finke 41. — Heuer „Stildtebnndsbestrebnngen unter König
Sigmund“ 25 f. — Franklin .Reichshofgericht“ I, 230.
«) 1. c. 41.
7) Derselbe umfasste die Rheinlande, Baiem, Schwaben. Franken, Hessen,
Thüringen. Meissen: RTA II, 72 art 39.
•) 1. c. VII, 182 art 4 — vergl. dagegen 184.
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büudnisse mit den benachbarten Fürsten wohl gedeckt und
empfanden das Bedürfnis nach umfassenden Reformen gar nicht.
Diese konnten ihnen nur Opfer auferlegen. Schliesslich moch-
ten auch die gleichzeitig von Sigmund aufgebrachten Projekte
eines grossen unter seiner Leitung stehenden Städtebundes den
Städten eher Misstrauen als, wie deren Urheber sicher gehofft:
Vertrauen einflössen.1)
Nach des Königs Rückkehr aus England 1417 werden die
Verhandlungen wieder aufgenommen, aber mehr als dies eine
wissen wir von ihneu nicht.*) Der einzige wirkliche Erfolg,
den des Königs Landfriedensbestrebungen vor und während des
Constanzer ('oncils gehabt hatten, war in Franken zu ver-
zeichnen.*)
Eine erneute und verstärkte Bedeutung musste die Land-
friedensfrage in der Periode der Reichskriege gegen die Hus-
siten gewinnen. — „Seditio civium, occasio hostium.“ —
Man merkte bald, dass die böhmische Revolution unüber-
windlich sei, solange innere Zwietracht, der unversöhnliche
Gegensatz kleiner lokaler Potenzen, die Kräfte des Ganzen auf-
rieben. Niemand konnte und wollte mit Gut und Blut für das
Reich einstehen, solange ihm dieses nicht wirksamen Rechts-
schutz, Sicherheit seines Lebens und Eigentums gewährte. Man
muss diesen Punkt erwägen, ehe man sich über die Teilnahm-
losigkeit, deu kleinlichen Egoismus, die ängstliche Sehen der
Einzelnen vor Opfern für das Reichsganze sittlich entrüstet.
Die Verhandlungen über einen Landfrieden zu Nürnberg
1422 haben kein Ergebnis, da die Städte erklären, nicht be-
vollmächtigt zu sein.1)
Das folgende Jahr 1423 ist, wie schon gelegentlich er-
wähnt, durch eine starke Landfriedensbewegung charakterisiert,
’) Vgl. da» städtische Gutachten RTA VII, 18ö; über das Misstrauen
der Städte gegen den Küttig: Finke 42.
*) RTA VH 213 art 2 — Finke 46.
•) Überhaupt muss in Frauken der Böden für LandfHedensbestrcbnngen
am günstigsten gewesen sein. Über die Thätigkeit des fränkischen Land-
friedens . unter Wenzel seit dem Egerer Reichstage vergl. Schindelwick „die
Politik der Reichsstädte des früheren schwäbischen Städtebandes 1380—1401“
Breslau 1888 S. 37 ff. — Auch unter Sigmund in den 20er Jahren ist die
Landfriedensthätigkeit in Franken erfolgreich.
4) RTA VH!, 136.
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64
welche indessen ohne Mitwirkung des Reichsoberhauptes, ja so-
gar in eiuem gewissen Gegensätze zu demselben sich vollzieht.
Wahrscheinlich bezweckten die Kurfürsten, denn sie sind die
Urheber, provinzielle Landfriedensverbände,1) wie der König
einen solchen 1414 für Franken geschaffen und für Schwaben
und die Rheinlande angestrebt hatte.
Nach einem, wahrscheinlich auf den Fürsten- und Städte-
tag zu Frankfurt August 1423 gehörendem Entwürfe,*) werden
4 provincielle Verbände: Rheinlande, Franken, Schwaben, Ei-
sass — welche im Notfälle einander unterstützen sollen.*) in
Aussicht genommen. Möglich, dass auch jetzt wieder, wie 1415,
letztere Clausei den Städten das ganze Projekt unannehmbar
machte. Wenigstens führten die Verhandlungen, welche auf
Frankfurter Tagen im Juli uud August 1423, sowie auf zahl-
reichen städtischen Sonderversammlungen sich abspielten, zu
keinem Ergebnis. Windecke4) erzählt von dem zweiten Frank-
furter Tage: es seien die Kurfürsten von Mainz, Trier, Pfalz
und Gesandte von Cöln und Brandenburg,6) sowie von 72
Städten,6) ausser verschiedenen Fürsten und Herren anwesend
gewesen. Das Landfriedensprojekt sei am Widerstande der
Ritterschaft, der schwäbischen und elsässischen Städte ge-
scheitert.7; Das einzelne bleibende Resultat der kurfürstlichen Be-
mühungen war, ähnlich wie wir es 1415 beobachtet, ein vom
Könige vom 24. November 1423 publicierter Landfriede für
Franken und Baiern,8) dem aber diesmal ein grosser Teil des
') Kcrler in ETA VIII S. 278.
’) 1. c. 272; dazu Keilers Note 1.
’) 1. c. art 2. Diese Bestimmung entspricht dem Landfriedeusprojekte
von 1415.
4) Cap. 112.
‘) Also alle Kurfürsten — Sachsen ist damals erledigt — sind vertreten,
ein Beweis dafür, dass die Landfriedensbewegung als eine gemeinsame Sache
des ganzen Kurcolleginms galt.
*) Die Zahl ist verdächtig ; sie begegnet uns schon einmal , beim Nürn-
berger Reichstag 1422 (vgl. 1. c. Cap. 107, Schluss).
0 „es mochte aber nit ganck hau, wenne die ritterschaft wolte es nit,
so wolten die swebischen stete und die stete auf dem Eisasse auch nit,“
I, c. Schluss.
•) ETA VIII, 278.
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fränkischen Adels fern blieb. Grund hierfür bildeten Zoll-
streitigkeiten mit Bischof Johann II von Würzburg, der eins
der thätigsten Mitglieder des Landfriedens war.1)
Während die Fürsten anscheinend von ihren Bemühungen
um Wiederherstellung der Rechtssicherheit ablassen, nimmt der
König die seinen im Jahre 1424 wieder auf. Ein dem Wiener
Reichstage 1425 zuzuweisender Landfriedensentwurf*) fasst das
Fehdeunwesen an der Wurzel. Die bisherigen, meist provin-
ziellen Landfrieden stellen Verbände dar, welche gegen Fried-
brüchige. das heisst : solche, die ohne vorher angerufene richter-
liche Entscheidung oder regelrechte Ankündigung der Fehde mit den
Waffen Selbsthilfe üben, einschreiten. Sie gelten nur für ihre
Teilnehmer; wer den Landfrieden nicht beschwört, „die sollen
des landfrides nicht geniessen“ sagt der Egerer Landfrieden.*)
Dem gegenüber stehen diejenigen königlichen Erlasse, welche, für
alle und jeden Geltung beanspruchend, Frieden gebieten oder
wenigstens ungerechte Fehden untersagen und Reichsstrafen
androhen.
Um den Entwurf, die Inhaltsangabe zu einem solchen Ge-
setze, handelt es sich hier.4)
Der Zweck der in Aussicht genommenen Bestimmungen ist
der, dass „alle mutwillige kriege vehde und flntschaft ... in
deutschen landen . . . hingelegt, verbotten und gewert wurden.“
Niemand soll sich an des andern „Hab noch Gut“ vergreifen,
ohne vorher „gütlichen Austrag“ versucht zu haben. Zuwider-
handelnde sollen in genauer festzusetzende Strafen verfallen
sein.5)
■) BTA VIII 260.
') 1. c. 331.
*) 1. c. II, 72 art 46.
4) Ein früheres Beispiel bietet der Entwurf des unveränderlichen zehn-
jährigen Landfriedens Wenzels von 1398: ETA III, 11. Vgl. Waizsftcker
S. 6. ff. Erreicht worden damals nur provinzielle Landfrieden.
‘) Nach dem Gesagten sind die Ansführungen Schweizers 1. c. 115 f. Uber
den Nürnberger Landfrieden von 1431 zu berichtigen. Nur unter den be-
schlossenen ist er der erste, „welcher zwingende Gewalt über alle Rcichsan-
gehiirigen beansprucht." Auch in unsem Entwürfen ist „von Annehmen,
von Beschwüren gar nicht die Kede.“ Auch hier werden Reichsstrafen gegen
die Friedbrecher in Aassicht genommen. Der einzige principielle Unterschied
ist der, dass hier ungerechte Fehden für immer, in Nürnberg 1431:
W « n d t , Der deutsche Reichstag unter König Sigmund. 5
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66
Diese Vorschläge des Königs verquicken sich, wie gewöhn-
lich. mit dem Anerbieten eines Bundes, den das Reichsober-
haupt mit den Städten und der Ritterschaft zum Heile des
Reiches, ohne, oder besser: gegen die Fürsten1) schliessen will.
Wie 1425 in Wien die Befriedung des Reiches als not-
wendige Vorbedingung für die Bekämpfung der böhmischen
Ketzerei erscheint,2) so setzt der König auch im folgenden
Jahre zu Wien den Landfrieden auf die Tagesordnung des
demnächst stattfindenden Reichstages zu Nürnberg.5) Auf
diesem betonen denn auch die Städte entschieden, dass an
eine erfolgreiche Bekämpfung der Hussiten ohne vorherige
Wiederherstellung von Ruhe, Friede und Ordnung nicht zu
denken sei.4) Aber von Beschlüssen in dieser Richtung wissen
wir nichts.
Besser gedachte, — aber auch nur : gedachte, der Reichs-
tag zu Frankfurt, November 1427, der notwendigen Verknüpfung
von Krieg nach Aussen und Frieden im Innern.
Die mehrerwähnteu, auf dem Frankfurter Septembertage
für den Reichstag im November festgesetzten Beratnngspunkte be-
rücksichtigen auch den Landfrieden.5) Derselbe wird auch nach Er-
öffnung des Reichstages durch den Cardinal als erster Punkt
der Tagesordnung bezeichnet. Es wird ein Entwurf vorgelegt,
von dem die städtische Aufzeichnung, der wir die meiste Kennt-
nis über die Beratungen des Tages verdanken,8) erzählt : er
habe 4 Landschaftsgruppen festgesetzt, mit der Verpflichtung
gegenseitiger Hilfleistung.7)
alle Fehden auf ein Jahr verboten werden. Es ist dies nur der natürliche
Gegensatz zwischen Ausnahmegesetz und dauernder Institution. — Per all-
gemeine Zwang“ der Landfrieden ist demnach dem Nürnberger Reichstage
nur in der Ausführung nicht in der Idee eigentümlich.
l) RTA VIII, 331 art 8.
*) 1. c. art 5.
*) I. c. 401 ; 8. 484 Z. 5 f.
*) 1. c. vni, 390 art 1 a: Werde nicht Friede geschaffen „so were
versehenlich. daz also forderlich nit geholfen nnd gedienet wurde, also oh
fride der lande were.“
*) 1. c. IX 58 art 9 Item „de generali pace provinciae, sen patriae, vnl-
gariter lantfriden nunenpata constitnenda et flrmanda.“
•) L c. 70.
*) 1. c. art 4: Dieser Punkt, erscheint natürlich den Städtern besonders
wichtig und — ansttissig.
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Ein uns erhaltener, wahrscheinlich hierher gehöriger Ent-
wurf1) kehrt in wenig veränderter Gestalt bei dem Reichstage
zu Nürnberg 1431 wieder.2)
Die Haltung der Stände gegenüber den Vorschlägen des
Cardinais war nicht sehr entgegenkommend: Die St. Ge-
orgsritterscliaft in Schwaben erklärte, an ihrer Einung
genug zn haben; die fränkischen Bischöfe verweisen,
ohne dem Projekte im ganzen feindlich zu sein, auf ihre Zu-
gehörigkeit zum dem provinziellen Landfrieden für Franken ;
einzelne Städte, wie Cöln, Strassburg meinten, Pflege des Land-
friedens sei nur auf Grund lokaler Vereinbarung innerhalb land-
schaftlich ganz beschränkter Gruppen zu ermöglichen.3) Be-
schlüsse in Sachen des Landfriedens sind in Frankfurt wohl
auch nicht zu Stande gekommen.
Dafür fällt in die Verhandlungen über die Ausführung
des Frankfurter Reichskriegssteuergesetzes ein neuer Land-
friedensversuch der Kurfürsten. Einer Mahnung zur Zahlung
der in Frankfurt beschlossenen Reichssteuer an Ulm, vom Bin-
ger Tage, Mai 1428, aus erlassen, liegt ein kurfürstlicher Ent-
wurf bei,*) der die alten Bestimmungen gegen Selbsthilfe (aus-
genommen im Falle von Rechtsverweigerung und nach gehöriger
„Ansage“), über die Friedlosigkeit herrenloser reisiger Knechte,
über die Sicherheit der Strassen für Kaufleute und Pilger etc.
wiederaufnimmt. Interessant ist der erste Artikel: dass sie
(die Kurfürsten) und die Städte „diese nauchkomenden jare
ainander frenntlich mainen sullen und wellen und zu keiner
veientschafte komen.“
Noch lebhafter wird der Wunsch der Kurfürsten, gemeinsam
’) RTA IX, 69 — Unzweifelhaft ist allerdings die Datierung des Stückes,
in der sich Kerler (S. 79 Note 3) an Wencker (Apparatus et instructus archi-
vorum p 320, wo artt 9—12 citiert werden,) anschliesst, nicht.
*) vergl. I. c. 436 art 2 nnd die Verweisungen Kerlers in den Noten.
*) 1. c. 70 art 7—9 .sie weren vur sich hie, aber ire ombsesser weren
nit hie,“ erklärt ('«In als Orund seiner Ablehnung.
4) 1. c. IX, 189, (vgl. Kerler S. 172) — Fttr die Zugehörigkeit des Ent-
wurfes zum Mahnschreiben (1. c. 142) vgl. die Quellenangabe zu 142 unter U
und 147, Nachschrift. — Der Entwurf wurde nur an die schwäbischen, frän-
kischen und rheinischen Städte gesandt (vgl. S. 172 Z. 19 ff); auf Mittel-
nnd Norddeutschland verzichteten also diese Landftiedenspläne von vornherein.
B*
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mit den Städten die Sorge für Friede und Recht im Reiche in
die Hand zu nehmen, im folgenden Jahre, 1429.
„Nicht etwa durch einen gesetzgeberischen Akt des Reichs-
oberhauptes“ erstrebte man die Besserung der inneren Schäden
des Reichs, sondern „auf dem Wege freien Uebereinkommens,“ ’)
Besonders auf den drei Fürsten- und Städtetagen zu Speier:
Mai-Juni, Aschaffeuburg : August, Worms: Oktober 1429
kommt diese Bewegung zum Ausdrucke.
Zu Speier legt der Erzbischof von Mainz, der überall in
diesen Beratungen als Vertrauensmann der Kurfürsten er-
scheint,8) den Städten drei Artikel als Grundlage für eine Ver-
einigung zwischen Kurfürsten und Städten vor.3) Schutz der
Strassen und Unterdrückung der unrechtmässigen Selbsthilfe sind
auch hier als Ziele aufgestellt. Diese Punkte sollen die Städte
durchsprechen und dem Kurfürsten Antwort zukommen las-
sen. Nach Beschluss eines Kurfürstentages zu Frankfurt. Juli
1429, soll diese Antwort zu Aschaffenburg gegeben werden.4)
Zwischen den beiden Tagen von Speier und Aschaffenburg
spielen nun lebhafte städtische Beratungen.5)
Die elsässischen Städte versuchen, sich über eine gemein-
same Haltung den Anträgen der Fürsten gegenüber zu ver-
ständigen „umb das man nit vor den fürsten in zwei-
gunge stände.“6) Gingen die Vorschläge des Mainzers nicht
durch, so sollten wenigstens die elsässischen Städte „von
Weissenburg bis Basel“ einen Landfrieden zu vereinbaren suchen.7)
Die schwäbischen Städte wollen jedenfalls die Vorschläge der
Kurfürsten zu Aschaffenburg abermals „ad referendum“ nehmen.8)
') Kerler RTA IX S. 318.
*) Nach seinem Ladeschreiben zum Aschaffenbnrger Tage (I. c. 255)
könnte man allerdings glauben , der Kurfürst sei zu Speier ans eigner
Initiative anfgetreten. Wahrscheinlich ist, dass man anfänglich nur Kur-
mainz mit den Städten verhandeln liess, um diese nicht stutzig zu machen.
*) 1. c. 248 u. 265 (S 336 Z. 3 ff.)
4) 1. c. 255.
*) Eine Übersicht Uber die fürstlichen und städtischen Versammlungen des
Jahres 1429 giebt Kerler S 319.
*) 1. c. 251 art 2.
’) 1. c. art 4.
") 1. c. 258.
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Augsburg erklärt in einer Zuschrift an den Erzbischof von
Mainz1): allgemeinen Beschlüssen Folge leisten zu wollen.
Der Aschaffeuburger Tag. auf dem die Kurfürsten den
Städten einen auf Grund der drei Artikel ausgearbeiteten Ent-
wurf8) vorlegten, vertagte sich auf den 2. October nach Worms.
Ein grosser Städtetag zu Esslingen sollte inzwischen eine ge-
meinsame Stellungnahme der Städte herbeiführen. Dass dies
nicht gelang,5) war schon ein schlimmes Vorzeichen für den
Tag zu Worms, welcher denn auch die Landfrieden-Bundespläne
der Kurfürsten völlig scheitern sah.
Der Bund der schwäbischen und der Bodenseestädte er-
schienen in Worms überhaupt nicht mehr, sondern sagten
schriftlich ab. Nürnbergthatdasselbe mündlich durch seine Gesandt-
schaft.*) Von der Haltung der übrigen, besonders der rheini-
schen Städte, wissen wir nichts. Sicher ist nur, dass die kur-
fürstliche Landfriedensbeweguug von 1429 wie die von 1423
schliesslich im Sande verlief.
Drei Gründe für die ablehnende Haltung der Städte,
an welcher das ganze Project scheiterte, sind zu erkenuen:
Der erste ist das tief eingewurzelte von Alters her be-
bestehende Misstrauen der Städte gegen die Fürsten und was
nur von ihnen ausging. Man fürchtete sie, auch wenn sie Friede
und Recht boten. Dazu kamen gerade damals noch besondere
Beschwerden, welche dieses Misstrauen als wohlbegründet er-
scheinen Hessen. Zu derselben Zeit, als die Fürsten den Städten
Entwürfe zur Sicherung der Strassen und Regelung des Fehde-
wesens vorlegten, waren die Städte durch Schädigung an Leib
und Gut, welche sie im fürstlichen Gebiete erfahren hatten 5) dahin
gebracht worden, dass sie allen Ernstes daran dachten, ihren
Kanfleuten den Besuch der Frankfurter Messe bis auf weiteres
*) RTA IX 259.
*) L e. 260.
”) 1. c. 266.
‘) I. c. 270 — die Angabe, dass Nürnberg zu Worms nicht vertreten
war, ist ein Versehen Kerlers (S 319 Z. 25): vgl. S 339 Z. 27 u. 32.
4) Besonders rief der Frevel Conrads von Weinsberg an schwäbischen
Kauflenten, die zur Frankfurter Messe reisten, Herbst 1426, grosse Anfregung
hervor. Vgl. Aschbach IH, 307. — Stalin „Wirtembergische tiesch. HI 429.
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zu verbieten. Das Geleitsgeld war fiir die Städte eine lästige
Steuer, wie für die Fürsten eine willkommene Einnahmequelle.
Die Bürger wollten nun ihre Opfer nicht umsonst gebracht
haben und verlangten, als sie im Geleite wiederholt beraubt
worden waren, von den Fürsten schriftliche Verpflichtung zum
Schadenersätze. Diese Forderung erschien wieder den Fürsten
unbillig. Sie sprachen viel von „Misstrauen in ihr fürstliches
Wort,“ das ihnen „Unehre bringe;“ die materielle Seite der
Verpflichtung wrar ihnen jedenfalls noch lästiger.
Gerade auf dem Aschaffenburger Tage verwahren sich die
Fürsten gegen diese Zumutung;1) noch auf dem Nürnberger
Reichstag 1431 wurde darüber verhandelt.
Wir hören nämlich, dass dort die Kurfürsten von Pfalz und
Mainz den Gesandten Ulms und Nördlingens (jedenfalls als den
Vertretern des schwäbischen Städtebundes) diese Forderung ab-
schlugen.®) Dass die Städte unter solchen Umständen zu Land-
friedensplänen der Fürsten kein grosses Zutrauen hatten, wird
ihnen niemand verdenken.
Dazu kommt noch ein drittes: Wie schon 1423 die Kriegs-
pläne des Königs die Politik der Kurfürsten kreuzten, so dürfen
wir auch jetzt eine stille aber fühlbare Opposition des Reichs-
oberhauptes annehmen.
Die Kurfürsten hatten es nicht für nötig gefunden, bezüg-
lich ihrer Absichten, mit dem Könige sich in’s Einvernehmen
zu setzen. Natürlich steht dieser nun dem ganzen Plane miss-
trauisch gegenüber und sieht darin nichts als einen neuen Ein-
griff in seine königliche Prärogative. Dem entsprechend be-
eilen sich anch die Städte, ihre Ablehnung der Landfriedens-
entwürfe beim Könige sich zum Verdienste zu machen. Peter
Volkmeir aus Nürnberg schreibt an Kaspar Schlick, den be-
kannten Kanzler Sigmunds : die Vertreter Nürnbergs zu Worms
hätten in der Landfriedenssache durchaus auf den König ver-
wiesen.8) Augsburg lässt durch seine Gesandten erklären, es
habe sich nie einer Vereinigung von Fürsten und Städten ange-
schlossen, noch würde es das thuen, ohne den König auszu-
') ETA IX, 265 art 2.
*) 1. c. 433 art 2.
■) L c. 270.
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nehmen.1) Nachdem das ganze Projekt zu Worms schon ge-
fallen war, warnte der König die Gesandten Strassburgs vor
solchen Plänen der Kurfürsten unter energischer Betonung
seiner oberherrlichen Stellung : „er wer der, der daz honbt wer,
und die korfursten die gelider.“ !)
Seine eigenen Bemühungen um Herstellung der Rechts-
sicherheit im Reiche nimmt der König auf dem Reichstage zu
Pressburg, Ende 1429, auf. Ketzerkrieg und Landfriede stehen,
wie so oft, auch hier wieder zusammen auf der Tagesordnung
der Versammlung. Der König legt den Ständen einen Entwarf
vor, der aber, soweit wir sehen, nicht durchberaten wmde. s)
Der Nürnberger Reichstag von 1430 übernimmt mit der übri-
gen Erbschaft seines Vorgängers auch die Sorge für den Land-
frieden. Aber der Entwurf, den die Fürsten den Städten vor-
legen, erscheint diesen für erstere „gar wohl gesetzt,“ aber
„ganz wider die stette“ zu sein.4) Nach ihrer Gewohnheit
lehnen sie indessen die fürstlichen Vorschläge nicht etwa ab,
sondern: „wurden . . . alle ainmutiklich ze rate: darzu nicht
ze antworten, denne des schabe hinder sich an die stette zu
nemen.“
Auch auf dem Nürnberger Reichstage 1431 galt die Sorge
für Ordnung und Sicherheit im Reiche als eine der wichtigsten
Aufgaben; freilich blieben die Ergebnisse auf diesem Gebiete
an Bedeutung hinter den hier beschlossenen umfassenden kriege-
rischen Massregeln zurück.
Wir haben hier 2 Landfriedensentwürfe zu unterscheiden.
Den einen führt uns ein Strassburger Gesandtschaftsbericht
vom 22. Februar3) auszugsweise an. Wie schon erwähnt, stimmt
derselbe in allen wesentlichen Bestimmungen mit einem dem
Reichstage zu Frankfurt November 1427 zugewiesenen Entwürfe6)
überein. Aber dieser Landfrieden muss Entwurf geblieben sein.
Diejenige Gestalt, in welcher der Landfriede später zum
*) I. c. 271.
>) L c. 277 (S 349 Z. 39.)
*) 1. c. 286 art 8 und 287 art 8, Schluss.
*) L c. 343 art 1; vgl. auch 339 art 2.
«) 1. c. 436 art 2.
*) 1. c. 69. vgl. unsere S. 67.
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Beschlüsse erhoben wurde,') enthält etwas wesentlich anderes.
Hier tritt der Landfriede nicht mit dem Ansprüche, eine dauernde
Institution zu werden, sondern nur als Ausnahmegesetz für die
Dauer des böhmischen Feldzuges auf. Als solches verfährt er
allerdings auch viel radikaler. Er verlangt nicht etwa blos
Sicherheit der Strassen und rechtmässiges Ansagen der Fehde,
sondern verbietet jede Selbsthilfe überhaupt bei schwerer Strafe.
Scheinbar bedeutet dieses königliche Friedensgebot weit
mehr als ein Landfrieden, aber nur scheinbar. Es fehlt ihm
jede organisatorische Bestimmung; seine Forderung musste
wegen ihrer Weite, seine Strafen wegen ihrer Härte illu-
sorisch bleiben. Einen „höchst ungenügenden Versuch“ nennt
es v. Bezold,*) einen Versuch, der sich würdig an die lange
Reihe misslungener Landfriedensbestrebungeu anschliesst, welche
die Reichstage unter Sigmund durchziehen und begleiten. —
Habeu wir die Landfriedensverhandlungen unsrer Periode
wegen ihres engen Zusammenhanges mit den kriegerischen Unter-
nehmungen des Reichs, dann wegen der interessanten Einblicke
in das gegenseitige Verhältnis der grossen Faktoren des Reichs-
lebens, welche sie gewähren, ausführlicher darzustelleu versucht,
obwohl die Versammlungen, auf denen sie sich abspielen, viel-
fach keine Reichstage im engeren Sinne sind — so können wir
bei dem Zoll- und Münz wesen, welches mit der Landfriedens-
frage vielfach zusammenhängt,3) uns mit der Erwähnung be-
gnügen.4)
Eine Reichsgesetzgebung auf diesen Gebieten kennt ja
unsre Zeit nicht, während wir zu einer solchen in Sachen des
Landfriedens wenigstens die Ansätze wahrnehmen. — Auch die
’) Der Entwurf: KTA IX 405 — das fertige Gesetz : 1. c. 411. Letz-
teres entspricht, abgesehen von der kürzeren Dauer, die es für den Landfrieden
festsetzt, den fürstlichen Vorschlägen: 402 art 13. Besonders entlehnt cs
diesen, trotz der Gegenvorstellnngen der Städte (406 art 3—407 art 5),
die strengen Strafbestimmungen (vgl. 402 art 19).
») UI, 109.
*) Nachweise für diese Zusammengehörigkeit giebt Waizsäcker 1. c. VI
S. 260. — Vgl. auch Ehrenberg 71.
4) Für die Münzreformversnehe Sigmunds bis zum Jahre 1418 vergl.
Finke S. 37 und 38, ferner für die allgemeinen Münzverhältnisse jener Zeit:
Hegel in Städtechroniken I, 234 f; über die Nürnberger Münze in jener Pe-
riode Hegel 1. c. 242 ff.
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Besteuerung der Juden ist, da sie keine eigentliche Reiclistags-
materie bildet, zu übergehen.
Dagegen erhebt das Pfahlbürgergesetz Sigmunds vom
Nürnberger Reichstage 1431, teils wegen seiner allgemeineren
politischen Bedeutung, teils wegen des grösseren Masses stän-
discher Mitwirkung, das ihm zuzuschreibeu ist, Anspruch auf
Berücksichtigung.
Die Wendung von Sigmunds früher so oft, meist freilich
nur mit Worten bewiesener Städtefreundlichkeit zu engem An-
schluss an den Adel, von welcher das genannte Gesetz Zeugnis
ablegt, muss sich während Sigmunds Aufenthalts in Schwaben,
Winter 1430/31, vollzogen haben. Dort trat die in der „St. Georgs-
gesellschaft“ vereinigte Ritterschaft an den König mit der Auf-
forderung, den Städten das Aufuehmen und Halten der sogenannten
Pfahl- oder Ausseubürger zn verbieten, klagend heran.
Die lebhafte städtische Opposition dagegen lässt sich durch
den ganzen Nürnberger Reichstag verfolgen. In einem
beschränkten Masse , soweit es sich um die Aufnahme
„eigener Leute“ handelte, würden sie sich gesetzliche Be-
stimmungen wohl haben gefallen lassen, aber die ritter-
schaftlichen Forderungen ') erschienen ihnen als gröbliche Ver-
letzung des alten Herkommens, wie ihre Gegenvorstellungen auf
den Eutwnrf der Ritterschaft2) zeigen. Der schliessliche könig-
liche Erlass,3) den ein späteres Ausschreiben, merkwürdig genug,
auch mit Rat nnd Mitwirkung der Städte zustande gekommen
sein lässt,4) befriedigt allerdings die Forderungen des Adels
nicht ganz. Abgesehen von einer abweichenden Zeugenreihe,
in welcher der niedere Adel weit weniger als im Entwürfe
überwiegt,5) nnd einer Erweiterung in der historischen Begrün-
dung des Gesetzes 6) zeigt die Fassung des Königs auch in der
Form des Bflndnisverbotes einen wesentlichen Unterschied.
‘) uiedergelegt in dem Entwürfe, RTA IX, 427.
*) 1. c. 428.
*) 1. c. 429.
*) 1. c. 429 b (S. 572 Z 4) — ein schlagendes Beispiel, wie wenig, mangels
andrer Nachrichten, ans derartigen Eingangsformeln zu entnehmen ist.
•) Kerler I. c. S. 500 Z 26 ff.
*) Ausser anf die goldne Balle nnd den Egerer Landfrieden bernft sich
der königliche Erlass anf das „Statntum in f&vorem principum“ König Hein-
richs, Worms 1231 (Monomenta Germania« Leges II, 282—83).
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74
Die Vorlage der Ritterschaft wendete sich tendenziös gegen
Bündnisse „etlicher Städte mit Bauern und armen Leuten gegen
ihre Herrn;“ „demokratische Verbindungen“ nennt sie Keiler.1)
Entschieden richten sich die städtischen Gegenvorstellungen
gegen dieses gehässige Verlangen. Dass sich Bauern gegen
ihre Herrn verbänden, meinen die Städte, dünke sie selber un-
billig, aber dass sie sich mit ihren Nachbarn zum Schutze gegen
Friedensstörer vereinigten , das erscheint ihnen gerechtfertigt :
„wanne, solte daz nit sin, so wurde maniger wider recht be-
raubet, der sust bi billich und bi recht blibet.“ *)
Der König konnte naturgemäss weder auf diese letztere
Auffassung, noch auf das tendenziöse Begehren der Ritter und
Fürsten ganz eingehen. Sein Erlass steht mit einem allgemei-
nen Bündnisverbot für beide Teile *) zwischen beiden Parteien
so ziemlich in der Mitte.4)
Ob das Gesetz einen andern Erfolg hatte, als die Städte
zum Kriege gegen die Hussiten noch unlustiger zu machen, als sie
es ohnehin waren, und ausserdem unter ihnen die Pläne eines grossen
allgemeinen Städtebundes wieder aulieben zu lassen, wissen
wir nicht.
Andrer Art war die Bedrohung ihrer materiellen Inter-
essen, welche die Städte durch die Handelserlasse des Königs
erfuhren. Auch diese werden zwar gelegentlich auf Reichs-
>) RTA IX S. 500.
*) I. c. 428 art 6.
*) I. e. 42t) art 5. — Auch der Egerer Laiulfriede 1389 hob neben dem
grossen Stildtebundo auch den Fiirstenbund auf, verklausulierte aber letztere
Massregel in einer die Städto benachteiligenden Weise. (RTA II, 72 art 35.)
Vgl. Lindner II, 66; Schindelwick S. 1 f.
4) v. Bezahl, der im übrigen von diesen Verhandlungen ein anschauliches
Bild giebt (III, 92 f ; ferner ltä f) verwechselt den ritterschaftlichen Entwurf
mit der königlichen Ausfertigung (auch Kcrler in der Quellenangabe zu RTA IX,
427 unter B bemerkt diesen Irrtum). Dadurch gelangt er zn einer übertrie-
benen Schilderung der Härte des Königs gegen die Städte. Die Zusammen-
fassung von Städten, Baueru und armen Leuten, welche „ganz nach der Aus-
drucksweise der rohen Gesellen vom Stegreif den Bürger auf eine Stufe mit
dem verachteten und unterdrückten Landvolk stellte“ (I. c. 116 — vgl. auch
v. Bezold „die armen Leute und die deutsche Litteratur des spätereu Mittel-
alters“ in Sjbels Hist. Zeitschrift Bd. 41 S. 8.) — fällt dem Reichsoberhaupte
selbst nicht zur Last.
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75
Versammlungen verhandelt, bilden aber keine eigentliche Reichs-
tagsmaterie, deshalb sei nur kurz auf sie verwiesen.1)
Dasselbe müssten wir, streng genommen, auch von den
Massregeln der Rechtsprechung behaupten, welche wir auf
den Reichstagen vollziehen sehen.
Eigentliche jurisdictionelle Befugnisse hat die Reichsver-
sammlung als solche zn unserer Zeit nicht, wohl aber bietet sie für
die richterliche Wirksamkeit des Königs, teils durch das Hofgericht,
teils durch persönliche Rechtsprechung, sodann aber auch für eine
reiche schiedsrichterliche und Vermittlungsthätigkeit des Reichs-
oberhauptes wie einzelner Stände den geeigneten Boden.
Hier ist nicht der Ort, auf die Verwirrung und Verwahr-
losung der Rechtssprechung, die schreienden Missstände beson-
ders des höchsten königlichen Gerichtshofes: des Reichshof-
gerichtes, näher einzugehen.')
Bestechlichkeit und Habgier seiner Mitglieder, die über-
lange Verschleppung seiner Processe, die an Unmöglichkeit
grenzende Schwierigkeit, bei dem mit dem Könige fern im Osten
weilenden Gerichte sein Recht zn verfolgen,3) die Macht- und
Wirkungslosigkeit seiner Aussprüche — dies alles musste eine
Umgestaltung des höchsten Gerichtswesens nach zwei Seiten
an bahnen.
Einmal begann die alte Idee von der persönlichen höchsten
Gerichtsbarkeit des Königs (als deren wahrer Ansdruck das
Hofgericht nicht mehr erschien) wieder aufzuleben; die Fälle,
') Nicht der Sorge für das Reich sondern nur seiner ungarischen Politik
entsprangen Sigmunds Bemühungen, den deutschen Handel Uber Mailand und
Genna oder auch durch Ungarn (RTA VII, 241 art 4) statt Uber Venedig zu
leiten. Diese Bestrebungen setzen im Jahre 1415 ein (1. c. 182 art 6), steigern sich
1417 zu Verboten (1. c. 239—241) und treten uns noch 1425 (1. c. VIII S. 361
Note 2) und 1426 (Aschbach ITI, 408 — RTA IX, nro 17 art 2 und nro 21) ent-
gegen. Über dieselben (bis znm Jahre 1419) vgl. Finke S. 60—65. — Heyd
„Geschichte des I/evantehandels im Mittelalter II, 721 ff.
*) Die folgende Übersicht beruht auf Tomaschek „die höchste Gerichts-
barkeit des deutschen Königs und Reiches im 15. Jahrhundert“ in den Sitzungs-
berichten der Wiener Akademie Bd. XLIX S. 521 ff. citiert nach dem Separat-
abdrucke, Wien 1865) und Franklin „Reichshofgericht“ I, 209 ff.
*) Einen bedeutsamen Beleg f Ur die Wirkung dieses Umstandes fuhrt v.
Bezold (II, 95, auch ib. Note 1) an : Pie St. Georgsritterschaft in Schwaben meint
nicht die Pflicht zu haben, ihr Recht beim Könige zu suchen, weun dieser
„in Würczland (Burzenland, Siebenbürgen) oder soweit und ferre“ sich aufhielte.
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76
in denen man mit Umgehung des Hofgerichts an den König
selbst als höchste Instanz, als obersten Schiedsrichter sich
wendet, mehren sich. Es bildet sich ein immer bestimmterer
Gegensatz zwischen der Thätigkeit des höchsten Gerichtshofes
und der persönlichen Rechtssprechung des Königs und seiner
Beistände heraus, bis schliesslich letztere, zu der bestimmten
Form des Kammergerichts verdichtet, unter der Regierung
Friedrichs III das Hofgericht ganz verdrängt.
Dann aber begann auch hier, jemehr der König und seine
Vertreter ihre richterlichen Pflichten vernachlässigten, die Selbst-
hilfe des Reichs einzutreten. Vereinbarungen und Vermittlun-
gen privaten Charakters suchten der Anrufung der höchsten
Gerichtsgewalt immer mehr vorzubeugeu, und es greift schon
unter Sigmund die Anschauung Platz, welche unter Friedrich III
(1451) ein Gesandter Frankfurts in einem Schreiben an seinen
Rat ausspricht: „Ersamen besouderu herren, wess ir uch mit
uwern umbsessen vertragen und ly den mögen mag besser syn,
dann trost und ussrichtung des hoves zu suchen.“ ')
Grade die grossen Reichsversammlungen sind es. bei denen
in unserer Periode das Reichshofgericht allein noch in ausge-
dehnterem Masse funktioniert.
Dies ist besonders bei dem Reichstage zu Constanz der Fall.*)
Nach mehrjähriger Vakanz3) setzt hier Sigmund den Grafen
Günther von Schwarzburg als Hofrichter ein, unter dessen Lei-
tung das Gericht eine grosse Wirksamkeit entfaltet,4)
‘) (Harpprecht) „Staatsarchiv des kayserl. u. <1. heiligen römischen Reiches
Kammergcrichts“ I, 324; citiert bei Franklin I, 226 (vgl. auch Jaussen II, 167.)
*) Aschbach II, 248 — Franklin I, 214; Jaussen 1, 485 Nachschrift. —
Justinger (Berner Chronik p. 315, citiert nach Franklin 214, Note 1) berichtet:
„der kilng gestatt da menglichem des rechten, wanne er sin hofgericht da
hatt. Und war (Iraf Günther von Schwarzenberg (soll heissen: Schwnrzburg
hofriebter. Da wareut auch viele fürsten nnd herren, die des rechten mit
einander pflagent.“ — Ascbbach (I. c.) findet hier die ersten Spuren des Reichs-
kammergerichts nachweisbar.
J) vgl. die Hofrichterliste bei Tomaschek 1. c. 47.
4) Ein Frankfurter Gesandtschaftsbericht (Janssen I, 486) spricht von
2 — 3 Sitzungen wöchentlich. — Einen eigentümlichen Schluss auf diese Thätig-
keit gewähren auch die Ermahnungen der Gesaudteu Frankfurts an ihre Stadt
den Hofrichter durch Geschenke für sich eiuzuuehmen.
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77
Neben der Einladung zum Nürnberger Reichstage 1430 er-
gebt ein Schreiben des Königs an die Stände:1) er wolle wäh-
rend seines demnäehstigen Aufenthaltes in Nürnberg das Hof-
gericht, das wegen seines langen Fernbleibens vom Reiche
ausser Wirksamkeit getreten sei, wieder bestellen. Jeder, der
eine Sache bei demselben anhängig habe oder machen wolle,
solle sich danach richten.*) Aber bekanntlich erschien der König
zu diesem Reichstage überhaupt nicht.
Dagegen ist auf dem Reichstage zu Nürnberg 1431 das Hof-
gericbt, wenn auch nicht in so grossem Massstabe wie in Con-
stanz, thätig.
Eine immer steigende Bedeutung neben dem Hofgerichte
erlangen, wie erwähnt, diejenigen richterlichen Entscheidungen,
welche der König, im Fürstengericht oder unter Zuziehung sonstiger
freigewählter Beistände — der Keim für das Kammergericht —
fällt; daneben die schiedsmännischen Vergleiche, welche König
und Fürsten nach Übereinkommen der streitenden Parteien zu
vermitteln suchen.
Die Berührung derartiger Vorgänge mit Landfriedensbe-
strebungen ist oft genug nachzuweisen; wo Gesetze und Er-
lasse als wirkungslos sich heraussteilen, müssen Schiedssprüche
und Kompromisse nachhelfen.
Nur das wichtigste sei hier erwähnt : Zu Constanz erscheint
der König als Schiedsrichter zwischen Erzbischof Dietrich von
Cöln und Herzog Adolf von Berg.8) Vor einem Fürstengericht
findet ebendaselbst die rechtsgeschichtlich vielfach interessante
Verhandlung gegen Herzog Ludwig von Bayern-Ingolstadt statt.1)
In die Streitigkeiten Erzbischof Dietrichs mit der Stadt Cöln 1419
greift der König, der grade damals Deutschland zu verlassen
sich anschickt, nicht ein. Er könne ihnen nicht helfen, die
Kurfürsten seien das Recht, erklärt er nach Windecke5) den
Cölnern. Der Markgraf von Brandenburg, der damalige
Reichs Verweser, sucht seinerseits zu vermitteln , aber ohne
') RTA IX, 291, nach Windecke, Cap. 169 ; citiert bei Franklin I, 217.
*) Einige nach Nürnberg wirklich erfolgte Vorladungen erwilhnt Kerler
1. c. IX 382 Note 1.
3) Franklin „Reichshofgericht“ I, 238.
*) Windecke Cap. 60 — Franklin I, 277 ff.
») Cap. 66.
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Erfolg; erst dem Erzbischof von Trier gelingt es, einen Ver-
gleich zu Stande zu bringen.1)
Auf dem Reichstage zu Nürnberg 1422 beschäftigt den
König der Handel des Bischofs mit der Stadt Speier.
Der König will, berichten Strassburger Gesandte,1) die
Speiersche Sache nach Rate der Fürsten zu schlichten suchen ;
gelingt dies nicht, dann soll der Rechtsweg beschritten werden.
Ausserdem gelingt es dem König, wenigstens vorübergehend,
in Bayern, wo der unbändige Herzog Ludwig von Ingolstadt
mit einer Reihe geistlicher und weltlicher Füllten, darunter
seinem Vetter Heinrich von Bayern-Landshut und dem Kur-
fürsten Friedrich von Brandenburg, in Fehde lag, Friede zu
schaffen. Freilich war dies mehr das Verdienst einer Nieder-
lage, die Ludwig kurz vorher erlitten hatte,®) als des könig-
lichen Friedegebotes.4)
Ein grösserer Erfolg war die von den Kurfürsten vermittelte
Aussöhnung des Königs selbst mit den Markgrafen von Meissen.5)
Als interne Sache des Kurcollegiums wird der Streit
zwischen den Kurfürsten von Mainz und Pfalz wegen des dem
ersteren vom Könige auf dem Reichstage zu Nürnberg 1422 ver-
liehenen Reichsvikariats auf dem Kurfürstentage zu Boppard
entschieden.6)
Dagegen wird der Streit um die sächsische Kur, welche
Herzog Erich von Sachseu-Lauenburg als Erbe seiner askani-
fichen Stammesverwandten, deren Geschlecht im Jahre 1422 aus-
gestorben war, den Markgrafen von Meissen, welche die könig-
liche Verleihung deckte, ein Jahrzehnt hindurch mit allen Mitteln
zu entreissen suchte,7) von den Kurfürsten auf demselben Tage
zu Boppard dem Könige zur Entscheidung anheimgestellt, was
allerdings lange Zeit hindurch nicht zum Ziele führte.
Auf dem Reichstage zu Wien 1426 erfolgte die Aussöhnung
zwischen dem Könige und Friedrich von Brandenburg. Die
alte Interessengemeinschaft beider war seit Beginn der Hussiten-
‘) Eimen „Geschichte der Stadt Cöln III, 232 u. 37.
*) RTA VIII, 135; auch S. 142 Note 3.
*) v. Bezold I, 99.
4) RTA VIII, 170.
‘) 1. c. 172.
«) Kerler I. c. VITI S. 27fi.
’) Aachbach III, 218 ff. — Franklin I, 295—304.
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kriege, vor allem dnreh die polnische Politik des Kurfürsten,
gesprengt worden. Zu Wien gelang der Ausgleich. — Die Be-
endigung der langjährigen Fehde der Stadt Strassburg mit
ihrem Bischöfe und dessen Helfer, dem Markgrafen von Baden,
erscheint seitens der Kurfürsten für den Tag zu Speier, Mai
1429, denselben, auf welchem sie den Städten ihre 3 Land-
frieden sartikel vorlegen,1) in Aussicht genommen.*)
Wie sehr der langwierige, besonders seit der Gewaltthat
im Herbst 1429 akut werdende Streit Conrads von Weinsberg
mit den schwäbischen Städten die Landfriedensbestrebungen der
Fürsten störte, haben wir gesehen.8) Der König spricht auf
dem Reichstage zu Pressburg, eben im Anschluss au den Weins-
berger Streit, sehr ernste Worte über die Fried- und Recht-
losigkeit im Reiche.4) Der vermittelnden Thätigkeit der Für-
sten in dieser Sache gedenkt er mit Unwillen : sie hätten, meint er,
hier nicht unterhandeln, sondern strafen sollen. Er will nun selbst
die Sache unter Zuziehung der beiden anwesenden Kurfürsten
von Mainz und Brandenburg richterlich entscheiden; diese aber
erklären, nur auf deutschem Boden Recht sprechen zu wollen.5)
Eine reiche richtende und vermittelnde Thätigkeit entfaltet
sich auf dem Reichstage zu Nürnberg 1431 : Hier wird die Klage
Herzog Ludwigs von Bayern Ingolstadt gegen Heinrich von
Bayern Landshut wegen mörderischen Überfalls, geschehen 1417
zu (’onstanz, durch das Fürstengericht entschieden.6)
Ferner erfahren wir, dass der König das Zerwürfnis zwi-
schen dem Erzbischof von Cöln und dem Herzog von Berg, fer-
ner den Streit zwischen Baden und der Stadt Strassburg gütlich bei-
legen wollte. Misslinge der Ausgleich, hören wir auch hier wieder,
so solle richterliche Entscheidung eintreten. Auch der Streit um das
triersche Erzbistum7) wird auf dem Reichstage verhandelt,8)
aber nicht entschieden. —
*) Vgl. unsere S. 68.
*) RTA IX, 244 und 247 art 1.
*) VergL unsere S. 69 und Note ö.
*) RTA IX, 287 art 3. — Aschbach III, 310.
“) RTA IX, 297.
*) Aschbach III, 359 ff. — Franklin I, 282. — Windecke Cap. 173. —
RTA IX, 439 u. 440.
*) Aschbach IV, 186 f.
*) RTA IX S. 585 X. 28 ff. — Goerz „Regesten der ErbischUfe von
Trier“ S. 161 (Urkunde vom 10. 4. 1431).
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80
Wie als Quelle aller Gerechtigkeit und als oberster Schieds-
richter zeigt sich der König auf den Reichstagen gern als
oberster Lehnsherr.
Hervorragend durch die Zahl und die Bedeutung der auf
ihm vorgenommenen Belehnungen ist besonders der Reichstag zu
Constanz 1417. In dem Berufungsschreiben vom 9. Februar
1417 *) fordert Sigmund, da er nun schon 7 Jahre König sei und
viele Unterthanen ihre Regalien noch nicht aus seiner Hand
empfangen hätten, die Säumigen bei Verlust ihrer Lehen auf,
dies auf dem bevorstehenden Reichstage nachzuholen.
Die Mahnung hatte Erfolg: eine grosse Anzahl deutscher
Reichsangehöriger nahm zu Constanz vom Könige ihre Lehen
und erhöhte dadurch den Glanz der Versammlung.*) Die bekann-
teste und für die spätere Zeit am meisten folgereich gewordene
der damals vollzogenen Belehnungen ist die des Kurfürsten
Friedrich von Brandenburg.*)
Auf dem Reichstage zu Breslau empfingen unter andern
die neuen Inhaber der Kurwttrden von Trier und Sachsen, viel-
leicht auch von Mainz ihre Lehen vom Könige.4)
Auf dem Tage zu Nürnberg, Herbst 1430, wurde Friedrich
der Sanftmütige mit der sächsischen Kur feierlich belehnt.5)
Bei der häufigen Abwesenheit des Königs von deutschen
Landen, bei den mannigfachen Aufgaben, die seiner Sorge für
das Reich hindernd in den Weg traten, musste die Bestellung
von Vertreten! des Königs in Krieg und Frieden, von Reich s-
Vikaren oder F e 1 d h a u p 1 1 e u t e n auf den Reichst agen immer
wiederkehren.6)
') RTA VH, 211.
*) Ausführliche Angaben hei Aschbach II, 235 ff.
*) Aschbach II, 237. — Riedel „Zehn Jahre ans der Geschichte des
Ahnherrn des preussischen Königshauses“ S. 283 ff.
*) Aschbach III, 43. — Die Anwesenheit Konrads y. Mainz in Breslau
ist zweifelhaft; nur Illngoss (historia Poloniae 11, 410) bezeugt sie. Vgl.Kerler
RTA VH S. 387 Z 19 ff.
*) Stitdteehroniken I, 377 (Nürnberger Chronik bis 1434/41) und II, 21
nnd 22 (Endres Tücher).
•) Über die Teilnahme des Reichstages an Vikariatsbesetznngen in
früherer Zeit: Ehrenberg 7fi ff.
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81
Schon in den traurigen Tagen der Vernachlässigung des
Reiches durch Wenzel war das Verlangen nach Ersatz für den
König wiederholt aufgetaucht.
Im Juni 1390 hatte Wenzel den Pfalzgrafen Ruprecht II
als obersten Hauptmann des Egerer Landfriedens eingesetzt,
bald aber wieder seiner Funktionen enthoben.1) Der-
selbe Fürst wird im Juli 1394, als Wenzel von dem aufrühreri-
schen böhmischen Adel gefangen war, für die Zeit der Un-
freiheit des Königs auf Grund des alten Rechtes, welches sein
Haus auf das Reichsvikariat zu haben meinte , zum Reichsver-
weser bestellt.2) Mit Beginn der revolutionären Bewegung
gegen Wenzel wird das Verlangen nach Vertretung des Königs
noch dringender. Die Fürsten verlangen auf dem Frankfurter
Tage, Mai 1397, nicht blos einen Reichsverweser für die Zeit
der Abwesenheit Wenzel’s, sondern einen Ersatzmann überhaupt,
also eine Art Vicekönig.*)
Aber dabei blieb man nicht lange stehen. In Frankfurt.
November 1399, suchen die Fürsten die Städte zu veranlassen,
keinem Reichsverweser zu gehorchen, der nicht mit Bewilligung
der Stände gewählt sei.4) Nicht der König, sondern sie, die
Kurfürsten, behauptete man, hätten das Recht, einen Reichs-
verweser zu bestellen.')
Unter Sigmund erscheint die Vikariatsfrage zuerst in den
Landfriedens- und Städtebundsverhandlungen vor und während
des Constanzer Concils.
Auf das Anerbieten des Königs an die Städte, sie sollten
unter seiner Führung ihren alten Bund, wie er bis zu seiner
Auflösung auf dem Reichstage zu Eger, 1389, bestanden hatte, wie-
der erneuern, schlagen Mainz, Speier und Frankfurt vor, der König
solle einen Reichsvikar ernennen, der unter Mitwirkung städtischer
Beisitzer die Sorge für Recht und Frieden übernähme.6) Dem
entsprechend nehmen die königlichen Landfriedensvorschläge
') RTA II S. 145.
r) 1. c. II, 223 — Lüuluer II, 200.
*) 1 c. II, 423 — Lindncr II, 303 f.
*) RTA III, 90 und 91.
6) 1. c. 93.
* ) 1. c. VII, 181 — Finke S. 43.
VVendt, Der deutsche Ueic.hxtaK unter König Sigmund. 6
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einen „obersten Hauptmann des Landfriedens“ in Aussicht.1)
Aber diese Institution trat so wenig iu’s Leben, wie eine um-
fassende Landfriedensorganisation überhaupt.
Ehe der König Anfang 1419 Deutschland verliess, ernannte
er, allerdings nicht auf einer Reichsversammlung , Kurfürst
Friedrich von Brandenburg zu seinem Verweser.*)
Der Beginn der Reichskriege gegen die Hussiten rückte
die Frage nach Vertretung des Königs während seiner Abwesenheit
in den Vordergrund. Juni 1421, nach dem Nürnberger Reichstage,
bevollmächtigt Sigmund 9 seiner Räte zur Ausstellung von Ur-
kunden, durch welche dieselben unter Mitwirkung der Stände : „fil
oder wenig, dornach man zu rat wirt,“ einen Reichsvikar oder
Feldhauptmann gegen die böhmischen Ketzer einsetzeu könnten.
Auf dem Reichstage zu Nürnberg 1422 regelt der König
im Einverständnis mit den Ständen die Vertretungsfrage in
doppelter Weise: Feldhauptmann gegen die Hussiten wird Kur-
fürst Friedrich von Brandenburg.3) Die Verwaltung des Reichs
für die Dauer seiner Abwesenheit überträgt er am 25. August
1422 Erzbischof Konrad von Mainz.4)
Diese letztere Ernennung war insofern ein politischer Fehler,
als sie die Rechte auf Vertretung des Königs, welche Kurpfalz von
Alters her beanspruchte.5) und die sich aus der goldenen Bulle
Karls IV selbst herleiteten, ausser Acht Hess.6)
Für den Augenblick scheint Pfalzgraf Ludwig nicht gegen
die Massregel des Königs protestiert zu haben, wie er ja auch
1419 gegen die Ernennung des Kurfürsten Friedrich, obgleich
er damals mit dem Könige schwer verfeindet war, nichts
eingewendet hatte. Er begnügte sich damit, Kurmainz
von Übernahme des Vikariats abzumalinen und verliess daun
ruhig Nürnberg , um sich zu seiner gemeinschaftlich mit
dem Erzbischof von Köln zur Unterstützung des deutschen
Ordens gegen Polen zu unternehmenden Reise zu rüsten. Erst
>) 1. c. VII, 182 art 5 — Vgl. Kerler S. 263.
’) 1. c. 251 — Droysen I, 273.
*) RTA VIII, 162 — Droysen I, 314. — v. Bczold I, 97.
4) ItTA Vm, 164.
6) Vergl.: „Von (less Heiligen Römischen Reichs der Chur Fürstlichen
Pfaltz zustehenden Vicariat kurtzer Bericht“ Heidelberg 1614.
') Hiiuser „Geschichte der rheinischen Pfalz I 290 f.
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83
fast einen Monat später, am 21. September vonWttrzburg aus,
erhebt er durch Rundschreiben an verschiedene Stände gegen
die Ernennung des Erzbischofs Einspruch und fordert dieselben
auf, diesen bis zu seiner (des Pfalzgrafen) Rückkehr aus
Preussen als Reichsverweser nicht anzuerkennen.1)
Von Preussen aus begab sich Ludwig an den Hof des Kö-
nigs, um dort gegen die rechtswidrige Ernennung Schritte zu
thun.s) Da aber der König seine Massregel nicht wieder rück-
gängig machen konnte oder wollte, erfolgte die Entscheidung
des Streites selbständig im Schosse des Kurcollegiums.
‘) RTA VIII 193 — Aus dem Eingänge dieses Schreibens: „als wir
nf hut her gen Wirtzburg kommen sin „. . . auf der Beise nach Preussen
. . . „ist uns für kommen . . .“ dass der König den Erzbischof von Mainz
zum Statthalter gemacht habe — hat man scbliesseu wollen, die Ernennung
Konrads sei erst nach der Abreise des Pfälzers aus Nürnberg erfolgt. Man
hat deshalb diese ganze Einsetzung vielfach als hinterlistiges Intriguenspiel
Sigmunds, mit dem Zwecke: durch Anstiftung eines Streites unter den Kur-
fürsten ihre Oligarchie zu sprengen, aufgefasst (vgl. v. Bezold I, 89 f. —
Schuster „Der Conflikt Sigmunds mit den Kurfürsten etc.“ S. 10). — So un-
wahrscheinlich es an sich schon ist, dass eine Staatsangelegenheit von dieser
Bedeutung Kurfürst Ludwig hätte nahezu einen Monat verheimlicht werden
und dieser die Neuigkeit wirklich erst am 21. September iu Wiirzburg hätte
erfahren können, so lässt sich noch ausserdem direct nachweiseu, dass Lud-
wig zur Zeit der Ernennung des Erzbischofs noch in Nürnberg war. Vom
25. August datiert die königliche Bestallung für Knrmainz. Am 27. hat
aber der Pfalzgraf, nach einem ganz unverdächtigen Zenguisse (Bericht des
Oomturs Ludwig von Lausee an den Deutschordenshochmeister : RTA VIII,
138; S. 150 Z 27 f.) Nürnberg erst verlassen, und für eine RUckdatierung
der königlichen Urkunde fehlt uns jeder Anhalt. Ausserdem führt eine kur-
mainzische Aufzeichnung über die auf dem Knrfürstentage zu Boppard Juli
1426 von Kurpfalz über Kurmaiuz erhobenen Beschwerden (1. c. 417) als
zweiten Punkt an: „Item, von der vicariats wegen: daz unser lierre (der
Mainzer) von unserm herren dem konige zu Nuremberg erworbc wider soliche
bete so der pholzgrave in gebeten bette in genwurtickait unser herren von
Collen und Triere ein solichs nicht zu thnnde,“ was sich nur auf geheime
Verhandlungen des Nümburger Reichstages von 1422 beziehen kann. — Der
Grund, warum Ludwig erst nachträglich gegen die Ernennung protestierte,
mag darin liegen, dass er erst die Entfernung des Königs ans Nürnberg
vgl. Sigmunds Itiuerar bei Aschbach III, 444) abwarteu wollte; fernerauch darin,
dass grade damals (18. Sept.) die erste Amtshandlung des neuen Statthalters :
das Ansschreiben des Wormser Tages (RTA VIII, 189) erfolgte. Die Ein-
gangsformel „uns ist furkommen“ (in nro 193) möchte ich aus dem Bedürf-
nisse, das bisherige Schweigen zu motivieren, erklären.
») Windecke Cap. 109 — RTA VIII, 230 art 3.
es
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84
Auf dem Kurfürstentage zu Boppard, Mai 1428. verzichtet
der Mainzer Kurfürst nach Schiedsspruch der Erzbischöfe von
Cöln und Trier auf das Reichsvikariat.1)
Seit diesen Vorgängen ist es zur Ernennung eines Reichs-
vikars durch Sigmund nicht mehr gekommen; sei es, dass die
Fürsorge des Königs für das Reich, dem er ja Jahre lang fern
blieb, überhaupt erloschen war ; sei es, dass er der kurfürstlichen
Oligarchie, welche ohnehin seine königliche Prärogative auf
Schritt und Tritt zu bedrohen schien, keinen Rechtstitel an die
Hand geben wollte. Möglich auch, dass die Erfahrungen, die
Sigmund bei der eben geschilderten Vikariatsbesetzung gemacht
hatte, hierin mitwirkten.
Nur einmal hören wir noch, allerdings nur hypothetisch,
von der Einsetzung eines königlichen Vertreters für die lteiclis-
verwaltimg: Die Kurfürsteneinung von Bingen, Januar 1424.
in der die kurfürstliche Oligarchie dem Reichsoberhaupte, in
aller Form organisirt, geschlossen gegenübertritt, nimmt gemein-
samen Widerstand der Bundesglieder in Aussicht für den Fall,
dass jemand „nach dem Reich stände“ . . „mit vicariate oder
anders.“ *) Die beiden Gestalten, in denen die Bundesurkunde
uns vorliegt, und deren gegenseitiges Verhältnis weiterhin uns
zu beschäftigen haben wird, zeigen hier, wie an vielen Stellen,
einen bedeutsamen Unterschied.
Die eine, im ganzen gemässigtere,8) bedingt den Wider-
stand des Bundes nur für den Fall, dass die betreffende Usur-
pation wider Willen des Königs und der Kurfürsten erfolge.
Die zweite viel schärfere Fassung4) erwähnt hier das Reichs-
oberhaupt gar nicht. Damit ist der Fall, dass die Kurfürsten
auch dann gegen einen missliebigen Reichsvikar sich auflehnen
könnten, wenn der König selbst ihn eingesetzt habe, stillschwei-
gend mit eingeschlossen. Somit erinnert diese ganze Ab-
machung sehr an den Anspruch, den die Kurfürsten kurz vor
Wenzels Absetzung erhoben, nur einem mit ihrer Genehmigung
eingesetzten Reichsvikar gehorchen zu müssen.5)
‘) RTA VIII, 238 u. 39. — Windecke 109 (ohne Ortsangabe).
*) RTA VIII, 294 art 5 — 295 art 6.
>) 1. c. 295.
‘) 1. c. 294.
6) L c. III, 93 — vgl. unsere 3. 81.
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85
In der Reidisverwaltung blieb also während der Zeit von
1422 — 30 das Reichsoberhaupt ohne rechtmässigen Vertreter.
Aber für die Kriegsuuternehmuugen gegen die Hussiten erwies
sich ein Ersatz für den König auch in dieser Periode als un-
erlässlich.
Zu einer unpraktischen und wenig glücklichen Bestimmung
über die oberste Kriegsleitung kam man in der Heerorduung
gegen die Hussiten vom Reichstage zu Frankfurt, April 1427. ')
2 Hauptleute sollen die ganze Unternehmung leiten. Für die
eine Stelle ist einer der geistlichen Kurfürsten in Aussicht ge-
nommen: Cöln in erster, Trier in zweiter, Mainz in dritter
Linie. Und dieser eine Hauptmann soll mit Rat eines oder meh-
rerer weltlicher Fürsten den zweiten ernennen. Die Unzweck-
mässigkeit dieser Bestimmungen leuchtet ein.
Ebenfalls zweigeteilt erscheint die Oberleitung nach den
Frankfurter Beschlüssen vom November 1427. Zu Hauptleuten
werden nach dem Frankfurter Reichstagsabschied (meist als
Reichskriegssteuergesetz bekannt)*) bestimmt: Der Cardinal-
legat Heinrich, Bischof von Winchester und der Kurfürst
Friedrich von Brandenburg. Ein Entwurf des Gesetzes 3) nennt
ersteren „von des Papsts wegen,“ den letzteren „von des Reichs
wegen“ eingesetzt. Die lateinische Fassung des Abschiedes
nennt beide: „s&nctae ecclesiae capitanei ordinatores et provi-
sores,“ ein Beleg für den eigenthümlichen , halb kirchlichen,
halb weltlichen Charakter dieses Amtes, wie der Frankfurter
Beschlüsse überhaupt.
Merkwürdig ist auch das staatsrechtliche Verhältnis die-
ser Ernennung im Hinblick auf die Competenz des Reichsober-
hauptes : Die deutsche Fassung des die Einsetzung der Hauptleute,
statuierenden Artikels im Abschiede beginnt : „Item dazu haben
unser herren die kurfursten und ander fürsten ge rattslagt
etc.“ Der lateinische Text aber sagt : „Item duminis princi-
pibus electoribus et ceteris principibus consultum Visum fuit
et unanimi consensu concluserunt etc.“ — eine sachlich
*) HTA IX 31 art 2. — von Bezold H, 101.
>) L c. 76, art 34.
*) L c. 72 (S. 88 Z 38 ff.).
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zwar unwesentliche , formell aber immerhin bemerkenswerte
Abweichung. •)
Wichtiger ist die Form, in der Sigmund die Ernennung
des Kurfürsten von Brandenburg (die des Cardinals entzog sich
seiner Competenz) bestätigt *) : Zu Frankfurt sei, sagt die könig-
liche Urkunde, indem sie sich an die deutsche Fassung des
Reichstagsabschieds anschliesst, die Ernennung des Kurfürsten
zum obersten Hauptmann gegen die Hussiten „begriffen und
geratslagt“ worden. Infolgedessen hätten die Kurfürsten durch
ihre Gesandten (Bischof Raban von Speier und Albrecht von
Hohenlohe) den König ersuchen lassen, er möge den Markgrafen
zur Übernahme der Hauptmannschaft auffordern, was Sigmund
auch des weiteren tliut.
Hier ist also von keiner eigentlichen Ernennung mehr die
Rede; der König hat nur die Beschlüsse der Stände nachträg-
lich zu sanktionieren.
Dagegen geht vom Könige, allerdings unter Mitwirkung
der Stände, die Ernennung des Markgrafen Friedrichs zum Feld-
hauptmann auf dem Reichstage zu Nürnberg 1431 aus. Die königliche
Bestallungsurk. 5) geht im wesentlichen auf die von 1422 zurück. —
Wichtiger und bedeutungsvoller als durch seine Wirksam-
keit nach innen, durch das, was durch die Reichsversamm-
lung und auf derselben für Erhaltung von Recht und Ordnung
mittelst allgemeiner oder provinzieller Gesetzgebung, Pflege
von Handel und Wandel, Münz- und Zollwesen, durch richter-
liche und schiedsrichterliche Thätigkeit, zur Vertretung des
Königs in Krieg und Frieden geschah — wichtiger als dieses
muss in unserer Zeit, welche die Funktionen der Reichsver-
waltung eine nach der andern an die Territorien übergehen
und den Reichszusammenhang wesentlich nur noch in den äus-
seren Beziehungen gewahrt sieht, die Thätigkeit des Reichs-
tages nach Aussen hin sein. Die fruchtbringendsten Beschlüsse,
zu denen es auf den Reichsversammlungen unsrer Periode über-
haupt noch kommt, sind unter dem Drucke einer äusseren Ge-
fahr entstanden.
l) Vgl. Kerlers Einleitung zum Reichstage von Frankfurt Nov. — Dez.
1427 unter .T (RTA IX S. 64).
*) 1. c. 108; S. 137 Z 7 ff.
*) 1. c. IX, 423 — vgl. S. 499.
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Ehe aber diese furchtbare Bedrohung an Deutschland heran-
tritt, vor der Periode der Hussitenkriege, linden wir Sigmund
schon zweimal in der Lage, kriegerische Unterstützung von den
Reichsangehörigen zu verlangen.
Während des ersten Constanzer Reichstages 1415 fordert
er Hilfe gegen Herzog Friedrich von Ostreich, den Gönner
Balthasar Cossas, den Frevler an seiner Majestät und an
der des Coneils.1)
Der zweite Constanzer Reichstag, im Jahre 1417, zeigt den
König mit Rüstungen gegen Frankreich beschäftigt auf Grund des
Bündnisses, das er mit Heinrich V von England zu Canterbury ge-
schlossen hatte.*) Verschiedene Reichsfürsten sagen dem Könige
ihre Beteiligung zu; besonders Kurfürst Ludwig von der Pfalz,
mit dem englischen Könige befreundet und verschwägert, zeigt
grossen Eifer. Mau kommt bis zur Festsetzung der Gesammt-
stärke des aufzustellenden Heeres: 3000 Lanzen, uud Bestim-
mung der einzelnen Contingente, aber dabei bleibt es auch.3)
Seitdem der König zu Breslau 1420 den böhmischen Ket-
zern den Krieg erklärt, seitdem sein kurzsichtiger Übereifer
den gewaltigen Brand entfacht hatte , welchen Ströme von Blut
nicht löschten, bis die Wut der Flammen erschöpft in sich
verlosch, seitdem beschäftigt das Aufgebot der Kräfte des
Reichs gegen die Hussiten den deutschen Reichstag immer wieder.
Schon die ersten Kriegsereiguisse mussten Sigmund darauf
hinweiseu, dass er ohne Inanspruchnahme des Reichs, nur auf
die Kräfte seiner Erblaude angewiesen, die Bewegung in Böh-
men niemals werde niederschlagen können.
■) Aschbach 11, 73 ff., von Finke (S. 53 ff.) vielfach berichtigt.
*) Lenz 143 ff. — Caro 84 ff.
*) Der Ansicht H aber lins (Weltgeschichte V, 326), (lass sich in den
Worten des Klageschreibens, welches Kurfürst Ludwig über König Sigmund
an den König von England richtete, (Kymer „Foedera iuter reges Anglorum
et qnosdam alios etc.“ IX, 606 ff. — RTA VII 237 art 6): „et (latus fuit ordo,
quod lanceas quilibet dominomm habere debebat," die erste Spur einer Reichs-
matrikel (also vorde Nürnberger von 1422) nachweisen lasse, schliessen sich
Häusser „Gesell, d. rhein. Pfalz“ 1, 284. Note 51 und l-enz 144, Note 1 an. — Wenn
hier wirklich eine Matrikel und nicht blos einzelne private Abmachungen
gemeint, sind, so haben wir doch keinesfalls an ein Reichsgesetz von der
Allgemeinheit der Matrikeln in den Hussitenkriegen zu denken.
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88
Ende 1420 ergehen die ersten königlichen Ladeschreiben,1)
welche zur Beschickung eines Reichstages in Sachen der böh-
mischen Ketzerei aufforderten. Zu einem Aufgebot der Reiehs-
lieere, überhaupt zu einem Reichstagsbeschlusse kommt es, da
der König fernbleibt, auf dem infolge dieser Ladung zusammen-
tretenden Reichstage von Nürnberg 1421 noch nicht. Was er-
reicht wird, ist ein Bund der rheinischen Kurfürsten, zunächst
untereinander, daun mit einer grossen Anzahl geistlicher und
weltlicher Fürsten *) zu gemeinsamer Bekämpfung der Ketzerei,
sei es iu Böhmen durch Bekriegnng, sei es in ihren eigenen
Landen durch gerichtliche Bestrafung.’)
Die Städte halten sich diesem Bunde fern. Ihre auf dem
Tage zu Wesel Mai 1421 abgegebene Erklärung4) ist allgemein
zustimmend, im einzelnen aber ausweichend. Bei aller Sym-
pathie für die Zwecke des Bundes mochten sie sich scheuen,
bestimmte aber doch vieldeutige Verpflichtungen einzugehen.’)
Der Bund bringt im Kreuzzuge von 1421 eine starke Macht
auf, freilich ohne kriegerische Erfolge zu erzielen.
Der Nürnberger Reichstag von 1422 hatte nach dem Miss-
erfolge des vergangenen Jahres die doppelte Aufgabe: einmal
durch einen Kriegszug die von den Ketzern aufs äusserste ge-
fährdeten Positionen in Böhmen, vor allem die Burg Karlstein
zu entsetzen — dann durch dauernde Bekämpfung „täglichen
Krieg“ die Rebellion zu schwächen.
„Zug“ und „täglicher Krieg,“ diese beiden Mittel
zur Bekämpfung der Hussiten treten von hier an bei allen Be-
ratungen des Königs und der Stände auf, einander bald er-
gänzend, bald ausschliessend. Die Festsetzung der Contingeute
') RTA VIII, 1: vom 25, 11 nach Eger; 1. c. 2: vom 30, 12 nach
Nürnberg.
!) angeführt in Kerlers Einleitung zum Nürnberger Reichstage April
1421 unter E. (RTA VTII S. 4).
•) 1. c. 28—33; v. Bezold I, 50.
*) RTA VIII, 46.
s) Die bisherige Annahme, welcher zufolge auch die Reichsstädte und
zwar 86 au Zahl demNümbergerKetzerbundesich angeschlossen hätten (Aschbach
III, 130 — Grünhagen „Hussitenkämpfe der Schlesier“ 56 — v. Bezold I, 60
— vgl. RTA VIII, 68 — 69), bezeichnet Kerler mit Recht als unwahrschein-
lich: Einleitung zum Weseler Tage unter A, B, E — RTA VIII S. 53 ff.,
auch S. 80 Note 5.
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89
zum „täglichen Krieg* ‘) ist das erste uns erhaltene Reichsge-
setz, das die militärischen Leistungen der deutschen Reichs-
angehörigen fixirt, die erste Matrikel.
Kurfürsten, Bischöfe, Herzöge und weltliche Fürsten, Grafen
und Herren, Äbte, Städte: in dieser Gruppierung treten uns
die Stände mit ihren einzelnen Leistungen in langer Reihe ent-
gegen. Dieses Gesetz und die Matrikel von 1431 haben auf
die Gestaltung der späteren Matrikularverfassung des Reichs
sehr wesentlich eingewirkt. Auf die Ungleichheit der einzelnen
Ansätze dieser Aufzeichnung ist schon hingewiesen worden,*)
ebenso darauf, dass in dem Anschläge viele Ausländer und
solche Reichsangehörige , von denen die festgesetzten Lei-
stungen nie zu erwarten waren, einen breiten Raum einnehmen.
Solche sind die Mehrzahl der norddeutschen Stände, die Nieder-
länder, die Herzoge von Savoyen und Lothringen u. a.
Es ist nur noch zu bemerken, wie weit der Anschlag den
Kreis der Reichsstädte zieht. Kein Wunder, dass das Vor-
kommen in den Matrikeln später mancher Stadt als Beleg für
ihre umstrittene Reichsstandschaft willkommen war.3) — Die
beiden letzterwähnten Merkmale kommen übrigens dem Gesetze
von 1431 in noch höherem Masse zu.
Der Anschlag zur Rettung des Karlsteins4) durch einen
„Zug“ umfasste einen weit engeren Kreis: ausser den Kur-
fürsten erscheinen nur Grenznachbarn Böhmens, allerdings mit
viel stärkeren Contingenten, in ihm verzeichnet.
Abgesehen von diesen militärischen Vorkehrungen berühr-
ten die Nürnberger Verhandlungen auch die finanzielle Seite.
Hier, im Jahre 1422, nicht erst wie meist behauptet: 1431,
tritt zuerst der Gedanke einer „allgemeinen Schatzung,“ einer
Geldsteuer nach Art des späteren „gemeinen Pfennigs“ auf.
Näheres über diesen Plan wissen wir nicht; schon im
Keime wurde er durch den energischen Widerstand der Städte
erstickt.5)
Wollen wir gerecht sein, so war es nicht krämerhafter
>) 1. c. 145.
*) v. Besold I, 93.
*) ETA VIII S. 107 Z 27—31.
*) 1. c. 148.
‘) 1. c. 135.
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!)0
Geiz allein, der die liier zuerst auftretende und später sich
immer wiederholende Opposition des Bürgertums gegen Steuerpro-
jekte inspirierte. Das in den Stadtmauern vorzüglich sich bergende
mobile Capital empfand den Druck einer Geldsteuer am schwer-
sten, und so mochte eine Steuer für Fürsten und Herren die be-
quemste Methode darstellen, Leistungen von sich auf die Städte
abzuwälzen.;
Im folgenden Jahre verlangt der König ohne vorherige
Beratung mit den Ständen, Unterstützung gegen Böhmen.1) Wir
haben schon gesehen,4) wie wenig dies eigenmächtige Verfahren
den Ständen zusagte. Hierin und in dem Misstrauen gegen
die königlichen Rüstungen selbst liegt der Grund dafür, dass
das Jahr 1423 ohne Unternehmungen des Reiches gegen Böhmen
verlief.3)
Nicht besser ging es im folgenden Jahre. Die Unterhand-
lungen zwischen König und Kurfürsten über Abhaltung einer
Reichsversammlung scheiterten au der Weigerung des Königs,
nach Deutschland zu kommen, was die Kurfürsten mit Fern-
bleiben vom Wiener Reichstage, Januar 1425, vergalten.
Dieses genügte, um die Festsetzung wirksamer Beschlüsse
zur Bekämpfung der Böhmen auf diesem Tage zu verhindern.
Nach den städtischen Berichten4) wissen wir nur, dass der
König wieder doppelte Kriegführung plante. Im Winter sollte
„ täglicher Krieg,“ besonders von Mähren aus, die Ketzer be-
schäftigen, im Sommer sollten Feldzüge „bis zur Bezwingung
der Ungläubigen“ unternommen werden.
Sonst erfahren wir noch, dass die Städte, wie üblich, einer
Erklärung über ihre Leistungen zum Sommerfeldzuge aus dem
Wege gehen. Der König sucht sie zu zwingen, indem er ihre
privaten Anliegen an ihn unerledigt zu lassen droht, aber um-
sonst ; ihre Antwort muss um 3 Monate verschoben werden.*)
‘) BTA 4111 236.
’) Vgl. unsere S. 60 f.
’) r. Bezold II, 10.
4) Schreiben der Gesandten des Weinsberger Stftdtebundes (Uber diese
Bezeichnung vgl. Kerler 1. c. VIII S. 398 Note 3 n. Stälin rWirtembergische
Geschichte“ III, 428) an Nfirdlingen vom 17., 2., 1425. (1. c. 3:18).
ä) v. Bezold II, 68.
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Der Wiener Reichstag, Februar 1426, bringt es auch nur
bis zu Vorberatungen für eine im Mai zu Nürnberg abzuhal-
tende Versammlung.1) Man nahm für diese einen Anschlag von
6000 Spiessen für den „täglichen Krieg“ in Aussicht. Die Ver-
sicherung des Königs, dass dieser Anschlag „ein gleicher“ sein
und niemanden beschweren solle, wird im Laufe der Verhand-
lungen zu Nürnberg mehrmals von den Städten gegen die For-
derungen der Fürsten ausgespielt.
Der folgende Reichstag zu Nürnberg, Mai 1426, verlor durch
das Ausbleiben des Königs viel von seiner Bedeutung, kam aber
wenigstens zur Beschlussfassung. Der dort vereinbarte Anschlag
zum täglichen Kriege ist uns nicht mehr erhalten; nur ein
kleiner Teil der Ansätze lässt sich aus den auf Grand der
Nürnberger Beschlüsse entsandten Mahnschreiben und aus an-
dern Notizen wiederherstellen.*)
Von den Verhandlungen des Tages wissen wir, dass Für-
sten wie Städte das Verlangen des Königs von 6000 Spiessen
zu hoch fanden. Die Fürsten gehen auf 4ü00 herab; das An-
gebot der Städte für ihre Leistungen ist noch geringer.3)
Der König regt nachträglich, nachdem er seine Forderung
an Truppen schon in Wien bekannt gegeben, die Auflegung
einer allgemeinen Geldsteuer an, für die er sich in einem
Schreiben an den Cardinallegaten Orsini 4) wiederholt ausspricht.
Aber die Fürsten, die sonst einer Geldsteuer immer geneigt
waren, müssen diesen Vorschlag von diesmal vornherein abge-
wiesen haben, da die städtischen Quellen über den Steuerplan
vollständig schweigen.
Ausserdem besitzen wir noch von diesem Reichstage ein
Gutachten der Kurfürsten, das erste Schriftstück dieser Art,
welches sich mit Vorbereitung und Ausführung des Ketzer-
krieges beschäftigt. Seine Bestimmungen über Verpflegung des
•) v. Bezold II 75.
*) Eine Zusammenstellung der bekannten Contingcnte giebt Kerler 1. c.
VIII, S. 452 f; ungenauer Abdruck bei Schuster 1. c. 85 Note 4. Bei der
Vergleichung des Contingentes Ludwigs v. Bayern-Ingolstadt (10 Spiesse) mit
dem in der Matrikel von 143t (ICK) Spiesse) übersieht Schuster, dass letzterer
Anschlag einen Feldzug und nicht den täglichen Krieg, betrifft.
*) RTA VIII, 390 art 4 a.
4) 1. c. 405. — Vgl. unsere S. 44 Note 4.
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Heeres, Verteilung der Beute , Zucht und Ordnung im Felde,
Verbot jeder Sonderabmachung mit dem Feinde u. a. kehren in
den spätem „ Heeresordnungen “ von 1427 und 31 wieder. Auch
hier soll, wie es in den späteren Schriftstücken dieser Art be-
stimmt wird, das Ausland in Anspruch genommen werden. Die
Könige von Dänemark und England, die Herzöge von Burgund
und Savoyen sollen unter anderen zur Hilfe aufgefordert wer-
den; ob man sich mit einem Hilfsgesuche au den König von
Polen wenden solle, wird bezeichnender Weise König Sigmund
anheimgestellt. ‘)
Die Bestimmung, dass niemand, wer es auch sei, der Ausfüh-
rung des vom Reichstage beschlossenen Anschlages „durch gelt
gnade ader einiger andern suchen willen“ überhoben werden dürfe,*)
welche, soweit wir sehen, diesem Stücke eigentümlich ist, rich-
tet sich gegen das Reichsoberhaupt selbst, welches sich die
durch das Reichsgesetz von 1422 auferlegten Leistungen von
einigen Städten hatte abkaufen lassen.8) — Im Ganzen ist der
organisatorische Wert dieses Gutachtens nicht zu hoch anzuschlagen.
Mit diesen seinen Beschlüssen hatte der Nürnberger Reichs-
tag, wie v. Bezold bemerkt4): „wenigstens den Schein nicht
Übel gewahrt. Mit der Ausführung hatte es gute Wege.“ Kurze
Zeit darauf erlitten die deutschen Waffen in der vernichtenden
Niederlage bei Aussig8) eine grausame Mahnung an die Unzu-
länglichkeit der bisherigen Massregeln.
In dem Bestreben, die also erhalteue Lehre zu nutzen,
kam der Reichsgesetzgebung eiue Einzelkundgebung zuvor : der
fränkische Ritterbund gegen die Ketzer auf dem Herrentage
zu Bamberg.6) In ihm vereinigen sich die fränkischen Ritter
zur Bekämpfung der Ketzer im eigenen Lande. Zum Ketzer-
kriege, welcher an die Stelle aller sonstigen ritterlichen Übun-
gen treten soll, zum „geistlichen Turniere,“ laden sie jeden, der
Mut und Kraft zum Waffeuhandwerk in sich fühlt in ihre
Reihen. — Dieser Plan war sicher ehrlich und wohlgemeint,
') BTA VIII, 391 art 13.
’) 1. c. art 9.
*) v. Bezold I, 98 u. Note 4.
‘) II, 80.
s) r. Bezold I, 81.
*) BTA IX, 9 — v. Bezold II, 95 f.
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aber sehr abenteuerlich. Manche seiner Bestimmungen muten
uns doch etwas gar zu cavaliersinässig an. Aber die Kitter
gaben doch wenigstens ein gutes Beispiel für Hoch und Niedrig
iin Reiche, welches bald Nachfolge fand.
Auf dem Reichstage zu Frankfurt, April 1427, von dessen
Verhandlungen wir leider nichts näheres wissen, muss es ziem-
lich schnell und leicht zu den uns erhaltenen Beschlüssen ge-
kommen sein.1) Es wird daselbst verabredet, mit 4 Heeren,
zu denen die Reichsstände nach ihrem Vermögen beizutragen
aufgefordert werden.2) in Böhmen einzufallen.
Die in Frankfurt aufgestellte , Heeresordnung“ 5) enthält
zwar eine Fülle zum Teil sehr nützlicher Bestimmungen über
die oberste Leitung des Feldzuges, den Einmarsch in Böhmen,
Verhalten in Feindesland. Manneszucht u. a. und verrät sicht-
lich das Bestreben, frühere Mängel zu vermeiden; aber einen
grossen Fortschritt weist sie trotzdem nicht auf. Formell zu-
nächst erscheint diese Ordnung vielfach als unbehilflich uud der
nötigen Klarheit entbehrend. Die Artikel folgen in ziemlich
willkürlicher Ordnung; zusammengehöriges ist oft auseiuander-
gerissen.
Die materiellen Mängel dieser Heeresordnung und der Be-
schlüsse des Frankfurter Frühjahrstages überhaupt hat v. Be-
zold4) berührt: Vom Landfrieden hören wir nichts; der Geld-
punkt ist ganz vernachlässigt ; die Einheitlichkeit der Leitung
suchte mau zwar durch mancherlei Bestimmungen im Princip zu
sichern, für die Praxis stellte man aber dieselbe durch schwer-
fällige Bestimmungen über die Wahl der obersten Hauptleute
und den von diesen zu berufenden Kriegsrat8) wieder in Frage.
Der gleichfalls in Frankfurt beschlosseue Artillerieanschlag *)
ist in seinen einzelnen Ansätzen sehr hoch, verpflichtet aber
nur wenige Reichsstände zu bestimmten Leistungen. Und die-
') Namentlich (las Entgegenkommen der Städte wurde gerühmt (v. Be-
zold n, 99).
*) RTA IX, 30 u. 33.
») 1. c. 31 — v. Bezold II, 100 ff.
4) 1. c.
*) BTA IX, 31 art 2 u. 3. — unsere S. 85.
*) 1. c. art 35 — 45.
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selbe Unbestimmtheit bezüglich der Heeresleistungeu, dies Ver-
langen der Hilfe „nach Möglichkeit“ oder „nach Vermögen“
war überhaupt der schlimmste Fehler der Beschlüsse vom
April 1427. ')
Der Sommer brachte die Niederlagen von Mies und Tachau,
unter deren Eindruck die Reichsversammlung zu Frankfurt im
November 1427 die gründlichsten und weitschauendsten Be-
schlüsse, welche die Not der Hussitenkriege überhaupt zeitigte,
gefasst hat.
Man ging hierbei von der sattsam erfahrenen Unzulänglich-
keit der bisherigen Kriegsverfassung des Reiches aus. Das um-
ständliche Matrikularwesen, welches so recht der Selbstherrlichkeit
schmeichelte, die Unabhängigkeit der Einzelwesen begünstigte,
welche von dem guten Willen des Einzelnen zu erbitten schien, was
doch Pflicht gegen das Reich war, welches selbst im günstigsten
Falle als Ergebnis immer nur eine Fülle von Teilen lieferte,
die nie zu einem einheitlichen Ganzen werden konnten, — dieses
veraltete und verrottete System erscheint hier beseitigt. Jetzt
wendet sich das Reich noch einem zwar mangelhaften aber
doch einigermassen gleichmässigem System an alle seine
Glieder ohne Unterschied.8) Es werden hier neue Aufgaben, neue
Pflichten, neue Organe geschaffen, deren weitere Ausgestaltung
zu unabsehbaren Consequenzen geführt hätte, welche auch nur
in unsern Gedanken zu verwirklichen, wir jener Zeit weit vor-
auseilen müssten.
Die grosse Reform, welche in dem ersten Zustandekommen einer
Reichskriegssteuer, denn um eine solche handelt es sich,
liegt, tratnaturgemäss, nicht ohne starken Widerspruch zu erfahren,
in’s Leben. Ohne den ernsten Willen des anscheinend die Ver-
sammlung ganz beherrschenden Cardinais von England und der
mit ihm im Einverständnis stehenden Fürsten wäre der Wider-
stand der Städte, denn diese widerstrebten wie immer so auch
hier dem Steuerplan besonders, jedenfalls nicht überwunden worden.
■) Die schon oft erwähnten, auf dem Frankfurter Septembertage für den
Reichstag im November aufgesetzten Artikel (RTA IX 58) fassen auch diesen
Paukt in’s Auge. Ihr art 4 lautet: „an aliquis numerus determinatus
cnilibet imponi debeat.“
') Anfangs hat man auch hier noch nicht an eine allgemeine Steuer
sondern an freiwillige Leistungen gedacht. In den Vorbesprechungen zum
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Und es gelingt dies auch nur unter Zugeständnis einer Sonder-
stellung, der Einwilligung in eine nachträgliche Erklärung sei-
tens der Städte und andere kleine Concessionen. Furcht vor
übermässiger Inanspruchnahme, Misstrauen in die Leistungen
der Fürsten selbst und in die zweckentsprechende Verwendung
der Steuererträge veranlassen das Widerstreben der Städte.
Genaueres Eingehen aufForm oder Inhalt des Frankfurter
Reichskriegssteuergesetzes1) dürfte sich nach den neusten
treffenden Bearbeitungen desselben durch Droysen,2) Waiz-
säcker3) und von Bezold4) erübrigen.
Es sei hier nur daran erinnert, dass es sich hier um eine
Steuer für alle Reichsangehörigen, eine „ Mischung von Einkom-
men-, Vermögens-. Kopf- und Standessteuer“ s) handelt, deren
Eintreibung an den einzelnen Hebestellen durch Commissionen
von je 6 Mitgliedern erfolgen soll. Das ganze Reich uud ein
Teil seiner Nachbarländer ist zu diesem Zw'ecke in 5 Distrikte
mit je einer Hauptkasse geteilt. Die oberste Centralstelle ist
Nürnberg, wo sich auch zu bestimmten Zeiten die zur Verwal-
tung der Steuererträge bestellte Centralcommission, bestehend
aus je einem Vertreter der 6 Kurfürsten und 3 städtischen Ab-
geordneten unter Vorsitz des obersten Hauptmaunes versammeln
soll. — Diese Hinweise auf den Inhalt des Gesetzes, wie es zur
Beschlussfassung gelangte, mögen genügen.
Nur den vorläufigen Entwürfen des Steuergesetzes, welche
die „Reichstagsakten“ zum ersten Male veröffentlichen, sei eine
kurze Betrachtung gewidmet.
Zwei derselben8) charakterisieren sich’) als Abschriften
Frankfurter Reichstage ist noch von Selbsteinsehätznng die Rede: RTA IX
58 art 3.
>) Die neuste kritische Ausgabe stellt RTA IX, 67 dar. Vergl. dazu
Kerlers Ausführungen 1. c. S. 60—62.
*) „Berichte der kgl. sächs. Gesellschaft der Wissenschaften zu Leipzig“
phil.-histor. Klasse Bd. VTI (1855) S. 143 ff. — auch „Geschichte der preuss. Po-
litik’ I, 350 ff.
*) „Forschungen zur deutschen Geschichte“ XV, S. 414—16.
*) 1. c. II, 126 ff.
*) v. Bezold II, 128.
•) RTA IX, 74 n. 75.
') durch ihre Bingangsfonueln : „geratslaget und beslossen;“ so Kerler
L c. S. 61 Z 35 ff.
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des Originals, welche jedoch, wir wissen nicht wie, einzelne
den vorläufigen Entwürfen eigentümliche Elemente in sich auf-
genommen haben.
Drei andere Fassungen1) geben sich selbst als Entwürfe.
Zwei von diesen wieder, der eine durch Einschaltungen und
Correcturen zum andern entstanden,*) weisen durch ihren Fund-
ort auf den Kämmerer Conrad von Weinsberg hin. einen er-
fahrenen Finanzmann, welcher häufig vom Könige zu mancher-
lei Missiouen verwendet wurde, und der sich am Reichstage,
und jedenfalls auch an der Ausarbeitung des Gesetzes, durch
einen Vertrauensmann 3) beteiligte. Beide Entwürfe sind höchst
wahrscheinlich nicht von Conrad selbst verfasst uud seinem Be-
vollmächtigten nach Frankfurt mitgegeben, sondern erst auf
dem Reichstage im Laufe der Verhandlungen entstanden.4)
Beide Entwürfe weisen gegen das Gesetz selbst verschiedene
bemerkenswerte Abweichungen auf.
Gleich im Eingänge regen sie an : in Anbetracht des guten
Zweckes sollten der Papst, die Cardinäle und der römische
König zu der Kriegssteuer beitragen und „sich selbst anschla-
gen.“ Es ist bezeichnend, dass diese Bestimmung Entwurf
blieb.
Der Teil des Gesetzes, welcher von den kirchlichen Gna-
denmitteln handelt, welche den Eifer der Gläubigen für die Aus-
führung der Reichsbeschlüsse anregen sollen, enthält mehrere
specielle Bestimmungen über die Handhabuug des Ablasses
durch die Geistlichen: Umwandlung von Wallfährtsgelübden in
Beiträge zur Ketzersteuer, Verwendung unrechtmässig erwor-
benen Gutes für dieselbe uud ähnliches, welche Details in der
Ausfertigung des Gesetzes ganz passend durch die blosse Ver-
fügung, dass und wie oft der Ablass von den Kanzeln zu ver-
*) 1. c. 71, 72, 73.
*) 1. c. 72 aus 71.
ä) Die Instruktion für diesen: 1. c. 68.
*) Selbst bei dem ursprünglichen Entwürfe: 1. c. 71 wird man zu dieser
Annahme durch das Fehlen eines sehr wichtigen Teiles des Gesetzes: der
Bestimmungen über die 5 Hauptkassen, auf welche derselbe Entwurf später selbst
hinweist, veranlasst; man müsste denn mit Kerler (S. 86 Note 8) aunehmen,
der bezügliche Abschnitt in unserem Entwürfe sei verloren. Letzterer Pnnkt
ist indessen ohne Kenntnis der handschriftlichen Vorlage nicht zu entscheiden.
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künden sei, ersetzt sind.') Verwendet finden wir indessen
obige Bestimmungen der Entwürfe in dem Schreiben des Car-
dinais von England an die deutschen Erzbischöfe und deren
Suffragane.*)
Ebenfalls Weht für die Ausfertigung geeignet ist ein Ab-
schnitt der Entwürfe, der von der Aufforderung zur Beisteuer
an Auswärtige: die Könige von Frankreich, England, Polen,
die Herzoge von Burgund, Savoyen. Litthauen, die „grossen com-
muneir der Städte Venedig, Florenz. Lübeck, Gent u. a. han-
delt und zugleich eine Art Concept für die an diese zu rich-
tenden Schreiben giebt. Diese Ausführungen sind im Gesetze
ganz weggefallen. Dafür sind in der Ausfertigung mehrere der
genannten Fremden und noch einige mehr: z. B. die skandi-
navischen Reiche, in die Einteilung des Reichs nach den fünf
Steuerbezirken gezogen.8)
Eine Eintragung des zweiten Entwurfes4) spricht schon
davon, dass die Städte an einem spätem Termine und zwar vor
den Kurfürsten von Mainz und Trier bezüglich ihrer Stellung
zum Gesetze sich erklären sollen. Dieselbe muss, da erst
gegen Ende des Reichstages eine derartige Sonderstellung
der Städte zugestanden wurde, einem sehr späten Stadium
der Verhandlungen angehören.6) — Nur dem ersten Ent-
würfe6) ist eine Fassung des Artikels über die Central-
commission eigentümlich. Einmal ist hier die Zusammen-
setzung eine andere: neben den 6 Vertretern der Kurfürsten
stehen nicht 3 Städteboten, sondern nur 2 Abgeordnete Nürn-
bergs. Ferner besagt diese Fassung nichts von regelmässig
wiederkehrendeu Zeiträumen, in denen die Commission sich
versammeln solle,7) sondern es heisst da: wenn der oberste
Hauptmanu Geld braucht, soll er die Mitglieder berufen. Wir
sehen also in der Ausfertigung die Bedeutung der Centralcom-
mission gehoben und ihre Organisation vervollkommnet.
>) RTA IX, 76 art 24.
*) 1. c. 79 (S. 1 14 Z 26 ff.)
*) 1. c. 76 artt. 19 u. 23.
4) Der Abschnitt- „Antworttag der Stftdte“ in 1. c. 72 (S. H9 Z 10 ff.)
5) 1. c. 70 art 38 n. 37.
•) 1. c. 71: übergegangen in die Recension 75.
r) wie sie 76 art 25 festgesetzt,
Wendt, Oer deutsche Reichstag unter König Sigmnnd. 7
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Andre Abweichungen der Entwürfe vom Originale des Steuer-
gesetzes sind unwesentlicher, meist redaktioneller Natur, an
Stellen, wo die schliessliche Ausfertigung teils ausführt theils
präcisiert. —
Im November 1427 wird das Frankfurter Reichssteuerge-
setz beschlossen; das ganze Jahr 1428 und ein Teil des fol-
genden wird erfüllt von den Bemühungen um seine Ausführung.
So handeln die im März 1428 von der Centralcommission
vereinbarten Artikel l) von Einzahlung der Steuer, Werbung,
Vertretung desHauptmauns, Einrichtung eines „reitenden Krieges“
an der böhmischen Grenze u. a.
Der nächste Nürnberger Tag, Ende April, musste schon,
da inzwischen die verheerenden Einfälle der Hussiten in Mit-
tel- und Oberdeutschland begonnen hatten, an Verth eidigungs-
massregeln für den Fall einer hussitischen Invasion denken.*)
Der Widerstand des Landvolkes soll durch die dort ge-
fassten Beschlüsse organisiert werden ; Ein V iertel der Wehrfähigen,
im äussersten Notfälle sogar die Hälfte, soll gegen die Ketzer aus-
ziehen. Die Anordnungen betreffs Ausrüstung der Streitwagen
zeigten , dass man etwas von der hussitischen Taktik zu lernen
begann.
Während die in der Hauptsache vergeblichen Versuche,
das Frankfurter Steuergesetz überall durchzuführen, noch fort-
dauem, wendet sich Anfang 1429 auch der König wieder ein-
mal mit einer direkten Aufforderung zur Kriegshilfe au die
Glieder des Reiches.8) Sigmund, der kurz vorher mit den Hus-
sitten zu Pressburg verhandelt und dabei nichts als die Über-
zeugung von der bis jetzt noch unüberbrückbaren Kluft zwischen
beiden Parteien gewonnen hatte,4) steckte jetzt voll von kriege-
rischen Plänen.
Ein „reitender Krieg,“ aus den Mitteln der Centralsteuer-
commission zu bestreiten,8) sollte die Ketzer beschäftigen bis
l) RTA IX, 115 aus Wiudecke Cap 172; vgl. v. Besold II, 132 f.
') RTA IX, 130. — v. Besold H, 133 f.
') RTA IX. 216 u. 17.
*) v. Besold ID, 7 f.
*) In einem Schreiben vom 17. Mai 1429 (RTA IX, 222) lehnte der Kur-
fürst von Brandenburg ein (iesuch des Königs uni Unterstützung des Pilsener
Kreis ans den Erträgen des Frankfurter Uesetzes, mit der Begründung ab, dass
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za einem grossen Heereszuge, der im Sommer von 3 Seiten
aus: von Schlesien, Bayern und Ostreich unternommen werden
sollte.
Aber im Reiche fand diese direkte Aufforderung des Kö-
nigs zur Kriegshilfe, ähnlich wie im Jahre 1423 keinen grossen
Auklaug; die Zusagen der Stände, besonders der Städte sind
so allgemein gehalten, dass der König auf dem Reichstage zu
Pressburg diese ungenügenden Erklärungen als Grund für das
Nichtzustandekommen des Sommerfeldzuges von 1429 anführen
konnte. *)
Umgekehrt wurden die kriegerischen Beschlüsse des von
Pressburg aus nach Nürnberg, Mai 1430, verlegten Reichstages
durch das Ausbleiben des Königs lahmgelegt.8)
Man hatte auf dem nürnberger Reichstage an dreierlei ge-
dacht: an Festsetzung eines Kriegszuges, an täglichen Krieg
und an einen Streifzug nach Böhmen, eine „strichende raise.*)
Vom Zuge sah man aber bald ab: wegen der umständlichen
und zeitraubenden Vorbereitung, die er erforderte, wie der
officielle Erlass der Fürsten4) sagt; ein Brief Ulms an Nürd-
lingen5) giebt das Ausbleiben des Königs als eigentlichen Grund an.
Die Städte zeigen den fürstlichen Beschlüssen gegenüber die
gewohnte Zurückhaltung. Man hatte von ihnen 1000 Pferde
zum täglichen Kriege (*/« der Gesammtsumme) verlangt, aber
die Ratsboten verschoben, wie üblich, ihre Erklärung. Ihre
Bestrebungen gingen damals auf Selbsthilfe, zunächst wohl
gegen die Ketzergefahr, dann aber auch gegen andere Be-
drängnisse.
Am 1. Mai versammelten sich 18 norddeutsche Städte, von
denen sonst die Reichsgeschichte unserer Zeit schweigt, auf
er ohne Zustimmung der übrigen Corainissionsmitglieder Uber die gesammelten
Steuervertrage nicht verfügen dürfe.
*) 1. c. 286 art 2.
*) veranlasst war das Fernbleiben Sigmunds durch das Bestreben, Ungarn
gegen die Türken (v. Bezuld III, 68) oder die Einfälle der Hnssiten (Fesslcr-
Klein II, 380) zu sichern.
*) BTA IX 349 art 2 u. 3.
‘) 1. c. 319 — v. Bezold UI, 68 f.
‘) RTA IX, 349 art 2.
r
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100
einem Städtetage zu Braunschweig. *) Gegenseitige Hilfleistung
bei Bedrängnis durch die Hussiten, Rüstung dazu durch Anle-
gung von Wagenburgen u. ä. wird ausbedungen.
Am 6. Juni verabreden die Gesandten der meisten freien
und Reichsstädte Oberdeutschlands und der Rheinlande einen
Städtetag zu Ulm für den 24. Juni, der dieselbe Sache ver-
handeln soll.*) Dieser Tag findet auch unter zahlreicher Be-
teiligung statt und beschliesst in weit energischerer und nach-
drücklicherer Form, als es zu Braunschweig geschehen war*)
gegenseitige Unterstützung der Städte. Vor allem sollen die
Reichsstädte „ain unczwifenlich getruwen“ zu der neuen Hilfs-
und Schutzeinrichtung haben. Freilich schliesst die städtische
Vorsicht gleich hieran die Warnung: „daz dehain statt manunge
taete ald hilfe forderte uf zwifel sunder uf war Sachen.“ 4)
Und wenn diese Hilfleistung zunächst auf die Fälle von Hussi-
tengefahr beschränkt erscheint, so hat man doch wohl den
Blick auch weiter gerichtet. Das Contingent der Hilfleistung
basiert auf der Matrikel des alten grossen Städtebundes;
das Verhältnis zum Könige wird sorgfältig erwogen. Diese
Anzeichen weisen darauf hin, dass wirklich, wie man mehr-
fach vermuthet hat, in der grössten Not der Hussitenkriege
der Gedanke eines grossen mit König und Ritterschaft gegen
die Fürstengewalt sich vereinigenden Städtebundes, wie er vor
mehr denn 40 Jahren zuerst und oft genug seitdem angestrebt
worden war, wiedererwacht ist.5)
Der Straubinger Reichstag August 1430, der erste, welcher
wieder in Anwesenheit des Königs stattfindet, war nicht arm
an Beschlüssen. Wieder waren die geplanten Kriegsrüstungen
teils offensiv teils defensiv. Zum Schutze gegen die drohenden
*) Vgl. ß. Schmidt .Beiträge zur Geschichte der Hussitenkriege. 1427 bis
1431“ in „Forschungen znr deutschen Geschichte“ VI, S. 175 ff, wo besonders
auf Grund Göttinger Materials, der Anteil der mittel- und niederdeutschen
Stände an den Hussitenkämpfen beleuchtet wird. — Über den Braunschweiger
Städtetag vgl. 1. c. S. 206 ft'.
*) RTA IX, 322.
*) Mau vergleiche das Protokoll des Tages (1. c. 350) mit Schmidt
1. c. 206 f.
4) I. c. 350 art 7.
*) v. Besold UI, 69 f belegt dies mehrfach.
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101
Einfälle der Ketzer wurde ein Anschlag, wahrscheinlich nur
für die Grenznachbarn Böhmens, aufgestellt.1) Ausserdem
aber sollte anfang Oktober ein grosser Feldzug unternommen
werden, zu dem die Stände mit voller Macht zu erscheinen,
einzelne noch ausserdem den vierten Manu aus Stadt und
Land zu stellen aufgefordert werden.8) Es handelte sich also
um eine bedeutende Rüstung.
Die Beschlüsse auf dem Reichstage zu Straubing scheinen,
da die Zeit drängte, etwas summarisch gefasst worden zu sein:
.die suche ist gar schnell zugangen mit dein auschlag,“ schreibt
der Ulmer Gesandte Ehiuger an seine Stadt.3)
Dieser Kriegseifer erwies sich als übertrieben. Schon in
Nürnberg, als sich daselbst im Herbst 1430 eiue glänzende bunt-
gemischte Versammlung um den König schaarte, ging man von
dem Anschläge des Straubinger Reichstages ab *) und begnügte
sich damit, 4000 Reisige für den Grenzkrieg zu bestimmen.5)
Die bedrohlichen Nachrichten von neuen Einfällen der Hus-
siten im Reiche veranlassten indessen den König bald, Hilfe
mit ganzer Macht von den Ständen 6) zu fordern. Aber je all-
gemeiner derartige Hilfsgesuche gehalten waren, destoweniger
Erfolg hatten sie, sodass auch das Jahr 1430 ohne wirksame
Massregeln des deutschen Reiches gegen die böhmische Revo-
lution zu Ende geht.
Erst das folgende Jahr, der Nürnberger Reichstag von
1431, brachte eine neue bedeutende Kraftleistung des Reiches
zu Wege, die gewaltigste, aber auch die letzte, zu welcher das
Deutschthum gegenüber der uationalczeehischen Bewegung, der
alte Glauben gegen die Ketzerei, die alte feudale Reichskriegs-
verfassung gegen fanatisierte Volksheere sich erhoben hat.
*) Die fränkischen Städte waren mit 100 Reisigen veranschlagt: RTA
IX, 362.
*) Die Mahuang, „möglichst stark“ Zuzug zu leisten, erhält nach den
uns erhaltenen Ansschrciben (1. c. 363) Strassburg und Basel ; der vierte
Mann wird gefordert von den fränkischen, schwäbischen und elsässischen Städten,
ferner vom Herzog von Berg.
•) 1. c. 371.
*) 1. c. 382, 86.
*) L c. 386.
*) wahrscheinlich nicht blos „von den Reichsstädten“ (Kerler S. 472 Z 6.)
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102
Bei dev eingehenden und lichtvollen Darstellung, welche
die Verhandlungen und die Beschlüsse des Nürnberger Reichs-
tages durch v. Bezold1) erfahren haben, genügt es, im ganzen
der Vollständigkeit halber die Hauptgesichtspnnkte hervorzu-
heben und im einzelnen dies oder jenes nachzntragen.
Von den Massregeln, welche zur Bekämpfung der Hussi-
ten überhaupt in Betracht kommen konnten, handelt es sich
hier um drei: um Besetzung der Grenze vor einem im Sommer
zu unternehmenden Feldzüge, um diesen selbst und um „täglichen
Krieg“ nach dem Feldzuge.
Diese 3 militärischen Massregeln treten in den schriftlich
fixierten Vorschlägen der Fürsten für den Reichstag nebenein-
ander auf.8) Die im Laufe der Verhandlungen immer mehr sich
zuspitzende Differenz zwischen König und Fürsten liegt darin,
dass ersterer auf den täglichen Krieg das Hauptgewicht legt,
letztere aber auf den Zug und löst sich schliesslich durch
Nachgeben des Königs. So kommt eine Matrikel znm Zuge zu
Stande,3) welche im ganzen ein Reiterheer von über 32000
Pferden ergiebt, von denen etwa Vs auf die Reichsstädte ent-
fällt.4)
Vergleichen wir die in unsrer Matrikel aufgestellten Stände5)
mit dem Anschläge von 1422, 6) so springen uns besondere viele
Abweichungen der Städteliste in die Augen. In der Matrikel
von 1431 (B) fehlen besonders viele kleinere, grösseren Städte-
gruppen angehörige Orte, welche die von 1422 (A) anfweist.
So fehlen in B : 5 breisgauische, 7 oberrheinische, 2 elsässische.
3 schwäbische, 2 Bodenseestädte. Der Grund hierfür ist, dass
A die Posten der einzelnen Städte anführt, während in B
eine Gesammtsumme (1000 Spiesse) für alle Reichsstädte fest-
gesetzt, ihre Einzelaufzählung also nicht so notwendig war.
Das Fehlen Weinsbergs, welches 1422 noch unter den Reichs-
städten erschien, in B, ist nicht zufällig. Seitdem hatte sich
>) m, 93—115.
*) RTA IX, 402 art 1, 4, 5.
«\ i i» ms
‘) v. Bezold m, 110.
*) nicht die Grösse der Contingente, denn 1422 handelt es sich um
„täglichen Krieg,“ hier um einen Feldzug.
•) RTA Vin, 145.
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103
um die Reichsstandschaft dieses Ortes ein erbitterter Streit ent-
sponnen, der weite Kreise in Mitleidenschaft zog.1) Einige
mitteldeutsche Städte, wie Aschersleben, Halberstadt, Qued-
linburg fehlen B, wogegen es eine lange Reihe norddeutscher
Städte wie Rostock, Wismar, Stralsund, Bremen, Braun-
schweig, Lüneburg vor A voraus hat. Wie in der Matrikel
von 1422 zeigen sich auch in unserem Anschläge viele aus-
wärtige oder dem Reiche längst entfremdete Stände, von
denen die Erfüllung der auferlegten Verpflichtungen nie zu er-
warten war. —
Als notwendige Ergänzungen zu dem Contingentalgesetze,
welches die Höhe der einzelnen Truppenleistungen bestimmte,
treten der Artillerieanschlag2) und die Heeresordnung*) hinzu.
Elfterer zeigt gegen die Bestimmungen von 1427 *) ge-
ringere Eiuzeileistungen, dafür aber eine grössere Zahl von
Ständen, die zur Stellung von Geschützen verpflichtet werden.
Die Heeresordnung verrät gegen die Festsetzungen von
1427 5) doch manchen wohl durch die inzwischen gemachten Er-
fahrungen veranlassten Fortschritt. Unsere Heeresorduung über-
trifft noch ihre Vorgängerin durch die Schärfe ihrer gegen
Zuchtlosigkeit und Auflösung des Heeres gerichtete Massregeln.
Die Strafen für gemeine Verbrechen , Unfrieden und Aufruhr
sind härter. Zu ihrer Handhabung soll eine förmliche Heeres-
polizei eingerichtet werden. Wer dem Kampfe durch Flucht
sich entzieht, soll mit Weib und Kind „ewiclich vertriben
sin und alle ir gut und haben verloren haben.“ Das Ver-
lassen der Fahnen, das Blasen von Signalen ohne Befehl
der Commandeure wird streng untersagt. Die Bestimmung, dass
kein einzelnes Contingent vom Marsche aus eine Stadt bestür-
men solle, weist deutlich auf die Erfahrungen hin. welche man
im Sommer 1427 vor Mies und Tachau6) gemacht hatte. Man
hatte durch Schaden gelernt, aber nur auf dem Papiere.
’) Stalin „Wirtembergische Geschichte“ III, 428 f.
*) KTA IX, 404.
*) I c. 410.
4) 1. c. 31 art 35 — 45.
») 1. c. 31 art 1-34.
•) v. Bezold II, 113 ff.
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104
Die flnauzielle Vorbereitung des Krieges wird zu Nürnberg
vernachlässigt. Die Fürsten, welche auch hier wieder als Ver-
fechter einer Kriegssteuer erscheinen, beantragen wohl, der Reichs-
tag solle für endliche Durchführung der Frankfurter Beschlüsse
sorgen ; aber, wahrscheinlich unter Nachwirkung der traurigen
Ergebnisse des Steuergesetzes von 1427, gelingt es den Städten,
die Wiederaufnahme der Steuerpläne zu hintertreiben.1)
Der Nürnberger Reichstag schliesst die Reihe der grossen
kriegerischen Massregeln des Reiches gegen die böhmische Re-
volution ab. Die Wirkung derselben oder besser: ihre Wir-
kungslosigkeit im einzelnen zu verfolgen , überschreitet den
Rahmen unserer Aufgabe. Aber schon ihre fortwährende Er-
neuerung, dieses ewige Anfassen, mit halber Kraft Durchführen,
Liegenlassen, Wiederaufnehmen und Wieder verwerfen zeigt,
wenn auch nicht so grausam und unmittelbar wie die Kata-
strophen von Deutschbrod uud Aussig, von Mies und Taus, dass
die deutsche Kriegsverfassung wie die Verfassung des Reiches
überhaupt unheilbar krank war.
Einzelne kleinere Züge treten noch zu den betrachteten
militärischen Massnahmen hinzu, um das Bild dessen, was die
deutschen Reichsversammlungen gegen die Hussiteu unternah-
men, zu vervollständigen.
Nicht blos mit den Waffen in der Hand bedrohte die böh-
mische Ketzerei das alte Reich und den alten Glauben. Ihre
Lehre, welche gar leicht in dem durch geistigen und materiellen
Druck durchwühlten, durch Recht- und Zuchtlosigkeit aufge-
lockerten Boden der alten Gesellschaft Wurzel schlagen konnte,
war nicht minder zu fürchten als ihr Schwert.
Zweimal macht der Adel auf den Reichstagen den Versuch,
die Städte zur Teilnahme an allgemeinen Festsetzungen gegen
hussitische Propaganda zu veranlassen.
Der Nürnberger Fürstenbund von 1421 *) hatte auch diese
Seite der Bekämpfung der Ketzerei iu’s Auge gefasst; hieraus
entsprang aber gerade die Unlust der Städte zum Anschlüsse
an denselben.
Dasselbe bezweckte die „vereinunge des Unglaubens,“ welche
') v. Besold IH, 103.
*) RTA VIII, 28—33.
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105
die Fürsten auf dein Frankfurter Reichstage November 1427
den Städten Vorschlägen.') Auch hier verhalten sich diese ab-
lehnend. Sie wollen, erklären sie, gute Christen bleiben und
die Ketzerei strafen, wie und wo sie sich zeigt, aber verpflich-
ten mögen sie sich zu nichts. Das Misstrauen gegen die Fürsten
ist bei den Städten offenbar grösser, als die Furcht vor hussi-
tischen Sympathien.
Mehr im Zusammenhänge mit den ki-iegerischen Beschlüssen
stehen die Handels und Zufuhrverbote , welche die materiellen
Hilfsquellen Böhmens brachlegen sollten.
So ist, sow'ohl vor wie auf dem Reichstage zu Wien davon
die Rede, den Aufständischen die Zufuhr abzuschneiden.*) Der-
selben Absicht entspringt es, wenn der Cardinal Orsini in der
Eröffnungsrede des Nürnberger Reichstages Mai 1426 betont:
„es wer rehte zit in die frucht zu nemen und zu wüsten und
in kost zu weren.“3)
Auf dem Nürnberger Reichstage 1431 wird die Handels-
sperre gegen die Hussiten erneuert,4) „ein Zeichen ihrer bis-
herigen Bedeutungslosigkeit.“ 5) Überhaupt haben wir manche
Andeutungen dafür, wie gern Eigennutz und Habsucht dies Ge-
bot umgingen. Als zum Beispiel nach der Schlacht bei Aussig
Juni 1426 gegen den damaligen Führer der Deutschen, Boso von
Vitzthum, das, nicht erst im 19. Jahrhundert übliche Verrats-
geschrei sich erhob,6) ist einer der schwersten ihm gemachten
Vorwürfe der, er habe um schnöden Gewinnes willen durch
Zufuhr von Lebensmitteln die Ketzer unterstützt.7)
■) 1. c. IX, 70 art 23.
’) Sigmund meint in seiner Unterredung mit den kurfürstlichen Ge-
sandten, im August 1424: Die Ketzer würden sich auf die Dauer nicht halten
können twanne wir bestelten, das man ine nichts zufuret oder liess zugeen."
(1. c. VIII, 311 art 14.) Dass der König in Wien selbst das Handelsverbot
entschärfte, lehrt ein Schreiben Ulms an Nördlingen Febr. 1425 (L c. 338 art 1 d.)
*) 1. c. VIII, 401.
‘) 1. c. IX, 411 art 2.
*) v. Bezold III, 109.
*) wie ja anch nach der Niederlage bei Taus gegen Friedrich von Branden-
burg. (v. Bezold III, 155.)
7 Vgl. v. Liliencron „Historische Volkslieder“ I. 8. 293 Vers 41—46.
„Auch hat er gespeiset die ketzer
„wider got und die heilige 1er.
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106
Ob diese Anschuldigung begründet war, interessirt uns hier
nicht; jedenfalls sieht man daraus, wie geläufig jener Zeit ein
derartiger Vorwurf sein musste. —
Neben der Bekämpfung des Hussiteutums treten alle andern
Aufgaben der äusseren Politik auf den Reichstagen unserer
Epoche zurück. Vor allem gilt dies von einer Art kriegerischer
Unternehmungen, welche wir auf den Reichstagen früherer Peri-
oden, wenn nicht beschliessen , so doch vorbereiten sehen: den
Romzügen der Könige und Kaiser.1)
Der erste italienische Feldzug Sigmunds im Jahre 1413 er-
folgt, ehe der König einen Reichstag auf deutschem Boden ab-
gehalten hat. Seine Verhandlungen mit den Schweizern zu
Chur und Luzern um Heeresfolge, sowie seine Unterstützungs-
gesuche an verschiedene oberdeutsche Städte tragen einen mehr
oder minder privaten Charakter.')
Denselben Eindruck gewinnen wir hinsichtlich seines zwei-
ten 1431 unternommenen Romzuges. Seit 1427 äussert sich
die Absicht des Königs, zur Krönung nach Italien zu ziehen,
wiederholt. In dem Schreiben an den Cardinal von England
vom 27. September 1427, in welchem er diesen autfordert, in
Deutschland alle, zur Bekämpfung der Ketzerei notwendigen
Anstalten in seinem Namen zu treffen, spricht er von der
Romfahrt.*) Zwei Schreiben au die bayerischen Fürsten, No-
vember 1427 und Februar 1428,*) beschäftigen sich schon mit
der einzuschlagenden Marschroute. Aus dem Frühling und
Sommer 1428 haben wir mehrfache Belege für die italienischen
Pläne Sigmunds.“)
„Durch die Gaben, die sie ihm haben gegeben
„dass er desto bass in TUringen mochte leben.
„von einem wainc einen gnlden hat er genomen
„dass die speise in Behmen ist körnen.“
') Wacker 1. c. 66 f. ; Ehrenberg 80. — Obiges Urteil wird durch die
Angabe Ehrenbergs (1. c. 82) dass wir „weder bei den RBmerzügen Ludwigs
noch dem ersten Earls einen vorangehenden Beschluss des Reichstages“
bemerken, nicht aufgehoben.
’) Finke 48 ff. — Kagelmacher „Filippo Maria Visconti* 2 f, 6 ff.
*) RTA IX, 61.
*) 1. c. S. 73 Note 5.
*) 1. c. 105, 128 art 1, 173 (Nachschrift), 175, 176.
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107
Ein Schreiben an die wetterauischen Städte, März 1428 *),
stellt einen Reichstag zu Ulm, jedenfalls auch in der Romzugs-
sache, in Aussicht. Dass sodann auf dem Tage zu Nürnberg
Herbst 1430 die Romzugspläne des Königs verhandelt wurden,
wird durch das Eintreffen einer mailändischen Gesandtschaft
zu diesem Tage sehr wahrscheinlich gemacht.*)
Jedenfalls war, schon ehe der Reichstag zu Nürnberg 1431
zusammentrat, der Romzug beschlossene Sache. Von auf denselben
bezüglichen Reichstagsverhandlungen wissen wir nichts. Bald
nach dem Tage, als der Schlag von Taus den Ausgang des mit
so grosser Mühe beratenen und vorbereiteten Reichskrieges gegen
Böhmen eben entschieden hatte, brach der König mit geringen
Streitkräften nach Italien auf.3) —
Von sonstigen Fragen auswärtiger Politik, denen wir auf
den Reichstagen unserer Periode begegnen, seien nur zwei wegen
ihrer nahen Beziehungen zu deutschen Reichsangelegenheiten
hervorgehoben.
Das Verhältnis zwischen Polen und dem deutschen
Orden erscheint zum ersten Male auf der Tagesordnung des
deutschen Reichstages zu Breslau 1420, den schon sein Ver-
sammlungsort so recht in die Fragen östlicher Politik hinein-
stellte.
Allerdings haben wir uns den Anteil der Reichsversamm-
lung an dem Schiedssprüche, der hier zwischen Polen und dem
Orden gefällt wurde, nicht zu gross vorzustellen. Da Sigmund
erst am 5. Januar in Breslau eintraf, am 6. aber schon den
Schiedsspruch verkündete, muss sich der König schon vor seiner
Ankunft in Breslau über die zu treffende Entscheidung voll-
kommen klar gewesen sein.4) Doch erfahren wir, dass der
König, wenn auch nur zum Scheine, ehe er seinen Ausspruch
that, unterstützt von dem päpstlichen Legaten sowie von geist-
lichen und weltlichen Reichsfttrsten eine Untersuchung der
Streitfrage vorgenommen habe.6)
') 1. c. 175 — erwähnt bei Kagebnaeher, 8. 94 aus Aschbach III, 411.
*) Kerler RTA IX 8. 472 Z 41 ff. — Kagebnaeher 111 Note 4.
*) Aschbach IHI, 43 f: v. Bezold III, 160.
*) So: Caro „Geschichte Polens“ HI, 606 Note 1.
•) RTA VH, 278.
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108
Für den Anteil, welchen der Reichstag zu Nürnberg 1422
den preussiscli - polnischen Verwicklungen schenkte, der ja
auch schliesslich in der Reise der Kurfürsten von Cöln und Pfalz
nach Preussen seinen Ausdruck fand, geben uns die Berichte
des Deutschordensgesandten auf diesem Tage, Ludwig von Lan-
see,1) reichlichen Aufschluss. Hier tritt auch der Widerstand
des Kurfürsten von Brandenburg, der damals in engeu Be-
ziehungen zu Polen stand, gegen die Absichten des Königs nnd
der Fürsten, den Orden zu unterstützen, deutlich zu Tage.*)
Auf dem Reichstage zu Pressburg 1429 referiert der König
in einer der letzten Sitzungen sehr ausführlich über sein Ver-
hältnis zu Polen und Litthauen, speciell über die Zusammen-
kunft mit König Wladislaw und Grossfürst Witold“) und die
sich daran anschliessenden Verhandlungen wegen der Königs-
krönung des Grossfürsten „und begert darauf rat von den
fürsten und alleu.“4) Aber dieser „rat“ wird, wie alle übrigen
Gegenstände des Pressburger Tages , auf den nächsten Reichs-
tag, der in Nürnberg stattfinden soll, verschoben.
Sodann greift der Reichstag zweimal in die Verhältnisse des
äussersten deutschen Nordwesteus, die langjährigen Kriegswirren
zwischen König Erich von Dänemark und den Holsteiner Her-
zogen, ein.
Vom Nürnberger Reichstage 1422 aus geht Herzog Hein-
rich von Schlesien-Glogau nach Norden, um zwischen den krieg-
führenden Parteien zu vermitteln;5) er scheint auch vorüber-
gehende Erfolge erzielt zu haben.
Dagegen scheiterte die Mission des Kämmerers Conrad von
Weinsberg, der vom Nürnberger Reichstag 1426 aus zum Köuig
von Dänemark gesandt wurde, teils um ihn an die dem Könige
versprochene Kriegshilfe gegen die Hussiten zu malmen, teils
um einen Waffenstillstand Erichs mit den Holsteinern zu ver-
mitteln, vollständig.6)
T) RTA VIII, 129, 30, 37, 38. — vgl. auch 175.
*) 1. c. 8. 152 Z 10 f. Vgl. Caro III, 568.
*) zu /juck. Jannar 1429. — vgl. Caro III, 612 ff.
*) RTA IX, 286 art 27.
5) Aachbach III, 191 f. — Dahlmann „tioschichte Dänemark»' III, 109. f.
— Die Vollmacht für den Herzog: RTA VIII, 179.
•) RTA VIII, 395 u. 96. Vgl. die Einleitung Kerlers zum Nürnberger
Reichstage Mai 1426 unter C.
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109
Diese Misserfolge *) veranlassten Weinsberg auch, als ihm,
wahrscheinlich auf dem Frankfurter Septembertage, seitens des
Cardinais von England und der Fürsten eine nochmalige Sen-
dung nach Dänemark zugedacht worden war, sich fast ableh-
nend zu verhalten.*) —
Die vorstehenden Andeutungen über die Thätigkeit der deut-
schen Reichstage unserer Periode nach aussen hin, mögen ge-
nügen. Dass aber mit dem Gesagten die äusseren Beziehungen des
Reiches und vorzüglich des Königs selbst in keiner Weise er-
schöpft sind, leuchtet ein. Die bunten Fäden europäischer
Politik, welche in mannigfaltigster, durch den unerschöpflichen
Reichtum Sigmunds an immer neuen Entwürfen stets gesteiger-
ter Fülle an seinem Hofe sich durchkreuzten und verwirrten,
irgendwie erschöpfend darzustellen, kann unsere Aufgabe
nicht seiu.
Capitel V.
Ausfertigung und Ausführung der Beschlüsse.
Die Beschlüsse der Reichsversammlungen festzustellen und
den Reichsangehörigen zur Nachachtung mitzuteilen , ist Sache
des Königs oder seiner Vertreter. Die Vertretung erfolgt in
unserer Periode teils auf direkten Auftrag seitens des Königs,
teils auch ohne einen solchen.
Nach dem Nürnberger Reichstage von 1421 giebt der König
9 genannten Vertretern Vollmacht, in seinem Namen Urkunden
betreffend die Bestellung eines oder mehrerer Hauptleute für
den Hussitenkrieg auszufertigen.*)
Auf dem Nürnberger Reichstag 1428 müssen die könig-
lichen Gesandten eine gleiche Vollmacht gehabt haben : Die
*) Oder nach Kerler (1. c. IX S. 77 Note 1) der Wunsch, sich finanziell
ganz sicher zn steilen.
*) Etwa znr selben Zeit wendet sich der König an verschiedene Städte :
Dortmund, Fankfurt, die fränkischen Städte, Ulm und seinen Bnnd, Cflln —
mit der Bitte, ihn in seinem Bestreben die Hansestädte (die Verbündeten der
Holsteiner Herzöge) vom Kriege mit Dänemark ab zu bringen, zu unterstützen
(1. c. S. 27 Z 13 ff.)
*) 1. c. Vm, 74.
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110
Ausfertigung der Beschlüsse des Tages *) ergeht unter Sigmunds
Namen, obwohl dieser sich damals in Ungarn aufhielt.
Ferner erfahren wir, dass der König, vielleicht zum Frank-
furter Reichstage April 1427, den Kurfürsten das Reichssiegel
zugeschickt hatte.8) Allerdings machen die Kurfürsten in der
Ausfertigung der Beschlüsse dieses Tages keinen Gebrauch
davon.
Öfter geschah die Vertretung ohne ausdrücklichen Auftrag
bei Abwesenheit des Königs. Beim Reichstage zu Nürnberg
1422 finden wir das eigentümliche Verhältnis, dass, obwohl der
König anwesend ist. die eigentliche Ausfertigung der Beschlüsse3)
von den Kurfürsten ausgeht, der König sich aber damit be-
gnügt, die Befolgung der kurfürstlichen Befehle den Ständen
einzuschärfen.4)
Wo die Kurfürsten selbständig Reichstagsbeschlüsse aus-
schreiben, ist natürlich ihre möglichste Vollzähligkeit erwünscht.
Um diese zu erzielen, ist seitens der Ausbleibenden die Bevoll-
mächtigung von Gesandten zur Mitunterzeichnung und -besieg-
lung gewöhnlich.
Auf dem Tage zu Mainz, Juli 1424, wo sich die Kur-
fürsten über den Besuch des vom Könige beabsichtigten Reichs-
tages zu Wien schlüssig werden,5) heisst es: vier Kurfürsten
sollen nach Wien gehen, zugleich als Bevollmächtigte der bei-
den andern; letztere sollen aber ihre Schreiber mit ihren Sie-
geln in Wien haben.
Verschiedene Beispiele für Unterzeichnung und Besiegelung
von Erlassen im Namen abwesender Fürsten bieten uns die
Tage von 1428 in Sachen des Frankfurter Steuergesetzes.15)
Auf einem dieser Tage, zu Bingen 1428, wird beschlossen,
die zu erlassenden Mahnschreiben zur Zahlung der Steuer an
die einzelnen kurfürstlichen Kanzleien zu verteilen, zugleich
*) RTA VIII 392.
*) Vgl. Urkundenbuch der Stadt Lübeck VII, 31, wo der König dies aus-
drücklich als Grund dafür anfuhrt, dass er ein Schreiben an Lübeck nur mit
dem ungarischen Siegel versieht.
') RTA VIII, 161:
4) 1. c. 150.
s) 1. c. 301.
*) Vgl. ss. B. 1. c. IX, S. 216 Note 1; ferner 228 Note 1.
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111
aber wird ausgemacht, dass die Briefe von allen Kurfürsten be-
siegelt werden sollen.')
Nicht in der Ausfertigung selbst, sondern in der Be-
stellung derselben lässt sich der König nach dem Reichstage
zu Straubing 1430 vertreten, wie der Gesandte Ulms seiner
Stadt schreibt ; *) Zeitersparnis wird als Grund angegeben.
Andere hierauf bezügliche Hinweise enthalten gelegentlich die
Stadtrechnungen.
Die Beschlüsse, deren Ausfertigungen wir bisher erwähnten,
beziehen sich auf bestimmte Leistungen; diese mussten
natürlich jedem der dazu Herangezogenen, wollte man sich
ihres Gehorsams versichern , besonders mitgeteilt werden.
Anders finden wir es gehalten bei Gesetzen und Er-
lassen allgemeineren Charakters. Hier war die Zahl
der Ausfertigungen offenbar beschränkt, und wir hören beson-
ders die Städte manchmal über mangelhafte Gesetzespublication
klagen.
Der umfangreiche Bestallungsbrief für Erzbischof Konrad
von Mainz als Reichsvikar, Nürnberg 1422, 9) wurde den Städten
nur vorgelesen, und ein ungenannter Ratsbote beschreibt sehr
anschaulich, mit welcher Mühe die guten Städter den könig-
lichen Erlass aus dem Gedächtnis zu reconstruieren gesucht
haben.4)
Auf dem Reichstage zu Nürnberg 1431 lässt der König
bekannt machen: wer eine Abschrift des Gesetzes betreffend
das Halten von Pfahlbürgern haben wolle, möge sich von seiner
Kanzlei, natürlich auf eigeue Kosten, eine solche ausstellen
lassen.5)
*) RTA IX S. 171 f. — Die Liste der zu mahnenden Stände wurde da-
selbst nach verschiedenen Gesichtspunkten aufgestellt:
a) nach Ständen (geistliche und weltliche Fürsten — Grafen — Herrn
— Städte);
b) nach den Kanzleien, welchen sie zur Mahnung zugewiesen waren ;
c) nach der Form der Schreiben. Letztere Liste ist, 1. c. nro 141 ab-
gedruckt; die beiden ersteren erwähnt Kerler aus der handschrift-
lichen Vorlage im Kreisarchir Nürnberg (1. c. S. 171 f.)
*) L c. 371 u. 78.
•) 1. c. VIU, 164.
*) 1. c. 166, Eingang und Schluss.
*) L c. IX, 429 a.
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112
Dass selbst da, wo es sich darum handelte, die einzelnen
Stände zu Reichsleistungen aufzufordern, manche V ersehen Vor-
kommen und einzelue keine Ausfertigung der Reichstagsbe-
schlüsse erhielten, kann uns bei dem schlechten Stande der Kanzlei
Sigmunds ’) nicht befremden. Stark wäre es aber, wenn beispiels-
weise, wie es scheint, ein so wichtiger Reichsstand wie der
schwäbische Städtebund bei Zustellung der Ausfertigungen der
Nürnberger Beschlüsse von 1422 übergangen worden wäre.*)
Freilich begegnete es selbst der Nürnberger Centralsteuer-
commissiou, welche sonst soweit wir sehen, sehr gewissenhaft
ihres Amtes waltete, dass zwei geistliche Fürsten: der Bischof
von Basel und der postulierte Bischof von Utrecht5) erklärten,
von den Beschlüssen des Frankfurter Reichstages November 1427
seinerzeit nicht in Kenntnis gesetzt worden zu sein.
Der Kreis der Stände, welche überhaupt von den Reichs-
tagsbeschlüsseu benachrichtigt wurden, von welchen man also
Befolgung derselben verlangte und erwartete, mag bei den ein-
zelnen Mandaten ein verschieden weiter gewesen sein. An-
deutungen hierüber geben uns, ausser den erhaltenen Aus-
schreiben, einmal die Matrikeln und dann die Akten der
Nürnberger Steuerkommission.
Wir haben gesehen, wie weit man hierbei oft über die
Reichsgrenzen hinausgriff. Dies geschah um so mehr, je stärker
in den Hussitenkämpfen geistliche und weltliche Pflicht, die
Anforderungen des Reiches und die Gebote der Kirche sich ver-
mengten, eine „ungeheuerliche Verquickung des Reiches und
der Christenheit“4) in Kraft trat.
Mit Recht nennt es v. Bezold5) „geradezu lächerlich,
wenn der deutsche Reichstag des 15. Jahrhunderts bescliliesst,
die „Communen“ von Venedig, Florenz und Genua sollen die
Hussitensteuer in vorgeschriebener Weise erheben und nach
Nürnberg schicken, nicht anders, wie der Bischof von Bamberg
oder die Stadt Rotenburg.“ Und dass aller Misserfolg diesen
') über diesen vgl. Lorenz „Deutschland (iescluchtsquelleii im Mittel-
alter“ II, 293. — Lindner „Urkundenwesen“ S, 180.
*) HTA VIII. S. 260 Note 1.
•) 1. c. IX, S. 263 Note 4 — 268 Note 1. *
4) v. Bezold II, 129.
») 1. c.
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113
frommen Grössenwahn des deutschen Reichstages nicht ab-
schrecken konnte, lehrt ein Blick auf die Nürnberger Matrikel
von 1431.
Dem Inhalte nach Übertreffen die Ausfertigungen gewöhnlich
an Wortreichtum die Ladeschreiben noch bei weitem. Wo es sich
um Kriegsbeschlüsse gegen die Hussiten handelt, besteht die
Motivierung der Beschlüsse meist in den stärksten Verwün-
schungen der Ketzer. Hätten wir für die Charakteristik der
letzteren keine andern Quellen als die officiellen Erlasse, als
welche Ungeheuer in Menschengestalt würden dann die Hussiten
dastehen !
Von den Strafen, welche alle gegen die Beschlüsse der
Reichsversammlungen Ungehorsamen treffen sollen, erfahren wir
teils ans den betreffenden Mandaten selbst, teils aus anderen
Quellen.
Der obenerwähnte Erlass des Königs, welcher der Ausfer-
tigung der Nürnberger Beschlüsse von 1422 durch die Kurfürsten
beigegeben ist *) befiehlt den Reichsangehörigen Nachachtung: „bey
beheltenuss ewr leibe lehenguter und habe.“
Das kurfürstliche Gutachten aus Nürnberg 1426*) spricht
allgemein von „grossen und sweren pinen.“
AufdemReichstagezu FrankfurtNov. 1427, wosich daskirch-
liche mit dem Reichsinteresse, das heisst: letzteres auch nur
in kirchlichem Sinne gefasst — in der Wirksamkeit des Car-
dinais von England zusammenfand, tritt die geistliche Strafge-
walt drohend für die Reichsgesetze ein.
Mit Bann und Interdikt gebot der Cardinal *) den deutschen
Bischöfen, die Ausführung des Frankfurter Gesetzes zu er-
zwingen, aber diese sahen selbst bald ein, dass der Bogen über-
spannt war.
Erzbischof Conrad von Mainz befiehlt den Geistlichen seiner
Diöcese, die Verfügung des Cardinais unter Auslassung der von
den Kirchenstrafen handelnden Stellen zu verkünden. Bedenken,
welche sich, besonders bei den Laien, geltend gemacht hätten , ob
diese Bestimmungen zulässig und vor allem, ob sie den Frank-
«) BTA VIII, 150.
») I. c. 391 art 8.
*) L c. IX, 79.
Wen dt, Der deutsche Reichstag unter König Sigmnnd. 8
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114
farter Beschlüssen selbst entsprechend seien, giebt er als Grund
au.1) Auch von anderen Bischöfen: denen von Lebus und von
Schwerin wissen wir, dass sie die kirchlichen Strafen kaum
anzudrohen, geschweige denn auszuführen wagten.
Wo dies doch geschah, schritten vereinzelt die Stände zur
Gegenwehr. Manche appellierten an den Pabst, so der Erzbi-
schof von Riga,*) ferner ein Teil der Geistlichen des Bistums
Toul. 5) Nürnberg veranlasste seine Pfarrer, von der Verkün-
digung der anstössigen Stellen im Erlasse des Cardinais gut-
willig abzustehen. *) Herzog Ludwig von Bayern - Ingolstadt
beschwerte sich beim Erzbischof von Salzburg.5) — Weit ent-
fernt einzuschüchtern oder zum Gehorsam zu veranlassen, weckte
diese Strenge nur die Opposition.
Auch der schwäbische Städtebund, der seine Opposition
gegen das Reichskriegssteuergesetz am längsten fortsetzte und
erfolgreich sich weigerte, die Erträge der Reichssteuer aus der
Hand zu geben, liess sich durch Strafandrohungen nicht schrecken.
Auf dem Tage zu Heidelberg, Anfang Januar 1428, auf
welchem die Städte über ihre Stellung zum Gesetze sich erklären
sollten, drohte man den Schwaben, wie Ulm an Nördlingen schreibt : 6)
Pabst und König, Cardinal und Kurfürsten würden gegen die
Widerspenstigen mit Bann und Acht Vorgehen. Im Juli des-
selben Jahres mahnt im Aufträge des Kurfürsten Friedrich
von Brandenburg Ritter Georg v. Seckendorf die schwäbischen
Städte unter drohender Verweisung auf Pabst, König und Kur-
fürsten zum Gehorsam.7) Aber Alles bleibt nutzlos.
Eingehend erörtert wird die Frage, wie die Ungehorsamen
zu bestrafen seien, auf dem Nürnberger Reichstage 1431.
Nach den fürstlichen Vorschlägen8) sollte jeder, der das
vom Könige zu erlassende Friedegebot Uberträte oder seine
>) ETA IX, 85.
*) 1. c. 203. — v. Besold H, 149.
*) ETA IX 209 art 19.
‘) und empfiehlt Weissenburg dasselbe (1. c. 106.)
4 1. c. 120.
«) 1. c. 105.
j 1. c. S. 209 Z 10 ff.
•) 1. c. 402 art 19.
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115
Kriegshilfe nicht leistete, „fridloss und rechteloss“ sein. Den
Städten erscheint diese Strafe zu hoch; sie meinen, es genüge,
wenn der Zuwiderhandelnde in . des Römschen kungs und
des heiligen Römschen richs swer ungnad“ verfiele. ') Der
König schliesst sich aber in seinem Erlasse®) der strengeren,
von den Fürsten vorgeschlagenen Fassung an.
Verhältnismässig selten treten uns Entschuldigungen und
Bitten um Nachlass dieser oder jener Reichsleistung entgegen.
Wir dürfen daraus nicht schliessen, dass die Stände ihren
Verpflichtungen allezeit pünktlich nachgekommen wären, wohl
aber, dass die Lockerung des Reichsverbandes es gestattete, un-
bequeme Mandate einfach zu ignorieren.
Dass das Reichsoberhaupt gelegentlich die Leistungen der
Stände sich abkaufen liess, haben wir schon gesehen.*)
Die erste unter den damaligen Reichsstädten: Nürnberg*)
entledigte sich der Pflicht, ihr Contingent nach der Matrikel
von 1422 stellen zu müssen, durch Zahlungen an den König;
dasselbe that Augsburg. 5) Basel bat, in Anbetracht des Krieges
zwischen Herzog Friedrich von Ostreich und der Herzogin von
Burgund keine Truppen stellen zu dürfen. 6) Als der König
das Gesuch ablehnte, zahlte Basel 700 Gulden und unterliess
die Heeressendung.7)
Die Ausführungsbestimmungen, welche die Ausfer-
tigungen, besonders der militairischen Beschlüsse unserer Reichs-
tage enthalten, lassen an Deutlichkeit und Zweckmässigkeit
viel vermissen.
Beispielsweise setzte man für die Sammlung der auf Grund
der Nürnberger Beschlüsse von 1422 aufzubringenden Truppen
zwei Sammelplätze: Nürnberg und Eger und zwei Termine: den
29. September und 16. Oktober fest. *) Ein Durcheinander war
*) 1. c. 407 art 5.
*) 1. c. 411 art 1 b.
*) Vgl. unsere S. 92.
‘) L c. VIII, 185 art ß u. nro 191 — v. Bezold I, 98.
*) L c. 199.
*) 1. c. 206.
») I. c. 215. — 8. 259 Note 3.
") v. Bezold I, 94.
* ff
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116
unausbleiblich. Andreas von Regensburg1) hat sicher Recht,
wenn er von dem ungünstigen Einfluss des doppelten Termines
auf die Kriegsrüstungen spricht.
Die faktische Ausführung der Reichstagsbeschlüsse
unsrer Zeit im einzelnen zu verfolgen, würde mit einer Dar-
stellung der Reichsgeschichte unter Sigmund schlechthin iden-
tisch sein. Ausserdem würde das Bild, zu dem uns die Betrach-
tung des Reichtages bisher schon manche Züge geliefert hat, das
Bild der Auflösung der alten Reichsverfassung, dadurch, dass
wir die Fruchtlosigkeit der meisten Beschlüsse der Reichsver-
sammlungen im einzelnen erhärteten, zwar noch verdeutlicht
aber nicht mehr wesentlich berichtigt werden.
Verlangt man uach einem besonders schlagenden Beispiel
dieser Erfolglosigkeit, so verfolge man die Ausführung der be-
deutendsten reichsgesetzlichen Massregel unsrer Periode: des
Frankfurter Reichskriegssteuergesetzes, nach der trefflichen
Schilderung v. Bezolds oder den noch reichhaltigeren Zusammen-
stellungen der Reichstagsakten.*)
In einem Augenblicke religiöser und patriotischer Erhebung,
wenn auch unter fremdem Antriebe, scheinen die deutschen
Stände dies Gesetz, welches alle Glieder des Reiches noch ein-
mal zum Heil und Frommen des Ganzen zu vereinen suchte,
beschlossen zu haben. Wie bald weicht aber aller Eifer, alle
Opferwilligkeit !
Tausendfältig ist der Widerstand, den die durch das Ge-
setz bestellte Centralbehörde bei ihren Bemühungen findet.
Platonische Versicherungen guten Willens, Klagen und Ent-
schuldigungen, Verweis auf den König, nackte Weigerung,
Ausflüchte jeder Art kehren in endloser Reihe immer wieder.
Einer wartet auf den andern, jeder ist bereit, dem Anschläge
nachzukommen, wenn er sähe, „dass die um ihn dasselbe
thälen.“ Man muss diesen hundertstimmigen Protest der Teil-
nahmslosigkeit, des Eigenwillens, der Selbstsucht gegen den
Appell an ihre Opferwilligkeit im einzelnen selbst verfolgt
') Fontes rerura Anstriaearum I, fi p. 437.
*) v. Besold II, 143 57. KTA IX nro 190—215 (bes. 209).
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117
haben, um einzusehen, dass dieser organisatorische Versuch wie
jede irgendwie einschneidende Massnahme der Reichsgesetz-
gebung in dieser Zeit erfolglos bleiben musste.
Capitel VI.
Die Stellung der einzelnen Stände unter Sigmund.
Wenn wir in den Hauptmomenten betrachten, wie sich die
einzelnen Stände des Reiches: Kurfürsten — Fürsten und
Herren — Städte unter einander und zum Könige stellten,
so haben wir das, was der Regierung Sigmunds in unserer
Periode vor allem eigentümlich ist, im wesentlichen erschöpft.
Dass wir damit über den Rahmen der eigentlichen Reichstags-
geschichte vielfach herausgreifen, ist unvermeidlich.
Beginnen wir mit Betrachtung der Stellung der Kurfürsten.1)
Man kann in der kurfürstlichen Politik unserer Periode
zwei Abstufungen, zwei Richtungen, eine negative und eine
positive Seite, wenn man will, unterscheiden. Die Stellung,
in welche die zeitweilige Gleichgiltigkeit des Königs gegen das
Reich die Kurfürsten drängte, machte es diesen zur Pflicht,
entweder dem Reichsoberhaupte offen und bewusst entgegenzu-
treten, zu versuchen durch streng oppositionelle Haltung den
König zu regerer Teilnahme an den Reichsangelegenheiten zu
zwingen und wenn dies nicht gelänge, ihn in aller Form aus
*) Für da« Verhältnis der Kurfürsten zum Könige nnd den übrigen
Ständen sind besondes die Ausführungen Aschbach, Droysens und v. Bezolds her-
anzuziehen. Aschbachs starke Parteinahme für Sigmnnd verhindert ihn aller-
dings mitunter an gerechter Würdigung der kurfürstlichen Bestrebungen;
Droysen verfällt durch seine entschiedene Sympathie für Kurfürst Friedrich
von Brandenburg nicht selten in den entgegengesetzten Fehler. — Eine kurze
aber schlagende Charakterisierung der Wirkungen, welche Sigmunds ausser-
deutsehe Stellung auf das Reich nnd besonders die Entwicklung der kurfürst-
lichen Macht hatte, giebt Ranke „Deutsche Geschichte im Zeitalter der Re-
formation“ 4. Auflage I, 33 f. — .Der neuste Darsteller dieser Zeit, Schuster
.Der Conflikt zwischen Sigmund und den Kurfürsten und die Haltung der Städte
dazu * bietet nur eine gedankenlose W ioderholung der Einleitungen Kerlers in RTA
VTLI. Ferner fehlt Sch. der Überblick über die spätere Entwicklung, vor allem
über die Thütigkeit der Kurfürsten für das Reich in den Jahren 1427 — 29.
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118
dem Reiche hinaus zu drängen — oder stillschweigend an seine
Stelle zu treten, ohne offenen Widerstand, nach dem natür-
lichen Verlauf der Dinge, eine königliche Pflicht um die andere
zu erfüllen und damit ein königliches Recht nach dem andern
zu erwerben.
Welche von beiden Richtungen dem Bedürfnisse der Zeit
besser entsprach, die Vertreter, welcher von beiden es mit dem
Reiche ehrlicher meinte, ist nicht zu entscheiden. Jedenfalls
sind ehrgeizige und eigennützige Absichten der kurfürstlichen
Oligarchie in keiner dieser beiden Gestalten fremd geblieben.
Innerlich verwandt aber doch in oft erkennbarem Gegen-
sätze ringen beide Richtungen um das Übergewicht. Neben
rein provokatorischen Massregeln steht häufig eine wenig auf-
fallende, jede unnütze Herausforderung des Königs vermeidende,
aber in seine Competenzen doch nicht weniger nachdrücklich
eingreifende Wirksamkeit der Kurfürsten.
Die ältesten oligarchischen Regungen, die wir unter Sig-
mund nachweisen können, dürften reiner Interessenpolitik zuzu-
schreiben sein.
Am 7. März 1417, also zur Zeit des zweiten Reichstages
in Constanz verpflichten sich die rheinischen Kurfürsten: „ob
eynich forderung von Römischen keysem oder konigen an sie
alle oder ein teyle gescheen wurde, sie gemeinlich antreffend,“
dass sie dann nur gemeinsam, nach Übereinkunft, darauf ant-
worten sollten.1)
Zwei Verträge vom 2. August des Jahres zwischen den-
selben Fürsten zeugen von dem noch weiterhin zu verfolgenden
Bestreben, ausser den politischen noch die materiellen Inter-
essen in den Kreis gemeinsamer Behandlung zu ziehen. Der
eine Vertrag®) bedingt gemeinsamen Widerstand der 4 Kur-
fürsten gegen jeden, der sie in ihren Rechten und Gütern be-
einträchtigen wolle; der zweite 3) beschäftigt sich mit der Rhein-
schifffahrt. Was die Besorgnisse der rheinischen Kurfürsten
vor Schmälerung ihrer Rechte, von denen diese Bimdesurkun-
den Zeugnis geben, veranlasste, können wir nur vermuten.
*) J aussen I nro 528 (S. 307.)
!) Janssen I, 634 (S. 811.)
a) Mone „Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins“ Bd. IX S. 24.
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119
Jedenfalls mochten die damaligen Städtebunds- und Landfrie-
denspläne des Königs den Fürsten bedrohlich erscheinen.1 * * *)
Zu diesem allgemeinen Misstrauen der Fürsten gegen die
Absichten des Königs gesellten sich bald noch specielle Be-
schwerden. Besonders äusserten sich diese in dem Zerwürfnisse
des Königs mit Kurfürst Ludwig von der Pfalz.
Ludwig, der in den ersten Jahren Sigmunds nicht minder
als Friedrich von Brandenburg der getreuste Parteigänger des
Königs war,*) richtet Ende des Jahres 1418 an seinen Schwa-
ger, König Heinrich V von England, eine Beschwerdeschrift
über seinen König, in der er seine Verdienste um diesen und
die Schädigungen und Kränkungen, mit denen ihm gelohnt
worden sei, hervorhebt.5)
Mit der Entfernung Sigmunds aus dem Reiche 1419, welche
die mehr als zehnjährige, nur einmal (1422) kurz unterbrochene
Abwesenheit des Königs einleitete, jenes Fernbleiben, dessen
unheilvolle Folgen in der wachsenden Not der Hussitenkriege
immer schwerer empfunden wurden, tritt die Spannung der
Kurfürsten gegen das Reichsoberhaupt in ein neues Stadium.
Zu der egoistischen Furcht vor Beeinträchtigung an Gütern
und Rechten kommt als neues Motiv, bald wirklich zu Grunde
liegend, bald als Deckmantel eigensüchtiger Bestrebungen be-
nutzt, die Sorge für das vom Könige vernachlässigte Reich.
Noch vor dem Reichstage zu Nürnberg 1421, dem ersten,
der sich mit dem Kampfe gegen die böhmische Ketzerei be-
l) Finke 1. c. 47.
*) Lenz 1. c. 59 f. scheint mir mit Recht darauf aufmerksam zu machen,
dass Droysen („Geschichte der preussisclien Politik* Band 1) in Darstellung
der Wahl und der ersten Regierungszeit Sigmunds den Pfalzgrafeu viel zu sehr
gegen Burggraf Friedrich zurücktreten lasst. Bei der Wahl Sigmunds war
Friedrich nicht mehr als der Agent des Königs von Ungarn, der Vertreter
Sigmunds in Führung der sehr bestrittenen brandenburgischen Knrstimme.
Ludwig aber, nicht nur als Kurfürst, sondern besonders als Sohn des Vor-
gängers im Reiche, als Reichsvikar und Bewahrer der Reichsinsignien, warf
das ganze Gewicht seiner Stellung für Sigmund ausschlaggebend in die Wag-
schale. Wenn nicht an Friedrichs damalige Bemühungen die Verleihung der
Mark Brandenburg anknüpfte, würde man wahrscheinlich von seinen Verdiensten
um Sigmunds Wahl nicht viel wissen. Auch während des Constanzer Concils
erscheint Ludwigs Bedeutung viel grösser.
*) RTA Vn, 237.
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120
selmftigt, treten die rheinischen Kurfürsten von einer Zusam-
menkunft in Boppard, Anfang März, aus in Sonderaktion.
In die auswärtigen Beziehungen greifen sie ein, indem sie
sich beim Papst und den Cardin&len für den deutschen Orden
verwenden.1) Für die inneren Verhältnisse des Reiches be-
deutungsvoll war ihre Anfrage an verschiedene Reichsstädte,
was sie für den Hussitenkrieg zu leisten und ob sie den vom
Könige nach Nürnberg berufenen Reichstag zu besuchen ge-
dächten.*)
Dass die Kurfürsten durch dieses „nachdrucksvolle Vor-
gehen “ 3) gewissermassen zwischen König und Städte sich ein-
zudrängen suchen, scheinen letztere auch deutlich herausgefühlt
zu haben. Beide uns erhaltenen Antworten1) verweisen bezüg-
lich der Kriegsleistung auf die dem Könige auf dem Reichs-
tage abzugebende Erklärung.
Auf dem Reichstage selbst gehen die Fürsten, da der König
ausbleibt, selbständig vor. Der Anteil Sigmunds au dem da-
selbst geschlossenen Fürstenbündnisse gegen die Hussiten be-
schränkt sich auf die officielle Anführung seines Namens in den
Eingängen der Bundesurkunden.
Den richtigen Commentar dazu giebt das gleichzeitige
Übereinkommen der rheinischen Kurfürsten,5) welches dahin
geht, Aufforderungen des Königs zur Bekämpfung der Ketzerei
nur gemeinsam beantworten zu wollen. Das Misstrauen des
Königs gegen diese ganze Institution lässt sich leicht begreifen,
selbst wenn nicht, worauf manche, allerdings nicht unzweifel-
hafte Belege hinzuweisen scheinen, Absetzuugspläne mit dem
Ketzerbündnisse Hand in Hand gingen.6)
■) RTA Vin, 5-7; ygl. auch VH, 271.
*) 1. c. VIII, 8.
8) Kerler 1. c. S. 2.
4) von Basel: 1. e. 13 — von (len elsässiscben Städten: 1. c. 14.
6) 1. c. 28.
•) Die Frage, ob Knrfürst Friedrich von Brandenburg damals wirklich
seine rheinischen Standesgenossen zur Absetzung Sigmunds und zur Neuwahl
aufgefordert habe, wie Friedrichs Feind, Herzog Ludwig von Bayern, auf
Grund eines angeblichen Schreibens des Kurfürsten selbst behauptete, oder
ob dieser Brief gefälscht sei, berührt v. Bezold I. c. I, öl Note 1. — Unbe-
dingt ausznschliessen, etwa mit Rücksicht auf die sonstige Loyalität des Kur-
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121
Dazu passt die Form, in der Sigmund den schlesischen
Städten die Teilnahme am Nürnberger Bunde gestattet. Die
königlichen Rechte werden hierbei nachdrücklich hervorgehoben.*)
Weit gehässiger und rücksichtsloser tritt die kurfürstliche
Opposition 1422, besonders in der Ortsfrage des Reichstages8)
dem Könige entgegen.
Die sich öfter wiederholenden Versuche der Kurfürsten, den
König zur- Abhaltung von Reichstagen in Deutschland selbst
und nicht an den Grenzen, wie in Wien, oder gar im Auslande,
wie Pressburg, zu veranlassen, entspringen durchaus der Wah-
rung berechtigter Interessen. Aber wenn der König im Lande
wrar, sich dann noch, wie es im Jahre 1422 geschah, darum zu
streiten, ob der Reichstag in Nürnberg oder Regensburg zu-
sammentreten solle, zeigte doch zu sehr das Bestreben der fürstlichen
Opposition, den König ihre Macht fühlen zu lassen.
Für den Augenblick wurde der Zweck, das Reichsoberhaupt
zu demütigen, völlig erreicht: Sigmund folgt, wenn auch nur
höchst widerwillig, den Kurfürsten von Regensburg nach Nürn-
berg. Er erlässt auch, wie wir gesehen haben, das Ausschreiben
der Reichstagsbeschlüsse nicht selbst, sondern begnügt sich
damit, den kurfürstlichen Erlass zur Nachachtung einznschärfen.
Später spricht er wiederholt von dem „Anschläge“ den die
Kurfürsten beschlossen hätten. Ein Gesuch Basels um Dis-
pens von seinen Leistungen lehnt er ab mit der Begründung:
„uu wissent ir wol, das des heiligen richs kurfursten den anslag
geordcnet haben, und durch uns allein nit gangen ist.“5)
Aber sehr bald nach seiner Rückkehr nach Ungarn spricht
sich Sigmunds Groll über die Gewalt, die man ihm angethan
habe, offen aus.
Vor städtischen Gesandten, die sich w’ährend des Streites
zwischen Kurmainz und Pfalz um das Reichsvikariat, Anfang
1423, an den König wenden, äussert er: er habe dem Kur-
fürsten, ist die erstere Annahme nicht. Weitere Hinweise auf hochverräterische
Pläne in jener Zeit führt v. Bezoid 1. c. an.
') RTA VIII, 71.
’) Vgl. unsere S. 26, wo auf v. Bezoid I, 84 — 88 verwiesen ist.
*) RTA VIII, 215.
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122
fürsten von Mainz seinerzeit mehr Macht verliehen, als er selbst
habe „das mttste er tun.“ *) Im Januar 1423 geht in Städte-
kreisen das Gerücht, der Köuig wolle die Reichsstädte auf den
23. April nach Wien berufen; „die knrfursten habent vormals
solich berueffung getan, so welle er (der König) das nu selber
tuon und besehen, wer zu im kommen und gehorsam sin welle,“
fügt der städtische Gewährsmann hinzu.®)
Inzwischen schritt während des Jahres 1423 der Zusam-
menschluss der kurfürstlichen Oligarchie fort ; ihre Constituirung.
welche das nächste Jahr vollendet, wird ungebahnt. Auf dem
Tage zu Boppard, wird der Zwiespalt im Schosse des Kurcol-
legiums, der mainz-pfälzische Vikariatsstreit, beigelegt,3) Eine
auf demselben Tage getroffene Abmachung der rheinischen Kur-
fürsten4): stets diejenigen Angelegenheiten, wegen deren sie sich
versammelt haben , zuerst zu erledigen, ist in doppelter Hinsicht
interessant. Einmal setzt sie voraus, dass häufigere, vielleicht pe-
riodische Zusammenkünfte der Kurfürsten in Aussicht genom-
men waren ; dann bekundet sie wiederum das Bedürfnis vollster
Gemeinsamkeit des Handelns. Diese Gemeinschaft wird übrigens
in den genannten Urkunden auch auf Rheinzollfrageu ausge-
dehnt. Endlich ergeht noch vom Bopparder Tage eine Ladung
an die Städte nach Frankfurt zu einer Landfriedensberatung.5)
Den König lässt man, ohne seine Autorität offen anzu-
greifen, ganz zurücktreten, sodass die Befehle, die er in diesem
Jahre erlässt : das Aufgebot zur Hussitenhilfe und die Berufung
eines Reichstages nach Frankfurt November 1423 wirkungslos
verhallen.6)
Als eine wenigstens indirekte Einwirkung des Königs kann
man es indess bezeichnen, dass die von den Kurfürsten in’s
Leben gerufene Landfriedenspolitik erfolglos bleibt. Neben dem
natürlichen Misstrauen der Städte gegen die Fürsten dürfen
wir für die ablehnende Haltung der ersteren die Rücksicht auf
das Reichsoberhaupt als Motiv vermuten. Der Vergleich mit
*) ETA VIII, 230 art 3.
*) L c. 222.
*) 1. c. 238 u. 39. — Vgl. unsere S. 82 f.
‘) 1. c. 242.
») 1. c. 241.
•) L c. 236 u. 283. — Kerler 8. 277 u. 281 f.
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123
dem Ausgauge der analogen Bestrebungen des Jahres 1429 *)
zwingt fast dazu.
Dass aber trotz dieses Misserfolges, vielleicht gerade durch
denselben der Zusammenhalt des Kurcollegiums sich erhielt und
noch steigerte, beweist das Ergebnis des Kurfürstentages zu
Bingen, Januar 1423, die sogenannte Binger Einung.
Die Beurteilung und Würdigung, welche dieses denkwür-
dige Ereignis, eins der bedeutsamsten der inneren Geschichte
unter Sigmund überhaupt, erfahren hat,*) hat sich nicht un-
wesentlich verschoben durch das Bekanntwerden einer zweiten
Fassung der Bundesurkunde, welche auch in Originalausfertigung
erhalten, somit anscheinend der bisher allein bekannten ganz
gleichwertig, doch einen wesentlich abweichenden Inhalt
bietet.3)
Die Binger Einung ist ein Bündnis der sechs Kurfürsten,
das in dem Eingänge beider Urkunden als durch die Not des
Reiches, besonders durch die böhmische Ketzerei veranlasst,
bezeichnet wird. Die Contrahenten versprechen in beiden Ur-
kunden freundnachbarliches Verhalten gegen einander, gegen-
seitigen Schutz bei Angriffen und wollen gemeinsam Massregeln
zur Unterdrückung der Ketzerei beraten.
Damit ist aber die Übereinstimmung beider Urkunden er-
schöpft.
Die weiteren Ziele des Bundes sind: gemeinsame Haltung
in Kirchenfragen, gemeinsame Stellung gegen Usurpationen im
Reiche, gemeinsamer Widerstand gegen jede Schmälerung des
Reichsgebietes.
Hier tritt nun die Scheidung ein : die bisher allein bekannte
Fassung nahm für Erreichung der Ziele des Bundes überall die
') vgl. unsere S. 70 f.
l) Besonders durch Droysen „Gesch. d. preuss. Pol.“ I, 325 ff. — v. Be-
sold II, 20.
*) Die bisher bekannte Urkunde ist BTA VIII, 295; die von Kerler zum
ersten Male veröffentlichte: 294. Das Verhältnis beider beleuchtet Kerler,
ohne ein endgiltiges Urteil zu fällen, 1. c. S. 333 f. — Schuster 1. c. 15 ff.
beschränkt sich auf Wiedergabe der von Kerler aufgestellten 3 Möglichkeiten.
Seine Entscheidung für eine derselben: dass 295 für die Publikation bestimmt,
294 der entsprechende Geheimvertrag war (S. 18), entbehrt der sachlichen
Begründung.
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124
Mitwirkung des Königs, wenigstens nominell, in Aussicht.
Streben nach der Herrschaft im Reiche soll nur daun bekämpft
werden, wenn es ohne Willen des Königs und der Kurfürsten
geschieht; gegen Beeinträchtigung des Reichsgebietes soll die
Hilfe des Königs durch den Bund angerufen werden. Von alle-
dem sagt unsre zw’eite Fassung nichts.
Nach dieser soll, was der Bund erstrebt, ohne, ja, muss
man weiter schliessen: auch gegen den König verfolgt wer-
den. Hier gilt ein Versuch, die Führung im Reich zu über-
nehmen, nicht nur dann als Usurpation, wenn er der Zustim-
mung des Königs und der Kurfürsten ermangelt, hier verpflich-
tet der entsprechende Artikel implicite die Bundesglieder even-
tuell zur Bekämpfung selbst eines vom Könige bevollmächtigten
Verwesers, sofern dieser den Kurfürsten nicht genehm ist.1)
Und eine Schmälerung des Reichsgebietes soll nicht unter
Anrufung des Königs verhindert werden, nein, hier heisst es:
wenn der König oder jemand „von sinen wegen“ das Reich
beeinträchtigte oder entgliedere, dann solle es ihm der Bund
wehren.
Meinte Droysen,*) die ihm bekannte Fassung des Bundes
enthalte „nicht ein Bündnis zu einem einmaligen Zwecke“ son-
dern „eiu politisches System,“ so müssen wir von unsrer Re-
cension sagen: sie ist ein revolutionaires Pronunciaraento. Von
der Drohung mit bewaffnetem Widerstande bis zur Proklamie-
rung desselben, von dem Augenblicke, wo man die Möglichkeit,
dass das Reichsoberhaupt selbst, nicht der „Mehrer“ sondern
der „unnütze Entgliederer“ des Reiches sei, in’s Auge fasste
bis zur Behauptung der Thatsache, war kaum ein weiterer
Schritt, wie von einem der Tage des Jahres 1399, auf denen
Wenzels Geschick sich entschied, zum anderen. Die Annahme,
dass es sich für die Urheber der zweiten Fassung darum han-
delte, Sigmund das Schicksal seines Bruders zu bereiten, wrird
noch verstärkt durch die offenbaren Anklänge unsrer Recension
des Binger Bundes an die Übereinkunft zu Boppard vom 11.
April 1399. 3)
') Vgl. unsere S. 84.
») 1. c. I, 327.
*) HTA III, 41. — Eine dankenswerte Gegenüberstellung dieses Vertrages
mit den beiden Fassungen der Binger Einung giebt Kerler RTA VIII, S. 334.
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125
Die Unterschiede beider entspringen fast nur der verän-
derten Weltlage. Hier bieten die Hussitenkriege, dort die Ver-
hältnisse Oberitaliens und die Wirren des Doppelpapsttums den
politischen Hintergrund für die sonst wesensgleichen Bestre-
bungen.
Wir sehen die zu Beginn unsres Abschnittes beleuchteten
Richtungen im Verhalten der Kurfürsten gegen Sigmund in den
beiden Formen unsrer Bundesurkunde mit vollster Deutlichkeit
einander gegenübertreten.
Die Binger Einung in ihrer ersten Fassung schliesst noch
nicht die direkte Bedrohung des Königtums in sich.
Sie organisiert — denn sie enthält eine ganze Reihe or-
ganisatorischer Bestimmungen , welche der zweiten revolutio-
nären Fassung fehlen — die Fürsorge des höchsten Reichs-
adels, der kurfürstlichen Oligarchie, für das Reich. Dem Könige
bleibt seine Krone und das Recht, mit seiner Autorität die kur-
fürstlichen Massregeln zu decken. Der Gedanke, dass diese
künstliche Harmonie zwischen nominellen königlichen und that-
sächlichem kurfürstlichen Regimente gestört werden könnte,
erscheint hier nicht ausgedacht.
Anders die zweite Fassung: „Das Reich hat keinen König
mehr“ ist der Grundton, der durch alle ihre Bestimmungen hin-
durchklingt. Schmälerung des Ganzen, Schädigung des Einzel-
nen ist von ihm zu erwarten; ihm zu widerstehen ist Recht
und Pflicht.
Und diese beiden so grundverschiedenen Aktenstücke soll-
ten wirklich, wie behauptet worden ist, die Ausfertigung der-
selben Bundesurkunde sein, nur die eine, wie man angenommen
hat, für die Öffentlichkeit bestimmt, die andere für das Ge-
heimnis der fürstlichen Kanzleien? Wenn dem so ist, warum
wissen wir aus späterer Zeit weder von einem Weiterverfolgen
der das Königtum direkt bedrohenden Pläne, noch von Ereig-
nissen, welche ihre Wiederaufnahme unbedingt ausgeschlossen
hätten? Das ganze spätere Verhalten der Kurfürsten scheint
mir immerhin darauf hinzuweisen, dass beide Bundesentwürfe
ursprünglich nebeneinander aufgestellt waren, und dass schliess-
lich die mildere Richtung über die „schärfere Tonart“ ttberwog
und die revolutionäre Fassung der Urkunde nicht zur Geltung
gelangte. Und nun noch ein äusserer Grund:
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126
War die früher bekannte Fassung nur für die Veröffent-
lichung bestimmt, während ihr die zweite als Geheimvertrag
zur Seite stand, wie kommen alle die organisatorischen Bestim-
mungen,1) welche den Bund als einen dauernden, als Ausdruck
eines „politischen Systems“ charakterisieren, trotzdem sie doch
für die Oeffentlichkeit kein Interesse besassen, in dieselbe
hinein ?
Zu entscheiden ist die Frage, ob die „neue Fassung“ trotz
ihrer Originalausfertigung doch nur ein Entwurf oder besser:
ein bald ausser Kraft getretenes Original oder ob sie ein Ge-
heimvertrag ist, nach dem gegenwärtigen Stande des Materials
nicht. Es genüge mir, die auf die erstere Möglichkeit hin-
weisenden Wahrscheinlichkeitsgründe erwähnt zu haben. —
Im Vergleich zu der Thatsache, dass eine Kurfürsten-
einung, gleichviel in welcher der beiden charakterisierten For-
men in Bingen zu Stande kam, scheinen die anderen Mass-
nahmen des Kurcollegiums auf diesem Tage an Bedeutung zu
verlieren.
Neben der wenigstens vorläufigen Aufnahme Friedrichs von
Meissen als Nachfolger derAskanier ; *) neben dem Eintreten der Kur-
fürsten für das Verlöbnis des Sohnes Friedrichs von Brandenburg
mit einer polnischen Königstochter3) sei noch eine Vereinbarung
der rheinischen Kurfürsten, die Rheinschifffahrt betreffend, er-
wähnt. Diese gemeinsame Wahrnehmung politischer und wirt-
schaftlicher Interessen, das Bestreben, Zollstreitigkeiten und
sonstige Differenzen auf wirtschaftlichem Gebiete da zu vermeiden,
wo die Geschlossenheit der grossen Politik gestört werden
konnte, lässt sich bei den rheinischen Kurfürsten bis in die.
„Absetzungstage“ des Jahres 1399 zurückverfolgen.
Dem Könige gegenüber trat die Binger Einung noch im
selben Jahre bei den mehrerwähnten Verhandlungen über die
Frage, ob die Kurfürsten den Reichstag, welchen Sigmund in
Wien abzuhalten wünschte, besuchen sollten, zum ersten Male
in Thätigkeit.
') RTA VIII, 296 art 2 u. 9.
») L c. 296 ui 97.
*) 1. c. 298. — Da« polnische Heiratsprojekt war bekanntlich einer der
Hauptgründe für das Zerwürfnis des Königs mit dem Kurfürsten Friedrich.
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127
Auf dem Kurfürstentage zu Mainz Juli 1424 wird die Ent-
sendung des Herrn Konrad von Bickenbach und des Meister
Peter, welcher in dieser Sache mit den König verhandeln soll-
ten, beschlossen.
In den zwei uns erhaltenen Fassungen der Instruktion für
die Genannten, einem Entwürfe und der endgiltigen Ausfertigung,1)
treten uns wieder die beiden „Strömungen“ innerhalb des Kur-
collegiums entgegen.
Der zu Mainz vereinbarte Entwurf spricht die Bereitwillig-
keit der Kurfürsten, nach Wien zu kommen, aus, freilich nicht
ohne sich zugleich im voraus jede zeitliche oder örtliche Ver-
legung des Tages zu verbitten. Daneben findet sich folgendes
Verlangen an den König2): „Wenn die Kurfürsten nach Wien
kämen, dann wollten sie ihm versprechen : „das si ewer gnade
ewer lebtage für einen Römischen konig solden hal-
ten;“ Sigmund aber solle dafür sich verpflichten, gegen den
Papst, die Kurfürsten und alle Reichsangehörigen sich so zu
verhalten : „als ain voit der heiligen kirchen und ein Roemischer
konig sich billichen halten sol.“ Vergüsse der König sein Ver-
sprechen, so wollten sie ihn als seine „getreuen Kurfürsten“
daran mahnen; bliebe die Mahnung erfolglos, dann freilich
müssten sie „nachdem sie dem reiche schuldig sein“ ihre Mass-
regeln treffen.
Glaubte man Sigmund durch diese Drohung so einzuschüch-
tern, dass er sich der Bevormundung durch die Kurfürsten der-
gestalt willig unterwerfen würde?
Jedenfalls ist diese Fassung der Gesandtschaftsinstruktion
Entwurf geblieben. Bald nach dem Mainzer Tage raten die
Kurfürsten von Sachsen und Brandenburg zu einer Milderung
der Instruktion. *) Es trat auch wirklich eine solche Ab-
schwächung ein; der drohende Artikel verschwindet aus der
Instruktion, wie sie die rheinischen Kurfürsten jetzt zu Lahn-
stein vereinbarten.
Aber drang in diesem Punkte die versöhnlichere Richtung
durch, so entschädigte sich die strikte Opposition durch Zurück-
') 1. c. 303 und 309.
*) 1. c. 303 art 4.
*) 1. c. 307.
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128
nähme des Versprechens, den Reichstag zn Wien besuchen zu
wollen. Die Gesandten erhielten den Auftrag, auf einen Reichs-
tag in Regensburg oder Nürnberg zu bestehen.1)
Das Fernbleiben vom Wiener Reichstage Januar 1425, an
welchem der König festgehalten hatte, war der letzte Schlag,
den die kurfürstliche Oligarchie dem Reichsoberhaupte beibrachte ;
für den Augenblick verfehlte derselbe allerdings seine Wir-
kung nicht.
Die offizielle Ausfertigung der Wiener Beschlüsse*) setzt
sich scheinbar über das Nichterscheinen der Kurfürsten leicht
hinweg, aber der Zorn Sigmunds war aufs Höchste gestiegen.
Wie man die Lage in der Umgebung des Königs damals
beurteilen mochte, lehrt uns ein Schreiben des Kümmerers Con-
rad von Weinsberg an einen ungenannten Agenten vom 19.
März 1425. s)
Weinsberg schreibt, die Regelung der kursächsischen Suc-
cessionsfrage *) durch den König im Einverständnisse mit den
Kurfürsten werde wohl noch lange auf sich warten lassen : den
tröstlichen Versprechungen des Königs sei nicht zu trauen:
„dann zu besorgen ist, daz er und sein korfursten gar langsam
zusamenkomen werden oder villicht nimmer.“6)
Sein Unwillen traf zumeist Friedrich von Brandenburg.
Dieser richtet im Mai 1425 eine Gesandtschaft an König Wla-
dislaw von Polen, in der er sich bitter über die Schmähungen
und Verunglimpfungen seiner Person durch König Sigmund be-
klagt,6) in unsrer Periode die zweite Beschwerde eines deut-
schen Kurfürsten bei einem fremden Herrscher über seinen
König.7)
Interessant ist aus dem Berichte dieser Gesandten beson-
ders die Angabe, dass Sigmund von Friedrich die Auslieferung
>) RTA VIII 309 art 2, b, c u. 4.
*) 1. c. 384 n. 36.
') 1. c. 435.
4) für welche sich Conrad als Schwiegervater Herzog Erichs von Sachsen-
Lauenburg interessierte.
») 1. c. S. 408 Z 37 f.
•) Bericht der Gesandten: 1. c. 360.
’) Vgl. unsere S. 119.
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129
der gegen ihn gerichteten „litterae inscripcionum et contractus,“
jedenfalls der Bundesurkunden von Bingen1) verlangt habe.
Der Kurfürst verweigert die Auslieferung: „ex quo domini
electores imperii sunt domini mei et seniores mei, quorum prae-
ceptis velut iustis et honestis . . . semper teneor intendere,“
da ferner auch nichts in jenen Urkunden stehe, was gegen das
Reich oder den König sei.
Der Kurfürst dreht sodann den Spiess um: nicht die
Kurfürsten hätten gegen den König, sondern dieser gegen die
Kurfürsten intriguirt. Sigmund habe von den Städten verlangt,
sie sollten sich ihm zur Hilfleistung verpflichten und habe
ihre Zusage, die sich nur auf die böhmischen Ketzer bezog,
auch auf die Bekämpfung der Kurfürsten ausdehnen wollen:
königliche Städtebundspläne aus fürstlicher Perspektive.
Über die Thätigkeit der Kurfürsteneinung zu dieser Zeit
wissen wir wenig,8) deshalb können wir auch, kaum vermutungs-
weise, über die Gründe, aus denen damals die mühsam gepflegte
Solidarität des Kurcollegiums in’s Wanken geriet, uns äussern.
Dadurch, dass die Kurfürsten von Sachsen und Brandenburg,
wahrscheinlich, weil die Verständigung über eine gemeinsame
Haltung aller Kurfürsten nicht zu Stande kam, den Wiener
Reichstag von 1426 ohne und gegen den Willen ihrer rheinischen
Collegen besuchten, war die Binger Einung de facto gesprengt.
Schon während des Jahres 1426 hatte eine Gesandtschaft
der Kurfürsten, diese thaten also den ersten Schritt, die Ver-
handlungen eröffnet, welche, nachdem dann wieder die Kur-
fürsten einer Mahnung des Königs zur Festsetzung des Termins
für einen Reichstag monatelang nicht nachgekommen waren,
zum Wiener Reichstage Februar 1426 führten.3)
Der folgende zu Nürnberg, im Mai, sieht, wie Kerler rich-
tig hervorhebt,4) die Kurfürsten mit den königlichen Räten
äusserlich im besten Einvernehmen.
■) Kerler RTA VIII S. 425 Note 6.
*) v. Bezold II, 64 Note 2 stellt die erhaltenen Nachrichten zusammen.
Vgl. auch Kerler in der Einleitung zum Wiener Reichstage Januar 1425
D — F. Der Kurfürst von Mainz beruft für den 3. Juni seine Standesge-
noesen nach Wirzbnrg: „sub pena iurisdiccionis atme in eleccione.“
■) Kerler in der Einleitung zu diesem Tage unter A : RTA VIII, 8. 429 ff.
4) 1. c. VIII S. 452.
Wen dt, Der deutsche Keichst&g unter König Sigmund. 9
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130
Die Periode des eigentlichen Confliktes zwischen König
und Kurfhrsten ist zu Ende.
Es beginnt nun, freilich häufig durch Streit und Händel,
sogar innerhalb des Collegiums selbst, unterbrochen, die Zeit
ruhigerer aber doch nicht minder nachdrücklicher Arbeit der
Kurfürsten für das Reich. Man hört, wie es scheint, auf,
gegen den König zu conspirieren ; man tritt statt dessen still-
schweigend an seine Stelle.
Bald nach dem Nürnberger Tage versammeln sich die rhei-
nischen Kurfürsten, wahrscheinlich infolge der furchtbaren
Kriegsnachrichten aus Sachsen l) zu Boppard. Teils handelte
es sich dort um eine interne Sache des Kurcollegiums : Streitig-
keiten zwischen Mainz und Pfalz, — teils um Ausführung der
Beschlüsse des Nürnberger Reichstages.8) —
Eine grosse, aber nur vorübergehend erfolgreiche Thätig-
keit entfalten die Kurfürsten auf den Frankfurter Reichstagen
von 1427. Wie sehr auf der grossen Novemberversammlung der
König gegenüber den 3 Hauptfaktoren des Tages : Cardinal, Kur-
fürsten, Städte zurücktritt, wissen wir.
Eine gemeinschaftliche Aufgabe erwuchs in der Folge dem
Kurcollegium in der Ausführung des Frankfurter Steuergesetzes.
Hier benutzte man, vielleicht durch frühere Erfahrungen ge-
witzigt, wenigstens den Namen des Königs. Man lässt ihn Ge-
horsam gebieten und zur Zahlung mahnen, aber trotzdem erlebt
man es, dass einzelne Stände, um sich den Verpflichtungen des
Gesetzes zu entziehen , die Autorität des Königs gegen die der
fürstlichen Centralcommission auszuspielen versuchen.
Im folgenden Jahre, 1429, wendet sich die Thätigkeit der
fürstlichen Reichsregimentes von den Bemühungen um die finan-
zielle und militärische Organisation des Reiches, anschliessend
an die Pläne von 1423, der Besserung der inneren Zustände des
Reiches zu. Möglich, dass der traurige Erfolg der Steuerge-
setzgebung die Kurfürsten dazu trieb , durch die Sorge für den
Landfrieden den Anschluss an die materielle Macht der Städte,
denen der Landfrieden stets zumeist am Herzen lag, zu gewinnen.
') von der Schlacht bei Aussig: 16. Juni 1426.
*) RTA VIII S. 455 f.
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131
Jede unnütze Herausforderung des Reichsoberhauptes wird
hierbei vermieden; die „schärfere Tonart“ der Jahre 1422 — 24
scheint ganz verschwunden.
Aber die schweigende Nichtachtung, welche in dem Vor-
gehen der Kurfürsten lag, genügte schon, um die Opposition
des Königs wachzurufen. Seinen Widerstand haben wir als
einen der Hauptgründe für das Scheitern der Landfriedensbe-
wegung von 1429 anzuführen gehabt.1)
Der Schluss unserer Periode führt König und Kurfürsten
zu gemeinsamem Wirken endlich wieder zusammen.
Das Verlangen letzterer nach persönlicher Anwesenheit
des Königs im Reiche war durch die Ergebnisse oder besser:
Ergebnislosigkeit ihrer Bestrebungen der letzten Jahre beson-
ders geweckt. Wenn wir sehen, wie die Kurfürsten von Mainz
und Brandenburg, begleitet von den Gesandten der übrigen,
nach Wien gehen, dann dem Könige selbst bis Pressburg ent-
gegenkommen, um dann dort alle Beratungen auf einen in
Deutschland abzuhaltenden Reichstag zu vertagen, so sehen
wir ein, dass ihre ganze Reise nur bezweckte, Sigmund zur
Rückkehr in’s Reich zu veranlassen.
Dass der König diesem Verlangen folgte, entsprang aller-
dings egoistischen Motiven: das Verlangen nach der Kaiser-
krone Hess ihm keine Ruhe mehr. Aber jedenfalls war der
Erfolg der, dass das Reichsoberhaupt wieder einmal die hän-
genden Zügel ergriff, freilich um sie sehr bald wieder aus
der Hand zu geben. —
So sehen wir, wie das Kurfürstentum aus der Thatsache,
dass ihr König vornehmlich Herrscher eines fremden Landes
war, dass ihn eine Fülle von Neigungen und Pflichten von
Deutschland trennte, doppelte Consequenzen zog. Einmal er-
wachte naturgemäss die Lust, den pflichtvergessenen König
seiner Würde zu entkleiden, Sigmund enden zu lassen wie sei-
nen Bruder. Aber dieser war kein Wenzel. Fehlte ihm die
Stätigkeit und Festigkeit zu nachhaltigem Wirken, so machte
ihn doch der schöpferische Reichtum seines Geistes, die vor
nichts zurückschreckende Kühnheit seiner Entwürfe, zu einem
Gegner, den man nicht ungestraft reizen durfte.
*) vgl. unsere S. 70 f.
9*
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132
Und dann: vielleicht hatten die Kurfürsten die Macht,
Sigmund zu stürzen, aber sicher hatten sie nicht die Fähigkeit,
einen andern, etwa einen der ihrigen, mit Erfolg an seine
Stelle zu setzen. Ruprecht war in dem Kampfe mit der ter-
ritorialen Selbstherrlichkeit gescheitert; was war da von den
Friedrich von Sachsen, Ludwig von der Pfalz und selbst von
Friedrich von Brandenburg zu erwarten?
Daher lehrt die besonnene Erwägung bald, die Person des
Reichsoberhauptes unangetastet zu lassen. Statt ihn zu ent-
setzen, ersetzt man ihn. Die W ehrhaft inachung des Reiches
und die Wiederherstellung von Ruhe und Ordnung, einst Aufgaben
der Königsgewalt, nehmen jetzt die Sorgen des Kurfürstentums
in Anspruch, bis dasselbe an der vergeblichen Aufgabe ver-
zweifeln lernt.
Jedenfalls sicherten aber bewusstes Streben und die Gunst
der Verhältnisse vereint dem Kurfürstenstande nicht bloss dem
Könige, sondern auch den übrigen Gliedern des Reiches gegen-
über in unsrer Zeit seinen überwiegenden Einfluss.
Dies zeigt sich nicht zum mindesten in der Stellung der
übrigen Fürsten.
Wie wir schon sahen, dass sich auf den Reichstagen Sig-
munds ein besonderes Fürstencollegium neben dem der Kur-
fürsten jedenfalls noch nicht ausgebildet hatte,1) so sind selb-
ständige Äusserungen eines Fürstenstandes als solchen über-
haupt in damaliger Zeit kaum zu verzeichnen. Scheinbar hätte
es nahe gelegen, dass in den Zeiten des Conflikts zwischen
König und Kurfürsten die übrigen von der kurfürstlichen Ari-
stokratie ausgeschlossenen Fürsten in den Riss zu treten, um
den König sich zu schaaren versucht hätten.
Aber wenn dies vereinzelt geschieht, wenn Herzog Ludwig
von Bayem-Ingolstadt oder Erich von Sachsen- Lau enburg oder
Markgraf Bernhard von Baden zur Zeit des schärfsten Gegen-
satzes eine, jedenfalls aufreizende Thätigkeit am königlichen
Hofe entfalten, so liegen nur rein persönliche Motive vor, die
keine Ansätze zu einer neuen Parteibildung darstellen können.
Dagegen scheint es wiederholt, als ob die Reichsritter-
schaft unter Sigmund ein wichtiger Component einer neuen
’) Vgl. unsere 8. SO.
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133
politischen Constellation werden sollte. Zweimal während un-
serer Periode, auf den Herrentagen von Bamberg 1427 *) und
Windsheim 1431 *) tritt sie in selbständige Aktion. Zweimal
versucht sie, nach vernichtenden Niederlagen des Reichsganzen
als Vertreterin der Wehrkraft der Nation den heiligen Krieg
gegen die Ketzer zu organisieren. Praktischen Erfolg durfte
man von diesem Wiederhervorholen alter Ansprüche, dieser
Neubelebung veralteter Formen allerdings nicht erwarten.
Besser beweisen, dass die Reichsritterschaft noch eine
Macht war, die mehrfachen Versuche Sigmunds, aus Rittertum
und Bürgertum eine Stütze der Reichsregierung gegen die Für-
stengewalt zu gewinnen. Besonders in der Confliktszeit und
in den letzten Jahren unserer Epoche mehren sich die Belege
für den Plan des Königs, Ritterschaft und Städte zu einer dem
Königtum jederzeit verfügbaren Partei zu verbinden.*)
Es ist sehr wahrscheinlich, dass die 3 Monate des Auf-
enthalts in Schwaben, vom November 1430 bis Januar 1431,
während welcher uns die Bewegungen und Bestrebungen Sig-
munds einigermassen im Dunkeln liegen, ausser den Vorberei-
tungen für den Romzug auch der Verwirklichung derartiger
Pläne gewidmet waren.4) Aber jeder Schritt weiter, den der
König auf dieser Bahn tliat, muss ihn belehrt haben, wie sehr
der unversöhnliche wirtschaftliche Gegensatz zwischen Adel und
Bürgertum ein ernsthaftes politisches Nebeneinande.rwirken ver-
hinderte. In dem Masse, wie er die Ritter gewann, ent-
fremdete er sich die Städte. Der Bruch mit ersteren, das Auf-
geben der bisherigen traditionell städtefreundlichen Politik Sig-
munds, tritt auf dem Nürnberger Reichstage 1431 offen zu Tage,
und als ofiicielles Dokument desselben mag man das königliche
Pfahlbürgerverbot vom 25. März 1431*) gelten lassen.6)
•) RTA IX, 9—11.
») L c. 462—65.
*) Deutlich bezeichnet ist diese Coubiuation u. a. in den Vorschlägen,
welche der König zu Wien Januar 1425 den Städten unterbreitete: 1. c. VIII,
331 art 6.
‘) v. Bezold UI, 79 ff.
•) RTA IX, 429.
*) Die Stellung der Ritterschaft in dieser Zeit betrifft auch eine Notiz
in der Instruktion Konrad von Weinsbergs für Stephan v. Leuzenbronn zum
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Die Stelluug der Städte unter Sigmund giebt nach zwei
zwar verwandten, aber doch wohl zu unterscheidenden Eichtun-
gen zu Bemerkungen Anlass.
Die Städtebundsbestrebungen, teils eigener Initiative ent-
sprungen, teils der Anregung des Königs ihre Entstehung
verdankend, sind in neuster Zeit anderweitig dargestellt wor-
den,1) auch liegt ihre Schilderung ohnehin unsrer Aufgabe
ferner. Dagegen fordert die Entwicklung der Reichsstand-
schaft der Städte, das heisst ihrer Teilnahme an den Reichs-
tagsverhandlungen unsere Aufmerksamkeit.8)
Rein gewohnheitsrechtlich hatte sich seit Ende des 13. und
im 14. Jahrhundert die regelmässige Teilnahme der Städte an
den Reichstagen und ihre steigende Bedeutung für dieselben
herausgebildet. Mit Beginn des 15. Jahrhunderts sehen wir
die Städte zweifellos im Besitze eines gewissen auf Sitte und
Herkommen begründeten Rechtes zum Erscheinen auf den Reiehs-
versaramlungen.
Welches ist aber ihre Stellung auf denselben? Bis iu’s
Ende des 14. Jahrhunderts finden wir die Städte zwar als be-
Frankfurter Reichstage November 1427 (RTA IX 68 art 3). Nach dem von Vor-
beratungen zum Steuergesetze und der eventuellen Teilnahme Stephans als
Vertreters seines Herrn an weiteren Besprechungen die Rede gewesen,
fährt Konrad fort: item wann der Cardinal (von England) und ritterschaft
enig und willig zu den Sachen sein ze tund, so sein wol weg zu finden, das
durch den Cardinal wol ein merklich gelt gevelt.“ — Kerler (1. c. S. 59)
bezeichnet den Passus als „merkwürdige Andeutung über ein etwaiges Zu-
sammengehen des Cardinais mit den Standesgenossen Weinsbergs, den Rittern.“
Ich mochte hier nicht mehr als eine Äusserung des Staudesstolzes Konrads
sehen, der übrigens nach den thatsächlichen finanziellen Mitteln der Ritter-
schaft sich nur wenig rechtfertigen würde. Vielleicht enthalten diese Worte
auch eine Mahnung an den Cardinal, bei Ausarbeitung des Steuergesetzes die
Wünsche der Ritterschaft zu berücksichtigen.
‘) Heuer „Städtebundsbestrebungen unter König Sigmund 1 Teil“ Berlin
1887. — Diese Dissertation bezeichnet sich selbst als „Eingang einer grösseren
die Städtebnndsbestrebungen von 1415 -23 behandelnden Arbeit,“ an welche
„die Darstellung der Bundesbewegung des Jahres 1429“ sich anschliessen solle.
Beide Arbeiten sind mir nicht zugänglich gewesen; trotzdem ist mit Rücksicht
auf sie jedes Eingehen auf die Städtebundsbestrebungen unserer Zeit weggefallen.
') Für die frühere Zeit vgl. Brülcke „Die Entwicklung der Reichsstand-
schaft der Städte von der Mitte des 13. bis zum Ende des 14. Jahrhunderts.“
Für die Folgezeit vgl. unsere S. 4 Note 1 und 5 Note 1.
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rechtigtes, keineswegs aber als ein den übrigen Ständen
gleichberechtigtes Element der Reichstage angesehen.
Abwechselnd erscheinen und verschwinden sie in den Eingangs-
fonnein der auf Grand der Reichstagsbeschlüsse erlassenen
Mandate; ihre Rolle ist im ganzen eine passive.
Dieser Stand der Dinge scheint sich nun in unsrer Periode,
besonders während der Hussitenkämpfe, wesentlich zu Gunsten
der Städte zu verschieben.
Die Städte treten in den uns erhaltenen Berichten immer ent-
schiedener dem Fürstenstande zur Seite ; immer deutlicher prägt
sich das Collegium der Reichsstädte aus; man versucht, ganz
wie in späterer Zeit, die Voten beider Gruppen in Überein-
stimmung zu bringen; das Recht der Städte, bei Meinungs-
verschiedenheit mit den Fürsten Separatvoten abzugeben, ist in
der Entstehung begriffen: die Städte sind an der nach den
Frankfurter Beschlüssen gebildeten Centralsteuercommission be-
teiligt; in den Ausschüssen des Nürnberger Reichstages 1431
ist die numerische Gleichberechtigung von Fürsten- und Städte-
vertretern streng gewahrt: kurz, die Reichsstandschaft der
Städte, die Gleichberechtigung des Bürgertums mit dem Adel
scheint voll und ganz durchgeführt.
Aber neben diese fortschreitende Entwicklung treten von
Anfang an hemmende Elemente, welche in der nächsten Zeit
nach unserer Periode, unter Friedrich III, zur Herrschaft ge-
langen und eine vollständig rückläufige Bewegung auf diesem
Gebiete herbeiführen.
Den erwähnten Begünstigungen der Städte stehen doch
auch wieder Fälle gegenüber, wo das Bürgertum auf den Reichs-
tagen zu der alten Bedeutungslosigkeit herabgesunken ist. Der
Anteil der Städte an den Reichstags b er a tun gen ist gross,
der an den Beschlüssen verhältnismässig klein. Unsere Be-
trachtung der Beratungsformen ') zeigte uns wiederholt, wie
nach vergeblichen Versuchen der Fürsten, mit den Städten sich
zu verständigen, einfach über der letzteren Köpfe hinweg be-
schlossen und ihnen im günstigsten Falle nachträgliche Erklä-
rung gestattet wird.
Das „Mitbestimmen“ für die Städte ist ebenso gewöhnlich,
wie in früherer Zeit, dem „Votum decisivum“ erscheinen sie zu
•) Vgl. unsere S. 50 — 57.
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136
Zeiten Sigmunds noch so fern, wie unter Wenzel, sie figurieren
häufig in der Eingangsformel von Beschlüssen, welche nicht
nur ohne ihre Mitwirkung, sondern sogar gegen ihre entschie-
denste Willensäusserung zu Stande gekommen waren.1)
Wie erklären sich diese beiden abweichenden Erschei-
nungen ?
Die unleugbar erweiterte Teilnahme der Städte an den
Reichstagsberatungen entsprang sicher dem Wunsche und Willen
der massgebenden Faktoren: des Königs und der Fürsten. Man
brauchte die materiellen Hilfsmittel der Städte, deshalb duldete
man ihr stärkeres Hervortreten auf den Reichstagen; man er-
teilte ihnen Rechte, um ihnen auch Pflichten auferlegen zu
können.
Wenn die Städte diese Rechte nicht in dem weiten Um-
fange, wie es wohl möglich gewesen wäre, erlangten und be-
haupteten, so liegt die Ursache einzig darin, dass sich eben die
Städte zu nichts verpflichten: teils wollten, teils konnten.
Keine Darstellung kann, unsres Erachtens, den ständischen
Verhältnissen damaliger Zeit gerecht werden, die von der An-
nahme eines Strebens der Städte nach der vollen Reichs-
standschaft ausgeht. Dieses Streben ist erst im Reformations-
zeitalter zu voller Stärke erwachsen.
Für unsere Zeit hat in den weitaus meisten Fällen die
Teilnahme der Städte an den Reichstagen für diese keinen
anderen Wert, als dass sie ein Übermass von Verpflichtungen
abwehren und unangenehme Beschlüsse verhindern oder ihre
Vollziehung aufhalten können.
') Von dem Nürnberger Reichstage 1431 allein haben wir 3 Beispiele
hierfür: Die Stftdte hatten daselbst vom Könige nach vielen Unterhandlungen
die Vergünstigung erhalten, zum Zuge gegen Böhmen sich selbst anzuschlagen
(RTA IX 454 art 1, 456 art 4, 457 (kürzere Fassung) art 4); sie waren
also den Feldzngsbeschlüssen nicht unbedingt beigetreten. Die Mandate des
Königs (1. c. 413, 14, 16, 22) ignorieren die den Städten gemachte Oonces-
sion und erwähnen die Städte schlechthin als mitwirkend. — Dasselbe
geschieht in einer auf dem königlichen PfalilbUrgerverbote (1. c. 42U) be-
ruhenden Mahnung zur Eutlassung der Pfahlbürger (429 b), obwohl doch
die Städte natürlich gegen das genannte Verbot auf’s äusserste sich verwahrt
hatten. Diese Fälle beweisen auch, wie wenig aus den Eingangsfonnein zu
erschliessen ist. Brülcke (1. c.) operiert mitunter zu viel mit ihnen.
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137
Darüber hinaus liegt eine Teilnahme an den Reichstags-
verhaudlungen gar nicht in ihrem Interesse.
Sowie es sich um principielle Gesichtspunkte theoretischer
Natur, nm reine „Doktorfragen“ handelt, wie gleichgiltig sind
die Städteboten, wie gern lassen sie bei den Erklärungen an den
König mit vortrefflich gespielter Demut den Fürsten den Vortritt.
Sowie aber materielle Interessen in Betracht kommen, so-
wie es sich darum handelt, zu verhindern, dass ein lästiges
Geldsteuergesetz die „Macht oder Ohnmacht der Städte“ offen-
bart, dass ein „Anschlag“ sie über Gebühr beschwert, da er-
wacht ihre ganze, freilich nur passive, Energie.
Alle Versuche des Königs, der Fürsten, sie aus ihrer Re-
serve herauszulocken, scheitern; allen Bitten, Ermahnungen,
Vorwürfen, Drohungen setzen sie die bestimmte Forderung des
„Hintersichbringens“ und platonische Versicherungen guten
Willens gegenüber.
War es da überhaupt denkbar, dass die Städte einen ent-
scheidenden Einfluss auf die Reichstagsbeschlüsse erlangten?
Und dabei fassten wir bisher die Städte immer als Ge-
sammtheit; wie gespalten und zwieträchtig waren aber die
Ratsboten oft. Häufig finden wir derselben Forderung ge-
genüber alle Nuancen des Wollens vertreten, von der vollkom-
menen Bereitwilligkeit, wie sie zum Beispiel Nürnberg als
Reichsstadt xar’ efox^v, gern zur Schau trägt, bis zu dem
partikularistischen Übelwollen Ulms und seines Bundes. War
diese vielköpfige, schwerfällige Masse einer verfassungsmässigen
Teilnahme an der Reichsleitung fähig?
Aber seien wir gerecht gegen die Städte: es war nicht
immer Geiz, nicht bloss „spiessbürgerlicher Egoismus,“ *) nicht
durchweg kurzsichtige Kirchturmspolitik, was ihnen ihre Haltung
auf den Reichstagen diktierte. Das Misstrauen der Städte gegen
Fürsten und König war oft kein blosses Phantom ; sie mussten
sich fortwährend in ihrer Stellung, „der jede staatsrechtliche
Garantie fehlte,“ bedroht fühlen. Es war von ihnen im Grunde
eine ehrliche und thätige Mitwirkung an der Reichsgesetzgebung
kaum zu erwarten.
*) BrtUcke L c. 91.
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138
Aber wenn uns auch die Gerechtigkeit zwingt, dies in Be-
tracht zu ziehen, wenn wir es ferner jetzt vielleicht den Städten
danken können, dass sie ihre Kräfte nicht an einem Wieder-
aufbau der verfallenen Reichsverfassung verschwendeten, son-
dern für bessere Zeiten und bessere Zwecke aufsparten, — so
müssen wir doch andererseits uns immer vor Augen halten , wie
eben das politische Leben und Streben der Städte in damaliger
Zeit stets in den engsten Grenzeu blieb.
Ihre unvergängliche Bedeutung kommt ihnen zu als Trä-
gem der specifisch wirtschaftlichen Richtung im mittelalter-
lichen Leben; grosse politische oder gar nationale Ideen darf
man bei den Städten des 15. Jahrhunderts nicht suchen.
Die biederen Ratsboten auf den Reichstagen Sigmunds
würden sich nicht wenig entsetzen, hörten sie von den grossen
nationalen Aufgaben, die man ihnen in. unsrer Zeit mitunter
wohl zugewiesen hat.
MtXOlUMUtl MMtUI * «HU«, T«W»IIi I« MMIU-
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Untersuchungen
zur
Deutschen Staats- und Rechtsgeschichte
herausgegeben
von
Dr. Otto Gierke,
Professor der Rechte an der Universität Berlin.
31. Heft.
Der Ursprung der Stadtverfassung
iu
Worms, Speier und Mainz.
Ein Beitrag zur (beschichte des Stldtewesens im Mittelalter.
Von
Carl Koehne,
Dr. jnr. et phil.
Breslau.
Verlag von Wilhelm Koebuer.
1890.
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Der
Ursprung der Stadtverfassung
in
Worms, Speier und Mainz.
Ein Beitrag zur Geschichte des Städtewesens im Mittelalter
von
Carl Koehne,
Dr. jnr. et phil.
Breslau.
Verlag von Wilhelm Koebner.
1890.
Digitized by Google
Herrn Dr. Robert Hoeniger
gewidmet.
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Einleitung.
Die Entstehung der comraunaleu und politischen Autonomie
der deutschen Städte bildet wieder wie zu Conrings und Moritzs
Zeiten, in denen solche Forschung noch von unmittelbar prak-
tischer Bedeutung war, eine der am häufigsten behandelten
Fragen der deutschen Rechtsgeschichte. Gewiss liegt dies sehr
wesentlich an der Wichtigkeit, welche diesem Ereignis in unse-
» rer nationalen Entwicklung zukommt. Dennoch wird wohl
^niemand leugnen, dass die fortgesetzte Behandlung desselben
Gegenstandes auch vorzugsweise mit durch den Umstand ver-
~ anlasst ist, dass es bisher Niemandem geglückt ist, zu unzweifel-
haften und abschliessenden Resultaten über die Art und Weise
der Ratsentstehung und die dabei wirksamen Kräfte zu gelangen,
i. Gehen wir auf den Grund dieser Erscheinung selbst wieder ein,
so tritt uns als solcher vor allem die Dürftigkeit und Einseitig-
keit des der Forschung bisher zu Grunde liegenden Quellenstoffes
entgegen. So lange man für die Erforschung der Entstehung
selbständiger und freier städtischer Bürgergemeinden inmitten
einer immer mehr in Hörigkeit versinkenden Landbevölkerung
kaum andere Quellen als Inhalt und Zeugenunterschriften einer
Anzahl geistlicher Urkunden verwenden konnte, waren all-
seitig gesicherte Ergebnisse nicht zu erlangen. Während wich-
tige Fragen der städtischen Verfassungsentwicklung von Hegel,
Waitz, Arnold, Nitzsch, v. Maurer und anderen meister-
haft klargestellt wurden, konnte doch gerade bezüglich des
Ursprungs der Stadtverfassung eine Übereinstimmung nicht
erzielt werden. Eine Anzahl von Hypothesen wurde aufge-
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VIII
stellt, von denen jede einzelne im ganzen dem vorhandenen
Quellenmaterial so lange zu entsprechen schien, bis ihr Wider-
spruch zu einigen der überlieferten Stellen dargethan war.
Darauf wurde eine neue Theorie von derselben Haltbarkeit
an ihre Stelle gesetzt, um daun ihrerseits durch eine dritte ver-
drängt zu werden. Auch litt die Forschung recht erheblich
darunter, dass in den grösseren Werken, in denen die charakte-
risierten Theorien aufgestellt waren, nicht selten zeitlich und
lokal sehr verschiedene Quellenstellen ohne Unterscheidung be-
nutzt wurden.1) Andererseits sind aber gerade manche der
besten der eine einzelne Stadt behandelnden Arbeiten von
einer der so gewonnenen Theorien all zu sehr beeinflusst, wäh-
rend endlich viele Specialdarstellungen schon durch den Mangel
historischer Kritik und die Unkenntnis verwandter Stadtent-
wicklungen es zu wissenschaftlich ausreichenden Resultaten über-
haupt nicht bringen konnten.
Einen wesentlichen Fortschritt bedeutete es, als Heu sie r
1872 in seinem Buche : „Der Ursprung der deutschen Stadtver-
fassung“ den Versuch unternahm, „die gegeneinander wogenden
Ansichten über den Ursprung der deutschen Stadtverfassung
abzuklären und eine Verständigung über die hauptsächlichsten
Streitpunkte zu ermöglichen.“ Zum ersten Mal wurden hier
die wesentlichsten Theorien in ihrem Inhalt wie in ihren Con-
sequenzen scharf präcisiert und auf ihre Richtigkeit an der Hand
des damals zu Gebote stehenden Quellenmaterials geprüft. Nach
Heusler ist die Lösung der in Frage stehenden Probleme wesent-
lich durch Gierke im zweiten Bande des deutschen Genossen-
schaftsrechts gefördert worden, indem daselbst nachgewiesen und
scharf hervorgehoben wurde, dass die städtische Selbständigkeit
in politischer und rechtlicher Hinsicht die Wirkung mehrerer
Ursachen gewesen ist und demnach die Feststellung des gegen-
seitigen Verhältnisses, nicht die Hervorhebung einer einzelnen
der in Betracht kommenden Erscheinungen die Aufgabe der
Forschung sein muss.
') Dieser Fehler tritt namentlich bei von Mau rer hervor nnd noch
mehr ist vonBelow in denselben verfallen. Über die Aufsätze von Bel ow’s
zur Entstehung der Deutschen Stadtverfassung vgl. Anb. I.
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IX
Freilich das Erreichen unzweifelhafter Ergebnisse und die
volle Lösung auch nur der hauptsächlichsten der für den Ur-
sprung der Stadtverfassung in Betracht kommenden Fragen
scheint auch diesen beiden Forschern nicht gelungen. Der
Grund aber, dass dieser Teil der deutschen Rechtsgeschichte
trotz des grade auf ihn verwandten Fleisses und Scharfsinns
ausgezeichneter Gelehrter hinter anderen Gebieten dieser Wissen-
schaft noch zurückgeblieben scheint, liegt vor allem darin, dass
lange Zeit für keine einzige Stadt genügende Quellen vorhanden
waren, um aus ihnen ein klares Bild ihrer ersten Verfassungs-
entwicklung zu gewinnen. Erst durch eine plötzliche Erwei-
terung des zu Gebote stehenden Quellenstoifs ist man jetzt
im Stande, den Gang der Verfassungsentwicklung wenigstens
in einer Stadt von Anfang an überblicken zu können. Diese
ueuen Quellen sind die von Hoeniger herausgegebenen Kölner
Schreinsurkunden, das erste und bisher einzige umfassendere
Aktenmaterial bürgerlicher Provenienz aus frühstädtischer Zeit,
welches wir überhaupt besitzen. Nach ihnen hat Hoeniger in
seinem Aufsatz über den „Ursprung der Kölner Stadtverfas-
sung“ (Westd. Zeitschr. II S. 227 fl.) einen Ueberblick der dor-
tigen Entwicklung gegeben.
Jedoch beschränkt sich die Bedeutung der Kölner Schreins-
karten für die deutsche Rechtsgeschichte nicht auf diese eine
Stadt. Vielmehr zeigen sie und die aus ihnen für Köln ge-
wonnenen Resultate l) uns auch den Weg, den wir bei der Er-
forschung der Verfassungsentwicklung der übrigen Städte ein-
schlagen müssen. Statt den Theorien zu folgen, welche ohne
Zugrundelegung ausreichenden Quellenmaterials bürgerlicher
Provenienz aufgestellt wurden , ist es sicherlich weit ratsamer,
*) Nenerdings ist Ernst Kruse in seiner Untersuchung über die Kölner
Richerzeche (Ztschr. d. Sav.-Stftng. IX S. 152 — 209) zu Ergebnissen gekommen,
welche die Darstellung Uoeni ge rs in dem citierten Aufsatze z. T. ergänzen,
*. T. aber auch erheblich von ihr abweichen. Die wichtigsten der von mir
benutzten Resultate der Hoenigerschen Forschungen wie z. B. die Bedeutung
der Kirchspiele oder die Verschiebung der schöffenbaren Leute sind jedoch von
Kruse gar nicht in Frage gestellt worden; andere Behauptungen Hoeniger s
konnten trotz Kruses Ausstellungen zu Analogieschlüssen benutzt werden,
da sich hier Kruses Darlegungen bei genauerer Prüfung als nicht zu-
treffend erwiesen. Vgl. unten bes. S. 55 N. 3, S. 66 X. 2.
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X
da, wo eine Entscheidung aus näher liegenden Quellen nicht zu
gewinnen ist, zu untersuchen, ob die Verfassungsentwicklung
nicht auch in anderen Städten auf ähnliche Weise wie in Köln
vor sich gegangen ist.
Freilich kann meiner Ansicht nach auch eine solche Unter-
suchung nur dann zu klaren und abschliessenden Ergebnissen
kommen, wenn die wichtigeren Städte zunächst einzeln, oder
noch besser in mehreren in sich gleichartigen Gruppen zusammen-
gefasst, behandelt werden. Allein so ist es möglich, das Quellen-
material nicht in willkürlicher Auswahl, sondern annähernd er-
schöpfend zu benutzen. Aus verschiedenen Gründen sind von
mir gerade die drei Städte Worms, Speier und Mainz gewählt
worden, um zur Erforschung der Gründe der Entstehung städ-
tischer Gemeinwesen in Deutschland auf dem eben angedeuteten
Wege einen Beitrag zu liefern. Die Übereinstimmung in
der geographischen Lage dieser drei Städte, die Gleichzeitig-
keit, mit der sie die wesentlichen Etappen der städtischen Ent-
wicklung erreichen, und der ihnen unter sich und mit Köln ge-
meinsame fränkische Rechtsboden lassen gerade diese Städte zur
zusammenfassenden Behandlung unter dem vorerwähnten Gesichts-
punkte vorzugsweise geeigneterscheinen ; dazu kommt noch, dass
alle drei Orte als alte Römerstädte und Bischofssitze auch die
wichtigsten Ursachen ihres wirtschaftlichen Gedeihens mit ein-
ander gemeinsam haben.
Bei Worms und Speier wurde die Arbeit wesentlich durch
die neuen von Boos und Hilgard herausgegebenen Urkunden-
bücher dieser Städte erleichtert; bei Mainz dadurch, dass wir
über seine Entwicklung eine der besten vor der Edition der
Kölner Schreinsurkunden verfassten Einzelforschungen, Hegels
Mainzer Verfassungsgeschichte, besitzen.
Während, resp. nach Fertigstellung meiner Arbeit widmete
Konrad Schaube der Ratsentstehung in Speier und Worms zwei
in der Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins publicirte Auf-
sätze. Dass die Hauptthese der ersten dieser Schaubeschen
Abhandlungen, die Einsetzung des Speierer Rats durch Hein-
rich VT, durchaus nicht als bewiesen gelten kann, hoffe ich
unten zu zeigen. Auch der zweite ausführlichere der Schaube-
schen Aufsätze, der sich mit Worms beschäftigt, stimmt gerade da,
wo er von den seit Arnold und Heusler herrschenden Ansichten
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abweichendes bringt, wenig mit den Ergebnissen meiner Unter-
suchungen überein. Der Leser selbst mag urteilen, ob durch
diese Schaubeschen Publicationen eine Behandlung der Speierer
und Wormser Verfassungsgeschichte überflüssig geworden ist.1)
Die Anregung zu dieser Arbeit verdanke ich den Vorlesungen
und Übungen Dr. Hoeniger’s. Es sei mir gestattet , ihm dafür
an dieser Stelle meinen Dank auszusprechen.
Zum Schlüsse bemerke ich noch, dass ich die zur Zeit der
Drucklegung meiner Arbeit erschienene zweite Abteilung der
Deutschen Rechtsgeschichte von Richard Schröder nicht
mehr habe benutzen können. Es freut mich aber wahrgenommen
zu haben, dass meine Einzclforschung wenigstens in einigen
hervorragend wichtigen Punkten zu Ergebnissen gelangt ist,
welche der in jenem Werke enthaltenen trefflichen allgemeinen
Darstellung der Entwickelung der Deutschen Stadtverfassung
durchaus entsprechen.
') Was die altere Specialliteratur über unsere Städte betrifft, so bin ich
durch dieselbe vielfach gefördert worden, glaube aber doch, dass man nach
dem heutigen Stande der Wissenschaft in zahlreichen wichtigen Fragen zu
anderen Ergebnissen als den in den früheren Darstellungen enthaltenen kommen
muss. Aus dieser Literatur sei zuerst auf die Behandlung von Speier in dem
vor über 50 Jahren verfassten, teilweis noch heute beachtenswerten Werke
von Ran (Regimentsverfassung von Speier 1844, 45) verwiesen. Worms ist
bekanntlich von Arnold vor über 40 Jahren in seinem für die damalige Zeit
ganz ausgezeichneten Werke, Verfassungsgeschichte der deutschen Freistädto
(Hamb. u. Gotha 1854), den allgemeinen Erörterungen zu Grunde gelegt worden.
Über Mainz besitzen wir ausser der bereits erwähnten Hegelschen Darstellung
auch noch eine recht gute, wenn auch nur kurze, Besprechung der älteren
Verfassungsverhältnisso in K. G. Bockeuheimer's Beiträgen zur Geschichte
der Stadt Mainz (Mainz 1874), einem Werke, das übrigens mit Unrecht von
competenter Seite ganz übersehen zu sein scheint, (cf. Hegel, Chroniken
von Mainz Bd. I S. VI, Hoeniger in Westd. Ztschr. III S. 58).
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Inhalts - Uebersieht.
Seite.
Einleitung VII
Trotz zahlreicher Arbeiten Uber den Ursprung der Deutschen
Stadtverfassnng ist mau auf diesem Gebiete doch noch nicht zu
abschliessenden Ergebnissen gelaugt Förderung der Forschung
namentlich durch HenslersundGierkes Vemiittelnngstheorien (8. VIII).
Hoeuigers auf Grand eines reichen bürgerlichen nicht geistlichen
Urkundenmaterials gewonnener Ueberblick Uber die Anfänge der
Kölner Stadtentwicklnng auch zur Erkenntnis der Verfassuugs-
eutwicklung anderer Städte von grossem Nutzen (S. IX). Absicht
meiner Arbeit.
Capitel I. Die wirtschaftlichen Grundlagen der Stadtentwicklung . . 1
Die Grundlagen ihrer wirtschaftlichen Bedeutung haben unsere
drei Städte aus der Römerzeit ins Mittelalter Übernommen. Beweis,
dass sie in der Völkerwandernngszeit nicht völlig zerstört sind (S. 2)
Günstige Handelslage (Land- nnd Wasserstrassen) (S: 6). Leichte
Versorgung mit den notwendigen Lebensmitteln in Folge der
Fruchtbarkeit ihrer Umgebung (S. 9). Wichtiger als das Bestehen
einer ITalz, welche vor den Saliern nnr in Worms bezeugt ist,
ist für unsere Städte ihre Eigenschaft als Bischofssitze gewesen
(8. 10). Zeichen von agrarischer Thätigkeit in unseren Städten
zur Karoliugerzeit (S. II). Gewerbe nnd Haudel in nnsereu Städten
(S. 12). Speier hat sich später als Worms nnd Mainz entwickelt;
sein Aufblühen ist entschieden vor altem der Begünstigung seines
Bistums durch die Salier zuznschreibeu (8. 12).
Capitel II. Entstehung des Kaufmannsrechts 15
Seit dem elften Jahrhundert Spuren einer besonderen Kcchts-
eutwicklnng in den Städten, allerdings vielfach nur an dem Wider-
stande, den sie findet, erkenntlich (S. 15). Gesetz Bischof Burchnrds
von Worms (tit. 19) sucht die in Übnng gekommene Ersetzung des
gerichtlichen Zweikampfes durch Farteieid zu verhindern (S. 17).
Tit. 20 lässt in der Stadt bei nicht sofortiger Zahlung von Geld-
strafen Bürgschaftsbestelluug in Fällen zn, in denen auf dem Lande
sofort die Strafe an Haut und Haar eintrat (S. 20). Anfänge spe-
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XIV
cifisch städtischen Rechts im Strafrecht und IinmobiiiRrsachenrecht
(S. 22).
Capitel III. Oie Einwohnerstände in Worms, Speier und Mainz. Aus-
bildung eines Standes von Grosskaufleuten 26
Bisherige Ansichten (S. 26). Altfreie in allen drei Städten nach-
weisbar, aber ohne Einfluss und, abgesehen von der freien Verfügung
über ihr Grundeigentum, ohne besondere Vorrechte (S. 28). Im all-
gemeinen bewirkt Empfang bischöflichen Grundbesitzes zur Erbleihe
auch Zurechnung zur bischöflichen familia (S. 84). Die familia zer-
fällt in die Oensualeu, im Gesetze Burchards fiscalini genannt, und
die Dagowarden (S. 37). Die Unterscheidung rührt aus dem Gegen-
satz von Freien und Unfreien im karolingischen Zeitalter her, hat
aber schon zu Burchards Zeit relativ geringe Bedeutung und ver-
schwindet später ganz (S. 39). Aufkommen besonderer Rechtssätze
für die bischöflichen servientes, aus denen die Ministerialen hervor-
gehen (S. 42). Neue Standesgliederung nach Beschäftigung und
Capital besitz. Entstehung eines besonderen Kanfmannstandes.
(S. 50).
Capitel IV. Wachsender Einfluss des Kaufmannstandes 53
Den Kaufleuteu fällt ein langsam, aber stetig zunehmender
Einfluss auf Rechtssprechung, Rechtsbildung, Verwaltung und Po-
litik zu:
1) durch besondere genossenschaftliche Organisation und Er-
langung öffentlicher Rechte für dieselbe. Existenz einer Kaufmanns-
genossenschaft mit selbständiger Gerichtsbarkeit für Mainz nament-
lich durch Urkunde für den Harkt zu Allensbach 1075, für Worms
durch Urkunde für dortige Fischhändlcrinnung ca. 1106 nachweisbar
(S. 53). Ausläufer der Kaufmannsgeuossenschaften in unseren
Städten (S. 60).
2) durch Zuziehung zum Rate des Bischofs und Erlangung
bischöflicher Aeiuter, besonders der des Zolleinnehmers und Münzers
(S. 69). Einholung des Konsenses der Mitglieder der Kaufmanns-
genossenschaft wie später des Rates bei bischöflichen Regierungs-
handlungen (S. 72).
3) durch Besetzung der Schüffeustühle. Schöffeucollegien in
Worms und Mainz, höchst wahrscheinlich auch in Speier (S. 73).
Ergänzung der durch Tod entstehenden Lücken im Schöffencolleg
durch Kooptation (S. 74). Besetzung der Schöffenstühle mit Kauf-
lcuten (S. 75).
Capitel V. Die Specialgemelnden 78
Litteratur der Specialgomeinden (S. 78). Die Aufgabe (S. 81).
Nachrichten Uber die Wormser Specialgemeinden im 10. und 11. Jahr-
hundert (S. 82). Ueberblick über die Zendereien oder Heimschaften
auf dem Lande im Anschluss an Lamprechts Forschungen (S. 85).
Ueberblick über die Entstehung der ländlichen und städtischen
Kirchspiele nnd ihren Zusammenhang mit den Ueimschaften (S. 87).
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XV
Seit«.
Hereinziehung früher ländlicher Gemeinden in die Stadtummanerung
und in die städtische Verwaltung in Worms, Speier und Mainz (S. 90).
Mainz. Uebersicht der Specialgemeinden nach den Stadtrech-
nungen von 1410 und 1411 (S. 93). Wahrscheinliches Bestehen der
Mainzer Specialgemeinden schon im neunten Jahrhundert (S. 97). Be-
teiligung derselben an der kirchlichen Vermögensverwaltung (S. 98) ;
Einfluss des Bischofs auf Besetzung des Meimbnrgenamtes (S. 99).
Die Heimburgen als Seudgcschworene (S. 101). Dennoch die kirch-
liche Thätigkeit nicht die wichtigste Function der Mainzer Special-
gemeinden. Namentlich sind finanzielle und gewerbliche Funktionen
nachzuweisen (S. 103). Ergebnisse (S. 104).
Worms. Im 11. Jahrh. 4 Pfarrkirchen, mit Ausnahme' von
St Johannes die späteren Stiftskirchen (S. 104). Im 14. Jahrh. 8
Pfarrkirchen, von diesen 4 in den Vorstädten; die Bezirke der
anderen 4 entsprechen den alten Pfarrbezirken, während auch noch
bei jedem der vorstädtischen Pfarrbczirke ein besonderer Zusammen-
hang mit einer der 4 Pfarreien in der Stadt nachzuweisen ist (S.
103). Qnellenkritiscbe Untersuchung der Beschreibung der Wormser
städtischen Aemtor ; Widerspruch gegen die von Köster darüber ge-
äusserten Ansichten (S. 111). Besprechung der in der genannten
Quelle und in dem angeblichen Privileg Heinrichs VI vorkommendeu
Nachrichten über die Heiinburgen (S. 114). Spätere Nachrichten
(S. 120). Der im lä. Jahrh. die Stadt als Syndicus vor auswärtigen
Gerichten vertretende Heimburge hat mit den alten Wormser Heim-
burgen nichts zu thnn. Hier sind Amt und Titel von auswärts
recipiert (S. 123). Ergebnisse (8. 124).
Speier. Hier über den Heimbnrgen nur Nachrichten seit dem
14. Jahrh. ; doch sind in denselben noch Überbleibsel der alten Heim-
bnrgenfunktioneu deutlich wahrnehmbar (S. 115). Die Behörde der
,12 Geschworenen zu der Gottes Ehe“ (S. 131). In Speier 12 Pfar-
reien (S. 133). Ergebnisse (8. 136).
Gesammtergebnisse: 1) Die Specialgemeinden ans den
alten Markverbänden entstanden, der Ausbildung der Ratavertässung
vorhergehend (S. 136). 2) Die Specialgemeinden mit wenigen Aus-
nahmen in unserer Überlieferung nur nach den Pfarrkirchen genannt.
In Mainz uud Worms jedenfalls, in Speier höchst wahrscheinlich Zu-
sammenfallen von Pfarrbezirken und Specialgemeinden; jedoch die
kirchlichen Funktionen der letzteren weder die ursprünglichen noch
die hauptsächlichen. 3) Die Funktionen der Specialgemeinden. 4) Das
Verhältnis der Specialgemeinden zu den Geburts- und Berufsständen
(S. 137).
Capltel VI. Bischöflicher und kSniglicher Einfluss In den Städten bis
zur Zeit Heinrichs IV. Die Beamten 139
Allgemeine Gründe des Sieges der Bischöfe Uber den Laienadel
in den Bischofsstädten und anftretende Gegentendenzcu (S. 139). ln
Speier tritt Konrad der Rote 946 seine sämmtlichen Rechte in der
Stadt an den Bischof ab (S. 143); indirekte Bestätigung dieses Ver-
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XVI
tragen durch Otto I 969 (8. 14ä). Übertragung gräflicher Rechte
und Besitzungen in Worms an das Bistum bes. 979 und 1009 (S. 146).
Übergang der ärafschaftsrechte in Mainz an den dortigen Erz-
bischof (8. 161).
Kein Ausscheiden der Stadt ans dem, Stadt und Land gemeinsam
umfassenden, Jurisdictionsbezirke in Folge des Überganges der Grafen-
rechte. Dies geht aus der Betrachtung der Beamtungen, bes. des Burg-
grafenamtes in unseren Städten hervor. Bisherige Litteratur über
dasselbe (S. 162).
Worms. Seit 1014 und 1016 ein Graf (Burggraf, comes civitatis)
der jetzt formell vom Bischof abhängig, dennoch aber vielfach
in Streitigkeiten mit ihm ist (S. 166). Identität von Vogt und
Burggraf in Worms (8. 168). Geographische Bestimmung des zur
Wormser Burggrafschaft gehörigen Landgebietes (S. 159). Funk-
tionen des Wormser Burggrafen (S. 163). Geschichte des Wormser
Burggrafeuamtes (8. 166). Der Greve (S. 167).
Die Funktionen des alten fränkischen Centenars und des villicns
vereint in Worms der Vitztum (S. 170). Das Amt des Kämmerers
(S. 173). Der geistliche Kämmerer hat dadurch, den Vorsitz im
Schöffengerichte erhalten, dass er in Folge der ihm zustehenden
Propsteiwürde die Sendgerichte abhielt, bei diesen aber die Schöffen
des weltlichen Gerichtes als Urteilsünder zngezogen wurden (S. 176).
Erblichkeit des ministerialischen Kämmereramtes (8. 178).
Spei er. Identität des Burggrafen und Vogts daselbst bis
1180 (S. 180); von da an verschwindet der Titel Burggraf, als Vogt
fungiert ein Hinisterial (S. 182). Auch in Speier das Amtsgebiet
des Vogt-Burggrafen Uber die Stadt hinansreicheud (8. 183). Hier
auch der städtische Schultheiss zugleich in ländlichem Gebiet als
Richter thätig (S. 184). Ideutität von Schultheiss und Tribun, dieser
Beamte vereint die Funktionen des alten fränkischen Centenars
und des villicns (8. 186). Der geistliche, der ministerialische und
der bürgerliche Kämmerer in Speier (S. 188).
Mainz. Identität des Burggrafen und Vogts (S. 190.) Das
Amtsgekiet des Vogt-Bnrggrafen; seine Funktionen (S. 191). Der
Schultheiss, auch Tribun, ceuturio, villicns genannt, vereint die
Funktionen des Centenars und bischöflichen villicus (S. 192). Die
Kämmerer (8. 192). Der Waltpod (8. 195).
Der Zusammenhang des Königtums mit den Vogt-Burggrafen,
welcher auch in nnsoren Städten uachgewiesen werden kann, ist
nicht auf Rechnung der königlichen Baunleihe zu setzen (8. 1%); viel-
mehr ist er so zu erklären, dass bis zur Zeit Heiurichs IV unter
kräftigen Herrschern noch der Wille des Königs für die Beamten
der Fürsten und für alle anderen von ihnen abhängigen Personen
in erster Linie massgebend war (S. 200). Dem Königtum lag noch
der Schutz aller Reichsangehörigen in ihren Rechten ob (S. 201).
Beziehungen der Könige zu den Kaufleuten unserer Städte vor
Heinrich IV (S. 202).
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Capltei Vil. Das Eingreifen der mlttelrbeinieehen Städte In die poli-
tischen Verhältnisee bin zur Zeit Lothare
Zur Zeit Heinrichs III die Städter zum ersten Male nachweis-
lich als besondere Bevölkerungsclasse betrachtet (S. 203). Die Vor-
gänge in Worms Dezember 1073 und Heinrichs IV Privileg 1074
Jan. 18 lassen die Bürgerschaft schon organisiert und von Handelsinter-
essen erf (Ult erscheinen (S. 205). Der Mainzer Aufstand von 1077 gegen
Rudolf von Schwaben (S. 207); bei den Friedensverhandlnngen tritt
daselbst eine Behörde der Bürger hervor (S. 211). Bei den Juden-
verfolgungen 1096 in Mainz und besonders in Worms ist ein Ein-
greifen städtischer Behörden wahrznnehmen (S. 216). Teilnahme
der Städte an dem Kampfe zwischen Heinrich IV und V (S. 217).
Das Privileg des letzteren für Speier 1111 (S. 222). Erhebung der
Wormser gegen Heinrich V 1111 (S. 227). Privilegien desselben für
Worms 1112 nnd 1114 (S. 229). Aufstand der Mainzer zu Gunsten
Erzbischof Adalberts 1115 (S. 230). Kampf zwischen Adalbert nnd
Heinrich V, in welchem beide die Städte für sich zu gewinnen
suchen (S. 232). Adalberts Privileg für Mainz 1118 (S. 235). Auf-
stand in Worms gegen Heinrich V 1124 (S. 237). Unsere Städte
unter Lothar (S. 238). Überblick über das politische Verhalten der
Städte (S. 239). Gründe ihres Eintretens für das salisch-staufische
Kaiserhaus (S. 240).
Capltei VIII. Die Entstehung des Rates
Existenz einer die Bürgerschaft repräsentierenden und regieren-
den Behörde (S. 244). Nachweis, dass dieselbe mit dem Schöffen-
colleg, dessen Befugnisse im Lanfe der Zeit bedeutend erweitert
sind, identisch ist (S. 245) : Funktionen dieser Behörde (indices civici,
cives) als Bürgergericht (S. 246). Ihr steht auch die Erhebung
der städtischen Steuern zu, von welchen derselbe Teil der kirchlichen
servientes befreit ist, der auch in bestimmten Fällen von der Juris-
diction des Stadtgerichts eximiert ist (S. 248). Dies Schöffencolleg
führt auch das Stadtsiegel (S. 253); es repräsentiert ferner dem
Könige wie dem Stadtherren gegenüber die Bürgerschaft (S. 254).
Demnach zur Zeit des ersten Vorkommens des Ratsnamens keine
Verfassungsverändernng ; das ganz allmählich in den Besitz er-
weiterter Competenzen gelangte Schöffencolleg wird in der ersteu
Hälfte des 13. Jahrhunderts Bat genannt (S. 256). Keine plötzliche
Ratseinsetzung durch König, Stadtherren oder Bürgerschaft. Dies
wird der vielen entgegenstehenden Ansichten wegen noch näher be-
gründet (S. 257).
Worms. Versuch Schaubes, die Echtheit des Privilegs von
1156 zu erweisen (8. 257). Beweis der Unechtbeit dieser Urkunde
(S. 257). Die hier erwähnten iudices sind einerseits die in den Be-
sitz erweiterter Befugnisse gekommenen Schöffen, andrerseits aber
auch das Ratscolleg (8. 268). Das falsche Privileg ist in ihrem
Interesse nnd zwar zwischen Ende Juni und Ende November 1208
Koehne Ursprung der Stadtverfassnng in Worms, Speier und Mains.
Seite.
203
244
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xvm
Satt«
angefertigt. Auch die angebliche Urkunde Heinrichs VI für Worms
ist eine Fälschung (S. 272). Der Ansdruck consoles seit 1220 be-
zeugt, ebenso Bürgermeister (S. 275).
Speier. Im Privileg Philipps von Schwaben ist als Begründer
des Speierer Rats Heinrich V, nicht Heinrich VI gemeint (S. 276).
Heinrich V hat büchst wahrscheinlich die Competenzen dieses
Schöffencoltegs vermehrt (S. 278); bereits unter Friedrich I reprä-
sentiert es sicher die Stadt (S. 281).
Mainz. Der Aufstand gegen Erzbischof Arnold hängt mit den
Freiheitsbestrebungen der Bürgerschaft zusammen (S. 282). Bis-
herige Ansichten über Mainzer Stadtbehördeu (8. 290). In Mainz
wurden die Schüffeu ausser als indices auch als erzbischöfliche Amts-
leute (officiales oder offlciati) bezeichnet (S. 292) ; 1219 sind sie zum
ersten Male nachweislich consiliarii, 1244 consules genannt (3. 294).
Ergebnisse (S. 296). Die Herkunft der Namen consules und
consiliarii (3. 297).
Capltel IX. Die Entwicklung unterer Städte zu halbsouverinen Staats-
gebllden 300
Wirtschaftliche Fortschritte im 13. Jahrhundert (3. 301). Neue
sociale Classeubildung (3. 302). Rechtsänderungen (3. 303). Der
Rat als gesetzgebendes und verwaltendes Organ der Bürgerschaft
(8. 306).
Er erhält die Aufsicht über Allmende. Sorge des Rates auch
für die geistlichen Bedürfnisse der Bürgerschaft (S. 307).
Gemeinsames Vorgehen der Bischöfe gegen die städtische Auto-
nomie zur Zeit Friedrichs II (3. 309). Streit zwischen Bischof Heinrich
und der Bürgerschaft von Worms und Ausgleich 1230 (3. 312).
Städtefeindliche Gesetze Küuig Heinrichs und Friedrichs II (3. 315).
Neue Zwistigkeiten in Worms zwischen Bischof und Bürgerschaft
(3. 320). Beilegung durch beiderseitige Concessionen , aber zum
Nachteil der Stadt Jedoch bleibt der Wormser Rat noch selbständig
genug, um eine derjenigen seiues Stadtherrn entgegengesetzte Politik
im 8treite Friedrichs II mit seinem Sohne Heinrich einzunehmen.
(8. 331). Regierung Marquards von Sneitde (S. 331). Landolf vom
Kaiser begnadigt, hält sich in Worms durch Anschluss an die stau-
fische Partei (3. 333). Seit 1247 die Stadt thatsächlich ganz unab-
hängig (3. 341); Wiederherstellung eines Teils der bischöflichen
Rechte in Worms durch Bischof Konrad von Daun (3. 341). Das
Mainzer Privileg von 1244 (3. 342). Bischöfliche und städtische
Rechte in Speier im dreizehnten Jahrhundert (S. 345).
Territorialerwerb seitens unserer Städte (3. 367). Rheinischer
Bund (8. 348).
Capltel X. Ergebnisse 349
Woran, Speier und Mainz gehören zn den bei Erforschung des
Ursprungs der Stadtverfassung in Deutschland ganz besonders zu
berücksichtigenden Orten (3. 349). Bei dieser Untersuchung ist
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XIX
darin durchaus Gierke zu folgen, dass nicht ein einzelnes Moment
für die alleinige Ursache der Stadtverfassung zu erklären ist, und
dass vielmehr die Aufgabe der Forschung darin liegt, die verschie-
denen vielfach zu einseitig betonten Momente in die richtige
Stellung zur Gesammtentwickelung zu bringen (S. 350).
I. Ältere Verfassungsinstitutionen, an welche sich die ersten
specifisch städtischen Einrichtungen anlehnten. An solche des
römischen Rechts ist nicht zu denken (S. 350). Nur darf nicht
Qbersehen werden , dass gerade die mittelrheiniscbeu Städte die
Grundlagen ihrer wirtschaftlichen Entwicklung der Rümerzeit
verdanken. Der Name consules ist auf Reminiscenzen aus dem
klassischen Altertum znrttckzuführen (S. 351). Von Instituten des
deutschen Rechts ist die Teilnahme der Gerichtsgemeinde und der
Schöffen an der Jurisdiction von besonderer Wichtigkeit. In Worms,
Speier und Mainz ist der Rat aus dem Schöffencolleg entstanden;
jedoch kein Zusammenfällen des Stadtbezirks mit einem der frü-
heren Jnrisdictionsbezirke. Auch erringt nicht etwa eine altfreie
Gemeinde die städtische Autonomie (S. 351—53). Hofrecht nur
insofern von Bedeutung, als einige hofrechtliche Beamtungen an
Kaufleute übergehen und in städtischem, nicht in bischöflichem
Interesse verwaltet werden ; ausserdem hat der den Leibeigenen
gewährte Rechtsschutz die spätere Verschmelzung derselben mit den
hoher stehenden BevOlkerungsclassen gefördert. Für den Aus-
gleich der alten Standesunterschiede auch wichtig, dass die Öffent-
lich-rechtlichen Beamtnngen und diejenigen des bischöflichen Hof-
rechts in dieselbe Hand kamen. Die Mainzer Offlcialen (S. 353, 54).
Entstehung der Stadtverfassnng aus Markverfassung, des städ-
tischen Rates aus einer Markbehörde entschieden für Worms, Mainz
und Speier abzulehnen, dagegen Verwaltung innerhalb der einzelnen
Specialgemeiudcu (Kirchspiele) wichtig für die Erhöhung des kauf-
männischen Einflusses; ebenso die Beteiligung der Laien an der
Kirchspielverwaltnng und am Sendgericht (S. 354, 56). Ähnlich
auch Bedeutung der Kanfmannsgcnossenschaften und der Zuziehung
von Kaufleuten bei Beratung bischöflicher Angelegenheiten in Bezug
auf Ursprung der Stadtverfassung (S. 356).
Der Bat ist in Worms, Mainz und Speier dadurch entstanden,
dass das Schöffencolleg zu einer die Stadt verwaltenden und reprä-
sentierenden Behörde mit wachsender Selbständigkeit wurde; diese
Behörde erhielt in unseren Städten seit der Wende des 12. und
13. Jahrhunderts den Namen „Rat* (S. 356).
H. Die wirklichen Ursachen der Ausbildung städtischer Auto-
nomie. Die Ottonischen Privilegien haben nur ganz mittelbar Ein-
fluss geübt; mehr jedenfalls die Kämpfe zwischen Königtum und
Fürstentum (S. 357). Entscheidende Gründe der Ausbildung freier
Stadtverfassungen: Finanzielle und militärische Kraft der Städte
and die eigenartigen Rechtsanschauungen und Interessen der in der
Bürgerschaft massgebenden kaufmännischen Kreise (S. 358).
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XX
Anhänge • Seit«.
Anhang I. Die Arbeiten von Below's zur Geschichte der Deutschen
Stadtverfassung 360
Einleitung (S. 360). Klarstellung der Methode von Below'B durch
Besprechung seiner Ausfiihrnugen über Freiheit und Unfreiheit
der städtischen Bevülkerung (S. 363 ff.) ; ferner durch Besprechung
seines angeblichen Nachweises, dass die Ordnung von Maas und
Gewicht den Bauerschaften zugestanden, und seiner Polemik
gegen Schmoller über die Herkunft des städtischen Gewerbe-
rcchts (S. 369). Below's Polemik gegen die Ansicht, dass die
Gilden schon vor Entstehung der Batsverfassung ezistirt haben,
beruht zum grossen Teil auf Unkenntnis der einschlägigen Littera-
tur (S. 373). Daneben Hauptfehler seiner Arbeiten, dass für Fragen
der Entstehung der Stadtverfassung erst spät zur Entwickelung
gekommene Flecken und Städtchen herangezogen werden (S. 376).
Am meisten zu tadeln ist jedoch die unrichtige Wiedergabe der
Behauptungen früherer Forscher, sowohl wo v. B. sie als Beweis-
material anführt, als wo er gegen sie polemisiert (S. 377). B.’s
Polemik gegen Behauptungen einer „herrschenden Meinung“, die
von keinem Forscher vertreten werden (S. 382) ; Nachweis von nach
Below’s Ansicht übersehenen , in der That aber schon recht oft
berücksichtigten Gesichtspunkten (S. 383). Below’s Urteile über
die frühere Forschung und seine eigenen Verdienste (S. 38ö). Zu-
sammenfassung (S. 387).
Anhang II. Das Gesetz Bischof Burchards von Worms 389
Benennung (8. 389), Datierung (S. 392).
Anhang III. Die Datierung der Wormser Maiierbanordnnng .... 395
Anhang IV. Zum Gerichtsstand der städtischen Immobilien .... 398
Bisherige Ansichten (S. 398). Hoenigers Behauptung, dass sich die
eigentümlich städtischen Bechtsformen im Grundbesitz an einzelnen
Orten schon entwickelt hatten, als ebendaselbst der geistliche Grund-
besitz noch zu hofrechtlichen Abgaben verpflichtet war, findet- in
gewisser Weise in Worms Bestätigung (S. 400). Jedoch kein be-
sonderer Gerichtsstand für geistlichen Grundbesitz fS. 401). Die
Vornahme von ßechtsgeschäften vor dem Official ist nicht dadurch
zu erklären, dass dieser Beamte „mit der geistlichen auch die
gmndherrliche Gerichtsbarkeit des Bischofs“ geübt, sondern da-
durch, dass die Contrahenten ein genügend beglaubigtes Docnment
über den Vertragsabschluss haben wollten (S. 402).
Anhang V. Die Urkunden KSnig Heinrichs für Worms vom August 1232 . 406
Bisherige Litteratur (S. 406). Der scheinbare Widerspruch der
Urkunde K5nig Heinrichs vom 4. August 1232 gegen diejenigen
vom 3. und 8. August 1232 erledigt sich dadurch, dass die Ur-
kunde vom 4. als ein blosser, von den Fürsten herrührender, Ur-
kundenentwurf, nicht als eine wirkliche Urkunde anzusehen ist (S. 416).
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XXI
Beilage.
Die Eintragungen In die Mainzer Stadtrechnungen Uber die Einnahmen
aat der Schatznng In den Jahren 1410, 1411 420
Verzeichnis der abgekürzt oltlerten Bücher XXII
Register 425
Verzeichnis der ausführlich besprochenen Urkunden 427
Berichtigungen.
S. % Z. 27 lies 1411 statt 1410.
S. 267 Note Z. 4 lies 192 statt 190.
S. 317 Note 4 lies 284 statt 84,
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Verzeichnis der abgekürzt citierten Bücher.
Arnold, Verfassungsgeschichte der Deutschen Freistädte 2 Bde. Hamb, und
Gotha 1864.
Arnold, Zur Geschichte des Eigentums in den Deutschen Städten. Basel 1861.
Baur, Hessische Urkunden Bd. 1—6. Dannstadt 1860 ff.
von Below, Die Entstehung der Deutschen Stadtgemeinde. Düsseldorf 1889.
Beyer, Urkundenbuch zur Geschichte der mittelrheinischen Territorien Bd.
I— III. Coblenz 1860—74.
Bockenheimer, Beiträge zur Geschichte der Stadt Mainz. Mainz 1874.
Boehmer, Fontes rerom Germanicarnm 4 t. Stuttg. 1843—1868.
Boehmer-Ficker, die Regesten des Kaiserreichs 1 198—1272. 2 Bde. Innsbr.
1881, 82.
Boehmer-Hühlbacher, Die Regesten des Kaiserreichs unter den Karo-
lingern. Innsbr. 1889.
Boehmer-Will, Regesten zur Geschichte der Mainzer Erzbischöfe. Innsbr.
1877 ff.
Boos, Urkundenbuch der Stadt Worms Bd. I. Berlin 1886.
B resslau, Diplomata centum. Berolini 1872.
B ress lau, Jahrbücher des Deutschen Reichs unter Konrad II. 2 Bd. Leipzig
1879, 1884.
Bresslau, Handbuch der Urkundenlehre Bd. I. Leipzig 1889.
Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte Bd. I. Leipzig 1887.
Dilmmler, Kaiser Otto der Grosse. Leipzig 1876.
E he b e rg , Über das ältere Deutsche Münzwesen und die Hausgenossenschaften.
Leipz. 1879.
Forschungen zur Deutschen Geschichte. 1 — 26. Göttingen 1862 — 86.
Gengier, Das Hofrecht des Bischofs Burchard von Worms. Erlangen 1869.
Gen gier, Deutsche Stadtrechte des Mittelalters. Erlangen 1862.
G frö rer, Papst Gregorius VII und sein Zeitalter. Bd. I— VII. Schaffhausen
1869-61.
Gfrörer, Franz, Verfassungsgeschichte von Regensburg. Stadtamhof 1882.
Gierke, Das Deutsche Genossenschaftsrecht 1 — 3. Berlin 1868 — 1881.
Giesebrecht, Geschichte der Deutschen Kaiserzeit. Bd. I — V 6. Aufl. 1881.
Grimm, Deutsche Rechtsalterthümer. 3. Aufl. Göttingen 1881.
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xxm
Orimm, Weiatümer. Bd. I— VII. Göttingen 1840—1878.
Gaden us, Codex, diplom. anecdotorom ree Moguntinas illustrantinm, i I— V.
Gott. 1743, Francof. et Lips. 1747 — 68.
Hegel, Die Chroniken der Deutschen Städte Bd. I— XVIII. Leipzig 1862 ff.
Hensler, Verfassungsgescbichte der Stadt Basel. Basel 1860.
Heusler, Der Ursprung der Deutschen Stadtverfassung. Weimar 1872.
Hensler, Institutionen des deutschen Privatrechts • 2 Bde. Leipzig 1885,
1886.
Hilgard, Urkunden zur Geschichte der Stadt Speier. Strassburg 1885.
Hinschius, Das Kirchenrecht der Katholiken und Protestanten Bd. I— IV.
Berlin 1869—88.
Hirsch, Jahrbücher des Deutschen Reichs unter Heinrich II, vollendet von
Pabst und Bresslau 3 Bde. Leipzig 1862—75.
Höhlbaum, Hansisches Urkundenbuch. Bd. I— III. Halle 1876—86.
Huillard-Brtholles, Historia diplomat. Friderici II. 6 Bde. Paris 1852— 61.
v. Inama-Sternegg, Deutsche Wirtschaftsgeschichte. Bd. I. Leipzig 1879.
Ja ff 6, Bibliotheca Berum Germanicarum t. I— VL Berolini 1864—1873 (L
III Honumenta Moguntina).
Joannis, Berum Hogundacarum libri. 3 t. Francof. 1722— 27.
Köster, Die Wormser Annalen. Leipzig 1887.
Kruse, Verfassungsgeschichte der Stadt Strassburg in Westdeutsche Zeit-
schrift Ergänzen gsheft I (Trier 1884).
Lamprecht, Deutsches Wirtechattsieben im Mittelalter. 3 Teile in 4 Bden.
Leipzig 1886.
Lehmann, Chronica der Reichs Stadt Speier. Vierte Edition durchsehen,
verbessert und vermehrt durch Johann Melchior Fuchs. Franck-
furth 1711.
Liebe, Die kommunale Bedeutung der Kirchspiele in den deutschen Städten.
Berlin 1885.
Lndewig, Beliquiae manuscriptornm .... ineditorum adhuc, t. I— XU.
Francof. et Lips. 1720—31, Hai. 1733—41.
von Maurer, Geschichte der Städteverfassung in Deutschland. Bd. I— IV.
Erlangen 1869—71.
Mone, Zeitschrift für die Geschichte des Oberrheins. Bd. I— XXXVIII. Karls-
ruhe 1850—85 (Die letzten Bände herausg. vom General-Landesarcbive
zu Karlsruhe).
Mooumenta Germaniae. Hannoverae 1826 ft.
Nitzsch, Geschichte des Deutschen Volkes 3 Bde. Leipz. 1883 — 85.
Nitzsch, Ministerialität und Bürgertum. Leipz. 1869.
Prutz, Kaiser Friedrich I 3 Bde. Danzig 1871— 74.
Quidde, Studien z. Gesch. des Rheinischen Landfriedensbundes von 1254.
Frankf. a. M. 1885.
Rsthgen, Die Entstehung der Märkte in Deutschland. Darmstadt 1881.
Ran, Regimentsverfassung von Speier. 2 Hefte. 1844, 45.
Remling, Geschichte der Bischöfe zu Speier. 2 Bde. Mainz 1852, 1854.
Remling, Urkundenbuch zur Geschichte der Bischöfe zu Speier. 2 Bde.
Mainz 1852, 53.
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XXIV
Schannat, Historia epiacopatua Wormaticnais. 2 t. Francof. 1734.
Schirrmacher, Kaiser Friedrich der Zweite. 4 Bde. Gött. 1859—65.
Schm oller, Strassburg» Blüte und die volkswirtschaftliche Revolution im
XIII. Jabrh. Strass b. 1875.
Schmoll er, Die Strassburger Tücher- und Weberznnft und daa Deutsche
Zunftwesen im XIII— XVII. Jahrh. Strassb. 1881.
Schoop, Verfassungsgeschichte der Stadt Trier in Westdeutsche Zeitschrift
Ergänzungsheft I (S. 65 — 162). Trier 1884.
Schröder, Lehrbuch der Deutschen Rechtsgeachichte. Leipz. 1889.
Steindorff, Jahrbücher des Deutschen Reichs unter Heinrich III 2 Bde.
Leipz. 1874, 81.
Strassburger Urkundenbuch Bd. I n. II herausg. von Wiegand Strassb.
1879—86, Bd. III von Aloys Schnlte Strassb. 1884.
Stumpf, Acta Haguntina seculi XII. Inabr. 1863.
Stumpf, Die Reichskanzler vornehmlich des X., XI. und XII. Jahrhunderts
Bd. 1—3. Innsbr. 1865 — 81.
Waitz, Deutsche Verfassungageschichte. Bd. 1—8 Berlin. 1880 ff.
Weizsäcker, Der Rheinische Bund. Tübing. 1854.
Westdeutsche Zeitschrift für Geschichte und Kunst, herausg. vonHettner
u. Lamprecht. Trier 1882 ff.
Winkelmann, Geschichte Kaiser Friedrichs des Zweiten. 2 Bde. Berlin
1863, 65.
Winkelmann, Kaiser Friedrich II. Bd. I 1218—1228. Leipzig 1889.
Winkelmann, Philipp von Schwaben und Otto IV von Braunschweig. 2 Bde.
Leipzig 1873 — 78.
Zeitschrift für Geschichte des Oberrheins. Neue Folge. Freiburg 1886 ff.
Zeumer, Die deutschen Städtesteuern. Leipzig 1878.
ZeuBS, Die freie Reichsstadt Speier örtlich geschildert. Speier 1843.
Zorn, Wormser Chronik (herausg. von Arnold). Stuttg. 1857.
Bemerkungen über sonstige Abkürzungen
in den Noten.
Die Urkunden in Boos Wormser und Hilgard Speiercr Urknndeubuch
sind nach der Nummer, kurzweg als U. 1, U. 2 etc., wo es zur Deutlichkeit
nötig war, als W. U. und Sp. U. citiert.
B-W bezieht sich auf die Regestennummeru von Bochmer-Will,
B-F von Boehmer-Ficker, St. von Stumpf ReichskanzlerBd.il. Unter
Schaube Speier und Schaube Worms sind die in Zeitschrft. f. Gesell, d.
Oberrheina N. F. 1 S. 445 — 461 und III S. 257—302 erschienenen Aufsätze,
unter Hegel Maiuz seine in Bd. XVIII der von ihm beraosgegcbeucn Chro-
niken der Deutachen Städte erschienene „Verfassungsgeschichte von Mainz"
zu verstehen.
Im übrigen wird cs genügen, auf das obige Bücherverzeichnis zu
verweisen.
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Oapitel I.
Die wirtschaftlichen Grundlagen der Stadtentwicklung.
Wie Heusler in seiner Arbeit über den „Ursprung der
deutschen Stadtverfassung“ mit Recht hervorhebt, besteht das
eigentliche Wesen der freien Stadtverfassung des Mittelalters
darin, dass die Städte in den Besitz politischer Rechte ge-
langten. Demnach muss der Übergang der wichtigsten Bestand-
teile der öffentlichen Gewalt au die Stadtgemeinde, resp. an die
sie vertretende Behörde, als der Kernpunkt der ganzen städ-
tischen Entwicklung angesehen werden. Communale Ent-
wicklung d. h. Ausbildung einer Gemeindeverfassung finden wir
dagegen ja auch auf dem Lande, also nicht nur in den Städten.
Eichhorn, Arnold und Heusler beginnen, darin im wesent-
lichen übereinstimmend, die eigentliche Untersuchung des Ur-
sprungs der Stadtverfassung mit der Frage nach dem Einfluss
der Immunitäten und der Ottonischen Privilegien auf die städ-
tische Entwicklung. So wichtig diese königlichen Zugeständ-
nisse an die Bischöfe für die Ausbildung der Territorialgewalt
geworden sind, so haben sie doch auf die Entstehung freier
Stadtverfassnngen wenig Einfluss gehabt. Den Beweis dieser
Behauptung muss ich allerdings au dieser Stelle auf später zu
bringende Darlegungen verschieben. Doch hoffe ich, grade durch
die vorliegende Arbeit die Thatsache überzeugend darzutun,
dass ganz im Gegensatz zu der bekannten Heuslersehen An-
Koehua, Ursprung der Stadt Verfassung in Worms, Speier und Mainz. 1
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schauung l) in erster Linie Handel und Industrie und die daraus
entspringende Geldwirtschaft das Streben nach politischen
Rechten seitens der Städte sowohl hervorgerufen als auch zur
Verwirklichung gebracht haben. Demgemäss will ich auch zu-
nächst die Anfänge und Ursachen dieser wirtschaftlichen Ent-
wicklung ins Auge fassen.
Seit den ArbeitenBethmann-Hollwegs und Hegels ist man
mit Recht von der Meinung abgekommen, die deutschen Stadt-
verfassungen des spätem Mittelalters als aus der römischen
Municipalverfassung entstanden anzusehen. Nicht nur in Deutsch-
land, sondern auch in Italien und Frankreich beruht ja die
Stadtverfassung des Mittelalters auf dessen eignen, dem Alter-
tum durchaus fremden, germanischen Rechtsgrundlagen. Aber
wesentlich von der Verfässungsentwicklnng zu trennen ist die
wirtschaftliche. Wohl haben die Germanen die politischen In-
stitutionen in den meisten der in der Völkerwanderung ent-
stehenden Reiche und so auch speciell im fränkischen im Gros-
sen und Ganzen nach ihren eignen Anschauungen und Über-
lieferungen geordnet. Aber dennoch ist unbedingt Sybel darin
zuznstimmen,2) dass viele Einzelheiten in der Verwaltung wie
besonders die finanziellen Leistungen der Untertanen fftr den
Staat im fränkischen Reich römischen Ursprungs waren; den-
noch ist zuzugeben, dass, wie es Schm oller8) mit Recht betont
hat, die gewerblichen Einrichtungen und insbesondere die hand-
werkliche Technik der Römer auf die des Mittelalters von ausser-
ordentlichem Einfluss gewesen sind ; ebenso kann endlich durch-
aus nicht angenommen werden , dass sich die mittelalterliche
städtische Entwicklung am Mittelrhein im wirtschaftlichen ganz
') Cf. z. B. S. 227 : „Die Stadt Verfassungen de« Mittelalters wären nun und
nimmermehr aus dein Hofreeht hervorgegangen trotz allem Reichtum und
Handel der Städte, wenn nicht die Bischöfe die Träger der öffentlichen Ge-
walt in den Städten geworden wären, und der Rat allmälig in Betonung und
auf Grund grade der städtischen Angehörigkeit an diese öffentliche Gewalt
die Befugnisse derselben von dem Bischof und seinen Beamten auf sich hätte
hinUberleiten können.“
’) cf. Entstehung des deutschen Königtums 1881 S. 408—424.
*) Die Strassburger Tucher und Weherzunft. (Strassb. 1881) 8. 25, 26.
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3
so wie im Rechtssinn von der römischen ganz unabhängig ent-
wickelt hat. Dagegen spricht schon, dass wir bis zu dem recht
späten Aufblühen Frankfurts am Mittelrhein genau an den-
selben Orten städtische Niederlassungen finden, wie in der
Römerzeit. Wohl haben die drei römischen Stadtanlagen am
Mittelrhein Worms, Speier und Mainz durch die germanische
Invasion erheblich gelitten. So sehr diese Orte aber auch in Folge
der Plünderungen der Germanen und der eintretenden Unsicher-
heit der Verkehrsstrassen in Wohlstand und Bevölkerungszahl zu-
rückgegangen sein mögen, es ist doch durchaus nicht anzunehmen,
dass sie derartig von Grund aus zerstört worden sind, dass sie
dann ganz unbewohnt gewesen wären. Die Stelle des Ammia-
nus Marcellinus,1) welche vielfach*) für diese Ansicht angeführt
wird, besagt etwas durchaus anderes;*) aus allgemeiner Ab-
neigung der Germanen gegen städtisches Wesen kann eine
’) Rernm gestarum libri (ed. Gardthausen 1874) XVI 2 c 12 (a. 356):
audiens itaque Argentoratnm, Brotomagum, Taberaas, Salisonem, Nemetas et
Vangionas et Mogontiacum civitates barbaros possidentes territoria eorum ha-
bitare — nam ipsa oppida ut cimundata retiis busta declinaut — primam
omnium Brutomagum occupavit.
’) cf. Maurer Stdtvrfssng. S. 5, Schmoller Strassburga Blüte 8. 3.
*) Aus der N. 1 angeführten Stelle kann doch nur gefolgert werden,
dass die Deutschen sich 356 und überhaupt tu Ammiana Zeit noch nicht in
den von ihnen eroberten Städten niederliessen ; denn aus der an unserer Stelle
erwähnten Besetzung von Brumat durch Julian u. ebenso aus der spätem
Erzählung der Überrumpelung von Mainz im Jahre 368 (Ammian ibid XVII
10 c 1) lässt sich doch schliessen, dass die in XVI 2 erwähnten Städte nicht
schon 356 zerstört sein können cf. Gierke I 8. 252, Hegel Mainz 8. 5. Dass
Mainz völlig untergegangen, kann natürlich auch nicht aus der oft citirten
Stelle der Busspredigten Salvians geschlossen werden, welche besagt, dass
der Besuch von Theater und Circus in Mainz seiner völligen Zerstörung wegen
aufgehört habe. (Salvian de gubcm, Dei VI c 8 Auct. ant. I p 74). Dass die
wohlhabendere Bevölkerung geflüchtet war u. ebendesshalb die Spiele aufge-
hört hatten, ist ebenso wahrscheinlich, wie es unrichtig ist, in Folge von
Salvians rhetorischer Begründung der letztem Thatsache einen gänzlichen
Untergang des Orts anzunehmen. Aus der ebenfalls oft für diese Zerstörung
angeführten Stelle Hieronymi Epist 123 (Migne Patrol. XXII p 1057) aber kann
man anch nicht mehr als eine barbarische Verwüstung von Mainz schliessen ;
dabei darf man aber nicht vergessen, dass Nachrichten von Schreckensscenen
mit der Entfernung zu wachsen pflegen. Vgl. jetzt auch Schröder, Deutsche
Bechtsgeschichte I S. 124, 125; ebendaselbst auch Beispiele, dass sich die
Germanen in Köln und andern eroberten Römerstädten niederliessen.
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4
solche Zerstörung um so weniger gefolgert werden, als doch
auch weder die «panischen, noch die französischen, noch die
italienischen Städte in Folge der germanischen Eroberung aus
der Geschichte verschwinden.
Ferner ist es für die Frage, ob die mittelrheinischen Städte
in der Völkerwanderungszeit gänzlich zerstört sind, doch auch
von Wichtigkeit, dass wir nicht lange nach dieser Epoche in
ihnen Bistümer finden. Für Mainz ist uns der Bischof Sidonius
durch Venantius Fortnnatus schon für die erste Hälfte des
sechsten Jahrhunderts bezeugt.1) Was unsere andern beiden
Städte betrifft, so sind sie im Jahre 614 schon sicher Bischofs-
sitze. Werden doch in den von Friedrich aufgefundenen Akten
des in jenem Jahre abgehaltenen Pariser Concils auch ein Bischof
Berhtulf von Worms und ein Bischof Hilderieh von Speier ge-
nannt.*) Dass von den drei Städten Mainz schon im Jahre 368
einen Bischof besass, geht auch direkt aus einer Stelle Anunians
hervor.5) Nach derselben bekannte sich nämlich damals schon
der überwiegende Teil der Mainzer zum Christentum ; es ist
aber bekannt, dass im römischen Reiche jede grössere Stadt,
in der sich eine christliche Gemeinde befand, Sitz eines Bischofs
wurde. In Mainz ist wohl auch überhaupt keine Sedisvakanz
durch die Völkerwanderung eingetreten. An völlige Neugrün-
dung früher nicht existirender oder gänzlich zerstörter Bistümer
ist hier gewiss nicht zu denken. Grade, wenn wir annehmen,
dass die ganze römische Bevölkerung ermordet oder vertrieben
sei, wäre eine Neugründung der Bistümer in so früher Zeit
ganz unerklärbar.
Zu demselben Resultat führen uns Nachrichten, nach denen
Mainz und Worms schon im 8. Jahrhundert mit Mauern um-
geben sind.4) Es ist gewiss nicht anzunehmen, dass diese Be-
*) L. II c 11, 12 u. IX c 9 (X G. Anct. ant. IV p 40, 215, 216).
') Friedrich Drei Concilien (Bamb. 1867) S. 16, 55 cf. Loening, Gesell,
des deutsch. Krchnrehts (8trassb. 1878) II S. 103.
*) XVI 2 c 12 cf. Hegel Mainz 8. 6.
4) Für Mainz 8. Dronlce Codex Diplom. Fuld. (1850) No. 2 a 750: infra
murum civitatis Mogontiae, No. 6a 753: fori« immun civitatis Mogontiae
für Worms U 25a 897: infra rauros einsdem urbis constrnctam cf. auch
Poeta Saxo 8. 8. I p 243 zu a. 787 : intra Wormacine nmros.
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5
festigungen damals erst völlig neu errichtet sind;1) wissen wir
doch auch vom Niederrhein, dass mau sich dort bis ins 12. und
13. Jahrhundert im wesentlichen mit Instandhaltung der römi-
schen Stadtnramauerungen begnügte und erst von dieser Zeit
an neue aufführte. Erdwall und Pallisaden waren ja bis zum
zwölften Jahrhundert die einzigen germanischen Befestigungen.*)
Endlich werden, während wir sonst viel von Marktbegrttn-
dungeu hören, solche in unsern Städten nirgends erwähnt.
Demnach muss hier der Handelsverkehr schon vor der Zeit der
fränkischen Herrschaft begründet sein.
Alles dies weist darauf hin, dass wir keinen vollständigen
Untergang der drei inittelrheinischen Städte anzunehmen haben.
Wohl mochten, wie jetzt überall angenommen wird, die Ger-
manen die Verhältnisse des Staats und Rechts ohne jede Rück-
sichtnahme auf die römischen Einrichtungen ordnen; aber die
römischen Handwerker und Kaufleute, welche in Mainz, Worms
und Speier wohnten, sind gewiss weder sämmtlich getötet oder
vertrieben, noch zu anderm Lebenserwerb ttberzugehen ge-
zwungen worden. So haben sich einige handwerkliche Geschick-
lichkeit und einiger Handelsverkehr entschieden aus der Römerzeit
her in diesen Städten erhalten. Ebensowenig wie im übrigen Frank-
reich ist aber auch in ihnen die gesammte römische Bevölkerung in
deuZustand der Unfreiheit versetzt worden. Wardoch der Romane
nach salischem Recht im Besitz eines Wergeids und zu Heer-
und Gerichtsdienst verpflichtet, während es sich beim Unfreien
gerade umgekehrt verhielt. Wenigstens für das neunte Jahr-
hundert ist es auch sicher bezeugt, dass damals die Handwerker
ihre Waaren bereits selbständig in Worms verkauften.*) Da-
durch allein schon könnte die Annahme widerlegt werden, dass
auch in dieser Stadt zur Karolingerzeit die einzigen Hand-
werker technisch ausgebildete Diener der grossem Fronhöfe
gewesen und für den Markt erat seit dem elften Jahrhundert
gearbeitet sei.4)
Jederzeit hat sich auch, wie schon gesagt, in den drei
■) A. M. Maurer S. 6.
*) vgl. Lamprecht D. W. II 8. 514.
*) 0 17.
*) Diese Ansicht beherrscht die Arbeiten Arnolds, Nitzschs, Heuslers,
Oeerings et *. B. Heusler Urspr. 8. 99, 100.
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6
Städten einiger Handel erhalten. Insbesondere giugen von
Mainz aus mehrere Strassen nach Osten, welche die Rheinlande
mit Westfalen und Thüringen verbanden, und durch welche selbst
das slavische Osteuropa mit der rheinischen Metropole in Ver-
bindung stand. Wohl mit Recht nimmt Landau *) an, dass alle
diese Strassen älter sind, als sie sich historisch nachweisen lassen.
Sicher ist uns die Strasse nach Thüringen wenigstens schon für
das achte Jahrhundert bezeugt; zahlreiche slavische Kaufleute
zogen auf ihr nach Mainz.8) Dass wenigstens vom 10. Jahr-
hundert an Magdeburger Kaufleute den Mainzer Markt be-
suchten, sehen wir daraus, dass Mainz zu den Städten gehörte,
in denen die Magdeburger durch eine Urkunde Ottos II von
Zollabgaben befreit wurden.8) Andrerseits besuchten auch die
Bewohner unserer rheinischen Städte auf diesen Handelsstrassen
die Märkte des inneren Deutschland. Jedenfalls lässt sich aus
dem bekannten Privileg Heinrichs IV für Worms vom Jahre 1074
schliessen, dass die Wormser damals über die selbst noch un-
bedeutenderen Orte Boppart, Frankfurt, Hammerstein den Rhein
hinab und auf dem Landwege nach Sachsen zu ziehen pflegten,
wo sie in Dortmund, Goslar und Anger ihre Waren verkauften.4)
Noch wichtiger als die Landwege waren für die Handelslage
mittelalterlicher Städte die Wasserstrassen. Die drei von uns
befrachteten Orte participierten an den Vorteilen der Lage an
dem Strome, auf welchem sich, abgesehen von der Donau, der
Handelsverkehr im mittelalterlichen Deutschland am frühesten
und intensivsten bewegte. Der Lage am Rhein verdanken sie
es, dass sich in ihnen früh Angehörige des friesischen, be-
kanntlich des ersten unter den deutschen Stämmen, der eine
selbständige Handelstätigkeit trieb, niederliessen und den aus
der Römerzeit erhaltenen Handel in Flor brachten. Schon in
Karolingischer Zeit kamen friesische Kaufleute nach Worms.5)
Später bildeten die Friesen zu Worms eine eigne Gemeinde,
welche selbständig einige Mauerzinnen in Stand zu halten und
l) Ztschrft. f. d. Kultarg. Bd. I (1866) S. 575 ff., 639 ff. n. Bd. II
(1867) S. 177 ff.
*) Vita Sturmi S. 8. II p. 369 c 7 a. 736.
*) Stumpf II 660, Hans. Urkb. I No. 1.
*) U 6 6.
*) ü 17.
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7
zu bewachen hatte;1) nach ihnen sind die Friesenstrasse und
das Frieseuthor genannt.2) Noch im 13. Jahrhundert erinnern
der Name eiues Büttels Friso nnd eines Wormser Bürgers Ge-
rungus dictus Friese au die friesische Abstammung eines Teils
der dortigen Bürgerschaft.5) Auch in Mainz haben sich Friesen
schon in karolingischer Zeit niedergelassen; sie bewohnen liier
den besten Teil der Stadt.4) Dass die in Speier blülieude
Weberei auf friesische Anregung zurückgeht, lässt sich daraus
schliessen, dass, als in Gent das Feilbieten anderer Laken als
der dort gefertigten verboten wird, nur die in Friesland und in
Speier gefertigten von diesem Verbot ausgenommen werden.5)
Durch die Rheinschifffahrt kommen Worms, Speier und Mainz
auch in kaufmännische Beziehungen zu Köln und Utrecht, die
sich namentlich aus gegenseitigen Zollermässigungen und Zollbe-
freiungen erkennen lassen.5) Mehrfach haben auch aus Köln
stammende Personen in einer der mittelrheiuischeu Städte Grund-
eigentum oder Bürgerrecht erworben 7) und umgekehrt.*) Von
') Forsch, z. D. Gesch. XIV S. 398, Boehmer Font. II p 209.
*) U 71 platen Frisonum. U 57 spiza Frisonum. Spiza wohl = spicatnm,
nach Ducange „gcuus munimeuti“ und vielleicht ideutisch mit der in der
Hauerbanordnung (s. vor. N.) erwähnten Frisonum spira, die von Falk (s.
ebenda) S. 399 als Fliesensperre = Frieseupforte erklärt wird. Koester, Worms.
Annal. S. 102 dentet spiza als Manerecke.
*) U 344 u. 304.
4) Annal. Fnld. S. S. I p 403. Dagegen kann die früher für friesische
Ansiedelung in Mainz oft benutzte Stelle ans der Vita Gregorii abb. Traicet.
auct. Liudgero nicht mehr dafür angeführt werden, da nach der neuesten
Edition dieser Schrift (8. S. XV p 71 ed. Holder-Egger) das dort stehende
christianorum Fresouum auf willkürlicher Änderung der Worte oricntaliiun
Francorum beruht.
») Hans. Urkb. III 8. 478 No. 1.
•) cf. Sp. U. 70 u. Zollweistum von Speier Urkb. 8. 488.
’) In Speier finden wir einen Ratsherrn Heinrich von Köln 1286—89
u. gleichnamige 1303—27 und 1314—26, ausserdem die Bürger Spiegel, Heintze
u. Siegfried von Köln in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts, ln dieser
Zeit werden ausserdem noch ein Speirer Bürger Albert Kölner, ein publicus
notarius Spirensis Friedrich Kölner und ein Jude Jacob Colner erwähnt (cf.
Hilgard Urkb. Index s. v. Köln). In Mainz erscheint 1209 ein Gerunc de
Colonia als Zeuge (Baur, Hess. Urkb. II p 41). Cf. auch „Smutzart, burger
zu Collen“ schlicsst mit der Stadt Mainz einen Leibrentenvertrag in Mainzer
Accidental- u. Bestallungsbuch No. 1 im Kreisarchiv zu Würzburg fol 12 v.
*) In den Kölner Schreinsurkunden der Hartinsparochie finden wir
1142—56 einen Garnerus Moguntinns (Martin 2 II 18 p 29) und 1172—78
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8
den in Worms und Mainz angesessenen Juden wird die Kölner
Messe bereits zu Beginn des elften Jahrhunderts regelmässig
besucht.1) Ja, schon zwei Jahrhunderte früher erzählt uns
Einhard1) von Kölner Kauflenten, welche zu Schiff nach der
in Mühlheim am Main gelegenen Kirche der beiden Heiligen,
Marcellin und Petrus, reisen und dort grade an ihrem Feste
ankommen. Auf Hin- und Rückreise mussten sie Mainz be-
rühren. Die dort abgehaltene St. Albansmesse hat gewiss ebenso
wie die Pilgerin, von der es Einhard erzählt, auch die Kauf-
leute, in deren Begleitung sie reiste, zu längerem Verweilen in
Mainz veranlasst.
Aus dieser Nachricht Einhards geht demnach auch hervor,
dass Mainz schon im Mittelalter wie heute Rhein- und Main-
verkehr verband. Worms und Speier nahmen damals die Stelle
des heutigen Mannheim, das noch ein unbedeutendes Dorf bil-
dete, in Verknüpfung des Rhein- und Neckarverkehrs ein. Im
Jahre 1247 vereinbarten die Bürger von Speier und Wimpfen
gegenseitige Zollbefreiung.11) Mit Wimpfen und den ebenfalls
am Neckar, resp. dessen Zuflüssen gelegenen Orten Heilbronu,
Mosbach und Sinsheim schloss Speier 1309 einen Vertrag über
Unstatthaftigkeit der Schuldhaft für Schulden eines Mit-
bürgers ab.4) Auch Nürnberg stand mit Worms und
Speier im Verkehr,5) ohne dass es sich feststellen lässt, ob
man zu Lande oder zu Wasser aus der einen Stadt in die an-
dere gekommen ist. Für das erstere spricht eine Urkunde,
einen Wörnerns <le Moguntia (ibid. 3 V 36) a. einen Albertas de Spiria
(ibid. 7 V 2) erwähnt. In den beiden Bttrgerlisteu der Martinspfarre kommt
in der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts ein Dietwin, Werner und Heinrich
von Worms, circa 1130—70 Conrad n. H&rdung von Speier, ferner Reinher,
Siegfried, Conrad filins Lnbrandi de Moguntia, Godebold, Rudolf,
Bern Mogontini vor. Die gesperrt Gedruckten sind zugleich Mitglieder
der Kaufmannsgilde. Dies nach freundlicher Mitteilung Hoenigers.
l) Aronius, Regesten z. Gesch. d. Juden (Berlin 1887) No. 149; für den
Handelsverkehr zwischen Mainz und Köln vgl. auch ibid 223.
') Translatio et iniracnla S. 8. Marcellini et Petri c 17 (8. S.
XV p 263).
•) Hilgard Urkb. S. VIII N. ft.
‘) U 252.
s) vgl, Prvlg. Friedrichs n für Nürnberg § 15, 16 (B-F 1069, Gengier
Stadtrechte S. 323).
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9
welche Friedrich II 1219 für Nürnberg ausstellte.1) Dass
jedenfalls aber /.um mindesten seit Anfang des 12. Jahrhunderts
die Wormser Nürnberg besuchten, sehen wir daraus, dass sie
1112 Nürnberg den Orten hinzufügerf Hessen, in denen sie schon
früher durch kaiserliches Privileg Zollfreihe.it erhalten hatten.8)
Endlich muss noch darauf hingewiesen werden, dass unsre
drei Städte in einer von der Natur in hohem Grade begünstig-
ten Gegend Deutschlands gelegen3) sind. Schon in römischer
Zeit hatte im obem Rheinthale eine intensive landwirtschaft-
liche Cultur Platz gegriffen.4) Hier bot der durch günstige
Bodeubeschaffenheit und mildes Klima beförderte Betrieb von
Obst-, Wein- und Ackerbau Gelegenheit zu dichterer Ansied-
lung so wie schon früh zum Export der heimischen Naturprodukte.
Eine Nachricht aus dem zehnten Jahrhundert berichtet uns, dass
damals in den Kellen» des Bischofs von Lüttich vorzugsweise
Wonuser Rotwein lagerte.5) Grade in der Gegend von Worms
treffen vorzügliche Bodenzusammensetznng und güustige me-
teorologische Verhältnisse zusammen, um sie „zum eigentlichen
und bevorzugten Fruchtgarten* der ganzen oberrheinischen
Tiefebene zu machen.*) Ebenso war es sicherlich, wenn wir
die Lage unsrer drei Städte, insbes. die von Worms und Mainz,
etwa mit der Basels vergleichen, für sie von grossem Vorteil,
so nahe dem nördlichen Endpunkt der oberrheinischen Tiefebene
gelegen zu sein. Sie waren die natürlichen Stapelplätze für
den Verkehr mit dem Haudelsemporium des 10.— 12. Jahr-
hunderts, mit Köln ; demnach haben sich Worms und Mainz auch
so viel früher als z. B. Basel zu städtischem Leben entwickelt.
Zu der aus der römischen Zeit erhaltenen Haudelsthätigkeit
und der günstigen geographischen Lage kamen noch andre Um-
stände, welche das Aufblühen unserer Städte begünstigten.
’) ibid Einleitung, Gengier S. 322: cum locus ille nec habeat viueta
neque navigia.
*) U 61.
’) Cf. die schöne Schilderung von Nitzsch in: Die oberrheinische Tief-
ebene und das deutsche Mittelalter (Deutsche Studien 1879 S. 125 ff.).
*) ibid S. 128.
•) Anselmi gesta episcop. Leodiensium c 24 (S. S. VII p 202).
•) Nitasch a. a. 0. S. 128, 129.
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10
Speciell Worms musste durch die häutigen Reichsversammlungen
und Synoden, die hier insbes. in den Jahren von 763—790
stattfanden, gefördert werden. Auch nach 790, in welchem
Jahre seine Pfalz abbranilte,1) die zum mindesten im nächsten
Jahrhundert nicht wiederhergestellt zu sein scheint,*) war
Worms einer der bevorzugten Aufenthaltsorte der karolingischen
und sächsischen Herrscher. Dagegen haben wir nur sehr
wenige Zeugnisse vom Verweilen dieser Fürsten in Speier. Es
muss auch als höchst unwahrscheinlich bezeichnet werden, dass
in Speier schon in der Zeit vor den Saliern eine königliche
Pfalz bestand.*) Auch für Mainz ist das Bestehen einer
solchen erst zu Heinrichs IV Zeit sicher bezeugt,*) obgleich
hier mehrfach grosse Reichstage versammelt wurden. „Kaiser
Karl wohnte bei längerm Aufenthalt regelmässig in der be-
nachbarten Pfalz zu Ingelheim.“*)
Jedenfalls war auch die Pfalz und überhaupt das König-
tum für das Wachsen einer mittelalterlichen Stadt von weit
geringerer Bedeutung als das Bistum. Die Anwesenheit der
Könige war immer nur vorübergehend ; die grossen Kircheufeste
hingegen zogen viele Pilger, Kaufleute und Landbewohner an
bestimmten und weithin bekannten Daten regelmässig an den-
selben Ort. Mainz nicht Ingelheim, Köln nicht Aachen sind
diejenigen Plätze, welche es in ihren Territorien zuerst zu
städtischer Entwicklung gebracht haben. Fassen wir die Be-
deutung der drei Bistümer Mainz, Worms und Speier bis zum
l) Annales Einhardi 8. S. I p 177.
*) E» kann dies daraus geschlossen werden, dass von da an die Worte
„in publico palatio“ bei den in Worms ausgefertigten Königsurkunden Weg-
fällen cf. Sickel, Acta Carolinorum (Wien 1867) I p 231.
*) Das Privileg Karls d. Gr. a 788 für Bremen, aus dem z. B. Maurer
Stdtverfssng. I 9, Arnold V. G. I 23, Chronicon Gotwicense (Tegernsee 1732)
III p 49ö und auch noch Barster Speirer Mänzgeschichte (Mitt. d. Histor. Ver. der
Pfalz Bd. X 1882) S. 2 das Bestehen einer Pfalz zu Speier schliessen, ist gefälscht
s. Bettberg Kirchengeschichte II 453, Abel, Jahrb. Karls d. Gr. S. 484 ff..
Sickel Acta Carol. II S. 393 , 394. Aus der Stelle Cod. Lauresh. I 18
(= S. S. XXI p 348), die ebenfalls vielfach für die hier bekämpfte Ansicht
angeführt ist, kann nnr ein vorübergehender Aufenthalt Karls, dagegen nicht
das Bestehen einer Pfalz zu Speier geschlossen werden.
*) Hegel Mainz S. 11 mit N. 4 n. 6.
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11
Schluss der Regierungszeit der sächsischen Kaiser ins Auge,
so erhalten wir folgendes Bild der Entwicklungsgeschichte
unsrer Städte : Mainz war das hervorragendste deutsche Erz-
bistum ; „bereits im 8. Jahrhundert war die Stadt mit Kirchen,
Klöstern und geistlichen Stiftungen reich gesegnet.“ ’) Worms
war damals von weit geringerer Bedeutung. Weit zurück aber
stand, wie schon aus dem Urteil eines Zeitgenossen’) hervor-
geht, nicht nur hinter diesen beiden, sondern auch hinter den
andern deutschen Bistümern das auch in seiner wirtschaftlichen
Bedeutung erst viel später erblühende Speier.
Bis zum Ausgang der sächsischen Dynastie wirkten so die
geographischen, politischen und kirchlichen Verhältnisse zu-
sammen, um die Bedeutung von Worms und Mainz zu steigern.
Allerdings wird man keine stetig fortschreitende Entwicklung
annehmen können. Vielmehr traten gewiss auch manche
Störungen und Hemmungen des wirtschaftlichen Fortschritts
ein, so insbes. durch die Verwüstungen der Normannen.’)
Es genüge im Fortgang unserer Untersuchung zu consta-
tieren, dass die flandelsthätigkeit in unsern Städten in Folge
ihrer günstigen Lage nie ganz geruht hat. War doch auch
der Rhein, wie sich Xitzsch treffend ausdrückt, nie ganz ohne
Schiffahrt, so lange Wein an seinem obem Laufe gezogen und
Häringe an seiner Mündung gefangen wurden. Freilich, dass
in der Karolingischen Zeit die Urproduktion selbst innerhalb
der Städte wohl noch entschieden prävalierte, können wir aus
den Wormser und Mainzer Vergabungen an Lorsch und Fulda
sehen.4) Es werden hier nämlich Ackerland und Gärten, ganz
bes. auch Weingärten, innerhalb der Stadtmauern mit allen
*) ibid S. 9. Im elften Jahrhundert wird die Ansicht geäussert, der
Mainzer Erzbischof sei secundus post paparo (Hariani Scoti Chronicon S. S.
V p 547 Z. 35). Über die Bedeutung des Mainzer Erzbistums in der Hierarchie
vgl. Falk in Ztschrft. des Vereins z. Erforsch, d. Rhein. Gesch. Mainz 1868
S. 99-103.
*) s. unten S. 13 N. 2.
*) cf. B-W VIII 46—49, Giesebrecht D. K. I 169, Dttmmler Ostfr. B.
Bd. HI (1888) 8. 148 ff. 221 ff. 307.
*) D.9 a 780: dono .... II iurnales terrae arabilis et I uineam in
Wonnatia. vgl. U. 21 a 832. Dronke Cod. dipl. Fuld. (1860) Nr. 6 a 768 : ui-
neam unam infra mumm civitatis Maguntiae pubücae, ibid Nr. 80 a 786:
infra murum civitatis bortum menm.
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12
Anrechten au geteilter und ungeteilter Mark vergeben. An-
drerseits sprechen aber auch gut bezeugte Nachrichten schon
für eine grössere Handels- uud Gewerbetätigkeit in Worms
und Mainz, die man sich aber ganz wohl neben dieser Ur-
produktion denken kann. In Worms pflegte die reiche Abtei
Lorsch ihre Produkte zu Markte zu bringen ; ') nach Mainz be-
gaben sich St. Gallener Mönche, um dort wollene Tücher und
Kleider für den Klosterbedarf zu kaufen.“) Noch wichtiger
erscheint, dass, als die Rheinlande 850 von einer schweren
Hungersnot bedrängt waren, der Fuldaer Annalist deu Ge-
treidepreis zu Mainz in seinem Werke verzeichuete.3)
Als Zeichen regerer mercantiler Tätigkeit in Worms uud
Mainz kann mau es auch betrachten, dass sich in ihueu zu der
aus Römern und Frauken bestehenden Stadtbevölkerung frie-
sische und jüdische Ansiedler gesellten. Sind es regelmässig
Einwandrer aus wirtschaftlich höher entwickelten Gegenden,
welche Aktivhaudel in noch ganz überwiegend agrarischer
Tätigkeit ergebenen Ländern Ins Leben rufen, so haben in
Deutschland bekanntlich Juden und Friesen die Aufänge eigner
Handelstätigkeit entwickelt.4) Ohne hier auf die Frage ein-
zugehen, ob nicht wie in Cöln auch am Mittelrhein schon zur
Röraerzeit Juden gesessen, 5) wollen wir nur constatieren, dass
es jedenfalls unter den sächsischen Kaisern in Worms und
Mainz grössre jüdische Ausiedlungeu gab.6) Über die friesischen
Niederlassungen in unsera Städten ist schon obeu gesprochen.7)
Mit dem Regierungsantritt der Salier trat insofern eine
Änderung des wirtschaftlichen Rangverhältnisses unserer drei
Städte ein, als Speier durch besondre Verhältnisse die beiden
‘) U 24 Auch das Kloster Limburg sandte später dorthin seine Pro-
dukte nun Verkauf cf. tlrk. Conrads II a 1035 (Stumpf 2070, Acta Tkeod.-
P&lat. t VI p 276)
*) S. S. II p 97.
*) S. S. I p 366 a 850: gravissima fames Germauiae populos oppressit,
maxime circa Pennin habitantes; nara nnus modius de fmmcuto Mogontiaci
vendebatnr decem siclis argenti.
‘) Jnama-Sternegg D. Wg. S. 447, 448.
6) Aronius Regesten r.. O. d. Juden N. 1 verneint diese Frage, aber mit
ungenügendem Beweisgründe.
•) ibid. N. 121, 128, 144, 149.
S. oben S. 6, 7.
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13
anderen, hinter denen es bisher weit zurückgeblieben, fast über-
flügelte. Diese Verändrungen hingen eng mit dem Wechsel der
Dynastie zusammen, indem das neue Herrscherhaus Bistum und
Stadt Speier aufs eifrigste begünstigte.
Der Ruhm eines Herrschers oder einer Dynastie schien im
10. und 11. Jahrhundert durch die Errichtung von Bistümern
besonders erhöht und gefördert zu werden. So hatte Otto I
das Erzbistum Magdeburg, Otto III das Erzbistum Gnesen,
Heinrich II das Bistum Bamberg gestiftet. Bes. Heinrich II
hatte bei der Errichtung seines Bistums schon mit grossen
Schwierigkeiten zu kämpfen gehabt, da er nur durch Ver-
kleinerung bestehender Diöcesangebiete zu seinem Ziele ge-
langen konnte. Demnach mochten die Salischeu Herrscher
wohl in dem Bewusstsein der Schwierigkeiten der Errichtung
eines neuen Bistums statt dessen lieber durch besondre Be-
günstigung eines bestehenden dieselbe Sicherung ihres Andenkens
zu erreichen suchen. Stand doch überhaupt jede vornehme
Familie im Mittelalter mit irgend einer Kirche oder einem
Kloster in Verbindung, indem sie ihren Mitgliedern dort ein
würdiges Begräbnis zu sichern suchte und durch Schenkungen
und Stiftungen für ihre ewige Seligkeit sorgte ; zugleich wurden
dann in der Chronik eines solchen Stiftes die Thaten der sie
begünstigenden Familie aufgezeichnet.,) Dass die Erwägung,
den Ruhm ihrer Dynastie zu fördern, die Salier vorzugsweise
bei der Begünstigung des Speirer Bistums leitete, ist mit
klaren Worten schon von einem Zeitgenossen, Norbert von
Iburg, in seiner Biographie Bennos von Osnabrück ausge-
sprochen.8) Die Begünstigung vou Speier musste abgesehen
davon, dass es den alten Stammsitzen der Dynastie am nächsten
*) Wattenbach Deutsche üeschiclitsqnellen II S. 302.
’) S. S. XII p 62 c 4 : Eo tempore, quo nrbs Spira in Rheni litore po-
sita panpcrcnla et vetustate collapsa episcopitun iam esse desierat, impera-
torum, qui nnnc ibi conditi iacent, Studio et religione, nt nunc ibi cernitur,
reformata convainit. Hoc enim eisdem piis imperatoribug videbatur ines.se
laudabile Votum, ut quia in regno fnndare episcopatnm ex suis divitiis occa-
sionem non habebant, hunc, qui iam paenc nnllus erat, facultatibus suis rcs-
tanrare snaeqne meinoriae dedieare deberent. Of. auch Wipo Vita Cnonnuli
imper. c 3!» (S. 8. XI p 274).
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14
lag, sich auch grade dadurch empfehlen; dass seine Macht und
sein Besitz hinter denen aller übrigen Bistümer weit zurttck-
stauden. Wie schon Norbert sagt, bezeugte grade wegen der
frühem Dürftigkeit Speiers sein späterer Glanz fast wie der
eines neu errichteten Bistums die Freigebigkeit und Frömmig-
keit der Salier. Demgemäss vermehrten denn auch Conrad II
und Heinrich III mit königlicher Freigebigkeit das Vermögen
des Speirer Bistums;’) seinen Dom wählten sie zur königlichen
Begräbnisstätte, die Stadt selbst bevorzugten sie durch häu-
figen Aufenthalt. Selbst seitdem Heinrich III und mehr noch
Heinrich IV dem weit entfernten Goslar ihre besondre Für-
sorge zugewandt, blieb doch die Speirer Kirche in engem Ver-
hältnis zum Salischen Herrscherhause. Heinrich IV nannte die
Speirer Canoniker seine Brüder und stattete sie mit besondern
Privilegien aus;*) ja lebensmüde wünschte er in ihrer Mitte
seine Tage zu beschlossen.5) Vielfach wurden auch Personen
aus der Umgebung des Königs auf den Speirer Bischofsstuhl
gebracht,4) und vielfach finden wir grade Speirer Prälaten von
den Salischen Herrschern zu wichtigen Ämtern erhoben.5) Der
Bau des Doms und des St. Guidostifts geschahen vornehmlich
auf Kosten Conrads II und Heinrichs HI.*)
Durch diese mannigfache Begünstigung seitens der Salier
war Speier in der ersten Hälfte des zwölften Jahrhunderts den
Nachbarstädten an Bedeutung mindestens gleichgekommen ; ja
ein ausländischer Chronist bezeichnet es sogar zu dieser Zeit,
•) ct Stufnpf 1855, 1894, 1963. 2030, 2215, 2305-12, 2358, 2497.
B resslau Conrad U Bd. II S. 388. — Zu den Begünstigungen der Speirer
Kirche ist auch die Übertragung der Gebeine des heiligen Guido von Parma
nach Speier durch Heinrich III zu rechnen s. Herimanni Augiensis Chronicon
S. S. V p 127 cf. Steindorff, Heinrich III Bd. H S. 8.
*) Sp. U 13. Über Heinrichs IV Sorge für Fortsetzung des Domhaus cf.
Helmold Chronica Slavornm lib. I c 33 (S. S. XXI p 36), Otto Frising. Gesta
Frider. Imper. 1 I c 10 (S. S. XX p 358), Vita Heinrici Imper. c 1 (S. S.
XII p 271).
*) Helmold 1. c.
*) Kernling, Gesch. I S. 284 ff, 296 ff, 317 ff.
•) ibid. S. 279 N. 507.
•) Bollaud Acta Sanctomm Mürz III p 912; Heriin. Aug. Chron. S. S.
V p 127.
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15
allerdings mit sichtlicher Übertreibung, als metropolis Ger-
maniae.1)
So kann der Wechsel der Dynastie durch die damit ein-
tretende königliche Begünstigung des Bistums als für die Ge-
schichte der Stadt Speier Epoche machend betrachtet werden.
Auch in Mainz *) und Worms s) fand in dieser Zeit eine regere
ßauthätigkeit statt, die auch auf die wirtschaftliche Ent-
wicklung dieser Städte fördernd einwirken musste. Von
hervorragender Wichtigkeit ist es aber, dass uns in der
ersten Hälfte des elften Jahrhunderts Spuren eines eignen
Kaufmaunsrechts am Mittelrhein entgegentreten ; freilich ist es
uns um diese Zeit fast nur durch die Opposition, welche es
findet, erkennbar. Auch scheint wenig später mit der Herein-
ziehung ehedem selbständiger Aussenbezirke in die Communal-
verwaltung unsrer Städte begonnen zu sein.
Diese beiden Erscheinungen, die Bildung eines besonderen
Handelsrechts und das communale Hineinwachsen früher bäuer-
licher Bezirke in das Stadtgebiet, müssen noch ins Auge gefasst
werden , ehe zur Erforschung des Erwerbs politischer Rechte
seitens der Stadtbehörden Ubergegangen werden kann.
Capitel II.
Entstehung des Kaufmannsrechts.
Die Wirtschaft des deutschen Volks hat sich nur langsam
aus einer rein bäuerlichen Cultur zu entwickelteren Formen
emporgehoben. Demgemäss ist auch das im fränkischen Stam-
mesgebiet auf dem Lande geltende Recht bis ins elfte Jahr-
hundert ein Recht einfacher Naturalwirtschaft gewesen und hat
bis dahin, ja bis ins 12. Jahrhundert hinein, aus den gering
entwickelten Anfängen des Verkehrs nur wenig Anstoss zur
*) Ordericus Vitalis ad a. 1125 (S. S. XX p 76).
*) vgl. über Bantb&tigkeit des Erxb. Willigis (976 — 1011) B-W p XLI
nnd Erzb. Aribo’s (1021—31) B-W p XLIX.
*) Über Banthätigkeit Bischof Bnrchards von Worms (999—1025) s.
Arnold I S. 53—62.
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16
Fortbildung erhalten.1) Eher noch haben kirchliche Anschau-
ungen und politische Einflüsse zur Begründung neuer Rechts-
sätze und Änderung der überlieferten geführt. Dagegen sind
von dem Augenblicke an, wo der Verkehr eine grössere Be-
deutung gewinnt, in deu Städten rasch besondre Rechtssätze
entstanden, welche schliesslich zur Absondrung eines besondren
Rechtskreises, des Stadtrechts, vom geltenden Landrecht führ-
ten. Die Ausbildung dieses Stadtrechts tritt uns ganz beson-
ders klar in den Kölner Schreinsurkunden schon seit dem An-
fang des 12. Jahrhunderts entgegen.
Besitzen wir auch, wie in der Einleitung hervorgehoben
ist, für die mittelrheinischen Städte nichts, was diesem um-
fassenden Quellenmaterial bürgerlichen, uiclit geistlichen Ur-
sprungs auch nur entfernt gleichkäme, so sehen wir doch auch
hier ein vom allgemeinen abweichendes Recht an den hervor-
ragenden Verkehrsplätzen entstehen, lange ehe dieselben Stadt-
verfassungen in dem Sinne des Erwerbs politischer Rechte sei-
tens des Rats erhalten. Schon für deu Beginn des 11. Jahr-
hunderts können für Worms die Anfänge städtischer Rechts-
entwicklung constatiert werden. Allerdings sind ihre Spuren
in dieser Zeit nur in einem ganz und gar von geistlicher Ge-
sinnung erfüllten Gesetze, den leges et statuta Burcliardi von
1024,*) zu erkennen. Vielfach3) ist zwar ausgesprochen, dass
Burchard überhaupt und grade auch durch dies Gesetz die
städtische Entwicklung mächtig gefördert habe. Es muss auch
durchaus anerkannt werden, dass die Feststellung der Rechts-
ordnung und die grossen Bauten in der Stadt, wie ganz speciell
auch die Instandsetzung der Mauern sich dem commerciellen
Gedeihen der Stadt nützlich erwiesen haben. Die leges et
■) cf. Hensler, Instit. d. deutsch. Priv. Rs. I S. 25: „Zunächst steht
ausser Zweifel, dass das Volksrecht direkt in das Landrecht ausläuft. Das
alte Stammesrecht ist jetzt .... selbst territorialisicrt, Landrecht geworden,
die lex geutis Francorum oder Saxonnm ist das Recht fränkischen oder
sächsischen Landes. Es ist kein licn geartetes Recht, sein Inhalt ist der des
alten Volksrechts.“
*) U 48, cf. ancli die conmientierte Ausgabe von (lengler (Erlangen 185i>);
über Name und Datierung dieser Rechtsquelle s. unten Anhang 2, über ihr
Geltungsgebiet unten Cap. III.
*) Vgl. Arnold V. G. I 62 ff., Nitaeh Minister. S. 131, 132. Köster S. 5,
Sclmnbe Worms in Z. f. Gesch. d. Oberrh. N. F. III S. 258.
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17
statuta aber enthalten in keiner Weise eine Beförderung der
städtischen Entwicklung; für die Änderung der Rechtsinstitu-
tionen durch die neuen wirtschaftlichen Verhältnisse, wie sie
sich damals schon im Wege des Gewohnheitsrechts vollzogen
hatte, fehlte Burchard entschieden das Verständnis. Dies würde
schon aus dem einen Beispiel des hier zunächst zu besprechen-
den tit. 19 des erwähnten Gesetzes hervorgehen. Derselbe
lautet :
Habuerunt et hoc in consuetudine, si quis alteri pecuniam
snam praestiterat, redderet quantum voluisset, et quod noluisset
cum iuramento negaret. sed ut declinentur periuria, constituimus,
si ille qui pecuniam suam praestiterat, iuramentum eius pati
nolnerit, ipse contra eum duello pugnaturus negatam pecuniam
acquirat, si voluerit; si autem tarn digua persona est, qui
pugnare cum eo pro tanta re dedignetur, vicariumsuum ponat.
Es war also auch in Worms Sitte geworden, dass eine
Klage um Darlehnsschuld durch Eid des Beklagten unwirksam
gemacht werden konnte; und zwar konnte dieser die Rück-
zahlungspflicht auf diesem Wege gänzlich oder, wenn er über-
zeugt war, nicht die ganze eingeklagte Summe zu schulden, in
Rücksicht des betreffenden Teils von sich abwenden. Das war
eine bedeutende Änderung des altgermanischen , noch in den
Karolingischen Capitularien *) herrschenden Rechts, nach wel-
chem der Kläger, der den Beklagten nicht zum Eide kommen
lassen wollte, stets das Kampfordal beantragen konnte, mochte
er nun die ganze Forderung oder deren Höhe in Frage stellen.
Sicher ist diese Änderung des Processrechts aus den Rechts-
anschauungen und Rechtsbedürfhissen kaufmännischer Kreise
hervorgegangen.
Bereits in den für einzelne besonders privilegirte Kauf-
leute ausgestellten Urkunden Ludwig d. Fr. findet sich die Be-
stimmung, dass man den Inhaber nicht zum Gottesurteil heraus-
fordem dürfe.*) In den ersten Privilegien, welche sich städti-
sche Communen verschaffen, lassen sie sich überall das Recht
erteilen, dass ihre Bürger von der Verpflichtung zum gericht-
*) Siegel, Gesch. d. deutsch. GerichtsvTfhms. (Giessen 1857) S. 171, 202 ff.,
215 ff., v. Bethmann-Hollweg, der gern). -romanische Civilproc. im Ma.
Bd. II (Bonn 1873) § 88 S. 168, 169.
*) Form, imper. 30 (L. L. V ed. Zenmer p 310).
Ko eh ne, Ursprung der St&dtverf&ssung in Worms, Speier und Mainz. 8
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18
liehen Zweikampf befreit sind. Dies ist in ganz gleicher Weise
in England,1) wie in Flandern,*) in Frankreich,3) wie in Italien
und Deutschland4) der Fall. Auch in den mittelrheinischen
Städten ist ganz ähnliches walirzunehmeu. So lassen die Worm-
ser in das ihnen von Otto IV erteilte Privileg zugleich mit der
Bestätigung des bei ihnen herrschenden Gewohnheitsrechts noch
ausdrücklich die Bestimmung aufnehmen, ne quis extranens ali-
quem de prefatis civibus nostris vel aliquis civium aliquem ex-
traneum possit in duello impetere.5) Dass aber nach dem
Wormser Gewohnheitsrecht der Zweikampf schon früher völlig
abgeschafft war, sehen wir aus dem von den Bürgern herge-
stellten falschen Privileg Friedrichs I.6) Dasselbe ist nach-
weislich um die Wende des 12. und 13. Jahrhunderts entstan-
den und giebt, wo nicht ein sicheres Bild früherer Zustände,
so doch einen festen Anhalt zur Beurteilung des derzeit in der
Stadt geltenden Rechts. Hier findet sich nun folgende Be-
stimmung: Niemand soll in Worms gegen einen Einheimischen
oder Fremden gerichtlichen Zweikampf beantragen können.
Wohl ist diese Abschaffung des Kampfordais in Mainz erst
durch Ludwig den Baiern,7) in Speier seitens des Reichsober-
hauptes urkundlich gar nicht festgestellt worden. In der That
aber fand auch hier der Ausschluss dieses altgermanischen, in
') Bigelow, History of procedure in England (London 1880) p. 296.
’) Warnkönig, Flandr. Staats- nnd Rsgesch. (Tilbing. 1835) I S 357
Nr. 6, II S. 138 Nr. 7 ff.
’) Schüffner, Gesell, d. Rchtsvrfssng. Frnkrchs. Bd.II (Fmkf. 1849) S. 215,
Warnkönig Fruz. Rsgesch. Bd. III (Basel 1846) S. 294 ff
4) cf. die von Goldsclimidt Handbuch des Handelsrechts (Stuttg. 1875)
8. 368 N. 5 und von Wagner Haudbuch des Seerechts (Leipzig 1884) S. 35
N. 2 gebrachten Beispiele.
•) U 110.
•) U 73. Die Unechtheit dieser Urkunde hat Stumpf (Sitzungsber. d.
Akad. d. Wiss. zu Wien Bd. 32 (1860) S. 603—638) erwiesen. Neuerdings
hat Schaube Worms Zschr. f. G. d. Oberr. N. F. III S. 276—286 sich be-
müht. zu zeigen, 'lass nur die Zengenreihe willkürlich zusammengesetzt,
die uns erhaltene Urkunde aber eine Abschrift des Originals «ei. Die
Widerlegung dieser Ansicht folgt weiter unten.
Hegel Mainz S. 142.
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19
ritterlichen und bäuerlichen Kreisen ') lange üblich gebliebnen
Beweismittels in der öfteren Bestätigung der guten Gewohn-
heiten der Stadt und dem Ausschluss auswärtiger Gerichts-
barkeit bereits sehr früh officielle Anerkennung. Im 14. Jahr-
hundert galt es dem kleinen Kaiserrecht8) als allgemein aner-
kannter Rechtssatz, dass der Stadtbürger der Forderung zum
gerichtlichen Zweikampf nicht unterworfen sei.
Für Burchard lag der Grund zur Wiedereinführung des
Zweikampfs in religiösen Bedenken gegen das Beweismittel des
Eids, das er im weltlichen wie im geistlichen Process nach
Möglichkeit zu beschränken suchte.8) Die häufige Anwendung
und grosse Wertschätzung dieses Beweismittels schien ihm eine
Begünstigung des Meineids.4) Jedenfalls ist aber in dieser
Reaktion gegen die von der Wormser Bevölkerung schon da-
mals eingeführte Beschränkung des Zweikampfs ebenso wenig
eine besondere Begünstigung des Kaufmannstandes wie ein Ver-
ständnis für seine Interessen zu erblicken. Trotz Bnrchards
Bestimmung haben sich ja im Wormser Stadtrecht die schon
zu seiner Zeit z. T. vollzogene Abschaffung des, im Han-
delsprocess schlechterdings unbrauchbaren, Beweismittels des
Kampfordais und seine Ersetzung durch den Eid erhalten.
Für uns aber ist hier gerade das, was Burchard an der Rechts-
bildung tadelt und rückgängig zu machen sucht, ein wichtiges
Zeichen eines sich am Mittelrhein entwickelnden besonderen
Handels- und Stadtrechts.
') vgl. die häufige Erw&lmuug desselben in den Weistiimcrn bei (trimm
Wstmr. i. B. dem des Fronhofs zu Kotzheim (1610) I S. 863, ferner I 305,
II 213.
*) ed. Endemann (Cassel 1846) S. 224.
*) Diese Abneigung gegen das Beweismittel des Eids tritt auch in den
auf Veranlassung Bnrchards gefassten Beschlüssen des Coneils von Seligenstadt
(gedr. bei Hirsch-Bresslan Heinrich II Bd. III S. 350, 351, c 7 u. c 14) hervor,
wo bei kirchlichem Prozess über Ehebruch statt des Eids Gottesurteil einge-
führt wird cf. Harttuug in Forsch, z. D. G. XVI S. 592, 593. In den leg. et
stat. wird eine Bestimmung ausdrücklich folgendcrmassen motivirt : ut in Om-
nibus locis ubicumque tieri possit, declineutur perinria (tit 12).
*) vgl. Schluss der vorigen Note. Eine ganz ähnliche Tendenz, aus kirch-
lichen Gesichtspunkten den Eid als Beweismittel durch Ordalien zu ersetzen,
um dadurch dem Missbrauch des Eides entgegenznwirken, ist auch im Kölner
Dienstrecht nachzuweisen cf. Frenstlorff in Mitteil, aus dem Stadtarch. zu
Köln Bd. I (1883) Hft. 2 S. 51.
**
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20
Ein weiteres Zeichen hierfür enthält meiner Meinung nach auch
der dem eben besprochenen unmittelbar folgende Titel, der zu den
wenigen gehört, in welchen (wohl meist in Anlehnung an schon
vorhandenes abweichendes Gewohnheitsrecht) für die Stadt an-
dere Bestimmungen als für das übrige Herrschaftsgebiet des
Bischofs getroffen sind. Dieser tit. 20 lautet:
Si quis in civitate Wormatia duello convictus ceciderit,
sexaginta solidis vadetur,1) extra civitatem vero infra familiam,
si in duello occubuerit, illi, quem impugnaverit, pro pugna iniuste
illata suam iustitiam tripliciter componat, bannum episcopo per-
solvat, aduocato viginti solidos tribuat, aut cutem et capillos
amittat.
Gengier *) fasst diese Stelle so auf. dass in derselben im
Anschluss an den vorangehenden Titel nur die Bestrafung des
im Zweikampf unterlegenen Klägers angegeben wird. Er und
Arnold*) meinen, dass das Unterliegen im Zweikampf nach
dieser Stelle in der Stadt bloss die Verurteilung zum Banngeld
von 60 sol. an den Bischof nach sich zieht, während auf dem
Lande auch noch die verdreifachte Frevelbusse an den Sieger
und das Vogtsgewedde von 20 sol. gezahlt werden müsse.
Der Grund dieser Verschiedenheit liegt nach Gengier und Ar-
nold darin, dass in der Stadt der Sieger beim Zweikampf keine
Aussicht mehr auf eine Busse des Besiegten haben sollte; so sei
indirekt ein Zwang geübt worden, andere Beweismittel, als den
Zweikampf, zu wählen. Auf diese Weise habe man eine Ver-
minderung der Kampfordale in der Stadt erreichen wollen.
Gegen diese Auslegung hat Heusler4) eine Reihe von Einwen-
dungen erhoben. Er fasst den Titel so auf, dass der Unterliegende
in der Stadt 60 sol, „auf dem Lande den bischöflichen Bann (5
sol?), dem Vogt 20 sol und dreifach dem Gegner seine iusti-
tia büssen solle.“ So sei also in der Stadt eine höhere Busse
für das Unterliegen im Zweikampf verordnet, um von diesem
abzuschrecken. Auf dem Lande habe ja der Unterliegende 25,
l) So Boos nach allen Handschriften. Im Sinne ist das jedenfalls = va-
dietnr, das Gengier Hofreoht a. a. 0. hat.
*) Hofrecht S. 24, 26.
*) V G. I 63.
4) Ursprung S. 121.
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21
in der Stadt (>0 sol zu leisten gehabt ; *) die Zahlung der
iustitia au deu Gegner sei iii beiden Fällen notwendig gewesen
nnd nur deshalb neben der hohen Bannbusse nicht ausdrück-
lich erwähnt worden, weil sie sich eben von selbst verstan-
den habe.
Mit Hecht verwirft Heusler die Arnold-Gengler’sche Argu-
mentation als für die Denkweise jener Zeit viel zu reflectiert.
Fügt er dann die Frage hinzu, ob der Unterliegende in der
Stadt von der Zahlung der Busse frei war, so übersieht er,
dass Gengier den Titel für nur auf das Unterliegen des zum
Zweikampf herausfordernden Klägers bezüglich hält und für
diesen allerdings die Frage verneint. Unser Titel bezieht sich
aber, wie aus dem si qnis am Eingang desselben folgt, ebenso
auf den im Zweikampf unterliegenden Beklagten wie auf den
Kläger. Die Geuglersche Auffassung ist also unmöglich. Die
Heuslersclie aber führt zu dem ganz unannehmbaren Resultat,
dass auf dem Lande an den Vogt eine vierfach höhere Busse
als an den Bischof gefallen sei. Vor allem aber ist gegen
Heuslers Erklärung und zugleich auch gegen die Arnolds und
Genglers anzuführen, dass weder in den leges et statuta nocli
in der sonstigen gesetzgeberischen Thätigkeit Burchards irgend
ein Streben nach Beseitigung des Zweikampfs bemerkbar ist.
Ganz im Gegenteil giebt er ja demselben vor den wichtigsten da-
neben in Betracht kommenden Beweismitteln, Parteieid und
Zeugeneid, überall den Vorzug.*)
Mir scheinen alle Schwierigkeiten fortzufallen, wenn man
vadiari hier nicht in dem übertragenen Sinne von „zahlen,“
sondern in dem eigentlichen des „Bürgschaft-Leistens“ nimmt.
Wir können dies umsomehr, als in tit. 32 unseres Gesetzes va-
diari unzweifelhaft in diesem Sinne gebraucht wird.*)
Dann erkennen wir in unserem Titel 20 eine die gewohn-
heitsrechtliche Entwicklung bestätigende Begünstigung des
Kaufmanustandes. Während ausserhalb der Stadt die ent-
*) ähnlich fasst auch Gierke I S. 160 N. 16 die Stelle auf; er meint,
dass in der Stadt 60, auf dem Lande 20 sol. zu zahlen gewesen seien.
*) cf. oben S. 19 mit N. 8 n. 4.
*) Hier heisst es: si quis . . furtum fecerit ... et superari potcst,
quod aut in macello pnblico aut in conventu concivium debitori (= creditori)
vadiatus sit supra dictum furtum.
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22
ehrende Strafe an Haut und Haar eintrat, wenn nicht die
durch unglücklich verlaufenes Kampfordal verfallenen Geld-
bussen sofort gezahlt wurden, konnten sich die Stadtbewohner
davor noch durch Bürgschaftsbestellung sichern. Diese Anord-
nung war gewiss zum Vorteil der bischöflichen Kasse erlasseu
und lässt uns bereits auf eine grössere Creditfähigkeit der
Städter gegenüber den Landbewohnern schliessen.
Was die anderen speziell für die Stadt erlassenen Bestim-
mungen anbetrifft, so kommen zunächst zwei strafrechtliche in
Betracht. Nach tit. 28 sollen gewisse in der Absicht, einen
Menschen zu ermorden, vorgenommene Handlungen, wie Schwert-
zücken und Bogenspannen, sobald sie innerhalb der Stadt ver-
übt sind, eine Strafe und zwar eine solche von 60 sol. nach
sich ziehen. Nach tit. 27 soll dieselbe Strafe auch dann ein-
treten , wenn jemand einen andern auch ohne Tödtungsabsicht
zu Boden geschlagen hat.
Ob wir in diesen Bestimmungen die Ausdehnung bisher für
den Marktverkehr geltender Verordnungen auf die ganze Stadt
resp. die Anerkennung einer dahin gehenden Entwicklung zu
sehen haben, oder ob die beiden Titel kanonistischen Anschau-
ungen entsprungen sind, deren Durchführung in der Stadt
leichter als auf dem Lande erschien, muss dahingestellt bleiben.
Auch mit dem städtischen Immobilar - Sachenrecht beschäf-
tigt sich das Gesetz Burchards. Es ist bekannt, von welcher
Wichtigkeit für die ganze städtische Entwicklung die recht-
liche Freigebung des Immobilienverkehrs geworden ist, indem
neben und zuletzt an die Stelle der Leihe nach Hofrecht die
Leihe nach Stadtrecht tritt. Der ohne hofrechtliche Gebühren
sich vollziehende Umsatz nach Stadtrecht war ja deshalb für
die gesammte städtische Entwicklung von so grosser Bedeutung,
weil die Verpfändung der Immobilien den in Folge des Nicht-
übergangs der Schulden auf den Erben wirtschaftlich unzu-
reichenden Personalcredit ersetzte.
Was zunächst die Befreiung des hofrechtlich gebundenen
Grundbesitzes anbetrifft, so steht das Gesetz Burchards darin
noch in den Anfangspunkten der Entwicklung. Allerdings ent-
hält tit. 26 eine speciell die Stadt betreffende Bestimmung,
welche wenigstens die erste Etappe vom hofrechtlich gebund-
nen Erbzinsgut zu einer freiem Gestaltung des Leiheverhält-
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23
nisses als zuriickgelegt erscheiueu lässt.1) Niemand soll näm-
lich von dem in der Stadt zu Erbzins besessenen Grundstücke
vertrieben werden können, der nicht die Zinszahlung 3 Jahre
hindurch unterlassen und sie auch nach Ladung zu drei echten
Dingen und Mahnung auf denselben nicht nachgeholt habe. Auch
dann hängt es noch von dem bischöflichen ßeamteu ab, ob das
Zinsgut wegen Säumigkeit in der Zinszahlung confisoirt wird.*)
Dagegen finden wir in demselben Titel noch ein ausdrückliches
Verbot, an dem zu Hofrecht empfangnen Grundstück Veräus-
serungen vorzunehmen.*) Für solche scheint der Verkauf eines
Hauses mit Zurückhaltung des übrigen Hofraums, auf dem noch
andere Häuser errichtet wurden, typisch gewesen zu sein. In
Folge des Wachstums der Stadt mochte es ja vielfach dem Iu-
haber eines Zinsgrundstücks nützlicher erscheinen, Teile des-
selben zu Wohnzwecken zu verkaufen als den ganzen ihm über-
tragenen Platz für seine Hauswirtschaft zu nutzen. Die aus
solcher Teilung hervorgehende Gefährdung des Zinses lag
freilich nicht im Interesse des Grundherrn, und Bureliard ver-
bot deshalb die Teilung der von ihm ausgeliehenen Grundstücke
bei Strafe des Verlustes derselben. Dass aber grade im Mittel-
alter die Entwicklung auf immer grössre Teilung der Hofstätten
ging , lässt sich aus den einschlagenden Verhältnissen in Köln
schliessen, wo mehrere Häuser unter einem Dach sicher be-
zeugt sind.4)
*) Über die Bedeutung der Erbleihe s. insbes. Arnold, Eigeutnm S. 34
ff., S. 54 ff., vgl. auch Hoeniger in Jabrb. f. National»!;, u. Statistik herausg.
v. Conrad Bd. 42 S. 570 ff. Nach Burchards Gesetz gab es kein zu Erbleibe
ansgetanes bischiifliches Gut, das nicht auch dem Hofrecht, unterstellt gewesen
wäre, wie Cap. III S. 34, 35 gezeigt werden wird.
*) Tit 26: Lex erit concivibus, nt si qnis in civitate hereditalem are-
am habuerit, ad manns episcopi diiudicari non poterit. nisi tres annos censum
et aliam suam iustitiam inde supersederit, et post ho» tres annos ad triu legi-
time placita invitetnr, et si snpersessum ius pleniter emendare voluerit. ipse
eam sicut antea possideat. Dass die, hier nnr den städtischen Censnaleu
gemachte, Bewilligung sich auch in ländlichen Hofrechten findet, aber das
hinzngeftigte poterit noch die Möglichkeit weiterer Nachsicht, in der Zins-
forderung enthält, hat schon Nitzsch S. 231 mit Recht betont.
*) Si domnm in civitate vendiderit, aream perilat.
*) cf. Hoeniger, Urk. u. Akten d. Kolumba-Kirchspiels zn Köln (Annalen
d. hist. V. f. d. Niederrh. XLVI) S. 100 N. 117 ff., S. 103 N. 216 ff. Über die
bes. auch in Basel nachweisbare Tendenz der Teilung des Grundeigentums
„bis zur äussersten Grenze des Möglichen“ cf. auch Arnold Eigentum S. 182—184.
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24
Eine andre ebensowohl für die ländlichen wie für die städ-
tischen Hörigen erlassene Bestimmung Burchards verbietet den-
selben, Grundstücke, sogar solche, die sie selbst von Freien gekauft
haben, noch an andre als ihre Mithörigen zu veräussern.1)
Allerdings wurde der Einfluss grade dieser Bestimmungen
auf die städtische Entwicklung wohl dadurch gemindert, dass
damals die in die Stadt zuziehende freie Bevölkerung ihre Frei-
heit meist aufgegeben und den Eintritt in die bischöfliche Hof-
genossenschaft nachgesucht zu haben scheint. Dass die Zahl der
damals in die bischöfliche Hofgenossenschaft neu aufgenommenen
Personen recht bedeutend gewesen sein muss, geht aus einer Urkunde
Azzechos, des Nachfolgers Bischof Burchards, hervor.*) Azzecho
schenkt darin der Custodei den Todfall derer, welche in der
Zeit von seiner Ordination bis zu seinem Tode in die bischöf-
liche Hofgenossenschaft neu eintraten. Nach seiner Urkunde
konnten dies entweder freie Personen sein, welche sich selbst
dem heiligen Petrus tradiert, oder unfreie, welche von ihren
Herrn freigelassen und dem Heiligen übergeben waren.*) Offen-
bar handelte es sich hier um fremde Ansiedler, welche, früher
frei, die Censualenstellung der Freiheit vorzogen, oder, von Ge-
burt unfrei, sich durch Vermittlung der Kirche von ihrem frühem
Herrn freikauften und damit in die kirchliche familia ein-
traten.
Kehren wir nun zu Burchards Gesetz zurück, so wird nach
den obigen Erörtrungen nicht mehr zugegeben werden können,
dass dasselbe die städtische Entwicklung in hervorragendem
Masse gefördert hat. Wohl lässt sich aus den leges et sta-
tuta erkennen, dass bereits damals am Mittelrhein der gericht-
liche Zweikampf oft durch Parteieid ersetzt wurde, eine Er-
scheinung, in welcher nach der ganzen Entwicklung der auf
germanischen Grundlagen erwachsenen Rechte kaufmännischer
Einfluss erkennbar ist; ausserdem war in der Stadt der Besit-
zer eines hofrechtlichen Zinsgrundstücks günstiger gestellt als
*) tit 21 : Si quis ex familia sancti Petri praedium . . . . a libero homine
coniparaverit vel aliqno modo acquisiverit, extra familiam neque cum ad-
vocato neque sine advocato nisi commutct, dare non liceat.
*) U 51.
*) Qui . . vel sponte ex libertate se beato Petro tradiderunt vel eervi-
tute liberati aliorum traditione venenmt.
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25
auf dem Lande, und in ihr winden auch gewisse Friedbrüche
schärfer bestraft, worin ebenfalls Anfänge der spätem städti-
schen Rechts-Entwicklung zu sehen sind.1) Demnach lässt sich,
znmal im Mittelalter die Bezeichnungen Städter und Kaufmann
oft identisch gebraucht werden,*) schon im elften Jahrhundert
die Existenz eines besondern Stadtrechts oder Kaufmannsrechts
in Worms constatieren. Nur ist dieselbe durchaus nicht etwa
Burchards Einwirkung zuzuschreiben. Während sich unter den
vermögend gewordnen Kaufleuten der Stadt bereits neue und
von den nnter den ländlichen Hörigen der Kirche geltenden
ganz abweichende Normen gebildet hatten , wollte grade
Bnrchard, dass ein und dasselbe Gesetz allen von St. Peter abhän-
gigen Personen vor Augen stehend, über vermögende und un-
vermögende herrsche ; „keine redegewandte Persönlichkeit solle
irgendwo neue Rechtsnonnen zur Geltung bringen!“ *)4)
Gewiss aber haben diese Gesetze Burchards die weitre ge-
wohnheitsrechtliche Entwicklung specifisch städtischen Rechts
nicht verhindern können. Wir haben schon darauf hingewiesen,
dass das Begehren nach Ausschluss fremder Gerichtsbarkeit, das
später unter den Forderungen der Bürger voranstand, sicher-
lich eine Folge der von der ländlichen durchaus abweichenden
städtischen Rechtsbildung war.*)
*) Dass für solche Vergehen, die als Friedbruch aufgefasst werden
konnten, wie die in tit. 27 n. 28 der lege» erwähnten, in den Städten be-
sonders scharfe Strafen eintraten, vgl. unten Cap. VjU.
’) vgl. Cap. III.
*) Leges et stat. Einl: has iussi scriberc leges, ne . . . aliqua loquax
persona supradictae familiae nori aliquid subinferre posset, sed nna eadem-
que lex diviti et panperi ante ocnlos praenotata omnibus esset communis.
*) Vielfach ist angenommen, dass Bnrchard in seinem Gesetz das Buteil
aufgehoben. Daas diese Ansicht schwerlich richtig ist, wird unten in Capitel
III 8. 36 gezeigt werden.
*) Früher hielt man auch das schon in den leges et Statut, hervortre-
tende Oesammthandsrccht der Ehegatten (tit 6) sowie die darin herrschende
particuläre Gütergemeinschaft (tit 1), als im Gegensatz zu dem auf dem Lande
herrschenden Systeme der Verwaltungsgemeinschaft oder Güterverbindung
(über den letztem Namen cf. Heusler Institut. II S. 364 N. 1) stehend, für eine speci-
fisch städtische Rechtsbildung (cf. z. B. Eichhorn Einleit, in das dentsehe Pri-
vatr. (Gött. 1845) § 298 S. 716). Jetzt ist dieser Gedanke aufgegeben, da
beide Systeme ihre Grundlagen schon in den deutschen Volksrechten haben
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26
Möglich wurde diese neue Rechtsbildung besonders dadurch,
dass, wie im vierten Kapitel nachgewiesen werden wird, die
Schöifenst&hle schon im elften Jahrhundert mit Kaufieuten be-
setzt wurden. Zum Beweise dieser Behauptung und zur Klar-
legung der Verfassungs-Entwicklung müssen aber noch die da-
maligen Geburts- und Berufsstäude innerhalb der mittelrheiui-
schen Städte untersucht werden.
Kapitel III.
Die Einwohnerstände in Worms, Mainz und Speier.
Ausbildung eines Standes von Grosskaufleuten.
Nach Arnold1) zerfiel die Einwohnerschaft in unsern Städ-
ten in die Mitglieder der altfreien Gemeinde und die unfreien
Stände; zu letzteren gehörte die bischöfliche familia, in welche
auch die früheren Fiscalinen eingetreten seien, und die eigent-
lichen Leibeignen, welche im Eigentum freier oder zur familia
gehörender Personen standen. Nur die Altfreien und die
bischöflichen Ministerialen hatten nach Arnold am Stadtgericht
Anteil ; von diesen bei den Ständen sei auch allein die städtische
Freiheit errungen und habe sich erst nach und nach auf die
übrige Bevölkerung ausgedehnt.*)
und »ich die Gütergemeinschaft auch in rein ländlichen Gebieten ebenso wie
in den Städten findet (Heusler Institut. II S. 292 ff. namcnti. 8. 321 cf. auch
Schroeder Gesch. des ehel. Güterrechts Bd. II TI. 1 (Stettin 18(58) S. 115 ff.
S. 169 ff. Bd. II TI. 2 (1871) S. 177 mit N. 29). Indes» haben doch nach den
neuesten Forschungen Uber diesen Gegenstand zn der frühen Ausbildung der
Gütergemeinschaft in den Städten das dortige Einwohuergemisch und der
Umstand, dass sich dort die Vermögen wesentlich durch Thätigkeit der Ein-
zelnen bildetep, viel beigetragen (Heusler a. a, Ort. S. 304, 322). Übrigens
ist zu beachten, dass in den leg. et Statut, die das eheliche Güterrecht be-
treffenden Bestimmungen nicht auf die Städter beschränkt sind , sondern für
alle gelten, welche zur bischöflichen familia gerechnet werden. Nach dem
angeführten erscheint es freilich auch als möglich, dass der Bischof, damit
unter den zn »einer familia gehörigen dasselbe Recht herrsche, für dieselben
das bis dahin unter der städtischen Bevölkerung geübte eheliche Gflterrecht
z um Gesetz erhoben hat.
') V. G. I 66—71.
») ibid. 138, 187.
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27
Ähnliche Gedanken finden sich auch nocli bei H e u s 1 e r. ') Die
Stadtfreiheit wird bei ihm wesentlich von eiuer altfreien Ge-
meinde gewonnen, welche zwar durch viele Selbstunterwerfungen
unter bischöflichen Schutz gemindert, aber auch durch zahl-
reichen Zuzug vom Lande gemehrt und gekräftigt ist. „Weil
der Zusammenhang mit dem Reich innerhalb dieser Gemeinde
nie abgeschnitten worden, so Übernehmen die Städte selbst
wieder die Rechte und Pflichten der Reichsstandschaft, sobald
die Bischöfe die Reichspflichten nicht mehr erfüllen.“*) Dagegen
hatten nach dem Vorgänge Eichhorns*) auch Hegel4) und
Nitzsch5) die Bevölkerung der Bischofsstädte — wenigstens der
in der vorliegenden Untersuchung behandelten — im 11. Jahr-
hundert für unfrei erklärt ; in vielen Einzelheiten von einander
abweichend, lassen doch alle drei das Stadtrecht wesentlich aus
dem Hofrecht hervorgehen. Ähnlich meint Gierke,*) dass sich
nur in drei deutschen Städten, in Köln, Magdeburg und Trier,
eine freie Gemeinde erhalten habe, und verneint so die Existenz
derselben in den hier betrachteten Orten. Freilich sei „wahr-
scheinlich der Kern der Bürgerschaft“ in diesen „nur eines
Teils seiner Freiheitsrechte verlustig gegangen;“ doch sei er
sich des „Anspruchs auf Freiheit und echtes Eigentum immer
bewusst geblieben.“
Wie über die Existenz einer dem Bischof nur öffentlich-
rechtlich unterworfenen Bürgergemeinde, so sind auch über die
Gewalt, die der Bischof hinsichtlich der ihm privatrechtlich un-
terworfhen Stadtbewohner besass, und über die Zusammenset-
zung und Einteilung dieser Bevölkerungsclasse die verschieden-
sten Ansichten geäussert. Während Hegel7) das, was im 10.
und 11. Jahrhundert die bischöfliche familia genannt wurde,
für eine aus persönlich Freien und Unfreien gemischte Masse,
unklar und trübe in ihrer rechtlichen Stellung, hält, erscheint
*) Urspr. S. 100 ff., 150 ff, 171 fl.
*) ibid. ß. VIII.
*) Ztachrft. f. (jcsch. Rswas. I 232, 233.
*) Sjbel’s Hintor. Ztachr. II S. 448; Allgem. Mon&taachr. f. Wia«. und
Litter. Kiel 1854 S. 169, 170.
») S. 117 ff
•) I 251.
*) Monutaachr. 1854 S. 170.
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28
Heusler1) „ebendiese familia nach Stand und Recht in abge-
grenzte Genossenschaften (Dienstmannen, Censnaleu, Dages-
calcen) gegliedert.“
Suchen wir diesen Behauptungen gegenüber ans den that-
sächlich zu Gebote stehenden Quellen die Standesverhaltnisse
in den mittelrheinischen Städten für das 11. Jahrhundert fest-
znstellen. Dazu dürfte es angebracht sein, zunächst zu unter-
suchen, was unter dem vielfach entgegentretenden Begriff der
familia in dieser Zeit zu verstehen ist. Schon in der Mero-
winger und Karolingerzeit bedeutet familia vielfach die Unfreien
eines bestimmten Rechtssubjects , insbesondere die des Königs
oder die einer Kirche ;*) jedenfalls schon am Ende des nennten
und Anfang des zehnten Jahrhunderts wird diese Bezeichnung
auch ganz allgemein auf alle von dem betreffenden Herrn pri-
vatrechtlich abhängigen Personen ausgedehnt.*) Neben den in
voller Knechtschaft stehenden Unfreien gehören zu der familia
einer Kirche auch alle diejenigen, die freigelassen unter ihrem
Schutze verblieben4) oder sich in ihren Schutz begeben hatten ;
ferner wird auch der, welcher Land von der Kirche empfangen
hatte, zur familia gerechnet. Tritt diese weitre Bedeutung
von familia, dass nämlich alle privatrechtlich der Kirche unter-
worfnen Personen darunter verstanden werden, auch sonst viel-
fach hervor,*) so lässt sie sich, wie wir sehen werden, ganz be-
sonders an dem Gesetz Burchards nachweisen. Waitz6) bemerkt
freilich, dass öfters überhaupt alle, welche in irgend einer
') Ursprung S. 107.
*) cf. Gregor. Turon. Liber in glor. confess. c 22 (M. G. 8cr. Rer. Mer. p
762); Marculii form. 82 (L. L. V ed. Zentner p 95), form. Senou. reccnt. 9
(ibid p 215); Capital. Eccles. 818, 819 c 6 (L. L. I in 4° ed. Boretius p
277) ; 8. 8. II p 45 c 12 etc.
•) cf. bes. Formula Angieus. 37 (L. L. V ed. Zeumer p. 361). Hier be-
kräftigen eine Urk., in weicher ein einem Kloster gegebenes Grundstück dem
Schenker als Precarie zurückgegeben wird, auch de ipsa familia ecclesiastica
laicorum septem consentientes, die offenbar dieselbe Stellung wie der Empfänger
der Urkunde haben. So ist auch die in der Urkunde Heinrichs I für Stablo
935 Juni 8 (St. 47, M. G. Dipl. reg. et imp. Germ I p 74) erwähnte familia
nnr znr Zinszahlung verpflichtet.
4) cf. Maurer Gesch. d. Fronhöfe (Erlangen 1862) Bd. I 66.
*) cf. Waitz V. G. V S. 190 und die ibid. N. 4 gesammelten Beispiele.
•) a. a. 0.
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29
Unterordnung unter einem andern stehen, zu seiner familia
gerechnet werden ; doch scheinen die überhaupt bloss öffent-
lichrechtlich dem Bischof unterworfnen Personen, welche durch
die bekannten Grafschaftsverleihungen unter seine Jurisdiction
gekommen waren, wenigstens in den Urkunden und Gesetzen
des elften Jahrhunderts nicht als mit zur familia gehöng be-
trachtet za sein.1) Diese Frage hängt aufs engste mit der andern
so viel erörterten zusammen, ob noch solche vom Hofrecht gänzlich
freigebliebenen Personen in unsern Städten existierten. Diese,
die angeblich so einflussreichen „ Ältfreien“ werden in den Quel-
len, insbesondere in dem Sinne einer von der familia gesonder-
ten, den Bischof nur in öffentlichrechtlichen Beziehungen unter-
worfenen Gemeinde direkt gar nicht genannt. In den leges et
statuta Burchardi scheinen sie nirgends erwähnt zu werden.*)
') Von den bei Waitz V 190 N. 4 gebrachten Beispielen können, da
unter libera familia, wie gezeigt werden wird, Censnalen zn verstehen sind,
auf nnr öffentlichrechtlich dem Bischof unterworfene Personen höchstens die
beiden Chronikens teilen aus dem zwölften Jahrhundert (Anna). Hild. u. G.
8. Trnd.) bezogen werden. Damals nach noch weitem Fortschritt der Aus-
gleichung der alten Stände in den Städten scheinen wenigstens von kirch-
lichen Schriftstellern kurzweg alle Stadtbewohner zur familia gerechnet zu
sein. So ist es wohl zn verstehen, dass in den gesta s. abbat. Trndon. IV
c 12 (S. S. X p 251) von Otbert von Lüttich gesagt wird, dass er .generöse
natns de familia et libertate Lovanensium" schon durch diese seine Ab-
stammung geeignet gewesen, den Übergriffen der Vögte entgegenzntreten.
Die Stelle annal. Hildesheim a 1116 (S. 8. III p 131) ist bekanntlich (cf.
Scheffer-Boichorst , Die annal. Patherbr. Innsbr. 1870, p 181, Wattenbach
D. Gq. II S. 26, S. 36—38) den Paderborner Annalen entlehnt, also von
einem Sachsen geschrieben. Dieser kann, da sich die Spitzen aller Bevölke-
rungs-Klassen für Erzb. Adalbert von Mainz bei Heinrich V verwandten,
diese als nrbis familia tarn nobiles tarn ministeriales bezeichnet haben, ohne
dass daraus etwas anderes geschlossen werden kann, als dass, ausser den im
ministerialischen Dienstverhältnis zn Adalbert stehenden, auch andere ange-
sehene Bürger für ihn baten.
*) Eine Erwähnung einer dem Bischof nur in öffentlich-rechtlichen Be-
ziehungen unterworfenen Person könnte man nur in tit 21 der leges et sta-
tuta finden; allein abgesehen davon, dass dieser über homo, von dem der
Hörige des Bischofs Immobilien erwirbt, selbst wenn es städtische sind, nicht
in der Stadt zu wohnen braucht, kann er auch, sei es, dass er ein städtisches,
sei es, dass er ein ländliches Grundstück verkauft, unter einem vom Bischof
ganz unabhängigen Grafen stehen. Gengier S. 6 und Schanbe Ztschr. f. G.
d. Oberrh. N. F. m S. 260 meinen, dass die concives der leges et statuta
im Gegensatz zn cives, .den vollfreien Stadtbürgern, " stehen, ich finde aber
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30
Obgleich dies Gesetz Bestimmungen enthält, welche alle Ein-
wohner der Stadt betreffen, so wird doch gesagt, dass dasselbe
cum consilio cleri et militum et totius familiae erlassen sei, ohne
dass die Altfreien dabei genannt werden. Damit stimmt es
auch, das Aribo von Mainz 1025 l) an clerus, militia et familia
als die eigentlichen Wähler des Wormser Bischofs Azzecho in
betreffs der Weihe desselben schreibt; von der bischöflichen
Herrschaft freigebliebner Stadtbewohner wird hier gar nicht
gedacht.*)
Man wird auch nicht als Beweis flir die Existenz und
Wichtigkeit freier Personen in den Städten den Umstand an-
führen können, dass in den Zeugenlisten mehrerer bischöflicher
Urkunden des zwölften Jahrhunderts vor den Ministerialen liberi
genannt werden. Diese liberi sind ja nicht Stadtbürger.*) Be-
sonders klar geht dies aus einer Wormser Urkunde von 1198
hervor, in der die „liberi“, offenbar Grafen und Herren der
Umgegend von Worms, in direktem Gegensatz sowohl zu den
Ministerialen, als zu den zuletzt genannten Wormser Bürgern
stehen.1) Der unter den liberi in den Zeugenlisten Wormser
Urkunden mehrfach genannte Walterus liomo de Husen ist im
Stande, die Vogtei von Rorheim zu vergeben;*) auch in
Ibbersheim hat er Vogteirechte.*) Solche Persönlichkeiten
mochten den bischöflichen Hof besuchen und hier mochte ihr
geachteter Name zur Beglaubigung von in ihrer Gegenwart ab-
geschlossenen Rechtsgeschäften gebraucht werden; von ihnen
stammt aber gewiss ebenso wenig das spätre städtische Patri-
ciat ab, als sie zum St&dtrat gehörten. Wird doch auch der
den Ausdruck dves in diesem Sinne jedenfalls bis zur Mitte des elften Jahrhunderts
in den mittelrheinischen Städten gamiebt erwähnt ; wo er sich sonst schon ror
der Entstehung der Stadtverfassung findet, hat er aber lediglich lokale Be-
deutung und bezeichnet nicht irgend eine Rechtsstellung oder Zugehörigkeit
zu einem politischen Verbände, cf. Uierke II 574 — 575.
■) Boos Urkb. p. 352 N. 9. cf. Bresslau Conrad II Bd. I S. 96.
*) Die im Briefe Aribos genannte militia und ebenso auch die in der
Einleitung der leges et statuta erwähnten milites bilden nur einen engem
Kreis innerhalb der bischöflichen familia; vgl. darüber unten S. 47 ff.
*) cf. Hegel in Allgem. Honatsschr. 1854 S. 178, Heusler Ursprung
S. 88, 89.
*) U. 103.
•) U. 75.
*) U. 84.
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31
Pfalzgraf bei Rhein in der Zeugenliste bischöflicher Urkunden
genannt.1)
Ebenso wird auch nicht für die Existenz vollfreier Per-
sonen in unseru Städten angeführt werden können,*) dass sich
wie in andern,*) so auch in den den Bischöfen von Worms und Speier
erteilten Immunitätsurkunden freie bischöfliche Hintersassen be-
sonders erwähnt finden.4) Die Teilung der Hintersassen in freie
und unfreie in diesen Immunitätsurkunden entspricht, wie unten
gezeigt werden wird,*) ganz der in Oensualen und Dagewarden
innerhalb der familia.
Demnach kann aus den Ausdrücken liberi oder mgenui in
den erwähnten bischöflichen und königlichen Urkunden in keiner
Weise auf die Existenz altfreier d. h. dem Bischof privatrecht-
lich garnicht unterstehender Personen, über die er nur in Folge
der Grafschaftsverleihungen Rechte hatte, geschlossen werden.
Dass ferner die in Burchards Gesetz tit. 26 genannten con-
cives*) keine Altfreien sind, wie Arnold7) behauptete, sondern
dieser Ausdruck grade Mitglieder der bischöflichen familia be-
zeichnet, 1 ist schon von Nitzsch“) und Waitz*) nachgewiesen.
Mit Recht hat ersterer, wie oben 10) gezeigt, darauf hingewiesen,
dass wir in diesem Titel eine auch bei ländlichen Hofgenossen-
schaften häufige Concession des Grundherrn finden, nur das die-
selbe hier noch weiter als sonst geht; Waitz hat mit Recht
auf die Erwähnung von concives in tit. 12 und tit. 32 unsres
Gesetzes hingewiesen, in welchen diese Bezeichnung ganz offen-
bar auf innerhalb der familia stehende Personen geht.11)1*)
*) WU 77; Sp. ü. 27.
*) Wie ca von Hensler S. 95, 96 geschieht.
•) cf. ibid; Waitz V. G. V 186 N. 3.
*) WU 12, WU 32: homines ecolesiae tarn ingenuos quam servos; Sp. U 7.
*) vgl. nuten 8. 39 ff.
•) cf. oben S. 29 N. 6.
) V. ö. I S. 65.
*) Minister. S. 231.
•) V. G. V S. 211 N. 4.
,9) cf Uap. II S. 23 mit N. 2.
") Nnr sind, wie cs anch Waitz a. a. 0. hervorhebt, die concives in tit.
26 .als besonderer Teil anfgefaast und die in der Stadt ansässigen gemeint.*
'*) Weniger Gewicht kann daran!' gelegt werden, dass, wie Gengier 8. 6
und Schaube Worms 8. 259 meinen . schon der Name concives anf ein
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32
Obgleich wir so die meisten für die Existenz einer alt-
freien Gemeinde gebrachten Beweise ablehnen müssen, können
wir doch wohl annehmen, dass es in Worms im elften Jahr-
hundert noch freie, im Sinne vom Bischof privatrechtlich unab-
hängiger, Personen gegeben habe. Zunächst lässt sich für die
Karolingerzeit die Existenz vollfreier Familien zu Worms und
Mainz aus den erhaltnen Lorscher und Fuldaer Traditionsnr-
kunden schliessen.1) Es ist doch wenig wahrscheinlich, dass
alle Nachkommen solcher freier Familien, welche zur Karolinger-
zeit in Worms gelebt haben, bis zum elften Jahrhundert durch
Selbstunterwerfung in privatrechtlicbe Abhängigkeit von der
Kirche gekommen sind. Ferner geht die Existenz vollfreier
Personen in Speier und Mainz auch aus folgender Thatsache
hervor, die zugleich auch einen Analogieschluss auf Worms
erlaubt.*) Es sind uns aus den beiden erstgenannten Städten
noch Traditionen von Grundeigentum an Klöster aus dem elften
Jahrhundert erhalten, von denen kein Zins an den Bischof, resp.
dessen Kirche gezahlt wurde.’) Es ist nun nicht denkbar, dass
es den Hörigen gestattet gewesen sei, von ihrem Grundbesitz,
an welchem den bischöflichen Kirchen zum mindesten ein deutsch-
rechtliches Obereigentum zustand, Vergabungen an Klöster zu
machen. Vollends abzuweisen ist der Gedanke, dass die Bischöfe
sich die ihnen aus den Gütern ihrer Hörigen zustehenden Ein-
hofrechtliches Verhältnis deute; später kommt er entschieden vielfach für
freie Borger vor.
') W. U 6-9, Dronke Cod. dipl. Fnld. (1860) No. 6, 18, 19. Hier wird
von freien Personen Grundeigentnm in der Stadt verkauft und verschenkt
Daher kann die Frage, ob ans dem Ansdrnck civitas pnblica, der sich fflr
unsere Städte nur in der Karolingerzeit findet, auch auf die Existenz freier
Personen geschlossen werden kann (so Amold I 8. 16—18, Heusler S. 91— 94;
a. M. Hegel Monatsschrift 1854 8. 170, Waitx V. G. V 8. 377 N. 3), uner-
Brtert bleiben. Über die Bedeutung von civitas publica in W. U. 42 ist auf
spätere Erörterungen zu verweisen.
*) Zu demselben sind wir um so mehr berechtigt, als sich auch in an-
dern Städten ähnliches findet cf. Waitz V. G. V 8. 376, 376.
*) Codex Hirsaugiensis (Stuttgart 1843) p. 89: Propst Berward kauft,
dem Kloster einen Hof zu Speier, der zu Gunsten desselben zu Zins ansgethan
wird; c t auch ibid. p. 74, wo ebenfalls ein Hof in Speier gekauft wird.
Fflr Mainz cf. Sauer, Cod. diplom. Nass. No. 159 (t. I p. 91), wonach 1108
ein Grundstück in der Stadt Privatleuten gehSrt, denen davon Zins gezahlt
wird, ferner Cod. Hirsaug. p. 78.
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33
nahmen durch solche Vergabungen schmälern Hessen. Es gab
also noch freigebliebne Familien mit freiem Grundbesitz in den
Städten; freien Grundbesitz mochten vereinzelt auch fremde
Ansiedler zu Eigentum erwerben und sich so in der Stadt nie-
derlassen. ohne ihrer Freiheit verlustig zu gehen.
Diese Existenz freier Personen in Worms und zugleich
auch der Umstand, dass dieselben trotz der Übertragung der
Grafschaftsrechte von Burchard nicht zur bischöflichen familia
gerechnet wurden, scheint mir auch aus tit. 20 seines Gesetzes
hervofzngehen. Hier heisst es nämlich:
Si quis in civitate Vormatia .... ceciderit, . . . . ; extra
civitatem vero infra familiam, si occubuerit
Da in der Stadt alles unter Jurisdiction des Bischofs steht,
der hier die öffentliche Gewalt vertritt, ausserhalb aber nur
die familia, so gab es nach dieser Fassung höchst wahrschein-
lich noch der Gesetzgebung des Bischofs unterworfene, aber
nicht zur familia gerechnete Personen; sonst wäre er wohl kaum
von dem gewöhnlichen Anfang der Titel ius erit familiae abge-
wichen und wäre auch der Zusatz infra familiam als ganz über-
flüssig hinter den Worten extra civitatem fortgeblieben.
Die nicht zur bischöflichen familia gehörenden Personen in
der Stadt müssen aber als identisch mit denjenigen Freien an-
gesehen werden, welche ihre Freiheit und ihr freies Eigentum
gewahrt haben. Der Thatsache, dass der Bischof sie nicht zu
seiner familia rechnet, entspricht es vollkommen, dass er für
die ganze Stadt nur Process- und Strafgesetze erlässt;1) für
die Mitglieder seiner familia hingegen giebt er ausser solchen*)
und den Verordnungen über die Zinszahlung*) auch Be-
stimmungen über Immobilienveräusserung ,*) Erbrecht5) und
eheliches Güterrecht,®) während für die vollfreien in allen diesen
Verhältnissen ihr Gewohnheitsrecht massgebend blieb. Diese
ausserhalb der familia stehenden Personen müssen aber, wie
aus ihrer Nichterwähnung bei der Beratung des genannten Ge-
«) tit 20, 24, 27, 28.
») tit. 7-9, 12, 17, 18, 23, 30 -32.
*) tit. 2, 26.
4) tit. 6, 21.
s) tit. 2—5, 10, 11
*) tit 1, ft, 16.
Koehne, Ursprung der Stadtverfaaaung in Worms, Speier and Mainz. 3
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34
setzes und bei dem Schreiben über die Bischofswahl hervorgeht,
nicht besonders einflussreich gewesen sein; auch lässt sich aus
diesem Umstande schliessen, dass sie keinen grossen Bestand-
teil der Stadtbevölkeruug bildeten. Alle diejenigen, welche auf
bischöflichem Boden sasseu, gehörten entschieden nicht zu ihnen,
sondern wurden als zur familia gehörig betrachtet. Es geht
dies aus tit. 14 des Gesetzes Burchards hervor:
Et si quis nupserit ex domiuicato episcopi in beneficium ali-
cuius suorum, iuris sui respondeat ad dominicatum episcopi; si
autem ex beneficio in dominicatum episcopi nupserit, iuris sui
respondeat domino beueficii.1)
Unter dominicatum wird das grundherrliche Eigentum ver-
standen;*) nubere aber wird in der lex nur vom Heiraten der
Frauen gebraucht, während das der Männer als uxorem acci-
pere, ad sociam legitime venire bezeichnet wird. So scheint
mir daher dieses Capitel, das Gengier *) „ob seiner concisen
Fassung ziemlich dunkel“ nannte, von seiner Erklärung ab-
weichend, wie folgt, verstanden werden zu müssen:
Wenn ein Mädchen, dessen Angehörige auf bischöflichem
Boden sitzen, einen Hintersassen eines Lehnsträgers des
Bischofs heiratet, so bleibt sie doch noch unter dem Hofrecht
des Bischofs; heiratet aber ein Mädchen, deren Familie zu den
Hintersassen eines bischöflichen Lehnsträgers gehört, einen
Hintersassen des Bischofs, so bleibt die Verfügung über ihr
Vermögen dem betreffenden Lehnsträger.
’) Im Texte dieses Titels liiti ich Gengier statt Boos gefolgt , der do-
minicatam und dominicata statt tum und to liest. Mit Gengier stimmt
ausser Schaunat auch die von Boos B genannte Handschrift, wenn auch viel-
leicht nur in Folge späterer Emendation, ebenso spricht meiner Ansicht nach
auch Handschrift D wohl mehr filr die von Gengier als von Boos gewählten
Formen. Endlich lässt sich dominicata in der sonstigen Überlieferung, soviel
ich sehe, nicht naehweisen und fehlt auch bei Ducange, während dominicatum
auch sonst vorkommt. Übrigens muss dem Siuue nach hier und in tit. 3 des
Gesetzes, in welchem Handschriften und Herausgeber dieselben Abweichungen
zeigen, das dominicata dasselbe wie dominicatum bedeuten.
*) cf. tit. 3 unseres Gesetzes, sowie die von Ducange s. v. dominicatum
angeführte Stelle einer Urk. Kaiser Ludwigs II, sowie auch dominicatns bei
Lamprecht D. W. I S. 1099 N. 4.
*) S. 20.
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35
50 wird schon durch deu Umstand, dass eine Familie auf
bischöflichem Boden sitzt, ihre Freiheit geschmälert, wenn da-
bei auch keineswegs an völlige Unfreiheit zu denken ist.
Andrerseits kommen dadurch, dass jemand zur familia des
Bischofs gerechnet wird, auch alle seine Immobilien in das
Obereigentuni der Kirche. Der kirchliche Reehtssatz, dass
Kirchengut anders als durch Tausch nicht veräussert werden
durfte, tritt bekanntlich schon früh in weltlichen und geist-
lichen Rechtsquellen auf.1) Demgemäss setzte nun Bischof Bur-
chard tit. 21 fest:
51 quis ex familia s. Petri praedium vel mancipia*) a libero
homiue comparaverit vel aliquo modo acquisiverit extra familiara
neqne cum advocato neque sine advocato nisi commutet, dare
non liceat.
Es ist charakteristisch, dass Veräusserangen innerhalb der
familia nicht verboten waren. Durch diese wurde ja das Ge-
biet, in dem die Kirche Obereigentumsrechte hatte, nicht
geschmälert.
So bestätigt diese Betrachtung speciell für Worms den
Arnoldschen *) Satz, dass Freiheit und Eigentum sich gegen-
seitig bedingten, dass, wer auf fremdem Grund und Boden sass,
nicht mehr die volle Freiheit hatte, und dass derjenige, dessen
Freiheit gemindert war, auch nicht mehr über seine Immobilien
unbeschränkt verfügen durfte. Wir können deshalb unbedenk-
lich diesen Rechtssatz als auch in Speier und Mainz im elften
Jahrhundert geltend betrachten.4)
Fassen wir nun die Bestimmungen unseres Gesetzes, welche
nur die familia betreffen, kurz zusammen,5) so ergiebt sich, dass,
abgesehen von einzelnen processualischen und strafrechtlichen
*) vgl. Laming, Gesell, d. deutsch. Kirchenreclits I 236—240, II 696 — 702.
*) Die Unfreien gelten bekanntlich seit der Karolingischen Zeit als
Immobilien cf. Sohin R. u. G. R. S. 421.
') Eigentum S. 9, 34, 35.
•) Es ist dies um so mehr gestattet, als auch ueneruings Lamprecht
sich dafür ausgesprochen hat, dass man bis ins elfte Jahrhundert Güter,
welche an einen Frobuhof zinsten, ohne weiteres auch als hörig anspracli.
(D. W. I S. 922 mit N. 6.) Gegen Belows Ansicht, dass es in den Städten
von jeher anders gewesen (Hist. Ztschr. N. F. XXII S. 202) cf. Anhang I.
*) cf. namentlich oben S. 33 mit N. 1 — 6.
«*
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Bestimmungen, die den Mitgliedern der familia gegenüber leichter
als bei dem Freien durchzuführen sein mochten, das Obereigentum
über ihren Grundbesitz Veranlassung gab, auch ihr Erbrecht und
eheliches Güterrecht zu ordnen. Als besonders wert, hervor-
gehoben zu werden, erscheint, dass die zur familia gehörigen
einerseits wenigstens z. T. das Recht der Freizügigkeit haben,')
dass aber andrerseits mindestens eine Quote ihres Wergeids an
den Bischof fällt*) und dass bei einigen Vergehen ihre Behand-
lung nach der Verurteilung nur von der Gnade des Bischofs
abhängt,*) dessen Kammer auch, falls sie mit ausserhalb der
familia stehenden Frauen Ehen eingehen, */» des Nachlasses zu-
fallen.4) Auch in anderen als in diesem speciellen Falle scheint
dem Wormser Bischof das Recht auf das Buteil, bekanntlich eine
Quote des Nachlasses,5) oder das Hauptrecht, Todfall oder Best-
haupt, ein Stück aus dem Nachlass,6) zugestanden zu haben, ob-
gleich von diesen Abgaben in den leges et statuta sonst nichts
erwähnt wird.7) Eine Verfügung Burchards über die von einigen
bischöflichen Censualen der Kirche zufallenden Einnahmen
rechnet zu diesen auch das Besthaupt ; *) ebenso setzte derselbe
Bischof für seine eignen Censualen, welche er 1016 dem Kloster
Nonnenmünster schenkte, die Todfallsabgabe zwar herab, liess
l) cf. tit. 2. Dass es den Mitgliedern einer bischöflichen familia anch
sonst erlaubt war, sich aus dem bischöflichen Herrschaftsgebiet zu entfernen,
geht aus dem von Waitz V. G. V S. 213 N. 1 angeführten Beispiel hervor.
») tit. 9.
*) tit. 7 und 32 cf. Gengier 3. 16.
*) tit 15.
‘) Waitz V. G. V 241.
•) ibid. S. 242 ff.
•) Ja Gengier S. 13 und Hegel Monatsschr. (1854) 8. 174 meinen sogar,
dass diese Abgaben durch tit. 3 der leges et statuta erlassen seien. Jedoch
findet Waitz V. G. V S. 250 N. 1 in diesem Titel: Si quis in dominicato
uostro (cf. S. 34 N. 1 unten) hereditatem haben» moritur, hcres sine oblatione
hereditatem accipiat mit Recht nur eine .Aufhebung der Mutationsgebühr.“
Eher könnte man nach Waitz ibid. die Aufhebung des Buteils in tit 4 fin-
den, doch müsste man dann gegenüber dem in allen Handschriften überein-
stimmenden Wortlaut seine Emendation (in dominicato statt indotatum) an-
uebmen. Auch sprechen die im Text angeführten Stellen, sowie die spätere
Aufhebung des Buteils durch Heinrich V genügend gegen die Abschaffung
desselben unter Burchard; vgl. anch Schaube Worms S. 272.
•) ü. 37.
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37
sie aber doch weiter bestehen.1) Dass der Todfall von allen
denjenigen geleistet werden musste, welche zur Zeit von Bur-
chards Nachfolger Azzecho in die bischöfliche familia eintraten,
geht aus einer Zuwendung dieser kirchlichen Einkünfte an die
Cnstodei hervor.*)
Ähnlich scheinen Todfallsabgaben auch von den zur fa-
milia der Bischöfe von Speier*) und Maiuz4) gehörigen Per-
sonen geleistet zn sein, wo überhaupt, soweit aus der dürfti-
gen Überlieferung geschlossen werden kann, ganz ähnliche Ver-
hältnisse wie in Worms herrschten.
Nach diesen Erörterungen dürfte es wohl gerechtfertigt er-
scheinen, dass die familia der lex Burchardi im Anschluss an
die von Waitz gegebene Definition als der Kreis aller vom
Bischof irgendwie privatrechtlich abhängigen Personen definiert
wild.4) Während ehemals für familia im Deutschen das Wort
gedigene oder gesinde gebraucht zn sein scheint,0) lässt sich in
unserer heutigen Sprache die Bedeutung von familia nur sehr
unvollkommen durch Ausdrücke wie Hörige oder Hintersassen,
am besten vielleicht noch durch Leute (Stiftsleute) wiedergebeu.7)
Innerhalb der familia nun lassen sich nach verschiedenen
Einteilungsprincipien verschiedene Classen unterscheiden. Zu-
*) U. 45.
*) U. 51.
*) vgl. die Aufhebung des Buteils unter Heinrich V (TJ. 14) nnd die
authentische Interpretation dieses Privilegs durch Friedrich I (U. 18), der er-
klärt, dass damit zugleich auch das quod in quilrasdam locis vulgo boubetreht
vocatur aufgehoben sei.
4) Wenigstens lässt sich darauf kiuweisen, dass, als Erzbischof Adalbert
1130 für die Canoniker von St. Martin in Mainz einige Besitzungen gekauft
hatte, fdr die auf diesen sitzende Familie festgesetzt wurde: si quis eorutn
herede superstite mortuus fuerit, de domo eius Optimum caput vel optiiua
vestis etiam fratribus representetur (B-W. XXV 226, Guden Cod. DipL I p.
92) cf. auch B-W. XXV 239, Guden Cod. Dipl. I p. 99.
‘) cf. oben S. 28.
°) vgl. die von Hensler Ursprung S. 105—107 angeführten Beispiele
aber gedigene, von denen die dem 11. — 13. Jahrhundert angehiirenden mit der
ermittelten damaligen Bedeutung von fRinilia übereinstimmen; mit gesinde
ist familia in der alteu Uebersetzung des ersten Strassburger Stadtrechts
wiedergegeben (cf. Gaupp, Stadtrechte I S. 49 c 6).
') So Bresslau Conrad II Bd. I, S. 96.
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nächst gehörte fast jeder der Stiftsleute in unsere Städten
einer der beiden seit Alters her ') innerhalb der familia be-
stehenden Rangstufen an:
entweder der der Censualen, im Hofrecht Burchards Fis-
calinen oder Fiscalen genannt,*)
oder der der Dagowarden.*)
Daneben existirten noch in der ersten Hälfte des elften
Jahrhunderts Leibeigene (mancipia) einzelner diesen Classen
angehörenden Personen;4) später werden sie in unseren Städten
nicht mehr erwähnt. Diese Leibeigenen können aber, da ihnen
weder irgend welche Bedeutung bei der Ausbildung der Stadt-
verfassung zukommt, noch je beigelegt ist, hier völlig ausser
Acht gelassen werden.
Für Fiscalinen und Dagowarden bestehen nur in einzelnen
Rechtsverhältnissen verschiedene Bestimmungen ; die grosse
Mehrzahl der Verordnungen Burchards sollte für die ganze fa-
milia gelten. Nur das scheint den hauptsächlichen Unterschied
gebildet zu haben, dass bei den Fiscalinen ein Teil des Wer-
geids an die Sippe des Verletzten fiel, während das ganze Wer-
') Den Beweis siehe unten S. 39 ff.
*) Über die Identität der Wormser fiscales o. fiscalini mit den censuales
cf. Waitz V. G. V 210 N. 3: „Dass die fiscales gerade in Worms den censu-
ales gleichstehen, bestätigt, dass es in dem benachbarten in Weissenburg der Fall
ist; dass ausserdem andre Wormser Urkunden (U. 87, öl) censuales hoinines
oder tribntarii und keine fiscales nennen.' Zwischen fiscales und fiscalini in
den leges ist kein Unterschied zn machen, wie Hegel Honatsschr. 8. 172 meinte,
vgl. Gengier 8. 6, Waitz V, S. 207 N. 3.
*) Dieser Name ist uns für unsere Städte zwar nur in Worms über-
liefert; doch entsprechen den Wormser dagewarden durchaus die mancipia in
Remling Urkb. für Speier N. 27. — Über an andern Orten vorkommende
Bezeichnungen der den Wormser dagowardi entsprechenden Hörigenklasse,
welche zum Teil auch ebenso lauten, cf. Gengier Hofr. S. 6, Waitz V S. 19ä
N. 4; zu den dort gegebenen Erwähnungen von dagowardi kann noch Erath
Cod. Quedlinburg. (Frnkf. 1764) p. 164 und 411 hinzngefügt werden.
*) Nach tit. 2 und tit. 11 der leges werden sie bei Erbschaften wie
Immobilien behandelt ; nach Remling Sp. Urkb. N. 27 können sie im Eigentum
anch der zn der niedrigeren Classe der bischöflichen familia gehörenden Per-
sonen stehen. — In tit. 30 der leges sind die servi s. Petri natürlich nicht
diese mancipia, sondern alle Angehörigen der familia, wie sich schon ans
dem Zusammenhänge ergiebt.
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geld des verletzten Dagowarden dem Bischof zukam, ') und dass
sich die Fiscalineu der Heranziehung zum unmittelbaren bischöf-
lichen Dienst bis auf gewisse Fälle eutziehen durften.*) Dar-
aus. dass der Process, ob jemand fiscalinns oder dagowardus
sei, sich in derselben Form abspielte, in denen sich der karo-
lingische Freiheitsprocess bewegte,3) erkennen wir, dass der
dagewardus zwar dem frühem Unfreien entsprach, dass sich
aber seine Stellung schon erheblich gebessert hatte. Die Be-
stimmungen über eheliches Gliterrecht gelten für die ganze
familia, Censualen wie Dagowarden ; 4) dass auch der Dagoward
fähig war, Vermögen zu besitzen, geht ausserdem auch aus tit.
13 hervor, nach welchem auch er mit Geldstrafen belegt wer-
den konnte. Diese Rechte widersprachen aber durchaus nicht
der Abstammung der Dagowarden von den völlig Unfreien, da
ja die Kirche schon in früher Zeit danach gestrebt hatte, ihre
Ehe zu sichern5) und ihnen Eigentumsrechte zu verschaffen.6)
So waren daher im elften Jahrhundert schon alle Leute des
Wormser Bistums des Rechts auf echte Ehe und auf Eigentum
— mit den aus dem früher erwähnten hervorgehendeu Be-
’) tit. 9 cf. Gengler S. 9.
*) tit 29.
*) Tit 22: Si quin tiseali viro iustitiain snnin infringere volnerit, id est
a<l dagowardnm vel ad censum iniustum, tiseali* vir ctuu septein proximis
suis nun mercede condnetis, iustitiain sibi iuuatain obtiucat; et si ex patria
parte vituperetnr, ex eadem parte dnae cognatorum suurum et tertia ex matre
assmnatnr; similiter erit ex parte matris uisi cum iudicio scabiuumm aut
proximurum testimouiis snperari possit. Damit vergleiche man z. B. die ital.
Extravaganten II znr lex Salica (ed. Belireud p. 121, eil. Hessels p. 421), wo
ebenfalls von der Verwand tschaftsäcite, um derentwillen jemand als unfrei in
Anspruch genommen wird, die Mehrzahl der Eideshelfer gestellt werden
müssen, und ebenso das Zeugnis der vom Beklagten gestellten Eideshelfer
durch nühere Zeugen aus dessen Verwandtschaft ungültig gemacht werden
kann. Aus dieser Übereinstimmung geht doch hervor, dass der Unterschied
zwischen Censualen und Dagewardeu des elften Jahrhunderts in der freien
oder unfreien Herkunft, und nicht, wie Waitz V. G. V 213 meint, in der
socialen Lage begründet ist. cf. auch unten S. 40 N. 2 n. 4.
«) cf. tit. 1, 4.
4) vgl. meine Arbeit über „Die Gesclilechtsverbiudnng der Unfreien im
fränkischen Recht.“ Breslau 1888. (Gierke. Unten. Bd. XXII) S. 26 — 28.
*) cf. Poenitentiale Theoilori (Wassersehleben Bussordnnugcn Halle 1851)
P- 217 § 3.
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schräukuugeu — teilhaft geworden,1) wie ja überhaupt die
Sklaven der Kirche vielfach besser als die Privater gestellt
waren. Wenn übrigens der Name der Dagowarden darauf hin-
deutet,8) dass es anfangs diejenigen Knechte waren, welche täg-
lichen Dienst zu leisten hatten, dafür also Kost, Kleidung nud
eventuell Lohn von ihren Herrn erhalten mussten, so spricht
die Voraussetzung eignen Vermögens bei den Dagowarden in
tit. 13*) entschieden dafür, dass dieselben damals schon — wenig-
stens überwiegend — auf eigne Rechnung wirtschafteten.4)
Sind die Dagowarden als die Nachkommen der frühem
Leibeignen zu betrachten, so bestehen dagegen die Censualeu,
abgesehen von in diese Stellung gekommenen Dagowarden , aus
Freien, welche unter kirchliche Voigtei gerathen sind. Darauf,
dass sie gegenüber den Nachkommen der frühem Leibeignen
die alten Vorrechte der Freien noch nicht verloren hatten, weist
der Umstand, dass für ihre Ehen mit den Dagowarden noch
der Grandsatz: „Das Kind folgt der ärgern Hand“ galt.5)
') Die Ehe mit zu fremder familia gehörenden, die auderswo überhaupt
verboten war (cf. Heusler Instit. I S. 143), hatte in Worms den Verlust vou
’/• der Habe für die Kinder zur Folge; das Eigentum an Immobilien wurde
durch das Veräusserungs verbot des tit. 21 beschränkt, cf. oben S. 24 No. 1.
*) dag = Tag, ward von warten, auf jemand achten, schauen, dann
auch jemand dienen, untergeben sein (nach Lexer Mittelhochdeutsches Hand-
wörterbuch). Mit Recht wendet sich Waitz V S. 195 N. 4 gegen die Über-
setzung Grimms (R. A. S. 319): „Tagelöhner,“ „da sie eben nicht filr Lohn,
nur für Kost arbeiteten.“ Dagegen hatten sich im elften Jahrhundert die
Verhältnisse so verschoben, dass die Dagowarden als solche nicht mehr zu
täglichem Dienst verpflichtet waren, wohl aber die servientes, in welche
Stellung auch Censualeu kommen konnten, vgl. unten.
*) So haben auch die bei Erath Cod. dipl. Quedl. (Frankf. 1764) p. 411.
No. 155 a. 1327 erwähnten „Dachworten“ Abgaben vou ihrem Gute zu zah-
len; die „dagewarchten“, die a. 1237 ibid. p. 164 No. 74 erwähnt werden,
haben zu Hofrecht Landgitter, sind also auch schwerlich noch zu täglichem
Dienst verpflichtet.
*) Dass sie nur als die Nachkommen solcher rechtlich in der här-
testen Knechtschaft stehender, wirtschaftlich der Verfügung Uber die eigene
Arbeitskraft ermangelnder Unfreier, nicht aber selbst als solche in härtester
Knechtschaft stehende Personen zu betrachten sind, dürfte aus dem angeführ-
ten unzweideutig hervorgehen. Es mag noch darauf hingewieseu werden,
dass auch nach Sachsensp. UI, 44, § 3 die „dagewerchten“ Geburtsstand
nicht Berufsstand sind.
*) tit. 16.
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41
Ebendieser Satz war ja schon in der merowingischen Zeit, so-
bald echte Ehen zwischen Freien und Unfreien Überhaupt mög-
lich geworden, für die Bestimmung des Standes der aus solchen
Ehen stammenden Kinder im fränkischen Recht massgebend.')
Denselben Grundsatz finden wir auch zu der Zeit, der
Burchards Statuten für Worms angehören, in Speier. Ans einer
Urkunde Bischof Walters von Speier*) ergiebt sich nämlich,
dass hier genau dasselbe Verhältnis zweier rechtlich gesonder-
ten Classen der bischöflichen Hörigen wie in Worms bestand
und dass die aus den Ehen derselben hervorgehenden Kinder
der „ärgern Hand“ folgten.3) Auch die niedriger stehende Classe
hatte Eigentum und konnte sich mit diesem selbst Erhebung in
die höhere verschaffen, was dann als Freilassung bezeichnet
wird.4) Ähnlich wird auch die Versetzung einer bisher einem
Privaten gehörigen Leibeignen unter die Oensualeu der Kirche
Altenmünster in Mainz Freilassung genannt.4) Die Freigelassne
und ihre Nachkommenschaft soll der Kirche jährlichen Zins
zahlen und unter dem Schutz ihrer Rectoren stehen, zugleich
aber wird ihr das Recht der Freizügigkeit gegeben.6) Es ent-
spricht dieser eigentümlichen Stellung der Censualen, dass sie
mitunter liberi oder iugenui genannt werden,7) andrerseits unter
der familia, ja den servi ecclesiae inbegriffen sind.8)
Jedenfalls sind sie zu Zins verpflichtet, unterliegen den
Todfallsabgaben und können wenigstens in bestimmten Fällen
wie die dagowardi zu täglichen Diensten herangezogen werden.
So war die ganze, aus älteren Zeiten stammende, Unterscheidung
zweier Classen innerhalb der bischöflichen familia, in welchen
noch die maucipia, die Vorfahren der dagowardi, gar keine
’) cf. meiue S. 39 N. 5 citierte Arbeit S. 19—21.
*) Remling N. 27.
*) ibid. : quud ipse duos fratres ... et sorores eonim . . . ex servili
patre et matre ingeuua progenitos . . . censnaies fecisset.
4) epiacopo . . licere, ecclesiasticos liberos facere.
*) B-W. XIV 21 (Wenck, Hess. Landesgesch. Bil. III Urkb. [Frnkf. 1803]
No. 33 p. 30) a iiigo servi tu tis absolvo . . . . ita nt ingenua sit.
•) Dass das „pergat, quocumque volnerit“ nicht als blosse Phrase auf-
gefasst werden darf, geht aus dem oben S. 36 angeführten hervor.
*) cf die oben z. B. S. 31 N. 4, S. 41 N. 4 angeführten Stellen.
*) z. B. W. U. 48 tit 30 (S. 44 Z. 2 ff.): ut in curriculo unius anni
XXXV servi sancti Petri . . ex servis eiusdem ecclesiae sint interempti.
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Recht« hatten, sicher schon in der ersten Hälfte des elften
Jahrhunderts des grössten Teils ihrer Bedeutung verlustig ge-
gangen. Später ist sie, ohne dass man von irgendwelchen ge-
setzlichen Massregeln ihrer Aufhebung hört, ganz verschwunden.
Beruht nämlich der Gegensatz der censuales und dagowardi
innerhalb der bischöflichen familia, wie gezeigt worden ist,
durchaus auf dem altgermauischen Gegensatz zwischen Freien
und Unfreien, so ist davon die zur Zeit der leges et statuta in
ihren Anfängen begriffene, später noch mehr Bedeutung ge-
winnende Absonderung der servientes episcopi von der übrigen
familia durchaus zu trennen. Dieser, mit der Enstehung des
Ministerialenstandes zusammenhängende, Gegensatz beruht viel-
mehr auf einer socialen Classenbildung, deren Hanptveranlas-
sung in der Exemtion gewisser, dem Bischof nahestehender,
Personen von den allgemeinen Gerichtsbehörden der familia lag.
Zun» Nachweise dieser Behauptung werden wir am bestell
von tit. 30 der leges et statuta ausgehen. Hier sind zunächst
Bestimmungen über die Bestrafung von Tödtungen von der la-
milia episcopi augehörendeu Personen getroffen ; dabei ist ausser
dem Fall, dass der Mörder selbst der familia angehört, auch
der berücksichtigt, dass er zu einer fremden familia gehört,
aber auf bischöflichem Boden sitzt. Dann fährt das Gesetz fort :
si auteui noster servitor qui in uostra curte est aut uoster
ministerialis talia audet praesumere, volumus, ut hoc sit
in nostra potestate et consilio nostrorum fidelium, qua-
liter talis praesumptio vindicetnr.
Sehen wir nun zunächst, was hier der Ausdruck ministerialis
bedeutet. In den statuta Burchardi wird er in der Einlei-
tung, sowie in den Titeln 2, 25, 29 und 30 erwähnt. In tit.
2 ist er offenbar identisch mit dem, ebenfalls in diesem Titel
vorkommenden, loci minister oder magister, der nach diesem sowie
nach tit. 12, 24, 25 die Einweisung in die Hofstätten und eine
Jurisdiction bei kleineren Streitigkeiten ausübt. Ist damit die
Bedeutung des Ausdrucks ministerialis in tit. 2 und tit. 25, wo
er ebenfalls mit loci minister identisch ist, ein für allemal fest-
gestellt, so geht aus der Erwähnung in den andern Titeln des
Gesetzes nicht hervor, dass in ihnen mit ministerialis etwas da-
von abweichendes bezeichnet werden soll. Nach der Einleitung
soll dieser Ortsvorsteher — der gleich hier ausführlich bespro-
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eben werden mag, da er auch noch für spätere Erörterungen
von Interesse ist — ebensowenig wie der Voigt oder Vitztum
selbständig neue Rechtsnormen einführen.1) Nach tit. 29 gehört
das Amt zu derjenigen, welchen sich der Fiscaliu nicht ohne
weiteres entziehen darf, und im tit. 30 wird der Ministerial, wie
wir saheu, besondem Bestimmungen unterworfen, wenn er einen
Mord begangen hat. Es liegt hier also eine ganz bestimmte
Beamtung vor, die der Bischof einem seiner Leute überträgt.
Das wird auch allgemein zugegeben.*) Jedoch halten Gengier*)
und ebenso auch neuerdings Roth von Schreckenstein1) den
ministerialis der tit. 29 und 30 für einen am bischöflichen Hofe
lebenden Wirtschaftsbeamten, der mit dem in den andern
Titel vorkommenden Ortsrichter, der ansser minister loci auch
ministerialis genannt werde, nicht verwechselt werden dürfe; nur
letztrer entspreche dem unter den Kölner Dienstmannen begeg-
nenden advocatus, qui reditus curtium episcopalium colligit et
eonservat. Allein tit. 2 sagt ausdrücklich, dass der hier er-
wähnte minister loci oder miuisteralis, den Gengier und Roth von
Schreckensteiu nur für einen Ortsrichter halten, auch die
Anweisung von frei gewordenen bischöflichen Hufen an die Mit-
glieder der familia zu vollziehen hatte.
So sind in Worms jurisdictionelle und administrative Be-
fugnisse in dem untersten Ortsbeamten, dem Ministerial, ver-
schmolzen, wie sich später ähnliches bei dem Heimburgen wahr-
') ne aliquis advocatus sen vicedomiuns aut ministerialis . . . novi ali-
qnid snbinferre posset, sed una eademque lex . . .
*) cf. Fürth, Ministerialen (Köln 1836) 8. 41, 42, Gengier S. 8, Nitzsch 8. 75.
238, Hegel Monatsschrift 1854 8. 171, Schaube Worms S. 259. Andrer Mei-
nung ist allerdings Waitx V. G. V 432, der auch die angeführte Stelle Hegels
missverstanden zu haben scheint Waitz a. a. O. glaubt, dass in tit. 29 mit
ministerialis nicht ein bestimmter höherer Verwaltnngsbeamter gemeint sei,
sondern dass .nur wie in tit. 30 ein Hof- und anderer Beamter neben ein-
ander genannt werden.“ Doch kann wohl mit den vorher genannten For-
schern ans den Worten des tit. 29 ad alind servitium ponere non debeat,
nisi ad camerariura aut ad pincemam vel ad infertorem vel ad agasonem
vel ad ministerialem mit Sicherheit geschlossen werden, dass hier unter
ministerialis eine ganz bestimmte Beamtung zu verstehen ist.
•) S. 8, 32.
4) Ritterwürde und Ritterstand. (Freiburg 1886.) 8. 462.
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nehmen lassen wird.1) Auch existirt im Mittelalter überhaupt
keine so principielle Scheidung zwischen den Beamten der Selbst-
verwaltung und den gruudherrschaftlicheu ,*) dass wir anznneh-
men brauchen, dass in demselben Gesetz unter demselben Namen
zwei ganz verschiedene Beamte verstanden werden müssten.
Es ist also ganz unbegründet, unter dem Beamten, der vom
Bischof zu seinem Ministerial gemacht wird, etwas vom loci
minister verschiedenes zu verstellen. Aus einer ums Jahr
1000 ausgestellten Urkunde ergiebt sich auch, dass im Herr-
schaftsgebiet des Wormser Bischofs die Ministerialen auch die
Erhebung der Wergeider für den Bischof zu besorgen hatten, 3)
was ganz gut mit ihrer Stellung als Gerichts- und bischöflicher
Wirtschaftsbeamter übereinstimmt. Ähnlich scheinen nach einer
Urkunde Conrads II aucli in der Grundherrschaft des Speirer
Bischofs die bischöflichen Ministerialen im elften Jahrhundert
sowohl jnrisdictionelle als wirtschaftliche Befugnisse gehabt zu
haben.4) Bezeichnet aber in der lex Burchardi ministerialis ent-
schieden eine bestimmte Beamtung, so muss es auch als höchst
unwahrscheinlich erklärt werden, dass etwa in der genannten
Speier betreffenden Urkunde oder sonst irgendwo am Mittel-
rhein im elften Jahrhundert unter Ministerialen die bischöflichen
Beamten schlechthin oder eine besondere Classe der bischöflichen
familia verstanden wären.
Kehren wir nun nach dieser Feststellung der Bedeutung
von ministerialis in den leges et statuta zu der Stelle des tit.
30, von welcher wir ausgingen, zurück.5) Hier ist für die ge-
nannten bischöflichen Lokalbeamten sowie für die servitores in
curte die besondere Bestimmung getroffen, dass sie nach Gut-
befinden des Bischofs gerichtet werden sollten, der dann aber
•) cf. vorläufig Arnold I S. 202 ff.
*) vgl. Lamprecht D. W. passim z. B. I 173.
*) W. U. 37: Qnae potestas talis fuit, ut si ullus oonsualium liomiuuin
iuterficeretur, ministerialea nostri wirgeldum ad cameram noatram exigereut.
4) Remling Urkb No 26: ne aliquis . . . potestatem babeat, . . . para-
tas vel coHcctas faciendi aut fideiugsores tollendi ... vel aliquid ex indici-
ali sententia exigendi, preter advocatum et ministeriales, quos cpiscopns et
fratres Spirensis ecclcsie cidein loco prefccerint Dagegen, dass hier unter
Ministerialen schlechtweg Beamte verstanden weiden, spricht der Sprachgc-
gebranch in Worms.
*) cf. oben S. 42.
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seine fideles zu Rate ziehen werde. So unterstanden also minis-
teriales in curte und servitores bei Mordanklagen nicht der re-
gulären Gerichtsbarkeit der farailia. Dies ist wohl folgender-
massen zu erklären. Hatte die Kirche schon in fränkischer
Zeit verordnet, den Sklaven nicht ohne vorherige Verurteilung
hinzurichten, •) so hatte sie um so mehr ihre eigenen Leute, so-
wohl die C-ensualen als die nach Volksrecht des Rechtsschutzes
überhaupt entbehrenden Leibeigenen, eines ordentlichen Gerichts
teilhaft werden lassen. Gerade gegenüber den am bischöflichen
Hofe selbst beschäftigten und denjenigen Mitgliedern der familia,
welche mit der Beaufsichtigung und dem Gericht über die
übrigen betraut waren, schien aber eine strengere Disciplin, als
wie sie durch die eigentlichen Gerichte gegeben werden konnte,
geboten ; andrerseits musste aber doch ihre Verurteilung in
diesen oft dem Grundherrn und dessen Verwaltung störend sein.
Auch mochte es sowohl bei den Beamten wie bei der Hofdiener-
schaft in hohem Grade wichtig erscheinen, sie der ja oft mit
den Interessen der Grundherrschaft in Widerstreit stehenden
Vogtsgewalt zu entziehen.*) Solchen Erwägungen oder vielleicht
auch darauf beruhenden frühem Einrichtungen mag Heinrich II
gefolgt sein, als er in seine Bestimmungen gegen die Fehden
der Hörigen von Lorsch und Worms nach ausdrücklicher Fest-
setzung nicht durch Geld ablösbarer Strafen an Haut und Haar
folgende Verordnung aufnehmen liess:
de servientibus episcopi et abbatis illud constituimus, ut
si quis illorum tale aliquid fecerit, predictae penae subia-
ceat vel decera libris denariorum redimatur.*)
So wurde, während sonst persönliche Verwendung des
Grundherrn resp. seiner Beamten nichts gegen den Vollzug der
Strafe an Haut und Haar helfen sollte, doch mit den servientes
der Grundherrn eine Ausnahme gemacht. Sie sollten sich von
der Strafe an Haut und Haar freikaufen können, resp. von
ihrem Grundherrn freigekauft werden dürfen.
') cf. Concil. Epaon. c. 84 (Bruns, Canon, apost. et concil. Berlin 1839
t. II p. 171): Si qnis servnm proprium sine conscientia iudicis occiderit, exconi-
mnnicatione biennii effnsionem sanguinis expiabit.
*) c l Lamprecht D. W. I 1128, 1129.
*) W. U. 47
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Näheres über die Classe der servientes erfahren wir nun
durch Vergleichung der folgenden Quellenstellen. In tit. 30 der
Statuten, welcher auf dem oben citirten kaiserlichen Decret be-
ruht, wurden, wie wir sahen, die servitores in cnrte und die
Ortsvorsteher dem consilinm fidelium unterstellt. Combinieren
wir hiermit tit. 29 desselben Gesetzes. In diesem werden als
Ämter, die einem Fiscalinen nicht gegen seinen Willen über-
tragen werden dürfen, ausser dem des Ministerials das des
Kämmerers, des Mundschenks, des Truchsessen und des Mar-
schalls genannt. Die daraus entspringende Vermutung, dass
die genannten Beamtungen. mit Ausnahme der des Ministerials,
der ja nicht am Hofe war, die hervorragendsten Stellungen von
servitores in curte bezeichnten, wird durch das von Heinrich II
für die Leute von Fulda und Hersfeld erlassne Edict bestätigt,1)
das mit dem für Lorsch und Worms bestimmten im Sinne und
vielfach auch im Wortlaut ttbereinstimmt.') Hier werden dem
von uns erörterten ganz analog die durch Tödtung und Heim-
suchung verwirkten Strafen an Haut und Haar für durch
Geld ablösbar erklärt, wenn jemand de kamerariis et pincernis
aliisque honoratis utrorumque abbatum servitoribus die betreffen-
den Delicte begangeu. Das in tit. 30 der leges Burcliardi er-
wähnte consilium fidelium wird nach dem im deutschen Recht
herrschenden Grundsätze, jeden möglichst von seinesgleichen
richten zu lassen, auch vorwiegend aus servitores in curte und
ministeriales in dem angegebenen Sinne bestanden haben. Da-
mit stimmt nun vortrefflich, dass der Abt von Lorsch ca. 1040 in
seinem Strafgesetz für seine familia sagt, er habe dasselbe
cum consilio advocatorum (meorum) et militum erlassen.*) Viel-
fach sehen wir in dieser Zeit, wenn gesagt wird, dass eine
Handlung auf den Rat bestimmter Personen unternommen sei,
erst einen weiteren, dann einen engeren Kreis genannt. So ist
sicher auch hier der Gegensatz zwischen advocati und milites
kein prägnanter, vielmehr gehören auch die advocati zu den
milites. Dann aber entsprechen diesen Lorseher advocati genau
') Dronke Cod. diplom. Fuld. I p. 349.
’) vgl. B resslau Heinrich II Bd. III p. 293.
*) Chron. Lauresh. S. S. XXI p. 411. Dies Gesetz lehnt sieh wie tit. 30
der lex Burcliardi vielfach an W. U. 47 an nnd kann daher zur Interpreta-
tion dieser Urkunden vorzüglich herangezogen werden.
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47
die Ministerialen des Wormser Hofrechts, den milites die ser-
vieutes. Damit gelangen wir auch zu einer genügenden Er-
klärung der bisher noch streitigen1) Bedeutung von milites in
der Einleitung der leges et statuta. Das dort erwähnte con-
silium militum ist mit dem, aus den hervorragendsten servientes
in curte und den ministeriales bestehenden, consilium fidelinm
des tit. 30 identisch. Die bischöflichen Beamten, sowohl die den
einzelnen Besitzungen Vorgesetzten, wie diejenigen, denen ein be-
stimmtes Hofamt zufiel, wie die Aufsicht über des Bischofs Küche,
Keller und Marstall, trugen ritterliche Waffen und konnten da-
her milites genannt werden. Dem entspricht es durchaus, dass
wir den Bischof Burchard in seiner Biographie immer von
milites umgebeu sehen*) und dass gerade die milites bei den
Bischofswahlen von allen Laien den meisten Einfluss üben.’)
Konnte mit miles an sich jeder, der ritterliche Bewaffnung
trug, bezeichnet und konnte daher das Wort in sehr verschie-
denem Sinne gebraucht werden, so sind doch auch in der lex
Burchardi und so überhaupt am Mittelrhein im elften Jahr-
hundert unter milites die nach Ritterart bewaffneten Beamten
der Grossgrundherrschaft zu verstehen. So werden z. B., als
bei einem Grenzstreit zwischen Worms und Lorsch die Ent-
scheidung durch kaiserliches Decret einer Commission übertragen
wurde, als Mitglieder derselben ausser dem Grafen des be-
treffenden Gaus und mehreren Schöffen, welche die kaiserliche
Autorität zu vertreten hatten, auch ein Wormatiensis miles
Sigibodo, sowie ein Laureshamensis miles Wernherus genannt,4)
welch’ letztere offenbar die Interessen ihrer Grundherren wahr-
zunehmen hatten.
So bezeichnet servientes und servitores im elften Jahr-
') Arnold V. Ci I 68, Geugler S. 6. Arnold a. a. 0. bezeichnet die
Milites als „Dieustmanuen“, weiche neben den bischöflichen Beamten (ministri)
als Ministerialen die erste Stelle iu der familia eingenommen. Abgesehen
davon, dass Ministerial in der spätem Bedeutung des Worts in der lei noch nicht
gebraucht wird, ist nicht einzusehen, warum die bischöflichen Beamten nicht
zu den milites gerechnet wurden. Wenn Gengier a. a. 0. meint, die milites
hatten ausserhalb des Hofverbandes gestanden, so ist das nach dem oben er-
örterten nur in Beziehung auf den in tit. 30 behandelten Fall riohtig.
’) Vita Burchardi c 22 (S. 8. IV p. 84ö), c. 23 (p. 846).
’) Boos Worms. Urkb. 8. 352 N'o. 9. cf. ancli oben S. 30, Nitzsch S. 140.
4) U 41, Schaunat II Nr. 46 p. 39.
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hundert die unter besonderer Disciplin stehenden, deshalb aber
auch von den gewöhnlichen Gerichten eximirten Personen inner-
halb der bischöflichen fämilia. Es werden darunter sowohl
die einem bestimmten Bezirk Vorgesetzten bischöflichen Beamten,
wie die in Folge der ihnen zugewiesenen Beschäftigung dauernd
am bischöflichen Hof lebenden Personen, hohe wie niedere, be-
zeichnet. Sie alle sind von den gewöhnlichen Gerichten
der Grundherrschaft eximirt; aus der Beratung des Bischofs
bei Verhängung von Strafen über diese Personen (consilium
fidelium) hat sich dann allmählich ein besonderer Gerichtsstand
derselben entwickelt. Ganz besonders werden eines solchen
die höher stehenden Personeu aus diesen servientes, die milites,
teilhaft.
Das aber muss hervorgehoben werden, dass diese Classe
der servientes mit der der dagowardi nichts zu thun bat. Be-
kanntlich hat die Stellung der in härtester Knechtschaft leben-
den Unfreien unter die allgemeine Gerichtsbarkeit damit be-
gonnen, dass sie in Capital verbrechen (besonders homicidium
und incendium) unter den öffentlichen Richter gestellt wurden. *)
Die servientes des elften Jahrhunderts hingegen sollten gerade
bei Tödtungen und der meist mit Brandstiftung verbundenen
Heimsuchung nicht im öffentlichen Gericht verurteilt, sondern
nach Gutbefinden des Grundherrn behandelt, resp. von den ent-
ehrenden Strafen an Haut und Haar freigekauft werden können.*)
Ferner traten auch Censualen in diesen Stand ein, ja, konnten
in gewissen Fällen sogar zum Eintritt in denselben gezwungen
werden;*) selbst Vollfreien mochte die Stellung bischöflicher Hof-
beamten oft verlockend erscheinen
Auf die spätere Entwicklung, die unten zu besprechen
sein wird, kann hier nicht näher eingegangen werden. Nur sei
es gestattet, ehe wir diese Untersuchung über die servientes
schliessen, noch einen Blick auf die Litteratur zu werfen. Dass
serviens, servitor, minister, ministerialis, sowohl alle beim Dienst
des Bischofs beschäftigten Personen, als auch speciell die höheren,
wie auch speciell die niederen bezeichnen kann, hat besonders
') vgl. Georg Meyer in Ztsclir. il. Snvigny-Stift. Bd. III S. 111.
•) vgl. oben S. 46.
*) Leg. et «tat. tit. 29.
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Waitz hervorgehoben.1) Ebenderselbe betont auch,*) dass „was
ursprünglich als unterste Stufe der Abhängigkeit galt, oft die
Staffel höherer Geltung geworden ist.“ Nur die scharfe Unter-
scheidung der von den alten geburtsständischen Unterschieden
ganz unabhängigen neuen socialen Classenbildung, die freilich
wohl nicht überall so klar wie am Mittelrhein entgegentritt,
findet sich bei ihm noch nicht. Auch v. Maurer*) unterschied
schon die innere und äussere familia der Grundherrschaft, was
dem Gegensatz der servientes zu der übrigen familia ungefähr
entspricht; nur beruht nach Maurer der Unterschied darauf,
dass die einen innerhalb, die andern ausserhalb der Grund-
herrschaft wohnen, während doch wenigstens am Mittelrhein
auch die auf dem Lande angesessenen Ministerialen zu den
servientes zählen.*)
Unabhängig von den alten geburtsständischen Unterschieden,
mit der Ausbildung eines bevorrechteten Standes der servientes
resp. der Ministerialen in einigen Punkten zusammenhängend,
aber doch durch ganz andere Ursachen hervorgerufen, ist die
sociale Classenbildung, zu der wir jetzt übergehen.
Aus dem früher angeführten ging hervor, dass nicht nur
die Censualen, sondern auch die Dago warden dem Rechte des
Todfalls unterworfen waren. Daraus, dass nach den zahlreichen
‘) V. G. V 295 cf. 428 ff.
*) ibid. S. 198.
*) Gesch. der Fronhöfe (Erlangen 1882) I 256.
*) Es sei erlanbt, bier anf die analogen Verhältnisse in StrnBsbnrg zn
verweisen. Dort sind nach § 10 des ersten Stadtrechts die Ministerialen und
die Beamten des Erzbischöfe von der Gerichtsbarkeit des Scholtheissen exi-
miert; ebenso nach § 38 die Dienerschaft der Klöster. Neuerdings sind nun
gerade die Strassburger Verhältnisse von der herrschenden Ansicht (vgl. Ar-
nold I S. 88 ff.) abweichend, aber durchaus unrichtig von v. B e 1 o w (Sybel
Hist. Zeitschr. Bd. 58 S. 205 ff. n. Enstehung der Stadtgemeinde S. 35 ff.)
dargestellt worden. Ohne die oben citierten Warnungen der, grade seiner
Ansicht nach vernachlässigten, Forschungen von Maurer und Waitz irgend-
wie zu beachten, sieht Below in jeder Erwähnung von familia, miuistri oder
servientes „hörige Handwerker“ gemeint. Besonders hierdurch ist er dann zu
seiner grundfalschen Benrteilnng der Strassburger Verhältnisse geführt wor-
den die sofort erhellt, wenn man § 6 der citierten Rechtsquelle mit Below s
Erörterungen vergleicht; zur Erklärung des ersten Strassburger Stadtrechts
«. B. des darin vorkommenden Ausdrucks homines ecclesiae hätte die Analogie
des Gesetzes Burchards, nicht die der Rechtsaufzeichnungen von Hameln ans dem
dreizehnten Jahrh. herangezogen werden müssen vgl. unten Anli. I.
Koehne, Ursprung der Stadtverfsssung in Worms, Speier und Mainz. 4
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Rechtsquellen, aus welchen wir über die Lage der Ministerialen J)
unserer Bistümer genaueres erfahren, die Todfallsabgaben von
ihnen erhoben wurden, ergiebt sich, dass die Ministerialen als
solche wenigstens am Mittelrhein nie davon befreit waren.
Dagegen ist in Speier eine Classe der Bewohner höchst
wahrscheinlich früh von dieser Verpflichtung freigeworden, die-
selbe Classe, die sich auch in Worms und Mainz allmälig aus
der übrigen bischöflichen familia als besonders bevorrechtete
heraushob. Diese Classe bestand aus den durch Handel reich
gewordenen Kaufleuten, deren offizielle Vertretung in Speier der
Gesellschaft der Hausgenossen zugefallen war. Diese Vereini-
gung hat , wie wir später sehen werden , in den Städten am
Mittelrhein und spec. in Speier vielfach die Rolle der Kölner
Gilde als Sammelpunkt der kapitalistischen Elemente der Bürger-
schaft gespielt. Dass die Mitglieder der Hausgenossengesell-
schaft vom Buteil freigeblieben, hat Rau*) richtig aus einer
Urkunde Ludwigs des Baiem in Verbindung mit dem bekann-
ten Privileg Heinrichs V, in welchem dieser das Buteil aufhebt,
geschlossen. Heinrich V verordnet nämlich in dieser Urkunde,8)
dasä die vom Buteil befreiten Einwohner von Speier am Jahres-
tage seines Vaters mit Kerzen zur Abendmesse kommen sollen.
Kaiser Ludwig bestätigt nun 1330 dem Münzmeister das Recht
der Beaufsichtigung dieser damals noch von den Zünften dem
Andenken Heinrichs IV gebrachten Huldigung.4) Danach schei-
nen die Hausgenossen, die sonst gewiss auch erwähnt wären,
an dieser Leistung nicht teilgenommen zu haben, und gerade
dieser Umstand lässt wieder darauf schliessen, dass sie schon
tu Heinrichs V Zeit vom Buteil befreit gewesen.
So scheint mir, während die alten Unterschiede zwischen
Freien , Vogteileuten und Leibeignen mehr und mehr verschwan-
den, sich eine neue Standesgliederung nach Beschäftigung und
Besitz gebildet zu haben; dieselbe gab freilich den darin be-
günstigten zunächst nur tatsächliche, und erst allmälig auch
l) vgl. die, eine Bewidmung mit Mainzer Ministerialenrecht enthaltende,
freilich verdächtige Urkunde Erzbischof Adalberts B — W XXV 33 (Grandi-
dier Hist. d’Alaace t. II p. 223), ferner B-W XXV 239 (Guden I p. 99).
*) Eegimentsverf. Bd. I S. 10 N*.
*) U. 14.
‘) U. 386 S. 316 Z. 6.
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51
mehr und mehr rechtliche Vorzüge. Der Handel, welcher im
elften Jahrhundert in Speier erblühte und sich in ebendieser
Zeit in Worms und Mainz bedeutend hob, schuf in allen diesen
Städten eine Reihe von vermögenden Leuten, welche auch Welt-
erfahrung und Geschäftskenntnis gesammelt hatten. Bereits von
Otto I war ein reicher Mainzer Kaufmann als Gesandter nach
Constantinopel geschickt worden.1) Als Erzbischof Sigfried I von
Mainz 1064 eine Pilgerfahrt ins heilige Land unternahm, fiel die
grosse Anzahl von reichen Leuten , die sich in seinem Gefolge
befanden, vielfach auf, wie aus ihrer Erwähnung in von einander
unabhängigen Quellen hervorgeht.*) Am Ausgang des elften
Jahrhunderts vermochte ein Mainzer Bürger Wignand dem
Kloster Hirschau 11 Wagenladungen Wein zu senden;*) durch
seine Gaben war auch die Stiftung des Klosters Camberg mög-
lich.4) Um dieselbe Zeit befreite ein Wormser Bürger Liut-
fred dadurch,, dass er das Kloster Reichenberg zum Erben ein-
setzte, dasselbe aus grosser finanzieller Bedrängnis:5) ein and-
rer Wormser Bürger, Erkanbert, stiftete im Jahre 1125 das
Kloster Frankenthal.6) Wesentlich unterstützt durch die Ca-
pitalskraft der rheinischen Städte vermochten endlich Hein-
rich IV und Heinrich V ihre jahrelangen Kriege gegen welt-
liche und geistliche Rebellen zu führen.
Wenn hier und im folgenden von Kaufleuten schlechthin
gesprochen wird, so mag noch ausdrücklich darauf hingewiesen
werden, dass dem Sprachgebrauch der Quellen entsprechend unter
Kaufleuten alle diejenigen verstanden werden, welche ihre Waaren
auf dem Markte zu Verkauf stellen. Wie schon das canonische
•) Liutpr. VI c. 4 (M. G. in 8° ed. Dflmniler p. 120) : domini nostri tnnc
regia, nunc imperatoria, . . . nuntinm, Lintefredmn scilicet, Magontinum in-
stitorem ditisaimum.
*) B-W XXII 31.
•) Vita Willhelmi abb. Hireaug. S. S. XU p. 216 c. 13.
*) Boehmer Fontes I p. 463.
•) Vita Theogeri epiac. Metenais c. 19 S. 8. XU p. 458.
*) Schannat Up. 65 N. 72: Ego Burchardua, Worin. eccL epis. . . .
committo memoriae, qualiter in villa, quae Frankenthal nominatur, Erkenbertus,
iraius Crbis noatrae civia, eccleaiam . . . dedicari fecit ot . . conatitnit. cf.
Ludevrig Reliqn. Manuscript. t U p. 88 ssq.
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62
Recht,1) so sieht auch der heutige gewöhnliche Sprachgebrauch in
der Regel einen Kaufmann nur in Demjenigen, der die Güter
in unveränderter oder doch wenigstens wesentlich unveränderter
Form wieder verkauft. Fabrikant und Handwerker werden votn
Kaufmann geschieden. Ganz abweichend ist der Sprachgebrauch
in Deutschland in der von uns betrachteten Zeit mindestens
vom 11. bis 13. Jahrhundert. Damals wurden Schwertfeger,
Tischler, Zimmermann und andere Handwerker noch durchaus
zu den Kaufleuten gerechnet,®) da sie ihre Waaren auf dem
Markte ihrer Heimatsstadt auszustellen und selbst fremde
Märkte zu beziehen pflegten.5) So kam es, dass, als der über-
wiegende und in politischer und socialer Hinsicht massgebende
Teil der Stadtbewohner zur Beschäftigung mit Handwerk und
Handel übergegangen war, die Worte Städter und Kauf-
mann oft geradezu identisch gebraucht wurden.4) Gehen wir
*) c. IJ § 2 D 88 : Quicnmqe rem comparat, non nt ipsam reni integram
et iuimutatam uendat, sed ut materia sibi sit inde aliqnid operandi, iiie non
est negotiator ; qui autem comparat rem nt iliam ipsam integram et immntatam
dando lucretur, illc est mercator vgl. Goldschmidt Handelsrecht (Stuttg. 1875)
§ 41 N. 1.
*) cf. Waitz V. G. V 357 und die daselbst N. 2 citirte Stelle. Be-
zeichnend ist es auch, dass die älteren Quellen für den Grosshändler keine
specifische Bezeichnung haken. „Erst die jüngere Statuten- und Urknnden-
sprache bietet uns in den Ausdrücken gewelbherren oder kanflierren Special-
namen für den Grosshändler dar* (Gengier Deutsche Stadtrechtsaltertümer
[Erl. 1882] S. 455, 450 vgl. auch Bücher Bvlkrng. von Frankfurt a. M. [Titbing.
1886] S. 153).
*) Vgl. ausser der bei Waitz V. G. V 357 N. 3 citierten noch folgende schon
der karolingischen Zeit angehörende Stelle W. U. 17 : nt quanticumque nego-
tiatores vel artifices . . apud Uuangionem civitatem devenissent, omne telonenm
undecumque fiscus telonenm exigere poterat, eidein ecclesie conces-
sissent. Wie Heusler Instit. II S. 313 N. 2 bemerkt, ist das vel im Sprach-
gebrauch jener Zeit am besten durch uuser „und allfällig* wiederzugeben.
4) cf. Gaupp Stadtrchte II S. 6, Homeyer Sachsenspiegel Bd. II TI. 2 S. 299,
Waitz V. G. V 357 N. 1 Z. 4, Gengier Deutsche Stdtrsaltertümer S. 453, Beh-
rend Handelsrecht (Berlin 1886) S. 21. Von den bei Gaupp und Waitz a. a.
0. angeführten Beispielen wird trotz Osenbrüggen’s (Studien z. deutsch, u.
Schweiz. Bechtsgesch. Basel 1881 S. 23 ff.) und Heinrich Maurer's (Ztschr.
f. Gesch. d. Oberrhns. N. F. II S. 189) Widerspruch auch in Conrads von
Zähringen Prvlg. für Freiburg an der Identität der mercatores und burgenses
festgehalten werden müssen. Da nach der Einleitung die Kaufleute einen
bestimmten Bauplatz erhalten, so sind sie nach tit. 40 derselben Urkunde
sämmtlich burgenses, vgl. für die Identität auch tit 5. Auch die von Osen-
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nun dazu über, zu zeigen, wie den Kaufleuten (im ange-
gebenen Sinne) allmillig ein maasgebender Einfluss in Rechts-
sprechung, Rechtsbildung und Verwaltung, welche Gebiete ja
nicht so scharf und principiell wie heute geschieden waren, und
schliesslich im politischem Leben der Städte zufiel. In dieser Unter-
suchung selbst wird es auch gelingen, darzntun, dass diese Kauf leute
durchaus nicht bloss oder auch nur vorwiegend Nachkommen freier
und altangesessener Stadtbewohner waren. Es wird sich vielmehr
zeigen, dass die sich neu bildenden Ständeunterschiede mit der
aus älterer Zeit stammenden Teilung der Stadteinwohner in
Freie, Hörige und Leibeigene garnichts zu tun haben.
Capitel IV.
Wachsender Einfluss des Kaufmannsstandes.
Auf dreierlei Weise erlangte der Kaufmannsstand in den
mittelrheinischen Städten jenen bestimmenden Einfluss, der sich
zuletzt in den meisten Beziehungen des Staats- und Rechts-
lebens zeigte:
1) durch genossenschaftliche Organisation und Erlangung
öffentlicher Rechte für dieselbe;
2) durch Teilnahme am Rat des Bischofs,
3) durch Besetzung der Schöffenstühle.
Was zunächst den ersten Punkt betrifft, so ist uns am
Mittelrhein von einer genossenschaftlichen Organisation der
Kaufleute in der angegebenen Bedeutung d. h. aller derer, welche
auf dem Markt ihre Waren feilboten, der uns vielfach im ger-
manischen Rechtsleben entgegen tretenden sog. Gilde, nur wenig
direkt überliefert; nicht einmal der Gebrauch des Namens der
Gilde ist uns für Süddeutschland bezeugt.
brüggen 3. 25 herangezogene Stelle kann durchaus nicht für einen Gegensatz
▼on burgenses und mercatorcs in den z&hriugischen Städten angeführt wer-
den. Diese Stelle besagt vielmehr nur, dass — wenn schon jeder Bürger,
sofern nur nicht schon der Process bei dem Schnltbeisseu begonnen, sich durch
gütliche Uebereinkunft mit dem Gegner dem Schultheissenge rieht entziehen
kann — bei Streitigkeiten von Kaufleuten über ihre Waaren stets die ge-
nossenschaftliche Gerichtsbarkeit eintreten soll. Dauach konnten die Kauf-
lente sehr gut einen, ja den zahlreichsten Teil der Bürger ausm&cbeu.
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Zwei der bedeutendsten Kenner der socialen Einrichtungen
des Mittelalters, Schmoller1) und Nitzsch,*) behaupten sogar,
dass diese genossenschaftliche Organisation dem Süden Deutsch-
lands überhaupt gefehlt habe. Schmoller schreibt dies nament-
lich der älteren Cultur desselben zu. „Da war in den Bischofs-
städten mit ihren älteren Ordnungen von Handel und Gewerbe,
Markt und Verkehr, mit ihrem Adel und ihren Ministerialen-
geschlechtern weniger Platz und weniger Bedürfnis für eine
Bildung von Kaufmannscorporätionen, von kaufmännischen Vor-
rechten und Gilden.“8) Nitzsch4) kommt sogar in Folge der
Ähnlichkeit der Gildeeinrichtung in Sachsen, England und Schles-
wig, welchen Ort noch Adam von Bremen „eine Stadt der über-
elbischen Sachsen“ nennt, zu der Annahme , dass wir es in der Gilde
„mit einer uralten sächsischen Bildung zu tun haben, deren
Bedeutung für den Verkehr in die Zeit der alten Stammesver-
fassung, ja vielleicht vor die Zeit der Besiedlung Britanniens
zurückreicht.“ Ist aber nicht Groningen, dessen Gildezustände
Nitzsch ausführlich schildert,5) auf friesischem und sind nicht
Köln und Utrecht, wo er ebenfalls eine den übrigen analoge
Kaufmannsgilde annimmt6), auf fränkischem Rechtsboden gelegen?
Auch in Süddeutschland finden wir ganz zweifellose Docu-
mentationen einer genossenschaftlichen Organisation der Kauf-
leute wenigstens an einer Stelle, in Regensburg. Dort ist uns
spätestens für das letzte Viertel des zwölften Jahrhunderts eine
Vereinigung der gesammten Kaufmannschaft, die Hanse, bezeugt,
deren Vorsteher, der Hansgraf, eine Gerichtsbarkeit in Handels-
sachen besass.7)
‘) Strassb. Tücher- und Weberrunft (Strassburg 1881) S. 40.
’) Über die niederdeutschen Genossenschaften des 12. und 13. Jahrbdrta.
(Sitzungsbericht der Berliner Akad. 1879) S. 6, S. 26 ff.
*) Schmoller a. a. 0.
‘) a. a. 0. S. 27.
•) Sitzungsber. d. Bert. Akad. 1880 S. 382—403.
*) ibid. 8. 394 vgl. auch Schoop S. 141, 142, wo das Bestehen einer
Kaufmannsgilde in Trier sehr wahrscheinlich gemacht wird.
’) Monom. Boica XIII p. 70. N. 67; Urk. Philipp« von Schwaben 9. März
1207 (B-F. 142). Vgl. F. Gfrörer. Vrfssngsg. von Regensburg S. 61, Schmeller
Bair. Wörterbuch S. 1134 s. v. Hanse, Hansa. Eine Hanse als Kaufmanns-
gilde ist übrigens auch in Hesaen-Cassel bezeugt vgl. Vilmar Idiotikon von
Kurhessen (Marburg 1869) S. 149 s. v. Hansegrebe.
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Demnach kann, falls sich genügende Spuren einer ge-
nossenschaftlichen Organisation der Kaufleute am Mittelrhein
finden, daratas auf die Existenz einer solchen geschlossen
werden, mag sie nun Gilde oder Hanse oder wie sonst immer
genannt worden sein. Findet sich doch auch in Köln, aus dem
eine viel reichre Überlieferung als aus den mittelrheinischen
Städten sich bis in unsre Zeit erhalten hat, der Name Gilde
nur in drei Urkunden, nämlich in dem bekannten Mitglieder-
verzeichnis derselben und in den beiden Bürgerlisten des zwölf-
teu Jahrhunderts, erwähnt.') Demnach kann es als festgestellt
angesehen werden, dass hier bereits im Anfang des elften Jahr-
hunderts*) eine genossenschaftliche Organisation aller Kaufleute
bestand, die uns in der Mitte des zwölften als Gilde, später
als Richerzeche entgegen tritt.5) Diese Vereinigung umfasst alle
') Vgl. Kruge in Zeitgehr, der Savig.-Stftng. IX S. 164 N. 3.
*) Vita Heribeiti c 9 (8. 8. IV p. 748).
*) Hoeniger Westdeutsche Ztschr. II 247 vgl. auch Wilda Gilde 8. 176 ff.
Neuerdings hat Kruse (Ztschr. d. Savigng. St. IX 162—201) diese Ableitung
der Bicherseche aus der Gilde in Abrede gestellt. Eine ins einzelne gehende
Widerlegung aller von Kruse gegen die Resultate der Forschungen Hoeni-
gers erhobenen Einwände würde an dieser Stelle zu weit führen. Jedoch
mag hier nach einer Hittheilung Hoenigers darauf hingewiesen werden, dass
gleich die erste von Kruse’s Einwendungen (a. a. 0. 8. 169) offenbar völlig unzu-
treffend ist, dass nämlich die ,ca. 1300“ Mitglieder der Gilde , deren Namen uns die
aus der Mitte de* 12. Jahrhunderts erhaltene Gildeliste überliefert habe, im Laufe
zweier Menschenalter auf die 30 vollberechtigten Mitglieder der Bicherzeche
zusammengeschmolzen seien. Es liegt nämlich zunächst kein Grund vor, nur
die Mitglieder erster Klasse innerhalb der Bicherzeche, und nicht auch die
zweiter, .deren Zahl ca. 1360 als 361 angegeben wird“ (Kruse S. 171), als
Überreste der frühem Gildemitglieder anzusehen. Dazu kommt noch, dass
die Gilde zur Zeit der Liste nur etwa 600 Mitglieder enthielt, da fast alle
Namen darin doppelt Vorkommen, wie jedem, der die Liste oder eine Abbil-
dung derselben gesehen, bald deutlich wird, und da ferner nicht der Per-
sonalbestand eines bestimmten Zähltages, sondern eine durch etwa zwanzig
Jahre geführte Mitgliederliste vorliegt, mithin ein Brachteil bei der Fest-
stellung der jeweilig vorhandenen Personenzahl auszusebeiden ist. Ein Zu-
sammenschmetzen der Mitgliederzahl einer sich aristokratisch oder richtiger pluto-
kra tisch abschliessenden Corporation auf etwa '/» der frühem Mitgliederzahl
bat doch nichts besonders auffallendes. So sind denn auch in der Liste nicht je
2 pincemae, monetarii, pannifices, wie Kruse S. 160 meint, erwähnt, sondern
nur je einer, wie schon die stets gleichen Namen dieser Doppelgänger dartun.
Wäre es endlich, was demnach noch sehr zweifelhaft ist, auch sicher richtig,
dass die Gilde zur Zeit der Liste noch .eine Genossenschaft von grösstem
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in Köln ansässigen oder auch nur dort Handel treibenden Kauf-
leute.1) Die Entscheidung der Streitigkeiten derselben unter
sich und die Gewerbegerichtsbarkeit über Gilde- und Nichtgilde-
genossen, sowie ferner die Gewerbe- und Handelspolizei ist zum
Teil noch später in den Händen der officiales de richerzecheyde,
der Vorsteher dieser Genossenschaft.*)
Dass auch in den inittelrheinischen Städten eine solche ge-
nossenschaftliche Gerichtsbarkeit bestand, sehen wir aus den
Verordnungen, die Eggehard, Abt von Reichenau, für den von
Umfange“ gewesen (S. 158) und „Hunderte von kleinen Leuten umfasste“
(S. 160), so sckliesst dies doch garnicht aus, dass schon damals die Leitung
der Gilde in wenigen plutokratischen Händen war!
*) Vgl. Hoeniger in Schmollen Jalurb. f. Geaetzgeb. (1887) XI S. 729.
*) Hoeniger Westd. Ztschr. II 247. Kruse a. a. 0. 8. 172 — 179 meint
freilich, dass die Kicherzeche grade das wichtigste gewerbepolizeiliche Hecht,
die Erteilung des Zunftzwangs, nicht von der Gilde, welche dasselbe nie be-
sessen, sondern von Erzbischof Engelbert erhalten habe, der ihr dies früher
den Schöffen zustehende Becht übertragen habe. Kruse selbst sagt jedoch
über die Forschungen Nitzschs referierend, dass die Gilde „ihren Mitgliedern
das exclusive Becht des Verkehrs an dem betreffenden Platze“ gewährte.
(8. 157). Steht dies aber fest, so kann auch nicht mehr angenommen werden,
dass für bestimmte einzelne Waaren ein exclusives Verkehrsrecht — worin,
wie grade Kruse (S, 172—174) schön nachgewiesen hat, die sog. „Lehnung
der Bruderschaft* bestand — an einzelne (Korporationen ganz ohne Mit-
wirkung der Gilde hätte übertragen werden können. Trotz Kruses Wider-
spruch (S. 177) wird man in der Urk. von 1149 unter den meliores civitatis
die Gildevorsteher verstehen müssen, die also in der Erteilung des Zunft-
zwauges eine ähnliche Bolle wie später die Vorsteher der Bicherzeche spielen.
Erwähnt sei auch noch der Einwurf, den von Below Stadtgemeinde S. 125
gegen die Ableitung der Bicherzeche aus der Gilde erhebt. „Wir finden
weder bei der Bicherzeche etwas von dem, was der regelmässige Zweck der
Kaufmannsgilden ist, noch bei irgend einer Kaufmannsgilde etwas von dem,
was die Kompetenz der Kicherzeche ausmacht. Der Bicherzeche steht z. B.
das Becht der Aufnahme in den Bürgerverband zu.“ Diese Befugnis könne
nicht von einer Gilde stammen, besonders da die Mitglieder zum Teil gar
nicht dem Bürgerverbande angehörten. Gegen diese Bemerkungen Belows sei
ausser auf den bereits erwähnten Zusammenhang des allgemeinen Verkaufs-
rechts mit der Schaffung specieller Verkaufsrechte bestimmter Vereine für be-
stimmte Waaren darauf verwiesen, dass die Kicherzeche im Besitz der Dom-
wage ist, während grade auch das Becht auf die Wage überall, wo wir über
die Gildeverhältnisse genauer unterrichtet sind, dieser letztem Genossenschaft
zusteht. Der Einwand, dass Becht der Aufnahme in den Bürgerverband, das
nachweislich von der Bicherzeche ausgeübt wurde, nicht aus der Gilde her-
stammen könne, da die Mitglieder der Gilde z. T. garnicht dem Bürger-
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ihm geschaffenen Markt zu Allensbach 1075 erliess.') Hier
wird zunächst auf Verletzung des Marktes und der Marktbe-
sucher dieselbe Strafe gesetzt, welche dies Verbrechen in Mainz,
Worms oder Constanz trifft, und den in Allensbach angesessenen
villani das Recht gegeben, zum Handelsbetriebe überzugehen.
Dann sollen sie und ihre Nachkommen als Kaufleute betrachtet
werden, mit Ausnahme aber derer, welche sich noch weiter
mit Wein und Ackerbau beschäftigen.*) Die Urkunde fährt fort:
Ipsi antem mercatores inter se vel inter alios nulla
alia faciant iudicia praeterquam quae . . . omnibus mer-
catoribus ab antiquis temporibus sunt concessa.
Das kann nur von der genossenschaftlichen Gerichtsbarkeit
der Kaufleute gesagt sein; in der Urkunde ist nun ausge-
sprochen, dass eine solche allen Kaufleuten zusteht, während
vorher gerade auch Wormser und Mainzer Recht zum Vergleich
herangezogen ist. Wir sind also wohl zu dem Schluss berech-
tigt, dass auch in Worms und Mainz eine genossenschaftliche
Handelsgerichtsbarkeit bestand. Auf diejenigen Einwohner, die
bei Acker- und Weinbau blieben, bezog sie sich auch dort wohl
ebenso wenig wie in Allensbach.
Speciell in Worms und wohl auch in den andern Städten
waren auch Teile der Marktverwaltung in den Händen der
kaufmännischen Genossenschaft.*) Es geht dies aus einer von
der Wormser Gilde, wenn wir die Genossenschaft so nennen
wollen, selbst ca. 1106 ausgestellten Urkunde hervor.*) Dass
die Ausstellung dieser Urkunde der Kaufmannsgenossenschaft
und nicht dem Bischof oder irgendwelcher weltlichen oder geist-
lichen Behörde zuzuschreiben ist, lässt sich aus Form und In-
halt dieses Docnmentes ersehen.
Es handelt sich in dieser Urkunde um die Ordnung des
Fischverkaufs. Es ist darin allerdings gesagt, dass der Bischof
Adalbert auf Bitten des Grafen Werner eine Fischhändlerinnung
errichtet und die Einrichtungen derselben festgesetzt habe.
verbände angehört bitten, erledigt sich durch Kruses Nachweis (a. a. 0.
8. 180), dass die Verleihung des Bürgerrechts überhaupt erst spät an die
Bicherzeche gekommen ist.
') Zeitscbr. f. Geschichte des Oberrheins Bd. XXXII S. 59 ft
*) exceptis hie, qui in exercendis vineis vel agris occnpantur.
*) Vgl. über analoge Verhältnisse in Kein oben S. 56.
‘) W ü 58.
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Gewiss ist auch zuzugeben, dass man sich vor Ausstellung dieser
Urkunde der bischöflichen Genehmigung dazu versichert hat.
Aber die Urkunde ist nicht von der bischöflichen Kanzlei
ausgestellt; das beweisen klar ihre Abweichungen vön der Form
der dort ausgestellten Urkunden. Zunächst ist es bemerkens-
wert, dass die Urkunde objektiv abgefasst ist. Es wird vom
Bischof in der dritten Person gesprochen, während er in allen
sicher aus der bischöflichen Kanzlei hervorgegangenen Urkunden
persönlich als redend eingeführt ist.1) Damit hängt zusammen,
dass der Bischof als venerabilis episcopus bezeichnet ist, was
in den uns sonst aus dieser Zeit überlieferten Urkunden höchst
selten der Fall ist.*) Endlich fehlt die Datierung, während
dieselbe auch in Urkunden erhalten ist, welche, wie die jetzt
betrachtete, uns nur in Copialbüchem überliefert sind. Noch
im dreizehnten Jahrhundert fehlen in von bürgerlichen Behör-
den in Worms ausgegangenen Urkunden öfters Incarnationsjahr
und Indiction ; die Zeit wird mitunter garnicht, mitunter nach
den amtierenden Stadtbehörden bestimmt.*) So fehlt auch in
der ältesten uns erhaltenen Mainzer bürgerlichen Urkunde , die
wir später noch genauer betrachten werden, die Datierung;*)
ähnliches lässt sich auch in der Praxis der Kölner Schreinsbe-
amten wahrnehmen.*)
Entstammt so unsre Urkunde von 1106 nicht der bischöf-
lichen Canzlei, so zeigt ihr Inhalt klar ihren Ursprung. Bei
erblosem Versterben eines piscator sollen die „urbani“ das
Hecht haben, an seiner Stelle einen anderen der Innungsrechte
teilhaft zu erklären. In Folge von Uebertretungen des ge-
gebenen Gewerberechts confiscierte Fische sollen unter die ur-
■) Vgl. die in den Jahren 1000 bis 1141 in der Wormser bischöflichen
Kanzlei aasgefertigten Urkunden: U 37, 43, 44, 45, 48, 60, öl, 65, 57, 64,
65, 70, 71 ferner Schaunat No. 55 und 72.
*) Es findet sich nur in der Datierungszeile von U 55, die der Urkunde
wohl erst nachträglich hinzugefügt ist, wofür jedenfalls die von Boos con-
statierte Verschiedenheit der Handschrift spricht.
*) So ist z. B. U 111 nur nach der Amtszeit des Zollbeamten, U 159
garnicht datiert In U 126 geht die Datierung nach den Bürgermeistern
des Jahres der nach Incarnations- und Indictionqahr voraus.
‘) Stumpf, Acta Magnnt. No. 84.
‘) Vgl. die von Hoeniger heransgegebenen Schreinskarten (Bonn 1884—88,
inshes. Vorbemerk. S. 1—6) sowie Hoeniger in Mitteil. a. d. Stdtarch. v. Köln
Bd. I Heft 1 S. 43 ff., S. 46.
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59
bani geteilt werden. Die Mitglieder der Innung haben nicht
das ausschliessliche Faugrecht, sondern ausschliessliches Recht
des heute sogen. Speculationskaufs, des Kaufs von Fischen zu
Verkaufszwecken. Doch dürfen sie selbst bis zu einer bestimm-
ten Stunde nicht einkaufen; mit andern Worten die Consu-
menten werden davor geschützt, dass die Händler den direk-
ten Verkehr mit den Fischfängern unmöglich machen. Die pis-
catores, aus denen die Erbinnung besteht, sind also entschieden
Fischhändler, nicht Fischfänger.
Meiner Meinung nach geht aus diesem Inhalt der Urkunde
ihr Ursprung klar hervor.
1) Sie muss von einer Behörde ausgegangen sein, da unter
nrbani hier entschieden nur ein Ausschuss von Stadt-
bewohnern verstanden werden kann. Es ist unmöglich,
hier unter den nrbani mit Waitz ‘) die Gesammtheit der
Stadtbewohner gemeint zu finden.*)
2) Sie kann nur von der Kanfgilde ausgegangen sein, nicht
von einer der ans Schöffentum oder der Markgemein-
schaft herrührenden Behörde.*)
•) V. G. V S. 359 N. 3.
*) Dies geht insbesondere ans der Verteilung der confiscierten Fische
unter die nrbani hervor. Wenn Schaube Worms S. 262, der sich Waitxs An-
sicht an geschlossen hat, grade ans dieser Bestimmung schliessen will, dass
die Zahl der freien Bürger damals noch eine geringe gewesen, so ist es nur
um so anffallender, dass er andererseits das Verdienst der Erringung der
Stadtfreiheit gTade der freien Gemeinde schreibt Die piscatores sind ihm
.Zinspflichtige der Bürger;* dafür dass es solche gab, führt er aber nur
Urkunden aus der zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts an, in denen der
Stadt zustehende Renten an Privatpersonen verkauft werden. —
Auffallend ist übrigens, dass die piBcatores in dieser Urkunde von
Schanbe wie von der ganzen frühem Literatur (z. B. Arnold I S. 171, von
Maturerl 204, II 327) immer ausschliesslich für Fischfänger gehalten sind ; es fin-
den sich in der Urkunde aber keine Bestimmungen über Fischfang, sondern
nur solche Uber Kauf und Verkauf von Fischen. Auf S. 60 Z. 28 ff. stehen auch
die ipei qui capiunt zu den supradicti XXlfl piscatores gradezu im Gegensatz.
*) Arnold V. G. I S. 171 und Heusler Ursprung S. 167 ff. Anden in
dem nrbani den aus dem Schöffentum herrührenden , Maurer I 172 und 204
seinen aus den Markvorständen bestehenden Rat cf. dagegen ausser den Aus-
führungen im Text auch Schaube Worms S. 268 — 270. Abgesehen davon,
dass wie die Ausdrücke consules und consiliatores damals noch nicht Vorkommen,
so auch eine die Stadt repräsentierende und verwaltende Behörde in Deutschland
überhaupterst viel später erscheint, würde auch die Ordnung derMarktangelegen-
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60
Können wir in dieser Urkunde die urbani nur als Vor-
steher der Gilde betrachten, so liegt es jedenfalls nahe, die in
einer Wormser bischöflichen Urkunde vou 1016*) nach den
namentlich aufgeführten Zeugen noch erwähnten pene omnes
urbani auch als Gildevorstand anzusehen.
So viel kann zum mindesten als das Resultat dieser bis-
herigen Untersuchungen betrachtet werden, dass in Worms und
Mainz in der zweiten Hälfte des elften Jahrhunderts ein be-
sonderes aus Kaufleuten zusammengesetztes Gericht für Han-
delssachen bestand, und dass in Worms die Errichtung von
neuen Innungen um 1106 der Mitwirkung einer die Interessen
des Handelsstandes vertretenden Genossenschaft bedurfte. Zu-
gleich mit der Bestätigung der Existenz dieser mit weitgehen-
den Verkehrsvorrechten ausgestatteten Genossenschaft lässt sich
einer älteren Quellen entstammenden Nachricht eines Schrift-
stellers des fünfzehnten Jahrhunderts2) auch entnehmen, dass
für ebendiese Genossenschaft der Name Brüderschaft gebräuch-
lich war.
Noch wichtiger als die bisherigen Erörterungen ist zur
Erforschung des Einflusses der. der niederdeutschen Gilde im
wesentlichen entsprechenden, kaufmännischen Organisationen
am Mittelrhein die genaue Betrachtung der Ausläufer derselben,
hciten durch die Schöffenbekörde oder die Markgemeinde sie im Besitz vou Competen-
zen erscheinen lassen , welche sie sonst nie besitzen. Endlich bestand damals
schwerlich eine Markgemeinde der Stadt Worms, sondern nur eine Mark-
gemeinde eines grossem Distrikts, in welchem auch Landbewohner waren,
und die städtischen Specialgemeinden (vgl. Capitel V Ergebnisse und
Capitel IX).
•) U 46.
*) Chronicon Wormat. auctore Honacho Kirsgart. anon. c. 38. (Lude-
wig Beliquiae Manuscriptormn t. II Francof. et Lipsise 1720 p. 111): „Socie-
tatem, quae uulgariter uocatur die Brüderschaft, in Wormatiensi civitate
destmxit ad commodum et libertatem omuium vendentium et ementitim.'
Über diesen Schriftsteller vgl. jetzt Köster, Wormser Annalen S. 10 — 20. Da-
nach kann, wenn auch der genannte Mönch seine Quellen oft ungenau
wiedergiebt und namentlich in der Chronologie sehr verwirrt ist (ibid. S. 14),
doch unsere Nachricht unbedenklich zum Nachweis der Existenz und Benen-
nung der Kaufmannsgenossenschaft in Worms verwandt werden. Die ange-
zogene Nachricht kann nicht auf Erfindung beruhen, sondern muss einer
älteren Quelle entnommen sein. Über die Statthaftigkeit der Benutzung uns
durch den Mon. Kirsgart. überlieferter Annalen- und Urkundenstellen cf.
noch Köster S. 51, Quidde Bhein. Landfriedensbund S. 12 ft
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61
insbesondere der sog. Münzerhausgenossenschaft. Nitzsch1)
weist darauf hin, dass sich die Gilde in ihrer ursprünglichen
Verfassung meist nur in solchen Städten erhalten hat, welche
in ihrer wirtschaftlichen und politischen Entwicklung jähe
Hemmung erfahren haben. Auch in Norddeutschland bieten
nur gerade in derartigen Orten entstandene Dokumente näheres
über Natur und Einrichtungen der Gilde. Bei in lebhaftem
Fortschritt begriffenen Städten fallen die meisten und wichtig-
sten Funktionen der Gilde bald teils dem Rat, teils den In-
nungen zu. Der Gilde selbst bleibt alsdann, wie auch Hoeni-
ger*) ausführt, nur noch Entwicklung nach der socialen Seite
offen; sie wird zum Organ einer mehr oder minder social ab-
geschlossenen städtischen Aristokratie, die in der Hauptsache
aus den Nachkommen der in der Gilde reich gewordenen Kauf-
leute besteht. Dabei behält die Gilde ihre Funktionen als
Mittelpunkt des geselligen Verkehrs ihrer Mitglieder. Daneben
stehen ihr oft gewerbepolizeiliche und auf verschiedene Weise
errungene politische Rechte zu. Eine solche mit politischen
Rechten ausgestattete Vergnügungsgesellschaft, wie sie uns be-
sonders in der Kölner Richerzeche entgegentritt, ist in unsem
Städten nicht bezeugt. Dagegen spielt in zweien von ihnen
und ebenso auch im benachbarten Weissenburg, das bekanntlich
im Mittelalter dem fränkischen Gebiete zuzurechnen ist, die
Münzerhausgenossenschaft eine mehr oder weniger
grosse Rolle als Sammelpunkt der plutokratischen Elemente.
Ähnliche Entwicklung scheint mir in dem benachbarten Strass-
burg anzunehmen zu sein *) und auch in Köln fällt die genannte
ehedem ministerialische Beamtung in die Hand dieser Geld-
aristokratie;4) jedoch steht an letzterem Orte die Münzerhaus-
genossenschaft als politische und sociale Vertreterin derselben
bekanntlich erst in zweiter Linie nach dem direkten Ausläufer
der alten Gilde, der Richerzeche. Ganz singulär sind die Ver-
hältnisse in Basel, was sich dadurch erklärt, dass daselbst die
Münze viel später als in den übrigen Bischofsstädten errichtet
*) Sitzungsb. d. Berl. Akad. 1880 8. 376, 383, 384.
*) Jahrb. f. Gesetzg. d. deutsch. Reichs XI 1887 S. 739.
*) Vgl. Eheberg (das ältere deutsche Milnzwesen Leipzig 1879) S. 126
und S. 172.
4) ibid. S. 126.
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62
wurde. Hier wählte der Bischof die Münzer aus den Gold-
und Silberschmieden; daher stehen die Baseler Hausgenossen
bei den Kämpfen zwischen den Ausläufern der Gilde , den Stuben-
gesellschaften, und den Zünften, in den Reihen der letztem.1)
Die Zusammenstellung von Gilde und Hausgenossenschaft
kann auffallend erscheinen. Wohl sind die Hausgenossenschaf-
ten schon von Wilda zu den Gilden gerechnet worden; aber
gerade die neuere, von Nitzsch und Hoeniger vertretene, Ansicht
über die Gilde, welche die Institution als Vereinigung der für
den Markt arbeitenden fasst, scheint die Möglichkeit auszu-
schliessen, dass eine aus Ministerialen bestehende Genossen-
schaft mit der Gilde in Zusammenhang stehe. Allerdings kann
ebendiese Thatsache nur dann befremden, wenn man noch mit
der ältern von v. Fürth *) begründeten Ansicht , von der aber
noch Arnold beherrscht ist, die Ministerialen als einen das
ganze Mittelalter hindurch im wesentlichen unverändert fort-
bestehenden kriegerischen Berufsstand fasst. Dagegen hoffe ich
im vorigen Capitel*) nachgewiesen zu haben, dass es im elften
Jahrhundert am Mittelrhein noch keinen besondem Geburts-
stand der Ministerialen gab. Ein solcher bildete sich vielmehr
erst allmälig aus, als die Entwicklung der rheinischen Städte
zu politischer Selbständigkeit bereits zu einem gewissen Ab-
schluss gekommen war.
Dagegen sind, wie oben*) dargelegt ist, einzelne Personen,
welche mit der speciellen Bedienung der Bischöfe betraut sind,
und die hofrechtlichen Beamten bereits im 11. und 12. Jahr-
hundert besonderen Bestimmungen in Rechtssprechung und Ge •
richtszuständigkeit unterworfen. In Beziehung auf diese be-
sondere Stellung innerhalb der Bevölkerung wurden die genann-
ten Personen als servientes später auch als ministeriales*),
*) vgl. Eheberg S. 121, Heusler Verfassungsgeschichte d. Stadt Baaei
(Basel 1860) 8 . 87, 88, Boos Geach. der St Basel (Basel 1877) Bd. I 1877
S. 42 und 106 N. 2. Abweichend, aber schwerlich richtig Geering, Handel u.
Ind. v. Basel (Basel 1886) S. 13.
*) Die Ministerialen (Köln 1836) g 43.
*) S. 42-44.
*) S. 45, 48.
s) Nach Waita V. G. V S. 429 wird das Wort ministerialis ,im Sinne
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bezeichnet, wie ursprünglich die hofrechtlichen Beamten, die
einer bestimmten Ortschaft vorstanden, genannt wurden. Waren
nun die servientes oder ministeriales zunächst auch nur im
Interesse der bischöflichen Verwaltung in ihre besondere Stel-
lung innerhalb der familia gekommen,*) so konnte die Stellung
des bischöflichen Ministerialen doch auch in vieler Hinsicht dem
freien’) wie dem censualischen Kaufmann verlockend erschei-
nen. Sogar gegen ihren Willen durften ferner censualische
Kaufleute vom Bischof mit verschiedenen Beamtungen betraut
und so in die Classe der servientes versetzt werden.*) Für die
Kaufleute mochte unter diesen Beamtungen der servientes oder
ministeriales i. w. S. die der Münzer besonders angemessen er-
scheinen.
Wie die Wechselthätigkeit derselben, die doch nur eine
besondere Art der Handelsthätigkeit darstellt, schon früh der
rein technischen der Münzherstellung an Bedeutung mindestens
gleichkommt,’) so sind auch schon früh Kaufleute mit der Ver-
waltung der Münze in enge Berührung gekommen. Bereits nach
dem edictum Pistense sollen geeignete Leute von den Grafen
oder Immunitätsinhabern zur Beaufsichtigung des Münzverkehrs
und der Münzverwaltung zugezogen werden.®) Wie in dem ge-
nannten Gesetze, das ja allerdings nur für das westfränkische
Reich erlassen war, vielfach ältere Verwaltungsgewohnheiten
nicht von Beamten, sondern einer eigentümlichen Classe besser gestellter,
wenn auch eben wohl nm der Art ihres Dienstes willen gehobener abhängiger
Leute* . . . „im Lanfe des 11. Jahrhunderts gewöhnlicher, erhält aber erst
im 12. das Übergewicht.* Die von Waitz ans dem 11. Jahrhundert ange-
führten Beispiele sind aber ans Sachsen, Thüringen, Hessen, nicht vom
Mittelrhein. In einer Speirer Urkunde finden sich Ministerialen in diesem
Sinn 1100 (Remling Urkb. No. 70 p. 70), die erste Anwendung dieses Wortes
in der Mainzer Kanzlei geschieht 1093 (B-W XXIV 14), häufiger ist es erst
unter Erzb. Adalbert (1110 — 1137).
*) ygL oben S. 45 ff.
•) cf. z. B. das von Lamprecht D. W. S. 1167 N. 1 angeführte Beispiel
eines sich in Abhängigkeit gebenden freien Kaufmanns.
*) Leges et Btat. tit 29.
*) rgl. W. Harster, Versuch einer Speirer Münxgesch. in Mitt. des hist
Vereins der Pfalz Bd. X (Speier 1882) S. 31, 32.
*) L. L. I (ed. Pertz) p. 490 c. 8.
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64
neu eingeschärft sind, so wird auch diese Verordnung nichts
absolut neues geschaffen haben. Auch am Mittelrhein mag man
früh zur Beaufsichtigung des Münzwesens geeignete Elemente,
die der Technik desselben fernstanden und deren Einsicht und
Vermögen doch der Verwaltung nützlich werden konnte, also
vor allem Kauflente zugezogen haben ; bei ebendiesen soll auch
schon nach einem Capitular Ludwigs des Frommen1) der Graf
nach etwa umlaufenden falschen Münzen Erkundigungen ein-
ziehen. Ein direktes Beispiel eines Kaufmanns, der eine Zeit
hindurch Münzer gewesen, finden wir in einem Briefe der
Mönche von St. Gallen an ihren Abt im Jahre 1022.*)
Wohl wurden die vom Bischof belehnten Inhaber städ-
tischer Ämter gleich denen, die ihm für Verleihung von Land-
gütern Dienste leisteten, im 11. und 12. Jahrhundert und noch
sogar lange darüber hinaus Ministerialen genannt. Dennoch
hatte das Verhältnis, in dem sie zum Bischof standen, mit dem
Lehnsvertrage, wie er sich zur Befriedigung militärischer Inte-
ressen unter agrarischen Wirtschaftsformen herausgebildet, ab-
gesehen von der beibehaltenen Treuverpflichtung wenig gemein-
sames. Der vom Münzmeister namens seiner Genossenschaft ge-
schlossene Vertrag gleicht vielmehr schon im Anfang des 12.
Jahrhunderts ganz der Übernahme der Ausbeutung eines Staats-
monopols seitens eines Privatmannes resp. einer Privatgesell-
schaft bei ausgebildeter Geldwirtschaft. Ein klares Beispiel
giebt eine das Amt des Wormser Zolleinnehmers betreffende
Bestimmung Heinrichs V,*) das dem des Münzers ganz analog
ist. Als der König deu Wormser Bürgern das Privileg erteilt,
dass niemand mehr gezwungen werden solle, das Amt des the-
lonearius zu übernehmen, führt er zugleich einen neuen Zoll
ein, um dadurch das Amt gewinnreicher zu machen und so dem
Mangel an Bewerbern vorzubeugen.*) Ganz entsprechend heisst
') Capitulare de moneta ca 820 c. 6 (L. L. I ed. Boretius p. 300).
*) Neugart Cod. dipl. Alemanniae (Sanblas. 1791) t II p. 25: venum-
data sunt in mannm euiusdam mercatoris de Buchovva, qui dicitur Pero. et
quondara ibi moneta rius erat.
*) W D 62.
4) a. a. 0: ut nnllus . . . invitns super theloneum navinm constitnatnr.
Sed ne servitium inde nobis constitutum vilescat, dtim uuusquisque boc of-
ficium timore damni recipere non nudeat, tradimus in supplementum ad hoc
officium de nigris et grossis ianeis paunis theloneum constitutum
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66
es in dem Privileg Friedrichs I für die Wormser Münzer1):
Vort setzen wir . . dass niemands in der gantzen
stad gewalt habe gelte zu wescheln ane allein die munt-
zer, die iren gesatzten zinsz davon bezalen.
In ebendiesem Privileg wird aucji bestimmt,*) dass, wenn
die Münze so gering werden sollte, dass die Münzer keinen
Vorteil daraus ziehen können, eine andere Art der Ausnutzung
des Münzregals eintritt. Der Bischof erhält den Gewinn, hat
aber auch dafür die Kosten des Münzens zu tragen; einer der
Münzer wird zwar noch mit der Überwachung der Arbeit be-
traut, wird aber dafür vom Bischof, dem er die Einnahmen ab-
zugeben hat, mit einer festen Summe entschädigt. Am klarsten
kann das Übergehen kaufmännischer Elemente in die Hausge-
nossenschaft daraus ersehen werden, dass insbesondere die Main-
zer Patricier in ihren Kämpfen mit den Zünften als ihre ihnen von
Alters her zustehende Freiheit neben dem Hausgenossenrecht
das sogen. Gadenrecht d.h. das Recht des Gewandschnittes unter
den Tuchhallen in Anspruch nehmen.*) Ein Volkslied, das den
Kampf zwischen Geschlechtern und Zünften in Mainz behandelt ,
nennt erstere geradezu „die Alden unter den Gaden.“4)
Noch wichtiger als der blosse Übertritt vieler Kaufleute in
die Hausgenossenschaft ist es, dass dieselbe in Mainz und be-
sonders in Speier die Rolle, die anderswo der Gilde zufiel, ge-
spielt hat. In Köln ist, wie aus den Angaben einiger Urkunden
des 12. und 13. Jahrhunderts*) erhellt, das Haus der Richer-
zeche auch das älteste Rathaus. Dem entspricht es vollkom-
men, dass auch in Speier bis zum Ende der Geschlechterherr-
schaft das Münzhaus zu den Ratsversammlungen benutzt wurde.
Als es 1289 durch einen Brand vernichtet war, wurde es auf
gemeinsame Kosten des Rats und der Hausgenossen neu aufgebaut.6)
') WD80 (S. 65 Z. 44).
>) ibid (S. 65 Z. 25 ft).
*) Hegel Mainz 3. 65 mit N. 1
‘) ibid N. 5.
•) Im 12. Jahrh. heisst dort dasselbe Gebäude domus divitum, welches
im 13. als Bürgerhaus (domus civinm) und in einer hebräischen Urkunde auch
als Haus, welches Zccheide genannt wird, bezeichnet ist. Vgl. Hoeniger und
Stern, Das Judenschreiusbnch der Laurenzpfarre (Berlin 1888) 3. 228. Dies
nach freundlicher Mitteilung Hoenigers.
«) Sp. U 162.
Ko eh ne, Ursprung der Stadt.verfassuug in Worin*, Speier und Mainz. 5
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66
Die gemeinsame Benutzung des neuen Gebäudes seitens
beider Corporationen regelte ein uns erhaltener Vertrag. Da-
nach durfte der Bat, so lange und so oft es ihm gut dünkte,
sich in und vor der Ratsstube (in stupa vel ante stupam) ver-
sammeln, im übrigen aber blieb das Haus im Eigentum der
Münzer und Hausgenossen und sollte von ihnen wie bisher be-
nutzt werden dürfen. Aus Urkunden von 1317 ‘) und 1328*)
ersehen wir, dass der Rat damals noch in dem Münzgebäude
tagte. Doch lassen sich Rat und Münzer schon 1324 von Lud-
wig dem Baiem *) eine Urkunde des Inhalts erteilen , dass er
den Münzern auf ein besonderes Ansuchen Verlegung der Münze
gestatten werde. Offenbar hängt dies mit dem Einfluss, den
die Zünfte damals bereits auf die Ratsbesetzung gewonnen, und
der Furcht der noch hausgenössischen Majorität der Ratsmit-
glieder vor weiteren Fortschritten der Zunftbewegung zusammen.4)
Erst im Jahre 1340, als mindestens schon die Hälfte des Rats
aus Vertretern der Zünfte bestand,5) wurde von ihm ein besonderes
Grundstück erworben und die Ratssitzungen dorthin verlegt.6)
Dies, sich in der Benutzung desselben Gebäudes kundge-
bende, enge Verhältnis zwischen Rat und Münzerhausgenossen-
schaft ist allein durch die uns auch sonst ausreichend bezeugte
Thatsache zu erklären, dass beide Corporationen die meisten,
wo nicht alle, Mitglieder anfänglich, gewissennassen in Per-
sonalunion, miteinander gemeinsam hatten ; sobald sich dies geän-
dert , hört auch die gemeinsame Benutzung desselben Hauses auf.
Ganz in demselben Verhältnis nun, wie hier der Rat zur
Hausgenossenschaft, steht er in Köln zur Gilde ; auch hier wer-
den die Gildevorsteher als Hauptvertreter der kaufmännischen
*) U 312 S. 249 Z. 8 u. Z. 35.
•) U 379 S. 305 Z. 24: super moneta in loco, nbi prndentes viri . . .
consnles civitatis Spirensis solent conailium habere.
*) U 358.
*) Arnold V. Q. II 349 ff., Harster i. Ztach. f. Gesch. d. Oberrb. Bd. 38
(1885) S. 228 ff.
•) Harster ibid S. 312,313 verlegt die durch den Goldschmid Knopfeimann
verursachte Andrang in der Ratsbesetzung, nach der die Majorität der
Ratsstellen von der Gemeinde besetzt wird, wohl mit Recht auf Grund der
Ratslisten in das Jahr 1345, während Arnold V. G. II S. 362 diese Ändrung
schon bald nach 1332 eintreten lässt.
*) U 4G4 vgl. Zeuss S. 16.
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67
Kreise zugleich Ratsmitglieder gewesen sein. Als wesentliches
Vorrecht der Gilde wird es in Köln und anderen Orten be-
trachtet, dass der Gildevorsteher das Recht hat, alle Gewichte
und Wagen der betreffenden Stadt zu inspirieren.1) Dem ent-
spricht es, dass dem Speierer Mttnzmeister nach dem, ältere Ge-
wohnheiten bestätigenden, Privileg von 1330 das Recht zustand,
alle Gewichte und Wagen der apothecarii et alii institores.
welche Waaren nach Gewicht verkauften, viermal im Jahre zu
revidieren.2) Noch in bedeutend späterer Zeit, als die Speierer
Münzerhausgenossenschaft schon den grössten Teil ihrer poli-
tischen und wirtschaftlichen Vorrechte verloren hatte, war ihrem
Vorsteher doch noch das Recht der Eichung aller privaten
Wägeapparate wie auch der Frohnwage des Zollers geblieben.*)
Ähnlich mussten in Mainz, wie ein Weistum von 1365 be-
richtet,4) alle Wagen nach der des Münzmeisters geaicht wer-
den. So oft er wollte, konnte er in Begleitung eines Richters
und zweier ehrenhaften Bürger alle Ellenmasse , Gewichte und
Wagen inspirieren, und erhob dann für falsches Mass und
Gewicht eine Geldstrafe von 60 Schillingen.4)
Ganz besonders galt es ferner in allen unseren Städten als
Privileg der Hausgenossen, dass diesen ein weitgehendes Exemp-
tionsrecht von der gewöhnlichen Gerichtsbarkeit zustand.5) Nur
in wenigen Fällen brauchten sie vor dem ordentlichen Richter
Recht zu geben, im übrigen unterstanden sie nur der Gerichts-
barkeit des Münzmeisters und ihrer Genossen. So konnten sich
in diesen Gerichten leicht besondere Grundsätze bilden, die den
veränderten wirtschaftlichen Verhältnissen mehr als die früheren
entsprachen. Da die Hausgenossen, wie gezeigt werden wird,
als Schöffen an den ordentlichen Gerichten teilnahmen,®) so ver-
pflanzten sich bei ihnen neugebildete Rechtssätze auch in die
allgemeine Rechtssprechung.
*) Vgl. bes. die Abhandlungen von Nitzsch (Iber die Gilde passim.
*) Sp. ü 386 p 314 Z. 30—34.
*) Ztschr. f. ü. d. Oberrhns. Bd. XXXII S. 474-477 Nr. 39-46.
*) Hegel Chroniken der mittelr. Städte I S. 351 § 6 vgl. ibid. II, Ver-
fssgsg. S. 67.
•) Vgl. für Worms U 80 S. 65 Z. 35 ff., Speier U 386 p 313 Z. 38 ff,
p 314 Z. 39 ff und Mainz Hegel Chronik I S. 350, 351 § 3, g 4.
*) S. unten S. 76.
5*
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So zeigt sich der Einfluss der Hausgenossenschaft als eines
Sammelpunktes der hervorragendsten kaufmännischen Elemente
in Verwaltung, Rechtssprechung und Rechtsbildung. Auch bei
dem Erwerb politischer Rechte seitens der Kaufleute, der ja
in der Erlangung der städtischen Unabhängigkeit durch den
aus ihnen zusammengesetzten Rat liegt, hat die Hausgenossen-
schaft, wenn sie auch bei Haupt- und Staatsaktionen selten
direkt in den Vordergrund getreten, sicher bedeutenden Anteil
gehabt. Insbesondere muss dies in Speier und Mainz der Fall
gewesen sein. Grössten Teils dieselben Geschlechtsnamen fin-
den wir unter den zur Zeit der Erlangung der Unabhängigkeit
an der Spitze Speiers stehenden Personen — es sei nur an die
Lambesbuch, Gotschalk, Hun erinnert — welche uns später
unter den Vorkämpfern des Patriciats gegen die Zünfte ent-
gegentreten.1) Aus Mainz ist uns ein Verzeichnis der Münzer
vom Jahre 1421 überliefert.*) Wir finden darin die meisten
Patriciergeschlechter, wie die Dulin, Salman, Genssfleisch,
Schlüssel, zum Jungen, zur Eiche mehrfach vertreten.
In Speier wie in Mainz werden auch die Patricier gewöhnlich
im Gegensatz zur Gemeinde Münzer oder Hausgenossen genannt.
In dem benachbarten Weissenburg, dessen noch unaufgeklärte
Verfassungsgeschichte mit der von Speier viel Ähnlichkeit gehabt
haben muss, wird nach Hertzogs Elsässischer Chronik von 1592 *)
noch zu jener Zeit ein Teil des Rats aus den Hausgenossen ge-
nommen. Ebenso sollen in Weissenburg nach einer Entschei-
dung König Rudolfs bei einem Streit zwischen Abt und Bür-
gern die letzteren in der dann zusammentretenden besonderen
Commission durch 7 Hausgenossen vertreten sein.4)
In Worms findet sich die Bezeichnung der Geschlechter
als Münzer nicht. Eben hier hatten wir oben mindestens für
den Beginn des zwölften Jahrhunderts die Existenz einer Kauf-
mannsgenossenschaft, Bruderschaft genannt, constatiert,5) wel-
che mit der niederdeutschen Gilde in wesentlichen Zügen über-
') Vgl. Harster (in dem oben 8. 63 N. 3 citierten Aufsätze) 8. 25.
*) Hegel Chroniken Mainz I 8. 352.
*) Lib. X p 178.
4) Charta concordat. inter abbat. et cives Wizenb. per ßndolf. imp. a
1275 (Zeuse Tradit. Wizenb. Spirae 1842 p. 332).
*) cf. oben 8. 57—60.
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einstimmte. Wie lange diese „Bruderschaft“ in Worms sich
erhalten, und was, als der Rat einen Teil ihrer Funktionen
übernahm, als Organ der städtischen Aristokratie an ihre Stelle
getreten ist, muss dahingestellt bleiben. Dass die Wormser
Entwicklung in dieser Beziehung abweichend von der in Speier,
Mainz und Weissenburg vor sich gegangen, kann aus einer Be-
stimmung der ersten Rachtung zwischen Stadt und Bischof vom
Jahre 1233 geschlossen werden. Damals wurden bekanntlich
alle Innungen mit Ausnahme der der Hausgenossen und Wild-
werker aufgehoben. ') Arnold *) hat wohl mit Recht aus dieser
Bestimmung den Schluss gezogen, dass die Münzer bei dem da-
maligen Streit zwischen Rat und Bischof auf Seiten des letz-
tem gestanden haben. Dafür spricht jedenfalls die gleichzeitige
Aufrechterhaltung der Innung der Wildwerker (Kürschner),
welche wohl durch ihre Gewerbsinteressen auf die Seite der
bischöflichen Hofhaltung geführt waren. So hatte sich also
schon 1233 die Hausgenossenschaft von dem übrigen Patriciat,
das Unabhängigkeit von der Stadt erstrebte, getrennt. Durch
alles dies wird es denn auch erklärlich, dass uns in Worms um
die Weüde des zwölften und dreizehnten Jahrhunderts nicht
die Hansgenossen , sondern die Tuchmacher, zu denen aller
Wahrscheinlichkeit nach die angesehensten Wormser Kaufleute
gehörten, im Besitze des Emennungsrechtes von allerdings
untergeordneten, aber für die ganze Stadt wirksamen Beamten
entgegen treten.*)
n. Wie überhaupt die deutschen Fürsten, so pflegten auch
die Rheinischen Bischöfe bei wichtigen Regierungshandlungen
*) U 163 (8. 123 Z. 3): Item omnes fraternitates civium husgenoz et
wiltwerkere illia exceptis ammodo penitns cessabunt vgl. unten Capitel IX.
*) V. G. H 36, 86.
*) Boehmer Fontee II p 215: Pannifices duos pidelloe quovis anno sta-
tnant qnibne tantnm burgensee obediant et nnllo pidello alii. Diese Worte
sind den Fragmenten eines von Wormser Bürgern angefertigten Privilegs
Heinrichs VI von 119U entnommen, das aber doch für die Wende des
12. n. 13. Jahrhunderts als Quelle für städtische Verfassnngsverhältnisse be-
nutzt werden darf (vgl. unten Cap. VIII). Ob hier pannifices für mercatores
überhaupt steht, oder ob sich die Kaufmannsgenoasenschaft damals auf die
pannifices concentriert hatte, ist nicht mit Sicherheit zu entscheiden.
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Personen aus ihrer Umgebung zur Beurkundung als Zeugen zuzu-
ziehen.1) Vielfach ist auch zu Regierungshandlungen der Bischöfe
der anfänglich gewiss mehr thatsächlich als rechtlich notwen-
dige Consens bestimmter Personen nachgeholt worden; die er-
teilte Zustimmung wird dann gewöhnlich auch in der Urkunde
noch besonders erwähnt.11) Endlich pflegten die Bischöfe in
wichtigen Angelegenheiten ihre Umgebung, also bes. die Cano-
niker und Ministerialen, um .Rat zu frageu und Hessen dann
auch in die Beurkundung der Handlung die Personen, die ihnen
mit ihrem Rat dazu gedient, aufnehmen. s)
Dabei werden dann die Zeugen, die Consentienten und
Ratgeber durchaus nicht scharf von einander geschieden.
Mitunter ist in bischöflichen Urkunden dieser Zeit aus-
drücklich die Zustimmung einer Ratsbehörde (consilium) zu der
Rechtshandlung des Ausstellers erwähnt.*) Insbes. Heusler4)
hat nachgewiesen , dass dieser „Territorialrat“ je nach Ver-
schiedenheit der Fälle aus sehr verschiedenen Elementen bestand.
Handelt es sich „um rein geistliche Angelegenheiten oder Ver-
fügungen über die innere Ökonomie geistlicher Anstalten“, so
„wird das Domstift allein oder der Convent des fraglichen
Klosters“ zu Rat gezogen. s) Handelt es sich nm Veräusserung
von Gütern des Bistums etwa durch Schaffung neuer Lehen, so
werden vor allem die Ministerialen herangezogen; bei den
wichtigsten Sachen finden wir daneben liberi, freie Herren der
Umgegend, erwähnt. Seit Beginn des zwölften Jahrhunderts
tritt uns in den burgenses eine dritte Klasse der laici, die zu
bischöflichen Regierungshandlungen um Rat gefragt werden,
entgegen. Die ganze Entwicklung erhält bekanntlich in der,
auf dem Reichstage zu Worms 1231 gefassten, Reichssentenz
ihren Abschluss, dass kein Fürst oder Landesherr eine Ver-
l) Über die rechtliche Notwendigkeit von Zengenunterschriften bei Pri-
vatorkunden, zu denen in dieser Zeit ja anch die von den Bischöfen ausge-
stellten gehörten, vgl. Bresslau Urkundenlehre S. 799.
*) Vgl. ttber diese Verhältnisse Waitz V. G. VII 309 — 311, v. Below,
Wahlrecht der Domcapitel (Leipz. 1883) S. 17 ff.
•) Heusler Ursprung S. 163 ff.
*) ibid, vgl. auch Arnold V. G. I S. 172-178, Nitzsch 167, 301 ff.,
304, Heusler Basel 146.
6) Heusler Urspr. ibid.
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Ordnung ohne Zustimmung der meliores et maiores terrae
erlassen könne.1)
Für unsere Untersuchung kommt diese für andere Parthien
der deutschen Verfassungsgeschichte noch ungleich wichtigere
Erscheinung deshalb in Betracht, weil in diesem „Territorial-
rat“ auch städtische und, was dasselbe sagen will, kaufmänni-
sche Elemente vorhanden waren.
Zunächst können schon unter den ministerialischen Zeugen
Zolleinnehmer und Münzer als dem Kaufmannsstande angehörig
betrachtet werden. Beide werden etwa von der Wende des
12. und 13. Jahrhunderts an unter den burgenses genannt, was
damit zusammenhängt, dass sich damals einerseits die ländlichen
Ministerialen, andrerseits die gesammte städtische Bürgerschaft
unter sich enger zusammen und zugleich von einander abschlos-
sen.*) So finden wir in Speierer Bischofsurkunden 1181 einen
Billnngus monetarius noch unter offenbar ministerialischen Zeu-
gen,*) dagegen im Jahre 1218 Godefridus magisteu moneta-
riorum ausdrücklich unter den cives im Gegensatz zu den mini-
steriales genannt.4) Ebenso steht 1226 Bertholdus monetarius
unter den Mainzer,*) 1233 Sigelo monetarius unter den Worm-
ser Bürgern.*) Vielfach ist die Nennung des monetarius unter
den burgenses in Urkunden des 13. Jahrhunderts dadurch er-
klärt worden, dass die ministerialischen Hausgenossen altfreie
Bürger unter sich aufgenommen.7) Aber der monetarius blieb
Ministerial des Erzbischofs im 13. Jahrhundert ganz wie im 12.,
nämlich in Betreff der Leistung des Lehnseides und des Ge-
nusses der gerichtlichen Vorrechte des Ministerialenstandes.
Nur seiner bürgerlichen Beschäftigung wegen wurde er von da
>) L. L. n p 283.
*) cf. i. B. eine von Arnold V. G. I S. 241 eitierte Stelle einer noch nn-
gedruckten Wormser Urkunde: et alii qnam plures tarn clerici quam laici
tarn nobiies qnam de plebe cives Wormatiensis civitatis, ministeriales quoqne
domini Wormatiensis extra civitatem in rure habitantes (Kopialbuch des An-
dreasstifts I £ 13 im Darmstädter Archiv).
*) Remling Urkb. Nr. 106 p 181.
*) Sp. U 31 ; vgl. Sp. U 28 n. 534.
*) Bodmann Bheinganische Altertümer (Mainz 1819) I S. 200, Joan-
nis Her. Mogont. II 630 (B— W XXXII 605, 606).
*) W U 170, 171.
*) i. B. Eheberg 126, Harster (L d. S. 63 N. 3 citierten Aufsatze) S. 26.
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an zu den burgenses gerechnet. Besonders wird dies dadurch
klar, dass wir in der verwandten Beamtung des thelonearius
denselben Wechsel in der Zurechnung zu ministeriales und bur-
genses wahmehmen. So wird z. B. in Worms Gerbodo thelo-
nearius 1127 und 1140 *) und Wernber thelonearius im Jahre
1152 unter den ministeriales erwähnt;*) wahrscheinlich derselbe
Wernherus thelonearius oder vielleicht sein gleichnamiger Sohn
wird aber im Jahre 1182 unter den cives im Gegensatz zu den
ministeriales genannt.*) Ebenso erscheint in Speier im Jahre
1217 ein Dytmarus thelonearius4) nnd im Jahre 1223 ein Hein-
rieu8 filius Thelonearii *) unter den cives.
Wie Zöllner und Mtinzer, so werden auch andere Personen
kaufmännischen Berufe in den Bischofeurkunden als Zeugen oder
Consentienten genannt. Die pene omnes urbani, die uns in
einer Wormser Urkunde von 1016 als Zeugen begegnen, er-
klärten wir oben*) mit Rücksicht auf die Analogie der urbani,
welche bei der Stiftung der Fischhändler-Innung entgegentraten,
als den Vorstand einer kaufmännischen Genossenschaft. Die
meisten der hier namentlich aufgeführten Vorsteher werden
auch als Zeugen in Schenkungen an Wormser Stifte in den
Jahren 1106 und 1110 genannt.7)
Wie seit der Ratsentstehung die Befugnisse kaufmännischer
Genossenschaften vielfach auf den Rat übergingen, so scheint
auch der Bischof vielfach dieser Behörde seine Zeugen ent-
nommen zu haben; so erscheinen denn auch dem Rate der Stadt
angehörende Personen besonders häufig in dem je nach Mass-
gabe des einzelnen Falls verschieden zusammengesetzten Terri-
torialrate. So schliesst z. B. die Zeugenliste einer Urkunde
Bischof Liupolds von Worms über einen Verkauf von Gut des
‘) ü 63 u. 6«.
«) U 72.
*) W D 89. Dass wir es hier wahrscheinlich mit derselben Person wie im
Jahre 1152 zu tun haben, kann auch daraus geschlossen werden, dass auch
1166 ein Wemher thelonearius in U 80 nnd U 81 erwähnt wird.
*) Sp. U 30.
») D 34.
*) 8. 60.
*) Vgl. die Zeugen listen von 0 69 und D 60 mit der von ü 68,
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Bistums aus dem Jahre 1198,1) nachdem geistliche Zeugen, freie
Herren und Ministerialen genannt sind, mit 28 unter den Col-
lectivbegriff de Wormatia fallenden namentlich aufgefQhrten
Zeugen, die mindestens zum Teil kaufmäunischen Kreisen an-
gehören,*) und den Worten et de quadraginta iudicibus de Wor-
matia. Eben diese Urkunde lässt der Bischof ausser mit sei-
nem eigenen Siegel und dem der Stifte von St. Peter und Cy-
riacus auch seitens der Stadt Worms besiegeln. Ebenso ver-
sichert der erwählte Bischof Heinrich, als er 1220 den König
Friedrich II mit Wimpfen belehnte, sich der dazu erteilten Zu-
stimmung des Wormser Rats noch ausdrücklich durch besondere
Urkunde, ne super huiusmodi quasi alienacione posset aliqua-
tenus calumpnia suboriri.*) Während die Ansicht durchaus ab-
zulehnen ist, dass sich aus dem bischöflichen Territorialrate der
Stadtrat entwickelt hat ,*) wird man der Mitwirkung städtischer
Bürger im bischöflichen Consilium einen bedeutenden Einfluss
auf Stärkung der Macht und des Selbstvertrauens dieser bürger-
lichen Kreise zuschreiben müssen.
Als dritte Quelle des Einflusses des Kaufmannsstandes
haben wir oben neben der eigenen genossenschaftlichen Organi-
sation desselben und dem Eindringen in den bischöflichen Rat
die Schöffengerichte genannt.
Schon zur Merowingerzeit wurde nach fränkischem Rechte das
Urteil von einem Ausschuss der Gerichtsgemeinde gefunden und vom
Richter nur publiciert.5) Durch die Gerichtsreform Karls des
Grossen war dann die Urteilsfindung an bestimmte auf Lebens-
zeit zu „Schöffen“ ernannte Personen gekommen.*) Diese aus
altfränkischen Rechtsgewohnheiten hervorgegangene Einrichtung
») U 103.
*) Dies kann man ans den Namen C. de Moneta nnd Emicho Jndaena
echlieeeen. vgl. unten S. 77 N. 1, 2.
*) U 123. Vgl. auch Gudenus Syiloge variorum diplomat. (Franco furti
1728) N. 67 p 167: Hier werden, ala eine im Uinisterialenverhältnis zum
Speierer Bischof atehende Familie ein in der Wormser Diöcese gelegenen Gut
an verschiedenen Terminen vor den beiden Bischöfen an das Kloster Schönau ver-
kauft, als Zeugen auch Universitas consiliariorum in Spira et Wormatia erwähnt.
4) wie sich aus späteren Ausführungen ergeben wird.
*) Bnmner B. G. I 160, 8chröder R. G. 1 161.
*) v. Maurer Gesch. d. altgerm. Gerichtsvrfhrns. (Heidelb. 1824.) S. 66,
66, Sohin Fr. R. u. G. V. S. 376, 376, Schröder R. G. I 163.
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ist, wie neuerdings Brunner1) schön ausgeführt, im Gebiete des
fränkischen Rechts vollkommen durchgednuigen, während sie
sich im übrigen Deutschland gamiclit oder nur für bestimmte Ge-
richte dauernd zu halten vermochte. In unseren mittelrheinischen
Städten werden auch zu Worms und Mainz mehrfach Schöffen er-
wähnt. Aus Speierist uns freilich wederNamenochEinrichtungaus-
drücklich überliefert, und daher haben v. Maurer *) uud noch kürz-
lich Schaube s) behauptet , dass es daselbst Schöffen überhaupt
nicht gegeben habe. Allein abgesehen davon, dass das Gebiet
von Speier sich durchaus nach Sprache und Recht als frän-
kisch erweist und das Fehlen der Erwähnung von Schöffen in der
Stadt Speier bei der allgemeinen Dürftigkeit unserer Überlieferung
nicht weiter auffallend ist, sind uns Schöffen ausdrücklich zu Ede-
koben , einem zum Speiergau gehörigen Dorfe, bezeugt.4) Sollte
es aber in der Stadt Speier nicht zur Ausbildung eines Schöffencollegs
gekommen sein, — was nach dem gesagten doch höchst unwahr-
scheinlich ist, — so wird sich doch auch hier der Richter mehr nach
der Rechtsüberzeugung der einflussreichsten Personen, als nach der
der ganzeu Gemeinde gerichtet haben. In der Auswahl dieser Per-
sonen werden aber im grossen und ganzen dieselben Rücksichten vor-
gewaltet haben , wie in den anderen Städten bei Ernennung der
Schöffen.
Bekanntlich sind die Schöffen in der Karolingischen Zeit
von Graf und Gerichtsgemeinde gemeinsam eingesetzt worden.5)
Das Mitwirkungsrecht der letzteren nun ist vielfach, z. B. in
Köln, auf das Schöffencolleg selbst Ubergegangen; das Recht
des Grafen kommt dort an den Burggrafen und wird mehr und
mehr zu einem bloss formellen Bestätigungsrecht.8)
Über die Wahl und Amtsdauer der Schöffen in unseren
mittelrheinischen Städten haben wir nur dürftige Nachrichten.
') in: Die Herkunft der Schöffen (Hitteil, des Instit. für österr. Ge-
schichtet. 1887 Bd. VIII 8. 177 ff.).
*) Stdtvrfssng. I 634 und HI 679.
*) Speier S. 453.
4) Grimm Weist I 771. Im benachbarten Lobdengau sind Schöffen
schon am Anfang des elfen Jahrhdrts. bezeugt s. W. U. 41 (Schannat Q p 39).
•) Sohm R. n. G. V. S. 378, Schröder R. G. I S. 163.
*) Sohm ibid N. 21 vgl. Liese gang Sondergemeinden Kölns S. 12 ff;
auch in Trier stand den Schöffen wenigstens de facto Selbstergänzungsrecht
zu s. Schoop, Vrfssngsgesch. von Trier S. 117.
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In Mainz stand das Recht der Schöffenernennung dem Erz-
bischof zu, bis dieser 1349 darauf verzichtete.1) Doch wird
damals sicher der entscheidende Einfluss, wie auf die Ernennung
der Beamten, so auch auf die der Schöffen schon längst anderen
Kreisen zugefallen sein.11 * * V)
In Worms könuen wir aus der ältesten Ergänzung des
Rats ein Urteil über die der Schöffen gewinnen. Ist doch hier
das Hervorgehen des Rats aus dem Schöffeutum am klarsten,
wofür wir vorläufig ausser auf unsre späteren Ausführungen3)
auf die diesbezüglichen Untersuchungen von Arnold *) und Heus-
ler *) verweisen. Der Rat aber besass damals das Recht der
Selbstergänzung B) und ich glaube nicht fehlzugehen, wenn ich
daraus schliesse, dass auch das Wormser Schöffencolleg, ehe es
zum Rat wurde, gleich dem Kölner und Trierer *) durch Tod
oder sonst (etwa durch längere Abwesenheit)8) entstehende
Lücken selbst ausfüllte.
Noch weit wichtiger als die Entscheidung der Frage, wie
das Schöffencolleg zusammengesetzt wurde, ist es für uns, Klar-
heit darüber zu gewinnen, welcher Klasse von Personen die
Schöffen angehörten. Auf die bekannte Controverse zwischen
W a i t z und S o h m , ob in älterer Zeit nur Grundbesitzer zu
Schöffen ernannt werden durften,9) will ich nicht eingehen.
Jedenfalls kann ja unter Bezugnahme auf die in den Capitu-
l) Hegel Mainz S. 53. Ebenso war in Cambray mit den übrigen üraf-
scliaftsrechteu auch das Beeilt der Erueuunug der Schöffen an den Bischof
ilbergegangen, wie aus der Bestätigung dieses Rechts durch Friedrich I her-
vorgeht St 4339 (Boehmer Acta imperii Innsb. 1870 p 134).
*) s. unten Cap. IX.
*) vgl. besonders Cap. VIII.
«) V. G. I 280 ff., 289.
•) Ursprung 8. 181.
*) Boehmer Font. II p. 160, 161.
*) s. oben S. 74 N. 6.
*) Gerade auch die Ersetzung eines Ratsmitgliedes in Folge längerer Ab-
wesenheit desselben ist 1233 ausführlich geordnet worden, als der Rat das
Princip deT reinen Cooptation der Mitglieder auch bei durch Tod entstehenden
Lücken aufgeben musste (cf. W U 163).
•) s. Waitz V. G. II« 8. 143, IV 8. 394, Sohm G. V. 8. 334 ff., 376 ff,
vgl. auch v. Bethmann-Hollweg, Der Civilprocess des gemeinen Rechts
V 2 (Bonn 1873) S. 25.
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76
larien oft eingescliärfte Verordnung, die Angesehensten zu
Schöffen zu machen, der Satz ausgesprochen werden, dass bei
vorwiegender Naturalwirtschaft in der Regel wohl nur altan-
gesessenen Familien angehörige und grundbesitzende Personen
zu Schöffen genommen wurden.1)
Hoeniger *) hat besonders durch Heranziehung der Urkunde
Erzbischof Philipps für Anderuach 1171 und Vergleichung der
Ratsverzeichnisse mit den in den Schreinskarten vorkommenden
Namen nachgewiesen, dass in Köln „eine Verschiebung der ur-
sprünglich schöffenbaren Leute stattgefunden haben muss.“ An
Stelle der alten schöffenbaren Geschlechter waren reiche Kauf-
leute getreten.
Dafür, dass ebenso auch in Worms kaufmännische Elemente
auf die Schöffenstühle gelangten, spricht schon, dass in dem
Privileg Friedrichs I für die dortigen Münzer diesen ausdrück-
lich das Recht gegeben wird, nur mit ihrem Willen zu Schöffen
genommen zu werden.*)
Diese Tatsache ergiebt sich ferner aus der Betrachtung
einiger Namen der Mitglieder der regierenden Stadtbehörde zn
der Zeit, in der ihre Bezeichnung noch zwischen iudices und
consules schwankt, sowie aus der ersten Zeit des Bestehens
des Rats,4) also im ganzen etwa der Zeit vom Ende des 12. bis
Mitte des 13. Jahrhunderts. Damals werden in Worms einzelne
Ratsmitglieder nach benachbarten Dörfern benannt,5) sind also
sehr wahrscheinlich von da zugewandert und gehören schwer-
lich einer altangesessenen Bevölkerung an. Der Name eines
Ratsmitgliedes Johannes under gademen giebt sich doch als der
eines Kaufmanns.6) der des Schöffen C. de moneta als der eines
Münzers zu erkennen.7) Endlich kommen unter den Stadtvor-
stehern auch Namen wie Syfridus Saxo und Bertholdus Saxo
vor, die offenbar auf fremden Ursprung hindeuten.8) Ausser
*) So im wesentlichen jetzt auch Schröder E. Q. I 163.
•) Westd. Ztschr. II 241 ff.
*) W U 80.
4) Dass es erlaubt sein muss, anch die Ratsznsammensetzung in der
ersten Zeit seines Bestehens in der Untersuchung hineinzuziehen, geht aus
der S. 75 zu N. 3 ff. gemachten Bemerkung herror.
‘) z. B. in W U 144 : Bertoldus de Muterstat, Uemodns de Peffelnkeim.
") ibid, cf. auch U 223 ein Ratsmitglied Eberhardns de vico Lane.
») U 103.
’) U 118, (vgL Schenk zu Schweinsberg in Westd. Ztschr. VII S. 88), 144.
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77
diesen eingewanderten sächsischen Kaufleuten scheinen auch
Nachkommen von Juden in Worms zu Schöffen gemacht wor-
den zu sein. Darauf lässt wenigstens schliessen, dass sich 1198
unter den iudices ein Emicho Judaeus befindet l) ; so ist auch aus
dem dreizehnten Jahrhundert ein consul Helemannus Jndaei be-
zeugt.*) Alles dies berechtigt wohl zu der Annahme, dass in
Worms ganz wie Köln die Schöffenstühle an kaufmännische
Elemente gelangt sind.
Dass sich auch in Mainz ein ähnlicher Vorgang abspielte,
dafür spricht es, dass wir in der ersten Hälfte des 11. Jahr-
hunderts von der Geisslung eines Stadtschöffen hören.*) Dieser
Strafe wurden freie Personen nach fränkischem Rechte nicht
unterworfen;4) dagegen kann es nicht auffallen, dass die Voll-
ziehung derselben an einer zwar hörigen, aber durch Vermögen
und Tüchtigkeit einflussreich gewordenen Person, welche auch
das Schöffenamt erlangt hatte, Aufsehen erregen musste.
Während die Bedeutung der Besetzung der Schöffenstühle
mit Kaufleuten auf die Rechtssprechung unmittelbar erhellt,
muss der Einfluss, den dies Schöffencolleg auf Verwaltung und
Politik gewonnen hat, noch besonders dargestellt werden. Es
dürfte aber angebracht sein, vorher noch die Verwaltungstä-
tigkeit zu betrachten, die von anderen, kaiserlichen, bischöflichen
und communalen, Behörden in der Stadt ausgeübt wurde. Mit den
letzteren, also mit der Tätigkeit der Vorsteher der Heimschaf-
ten, will ich beginnen.
*) V 103 Auch in Köln finden »ich Personen jüdischer Abstammung nnter
den Schöffen vgl. Hoeniger, Ztschr. f. Gesch. der Juden in Dentschl. I. S. 73. ff.
*) U 406 Vgl über die Lage der Juden im älteren Mittelalter ansser
dem in der vorigen N. citierten Aufsatz noch Kriegk, Frankf. BUrgerzwiste
und Zustände im Mittelalter (FTankf. 1863) S. 406—418. In Mainz wird
übrigens 1220 ein Friedrich Jnd unter den Zeugen einer erzbischöflichen
Urkunde genannt, gehört also jedenfalls zu den angesehensten Bürgern.
(B — W XXXn 369); dasselbe ist 1046 mit Boezzo filius Dudonis Judaei
der Fall. (B -W XXI 16). Im dreizehnten Jahrhundert finden wir das Ge-
schlecht der .Juden vom Stein* im Besitz mehrerer wichtiger Stadtämter;
dasselbe führt einen bärtigen Judenkopf im Wappen (Lehne Ges. Schriften
Mainz 1837 Bd. IV S. 163), stammte also höchst wahrscheinlich von Juden ab.
*) .Taffe Mon. Mogunt. p 626.
4) Vgl. Waitz V. G. I 442. Thonissen, L’organisation iudiciaire, le droit
ptaal et la procfcdure pbnale de la loi Salique (Bruxelles 1881) p 171.
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78
Kapitel V.
Die Specialgemeinden.
Die Bedeutung der Kirchspiele für die Geschichte der
deutschen Stadtverfassung ist zuerst 1827 von Hüllniann her-
vorgehoben worden. Dieser Forscher vertrat die Ansicht, dass
in einer Anzahl deutscher und italienischer Städte darunter
auch in Worms der Rat durch Zusammentritt der Beamten der
einzelnen Pfarrsprengel entstanden sei.1) Der eigentliche Be-
gründer der neuern wissenschaftlichen Erforschung der deut-
schen Stadtgeschichte. Arnold, hat sich sehr scharf gegen die
Hüllmannsche Theorie ausgesprochen.8) Indess hat auch gerade
Arnold die Wichtigkeit der Parochien für die städtische Ver-
fassungsentwicklung mehrfach betont.*) Auch er hält diese Ver-
bände für älter als den Rat und sieht in ihnen ehemals com-
munal selbständige Gemeinden.
Andrerseits spricht Arnold freilich auch den Gedanken aus,
dass die Kirchspiele nach der Ratsentstehnng „als politische
Abteilungen neuer Corporationen auch eine neue Bedeutung er-
hielten;“4) danach hätten sie also auch viele der Verwendungen,
in welchen sie zur Zeit der ansgebildeten Ratsverfassung be-
gegnen, erst damals erhalten.
Während Arnold sich bei seinen Ausführungen noch auf
die im vorigen und im Anfang unseres Jahrhunderts erschienenen
Specialarbeiten von Glasen 5) und Wallraf0) über Köln stützte,
sind seitdem die Kölner Verhältnisse vielfach insbesondere auch
durch die vor kurzem veröffentlichten Forschungen Hoenigers7)
und Liesegangs8) weit gründlicher erhellt worden, als es zu
Arnolds Zeit der Fall war. Ferner lassen sich jetzt auch mit
den in der Kölner Entwicklung entgentretenden verwandte Er-
*) Städtewesen des Mittelalters (Bonn 1826 ff.) II S. 446 ff.
«) V. G. I 8. 297.
*) I 292 ff., II 227 ff.
‘) II 230.
6) Erste Gründe der Kölner Schreinspraxis (Köln 1782).
*) Beiträge z. G. der Stadt Köln (Köln 1818) s. bes. Bd. I S. 92—95, 97.
*) Mitteil. a. d. Stdtarch. v. Köln 1882 Bd. I Heft 1 S. 35—53; Westd.
Zeitschrift II (1883) S. 228 ff.; Annal. d. hist. Ver. f. d. Xiederrh. Bd. 46.
S. 72 ff
•) Die Sondergemeinden Kölns (Bonn 1885).
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79
scheinungen in den flandrischen Städten, in Metz und in Er-
furt1) nach weisen. Ebenso haben auch in Braunschweig *) und
in Münster*) nach neueren Forschungen Sondergemeinden,
die in gewisser Beziehung zu den Pfarrkirchen standen, eine
Rolle gespielt. Von Strassburg und Basel haben wir wenig-
stens einige Spuren von Verwendung der Kirchspiele in der
städtischen Verwaltung*), und auch in unsem mittelrheinischen
Städten sind mehrfach solche entdeckt worden.
So konnte schon Hoeniger in seiner Kritik von Hegels
Mainzer Verfassungsgeschichte auf diesen, bei der Darstellung
der älteren städtischen Entwicklung nicht mehr zu vernachläs-
sigenden, Punkt unter Heranziehung einiger der genannten Bei-
spiele hinweisen.5) Alsdann hat Gengier inseinen „Deutschen
Stadtrechtsaltertümern“6) die Arten der Stadteinteilung nach for-
malen Gesichtspunkten gesondert und dabei auch eine Anzahl
von Stellen angeführt, die Berührungen zwischen parochialen
Stadteinteilungen und dem bürgerlichen Gemeinde- und Ver-
kehrsleben bezeugen.7) Aber, abgesehen davon, dass „die Zahl
und Bedeutung dieser Berührungen grösser“ ist, „als es nach
Gengier scheint,“8) ist auch hier wie sonst so oft die rechtsan-
tiquarische Forschung für die rechtsgeschichtliche mehr durch
die Stellung neuer Probleme als durch die Zuführung neuer
Resultate von Wert.9) Zu den von Gengier angeführten Fällen
*) vgl. Warnkönig, Flandrische Staats- und Rechtsgeschichte (Tilb. 1835)
I 333, IXi 55, 72, Vollbaum, die Specialgemeinden der Stadt Erfurt (Erfurt
1881), Klipffel, Leg paraiges Messing (Metz et Paris 1863) und besonders
Hoeniger Westd. Ztschr. III (1884) S. 60, 61.
*) Hänselmann in Chroniken d. deutsch. Städte Bd. VI S. I — XXU.
Hier haben sogar die 5 Stadtteile, aus denen die Stadt erwachsen ist, jede
einen besonderen Rat nnd erst seit 1345 ist von „einem gemeinen Rate aller
fünf Weichbilde“ von Brannschweig die Rede.
*) Tibus, die Stadt Münster (Münster 1882) S. 34 ff., S. 102 ff
4) Liebe S. 51, 64; über andere Städte (Soest, Schleswig, Hamburg)
vgl. auch ibid. S. 12, Gengier S. 60.
*) Vgl. den oben N. 1 citierten Aufsatz.
*) Erlangen 1882,
S. 49-66.
*) Liehe S. 6.
*) Vgl. Brunner D. R. G. I. S. 21; ähnlich speciell in Bezug auf das
Gengiersche Buch auch Gierke in Jahrbüchern f. Nationalök. Bd. 41 (1883)
S, 266-67.
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80
ist 1885 eine Reihe neuer von Liebe in seinem Buche:
„Die communale Bedeutung der Kirchspiele in den deut-
schen Städten (Berlin 1885)“ hinzugefügt worden. Viel-
fach hat Liebe darin auch die Entstehung und Ent-
wicklung der Beziehungen zwischen weltlicher und kirch-
licher Stadteinteilung festzustellen gesucht. So verdienst-
lich seine Schritt aber auch deshalb sowie in Folge der
versuchten Heranziehung analoger Erscheinungen auf dem
Lande ist, so kann sie doch als abschliessend in keiner Weise
betrachtet werden.
Zunächst sind die einschlägigen Verhältnisse in Erfurt bei
Liebe ganz unberücksichtigt geblieben ; gerade hier hat aber die
Einteilung in nach Kirchspielen benannte Sondergemeinden be-
sonders zahlreiche Zeugnisse hinterlassen und sich in einigen
Ueberlebseln bis auf unsere Zeit erhalten.1) Ferner lässt sich
auch für die in dieser Arbeit behandelten Städte noch recht
viel nicht herangezogenes Material nachtragen. Endlich konnte
Liebe auch schon deshalb nicht leicht zu wirklich abschliessen-
den Resultaten gelangen, weil er die Untersuchungen Lam-
prechts Uber die deutschen Markgenossenschaften und das Amt
des Heimburgen noch nicht benutzen konnte. Gerade diese
Lamprechtschen Forschungen*) scheinen mir aber auch die
') Vgl. d&B oben S. 79 N. 1 angeführte Buch von Vollbauin bes. S. 121 ff.
*) Lamprecht hat diese Ausführungen über Mark- und Gerichtsverfassung
de* Mittelalters im fränkischen Rechtagebiet (D. W. I 169 — 323) meiner An-
sicht nach mit so überzeugendem Beweismaterial gestützt, dass eine von
Lamprecht — anders als vielleicht nur in manchen Details — abweichende
Auffassung dieser Verhältnisse wissenschaftlich wohl kaum mehr begründet
werden kann. Von competenten Beurteilern hat auch Inama-Sternegg. (GBt-
ting. gelehrte Anzeigen 1887 S. 320, 321) speciell diesen Ausführungen Lam-
prechts vorbehaltlos beigestimmt; ebenso Gierke, Jahrbücher für Nationalök.
Bd. 48 (1888) S. 529, der nur vor zu rascher Verallgemeinerung des, zunächst
doch nur f ür das fränkische Rechtsgebiet, festgestellten auf die ganze deutsche
Entwicklung warnt. (Vgl. noch über das Lamprechtsche Werk die den
wissenschaftlichen Wert desselben feststellenden Recensionen von Schmoller in
Jahrbuch für Gesetzgebung XII (1888) S. 203 — 218, Bruder in Histor. Jahr-
buch VIII (1887) S. 502—519 und Jastrow Mitteil, aus der bistor. Litter&tur
XVI (1888) 8. 206—218). Diese Lamprechtschen Ausführungen über Mark-
und Gerichtsverfassung, deren wesentlichster Inhalt im Text kurz angegeben
werden soll, können daher zweifellos als sichere Ergebnisse der Wissenschaft
betrachtet und den folgenden Untersuchungen zu Grunde gelegt werden.
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81
Lösung der von Liebe behandelten Fragen bedeutend zu
fördern.
Wie alle wichtigeren Probleme der städtischen Verfassungs-
geschichte wird wohl auch dasjenige der Bedeutung der Kirch-
spiele am besten auf die Weise gelöst werden, dass man es,
unter Berücksichtigung der allgemeinen Ergebnisse der deut-
schen Verfassungsgeschichte, zunächst bei einzelnen Städte-
gruppen zu lösen sucht, die aus nach Lage und Entwicklung
zusammengehörigen Städten gebildet sind. Bei jeder der ein-
zelnen Städtegruppen muss alsdann der für dieselben erhaltene
Quellenstof nicht in willkürlicher Auswahl, sondern vollständig
herangezogen werden. Nützlich dürfte es auch sein, wenn da-
bei für jede der Städte der einzelnen Gruppen zunächst folgende
Einzelfragen, in welche das umfassende Problem der Special-
gemeinden zerlegt werden kann, beantwortet werden:
1) Seit wann bestehen die Specialgemeinden ? Lässt es sich
feststellen, dass sie schon vor der Existenz einer einheit-
lichen Stadtgemeinde oder wenigstens vor der Ratser-
richtung Vorkommen? Sind sie ganz selbständig ent-
standen oder irgendwann gesetzlich eingeführt?
2) Ist dort, wo die Sondergemeinden nach den Kirchen ge-
nannt sind, die Pfarrgemeinschaft das eigentlich mass-
gebende oder ist diese, weil man es dabei nur mit einer
populären Bezeichnung zu tun hat. ganz nebensächlich')
oder ist etwa für einen Mittelweg zu entscheiden?
3) Welches sind die Funktionen der Specialgemeinden vor
und nach der Entstehung der Ratsverfassung? Wie
werden die Vorsteher der Specialgemeinden genannt und
gewählt?
4) Wie verhält sich die Einteilung der Städter in Special-
gemeinden zu ihren Status- (frei, unfrei) und Standes-
verhältnissen (Ackerbauer, Kaufleute, Handwerker)?
Betreffs der ganz allein stehenden, durchaus abwegigen, Einwendungen Belows
(vgl. Histor. Ztschrft. Bd. 59 8. 213—216 und Stadtgemeinde S. 8, 9) muss
auf die unten Anhang 1 gegebenen Ausführungen verwiesen werden, da eine
eingehende Besprechnung dieser Einwendungen an dieser Stelle den Zu-
sammenhang allzusehr unterbrechen würde.
‘) Ersteres ist die Ansicht Warnt önigs in bezug auf die flandrischen Städte,
letzteres die Vollbaums in bezug auf Erfurt (vgl. die Citate auf S. 79. N. 1.)
Koehne, Ursprung der Stadtverfaaeung ln Worms, Speier und Mainz. 6
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82
Es liegt nun die Aufgabe vor, das bei jeder Stadt ge-
gebene Quellenmaterial auf diese Fragen hin zu untersuchen;
sofern man daraus bei einer derselben in einer einzelnen Stadt
nicht zu sicheren Resultaten gelangt, wird oft die Analogie der
Städte derselben Gruppe zu hinreichend sicheren Resultaten
führen.
Es scheint angebracht, diese Untersuchungen mit einigen,
von Gengier und Liebe nicht herangezogenen, Nachrichten über
Wormser Verhältnisse im 10. und 11. Jahrhundert zu beginnen.
Diese Nachrichten sollen dann durch die aus dem Lamprecht-
schen Forschungen sich ergebenden Resultate klargestellt wer-
den. Von den so gewonnenen Grundlagen aus müssen darauf die
schon von Liebe zusammengestellten, aber noch vielfach im
einzelnen zu ergänzenden Nachrichten über die Teilgemeinden
in Worms, Speier und Mainz besprochen werden. Alsdann hoffe
ich, unter gelegentlicher Heranziehung der von der früheren
Forschung besonders für Köln und Erfurt gewonnenen Resul-
tate, auch für unsere Städte die obigen Fragen teils mit Ge-
wissheit, teils mit einem hohen Grade von Wahrscheinlichkeit
beantworten zu können.
In den Statuten Burchards haben wir oben l) einen Beam-
ten minister, magister loci oder ministerialis kennen gelernt,
der (in einem lokal begrenzten Kreise) die Besitzeinweisung in
die Hofstätten und eine Gerichtsbarkeit bei geringeren Delikten
und Geldschuldklagen besitzt. Diese Gerichtsbarkeit übt er
cum subiectis sibi concivibus aus.*) So liegt also, wie es schon
der Name des Vorgesetzten Beamten ergiebt, hier eine, insbe-
sondere für die niedere Gerichtsbarkeit entscheidende, Eintei-
lung der familia von wesentlich lokaler Natur vor. Neben
dieser Einteilung der familia enthalten die Statuten noch eine
andere, welche wir wohl mit Gengier, *) Waitz*) und Gierke5)
als ebenfalls auf lokalen Verhältnissen beruhend und mit ersterem
‘) 8. 42—44.
*) Leg. et at&t tit. 12.
*) Hofreclit S. 6 und 7.
*) V. G. V 347.
*) I 160.
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83
„ohne allzugrosse Kühnheit“ als mit der früher erwähnten in
Zusammenhang stehend betrachten können. Es ist die Ein-
teilung in societates. Nach tit. 13 soll für Delicte, die
an einer derselben societas angehörenden Person verübt
sind, ein grösseres Gewedde gezahlt werden , als wenn
das Verbrechen an einer extra societatem stehenden Person be-
gangen sei. Dafür, dass hier und in tit. 8, wo der Fall be-
sprochen wird, dass jemand seiner eigenen societas angehörende
Personen mit Hilfe von Fremden schädigt, societas lokal zu
fassen ist, spricht namentlich die schon von Waitz *) angeführte
Analogie einer Stelle *) eines Weissenburger Urbare, in welcher
socii die Dorfgenossen bezeichnet.8) Freilich ist dies bis jetzt
wenig mehr als Hypothese. Auch lässt sich, da Burchards
Gesetz nicht nur für die Stadt, sondern für die gesammte fa-
milia der Wormser Kirche erlassen war, aus dem bisher er-
örterten noch nicht ersehen, ob die damalige Stadt nur eine
societas bildete oder in mehrere zerfiel.
Dagegen giebt uns die — übrigens nicht von Burchard,
sondern von seinem Vorgänger dem Bischof Theodalach (891 bis
914) herrührende4) — Wormser Mauerbauordnung5) von einer 1
•) a. &. 0.
*) Zenas Traditionen Wizenburgenses (Spirae 1842) p. 283 nr. 61 : süniliter
seruiunt sicut socii eorum.
*) Arnold V. 0. I 67 giebt in diesen societates Innungen; dagegen
wendet Qengler Hofr. 8. 6 mit Recht das Fehlen jedes qnellenmässigen An-
halts f ttr diese Ansicht ein. Ebendaselbst tritt Gengier auch der von Wal-
ter Deutsche Rechtsgesch. (Bonn 1857) Q S. 57 versuchten Zusammenstellung
der societates der leges et statuta mit den „westfälischen Echten“ entgegen.
Letztere seien „offenbar Standes- oder Rangclassen innerhalb der bischöf-
lichen Hofgenossenschaft' gewesen und demnach mit der Scheidung in Fisca-
linen und Dagowarden zu vergleichen. Diese Waltersche Ansicht, der übri-
gens auch Heusler Ursprung S. 142 gefolgt zu sein scheint, ist desshalb un-
annehmbar, weil es nach den Ursachen der Unterscheidung von Fiscalinen
und Dagowarden unerklärbar wäre, warum ein, an einer innerhalb derselben
societas in diesem Sinne stehenden Person verübtes, Verbrechen schärfer als
dasselbe Delict an dem einer andern societas ungehörigen bestraft
worden wäre.
*) S. Anhang IH.
*) Die beste Ausgabe derselben mit den in den verschiedenen Drucken
vorkommenden Varianten gab Falk in Forsch, z. D. Gesch. XIV S. 397 ff. ; da-
selbst sind auch die in Betracht kommenden topographischen Fragen gelöst.
«•
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84
Einteilung der Stadt Kunde. Hier wird — wie sich bekannt-
lich analoges auch vielfach bei anderen mittelalterlichen Städ-
ten findet,1) — Instandhaltung und Bewachung der einzelnen
Teile der Wormser Mauer unter die Gemeinden der Stadt und
ihrer Umgebung verteilt. Dabei heisst es nun:
De loco, qui dicitur Frisonenspira usque ad Rhe-
num ipsi Frisones restauranda muralia procurent. Ri-
delsheim, Gimsheim a supradicta Frisonenspira
usque ad locum, qui Rhenispira vocatur, provideant.
In eodem latere civitatis familia S. Leodegarii portam
quandam reaedificare debent.
Deinde usque ad Pawenportam urbani qui Heimgerei-
den vocantur, operando pervigilent.
Unter der familia S. Leodegarii haben wir die Leute des
Klosters Murbach im Eisass zu verstehen, das diesem Heiligen
geweiht war, da gerade diese mehrfach so genannt werden.*)
Ob von Murbach ein Teil der Stadtbewohner derart abhängig
war, dass derselbe als seine familia bezeichnet werden konnte,
oder ob die familia S. Leodegarii zu den zum Mauerbau hinzu-
' gezogenen Landgemeinden gehörte, habe ich nicht ermitteln
können. Dagegen sind jedenfalls die Friesen, welche einen
Teil der Wormser Stadtmauer auszubessern haben, mit den-
jenigen identisch, deren Ansiedlung in der Stadt Worms die
im Jahre 1141 erwähnte8) platea Frisonum ihren Namen ver-
dankt. Aus der Art der Erwähnung der, vielleicht auch unter
ähnlichem Namen*) begegnenden, Frisonenspira geht übrigens her-
l) Vgl. für Mainz Hegel Mainz S. 43 und die daselbst N. 1 gegebenen
Citate, für Speier und Bingen die Citate daselbst N. 3 und 4, ferner für
Saarburg und Coblenz Beyer Mittelrh. Urkb. (Coblenz 1860 ff.) I p. 362 und
II p. 416, für Weissenburg M. G. Dipl. reg. et. imp. Germ. I Nr. 287 p. 401,
für Magdeburg ibid. N. 300 p. 416, vgl. auch Maurer Stadtverfassung I S. 491
ff. Eine verwandte Erscheinung ist es, wenn in Hameln und Bremen gewisse
in der Nähe der Stadt gelegene, aber unter fremder Herrschaft stehende
Dörfer verpflichtet sind, jährlich eine bestimmte Quantität Brückenholz zu
liefern, vgl. Meinardus Urkundenbuch von Hameln (Hannover 1887) S. ü, III
n. Hansische Gescbichtsbl. 1873 8. 180.
’) Vgl. Grandidier Histoire de l’eglise de Strassbourg (Strassb. 1776) I
p. 251 , Schöpflin Alsatia diplomatica (Manuh. 1772) I p. 68 No. 69, p. 133
Nr. 166 etc. So auch Falk Forsch. XIV S. 399
•) W. U. 71.
4) W. U. 57: spiza Frisonum.
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85
vor, dass man in ihr eine Mauerpforte oder eine Mauerecke
sehen muss.1) Mit Sicherheit ergiebt sich aber jedenfalls aus
diesem Documente, dass die, einen am Rheinufer gelegenen Stadt-
teil bewohnenden, Friesen eine andere Gemeinde, als die urbani,
qui dicnntur heimgereiden , die Markgenossen der Altstadt,®)
bildeten. Aus der Combination der Nachrichten der leges et
statuta Burchardi mit denen der Mauerbanordnung ergiebt sich
demnach, dass innerhalb der Stadt mindestens zwei verschiedene
Bezirke der Wirksamkeit von Ortsvorstehern mit ihnen beige-
ordneten concives bestanden, und dass jeder solche Be-
zirk eine Markgenossenschaft bildete.
Zur Rechtfertigung dieser Behauptung und zur weiteren
Fortführung der Untersuchung dürfte es angebracht sein, jetzt
die Ergebnisse der Forschungen Lamprechts über die Vorsteher
der kleineren Markgenossenschaften und ihr Verhältnis zur Ge-
richtsverfassung heranzuziehen.
Der, der alten fränkischen Hundertschaft entsprechende,
Hochgerichtsdistrikt zerfiel nach Lamp recht8) in eine Anzahl
von Teilen, die sogen. Zendereien oder Heimschaften , welche
zugleich Gerichtsbezirke und Markgenossenschaften bildeten.
Diese, prsprünglich wohl aus der benachbarten Niederlassung
und gemeinsamen Inbesitznahme grösserer Landstrecken seitens
der Geschlechtsgenossen herrührenden, Verbände wurden im 6.
Jahrhundert, insbesondere um das damals überhandnehmende
Räuberunwesen zu vernichten, von der Staatsgewalt zur Frie-
denssicherung benutzt. In dem von Childebert und Chlotar er-
lassenen Pactus pro tenore pacis*) wird die Centene ausdrück-
lich „verpflichtet, innerhalb ihres Gebiets ertappte Räuber, ge-
fänglich einzubringen und bis zur Gebietsgrenze zu verfolgen.“
•) vgl. oben S. 7 mit N. 2.
*) Die heimgereiden halte ich für die Tbeilnehmer am heimgerade. Es
ist beim Dorf oder auch Mark, gerede = Beredung, Besprechung, also heimge-
rede = Bauernsprache, = Versammlung der Dorf- und Markgenossen. Vgl.
Thodichum Gau- und Markverfassung (Giessen 1860) S. 39, Lamprecht I S. 304
N. 2. Dass wir unter urhs i. teeh. S. die schon in älterer Zeit mit Mauern ver-
sehenen Stadtteil, also hier unter urbani die Bewohner der Altstadt verstehen
dürfen, wird sich aus den weiter unten folgenden Erörterungen ergeben.
•) I S. 198 ff., 8. 224 ff.
4) L. L. II in 4° (ed. Boretius) p. 6 o. 9.
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86
Sie hat ferner dem Bestohlenen sofort Schadenersatz zu leisten
und empfängt dagegen einen grossen Teil der Busse.1) Wie
schon Lamprecht betont, dass damals die Centenen schwerlich
erst eingerichtet seien,*) was ich ihrer markgenossenschaftlichen
Funktionen wegen überhaupt für unmöglich halte, so ist es ge-
wiss auch weniger dem genannten Gesetze, als vielmehr der
sich in ihm nur documentirenden Entwicklung zuzuschreiben,
dass die Centene seitens des Staats in umfassender Weise zur
Sicherheitspflege herangezogen wurde.*)
Die den Centenen in der Zeit des Frankenreichs erwach-
senen polizeilichen und rechtlichen Befugnisse blieben ihnen
auch in der nachfränkischen Zeit, in welcher sie uns als Zende-
reien oder Heimschaften entgegentreten; nur sind die Befug-
nisse der Gemeinde selbst durch diejenigen ihres Vorstehers
vermindert.4) An der Spitze der einzelnen Cent finden wir
nämlich schon unter den Merowingern einen von der Centge-
meinde gewählten, von den königlichen Beamten bestätigten
Centenar.5) Aus dieser Beamtung entwickelt sich die des uns
in den späteren Quellen entgegentretenden sogen. Zenders oder
Heimburgen.6) Derselbe ist der einzige grössere Beamte der
Markgemeinde.7) Als solchem fällt ihm die Berufung und Lei-
tung der Markgemeindeversammlungen und die Einweisung der
übrigen Markbeamten, wie Flurschützen und Förster, in ihr
Amt zu. Ausserdem hat sich nach Lamprecht aus den mero-
wingischen Verordnungen der Friedenswahrung innerhalb der
Markgemeinde und der Vertretung derselben nach aussen für
*) Lamprecht ibid.
*) S. 224 vgl. auch S. 226 N. 2.
*) Eine Haftung der Markgemeinde für in ihrem Gebiete vorgekommene
Verbrechen liegt z. B. auch schon in Capitol, ad leg. Sal. I c. 9 (Boretins
bei Behrend p. 91). Man beachte auch, dass die, sp&ier Heimschaft oder
Zenderei genannte, Markgemeinde in älterer Zeit i. d. E. aus Mitgliedern
einer Sippe bestand, was sich insbesondere auch aus der Anwendung von
genealogia in lokalem Sinne ergiebt cf. Fonnula Patav. 5 (in L. L. V in 4*
ed. Zeumer p. 469) und die anderen vonWaitz V. G. I* S. 81 N. 1—3 ange-
führten Stellen.
‘) Lamprecht S. 227.
*) Pactum pro tenore pacis c. 16 (L. L. in 4° n ed. Boret. p. 7). Vgl.
Lamprecht S. 226.
*) So Lamprecht S. 227. Vgl. S. 198 N. 2.
’) Lamprecht S. 315, 316.
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87
den Zender die niedere Gerichtsbarkeit in der Zend sowie die
Pflicht, vorgekommenen Friedensbruch im Hochgericht zu rügen,
entwickelt; meist hat er auch das Recht erhalten, dort als
Schöffe zu urteilen.1)
Ferner ist der Heimburge in Folge der ihm übertragenen
Führung bei der Verfolgung von Verbrechern sowie der Lei-
tung der in Waffen stattflndenden Gemeindeversammlung auch
zum Heerführer seiner Gemeinde geworden.*)
So liegen denn der Markgemeinde wie ihrem Vorsteher, dem
Zender, eine Reihe von Obliegenheiten wirtschaftlicher, poli-
zeilicher, jurisdictioneller und militärischer Natur ob. Alle
diese Funktionen der Markgemeinde hören auch dadurch nicht
auf, dass die Freiheit eines Teils oder aller ihrer Mitglieder
gemindert wird. Nur gelingt es den Herrn der hörigen Mark-
genossen gewöhnlich, besondere Rechte bei der Albemendenut-
zung und der Ernennung der Markbeamten zu erlangen.8) So
hält sich auch der Zender vielfach, wenn das Amt grundherr-
lich wird.4)
Nach diesen Ergebnissen der Lamprechtschen Forschung
glaube ich in den societates der Statuten Burchards solche
Markgenossenschaften sehen zu können, während der loci ma-
gister wohl ganz dem Heimburgen einer grundherrlich gewor-
denen Zent entspricht. Die Richtigkeit dieser Identification
wird vor allem dadurch bestätigt, dass gerade in Worms die
Heimburgen später vielfach erwähnt werden.
Ehe nun aber diese Erwähnungen näher betrachtet werden,
muss noch eine grössere Digression gestattet sein. Da nämlich
die Heimburgen in unseren Städten fast immer im Zusammen-
hang mit den Kirchspielen genannt werden, so erscheint es zum
Verständnis dieser Erscheinung notwendig, auf die allgemeine
Entwicklung und Bedeutung dieser Institution sowie ihren Zu-
sammenhang mit den Markgenossenschaften näher einzugehen.
Nach der herrschenden Lehre der Canonisten bestanden bis
zum Ende des 10. Jahrhunderts und in der Regel noch lange
*) Lamprecht S. 217 ff.
*) A. a. 0. S. 216.
*) ibid. 8. 998 und 1006 vgl. auch 1078, 1079.
‘1 ibid. S. 230 N. 1.
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88
darüber hinaus in den Bischofsstädten keine besonderen Pfarr-
kirchen und Pfarrgemeinden.1) Die einzelnen Kultusakte konn-
ten entweder in jeder Kirche und Kapelle oder nur im Dome
geschehen; die Geistlichen wurden vom Bischof oder vom Pa-
tron mit bischöflicher Zustimmung ernannt. Da ausserdem die
Errichtung einer Kirche jedem Privatmanne auf seinem Grund
und Boden freistand, so liegt keine Veranlassung vor, irgend
eine Beziehung in Zahl und Patronatsrechten zwischen kirch-
lichen und irgendwelchen politischen oder wirtschaftlichen Ver-
bänden innerhalb der Stadt anzunehmen.
Dagegen ist allerdings auf dem Lande die Institution der
Pfarrkirche schon im achten und neunten Jahrhundert zu voll-
kommenen Abschluss gelangt.*) Schon damals wurden für die
Spendung der Sacramente insbesondere der Taufe sowie für
den Gottesdienst an den Feiertagen bestimmte Kirchen reser-
viert, und die Landbewohner je nach ihrem Domicil an eine
dieser Pfarrkirchen gewiesen.*) Dennoch aber fand kirchen-
rechtlich bei der Bestimmung der Pfarrkirchen und ihrer Be-
zirke keine Rücksichtnahme auf irgendwelche bestehenden recht-
lichen und wirtschaftlichen Verbände statt.4) Daher hat auch
neuerdings Lamprecht sich der Tatsache des regelmässigen
Zusammenfallens der kirchlichen mit rechtlichen und wirtschaft-
lichen Bezirken erst dann als Hilfsmittels zu seiner Forschung
bedient, nachdem er dies Zusammen fallen für sein spezielles
Gebiet, das Moselland, im einzelnen topographisch nachgewiesen.
Dieser Nachweis ist ihm aber für seinen Distrikt völlig ge-
‘) Hinschius Kirchenrecht (Berlin 1869 ff.) II S. 278, 279, Friedberg
Lehrbuch des Kirchenrechts (Leipzig 1884) § 71 I. Es darf aber jedenfalls
nicht, wie es von Liebe S. 11 geschieht, aus den Worten Worma-
ceusis parochiae episcopus (W. U. 12 a. 814) geschlossen werden, dass
selbst grössere Städte wie Worms damals nur eine Parochie ge-
bildet hätten. Parochia heisst hier wie oft in karolingischer Zeit einfach
Amtssprengel des Bischofs; ganz klar geht diese Bedeutung ans mehreren
Capitularienstellen (z. B. L. L. II in 4° p. 74 c. 6, p. 174 c. 16, p. 214 c. ö, p. 242)
hervor, (vgl. auch Hinschius a. a. 0. S. 38 N. 4 u. 267 N. 4).
*) Hinschins a. a. 0. S. 266, 267.
*) Vgl. z. B. die Beschlüsse der Mainzer Synode von 852 (L. L. I
ed. Pertz p. 415) c. 17. dazu Dümmler Ostfr. Reich I (1887) S. 360 N. 1 u.
S. 363, 364.
*) Lamprecht D. W. I S. 238 ff.
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89
langen.1) Auch muss doch die, insbesondere von Landau*) und von
Maurer*) betonte, Tatsache berücksichtigt werden, dass christ-
liche Kirchen zumeist an Stellen heidnischer Kultstätten er-
richtet wurden, diese aber jedenfalls in enger Verbindung mit
den weltlichen Verbänden standen. Gewiss ist vorwiegend
gerade dies der Grund, dass, wie es Lamprecht gezeigt
hat, im Mosellande den Hundertschaften die kirchlichen
Decanien und den Zendereien die Pfarrspiele in der Regel
topographisch entsprechen. Auch für den Mittelrhein lassen
sich mehrere besonders bezeichnende Beispiele solcher Identität
weltlicher und kirchlicher Bezirke nachweisen.4)
Dafür, dass solche Uebereinstimmung im elften Jahrhundert
durchaus Regel war, spricht es auch, dass bei den zahlreichen
in dieser Zeit vorgenommenen Rodungen weltliche und kirch-
liche Bezirke durchaus zusammenfallen.5) Gerade hier ist daher
die Bezeichnung des Ortes nach seinem Kirchspiel statt nach
seinem Gau die Regel. In Folge dessen ist Liebe*) zu der
Ansicht gekommen, dass bei diesen Neugründungen sich die
Vorstellung des Kirchspiels als eines lokalen Bezirks zuerst aus-
gebildet, und von hier aus sich auch auf die alten Siedlungen
verbreitet habe. Wenn auch eine ins Jahr 977 verlegte Ur-
kunde, in welcher eine ganze Markgenossenschaft sammt ihrer
Mark als Pertinenz ihrer Pfarrkirche angesehen wird,7) von der
neueren Forschung als unecht erkannt ist, so weist doch auch
diese Fälschung, da sie im 12. Jahrhundert verfasst ist, auf ein
regelmässiges volles Zusammenfallen des wirtschaftlichen und
kirchlichen Bezirks hin.
Zur Erklärung dieser doch recht auffallenden Thatsache
kann wohl neben dem früher erwähnten, schon von Landau und
‘) ibid. 244 — 254. Mehrfache Übereinstimmungen zwischen den kirch-
lichen nnd den gerichtlichen Bezirken im Eisass hat nenerdings Schlicker in
Straasburger Studien Bd. II (1884) S. 381—385 nachgewiesen.
*) Territorien (Hamburg 1854) S. 370 ff.
*) Gesch. d. Dorfverfassung (Erlangen 1866) I 110.
4) v. Maurer Gesch. d. Markenverfassung (Erlang. 1866) 194, 195, Dorf-
verfass. I 112.
*) Lamprecht D. W. I S. 699, Liebe S. 7, 8.
•) 8. 7.
*) Urk. Ottos II für Kloster Murbach Stumpf No. 705 ‘D. D. II
No. 323 p 380'.
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90
v. Maurer betonten, Gesichtspunkte auch der folgende herange-
zogen werden. Sicherlich waren die weltlichen Verbände auf
dem Lande, wie wir es später bei städtischen sehen werden,
sowohl au dem Bestehen von Pfarrkirchen in ihrer Nähe wie
an der Ausübung gewisser Rechte in Bezug auf dieselben leb-
haft interessiert. Gewiss sind dadurch oft Markgemeinden,
welche noch keine eigenen Pfarrkirchen besassen, zur Erbauung
neuer, resp. zu Aufwendungen für schon bestehende Pfarr-
kirchen, an denen sie dadurch einzelne Patronatsrechte er-
warben, veranlasst worden.
Ungeachtet der strengen Ausbildung der Hierarchie und
des Strebens derselben nach Unabhängigkeit von der Laien-
welt finden wir doch gerade im Mittelalter weltliche Gemeinden
im Besitze weitgehender Rechte an der Vermögensverwaltung
der Kirche.1) Überall da wo diese Verwaltung von der Gemeinde
allein geführt wird, sie also selbst Patron ihrer Kirche ist,
wird sie wohl als Stifterin derselben anzusehen sein.*)
An die Teilnahme an der Vermögensverwaltung knüpfte
sich in der Regel das Recht der Einsetzung des Küsters und
Glöckners, oft auch das des Pfarrers; selbst, wo das Patronat
einem einzelnen zustaud, hatte doch die Gemeinde oft auf die
Besetzung dieser Stellen Einfluss. Sogar unfreie Gemeinden
finden wir hier und da ihren Kirchen gegenüber in autonomer
Stellung.*)
Mochten auch in den Bischofsstädten selbst solche Rechte
der Pfarrgemeinden sowie auch die ganze Institution der Pfarr-
kirchen erst nach Analogie der ländlichen Verhältnisse in
späterer Zeit eingerichtet werden, so bestanden doch jedenfalls
Pfarrkirchen und oft auch Gemeinderechte an der Pfarrkirche
schon früher in den ausserhalb der Mauern entstehenden
Niederlassungen, die mit der Zeit den Städten incorporiert
wurden.
Diese Angliederung vorher selbständiger ländlicher Ge-
*) cf. Friedberg, De finium inter civit. et eccl regund. (Lipsiae 1861)
p. 176 n 3 , Binschius in Doye'a Ztechr. f. Krchnr. II S. 421 N. 3 n. Kirchen-
recht (Berlin 1869 ft) II 687 und 38, v. Maurer Dorfverfasanng I § 147 und 148.
*) Hinschiua Kirchnr. II S. 638 N. 1, Lamprecht D. W. I 240.
*) vgl. Lamprecht a. a. 0. N. 2 und 3.
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91
meinden lässt sich auch gerade bei unseren drei Städten wahr-
nehmen. In Worms werden 979 geradezu drei Teile: 1) die
antiqua nrbs, 2) die nova urbs, 3) suburbinm nnd villa unterschie-
den. *) WieHellwig*) nachgewiesen, verstand man unter einer civitas
oder urbs in der Ottonenzeit einen mit einer Mauer umgebenen
grösseren bewohnten Ort. Dagegen bezeichneten villa und oppi-
dum einen nicht ummauerten Wohnplatz;*) wird aber villa
mit einem sonst als civitas oder urbs vorkommenden Ortsnamen
verbunden, so haben wir darunter in der Regel eine ausserhalb
der Mauern des betreffenden Orts gelegene Niederlassung zu
verstehen.4) Antiqua urbs bezeichnet also in der Urkunde von
979, ganz den Strassburger Verhältnissen®) entsprechend, die
Römerstadt, nova urbs neue Ansiedelungen, welche aber schon
zum ummauerten Stadtgebiet gezogen sind. Suburbinm ist als-
dann die ganze Umgebung der Stadt, villa eine besondere Nieder-
lassung darin.
So finden wir auch bei Speier schon 969 eine villa Spira,8)
welche 1084 ummauert7) und wahrscheinlich später mit der
>) W. U. 36.
*) Deutsches Städtewesen zur Zeit der Ottonen (Breslau 1875)
8. 6 — 12.
*) ibid. ; besonders bezeichnend sind die von Hellwig in Note 69 und 70
angeführten Stellen.
‘) ibid. S. 10.
*) Vgl. Hegel Städtechroniken Strassburg II 925. In Betreff der von
SchmoUer Strassburgs Blüte (Strassb. 1876) S. 3 und 4 mit Note **) gegen diese
Ansicht Hegels erhobenen Einwendungen ist zur Auslegung der Stelle
Ammi&ns auf das oben S. 3 N. 3 gesagte zu verweisen. Deshalb, weil
Markt und Stadtgericht in der Neustadt lagen, braucht noch nicht ange-
nommen zu werden, dass die Altstadt gänzlich zerstört und die Neustadt
dann von den eingewanderten allemannischen Bauern begründet wurde.
Vielmehr siedelten sich in der Neustadt vor allem die zuziehenden Kaufleute
an ; ähnlich der Kölner Rheininsel ist die Strassburger Neustadt durch ihre
Lage am Flusse zum Hauptsitze des kaufmännischen Verkehrs und der sich
daraus entwickelnden städtischen Institutionen geworden. Vergl. auch über
entsprechende Verhältnisse in Begensburg und Augsburg Nitzsch 8. 187.
c) U. 6.
) U. 11 : cum ex Spirensi villa urbem facerem. Diese Worte können
nach den im Text gegebenen Erörterungen über die damalige Bedeutung
von villa und urbs nur so erklärt werden, dass die ausserhalb der eigent-
lichen urbs Spira gelegene villa damals ummauert wurde; keineswegs darf
man unter villa Spirensis das eigentliche Speier verstehen, wie es Arnold I
8. 76 tut.
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Stadt vereinigt ist.1) Ausserdem entstehen um die Stadt vier
Vorstädte,*) von denen eine wenigstens schon 1148 bezeugt ist.*)
Ebenso ist auch Mainz, wie unten gezeigt werden wird,
mehrmals durch Hineinziehung benachbarter Gemeinden in Stadt-
verwaltung und Stadtgerichtsbarkeit erweitert worden ; in vielen,
aber nicht in allen, Fällen war damit die lokale Iucorporation
in das von deu Mauern umschlossene Stadtgebiet verbunden.4)
Auch hier treten uns nova civitas5) und suburbium6) entgegen.
In solchen neu hineingezogenen früher ländlichen Bezirken
unserer Städte bestanden nun oft die von uns geschilderten,
im engsten Anschluss an die untersten wirtschaftlichen und
■) Dass aus den in der vorigen N. citierten Worten der bischöflichen
Urkunde schon für 1084 eine Hereinziehung dieser Vorstadt in die Ummane-
rung der Stadt gefolgert wird, wie es von Beinling Geschichte S. 310,
Schaube S. 466, Aronius (in dem S. 8 N. 1 citierten Werke) Nr. 168 ge-
schieht, scheint mir kaum zu billigen.
*) Vgl. Zenas S. 8—10. Nur ist es gewiss unrichtig, wenn Zeuse S. 8,
wie auch Remling Geschichte S. 311, die 1084 (U 11) erwähnte villa Spira
mit der spätem Vorstadt Altspeier identiflciert. Diese Identification stützt
sich besonders darauf, dass Bischof Büdiger 1084 den Juden Wohnsitze in
der villa Spira einräumt, später aber der Begräbnisplatz der Speierer Juden
in Altspeier nachweisbar ist Jedoch folgt aus dieser Urkunde von 1084
durchaus nicht, dass der Friedhof, wie es bei den Wohnplätzen der Juden
der Fall war, in der villa Spira gelegen war. Vielmehr sagt der Bischof in
der citierten Urkunde : Locum . . habitacionis eorum, quem iuste acquisieram
— primo namque clivum partim pecunia partim commutacione, vallem autem
dono coherednm accepi — tradidi eis. Später heisst es: Dedi insuper eis de
predio ecclesie locum sepulture. Der BegTäbnisplatz war also wohl gamicht
in der villa Spira gelegen. Unbegründet ist es übrigens, wenn Maurer I
S. 23 meint, Speier sei in der Nähe des Dorfes Altspeier gebaut worden.
Das frühere Bestehen von Altspeier ist hier offenbar aus dem Namen dieser späteren
Vorstadt von Speier geschlossen, aber mit Unrecht. Da Spir nämlich Flussname
ist, so bezeichnet Altspira nur das ältere zum Teil verlassene Bett des, in den
mittelalterlichen Quellen als Spira, Spiraha, Spirbach öfters erwähnten,
Flüsschens bei Speier, resp. den daran liegenden Ort vgl. Zeuss S. 4, Förste-
mann Altdeutsches Namenbuch Bd. II (Nordh. 1872) 8. 45 s. v. Altaich u. S.
1362 s. v. Spir.
*) Remling Urkb. No. 86.
4) Dies wird weiter unten gezeigt werden.
•) Guden Cod. dipl. DI p. 878 a 1206: in nova civitate apud eccl. s.
Stephani.
*) B-W Xffl 18 a. 944 — 948 und XXTI 62 a. 1069: eccl. 8. Petri,
quae sita est in suburbio civitatis Maguntinae ad plagam aquilonarem.
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jurisdictionelien Verbände organisirten, Pfarrgemeinden mit
freier kirchlicher Vermögensverwaltung. Diese weltlichen und
kirchlichen Einrichtungen und die damit in Zusammenhang
stehenden Beamtungen haben sich, wie wir unten sehen wer-
den. dann oft noch längere Zeit nach der Hineinziehung ins
Stadtgebiet, mehr oder weniger intakt, erhalten. Besonders be-
zeichnend für das Fortbestehen der kirchlichen und weltlichen
Organisationen auch nach der Incorporation sind die Verhält-
nisse in Strassburg.
Hier finden wir im ältesten Stadtrecht die Bestellung von
drei Heimburgen erwähnt, eines für die Altstadt und zweier
für die Neustadt.1) Die Altstadt nun bildet die Pfarrei des
Münsters, die damalige Neustadt die von St. Thomas und Alt
St. Peter.*) Es sind also zwei Markgemeinden, die jedenfalls
früher ausserhalb der Stadt gelegen waren, schon zur Zeit des
ersten Stadtrechts, also in den mittleren Jahrzehnten des 12.
Jahrhunderts,9) mit der Stadt vereinigt gewesen; dabei haben
sich aber die frühere kirchliche Organisation und die alte Mark-
und Gerichtsbeamtung noch in jedem der drei Teile erhalten.
Dass auch für die Altstadt ein Heimburge eingesetzt wurde,
kann nicht Wunder nehmen, wenn man sich erinnert, dass in
den deutschen Städten lange Zeit hindurch die Urproduktion
durchaus prävalierte,*) und dass die erobernden Germanen Recht
und Verfassung, auch wo die römische Bevölkerung sitzen blieb,
im wesentlichen nach ihren eigenen Anschauungen und Ueber-
lieferungen zu ordnen pflegten.
Nach diesen notwendigen Vorerörterungen gehen wir nun
dazu über, die in unserer Überlieferung erhaltenen Spuren der
Bedeutung der Specialgemeinden zu erläutern und möglichst zu
einem einheitlichen Bilde zu gestalten. Es ist schon oben da-
rauf hingewiesen, dass sich gerade in Mainz beobachten lässt,
wie sich die Stadt lokal und noch mehr administrativ und juris-
•) Strassburger Urkb. (Strassb. 1879) I p. 467 c. 9.
*) VergL. die Karte in Städtechroniken IX (Strassburg), auch Liebe S. 52.
*) so Wiegand in Strassb. Urkb. I S. 476 in Übereinstimmung mit Hegel
St&dtechroniken IX 923 — 927 und Winter Geschichte des Kates in Strassburg
(Breslau 1878) S. 29. So i. wesen tL auch Kruse Strassb. 8. 7.
4) 8iehe oben S. 11.
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dictionell durch die Incorporation ländlicher Gemeinden vergrös-
sert hat. Eine Übersicht über die Mainzer Specialgemeinden
kann man sich leicht aus den ins Würzburger Archiv ver-
schlagenen Mainzer Stadtrechnungen von 1410 und 1411 ver-
schaffen.1) In den darin enthaltenen, von mir als Beilage pn-
blicierten, Fragmenten der Einnahmen aus der allgemeinen Per-
sonensteuer, der sogen. Schatzung, lässt sich nämlich wahrnehmen,
dass die Sammlung dieser Steuer und ihre Ablieferung an die
städtische Centralkasse nach Stadtteilen geschah, welche nach
Kirchspielen bezeichnet sind. Im ganzen sind es nun 8 Bezirke, von
denen die Erträge gebucht sind ; 6 davon sind je nach einer Pfarr-
kirche genannt, nämlich nach der Stephans-, Nyclas-, Ignaz-, Quin-
tins-, Christophs-, Heilramspfarre, während Odenmünster und St
Paul, sowie die vier Pfarren zum Dom, zu unsrer Frauen, St. Jo-
hann und St. Mauricien stets zusammengenannt werden. Unter diesen
zwölf Pfarrkirchen befinden sich alle uns in der sonstigen Über-
lieferung dieser Zeit in Mainz entgegentreteuden Parochien;
mit Ausnahme von St. Nyclas (Nicolaus) liegen sie sämmtlich
innerhalb des Mauerrings.*)
An sich wäre nun eine zweifache Erklärung der uns hier
entgegentretenden Art der Steuereinsammlung denkbar. Man
könnte vielleicht annehmen, dass die, zur Steuerhoheit gelangte,
städtische Commune beschlossen, die Schatzung nach Teilen der
Stadt sammeln und registrieren zu lassen, dabei aber die be-
stehende kirchliche Einteilung zu Grunde gelegt habe. Dagegen
spricht aber zunächst schon die Analogie der Kölner Verhält-
nisse, wo wir ebenfalls nach ihren Pfarrkirchen benannte Teil-
gemeinden noch zur Zeit der Ratsverfassung im Besitz einer
selbständigen Finanzverwaltung finden.’) Sicher haben hier
aber schon vor dem, im 12. Jahrhundert erfolgten, Zusammen-
schlüsse der Einzelgemeinden zur communitas civium, mit
verwaltungsrechtlichen Funktionen ausgestattete Selbstverwal-
tungskörper bestanden.4) Ähnliches, nämlich die Existenz von
Sondergemeinden, welche den in den Rechnungen genannten
‘) Auf dieselben hat Hegel Mains S. 91 aufmerksam gemacht.
*) Vergl. Lehne's Karte von Mainz im Mittelalter (Mainz 1824),
auch Scbaab II 411.
*) Hoeniger in Annal. d. hist Vrns. f. d. Ndrrh. Bd. 46 8. 94, 95.
4) Hoeniger in Westd. Ztachr. II 3. 230 und IH 8. 60.
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Pfarren genau entsprechen, noch ehe sie Bestandteile der vom Rat
beherrschten Stadt geworden, resp. ehe ein solcher Rat über-
haupt entstanden, lässt sich auch für Mainz nachweisen.
Unter den Pfarren, deren Steuererträge 1410/1411 gebucht
sind, befand sich auch die St. Nicolausparochie. Die Pfarrkirche
dieses Namens lag, wie schon mitgeteilt, ausserhalb der Stadt-
mauern und zwar in der Vorstadt Vilzbach, welche früher erz-
bischöfliches Lehen derer von Hohenfels gewesen und im Jahre
1294 an die Stadt gekommen war.1) Damals war bestimmt
worden, dass die bis zu dieser Zeit hörigen Bewohner von Vilz-
bach dasselbe Recht und Gericht wie die Mainzer erhalten sollten.
Dass sich hier kirchliche und weltliche Gemeinde vollkommen
decken, sehen wir daraus, dass in Folge dieses über die Bewohner
von Vilzbach geschlossenen Vertrages auch das erzpriesterliche
Sendgericht an der Nicolauskirche aufhörte. Die früher diesem
Sende unterworfenen Personen hatten von da an wie die üb-
rigen Bürger zu Mainz den an der dortigen Johanneskirche
abgehaltenen Send zu besuchen.*)
Eine andere, die Ignazpfarre, entspricht der Gemeinde Sel-
hofen,*) welche beim Mauerbau im Jahre 1200 mit der Stadt
vereinigt ist.4) Vor dieser Vereinigung wird der Ort oft zur
näheren Kennzeichnung aus ihm stammender Personen dem Na-
uen derselben hinzugefügt;5) auch bilden die dortigen Wein-
schröder (Ablader der Weinfässer) noch in späterer Zeit eine
besondere, von denen der Altstadt getrennte, Zunft.*)
*) Guden Cod. dipl. I No. 414 p. 873 ssq., Würdtwein Diplom. Mogunt.
(1788) I No. 26 p. 47 und No. 27 p. 48 vgl. Schaab I 241 ff, II 411 und Wagner
WQstongen in Hessen (Dannstadt 1865) III S. 109 — 116.
*) e. Urk. des Arcbipresbyters Heinricus de RodinBtein in Würdtwein
Dioecesis Mogunt. (Mannhemii 1768) I p. 30 — 32.
*) Guden Cod. dipl. I 220 vergl. Liebe 8. 46, Wagner a. a. 0. S. 186—188.
*) Schaab I S. 183—186.
*) Ein Verzeichnis der Personen, deren Namen ein in Selboria oder
ähnliches beigefügt ist, giebt Nohlmanns Vita Amoldi (Bonn 1871) 8. 12 ff,
der nur irrtümlich alle diese Personen für ans einem Geschlechte stammend
Mit, vgl. Hegel Mainz 8. 38 N. 1.
*) Gewöhnlich werden sie als snperiores viniscrotarii seil, de Selhovia
bezeichnet cf. Guden Cod. DI p. 963 No. 596 a 1339 und Baur Hess. Urk. n
p. 617 No. 620 a. 1302. Nach der Sendsatzung von 1300 (bei Würdtwein in
dem oben N. 2 citierten Buche p. 27) gab es im ganzen tres societatee der
Weinschröder in Mainz.
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So entsprechen, mindestens in den beiden Fällen von St.
Nikolaus- und St. Ignaz, den in den Rechnungen genannten Pfar-
ren weltliche Specialgemeinden, welche schon vor ihrer Ver-
einigung mit der Stadt nachweisbar sind. Wodurch kommt es
aber, dass nur sechs der zur Steuereinsammlung benutzten
Stadtteile den Namen einer Parochie tragen, während zwei
aus mehreren Pfarrspielen bestehen? Vielleicht ist folgende
Erklärung richtig.
Die 4 Pfarren, „Dom, zu unsrer Frauen. St. Johann und
St. Mauricien“ scheinen das älteste ummauerte Stadtgebiet ge-
bildet zu haben. Hier ist demnach vielleicht die Pfarreintei-
lung überhaupt erst später nach dem Muster der ländlichen
Entwicklung eingeffthrt worden, so dass sie ohne Einwirkung
auf die weltlichen Verhältnisse blieb. Ob auch bei Odenmüns-
ter und St. Paul ein ähnlicher Grund obgewaltet hat, wage ich
nicht zu entscheiden. Auch ist es durchaus nicht ausgeschlos-
sen, dass die Zusammenfassung der Kirchspiele in den Rech-
nungen aus einer ganz anderen Ursache herrührt. Aus der in
der Beilage gegebenen Tabelle ist leicht ersichtlich, dass gerade
bei den mehrere Kirchspiele zusammenfassenden Einträgen die
Steuerablieferungen geringer sind als bei den nur aus einem
Kirchspiel bestehenden Steuerdistrikten. Es ist dies wohl haupt-
sächlich aus der Steuerfreiheit der, gewiss besonders zahlreich
in jenen Bezirken wohnhaften, Geistlichen1) und ihrer Diener-
schaft zu erklären. Wie stark ist nicht in den Rechnungen schon
der Abstand zwischen Pfarrspielen wie St. Quintin, bei welchem
als erste der drei Steuerablieferungen des Jahres 1410 nicht
weniger als 899 Pfund verzeichnet sind, und jene vier Pfarren,
welche gleichzeitig zusammen nur 60 Pfund einbringen! Wie viel
störender würde sich die Verschiedenheit in den Rechnungs-
summen noch geltend gemacht haben, weun die vier Pfarren
nicht schon in Erhebung und Registrierung zusammengefasst
wären! Welche dieser beiden Erklärungen für die aus meh-
reren Kirchspielen bestehenden Steuerbezirke auch vorzuziehen
sein mag, so viel kann doch schon als Ergebnis unserer bis-
herigen Untersuchung betrachtet werden, dass die nach Pfarren
genannten Teilgemeinden nicht erst durch den Rat geschaffen,
') Dom und Bischofshof lagen ja in diesen Bezirken.
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resp. dass nicht erst durch diesen die kirchliche Einteilung der
Stadt auch verwaltungsreehtliche Bedeutung gewonnen hat.
Für das Bestehen einer Einteilung der Stadt in Special-
gemeinden schon zur Karolingerzeit kann man wohl auch eine
Urkunde ans dem Jahre 815 anführen, in welcher in der Stadt
Mainz dem Kloster Hersfeld unter anderen Grundstücken auch
ein in loco, qui dicitur porta S. Quirini, und ein anderes in loco,
qui dicitur Bahhada porta, gelegenes geschenkt wird.1) Ab-
gesehen davon , dass in mehreren italienischen Städten
z. B. in Mailand die Teilgemeinden oft nach den „Haupttoren
der Stadt“ benannt wurden,*) findet man ganz ähnliches auch
in Deutschland und zwar auf fränkischem Boden. In Aachen
richteten sich die Namen der groyschafen (Grafschaften),
wie hier die Teilgemeinden bezeichnet werden, grossen
Teils nach den Stadttoren: von Kolneyer porze,*) von Bur-
schider porze, von Scharporze etc. Ebenso haben 2 der
fünf Parentelen in Metz nämlich de Porta Salie (Porte-
Saillie) und de Porta Moselle (de Porte - Muzelle) ihren
Namen von den Stadttoren erhalten.4) Eine solche Be-
zeichnung der Stadtgemeinden lag auch deshalb nahe, weil
ja, wie von Worms gezeigt ist, eine jede Gemeinde ein be-
stimmtes Stadttor zu bewachen und in Stand zu setzen hatte.
Jedenfalls kann bei der oben erwähnten Mainz betreffenden
Stelle die porta S. Quirini und die ßahhada porta nur als Ort,
in welchem ein Grundstück gelegen ist, nicht mehr als Tor
aufgefasst werden. Es ist aber auch wohl nicht zu gewagt,
trotzdem die Stelle in der Mainzer Überlieferung einzig steht,
nach den erwähnten Analogien in den beiden Ortsnamen schon
zwei Stadtbezirke und zugleich zwei der später, wenn auch
') Scriba Regesten d. Urk. z. Gsch. v. Hessen (Darmst. 1847 ff.) ITI No. 758,
Wenck Hess. Landesgeschichte (Darmst. 1783 ff.) II Urkb. S. 20 No. 15.
') Hegel Ital. Stadtverfassung (Leipzig 1847) II 218, 219 vgl. auch
Hilllinann Städtewesen des Mittelalters (Bonn 1826 ff.) II 421 und Ducange
s. v. porta.
*) Gengler Sdtrsaltrt. S. 62.
4) ibid. S. 63, Heusler Verfassungsgeschichte d. Stadt Basel S. 467. Es
kommt hier vorzugsweise darauf an, nachzuweisen, dass solche städtische
Bezirke überhaupt nach den Stadttoren benannt werden konnten. Dagegen
kann hier nicht auseinandergesetzt werden, dass inan in den Metzer Paren-
telen und ebenso auch in den Aachener Grafschaften, den in unseren mittel-
Ko ahne, Ursprung der Stadtverfassung in Worms, Speier und Maiuz 7
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unter anderen Namen bezeugten, Specialgemeinden zu er-
blicken.
Wir haben oben1) gesehen, dass die Stadt Mainz noch
1294. also als sie schon lange Befreiung aller ihrer Bürger von
jeglicher Art hofrechtlicher Abgaben durchgesetzt, die bis dahin
dem Hofrechte unterworfene Gemeinde Yilzbach als gleichbe-
rechtigt in ihren Bürgerverband aufnahm.
Auch in der kirchlichen Vermögensverwaltung haben sich
die Rechte der einzelnen Mainzer Gemeinden ganz verschieden-
artig entwickelt, ohne dass indess auch in dieser Hinsicht nach
Erringung der Stadtfreiheit die von einigen Gemeinden erwor-
benen Rechte auch von den übrigen erreicht wären.
So stand z. B. in der Ignazpfarrei die Verwaltung des
Kirchenvermögens der Gemeinde selbst zu. Hier wird näm-
lich 1291 von zwei, als Vertretern derselben fungirenden,
Laien , den magistri fabrice seu procuratores parochiae,
dem Wildwerker Eberhard und dem Oelhändler Conrad
Wolf, eine der Kirche gehörige Geldrente verkauft.') In der
Christophsparochie ging die Autonomie der Kirchengemeinde
sogar so weit, dass dort noch in viel späterer Zeit der Pfarrer
von den curatores ecclesiae, also Laien, welche die Gemeinde
zu ihren Vertretern gewählt, ernannt wurde.') Bei anderen
Pfarren z. B. St. Emmeran standen dagegen der Gemeinde nicht
solch weitgehende Rechte zu. Wir sehen dies besonders darans,
dass, als das St. Petersstift die Nutzungen der Erameranspfarre
und die Ernennung des dortigen Plebans 1220 vom Erzbischof
Sigfrid erhielt, einer Zustimmung der Gemeinde oder ihrer
Vertreter nicht einmal gedacht wird.4)
rheinischen StRdten entgegentretenden analoge, Specialgemeinden d. h. auf
ehemaliger gemeinsamer Ansiedlung einer ganzen Sippe und Markgenossen-
schaft beruhende Selbstverwaltungskörper mit polizeilichen, militärischen nnd
finanziellen Funktionen zu sehen hat. Doch hoffe ich, dass sich diese Thatsache
jedem, der die in diesem Capitel gegebenen Ausführungen mit den über
Metz und Aachen überlieferten Nachrichten vergleicht, unmittelbar er-
geben wird.
') S. 95 mit N. 1.
*) S. Baur. Hess. Urk. V No. 149 p. 131 mit der Note.
*) Joannis Rerum Moguntiacarum vol. I (Francof. 1792) p. 76 No. 111.
‘) ibid. U p. 472, B-W XXXII 362.
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Standen so alle diese Kirchen, welche durchgängig schon
lange vor der Vereinigung der Teilgemeinden existirten, auch
später ausser Verbindung mit dem städtischen Rate, so ist es
demselben doch gelungen , sich an einem anderen kirchlichen
Institut weitgehende Rechte zu verschaffen. In dem Privileg
von 1244. welches man als das zweite Grundgesetz der Mainzer
Stadtfreiheit betrachten kann, lässt sich der Rat von Erzbischof
Sigfrid, unter anderem das Recht bewilligen, den Priester im
Hospital bindend vorschlagen und absetzen zu können; auch
die Vermögensverwaltung dieses Instituts fiel dem Rate zu.1)
Übte so die spätere politische Entwicklung auch auf diese
kirchlichen Verhältnisse namhaften Einfluss ans, so war andrer-
seits auch früher der Übergang der Stadtherrschaft auf den
Bischof nicht ohne Einfluss auf die innere Verfassung der
Specialgemeinden geblieben.
Durch die bischöfliche Stadtherrschaft und daneben durch
die schon ohnehin den Specialgemeinden und ihren Beamten
obliegenden kirchlichen Verpflichtungen ist es erklärbar, dass
der Mainzer Erzbischof den Angehörigen einiger Innungen für
kirchliche Leistungen Befreiung von der Pflicht der weltlichen
Gemeindeämter, speciell des Heimbnrgenamts, gewähren konnte.
In einer, nur aus den einfachen Vorstellungen primitivster
Lebensführung halbwegs erklärbaren, Weise war der Heimburge,
der Inhaber eines nur wenig für den Müheaufwand pecuniär
entschädigenden, oft noch zu besonderen Ausgaben nötigenden *)
Amtes, zugleich Vorsteher und Diener seiner Gemeinde.*) Er,
der Leiter ihrer Versammlungen, ihr Richter und Anführer
musste selbst durch Glockenläuten sie zusammenrufen,*) ja wohl
auch hier und da der Gemeinde bei Festen aufwarten.5) Es
*) B-W XXXIII 504, Gndenne Cod. I 581 § 5 mit den bei B-W a. a. 0.
gegebenen Verbesserungen Bodinanns: coucedimus . ., quod cousiliarii civitatis
habeant plenariam potestatem, in Hospitale present&ndi sacerdotem; et, si
exegerint culpae suae, mediante auctoritate uoatra destituendi eundem; et
administrationem temporalium committent civibos quibus voluerint, et quos
ad hoc viderint expedixe.
*)_ i. B. Einquartierung*- u. Bewirtungslasten vgl. Grimm. W. I 758,
II 209, 456, UI 820.
*) Lamprecht S. 314, Maurer Dorfverfassung U 20.
*) Grimm W. II 441, 466, IH 821.
*) Lamprecht I S. 314 vgl. das ibid. 8. 327 abgedruckte Feiler Einigsrecht,
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ist also nicht wunderbar, dass bei der Änderung der socialen
Anschauungen, welche notwendig mit der Steigerung der mate-
riellen Cultur eintrat, es vorteilhafter schien, das Heimburgen-
amt nicht übernehmen zu brauchen. So liess sich denn die, in
Folge der frühen Blüte der Weberei in Mainz gewiss zu beson-
derem Ansehen gelangte, Weberzunft 1099 vom Erzbischof mit
Zustimmung der Gemeindebehörde gegen Übernahme von Repara-
turen an der Stephanskirche von der Verpflichtung zum Heim-
burgenamt befreien;1) zugleich wurden ihre Mitglieder auch
davon losgesprochen, das Schenkenamt, das hier wie es scheint,
als Abzweigung des Heimburgenamts auftritt,*) annehmen zu
müssen. Auch wurde den Webern gestattet, in der genannten
Kirche ihren Begräbnisort zu haben, dagegen sollten sie für
die Kerzen und andere Bedürfnisse derselben Sorge tragen.
Die Beaufsichtigung dieser Leistungen wird dem Custos*) der
Kirche übertragen.
wo es in §7 heisst: „ sein schuldig der erwehlter newer zender“ (und die an-
deren Genieindebeamten) „der ganzen gemeinden bis zu end des glachs
ufzu warten n. zu dienen.“ Vgl. auch Grimm W. II 164 Weistm. v. Guten-
berg 1498: „Auch soll man setzen einen heimbnrger, der soll auch dem herm
und der gemein gehorsam sein.“
■) B-W XXIV 27, Joannis Rer. Mog. (s. oben S. 98 N. 3) II 518.
*) 1. c: Relaxamus eisdem textoribus dilo officia, qnae rulgari appelia-
tione appcllantur Heimburgen - Amt et Schechen - Amt, nt liberati et
exonerati .... Hegel Mainz II 33 N. 4 u. 34 N. 2 erklärt Schecben — Amt
filr falsche Lesung statt Schenkenamt, insbes. mit Rücksicht darauf, dass in
der unsere Urk. bestätigenden von 1175 (s. unten 8. 101 mit N. 1) die
Weber ausser vom Heimburgen- auch vom Amt des Schenko befreit
werden. So auch Liebe S. 47. Das Schenkenamt erklärt Hegel S. 34
als Aufsicht über den öffentlichen Weinschank und Liebe bringt es mit
der den Wormser Heimburgen zufallenden Aufsicht über die Gemässe zusam-
men. I)a bei dem Schenken hier keinesfalls an das bofrechtlicbe Amt des
pincerna zu denken ist u. wir sonst einen Schenken in dieser Bedeutung nicht
finden, so hätten wir in seinem Amte eine specielle Mainzer Abzweigung
vom Heimbnrgenamt zu erblicken. Vielleicht ist deshalb Waitz V. G. VIII
81 N. 1 zuzustimmen, der statt schechenamt scherschenamt liest und
darin das weit verbreitete Amt des Schergen o. Büttels findet, das anch in
Mainz mehrfach bezeugt ist.
*) Hegel Mainz S. 33 übersetzt Küster, was leicht falsche Vorstellung
hervorrufen kann. Der hier gemeinte custos ist vielmehr einer der Canoniker.
Derselbe hat nach Hinschi us Kirchenrecht II S. 103 insbes. für Beschaffung
und Aufbewahrung der gottesdienstlichen Gerätschaften, sowie für die Be-
leuchtung und das Geläute in der Kirche zu sorgen; an vielen Orten und
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101
Nach einer Urkunde Erzbischof Christians I *) aus dem
Jahre 1175 wurde damals den Webern die Befreiung vom
Heimburgeu- und Schenkeuamt und das Begräbnis in der
Stephanskirche von neuem zugesichert, dafür aber als Gegen-
leistung die jährliche Zahlung von 2 Denaren festgesetzt.
Später werden dann noch die Mainzer Heimburgen nur
noch zweimal in einer Urkunde von 1300 2) erwähnt, welche
sich damit beschäftigt, die Pflicht des Sendbesuchs und der
Feiertags- und Sonntagsruhe für die einzelnen Handwerker-
innungen festzusetzen. Als Seudrichter begegnet uns hier der
Erzpriester; die genannte Satzung beruht auf einem von ihm
mit den Vertretern der Stadt geschlossenen Vertrage. Vor
das Sendgericht gehörte bekanntlich auch die Rüge wegen Ar-
beit oder Verkauf am Feiertage, die sich doch bei ausgebilde-
tem Markt- und Handelsverkehr oft schwer vermeiden lassen.
Wie sich schon früh die Gewohnheit einstellte, dass die Kirchen-
busse vom vermögenden Sünder abgekauft wurde,8) so wird in
unserer Urkunde den einzelnen Innungen Ausbleiben vom Sende,
sowie Arbeit und Verkauf an Feiertagen gegen feste Natural-
und Geldlieferungen vom Erzpriester gradezu erlaubt. In diese
Festsetzungen nun haben auch die städtischen Beamten, die in
denselben als Vertreter der Stadt figurieren, einige ihnen selbst
zu machende Leistungen hineingebracht. So sollen die Waffen-
schmiede dem Schultheissen jährlich, wenn die Heimburgen bei
der Emmeranskirche eingesetzt werden, 2 sol. zahlen, auch
sollen sie dann zwei Schwerter, eins für den Schultheissen uud
eins für seinen Mitrichter, reinigen uud mit neuen Scheiden
versehen.4) Ob diese Gaben der Schwertfeger eine Entschädi-
gung für die Nichtinanspruchnahme als Heimburgen bildeten5)
so auch gerade in Mainz fiel ihm auch die SeeUorge im Stifte selbst zu vgl.
Hinschius II S. 105 N. 3, (luden Cod. dipl. I p 652 (B-W XXXV 117).
*) B-W XXXI 128 (Baur, Hess. Urk. II No. 12 p. 23).
*) Würdtwein Dioec. (in dem oben S. 95 N. 2 citiert. Buche) I 20 ff.,
vgl. Hegel Mainz S. 68 ff.
*) vgl. Friedberg, Aus deutschen Bussbüchem (Halle 1868) S. 29 — 31,
Wasserschieben Bussordnungen (Halle 1851) S. 28—30.
*) Würdtwein ibid p 22.
*) So Liebe 8. 48 ; für diese Annahme spricht, dass, wenn sie richtig, von
den Waffenschmieden für Nichtinanspruchnahme als Heimburgen dieselbe
Summe wie von den Webern gezahlt wurde.
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102
und so also auch diese Zunft von der Verpflichtung zur An-
nahme des Heimburgenamtes befreit war, oder ob hier die Heiui-
burgenerneuuung nur zur Zeitbestimmung dient, muss dahin-
gestellt bleiben.
Die zweite Erwähnung der Heimburgen in der genannten
Urkunde von 1300 lautet folgender Massen:
sartores magistri inter Gades, ubi panni lanei venduntur
.... Archipresbyteri synodum, quin Heimborgeu facti
sint, nullatenus frequentabmit, ....*)
Wahrscheinlich ist die Stelle so zu erklären, dass, wie in
deu weltlichen Hochgerichten die Heimburgen oft die Schötfen
bildeten, so auch den Mainzer Heimburgen in deu vom Erz-
priester über die Stadt abgehalteuen Sendgerichteu vorzugs-
weise die Rolle der Sendzeugen zufiel.4) So kounte der Besuch
des Sendes deu Gewandschneidern, soweit sie nicht gerade
Heimburgen waren, erlassen werden. Erinnern wir uns, dass
die Mainzer Patricier als die Alten unter deu Gaden bezeich-
net wurden,3; so geht aus unserer Stelle hervor, dass auch sie
noch ebensogut wie die Handwerker im Jahre 1300 zu Heim-
burgen gewählt werden konnten.4)
Eine andere Bestimmung unserer Satzung über die Rechte
des Erzpriesters bestätigt die früher gemachte Beobachtung,
dass die Parochien Selbstverwaltungskörper mit eigenem Ver-
mögen waren, das durchaus nicht ausschliesslich bloss kirch-
lichen Zwecken gewidmet wurde. Es findet sich hier5) näm-
lich auch folgende Vorschrift:
*) Würdtwein ibid. p. 24.
*) vgl. Ober die Sendzengen Dove in Herzog’g Realencyclopacdie f.
evang. Theologie s. v. Sende Sendgericht Bd. XIV S. 120 ff.. S. 125.
*) s. oben S. 65 mit N. 3.
*) Ebenso ist der Irrtum Liebes (S. 50) zu berichtigen, dass die, in den
Rechnungen von 1410 n. 1411 genannten, Steuereinnehmer der einzelnen
Pfarren zilnftische Ratsherrn gewesen sind. Bei einigen wie Peter Wyde
und Jockei Schenkenberg lässt sich ihre Zugehörigkeit zu den Geschlechtern
daraus ersehen, dass sie an der Ausfahrt der Patricier aus der Stadt im
Jahre 1411 teilnahmen (vgl. Hegel Stdchroniken XVII S. 46, 47); andere wie
Orte zur Eiche, Fryle Genssfleisch , Humbrecht werden in der Liste der
Milnzerhauagenossen von 1421 (ibid. S. 352) genannt und gehören also ebenso
gewiss znm Patriciat.
*) p. 27, 28.
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Item quelibet parochia, in qua Darre iuveniuntur. Archi-
presbytero singulis anuis dnos solidos solvere tenebitur
et ultra boc parochiani illius parochie uou suut per
Archipresbyterum cobercendi.
Wir haben dies gewiss so zu verstehen, dass die Arbeit
an den Darren d. h. das heute sog. Bosten der Flachsfasern
am Feiertag nicht unterbrochen werden konnte, und dass die
Specialgemeinden, in deren Bezirk diese Industrie betrieben
wurde, ihren Mitgliedern gegen eine jährliche Abgabe ein für
allemal die Erlaubnis zu dieser Feiertagsarbeit verschafften.
Liebe *) behauptet, dass diese Abgabe der Feuersgefährliclikeit
der Darrenanfertigung wegen gezahlt werden musste. Dagegen
spricht aber, dass in unserer Urkunde sonst nur *) Bestimmungen
über Sendbesuch und Feiertagsruhe, resp. wegen Überschreitung
dieser Pflichten festgesetzte Abgaben enthalten sind. Dem
Erzpriester stand auch zu keiner Zeit „die ganze Polizeigewalt“
derart zu, dass er auch über Vermeidung von Feuersgefahr
hätte wachen müssen. So viele Verbrechen des weltlichen
Rechts auch vor das Sendgericht gezogen sind, andere als
solche, deren Vermeidung auch als religiös-sittliche Pflicht an-
gesehen wurde, sind doch nie vor den geistlichen Richter
gekommen.
Für uns ist aber diese Stelle deshalb besonders wichtig,
weil wir hier die Specialgemeinden für die Erwerbstätigkeit
ihrer Mitglieder gegen aus geistlichen Anschauungen erwach-
sende Henmisse eintreten sehen, wozu es bei ländlichen Ge-
meinden nie gekommen zu sein scheint. Die geschützte
Tätigkeit ist ja auch eine industrielle. So treten hier die
Specialgemeinden in der Fürsorge für die heimischen Gewerbe
geradezu als Vorläufer der späteren städtischen Regierungen
auf, welche bekanntlich zuerst unter allen politischen Gewalten
‘) S. 49 unter Bezugnahme auf die vom Stadtherm u. Bat erlassene
Stadtordnung von Hüfingen ans dem Jahr 1452, in der allerdings das Anferti-
gen von Darren aus Gründen der Wohlfahrtspolizei überhaupt verboten wird.
*) p. 24 unt. u. 25 ob. wird allerdings gesagt, dass nicht dem Erzpriester,
sondern dem Marktmeister die Bestrafung wegen Feilbietens verdorbenen
Fleisches zustebt. Dergleichen konnte man aber wohl als unter den Delicts-
begriff des Meinkaufs fallend ansehen und demnach unter die geistliche Ge-
richtsbarkeit ziehen, wenn auch speciell nach dieser Stelle in Mainz der geist-
lichen Behörde diese Competenzerweiterung nicht gelungen ist
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die Gewerbepolitik zu einer ihrer hervorragendsten Aufgaben
gemacht haben. Fassen wir zum Schlüsse die für Mainz ge-
fundenen Resultate kurz zusammen, so können wir constatieren,
dass die dortigen Specialgemeinden entschieden vor der Rats-
verfassung und höchst wahrscheinlich schon in der Karolinger-
zeit bestanden haben. Werden sie auch häufig nach den Pfarr-
kirchen genannt und finden wir auch einzelne Mainzer
Gemeinden im Besitz weitgehender Rechte an der kirchlichen
Vermögensverwaltung, so kann die kirchliche Thätigkeit doch
weder als der ursprüngliche noch als der hervorragendste Zweck
der Mainzer Specialgemeinden angesehen werden. So konnten
auch unter ihren Funktionen neben diesen kirchlichen vor allem
finanzielle und gewerbliche nachgewiesen werden.
Wie in Mainz, so müssen wir auch in Worms von der
kirchlichen Einteilung ausgehen, da die Specialgenieinden fast
immer nach Pfarrkirchen bezeichnet werden. Die Einteilung
in Pfarrgemeinden tritt uns in Worms am frühesten in einer,
freilich in ihrer Echtheit bezweifelten, Urkunde von 1016 *) ent-
gegen. Hier wird die damals gestiftete Pfarrei St. Paul quarta
parochia civitatis genannt. Damit stimmt überein, dass in
einer späteren Urkunde *) Bischof Adalbert im Jahre 1080 sagt,
dass schon von seinen Vorgängern Burchard und Arnold die
Stadt in 4 Parochien geteilt sei. Jedenfalls sind auch die
späteren vier Stifte der inneren Stadt, der Dom, der St. Peter
geweiht war, St. Paul, St. Andreas und St. Martin, nach der
Biographie Burchards *) zu seiner Zeit teils vollendet, teils
wenigstens zu bauen begonnen worden.
Daneben baute dieser Bischof auch schon die Taufkirche
St. Johannes,*) welche später in der Parochie des Domes zur
') U 43 Wattenbach bezeichnet sie in Ztachr. f. Gesch. d. Oberrh. 24
S. 152 allerdings als Fälschung, Boos Worms. Urkb. S. 35 meint, dass dies
Document zwar erst am Anfänge des XII. J&hrh. geschrieben ist, ihm aber
eine echte Aufzeichnung zu Grunde liegt.
*) ü. 57.
•) c. 9, 14, 15, 16, 20 (S. S. IV p 837, 839, 840, 844) vgl. Arnold V. G.
I 66-59.
4) Schann. I 333 wohl nach verlorener Quelle: sacris aedibus . . a novo
construendis intendit, nam prope Templum maius iacta fuere octogonalis Ba-
silicae fundamenta vgl, ibid 62 u. Arnold V. G. I 58. Die erhaltene Vita
Burchardi spricht allerdings von dieser Kirche nicht.
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alleinigen Pfarrkirche geworden ist. Während nämlich nach
der Urkunde von 1080 am Ende des 11. Jahrhunderts die
regelmässigen Pfarrfuuktionen noch den vier Stiftskirchen,
höchstens eben mit Ausnahme des Domes, zugefallen zu sein
scheinen, sind im 13. und 14. andere Kirchen an deren
Stelle getreten. St. Peter, St. Paul, St. Andreas und St. Mar-
tin finden wir vom 12. Jahrhundert ab nicht mehr als Pfarr-
kirchen erwähnt. Dagegen kommen in einer Urkunde von
1380 l) folgende 7 Pfarrkirchen zu Worms vor: St. Johann,
St. Magnus, St. Amand, S. Cäcilia, St. Michael, St. Andreas
auf dem Berge, St. Lamprecht. In der übrigen Überlieferung
findet sich nur noch eine achte nämlich St. Kupert*) erwähnt.
Von diesen Pfarrkirchen nun liegen vier, s. Andreas in monte,
s. Amand., s. Michael., s. Caecilia, in den Vorstädten ; die vier
anderen in der inneren Stadt. Nach diesen in der inneren Stadt
gelegenen Pfarrkirchen werden auch Teile der Bürgerschaft ln
weltlicher Rücksicht genannt.8) Daneben finden wir aber auch
einmal8) parochiae s. Petri et s. Andreae als medietas civitatis
erw.ähut. Es erklärt sich dies dadurch, dass jede der vier
innerstädtischen Pfarrkirchen zu einer der alten Stiftskirchen
in besonderer Beziehung steht. So wird z. B. schon 1141 bei
einer Aufzählung der Besitzungen des Stiftes St. Andreas da-
runter auch die Magnnskirche genannt.8) Die Einkünfte dieser
Kirche fielen der Propstei des Stiftes zu, bis sie 1238 vom
Propste Gerhard unter bischöflicher Zustimmung ausdrücklich
dem Stifte selbst übertrageu wurden.6) Doch hat diese Ver-
fügung schwerlich dauernde Geltung erlangt, da 18 Jahre
später ein anderer Propst von St. Andreas das volle Patronat
über S. Magnus mit Vorbehalt nur der Oathedral- und Archi-
diakonatsrechte von neuem an sein Stift überträgt.7) Dass
dem Capitel von St. Andreas von da an die Wahl und Reprä-
sentation des Pfarrers an der Magnuskirche freistehen sollte,
wird dabei ausdrücklich hervorgehoben.
>) Baur Hess. Urk. V N. 495 8. 465.
*) z. B. ü 296 a 1261.
*) Boehmer Font II p 206.
4) ibid p 188.
*) Baur Hess. Urk. II N. 6 p 11.
•) U 195.
*) Baur ibid H N. 145 S. 137 cf. U 269.
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In ähnlicher Weise standen dem Propste von St. Martin
Patronatsrechte auf die Kirche St. Lambert zu, welche am
Ende des 12. Jahrhunderts von dem Propste Sigfrid von
Eppenstein, dem späteren Mainzer Erzbischof Sigfrid II, an
das Decanat von St. Martin derart übertragen wurden,*) dass
der dortige Decan stets zugleich der Pfarrer von St. Martin
sein sollte.
Über die Ruprechtskirche hatte das Paulsstift das Patro-
nat, das jedoch hier nicht dem Propst, sondern dem Cnstos zu-
stand. Wir ersehen dies aus einer Urkunde,*) in welcher der
Erzbischof von Mainz als Schiedsrichter zwischen dem Propste
Marquard und dem (Justos Heinrich des genannten Wormser
Stiftes fungiert und dabei dem ersteren das Patronat an der
Ruprechtsparochie zuspricht, da Zeugen und Privilegien die
Gerechtigkeit seiner Sache erwiesen hätten. Ein custos Hein-
rich 3) von St. Paul schenkte alsdanu seine Patronatsrechte au
S. Rupert seinem Capitel und diese Schenkung wurde vom Bi-
schof Lupoid, sowie dessen Nachfolger Laudolf bestätigt.4) Da-
nach konnten die Canoniker von St. Paul zur Stelle des Ple-
bans an der Ruprechtskirche einen aus ihrer Mitte oder auch
einen fremden dem Archidiacon präsentieren : der so eingesetzte
Pleban musste dann mit der ihm zugewiesenen Präbende zu-
frieden sein, während die Einkünfte der Ruprechtskirche an
das Capitel fielen.
Auf enge Beziehungen der Johanneskirche zum Dom deutet
schon ihre Lage neben demselben.5) Damit stimmt überein,
dass Dach Schannats6) Bericht auch ihr Patronat dem Custos
des Domes zustand und daun 1264 an Capitel und Decan des-
selben überging. So steht also von den 4 Pfarren der inneren
Stadt die Magnuskirche unter dem Patrouate des Andreasstiftes,
■) B-W XXXII 138, W. U 114.
*) B-W XXX 306, W. U 95 a 1194.
s) Ob es derselbe gewesen, dem dfts Patronat 1194 zngesprochen, lässt
sieb nicht ermitteln.
*) U 196 a 1239.
•) Vgl. Wagner, Qeistl. Stifte Hessens II S. 466. So wird auch die
Pfarrkirche S. Ruprecht in U 296 als der Stiftskirche 8. Paul benachbart (con-
tigua) bezeichnet.
•) I p 64 § I 1.
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St. Lambert unter dem des Martin-, St. Ruprecht unter den
des Pauls-, St. Johannes unter dem des Domstiftes. Diese
engen Beziehungen zwischen Stifts- und Pfarrkirchen, sowie
das Verschwinden der ersteren als Pfarren drängen zu der An-
nahme. dass überhaupt nur der Ort der Sacramentsspenduug,
keineswegs aber die kirchliche Einteilung der inneren Stadt
sich vom 11. bis zum 14. Jahrhundert verändert hat. Dem-
nach konnte auch in der Bürgerchronik noch 1250 von den
parochiae St. Petri und St. Audreae gesprochen werden, *) da
diese alten ßezeichungen sich gewiss noch hielten, auch als die
Pfarrfuuktionen schon an St. Johann und S. Magnus überge-
gangen waren.
Der Umstand, dass so die Wormser Pfarrspreugel vom
11. bis 14. Jahrhundert, während in der inneren Stadt sicher
eine bedeutende Bevölkerungszuuahnie stattfand, ungeteilt
blieben, muss uns überhaupt gegen die Annahme von Teilungen
städtischer Pfarrspreugel kritisch machen. Mit den Vorstädten
sind dagegen neue Pfarren zu denen der inneren Stadt hinzu-
gekommen. Dadurch wird es freilich sehr auffällig, dass noch
1250 St. Peter und Andreas, 1270 Ruprecht und Lambert als
medietas civitatis bezeichnet werden konnten. Vielleicht können
wir dies damit in Zusammenhang bringen, dass gerade in Worms
die vorstädtischen Pfauen, die allmählich wirtschaftlich“) und
rechtlich 3) der Stadt amalgamiert wurden, kirchlich schon früher
mit ihr eug znsammenhiugen. Gewiss haben zwei und höchst
wahrscheinlich alle vier vorstädtischen Wormser Pfarren in
Abhängigkeit und enger Beziehung zu den innerstädtischen
Stiftskirchen gestanden. Sie haben wohl im elften Jahrhundert,
als noch die Stiftskirchen die eigentlichen Pfarrfunktionen be-
sassen, zu diesen gehört und sind erst allmählich vom Zusam-
menhänge mit ihnen gelöst worden.
Besonders deutlich tritt das bei der Pfarrkirche s. Andreas
in moute (pfarre uf s. Andresbergen) hervor. An ihrer Stelle
stand zu Burchards Zeit eiue Stiftskirche. Dieser verpflanzte
ihre Kanoniker, als er durch die Wiederherstellung der Um-
*) Boehmei Fontes II p 188.
*) cf. Bauer Hess. Urk. II N. 86 a 1207 vgl. unten Cap. IX.
*) cf. U 202 vgl. unten a. a. 0.
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mauerung das Stadtgebiet mehr von der Umgegend abgeschlossen,
der grösseren Sicherheit halber in die innere Stadt, wo er fi'tr
sie die Kirche St. Andreas baute.1) Die alte Kirche ausser-
halb der Mauern aber bestand weiter und blieb im Eigentum
des Stiftes. Im Jahre 1243 tritt sie uns als Pfarrkirche ent-
gegen.*) Auf dem zu ihr gehörigen Kirchhof wurden auch die
Bewohner des innerstädtischen Pfarrsprengels S. Magnus, der
ja auch unter dem Patronat von Andreas stand, begraben.*)
In dem genannten Jahre 1243 wurde dann das Patronats-
recht von St. Andreas in monte durch Vergabung des Propstes
Gerhard von St. Andreas3) dem ebenfalls auf dem Andreasberge
gelegenen Kloster der Reuerinneu übertragen. Der von diesen
gewählte Propst sollte künftig auch Pleban der genannten
Pfarre sein.
Das Patronat von S. Amand stand dem Decan und Ka-
pitel der Domkirche zu; wir sehen dieselben nämlich 1283 die
genannte Pfarre dem Frauenkloster Himmelskrone in Hochheim
gegen eine jährliche Gülte von 50 Maltern abtreten.4)
Die beiden noch übrigen vorstädtischen Pfarrkirchen stehen
nach den uns überlieferten Urkunden im dreizehnten Jahr-
hundert in Abhängigkeit von dem in einer Vorstadt von
Worms gelegenen Kloster Nonnen- Münster. Das Patronate
der Cäcilienkirche wird 1253 von der Abtissin au die
Nonnen des genannten Klosters abgetreten,1) während ebendiese
in demselben Jahre das Patronat von St. Michael dem Bischof
überlassen.0) Wir haben aber oben gesehen, dass zwei der
vorstädtischen Pfarrkirchen ursprünglich dem Patronate
städtischer Stifte unterworfen waren und dann im 13.
Jahrhundert in der Nähe von Worms gelegenen Frauenklöstern
incorporirt wurden.7) Es kann für im hohen Grade wahr-
*) s. Vita Bnrchardi c. 16 (SS IV p 840) cf. Wagner II 436.
*) ü 209.
•) ibid ct Wagner Stifte II 86.
*) Baur Hess. Urkb. V N. 125 p 109 vgl. auch W U 411 u. Wagner
a. a. 0. S. 63.
*) W U 241, 242 vgl. Wagner a. a. 0. S. 166, 167.
*) So Schannat I 65.
’l Über das seit dieser Zeit häufige Vorkommen solcher Incorporationen
von Pfarrkirchen an Klfister, um diesen die Mittel ihres Unterhalts zu ge-
währen, vgl. Hinscbius II 445.
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scheinlich gelten, dass auch bei den letztgenannten vorstädtischen
Pfarrkirchen, St. Michael und St. Cäcilia, etwas ähnliches
geschehen, dass sie also auch früher unter städ tischen Stiften
gestanden haben.
Es lässt sich demnach annehmen, dass die ursprünglichen
Pfarrbezirke im wesentlichen das Gebiet der städtischen und
vorstädtischen Patronatsrechte der vier Stiftskirchen hatten, in
denen wir die ursprünglichen Pfarrkirchen zu erblicken haben.
Dann ergiebt sich eine bemerkenswerte Übereinstimmung der
in der Bürgerchronik des 13. Jahrhunderts und auch sonst
hervortretenden Einteilung der Stadt in vier Parochien , welche
wir stets zu rein weltlichen Zwecken benutzt sehen, und
der ursprünglichen kirchlichen Einteilung.
Solche Übereinstimmung schliesst wohl gänzlich die Ansicht
aus, dass diese weltliche Einteilung erst im 13. Jahrhundert
oder nicht lange vorher im Anschluss an die Kirchsprengel ge-
schaffen sei; es wäre ja gamicht einzusehen, warum damals
ein Anschluss an die frühere kirchliche Einteilung in 4 statt
des an die zu jener Zeit bestehende in 8 Sprengel gewählt worden.
Es wäre dies um so auffallender, als wir Zeugnisse dafür haben,
dass die Laien an den neugeschaffenen kleineren Kirchsprengeln
nicht nur durch Unterwerfung unter den Pfarrzwang, sondern auch
durch Beteiligung an der kirchlichen Vermögensverwaltung,
sowie der geistlichen Gerichtsbarkeit erheblich interessiert
waren. Es hätte doch den Wormser Bürgern gerade desshalb
auch noch näher gelegen, ihre weltliche Organisation der be-
stehenden kirchlichen analog zu gestalten, wenn sie die welt-
liche erst damals geschaffen hätten. Andrerseits haben diese
wenigen überlieferten Nachrichten von Autonomie der kirch-
lichen Gemeinden um so mehr Interesse, als sie das Bild der
kirchlichen Verwaltung, welches die, doch ganz überwiegend
aus Urkunden geistlicher Provenienz herrührende, Überlieferung
sonst in uns hervorrufen könnte, erheblich raodificieren. Kann es
doch gerade nach dem oben, bei Gelegenheit der Feststellung
der Patronatsverhältnisse der Wormser Kirchen, mitgeteilten
nur all zu leicht scheinen, als ob in Worms die gesammte
Kirchenverwaltung in der Hand der Geistlichkeit, teils des Bi-
schofs, teils der in Besitz der Pfarrpatronate befindlichen geist-
lichen Dignitäre und Stifte, gewesen sei. Dass dies aber nicht
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der Fall war, erhellt insbesondere aus folgendem Beispiele.
Wir haben gesehen, dass die Pfarrei St. Michael unter dem
Patronate des Klosters Nonnenmfinster uud vorher höchst wahr-
scheinlich unter dem eines der städtischen Collegiatstifte stand.
Im Jahre 1300 ttberliess der Decau des Domkapitels mit dessen
Zustimmung den iurati und der Universitas parochiae s. Micha-
elis einen neben ihrem Kirchhofe gelegenen Garten gegen eine
jährliche Rente von 18 Unzen;1) zur Sicherung dieser Rente
verpfänden nun die iurati den Garten und zwei benachbarte
der Pfarrgemeinde gehörige Häuser.*) Demnach tritt also als
Subjekt des Pfarrvermögens nicht der Patron, sondern die Ge-
meinde auf und die freie Verfügung über dasselbe steht einem
Ausschüsse der Gemeinde, den iurati parochiae, zu.
Ein anderes Beispiel von Organisation des Laienelements
innerhalb der kirchlichen Pfarrsprengel bietet uns eine Urkunde
von 1243. Hier*) wird seitens des Wormser geistlichen Gerichts
das Recht des Plebans von St. Magnus gegen widerstrebende Ge-
meindemitglieder mit Strafen vorzugehen, festgestellt, dabei
aber ausdrücklich betont, dass er ohne Zustimmung der iurati
parochiae keine Excommunikation aussprechen darf. Besonders
beachtenswert ist dabei auch, dass die hier urkundenden
Richter dem Clerus angehören. Keinesfalls wird die Entschei-
dung derselben den Laien mehr Rechte zugesprochen haben,
als ihnen in dieser Zeit zu Worms wirklich von der Geistlich-
keit eingeräumt waren.
Für uns sind diese Beispiele der Teilnahme des Laien-
elements an der Pfarrverwaltung von St. Michael und St. Mag-
nus darum wichtig, weil sie zeigen, dass die Einteilung in die vier
Parochien seitens der weltlichen Verwaltung der bestehenden kirch-
lichen Pfarrteilung nicht nachgebildet ist, da wir sonst auch
in der weltlichen Einteilung acht Parochien haben müssten.
So spricht alles dafür, dass auch in Worms wie in Köln und
') U 506.
•) ibid vgl. auch den von Boos bei dieser Gelegenheit (S 339 Z. 4t) er-
wähnten, von ihm leider nicht abgedrnckten, Gegenbrief der inrati iiarochie
s. Hichalielis.
•) U 20Ö.
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Erfurt die Specialgemeinden weit älter sind als die Ratsver-
fassung. Als Aufgabe dieser Sondergemeinden in Worms ist
uns schon im zehnten Jahrhundert die Ausbesserung und Be-
wachung eines Teils der Mauern, welche zu diesem Zwecke
unter die einzelnen städtischen und die benachbarten ländlichen
Gemeinden geteilt waren, entgegengetreten. Damit stimmt über-
ein, dass im dreizehnten Jahrhundert nach den gleichzeitigen
Aufzeichnungen der Bürgerchronik in der Regel uur je zwei
Sondergemeinden znm Kampf ausgezogen zu sein scheinen, wäh-
rend die beiden anderen in der Stadt zurückblieben.1) So bil-
deten also die Mannschaften jeder Specialgemeinde eine beson-
dere Heeresabteilung.
Dass mit diesen militärischen Funktionen die aus älterer
Zeit überkommene Bedeutung der Wormser Specialgemeinden
im 12. und 13. Jahrhundert noch lange nicht erschöpft ist,
folgt sicher aus anderen Nachrichten. Doch bleiben trotz der-
selben noch viele Zweifel und Ungewissheiten im Einzelnen,
namentlich deshalb, weil wir bei den meisten dieser Nachrichten
weder die Entstehnngszeit feststellen können, noch auch diplo-
matische und historische Treue unserer Überlieferung irgend-
wie sicher ist. Die hier in Betracht kommenden Documente,
welche uns über die Verwaltungstätigkeit der Wormser
Specialgemeinden und ihrer Vorsteher, der Heimburgen, Kennt-
nis geben, sind nämlich nur in späten Abschriften und Über-
arbeitungen erhalten. Am wichtigsten ist ein uns in einer
Niederschrift des 17. Jahrhunderts erhaltenes Fragment einer
Urkunde, welches sich selbst als Auszug aus einem der Stadt
erteilten Privileg Heinrichs VI®) giebt.
Daneben kommt hier noch eine Beschreibung der städtischen
Ämter erheblich in Betracht, die inhaltlich etwa dem dreizehnten
Jahrhundert entspricht. Boehmer hat dieselbe nach eiuer
Niederschrift des 17. Jahrhunderts, welche sich selbst als Ex-
trakt einer alten Wormser Chronik giebt, in den annales Wor-
matienses veröffentlicht.®) Zur Ermittlung der Entstehungszeit
•) Boehmer Fontes II p 182, 188, 206 vgl. Liebe S. 46.
*) Boehmer ibid p 215, 216.
*) ibid p 210 Z. 7-214 Z. 2 cf. ibid. p XXII c.
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112
dieser Ämterbeschreibung können zwei die Familie der Kämmerer
von Worms, der späteren Dalbergs, betreffende Notizen dienen;1)
dieselben stammen aus dem Jahre 1483 oder 84.®) Arnold s)
verlegt desshalb auch die Entstehung der ganzen, die Beamten
behandelnden, Fragmente in das 15. Jahrhundert; es ist dies
auch entschieden richtiger als die Ansicht Kösters,4) welche den,
die Notizen über die Dalbergs enthaltenden, Artikel de origine
camerariorum Wormatiensium als später entstanden aus den
übrigen angeblich im 13. Jahrhundert verfassten Aufzeichnungen
ausscheidet. Dass alle diese Nachrichten durchaus nicht gleich-
zeitiges, sondern etwas vergangenes berichten, ergiebt sich nämlich
schon aus der häufigen Wahl des Imperfects z. B. in Camerarius
. . possidebat tria placita super curia,5) Tenebatur quoque dare
multis militibus libras . quorum (lies quarum) summa fuit . . . ®)
Daneben findet sich freilich vielfach auch das Futurum.7)
Es ist diese Verschiedenheit am einfachsten so zu erklären,
dass die Aufzeichnung in der Form, wie sie uns überkommen
ist, eine Relation vergangener Zustände enthält, dass aber eben
diese Relation auf Grund und zum Teil mit wörtlichem An-
schluss an eine oder mehrere frühere Aufzeichnungen geschrieben
ist, welche Rechte und Verbindlichkeiten der Beamten — wenn
auch auf Grund bestehender Zustände — neu feststellten.
Dafür, dass hier eine solche eigentliche Rechtsquelle später
zu einer historischen Darstellung verwandt ist, spricht, dass
in dieser Wormser Aemterbeschreibung vielfach allgemeinen Be-
zeichnungen die speciell im Wormser Rechtsleben des drei-
zehnten Jahrhunderts gebrauchten im Präsens oder Imperfect
hinzugefügt sind, so z. B.
S. 210 Z. 34, 35: iudicia, quae tum illis temporibus pla-
cita vocabant
') p 211 Z, 20: Aute anno» CCCCLX1II plus minusve Heribertua qui-
dam archiepiscopus Coloniensis et ante ftnnog CCCLVI1I Erkenbertna qni
Frankenthalinm exatroxit, hanc farailiam celebrem reddiderunt.
*) cf. Boehmer's Note I 1. c.
*) V. G. I 295.
4) S. 82.
*) p 210 Z. 7.
«) p 212 Z. 6 ff.
’) z. B. p 210 Z. 14: parabnnt, Z. 17: habebit, Z. 19: acciiaabunt:
p 211 Z. 30: dabit, Z. 33: ministrabit ; p 212 Z. 1: dabit etc..
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113
S. 210 Z. 38 : apparitores, quos heiraburgios appela-
bant
S. 211 Z. 4: assessoram, quos illi tune scabinos
appellabant
Z. 32 : passagio Woran., quod dicitur burgervar
S. 212 Z. 6: vini emptum, quod dicitur weinkauf
S. 213 Z. 18: telonium domiui episcopi. quod dicitur
puntzoll.
Geradezu eine deutsche Übersetzung ist hinzugef ligt :
S. 212 Z. 28: de quolibet vaso qui examinatur (so
geeicht wird).
In dem von den Verbindlichkeiten und Rechten des Schult-
heissen handelnden Capitel heisst es endlich:
Hec servabantur MCCLVIV.1)
Hier muss also der Darstellung eine Urkunde von 1259
zu Grande gelegen haben, welche Einnahmen und Abgaben des
Schultheissen im einzelnen bestimmte. Vielleicht hatte dieselbe
auch Weistumsform, indem die Festsetzung im wesentlichen den
Aussagen kundiger Leute über das bestehende Recht folgte. Un-
sere Kenntnis der Mainzer mittelalterlichen Beamtenverhältnisse
verdanken wir bekanntlich vorwiegend derartigen Weisttimern.2)
Da uns aber solche in Worms nicht erhalten sind, sind wir
auf die Benutzung der genannten, im fünfzehnten Jahrhundert
verfassten, Bearbeitungen der früheren Rechtsquellen angewiesen.
Freilich werden wir dabei stets im Auge zu behalten haben,
dass für uns nur dasjenige massgebend sein kann, was der
Bearbeiter aus den Quellen genommen hat, dass dagegen alles
das, was aus seiner Reflexion hervorgegaugen, derselben Kritik
unterworfen werden muss, wie Combinationen eines modernen
Forschers.
Diese Aufzeichnungen nun und das vorher erwähnte angeb-
liche Privileg Heinrichs VI vereinigend, giebt die Zorn-Flers-
heimsche Chronik J) bei Besprechung der Regierungszeit Hein-
richs VI eine Schilderung der Heimburgen. Diese Darstellung
') p 212 Z. 13, 14.
*) nämlich dem Weistum über das Kämmereramt (vgl. Hegel Mainz
S. 54 mit N. 2), und dem über das Amt des Waltpoden (ibid S. (50 mit N. 2).
*) S. 59. 60.
Koehne, Ursprung der Stad Verfassung in Worms, Speier und Mainz 8
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114
der Chronik kann leicht den Schein erwecken, dass die bei
Boehmer1) in den Annalen vorliegenden Nachrichten ebendieser
Urkunde entstammen, was auch der neueste Erforscher der
Wormser Geschichtsquellen, Köster2), für sicher erklärt. Jedoch
haben nach dem Privileg die sich am Martinstage auf dem
Bischofshofe versammelnden Bürger die Heimburgen zu wählen,*)
nach der Darstellung der Aufzeichnung bestellt sie der Büttel
nach eigenem Willen.4) Dazu kommt noch, dass an der einzigen
Stelle, wo Privileg und Aufzeichnung inhaltlich das gleiche be-
richten,6) dazu ganz verschiedene Ausdrücke gewählt sind, und
dass endlich derselbe Beamte im Privileg nur villicus, in der
Aufzeichnung nur scultetus genannt wird. Es ist also nicht an-
zunehmen, dass dem Verfasser der Aufzeichnung das Privileg
Heinrichs Vorgelegen hat; noch weniger dürfen wir dasselbe
ohne weiteres aus der Aufzeichnung ergänzen.
Es ist dies um so bedauerlicher, als unser Fragment, dem-
nach der einzige Überrest des Privilegs, selbst nur in soweit
einen Auszug aus demselben geben will, als darin die Heim-
burgen erwähnt sind. Es hat aber dazu zwei Stellen aus
demselben abgeschrieben und zwar offenbar in umgekehrter
Reihenfolge. Demnach scheint es angebracht, diese beiden
Stellen nach dem Vorbilde Arnolds6) und Liebes7) in folgen-
der Weise zu combinieren:
Eligantur etiam 16 viri, qui heimburgenses dicuntur,
quorum quilibet dabit libram ... Hi iurare debent se-
cundum legem dei . . .
Es wurden also jährlich 16 Heimburgen und zwar je 4 in
») S. 212 Z. 29—38.
•) S. 82.
*) Daselbst wird gesagt, dass die Börger am Martinatage Schultbeissen
und Amtsleute wählen sollen. Darauf folgt dann die, gleich unten im Texte
gegebene, Stelle über die Heimburgenwahl: Eligantur etiam ....
4) vgl. Liebe 8. 20, 21 und unsere folgenden Ausführungen.
•) Im Privileg heisst es p 215 Z. 27 ff.: iurare secundum legem dei
iustam mensuram ad dandum et accipiendum ordinäre; in der Aufzeichnung
p 212 Z. 32 ff. iurabunt . . ., quod per annum illum meusuras qualescumque ab
omnibus exigant, examinent et iustificent, falsas dirumpant sine dolo, nullas
amicitiaa et inimicitias attendendo.
*) V. G. L 292.
») S. 20.
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115
jeder der 4 Parochien der Stadt von den Bürgern am Martins-
tage gewählt. Diese Heimburgen mussten beim Amtsantritte
schwören, jeglicher gemäss Gottes Gesetz in seinem Pfarrspiele
auf gerechtes Mass zu halten. Sie wurden zu Abgaben an den
Greven, den Schultheissen und die Amtsleute verpflichtet, dagegen
von solchen an Propst und Archipresbyter freigesprochen.
Was zunächst die Zahl der Heimburgen betrifft, so ist es
auffallend, dass wir hier in jeder Parochie vier haben. Sonst
tritt uns, wie wir es auch bei Mainz und Strassburg gesehen
haben, in der Hegel in jeder Gemeinde nur je ein Heimburge
entgegen; nur ist an manchen Orten neben dem neu erwählten
Heimburgen der abgetretene noch wirksam.1) Vielleicht haben
wir in den Wormser, den Pfarrgemeinden entsprechenden, Teil-
gemeinden schon Verschmelzungen kleinerer Teilgemeinden an-
zunehmen, wie solche von Vollbaum bei Erfurt, wenn auch
erst für spätere Zeit, nachgewiesen sind.*) Bemerkens-
wert ist ferner in der angegebenen Stelle der Aufzeichnung,
dass die Heimburgen von den Abgaben an Propst und Erz-
priester befreit werden. Die Archidiaconatsrechte waren seit
der Zeit der sächsischen Kaiser in der Regel mit den Propsteien
der Cathedrale und der Collegiatstifte verbunden,3) an die
Archidiaconen und Erzpriester war aber damals in Folge der
Beteiligung der Bischöfe am Reichsregiment die Abhaltung des
Sendes gekommen.4) Aus der Befreiung der Keimburgen von
Abgaben an diese Sendrichter geht aber hervor, dass solche
Leistungen ihnen früher wirklich obgelegen, oder zum mindesten
von ihnen verlangt waren.5) Es erklärt sich dies aber sehr ein-
fach dadurch, dass in Worms wie in Mainz gerade die Vor-
steher der Specialgemeinden vorzugsweise zu Sendzeugen ge-
nommen wurden,5) und, dabei oder für Befreiung von dieser Last,
sich zu Abgaben an die Sendrichter verstanden hatten.
*) vgl. Lamprecht S. 814, 316. Mitunter mochten danach freilich auch
abnorme Verhältnisse durch .Eingriff von aussen“ berbeigeführtsein. (a.a.O.N.3).
*) S. 22-24.
•) Dove in Herzogs Realencyd. d. Theol. s. v. Send S. 123.
‘) ibid 8. 123, 124.
») vgl. Arnold I 8. 293.
*) Daraus, das die Heimburgen früher Abgaben an die geistlichen
Richter zahlten, kann aber nicht, wie Liebe 8. 21 meint, geschlossen werden,
dass sie ehemals von diesen ernannt wurden.
s*
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116
Diese Annahme wird dadurch bestätigt, dass wir die Auf-
sicht über die Masse in dem Privileg den Heimburgen über-
tragen fanden. Diese Befugniss scheint aber aus der Rügepflicht
bei Fälschungen hervorgegangen zu sein; letztere selbst war
eine Folge der Bestellung der Heimburgen zu Sendzeugen , die
sie ja nötigte, alle vom kirchlichen Gesichtspunkte aus straf-
baren Handlungen zu rügen. Dass den Wormser Heimburgen
eine Rügepflicht zukam, geht auch aus den früher charakteri-
sierten Aufzeichnungen1) hervor. Eigentümlich ist hier jedoch
die Bestimmung, dass die Heimburgen ihre Rügen bei dem
Kämmerer anzubringen haben;*) dieser Kämmerer ist nämlich
erzbischöflicher Ministerial. Es folgt dies daraus, dass in allen
Abschnitten der Aufzeichnung immer nur von diesem, nicht aber
von dem Unterkämmerer, der ein städtischer Bürger war, oder
einem geistlichen Kämmerer die Rede ist. Von diesem mini-
sterialischen Kämmerer nun wird in der Aufzeichnung gesagt,
dass er, seit der Bischof sich die Stadtherrschaft anzumassen
begonnen, eine Zeit lang der oberste Richter in der Stadt ge-
wesen und jährlich drei Gerichtstage im Bischofshofe abgehalten
habe.*) Arnold4) erklärt, dass damit die Zeit nach 1233 ge-
meint und demnach im Interesse der Stadt falsches berichtet
sei, indem die Jurisdiction des Kämmerers älter gewesen, als
die Erneuerung der Bischofsherrschaft durch die erste Rachtung
und vielmehr gerade im dreizehnten Jahrhundert abgekom-
men sei. Ich glaube, dass die Aufzeichnung garnicht die Periode
nach 1233, sondern den ersten Erwerb der Stadtherrschaft sei-
tens der Bischöfe im Auge hatte, indem schon in der zweiten
Hälfte des 15. Jahrhunderts, in der unsere Aufzeichnung ja ent-
standen ist, die später bei Zorn, Moritz u. s. w. ausgesprochene
Anschauung die bürgerlichen Kreise beherrschte, Worms sei
seit der Römerzeit nur dem Kaiser unterworfen gewesen. Jeden-
falls ist auch die Ansicht des Autors der Aufzeichnung über
r) Boehmer Fontes II 8. 212 Z. 37—39 , 8. 210 Z. 16—18 vgl. oben
8. 111—113.
') Böhmer ibid.
*) ibid. p 210: Snpremns aliqn&ndo in hac urbe iudex camerarius fuit,
qm singulis annis, postea quam iuris »liquid in cives episcopi sibi arrogare
ceperuut, tria iudicia, quae tum iilis temporibus placita vocabant, in episco-
pali curia exercebat.
«) V. G. I 8. 296.
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117
die Entstehung der Jurisdiction des Kämmerers nach dem früher
ausgeführten für uns in keiner Weise massgebend. Dagegen
sind die, wie wir aus ihrer Form ersehen, alten Urkunden ent-
nommenen Nachrichten von grosser Wichtigkeit, dass die Käm-
merer 3 jährliche Gerichtstage (placita) im Bischofshof abzu-
halten haben und dass die Heimburgen auf Anfragen der Käm-
merer ihnen zu rügen haben, quicquid noverint esse contra
iusticiam et nocivum civitati in vicis et plateis.1) Arnold hat
davon ausgehend, dass die hier erwähnten drei Dinge von den
drei echten Dingen des Volksrechts stammen, die Vermutung
ausgesprochen, dass „der Kämmerer Stellvertreter des Burg-
grafen war und dass er nach dem Ausfall des letzteren die
drei echten Dinge zu hegen hatte.“*) „Das echte Ding aber
habe seine Bedeutung verloren“ und sei „zum blossen Rüge-
gericht herabgesunken. “*) Diese Vermutung wird nach Liebes
Urteil durch die Hegel’schen Forschungen über Mainz „zur Ge-
wissheit erhoben.“4) Ohne hier auf die Widerlegung dieser An-
sicht näher einzugehen, will ich doch meine, an anderer Stelle
genauer zu begrüudende, Meinung aussprechen, dass das Gericht
des Kämmerers aus den diesem Beamten zustehenden Finanzbefug-
nissen hervorgegangen ist. Die Rüge ist jedenfalls dem echten
Ding immer ganz fremd gewesen, und die Überlassung der Rüge-
gerichtsbarkeit an ein unter Laienvorsitz tagendes Gericht er-
scheint als Concession für die Bürgerschaft; sie hängt mit dem
Erlasse der Abgaben der Heimburgen an die geistlichen, der
Einschärfung von Abgaben an die weltlichen Beamten aufs
engste zusammen.
Soviel glaube ich, wird, auch wenn meine Auffassung des
Rügegerichts des Kämmerers nicht angenommen wird, sich doch
schon aus dem bisher erörterten ergeben haben, dass die Rüge-
pflicht der Heimburgen Folge ihrer Hineinziehung ins Send-
gericht ist.
Es ist schon oben bei der quellenkritischen Analyse der
Aufzeichnung aus dem 15. Jahrhundert darauf hingewiesen, dass
') Vgl. S. 116 N. 1 und 3 Bes. bezeichnend fttr die Benutzung älterer Ur-
kunden ist die Form tria iudicia, quae tum illis temporibus placita vocabant
*) S. 296.
s) 8. 296.
*) S. 24.
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118
dem Verfasser derselben eine andere Quelle als das Privileg
Heinrichs bei seiner Notiz über die Ernennung der Heimbnrgen
Vorgelegen haben muss. In dieser Aufzeichnung wird nämlich
darüber folgendes gesagt:
pedellus civitatis denominabit in stega sedecim viros,
qui dicuntur heimburgen, quos ipse solus, per se
in quattuor parochiis eligit et constituit.1)
Nach dem Privilege dagegen musste angenommen werden,
dass die Heimburgen zur Zeit desselben, ebenso wie der Schult-
heiss und die Amtsleute, von den Bürgern frei gewählt wurden.
Freilich mag schon in dieser Zeit das Aufrufen der zu Erwäh-
lenden dem Büttel übertragen sein, der sich dazu auf die Treppe
(stega) des Bischofshofes stellte, wo ja damals die Wahl statt-
fand. Da die Büttel aber nach dem Privileg selbst von der
Tuchmacherzunft eingesetzt wurden, so mag es durch den Ein-
fluss dieser Genossenschaft dahin gekommen sein, dass sich aus
dem blossen Vorschlagsrecht mit der Zeit ein Ernennungsrecht
entwickelte. Ob die von den Heimburgen gewählten Büttel
vorzugsweise Mitglieder ihrer Zunft zu Heimburgen ernannten,
wie Liebe*) annimmt, ist nicht zu entscheiden. Nur dürfen
jedenfalls nach den früheren Erörterungen *) diese Tuch-
macher nicht für eine Mittelklasse zwischen Patriziern und
Plebejern erklärt werden, wie es von Liebe geschieht ; dieselben
waren teils frei, teils unfrei und gehörten jedenfalls zum aller-
grössten Teil der, sich freilich erst später social abschliessenden,
Geldaristokratie an.
Der de heimburgis betitelte Abschnitt der Aufzeichnung
enthält noch eine Nachricht über die Funktionen der Heimburgen :
„Jurabunt coram magistris civium, .... quod ad pulsationem
campane curie semper parati existant.“ Arnold4) übersetzt, „dass
sie zum Läuten der Hofglocke allezeit bereit sein sollen,“
Liebe ') und dem Sinne nach ebenso auch schon die Zorn-Flers-
heimsche Chronik®): „dass sie auf das Läuten der Hofglocke
') Boehmer II p 212.
>) 8. 22.
*) 8. oben Cap. III und IV.
*) I S. 295.
*) 8. 22.
•) 8, 59.
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119
stets bereit sein sollen.“ Meiner Ansicht nach ergiebt sich
aus den früher1) erwähnten Funktionen der ländlichen Heini-
burgen, dass die Übersetzung Arnolds den Vorzug verdient.
Der von Liebe gegen dieselbe erhobene Einwand, dass zum
Läuten der Glocke nicht 16 Mann nötig gewesen, erledigt sich
dadurch, dass die Heimburgen, namentlich die aus den vorneh-
meren Stadttheilen, sich gewiss gerade von dieser lästigen Ver-
pflichtung zu befreien suchten. Es wurde ihnen daher einge-
schärft, dass stets derjenige, dem es die magistri civium jedes-
mal auftrugen, zum Läuten der Glocke bereit sein musste.
In den übrigen Teilen der Aufzeichnung werden die Heim-
bnrgen noch einige Male erwähnt, ohne dass wir dadurch aber
viel neues erfahren. In dem, die Rechte und Pflichten des
Schultheissen behandelnden, Abschnitte,*) welcher, wie oben an-
geführt, wohl zum grössten Teil einem Weistume von 1253 ent-
nommen ist, wird die Angabe des Privilegs, dass die Heimbur-
gen dem genannten Beamten 12 Pfund zu geben haben, wieder-
holt. Dazu, dass die Heimburgen an den vom Kämmerer ge-
haltenen Gerichtstagen ihm und seinen Schöffen die Sitze zu-
zurichten haben, — was auch von der Aufzeichnung berichtet
wird*) — mag es dadurch gekommen sein , dass ein, dem hohen
Geistlichen, der die Sendgerichte abzuhalten hatte, seitens der
als Sendzeugen zugezogenen Ortsvorsteher geleisteter, Ehren-
dienst später zusammen mit dem im Sende gehandhabten Rüge-
gericht an die Kämmerer überging.
Eigentümlich ist in dem Abschnitte über den Schultheissen
die Erwähnung von heimburgenses ante portam S. Martini,
welche diesem beim Amtsantritt 8 Unzen zu geben hatten.4)
Nach einem anderen Weistume hatten die Kämmerer von Worms
bis 1315 ein Gericht in suburbio Martiniano.5) Es dürfte wohl
diese, zwischen dem Martins- und Mainzer Thor gelegene, Vor-
stadt ein höriges Dorf gebildet haben, welches erst allmählig
mit der Stadt vereinigt wurde; ähnliches haben wir ja bei der
Mainzer Vorstadt Vilzbach wahrgenommen, die auch früher ein
•) ygl. oben S. 99 N. 4.
*) p 211, 212.
*) p 210.
‘) p 212 Z. 23.
•) p 211 Z. 13, 14.
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120
höriges Dorf bildete.1) Die dem Wormser Selml theissen seitens
der Heimburgen der Martinsvorstadt zu leistende Abgabe ist
alsdann aus dem Übergänge von Herrschaftsrechten an die Stadt
zu erklären. Freilich muss hervorgehoben werden, dass hier,
wie bei den meisten der zuletzt besprochenen Nachrichten, we-
der Entstehungszeit noch Reinheit der Überlieferung irgendwie
feststeht.
Eine sowohl in ihrer Datierung wie ihrer Tradition nach
sichere Nachricht tritt uns dagegen in der ersten Rachtung
zwischen Stadt und Bischof vom Jahre 1233 entgegen.*) Nach-
dem daselbst die Art und Weise der Ernennung des Stadt-
rats festgesetzt ist, wird bestimmt, dass zum Zwecke der Erhebung
des Ungelds und zur Beratung der städtischen Angelegenheiten
von Bischof und Rat gemeinsam 16 Bürger und zwar je vier aus
jeder der vier Parochien gewählt werden sollen. Keinesfalls
haben wir es, wie Maurer*) anzunehmen scheint, hier mit einer
neuen Einrichtung zu tun. Gerade die Steuereinziehung knüpfte
in Worms, wie in Köln und Mainz, gewiss von Anfang an an
die Teilung in Specialgemeinden an. Die Pflicht der Aus-
besserung der Stadtmauern, die schon im zehnten Jahrhundert
in Worms den Teilgemeinden oblag,4) setzt doch auch schon
einen besonderen Haushalt derselben voraus, wie ja auch später
das Ungeld sowohl in Worms wie in anderen Städten vorzugs-
weise „zu der Stadt Bau“ d. h. „zur Befestigung, zum Strassen-
bau und zu anderen öffentlichen Bauten“ verwendet wurde.5)
So haben die damals neu eingesetzten Sechzehn gewiss einen
Teil der Funktionen der Heimburgen übernommen. Eine andere
Frage ist es, ob ueben den Sechzehn die früheren Heimburgen
') vgl. oben S. 95.
•) U 163, 164.
•) Stdtverfsang. I S. 605.
4) vgl. oben S. 84, 85.
*) Zeumer 8. 93. Dafür, dass den Heimbargen aach an anderen
Orten finanzielle Befugnisse zufielen, spricht die Übersetzung von die ,erer*
(= aerarii, die Personen, die die Gemeindekasse unter sich haben) mit „dy
heimbergen“ in einem alten Zinsbuche aus dem Breisgau s. Mone Ztschr. Bd.
XIV S. 277 u. Liebe 8. 30,
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121
fortbestanden. Dafür bat sich von Maurer,1) dagegen Hegel,*)
Arnold *) uud Liebe1) ausgesprochen. Mit Recht führt Maurer,
namentlich gegen Hegel, für das besondere Fortbestehen der
Heimburgen ihre spätere Erwähnung im 15. Jahrhundert an.
Arnold und Liebe meinen allerdings, dass die Trennung
des Heimburgen von dem, in der Wormser Stadtgeschichte
noch lange bedeutungsvoll hervortretenden, Sechzehneramt
erst später eintrat. Arnold*) hält es für wahrscheinlich,
dass die beiden Beamtungen unter Bischof Emicho (1294
bis 99) an verschiedene Personen kamen, als neben die vom
Rat gewählten Sechzehn noch eine andere aus sechzehn Per-
sonen bestehende Behörde, die aber von der Gemeinde gewählt
wurden, zur Controlle der Ungelderhebung trat. Dagegen glaubt
Liebe,*) dass jene Trennung wohl eher in das Jahr 1300 zu
verlegen sei, in welchem den von der Gemeinde gewählten
Sechzehn eine Teilnahme an den meisten wichtigen Regierungs-
handlungen verliehen wurde. Mir scheint diese, übrigens ja nicht
so belangvolle, Frage, ob in Worms schon von 1233 oder erst
von den neunziger Jahren des 13. oder vom Beginn des 14.
Jahrhunderts an die Heimburgen von den sog. Sechzehnern
getrennt waren, aus dem gedruckt vorliegenden Material nicht
beantwortbar zu sein.
Einige, aber nicht genügende, Nachrichten über das Worm-
ser Heimburgenamt im 15. Jahrhundert finden wir noch in zwei
nach Arnold7) wohl um 1460 entstandenen Berichten über die
Besetzung der städtischen Ämter.8) Es treten uns hier wieder
16 Heimburgen aus den vier Pfarren der Stadt entgegen, wel-
chen besonders eine Tätigkeit ira Sende zugeschrieben wird.*)
Eigentümlich und kaum anders als durch Missverständnis eines
alt überkommenen Rechtssymbols erklärbar ist folgende Angabe:
') StdtvrfBgng. I S. 605.
*) Gesuch, d. itaL Stdtv. II 430.
*) fl 36.
4) 8. 29.
') H 454.
•) 8. 42.
ins. 452.
*) Schann&t II 439—441.
*) ibid. 439.
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Danach gibt der Bürgermeister . . . dem Bischoff sein Bür-
germeister ampt uff mit des Heimburger Stabe.“1)
Wahrscheinlich liegt hier eine Vermengung zweier schon
zu Rechtsantiquitäten gewordenen Symbole vor.
Der Heimburge pflegte von alten Zeiten her einen Stab
als Zeichen der ihm zur Ordnnngserhaltung in der Volksver-
sammlung zustehenden Gewalt zu tragen;*) dabei hatte dieser
Stab gewiss auch als eventuell benutztes Hilfsmittel zur Ord-
nungserhaltung hinreichend praktische Bedeutung. Wie so
häufig die Belehnungen und Auflassungen,5) so geschahen aber
auch in Worms wohl die Investierungen in die städtischen
Ämter mittels eines Stabes, der also hier Symbol der Macht-
Übertragung war. Als jährlicher Wechsel der Ämter aufge-
kommen, liess der Bischof sich bei Beendigung der Amtsfüh-
rung symbolisch den bei Beginn derselben verliehenen Stab
zurückreichen, um ihn dem Nachfolger des Beamten zu über-
geben. Da man aber in Worms nur an den Heimburgenstab
gewohnt war, so sah man auch den dem Bürgermeister bei sei-
ner Investierung gereichten, beim Amtsabtritt von ihm zurück-
gegebenen Stab als Heimburgenstab an.
Einmal werden in der genannten Beamtenordnung noch
zwei Heimburgen erwähnt.4) Wie die Ratsherren, die Schreiber
und die sogenannten Vierer vor den Thoren sollen auch sie von
den Bürgermeistern bei der jährlichen Amtsniederlegung einen
Gulden von den Strafgeldern, welche das Jahr über an die
Stadt gefallen sind, erhalten. Diese Bestimmung drängt zu der
Annahme, dass die genannten beiden Heimburgen in einer be-
sonders engeu Beziehung zum Criminalgericht standen. Dem
entspricht völlig, dass nach der Wormser Reformation von 1498,
jener bekannten von römisch gebildeten Juristen verfassten
Codification des Stadtrechts,5) die Ladung der Zeugen seitens der
Parteien „durch einen Heimbergen oder sunst des Rats oder
Gerichts verordenten Diener“ geschehen soll.8)
^Tbid~440.
*) Boehmer n 210 Z. 16 Über den Stab als Zeichen der Gewalt et
Grimm R. A. S. 134.
*) Über den Gebrauch des Stabes bei Güterabtretung vgl. Grimm S. 133,
cf. auch ibid S. 137 und Heusler Instit. I S. 74.
♦) Sch&nnat II 439.
*) Stobbe Rechtsquellen II S. 381—336.
•) Ausgabe von 1499 Worms fol VII r Z. 10, 11.
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123
In welchem Verhältnis non diese beiden in der Criminal-
justiz verwandten Heimburgeu, die Heimbargen der Wormser
Reformation and die Sendheimbargen im 15. Jahrhundert stan-
den, lässt sich zum mindesten aus den bis jetzt gedruckten
Quellen nicht beantworten.
Ebenso lässt sich auch nicht angeben, was es mit dem
nach Arnold ') und Liebe *) im Jahre 1315 als famulus superior
iudicii erwähnten Heimburgen für eine Bewandnis hat. Da
keiner von beiden eine Belegstelle für diese Erwähnung anführt,
mir aber auch keine solche iu den Quellen entgegengetreten
ist, so scheint es nicht unmöglich, dass Arnold zu seiner An-
gabe durch irgend ein Missverständnis gekommen ist, während
Liebe dieselbe einfach referiert. Es lässt sich auch nicht aus-
reichend bestimmen, welches Amt und Stellung des von der
Wormser Chronik zum Jahre 1407 erwähnten Wormser Stadt-
schreibers, „ Johann Speyer heim bürg,“ gewesen ist.’) Vielleicht
hängt die Bezeichnung desselben als Heimburgen damit zu-
sammen, dass der Wormser Rat sich, wie aus dem ihm 1404
verliehenen Privileg König Ruprechts4) hervorgeht, vor aus-
wärtigen Gerichten durch einen seiner Heimburgen vertreten
lassen konnte; für solche Fälle mochte man auch angesehene
Personen wie den Stadtschreiber zu diesem Amte erwählen.
Namentlich fiel diesem Heimburgen, der so gewissermassen als
Syndikus der Stadt auftrat, das Leisten der von ihr in bürger-
lichen Processen zu schwörenden Parteieide zu. Auch abge-
sehen davon, dass sich in Speier ganz ähnliches findet,5) hat
man es hier bei dieser processualischen Vertretung der Stadt
durch den Heimburgen schwerlich mit einem specifisch Wormser
Institut zu tun. Man erinnere sich, dass bei den ländlichen Gemein-
den die Vertretung der Gesammtheit nach aussen dem Heimburgen
zufiel ; dergleichen war wohl auch bei kleineren, aus Dörfern er-
wachsenen, Städten der Fall, in denen sich erst allmählig der
■) I 296 u. U *64.
*) S. 30.
•) Zorn 8. 164.
*) Chmel Regesta Ruperti (Frankf. 1834) N. 1794.
*) Die« geht besonders aas dem analogen Berichte Uber Speierer Ver-
hältnisse (Lehmann-Fuchs lib. IV c. 21 p. 299) hervor.
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124
Heimburge den wohlklingenderen Namen des Bürgermeisters bei-
legte.1) Es ist nicht unmöglich, dass die grossen Städte, als
sie zwecks processualischer Vertretung besondere Beamte er-
nannten, da sie ihre Bürgermeister in der Stadt selbst behalten
wollten, ihre Vertreter in auswärtigen Rechtsstreitigkeiten nur
nacli dem Vorbild der kleineren Gemeinwesen Heimburgen ge-
nannt haben.
Im übrigen sind ja alle diese Nachrichten über das Heim-
burgenamt vom 14. Jahrhundert an, die hier der Vollstän-
digkeit wegen besprochen werden, für die Frage nach der Be-
deutung der Specialgemeinden für die ältere städtische Verfas-
sungsentwicklung nahezu bedeutungslos. Dasselbe ist von den
vorliegenden Nachrichten über die Sechzehner zu sagen, jene
Behörde, welche, wie oben gezeigt, aus Übertragung von Be-
fugnissen der Heimburgen an besondere Beamte hervorgegangen
ist. Nur kommt hier noch hinzu, dass zum Verständnis der
Entwicklung dieser Beamtung, welche zuletzt die Gemeinde
dem Rat gegenüber selbständig vertritt, die ganze Wormser
Verfassungsgeschichte des 14. — 16. Jahrhunderts dargestellt
werden müsste. Desshalb soll hier nur noch auf die Tatsache
hingewiesen werden, dass diese Sechzehner bis 1505 nach den
Parochien gewählt wurden.*) Diese lange Dauer der Verwen-
dung der Parocbialeinteilung in der städtischen Verfassung be-
stätigt entschieden die früher gewonnene Ansicht, dass die
Pfarrsprengel nicht zufälliger Weise in Nachahmung der beste-
henden kirchlichen Teilung zu städtischen Zwecken verwandt
sind, sondern desshalb, weil sie wenigstens in der Haupt-
Sache selbständigen bürgerlichen Gemeinden entsprachen.
Um so mehr können wir also die schon in karolingischer
Zeit bestehende Stadteinteilung mit der uns später entgegen-
tretenden für im wesentlichen identisch erklären. Von den
Funktionen der Wormser Specialgemeinden, die mit den ältesten
Kirchspielen, aber nicht mehr mit denen der Zeit ihrer Er-
wähnung übereinstimmen, konnten unmittelbar aus der Über-
lieferung besonders militärische und finanzielle nachgewiesen
werden.
') So c. B. in Seligenstadt Maurer I 366.
*) Vgl. Liebe S. 43-46.
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125
Wenden wir uns nun zu der dritten der mittelrheinischen
Städte, zu Speier. Hier finden wir freilich für die in Betracht
kommenden Fragen i. g. weniger Material als in Worms und
Mainz. Wohl lässt sich, wie früher anseinandergesetzt, con-
statieren, dass auch Speier aus verschiedenen gesonderten An-
siedlungen erwachsen ist.1) So geht auch aus der öfteren Er-
wähnung von Heimburgen zu Speier noch in späterer Zeit her-
vor, dass hier ursprünglich Ortsvorsteher mit demselben Namen
und wohl auch ganz denselben Competenzen wie in den beiden
anderen mittelrheinischen Städten an der Spitze der Sonder-
gemeinden gestanden haben. Doch sind Documente, welche die
Heimburgen erwähnen, erst vom 14. Jahrhunderte an erhalten.
In dieser Zeit sind die Heimburgen schon untergeordnete Be-
amte des Rats geworden; mehrfach werden sie zwischen den
Schreibern desselben und den Stadtknechten genannt.*) An
frühere wichtige Funktionen, welche denen der Heimburger in
den anderen Städten entsprochen haben müssen, erinnert frei-
lich, dass die Speierer Heimburgen noch in der Mitte des 14.
Jahrhunderts Masse und Wage zu bewahren hatten.*) Dem-
gemäss wurde auch später, als 1452 die Selbständigkeit des
Münzmeisters bei der jährlichen Eichung der Masse und Ge-
wichte vom Rate beschränkt wurde, bei derselben ein vom Rate
bestellter Heimburge zur Controlle zugezogen; derselbe erhielt
die Hälfte der bei dieser Eichung verfallenen Bussen.4)
Dass auch die Einziehung der an die Stadt fallenden
Bussen den Heimburgen oblag, lässt sich aus dem Umstande
schliessen, dass diesen Beamten nach einem Ratsbeschlnsse von
1314 auch daran offenbar Anteile zufielen.*) Dasselbe ergiebt
sich aus einem, 1333 zwischen dem Stadtrate und dem Vorstande
der jüdischen Gemeinde zu Speier geschlossenen, Vertrage.*)
Hier wird nämlich der jüdischen Gemeindebehörde zur Einziehung
von Geldstrafen, die wegen Zuwiderhandlung gegen von ihr er-
*) s. oben S. 91, 92.
*) Speierer ürkb. ü 280 p 214 Z. 32, ü 470 p. 427 Z. 10, ferner p. 226
Z. 36.
*) ibid p. 476 Z. 42.
*) Eheberg in Mone Ztachrft. Bd. XXXVI S. 326 — 328 n. 402.
•) ü 280 p. 214 Z. 32.
*) U 421.
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126
lassene Vorschriften verwirkt seien, der Heimburge von der
Stadt zur Verfügung gestellt; dagegen sollte die Stadtkasse,
wenn der Heimbnrge zur Einziehung von Geldstrafen über drei
Pfund verwandt war, die Hälfte der Busse erhalten. Die gleiche
Bestimmung wurde in Betreff derjenigen Bussen getroffen, welche
der genannte Vorstand auf die Nichtablieferung von Steuerteilen
gesetzt hatte, die für das, der ganzen Gemeinde auferlegte, Ge-
schoss nach seiner Repartition von den einzelnen Gemeindemit-
gliedern gezahlt werden mussten. Auch hier konnte sich dem-
nach der Vorstand zur Einholung der Steuern und der, durch
nicht freiwillige Ablieferung derselben verwirkten, Bussen der
Heimburgen bedienen. Man wird gewiss mit der Annahme
nicht fehlgehen, dass die Verwendung der Heimburgen zur Ab-
holung der der Stadtkasse selbst von allen Einwohnern ge-
schuldeten Steuern und Geldstrafen schon vor diesem Vertrage
in Übung war. Darin ist aber dann wohl im Zusammenhänge
mit dem früher erwähnten der Rest einer ehemals den Heim-
burgen in ihrer Specialgemeinde zustehenden Finanzverwaltung
zu erblicken.
Ebenso kann man auch wenigstens mit Wahrscheinlichkeit
in einigen noch viel späteren Bestimmungen über Wirksamkeit
des Heimburgen Überreste der alten Heimburgenfunktionen
finden. In Speier ist nämlich ein Heimburge bis zur völligen
Aufhebung der freien Verfassung der Stadt am Ende des vori-
gen Jahrhunderts nachweisbar, und gerade die Bestallungs-
briefe1) des Heimburgen aus dem 17. und 18. Jahrhundert
lassen darauf schliessen, dass, soviele Änderungen auch an Zahl.
Einsetzungsart und Pflichten dieser Beamten im Laufe der Zeit
vorgenommen sind, doch einige Funktionen sich alle Jahrhun-
derte hindurch unverändert erhalten haben. So wird noch
1681*) zu den Pflichten des Heimburgen die Aufsicht über die
Bewachung der Stadt und das allabendliche Schliessen ihrer
Thore gerechnet. Die Fürsorge für die Befestigungen ist als
Pflicht der Specialgemeinde in Worms nacbgewiesen *) und hat
*) Dieselben sind in Speirer Stadt-Archiv Acta N. 64 erhalten.
’) ibid fase. 11 BestaUnngaakte für den Heimbnrgen Johann Crnciger
N. 2 n. 3.
*) oben 8. 84 ff.
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127
auch in anderen Städten wie in Köln,1) Aachen*) und RegenB-
burg*) den Teilgemeinden obgelegen; gewiss ist dies auch in
Speier der Fall gewesen und die früheren Vorsteher der Spe-
cialgemeinden behielten wohl daher hier die Aufsicht über die
Bewachung der Festungswerke, auch als die Bewachung selbst
Pflicht der Gesammtgemeinde geworden war.
Ähnlichen Ursprung hat wohl die Bestimmung der Be-
stallungsakte für den 1681 eingesetzten Speierer Heimburgen,
dass derselbe „wenn Aufruhr oder Feuersnot in der Stadt
seien . . . , die Bürger auf dem Markt in Ordnung stellen*
soll.4) Noch bezeichnender ist folgende Stelle aus demselben
Documente :
„8) soll er dem Ausschuss der Bürgerschaft als deren Haupt-
mann getreulich vorstehen, denselben bei Ausführung und
Übung dessen mit Bescheidenheit regieren und sich dabei
zu jeder Zeit willig und unverdrossen anlassen.“
Die einem so subalternen Beamten wie dem damaligen
Heimburgen übertragene Ftthrerrolle des Bürgerausschusses
kann nur als aus vergangenen Zeiten übrig gebliebene Rechts-
antiquität erklärt werden. Wie der gekorene Heimburge des
zehnten und elften Jahrhunderts, hat noch der des 18. die
Führung des Bürgeraufgebots; freilich steht die ihm gegebene
Führerrolle mit seiner sonstigen socialen Stellung in solchem
Widerspruch, dass ihm dabei, ehe er sein Amt antritt, noch
ausdrücklich „Bescheidenheit* anbefohlen wird.
Während nach den Bestallungsakten des 17. und 18. Jahr-
hunderts dem Heimburgen damals noch polizeiliche, militärische
und Repräsentationsfunktionen, dagegen keine gerichtlichen mehr
oblagen, liegt Grund vor, anzunehmen, dass er im 14. Jahr-
hundert auch in der Justiz verwandt wurde. Freilich erweist
sich hier wieder die Dürftigkeit der Überlieferung als höchst stö-
rend. Von der Tätigkeit Speierer Heimburgen im Gericht haben
wir nur durch die Chronik von Lehmann und Fuchs Nachricht,
die auch nur in soweit als Geschichtsquelle benutzt werden
*) Liesegang 8. 40, 41.
*) Gengier 8. 61, 62.
•) 8. ibid 64, 66, vgl. anch oben 8. 97 mit N. 4.
4) N. 4 in der oben 8. 126 N. 2 citierten Urkunde.
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128
kann, wie die oben besprochenen, im 15. Jahrhundert verfass-
ten, Wormser Aufzeichnungen über Zustände des 13., also nur
da, wo die Verfasser dieser Chronik gleichzeitige Quellen wieder-
geben oder aus solchen richtige Schlüsse gezogen haben.
Bei seiner ausserordentlich wirren Beschreibung der vor
dem Rat zur Zeit, als auf ihn das Stadtregiment überging, ver-
handelten Rechtshändel sagt Lehmann : ’)
„Darbey es den Process gehabt, dass der Heymbürger oder
Hauptmann der Stadt, der von Alters ein gebohrner Bürger
und Adelichen Geschlechts seyn müssen, vermög alter Urkunden
bey der Audienz und Fürtrag der Partheyen vor Rath gestan-
den, und den Stab auffrecht vorwerts gegen den Bürgermeistern
gehalten : nach beschehenen Fürtrag und Abtritt der Partheyen
und Heymbürgers hat ein Rath von den Sachen geredt . . .
Die hier gebrauchte Bezeichnung „ Heymbürger oder Haupt-
mann der Stadt“ ist wohl Übersetzung von „heimburgus seu
centurio villae.“ *) Diese Bezeichnung macht aber in hohem
Grade wahrscheinlich, dass wirklich im 12. oder 13. Jahrhun-
dert eine Bestimmung getroffen wurde, nach der ein Vertreter
der Specialgemeinden bei den vom Rat verhandelten Rechts-
sachen zugegen sein musste. Dagegen scheint es in keiner
Weise zulässig, mit Arnold9) und Liebe*) aus dieser Stelle der
Chronik zu schliessen, dass es in Speier im 14. Jahrhundert
einen „patricischen“ Heimburgen gegeben, „der als Ankläger
im Rath erschien und den Stab als Zeichen der Gerichtsbarkeit
führte.“ Zunächst will ja Lehmann a. a. O. die Zustände, die „seit
der Rat an Stelle der Gaugrafen herrschte,“ eingetreten waren,
schildern,9) hat also mindestens das 12. und 13. und jedenfalls
>) L. IV C. XV 8. 282.
*) Über den häufigen Gebrauch des Wortes centurio fttr den Heimbur-
gen (Zender) vgl. Lamprecht D. W. G. 8. 198 mit N. 2, auch Urk. v. 1292
in Anon. Bericht vom Adel in Deutschi. (Frankf. 1721) p 300: sub tes-
timonio Centurionum, qui vulgariter Hein be rger vocantur.
*) V. G. I 296.
•) 8. 60, 51.
•) 8. 282 : „Dieser Brauch ... ist von der Regierung der FrSnckischen
Könige und ihrer verordneten Regenten den Gaugrafen auf die neue Re-
gierung des Raths gepflanzt, .... Darbei es den Process etc.
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129
nicht das 14. Jahrhundert im Auge. Weit wichtiger ist aber
noch, dass die ganze Nachricht über die Herkunft des Gerichts-
heimburgen, wie aus der Form der Mitteilung hervorgeht, nur auf
Combination Lehmanns beruht. Danach hat diese Angabe, als
Ansicht eines in der zweiten Hälfte des 17. Jahrhunderts leben-
den Schriftstellers über bedeutend frühere Zustände, durchaus
keineu Quellenwert. Auch finden sich derartige Bestimmungen,
dass ein Beamter „adlig“ sein müsse, auch zur Zeit der aus-
gebildeten Geschlechterherrschaft in den mittelrheinischen Städ-
ten nirgends. Schwerlich wird man auch derartiges in irgend
welchen Gesetzen der übrigen deutschen Städte nachweisen
können, da die Bekleidung bestimmter Ämter wie die aus-
schliessliche Besetzung des Rats mit Mitgliedern bestimmter
Familien überall nur auf der gegenseitigen thatsäehlichen Unter-
stützung dieser Familieu, nirgends aber auf ausdrücklichen
Rechtsbestimmungen beruhte.
Was die dem Heimburgen zugeschriebene Rolle des Offi-
cialanklägers betrifft, so könnte man sich dafür- vielleicht, ausser
auf die schon wiedergegebene, auch auf zwei andere Stellen
Lehmanns berufen, deren eine Liebe im Zusammenhang mit der
oben mitge teilten bespricht.1) Nach dieser von Liebe besprochenen
Stelle2) hatte der Heimburge, weun jemand in der Stadt er-
mordet und der Thäter entkommen war, ehemals vor den
Schranken des dann versammelten Gerichts folgende Worte ge-
rufen : „Hör zu, die vier Richter von wegen Bürgermeister und
Raths der Stadt Speyr heischen Dich N. des Todtschlags hal-
ben, den Du freventlicher Weiss an N. begangen, zu erscheinen
und Dich dessen zu verantworten . .
Nachdem dann drei Termine vergeblich auf die Rückkehr des
flüchtigen Todschlägers gewartet war, wurde derselbe verurteilt
und das Contumacialurteil wieder vom Heimburgen verkündet.*) Es
ist oben gezeigt, dass dem Speierer Heimburgen im 14. und 15.
Jahrhundert die Einziehung der an die Stadt fallenden Geld-
>) s. 61.
*) Lehmann S. 289.
*) ibid: Dieweil N. auff der vier Richter Rufen nicht furkommen und
sich des freventlichen Todtschlags nicht öffentlich verantwort : So du dann in der
Stadt Speyr Zwingen, Bannen und Gebieten betretten, als dann solt du um
begangenen Todschlag gericht werden.
Koehne, Ursprung der Stadtverfassong in Worms, Speier and Kainz. S
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130
strafen oblag;1) ebenso, dass derselbe Beamte in dem benach-
barten Worms damals die Zeugenladungen zuzustellen hatte.*)
Beiden Funktionen entspricht doch vollkommen die Ladung des
Angeklagten vor Gericht, die, wenn derselbe nicht zu erreichen
war, am Gerichtsorte symbolisch geschah; aus dieser Ladung
konnte aber leicht auch die Verkündung einer in Abwesenheit
des Beklagten erfolgten Verurteilung hervorgehen.
In dem Heimburgen, der zur Zustellung der Ladungen und
Einziehung der Geldbussen ausgeschickt wurde, ist aber jeden-
falls der oben*) besprochene, vom Rat angestellte Beamte zu
finden. Seine mannigfachen Dienstleistungen sind überwiegend
niedriger Art; nur einzelne derselben tragen, weil aus älteren
Verfassungszuständen überkommen, einen höheren Charakter.
So kann mau doch auch aus der wörtlich wiedergegebenen
Stelle der Speierischen Chronik durchaus nicht schliessen,
dass der Heimburge ein Officialankläger gewesen. Für die
Anwesenheit des Heimburgen scheint uns die Erklärung am
einfachsten, dass man den gesetzlichen Vertreter der Special-
gemeinde des Klägers oder Beklagten gern zur Erreichung
grösserer Publicität des Processes beizog; auch später noch,
als die Heimburgenernenuung auf den Rat übergegangen und
die Beziehung dieses Beamten zu den Specialgemeinden ver-
wischt war, mochte man dann den Heimburgen den alten Tra-
ditionen gemäss zuziehen.
So hängt auch vielleicht die letzte Nachricht, welche die
Lehmann-Fuchs’sche Chronik4) über den Heimburgen giebt,
mit dessen alter Stellung zusammen. Hiernach soll nämlich der
Heimburge vor der Hinrichtung vom Rate zum Tode verurteilter
Personen sich noch formell nach dem Urteil erkundigen und
dann dasselbe publicieren. In dem Erfordernis besonderer
Bekräftigung der Rechtsgtiltigkeit der Urteile des Rats seitens
des Heimburgen mag eine den Specialgemeinden eingeräumte
Garantie gelegen haben. Doch darf nicht verschwiegen werden.
*) S. 126, 126.
*) 8. 119.
•) 8. 125.
*) 8. 291.
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131
dass hier möglicher Weise die ganze formelle Fragstellung und
Urteilsverkündung, die anderswo dem Scharfrichter oblag, dem
Heimburgen als niederem Ratsbeamten übertragen ist und über-
haupt nur dem mittelalterlichen Bestreben, die einzelnen Rechts-
akte möglichst sinnlich hervortreten zu lassen, ihren Ursprung
verdankt. Es kommt hier nur vor allem darauf an, die Grund-
losigkeit der Annahme Arnolds und Liebes nachzuweisen, dass
es zu Speier im 13. und 14. Jahrhundert einen von den üb-
rigen Heimburgen, die als Subalternbeamte im Dienste des Rats
zu bezeichnen sind, ganz verschiedenen Gerichtsheimburgen mit
dem Amte des Officialanklägers gegeben habe. Dieser Nach-
weis aber kann wohl als geführt gelten.1)
Damit sind auch für Speier alle Nachrichten über die
Heimburgen, die ehemaligen Vorsteher der Specialgemeinden,
erwähnt und nach Möglichkeit in ihrem gegenseitigen Zusammen-
hänge zu erklären gesucht. Es wird jedoch sowohl von Arnold*)
als von Liebe*) nach dem Vorgänge von Rau4) und zwar nicht
ganz mit Unrecht in die Besprechung der Speierer weltlichen
Specialgemeinden ein ursprünglich kirchliches Institut hineinge-
zogen, das der „Geschworenen zu der Gottes Ehe,“ d.h. zu Gottes
Gesetz.5) Es ist dies eine aus dem Dompropst und 12 Laien
bestehende Behörde, welche sich offenbar aus dem Sendgerichte
entwickelt hat. Das lässt sich am Namen, an der Zusammen-
setzung und den Competenzen erkennen, welch’ letztere weiter
unten ausführlich besprochen werden sollen. Was die Zu-
sammensetzung betrifft, so haben wir den Dompropst schon
') Der in einer von Haitaus (Gloss. Germ med. aevi 1758) s. v. heim-
burge p. 857 angeführten, aber seitdem übersehenen Urkunde von 1426 (Leh-
mann-Fuchs p. 299) auftretende Speierer Heimburge ist auch sicher nicht Of-
ficialankläger. Derselbe hat vielmehr, analog den in Ruprechts Privileg
für Worms erwähnten (s. oben S. 123 N. 4), Heimburgen einen der städti-
schen Commune auferlegten Parteieid zu schwören; es bandelt sich dabei um
einen Ersatzanspruch, den ein Edelknecht gegen die Stadt Speier seinem
Vater zugefügten Schadens halber erhoben hat.
*) II 454.
*) S. 61.
‘) H 8. 29.
•) fi = che-£wa Gesetz, cf. Brinckmeyer, Gosaar. diplom. I (Gotha
1856) S. 653.
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132
mehrfach als Leiter des Sendes kennen gelernt. Die Thätigkeit
der Laien im Sende war ursprünglich auf die Rügepflicht be-
schränkt und erst allmälig ist ihnen daraus an einigen Orten
auch Schöffenfunktion erwachsen.*) So sind auch die 12 Ge-
schworenen zu Gottes Gesetz ursprünglich Sendzeugen gewesen.
Es ist oben nachgewiesen, dass in Worms die Sendzeugenschaft
früh an ein aus den Heimburgen der einzelnen Stadtteile zusam-
mengesetztes Colleg gekommen ist ;!) ebenso auch, dass in Mainz
vorzugsweise die Heimburgen zu Sendzeugen genommen wur-
den.1) Dass derartiges auch in Speier vorgekommen, lässt sich
nach den vielfachen Ähnlichkeiten, die sich in der kirchlichen
und weltlichen Entwicklung der drei mittelrheinischen Städte
zeigen, wohl vermuten.
Doch gehen Arnold*) und Liebe5) entschieden zu weit,
wenn sie nun auch die Speierer Sendrichter einfach als Heim-
burgen ansehen. Es ist uns nirgends direkt die Identität von
Speierer Sendrichtern mit den dortigen Heimburgen bezeugt.
Ebensowenig berechtigt uns das vorliegende Material zu
der Annahme, dass die Zwölfzahl der Speirer Sendzeugen aus
einer Einteilung in drei geistliche Bezirke hervorgegangen, in-
dem, wie bei den 16 Wormser Sendzeugen, je vier aus jeder
Parochie genommen seien. Liebe5) giebt auf Zeuss6) gestützt,
der seine Angabe dem Speierer Chronisten Wolfgang Baur
(f 1516) entnommen hat, an, dass die eigentliche Stadt acht
Pfarrkirchen gehabt habe. Doch zeigt nach Liebe „die Lage
der drei Stiftskirchen in den drei Ecken der Stadt an, dass
sie die städtische Seelsorge unter sich teilten, bis die Menge
des Volkes eine Verkleinerung der Sprengel nötig machte.“ Es
lag jedoch zur Zeit Heinrichs III die St. Guidokirche noch
ausserhalb der Stadt.1) Ausserdem lag damals und so auch
') vgl. Dove in Herzogs Realencyklop. f. Theol. Bd. XTV s. v.
8. 122 n. 126, auch Dove in Ztschr. f. Krchnr. (1865) Bd. V S. 15 ff.
*) S. oben S. 116 ff.
*) 8. 102.
*) H 454.
•) 8. 61.
•) 8. 13.
T) Herimanni Ang. Chronicon SS V p. 127 Z. 14.
Send
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133
noch spater ausserhalb1) der Stadtmauern, aber in nächster
Nähe derselben, das Germanusstift. Neben den Capiteln des
Doms und denen der Guido- und Trinitatiskirche erscheint
aber auch dasjenige dieses Germanusstiftes regelmässig bei den
Streitigkeiten zwischen Clerus und Stadt,*) war also sicher lokal
im Machtbereiche derselben gelegen.
Weit besser als mit den später innerhalb der Stadtmauern ge-
legenen Stiftern lässt sich auch die Zwölfzahl der Geschworenen zu
Gottes Gesetz vielleicht mit derZwölfzahl der Speierer Pfarreien
in Verbindung bringen, welche im Jahre 1296 zu constatieren
ist. Damals *) wurde ein Ratsbeschluss, der gegen eine bischöfliche
Rechtshandlung Protest einlegte, vor den Plebanen der Pfarr-
kirchen „s. Mauricii, s. Stephani, s. Georii, s. Bartolomei, s.
Jacobi, s. Egidii, s. Petri, s. Marci et s. Martini,“ sowie vor
der Geistlichkeit des Doms und der Stifter St. Germanus, St.
Guido und St. Trinitatis verlesen. Da auch jedem dieser drei
Stifter Pfairrechte in einem bestimmten Bezirke zustanden, so
erhalten wir, abgesehen von dem Bezirke des Doms, welcher
wohl nur die Wohnungen der Geistlichkeit umfasste, zwölf
Pfarrbezirke ; ihre Zahl entspricht vollkommen der der Ge-
schworenen zu Gottes Gesetz.
Als Symptom dafür, dass diesen Pfarreien auch weltliche
Gemeinden entsprochen haben, kann vielleicht angesehen wer-
den, dass in einer Schenkungsurkunde des Jahres 1276 die Be-
merkung enthalten ist: actum et datum est in choro Spirensi
apud s. Stephanum.4) Auch mag an dieser Stelle erwähnt wer-
den, dass vielleicht in der Speierer Entwicklung die in der Nähe
des Rheins gelegene St. Georgspfarre eine ähnliche Rolle wie
in der Kölner die Martinspfarre gespielt hat.5) Wenigstens
scheint es so erklärt werden zu müssen, dass die durch Tod
oder Amtsniederlegung veranlassten Wahlen zum Rat gerade in
dieser Kirche stattfanden und dass gerade hier die neugewählten
Ratsherren vereidigt wurden.8)
*) cf. Boehmer Fontes II p 157 Z. 20 n die Karte bei Zeuss.
*) z. B. ü 106.
*) cf. U 188 p 148 Z. 27 ff.
4) U 129.
*) Vgl. Höniger Westd. Ztsehr, II S. 241.
•) ü 227 p. 178 Z. 10 ff cf. U 397 p. 326 Z. 33 und U 424 p. 375 Z. 14.
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134
Der Umstand, dass im Sendgerichte wahrscheinlich jede
Pfarre und damit wohl auch jede der weltlichen Specialgemein-
den durch je einen Laien vertreten war, mag dieser Behörde die
besonders weiten Competenzen verschafft haben, in deren Be-
sitze wir sie in Speier finden. Allerdings können diese Com-
petenzen des Collegs nicht so genau bestimmt werden, wie es
bei ihrer Ausdehnung erwünscht wäre. Für dieselben liegen
nämlich nur zwei Quellen vor.
Zunächst ist eine Bestimmung über den Eid, den die zwölf
zu leisten haben, erhalten; Hilgard hat dieselbe im Anhänge
seines Urkundenbuches veröffentlicht.1) Danach sollen die Zwölf,
die jährlich zu der Gottes Ehe gesetzt werden, schwören, bei jeder
Rüge, sowohl über Reiche als Arme, gerechte Richter zu sein
und ihnen selbst hinterbrachte Rügen nur dann bei Gericht vor-
zutragen, wenn der Rüger die Wahrheit seiner Anzeige durch
Eid versichere. Rau®) ist der Ansicht, dass dies von 1298 an
der Eid der Geschworenen gewesen sei. Abgesehen davon, dass
sich aus dem von Hilgard gegebenen Material kein Grund für
die Wahl gerade dieses Jahres erkennen lässt, scheint die Auf-
zeichnung überhaupt nicht den ganzen Eid der Geschworenen
geben zu wollen; sie enthält vielmehr wohl bloss einen, auf
besonderer Hinzufügung durch den Rat beruhenden, Teil des
Eides.
Aus der Aufzeichnung folgt zwar jedenfalls die doppelte
Stellung der Geschworenen zur Gottes Ehe als Schöffen wie als
Rügebeamte, die auch ihnen hinterbrachte Rügen vor Gericht
vorzutragen haben. Dagegen scheint es mir unrichtig, mit Rau
aus dem angegebenen Eideswortlaut zu schliessen, dass die Be-
fugnis der iurati ganz unbeschränkt gewesen sei.
Die städtische Gerichtsbarkeit stand damals teils dem
ganzen Rat, teils einem Ausschüsse desselben, dem Colleg der
sog. Monatsrichter, zu.*) Schwerlich wird im 13. und 14. Jahr-
hundert in Speier ein unter geistlichem Vorsitz tagendes Ge-
richt andere als die nach kanonischem Rechte sog. delicta mere
eccles. und delicta mixtae condicionis an sich gezogen haben.
‘) Sp. Urkb. p. 480.
•) n S. 29.
*) Arnold n 360.
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135
Die Beschränkung auf diese Delictsgattungen war wohl zu
selbstverständlich, um noch ausdrücklich erwähnt zu werden.
Dass dabei aber aus der Gerichtsbarkeit bei Rügen wegen
Meinkaufs auch in Speier weitgehende Consequenzen gezogen
wurden, ist aus dem zweiten Documente über die Funktionen
der Geschworenen zu der Gottes Ehe zu erkennen, welches in einer
von dieser Behörde im Jahre 1298 ausgehenden Verordnung
besteht.1) Es ist ein weitläufiger Erlass über Tuchfabrikation
und Tuchverkauf; seine zahlreichen Bestimmungen sind durch-
weg von dem Bestreben erfüllt, betrügerische Benachteiligung
des Käufers unmöglich zu machen. Desshalb war auch für das
Tuch, ehe es zum Walken kommen durfte, eine Schau angeordnet,
bei welcher ausser zwei Handwerksmeistern auch wenigstens
einer der Geschworenen selbst zugegen sein musste.*)
Inwieweit noch in Bezug auf andere Handwerke derartige
Besichtigungen stattfanden, lässt sich nicht ermitteln. Auch
ist es bei dem später in Speier herrschenden Zunftregiment
wenig wahrscheinlich, dass die Einrichtung dieser Waarenschau
seitens der Geschworenen zur Gottes Ehe lange Bestand gehabt.
Freilich war eine Anwendung der dieser Behörde einge-
räumten Befugnisse im Sinne einer der regierenden Stadtbehörde
fremden Wirtschaftstheorie schon durch den engen Zusammen-
hang zwischen beiden Collegien ausgeschlossen. Nach den, von
Hilgard herausgegebenen, Listen s) der Geschworenen zur Gottes
Ehe in der Zeit von 1343 — 49 gehören sie fast alle in den Jah-
ren, die ihrer Amtsführung vorhergingen und folgten, dem Rate
an.4) Wie dieser, so war auch ihr Colleg damals aus Mitgliedern
der Geschlechter und aus Handwerkern zusammengesetzt. Ob
in diesen fünfziger Jahren des 14. Jahrhunderts noch Beziehun-
gen in der Wahl der Mitglieder des Collegs der Geschworenen
zur Gottes Ehe und den einzelnen Speierer kirchlichen und welt-
lichen Teilgemeinden bestanden, ist nicht zu ermitteln.
Erwähnenswert scheint noch, dass in Speier die Vorstadt
*) U. 199.
*) ibid. S. 156 Z. 30 ff.
*) U 471, 478, 485, 493, 499, 511, 515.
4) Dass sich unter ihnen .auch die Bürgermeister und Herrn aus dem
sitzenden Bat befinden,“ wie Bau II S. 29 meint, ist wenigstens aus den
Listen, die Hilgard giebt, nicht zu ersehen.
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Hasenpfuhl ausschliesslich oder wenigstens so überwiegend von
Angehörigen ein und derselben Zunft, nämlich Schiffern und
Fuhrleuten (sog. Kärchera), bewohnt war, dass diese Zunft
geradezu als die der Hasenpfuhler bezeichnet wird.1) Diese
Vorstadt war aber der Pfarrsprengel der Magdalenenkirche;*)
aller Wahrscheinlichkeit nach bildete sie wie eine besondere
kirchliche, so auch eine besondere weltliche Gemeinde.3)
So bietet Speier hauptsächlich durch die Erwähnung der Heim-
burgen und einzelner ihnen in späterer Zeit obliegenden Pflich-
ten Stoff zur Beantwortung der in Betracht kommenden Fragen.
Freilich kann man aus diesen Thatsachen und ebenso aus der
Zusammensetzung des Sendgerichtes wesentlich nur in Folge der
analogen Verhältnisse in den beiden andern Eheinstädten auf
die Bedeutung der Specialgemeinden schliessen ; wichtiger ist
dagegen in dieser Beziehung das, im Anfänge der Untersuchung
nachgewiesene, Zusammenwachsen Speiers aus verschiedenen
Stadtbezirken.
Damit dürfte für die drei Städte, auf welche sich die
Untersuchung über die Specialgemeinden programmmässig be-
schränkt, das gedruckt vorliegende Material erschöpft sein.
Demnach darf nunmehr zwecks Zusammenfassung der gewonnenen
Resultate die Beantwortung der im Beginne des Capitels aufge-
stellten Fragen versucht werden:
1) Zunächst war für das Ziel der Forschung der Gesichts-
punkt als massgebend aufgestellt worden, möglichst genau fest-
zustellen, wann und wie die Specialgemeinden entstanden seien.
Zum ersten Male treten sie uns in Worms zur Zeit des Bischofs
Theodalach, also um die Wende des neunten und zehnten Jahrhun-
derts, in Mainz aller Wahrscheinlichkeit nach sogar noch früher,
nämlich um 815, entgegen. Funktionen, Namen der Vorsteher
und die ganze Geschichte der Specialgemeinden weisen gleich-
mässig darauf hin, dass sie aus den alten Geschlechts- und
Markverbänden , welche allmälig zu blossen Communal -Ver-
bänden geworden waren, organisch erwachsen und nicht zu ir-
gend welcher Zeit eingerichtet sind.
*) Kau II S. 3 u. 4, Mone Ztachr. XV S. 52, J. A. Weis« Zunftwesen
(Frnkf. 1798) S. 27.
’) vgl. Zcuss S. 13.
*) vgl. U 446.
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137
2) Von den beiden Mainzer Stadtteilen Vilzbach und Sel-
hofen und der, freilich nur in einem Fall überlieferten, Be-
nennung von Mainzer Stadtteilen nach nahe gelegenen Thoren
abgesehen, sind in unserer Überlieferung die Specialgemeinden
durchgängig nach den städtischen Pfarrkirchen bezeichnet. Es
fiel i. d. R. gewiss in Mainz und Worms, sowie wahrscheinlich
auch in Speier Kirchspiel und Specialgemeinde zusammen.
Wenn auch zugegeben werden muss, dass durch die kirch-
liche Einigung und die Beteiligung an der Kirchen -Verwaltung
das communale Leben in den Parochien gestärkt sein mag, so
sind doch diese kirchlichen Funktionen im Gemeindeverbande
weder die ursprünglichen noch die ausschlaggebenden gewesen.
3) In der Zeit des Übergangs zur Ratsverfassung scheinen
den Specialgemeinden in unseren Städten noch die Mehrzahl
der wichtigeren Funktionen der ländlichen Heimschaften und
Zendereien zugestanden zu haben. Wohl mochten sich damals
schon vielfach aus der Änderung des wirtschaftlichen Lebens
innerhalb der Gemeinden auch Änderungen und Abschwächungen
der Funktionen des Gemeindeveibandes ergeben haben. Doch
scheint es andrerseits sogar nicht an einzelnen Erweite-
rungen der Gemeindefunktionen gefehlt zu haben; eine solche
lag z. B. in der seitens einer Mainzer Specialgemeinde von den
geistlichen Behörden erkauften Erlaubnis bestimmter industrieller
Arbeiten an Feiertagen.
4) Das letzte der früher gestellten Probleme, die Ermitt-
lung der Beziehungen der Specialgemeinden zu den Standes-
und Statusverhältnissen, lässt sich aus dem vorliegenden Ma-
terial nur teilweis lösen. Eine gänzlich dem Hofrecht unter-
worfene Gemeinde ist uns in dem Mainzer Stadtteil Vilzbach
begegnet; für die anderen Specialgemeinden scheinen die alten
Statnsverhältnisse, entsprechend dem Zurücktreten und all-
mäligen Erlöschen des Unterschiedes zwischen den unfreien,
halbfreien und freien innerhalb der städtischen Bevölkerung,
keine Rolle gespielt zu haben. Es ist ja auch bekannt, dass
in einer Markgenossenschaft freie mit hörigen und unfreien
Genossen vereint sein konnten; von Maurer hat dies noch
besonders an einem Beispiel einer städtischen Markgenossen-
schaft erwiesen.1) Dafür, dass auch unsere Specialgemeinden
') StadtTerfassung I 8. 99, 100, vgl. im allgem. auch oben S. 87.
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138
gewiss i. d. R. Angehörige der drei Stände in diesem Sinne
enthielten, genüge es, auf die Zusammensetzung der städtischen
Bevölkerung im allgemeinen und die häufige Entstehung von
Unfreiheitsverhältnissen durch Selbsttradition einzelner au
kirchliche Anstalten hinzuweisen.
Als sich dann im 13. Jahrhundert der neue Gegensatz zwi-
schen der social abgeschlossenen Geldaristokratie und den Hand-
werkern ausgebildet, finden sich sowohl unter den Heimburgen,
den ehemaligen Vorstehern der Specialgemeinden, als in den
vorzugsweise mit diesen Beamten besetzten Sendgerichten, als
unter den mit der Steuerhebung in den Specialgemeinden be-
trauten Personen beide Classen der Bevölkerung vertreten.
Als Folge der völligen Unterwerfung der Specialgemeindeu
unter den Rat und des Aufhörens ihrer politischen und com-
munalen Funktionen erscheint es, dass später der Heimburge
in Worms und Speier zum blossen Ratsdiener wird; dass im
15. Jahrhundert ein gewissermassen als Stadtsyndicus auftreten-
der Beamter in diesen Orten Heimburge genannt wird, hat
dagegen höchst wahrscheinlich mit den Specialgeraeinden gar-
nichts zu tun.
Was das Verhältnis der Specialgemeinden unserer Städte
zu den Gewerbsständen (Ackerbau, Industrie, Handel) anbetrifft,
so scheint jedenfalls in der Zeit, aus der wir Nachrichten über
die Heimburgen in ihnen haben, die Urproduktion in rein länd-
licher Art wenig in Betracht gekommen zu sein. Dafür spricht
jedenfalls der Umstand, dass einer der in Dörfern und Acker-
baustädten am häufigsten erwähnten Funktionen des Heimbur-
gen, des Pfändens bei Flurschaden, in unseren Städten nirgends
gedacht ist. Dagegen weist manches darauf hin, dass die Spe-
cialgemeinden mit dem gewerblichen Leben in enger Beziehung
standen ; dazu gehörte die Bestimmung des Mainzer Dompropst-
weistums über die von den Specialgemeinden, in denen Darren
bereitet wurden, übernommenen Abgaben, die Bezeichnung einer
Speierer Zunft nach der Vorstadt Hasenpfuhl und endlich die
auch in unseren Städten oft vorkommenden Benennungen von
Strassen nach Handwerken.
Als wichtigstes Ergebnis des ganzen Capitels erscheint
nun jedenfalls die Darlegung der zeitlichen Priorität der Spe-
cialgemeinden vor der Ratsverfassung in unseren Städten ; also
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139
ein Resnltat, das dem, was Hoeniger nnd Liesegang in Köln,
Vollbaum in Erfurt gefunden haben, vollständig entspricht.
Wenn sich die Untersuchung jetzt nach Besprechung der
communalen den königlichen und bischöflichen Beamten in un-
seren Städten zuwendet, so wird sie dabei zugleich den Einfluss
feststellen können, den daselbst die in der ersten Hälfte des
Mittelalters massgebenden politischen Factoren, Königtum,
Kirche und Laienadel, ausübten. Nur werden in dieser letz-
teren Hinsicht die Verhältnisse vor und nach dem grossen
Zwiespalt zwischen Königtum und Kirche und dem ersten po-
litischen Auftreten der deutschen Städte besonders behandelt
werden müssen.
Capitel VT.
Bischöflicher und königlicher Einfluss in den Städten
bis zur Zeit Heinrichs IV.
Die Beamten.
Es ist oben gezeigt, wie unsere drei mittelrheinischen
Städte schon in der Regierungszeit der ersten Salier bedeutende
Handelsplätze geworden, und wie sich schon in dieser Zeit in
ihnen ein besonderer Kaufmannsstand entwickelt hatte. Durch
seine genossenschaftliche Organisation und seine Beteiligung
am Schöffengericht und Bischofsrat, sowie höchst wahrschein-
lich auch an den communalen Geschäften der Specialgemeinden
war es diesem, die Mehrzahl der Stadtbewohner umfassenden,
Stande gelungen, sich mannigfachen Einfluss auf Rechtsbildung,
Rechtssprechung und Verwaltung zu verschaffen. Bis zu den
Zeiten Heinrichs IV steht, soweit unsere Nachrichten reichen,
der städtische Kaufmann und Handwerker den politischen
Kämpfen in Deutschland fern , die wesentlich durch die
Gegensätze von Centralgewalt und Stammesunabhängigkeit,
von geistlichem und weltlichem Fürstentum bestimmt sind.
Unterdessen hatten die drei mittelrheinischen Städte in den
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140
durch diese Kämpfe sich lokal verschiedenartig gestaltenden
Entwicklungen dasselbe Schicksal, unter die, in der Bildung
begriffene, Territorialherrschaft ihres Bischofs, soweit von einer
solchen schon in dieser Zeit geredet werden darf, zu geraten.
Es kann hier natürlich die Entwicklung der Landesherr-
schaft, eine der wichtigsten, aber noch am wenigsten
erforschten Parthien der Deutschen Verfassungsgesckichte,1)
nicht im einzelnen verfolgt werden. Es würde selbst zu weit
führen, die ins 10. und 11. Jahrhundert fallenden Anfangs-
stadien dieser Entwicklung, welche auch allein die Probleme
dieser Arbeit berühren, einer ausführlichen Untersuchung zu
unterwerfen. Doch verdient hervorgehoben zu werden, dass
gerade in den Bischofsstädten, die sich zum grössten Teil der
fürstlichen Landeshoheit später am ersten entzogen haben, ge-
wisse Stufen ihrer Entwicklung zuerst zurückgelegt sind. Der
Grund der Ausbildung der ersten Stadien des geistlichen Terri-
torialstaates in vielen der damaligen bischöflichen Residenzen ist
sicher zum grössten Teil darin zu suchen, dass gerade hier die eine
der es zur Territorialbildung bringenden Gewalten, das kirch-
liche Fürstentum, sich dem hohen Laienadel gegenüber gänz-
lich überlegen erwies, während sonst besonders durch den Wider-
streit dieser beiden Mächte die Territorialstaatsbildung aufge-
halten wurde. Bereits zur Zeit der Völkerwanderung hatten
die Bischöfe in ihren Städten oft als Vertreter und Leiter der
*) Auch sie ist zwar neuerdings durch Lamprecht’sD. W. (s.IS. 1252 ff.)
erheblich erhellt worden. Doch liegen L.'s Untersuchungen, da er die Unter-
werfung der Städte unter Territorialherrschaft, sowie die aus den Reichsge-
setzen zu gewinnende Erkenntnis programm&ssig ausschliesst, den hier be-
handelten Forschungen fern. Auch Berchtold (Entwickelung der Landeshoheit
in Deutschland 1663) kommt für uns wenig in Betracht, da er seine Unter-
suchungen erst mit der Zeit Friedrichs II beginnen lässt. Ich brauche Übrigens
wohl kaum gleich an dieser Stelle zu betonen, dass, wenn auch im folgenden
von den ersten Stadien der Territorialherrschaft oder Landeshoheit der
Bischöfe in den Bischofsstädten gesprochen wird, diese in vieler Hinsicht nur
als königliche Beamte in ihnen regierten. Andrerseits wird ja doch kaum
bestritten werden können, dass mitunter die Bischöfe selbst sich, resp. die
Heiligen ihrer Kathedrale (vgl. Qierke II S. 528), schon als Landesherren
ansahen, cf. W. U 44 a. 1016: redacta Wormatia in potestatem beati Petri,
ferner aus späterer Zeit den Kölner Schied von 1258 (Lacomblet, Ukb. d.
Ndrrhns. II p 249 insbesondere: summa potestatis et re rum tarn in spiritua-
libus quam in temporaübus est d. archiepiscopi).
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141
eingesessenen Bevölkerung eine nicht unbedeutende Rolle im
politischen Leben gespielt.1) Dieselbe war im Merowingerreich
eher gestiegen als gesunken.2) Insbesondere sei an die gewal-
tige Ausdehnung des Kirchengutes, die geringe Bildung des
Laienstandes, welche die Zuziehung von Geistlichen bei allen
wichtigeren Regierungshandlungen notwendig machte, und den
Einfluss, welchen die Bischöfe seit der Annahme des christlichen
Glaubens als Lehrer desselben auch auf die Könige und die
germanische Bevölkerung gewinnen mussten , erinnert. Die
Verwaltungspläne des Karolingischen Reiches haben dann, auf
das Zusammenwirken der geistlichen und weltlichen Gewalt
berechnet, geradezu den Bischof neben dem Grafen zum Ver-
treter der kaiserlichen Autorität gemacht. Durch die Immuni-
täten wurde die unmittelbare Einwirkung des weltlichen
Beamtentums auf die Hintersassen der Kirche aufgehoben, wäh-
rend der Bischof nach wie vor auf die übrige Einwohnerschaft
durch geistliche und weltliche Mittel wichtigen Einfluss ausübte.
Dadurch, dass zu den Bischöfen übel-wiegend den ersten Ge-
schlechtern angehörige und bei Hofe einflussreiche Männer
gewählt wurden, standen die Vertreter der geistlichen Gewalt
in den Bischofsstädten zu den dort allodial angesessenen oder
mit Ämtern versehenen Adelsfamilien ganz anders als die ein-
fachen Landpriester, welche der Grundherr selbst oder seine
Hörigen eingesetzt hatten. Die das Reich erfüllenden Kämpfe
zwischen Laienadel und Geistlichkeit 3) wurden in den Bischofs-
sitzen, an denen sich mächtige Adelsfamilien befanden, am
erbittertsten geführt. Verschiedene Umstände verliehen hier in
der Regel den Bischöfen den Sieg. Zunächst sei daran
erinnert, dass die Vertreter der Kirchengewalt den sie befeh-
denden Laien oft geistig wie sittlich überlegen waren. Dann
sei auch noch der bekannten Tatsache gedacht, dass bis zu
') Loening Gesell. d. Kirchenrchts. IS. 314 ff., Hatch Grundlegung. d. Krchn.-
vrfssng. Westeuropas (übers, von Hamack 1888) S. 6.
*) Loening II 220 ff., Hatch S. 7, Waitz D. V. G. II. S. 67 ff.
*) Vgl. Nitzsck D. G. I 263 ff., 278, 279 etc., ferner den Brief des Erz-
bischofs Wilhelm von Mainz an den Papst Agapet (Jaflfö Bibi. III p 348:
Dux comesque episcopi, episcopus ducis comitisque sibi operam vindicat)
und die Schilderung in Bischof Salomo’s III von Constanz Gedicht (in Mit-
teiL der Antiqu. Gesellsch. in Zürich XII S. 230 ff. bes. S. 233 Vers. 117).
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142
den Zeiten Gregors VII. die deutschen Könige an den Bischöfen
eine wirksame Stütze gegen den unbotmässigen Laienadel fanden
und daher die Stärkung der Bischofsmacht als in ihrem eigenen
Interesse liegend ansahen.
Endlich kann noch, als zum Siege der geistlichen Gewalt
in den Bischofsstädten führend, die Erscheinung erwähnt wer-
den, dass die Herzöge und Grafen ihre Rechte in der Bischofs-
stadt oft gegen politische Concessionen oder im Tausch gegen
Besitzungen auf dem Lande aufgaben, während der Bischof das
lebhafteste Interesse daran hatte, alleiniger Herr seines Resi-
denzortes zu sein. So ist es wohl erklärlich, dass der Wider-
streit zwischen Bischofs- und Grafengewalt öfters damit endete,
dass das alte Grafengeschlecht alle seine Rechte am Bischofs-
sitze verlor und denselben überhaupt räumte. Doch ist es nicht
zu verkennen, dass sich dieser Entwicklung auch Gegentendenzen
entgegenstellten und sie wesentlich aufhielten oder gänzlich
verhinderten.
Zunächst litt das Bistum an der allgemeinen Schwäche
jedes Wahlfürstentums, den Beraubungen in den Interregnen
und gelegentlich zwiespältigen Wahlen. Ferner gab es auch
Bischöfe, welche wie z. B. der heilige Wolfgang von Regens-
burg,1) rein geistlich gesinnt, die Pflege des kirchlichen Lebens
nur durch geistliche Mittel erreichen wollten und in ihrer
mönchischen Richtung keinen Sinn für die Vorteile hatten,
welche weltliche Machtstellung ihren Bestrebungen gewähren
konnte. Endlich wurde die Superiorität der geistlichen Gewalt
in den Bischofsstädten auch dadurch zeitweise bedeutend be-
schränkt, dass die Machtmittel weltlichen Beamtentums und
eines ausgedehnten Grundbesitzes mehrere Generationen hindurch
bei ein und demselben willensstarken Adelsgeschlechte vereinigt
waren.
Solche Gegentendenzen machten sich auch in unseren Städten
bemerkbar, ohne dass aber dadurch in ihnen das angedeutete
regelmässige Ergebniss der Streitigkeiten zwischen Bischof und
Laienadel nicht zur Verwirklichung gekommen wäre. Wie
erbittert speciell in Speier der Kampf zwischen weltlichen und
geistlichen Grossen gewesen sein muss, lässt sich daraus
*) vgl. F. Gfrörer Ecgeaaburg S. 40.
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143
erkennen, dass dort im Jahre 913 ein Bischof namens Einhard
von den beiden Grafen Werner und Konrad des Augenlichts
beraubt wurde.1) Der Sohn dieses Werner nun, der als
Schwiegersohn Otto’s I. bekannte Konrad der Rothe, hatte im
Rheinischen Franken, gestützt auf allodialen Besitz im Speier-,
Worms-, Nahe- und anderen Gauen, sowie auf den Besitz der
Grafenwürde in mehreren derselben, eine herzogsähnliche Gewalt
erworben.*) Speciell in den beiden Bischofsstädten Worms und
Speier besass Konrad, abgesehen von der ihm als Grafen des
Gaus zustehenden Gerichtshoheit und Anführung im Kriege,
noch andere Rechte, welche wohl teils auf Grundherrschaft,
teils auf Usurpation oder besonderer königlicher Verleihung be-
ruht haben mögen.
Konrads Rechte in Speier erfährt man bei Gelegenheit
ihrer Abtretung an das Bistum, welche im Jahre 946, und
zwar im Tausch gegen verschiedene ländliche Grundstücke
stattfand.8) Danach besass er in der Stadt, abgesehen von den
schon erwähnten gräflichen Rechten, sowie einem Grundstück
und einer Anzahl Unfreier, noch folgendes:
1) Polizeigewalt gegen Diebe mit Anrecht auf das ge-
stohleue Gut, eine Befugnis, die wohl aus der Gerichtshoheit
entstanden ist.
2) Münze und Hälfte des Zolls (theloneum); die andere
Hälfte war nämlich schon früher an den Bischof übergegangen.4)
Unter Zoll ist hier nicht ein Passierzoll, sondern die übliche
Verkehrssteuer, „welche bei jedem Kaufgeschäft, in Gestalt
*) So Dümmler OstfirKnk. Reich Bd. in 8. 693. Nach Dümmler ibid.
S. 608 starb Einhard erst 918. Hingegen lassen ihn Giesehrecht D. 0. 1 8. 197
nnd Kernling Gesch. I 8. 227, 228 schon 913 getödtet werden. Ansser ans
den von Wimmler a. a. 0. für die Richtigkeit seiner Ansicht angeführten
Belegstellen ergiebt sich dieselbe anch ans den Beschlüssen der Synode von
Hohenaltheim im Jahr 916 (LL II p. 659 c. 31). Da hier den Verbrechern
ausser anderen Strafen auch die Leistung einer Geldhusse an Bischof Einhard
auferlegt wird, muss dieser doch damals noch gelebt haben.
*) vgl. Dümmler, Otto I 8. 101, 102, Köpke, Widukind (Berlin 1867) S. 124
— 126, Bresslau, Konrad II 8. 6 mit N. 6 nnd Waitz V. G. VH S, 98 N. 2.
*) Sp. U. 4.
4) medietatem thelonei, nam altera pars semper erat illius loci ponti-
ficum . . .
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144
einer Quote des Kaufpreises erhoben wurde,“ zu verstehen, wie
sich aus der Zusammenstellung mit der Münze ergiebt.1)
3) Die Abgaben der Fremden, welche den Speierer Markt
besuchten, insbesondere von Wein, Salz und Pech, wohl beson-
dere Zuschläge zu der erwähnten Verkehrssteuer, welche nur
den auswärtigen trafen.*)
4) Abgaben bei Ausfuhr von Waaren, welche indess von
einheimischen nur dann geleistet zu werden brauchten, wenn
sie zu Speculationszwecken Waaren ausführten.8)
Die Aufgabe dieser Rechte seitens Konrads des Roten
kann wohl damit in Verbindung gebracht werden, dass Speier,
') vgl. Rathgen, die Entstehung der Markte in Deutschland (D&rmstadt
1881) S. 6 und S. 44, 46, 47.
*) Nach MUDze und Zoll nennt die Urkunde noch salis denarium, quem
vulgus vocat salzfenninc, ac picis denarium, qni aliter dicitur Bteinfennmc,
atqne pro re denarium hoc est flichtifeuninc, ast namque vini denarium, qui
theutonica locucione amfenninc, que tarnen non ex habitatoribus illios civi-
tatis sed ab extraneis et de aliena patria venientibus diligenter sunt acqui-
renda. Aus dem Zusammenhänge ergiebt sich, dass es sich hier um eine
Abgabe beim Kauf und Verkauf handelt, nicht um Stenern, wie
Rau 8. ä, Remling Gesell. S. 233, auch nicht um Abgaben von eingeführten
Waaren wie Schaube S. 454 meint. Ampfennig ist Übrigens, wie schon Rem-
ling a. a. 0. erkannt hat, = Ohmpfennig (vgl. auch Kehrein, Samlng. alt-
und mittelhochd. Wörter in lat. Urk. Nordh. 1863 S. 22); es musste also von
jedem Ohm, dem bekannten Weinmass des Mittelalters (vgl. Lamprecht D.
W. II 510) beim Weinschank eine Abgabe an den Grafen, später an den
Bischof, geleistet werden.
*) Dies ist wohl der Sinn der Worte; ut quicqnid negotiatores, qui
aliunde ex diversig locis fluctivagando advenerint navesque suas cum vinifero
pondere vel aliqua causa onerare voluerint vel incolc civitatis lucrandi
gratia similiter exire templaverint, a nullo alio licencia est acqnireuda
nisi a solo pontifice illiusque ministris. Freilich ist, da die Überlieferung
der Urkunde nur auf einem Copialbuche beruht, die Richtigkeit dieser Stelle
wie die Echtheit der ganzen Urkunde nicht zweifellos, wenn letztere auch
sicher aus alter Zeit herrührt, (vgl. Waitz V. G. VIII S. 279 N. 6). Rau
S. 6 meint, dass es sich hier tun die Erlaubnis zur Umgehung der Zoll-
stätte gebandelt habe, zu welcher Auslegung jedoch gar kein Grund vorliegt.
Wenn Remling Gescb. I S. 234, Waitz a. a. 0. und Schaube Speier S. 454
dem Wortlaut der Urkunde folgend, das Recht, die Ausfuhr zu erlau-
ben, als Otto zustehend und von ihm übertragen ansehen, so ist doch vor
allem zu beachten, dass das Recht solcher Erlaubniserteilung damals rein fis-
calisch als Einnahmequelle für den erhebungsberechtigten gehandhabt wurde,
vgl. Rathgen (in dem N. 1 citierten Buche) S. 44, 46.
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145
wie früher erwähnt, erst seit (1er Regierung der Salischen
Herrscher einen lebhafteren Aufschwung nahm.1) So mochten
für den Grafen sowohl alle diese Verkehrsabgaben wie auch
seine Gerichtshoheit von wenig Ergiebigkeit sein, während es
für den Bischof höchst wichtig war, .jenes Grafengeschlecht,
das seinen Vorgänger des Augenlichtes beraubt und ihm selbst
jederzeit gefährlich werden konnte, ganz aus der Stadt zu
entfernen. Der Kaiser mag. obgleich der Vertrag nicht an
seinem Hofe geschlossen war, demselben doch nicht fern ge-
standen haben. Gerade Otto I. stützte sich ja damals vorzugs-
weise auf die kirchlichen Grossen und vermehrte ihre Macht
im Reichsinteresse.*) Andererseits hat doch wohl vornehmlich
Rücksicht auf den eigenen Vorteil, besonders die Absicht, seine
Besitzungen zu arrondieren, Konrad bestimmt, seinen ganzen
Besitzstand in Speier zu räumen. Nähere Betrachtung des
Vertrages von 946 lehrt nämlich, dass Konrad ausser seinen
Rechten und Besitzungen in der Stadt Speier auch 4 Hufen in
der villa Lusslieim, welche auf der rechten Rheinseite liegt,
abtrat und vom Erzbischof als Gegenleistung den Ort Röders-
heim, sowie Güter in Erpolzheim und Dürkheim empfing; die
drei letzteren Orte liegen sämmtlich im Wormsgau, im Vergleich
mit den von Konrad abgetretenen Besitzungen der lothringischen
Grenze nahe.*) Da Konrad, als 944 Herzog Gisilbert von Lo-
thringen und bald darauf auch dessen Sohn Heinrich gestorben
waren, das dortige Herzogtum erhalten hatte,4) musste ihm
eine Arrondierung seiner Besitzungen nach den diesem Lande
benachbarten Gegenden hin von besonderem Werte sein.
Im Jahre 969 gab Kaiser Otto dem Speierer Bistum
insofern indirekt eine Bestätigung der durch Tausch erworbe-
nen Rechte in seiner Residenzstadt, als er in einer Urkunde
dem dortigen Bischof Ottkar ausdrücklich das Recht verlieh,5)
dass in der civitas und der villa Spira niemand, sich auf Ottos
Befehl oder Erlaubnis berufend, Gericht halten oder juris-
») S. oben 8. 12—15.
*) vgl. Dftmmler Otto I 8. 532 — 534, Giesebrecht D. K. I S. 821, S
S. 330 ff., Nitach, D. G. I 8. 334.
*) vgl. Sprnner-Menke Handatlas Karte Nr. 34.
4) Dttmmler ibid 8. 131, Gieaebrecht D. K. I 8. 287, 288.
•) Sp. D. 5.
Ko eh ne, UrapranR der Ntadtverfasanng ln Worm», Speier und Mainz. 10
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dictionelle Zwangshandlungen vornehmen dürfe. Gemäss den
im ganzen Reich wachsenden Rechten der Bischöfe tritt in den
Bestätigungen dieser Urkunde durch Otto II., Otto III. und
seine Nachfolger1) an Stelle der villa Spira der circuitus extra
civitatem und dann die marca, quae eidem eivitati adiacens est.
In diesen Privilegien wird auch ausdrücklich untersagt, dass
in diesem speciellen Herrschaftsgebiet der Speierer Kirche irgend
jemand ausser dem Bischöfe und seinem Vogte Zoll, Münze
oder sonstige Einkünfte in Anspruch nehmen solle. So war
die Stadt Speier, dadurch, dass Konrad der Rote alle seine
Rechte in ihr aus Gründen seiner Hauspolitik aufgegeben,
unter die Herrschaft ihres Bistums gekommen. Wie weit diese
noch durch kaiserliche Reehte beschränkt war, wird weiter
unten erörtert werden.
Ähnlich wie in Speier ging die Entwicklung der Bischofs-
macht Uber die Stadt in Worms vor sich. Zunächst sind für
das Wormser Bistum einige Privilegien aus der Zeit der karo-
lingischen und ersten sächsischen Herrscher erhalten; in diesen
Urkunden wurden dem Bistum, abgesehen von der Immunität
seiner gesammten Besitzungen, auch königliche Grundstücke,
sowie zwei Drittel der Zolleinkünfte in der Stadt geschenkt.*)
Fenier hatten die Bischöfe schon damals zwei Drittel der
städtischen Gerichtseinkünfte zu erwerben gewusst; Otto II.
bestätigte dieselben 973 dem damaligen Bischof Anno zugleich
mit den übrigen Besitzungen und Rechten des Wormser Epis-
copats.*) Da diese beiden Drittel der Gerichts- und Zolleinkünfte
früher dem Könige zugefallen waren, war also die Macht des
*) Sp. ü. 6—10.
*) W. U. 12, 17, 28, 81, 32.
*) D 34. Dem Wortlaute nach werden hier dem Bischof schon die
ganzen Gerichts- and ZolleinkOnfte zugesprochen. Doch geht aus U 35 her-
vor, dass er 973 doch «ur '/» derselben besass. Der scheinbare Widerspruch
in den Bestimmungen der beiden Urkunden ist jedoch schon von Arnold V.
G. 1 31 durch die Erklärung gelöst worden, dass der königliche Fiscus schon
zur Karolingerzeit „von allen Gerichtsgefällen, Wetten, Bussen und sonstigen
Strafgeldern zwei Teile“ erhalten und dieser an den Fiscus fallende Anteil
von den Königen zuerst veräussert war. Das letzte Drittel hingegen fiel stets
an die Grafen und blieb ihnen auch in Worms so lange Vorbehalten, als ihre
ordentliche Jurisdiction dauerte, „da es gleichsam einen Teil ihrer Besoldung
ausmachte.“ (Arnold a. a. 0.).
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Gaugrafentums in Worms noch nicht beschränkt worden. Graf
des Wormsgaus war seit dem 955 erfolgten Tode Konrads des
Roten dessen Sohn Otto.
Welch bedeutende Machtstellung dieser Fürst gerade in
Worms, das den Mittelpunkt seiner Herrschaft bildete, gehabt
haben muss, geht daraus hervor, dass er von den Annalisten
und im Volksmund mehrfach als der Herzog von Worms be-
zeichnet wurde.*)
Im Jahre 979 übertrug nun Kaiser Otto II. auch das letzte
Drittel der Zoll- und Banneinkiinfte, das bisher diesem Otto,
seinem Vetter, zugestanden, an das Bistum.*) Demnach sollten
also alle Abgaben in der antiqua, der nova urbs und der villa
an den Bischof fallen, und niemand innerhalb der Stadt Gericht
halten, als wen der Bischof zum Vogt ernannt habe. Höchst-
wahrscheinlich war Herzog Otto durch königliche Concessionen
zur Zustimmung zu dieser, ihn beeinträchtigenden, Bereicherung
des Bistums bewogen worden.
Man wird wohl nicht fehlgehen, wenn man Ottos Einwilli-
gung zu der Verfügung des Königs damit in Zusammenhang
bringt, dass er ein Jahr vorher von diesem mit dem Herzogtum
Kärnthen belehnt war.*) Dass die Verleihung nicht gegen den
Willen Ottos geschah, geht deutlich daraus hervor, dass, als sie
985 im Namen Ottos III. von der damaligen vormundschaft-
lichen Regierung bestätigt wurde, dabei als Fürbitter neben
Willigis von Mainz auch Herzog Otto genannt wird.4)
Jedenfalls dauerte aber der Friede zwischen Otto und dem
Wormser Bistum nicht lange. Abweichend von der oben ge-
schilderten Entwicklung in Speier wurde bei der Überlassung
der Gerichtsbarkeit au den Bischof von Worms sein Resi-
denzort noch nicht von den Kouradiuern geräumt. Ihre Burg
in der Stadt hatten sie behalten ; 5) während Otto sich meist in
seinem Herzogtum Kärnthen aufhielt, scheint sein Sohn Kon-
*) Vgl. Breaälan in Forsch z. D. G. XIII S. 106, 107, Henner, Herzog-
liche Gewalt der Bischöfe von Wirzburg ( Wirz bürg 1874) S. 44, Waitz V. G.
TO 8. 98.
») U 35.
*) Oiesebrecht D. K. I 580.
4) ü 36: Vuilligiso et Ottone ilnce subuixi« precibu» adhortantibus.
•) S. S. IV p 835 c. 7.
io*
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148
rad dauernd in Worms geweilt zu haben. Mit Hildibalds zweitem
Nachfolger Burchard (996 — 1025) finden wir nun Otto und Kon-
rad in erbitterten Streitigkeiten. Wahrscheinlich waren die-
selben dadurch hervorgerufen, dass die Konradiner ihre Rechte in
der Stadt wiederzugewinnen suchten, während der Bischof auch
ihre Burg seinen Gesetzen unterwerfen wollte. Es ist wohl
nur ein Zeichen der durch diese Kämpfe erzeugten Erbitterung,
dass in der Vita Burchardi Konrad und Otto geradezu als An-
führer von Räubern und Wegelagerern geschildert werden.
Dagegen ist glaubwürdig, dass die Konradinische Burg allen,
welche sich gegen den Bischof vergangen hatten, sichere Zu-
flucht bot.1) Die erwähnte Biographie des Wormser Bischofs
berichtet auch von zahlreichen Ermordungen und Todtschlägen,
welche durch den Kampf der Konradinischen und der bischöflichen
Partei in der Stadt veranlasst wurden.*) Der Bischof Hess zu-
letzt, um sich und seine Anhänger zu sichern, auch seinen Hof
mit einer Mauer umgeben. So war die Stadt gewisser Massen
in zwei „feindliche Heerlager“ geteilt.*)
Erst kurz vor dem Ende der Regierung Ottos III. wurden
diese Streitigkeiten beigelegt;4) nach dem Tode dieses Herr-
schers hätten aber die allgemeinen politischen Verhältnisse die-
sen Bürgerkrieg leicht von neuem anfachen können, während
sie freilich deD Anlass zu seiner gänzlichen Beseitigung gaben.
Bei den damals entstehenden Thronstreitigkeiten trat näm-
lich Otto von Kärnthen, dem selbst die Krone angeboten ge-
wesen, für Heinrich II. ein;*) hingegen ergriff Konrad die
Partei seines Schwiegervaters, des Herzogs Hermann von
Schwaben.6) Burchard scheint sich anfangs ab wartend verhal-
ten zu haben. Als dann aber Heinrich nach dem Mittelrhein
kam, traten Erzbischof Willigis von Mainz und Bischof Bur-
chard von Worms unter der Bedingung auf seine Seite, dass
er das Wormser Bistum in Besitz der Burg der Konradiner in
') ibid.
’) ibid.: ob hoc obtruncationea et homicidia multa ex utraque parte
bebaut.
•) So Arnold V. G. I S. 43.
*) Vita Burchardi c 8 (S. S. IV p 836.)
*) Oieaebrecht D. K. II 16, Hirsch HeinHch II Bd. I S. 193.
*; Gieaebrecht a. a. 0., Hirach ibid. S. 207.
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149
Worms setze, und somit dies Geschlecht zttm Verlassen der
Stadt nötige.1)
Als Heinrich sich in der Zeit von Juni bis Oktober 1002 all-
seitige Anerkennung errungen, gelang es ihm auch, dies Ver-
sprechen, an das er von Burchard fortwährend erinnert wurde,
zu erf üllen. Otto liess sich bereit finden, gegen die Abtretung
des Königshofs Bruchsal und anderer Güter, sowie einer, von
Bischof Burchard selbst gezahlten, Geldsumme sein gesammtes
Allod in Worms dem Könige aufzulassen, der es dann dem
Bischof verlieh.*) Vielleicht zeigte sich Otto deshalb zu diesem
Tausche bereit, weil wohl gerade auch in diesen Tagen der
König Ottos Sohne Konrad den Anschluss an Herzog Hermann
verzieh.*)
So war jetzt das Konradinische Grafengeschlecht aus Worms
ganz so wie früher aus Speier verdrängt worden. Dem Bis-
tum war es durch erfolgreiche Politik und Abtretung ländlicher
Besitzungen gelungen, die Amtsrechte und Allodien der Grafen
zu erwerben.
Bemerkenswert ist die Bedeutung, die Burchard selbst
diesem Ereignisse beilegte, indem er der Pauluskirche, welche
er an Stelle der sofort niedergerissenen Burg bauen liess, die
Inschrift gab: Ecclesia ob libertatem civitatis.4) So fasst auch
einer der bedeutendsten zeitgenössischen Chronisten, Thietmar von
Merseburg, dies Ereignis nicht nur als Vorteil für den Bischof,
sondern auch als Befreiung der Stadt auf4) und ähnlich wird
es auch in der Biographie Burchards bezeichnet.*) Giebt dies
alles auch nur die Anschauung des geschehenen Ereignisses
vom geistlichen Standpunkte, so hätte dasselbe doch nicht der-
*) Vit* Bnrchardi c 9 (p 836.)
*) Die Thatsache der Abtretung und Verleihung der Burg ergiebt sich
aus TJ 39 u. Vita Bnrchardi c 9, ans letzterer auch, dass der König an Otto
den Hof Bruchsal abtrat. Dass zugleich der Bischof an Otto eine Geldsumme
sahlte, ergiebt sich aus den Worten von D 43: quam ego prediis meis et
peeunia a duce Ottone redemi.
*) Damals wurde auch zwischen Hermann und Heinrich Friede ge-
achloesen. Hermann musste dem Strassburger Bischof ähnliche Concessionen
machen, wie die Konradiner dem Wormser vgl. Hirsch Heinrich II Bd. I S. 299.
*) Vita Burchardi c 9 (p 837), cf. auch U 43 (s. oben N. 2.)
*) 8. S. m 804 Z. 20 ff., vgl. Arnold V. G. 146, Hirsch Heinrich II Bd. 1 3. 488.
*) c. 9: ita Wormatia iniqno servitio über ata est.
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150
art betrachtet werden können, wenn es Unterwerfung der freien
Stadtbewohner unter bischöfliches Hofrecht nach sich gezogen
hätte. Es scheint angebracht dies hier ausdrücklich hervorzu-
heben, weil noch kürzlich Kruse in seiner Verfassungsgeschichte
Strassburgs *) eine, der besprochenen Wormser ganz analoge Ver-
stärkung der Strassburger bischöflichen Herrschaftsrechte als
Ursache der angeblich später hervortretenden Hörigkeit der ge-
sammten Einwohnerschaft charakterisiert hat.
Dass freilich, seitdem 979 und 1002 in der Stadt Worms
die Allodien und Regierungsrechte des Grafen mit der geist-
lichen Gewalt und dem Vermögenscomplex der Kirche vereinigt
waren, diese zwischen dem einzelnen und dem Königtum ste-
hende Macht bedeutender wachsen konnte, als wo sich Bischof
und Graf oder Herzog gegenüberstanden, und jeder von beiden
die königliche Unterstützung für sich erlangen wollte, ist selbst-
verständlich. Zwar fehlte es, wie wir sehen werden, auch
noch nach 1002 in der Stadt Worms nicht an Streitigkeiten
zwischen Bistum und Laienadel. Das Seltenerwerden derselben
war aber gewiss schon in wirtschaftlicher Hinsicht für die
Städter, insbesondere für die kaufmännische Bevölkerung, als
Glück zu betrachten.
Wohl wurden wie oben") gezeigt, z B. in der Frage, ob
Zweikampf oder Eid als Beweismittel vorzuziehen sei, die
kaufmännischen Interessen vom Bischof bisweilen gänzlich
verkannt; dennoch durften sie immer noch bei ihm auf weit
mehr Unterstützung und Verständnis als bei dem damaligen
Laienadel hoffen. Verfassungsrechtlich hatte die Vermehrung
der Bischofsrechte keine Herabdrückung der noch freien Ein-
wohner ins Hofrecht, sondern vielmehr nur die Ausbildung
eines selbständigen geistlichen Territoriums zur Folge. Es ist
ja auch schon oben*) gezeigt worden, wie Bischof Burchard
1024 nicht alle Stadtbewohner zu seiner familia zählt, durch
die Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse aber damals die
alte Unterscheidung in Freie und Unfreie schon im Erlöschen
ist. Mit dem Übergang der gräflichen Rechte und Allodien hat
*) S. 4 — 6.
*) S. 17—22.
») S. 32, 33, 8. 40 ff.
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161
diese Erscheinung freilich sehr wenig zu tun. Ehe dies aber
insbesondere durch Feststellung der Thätigkeit und Herkunft
der Beamten, welche sich nach dem besprochenen Ereignis in
Worms finden, erläutert werden kann, muss noch ein Blick auf
die dritte der behandelten Städte, auf Mainz, geworfen werden.
Hier finden wir im zehnten und elften Jahrhundert dieselbe
bischöfliche Herrschaft wie in Speier und Worms, während wir
allerdings über die Entwicklung derselben weniger unter-
richtet sind.
Dass fiskalische Einkünfte auch in Mainz schon früh an
den dortigen Erzbischof übergegangen sind, lässt sich ans einer
Urkunde Ottos II. von 975 schliessen, in welcher dieser dem
Mainzer Erzbistum unter anderen Verleihungen seiner Vorgänger
auch monetas und thelonea bestätigt.1) Es ist ja höchst un-
wahrscheinlich, dass, wenn das Mainzer Erzbistum überhaupt
schon im Besitz derartiger königlicher Einkünfte gewesen, ihm
nicht auch die seiner Residenzstadt überwiesen seien. Dass
aber damals die ganze Grafengewalt in Mainz schon au den
Erzbischof gekommen war, ist mit Recht allgemein1) aus der
oben besprochenen Urkunde Ottos II. für Worms von 979 ge-
schlossen worden.*) Hier ist nämlich gesagt, dass der Worm-
ser Bischof alle Zoll- nnd Gerichtseinkünfte seiner Residenzstadt
erhalten und diese unter der alleinigen Jurisdiktion seines
Vogtes stehen soll, ganz wie es bei den Erzbischöfen von Köln
und Mainz der Fall sei. Demnach existirte also auch in letz-
terem Orte keine von der Kirche unabhängige Grafengewalt
mehr. Ob sich die Herrschaftsrechte der Konradiner früher
auch auf Mainz erstreckt und dies Geschlecht auf seine dortigen
Rechte ebenso wie in Worms und Speier ausdrücklich verzichtete
oder ob vielleicht ein dort waltender Graf in Abhängigkeit von
der geistlichen Gewalt trat, indem er die Vogtei von ihr zu
Lehen nahm,4) muss unentschieden bleiben. Dass aber in Mainz
im elften Jahrhundert ganz ähnliche Verfassungsverhältnisse,
*) Stumpf 641, Guden Cod. dipl. I p. 7.
*) Arnold V. G. I 32, Bockenheimer S. 5, Hegel S. 18.
•) W. U. 36.
*) Derartiges vermutet für Basel Heusler, Vrfssugsg. d. Stadt Basel
S. 21, 26 — 35, und weist ftlr Verdun Wait« nach (V. G. VII 46).
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152
wie in unseren anderen beiden Städten herrschten, lässt sich
aus einem Vergleich derselben erkennen. Ein näheres Eiugehen
auf die bischöflichen Beamten in unseren Städten in der Zeit
der bischöflichen Machthöhe in ihnen erscheint auch um so
mehr angebracht, als sich daraus ergiebt, dass mit dem Weg-
züge des alten Grafengeschlechts die Reibungen zwischen Laien-
adel und geistlicher Gewalt noch nicht aufhörten; ferner, was
noch viel wichtiger ist, dass durch die Ottonischen Privilegien
kein Ausscheiden der Stadt aus dem sie umgebenden Lande
in der Rechtssprechung und noch weniger eine völlige Lösung
der unmittelbaren Beziehungen der Einwohner zu dem Reichs-
oberhaupte stattfand.
Zugleich kann auch dadurch das viel behandelte Problem
des Ursprungs und der Bedeutung der Burggrafen seiner Lö-
sung näher geführt werden, da diese schon als die höchsten
und wichtigsten Beamten in unseren drei Städten eine beson-
dere eingehende Besprechung verlangen.
Der erste Gelehrte, welcher der Frage nach dem Ursprung
des Burggrafenamts nachgegangen ist, Gau pp,1) erklärte be-
kanntlich die Burggrafen für „gewöhnliche Gaugrafen mit der
rein faktischen Eigentümlichkeit, dass ihr Gau einzig oder doch
hauptsächlich in einer Stadt bestand.“ Darin mit ihm wesent-
lich übereinstimmend, war Arnold in seinersehr ausführlichen
Untersuchung über die Burggrafschaft*) doch auch zu dem
Ergebnisse gekommen, dass der Burggraf nur in mit Pfalzen
versehenen Städten sich finde und der in diesen „vom König
gesetzte eigentümlich städtische Richter für Freie“*) sei.
Wichtig ist auch, dass er gegen Eichhorn,4) welcher die
Immunitäten als den Grund der Exemtion der Stadt von der
Landschaft erklärte, diese Exemtion schon in der Errichtung
der Stadtgrafschaften fand, welche er in unseren Städten noch
in die karolingische Zeit hinaufreichen liess.8)
') Über deutsche Stildtegrflndtmg, Stadtverf. n. Weichbild (Jena 1824)
bes. S. 55 n. S. 258 ff.
*) V. Q. I S. 76—128.
*) s. bea. S. 122.
4) Ztschrft fllr gesch. Rchtwssnuclift, I 8. 147—247. insbes. 230—232.
D. B. O. (5. Auli. 1843) II § 224 a.
*) & 122, 183. 129, 130.
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168
Gegen diese Auffassung hat dann Hegel1) verschiedene
Bedenken geltend gemacht, die namentlich darin gipfeln,
dass in Magdeburg, Augsburg und Nürnberg die Beamtung des
Burggrafen entschieden nicht aus einer älteren Gau- oder Stadt-
grafsehaft stammt
Noch weiter entfernte sich dann von der Theorie Gaupps
und Arnolds Nit zsch in den einschlagenden Stellen von „ Minis te-
rialität und Bürgertum.“ *) Er erklärte die Burggrafschaft für
eine, in der spätkarolingischen Zeit entstandene, Pf&lzbeamtung,
welche durch die erhöhte Bedeutung der Städte und den wachsen-
den Wert derselben für das königliche Finanzwesen hervorgerufen
sei. Zu ziemlich ähnlichen Resultaten war auch der gerade
hierin wohl beachtenswerte Gfrörer*) gekommen, welcher den
Ursprung der Burggrafschaft teils in den sächsischen Burg-
wardien, teils in dem von den deutschen Königen in Rom ein-
gesetzten pr&efectus urbis fand ; in den Burggrafen der Bischofs-
städte sah er königliche Beamte, welchen angeblich besonders
die Überwachung der Bischöfe oblag.
Die grosse Unwahrscheinlichkeit der Theorie von Nitzsch
ist von Hensler6) mit sprachlichen*) und geschichtlichen6) Be-
weisgründen dargetan worden, wobei mittelbar auch ein Teil
der Gfrörerschen Aufstellungen sich als unrichtig herausstellt.
Nach Hensler ist der Stadtgraf wie der Gaugraf Organ der
Reichsregierung, nur dass er statt einem Gau einem städtischen
Bezirke vorgesetzt ist. Andrerseits gelangte nach Hensler gerade
der Burggraf vielfach durch die Ottonischen Privilegien in eine
doppelte Stellung, da er zugleich bischöflicher Beamter für Aus-
übung der Gerichtsbarkeit und königlicher für Überwachung
der noch übrig gebliebenen Pfalzeinkünfte wurde.7) Im übrigen
betonte Hensler, dass man kaum fehlgehen wird, wenn man
für die Burggrafschaften einen gleichen Ursprung wie für die
anderen, innerhalb der alten Gaue entstandenen, kleineren Graf-
•) Allgemeine Monatsschrift 1864 S. 164 — 167.
*) S. 144—163.
*) Gregor VII Bd. VII S. 249 ff.
4) Ursprung 8. 52 — 87.
‘) s. bes. S. 53, 54.
*) 8. 56 ff
’) 8. 72.
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164
schäften annimmt, und dass demnach das Verhältnis der burg-
gräflichen Städte zur Gaueinteilung im einzelnen festzustellen
sei. So verwies schon Heusler für diese Frage auf eingehende
Detailuntersuchung. Den Heuslerschen Resultaten schloss sich
auch der Altmeister der deutschen Verfassungsgeschichte, Georg
Waitz, in seiner, an Vorführung von Quellenstellen ausser-
ordentlich reichen Untersuchung über das Burggrafeuamt,') an;
dabei bemerkt er jedoch, es sei kein Grund anzunehmen, dass
„der Burggraf jemals zugleich bischöflicher Beamter für die Ge-
richtsbarkeit, königlicher für Überwachung von Pfalzeinkünften
gewesen.“ *)
So hat sich also Waitz eigentlich ganz für die alte Gaupp-
sche Ansicht erklärt und nicht nur die Aufstellungen von Nitzsch
und Gfrörer, sondern auch die Modificationen, mit welchen diese
Ansicht von Arnold und Heusler angenommen ist, verworfen.
Dagegen hat sich neuerdings wieder Lamprecht*) der von Nitzsch
vertretenen Auffassung der Burggrafschaft angeschlossen, ohne
aber selbst die Frage endgültig entscheiden zu wollen. Um so
wichtiger ist es, durch Specialuntersnchungen die Burggraf-
schaften in den einzelnen Städten zu erforschen, um den Ur-
sprung und die Entwicklung dieses, für die Verfassungsgeschichte
so wichtigen, Amtes allmählich klarzulegen.
Als sicheres Ergebniss derartiger Specialuntersuchungen kann
schon jetzt angesehen werden, dass ein in den Quellen erwähnter
comes einer unter bischöflicher Regierung stehenden Stadt unter
Umständen durchaus nichts mit dem alten Gaugrafen zu tun
haben kann und ebensowenig immer für einen Burggrafen zu
halteu ist. Dies geht insbesondere aus den recht instruktiven
Forschungen Schoops über Trier*) hervor, dessen angebliche
Burggrafen vielfach mit den alten Gaugrafen in Verbindung
gebracht sind.6) Hier wurde in der Mitte des elften Jahr-
hunderts, nachdem bis dahin lange Zeit nur ministerielle Vögte
existiert hatten, in Folge der Bedrohung des Erzbistums durch
die Luxemburger ein mächtiger Graf der Umgegend, Theodorich,
*) V. G. Bd. VII S. 41 ff.
») S. 42 N. 1.
») D. W. I S. 1368—71.
‘) S. 66-162.
*) rgl. i. B. Heusler Urapr. S. 67.
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166
mit der Vogtei des Erzstifts betraut. ') Obgleich dieser Theo-
dorich bei gleichzeitigen Schriftstellern auch als comes de militia
Trevirorum, ja als comes Trevironim bezeichnet wird*), so stand
er doch nach Schoop*) durch seine Eigenschaft als Schirmvogt
des Bischofs noch in gar keiner näheren Beziehung zur Stadt
als zu dem übrigen erzstiftischen Gebiete. Vollkommen von
dieser Schirmvogtei über das Bistum, die ihren Inhaber fälsch-
lich als Grafen von Trier erscheinen lässt, zu trennen, ist die
Trierer Burggrafschaft, in deren Besitz wir zwischen 1129 und
1140 einen bischöflichen Ministerialen Ludwig finden, die aber
sonst nicht erwähnt wird.4) Dieser Ludwig hatte sich durch
persönliche Tüchtigkeit während zweier schwacher bischöflicher
Regierungen der Stadtherrschaft bemächtigt und sich selbst den
Titel pr&efectus nrbis gegeben.
Wie in Trier, so hat auch in Strassburg die Burggrafschaft
mit der alten Gaugrafschaft garnichts zn tun, vielmehr scheint
hier nach den Untersuchungen Kruses der Name einfach von
auswärts auf einen „städtischen Polizeimeister des Bischofs*
übertragen.5) Zu entgegengesetztem Resultate führte die Special-
forscbung bei Regensburg, an welchem Orte das Amt des Burg-
grafen gerade zuerst in bestimmter Ausbildung entgegen tritt*)
Betreffs dieses Ortes sprach sich nämlich F. Gfrörer ’) ganz im
Sinne der alten Gauppschen Theorie dafür aus, dass daselbst
der Burggraf der Nachfolger des früheren Gaugrafen sei.
Suchen wir nun für unsere drei Städte das erste Vorkommen
der Burggrafen festzustellen. Für Worms lässt sich die Existenz
deiselben am frühesten, nämlich schon 1014 und 1016, con-
') Schoop S. 87—95.
*) S. 88.
*) S. 93—95.
«) S. 96—99.
*) 15 — 18. Ebenso hat sich neuerdings durch Specialforschung ergeben,
dass i. Ggstx. zu der noch von Heu »1er Ursprung 8. 63 vertretenen Anschauung
in Corvey und den anderen westfälischen Städten kein Zusammenhang «wi-
schen StadtgTafentum und Gaugrafentum besteht s. Lüvinson, Beitr. «.
Vrfssngsg. d. Westf. Reichsstiftastädte (Paderborn 1889) namentl. 3. 40 ff.,
44 ff., 76 ff., 126.
•) Vgl. Waitt V. G. VII S. 43.
*) 8. 31 ff
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166
statiren'); in Mainz ist ein Burggraf zuerst zur Zeit des Erz-
bischofs Bardo (1031 — 61)*), in Speier dagegen erst 1101
ausdrücklich bezeugt.8) So fällt denn das Schwergewicht der
Untersuchung nach dem Ursprünge der Burggrafschaft auf
Woi-ms. Hier wurde 1016 dem „comes civitatis“ jegliche Amts-
handlung in der Umgebung der damals errichteten Kirche St.
Paul untersagt.4) So hatte also auch nach dem Wegzuge der
Konradiner ein Graf Gewalt in der Stadt.
Diese Thatsache geht auch aus der viel besprochenen Ur-
kunde Kaiser Heinrichs II vom Jahre 1014 5) hervor, welche er
für Bischof Bnrchard von Worms auf die gemeinsame Beschwerde
der Bischöfe nnd Äbte seiner Provinz ansstellte. Hier wird,
ohne dass von irgend einer Beschränkung auf städtisches oder
nichtstädtisches Gebiet die Rede ist, gesagt, dass alle Personen,
die zur familia des Wormser Bistums gehören, für innerhalb
der familia verübte Verbrechen nur dem Vogte zum Vorteile
des Bischofs Busse zu leisten haben.
Bei Vergehen gegen Auswärtige sollen sie vom Vogte vor
dem Grafen vertreten werden. Dem Grafen sollte eine direkte
Gewalt über Leute der Kirche nur dann zustehen, wenn sie
im echten Ding von den Schöffen verurteilt würden ; auf hand-
hafter That ergriffene Diebe sollte er bis zum nächsten Gerichts-
tage in Gewahrsam halten dürften. Es ist möglich, dass da,
wie später gezeigt werden wird, Burggraf und bischöflicher
Vogt damals in der Stadt dieselbe Person waren, diese
Bestimmungen sich nur auf die ausserstädtischen Hö-
rigen beziehen mochten. Anders aber steht es mit der letzten
Verordnung unserer Urkunde.
*) W D. 42 u. 43 vgl. unten.
*) Hegel S. 20, vgl. auch S. 27, 28.
*) Sp. ü 13.
4) U 43. Über die Echtheit dieser Urk. vgl. oben S. 104 N. 1. Jedenf&Il Ist
die Frage, ob die Worte der Urkunde: „Infra hunc terminnm nec coues
civitatis nec aliqnis iudex aliqoid agere vel exigere praesumat" dem Anfänge
des 11. oder 12. Jahrhunderts angeboren, deshalb von wenig Belang, weil die
Existenz von dem Bischof unterstehenden Grafen im Beginn des 11. Jahr-
hunderts sich schon aus der sogleich zu besprechenden Urkunde von 1014 (U
42) ergiebt.
s) U 42 vgl. Arnold V. G. I 46, 47, Nitzsch Ministerialitit 219, 220,
Hensler Ursprung S. 39 — 41 Schaube Worms S. 258.
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157
Nach derselben hatten sich nämlich der Bischof and die
übrigen Geistlichen ganz besonders darüber beklagt, dass die
Grafen unrechtmässiger Weise 60 sol. als Gewedde zu fordern
wagten. Der gräfliche Bann wurde daher auf 5 sol. ermässigt;
60 sol. sollten nur in den Städten des Staats (publicae civi-
tates) erhoben werden.1)
Die Erhöhung des gräflichen Banns,*) der nach fränkischem
Recht 15 sol. betragen,*) auf 60 also die Höhe des Königsbanns,
hängt mit der allgemeinen, auch in Italien*) zu constatierenden
Entwickelung zusammen. Gerade in den Städten musste schär-
fere Bestrafung auch der geringeren Vergehen vielfach heilsam
scheinen. Andrerseits suchten natürlich die Bischöfe ihre
Hintersassen gegen solche Erhöhung der gräflichen Strafen zu
schützen, und der Kaiser sah sich daher gezwungen, diese für
die nicht direkt unter dem Reich, sondern unter einem Bischof
stehenden Städte auszuschliessen. Worms wird also in dieser
Urkunde, wie meiner Ansicht nach entschieden mit Hegel*) und
Waitz6) angenommen werden muss, nicht mehr als civitas pu-
blica angesehen. Gerade aus diesem letzten Teile unserer Ur-
kunde ergiebt sich, dass sie sich nicht nnr auf die ländlichen
Besitzungen des Wormser Bistums,7) sondern vor allem auch
auf die Stadt bezog. Demnach gab es auch hier wieder einen
Grafen und zugleich sind Streitigkeiten zwischen Bistum und
Laienadel in der Stadt trotz des 12 Jahre vorher erfolgten
Wegzuges der Konradiner von neuem bezeugt. Jedoch ist der
Umstand, dass Worms nicht mehr zu den civitates publicae ge-
*) Illos vero LX solidos, qnos usque nunc iniusta et irrationabili lege
receperunt, omnino interdicimus nisi in pubücis civitatibus.
*) Bekanntlich tritt vielfach schon in karolingischer Zeit der Bann,
d. h. die gegen bestimmte Verordnungen verwirkte Strafe des Amtsrechts, an
Stelle des volksrechtlichen Geweddes; so kbnnen für das spatere Mittelalter
beide Aasdrücke synonym gebraucht werden, vgl. Sohm, Fränk. Reichs- und
Gerchtsvrfssng. 8. 178.
*) vgl. Sohm G. V. S. 176, Schroeder R. G. S. 130.
4) Ficker Forsch, zur Reichs- und Rsgschchte. Italiens I S. 72 ff. Sohm a.
a. 0. S. 178—179.
e) Allg. Monatsschr. 1854 S. 164, 171.
•) V. G. Vn S. 376 N. 3.
*) Dieser Ansicht ist Arnold V. G. I S. 47; von ihr aus ist aber die
besondere Bezugnahme anf die publicae civitates garnicht zu erklären.
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158
hörte, nur dann zu erklären, wenn der dortige Graf formell
vom Bischof abhängig war.
Höchst wahrscheinlich bestand nun die Abhängigkeit des
Grafen der Stadt, dessen Bann 1014 erniedrigt wurde, vom
Bischof darin, dass er als Vogt zu den bischöflichen Vasallen
gehörte. Dafür sprechen vor allem die Worte, in denen Otto III
985 den Übergang der Grafenrechte an den Bischof bestätigt:1)
„possideant et nullus comes vei iudex aut aliqua
iudiciaria persona in predicta civitate Vuangione ullam
deinceps exerceat potestatem preter nisi issolusquem
pastoralis dignitatis sollertia prefecerit advocatum.“
Gerade in diesen Worten weicht die Urkunde von ihrer
Vorurkunde, *) der sie sonst zum grossen Teil wörtlich folgt,
ganz erheblich ab. Hier heisst die betreffende Stelle:
„possideant nullaque iudiciaria persona in pre-
dicta civitate ullam deinceps exerceat potestatem preter
ipsam, quam pastoralis dignitatis sollertia prefecerit
advocatum.
So lässt sich also aus der Urkunde von 985 in Verbindung mit
dem erwähnten Privileg vom 29. Juli 1014*) schliessen, dass
der Vogt die gewöhnlichen Grafenrechte in der Stadt als bischöf-.
licher Lehnsträger4) ausübte, der Bischof sich aber gegen Erb-
lichwerden oder königliche Verleihung des Grafenamts, sowie
gegen Übergriffe des Grafen nach Möglichkeit durch königliche
Privilegien zu schützen suchte.
Dafür, dass schon in der Wende des 10. und 11. Jahrhun-
derts Vogt und Burggraf in Worms identisch waren, lässt sich
auch noch der Umstand anftthren. dass in Burchard’s Gesetzen
der Burggraf überhaupt nicht erwähnt wird, dagegen von
den zu verhütenden Übergriffen der Vögte die Rede ist. Ar-
nold 5) vermutet auch, dass in der Stiftungsurkunde von S. Paul,®)
in welcher der comes civitatis erwähnt wird, er nur desshalb
‘) W. U. 36 8. 28 Z. 36 ff.
*) Urk. Ottos II 979 Ang. 11 (W. ü. 35).
•) W. U. 42.
*) Vgl. such W. U. 58: comitis Wernlieri petitione alioruinque optima-
tum suornm consilio.
») V. G. I 113.
*) ü 43.
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in der Zengenliste zu fehlen scheint, weil er in ihr als advo-
catus bezeichnet wird. Endlich ist für spätere Zeit die Iden-
tität von Vogt und Burggraf, wie unten nachgewiesen werden
wird, nicht nur in Worms, sondern auch in Mainz und Speier
völlig sicher.
Wenn so Grund genug vorhanden ist, diese Identität mit Ar-
nold *) schon für den Anfang des elften Jahrhunderts anzunehmen,
so lässt die besprochene Abweichung der Urkunde Ottos HI.
von ihrer Vorurkunde darauf schliessen, dass mindestens seit
985 Vogtei und Grafenrechte in dem Gebiet, für welches diese
dem Bischof damals übertragen waren, von demselben bischöf-
lichen Beamten ausgeübt wurden, den wir deshalb als Vogt-Burg-
grafen bezeichnen können. Nähere Betrachtung des Amtsge-
bietes dieses Wormser Vogt- Burggrafen ergiebt, dass dasselbe
sich nicht auf die Stadt beschränkte und auch nicht erst 985
geschaffen war. Die erstere Thatsache kann zweifellos aus fol-
genden Worten einer Urkunde von 1137 geschlossen werden:
curtim nostram in Crigesheim et quidquid in eadem
villa habuimus, in comitatu praefecturae civitatis nos-
trae sitam.*)
Dass unter praefectus im elften Jahrhundert ganz allge-
mein der Burggraf, unter praefectura also die Burggrafschaft
verstanden wird, geht aus einer Stelle der gesta Trevirorum,*)
sowie aus dem ganz gleichförmigen Gebrauch der beiden Amts-
namen, der vielfach in unseren Städten nachgewiesen werden
kann4), zweifellos hervor.
*) v. G. i m
*) ü 64.
•) S. S. VIII p. 260: burggravius id eat praefectus urbis, Tgl.
auch Wilmans, Kaiserurk. Westfalens II (Münster 1881) 8.309: quandam
similitudinem dignitatis sibi . . . vendicabat, quam praefectnram appell-
abat et se Bnrkgravium appellari faciebat
*) Für Worms vgl. Wernherus comes civitatis a 1106 (U 59) u. a. 1116
(Stumpf Acta imp. iaedita No. 328 8. 476) mit defuncto praefecto nostro
comite Wemhero (a. 1123) in noch unedierter Drk. eines Wormser Copial-
buchs im Archiv au Hannover (letzteres nach Arnold V. G. I 8. 114 mit
N. 4); für Mainz vorläufig Arnoldus urbis praefectus a 1135 (Beyer Mittelrh.
ürkb. I p. 535) u. Anna). Pegav. (S. S. XVI p. 235 Z. 4) a 1116: Amoldo
ipaius civitatis comite , für Speier Egbertus praefectus in Mone Anzeiger f.
Kunde d. deutschen Vorzeit VII (1838) S. 447 Nr. 13 u. Cod. Hiraaug. p 67
mit ibid p 49, wo derselbe comes genannt wird, sowie Arnold V. G. I 84, 85.
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So lässt sich also ans der obigen Urkunde schlossen, dass
Crigesheim, das heutige Kriesheim an der Pfrimm, (drei Stun-
den von Worms) zur Wormser Burggrafschaft gehörte.
Um die Ausdehnung des Gebietes derselben näher zu bestimmen,
lässt sich vielleichtdie frühererwähnteMauerbauordnungbenntzen,
da die Bewachung und Instandhaltung der Festungswerke an
vielen Orten und höchst wahrscheinlich auch in unseren Städten
zu den Befugnissen des Burggrafen gehörte. Unter den in der
Bauordnung genannten Orten sind nämlich von den am Rhein
gelegenen am meisten von Worms entfernt rheinabwärts Riedels-
heim und Gernsheim, stromauf liegt am entferntesten Hemming-
heim.1) So war schwerlich das ganze am Rhein gelegene Ge-
biet des Wormsgaus sowohl südlich als nördlich von Worms
selbst, abgesehen schon von dem früh separierten Nahegau a), zur
Teilnahme an der Erhaltung und Verteidigung der dortigen
Mauern verpflichtet. Noch sicherer ist dies bei den im Westen
des Wormsgaus gelegenen Ortschaften der Fall gewesen,
welche später unter das Grafengeschlecht der Emichonen ge-
langten.*)
Es lässt sich also wohl vermuten, dass gerade das aus
den in der Bauordnung genannten Orten bestehende Gebiet den
Jurisdictionsbezirk der Wormser Burggrafen bildete.1)
') vgl. Falk in Forsch, z. D. Gesch. XIV S. 397 ff. und den nach den
Hamannschen Handzeichnungen entworfenen Atlas von Worms und Umgegend
im dortigen Stadtarchiv.
*) vgl. Landen, Die Territorien (Hamb. 1854) S. 263, 264.
*) vgl. Arnold V. G. I S. 42, H. Leo Die Teritorien I (Halle 1865)
S. 647 ff.
4) So schon Crollius Orgines Bipontinae (Biponti 1761) I 262 , 263, der
nnr fälschlich den ganzen Wormsgan in der Manerbanordnnng finden will. Vgl.
Bodmann Rheinganische Altertfimer (Mainz 1819) I S. 25 nnd Arnold V. G. I 116.
Letzterer erklärt die Bestimmnng der Burggrafschaft aus den znm Mauerbau
herangezogenen Orten wenigstens im allgemeinen für vollkommen gerecht-
fertigt, fügt aber hinzu: „Es sind indess einmal wolil nicht alle Orte darunter,
welche zur Grafschaft gehörten, und sodann können wieder andere darunter sein,
die nicht dazu gehörten.* Dies ist nach dem im Text ansgeführten freilich sehr
unwahrscheinlich, soweit es sich nicht etwa um überhaupt erst später ent-
standene Orte handelt. Es spricht wohl auch kaum gegen unsere Identifica-
tion, dass 1160 die Villa Gimmensheim (Gernsheim) als in comitatu comitis
de Leiningen gelegen bezeichnet wird (Sohannat II Nr. 86 p. 81). Gerade
dieser Ort war Grenzort der Wormser Bnrggrafschaft und konnte daher am
leichtesten in eine andere Grafrchaft übergehen.
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Diese Hypothese wird nun durch zwei andere Tatsachen zu
einem hohen Grade von Wahrscheinlichkeit, durch die Überein-
stimmung mit ähnlichen Verhältnissen in Speier und Mainz
fast zur Gewissheit erhoben.1) Zunächst scheint nämlich
schon am Ende des neunten Jahrhunderts der eigentliche
Wormsgau in mehrere Grafschaften zerfallen zu sein.’) Als er
später unter die Herrschaft der Konradiner kam, haben diese
Fürsten , welche auswärtige Herzogtümer erwarben und in
Rheinfranken selbst eine herzogsähnliche Stellung einnahmen,’)
wohl in dem ihnen gehörigen Wormsgau noch besondere comites
unter sich gehabt.4) Dabei spielte demnach das Stadtgebiet
keine besondere Rolle, sondern war wohl mit einer Anzahl
kleinerer Orte, die gewiss überwiegend in der Mauerbau-
ordnnng enthalten sind, in ein und derselben Grafschaft
vereinigt.
Damit, stimmt nun überein, dass Personen, welche nicht
Wormser Bürger sind, in Sunthoven und Scharren, dem heutigen
Sandhofen und Scharrhof, gelegene Güter vor dem Wormser
Rate 5) übertragen.*) Diese Orte liegen innerhalb des Gebietes,
welches nach der Mauerbauordnung mit der Stadt strategisch
verbunden war; die erwähnte Tatsache der Übertragung vor
dem Wormser Rate aber weist auch auf jurisdictionelle Zuge-
hörigkeit. Ohne, dass hier auf die Frage der örtlichen
') S. die unten folgenden Ausführungen.
*) In den Jahren 881, 888 und 897 wird als Graf des Wormsgaus Wa-
laho, 889 aber Megingaud genannt (S. 8. XXI p 375, 378, W. U. 26; Drenke
Cod. dipl. Fuld. [Cassel 1850] p 289.) Da in allen diesen Fällen bei topo-
graphischen Angaben der Lage im Wormsgau noch hinzugeftlgt ist, in wessen
Grafschaft der betreffende Ort liegt, so ist die Thatsache der gleichzeitigen
Erwähnung mehrerer Grafen in diesem Gau am einfachsten durch Teilung
desselben in mehrere Grafschaften zu erklären.
*) Vgl. oben 8. 143 mit N. 2, 8. 146 mit N. 4, S. 147 mit N. 3.
*) Vgl. Wait* V. G. VU 8. 34.
*) Demselben standen nämlich damals auch noch die Funktionen des
Schüffencollegs zu, ans dem er hervorgegangen, vgl. unten Cap. VIII und IX.
*) Gudenus Sylloge Variorum Diplomatar. (Francof. 1728) N. 66 p 132
u. N. 66 p 152 (Regesten W. U. 131 u. 141). Dass es sich hier nicht etwa
um blosse Besiegelung zur Bekräftigung eines fremden Rechtsgeschäfts (vgl.
über diese Bresslau, Urkunden! 8. 636—538) handelt, sondern dass hier die
Rechtsgeschäfte wirklich vor dem Rate vollzogen waren, geht aus dem In-
halte beider Urkunden hervor vgl. z. B. N. 66: coram nobis renuntiavit
Koehne, Ursprung der Stadtverfässung ln Worms, Speier und Mains. 11
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182
Zuständigkeit der Gerichte im fränkischen Rechte näher einge-
gegangen wird, kann doch als sicher angesehen werden, dass
bei Akten der freiwilligen Gerichtsbarkeit neben dem gebräuch-
lichen forum rei sitae der Immobilien nur noch das forom do-
micilii der Contrahenten in Betracht kommen konnte.1)
So lagen also auch Sunthoven und Scharren im Wormser Gr&f-
schaftsgebiet und hätten auch als in comitatu praefecturae
Wormatiensis sita bezeichnet werden können.*)
Alles dies drängt zu der Annahme, dass, schou im neunten
Jahrhundert, also vor den Ottonischen Privilegien und dem Über-
gange der Grafschaftsrechte an das Bistum, sich innerhalb des
alten Wormsgaus eine besondere Grafschaft gebildet, die später
mit der Vogtei über die bischöflichen Leute verbunden und
als praefectura civitatis Wormatiensis (Wormser Burggrafschaft)
bezeichnet wurde. Der Übergang der Grafschaftsrechte hat
also die spätere Trennung der Stadt von dem sie umgebenden
Lande noch nicht vorbereitet, andererseits aber auch schwer-
lich die Exeniption eines kleineren Gebietes aus dem alten
Wormsgau bewirkt. Ein schon früher bestehendes Grafschafts-
gebiet ist nur ans der Abhängigkeit von den Konradinern in
die der Bischöfe gekommen, indem es von jener Zeit an statt
*) vgl. Sohin R. n. O. V. S. 297, 301, 302, Stobbe in Jahrbuch des gern,
deutschen Rechts hcrausg. von Bckker u. Mnther I (1857) S. 434 — 436, 439, 440.
*) Crollius (in dem oben S. 160 N. 4 citierten Buche) I p 262 versucht
auch die in WU 58 gegebene Verordnung, der Speculationsverkauf von Fischen
solle für andere als die Mitglieder der Wormser Fischbändlerinnnng verboten
sein (vgl. oben S. 59), zur Bestimmung des Gebietes der Wormser Burggraf-
schaft heranzuziehen. Diese Verordnung soll nämlich nach W. U. 58 selbst
für die Gegend zwischen den beiden Orten Suelntheim und Altdruphen gelten.
Wohl ist anzunehmen, dass das Verbot nur für das Gebiet gegeben wurde,
in dem ihm der Vogt-Burggraf auch wirklich Geltung verschaffen konnte.
Zn topographischen Zwecken kann indess diese Stelle erst dann benutzt
werden, wenn die beiden Orte selbst sicher festgestellt sind, was bisher
noch nicht der Fall ist. Boos (ira Register) erklärt Altdruphen vermutungsweise,
Schenk zu Sch weinsberg (Westdeutsche Ztschr. VII S. 94) sicher für Altripp
südl. von Mannheim. Suelntheim, das noch nicht bestimmt worden ist, ist
vielleicht verstümmelt aus dem sonst erwähnten Sultzbeim (Obersülzen im
Pfälz. Kreisamt Grünstadt) vgl. Oesterley, Hist. -geogr. Wrtb. des Mas. (1883)
S. 668. Da entschieden aber von beiden Orten einer südlich, der andere nörd-
lich von Worms liegen muss, so ist sicher eine der beiden Bestimmungen
unrichtig.
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163
unter einem Vasallen der Konradiner unter einem bischöflichen
Vasallen stand. Dass der Vogt-Burggraf derart vom Bischof
abhängig geworden, wird ausdrücklich durch die früher be-
sprochene Urkunde für die Fischhändlerinnung von ca. 1106“)
bestätigt; dieselbesagt nämlich, dass der Bischof comitis Wern-
heri petitione aliorumque optimatum suorurn consilio die Innung
errichtet habe.
Freilich war die Abhängigkeit des Vogt-Burggrafen vom
Bischof keine derartige, dass er sich nicht, wie es sich am
deutlichsten bei Besprechung der Mainzer Verhältnisse zeigen
wird, vor allem als Beamter des Kaisers fühlte. Gerade von
Burggraf Wernher hören wir, dass er sich beim Kaiser, nicht
beim Bischof über Widerstand beklagte,*) der ihn an der Aus-
übung seiner richterlichen Amtstätigkeit gehindert hatte. Von
dem hohen Ansehen, das dieser Wernher genoss, zeugt es auch,
dass er in einer Urkunde Friedriclts von Schwaben, des Schwie-
gersohnes des Kaisers, unter den Zeugen direkt nach dem
Bischof und vor einem Propst genannt wird.3)
So geht aus dieser Urkunde auch hervor, dass die Wormser
Burggrafschaft einem Vollfreien zustand. Wie dieser Umstand,
so weisen auch alle mit der in Frage stehenden Beamtung
verbundenen Befugnisse, welche uns in den Quellen entgegen-
treten, darauf hin, dass wir in ihr eine Fortsetzung des alten
fränkischen Grafenamtes zu sehen haben. Die Pflichten des
fränkischen Grafen waren ja bekanntlich teils gerichtliche, teils
militärische. Was die gerichtlichen betrifft, so lag wie wir
gesehen haben,4) das bei den Wormser Burggrafen hervortre-
tende Verlangen der Erhöhung des Bannes von 15 auf 60 solidi
im allgemeinen Streben der Grafen. Auch die Art der Besol-
dung des Wormser Burggrafen für seine gerichtliche Tätigkeit
») W. ü. 58 vgl. oben S. 57—59.
’) Monachus Kirsgart. bei Ludewig Rel. Uns. II p 83 n. Alei. Kauf-
mann in Monatscbr. f. Gesch. Westdeutschi. Bd. IV (1878) S. 25 ff. Über diese
Quellen vgl. ausser Kaufmann a. a. 0. noch BresBlau in Jahreab. d.
Gescbichtaw. I 141 und Wattenbach D. Gq. II S. 366, 367.
*) W. U. 59 vgl. auch Stumpf, Acta imperii inedita (Innsbr. 1865) p.
467 N. 328, wo Wernher als Zeuge in einer Urkunde Kaiser Heinrichs V ge-
nannt wird.
*) S. oben S. 157.
n»
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164
war höchst wahrscheinlich der der Grafen ganz analog, indem
ihm seihst ein Teil der von ihm eingezogenen Gerichtsgefälle
zufiel, während der andere jetzt an die Kammer des Bischöfe,
statt wie früher an die des Königs abgegeben werden musste.
Auf solche Verteilung der Gerichtsbussen kann nämlich daraus
geschlossen werden, dass derartiges bei denjenigen Strafgeldern
eingerichtet wurde, welche die Aufrechterhaltung der zuerst
nur kraft Genossenschaftsrechts gesetzten, dann aber vom Stadt-
graf und Bischof anerkannten Gewerbebestimmungen sichern
sollten.1) Eine solche Teilung der Strafgelder zwischen Bischof
und Burggraf wird auch in baupolizeilichen Satzungen festge-
setzt.8) Die in dieser letzteren Hinsicht dem Wormser Vogt-
Burggrafen zustehenden Befugnisse sind entschieden als Folge
der militärischen Funktionen der Grafen zu erklären.8) Ganz
besonders spricht hierfür eine mit dieser Baupolizei verbundene
Einrichtung. Der Burggraf selbst oder ein von ihm bestimmter
Vertreter pflegte nämlich mit einer Stange in der Hand durch
die Stadt zu reiten und hatte das Recht, alle, bei dieser Ge-
legenheit unbequemen, baulichen Beengungen der Strassenfront
beseitigen zu lassen und mit Strafe zu belegen.*) Ein solches
„Stangenrecht“5) stand nun nicht nur den Burggrafen in den
l) W. D. 58.
») W. U. 301 vgl. Boebmer Fontes II 201.
*) Vgl. Nitzgeh, Minist. S. 150, wo schön auseinandergesetzt wird, dass,
.sowie die Burgen nicht nur feste Häuser, sondern grosse und wohlorg&nisirte
Umwallungen waren,“ es auch Aufgabe der Erhaltung und Verteidigung der
Burgen wurde, zu verhüten, dass „die Willkühr der Privatbauten nicht allein
die Strasseu, sondern auch die Mauern beengten und durch beides die mili-
tärische Sicherheit des Platzes gefährdeten.* Nur hat Nitzgeh die Aufsicht
über die Verteidigung der Stadt für eine Folge der Pfalzbeamtung des Burg-
grafen erklärt, während doch auch diese militärische Leistung schon in frän-
kischer Zeit einen Teil der Gauverteidigung bildete. Waren doch schon 864
die Gaueingegessenen von Alters her zur Arbeit an den Befestigungen und
zur Bewachung derselben verpflichtet. Es liegt gar kein Grund vor, anzu-
nehmeu, dass in letzteren Hinsichten der Graf nicht ebenso wie beim Aus-
züge gegen den Feind der Führer seiner Gauleute gewesen ist, vgl. L. L. I
(ed. Pertz) p 495 c 27 : ut iuxta autiquam consnetudinem ad civitates novas . . .
operentur et in civitate atque in marcha wactas faciant und Waitz V. U. IV
S. 629.
*) Boehmer Fontes II p 570, 571.
') ibid: de requisitione iuris falange, quod Stange vulgariter nun-
cupatur.
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165
verschiedensten Reichsteilen,1) sondern auch den Grafen von
Namur in dem ihnen gehörigen Teile von Dinant zu,’) die von
dem Lütticher Bischof, der über den anderen Teil von Dinant
herrschte, ganz unabhängig geblieben waren.8) Ausdrücklich
wird auch in einer die Rechte dieser Grafen zu Dinant fest-
stellenden Urkunde gesagt, dass sie diese Befugnis kraft ihres
ihnen von den Königen übertragenen Amtes ausübten;4) damit
ist aber auch sicher keine Pfalzbeamtung gemeint, da in Dinant
gar keine Pfalz bestanden hat.6) Demnach ist dies Stangenrecht
weder aus einer Aufsicht über die Pfalzen, noch aus vogtei-
lichen Befugnissen zu erklären. So weisen auch gerade solche
Rechte, aus deren Besitz man *) auf hofrechtliche Herkunft des
Vogt-Burggrafen geschlossen hat, darauf hin, dass man in ihm
einen Nachfolger des alten Gaugrafen zu sehen hat, der nur
in Abhängigkeit von der Kirche geraten ist.
Mit dieser Ableitung der Baupolizei der Wormser Burg-
grafen steht es auch nicht in Widerspruch, dass dieselben nach
Verlust ihrer eigentlichen gerichtlichen und militärischen Be-
fugnisse noch aus der Aufsicht über das Bauwesen sich erge-
bende Rechte auf gewisse Strafsummen wie ihnen privatrechtlich
zustehende Forderungen in Anspruch nahmen.7) Es zeigt sich
nämlich in unsern drei Städten bei den Vogt-Burggrafen eine
ganz ähnliche Erscheinung wie früher bei den daselbst resi-
dierenden Gangrafen; wieder überlassen die Vertreter des
Laienadels, welche mit der Zeit dem Bischof unbequem geworden,
ihm wohl gegen andere Concessioneu ihre Rechte in der Stadt,
nur dass auch die Bürgerschaft in vieler Hinsicht die Rechts-
nachfolgerin des Burggrafen wurde. Zunächst ist es ja un-
zweifelhaft, dass in allen drei Städten die Vogt-Burggrafen auf
*) Vgl. über Regensbarg F. Gfrörer S. 33, 34, Köln Hegel in Städte-
chroniken Köln Bd. III S. XXXIV u. Knnen n. Eckertz Qu. z. Gesell, d. 8t.
Köln (Köln 1860) I N. 76 p 657 n. II N. 166 p 168, ferner Strassburg (Erstes
Stadtrecht g 81).
*) Waitz Drk. z. D. Vffsg. (Berlin 1886) Nr. 9 8. 81, Ygl. Pirenne,
Hist, de la Constitution de la rille de Dinant (Gand 1889) p. 10 mit N. 2.
*) ibid p. 3, 4, 6 mit N. 8.
4) Waitz a. a. 0.: secundnm eam, quam tenet a rege potestatem et
insticiam . . . auctoritate regia deicitur.
•) Pirenne p. 1, 8.
*) s, Nitzich 8. 162.
*) Boehmer fontes II 200, 201.
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166
dem Lande angesessenen Dynastenfamilien angehörten. Schon der
früher erwähnte Wormser Burggraf Wemlier war auch Graf von
Neckarau und Maden, sowie Besitzer der Burg Achalrn; ferner
besass er noch die Vogtei aber das Stift Fritzlar und das
Kloster Kaufungen.1) Er gehörte also sicher einer der mäch-
tigsten mittelrheinischen Adelsfamilien an.
Seit 1141 begegnet dann im Besitze der Wormser Vogtei
und Burggrafschaft Graf Simon von Saarbrücken,2) in dem wir
nach Crollius3) und Arnold’s4) Untersuchungen einen Enkel des
Vogt-Burggrafen Wernher zu sehen haben. Die Nachkommen
dieses Simon , die Grafen vou Saarbrücken und Zweibrücken,
finden sich nicht mehr als Wormser Burggrafen erwähnt. Auch
für Simon ist die Führung des Titels Burggraf nur bis 1166
bezeugt, obgleich er erst 1180 gestorben ist.5) Dies hat
Arnold5) veranlasst, auzunehmen, Simon selbst habe zwischen
1166 und 1180 auf das genannte Amt verzichtet. Abgesehen
davon, dass Simons Nachkommen noch in der Mitte des 13. Jahr-
hunderts auf dies Amt Anspruch machen und eine aus dem-
selben stammende Eente wirklich zugesprochen erhalten,7) wird
auch in dem 1208 entstandenen8) Privileg Friedrichs I. dem
Vogt-Burggrafen ein Anteil an der auf Rechtsbeugung ange-
drohten Busse zuerkannt.*) In dem wahrscheinlich um dieselbe
Zeit entstandenen augeblichen10) Privileg Heinrichs VI. wird eine
Abgabe der Heimburgen au deu comes erwähnt.") Arnold12)
') Schenk zu Schweinsberg ün Correspondenzbi. <1. Gesammtver-
eius <1. D. Geschichtsv. 1875 S. 49—52.
*) W. U. 68-71, 74, 76, 80-82.
*) in dem oben S. 160 N. 4 citierteo Buche p. 279. 274.
*) V. G. 1 116, 116. Demnach hatte sein Vater Friedrich von Saarbrücken
die Wormser Burggrafschaft durch seine Ehe mit Gisela, Tochter des Burg-
grafen Wernher, erworben.
*) Crollius ibid. p. 239.
•) S. 116.
*) Boehmcr font. II p. 200, 201.
•) Der Nachweis wird unten im Capitel VIII gegeben werden.
•) W. U. 59 S. 60 Z. 28.
,0) Betreffs des Nachweises gilt dasselbe wie in Note 8.
“) Boehmcr font. II p. 216.
**) V. G. I S. 286. Da er das angebliche Privileg Friedrichs I für echt
und also aus dem Jahre 1156 stammend ansah, fand er in demselben keinen
Widerspruch bezüglich des Verzichts Simons auf Vogtei und Burggrafschaft.
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167
will freilich den comes an letzterer Stelle nicht als Burggrafen
angesehen wissen; er findet vielmehr in ihm einen anderen
Beamten, den Greven, der „ein zweiter überflüssiger Vorsteher
des Stadtgerichts und Stellvertreter des Schultheissen gewesen
sei.“ Tn älterer Zeit sei dieser Greve Unterbeamter des Vogt-
Burggrafen gewesen, der ihn auch noch 1190 ernannte, als
Heinrich VI. den Bürgern das erwähnte Privileg gab; bald
nachher aber habe der damalige Greve sein Amt aufgegeben
nnd die jährliche Neuwahl eines anderen Greven durch die
Bürgerschaft gestattet, seinen Titel jedoch auch noch nachher
geführt.1) Durch letztere Vermutung sucht Arnold die Tat-
sache zu erklären, dass in der Zeugenliste „einer Urkunde von
1196 ein Albertus, comes und ein Hartungus comes neben ein-
ander Vorkommen,*) der erstgenannte aber 1198 und 1208
wiederum als comes erscheint.“*) Nun hat allerdings Schenk zu
Schweinsberg4) die Ansicht ausgesprochen, es habe sich in
diesen Fällen und ebenso auch bei der Erwähnung eines Gudel-
mannus comes in der Zeugenliste einer Urkunde von 1268 „um
Bürger mit dem Beinamen Graf gehandelt.“ In der Tat ist
auch um die Mitte des 13. Jahrhunderts Graf als Eigenname
eines Wormser Bürgers bezeugt.8) Dennoch wird sich zeigen, dass
mindestens bei Gudelmann „comes“ sicher Amtsbezeichnung ist
und das Grevenamt jedenfalls seit Ende des 12. Jahrhunderts
bestand, wenn auch Herkunft und Competenzen dieses Amtes
wohl andere als die von Arnold angegebenen sind. Aus der
früher*) besprochenen Beschreibung der Wormser Aemter im
13. Jahrhundert geht hervor, dass damals dem Greven die
Vollstreckung der von den Schöffen gefällten Todesurteile oblag.7)
Auch die Verhaftung von Verbrechern hatte er zu vollzieheu;
*) Arnold ibid. 286, 287.
*) W. U. 99.
*) W. U. 108 nnd 109. Ferner findet sich dieser Albertus comes noch
1194, 1196, 1197, 1209 und 1216 (W. U. 96, 98, 100, 101, 113, 120).
4) Westdeutsche Ztschr. VII S. 96.
*) Zorn 3. 118: Vila genannt Graf.
•) oben 3. 111 ff.
*) Boebmer fontes II p. 213: Quem. . . scultetns ... ad locum pcne deducet
et ibi ipsum vel ipso« comiti praesentabit, qui super hoc iudicium edictum
supplebit vel perficere continuo procurabit.
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168
dieselbe durfte er, abgesehen von den Häusern bestimmter pri-
vilegirter Personenklassen, auch in Privatwohnungen vornehmen.1)
Ausserdem berichtet die genannte Quelle, dass jährlich am
11. November Schultheiss, Greve und die beiden Amtsleute
(offlciarii, auch iudices und ministri genannt*)) gewählt wurden.*)
Zwischen denselben Beamten wird nun der Greve vielleicht
auch in dem angeblichen Privileg Friedrichs I. erwähnt;4)
ferner wird 1268 Gudelmannus comes zwischen dem Schult-
heissen Conrad und den Amtsleuten Godebert und Morderanft
genannt.4) Endlich wird des Grevenamtes noch in den Bürger-
annalen6) bei Gelegenheit des Vertrages von 1261 über die den
Grafen von Zweibrücken aus dem Burggrafenamte noch zu-
stehenden Rechte gedacht. Damals durften diese Dynasten in
Folge dieses ihren Vorfahren zustehenden Amtes noch vom
Wormser Greven jährlich 12 Pfund fordern ; ausser dem gehörte
ihnen noch ein Hof in der Stadt.’) Auf alle übrigen Rechte
verzichteten sie ausdrücklich.
Die erwähnten Abgaben des Greven an den Burggrafen
scheinen zusammen mit der ganzen Beamtung des ersteren zur
Zeit der frühesten Erwähnung derselben geschaffen zu sein;
sie waren wohl mit ein Äquivalent für die ehedem den Burg-
') ibid. : Si aliquis malefactor io ci vitale repertusfuerit in domo alicoioa,
illum poteat coraea civitatis excipere et edttcere, exceptia domibus et curiia cle-
ricorum, ministerialium, raonetariorum et wiltwerker huagenoz.
») Vgl. Arnold V. G. I S. 287, 288.
*) ibid. p. 213, 214: Singulia annis in die s. Martini conatitmmtor iudices
civitatis, videlicet scultetaa, comes et duo offlciarii vulgariter dicti ammetmann.
•i W. D. 73 S. 61 Z. 6: senke tum, prefectum et iudices. Allerdings
wird hier wahrscheinlich unter iudices etwas anderes zu verstehen sein vgl.
unten in Cap. VIEL
*) U 344 S. 224 Z. 15. Demnach ist hifr jedenfalls und bei den oben
8. 167 N. 2, 3 angegebenen Quellenstellen höchst wahrscheinlich comes Amtsbe-
zeichnung und Schenk zu Schweinsberg hat Unrecht, wenn er an der ibid.
N. 4 citierten Stelle Boos tadelt, weil er im Index diese comites unter den
Wormser Beamten anfuhrt.
') Boehmer Fontes II p 201. Dass wir in diesen Bericht gleichzeitige
Bilrgerannalen zu sehen haben, hat Köster S. 85 ff. nachgewiesen.
*) ibid. p 201 : quod dominus comes non aliud iuris haberet in civitate,
nisi duodecim libras wormatiensis monete, quas comes, qui eligitur in feste
s. Martini Bingulis annis, sibi . . . solvere . . teneretur et ipsum dominum
comitem habere curiam prope S. Kilianum sitam.
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169
grafen aus den Bussen zufliessenden Einkünfte. Da nämlich
in unserer Überlieferung nichts darauf hindeutet, dass, wie
Arnold1) meint, schon vor den neunziger Jahren des 12. Jahr-
hunderts Greven als Unterbeainte der Stadtgrafen existirt, so
kann wohl angenommen werden, dass die ganze Beamtung
überhaupt erst damals geschaffen ist. Ebenso wird auch Ar-
nolds*) Ansicht, dass der Greve neben dem Schultheissen an
der Spitze der Wormser Schöffen gestanden, meines Erachtens
nach nicht durch die Quellen gerechtfertigt; ausser dem Schult-
heissen findet sich nämlich in unserer ganzen Überlieferung
nur einmal an der Spitze der Schöffen resp. des aus diesen
hervorgegangenen Rates der Kämmerer ausdrücklich erwähnt,*)
dagegen nie der Greve. Demnach sind gewiss, wenn z. B.
1254 ministeriales , consules, iudices, scabini et universi cives
Wonnatienses eine Urkunde ausstellen,4) unter den iudices
Schultheiss und Kämmerer, nicht Schultheiss und Greve
zu verstehen. Der Greve erscheint also als Nachfolger des
Burggrafen in den gerichtlichen Zwangshandlungen, speciell
Verhaftungen und Executionen. Die Grafen von Saarbrücken
und Zweibrückeu aber haben nach dem obigen ihre burggräf-
lichen Rechte in Worms, wie früher die Kouradiner ihre gau-
gräflichen, ganz allmälig aufgegeben. Anlässe und Zeitpunkte
des Verzichtes auf die einzelnen Befugnisse sind nicht mehr
festzustellen. Immerhin weisen das Auftreten des Grevenamtes,
das Aufhören der Erwähnungen der Burggrafen in Wormser
Urkunden und der Verzicht auf alle wichtigeren burggräflichen
Rechte darauf hin, dass der Anfang des letzten Decenniums
des zwölften und das Ende des ersten Decenniums des drei-
zehnten Jahrhunderts sowie das Jahr 1261 wohl als Epochen
in dieser Entwicklung betrachtet werden können. Daher kann
denn auch als der eigentliche Grund des Aufgebens der gräf-
*) I 286 vgl. oben 8. 166, 167. Arnold ist offenbar bes. dadurch zu
seiner Ansicht bewogen worden, dass er U 73 für echt hielt und dann in dem
einen der beiden officiati, die daselbst S. 60 Z 29 erwähnt werden, den burg-
gräflichen Unterbeamten sah. Dieselben sind aber, wie aus dieser Stelle
selbst hervorgeht, die Amtsleute.
») I 287 vgl. oben 8. 167.
») W. U. 418.
‘) U. 252, 253.
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170
liehen Rechte die Ausbildung der bischöflichen Territorialhoheit
einerseits und das Wachstum der bürgerlichen Autonomie andrer-
seits angesehen werden,1) wozu dann wohl noch das Interesse
der ehemaligen Wormser Burggrafen an der Consolidierung
ihrer ländlichen Besitzungen kommt.
Wenden wir uns jetzt wieder zu den Beamten des 11. und
12. Jahrhunderts. Ausser dem Vogt-Burggrafen sind uns schon
in den leges et statuta Burchardi die magistri locorum (oder
ministeriales in diesem Sinne) begegnet , deren Stellung oben
ausführlich besprochen ist.*) In demselben Gesetze wird noch
ein anderer Beamter in jenen einleitenden Worten genannt, in
welchen der Bischof als Ursache seiner Gesetzgebung die Ab-
sicht hinstellt, die unbefugte Einführung von neuen Rechts-
sätzen zu verhindern.*) Zwischen Vogt und Meier (magister
loci) steht hier der Vitztnm (vicedominus). Aus den Erwäh-
nungen dieses Vitztums in zahlreichen Zeugenreihen von Wormser
Urkunden geht nun hervor, dass er bischöflicher Ministe rial*)
und nach dem Vogt-Burggrafen der höchste bischöfliche Beamte
war.5) Dass der Wormser Vitztnm auch noch in der zweiten
Hälfte des 12. Jahrhunderts speciell in der Stadt vielen Ein-
fluss besass, geht daraus hervor, dass 1184 bei einer Privile-
gierung der Wormser Bürgerschaft des Vitztums Zustimmung
bes. eingeholt wurde.®) Im übrigen reicht jedoch zur Beant-
wortung der Frage nach den Competenzen dieses Beamten das
Wormser Material nicht aus, und so sind wir auf Analogieschlüsse
’) Dass diese beiden Erscheinungen gerade in der angegebenen Zeit dem
Ende des 12. und Anfang des 18. Jahrhunderts eine Periode entscheidenden
Fortschritts zeigen, wird unten namenti. in Cap, VIII dargelegt werden.
*) S. 42—44.
•) W. U. 48: has iussi scribere leges, ne aliquis advocatus aut vicedo-
minus ant ministerialis . . . novi aliquid subinferre posset, sed una e&demque
lex ... .
*) Nur 1162 und 1160 wird ein Cleriker als Vitztnm erwähnt (W. D. 72,
76), während sonst stets und zwar schon seit 1068 (U 55) der Vitztnm tmter
den Laien erscheint. In U 63, 118, 120, 144, 189 wird er ausdrücklich unter
den bischöflichen Ministerialen genannt, während er nie unter den Vollfreien steht.
6) In D 68—71 folgt er unmittelbar auf den Burggrafen, in D 64, 65, 67,
in denen der Burggraf nicht vorkommt, steht er als erster Zeuge.
•) U. 90 S. 74 Z. 4: cmn beneplacito etiam Burchardi Wormatiensis
vicedomini.
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171
aus den an anderen Orten wahrnehmbaren Vitztumsfunktionen
angewiesen. Dort ist nun der Vitztum grundherrlicher Gerichts-
nnd wahrscheinlich auch Wirtschaftsbeamter fttr die gesammte
Grundherrschaft, resp. grosse Teile derselben.1) Zwischen ihm
und den Lokalbeamten, den Meiern, giebt es nach Lamprecht*)
keine Zwischeninstanzen. An manchen Orten wird nun nach
demselben Gelehrten der Vitztum später Schultheiss genannt,
au anderen wird dagegen neben dem Lokalbeamten, dem Meier,
für die Gerichtsfunctionen desselben ein Schultheiss gewählt.11)
Dass nun speciell in Worms der Vitztum jedenfalls Gerichts-
functionen gehabt, geht aus der angeführten Stelle der leges
Burchardi hervor.*)
Was nun den Schultheissen anbetrifft, so erscheint derselbe
in Wormser Urkunden zuerst 1165.®) Er ist freilich hier weder
mit dem Vitztum identisch, da beide Ämter gleichzeitig und
als verschiedenen Personen zustehend erwähnt werden,6) noch
etwa Nachfolger der alten magistri locorum speciell als Gerichts-
beamter, da diese ja einem viel kleineren Gebiete vorgesetzt
waren. Dagegen wird allerdings der Schultheiss, wenn auch
nur in einer einzigen Quelle als Meier (villicus), sein Amt als
viilicatio bezeichnet;7) ferner hat der Vitztum, als die städtische
Autonomie sich völlig ausgebildet, seine Jurisdictionsrechte
•) Vgl. Lamprechtl S. 733, SchröderR. G. I S. 104. Ersterer will frei-
lich den Vitztum nur als Richter angesehen wissen, letztrer hingegen meint,
dass er gerade für die nicht gerichtlichen Geschäfte bestellt war, aber „auch die
Gerichtsbarkeit über die Grundholdcu“ erhalten konnte. Dass der Vitztum
wirklich zunächst Wirtschafts beamter war, wenn das Amt auch in die deut-
schen Diöcesen vielleicht nur als jurisdictionelles übertragen sein mag. geht
meines Erachtens daraus hervor, dass der viccdominus in merowingischer Zeit
auch als oeconomus bezeichnet wird, vgl. Loening, Gesch. d. D. Krchnrchts.
Bd. II (Strssb. 1878) S. 343 N. 2.
*) I 733.
*) Lamprecht I 733, 735, 736.
*) s. oben S. 170 N. 3. Dass der Wormser Vitztum auch wirtschaftliche
Functionen gehabt, ist dcsshalb unwahrscheinlich, weil wir hier für diese,
insbes. die Finanzfunctiouen, einen anderen Beamten, den Kämmerer, finden,
s. unten.
») U. 80, 81.
*) U, 80 S. 66 Z. 38: Sifrid vitztum, Z. 40 Rigolio schultheiss, vgl. auch
U 81 S. 68 Z. 37 und 39.
;) Boelnner Fontes II p. 216
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172
jedenfalls an den Schultbeissen verloren. Soviel kann daher
aus diesem lückenhaften Wormser Material geschlossen werden,
dass in Worms nicht, wie es Heus ler1) ganz allgemein für die
bischöflichen Städte ausführt, Schultheiss und villicus neben
einander fungierten und dann im Laufe der Zeit der erste den
zweiten verdrängte. Vielmehr scheinen im Worms die Befug-
nisse der beiden Beamten zunächst in eine Hand, die des Vitz-
tums, gekommen zu sein; das spätere Auftreten des Schult-
heissen ist dann ganz unabhängig von den alten Verhält-
nissen. Denn, dass etwa der Schultheiss in Worms schon lange,
ehe er in unserer Überlieferung erwähnt wird, existirt habe,
dagegen sprichtschon die erwähnte von Lamprecht*) beobachtete
Erscheinung, dass in den von ihm erforschten Grundherrschaften
ein Schultheiss erst um die Mitte des 12. Jahrhunderts erscheint.
Ferner ist es bei der relativ grossen Anzahl erhaltener Wormser
Bischofsurkunden sehr unwahrscheinlich, dass gerade dieser Be-
amte nie in ihren Zeugenlisten genannt wäre, um so mehr, als
das Wormser Scliultheissenamt zur Zeit seiner ersten Erwähnung
mit einem bischöflichen Ministerial besetzt ist.*) So*) sind denn,
wie zur Zeit des Übergangs der Grafschaftsrechte an das Bis-
tum das Amt des Burggrafen und des Vogts verschmolzen
wurden, so, uud zwar wohl auch schon damals, auch das des
Centenars und des hofrechtlichen Unterbeamteu (Vitztum oder
villicus) in eine Hand, die des Vitztums, gegeben worden. Erst
als die Stadtfreiheit schon mehrere Stufen ihrer Entwickelung
znrückgelegt, tritt der Schultheiss auf. Daher wird auch die
Besprechung dieser Beamtung, insbesondere ihrer Besetzung
durch Wahl der Bürgerschaft und kaiserliche Investitur, erst
später gegeben werden. Dagegen ist hier noch ein anderer
Wormser Beamter zu berücksichtigen, der Kämmerer.
■) Ursprung S. 84.
*) I 737.
*) In U. 80 wird Schultheiss Rigolio und sein Bruder Gerlach, in U. 81
Gerlacus et Rikezo scultetus erwähnt. In U. 76 erscheint nun Gerlahus
et Richinzo frater eius unter den Wormser Uinisterialen vgl. auch U. 7ö u. 78.
*) Daraus geht auch hervor, dass der Wormser Schultheiss nicht etwa
„als ein alter flacalischer Schultheiss* zu erklären ist, der „bei Ver-
äusserung des alten Fiscaigebietes mit an den nenen Herren“ Ubergegangen wäre,
wie ähnliches nach Lamprecht I 736 N. 1 in Boppard, vielleicht auch in
Trier der Fall war.
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173
Während der Kämmerer im Gegensatz znm Vogt-Burggrafen
nnd Schaltheissen zweifellos stets nur bischöflicher, nie königlicher
Beamter gewesen ist, hat man1) doch gerade in ihm einen Beam-
ten sehen wollen, welcher die „der kaiserlichen Kammer zu-
stehenden Renten undGtlter zu verwalten“ hatte. Jedoch war der
königliche Kämmerer im Frankenreiche und in der deutschen
Kaiserzeit nurHofbeamter, nicht Beamter für einzelne Domänen;
„als adlatus der Königin“ hatte er den Reichsschatz unter sich
und besorgte die Verwaltung sämmtlicher Reichspfalzen „nach
Ausstattung und Baulichkeiten.“ *) Später ist dann nach diesem
Vorbilde an den Höfen der Grossen eine gleiche Beamtung ge-
schaffen worden.8) In Worms begegnet ein Kämmerer zuerst 1016
und zwar tritt uns als solcher ein Geistlicher, der Propst Emicho,
entgegen.4) Das Gesetz Bischof Burchard’s nennt dann wenige
Jahre später unter den Hofbeamtungen, deren Annahme der
Censual nicht weigern darf, auch das Amt des Kämmerers.6)
So tritt, wie es für Mainz schon von Hegel8) festgestellt ist,
auch in Worms neben oder7) an die Stelle des geistlichen
Kämmerers ein laicaler, der zu den servientes,8) später zu dem
sich aus ihnen entwickelnden9) Ministerialenstande gehört. Un-
richtig ist es demnach jedenfalls, diesen Kämmerer für einen
ursprünglich königlichen Beamten zn halten, ,#) der dann bei der
Übertragung der Grundstücke und Einkünfte an den Bischof
selbst unter dessen Herrschaft gekommen wäre; ebenso kann
*) Friedr. Töpfer in Urkb. z. G. d. Vögte von Hunolstein Bd. II
(Nürnberg 1867) 8. 419, 420; F. Falk in Monatsscbr. f. rhein.-westf. Gesch.
n. Altertumsk. III 8. 125, 126.
*) Lamprecht I 803, 1469, Waitz V. G. III 602, IV 8.
*) Lamprecht I 1469 vgl Waitz VII 311 ff.
4) W. ü. 46 8. 37 Z. 6.
•) W. U. 48 tit 29.
•) Mainz 8. 30, 31.
*) Ein geistlicher Kümmerer wird allerdings in Worms in der Folgezeit
nicht genannt. Es spricht aber manches dafür, dass das geistliche Kämmerer-
amt nur deshalb nicht erwähnt ist, weil es iu Worms regelmässig mit der
Dompropstei verbunden war, vgl. die nnten im Text gegebenen Ausfüh-
rungen.
•) s. oben N. 5.
•) s. oben 8. 62, 63.
'*) wie es von den oben N. 1 citierten Forschern geschieht.
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174
man von dem Wormser Kämmerer auch nicht, wie es Arnold1)
und Liebe*) tun, vermuten, er sei ursprünglich Stellvertreter
des Burggrafen bei der Gerichtsbarkeit gewesen. Daraus, dass
bei der früher besprochenen Aufzählung der richterlichen Be-
amten in Burchard’s Gesetz*) des Kämmerers garnicht gedacht
wird, lässt sich wohl schliesen, dass er damals noch keine juris-
dictioneilen Funktionen hatte. Vielmehr wird der Kämmerer
in Worin 8 wohl zunächst ganz dieselben Funktionen am Bischofs-
hofe wie der Kämmerer des Königs an dessen Hofe versehen
haben, also Aufsicht über Baulichkeiten und Ausstattung der
Pfalzen sowie Schatzverwaltung.4) Zu letzterer gehörte es nun
auch, die Abgaben in Empfang zu nehmen, welche dem Bischof
von, in besonderer Abhängigkeit von ihm stehenden, Personen
geleistet wurden.*) Mit solcher Abhängigkeit war nun im Mittel-
alter regelmässig ein besonderes Schutzverhältnis verbunden.
Da nun aber der Verkehr des Bischofs mit solchen, besonderer
Abgaben und Dienste halber unter seinem speciellen Schutz
stehenden Personen durch den Kämmerer geschah, so wurde der
Schutz auch zunächst von ihm geleistet. So kam die, ja haupt-
sächlich ihrer Abgaben halber von den Bischöfen geduldete
und beschützte, jüdische Gemeinde wie in zahlreichen anderen
Orten*) so auch in Worms in ein bes. enges Verhältnis znm
Kämmerer.7) Während der christliche Schuldner, wenn er ange-
*) V. G. I. s. 2%.
*) S. 24.
•) 8. oben S. 170 N. 3.
*) Entsprechendes weist Lamprecht I 1469 in Trier nach.
*) vgl. Bochmer fontes II p 210: Ipsi (sc. camerario) ratio de eensn,
qnem camere appellabant, reddenda erat.
*) vgl. Stobbe, Die Jnden in Deutschland (Braunschw. 1866) S. 145,
256, 257.
') In welche Zeit die Anfänge der Abgaben an Bischof und Kämmerer
und das besondere Schutzverhältnis bei der Wormser Jndengemeinde fallen,
muss dahingestellt bleiben. Jedenfalls ist es bemerkenswert, dass das dem
Wormser Judenbischof Salman und seinen Genossen erteilte Privileg Heinrichs IV,
das uns freilich nur, nachdem es schon durch eine Reihe von Transsumiemngen
gegangen, in einer Urkunde Friedrich II erhalten ist (vgl. Uber dasselbe und die
darüber vorhandene Literatur Aronius in dem oben S. 8N. 1 citierten Werke
No. 171) al» Personen, von deren Gerichtsbarkeit und Bestenmng die Empfänger
unabhängig sein sollen, ausser Bischof, Grafen und Schultheisseu auch den
Kämmerer nennt. Allerdings ist vielleicht daraus, dass der um diese Zeit
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175
klagt weder durch Bärgen, noch durch Pfänder Sicherheit leisten
konnte, vom Burggrafen, später von Greven in Haft gehalten
werden konnte, kam der jüdische Schuldner in solchem Falle
ins Gefängnis des Kämmerers, musste ihm aber dafftr nach
erfolgter Entscheidung der Sache eine besondere Abgabe leisten.1)
Ebenso durften die Juden auch nur durch den Kämmerer oder
seine Boten vor das bischöfliche Gericht geladen werden.*) Wäh-
rend diese Bestimmungen der Ämterbeschreibung des dreizehnten
Jahrhunderts angehören, melden spätere Nachrichten von einem
— aber auch schon zu ihrer Zeit altüberlieferten — Brauche,
dass Hochzeits- und Begräbniszüge der Juden vom Kämmerer
einen Stabträger zum Schutzgeleit erhielten.*) Auch hat der
Kämmerer zeitweise eine Jurisdiction über die Juden*) wohl
bei Bechtsstreitigkeiten derselben mit Christen besessen.*)
Wichtiger ist noch, dass auch den Ministerialen gegenüber
der Kämmerer Befugnisse besass, die sonst anderen Beamten
in Worms sonst noch nicht nachweisbare Schultheis» in einem Zusammenhänge
genannt wird, wo man den Vitxtnm erwarten würde (vgl. oben S. 170 ff.), zu
schliessen, dass diese Stelle bei einer der Transsumierungen geändert ist.
*) Boehmer fontes II p 210, vgl. Arnold S. 74.
•) ibid.
*) Zorn S. 68, Schannat I p 206.
*) Vgl. den Lehnsbrief des Heinrich Kämmerer vom Jahre 1406 (Schannat
266). Arnold S. 74 hält anf das dreimal jährlich in snburbio Martiniano vom
Kämmerer abgehaltene Gericht, welches die Kämmerer 1316 an die Stadt
verkauften (s. Boehmer Fontes II 211, Zorn S. 134) für das .Judengericht,“
da diese Vorstadt .dem Judenviertel zunächst lag.“ Es wäre aber so nicht
abzusehen, warum dies Gericht nicht auch in unseren Quellen als .Judengericht“
bezeichnet wäre; ferner haben nach dem oben citierten Lehnsbrief die Käm-
merer ja auch noch nach 1315 das Juden-Gericht zu Worms (Schannat a. a.
0.). Über das iudicinm in suburbio Martiniano vgl. die oben S. 119 gegebene
Erklärung.
•) Processe der Juden untereinander wurden in älterer Zeit von ihnen
selbst, nämlich von dem episcopus Judaeorum und seinen Ratslenten, ent-
schieden. Vgl. die oben S. 174 N. 7 citierte Urkunde Friedrich II 9 14 : .Qnod
si Judei litern inter se . . h&buerint, a suis paribus et non ab alils iudicentur*
und den Vertrag Bischof Emerichs mit den Wormser Juden vom Jahre 1312:
Vom ersten, dass der Juden Ratlude zvvelif sollen sin . . und die zvvelif
solln under in nach Jutschem Recht richten als ez von alter berkommen ist.
(Schannat II p 162 N. 1.) Über den Gerichtsstand der Wormser Juden in
späterer Zeit vgl. Schannat I p 206, 207 und Fr. Janson, de episcopo
Judaeorum Wormatiensi (Heidelb. Doctordissert. von 1786) p 6—7, 18.
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176
zustanden. Hatte schon 1016 der Bischof Interesse daran, dem
Burggrafen, obgleich er als Vogt sein Vasall war, das Betreten
der Umgebung der damals gestifteten Paulskirche zu unter-
sagen,1) so brachte er es wohl auch frühzeitig dahin, dass die
Vornahme von Verhaftungen dem Burggrafen im Bischofshofe
und in den Wohnungen der bischöflichen Ministerialen entzogen
wurde.*) Hier konnte nnn der Kämmerer um so leichter für
den Burggrafen eintreten, als ihm nach dem Vorbilde des
Kämmerers am Königshofe wohl die Aufsicht über die Baulich-
keiten der Pfalz übertragen war. In ähnlicher Weise ist es
bei der erwähnten Aufsicht des Kämmerers über den Bischofs-
schatz leicht erklärlich, dass im zwölften Jahrhundert in die
Münzerhausgenossenschaft neu aufgenommene Mitglieder ausser
an Bischof und Münzmeister auch an den Kämmerer Abgaben
leisten mussten.’) Ob die Wormser Kämmerer endlich auch,
wie es von denen anderer Orte4) feststeht, öfters als Stellver-
treter ihres Bischofs dem ministerialischen Dienstgerichte vor-
sassen, muss dahingestellt bleiben.
Dagegen ist es sicher, dass der Kämmerer im 13. Jahr-
hundert der Rügegerichtsbarkeit über die ganze Stadt Vorstand,
da uns dies die Ämterbeschreibung ausdrücklich berichtet.’)
Es ist schon oben bei Besprechung des Amtes der Heimburgen,
welche uns daselbst als mit der Erhebung der Rüge betraut
entgegentraten, erklärt worden, dass dies Rttgegericht des
Kämmerers aus dem Sendgerichte entstanden ist.*) Der — übri-
gens, wie aus der Ämterbeschreibung selbst hervorgeht, dem
Ministerialenstande angehörende7) — Kämmerer war damals
der Vorsitzende des Sendgerichtes, die städtischen Schöffen die
■) W. U. 43 vgl. über diese Urkunde oben S. 156 N. 4.
*) vgl. Boehmer font. t. II p 213 Z. 32, 33.
•) W. U. 80 S. 66 Z. 21.
‘) Vgl. i. B. Stumpf 3568 (Wilmans, Kaiserurk. der Prov. Westfalen II
Münster 1881 No. 226 S. 309) für Corvey : cum hanc potestatem sub se ha-
buerint, ut (sc. abbas) quicqnid a suis infra muros delinqueretur, aut ipse cor-
rigeret aut camerario vel dapifero . . corrigendum . . committeret. vgl. auch
Urk. Bischof Ottos von Halberstadt in von Ledebur, Arch. f. Gesch. d. Preuss.
Staats VIII (1832) S. 282: a camerario hanc causam terminandam censemns.
‘) Boehmer Fontes II p 210, 211, vgl. oben S. 116, 117.
•) ibid.
’) ibid. 8. 211 Z. 9-11, vgl. oben S. 173.
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177
Sendschöffen nnd die Heimburgen die Sendgeschworenen. So
war ein ursprünglich rein geistliches Gericht hier ganz in
Laienhände gekommen. Zur Erklärung dieser auffallenden Er-
scheinung sei es erlaubt, eine Frankfurter Urkunde vom Jahre
1283 ‘) heranzuziehen. In derselben verzichtet der Frankfurter
Pleban gemäss eines von Oanonikern und Schöffen gefällten
Schiedsspruches völlig auf Teilnahme am Sende und Ernennung
der Sendzeugen. Die Schöffen selbst sollen das Sendgericht ab-
halten; dabei sollen dann von ihnen ernannte Sendgeschworene
(eitsveren) auf Befragen vorgekommene Feiertagsentheiligung
rügen.*) So war demnach in dem doch viel später als Worms
sich entwickelnden Frankfurt schon in der zweiten Hälfte des
dreizehnten Jahrhunderts der Send in Laienhände gekommen.
Dass dasselbe in Worms mindestens schon im Beginne dieses
Jahrhunderts der Fall war, kann wohl aus der eigentümlichen
Bemerkung des angeblichen Privilegs Heinrichs VI. geschlossen
werden , dass die Heimburgen künftig von jeder Abgabe an
Propst und Arehidiacon, also die geistlichen Sendrichter, frei
sein sollten.5) Dazu, dass gerade der Kämmerer den Vorsitz
im Sendgerichte erhielt , mag, abgesehen von der sonstigen ju-
risdictionellen Tätigkeit desselben, besonders der Umstand bei-
getragen haben, dass wohl, wie es für Worms gerade in dem einen
Falle, in dem ein geistlicher Kämmerer überhaupt erwähnt ist,4)
und für das benachbarte Mainz sehr oft bezeugt ist.5) das geist-
licheKämmereramt dem Propste, dem regelmässigen Sendrichter,0)
zustand. Hatte der ministerialische Kämmerer den geistlichen
im Sende anfangs vertreten, so mochte sein Vorsitz, bei dem
wachsenden Selbstgefühl der städtischen Bürgerschaft, von den
Schöffen dem des geistlichen Kämmerers vorgezogen, diesen
allmälig ganz verdrängen. War bei Sendgerichtsfragen der
’) Boehmer Codex diiilom. Moenofrancofiirt. (Frankf. 1836) p 211.
*) Jedoch fallen nach dieser Urkunde die Bussen für das Vergehen —
freilich in von den Schöffen bestimmter Höhe — an den Fleban.
*) Boehmer Fontes II p 21 ö: nnllns eomm (sc. heiinburgenainm) quid-
qnam darc debet praeposito ant archipresbyter» nlei aut denariomm ant alius
rei vgl. oben S. 115 mit N. 4 nnd 5.
*) W. U. 45: Signum Emichonis praepositi et cauierarii.
‘) s. die Beispiele bei Hegel Mainz S. 30, 31.
*) vgl. oben S. 115.
Koeline. Ursprung der Stadtvcrfii-ssung in Worms, Xpeier nnd Mninr.. li
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178
Kämmerer einmal Vorsitzender der Schöffen, so lag es dann
nabe, ihn zu jener Zeit, als der Vogt-Burggraf seine Rechte
in der Stadt aufgab, neben dem Schul theissen zum Vorsitzenden
des Schüffencollegs in der weltlichen Gerichtsbarkeit zu machen.1)
Während die gerichtlichen Zwangshandlungen, nämlich Ladungen
und Executionen, damals an den von den Bürgern gewählten
Greven kamen,*) übernahm der Kämmerer den bis dahin dem
Burggrafen zustehenden Vorsitz im Schöffengericht. Als Minis-
terial war der Kämmerer vom Bischof abhängiger und ihm dess-
halb genehmer als der Vogt-Burggraf; andrerseits war er in
Folge der schon eingetretenen Erblichkeit seines Amtes hin-
reichend unabhängig , um auch das städtische Interesse gegen-
über dem bischöflichen vertreten zu können.
Wohl konnte nämlich ursprünglich, wie aus dem Gesetze
Burchard’s hervorgeht, der Bischof das Kämmereramt frei ver-
geben.3) Indess kann daraus, dass in der zweiten Hälfte des
eilten Jahrhunderts nachweisbar ein Erkenbert im Besitze des
Wormser Kämmereramtes ist,4) gerade dieser Name in seiner
Familie öfters vorkam5) und ein Kämmerer Erkenbert in Ur-
kunden von 1137 — 1141 als Zeuge erscheint,6) wohl geschlossen
werden , dass damals schon das Kämmereramt tatsächlich in
einer Familie forterbte. In den ersten Jahrzehnten des 13.
Jahrhunderts hatte aber die allgemeine Entwicklung schon da-
hin geführt, dass diese Beamtuug unentziehbar und erblich ge-
worden war; in dieser Zeit wurde nämlich, als gerade damals
die Fürsten mehrfach Entscheidungen des Reichsgerichts durch-
setzten, dass die Ministerialenlehen bei Herrenfall und Manns-
') Daher erscheint der camerarius teils allein, teils mit dem scultetos
unter dem Namen indices an der Spitze der Schöffen vgl. oben S. 169.
*) vgl. oben S. 167 ff.
*) W. U. 48 tit. 29.
4) S. die Biographie Erkenbert«, des Stifters des Klosters Frankenthal,
in Ludewig Reliq. Uanusc. II p 78 sq. Danach war der Oheim desselben,
nach dem er seinen Namen führte, Kümmerer des Wormser Bischofs (a. a. 0.
p 78, 79); der Stifter des genannten Klosters aber wurde 1080 geboren, da
er 1192 im Alter von 52 Jahren starb (a. a. 0. p 99, 100, vgL F. Falk in
Monatssehr. f. rhein -westfäl. Gesch. III S. 127).
*) Dies geht aus dem in der vorigen Note erwähnten hervor.
•) D. 64, U. 69—71.
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179
fall ledig würden, das Kämmereramt dabei stets ausdrücklich
ausgenommen.1)
In Worms spricht für noch frühere Erblichkeit dieses Amtes
auch die Tatsache, dass bei der im Besitze desselben befind-
lichen Familie die Bezeichnung Kämmerer schon im dreizehnten
Jahrhundert Geschlechtsname geworden ist. Allerdings kann
die relativ früh überlieferte*) Ansicht, dass dieses Geschlecht
schon zur Zeit des Kölner Erzbischofs Heribert (f 1021) das
Wormser Kämmererarat besass und dass dieser aus Worms
stammende Prälat ihr angehörte, nicht als historisch ausreichend
bezeugt angesehen werden.5) Auch zur Zeit Erkenberts, des
Stifters des Klosters Frankenthal, haben die Verwandten des
gleichnamigen Kämmerers die Amtsbezeichnung jedenfalls noch
nicht als Titel geführt.4) Dagegen wird wohl schon in den
') B-F. 1062, 3895, 4149, 4411, 4465, 5017. (L. L. II ed. Pertz p 234,
252, Huillard-BrGholles III p 409, L. L. II p 333, 334, Huil.-Brfeh. VI p 839,
L. L. n p 366).
*) Dieselbe findet sich schon in der Wormser Ämterbeschreibung von
1483 oder 84 (s. Boehmer fontes II p. 211 mit der Note). Für diese Tradition
hat sich anch F. Falk in Corrcspoudenzbl. des Gsmmtvereins d. D. Oschtsvereine
Bd. XXII (1874) S. 44 und in der oben S. 178 N. 4 angegebenen Ztschr. aus-
gesprochen.
*) Sowohl die Ämterbeschreibung als die Unterschrift eines in unbe-
kannter Zeit entstandenen Bildes, welches Falk Correspdzbl. a. a. 0. erwähnt,
stehen den erzählten Ereignissen zeitlich ganz fern. Die, im Jahrhundert des
Todes Heriberts von Lantbert verfasste, Biographie desselben sagt nur von
ihm, dass er clarissima Wormaciensium progenie mundo editus gewesen (S.
S. IV p 741). Ihr sind anch Oiesebrecht d. K, I 718, Cardauns in derAUg.
Deutschen Biogr. s. v. Heribert und Ennen Oesch. der Stadt Köln (Köln 1863)
8. 260 gefolgt Die erwähnte Tradition ist vielleicht dadurch entstanden, dass
Heribert (geistlicher) Kämmerer in Worms gewesen ist, ebe er Erzbischof
wurde, und daher in einer nicht mehr erhaltenen Urkunde als camerarius
Wormatiensis bezeichnet ist.
4) Dass der Neffe des Kämmerers Erkenbert vom Monachus Kirsgartensis
in der Überschrift des Capitel 27 (Ludewig Reliq. II p 78) auch camerarius ge-
nannt wird, obgleich er selbst dies Amt nicht bekleidet hat, kann natürlich
nicht als Beweis gelten. Der älteren Quellen entnommene Text spricht eher
gegen als für die Annahme, dass die ganze Familie damals schon so bezeichnet
wurde. Dass die späteren Kämmerer von Worms wirklich von dieser Familie
des Stifters von Frankenthal abstammen, was Falk an den oben N. 2 citierten
Stellen und Remling in Gesch. d. Abteien und Klöster in Rheinbayern (Neustdt.
a/d. Hardt 1836) Bd. II S. 4 behaupten, dagegen Weidenbach im Rhein.
is*
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180
dreissiger,1) spätestens in den sechziger Jahren des dreizehnten
Jahrhunderts der Kämmerertitel sicher von mehreren Mitglie-
dern derselben Familie geführt. Im Jahre 1261 sagt nämlich
Emicho camerarius der Stadt, um eine Busse nicht leisten zu
brauchen, das Bürgerrecht auf und wird auch 1264 unter den
Gegnern der Stadt genannt;*) dagegen ist Heinricus camera-
rius 1262 Bürgermeister.’) Ja, nicht nur der Name, sondern
auch die Reste der Beamtung scheinen schon 1279 mehreren
Mitgliedern des Geschlechts durch Erbschaft zugefallen zu sein.4)
Im vierzehnten Jahrhundert verschmelzen dann die Kämmerer
mit der damals aussterbenden Familie der Dalbergs5) und
heissen von da an Kämmerer von Worms, genannt von Dalberg,6)
oder auch kurzweg Kämmerer von Dalberg.7) So gehen sie
zuletzt völlig in den Landadel auf, bleiben aber nicht nur
Lehnsleute des Wormser Bistums,8) sondern behalten auch bis
zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts einige aus ihrem frü-
heren Amte stammende Berechtigungen in Worms.9)
Wenden wir uns nun zur Betrachtung der Beamten in Speier.
Auch hier ist die Identität von Burggraf (Stadtgraf, comes, prae-
Antiquarius 2. Abt. Bd. XVI (Coblenz 1869) S. 223 bestreitet, kann also auch
nicht als sicher festgestellt angesehen werden.
■) Schannat II No. 121 p 113, W. U. 186, vgl. noch W. U. 236.
’) Boehmer fontes 11 p 202, 203.
•) ibid. p 203.
•) In W. U. 390 nennt Bischof Friedrich von Worms Heinricum et Ger-
harduni fratres „camcrarios nostros.“
*) vgl. Weidenbach (in der S. 179 N. 4 citierten Ztschr.) 3. 224,
F. Falk im ibib. N. 2 angeführten Correspbl. S. 43, 44, F. Toepfer in dem
oben S. 173 N. 1 citierten Werbe S. 421.
*) Vgl. z. B. Baur Hess. Urk. IV N. 1 p 1 : Johann Kemmerer, den man
nennet von Dalberg.
’) S. die in Note 5 angeführt« Litteratur.
*) vgl. Schannat I p 256-258.
*) Vgl. den ibid. abgedruckten Lehnsbrief. Nach der oben 8. 176 N. 5
citierten Schrift von Janson § 14 p 18 hatten freilich die Kämmerer im acht-
zehnten Jahrhundert, obgleich ihnen in diesen Lehnsbriefen das Judengericht
und das Recht „die Juden zu schirmen, als Herkommen ist“ übertragen wird,
doch in dieser Hinsicht keine weiteren Rechte als dass sie einen Stab-
träger bei den oben S. 175 mit N. 3 erwähnten Gelegenheiten stellen und eine
kleine Gebühr dafür einziehen durften. So ist es auch zweifelhaft, ob die in
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181
fectus urbis) und Vogt (advocatus) sicher. Dieselbe geht schon
daraus davor, dass im Jahre 1103 in einer Urkunde über eine
zu Speier in Gegenwart des dortigen Bischofs Johannes I. voll-
zogene Vergabung1) unter den Zeugen als erster der ingenui
Heinrich advocatus, in einer von diesem Bischof selbst 1104
ausgestellten Urkunde*) aber an entsprechenderstelle „Heinrich,
praefectus urbis“ genannt wird. Ferner ist für 1109, 1115
und 1164 ein Burggraf Ekbert bezeugt;*) durch das Tra-
ditionsbuch von Hirschau ist aber überliefert, dass ein prae-
fectus Spirensis Ekbert einen Sohn Ekbert hatte, der schon
zu des Vaters Lebzeiten comes genannt wurde.*)
Demnach haben wohl zwei gleichnamige Personen , die
als Ekbert I und II unterschieden werden können, das
Speierer Burggrafenamt in den 55 Jahren zwischen 1109 und
1164 bekleidet. In dieser Zeit ist nun auch ein Eckbert ad-
vocatus 1115 in Speier bezeugt,6) so dass wieder die Iden-
tität von Vogt und Burggraf deutlich wird. Man war sogar
damals schon so gewohnt, dass die beiden Titel advocatus ec-
clesiae und praefectus urbis derselben Person zukamen, dass
man sie förmlich durcheinander mengte; derart muss es doch
wohl erklärt werden, dass dieser Ekbert in einer zwischen 1120
und 1149 entstandenen Urkunde als comes, per divinam miseri-
cordiam Spirensis ecclesiao praefectus, bezeichnet wurde.6)
Dass die beiden Ekberts ebenso wie ihr Vorgänger Hein-
rich dem Stande der Freien angehörten, lässt sich schon daraus
schliessen, dass der Speierer Canoniker Hermannus, Ekberti Co-
den Lehusurkunden den Kämmerern zngcsicherte Freiheit von allen städtischen
Stenern damals noch wirklich bestand, welche cinzuschränken der Rat schon
im Jahre 1398 vergeblich versucht hatte (vgl. Quden Cod. dipl. V p 746).
*) Beinling ürkb. N. 76 p 84.
*) ibid. N. 78 p 86; vgl. auch Boehmer Fontes IV p 323, wonach ein
zur Speierer Diöcese gehöriger comes urbis Heinrich am 19. Juli gestorben ist.
*) Codex Hirsaug. p 49; Stumpf Nr. 3ö25 (Beyer Mittelrh. Crkb. [Oob-
lenz 1860] Bd. I No. 643 S. 601); Würdtwein Snbsidia diplom. t. X (Francof.
et Lips. 1777) p 349. Vgl. auch das Todtenbuch des Speierer Domstifts, wonach
ein Eggebertus comes am 25. Januar gestorben ist. (Mone Ztschr. Bd. XXVI
a 419).
‘) Cod. Hirsaug. p 57: Ebbertns prefectus Spirensis et uxor eius Had-
wic cum fllio comite Eckeberto dederunt . . .
*) St. 3097 Bemling No. 81.
•) Mone Anzeiger f. Kunde der Deutschen Vorzeit VII (1838) S. 447 N. 13.
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182
mitis Alias, 1184 nobilis vir genannt wird.1) Dazu kommt noch,
dass 1146 Eckebertas comes de Spira in einer Urkunde Kun-
rads m unter den Zeugen erscheint.*) Mit den Ekberts ver-
schwindet in unserer Überlieferung für den Vogt die Be-
zeichnung Burggraf (praefectus urbis, comes urbis). Da diese
Familie nachweisbar auch Güter ausserhalb Speiers besass,3) so
kann man wohl annehmen, dass die Speierer Burggrafen ganz
wie die Wormser und Mainzer ihre Rechte in der Stadt all-
mälig aufgegeben haben.
Nach dem Verschwinden des Vogt-Burggrafen in Speierer
Urkunden tritt daselbst ein wohl dem Wormser Greven4) ent-
sprechender Beamter in dem, nun nicht mehr dem Stande der
freien Herren angehörenden, „Vogt“ entgegen. Zwischen 1201
und 1220 wird ein „Vogt Anselm“ mehrfach unter den Minis-
terialen genannt.5) Neben diesem ministerialischen Vogt gab
es noch einen anderen, der dem Bürgerstande angehörte.
Ein solcher erscheint 1218 in einer Zeugenliste, die auch den
ministerialischen Vogt Anselm6) enthält; als bürgerlicher Vogt
wird hier der Münzmeister Gotfried genannt.7) Ebenso finden
wir im Jahre 1265 den einer Münzerfamilie angehörenden Mar-
quard Lambesbuch als Vogt.") Die Collegialität des Speierer
Vogtamts scheint jedoch bald aufgehoben zu sein; wenigstens be-
') St. 1184, Würdtweiu Nova subsidia diplom, XII (Heidelb. 1788) p 114.
*) StumpfNr. 3528 (Beyer Mr.Urkb. an der oben 8. 181 N. 3 citierten Stelle).
*) vgl. Cod. Hirsang. p 57.
‘) Beide haben einen Teil der Befugniese des Vogt-Burggrafen erhalten
and der Speierer Vogt wird wie der Wormser Greve bei Aufzählungen der
Beamten hinter Schuitheiss und Kämmerer genannt, s. D. 159 S. 119 Z. 25
und Hilgard Urkb. 8. 474 Z. 39. Freilich folgt aus U 110 (8. 81 Z. 39) und
U 293 (8. 233 Z. 5) dass der Speierer Vogt auch Gerichtsbarkeit übte, wäh-
rend diese dem Greven fehlte vgl. oben 8. 169. Das Wort Greve selbst kommt
in Speier nur als Eigenname vor (U 253, U 359).
*) Baur Hess. Urk. II No. 22 p 36, Remling Urkb. No. 123, Sp. U. 28,
29, 31—33.
•) U. 31. Neben Anselm erscheint 1209 auch noch ein ebenfalls ministe-
rialischer Vogt Walter in einer Urkunde Bischof Konrads von Speier (Winkei-
mann, Otto IV Append. N. 3S. 518). Es muss aber dahingestellt bleiben, ob
dieser Walter mit städtischen Verhältnissen etwas zn tun hat.
T) U. 31 Z. 37 : Godefridus advocatus, magister monetariorum. So fasst
diese Stelle auch Hilgard im Register 8. 525 auf.
•) U. 110.
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183
gegnet seit Anselm kein ministerialischer Vogt mehr und in
einer Aufzeichnung des 14. Jahrhunderts wird ausdrücklich
berichtet, dass der Bischof nur einen Vogt in der Stadt hat.1)
Derselbe wurde wie Schultheiss und Kämmerer vom Rate ge-
wählt und vom Bischof nur belehnt.*)
Kehren wir jetzt zur Betrachtung des Vogt -Burggrafen
zurück. Die mannigfachen demselben in Speier zustehenden
Befugnisse lassen sich auf seine Doppelstellung zurückführen.
Aus der Grafenwtirde stammten die gerichtlichen Befugnisse*)
und die Aufsicht über die Festungswerke, welche den Burg-
grafen in Stand setzten, die Stadt dem in Empörung gegen
seinen Vater begriffenen Heinrich V, offenbar wider Willen der
Bürger, auszuliefern ;*) als Vogt war derselbe Beamte Vertreter
des Bischofs 5) und hatte auch wohl jene Befugnisse erworben,
welche Heinrich V. 1111 zu Gunsten der Bürger aufhob.6)
Die Competenzen des Burggrafen gingen auch in Speier
über das unmittelbare Gebiet der Stadt hinaus. Schon in
den Ottonischen Privilegien hatte der Bischof nicht nur in der
Stadt , sondern auch im umliegenden Lande die Grafen-
rechte erhalten ,*) und der Umstand , dass Mutterstadt,
Gommersheim und Freispach ganz bestimmt an der In-
standhaltung der Speirer Mauern beteiligt waren,8) zeigt, dass
dies Gebiet ziemlich umfangreich war. Mit dem engeren um
») Hilgard Urkb. S. 489 Z. 22.
*) U. 184 8. 141 Z. 11 ff. vgL Ran Regünentsv. II 24. Unberücksichtigt
kann hier der von dem Rate im 14. Jahrhundert zum Stadtsyndicus vor geist-
lichen Gerichten bestellte Jurist bleiben, welcher auch advocatus genannt
wurde; vgl. über ihn Sp. U. 339, 345.
*) U 13 (S. 16, Z. 40, S. 17, Z. 2).
4) Annales Hildesheim. a 1106 (S. 8. III p 109) vgl. unten Cap. VII.
*)'vgt. Acta Theod.- Palatina III p 268. Hier wird bei einem im
Jahre 960 vorgenommenen Gütertausche der Bischof von Speier durch den
Vogt Ruothard vertreten.
•) U. 14 S. 19 Z. 9 ff: Nullus prefectus vinum quod appellatur banwin
presumat vendere aut alieuius civis navim ad opus sui domini illo invito accipere.
*) vgl. oben S. 146.
•) vgl. Lebmann-Fnchs Chronicon Spirense S. 18, 19. Für Mutterstadt
folgt die Beteiligung am Mauerbau ans einer Inschrift auf einem Mauerstein :
Muderstat pinnas sibi vendicat istas, für Gommersheim und Freispach daraus,
dass sie noch zu Fuchs Zeiten die in Folge der Beteiligung an Instandhaltung
und Bewachung der Mauern ihnen ehemals erteilten Rechte in Anspruch nahmen.
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184
»
Speier gelegenen Bezirk, in dem der Bischof seit 989 die
Grafenrechte übte, wurden 1086 noch weitere dadurch verbun-
den, dass, in Folge der königlichen Schenkungen Lutrainsforst
und Forchheim, fast der ganze Speiergau an den Bischof überging.1)
Jedenfalls geht die Tatsache, dass die Befugnis des Speierer
Vogts über die Stadt hinausreichte, auch aus folgendem hervor :
Als 1103 das Kloster Herd dem Domstift übergeben wurde,
wurde zugleich verordnet, dass dafür kein besonderer Vogt
eingesetzt werden sollte, sondern dass der Speierer Domvogt
dreimal im Jahr zu den dortigen Gerichtstagen kommen sollte.*)
Die Tatsache, dass die Stadt unter bischöflicher Herrschaft
durchaus noch kein besonderes Gebiet bildete, ergiebt sich aber
ganz besonders daraus, dass auch der dem Vogt-Burggrafen
untergeordnete Beamte, der Speierer Sch ult heiss, neben dem
städtischen auch ländlichen Gebietsteilen vorgesetzt war. Nach
einer Urkunde von 1230 musste damals ein Hof in Affolterloch
jährlich zwei Unzen an den Speierer Schultheissen zahlen,*) wo-
raus wohl auf jurisdictionelle Abhängigkeit zu schliessen ist.
Damit stimmt überein, dass später, als der Speierer Scliultheiss
aus einem bischöflichen ganz vorzugsweise ein städtischer Be-
amter geworden, zwischen Rat und Bistum lebhafter Streit
darüber entstand, wie es mit der Gerichtsbarkeit in einer Reihe
von Ortschaften 4) gehalten werden sollte, die seit Alters her zum
Bezirk des Speierer Scliultheissengerichts gerechnet wurden.
Noch 1294 wurde in einem Vertrage Bischof Friedrichs und
der Stadt diese Frage unentschieden gelassen.*)
Was nun den Ursprung des Speierer Schultheissenamtes
anbetrifft, so ist zu bemerken, dass dasselbe ausdrücklich in
>) St. 2874, Remling Urkb. I N. 68.
*) Remling Urkb. I N. 76.
*) Remling Urkb. I No. 176: quod eorum curia in Affoluderuloch sin-
gulis annis quatuor uncias Spirenses scnlteto nostre civitatis nomine uostro
debet persolvere.
4) Es waren nach U. 184 S. 141 Z. 20: Berghuseu, Harthuseu (siidwestl.
von Speier), Heyenhoven, Tutenhoven (westl. von Speier) und Walhesheim
(Walsheim). Letzteres verlegt Hilgard im Index in das pfälzische Bezirksamt
Landau. Es ist aber wohl dahinter ein anderer näher bei Speier gelegner Ort
Walasheim auch Walsheim, der heute Waldsec genannt wird, zu verstehen
vgl. Lamejus in Acta Theod.-Palat. III p 237, 238.
•) U. 184.
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185
dem überlieferten Material nicht vor 11631) erwähnt wird.
Dagegen war in Speier jedenfalls vor dem Auftreten des Schult-
heissen neben dem Vogt-Burggrafen nicht, wie in Worms, der
Vitztum, sondern ein Tribun als Gerichtsbeamter tätig, der
am Ende des 11. und Anfang des 12. Jahrhunderts in dieser
Funktion mehrfach erwähnt ist.*) Er entschied geringere Pro-
cesse und hatte mit dem Burggrafen die Verhaftung von Ver-
brechern vorzunehmen.’)
Obgleich Burggraf und Tribun von den Bischöfen abhängig
waren,4) haben diese doch auch in Speier danach gestrebt, ge-
wisse unter ihrem besonderen Schutze stehende Personenclassen
der Unterordnung unter die genannten Beamten möglichst zu
entziehen. So übte z. B. ein vom5) Bischof eingesetzter Archi-
synagog über die von Bischof Rüdiger in der villa Spira ange-
siedelten Juden die richterlichen Befugnisse aus, die den übrigen
Einwohnern Speiers gegenüber der Tribun hatte, während
bedeutendere Sachen vom Bischof selbst oder dessen Kämmerer
entschieden wurden.6) So ist es auch den Mitgliedern des
Speierer Domstifts gelungen, durchzusetzen, dass sie in ge-
wissen Strafsachen nur vor einem, unter Vorsitz ihres Decans
>) ü. 16.
*) s. U. 11 a 1084 (S. 12 Z. 3), U. 13 a 1101 (8. 16 Z. 29, 40, S. 17 Z. 2)
ferner Cuono tribunus aU Zeuge in Urk. Heinrichs V für Speier von 1113
Ang. 29 (Beinling Urkb. Nr. 81 S. 90; Stumpf 3097).
») s. U. 11 u. U. 13 a. a. 0.
*) Für den Tribun geht dies aus dem Ausdrucke tribunus episcopi
(U 13 S. 16 Z, 29) hervor.
*) Dass dieser Beamte damals vom Bischof, weun derselbe darin auch
zunächst als Vertreter des Kaisers fungirte, nicht vom Kaiser selbst ein-
gesetzt wurde, kann wohl aus dem ganzen Ton von U. 11 sowie aus den
Worten von U. 12 (S. 13 Z. 29) : qui ex parte episcopi preest Synagoge ge-
schlossen werden. Aronius Begesten z. Gesch. d. Juden in Deutschi. (Berlin
1887) No. 168 und 170 erklärt freilich nicht nur mit Hoeniger und Stobbe
die letztere Urkunde für zu Gunsten des Bischof überarbeitet, sondern hält
es auch für möglich, dass auch die Urkunde Bischof ßüdigers nicht unver-
fälscht überliefert ist, da die Beeilte an den Juden erst später an die Bischöfe
gekommen sein. Durch die Urkunde Heinrichs V von 1113 August 29 (s.
oben N. 2) steht aber jedenfalls fest, dass die Juden in Speier bis zu dieser Zeit
an den Bischof (nicht den Kaiser) zinsten, indem damals der Bischof den
Zins mit dem Domkapitel gegen Güter zu Oppenweiler vertauschte.
•) U. 11. 8. 12 Z. 4 ff.
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abgehaltenen, Genossengerichto Recht zu nehmen brauchten; ')
ferner haben sie auch ihren Wohnungen Asylrechte zu ver-
schaffen gewusst.®) Endlich bemühten sich auch Bischof und
Capitel nicht ohne Erfolg sich für ihre servientes eine beson-
dere Gerichtsbarkeit zu schaffen und sich die Befreiung der-
selben von Körperstrafen gegen Geldstrafen zu ermöglichen.*)
Nach dem erörterten kann es nun als gewiss betrachtet
werden, dass dieser Speierer Tribun einfach der alte Hundert-
schaftsvorsteher der Merowinger- und Karolingerzeit ist, der
ja auch schon öfters diesen Namen führte;4) nur war, wie der
Burggraf, so auch der Tribun vom Bischof abhängig geworden.
Bei dem Auftreten des Schultheissen handelt es sich dann auch
nur um eine Namensänderung.5) Einer solchen entspricht es
auch, dass in Mainz, wie Hegel8) nachgewiesen hat, derselbe
Beamte bald als Schultheiss, bald als Tribun bezeichnet wird.
Hervorzuheben aber ist, dass in Speier, wie der Burggraf durch
die Übernahme der Vogtei, so auch der Schuhheiss (Tribun),
als der Bischof die Grafenrechte erhielt, zugleich bischöflicher
Beamter wurde und die seinen öffentlich rechtlichen Funktionen
entsprechenden Rechte gegen die bischöfliche familia — abgesehen
von der Classe der servientes — erhielt. Es geht dies daraus
') U 13 S. 17 Z. 1 ff. : Si vero aliquis fratrum aliquem forensero vulnera-
verit, despoliaverit vel in aliquo leserit, non ab hoc vel a prefecto Tel a
tribnno capiatur, aed ipsa questio ad decanum et ad alios fratres deferatnr.
*) ibid S. IG Z. 39 ff.
•) U 13 3. 26 Z. 16 ff. Diese Urkunde selbst ist dem Domkapitel ge-
geben und enthält auch Beeinträchtigungen des Bischofs, der z. B. in älterer
Zeit selbst die Jurisdiction Ober alle Geistlichen seiner Diöcese übte, soweit
sie überhaupt der weltlichen Gerichtsbarkeit entzogen waren, vgl. Schröder
R. G. 8. 179 — 181. Man darf also diese Urkunde Heinrichs IV nicht, wie
es Schaube Speier S. 456 mit N. 4 tut, als blosse Bestätigung der den Spei-
erer Bischöfen von den Vorgängern dieses Kaisers erteilten Privilegien an-
sehen. Im übrigen folgt auch aus der f ür dies Privileg (U 13) hier gegebenen
Erklärung, dass die eigentlich bischöflichen servientes, von denen in dem-
selben nicht die Rede ist, die Rechte, welche darin den servientes der D o m -
herren erteilt werden, damals Bchon besassen.
4) Sohm V. G. S. 230—240 (vgl. bes. S. 237 mit N. 79), und Schröder
R. G. S. 127 mit N. 15.
*) So auch schon Arnold V. G. I S. 84, während Schaube Speier S. 456
Tribun und Schultheiss wie zwei ganz verschiedene Beamte bespricht.
•) Mainz S. 29 mit N. 4—7.
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187
hervor, dass noch 1211 ein Speierer Schultheiss ausdrücklich
als villicus bezeichnet wird.1) Dem entspricht cs, dass der
Schultheiss anfänglich in den Zeugenlisten unter den bischöf-
lichen Ministerialen erscheint;*) später steht er unter den Bür-
gern.*) Was seine Ernennung betrifft, so geht aus unseren Quellen
hervor, dass er vom Bischof investiert, zugleich aber auch , dass
er wenigstens in späterer Zeit von den Bürgern gewählt wurde.*)
Als 1293 Bischof und Stadt im Streit lagen,5) nahm in der
Beglaubigung der Rechtsgeschäfte bes. über Immobilien seitens
der Stadt, welche ebenfalls dem Schultheissen oblag, einer der
Ratsherren Knoltzo Zoller als „electus in scultetum quoad sub-
scripta expedienda, quia Spirensis civitas sculteto caret in presenti“
seine Stelle ein.8)7) Nach mehreren erhaltenenürkunden sass dieser
damals dem Rate bei Grundbesitzübertragungen vor und bestellte
die Zeugen;8) in denselben Funktionen tritt uns sonst der Schult-
heiss entgegen.8) Wie hier in der freiwilligen Gerichtsbarkeit
so ist dieser Beamte auch in der bürgerlichen und Strafge-
richtsbarkeit als Vorsitzender nachweislich thätig gewesen.10)
') Sp. U. 27 S. 30 Z. 3: Conradus villicus. Derselbe Conrad ist 1207,
1209 trnd 1211 als Schultheiss bezeugt (U 24, 26, 634).
•) ü 16, 17 (a. 1163, 1164.)
*) ü 29, 30 (a 1213, 1217) Wirtemb. Urkb. Bd. ÜI (Stuttg 1871) No.
623 S. 91 (a 1219) Über die Ursachen dieser Veränderung vgl. das oben
S. 71 ff über Zolleinnehmer und Münzer gesagte.
4) Es geht dies aus dem sofort zu besprechenden Ereignis von 1293
hervor, vgl auch die Bezeichnung des scultetus als ofBcialis noster seitens
des Bischofs in U 44 Z. 30, ferner U 184 Vertrag des Bischofs mit der
Stadt, in welchem dieser (S. 141 Z. 10 ff) sagt : quod iudicia et officia nostra
civitatis Spirensis in epifania domini annuatim locare et concedere debemus
aeeuudum dictum et sententiam consulum Spirenainm vel maioris partis
eorundem, quam suo proferent iuramento.
*) vgl. U 183.
•) U 176, 179, 182. Dass er Ratsherr war, geht daraus hervor, dass
er in U 182 und 183 unter den consules genannt wird.
Die Erscheinung ist besonders deshalb erwähnenswert, weil hier eine
nachweisliche Einwirkung kanonischen Rechts auf das Stadtrecht vorliegt.
Auch bei den Bischo&wahlen wurde damals der Gewählte erst durch eine
besondere Ceremonie (Consecration) Bischof, konnte aber schon vorher Amts-
handlungen vornehmen, vgl. Hinschius Krchnr. II S. 571 mit N. 5.
•) s. die in N. 6 angeführten Urkunden.
*) U 97, 161, 167, 167, 168 etc.
**) vgl. U 44 und U 110.
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188
Eben so wenig wie der Vogt-Burggraf nnd der Schultheiss
ist der Speierer Kämmerer im elften und zwölften Jahr-
hundert ein im speciellen Stadtgebiet fungirender Beamter.
Derselbe hatte vielmehr Schatz und Pfalzbaulichkeiten des
ganzen Bistums unter sich.1) Dafür dass das Kämmereramt
auch in Speier, wie es für Worms und Mainz feststeht, *) ur-
sprünglich einem Geistlichen übertragen war, lässt sich ausser
dieser Analogie noch anführen, dass dort wenigstens in späterer
Zeit ein solcher geistlicher Kämmerer nachweisbar ist.’)
Die hauptsächlichsten Funktionen dieses Beamten sind freilich
wohl schon früh an einen Laien übergegangeu, wenn auch
der geistliche Kämmerer vom Official später bei Übertragung
von Grundstücken zugezogen wurde.*) Seit Mitte des 12. Jahr-
hunderts sind uns ministerialische Kämmerer Anselm (1148-66),’)
Dietrich, (1176), 6) Dudo7) (1181), und Albert (1209, 1212. 1213)’)
bezeugt. Zugleich findet sich schon ein Unterkämmerer Conrad.9)
Dieser hat wohl die Stellung des später begegnenden städtischen
Kämmerers. Letzterer ist vom Rat angestellt und vertritt
*) vgl. die oben S. 173 mit N. 2, 3 gegebenen Erörterungen. Wie an
anderen Orten, so hatte sich auch in Speier au» der Schatzverwaltung für
den Kämmerer ein besonderes Jurisdictiousrecht über die Juden entwickelt vgl.
oben S. 174 mit N. 6.
*) s. oben 8. 173.
’) Zum ersten Male ist ein geistlicher Kämmerer in Speier im Jahre
1211 bezeugt (U 27).
*) So haben wir es wohl zu erklären, dass vor diesen beiden geistlichen
Beamten, dem Official des Dompropstes und dem Kämmerer, dem Canoniker
Engelinus, im Jahre 1327 und 1329 Grundstficksttbertragungen stattfinden
(U 375 und U 382). Jedoch ist die Zuziehung des geistlichen Kämmerers
bei vor dem Official vollzogenen Rechtsgeschäften über Immobilien in Speier
nicht unbedingt notwendig gewesen; sie wird z. B. in der von diesem voll-
zogenen Beurkundung U 381 nicht erwähnt. Über die Wirksamkeit des
Officials in der freiwilligen Gerichtsbarkeit vgl. Schulte im Strassburger
Ukb. III (1884) S. XVII lf., B ress lau Urkl. S. 539 N. 4 und in der vor-
liegenden Schrift unten Anhang IV.
*) Remiing Urkb. Nr. 85, 88, 92, 94, 100, Sp. U. 16, 17.
•) Mone Ztschr. f. G. d. O. XIX S. 167, vgl. auch ibid. XXVI S. 431.
') Remiing Urkb. Nr. 106.
*) Winkelmann Otto IV S. 519 Nr. 6, Sp. U 28, 29. Der hier erwähnte
Albertus camerarius ist wohl auch mit dem a. 1223 erwähnten Albertus de
Jochenheim olim camerarius ecclesiae identisch (U 34 S. 34 Z. 29).
*) U 28 a 1212: Conradus subcammerarius.
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189
dessen Interessen. Es folgt dies besonders daraus, dass in
dieser Stellung 1275 Sigfrid Retschel den Decan und das
Capitel des Doms vor ein weltliches Gericht ruft, ohne sich
durch die Androhung kirchlichen Bannes schrecken zu lassen.1)
Der ministerialische Kämmerer wird seit 1213 nicht mehr er-
wähnt.*) Von den Funktionen des bürgerlichen Kämmerers,
welche vielleicht aus solchen des gleichnamigen geistlichen Be-
amten entstanden sind, mag erwähnt werden, dass ihm damals eine
Mitwirkung bei Übertragungen von städtischen Grundstücken
zustand, mit weicherauch eine Eintragung in Grundbücher zu-
sammenhing.*) Ferner übte er nach einer, aus dem vierzehnten Jahr-
hundert stammenden, Aufzeichnung über Speierer Beamtenfunk-
tionen damals auch die Baupolizei innerhalb der Strassen der Stadt
aus.4) Das Amtsgebiet dieses Kämmerers entsprach wohl voll-
kommen dem wirklichen Stadtgebiet. Die ganze Beamtung ist
aber überhaupt wohl erst zur Zeit ihrer ersten Erwähnung
in unseren Quellen, nämlich zu Beginn des 13. Jahrhunderts,
entstanden, also als die Stadt schon weitgehende Autonomie
erlangt hatte.
') U 127 vgl. auch U 128.
*) Nach der oben S. 188 N. 8 angef Uhrten Urkundenstelle scheint Albert der
letzte ministerialische Kümmerer gewesen zu sein und auf dies, ja damals
lebenslängliche und erbliche, Amt (vgl. oben S. 178, 179 mit N. 1) freiwillig
verzichtet zu haben.
*) Nach Sp. U. 28 a 1212 ist jemand in Bezug auf ein bestimmtes
Grundstück in tabula civitatis intitulatus und die Eintragung wird durch
einen Spruch der Bürgerbehörde gelöscht ; nach der dem 14. Jahrhundert an-
gehörenden Speierer Ämterbeschreibung fuhrt aber damals der bürgerliche
Kämmerer tabulae, in welche Eigentumsänderungen an Immobilien eingetragen
werden (Hilgard, Urkb. S. 490 Z. 11 ff). Dass solche unter seiner Mitwirkung
geschahen, ist auch durch eine Urkunde von 1310 (Sp. U. 262) bezeugt. So
kann wohl angenommen werden, dass die Führung der tabula civitatis stets
zu r Competcnz des bürgerlichen Kämmerers gehört hat. Es ist möglich, dass
sie der Mitwirkung des geistlichen Kämmerers bei Übertragung von, im Über-
eigentum der Kirche stehenden, Grundstücken nachgebildet ist.
*) Hilgard Urkb. 8. 490 Z. 7 ff. Diese Funktion des bürgerlichen Käm-
merers ist vielleicht mit der dem alten Kämmereramte zustehenden Aufsicht
Uber die Pfalzbaulichkeiten in Zusammenhang zu bringen, vgl. die oben S. 164
N. 3 angeführte Stelle von Nitzsch.
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Den Beamtencompetenzen in Worms und Speier entsprachen
im wesentlichen die in Mainz. Dieser Ort war bekanntlich in
Älterer Zeit nicht wie die beiden andern Städte Gauhauptstadt,
sondern wurde zum Wormsgau, später zum Nahegau gerechnet. *)
Es wurden dann , wie oben *) gezeigt ist, die Grafschaftsrechte
in nicht mehr festzustellender Zeit, aber jedenfalls vor 979 an
dem Erzbischof übertragen. Dieser übte sie durch seinen Vogt,
für den sich auch hier die Namen Burggraf, praefectus urbis
und comes angewandt finden. Bereits 1008 ist das Stephans-
stift per advocatum ipsius ecclesiae comitem Ezzonem bei einem
Tausche vertreten.*) Ist hier allerdings noch ein Zweifel be-
rechtigt, ob man es auch mit einem Burggrafen zu tun bat, so
ist dagegen Erkenbald als Graf und bischöflicher Stadtpräfect zur
Zeit des Erzbischofs Bardo (1031 — 1051) sicher bezeugt;4) diesen
Erkenbald nun hat Bresslau6) schon für das Jahr 1028, also
die Regierungszeit Aribos, als Vogt des Mainzer Erzbistums
nachgewiesen. Aus Vulculds vita Bardonis ergiebt sich, dass
Erkenbald Vasall der Erzbischöfe war ; von dem erzbischöflichen
Lehnsgerichte wurde diesem Burggrafen, der sich seinem Era-
bischof ungehorsam zeigte und ihn beim Kaiser verleumdete,6)
sein Lehen entzogen.
Für die unter den Nachfolgern Erkenbalds wieder klar
hervortretende Verbindung der Burggrafschaft mit der Vogtei,
das Erblichwerden des Burggrafenamtes und das schliessliche
Erlöschen desselben kann auf die Hegel’ sehen Forschungen7)
verwiesen werden, da hier nur, wenn etwa neues Material zu
dem bisherigen kommen sollte, neue Resultate gefunden und
die von Hegel offen gelassenen Fragen beantwortet werden könn-
') Vgl. Laraejua in Acta Theodoro-Palatina I (Xanhetnii 1776) p 287,
V (1783) p. 127 8, Land an an der oben 8. 160 N. 2 citiertcn Stelle.
*) 8. 161.
•) Stumpf Acta imp. ined. (Innsbr. 1866—81) Nr. 34 p 40.
0 Vulculdi vita Bardonia in Jaffa Mon. Kognnt. (Bibi. III) p 625, 626.
») Konrad II Bd. I 8. 326 N. 3.
•) vgL die N. 4 angeführte Stelle.
*) Fonch. i. Deutsch. Gesch. Bd. XIX 8. 572 ff, Mainzer Vrfssugsgschichte
8. 27 — 29. Zn der an letzterer Stelle 8. 28 gegebenen Liate der Erwähnungen
von Mainzer Burggrafen kann hinzu gefügt werden, daaa Gebern ausser 1069
und 1081 auch noch 1083 ala Burggraf nachweisbar ist (Joannis Rer. Vogunt.
II p 737).
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ten. Dagegen ist es sicher angebracht, ausdrücklich hervorzuheben,
dass auch in Mainz die Burggrafschaft keineswegs principiell
oder thatsächlich auf den Stadtbezirk beschränkt war. Es
geht dies daraus hervor, dass die Orte Elzheim und Esenheim
1213 als im Jurisdictionsgebiete des Mainzer Burggrafen gelegen
bezeichnet werden.1) So wird auch 1064 der Ort Arenheim
als in pago Magociacensi gelegen bezeichnet,*) worunter wohl
das Gebiet verstanden wird, in dem der Mainzer Erzbischof
mittels seiner Burggrafen die Jurisdiction übte.
Die Befugnisse dieser Beamten lernen wir besonders durch
eine, bisher für verfassungsgeschichtliche Fragen fast unbe-
achtet gebliebene, Urkunde von 1147 kennen.*) In derselben
bestätigt Erzbischof Heinrich den Verkauf eines Mainzer Hofes
seitens der dortigen Canoniker von St. Peter an ein in Bamberg
gelegenes Kloster. Dieses Rechtsgeschäft hatte nun in dem
dreimal jährlich unter Vorsitz des Burggrafen (iudex) abgehal-
tenen echten Dinge stattgefunden und war dann durch burg-
gräfliche Verlautbarung (praefectorio edicto) bekräftigt worden,
ohne dass ein Einspruch geschehen war.4) So ist es denn
sicher, dass der Vogt-Burggraf den Vorsitz im echten Ding
führte und dass daselbst die Übertragungen von Immobilien
stattfanden.
Hinsichtlich der übrigen Mainzer Stadtbeamten, des Schult-
heissen, des Kämmerers und des Waltpoden kann wieder auf
*) Gaden Cod. dipl. I No. 161 p 423 (B-W XXXII 209), vgl. Arnold
V. G. I 80 mit N. 9.
*) Stumpf 2643, Lacomblet Urkb. f. d. G. d. Niederrb. (Coblens 1876) t.
I Nr. 201 Tgl. auch die Erwähnungen de» Mainzgaus 1325 (8p. U 364 S. 291
Z. 40), 1332 (ibid. 406 8. 345 Z. 43), 1334 (ibid. 432 8. 386 Z. 17), wo das
Wort aber wahrscheinlich in anderem Sinne gebraucht ist.
*) B-W XXVIII 79, Spiess Aufklärungen in d. Gesch. und Diplomatik
(Bayreuth 1791) p 222.
4) in concione popnli, cum praesidente Jndice civilia iura tractaren-
tur, sient tribus vicibus in anno fieri solet, contractu» ille ter publi-
catns et absqne ullius contradictione prefectorio edicto ecclesie Babenbergensi
ter confirmatus est. Über die bei Grundbesitzübertragnngen übliche gerichtliche
„Aufbietung gegen Einsprecher“ vgl. He u sl er Instit. II 8. 81 ff. In unserer
Urkunde ist für den an der Spitze der Zeugeniiste auftretenden comes Reim-
boldns wohl Arnoldus, der Name des damaligen Vogt - Burggrafen , zu
emendieren.
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die ausgezeichneten Untersuchungen Hegels ') verwiesen werden.
Nur mag es mir gestattet sein, hier noch die wenigen Punkte,
in denen ich zu abweichenden Ergebnissen gekommen, und des
Zusammenhanges wegen zugleich auch die wichtigsten Resultate
der Hegel’ sehen Forschungen kurz anzugeben.
Nach denselben finden sich in Mainz die Namen tribunus,
villicus, centurio und scultetus ganz identisch gebraucht;*) der
Mainzer Schultheiss kann danach, ganz wie der Speierer, als
direkter Nachfolger des Ceutenars angesehen werden.
Neben Vogt-Burggrafen und Schultheissen waren auch in
Mainz die Kämmerer im Besitze wichtiger Amtsfunktionen. Ein
Mainzer geistlicher Kämmerer ist uns schon für das Ende des
zehnten Jahrhunderts durch die vita Burchardi bezeugt.*)
Allerdings wird man daraus, dass diese Quelle den späteren
Wormser Bischof in seinem Mainzer Amte als primas civitatis
bezeichnet,*) noch nicht schliessen können, dass damals mit
diesem Amte die Stadtregierung verbunden gewesen.5) Auch
in Mainz wird die Thätigkeit der Kämmerer nach dem Vorbilde
der Kämmerer am Königshofe ursprünglich in Verwaltung des
erzbischöflichen Schatzes und der Aufsicht über die Baulichkeiten
und die Ausstattung der Pfalz bestanden haben.®) Dafür spre-
chen zahlreiche auch noch später diesem Beamten zustehende
Befugnisse, wie sein Verhältnis zu den Münzerhausgenossen und
sein Recht auf Dienstleistungen der Bauhandwerker. 7) Eigen-
*) Mainz S. 29-31, S. 62 ff.
s) a. a. O. 8. 29.
*) c 2 (S. S. IV p 833): (Willig-isuB Burchardnm) sibi familiarissimura elegit
et suae camerae magistrum ac civitatis primatem constituit.
4) a. a. 0.
*j Der Biograph ßurchards meint vielmehr imr, dass Burchard durch die
Zuneigung des Erzbischofs damals der einllussreicliste Mann in Mainz gewesen
«ei. Übrigens hat auch Manitius im Neuen Archiv XIII (1888) S. 197 ff nach-
gewiesen, dass der Verfasser der vita Burchardi keineswegs so „gut unter-
richtet war, als er sich den Anschein giebt.“
*) S. oben S. 173 N. 2, 3.
’) vgl. das Kämmererweistum aus dem 15. Jahrh., heransgeg. von Wyss
im Arch. d. hist. Vereine f. d. Grossh. Hessen Bd. XV S. 146 — 176. Danach
hat er z. B. für Aufrechterhaltung der Rechte der Hausgenossen an der
HUnze zu sorgen, nimmt an der Jurisdiction des Miinzmeisters Teil und wird
von den Hausgenossen zu Grabe getragen. Die Bauleute müssen , wenn er
es verlangt, einen Tag im Jahre für ihn arbeiten etc. Vgl. H egel Mainz 8. 54 und
über ähnliche Rechte des Trierer Kämmerers Lamprecht I S. 1469, 1470.
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193
tfimlich und wohl durch die hohe Bedeutung der Hofhaltung
des Mainzer Erzstifts, „dessen unmittelbarer Sprengel sich“
ja „vom Odenwald und Spessart bis zum Harz ausdehnte,“ *)
zn erklären ist es, dass uns in Mainz seit Beginn des zwölften
Jahrhunderts öfters zwei geistliche Kämmerer, ein camerarius
curiae und ein camerarius urbis, begegnen.*) Allerdings lässt
sich nicht mit Sicherheit behaupten , dass diese beiden Kämmerer
immer neben einander bestanden hätten, „da in der Regel doch
nur ein Kämmerer, sei es als camerarius schlechthin oder be-
stimmter als camerarius civitatis, genannt wird.“ *)
Mitunter kommen auch Laien als Stadtkämmerer vor, so
schon 1056.4) Seit 1133 werden dann Laien und zwar Minis-
terialen oft als Kämmerer erwähnt. So kommt 1148 der Mi-
nisterial Rocher als camerarius und zwar in derselben Zeugen-
liste mit dem geistlichen Kämmerer Arnold, dem späteren
Mainzer Erzbischof Arnold I, vor; 1155 wird ein ministerialischer
Kämmerer ausdrücklich als subcammerarius bezeichnet.5) Es
liegt nahe anzunehmen, dass damals die wirklichen Aratsge-
schäfte vorwiegend von dem ministerialischen Kämmerer ver-
sehen wurden, da z. B. der erwähnte geistliche Kämmerer
Arnold, der zugleich in der Reichskanzlei tätig war, sich meist
am Königshofe aufgehalten hat.5)
In der Mitte des dreizehnten Jahrhunderts geht das Amt
des ministerialischen Kämmerers, das damals dem Geschlechte
zum Turm (de turn) zustand, nachweislich vom Vater auf den
Sohn über, wird aber doch nicht in dieser Familie erblich.1)
Vielmehr scheint es später bald mit Laien, bald mit Geist-
lichen besetzt zu sein, während seit Mitte des vierzehnten Jahr-
hunderts wieder nur geistliche Kämmerer bezeugt sind.8)
') So Stampf, AcU Magnat. Kinl. p VII.
») Hegel Heinz S. 30, 31.
*) a. a. 0.
‘) B-W. XXI 16, Gaden Cod. dipl. I p 371.
») vgL Hegel Mainz S. 81.
*) ygl. Banmbach Amold v. Selehofen (Berlin 1872) S. 15.
*) Hegel Mainz S 63.
•) ibid.
Koehne, Unpruag der StadtverfaMUng in Woran, Speier und Mainz. iS
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194
Es mag hier noch darauf hingewiesen werden, dass wir
später an der Spitze der Mainzer communalen Verwaltungs-
behörde, die zugleich das Stadtgericht bildete, und dann des
Mainzer Rates den Kämmerer finden werden.1) Es ist nämlich
vielfach aus dieser Erscheinung geschlossen worden, dass in
älterer Zeit der Mainzer Kämmerer den Burggrafen bei dessen
häufiger Abwesenheit im Gerichtsvorsitz vertreten habe.®)
Jedoch ist in unseren Quellen für diese Ansicht, die auch
mit dem allgemeinen Ursprünge des Kämmereramtes unverein-
bar erscheint, nirgends ein Anhalt nachweisbar.5) Aus den-
selben Gründen ist es auch ungerechtfertigt „zu vermuten, dass
die Einsetzung dieses Amtes mit dem Übergang der Stadtherr-
schaft an den Erzbischof in der sächsischen Kaiserzeit zu-
sainmenhing“ und „der Stadtkämmerer im allgemeinen der
Stellvertreter des Erzbischofs in dessen Beziehungen zur Stadt“
gewesen sei.*) Vielmehr scheint es gerade als wahrscheinlich
behauptet werden zu dürfen, dass erst zu der Zeit, als der
Vogt-Burggraf seine Rechtein der Stadt aufgab, der Kämmerer den
Vorsitz im echten Ding erhielt. Freilich ist es auch nicht
unwahrscheinlich, dass er schon vorher mit den Schöffen, die
wie gezeigt werden wird, in Mainz ehemals auch die communale
Stadtbehörde bildeten, in Beziehungen stand;6) zur Erklärung
dieser Tatsache kann man jedoch nur die Vermutung aus-
sprechen, dass analog den Wormser Verhältnissen6) die Käm-
merer durch die ihnen sehr oft zustehende Propstwürde7) send-
l) vgl. vorläufig z. B, W. U. 252 (a 1254): Amoldus camerarius,
Fridericus scultetus, iudices, consilium et universi cives Maguntini u. Guden
Cod. dipl. 11 p 440 N. 2 (a 1256), p 441 N. 3 (a 1269).
*) So Aruold 1 S. 81, Bockenbeimer S. 7, Hegel S. 62, Liebe S. 24.
*) Dass in dem Briefe der Mainzer an Heinrich V „F. camerarius, A.
centurio, cum universis min ist rin ac civibus“ an der Spitze stehen (s. Ja®
Bibi. t. V p 234), kann natürlich nicht solcher gelten. Vgl. das über
diesen Brief im nächsten Capital gesagte.
Hegel 8. 30. Über die von Hegel für diese Ansicht, die meines
Erachtens auch mit der sub N. 2 erwähnten Behauptung dieses Forschers un-
vereinbar ist, angeführte Stelle der vita Burchardi vgl. oben S. 192 N. 5.
*) vgl. die oben Note 3 angeführte Stelle.
•) s. oben S. 116 ff, 176 ff.
T) vgl. die Beispiele bei Hegel S. 30, 31, denen noch hinzugefügt wer-
den kann, dass auch Burchard von Worms, als er Kämmerer von Mainz war,
'zugleich dort die Propstwürde bekleidete (S. S. IV p 834).
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196
rechtliche Befugnisse erlangt und durch diese in Verbindung
mit dem Schöffencolleg gekommen sind.
Von den Mainzer Beamtungen bleibt jetzt nur noch die
des Waltp öden zu besprechen. Dieser Beamte, der uns von
unseren drei Städten nur in Mainz, aber speciell am Mittelrhein
auch sonst öfters1) begegnet, war wohl ursprünglich Stellver-
treter des Burggrafen in Polizeisachen. Allerdings ist dies
nur Vermutung,*) da unseren Quellen aus dieser Zeit direkt
nichts anderes zu entnehmen ist, als dass es wenigstens seit
1118 einen Waltpod gab,*) der in den Zeugenlisten der Urkunden
unter den Ministerialen erscheint. Darauf wird er auch unter den
Stadtvorständen und später unter dem sich daraus entwickelnden
Rate genannt.4) Über die Befugnisse des Waltpoden erfahren
wir sicheres erst aus einem Weistum von 1399 ;5) hier werden
ihm sehr verschiedenartige einzelne Rechte zugeschrieben, welche
sich etwa unter den Begriff der Polizeigewalt zusammenfassen
lassen.8) Zu dieser Zeit wird der Waltpod vom Erzbischof er-
nannt;*) wahrscheinlich hatte derselbe dies Recht erlangt, als die
Burggrafen auch ihre übrigen Befugnisse in Mainz aufgaben.
Als hauptsächlichste Ergebnisse der bisherigen Untersuchung
über die Beamten der mittelrheinischen Städte können nun
etwa folgende genannt werden:
1) Burggraf und Vogt sind in allen drei Städten identisch;
in jeder steht diese, frühzeitig erblich werdende, Beamtung einer
Dynastenfamilie zu.
•) vgl. Thndichum .Die Qauvrfssng.1' (Giessen 1860) S. 58, 59, Waitx,
V. G. VII 36 N. 2.
*) Dieselbe stützt sich namentlich auf die erkennbare Stellung des
Waltpoden an anderen Orten, vgl. bes. die von Thudichum a. a. S. 59 er-
wähnte, Komburg betreffende, nnd die von Lamprecht I S. 215 N. 3 gegebene
Qnellenstelle, sowie Sohm G. V. S. 480 N. 6. u. S. 519. Wenn Waitz VII
S. 36 N. 3 gegen diese Auffassung Sohms polemisiert, so hat er in betreff
der Waltpoden in K&mthen jedenfalls Recht, nicht aber in betreff der, von
diesen wohl gänzlich zu trennenden, Waltpoden am Mittelrhein.
*) B-W XXV 76 (Forsch, z. d. G. XX S. 443).
*) Hegel Mainz S. 30, 59, vgl. auch 50 N. 4.
*) Arch. d. hist. Vereins f. Hessen Bd. XV S. 176 ft. , vgl. Hegel
Mainz 60.
•) Hegel ibid.
*) s, Hegel ibid. 8. 59 mit N. 1.
13*
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196
2) Das Gebiet der Burggrafschaft reicht in allen drei
Städten über die Mauern und das Markgebiet des betreffenden
Ortes hinaus.
3) Neben dem Vogt-Burggrafen erscheint in Speier und
Mainz der Schultheiss (Tribun), der auch den, auf hofrechtliche
Befugnisse deutenden, Namen des villieus trägt. In Worms
scheint den Funktionen des Schultheissen und villieus, deren
Amt also vereint wurde, entsprechende Befugnisse in älterer
Zeit der Vitztum geübt zu haben ; dieselben gehen dann später
auf den, in der zweiten Hälfte des 12. Jahrhunders auftretenden,
Schultheissen über.
4) Wenigstens für Speier ist es nachweisbar, dass auch
das Gebiet des Schultheissen über das Markgebiet der Stadt
hinausgereicht haben muss.
5) Unter Burggrafen und Schultheissen stehen principiell
alle Stadtbewohner, auch die bischöfliche familia; nur einzelnen
Klassen, insbesondere den Geistlichen, den Juden und den ser-
vientes, den Beamten und der Hofdienerschaft der Geistlichen,
sowie den Münzern1) gelang es, sich in einigen oder allen
Beziehungen von der Unterordnung unter Burggrafen und Schult-
heissen frcizuhalten oder zu befreien.
Eine Frage ist bei dieser Untersuchung bisher nur gestreift
und absichtlich zur Besprechung im Zusammenhänge Vorbehalten
worden. Es ist nämlich noch nicht erörtert worden, in wie
weit die genannten Beamten, der Vogt-Burggraf und der Schult-
heiss, in allen drei Städten als bischöfliche, in wie weit als
königliche Beamten zu betrachten sind.*) Bei Besprechung
dieser Frage wird zugleich festzustellen sein, in wie weit und
wodurch überhaupt ein Einfluss des Königtums in diesen Bischofs-
städten stattfand; dabei muss sich die Untersuchung notwendig
auf die Zeit zwischen der Ausbildung der Bischofsherrschaft
*) Über diese vgl. oben S. 67, sowie noch speciell über die Wormser
Münzer Boehmer fontes II p 213 Z. 33. Interessant ist es, dass nach dieser
Wormser Ämterbeschreibung auch die Wildwerter von den Verhaftungen
seitens der regelmässigen Stadtbeamten in ihren Wohnnngen befreit waren,
indem solche nur ihr Zunftmeister vornehmen durfte (ibid. Z. 34).
') Dass die Kämmerer in unseren Städten stets nur bischöfliche, nie
königliche Beamte waren, ist oben nachgewiesen.
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197
(Regierung der Ottonen) und der des ersten selbstständigen
Auftretens der Städte (Regierung Heinrichs IV) beschränken.
In der herrschenden Auffassung, wie sie von Arnold,1)
Heusler*) und Gierke*) vertreten ist, wird grosses Gewicht
darauf gelegt, dass der Vogt-Burggraf der ihm zustehenden
Blutsgerichtsbarkeit wegen vom Kaiser mit dem Banne belehnt
wurde. So erklärt Heusler die Vogtei desshalb geradezu als
ein „den geistlichen Grundherrschaften im Interesse der freien
Grundholden und der Aufrechterhaltung ihrer Verbindung mit
dem Reich aufgenötigtes Kontrollmittel.“1) Dagegen hat nun
Kruse5) mit Recht geltend gemacht, dass „die Bannleihe des
Königs nur eine weitverbreitete Förmlichkeit war, hinter welcher
alles eher als politische Gedanken gesucht werden könnten.“
Nehmen wir selbst an, dass diese königliche Bannleihe überall
von den bischöflichen Vögten nachgesucht wurde,*) so haben
doch die Könige den Bischöfen durchaus das Recht erteilt und
gelassen, in der Wahl der Vögte unbeschränkt zu sein. Tat-
sächlich sehen wir ja die Bischöfe später in diesem Rechte
beschränkt, aber nicht durch Eingreifen der Könige, sondern
durch das, in allen mittelalterlichen Beamtungen hervortretende,
Princip der Erblichkeit. Trotz der zahlreichen Zerwürfnisse
zwischen Königtum und Bistum ist doch weder in den mittel-
rheinischen Städten noch sonst irgendwo von einem Streit über
die Bannleihe die Rede; ebenso wenig tritt irgendwo ein Ein-
fluss des Königs auf die Besetzung des Vogts- und Burggrafen-
amtes kraft besonderen Verhältnisses dieses Amtes zur Reichs-
gewalt zu Tage. Der Sachsenspiegel sagt ausdrücklich, dass
der König die Bannbusse denen, welche ein Recht darauf hatten,
») V. G. I 8. 120.
*) Ursprung S. 78—83.
*) I S. 257.
4) Urspr. 8. 80.
*) Strassburg 8. 13.
*) Die älteste Quelle für diesen Vorgang scheint mir das erste Strass-
burger Stadtrecht c 11 zu sein. Für die allgemeine Verbreitung der könig-
lichen Bannleihe für die mit dem Blutbann betrauten bischöflichen Richter
spricht der Schwabenspiegel c. LXXV § 3 (ed. Gengier Erlangen 1876 8. 69):
Hat ein pfaffen fürste Regalia von dem künige, der mac niemande da von
deheinen ban gelihen, da ex den liuten an ir lip oder an ir blut get
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198
nicht weigern durfte.') „Wo ein reeller Einfluss des Königs
auf die Vogtei sich zeigt, da tritt er in der Form des wirk-
lichen Besitzes der Vogtei auf.“*) Derartiges ist gerade in
jenen Fällen zu constatieren, welche von Heusler8) für die den
Königen in Bezug auf die Vogteien zustehende Gewalt ange-
führt werden, in Augsburg und Basel. Die Rechte, welche
hier Friedrich I, resp. Rudolf von Habsburg, in Anspruch nahm,
wurden nur desshab von diesen Herrschern geltend gemacht,
weil sie den Herzögen von Schwaben und den Grafen von Habs-
burg schon vor ihrer Erhebung auf den Kaiserthron zugestan-
den hatten.*) Auch darauf kann nicht mehr Gewicht gelegt
werden,') dass es in der altersgrauen Urkunde, welche in dem
bekannten falschen Kölner Privileg von 1169 erwähnt und dort
schon als halb unleserlich bezeichnet wird, heisst, dass Burggraf
und Bischof den Bann zusammen vom Kaiser erhalten.*) Heute
kann ja dieser Satz nur noch desshalb Interesse erwecken,
weil er von der Auffassung der Bannleihe, welche das Bürger-
tum des dreizehnten Jahrhunderts erstrebte, Kunde giebt.
Steht doch die schon von Stumpf7) nachgewiesene Unechtheit des
Privilegs v. 1169 trotz des Einspruches En ne ns und Lamberts
jetzt durch die Untersuchungen von Richthofen’s und Tan-
nerts8) unzweifelhaft fest! Im übrigen muss hervorgehoben
werden, dass die Notwendigkeit königlicher Bannleihe für die
Kriminalbeamten der Bischöfe, weil aus kirchlichen Vorschriften
entsprungen, nicht weniger für die ländlichen als für die städtischen
Besitzungen der Bischöfe galt. Es ist nicht einzusehen, wesshalb
die königliche Bannleihe auf dem Lande andere Ursachen und
Folgen als in der Stadt gehabt hätte.
Treten uns auch ebensowenig besondere Rechte des
‘) III 84 § 5 (ed. Homeyer Berlin 1861 S. 361): Die koning ne mach
mit rechte nicht weigeren den han to liene, deine it gericbte gelegen is.
*) Krnae S. 13.
*) Ursprung S. 76, 77, 81.
*) Vgl. Kruse a. a. 0.
‘) Vgl. Gierke I S. 256 N. 17.
*) Lacomblet (in dem N. 135 citierten Urkb.) p I 302 (Gengier Stdtrchte.
S. 68 c 2): qnod una nobiscum bannum iudicii ab imperio tenet.
’) Sitzngsb. d. Wiener Akademie 1859 S. 603—638.
•) Forsch, z. D. G. VIII (1868) S. 61 ff; Mitteil, aus dem Kölner Stadt-
archiv (Köln 1883) Bd. I Heft 1 S. 55—69.
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199
Königs bei der Wahl der Vögte als ein enges Verhältnis des
Vogt-Burggrafen zu noch frei gebliebenen Bewohnern der
Bischofsstadt entgegen, so lassen sich doch gerade in den mittel-
rheinischen Städten zwei Fälle konstatiren, aus denen schein-
bar auf eine nähere Beziehung des Vogt-Burggrafen zum Könige
geschlossen werden könnte.
Von dem oben erwähnten Mainzer Burggrafen Erkenbald
ist überliefert, dass erden Schultheissen beim Kaiser verklagte.1)
Auf desselben Burggrafen Veranlassung hin legte der Kaiser
einen Mainzer Bürger in Ketten, der sich dann nur durch Geld
vor der Strafe der Verstümmlung retten konnte; der Schult-
heiss hingegen musste, obgleich der Erzbischof selbst sich für ihn
verwandte,') seine Unschuld durch die Wasserprobe erweisen.
Zuletzt verläumdete der Burggraf sogar den Erzbischof beim
Kaiser und zwar mit solchem Erfolge, dass dieser dem Prälaten
eine Geldbusse auferlegto. In Folge dessen wurde Erkenbald
vom Vasallengerichte zum Verlust seines Lehens verurtheilt •; *)
doch ist er bald nachher gegen neue Leistung des Treuschwurs
vom Erzbischof begnadigt worden.*) So ist nach diesen, in den
beiden Biographien Erzbischof Bardos berichteten, Tatsachen
Erkenbald zwar Beamter des Erzbischofs, sucht aber gegen
diesen mit Erfolg die Hilfe des Kaisers. Auf dessen Eintreten
wird wohl auch die Wiedereinsetzung Erkenbalds in sein Amt
zurückzuführen sein. Ebenso beklagt sich auch, wie wir oben5)
gesehen haben, der Vogt-Burggraf Wernher von Worms über
ihm in seiner Amtstätigkeit geleisteten Widerstand beim Kaiser,
nicht bei seinem Bischof.
Dennoch würde man meiner Ansicht nach sehr irren,
wenn man diesen Anschluss der Burggrafen an den Kaiser und
ihre Unterstützung durch letzteren mit der Bannleihe in Ver-
bindung brächte. Vulculds Biographie Bardos berichtet uns ja
geradezu, dass viele Vasallen und Ministerialen Bardo verliessen
*) JafR Mon. Mognnt. p 526 cf. Hegel Mainz S. 20, 21.
*) Diez folgt ans der von Monachus Fuldensis verfassten Biographie
Bardos. (Jaffb ibid. p 549). Der hier erwähnte dispensator ist wohl der von
Vnlcnld (p 526) als tribonus plebis bezeichnete Schultbeiss.
*) ibid p 526.
‘) ibid.
•) S. 163 mit N. 2.
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200
und in den königlichen Dienst eintraten. ‘) Gerade Konrad II. hat
seine politischen Erfolge z. B. bei dem Aufstande Ernsts von
Schwaben vorzüglich der Tatsache zu danken, dass zu seiner
Zeit die Vasallen und Dienstleute der Fürsten die Pflichten
gegen das Königtum für wichtiger als die gegen ihren
Lehnsherrn hielten.1)
So kann eben das Verhalten Erkenbalds durchaus nicht,
wie es von Seiten der kirchlich gesinnten Biographen Bardos
geschieht, kurzweg als Verrat charakterisirt werden, so wenig
wie die Vasallen Ernsts von Schwaben eine derartige Beur-
teilung verdienen. Nicht aus der Bannleihe , sondern
daraus ist demnach Erkenbalds Stellung zu erklären,
dass unter einem kräftigen Kaiser die Fürsten nur als dessen
Beamte, nicht als Landesherren betrachtet wurden. Sowohl die
den geistlichen und weltlichen Fürsten untergeordneten Be-
amten, als ihre übrigen Vasallen und Ministerialen, wie über-
haupt alle ihnen unterworfenen, freien und unfreien, Personen
hatten jederzeit auch auf die Wünsche des Königs Rücksicht
zu nehmen. Es geht dies auch aus einer, gerade unsere mittel-
rheinischen Gegenden betreffenden, Urkunde hervor, aus welcher
man nur fälschlich auf eine besondere Abhängigkeit der Vögte
geistlicher Grundherrschaften von der königlichen Gewaltscliliessen
würde. In einer Urkunde Heinrichs II., welche in Folge der Streitig-
keiten der Leute der Wormser und Lorscher Kirche erlassen
wurde,*) setzt dieser Kaiser nämlich für die Hörigen beider Stifter
mehrere Strafbestimmungen fest und bedroht die Vögte, welche
sich der Rechtsbeugung schuldig machen würden, mit Verlust
der königlichen Gnade und ihres Amtes.
Die ganze Urkunde ist deshalb besonders bemerkenswert,
weil sie und einige ähnliche rechtliche Festsetzungen4)
zeigen , dass das Königtum nicht nur für die freien,
sondern auch für die hörigen Elemente in den geistlichen
Grundherrschaften bindende Vorschriften erlassen konnte; diese
») Jafffe 1. c. p. 625.
*) Vgl. Bresalau Konrad II Bd. II S. 372—375.
Ö W U 47.
*) Über drei nachweisbare Verordnungen Konrads II für Leute geist-
licher Stifter vgl. Br esslau Konrad II Bd. II S. 379.
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201
Befugnis wird in gleicher Weise den ländlichen, wie den
städtischen Hörigen gegenüber geübt. Nur als Folge dieser
Anschauung, dass alle Untertanen, auch die einer Grundherr-
schaft unterworfenen den Gesetzen des Königs zu gehorchen hatten,
ist es zu betrachteu, dass eine königliche Verordnung die Be-
amten der Grundherrschait mit Amtsverlust bedrohen konnte. Ganz
deutlich geht dies Verhältnis des Königs zu den Hintersassen
geistlicher Grundherrschaften auch daraus hervor, dass nach
Wipos Bericht1) zu den Processen, durch deren schnelle Erledi-
gung Konrads II. Eifer für die Rechtspflege noch vor seiner
Krönung hervortrat, auch die Klage eines ländlichen Hinter-
sassen der Mainzer Kirche’) gehörte. Dass selbst die aller-
untersten Classen unter den Hörigen der Grundherrschaft durch
das Königtum wenigstens gelegentlich vor allzu grosser Be-
drückung beschützt wurden, geht aus dem Edict Konrads II.
gegen den unerlaubten Verkauf von Leibeigenen*) hervor, wel-
chen der Bischof von Verden verübt hatte.
Alle diese Beispiele zeigen doch deutlich, dass dem König-
tume noch die Sorge für den Schutz aller Reichsangehörigen in
den ihnen zustehenden Rechten oblag; dasselbe war durchaus
nicht bloss auf die Beziehungen zu etwa bestehenden altfreien Ge-
meinden beschränkt.
Nicht durch die Erteilung des Bannes an den Vogt-Burg-
grafen, sondern durch die allgemeine Stellung des Königtumes
ist ein gewisser Zusammenhang zwischen den deutschen
Herrschern und den Bewohnern der Rheinstädte auch
in der Zeit zwischen den Ottonischen Privilegien und der
Regierung Heinrichs IV. aufrecht erhalten worden. Der häufige
Aufenthalt der Könige in unseren Städten mochte dann zur
Festigung dieses Zusammenhanges nicht wenig beitragen;
schliesslich hat sich derselbe ja als weit stärker wie der Ein-
fluss der Bischöfe in diesen Städten gezeigt. Für den König
erhoben sich die Städte gegen ihre, schon seit Alters von den
Herrschern mit der Regierung betrauten, Bischöfe.
Es wird Aufgabe des nächsten Capitels sein, weiter nach-
*) c 5 (M G. in 8* p. 19).
*) colonni eedesiae Mognntinensis.
St 2137 (LL II 38.)
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202
zuweisen, dass bei dieser Erhebung der Städte das, von den
neueren so oft betonte, Interesse einer altfreien Bevölkerungs-
classe, ihre Freiheit zu erhalten oder die verlorene Freiheit
wiederzugewinnen, gar keine Rolle spielt; es wird sich viel-
mehr zeigen, dass ganz besonders die, ihrer Zusammensetzung
nach früher geschilderte, Kaufmannschaft für den König
eintrat.
Eben desshalb aber wird es wohl angebracht sein, schon
hier darauf hinzu weisen, dass auch schon in der Zeit vor Hein-
rich IV. Beziehungen der Könige zu den Kaufleuten der
Bischofsstädte nachweisbar sind. Es ist oben1) bereits erwähnt,
dass Otto I. sich eines Mainzer Kaufmanns zu einer Gesandt-
schaft nach Byzanz bediente. Noch wichtiger ist es, dass
bereits vor Heinrich IV. die Kaiser den Gilden in einzelnen
Bischofsstädteu Handelsprivilegien erteilten. So verlieh Otto II.
975 der Kaufmannsgilde zu Magdeburg weitgehende Zollfrei-
heiten,*) welche Konrad II. 1025 bestätigte,*) Von diesem
Kaiser sind ausserdem noch Urkunden für die Gilden der Bi-
schofsstädte Quedlinburg, Naumburg und Halberstadt nachweis-
bar.4) Wie in der Karolingerzeit einzelne Kaufleute, so wurden
unter den Sächsischen und Salischen Kaisern die Kaufmanns-
genossenschaften mit kaiserlichen Privilegien versehen.
Hat sich auch von derartigen Documenten aus den mittel-
rheiuischen Städten nichts erhalten, so ist es damit noch durch-
aus nicht ausgeschlossen, dass auch die dortigen Kaufmanns-
genossenschaften solche Privilegien erhalten haben. Jedenfalls
sind aber in den Spuren direkter Beziehungen zwischen den
Herrschern und der kaufmännischen Bevölkerung, nicht aber in
der königlichen Bannleihe des Vogt-Burggrafen die Grundlagen
des späteren Bündnisses zwischen Städten und Königtum zu
suchen.
>) S. 51 N. l.
>) St. 660 (Hans. Urkb. N. 1)
*) St. 1871
‘) s. Bresslau, Konrad II Bd. II S. 380. Über diese, den Uilden er-
teilten, Urkunden vgl. auch unten Cap. VIII und Anhang I.
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203
Capitel VII.
Das Eingreifen der mittelrheinischen Städte in die
politischen Verhältnisse bis zur Zeit Lothars.
Wenn in diesem Capitel nach dem Vorbilde Arnolds und
Hegels die Untersuchung der Verfassungsentwicklung unserer
Städte durch die Darstellung ihres Eingreifens in die politische
Entwicklung Deutschlands scheinbar unterbrochen wird, so be-
darf dies wohl kaum der Begründung. Hoffe ich doch, auch
gerade durch die folgende Darstellung zu zeigen, welch wichtige
Anhaltspunkte uns die Erforschung der politischen Vorgänge
für die richtige Auffassung socialer und verfassungsrechtlicher
Veränderungen zu bieten vermag.
Es ist früher gezeigt worden, wie zur Zeit der Karolinger
in unseren Städten, obgleich sich dort seit der Römerzeit stets
einiger Handel und einige Industrie erhalten hat, die Urproduk-
tion entschieden noch überwog,1) wie dann aber etwa seit dem
Beginne des elften Jahrhunderts in ihnen specifisch städtisches
Wirtschaftsleben klüftig erblühte. *) Wir sahen auch, wie die
Änderung der wirtschaftlichen Verhältnisse zu Änderungen der
Rechtsinstitutionen führte*) und wie die Klasse der Kauflente,
zu der alle, welche Waaren auf den Märkten feilboten,
gerechnet wurden, au Zahl und Einfluss zunahm.4) Dadurch
ward es möglich, dass von der Mitte des elften Jahrhunderts
an die Städter insgesammt der ländlichen Bevölkerung entgegen-
gesetzt werden konnten. Das — wenigstens, soweit die hier
behandelten Städte in Betracht kommen, — erste Beispiel einer
solchen Unterscheidung finden wir in einem interessanten Briefe
Bischof Wazos von Lüttich5) noch während der Regierung
Heinrichs III. Als dieser Herrscher 1047 in Italien weilte und
dort die Kaiserkrone empfing, rüstete sich König Heinrich I
■) S. oben S. 11.
*) vgl. S. 12 ff.
*) oben S. 16 — 25.
‘) S. 50 ff.
*) Anselmi geata episc. Leod. Bec. II c 57 (S. 8. XIV p 116).
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204
von Frankreich zu einem Einfalle in die Rheinlande.1) Ver-
geblich wies der eben genannte Prälat den König auf die alten
Freundschaftsbeziehungen zwischen beiden Völkern hin und bat
ihn dringend Frieden zu halten.*) Da dies Schreiben nichts
fruchtete, warnte der Bischof den König in einem zweiten
Briefe. Hier hielt er ihm nicht nur „das rechtlich und mora-
lisch Gehässige seiner Handlungsweise“ *) vor, sondern betonte
auch, dass der Einfall auf heftigen Widerstand stossen würde ;
würden ihm doch die Bewohner von Mainz, Köln und Lüt-
tich und vieler anderen Städte mit Kraft entgegentreten.4)
So wurden damals, als die Rheinlande zeitweise von Rittern
entblösst waren,5) — während der Bauernstand daselbst wenig
Kriegstüchtigkeit bewahrt hatte6) — die Städter schon als wohl
zu berücksichtigende militärische Macht angesehen. Zu dem
beabsichtigten Einfall der Franzosen ist es freilich damals —
vielleicht mit in Folge eben dieses Hinweises auf die Kriegs-
macht der Rheinstädte — nicht gekommen.
Daher finden wir denn das erste wirkliche politische und
militärische Auftreten der Städte erst in der Zeit Heinrichs IV.
Diese wichtige Epoche der deutschen Geschichte, welche den
Beginn des zuletzt zur Machtlosigkeit des Kaisertums führenden
Kampfes desselben mit dem Papsttum, den glänzenden Aufschwung
des Adels, die Erhebung der Städte und die für Jahrhunderte
letzte Teilnahme des Bauernstandes an grossen politischen
Kämpfen7) enthält, ist oft und von verschiedenen Gesichts-
punkten aus zum Gegenstände historischer Darstellung gewählt
worden. Daher dürfte es wohl angebracht sein, die Untersuchung
l) ibid. cf. Anselm. Bec. 1 c. 61 (S. S. VII p. 225), Steindorff, Hein-
rich UI Bd. II 8. 2, 3.
*) ibid.
•) So Steindorff a. a. 0.
‘) Anselmi g. Rec. II a. a. 0.: omne Moguntinorum, Colonieusinm,
Leodiensinm aliarnmque multarnm nrbinm robnr ad repugnandum noveris
occurrere.
*) S. S. VH ibid.: rarus apud nos miles.
•) vgl. Waitz V. G. Vin 125, Nitz sch D. G. I 332, II 7, 8, 75, 99.
Danach war damals nur in Sachsen der Bauer noch kriegerisch genug, um
zur Zeit Heinrichs IV noch, wenn auch nur vorübergehend, eine bedeutende
politische Rolle zu spielen.
’) vgl. die vorige Note.
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205
wesentlich darauf zu beschränken, festzustellen, welche Schlüsse
sich aus den Berichten der Historiker über die politischen Er-
eignisse in Verbindung mit den übrigen Zeugnissen auf die
städtische Verfassungsentwicklung ziehen lassen und welche
Ideen die Stadtbevölkerung veranlassten , in den Kampf der
herrschenden Stände einzugreifen.1)
Bekannt sind die im December 1073 in und vor Worms sich
abspielenden Ereignisse.*) Als Heinrich IV, um die Fürsten-
versammlung in Mainz, welche zur Wahl Rudolfs von Schwaben
geplant war, rechtzeitig zu verhindern, aus Baiern in die Rhein-
gegenden eilte, da beschloss der damalige Wormser Bischof
Adalbert, dem Könige den Einzug in seine Stadt zu verwehren;*)
er folgte damit nur dem Beispiele vieler anderen Fürsten.1)
Dabei hatte er aber die Anhängigkeit der Wormser Bürger an
Heinrich IV nicht in Rechnung gezogen. Diese erhoben sich
und vertrieben die Dienstmanneu des Bischofs; Adalbert selbst
entging nur durch schnelle Flucht dem Schicksale, dem Könige
gebunden ausgeliefert zu werden. Die Bürger aber holten
wohlgerüstet und wohlgeordnet Heinrich in ihre Stadt ein; hier
leisteten sie ihm den Treuschwur, mit Gut und Blut für ihn
einzutreten. Der König hatte so in der wohlbefestigten und
reichlich mit Vorräten aller Art versehenen Stadt einen festen
Stützpunkt für seine Unternehmungen gefunden.5) Ferner hatten
die Wormser Vorgänge auch die Folge, dass der Fürstentag zu
Mainz nicht zu Stande kam: viele Bischöfe mussten ja fürchten,
dass sie bei weiterem Vorgehen gegen den König von dem
Schicksale Adalberts betroffen würden.
Den Wormsern lohnte Heinrich die ihm bewiesene Treue
durch Befreiung von den königlichen Zöllen zu Frankfurt,
*) Bei solchen Tatsachen , welche gerade für diese Prägen Ton herror-
T&gender Wichtigkeit sind, sei es mir gestattet, von den bisherigen Dar-
stellungen abweichende Forschungsergebnisse ausführlich an begründen, auch
wenn es sich dabei zunächst nnr um Feststellung politischer Ereignisse handelt.
*) vgL Arnold V. Q. I 149—161, Giesebrecht D K. HI 290, 291,
Nitisch D. G. II 78—80, 8chaube Worms S. 263—266.
•) Lamberti ann. Hersfeld. (M. G. in 8*) p 132.
4) cf. W D 66: cum singnlae civitates quasi immo vere in nostrum
adventum clauderentnr.
*) Lambert p 133.
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206
Boppard, Hammerstein, Dortmund, Goslar und Engem.1) Wich-
tig ist der proklamationsartige Charakter der hierüber ausge-
stellten Urkunde, welche sicher dazu bestimmt war, noch andere,
den rebellischen Fürsten unterworfene, Städte zum Anschluss
an den König zu bewegen. „Königliche Pflichterfüllung erheischt
es, dass die, welche sich besonders eifrig in unserem Dienste be-
wiesen haben, sich auch besonderer Belohnung erfreuen. Desshalb
haben wir die Bürger von Worms für besonderer Belohnung
würdig, ja würdiger als die jeder andern Stadt erkannt
Sie mögen die ersten im Empfang der Belohnung sein, da sie
ja in der Leistung des Dienstes die ersten waren; sie mögen
allen in der würdigen Vergeltung des Dienstes zum Beispiel
dienen, da sie im Beweise der Treue allen voranstehen; beson-
ders die Bewohner der Städte mögen sich über die ihnen zu-
stehende Aussicht auf die Belohnung freuen, welche die Worm-
ser jetzt erlangt haben. Die den Wormsern erwiesene Gnade
kann zwar in wenigen Worten berichtet werden, aber in ihrer
eigenen Schätzung gilt sie nicht als gering, sondern als dankens-
wert und ehrenvoll. “*)
Sehen wir nun, was sich aus dieser Wormser Erhebung
von 1073 für die in Betracht kommenden Fragen gewinnen
lässt, so fällt zuerst der Umstand ins Auge, dass die Erhebung
in Worms und der Anschluss der Bürgerschaft an Heinrich
schon eine, wie auch immer beschaffene, Organisation derselben
vermuten lässt. Wohlgeordnet ziehen ihm ja die Bürger ent-
gegen; demnach ist daran, dass der Bischof nur durch einen
führerlosen Strassenaufstand vertrieben sei, nicht zu denken.
Lambert hebt die dem Könige geleisteten Eidschwüre hervor;
möglich, dass sich damals die Bürgerschaften der Teilgemeinden
auch zuerst unter sich eidlich verbuuden haben. Vielleicht
kann man auch aus Lambert’s Worten: „sumptus ad bellum
administrandum ex sua re familiari singuli pro virili portione
offerunt“ schliessen, dass die Stadtbehörde mit königlicher
Autorisation eine Ungeldserhebung einführte.*) Doch bleibt
•) W U 56.
*) a. a. 0. 3. 48 Z. 13—20.
*) Dass damals die früheren, an den Bischof gehenden, Einzelstenern der
Bürger für das Beich in .eine von den Bürgern selbst umgelegte Kollekte1
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207
dies letztere freilich nur Vermutung. Dagegen ist sicher
und von hoher Bedeutung, dass in der Urkunde, welche
die den Wormsern erteilten Belolinungen aller Welt verkünden
sollte, nur von einer Begünstigung, welche allein den Kauf-
leuten zn Gute kommen konnte, die Rede ist. Hätte es sich,
wie es die herrschende Meinung ist, darum gehandelt, dass eine
seitens des Bischofs unterdrückte Gemeinde durch ihre Erhe-
bung ihre alte Freiheit im Anschluss an deu König hätte wie-
dererlangen wollen,1) so hätte eine Lösung dieser Gemeinde aus
dem Hofrecht und eine Stellung derselben unter Reichsbeamte
sicher in dieser Urkunde Erwähnung gefunden. Es ist weder
einzusehen, warum Heinrich dies nicht hätte gewähren sollen,
noch warum er etwa solche Concessionen, wenn er sie ge-
währt, nicht in der Urkunde erwähnt hätte. Gerade sie hätten
in Mainz, in Köln, in Magdeburg, wo doch nach der herrschen-
den Ansicht auch unterdrückte altfreie Gemeinden des Augen-
blicks warteten das bischöfliche Joch abzuwerfen, und wo
gerade damals erbitterte Feinde Heinrichs auf den Bischofs-
stühlen sassen, die Erhebung für den König beschleunigen
müssen. Das erteilte Zollprivileg lässt demnach klar er-
kennen, dass der Aufstand in Worms von der kaufmän-
nischen Bevölkerung ausging und nicht die Lösung von
einer zu Unrecht eingeführten Hörigkeit bezweckte. Dem
entspricht übrigens alles, was sich Lamberts*) Schilderung
über den Charakter der, ein Jahr nach der Wormser statt-
findenden, Kölner Erhebung entnehmen lässt. „Der Streit um
ein 'Kaufmannsschiff, das der Erzbischof in Anspruch
nimmt, giebt den äusseren Anstoss zur Empörung. Einen Kauf-
mannssohn sehen wir an der Spitze der Rebellen und Kauf-
herren sind es, die in grosser Zahl die Stadt verlassen, nach-
dem der Erzbischof dieselbe wieder unter seine Botmässigkeit
gebracht hat.“*)
Im Jahre 1077 also 4 Jahre nach diesen Kölner Vorgängen,
fanden auch die Mainzer Gelegenheit, dem Könige ihre Treue
verwandelt »eien , wie Z e um e r S. 53 annimmt, ist jedenfalls ans Lamberts
Worten nicht zn entnehmen.
*) vgl. z. B. Arnold I 161, 170, Hensler Urspr. 8. 216.
*) p 150—168.
*) vgl. Hoeniger in Westd. Ztschr. II 8. 238.
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208
zu beweisen. Der Mainzer Erzbischof, Sigfrid I, hatte sich
schon 1073 Heinrichs Feinden angeschlossen und blieb seit 1076
dauernd auf ihrer Seite.1) Als der König 1077 nach Italien
geeilt war, um Lösung von dem ihm auferlegten Banne zu er-
halten, gehörte Sigfrid zu den Fürsten, welche zur Besetzung
des in ihren Augen erledigten Thrones zu Forchheim zusammen-
kamen und Rudolf von Schwaben auf denselben erhoben.1) Als
Ort der Krönung wurde Mainz ausersehen und Sigfrid dem-
gemäss mit der Vornahme derselben betraut. Da geschah das
unerwartete, dass Rudolf kurz nach der Krönung von den
Mainzern gezwungen wurde, die Krönungsstadt schleunigst zu
verlassen.
Über diesen Mainzer Aufstand haben wir verschiedene,
von einander vielfach abweichende, Nachrichten. Zwei, die des
Ekkehard von Aura1) und des Sigebert4) gehören der kaiser-
lichen Partei an; dagegen sind die Berichte Bruno’s,5) Pauls
von Bernried,*) Bertholds7) und Bernolds8) im Sinne der grego-
rianischen Partei geschrieben. Demnach wird das gesammte
Ereignis auch von den heutigen Forschern in seinem tatsäch-
lichen Verlaufe sehr verschieden dargestellt. Es hängt dies
hauptsächlich mit der Färbung des, der modernen Darstellung
von den einen zu Grunde gelegten, alten Berichtes sowie mit der
verschiedenen Art, wie die andern die 5 Berichte zu vereinen
suchen, zusammen. Meiner Ansicht nach lassen sich freilich
alle Widersprüche beseitigen, auch ohne dass man zu der Hypo-
these zu greifen braucht, dass Ekkehard und Sigebert nur eine
die Erfolge der Partei Heinrich’s bedeutend übertreibende
Tradition wiedergeben.9) Noch weniger freilich scheint es an-
■) B-W XXII 86, 131.
*) ibid. 134.
*) Chronicon 8. 8. VI p 202, 203.
4) Chronica ibid. p 364.
*) Bellum Saxon. c 92 (8. 8. V p 366, 366).
*) Vita Gregorii VII c 98 (Watterich , Pontific. Roman, vitae [Lipsiae
1862] t I p 632).
*) Annales (8. 8. V p 292).
*) Annales (ibid. p 433).
*) So neuerdings Bachholz, Ekkehard von Aura (Leipa. 1888) 8. 69 ff.
Indess hat schon Gf rörer Gregor VII Bd. VII 8. 604 darauf hingewiesen,
dass die Wahrheit Ton Ekkehards Bericht gegenüber den Darstellungen
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209
gebracht, die einzelnen Ereignisse auf zwei Tage so zu verteilen,
dass man annehmen muss, die päpstlich gesinnten Schriftsteller
hätten nur das, was am ersten, Ekkehard und Sigebert, was
am zweiten Tage passiert sei, erzählt.*) Was zunächst den
äusseren Verlauf des Aufstandes angeht, so kann als festgestellt
angesehen werden, dass den Anlass zu den Unruhen ein junger
Mensch gab, welcher einem von den Hofleuten, die mit den am
Sonntag Laetare herkömmlichen Spielen beschäftigt waren, die
Halskrause abschnitt.*) Bruno lässt diesen iuvenis mit einigen
Genossen von den urbani zwecks Unruhstiftung abgesandt sein.’)
Da aber der gut unterrichtete Paul von Bernried es ausdrücklich
ungewiss lässt, ob dieser iuvenis aus eigenem Antrieb oder auf
irgend jemandes Zureden gehandelt,*) so scheint Brunos Bericht
hierin nur die Ansicht der Partei Rudolfs anzugeben. Paul
berichtet, dass dieser iuvenis darauf von dem Verletzten fest-
gehalten und dem pröcurator civitatis, also wohl dem Schult-
heissen, übergeben sei. Nach der Darstellung dieses Schriftstellers
kommt es dann, da der iuvenis vom Schultheissen unbestraft
freigelassen wird, zum Streit.
Damit ist die Darstellung Brunos wohl vereinbar, nach
welcher, als der Ritter die ihm zugefügte Beleidigung auf der
Stelle durch Schläge straft, die Städter, die sich zum Schutze
ihres Mitbürgers gesammelt, über ihn und seine Kameraden
herfallen. Unglaubwürdig ist die Erzählung Brunos wohl in
der dann folgenden Bemerkung,6) die Städter seien bewaffnet
gewesen, die Ritter aber hätten ihre Waffen in den Quartieren
gelassen und ihre Wirte dafür gesorgt, dass sie dieselben in
der kritischen Zeit nicht finden konnten. Abgesehen davon,
Bertholds und Bernolds durch seine teilweise Übereinstimmung mit der des
Budolfinisch gesinnten Bruno gesichert ist.
l) Diese Ansicht vertritt Gie sehr echt, D. K. III S. 435 — 437.
’) So Paul u. Bruno a. a. 0.
*) Urbani . . . cogitabant, iilum ludum turbare .... Miserunt ergo
quosdam suos iuvenes, ut curialium ludo se miscerent, et aliquam qualibet
arte materiam belli construerent.
*) 1. c.: nescimus si propria voluntate ductus an ab aliquo persuasus.
*) 1. c, : urbani in subsidiis ad hoc ipsum collecti, curiales inermes in-
currunt armati . . . Nam arma curialium in hospitiis derelicta, dum ipsi circa
regem frequentes essent, urbani praeripuerant et ne illi, quorum erant, ea
invenire possent effecerant.
Koehne, Ursprung der Stadtverfassung in Worms, Speier und Mainz. u
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210
dass, wenn die Ritter insgesammt unbewaffnet gewesen wären,
der ganze weitere Verlauf der Sache unverständlich wäre, ist
die Nachricht vom Verstecken der Waffen auch aus innerlichen
Gründen abzulehnen. Dagegen mögen allerdings, da auch Ber-
nold‘) und Paul*) die Waffenlosigkeit der zunächst Angegriffenen
betonen, diese ihre Spiele ohne Waffen getrieben haben. Auch
ist es wahrscheinlich, dass wirklich ein Eintreten des Pöbels
für den misshandelten Jüngling stattfand, woraus sich dann
bei der feindlichen Gesinnung der Stadtbevölkerung gegen
Rudolf und sein Gefolge der ganze Aufstand erklärt. Ein
an sich geringfügiger Anlass genügte eben dazu, um die
innere Erbitterung der Bürger über Rudolfs Krönung sich auch
in Handlungen Ausdruck geben zu lassen. Was nun die Er-
zählung Pauls von der Übergabe des Jünglings an den Schult-
heissen betrifft, so braucht sie, obwohl sie bei Bruno fehlt,
doch nicht verworfen zu werden. Es ist ja sehr glaublich,
dass der Ritter sich erst dann an dem iuvenis persönlich
rächte, als ihm der Schultheiss keine Genugthuung verschaffte;
diese Thatsache aber mag Bruno nicht weiter berichtet sein.
Der Kampf tobte nach dem übereinstimmenden Zeugnis
aller ausführlicheren Berichte um die Martinskirche und die
nahe gelegene Pfalz. Von hier aus machten die Königlichen
einen Ausfall, welcher den Mainzern schwere Verluste brachte;
ein Teil fand durch die Waffen der Feinde, ein Teil dadurch
seinen Tod, dass er sich in hastiger Flucht bis in den Rhein
stürzte. Bertholt lässt die Ritter dabei nur zwei Mann, Bernold
nur einen verlieren. Dagegen geben beide übereinstimmend an,
dass der Kampf mehr als hundert Mainzern das Leben gekostet
hat. Doch scheinen diese beiden päpstlich gesinnten Schrift-
steller den Verlust ihrer eignen Partei unter-, den der Gegner
überschätzt zu haben.*)
Auch der Ausgang des ganzen Ereignisses wird nach
*) 1. c.: dextera Dei milites novi principis, licet inermes, protexit.
*) p. 533: plebs . . . a militibus regis compescitur licet inermibus. Nam
in diebua quadragenimae consuetudo erat sine armis procedere , eed et ipsa,
ai quae kabebant, per civitatem in hospitiis di miss a , prae seditione civium
acquirere non poterant
*) Immerhin giebt auch Ekkehard 1. c. bedeutende Verluste der Städter zu.
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der Parteiseite, welcher die einzelnen Berichterstatter angehören,
sehr verschiedenartig dargestellt. Nach Ekkehard verbürgte
sich der Erzbischof den Stadtbewohnern gegenüber für schnellen
Abzug des Königs; nachdem dieser die Stadt verlassen, wird auch
der Erzbischof vertrieben.1) Ähnlich stellt auch Sigebert in
seinem kurzen Berichte den Ausgang des Aufstandes dar, nur
dass hier der Erzbischof schon zugleich mit Rudolf die Stadt
verlässt.*) Nach Bruno hingegen kamen an dem auf den Sieg
der Ritter folgenden Morgen die gesammten Stadtvorsteher
(omnes ex urbe maiores) zu Rudolf, um sich ihm auf Gnade
und Ungnade zu übergeben, und leisteten ihm den Treueid.
Der König aber habe ihnen keinen Glauben beigemessen und
desshalb aus Furcht vor neuen Aufständen*) — in diesem
Punkte stimmt also Bruno mit den heinricianisch gesinnten
Schriftstellern — die Stadt verlassen. Auch nach Berthold
versuchten die Mainzer von König und Erzbischof Vergebung
für ihre That zu erlangen; bei Rudolf sei es ihnen mit vieler
Mühe dadurch gelungen, dass auch der Erzbischof sich für sie
verwandte.*) In hohem Grade bemerkenswert ist die Angabe
Bernolds,5) dass den Städtern von den päpstlichen Legaten die
Strafe auferlegt sei, jeder 40 Tage zu fasten oder einmal je
40 Arme zu speisen, dabei aber doch sich der Gemeinsamkeit
mit der Kirche zu enthalten. Diese Strafe traf offenbar die
Vertreter der Stadt, welche namens ihrer Mitbürger die Ver-
handlungen geführt hatten. Aus dem Umstande, dass diese
Abgesandten in solcher Weise für die Gesammtheit verantwort-
*) (vuigus) .... regiaa aedes incendere voluit, nisi qood episcopu»
Sigefridus pro veloci discessione Ruodolfl obsidem se interposuit. Ita Ruo-
dolfus et cnncti, qui cum eo veneruut, eiecti sunt; ipse quoque Sigefridu«
wagnis blaaphemiis eliminatus Hoguntiam non rediit.
*) S. S. VI p. 364 : facta a Mognntini» seditio contra eos, Rodolfu» cum
archiepiscopo noctu aufugit.
*) Dies liegt entschieden in den Worten Bruno’» p. 366: ut posth&c im-
perpetuum fideles ei uanerent, iuraverunt. Sed rex non haben» eis fidem,
civitatem dimiait.
*) a. a. 0.: eius (sc. episcopi) adepta gratia, gratiam regi», ip»o . . .
interveniente vii acquisivissent.
*> Quibu» pro homicidiis a legatis apostolicae sedi» tali» penitentia im-
posita est, ut singuli aut 40 dies ieiunarent, aut 40 pauperes aemel paacerent,
uec tarnen aecclesiasticam communionem quasi homicidae vitarent.
14*
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lieh gemacht wurden, und aus Brunos Angabe, dass omnes ex
urbe maiores zum Könige zwecks der Verhandlungen kamen,
lässt sich schliessen, dass damals in Mainz schon eine organi-
sierte Gemeindevertretung bestand. Andrerseits ist aber dio
Strafe, wenn wir an die überlieferte Bestrafung von unter-
drückten städtischen Aufständen, etwa an die oben1) erwähnte
Kölner Erhebung von 1074*) oder an die Bestrafung des Mainzer
Aufstandes gegen Erzbischof Arnold in den Jahren 1 160 und 63
denken,*) verhältnismässig sehr gering. Von irgend welchen
anderen, den Aufständischen auferlegten Strafen oder Bussen
hören wir ja nichts. Gerade die Überlieferung der geringen
Strafe macht es aber sehr wahrscheinlich, dass der Aufstand
durchaus siegreich und die Übernahme der erwähnten kirchlichen
Sühnung in Wahrheit die Gegenleistung für den sofortigen Ab-
zug des Königs war. So stimmen Bernolds Angabe über die
Bestrafung der Städter und Brunos Motivierung des Abzugs
Rudolfs vollständig zu dem, was die kaiserlich gesinnten Schrift-
steller über den Ausgang des Aufstandes melden. Es finden sich
also, abgesehen von den Übertreibungen betreffs der Zahl der
Gefangenen und der, durch die Gesinnung der Autoren hervor-
gerufenen, verschiedenen Form in dem Berichte desselben that-
sächlichen Materials, kaum bemerkenswerte Widersprüche zwischen
den verschiedenen Quellen.
Ehe nun aber auf Grund dieser Untersuchung eine kurze
zusammenfassende Darstellung des Mainzer Aufstandes von 1077
gegeben wird, muss noch kurz, auf Grundlage des bis jetzt
Festgestellten, die Ursache des Aufstandes ermittelt werden.
Gerade über diesen Punkt sind die Quellen nicht ausreichend
glaubwürdig. Dem Umstande entsprechend, dass sie aus geist-
licher Feder geflossen sind, lieben sie es, die Ursachen der
geschilderten Ereignisse in kirchlichen Verhältnissen zu finden.
So stellt daher Paul von Bernried4) als Ursache des Aufstandes
die Thatsache hin, dass der König einen durch Simonie zu
seinem Amte gelangten Subdiacon, der vor der Krönung die
Messe lesen wollte, fortgewiesen habe. Darauf habe die Mainzer
') S. 207.
*) s. Lambert p. 156 — 158. Arnold I 153, 154.
*) Hegel Mainz S. 40, 41, B-W XXX 19 vgl. unten Cap. VJLÜ.
*) a. a. 0.
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Geistlichkeit, die zum grössten Teil ebenfalls durch Simonie in
ihre Ämter gekommen war und sich auch nicht gerade
durch Reinheit des Wandels ausgezeichnet, Absetzung gefürchtet,
und in Folge dessen die Bürger zum Aufstande bewogen. So
lässt auch Bernold diese Mainzer Unruhen durch Einflüsterung
simonistischer Priester1) erregt werden. Nach Bruno hingegen
beschlossen die Städter aus Ergebenheit für Heinrich IV und
Hass gegen Rudolf den Aufstand , um den Gegenkönig des
Saliers zu beseitigen.*) In dieser Gegnerschaft gegen Rudolf
wird auch der wahre Grund des Aufstandes zu suchen sein,
wenn auch zugegeben werden kann, dass die gegen die kirch-
lichen Verordnungen gewählten und desshalb um den Besitz
ihrer Stellen besorgten Geistlichen denselben geschürt haben
mögen. Das Verhalten der übrigen Städte und die fernere
Haltung der Mainzer Bürgerschaft sprechen entschieden dafür,
dass ein die Bürger tief erregendes Interesse sie auf die Seite
Heinrichs IV führte. Nicht nur die städtische Geistlichkeit, son-
dern auch die ländliche war zum grossen Teil durch Simonie in
ihre Ämter gekommen und hatte sich derCoelibatsvorsclirift unge-
horsam gezeigt. Berthold3) zählt geradezu die Landpfarrer (villa-
ni sacerdotes) zu denjenigen, welche aus diesem Grunde den
„gemeinen Mann“4) gegen Rudolf aufbrachten. Doch treten
die Bauern nirgends so wie die Städter im Kampfe hervor und
ihre Parteinahme für den Salier buchte ihm jedenfalls keinen
Nutzen.4) So ist denn die Erhebung der Mainzer gegen Rudolf
in erster Linie nicht auf ein Eintreten für die simonistische
Geistlichkeit, sondern auf die (noch unten näher zu erörternden)
') per snggestionem simoniacorom clericorum uiaxima seditio llogontiae
orta est.
*) qnia magis f&vcbant exregi qu&m regi, cogitabant . . . seinen aliquot!
unde seditio nasceretur, immittere, ad quam sedandam dum lex procederet.
modo quolibet occisus interiret.
*) S. S. V p 294.
*) So gibt Ufrürer Gregor VII Bd. VII S. 606 ansprechend die turba
plebeiomm Bertholds (a. a. 0.) wieder.
•) Fränkische und schwäbische Bauern , welche 1078 bei Heinrichs
Rückkehr von Italien seinem Aufgebote gefolgt waren, wurden bekanntlich
am 7. August dieses Jahres am Neckar gänzlich geschlagen, vgl. Nitzsch D.
G. II S. 99, Giesebrecht D. K. III S. 470, vgl. auch ibid. 468. Sonst
sind Volksbewegungen für Heinrich nur in den Städten nachweisbar.
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allgemeinen Motive, welche die Städter auf Seite der Salier
brachten, zurückzuführen.
Von Hass gegen Rudolf erfüllt, konnten demnach die
Mainzer schon durch einen geringfügigen Anlass zum Angriff
auf den Gegenkönig des rechtmässigen Herrschers und sein
Gefolge bewogen werden. Nachdem die Städter zuerst sieg-
reich gewesen, richteten die Ritter, welche sich in der Martins-
kirche gesammelt und von hier aus einen Ausfall gemacht,
unter ihnen grosse Verheerungen an. Die Nacht machte end-
lich dem Kampfe ein Ende, aber die Unruhen drohten sich am
nächsten Tage zu wiederholen. Mit Tagesanbruch eilten die
Stadtvorsteher, um dies zu verhindern, in die Pfalz. Rudolf
hielt es für geraten, den gefährlichen Mainzer Aufenthalt so
bald als möglich aufzugeben. Gegen das Versprechen des
Königs, die Stadt sofort zu verlassen, erklärten sich die Stadt-
vorsteher bereit, eine ihnen von den päpstlichen Legaten auf-
erlegte kirchliche Busse zu übernehmen. Mit oder kurze Zeit
nach Rudolf verliess auch der Erzbischof die Stadt.
Sich von Mainz aus südlich wendend, musste Rudolf auch
an Worms so schnell wie möglich vorüberzieheu.
Zwar hatte sein Anhänger Bischof Adalbert durch den
Vertrag vpn Oppenheim (Okt. 1076) diese Stadt zurückerhalten,1)
Heinrich aber seine Besatzung herausziehen und nach Lam-
berts Bericht sogar Geiseln und Treuschwur dafür leisten
müssen, dass es zu keinem neuen Aufstande der Wormser gegen
ihren Bischof kommen werde.*) Dennoch erhoben sich auf
die Nachricht von der Wahl des Gegenkönigs die Bürger von
neuem für den Salier. Sie sammelten unter Heranziehung der
Heinrich treu gebliebenen Ministerialen ein nicht unbedeutendes
Heer und leisteten sich gegen ihren Bischof und Rudolf Treu-
schwüre.*)
■) Lambert p. 248 vgl. Giesebrecht D. K. III 389, 390.
*) ibid.
") Bertholdi annales S. 8. V p 292: Cives Wormacienscs assnmptis
undique non modicis militaribus praesidiis, contra regem et episcopnm sunm
rebellantes coninrabant. Bei den militaria praesidia ist übrigens schwerlich an
Soldtruppen an denken ; dieselben waren vielmehr wohl königliche Dienstlente,
die Heinrich treu geblieben, und vielleicht mit den milites identisch, weiche
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Es wird, in Folge der öfteren Erwähnung derartiger con-
iurationes im Fortgang der Untersuchung, nicht ausgeschlossen
scheinen, dass damals März 1077 in Worms eine dem iuraraen-
tum pacis der französischen Städte und der coniuratio pro liber-
tate von 1112 in Köln1) analoge Bildung einer Eidgenossen-
schaft erfolgte. Vielleicht traten bei dieser Gelegenheit die,
durch Adalbert getrennten, Stadtteile wieder zu einem einheitlichen
Verwaltungskörper zusammen; soviel aber kann als sicher
gelten, dass diese gegenseitige eidliche Versicherung, trotz Ru-
dolfs Wahl an Heinrichs Königstum festzubalten , ein nach
aussen bemerkenswertes Moment der Erhebung bildete. Dieser
Umstand , sowie auch , dass damals vielfach derartige Eid-
genossenschaften (coniurationes) im Südwesten Deutschlands
für Heinrich geschlossen wurden, geht nämlich aus einem in
eben dieser Zeit von den päpstlichen Legaten an alle Bewoh-
ner des Elsasses, Lothringens und des rheinischen Frankens
gerichteten Schreiben hervor.*) Hier wurden nämlich zugleich
Friedensstörungen, Dienstleistungen für Heinrich und alle con-
iurationes verboten.
Die politische Wichtigkeit dieser Erhebungen von Worms
und Mainz gegen ihre Bischöfe zeigt sich besonders darin, dass
Heinrich bald nach seiner Rückkehr aus Italien in diese ihm
ergebenen Städte eilte und von hier aus sich zum Kampf gegen
Rudolf rüstete. Dass das Heer, welches Heinrich in Worms
Herbst 1077 gesammelt, vorzugsweise aus Kaufleuten bestand,
ist von Bruno ausdrücklich überliefert.*) Aus dem langwieri-
Heinrich zur Besatzung von Worms gemacht und nach Lambert (p. 248) im
Okt. 1076 wieder hatte herausziehen müssen.
>) vgl. Westd. Ztschr. II 239.
*) cf. Berthold (S. S. V p 297). Unter den dort erwähnten litterae
apostolicae auctoritatis hat man ja, wie Gicaebrecht D. K. III 439 und 1147
mit Recht bemerkt, ein Schreiben der päpstlichen Legaten, nicht ein solche«
des Papstes zu verstehen.
*) Bruno c. 96 (S. 8. V p. 366) : Heinricus, exercitn nec magno nec forti
congTegato — nam maxirna pars eins ex mercatoribus erat — obviam nostris
ire paravit. Gegen seine Behauptung, dass es diesem Heere an Tapferkeit
gefehlt, sprechen Übrigens sowohl die folgenden Ereignisse als die Angabe
des gleichfalls päpstlich gesinnten Berthold (S. S. V p. 300): exercitum non
modicum contraxerat vgl. Arnold V. G. I S. 156. — Dass insbesondere viele
Wormser Heinrich auf diesem Feldzuge folgten, geht auch aus Carmen de
bello Saxonico L, III v. 69 — 73 (S. S. XV p. 1230) hervor.
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geH Bürgerkriege, der nun entbrannte, ist namentlich von Regens-
burg, Augsburg, Wttrzburg und Goslar ein mutiges Eintreten der
Bürgerschaften für Heinrich IV. überliefert.1) Wenn die mittel-
rheinischen Städte in dieser Zeit weniger erwähnt werden, so
liegt dies sicher zum grössten Teil daran, dass in ihrer Gegend
die Herrschaft Heinrichs überhaupt ganz unangefochten war.
Speciell in unseren drei Städten hatte er auch ihm ergebene
Personen auf die Bischofsstühle gebracht. Die Speierer Bischöfe
hat er — wohl hauptsächlich in Folge der früher geschil-
derten besonderen Begünstigung dieses Bistums durch das
Salische Haus *) — stets zu seinen Anhängern rechnen
dürfen.*)
Von Worms gelang es ihm, Bischof Adalbert Jahre lang
fernzuhalten; dort wurden mehrere Wibertinisch gesinnte
Gegenbischöfe eingesetzt.4) In Mainz wurden nach dem Tode
Sigfrids (1084) in Wezilo und Ruthard von Heinrich IV. eifrige
Anhänger auf den erzbischöflichen Stuhl gebracht; Ruthard
trat jedoch 1098 auf Seite der Gegner des Kaisers, weil Hein-
rich ihn und seine Verwandten wegen der Judenverfolgung
von 1096 zur Rechenschaft zog.5) Die Juden hatten sich da-
mals auf den Bischofshof geflüchtet, waren aber von Ruthard,
der sich ihres Vermögens bemächtigte, der Ermordung durch
die Kreuzfahrer preisgegeben worden.*) Für unsere Unter-
suchung ist es entschieden bemerkenswert, dass die Juden beim
Erzbischof, nicht bei kaiserlichen oder städtischen Beamten
Schutz suchten; nur vom Burggrafen wird berichtet, dass er
einen Teil der Verfolgten in seinem Hofe unterbrachte. T) Da-
gegen erfahren wir, dass die Juden ihr Geld den Städtern zur
*) Arnold I 156—161, Giesebrecht D. K. m 445, 536, 625, 626.
*) s. oben S. 13, 14.
•) Vgl. Remliug, Gesch. I S. 296, 303, 317, 318, Arnold V. G. I 177.
*) Als solche sind in Worms bezeugt Thietinar a. 1086 (s. Annal. Wirzib.
S. S. II p. 2451, Wintherus a. 1086—88 (Chron. Laureahani. S. S. XXI p. 421),
Ebbo a. 1090 (ibid. p. 423) und Cnno a. 1101 (Stumpf 2951—55; S. S. XXI
p. 316, Vos, Lobbes [Louvain 1865] N. 18 p. 441, Stumpf Acta imperii N. 81
p. 90, Miraeus, Opera diplom. I [Bruxellis 1723] p. 369, Beyer Mttirb. Urkb. I
S. 459) vgl. Schannat I p. 347, Arnold V. G. I 168, 169.
5) B-W XXIV 25 vgl. auch Aronius, Regesten z. G. d. Juden N. 205.
•) B-W XXIV 18. Aronius N. 185.
T) Aronius a. a. 0.
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Aufbewahrung gegeben hatten und dass diese spater von dem-
selben die Leichen der Erschlagenen begraben liessen.1) Dabei
werden wir wohl hier unter den „Städtern* nicht Privatpersonen,
sondern die Stadtbehörde zn verstehen haben.
Bei der kurz vorher in Speier eingetretenen Verfolgung wird
nur der Bischof als Inhaber der öffentlichen Gewalt und Be-
schützer der Juden im Aufträge des Kaisers erwähnt.*) Hin-
gegen ist aus Worms berichtet, dass, während auch dort ein
Teil der Juden in den Bischofshof geflüchtet war, die Städter
denjenigen Juden, welche in ihren Häusern bleiben würden,
ausdrücklich Schutz versprachen. Zugleich wird auch erzählt,
dass diese Wormser Städter ein Gesetz erliessen, wonach die
Ermordung der Juden mit dem Tode bestraft werden sollte.*)
So bestätigen diese Nachrichten die, wie wir sehen werden,
auch sonst mehrfach bezeugte Existenz einer Gemeindebehörde
in unseren Städten; es entspricht auch dem, was aus anderen
Anzeichen geschlossen werden kann , dass diese Gemeinde-
behörde damals gerade in Worms das grösste Hass von Selb-
ständigkeit erlangt hatte.
Durch die Erhebung Heinrichs V. änderte sich die Lage
des Kaisers. Der Kampfplatz wurde aufs neue an den Mittel-
rhein verlegt. Ende Juni 1105 rückte der junge König nach
*) Ibid. Die* ist einer hebräischen Quelle zn entnehmen, über welche
Aronins N. 176 za vergleichen ist
’) Vgl. den Zusatz zn Bernold aus dem Anfänge des 12. Jahrhdrts.
(S. S. V p. 465) und Aronius N. 183. Dass Heinrich „die Fürsten, Bischöfe
nnd Grafen,* nnd nicht die commtmalen Behörden als seine Vertreter ansah,
gebt auch aus dem Aronins N. 178 erwähnten kaiserlichen Schreiben hervor.
*) Diese von Aronius übergangene Notiz steht in der N. 1 er-
wähnten Quelle, wenigstens in der Darmstädter Handschrift derselben, welche
von Mannheimer (Die Judenverfolgungen in Speyer, Worms und Mainz im
Jahre 1096 Darmst. 1877) übersetzt ist (a. a. 0. S. 15). Als blosse Zusiche-
rung von Privatleuten kann diese Stelle gewiss nicht angesehen werden, wenn
wohl auch erst die in Aussicht gestellte neue Übersetzung des ganzen Berichts
volle Klarheit schaffen wird. Bemerkenswert ist anch die Erhöhung der
Strafe in der statutarischen Stadtgesetzgebung, da nach den Privilegien Hein-
richs IV für die Juden in Worms nnd Speier ihre Ermordung nur mit Ab-
hauen der Hand nnd Blendung bestraft wurde (Aronius N. 170 und 171 § 13).
Dieselbe Strafe hatte auch den Mörder eines Juden zur Zeit Heinrichs HI
getroffen (ibid.) und wurde 1096 vom Speierer Bischof über Kreuzfahrer, die
sich dieses Verbrechens schuldig gemacht, verhängt (ibid. N. 183).
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218
Mainz, um den von seinem Vater vertriebenen Erzbischof Eutliard
wieder einzusetzen.1) Der Kaiser aber sammelte im Mainzer
Hafen eine Flotte und verhinderte unter Beihilfe der Bürger-
schaft seinen Sohn den Rhein zu überschreiten.4) Dennoch
waren bekanntlich die Erfolge Heinrichs IV. in diesem letzten
Kampfe nur sehr vorübergehende, da viele Anhänger sich von
seinem Sohne gewinnen Hessen. Nur die Städter und besonders
gerade die Mainzer haben die Sache Heiurichs IV. bis zu seinem
Ende wie ihre eigene betrachtet.
Als der Kaiser Herbst 1105 in Regensburg seinem Sohne
gegenüberstand, hatte Mainz einen combinierten Angriff der
wichtigsten Gegner Heinrich IV. zu befürchten.3) Von Osten
wollte sich der König mit den Sachsen und Thüringern, von
Westen die Bischöfe von Metz und Verdun, sowie Herzog Hein-
rich von Niederlothringen und Heinrich, Sohn des Grafen Otto
von Ztitphen, gegen diese Stadt aufmachen. Spätestens am
St. Michaelstage (29. September) wollten sie, wie die Mainzer
in Erfahrung gebracht, Ruthard zum Schimpfe des Kaisers
wieder einsetzen.
Die Bürger baten daher Heinrich dringend, ihnen zu Hilfe
zu kommen, oder wenigstens ausreichende Unterstützung zu
senden, da sie auf längere Zeit ihre Stadt nicht gegen so viele
Feinde zu verteidigen vermöchten.4) In dem Schreiben, das
diese Bitte enthält, sind als Absender „Moguntinensis ecclesiae
humiles servi, F. camerarius, A. centurio, cum universis mi-
nistris ac civibus inibi manentibus“ genannt.4)
Wir haben also einen sicheren Beweis dafür, dass nach
Vertreibung Ruthards jedenfalls nicht eine altfreie Gemeinde
ihre Selbständigkeit wieder erlangt hat; vielmehr blieben die
früheren, in erster Linie vom Bischof abhängigen, Beamten im
*) vgl. Arnold I 161, Giesebrecht UI S. 734, B-W XXIV 52.
’) Annal. Iiildesb. a. 1105 (S. S. EU 108): Pater. . . . mann militum et
civinm, ne transiret, prohibnit.
*) S. daa Schreiben der Mainzer an Heinrich vom Jahre 1105 (Jaffe Bibi.
V p. 234): Veraciter nobia innotuit .... vgl. Arnold V. G. I 162, Hegel
Mainz S. 23. Giesebrecht D. K. III S. 739. Die von Druffel (Heinrich
IV und seine Söhne Regcnsb. 1862 S. 49 und 50) erhobenen Zweifel an der
Echtheit dieses Briefes sind vonGiesebrecht a. a.O, S. 1187 zurückgewiesen.
*) ibid.
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219
Besitze des Stadtregiments. Ja auch eben diese Abhängigkeit
vom Bistum wurde noch offlciell beibehalten,1) wenn auch in
Wahrheit die Verhältnisse so lagen, dass eine schon früher be-
stehende communale Behörde seit der Vertreibung des Erz-
bischofs die Stadt völlig selbständig regierte.
Bemerkenswerth ist noch in dem erwähnten Briefe der
Mainzer die Nachricht, dass sie mit allen ihren „Comprovinci-
alen“ auf beiden Seiten des Rheins einen Eidesbund errichtet
hätten, bei Heinrich auszuharren; diese „Comprovincialen“
seien kürzlich mit den Mainzern in der Nähe ihrer Stadt ver-
sammelt gewesen, und habe man dabei 20000 Mann an Rittern
und Fussvolk gezählt.*) Was haben wir hier unter Compro-
vincialen zu verstehen? Hegel übersetzt Leute des Rheingaus,
Giesebrecht*) einfach Nachbarn, Floto4) Landsleute; Ar-
nold*) sieht dagegen in den comprovinciales die Bewohner
der Nachbarstädte.
Diese letztere Auffassung ist aber jedenfalls abzulehnen.
Eine Versammlung der Wormser und Speierer Mannschaften bet
Mainz erscheint deshalb unannehmbar, weil diese Städte selbst
gegen ihre Gegner gedeckt werden mussten; war es doch ge-
rade besonders wichtig, dass Speier gegen die Angriffe des
Königs gehalten wurde , da sich hier der Kriegsschatz
befand. *)
Ausserdem ist sowohl gegen Arnolds Übersetzung wie gegen
alle übrigen geltend zu machen, dass comprovinciales sonst
überwiegend für die Bewohner einer Erzdiöcese oder Diöcese
oder für die eines Herzogtums oder einer Grafschaft gebraucht
wird, wie auch provincia gewöhnlich in den entsprechenden Be-
deutungen vorkommt.6) Dass hier mit provincia jener mit
■) Das liegt sicher in dem Ansdruck : Mognntinensis ecclesiae humilea servi.
*) Omnes etiam comprovinciales nostri ex utraque parte Rheni coniura-
verunt persistere nobisenm. Qui proxime, nobiscum inxta civitatem nostram
congTegati, equites et pedites viginti milia numerati snnt.
*) S. die S. 218 N. 3 gegebenen Citate.
4) Heinrich IV Bd. II (Stnttg. 1856) S. 397.
*) Ekkehardi Chron. a. 1105 (S. S. VI p 229).
*) Über den Gebranch des Wortes provincia für den Metropolitanbezirk
vgl. Hinschius Kirchenrecht II S. 6 N. 12, 13 und Dncange s. v. provincia.
Dort auch ein Beispiel, in dem es einen Bistnmsbezirk bezeichnet. In dieser
letzteren Bedeutung wird auch Vangionum provincia in Wandalberti vita
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220
Mainz strategisch und jurisdictionell verbundene Bezirk gemeint
ist, welchen wir als das Gebiet der Mainzer Burggrafschaft kennen
gelernt,1) ist nicht wahrscheinlich. Dasselbe erstreckte sich
höchst wahrscheinlich bei keiner unserer drei Städte auf die
rechte Rheinseite, *) und 20000 Bewaffnete hat es damals in
der Mainzer Burggrafschaft keinesfalls gegeben. Da nun, wie
bemerkt, die Möglichkeit einer Heranziehung von Wormser
und Speierer Mannschaften ausgeschlossen zu sein scheint, so
liegt es jedenfalls am nächsten, unter comprovinciales die dem
Kaiser treu gebliebenen Bewohner des Mainzer Diöcesangebiets
zu verstehen, um so mehr, als auch die Ausdehnung desselben
über beide Rheinseiten und die erwähnte Truppenzahl fttr diese
Annahme zu sprechen scheinen.
Der von den Mainzern gefürchtete Anschlag auf ihre Stadt
kam nicht zu Stande, obgleich der Kaiser erst Ende Oktober
dorthin zurückkehrte.5) Dagegen gelang es dem jungen Hein-
rich, den Rhein bei Speier zu überschreiten und sich dieser
Stadt, sowie der dort befindlichen Schätze seines Vaters zu be-
mächtigen.4) Diese Erfolge hatte ihm die Bestechlichkeit des
Speierer Burggrafen ermöglicht. Da der Speierer Bischofsstuhl
gerade erledigt war, so besetzte der junge König ihn mit einem
ergebenen Anhänger, dem Abte Gebhard von Hirschau.5)
Nach dem Falle von Speier war auch Mainz nicht mehr
zu halten. Der Kaiser verliess es bald darauf, da ihm auch
sein Sohn mit Belagerung der Stadt drohte.6) Nun zog dieser
S. Goftris (S. S. XV p. 369 Z. 48 u. p. 372 Z. 35) gebraucht. Über provincia
in der Bedeutung von pagus vgl. WaitzV. G. VS. 179 N. 1, über die Ver-
wendung dieses Wortes zur Bezeichnung von Herzogtümern (Stammgebieten)
ibid. S. 178 N'. 5. Über den entsprechenden Gebrauch von comprovinciales
vgl. die angeführten Stellen, ferner Waitz VIII S. 18 N. 4 u. Ducange s. v.
comprovinciales. Nach letzterem bezeichnet es auch gelegentlich die Mark-
genossen ; ein Beispiel von entsprechendem Gebrauch von proviucia s. bei
Lamprecht D. W. I 310 N. 6.
') vgl. oben S. 191.
*) ibid. vgl. auch S. 160 — 162, 182, 183. Alle Orte, von denen hier
nachgewiesen ist, dass sie zur Burggrafschaft einer unserer Städte gehörten,
liegen nämlich links vom Bhein.
*) Giesebrecht D. K. III S. 739.
4) Annal. Hildesheim. a. 1105 (S. S. III p. 109), Ekkeh. an der oben
S. 219 N. 5 angef. Stelle.
*) ibid.
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221
dort ein und gab Kuthard Amt und Herrschaft zurück. Ein
Chronist berichtet, dass die Mainzer Bevölkerung darüber in
grosser Freude gewesen.1) Dies ist aber um so unwahrschein-
licher, als später Heinrich V den erzwungenen Verzicht seines
Vaters auf die Reichsgewalt absichtlich in Ingelheim, nicht in
Mainz entgegennahm, weil er ein Eintreten des Volkes zu
Gunsten des Kaisers fürchtete.*) Als Heinrich aus der Burg
Ingelheim nach Lüttich geflüchtet war und sich nun der Kampf
zwischen Vater und Sohn erneuerte, da sollen auch die mittel-
rheinischen Städte sich wieder für den Kaiser gerüstet haben.3)
Durch den Tod Heinrichs IV wurde jedoch dieser Kampf bald
beendigt.
Nicht weniger als unter Heinrich IV machten die Städte
ihre Interessen und Neigungen in der allgemeinen Reichspolitik
unter seinem Nachfolger geltend. Als besonders wichtig für
die Geschichte der mittelrheinischen Städte ist dabei hervor-
zuheben, dass es ihnen in dieser Zeit gelungen ist, sich ihre
Rechtseinrichtungen urkundlich sichern zu lassen. Bereits zu
Beginn des elften Jahrhunderts konnten am Mittelrhein im
Privat-, Process- und Strafrecht besondere städtische Rechts-
bildungen constatirt werden;*) freilich waren dieselben noch
zumeist nur durch den Widerstand erkenntlich, den sie bei den,
von landrechtlichen und canonistischen Rechtsüberzeugungen
geleiteten, Bischöfen fanden. Da diese, ganz überwiegend aus
den Familien des Landadels stammenden, Geistlichen aber weiter
Stadtherren blieben, musste es für die Bürger von hohem
Interesse sein, Urkunden zu besitzen, mit denen sie ihre, immer
mehr selbständig gewordene, Rechtsbildung gegen diese ihre
Stadtherren schützen konnten. Solche Urkunden haben sie
sich nun teils von den Kaisern, teils von den Bischöfen selbst
zu verschaffen gewusst. Zur Zeit Heinrichs V tritt nämlich
auch schon ein geistlicher Stadtherr auf, welcher den Nutzen,
den ihm die Unterstützung der Bürger in seiner Politik zu ge-
währen vermochte, klar erkannte, Erzbischof Adalbert I von
■) Ekkehard 1. c.
*) ibid. p. 231, vgl. Buchholz in dem oben S. 208 N. 9 angeführten
Werke S. 222.
*) Ekkehard p 235.
*) i. oben Capitel U.
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222
Mainz. Dieser Prälat gab zweien seiner Städte weitgehende
Privilegien und wirkte auch bei mehreren von Heinrich V und
Lothar ausgehenden städtischen Freiheitsbriefen in hervorragen-
der Weise mit.1) Diese Urkunden unterscheiden sich auch sehr
wesentlich von allen bis dahin aus der Deutschen Reichskanzlei
hervorgegangenen Dokumenten. Wie die von Adalbert, so ent-
halten nämlich auch die von Heinrich V und Lothar den Städten
verliehenen Privilegien vor allem Sicherung städtischer Rechts-
institutioneu und selbständiger städtischer Rechtsbildung, wäh-
rend vorher städtische Bürger in Deutschland von den Kaisern
nur Urkunden erhalten hatten, in denen wir ausschliesslich oder
doch ganz vorwiegend Zollbegünstigungen finden.*)
Zollbegünstigungen enthalten allerdings auch die ersten der
hier in Betracht kommenden Privilegien, nämlich diejenigen,
welche Heinrich V 1111 August 14 den Speierern verlieh,*)
als er durch die feierliche Beisetzung seines Vaters die Unter-
') s. die unten folgenden Ausführungen.
*) Vgl. die von Bresslau Konrad II Bd. II S. 380 znsammenges teilten
Erwähnungen von kaiserlichen Urkunden für Deutsche Städte (resp. ihre
Kaufmannsgenosseusehaften vgl. oben S. 202) vor Heinrich IV sowie W U 56
und St. 2714. Von der Mehrzahl dieser Art von Privilegien vor Heinrich V
haben wir freilich nur durch Notizen in anderen Privilegien Kunde; jedoch
genügen die erhaltenen, um ihren Inhalt festznstellen. Es sind dies die
Urkunden Ottos II und Konrads II für Magdeburg (St. 660 u. 1871 s. auch
Höhlbaum Hans. Urkb. [Halle 1876] I S. 1 Nr. 1), die Urk. Heinrichs III
für Quedlinburg (St. 2229, s. jetzt auch Janicke in Geschicbtsqnellen der
Prov. Sachsen Bd. II Halle 1873 S. 8 No. 9) und die Urkunden Heinrichs IV
für Halberstadt (St. 2714, 0. Schmidt in Gschchtsq. d. Pr. Sachsen Bd.
VII Halle 1878 S. 2 No. 3) und Worms (W U 56). Von diesen Urkunden
enthalten nun diejenigen für Magdeburg und Worms ausschliesslich, die-
jenigen für Halberstadt und Quedlinburg ganz vorwiegend Zollbefreiungen.
*) Sp. U 14. Eigentlich sind cs zwei in einem späteren Traussiunpte
überlieferte Privilegien , von denen nur das erste dies Datum trägt. Die
zweite dieser Urkunden ist überhaupt nicht vollständig erhalten und so fehlt
auch die Datierung. Doch hat man mit Recht allgemein für beide Privi-
legien die gleiche Datierung angenommen (vgl. z. B. Arnold I S. 190, Schaube
Speier S. 456 ff., Stumpf Nr. 3072, Qiesebrecht D. K. III S. 824). Dieselbe
ergiebt sich daraus, dass beide Privilegien auf derselben Platte über dem
Portale der Domkircbe angebracht sind, in der ersten aber diese Art der
Sicherung der Überlieferung schon als geschehen erwähnt ist. Das Fehlen
der Datierung im zweiten Privileg ist wohl auch gerade dadurch veranlasst,
dass man in der Inschrift, der unsere Überlieferung entstammt, die Datierung
der zweiten Urkunde, weil mit der der eisten völlig übereinstimmend, wegliess.
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Stützung desselben gewissermassen nachträglich sanctioniert hatte.
Wie den Wormsern 1074 an einer Reihe kaiserlicher Zollst&tten
Zollfreiheit verliehen war, so erhielten nun 1111 die Speierer
dieselbe für alle Orte, an denen die Erträge noch direkt an
den Kaiser fielen; ferner sollten sie auch an allen Zollstätten
ihres Bistums von jeder Leistung befreit sein.1) Endlich durfte
auch in Zukunft in Speier selbst nur noch von Waaren Fremder
ein Passierzoll erhoben werden ; dies folgt aus einer Bestimmung
unserer Urkunde, dass, wer von den Speierern eigene Waaren
auf eigenen oder gemieteten Schiffen vorbeiftihre, zollfrei
sein solle.*)
Ausser diesen Zollprivilegien empfing aber Speier damals
von Heinrich V, da er es vor allen anderen Städten erhöhen
wollte,3) noch eine Anzahl anderer, ungleich wichtigerer, Be-
günstigungen. Als ganz besonders für die städtischen Interessen
ins Gewicht fallend wird in dem ersten Privileg Heinrichs V
für Speier die Aufhebung des Buteilsrechtes hervorgehoben,
jener Verpflichtung zur Auslieferung eines Teils des Nachlasses,
welche, wie früher4) gezeigt ist, im elften Jahrhundert höchst
wahrscheinlich der Mehrzahl der Einwohner unserer Städte
ihren Bischöfen gegenüber oblag.3) Ferner wurde mit dem
Buteil zugleich auch das Hauptrecht aufgehoben, d. h., wie
ebenfalls schon früher*) erwähnt, die mit dem Buteil eng ver-
wandte Berechtigung des Herren auf das beste Stück des Nach-
lasses,7) die übrigens wohl auf Milderung dieses Buteilsrechtes
‘) N alias ab eis theloneum in toto episcopatu aut in locis fiscalibns,
id eat ad ntilitatem imperntoris singulariter pertinentibus, extorqueat.
*) Voinmus eciam, nt nichil exigatur ab biis, qui res proprias propriis
seil conductis uavibus transfebunt.
*) Quouiam . . . locum istum . . . . pre ceteris sublimere proponimus.
‘) S. oben 8. 36, 37.
*) a lege neqnissima et nephanda, videlicet a parte illa qne vulgo
badeil vocabatar, per quam tota civitas ob nimiam paupertatem adnichilabatnr,
ipsos suosque . . heredes excussimus, ne vero aliqua persona maior vel minor,
non advocatns, non eorum naturalis dominus, Ulis morientibus de eorum
suppellectUe quicquam auferre praesumat interdiximus , et ut omnes liberam
po teste tem babeaut suis beredibus relinquendi vel pro anima sua dandi vel
coicumque peraone dare voluerint . . . ., coucessimus et confirmavimus.
•) 8. 36.
’) Der Name des Hauptrechts wird zwar in der Urkunde nicht erwähnt,
wohl aber sein wesentlicher Inhalt (vgl. N. 3). So entschied auch später
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beruht.1) Künftighin sollte allen Einwohnern von Speier volle
Freiheit letztwilliger Verfügung zustehen.*)
Ausdrücklich ist dabei in der Urkunde betont, dass durch
das Buteil die ganze Stadt der Gefahr der Verarmung ausge-
setzt gewesen.*) Aus diesen Worten geht sicher hervor, dass,
wenn nicht alle, so doch der bei weitem überwiegende Teil der
Einwohner Speiers dieser Verpflichtung unterworfen war. Es
ist auch schon früher4) darauf hingewiesen worden, dass die
Annahme wohl gerechtfertigt erscheint, dass bis 1111 die ge-
sanimte gewerbliche Bevölkerung Speiers mit Ausnahme der
Hausgenossen zur Leistung des Buteils an den Bischof ver-
pflichtet war, damals aber davon befreit wurde. Aus unserer
Urkunde geht ferner hervor, dass zu gleicher Zeit auch alle
Herren- oder Vogts-Rechte auf die Hinterlassenschaft in Speier
eingewanderter oder in Zukunft einwandernder Personen auf-
gehoben wurden.6)*)
Jedes solche Recht ist nach der Urkunde als neqnissima
et nefanda lex zu betrachten.1) Die hier offenbar wiedergegebene
Anschauung der Speierer Bürgerschaft muss als zutreffend be-
Friedrich I 1182, dass die Speierer schon in dieser Urkunde nicht nur vom
Bnteile, sondern auch vom Hauptrechte befreit seien (Sp. U 18 S. 22 Z. 5-16).
l) So Hcusler Instit. I S. 141, Lamprecbt D.W. 1 1182. Bemerkenswert
ist, dass diese Auffassung dadurch bestätigt wird, dass Bischof Ulrich von
Speier der Ansicht war, dass er nach Aufhebung des Buteils das Hauptrecht
geltend machen dürfe (U 18 S. 22 Z. 7—10).
*) S. die S. 223 N. & angeführte Stelle.
•) ibid.
4) oben 8. 60.
6) Vgl. das omnes, qui in civitate Spirensi modo habitant vel deinceps
habitare voluerint, undecumque venerint . . . (S. 18 Z. 19 ff).
*) Dass die Todfallsabgaben jedenfalls von dem überwiegenden Teil der
Stadtbewohner verlangt wurden, geht auch aus der oben N. 7 erwähnten Stelle
hervor, wonach später auch das Hauptrecht ab eis d. h. denSpeierern ge-
fordert wurde und die ganze Erhebung desselben für ungerecht erklärt wurde.
Hit Unrecht lässt jedenfalls v. Below das Buteil nur für Unfreie im Besitze
von Stadtrechtsgut aufgehoben werden (Histor. Ztschr. 1887 8. 209 — 213,
1888 8. 236 N. 1) vgl. darüber Anhang L Richtig hebt aber Schaube Speier
8. 467 Nr. 2 gegen die Ausführungen von Nitzsch 8. 314 und Heusler
Urspr. S. 148 hervor, dass aus der Bestimmung, dass ferner kein Stadt-
bewohner dem Buteile unterworfen sein soll, nicht geschlossen werden darf,
dass bis dahin alle demselben unterlagen.
•) s. oben S. 223 N. 6.
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zeichnet werden, da die Erbgebtihr ja ein starkes Hindernis
städtischen Gewerbefleisses bildet,1) während sie auf dem Lande,
wo das Gutsinventar oft vom Herren verliehen war, eine ge-
wisse Berechtigung besass und sich desshalb so viel länger
gehalten hat.*) Die ganze Art aber, wie von diesem Buteils-
rechte in unserer Urkunde gesprochen wird, macht meines Er-
achtens die Annahme notwendig, dass sich gegen dasselbe schon
vor 1111 in städtischen Kreisen lebhafter Widerspruch erhoben
hatte und dass es nicht nur die Interessen, sondern auch das
Rechtsgefühl der Bürger verletzte.
Eine Anerkennung schon bestehenden specifisch städtischen
Rechtes liegt dagegen wohl in der Bestimmung unseres Privi-
legs, dass, wer in Speier Haus und Hof Jahr und Tag besessen
habe, sich von niemandem, der davon Kenntnis gehabt, Ein-
spruch gegen seinen Besitz gefallen zu lassen brauche.*) Ist
auch die Frist von Jahr und Tag schon im älteren fränkischen
Rechte von Bedeutung,4) so kann doch die ausdrückliche Zu-
sicherung, dass durch diese Frist geschaffene rechte Gewere6)
alle Ansprüche von diesem Besitze wissender vernichte, nur
dadurch erklärt werden, dass man in ihr, von dem auf dem
Lande geltenden abweichendes, städtisches Recht sieht. Die
Richtigkeit dieser Erklärung wird dadurch bestätigt, dass später
bei Veräusserungen von Immobilien in Speier die Tradenten öfters
die Haftung dafür ausdrücklich übernehmen, dass binnen Jahr
und Tag kein Einspruch stattfinden werde.*) Es lässt sich
■) vgl. A r n o 1 d V.G. I S. 190 u. Stnd.z. D. Colturg. (Stuttg. 1882) S. 196, 197.
*) vgl. z. B. Kindl inger, Hörigkeit (Berlin 1819) 8. 634 N. 8 und 9,
S. 638 N. 8.
*) S. 19 Z. 15: 8i quis curtem nnt domum per annum et diem «ine
contradictione poseederit, nulli hoc interim ecienti ultra inde respondeat.
*) Vgl. Form. Sal. Bign. N. 3 und 5 (L. L. V ed. Zeumer p 229) und
mehrere andere der von Qrimm R. A. 8. 222 angeführten Beispiele.
*) Vgl. über diese besonders die instruktiven Erörterungen von Heusler
Instit. II 8. 103—112, von denen ich freilich gerade in Bezug auf die —
mindestens für Suddeutschland entschieden aufrecht zu erhaltende — Unter-
scheidung der Entwicklung im Land- und im Stadtrechte zu abweichenden
Ergebnissen gekommen bin. Die Richtigkeit derselben folgt meines Erachtens
schon ans den im Text angeführten Beispielen; eine ins Detail gehende Aus-
einandersetzung mit Heusler aber würde an dieser Stelle zu weit führen.
*) Sp U 182 ; . . . constituens se waraudum redituum eorundem super
domibus prelibatis per annnm et diem. Sp. U. 187: constituentes «e
Ko ebne, Ursprung der Stadt Verfassung in Worms, Speierand Mainz. IS
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auch für diese Auffassung auf die bemerkenswerte Analogie der
Augsburger Verhältnisse verweisen, da nach dem dortigen Stadt-
buche *) die Haftung des Veräusserers bei Gütern in der
Stadt Jahr und Tag, dagegen bei auf dem Lande oder ausserhalb
der Stadt gelegenen Gütern zehn Jahre dauern soll.*)
Unter den übrigen Verordnungen unserer Urkunde ist die
Bestimmung noch besonders hervorzuheben , dass weder der
Bischof noch sonst jemand einen Rechtsstreit, dessen Behandlung
vor dem Stadtgericht schon begonnen hatte, noch vor ein an-
deres Gericht bringen solle ;s) der Brauch, einen und denselben
Process in seinen verschiedenen Terminen an verschiedenen
Hunderschaftsgerichten zu verhandeln,4) war damit für die in
Speier behandelten Processe reichsrechtlich ausgeschlossen.
Wurde so die städtische Rechtsbildung dem Einflüsse der Land-
gerichte völlig entzogen, so wirkte das Verbot, einen Speierer
Bürger vor ein ausserstädtisches Vogtsgericht zu ziehen,
nicht nur in der gleichen Richtung, sondern trug auch dazu
bei, einwandernde Eigenleute von den Verpflichtungen gegen
ihre früheren Herren zu befreien.5)
warandos . . . adversus quemlibet per annuni et diem, inxta ins et
consuetudinem civitatis Spirensis generalem; Aber die ganz
gleiche Erscheinung in Worms vgl. W. U. 304, 375, 443, 485.
') herausgeg. von Ch. Meyer (Augsb. 1872) Art 74: Ist daz ein burger
dem bnrger eigen git hie in der stat . . . . , der sol im daz staeten iar
unde tak .... Git aber iemen dem andern ein eigen ze kauffene nf dem
lande oder uzerhalp der stat, der sol iin daz staeten nach des landes
rehte daz sint zaehen iar.
») Es liegt nahe, zur Erklärung der Entstehung dieses stadtrechtlichen
Satzes an den öfteren Eigentumsübergang von Immobilien in der Stadt und
die Benutzung der städtischen Immobilien zur Creditsicherung zu denken (vgl.
oben S. 22, 23 mit N. 1). Wenn Schaube Speier S. 458 die Bestimmung,
dass „durch einjährigen widerspruchlosen Besitz eines Hofes jeder spätere
Einspruch dagegen beseitigt“ ist, als „zu Gunsten neuer Ansiedler in der
Stadt“ gegeben aneieht, so liegt wohl eine Verwechselung mit der in späterer
Zeit oft auftretenden Bestimmung vor, dass Hörige durch Aufenthalt von
Jahr und Tag in der Stadt frei werden.
*) S. 19 Z. 17 ff: Causam in civitate iam inceptam non episcopus ant
alia potestas extra civitatem determinari compellat.
*) Vgl. über diesen Brauch der fränkischen Zeit, der sich auch ,im
späteren Mittelalter erhalten“ hatte, Sohm G. V. S. 330 — 332, Schröder
R. G. S. 162, 163.
*) Die städtischen Gerichte hatten natürlich über diese Verpflichtungen
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Endlich finden wir in den Privilegien Heinrichs V für
Speier noch einige das Steuerhebungsrecht des Bischofs be-
schränkende Bestimmungen l) sowie das Verbot, die Münze ohne
Zustimmung der Bürger zu verschlechtern.*) Diese Verordnun-
gen sowie die meisten anderen in unserer Urkunde enthaltenen
Vorschriften minderten zweifellos die bischöflichen Einkünfte und
Herrschaftsrechte ; dem entspricht es, dass die wohl für sonstige
kaiserliche Concessionen erlangte Einwilligung des damaligen
Speierer Bischofs Bruno ausdrücklich in der ersten Urkunde er-
wähnt ist.*)
Diese Speier am 14. August 1111 gewährten Begünstigungen
konnten in Worms wohl den Wunsch nach ähnlichen erregen.
Das Privileg Heinrichs IV für diese Stadt war damals von
seinem Nachfolger, obgleich sich derselbe im vorhergehenden
Jahre dort aufgehalten,4) noch nicht bestätigt worden. Wahr-
scheinlich hat gerade dieser Umstand jenes bis jetzt noch wenig
beachtete Ereignis5) hervorgerufen, welches sich seiner nicht zu
erwartenden Folgen wegen als wichtiges Zeugnis für die Be-
deutung von Worms innerhalb der die deutsche Politik bestim-
menden Mächte betrachten lässt.
Als der Kaiser September 1111 auf einem Zuge von Strass-
burg nach Mainz durch schwere Krankheit in Neuhausen bei
Worms festgehalten wurde,®) sah er sich plötzlich von seinen,
ganz andere Anschauungen als die, unter Vorsitz des Herrn oder seines Ver-
treters stattflndenden, ländlichen Vogtsdiugc. Diese Bestimmung war also
noch unendlich wichtiger, als dass sich ihre Bedeutung auf die Ersparnis!
von „Zeitversäumnis und Unkosten' beschränkte, wie Schaube Speier S. 469
annimmt.
') S. 19 Z. 4 ff.
*) S. 19 Z. 12 ff.: Monetam quoque nulla potestas in levius aut in
deterius imminuat aliqua racione, nisi communi civium consilio commutet
vgl. darüber unten Cap. VIII.
J) S. 18 Z. 27: ipso Spirensi episcopo Brunone in pulpito astante et
concedente.
*) Ein Aufenthalt Heinrichs V zu Worms 1110 Juni 12 ergiebt sich
ans St. 3099.
*) vgl. Uber dasselbe Giese brecht III 826, Kolbe Adalbert I (Heidelb.
1872) S. 41, 42.
*) vgl. Landulfus de S. Paulo c 27 (S. 8. XX p 31) u. Manifest Heinrichs V
nach der Gefangennahme Adalberts (B-W. XXV 27, Giesebrecht D. K. III
S. 1263). Die Krankheit Heinrichs ist auch durch den Brief Paschalis II an
ihn von 1111 Okt. 26 (Jaffb — Loewenfeld 6305) beiengt. Anch Zorns
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ehedem bo königstreuen, Wormser Untertanen auf das erbit-
tertste angegriffen. Ein bewaffneter Haufe derselben, der in
das kaiserliche Lager eingedrungen war, konnte nur mit grösster
Mühe zurückgeschlagen werden.1) Was hat diesen Aufstand
der Wormser veranlasst? Heinrich V selbst schrieb die Be-
wegung später in seinem Manifest gegen den Mainzer Erz-
bischof Adalbert dessen Aufstachlung zu. Dies Zeugnis ver-
liert aber dadurch an Glaubwürdigkeit, dass der Kaiser
an dieser Stelle alle Unruhen im Reiche auf die Ränke des
genannten Prälaten zurückftihren wollte. Der Chronist Lan-
dulf von St. Paul, dem wir den ausführlichsten Bericht über
dieses Ereignis verdanken, erzählt, dass die Wormser das Lager
deshalb angegriffen hätten, weil sie auf den Tod Heinrichs
grössere Hoffnungen als auf sein Leben gesetzt und sich der
Regalien hätten bemächtigen wollen (ut regalia sibi vendica-
rent). Giesebrecht und Kolbe*) verstehen diese Stelle so, dass
die Wormser sich in Besitz der Königsinsignien hätten setzen
wollen. Es ist nicht zu verkennen, dass für diese Auffassung
das oben erwähnte Manifest Heinrichs spricht, wonach Erz-
bischof Adalbert damals versucht hätte, sich der Insignien der
Reichsgewalt, des Kreuzes und der heiligen Lanze, zu bemäch-
tigen.5) Andrerseits werden aber damals schon die Regalien
auch im Sinne von Herrschaftsrechten gebraucht,4) so dass es
durchaus nicht unwahrscheinlich ist, dass sie auch hier diese
Bedeutung haben. Während es nicht recht ersichtlich ist, was
die Wormser mit den Reichsinsignien gewollt hätten, mag der
italienische Schriftsteller ihr Verlangen nach Freiheiten in der
Art der soeben Speier erteilten als ein solches nach Regierungs-
rechten bezeichnet haben. Immerhin kann eben der doppelten
Bedeutung des Ausdrucks regalia wegen auf diese Nachricht
kein entscheidendes Gewicht gelegt werden. Dagegen erscheint
es zur Beurteilung der Gründe des Aufstandes und daher auch
des Interesses, das Heinrich an der Rückgewinnung der Zu-
Wormser Chronik berichtet S. 61: „Anno 1112 ist kaiser Heinrich zu 'Worms
tödtlich krank worden,* irrt also nur in der Zeitangabe.
*) B-W XXV 27.
*) s. die Citate von S. 227, N. 6.
*) crucem et lanceam nobis insidiose temptat proripere (B-W XXV 27
S. 247).
*) So im Vertrage Heinrichs V mit Paschalis II 1111 (L. L. II p 69 Z. 23).
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229
neigung der Wormser hatte, höchst bedeutungsvoll, dass sie
schon ein sowie drei Jahre nach diesem Aufstande von Hein-
rich V wichtige Privilegien erhielten. In dem ersten bestätigte
und erweiterte er die von seinem Vater den Wormsern ver-
liehenen Zollfreiheiten und erliess ihnen ausserdem das bis da-
hin gezahlte Wachtgeld, wogegen sie jetzt selbst die Verteidi-
gung der Mauern übernahmen.1) In dem zweiten Privileg
erhielten sie einen Teil der Speierllll verliehenen Freiheiten,
namentlich Aufhebung der Erbgebühren und Gewährung unge-
teilten Zufallens des Nachlasses an den überlebenden Ehegatten,
respective sonstige Erben.*) Ist es nicht sehr wahrscheinlich,
dass die Wormser 1111 desshalb gegen den Kaiser zu den
Waffen gegriffen haben, um dasjenige zu erhalten, was ihnen
später wirklich — zum mindestens teilweise — vom Kaiser
verliehen wurde? Ganz besonders mochten sie dabei, wie schon
gesagt, dadurch zum Angriff auf Heinrich V bewogen sein, dass
er ihnen in den ersten 6 Jahren seiner Regierung namentlich
auch bei seinem Wormser Aufenthalt 1110 das von seinem
Vater gegebene Privileg nicht bestätigte und Worms gegenüber
die Nachbarstadt Speier, deren Burggraf ihm zum Siege gegen
seinen Vater verholfen, in der auffallendsten Weise begünstigte.
In welch hohem Grade die den Speierern von Heinrich V ver-
liehenen Privilegien die Eifersucht der Wormser erregt hatten,
lässt sich auch aus folgendem ersehen. Heinrich IV hatte die
Wormser in Hinsicht auf die, für Unterstützung seiner Sache
in Aussicht gestellten, Belohnungen für würdiger als die Bür-
ger aller anderen Städte erklärt;8) Heinrich V aber hatte
den Speierern 1111 versprochen, ihre Stadt über alle anderen
Orte zn erhöhen.4) Dadurch fühlten sich die Wormser veran-
lasst, in das ihnen von Heinrich V im Jahre 1112 erteilte
Privileg den Satz zu interpolieren, dass er sie für würdiger
als die Bürger jeder andern Stadt erkläre.5)
>) W. ü. 61.
*) W. 0. 62. Über die Bestimmung, dass niemand gezwungen werden
sollte, das Amt des thelonearius zu übernehmen s. oben S. 64.
*) W. U. 66 vgL oben S. 206.
*) Sp. U. 14 s. oben 8. 223. N. 5.
*) W. U. 61: Et ut omnes horum imitacione regibus et dominis suis
discant servare fidelitatem (vgl. W. U, 56 8. 48 Z. 17), nos eos omuibus cuius-
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230
Auch in Mainz haben in dieser Zeit die allgemeinen poli-
tischen Verhältnisse die erste Gewährung eines Privilegs für
die Bürger verursacht. Hier war seit Anfang 1110,*) Adal-
bert Erzbischof, der Erzkanzler Heinrichs V. gewesen, und
von Zeitgenossen vielfach als der Urheber der Gefangennehmung
Papst Paschalis durch den Kaiser bezeichnet ist.*) So hat denn
Heinrich, als er diesem Manne den Bischofssitz in der rheini-
schen Metropole verlieh, sicher geglaubt, sich unbedingt auf ihn
verlassen zu können. Kaum war aber Adalbert auf den erz-
bischöflichen Stuhl gelangt, als er auch schon mit dem Könige
in heftigen Streit geriet. Derselbe ist vor allem aus der
natürlichen Collision der Interessen des, in der Ausbildung be-
griffenen, Mainzer geistlichen Fürstentums mit den auf Ver-
mehrung der kaiserlichen Macht gerichteten Plänen Heinrichs
zu erklären.*) Adalbert wurde so zum Verbündeten der Hein-
rich feindlichen Fttrstenpartei und der streng kirchlichen Rich-
tung. Vom Kaiser, um sich zu verantworten, zu Hofe geladen,
erklärte der Erzbischof, sich nur in Worms stellen zu wollen,
worauf Heinrich höchst ungern einging. An diesem Orte durfte
er es nämlich nicht wagen, gegen Adalbert mit Gewalt vor-
zugehen, da derselbe die Wormser Bürgerschaft für sich ge-
wonnen und — wie wenigstens der König später behauptete —
auch mit Waffen versehen hatte.*) Ein erbitterter Kampf
libet urbis civibus digniores iudicarons et eis maximam totius iusticie digni-
tatem, quam apud predecessores meos et mecum habuerunt, in eternum finnam
concedimus. Dieser Zusatz ist nicht in der Reichskanzlei gemacht, wie ans
der abweichenden, wenn auch derselben Zeit angehtirenden, Handschrift und
aus .dem ungeschickten i'bergehen der Fassung aus der Mehrzahl (nos iudic&mus)
in die Einzahl (praedecessores meos et mecum)* hervorgeht. Vgl. Ficker
Beitr. z. Frkdnlehre. II (Innsbr. 1878) § 216 S. 52 und Boos Urkb. S. 53
Z. 18 ff. Bresslau Diplomata centum (Berolini 1872) p 187 N. 81 vermutet,
dass diese Stelle auf persönliche Initiative des Kaisers zurückgeht. Diese An-
nahme steht jedoch mit den oben im Text erzählten Vorgängen in Widerspruch.
») vgl. B-W Ein!. S. LXII, LXIII.
*) ibid. S. LXI, LXII, Kolbe Adalbert I S. 36.
*) Vgl. Schum in Götting. gelehrte Anzeigen 1873 Bd. II S. 1059,
Nitzsch D. G. II S. 149.
‘) B-W XXV 27.
*) ibid. vgl. tiiesebrecht III S. 1253.
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231
zwischen Heinrich und Adalbert stand bevor. Da fügte es der
Zufall, dass Heinrich sich im Dezember 1112 der Person seines
Gegners, als er mit ihm auf einem Zuge nach Thüringen zu-
sammentraf, durch einen glücklichen Handstreich bemächtigen
konnte.1) Drei Jahre blieb Adalbert in Haft; weder die Bitten
des Papstes noch die der mächtigsten Fürsten konnten den Kaiser
zur Freigebung des Erzbischofs veranlassen.*) Die Mainzer
aber erreichten, was dem Papste und den Fürsten nicht gelungen
war. Auf den 1. November 1115 hatte Heinrich eine Fürstenver-
sammlung zu Mainz angesagt; um die immer heftiger gegen
ihn anwachsende Opposition zu bändigen, hatte er sogar ver-
sprochen, sich gegen alle Klagen, die hier gegen ihn erhoben
würden, persönlich zu verteidigen.3) Es fanden sich jedoch
nur wenige Bischöfe, von den weltlichen Fürsten niemand ein.
Wohl dieser Umstand gab den Mainzern den Mut, unter Füh-
rung ihres Burggrafen Arnold beim Kaiser für die Freilassung
Adalberts energisch einzutreten.4) Da jedoch die Erfüllung
aller darauf gerichteten Bitten versagt wurde, drangen ritter-
mässig Gewaffnete und Volk3) in die kaiserliche Pfalz ein.
Nur durch schleunige Geiselstellung für Freilassung Adalberts
vermochte der Kaiser sein und der Seinigen Leben zu retten.
Bald darauf wurde noch ein besonderer Vertrag zwischen den
Mainzern und dem Kaiser geschlossen. Sie versprachen ihm
Treue, falls er ihnen den Erzbischof zurückgebe; für den Fall,
dass Adalbert dann gegen den Kaiser von neuem untreu würde,
erklärten sie sich bereit, den Erzbischof aus der Stadt zu ver-
treiben.*) Da dies Versprechen auch durch Geiselstellung ge-
sichert wurde, so scheinen die Mainzer in der That an die
>) Kolbe S. 51, 52, Giesebrecht S. 841, B-W XXV 27.
*) Kolb« R 60.
*) Kolbe 8. 62, 63.
4) B-W XXV 36. Die Teilnahme des Burggrafen Arnold folgt aus den
Annalen von Pegau (8. S. XVI p 2531. Dass die Mainzer sich zuerst mit
Bitten an Heinrich gewandt, geht aus den Ann. Patberbrun. ed. Scheffer-
Boichborst p 181 (= Annal. Hildh. 8. 8. III 113, Annal. Colon, max. 8. 8.
XVII 751) hervor, vgl. Kolbe 3. 64 N. 1.
*) Dies geht aus dem militum plebisque ferventissimo furore bei Ekkehard
S. 3. VI p 249 hervor.
*) Daran wurden sie später vom Kaiser erinnert (Jafft Bibi. V p 310),
vgl. Kolbe 8. 64 N. 2.
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232
Möglichkeit des Friedens zwischen dem Kaiser und ihrem Erz-
bischöfe geglaubt zu haben. Kaum war aber Adalbert freige-
lassen, so kümmerte er sich nicht mehr um die Treuversiche-
rungen, die er bei seiner Freilassung hatte geben müssen ; viel-
mehr bekämpfte er den Kaiser noch heftiger als vor seiner
Gefangennahme. Da die Mainzer, trotz ihres Versprechens, Ad-
alberts neuen Abfall vom Kaiser nicht mit einem Aufstande
gegen den Erzbischof beantworteten, hielt Heinrich sich für
berechtigt, sich an den von ihnen gestellten Geiseln in grausamer
Weise zu rächen.')
Bald darauf, im Februar 1116, begab sich der Kaiser nach
Italien, um dort Verständigung mit dem Papste zu suchen.*)
In Deutschland führten unterdessen Herzog Friedrich von
Schwaben und Pfalzgraf Gottfried von Calw seine Sache.*)
Heftige Kämpfe fanden besonders am Mittelrhein statt, und
hier wird uns auch wieder mehrfach eine aktive Beteiligung
der Städter gemeldet.
Adalbert belegte die Heinrich ergebene Stadt Speier mit
dem Interdikt und den dortigen Bischof, seinen Bruder Bruno,
mit der Eicomraunication.1) Vergeblich begab sich Bruno zu
’) Vgl. Prvlg. Adalberts für Mains: alii tnembris truncati redierunt,
alii farae, alii exilio depntati, alii nnditate et corporis egritudine preoccapati
perierunt (Hegel, Forsch, z, D. Q. XX S. 442; B-W XXV 76).
») Vgl. Kolbe 8. 69, Giesebrecht D. K. IH 8. 867.
*) a. a. 0. S. 886.
4) Vgl. den Brief des Bischofs B. an Heinrich V (Jaffa Bibi. V p 321, 322 ;
B-W XXV 58). Anch Stenzei, Gesch. Deutsch! unter d. frSnk. Kaisern
(Leipz. 1827) I 698 nnd Jaffb a. a. 0. linden in B. Bischof Bruno von
Speier, während Giesebrecht IO 888 nnd 1214 N. 1, Kolbe 8. 75, 76 und
Will a. a. 0. Bischof Burchard oder Buggo von Worms für den Ver-
fasser des Briefes halten. Schon Jaffi hat hervorgehoben, dass die Worte
des Briefes meo labore et consilio coniuraverint omues a Worin atia usque
Argentinam auf das in der Mitte zwischen beiden Diöcesen gelegene Speier
am besten passen. Anch dass von Adalbert darin als von illo Moguntino
gesprochen wird, woraus man auf Urheberschaft Buggos hat schliessen wollen,
scheint bei Adalberts Bruder Bruno, der damals sein politischer Gegner ge-
worden und von ihm gebannt war, erklärlich; ein Fremder hätte sich in
einem Brief an den Kaiser Uber ihren gemeinsamen Feind sicher noch viel
schärfer ausgedrUckt (vgl. die von der kaiserlichen Kanzlei Uber Adalbert
gebrauchten Ausdrücke B-W XXV 27 und Jaffa Bibi. V 311). Endlich ist
noch zu bemerken, dass die in dem Briefe hervortretende entschieden kaiser-
liche Haltung eines Mainzer Diöcesanbischofs, der nur durch seine Bemühungen,
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Adalbert und suchte ihn zur Zurücknahme dieser Kirchen-
strafen zu bewegen. Nach Brunos eigener Aussage hat ihn
Adalbert als Gebannten überhaupt nicht vorgelassen.1) Bald
darauf versicherten sich die Bewohner der Rheingegend von
Worms bis Strassburg durch gemeinsamen Eidschwur ihrer
Treue gegen Heinrich. Dies führte Bruno auf seine eigene Ver-
anlassung zurück, als er fürchtete, der Kaiser könne wegen
seiner Reise nach Mainz gegen ihn Verdacht schöpfen.*)
Zur Beurteilung von Brunos damaliger Parteistellung sind
wir freilich auf die in diesem Entschuldigungsschreiben gegebe-
nen Nachrichten angewiesen und können nicht beurteilen, in
wie weit dieselben der Wahrheit entsprechen. Die Thatsache,
dass von einem missglückten Überrumpelungsversuch, den Adal-
bert auf Speier unternahm,*) berichtet wird, ohne dass dabei
Brunos, der ihn sonst gewiss von der Stadt aus unterstützt hätte,
Erwähnung geschieht, spricht allerdings dafür, dass derselbe
damals noch mit seinen Bürgern auf Heinrich’s Seite
stand. Später finden wir Bruno freilich unter den Anhängern Ad-
alberts.4)
Bald entbrannten auch um Worms heftige Kämpfe. Hier-
her hatten sich Juli 1116 Friedrich von Staufen und Pfalzgraf
Gottfried begeben; Anfang August rückten dann Adalbert und
andere Heinrich feindliche Fürsten vor die Stadt.5) Während
die genannten Führer über einen Waffenstillstand beratschlag-
ten, machten die Wormser — wohl um das Zustandekommen
eines solchen zu verhindern — ohne Wissen der Fürsten einen
Aasfall, wurden aber zurückgeschlagen.
Weitere Kämpfe wurden jedoch in dieser Gegend durch
einen bald darauf geschlossenen Waffenstillstand verhindert.*)
sich vom Banne zu lösen, dem Kaiser verdächtig geworden, bei Bruno wahr-
scheinlicher als bei Buggo ist, gegen den Heinrich kurz vorher einen Gegen-
bischof aufgestellt hatte, vgl.ZornS.54,SchannatI 3öO, Arnold, V. G. 1 203.
') Jaffb Bibi. V p 322.
*) ibid.
*) vgl. Heinrichs Brief an die Mainzer (Jaffe ibid. p 311). Kolbe
setzt freilich dies Unternehmen vor die Eicommunication, vgl. aber dagegen
Schum in Götting. gelehrte Anzeigen 1873 S. 1062.
4) So nahm er z. B. an der Synode der Heinrich feindlichen Bischöfe
zu Fritzlar am 28. Juli 1118 teil (B-W XXV 73).
4) vgl. Giesebrecht S. 886, Kolbe S. 71 B-W XXV 63.
*) ibid.
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Nicht viel später kam cs aber in Mainz zu einem Auf-
stande, bei dem Adalbert vertrieben wurde.1) Es ist entschie-
den bedeutungsvoll, dass sich nun auch hier die Solidarität der
städtischen Interessen geltend machte; hatten doch früher ge-
rade die Mainzer die Rückkehr Adalberts von Heinrich V. erzwun-
gen und hatte dieser sich doch, wie erzählt ist, an einem Teile
der von den Mainzern gestellten Geiseln grausam gerächt.*)
Vielleicht ist dieser Aufstand auch zum Teil mit auf die Be-
mühungen Bischof Brunos von Speier zurückzuführen, der dem
Kaiser früher mitgeteilt, dass er die vornehmsten unter den
Mainzern für ihn gewonnen habe.*)
Voll Freude über diesen Aufstand sandte der Kaiser so-
gleich ein Belobigungsschreiben an Clerus und Laien in
Mainz;*) beachtenswert ist, dass letztere dabei als Mogonti-
nensis ecclesiae cives bezeichnet werden. Es findet sich
auch keine Spur davon, dass der Kaiser die Stadt etwa unab-
hängig vom Erzbistume machen wollte. Vielmehr verspricht
Heinrich in diesem Briefe den Bürgern, falls sie sich ihm dau-
ernd treu erweisen würden, nur seine besondere Zuneigung und
volle Verzeihung für ihr früheres gewaltsames Eintreten zn
Gunsten Adalberts. Dieser wird als Eidbrüchiger und Verräter
bezeichnet, der nicht nach Verdienst, sondern nur dem Namen
nach Bischof sei. Ganz besonders werden die Bürger davor
gew'arnt, ihn wieder in ihre Stadt aufzunehmen.5)
Dieser Brief hat aber wohl Mainz überhaupt erst erreicht,
als sich der Erzbischof wieder der Stadt bemächtigt hatte.
Bald nach seiner Vertreibung griffen nämlich seine Verbündeten
eine Abteilung der Bürger unvermutet an, tödteten einige ihrer
Führer und nahmen die übrigen gefangen. Darauf zog Aldal-
bert wieder in die Stadt ein.6)
Im folgenden Jahre rückte Herzog Friedrich vor Mainz
und belagerte es; von einem Sturme auf die Stadt stand er
‘) Annalista Saxo S. 8. VI p 78.
*) Vgl. oben S. 232 N. L
•) Jaff6 Bibi. V p 322, vgl. oben S. 232 N. 4.
*) Ja ffi Bibi. V p 310. Fälschlich bezeichnet B-W XXV 56 diesen
Brief als Beschwerden Heinrichs bei den Mainzer Clerikern.
*) ibid.
*) B-W XXV 57,
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235
ab, nach Otto von Freisings Meinung, um ihre Heiligtümer
nicht der Gefahr der Zerstörung auszusetzen, *) Der Erzbischof
bewog auch bald durch trügerische Unterhandlungen und Ver-
sprechungen den Herzog zum Abzüge; sobald dieser aber auf-
gebrochen, liess er ihn von den Seinigen verfolgen.*) In dem
so entstehenden Kampfe kamen aber auch viele der Städtischen
um, und nur mit Unwillen ertrug die Bevölkerung, die den
Verlust ihrer Verwandten und Freunde und die vielfache Be-
drängnis der Stadt mit Recht Adalbert zuschrieb, noch länger
die Herrschaft desselben.5) Um so wichtiger war es für den
Erzbischof, sich die Gunst der städtischen Bevölkerung wieder-
zugewinnen. Dies scheint ihm auch durch das Privileg von
1118 gelungen zu sein, worin er alle Einwohner von Mainz von
Gerichten und Beden auswärtiger Vögte und von allen Steuer-
leistungen, denen sie nicht selbst zustimmen würden, befreite.4)
Es ist bemerkenswert, dass wie Mainz auch Erfurt Adalbert
ein Privileg verdankt, worin die Bürger gegen übermässige
Geldforderungen geschützt wurden.5) Auch bei den kaiserlichen
Privilegien für Speier und Strassburg hat Adalbert mitgewirkt.*)
Die Urkunde Heinrichs V. für Speier hat er noch als Kanzler
desselben recognosciert, die Lothars für Strassburg als Reichs-
erzkanzler und erster Zeuge unterschrieben.7) Besondere Be-
ziehungen Adalberts zur Wormser Bürgerschaft sind schon
oben*) erwähnt.
In dem Mainzer Privileg von 1118 gab nun Adalbert den
Einwohnern seiner Residenz zunächst einen Teil der Rechte,
>) ibid. 63.
*) ibid.
*) Otto Fris. Gesta Frid. I c 13. (S. S. XX p 359): Cives, qni paren-
tes et amicos in illa caede amUerant, tanta cordis amaritudine affecti erant,
nt pene in proprium episcopnm, Teint huius concusnionis anctorem, irruerent.
‘) Hegel Forsch, z. D. G. XX 8. 442 ff; B-W XXV 76.
•) B-W XXV 102, Beyer, Urkb. v. Erfurt (Halle 1889) Nr. 13.
*) Sp. D. 14; Wiegand Strassb. Urkb. I N. 78 S. 61.
*) Tgl. Hegel Forsch, a. D. G. XX S. 437. Auch kann wohl die Ver-
mutung ausgesprochen werden, dass bei der Urkunde Heinrichs V. für Speier
die Einwilligung des dortigen Bischofs Bruno, des Bruders Adalberts, in die
Nachteile, die das PriYileg seinen Rechten und Einkünften sufttgte, Ad-
alberts Vermittlung EUzuschreiben ist,
•) 8. 230.
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236
welche mit seiner Mitwirkung Heinrich V. 1111 den Speierern
verliehen hatte ; dann fügte er noch das Steuerbewilligungsrecht
in den absichtlich gewühlten Bibelworten hinzu:
quare cui tributum, tributum, cui vectigal, vectigal gra-
tis, nullo exigente, persolverent.1)
Aller Wahrscheinlichkeit nach hat Adalbert diese Bibel-
worte absichtlich gewählt, um damit auch in den Burgern
anderer Städte die Hoffnung zu erwecken, dass sie gerade
durch Anschluss an die kirchliche Partei ihre auf Erweiterung
der communalen Rechte gerichteten Bestrebungen am besten
erreichen würden. So legte Adalbert sowohl als kaiserlicher
Staatsmann, wie als Führer der aufständischen Fürsten darauf
Gewicht, den Handelsstand für seine Interessen zu gewinnen.
Damit stimmt überein, dass er ein für seine Zeit höchst sel-
tenes Verständnis für die Wichtigkeit des Handelsverkehrs be-
kundet, indem er in Mainz gegen die Heinrich treu gebliebenen
Städte Kampfzölle einführte.*) Mag unter diesen Kampfzöllen
auch Mainz selbst gelitten haben, so mussten sie doch die
Hilfsmittel Heinrichs und besonders die Ausdauer der ihn unter-
stützenden Städte schwächen. So wenig Adalberts Charakter
Sympathie zu erwecken vermag, so erregt doch gerade sein
Verständnis für wirthschaftliche Verhältnisse und sein von Er-
folg gekröntes Streben, auch unter den, früher durchaus kaiser-
lich gesinnten, Städtern Anhänger zu erwerben, Bewunderung.
Ist Adalbert von Gieseb recht als „Meister in der Staatskunst
') Will macht darauf aufmerksam, daas diese Worte Pauli epist. ad
Eom. cap. 13 vers 7 entnommen sind (B-W XXV 76). Au« dieser Thatsacbe
erklärt sich die Wahl dieses, für die Mainzer Verhältnisse entschieden dunkelen,
Ausdrucks. Zur Zeit der Verleihung des Privilegs ist er wohl so verstanden,
dass neue Steuern und Zölle nur mit Zustimmung der communalen Stadt-
behörde erhoben werden sollten. So auch Hegel Mainz S. 26, 26. Wäre
mit dem Satze nur gemeint, man solle nicht unbefugter Weise Zölle und
Steuern fordern, wie BockenheimerS. 18 behauptet, so wäre er ganz nichts-
sagend. Jedenfalls wurde aber schon in der Mitte des zwölften Jahrhunderts,
wie im nächsten Capitel gezeigt werden wird, in diesen Worten die Gewährung
völlige r Steuerfreiheit gefunden, die Adalbert entschieden nicht gemeint hatte.
*) Es geht dies aus einer Urkunde Erzbischof Arnolds von Mainz fftr
die Bürger von Duisburg vom Jahre 1165 hervor, in welcher dieser den Zoll
aufhob, den Adalbert ihnen 1121 „non ob suam culpam, sed propter domni
sui videlicet regis inuidiam* auferlegt hatte (Lacomblet Niederrh. ürkb. I
N. 382, S. 264), vgl. B-W XXV % u. XXIX 13, Kolbe 142, 143.
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237
jener Zeiten“ bezeichnet worden,1) so muss die hier beobachtete
Erkenntnis der Wichtigkeit des Handels und des Handelsstandes,
welche sich an Adalbert wahrnehmen lässt, die Achtung vor
seiner staatsmftnnischen Begabung entschieden noch erhöhen.
Wohl als Folge dieser bürgerfreundlichen Politik Adalberts,
insbesondere des erwähnten Privilegs von 1118 kann es be-
trachtet werden, dass die Mainzer noch in demselben Jahre
mit dem sächsischen Heere das kaiserlich gesinnte Oppenheim
zerstörten.*) Während Worms und Speier ihre Bischöfe, welche
zur antikaiserlichen Partei übergegangen waren, vertrieben
hatten,*) zeigten sich die Mainzer, als sich der Kaiser im Juni
1 121 ihrer Stadt näherte, bereit, für Adalbert eine Belagerung
auszuhalten.1) Jedoch ist es dazu nicht gekommen, vielmehr
wurde damals ein Reichstag zu Würzburg zur Wiederherstellung
des inneren Friedens in Deutschland verabredet.5) Aus den
Beschlüssen desselben ist hier besonders hervorzuheben, dass,
während alle anderen, nach den Ordnungen der Kirche gewählten
und consecrierten, Bischöfe in ihre Städte zurückkehren durften,
der Bischof von Worms, Buggo, seiner Residenz noch fem-
bleiben musste.*)
Auch später, nach dem Wormser Concordat, liess der Kai-
ser diesen, ihm offenbar besonders verhassten, Bischof nicht in
seine Stadt heimkehren. Vielmehr wurde Worms damals von
der ausserhalb der Mauern gelegenen Pfalz aus durch kaiser-
liche Beamte verwaltet.7) Zwischen diesen und den Städtern
entstanden jedoch bald heftige Streitigkeiten und, als Heinrich
im August 1124 auf einem Zuge gegen Frankreich Metz bela-
gerte, hieben die Wormser mehrere seiner Leute nieder, zer-
störten die Pfalz und riefen Buggo wieder zurück. Friedrich
•) D. K. IV 8. 6.
*) Ann. Pegav. (8. 8. XVI p 253 Z. 49).
•) Ekkebardi Chron. 1121 (8. 8. VI p 267).
*) ibid.
*) Anaal. Saxo (8. 3. VI p 757), vgl. Kolbe 8. 104.
*) Vgl. Giesebrecbt D. K. HI 8. 932. 977.
^ Vgl. hierzu und zum folgenden: Ekkeh. Chron. (8. 8. VI p 262 263.);
Annal. Colon, mai. (8. & XVII p 763); Otto Fri». Chron. Lib. VII e 16 (8.
3. XX p 256) »owie Gieaebrecht a. a. 0., Arnold V. O. I, 8. 204, 205.
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von Schwaben, der Schwiegersohn und präsumptive Nachfolger
des Kaisers, scheint bei dieser Erhebung beteiligt gewesen
zu sein; jedenfalls hofften die Wormser wohl auf seine Unter-
stützung.1)
Auf die Nachricht von diesen Ereignissen kehrte der
Kaiser sofort zurück, und es kam zur Belagerung von Worms.
Ein Ausfall der Städter wurde zurückgeschlagen; die bei dieser
Gelegenheit gemachten Gefangenen liess der Kaiser als Rebellen
verstümmeln und blenden und sie so in die Stadt zurück-
schicken. Da hier zuletzt auch der Proviant ausging, mussten
die Wormser es noch als Gnade ansehen , dass Heinrich
ihnen gegen das Versprechen von 5000 Pfand Silbers
verzieh.*)
Wenn die Veranlassungen dieses Wormser Aufstandes auch
wohl zufällige gewesen sind, so weist doch die Teilnahme der
ganzen Bevölkerung und die Begnadigung seitens de3 Kaisers
gegen das blosse Versprechen einer Contribution darauf
hin, dass die Stadt eine geordnete Regierung besass und
die Mitglieder derselben auch als Vertreter der Stadt anerkannt
waren.
Damit wären wir ans Ende der Regierung Heinrichs V.
gelangt. Unter seinem Nachfolger Lothar wird von unseren drei
Städteu nur Speier in der politischen Geschichte erwähnt.
Gleich den Bürgerschaften der übrigen deutschen Städte *) sahen
auch die Speierer in den beiden Staufern, den Herzögen Kon-
rad und Friedrich von Schwaben, und nicht in Lothar die
rechtmässigen Nachfolger der Salier; für die Staufer ertrugen
sie zwei Belagerungen des Königs.4) Ja Speier galt damals
*) Ekkehard I. c. berichtet darüber: Niinciatur Wormatienses
anxilio ducis Friderici contra volnntatem imperatoris Buggonem . . .
sedi suae restituisse. Gegen die Richtigkeit dieser Erzählung, die Ekkehard
ja auch nur als Bericht wiedergiebt, spricht, dass Friedrich bei diesen Worm-
ser Ereignissen nicht weiter erwähnt wird, andrerseits war er damals wirklich
mit dem Kaiser zerfallen vgl. Giesebrecfat S. 976.
*) Ekkehard 1. c. Die annal. Colon, max. 1. c. sprechen von bina mar-
carum tnilia.
•) vgl. Arnold V. G. I, S. 205 ff.
4) a. a. 0. S. 206, 207, Bernhard! Jahrb. Lothars S. 194, 244—246, Giese-
brecht IV S. 32, 36, 36.
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als Mittelpunkt der Staufiscken Macht; die bald nachher ent-
standene Kaiserchronik *) bezeichnet es geradezu als die Haupt-
stadt der geächteten Staufer.
Fassen wir jetzt das politische Verhalten unserer drei
Städte in der hier behandelten Periode noch einmal kurz zu-
sammen. In der Zeit Heinrichs IV. sahen wir alle drei die
Sache des Kaisers auf das treueste unterstützen. Unter seinem
Sohne steht dagegen nur das von diesem ganz besonders be-
günstigte Speier stets auf kaiserlicher Seite; Mainz und Worms
sind damals durch die gewandte Politik seines Gegners Adal-
bert, vielleicht auch durch einige Missgriffe des Königs und die
Erinnerung an sein Benehmen gegen seinen Vater zeitweise
auf die Seite der kirchlichen Partei geführt worden. Die letzte
Erhebung von Worms gegen Heinrich V. ist ausser durch diese
Momente auch noch durch die Hoffnung auf die Unterstützung
des präsumptiven Thronfolgers, Friedrich von Staufen, zu
erklären. Der Umstand, dass man in Friedrich und seinem
Bruder Kourad die wirklich zum Throne berechtigten sah,
erklärt endlich das politische Verhalten Speiers zur Zeit
Lothars.
So zeigen sich unsere Städte im grossen und ganzen dem
Salischen Königshause treu ergeben; gleiche Treue haben
sie auch seinen legitimen Nachfolgern, den Staufern, bewiesen.
Man hat die politische Anhänglichkeit unserer Städte an
das Salisch-Staufische Kaiserhaus und besonders ihr mutvolles
Eintreten für Heinrich IV. damit in Verbindung gebracht,*)
dass die alten Stammsitze der Salier am Mittelrhein, also in
der Nähe unserer Städte, gelegen sind, von denen auch Speier
und Worms selbst früher unter der Herrschaft der Vorfahren
der Salier gestanden haben. Mag auch dieser Umstand von
einiger Bedeutung sein, so reicht er doch zur Erklärung der
politischen Stellungnahme der Städter nicht aus. Nicht nur am
Mittelrhein, sondern auch in Köln, Regensburg, Würzburg,
Lüttich und Goslar treten ja die städtischen Bürgerschaften
*) cd. M&ssmami (Quedlinb. 1849) Bd. II S. 623 v. 17073 ff: Eine borc
heizet Spire wände sie der achtaere honbetst&t was vgl. Bernhardi
a. a. O. S. 246.
*) vgl. z. B. Scbanbe Worms S. 263.
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240
begeistert für Heinrich IV. ein,1) während der Bauernstand ge-
rade da, wo er allein noch Kriegstüchtigkeit bewahrt hatte,
nämlich in Sachsen, auf Seite des rebellischen Adels focht.*)
Die insbesondere von Arnold und Heusler*) vertretene An-
sicht, es hätten in der Mehrzahl der genannten und so auch
in unseren Städten altfreie Gemeinden die Gelegenheit benutzt,
das bischöfliche Joch abzuwerfen und , da die Bischöfe die
Reichspflichten nicht mehr erfüllten, diese selbst übernommen,
steht sowohl mit dem, was sich aus der Zusammensetzung der
Bevölkerung in unseren Städten, als mit dem, was sich aus den
politischen Ereignissen in dieser Hinsicht schliessen lässt, in
schärfstem Widerspruche.
Es muss also eine andere Erklärung für das Eintreten
der städtischen Bürgerschaften zu Gunsten Heinrichs IV. er-
mittelt werden. Nach unseren früheren Ausführungen ist es
in hohem Grade wahrscheinlich, dass das Verhältnis zwischen
bischöflichen Stadtherrn und den leitenden kaufmännischen
Kreisen der Städte durch die Verschiedenheit ihrer Rechts-
anschauungen viele Störungen erfahren hatte.
Ferner liegt es auch sehr nahe, anzunehmen, dass der
Handelsstand selbst fühlte, dass seine Interessen durch ein
starkes Kaisertum gefördert, durch Erweiterung der Territorial-
fürstenmacht geschädigt werden mussten. Was nun diese That-
sache selbst, nämlich die Wichtigkeit einer kräftigen Reicbs-
gewalt für den erblühenden Handel, anbetrifft, so mag
für ihr Vorhandensein hier zunächst auf jenes, allerdings
nur aus einzelnen Spuren erkenntliche, Streben der Reichs-
regierung verwiesen werden, die Verübung von Zollbedrückungen
l) vgl. Arnold V. G. I S. 161 — 164. Wenn die Bürger von Goslar 1073
auf Seite von Heinrichs Gegnern kämpfen , so geschah es doch vornehmlich
nur, weil ihnen seine Dienstmannen ihre Heerden geraubt hatten, vgl. Carmen
de bello Saxonico 1. I v. 193 ff (S. S. XV p. 1122, 1123, Lamberti annales in
8# p 134, 135. Im Jahre 1088 haben sich ja die Bürger Goslars für Hein-
rich IV erhoben (vgl. Arnold I 159).
*) oben S. 204. N. 6.
*) vgL ausser den oben S. 26, 27 angeführten Stellen noch Arnold
S. 148, Both von Schreckenstein, Patriziat (Tübingen 1856) S. 97 ff.,
welch letzterer allerdings ausser den Altbürgern auch die reichgewordenen Kauf-
leute sich gegen die Bischofsherrschaft auflehnen lässt.
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241
an dem Reiche angehötigen Kaufleuten seitens der Lokalge-
walten zu verhindern. So ermässigte z. B. Heinrich V auf die
Klage der Bürger von Utrecht, dass die ihre Stadt besuchenden
Kaufleute durch hohe Forderungen bedrückt würden, welche mit
.Herkommen und Vernunft“ in Widerspruch ständen, die
dortigen Zollabgaben und setzte einen neuen, der Gewohnheit
und Billigkeitsrücksichten entsprechenden, Tarif fest.*) Ferner
ist uns von Friedrich I ein Einschreiten gegen ungerechte, auf
dem Maine erhobene, Zölle vom Jahre 1157 überliefert.*) Ganz
besonders kommen hier endlich jene Urkundenstellen in Betracht,
in denen es ausgesprochen ist, dass die mercatores imperii oder
die mercatores (institores) urbium regalium d. h. alle dem Reiche
angehörenden Kaufleute in ihren Reisen nicht gehindert werden
dürfen und nur zu bestimmten Zöllen verpflichtet sind. Freilich
wollte Nitz sch’) in den institores urbium regalium eine be-
sondere Bevölkerungsklasse sehen, nämlich mit dem Absätze
der Überschüsse der Naturalerträge der Domänen zu eigenem
Rechte betraute Beamte;*) doch genügt es, zur Widerlegung
dieser Ansicht auf die Heuslerschen Ausführungen6) zu ver-
weisen. Nitzsch führt ja auch zum Nachweise der Existenz
dieser Bevölkerungsklasse nur eine einzige Urkunde an, in der wir
wirklich institores urbium regalium erwähnt finden, das Privileg
Ottos III für das Erzbistum Hamburg-Bremen von 988 März 16.*)
Hier wird dem Erzbischof unter anderen Begünstigungen auch
bestätigt, dass denjenigen Einwohnern von Hamburg, die Kauf-
leute seien, die Rechte der institores ceterarum urbium regalium
') St. 3179, Höhlbaum, Hang. Urkb. I S. 6 N. 8 , vgl. Waitz V. Q. VTU
S. 297.
*) L. L. n p. 100, 101.
*) MinisterialitSt 8. 187—193, bes. S. 187.
4) ln dieser Bevölkerungsclasse findet Nitzgeh dann bekanntlich die
Nachkommen der karolingischen scararii und den Kern der späteren städtischen
Bürgerschaft, (a. a. 0. bes. S. 191).
*) Ursprung S. 108, 109. Ganz besonders sei an die treffende Heran-
ziehung der Urkunde Karl des Grossen für Strassburg (jetzt Boehmer-MUhl-
bacher N. 195) erinnert.
*) 8t. 912, Ehmck u. v. Bippen, Bremisches Urkb. (Bremen 1873) N. 14, 8. 15.
Derselbe Ausdruck findet sich in dem darin als Vorurkunde benutzten Privileg
Ottos I für das Erzbistum von 965 Aug. 10. (8t. 407, D. D. I N. 307 p. 422, 423).
Ko ebne, Ursprang der S tedtverfueang in Worms, Speierund Mainz. IS
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242
per regnum zustehen sollen.1) Dass nun mit diesem Ausdrucke
einfach die Deutschen Kaufleute gemeint sind, geht aus der
von Nitzsch*) selbst angeführten Thatsaehe hervor, dass in
einer späteren fast wörtlichen Bestätigung dieser Urkunde durch
Heinrich II es das Recht der maiorum civitatum institores ist,
das in derselben Weise zum Vergleich herangozogen ist.5)
Worin nun diese Rechte der Reichskaufleute bestanden, geht
klar aus einer Urkunde Konrads II für Asti von 1037 Juni 18
hervor.4) Danach hatte nämlich der dortige Bischof den König
gebeten, den Bürgern von Asti den Durchzug durch alle Pässe
zu gestatten, durch welche er den übrigen Reichskaufleuten
zum Erwerbe ihres Lebensunterhaltes freistände.5) Der Kaiser
verordnet darauf, dass kein Beamter den Kaufleuten aus Asti
irgend welche Nachteile zufügen oder von ihnen höheren Zoll
fordern dürfe, als auch andere Reichskaufleute ordnungsmäßig
zu zahlen hätten.5) So findet sich entschieden auch schon vor
dem Mainzer Landfrieden von 1235, in welchem ausdrücklich
bestimmt wird, dass niemand ohne kaiserliche Genehmigung
neue Zölle einführen oder bestehende erhöhen dürfe,7) ein
Streben der Reichsregierung, Zollbedrückungen seitens der Par-
ticulargewalten zu verhindern. Diese Thatsaehe steht auch mit
der, insbesondere von Lampreeht8) hervorgehobenen, Erschei-
') a. a. 0.: quin etiam negotiatores, eiusdem incolaa loci, nostrae tui-
tionia patrocinio condonavimus, precipientes hoc imperatoriae anctorit&tis
precepto , quo in omnibus tali patrocinentur tutela et potiantur iure, quali
ceterarum regalium institores urbium per nostrum regnum potiri noscuntnr.
') S. 187.
*) St. 1637, Ebmck a. a. 0. N. 16, S. 16: tali tutela et iure poti-
antur, quali maiorum videlicet civitatum institores per nostrum regnum potiri
noscuntur.
4) Histor. Patr. Monum. (Aug. Taur. 1836) Chart, t. I p. 513 N. 300.
Der von S t u m p f 2093 gegen die Echtheit dieser Urkunde erhobene Zweifel ist
von Br essl a u Kanzlei Konrads II (Berlin 1869) S. 150 N. 237 zurückgewiesen.
*) *• a. 0.: . . . per quas ceteri mercatores nostri imperii uitae
praesentis solent conquirere subsidium.
*) a. a. 0. p. 614: ab eis aliquidyeiigere praesumat propter (= praeter)
Thelonea per regnum nostrum imperialiter statuta, que etiam ceteri nostri
Imperii mercatores iure legali hactenus solvebant.
*) L. L. II p. 315 § 6.
•) D. W II S. 272, 273. Die Frage, ob das Zollerhebungsrecht im
eigentlichen Mittelalter als königliches oder grundherrliches galt (s. die ent-
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nung nicht in Widerspruch, dass das Königtum sich, ohne auf
die Bedürfnisse des Handels Rücksicht zu nehmen, bis zur
Wende des 12. und 13. Jahrhunderts mit Zollvergabungen all-
zu freigebig zeigte und sich seit dieser Epoche mit geistlichem und
weltlichem Fürstentum „um die Wette um Anlegung neuer
Zollstätten und Erweiterung der alten“1) bemühte.
Aus diesem Grunde muss man freilich annehmen, dass
noch mehr als anf den inländischen Handel die Stellung des
Deutschen Kaisertums auf den Handel mit dem Auslande Ein-
fluss übte. Für diese Behauptung kann es genügen, Beispiels
halber auf eine englische Zollordnung zu verweisen, nach der
in London von der Mitte des zehnten bis zur Mitte des elften
Jahrhunderts die homines imperatoris anderen fremden Kauf-
leuten gegenüber besonders bevorrechtet waren.*) Auch ist uns
wenigstens ein Beispiel von diplomatischem Eintreten des
Reiches zu Gunsten seiner Kaufleute überliefert. Im Jahre
1 164 oder 65 schrieb der kaiserliche Kanzler Christian Deutscher
Kaufleute wegen, die der vicecomes von Mäcon ihres Gutes
beraubt, an König Ludwig von Frankreich und verlangte drin-
gend die Auslieferung der confiscierten Waaren und eines in
Haft gehaltenen Deutschen.3)
So erklärt sich die politische Stellungnahme der Städte am
leichtesten aus den Gefühlen und Gewerbeinteressen des, in
ihnen massgebenden, Kaufmannstandes. Aus Erbitterung über
die Eingriffe der bischöflichen Stadtherren in ihre Rechtsent-
wicklung nnd in dem Gefühl, dass ihr eigener Vorteil eine
starke Reichsgewalt erheische, haben die Städte — soweit
nicht particulare Interessen und Abneigung gegen Heinrich V
in Betracht kamen — die Sache des salisch-staufischen Hauses
aufs eifrigste verteidigt. Diesen Motiven der politischen Thätig-
keit der Städte entspricht es auch, dass die, ihnen für ihre
Unterstützung von den Kaisern verliehenen, Urkunden teils
gegenstehenden Ansichten von Waitz V. Q. VIII 8. 303 und Lamprccht
a. a. 0. 271) berührt unsere Untersuchung nicht.
*) Lamprecht II S. 273.
*) Höhlbaura Hans. Urkb. I N. 2, S. 2, vgl. auch ibid. III S. 380 ff.
*) BQsching, Hagazin für die neue Historie und Geographie XIII (Halle
1779) S. 536 N. XVI. Zur Datierung dieses Briefes vgl. Varrentrapp, Erzb.
Christian I von Mainz (Berlin 1867) 8. 140 N. 1, ferner B-W Bd. II Einl S. X.
is*
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244
Zollprivilegien, teils Sicherung specifisch städtischer Rechtsent-
wicklung enthalten.1)
So lassen sich die Beweggründe, welche die Städter zu
ihrer lebhaften Teilnahme an den Bürgerkriegen bestimmten,
bei Erforschung dieser politischen Ereignisse, wenigstens bis
zu einem gewissen Grade erhellen;8) dabei haben sich uns
auch einzelne für Erkenntnis der städtischen Verfassungsent-
wicklung wichtige Momente ergeben. Es wird Aufgabe des
nächsten Capitels sein, mit Hilfe des so ermittelten und dessen,
was sich aus anderen Quellen gewinnen lässt, die Entwicklung
der städtischen Autonomie darzustellen.
Capitel Vm.
Die Entstehung des Rates.
In der Zeit der letzten Salier sahen wir unsere Städte
in den inneren Kämpfen , welche damals Deutschland
zerrissen, eine bedeutende politische Rolle spielen. Mehr-
fach nahmen wir auch in ihnen Behörden wahr, welche
die finanziellen und militärischen Kräfte der Bürgerschaft,
mehr oder minder unabhängig von der jeweilig herrschenden
königlichen oder bischöflichen Gewalt, zusammenfassten und
mit Bischöfen und Königen als verantwortliche Vertreter ihrer
Stadt verhandelten.
l) So bemerkt auch Gierke I S. 264, dass die älteren kaiserlichen Pri-
vilegien die innere Verfassung der Bürgergemeinden wenig berührten, während
er, freilich Arnold und Hensler folgend, doch in der „freien Gemeinde,*
welche das „ihr anfgezwnngene Joch* abwirft, die Vorkämpferin der ge-
sammten Einwohnerschaft findet (s. bes. S. 259).
*) Es kam hier namentlich auf den Nachweis an, dass die Annahme
altfreier Gemeinden, die durch Verbindung mit dem Könige ihre alten Rechte
wiedererlangen wollten, aufgegeben werden muss; lassen sich doch mit den
Berichten über die politischen Ereignisse und den von dem Königtum den Städ-
tern gegebenen und in Aussicht gestellten Belohnungen (vgl. bes. oben S. 207)
weit besser übereinstimmende Motive für die Unterstützung desselben ermitteln.
Im übrigen braucht wohl kaum bemerkt zu werden , dass trotz dieser realen
Bestimmungsgründe des politischen Verhaltens der Städter durchaus nicht
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245
Schon früher ist festgestellt worden, dass, ähnlich wie in
Köln, auch in jeder unserer drei mittelrheinischen Städte eine
Vereinigung der Kaufleute bestand.1) Diese Genossenschaften
haben nicht nur jedenfalls in Marktverwaltung und Jurisdiction
innerhalb der einzelnen Städte eine wichtige Rolle gespielt,
sondern es kann auch als wohl möglich angesehen werden, dass
sie in älterer Zeit die massgebenden Kreise der Bürgerschaft
auch in unseren Orten nach aussen vertraten.*) Neben der
Kaufmannsgenossenschaft haben wir das Schöffencolleg wahr-
genommen, das, wie oben*) gezeigt, auch in den mittelrheini-
schen Städten allmählich mehr und mehr mit Grosskaufleuten
besetzt wurde. Es ist feiner schon früher1) nachgewiesen, dass
wenigstens in Worms und Mainz die Befugnisse dieses Schöffen-
collegs dadurch bedeutend erweitert wurden, dass man ihm
hier auch die Rolle der Sendschöffen übertragen hatte. In
Worms ist freilich diese Verwendung der Schöffen im Send-
gericht erst für das dreizehnte Jahrhundert sicher bezeugt,
wenn sie auch gewiss schon viel früher bestanden hat.5) Für
Mainz muss hingegen angenommen werden, dass daselbst schon
etwa der Ansicht Boths von Schreckenstein (Patriciat in d. D. Stödten
Tüb. 1856 S. 102) zugestimmt werden kann, dass „der Gehorsam“ der Städter
„gegen den König nicht sowohl naiver als berechnender Art gewesen“ sei.
Gerade die wichtigsten Erhebungen der Städte für Heinrich IV, die Wormser
von 1073, die Kölner von 1074 nnd die Mainzer von 1077 sind in Momenten
geschehen, in denen Erfolg und ein aus demselben zu ziehender eigener
Gewinn kaum erwartet werden konnte. Ausserdem weist auch die feindliche
Haltung von Worms und Köln (vgl. über letztere Arnold I. S. 198,99) gegen
Heinrich V darauf hin, dass die Bürger seinen Vater nicht bloss etwa in Aus-
sicht stehender materieller Vorteile halber unterstützt haben.
*) S. oben S. 54—69.
*) Namentlich kann man wohl aus der Analogie der den Kaufuanns-
genossensebaften anderer Städte (vgl. oben S. 202 n. 222 N. 2) erteilten Zoll-
begünstigungen schliessen, dass auch das Zollprivileg Heinrichs IV für
Worms (W. U. 66 vgl. oben 8. 205, 206) von der dortigen Kaufmanns-
genossenschaft erbeten und aufbewahrt ist.
*) S. 75—77.
4) VgL oben 8. 177, 178, 194, 196.
•) Dass in Worms, wie die Heimbnrgen zu Sendzeugen, so die Schöffen
zu Sendschöffen genommen wurden, ergab sich ja a. a. 0. aus Boehmer
Fontes II p. 210, 211, einem Teile der Wormser Ämterbeschreibnng. Über
diese Quelle selbst vgl. oben S. 111 ff.
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längere Zeit vor der ersten Hälfte des zwölften Jahrhunderts
das Schöffencolleg auch in dem — unter Vorsitz des Propst-
Kämmerers, der die Archidiaconatsrechte austibte, abgehaltenen
— Sende das Urteil fand, da schon damals der Kämmerer an
die Spitze des Schöffencollegs getreten war.1) Ob ähnliches
auch in Speier stattgefunden hat und besonders, seit wann in
Worms und Mainz die Schöffen des weltlichen Gerichts mit der
Urteilsfindung im Sende betraut wurden, lässt sich in Folge
der Dürftigkeit unserer Quellen nicht mit Sicherheit angeben.*)
Doch werden wir kaum fehlgehen, wenn wir annehmen, dass
dieser Vorgang in . allen drei Städten im elften Jahrhundert
stattfand.
Man kann nun auch chronologisch nicht im einzelnen fest-
stellen, wann dem Schöffencolleg seine übrigen Befugnisse er-
wachsen sind, in deren Besitze wir es noch, ausser den richter-
lichen, im elften und zwölften Jahrhundert finden; handelt es
sich dock hier um ein ganz allmähliches Werden. Dass aber
— ganz den Kölner*) und Trierer*) Verhältnissen entsprechend
— das Schöffencolleg auch in unseren Städten in der angege-
benen Periode im Besitze viel weitergehender Functionen war,
als sie den Schöffen in der karolingischen Zeit zustanden, ja
dass es schon , bis zu einem gewissen Grade selbständig , die
Stadt regierte und vertrat, wird eine Zusammenstellung der
Competenzen dieser Behörde ergeben.5) Es braucht kaum be-
merkt zu werden, dass man bei der Sammlung der einschlägigen
Quellenzeugnisse nicht an die den Namen scabini enthaltenden
gebunden ist. Vielmehr finden sich ja hier in den lateinisch
geschriebenen Urkunden, wie so oft, für ein und dieselbe
Behörde sehr verschiedene Bezeichnungen. Häufig wird sie
') vgl. oben S. 218 mit N. i und die nnten folgenden Ausführungen.
’) Nnr sei noch bemerkt, dass nach Dove weltliche Urteilsfinder io
Sendgericht in der Zeit vor dem elften Jahrhundert nirgends bezeugt sind,
s. Ztschr. f. Kirchenrecht V (1865) S. 16.
*) vgl. Hoeniger in Wstd. Ztschr. II S. 235, 236, 239.
4) vgl. Schoop S. 118 ff.
*) Es wird sich dabei zeigen, dass auch die, oben erwähnte, im Ver-
kehre mit Königen und Bischöfen die Stadt vertretende, Behörde seit Hein-
rich IV das Schöffencolleg ist. Nnr in dem oben S. 245 N. 2 besprochenen
Falle ist es wahrscheinlich , dass die Kaufmannsgenossenschaft nicht das
Schöffencolleg die Stadt vertrat,
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kurzweg cives genanut, wie es z. B. in einer in der Zeit
von 1143—1153 von ihr selbst ausgestellten Gerichts-
urkunde der Fall ist.1) Die cives Moguntine metropolis machen
darin einen zwischen dem Ministerialen Arnold und seiner Frau
Geba einerseits und den Ministerialen Dudo, Meingot und
Hartwin andrerseits, alles Mainzer Bürgern, abgeschlossenen
Erbvertrag bekannt und beglaubigen ihn durch Aufdrückung
ihres Siegels, ganz wie ähnliches später der Rat vornimmt.
Das hier verwandte Siegel ist auch schon das später von diesem
geführte Stadtsiegel.2)
Der Ausdruck cives findet sich für das Schöffencolleg auch
sonst und besonders dort angewandt, wo dasselbe wirklich die Ge-
sammtheit der Bürger vertritt.5) Die Bezeichnung der Schöffen
als cives in der besprochenen Gerichtsurkunde erklärt sich dar-
aus, dass die Schöffen damals auch ihre jurisdictioneilen
Funktionen gewissermassen nur als Vertreter des als Gerichts-
umstand versammelten Volkes übten.4)
Dieser Thätigkeit der Schöffen in der freiwilligen und strei-
tigen Gerichtsbarkeit entspricht es, dass sie vorzugsweise
iudices, öfters auch iudices civici genannt werden. Bei den
iudices civici in Mainz klagte z. B. 1175 das dortige Peters-
stift gegen einen gewissen civis Heroldus, der ein dem Stifte
zinspflichtiges Grundstück ererbt und die Zinszahlung wieder-
holt verabsäumt hatte. Die iudices civici, welche nach städti-
schem Gewohnheitsrecht richten und im Besitze des Stadtsiegels
erscheinen, sprachen, da sich Heroldus ihnen nicht stellte, dem
Stift lediges Eigentum au dem bisherigen Zinsgrundstück zu.5)
So wurden also auch Erbverträge der Ministerialen uud Strei-
tigkeiten über Zinsgrundstücke geistlicher Stifter vor den
') Stampf Acta Mog. N. 50 p. 54.
*) b. Stumpf a. a. 0. p. 55 und Eiul. p. XXXII, XXXIII, Hegel Maiuz S. 36.
•) S. z. B. W. U. 111, Sp. U. 23, 44.
4) Die Anwesenheit des Gerichtsumstandes kann für das Mainzer Stadt-
gericht im 12. Jahrhundert aus der oben S. 191 besprochenen Urkunde von
1147 (B-W XXVIII 79) geschlossen werden. Daselbst ist von der Publication
eines Vertrages in coucione populi, cum praesidente Judice civilia iura trac-
tarentur, sicnt tribus vicibus in anno fieri solet, die Rede.
*) Stumpf, Acta Mogunt. N. 84 p. 87. Diese Urkunde, welche die Wie-
derherstellung des alten Pachtverhältnisses enthält, ist, wie das in N. 1
erwähnte Document, mit dem Stadtsiegel beglaubigt.
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248
Schöffen verhandelt; so wenig wie am Anfang des elften Jahr-
hunderts ist das Schöffengericht auf die Angelegenheiten der
Freien und des freien Grundbesitzes beschränkt. Vielmehr
entspricht die persönliche und lokale Competenz dieser iudices
civici, wie sie uns im 12. Jahrhundert in Worms, Mainz und
Speier entgegentritt, ganz der der Schöffen in den Gesetzen
Bischof Burchards von Worms; nur hat sich die dort in ihren
Anfängen beobachtete besondere Rechtsprechung bei gewissen
Verbrechen bischöflicher servientes und die dadurch bewirkte
teilweise Exemption dieser Personen von dem Schöffengericht1)
inzwischen weiter entwickelt. Allerdings kamen, während im
Anfänge des elften Jahrhunderts nur im engeren Dienst des
Bischofs stehende Leute den ordentlichen Gerichten entzogen
wurden, jetzt auch die servientes der Canoniker *) in dieser
Beziehung in Betracht. Es muss jedoch gleich bemerkt werden, dass
sich diese Exemption nie auf alle servientes der Geistlichen
und auf die ganze Thätigkeit des Schöffengerichts bezogen hat.
Es geht dies auch aus gerade im Interesse der Geistlichkeit
und ihrer servientes erlassenen Bestimmungen hervor. So setzte
z. B. Heinrich IV. in seinem Privileg für die Speierer Dom-
herrn, in welchem er ausdrücklich erklärte, dass er dieselben
mehr als die Speierer Bürger begünstige,3) doch nur für diejenigen
servientes Ausnahmebestimmungen fest, welche täglich Unter-
halt und Wohnung von den Canonikern empfingen.4) Diese
’) vgl. oben S. 42 — 48.
*) Erst mit dem Aufhören des gemeinschaftlichen Lebens der Capitnlares,
das sich in der Zeit vom 9. — 11. Jahrhundert vollzog (vgl. Hinschius,
Kirchenrecht II S. 65 — 67), trat eine derartige Scheidung des Vermögens
des Domcapitels von dem bischöflichen ein , dass überhaupt von
servientes fratrum gesprochen werden konnte. Ursprünglich war ja das ganze
kirchliche Vermögen der Disposition der Bischöfe unterworfen gewesen (vgL
auch Lamprecht D. W. I S. 1280 ff.).
•) Sp. U. 13 S. 16 Z. 25: Alio qnoque iure fratres nostros Spirenses
civibns huius loci preferimus.
*) ibid. Z. 26 : si quis illonun serviens hospicio et convictu alieuius eoram
cotidiano participans . . . . Si vero aliquis fratrum alium neqne ipsius hospicio
neque cotidiano victu utentem, servientem in urbe habest, communi civium
iuri snbiaceat. Kur die täglichen Unterhalt geniessenden servientes sind wohl
auch unter den offteiati capituli Spirensis laici zu verstehen, für die 1256
das altüberkommene Recht bestätigt wird, dass sie bei geringeren Delicts-
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servientes sollten bei Criminalanklagen nicht vor das Bttrger-
gericht wie die übrigen Einwohner geladen werden dürfen.
Sie sollten zwar die nach Stadtrecht den Verletzten zukommende
Bosse bezahlen-, im übrigen hatte aber der Canoniker, in dessen
Dienste sie standen, selbst das Recht zu bestimmen, ob eine
über sie verhängte Körperstrafe vollzogen oder in eine Geld-
strafe von 60 8ol. verwandelt werden sollte.1)
Zum Teil treten uns die Berechtigungen der geistlichen
servientes in den Münzerprivilegien entgegen. Die Münzerhaus-
genossen liessen sich ja, obgleich dem Patriciat angehörig und an
der Erringung der städtischen Rechte beteiligt,11) dennoch von
den Kaisern auch den regulären Bürgerpflichten entgegenste-
hende*) Berechtigungen verbriefen; unter diesen Vorrechten
interessieren uns hier diejenigen, welche sich aus dem Dienst-
verhältnisse der Münzer zum Bischof ergaben. Dahin gehört
das den Wormser Münzern 1165 von Friedrich I. bestätigte
Recht, in kein anderes Gefängnis als in des Bischofs Kammer
gebracht zu werden,4) eine Berechtigung, deren Besitz gerade
für mehrere Dienstmannschaften nachweisbar ist.6) Ausserdem
sollten die Wormser Münzer auch zur Übernahme der Schöffen-
thätigkeit und zu anderen städtischen Beamtnngen nicht ge-
zwungen werden dürfen.*) Dass gerade in Worms letzteres
Recht allen servientes des Clerus zukam, folgt aus einer
Stelle der Zorn’schen Chronik.7) Danach nahm noch 1266, also
nach der Ratsentstehung, der Wormser Clerus es als altes
klagen eich sowohl als Kläger wie als Beklagte an das geistliche Gericht
halten können (Sp. U. 85).
•) ibid. S. 16 Z. 30-34.
*) vgl oben S. 60 — 68.
*) Man denke namentlich an ihren privilegierten Gerichtstand vor dem
MQnzmeister, vgl. darüber oben S. 67.
4) U.80 S.66 Z.llff. : Anchwereez, das ein mnntzer beclaget wurde und
knnde keinen bargen gebaben, daz er zn rechte wolde sten, so sal man yn
in kein gefengnisze oder hnde setzen, dann allein in des bischoffs camer, da
«in gemeine dyenere inne bebntet werden.
*) cf. Das Recht der Dienstmannen des Erzbischofs von Köln (Mitt. a.
d. Stadtarch. von Köln 1883 Heft 2 S. 7) c. 7: tune recludent enm in Ca-
mera .... snb palatio episcopi, vgl. anch Fürth, Ministerialen (1836) 8. 388. 389.
•) U. 80. S. 65 Z. 22 ff.
*) S. 123.
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Recht in Anspruch , dass seine Beamten von der städtischen
Gerichtsbarkeit und der Pflicht zur Übernahme städtischer
Ämter frei seien. Die Stiftsbeamtungen wurden nach Zorn
damals vielfach für Geld erkauft, um diese Vorrechte zu er-
langen.1) Freilich waren schon 1182 in Worms die Vorrechte
der servientes in einer kaiserlichen Urkunde deneu abgesprochen,
welche sich nur desshalb, um sich Bürgerverpflichtungen zu
entziehen , in den Dienst des Clerus begeben würden.*) An
dieser Stelle ist allerdings zunächst nur von der Steuerverpflich-
tung die Rede, welche die Bürger auch den servientes des Clerus
aufzulegen versucht hatten. Dennoch kann diese Urkunde sehr
wohl mit der früher erwähnten8) Bestimmung des den Speierer
Canonikern gegebenen Privilegs in Parallele gestellt werden.
In Speier wurden nämlich diejenigen servientes von den
städtischen Gerichten eximiert, die täglich Wohnung
und Unterhalt vom Clerus empfingen;*) in Worms wurden die-
jenigen von den Stadtsteuern befreit, welche täglich in
eigner Person der Kirche oder' den Kanonikern dienten , sich
dabei aber nicht mit Handel beschäftigen oder auf dem Markte
ihre Waaren zum Verkauf stellen würden. Auch sollten hier
diejenigen nicht steuerfrei sein, welche sich blos zu dem Zwecke,
der Stadtsteuer zu entgehen, in den Dienst der Canoniker be-
geben würden.5) Ist auch die Begrenzung der exemten ser-
vientes in Speier und Worms etwas verschieden, es lässt sich
doch mit Sicherheit wahrnehmen, dass es wenigstens im grossen
und ganzen dieselben Personen gewesen sind, die von der
städtischen Besteuerung, wie die, welche von den städti-
schen Gerichten eximiert waren.
So standen sich, wie aus dem erörterten hervorgeht, schon
im 12. Jahrhundert die Auffassung der Burgerbehörde und der
') So kaufte z. B. ein vornehmer Wormser vom Domcapitel die Stelle
des „Todtengräberg, “ um nicht die städtische Beamtung des tireven, zu der
er gewählt war, Übernehmen zu müssen (Zoru S. 124).
•) U. 89 S. 73 Z. 1.
*) S. 248.
*) vgl. ibid. N. 4.
*) U. 89 : hii videlicet, qui fratribus et ecclesie cotidie in propria persona
deserviaut, nec mercimoniis operam dant nec foro renuu venalinm Student,
nec pro subterfugio nostre collecte obseqnio fratrnm se npplicaut,
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Geistlichkeit in diesen Fragen der Ausdehnung der städtischen
Gerichtsbarkeit und Besteuerung so schroff gegenüber, dass die
Beichsgesetzgebung eingreifen musste. Dasselbe geschah in
Folge der Verschiedenheit der bürgerlichen Bechtsanschauungen
und der canonischen Lehren über das Erbrecht der Geistlichkeit.
Diese Streitigkeiten kommen für unsere Untersuchung nament-
lich deshalb in Betracht, weil in ihnen die Competenz der
Bürgerbehorden zur Nachlassregulirung garnicht in Frage gestellt
und ein direktes Eingreifen der Bischöfe zu Gunsten der geist-
lichen Bechtsanschauung nirgends erwähnt wird. Es tritt dies
besonders bei der Beichsgerichtsentscheidung von 1165 Septem-
ber 26 hervor.1) Dieselbe war dadurch veranlasst, dass nach
Wormser Gewohnheitsrecht auf dem Krankenbette nur über 5
solidi des Nachlasses verfügt werden durfte.*) So wollten nun
auch die Wormser Schöffen verfahren, als ein Canoniker von
St. Paul Namens Wernher auf seinem Todtenbette ein Testament
über seine Mobilien errichtet hatte und ein Verwandter Wern-
hers dasselbe anfocht. Als Friedrich I sich 1165 in Worms
aufhielt, wurde dieser Process vor sein Hofgericht gebracht.
Der Kaiser entschied zu Gunsten des Klerus, insbesondere durch
die Gutachten der Geistlichkeit und die Berufung derselben
auf Gesetze der Päpste und der römischen Kaiser sowie auf
Karolingische Capitularien bewogen.
Danach sollten die Geistlichen unbedingte Testirfreiheit
über ihre Mobilien geniessen. Dass die Immobilien der Cleriker
an die nächsten Blutsverwandten fielen, — ein Bechtssatz, der
sich nur bei Jurisdiction der bürgerlichen Behörden in diesen
Erbschaftssachen erhalten konnte, — wurde also garnicht weiter
>) W U 81.
*) ibid. S. 67 Z. 32: asserens dictaote ioatitia neminem in lecto inftrmita-
tis sne aliquid de bonis suis Tel mobilibns preter quinque solides erogare ali-
qnid sine consensn heredum suomm. Boos ibid. S. 67 n. 3 meint, „derText scheint
hier verdorben xu sein;* diese Annahme ist wohl unnBtig, indem das erogare
als erogare posse anfznfassen ist. Es wird verboten, von Immobilien über-
haupt etwas, nnd von Mobilien etwas ausser 6 solidi zu veräussern. — So
hatte auch Burchard, obgleich über das in Worms geltende und nach obigem
ancb noch später geltend gebliebene Gewohnheitsrecht hinausgehend, doch
nur bestimmt, dass znm Seelger&te (pro anima) zwar Mobilien und selbst-
erworbeue Grundstücke, von ererbten aber nur ein geringer Teil (aliquid)
den Erben entzogen werden dürfe (W. U 48 tit. 11, vgl. G e n g 1 e r Hofrecht S. 19).
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bestritten.1) Die Richtigkeit dieses argnmentum e silentio geht
aus einer Reichsgericlitsentsckeidung von 1173 hervor, welche
durch einen, dem erzählten Wormser ähnlichen, Rechtstreit in
Mainz veranlasst war.*) Damals wurde den Mainzer Clerikern
das Recht über ihre Mobilien zu verfügen zugesprochen,
gleichzeitig aber ausdrücklich festgestellt, dass die Immobilien
an die nächsten Verwandten des Verstorbenen fallen sollten.*)
Dem entspricht vollkommen, dass sich auch keine Immobilien
unter den Gegenständen finden, über welche die Speierer Ca-
noniker nach dem früher erwähnten Privileg Heinrichs IV letzt-
willig verfügen durften.4)
Als besonders bemerkenswert bei allen diesen Bestimmungen
ist jedenfalls der Umstand hervorzuheben, dass die Gerichts-
barkeit der Bürgerbehörde, auch wo es sich um den Nachlass
von Geistlichen handelt, garnicht in Frage gestellt wurde; noch
weniger als den Geistlichen selbst wird etwa in solchen Fällen
ihren servientes Exemption von den bürgerlichen Gerichten und
vom bürgerlichen Rechte gewährt sein.
So waren alle Stadtbewohner schon im 12. Jahrhundert
dem Schöffengerichte und dem in der Rechtssprechung desselben
') W. U. 81 S. 68 Z. 22: dccedenti bonorum auorum mobilia m quod
optaverit, relinqnere ant pro remedio anime gue Tel alio quovi« respectu
tribnere et teatamentum facere , huic libertati perpetuam tribnimns
Annita tem.
*) L. L. II p. 142. Eigentümlich ist, dass bei der Darlegung dieses
Rechtfalls hervorgehoben wird, dass der Cleriker Uber Mobilien, die er im
Immunitätsgebiet (infra emunitatem) gehabt, verfugt hatte, und dass die Mainzer
Geistlichen Beweis anboten, dass sie 40 Jahre hindurch talem in emunitatibus
gnis libertatem optinuisaent, quod omnia mobilia aua qnolibet tempore cui
vellent possent donare. Die vom Kaiger um ihr Gutachten angegangenen
Prälaten bezeugen dann, illam emunitatig Übeltätern quam Maguntinug clerns
aibi vendicabat in multia imperii noatri aervari eccleaiia. Diese Beschränkung
auf die in der Immunität befindlichen Gegenstände, die dann auch in der
Entscheidung des Kaiaera enthalten ist, fehlt in den entsprechenden Bestim-
mungen für Worms (W. U. 8t) und Speier (vgl. unten N. 4) gänzlich.
*) Die um ihr Gutachten befragten Cleriker sagten aua: . . . patrimo-
nium, quod bereditario iure ad clericos devenisaet, illia qui in linea agnationis
aeu cognationia eis eaaent proximi, post mortem auam reünquere deberent.
*) U. 13 S. 15 Z. 40 : Liberam etiam habeat potestatem pecuniam
auam, vinum, frumentnm, veates, equoa et omnem auppellectilem auam et
quicquid mobilia rei posaideat, inanper prebendam auam per annum post mortem
auam cuicnmque mortaüum aibi plaeuerit, . . . donandi.
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253
angewandten Stadtrechte unterworfen ; besonderer Exeinption
ist es zuzuschreiben, wenn bestimmte Personenklassen dem
Stadtgerichte oder Stadtrechte in einzelnen Beziehungen ent-
zogen waren.1)
Das Schöffengericht hatte jedoch nicht nur jurisdictioneile
Befugnisse, sondern repräsentierte geradezu die Stadt. Es kann
dies vor allem daraus geschlossen werden, dass es das Stadt-
siegel führte. Zwei Fälle der Benutzung des Mainzer Stadt-
siegels seitens des dortigen Gerichts aus der Mitte des 12.
Jahrhunderts sind schon oben’) erwähnt worden. Es ist wohl
nur der Dürftigkeit unserer Überlieferung an bürgerlichen Ur-
kunden zuzuschreiben, dass andere Beispiele in Mainz erst zu
Anfang des 13. Jahrhunderts*) erscheinen. In Worms4) und
Speier6) bedienten sich jedenfalls seit der Wende des 12. und
13. Jahrhunderts die Schöffen des Stadtsiegels. Diese That-
sachen sind nun sowohl zur Erkenntnis der Bedeutung des
Schöffencollegs als zur Untersuchung der Entstehung des Rats,
an den ja später die Führung des Stadtsiegels überging, von
hervorragender Bedeutung. Sehen wir doch später die Gerichte
in Worms und Mainz, als daselbst Jurisdiction und Verwaltung
noch im Laufe des 13. Jahrhunderts getrennt wurden,') nicht
*) Diese Ansicht muss auch den ihr gleichm&ssig widersprechenden —
wenn auch unter sich abweichenden — Theorien Arnolds, Sohms und
Hoeni gers gegenüber aufrechterhalten werden, wie in Anhang IV nachge-
wiesen werden wird.
*) S. 247.
*) Vgl. Joannis Rer. Moguntin. U p. 652 a. 1206: Arnoldus camerarius,
Herboldus, Ernestus, Friderieus Scado et Bertholdus, Maguntini officiati be-
urkunden eine Schenkung und beglaubigen sie sigillo civitatis. (Über die Be-
zeichnung der Richter als officiati a unten) Cf. auch Ouden Cod. dipl n
p. 439 a. 1229: Otto scnltetus, Bertolfns monetarius, Rndolfus, Gotfridus bonos
et Arnoldus filius Advocati, iudices Maguntine civitatis beurkunden einen
Vergleich und bekräftigen ihn mit dem Stadtsiegel (eamque sigillo civitatis
fecimus communiri) cf. auch Joannis, II p. 471 a. 1200.
4) U. 109 a 1208: Die cives Wormacienses beurkunden ein Schenkung;
an der Urkunde noch Zeichen der Besiegelung. Cf. U. 103 a 1198, eine Ver-
kaufssurkunde des Bischofs, bei der die Notiz et de quadraginta iudicibus in
Wormatia den Schluss der Zeugenreihe bildet, wird unter andern auch mit
dem Stadtsiegel (sigillo civium Wormatiensium) beglaubigt
•) cf. ü. 23 a 1208; U. 636 a 1214.
*) Vgl. Arnold V. G. I 8. 280, 281, 289, II S.34, Heusler Urzp. S. 182.
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254
mehr das Stadtsiegel führen. Vielmehr wurden damals die
Urteilssprüche des Stadtgerichts durch das Siegel des Schult-
heissen und die Privatsiegel von Richtern und Zeugen, welche
im Besitz solcher waren, beglaubigt.1) So lässt demnach diese
Verwendung des Stadtsiegels durch das Schöffencolleg in der
Mitte des 12. Jahrhundert darauf schliessen, dass diese Behörde
damals die Stadt repräsentierte. Schon zur Zeit der letzten
Salier traten aber die Bürgerschaften unserer Städte als selbst-
ständige politische Körperschaften auf und wurden durch eigene
Behörden repräsentiert;*) nach dem eben erörterten können
nun diese Behörden nur die Schöffencollegien gewesen sein.
Die Schöffen waren also die Leiter der äusseren Politik unserer
Städte ; sie waren es, welche für Aufstände in den Städten ver-
antwortlich gemacht wurden;8) ihnen wurden die Privilegien
Heinrichs V und Adalberts verliehen.
Geht die Richtigkeit der Ansicht, dass die Städte mindestens
seit der ersten Hälfte des 12. Jahrhunderts durch ihre Schöffen-
collegien repräsentiert und regiert wurden, vor allein aus der
Thatsache hervor, dass es schon in dieser Zeit eine solche ver-
waltende und repräsentierende Behörde gab, wenig später aber
gerade das Schöffencolleg in dieser Stellung nachweisbar ist, so
können dafür auch noch folgende specielle Erwägungen geltend
gemacht werden.
Es ist bereits eine Urkunde Friedrichs I erwähnt, in wel-
cher die Erhebung einer Steuer in Worms seitens einer städti-
schen Behörde als selbstverständlich betrachtet und nur Aus-
dehnung der Besteuerung auf exempte Personen verboten ist.*)
') cf. z. B. U 389 a 1279: In testimoninm . . litteram sigilto meo et
testium sigilla habencium dedi munitam; in U 232 a 1251 wird ein vor scul-
tetus u. acabini ergangenes Urteil nachträglich vom Bat beurkundet und
mit dem St&dtaiegel bekräftigt. Für Mainz cf. Gaden II p. 444 : Im Gericht
ist corain Eberhardo camerario, Heinrico de Deinone, Dudone et Jacobo de
Fonte iudicibns eine Gutsübertraguug vollzogen worden. Nos Ebcrhardns
camerarius, I)udo, Heinricus et Jacobus iudices et Huinbertus de ariete (letzterer
ist vorher als Zeuge erwähnt) ad petitionem praedictarum partium sigilla
nostra praesentibus dignum dnximus appeudenda cf. auch Guden II p. 446 a.
1294 u. II p. 449 a. 1303.
*) Vgl. das vorige Capitel bes. S. 206, 211, 212, 217, 238.
*) vgl. bes. S. 211, 212.
*) W. U. 89.
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Aus eben dieser Urkunde geht hervor, dass die von der Bürger-
behörde erhobenen Steuern mindestens z. T. an . den Kaiser
fielen, wie auch sonst vielfach Geldleistungen der städiscben
Gemeinwesen an die Reichskasse bezeugt sind.1) Es ist aber
auch bereits im vorigen Capitel*) erwähnt worden, dass Hein-
rich V. 1112 von den Wormsern gezwungen wurde, ihnen eine
bestimmte Steuer, nämlich das Wachtgeld, zu erlassen und ihnen
gleichzeitig die Bewachung ihrer Mauern selbst anzuvertrauen.5)
Es ist nun doch höchst wahrscheinlich, dass die Behörde, welche
die Leitung der Bewachung der Stadt übernahm und die Ur-
kunde von 1112 erhielt, identisch mit derjenigen ist, welche
bis 1112 das Wachtgeld an den Kaiser ablieferte und auch
später noch die städtische Reichssteuer erhob. Dass diese
oberste Finanzbehörde, welche zugleich für die Bewachung der
Stadt zu sorgen hatte, mit der bürgerlichen Gerichtsbehörde
identisch ist, kann schon aus der im Princip gleichen Abgren-
zung ihrer Competenzen gegenüber der Geistlichkeit gefolgert
werden;4) dazu kommt noch, dass ca. 1208 die Wormser Schöffen
an sie fallende Strafsummen ad commune opus civitatis ver-
wenden.5) Ebenso sorgen auch in Mainz die Schöffen
ums Jahr 1200 im Namen der Stadt für den Mauer-
bau.*) Aus allem diesem geht hervor, dass es die Schöffen
wären, welche zu Heinrichs V. wie zu Friedrichs I. wie zu
Ottos IV. Zeit die städtische Kriegsführung und Steuererhebung
') Z e u m e r Sthdtestenern S. 52 ff.
») 8. 228.
*) W. U. 61. ‘
4) Vgl. oben S. 250.
*) W. U. 111.
*) Dies geht ans einer von iudices et universi cives Maguntini ums
Jahr 1200 ansgestellten Urkunde hervor (Johannis II 471) : Einige Canoniker
von St. Peter hatten Steine der alten — von Friedrich l 1 162 z. T. zerstörten
— Stadtmauer zu privatem Hftnserbau verwendet. Als die Stadt im Jahre
1200 (Annal. Disib. S. S. XVII 30, vgl. Hegel Mainz S. 42 mit N. 6) den
Neuban der Mauern begann, wandten sich die Schöffen gegen diese Canoniker
(pro iam dictis lapidihus instanter pnlsavimus), welche aber dann einen Ver-
gleich mit ihnen schlossen (qui transactionem nobiscum inierunt). Diese steu-
erten eine Summe zum Mauerbau bei, welche die Schöffen in Empfang nah-
men fque solucio rite et ordine debito constat esse celebrata et a nobis ac-
ceptata). Dafür blieben die Canoniker im Besitz der der Mauer entnommenen
Steine, nnd dies wurde von den Schöffen mit dem Stadtsiegel beglaubigt.
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leiteten.1) Dass die Wormser Schöffen auch schon um die
Wende des 11. und 12. Jahrhunderts eine gewisse autonome
Legislative in der Stadt ausübten, kann aus dem früher er-
wähnten 1096 von ihnen zum Schutz der Juden erlassenen
Strafgesetze gefolgert werden.*)
So finden wir denn schon am Ende des 11. und im 12.
J ahrhundert das Schöffencolleg im faktischen Besitz vieler später
dem Rat znstehender Rechte. Es ist demnach für die Zeit,
in welcher der Rat erwähnt wird, wohl Wachstum der städti-
schen Autonomie sowie Machterweiterung und Umnennung des
Schöffencollegs, in keiner Weise aber eine gänzliche Neuschaffung
von Verfassungseinrichtungen anzunehmen. Vielfach ist auf
das erste Vorkommen der Namen Rat und Räte der Stadt (con-
silium, consules, consiliarii) — welche, um es hier gleich
zu bemerken, in Worms seit 1215 und 1216,*) in Speier seit
1224,*) in Mainz seit 12195) sicher nachweisbar sind — grosses
Gewicht gelegt worden.6) Damit steht in Verbindung, dass
') Die Steuer, welche eich die Wormser Bürger 1073 für Heinrich IV
auferlegten (cf. Lambert 8. 8. V p. 204) war wahrscheinlich auch schon von
den Schöffen erhoben. .Wenigstens sind in dem Bericht Lamberts schon die
wesentlichen Züge der Kollekte von 1182 zu erkennen." So Zenmer S. 63.
Ob aber, wie Zenmer a. a. 0. behauptet, Beit den Vorgängen von 1073
in Folge der Erhebung der Wormser ßeichssteuern durch die städtische Be-
hörde die Abgaben, welche einzelne Bürger vorher an den Bischof, aber für
das Reich zu leisten hatten, beseitigt waren, muss allerdings dahingestellt
bleiben, vgl. oben S. 206 N. 3.
•) Vgl. oben 8. 217 N. 3.
*) Frey und Remling, Urkb. d. Klosters Otterberg (Mainz 1845) N. 16
8. 16, W. U. 120.
•) Sp. U. 36.
•) B-W XXXH 326.
*) Maurer Stdtvrfssng. I 8. 566: .In sehr vielen Städten . . wurde
an Stelle der alten eine ganz neue Behörde gesetzt" Zu diesen werden
dann gerade auch Worms, Speier und Mainz gerechnet, vgl. auch ibid. I 662,
Hegel Allg. MonaUscbr. (1864)8.180—182 und Mainz 8. 43. Arnold V. 0.
passim bes. I 8. 172 und Heusler Ursprung 8. 167 finden den Rat schon
im elften und Anfang des zwölften Jahrhunderts, obgleich sie andrerseits be-
merken, dass an eine feste Organisation jener Behörde in damaliger Zeit noch
nicht zu denken ist. Gegen die von ihnen angenommene Erwähnung des
Wormser Rata im Jahre ca. 1106 vgl. oben 8.67 — 60 bes. S. 59 N. 3; gegen
ihre unbegründeten Annahmen von Erwähnungen des Speierer Rates zur Zeit
Heinrichs V und Friedrichs I vgl. die unten folgenden Ausführungen und
Schaube Speier 8. 446 — 463, dem aber in der Annahme der Ratserrichtung
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257
man, ohne übrigens eine allmähliche Entwicklung der städtischen
Autonomie vollständig in Abrede zu stellen, doch annahm, in
einer kaiserlichen oder bischöflichen Ratseinsetzung oder wenig-
stens Ratsbestätigung das entscheidende Moment der Entwicklung
sehen zu müssen ; *) oder man fand dasselbe doch zum mindesten
in der Einsetzung eines, sei es autonomen sei es kaiserlichen
Friedensgerichtes, aus dem sich dann im Laufe der Zeit ein
Rat entwickelt habe.*) Gehen wir zur Prüfung dieser Ansich-
ten, die gerade auch neuerdings Vertretung gefunden, auf die
diesbezüglichen Verhältnisse der einzelnen Städte näher ein.
Für die Annahme kaiserlicher Ratserrichtung, mit der
gleichzeitig völlige Befreiung der betreffenden Stadt von der
bischöflichen Herrschaft verbunden gewesen, schien man sich
lange ganz besonders auf das Beispiel von Worms berufen zu
können. Der Altmeister der Deutschen Städteforschung, Arnold,*)
lässt Friedrich I. die Stadt Worms durch den Freiheitsbrief
vom 20. Oktober 1156 zu einem unter dem Schutz des Kaisers
stehenden Freistaate machen. Friedrich habe den Rat, der
vorher „ nur aus Not“ Gerichtsbarkeit geübt, förmlich mit
kaiserlicher Gerichtsbarkeit bekleidet; „vermutlich“ habe er auch
„die eisten Mitglieder des Stadtgerichts,“ also gerade nach Ar-
nolds Auffassung auch des Rats, „selbst ernannt.“4) Nach
Nitzsch5) schuf Friedrich I. zwar keine unabhängige Ver-
fassung, aber doch eine besondere Behörde für städtische An-
gelegenheiten; die 40 iudices sind auch für ihn zugleich die
consiliarii. Hegel0) und Gierke7) meinen, dass Friedrich in
durch Heinrich VI. durchaus nicht beigestimmt werden kann. Mit Hecht er-
klärt übrigens Gierke I S. 278, dass die iudices in Worms, auch ehe sie
sich consules nennen, als wahrer Rat erscheinen.
') Dies war insbes. bei Speier der Fall vgL z. B. Schaube S. 460 und
Hegel Monatsschrift 1854 S. 181, Gierke 1275. Dagegen hat schon Hegel
Mainz S. 35 f ür Mainz die Existenz eines eigenen Organs der Gemeindeverwaltung
vor der Ratsentstehung nachgewiesen, vgl. auch Hoeniger Westd. Ztschr. III
S. 60; nur betont meines Erachtens Hegel zu sehr den Charakter bischöflicher
Beatmung dieser Gemeindevertretung, wie sich aus dem folgenden ergeben wird.
*) Gierke I S. 273; Schaube Worms S. 279, 280.
*) V. G. I 214.
4) ibid. I 216.
*) Ministerialität S. 331.
*) Ital. Stdtvrfss. (Leipz. 1847) II Anhang S. 428, Monatsschr. (1854) S. 179.
>) I S. 268.
Koehne, Ursprung der Stadtverfauung in Worms, Speier und Kainz. 17
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dem Privileg nur eine geschworene Stadtfriedenseinuug bestätigt;
nach beiden brachten dann die iudices durch allmähliche Erweite-
rung ihrer Befugnisse das Stadtregiment an sich und wurden
so zum Rat.
Die ganze Untersuchung nahm dadurch einen anderen Cha-
rakter an, dass sich 1859 Stumpf1) mit gewichtigen Gründen
für die Unechtheit des Privilegs von 1156 aussprach. Er lässt
es in den Jahren 1198 — 1208 auf Anregung des Speierer Frei-
heitsbriefes von 1198 durch einen im Interesse des Wormser
Rats thätigen Fälscher verfasst sein. Diese Ergebnisse der
Stumpfschen Forschung wurden bis ganz vor kurzem fast all-
gemein als richtig anerkannt;*) so wurde denn die Meinung
unhaltbar, dass ein von Friedrich I. verliehener Stadtfriede den
Anfang der Entwicklung gebildet. Arnold*) selbst gestand
jetzt zu, dass der Rat nicht auf Grund eines Privilegs ent-
standen sei. „Sachlich freilich wird“ nach Arnold, was die
Erkenntnis der in Worms herrschenden Zustände betrifft,
„durch die Entdeckungen Stumpfs nur wenig geändert.“ Da
der „Inhalt“ der falschen Urkunde „bereits in die unzweifelhaft
echten Privilegien Friedrichs II. von 1220 und 1236 wörtliche
Aufnahme gefunden“ hatte, so werde die Fälschung kaum mehr für
die bürgerliche Freiheit enthalten haben , als was die Bürger zu
Anfang des 13. Jahrhunderts schon erlangt hatten.
Neuerdings ist nun die von Stumpf behauptete Fälschung
unserer Urkunde von Schaube4) wieder in Frage gestellt
worden. Dieser erklärte das Privileg für völlig echt; nur be-
sässen wir in der uns vorliegenden Ausfertigung lediglich eine
von einem Schreiber angefertigte spätere Abschrift des Origi-
nals von 1156, welche in der kaiserlichen Kanzlei zwischen
1183 und 1186 besiegelt und beglaubigt wäre. Damals sei
auch die Zeugenreihe hinzugefügt, die desshalb teils aus Per-
sonen, welche zur Zeit des Originals, teils aus solchen,
welche zur Zeit der Beglaubigung der Copie lebten,
>) Sitzungsberichte der Wiener Acad. 1859 (Bd. 32) S. 603 ff.
*) vgl. die von Schaube Worms S. 276 N. 4 und 6 angeführte Literatur.
') Arnold Eigentums. XVIII ff., vgl. auch H eus 1 er Urspr. 8. 180, 181,
von M aurer I 8.602.
4) Worms S. 276 ff.; Schaubes hier geSusserten Ansichten hat sich Aloyi
Schulte in Gött. gel. Anzeigen 1887 S. 926 angeschlossen.
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bestehe. Im übrigen enthält die Urkunde nach Schaube gar
keine Ratseinsetzung, sondern die Einsetzung eines Frie-
densgerichtes; „in diesem sei zuerst ein gemeinsames
Organ der beiden wichtigen Faktoren des Stadtwesens, des
Bürgertums und der Ministerialität, geschaffen,“ „das sich
später durch Usurpation zu einer communalen Ratsbehörde
entwickelte.“ *)
Kann man den Einwendungen Schaubes gegen die von
Stumpf vertretene Ansicht zustimmen? Der erste Grund,
den Stumpf gegen die Echtheit unserer Urkunde geltend
macht, besteht in dem Nachweise, dass die in der Ur-
kunde genannten Zeugen nicht zum Jahre 1156 passen
und dass, wenn wir auch das Datierungsjahr unserer Ur-
kunde verändern dürften, „sich doch keines ermitteln“ liesse,
„in welchem ein gleichzeitiges Zusammensein obiger
Zeugen“ angenommen werden könnte.*) Im Fortgange seiner
Untersuchung machte Stumpf dann darauf aufmerksam, dass
alle in dieser Zeugenliste vorkommenden Namen bis auf drei
derjenigen der Worms erteilten Urkunde von 1165 September 26
und der des Freiheitsbriefs Friedrichs I. für Worms von 1184
Januar 3*) entnommen seien. Von den drei übrigen Namen
seien Bischof Gottfried von Speier und Abt Heinrich von Lorsch
„wohl nur als die beiden mächtigsten Nachbarn des Gebietes
von Worms willkürlich herbeigezogen“ und „Protonotar Kon-
rad vielleicht nur desshalb in die Urkunde aufgenommen wor-
den, weil gerade in den beiden Husterurkunden kaiserliche
Protonotare als Zeugen erscheinen.“4) Schaube findet es nun
auffallend, dass gerade für diese Beamtung der Fälscher einen
anderen Namen als die in den Musterurkunden vorkommenden
gewählt habe, und sieht sich daher veranlasst, anzunehmen,
dass ein Protonotar Konrad, den er in einer zwischen 1198
und 1200 ausgestellten Urkunde5) nachweist, „vielleicht schon
*) ibid. S. 288.
*) 8. 611.
*) W. U. 81 und 90.
‘) 8. 624 , 625.
*) Wiirdtwein Nora subsidia diplo. (Heidelb. 1789) XII p. 131. Es ist das
eine Urk. Erzb. Johannes von Trier, welche mit den Siegeln König Philipps und Bi-
schof C(onrad)8 vonW ttrzburg (1198— 1 202) beglaubigt und vonProtonotarC(onrad)
i r
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260
1183—86 gelebt“ *) und, wie wir ganz in seinem Sinne hinzu-
setzen müssen, dies Amt verwaltet habe. Der Protonotar,
welcher in der von Schaube erwähnten Urkunde vorkommt,
ist nun aber der nur zwischen 1198 und 1200 fungierende Kon-
rad von Scharfenberg;8) seine Zeugenschaft kann also in keiner
Weise mit der Ansicht Schaubes über unsere Urkunde in Ein-
klang gebracht werden. Es ist aber auch nicht möglich, durch
den Einwand, dass in der Zeugenreihe ein anderer, sonst nicht
erwähnter, Protonotar Konrad gemeint sei, Schaubes Theorie
zu verteidigen. Im Jahre 1156 bestand nämlich das Amt des
Protonotars noch nicht8) und zwischen 1181 und 1188 ist
Eudolf als Protonotar bezeugt.4) Es gab aber stets, wie nur
einen Hofkanzler, so auch nur einen Protonotar.5)
Auch die Erwähnung der nach Stumpfs Ansicht der Ur-
kunde von 1165 entnommenen Zeugen, welche 1183 — 1186 schon
z. T. verstorben waren, bliebe bei Richtigkeit von Schaubes
Theorie doch recht auffällig. Unmöglich wäre ja allerdings
durch dies Moment Schaubes Hypothese noch nicht. Die 1156
ausgestellte Urkunde würde dann gewissermassen die Vorur-
kunde ihrer uns vorliegenden Bestätigung von 1183—86 sein,
die freilich sonderbar genug in dem Datum 1156 das ihrer
Vorurkunde trüge. Es sind nun nach Bresslau6) immerhin
Beispiele königlicher Urkunden bezeugt, in denen die Zeugen-
listen der Vorurkunden mit Auslassungen und Hinzufügungen
wiederholt sind. Dann würde aber immer noch die Aufnahme
von Bischof Gottfried von Speier, Propst Emicho von St. Paul
und Protonotar Conrad in die Zeugenliste unerklärbar sein,7)
da alle drei weder zu 1156 noch zu 1183—1186 passen.
unterschrieben ist. Ans der Erwähnung des letzteren folgt, dass die Urkunde
in die Jahre 1198—1200 zu setzen ist.
«) 8. 287.
’) Bresslau Urkundenlehre S. 419.
*) ibid. S. 369.
4) ibid. 8. 379.
») ibid. 8. 369.
*) ibid. S. 658, vgl. auch 677.
*) Gottfried war 1164 — 67 Bischof von Speier. Propst Emicho von St.
Paul ist von 1161 — 73 bezeugt, spätestens 1182 ist er nicht mehr in diesem
Amte, da alsdann Marquard darin bezeugt ist (Sp. U. 18). Über Protonotar
Conrad vgl. das oben im Text gesagte.
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So ist die Zeugenliste jedenfalls unecht.1) Dass dieselbe
aber nicht etwa erst später der fertigen Urkunde zugefiigt ist,
ergiebt die Einheitlichkeit der Handschrift unseres Documents.*)
Zu diesem aus der Form der Urkunde erkennbaren Grunde*)
der Unechtheit kommen nun noch diejenigen, welche aus dem
Inhalte hervorgehen. Schaube4) erklärt, er würde selbst die
Urkunde für unecht halten, „weun nach ihr, wie Arnold will,
Friedrich ein republikanisches Stadtregiment in Worms geschaffen
hätte, was seiner ganzen Politik widersprach.“ Die Erörterung
darüber, in wie weit die Urkunde eine Anerkennung der
städtischen Selbständigkeit oder Schaffung republikanischer
Stadteinrichtung enthält, möge noch auf später verschoben
werden. Schon von gar nicht in Frage zu stellenden Bestim-
mungen des Privilegs von 1156 lässt sich ja nachweisen, dass
dieselben mit der von Friedrich I. vertretenen rechtlichen und
politischen Auffassung in solchem Widerspruch stehen, dass au
der Unechtheit dieses Privilegs garnicht zu zweifeln ist. Er-
innern wir uns zunächst der früher erwähnten Stelle desselben,
nach der — ganz im Geiste des sich bildenden Stadtrechts —
der gerichtliche Zweikampf verboten wird,5) und vergleichen
■) Schaube S. 287 meint allerdings, .dass Unregelmässigkeiten in der
Zengenreihe auch von Urkunden, die in der kaiserlichen Kanzlei angefertigt
sind,“ nichts ungewöhnliches seien, und beruft sich dafür auf Ficker in
Uittcil. des Inst. II 8. 179 ff. Dort wird aber nur gesagt, dass gewisse Un-
regelmässigkeiten in der Zeugenreihe wie Hinzufilgnng nicht consentierender
Zengen, Fehler in der üblichen Rangordnung der Zengen und dergleichen
Urkunden noch nicht unecht machen. Dagegen hebt Ficker a. a. 0. gerade
folgendes hervor: „Für das. zwölfte Jahrhundert ist nicht zu bezweifeln, dass
die Zeugenreihe dem Einzelteile genau angepasst und nur solche (Zeugen) auf-
genommen wurden, welche bei dem für das Zeugnis massgebenden Akt per-
sönlich gegenwärtig waren“ (Ficker S. 181).
*) So nach persönlicher Einsicht in dasselbe, vgl. auch Stumpf S. 618:
„Das Document zählt 23 Zeilen, die sämmtlich von einem Schreiber ge-
schrieben sind.“
*) Dazu kommen noch die anderen von Stumpf (S. 618, 619) ange-
führten diplomatischen Gründe für Unechtheit unseres Privilegs, wie das
rohe Pergament, die schmutzig blassbranne Tinte, die ungewöhnliche Form
der .Buchstaben etc., die schwerlich alle durch die Schaube 'sehe Annahme,
dass wir hier eine von der Kanzlei besiegelte Copie vor uns haben, hin-
reichend erklärt sind.
4) S. 287 unten.
*) nulli liceat, burgeusem aut extraneum ad duellum provocare.
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damit z. B. die Bestimmungen in Friedrichs I. Constitutio de
pace tenenda.1) Hier wird gerade das genannte Beweismittel
ausdrücklich anerkannt, indem nur mit Hilfe desselben ein
wegen Tödtung oder Körperverletzung angeklagter darthun
konnte, dass er sich bei Begehung der That im Zustande der
Notwehr befunden habe.*) Ferner wird in dem angeblichen
Privileg Friedrichs I. Appellation gegen die Urteile des Stadt-
gerichts ausdrücklich verboten;*) ebendieser legte aber bekannt-
lich bei den Constanzer Friedensverhandlungen ganz besonderes
Gewicht darauf, wenigstens das Recht der Processentscheidung
in der Berufungsinstanz zu behalten.1) Auch die Gerichtsbar-
keit der Bischöfe in ihren Städten hat er nachweislich niemals
in Frage gestellt oder gemindert. Endlich wird in unserer
Urkunde der überwiegend aus Kaufleuten bestehenden Stadt-
gemeinde ein weitgehendes Recht der Selbsthilfe gegen aus-
wärtige Feinde verliehen;*) ähnliches findet sich nicht nur in
keinem anderen Documente Friedrichs, sondern hier tritt grade
die Anschauung hervor, dass Kaufleute nur bei Notwehr das
Schwert ziehen dürfen.8) Alles dies spricht für die Richtigkeit
der Auffassung Stumpfs, dass unser ganzes Document erst
nach dem Tode Friedrichs I. von einem städtischen Fälscher
‘) L. L. II p. 101. Pertz 1. c. und ebenso Prutz Friedrich I. Bd. I
8. 100 lassen diesen Landfrieden am 18. September 1156 anf dem Regens-
burger Reichstag verkündet werden. Neuerdings hat jedoch Kflch (die
Landfriedensbestrebungen Kaiser Friedrich’s I. Harb. 1887 8. 13—16) nach-
gewiesen, dass dieser Landfrieden mit dem erwähnten Reichstage in keinem
Zusammenhang steht, und dass das Datum dieses Gesetzes nur in so weit
festzustellen ist, dass es nach dem 9. März 1152 und jedenfalls vor 1155 er-
lassen ist.
*) c. 1 und 2, cf. auch die mehrfache Erwähnung des duellnm in dem
1158 für das Heer erlassenen Friedensgesetze Rahewin Gesta Frid. I 1. IH
c. 28 (cd. Waitz M. G. in 8 0 p. 169 ssq ).
*) S. 60 Z. 15: si quis burgensis suum conburgensem super aliqua causa
voluerit impetere, coram indicibns hoc faciat et eo iure contentns sit quod ei
iudices per sententiam secundum iura civitatis dictaverint et non appellet
ad maiorem audientiam.
4) vgl. Prutz, Friedrich I. Bd. III 8. 143 und 374.
5) S. 60 Z. 43 ff. : si locus munitns fuerit obsidione eum cingant
. . . et si locus expugnari poterit, gratum habeant.
*) L. L. II p. 102 c. 13: Mercator negotiandi causa per provinciam
transiens, gladium suum Bellae alliget, et super vehieninm suum ponat, ne
unquam laedat innocentem, set ut se a praedone defendat.
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263
(
verfasst ist.1) Was von den Einwendungen Schaubes gegen
diese Theorie noch nicht besprochen ist, kann auch leicht er-
ledigt werden. Polemisiert er *) gegen die Bemerkung Stumpfs,
dass die Wormser Privilegien den Speier erteilten nachzufolgen
pflegten, und dass desshalb die Fälschung durch das Speier
1198 erteilte, die Gewährung eines Stadtrats enthaltende Pri-
vileg hervorgerufen sei, so trifft er damit höchstens die von
Stampf zur näheren Erklärung der Fälschung herangezogenen
Thatsachen, nicht die gegen die Echtheit des Privilegs von
1156 angeführten Gründe. Im übrigen ist von Stumpf das
Wormser Zollprivileg von 1074 an dieser Stelle ganz mit Recht
ausser Acht gelassen, s) und was es mit dem angeblichen Privi-
leg Heinrichs VI.4) für Worms für eine Bewandnis hat, wird
später festgestellt werden. Immerhin wichtiger als dieser
Ein wand mag es noch erscheinen, dass nach Schaube6) die
Erwähnung Werners von Boianden in der „Rolle eines vom
Kaiser verordneten Helfers der Bürgerschaft bei Verfolgung
von Friedensbrechern“ „eine Fälschung als nicht recht begreif-
lich erscheinen lasse.“ „Das Geschlecht der Boianden hätte
von einer solchen ihm übertragenen Hilfeleistung doch etwas
wissen“ und ein Fälscher daher von ihm „Aufdeckung des Be-
truges“ erwarten müssen. 5) Durchaus richtig bemerkt Schaube,*)
dass von einem kaiserlichen Vicedominus von Worms,
Werner von Boland, welchen schon Fiersheim7) in unserer
Urkunde gefunden hat, mag man sie nun für echt oder falsch
*) Sucht Schaube S. 281 die Echtheit dee Privilegs dadurch wahr-
scheinlich zu machen, dass er das angebliche Friedensgericht mit der von
der Wormser Chronik berichteten Plünderung der Stadt durch Pfalzgraf
Eonrad bei Rhein in Verbindung bringt, so übersieht er, dass dieser erst
1167 die Pfalz erhielt (vgl. Prutz Friedrich I. Bd. II S. 139).
*) S. 277.
*) Als die Speierer 1111 dasselbe, was dies Privileg den Wormsern ge-
wühlte, erhielten, wurden ihnen zugleich noch weit grössere Rechte gegeben
(U 13), und es ist oben S. 227 ff. gezeigt worden, dass aller Wahrscheinlich-
keit nach gerade dies, Speier erteilte, Privileg die Wormser veranlasste, sich
die gleichen Berechtigungen mit Gewalt zu verschaffen.
*) Boehmer Fontes U p. 216, 216.
») S. 283.
•) S. 285, 286.
ln den Zusitzen zu Zorns Chronik (ed. Arnold S. 67).
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264
halten, keine Eede sein kann.1) Dennoch ist gerade die Er-
wähnung Werners von Boianden mit der Ansicht, dass die
Urkunde gefälscht ist, sehr wohl in Verbindung zu bringen,
wobei auch die Zeit der Fälschung eben dadurch genauer,
als es von Stumpf geschehen, bestimmt werden kann. Die
Thatsache, dass das Geschlecht der Boianden mit der Bolle der
vom Kaiser den Wormsern bestimmten Verteidiger, welche
ihnen die angebliche Urkunde Friedrichs I. gab, wohl zufrieden
war, lässt sich schon aus der Bestätigung dieser Urkunde vom
Jahre 1220 mit Sicherheit ersehen.*) Wo die Urkunde von
1156 Werner (I.) von Boianden nennt, da erscheinen 1220 seine
Enkel Werner (III.) und Philipp (II.); beide begegnen auch in
der Zeugenliste dieser letzteren Urkunde.
Nach dem Lehensbuche Werners- II. von Boianden war
sein Geschlecht in der Stadt wie in der Umgegend von Worms
reich begütert;*) eins seiner Wormser Häuser bezeichnet er
ausdrücklich als seinen gewöhnlichen Aufenthaltsort.4) Im
Jahre 1200 gerieten nun die schon erwähnten Söhne dieses
Werners IL, nämlich Werner III. und Philipp H. von Boianden,
mit Bischof Lupoid von Worms, von dem sie mehrere Lehen
hatten,5) in einen Conflikt, der uns auch Aufklärung über ihre
Erwähnung in unserer Urkunde giebt. Damals wurde nämlich
dieser dem staufischen Hause treu ergebene Prälat von der
Mehrzahl der Mainzer Domherrn auf Empfehlung König Philipps
hin zum Erzbischof gewählt.6) Kurz darauf übertrag jedoch
eine von den beiden Bolandischen Brüdern beeinflusste Minder-
*) Mit Hecht führt Schaube a. a. 0. aus. dass in der die Helfer der
Stadt aufzäblcndcn Stelle (Boos S. 61 Z. 4 ff.) hinter Wernherum de Bonlanden
ein Komma stehen muss, weil dieselbe in den späteren Bestätigungen durch
antedictos de Bol. fratres, vicedominum, scnltetum etc. wiedergegeben ist.
Auch wird unter den Zeugen der Urkunde ausdrücklich Bnrcardus als rice-
dominns genannt. Übereinstimmend mit Schaube hat übrigens auch schon
früher Bresslau Diplomata centum p. 129 interpungiert.
*) U 124.
*) Sauer, Die ältesten Lehnsbücher der Herrschaft Bolauden (Wiesb.
1882) S. 18, 22, 25, 30, 36.
‘) ibid. S. 36.
•) ibid. S. 21, 22.
°) Über die Mainzer Doppel wähl des Jahres 1200 cf. B-W Bd. II Einl.
p. XVIll— XXIII und N. XXXII 1.
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265
heit diese Würde an einen Verwandten derselben,1) den Propst
Sigfrid von Eppenstein. Dieser fand Schatz und Anerkennung
bei Otto IV, auf dessen Seite auch die Boianden übertraten.')
Papst InnocensIH. entschied darauf bekanntlich für Sigfrid und
sprach über Lupoid, da derselbe darauf beharrte, beiden Bistümern
gleichzeitig vorzustehen, den Bann aus.3) Dennoch vermochte
sich Lupoid, so lange Philipp lebte, in beiden Bistümern zu
behaupten.4) Anders war es naeh Philipps Ermordung (1208
Juni 21). Während Sigfrid alsbald nach Mainz zurückkehrte,
sah sich Lupoid gezwungen, nicht nur die Mainzer, sondern
auch die Wormser Diöcese zu meiden. Mehrere Jahre musste
er in Verbannung verbringen;8) mit den übrigen staufischen
Parteigängern wurden hingegen auch die Boianden, die seit
1202 auf Philipps Seite zurückgekehrt,6) von Otto amnestiert.7)
Sie standen auch Sigfrid bei der Verwaltung des Wormser
Bistums zur Seite, die derselbe in Lupolds Abwesenheit kraft
seiner Diöcesangewalt und besonderer päpstlicher Ermächtigung
führte.*) Diese Herrschaft Sigfrieds und der Boianden im
Wormser Bistum endigte mit der Zurückführung Lupolds durch
Friedrich II. 1212.
Demnach sind als die äussersten Zeitgrenzen,' innerhalb
deren die Fälschung entstanden sein kann, die Jahre 1208
und 1212 zu bezeichnen. Jedenfalls hätte ja vor 1208
*) cf. B-W t. II Einl. p XV sowie Wink el m ann, König Philipp S. 523.
*) Winkelmann S. 191 N. 2 meint, .der Abfall . . geschah wahrscheinlich bei
Ablauf des Waffenstillstandes* (derselbe dauerte nach S. 173 bis Martini).
*) B-W XXXII a 9.
4) Chron. ürsperg. S. S. XXIII p. 369: nec iste (Errb. Adolf von Köln)
nec prefatus Sifridns Maguntinus potuernnt acquirerc tcmporalium administra-
tionem nsque ad mortem Philippi.
•) cf. Schannat II p. 97 N. 104 a 1212: reversus ab exterminio, in quo
diu desndavi.
•) Noch in dem seinem Tode vorhergehenden Monat beurkundet Philipp
ein von Wernher von Boianden vorgenommenes Rechtsgeschäft (Urk. Philipps
von 1208, Mai 17, B-F 181).
*) Sie erscheinen 1208, Dec. 2, (B-F 247, Sp. U. 25) in einer Urkunde
Otto’s IV. als Zeugen.
•) cf. B-W XXXII 138 (= W U 114, Schannat II N. 103), Urk. Sig-
frids , worin er die Pfarrei St. Lambert zu Worms mit dem Decanat des
Blartinsstifts vereinigt: Nunc super ecclesia Wormatiensi ordinariam simnl et
apostolicam auctoritatem habentes, eo quod pastoris proprii sit regimine de-
stitnta et specialiter ipsius ordinatio sollicitudini nostrae ab apostolica sede
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266
Juni 21, also in der Zeit, in welcher die Wormser
mit Lupoid zusammen auf Philipps Seite fochten, die An-
fertigung einer die Bistumsrechte mindernden Urkunde keinen
Sinn gehabt, weder in den Jahren, in denen die Boianden sich
zu Ottos, noch in denen, in welchen sie sich zu Philipps Partei
hielten. Es folgt auch aus dem erörterten, dass es durchaus
kein Zufall ist, dass sich die Häupter dieses Ministerialen-
geschlechts stets zur Zeit von Bestätigungen des angeblichen
Privilegs in der Umgebung des bestätigenden Königs befanden.1)
Man kann gradezu annehmen, dass Werner (III.) und Philipp
(II.) von Boianden an der Fälschung beteiligt waren. Dies
wird noch mehr erhellen, wenn mittels dieser Bestätigungen
die Entstehnngszeit dieses Documents noch genauer festgestellt
ist. Zu diesem Zweck muss auf den Inhalt der gefälschten
Urkunde selbst näher eingegangen werden; dadurch wird zu-
gleich wichtiges Material zur Lösung der hier hauptsächlich in
Betracht kommenden Frage nach der Herkunft des Rats ge-
wonnen werden. Allerdings erteilt das angebliche Privileg den
Wormsern auch Rechte, welche sie nie, auch nicht zur Zeit
seiner officiellen Bestätigung, besessen haben. Dies ist z. B.
mit der Verordnung der Fall, ein Auswärtiger, der einen
Wormser in irgend einem Teile des Reichs angegriffen oder
geplündert habe, solle vor das Wormser Gericht gebracht und,
wo er sich auch befinde, diesem ausgeliefert werden.*) Diese
commissa. In dieser Urkunde werden ausser je einem Wormser und Mainzer
Geistlichen nur Werner und Philipp von Boianden als Zeugen genannt. Für
Sigfrids Verwaltung der Wormser Diöcese, vgL auch B-W XXXII 133, 137, 176.
') Zur Zeit des Privilegs Otto’s für Worms 1208 (U 110), worin, wie
unten gezeigt werden wird, die erste Bestätigung des gefälschten Privilegs
zu finden ist, waren, wie aus B-F 247 hervorgeht, die beiden Brüder in
Otto's Umgehung; in den spätem wörtlichen Bestätigungen durch Fried-
rich II. (U 124 und U 182) erscheinen sie unter den Zeugen.
*) si quis comprovincialium vestrorum aliquem de civibus in quovis im-
perii loco invaserit aut depredatus fuerit, vulneraverit aut occiderit mmorque
ad vos pervenerit, burgenscs vestri illum insequantur et ... . taliter de eo
iudicium sumatur ac si hec infra civitatem comississet. Qnod si aufn-
gerit ... et in aliqua civitate vel castello receptus fuerit, burgenses illnc
veniant et ipsum . . . reposcant; sie dürfen sich dann auch, um seiner hab-
haft zu werden, der Gewalt bedienen. — Im Beginn dieser Stelle muss es
abweichend von Boos Lesart comprovincialium nostrorum vielmehr vestro-
rum heissen, wie auchBresslau diplomata p. 129 liest; so auch die Bestiti-
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Bestimmung kann entschieden nur als Ansdruck der Wünsche
der Wormser Bürgerschaft betrachtet werden; als Zeichen
wirklich geltenden Rechts ist sie keineswegs zu benutzen,
weder für die Zeit, in welcher die Fälschung entstanden, noch
für die Zeiten der officiellen Bestätigungen, geschweige denn
für die Mitte des 12. Jahrhunderts, in welcher ja der Fälscher
das Privileg gegeben sein lässt. Ganz anders können jedoch
die Stellen verwertet werden, in welchen es sich um Einrich-
tungen in der Stadt selbst handelt. Hier ist anzunehmen, dass
die Fälschung nur die zur Zeit ihrer Entstehung wirklich herr-
schenden Zustände durch Zurückführung derselben auf Friedrich I.
rechtlich sichern wollte. Auf diese Weise lassen sich nun besonders
diejenigen angeblichen Verordnungen Friedrichs I. historisch
benutzen, welche die Behörde der 40 iudices betreffen. Diese
Behörde bestand zweifellos wirklich, wie es nach der Fälschung
sein sollte, aus 12 ministeriales und 28 burgenses; auch die
Angabe, dass dieselben darauf vereidigt waren, gerecht zu
richten,1) ist zweifellos den wirklichen Verhältnissen entnommen.
Zum mindesten für die nächste Zeit nach der ersten kaiserlichen
Bestätigung der Urkunde also nach 1208 ist auch anzunehmen,
dass ihr gemäss Majorität unter den iudices entschied und
diese selbst das Recht hatten, unwürdige Mitglieder aus ihrem
Colleg auszustossen. Sie richteten secundum iura civitatis d. h.
nach dem damals voll ansgebildeten städtischen Gewohnheits-
gungsurkunde U 124 (S. 96 Z. 20). An» dem Zusammenhang geht hervor,
dass comprovinciales hier nicht Wormser Bürger sind. Arnold I. 8. 221
übersetzt „Landesgenossen“, Pfalz (Bilder aus d. deutsch. Städteleben
1869) S. 190, indem er der Lesart compr. nostrorum folgt, .Untertanen*.
Über die verschiedenen Bedeutungen , in denen comprovinci&lis gebraucht
werden kann , vgl. oben S. 219 N. 6. Hier scheinen damit die Bewohner
jenes Bnrggrafenbezirks gemeint zu sein , der mit der Stadt in älterer Zeit
jnrisdictionell und strategisch verbunden war. Als die Stadt sich als selbst-
ständiges Territorium aus diesem Gebiete herauszuschälen begann, suchten
die Städter den früheren Zusammenhang, wie schon aus der hier besprochenen
Stelle folgt, soweit er ihnen vorteilhaft war, noch festzuhalten. Es wird
später gezeigt werden, dass dies wenigstens den Wormsern entschieden nicht
gelungen ist.
*) Dieselbe liegt in den Worten: si qnis antem iudicum aliquem
malo ingenio tueri et contra iuramentum qnod fecit vel innocentem con-
dempnare attemptaverit.
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268
recht nnd erhielten einen Teil der Bussen. Im übrigen tritt
in der Urkunde dem, überwiegend strafrechtlichen, Inhalte der-
selben entsprechend die Thfttigkeit der iudices in Strafsachen
ganz besonders hervor, wie ja auch dieser für sie überwiegend
gebrauchte Name auf richterliche Competenzen deutet.
Aus den früheren allgemeinen Erörterungen ergiebt sich
nun, dass in diesen iudices der Urkunde das Schöffencolleg zu
sehen ist. Dasselbe geht auch ans dem Amtseid der iudices
hervor, da die Schöffen allgemein auf gerechte Führung ihres
Richteramts vereidigt wurden.1) Andrerseits erscheinen nun
diese iudices wenig später als Ratscolleg; das beweist ilire
Mitgliederzahl 40, welche als die des Rats bis zum Jahre 1233
bezeugt ist.*) Ferner zeigt es sich darin, dass 40 iudices im
Jahre 1198 ganz wie später der Rat eine Veräusserung bischöf-
lichen Grundbesitzes mit dem Stadtsiegel bekräftigen.*) Endlich
scheint mir aus folgender Stelle des gefälschten Privilegs auch
hervorzugehen, dass der Verfasser desselben selbst schon ftir
das Colleg der 40 iudices den Namen Rat gebraucht hat:
Super integritate huius pacis conservanda primos et preci-
puos adiutores et consiliarios habere debetis videlicet Wernherum
') Sohm Fr. R. n. G. V. S. 379 mit N. 26.
*) U 120 a 1216 S. 92 Z. 28 adstipnlantibus XL consiliariis nostrc
civitatis. Im Jahre 1233 wurde bekanntlich durch die erste lischt ung die
Zahl der Ratsmitglieder auf lö herabgesetzt (cf. U 163). Zur Zahl der
Consuln vgl. auch folgende Stelle der Wormser Chronik : Fncrnnt olim multis
temporibus in civitate Wormatieusi qnadraginta cousulcs videlicet viginti
octo cives et duodecim milites ecclcsie ministeriales qui per se sine episcopo
totam rexerunt civitatem. Et si unus decessit, ipsi per ge alium coustituerunt,
pacem etiam iudicantes. (Boebmer, Fontes II p. 160 vgl. auch ibid. p. 161
Z. 14—18). Arnold I S. 233, Nitzsch S. 331 und Hegel Monatsscbr.
S. 182 legen auf diese Stelle viel Gewicht, während nach Schaube S. 280
dieselbe wohl nur unserer gefälschten Urkunde entnommen ist. Nach Kösters
Untersuchungen (Worms. Annal. S. 45—73) stammt die Stelle Boehmer p. 160
Z. 1 — 7 aus einer im 14. oder 15. Jahrh. verfassten Bischofschronik; derselben
Quelle aber, aus der diese hier geschöpft hat, entnahm nach Köster
(S. 74 ff., S. 92) eine gleichzeitige Bttrgerchronik die Stelle p. 161 Z. 14 — 18.
Aus der in dem angeblichen Privilege Friedrichs I. fehlenden Stelle Uber die
Ergänzung des Ratscollegs durch Cooptation scheint mir zu entnehmen zu
sein, dass dasselbe nicht die gemeinsame Quelle der beiden Chroniken ist
Für die entgegengesetzte Ansicht kann allerdings das pacem etiam iudi-
cantes (p. 161 Z. 18) angeführt werden.
*) U 103 cf. U 127; U 141. In U 127 geschieht eine Schenkung cor&m
episcopo et consiliariis Wannatiensibus.
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269
de Bonlanden,1) vicedominum, Ricbizonem scultetum, prefectum
et indices de civitate, qui vos pariter precedant.
Meiner Ansicht nach sind hier Werner und die genannten
Beamten die adiutores, die iudices de civitate die consiliarii.*)
Im übrigen geht, mag man nun die Stelle so auffassen oder
auch die Worte adiutores und consiliarii ganz allgemein mit
„Helfer und Berater der Wormser Bürger“ übersetzen, gerade
aus der gefälschten Urkunde selbst hervor, dass die Wormser
iudices auf die Anerkennung ihrer Befugnisse viel Wert, dagegen
nur höchst geringen auf den Ratsnamen legten. In der Urkunde,
in welcher sie sich zum ausschliesslichen Gerichtshof für
Streitigkeiten der Bürger untereinander, ferner für gewisse
Fälle zu Richtern über Fremde, welche Wormser Bür-
ger verletzen würden , erklären und sich das Fehderecht
geben , haben sie es nicht für nötig befunden , sich das
Recht , den Titel consiliarii zu führen , ausdrücklich bestäti-
gen zu lassen.
Jedenfalls enthält das erfundene Privileg die reichsrechtliche
Anerkennung der leitenden städtischen Gerichts- und Regierungs-
behörde und in seinen ersten strafrechtlichen Bestimmungen die
des herrschenden, z. T. wohl von dieser Behörde autonom ge-
gebenen , Wormser Particularrechts. Die darin enthaltenen
Bestrafungen an Leib und Leben, welche an Stelle der früheren,
noch in den leges Burchardi vorgeschriebenen , Geldbussen
traten, haben ganz gewiss den Einkünften des Bischofs Abbruch
gethan.3) Freilich, dass die Stadt durch die spätere königliche
■) Über diese, von der bei Boos abweichende, Interpnnction vgl. oben
S. 264 N. 1.
*) So fasst die Stelle auch Nitasch S. 331: Friedrich weist den vice-
dominns .... an, die 40 indices oder consiliarii bei Aufrechterhaltung des
nenen Friedens zu unterstützen.“ Vgl. auch Arnold I 217, nach welchem
das Privileg selbst „die Bichter geradezu auch als Ratsherrn bezeichnet,“
während er freilich „zu dem vollständigen Bat“ auch die „alten Gerichts-
beamten* zu zählen scheint. Gegen Arnold vgl. Hegel Monatsschr. S. 180,
Schaube S. 279.
*) Vgl. z. B. in unserer Urk. (S. 60 Z. 1 ff.) : „Si quis aliquem . . vel
verberibus afflixerft aut vulneribus plagaverit, reus pacis habeatnr et manum
proscriptam tnmcctur“ mit Leges et Statut. Burchardi tit 27, wonach bei
einem Schlage, der den Geschlagenen zu Boden wirft, 60, bei einem gerin-
geren Schlage 6 sol. an den Bischof zu zahlen sind (s. auch die Erklärung
Genglers in seiner Ausgabe S. 30, 31). Man vergl. ferner in unserer Urk.
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270
Bestätigung; des Privilegs ihrem Bischof entzogen und „zu einem
unter dem Schutz des Kaisers stehenden Freistaat“ erklärt
sei,1) kann man nicht sagen. Die Fälschung enthält ja sogar
die ausdrückliche Bestimmung, dass ein Teil der Bussen des
wegen Rechtsbeugung verurteilten iudex an den Bischof fällt.*)
Ferner hatte auch die Zeit für Beurkundung direkter Unter-
stellung von Stadtgemeinden unter den Kaiser, wie sie freilich
nur in Italien vorgekommen zu sein scheinen, schon eigene
Formen ausgebildet,3) von denen sich in dem gefälschten Privileg
nichts findet. Dasselbe ist nun, wie es schon Stumpf4) er-
kannt hat, schon in der Urkunde Ottos IV. für Worms vom
Jahre 1208 5) bestätigt, war also damals jedenfalls vorhanden.
(S. 60 Z. 3 ff.): Si quis autem aliquem occiderit et <le bomicidio convictus
fuerit, iugulus eius proscribatnr mit Leg. et stat. tit 30 (Boos S. 44 Z. 30) :
Si quis ex f&miiia in civitate .. aliquem ex fumilia interfecerit, corium et capillos
perdat et combuslionem . patiatur et bannum pcrsolvat et wergeidum reddat.
Diese Umwandlung von Geldstrafen iu Leibesstrafen (resp. von mit Geld-
strafen verbundenen Lcibcsstrafen in die Todesstrafe) hat sicherlich nichts
mit der .fortgeschrittenen Strafgewalt des Kaisers,* mit der sie Arnold V.
G. I S. 220, oder mit dem Königsfriedeu der Residenz des Herrschers, mit
der sie H e g e 1 Htsscbr. S. 1 79 in Verbindung bringt, zu thnn ; vielmehr liegt auch
hier nur ein Fall der , den veränderten Lebcnsverbältnisscn entsprechenden,
Rechtsändemngen vor. Zngleich ist auch eine Usurpation von Jnrisdietions-
rechten der bischiiflichen Beamten seitens des SchCffcncollegs zu constatieren.
Han vgl. die späteren in der Absicht, die bischöfliche oder königliche Vogtei
wertlos zu machen, vorgenommenen Stadtfriedenseinungen (Heusler , Ursprung
S. 224—226).
*) So Arnold V. G. I S. 214 cf. Eigcntm. Einl. S. XVIII, cf. dagegen
Hegel Monatsschr. S. 176, Schaube S. 2S7, Ottok. Lorenz im Sitzuugs-
ber. d. Wiener Akad. 1878 (Bd. 89) S. 32.
*) Boos S. 60 Z. 26: Insupcr .... septem libras monetc persolvat, tres
scilicet episcopo. Diese drei Pfund sind = 60 sol, dem Grafenbann, der dem
Bischof von Alters her in Worms znstand.
*) vgl. Friedrichs I. Urk. för Assisi 1160, Nov. 26, (Stumpf 3900a,
Ficker Forsch, z. R. u. Rg. Ital. IV p. 169 N. 128): Notum sit, quod civitas
Assisi . . . . ita specialiter et libere ad nostram imperialem iurisdictionem
pertinet , quod nulli potestati de aliquo habet respondere, nisi nostre persone,
ferner die Urk. des kaiserlichen Legaten Erzb. Rainald von Köln für Anghi-
ari (Ficker ibid. N. 131 p. 173): cognovimus, prefatum castrum et populum
Anglarcnsem soli domino imperatori et imperio specialiter attinere cf. aoeh
Winkel mann, Acta imperii ined. (1880) I N. 285.
4) S. 626.
‘) U 110.
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271
Dieses Document lehnt sich allerdings hauptsächlich an die
Urkunde Heinrichs V. von 1114 Nov. 30') an; dass aber die
Fälschung bei Abfassung desselben schon mit anderen Wormser
Freiheitsbriefen dem Könige Otto IV. vorgelegt ist, geht aus
der, in seiner Urkunde enthaltenen, Bestätigung der privilegia
de pacis confirmatione hervor. Ferner ist darin das Verbot des
gerichtlichen Zweikampfes geradezu aus der Fälschung über-
nommen; an diese muss auch gedacht sein, wenn Otto den
Wormsern alia quoque iura qualiacumque und bonas consue-
tudines privilegiatas bestätigt, wobei unter letzteren entschieden
besonders die erwähnten strafrechtlichen Bestimmungen, weiche
die Einnahmen des Bischofs minderten, zu verstehen sind.
Dieses Privileg Ottos ist wohl bei seinem Aufenthalte in Worms
1208 ca. 23. Nov.*) gewährt und spätestens Anfang December
ausgefertigt worden.5) Jedenfalls kann daher mit Sicherheit
angenommen werden, dass der königlichen Kanzlei Ende No-
vember mit den anderen Wormser Privilegien auch die auf den
Namen Friedrich I. lautende Fälschung vorgelegt ist. So ist
demnach November 1208 Endtermin der Entstehungszeit der
Urkunde; oben*) ist gezeigt worden, dass sie vor dem Tode
König Philipps (1208 Juni 21.) nicht angefertigt sein kann.
Die Fälschung ist also in der Zeit von Ende Juni bis
Ende November 1208 entstanden. Im übrigen scheintsich nun
gerade in dieser Zeit, in welcher der falsche Freiheitsbrief verfasst
wurde, und in den darauf folgenden Jahren die Stadt unter
kaiserlicher Oberhoheit faktisch selbst regiert zu haben; war
doch Sigfrid schon durch die notwendige Berücksichtigung der
Stimmung der Bürgerschaft an energischer Geltendmachung der
Bistumsrechte gehindert. Freilich konnte der Rat, wie schon
ausgeführt ist, nicht daran denken, diese faktische Unabhän-
gigkeit, sei es auch nur durch untergeschobene Urkunden, recht-
lich zu sichern.
*) 0 62.
*) Damals urkundet er dort (B-F 246).
•) Die* geht daraus hervor, dass der Kaiser damals rbeinaufwSrts sog,
das Privileg für Worms aber gleich der Urlr. für Speier vom 2. Desember
(B-F. 247) apud Spiram ausgestellt ist und der Kaiser schon am 11. Decbr.
xu Strassburg urkundet (B-F 249).
*) S. 265.
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272
Der constatierten Verminderung der Bischofsrechte in der
Stadt entspricht es nun, dass der in dieser Zeit mehrfach be-
gegnende Schultheiss Ingebrand in der Zeugenliste einer im
übrigen verlorenen Urkunde folgender Massen bezeichnet wird:
Iggebrandus cui tum temporis rex Otto vicem suarn in
iudicando commiserat1) ....
Zu diesen Worten passt nun auch alles das, was das an-
gebliche Privileg Heinrichs VI.*) für Worms verordnet. Diese
Urkunde liegt uns nur in einer Niederschrift des 16. Jahrhun-
derts und noch dazu nur höchst fragmentarisch vor. Mit Recht
ist von den meisten neueren Forschem der Überlieferung, dass
diese Fragmente als Stücke einer Urkunde Heinrichs VI. an-
zusehen seien, kein Glaube geschenkt worden.8) Zunächst sind
die Worte hi, quos vulgariter dicimus heimburger in einer
kaiserlichen Urkunde doch recht auffällig. Weit wichtiger ist
noch, dass diese Urkunde ganz abweichend von allen anderen
der Stadt Worms erteilten weder im Original, noch in einem
städtischen Oopialbuch erhalten ist. Endlich scheinen
nach Stumpfs4) Mitteilungen in Worms gerade damals
Fälschungen durchaus nichts ungewöhnliches gewesen
zu sein.
Derselbe verweist auf ein erfundenes Privileg Ottos III.
von 991 Sept. 13. aus Rom, das offenbar nur deshalb fabriciert
sei, um der Entscheidung Kaiser Heinrichs VI. 1196 Juni 10.
über den Bopparder Zoll 5) als urkundliche Grundlage zu dienen.
*) Die* Fragment ist durch Zorn (e<L Arnold) S. 24 überliefert ; nach
demselben haben wir, wie auch Arnold V. G. I S. 285 ausführt, in Ingebrand
den Schultlieissen der Stadt au sehen. Derselbe wird U 113 a 1209 in der
Zeugenliste als erster der laici, U 120 a 1216 unmittelbar nach dem Vitztum
als zweiter der ministeriales erwähnt. Ausserdem erscheint er noch in Zeugen-
listen der Jahre 1196 (ü 99), 1199 (U 105), 1208 (U 109).
*) St. 4659, W. U. 93, Boehmcr Fontes II 215 sq.
*) Toeche Heinrich VI (Leipz. 1867) erwähnt diese Urkunde im Texte
garnicht, obwohl er sie kennt (s. Beilage XIII S. 646 N. 80), Stumpf bezweifelt
ihre Correktheit; Boos hat sie nicht in sein Urkundenbuch ausgenommen,
sondern will sie im Chronikenbande abdrucken. Nur Schaube S. 277 und
289 behandelt das Privileg als unzweifelhaft echt; warum er aber so von der
herrschenden Meinung abweicht, giebt er jedoch nicht an.
4) Wiener Sitzungsber. 1859, S. 627.
*) Stumpf 5003, Sckannat II p. 90 N. 97.
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273
Ein anderes Beispiel einer Fälschung in Worms ist in der an-
geblichen Urkunde Friedrichs I. für die Stadt von 1156 nach-
gewiesen. Ohne Bedenken können also aus den angeführten
Gründen auch die Fragmente des Privilegs Heinrichs VI. für
die Wormser Bürgerschaft als Fälschung und als Quelle der
städtischen Verfassungs Verhältnisse zur Zeit Ottos IV. be-
trachtet werden. In diesen Fragmenten ist nun der Rat über-
haupt nicht erwähnt; vielmehr handeln sie nur von der Ein-
setzung der Beamten. Insbesondere kann aus diesen Fragmenten
geschlossen werden , dass der Schultheiss ‘) von den Bür-
gern frei gewählt und darauf vom König investiert wurde.*)
Zugleich mit dem Schultheissen wurden auch jährlich zwei Ge-
hilfen desselben, officiati oder Amtsleute genannt, von den
Wormsern gewählt,*) welche zur Ausübung ihres Amtes nicht
weiter vom König investiert zu werden brauchten.4) Bezüglich
dieser Wahlen kann man übrigens wohl der Annahme Arnolds5)
zustimmen, dass sie im wesentlichen vom Rat vollzogen wurden
und die übrige Bürgerschaft nur ein Zustimmungsrecht ausübte.
Diese Wormser Freiheiten nun haben sich bis zum Jahre 1233
erhalten. Bedroht mochten sie allerdings erscheinen, als Bischof
Lupoid durch Friedrich H. 1212 in sein Amt zurückgeführt
wurde. Wenigstens spricht dafür das Privileg, welches Lupoid
von diesem Kaiser 1212 erhielt.*) Wohl gerade in Berücksich-
‘) Frflher nahm die Stelle desselben ein bischöflicher Beamter, der Vitz-
tum, ein vgl. oben S. 172, 173.
*) Boehmer Fontes H p 216 : Volnmns etiam, nt omni anno in festo S. Martini
bnrgenses . . . snper cnriam nostram couveniant et omninm consensn personam
convenientem ad officium vjjJiicationis ibi denuo eligant, que a nobis et suc-
cessoribus nostria investiatnr, vgl. die oben -S. 272 citirte Stelle über Ingebrand.
*) Boehmer ibid. : statimque dno miniatri, amptmann vulgariter dicti,
gtatnantnr.
*) Dies hat Arnold V. G. I S. 288 mit Becht aus dem zu eligatur im
Gegensatz stehenden statu antur geschlossen.
*) I 283, vgl. dagegen Schaube S. 290. Die allgemeinen psychologischen
and intellectuellen Vorbedingungen zn einer wirklichen Wahl der Beamten
dnrch das ganze Volk fehlten jedoch damals sicherlich; auch kennt die erste
Bachtung (D 163) nur Wahl der Beamten durch den Bat, nur dass hier
Beteiligung des Bischofs bei der Wahl bestimmt wird. Jedenfalls wird der
Bat die Wahl der Beamten damals nicht erst erhalten haben, wie es nach
Schaubes Ansicht, dass vorher die ganze Gemeinde gewählt habe, der Fall
•ein müsste.
•) D 116.
Ko eh ne, Ursprung der Stadtver&ssung in Worms, Speier und Kainz. IS
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274
tigung des den Wormsern von Otto IV. erteilten Privilegs, worin
dieser ihnen iura qualiacumque et bonas consuetudines privile-
giatas bestätigte,1) geschah es, dass Friedrich II. dem Bischof
ausdrücklich alle Rechte und anerkannten Gewohnheiten sicherte,
welche er in der Stadt Worms ausgeübt und die ihm dort nach-
weislich zustanden.*) Dass das Bistum damals sogar mehr
erhielt, als es vor Lupolds Verbannung besessen, tritt in dem
dann folgenden Versprechen Friedrichs, Steuern bei den Bürgern
nur durch den Bischof erheben zu wollen, noch besonders her-
vor;*) war es doch schon zu Friedrichs I. Zeit als Regel be-
trachtet worden, dass die Wormser Reichssteuer von der Bürger-
schaft selbst erhoben wurde.4) Ob Lupoid nun diese Urkunde dazu
benutzen wollte, die städtischen Freiheiten zu beschränken oder
gänzlich zu beseitigen, ist nicht zu erkennen; hat er solche
Absichten gehabt, so ist er jedenfalls damit nicht durchge-
drungen.5) Gerade in den letzten Jahren von Lupolds Re-
gierung (.1212 — 17) sehen wir den Bischof und andere Geist-
liche die leitende Stadtbehürde zur Bekräftigung ihrer Ur-
kunden zuziehen und zwar nicht nur einzelne Personen,8) son-
') U 110.
’) universa iura . . et consuetudines approbatas, qne idem episcopus .
in civitate Wornmtiensi .... habere consuevit vel que ad eum pertinere nos-
cuntur, ea remittimus illibata, nt siue quolibet impedimento libere utatur eisdem.
*) concessimus . ipsi, ut quamcnmque petitionem in civitate Wonnati-
ensi . . facere voluerimus, per cum solum et non per aliam person&m faci&mus.
*) U 89: collectas, que in civitate ad nostrum tiunt obsequinm, vgl. oben
8. 254, 255.
*) Ans der ganzen Entwicklung der Wormser Stadtverfassung ergiebt
sich, dass von Lupoid nichts wesentliches daran geändert wurde. SchannatI
S. 365 berichtet ex anonym, chron. Worin, ms., Lupoid habe beabsichtigt,
die Bürger (populäres) aus dem Bat zu entfernen und ihn auf 12 Ministerialen
zu beschränken, doch sei er durch seine Abwesenheit im Dienste des Kaisers
daran verhindert worden. Das von Scbannat benutzte Manuscript war eine
Biscbofschronik , welche wohl in der Mitte des sechszehnten Jahrhunderts
verfasst ist. (vgl. Köster 8. 43). Oh die Nachricht derselben über die Absicht
Lupolds und dereu Vereitlung richtig ist, wie Arnold V. ü. II 19 annimmt,
oder nur als „vage Vermutung“ angesehen werden muss, wie Schaube S. 293
N. 1 behauptet, ist nicht sicher zu entscheiden. Jedenfalls spricht das oben
erwähnte Privileg Friedrichs II von 1212 für Am old 's Ansicht; doch ist Lu-
poid 1213 und 1215 in Worms bezeugt (cf. U 116, 118, Frey und Remling,
Urkb. d. Kl. Otterlnirg 1845 N. 15), war also sicher nicht an der Ausfüh-
rung gegen die Stadtfreiheit gerichteter Plane durch Abwesenheit verhindert.
•) So iu U 118.
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275
dern auch das ganze Colleg.1) Dabei wird dasselbe dann schon
1215 als consilium bezeichnet;*) 1216 werden ferner die XL
consiliarii ausdrücklich als Zeugen bei einem Grundstückkauf
genannt.*) Dies letztere Rechtsgeschäft beurkunden sie auch
als Universitas consilii4) et primatum civitatis und beglaubigen
es mit ihrem Siegel.
Die Macht dieser Stadtbehörde wuchs bald darauf noch
insofern, als Friedrich II. 1220, April 20, der Stadt ihre
früheren Privilegien bestätigte und dabei den angeblichen Frei-
heitsbrief von 1156 ausdrücklich in seine Urkunde aufnehmen
liess.5) Zu dieser Begünstigung der Bürger scheint er dadurch
bewogen zu sein, dass Bischof Heinrich, welcher 1217 auf
Lupoid gefolgt war, nicht so wie dieser in seiner Gunst stand.6)
Der damalige Zwiespalt zwischen König und Bischof veranlasste
auch Heinrich 1220, die Zustimmung des Rats zur Belehnung
König Friedrichs mit Wimpfen ausdrücklich einzuholen, als er
dadurch dessen Gunst wieder zn erringen suchte;1) so hatte
damals der Rat Anteil an der Regierung des bischöflichen
Territoriums. Aus eben diesem Jahre 1220 ist nun auch für die
Stadtbehörde, welche sich bis dahin nur als iudices , cives , consi-
lium, consiliarii bezeichnet findet, zuerst der Name consules
bezeugt.8)
Im Jahre 1220*) treten uns auch zum ersten Male Beamte ent-
gegen, welche sowohl den alten volksrechtlichen Grundlagen der
Wormser Verfassung, wie den aus der bischöflichen Verwaltung
der Stadt herrührenden Einrichtungen völlig fremd sind, die
magistri civium. Aus der Art ihrer Erwähnung:
*) g. U 120 and die in der folgenden Note erwähnte Urkunde.
*) Frey und Beinling, Urkb. d. Kl. Otterbnrg (1845) N. 15 S. 15, Zeugen,
Laici: Gernoduä, Gerliardus, Syfridus cum universo consilio Wormatienai.
*) U 120.
4) So ist für das von Boos gegebene concilii zu emendieron vgl. Schulte
in Giitting. gelehrte Anzeigen 1887 8. 926.
6) U 124.
*) cf. U 123: cum benevolenciam . . Fr. Bomanorum regis . .non haberet.
») U 123.
*) Die eben erwähnte Zustimmungsurkuude zur Belehnung mit Wimpfen
(U 123) beginnt : Hinisteriales consules cum universis in Wormacia civibus ....
Über die Herkunft des Conaulnameng s. unten S. 297 ff.
*) U 126 vom 23. August 1220.
18*
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276
datum Vormacie X kal. sept. sub magisterio Godofridi
de Moro et Gernerodi Longi
geht hervor, dass sie jährlich wechselten; zugleich zeigen diese
Worte auch, dass die Bürgermeister schwerlich damals erst
eingesetzt sind.1) Vielleicht sind auch sie während der Ver-
bannung Lupolds aufgekommen. Muss dies dahingestellt bleiben,
so kann doch nach den obigen Untersuchungen gerade diese
Zeit als die wichtigste Epoche der städtischen Verfassungsent-
wiekelung betrachtet werden; damals entstand aus einem, frei-
lich im Besitz erweiterter Competenzen befindlichen, Schöffencolleg
ein Bat. Nur war die ganze Entwicklung eine lange vorbereitete,
deren letzte Consequenzen wie z.B. der Consultitel auch erst in den
folgenden Jahren zu Tage traten. Jedenfalls kann in Worms von
einer kaiserlichen Einsetzung eines Rats oder eines Friedens-
gerichts, aus dem derselbe dann hervorgegangen, keine Rede sein.
Auch für Speier trifft die Theorie der Ratseinsetzung
durch kaiserlichen Freiheitsbrief nicht zu, obgleich sie gerade
in Bezug auf diese Stadt viele Vertreter gefunden hat.*) Die-
selben berufen sich auf das 1198 den Speierern von Philipp von
Schwaben*) gewährte Privileg. In dieser den Bürgern für ihr
Versprechen, ihn zu unterstützen, gewährten Urkunde sagt Philipp
nach Zusicherung einiger anderer Vergünstigungen folgendes:
Preterea secundum ordinationem H., felicis memorie
imperatoris augusti, civitati tarn auctoritate domini
regis quam nostra indulsimus, ut libertatem habeat XU
ex civibus suis eligendi, qui per iuramentum ad hoc
constringuntur, ut universitati prout melius possint et
sciant provideant, et eorum consilio civitas gubernetur.
Hier entsteht nun die Frage, welcher Kaiser Heinrich, ob der
V. oder VI., gemeint ist;4) dieselbe ist deshalb wichtig, weil
sie mit der Entstehungsart des Rats eng zusammenhängt.
Nimmt man, wie es Schaube gethan, an, dass hier Heinrich VI.
') Vgl. Arnold I S. 299, der auch in hohem Orade wahrscheinlich macht,
dam stets ein Bürgermeister ans dem Stande der Ministerialen , der andere
atu dem der Bnrgensen gewählt wurde.
*) s. oben S. 257 N. 1.
•) Sp. ü 22.
4) Die bisherige Litteratur über diese Frage bei Schanbe Speier S.
445, 446; hinzu znftigen sind noch Hegels Ausführungen in der Allgemeinen
Monatsschrift 1864 S. 180—182.
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277
gemeint ist, so folgt daraus, dass hier nicht von einer kaiser-
lichen Ratsbestätigung, sondern einer Ratseinsetzung die Rede
ist. Dann müsste wirklich, wie es Schaube behauptet, Hein-
rich VI. beschlossen haben, den Bürgern einen von ihnen zu
wählenden Rat zu gewähren, und nur an der Beurkundung dieses
Beschlusses durch seinen frühen Tod gehindert sein. Ist aber
in dem erwähnten H. Heinrich V. zu sehen , so ist zugleich an-
zunehmen, dass eine die Speierer Bürgerschaft vertretende
Behörde nicht erst am Ausgang des zwölften Jahrhunderts ge-
schaffen ist, während andrerseits auch der Nachweis des frü-
heren Bestehens dieser Behörde die Auffassung, dass in dem
Privileg Heinrich VI. gemeint ist, unmöglich macht.
Scharfsinnig hat nun Schaube1 * * *) nachgewiesen, dass den
der Urkunde selbst oder einer angeblichen Speierer Tradition
für die Beantwortung unserer Frage entlehnten Gründen kein
Beweiswert zukommt. Hiernach könnte sowohl Heinrich V.
als Heinrich VI. gemeint sein. Es liegt nun jedenfalls nahe,
zur Entscheidung der Streitfrage Charakter und Politik der
beiden gleichnamigen Kaiser mit in die Untersuchung zu ziehen.
Mit Heinrichs VI. Politik wäre eine solche Massregel
wie die erste officielle Anerkennung des Speierer Stadtrats —
und damit überhaupt die erste Anerkennung einer deutschen
bischöflichen Stadt als eines vom Territorialherren unabhängigen un-
mittelbaren Reichsgebiets — schlechterdings nicht zu vereinen.
Durch sein Streben nach Weltherrschaft war Heinrich VI. der
liebevollen Sorge für die inneren Angelegenheiten des Reichs
bekanntlich entfremdet. Im wesentlichen stützte er sich auf die
Macht der weltlichen und geistlichen Fürsten. Daher findet
sich auch zur Zeit Heinrich VI. nach dem Ausspruch seines
vorzüglichen Biographen Toeche*) kaum eine nennenswerte
Begünstigung der Städte durch die Reichsgewalt.5) Speciell
l) S. den in der vorigen N. citirten Aufsatz 8. 448, 449.
•) Heinrich VI. 8. 496.
*) Heinrichs VI. angebliche Urkunde für Worms ist, wie oben gezeigt,
eine Fälschung. Was Baron (Politik der Staufer gegenüber den deutschen
St&dten BresL 1876) 8. 15 — 18 und Emil Schneider (die deutschen Städte-
privilegien Friedrichs L und Heinrichs VI. Eisleben 1863) 8. 73 — 79 von
Begünstigungen der Städte durch Heinrich VI. anführen, besteht in Zoll-
befreiungen der Kaufleute einiger Königsstädte; ferner wird den Bischöfen
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mit dem zu seiner Zeit fungierenden Speierer Bischof, Otto von
Henneberg, ist Heinrich VI. immer in gutem Verhältnis gewesen;1)
gerade dieser Kaiser untersagt es den Speierer Bürgern, mit
Umgehung der bischöflichen Instanz das Hofgericht in Anspruch
zu nehmen.*) Wie anders war die Politik Heinrichs V. ! Von
ihm wissen wir, dass er Speier mächtig gefördert hat*) und
wie sein Vater sich vielfach der Hilfe der Bürger gegen ihre
Bischöfe bediente. Vor allem erinnere man sich, dass Heinrich
seit der Erhebung der bischöflichen Partei 1115 auf die Ver-
ordnung Paschalis II. zurückkam, welche ihm die Regalien der
geistlichen Fürsten zurückgab. Da er nach den Erfahrungen,
welche sein Vater mit der Absetzung von Geistlichen gemacht,
• es nicht wagte, die kirchliche Stellung von Bischöfen anzutasten,
so suchte er, um ihren Einfluss zu schwächen, ihnen das zu
nehmen, was sie vom Reiche erhalten hatten.4) Unter den von
den Bischöfen dem Reiche zurückzugebenden Regalien waren aber
in dem Concordat von 1111 auch die civitates und ebendiese
sogar noch vor den Grafschaften und Herzogtümern genannt
worden.5) Speciell betreffs Speiers lässt sich feststellen, dass von
dort 1120 der Bischof, der zu den Feinden Heinrichs hielt,
vertrieben und die Stadt in die Hand des Kaisers gekommen
war.*) Mussten da nicht Einrichtungen getroffen werden, welche
in den ihnen gewahrten Urkunden mitunter Befreiung ihrer Kanfletite von
Zöllen gewährt. „Dass den Bürgern von Constanz 1192 Sept. 24 Freiheit
von Besteuerung seitens des Bischofs oder Vogts zugesichert wurde,“ war nach
Toeche S. 496 und Baron S. 17 „weniger freundliches Entgegenkommen des
Kaisers als ein Akt der Gerechtigkeit , da das Privilegium der Stadt von
Alters her znkam und Heinrich sich zu demselben anch erst nach langen
Untersuchungen entschloss,“ vgl. auch Schneider a. a. 0. S. 76. Für Forde-
rung städtischer Verfassungsentwicklung findet sich auch unter den von
Baron gesammelten Urkunden kein Beispiel. Die Vorgänge in Bremen (vgl.
Toeche S. 121, 214, 385 ff., Sch n e id er S. 77), au welchem Orte der Kaiser
den Bürgern die Verwaltung der Einkünfte ihrer Stadt anvertraut hatte, sind
ganz singulär und aus der Feindschaft zwischen Heinrich und dem dortigen
Erzbischof zu erklären.
') Kernling, Gesch. der Bisch, zu Speier (Mainz 1852) S. 416.
*) U 19.
*) U 14, vgl. oben S. 222 ff.
4) vgl. Giescbrecht D. K. III 865.
») L. L. II p 69 Z. 23.
‘) Giesebrecht D. K. III 929, vgl. oben S. 237 mit N. 3.
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die Ruhe in der Stadt sicherten, und war es nicht, da die
Bürger kaiserlich gesinnt waren, die klügste Politik, ihnen eine
gewisse Autonomie zu gewähren, wie sie in der Erweiterung der
Funktionen des Schüffencollegs zum Ausdruck kam? Hat Heiu-
rieh V. 1112 den Wormser Schöffen, höchst wahrscheinlich ge-
zwungenermassen,1) die Bewachung ihrer Stadtmauern überlas-
sen,*) so liegt es nahe, dass er später dieselbe Berechtigung
auch den in seiner Gunst stehenden Speierem gewährte. So
spricht eiu Vergleich der Reichspolitik unter den beiden Kaisern
Heinrich entschieden dafür, dass Speier von Heinrich V. und
nicht von Heinrich VI. wesentliche Begünstigungen und die Aner-
kennung einer leitenden Stadtbehörde empfangen hat; es stellte
sich zugleich als wahrscheinlich heraus, dass diese Anerkennung
1120 oder 1121 stattfand.
Für diese Annahme kann auch eine, bisher noch nicht näher
besprochene, Stelle des Privilegs Heiurichs V. für Speier von
1111 August 14.s) angeführt werden, da aus derselben hervor-
geht, dass damals bereits einer die Bürgerschaft vertretenden Be-
hörde eine ihrer Competenzen vom Kaiser ausdrücklich be-
stätigt wurde. In dieser Urkunde heisst es nämlich:
Monetam quoque nulla potestas in levins aut in dete-
rius imminnat aliqua racione , nisi communi civium
consilio permutet.
Schaube will allerdings diese Stelle so verstehen, dass
eine Verschlechterung der Münze an die Billigung der gesumm-
ten Bürgerschaft geknüpft wird. Gerade aus dieser Stelle gehe
hervor, „dass es damals eine Vertretung der Bürgerschaft noch
nicht gegeben habe, sondern die gesammte freie Gemeinde
zur Beschlussfassung ihrer Angelegenheiten zusammentrat. “ 4)
Dabei sind aber nach Schaubes Meinung unter den cives hier
nur die altfreie Gemeinde, die meist Weinbau treibenden Grund-
besitzer und Grosskaufleute, zu verstehen.5) Es ist aber doch
höchst sonderbar anzunehmen, dass die „Weinbau treibenden
Grundbesitzer“ besonderes Interesse an den Münzverhältuissen
*) vgl. oben S. 227—289.
*) W-U 61 cf. oben S. 255.
*) U 14 vgl. oben S. 222 ff.
*) Speier S. 452, 458.
») a. a. 0. S. 458 N. 2.
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280
und Verständnis für dieselben gehabt haben sollen. Der Streit
zwischen Patriciat und Gemeinde war in Speier ein solcher
zwischen Münzerhansgenossen und Zünften.1) Die Münzerhaus-
genossen in Speier sind aber bis etwa 1259 bischöfliche Mini-
sterialen.*) Wenn noch 1223, nachdem schon die Notwendigkeit
der Zuziehung des städtischen Rats zur bischöflichen Stadt-
verwaltung reichsgesetzlich anerkannt war, die Zustimmung
der ministeriales bei einem die Interessen der Stadt berühren-
den Tausche ausdrücklich nachgesucht wird,*) so ist das wohl
am einfachsten so zu erklären, dass auch die Speierer Rats-
mitglieder, welche ausschliesslich oder überwiegend bischöfliche
Ministerialen waren, so bezeichnet wurden. Um so weniger
kann der Bischof früher gerade bei Beschlüssen über Münzver-
änderung an die Zustimmung einer altfreien Gemeinde, die
vorzugsweise Weinbau und Grosshandel getrieben, gebunden
gewesen sein. Vielmehr haben wir es in der angeführten Stelle
der Urkunde Heinrichs V. sicher mit einem die Bürgerschaft
vertretenden Ausschüsse zu thun; freilich lässt es sich nicht
feststellen, ob man bei Münzveränderungen an Stelle der ge-
sammten Bürgerschaft die Vorsteher der Kaufmannsgenossen-
schaft oder das damals schon vorwiegend aus Kaufleuten be-
stehende Schöffencolleg zuzog.
Zugleich mag auch eingeräumt werden, dass, könnte man
mit Hegel und Schaube in dem Privileg Philipps Heinrich VI.
gemeint finden, auch die Annahme berechtigt wäre, die Urkunde
Heinrichs V. bestimme nur, dass der Bischof überhaupt sach-
verständige Leute aus der Bürgerschaft, etwa auch nach eigener
Auswahl, bei Münzveränderungen zuziehe. Dieser Annahme
widersprechen aber die schon oben erwähnten allgemeinen
politischen Verhältnisse unter den beiden Kaisern; ferner ist
*) vgl. oben S. 66, 68, Earster in Ztschr. f. Oesch. d. Oberrbeins
Bd. 38 (1886) 8. 212 ff.
*) vgl. oben 8.71, Harster in Mitteil. d. hist. Vereins der Pfalz, Bd. X
(Speier 1882) 8. Bö. Gegen Hegels, in Chroniken d. D. Städte Bd. XIV S.
CCLX — CCLXVH gegebene Ausführungen , dass die Hausgenossen überall
nicht Ministerialen, sondern freie Bürger gewesen seien, vgl. auch Eheberg 8.
118—123.
*) U 34: per sentenciam requisitam a ministerialibus ecclesie . fuit
approbatum.
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die Existenz eines Schöffencollegs und einer Kaufmanns-
genossenschaft, welche die Bürger repräsentierten, auch für
Speier höchst wahrscheinlich.1) Ein anderer Grund gegen
die obige Annahme ergiebt sich aus dem Privileg Friedrichs I.
für Speier.*) Es ist in diesem Privileg sichtlich dasjenige
Heinrichs V.*) benutzt, das also doch so lange in der Obhut
einer städtischen Behörde gewesen ist. Doch will ich darauf
nicht Gewicht legen, da allenfalls auch die Inschrift am Dome
bei Abfassung dieses Privilegs benutzt sein mag. Heisst es
aber in dieser Urkunde Friedrichs L, die Rücksicht auf Er-
haltung des kaiserlichen Ansehens fordere, dass er die Privi-
legien seiner Vorgänger bestätige, so ist es ja bekannt, wie wenig
Glaubwürdigkeit derartige Arengen in Anspruch nehmen dürfen.
Sicherlich haben die Speieref ihre Urkunde nur auf ihr Gesuch
und sehr wahrscheinlich nur auf klingende Leistungen hin er-
halten. Derartige Gesuche setzen aber wiederum eine Stadt-
behörde voraus. Endlich ist die Thatsache von grosser Wich-
tigkeit, dass das Privileg Friedrichs I. im Original im Speierer
Stadtarchiv erhalten ist, während sich keine einzige für den
Bischof oder das Domcapitel ausgestellte Urkunde dort vorfindet.*)
Demnach hat also schon 1182 ein eigenes, vom bischöflichen
getrenntes, städtisches Archiv bestanden, und dieser Umstand
setzt sicherlich eine besondere Stadtbehörde voraus. Es kann
also nicht mehr davon die Rede sein, dass, wie Hegel®) meint,
der Speierer Rat erst von Heinrich VI. in einer uns verloren
gegangenen Urkunde eingesetzt sei. Ist auch die oben®) er-
wähnte Ansicht Schaubes, Heinrich VI. habe den Plan gehabt,
Speier mit einem Stadtrat zu beglücken, sei aber vor Ausführung
dieses Planes gestorben, zu verwerfen, so gilt dasselbe noch
*) vgl. oben S. 60 ff., S. 74.
*) U 18.
*) U 14.
4) Die ihnen von den Herrschern gegebenen Privilegien, sowie ihre
anderen Urkunden liegen uns teils im Original, teils im Copialbuch 862 im
General-Landesarchiv zu Karlsruhe (cf, Hilgard p X, XI) vor. Ersteres gilt von
D 6 — 10, D 5 (wenigstens dort gewesen), letzteres von U 1 — 4, 11 — 18, 15,
19—21, 32—35, 48, 49 etc. Dagegen sind im Speierer Stadtarchiv U 18,
23, 25, 47, 51, 53 etc., lanter für den Stadtrat bestimmte Urkunden.
*) Gesch. d. itaL Stdtv. II 431, 432 mit N. 1.
•) S. 277.
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ganz besonders von der Behauptung Schaubes,1) „dass sich das
Wünschenswerte einer bestimmten Vertretung der Stadtgemeinde
nach dem Aufschwünge, den die Städte seit den Staufern ge-
nommen, bei den Bürgern herausgestellt, und sie Heinrich VI.
angegangen haben werden, ihnen die Wahl solcher Vertreter zu ge-
statten.“ Die Bürgerschaft Speiers besass eben schon lange
vorher eine sie vertretende Behörde, welche kaiserliche Privi-
legien empfangen hatte und bewahrte; die erste kaiserliche
Anerkennung dieser Behörde wurde zur Zeit Philipps von
Schwaben — aller Wahrscheinlichkeit nach ganz richtig —
auf Heinrich V. zurückgeführt. Aus den früheren allgemeinen
Erwägungen, namentlich auch daraus, dass der spätere Rat
auch die Gerichtsbarkeit übte, geht nun hervor, dass wir in
dem in Philipps Freiheitsbrief erwähnten Oolleg von 12 auf das
Wohl der Stadt vereideten Personen das Schöffencolleg zu sehen
haben. Philipp gewährte den Bürgern das Recht, dass dies
Colleg von ihnen gewählt und ihre Stadt durch diese Ratsbehörde
regiert werden sollte. Diese Stadtbehörde schliesst nun ca.
1207 mit der Wormser einen Vertrag über gegenseitige Zoll-
erhebung; 1208 werden von beiden darüber Urkunden ausgestellt,
welche durch die Stadtsiegel bekräftigt sind.*) Als 1224 offen-
bar dieselbe Speierer Stadtbehörde mit dem in Speier selbst
gelegenen Germanusstifte einen Zollvertrag abschloss, wurde sie
hierbei mit dem an dieser Stelle zuerst für Speier benutzten
Namen consiliarii bezeichnet;5) 1228 erscheint dann für diese
Behörde auch der Name consules.*)
Später als für unsere beiden anderen mittelrhcinischen
Städte, nämlich erst 1244, ist für Mainz die freie Wählbarkeit
des Rats urkundlich gesichert worden;5) ferner ist diese Stadt
‘) S. 451.
*) Sp. I' 23, cf. W-U 111. Fälschlich giebt Hilgard der Urk. das Datum
c. 1207, während dort von Philipp schon als „beatc memorie regis“ gesprochen
wird. Andererseits folgt aus der Bemerkung, der der Urknnde zn Grunde
liegende Vertrag sei in Philipps Gegenwart geschlossen, dass dieser Vertrag
vor dem 21. Juni 1208 stattfand.
•) ü 36.
4) Eubel, Gesch. d. oberdeutschen Minoriten-Provinz (WUrzburg 1886).
S. 200 N. 41. — Die erste Erwähnung der magistri burgensium in den uns
erhaltenen Speierer Urkunden fällt ins Jahr 1239 (U 61).
*) B-W XXXIII 504.
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283
auch weit später als Worms und Speier, nämlich erst 1236,
in den Besitz kaiserlicher Privilegien gekommen.1) Diese Er-
scheinungen häugen sicher mit dem grossen Einflüsse des Mainzer
Erzbischofs auf alle Reichsangelegenheiten zusammen, indem sich
die Reichsgewalt gegen ihn weniger als den schwächeren Prä-
laten von Worms und Speier gegenüber auf die städtischen
Bürgerschaften stützen konnte. Zum Teil ist diese spätere
Entwicklung von Mainz auch aus dem unglücklichen Ausgange
seines Aufstandes gegen die erzbischöfliche Regierung von
1158 — 1160 zu erklären, da dieser entschieden eine zeitweilige
Zurückdrängung der wirtschaftlichen und politischen Entwicklung
der Stadt zur Folge hatte. Der Zusammenhang dieser Unruhen,
die desshalb hier nicht völlig übergangen werden können, mit
der Mainzer städtischen Verfassungsentwicklung hat nun sehr
verschiedene Beurteilung erfahren. So betrachtet z. B. Arnold*)
die Absicht der Mainzer, den Rat zu einer unabhängigen städ-
tischen Obrigkeit zu machen, als Ursache des Aufstands ; ähnlich
sieht Gier ke1) in diesem Aufstande „den ersten Versuch, den
Rat gegen den Erzbischof durchzusetzen.“ Lässt ferner
Nitzsch*) die Erbitterung gegen (len Erzbischof namentlich
aus dessen hofrechtlichen Forderungen entspringen, so zeigt
sich auch die ganze Darstellung der Unruhen bei Wegele*)
von dem Gedanken durchdrungen, dass die Bürger sich keine
Vermindrung ihrer Rechte gefallen lassen wollen, eine starke
Partei unter ihnen aber nach Vermehrung derselben strebte.
Diesen Ansichten gegenüber suchten Nohlmanns*) und Bau Ja-
bach,1) deren Resultaten sich Will8) anschloss, die Meinung
zu erweisen, dass die Empörung gegen Arnold „durchaus nicht
als Freiheitskampf der Städter“ betrachtet werden könne.
Während dieselbe Anschauung jetzt auch von Hegel*) ver-
*) B-F 2182, Hnillard IV 892. .
*) V. G. I S. 367.
s) I S. 276 N. 73.
4) Deutsche Gesch. II 270, 271.
*) Arnold von Selenhofen, Erzb, von Mainz (Jena 185ö) passim , vgl.
namentl. S. 2, 10, 15.
*) Vita Arnoldi de Selenhofen (Bonn 1871), bes. p 6 und 42.
*) Arnold von Selehofen (Berlin 1871) bes. S. 43, 66, 96, 96 etc.
'*) B-W Bd. I Einl. S. LXXVIl nnd LXXVIII.
•) Mainz S 41.
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treten wird, hat es neuerdings wieder Giesebrecht1) als
Plan der Mainzer hingestellt, sich vom Erzbischof unabhängig
zu machen. So mag denn im folgenden, ohne dass eine ins
einzelne eingehende Schilderung des Aufstandes selbst gegeben
wird, doch eine kurze Untersuchung des Verhältnisses desselben
zur städtischen Verfassungsentwicklung versucht werden.
Zunächst kann nach den Untersuchungen Baumbachs*)
von einer Beteiligung der Bürgerschaft an den Unruhen des
Jahres 1155 keine Rede mehr sein. Diese waren vielmehr
dadurch hervorgerufen, dass Erzbischof Arnold ins Eigentum
seiner Vasallen, insbesondere des Pfalzgrafen bei Rhein, ge-
langtes Kirchengut zurückforderte; den Vasallen schloss sich
im Kampfe gegen Arnold nur das zu den Ministerialen des
Erzstifts gehörige Geschlecht der Meingote an, das seit alter
Zeit mit Arnolds Sippe verfeindet war.*) Mittelbar gab frei-
lich dieser Kampf auch zu grosser Erbitterung der Stadtbevöl-
kerung gegen Arnold Anlass; denn gerade durch diesen Streit,
in welchem der Erzbischof zuletzt unterlag, wurden die erz-
stiftischen Finanzen völlig zerrüttet.4) Die Folge davon war
aber, dass Arnold, als Kaiser Friedrich I. seine Beteili-
gung an dem Romzug von 1158 forderte, sich gezwun-
gen sah, von den Mainzern eine Beisteuer zur Heerfahrt zu
erheben.4)
Nun wurde aber damals volle Steuerfreiheit als Recht der
Mainzer angesehen;*) man leitete dasselbe aus der früher be-
sprochenen dunkelen Stelle der Urkunde Adalberts I. für die
l) D. G. V S. 362-373 bes. S. 372.
*) S. 37—44. Hegel Mainz 8. 38 berichtet allerdings anch von , wildem
Strassenkampf der beiden Faktionen* im Jahr 1156. Diese Ansicht setzt
aber voraus, dass man das gewöhnlich dem Erzbischof Christian zugesebriebene
Chronicon Moguntintun für die Zeit Arnolds als Geschichtsqnelle benutzt,
was mir nach den Erörterungen Baumbachs 8. 10 und Dittmar's de
fontibus historiae Frider. I nonnullis Regimonti 1864 p 33 (vgl. auch Will in
Ztschr. d. Görres-Ges. II 8. 352 ff.) als unrichtig erscheint.
*) Jaffi, Mon. Mog. 614 und 616 cf. Bau mb ach S. 38—40.
*) cf. Baumbach S. 50, 51.
») B-W XXIX 67.
*) Der Beweis folgt unten im Texte,
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285
Stadt ab.1) So wurde denn die Steuer von den Mainzern unter
Berufung auf den genannten Freiheitsbrief verweigert.
Wenn es auch bei dem Biographen Arnolds nicht deutlich
hervortritt, so befanden sich doch die Steuerverweigerer un-
zweifelhaft im Recht.*) Dies kann gerade daraus geschlossen
werden, dass Arnold, so nützlich eine Heranziehung der Steuer-
kraft seiner Residenz für die erzstiftischen Finanzen gewesen
wäre, diesen Versuch erst in letzter Stunde, als alle übrigen
Hilfsquellen versagten, unternahm. Ferner spricht die Art,
wie er selbst nach der Darstellung seines Biographen die Ein-
willigung der Bürgerschaft zu der Steuer nachsuchte, ent-
schieden dafür, dass er ein sicheres Recht zur Erhebung nicht
besass.*)
Als entscheidend ist endlich zu betrachten, dass 1147 in
einer von dem damaligen Erzbischof Heinrich I. ausgestellten
Urkunde es als feststehend betrachtet wird, dass von den
Mainzer Bürgern weder Zins noch Bede gefordert werden
dürfe.4) Demnach waren also die Mainzer, als Arnold die
Heersteuer verlangte, durchaus im Rechte, als sie gegen
diese Forderung einwandten, dass sie zu keinerlei Abgaben
verpflichtet seien, und sich dafür auf das Privileg Adal-
berts von 1118 beriefen.6) In der That hatte sich jener
') s. oben S. 236 mit N. 1.
*) A. M. Banmbach 8. 56, 67. Sein Ein wand, dass das Privileg
Adalberts hier nicht in Betracht kommen durfte, da es nicht von den Kaisern
bestätigt war, trifft desshalb nicht tu, weil die Forderung ja zunächst vom
Eribischof ausging. Die Bürger konnten verlangen , dass der Enbischof
seinen ßeichspflichten wie bisher, ohne sie selbst in Anspruch in nehmen,
nftp.hkft.m-
*) Vita Arnoldi (Jafffe Mon. Mag. p 626): proponena eis, qnod — cum fre-
quentisaime pro honore ecclesie et totius civitatis magnis laborasset impendiis,
sive in imperiali sive in apostolica curia, sive contra hostes ecclesie — nihil
exegiseet ab eis, vgL Baumbach S. 49 — 62.
4) B-W XXVIII 79, Spiess Aufklärungen in d. Gasch, u. Diplom.
(Bayreuth 1791) p 222: ut deinceps . . . sicut cives eiusdem civitatis
computarentur etdecenau sive alia qualivis exactione nullam omnl-
modo molestiam a qnovis sustinerent.
*) Vita Arnoldi ibid. : aiebat — forte ex privilegio per Albertnm civibus
concesso, quod allegavit, — ipso* de iure nihil debere, nihil domno episcopo
ex iustitia debere.
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286
Rechtssatz aus dieser Urkunde, ohne ursprünglich darin aus-
gesprochen zu sein,*) entwickelt.
Als Arnold seine Forderung verweigert sah, musste er mit
seinen Truppen, ohne die Beisteuer der Städter erhalten zu
haben, ins Feld rücken ; an ein rechtliches Vorgehen gegen die
Steuerverweigerer — etwa, soweit sie auch erzstiftische Va-
sallen waren, im Lehnsgericht — war der üblichen langen
Gerichtsfristen wegen nicht mehr zu denken. Am kaiserlichen
Hofgericht holte nun Arnold über seinen Fall eiu Gutachten
ein. Dasselbe bestimmte, dass die Lehnsleute bei Strafe des
Lehnsverlustes den verlangten Beitrag zahlen und ausserdem
zur Strafe der dem Lehnsherren bezeigten Missachtung die Bann-
busse erlegen sollten.’)
Während Arnolds Abwesenheit war ihm aber seine Herr-
schaft über Mainz vollständig entzogen worden.8) Propst Bur-
chard von Jechaburg aus dem Arnold feindlichen Geschleckte
der Meingote hatte mit seiner Sippe die Gewalt in der Stadt
an sich gezogen. Arnold selbst hatte diesem Geistlichen und
seinen beiden Neffen, ehe er nach Italien zog, seine Vertretung
in der Stadt übertragen, da er sie alle für völlig ausgesülmt
hielt. Doch bald erfuhr er, wie sehr er sich getäuscht hatte.
Von den, seit dem missglückten Steuererhebungsversuch aufs
heftigste gegen Arnold erbitterten, Bürgern liess sich Burchard
selbst zum Erzbischof erheben. Von ihm und seinen Anhän-
gern wurden dann die Beamtungen (officiatus) neu vergeben,
die Rechtseinrichtungen geändert, und die angeseheneren Bür-
ger gegen Arnold bewaffnet. Nur mit Gewalt gelang es daher
dem heimkehrenden Erzbischof, sich den Weg in seine Residenz
zu erschlossen ;8) darauf verliessen die Häupter der ihm feind-
lichen Partei, teils freiwillig, teils gezwungen, Mainz und be-
gaben sich an den kaiserlichen Hof, um sich über Arnold zu
beklagen.4) Sie erlangten jedoch nur kaiserliche Entschuldi-
gungsbriefe, welche den Erzbischof veranlassten , seine Gegner
auf das Versprechen angemessener Bussleistung hin wieder in
') vgl. oben S. 236 N. 1.
’) Vita Arnoldi (a. a. 0. p 628).
*) vgl. B-W XXIX 35 und 75.
*) ibid. 79.
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287
Mainz zu dulden. Über die Höhe derselben konnte aber keine
Einigung erzielt werden.1) Als Arnold darauf versuchte, durch
die Mainzer Diöcesansynode mit kirchlichen Strafen gegen seine
Feinde vorzugehen, erhob sich die, inzwischen ganz von ihnen
gewonnene, städtische Bevölkerung gegen den Erzbischof; je-
doch wurden die ungeordneten Schaaren mit geringer
Mühe von dessen Gefolge zurückgeschlagen.2) Sobald
Arnold aber einer verabredeten Zusammenkunft mit dem Bi-
schof von Würzburg halber die Stadt verlassen hatte, bemäch-
tigten sich seine Gegner der Herrschaft aufs neue. Wilde
Volkshaufen plünderten den Dom, den Palast des Erzbischofs
und die Häuser der ihm ergebenen Geistlichen. Die Thore
der Stadt wurden geschlossen, um Arnold an der Heimkehr zu
hindern.*)
Dieser begab sich darauf an den kaiserlichen Hof, um
über seine Gegner Klage zu führen;4) gleichzeitig kamen auch
einige von diesen an den Hof, um sich ihrerseits über den Erz-
bischof zu beschweren. Unter dem Einfluss der für Arnold eintreten-
den Fürsten entschied Friedrich vollständig zu seinen Gunsten . Die
Mainzer sollten ihm die Herrschaft über ihre Stadt zurttckgeben, wie
sie ihm im Sommer 1158 zugestanden; ausserdem sollten sie ihm
Schadenersatz und Sühne leisten.5) Letztere wurde dann auf
der Synode zu Pavia (Febr. 1160) noch genauer für die ver-
schiedenen Stände festgesetzt.*) Die Geistlichen sollten von
St. Alban bis St. Peter die Harmschar 7) tragen ; dieselbe Strafe
traf die Vorsteher der Bürgerschaft, welche ausserdem für den
dem Erzbischof zugefügten materiellen Schaden Ersatz leisten
und ganz besonders auch seinen Palast wieder aufbauen sollten.
Die Lehnsträger endlich sollten sich eidlich verpflichten, Stadt
und Erzbistum so lange zu meiden, bis es ihnen gelungen sei,
l) Vita Amoldi (a. a. 0. p 631).
*) B.-W. XXIX 83.
•) ibiil. 85.
4) ibid. 86.
‘) ibid. 88, 89.
•) ibid. 94.
') Unter harmschara wird nach Grimm R. A. 8. 681 zunächst alles,
was zur Qual von der Obrigkeit auferlegt wird , also zunächst jede Strafe
verstanden, daun specialisiert sich der Begriff auf die Strafe der schimpf-
lieben l'roeesaion mit Huud- oder Satteitragen, cf. Grimm R. A. 8. 7 13 ff.
und Vita Amoldi (Jafffe Mon. Hog. 615).
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288
Freisprechung im Lehnsgericht oder Begnadigung durch den
Erzbischof zu erreichen.
Dies wurde als kaiserliche Verordnung den Mainzern ver-
kündet.1) Die erzbischöflichen Lehnsleute, welche an der Ver-
schwörung Anteil hatten, leisteten den verlangten Eid, blieben
aber dennoch in Mainz oder begaben sich bald wieder dorthin
zurück. Von neuem wurden die Bürger gegen Arnold aufge-
stachelt und die Stadt verbarrikadiert.*) Hierauf entschloss
sich nun Arnold, mit Hilfe der ihm treu gebliebenen Vasallen
und befreundeter Fürsten , besonders Heinrichs des Löwen,
seine Gegner zu vernichten.*) Diese erklärten sich, hierdurch
erschreckt, scheinbar zur Unterwerfung bereit und lockten so
den Erzbischof in das nahe der Stadt gelegene Jacobskloster.
Dasselbe wurde dann während der Unterhandlungen erstürmt
und Arnold grausam ermordet.4)
Hegel5) meint, es sei besonders auffallend, dass von den
Stadtbeamten nirgends die Rede sei, „als ob eine geordnete
Stadtregierung garnicht existiert“ habe. In der That lässt
sich nur constatieren , dass von erzbischöflichen Beamten der
Schultheiss Hermann und dessen Bruder der Vitztum Helfrich
auf Seite Arnolds standen, da sie noch in dessen letzten, kurz
vor seinem Tode ausgestellten, Urkunden als Zeugen begegnen.*)
Im übrigen wird man in der oben7) erwähnten Änderung der
Beamten (offlciati) und Rechtssatzungen (iustitiae) durch die
*) Vita Arnoldi (ibid. 644): Hec .... privilegio üuperiali confirmau
ac per nuncios imperiales .... Maguntinis constat esse delata.
*) B-W XXIX 100.
*) ihid. 102.
‘) ihid. 104, 110.
*) Mainz S. 41.
•) B-W 106—107. Helfrich war auch von Arnold nach Mainz geschickt,
um für ihn mit den Aufständischen zu unterhandeln (B-W 104). Übrigens
waren Helfrich und Hermann nach B-W XXVIII 79 Söhne des Ernst von
Seihofen. Sie scheinen beide von Arnold selbst ihr Amt erhalten zu haben,
da nnter Arnoldi Vorgänger als Schultheiss Hertwich und als Vitztum Mein-
got begegnet (B-W XXVIH 157—160). Ob Helfrich und Hermann mit Arnold
verwandt waren, wofür ihre gemeinsame Bezeichnung de Seihofen sprechen
könnte, muss dahingestellt bleiben (vgl. oben S. 95 N. 6). Übrigens war der
Mainzer Vitztum nicht Stadtbeamter, sondern Verwalter erzbischöflicher Be-
sitzungen ausserhalb der Hauptstadt, vgl. Hegel Mainz S. 31.
>) S. 286.
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289
Gegner Arnolds wohl insbesondere eine Absetzung der erz-
bischöflich gesinnten Stadtbeamten und eine Erweiterung der
städtischen Freiheiten zu sehen haben; werden doch in Mainz
die Mitglieder der Stadtbehörde vielfach kurzweg als Beamte
(officiati) bezeichnet.1) Beamter (officiatus) wird auch gerade
Reginbodo de Pinguia in einer späteren Urkunde genannt,*)
der in der Vita Arnoldi*) als einer derjenigen Lehnsleute er-
wähnt wird, welche gegen ihren Eid in Mainz blieben. Die
mehrfach erwähnte Beteiligung der Bürgerschaft an dem Auf-
stande setzt ein lebhaftes Interesse derselben an dessen Gelin-
gen voraus;4) Arnolds Feinde stellen ihnen entschieden die
städtische Freiheit als durch den Erzbischof bedroht vor.5) In-
sofern hatten sie jedenfalls nicht Unrecht, als die Wiederher-
stellung aller im Laufe der Zeit geminderten erzbischöflichen
Rechte sicher auch der städtischen Autonomie gefährlich ge-
worden wäre. Selbst Arnolds Biograph, der sonst dessen
Sanftmut nicht genug zu rühmen vermag, berichtet, dass der
Erzbischofschon vor seiner Wahl öfters geäussert habe, dass, wer
über die Mainzer herrsche, „gleichsam eine Tyrannis ausüben
müsse.“*) Die häufigen Gesandtschaften der Gegner Arnolds
an den Kaiser sind wohl nur dadurch zu erklären, dass sie
wirklich annahmen, dieser sei der Erlangung einer grösseren
Autonomie der Stadt vom Erzbistum günstig gesinnt;1) der
ganze Streit entbrennt auch über die Auslegung eines speciell
nur den Einwohnern von Mainz verliehenen Privilegs. So lässt
sich denn der Ansicht derjenigen, welche den Aufstand gegen
Arnold in engen Zusammenhang mit den Freiheitsbestre-
bungen der Mainzer bringen wollen, alle Berechtigung nicht
*) i. unten 8. 291 ff.
*) Joannis II 707: Dudo camerarius, Regio botho de Pinguia officiati.
*) p. 646.
4) cf. auch annal. Diaib. (Boehmer fontea III p. 214 u. 8 8 XVII 29):
Quidam ex clero .... omneaqne aimul urbani, maiores cum mino-
ribua, epiacopum auum Amoldum nimia exoaum coeperunt habere.
*) Vita Arnoldi (Jaff6 Mon. Mog. p. 646) : ipsum eaae aevum hoatem loci,
destructorem, predonem, exactorem . . . totiusque civitatis mortificatorem.
•) ibid. p. 611: Popuius enim hic meua .... nec domari potest aut
ad viam rectitudinia duci , nisi aculeo flagellia scorpionibuaque cedatur
Moguntinum enim oportet quasi tyrannidem exeroere.
’) wie es etwa die Salier gewesen wären.
Koahna, Ursprung dar Sudtvarfaaaung in Worin*. Spaiar und Mainz. 18
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290
absprechen, wenn auch gerade unsere einzige ausführliche
Quelle in der Hauptsache nur den alten Hass zweier
rivalisierender Ministerialenfamilien als Grund des Aufstandes
ansieht.
Unzweifelhaft wirkte auch die Ermordung Arnolds dadurch
bedeutend auf den Wohlstand der Stadt ein, dass viele ange-
sehenen Bürger mit ihren Familien Mainz aus Furcht vor dem
kaiserlichen Strafgerichte verbessern *) Von den Entscheidungen
desselben war für die Stadt wichtig, dass ihre Mauern und
Häuser zum Teil zerstört*) und die Bürgerschaft ihrer Privi-
legien für verlustig erklärt wurde.*)
Welche Wirkungen die Bestrafung des Aufstandes etwa
noch auf die Rechte der Bürgerbehörde im einzelnen gehabt
hat, ist nicht zu erkennen.
Was nun die Herkunft dieser Behörde betrifft, so ist sie
bis jetzt noch nicht näher untersucht worden. Arnold4) hält
l) Annal. Egraund. (S. S. XVI p. 462).
*) B-W XXX 19 vgl. Hegel Mainz S. 42 N. 4, der nachweist, dass trotz
entgegenstehender Berichte einzelner Quellen doch nur ein Teil der Mainzer
Befestigungen geschleift wurde. Dass der Kaiser auch einen Teil der Häuser
zerstörte , geht aus den von B-W a. a. 0. angeführten Stellen der annal.
Magdeb. u. Egmnndani sowie aus einem Briefe hervor, den ca. 1196 Guibert von
Gembloux an Erzb. Konrad I. von Mainz richtete (B-W XXX 363, Guden
Cod V p. 1104). Hier heisst es nämlich: Miserabilem urbis destructionem,
quae in ultione Domini Arnoldi . . . imperialis Curie iudicio facta fuerat . . ;
cf. auch ibid. p. 1105: quociens . . . Mogunciam mittebar, videns civitatem
dirutam . . ingemiscebam.
*) Dass die Mainzer damals ihre Privilegien verloren, berichtet aller-
dings nur Christiani Chron. Magunt. (Jaffft Mon. Mog. p. 692; über diese
Quelle vgl oben S. 284 Note 2). Jedoch ist, wie schon Arnold V. G. I S. 368
bemerkte, „an der Fassung des Privilegs“, welches Friedrich II. den Mainzern
1236 erteilte (B-F 2182), zu erkennen, „dass es mit der Kassation der Privi-
legien durch Friedrich I. Emst war“ : Friedrich II. erteilte den Mainzern
dasjenige neu, 'was ihnen schon Adalbert I. verliehen. Ausserdem bemerken
die annal. ßatisb. (S. S. XVII 588), Mainz habe damals das Stadtrecht ver-
loren, womit wohl entschieden die Entziehung der Privilegien gemeint ist.
Nur durch die Aufhebung des Privilegs Adalberts ist es auch erklärlich, dass
später Erzbischof Konrad von Mainz sagt, dass er secundum consuetudinem
omnium episcoporam et aliorum principum terrae von allen Einwohnern seiner
Diöcese Beden erhebe (B-W XXX 98), vgl. G. Scholz, De Conradi archiep.
Mag. principatn territoriali (Diesen. Bonon. 1871) p. 19 — 22.
*) V. G. I S. 368, 369.
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291
die erzbischöflichen Richter (oföciati) f ilr eine besondere neben dem
Rat bestehende Behörde; letzterer habe „selbständige Rechte nur
so weit geltend machen“ dürfen, „als der Erzbischof zu gestatten
für gut fand,“ „trete aber erst seit dem Jahre 1244 mit unter
den Obrigkeiten der Stadt auf.“ Hegel1) lässt den Rat über-
haupt erst in diesem Jahre entstehen. Doch „fehlte“ es nach
seinen Erörterungen „der Stadt Mainz schon vorher nicht an
einem eigenen Organe der Gemeindeverwaltung, wiewohl dieses
allein aus den vom Erzbischof ernannten Richtern und Amts-
leuten bestanden und darum auch noch nicht Rat der Stadt
(consilium civitatis)“ geheissen habe. Diese Gemeindebehörde
nun seien die rectores et offlciati, deren Zustimmung 1099 in der
Urkunde Erzbischof Ruthards8) für die Weberzunft erwähnt
wird. Die Rektoren seien Kämmerer und Schultheiss, die
Officiaten die „Amtleute des Erzbischofs für die Stadtverwaltung,
welche jenen in einem Kollegium zur Seite standen und später
dem selbstgewählten Rat der Bürger Platz machten.“*)
In seiner Besprechung von Hegels Mainzer Verfassungs-
geschichte hat nun Hoeniger4) die Meinung ausgesprochen,
Hegels Ansicht nähere sich sehr wesentlich „dem von Heus-
ler vertretenen Standpunkt,“ also der Herleitung des Rates
aus dem Schölfencolleg. Hoeniger stellt denn auch, Hegels
Forschungen gewissermassen resümierend, diese Mainzer Offlci-
aten mit dem Kölner Schöffensenat in Parallele. Die Beweise
für diese auf den ersten Blick doch befremdende Anschauung
sind bis jetzt freilich noch nicht gebracht.
Zunächst mag nun der Gedanke als unrichtig abgewiesen
werden, dass der Name Ratsleute (consiliarii) erst von dem
Jahre (1244) an vorkomme, in welchem den Bürgern die freie
Ratswahl urkundlich gesichert ist. In einer 1219 ausgestellten
Urkunde Erzbischof Sigfrieds*) erscheinen nämlich unter den
Laienzeugen nach den Vasallen und dem Kämmerer als beson-
dere Gruppe offlciati 7 Personen namentlich aufgeführt, denen aus-
*) Mainz 8. 36.
*) «. oben 8. 100.
*) Hegel, Mainz 8. 34.
*) Westdeutsche ZtschrfL in 8. 60.
*) B-W XXXII 326 Baur, Hess. Urk. II N. 44 p. 54 : Offlciati : Amoldus
de queren, Amoldus Waltbodo, Bertoldns monetarius, Oodescalcus advocatus,
Bodnlphus, Bertoldns in marcstraza, Gebeno et ceteri consiliarii moguntini.
ir
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292
drücklich ceteri consiliarii moguntini folgen. Daraus ergiebt
sich, dass der Rat nicht erst 1244 geschaffen ist;1) ferner
lässt sich aber anch aus dieser Zeugenliste schliessen, dass die
Mainzer consiliarii damals zu den officiati gerechnet wurden
oder mit ihnen identisch waren. Die Bedeutung von ofißcialis
oder officiatus in Mainz ist schon von Hegel’) ausführlich be-
sprochen worden. Derselbe wies nach, dass dies sonst, gleich
dem deutschen „Amtmann oder Beamter“ in allgemeiner und
verschiedenen speeiellen Bedeutungen vorkommende, Wort offi-
cialis oder officiatus *) in Mainz vorzugsweise die Mitglieder der
Stadtbehörde bezeichnet. Richtig hat Hegel auch schon die „rec-
tores, officiati et omnes burgenses“ , welche in dem Privileg Erz-
bischof Ruthards für die Weberzunft zu den erzbischöflichen
Massnahmen ihre Zustimmung erteilen,4) mit den im Schreiben
der Mainzer an Heinrich IV. (1105) als Absender genannten
*) Bockenheimer Beiträge S. 12 mit N. 3 behauptet freilich, gegen v.
M aurer I S. 208 polemisierend, dass hier consiliarii nicht den Stadtrat, sondern
einen aus „Stiftsgeistlichkeit“ und erzbischöflichen „Dienern“ bestehenden Terri-
torialrat bezeichne. Indess erledigt sich sein gegen die, oben im Texte vertretene,
Ansicht erhobener Einwand, der Stadtrat könne mit einem Qütertausche
zwischen dem Erzbischof und dem Kloster Eberbach nichts zu thun haben,
durch die Thatsache, dass die Bischöfe vor der Erlangung völliger Selb-
ständigkeit ihrer Städte die Ratsbehörde derselben auch sonst bei Ver-
äusserung von Kirchengut befragen (vgl. z. B. oben S. 73 u. S. 275 mit N. 6). Ferner
ist consiliarii in der Bedeutung von Teilnehmern des bischöflichen Territorial-
rats — wenigstens am Hittelrhein — sonst nicht bezeugt. Dagegen sind
die Ausdrücke Consilium und consiliarii för Rat und Räte der Stadt Worms
schon in den Jahren 1215 und 1216, för solche von Speier 1198 und 1224
nachzuweisen (vgl. oben S. 275, 276, 282). In derselben Bedeutung findet sich
consilium för Strassburg 1214 (Strasab. Urkb. I N. 160 p. 127), für Basel 1218
(L. L. II p. 230). Es kann demnach als gewiss angenommen werden , dass
consiliarii hier die Mitglieder der städtischen Ratsbehörde bezeichnet Dies
wird noch dadurch bestätigt, dass auch vor 1244, nämlich 1232, der Mainzer
Erzbischof sich eine besondere Ausfertigung der, gegen die städtischen Bau-
behörden gerichteten , Beschlüsse des Reichstages von Ravenna geben liess
(B-F 1917).
’) Mainz S. 32 ff.
*) Nach Lamprecht D. W. I 8. 1374 N. 2 „gehen“ diese Formen so-
wie der — in Mainz nicht nachweisbare — Ausdruck officiarius „lange
durcheinander“, bis offlcialis dann speciell auf den Richter der geistlichen
Kurie bezogen wird.
‘) B-W XXIV 27, Joannia II 618, vgl. oben 291 mit N. 2.
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293
„F. camerarius, A. centurio cum universis ministris ac civibus“ ‘)
identificiert. „Wenn die Urkunde von 1099 beweist, dass die
Rectoren und Officialen die Stadtverwaltung mit einer gewissen
Autonomie führten, da ihre Zustimmung zu dem Privilegium
des Erzbischofs eingeholt wurde, so zeigt der Brief derselben
an den Kaiser, dass sie sich unter Umständen auch der erz-
bischöflichen Herrschaft offen widersetzten, obwohl sie sämmt-
lich Amtsleute und Diener des Erzbischofs waren.“ *) Hegel*)
selbst hat nun auch schon dies Bürgercolleg der Offici-
ateu mit den, sich schlechtweg cives nennenden, Ausstellern
einer Urkunde von ca. 1150 4) für identisch erklärt, „welche
eine Handlung freiwilliger Gerichtsbarkeit mit Rechtskraft
vollzogen“ und die Beurkundung derselben mit dem Stadtsiegel
beglaubigten. Das hier cives genannte Colleg ist aber das-
selbe wie die einen Tausch bekräftigenden und mit dem Stadt-
siegel beglaubigenden Aussteller einer Urkunde von 1209, *)
welche darin folgendermassen bezeichnet werden:
Arnoldus camerarius, Dietherus scultetus cum universis
iudicibus Maguntinis.
Danach stehen hier nun auch an der Spitze der iudices
wie der der officiati der Weberurkunde und der der ministri
von 1105 Kämmerer und Schultheiss. Ein Beweis mehr, dass
die Identification von officiati, ministri, cives, iudices in den
herangezogenen Urkunden richtig ist.
Hat sich nun schon früher*) gezeigt, dass die iudices in
der Urkunde von 1209 und ähnlichen die Schöffen sind, so wird
man in den Namen officiati oder officiales nur eine besondere
in Mainz übliche Bezeichnung der Schöffen erkennen. Lässt
sich eine ähnliche Benennung der Schöffen auch in Worms und
Speier nicht nachweisen, so bietet sie doch nichts für das
*) Jaflfc BibL V p. 234, vgl. oben 8. 218.
*) Hegel, Mainz 8. 34, 36.
*) ibid. 8. 35.
4) Stampf Acta Mag. N. 60 p. 54, cf. oben S. 247.
•) Banr Heg«. Urk. 1 N. 8 p. 9, cf. anch Kossel Urkb. der Abtei Eber-
bach (Wieab. 1862) I 8. 197 N. 97 a 1216: Cunrados, maior praepositus
et camerarius, Dytheras gcolthetus, iudices et universi cives beurkunden
ein Rechtsgeschäft und beglaubigen es mit ihrem Siegel.
•) oben S. 247 -253.
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fränkische Rechts- und Sprachgebiet auffallendes. Auch in
einer lothringischen Urkunde1) wird der Schöffe zu den Offici-
alen gerechnet nnd auch aus Andernach’) ist die Bezeichnung
des Schöffenamts als officium bezeugt. Da nun das Mainzer
Schöffencolleg seine Befugnisse schon im 11. und 12. Jahrhun-
dert sehr erweitert hatte, so konnte Hoeniger es mit Recht
mit dem Kölner Schöffensenat in Parallele stellen; wird doch
mit diesem Namen von Heusler*) das Kölner Schöffencolleg
zu jener Zeit bezeichnet, in welcher es eine Reihe der späteren
Ratsbefugnisse schon erworben hat und sich selbst senatus
nennt, während der Ratsname zu Köln noch nicht bezeugt ist.
Für die dem Schöffensenate entsprechende Mainzer Behörde
scheint nun der Name Rat ganz allmählich aufgekommen zu
sein, da in der erwähnten Urkunde von 1219 die consiliarii
entweder zu den erzbischöflichen officiati als den Beamten
schlechtweg gezählt oder, was wohl wahrscheinlicher, beide
Ausdrücke ganz identisch gebraucht sind.
Unter diesem Rat war nun die Bürgerschaft in den drei-
ssiger Jahren des dreizehnten Jahrhunderts wieder derart er-
starkt, dass es selbst für das Kaisertum Friedrichs II. wichtig
erscheinen konnte, ihre Hilfe zu gewinnen. Dieser ertheiite
ihnen 1236 das Recht, nicht vor auswärtigen Gerichten belangt
zu werden,*) also dasselbe, was ihnen in dem von seinem
Grossvater Friedrich I. für nichtig erklärten Privileg Erzbischof
ädalberts verliehen war. Wie Mainz aber im Gegensatz zu
Worms und Speier sein erstes Privileg vom Erzbischof, nicht
vom Kaiser erhalten, so trat ähnliches auch in der Beurkun-
dung des Überganges des ausschliesslichen Stadtregiments an
den Rat ein. Diese gewährte bekanntlich den Mainzern 1244
Erzbischof Sigfried DI.,*) um ihre Unterstützung gegen Konrad IV.
zu gewinnen.®) Der Erzbischof gestattet in diesem Vertrage,
*) Calmet Hist, de Lorraine (Nancy 1745) t. II Prenves p. 222 : villicttm
et scabinionem et caeteros officiales.
*) Beyer Mittelrh. Urkb. II N. 6 S. 41 : statuentes, nt nullus antedictonm
virorum (sc. scabinorum) ab hoc officio recederet etc., vgl. Lamprecht
D. W. I S. 1374 N. 2.
•) Ursprung S. 190, vgl. Hoeniger in Westd. Ztechr. II S. 236.
4) B-F 2182.
») B-W XXXIII 504, tinden I p. 580.
*) Hegel, Mainz S. 45, 46.
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dass die Bürger 24 Personen zum Stad trat wählen, und dass
nach dem Tode jedes dieser Ratsmitglieder seine Stelle wieder
durch freie Wahl der Bürgerschaft besetzt wird.1)
In dem 1254 mit Worms und Oppenheim geschlossenen Bunde
wird alsdann die Stadt Mainz als staatsrechtlicher Körper durch
Amoldus camerarius, Fridericus scultetus, iudices, Con-
silium et universi cives
repräsentiert;*) dasselbe ist bei dem in ebendiesem Jahre mit
Bingen geschlossenen Bunde der Fall.5) In der ersten dieser
beiden Urkunden wird nun ein Bundesgericht aus je 4 consules
jeder Stadt eingesetzt;4) dass Oppenheim, welches in der Inti-
tulation dieser Urkunde nur durch scultetus, scabini, milites et
universi cives repräsentiert ist, eigentlich nur scabini nicht
consules in das Bundesgericht entsenden konnte, wird nicht
weiter berücksichtigt. Darin ist doch auch ein Beweis —
dessen es freilich kaum mehr bedarf — zu sehen, dass man
sich in Mainz und Worms damals noch dessen bewusst war,
dass der Consulname nur eine allmählich aufgekommene Benennung
für das Schöffencolleg war.
Die noch in demselben Jahre, nämlich 1254 Juli 13, aus-
gestellte Gründungsurkunde5) des Rheinischen Bundes trägt
den Titel:
iudices et consules et universi cives Mogontinenses, Oo-
lonienses,*) Wormacenses, Spyrenses ....
Hier werden demnach die dem Rate Vorsitzenden Beamten,
Kämmerer und Schultheiss, als iudices, der Rat als consules be-
zeichnet. Nach dem obigen ist nun aber dieser, im Jahre 1254
*) Gnden I p. 581 § 8: It:m annuemns et pemiittemua, quod ipsi cives
viginti quattuor eligent ad consilium civitatis, sic, quod uno decedente alter
in locum suum snccedens protinus eligatur.
*) Boehmer Cod. Moeuo-Fraucof. p. 101, cf. auch Weizsäcker S. 48.
*) Boehmer Cod. Moeno-Francof. p. 102.
‘) a. a. 0. 102, Weizsäcker S. 51 § 4, cf. ibid. S. 199.
») ibid. 8. 15 ff. cf. S. 41 ff
*) DassBusson (Zur Gesch. des gr. Landfriedensbundes deutsch. Städte
1254 Innsbr. 1874 8. 17) und Quidde 8. 8, 9 bestreiten, dass Colonienses in
der Grilndungsurkunde gestanden hat, während Weizsäcker 8. 60 ff. »ich
für diese Annahme ausgesprochen hat, kommt für unsere Benutzung der
Urkunde nicht weiter in Betracht.
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296
mehrfach vorkommende, Name consules doch erst über 30 Jahre
später als die Benennung consiliarii bezeugt; da ähnliches
auch in Speier und Worms der Fall war,1) so wird es nicht
bloss der Dürftigkeit unserer Überlieferung zuzuschreiben sein.
Aus den angeführten Urkunden geht auch noch hervor,
dass wie früher an der Spitze der officiales oder iudices (in
der Bedeutung von scabini), so in der Mitte des 13. Jahrhun-
derts an der Spitze des consilium der Kämmerer und Schult-
heiss standen.
So hat sich demnach in allen drei Städten der Rat ganz
allmählich aus dem Schöffencolleg entwickelt; von Schaffung oder
Einsetzung einer Ratsbehörde durch einen einzelnen Rechtsakt
kann in unseren drei mittelrheinischen Städten keine Rede
sein. Wenn aber neuerdings von Below*) die Ansicht ausge-
sprochen hat, der Rat könne aus dem Schöffencolleg nnr derart
hervor gegangen sein, dass die Stadt diesem die Funktionen
eines Gemeindeausschusses mit übertragen habe, so kann nach
dem ausgeführten in Worms, Speier und Mainz jedenfalls nur
von einer, sich im Laufe der Zeit, den Zeitgenossen selbst
unbewusst, vollziehenden Übertragung dieser Funktionen die
Rede sein. Nur die mit dem Sendschöffentum zusammenhängen-
den Aufsichtsrechte über Kauf und Verkauf sind durch einen
einzelnen Akt vermutlich im elften Jahrhundert an das Schöffen-
gericht übergegangen ; *) die Urteilsfindung im Sende hat dieser
Behörde aber nicht die Gemeinde, sondern der Bischof als geist-
licher Gerichtsherr übertragen.
Aus dem erörterten folgt auch, dass von den mit der Zeit
zunehmenden Funktionen des Schöffencollegs, namentlich in
Verwaltung und Vertretung der Stadt, die Bezeichnung dieser
Behörde als consules völlig zu scheiden ist. Während die
genannten Funktionen den Schöffen schon im 11. und 12. Jahr-
hundert zustanden, fanden wir sie doch erst am Ende dieser
Zeit als consilium und consiliarii, noch später als consules be-
') In Worms sind consilium and consiliarii 1208, 1216 und 1216, in
Speier 1198 und 1224 bezeugt; consules erscheinen dagegen zum ersten Mal
in unserer Überlieferung in Worms 1220 und in Speier 1241, vgl. oben
8. 275 mit N. 1, 2, 6, S. 276, S. 282 mit N. 3, 4.
*) Stadtgemeinde S. 88, 100,
*) s. oben S. 245, 246.
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297
zeichnet. Es scheint nicht zn gewagt zu sein, letzteres damit
in Verbindung zu bringen, dass der Name consules entschieden
ein vom Auslande recipierter ist, während der Ausdruck consi-
liarii als Übersetzung einer einheimischen, schon lange Zeit
hindurch für die Mitglieder der Bürgerbehörde benutzten, Be-
zeichnung aufisufassen ist.
Was den Namen consules anbetrifft, so geht aus dem
Sprachgebrauch der lateinisch schreibenden deutschen Schrift-
steller des elften und der ersten Hälfte des zwölften Jahrhun-
derts hervor, dass consules damals diesseits der Alpen für
Stadtvorstände noch nicht gebraucht wurde. Sonst hätten diese
Schriftsteller nicht „geistliche und weltliche Regenten in fürst-
licher Stellung“ als consules, ihr Amt als consulatus bezeichnen
können.1) Die erste Erwähnung von consules im Sinne von
Bttrgerbehörde einer in Deutschland gelegenen Stadt begegnet
1165 in einer Urkunde Erzbischof Rainalds von Köln für das
westfälische Städtchen Medebach;1) wenig später findet sich
dies Wort in demselben Sinne in zwei aus der Kanzlei Friedrichs I.
hervorgegaugenen Urkunden.9) Das Aufkommen des Titels Con-
suln für die städtischen Behörden in Deutschland erklärt sich
nnn leicht aus den engen Beziehungen zwischen Deutschland
und Italien zur Stauferzeit. Ferner hat schon Hegel darauf
hingewiesen, dass der genannte Kölner Erzbischof, der zuerst
den Titel consules in Deutschland angewandt und ihn wohl
') Vgl. Hegel Ital. Stadtvrfsa. I 8. 312 N. 2 n. Monatschr. 8. 706, sowie
die dort citierten Stellen.
*) Oengler, Stadtrechte des Mttltrs. 8. 284 § 20. Freiburg und Soest
können nicht mehr als ältere Beispiele der Erwähnungen von consules ange-
führt werden; gegen y. Maurer I 8. 685 vgl. jetzt v. Below Stadt-
gem. 8. 100 N. 307.
*) Vgl. Stumpf 4502, Cod. diplom. Lubccensis (Lübeck 1843) I N. 7 p. 10.
Dass auch schon Heinrich der Löwe den Stadtvorstand von Lübeck consules ge-
nannt, ist jedenfalls nicht erweislich. Vgl. Frensdorff, Stadt- und üerichtsvrfss.
Lübecks (Lübeck 1861) 8. 27—29, 50, 61. Vgl. ferner Stumpf 4335, Ughelti Italia
sacra t. V. (Venetiis 1720) p. 600: statuimus, utTridentina civitas Consulibus
perpetuo careat et sub episcopi sui gubematione imperio fldelis et devota
consistat, sicut et aliae Regni Teutonicl civitates ordinatae dignoscuntur.
ln Hamburg wird der Rat zwar in dem von Friedrich I. 1189, Mai 7, dieser
Stadt erteilten Privileg (St. 4522, Lappenberg Hamb. Urkb. [Hamb. 1842]
S. 263) noch nicht erwähnt, wohl aber erscheinen consules schon in der Be-
stätigung dieser Urkunde von 1190 (Lappenberg a. a. 0. 8. 258).
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298
auch in die kaiserliche Kanzlei eingeführt hat, „als Kanzler
Friedrichs L, die diplomatischen Verhandlungen mit den italie-
nischen Städten geführt“ und dabei die Bezeichnung consules
für Ortsvorstände grösserer und kleinerer Communen kennen
gelerut hatte.1) Zur Verbreitung des Consultitels mag es noch
beigetragen haben, dass die, sei es im Heerdienste des Reiches,
sei es auf Handelsreisen nach Italien kommenden deutschen
Städter den Namen Consuln in Italien hörten und ihn als Sinn-
bild städtischer Autonomie betrachten lernten.*) Die italieni-
schen Stadtrepubliken haben ja bekanntlich den Namen consules
für ihre Magistrate in Erinnerung „an die alte römische Stadt-
grösse“ gewählt, „welcher nachzueifern sie sich stolz genug
fühlten.“ a) So wird es auch in den deutschen Städten, minde-
stens bei den städtischen Urkundungsbehörden4) nicht so sehr
au Kenntnis des classischen Altertums gefehlt haben,5) dass
*) Monatschr. 8. 710. Über Rainalds von Köln grossen Einfluss als
Kanzler und Erzkanzler vgl. auch Bresslan Urkundenlehre S. 367, 368.
*) Dass es den Deutschen auffiel, dass die Bewohner der italienischen
Städte sich durch ihre Consuln , nicht aber durch andere Gewalthaber re-
gieren Hessen , kann aus den Worten Otto’s v. Freising geschlossen werden :
In civitatum dispositione ac rei publicae conservatione antiquorum adhuc
Komanornm imitantur solertiam. Denique libertatem tantopere affectant, nt
potestatis insolentiam fugieudo, consulum potius quam imperantium regantnr
arbitrio (Lib. II c. 13 S. S. XX p. 396). Dafür, dass man schon thatsächlich
italienische und deutsche Stadtverf. verglich, vgl. das von vonBelow
Histor. Ztschr. 1888 S. 206 angeführte Beispiel und die oben S. 297 N. 3
citierte Urknndenstelle.
*) Hegel, Ital. Stadtvrfssg. II 8. 168, 169, Monatschr. S. 703.
4) Obgleich ein Stadtschreiber in unseren Städten erst 1295 ausdrück-
lich bezeugt ist (W U 466), so kann doch wohl angenommen werden, dass
dies Amt schon in der ersten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts bestanden
hat. Darauf weist vor allem das Häufigerwerden von erhaltenen Urkunden
in dieser Zeit sowie die nachweisbare Existenz von Stadtsiegeln in Mainz
ca. 1150, in Worms 1198 nnd in Speier 1208 (s. oben 8. 247, 263 mit N. 3, 4).
In letzterem Orte ist uns sogar eine förmliche unter dem Stadtgericht ste-
hende Uruudbnchführung für das Jahr 1212 bezeugt. (Sp. U. 28.) Endlich
wird der Stadtschreiber anch in der Wormser Ämterordnung erwähnt (Boehmer
fontes II p. 214), vgl. Arnold I S. 301, 302, v. Maurer HI S. 237,
Bresslau Urkl. S. 459.
*) Über Kenntnis des Lateinischen bei Deutschen Kaufleuten vgl. Stieda
in Hansische Gescbichtsblätter XIII (Leipz. 1886) S. 157, Hoeniger in
Westd. Ztschr. II 237, 38.
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299
hier nicht die Bezeichnung consules in Erinnerung an ihre
ehemalige Bedeutung für besonders würdevoll galt.
Ganz anders nun als mit dem Titel consul scheint es mit
dem Ausdruck consiliarius zu stehen. Wenn v. Maurer1)
richtig darauf hingewiesen hat, dass die deutsche Übersetzung
dieses Wortes nämlich „Ratgeb“ sich schon in Glossen des
zehnten Jahrhunderts findet, so kann man diesem Forscher doch
durchaus nicht zustimmen, wenn er daraus schliesst, dass da-
mals schon „die Bildung von Stadträten begonnen“ habe. Viel-
mehr ist „Ratgeb“ identisch mit Rachinburg, der Bezeichnung
der Urteilsfinder im älteren fränkischen Rechte.*) Als die
Urteilsfindung durch Karl den Grossen an die vom Könige er-
nannten Schöffen gekommen war, wurde der Name Rachinburg
bekanntlich auch auf diese übertragen.4) Consiliarius aber ist
die wörtliche Übersetzung von Ratgeber (Rachinburg) und auch
schon in alten Glossaren derart wiedergegeben.5) Bemerkens-
wert ist jedenfalls, dass in diesen Quellen auch scabinus durch
Ratherr übersetzt ist.*) Freilich ist bei der ganzen Natur
') I S. 582, 586.
*) Freilich gehören gerade die von Maurer a. a. 0. N. 46 angegebenen
Beispiele gar nicht in den Zusammenhang dieser Untersuchungen, da in ihnen
ratgebo durch auricularius wiedergegeben ist ; dies Wort wird nämlich, soviel
ich Behe , nur von einem Berater eines Fürsten gebraucht und bezeichnet
meist einen bestimmten Hofbeamten, vgl. die bei Waitz V. Q. II 2 8. 81
N. 4, HI 8. 519 N. 1, VI S. 293 N. 3 stehenden Beispiele. Bei derartiger
Wiedergabe hat dann das Wort mit dem städtischen Rat gamichts zu thun;
indessen findet sich auch noch eine andere hier beachtenswerte Übersetzung
von ratgebo in den alten Glossaren s. unten.
*) Diese Erklärung von „Rachinburg* als „Ratgeber des Richters, Ur-
teilsfinderJ kann jetzt als allgemein angenommen gelten, vgl. Sohm G. V.
S. 373, Brunner R. G. I S. 150, Schröder R. G. 8. 161 N. 6. Überältere
Erklärungen und Ableitungen dieses Wortes vgl. Georg Cohn, Justiz-
verweigerung im altdeutschen Recht (KarlsT. 1876) 8. 12 N. 2, 3.
4) Sohm 8. 385 ff., Schröder R. G. S. 163 N. 22.
*) Vgl. Suhm, Symbolae ad litteraturam Teutonicam (Havniae 1807)
p. 300, Diefenbach und Wülcker, Hoch- und Niederdeutsches Wrtb. (Basel
1885) 8. 812.
*) Diefenbach, Novum glossarium (Fmkf. 1867) p. 328. Dass rachinbur-
gius noch im zwölften Jahrhundert gebränchlich war , geht auch ans den
Glossae Trevirenses in A. H. Hoffmann Althochdeutsche Glossen (Breslau
1826) S. 12 Z. 20 hervor, wo das Wort mit lanttehari (leg. iantrehari)
übersetzt ist. (Über das Alter dieser Glosse vgl. ibid. p. XXVII.)
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300
dieses Quellenmaterials Vorsicht nothwendig.1) Es genüge dess-
halb, hier nachgewiesen zu haben, dass auch dieser von von
Maurer für seine Theorie angeführte Beweisgrund unzutreffend
ist, und dass es als möglich bezeichnet werden muss, dass die
Bezeichnungen consiliarii und Ratgeber*) (Ratherren) unmittel-
bar vom Schöffencolleg auf die städtische Bürgerbehörde tiber-
gegangen sind.
Auf ganz anderer, völlig sicherer Grundlage beruht jeden-
falls der oben geführte Nachweis, dass in Worms, Speier und
Mainz das Schöffencolleg durch blosse Erweiterung seiner Be-
fugnisse schon zur richtenden, verwaltenden und repräsentieren-
den Bürgerbehörde lange vor der Zeit geworden war, in der
uns der Titel Rat für dieselbe ausdrücklich bezeugt ist.
Capitel IX.
Die Entwicklung unserer Städte zu halbsouveränen
Staatsgebilden.
Im vorigen Capitel ist die Frage nach der Herkunft der
leitenden städtischen Behörde, des Ratscollegs, untersucht; es
hat sich dabei herausgestellt, dass dasselbe im wesentlichen aus
dem Schöffencolleg hervorgegangen ist, wobei man freilich zu
*) Da diese Glossarien meist ältere Vorlagen benutzt und spätere Zu-
sätze erfahren haben, so ist es nicht sicher, ob im einzelnen Falle das Wort
, Ratgeb* wirklich der in Betracht kommenden Zeit vom 10.— 12. Jahrhundert
entstammt Es kann ja auch älterer Zeit angehören, wo es als , Rachin-
burg* allgemein für die Schöffen im Gebrauch war, oder später hinzugefOgt
sein, als Ratgeb zur Übersetzung von consul gebraucht wurde. Auch ist die
Datierung dieser Glossarien selbst im einzelnen noch nicht sicher. Wichtig
ist es desshalb, dass Ratgeb sich auch sonst hie und da als Bezeichnung der
Urteiler findet, vgl. Cohn a. a. 0. N. ö, bes. das dort angeführte Rechts-
sprichwort: .Wer das Urteil findet, ist des Richten Ratgeber* (Graf und
Dietherr, Deutsche Rechtssprichwörter Nördl. 1869 S. 414, 416).
*) Es sei noch bemerkt, dass dies Wort .Ratgeber* in Augsburg und
Nürnberg als gewöhnliche Bezeichnung der Ratsmitglieder bestehen bleibt,
vgl. Städtechroniken Augsburg II 8. 47 Z. 23, S. 131 Z. 7 etc., Nürnberg
ID S. 34 Z. 1.
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301
beachten hat, dass die Schöffen besonders in Mainz vom Stadt-
herrn selbst vielfach als seine Beamten betrachtet wurden.
Gehen wir jetzt den inneren Gründen dieser Entwicklung nach,
in welcher Worms, Speier und Mainz im Laufe der Zeit zu
Freistädten geworden sind! Suchen wir festzustellen, wie und
wann diese Städte jene halbsouveräne Stellung erworben haben,
welche den Reichsstädten und ganz besonders den Freistädten
der zweiten Hälfte des Mittelalters eigen war.
Als früher die wirtschaftliche Entwicklung unserer Städte
untersucht wurde, zeigte es sich, dass in ihnen die Ausbildung
von Handel und Industrie schon zu Beginn der Salierzeit einen
solchen Grad erreicht hatte, dass sie sich auch in der Ent-
stehung eines besonderen städtischen Gewohnheitsrechts kund
geben konnte. Diese Entwicklung hatte nun in den Zeiten der
salischen und staufischen Kaiser noch weitere bedeutende Fort-
schritte gemacht. Konnte schon aus der Höhe frommer Schen-
kungen einzelner städtischer Bürger in der Wende des elften
und zwölften Jahrhunderts auf ihren Reichtum geschlossen
werden,1) so ist aus dem 13. ein Fall bezeugt, in welchem das
in tiefste Schuldennot geratene Kloster Reichenbach durch Ver-
kauf eines Teils seiner Immobilien an einen Wormser Bürger
Bichelmann sich von seinen Schulden vollständig befreit.*)
Gerade damals scheinen aber auch erst alle Teile des von den
Stadtmauern umschlossenen Gebietes wirklich städtisches Aus-
sehen erlangt zu haben. Wurden in früherer Zeit vielfach
Getreidefelder und Weinberge in der Stadt erwähnt,*) so kann
ans den besonders seit der zweiten Hälfte des 13. und dem
14. Jahrhundert zahlreich überlieferten Testamenten, die in der
Regel eine Aufzählung der Besitzungen des Erblassers ent-
halten, wohl geschlossen werden, dass sich zwar noch viele
Gärten, aber keine Felder und Weinberge mehr innerhalb der
städtischen Ringmauern befanden.4) Dass in Worms zu Anfang
des 13. Jahrhunderts früher landwirtschaftlich benutzte Grund-
stücke mit Häusern und Hütten bedeckt wurden, ist aus einer
Urkunde von ca. 1207 zu ersehen, welche ein schiedsrichter-
*) vgl. oben S. 51.
*) Banr He»*. Urkb. V N. 107 p. 92.
*) 8. oben 8. 11 mit N. 4.
*) vgL z. B. W-D 199, 221, 228 etc.
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302
liches Urteil in einem Streit zwischen dem Wormser Domstift
und der Cyriacuskirche in Neuhausen enthält.1) Derselben Ur-
kunde lässt sich auch die Existenz zahlreicher eigentumsloser
Personen in Worms entnehmen, welche fester Wohnsitze er-
mangelten;*) zugleich geht aber aus diesem Documente auch
hervor, dass solche Personen an dem aufbltlhenden Handels-
plätze durch Handarbeit und Geschäfte ein so reichliches Ein-
kommen zu gewinnen vermochten, dass sich über ihre Zehnten
zwischen verschiedenen Kirchen Streit, erheben konnte.
So hatte sich durch den allgemeinen wirtschaftlichen Fort-
schritt der, schon in früherer Zeit zu beobachtende, Gegensatz
der an Capital Reichen und Armen in unseren Städten mächtig
weiter entwickelt. Dagegen ist der alte Unterschied der Stadt-
bewohner nach freiem, hörigem und unfreiem Geburtsstande
völlig verschwunden. Abgesehen von dem Gegensätze zwischen
Ministerialen und Nichtministerialen existiert nur noch der
zwischen Reichen und Armen. Stehen im grossen und ganzen auch
die Ministerialen mit den anderen Bürgern im städtischen Frei-
heitskampf zusammen,*) so hat auch der Gegensatz zwischen
maiores und minores cives, der jetzt mit divites und pauperes
identisch ist,1) im dreizehnten Jahrhundert in unseren Städten
noch nicht die Schärfe angenommen, die er schon damals an
anderen Orten besonders in Strassburg gehabt zu haben scheint.
Ging doch auch gerade von zweien unserer Städte, von Worms
und Mainz, die Gründung des rheinischen Bundes aus, in dessen
Akten mehrfach betont ist, dass auch die minores an den
Friedenssegnungen teilnehmen sollten.5) Von Versuchen des
«) Baur Hess. Urkb. II N. 25.
•) vagi homineB et vacui bonorum (ibid. p. 38).
*) So ist i. B. in Hainz gerade der Hinisterial Arnold der Rote 1158
der Verletzung des Privilegs der städtischen Steuerfreiheit zuerst entgegen-
getreten (Jafffe Mon. Mogunt. III p. 625). In Worms enthielt der dem Bischof
im Jahre 1232 entgegentretende Rat 12 Ministerialen (cf. D 124 S. 96 Z. 4).
Aus veränderten Verhältnissen ist es zu erklären , dass hier am Ende des 13.
Jahrhunderts die ritterlichen Ratsherren sich öfters z. B. in den Streitig-
keiten, welche die Stadt mit Bischof und Clerus hatte, weigerten, an den
Ratssitzungen teilzunehmen (cf. U 405, Arnold V. G. II S. 110 § 3).
4) vgl. Weizsäcker S. 177.
*) ibid. S. 178 cf. auch p. 18: ordinavimus haec statuta observanda, ut
exmde gaudeant pauperes et maiores .... vgl. auch Quidde, S. 49.
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303
Bischofs im Kampfe gegen den Rat, die ärmere Bevölkerung
auf seine Seite zu ziehen, wie sie in Strassburg zu constatieren
sind,1) findet sich in unseren Städten nichts. Dieser Änderung
der wirtschaftlichen und ständischen Verhältnisse ging nun eine
Rechtsänderung parallel, deren Entwickelung schon in ver-
schiedenen Punkten behandelt ist. Es sei hier auf die früheren
Erörterungen über die Abschaffung des gerichtlichen Zwei-
kampfs, über die Befreiung von persönlicher Zinsverpflichtung
und über Einführung von Lcibesstrafen und Stadtverweisun-
gen an Stelle von Geldbusseu erinnert. Eigentümlich griff in
das bis dahin geltende Processrecbt eine, zwar von Bischof
Beringer, aber durchaus auf Veranlassung und im Geiste der
Speierer Bürgerschaft erlassene, Verordnung von 1230, März 2,
ein.2) Während bisher der Angeklagte sich nur durch Zeugniss
von sieben Personen vor sofortiger Inhaftnahme und den Frevel-
bussen schützen konnte, musste von nun an der Kläger sein
Recht gleich bei Erhebung der Klage mit zwei Eideshelfern
beschwören ;*) sonst sollte schon Eineid des Schuldners genügen,
um sich vor diesen Folgen der Klagerhebung zu schützen und
dem Gegner die Beweislast zuzuschieben.4) Beringer sagt in
seiner Urkunde ausdrücklich, dass das Gesetz, das freilich auch
ohnedies hätte erlassen werden müssen, durch dringende Bitten
■) cf. (las Manifest Walters von Geroldseck Strassb. Urkb. I N. 471 S. 365
passim z. B. daz wir des wandel schaffen, wand wir billiche beide armen unde
riche berihten und schirmen suln.
*) Sp. U 44. Der Nachweis, dass diese Rechtsänderung in Wahrheit
von der Bürgerschaft ansging, folgt nnten im Text.
*) ibid. S. 40 Z. 1: actori ad minns se tercio interpositis inramentis
inenmbat onns probandi.
4) Es tritt im Stadtrecht überhaupt die Tendenz auf, den Angeklagten
vor in Folge blosser Processhandlungen des Klägers eintretendem Freiheits-
Verluste zu schützen. Vgl. z. B. anch folgende im Privileg Heinrichs für
Ltlttich v. 1230,' April 9, vorkommende Stelle: Nullus civis debet capi vel
teneri sine iudicio scahinorum (B-F 4151, Huill.-Brfeh. III p. 413). Eine der in
Speier constatierten ganz ähnliche Entwicklung finden wir im sächsischen
Rechtsgebiet; auch hier musste sich im Stadtrecht abweichend vom Land-
recht der Kläger anf Eid von Privatpersonen stützen , da andernfalls die
Klage durch einfachen Unschuldseid des Beklagten unwirksam gemacht wer-
den konnte s. Planck, Das deutsche Gerichtsverfahren im Mittelalter (Braun-
schw. 1879) I S. 840 ff.
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304
der Bürger veranlasst sei;1) die Richtigkeit dieser Darstellung
gejit aus der dann folgenden Bemerkung der Urkunde hervor,
dass die Bürger dem Bischof eine Abfindung in Geld gewährten,
da sein Beamter, der Schultheiss, in Folge der Rechtsänderung
geringere Einnahmen erhielte.*) Die Bürger wurden auch
als Petenten genannt, als König Heinrich VII, der Sohn
Friedrichs II., im Jahre 1231 die Bestimmung Beringere be-
stätigte ;*) ein Zeichen mehr, dass diese Änderung des Process-
rechts aus den bürgerlichen Interessenkreisen erwachsen ist.
In ein anderes Rechtsgebiet führt uns eine in der Mitte
des 13. Jahrhunderts erlassene Verordnung des Speierer Rats,4)
wonach niemand bei Strafe der Stadtverweisung und des Ver-
lustes des gesammten Vermögens Sohn oder Tochter von
Speierer Bürgern ohne die Einwilligung ihrer Eltern oder,
falls diese gestorben, ihrer beiden nächsten Verwandten hei-
rathen darf. Dieselbe Strafe sollte auch diejenigen treffen,
die sich ohne Consens dieser Personen dem geistlichen Stande
widmen würden.6) Zu ebendieser Zeit wurden auch in Speier
neben mehreren anderen ff emdenrechtlichen Verordnungen strenge
Bestimmungen gegen diejenigen erlassen, welche unter Stadt-
schutz stehenden Fremden Schaden zufügen;') in diesem Ge-
setz sind auch die ausserordentlich hohen Strafen bemerkens-
wert, die auf Verbindung von Speierer Bürgern mit Fremden
gegen Einheimische gesetzt sind.7)
') 8. 39 Z. 37 : ad precea civium noatrorum bono zelo et pia intentione
iusta petentium — 8. 40 Z. 7: licet sine aiiquorum precibua per nos haue
legem et hoc ins pro iniuria debuerimus edidiase.
*) ibid. Z. 8 : ipsi civea noatri officio aculteti noatri ex aboletione predicte
consuetudinis considerantes aliquantam deperire, XXXV libraa Spirans« monete
in naoa epiacopatus noatri .... contulerant.
*) 8p. U. 47 8. 42 Z. 16: cum . epiacopua et civea noatri a nobia cum
magna precum instantia poatulaverint ....
4) Sp. ü. 105 a 1264.
*) ibid. Es braucht wohl kaum bemerkt zu werden, dass diese Anord-
nungen mit dem geltenden kirchlichen Rechte über Priesterweihe und Ehe-
achlieasung in Widerspruch standen. Über dieses ist Hinschius Kirchen-
recht I 8. 33, Friedberg, Das Recht der Eheachliessung (Leipx. 1865)
8. 103 ft, Scheurl in Herzogs Realencyclopädie f. Theologie Bd. 4 3. 89,
Richter Lebrb. d. Kirchenrechts (Leipz. 1886) 8. 1068 zu vergleichen.
•) ü 108 a 1263.
•) ibid.
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305
Lassen sich derartigen Bestimmungen uns aus dieser Zeit
erhaltener Urkunden auch stets nur einzelne Rechtsänderungen
entnehmen, so zeigt doch ihr Auftreten und ihre Verteilung
auf alle Rechtsgebiete, dass im zwölften und dreizehnten Jahr-
hundert eine totale Änderung der Rechtsanschauungen in un-
seren Städten erfolgte. Wie diese Rechtsänderungen fast
sämmtlich direkt oder indirekt auf den Rat als den Vertreter
der neuen bürgerlichen Anschauungen zurückzufübren sind, so
ist der Bürgerschaft in dieser Behörde auch ein kräftiges
Verwaltungsorgan für ihre materiellen wie geistigen Interessen
erwachsen. Was zunächst die ersteren betrifft, so ist spätestens
im dreizehnten Jahrhundert in unseren mittelrheinischen Städten
die Allmende in die Verwaltung des Rats gekommen. Nach
den früheren Erörterungen kann kein Zweifel sein, dass nicht
die einzelnen Städte, sondern die Specialgemeinden in ihnen in
alter Zeit Markgemeinden waren;1) daneben standen die Sonder-
gemeinden jeder Stadt wahrscheinlich noch in einem grösseren
Markverbande, welcher ausser ihnen eine Anzahl von Dörfern
umfasste.*)
Wird in Worms 1208 eine communis paschua burgensium
erwähnt,5) so kann aus dieser Bezeichnung mit Sicherheit ge-
schlossen werden, dass inzwischen, da alle Stadteinwohner zu
einer communalen und politischen Gemeinde durch das zum Rat
gewordene Schöffencolleg geeint waren, auch die Allmende in
den Besitz dieser Stadtgemeinde gekommen war. Wie es bei
dem Übergange der Allmendeverwaltung an eine andere Behörde
leicht erklärlich ist, scheinen in dieser Verwaltung zur Zeit
') S. oben Capitel V.
*) vgl. Waitx V. G. 1 210, v. Maurer Stdtvrfssg. II 8. 175, 176,
Lamprecht D. W I 8. 258 ff. Auf die* grössere Markgebiet sind wohl Aus-
drücke wie in Mogontiorum inarca a 779 (Dronke Cod. diplom. Fuld. N. 64
p. 41), in marca Wormacia a 771 (W U 7) zu bexiehen. Dass die Special-
gemeinden in Worms mit in der Nähe der Stadt gelegenen Dörfern in All-
mendegemeinschaft standen, kann ganz bes. auch aus U 388 (vgl. unten 8.
306 zu N. 8, 9) geschlossen werden.
*) Aus der Art der Erwähnung, nämlich als Grenze des städtischen
Gebiets in dem 1208 hergestellten angeblichen Privileg Friedrichs I. von
1156 (U 73 S. 60 Z. 12), geht auch hervor, dass eine solche specielle Bttrger-
weide (man beachte den „Stadtbürger“ bezeichnenden Ausdruck burgensium)
wohl schon längere Zeit bestanden hat.
Koehne, Ursprung der ätadtvarfassung in Worms, Speier und Mainz. SO
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306
jenes Ereignisses grosse Missbräuche aufgekommen zu sein. So
haben wir es wohl zu verstehen, dass in den ersten Decennien
des dreizehnten Jahrhunderts von Privaten über Teile des
Bilrgerfeldes als Eigentümern verfügt wurde; ganz wie Privat-
eigentum wurden nämlich Morgen im Bttrgerfelde (iurnales l) in
campo bnrgensinm) verkauft8) und zu Lehen gegeben,3) letzt-
willig4) und unter Lebenden verschenkt.3) Im Jahre 1277
scheint dann eine Regelung dieser Verhältnisse eingetreten zn
sein, indem alle diejenigen, welche gegen Willen der Stadt zu
Privatzwecken Gemeindeland occupicrt hatten, zur Entschädi-
gung eine Summe an die Stadtkasse zahlen mussten ; dafür er-
hielten sie Eigentum an den occupierten Stücken.6)
Damals stand nun schon ganz entschieden dem Rat die
Verfügung über die Allmende zu. Wenn sich dieser gerade
1278 sein Recht, dieselbe auf die geschilderte Weise zn ver-
äussern und auch sonst frei über sie zu dispouieren , von dem er-
wählten Bischof Friedrich noch besonders bestätigen liess,7) so ver-
folgte er damit wohl hauptsächlich den Zweck, sein Recht auch
geistlichen Instituten gegenüber, die Teile der Allmende occupiert
hatten, geltend machen zu können : vor allem beuutzte man aber
hier die günstige Zeit vor der Weihe und vielleicht auch vor der
allgemeinen Anerkennung des Bischofs, um etwa früher bestehen-
dem bischöflichen Obereigentum an der Mark alle Rechtswirksam-
keit zu nehmen. Übrigens wurden damals vom Rat nicht nur auf die
den städtischen Specialgemeinden, sondern auch auf die den Land-
gemeinden von Pfiffligheim und Hochheim gehörenden Allmenden
Ansprüche gemacht.3) Dies erklärt sich am einfachsten so, dass
jenes Gebiet zu der früher erwähnten grösseren, nicht den Stadt-
einwohnern allein zustehenden, Mark gehört hatte;*) auch hier
•) Über den Ausdruck iurnalis (= Morgen) vgl. Lamprecht I S. $44, 345.
*) W U 200 (S. 140 Z. 22 ff.).
») U 231.
‘) U 200, U 245 (S. 104 Z. 3).
•) ü 221 (S. 152 Z. 8), U 231.
*) U 381, 383, vgl. auch aunal. Wormat. in Boelnuer Font. II p. 207
Eine ähnliche Massregel fand 1314 statt (Wllrdtwcin Chronicon diplora.
inonagt. Schönau Mannhemii 1792 N. 86 p. 253).
*) U 383.
•) ü 388.
*) So auch v. Maurer I S. 17C.
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307
hat der Bischof 1278 auf alle Rechte zu Gunsten der Bürger-
schaft verzichtet.1) Auch in der Stadt besass der Wormser
Rat Grundeigentum,*) von welchem ein Teil zu Gunsten der
städtischen Finanzen verwendet wurde. So war er z. B. Eigen-
tümer von Fleischbänken, welche er gegen Zins an Gewerbe-
treibende austhat.5) Auf ähnliche Verhältnisse in Speier deuten
einige Urkunden, nach denen der Rat auch hier innerhalb und
ausserhalb der Stadt gelegene Immobilien besass.4) So hat die
Speierer Bürgerschaft entschieden die, ehemals ihren Special-
gemeinden zustehende, Allmende erworben. Daneben kann es
freilich auch nicht zweifelhaft sein, dass sowohl in Speier als
in den anderen Städten manche Grundstücke nicht als alte
Allmenden, sondern durch privatrechtlichen Erwerb in die Rats-
verwaltung gekommen sind.6) Besonders erwähnenswert er-
scheint ein eigentümliches Rechtsgeschäft, welches im Jahre
1228 in Speier beurkundet wurde.6) An den Rat (die consules
civitatis), dessen Einwilligung dazu besonders nachgesucht ist,
wurde ein zu Erbzins ausgethanes Haus der Trinitatiskirche von
seinem Besitzer derart vermacht, dass es den Minoriten zur
Wohnung dienen sollte;7) dieser Orden durfte ja bekanntlich
*) Auffallend ist, dass, während Bischof Friedrich 1278 Dec. 6 (U 388)
allen Ansprüchen auf die genannten Allmenden entsagt, er 1279, Mai 20,
(U 390) seinen Streit mit der Stadt Worms über diese Allmenden einem
Schiedsgericht überweist. Arnold V. 0. II 107 sieht den Schiedsspruch als
Orund des bischöflichen Verzichtes an , was doch nur, wenn das Datum in
einer der Urkunden falsch sein sollte, möglich ist.
*) Auch dieses wurde Allmende genannt, cf. Boehmer, Fontes II 207,
ferner Urkb. d. Stdt. Strssbrg. Bd. I N. 160 S. 127 a 1214: terris in civitate
sive extra, qnae vulgo nuncupantur almeine.
») U 210.
«) Sp. U 67, 71 etc.
6) Dies war z. B. bei dem vom Wormser Rat im Anfänge der dreissiger
Jahre des dreizehnten Jahrhunderts gekauften steinernen Gebäude in der
Hagengasse der Fall, das dann zum Rathaus umgebaut w'nrde, cf. Boehmer
fontes II p. 161.
•) Eubel, Geschichte der oberdeutschen Minoriten-Provinz (Würzburg
1886) S. 200 N. 41.
’) Ego . . , quamdiu vixero , dominns ero domus et hospes fratrnm et
persolvam pro fratribus custodi dictae ecclesiae aunuum censum videl. solidum
unum; postquam autem decessero, de rogatu fratrnm sic fieri decerno: Con-
gules civitatis hac coudicione mihi succedent: quamdiu fratres in eadem
w
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308
damals noch kein Eigentum haben. Für den Fall, dass die
Minoriten die Stadt verlassen sollten, hatte sich der Rat ver-
pflichtet, das Haus wieder an die Trinitatiskirche fallen zu
lassen.
So wurde hier schon entgegen dem sonst im Mittelalter
herrschenden Princip, Cultussachen als Domäne der Kirche zu
betrachten, vom Rat auch für das religiöse Interesse seiner
Stadt gesorgt.1) Damit ist zu vergleichen, dass sich die Main-
zer Bürger 1244 nicht nur die Verwaltung des Hospitals von
ihrom Erzbischof übertragen lassen, sondern auch das Recht,
den an demselben angestellten Geistlichen präsentieren und
eventuell absetzen zu dürfen.*) Siebzehn Jahre später wurde
in Speier, wo bis dahin nur ein von Geistlichen geleitetes
Spital bestand, neben diesem vom Rat ein neues geschaffen
und die Einrichtung desselben eingehend geordnet.*) Drei
vom Rate gewählten Laien sollte die Verwaltung des
Spitals auf Lebenszeit übertragen werden; bei Veräusserung
von Gebäuden, Besitzungen und Einkünften waren sie aber an
die Zustimmung des Rats gebunden. Dies so unter Leitung
von Laien stehende Spital scheint in bürgerlichen Kreisen
domo deo deserviunt, ipsi eortim hospites erunt et tutores et anntium censum
solvent secundum quod solvi debet ; ei autera fratres ipsi . . ab ipsa area
recesserint, cuius fundi proprietas est ecclesiae praelibatae, ad eandem eecle-
siam dominium eiusdem areae transeat absolute, nee buie statuto consules
vel aliqua alia persona se possit opponerc cum effectit .... Haec vero, qnia
de consensu et consilio ecclesiae aanctissimae Triadis simul et civitatis
statuta sunt, praesentem schedulam (sigillis) dictae ecclesiae et civitatis . . .
obtinni roborari.
‘) Früher batten nur die einzelnen Special gemeinden gewisse Rechte
in Bezng auf die kirchliche Vermögensverwaltung gehabt, aus denen dann
auch weitergebende Befugnisse in Cnltnssachen entstanden waren (vgl. oben
8. 98, 109, 110); jetzt standen solche Kochte auch dem Kate, dem Vertreter
der gessmmten Bürgerschaft, zu.
*) B-W XXXIII 504 (Guden. I p. 581 § 15) : Et concedimus hunc Arti-
culum , quod Consiliarii .civitatis habeant plenariam potestatem , in Hospitale
praeseDtandi Sacerdotem; et si exegerint culpae snae, mediante anctoritat«
nostra destituendi enndem. Et administrationem temporalium committent
civibns quibus volnerint et qnos ad hoc viderint expedire.
*) Sp. U. 98. Auch in Oppenheim stand das Spital unter einem welt-
lichen „Pfleger“, cf. B-W XXXVI 503, Würdtwein, Dioecesis Mogunt. (1768)
t I p. 375 ssq.
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309
grösseres Vertrauen als das alte, von Geistlichen geleitete, be-
sessen zu haben.1) Auch hier ist höchst wahrscheinlich für das
Bürgerspital ein eigner Geistlicher ernannt, dessen Wahl dem
Bäte zustand.9)
So hatten die Bürgerschaften unserer Städte in Juris-
diction, Gesetzgebung und Verwaltung eine immer weitergehende
Autonomie erworben; innerhalb der einzelnen Bürgerschaften
entwickelte sich ein immer lebhafteres Gemeingefühl. Der
alte Stadtherr schien immer mehr auf blosse Ehrenvorrechte
beschränkt zu werden; nicht ganz mit Unrecht, wenn auch
übertreibend, sagt eine alte Wormser Chronik*) von der Zeit
vor der Katastrophe von 1234, der dortige Bischof sei damals
von den Bürgern nur soweit, wie andere Prälaten auch, ge-
achtet worden. Freilich waren alle diese politischen Fortschritte
des Bürgertums bis zur Zeit Friedrichs II. nur dadurch er-
möglicht worden, dass die Kämpfe wesentlich auf die einzelnen
Bistumsgrenzen beschränkt blieben. Von Bündnissen der Bi-
schöfe gegen die Fortschritte der städtischen Autonomie findet
man noch nichts. Das Königtum hatte ferner im grossen und
ganzen die der anwachsenden Bischofsmacht die Wage haltende
städtische Bewegung oft befördert, selten gehemmt.
Ganz anders wurden die Verhältnisse unter Friedrich II.,
') Es kann dies wohl ans U 179 geschlossen werden. In dieser Urkunde
schenkt ein Speierer Bürger den beiden Spitälern, dem alten prope S. Stepha-
num und dem neuen prope S. Georgium, jährliche Renten. Hier findet sich
nnn folgende Bestimmung: Wenn die dem alten Spital zugewiesenen Renten
nicht zweckmässig verwandt würden, sollten sie dem neuen zufallen. Offen-
bar hatte also der Schenker zu letzterem mehr Vertrauen.
*) Nach U 100 war ca. 1262 über die Besorgung des Gottesdienstes im
neuen Spital zwischen den Verwaltern desselben und dem Kaplan von St.
Georg, in dessen Pfarre es lag, ein Streit ausgebrochen. Vom Bischof wurde
nun eine, den Vorteil beider Parteien berücksichtigende, (commoditate hospi-
talis et cappellani nostri hinc inde considerata), von beiden gern angenom-
mene, Verordnung (parcium ad hoc accedente volnntate) erlassen. Dem Spital
wurde eine jährliche Abgabe für den Kaplan anferlegt, der Gottesdienst im
Spital aber sollte in gewohnter Weise stattfinden ; würde er aber vernach-
lässigt werden, so sollte der Bischof oder der Kaplan einen Priester und
eine geeignete Pfründe für denselben aus den Hospitalseinkünften festsetzen
dürfen. Hieraus folgt entschieden, dass damals der Geistliche des Speierer
Bürgerspitals i. d. R. vom Rat oder den Spitalpfiegem gewählt und be-
soldet wurde.
*) Boehmer fontes II p 160.
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310
als die vereinigte Macht der Bischöfe und des Königtums sich
gegen die Stadtfreiheit richtete.1) Von den Bestimmungen
Friedrichs II. und seines Sohnes Heinrich kommt für uns zu-
nächst*) die des letzteren von 1226, November 27,*) in Betracht.
Dieselbe scheint dadurch veranlasst zu sein, dass sich Leute
des Mainzer Erzstifts nach dem im Juni 1226 von Friedrich II.
mit Steuerfreiheit beliehenen4) Orte Oppenheim begeben hatten ;
die ersten Versuche, dagegen einzuschreiten, scheinen dadurch
verhindert zu sein, dass die Bürger von Oppenheim an denen
vou Mainz, Worms, Speier, Bingen, Frankfurt, Gelnhausen und
') Schaube (Worms) S. 297, 298 meint: .Der Kaiser war dem Fürsten-
tum hold, das ihm in den Kämpfen mit dem P&psttnm zur Seite gestanden,
mochte dagegen wenig von Städtefreiheit wissen, mit der er und das deutsche
Kaisertum so Üble Erfahrungen in der Lombardei gemacht hatte.* Diese
Ansicht kann jedoch durch die Ausführungen von Löher Fürsten und Städte
zur Zeit der Hohenstaufen (Halle 1846) S. 57, Schirrmacher Friedrich II
Bd. I S. 188 und Forsch, z. D. Gesch. Bd. XI S. 321, 322, Nitzsch D. G. III
S. 65 ff., sowie namentlich durch die letzte ausführliche Behandlung dieser Frage
vonRodenberg(in Histor. Aufsätze dem Andenken an Waitz gewidmet, Han-
nover 1886) S. 228 ff. (s. bcs. S. 235) als gänzlich beseitigt angesehen werden.
Danach erliesseu Friedrich und sein Sohn Heinrich ihre städtefeindlichen Gesetze
nur deshalb, weil sie sich den Fürsten gegenüber in einer Zwangslage befanden.
So neuerdings auch Winkelmann Friedrich II. Bd. I (1889) S. 60, 62.
’) Anzuführen wären vielleicht auch schon einige Bestimmungen des
von Friedrich II. am 26. April 1220 erlassenen Privilegs für die geistlichen
Fürsten (B-F 1114). Es musste z. B. die Beschränkung königlicher Jnris-
dictionsrcchte in den Bischofsstädten auf die Zeit unmittelbar vor, nach und
während eines Reichstages den Zusammenhang der Städte mit dem König-
tum mindern. Man denke an die oben in Capitel VI angeführten Beispiele
königlicher Rechtssprechung und Gesetzgebung für die Leute im Bischofs-
gebiet! Die genannte Urkunde ist jedoch von Philipp! (Zur Gesch. der
Reichskanzlei unter den letzten Staufern Münster 1885 S. 106 ff.) für unecht
erklärt worden; a. M. Winkelmann (Gött. gelehrte Anzeigen 1885 S. 795
bis 813 sowie Friedrich II. S. 64 ff.) Weil and (in den oben N. 1 citierten dem
Andenken Waitz’s gewidmeten Aufsätzen S. 249 ff.), unter denen letzterer
jedoch auch die Echtheit der Urkunde nicht für völlig gesichert hält Über
den Inhalt des Privilegs s. jetzt Winkelmann Friedrich II. a. a. 0. Für
die Echtheit sprechen jedenfalls die bisher noch nicht herangezogenen Wormser
Vorgänge von 1232, bei denen, ganz c. 7 dieses Gesetzes entsprechend, der
Verhängung des bischöflichen Bannes in kurzer Zeit die Acht folgt, s. unten.
*) B-F 4028 (L L II p. 267); vgl. über diese Verordnung jetzt Winkel-
mann a. a. 0. S. 491.
4) B-F 1635, Huillard-Brfeh, II S. 623.
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311
Friedberg Bundesgenossen fanden, welche sicli ihnen eidlich zur
Hilfeleistung verpflichteten. Heinrich verordnete nun die Rück-
gabe der in Oppenheim aufgenommeneu Personen, die Vermei-
dung ähnlicher Vorkommnisse und die Auflösung des Bundes
Schwerlich haben die Städte ihren Bund gegen dies Reichs-
gerichtsnrteil aufrechterhalten können.
Noch weit mehr als dasselbe haben aber auf unsere mittel-
rheinischen Städte die im nächsten Jahrzehnt erlassenen Gesetze
eingewirkt. Gegenüber der- sich gerade damals mehr und mehr
consolidierenden Ftirstenmacht war auch für die Städte ein
Festhalten des bis dahin errungenen nur bei weiteren Fort-
schritten möglich; solche zu en-eichen, ja auch die schon er-
worbenen Rechte zu bew-ahreu, wurde ihnen damals durch Be-
schränkung ihrer Kampfesmittel ausserordentlich erschwert.
Die, durch allmähliche Machterweiterung des sich in einen Rat
nmwandelnden Schöffencollegs sowie die etwa auf andere Weise
in deu Besitz politischer Rechte gelangten, Städte konnten sich
selbst nur durch eidliche Verpflichtungen (coniurationes) die
nötige Festigkeit zum Kampfe geben. Diese immer wieder vou
neuem auftauchenden gegenseitigen Eidesverbindungen konnten
dreierlei Art sein.1) Zunächst konnten sich alle Stadtbewohner
eidlich verpflichten, gewissen Ratsbeschlüssen, namentlich auch
mittelbar oder unmittelbar gegen den Stadtherrn gerichteten,
zu gehorchen; dadurch allein mochte ihre Befolgung ausreichend
gesichert erscheinen.*) Ferner wurde oft auch ein Teil der
Landbewohner eidlich zu Gunsten der Stadt verpflichtet; hier-
mit hing sowohl die Zulassung von hörigen und unfreien Land-
bewohnern zum Wohusitz in der Stadt und zur Aufnahme ins
städtische Bürgerrecht als die Aufnahme ausserhalb der Stadt
wohnen bleibender Landleute ins Bürgerrecht zusammen. Am
mächtigsten endlich wurden die Städte durch Bündnisse unter-
einander. War ihnen das letztere Kampfmittel im Verfassungs-
streit schon durch den erwähnten Reichsgerichtsschluss von
1226 genommen, so war ihnen auch schon durch ebendiesen
die Hineinziehung der umwohnenden Landleute in die städtischen
*) vgl. LiSher, Fürsten und Städte z. Zt. der Hohenst. (Halle 1846)
S. 81, 52.
*) Man vergleiche auch die späteren Stadtfriedenseimuigen , über die
Beusler (Ursprung 224—226) spricht.
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312
Interessen verboten worden. Viel weiter ging noch ein auf
den Namen König Heinrichs erlassenes Edict der Fürsten vom
23. Januar 1231. ‘) Eis ist ein Reichsgerichtsschluss, dessen
städtefeindlicher Inhalt sich aus dem, von Friedrich II. ver-
anlassten, Siege der Fürstenpartei an Heinrichs Hofe erklärt.*)
In Opposition gegen die Fürsten hatte Heinrich noch am 30.
Juni 1230 den Bürgern von Lüttich die von ihnen gegen ihren
Bischof geschlossene Einnng bestätigt und dabei zugleich aus-
drücklich bemerkt, dass er zur Bestätigung solcher Einungen
berechtigt sei.*) Am 21. Jannar des nächsten Jahres musste
Heinrich dies Privileg widerrufen und demütigend genug be-
kennen, dass er solche Einungen in den fürstlichen Städten
ohne Zustimmung des Stadtherrn nicht bestätigen dürfe.*)
Mit diesem Siege im Lütticher Streite beruhigten sich aber
die Fürsten nicht; ihnen lag daran, auch für die Folgezeit vor
allen Einmischungen des Königtums in ihr Verhältnis zu ihren
Bürgerschaften gesichert zu sein. Dies musste ihnen um so
wichtiger erscheinen, als damals in mehreren Städten heftige
Kämpfe zwischen Stadtherren und Bürgerschaften schwebten.
Für uns kommen hier die damals in Worms geführten Streitig-
keiten in Betracht, über welche wir auch am besten unter-
richtet sind. Hier hatte der damals regierende Bischof Hein-
rich, wie früher erzählt ist,6) am 14. April 1220 selbst die Ein-
willigung der Bürgerschaft nachgesucht, als er sich zur Ver-
äußerung geistlichen Guts veranlasst sah, um damit die Gunst
des Königs zu gewinnen ; sechs Tage darauf hatte EYiedrich II.
der Stadt das angebliche Privileg seines Grossvaters bestätigt
und ihr so weitgehende Rechte gesichert.*) Als aber 1230 die
Macht der Fürsten dadurch noch ausserordentlich gestiegen
war, dass sie im Frieden von S. Germano als Vermittler zwischen
Kaiser und Papst auftraten, sollte sich gerade Bischof Heinrich
der Hilfe der Reichsgewalt gegen seine Bürger mit Erfolg be-
dienen. Mit diesen war er damals in heftigen Streit gerathen.
') B-F 4183.
*) vgl. Schirrmacher in Forsch, i. D. G. XI 391.
•) B-F 4169.
*) B-F 4181.
•) s. oben S. 275 mit N. 6.
*) ibid. mit N. 4.
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313
Die wirkliche Ursache desselben wird zweifellos in dem, zu
Worms schon lange wieder nachweisbaren, Gegensätze der An-
schaaungen von Clerus und Bürgerschaft über Recht and Staat
und in den Collisionen ihrer beiderseitigen Machtansprüche1)
zu suchen sein. Als äusserer Anlass zu diesem Zwiespalt
Bischof Heinrichs mit den Wormsern ist uns jedoch das Streben
des ersteren bezeugt, auch das ererbte Vermögen seiner Cano-
niker von der städtischen Steuererhebung zu befreien ; bisher war
nämlich nur das eigentliche Kirchenvermögen von dieser ver-
schont geblieben.*) Ferner erregte es Heinrichs Unwillen, dass
damals ein Rathaus auf städtischem Grund und Boden errichtet
wurde;*) bis dahin scheint der Wormser Rat entweder im Bischofs-
hof oder in kirchlichen Gebäuden getagt zu haben,4) was dann
') Vgl. die früheren Ausführungen bes. 8. 250, 251, 304 , 309 etc.
*) Vgl. Zorn S. 61. Dass die Auffassung Zorns , dass in Worms bis
dahin nur die Präbenden der Canoniker, also das eigentliche Kirchenvermögen,
nicht die sonstigen Einkünfte derselben, also ihr Privatvermögen, steuerfrei
waren, richtig ist, kann aus W U 89 geschlossen werden. Hiernach hatten
sich die Wormser Canoniker 1182 beim Kaiser beklagt, dass die im Dienste
der Kirche stehenden Leute in Worms besteuert würden; von Besteuerung
nnd Steuerfreiheit der Canoniker selbst ist nicht die Bede. A. M. Schaube
Worms S. 295, 296; jedoch ist die Ansicht desselben, dass .der Bat seine
Competenz anch der Deutlichkeit gegenüber überschritten* habe, in den
Quellen nicht begründet.
*) Boehmer Fontes II p. 161.
4) Dass der Wormser Bat vorher im Bischofshof getagt, berichtet
Arnold V. 0. II 20, ohne aber dafür Belege anzuführen; aus Arnold
hat diese Thatsache wohl Liebe S. 27 entnommen, der sich aber dafür
anf Boehmer Fontes II p. 161 beruft, wo nichts davon steht. Mit Sicher-
heit ist die Frage, wo der Wormser Bat in älterer Zeit regelmässig getagt
hat, nicht zu entscheiden. Im Jahre 1208 wird eine Schenkung vor dem
Rat in clanstro s. Petri ante crucifixum vollzogen (U 109); ebenso geschieht
ein Kanf 1216 mediantibus et adstipulantibus XL consiliariis (nostre) civitatis
in ecclesia sancti Stephani (U 120). Über die Bedeutungen von claustnun
cf. Dncange II p. 363 u. Brinckmeier, Glossarium diplom. (Gotha 1856);
danach wird darunter auch .ein mit Mauern umgebener Ort* verstanden, womit
hier, da der Wormser Dom St Peter geweiht war, der Hof zwischen Dom
nnd Bischofspalast gemeint sein konnte. In der erwähnten Urkunde von
1208 ist aber doch wohl das Innere der Kirche gemeint; dafür spricht jeden-
falls die Erwähnung des crucifixum und die Analogie der Urkunde von 1216.
Im Bischofshof fanden zweifellos die Wahlen der städtischen Beamten statt
(Boehmer fontes II 212 und 215); hier geschah auch die Bekanntmachung
des Ausgleichs mit dem Bischof 1231 und 1253 (U 159 S. 120 Z. 1; Zorn
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314
als Zeichen seiner Abhängigkeit vom fürstlichen Stadtherrn
gedeutet werden konnte. Der Bischof wandte sich nun klagend
an den König. Dieser stand damals derart unter dem Einfluss
der Fürstenpartei, dass er den Städtern Unrecht geben musste.
Zwei geistlichen Fürsten, Sigfrid, erwähltem Erzbischof von
Mainz, und Bischof Sigfrid von Regensburg, wurdo es über-
tragen, das der Wormser Kirche zugefügte Unrecht zu unter-
suchen und alle den Privilegien derselben widersprechenden
Ratsbeschlüsse für ungültig zu erklären. Die Massnahmen dieser
Schiedsrichter sollten die Autorität königlicher Verordnungen
gemessen und allen ihnen entgegenstehenden Urkunden jede
Rechtswirksamkeit nehmen. (1231 Jan. 18.)')
Das Erkenntnis, zu welchem nun diese beiden Prälaten
gekommen sind, ist nicht mehr vollkommen festzustellcn.*) So-
viel kann als gewiss angesehen werden, dass sie Frieden zwischen
Bischof und Bürgerschaft stifteten, welche sich darauf gegen-
seitig versprachen, einander auf alle Weise zu unterstützen.
Ferner versprach der Bischof den Bürgern, die ihnen von seinen
Vorgängern eingeräumten Rechte zu lassen.3) In dieser Fassung
des Vertrages konnte schon ein Zugeständnis der Bürger liegen,
da diese wohl schon gleich der spätem Bürgerchronik,4) ihre
Rechte als ihnen von alters her zustehend, nicht als auf bischöf-
lichen Concessionen beruhend, ausahen. In wie weit die Bür-
ger sonst noch nachgaben, ist nach der Natur unserer Quelle
S. 96) und hier leisteten 1273 die Wormser Rudolf von Habsburg den Treu-
eid (Boehmer Font. II p. 207). Ob aber dieser Biscbofsbof oder die erwähnten
Kirchen oder etwa doch noch ein auderer Platz als der regelmässige Sitzuugs-
ort des Schöffencollegs und dann bis zur Erbauung des Rathauses des Rates
anzusehen ist, muss dahingestellt bleiben.
>) W U 147.
’) Unsere einzige Quelle ist nämlich U 159, die Darstellung dieser
Streitigkeiten seitens der Stadt in einer Urkunde , durch welche sie einen
Rechtsgelehrteu zu ihrer Verteidigung am päpstlichen Hof suchte. Die Auf-
fassung ist hier natürlich ganz parteiisch; dagegen spricht es ffir die Rich-
tigkeit der hier angegebenen Thatsachen, dass, wo wir dies Manifest durch
Urkunden contxolliereu können, sich kein Widerspruch zeigt und dass Ent-
stellung damals noch leicht zu constatierender Vorgänge den Bürgern mehr
geschadet als genützt hätte, vgl. Köster S. 47 ff.
*) U 159: Ut nullnrn ius ab antecessoribus suis civibus indultum ali-
qualiter infirmaret.
*) Boehmer Fontes II p. 161 Z. 15.
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über diesen Schiedsspruch nicht mehr zu ermitteln. Jedenfalls
behielten sie ihr Rathaus. Im ganzen scheint der Bischof da-
mals von der von ihm selbst herbeigeführten Gelegenheit, die
Macht des Bistums über die Stadt zu erweitern, keinen Ge-
brauch gemacht zu haben; es lag wohl hauptsächlich daran,
dass er sich gerade zu jener Zeit in einem heftigen Streite mit
den Dominikanern befand, die er gegen den Willen des Papstes
von seiner Diöceso fernhalten wollte.1)
So ist wohl am einfachsten der Widerspruch zu erklären, in dem
diese Nachgiebigkeit des Wormser Bischofs zu der gleichzeitigen,
höchst wahrscheinlich von ihm selbst veranlassten , städte-
feindlichen Reichsgesetzgebung zu stehen scheint. Zunächst
hatte ja schon derselbe Wormser Reichstag, von dem am 18.
Januar die beiden Prälaten mit der Untersuchung der Beschwer-
den Bischof Heinrichs betraut worden waren,*) am 23. Januar
durch die erwähnte,3) den Lütticher Streit entscheidende, Reichs-
sentenz ein Reichsgesetz zum Nachteile aller Städte erlassen.4)
Es war nämlich damals als geltendes Reichsrecht erkannt und
bestätigt, dass keine Stadt irgendwelche — wie auch immer
genannte — Eidesverbindungen ohne Zustimmung ihres Stadt-
lierreu und des Königs errichten dürfe ; weder der König könne
ohne Zustimmung des Stadtherrn, noch der Stadtherr ohne Zu-
stimmung des Königs solche Einungen bestätigen. Dass durch
diese Bestimmungen gerade auch zwei unserer Städte eines
Hauptkampfmittels im Streite gegen ihre Stadtherren beraubt
werden sollten, kann daraus geschlossen werden, dass die Be-
urkundung dieser Reichssentenz in für den Erzbischof von Mainz
und den Bischof von Worms erlassenen Ausfertigungen er-
halten ist.5)
Ist nun in diesen Urkunden die enge Zusammenfassung der
Bürger einer einzelnen Stadt oder das Bündnis mehrerer im
Kampf für ihre Rechte verboten, so wurde dann im Mai 1231
ein Gesetz veröffentlicht, das jede Hereinziehung der Landbewohner
*) Boehmer Fontes II p. 174, W-U 161, vgl. Arnold V. O. II S. 170 ff.
*) vgl. oben S. 314.
*) vgl. oben S. 312.
‘) B-F 4183.
5) Wie schon Ficker a. a. 0. bemerkt hat, sind nämlich in diesen
Urkunden die jedesmaligen Empfänger nicht in der Zeugenliste genannt.
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in die Interessen der Stadt unter Strafe stellte.1) Der nächste
Zweck dieses von den Fürsten im Namen König Heinrichs er-
lassenen Gesetzes war Förderung ihrer Machtstellung; daher
ist es auch ganz treffend von Pertz bekanntlich als statutum
in favorem principum bezeichnet. Es enthält besonders Con-
cessionen des Kaisers, durch welche die aus königlichen Pfalzen
erwachsenen eigentlichen Reichsstädte *) an Benachteiligung der
Fürsten gehindert werden, so dnrch das allgemeine Verbot
der Erteilung des Bürgerrechts an auf dem Lande wohnen
bleibende Personen.*) Ferner wurde allen Städtern verboten, von
den Bauern Renten an Getreide, Wein und Geld zu beziehen; von
noch geschuldeten sollten die Bauern frei gesprochen, neue nicht
mehr begründet werden.4) Abgesehen davon , dass einzelne Bürger
Besitzungen auf dem Lande erwerben und gegen Zins austhun
mochten, konnten sich auch gegen einmalige Capitalleistungen
von Städtern die Bauern zu jährlicher Zinsleistung verpflichtet
') B-F 4195, L. L. U p. 282.
*) Arnold V. 0. 11 12 meint, „in diesem Gesetze seien mit dem Aus-
drucke civitates nostrae nicht bloss die königlichen Hofstadt«, sondern alle
bedeutenderen Städte Deutschlands gemeint , deren Einwohner wenigstens
x. T. aus Freien bestanden.' Er nndLöherS. 71 finden, dass sich dies Gesetz
„vor allem auf die Bischofsstädte“ bezieht, „deren Bürger diiecti fideles nostri
in königlichen Urkunden genannt würden.* Das Gesetz vom Mai 1231
scheint aber, wie auch Nit zach Minister. S. 389, 390 ausführt, seinem gan-
zen Wortlaut nach von den Fürsten entworfen zu sein , unter welchen die
Bischöfe als Stadtherren auch ihrerseits die genannten Städte als civitates
nostrae bezeichneten. Das Gesetz enthält vielfach Aufhebung von Nach-
teilen, welche den Fürsten durch die zahlreichen von den Stanferu begrün-
deten und damals mächtig aufblühenden Städte erwuchsen (vgl. Nitzsch D.
G. III S. 66, 67, 92). Einige Bestimmungen des Gesetzes gehen sicher auf
alle Städte; es erscheint höchst gewagt, bei den ausdrücklich für civitates
nostrae erlassenen statt an die Pfalz- an die Bischofsstädte zu denken.
Wären sie in erster Linie gemeint worden, so wären sie wohl auch genannt
oder die Bestimmungen würden wie das Verbot der Pfahlbürger ganz allge-
mein lauten, vgl. auch Nitzsch a. a. 0.
*) Item cives, qui phalburgere dicuntnr, penitus deponantur.
*) Item census frumenti, vini, pecunie vel alii quos rustici constituerunt
se soluturos, relaxentur, et ulterius non recipiantur. Löher S. 85 meint, es
handle sich um „Schatzungen, welche das mit den Städten verbürgerte Land-
volk an die städtische Kammer zu leisten übernommen hatte.' Die Erwer-
bung des Bürgerrechtes war jedoch schon vorher in dem Verbot des Pfahl-
bürgertums verboten und, da sie schon an und für sich ungesetzlich war,
hätte ein Lösen von daraus entspringenden Verpflichtungen keinen Sinn gehabt.
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haben. Natürlich war eine derartige Belastung der Bauern zu
Gunsten städtischer Bürger — welche übrigens nach Testa-
menten der letzteren im dreizehnten Jahrhundert am Mittel-
rhein schon oft nachweisbar ist l) — den ökonomischen Interessen
der Grundherrn schädlich. Die Durchführung der in dem Gesetz
enthaltenen Massregel, zu der es wohl höchstens an einzelnen
Stellen gekommen ist, hätte aber eine Beraubung der städtischen
Gläubiger auf ihnen vertragsmässig zustehende Rechte in sich
geschlossen; auch politisch wäre sie in sofern von Wichtigkeit
gewesen, als die Schuldner der Städter leicht auch politisch
von der Stadt abhängig wurden. Auch für die Bischofsstädte
erscheint ferner die Bestimmung unseres Gesetzes von Wichtig-
keit, dass niemand seinen Wohnsitz ausserhalb derjenigen Cent
wählen solle, in der er bisher gesessen sei.*) Hierauf konnten
sich die Fürsten berufen, wenn sie persönlich freie Leute ihres
Territoriums an der Einwanderung in die Städte verhindern
wollten. Die Aufnahme von leibeigenen Leuten (homines pro-
prii) in die Städte wurde schlechthin verboten.*) Ergänzt wurde
diese Bestimmung durch die Reichssentenz vom 29. Juni 1231,
wonach der Nachlass von in die Städte geflüchteten Leibeigenen
der Kirche dieser gehöre.4)
Wie mehrere Bestimmungen der früher genannten städte-
feindlichen Gesetze stand auch diese mit den Anordnungen
zahlreicher königlicher Privilegien in direktem Widerspruch.5)
*) vgL z. B. W. U. 109, 200, 303, Sp. ü. 60, 77, 97, 136.
*) Item locum cente nemo mutabit «ine consensu domisi terre. Über
die Bedeutung dieser Bestimmung vgl. Löher 8. 78, der such ihre Wichtig-
keit hervorhebt. Nitz sch D. 0. III 93 meint, d&ss es sich hier um ein
Verbot der Verlegung der Gerichte handle; so auch Winkelmann I 8. 397
N. 2, der aber ausserdem noch mit Löher das Verbot des Wegzuges aus
der Cent in dieser Stelle findet. Jedoch werden sich, während der Zuzug
vom Lande bekanntlich zu vielem Zwist Anlass gab, Beispiele von Streitig-
keiten wegen Gerichtsverlegung wohl kaum nachweisen lassen.
*) Item principum, nobilium, ministerialium, ecclesiarum homines proprii
non recipiantur in civitatibus nostris. Die zahlreichen Bestimmungen des
Gesetzes , welche sich in erster Linie auf die eigentlichen Reichsstädte be-
ziehen, übergehen wir hier (vgl. 8. 316 N. 2).
*) B-F 4207 L. L. II p. 84.
•) z. B. der in den Urkunden Heinrichs V. für Worms und Speier ent-
haltenen Bestimmung, dass der Nachlass aller dortigen Einwohner an ihre Kinder
resp. sonstige Verwandte oder Testamentserben fallen sollte, vgl. oben 8. 224, 229.
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Nach welcher Rechtsquelle nun in solchen Fällen zu ent-
scheiden sei, konnte zweifelhaft erscheinen. Gerade mit
dieser Frage haben sich 1231 und 1232 die in Oberitalien von
Friedrich II. zum Reichstage von Ravenna1) versammelten
deutschen Fürsten beschäftigt. Friedrich war damals wohl
auch durch die in Aussicht stehende Empörung seines Sohnes
genötigt, allen Wünschen der Fürsten zu entsprechen; so hat
er die, in Heinrichs Namen von ihnen erlassenen, Gesetze nicht
nur ausdrücklich als kaiserliche publiciert, sondern auch darein
gewilligt, dass durch sie alle entgegenstehenden, aus kaiser-
lichen Privilegien abgeleiteten, Rechte für aufgehoben erklärt
wurden. So wurden Heinrichs Concessionen an die Fürsten
vom 1. Mai 1231 etwa ein Jahr später auf dem Reichstage
zu Cividale bestätigt;*) dabei wird aber, während es in der
Vorlage noch heisst, dass die Privilegien Friedrichs und Hein-
richs durch diese Begünstigungen der Fürsten nicht berührt
werden sollen,’) in dem zu Cividale erlassenen Gesetze, das
sonst dem Wormser meist wörtlich folgt, gerade diese Stelle
weggelassen.
Noch wichtiger für unsere mittelrheinischen Städte als
dies zu Cividale veröffentlichte Gesetz erscheint die Bestätigung des
Reichsbeschlusses vom 23. Januar 1231 gegen Eidesverbin-
dungen in den Städten, welche schon früher zu Ravenna (De-
zember 1231) stattgefunden hatte.4) Hier wurden nämlich nicht
nur die Eidesverbindungen in den Städten, sondern auch die
Ratsbehörden, die Bürgermeister- und alle übrigen Ämter auf-
gehoben, deren Inhaber von der Gesammtheit der Bürger ohne
Erlaubnis der Erzbischöfe und Bischöfe eingesetzt waren.5)
Ferner wurden die sämmtlichen Vereine von Gewerbstreibenden,
*) Dieser, auf 1. Nov. 1231 nach Ravenna berufene, Reichstag wurde
bekanntlich erst Weihnachten 1231 eröffnet, von Märe 1232 an nach ver-
schiedenen Orten verlegt und endete erst 20. Mai 1232, vgl. Wacker, Der
Reichstag unter den Hohenstaufen (Leipzig 1882) S. 108, 109.
*) B-F I960 L L II p. 291.
•) B-F 4196 (L. L. II p. 283 Z. 10): salvis privilegiis a patre nostro
obtentis et ab eo vel a nobis in posterum obtineudis.
*) B-F 1917, L L II p. 286.
l) revocamus in irritum et cassamns in omni civitate vel opido Ale-
manniae cominunia, consilia et magistros civium seu rectores, vel alios quos-
libet officiales, qui ab nniversitate civium sine arehiepiscoponun vel episcoporum
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319
welchen Namen sie auch führen sollten, verboten.1) Während
aus mehreren Urkunden, in denen die Stadtherrn solchen Ver-
einen Rechte einränmen,*) zu schliessen ist, dass ihnen diesel-
ben bisher gänzlich ungefährlich erschienen waren , fürchtete
man damals jede Betkätigung des Einungstriebs unter den
Städtern. Nachdem dann noch die Erträge des fürstlichen
Münzregals besonders gesichert sind,’) wird bestimmt, dass die
ganze Regierung der Stadt den Bischöfen und den von ihnen
eingesetzten Beamten zustehen sollte, wie es in früheren Zeiten
der Fall gewesen. Ein diesen bischöflichen Rechten entgegen-
stehendes Gewohnheitsrecht soll keine Bedeutung haben; kai-
serliche und bischöfliche Privilegien, welche zum Nachteil der
Fürsten und des Reichs den Städten Eidgenossenschaften oder
Rat sichern, wurden für ungültig erklärt.*)
Die letztere Bestimmung ist entschieden in Hinsicht
auf die Wormser Verhältnisse erlassen, da sich gerade hier die
Bürger auf den Reichsgerichtssentenzen widersprechende kaiser-
liche Privilegien berufen konnten.5) Speciell vom Wormser
beueplacito statuuutur, quocumque pro diversitate locornm nomine censeantar.
Damit ging Friedrich noch hinter den von Beinern Sohne im Gesetz von 1231,
Januar 23 , beobachteten Standpunkt (vgl. oben S. 315) znriiek , indem er da-
mit jeder Einwirkung auf die Ratsbildnng in den Bischofsstftdten entsagte,
vgl. Nitzsch Minister. S. 397. Dass Friedrich freilich nur so handelte, weil
er darin den einzigen Weg, den Episcopat auf seiner Seite zu behalten, kann
aus seinem späteren Privileg für Regensburg (B-F 3516) geschlossen werden.
') Irritainus nihiloiuinus et cassainus eniuslibet artificii confraternitates
seu societates quocumque nomine vulgariter appellantur.
*) vgl. z. B. ans Mainz B-W XXIV 27 (Joannis II 518) n. XXXI 128
(Baur, He3s. Urk. II 23) sowie oben S. 100, 101.
*) placuit statuendum, nt in omni civitate vel oppido, ubi moneta iure
enditur, nec mercimonia nec victualia aliquo argenti pondere vendantur vel
emantnr, prater quam illis denariis, qni cuilibet civitati vel oppido sunt
communes, vgl. Eheberg S. 61—55.
4) omnia privilegia, litteras apertas et clansas, qnas vel nostra pietas
vel predecessorum nostromm, archiepiscoporum etiam et episcoporum, super
societatibus , communibus seu consiliis in preiudiciiun principum et imperii
aive privatae personae dedit sive cuilibet civitati in irritum revocamus
et inania indicamns.
*) vgl. Arnold V. G. II 15, der auch das Verbot der Ratsbehörden
als durch die Wormser Entwicklung veranlasst erklärt. Ob andererseits das
Verbot des Bürgermeisteramtes und die Aufhebung der Einrede des langen
Bestehens der, durch Reichsgesetz verbotenen, Einrichtungen gerade auf
Köln weisen, wie Arnold a. a. 0. meint, erscheint zweifelhaft. Abgesehen
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320
Bischof wird auch berichtet, dass er einer der Haupturheber
der städtefeindlichen kaiserlichen Gesetze gewesen sei. !) Hein-
rich war nämlich bald, nachdem er, wie oben*) erwähnt, mit
seiner Bürgerschaft Frieden geschlossen, mit ihr von neuem in
Zwist gerathen. Ähnlich wie bei dem Streite der Mainzer mit
ihrem Erzbischof Arnold von Selenhofen *) gab auch hier die
Forderung der Beisteuer zum Reichsdienst des Stadtherrn den
Anlass dazu, dass der schon lange vorhandene Gegensatz zum
offenen Kampfe wurde.*) Von Friedrich II. war auch Bischof
Heinrich zu dem erwähnten Reichstag von Ravenna berufen.*)
Als er sich mit der Bitte um eine Beisteuer an seine Bürger
wandte, wurde ihm dieselbe verweigert;*) auch ein Versuch,
davon, dass es in KBln in Folge dieses Edicts nicht zu Streitigkeiten kommt
(Arnold V. 6. Q 15), konnten sich doch nach die Wormser auf lange Aus-
übung ihrer Hechte berufen (cf. die consuetudo approbata in O 154 Z, 16)
und ganz wie die Einsetzung des Rates wird auch die der Bürgermeister hier
später in Folge dieses Edikts anders geordnet.
l) W U 159.
•) S. 314, 315.
•) vgl. oben Cap. VIII S. 284 ff.
*) Für diesen Zwist des Bischofs mit der Bürgerschaft sind namentlich
als Quellen zu verwenden : 1) W U 159 (vgl. oben S. 314 N. 2), 2) ein Abschnitt
einer nicht gleichzeitigen Bischofschronik (Boehmer Font. II S. 160 — 161, Z. 13,
vgl. KB ster S. 45 ff, S. 92a), 3) eine Bürgerchronik, der gleichzeitige
BUrgeraufzeichnungen zu Grunde liegen (Boehmer 161 Z. 14 — 162 Z. 23, vgl.
Küster S. 73 ff, 8. 91c.).
•) Nach U 159 (tarn dominus noster episcopus quam cives vocabantur
ad curiam Ravenne celebraturam) sind auch die Wormser Bürger zu dem
Hoftag berufen worden. Ob dies richtig ist, muss dahingestellt bleiben. War
es der Fall, so geschah es nur, damit sie bei den Verhandlungen die Rechte
ihrer Stadt vertraten. An den eigentlichen Reichstagsberatungen nahmen
damals jedenfalls die deutschen Städte nicht Teil (vgl. Wacker, Reichstag
unter den Hohenstaufen S. 61 u. 65). Wenn nach den Annalen des Genuesen
Bartolomäus die Ladungen fidelibus imperii videlicet rectoribus civitatum et
aliis viris magnatibus geschickt wurden (S S XVIII p. 177), so sind damit
doch nur die italienischen Stadtvorstände gemeint.
•) Boehmer p. 161. Ob der Bischof ein Recht auf die Bede gehabt hat.
was Schirrmacher Forsch, z. D. G. Bd. XI S. 324 mit N. 3 ebenso ent-
schieden behauptet, wie es Arnold V. G. H S. 21 entschieden verneint hat,
ist nicht zu ermitteln. Die Zusicherung Friedrichs II. an Lupoid von
Worms 1212, Okt. 6, (W U 115), Steuern von den Wormsern nur durch ihn
zu erheben, auf welche sich Schirrmacher a. a. 0 beruft ist wohl nur
als diesem Bischof persönlich gemachte Concession anzusehen.
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sie durch das Versprechen der Vermehrung ihrer Rechte um-
zustimmen , missglückte. Ein Teil der Ratsmitglieder schlug
zwar vor, dem Bischof wenigstens 60 Pfund als Beisteuer zu
gewähren , doch wurde dies von der Majorität abgelehnt.1).
Auf eigene Kosten schickten hingegen die Wormser an den kai-
serlichen Hof Gesandte, deren Ausrüstung ihnen weit mehr
kostete. Diese reisten scheinbar in des Bischofs Gefolge ; in
Wirklichkeit wollten aber die Städter in ihnen Vertreter ihrer ei-
genen Interessen am kaiserlichen Hofe haben. Dort wirkte nun der
Bischof, während er offenen Conflikt mit den Städtern ver-
mied, in entschieden städtefeindlichem Sinn.*) Mit seinen Be-
mühungen ist es wohl in Zusammenhang zu bringen, dass das
Edikt von Ravenna speciell auf die Wormser Verhältnisse ge-
richtet scheint. Im Januar 1232 liess Bischof Heinrich nun
eine Ausfertigung dieses Edikts nach Worms schicken.’) Hier
*) Boehmer p. 161, U 159.
*) ibid.
*) In der Biscbofecbronik (Boehmer p 160 Z. 19 — 24) ist von litterae
bullatae dio Rede, welche der Bischof vom Kaiser empfängt und durch Rein-
hard von Lautern in die Stadt schickt. Unter diesen kann nur die Beurkun-
dung des besprochenen Gesetzes (B-F 1917), nicht die spätere kaiserliche
Achtserklärung und das Mandat , das Rathaus abbrechen zu lassen (U 155
n. 156), gemeint sein. Zunächst ist, wie schon Oargun Forsch. XIX S. 369
ausfuhrt, nur B-F 1917 mit einem Metallsiegel (bulla) versehen , hei U 155
und U 156 werden nur Wachssiegel (sigilla) erwähnt; vgl. freilich
B ress lau, Urkundenlehre S. 939, 940. Entscheidend ist aber jedenfalls, dass
nach U 159 sich die Bürger in Folge der dem Bischof erteilten, kaiserlichen
Privilegien, durch welche alle Rechte und Freiheiten der Stadt aufgehoben
wurden, an König Heinrich wandten, der ihnen darauf ihre Rechte bestätigte.
Die Urkunde, in der er dies that, kann aber nur das den Wormsern am
17. März 1230 erteilte Privileg (W U 154) sein. In Folge dessen hat
dann nach W U 159 der Bischof die Ächtung der Bürger durch den
Kaiser herbeigeführt. Demnach ist also Boehmer» Bemerkung zur
Bischofschronik (p. 160 Z. 20) „Mai“ in „Januar* zu verbessern; auch
die von Köster S. 96 vorgeschlagene Verbesserung „Januar und Mai“ ge-
nügt nicht, da in der Bischofschronik vom Interdict und der Anklage (de-
nnnciatio) , welche doch die Ächtung erst zur Folge hatte , erst später die
Rede ist. Dass Reinhard von Lautem nach B-F 1983 (Schannat tl p. 113)
wahrscheinlich Mai 1232 am kaiserlichen Hofe ist, spricht nicht gegen diese
Datierung seiner Sendung, wie aus der Bemerkung Fickers zu B-F 4228
geschlossen werden könnte. Reinhard hat sich gewiss sogleich nach dem
erfolglosen Ausgange seiner Reise, um denselben dem Bischof von
Ko ebne, Ursprung der sudtverfwsung in Worms, Speier und Meine i!
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322
dachte man aber nicht daran, demselben zu folgen und nun
Rat und Innungen aufzulösen. Da die Wormser sahen, dass
sie vom Kaiser nichts mehr zu hoffen hatten, wandten sie sich
an König Heinrich.1) Dieser zeigte sich ihnen geneigt; höchst
wahrscheinlich wollte er sich ihre Hilfe für den schon von ihm
vorgesehenen Fall von Zwistigkeiten mit seinem Vater
sichern.*) Er gewährte den Wormsern alles, was sie nur ver-
langen konnten, ohne sich dabei irgendwie durch die Gesetze
von Aquileja für gebunden zu erachten. Die Wormser sollten
ihren Rat, sowie alles, was ihnen in ihren Privilegien verlie-
hen sei, behalten und nach ihren, von ihm anerkannten, Ge-
wohnheiten weiter für Ehre und Vorteil ihres Gemeinwesens
sorgen.*)
Sobald der Bischof von dieser Unterstützung der Stadt
durch den König Kunde erhielt, that er den Wormser Rat in
Bann;*) später sprach er auch noch das Interdikt über die
ganze Stadt aus.*)
Worms zu melden, wieder au den kaiserlichen Hof begeben; an diesem ist
Heinrich nach den Begesten Friedrichs von December 1231 bis Mai 1232
nachweisbar, vgl. B-F 1917 — 1988 und Dargun Forsch. XIX 370. Wenn
letzterer aber bemerkt, dass .ein Conradus (sic) Wormaciengis episcopus* in
Huil.-Breh. IV 370 (= B-F 1991) unter den Zeugen einer kaiserlichen Ur-
kunde noch im Juli erscheint, so hat er ganz Ubersehen, dass es sich dabei
mir um eine transsumierte Urkunde Friedrichs I. handelt, in deren Zeugen-
liste Bischof Conrad von Worms vorkam.
*) W U 159, vgl. die vorige Note.
*) vgl. Sch irr mach er Friedrich II Bd. I 8. 204, 205 und Forsch.
XI 8. 327, B-F 4228 S. 767, Dargun Forsch. XIX S. 354.
*) W U 154 vgl. 8. 321 N. 3. Darüber, ob der Satz in U 154 .pater
noster nostre dicioni deputavit terram Alemannie plenius“ richtig sei,
ist viel gestritten, vgl. Winkelmann Friedrich II 8. 408, Schirrmacher
Forsch. XI 8. 329 u. Ficker zu B-F 4228 8. 767 am Schluss. Mir er-
scheint sehr möglich, dass Friedrich seinem Sohne dnrch seinen Kanzler, der
schon am 17. März 1231 (B — F 4227 a) mit ihm zusammentraf, grossere
Macht in Aussicht stellte, um ihn dadurch zur Zusammenkunft in Aquilqja
zu veranlassen, und dass Heinrich , da er sich dazu entschlossen , diese
Machterweiterung auch als schon geschehen ansah.
*) U 159: Ob hec dominus episcopus proecriptionem et bannum nobis
procura vit.
•) U 169 ist vom Interdict noch nicht die Bede, woraus hervorgeht,
dass dies Manifest wohl nach Bann und Acht, aber vor dem Interdict aus-
gestellt ist. Die Bischofschronik (Boehiner Font II p. 160 Z. 22 — 33) lässt,
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323
Ferner wusste der Bischof es durchzusetzen, dass, da der
Rat in seinem Widerstande beharrte, dem Banne Mai 1232 die
Reichsacht folgte.1)
In Worms erhielt man nun Nachrichten über die Verhand-
lungen. welche dieser Verordnung vorausgingen, und fürchtete,
dass der Bischof oder der den Bürgern damals feindliche
Kaiser das von ihnen errichtete Gebäude zur Zwingburg für
die Stadt machen würde.
So blieb dem Bischof die Ausführung der Zerstörung des
Gemeindehauses erspart; am 2. Mai 1232 wurde es von der
Bürgerschaft selbst verbrannt.*)
Im August kam es zu Verhandlungen zwischen Bischof und
Bürgerschaft, bei denen König Heinrich die Vermittlung über-
nahm. Am dritten dieses Monats bestätigte er den Wormsern
noch einmal ihre Privilegien, um sie so dessen zu versichern,
dass sie bei dem von ihm herbeigeführten Vergleiche nichts
verlieren würden, was ihnen nach dem Wortlaut ihrer Freiheits-
briefe zustand.*) Jedenfalls wollte auch der König sich dies-
als der Bischof mit geistlichen Strafen vorgeht (gladinm suiim spiritualem
admisit), ihn zuerst das Interdict aussprechen und daun alle Bürger (als
Excouununicierte) anzeigeu. Letzteres (cives universos denuntiavit) ist wohl
von der Anzeige an den Kaiser behufs Verhängung der Reicbsacht gemeint
(vgl. L. L. II p. 236 c. 6 u. 7, Winkelmann Friedrich II (1889) S. 69, 70, oben
S. 310. N. 2 Schluss, sowie unten nächste Note). Nach der Bischofschronik folgte
dann der Befehl des Bischofs an den Clerus, die Stadt zu verlassen. Da die
Acht aber nur diejenigen traf, welche am Bat beteiligt waren oder sich noch
daran beteiligen würden (vgl. nächste N.), so gilt dies auch vom Bann.
Auch hier erweist sich also die Bischofschronik im einzelnen als unzuverlässig.
Über die Unterscheidung zwischen Excommunication (Bann) und Interdict
und die Beobachtung dieser Unterscheidung im Mittelalter vgl. Kober Arch.
f. katbol. Kirchenrecht Bd. 21 (1869) 8. 22 ff. — Wenn es in der Bischofs-
chronik (Boehm. font p. 160 Z. 32, 33) später heisst: Et cum hec sententia
de die in diem aggravata fere per anmun durasset, so ist damit die Dauer
der gesummten fortwährend verschärften Kirchenstrafen, die über Worms
verhängt waren, gemeint.
') U 156. Der Kaiser ächtet hier : omnes illos, qui post predicte nostre
constitutionis «dictum in civitate Wormaciensi consilium facere et ipso uti
officio ucceptarunt vel amodo acceptabunt. Da der Bat damals nicht erst
neugebildet ist, so sind also nur die ßatsmitglieder geächtet worden.
*) Bürgerchronik (Boehmer fontes II p. 162).
*) U 167.
«•
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324
mal nicht als Werkzeug der Fürstenpartei gegen die Wormser
gebrauchen lassen. Dem Wunsche der Fürsten hätte er näm-
lich entsprochen, wenn er Rat und Innungen in Worms durch
königliches Mandat aufgehoben und dann die Neuordnung der
dortigen Verfassung einer Commission, in der die Fürsten die
Majorität gehabt, übertragen hätte.1) Dem Könige gelang es
aber, die Zustimmung des Wormser Bischofs dazu zu erhalten,
dass eine, aus zwei Fürsten nud zwei Ministerialen bestehende,
Commission zwischen Bischof und Stadt einen Vergleich zu
Stande bringen sollte, der jeder Partei erträglich erscheinen
könnte.*) Freilich musste der König andererseits — sonst hätte
sich wohl der Bischof nicht zu diesen Concessionen verstanden
— in der Urkunde, in der er den Bürgern dieselben anzeigte,
ihnen auch nachdrücklich befehlen, dass sie Rat und Innungen
auflösen und die Gerechtigkeit des über sie ergangenen Bannes
bei ihm und seinem Hofrat beschwören sollten.*) Dazu wollten
sich aber damals die Bürger noch nicht entschliessen.4) Schon
bevor ihnen überbracht war, dass ihr Bischof sie in Bann ge-
than, hatten sie gegen ihn an den Papst appelliert;®) zwischen
August 1232 und Mai 1233 setzten sieeiue Belohnung für denjenigen
Rechtsgelehrten aus, der ihre Verteidigung bei der Curie über-
') Die» wird in Anhang V nachgewiesen werden.
*) U 160: quod utriqne parti tolerabile videatur.
•) vgl. Anh. V.
4) Heist wird angenommen, dass schon die Verhandlungen vom August zum
Frieden geführt; als Grund der Verzögerung wird in der Regel *. B. hei
Arnold V. G. II 29 noch die Gefangennahme des Bischofs durch Konrad
von Thüringen angesehen. Wäre schon am 8. August 1232 die Stadt zur Auf-
lösung des Rates und der Innungen entschlossen gewesen, so sehe ich nicht
ein, warum dennoch die Verhandlungen noch bis zum 17. Febr. 1233, an dem der
wesentliche Inhalt des späteren Vertrags urkundlich gesichert wird (vgl.
S. 325 Note 6), gedauert haben sollen, während dann der Vertrag nach kurzer
Zeit, nämlich am 27. Februar 1233 fertig ist. Dazu kommt noch, dass die stets
drückender werdenden geistlichen Strafen nach der Bischofschronik (p. 160) schon
ein Jahr gedauert hatten, als die Bürgerschaft sich zum Frieden entschloss.
Endlich sollen nach U 160 alle Innungen aufgelöst werden; davon, dass
die der Münzer und Wildwerker bestehen bleiben, ist noch nicht die Rede.
*) D 159; Nos vero ante denunciationem nobis factam ad sedem apos-
tolicam provocavimus.
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325
nehmen würde.') Vielleicht hatten die Bürger nicht ganz Un-
recht, vou der Curie Unterstützung zu hoffen; noch Oktober
1232, also wie sie sich schon im Banne befanden, sandte ihnen
Gregor IX. einen Brief, in welchem er ihre Bereitwilligkeit bei
der Aufnahme des Nonnenordens der büssenden Schwestern
lobte und allen, welche diese Schwestern unterstützen wollten,
Ablass gewährte.*) Jedoch ist es ganz erklärlich, dass Gregor
dem Bischof im Kampfe für die Rechte der Kirche nicht ent-
gegentrat; dass er ihn vielleicht zur Versöhnung gemahnt, ist
desshalb nicht ausgeschlossen. Das Interdict hat der Papst
jedenfalls nicht aufgehoben. Schwer lastete es auf der Bürger-
schaft. Den gesammten Clerus mit Ausnahme der Pfarrer hatte
der Bischof aus der Stadt abberufen; diese aber durften das
Abendmahl nur Kranken und gegen die Zusage geben, dass sie
nach ihrer Genesung dem Bischof in allen Stücken gehorchen wür-
den.*) In der Stadt fürchtete man auch, dass der Bischof seine
Rechte mit Hilfe seiner Verwandten, der Grafen von Leiningeu’
mit Gewalt geltend machen werde.1) So kam es, dass ein Teil
der Bürger und ganz besonders die Münzer, deren Einkünfte
wohl unter dem Interdict litten,5) nach Versöhnung mit dem
Bischof verlangten. Neue Verhandlungen begannen. Dieselben
wurden zu Frankfurt unter Vermittlung des Königs geführt und
fanden ihren vorläufigen Abschluss in einer dort am 17. März
1233 ausgestellten Urkunde.*) Als den wesentlichsten Inhalt
•) D 159, vgl. oben S. 322. N. 5.
*) ü 161.
*) Boehmer p. 160.
‘) ibid.
*) Man denke an ihr Wechselmonopol. Vielleicht fürchteten sie auch
Verlast ihrer Lehen, was Arnold V. O. II 25 vermutet.
•) Diese Urkunde ist uns in der Chronik des Kirscbgartener Münchs er-
halten (Ludewig Reliq. II p. 112, 113); ferner ist sie auch in einer von Ar-
nold nicht benutzten Handschrift der erweiterten Zorn'schen Chronik er-
wähnt (die Stelle ist abgedruckt bei Becker, Beitr. z. Qesch. v. Wonus u.
der daselbst errichteten Schulen, Darmst. 1880 S. 7). Sie ist bis vor kurzem ganz
übersehen, von Boos U 166 fälschlich mit der bei Schannat II 116 gedruckten,
am 27. Februar in Oppenheim ausgestellten, Urkunde für identisch gehalten
worden. Das Verdienst, auf sie anfmerksam gemacht, und sie als das Resultat der
Vorverhandlungen erkannt zu haben, hat Küster S. 61, 62. Wie von diesem
aasgeführt ist, enthält die Urkunde vom 17. Februar die wesentlichen Be-
stimmungen der vier Urkunden vom 27. Februar, weicht aber im Wortlaut
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326
derselben kann man betrachten, dass die Herrschaft des Bi-
schofs dadurch anerkannt wurde, dass er und in seiner Ab-
wesenheit ein von ihm ernannter Vertreter im Rate den Vor-
sitz führen sollte. Andererseits sollte aber doch eine Ratsbe-
hörde im Besitz des Stadtregiments bleiben ; nur wurde sie
von 40 auf 15 Mitglieder vermindert und ging nicht mehr aus
freier Wahl der Bürgerschaft hervor. Vielmehr fiel dem Bi-
schof bei der Zusammensetzung des Rats der Hauptanteil zu,
da er neun Mitglieder ernannte und von ebendiesen die übrigen
sechs cooptiert wurden. Immerhin wurde jedoch das Mass der
der Stadt vertragsmässig bleibenden Selbständigkeit dadurch ge-
sichert, dass der Bischof oder ein höherer Geistlicher für ihn
beschwören sollte, dass bei der Neubildung des Rats geeignete
und nützliche Personen in diese Behörde gewählt würden.
Auf Grundlage dieser Vereinbarungen wurde dann am
27. Februar 1233 zwischen Bischof und Stadt zu Oppenheim
ein feierlicher Vertrag, die später sogenannte erste Rachtung,
geschlossen; über diese stellten ausser den beiden Paciscenten
auch der König und das Domcapitel Urkunden aus.1) Die
wichtigsten Momente der Verfassung, welche die Stadt so er-
hielt, sind folgende : *)
1) Der Rat besteht aus 15 auf Lebenszeit bestellten Mit-
gliedern und zwar aus 9 vom Bischof ernannten Bürgern und
aus 6 von diesen neun bürgerlichen Ratsmitgliedern ge-
wählten Ministerialen. Er tagt , wie schon im Vorverträge
festgestellt war, unter Vorsitz des Bischofs; war dieser ab-
wesend, so sollte ein von ihm ernannter Vertreter den Vorsitz
führen.
2) Aus den bürgerlichen Ratsleuten wählt der König einen
Bürgermeister, und zwar steht es ihm frei, jährlich einen ande-
ren zu wählen oder den gewählten länger im Amte zu lassen.
von ihnen ab. Auffallend ist, dass die Aufhebung der Innungen garnicht
erwähnt ist ; dies kann als Mangel der Überlieferung der Urkunde oder der-
art, dass mau sich am 17. über diesen Punkt noch nicht geeinigt hatte, er-
klärt werden.
•) W U 163—166.
’) vgl. die ausführliche Besprechung des Inhalts dieser Urkunden bei
Arnold V. 0. II S. 30—37, ferner Schaube Worms S. 300 ff.
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327
Den anderen Bürgermeister wählt der Bischof aus den sechs
ritterlichen Ratsherren, doch muss er ihn von Jahr zu Jahr
wechseln.
3) Zur Beratung über Steuererhebung werden noch vom
Bischof und Rat gemeinsam ernannte Personen und zwar je
vier aus jedem Kirchspiel zugezogeu.1)
4) Alle Innungen mit Ausnahme der der Hausgenossen und
Wildwerker sind aufgehoben.
5) Schultheiss und Amtsleute werden in Zukunft von Bi-
schof und Rat gemeinsam gewählt.
6) Alle durch die bisherigen Bestimmungen nicht ge-
troffenen Rechte, Privilegien und Gewohnheiten der Stadt
bleiben erhalten.
Wenn auch beide Parteien nachgegeben hatten, so ist doch
bei der Beurteilung dieses Vertrages darauf Gewicht zu legen,
dass die Bürger dadurch de iure Untertanen des Bischofs, die
unter seinem Vorsitz tagenden Ratsleute seine Beamten ge-
worden waren. Es tritt dies besonders auch aus dem ihnen
damals anferlegten Amtseide hervor, bei dem sie an erster
Stelle schwören mussten, der Kirche und dem Bischof treu zu
sein;*) daneben wurden sie dann auch auf gerechte Führung
ihres Richteramts und auf die Rechte und guten Gewohnheiten
der Stadt vereidet. Wie es bei den Speierer Ratsmitgliedern
als sicher,*) so kann es bei den Wormsern als höchst wahrschein-
lich betrachtet werden, dass sie bis zu diesem Vertrage nur zu
Gunsten der Stadt und nicht auch auf Bischof und Kirche ver-
eidet waren.4) Auch die Zusammensetzung des Rats aus 15
Mitgliedern schädigte die Interessen der Stadt, da die geringere
*) Über den Zusammenhang dieser Sechzehner mit den Heimbnrgeu,
vgl. oben S. 120, 121.
*) Boehmer font. II p. 163: quod domino episcopo et ecclesiae fldeles
semper existerent eomm iura in omnibus defendendo.
*) Nach Sp. U 22 schwören die Speierer Ratsherrn : ut Universität! prout
melius possint et sciant provideant.
4) Es lässt sich das aus der oben geschilderten Unabhängigkeit der
Stadt schiiessen, ferner aus dem Privileg Friedrichs II. für Worms von 1220,
auch wo die Absetzung eines Ratsmitgliedes daran geknüpft ist, dass er gegen
seinen Eid reum aliquem malo ingenio tueri vel iunocentem condempnare
attemptaverit (U 124 p. 96 Z. 9 ff.).
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328
Zahl vom Bischof weit leichter beeinflusst werden konnte und
darin auch die Ministerialen verhältnismässig stärker als in
dem alteu Rate von 40 Personen vertreten waren.1) Die Be-
trachtung der späteren Wormser Verfassungsgeschichte wird auch
zeigen, dass die Bürger, soviel sie nur konnten, nach der Wieder-
herstellung dieses grösseren Rates gestrebt haben.
Während so die Verfassung umgestaitet wurde, scheint
man gerade in den Punkten, welche die äussere Veranlassung
zum Zwist des Bischofs mit der Stadt gegeben, keine definitive
Entscheidung getroffen zu haben. So ist eine eigentliche Re-
gelung der Pflicht der Stadt zur Beisteuer zu den Leistungen
des Bischofs für das Reich nicht nachweisbar;*) ebenso hat
auch Bischof Heinrich den Platz, auf dem das Rathaus gestanden,
nicht kraft der kaiserlichen Verfügung vom Mai 1232 an sich
gezogen. Dieser Platz wurde vielmehr von der Stadt zur Auf-
bewahrung ihrer Kriegsgeräthschaften benutzt ; s) 1266 hat dann
der damalige Bischof Eberhard ausdrücklich allen aus der kai-
serlichen Urkunde dem Bistum zustehenden Rechten auf den-
selben entsagt.4)
So gab es trotz der Rachtung noch Streitpunkte genug,
bei denen die verschiedene Auffassung des Bischofs und der Bür-
gerschaft von den ihnen zu Recht zustehenden Befugnissen neue
Kämpfe hervorrufen konnte. Die Bürger hatten auch schwerlich
den Gedanken aufgegeben, die alte Selbständigkeit wieder zu
erringen; der Standpunkt des Bistums war der, die erlangte
') vgl. Arnold V. 0. II S. 32, 33, Winkelmann Friedrich IL S. 430,
Koester S. 62. Aus der ganzen Entwickelung der Wormser Verfassungs-
geschichte ergiebt sich, «lass die Verwaltungsbehörde, welche die Bürgerschaft
damals „vertragsra&ssig zugestanden erhielt,“ nicht, wie Schaube S. 302 meint,
das Ziel war, „wonach sie seit dem Anfänge des Jahrhunderts gestrebt.“
Wenn derselbe Forscher betont, dass die Selbständigkeit der Stadt unter
dieser Verfassung noch weitere Fortschritte machte, so liegt dies doch nicht
an den Bestimmungen dieser Bachtung, sondern daran, dass ganz im Gegen-
satz zu ihnen Rat und Bürger sich nur durch die Interessen der Stadt, nicht
durch die der Bischöfe bestimmen liessen.
’l Dieselbe ist in der S. 327 unter Nr. 3 gegebenen Bestimmung des
Vertrages zu Oppenheim doch schwerlich zu finden.
*) Boehmer fontes II p. 173, vgl. Arnold V. G. II 100,101, Koester
S. 75.
4) ibid., ferner W U 335.
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Machthöhe so viel als möglich festzuhalten, ja nach Möglichkeit
zu erweitern , gleichzeitig aber unbedeutende, schwer zu be-
hauptende, Rechte scheinbar freiwillig aufzugeben, um so das
Anseben grosser Friedfertigkeit zu erringen.1) So verkaufte z. B.
Bischof Heinrich 1234 den Bürgern sein Recht an der Münze auf
1Ü Jahre, um wie er sagte, seinerseits jeglichen Anlass zur Zwie-
tracht zu beseitigen ; *) gleichzeitig liess er der Bürgerschaft den
Gebrauch des Marktplatzes, den sie schon vorher benutzt hatte, für
dieselbe Zeit. *) Doch behielten sich dabei Bischof wie Stadt aus-
drücklich die spätere Geltendmachung ihrer Rechte vor.4) Aus
dieser Clausei geht deutlich hefvor, dass der 1233 neu ein-
gesetzte Rat faktisch das Stadtinteresse gegen den Bischof
vertrat. Ebendies zeigt sich auch bei den nächsten, unsere
Stadt berührenden, politischen Ereignissen, den bald nach der
ersten Rachtung sich am Mittelrhein abspielenden Bürgerkriegen.
Zunächst kommt hier der Aufstand König Heinrichs gegen
seinen Vater5) in Betracht. Seit 1234 herrschte in Worms
Bischof Landolf,8) welcher vom Könige durch ein weitgehendes,
auch die Rechte der Bürgerschaft minderndes, Privileg7) auf
seine Seite gezogen wurde.8) Hingegen blieb die Wormser
Bürgerschaft dem Kaiser treu ; zu dieser Stellungnahme mochte
‘) vgl Koester S. 63, 54.
*) U 172: sopita interim ex parte nostra omni m&teria. qne inter nos
et civea alicuius diacordie poterit et rancoria fomitem ministrare.
*) ibid.
*) ibid.: salvo ex tnnc tarn nobia quam eia iure ano.
*) vgl. darüber Schirrmacher Friedrich II Bd. I S. 231 — 254, Win-
kelmann Friedrich II Bd. I (1863) S. 449-473 u. Forach. Bd. I S. 11— 43,
Bohden in Forsch. XXII 353—414.
•) Boehmer Fontes II p. 163.
*) U 175. Landolf erhält daa Hecht , dass alle auf dem Bischofshofe
errichteten Häuser, wenn er es wolle, von den Eigenthümem abgerissen
werden müssen, da daa Bistum diesen Hof vom Beiche zu Lehen habe ; ausser-
dem darf er alle von seinen Vorgängern verliehenen Lehen einziehen.
“) Boehmer font. II p. 164: Landolfus episcopus propter bona sibi im-
pensa a domino Heinrico rege exstitit sibi devotus et familiaris. Köster S. 55
meint, unter den .bona sibi impensa“ könnte man .nur die Vorrechte ver-
stehen, welche die Bachtung von 1233 dem Bischof gewährte.“ Diese waren
aber doch nicht Landolf, sondern seinem Vorgänger verliehen. Viel näher
liegt es jedenfalls , bei diesen .Wohlthaten des Königs“ an das erwähnte
Privileg zu denken.
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330
sie, abgesehen von der so oft hervortretenden loyalen Gesinnung
der rheinischen Bischofstädte ') und der Benachteiligung in der
eben erwähnten Urkunde, auch durch die Hoffnung bewogen
sein, auf diese Weise ihre alte Verfassung wieder zu erlangen.*)
Der Wormser Rat zeigt sich nun wieder ausschliesslich von
den Interessen und der Gesinnung der Bürgerschaft geleitet.
Als der König verlangte, die Wormser sollten ihm gegen jeder-
mann Treue schworen, verweigerte der Rat diesen Eid, wofern
nicht der Kaiser ausdrücklich ausgenommen würde,’) und mel-
dete diesem die von seinem Sohne gemachte Zumutung.4) Die
Wormser hielten dann auch ferner treu auf der kaiserlichen
Seite aus, während die Speierer sich von ihrem Bischof über-
reden Hessen, den anfangs auch von ihnen verweigerten Eid
zu leisten. *) Mehrere Gesandtschaften des Königs, auch die Ab-
sendung Landolfs nach Worms waren vergeblich;6) eben so
wenig Einfluss hatte es, dass der König über die Stadt die
Acht aussprach und dies von übelgesinnten Nachbarn zu viel-
fachen Angriffen auf die Bürger benutzt wurde.7) Endlich be-
schloss Heinrich sich mit Waffengewalt des wichtigen Ortes zu
bemächtigen; sein am 25. April gegen Worms ausgesandtes
Heer wurde jedoch von den Bürgern völlig geschlagen.*) Als
') Auch Speier hielt ursprünglich zum Kaiser, vgl. nnteu N. 5. Das
Bündnis des Kfmigs mit Strassburg vom 8. März 1233 (B-F 4272) kann nach
Rohden Forsch. XXII S. 368 nicht gegen den Kaiser gerichtet gewesen sein.
Die Treue gegen den Kaiser gilt anch der Bürgerchronik als Grund der
Parteinahme gegen Heinrich. Boehmer Font. II p. 178: Cives respeetn iusticic
et eciam dilectionis quam habebant ad dominum imperatorem ....
*) So auch Rohden Forsch. XXII 8. 386, 386.
*) Boehmer fontes II p. 178.
4) Dies ist in W D 178, der Antwort des Kaisers auf diesen Brief,
erwähnt.
*) Boehmer Fontes p. 178; Erant cives Spirenses cum Wormacieusibns in
hoc articnlo aliquamdiu stantes. Sed in brevi per episcopum eorum . . .
sedneti conscntierunt regi et iuraverunt ad omnem eius voluntatem.
•) ibid. p. 179.
*) ibid. vgl. das Schreiben des Kaisers an die Wormser U 179 (Huill.-
Brth. IV p. 628, 529) : nostrorum hdelinm persecutiones et dampna non pos-
sumus absque compassione nimia pertransire ... Et ecce, quod nobilibns
vestris vicinis et universis fidelibus nostris per litteras nostras speciales et
generales demandamus, nt nullus eorum vos pro aliquo presnmat offendere.
•) Boehmer font II p. 179, vgl. anch Gotefr. Vit. Contin. Funiac. et
Eberb. (8. 8. XXII 348),
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331
darauf der Kaiser nach Deutschland zurückgekehrt war und
durch sein blosses Erscheinen den Aufstand überwunden hatte,
feierte er einen glänzenden Einzug in die treue Stadt.1)
Der Sieg des Kaisers hatte für die Wormser zunächst die
Folge, dass der, ihm unter Heinrichs Anhängern besonders ver-
hasste, Bischof Landolf die Stadt verlassen musste ; er verbarg
sich zunächst in dem bei der Stadt gelegenen Kloster Nonnen-
münster. *) Da Landolf noch nicht die Weihe erhalten, s) dachte
Friedrich daran, ihm das Wormser Bistum zu entziehen und
dasselbe seinem Notar Heinrich Münch von Bilversheim4) zu
verleihen.
Indess verzichtete er darauf, vielleicht weil er bei diesem
Plane nicht die nötige Unterstützung seitens der Bürgerschaft
erhielt,5) und richtete vorläufig in Worms eine kaiserliche Re-
gierung unter einem schwäbischen Ministerialen, Marqnard von
*) Boehmer fontes II 164.
*) Soviel wird an dem Bericht der Bischofschronik (p. 164) jedenfalls
wahr sein. Im übrigen ist bei der Kritik ihrer Nachrichten überall der
Umstand, dass sie nicht gleichzeitig sind, und noch mehr die Tendenz zu be-
achten, dass sie ganz im Gegensatz zu den wirklichen Verhältnissen Bischof
and Bürger als einträchtig und einander ergeben erscheinen lassen wollen,
vgl. Köster 8. 66 — 68. Es ist daher auch sehr zweifelhaft, ob die Nach-
richt der Bischofschronik, dass die Bürgerschaft sich beim Kaiser für Landolf
verwandte, begründet ist.
*) Die Bischofschronik (p. 163) lässt ihn allerdings schon bald nach
seinem Regierungsantritt geweiht werden. Ausser ans vielen anderen Ur-
kunden , in denen Landolf noch electus heisst, geht aber auch ans einem
päpstlichen Schreiben vom 5. Hai 1236 (M. G. Epist. saec. XIII t. I [ed. Roden-
berg] N. 689) hervor, dass Landolf 1236 jedenfalls noch nicht geweiht war; in
der genannten Urkunde erhält nämlich der Erzbischof von Mainz den Auftrag,
dem electus Wormaticnsis endlich die Weihe zu erteilen, (vgl. KösterS. 64).
Nur der Umstand, dass Landolf damals noch nicht geweiht war, erklärt es,
dass Friedrich an seine Absetzung dachte, indem er die ganze Wahl als
noch nicht geschehen betrachtete.
4) Boehmer p. 166. Hier ist Heinrich als Protonotar Heinricus de
Cathanea bezeichnet. Die Würde des Protonotars erlangte er aber erst
später; dass er in der Wormser Bischofscbrouik wie auch in einigen Urkunden
den Beinamen de Cathanea führt, „geht wohl darauf zurück, dass Friedrich II.
1232 Beine Erhebung zum Bischof von Catania durchzusetzen versuchte,“
vgl. Bresslau, Urkundenlehre S. 421 N. 3.
*) Dies giebt wenigstens die Bischofschronik 1. c. als Grund dafür an,
dass Friedrich von diesem Plane Abstand nahm.
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Sneitde,ein.‘) Derselbe löste den bestehenden Rat auf und bestellte
einen neuen, in dem neben 7 Bürgern 4 Ministerialen sassen. Mit
diesen 11 führte er die Verwaltung her Stadt;1) von der kaiser-
lichen Kanzlei ist er als iudex Wormatiensis bezeichnet worden.*)
Widersprach schon die ganze Bestellung dieses neuen kai-
serlichen Beamten den Rechten des Wormser Erzstifts,
so scheint derselbe in heftige Zwistigkeiten mit dem
Clerus auch durch Nichtbeachtung seiner Stenerprivilegien ge-
raten zu sein. *) In Folge dessen sprach nun Landolf das In-
terdict über die Stadt aus;*) gleichzeitig begab er sich an den
päpstlichen Hof, da er von Gregor IX. aufgefordert war, sich
wegen seiner Parteinahme für König Heinrich zu rechtfer-
tigen.5) Auch die Bürger schienen mit Marquard's Regierung
nicht zufrieden gewesen zu sein. Sie verschafften sich im Mai 1236
vom Kaiser ein 'Privileg, in dem dieser ihnen ihren Rat von 40
Personen und ihre alte Unabhängigkeit bestätigte.6)
Indess gelang es noch im Jahre 1236 dem Bischof Landolf,
sich beim Papste zu rechtfertigen und die Gnade des Kaisers
wieder zu gewinnen. 1) Er kehrte nach Worms zurück, wählend
•) Boehmer p. 165. Dass Harqnard aus Schwaben stammte (und zwar
ans dem heutigen wirtemb. Oberamt EUwangen, wo die Ort« Ober- und
Unterschneidheim liegen), kann aus einer Urkunde von 1239 (Wirtemb. Urkb.
III 3. 427) geschlossen werden, in der er als Zeuge erwähnt ist (vgl. Schenk
zu Schweinsberg, Westd. Ztachr. VII S. 84).
*) B-F 2153.
*) Bischofschr. p. 165.
«) ibid.
*) Nach der Bischofschronik (Boehmer font. II p. 165) ging der Bischof
von Worms mit dem ron Speier und Würzburg freiwillig nach Korn, um
sich über den Kaiser zu beklagen. Audiens autem imperator hos episcopos
ad dominum papam accessisse, valde timuit. Nach dieser Quelle wird dann
nur durch die Intervention des Deutschordensmeisters der Papst besänftigt.
Allein dieser gehörte zu den Gegnern König Heinrichs und der ihn unterstützen-
den Bischöfe (vgl. Winkelmann I S. 462, Schirrmacher I S. 246). Am
24. September 1236 trug die Curie den Bischöfen von Regensburg und Hil-
desheim auf, mehrere Anhänger Heinrichs unter der höhern Geistlichkeit, da-
runter auch den clectus von Worms, aufzufordem, sich innerhalb zweier Mo-
nate in Rom zur Verantwortung einznfiuden (Huill.-Brth. IV p. 777). Dies,
nicht die Absicht, über den Kaiser Klage zu führen, muss also als Ursache
von Landolfs Reise nach Italien angesehen werden, vgl. Köster S. 56, 57.
•) W U 182.
’) Dass die Wiedereinsetzung Landolfs resp. seine Begnadigung durch
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Marqnard abberufen wurde, und stellte hier die von der ersten
Bachtung bestimmte Verfassung mit dem alten Rat der 15
wieder her.1)
In der Folgezeit gehörte nun Landolf zu den treuesten
Anhängern des Kaisers*) und gewann daher dessen Gunst in
besonderem Grade. Dies benutzte er dann, um sich Privilegien
zu verschaffen, durch welche er die Stadt im geeigneten Moment
völlig der Gewalt des Erzstiftes hätte unterwerfen können.
So Hess er sich im November 1238 einen Spruch des Hofgerichts
beurkunden,*) der jegliche Verleihung von, einem Bistum zu-
stehenden, Zoll- oder Münzrechten, Schultheissenämtern , welt-
licher Gerichtsbarkeit und ähnlichen Befugnissen, welche die
Bischöfe vom Kaiser zu Lehen empfingen, für ungültig erklärte,
solange nicht der Kaiser seine Zustimmung dazu gegeben. In
ebendieser Urkunde wird Landolf ausdrücklich ermächtigt, alle
von seinen Vorgängern ohne den Consens Friedrichs II. ver-
liehenen derartigen Rechte den zeitigen Inhabern abzufordern.
Durch dies Privileg erhielt Landolf also z. B. das Recht, die
1234 von Bischof Heinrich den Bürgern auf 10 Jahre über-
lassene Münze wieder an sich zu ziehen. 4) Noch wichtiger war
es, dass er überhaupt solche Rechte, in deren Ausübung das
den Kaiser spltter als die eben erwähnte Urkunde Friedrichs für die Wormser
zu setzen ist, hat Köster S. 58, 69 gezeigt; er wies nämlich daraufhin, dass
der Erzbischof von Mainz, obgleich vom Papste schon am 6. Mai ermahnt,
Landolf zu weihen (vgl. oben S. 331 N. 3), die Weihe doch bis mindestens zum
16. Oktober aufgeschoben hat , offenbar weil Landolf erst am Ende des
Jahres vom Kaiser begnadigt wurde. Am 16. Oktober wird Landolf nämlich
noch electus genannt (Schann. II p. 119).
>) Boehraer L c. 165, 166.
*) Er begleitete ihn 1237 und 1238 auf den beiden longobardischen Feld-
zügen ; ferner verfasste er mit den Bischöfen von Würzburg, Vercelli und Parma
die Beschwerdeschrift des Kaisers an den Papst vom 28. Oktober 1238, vgl.
Schirrmacher Ol 38, 39 und IV 23, Huill.-Breholl. V p. 249. Auch als
Friedrich vom Papste gebannt war und fast der gesammte deutsche Episcopat
von ihm abfiel, ist Landolf dem Kaiser treu geblieben. Ob freilich nicht
ein Versprechen Friedrichs, Landolf für seine Unterstützung die Interessen
der Wormser Bürgerschaft anfznopfem, den Grund zu seinem Eifer im Dienst
der kaiserlichen Sache bildete, muss nach der Beschaffenheit unseres Quellen-
materials dahingestellt bleiben.
•) U 193.
*) vgl. oben S. 829.
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Bistum sich in der ersten Rachtung Beschränkungen auferlegt
hatte, wie z. B. die weltliche Gerichtsbarkeit und Beamtener-
nennung, jetzt ohne weiteres ausliben konnte, da ja die Rachtnng
zwar von König Heinrich, aber nicht vom Kaiser bestätigt war.
Etwa um dieselbe Zeit, nämlich am 6. November 1238,
verschaffte sich Landolf noch ein anderes kaiserliches Privileg,1)
welches die Interessen der Bürger noch weit mehr bedrohte.
Er wurde nämlich dadurch in Stand gesetzt, auch das politisch
wichtigste der Bürgerschaft in der Rachtung gelassene Recht
zu beseitigen. Noch war ihr, wie oben gezeigt,*) in dem Rat
ein ihre Rechtsstellung und Rechtsauffassung auch gegen den
Bischof verteidigendes Organ geblieben; damals aber wurde
Landolf ermächtigt, den bestehenden Rat aufzulösen und einen
anderen zu bilden. Ohne jede Zuziehung der Bürgerschaft
sollte er ganz selbständig einen Rat von 12 Personen, 4 Rittern
und 8 Bürgern, ernennen und mit ihnen gemeinsam die Stadt
regieren; nur sollte er diesen Rat jährlich wechseln. Wäre
dies Privileg zur Ausführung gekommen, der Rat also völlig
vom Bischof aus seinen Anhängern ernannt worden, so hätte
es jede Autonomie der Stadt — wenigstens vorübergehend —
vernichtet;*) freilich lässt sich nicht wahrnehmen, dass die er-
wähnten Verordnungen Friedrichs II. auf die Wormser Ver-
fassungsverhältnisse irgend welchen Einfluss geübt haben. Dieser
Umstand, sowie die Folgerungen, welche aus der Urkunde vom
6. November auf Friedrichs und Landolfs Politik gezogen werden
müssen, haben zu sehr verschiedenen Auffassungen des in Frage
stehenden Doeuments geführt. Die W ormser Bischofschronik4)
lässt garnicht Landolf, sondern vielmehr, ohne dessen Wissen,
als er schon den Hof verlassen hatte, seine Gegner den Kaiser
um dies Privileg ersuchen; dieselben wollen so Landolf zum Bruch
der beschworenen Rachtung verleiten, um dadurch seinen Sturz
herbeizuführen. Landolf aber habe, als er das Privileg erhielt,
geäussert: „er würde sich eher von Kopf bis Fuss schinden
') w U 190.
*) vgl. 8. 326 und 330.
*) vgl. Arnold V. 0. II 8. 45, 46.
•) Boehmer Föntet II p. 166.
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lassen, als je an der, von seinem Vorgänger und vom Clerus
mit Mühe erlangten, Rachtung rütteln.“ *)
Nun ist jedoch das Privileg, in welchem Landolf die Be-
fuguiss erhielt, die von seinen Vorgängern verliehenen Regalien
den derzeitigen Inhabern abzufordern, unzweifelhaft von ihm
selbst veranlasst.*) Es ist gar nicht abzusehen, warum Lan-
dolf das die Ratseinsetzung verleihende Privileg nicht ebenso gut
wie das ihm die Regalien zurückgebende sich selbst verschafft
hat; in beiden erweitert er gleichmässig die Rechte des Stifts
über die zu Zeiten seiner Vorgänger vertragsmässig festge-
stellten Grenzen. Während Arnold’) und noch mehr Schirr-
macher*) und Winkelmann5) sich an die Darstellung des
Wormser Chronisten anschliessen und damit den Text der Ur-
kunden in Verbindung zu bringen suchen, hat Hesselbarth,*)
aber mit unzureichenden Gründen, die Unechtheit der Urkunde
vom 6. November 1238 zu erweisen gesucht. Neuerdings hat
nun Köster’) im Zusammenhang mit seinen Forschungen über
den Wert der Bischofschronik den Weg zur richtigen Erkennt-
niss der Wormser Vorgänge von 1238 gezeigt. Sicher wird
nach Kösters Untersuchungen niemand mehr die Auffassung
Schirrmachers teilen, welcher den Gedanken, „die Bürger hätten
für ihre Treue sich vom Kaiser mit Undank belohnt geglaubt,“
') ibid. : qnod prius de corona capitis osque ad plantam pedis Teilet
excoriari, quam minimum articulnm, sui predeceasoris maximis iaboribus et
expensis ac cleri obtentnm, in vita sua deponere vellet.
*) Vgl. in dieser Urkunde (U 193): snpplicavit celsitndini nostre vene-
rabilis Wormatiensis episcopns, quatenns ea, qne per predecessores
Silos alienata snnt ad ins et possessionem eccleaie Wormaciensis re-
vocari mandaremus.
*) V. G. II S. 46-47.
*) Friedr. II Bd. IV S. 22—26.
*) Friedr. II Bd. II (1865) 8. 101. N. 2.
•) Forsch, t. D. G. XVI S. 371 ff., vgl. dagegen treffend Boos Note
zu U 190 p. 184: „Hesselbarth will die Unechtheit der Urk. erweisen,
einmal, weil ihr Inhalt mit den Angaben der Annalen in Widerspruch stehe,
dann weil Schannat die Herkunft der Urk. verschweige. Letzteres Argu-
ment fällt dahin, da die Urkunde im Original vorhanden ist, und das erste
Argument ist nicht stichhaltig, weil es in diesem Teil der Annalen auch
sonst an Widersprüchen nicht fehlt.“ Vgl. gegen Hessel bar th auch Köster
8. 61, 62 u. B-F 2402.
*) a. a. 0.
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schon d esshalb für unzutreffend hält, „weil die Annalen der
Stadt, deren Verfasser unzweideutig die herrschende Ansicht
des Bürgertunis vertritt, auch nicht die leiseste Andeutung
davon enthalten.“1) Was Schirrmacher als Stadtannalen
ansieht, sind ja Fragmente einer nicht gleichzeitigen Bischofs-
chronik!
Als sicher kann demnach von den Wormser Ereignissen
des Jahres 1238 gewiss betrachtet werden, dass Landolf den
Kaiser um die beiden, die städtische Autonomie gefährdenden. Ur-
kunden gebeten und dieselben auch von ihm erlangt hat.
Die von der Bischofschronik gegebene Charakteristik von
Landolfs Verhältnis zur Bürgerschaft ist jedenfalls durchaus
unrichtig; die Rechte des Bistums suchte gerade er, auch auf
Kosten der dem Rate vertragsmässig zustehenden Rechte, so
viel als möglich zu erweitern. Dass der Kaiser aber seinen
Gesuchen trotz der von den Wormsern bewiesenen Treue will-
fahrte, ist wohl dadurch zu erklären, dass Friedrich dafür
auf Landolfs Unterstützung rechnete und ihr die Interessen
der ihm ergebenen Stadt zum Opfer brachte. Schon Ende
1238 war der Kaiser in schwieriger Lage, und, wenn er auch
darnach strebte, den Frieden mit der Curie zu erhalten, so
konnte ihm bei dem drohenden Conflict mit derselben *) die Un-
terstützung eines geistlichen Fürsten auch durch so weitgehende
Concessionen wie die Preisgabe der treuen Stadt nicht zu
teuer erkauft scheinen. Freilich ist nun in dem Privileg über
die Regalien ausdrücklich gesagt, dass ihre Weiterverleihung
das Recht des Kaisers verletze, weil er dadurch in der, ihm
bei Reichstagen und bischöflicher Sedisvaeanz zustehenden, Be-
nutzung derselben behindert würde; ebenso8) wird in der Ur-
kunde über die Ratsernennung ausdrücklich hervorgehoben, dass
durch jährlichen Wechsel der Ratsmitglieder auch der Vorteil
der Stadt gefördert werde.4) Schwerlich ist jedoch in solchen
*) Bd. IV S. 22.
*) Vgl. Winkelmann II 117, Bodenberg in dem oben S. 310. N. 1
citierten Aufsätze 8. 244, Koehlcr, Verhältnis* Friedrich* 11 zu den Päpsten
(Breslau 1888) S. 36.
*) U 193: cum qnilibet imper&tor indicta (nicht in dicta, wie bei Boo«)
curia percipere debet integraliter, et vacantibns ecclesiis omnia usque ad con-
cordem electionem habere, donec electus ah eo regalia accipiat.
4) U 190: ut per viciasitudinem et providentiaro succedcntium Status
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Motivirungcn etwas anderes als ein scheinbares Eingehen auf,
vorn Bischöfe für seine Forderungen geltend gemachte, Vor-
wände und eine Beschönigung der kaiserlichen Concessionen
zu sehen.1)
Die Durchführung der Verfassungsänderung in der von dem
kaiserlichen Privileg festgesetzten Form ist Landolf nicht ge-
lungen. Ausser dem Widerstande der Wormser mag vielleicht
der ausbrechende Bürgerkrieg den Bischof zum einstweiligen
Verzicht auf die Geltendmachung der ihm vom Kaiser einge-
räumten Rechte bewogen haben. Musste er doch fürchten, die
Wormser durch zu schroffes Vorgehen auf die Seite seiner
Gegner zu treiben. Ob Landolf, um dergleichen zu verhüten,
die ihm von dem Chronisten in den Mund gelegten Worte
wirklich gesprochen hat*) und sich diese dann in der Tradi-
tion erhielten oder ob sie von dem Verfasser unserer Quelle
einfach erfunden sind, muss dahin gestellt bleiben.
Jedenfalls fand Landolf noch Gelegenheit, den Rat ganz
seinen Wünschen gemäss abweichend von den Bestimmungen
der Rachtung zu gestalten. Wodurch er in diese Lage kam,
ist nicht mehr sicher festzustellen. Die Bischofschronik be-
richtet, sämmtliche Ratsmitglieder hätten freiwillig ihr Amt
niedergelegt, um sich von der Gemeinschaft mit einem in den
Verdacht einer Blutschuld gekommenen Ratsmitgliede, Marquard
Buso, zu befreien, auch hätten sie dem Bischof das Recht ge-
geben, nach Gutdünken andere Personen an ihre Stelle zu
setzen.*) Der Bischof habe dann nur 5 von den bisherigen
Mitgliedern in den neugebildeten Rat genommen und die übrigen
zehn Ratsstellen anderweitig vergeben.4)
Diese freiwillige Resignation der Ratsmitglieder auf ihr
Amt erscheint jedoch wenig glaublich, zumal wenn der Bischof
ecclesie et civitatis commoditas de bono promoveatnr in melins et in pace
et iusticia eonservetur.
*) Vgl. die Ausführungen Rodenbergs a. a. 0. S. 236.
*) wie Arnold II 47 n. Köster S. 62 annehmen.
*) Boehmer Fontes II p. 168.
4) So ist wohl die etwas dunkle Stelle a. a. 0. xu verstehen.’ Ipse vero
epiaeopns assumens in animam snam (in Verdacht xiehend?) omnes protcr
qninqne, in locum illornm alios substituit et sic iterum cum illis quindecim
consulibus sedit in pace.
Koehne, Ursprung der Stadtverfaaaung in Warme, Speier and Mains. SS
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dadurch freies Ernennuugsrecht in Bezug auf den Rat erhielt.
Sahen wir doch den Rat stets darauf bedacht, die Rechte der
Stadt dem Bistum gegenüber zu vertreten. Ins Gewicht fällt
auch, dass gerade Marquard Buso, der nach den Annalen früher
Ratsmitglied war, in den Jahren 1246 und 1249 in Zeugen-
listen von Urkunden *) unter, von den consules getrennten, cives
erscheint. Daraus kann wohl geschlossen werden, dass diese
Behörde im Widerspruch mit der von der Rachtung bestimmten
Lebeuslänglichkeit ihrer Mitgliedschaft vor 1246 neu zusammen-
gesetzt ist. Audrerseits spricht jedoch die Zuziehung Marquards
zur Zeugenschaft von Beurkundungen nicht für die Erzählung
der Bischofschronik, er sei so gemieden worden, dass die übrigen
Ratsmitglieder, um der Gemeinschaft mit ihm zu entgehen, ihr
Amt niedergelegt hätten.
Als Bestätigung der Nachricht, dass es Landolf dazu ge-
bracht, den Rat mit seinen Anhängern zu besetzen, kann eine
Notiz einer anderen Chronik*) gelten. Hiernach erfuhren nämlich
die Ratsmitglieder im Jahre 1246 vielfache Schmähungen von
einer Partei unter den Bürgern, welche die Wiederherstellung
des alten Rats von 40 Personen verlangten.8) Die Schmähungen
werden sich besonders darauf bezogen haben, dass der vom
Bischof eingesetzte Rat nicht mehr die Stadtinteressen vertrat.
In dieser Chronik wird auch erzählt, dass der Rat damals
12 Mitglieder hatte, da drei gestorben waren und nicht ersetzt
wurden.4) So war denn Landolf am Ende seiner Regierung
im Besitze der wichtigen Rechte, welche ihm die kaiserliche
Urkunde von 1238, Nov. 6, gewährt hatte.5) Der Rat bestand
aus seinen ergebenen Anhängern und war auf 12 Mitglieder
l) U. 217 u. 226.
’) Boebmer Font. II p. 185 Z. 15 — 26; Küster S. 93d. hält diese Stelle
für einen Teil der anf gleichzeitigen von den Bürgern geführten Annalen
beruhenden Bürgerchronili. Allein, da hier von einem Bischof der Ausdruck
venerabilis gebraucht wird, was sonst bei Aufzeichnungen bürgerlichen Ur-
sprungs nicht der Fall ist (vgl. Klister S. 39), so möchte ich gerade diese
Stelle als unter bischöflichem Einfluss entstanden ansehen.
*) Boehmer a. a. 0., vgl. auch die Bischofschronik ibid, p. 168 Z. 15 ff.
*) Boehmer p. 185 Z. 25 ff. consiliariis Wormaciensibus, quoram erant
duodecim, et tres mortui tune erant, et nondum erat numerus eorum impletus
•) vgl. oben 8. 333—336.
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reduciert. Dass der Bischof nicht auch den von der kaiser-
lichen Urkunde bestimmten Wechsel der Mitglieder einftthrte,
mag vor allem daran gelegen haben, dass es ihm an der ge-
nügenden Zahl zuverlässiger und geeigneter Personen fehlte.
Hat so Landolf den durch die Rachtung hergestellten
Rechtszustand zu Gunsten des Bistums geändert, so strebte
hingegen, wie schon erwähnt, eine Partei unter den Bürgern
nach Wiedereinsetzung des alten aus 40 Personen bestehenden
Rats; dieselbe wurde von den vom Bischof abgesetzten Consuln
geführt. Freilich hatten ihre Bestrebungen keinen Erfolg.1)
Hingegen ist es als Machterweiterung der Bürger zu betrachten,
dass sie die Vogtei über das Kloster Nonnenmünster, welche
dem Kaiser als bischöfliches Lehen zustand, und von diesem an
seinen Burggrafen von Spiegelberg verliehen war, letzterem mit
kaiserlicher Genehmigung abkauften. Darauf wurden die Rats-
herren vom Bischof mit der Vogtei belehnt.*) Jedenfalls wäre
es auch für den Bischof nicht minder gefährlich als für die
Bürger gewesen, wenn sich in unmittelbarer Nähe der Stadt ein
Reichsministerial hätte festsetzen können. Ebenso begleitete
Landolf 1241 die Wormser auf einem Zuge gegen die Bewohner
des benachbarten Dorfs Osthofen, welche einige Bürger beleidigt
hatten.*) Die Osthofener mussten sich damals der Stadt zu
Dienst verpflichten und versprechen, ihre von den Wormsern
zerstörten Befestigungen nicht wiederherzustellen.4) Auf den
Einfluss der Bürgerschaft ist es wohl auch zurückzuführen, dass
Landolf in den damals Deutschland zerrüttenden Bürgerkriegen
sich nicht von den Gegnern Friedrichs II. gewinnen liess. Er
unterstützte zu Zeiten eifrig den Kaiser,5) zu Zeiten suchte er
wenigstens neutral zu bleiben.*) Von der kirchlichen Partei
') vgl. die oben S. 338 N. 2 und 3 angeführten Quellenstellen.
*) U 202 vgl. Boehmer p. 187.
*) Boehmer Fontes II p. 180.
4) ibid. p. 181.
*) VgL U 208 a 1243 Aug. : Friedrich II verspricht, in Anbetracht der
unbegrenzten Treue und der ergebenen Dienstleistung (attendentes immensem
fidem et devota servicia) des Bischofs, des Klerus und der Bürgerschaft von
Worms, mit der Römischen Kirche keinen Vergleich einzugeben, ohne die-
selben ausdrücklich einznschliessen.
*) In der Bürgerchronik (p. 18ö) wird von der Schlacht au der Nidda
(6. Aug. 1246), zu weicher die Wormser dem König Konrad Hilfe schickten,
B*
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340
desshalb, zusammen mit der Bürgerschaft, excommuniciert, wusste
er durch pecuniäre Leistungen, vielleicht auch durch Vor-
stellungen über seine gefährliche Lage wenigstens vorüber-
gehend Freisprechung vom Banne für sich und die Bürger zu
erlangen.1) Mit bewundernswerter Treue kämpften nämlich
die Wormser, obgleich sie so oft von Friedrich II ihren Gegnern
gegenüber benachteiligt waren, für ihn und seinen Sohn Konrad.*)
Demnach hätte ein Eintreten Landolfs für die kirchliche Partei
wohl zu seiner Vertreibung aus seinem Bistum geführt; ob
Landolf*) sich durch die Erkenntnis in seiner Politik be-
stimmen liess, welchen Nachteil es ihm gebracht, als er sich im
Anfänge seiner Regierung den Gegnern des Kaisers angeschlossen,
muss dahingestellt bleiben.
Dass Landolf die Möglichkeit, sich in der Stadt zu be-
haupten und seine Herrschaftsrechte sogar noch zu erweitern,
vor allem dem Anschluss an die staufische Partei verdankte,
lässt sich daraus erkennen, dass seine Nachfolger, weil Gegner
der Staufer, von der Bürgerschaft überhaupt nicht in die Stadt
hineingelassen wurden. Dies war zuerst bei Konrad von Dürk-
gesagt: quia Laudolfus episcopus buic conflictni non interfait, dampnificatus
est a domino Moguntino ad centum inarcas et amplius. Vgl. xu Landolfs
Stellung in diesen Kämpfen auch die Bischofschr. (p. 168): quia cives dictis
duminis (Friedrich und Konrad) totalitär adherebant, dominus episcopus nolens
et timens eos offendere, sua pecunia magna bas sententiaa saepius
liberavit Die Aufforderung des päpstlichen Legaten Albert von Beham sich
vor ihm zu rechtfertigen und an den gegen Friedrich abgehaltenen Be-
ratungen sich zn beteiligen, hat Landolf nicht befolgt; andererseits aber
doch, was die anderen nicht päpstlich gesinnten Bischöfe unterliessen, Boten
geschickt, um sein Ausbleiben zn entschuldigen, vgl. Akten Alberta v. Beham
in Bibi, des literar. Vrns. XVI (Stuttg. 1847) S. 122. Mit Becht sagt
Köster 8. 64: „Ebenso unklar, wie am Ende der Regierung Landolfs seine
Stellungnahme zwischen Kaiser und Papst ist, stellt sich auch der Bericht* (der
Bischofschronik) „über dieselbe dar.“
>) Boehmer Font. II p. 168, Zorn 8. 80, 81, vgl. Arnold V. G. II
8. 62, 66, Schirrmacher IV 8. 209. Der Rat des päpstlichen Legaten,
die Absetzung der widerspenstigen Bischöfe mit Landolf zu beginnen, ist
jedenfalls von der Curie nicht befolgt worden (vgl. die in der vorigen Not*
citierten Akten Alberte v. Beham 8. 123).
*) Vgl. Arnold 8. 49-66.
•) wie Koester 8. 64 annimmt.
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341
heim der Fall,1) der indessen schon im zweiten Monate seines
Episcopats starb.*) Dann trat eine Doppelwahl eiri, in welcher
der eine Candidat, Richard von Daun, sich anfangs auf die
Stadt gestützt zu haben scheint;*) als er sich aber, da der
Papst für ihn entschieden4) und Sein Rival resignirt hatte,
offen an die antistauflsche Partei angeschlossen, wurde er von
der Bürgerschaft lange an der Rückkehr nach Worms ge-
hindert.6) Indessen wurde die Stadt, wie ein ganz unabhän-
giges Territorium, von ihrem Rate regiert, der jetzt wieder
durchaus die Interessen der Bürger vertrat. Bemerkenswert
ist es, dass man nicht nur bei dieser Gelegenheit den alten
Rat von 40 Personen nicht wiederherstellte, sondern auch die
durch Tod erledigten Stellen des Rats der 15 nicht wieder
besetzte. Daher kam es, dass die Zahl der Ratsmitglieder
schon in den Jahren 1249 — 1252 auf 9,*) im Jahre 1253
schon auf 8 Mitglieder zusammengeschmolzen war.7) An diesen
Rat wandte sich auch 1261 Innocens IV, um die Stadt zum
Anschluss an König Wilhelm und die kirchliche Partei zu be-
wegen.8) Jedoch hatte dies Schreiben auf die Wormser so
wenig Einfluss wie lange Zeit hindurch alle weltlichen und
*) Boehmer p. 169, Zorn S. 88, vgl. Köster 8. 64, 66.
*) Die Daten der Wahl, der Weihe und de» Tode» diese» Bischof» sind
in Folge der widerspruchsvollen Angaben unserer Quellen (Zorn a. a. O.,
Boehmer ibid., Hon. Kirsgart. 8. 129) nicht mit Sicherheit zu bestimmen.
Vgl. Köster S. 64, 66, 99, cf. auch M. 0. Epist. saec. XIII t II N. 429 p.
311 u. Joannis II p. 217.
*) Boehmer ibid., Zorn S. 89, vgl. Arnold V. Q. II 60.
4) vgl. ü 220, 222. .
*) Zorn 8. 93, vgl. Arnold II 63.
*) Dies lässt sich daraus schlieasen, dass in zwei Urkunden des Jahres
1249 (U 225 und 226) und in je einer des Jahres 1261 und 52 (U 228 und
234) ganz dieselben neun Personen als consulea bezeichnet sind.
*) Nach der Bischofschronik (p. 170) hat Bischof Bichard damals den
Kat der fünfzehn durch Besetzung der drei erledigten Ratsstellen erneuert;
gemeint können hier nur die 9 bürgerlichen Ratsstellen sein. Es geht dies
zunächst daraus hervor, dass in dem späteren neuen Rat von 1263, dessen Mit-
gliederliste Zorn 8. 98, 99 überliefert hat , von den neun bürgerlichen Räten
6 und von den ministerialischen 2 dem früheren Rate angebörten ; dessen Mit-
gliederliste ist uns ja durch die in der vorigen Note erwähnten Urkunden
überliefert. Ferner überliefert Zorn a. a. 0. auch folgende, weil lateinisch,
wohl alten Quellen entnommene Nachricht : Isti novem (d. h. die bürgerlichen
Consuln) sex milites elegerunt.
•) W U 230.
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342
geistlichen Kampfesmittel ; auch noch, als König Konrad Oktober
1251 nach' Italien gegangen, hielt die Bürgerschaft uner-
schüttert au seiner Sache fest.1) Hierin trat zunächst auch keine
Änderung ein', als der Rat im Februar 1253 den Bischof, der
kurz vorher das Interdict aufgehoben, in die Stadt einliess;
ausdrücklich wurde ausgemacht, dass er sie nur als einfacher
Geistlicher betreten sollte.*) Indess gelang es Richard, nachdem
er in die Stadt zurückgekehrt, sich daselbst allmählich eine
grosse Partei zu schaffen.*) Gleichzeitig verloren die Anhänger
der Staufer in Worms, die mit den härtesten kirchlichen Strafen
belegt wurden, daselbst nach und nach immer mehr an Einfluss;
jedoch fand der Anschluss der Stadt an König Wilhelm erst
nach dem Tode Konrads IV. statt.4) Hingegen gelang es dem
Bischof, obgleich die Bürgerschaft damals den Rat der 40,
in dem man die Verkörperung der vollen Stadtfreiheit gesehen
zu haben scheint, wiederhergestellt wissen wollte, die Rückkehr
zu den Bestimmungen der ersten Rachtung durchzusetzen.8) So
kann es als Resultat dieser Streitigkeiten unter Landolfs Nach-
folgern angeführt werden , dass die von diesem errungenen Er-
weiterungen der Bischofsmacht wieder abgeschafft wurden , die
Stadt aber nach wie vor in weitgehender Abhängigkeit von den
Bischöfen blieb.
Eine weit grössere Autonomie als Worms erlangte zur Zeit
ebendieses Bürgerkrieges die Stadt Mainz. Anfangs hatten
die Mainzer gleich den Wormsern und Speierern im Gegensatz
zu ihren Stadtherren die staufische Sache eifrig verfochten.*)
Dem Vorbilde seines Vorgängers Adalberts I.’) folgend, hat
alsdann auch Erzbischof Sigfrid III. (1230 — 1249) der Bür-
gerschaft, um sie für sich zu gewinnen, ein ihre Rechte in
hohem Masse vermehrendes Privileg gegeben. Jedoch musste
die Hilfe der Stadt damals durch viel weitergehende Conces-
«) vgl. w ü 233.
’) Zorn S. 94, 95.
•) a. a. 0. 8. 96—99, Mon. King, bei Ludewig II p. 121 ff., vgl. Arnold
II S. 64, 65, KOster S. 65, 66, Hinze, Das Königtum Wilhelms von Hol-
land (Leipz. 1885) 8. 77, 78.
*) Zorn S. 103, vgl. U 249, KBster 8. 66, 67, Hinze 8. 170.
*) Bischofscbr. (p. 170), Zorn 8. 98, 99, Monachus Kirsgart. p. 124,
vgl. oben 8. 341 N. 7.
*) vgl. Schirrmacher IV S. 18, Hegel Mainz 8. 45, 46.
’) vgl. oben Cap. VI S. 236 ff.
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343
sionen gewonnen werden, als sie einst Adalbert gewährt hatte.
In der bekannten Urkunde von 1244 November 13. *) wurde
die Stadt von jeder Verpflichtung zu Kriegsdienst und Steuer-
leistung für den Erzbischof befreit. Ferner erhielten die Bürger
unter anderem auch das Recht, das bis dahin von ihnen in der
Stadt erhobene Ungeld, so lange es ihnen angemessen erscheine,
weiter zu erheben; ebenso wird ihnen auch die Berechtigung
garantiert, ihren Rat ganz selbständig ohne jede Beteiligung
des Erzbischofs zu wählen und zu ergänzen.*) Endlich ver-
sprechen sich auch Erzbischof und Bürger, einander gegen ihre
Feinde Beistand zu leisten.
So war die Mainzer Bürgerschaft in Besitz von Finanz-
und Militärhoheit, sowie ganz selbständiger Wahl ihrer lei-
tenden Behörde gekommen; als Zeichen der städtischen Macht-
vollkommenheit kann es betrachtet werden, dass der Erzbischof
für sich und seine Nachfolger darein willigen musste, stets nur
mit soviel Gefolge in die Stadt zu ziehen, als diese selbst für
gut finden würde.*) Immerhin behielt jedoch der Erzbischof noch
wichtige Rechte in der Stadt. So blieb ihm die Besetzung der
Beamtungen des Kämmerers, Schultheissen und Waltpod,4)
welche erst nach und nach an Einfluss verloren;8) ebenso be-
') B-W XXXIII 604; Gmlen Cod. I 580, dessen Text aber nach den
von Bodmann handschriftlich Oberlieferten, von Will a. a. 0. pnblicierten
Abweichungen des Originals zu corrigieren ist.
*) Item annuemos et pennittemus, qnod ipsi cives viginti qnattuor eli-
gent ad consilinm civitatis sic, qnod, nno decedente, alter in locnm sumn
protinns eligatnr. Dass nicht erst durch diese Bestimmung ein Bat, geschweige
denn Oberhaupt erst eine die Interessen des Bürgertums vertretende Behörde,
geschaffen wurde, ist im vorigen Capitel gezeigt worden. Freilich ist zu
vermuten, dass damals der Rat ganz neu gewühlt wurde, während fernerhin
Wahlen von Ratsmitgliedern nur bei Freiwerden von Ratsstellen durch Tod
stattfanden. Eben damals wird auch die Verbindung von Rat und SchOflfen-
tum gelost sein, da die Schöffen nach wie vor vom Erzbischof ernannt wur-
den, während er auf die Ernennung der Ratsmitglieder jeden Einfluss ver-
loren hatte.
*) Wenn es 1. c. § 11 heisst, quam quod nobis et nostris civibus Visum
fuerit expedire, so ist das ja ganz selbsverst&ndlich, dass das Gefolge des
Erzbischofs nicht grosser war, als er es für richtig fand ; die HinznfOgung des
nobis verdeckt schlecht die für den Erzbischof demütigende Bestimmung.
4) Hegel Mainz S. 56, 59.
*) vgl. Hegel passim, Bockenheimer S. 32—34.
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344
hielt er bis 1349 seine Mitwirkung bei der Besetzung des
Schöffencollegs, sowie bei der der Richterstellen. *) Desshalb kann
man auch nicht sagen,1) Mainz habe 1244 Reichsunmittel-
barkeit erworben; kaiserliche Privilegien hatte es schon
früher erhalten*) und es hörte damals nicht auf, jedem Erz-
bischof nach seiner Wahl — wenn auch erst nach Bestätigung
seiner Privilegien — den Huldigungseid zu schwören.4) Auch
darauf, dass hier Stadt und Erzbischof wie zwei gleichberech-
tigte Mächte einen Vertrag schliessen, darf man wohl kein
besonderes Gewicht legen.*) Dies war z. B. auch bei der
ersten Wormser Rachtung der Fall, in welcher doch dem Stadt-
herren sehr weitgehende Rechte eingeräumt wurden.*)
Als entscheidend muss aber jedenfalls angesehen werden,
dass die Mainzer Bürgerschaft seit 1244 in dem ohne jede Mit-
wirkung des Erzbischofs besetzten Rate ein festes unbeein-
flusstes Organ für ihre Interessen besass und dass ebendiesem
die freie und ausschliessliche1) Verfügung über die städtische
Finanz- und Heereskraft zustand.
*) Hegel S. 58 and 153, Bockenheimer S. 19. Über die vier
Richter in Mainz , welche dort ausser dem Kämmerer , Schultheis« und
Schöffen zum Stadtgericht gehörten, vgl. Hegel S. 56. ln wie weit der Erz-
bischof bei der Besetzung des Schöffencollegs durch Rücksichtnahme auf
Wünsche und Vorschläge der Schöffen, bei der der anderen Beamtungen auf
solche des Rats beschränkt war, scheint nach dem dürftigen Quellenmaterial
nicht mehr festzustellen möglich. Beachtungswert ist aber jedenfalls, dass
in einem Bestallungsbriefe eines Richters der Erzbischof 1401 sagt, er habe
ihm „nach Rate unser Frunde ( = nach Vorschlag des städtischen Rats) und
mit rechtem wissen“ das .Richter- Amt übertragen* (Senckenberg Meditationes
ius publicum privatum et histor. concernentes t III (Qissae 1740) p. 541),
vgl. auch die Speierer Verhältnisse unten S. 346.
*) wie es Bockenheimer 3. 17 thut. Noch weniger hat Main zdamals
.Reichsstandschaft* erworben, was Bock. a. a. 0. auch behauptet. Teilnahme
an den Reichstagen wurde den deutschen Städten ja erst später zu Teil, vgl.
Weizsäck er Rheinischer Bund 3.189— 198, Brülcke Entwickelung d. Reichs-
tandsch. der Städte (Hamb. 1881) 3. 3 ff. und oben 3. 320 N. 5.
*) Hegel S. 139, 140.
‘) ibid. 3. 154, 155.
*) wie es Hegel S. 46 thut.
•) vgl. oben 8. 326.
Dies geht aus § 1 de« Privilegs von 1244 mit Sicherheit hervor:
Ipsi nunquam servient nobis, exeundo civitatem cum exercitu et armatii ;
neque aliqua bona nobis conferent, nisi de ipsorum bona fuerit voluntate.
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345
Einen ähnlichen ganz selbständig gewählten Bat, wie ihn
Mainz 1244 erhalten, besass Speier, wie oben1) gezeigt, schon
seit 1198. Wohl gerade aus diesem Ornude treten hier im
13. nnd 14. Jahrhundert die Zwistigkeiten zwischen Stadt-
herren und Bürgerschaft gegenüber denjenigen zwischen Ge-
schlechtern and Zünften sehr wesentlich zurück.*) Die Stadt
hatte hier früh die meisten Rechte erlangt, um derentwillen die
Bürgerschaften anderer Städte mit ihren Bischöfen in Conflict
gerieten; andererseits sind von den Speierer Bischöfen nur
wenige Versuche gemacht worden, sich wieder grössere Rechte
Ober die Stadt namentlich anch in Bezug auf die Ratsernen-
nung zu verschaffen. Nur als ganz vorübergehende Episode in
der Stadtgeschichte erscheint es, dass 1258 in Folge von Strei-
tigkeiten innerhalb des Rats dem Bischof freiwillig das Recht
eingeränmt wird, ganz selbständig einen Rat von 18 Mitgliedern
zu ernennen und die Interessen des Bistums verletzende Rats-
herren abzusetzen.*) Nicht lange darauf erscheint wieder ein
Rat von 12 Mitgliedern,4) der die Interessen der Stadt auch
gegen den Clerus mannhaft vertritt.6) Die Frage der Rats-
ernennung kommt auch bei einem Streit, welcher 1292 zwischen
Stadt und Bistum entstanden war und 1294 geschlichtet wurde,*)
gar nicht in Betracht. Vielmehr handelte es sich hier, abge-
sehen von Streitigkeiten über die Competenz der geistlichen
Wenn dennoch Erzbischof Wemher von Mainz 1265 ihm in der Stadt zu-
stebendes Ungeld seinem Domcapitel verpfändet (B-W XXXVI 135, Sencken-
berg p. 521 in dem N. 1 citierten Werke mit falscher Datierung), so kann dies
also nnr darauf beruhen , dass in dieser Beziehung nach 1244 eine vorüber-
gehende Reaction zu dunsten des Erzbistums eingetreten war, indem die
Stadt ihm die Erhebung des Ungelds zugestanden hatte.
') 3. 276—282.
») vgl. Arnold II S. 347, 348.
*) U 90. An der Richtigkeit des Inhalts dieser Urkunde zu zweifeln,
liegt deshalb kein Grund vor, weil sie von dem, freiwillig sein Amt nieder-
legenden, Rate selbst ausgestellt ist.
4) In einer im Jahre 1265 entschieden von dem ganzen Rat ausgestellten
Urkunde (U 109) erscheinen 11 Ratsherren, was nur bei einer normalen Rats-
zahl von 12, nicht von 18 Mitgliedern erklärlich ist.
*) vgl. U 104— 107, 109 etc., Rau 3. 16, 17, Arnold II 348, Barster
in Ztschr. f. G. d. Oberrh. XXXVIII S. 216.
*) U 184; über die Dauer des Streites vgL U 183 3. 138 Z. 4: iam
fere per biennium eodem iudicio privavit.
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346
Gerichte vorzüglich um die Ernennung der weltlichen Gerichts-
und Regalienbeamten Vogt, Schultheis«, Münzer und Zollein-
nehmer. Dieselbe stand von altersher dem Bischof zu; dass
aber dabei dem Rate wohl schon lange eine bedeutende Mit-
wirkung eingeräumt war, lässt sich gerade aus einigen Bestim-
mungen dieser Speierer Rachtung von 1294 schliessen. Danach
durfte der Bischof nämlich nur diejenigen zu diesen Beam-
tungen ernennen, welche der Rat oder die Majorität desselben
Vorschlag,1) übte also in Wirklichkeit nur ein formelles Be-
stätigungsrecht aus. Ferner sollten auch Ausschüsse des Rats
die Thätigkeit dieser Beamten controllieren und eventuell Geld-
strafen über sie verhängen dürfen.*) So bestand denn der
ganze Nutzen, den der Bischof noch von diesen Ämtern hatte,
in pecuniären Vorteilen; für ihre Verleihuug liess er sich näm-
lich von den mit diesen Ämtern Belehnten Geld geben, wie
er denn auch in diesem Vertrage von Vermieten (locare) der
Ämter spricht.*)
So waren um die Mitte des dreizehnten Jahrhunderts in
allen drei Städten dem Organe der Bürgerschaft, dem Rate,
die wichtigsten Herrschaftsrechte zugefallen. Nur in Worms
übte der Bischof überhaupt noch einigen Einfluss auf die Be-
setzung dieser Behörde aus; in den beiden anderen Städten
war der Rat vom Bischof ganz unabhängig, indem er sich völlig
selbständig ergänzte. In allen drei Orten stand der bürger-
') Item quod iudicia et officia nostra civitatis Spirensis .... annuatim
locare et concedere debemus secundum dictum et sententiam con-
suium Spirensinm vel maioria partis eorundem , quam sno proferent
iuramento.
*) si quis eoram excederet in aliquo hoc ad instructionem illorum. qui
eum de hoc merito instruere tenentur, debet totalitär reformare et inantea
non facere quoqnomodo.
*) Dass auch noch am Ende des dreizehnten Jahrhunderts diese Ämter
in erster Linie der damit verbundenen Einnahmen wegen übernommen wur-
den (vgl. oben S. 64), kann daraus geschlossen werden , dass die mit diesen
Ämtern Belehnten an Einnahmen und Ausgaben andere Personen ganz wie
bei einem Handelsgeschäft beteiligten. Diese Thatsache selbst geht aus einem
Ratsbeschluss von 1287 (U 169) hervor. Als damals n&mlich festgesetzt
wurde, dass kein Ratsmitglied diese Beamtungen mehr bekleiden sollte, wurde
zugleich verordnet, dass keiner derselben vel partem aliquam habest vel
communitatem ad usum sunm cedentem, publice vel occnlte in aliquibus
officiis praedictis vel aliquo eorumdem officiorum . . .
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347
liehen Behörde freie Verfügung über Finanz- und Heereswesen,
sowie unbeschränktes Verwaltungsrecht zu; auch auf die dem
ehemaligen Stadtherren gebliebene Gerichtsbarkeit hatte diese
Behörde Einfluss gewonnen. Ferner waren auch um die Mitte
des dreizehnten Jahrhunderts bereits wenigstens die ersten
Anfänge zur selbständigen Ausbildung städtischer Territorien
gelegt. Wir haben schon gesehen, wie 1242 die Wormser die
Vogtei über Nonnenmünster durch Kauf erlangten und sich
ihnen ein Jahr vorher die Bewohner des nahe der Stadt ge-
legenen Dorfes Osthofen zu Dienst hatten verpflichten müssen.1)
Es verdient übrigens an dieser Stelle hervorgehoben zu werden,
dass gerade hiernach die ihre Stadt repräsentierenden Bürger-
behörden zunächst nur ein eng begrenztes Gebiet unter sich
hatten. Kam doch die Mainzer Vorstadt Vilzbach, wie früher*)
gezeigt worden ist, erst 1294 unter das Stadtregiment; ebenso
handelt es sich auch bei den erwähnten Wormser Erwerbungen
nur um ganz in der Nähe von Worms gelegene Orte. So war
demnach wenigstens in unseren Städten für die lokale Aus-
dehnung der Ratsherrschaft das Gebiet massgebend, das von
den Stadtmauern umschlossen wurde, indem nur das Markgebiet
der städtischen Gemeinden hinzukam.*) Dem entspricht völlig,
dass später die beiden Städte, die von unseren drei mittel-
rheinischen ihre Freiheit bis zum Untergange des alten deut-
schen Reichs zu wahren gewusst, Worms und Speier, wesent-
lich kein weiteres Territorium als ihre Stadtmark besassen.4)
’) S. oben S. 339.
') 8. 95.
*) Neben den früher den Specialgemeinden gehörenden Allmenden moch-
ten vereinzelt auch solche, die im gemeinsamen Eigentnme derselben und
benachbarter Dörfer gestanden hatten, zur Stadtallmende (vgl. oben 8. 306)
and dadurch auch zum städtischen Territorium gezogen worden sein.
4) vgl. Berghans Deutschland vor 100 .fahren (Leipzig 1853) Bd. I S.
363, 364, Leo Territorien I (Halle 1865) 8. 647. In den Mainzer Stadt-
rechnungen von 1410 nnd 1411, von denen unten ein Auszug als Beilage folgt,
werden auch Steuern, die Mainz in Oppenheim nnd Gernsheim erhob, erwähnt.
Oppenheim war 1356 der Stadt Mainz von Karl IV. verpfändet, indess war
diese Pfandschaft schon 1375 aufgehoben worden, vgl. Boehmer-Huber,
Regesten Kaiser Karls IV. (1877) N. 2656, 6666, 6567, Hegel Mainz 8. 144,
146, 147, Franck Gesch. d. Rchstdt. Oppenheim (Darmst. 1859) 3. 53, 60,
61. Wesshalb die beiden genannten Orte an Mainz Abgaben zahlten, muss
also hier dahingestellt bleiben.
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348
Der früher besprochene Versuch der Wonnser, das alte Juris-
dictionsgebiet ihrer Schöffen zur Grundlage ihres Herrschafts-
gebietes zu machen,1) muss jedenfalls als völlig gescheitert an-
gesehen werden.
Weit mehr als durch die Territorialbildung haben ja auch
unsere Städte durch ihre unmittelbare Teilnahme an den in-
neren Kriegen Einfluss auf die politische Entwickelung Deutsch-
lands geübt. Da in diesen Kämpfen die einzelnen Glieder des
Reiches eine selbständige Rolle spielen konnten, haben unsere
mittelrheinischen Städte sich, wie wir gesehen haben, schon
seit der zweiten Hälfte des elften Jahrhunderts, ihre Partei-
Stellung nicht mehr von ihren Stadtherren vorschreiben lassen.
Die Anhänglichkeit der Bürgerschaften an das Salische und
Staufische Herrscherhaus, daneben auch mitunter das Inter-
esse an der Ausdehnung ihrer eigenen Rechte bestimmten aus-
schliesslich ihr politisches Verhalten. So hatten daher die
mittelrheinischen Städte schon im II., 12. und der ersten Hälfte
des 13. Jahrhunderts einen nicht zu unterschätzenden Einfluss
auf den allgemeinen Gang der politischen Entwickelung geübt;
dennoch erreicht alles vorhergehende nicht das Mass jener po-
litischen Bedeutung, welches die mittelrheinischen Städte im
Jahre 1254 durch die Begründung des Rheinischen Bundes
ausgeübt haben. Welche Bedeutung Worms und Mainz als
Vororte dieses Bundes gehabt, braucht hier nicht näher er-
örtert zu werden ; ebenso wenig wie die allgemeine Bedeutung
dieses Bundes hier noch auseinandergesetzt zu werden braucht.
Ist es doch erst neuerdings in ausgezeichneter Weise ausge-
führt worden, wie durch den Rheinischen Bund die wichtigste
') Derselbe Hess sich ans einer Bestimmung des von den Wormsern an-
gefertigten angeblichen Kaiserprivilegs von 1136 constatieren, vgl. oben S. 266
N. 2. Da zum Speierer Schultheissengebiete ehemals noch die Orte Berg-
hausen, Harthansen, Dndenbofen und Walsheim gebürten, so ist auch der
Versuch Speiera, die Herrschaft über dasselbe zu erlangen (vgl. oben S. 184)
als gescheitert anzusehen, weil ja auch Speier später ausser der Feldmark
kein Gebiet hatte, vgl. Berghans a. a. 0., Leo a. a. 0. Dagegen ist es z. B.
Frankfurt gelungen, seinen politischen Einfluss .durch Ausnutzung der früheres
Zugehörigkeit der Stadt zur fiscalischen Hundertschaft der Umgegend an er-
weitern.* 8. Bücher in dem oben S. 32 N. 2 citirten Werke S. 474 ff.,
Lamprecht im Archiv f. sociale Gesetzgeb. u. Statistik (Tüb. 1888) Bd. I
S. 321, 622.
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349
gesetzgeberische Leistung der Hohenstaufenzeit, der Hainzer
Landfriede, in die folgende Periode hinübergerettet, ein bahn-
brechendes Beispiel für das spätere Bündniswesen zum Zwecke
der Landfriedensbewahrung geschaffen und endlich die Reichs-
standschaft der Städte angebahnt ist.1)
Capitel X.
Ergebnisse.
Es kann wohl angebracht erscheinen, jetzt, nachdem die
Verfassungsentwickelung von Worms, Speier und Mainz bis
znr Zeit des Rheinischen Bundes untersucht ist, die für die
allgemeinen Fragen des Ursprunges der Stadtverfassung in Be-
tracht kommenden Ergebnisse zusammenzustellen. Eine solche
Zusammenstellung wird wohl auch durch den Umstand als ge-
nügend gerechtfertigt erscheinen, dass gerade durch die vor-
liegende Specialuntersuchung sich herausgestellt hat , dass
Worms, Speier und Mainz bei Erforschung des Ursprungs der
städtischen Verfassungen in Deutschland zu den hauptsächlich
zu berücksichtigenden Orten zu rechnen sind. Es hat sich ja
gezeigt, dass unsere drei mittelrheinischen Städte entschieden
mit zu den ersten in Deutschland gehören, in denen wir spe-
cifisch städtisches Wirthschaftsleben, specifisch städtische Rechte-
bildung und specifisch städtische Behörden finden; gerade an
unseren Orten sehen wir diese städtischen Behörden schon
im 11. und 12. Jahrhundert über Finanz- und Wehrkraft der Bür-
ger entscheiden. Ferner spielen auch die drei mittelrheinischen
Städte früher als die meisten anderen eine selbständige und zwar
sehr einflussreiche politische Rolle. Endlich ist hervorzuheben,
dass gerade in Worms, Speier und Mainz — auch bei genauester
Prüfung des für sie erhaltenen Quellenmaterials — in der Zeit
l) vgl. Weizsäcker, Der Rheinische Bund insbes. S. 160 ff., 8. 189 ff.,
Quid de, Studien s. G. d. Rheinischen Landfriedensbundes von 1254, insbes.
S. 60 ff.
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350
der Ausbildung einer selbständigen Stadtverfassung nirgends
eine Spur der Herübernahme von Verfassungs- und Rechtsin-
stitutionen anderer deutscher Städte entgegentritt. Deun, dass
in der zweiten Hälfte des 15. Jahrhunderts, wohl in Anleh-
nung an anderen Orts herrschende Verhältnisse,
Worms und Speier sich bei Processen, in denen die Stadt selbst
Partei war, durch einen Heimburgen vertreten Hessen,1) ge-
hört schon einer so späten Zeit an, dass cs kaum noch als ge-
ringfügige Ausnahme von der durchaus originären Herkunft der
Verfassungsinstitutionen unserer Städte betrachtet zu werden
braucht. Nur desshalb verdiente es ja überhaupt Erwähnung,
damit man nicht länger diese vereinzelte Erscheinung mit der,
im übrigen ganz selbständigen, Entwickelung des alten (und
eigentlichen) Heimburgenamtes in unseren Städten in Verbin-
dung bringt.
Wie in der Einleitung hervorgehoben ist, scheint mir die
in der letzten zusammenfassenden Erörterung des Problems
des Ursprungs der Stadtverfassung, in der öierke’schen ,*)
formulierte Fragstellung den richtigen Weg zur Lösung des-
selben zu zeigen; es gilt nämlich, die bisher einseitig von den
verschiedenen Forschern betonten Momente „in die richtige
Stellung zur Gesammtentwickelung“ 8) zu bringen. Unter diesen
Momenten lassen sich noch die Verfassuugsinstitutionen, an
welche sich die ersten specifisch städtischen Einrichtungen an-
lehnten, und die Ursachen, aus denen es zur Ausbildung städti-
scher Verfassungen gekommen ist, unterscheiden.
Was die Anlehnung an frühere Verfassungsinstitntionen
betrifft, so sind von der älteren Forschung bekanntlich sowohl
die des römischen als die des deutschen Rechtes zur Erklärung
unseres Problems herangezogen worden. Da jetzt aber die
Annahme der Entstehung der deutschen Stadtverfassung aus
der römischen allgemein aufgegeben ist, so braucht kaum noch
besonders bemerkt zu werden, dass in Verfassung und Rechts-
leben unserer drei Städte Fortbestand römischer Einrichtungen
nicht zu finden ist. Freilich darf dennoch der Umstand vou
') 8. oben S. 123, 124, 131 N. 1.
*) I S. 2öO ff., (I S. 588 ff.
•) Gierke II S. 589.
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361
der Forschung nicht vernachlässigt werden, dass die rein wirt-
schaftliche Bedeutung der Städte schwerlich nach der Völker-
wanderung erst wieder ganz neu begründet wurde. Ihre Um-
mauerung, ihre Eigenschaft als Bischofssitze und die Überreste
des einst blühenden Verkehrs- und industriellen Lebens, sowie
eben dadurch die Keime ihrer späteren Blüte haben unsere
Städte, insbesondere Worms und Mainz, entschieden aus dem
Altertum in das Mittelalter hinübergerettet.1) Ferner ist we-
nigstens in einer, allerdings ziemlich nebensächlichen, Hinsicht
eine Einwirkung der Kenntnis, die man im Mittelalter vom
klassischem Altertum besass, auf die städtische Entwicke-
lung am Mittelrhein ganz unbestreitbar. Es ist die Bezeichnung
der Ratsmitglieder als consules, welche in jeder unserer drei
Städte in der ersten Hälfte des dreizehnten Jahrhunderts an
die Stelle früher gebrauchter anderer Namen tritt.*) Nachdem
die Italiener in bewusster Nachahmung der Antike ihre Stadt-
vorstände als consules bezeichnet hatten, ist dieser Titel auch
auf die deutschen Bürgeibehörden übertragen worden. Ob auch
schon in dom früher bezeugten Namen consiliarii Anlehnung an
fremde Vorbilder oder nur eine Übersetzung des für die Schöffen
schon in früher Zeit bezeugten Namens „ Ratgeben “ zu finden
ist, musste dahingestellt bleiben. 8)
Gehen wir nun zu den Instituten des deutschen Rechts
über! In der vorliegenden Einzeluntersuchung wird man an
vielen Stellen eine Bestätigung der Ansicht Gierkes4) ge-
funden haben, dass keinesfalls irgend ein einzelnes deutsch-
rechtliches Iustitut als die eigentliche Ursache der Ausbildung
freier Stadtverfassungen bezeichnet werden kann ; zugleich wird
es auch schon klar geworden sein, aus welchen älteren
Rechtseinrichtungen speciell am Mittelrhein unter den po-
litischen und wirtschaftlichen Verhältnissen, welche die städti-
sche Autonomie hervorriefen, die specifiscb städtischen Verfas-
sungsformen erwachsen sind.
Vor allem hat sich herausgestellt, dass mit Recht vqn
Arnold, Heusler und Gierke vorzüglich die Mitwirkung
l) vgl. oben S. 2 — 6.
*) 3. 3. 296 mit N. 1.
*) oben 3. 299, 300.
*) vgl. die 3. 350 N. 2 gegebenen Citate.
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352
weiterer Kreise bei der Rechtssprechung herangezogen ist; hat
sich doch ebendiese, die Urteilsfindung seitens der Schöffen
und die Urteilsbekräftigung seitens der als Oerichtsumstand
versammelten Gemeinde, allein von der, in der Urzeit üblichen,
Beteiligung der breiten Masse der Gemeinfreien bei allen Fragen
des Staatslebens das ganze Mittelalter hindurch erhalten. In-
sofern sind in der That „ Stadtverfassung und Bürgertum“ als
„Verjüngung der fränkischen Hundertschaftsverfassung“ ’) und
der freien Volksgerichtsgenossenschaften zu bezeichnen. Nur
geschah diese Entwickelung nicht in der Art, dass „die Bür-
gerschaft das städtische Gemeinwesen als eine durch die Im-
munität nach aussen hin abgeschlossene und durch das Schöffen-
tum und die echten Dinge organisierte Gerichtsgemeinde in die
Hand“ nahm.*) Demgegenüber lässt sich vielmehr, wie gezeigt
ist, für Worms, Mainz und Speier mit Sicherheit nachweisen,
dass das Stadtgebiet weder mit dem Jurisdictionsbezirke des
Burggrafen noch mit dem des Schultheissen identisch ist;*)
ebensowenig fällt es auch mit dem Immunitätsgebiet des geist-
lichen Stadtherren zusammen. Vielmehr entwickelt sich das
eigentliche Stadtgebiet aus einer Anzahl von Heimschaften,
welche unter dem in der Stadt residierenden, aus Stadtbürgem
bestehenden und die Interessen der städtischen Bürgerschaft
vertretenden Schöffencolleg zu einer zunächst communalen, dann
auch politischen Einheit zusammenwuchsen ; später wird mit-
unter noch zu dem ursprünglichen ein weiteres Gebiet durch
Kauf und Eroberung erworben.4)
Völlig zutreffend ist demnach für unsere Städte die Ab-
leitung des Rats aus dem Schöffencolleg; dasselbe hat einfach
zu seinen ursprünglichen noch eine Reihe anderer Befugnisse
hinzuerworben und hat zunächst als neben anderen vorkom-
menden, zuletzt als ausschliesslichen Namen die Bezeichnung
„Rat“ erhalten. Dagegen darf die Erringung der Stadtfrei-
heit durchaus nicht einer städtischen, aus Altfreien bestehenden.
Gerichtsgemeinde zugeschrieben werden ; nicht die Gemeinde
der Altfreien, sondern die, sich unabhängig von
') So Henaler Ursprung S. VIII, vgl. oben S. 26, 27.
*) So Gierke II S. 690.
*) vgl. oben S. 347, 343.
‘) •. 8. 95 N. 1, 2, 339 N. 3, 6, 347 N. 4.
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353
der alten ständischen Gliederung entwickelnde Classe
der Kaufleute erringt die städtische Freiheit.
Zu änderen Ergebnissen, als es bei der Zurückführung
der Stadtverfassung auf die Institutionen des alten Volksrechtes
der Fall ist, kommen wir bei einer Betrachtung der Wirkungen
von Hofrecht und Hofverfassung.1) Dass einige hofrechtliche
Beamtungen wie die des Kämmerers , Münzers und Zollein-
nehmers zur Zeit der Ausbildung der städtischen Verfassung
in kaufmännische Hände übergingen und allmählich mehr im
Sinne der Bürgerschaft , als in dem des Stadtherren geführt
wurden,8) wird kaum unter die Wirkungen des Hofrechtes ge-
rechnet werden können. Hingegen kann als auch für den Ursprung
der Stadtverfassungen höchst bedeutsames Moment die von
Heusler5) hervorgehobene Thatsache angeführt werden, dass
gerade durch die Ausbildung des Hofrechts Deutschland davor be-
wahrt wurde, dass „aus den Grundherrschaften grosse Lati-
fundien wie in Rom erwuchsen, die im besten Falle mit einem
besitzlosen Proletariat, im wahrscheinlicheren aber mit einem
unermesslichen Sklavenbestande bevölkert gewesen wären.“
Gerade durch das Hofrecht, speciell auch durch das Streben
der Bischöfe, alle ihre Leute der echten Ehe, der Eigentums-
rechte und, von den servientes abgesehen, der ordentlichen Ge-
richtsbarkeit teilhaft werden zu lassen, wurden die Dagowarden,
die Nachkommen der früher völlig Unfreien, in so günstige
Lage versetzt, dass sie allmählich mit der höher stehenden Be-
völkerung verschmelzen konnten.4) Ebenso ist es für die Ver-
schmelzung der Vogteileute und Unfreien mit den persönlich
völlig frei gebliebenen von Wichtigkeit, dass frühzeitig die
Gerichtsbeamtungen für die bischöfliche familia und für die
ausserhalb derselben stehenden Personen in ein und dieselbe
Hand kamen. Es ist oben6) nachgewiesen, dass unter der
Bischofsherrschaft Vogt und Burggraf identisch wurden, ebenso
auch, dass dasselbe mit dem Wormser Vitztum sowie dem
grundherrlichen Schultheissen in den beiden anderen Städten
‘) Diese Ansicht ist bekanntlich von Nitisch vertreten, vgl. oben S. 27.
*) vgl. oben S. 63 — 66.
*) Instit. I 8. 41.
*) vgL oben 8. 38 — 40.
*) s. Cap. VI.
Koehne, Ursprung der Stadtverfassung ln Worms, Speier und Mainz. »
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354
einerseits und dem alten fränkischen Centenar (tribunus, cen-
turio) andererseits eintrat. Dadurch erhielt auch das, unter
dem Vorsitze der volksrechtlichen Beamten tagende, Schöffen-
colleg die Jurisdiction über die bischöfliche familia, soweit
nicht einzelne Classen derselben ihr in einzelnen Fällen aus
besonderen Gründen entzogen waren; wenigstens principiell
stand seitdem die ganze Stadt unter demselben Gericht.1) Die
durch diese Umstände geförderte Verschmelzung der freien,
hörigen und unfreien Bevölkerung wirkte natürlich ausser-
ordentlich günstig auf das Zusammenhalten aller Stadtein-
wohner.
Insofern, aber auch nur insofern ist ein Einfluss des Hof-
rechtes und „eine Verwertung brauchbarer Elemente der Hof-
verfassung seitens der Bürgerschaft“ *) in Bezug auf die Aus-
bildung der Stadtverfassung anzuerkennen. Allenfalls könnte
man auch noch daran denken , dass speciell in Mainz die
Schöffen vor der Erlangung der städtischen Autonomie als erzbi-
schöfliche Officialerf die Stadt verwalteten.*) Es mag allerdings
das in dieser Bezeichnung liegende Abhängigkeitsverhältnis
hier die Befugnisse der Schöffen in manchen Beziehungen vor-
übergehend vermehrt haben, während in den übrigen Städten
dieselbe Erweiterung der Schöffenrechte stattfand, ohne dass
sich die Abhängigkeit dieses Collegs vom Bischof auch im Na-
men kundgegeben hätte.
Wenn schon Heus ler4) und Gierke4) die, neuerdings
durch von Below6) wieder aufgenommene, Theorie von
Maurer’ s, der die Stadtverfassung aus der Mark Verfassung
ableitet, bekämpften, so kann die Einzelforschung die Ableh-
nung dieser Ansicht wenigstens für unsere Städte nur bekräf-
tigen. In jeder derselben bestehen in älterer Zeit mehrere
Markgenossenschaften; durch Zusammentritt der Vorsteher dieser
*) vgl. oben S. 196 N. 5 und Anhang IV.
') So Gierke II S. 589.
•) S. oben 3. 291 ff.
*) Ursprung S. 245—48.
•) II S. 589.
*) Über das Verhältnis der Ergebnisse der vorliegenden Eineeiforschung
tu von Below's Theorie, vgl. noch besonders oben S. 296 und Anhang I-
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356
Specialgemeinden , der Heimburgen,1) ist der städtische Rat
keinesfalls entstanden. Eine Verfügungsgewalt der Stadt-
behörde über die Allmende tritt auch erst zu einer Zeit hervor,
als diese, ja aus dem Schöffencolleg erwachsene, Behörde schon
anderthalb Jahrhunderte als Vertreterin der städtischen Bürger-
schaft fungiert hatte.*) Dagegen ist zuzugeben, dass der Stand
der Kaufleute und Handwerker zunächst in der Verwaltung
einzelner Specialgemeinden eine ausschlaggebende Stellung er-
langt haben wird.*) Die Gemeindeverwaltung hat also
dazu beigetragen, diesen Stand an die Ordnung commu-
naler Angelegenheiten in seinem Sinne zu gewöhnen und
seinen Einfluss innerhalb der einzelnen Städte zu verstärken.
In dieser Hinsicht wird man den Specialgemeinden um so
mehr Bedeutung zuschreiben können, als sie ja, wie gezeigt ist,
auch der Parochialeinteilung zu Grunde lagen1) und in einzel-
nen Kirchspielen dem Laienelement eine weitgehende Teilnahme
an der Verwaltung des Kirchen Vermögens zustand.6) Ausser-
dem erlangten die Vorsteher der Specialgemeinden wenigstens
in Worms und Mainz und wahrscheinlich auch in Speier als
Sendzeugen Einfluss in der geistlichen Gerichtsbarkeit;8) eben-
diese diente aber auch dazu, die Macht des Schöffencollegs in
Worms und Mainz zu verstärken, indem diesem die Urteils-
findung im Sende übertragen wurde.7)
Wie diese Kirchspielsverwaltung hat auch die selbständige
Rechtssprechung und Marktordnungj enerKaufmannsgenossen-
schaften am Mittelrhein, welche daselbst wahrscheinlich eine
der norddeutschen Gilde entsprechende Rolle gespielt haben,8) einen
nicht zu unterschätzenden Einfluss auf die steigende Bedeutung
des Kaufmannstandes geübt, ohne dass man desshalb irgendwie
die Vorstände dieser Genossenschaften ohne weiteres mit dem
Rate in Verbindung bringen dürfte. Während die Kaufmanns-
') wie Maurer I S. 204, 206 für Worms annimmt,
•) vgl. oben 8. 305 ff.
*) vgl. oben be*. S. 103, 133, 138.
4) vgl. S. 93-97, 104—109, 132, 133, 137.
•) s. oben S. 90, 98, 109, 110, 133.
•) vgl. S. 102, 116-117, 131, 132.
*) 8. oben 8. 176—178, 194, 196.
•) Vgl. oben 8. 53—60.
M*
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356
genossenschaften alle, die ihre Waaren auf dem Markte zum
Verkauf stellten, umfassten und scharfe Gegensätze zwischen
Reichen und Armen innerhalb der Handel und Gewerbe trei-
benden Bevölkerung zur Zeit der Ausbildung der Stadtver-
fassung noch nicht erkennbar sind, wurden später die Ausläufer
dieser Kaufmannsgenosseuschaften zu Organen einer sich social
abschliessenden Geldaristokratie. *)
Endlich kann man auch nicht sagen, dass in unseren Orten
der städtischeRatausdem Territorialrate des Bischofs entstan-
den sei.’) Damit steht nicht in Widersprach, dass die Zuziehung
von Schöffen oder Mitgliedern der Kaufmannsgenossenschaft zum
Territorialrat deu Einfluss der Handelskreise gestärkt haben
mag,®) und dass nach der Entstehung des städtischen Rates
die Einwilligung desselben auch zu nicht speciell die Stadt be-
treffenden4) bischöflichen Regierungshandlungen eingeholt wurde.
Wenn der Rat auch so gewissermassen an die Stelle der oft
unter Consentienten und Zeugen bischöflicher Urkunden ge-
nannten Schöffen tritt, so folgt daraus doch noch nicht, dass er
aus einer Abteilung des Territorialrats herrührt.
Vielmehr hat man sich die Entstehung des Rates
in unseren Städten entschieden so zu denken, dass
das Schöffencolleg im Laufe der Zeit eine
Reihe wichtiger Befugnisse zu seinen ursprünglichen
jurisdictionellen h i n zu er war b .*) Formell blieb dies
Schöffencolleg vom Bischof abhängig, thatsächlich wurde es im
Laufe der Zeit immer selbständiger. Je mehr die Politik der
geistlichen Stadtherren und der Bürgerschaft auseinanderging,
desto freier wurde das Schöffencolleg in der Verwaltung der
Stadt und der Vertretung derselben nach aussen. Es ist ge-
wiss nicht der wichtigste Punkt in dieser Entwicklung, dass
unter die verschiedenen Bezeichnungen dieser die Bürgerschaft
richtenden, verwaltenden und repräsentierenden Behörde im
dreizehnten Jahrhundert der Name consules trat und dann bald
zum alleinigen Titel dieser Behörde wurde.*)
>) Vgl. oben S. 61—69.
J) wie Arnold I S. 171 ff., Nitzach Minist. 3. 300 — 318 meinen.
•) Tgl. oben S. 72.
‘) vgl. oben. S. 73, S. 276.
*) 8. oben S. 263 ff.
*) Tgl. für alles dies Cap. VIII.
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357
Es erübrigt noch, die Ursachen etwas näher zu erörtern,
aus denen es dazu gekommen ist, dass das Schöffencolleg als
Organ der städtischen Bürgerschaft ein so hohes Mass von
Selbständigkeit und Regierungsrechten e'rlangte, dass unsere
Städte am Ende der von uns betrachteten Zeit als fast
ganz selbständige politische Gewalten angesehen werden können.
Wie schon in dieser Übersicht l) angedeutet ist. kann unter
den politischen Ereignissen den sogenannten Ottonischen Pri-
vilegien nicht die Wirkung zugeschrieben werden, dass durch
sie die Stadt jurisdictioneil aus dem Gau ausgeschieden sei
Allerdings haben diese Privilegien mittelbar zur Verschmelzung
der alten Geburtsstände in unseren Städten beigetragen.*) Auf
die Ausbildung freier Verfassungsformen haben sie aber, davon
abgesehen, höchstens noch dadurch ganz indirekt gewirkt, dass
sie die in den Städten begüterten mächtigen Adelsgeschlechter
aus ihnen entfernten und so die Kämpfe zwischen geistlicher
und weltlicher Aristokratie innerhalb der Stadtmauern zum
grössten Teil beseitigten.*)
Viel höher anzuschlagen für die Machterweiterung der
Bürgerschaft in unseren Städten ist jedenfalls* der Einfluss der
zahlreichen inneren Kriege in Deutschland; besonders kommen
dabei, wie aus den früheren Ausführungen folgt, diejenigen der
Zeit Heinrichs IV. und V., die Kämpfe der Gegenkönige Phi-
lipps von Schwaben und Ottos IV, sowie endlich die sich in
den letzten Jahren Friedrichs II. und während des Inter-
regnums abspielenden in Betracht. Die bis dahin herrschenden
Mächte, Königtum und Fürstentum, wären vereint stark genug
gewesen, die Erringung politischer Rechte seitens der Städte
zu verhindern. In den erwähnten Epochen sehen wir aber
Kaiser und Stadtherren kein Bedenken tragen, den Bürgern
politische Rechte zu gewähren , um sie so auf ihre Seite zu
ziehen. Nicht nur auf Kosten ihrer Gegner, sondern selbst
durch eigene Concessionen haben sie in ihren Kämpfen die
städtische Macht erweitert.4)
*) S. 362.
*) Sie hatten ja die Unterordnung aller Stadtbewohner unter dasselbe
Gericht wenigstens indirekt sur Folge, vgl. oben S. 353, 354.
*) vgl. oben S. 141 ff., S. 147 ff, S. 160.
*) vgl. oben S. 222 ff, 229, 236, 236, 276, 276 ff, 332, 342 ff.
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358
Dass nun unsere Städte in der Politik solchen Einfluss ge-
winnen konnten, dass die mit einander streitenden Parteien be-
deutende Opfer brachten, um sie für sich zu gewinnen, lag
ausser an dem Capitalreichtum und der Wehrhaftigkeit der
Städter vor allem an dem, die Bürger jeder Stadt unter sich
verbindenden, Gemeingefühl. Hierbei kommen dann das schon
erwähnte Verschwinden der alten Unterschiede zwischen Freien,
Hörigen und Unfreien und die Entstehung des, bald in den
Städten Ausschlag gebenden, Standes der mercatores in Betracht.
Besonders gefördert wurde die Einigkeit dieser massgebenden
Kreise der Städter durch den gemeinsamen Gegensatz ihrer
Rechtsanschauungen zu denjenigen ihrer Stadtherren, die den
Kreisen des Landadels entstammten und in kanonischen Lehren
erzogen waren. Diese Thatsache musste zu um so schärferen
Conflikten führen, als es meist an, auf gegenseitigen Concessi-
onen beruhenden, schriftlichen Rechtsfestsetzungen fehlte and
die Geistlichen ebenso ihr kanonisches Recht und ihr durch
dasselbe beeinflusstes Rechtsgefühl, wie andererseits die Bür-
ger das ihren Rechtsanschauungen entsprechende städtische
Gewohnheitsrecht als die von Rechts wegen einzig und allein
entscheidende Norm betrachteten. Im einzelnen konnten Unter-
schiede der Rechtsanschauungen bezüglich des Eherechts,1) der
väterlichen Gewalt,4) des Erbrechts,*) des Immobiliarrechts,4)
des Processrechts5) und Strafrechts*) nachgewiesen werden;
vielfach machte sich dabei auch ein scharfer Gegensatz gegen
das aus fiskalischen Rücksichten zu erklärende Festhalten
des Stadtherren an den alten landrechtlichen Bestimmungen
bemerklich.7) Ebenso tritt, soweit nicht einzelne Stadt-
herren wie besonders die Mainzer Erzbischöfe Adalbert I. und
Sigfrid III. den Städtern freiwillig Rechte ihrer Kirche opfern,
auch ein scharfer politischer Gegensatz zwischen Bürgern und
Stadtherren hervor. Die auf Machterweiterung der geist-
*) i. oben S. 304.
*) ibid.
•) b. oben S. 224, 226, 261, 262.
‘) S. 22, 23, 226, 226.
•) S. 17—19, 226.
•) S. 20-22, S. 269 N. 3, S. 303, 304.
') Vgl. oben S. 223-226, 269 N. 3, 303, 304,
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359
liehen Gewalt und des territorialen Fürstentums gerichteten
Bestrebungen der Stadtherren standen eben zu den Gefühlen
und den Interessen der Bürger in unvereinbarem Wider-
spruch.1)
So müssen denn als die letzten entscheidenden
Gründe für die Ausbildung freier Stadtverfassungen
die finanzielle und militärische Kraft der Städte und
die von denen des Adels und der Geistlichkeit durchaus
abweichenden Rechtsanschau ungen und Inte-
ressen der in der Bürgerschaft massgebenden kauf-
männischen Kreise betrachtet werden.
■) vgl. oben S. 205 ff, 208 ff, 218 ff, 234, 239—243, 329 ff
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Anhänge.
Anhang I.
Die Arbeiten von Below’s zur Geschichte der Deut*
sehen Stadtverfassung.
Man wird bemerkt haben, dass die vorliegende Arbeit
danach strebte, nicht nur die Ergebnisse ihrer Einzelunter-
suchnng denjenigen- abweichenden Behauptungen gegenüber zu
rechtfertigen, welche speciell die hier behandelten Städte be-
treffen, sondern auch die Resultate möglichst zu berücksichtigen,
welche die Forschung für die Entwickelung des deutschen
Städtetums im allgemeinen gefunden hat oder gefunden zu
haben meint. Für eine Einzeluntersuchung, welche für die
Gesammtforschung erspriesslich, sein will, ist es ja gewiss rat-
sam, von dem, was im allgemeinen sicher festgestellt ist oder
dafür gilt, nicht ohne hinreichende Begründung abzuweichen;
daneben hat sie aber auch die Aufgabe, ihrerseits auf Wider-
sprüche allgemeiner Theorien mit den wirklichen Verhältnissen
hinzuweisen, welch’ letztere ja gerade bei der Specialforschung
am deutlichsten hervortreten.
Daher mag es nun in gewisser Weise auffallend erscheinen,
dass die letzten Arbeiten, die sich die Aufgabe gestellt, das
Problem des Ursprungs der Stadtverfassung zu lösen, die Auf-
sätze von Below’s1), nur an sehr wenigen Stellen dieser Un-
*) Gemeint sind die beiden in von Sybel’s Histor. Ztachrft. Bd. 58
(1887) S. 193 — 244 und Bd. 59 (1888) S. 194 — 247 veröffentlichten Aufsätse
von Below’s: „Zur Entstehung der Deutschen Stadtverfassung“ und die
als selbständige Publication erschienene Abhandlung desselben Verfassers:
Die Entstehung der deutschen Stadtgemeinde (Düsseldorf 1889). Diese drei
Arbeiten von Below's sind im folgenden als I, II, III citiert.
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361
tersucbung berücksichtigt sind. Ja, mancher Leser mag sich
schon darüber gewundert haben, dass in der Einleitung der
vorliegenden Arbeit da, wo von den letzten beachtenswerten
Versuchen, die Frage der Stadtentstehung im allgemeinen zu
beantworten, die Rede ist, Below’s Theorie nicht näher be-
sprochen, es vielmehr für genügend erachtet wurde, auf den
Hauptfehler dieser Aufsätze, die unterschiedlose Benutzung zeit-
lich und lokal sehr verschiedener Quellenstellen, kurz hin-
zuweisen.
So sehr ich auch persönlich jeder litterarischen Polemik,
welche anderes als gegenseitige Verständigung bezweckt, ab-
geneigt bin, so zwingt mich doch die Rücksicht auf alle die-
jenigen, welche noch nicht Zeit gefunden, Below’s Behandlung
der in Betracht kommenden Fragen zu prüfen, die Ergebnisse
einer genauen und vorurteilslosen Prüfung seiner Aufsätze an
dieser Stelle zu publicieren. Die fast gänzliche Nichtbeach-
tung der Be low 'sehen Abhandlungen würde sonst na-
mentlich dem, dessen Forschungsgebiete die hier behandelten
Fragen im ganzen ferner liegen, kaum erklärlich sein; ausser
der Aufnahme der beiden ersten der Below’schen Untersuchungen
in eine unserer ersten Fachzeitschriften ist auch die Sicher-
heit in Rechnung zu ziehen, mit welcher Below unerwiesene
Behauptungen als Ergebnisse seiner Forschung vorträgt und
alle von der seinen abweichenden Ansichten für irrig erklärt.
Eigentümlich muss es freilich schon berühren, dass Below
zu seiner Theorie, die er seit 1887 mit äusserster Schärfe den
bisher geltenden Ansichten gegenüber vertritt, überhaupt erst
zwischen 1886 und 1887 gekommen ist. Er selbst sagt in
seinem ersten Aufsatze über Stadtverfassung, dass er zur Zeit
seiner Arbeit über die Landstände in Jülich und Berg, die
1885 und 1886 erschienen ist, „noch ein Anhänger der,“ jetzt
von ihm bekämpften, „Theorie von einem allmählichen Empor-
steigen der Bürger aus der Hörigkeit zur Freiheit war;“ l) er
bezeichnet selbst die Auffassungen , zu denen er sich in diesem,
ein Jahr vorher erschienenen, Werke bekannt hat, für unrich-
tig *) und nimmt z. B. eine damals gegebene Erklärung zurück. *) J a,
*)Ts. 210 N. 2.
*) ibid.
*) I S. 232 N. 2,
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362
selbst in der kurzen Zeit, welche zwischen der Veröffentlichung
der Arbeit über Jülich und der des ersten Aufsatzes über Stadt-
verfassung lag, hat Below nach seiner eigenen Angabe „mit
Arbeiten aus ganz anderen Gebieten beschäftigt,“ dieser Unter-
suchung „nur wenige freie Stunden“ widmen können.1) Daher
ist es auch nicht wunderbar, dass mehrere der von Below in
dem ersten Aufsatze über Stadtverfassung aufgestellten An-
sichten schon in den beiden anderen, doch nur ein, resp. zwei
Jahre später erschienenen, Aufsätzen erheblich modificirt
werden.*) Auch in der Form der Polemik gegen die frühere
Litteratur, auf der doch auch Below ’s Untersuchungen beruhen,
ist im zweiten und namentlich im dritten Aufsatze wenigstens
eine geringe Annäherung an den sonst in der Wissenschaft
üblichen Ton zu bemerken. Es ist sicher, dass Below, je
mehr er sich überhaupt ernstlich mit den in Betracht kom-
menden Fragen beschäftigt, desto mehr erkennen wird, dass
den bisher geltenden Theorien zum mindesten eine relative
Berechtigung zukommt, und es ist nur zu bedauern, dass B. auf
so ungenügender Basis seine beiden ersten Aufsätze über Stadt-
verfassung veröffentlicht hat, da doch deren Berichtigung von
ihm selbst so bald als notwendig erkannt wurde. Jedenfalls
kann es niemandem verargt werden, dass er den Gang seiner
Untersuchung nicht durch Widerlegung von, bei dem Autor
selbst noch gar nicht ausgereiften, Theoremen unterbricht. Thun
wir jedoch, um einen Ausdruck Below’s zu gebrauchen, ein
übriges und suchen , zur Klarstellung des wissenschaftlichen
Wertes seiner Aufsätze über Stadtverfassung uns über die
von ihm befolgte Methode zu orientieren. Dazu dürfte es angebracht
sein, zunächst eine einzelne These und die Art ihres Beweises
ins Auge zu fassen. Ich wähle hierfür Below’s Ausführungen
über die Freiheit der handwerklichen Bevölkerung der Städte,
') I 228 N. 1.
*) vgl. II S. 236 N. 2, HI S. 63 N. 189; vgl. ferner IS. 207: Die
Handwerker der Klöster and die des Bischofs auf der einen Seite und die
städtischen Handwerker auf der andern Seite stehen vollkommen getrennt
neben einander, dagegen III S. I : „wohl' machen sich auch Unfreie von den
städtischen Frohnhöfen los," worin offenbar eine Einschränkung der von Below
in I aufgestellten Ansicht zu sehen ist.
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363
sowie den Einfluss, welchen der Empfang städtischer Grund-
stücke zur Erbleihe auf die Freiheit der Empfänger ausübte.1)
Be low sucht zuerst, im Gegensatz zur herrschenden An-
schauung, nachzuweisen, dass die breite Masse der Landbevöl-
kerung das ganze Mittelalter hindurch nicht hörig geworden
ist.*) So wenig mir dieser Beweis erbracht scheint, so braucht
doch darauf nicht näher eingegangen zu werden, da diese ganze
Frage gerade nach der Below’schen Darstellung mit der Frage
nach Freiheit oder Unfreiheit der Stadtbewohner nichts zn thun
hat. Nach Below ist nämlich zwar der grösste Teil der Stadt-
bevölkerung vom Lande zugewandert, ob die Zuwandernden aber
ihrer Herkunft nach frei oder unfrei sind, das kommt nach Below
„für die Stadtverfassung natürlich (!) gar nicht in Betracht.
Sobald die Unfreien das Stadtgebiet betreten , sind sie (falls sie
nicht innerhalb Jahr und Tag von ihrem früheren Herrn re-
clamiert werden) frei.“*)
So übersieht Below vollständig, dass der stadtrechtliche
Satz von der Erlangung der Freiheit durch einen gewissen Auf-
enthalt in der Stadt sich erst allmählich ausgebildet hat und gerade
erst eine Folge der Entstehung eines besonderen Stadtrechts
und der Exemption aller in der Stadt gesessenen von auswär-
tigen Gerichten ist. Wie dieser Satz, soweit ich sehe,4) sich
nicht vor dem Ende des 12. Jahrhunderts nachweisen lässt, so
*) Abgesehen davon, dass Below damitseine Untersuchungen Ober Stadt-
verfassung beginnt, bewog mich zur Wahl gerade dieses Punktes vor allem
die Hoffnung, dass meine Ausführungen aberzeugend darthun werden, wie
wenig es nötig ist, bei der Behandlung der Ständeverhältnisse in den Städten
auf die Below' sehen Erörterungen näher einzngehen, vgl. oben S. 35 N. 4,
S. 49 N. 4.
•) I 196-200.
•) I 202. N. 3.
4) Below bringt fttr die Oeltuug dieses Satzes keine Beweisstellen.
Beispiele von Erwähnungen des Rechtssatzes, dass Unfreie durch Aufenthalt
in der Stadt frei werden, haben Qrimm R. A. S. 337, 338 und v. Maurer
Stadtverfassung I 380 gesammelt; jedoch gehören die hier angeführten Fälle
von Erwähnungen dieses Satzes in städtischen Privilegien und Statuten mit
einer einzigen Ausnahme dem 13. Jahrhundert oder noch späterer Zeit an.
Die Ansnahme, Freiburger Stadtrecht §11, beruht, wie Heinrich Maurer
Ztschrft, f. Gesch. d. Oberrh. (1886) N. F. II S. 176 (vgl. S. 196) nachge-
wiesen hat, auf späterer Einschaltung, ist alBo auch nicht vor dem Ende des
12. Jahrhunderts entstanden.
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364
hat es bekanntlich sehr lange gedauert,1) bis derselbe allge-
meine Anerkennung gefunden hat. Es wird jedenfalls von Be-
1 o w auch keine Spur eines Beweises dafür gegeben , dass die-
jenigen Unfreien, welche etwa von Privaten oder von den Vor-
ständen der grossen geistlichen Institute, von den Bischöfen und
Äbten, in die Stadt versetzt wurden, um hier zu persönlichen
Dienstleistungen oder als Handwerker benutzt zu werden, im
10. und 11. Jahrhundert durch diese Versetzung in die Stadt
frei geworden wären. Noch weit wichtiger aber ist folgendes :
Bekanntlich ist von Arnold*) die Meinung vertreten worden,
dass in älterer Zeit Freiheit und Eigentum sich gegenseitig
bedingten, dass nur der freie Mann freies Eigentum besass und
dass „wer selber kein Eigentum hatte, damit auch von der
Freiheit ausgeschlossen war.“ „Neben den freien Eigentümern
gab es“ nach Arnold „daher blos Hörige, die auf ihrer Herren
Grund sassen und dies war nicht blos auf dem Lande, sondern
ursprünglich auch in den Städten der Fall.“’)
Wie stellt sich nun Below zu dieser Frage?4) Er sagt:
*) Es genüge, auf die Reichssentenz von 1231 Juni 29 (L. L. II p 284) zu
verweisen, wonach der Eigenmnnn einer Kirche, weicher sich in eine Stadt be-
geben, noch von der Kirche, in deren Eigentum er gestanden hatte, beerbt
wurde (vgl. oben S. 317). Daraus geht doch hervor, dass damals Aufent-
halt in der Stadt das frühere Unfreiheitsverhältnis des Eingewanderten noch
nicht löste.
*) Eigentum in den deutschen Städten S. 34, 35 ff.
•) ibid. 8. 34.
4) Es sei noch besonders hervorgeboben, dass gerade diese Frage für
die ganze weitere Untersuchung Bclows grundlegend ist , weil auch nach
seiner Ansicht „die städtische Bevölkerung namentlich der ersten Zeit über-
wiegend aus eingewanderten Personen11 bestand und „die einwandernden
Personen natürlich darauf angewiesen“ waren, „sich Land zu Wohnpl&tzeu von
den alten Bewohnern der betreffenden Ortschaft geben zu lassen.* (I 201.)
Auch Below lässt die einwandernden Personen Land nicht durch Kauf, son-
dern „gegen Übernahme der Pflicht zur Zinszahlung“ erhalten (I 202).
Et kommt also , wenn die Below’sche These von der vollen Freiheit der
11 ehrzahl der Stadtbewohner als richtig anerkannt werden soll, alles daranf
an, dass zunächst nachgewiesen wird, dass in den Städten schon vor der
Entstehung freier Stadtverfassungen Empfang von Land zu Zins die Freiheit
der Empfänger nicht gemindert hat. Andernfalls müsste gerade nach Belows
Ausführungen angenommen werden, dass die breite Masse der Stadtbevölkerung
— da sie als eingewandert auf fremdem zu Zins geliehenen Boden sass —
unfrei war!
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„Im Mittelalter war nun vielfach Land nur zu erhalten, wenn
der Erwerber der Hörige des Grundherrn wurde, in dessen
Hofirecht ein trat.“1) Dabei verweist B. selbst auf eine von
Lamprecht angeführte Urkunde, aus der klar hervorgeht,
dass man bis in das elfte Jahrhundert hinein Güter, welche an
einen Frohnhof zinsten, ohne weiteres auch als grundhörig an-
sprach.“ (so Lamprecht.)*)
„Allein in den Städten ist es“ nach Below*) „ganz anders
gewesen.“ „In den Ortschaften, in welchen besondere wirt-
schaftliche Verhältnisse grössere Menschenmengen zusammen-
führten, hat man auch ohne Eintritt in das Hofrecht Land er-
halten.“ „Wir erfahren nämlich, dass die einwandernden Per-
sonen Grundbesitz nach ius civile (Stadtrecht, Weichbildrecht,
Burgrecht) erhalten. Ius civile bildet den Gegensatz zum Hof-
recht, wie durch unzählige Urkunden bewiesen wird.“ „Die Ur-
kunden zeigen, dass der Grundbesitz zu ius civile von der Hof-
gerichtsbarkeit und den hofrechtlichen Abgaben frei ist.“4)
Nun betrachte man aber die von Below in den Noten
gebrachten Beweisstellen. Es findet sich auch nicht eine da-
runter, welche vor der zweiten Hälfte des zwölften Jahrhunderts
liegt.5) Wie der Ausdruck Weichbildrecht und seine Syno-
nymen von Below nicht vor dieser Zeit nachgewiesen werden,
So wird auch der Gegensatz der nach Stadtrecht zu den nach
Hofrecht ausgethanen Grundstücken nur durch eine einzige Ur-
kunde aus dem Ende des 12., sowie durch zahlreiche Citate
aus Urkunden des 13. und 14. Jahrhunderts bewiesen.*)
*) *1^201, 202.
*) D. W. 1 922 N. 6.
•) I 202.
4) I 202 u. 203.
*) Aach geht nur eine einzige Beweisstelle in das zwölfte Jahrhundert
zurück, eine Urkunde au« Lübeck von 1182 (Pauli Wiebolsdrenten Lüb. 1866 S. 8).
') Ausser dem in der vorigen Note erwähnten Citat weist Below I 8. 203
N. 3 auf Mittelrh. Urkb. III 67 (Urk. von 1217), Pauli S. 6 ff. (Urk. von 1246
u. 1254) WilmansWestf. Urkb. m N. 349 (Urk. von 1221), in ibid. N. 6 auf
Pauli S. 8 (Urk. von 1182), Seibertz I 8.627 § 6, 7 u. 8 (Ulk. von 1290),
Gengier Codex 8. 234 § 1 (Prvig. von 1360), Kopp, Hess. Gerichte I Bei-
lagen 8. 23 (Statuten von 1239), hin. Hütte Below die hier binzugefügten
Jahreszahlen der von ihm erwähnten Urkunden und Gesetze genannt, so
würde er damit den Eindruck, den sie als Belegstellen seiner Ausführungen
machen können, ganz verwischt haben.
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Grundlage eines von dem auf dem Lande herrschenden völlig
abweichenden städtischen Rechts in Bezug auf die zu Erbzins
ausgethanen Grundstücke ist notwendig eine von der ländlichen
völlig getrennte städtische Gerichtsbarkeit. Die grundlegende
Frage, ob es zur Zeit der Entstehung der ersten deutschen
Stadtverfassungen auch schon besondere städtische Gerichts-
barkeit gegeben, wird hier von Below garnicht gestellt.
An einer anderen Stelle1) spricht Below freilich davon,
dass es zum Begriffe einer mittelalterlichen Stadt gehöre, dass
der betreffende Ort einen besonderen Gerichtsbezirk bilde. Zum
Beweise dieser Behauptung führt Below dann zunächst die be-
kannte Reichssentenz vom 22. Juli 1218 *) an, iudem er, sich
auf dieselbe beziehend, sagt: „Wir besitzen ein Reichsgesetz,
welches es ausspricht, dass zu einer Stadt ein Gerichtsbezirk
gehört.“
In der Urkunde wird aber festgesetzt, dass in den durch
besondere kaiserliche Urkunden verliehenen Märk-
ten der Graf keine Gerichtsbarkeit haben soll,’) sondern dass ihm
die Verbrecher zur Vollziehung der durch den Marktherrn ver-
hängten Strafen ausgeliefert werden sollen. Below ist demnach
durch das ungenaue Regest P e r t z ’ s : ,, sententia de immunitate civi-
tatum imperii“ zu seiner irrigen Auffassung verleitet worden.*)
Aus diesem ungenauen Regest nun und Urkunden von Bocholt
1206), Dudeldorf (1345), Anweiler (1345) und Brühl (1285) wird
dann geschlossen, dass jede Stadt einen eigenen Gerichtsbezirk ge-
bildet habe.6) Jedenfalls beweisen aber alle diese Urkunden
durchaus nicht, dass in den Städten, in welchen schon in der
*) II 20t.
*) L. L. II (ed. Pertz) p. 229.
*) a. a. 0.: signiäcamus vobis, talem . . . latam esse sententiam; qood
si forte alicni per chirothecam noitram contulerimus forum animale Tel septi-
manale in quocunque loco, quod comes aut alius iudex aliquis illius provincie
non debeat illic habere iurisdictionem vel aliquam potestatem pnniendi
maleficia.
4) Besser ist entschieden noch das Regest : Privilegium fori, das in
Monum. Boica XI (1771) p. 185 dieser Urkunde gegeben ist. Huillard-
Brbbolles t. I p. 552 spricht von ihr als sententia lata super iuris-
dictione fori per chirothecam coucessi. Vgl. über diese
Urk. jetxt auch Winkel mann, Friedrich II B. I (1889) S. 58 mit N. 3.
•) II 201.
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zweiten Hälfte des elften Jahrhunderts selbständiges politisches
Leben sich geltend machte, und die im zwölften schon politische
Hechte erhielten, nicht noch gerade in dieser Zeit dasselbe Ge-
richt und dasselbe Recht wie auf dem Lande geherrscht hat.
Ohne diese Bedingungen ist aber eine solche Rechtsverschieden-
heit , dass auf dem Lande Empfang von Erbzinsgrund-
stftcken hörig macht, dagegen in der Stadt nicht, absolut nicht
zu erklären.
So glaubt Below aus Urkunden, die bedeutend später
als die Eutstehung der Stadtverfassnngen in Deutschland
sind, den Gegensatz von Stadtrecht und Hofrecht vor der Ent-
stehung der Stadtverfassung zu erweisen; damit ist dann für
ihn auch der Nachweis der Freiheit der Stadtbewohner zu letz-
terer Zeit geführt. Doch fügt er noch eine angebliche Wider-
legung der für die Ansicht eines allmählichen Aufsteigens der
Städter zur Freiheit geltend gemachten Gründe1) hinzu und
bespricht dabei das erste Strassburger Stadtrecht und das Pri-
vileg Heinrichs V. für Speier vom Jahre 1111.*) Seine
Auffassung der ersteren Quelle konnte schon oben*) gekenn-
zeichnet werden; besonders charakteristisch für Belows Me-
thode aber ist die Art, wie er die aus der Urkunde von 1111
gegen die volle Freiheit eines bedeutenden Teils der Stadtein-
wohner geltend gemachten Gründe zurückweist.*) Zieht er
allerdings die in dem ersten Aufsatze gegebene Erklärung schon
im zweiten5) wieder zurück, so hält er doch durchaus daran fest,
dass die Urkunde „nicht die Verhältnisse eines bischöflichen
Fronhofs ordnen will.“ „Diese Auffassung verbietet sich schon
dadurch, dass das Privileg auf Bitten des Bischofs erteilt ist.“ s)
Soweit Below: Es sei zunächst bemerkt, dass die Urkunde
selbst folgende Worte enthält:
ipso Spirensi episcopo in pulpito astante et con-
cedente.7)
*) I 206 ff.
*) Sp. U. 14 vgl. oben 8. 222 ff
•) 8. 49 N. 4.
*) I 8. 209-213.
*) n 8. 236 N. 2.
•) I 211.
') Hilgard Urkb. 8. 187 Z. 27.
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So ist es also ausdrücklich überliefert, dass der Erlass des
Buteils für die Städter auf einem Zugeständnis des Bischöfe
beruhte.1) Ganz verkehrt aber und überhaupt wohl nicht ernst
zu nehmen sind Einwendungen von der Art der folgenden:
„Hält man es für möglich, dass ein Herrscher des 12. Jahr-
hunderts so weit in die Rechte Anderer eingriff, dass er deren
Hofgerichte beseitigte?“*) Nicht um Beseitigung des Hofge-
richts handelt es sich hier — davon hat nie jemand ge-
sprochen — sondern um Beseitigung einer einzelnen hof-
rechtlichen Abgabe, zu deren Erlass Heinrich den Bi-
schof wohl durch anderweitige Zugeständnisse bewogen hatte.*)
Zur Kennzeichnung der Methode Belows sei noch folgen-
des hervorgehoben : Eichhorn, Arnold und Heusler stellen
bekanntlich als Wirkung der Ottonischen Privilegien dieThat-
sache hin , dass in Folge dieser Verleihungen das öffentliche
und das herrschaftliche Gericht verschmolzen seien. Nach
Below“) freilich könnte es „nur die menschenfreundlichste
Gutmütigkeit gewesen sein, durch welche die Bischöfe sich
zu jenem Schritte veranlasst gesehen hätten; kein anderes Mo-
tiv käme in Betracht.“ „Der Hinweis darauf, dass den Bi-
') Die Thataache, dass der Speierer Bischof — wie übrigens auch Yiele
andere Pürsten — unter den Intervenienten genannt wird, kommt für unsere
Frage gar nicht in Betracht, vgl. Ficker Beitr. z. Urklehre Bd. I (Innsbr.
1877) § 134 S. 236: „Der Zweck“ (der Erwähnung von Intervenienten
in den späteren Urkunden Heinrichs IV. und demjenigen Heinrichs V.) „ist
nnr der, kenntlich zn machen, dass der König nicht ohne Kenntnissnahme
und demnach auch mit Billignng der am Hofe anwesenden Fürsten verfügte.“
*) I 210.
’) vgl. oben 8. 227. Dass die Urkunde zahlreiche Concessionen des
Bischofs enthielt, geht z. B. auch aus der Minderung seiner Zolleinkünft«
hervor, vgl. oben 8. 223 mit 8. 143, 144 ff. Es sei hier auch nochmals anf
die früher (8. 224 N. 6) besprochene Urk. Friedrichs I. von 1182 (Sp. U. 18)
verwiesen. In dieser interpretierte der Kaiser, einen Streit zwischen dem
Bischof nnd den Speierern schlichtend, die Urkunde Heinrichs V. dahin, dass
in derselben mit dem Buteii zugleich auch das Be3thaupt aufgehoben sei.
So hatte die Befreiung von der schwersten hofrechtlichen Abgabe mit
der Zeit auch die Befreiung von den übrigen zur Folge ; Below aber entstellt
die bisher gegebenen Erklärungen dieser Urkunde , indem er gegen die An-
sicht polemisiert, Heinrich V. habe 1111 Aufhebung der Hofgericbte in
Speier angeordnet.
*) I 8. 236.
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schöfen der Ottonenzeit die schönen Eigenschaften, durch welche
wir sentimentalen Menschen von heute ans auszeichnen, fehlten,
genügt vollkommen, um die Ansicht Arnolds zu widerlegen.“ *)
Der schon von Eichhorn*) und Arnold,*) insbesondere
aber von Heusler4) vielfach ausgesprochene Gedanke, dass es
vor allem die aus Competenzstreitigkeiten der verschiedenen Be-
amten hervorgehenden Unzntr&glichkeiten waren , welche die
Bischöfe zur Zusammenlegung der Gerichtsbarkeit veranlasst
haben, wird von Below ganz ignorirt. Dennoch müsste diese
Thatsache ihm doch um so näher gelegen haben, da er gerade
betont, dass auch die Hörigen in mehrfachen Beziehungen unter
dem öffentlichen Richter standen.5) So können die Bischöfe zu
der völligen Unterordnung der Kirchenhörigen unter die öffent-
lichen Beamten sicherlich durch weit triftigere Gründe bewogen
sein als durch jene menschenfreundliche Gutmütigkeit, „durch
welche wir sentimentalen Menschen von heute uns“ nach Belows
Ansicht „auszeichnen.“*) Hier sind offenbar die Ansichten Eich-
horns, Arnolds und Heuslers sowie ihre entscheidenden
Argumente in der Anführung v. Belows so stark verzerrt und
entstellt, dass sie nicht mehr zu erkennen sind.
In ähnlicher Weise sucht von Below’) Scbmoller8)
gegenüber nachzuweisen, dass die Ordnung von Mass und
Gewicht den Versammlungen und Behörden der Bauer-
schaften zugestanden habe , dass also das hieran ankntip-
fende Gewerberecht in Deutschland autochthon entstanden
sei. Below lebt in dem Glauben, diese Ansicht für ganz
Deutschland durch Berufung auf eine Stelle des Sachsenspiegels,
also eine Quelle des dreizehnten Jahrhunderts, und zwei Stellen
') ibid.
*) Zschr. f. gesch. Rechtswissenschaft, Bd. I (Berlin 1815) 8. 218—220.
*) V. Q. IS. 27: „Dass in einer solchen geteilten Gerichtsbarkeit die Quelle
häufiger Conflikte lag, dürfen wir wohl annehmen“, vgl. auch a. a. 0. S. 119.
4) Ursp. 8. 31, 32, 85, 86. An letzterer Stelle heisst es ausdrück-
lich: Die „Competenz“ (von Schultheiss und Meier) ,war eine zu ver-
wandte und die Anfrechterhaltung des Unterschiedes .... erschien nicht
mehr gerechtfertigt; so wurde die beiderseitige Thätigkeit verschmolzen.*
*) I 8. 198.
•) 8. die beiden oben 8. 368 (N. 4) und 8. 369 (N. 1) citierten Stellen.
') III 8. 4 ff., 64 ff.
•) Tücher- und Weberzunft 8. 377 ft, vgl. auch Strassburgs Blüte 8. 11.
Koehne, Ursprung der Stadtverfassung in Worms, 8peier und Heinz. St
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aus fränkischem Rechtsgebiete beweisen zu können, von denen die
eine dem Ende des vierzehnten, die andere gar dem sieb-
zehnten Jahrhundert angehört.’) Indess wird man schon bemerkt
haben, dass derartiges bei ihm noch als geringerer Fehler an-
zusehen ist. Dasselbe kann davon gelten, dass die oft bespro-
chene karolingische Reform des Mass- und Gewichtswesens *) von
B e 1 o w nicht genügend in Betracht gezogen ist, die einfach ganz un-
erklärbar wäre, wenn dergleichen damals nicht auch zur staat-
lichen Competenz gehört hätte.®) Schlimmer ist es schon, wenn
Below durch Heranziehung zweier gar nicht hierher gehöriger
Stellen Lainpreclits und v. Inama-Sterneggs den Anschein
erweckt, als ob der letztere Gelehrte mit der von ihm ver-
tretenen Ansicht übereinstimme.4) Allein durchaus nicht mehr
ernsthaft zu nehmen ist die Art, wie Below die Ansicht
Schmollers6) zu widerlegen sucht, dass „das Gewerberecht,
*) Wenigstens sprechen von Mass- und Gewichtswesen unter den von
Below III S. 5 angeführten Quellenstellen nur die Ostheim und Erpel be-
treffenden, während die übrigen andere Jurisdictionsverhältnisse behandeln.
Schlägt man aber die für Ostheim und Erpel gegebenen Ci täte nach, so er-
giebt sich, dass an letzterem Orte von einer 1396 „in Bildung begrif-
fenen Competenz* der Gemeindebehörde (Lamprecht IS. 232) die Bede
ist, von Ostbeim aber sogar nur ein Weistum von 1623 vorliegt (Thu dich um,
Gau- und Markvrfssng., Giessen 1860) S. 41, Diese von Below angeführten
Beispiele sind also so spät, dass sie für Verhältnisse vor der Zeit der
StAdtentstebung entschieden nicht angeführt werden dürfen.
*) vgl, v. ln ama-Sternegg D. Wrtschaftsgschte. (Leipz. 1879) I
S. 456—461, Waitz V. G. IV 8. 74-76.
*) An anderer Stelle (III 63) erwähnt Below allerdings, dass die karo-
lingischen Capitularien die Ordnung von Mass und Gewicht als Aufgabe der
öffentlichen Gewalt hinstellten, schiebt aber diese Thataache ohne weitere
Motivierung als völlig bedeutungslos bei Seite.
4) Erst wenn man die Stellen nachgeschlagen, merkt man, dass sie in
keiner Weise zur Unterstützung der von Below a. a. 0. vorgetragenen
Theorie benutzt werden können. Lamprecht nennt S. 283 (nicht 282)
unter den Zwecken der Wirtschaftsgemeinschaft, für welche die Mark
in der Urzeit irgendwie in Betracht kommen konnte, auch
„Mass- und Gewicbtsgewähr und Verkehrsbefriedung.“ Von dieser Möglich-
keit bis zur Behauptung, dass der Mark allein alle diese Angelegenheiten
zugestanden hätten, ist doch noch ein weiter Schritt. Inama-Sternegg
S. 461 aber polemisiert dagegen, dass in den Stammesherzogtümern vor Karl
dem Grossen gesetzliche Gewichtsfeststellungen existiert hätten; damit
wird die Frage, ob die Gemeinde Rechtssprechung über Mass und Gewicht
gehabt, garnicht berührt.
•) Weberzunft S. 379, 380.
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wie wir es in den Stadtrechten des zwölften und dreizehnten
Jahrhunderts vor uns haben, ... in der Hauptsache .... eine
Frucht sittlich christlicher und romanisch staatlicher Anschau-
ungen ist“ Als die Institutionen, durch welche die Errungen-
schaften einer älteren Cultur in Form von überlieferten Einrichtun-
gen und Rechtssätzen in das deutsche Leben eindrangen, erwähnt
Schmoller1) das Amtsrecht der Karolingerzeit und die Be-
nutzung des Bannrechts seitens der Grafen zur Ordnung von
Markt und Verkehr. Dann fügt er hinzu : „Die Bussordnungen
und das geistliche Gericht verfolgten mit noch grösserem Nach-
druck dieselben Ziele.“*)
Wie sucht nun Below diese Ausführungen Schmoller’szu
widerlegen? Fast scheint er mit einem sehr billigen Scherze
die Sache für abgemacht zu halten, indem er sagt:
„Wenn wirklich aus den „Bussordnungen“ d. h. den Pöni-
tentialbüchern, „der grösste Teil des späteren Gewerbe- und
Zunftrechts“ hervorgegangen ist, so haben wir in dem heil.
Columban, in dem Griechen Theodorus von Cauterbury, in Beda
Venerabilis, Commean, Halitgar von Cambrai die Väter des
deutschen Stadtrechts dankbar zu verehren.“ s)
Es ist von Schmoller nie behauptet worden, dass diese
Verfasser von Poenitentialbüchern etwa Delictsbegriffe „wie
Wucher und Meinkauf“ selbst geschaffen hätten; sie haben die-
selben ja nur aus ihren Quellen in die Poenitentialbücher übernom-
men und dadurch mittelbar zur Einführung von ausländischen
Sittlichkeits- und Rechtsanschauungen in Deutschland beigetragen.
Warum nennt aber Below unter den Verfassern der Bussbücher
fast nur Ausländer und noch dazu vorwiegend solche, deren Werke
in Deutschland weniger Verbreitung gefunden? Sind ihm unsere
deutschen Landsleute, Regino von Prüm und Burchard von
Worms, ganz unbekannt?
Zweifellos ist es endlich eine völlige Verkennung der
Schmoller 'sehen Ansichten, wenn man aus denselben fol-
gern zu können glaubt, dass „man in dem heiligen Colum-
ban und dem Griechen Theodorus von Canterbury etc. die
Väter des deutschen Stadtrechts verehren müsse.“ Schm o Ilers
•) ft. ft. 0. 379, 380.
*) ». a. 0. 379.
*) III 8. 66.
w
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Ausführungen ist vielmehr nur zu entnehmen, dass diese Män-
ner bei der Übertragung eines Teils der dem städtischen Ge-
werberechte zu Grunde liegenden Quellen mitgewirkt haben.
Below aber hat hier wieder einmal die von ihm bekämpfte
Ansicht karrikiert, um dann mit leichter Mühe als Sieger
zu triumphiren.
Freilich thut er wieder ein übriges, indem er angeblich
noch „die quellenmässige Grundlage der Behauptung Schmollers“
prüft. Er meint, es gebe nur eine „einzige Stelle, die mit
einem gewissen Schein der Berechtigung“ für die Einwirkung
der geistlichen Gerichte auf wirtschaftliche Verhältnisse ange-
führt werden könnte, und nennt als solche einen Passus aus
dem Kölner Schied von 1258. l) Es braucht wohl kaum be-
merkt zu werden, dass die hier vorkommende Behauptung des
Erzbischofs, dass ihm, seinem Offlcial, seinem Burdecan und
seinen Leutpriestern zu Köln die Jurisdiction
„de falsis mensuris et de omni eo quod vulgariter
meynkoyf dicitur et quod in synodis accnsari consuevit“
zukomme, nicht völlig aus der Luft gegriffen sein kann,*) wenn
auch seinen Ausführungen, als denen einer unter zwei streiten-
den Parteien, nicht unbedingt Glauben geschenkt werden darf.
Es giebt aber noch viele andere Quellenstellen, aus denen un-
widerleglich hervorgeht, dass die geistlichen Gerichte Meinkauf
und Wucher vor ihr Forum gezogen und Waarencontrolle und
Preisregulierung ausgeübt haben. Es genüge hier die Anfüh-
rung einiger schon in der früheren Litteratur*) erwähnten
Stellen :
l) Lacomblet Urkb. f. Gesell, d. Ndrrhns. II S. 245 § 20.
*) Auch die Schiedsrichter, die, obgleich sie dem Clerus angehörten,
durchaus nicht in allen Punkten dem Erzbischof Recht geben, erkennen
an, dass bei falschem M&ss und Gewicht, sowie bei Meinkauf sowohl der
geistliche als der weltliche Richter competent sei a. a. 0. S. 250.
*) Bis sei noch besonders bemerkt, dass dieselben fast sämmtlich nicht
der canonistischen, sondern der germanistischen Literatur entnommen sind.
In dieser haben nämlich, was Below unbekannt geblieben zu sein scheint,
Nitzsch Minister. 8. 135, 136, 213 ff., und Dove in Ztschr. f. deutsches
Recht Bd. XIX S. 357 Uber diese B'rage geschrieben. Ausserdem kommen
für dieselbe noch Friedberg De finium inter ecclesiam et rem pnblicsm
regundorum . . , (Lipsiae 1861) p. 98 u. Dove in Ztschr. f. Krchnr. Bd. V
8. 6 in Betracht.
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Pippini Capit. Suessionense 744 c 6 : Et omnino decre-
vimus, ut unusquisque episcopua .... per omnes ci-
vitatis legitimus forus et mensuras faciat secundum
habuudantia temporis.1)
vgl. auch Karls des Grossen Admonitio generalis vom Jahre
789 c 74.*) Zu den in Burchards Decret9) aufgezählten Syno-
dalfragen gehört auch folgende:
Est aliquis qui iniusta mensura suam annonam aut
vinum vendat, cum Dominus dicat: Aequus sit tibi
modius et aequus sextarius? (vgl. auch ibid. 78).*)
Ähnliche Fragen finden sich auch in Reginos Sammlung.9)
Endlich sei noch auf eine Stelle einer friesischen Reehtsquelle *)
verwiesen :
qui monetam falsificant, in tribus precipuis solempni-
tatibus in singulis ecclesiis denunciabuntur excommuni-
cati et sacra communione indigni.
Diese Stellen könnten mit leichter Mühe vermehrt wer-
den.7) Doch werden schon sie ausreichen, um auf die gegen
Schmoller gerichtete Bemerkung Belows8): „Unter diesen
Umständen ist es Ironie, das geistliche Gericht als ordentliches
Organ für die Regelung von Mass und Gewicht zu bezeichnen,“
genügendes Licht zu werfen.
Wie hier zum Teil Unkenntnis der einschlägigen Literatur
es verursacht, dass Below gegen die Ergebnisse bewährter
*) L. L. n (ed. Boretins) p. 90.
*) ibid. p. 60.
*) in Migne PatroL Latina t. 140 (Paris 1853) p. 578 interrog. 77.
*) ibid. p. 579.
•) L. II c. 5 § 78, 79 (ed. Wasserschieben, Lipsiae 1840 p. 216).
•) Gesetze der Fivelgoer § 19 in v. Riehthofen Friesische Rechta-
qnellen (Berlin 1840) S. 287.
*) Abgesehen von den von Friedberg an der S. 372 N. 3 citierten Stelle
angeführten Beispielen sei besonders noch an den oben S. 131 ff. besprochenen Fall
der Waarenschan eines geistlichen Gerichtes in Speier, .der sog Geschworenen
zu der Gottes Ehe*, nnd daran erinnert, dass in Frankfurt a. M. der Propst
des S. Bartholomäus-Stiftes das ganze Mittelalter hindurch die Aufsicht Uber
Masse und Gewichte hatte, vgl. Kriegk, Frankfurter Bürgerzwiste (Frnkf.
1862) S. 151.
*) III 8. 67.
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Forscher polemisiert, so ist ähnliches noch recht oft zu con-
statieren. Es sei hier nur noch die Art hervorgehoben, wie er
die mit Recht allgemein angenommene1) Thatsache bestreitet,
dass zum mindesten in vielen Orten Norddeutschlands schon
vor der Ratsverfassung eine Kaufmannsgenossenschaft (Gilde)
bestand.*) Die Existenz dieser Gilden geht bekanntlich ganz
besonders aus den ihnen selbst (mercatoribns) von Kaisern und
Bischöfen erteilten Privilegien *) hervor, zu deren Besprechung
Be low4) Heinrichs III. Privileg für Quedlinburg vom Jahre
1040 gewählt hat.5) Während diese Urkunde bisher von allen
Forschern übereinstimmend für ein der Kaufmannsgilde von
Quedlinburg erteiltes Privileg angesehen ist,*) will Below
nachweisen, dass es nur der dortigen Bauerschaft erteilt sein
könne. Dass von gegenseitigem Treuschwur der Gildegenossen
in dieser Urkunde keine Rede ist, kann doch sicher kein Ar-
gument gegen die herrschende Meinung sein;7) ebensowenig, dass
negotiatores oder mercatores mitunter identisch mit cives ge-
braucht wird.8) Viel mehr fällt doch ins Gewicht, dass es sich
hier nur um Zusicherung freien Handelsverkehrs im Reiche
handelt, und dass in dieser, wie in den übrigen den Kauf-
leuten (mercatoribus) eines Ortes erteilten Privilegien stets nur
*) vgl. ausser den von Below III 8. 30 N. 76 selbst angeführten
Forschern besonders noch Gierke I S. 243, 244, 264 ff., R&thgen Märkte
S. 65 ff., ferner N i tisch in den oben S. 54 N. 2 n. 6 citierten Aufsitzen
sowie in den Hans. Geschichtsblättern Jahrg. 1880, 1881 (Leipz. 1882) S. 19, 20.
') IH S. 30—32, 68, 69.
*) vgl. über diese oben S. 202, 222 N. 2.
‘) m 8. 30 ff.
*) Stumpf 2229, Janicke Urkb. d. Stadt Quedlinburg (Geschichtsq &
Prov. Sachsen Bd. II Halle 1873) N. 9 S. 8.
•) s. oben N. 1.
') Der Kaiser hatte ja keine Veranlassung, in seinem Privileg dieses
gegenseitigen Treuschwurs der Gildegenossen zu einander zu gedenken.
•) Freilich nicht in unserer Urkunde, wie Below IU 30 meint. Hier
wird gerade festgesetzt, dass zwar die Jurisdiction de omnibus, qnae ad
cibaria pertinent, der Gilde znstehen sollte, dass aber die Gerichtseinkünfte
zwischen Bichter und Bürgerbebörde geteilt werden sollten. Aus der von
der Gilde gefertigten angeblichen Urkunde Konrads II (Janicke a. a. O. N. 8)
geht dentlicb hervor, dass die Gilde auch nach den Gerichtseinkünften im
iudicium de cibariis strebte, und dass man hier zwischen mercatores und
cives i. techn. Sinne (Gilde und Bürgerbehörde) unterschied.
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von Rechten die Rede ist, die ausschliesslich oder doch ganz
vorzugsweise dem Handelsstande, nicht der ganzen Gemeinde
zu Gute kommen mussten. Meint Below wirklich, dass eine
Bauerschaft sich das Recht, im ganzen Reiche ungehindert1)
ihre Waaren abzusetzen, hätte verleihen lassen?*)
Ganz besonders beruft er sich auf die Bestätigung dieser
Urkunde durch Lothar 1134,*) in welcher den mercatores von
Quedlinburg gegen eine jährliche Abgabe auch Weiderechte an
einer im Obereigentum der Äbtissin stehenden Allmende und
ein Vorrecht in Bezug auf den geistlichen Gerichtsstand ge-
geben werden. Er fragt: „Was in aller Welt soll eine Kauf-
manusgilde mit einer Allmende zu thun haben? Wer hat
jemals gehört, dass einer Kaufraannsgilde ein Privileg hinsicht-
lich der geistlichen Gerichtsbarkeit gegeben worden ist?“4)
Nun ist es aber bekannt, dass bis spät ins Mittelalter hin-
ein auch von Kaufleuten und Handwerkern Vieh gehalten
wurde,4) und sehr begreiflich, dass für die Gilde, die sicher
zum Teil aus Eingewanderten bestand, denen die Nutzung des
Ortsallmende nicht ohne weiteres gestattet war, ein der Corpo-
ration als solcher zustehendes Weiderecht erstrebenswert sein
konnte. Ebenso hat es gar nichts besonderes auffallendes,
dass einer Kaufmannsgilde hinsichtlich der geistlichen Gerichts-
barkeit ein Privileg gegeben wurde. Wir haben schon ge-
sehen, wie sich in Bezug auf diese später einzelne Zünfte wich-
tige Vorrechte geben Hessen.*) Ferner hat, abgesehen davon,
dass von allen angeseheneren Ständen Privilegien in Bezug auf
den geistUchen Gerichtsstand nachweisbar sind,1) die in unserer
•) a. a. 0. : ut per omnis nostri regni mercatus ubique suum exerceant
negotium, vgl. dazu Below III 31 : „Hiernach besteht kein Zweifel, dass die
Urkunde Heinrichs .... ein Privileg für die B an erschaft Quedlinburg ist.*
’) Welchen Sinn kann übrigens die Stelle: ut de omnibus, quae ad
cibaria pertinent, inter se iudicent haben, wenn hierdurch, wie Below meint,
das Gericht über die Lebensmittel der Bauerschaft zugesprochen sei, anderer-
seits aber eben diese Funktion so wie so allen Bauerschaften zugestanden
h&tte, vgl. HI 3. 4, 5.
*) Janicke in dem oben 8. 374 N. 5 citierten Buche N. 10 S. 9.
*) m 8. 81.
*) Bücher, Bevölkerung v. Fmkfrt. (Tüb. 1886) 8. 263, 264, 280, vgl.
Schm oller in Ztschr. f. ges. Staatswissenscb. Bd. 27 (Tüb. 1871) S. 297, 298.
*) s. oben 8. 101, 102.
*) vgl. die von Dove in Herzogs Bealencycl. f. Theologie Bd. XIV
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Urkunde enthaltene Privilegirung überhaupt nur Sinn als
eine Kaufleuten erteilte. Den mercatores wird nämlich hier
das ihnen schon gewohnheitsmässig zustehende Recht bestätigt,
nur in Quedlinburg selbst auch vor die unteren geistlichen Ge-
richte gezogen zu werden; anderwärts brauchen sie sich nur
vor dem bischöflichen Gericht zu verantworten.1) Hätte es ir-
gend welchen Sinn gehabt, einer Markgenossenschaft solche
Rechte zu geben? So liegt also sicher gar kein Grund vor,
um dieser Urkunde willen von der herrschenden Meinung ab-
zuweichen.
Noch viel schwerer aber als dieses leichtfertige Aufstellen
neuer Ansichten wiegt ein, bei Bel ow fort und fort wieder-
kehrender, methodischer Fehler ; es ist derselbe, den Heusler*)
und Gierke*) schon mit Recht an Maurers Untersuchungen ge-
tadelt haben. Es wird nämlich von Below, wie einst von Maurer,
gänzlich übersehen, dass für Fragen der Entstehung der deutschen
Stadtverfassung nicht spät zur Entwickelung gekommene Flecken
und Städtchen herangezogen werden dürfen, auf welche nur das,
anderwärts schon selbständig erwachsene, Stadtrecht in mehr oder
weniger bescheidenem Umfange übertragen wurde. Wie v. M a u -
rer seine Theorie, dass der Stadtrat dieselbe Competenz gehabt,
wie die Dorfvorsteher, durch das Beispiel von Montzingen , Se-
ligenstadt, Grüningen, Waldkappel und ähnlichen Orten nach-
weisen zu können glaubte, so hat v. Below4) z. B. zum Nach-
weise des Zusammenhanges des Stadtgerichtes mit dem Bur-
ding Läppstadt, Medebach, Emmerich und Büren herangezogen.
Als höchst bezeichnend für diese Methode sind gewiss fol-
gende von Below5) selbst geäusserten Worte zu betrachten:
„Jede Arbeit, welche die Geschichte der deutschen Stadtver-
fassung im Allgemeinen darstellt, wird das Hamei er Urkun-
S. 124 ftlr Befreiung von Edelherren und Ministerialen von den unteren
geistlichen Gerichten angeführten Beispiele.
’) Quia vero usque ad tempora nostra synodali censure et examini non
nisi in fato loco idest Quitelinebure prefati mercatores se repraesentare con-
sueverunt, volumus, ut in ecclesiasticis negotiis episcopum et archidiaconum
ibidem tantum audiant et synodali censure subiaceant, exceptis Urnen his
qui propter aliquam inoboedientiam ad episcopalem sedem vocantur.
*) Ursprung S. 160, 161.
•) H S. 589.
*) IU a 76.
*) s. Zarncke’s Litterarisches Centralbl. (Leipzig 1887) S. 1527.
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377
denbnch mit zu Bat ziehen müssen.“ Es ist das wahrlich das-
selbe, wie wenn jemand behaupten wollte, die Entstehung des
modernen Verfassungs- und Verwaltungsrechtes könne nicht
ohne Kenntnis der Entwickelung von Lippe-Detmold und Beuss
jüngere Linie erforscht werden, oder: man dürfe bei dem
Studium der Bechtsbeziehungen der modernen Staaten zu
einander nie das Verhältnis des Fürstentums Monaco oder
der Bepnblik Andorra zu ihren Nachbarn ausser Acht
lassen.
Die erwähnte Einwendung Heuslers und Dierkes gegen
die Heranziehung von Orten, die überhaupt nur wenig Stadt-
charakter erlangt haben, hat von Below nirgends berück-
sichtigt1)
Noch bedenklicher freilich als der dadurch veranlasste, oft
wiederkehrende methodische Fehler ist es, dass v. Below, wie
sich schon bei Besprechung einzelner seiner Ausführungen*)
gezeigt, die Behauptungen früherer Forscher, sei es, dass er sie
als Beweismaterial heranzieht, sei es, dass er gegen sie pole-
misiert, ganz unrichtig wiedergiebt. Gerade dies begegnet bei
ihm in seltsamer Häufigkeit. In zahllosen Fällen kommt man,
wenn man das, was v. Below als fremde Meinung wiedergiebt,
und das, was das Citat mit klaren Worten besagt, vergleicht,
zu den unerwartetsten Ergebnissen.
Bei Anführung von Beweisstellen für diese Behauptung
wird dadurch oft noch grössere Deutlichkeit erzielt werden,
dass man direkt neben Below’s Citat die von ihm herange-
zogenen Ausführungen setzt. Beispiele:
*) Die III S. 114 anscheinend zur Erläuterung einer Stelle
Roscher's gemachte Bemerkung: „bekanntlich ist jede Stadt, auch
die grSsste, ursprünglich einmal klein gewesen * kann gewiss nicht als
genügende Auseinandersetzung mit der wichtigen methodischen Feststellung
Heuslers angesehen werden. Es kommt eben darauf an, ob eine Stadt
zur Zeit der Ausbildung von Stadtverfassungen in Deutschland, also etwa
von der zweiten Hälfte des 11. bis zur ersten des 13. Jahrhunderts, gross
genug war und genug städtisches Wirtschaftsleben in sich barg, um selb-
ständig eine städtische Verfassung hervorzubringen , oder ob sie diese nur
von aussen recipiert bat. Über die angeführte Stelle Belows HI S. 114 vgl.
auch unten S. 380.
») s. oben 8. 369 u. 371.
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378
Below II S. 198. Die Ver- Schmoller a. a. 0. (Strass-
treter der herrschenden Ansicht burgs Blüte S. 7). Ich zweifle
haben sich nicht nur (um einen nicht, dass die künftige Ge-
treffenden Ausdruck Schmollers schichtsforschungdiesenhervor-
[Strassburgs Blüte S. 7] zu ge- ragenden Gelehrten (Nitzseh),
brauchen) kein klares Bild des der allein sich ein klares Bild
ganzen wirtschaftlichen Ent- des ganzen wirtschaftlichen
wicklungsprocesses des Mittel- Entwicklungs - Processes des
alters gemacht, sondern .... Mittelalters gemacht hat, noch
mehr anerkennen wird als es
bisher geschehen.
Wer sind nun nach Be low die Vertreter der herrschen-
den Ansicht? Es ist zwar an dem betreffenden Orte nichts
darüber gesagt, aber, wer nur ein paar Seiten Below’s ge-
lesen, weiss, dass in erster Linie Nitz sch gemeint ist.1) Below
citirt nun die Worte „klares Bild gemacht“ buch-
stäblich richtig. Nur erweckt er bei jedem unbefangenen Leser
die Vorstellung, dass er sich bei dem tadelnden Urteil über
die Wirtschaftshistoriker der Zustimmung Sch mo 11er ’s erfreut;
dass Schmoller dem Sinne nach das Gegenteil von dem, was
Below behauptet, sagt, und dass Schmoller gerade Nitzscb
desshalb rühmt, weil er sich ein klares Bild des wirtschaftlichen
Entwickelungsprocesses des Mittelalters gemacht hat, ist nur
demjenigen Leser ersichtlich, der das Citat Below’s nachschlägt.
Ein anderes Beispiel! Below sagt I. S. 197: „Da durch
die Gesetzgebung des fränkischen Reiches den Herren das Recht
der Tödtung ihrer Sklaven entzogen war, da das öffentliche
Gericht das Urteil über Sklaven sprechen musste.“
Er führt dazu G. Meyer in Ztschr. der Savignyst. HI
110, Wilhelm Sickel Mitt. des Instituts, Ergänzungsb. II 205
u. 211 und Schröder D. R.-G. 176 an.
Jeder Leser, der die Below’sche Methode nicht kennt,
wird wohl den obigen Satz für trefflich gestützt halten. Man
schlage aber die Citate nach! Deckt sich schon das, was
G. Meyer a. a. 0. sagt,*) durchaus nicht mit dem Citate Be-
*) Über Be Iowa Versuch, deu Eindruck der hier näher gekennzeichneten
Benutzung von Schmoller« Urteil über N i tz s c h zu verwischen, s. unten S. 385.
*) „Bei gewissen schweren Verbrechen* (der Sklaven) „treten schon in
karolingischer Zeit die ersten Anfänge einer unmittelbaren Unterordnung
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379
low’s, so kann man geradezu behaupten, dass Schröder und
Sickel entgegengesetzter Ansicht wie Below sind. Schröder
handelt S. 176 nur von der Dingpflicht der freien Hinter-
sassen, sagt aber S. 174 V ausdrücklich: „Die unbegrenzte
Strafgewalt der Herren über ihre unfreien Leute dauerte in
alter Weise fort.“ Ebenso sagt Sickel a. a. 0., dass die
„Sklaven“ überhaupt „nicht gerichtet werden konnten.“
Nicht mehr aus blosser Nachlässigkeit in der Benutzung in
der citirtei) Litteratur erklärbar , sondern überhaupt völlig
unergründlich sind die Worte v. Below’s I S. 200 N. 4: „Lamp-
recht beansprucht für sich das Verdienst, zuerst die Geschichte
der Vogtei allseitig behandelt zu haben. Diese Allseitigkeit
besteht darin, dass er alle ihm bekannt gewordenen Urkunden,
in denen das Wort Vogt sich findet, zusammenstellt, ohne
Rücksicht darauf, was es bedeutet.“ Wer die diesbezüglichen
Ausführungen Lamprechts *) oder auch nur die wohlgeordnete
Disposition derselben liest, die man in der Inhaltsangabe findet,*)
wird erkennen, dass die Bezeichnung dieser Forschungen als
einer blossen Urkundenzusammenstellung nur als der unge-
rechtfertigte Ausdruck persönlicher Animosität gegen den Ver-
fasser anzusehen ist.*)
An einer anderen Stelle4) erweckt Below den Anschein,
dass Lamprecht Stadt und Markt aus den Frohnhöfen er-
wachsen lasse, während Lamprecht gerade an der Stelle,
die Below anftthrt, zeigt, dass Märkte von mehr als vorttber-
der Unfreien unter die öffentlichen Gerichte hervor. Es sind das solche Ver-
brechen, bei denen der Gesichtspunkt einer Zuwiderhandlung gegen die öffent-
liche Ordnung oder einer Störung des öffentlichen Friedens besonders in den
Vordergrund tritt.“ Davon, dass die Sklaven von ihrem Herren nicht ge-
todtet werden durften oder dass sie auch nur in der Begel unter öffentlichem
Gerichte standen, steht hier gamichts.
') I S. 1062-1138.
*) Bd. I TL 2 S. VI, VII.
*) Letztere dürfte aus dem, kurz vor dieser Pubiication stattgefundenen,
Streite mit Lamprecht in der Deutschen Litteratur-Zeitung VIII (1887)
S. 310, 437, 438, 741, 742 herrühren.
‘) H S. 197.
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380
gehender Bedeutung nur durch die natürlichen Verhältnisse des
Verkehrs und nicht aus Frohnhüfen entstanden sind.1)*)
Als besonders charakteristisch für diese Art Below’s,
wörtlich richtig zu citieren und dabei doch die citierte Ansicht
in ihr Gegenteil zu yerkehren, sei noch folgendes angeführt. Unter
denjenigen Forschern, welche die Ansichten Arnold’s, Nitzsch’s,
Heusler’s und öierke’s abgelehnt und sich von Mau rer ’s Theo-
rie angeschlossen, wird von Below auch Roscher genannt.*)
Dazu beachte man folgende Zusammenstellung:
v. Below HI S. 114: Ferner Roscher Nationalök. III
sagt Roscher (III S. 14 Anm. 7) : 8. 12 : Bei der Frage nach dem
Maurers Ansicht „bleibt um so Ursprünge der politischen Per-
mehr der Wahrheit nahe, je sönlichkeit der neueren Städte
kleiner, dorfähnlicher dieStadt.“ darf mau nicht zu einseitig bloss
Diese Bemerkung trifft vollkom- an einen Kern denken. Dazu III
menzu. Sie enthält keines- S. 16 Anm. 7: Vgl. bes. die
wegs eine Einschränkung Schriften von G. L. Maurer
des von Maurer aufgestell- (Herleitung der Städte aus der
ten Satzes. Denn bekanntlich Markgenossenschaft, eine An-
ist jede Stadt, auch die grösste, sicht , die um so mehr der
einmal klein gewesen. Mitbeson- Wahrheit nahe bleibt, je klei-
derer Energie aber hat kein ner, dorf ähnlicher die Stadt);
geringerer als Sohm die Ueber- K.W. Nitzsch Minist (Her-
einstimmung von Landgemein- leitung aus dem Hofrecht) ;
■) Als im höchsten Grade sonderbar muss es jedenfalls bezeichnet wer-
den, wenn Below II S. 197 auch die Ansicht ansspricht, dass „eine Statistik
der Orte, an welchen Märkte angelegt worden .... sind, die Unrichtigkeit
der Ansicht von der massgebenden Bedeutung der Frohnhöfe für die städtische
Entwickelung in voller Deutlichkeit erscheinen lassen würde" und dabei gegen
Lamprecht wie gegen einen Vertreter dieser Ansicht polemisirt. Gerade
Lamprecht hat ja D. W. II 256—260 eine Statistik der Märkte des Mosel-
gebietes gegeben und ist dabei zu den Ansichten gekommen, welche wir,
wenn anch etwas verzerrt, bei Below a. a. O. finden.
*) Mehrfach wird Lamprecht auch von Below als grundsätzlicher
Gegner der Theorie von Maurers über Entstehung der Stadtverfassung
hingestellt. Es genüge hier auf Lamprechts eigene Ausführungen im
Archiv für sociale Gesetzgebung n. Stat. Bd. I (Tüb. 1888) 8. 532 zu ver-
weisen, da L. hier die falsche Wiedergabe seiner Ansichten durch Below
speciell an diesem Beispiele schlagend nachgewiesen hat.
•> in in.
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381
degewalt und Stadtgemeinde- Arnold a. a. 0. und Heu sl er
gewalt, von Burding und Rats- Ursprung . . . (Herleitung aus
gericht betont.“1) der verjüngten freien Volks-
(ibid. S. 115 werden dann gemeinde der fränkischen Zeit),
andere Forscher, „welche den Das Verdienst, diese Einseitig-
Hauptwert nicht auf den Zn- keiten zur richtigen Auffassung
sammenhang der Stadtgemeinde verbunden zu haben, gebührt
mit der Landgemeinde legen,“ Gierke.
den früher genannten, also auch
Roscher, gegenübergestellt.)
So bringt Below in diesen und in unzähligen anderen
Fällen, dem Wortlaute nach richtige, Citate in solchen Zusam-
menhang, dass der betreffende Forscher in den citierten Worten
etwas ganz anderes zu behaupten scheint, als er unzweifelhaft
hat sagen wollen. Doch kommt es Below sogar darauf nicht an,
gelegentlich auch unter Anführungszeichen von der citierten
Stelle abweichendes wiederzugeben. Als Beispiel diene folgendes ;
v. Below IU 118 N. 368: Jas- Jastrow (Jahrb. f. Gesetz-
trow erklärt hier (Jhrb. f.Gesetz- geb. 1884 S. 875): „Noch immer
geb. 1884 S. 874 f.), theoretische weisen viele Historiker darauf
Vorkenntnisse seien unter Um- hin , wie selbst ein
ständen sogar schädlich, wie Mann wie Sohm, dem doch
man ah Sohm sehe, welcher, niemand historische Auffassung
weil er davon zu viel besessen, abstreiten wird , dennoch der
„über die Strenge geschlagen“ Versuchung nicht hat wider-
(so schreibt J. wörtlich!) habe. stehen können, ab und zu über
die Stränge zu schlagen.“
J astro w giebt also die Ansicht, die ihm v. Below zuschreibt,
nnr als tadelndes Urteil anderer wieder uud zwar als ein
übertreibendes. Dass dies Urteil auch noch in der von J a s-
') Übrigens mag an dieser Stelle noch constatiert werden, dass auch Sohm
von Below ganz mit Unrecht für einen Anhänger der von Maurer und
Below selbst vertretenen Ansicht erklärt ist. Sohm B. u. G. V. S. 232
sagt ausdrücklich: „Die Stadtfreiheit datirt erst von dem Übergang der
Grafen- und Schultheissenrechte an die Stadtgemeinde.* Diese Ansicht deckt
sich fast völlig mit der von Heusler vertretenen, der nur ausser dem Über-
gange der Jurisdictionsrechte auch den der übrigen Grafschaftsrechte (insbes.
Heerbann uud Besteuerung) für wichtig hält. Below meint freilich II S. 206
N. 5, dass in Sohm’ s angeführten Worten ein „lapsus calami* stecke, indem
„die Konsequenz seiner sonstigen Ausführungen“ etwas anderes „verlange.“
Zu dieser Annahme fehlt aber jede Veranlassung.
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382
trow ihm gegebenen Form meines Erachtens unrichtig ist, ent-
schuldigt weder die falsche Wiedergabe desselben durch Be-
low noch die wahrhaft kindische orthographische Ent-
stellung.
Mit dieser ganz unverständigen Auffassung und falschen
Wiedergabe der Behauptungen früherer Forscher — eigent-
lich müsste die Sache noch weit schärfer bezeichnet wer-
den — hängt es auch zusammen, dass Below sich unzählige
Male eine gar nicht existierende herrschende Meinung con-
struiert hat. Dieser weist er mit Leichtigkeit die grössten
Irrtümer nach; in der Regel ist freilich dasjenige, was Below
für herrschende Meinung erklärt, nie von einem Forscher ver-
treten und nur eigenstes Fabrikat des Herrn von Below
selbst. Einige Beispiele mögen genügen:
I S. 194: Der allgemeinen Betrachtungen über den Ur-
sprung der deutschen Stadtverfassungen, meint man,1) gebe es
genug; wer von neuem eine allgemeine Erörterung versuchen
wollte, würde sich darauf beschränken müssen, eine von den
aufgestellten Hypothesen gegen eine andere zu verteidigen; die
Zahl der möglichen Hypothesen sei erschöpft. Nachdem es ge-
lungen, die zu lösenden Fragen zu fixiren, komme es auf den
statistischen Nachweis an, welche Hypothese durch die
meisten Einzelfälle gestützt werde. (!)
II S. 199: Maurer und Waitz sind diejenigen Forscher,
von denen unsere Wirtschaftshistoriker stets nur mit Achsel-
zucken reden.
II S. 197: „Herrschende Ansicht von der massgebenden
Bedeutung der Frohnhöfe.“
I S. 204 : „Man nimmt ohne weiteres an, den Grundstock
der städtischen Bevölkerung hätten Hörige gebildet.“
II 219: „Man zieht heute das Hofrecht bei jeder Gelegen-
heit heran, wie früher das Keltische; es soll alles erklären.“
Ganz besonders gern macht Below auf Gesichtspunkte
aufmerksam, welche die bisherige Forschung seiner An-
sicht nach gänzlich übersehen hat. Es mag genügen, einige
*) Below unterlässt es in diesen und zahlreichen weitereu Fällen be-
stimmte Namen zu nennen. Er begnügt sich mit dem beqnemen .mau
nimmt an, man meint;' dies Wörtchen „man“ begegnet fort und fort iu
Below» Untersuchungen.
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383
der Stellen , in denen sich über diese gerade schon recht oft
behandelten Probleme und Thatsachen weit besseres als bei Be-
low findet, neben seine gegen die bisherige Forschung er-
hobenen Vorwürfe zu setzen. Freilich wird der Kundige auch
schon ohne dies erstaunt sein, dass Be low das als neuge-
prägtes Gold unter die Menge wirft, was in der That doch
schon recht abgegriffene Scheidemünze ist.
Below I 204: Pie Frage,
in welche Stellung die ältesten
Einwanderer gekommen, scheint
man sich nicht vorgelegt zu
haben.
Vgl. dazu Arnold V. G. I
S. 141: Die zahlreichen Ein-
wanderungen vom Lande in die
Städte gingen .... aus dem
Streben hervor, der fortdauern-
den Verschlechterung des freien
Standes auf dem Lande zu ent-
gehen. Denn soviel war schon
im 11. Jahrh. wahrzunehmen,
dass eine städtische Unfreiheit
milder sei als Hörigkeit oder
Leibeigenschaft auf dem Lande.
Vgl. ferner Heusler Ursp. S.
102, 103: (Die Einwanderungen
in die Städte) durchdrangen
alle Classen der Bevölkerung.
Aus dem Steinhause des Edel-
mannes auf dem Lande kam
der jüngere Sohn und erhielt
. . . . Aufnahme in die Dienst-
mannschaft Schon das
ist hierbei von Wichtigkeit,
dass die auf dem Lande vor-
herrschende Starrheit der Stan-
desunterschiede in den Städten
teilweis gebrochen wird. Glie-
der desselben Hauses finden
wir als Mittelfreie auf dem
Lande, als Ministerialen und als
Burgensen in der Stadt. Der
freie Bauer auf dem Lande
lässt seinen Sohn ein städti-
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sches granarium bauen ....
und damit vogteipflichtigen mer-
cator des Bischofs werden.*)
Ähnlich wirkt der Vergleich von:
Below I S. 224 : „Die Binsen- mit Arnold I 147: „Handel,
Wahrheit, dass die städtische Wohlstand und Reichtum sind
Entwickelung an Handel und von jeher die Quelle politischer
Verkehr anknüpft, hat man Freiheit gewesen“ und Hensler
ganz ausser Acht gelassen.“ ürspr. S. 160, 151: „Arnold
hat das richtige Wort gefunden,
indem er an die Spitze des
Abschnitts Uber die Emanci-
pation der Städte von der bi-
schöflichen Herrschaft den ein-
fachen Satz stellte: Handel,
Wohlstand “ (es folgt
dann das eben erwähnte Citat).
Dass Below solche Stellen wie die eben citierten ganz
übersehen hat, ist sicher nur aus der Hast erklärlich, mit der
er nach seinem eigenen Geständnis seinen ersten Aufsatz
schrieb. Dieser Hast wird es wohl auch zuzuschreiben sein,
dass sich in diesem Aufsatze ganz sinnlose Behauptungen
finden. Below sagt z. B.:*) „Die Kirchspielskirchen haben
unendlich viel grössere Bedeutung für das Aufkommen der
Städte als die Frohnhöfe; der Landmann, welcher Sonntags zur
Kirche ging, besorgte dabei zugleich seine Einkäufe.“
Ist Below der Ansicht, dass die Pfarrkirchen der ländlichen
Pfarrbezirke in der Stadt lagen? Wenn der Landmann Sonntags zur
Stadt kam, so besuchte er sicher den stolzen Dom oder die reichen
Kloster- und Stiftskirchen, nicht eine der städtischen Pfarr-
kirchen. Die Kirchspiele haben allerdings, wie ja namentlich
von Hoeniger, Liebe und Liesegang nachgewiesen ist,*)
eine bestimmte Bedeutung für die ältere städtische Verfassungs-
*) Die Frage, welche man sich nach Below a. a. 0. nicht vorgelegt
zu haben scheint, ist ausserdem auch schon von Heusler Basel S. 64, 65
und Hoeniger Westd. Ztscbr. II S. 242 behandelt worden.
*) I 224.
*) vgl. oben S, 78 ff.
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385
geschichte, und Reminiscenzen aus diesen Forschungen mögen
die citierte Behauptung Below’s hervorgerufen haben. Was
sollen aber die Kirchspiel kirchen in diesem Zusammenhang?
Genug der Beispiele für den Wert der Below’schen Auf-
sätze! Jeder unbefangene Leser dürfte befriedigt sein.
Es muss nur noch constatiert werden, dass mit der man-
gelhaften Sachkenntnis von Below’s die Urteile durchaus
harmonieren, welche er über eine grosse Anzahl hervorragender
Gelehrter, verstorbener wie lebender, fällt,. Wie diese Urteile
ja nur aus mangelnder Sachkenntnis erklärlich sind, so könnte
umgekehrt letztere aus ihnen allein schon mit voller Sicher-
heit gefolgert werden! Beispiele:
Arnold vertritt „die übrigens natürlich irrige Meinung.“1)
Die Beschi’änkung, die er einem Worte, sowie die Erklärung,
die er einer Verordnung giebt, sind „willkürlich.“8)
Nitzsch’s „Theorie ist nur eine Übertreibung einer
Eichhorn’schen Idee.“*) Der im Jahrbuch für Gesetzgbng.
VIII. 873 ff. veröffentlichte schöne Nachruf auf Nitzsch „macht“
nach Below „einen geradezu peinlichen Eindruck.“ „Solche
Dithyramben können nur aus mangelnder Sachkenntnis ent-
springen.“ 4)
*) I 236 N. 2.
•) I 202 N. 4, I 232 N. 2.
•) I 194.
4) a. a. 0. Note 1, Es sei noch bemerkt, (lass das hier und an
anderen Stellen (i. B. I S. 194 N. 1, II S. 198, vgl. oben S. 378) gcäusserte
absprechende Urteil über Nitzsch von Below in III S. VIII ff. wenigstens
teilweise zurückgenommen wird. Auch Schmoliers Urteil über N. (vgl oben
S. 378) wird ibid. S. XI richtig angeführt. In III S. IX spricht v.B. freilich doch
wieder die Ansicht aus, die Arbeiten Liesegang's und Oeering's wären
besser geworden, wenn diese Forscher Nitzsch nicht gekannt hätten. Below
selbst scheint nach dem Becept, Nitzsch lieber nicht kennen zu lernen , ver-
fahren zu sein. Schon oben S. 372 ff. ist constatiert worden , dass ihm
die von Nitzsch Minist. S. 136, 213 ff. gesammelten Stellen über die Com-
petenz des geistlichen Gerichts in Mass- und Gewichtssachen unbekannt sind.
Ferner ist es im höchsten Grade auffallend, dass man Werke von Nitzsch bei
Below nie citiert findet, sondern, dass für die mehr oder weniger karrikiert
wiedergegebenen Ansichten dieses Gelehrten höchstens auf dieCitateAnderer
ans Nitzsch verwiesen wird. Endlich würden ja auch die „wenigen Stunden“,
welche Below nach seiner eigenen Angabe vor Abfassung seines ersten Auf-
satzes über Stadtverfassung diesen Studien gewidmet hat, nicht hingereicht
Koehne, Ursprung der Stadtverfassung in Worms. Speinr und Hains. 25
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386
Heusler’s „Buch ist bloss eine weitere Ausführung einer
von Sohm nebenbei hingeworfenen Bemerkung.“1) Heusler
„lässt“ wichtige Bemerkungen „ausser Acht;“8) auf seine „unrich-
tigen Behauptungen im einzelnen einzugehen“, unterlässt Below.8)
Lamp recht hat die „herrschende Ansicht in’s Äusserste
übertrieben *) zu einer „absprechenden Bemerkung ist er wahrlich
nicht berechtigt.“*) Seine „Ausführungen über Gemeindewesen
bedeuten einen Rückschritt noch hinter Gierke zurück.“*)
Sohm „übersieht“ in Betracht kommende Thatsachen7) und
„beruft sich auf eine“ Quellenstelle, „aus welcher nichts ge-
folgert werden kann.“8) Auch er lässt wichtige Bemerkungen
„ausser Acht.“8)
Schmoller’s Erklärung einer Quellenstelle wird als „nichts-
sagend“ bezeichnet ; l0) ebenderselbe stellt ein Verlangen, welches
„überall gestellt, die Möglichkeit historischer Forschung fast
ausschliesst.“ “)
Stieda’s Ansicht „widerlegt sich schon durch ihre in-
neren Widersprüche ; 18) anderswo verwickelt sich dieser selbst
„in einen auffallenden Widerspruch.“ 1S)
Das Verletzende dieser Äusserungen v. Below’s liegt auch
oft nicht sowohl in dem einzelnen Wort, als in dem wegwer-
fenden Ton, in dem Below die gesammte frühere Forschung
beurteilen zu müssen glaubt. Vgl. z. B. 1 238: „Diese Ansicht
ist, obgleich sie die Billigung der ersten Autoritäten der Deut-
haben, „Nitzach, Minis terialitiit und Bürgertum*, eines der schwierigsten
Werke der Literatur der deutschen Verfassungsgeschichte, überhaupt genügend
kennen zu lernen.
') II 205 N. 5.
») I 19« N. 1.
•) I 199 N. 1.
‘) H 235 N. 1.
*) H 214 N. 1.
•) II 204 N. 1.
7) I 198 N. 4.
') I 199 N. 3.
•) I 196 N. 1.
,0) III 64.
") I 226.
'*) I 213 N. 3.
“) I 216.
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387
sehen Rechtsgeschichte (Sohm, Brunner), gefunden hat, doch
leicht zu widerlegen.“ *)
So findet sich also auf diesem von der deutschen For-
schung so vielfach bearbeiteten Gebiete, wenn wir Be low
Glauben schenken müssten, nicht viel mehr als Thorheit und Un-
verstand. Allerdings bietet Below selbst Trost; es lässt sich
nämlich einer seiner Bemerkungen entnehmen, dass es auch
jenseits der Vogesen bei Erforschung der Verfassungsgeschichte
nicht besser zugehe. „Die französischen Historiker“, meint
er, „huldigen sämmtlich einem „Irrtum“, den „jedes fran-
zösische Urkundenbuch“ berichtigen könnte.’)
Endlich, seitdem Below sich der deutschen Städteforschung
zugewandt, sind seinen eigenen Behauptungen nach die allein
richtigen Anschauungen zum Siege gekommen. Below scheut
nicht davor zurück , sich selbst die grössten Verdienste zuzu-
schreiben. Beispiele:
I 201 erklärt er, seine Ausführungen zusammenfassend:
„Die herrschende Vorstellung von der Verbreitung der Hörig-
keit im Mittelalter ist damit widerlegt.“ Zugleich wird seiner
Ansicht nach durch den von ihm „erbrachten Nachweis“ „auch
die gegenwärtig gewöhnliche Erklärung der Entstehung der
obligatorischen gerichtlichen Auflassung hinfällig.“*)
I S. 242 N. 2 spricht er die Hoffnung aus, dass seine
Abhandlung „den Beweis“ liefert, dass „sämmtliche bis-
herigen Untersuchungen (von Arnold, Nitzsch. Heusler
u. s. w.) über den Stand der Stadteinwohnerschaft .... unzu-
länglich sind.“ Beschränkt sich Below’s Urteil hier noch auf
eine — wenn auch hervorragend wichtige — Einzelfrage, so
sagt er am Beginne seiner Arbeit (I 194) ganz allgemein:
„Der Verfasser glaubt für seine Ausführungen ein Ver-
dienst jedenfalls beanspruchen zu können: Die Herrschaft der
Ideen, unter deren Bann die Forschungen über den Ursprung
der deutschen Stadtverfassung seit nunmehr siebzig Jahren
stehen, definitiv beseitigt zu haben.“
>) Vgl. ferner I 8. 194, I S. 242 N. 2.
*) II 243 N. ö.
•) 1 201 N. 2.
S8‘
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Die unbefangene Forschung wird nun freilich über die
Belowschen Leistungen im Gebiete der mittelalterlichen Stadt-
verfassung ganz anders als Herr von Below selbst urteilen. Hie
und da macht v. Below allerdings auf bisher noch nicht ge-
nügend berücksichtigte Probleme aufmerksam; hie und da
bietet er wohl auch eine Bereicherung unserer Kenntnisse.
Im grossen und ganzen aber gehören diese Below’schen Auf-
sätze über Stadtverfassung sicher zu der von Delbrück1)
trefflich charakterisierten pseudowissenschaftlichen Litteratur.
Soweit man an den in der älteren Litteratur vertretenen An-
sichten festhält oder zu von den Below’schen abweichenden
Ergebnissen kommt, wird man sich mit ihm nicht im einzelnen
auseinander zu setzen brauchen ; hingegen wird es, sobald je-
mand meint, sich auf von Below aufgestellte Behauptungen
berufen zu können, stets notwendig sein, „in jedem einzelnen
Falle der Benutzung den speciellen Grund anzugeben, weshalb
dem Autor hier Glauben beigemessen werden dürfe.“ *)
•) Preus». Jahrb. Bd. 54 (Berlin 1884) S. 678, 579; Bd. 55 (1885) S. 356.
*) Delbrück a. a. 0.
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Anhang II.
Das Gesetz Bischof Burchards von Worms.
(Leget et statuta familiae S. Petri Wormatieneis).
Es mag gestattet sein, das Gesetz Bischof Burchards von
1024, *) welchem wir ja unsere Kenntnis der Rechtszustände
der mittelrlieinischen Städte in der ersten Hälfte des elften
Jahrhunderts znm grössten Teil verdanken, hinsichtlich seiner
Benennung und Datiernng noch einer besonderen Betrach-
tung zu unterziehen; in beiden Beziehungen ist oben*) von
den Angaben des letzten Herausgebers dieser Rechtsquelle,
Boos, abgewichen.
Zunächst muss es gerechtfertigt werden, dass ich diese Ur-
kunde durchgehends als „Gesetz Bischof Burchards“ oder als
„leges et statuta familiae S. Petri“ bezeichnet habe, während
sie doch in der neuesten Edition „das Hofrecht des Bischofs Bur-
chard von Worms“ und „lex familie Wormatiensis ecclesie“ ge-
nannt wird.5)
Das Gesetz ist uns nicht im Original, sondern nur in drei
Copialbüchem überliefert.4) In dem Gesetz selbst findet sich
kein Name für dasselbe ; 5) dagegen haben die erwähnten Copi-
albücher, wie sie überhaupt den in ihnen enthaltenen Urkunden
>) W. ü. 48.
») S. 16.
*) 8. Worms. Urkb. S. 39, 40.
4) a. a. 0. S. 45.
*) Bnrcliard sagt in der Eiuleitnng: Ego Burcbardus .... cnm con-
silio cleri et militum et totins familiae lins iussi scribcre leges,“; daraus kann
aber für den Titel oder Inhalt nichts gefolgert werden, vgl. oben S. 33, 34.
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390
besondere Titel geben, so auch unser Gesetz mit einer beson-
deren Überschrift bezeichnet. Dieselbe lautet in dem, um
die Mitte des zwölften Jahrhunderts geschriebenen, Chartula-
rium Wormat. :
Lex familie Wormatiensis ecclesie,1)
in dem Chartul. Worin, saec. XV :
Lex familiae data a Burkardo episcopo Wormatiae,*)
in dem Vidimationsbuch von 1616:
Lex familiae data a Burghardo episcopo Worma-
tiensl.*)
Zu den Überlieferungsformen mittelalterlicher Urkunden
sind nun aber bekanntlich nicht nur die geschriebenen zu
rechnen, sondern auch ., diejenigen Drucke, welche aus nicht mehr
erhalteneu Quellen geflossen sind.“*)
Eine solche Überlieferung liegt für unsere Urkunde
in dem Abdrucke Schanuat’s vor. In diesem1) wird die
Urkunde :
Burchardi episcopi leges et statuta familiae S. Petri
praescripta
genannt.
Hätte Schannat die Urkunde aus einem der uns erhal-
tenen Copialbiicher geschöpft, so wäre eine Änderung des Titels
in der angegebenen Art nicht erklärlich ; ausserdem zeigen auch
seine Abweichungen im Text der Urkunde, dass er für sie eine
andere Quelle benutzt hat.5) Es ist nun auch kaum anzu-
nehmen, dass Schannat etwa selbst diesen Titel gebildet hat.
Seinen Tendenzen, die Macht des Bistums über die Stadt so
gross als möglich erscheinen zu lassen, lag die, wie unten ge-
zeigt werden wird, unrichtige Beschränkung des Gesetzes auf
die familia durchaus fern. Es ist daher höchst wahrscheinlich,
') S. die Handschrift in der Königl. Bibi, zu Hannover p 26 v.
*) Dies ergab persönliche Einsicht der, im Archiv tu Dannstadt befind-
lichen, Manuscripte.
') vgl. Sickei in Jlon. Germ. D. D. I Einl. p. IX.
*) t. II p. 43.
•) vgl. Boob Urkb. S. 45. Daaa Schannat nach Boos vielfach einen
jüngeren Text zeigt, kommt hier nicht in Betracht, da der Titel des Gesetze»
demselben überhaupt nur bei der Aufnahme in die Copialbücher gegeben zu
sein scheint.
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391
dass Schannat den Titel, wenn auch nicht dem Original, so
doch einem alten Copialbuch entnommen hat. Diese Ansicht
scheint auch Gengier gehabt zu haben, wenn er sagt:
„Diese Rechtssammlung ist unter dem Titel „Leges et
statuta familiae sancti Petri,“ wenn auch nicht in der ursprüng-
lichen Ausfertigung, doch jedenfalls in sehr alten Niederschriften
auf uns gekommen.“ *)
Gerade Gengier hat nämlich zu seiner Ausgabe keine
handschriftlichen Quellen, sondern nur die vorhandenen Drucke
und die von Boehmer im Archiv für Hessische Geschichte und
Altertumskunde Bd. II (1841) gegebenen Varianten benutzt;*)
letztere sind aber dem oben erwähnten, in der Mitte des zwölften
Jahrhunderts geschriebenen, Chartul. Wormat. entnommen.*)
Wenn ich nun hinsichtlich des lateinischen Namens mit
Gengier lieber an der durch Schannat, als an der durch
die erhaltenen Copialbücher überlieferten Bezeichnung festhalte,
so geschieht es, weil jener gleich den anderen höchst wahr-
scheinlich aus dem Mittelalter stammende Name als in der Litte-
ratur fest eingebürgert gelten kann.*)
Etwas anderes ist es, was mich bewogen hat, lieber von
dem „Gesetz“ als von dem „Hofrecht“ Bischof Burchards zu
sprechen. Jene Bezeichnung ist in Folge des Inhalts der
Rechtsquelle entschieden vorzuziehen. Es ist ja oben4) fest-
gestellt worden, dass dieselbe, ausser den speciell die bischöf-
liche familia betreffenden Verordnungen, auch Process- und
Strafgesetze enthält, welche für alle Einwohner der Bischofs-
stadt erlassen sind.
Demnach sind die von den Copialbüchern unserer Urkunde
gegebenen Namen, da dieselbe danach nur der familia gegebene
Vorschriften zu enthalten scheint, nicht genau zutreffend;
vollends wird die der „lex familiae“ oder den „statuta familiae“
') Das Hofrecht Bischof Burchards S. 2.
•) a. a. 0. S. 3, 4.
») vgl. Eichhorn K. G. U S. 194 N. e, Stobbe R. Q. I S. 583,
Arnold I S. 62, Roth von Schreckenstein P&triciat (TUb. 1856) S. 56
(spricht kurzweg von Burchards Statut), ders., Ritterstand und Ritterwürde
(Freib. 1886) S. 449, Schulte und Weigand in Allgem. Deutsche Biogr.
e. v. Burchard von Worms.
‘) S. 33.
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392
entsprechende deutscheBezeichnung,,Hofrecht“ *)za vermeiden sein,
da sie besonders leicht falsche Vorstellungen über den Geltungs-
bereich der Urkunde hervorrufen kann. Dass die Verordnung
Burchards von den Copialbüchern, den ihr gegebenen Über-
schriften nach, als nur auf die familia bezüglich, angesehen
wird, ist nicht auffallend, da sich ja nur zu oft in mittelalter-
lichen Werken keine volle Übereinstimmung zwischen Über-
schrift und Inhalt zeigt. Jedenfalls brauchen die genannten
Bezeichnungen der Copialbücher in keiner Weise als mass-
gebend betrachtet zu werden. Trotz derselben und trotz der
Bezeichnung der Rechtsquelle als Hofrecht in der letzten Edition
ist doch der Name: „Gesetz Burchards“ als den Inhalt
richtiger wiedergebend vorzuziehen.
Was nun die Datierun g des Gesetzes anbetrifft, so mag es
hier auch noch besonders gerechtfertigt werden, dass oben der
Urkunde das Datum 1024 gegeben ist; denn Boos nennt zwar
dieselbe Jahreszahl, giebt aber durch Einklammerung seine Un-
gewissheit darüber zu erkennen, ob sie die richtige ist.
Obgleich die aus dem Mittelalter überlieferten Handschriften
des Gesetzes kein Datum haben, lässt sich meines Erachtens
doch das Jahr der Entstehung mit Sicherheit feststellen.
Zunächst giebt schon die Regierungszeit Bischof Burchards
(1000—1025) die für die rechtsgeschichtliche Benutzung dieser
Quelle notwendige Begrenzung ihrer Entstehungszeit. Der ter-
minus a quo lässt sich jedoch noch viel genauer mit Hilfe des
Decrets feststellen, durch welches Kaiser Heinrich II. 1023
Dezember 2 die Streitigkeiten zwischen dem Bistum Worms und
der Abtei Lorsch schlichtete.*) In tit. 30 der leges et stat.
ist die kaiserliche Urkunde unzweifelhaft benutzt worden, wie
sich schon aus der folgenden Zusammenstellung ergiebt:
Decrct v. 1023 Dec. 2
(U 47)
1) ob inveteratas et frequentes
contentiones et inimicitias
.... quae iam in tantum
Gesetz Burchard’s
(U 48 tit 30)
propter homicidia, quae quasi
cotidie flebant
*) Über die Bedeutung von familia in dieser Zeit, vgl. oben S. 28, 29, 37.
*) VV. ü. 47.
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393
convaluerunt, ut etiam in-
numerabilia inter se fterent
homicidia, et in hoc maximum ob illud maximum detrimentum
detrimentum utraque pate- nostrae ecclesiae
retur ecclesia.
2) cum consilio meorum fidelium cum consilio nostrorum fidelium
id ordinäre disposui hanc correctionem fieri decre-
istud constitui decretum vimus
Vielleicht könnte man noch den Einwand erheben, dass die
Übereinstimmung zwischen den beiden Gesetzen zwar bestehe,
aber dem Burchards Priorität zukomme. Zunächst ist es aber
doch sehr unwahrscheinlich, dass ein königliches Decret einem
einzelnen Abschnitte eines bischöflichen Gesetzes, der noch
dazu nur die Verhältnisse der bischöflichen Hintersassen ordnet,
vielfach im Wortlaut gefolgt sei, während das umgekehrte sehr
wohl möglich ist. Ferner wird auch in dem Decrete Hein-
richs II. sowohl für den Bischof wie für den Abt eine Straf-
satzung für den Fall festgesetzt, dass sie das kaiserliche Ge-
setz für ungültig erklären würden. Endlich lässt sich, worauf
Bresslau1) aufmerksam’ gemacht hat, aus der eigentümlichen
Form der Urkunde schliessen, dass der Kaiser sie aus „eigener
Initiative“ erlassen hat; „abweichend von dem herkömmlichen
Stil der Kanzlei“ wird nämlich der „Kaiser mehrfach nicht im
Plural, sondern im Singular eingeführt.“ *)
So ist also das Gesetz Burchards später als das kaiserliche
Decret von 1023 Dezember 2. Freilich, dass Burchard sein
umfangreiches Gesetz, das er nach seiner eigenen Angabe noch
mit Clerus, Vasallen und Hintersassen beraten hat, noch im
Dezember 1023 hätte veröffentlichen können, ist jedenfalls sehr
unwahrscheinlich. So bleibt denn als terminus a quo das
Jahr 1024.
Den äussersten terminus ad quem giebt der Tod Bischof
Burchards, welcher am 20. August 1025 erfolgte.’) Eine noch
*) Jahrbücher Heinrich II Bd. III S. 295.
*) Bresslau a. a. 0.; nach diesem schützt der Umstand die Urkunde
Heinrichs für Worms und Lorsch gegen jeden, aus der erwähnten Abweichung
im Kanzleibrauch abgeleiteten, Verdacht, dass dieselbe Abweichung sich auch
in der Urkunde Heinrichs für Lorsch und Fulda von 1023, März 9, findet
(Bresslau ibid. N. 2).
*) cf. Calendarium necrolog. Weissenburg. (Boehmer Fontes IV p, 313)
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394
nähere Bestimmung gewährt aber die Nachricht der vita Bur-
chardi,1) dass Burchard einige Zeit vor Juli 1025 von zuneh-
mender Körperschwäche befallen wurde und dem Tode stünd-
lich entgegensah. Als König Konrad dann vom 18. bis 24. Juli
seinen alten Lehrer besuchte, da war Burchard, als Konrad
ihm acht Tage früher seinen Besuch ansagte, schon so krank,
dass er kaum hoffen konnte, den König empfangen zu können.
Fast als Wunder wurde es angesehen, dass Burchard nach
langem Gebet seine Kräfte soweit zurückerhielt, dass er den
Besuch des Königs entgegennehmen konnte.*)
Mithin ist es höchst unwahrscheinlich, dass die Publicatiou
oder gar die Beratung und Abfassung von Burchards Gesetz in
dessen Sterbejahr fallen.
Mau kann mit an Gewissheit grenzender Wahrscheinlich-
keit das Jahr 1024 als das der Entstehung des Gesetzes an-
sehen, während Dezember 1023 bis August 1025 mit Sicher-
heit als die äussersten möglichen Grenzen seiner Entstehung be-
zeichnet werden müssen.
und die Notix des Klerikers llermann im Ckartular. Wormat (S. S. IV p.
829 N. 1).
') c. 21 (S. S. IV p. 844): Conradits . . . rerum potitns est. Post
hinc bienninm, quam rex in rcgni solium est sublimatns, imbecillitas vi-
rium servo Dei ultra solitum accrescere coepit . Onmque languore nimio aegro-
taret, intra civitatem se recepit, diem et horam futurae redemptionis exspec-
tans. Et cnm aliquanto tempore aegritudine magna detineretnr,
legati regis ad eum veniebant. Ans diesen Worten kann nur soviel ent-
nommen werden, dass Burchard beim Besuch Konrads, 18. — 24. Juli 1025.
(dies Datum bat B resslau Konrad II Bd. I S. 90 festgestellt) schon einige
Zeit (wohl mehrere Monate) sehr krank war. Würde man das „post hinc
biennium, quam rex .... est sublimatus“ als zwei Jahre nach der Wahl
Konrads fassen, so würde die Krankheit Burchards seit December 1026 einen
ernsten Charakter angenommen haben, während er doch schon am 25. Aug.
1025 gestorben ist; denn die Wahl Konrads II. fand nach Bresslau (ibid.
S. 25, 26) am 6. oder 7., die Krönung am 8. December 1024 statt. So kann
hier der Ausdruck post hinc biennium höchstens als im zweiten Kalenderjahre
nach dem Regierungsantritte König Konrads erklärt werden. Übrigens ist
der ganze Ausdruck auf Rechnung wörtlicher Nachbildung einer Stelle von
Alpert de diversitate temporum zu setzen (vgl. Manitius Neues Archiv XIII
S. 197 ff., bes. S. 201) und eben desshalb ohne besonderen Wert.
’) Vita Burchardi 1. c.
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Anhang III.
Die Datierung der Wormser Mauerbauordnung.
Es dürfte nicht unangebracht sein, noch einer anderen
Wormser Rechtsquelle, die in der Arbeit benutzt ist, einige
Worte zu widmen. Es bedarf nämlich wohl der Rechtfertigung,
dass oben1) erklärt wurde, die bekannte Wormser Mauerban-
ordnung*) müsse dem Bischof Theodalach (891 — 914) und nicht
Bnrchard (1001—1024) zugeschrieben werden. Die Angabe der
Gründe für diese Behauptung dürfte gewiss nicht für unnütz
erachtet werden; entstammt doch die Mauerbauordnung, je
nachdem man den einen oder den anderen der beiden Wormser
Bischöfe für ihren Verfasser hält, entweder schon der Wende
des neunten und zehnten oder erst dem elften Jahrhundert.
Eine eingehende Erörterung dieser Frage schien mir auch des-
halb wichtig, weil gerade neuerdings Schaube*) und Köster4)
sich für Zurückführung dieses Documenta auf Bischof Bur-
chard ausgesprochen haben, was ich durchaus nicht für richtig
halten kann.
Es nennen nun von unseren Quellen5) Theodalach als den
Verfasser die annal. Wormat.,*) Burchard der Abdruck der
') 8. 83.
») ed. Falk in Forsch, x. D. G. XIV 398.
•) Worms S. 261.
«) S. 82.
*) (1. b. von den für die Überlieferung unserer Urkunde in Betracht
kommenden Handschriften und Drucken. Vgl. über diese Falk a. a. 0. 8. 397.
*) Boehmer Fontes II 209.
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396
Bauordnung bei Schannat1) und die Zorn-Flersheimsche Chronik
in Arnolds Ausgabe.*) Dagegen führt eine andere Hand-
schrift derselben Chronik die Bauordnung auf Theodalach
zurück.’)
Gerade diese Handschrift stammt aber nach Boos von
Zorn selbst 4) und ihre Lesart hat daher jedenfalls mehr Wert,
als die aller späteren Überarbeitungen der Chronik.
Jedenfalls ist nun die bei Boehmer vorliegende Überliefe-
rung der Bauordnung besser als die bei Arnold in der Ausgabe
von Zorn-Flersheim und die bei Schannat gegebene. Dass sie
der ersteren vorzuziehen ist, folgt daraus, dass der Eisbach
bei Boehmer wie auch sonst öfters5) Isana, bei Aruold Isara
genannt wird, welche Form sonst nicht nachweisbar ist. Dass
die Überlieferung bei Boehmer besser als die bei Schannat ist,
folgt aus ihrer grossem Vollständigkeit bezüglich der zum Bau
verpflichteten Ortschaften, da Weglassung solcher bei Entleh-
nung von Nachrichten ans früheren Chronisten weit wahrschein-
licher als Hinzufügung ist.
Hierzu kommt noch , dass gerade der Umstand, dass in
Burchards Biographie seine Sorge für Herstellung der Mauern
besonders gerühmt wird,®) einen spätem Schriftsteller veran-
lassen konnte, Burchard statt des ihm überlieferten unbekann-
teren Theodalach für den Urheber der Bauordnung zu erklären;
hingegen könnten Gründe zu einer Änderung von Burchard in
Theodalach kaum gefunden werden.
Diesen Erwägungen gegenüber fällt der von Schaube7) für
die Zurückführnng der Bauordnuug auf Burchard angeführte
Grund, dass „zu Theodalachs Zeit der Bischof noch gar nicht
Herr der Stadt war“ nicht allzu sehr ins Gewicht. Zweifellos
haben die Bischöfe schon damals vielfach die Stadtherrschaft
') I 2ll.
*) ed. Arnold S. 39.
’) «. Arnold a. a. 0. S. G.
*) Archival. Ztschr. herausg. von v. Löher IX (1884) S. 113. Arnold
nnd Köster sind allerdings anderer Ansicht. Jedoch würde die Unter-
suchung, wem hier Recht zu geben ist, viel zu weit führen; sie ist auch
für die in diesem Anhänge behandelte Frage nicht von besonderer Wichtigkeit.
‘) W. U. 43, 44, 50, 104.
•) S. S. IV p. 835 c. 6.
’J Worms S. 261,
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397
erstrebt und bei ihnen günstigen Verhältnissen ausgeübt. So
schlägt z. B. Erzbischof Liutbert von Mainz zweimal die seine
Stadt bedrohenden Normannen (883 und 885).1) Von der Ver-
teidigung der Stadt bis zu Anordnungen betreffs Erhaltung der
Mauern ist doch nur ein Schritt. Ja. der Umstand scheint
noch eher der Berücksichtigung wert zu sein, dass das Ende
des neunten und der Anfang des zehnten Jahrhunderts gerade
die Zeit der Anlage vieler neuen Befestigungen und der Wieder-
herstellung älterer ist,“) indem die Einfälle der Normannen
und Ungarn zu derartigen Massregeln Veranlassung gaben.
So sprechen denn die in Betracht kommenden Thatsachen
übereinstimmend dafür, dass die Wormser Mauerbauordnung
von Bischof Theodalach also aus der Wende des neunten und
zehnten Jahrhunderts herrührt.
*) B-W VIII 46, 49 (Annal. Fuld. S. S. 1 p. 398, 401).
’) vgl.Waitz, Heinrich I S. 96, 97, Ranke, Weltgeschichte VIS. 134 ff.
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Anhang IV.
Zum Gerichtsstand der städtischen Immobilien.
Es ist oben *) nachgewiesen worden, dass alle Stadtbewohner
ihren allgemeinen Gerichtsstand vor dem Schöffengerichte
hatten, und dass nur in Folge besonderer Standesrechte ein-
zelne Personenclassen diesem Stadtgerichte in bestimmten
Fällen entzogen waren. Ebenso ist auch nachgewiesen, dass
dies Stadtgericht auch für Rechtstreitigkeiten über allen in der
Stadt gelegenen Grundbesitz competent war.*)
Es dürfte nun jedenfalls nicht unangebracht sein, eine be-
sondere Untersuchung der Prüfung der dieser Ansicht entgegen-
stehenden Behauptungen Arnolds, Sohms und Hoenigers
zu widmen. Die Theorien dieser Forscher stimmen, wenn sie
auch unter einander vielfach abweichen, doch darin überein,
dass nach ihnen für einen, jedenfalls nicht unbedeutenden, Teil
der städtischen Immobilien und daher auch für einen Teil der
Stadtbewohner besondere grundherrliche Gerichte bestanden
haben.
Arnold*) behauptet bekanntlich, dass vor den Stadt-
gerichten nur die Rechtssachen des freien Grundbesitzes
verhandelt seien, während über den zu Zins ausgeliehe-
nen Besitz der geistlichen Stifter deren grundherrliche Ge-
richte entschieden hätten. Er beruft sich4) zum Nachweis
») S. 252, 253.
*) a. S. 247, 248.
*) Eigentum S. 160, 161.
‘) a. a. 0. 3. 161, 162.
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399
dieser Ansicht hauptsächlich auf die Thatsache, dass wir,
insbesondere für Basel, eine grosse Anzahl von Urkunden be-
sitzen, in welchen Rechtsgeschäfte über geliehenen Besitz nicht
von den gewöhnlichen bürgerlichen, sondern von den geist-
lichen Gerichten, namentlich von dem bischöflichen Official be-
urkundet werden. Hier treten nun als die Inhaber des
geliehenen Besitzes meist Handwerker auf, während für die
von den städtischen Patriciern im 13. und 14. Jahrhundert
abgeschlossenen Rechtsgeschäfte vielfach vom Rat oder Schult-
heissengericht ausgestellte Urkunden vorliegen.1) Daraus schliesst
nun Arnold,*) dass die Handwerker eist am Ende dieser Pe-
riode, an welchem sie auch in den Rat gelangten, völlig von
den Schranken des Hofrechts und dem grundherrlichen Gerichts-
stände befreit worden seien.
Während sich Sohra3) diesen Ausführungen Arnolds an-
schloss, kam Hoeniger*) auf Grundlage der Kölner Schreins-
urkunden zu von diesen Arnoldschen Behauptungen abweichen-
den Ergebnissen. Hatte schon Ar nol d 3) die Vermutung geäussert,
dass sich in Städten, wie Köln, Mainz und Worms, die Entwicklung
des städtischen Immobilienrechts zu freieren Verkehrsformen
schneller abgespielt haben mochte als in Basel, so nahm Hoe-
niger geradezu zwei verschiedene Entwicklungsreihen an, von
denen nur die eine mit den von Arnold für Basel behaupteten
Forschungsergebnissen übereinstimme. Neben dem in , geist-
licher Hand und unter Hofrecht stehenden Gute“ habe es noch
besonderen „unter Stadtrecht stehenden Grundbesitz“ ge-
geben; derselbe sei aber bei Arnold, der nur Urkunden kirch-
licher Provenienz benutzte und das erst neuerdings erschlossene
Kölner bürgerliche Urkundenmaterial (Schreinskarten) noch
nicht kannte, ganz unberücksichtigt geblieben.*) Im Gegensätze
zu der Darstellung dieses Forschers glaubt Hoeniger betonen
zu müssen, „dass nicht das geistliche Gut zuerst in die Bahnen
einer freieren Entwicklung einlenkte, sondern dass die eigen-
‘) vgl. auch Heus ler Basel 8. 174, 176.
*) a. a. 0. S. 163.
*) Ztscbr. der Savigny-Stiftung f. Kechtsgesch. I (1880) 8. 49.
*) Conrads Jahrb. für Nationalök. Bd. 42 I. 8. 670 — 574.
*) vgl. Eigentum 8. 75, 164, 260.
*) Hoeniger a. a. 0. 8. 672.
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400
tümlicli städtischen Rechtsformen im Grundbesitzverkehr umge-
staltend wirkten zu einer Zeit, als noch das kirchliche Eigen-
tum iu den Fesseln des Hofrechtes lag.“ l)
Versteht man hier „unter den Fesseln des Hofrechtes“
nur die unter hofrechtlichen Verhältnissen üblichen Abgaben,
so wird aus dem in unseren Städten überlieferten Quellenstoffe
kein Einspruch gegen die Richtigkeit dieser Ansicht erhoben
werden dürfen. Freilich sind gerade die wichtigsten hofrecht-
lichen Abgaben, die Erbgebühren, in Speier 1111 und 1182
und in Worms 1114 ausdrücklich für alle Einwohner beseitigt
worden,*) und es findet sich keine Spur davon, dass sie etwa
von den Personen, welche geistliche Güter zu Zins inne hatten,
noch später erhoben wurden. Hingegen kann allerdings als
feststehend betrachtet werden, dass es im dreizehnten Jahr-
hundert in Worms Häuser gegeben hat, von welchen der hier
„Wandlung“ genannte Ehrschatz, d. h. eine an den Obereigen-
tümer bei Handänderungen des geliehenen Gutes zu leistende
Abgabe,*) erhoben wurde, und andere Häuser, die von dieser
Abgabe frei waren;4) diese Erscheinung wird aber wenigstens
mit einem gewissen Rechte mit der von Hoeniger consta-
tierten Unterscheidung von Stadtrechtsgut und geistlichem Be-
sitz in Parallele gestellt werden dürfen.*)
Nun kann man jedoch die Behauptung Hoenigers, dass
das kirchliche Eigentum , während das bürgerliche in die
Bahnen einer freien Entwicklung einlenkte, noch „in den
Fesseln des Hofrechts“ *) lag und sie erst im 14. Jahr-
hundert abgestreift habe,7) auch so verstehen, dass dies kirch-
') a. &. 0. S. 574.
*) vgl. oben S. 222—25, 229.
*1 vgl. über dieselbe Arnold Eigentum S. 70, 73 ff.
*) Es gebt dies daraus hervor, dass Personen, welche eine Rente auf
ihr Haus gelegt haben, 1297 das Recht erhalten, dieselbe anf andere Häu-
ser, de quibus . . . ius, quod vulg&riter dicitur wandelunge, non est dari
consuetum, zu übertragen, (W. D. 478), vgl. auch 462 und Baur Hess. Urk.
II N. 781 p. 780.
*) Auch Arnold (Eigent. S. 75) meint, hieraus schliessen zu kennen,
dass die Wandelung „in Worms von Anfang an nicht allgemein gewesen,
denn Ehrschatzablösungen waren in dieser Zeit noch selten.*
•) an der oben S. 399 N. 4 citierten Stelle S. 672.
*) ibid. : „Han kann im allgemeinen sagen, dass im 14. Jahrhundert
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401
liehe Eigentum bis dahin seinen Gerichtsstand vor beson-
deren grundherrlichen Gerichten gehabt habe. Diese
Auffassung liegt um so näher, als sich Hoeniger ja, soweit nicht
das von ihm sogenannte Stadtrechtsgut in Betracht kommt,
der Ansicht Arnolds angeschlossen hat;1) dieser Forscher
hat sich aber für exclusiven grundherrlichen Gerichtsstand der
von geistlichen Instituten verliehenen Güter ausdrücklich aus-
gesprochen.*)
Die Wichtigkeit des behandelten Gegenstandes mag es
entschuldigen, dass ich hier noch einmal auf den früher be-
sprochenen Fall des von zwei geistlichen Instituten abge-
schlossenen Grundstücksverkaufs vor dem Stadtgericht und der
Inanspruchnahme ebendesselben zur Entsetzung eines mit dem
Zinse säumigen stiftischen Hintersassen seitens seines Stiftes
erinnere.*) Ferner ist auch schon gezeigt worden, dass sich
das Verbot der Veräusserung von Immobilien auf dem Todten-
bette auf alle in der Stadt gelegenen Grundstücke bezog.4)
Endlich lässt sich nach weisen, dass sich die Stifter ihr Recht
auf Zinsbezug bei solchen Grundstücken , die sie zur Erbleihe
austhaten, von Rat und Stadtgericht, ausdrücklich bestätigen
Hessen.5)
das ursprünglich unter ungeschwächtem Hofrecht stehende geistliche Eigen-
tum auf diejenige Entwicklungsstufe gelangt ist, welche für das zu Stadt-
recht behandelte Bürgergut mit dem Stadtrecht selbst gegeben war.“
‘) ibid.
*) Eigentum S. 160, 161.
*) vgl. oben S. 247 N. 6. Besonders sei hier noch anf eine Urkunde Bischof
Beringers von Speier verwiesen (Remling N. 164). Danach hatten die dor-
tigen Canoniker, wenn sie sich behufs Einklagung der ihnen als Präbenden
zustehenden Einkünfte gegen ihre „censuales“ au das weltliche (Bericht
(iudicium saeculare) wandten, viele Zeit versäumt, bis sie ihr Recht durch-
gesetzt. Der Bischof erlaubte desshalb 1225, März 4, dass in solchem Falle
der Decan oder Vicedecan der Kirche den säumigen Ziusmann excommunicierc.
So gehörten also Klagen gegen censnales der Kirche unbestritten vor das
weltliche Gericht ; auch Beringer gestattet der Geistlichkeit nur Anwendung
geistlicher Zwangsmittel, um ihr Recht zu erlangen. Hier kann aber unter
weltlichem Gericht nur das Stadtgericht gemeint sein, in welchem eben da-
mals eine, unter Umständen Säumnis des Schuldners begünstigende, Änderung der
Modalitäten der Klagerhebung eingetreten war, (Sp. U. 44, vgl. oben S. 303, 304.)
*) oben 8. 261, 252.
*) Ausser dem schon oben S. 247 besprochenen Falle (Stumpf, Acta
Ko eh ne, Ursprung dar 8tadtverfa*saug in Worms, Speier and Heinz. SS
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402
Nun hat sich, wie erwähnt,1) Arnold*) zum Beweise der
Zuständigkeit besonderer grundherrlicher Gerichte für die zur
Erbleihe ausgethanen Grundstücke darauf berufen, dass zahl-
reiche Urkunden geistlicher Gerichte und ganz besonders solche
des Officials über Rechtsgeschäfte vorliegen , welche über ab-
hängigen Grundbesitz und unter gerichtlichen Formen vorge-
nommen sind. Solche Urkunden sind auch aus unseren Städten
erhalten.*)
Dennoch lässt sich gerade aus einer genaueren Betrach-
tung der Urkunden des geistlichen Gerichts ersehen, dass die
Vornahme von Rechtsgeschäften vor dem Offlcial nicht da-
durch zu erklären ist, dass er wie in der geistlichen, so
auch in der grundherrlichen Gerichtsbarkeit den Bischof ver-
treten habe.4) Schon Arnold5) selbst räumte ein, dass auch
in Sachen, in denen das bischöfliche Gericht an sich nicht com-
petent war, es als Schiedsgericht angerufen, und dass der
ergangene Schiedsspruch dann von dem Offlcial der Sicherheit
halber beglaubigt werden konnte. Die neuere Forschung hat
jedoch gezeigt, dass man sich im 13. und 14. Jahrhundert zur
Bekräftigung von Verträgen jeder Art an das Officialat
Magnat. N. 84), in welchem das Petersstift einen säumigen Zinsmann durch
ein Urteil des Schöffengerichts entsetzen und, als es ihm sein Zinsgut wieder
zurückgegebeu, die Urkunde von derselben Behörde besiegeln lässt, vgl. auch
noch W. U. 270, wo von einem einem Stifte gezahlten Grundzinse gesagt
wird : que nobis debetur singulis annis curia de eadem . . , ut plenius docere
possumus per litteram sigillo civitatis Wormatiensis munitam Vgl.
ferner für Worms W. U. 413, 416, Baur, Hess. Urk. II N. 669, Arnold Eigent.
S. 445, 470, für Speier 8p. U. 138 u. 535, für Mainz Baur ibid. III N. 947,
979, 980 etc.
*) s. oben 398, 399.
*) Eigent. S. 161, vgl. bes. auch die S. 261 ff. gegebenen Urkunden-
auszüge. Soweit es sich in den. Arnold’schcn Deductionen nur um specifisch
Baseler Verhältnisse handelt wie *. B. um die dortigen iurati ecclesiae, würde
die Erörterung der Gründe, aus denen ich ihm gegenüber meine abweichenden
Forschungsergebnisse aufrechterhalte, an dieser Stelle zu weit führen.
*) vgl. für Worms W. U. 270, 336, 466, 467, 473—476, Baur, He»
Urk. II N. 696, 638, 862, 871, für Speier Sp. U. 108, 118, 123, 147, für
Mainz Baur ibid. II N. 644, 688, V N. 508 etc.
*) Diese Ansicht, von der sich Arnold offenbar leiten lässt, ist von
Sohm an der S. 399 N. 3 erwähnten Stelle ausdrücklich ausgesprochen.
*) Eigent. S. 162.
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403
wandte, um bei etwaigen spateren Streitigkeiten sein Recht
auf ein ordnungsmässig ausgestelltes und untersiegeltes Docu-
ment stützen zu können.') Für diejenigen, welche von geist-
lichen Stiftern Grundstücke zur Erbleihe erhalten hatten, lag
es daher nahe, die verschiedenen Geschäfte, die mit diesen
Gütern vorgenommen werden konnten, wie Erbteilungen, After-
leihe, Verkauf vor dem geistlichen Gerichte vorzunehmen und von
demselben beurkunden zu lassen. Ebenso konnten auch die Stifter
ihre eigenen Verleihungen durch eine von ihnen selbst oder
vom Official ausgestellte Urkunde sichern ; doch haben sie sich
auch nicht selten eine Urkunde des weltlichen Gerichts über
ihre Verleihungen verschafft.*)
Die Ursache, aus welcher die Rechtsgeschäfte über Immo-
bilien vor den geistlichen Gerichten vorgenommen werden
konnten, liegt darin, dass die wirkliche gerichtliche Auflassuug,
die Auflassung vor dem Stadtgericht*), damals noch nicht obli-
gatorisch war.1)
*) S. darüber bes. die schönen Ausführungen Schulte'« in Strassb.
Urkb. Bd. III S. XIV — XXIX. Danach wurden vom geistlichen Gericht Ur-
kunden über jede Art von Rechtsgeschäften beglaubigt (a. a. 0. S. XXVII,
XXXIII ff.); ferner wird in Strassburg beim städtischen Gericht eiue vom geist-
lichen Gerichte gesiegelte Urkunde ebenso zum Urkundeubeweis zngelasseu,
wie wenn sie mit dem Stadtsiegel beglaubigt ist (a. a. 0. S. XXII). Endlich
war zeitweise „das bischöfliche Hofgericht fast die einzige Urkuuduugsbehiirde“
im Bistum Strassburg, während gerade damals „die Beurkundung von Rechts-
geschäften Regel, die Nichtbeurknndung Ausnahme war.“ (a. a. 0. S. XXVII.)
Vgl. auch B ress lau, Urkl. S. 638: „Höhere richterliche Behörden, weltliche und
geistliche, und unter letzteren besonders die bischöflichen Hofgerichte haben
Rechtsgeschäfte aller Art, die vor ihnen verlautbar wurden,
. . beglaubigt.' Ähnliches sagt in Bezug auf die Officialate in Fraukreieh
Fournier in Biblioth. de l'ecole des ebartes i 40 (Paris 1879) p. 309.
«) vgl. oben S. 401 N. 5.
') Dass die Leihe, welche nicht vor dem Stadtgericht geschah, nur als
„aussergerichtlicher Akt* betrachtet werden kann, hat auch schon v. Below
Hiat. Ztschr. N. F. Bd. 22 (1887) 8. 242 erkannt.
') Dafür, dass die gerichtliche Auflassung wenigstens in Suddeutschland
bis zum Ausgange des Mittelalters nicht obligatorisch war, vgl. Brunuer
in v. Holtzendorffs Encyclop. d. Rw. (Leipz. 1889) S. 274, Stobbe in Iherings
Jahrb. f. Dogm. des Prvtrs. Bd. XII (1873) S. 166; cf. auch Heusler Inst.
II S. 88 ff Über die entgegenstehende Ansicht Sohms bezüglich der südd.
Bischofsstädte vgl. die unten folgenden Ausführungen.
S8*
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404
Wohl mochte besonders da, wo Einspruch von Erben zu
befürchten war,1) die Vornahme der Auflassung im Schöffen-
gericht, das ja bei Rechtsstreitigkeiten über diese Grundstücke
entschied , sehr wünschenswert erscheinen. In anderen Fällen
aber konnte man sich auch mit hinreichender aussergerichtlicher
Beglaubigung des geschehenen Rechtsgeschäfts begnügen. Statt
an Schultheiss und Schöffen wandte man sich dann an andere
Personen. So haben wir z. B. aus dem Anfänge des dreizehnten
Jahrhunderts eine Urkunde, nach welcher man eine Gutsüber-
tragung in einer Synode vornahm und dann vom Bischof beur-
kunden Hess.“) So konnte man denn die Rechtsgeschäfte über
Immobilien auch von den geistlichen Gerichten und besonders
dem Official beglaubigen lassen.5)
Daraus , dass man sich dieser Form der Beglaubigung
vielfach bei Rechtsgeschäften über Immobilien der geistlichen
Stifter bediente, kann also nicht geschlossen werden, dass diese
Güter oder gar die Paciscenten 4) vor dem Official ihren
ordentlichen Gerichtsstand gehabt hätten.
Als sicheren Beweis für die Unrichtigkeit dieser Ansicht
können wir die Urkunden betrachten, in welchen Stadtgericht
und geistliches (also nach Arnold, Sohm und Hoeniger hier
als grundherrlich thätiges) Gericht zugleich in ein und dem-
selben Documente ein über Grundbesitz abgeschlossenes Rechts
geschäft bestätigen.5) Demnach kann man gewiss nicht an-
nehmen, dass zwei verschiedene Arten von Grundbesitz in den
') vgl. Heu s ler Instit. II S. 88 n. oben S. 261, 262.
*) W. U. 133 : coram nobis iu public« sinado . . . tradidit.
*) Es sei hier noch speciell auf die bei Boos Urkb. S, 224 Note erwähnte
Urkunde verwiesen, ein Vidimus de« bischöflichen Hofgerichtes zu Worms,
das man sich über eine kaiserliche Urkunde, die in Worms gelegene Reichs-
lehen betraf, geben lies«. Auch sei zum Nachweis, dass das geistliche Ge-
richt auch Urkunden über Grundbesitz ausstellte, wo es sich gewiss nicht
um in geistlichem Obereigentum stehenden Grundbesitz handelt, auf Banr
Hess. Urk. V N. 109, 228, S. 390 Note a. 1282, N. 484, 495 verwiesen.
‘) wie nach dem oben S. 35 u. S. 398 angeführten Arnold meint.
•) Sp. U. 338: Nos iudices curie Spirenses nosque iudices, consules et
universi cives Spirenses beurkunden eine Schenkung von Grundbesitz, vgl.
auch Sp. U 165, W. U. 478. In Sp. U. 151 wird über einen, schon vor dein
weltlichen Gerichte abgeschlossenen, Verkauf noch eine besondere Urkunde des
geistlichen Gerichts aufgenommen.
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405
Städten, eine, welche vor den bürgerlichen, und eine andere,
welche vor den grundherrlichen Gerichten ihren Gerichtsstand
gehabt, unterschieden werden müssen.
Ein Wort sei noch in Bezug auf die Ansichten Soli ms in
dieser Frage gestattet, welche derselbe bei Gelegenheit der
Untersuchung des Ursprungs der obligatorischen Auflassung ge-
äussert hat.1) Dieser Forscher lässt den kleinen städtischen
Grundbesitz „in weitaus den meisten Fällen aus ursprünglich hinter-
sftssigen Verhältnissen“ hervorgehen. Der Bischof habe in Folge
seiner Grundherrschaft das Recht der Mitwirkung bei Übertragun-
gen jenes geliehenen Gutes besessen, das sich allmählich in Eigen-
tum verwandelt habe. So sei denn aus der grundherrlichen
Mitwirkung bei Grundbesitzübertragnngen eine obrigkeitliche
geworden und namentlich auch die Auflassung im Gerichte des
bischöflichen Offlcials entstanden, „welcher mit der geistlichen
auch die grundherrliche Gerichtsbarkeit des Bischofs“ aus-
geübt habe.
Es ist in der That zuzugeben, dass in unseren Städten ent-
schieden in älterer Zeit der gesammte Grundbesitz der kirch-
lichen familia, also wohl der überwiegende Teil der Stadt, als im
Obereigentume des Bischofs stehend angesehen wurde.*) Allein
nicht nur, dass die Besitzungen auswärtiger Klöster in der
Stadt wohl jederzeit und diejenigen der zur Diöcese gehörigen
Stifter und Klöster seit dem elften Jahrhundert vom Bischof
und bischöflichen Hofgericht mehr oder minder unabhängig
waren,*) es gab ja immer auch noch freien Grundbesitz in un-
seren Städten.4)
Bnrchards Verordnung, dass der der familia gehörige Grund-
besitz nicht an ausserhalb der familia stehende Personen ver-
äussert werden sollte,') ist schwerlich lange aufrecht erhalten
*) Ztachr. <1. Savigny-Stft. I S. 49.
’) vgl. oben S. 34, 35.
*) S. oben S. 248 N. 2; vgl. auch z. B. W. U. 76 a. 1160, wo bei der
erblichen Verleihung eines dem Kloster Lorsch gehörigen Hofes der Wormser
Bischof nur als Zeuge erscheint.
4) Vgl. oben S. 32, 33. Dass es — wenn auch nur vereinzelt — in
unseren Stödten im dreizehnten Jahrhundert auch wieder zu Lehen ausgetbanen
Reichsbesitz gab, geht aus W. U. 345 hervor.
») S. oben S. 34, 35.
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406
worden. Die diesen Grundbesitz betreffenden Rechtsgeschäfte
wurden ja vor dem Schöffengerichte abgeschlossen. Allerdings
fand dasselbe unter Vorsitz des Vogt-Burggrafen und Schult-
heissen, mitunter auch des Bischofs selbst statt ; *) ebenso hatte
dieser auch auf die Einsetzung der Schöffen selbst Einfluss ge-
wonnen. Allein vor eben diesem Schöffengericht wurden auch
die Rechtsgeschäfte des freien Grundbesitzes abgeschlossen und
hier hatten alle Stadtbewohner ihren Gerichtsstand.*) Ferner
hatten sich die Beamten und noch mehr die Schöffen stets eine
gewisse Selbständigkeit gewahrt; insbesondere vertrat das vor-
zugsweise mit Kaufleuten besetzte Schöffencolleg die Rechts-
anschauungen dieses Standes.
So hat denn der Umstand, dass die geistlichen Stadtherrn
lange Zeit auf das Stadtgericht grossen Einfluss hatten, und
dass sie zugleich auch in älterer Zeit Eigentümer eines grossen
Teils der Stadt waren, mit der späteren Sitte der Grundstücks-
übertragung vor dem Official gar nichts zu thun. Als gericht-
liche Auflassung kann nur die vor dem Stadtgericht vorgenommene
betrachtet werden. Diese aber war in unseren Städten
wenigstens vom 11. bis 14. Jahrhundert nicht obligatorisch. Es
lässt sich nicht einmal behaupten, dass sie entweder vor dem
Schöffengerichte oder dem geistlichen Gerichte stattfinden musste,
da sich auch reine Privaturkunden über mit Grundbesitz vor-
genommene Rechtsgeschäfte finden.*)
*) S. W. D. 127 S. 99 p. ö: hanc curtis donationem coram epis-
copo et consiliariis Wormaciensibus publice ac solempniter celebratam, vgl.
W. U. 184, 201, 344, 360, 372.
*) Sonst hatte Burchard nicht für alle Einwohner seiner Stadt process-
und strafrechtliche Bestimmungen treffen können, vgl. oben S. 33 mit N. 1.
*) S. z. B. W. U. 76, 385, Sp. U. 82. Vgl. auch die Ergebnisse der
Forschungen Bogenthal’s für Würzburg (Z. Gesch. d. Eigentums i. W.
1878 S. 69—61) und Schulte’s für Strassburg a. a. 0. S. XXI, XXII).
Letzterer sagt in Bezug auf diesen Ort für die Zeit von 1226—1330: ,1) Eine
Beurkundung der privatrechtlichen Geschäfte wird Begel. Ein Zwang ist
nicht vorhanden. 2) Die Art der Beurkundung ist ganz frei. Es finden sich
nebeneinander I’rivaturkunden und öffentliche Urkunden.“ Soweit aus dem
gedruckten Material für unsere drei Städte Schlüsse gezogen werden können,
dürften auch für sie diese beiden von Schulte für Strassburg aufgestellten
Satze richtig sein.
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Anhang V.
Die Urkunden König Heinrichs für Worms vom
August 1232.
Der Streit der Wormser mit ihrem Bischof 1232 bildet
eine der interessantesten Episoden der Wormser Verfassungs-
gesehichte und steht zugleich durch das Eingreifen Kaiser
Friedrichs II. und seines Sohnes König Heinrichs (VII.) im
engsten Zusammenhänge mit der allgemeinen Reichsgeschichte.
Wohl sind die Wormser Vorgänge von 1232 schon oft Gegen-
stand historischer Untersuchung gewesen und gerade der
Gegensatz, in welchem die beiden Urkunden König Heinrichs
vom 3. und 4. August1) stehen, hat Arnold, Schirrmacher,
Winkelmann, Dargun und Ficker*) zu eingehenden und
scharfsinnigen Forschungen Anlass gegeben. Dennoch dürfte
es wohl angebracht sein, diese beiden Urkunden einer neuen
Untersuchung zu unterwerfen. Von den drei Forschern, die
sich zuletzt mit diesem Gegenstände beschäftigt haben , ist
ja der eine, Ficker,*) zu keinem festen Ergebnisse ge-
kommen, und den, sich übrigens widersprechenden, Behaup-
*) W. D. 167, 158, vgl. oben S. 323, 324.
*) vgl. Arnold V. G. II S. 26 — 28, Schirrmacher Friedrich II
(Gött 1859) IS. 210 — 213, Wink el mann Friedrich II (Berlin 1863) IS. 429,
Forsch. *. D. Geschichte I 30 (Winkelmann), XI 333, 334 (Schirrmacher),
XIX 353 — 372 (Dargnn), Mitteil. d. Instit. f. »sterr. Geschichtsforsch. II
(1881) S. 179—221 (Ficker).
•) a. a. 0.
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408
tungen der beiden anderen, Schaube1) und Köster*), kann
durchaus nicht zugestimmt werden.
Sowohl der allgemeine Gang der Wormser Verfassungs-
entwicklung als die Reichsgeschichte, insbesondere das Ver-
hältnis Friedrichs II. zu seinem Sohne, darf hier wohl als be-
kannt vorausgesetzt werden.5) Dagegen wird es nützlich sein,
auch die Urkunde Heinrichs vom 8. August*) in den Kreis
unserer Betrachtung zu ziehen. Fassen wir jetzt kurz den
Inhalt der drei erwähnten Urkunden zusammen.
1) Am 3. August4) bestätigt König Heinrich in Berück-
sichtigung der ihm und seinen Vorfahren geleisteten treuen
Dienste den Wormsern die sämmtlichen Rechte, welche sie von
Friedrich I., Heinrich VI. und Friedrich II. erhalten haben.
Wer diesen Privilegien entgegentrete, solle der königlichen
Gnade verlustig gehen und eine Strafe von 100 Pfund Gold
zahlen müssen, welche zur Hälfte an die königliche Kammer,
zur Hälfte an den Verletzten fallen solle. Diese Urkunde nennt
zahlreiche Fürsten als Zeugen.
2) Auf Antrag seiner Räte, so schreibt Heinrich am
4. August8) den Wormsern, hebt er alle Ratsversammlungen
(consilia) und Brüderschaften zu Worms auf und befiehlt den
Wormsern, in der Zukunft von solchen Einrichtungen zu lassen.
Auch schickt er den Erzbischof von Mainz , den Markgrafen
von Baden und Gerlach von Büdingen zu ihnen, damit diese
zusammen mit dem Bischof von Worms die Lage der Stadt zu
des Kaisers und des Reiches Ehre ordnen. Ihren Anordnungen
sollten die Wormser ohne Widerstand7) gehorchen.
3) Am 8 August schreibt Heinrich seinen getreuen Worm-
sern,8) dass er den Frieden zwischen ihnen und ihrem Bischof
>) Worms S. 299 N. 4.
*) 8. 103-105.
*) vgl. oben 8. 320 ff.
*) W. U. 160.
•) U 167.
•) U 158.
*) Das re . . . atione am Schlosse dieser Urkunde (Boos Urkb. 8. 119
Z. 21) ist jedenfalls nicht, wie es von Boos geschieht, an remuneratinne,
sondern entweder zu refr&gatione oder, was aber wohl unwahrscheinlicher
ist, zu recnsatione zu ergänzen.
■) U 160.
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409
vermittelt habe, indem er wünsche, dass sie Rat und Brüder-
schaften auf seinen Rat auflösen und die Gerechtigkeit des über
sie ergangenen Bannes bei ihm und seinem Hofrat beschwören
sollten. ') Er habe beschlossen, am 29. August seine Vertrauten,
den Erzbischof von Mainz, den Markgraf von Baden, Gerlach
von Büdingen nnd den Truchsess Eberhard von Waldburg zu
ihnen zu schicken; diese sollten unter ihnen einen Vergleich zu
Stande bringen, der jeder Partei erträglich scheine.
Nachdem schon der früheren Litteratur*) der Widerspruch
zwischen den beiden Urkunden vom 3. und 4. August aufge-
fallen war, glaubte Arnold’) diesen Widersprach dadurch er-
klären zu können, dass er der ersten der beiden Urkunden
lediglich formell juristische Bedeutung zuschrieb. In Folge des
königlichen Privilegs, welches die Verletzung der städtischen
Rechte verbot, sei „die Busse, in welche die Stadt wegen ihres
Ungehorsams gegen das Edikt* (von Ravenna) „verfallen war,
jetzt durch die Busse aufgewogen, welche der Bischof wegen
Verletzung der städtischen Privilegien verwirkte.“ Dabei geht
Arnold davon aus, dass Heinrich in der Urkunde vom
3. August nicht Wie in der vom 17. März versprochen, die
Privilegien der Stadt zu erhalten, sondern er habe nur deren
Verletzung verboten.
*) So glaube ich die schwer verständlichen Worte: volentes, ut cousilium
vestrum et confraternitates vestras dimittatis super consilium et iuretis bauni
iosticiam super nos et consilium nostrura Ubersetzerf zu mUsaeu. Zur Auf-
fassung von inrare super vgl. Ducange IV 462 iurare super animara suam,
über den damals schon gewisser Massen als organisierte Behörde bestehenden
Hofrat vgl. Isaacsohn, de consilio a Friderico II in Germania constituto
(Berol. 1874) p. 10—16. Schirrmacher Friedr. II S. 213 übersetzt: Es
ist unser Wille, dass ihr den Eid schwört, bei Meidung der Acht uus
und unserem Rate Folge zu leisten.“ Die Wormser sind aber bereits seit Mai
1232 in der Reichsacht (vgl. oben S. 323). Winkelmann Friedr. II S. 429
erklärt die Auslegung Schirrmacher’s für irrig, will aber die Urkunde
so verstehen, die königliche Commission solle „am 29. August an die Stelle
des bisherigen Stadtrates als interimistische Verwaltungsbehörde treten nnd
die Bürgerschaft soll ihr desshalb schwören.“ Das liegt aber gewiss nicht
in den oben citierten Worten und widerspricht auch dem Schluss der Ur-
kunde: dictis familiaribus nostris credatis in biis, quae vobis dixerint
et praeceperint facienda.
*) Hegel, Gesell, d. Städtevrfssng. in Italien (Leipz. 1847) II S. 430 N. 1.
') II 28.
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410
Heinrich bestätigt aber ausdrücklich alle Rechte und Pri-
vilegien, also auch den Bestand des Rates, der den Wormsern
in der von Heinrich für echt gehaltenen Urkunde Friedrichs I.
vom 20. Oktober 1156') verliehen war. Ausserdem lässt sich in
der von Franklin*) gesammelten Praxis des Reichshofgerichts
kein einziger Fall ermitteln , in welchem einem Angeklagten
die Rechte, welche ihm durch Rechtsspruch aberkannt waren,
nachdem er schon wegen Ungehorsams gegen diesen Rechts-
spruch in die Acht gethan, noch einmal bloss zu dem Zwecke
bestätigt werden, dass er sich nun der endlichen Aberkennung
dieser Rechte leichter füge.
Der Ansicht Arnolds steht die von Schirrmacher*) ge-
äusserte sehr nahe, der meint, dass „die Wormser Sache sich
durch das königliche Schreiben vom 17. März so heillos ge-
staltet habe, dass der König, um allen Teilen gerecht zu wer-
den, einen Ausweg sophistischer Art einschlagen musste, der
dem gesunden Menschenverstand der Wormser nicht einleuch-
tete und dem König bei der Nachwelt den Vorwurf der Doppel-
züngigkeit einbrachte.“
Später hat Schirrmac her4) diese Ansicht wieder aufge-
geben und den ganzen Widerspruch zwischen den beiden Ur-
kunden für einen scheinbaren erklärt; er meint, dass sich die
behandelten Urkunden garnicht widersprechen. Dass insbe-
sondere die von Friedrich I. angeblich gegebenen und von
Heinrich am 3. August bestätigten Privilegien durch die beiden
Mandate nicht vernichtet werden, glaubt Schirrmacher daraus
schliessen zu können, dass diese Urkunde Friedrichs I. „trotz
der im Februar 1233 zwischen dem Bischof und den Bürgern
getroffenen Übereinkunft und der Umbildung der städtischen
Verwaltung von Friedrich II. 1236 5) nochmals confirmiert“ wurde.
Hier wird aber zunächst das Privileg Friedrichs I. nur
mittelbar als ein in ein anderes (dasjenige Friedrichs II. von
1220) transsumiertes bestätigt. Dann gehört aber das Privileg
•) ü 73 vgl. oben S. 267 ff., 322.
’) Reichshofgericht i. Ma. (Weimar 1869), vgl. auch desselben Sententise
curiae regiae (Hannover 1870).
*) Friedrich II Bd. I S. 213.
4) Forsch, i. D. G. XI 333, 334.
*) ü 182.
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411
zu einer Anzahl von damals ausgestellten Städteprivilegien ;') in
denen Friedrich nur als Kaiser seine Verleihungen aus seiner
Königszeit confirmierte.*) Damals mochten in der That die
Kanzleibeamten nicht prüfen, ob einzelne Bestimmungen der
Privilegien inzwischen antiquiert waren. Ebenso kann auch
dagegen, dass in der Urkunde vom 3. August die Zeugennamen
erschlichen oder gefälscht seien — selbst wenn dies nicht der
Fall ist — der Umstand nicht angeführt werden, „dass diese
Urkunde von König Adolf 1293 s) wörtlich wiederholt wurde.“4)
Bei der, nach jedem Regierungsantritt üblichen Bestätigung der
ihnen vorgelegten früheren Privilegien haben die Könige und
ihre Kanzler keine historisch-diplomatisch-juristischen Studien
gemacht, um sich der Echtheit und Rechtsgültigkeit von,
vor mehr als 70 Jahren erlassenen, Privilegien zu versichern.
Kaum zu erwähnen brauchen wir hier die Erklärung,
durch welche Huillard-Bröholles5) die Widersprüche der
beiden Urkunden zu erläutern sucht. Heinrich habe aus Furcht
vor seinem Vater die am 3. gemachten Zugeständnisse schon
am 4. zurückgenommen. Winkelmann8) wendet dagegen mit
Recht ein, es sei nicht abzusehen, warum sich der König nicht
schon am 3., sondern erst am 4. August gefürchtet habe.
Aber auch Winkelmann ist der Ansicht, dass Heinrich nur
die Urkunde vom 3. August aus eigenem Willen erlassen habe.7)
Zu dem Mandate vom 4. sei er durch die Fürsten gezwungen
worden. Wenn in der Urkunde vom 3. zahlreiche Fürsten als
Zeugen genannt werden, so müsse dies Zeugnis „erschlichen
oder gefälscht sein; denn die Fürsten wiesen Heinrich sofort
zurecht, instrncti de plenitudine consilii musste er am
*) U 124.
*) Vgl. B-F 2144, 2161, 2162, 2167, 2189. Insbesondere sind auch noch
die politischen Verhältnisse von 1236 — Friedrich hatte damals den Wormser
Bischof aus seiner Besidenz vertrieben — in Rechnung zu ziehen, vgl.
oben 8. 331.
*) U 452.
*) Schirrmacher Forsch. XI S. 333 meint, dies wäre nicht „denkbar“,
wenn die Urkunde gefälscht oder erschlichen wäre.
*) Hist. dipl. Friederidi II t. IV p. 581 n. 1.
*) Friedrich II S. 429 N. 1, Forsch, z. D. ö. I 30 N. 1.
’) a. a. 0.
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4. August den Stadtrat aufheben.“ Ob die Zeugeuliste schon
mit dem übrigen Inhalte der Urkunde in der königlichen
Kanzlei entstanden oder erst später der fertigen Urkunde
hinzugefttgt sei, darüber hat sich Winkel mann nicht aas-
gesprochen.
Die Ansicht, dass die Zeugeunamen der Urkunde erst
später beigefügt worden seien, um ihr grössere Rechtskraft zn
verleihen, wird dadurch ausgeschlossen, dass das Original dieses
Privilegs in Worms erhalten ist und von keinem der zahlreichen
Gelehrten, die dasselbe gesehen, Zweifel an seiner einheitlichen
Niederschrift erhoben sind. So bleibt nur die Auffassung von
der Ansicht Winkelmann’s, Heinrich habe durch seine Kanzlei-
beamten die Urkunde anfertigen und dolos mit den Unter-
schriften nicht einwilligender Zeugen versehen lassen. Bei
dieser Auffassung bleiben aber noch immer unvereinbare Wieder-
sprüche zwischen den beiden Urkunden vom 4. und 8. August,
die unten noch näher beleuchtet werden sollen. Ausserdem
stehen aber dieser Erklärung Winkelmanns noch eine Reihe
schon von Dargun1) geltend gemachter Einwürfe entgegen.
Es ist zunächst unwahrscheinlich, dass die Fälschung vom
3. schon am 4. in Frankfurt , wohin die Kunde doch über
Worms hätte kommen müssen, bekannt war. Ferner ist es
höchst auffallend, dass die ungültige Urkunde nicht zurück-
gefordert und cancelliert, ja nicht einmal in dem Mandate
vom 4. erwähnt worden ist s) Aus welchem Grunde hätte
sich endlich Heinrich der ihm drohenden Demütigung aus-
setzen sollen, die eintreten musste, sobald die Fürsten von
der Fälschung ihrer Unterschriften erfuhren.
So sind denn in der That die beiden Urkunden vom
3. und 4. unvereinbar, und Dargun kam desshalb zu dem
Schlüsse, dass die Urkunde vom 3. Arbeit eines Wormser
Fälschers sei. Diese Ansicht suchte er nun namentlich auch
■) Forsch. XIX 368, 359.
*) In der Urkunde, in welcher Heinrich »ein Privileg fftr Verdun, von
den Fürsten gezwungen, widerrufen musste, wird die frühere Urkunde aus-
drücklich für ungültig erklärt (s. Huill.-Brfeh. 111 p. 327, B-F 4059) ; dasselbe
finden wir in dem ganz ähnlichen Falle der Rücknahme der den Bürgern
von Cambray erteilten Privilegien seitens Friedrichs II (s. Huill.-Brih. I 406,
B-F 816).
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durch Hervorhebung einer Reihe von Unregelmässigkeiten in
der Zeugenliste der Urkunde wie z. B. des Voranstehens eines
Teils der geistlichen Zeugen vor den weltlichen zu erweisen.1)
Es ist jedoch nicht nötig, auf die von Dar gun angeführten
Beweisgründe, soweit sie sich auf die Form der Zeugenliste be-
ziehen, näher einzugehen. Dass aus ihnen die Unechtheit der
Urkunde nicht gefolgert werden kann, hat ja einer der ersten
Meister der Diplomatik, Ficker,*) schon überzeugend nachge-
wiesen. Auffallend bleibt es nach den Ausführungen dieses
Forschers nur , dass man hier die Namen von Fürsten unter
den Zeugen einer Urkunde fiudet, die der Politik dieser Für-
sten auf das heftigste widersprach.*) Von einer Fälschung der
Urkunde kann aber nach Ficker4) eigentlich keine Rede sein,
da die Zeugen in Deutschland nur in seltenen Ausnahmsfällen
eigenhändig unterschrieben. Auch steht es gar nicht fest, dass
die Zeugen im dreizehnten Jahrhundert auch nur von allen Ur-
kunden Kenntnis erhielten , unter die ihr Name gesetzt wurde.
Gerade bei blosser Erneuerung früherer Privilegien mag sich
der Brauch entwickelt haben, dass man einfach die am Hof
anwesenden Grossen in der Confirmationsurkunde als Zeugen
nannte, ohne sie ihnen überhaupt vorher zur Kenntnis zu bringen,
da ja im allgemeinen bei Ausfertigungen dieser Art die all-
seitige Zustimmung nicht zweifelhaft sein konnte. Die „Er-
schleichung des Zeugnisses hätte“ daun — wenn man doch
noch von einer solchen reden will — hier „nur darin gelegen,
dass mau eine üblich gewordene oberflächliche Behandlung auch
in einem Einzelfalle anwandte, wo man sich bewusst sein musste,
dass die Voraussetzungen, welche sie im allgemeinen entschul-
digen konnten, nicht zutrafen.“ *)
Bei dieser Auffassung der Zengenunterschriften ist es auch
ganz glaublich, dass die Fürsten sich mit dem reellen Siege
des Wormser Bischofs begnügten und nicht wieder, wie es bei
dem Processe Verduns geschehen war,8) die Auslieferung des
*) a. a. 0. S. 360 ff.
*) an dem oben S. 407 N. 2 angeführten Orte.
•) a. a 0. S. 180.
•) ibid.
h) Picker a. a. 0. S. 182.
*) vgl. die oben 8. 412 N. 2 citierte Stelle.
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königlichen Privilegs verlangten. Ficker kommt auch dem-
gemäss zu demselben Resultat, wie Winkel mann, dass zur Er-
klärung des Widerspruches der beiden Urkunden vom 3. und
4. August der Gegensatz zwischen der vom Kaiser begünstigten
Politik der Fürsten und den persönlichen Absichten des Königs
vollkommen ausreiche. Jedoch lässt Ficker hier noch die
Möglichkeit offen, dass die Erklärung auch „in anderer Rich-
tung“ gesucht werden könne. l) Später hat er sich freilich mit
noch grösserer, wenn auch noch nicht mit voller, Sicherheit für
Winkelmanns Ansicht ausgesprochen.*)
Dagegen hat sich Schaube*) wieder für die Arnold 'sehe
Ansicht erklärt, die beiden Urkunden seien nicht als Folge des
Gegensatzes zwischen der Politik des Königs und der der
Fürsten zp betrachten, sondern als zusammengehörig, als ge-
wisser Massen gemeinsam die „Basis“ feststellend, „auf der die
Verhandlungen erfolgen sollten.“
Noch weniger als dieser Ansicht,4) kann der von Köster5)
aufgestellten zugestimmt werden. Dieser schliesst sich zwar
den Ausführungen Fickers an, dass die Unechtheit der Ur-
kunde vom 3. August nicht aus angeblicher Unechtheit ihrer
Zeugenliste allein geschlossen werden könnte, behauptet aber,
dass diese Urkunde dennoch aus formalen Gründen für eine
Fälschung gehalten werden müsse. Er vergleicht dies Privileg
nämlich mit einigen anderen, Worms betreffenden, Urkunden
Heinrichs (VII)8) und findet dabei, dass es in Folge des Be-
sitzes eines Chrismon, einer Iuvocation, der Formel „divina
favente clementia“, ferner des Fehlens der Adresse, sowie seines
weitläufigen Datums und seiner Signumszeile wegen für „sehr
verdächtig“ angesehen werden müsse. Alle die genannten
Merkmale seien aber den Wormser Urkunden der Heinriche
aus dem Salischen Hause eigen; Köster’) vermutet daher, dass
*) Mitt. des Instituts II S. 179.
») s. B-F 4246.
*) Worms S. 299 N. 4.
4) vgl- gegen dieselbe die oben S. 410 gegebenen Ausführungen.
•) S. 103—105.
•) nämlich W ü 154, 158, 160
') S. 105.
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der Wormser Fälscher „in naiver Weise“ eine solche bei Her-
stellung unserer Urkunde als Vorlage benutzt habe.
Köster hat nun aber den unter den Urkunden der Staufer-
zeit zwischen Privilegien und Mandaten zu machenden Unter-
schied *) garnicht in Rechnung gezogen. Die von ihm zum Ver-
gleich herangezogenen Urkunden Heinrichs sind sämmtlich Man-
date, während die Urkunde vom 3. August 1232 zu den aus der
Kanzlei dieses Herrschers hervorgegangenen Privilegien ge-
hört. Vergleicht man sie mit einem anderen Privileg König Hein-
richs (VII.) z. B. mit dem an Speier 1234 Dezember 21*) er-
teilten, so findet man hier sämmtliche Merkmale, von denen
Köster annimmt, dass sie nur der salischen, nicht der staufischen
Kanzlei eigen gewesen.8)
So muss also der Versuch, die Unechtheit der Urkunde
vom 3. August nachzuweisen , jedenfalls als völlig missglückt
angesehen werden. Aber auch durch die von Winkelmann
aufgestellte, von Ficker als wahrscheinlich bezeichnet« Er-
klärung scheint mir die Frage noch nicht gelöst zu sein. Zu-
nächst wird es immer schwer begreiflich bleiben, dass schon
am 4. in der königlichen Kanzlei ein, dem am Tage vorher
gegebenen Privileg, das richtig nach Worms gesandt wurde,
so widersprechendes Mandat ausgefertigt werden konnte.
Ferner ist der zwischen den beiden Mandaten vom 4. und
8. August vorhandene Widerspruch zu berücksichtigen.
Gemeinsam sind beiden Urkunden nur die Aufhebung des Stadt-
rats und der Innungen. Aber sonst, welche Verschiedenheit! Am
4. August nimmt der König den Wormsern ihren Rat und
ihre Innungen (auferimus), und eine Commission von drei Per-
sonen wird nach Worms geschickt, um mit dem dortigen Bi-
schof zusammen die Lage der Stadt zu ordnen. Den
Bürgern wird aufgegeben, den Anordnungen dieser Commission
in allem zu gehorchen. Am 8. August schreibt der König
den Wormsern, er habe sie mit dem Bischof versöhnt. Ferner
') vgl. über diese wichtige Unterscheidung Ficker Beiträge zur Ur-
kundenlehre II (Innsbr. 1878) § 194 S. 6—7 u. Bresslau UrkL 8. 66—59.
*) 8p. U 53.
*) Auch die von Kaiser Friedrich II der Stadt Worms 1220 und 1236
erteilten Privilegien (W U 124 u. 182) zeigen gerade dieselben Merkmale,
um derentwillen Köster das Privileg Heinrichs für unecht erklärt.
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416
schickt Heinrich jetzt zwar wieder eine Commission nach Worms;
in ihr ist aber zu den drei Personen der vorigen Urkunde
noch eine vierte gekommen, und die so zusammengesetzte Com-
mission erhält den Auftrag den Ausgleich so zu treffen,
dass er beiden Parteien erträglich erscheine. Der König
befiehlt den Bürgern, zu allen Erklärungen und Vorschriften
seiner Abgesandten Vertrauen zu haben.
Die Stellung und Aufgabe der Commission ist also nach
dieser Urkunde eine ganz andere. Ausserdem können wir aus
ihr schliessen, dass eine förmliche Aussöhnung zwischen Bi-
schof und Vertretern der Bürger stattgefunden hatte; dieselbe
ist aber nicht in Worms, sondern in Frankfurt vor sich ge-
gangen, weil sonst der König sie der „Universitas civiiun Wor-
matiensium“ nicht hätte mitzuteilen brauchen. Das Mandat
vom 4. enthält aber keine Anzeichen einer solchen Versöhnung;
es müsste also, da darin als bestimmt angenommen wird, dass
in den auf den vierten folgenden Tagen auch der Bischof in
Worms ist,1) die zwischen dem 4. und 8. liegende Aussöhnung
in Worms selbst geschehen seien. Ferner ist auffallend, dass
in der Urkunde vom 8. auch der Erzbischof von Mainz zu den
familiäres des Königs gezählt wird, während in der Urkunde
vom 4. zwar Baden und Büdingen familiäres nostri genannt
werden, der Erzbischof von Mainz aber mit dem Titel dilectus
princeps noster den familiäres vorangestellt wird.
Auf die richtige Spur zur Erklärung dieser Ungleichheit
führt uns die Art. der Überlieferung der drei von uns hier be-
trachteten Urkunden.*) Mindestens seit der Zeit, in der ein
eigenes Stadtsiegel von Worms nachweisbar ist (1198), bestand
zu Worms ein eigenes Stadtarchiv, das von dem geistlichen
(damals noch bischöfliche und domstiftische Urkunden zusammen
enthaltenden) Archiv ganz gesondert war.3) Das reichs-
städtische Archiv hat sich im wesentlichen in Worms erhalten,
‘) Mittentes ad tos . . . archiepiscopum Moguntinensem et dilectos fa-
miliäres nostros . . . , ut ctim episcopo Wormatiensi consedeant (D. 168 S.
119 Z. 16 ff.).
•) Vgl. zum Folgenden: Boos, Vorwort zum Wormser Urkb. insbes.
8. IX— XIII, Arnold V. G. I S. XIII, Sickel in M. G. Dipl. reg. et imp. S. 655.
*) So auch Boos in Archival. Ztschr. herausg. von von Löher Bd. IX
(1884) 8. 101.
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417
während von den früheren geistlichen Archiven von Worms die
Trümmer grössten Teils nach Darmstadt und (durch Verkauf
aus dem Nachlass des Professor G&tterer) nach Luzern
gelangten.
Es sind nun die Urkunden vom 3. und 8. August zu
Worms im Original, die vom 4. dagegen nur in der Ab-
schrift eines Copialbuchs erhalten. Dieses Copialbuch, das sich
in Darmstadt befindet und das wir nach dem Vorgänge von
Boos mit D bezeichnen können, ist nach der übereinstimmen-
den Ansicht aller, die sich damit beschäftigt haben, im Auf-
träge und Interesse des Domstiftes geschrieben. Der Autor
von D hat nun jedenfalls nur das geistliche Archiv, nicht das
städtische benutzt; es kann dies besonders auch daraus ge-
schlossen werden, dass keine von den zahlreichen durch D
überlieferten Urkunden, welche ins Wormser Urkundenbuch
aufgenommen sind, sich im Stadtarchiv befindet.
Dass das Mandat vom 4. August nicht in diesem erhalten
ist, würde an sich nicht so auffällig sein ; sind doch in den beiden
letzten Jahrhunderten insbesondere seit Aufhören der Reichs-
nnmittelbarkeit der Stadt ihrem Archive zahlreiche Urkunden
abhanden gekommen.1)
Dagegen schliesst der Umstand, dass ein an den Wormser
Rat gerichtetes Mandat uns nicht durch das Stadtarchiv, son-
dern gerade nur durch das Copialbuch D überliefert ist, fast
die Möglichkeit aus, dass cs sich je im Wormser Archiv be-
funden hat. Dazu kommt, dass nach dem früher erörterten
ebendiese Urkunde vom 4. August den beiden vom 3. und 8.
datierten widerspricht , die untereinander sehr gut vereinbar
sind , so dass entweder die Urkunde vom 4. oder die beiden
anderen nicht rechtskräftig geworden sein können.
Bei dieser Sachlage liegt es nun jedenfalls sehr nahe,
die Urkunde vom 4. nicht als wirkliches Mandat Heinrichs,
sondern nur als ein von der bischöflichen Partei entworfenes
Concept zu solchem Mandate anzusehen. Mit dieser Annahme
erledigen sich sämmtliche Schwierigkeiten. Die sich scheinbar
widersprechenden Urkunden sind alsdann auf folgende Weise
entstanden :
*) Boos a. a. 0. S. 101, Urkb. Einl. S. XX.
Koehne, Ursprung der SUdtvnrfuwung in Worms, Spaior und Mainz. 27
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418
König Heinrich hatte die Absicht, den Streit zwischen
Bischof und Bürgerschaft von Worms derart beizulegen, dass
er sich keine der beiden Parteien entfremdete ; wahrscheinlich
ganz im Einverständnis mit den von seinem Vater in Ravenna
erhaltenen Weisungen.1) Um die Wormser zur Unterwerfung
unter seinen Richterspruch friedlich zu bewegen, bestätigt
ihnen Heinrich am 3. August ihre alten Privilegien. Er konnte
cs um so mehr, da selbst die angebliche Urkunde Friedrichs 1.
von 1156, die den Wormsern einen Rat einräumt, noch so ge-
fasst war, dass die Strafbussen ungerechter Ratsherren an den
Bischof fallen sollten, und dass über die Ernennung des Rats
darin nichts näheres gesagt wurde. In das diese Urkunde be-
kräftigende Privileg aber lässt Heinrich so, als ob es sich hier
um eine der ganz gewöhnlichen Confirmationen früherer Urkun-
den gehandelt hätte, die Namen der bedeutenderen Fürsten, die
sich an seinem Hofe befanden, als Zeugen eintragen; es wäre
auch wohl auffallend gewesen und hätte die Wormser besorgt
gemacht, wenn in der Urkunde die übliche Zeugenliste ge-
fehlt hätte. Diese Bestätigung der alten Privilegien, die etwa
am 4. oder 5. in Worms angelangt sein mochte, vermehrt dort den
Wunsch nach Frieden. Es werden sofort Gesandte an den könig-
lichen Hof geschickt, welche die Stadt mit dem Bischof unter der Be-
dingung versöhnen sollten , dass der König resp. eine von ihm
ernannte Commission die Wormser Angelegenheiten ordne.
Unterdessen hatte der Bischof resp. seine Partei einen Entwurf
zu einem königlichen Mandat ausgearbeitet, das ihren Wünschen
ganz entsprochen haben würde : Eine Commission, bestehend aus
zwei Bischöfen (Mainz und Worms), einem Magnaten und einem
königlichen Ministerialen sollte nach Worms gesandt werden,
um die dortigen Verhältnisse zu ordnen. Der König aber ver-
söhnt selbständig den Bischof mit Vertretern der Bürger-
schaft’) und weicht in der Ordnung der Verhältnisse bedeutend
von den Ratschlägen der geistlichen Partei ab. Das tritt
schon darin hervor, dass in der Commission, die Heinrich am 8.
') Hierfür scheinen die Worte ex gratin et potestate, qnam . . . a patre
nostro nnpcr snmus adepti in W. U. 157 zu sprechen.
’) U ICO : sigiiificandnm duximua universitati veatre, qnod nos . . . inter
epiacopnm vcstruni et vos roncordiam fecimus.
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419
nach Worms sendet, die Geistlichen in der Minorität sind; denn
diese Commission soll aus einem Bischof, einem Magnaten und
zwei königlichen Ministerialen bestehen. Diese königlichen
Abgesandten sollen in Worms den Streit so schlichten und
solche Einrichtungen treffen, dass ein für beide Teile erträg-
licher Zustand gewonnen wird.1) Wirklich kommt es denn
auch später zu einer vereinbarten, nicht einseitig vom Bischof
uud den königlichen Abgesandten gegebenen Verfassung, über
welche demgemäss ausser vom Könige und vom Bischof auch von
der Bürgerschaft eine besondere Urkunde ausgestellt wird.*) —
Das wohl von einem Geistlichen des Bischofs verfasste
Concept aber gelangt in die bischöfliche Kanzlei und wird hier
im 15. Jahrhundert von dem Verfasser des Copialbuchs, viel-
leicht nicht einmal wider besseres Wissen, wie eine echte Ur-
kunde in seine Sammlung eingetragen.
*) Bei dieser Erklärung wird es auch verständlich, dass in U 158 der
Erzbischof von Mainz als Beichsfürst und in U 160 als Vertrauter des Königs
bezeichnet ist. Heinrich wollte es eben den Wormsern bemerklich machen,
dass die Zuziehung des Erzbischofs zu der ('ommission nicht aus seiner fürst-
lichen Stellung oder seiner Metropolitangewalt ilber Worms, sondern ans be-
sonderem königlichen Vertrauen zu ihm hervorgegangen sei. Vgl. über ähn-
liche Unterscheidungen bezüglich der Bezeichnungen familiäres und principes
in der Interventionsclausel zur Zeit Heinrichs IV Ficker in dem oben
S. 415 N. 1 citierten Werke I g 134 8. 235.
*) vgl. oben 8. 326.
S7*
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Beilage.
Die Eintragungen in die Mainzer Stadt-
rechnungen über die Einnahmen aus der Schatzung
in den Jahren 1410, 1411.
Die oben S. 94 erwähnten Eintragungen in die Mainzer
Stadtrechnungen über die Einnahmen aus der nach Pfampielen
erhobenen, direkten Steuer oder Schatzung der Jahre 1410 und
1411 (Mainzer Accidental- und Bestallungsbuch No. 1 im Königl.
Kreisarchiv zu Würzburg) lauten:
fol. 12 v:
Disz ist das Innemen disz czukunfftigen gantzen Jares etc.
Item her Peder Wyde und her Gisenhenne (heimc?) der
schuchmann brachten von der schatzunge in sent Stepphans
parre czuin ersten male 74 */» gul. valet 89 Pfd. 8 ß.
Item her Pederman hern Heintzen Rebstocks son und her
Heynrich Lentzeman hant geantwort von der schatzunge in
Odemonster und sent Paulusparre czum ersten male 64 */* Pfd. 6 ß.
Item Henn Humbrecht und Henn Rotmuller der beckir
hant bracht von der nehsten schatzunge in sant Nyclaspharre
zum andern male 10 Pfd. 2 ß.
Item her Rüdiger zu Landecke und her Jeckein Wide-
gauwe der holzschuwer hant bracht von der nehsten schatzunge
in sant Ignacien pharre zum dritten male 54 Pfd.
Item her Gocze zum Aldenschnltheiss und her Heincze
Esinheimer hant bracht von der nehsten schatzunge in sant
Quintins pharre zum andern male 351 V« Pfd. 2 ß.
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421
fol. 13:
Iteni her Jeckel Schenckcnberg und her Wolff Scheider
haut bracht vou der liebsten schatzunge in sant Christofeis
phaiTe zum andern male 47 Pfd. 71/* ß-
Item her Pedermann Eebestog und her Heinczc Lenczeman
haut bracht von der schatzunge in Odenmonster und sant Pau-
wels pliarre zum andern male 13 Pfd. 4 ß.
Item her Frylc Gensefleisch und her Hanneman zum Wie-
der liant bracht zum andern male von der schatzunge iu s.
Heilrams pliarre 297 Pfd. 1 ß.
fol. 14 v:
Item her Rüdiger zu Landecke und her Jeckel Wiede-
gauwe iiant bracht zum dritten male von der schatzunge in
sant Ignacien pharre 24 Pfd. 2 ß
Item her Gocze zum Aldcnschultheiss und her Heincze
Esinheimer hant bracht zum dritten male von der schatzunge
in sant Quintinspharre 14'/« Pfd. 8 ß.
Item her Jeckein Hiertz und her Herbort Hexheimer haut
bracht von der schatzunge in den vier pharren: zmn dume, zu
unser frauwen, zu sant Johann, zu sant Mauricien zum dritten
male 7 Pfd. 8 ß.
fol. 16 v:
Item her Fryle Gensefleisch und her Hanneman zum Wie-
der hant bracht von der schatzunge in saut Heilrams pharre
8 Pfd. 6 hell.
fol. 17:
Item her Wilkin Salman und her Emel König hant geant-
wort von der schatzunge in sant Ignacien pharre zum ersten
male dy man in dieser fasten angefangen hat offezuheben 251
Pfd. 7/J4 hell.
Item her Johan Walderthenner und her Eckart sedeler
hant gegeben von derselben schatzunge in den vier pharren
zum dume, zu unser frauwen, zu sant Johanne und zu sant
Mauricien zum ersten male 60 lib.
Item her Orte zur Eicht Jer junge und her Heintze Ben-
dere hant bracht von der nuwen schatzunge in Odemonster und
sant Pauwelspharre czu dem ersten male 48 Pfd.
Item her Jeckel Hirtz und her Roricb zum roden lewen
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422
off dem DieCinarte hant bracht von der sehatzunge in sant
Heilramspharre zum ersten male 639 gülden valet 766 lib. 16 ß.
Item her Jeckel Schenckenberg und her Winckelhenne der
czu . . . hant geantwort von der schatzunge in sant Christoffels
pharre zum ersten male 240 lib.
Item her Götze zum Aldenschultheiszen und her Peder
Mey hant bracht zum ersten male von der schatzunge in sant
Quintinsphan e 749 guld. 4 ß valet 899 lib.
Item her Johann Waldertheimer und her Eckard sedeler
hant gegeben zum andern male von der schatzunge in den vier
pharren zum dume, zu unser frauwen, zu sant Johann und zu
sant Mauricien 27 Pfd. 6 ß hell.
Item her Jeckel Hirtze und her Rorich zu dem Roden
leven off dem Dietmarte hant bracht von der schatzunge in
sant Heilramspharre zum andern male 301 gülden valet 411
Pfd. 4 ß hell.
Die oben S. 96 erörterte Verschiedenheit der Höhe der
Einträge der Steuerablieferungen aus deu einzelnen Pfarren
zeigt die folgende nach diesen Fragmenten entworfene Tabelle:
(Siehe nächste Seite).
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Tabelle Uber die Schatzung zu Mainz in den Jahren 1410, 1411.
13
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Register.
Allmende S. 305—307. 375. I Eherecht S. 84. 40. 41. 304.
Altfreie S. 29—34. 207. 240. 352.
353.
Altspeier S. 92 N. 2.
Bannleihe S. 197 — 201.
Basel S. 61. 62. 198.
Bischöfe v. Worms: BnrehardS. 16 ff.,
148—150. 393. 394, AdelbertS. 205.
214, Lnpold S. 264. 265. 273—75,
Heinrich II S. 313—15. 319—329,
LandolfS. 329—340, KonradS.341,
Richard S. 341. 342.
Bistümer, Entstehung in Worms, Speier
nnd Mainz S. 4, Bedeutung am
Schluss der Regierungszeit der
sächs. Kaiser S. 11, Begünstigung
des Speierer B. durch die Salier
S. 13 ff.
Bürgermeister S. 275. 276. 282 N. 4.
Burggrafen 8. 152 — 155, 195, in
Worms 156—170, in Speier 8. 180
bis 184, in Mainz 190. 191.
Buteil S. 36. 50. 23—225.
Claustrum S. 313 N. 4.
Comprovinciales . 8. 219. 220. 267
N. 2.
Conan les, consiliarii, Consilium S. 256.
257. 268. 269. 276 ff., 282. 294
bis 99. 361.
Condves S. 31 N. 2.
Coniurationes 8. 206. 215.
Dagowarden S. 38 — 42.
Dominicatum S. 34 mit N. 2.
Eheliches GUterrecht 8. 25 N. 6.
Erbleihe 8. 23. 247. 364. 365. 401.
| 402.
Erbrecht 8. 251. 252. 317 mit N. 5,
vgl. Buteil, Hauptrecht.
Erzbischöfe v. Mainz: Ruthard S. 216,
Adalbert I S. 221. 222. 228. 230
bis 237, Arnold v. Seihofen 8. 282
bis 290, Sigfrid II 8. 265, Sigfrid
III S. 208—214.
Familia 8. 28 ff., 35. 36. 37.
Fiscalinen S. 38—42.
Friesen S. 6. 7. 84. 85.
Gerichtsstand S. 45—48. 67. 248 bis
253. 389-406.
Geschworene zu der Gottes Ehe S. 131.
132. 134. 135.
Greve S. 167—169. 182 N. 4.
Gottesurteil S. 17—20. 261. 262.
Handelsstrassen S. 6.
Hanre S. 51 N. 6.
Harmschar 8. 387 mit N. 7.
Hauptrecht 8. 36. 37. 223. 224.
Heimburgen 8. 86. 87. 99. 100; in
Mainz S. 100 — 102, in Worms S. 114
bis 124, in Speier S. 125—181.
Heimgereiden 8. 85 N. 2.
Hospitäler S. 308. 309.
Immobiliarrecht 8. 22—24. 35. 225.
226. 389—406.
Jahr und Tag 8. 225. 226. 363 N. 4.
Juden 3. 8. 12. 77 mit N. 2, 8. 126.
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426
126. 174. 175. 185 mit N. 5. 188
N. 1. 216. 217.
Kämmerer in Worms S. 116. 117.
173-180, in Speier 8. 188. 189,
in Mainz S. 192—195.
Kaufleute S. 50—63. 63. 64. 76. 77.
207 . 216. 241 — 43. Kaufmannsge-
nossenschaften 8. 62 — 69. 72. 202.
222. N. 2. 355. 356. 374-376.
Rcichskaufleute (mercatores impe-
rii) S. 241. 242.
Kirchspiele 8. 86—90, in Mainz S. 94.
96. 102—104, in Worms 104—110,
in Speier 132, 133.
Köln S. 7 ff., 19 N. 4. 66 N. 3. 66
N. 2. 198.
Marquard von Sneitde 8. 331. 332.
Ministerialen (Ortsvorsteher)S. 42—44.
82; (Stand) 62. 63. 71. 73. 302.
Münze, Münzer, Miinzerhausgenossen
S. 60. 63-69. 71. 73. 72 mit N.
3 u. 7. 8. 279—281. 325. 329.
Nürnberg S. 8. 9.
Officiales , officiati S. 289—294.
354.
Pfalzen S. 10. 210. 237.
Processrecht S. 20—22.226. 303.304.
(vgl. Gottesurteil).
Priesterweihe 8. 304.
Rat (Besetzung) S. 326. 327. 334
bis 343. 345 — 347, (Competenzen)
S. 300—309. 346. 347, (Entstehung)
S. 244—300. 356, (Sitzungsort)
(Rathaus) S. 65. 66. 313, N. 4. 323.
328.
Ravenna, Reichstag zu, S. 318 — 320.
Rechtssymbole S. 121. 122.
Regensburg 8. 51 mit N. 5.
Reichsstandschaft 8. 320 N. 5. S. 344
N. 2.
Seihofen 8. 96.
Send, Sendgericht 8. 95 mit N. 2.
8. 101—103. 115—117. 119. 131
—35. 176— 78. 245. 246. 372.
373.
Schöffen S. 73-76. 176—178. 245 bis
256.
Schnltheiss (in Worms) S. 171. 172.
271 N. 1, (in Speier) S. 184-187,
(in Mainz) 8. 192.
Servientes, (canonicornm , ecclesiae,
episcopi), S. 42. 48. 49. 62. 63. 186.
248-250. 313 N. 2.
Stadtschreiber S. 298 N. 4.
Stadtsiegel S. 253. 254.
Strafrecht S. 22. 45. 269 N. 3. 303.
304.
Strassburg 8. 49 N. 4. 8. 91 N. 5.
S. 93. S. 150. 154. 155.
Territorialrat S. 70—73. 356.
Trier S. 154. 155.
Tuchmacher S. 69. 118.
Utrecht S. 7.
Vitztum S. 170-172. 286 N. 6.
I Waltpod S. 195.
Wandlung S. 400.
Weissenbnrg 8. 38 N. 2. S. 61. 68.
Zoll (Zollprivilegien), thelouenm S. 7.
8. 143. 144. 205. 206. 222. 223.
242. 243.
Zolleinehmer (thelonearius) 8. 71. 72.
Zweikampf (gerichtl.) s. Gottesurteil.
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Verzeichnis
der ausführlich besprochenen Urkunden.
Wormser Urkunden.
ü 93: S. 69 N. 3 S. 114—117. 166.
167. 177. 272. 273.
ü 34: S. 146 N. 8.
ü 41: S. 47.
U 42: S. 156-168.
ü 43 : 8. 104 N. 1. S. 156.
U 47: S. 45, S. 200.
U 48 : S. 17. 392—394, Einl. : 8. 25.
43 mit N. 1. 47. 170, tit. 1: S. 25,
N. 5, tit. 2 : S. 42, tit 5: 8. 25 N. 5,
tit 14: S. 34, tit 19: 8. 17 ff., tit.
20: 8. 20 ff, 33, tit 21: S. 24, 29
N. 2. 35, tit 22 : S. 89 N. 3, tit.
25 : 8. 42, tit 26: S. 22. 23. 31,
tit. 27. 28 : 8. 22, tit 29: 8. 43
N. 2, 8. 46, tit 30 : 8. 38 N. 4,
8. 42. 44. 45. 46.
U 51: 8. 24.
U 56 : 8. 206.
U 68 : 8. 57 ff. 162 N. 2. 164.
U 61: S. 229 mit N. 5.
U 64 : 8. 159.
U 73 : 8. 257—271.
U 80: S. 249.
U 81 : 8. 251 mit N. 2. 252.
U 89 : 8. 250.
Spelerer
Sp. 0 4: 8. 143. 144.
V 11: 8. 91 N. 7, 8. 92 N. 1, 8. 185
N. 6.
U 13: 8. 186 N. 3, 248. 249.
U 14: S. 222—227, 279-81.
U 22: S. 276.
U 44 : 8. 303, 304.
U 85 : 8. 248 N. 4.
U 103: 8. 304.
U 100: 8. 309 N. 2.
ü 115: S. 273. 274.
U 120: S. 275 N. 4.
ü 131 : S. 161 N. 6.
U 141: S. 161 N. 6.
U 154 : S. 322 N. 3.
U 158 : 8. 407—419.
U 159: S. 314 N. 2, S. 320 N. 5,
8. 407 -419.
U 163: S. 120. 326. 327.
U 179: S. 309 N. 1.
U 190: S. 330—339.
U 344: S. 167. 168.
Mauerbauonhiung S. 83 ff. 160. 394
—396.
Ludcwig Rel. II p. 112 (1233 Mürz
17): S. 235 N. 6.
Banr Hess. Urk. II Nr. 25 (ca. 1207):
S. 301. 302.
Urkunden.
| U 105 : 8. 304.
U 111: S. 282 N. 2.
U 184: S. 184 N. 4. 348 N. 1.
Remling No. 27: 8. 41.
Kernling Nr. 164 : 8. 401 N. 3.
Eubel, Minoriten S. 200 N. 41 : S. 307.
308.
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428
Mainzer Urkunden.
B-W XXIV 27 : 8. 100 N. 2, S. 292.
293.
XXV 66 : 8. 234. 293.
68: 8. 232 N. 4.
76 : 8. 236. 236 mit N. 1.
XXVIII 79 : 8. 191. 247 N. 4.
XXXI 128: 8. 101.
XXXII 326 : 8. 291. 292 mit
N. 1.
XXXIII 604 : 8. 204. 206, 343.
Scriba Regesten IQ 768 (a 816) S.
97.
L. L. n p. 142 (a. 1173): 8. 262.
Stumpf Acta Hogunt. N. 84 (a. 1176):
8. 247 mit N. 6.
Wtlrdtwein Dioec. I 20 (a. 1300): S.
101—103.
Ztachr. f. Gescb. d. Oberrh. Bd. XXXII 8. 60 ff. (a. 1U76): S. 57 ff.
B-F 1114 (1220 Apr. 26): 8. 310 N 2.
1917 (1231 Dec.): 8. S18. 319.
(195 (1231 Mai): 8. 815-317.
*-
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Untersuchungen
zar
Deutschen Staats- unfl Rechtsgeschichte
herausgegeben
von
Dr. Otto Gierke,
Professor der Rechte an der Universität Berlin.
XXXII.
Die
Finanzverwaltung der Stadt Braunschweig
bis zum Jahre 1374
Heinrich Mack,
Dt. phll.
Breslau.
Verlag von Wilhelm Koebner.
1889.
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1 lumltut
der
Stadt Braunschweig
bis zum Jahre 1374.
Von
Hoinrioh Mack,
Dr. phll.
Breslau.
Wilhelm Koehner.
1889.
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Meinen
lieben Eltern.
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Vorwort.
Indem ich vorliegende Abhandlung, welche aus Studien im
Braunschweiger Stadtarchiv hervorgegangen ist, hiermit der
Oeffentlichkeit übergebe, fühle ich mich gedrungen, meinem väter-
lichen Freunde, Herrn Professor Dr. Haenselmann, von dem
mir die Anregung zu jenen Studien ward, aufrichtigsten Dank
zu sagen. Mehrfach hat mir auch mein hochverehrter Lehrer,
~ Herr Professor Dr. Julius Weizsaecker, der vor wenigen Wochen
der Wissenschaft und seinen Schülern so unerwartet und viel
zu früh durch den Tod entrissen wurde, wertvollen Rat zu Teil
werden lassen. Den Dank, welchen ich ihm an dieser Stelle
abzustatten gedachte, werde ich immer in meinem Herzen hegen.
Der Verfasser.
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Inhalt.
Seite
Einleitung: Litteratur zur Geschichte der Finanzverwaltung in den
deutschen Städten de« Mittelalters, insbesondere in Braunschweig 1—7
I. Quellen zur Geschichte der Finanzverwaltung Braunschweigs bis
zum Jahre 1374 8—17
11. Die Geschichte der Finanzverwaltung Braunschweigs bis zum
Jahre 1374 18—111
1. Die Finanzverwaltung in den fünf Weichbilden Braunschweigs
bis 1269 18—24
2 Die Einigung von 1269 24 —26
3. Die Finanzverwaltung der gemeinen Stadt von 1269—1354 . 26—57
4. Die Weichbildsfiuanzverwaltungen von 1269 — 1354 .... 67—67
5. Die Finanzverwaltung der Altstadt 1354 und 1355 .... 67—84
6. Die Finanzverwaltung der Weichbilde von 1364 — 1374 . . 84 — 85
7. Die Finanzverwaltung der gemeinen Stadt 1354 und 1355 . 85—97
8. Die Schäden der gemeinen Finauzverwaltung im 14. Jahr-
hundert und die finanziellen Ursachen des Aufstandes von 1374 98 — 111
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Abkürzungen.
1. Ohron. — Die Chroniken der deutschen Städte.
■2. Br. C.-B. = Urkundenbueh der Stadt Braunsebweig.
3. Br. 8t.-A. = Brauuschweiger Stadtarchiv.
4. O.-U. - Originalurkunde.
5. A. D. = Altstädter Dcgedingbueh.
fi. H. D. Hagener Dogedingbuch.
7. N. D. = Neustädter Degedingbuch.
8. S. D. ----- Sacker Degedingbuch.
9. H. d. N. =r Rechtsbuch der Neustadt.
10. G. -- Gedenkbuch.
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Einleitung.
Erst kurze Zeit ist verflossen, seit man begonnen hat, sich
mit der Finanzgeschichte der deutschen Städte im Mittelalter,
die sowohl für die Gesammtgeschichte dieser Städte, als auch
für die Wirtschaftsgeschichte des Mittelalters von hervorragender
Wichtigkeit ist, eingehend zu beschäftigen; kein Wunder also,
dass man auf dem bezeichneten Felde Umschau haltend hier
noch manches zu thun findet. Einzelne Bemerkungen zwar,
■welche die städtische Finanz Verwaltung betreffen, begegnen uns
an vielen Orten und, wie es in der Natur der Sache liegt,
namentlich in solchen Werken, die Geschichte und Verfassung
der mittelalterlichen Städte behandeln ; *) gering aber ist die Zahl
zusammenfassender Darstellungen auf diesem Gebiete.
Wie für Städtegeschichte überhaupt, so hat auch im besonderen
für den finanziellen Teil derselben K. Hegel tüchtiges geleistet.
In seiner Tätigkeit als Herausgeber deutscher Städtechroniken
hat er auch sein Augenmerk auf den Stadthaushalt in Nürnberg*)
') Besonders hingewiesen sei hier aufGierke, das deutsche tienosaenschafts-
recht, H. S. 678 — 778., ferner auf O. Richter, Verfassungsgeschichte der
Stadt Dresden, Dresden 1885, namentlich S. 122 ff., endlich auf Kriegk,
Frankfurter Bürgerzwiste und Zustände im Mittelalter, Frankf. a. 11. 1862,
S. 27 ff. und auf Reinhold, Verfassungsgeschichte der Stadt Wesel, Breslau 1888,
S. 100 ff.
*) Die Chroniken der deutschen Städte vom 14. bis ins 16. Jahrh. Bd. I,
S. 263 -296, Beilage XII.
I
und Mainz *) gerichtet und in zwei wertvollen Beilagen darüber
gehandelt. Er ging hierbei im wesentlichen von den Stadt-
rechnungen aus , denen er als einer der ersten *) einen
hervorragenden Platz unter den mittelalterlichen Geschichts-
quellen mit Recht an wies. Nur einen Zweig städtischer
Finanzwirtschaft betreffen FrensdorfF s Ausführungen über
das Ungeld in Augsburg,*) während Gramich’s interessante
Arbeit „Verfassung und Verwaltung der Stadt Würzburg vom
13. bis 15. Jahrhundert“,4) wie schon ihr Titel besagt, auch
andre als finanzielle Dinge berührt. Mit besonderm Nachdruck
ist sodann auf die Darstellung der Finanzverhältnisse der Stadt
Basel im 14. und 15. Jahrhundert hinzuweisen, die G. Schönberg
unternommen hat. 6) In dem ersten und bis jetzt noch einzigen
Bande dieses umfassend angelegten Buches geht der Verfasser
nach einer Einleitung, welche uns über die herangezogenen
archivalischen Quellen, vor allem die Rechnungen, ferner über
den'allgemeinen Gang der Geschichte des Baseler Stadthaushaltes
und die Münzverhältnisse Basels Aufschluss giebt, in ausführlicher
Weise auf das Besteuerungs wesen und die speeielle Geschichte
einzelner Steuern ein. Lange nicht so umfangreich , doch auch
sehr bedeutend ist eine hierher gehörige Abhandlung Schmollers :•)
durch sie erhält man ein klares Bild von den Zuständen der
Finanzverwaltung Strassburgs zur Zeit der Zunftkämpfe und
von der Reform derselben im 15. Jahrhundert. Über den
*) Chron. XVIII., 2. Hlfte., S. 9L — 115, Beil. XIII; manches hierher
gehörige auch schon S. 72—90, Beil. XII.
*) Die klassische Stelle über den Wert der Stadtrecbnungen als
Geschiohtsquellen findet sich Chron I. 8. 263 und 264. — Schon im Anfang
dieses Jahrhunderts verwertete Gemeiner die Stadtrechnungen in seiner
Regensburgischen Chronik (cf. Göttinger gelehrte Anzeigen, 1868 S. 820).
Dann gab Grünhagen 1860 im 3. Bande des Codex diplomaticus Silesiae
verschiedene die Stadt Breslau betreffende finanzielle Aufzeichnungen —
darunter die Stadtrechnung von 1387 — heraus, die er mit einem fortlaufen-
den Commentar versah. Kinc zusammenfassende Übersicht über die Finanz-
verwaltung Breslaus ist uns hier leider nicht gegeben, weshalb unsern
Zwecken die angeführte Beilage XII des erst 1862 erschienenen 1. Bandes
der Nürnberger Chroniken weit mehr entspricht.
*) Chron. IV., S. 157 — 165, Beil. IX.
4) Würzburg 1882.
5) Finanzverhältnisse der Stadt Basel im Mittelalter, Tübingen 1879.
•) Strassburg zur Zeit der Zunftkämpfe und die Reform seiner Ver-
fassung und Verwaltung im 15. Jahrh., Strassb. 1875.
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3
Stadthaushalt Aachens hat uns der ehemalige dortige Archivar
J. Laurent unterrichtet;1) in seinem einschlägigen Werke, das
sich auf das 14. Jahrhundert beschränkt, finden wir auch im
Anhänge verschiedene Rechnungen abgedruckt.
Alle die bisher genannten Abhandlungen und grossem
Darstellungen betreffen, wie aus dem angeführten ersichtlich ist,
nur süd- und westdeutsche Städte; die Geschichte der Finanz-
verwaltung in den mittel- und norddeutschen Städten ist erst in
geringerem Umfange in den Kreis wissenschaftlicher Betrachtung
gezogen. Was jene angeht, so kann hier nur die Veröffent-
lichung von Stadtrechnungen Kassels aus dem 16. und 16. Jahr-
hundert durch Stölzel genannt werden,*) die mit einer kurzen
Einleitung und recht brauchbarem Sachregister versehen ist; eine
umfassende Bearbeitung der öffentlichen Finanz Wirtschaft Dresdens
ist zwar von O. Richter in Aussicht gestellt, aber noch nicht
erschienen.*)
Unter den norddeutschen Städten kommt für uns in erster
Linie Hamburg in Betracht, da wir die Ausgabe seiner Kämmerei-
rechnungen von Koppmann besitzen;4) dem ersten Bande der
letzteren ist eine wertvolle Einleitung vorausgeschickt, welche
namentlich eine klare, ins Einzelne gehende Übersicht über Ein-
nahmen und Ausgaben der Stadtkasse enthält. Ferner hat
neuerdings in einem knappen, aber sehr inhaltreichen Aufsatze
A. Ulrich neben der politischen vornehmlich die finanzielle Lage
Hannovers am Ende des 14. Jahrhunderts ausführlich geschildert.*)
(cf. Anm. *.)
') Aachener Stadtrechnungen aus dem 14. Jahrh., Aachen 1866; un-
veränderte Ausgabe unter neuem Xitel 1876.
*) Kasseler Stadtrechnungen aus der Zeit von 1468 bis 1&53. Zeit-
schrift des Vereins für hessische Geschichte und Landeskunde. Neue Folge.
3. Supplement. Kassel 1871.
*) Vgl. das Vorwort zu dem in Anm. 1 S. 1. genannten Werke Richters.
4) Kämmereirechnungen der Stadt Hamburg, I. Bd. 1350 — 1400; Ham-
burg 1869.
5) Die politische und finanzielle Lage der Stadt Hannover am Ende
des 14. Jahrhunderts, im Hannoverschen Unterhaltungsblatt, 1887. Nro. 1—6.
*) Zum Zweck einer möglichst vollständigen Aufzählung der ein-
schlägigen Litteratur sei hier ausser ürünhagens Veröffentlichung
(cf. 8. 2 Anm. 2) wenigstens mit einem Wort« noch eine solche von Hertel
erwähnt: Einnahmen und Ausgaben der Stadt Kalbe a. S. im Jahre 1478.
(Geschichtsblätter für Stadt und Land Magdeburg, 1882. Jahrgang 17.
Heft 2, S. 128-149).
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4
In der vorliegenden Arbeit soll ein Abschnitt aus der
Geschichte der mittelalterlichen Finanzverwaltung in einer Nach-
barstadt Hannovers, in Braunschweig, besondrer und näherer
Betrachtung unterzogen werden. Mehrere Gründe lassen sich
für die Wahl dieser Aufgabe geltend machen. Zunächst ist
dabei massgebend, dass wissenschaftliche Forschung auf einem
grossem Gebiete erst dann wahrhaft fruchtbringend sein kann,
wenn sie sich anfangs in Einzelarbeiten auflöst, um hierauf die
Resultate derselben zusammenzufassen. Das ist eine Behauptung,
deren unzweifelhafte Richtigkeit namentlich für die deutsche
Städtegeschichte jetzt wohl allgemeine Anerkennung gefunden
hat. Ferner aber ist im besondern das mittelalterliche Braun-
schweig eine Stadt, welche wichtig genug erscheint, dass man
die erforderliche Mühe auf eine solche Arbeit verwende. Unter
den niedersächsischen Städten nahm sie unstreitig eine
hervorragende Stellung ein : erlangte sie doch zu den
Zeiten der Hansa Rang und Bedeutung eines Vororts. Und
wenn Braunschweig auch formell ') sich nie zur Reichsstadt
emporgeschwungen , sondern immer unter der Herrschaft
der welfischen Herzoge gestanden hat, wir sehen es wenigstens
') Wenigstens ist der reich sstädtischo Charakter Braunscliweiga. so
weit wir sehen können, nie allgemein anerkannt worden. Sonderbarer
Weise scheint im 15. .Jahrhundert eine gewisse Unsicherheit geherrscht
au haben, ob Braunschweig als Reichs- oder Territorialstadt zu betrachten
sei. Reichstagaakten Bd. VIII. S. 107. Zeile 29 ff. bemerkt Kerler: „Städte
nämlich, welche sich als reichsunmittelbar gegen die Zugriffe der Territorial-
fürsten zu behaupten suchten (z. B. Braunschweig), beriefen sich mit Nach-
druck darauf, dass sie in die Matrikel von 1422 neben Städten, deren Reichs-
unmittelbarkeit nicht bestritten wurde , eingesetzt seien.“ Damit mag
R.-T.-A. IX, 8. 272, Anm. 1 verglichen werden, wo die Bereitwilligkeit
Braunschweigs, Reichskriegsteuer zu zahlen, dadurch erklärt wird, dass die
Stadt bei ihren Kämpfen um Unabhängigkeit von den Herzogen den un-
mittelbaren Zusammenhang mit der Reichsgewalt mehr und mehr habe
befestigen wollen. Am 8. Dez. 1425 richtete Kaiser Sigismund einen Brief
an „burgermeister und rat der stat zu Brfinswig unsere und des riebs liebe
getrften" (R.-T.-A. VIII, 436, Z. H8) und zu gleicher Zeit einen solchen an
die freie und Reichsstadt Strassburg mit fast gleichlautender Adresse: „den
ersamen meister und rate der stat zfi Straspurg unsern und des richs lieben
getrewen.“ (1. c. Z. 25.) Auch ein Brief Sigismunds vom 11. Nov. 1430
geht an „bfirgermeister und rat der stat Brunschwig unsern und des richs
lieben getrewen. (R.-T.-A. IX, S. 490, Z. 4 ff.) — In schroffem Widerspruch
mit diesen Stellen steht dagegen ein Contingentsverzeichniss von 1422, wo
wir lesen: „Bernhart und Wilhelm von Brunswig mit iren steten nemlich
Brunswig und Luueburg etc.“ (R.-T.-A. VIII, 158, Z. 24).
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5
im Anfänge des 15. Jahrhunderts schon die meisten wesentlichen
Hoheitsrechte, wie Besteuerung, Zölle, Münze und Vogtei in
festem Besitze haben. Seine wahre Macht unterschied sich also
damals von der einer Reichsstadt fast gar nicht. Freilich
erreichte Braunschweig diese seine höchste Blüte erst nach der
Zeit, auf die unsre Abhandlung sich beschranken wird, und deren
Anfangs- und Endpunkt die Juhre 1227 und 1374 bezeichnen
mögen ; auch kann man nicht sagen, dass für diesen Abschnitt
der Finanzgeschichte genannter Stadt die Quellen sehr reich-
lich flössen, zumal da recht empfindliche Lücken sich geltend
machen. Dennoch aber haben wir die zeitlichen Grenzen der
Aufgabe so, wie es oben angegeben, nicht ohne die begründetste
Absicht bestimmt. Im Anfang der Periode tauchen die ersten
Spuren des Bestehens öffentlicher Stadthaushaltung auf, be-
deutungsvolle Phasen in der Entwicklung ihrer Organisation
schliessen sich daran; die wichtigsten Erwerbungen von Ein-
künften und ertragsfähigen Rechten werden seit ungefähr 1300
angebahnt und zum Teil schon vor 1374 vollendet, die ersten
Kämmereirechnungen, verstümmelte, wie auch vollständige, fallen
in die zweite Hälfte unseres Zeitraums: kurz wir finden hier die
erkennbaren Anfänge, die Grundlage der Finanzverwaltung der
Stadt Braunschweig. Abgeschlossen wird diese Zeit durch den
grossen Gildenaufstand von 1374, der zum wesentlichen Teil als
eine Folge ärgster Zerrüttung der öffentlichen Wirtschaft, her-
vorgerufen durch das Zusammenwirken äussern Unglücks und
innerer Missstände sich darstellt. Welche Bahnen nach dem
grossen Aufstande die finanziellen Verhältnisse Braunschweigs
einschlugen, darauf einzugehen muss einer spätem Arbeit Vor-
behalten bleiben.
Bei den neuern Arbeiten über die Geschichte der alten
Weifenstadt hat man den mittelalterlichen Stadthaushalt keines-
wegs unberücksichtigt gelassen. Dürre hat in seiner „Geschichte
der Stadt Braunschweig im Mittelalter“ *) ihrer Finanzverwaltung
ein besonderes Kapitel s) gewidmet, in welchem er zunächst die
Einnahmen des Rates, sodann seine Ausgaben, schliesslich die
städtischen Finanzbeamten behandelt. Doch beziehen sich Dürre’s
Ausführungen in diesem Kapitel fast nur auf den Anfang des
') Braunschweig 1861 und Wolfenbüttel 1875.
*) 8. 314-317.
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15. Jahrhunderte, geben uns aleo einen Durchschnitt ohne aus-
reichende Anknüpfung an die vorhergehende und die nachfolgende
Entwicklung. Es ergab eich für Dürre diese Beschränkung aus
dem geringen Umfange des ihm vorliegenden Materials, ein Nach-
teil, der es auch schwierig oder unmöglich machte, mehrere
Hauptpunkte genügend klar zu stellen. Der genannte hat für
seine Arbeit die eigentlichen Rechnungen weder für das 14. noch
für das 15. Jahrhundert herangezogen, vielleicht weil ihr Vor-
handensein, als er sein Werk schrieb, noch allzu wenig oder gar
nicht bekannt war. Die grosse Finanzreform, die am Ende des
14. Jahrhunderts in Braunschweig durchgeführt wurde und schon
ausserhalb des Rahmens unsrer Betrachtung fällt, hat Dürre
allerdings nicht bei Seite liegen lassen, du der klassische Bericht
über dieselbe, die heimliche Rechenschaft, bereits sehr lange
bekannt ist. Ein einheitliches Bild von dieser Reform können
wir aber aus seinem Werke nur mit Mühe gewinnen; denn die
einzelnen Nachrichten der heimlichen Rechenschaft über That-
sachen, Vorgänge und Zustände hat jener für seine Zwecke von
einander getrennt, indem er sie bald nach chronologischen, bald
nach sachlichen Rücksichten mit andern Stoff vermischte. Sehr
verdienstlich, wenn auch nicht in allem unbestreitbar, sind die
Zusammenstellungen Dürre’s über die mannichfachen Erwerbungen
der Stadt.1) — Auch Hänselmann, dem wir die Erschliessung
so mancher Schätze des Braunschweiger Archivs verdanken, hat
die Bedeutung der Geschichte des Stadthaushaltes wohl zu
schätzen gewusst, und er hat nun vor allem auf die Wichtigkeit
der Stadtrechnungen hingewiesen, diese so zu sagen neu entdeckt.
Sehr häufig hat er in den Anmerkungen in seiner Ausgabe der
Braunschweigischen Chroniken *) zur Erläuterung die Rechnungen
herangezogen, namentlich in den Noten zur heimlichen Rechen-
schaft®) und zum Gedenkbuch Hans Porners. 4) Er eröflrhete
uns auch klare Einblicke in gewisse Perioden der städtischen
Verwaltung: dahin gehört die Kritik der Finanzverwaltung durch
den patricischen Rat vor dem Aufstande von 1374,®) dahin die
Schilderung der Verhältnisse und des Geistes, die zum Beginn
') S. 286-395; 8. 348 ff.
*) Chron. Bd. VI: Braunschweig, Bd. I, 1868.
*) Chron. VI, 8. 121—207.
*) ibid, S. 209-281.
6) ibid., namentlich S. 319—330.
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7
und zur glücklichen Vollendung des grossen Reorganisations-
werkes führten. *) Die Entwicklung der Weinschanksgerechtsame
in Braunschweig hat Hänselmann in einem besondern Aufsatze *)
behandelt, den wir ebenso berücksichtigen müssen, wie auch seine
Darstellung „Braunschweig im täglichen Kriege des Mittelalters“.8)
ferner gewährt uns die Einleitung desselben Verfassers zum
1. Bande der Chroniken dieser Stadt 4) für unsern Zweck
mancherlei Aufschluss über die grundlegenden Verhältnisse.
Kurz in jeder Hinsicht ist der folgende Versuch auf Hänsel-
manns Arbeiten aufzubauen.8)
*) ibid., S. 123-132.
’) Werkstücke, gesammelte Stadien und Vorträge zur Braunschwei-
gischen Geschichte, Wolfenbüttel 1887, Bd. I., S. 273 — 306.
*) Werkstücke 1. S. 56 — 131.
«) Chron. VI. S. XIII— XXXV.
5) Erst als diese Abhandlung schon vollendet war, kam dem Verf.
v. Kostanecki’s Arbeit „der öffentliche Credit im Mittelalter. Nach Urkunden
der Herzogtümer Braunschweig und Lüneburg. Leipzig 1889", zu Gesicht.
In dem IV. Abschnitt der letzcrn, welcher über den städtischen Credit
handelt, geht v. K. auch auf den öffentlichen Credit der Stadt Braunschweig
ein. Da indessen nur wenige Bemerkungen v. K.'s in das Gebiet der vor-
liegenden Abhandlung fallen, und dieses wenige nicht über das, was bisher
schon bekannt war, hinausgeht, so lag keine Veranlassung vor, v. K.’s Arbeit
im Texte zu berücksichtigen.
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I. Die Quellen zur Geschichte der Finanz-
Verwaltung Braunschweigs bis zum Jahre 1374.
Wenn in einem kurzen Überblicke die Quellen für die
Finanzgeschichte Braunschweigs in dem gewählten Zeitraum
betrachtet werden sollen, ist es zunächst unumgänglich notwendig,
die wichtigsten historischen Verhältnisse zu erwähnen, welchen
jene Quellen — es sind fast ohne Ausnahme Urkunden und
amtliche Aufzeichnungen — ihr Dasein verdanken, und von
denen man sich bei der Einteilung derselben leiten lassen muss.
Fünf, keineswegs gleichzeitig entstandene Weichbilde machten
in ihrer Vereinigung die Stadt Braunschweig des spätem Mittel-
alters aus: die Altstadt, der Hagen, die Neustadt, die Altewik
und der Sack. Die hier gewählte Reihenfolge giebt uns die
Abstufung in der Bedeutsamkeit der Weichbilde an; bei chrono-
logischer Ordnung würde der Altenwik der erste Platz gebühren:
sie wird urkundlich zuerst im Jahre 1031 erwähnt, während das
zuletzt entstandene Weichbild, der Sack, erst im 13. Jahrhundert
sich entwickelt hat. Den Herzogen gegenüber standen diese
fünf Weichbilde nicht alle auf gleicher Stufe. Denn im Gegen-
satz zu Altstadt, Hagen und Neustadt zahlten die Bewohner
der Altenwik und des Sacks wahrscheinlich bis gegen Ende des
13. Jahrhunderts eine bald Schoss bald Bede genannte Steuer
an die Herzoge, die auf eine besonders grosse Abhängigkeit der
beiden letztgenannten Weichbilde hinweist, eine Abhängigkeit,
welche eine scharfe Trennung dieser von den übrigen dreien
begründete. So kam es, dass im Jahre 1269 Altstadt, Hagen
und Neustadt allein dahin sich vertrugen, für gemeinsame An-
gelegenheiten einen gemeinen Rat mit gemeiner Finanzverwaltung,
der gewisse Einnahmen zufliessen sollten, ins Leben zu rufen.
Ganz allmählich wurden auch Altewik und Sack, indem die
Herzoge ihre dortigen Rechte und Hebungen, vor allem jene
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9
Bede, den drei verbundenen Weichbilden verpfändeten, in die
Einigung dieser hineingezogen. Hier rangen sie sich, wenn auch
langsam, von einer rein unterthänigen Stellung zu einer gewissen
Mitregierung, zur Teilnahme am gemeinen Rat empor.1)
Doch kann es jetzt nicht unsre Aufgabe sein, die eben kurz
angedeutete, mit dem Jahre 1345 im wesentlichen abschliessende
Entwicklung genauer zu verfolgen, wir müssen vielmehr zu der
Übereinkunft von 1269 zurückkehren. Vor derselben gab es nur
die fünf Weichbildsfinanzverwaltungen unverbunden neben ein-
ander, soweit damals überhaupt jedes Weichbild diesen Zweig
der Verwaltung ausgebildet hatte; nach der Einigung indessen
finden wir neben den weiter bestehenden Einzelverwaltungen die
gemeine Finanzverwaltung, anfangs freilich nur für Altstadt,
Hagen und Neustadt, die ihr zu Gunsten auf gewisse Geschäfte
und Einnahmen verzichteten, bald aber auch für Altewik und
Sack von Bedeutung. Der so dargelegte Gegensatz zwischen
der Zeit vor und nach 1269 ist hinsichtlich der Einteilung der
Quellen massgebend : zu der einen Gruppe des Materiale, die nur
die einzelnen Weichbilde angeht, kommt mit dem genannten
Jahre eine zweite, aus der wir die Finanzverwaltung der ge-
meinen Stadt kennen lernen. Darum muss jener Zeitpunkt einen
Einschnitt in unsrer Quellenbetrachtung bedeuten.
Aus der Periode vor der so sehr zu betonenden Über-
einkunft ist nun allerdings für unsern Zweck nur ganz wenig
erhalten: es sind ein paar Urkunden Ottos des Kindes, bis auf
eine im Original vorliegend, aber nicht alle von unbestrittener
Achtheit oder sicherer Datirung; dazu gesellen sich zwei gleich-
falls im Original erhaltene Abtsurkunden, deren eine auch als
Copie im ersten Degedingbuche des Hägens sich findet, sowie
ein in das erste Altstädter Degedingbuch aufgenommener Vertrag.
Das ist alles, was aufgeführt werden kann.
Indem wir deshalb zu den Quellen aus der Zeit nach 1269
fortschreiten, wollen wir zunächst diejenigen erwähnen, aus denen
man über die Finanzverwaltung der einzelnen Weiohbilde bis
1374 Aufschluss erhält. Die Zahl der heranzuziehenden Urkunden
ist gering, beträgt kaum mehr als zehn; meist sind es solche,
die von geistlichen Stiftern ausgestellt wurden, sie betreffen
gewöhnlich Altstädter oder auch Hagener Erwerbungen oder
') Ausführlichere Darstellung dieser Verhältnisse in der Einleitung zu
Chron. VI.
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10
Verkäufe, ln weit grösserem Umfange muss man sich jetzt auf
die Degedingbiicher stutzen, indem hier nicht nur zwischen
Dritten getroffene Abmachungen, sondern auch die Weichbilds-
räte selbst angehende eingeschrieben wurden. Sehr viel bieten
besonders das erste und das zweite Degedingbuch der Altstadt,
von denen dieses mit dem Jahre 134Ö an die Stelle jenes tritt,
viel auch das erste des Hagen; letztres schließet wie auch das
für uns weit weniger ergiebige erste Degedingbuch des Sacks
erst lange nach 1374 ab. Nur bis 1330 haben wir das erste
Degedingbuch der Neustadt zu berücksichtigen, dann wird es,
während das zweite ganz bei Seite gelassen werden kann, ersetzt
durch das sogenannte Rechtsbuch dieses Weichbildes,1) das uns
vom Anfang des 14. Jahrhunderts bis gegen Ende desselben
begleitet und ausser einer Anzahl von Statuten auch mehrere
Eintragungen finanzieller Art namentlich über Verkäufe enthält.
Für die Altewik liegt aus der hier in Betracht kommenden
Zeit kein Degedingbuch vor; in Folge dessen ist unser Wissen
von der dortigen Finanzverwultung ein ganz besonders spärliches.
Als älteste Spur umfassenderer finanzieller Aufzeichnungen,
die rein im Interesse der Einzelhaushalte der Weichbilde ge-
macht wurden, und zu denen vor allem Kämmereirechnungen
letzterer gezählt werden müssen, ist ein in lateinischer Sprache
abgefasstes, undatirtes Verzeichniss anzusehen. Dieses nimmt
anderthalb Seiten im ersten Degedingbuche der Altstadt ein *)
und stammt in seinen frühesten Bestandteilen, wie aus der
Gleichheit der Schrift einiger später hinzugekommenen, auf
Rasur stehenden Posten mit der datirter Eintragungen in dem-
selben Buche hervorgeht, noch aus der Zeit vor 1313, ist aber
sicherlich erst nach 1300 angelegt. Seine jetzige Gestalt hat es
im wesentlichen zwischen 1313 und 1320 erhalten. In diesem
Verzeichniss finden wir Zinsposten zusammengetragen, welche
die Räte in der Altstadt, dem Hagen und der Neustadt alljähr-
lich an gewisse Personen oder Kirchen zu zahlen hatten. Es
handelt sich hierbei im allgemeinen um ablösliche Renten, indem
zu Anfang jeder der drei Abteilungen unsres Verzeichnisses
festgesetzt wird, mit wie viel Mark Kapital jeder Rat eine Mark
') Däne bezeichnet das Rechtsbuch der Neustadt als erstes Degeding-
buch dieses Weichbildes und in Folge dessen das erste Degedingbuoh als
zweites.
«) fol. 68 ■ und 69.
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11
Zins wiederkaufen könne, indessen kommt auch eine Leibrente
vor. Die drei Abteilungen sind verschieden lang: die längste
ist die der Altstadt, die kürzeste die der Neustadt.
Sowohl was den Umfang als die Mannigfaltigkeit des Inhalts
angeht, wird dieses Stück von der zweiten hier zu besprechenden
Aufzeichnung weit übertrofFen. Letztere ist uns im Rechtsbuch
der Neustadt auf fol. 65 1 bis fol. 75 aufbewahrt. Sie charakterisirt
sich als ein vollständiges Verzeichniss der Einnahmen und Aus-
gaben des Rates der Neustadt an ewigen und rUckkäuflichen
Zinsen, eine Zusammenstellung, wie sie uns später, jedoch nicht
mehr vor 1374 , noch häufiger unter dem Namen Tinsbok
begegnet.1) Die Einnahmen stehen voran: zunächst die nach
Strassen geordneten unablöslichen und ablöslichen Zinse, die
der Rat von Häusern und Gärten bezieht, dann die ihm alljähr-
lich als Miete für die Verkaufsstätten im Gewandhause und die
Brot- und Fleischscharren zufliessenden Einkünfte. Die Ausgaben
zerfallen in Zinszahlungen an Geistliche und geistliche Stifter, welche
sich aus verschiedenen Rechtsansprüchen herleiten, und in die
vom Rat verkauften Leibgedinge und rückkäuflichen Renten. Sehr
viele Posten, namentlich unter den Einnahmen, sind durchstrichen,
auch Rasuren finden sich oft; Nachträge sind mehrfach hinzugefügt,
der erste derselben stammt nach seiner Datirung aus dem
Jahre 1354. Da das Zinsbuch selbst nicht datirt ist, so kann
man wenigstens aus diesem Nachtrage schliessen, dass es in
seiner ursprünglichen Gestalt vor 1354 abgefasst worden ist.
Andrerseits verbieten die klare und zweckmässige Kapitel-
anordnung, weniger der Umstand, dass das Lateinische hier
durch das Niederdeutsche verdrängt ist, ein weites Zurück-
schieben der Abfassungszeit. Aus der Schrift kann man kaum
einen sicheren Schluss ziehen: datirte Stücke von der gleichen
Hand sind im Rechtsbuche der Neustadt in ziemlicher Anzahl
anzutreffen, die ältesten derselben gruppiren sich um das Jahr
1310 herum, das jüngste fällt ins Jahr 1331.
Wirkliche Kämmereirechnungen eines Weichbildes sind
zuerst aus den Jahren 1354 und 1355 erhalten; zugleich sind
diese die einzigen, welche für unsre ganze Periode vorliegen.
•) So das Zinsbuch der Altstadt von 1878 und die Zinsbücher aller fünf
Weichbilde von 1398 und 1402.
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12
Sie finden sich in einer 28 Blätter umfassenden Papierhandschrift,
in der vier Rechnungen vereinigt sind: diejenigen der Altstadt
und der gemeinen Stadt von 1354, dann die gleichen von 1355.
Die Titelseite der Altstädter Rechnungen trägt ein grosses,
verziertes A (antiqua civitas), die der gemeinen Rechnung von
1354 ein entsprechendes C (communis civitas), welches bei
derjenigen von 1355 fehlt. Alle diese vier Stücke sind von ein
und derselben Hand geschrieben und in lateinischer, ab und an
mit niederdeutschen Brocken untermischter Sprache verfasst.
In beiden Altstädter Rechnungen — die der gemeinen Stadt
sind erst später genauer zu betrachten — gehen die Ausgaben
den Einnahmen voran, nur ein Kapitel jener steht in ihnen ganz
am Schluss : es ist das der Aufwendungen für Ankauf vor-
nehmlich von Häuserzinsen. Ausser diesem Kapitel sind die
Ausgaben nur noch in die Rubrik der Leibrentenzahlungen und
in die der sämmtlichen übrigen Ausgaben geteilt. Letztere ist
die umfangreichste in jeder der beiden Rechnungen, die in ihr
zusammengetragenen Posten scheinen nach chronologischem
Princip geordnet zu sein. Was die Einnahmen anbetrifft , so
sind auch diese in drei Kapitel eingeteilt: die Einnahmen an
Zinsen vom Weichbildsgut, die Einkünfte aus dem Verkauf von
Renten und die Rubrik , unter der alle übrigen Einnahmen ver-
einigt sind. Am Schluss jeder Seite und jeden Kapitels sind,
jedoch nicht ganz ohne Ausnahme, die Gesammtsummen der
aufgeführten Posten angegeben, ferner finden wir auch in beiden
Rechnungen die löbliche Absicht, das Facit aller Ausgaben zu
ziehen, die indessen nur unvollkommen zur Ausführung gelangt;
bei den Einnahmen ist etwas ähnliches gar nicht versucht, so
dass von Aufstellung einer Bilanz keine Rede sein kann. Zu
Beginn der so gestalteten Rechnungen der Altstadt sind, was
endlich noch bemerkt werden mag, die Namen der beiden
Kämmerer dieses Weichbildes genannt.
Unter den Quellen für die Geschichte des öffentlichen
Haushalts der gemeinen Stadt zwischen 1269 und 1374 sind
zuerst wieder die Urkunden zu nennen; sie sind in nicht
unbeträchtlicher Anzahl bei diesem Teile unsrer Arbeit zu berück-
sichtigen und, wenn auch über die ganze Periode zerstreut, doch
besonders reichlich, wie es ja natürlich ist, aus den letzten Jahr-
zehnten derselben vorhanden. Bei weitem die meisten sind
Verpfändungsurkunden oder Scbuldbescheinigungen der Herzoge,
welche ziemlich vollzählig in dem Sudendorf sehen Urkunden-
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buche ’) Aufnahme gefunden haben. Hierzu gesellen sich seit
1342 eine Menge von Eintragungen im ersten Gedenkbuche.
Dieses ist für die gemeine Stadt von gleichem Werte, wie fiir
die Weich bilde die Degedingbücher und enthält viele Abmachungen
und Bestimmungen, manche kurze Bemerkungen und längere
Berichte, die in das Gebiet der gemeinen Finanzverwaltung
fallen. Die Kenntniss der letztem läset sich gelegentlich auch
aus dem oben bereits erwähnten Rechtsbuche der Heustadt
erweitern.
Wie von den Rechnungen der Weichbilde, so sind von
denen der gemeinen Stadt aus der bezeichneten Periode nur
noch traurige Reste übrig. Der älteste dieser Reste ist ein
Fragment aus dem Jahre 1331, erhalten auf einem langen,
schmalen Pergamentblatte. Auf der Rückseite desselben sieht
man an einigen Stellen unleserliche Schriftzüge, die aus spätrer
Zeit zu stammen scheinen, die Vorderseite zeigt in der Schmal-
seite des Blattes parallel laufenden Zeilen eine Reihe von Aus-
gabeposten. Diese Ausgaben machten, einer einleitenden Be-
merkung zufolge, im Jahre 1331 die Ratsherrn Braunschweigs,
womit nur der gemeine Rat bezeichnet sein kann. Eine Ein-
teilung der sehr verschiedne Gebiete berührenden Posten — im
ganzen sind es 69 — ist nicht vorhanden, eben so wenig ist eine
Gesammtsumme gezogen. Zur nähern Besprechung wird der
Inhalt erst im Hauptteile gelangen. *)
An die Schilderung des Stückes von 1331 muss hier unmittel-
bar die der gemeinen Kämmereirechnungen von 13&4 und 1355
gereiht werden, da aus der Zwischenzeit nichts derartiges
erhalten ist. Die enge äusserliche Verbindung und Verwandt-
schaft jener beiden Rechnungen mit denen der Altstadt aus den-
selben Jahren war oben bereits betont worden, im übrigen aber
fehlt es nicht an durchgreifenden Unterschieden zwischen letztem
und den erstgenannten. Vor allem ist zu bemerken, dass, während
die Altetädter Rechnungen sowohl Ausgaben als Einnahmen
enthalten,' in denen der gemeinen Stadt nur Ausgaben sich finden.
Von diesen nehmen, wie dort, die in sachlicher Hinsicht bunt
durcheinander gewürfelten Posten den meisten Platz ein, sind
indessen nicht in ununterbrochener Reihe aufgeführt, sondern in
*) Sudendorf, Urkundenbach zur Geschichte der Herzoge von Braun-
schweig und Lüneburg und ihrer Lande, 11 Bde., Hannover 1869— 1883.
*) cf. II cap. 3.
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mehreren von einander getrennten Stöcken. Chronologische
Ordnung kann ihnen höchstens 1354 zu Grunde liegen. Ein
eignes Kapitel ist den Ausgaben an Leib- und rückkäuäichen
Renten eingeräumt , ebenso dem Sold für die bewaffnete
Mannschaft sammt den Kosten für die Unterhaltung und
Miete der Pferde; die Aufwendungen, welche der Ersatz
von Pferdeschaden erforderte, sind nur in der Rechnung
von 1354 in einer besondern Rubrik vereinigt. Schliess-
lich haben auch einige im Pfandbesitz der Stadt befind-
liche Schlösser in beiden Rechnungen eigene Kapitel erhalten,
wo die mannigfaltigen Ausgaben, die Verwaltung und Nutzbar-
machung dieser Schlösser mit sich brachten, zusammengetragen
worden sind. Mehrere Inconsequenzen der so sich darstellenden
Kapiteleinteilung treten schon durch das gesagte zu Tage; dazu
kommt nun aber noch, dass die Grenzen zwischen den Misch-
rubriken und den speciellen Kapiteln durchaus fliessende sind,
denn manche Ausgaben, die eigentlich in eins der letztem hinein-
gehören, haben in einer der erstem ihren Platz gefunden. Am
Ende jeder Rubrik, in der Regel am Ende einer Seite, zuweilen
auch am Schluss grösserer Abteilungen ist das Facit angegeben ;
ferner hat man die Gesammtsumme der Ausgaben des betreffenden
Jahres zu ziehen versucht, doch ist es dabei nicht anders gegangen,
wie in den Altstädter Rechnungen: auf die gefundenen Summen
folgen noch, namentlich 1355, eine ganze Anzahl nicht mit ein-
gerechneter Aufwendungen. Die Rechnung von 1355 ist uns
nur unvollständig überkommen. Das erhellt zunächst daraus,
dass bei Aufstellung der Gesammtsumme ein Betrag von fast
1000 Mark mit hineingezogen wird, von dem man nicht weis*,
woher er kommt. Sodann fehlen in dem uns erhaltenen Stück
ungefähr die Hälfte der Leibrenten- und Weddeschatzzahlungen,
wie später nachzuweisen sein wird.1) Endlich wird unsere Be-
hauptung auch durch einen Vergleich der Anfänge der beiden
gemeinen Rechnungen erhärtet. Während die von 1354 mit den
Namen der beiden Kämmerer gemeiner Stadt beginnt, ist dies
bei der von 1355 nicht der Fall , und während dort der erste
Ausgabeposten mit imprimis eingelcitet ist, wird er es hier durch
das auf vorangehendes hinweisende item.
Gemeine Kämmereirechnungen liegen aus unsrer Periode
nicht weiter vor, die nächsten fallen erst in den Anfang des
') cf. II. cap. 7.
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16. Jahrhundert»; dagegen ist hier noch einer andern acten-
mässigen Quelle rein finanziellen Inhalts zu gedenken, weil sie
bereit» mit 1361 einsetzt. Es ist das älteste erhaltene Wedde-
echatzregister, ein starker Pergamentcodex in Grossfolio, der
dazu bestimmt war, über den Verkauf ablöslicher Renten durch
den gemeinen Rat ausgestellte Briefe in Abschriften aufzunehmen.
.Freilich wurde dieses Register erst 1396 angelegt, geht aber, wie
gesagt, bis 1361 zurück und enthält aus der Zeit von 1361 bis
1374 dreizehn solcher Weddeschatzbriefe; ein älteres Wedde-
scbatzregister hat es gegeben, doch ist dasselbe nicht mehr vor-
handen. *) Copieen von früher als 1374 ausgefertigten Leib-
rentenbriefen können nicht nachgewiesen werden: das erste der
auf uns gekommenen Leibgedingsregister, welches wahrscheinlich
gleichfalls 1396 eingerichtet wurde, *) beginnt mit Stücken aus
dem Jahre 1392.
Während bisher nur von Überresten geschäftlichen Materials
die Rede war, soll endlich noch eine mehr in das Gebiet der
Chroniken gehörige Quelle wenigstens mit einigen Worten
erwähnt werden. Wir- meinen die heimliche Rechenschaft, jene
schon verschiedentlich genannte, ohne Frage auf bestem amt-
lichen Material und reicher persönlicher Erfahrung beruhende
Darstellung der Verwaltungsreform in Braunschweig am Ende
des 14. Jahrhunderts. Über Veranlassung, Zeit der Abfassung
und den Verfasser der heimlichen Rechenschaft, sowie über ihren
rein officiellen Charakter ist alles wesentliche von Hänselmann
bereits gesagt worden. *) Für diese Arbeit kommt zunächst der
erste Teil jener in Betracht, wo die starke, plötzlich eintretende
Verschuldung der Stadt kurz vor dem Aufstande und ihre
Ursachen geschildert werden, dann aber auch der zweite, in dem
bei Besprechung der verschiedenen Reformen auch die vor
Durchführung der letztem bestehenden Missbrauche und Un-
vollkommenheiten erörtert werden. Unmittelbarer noch als die
heimliche Rechenschaft klären uns über den Einfluss der finanziellen
Verhältnisse auf den Ausbruch des Aufstandes einige gleich-
*) Auf diese« ältere Weddeschatzregister wird verwiesen in der Heim-
lichen Rechenschaft, Teil 1. Kap. 2 (Chron. VI, S. 136); dort ist auch die
Anm. 3. zu vergleichen.
*) Sein Äussere9 stimmt nämlich vollständig mit dem unsres Wedde-
schatzregisters überein; in beiden ist die älteste Hand die gleiche.
*) Chron. VI. 8. 123-132.
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falls von Hänselmann gedruckte Briefe auf. ') Dieselben richteten
bald nach jenem Ereignisse teils die aufständischen Gilden, teils
die vertriebenen Geschlechter an andere Städte, um sich selber
zu rechtfertigen und die Gegner anzuklagen. Durch Combination
dieser von entgegengesetzten Stundpunkten aus geschriebenen
Briefe wird sich manches thatsächliche feststellen lassen.
Uber das Münzwesen der Stadt Braunschweig, dessen genaue
Kenntniss für eine recht vollständige und fruchtbare Ausnutzung
des geschilderten Materials, namentlich der Rechnungen nicht zu
entbehren ist, sind leider noch keine eingehenden Untersuchungen
veröffentlicht : 4) so ist eine Umrechnung der damaligen Braun-
schweigischen Münze in unsre heutige Reichsmünze vorerst nicht
möglich. Gerechnet wird in den aufgeführten Quellen einerseits
nach mark, ferding, lot und quentin3), andrerseits nach pfund,
Schilling und pfennig. Bei der Aufstellung von Gesaraintsummen,
überhaupt bei Anführung von grossem Beträgen finden wir das
Pfundsystem regelmässig auf das Marksystem reducirt , welch'
letzteres somit in der Rechnung den ersten Rang einnahm. Aus
diesen Reductionen ergiebt sich für die Braunschweigische Mark
ein Durchschnittswert von 30 Schillingen, ich sage ein Durch-
schnittswert, denn in Folge der zu Anfang jedes Jahres durch-
gefdhrten Münzumsetzung4) war bis ins 15. Jahrhundert der
Kurs der Mark zu verschiedenen Zeiten des Jahres ein ver-
schiedener. Rechenfehler kommen in unsern Quellen nicht selten
vor; den Grund hiervon werden wir einerseits in den verwickelten
Münzverhältnissen, andrerseits in dem ausschliesslichen Gebrauch
der römischen Ziffern 6) zu sehen haben. Übrigens sind ja solche
■) ibid. S. 346 bis 348 Anklagescbreiben der Vertriebenen gegen die
Gilden; S. 350 und 351 Anklageschreiben der Gilden gegen die Vertriebenen:
S. 357 bis 361 Rechtfertignngsscbreiben der Vertriebenen.
*) Das einzige Werk, das hier erwähnt werden kann, ist Bode, das
ältere Münzwesen der Staaten und Städte Niedersachens, Braunschweig 1847.
*) 1 mark = 4 ferding = 16 lot = 64 quentin. 1 pfd. = 30 schill. =
240 pfenn.
*) Über die HUnznmsetzung im Anfang des 15. Jahrh. giebt äusserst
wertvolle Aufschlüsse das leider noch nicht herausgegebne und erklärte
Münzbuch Hans Porners. Zura 3. Bde. der Braunschw. Chron. wird darüber
eine Beilage Häuselmann’s zu erwarten sein. cf. Vorwort zum 2. Bde. der
Braunschw. Chron. (Chron. XVL) S. V.
•) Erst im Anfang des 15. Jahrh. finden sich in den Braunschweiger
Quellen arabische Ziffern (3 und 4) und zwar in Vermischung mit römisches.
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lrrtümer ein Charakteristicum der meisten mittelalterlichen Be-
rechnungen, ’) so dass wir uns wundern müssten, wenn sie gerade
im Braunschweigischen Material fehlten. Auf eine durchgreifende
Berichtigung derselben sich einzulassen, würde sehr gewagt sein,
da bei unsrer wie gesagt so unvollkommenen Kenntniss des
Münzwesens Braunschweigs wir häufig dort einen Rechenfehler
erblicken können, wo in Wahrheit gar keiner vorliegt.
*) So zum Beispiel begegneten «ie Koppmann in den Hamburger
Kämmereirechnungen ; of. Hamb. K. I. S. XXIII.
Kack, Finanxgcschicht« der Stadt Braun schweig.
li
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II. Die Geschichte der Finanzverwaltung
Brannschweigs bis zum Jahre 1374.
I. Die Finanzverwaltung
in den fünf Weichbilden Braunsehweigs bis 1269.
Über die Anfänge einer geregelten Finanzverwaltung der
Stadt Braunschweig liegen so gut wie gar keine Überlieferungen
vor. Deshalb können wir uns nur einen höchst ungenügenden
Einblick in diese Anfänge verschaffen, einen Einblick, der
namentlich auch dadurch erschwert wird, dass Braunschweig,
wie oben bereits ausgeführt wurde, ’) allmählich zusammen-
gewachsen ist aus verschiedenen, zu verschiedenen Zeiten ent-
standenen und verschiedenartigen Teilen, den Weichbilden.
Und wie auf andern Gebieten, so haben sich auch auf dem der
Finanzverwaltung die fünf Weichbilde zunächst in vollständiger
Trennung von einander entwickelt, wodurch jedoch nicht aus-
geschlossen ist, dass diese erste Entwicklung in den rechtlich
auf wesentlich gleicher Stufe stehenden im grossen und ganzen
die gleiche gewesen sein kann. Anders allerdings wird sich der
öffentliche Haushalt in der Altstadt, dem Hagen und der Neu-
stadt in seinen Anfängen ausgebildet haben, andere im Sack und
der Altenwik, welch’ letztere ursprünglich in grundherrlicher
Abhängigkeit von den Herzogen gestanden haben;9) vergeblich
aber werden wir uns bei der Unvollständigkeit unsrer Über-
lieferung bemühen, die sämmtlichen oder auch nur die wichtigsten
Unterschiede zwischen diesen beiden hauptsächlichsten Ent-
wicklungsreihen festzustellen.
Von allen Weichbilden Braunsehweigs lässt sich zuerst im
Hagen das Bestehen einer Finanzverwaltung nachweisen. Es
*) of. S. 8.
») c£ Chron. VI, S. XVIII. und XIX.
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kommt dafür die von Hänselmann ins Jahr 1227 gesetzte
Urkunde Herzog Ottos des Kindes in Betracht, *) in welcher er
dem Hagen alle Rechte und Freiheiten bestätigt, die demselben,
wie der Aussteller angiebt, von Anfang seiner Gründung an
Herzog Heinrich der Löwe zugestanden habe. Das zweite der
aufgeführten Privilegien bestimmt nämlich, dass die Bürger des
Weichbildes einen aus ihrer Mitte zum Vogt wählen sollen, der
von den aufgenommenen Gerichtseinkünften ein Drittel der
Herrschaft abzuliefern habe. Die übrigen zwei Drittel werden
dem Weichbilde zugewiesen, damit man sie für dessen Nutzen
und Bedürfnisse verwende. Hier ist demnach sowohl von öffent-
lichen, wiederkehrenden Einnahmen als auch von öffentlichen, aus
diesen Einnahmen zu bestreitenden Ausgaben die Rede. In
Folge dessen sind wir berechtigt zu behaupten, dass im Hagen
schon seit seiner Gründung durch Heinrich den Löwen eine
Finanzverwaltung des Gemeinwesens, zum mindesten Ansätze
dazu bestanden haben. Damit ist aber auch unser Wissen über
diese Verhältnisse in so früher Zeit, in der zweiten Hälfte des
12. Jahrhunderts erschöpft.
Annähernd in die gleiche Zeit, in der dera Hagen die
Privilegien Heinrichs des Löwen neu bestätigt wurden , fallen
diejenigen Urkunden, welche zuerst die Existenz einer Finanz-
verwaltung in dem bedeutendsten Weichbilde, der Altstadt,
bezeugen. Zunächst nämlich enthält das von Otto dem Kinde
') Hänselmann , Urkundcnbuch der Stadt Braunschweig. I. Bd.
Statute und Rechtsbriefe; Braunschweig 1873, S. 2, § 4. — Docbner, die
Städteprivilegien Herzog Otto des Kindes etc., Hannover 1882, S. 7, will
«las Privileg für den Hagen erst nach 1235 setzen, aus Gründen, denen
unsrer Ansicht nach die Beweiskraft fehlt. Von diesen Gründen wird der
zweite, dass das Siegel den Titel dux de Bruneswic und nicht princeps et
dominus de Luneburg aufweist, von Doebner selbst als wenig gewichtig
hingestellt, während der erste von der kaum haltbaren Ansicht ausgeht, die
Gemeinde hätte damals die ersten Schritte zur Erlangung der Autonomie
noch nicht zurückgelegt gehabt (cf. über die Entwicklung des Hagen
Chrom VI, S. XVI und XVII). Andrerseits ist wohl nioht zu leugnen, dass
der Bericht der Braunschweiger Reimchronik zum Jahre 1227, wonach der
Herzog „gaph den borgeren gnade vil“, sowie die Angabe im Privileg der
'Wantschneider im Hagen, Otto das Kind habe das Recht der Wantschneider
— und wohl auch die übrigen Rechte des Hagen — bestätigt , „cum
intraret civitatem“, sehr starke Stützen für Hänselmann's Datirung abgeben
cf. Br.-Ü. I, S. 1—3.
2*
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der Altstadt erteilte Recht') — Hänselmann, dem wir auch hier
uns anschliessen , setzt die betreffende Urkunde gleichfalls ins
Jahr 1227’) — zwei in jener Hinsicht belangreiche Artikel.
■) Br. U.-B. I, 8. 3 ff., §§ 4 u. 50. — Von der frühem, auch von Dürre
8. 95 ala wahrscheinlich bezeiohneten Annahme Hänselmann's (a. a. O. 8. 3
und 4), dass das ottonische Hecht vod 1227 der Altstadt, dem Hagen und
der Neustadt erteilt sei , wird man mit diesem Gelehrten jetzt ahsehen
müssen. Denn zunächst besass die Neustadt das Hecht der Pfarrerwabl,
welches nach dem Artikel 54 jener Urkunde den Inhabern derselben
zustand, im 13. Jahrh. wenigstens nicht, da dieser Artikel in dem das
Hechtsbuch der Neustadt eröffnenden Stadtrechte (Br. U.-B S. 21 ff.) fehlt,
und nioht anzunehmen ist, die Pfarrerwahl sei dem genannten Weichbilde,
nachdem es dieselbe einmal erhalten, wieder genommen, (cf. auch Dürre
8. 473.) Hiernach wäre ja aber noch möglich, dass sich die Verleihung
Ottos auf Altstadt und Hagen erstreckt habe. Dem widerspricht jedoch,
dass im Artikel 60 die Empfänger des Rechts „de borgere van Bruneswich*
genannt werden. Denn es kommt zwar vor, dass der Altstadt allein der
Name Bruneswich beigelegt wird (Br. U.-B. 8. 3), nie aber werden Altstadt
und Hagen zusammen so bezeichnet, und dass in diesem einzelnen Falle
eine Ausnahme von der Hegel gemacht worden wäre, ist um so weniger
glaubhaft , weil zu einer solchen Bezeichnung gar kein Anlass vorlag.
Otto das Kind begabte also 1227 die Altstadt allein mit jenem Stadtrecht.
Dieselben Gründe scheinen es mir zu gebieten, das Stadtrecht des
Herzogs Johann von 1265 der Altstadt allein zuzuweisen.
Im Anschluss hieran sei bemerkt, dass unsrer Meinung nach das Privileg
Ottos des Kindes von 1245 (Br. U.-B. S. 10), in dessen erstem Teile allen
Einwohnern der Altenwik das Recht verliehen wird, mit den von ihnen
bereiteten Laken in gleicher Weise Handelschaft zu treiben, wie dies in der
Altstadt geschehe, durch den Satz: Et per omnia tale ius damus ipsis. quod
habent nostri burgensesantique civitatis, ut illud servent perpetuo in Universum
(Doebner a. a. O. 8. 25 inconvulsum) keineswegs das ganze Altstädter
Stadtrecht an die Altewik überträgt. Denn einmal wäre es sonderbar,
wenn ein so umfassendes Privilegium nur ganz beiläufig, als Anhängsel
einer sehr speciellen Bestimmung, erteilt worden wäre, andrerseits wider-
spricht dem auch die noch lange nachher so untergeordnete Stellung der
Altenwik der Altstadt, dem Hagen und der Neustadt gegenüber. Wahr-
scheinlich drückt dieser Satz nur die Verleihung der Innungsorduungen der
Altstadt an die Altewik aus. Hänselmann lässt Br. U.-B. S. 10 die Frage
unentschieden, während er sich Chron. VI, 8. XIX fiir die von uns ver-
worfene Auslegung erklärt.
*) Frensdorff, über das Alter mittelalterlicher Hechtsaufzeichnungen,
Hansische Geschichtsbl. 1876, S. 97 — 142, und ihm folgend Doebner (a. a. O.
8. 6) bestreiten, dass das ottonische .Stadtrecht schon ins Jahr 1227 zu
setzen sei. Ihre Gründe sind jedoch, wie wir meinen, nicht durchschlagend
genug, um eine Abweichung von Hänselmann’s Datirung zu rechtfertigen.
Gengier, cod. iur. munic. Germ. I, 287 setzt das Ottonianum in die Zeit
zwischen 1245 und 1252.
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Der eine derselben ist dem oben besprochenen Privileg des
Hägens sehr ähnlich, indem er dahin lautet, dass, falls Jemand
einen andern verwundet oder getödtet habe und nach vollbrachter
That flüchtig geworden sei, sein Haus mit Beschlag belegt
werden und ein Drittel seines Wertes dem Gerichte, zwei Drittel
dem Weichbilde zufallen sollten. Wiederum begegnen uns also
öffentliche Einnahmen aus Gerichtsgefällen, nur ist in diesem
Falle ihr Kreis beschränkter. In dem andern und wichtigem
der beiden heranzuziehenden Artikel begnadigt der Herzog
diejenigen Bürger mit einer gewissen Zollfreiheit, welche auf
eine Weile aus der Stadt fahren und in ihr Schosses und
Rechtes pflegen. Dieser letzte Satz verdient besondere Beachtung,
denn es geht aus ihm hervor, dass von den Bürgern der Altstadt
damals bereits der Schoss, die weiter unten näher zu besprechende
directe Steuer, erhoben zu werden pflegte; wir sagen pflegte, da
unsre Urkunde, die den Schoss nur an dieser einzigen Stelle
erwähnt, von ihm wie von einer schon geraume Zeit bestehenden
Einrichtung spricht: wird doch hier das Zahlen des Schosses
als das eine der beiden Erkennungszeichen eines vollberechtigten
Bürgers aufgeführt. Und dass dieser Schoss in den Säckel des
Weichbildes floss, eine stehende Einnahme desselben bildete, ist
nicht zu bezweifeln, denn den Herzogen gegenüber waren die
Bürger der Altstadt keinesfalls zu einer solchen Abgabe ver-
pflichtet.
Nicht auf Grund von Vermutungen, sondern auf Grund ihrer
eignen bestimmten Datirung ist dem Jahre 1227 eine andre
Urkunde Ottos des Kindes zuzuweisen, die ebenfalls ein Licht
auf die finanziellen Verhältnisse der Altstadt als Gemeinwesen
wirft. In dieser Urkunde bekennt der Herzog, dass er den
Bürgern des genannten Weichbildes seine dortige Vogtei mit
allen an ihr haftenden Rechten und allem Nutzen gegen eine
jährliche Zahlung von 30 Pfund Braunschweigischer Pfennige
geschenkt habe.1) Ein solcher Kaufvertrag setzt notwendig eine
ziemlich hohe Entwicklung der Finanzverwaltung der Altstadt
voraus: wir sehen, wie sich dieses Gemeinwesen damals nicht
') Kudendorf VI, 106. — Frensdorff (a. a. O. S. 123) und Doebner
(a. a. O. S. 7) zweifeln die Achtheit dieses Privilegs an, doch wird es von
keinem der beiden entschieden verworfen. Sudendorf (VI, 105) und Hänsel-
mann (Chron. VI, S. XXIX) haben, wie mir scheint mit liecht, die Ächt-
heit der Urkunde gar nicht angezweifelt.
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mehr die Befriedigung «einer nächsten Bedürfnisse allein als
Aufgabe stellte, sondern wie es bereits fortgeschritten war zur
Erwerbung nutzbarer Hechte, indem es zu diesem Zwecke die
öffentlichen Ausgaben um eine jährliche Rente vermehrte.
Weitern Aufschluss über das Wesen des Altstädter Haus-
haltes giebt erst wieder eine Urkunde des Jahres 1249.*)
Teodericus, Abt des Aegidicnklosters in der Altenwik, bekennt
in ihr, dass er vom Rate der Altstadt gegen 13 Schillinge
„wortpenningeu 8 Schillinge, die ihm alljährlich am 24. Juli
zu zahlen seien, eingetauscht habe. Zum ersten Male begegnen
uns hier urkundlich als Einnahme eines Weichbildes die Wort-
zinse, welche später in den Zinsbüchern häufig genannt werden,
während sie in den Rechnungen von den ewigen und ablöslichen
Hauszinsen gar nicht geschieden sind. Es kann jedoch nur rein
zufällig sein, dass sie in der Überlieferung jetzt erst unter den
öffentlichen Finanzen Vorkommen. Denn wie die Herzoge, wie
begüterte geistliche Stifter und auch reiche Private Grund und
Boden gegen unablöslichen Grundzins austhaten, so hat sicher-
lich auch der Rat der Altstadt, sobald sich diese zum Gemein-
wesen ausgebildet hatte, damit begonnen, diejenigen Teile der
Weichbildsalmende, welche man nicht zu andern Zwecken, wie
Strassen- und Befestigungsanlagen bedurfte, in Bauplätze zu
zerlegen und namentlich an Neubürger gegen Wortzins zu über-
lassen. Auch im Hagen und in der Neustadt, in denen, wie in
der Altstadt, von einem herrschaftlichen Wortzinse nichts
verlautet, *) also wohl eine freie Almende vorhanden war, wird
man letztere auf gleiche Weise dem gemeinen Besten dienstbar
gemacht haben. — Dass freilich nicht nur auf dem eben
beschriebenen Wege ein Weichbild in den Besitz von Wortzinsen
kommen konnte, lehrt jene Urkunde von 1249. Die dort
erwähnten Wortpfennige erwirbt die Altstadt durch Tausch und
zwar vom Aegidienkloster, dem vor allem die Bürgerschaft der
Altenwik mit Grundzins verpflichtet war.*)
Eine Zinserwerbung andrer Art, welche wiederum für die
Altstadt gemacht wird, finden wir durch eine Eintragung zum
Jahre 1268 im Altstädter Degedingbuche bezeugt. 4) Der Bürger
') Orig.-U. im Br. St.-A.
«) Chron. VI, S, XIV, XVII, XVIII.
*) Chron. VI, S. XVIII.
•) A D. I, iol. 13.
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Sevenbrot verkauft dem Rate sein Haus, erhält dasselbe jedoch
von diesem zurUck, indem ihm die Verpflichtung auferlegt wird,
jährlich 24 Schillinge Zins zu zahlen. Ob wir es hier mit
unablöslichem Zinse, sogenanntem Erbenzinse, oder mit ablös-
lichem, sogenanntem Weddeschatz, zu thun haben, kann nicht
festgestellt werden. Doch erkennt man aus dieser Gebahrung,
dass der Rat als Leiter der Finanzverwaltung bestrebt ist, die
öffentlichen Gelder möglichst sicher anzulegen.
Fast alle bisher besprochenen Reste der Überlieferung bezogen
sich auf die Verhältnisse der Altstadt; nur eine Angabe, allerdings
die am weitesten zurückgreifende, gab uns Auskunft über ein
anderes Weichbild, den Hagen. Das nächste den Haushalt des
letztem berührende Stück , eine Urkunde , stammt erst aus dem
Jahre 1268. *) In derselben erklären Abt und Convent des
Klosters Riddagshausen, dass der Rat des Hagen ihren von einem
Bürger gekauften Hof am Redingerthor mit einer Ausnahme von
allen dem Weichbild zu leistenden Pflichten, namentlich aber von
Schoss- und Wachtpflicht, gegen einen Jahreszins von 5 Schillingen
befreit habe. Im Hagen wurde also zu jener Zeit bereits Schoss
erhoben , was freilich auch ohne das Vorhandensein dieser
Nachricht für gewiss angenommen werden könnte. Ferner aber
erscheint hier überhaupt zum ersten Male in Braunschweig die
Ablösung der städtischen Pflichten von Gütern in geistlichem
Besitz durch eine feste dem Gemeinwesen zu zahlende Rente,
ein Vorgang, der sich später oft wiederholt, indem von Be-
sitzungen und Einkünften, die an Geistliche oder geistliche
Stifter fallen, die Schosspflicht durch den sogenannten Schosszins
abgelöst wird.
Wie sich nun bis zu dem so einschneidenden Jahre 1269
die Verwaltung des öffentlichen Haushalts in den vorher nur
beiläufig berührten Weichbilden Sack, Altewik und Neustadt
entwickelte, darüber mangelt jede directe Auskunft durch die
Überlieferung. Nur mit mehr oder weniger sicheren Vermutungen
kann man die hier auftauchenden Fragen beantworten. Durch
die Fesseln ihrer weitgehenden Abhängigkeit von den Herzogen
beengt waren Altewik und Sack, welch’ letzterer überhaupt eben
erst entstanden oder noch im Entstehen begriffen war,*) 1269 wohl
noch nicht zu der Selbstständigkeit in der Finanzverwaltung
') O.-U. im Br. St.-A. und H. D. I, fol. 1.
*) Chron. VI, S. XIX.
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gelangt, wie sie uns in den wenigen Nachrichten für Altstadt
und Hagen bezeugt ist. Vor allem fehlte ihren Bürgern wahr-
scheinlich das Recht, sich selbst zum Nutzen des Gemeinwesens
zu besteuern ; denn der Schoss , welchen sie allerdings zahlten,
wurde den Herzogen entrichtet, beziehungsweise für diese von
den schon früh dort angetroffenen Räten erhoben. Vielleicht hat
beiden Weichbilden auch eignes Vermögen, insbesondere der
Besitz von Wort- und Erbenzinsen noch völlig gemangelt, da sie
doch wohl über eine freie Almende nicht verfugen konnten.
Mit grösserer Sicherheit wird man ein Urteil über die
entsprechenden Verhältnisse in der Neustadt fällen können. Wie
der Hagen von Heinrich dem Löwen gegründet und im wesent-
lichen mit ihm auf gleicher Stufe stehend wird sie ihre Finanz-
verwaltung in derselben Weise wie jener ausgebildet haben.
Aber wir können noch einen Schritt weiter gehen: in der Neustadt
sowohl als im Hagen ist man, was die Grundzüge der Verwaltung
anbetrifft, wahrscheinlich dem Vorbilde der benachbarten Altstadt
gefolgt, des ältesten Weichbildes nächst der Alten wik und des
entwickeltsten von allen. Diese Annahme wird durch den
Umstand fast zur Gewissheit erhoben, dass im Hägener und
Neustädter Rat von vornherein Angehörige angesehener alt-
städtischer Geschlechter gesessen haben, ‘) welche Einrichtungen
und Gebräuche der Altstadt mit Notwendigkeit auf jene beiden
jüngern Weichbilde übertragen haben müssen.
2. Die Einigung von 1269.
Unter der Einwirkung der geschilderten Verhältnisse hatten
sich die gegenseitigen Beziehungen der fünf Weichbilde am Ende
der sechziger Jahre des 13. Jahrhunderts etwa folgendermassen
ausgestaltet: auf der einen Seite standen Altewik und Sack,
nicht selbstständig genug, um an dem kräftigen Emporstreben
der übrigen Weichbilde teilzunehmen, auf der andern Seite
Altstadt, Hagen und Neustadt, durch viele gleiche politische
und wirtschaftliche Interessen mit einander verbunden und, was
gar nicht zu unterschätzen, auch durch Verwandtschaft zwischen
den in ihnen regierenden Geschlechtern an einander gekettet.
AUes dieses drängte mit Macht auf einen engem Zusammen-
schluss der letztgenannten drei Weichbilde hin. 1269 fand
derselbe seine Verwirklichung, indem am 18. November dieses
*) Chron. VI, S. XX.
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Jahres die betreffenden Bäte eine Einigung abschlossen, mit
deren Inhalt und Zielen uns die darüber ausgestellte Urkunde
bekannt macht.1) Über die Angelegenheiten der durch die Ver-
bindung entstehenden Gesammtstadt, so lautet die erste Bestimmung,
soll von Ratsherrn aus allen drei Weichbilden, 10 aus der Altstadt,
6 aus dem Hagen und 4 aus der Neustadt, gemeinsam beraten
werden. Die Erneuerung dieses Rates wird genauen Festsetzungen
unterworfen. Ferner wird — und hierauf muss besonders Gewicht
gelegt werden — bestimmt, dass Schoss- und Zinseinkünfte *) der
vereinigten Weichbilde in eine gemeinsame Kasse fliessen sollen
zur Bestreitung von Ausgaben für Nutz und Noth der, wie es
später heisst, gemeinen Stadt. Schliesslich wird auch die Aus-
übung der Weinschanksgerechtsame geregelt: in der Altstadt soll
beständig Wein verkauft werden, nur beschränkte Zeit hindurch
im Hagen und in der Neustadt, indem immer abwechselnd hier
und dort ein Fass verzapft werden soll.
Sicherlich ist die Bedeutung dieses Vertrages keine geringe:
eine Centralbehörde und eine Centralkasse mehrerer Weichbilde
wurden durch ihn geschaffen, gewiss ein grosser Fortschritt
gegenüber der bisherigen Zersplitterung. Auf der andern Seite
darf aber auch die Tragweite der Einigung nicht überschätzt
werden. Denn einmal waren dem gemeinen Rate nur die An
gclegenheiten der Gesammtstadt zur Behandlung überwiesen,
während die innern Verhältnisse der einzelnen Weichbilde offenbar
den weiter bestehenden Sonderräten unterstellt bleiben sollten.
Ferner aber sollte im besondern die Finanzverwaltung der
einzelnen Weich bilde in der der gemeinen Stadt keineswegs
völlig aufgehen. Zwar waren ja Schoss- und Zinseinkünfte,
welche jetzt der gemeinsamen Kasse zugewiesen wurden, ohne
Frage bisher die wichtigsten Einnahmen der Weichbilde gewesen,
aber doch nicht die einzigen. Die Sonderkassen wurden also
durchaus nicht überflüssig. Indessen ausser diesem negativen
') Br.-U. 8. 15.
*) Dass dies hier die richtige Übersetzung von redditas ist, scheint
keinem Zweifel zu unterliegen. Denn erstens wird redditas im mittelalter-
lichen Latein fast nur von Zinserträgen gebraucht (cf. s. v. redditus bei
Du Gange , Dieffenbach , glossarium Latino - Germanioum , Brinokmeier,
glossarium diplomaticum, Koppmann, Hamb. K. I, 8. XXIV), zweitens
kann redditus hier nicht von Einkünften im allgemeinen gesagt werden,
weil es in der Urkunde heisst: collecte et redditus.
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26
giebt die Vertragaurkunde auch einen positiven Beweis für die
Absicht, jene ununterbrochen fortbestehen zu lassen. Würde sich
denn die Altstadt eine ausgedehntere Weinschanksgerechtsame
als sie den beiden übrigen Weichbilden bewilligt wurde, Vorbe-
halten haben, wenn sie die hieraus sich ergebenden Einkünfte in
den gemeinsamen Säckel hätte abliefern müssen ? Das ist doch
kaum denkbar, sehr wohl aber lässt sich diese Handlungsweise
erklären, wenn man annimmt, dass jene Einnahme von den
Weichbilden für ihre Sonderzwecke zurückbehalten wurde.')
Ohne Zweifel wollte man die gemeinschaftliche Kasse nur mit
solchen Ausgaben belasten, die allen vereinigten Weichbilden zu
gute kämen, während ein jedes derselben für die Befriedigung
seiner besondern Bedürfnisse nllein die Mittel aufzubringen hatte.
Wahrscheinlich deutet auch die Vertragsurkuude selbst dieses
8achverhältnis8 an, wenn sie sagt, dass die gemeinsame Kasse
zur Bestreitung gemeinsamer Ausgaben eingerichtet werden solle.
3. Die Finanzverwaltung
der gemeinen Stadt von 1269 bis 1354.
Für die der besprochenen Übereinkunft unmittelbar folgenden
Zeiten fehlen Nachrichten über die Wirksamkeit der gemeinen
Finanzverwaltung gänzlich. Darin liegt eine empfindliche Lücke
unsrer Kenntniss des öffentlichen Haushalts in Braunschweig
begründet. Denn es ist uns durch diesen Mangel unmöglich
gemacht zu beurteilen, ob Zustände, welche nachweislich im
14. Jahrhundert herrschten und eine starke Abschwächung der
finanziellen Bestimmungen desVertrages voraussetzen, das Resultat
einer langen, allmählichen Entwicklung waren, oder ob es der
Widerstand von Hagen und Neustadt gegen die grossen Vor-
rechte der Altstadt und die gegenseitige Eifersucht der Weich-
*) Die 'Weiterexistenz der Weichbildsfinanzverwaltungen ist hierdurch
auch für den Fall erwiesen , dass unsre Übersetzung von redditus falsch,
d. h. zu eng sein sollte, flanselmann (Chron. VI, 319 und 320 und Werkst. I,
S. 288), der die Urkunde von 1269 so aufgefasst wissen will, als ob in ihr
die Absicht ausgesprochen sei, die gesammten Aufkiinfte der drei Weich-
bilde unter gemeinsame Verwaltung zu stellen, ist der Meinung, auch di«
Erträge der Weinschanksgerechtsame seien damals der gemeinen Fasse
zugewiesen. Dürre (8. 107) berührt die Weinschauksverhältnisse nicht und
sagt, wenn auch sehr unbestimmt, so doch nicht unrichtig : „der Schoss der
Bürger und andere Einkünfte des Batos [nicht: die andern J sollen von nun
an in die gemeinsame Stadtkasse fliessen“ etc.
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27
bildsräte überhaupt sogar zu Wege brachten, dass die Einigung
von vornherein nur in merklich geschmälertem Umfange ins
Leben trat.1) Als denkbar kann beides hingestellt werden.
Die ersten Spuren vom Betriebe der gemeinsamen Finanz-
verwaltung, welche natürlich dem gemeinen Rate übertragen
war, finden sich in Urkunden aus dem Jahre 1295. *) Am
22. April verträgt sich der genannte Rat mit dem St. Blasien-
stifte dahin*), dass Laien, welche etwa auf dem Stifte gehörigen
Worten am Redingerthor wohnen werden, der Stadt die gleichen
Pflichten wie alle andern Bürger erfüllen müssen, dass jedoch,
falls Kleriker auf jenen Worten sitzen , dieselben von allen
Leistungen an die Stadt befreit sein sollen. Das Stift verpflichtet
sich, seinerseits zum Entgelt hierfür alljährlich der letztem zwei
Schillinge zu zahlen. Die Lage der hier in Frage kommenden
Worten ist leider nicht genau zu bestimmen: entweder gehörten
sie zum Hagen oder zur Altenwik.4) . War das erstere der Fall,
so wird man auf die Einigung von 1269 sich berufen können,
um zu erklären, weshalb das Stift seinen Vertrag mit dem ge-
meinen Rate schloss: bei weitem die vornehmste der abgelösten
Pflichten war die Schosspflicht, und der Schoss war ja durch die
Einigung der gemeinsamen Kasse zugewiesen. Demnach hätten
wir wenigstens einen Anhaltspunkt für die Scheidung der
damaligen Befugnisse des gemeinen Rates von denen der
Einzelräte der drei vereinigten Weichbilde. Lagen jene Worten
aber in der Altenwik, so ergäbe sich aus dieser Urkunde schon
eine gewisse Abhängigkeit des letztgenannten Weichbildes von
den verbündeten, deren früheste sichere Spuren erst aus der nun
zu besprechenden nachgewiesen werden können.
') Hierüber cf Chron. VI, S. 819 und 320.
’) Was das Schiebt buch über die braunschweigische Finanzvcr« altung
und ihre Oeschicke während des Gildemeisteraufstandes von 129*2 bis 1294
mitteilt (Chron. XVI, S. 806 — nach dem dort gesagten müsste die Stadt
schon damals Anrechte auf Münze und Zoll gehabt haben — , 807) kann
hier nicht berücksichtigt werden, da jenes erst 200 Jahre später verfasst
wurde, cf. die Einleitung Hänselmanns zum Schicbtbuch Chron. XVI,
278-290.
*) Braunschweigische Händel II, S. 270.
4) Das Redingerthor lag auf der Grenze des Hagen gegen die Altewik,
cf. Dürre S. 719.
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28
Am 24. Juni desselben Jahres vom Rate der Altenwik aus-
gestellt besagt sie,1) dass dieser unter Zustimmung des gemeinen
Rates mit dem neuen Marienspitale in Braunschweig sich über
gegenseitige Verpflichtungen auseinandergesetzt habe. Den dabei
getroffenen Bestimmungen zufolge erlässt das Spital dem Weich-
bilde eine gewisse, jährlich zu leistende Zahlung von 7 Schillingen,
während der Weichbildsrat mehrere im Besitz des Spitals befind-
liche Worten von der an ihnen haftenden Schoss- und Wacht-
gcldpflicht für frei erklärt. Dieser Vertrag ist in verschiedner
Hinsicht merkwürdig. Hier zuerst tritt uns eine öffentliche
Finanz Verwaltung in der Alten wik entgegen, und, was wir über
sie erfahren, weist auf eine innige Verwandtschaft mit der
Organisation desselben Verwaltungszweiges in Altstadt, Hagen
und Neustadt hin. Auf die Frage aber, wie es sich mit der
Leitung des Haushalts der Altenwik verhielt, eröffnet unsre
Urkunde einen Einblick in ein ganz eigentümliches Verhältniss.
Den erwähnten Vertrag mit dem Marienspitale schloss, wie gesagt,
der Rat jenes Weichbildes unter Zustimmung des gemeinen Rates,
die er sicherlich nicht eingeholt hätte, wenn sie nicht erforderlich
gewesen wäre. Die Altewik war also damals bereits von der
gemeinen Stadt abhängig: der erste Schritt zur Überbrückung
einer weiten Kluft war gethan. Wie sich diese Abhängigkeit
gebildet hatte, darüber lässt sich eine ziemlich begründete Ver
mutung aufstellen. Aller Wahrscheinlichkeit nach waren den
drei verbundenen Weichbilden , wie das später wiederholt
geschehen, von den Herzogen ihre Einnahmen aus der Altenwik
verpfändet worden und, wenn nicht alle, so doch jedenfalls die
wichtigste derselben, der Schoss. Indem in dieser Hinsicht die
Herzoge ihre Stellung dem gemeinen Rate einräumten, überliess
der letztere, wie es wohl schon jene gethan, dem Weichbildsrate
die Erhebung und Verwaltung der Schosserträge, nicht jedoch,
ohne sich die endgültige Verfügung über dieselben vorzubehalten.
Aus solchen Zuständen würde sich die bemerkenswerte Stelle
unsrer Urkunde sehr gut erklären lassen. Welchen Umfang
übrigens die Rechte des gemeinen Rates bezüglich der Altenwik
damals gehabt, kann aus derselben nicht klar erkannt werden;
eine bestimmte Angabe in dieser Hinsicht finden wir zuerst in
') Copic des 18. J&hrh. unter den Urkunden des Maricnspitals im Br.
8t.-A.
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29
einer Urkunde des nächsten Jahres,1) die um so wichtiger ist
als sie nun auch ein Licht auf die uns angehenden Verhältnisse
des fünften Weichbildes, des Sackes, wirft. Hier in Kürze ihr
Inhalt. Am 14. Mai 1296 verpfändet Herzog Albrecht dem Rate
der Stadt Braunschweig, d. i. offenbar dem gemeinen Rate, für
350 Mark, welche dieser teils für ihn auszulegen versprochen,
teils ihm baar dargeliehen hat, alle seine Einnahmen aus den
Vogt eien und andern Gerichten, der Münze, den Zöllen und
Mühlen in der Stadt, auch alles, was bisher aus Altewik und
Sack für ihn erhoben, auf so lange, bis jene Summe völlig
zurückgezahlt ist. Die wichtigsten, wenn nicht gar alle herzog-
lichen Einkünfte aus sämmtlichen fünf Weichbilden Braunschweigs
— Herzog Albrecht war damals von dieser Stadt als alleiniger
Herr anerkannt, sein Bruder Heinrich ganz bei Seite geschoben *)
— wurden damit dem gemeinen Rate zugewiesen , freilich nicht
auf immer. Aber war es auch nur eine Erwerbung auf Zeit, so
darf man doch ihre Bedeutung nicht zu gering anschlagen. Denn
einmal stellte die Verwaltung der vielen aus den verschiedensten
Quellen fliessenden Einnahmen, mochte nun die Haupdast derselben
auf dem gemeinen Rate oder den Weichbildsräten ruhen, was
aus der Überlieferung leider nicht hervorgeht, neue, ausgedehnte
Aufgaben, bei deren Bewältigung manches gelernt werden konnte.
Ferner war auch durch die einfache Verpfändung Anlass genug
gegeben, die Selbstständigkeit der Stadt den Herzogen gegenüber
zu fordern. Genugsam ist ja bekannt, wie häufig im spätem
Mittelalter Verpfändungen dauernde Zustände schufen. So war
es auch in diesem Falle sehr fraglich, ob nicht von den zahlreichen,
oben aufgezählten Pfändern wenigstens das eine oder das andere
allmählich in immerwährenden Besitz der Stadt übergehen würde,
eine Entwicklung, welche sich namentlich in der Weise vollziehen
konnte, dass der Pfandvertrag mit oder ohne gleichzeitige Erhöhung
der Pfandsumme mehrfach verlängert wurde, bis schliesslich an
eine Einlösung gar nicht mehr zu denken war, der Verpfänder
seine Ansprüche fallen liess. Dabei ist wohl zu bemerken, dass
bezüglich verschiedener in der Urkunde mit aufgeführter Rechte
die Erwerbung durch die Stadt schon vor 1296 angebahnt ward.
Die Vogtei in der Altstadt war bereits 1227, wie wir sahen,
durch Kauf an dieses Weichbild übergegangen, und von den
') Br. U.-B. I, S. 17 und 18.
*) Dürre S. 122. — Chron. VI, XXXI und XXXU.
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30
Einkünften des Herzogs aus der Altenwik war ja mindestens
der Schoss schon 1295 im Pfandbesitz des gemeinen Rates. Auch
hinsichtlich des Sackes, der sowohl in der eben besprochenen, als
auch in mehreren spätem Urkunden ähnlichen Inhalts in engster
Verbindung mit der Altenwik genannt wird, mag dieses der
Pall gewesen sein. Sehr gut stimmt mit alle dem zusammen,
dass von den 1296 verpfändeten Aufkünften die aus den Vogteien,
aus der Altenwik und dem Sack zuerst in ihrer Gesammtheit
und auf die Dauer von ihren ursprünglichen Eigentümern
thatsächlich aufgegeben wurden. Doch damit die Verhältnisse
soweit gediehen , bedurfte es einer langsam fortschreitenden
Entwicklung. Ihre Anfänge lernten wir bereits kennen, auch
ihren weitern Gang vermögen wir uns durch wertvolle Urkunden
zu veranschaulichen.
Unter diesen nimmt der Zeit nach die erste Stelle der Sühne-
vertrag ein, zu dem sich im Jahre 1299 die Herzoge Albrecht
und Heinrich einerseits und die Bürger von Braunschweig
andrerseits nach nicht näher bekannten Zwist vereinigten.*) Wie
man aus einem der zahlreichen Artikel desselben ersieht , ver-
pflichteten sich Altstadt, Hagen und Neustadt, gemeinsam die
zur Bestreitung ihrer eignen Bedürfnisse sowohl, als auch
deijenigen der Herzoge aufgenommenen Schulden abzutrageo,
wogegen ihnen Albrecht und Heinrich gestatteten, nach dem
Beschlüsse der drei Weichbildsräte von der Altenwik und dem
Sacke Schoss zu fordern. Auf wie lange diese Erlaubniss
Geltung haben sollte, ist im Vertrage nicht gesagt, doch ist man
deshalb nicht zu der Schlussfolgerung berechtigt, dass damit die
Herzoge sich ihrer Rechte auf den Schoss jener beiden Weich-
bilde für immer begeben hätten. Hatten doch noch die Nach-
kommen der herzoglichen Brüder Anrechte auf die genannten
Erträge, so dass auch in diesem Falle nichts andres als eine
Verpfändung anzunehmen ist. Durch den Sühnevertrag verlor
die Urkunde von 1296 ihre Rechtskraft, wenn sie wenigsten«
1299 solche noch besass. Denn zunächst war sie zu einer Zeit
erteilt, wo Herzog Albrecht als alleiniger rechtmässiger Herr der
Stadt galt und ihrer Unterstützung bedurfte, jetzt aber — 1299
— lagen die Verhältnisse völlig anders. Albrecht hatte sich
mit seinem Bruder, der 1296 sein Feind gewesen, vertragen und
sich mit ihm gemeinsam gegen die Stadt gewendet , welche
*) Br. U.-B I, S. 20 und 31.
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at
solcher Macht nicht gewachsen schliesslich in das für sie reoht
ungünstige Abkommen willigen musste. Nun waren beide Brüder
Herren Braunschweigs. Sicherlich strebte Heinrich dahin, der
ohne seine Zustimmung geschehenen und so umfassenden Ver-
pfändung von 1296 ihre Giltigkeit zu nehmen und sicherlich
auch fand er in diesem Streben den thätigen Beistand Albrechts,
welcher damals nur im Drange der Not sich zu so weitgehenden
Zugeständnissen herbeigelassen hatte. Ausser der politischen
Lage spricht aber vor allem die Vertragsurkunde von 1299 selbst
dafür, dass durch sie die Urkunde von 1296 ungültig wurde.
Denn falls man in der angeführten Bestimmung jener nur eine
etwas anders gefasste Wiederholung von dieser sehen wollte, so
würde man nicht verstehen, warum dann die Herzoge als ihre
Gegenleistung für Bezahlung der Schulden durch die Stadt nur
die Überlassung des Schosses von Altewik und Sack, nicht aber
auch die andern 1296 verpfändeten Einkünfte erwähnt hätten.
Wollte man aber, streng dem Wortlaute folgend, sich dahin
entscheiden, dass die beiden Urkunden, so weit ihr Inhalt uns
hier angeht, ganz verschiedene Dinge berührten und in dieser
Weise zugleich Rechtskraft gehabt hätten, so wäre über den
Schoss jener Weichbilde , nachdem er schon einmal vergeben
worden, zum zweiten Male, ohne Aufhebung der ersten Ver-
gabung, und zwar zu einem ganz andern Zwecke verfügt, was
doch eine reine Unmöglichkeit ist.1) Von den Vorteilen also,
die von der gemeinen Stadt im Jahre 1296 errungen waren,
<
*) Durch den Artikel dea Sühnevertrages : „uae m tintige unde uae tolen
de scole we (nämlich Albrecht and Heinrich) hebben mit alaodaneme rechte
also bi uaes eldervader tiden was“, wird durchaus noch nicht die Ungültig-
keit der Urkunde von 1296 ausgesprochen. Wir finden hier nur einen Vor-
behalt von Rechten, neben dem die Verpfändung von Münze und Zoll sehr
wohl hätte weiter bestehen können. Anders Dürre S. 124, der auch 8. 291
dieaen Artikel für entscheidend zu halten scheint.
Beiläufig mag hier erwähnt werden, dass 1299 in zwei wesentlich über-
einstimmenden Urkunden die Herzoge Albrecht und Heinrich der Neustadt
erlaubten, in ihrem Rathause Want, Wein and andre Waaren zu verkaufen,
ohne irgendwelche Einsprache und Hinderung nach gebilligter Gewohnheit
der Stadt (O.O.-U.U. im 8t.-A. zu Br.). Hänselmann (Werkstücke I, 289)
behauptet, diese Urkunden sprächen der Neustadt das Recht des Wein-
schanks ohne alle Einschränkung zu and setzten sich so in Widerspruch
mit den Abmachungen des Jahres 1269. Dies erscheint mir fraglich, da
der Zusatz „nach gebilligter Gewohnheit der Stadt“ reoht gut auf die
Einigung von 1269 hindeuten kann.
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32
blieb ihr drei Jahre später nur ein kleiner Teil übrig. Die
Ausdrücke freilich, in denen ihr die Herzoge diesen zusicherten,
lassen deutlich erkennen, dass dieselben an eine Rückerwerbung
vorläufig wenigstens nicht dachten.
In mehrfach andersartige Verhältnisse, wie die Sühneurkunde,
führen uns die nächsten erhaltenen Nachrichten Uber die Geschicke
der Aufkünfte aus Altewik und Sack ein. Diese Nachrichten
finden sich vornehmlich in einer undatirten Aufzeichnung im
zweiten Altstädter Degedingbuche , deren Abfassung nach einer
dieselbe Angelegenheit berührenden Eintragung im Rechtabuche
der Neustadt ins Jahr 1325 zu setzen ist.1) Die Ratsherren der
Altstadt, des Hagen und der Neustadt — so besagt die erstere
— haben von den Söhnen Herzog Heinrichs alle ihre Rechte
und Einkünfte aus Sack und Altewik mit Ausnahme ihrer An-
sprüche auf die Vogtei für 450 Mark — offenbar nur pfand weis —
erworben. Von dieser Summe hat die eine Hälfte der Rat der
Altstadt, die andere die Räte des Hagen und der Neustadt
zusammen gezahlt. Für 590 Mark haben dieselben den Anteil
der Söhne Albrechts in ihre Hände bekommen. Hiervon brachte
der Altstädter Rat zunächst 300 Mark auf, weshalb er von dem
mitverpfändeten Schosse alljährlich 30 Mark voraus bekommen
soll, die übrigen 290 Mark zahlten zur Hälfte die Altstadt, zur
Hälfte Hagen und Neustadt. Was die Anrechte der Söhne
Albrechts auf die Vogtei von Altewik und Sack, über welche
besonders verfügt ist , betrifft , so haben diese Herzog Otto und
seine Brüder dem Rate der Altstadt allein für 100 M. überlassen.*)
Das eben mitgeteilte findet eine Ergänzung durch jenes oben
erwähnte Stück im Rechtsbuche der Neustadt. Danach steuerte
der Rat der letztem zu den Erwerbungen von 1325 im ganzen
136 Mark 3 Ferding bei, wovon 90 Mark die Söhne Herzog
Heinrichs erhielten, während der Rest der Summe den Söhnen
’) Br. U.-B. I, 8. 33 und 34.
*) Nach Dörre (8. 289) hätten damals Otto der Milde und seine Brüder
die Vogtei — d. h. ihre gesammten Vogteirechte in Braunschweig — der
Altstadt für 100 M. überlassen. Die ganze Aufzeichnung dreht sich indessen
um die herzoglichen Rechte auf Altewik und Sack, so dass Dürres Ansicht
nur dann richtig sein könnte, wenn statt : „Insuper advocacia ex parte ducis
Ottonis“ etc. fortgefahren würde : „Insuper advocacia in Brunswic ex parte
dncis Ottonis“ etc. Dass Hänsclmann mit Dürre nicht Ubereinstimmt , geht
ans der Überschrift hervor, welche er der Eintragung gegeben : „Verpfändung
der Altenwik und des Sackes an den Rat“.
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33
Al brecht 9 ausgezahlt wurde; für den Fall, dass die Herzoge die
beiden Weichbilde zurückerwerben würden , bedang sich der
Neustädter Rat die Rückzahlung seines Beitrages aus.
Nach zwei Richtungen hin unterscheidet sich das Bild, das
wir hier erhalten, ganz bedeutend von dem, welches die gleiche
Sache am Ende des 13. Jahrhunderts darbot. Während 1296
die Einkünfte aus Sack und Altewik sämmtlich in den
gemeinsamen Pfandbesitz von Altstadt, Hagen und Neustadt
kamen, wurde jetzt der Anteil Herzog Ottos und seiner Brüder
an der Vogtei jener Weichbilde der Altstadt allein verpfändet.
Und während noch 1299 bestimmt war, dass das gemeinsam
errungene auch gemeinsam verwendet werden solle, wurde 1325
dieser Grundsatz nicht mehr befolgt. Denn zum ersten ist ja
ganz klar gesagt, dass von den Schosseinkünften von vornherein
30 M. jedes Jahr für die Altstadt abgezogen werden sollten.
Und auch die dann noch übrig bleibenden Erträge aus dem
gemeinsamen Pfandbesitz sind wahrscheinlich nicht in die
gemeine Kasse geflossen, sondern an die einzelnen Weichbilde
im Verhältnisse ihrer Einzahlungen verteilt. Darauf scheint mir
der Umstand hinzuweisen, dass im Altstädter Degedingbuche so
streng zwischen den Beiträgen der Altstadt einerseits und denen
des Hägens und der Neustadt andrerseits geschieden ist.
Allerdings sind diejenigen des Hägens und der Neustadt, die
doch, wie die an zweiter Stelle erwähnte Aufzeichnung lehrt,
keineswegs gleich gross waren, nicht auch von einander getrennt
aufgeführt, und das könnte manchem bedenklich erscheinen, doch
ist es ganz natürlich, wenn ein in der Altstadt in besonderm
Interesse derselben geführtes Buch über andere Weichbilde
weniger genaue Auskunft giebt.
Nach der Verpfändung von 1325, deren Vorgeschichte übrigens
gänzlich im Dunkeln liegt, scheint die Stadt in ununterbrochenem
Besitze dessen, was ihr damals von den Herzogen überlassen
wurde, und zu dem sie auch noch die Anrechte der Nachkommen
Heinrichs des Wunderlichen auf die Vogtei hinzu erwarb5),
geblieben zu sein. Zwar liegen uns verschiedene Urkunden aus
späterer Zeit vor, in denen bald dieser bald jener Herzog über
Vogtei, Altewik und Sack verfügt, aber keine derselben kann
die oben aufgestellte Vermutung entkräften. Nur eine Bestätigung
des im Jahre 1325 vollzogenen war es, als am 15. Februar 1345
■) cf. 8. 36: Urkunde Herzog Albreohts vom 12. September 1370.
Muck, Flnanxgeschichte der Stadt Braun schweig. •}
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34
Albrechts des Feisten Söhne Magnus und Ernst bekannten, sie
hätten den Ratsherren der drei verbündeten Wcichbilde für 690 M.
sowohl die Vogtei in Braunschweig, wie sie jenen Herzog Otto,
ihr verstorbener Bruder, abgetreten habe, überlassen, als auch
gestattet, von den Bürgern der AJtenwik und des Sackes Schoss
und sonstige Leistungen, nicht minder Gehorsam in allen Stücken
wie von ihren eignen Bürgern zu fordern.1) 690 M. hatten ja
Herzog Otto und seine Brüder schon 1325 von den drei Weich-
bilden für ihre Ansprüche auf Altewik und Sack erhalten,
und es ist kaum zweifelhaft, dass die damals gezahlten 690 M.
mit den hier erwähnten identisch sind, zumal da sich Magnus
und Emst bei Anführung der Vogtei auf die Abtretung derselben
durch ihren Bruder Otto berufen. Darin dürfen wir eine Bezug-
nahme auf das 1325 Geschehene erblicken. Denn der scheinbare
Widerspruch, der sich daraus ergiebt, dass 1325 von der Vogtei
in Altewik und Sack, 1345 aber von der in Braunschweig die
Rede ist, lässt sich vielleicht sehr einfach lösen : Albrechts Söhne
werden eben nur noch Anrechte auf die Vogtei in jenen beiden
Weichbilden, nicht aber auch auf die in den andern Teilen der
Stadt geltend gemacht haben. — Auf die Frage, ob man es 1345
noch in gleicher Weise mit der Verteilung der erworbenen Auf-
künfte gehalten habe wie 1325, giebt die Urkunde vom
15. Februar jenes Jahres keine Antwort. Und das ist auch
gar nicht wunderbar; denn auf solche Verhältnisse, welchen
durchaus nur Abmachungen der vereinigten Weichbilde unter
einander zu Grunde lagen, brauchten, ja konnten vielleicht die
Herzoge in der von ihnen ausgestellten Urkunde nicht eingehen.
Aber auch aus den Aufzeichnungen, welche die beste Quelle
für unsere Erkenntniss der innern Angelegenheiten jener Weich-
bilde sind, wird uns kein sicherer Aufschluss über den bezeichneten
Punkt zu Teil. Möglich freilich ist es, dass die Altstadt 1345
noch die alleinige Inhaberin des 1325 erworbenen Anteils der
Vogtei in Sack und Altewik gewesen ist: wenigstens scheint
sie einem Posten der ältesten Altstädter Rechnung zufolge*)
noch 1354 wirklich vogteiliche Einnahmen aus dem Sack gehabt
zu haben. Sonstige Einkünfte jedoch aus den beiden verpfändeten
•) Br. U.-B. 8. 40 und 41.
*) Item VII s ot. minuB IIII den. Polede de duobus talentis de Sacco
pro dobelspel. Über den entsprechenden Einnahmeposten cf. II, oap. 5.
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Weichbilden werden weder in dieser noch in spätem Rechnungen
der Altstadt aufgefiihrt, woraus man mit Notwendigkeit auf ein
Abgehen von der 1325 angetroffenen Verteilung schliessen muss,
ein Abgehen, das sich allerdings erst nach 1345 vollzogen
hnben mag.
Am Schlüsse ihrer Bestätigungsurkunde hatten sich Magnus
und Ernst den Rückkauf der genannten Rechte und Einnahmen
für 690 M. ausdrücklich Vorbehalten. Dass dieser Vorbehalt
doch etwas mehr als eine rein formelle Bedeutung hatte, zeigt
eine Urkunde Ernst’s vom 1. November 1363. ') Durch dieselbe
gab der Aussteller seinem Bruder, dem Herzog Magnus, und
dessen Sohne Ludwig die Erlaubniss für 345 M. seinen, Emst’s,
Anteil an Sack und Altewik, sowie an Gericht und Vogtei zu
Braunschweigf welche Objecte er mit Magnus zusammen ver-
pfändet habe, wieder einzulösen; gleichzeitig behielt er seiner-
seits sich die Einlösung von seinen Verwandten vor. Hiernach
scheint es, als ob Herzog Magnus damals wirklich die Absicht
gehabt habe, den 1345 in Aussicht gestellten Rückkauf zu voll-
ziehen. Über die blosse Absicht ist jedoch Magnus höchst-
wahrscheinlich gar nicht hinausgekommen. Denn nirgends findet
sich in der Überlieferung eine Spur von der Ausführung seines*
Vorhabens, nirgends bemerken wir etwas von einer Lockerang
der Bande, welche damals bereits Altewik und Sack eng mit
den übrigen W eichbilden verknüpften, und nichts berechtigt uns
anzunehmen, der genannte Herzog habe in jener Zeit über
bedeutende Geldmittel verfügt, zumal da er dem Rate ganz bald
□ach Ausstellung der Urkunde Ernst’s andre wichtige Einkünfte
aus der Stadt verpfändet.*) Wurde aber trotz alledem 1363
die Einlösung vollzogen , so ist sie sicherlich schon nach
kurzer Zeit wieder hinfällig geworden. Andernfalls würde man
einer Urkunde 8) Magnus des Jüngern, des Sohnes des bereits
mehrfach erwähnten Magnus des Altern, die auf den 14. Februar
1371 datirt ist, den Vorwurf grober Unglaubwürdigkeit machen
müssen. Damals bekannte der erstgenannte, dass er dem Rate
und den Bürgern zu Braunschweig 300 M. schulde, die am
nächsten Michaelistage von ihm zurückgezahlt werden müssten.
Wenn er dies nicht thue, so sollten, bestimmte er, die 300 M. zu
') Sudendorf UI, 128.
*) Am 28. Jan. 1364. Sudendorf III, 137.
*) Br. U.-B. I, 57.
3*
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36
der Summe geschlagen werden, für die sein Vater seine Anrechte
an Altewik , Sack , Vogtei und Münze der Stadt verpfändet
habe. Auch verpflichtete er sich, die Ansprüche seines Bruders
Ernst auf diese Pfandobjecte zu befriedigen. — Was sich hieraus
ergiebt, ist leicht zu ersehen. Jedenfalls war beim Tode Magnus
des Altern die Stadt Braunschweig im Besitze dessen, was der-
selbe 1363 hatte einlösen wollen. Ob freilich mit der Verpfändung
durch seinen Vater, auf die Magnus der Jüngere hinweist, die
von 1345 oder eine erst nach 1363 erfolgte gemeint ist, muss
unentschieden gelassen werden.
Nach dem Jahre 1371 scheinen die Nachkommen Herzog
Albrechts des Feisten ihre Ansprüche auf Sack und Altewik auf
über fünfzig Jahre gänzlich fallen gelassen, wenigstens nicht
mehr in Urkunden geltend gemacht zu haben, -und als nach
1420 die Söhne Magnus II. wieder mit solchen Ansprüchen
auftraten, haben sie doch keinen praktischen Erfolg errungen. ')
Lange nicht so zäh hielten die Nachkommen Heinrichs des
Wunderlichen an ihren entsprechenden Rechten fest. Nur ein-
mal noch nach 1325 tauchen die letztem in einer Urkunde auf.
Am 12. September 1370 ging Herzog Albrecht, ein Enkel
Heinrichs, folgende Verpflichtung ein: Falls der Rat von ßraun-
schweig wegen einer Bürgschaft in Anspruch genommen für ihn,
den Herzog, eine gewisse Summe bezahlen müsse, so wolle er
um letztere die Pfandsumme erhöhen, für welche Herzog Ernst,
sein Vater, und er selbst der Stadt ihren Anteil an der Vogtei,
dem Sack und der Altenwik, sowie an andern nutzbaren Rechten
überlassen hätten. Die Abfindung seiner Vettern, der Söhne
Herzog Heinrichs II., versprach er auf sich zu nehmen; sein
Bruder, der junge Herzog Friedrich, gab zu allem seine
Zustimmung. *)
Auf das Verhältnis zwischen den beiden Weichbildsgruppen,
die von vornherein unterschieden werden mussten, hatten diese
letzten Verpfändungen oder vielmehr Verpfändungsbestätigungen
keinen Einfluss mehr. Diejenige Entwicklung, deren Endziel der
möglichst enge Zusammenschluss von Altstadt, Hagen und
Neustadt mit Altewik und Sack zu einem Ganzen bedeutete.
*) Dürre, S. 206 und 207.
*) Br. U.-B. I, 56. — Herzog Albrecht von Grubcnhagon war ein Sohn
Herzog Ernst des Altern und ein Enkel Heinrichs des Wunderlichen.
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war schon lange vor 1370 vollendet. Den Beweis dafür giebt
eine Urkunde vom 24. November 1345, eine Urkunde also,
welche nur neun Monate nach der oben besprochenen
der Herzoge Magnus und Ernst ausgestellt ward. In ihr
berichtet der gemeine Kat von einem zwischen ihm und dem
Kate der Alten wik vereinbarten Vertrage. Diesem zufolge sollte
der letztere, wie auch die andern jenem unterstellten Weichbilde
thäten, die Überschüsse von Gülten und Zinsen seines Weichbildes
über dessen eignen Bedarf hinaus zur Bestreitung von Ausgaben
der gemeinen Stadt drei Jahre lang beisteuern; nach Ablauf der
drei Jahre aber sollte die angeführte Vereinbarung nur dann
hinfällig sein, falls sich der Rat der Altenwik auf eine Verlängerung
derselben nicht cinlassen würde. Aller Wahrscheinlichkeit nach
traf der gemeine Kat ein gleiches Abkommen auch mit dem Kate
des Sackes, welches Weichbild sich ja in derselben Lage befand
wie die Altewik.
Vergegenwärtigen wir uns die Tragweite einer solchen
Übereinkunft. Bisher konnten die drei selbstständigem Weich-
bilde von den beiden übrigen nur solche Leistungen ver-
langen, zu deren Eorderung sie durch die Erwerbung der
herzoglichen Ansprüche berechtigt waren. Nie aber hatte den
Herzogen das Recht zugestanden, über etwaiges Weichbilds-
eigentum in Sack und Altewik zu verfugen. Indem nun jetzt
diese und wohl auch jener sich bereit erklärten, die Überschüsse
von den Erträgen des Weichbildseigen zum Besten der gemeinen
Stadt herzugeben, übernahmen sie eine Last, welche sie bis
dahin noch nicht zu tragen verpflichtet gewesen waren. Billiger
Weise musste ihnen also eine Entschädigung geleistet werden,
und, wo eine solche am natürlichsten zu finden war, lag nahe.
Zunächst werden sie verlangt haben, dass der Begriff der gemeinen
Stadt, welcher bis jetzt auf die Vereinigung von Altstadt, Hagen
und Neustadt beschränkt gewesen, auch auf sie, die ausserhalb
dieser Vereinigung stehenden Stadtteile, ausgedehnt werde; ferner
aber war es auch nicht mehr als recht und billig, dass sie über
die Verwendung der von ihnen mit aufgebrachten Summen auch
mit beschliessen durften, dass also auch der Altenwik und dem
Sack Anteil am gemeinen Kate zugestanden wurde. Und das
ist geschehen. Denn nur auf diese Ursache wird man es zurück-
*) Chron. VI, S. 320 Note 3.
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38
führen können, wenn man nacli 1345 fast nur noch von einem
gemeinen Rate aller fünf Weichbilde hört.1)
Aber auch nach einer andern Richtung hin ist der Vertrag
von 1345 sehr beachtenswert: sein Inhalt wirft ein helles Licht
auf die Art und Weise, in der man damals die Bestimmungen
des Jahres 1269 zur Ausführung brachte oder vielmehr nicht
zur Ausführung brachte. In jener bekannten Einigung war
festgesetzt, die Weichbilde sollten ihre gesammten Zinseinkünfte
an die gemeinsame Kasse abführen, um 1345 aber wurden nur
noch die Überschüsse von diesen Einnahmen so verwendet.
Denn das beweist ganz klar diejenige Stelle unsrer Urkunde,
wo der Altenwik die oben erwähnte Verpflichtung auferlegt
wird unter dem ausdrücklichen Hinweis darauf, dass dieselbe
Last auch von den übrigen unter dem gemeinen Rate stehenden
Weichbilden getragen werde. Von den Einkünften also, welche
1269 der gemeinschaftlichen Finanzverwaltuug zur Verfügung
gestellt waren, wurde ihr gegen Mitte des 14. Jahrhunderts ein
sehr bedeutender Teil nicht mehr zugewiesen. Vielleicht hatte
eie denselben schon lange, vielleicht von Anfang an entbehren
müssen. So bot die Kasse der gemeinen Stadt keine genügend
feste Grundlage dar, auf welcher sich eine starke und selbst-
ständige Centralfinanz Verwaltung hätte aufbauen können. Der
gemeine Rat war nicht im Stande mit den ihm regelmässig
zufliessenden Summen gleichzeitig die gewöhnlichen, laufenden
Ausgaben zu decken und auf eigne Faust grössere Erwerbungen
durchzuführen. Hieraus erklärt es sich, dass gelegentlich der
besprochenen Verpfändung von 1325 die Pfandsumme durch
Beiträge der einzelnen Weichbilde für diesen bestimmten Zweck
aufgebracht wurde. Ähnliches wird öfter vorgekommen sein.
Den eigentlichen Nutzen von Erwerbungen, die auf solchem
Wege vollzogen wurden, hatte zunächst wenigstens nicht die
gemeine Stadt, sondern die einzelnen beteiligten Weichbilde.
Nachdem wir so die Wirksamkeit des gemeinen Rates in
einer Angelegenheit verfolgt haben, deren langsame, aber ziel-
bewusste Durchführung für die Entwicklung der gesammten
*) Zum ersten Male finden wir am 29. Jan. 132Ö in der Universitas
conaulum auch Ratsherrn der Altenwik und des Sackes, cf. Dürre S. 294-
Doch ist das ein ganz vereinzelter Fall. Andrerseits wird der gemeine Rst
von Altstadt, Hagen und Neustadt noch verschiedentlich nach 1345 genaust,
z. B. im Zinsbuch der Altstadt von 1378.
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39
Verfassung und Verwaltung Braunschweigs überhaupt, insbesondere
auch für die Ausgestaltung des öffentlichen Finanzwesens dieser
Stadt von grundlegender Wichtigkeit gewesen ist und deshalb
ein genaueres Eingehen erforderte, müssen wir jetzt das Gebiet
unsrer Betrachtung erweitern, uns dem zuwenden, was sich sonst
noch in der Überlieferung über das Auftreten der gemeinsamen
Finanzverwaltung in der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts
aufbewahrt findet. ' Im allgemeinen werden wir hierbei über das
Jahr 1354 nicht hinausgehen, da mit diesem ein neuer Abschnitt
der vorliegenden Arbeit zu beginnen hat.
Nach dem in der Einigung von 1269 aufgestellten Grund-
sätze, der gemeine Bat solle in seinen Geschäftskreis alle die
Gesammtstadt angehenden Verhältnisse hineinzichen, musste ihm
vornehmlich die Vertretung derselben nach aussen zufallen.
Und diese scheint er auch von vornherein und ununterbrochen
im wesentlichen gehabt zu haben. Eine der Hauptaufgaben,
welche ihm dadurch erwuchsen, war die Vermittlung zwischen
der Stadt und den Herzogen; sie erstreckte sich nicht zum
geringsten Teil auf Dinge finanzieller Natur. Da sind in erster
Reihe die Verpfändungen zu nennen, durch welche sich die
Herzoge aus ihren ewigen Geldverlegenheiten zu ziehen suchten.
Und niemanden fanden sie mehr in der Lage und bereit auf
solche einzugehen als ihre Stadt Braunschweig, denn diese konnte
einerseits ohne grosse Schwierigkeiten die Pfandsummen zusammen-
bringen, andrerseits glaubte sie, so ihre Macht und Selbstständig-
keit am erfolgreichsten zu fördern. Die älteste näher bekannte
und schon besprochene Verpfändung herzoglicher Hechte und
Einkünfte an die gemeine Stadt fällt ins Jahr 1296. Und wenn
sie ja auch 1299 zum grössten Teile rückgängig gemacht wurde,
so wirkte doch der Anstoss, den sie gegeben, weiter. Auf
ziemlich gleichem Wege, wie Altewik, Sack und Vogtei, aber
langsamer und später errang die Stadt auch das, was 1296
ausserdem verpfändet war: die Zölle, die Münze, die Mühlen-
aufkünfte.
Vom Zoll hatte Braunschweig schon bald nach 1300 wieder
Einnahmen, wenn man wenigstens das merkwürdige Zollstatut
im Rechtsbuche der Neustadt1) mit Recht in den Anfang des
') K. d. N. fol. 7 ilg. Das Zollstatut steht dort hinter dem Statute
vom Herwede (1303) und vor einem Vergleich der Lakenmacher mit den
Juden (1312).
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40
14. Jahrhunderts setzt. Dieses Statut, im wesentlichen ein Tarif,
enthält unter andern folgende Bestimmung: „Wer fremdes Bier
hier in der Stadt verzapft, er sei Bürger oder Gast, bezahlt für
das Fuder 2 Schillinge Zoll, wovon die eine Hälfte dem Zöllner,
die andre dem Rate zukommt“ Von welchem der beiden Herzoge,
Albrecht oder Heinrich, die Stadt diese Einnahmen erworben
hatte, lässt sich nicht erkennen, auch kann man nicht feststellen,
ob ihr damals ausser der Hälfte des Zolls von fremdem Biere
auch noch andere Zollaufkünfte zustanden.1) Aber nicht nur
für den Anfang, sondern bis gegen Ende des Jahrhunderts
erhalten wir aus der Überlieferung über die Geschicke der in
Braunschweig erhobenen Zölle sehr mangelhafte Auskunft. Was
zunächst den Anteil der Nachkommenschaft Heinrichs des
Wunderlichen betrifft, so ist hier nur zu erwähnen, dass Herzog
Wilhelm, der 1360 starb, die Hälfte der Bierzollerträge dieser
Linie an die braunschweigische Familie Meyse verpfändete,
während die andre Hälfte sein Bruder Ernst der Familie
Gottinghe zu Lehen gab. *) Zollüberlassungen an die Stadt
können wir für diese Periode ebenso wenig seitens der Gruben-
hagener Herzoge nachweisen, wie seitens der Nachkommen
Albrechts. Des letztem ältester Sohn Otto der Milde übertrug
die Hälfte des Zolls in Braunschweig d. h. seine und seiner
Brüder Anrechte dem Braunschweiger Bürger Johann von der
Heyde, in dessen Familie die Erträge hiervon noch im Anfänge
des nächsten Jahrhunders waren.8) Den Anteil der Söhne
') Wenn Dürre das Zollatatut, das auch er dem Anfänge des 11. Jahr-
hunderts zuweist (S. 128), mit der Verpfändung von 1296 zusammenbringt
und in Folge dessen behauptet, der Rat habe die eine Hälfte der Zollab-
gaben (sämmtlioher?) als den ihm von Herzog Albrecht dem Feisten ver-
pfändeten Anteil, die andre Hälfte für die grubenhagensche Linie d. h. für
Herzog Heinrich den Wunderlichen erhoben, so kann das schon deshalb
kaum richtig sein, weil auch Dürre meint, die Stadt habe 1299 ihrer
Anrechte auf den Zoll entsagen müssen, cf. S. 31, Amu. I.
’) cf. Chron. VI, S. 277 und 278. Der Widerspruch, der dort von
Hänselmann constatirt ist und darin besteht, dass Herzog Ernst den
„verdendeyl kopenpeuninghe“ an die Qotinghe versetzt hat, während Herzog
Wilhelm den „halven bertollen“ den Meysen überliess, wonach also die
grubenhagensche Linie eigentlich ’/, des Bierzolls gehabt hätte, lässt sich
vielleicht so lösen, wie es im Texte angedeutet wurde: wenn Herzog
Wilhelm den „halven bertollen“ vergabt, so vergabt er damit nur die
Hälfte des grnbenhagenschen Anteils. — A. a. O. sind auch die sämmtlichen
Quellcnstellen über die Verpfändung des Bicrzolls angeführt.
*) cf. Sudendorf H, S. 48 *• und IH, S. 60, ferner Chron. VI, S. 229.
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41
Albrechts am Bierzoll finden wir schon 1318 im Lelmsbesitz von
Angehörigen der braunschweigischen Geschlechter Kerkhof und
Salghe. Sie gestanden im Jahre 1353 die Nutzung dieser Hälfte
auf ein Jahr dem gemeinen Bäte gegen eine Zahlung von
24 Mark zu;1) 1354 verlängerten die beiden genannten Parteien
ihre Abmachung um zwei Jahre mit der Änderung, dass die
fährliche Entschädigungssumme auf 28 Mark erhöht wurde.*)
Wie damit eine Notiz der Altstädter Rechnung von 1354 in
Einklang zu bringen ist, der zufolge die Altstadt in diesem
Jahre an Ludolf Salghe 50 M. für 5 M. Rente aus den
Bierzullaufkünften zahlte, eine Rente, deren erste Rate unter den
Einnahmen in der Altstädter Rechnung von 1355 gebucht ist,
muss dahin gestellt bleiben. Übrigens haben die Erpachtungen von
1353 und 1354, welche nach einem Zeitraum von fünfzig Jahren
zuerst wieder das Bestreben der Stadt andeuten, die Einnahmen
aus den Zöllen für sich auszunutzen, kein dauerndes Verhältnis
herbeigefiihrt. Ein zielbewusstes Vorgehen des gemeinen Rates
hinsichtlich der Erwerbung der Zölle und dementsprechende
Erfolge sind erst in einer weit spätem Zeit zu erkennen, als ein
völliger Umschwung in der Finanzverwaltung eingetreten war.
Um einfachere Verhältnisse handelt es sich bei der Geschichte
der Münzerwerbung durch die Stadt. Nachdem 1299 die Münz-
verpfändung Albrechts von 1296 ihre Gültigkeit verloren hatte,
scheint der Rat auf einige Zeit die Ausführung seiner Absicht,
diese so wichtige und ertragreiche Gerechtsame der Stadt zu
erringen, aufgegeben zu haben, nur eine Vermutung freilich, die
lediglich darauf gegründet ist, dass in der Überlieferung durch
mehrere Jahrzehnte sich nicht die geringste Spur vom Gegenteil
findet. Erst eine Urkunde vom Jahre 1332 8) weist wieder auf
Massnahmen des gemeinen Rates in der Münzangelegenheit hin.
Damals sandte nämlich Herzog Wilhelm, ein Sohn Heinrichs
des Wunderlichen, einen vom 31. Januar datirten Brief an jenen,
in dem er ausser nnderm bat, dem Briefweiser die 10 M. , um
welche er, der Herzog, mit der Stadt wegen der Münze
übereingekommen sei , auszuzahlen ; hingegen wolle er in
kürzester Frist die deshalb besiegelte Urkunde ausfolgen.
Hinsichtlich des Inhalts der die Münze betreffenden Abmachung,
') L G. fol. 5 '.
•) I. G. foL 8 '.
«) O.-ü. Nro. 73 im Br. St.-A.
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42
welche nach dem Wortlaut diese? Briefes zwischen Herzog
Wilhelm und dem gemeinen Rate 1332 bestanden haben muss,
ist näheres nicht zu ergriindeu; auch kann man nicht erkennen,
wie lange sie in Geltung gewesen, und ob und inwiefern sie mit
den Verfügungen andrer Herzoge, namentlich der Grubenhagener
Linie in Zusammenhang stand. Nicht besser sind wir mit der
nächsten einschlägigen Nachricht daran, die ins Jahr 1343 fällt.
Im ersten Gedenkbuche *) ist eine Abrechnung des gemeinen
Rates mit dein Münzschmiede Hcneken Wulvramme verzeichnet,
aus welcher hervorgeht, dass dieser damals im Aufträge der
Stadt Pfennige geschlagen hatte. Das regt die Frage an: welcher
Herzog hatte die Stadt zur Ausübung des Münzrechtes ermächtigt
und auf Grund welches Vertrages? Aber auf beides müssen
wir die Antwort schuldig bleiben.
Eine stattliche Reihe von Urkunden, die untereinander in
engem Zusammenhang stehen und von uns hier heranzuziehen
sind, ist aus der Regierungszeit Herzogs Magnus des Altern
erhalten. Am 29. Mai 1345 überliess derselbe seinen Anteil an
der Münze zu Braunschweig dem Rate und den Bürgern auf
drei Jahre;*) für welche Summe oder für welche Einräumungen
ist leider nicht gesagt. Am 1. Juni 1348 verlängerte er die
Vergabung um fünf Jahre.8) Ob er dann 1353 eine neue hierher
gehörige Urkunde ausgestellt hat, wissen wir nicht; vielleicht
that er es zuerst wieder 1354. Denn unter den in der gemeinen
Kämmereirechnung dieses Jahres verzeichneten Ausgaben findet
sich ein Posten, wonach der Schreiber Herzogs Magnus für eine
auf die Münze bezügliche Urkunde 1 Ferding erhalten hat.
Weiterhin erneuerte Magnus am 4. Juni 1357 die Überlassung
der Münze an die Stadt auf drei Jahre4) und am 31. Mai 1360
abermals auf dieselbe Zeit;5) auf letztere Urkunde werden wir
bald zurückkommen müssen. Zum letzten Male, wie es scheint,
verfügte Magnus der -Altere 1369, wohl Anfang Juni, über die
Münze, indem er seinen Anteil daran für 50 M. der Stadt ver-
pfändete.*) Sein gleichnamiger Sohn bestätigte die Verpfandung
>) I G. fol. 2.
«) Br.-U.-B. S. 42.
=>) ibid. S. 42.
4) ibid. S. 49.
«) Br. U.-B. 8. 51.
«) ibid. S. 55.
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43
des Vater» in jener schon angezogenen Urkunde vom 14. Februar
1371, in welcher er auch die Rechte der Stadt auf Altewik,
Sack und Vogtei anerkannte.1)
Um den Zusammenhang nicht zu zerreissen, war von uns
oben eine Stelle aus der Urkunde von 1360 einstweilen bei Seite
gelassen worden, die eingehende Würdigung verdient. Sie ist
in der Urkunde von 1369 wiederholt und lautet in dem mittel-
niederdeutschen Text, wie folgt: „Weret ok, dat dijt veile bynnen
desser tijd — d. h. innerhalb der Vertragsdauer — dat se —
die Ratsherren — unser vedderen willen nicht en hedden to der
muntye, also dat se nene penninghe slogen unde den slach
liggen leten, des scolden se von os unbedcghedinget bliuen.“
Hieraus lassen sich mehrere wichtige Ergebnisse gewinnen.
Zunächst kann man feststcllen, dass die Stadt mit den Rechten
des Herzogs Magnus auf die Münze eigentlich auch die Pflicht
übernahm, diese Rechte auszuüben, Münze zu schlagen. Denn
was hätte sonst jenes ausdrückliche Versprechen des Herzogs zu
bedeuten, er wolle die Stadt nicht belangen, falls sie keine
Pfennige präge. Aber die damit ausgesprochene Pflichtbefreiung
erstreckte sich nur auf einen gewissen Fall, nur auf den Fall
nämlich, dass der Rat den Willen der Vettern Magnus’ zu der
Münze nicht haben d. h., dass diese Vettern sich weigern würden,
ihren Anteil an der Münze ebenfalls der Stadt zu verpfänden,
ln einer Hand musste demnach die Münzgerechtsame sein, nur
einer durfte in Braunschweig münzen, entweder die herzogliche
Familie oder die Stadt. Doch weiter! Da Magnus hier nur
von dem Willen seiner Vettern spricht, nicht aber auch von dem
seines Bruders Ernst, der ja erst 1367 starb, so haben sich
möglicher Weise seine Münzverpfändungen nicht auf seinen
persönlichen Anteil allein, sondern auch auf den des Göttinger
Herzogs bezogen, oder beide haben wenigstens in vollstem Ein-
verständnis» in dieser Angelegenheit gehandelt, man müsste sonst
annehmen, der Aussteller habe unter dem Ausdruck Vettern seine
sämmtlichen männlichen Verwandten zusammengefasst. Würde
aber ferner der Rat auf die Überlassung durch Magnus, welche
doch nicht umsonst geschah, eingegangen sein, wenn er die
erworbenen Rechte nicht hätte ausnutzen können, wenn er nicht
auch den Anteil der Vettern jenes, worunter wohl die gruben-
hagenschen Herzoge verstanden sind, im Pfandbesitz gehabt
') cf. SS. 35 und 36 dieser Arbeit.
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hätte? Hieraus, wie auch aus der Ausdrucksweise der ange-
führten Stelle, welche ein Zurückziehen der Einwilligung seitens
der Vettern nur hypothetisch in Aussicht stellt, ergiebt sich,
dass damals auch die Grubenhagener Linie ihrer Anrechte auf
die Münze zu Gunsten der Stadt zeitweilig entsagt hatte.
Herzog Wilhelm war unseres Wissens der erste grubenhagensche
Herzog, der — gegen 1332 — ein Abkommen wegen der Münze
mit dem Rate schloss, dann erhielt Wilhelms Bruder, Ernst der
Altere, nach der gemeinen Rechnung von 1355 in diesem Jahre
vom Braunschweiger Rate für die Münze 40 M., wobei wir die
Frage offen lassen müssen, ob seine Verpfändung den Anteil der
grubenhagenschen Linie oder nur seinen eignen betraf. Ver-
pfändung der Münzgerechtsame der ganzen Linie kann mit
Sicherheit erst aus den genannten Urkunden von 1360 und 1369
nachgewiesen werden. Die dort vorausgesetzten Verträge bestätigte
Herzog Albrecht, der Sohn Ernsts, in der schon erwähnten
Urkunde vom 12. September 1370: in ihr ist ausser andern
Pfandobjecten auch die Münze aufgeführt. ')
Übrigens gewann die Stadt durch diese Einräumungen der
Herzoge noch nicht die Verfügung über die gesammten Erträge
der Münze. Jene hatten, wie es vereinzelt auch beim Zoll
vorkam, aus den Münzeinnahmen vielfach Renten zu Lehen
ausgethan, und diese wurden erst bei der endgültigen Erwerbung
der Münze für die Stadt im Jahre 1412 abgelöst.5)
Unter den herrschaftlichen Rechten und Gefällen, welche
Herzog Albrecht 1296 dem gemeinen Rate verpfändet hatte, war
endlich der Mühlenzins — alle Mühlen Braunschweige waren
ursprünglich herzoglich — genannt worden. Wie Zoll und
Münze, so muss auch jener 1299 der Stadt wieder genommen
sein, um ihr schliesslich doch ganz anheimzufallen. Aber erst
im Jahre 1364 sehen wir durch eine Verpfändung Magnus des
Altern abermals den Mtthlenzins, wenigstens einen Teil desselben,
in städtischen Besitz übergehen.8) Dass in der Zwischenzeit der
Finanzverwaltung Braunschweigs Einnahmen vom Mühlenzinse
zugeflossen seien, dafür fehlt in der Überlieferung jeglicher
Hinweis.
') cf. 8. 36 dieser Arbeit.
») Chron. VI. 8. 196-198 und Br. Ü.-B. S. 186 ff.
*) Sudendorf HI, 8. 137.
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Umgekehrt kann man sagen , wie beim Mühlenzinse , liegen
die Verhältnisse bei einer andern Einnahme, die gleichfalls
anfänglich herzoglich war, dem Judenschutzgelde. Zwischen
den in der Urkunde von 1296 aufgezählten Pfandobjecten hatte
sich der Judenzins nicht befunden , was vielleicht damit
zusammenhängt, dass, so viel wir wissen, im selben Jahre zum
ersten Male eine Judenfamilie in die Stadt aufgenommen wurde.1)
1320 überliess Herzog Otto der Milde 5 M. jährlicher Rente
aus seinen Aufkiinften von den Juden an zwei Bürger
Braunschweigs*); gleiche Vergabungen sind uns auch von
seinen Brüdern Magnus und Ernst bezeugt.8) Das Gemein-
wesen selbst erhob , wie aus einer Aufzeichnung im ersten
Gedenkbuche hervorgeht, im Jahre 1351 von acht jüdischen
Haushaltungen im ganzen 80 M. Jahresabgabe4); dies ist das
erste Mal, dass wir von einer Besteuerung der Juden durch den
Rat hören. 1354 entrichteten diese 30 M. an die gemeine Kasse;
zufällig ist der betreffende Posten unter die Einnahmen in der
Altstädter Rechnung von 1354 geraten, wo er dann als nicht
dorthin gehörig durchstrichen wurde. Im Jahre 1358 einigten
sich die Vertreter der „gemeinen Juden“ mit dem Rate dahin,
dass sie sich verpflichteten jährlich 24 M. Zins zu zahlen,8) und
1360 wurde das von der Judenschaft aufzubringende Jahrgeld
auf insgesammt 13 M. 1 Ferding 1 Lot festgesetzt.8) Ohne
Frage beruhte das in den aufgefiihrten Fällen hervortretende
Recht der Stadt, von den Juden Abgabe zu erheben, auf einer
oder mehreren Verpfändungen seitens der Herzoge, wenn wir
auch von solchen in so früher Zeit noch nichts hören. Die
erste, über die wir gewisse Kunde haben, fällt ins Jahr 1364.7)
Damals versetzte Magnus am 28. Januar alle seine Anrechte
auf Judenschutzgeld und Mühlenzins dem Braunschweiger Rate
für 18 M. Was die Ansprüche der grubenhagenschen Linie
angeht , so sprach Herzog Albrecht in jener Urkunde des
12. September 1370 auch von seinem Teil des Judenzinses als
von einem der Stadt bereits verpfändeten Gefäll.
') Dürre S. 123. — A. D. I. fol. 18«.
*) 8udendorf I, 195.
•) Sudendorf II, 49, 63.
‘) L G. fol. 7.
s) L G. fol. 11 *.
•) I. G. fol. 12*.
’) Sudendorf III, 137,
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46
Aber die pfandweisen Erwerbungen, bei welchen der gemeine
Rat mit den Herzogen in geschäftlichen Verkehr trat, beschränkten
sich nicht auf deren Eigentum innerhalb der Stadt, sie dehnten
sich auch auf ihren Besitz ausserhalb dieser aus, vornehmlich
auf ihre Burgen. Schon in der ersten Hälfte des 14. Jahr-
hunderts begann sich das Pfandschlosswesen auszubilden, das
zur Zeit seiner höchsten Blüte ein ganz besonders wichtiges
Gebiet der gemeinen .Finanzverwaltung war. Um den bereits
hoch entwickelten Handel Braunschweigs und die ausserhalb
seiner Mauern gelegnen Güter der Bürger einigermassen
wenigstens vor der Bedrückung durch die ritterlichen Wege-
lagerer zu schützen, griff der Rat zu dem Mittel, die wichtigsten
der rings um die Stadt im Lande zerstreut liegenden Burgen
in seine Hand zu bringen.1) Einmal wurde dadurch dem Mies-
stande vorgebeugt, dass sich hier Feinde der Bürger festsetzten,
und andrerseits war es möglich, von hier aus als von festen
Stützpunkten dem Treiben der Landschinder Einhalt zn thun.
Die meisten der Burgen waren Eigentum der Herzoge, so auch
die erste, die wir im Pfandbesitz der Stadt finden, die Asseburg.8)
Diese scheinen die Braunschweiger 1331 in ihre Hand bekommen
zu haben. Damals wenigstens brachte der Rat der Neustadt
durch Anleihen 350 M. auf, die mit den Beiträgen der übrigen
Weichbilde an Herzog Otto auf die Asseburg ausgezahlt werden
sollten.8) Und dass es sich dabei nicht um ein einfaches
hypothekarisches Darlehn, sondern um eine wirkliche Ver-
pfändung handelte, beweist ein Posten des Bruchstücks der
gemeinen Stadtrechnung von 1331: 23 M. 1 Lot gab der Rat
für Bauwerk an der Asseburg aus. Die von Herzog Otto über
letztere getroffene Verfügung bestätigten seine Brüder Magnus
und Ernst am 15. Februar 1345, indem sie dem gemeinen Rate
für 1470 M. die Asseburg sammt Zubehör verpfändeten, wie sie
jenem ihr verstorbner Bruder verpfändet habe.*) An demselben
Tage erklärten die beiden Herzoge ferner, dass sie dem Rate
binnen Jahresfrist dem Herzog Otto geliehene 100 M. zurück-
zahlen oder um diesen Betrag die auf der Asseburg stehende
') Werkstücke I, 99.
*) Die Asseburg lag auf der Aase, einem Höhenzuge südöstlich von
Wolfenbüttel.
») R. d. N. fol. 79.
*) Sudendorf II, 61.
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Pfandsumme erhöhen wollten.1) Man sieht die Bande, welche
jenes Pfandschloss an die Stadt fesselten, wurden immer enger,
immer unwahrscheinlicher eine baldige Einlösung.
Ausser der Asseburg ist, so weit wir sicher wissen, vor 1354
nur noch ein Schloss in den Pfand besitz der Braunschweiger
gekommen, die Bornburg.*) Sie gehörte zwar dem Bistum
Halberstadt, mag aber der Sache halber gleich hier erwähnt
werden. Da in einem Verzeichnisse vom Neustädter Rate
während der Jahre 1338 und 1339 verkaufter Benten*) sich
zwei befinden, von denen es in der Nachricht über ihre Einlösung
zu Ende October 1346 heisst1), ihr Kaufpreis sei für die Horn-
burg verausgabt worden , so erfolgte die Verpfändung derselben
wahrscheinlich in einem der beiden erstgenannten Jahre. Zugleich
ersehen wir hieraus, dass, wie die Pfandsumme für die Asseburg,
so auch die für die Hornburg durch Beiträge der Weichbildsräte
aufgebracht wurde.
Neben der ausgedehnten Verpfändungswirtschaft treten
Angelegenheiten, bei denen vor 1354 der gemeine Rat sonst
noch in finanzielle Berührung mit den Herzogen kam, mehr in
den Hintergrund Im engen Zusammenhänge mit dem eben
besprochenen steht ein Zwist zwischen der Stadt und dem
Herzog Magnus wegen der au der Asseburg aufgewandten
Baukosten. Den Ersatz derselben forderte jene auf Grund der
Verpfändungsurkunde Herzog Ottos , während Magnus sich
weigerte, ihn zu leisten. Ausgetragen wurde die Sache durch
einen 1350 gefällten Schiedsspruch des Bischofs Heinrich von
Hildesheim. *)
Ein andres Zcrwürfniss zwischen der Stadt und Magnus
dem Altern, gleichfalls finanzieller Natur, fand 1349 seine Er-
ledigung. Indem letzterer im Lande Beden erhob, wodurch die
Meier der bürgerlichen Güter beschwert wurden, und ausserdem
von den Braunschweiger Bürgern durch seine Amtleute wider-
rechtlich Zoll eintrieb, fühlte sich die Stadt empfindlich geschädigt.
Durch einen Vergleich vom 27. März genannten Jahres wurde
schliesslich die Aussöhnung herbeigeführt. Magnus erkannte die
') Sudendorf II, 62.
*) Südlich von ßörssum belegen.
*) R d. N. fol. 81.
‘) R d. N. fol. 81 '.
s) Sudendorf II, S. 199.
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Beschwerden der Bürger als berechtigt an , wogegen ihm diese
unter dem Namen eines Geschenkes aus gemeinen Mitteln 100 M.
zahlten.1)
Während in den beiden besprochenen Fällen ein Widerstreit
der Interessen der Stadt und des Herzogs hervortrat, so waren
doch gerade in der ersten Hälfte des Jahrhunderts viel häufiger
freundschaftliche Beziehungen zwischen jenen und ihren Herren
von Bedeutung für den städtischen Haushalt. Wenn freilich der
Rat mehrfach Mitgliedern des herzoglichen Hauses gelegentlich
ihrer Anwesenheit in Braunschweig Geldgeschenke machte,*) so
kann man daraus allein noch nicht mit Sicherheit auf solche
Beziehungen schliessen. Wohl aber darf man diesen Schluss
ziehen , wo man die Herzoge in ihren Plänen und Unter-
nehmungen durch die Bürger thatkräftig unterstützt sieht, ein
Vorgehen, das immer mit Kosten, zuweilen mit recht bedeutenden
verknüpft war. Als es beispielsweise im Jahre 1331 galt, die
Wahl Herzog Heinrichs zum Bischof von Hildesheim zu befördern,
durfte der Rat auch die Geldopfcr nicht scheuen , welche die
hierauf bezüglichen Verhandlungen erforderten.3) Weit höhere
Summen aber als durch derartige Hülfeleistungen wurden unter
Umständen dann verschlungen, wenn die Stadt den Herzogen
bei kriegerischen Unternehmungen Beistand gewährte. Hier ein
Beleg dafür: 700 M. Lösegeld musste der gemeine Rat für
diejenigen seiner Bürger aufbringen, welche im Jahre 1347 in
dein unglücklichen Treffen von Gardelegen, wo sie für Herzog
Magnus den Altern gegen den Erzbischof Otto von Magdeburg
gekämpft hatten, den Feinden in die Hände gefallen waren.4)
Dies die mannigfaltigen Aufgaben, die der gemeinsamen
Finanzverwaltung durch die besondern Beziehungen der Stadt
zu den Herzogen erwuchsen. Natürlich musste mit den letztem
auch ein diplomatischer Verkehr gepflogen werden, aber in
solchem Verkehr stand Braunschweig nicht nur mit den
Herzogen, sondern auch mit den benachbarten Bischöfen, Abten,
mächtigem Adligen und Städten. Die durch denselben an die
Kasse des gemeinen Rates immerwährend gestellten Anforderuhgen
*) I. G. fol. 6'. cf. Dürre S. 144.
*) Bruchstück der gemeinen Rechnung von 1331.
*) ibidem.
*) Dürre S. 144, wo auch die Belegstellen.
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waren nicht gering. Das ersehen wir sehr gut aus der gemeinen
Rechnung von 1331, die vor 1354 über diesen Punkt allein
Auskunft giebt. Zunächst gehören dahin die Zehrungskosten
für die von der Stadt ausgeschickten gewöhnlichen Boten; von
mehreren derartigen Posten sei nur der erste und bedeutendste
genannt, wonach für solche Sendungen 10 Pfd. verausgabt wurden.
Hiervon zu trennen sind die Zahlungen an einzelne mit gewissen
Geschäften betraute Abgesandte ; sehr häufig wurde der Schreiber
dafür verwandt, der unter andern 1331 für eine Reise zu Herzog
Ernst 21/* Ferd. erhielt. Dazu kommen die Summen, welche die
zu Verhandlungen in benachbarten Städten abgeordnetcn Rats-
herren verbrauchten ; so erforderten damals zu Helmstedt gepflogene
Verhandlungen die stattliche Ausgabe von ß M. 5 Lot.
Weitergehend wenden wir uns dann zu den in Braunschweig
selbst ira Interesse des diplomatischen Verkehrs gemachten Auf-
wendungen. Jeder Überbringer einer Botschaft von Seiten
fremder Herren oder Städte, jeder Überbringer eines Geschenkes
— nicht selten schickte einer der Herzoge oder einer der
benachbarten Prälaten dem Rate ein Stück Wildpret — erhielt
ein gutes Trinkgeld; dasselbe betrug meist 1/i M., in einem
Falle sogar 2 M. Hieran reihten sich die Kosten für Be-
herbergung und Bewirtung auswärtiger Abgeordneter, wenn in
Braunschweig Verhandlungstage abgehalten wurden. Zwei Mal
— so scheint es wenigstens — waren 1331 Göttinger und
Mindener Ratsherren in der Stadt anwesend: über 5*/* M.
wurden gelegentlich ihres ersten , 6 Pfd. gelegentlich ihres
zweiten Besuches verausgabt. Und mit diesen Posten hängt der
Sache nach ein weitrer eng zusammen, demzufolge in dem
genannten Jahre an Gäste der Stadt für 45 M. Wein ausge-
schenkt wurde.
Ausser der Leitung der auswärtigen Politik lag dem gemeinen
Rate ferner die Sorge für das mit jener sich vielfach nahe
berührende Kriegswesen der Stadt ob;1) war dies doch gleich-
falls ein Gebiet, wo Interessen aller fünf Weichbilde zusammen-
liefen. Die in dieser Richtung der gemeinen Finanzverwaltung
erwachsenden Ausgaben waren, wie das zu einer Zeit, in welcher
der „tägliche Krieg“ im Lande wütete, gar nicht anders zu
erwarten, verglichen mit den Erfordernissen für sonstige Zwecke
’) Über das städtische Kriegswesen giebt eroen gHten Überblick
fiänselmann in Werkst. 1, 99—116.
Mack, Finanxgeschichto der Stadt Braun schweig. .j
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60
ganz unverhältnissmässig gross. In erster Linie muss hier auf
die bedeutenden Summen hingewiesen werden , die für das
Institut der Pfaudschlösser an Zinsen, an Baukosten — letztere
wurden freilich im allgemeinen von den Besitzern zurückerstattet,
beziehungsweise auf die Pfandsumme geschlagen *) — , ferner zum
Unterhalt der Besatzung und endlich für die meist an Edelleute
übertragene Burghut aufgewandt wurden. Zu dem oben bereits
angeführten mag an dieser Stelle noch hinzugefugt werden, dass
1331 auf das zur pfandweisen Erwerbung der Asseburg benötigte
Kapital 112 M. Zins gezahlt und für nicht näher bezeichnete
Zwecke auf derselben Burg über 97 M. ausgegeben werden
mussten. *)
Um ihre Bürger beschützen, ihre Pfandschlösser besetzen,
ihre Fehden auskämpfen zu können, war die Stadt gezwungen,
sich Söldner zu halten, denn die bürgerliche Wehrpflicht reichte
zur Erfüllung aller dieser Aufgaben nicht aus. In wie um-
fassendem Massstabe jenes Mittel zur Anwendung gelangte, lässt
wiederum die Rechnung von 1331 sehr gut erkennen. In ihr
sind zuuächst 300 M. für „stipendiarii“ verzeichnet, wobei wir
sicherlich an Soldzahlungen zu denken haben. Sodann ist die
Gesammtsumme des Soldes der „cursorea“ oder „Renner“ *) d. h. der
berittenen Söldner der Stadt mit 76 M. eingetragen; ausserdem
wurde ihnen für 4 M. Hafer gegeben, und 3 M. 1 Ferd. wandte
man für ihre Winterkleidung auf; von letztem beiden Posten
möchte man kaum behaupten, dass sie sich auf alle Renner
bezögen. Schliesslich wurde zu Ostern des genannten Jahres
für über 11 M. die Kleidung der „famuli“ beschafft, in welch’
letztem, falls sie überhaupt von den stipendiarii streng geschieden
werden können, vielleicht die nur für Unterhalt und Kleidung
dienenden streitbaren Knechte zu sehen sind; dass dies häufiger
vorkam, zeigen eine Anzahl von Oontracten der spätem Zeit.
Die für seine Streitmacht erforderlichen Pferde stellte zum
Teil der Rat, indem er solche entweder käuflich erwarb und
dann gegen Entgelt — städtische Marställe kommen erst gegen
’) cf. S. 47. Der Schiedsspruch des Bischofs lautete dahin , dass
Herzog Hagnus nur die Kosten derjenigen Bauten an der Asseburg zu
ersetzen habe, zu deren Ausführung die Stadt vorher seine Einwilligung
eingeholt hätte, cf. ferner 11, cap. 8.
*) Bruchstück der gern. Rechnung von 1381.
*) Werkst. I, S. 110 und 111.
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51
Ende des Jahrhunderts vor — bei Bürgern in Pflege gab, oder
indem er sie sich von diesen mietweise verschaffte. Teilweise
aber hielten sich die Söldner auch ihre Pferde selbst, was
natürlich auf die Höhe ihres Soldes nicht ohne Einfluss blieb.
Wurden im Dienste der Stadt gerittene Pferde beschädigt oder
getödtet, so musste der Rat einen, wie es scheint, meist recht
hoch bemessenen Ersatz leisten. Diese Gliederung der mannig-
faltigen Ausgaben für Beschaffung eines tüchtigen Pferdematerials
ergiebt sich erst aus den jüngeren Rechnungen ; *) nach der
Rechnung von 1331 könnte man sie wegen zu ungenauer
Bezeichnung der betreffenden Posten — immer heisst es nur
pro equo — nicht aufstcllen. Immerhin wird man vermutungs-
weise sagen können, dass die kleinern Beträge von 2 Ferd. bis
2 M. für Unterhalt, Miete oder geringere Beschädigungen, die
grossem von 4 bis 7 M. für Anschaffung von neuen Pferden
oder zur Entschädigung für gänzlich unbrauchbar gewordene
und getödtete zu zahlen waren.
Aber nicht nur für Pferdeschaden, wie der technische Aus-
druck lautet, musste der Rat aus gemeinen Mitteln aufkommen,
sondern auch für alle sonstigen Verluste, welche diejenigen, die
ihm irgendwelche Kriegsdienste leisteten , hierbei erlitten. So
erklärt es sich, wenn er einem seiner Söldner 1331 4 Schill, für
einen eisernen Helm und einem andern 10 Schill, für Steigbügel
zahlte. Und eng mit dieser Ersatzpflicht hing die weitre Pflicht
des Rates zusammen, den im Streite für die Stadt gefangen
genommenen wieder auszulösen. Ein sehr gutes Beispiel bietet
dafür eine Urkunde vom 8. Mai 1350, 4) in der Hinrik von
Evessem feierlich erklärt, dass er im Dienste des Hägener oder
des gemeinen Rates etwa gefangen weder den einen noch den
andern über 30 M. hinaus ansprechen wolle, mit welcher Summe
sie ihm zu Hilfe zu kommen versprochen hätten. Auch aus
dem Grunde ist diese Urkunde beachtenswert, weil sie durch die
Erwähnung des Hägener Rates erkennen lässt, wie zu jener
Zeit die Leitung des Kriegswesens nicht ganz und gar in den
Händen des gemeinen Rates lag, sondern auch die Competenz
der Weichbildsräte auf dieses Gebiet Übergriff.
Lies8 sich nun die Stadt auf grössere Actionen ein, auf
eine Vereinigung bedeutenderer Streitmassen, namentlich zur
') cf. II, oap. 7.
*) O.-U. im B. St.-A.
4’
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52
Belagerung von Burgen oder sonstiger fester Plätze ihrer ärgsten
Feinde, so gesellten sich zu alle den aufgezählten Ausgaben noch
andre grosse Erfordernisse. Das Heer musste reichlich mit
Proviant versehen, die Belagerungswerkzeuge in Stand gesetzt
und transportirt , der nötige Vorrat an Schleudergeschossen
beschafft werden. Au derartiges werden wir zu denken haben,
wenn es in der Rechnung von 1331 heisst, vor Warmstorf1)
seien ö M. 4 Ferd., vor Groningen *) 12 M. 3 Ferd. verbraucht.
Dies das wesentliche, was wir aus der Zeit vor 1354 von
den Beziehungen der Finanzverwaltung der Gesammtstadt zum
Kriegswesen hören ; nur Ausgaben waren es, die dabei erwähnt
werden konnten, während von dem gelegentlichen Gewinn, den
der Stadt ihre Kämpfe brachten, nämlich Lösegcld für die
Gefangenen und Beute an Pferden, Waffen und dergleichen, aus
der Überlieferung der ersten BLälfte des Jahrhunderts nichts zu
erfahren ist.
Im Interesse der Sicherung und Erleichterung des Verkehrs,
allerdings nicht allein hierfür, geschah es, dass der gemeine Rat
für eine starke Wehrmacht sorgte und im Interesse des Verkehre
handelte er auch, wenn er die wichtigem Landstrassen im Stadt-
gebiet in gutem Zustande erhielt. 1331 erforderte der Strassen-
darnin bei Klein-Schöppenstedt einen Aufwand von 10 Schill.,
die lange Brücke bei Vechelde einen solchen von 1 Pfd. Und
eine charakteristische Aufzeichnung im 1. Gedenkbuche zum
Jahre 1347 8) besagt, dass Olrik von Hedelendorpe dem gemeinen
Rate 4 M. 7 Lot. übergeben habe, die um Gott und seiner
Seele willen zum Damm bei Vechelde verwandt werden sollten.
So haben wir denn gesehen, wie bis zur Mitte des 14. Jahr-
hunderts die Wahrnehmung der äusseren Interessen der Stadt
den gemeinsamen Haushalt beeinflusste; jetzt soll der Zusammen-
hang des letztem mit der Vertretung jener durch den gemeinen
Rat nach innen zu, den Elementen gegenüber, die in ihrer
Gesnmmtheit die Stadt selbst bildeten, für die gleiche Zeit
betrachtet werden. Zuerst wenden wir uns da zu den Be-
ziehungen der gemeinen Finanz Verwaltung zum städtischen
') „Warmeatorp“. Vielleicht ist Warmadorf in der Grafschaft Hoya
darunter zu verstehen.
*) „Groningen“. Gemeint ist entweder das Dorf Groningen bei Aschers-
leben oder, was weniger wahrscheinlich, das Dorf Groningen bei Salzwedel.
*) 1- G. fol. 4 '. Die Datirung 1347 ist nicht ganz sicher.
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53
Klerus. Freilich war die Stellung desselben eine sehr selbst-
ständige und abgesonderte, aber doch aicht in dem Grade, dass
es ungerechtfertigt erscheinen könnte, auf jenen Punkt hier
einzugehen. Waren auch die Leistungen des Klerus an das
Gemeinwesen in Folge der kanonischen Forderung, die Geist-
lichkeit und alles Kirchengut solle von bürgerlichen Lasten
befreit bleiben, weit geringere als die der Bürger, so fehlten sie
doch, da jene Forderung strenger Durchführung ermangelte,
nicht gänzlich. Wir hatten ja bereits oben Gelegenheit, einige
Urkunden kennen zu lernen, in denen sich geistliche Stifter gegen
Ablösung gewisser dem Gemeinwesen als solchem schuldigen
Leistungen zu andern Leistungen an dieses verpflichteten.1) In
der Rechnung von 1331 kommen, da sie ja nur eine Ausgabe-
rechnung ist, ausschliesslich Zahlungen des Rates an den Klerus,
nie das umgekehrte vor. Bei einem Teile der betreffenden Posten
handelt es sich um Geschenke: so erhalten die Minderbrüder
1 M. 1 L. zum Kauf einer Tonne voll Häring 4) und denselben
wird bei ihrem Hauptfeste, der Kirchweih, 1 M. verabreicht. In
der Aufgabe der Armenpflege gewährt der Rat dem Klerus seine
Unterstützung, indem er „ad stipam“ — zu Almosen — fast 7 M.
hergiebt. Denn dass diese Summe zur Verteilung an die Armen
den Klöstern in der Stadt ausgezahlt ward, wenn auch vielleicht
nicht in einem Male, sondern in kleinern Beträgen an ver-
schiedenen Festtagen, wird man aus einer der unsrigen eng
verwandten Eintragung in der gemeinen Rechnung von 1354")
schliessen dürfen. Ungewiss ist es, wie der Posten erklärt
werden muss , wonach dem Pfarrer der Heiliggeistkapelle
7 Pfd. und für Lichter in derselben 10 Schill, gezahlt worden
sind; dieselben beiden Ausgaben kehren in ebenso enger Ver-
bindung noch nach Jahrzehnten wieder, vielleicht handelte es
sich also dabei um ein Vermächtniss, dessen Ausführung dem
Rate übertragen war. Im unklaren sind wir ferner über den
Character des Nonnenzinses, der in der Rechnung von 1331 mit
einem Betrage von 10 M. figurirt, aber auch nur hier erwähnt
ist; nur so viel wird wohl sicher sein, dass die Empfängerinnen
dieses Zinses die Benedictinerinncn im Kloster auf dem Rennel-
berge vor dem Petrithore waren. Der Vollständigkeit halber sei
<) cf. SS. 23, 27 u. 28.
*) Diese Spende erhielten sie offenbar in den Fasten, wie aus der
Rechnung von 1354 hervorgeht. cf. U, cap. 7.
■') Item X talenta claustris ad elemosinas. cf. II, cap. 7.
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hier noch auf einige Notizen im 1. Gedenkbuche hingewiesen,
die indessen von keinem grossen Belang sind. Zu den Jahren
1348, 1349, 1351 sind verschiedene von geistlicher Seite dem
Rate geschuldete Ausstände eingetragen;1) die bei weitem grösste
Forderung des letztem beläuft sich auf 34 M. Ausserdem ist
zum Jahre 1353 der Verkauf eines der Stadt gehörigen Hofes
erwähnt, den die Heiliggeistkapelle für 30 M. erworben hat.*)
Über die finanziellen Berührungen, in welche vor 1354 der
gemeine Rat mit den Bürgern Braunschweigs trat, wird uns nur
spärliche Auskunft zu Teil. Wir erfahren lediglich von einigen
wenigen Angelegenheiten ineist rein privatrechtlichen Charakters.
Für die Rentenverkäufe, die wir später in der gemeinsamen Finanz-
verwaltung und im Weichbildshaushalt schon in dieser Periode eine
so bedeutende Rolle spielen sehen, ist uns nur ein Beispiel aus dem
Jahre 1302 genauer bekannt. Damals kaufte Johann von Alvelde
beim Rate der Stadt Braunschweig, wie es heisst, für 12 M. eine
wiederkäufliche Rente von 1 M., die zu einer täglichen Messe
in der Martinikirche verwendet werden sollte. *) Häufiger siud
die Fälle, in denen cs sich um Verkauf oder zinsweisc Über-
lassung von Häusern oder sonstigen Grundstücken seitens des
gemeinen Rates handelt. 1348 verkaufte derselbe einem Bürger
und seiner Frau ein Haus auf beider Lebenszeit für 12 M.;
zugleich wurde damit die Abmachung verknüpft, dass sie auf
dem Grundstück einen Brunnen graben lassen und gegen jähr-
liche Zahlung von 1 Ferd. schossfrei sein sollten.4) In demselben
Jahre überliess der Rat einem andern Bürger ein Haus gegen
l’/9 M. jährlichen Zins;5) davon sollte, so ward bestimmt, 1 M.
als Erbenzins gezahlt werden, während die übrige M. vom
Inhaber für 6 M. in zwei Malen abgelöst werden sollte. Um
die gleiche Zeit endlich wurde seitens der gemeinen Stadt ein
Haus auf drei Jahre für einen jährlichen Pachtzins von 14 Ferd.
vermietet. *) — Alan sieht schon aus den angeführten Fällen, wie
■) L G. fol. 4 ■, ö, 7 '.
>) I. G. 6*.
*) A. D. I, fol 2. Es ist dort von den „cousules civitatis Brunswic“
die Rede, so dass man kaum umhin kann, den gemeinen Kat als Verkäufer
anzunehmen.
*) I. G. fol. 6.
s) ibidem.
•) ibidem.
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die mannigfaltigsten Combinationen bei derartigen Geschäften
zur Anwendung kamen. Strenge Regelmässigkeit in der
Abzahlung der dem Rat he geschuldeten Hauszinse, worauf dieser,
da es doch öffentliche Gelder waren, durchaus hätte bestehen
sollen, scheint nicht geherrscht zu haben ; das kann man aus
einem sich über die neun Jahre von 1342 bis 1350 erstreckenden
Verzeichniss von Hauszinsen schliessen, welche die Söhne
Tiderik Dörings „des groten“ — die Döring waren eins der
angesehensten Patrieiergeschlechter in der Altstadt — dem
Gemeinwesen schuldig geblieben waren. Ihre Gesammtschuld
belief sich am £nde dieses Zeitraumes auf nicht weniger als
47 M. 3 Ferd. 1 Lot.1)
Ein sonderbares Licht auf die damaligen Zustände der
Finanzverwaltung gemeinen Rates wirft auch das, was wir aus
der oben bereits erwähnten Abrechnung dieses mit dem Münz-
schmiede Heneken Wulvramme ersehen. *) Letzterer hatte im
Jahre 1343 rund 462 M. lötigen Silbers, offenbar zur Aus-
prägung, überwiesen erhalten, und, obwohl vier Ratsherren, zwei aus
der Altstadt, einer aus dem Hagen und einer aus der Neustadt
die Oberaufsicht über die Münze führten, war es doch möglich,
dass Heneken am Ende des Jahres sammt einer Summe von
45 M., die er noch von 1341 her schuldig war, der Stadt über
240 M. schuldete. Jene Abrechnung lehrt, auf welche Weise
der Rat sich schadlos zu halten suchte. Er übernahm den aus
Wiesen, Worten, einer Hufe und einem Hause bestehenden,
freilich stark verschuldeten Grundbesitz des Münzschmiedes,
sowie eine Quantität Korn und seine Ausstände im Betrage von
ungefähr 40 M.
Wenn wir schliesslich auch einen Blick auf die Beziehungen
zwischen dem gemeinen Rate und den Weichbildsräten werfen,
soweit dieselben uns hier angehen, so war schon früher fest-
gestellt worden , dass die Erträge der mit Weichbildsmitteln
vollzogenen Erwerbungen zeitweise wenigstens auf die Weich-
bildskassen verteilt zu sein scheinen.*) Vielleicht darf man in
zwei Posten des Bruchstücks von 1331 Belege für eine
derartige Verteilung erblicken, indem der erste eine Ausgabe
von 281/, M. an den Rat des Hägens, der zweite eine
*) I. G. 4*.
*) of. 8. 42.
•) of. 8. 33.
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solche von 19 M. I1/, Ferd. an den Rat der Neustadt bezeugt.
Diese Vermutung gewinnt nocli dadurch an Wahrscheinlichkeit,
dass jene Summen sich zu einander fast wie 3 : 2 verhalten,
ein Verhältniss, welches zwischen den Zahlen der die beiden
Weichbilde im gemeinen Rate vertretenden Ratsherren gleich-
falls bestand. J) Auf denselben oder ähnlichen Zuständen
mochten auch wohl die Ansprüche der Neustadt an die gemeine
Finanzverwaltung beruhen, die in einer Eintragung im Rechts-
buche genannten Weichbildes hervortreten.*) Hier erklärte der
Rat des letztem um das Jahr 1330, der Kaufpreis für einen
Badstoben und einen Brotscharren, die er wiedergekauft habe,
solle aus den Mitteln gemeiner Stadt entrichtet werden.
Es bleibt nur noch übrig, betreffs der vor 1354 auftretenden
besoldeten Beamten und Diener des gemeinen Rates ein Wort
hinzuzufügen. Die Söldner und Boten wurden schon oben
genannt, ebenso auch, aber nur beiläufig, der Schreiber, der eine
wichtige Stellung bekleidete. Nach der Rechnung von 1331
erhielt er 8 Pfd. Gehalt, für seine Kleidung 4 Ferd.; seine
Thätigkeit bei der Schosserhebung wurde ihm mit 1 M. vergütet
und zur Anschaffung von Pergament 1 Pfd. ausbezahlt. Ausser
ihm kommt sodann noch der Henker vor, der '/* M. für
Kleidung erhielt, ferner ein Meister Sander, wohl ein Rats-
handwerker, an welchen l1/* M. ausgegeben wurden. Schliess-
lich mag noch des Kohlenträgers gedacht werden, ihm werden
für seine Kleidung 8 Ferd. gezahlt. *) Ausgaben für andre
Beamte des gemeinen Rates sind in unser Epoche nicht fest-
zustellen.
Indem hiermit die Übersicht über die Thätigkeit der gemein-
samen Finanzverwaltung von ihrem Entstehen an bis 1354 zu
Ende geführt ist, wird es gut sein, uns daran zu erinnern, wie
viele Unklarheiten und Lücken das gewonnene Bild aufweist.
>) cf. S. 25.
*) R. d. N. fol. 79.
*) VIII fert. pro vestibus Frederici caulistae. caulista ist ohne Zweifel
von caulis = Kohl abgeleitet. Wenn wir trotzdem hier Kohlenträger über-
setzen, so werden wir dazu einmal dadurch bewogen , dass das öffentliche
Amt eines Kohlträgers nie erwähnt wird, wohl aber das eines Kohlenträgers
(Gongier, Stadtrechtsaltertümer S. 197), ferner aber dadurch, dass der
Kohlenträger im Mittelniederdeutschen koldreyer heisst, sehr leicht also
eine Verwechslung beim Übersetzen ins Lateinische vorfallen konnte,
cf. Schiller-Lübben, mittelniederdeutsches Wörterbuch s. v. lcol(t)dreger.
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Hinsichtlich der Ausgaben zwar sind wir Dank der so oft
erwähnten Rechnung von 1331 nicht gerade schlecht unterrichtet,
aber, um die Einnahmen der gemeinen Stadt ihrem Umfang,
ihrer Herkunft und der Art ihrer Erhebung nach auch nur
einigermassen sicher kennen zu lernen, dazu bietet die trümmer-
hafte Überlieferung in keiner Weise genug Material. Namentlich
wird man über die so hochwichtige Quelle des Schosses, was
die behandelte Periode angeht, fast völlig im Dunkeln gelassen.
Als einen zweiten Hauptmangel möchte ich den bezeichnen,
dass es uns unmöglich ist, die Abhängigkeit des gemeinen Rates
von den Weichbildsräten rücksichtlich seiner Einnahmen scharf
zu begrenzen.
4. Die Weichbildsflnanzrerwaltungen von 1269 bis 1354.
Da, wie bereits bemerkt wurde, nach der Einigung von
1269 die Einzelfiuanzverwaltungen der Weichbilde nicht nur
weiter bestanden, sondern sogar sich so kräftig und lebensfähig
erwiesen, dass die Bestimmungen jener zu ihren Gunsten Ein-
schränkungen erlitten, ist für die richtige Erkenntniss der
Braunschweiger Finanzverhältniase seit 1269 ein näheres Ein-
gehen auf diese Weichbilds Verwaltungen doppelt nötig. Auch
hierbei kommt dem Jahre 1354 trennende Bedeutung zu, liegt
doch aus ihm die erste wirkliche Weichbildsrechnung vor. Für
die voraufgehende Zeit sind wir fast ganz auf die früher
genannten Weichbildsbücher1) angewiesen, aus denen wir eine
stattliche Sammlung hierher gehöriger Verträge und einiger
sonstiger Aufzeichnungen zusammenbringen können. Davon
entfällt der grösste Teil auf die Altstadt; an diese reihen sich
Neustadt und Hagen, jene durch die Erhaltung des besprochenen
Zinsbuches ausgezeichnet; sehr wenige Nachrichten berühren die
Finanzverwaltungen des Sackes und der Altenwik, und von dem
wenigen — im ganzen sind es sechs bis sieben Angaben —
gehört das meiste den spätem Jahrzehnten der Periode an. Bei
der Einteilung des Stoffes wird es am zweckmässigsten sein, sich
in erster Linie von den sachlichen Kategorieen, welche sich in
nicht gerade grosser Zahl aus den Weichbildsbüchern ergeben,
leiten zu lassen, sodann innerhalb der einzelnen Kategorieen
nach den Weichbilden zu scheiden.
>) cf. S. 10.
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Besonders vieles und wichtiges enthalten unsere Quellen über
die Verwaltung des Weichbildsgrundbesitzes, aus der den Einzel-
räten verschiedene Aufgaben erwuchsen. Für die Gebahrung
freilich, die in weiter zurückliegenden Zeiten von den Räten der
Altstadt, des Hagen und der Neustadt, wo wir von vornherein
eine freie Ahnende annehmen dürfen, vielfach geübt sein muss,
für die Ausgabe von Bauplätzen aus dem Weichbildsgut gegen
Wortzins, können wir aus dieser Periode kein einziges Beispiel
anführen. Häufig dagegen wurden in entsprechender Weise
schon bebaute Grundstücke verliehen; der in solchen Fällen
dem neuen Inhaber auferlegte Zins wurde mit der allgemeinen
Bezeichnung Erbenzins — denn auch der Wortzins war ein
Erbenzins — benannt. Zum ersten Male ist eine derartige
Vergabung um 1299 mit Sicherheit uachzuweisen ; es war der
Neustädter Rat, welcher damals dem Bürger Ekgeling Martening
ein kleines Haus gegen einen Erbenzins von 10 Schill, überliess. ')
30 Schill. Erbenzins bedang sich der Rat des Hagen im Jahre
1304 gleichfalls bei Überlassung eines Hauses aus, doch verkaufte
er den erworbenen Zins sofort an einen Bürger von Lübeck
weiter. s) Für Hagen und Neustadt Hessen sich namentlich mit
Berücksichtigung des Neustädter Zinsregisters bis 1354 noch
mehrere ganz entsprechende Geschäfte beibringen und reconstruiren,
mit Durchschnittsbeträgen von 10 bis 12 Schill. Zins für ein Haus-,
nur die Juden zahlten durchschnittlich 1 M. Hinsichtlich des
Rates der Altstadt können wir nur eine Angelegenheit hier
erwähnen, welche zeigt, dass die Weichbilde wohl auch auf
andere Weise in den Besitz von Hauserbenzinsen kamen.
Gemäss einer Abmachung vom 11. November 1310*) sollte das
Haus eines Bürgers, wenn derselbe nicht innerhalb einer
bestimmten Frist dein Altstädter Rate 5 M. entrichte, diesem zu
1 M. ewigen Zinses verpflichtet bleiben, andernfalls nur zu
17 Schill.
Als Erbenzinse kennzeichnen sich ferner die Erträge, welche
den Weichbilden die von ihnen auf ihrem Grund und Boden
erbauten Verkaufs -Hallen, Scharren und Buden einbrachten.
Aus einem im Jahre 1341 vom Säcker Rate mit den Knochen-
hauermeistern im Sacke geschlossenen Vertrage4) ersehen wir,
Tcf- A. D. I, fol. 20.
») H. D. I, 11.
*) A. D. I, 37 >.
*) 8. JD. I, 20.
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59
«läse dieses Weichbild damals bereits Fleischscharren und
Kaldaunenbänke besass und gegen £rbenzins nusthut — der erste
Hinweis auf freien Grundbesitz des genannten Gemeinwesens.
1347 traf auch der Hagener Bat mit seinen Knochenhauern eine
Abkunft, durch welche er ihnen 41 Fleischscharren gegen einen
Erbenzins von je 8 Schill, überliess. *) Hierher gehört ferner
eine interessante Eintragung im Hagener Degedingbuche zum
Jahre 1342. s) Damals empfing vom Bäte des Hagen ein
Gewandscheerer eine der Weichbildsscheerbuden gegen Erbenzins,
wobei ihm jener versprach, er werde nur noch zwei Gewand-
schecrer im Weich bilde und zwar ebenfalls auf seinen Zins, wie
es heisst, wohnen lassen. — Was über die Verkaufsstätten der
Altstadt in dieser Periode verlautet, zeigt uns den Weichbilds-
rat keineswegs in uneingeschränktem Besitze der Einkünfte aus
ihnen. So muss er sich, um nur ein Beispiel anzuiuhren, 1304
einen Zins von 4’/j Schill, aus den Altstädter Fleischscharren
erst für 2 */, M. von dem Vicar des St. Blasienstiftes Ludolf
Witte erwerben ; *) freilich ist hierbei die Möglichkeit nicht aus-
geschlossen, dass dieser Zins ursprünglich doch dem Weichbilde
zustand. — Um nun zur Neustadt überzugehen, so zählt jenes
schon wiederholt erwähnte Zinsbuch Einkünfte von verschiedenen
Verkaufestätten auf. Jede Bude im Gewandhause dieses Weich-
bildes brachte danach 2 Schill., jeder Fleischscharren 8 Schill.,
jeder kleine Scharren in der Judenstrasse 6 Schill, und jeder
Brotscharren 8 Schill, jährlichen Erbenzins. Dies ist wohl die
vollständigste Notiz, die hier herangezogen werden kann.
Ausser den Erbenzinsen von Häusern und Kauflokalen
lernen wir durch das Zinsbuch noch zwei andre Arten von
Grunderbenzinsen kennen. Die eine derselben ist der Grabenzins,
welcher uns nur in der Neustadt begegnet und meist in Posten
von 6 Pfenn. auftritt;4) bezahlt wurde er von den Inhabern der
■ThT D. I, 46 ■.
») H. D. I, 27 >.
*) O.-U. im Br. St.-A.
4) Dürre 8. 641 sagt: „an der Erhaltung der Gräben mitzuarbeiten
war jeder Einwohner der Stadt verpflichtet, einzelne Strassen . . . zahlten,
vermutlich um jene Verpflichtung abzulösen, jährlich einen bestimmten
Grabenzins.“ Dabei ist indessen zu bemerken, dass erstens nur solche
Hausinhaber Grabenzins zahlten, deren Grundstücke an den Hauergraben
stiessen, zweitens nicht alle in dieser Lage sich befindenden Hausinhaber,
sondern nur die in der Neustadt. Deshalb ist es sehr fraglich, ob Dürres
Erklärung richtig ist.
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am Graben bei der Mauer liegenden Häuser; wag für Verhältnisse
sonst hierbei in Betracht kamen, ist leider kaum sicher fest-
zustcllen. Der andre bisher noch nicht berührte Erbenzins ist
der Gartenzins, von ausgethanem Weichbildsgartenland her-
stammend. Diese Einnahme kann man übrigens nicht nur in
der Neustadt, sondern auch in andern Weichbilden nachwcisen,
wenngleich zum Teil erst nach 1354. Gartenzins der Altstadt
wird bereits zum Jahre 1345 genannt. ')
Aus jenem Zinsregister ersehen wir aber schliesslich, dass
ein Weichbild, wie es Erbenzinse einnahm, so auch unter Um-
ständen solche zu entrichten hatte: es sind dort namentlich zwei
Posten verzeichnet, welche die Neustadt alljährlich von gewissen
Grundstücken zahlen musste: einen von 4 Schill, an das Blasien-
stift, einen von 10 Schill, an das Rennelbergkloster. Auf zwie-
fachem Wege können diese Verpflichtungen des Weichbildes
entstanden sein: entweder hatte es jene Grundstücke von den
Stiftern unmittelbar zu Erbenzins empfangen, oder es hatte sie
von Leuten erworben, die bereits ihrerseits den Stiftern dafür
zinspflichtig gewesen waren und nun nicht nur die Grundstücke,
sondern auch die darauf ruhenden Lasten dem Käufer übertrugen.
Doch streifen wir hiermit schon eine neue Seite der Thätigkeit
der Weichbildsräte, auf welche wir jetzt unser Augenmerk
lenken wollen.
Den Einzelräten als Verwaltern des Weichbildsgrundbesitzes
lag nämlich neben der Regelung aller dieser Zinsverhältnisse der
An- und Verkauf von Grundstücken im Interesse ihrer Weich-
bilde ob. Um zunächst vom Erwerb neuen Grundbesitzes zu
sprechen, so geht hierin der Altstädter Rat allen voran. 1262
erwirbt er vom Aegidienkloster einen an der Oker belegenen
Platz,’) 1310 von demselben den Bruch, ein ziemlich aus-
gedehntes Sumpfgebiet am Südende der Stadt.”) Auch noch
auf anderm Wege als durch Kauf weise er seinen Grundbesitz
zu erweitern. So muss ihm 1326 einer seiner Bürger eine Wort
zu Lehndorf als Busse dafür überlassen, dass er mehrere Gärten
an das Blasienstift verkauft und dadurch dem Wcichbildsrecht
entzogen hat.4) Ausser dem angeführten ist hier nur noch jener
■) A. D. II, 35 >.
») O.-U. im Br. St.-A.
*) O.-U. im Br. 8t.-A.
*) O.-U. im Br. St.-A.
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bereits erwähnte Kauf eines Badstobens und eines Brotscharrens
durch den Bat der Neustadt heranzuziehen, welcher um 1330
stattfand.1) Sonstige von den Binzeiräten vollzogene Erwerbungen
an Grund und Boden gehen uns hier nicht an, weil sie zu
Gunsten verschiedner Stifter innerhalb der Stadt geschahen, bei
deren Vermögensverwaltung jene mitwirkten.
Wenn wir uns sodann dem Verkauf von Grundbesitz durch
die Weichbilde mit wenigen Worten zuwenden, so muss vor
allem betont werden, dass dabei in unserer Periode ein Verkauf
für immer überhaupt nicht vorkommt, sondern nur solche auf
Lebenszeit der Käufer. Im Jahre 1312 verkauft der Rat der
Altstadt dem Bürger Santberg für 20 M. auf seine Lebenszeit
ein Haus*) und 1345 Herrn Ludolf von dem Spetale unter der-
selben Bedingung ein Vorwerk für 24 M.*) Derartige Verkäufe
des Altstädter Rates wären noch mehrere anzuführen; dass auch
die andern Weichbilde in dieser Zeit jene Gebahrung geübt
hätten, dafür fehlt in der Überlieferung jeder Beleg.
Von den unablöslichen Hauszinsen, deren früher gedacht
wurde, müssen ganz streng die ablöslichen Hauszinse geschieden
werden; in der Weichbildsfinanzverwaltung spielten sie eine
mindestens eben so bedeutende Rolle wie jene. Am besten wird
man sie durch die moderne Bezeichnung Hypothekzinsen
charakterisiren, da sie für Capitalien gezahlt wurden, welche die
Räte aus den baaren Mitteln der Weichbilde an einzelne Bürger
auf die Häuser derselben ausliehen. Es handelte sich also
hierbei um eine sichere Anlage überschüssiger öffentlicher
Gelder. Wiederum begegnet uns nicht in allen VVeichbilden
Braunschweigs diese Finanzoperation vor 1354, sondern nur in
Altstadt, Neustadt und Sack. Die ältesten, sicher bekannten
Fälle berühren die Altstadt, deren Rat im Jahre 1310 drei
Hypotheken im Betrage von 15, 30 und 45 M. gegen einen Zins
von 6*/g°/0 auslieh. 4) Den genannten Zinsfuss scheint der Alt-
städter Rat gewöhnlich gefordert zu haben, obwohl zuweilen
auch höhere oder niedere Procentsätze vorkamen. So brachte
nach einer Eintragung von 1311 ein Capital von 86 M. 7°/0l),
') cf. S. 56.
») A. D. I, 42».
») A. D. I, 170.
♦) A. D. I, 34», 35».
“) A. D. I, 41.
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während bei Ausleihung einer Hypothek von 15 M. im Jahre
1334 nur 5°/0 ausgemacht wurden *) und zwar wohl deshalb,
weil, wie uns ausdrücklich mitgeteilt wird, es der erste auf dem
betreffenden Hause lastende Zins war.
Einen besonders guten Einblick können wir uns in die den
Hypotheken- Erwerb und Besitz der Neustadt betreffenden Ver-
hältnisse verschaffen. In dem reichhaltigen Zinsbuche jener finden
sich unter den Einnahmen mehr als dreissig Posten ablöslicher
Hauszinse, und bei jedem derselben ist die Höhe des Capitals
mit verzeichnet, so dass wir also wieder die Proeentsätze
berechnen können. Diese schwanken zwischen 6'/« und 91/,, °jn,
wobei aber wenig oder gar nicht die Grösse des Capitals von
Einfluss gewesen zu sein scheint. Freilich wurde für das
bedeutendste Kapital von 271/s M. der höchste Zins von 9 7n®/o
gezahlt, dagegen brachte das doch wenig geringere von 24 M.
nur 6V4U/o! während in einem andern Falle 8 M. 7 l/«#/o trugen.
Am häufigsten treten unter den vom Neustädter Rate für
Hypothekendarlehne geforderten Zinssätzen 67*. 6*/*, 7>/7% auf.
unter welchen wiederum der erstgenannte den ersten Platz
einnimmt.
Aus dem dritten der oben genannten Weichbilde, dem Sack,
sind uns aus dieser Periode zwei Hypothekengewährungen seitens
des Rates überliefert. 1346 erwarb letzterer für 3*/s M. einen
ablösiichen Hauszins von 1 Ferd.*), welcher Betrag einem Pro-
centsatz von 71/, 9/0 gleichkommt. Im folgenden Jahre bedang
sich derselbe für eine Hypothek von 6 M. 7« M. Zins , also
87,*/„ aus.®) Weshalb der Rat in diesem Falle eine so be-
deutende Forderung stellte und offenbar auch bewilligt erhielt,
erklärt sich daraus, dass von dem belasteten Hause ausser jenem
Hypothekzinse des Rates ein bevorrechtigter Wortzins gezahlt
werden musste.
Andre als hypothekarische Darlehen scheinen die Weichbilde
nur selten gewährt zu haben, denn wir können aus unsrer Periode
nur einen sichern Beleg dafür nachweisen: am 14. Februar 1344
nahmen beim Altstädter Rate zwei Brüder Döring eine Anleihe
von 15 M. auf,4) die sie mit 6*/s% zu verzinsen sich verpflichteten.
«) A. D. I, 96.
•) S. D. I, 25 *.
*) S. D. 1, 26 «.
•) A. D. I, 158 ’.
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Davon, dass diese Summe auf ein Haus eingetragen sei, ist nichts
gesagt, jedoch wurde die hypothekarische Sicherheit durch eine
andere ersetzt, indem die genannten Brüder Bürgen stellten;
ohne Bürgenstellung würden sie gewiss das Darlehn entweder
überhaupt nicht oder wenigstens nicht zu so- geringem Zinsfuss
erhalten haben.
Aber die Weichbilde liehen nicht nur aus, sondern sie kamen
auch häufig in die Lage, selber Anleihen machen zu müssen.
Dies bewerkstelligten sie auf zwei verschiedene Weisen, entweder
verkauften sie wiederkäufliche Renten oder Leibgedinge d. h.
Leibrenten. Was zunächst jene anbetrifft, so entsprachen sie am
meisten den eben behandelten ablöslichen Hauszinsen, nur fehlte
ihnen in der Regel der hypothekarische Charakter. Damit hängt
es vielleicht zusammen , das die Weichbilde für ihre rückkäuf-
lichen Anleihen im Durchschnitt höhere Zinsen zahlen mussten,
als sie für ihre rückkäuflichen Darlehen erhielten. So ging die
Altstadt in den uns bekannten Fällen, w’o sie Capitalien von 36
bis 120 M. aufnahm, gewöhnlich auf einen Zinsfuss von 8*/s°/0
ein. Der niedrigste der vorkommenden Procentsätze ist 6*/u°/o
bei 77 M. Capital;1) den höchsten, 10°/0, bewilligte der Alt-
städter Rat 1322 für eine Anleihe von 120 M.a) In demselben
Jahre nahm diese Körperschaft noch 36 M. gegen einen Zins
von 8Vs7o UD(1 60 H. gegen einen solchen von 7’/6°/o auf.*)
Auch hier also machen wir die Beobachtung, dass die Grösse
der geliehenen Summen keineswegs immer im Einklang mit der
Höhe des Zinses stand.
Wie der Altstädter Rat, so bewilligte auch der Neustädter
bei Anleihen, für die er keine besondere Sicherheit gewährte,
gewöhnlich 8l/g% Zinsen; unter den vor 1354 vorkommenden
Fällen dieser Art, ungefähr 10 an der Zahl, findet sich nur zwei
Mal ein andrer Procentsatz, nämlich ein Mal 7*/,°/0 4) und ein
Mal 7*/4°/o-s) Auffallender Weise wurde letzterer für ein Capital
von 64 M. gezahlt, während zu gleicher Zeit verschiedentlich
12 M. zu 8 7s#/o aufgenommen wurden.*) Geringere Zinse er-
hielten die Darleiher zugestanden , welche auf Hauszinse des
') A. D. I, 2'. 1804.
*) A. D. I, 78 '.
*) A. D. I, 74.
4) R. d. N. fol. 81 : Verzeichnis« von Zinsverkäufen in den Jahren
1338 u. 1339.
*) ibidem.
°) ibidem.
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Rates angewiesen wurden und diese unmittelbar von den Haus-
inhabern erhoben. Das Zinsbuch der Neustadt lehrt uns, dass
der Rat des Weichbildes ein Capital von 32 M. mit 2 M. Haus-
zins, also mit ß'/iVo’ und 15 M. mit 1 M. Hauszins, also mit
verzinste. Ohne Frage beruhten diese geringem Procent-
sätze darauf, dass die Gläubiger schlimmsten Falls an den
betreffenden Häusern sich hätten schadlos halten können.
In dem unter den Quellen besprochenen Register rückkäuf-
licher Weichbildsanleihen aus dem Anfang des 14. Jahrhunderts ')
ist ausser der Altstadt und Neustadt auch der Hagen vertreten
und zwar mit Zinsposten von 1 bis 3 M. Da als Rückkaufs-
preis für jede Mark Zins der Betrag von 12 M. angegeben ist,
so ist es uns möglich auch für alle diese Anleihen des Hagen
den Zinsfuss von 8'/8% festzustellen.
In scharfem Gegensatz zu der eben behandelten Art der
öffentlichen Anleihen, dem Weddeschatz, steht die zweite Klasse
derselben, die Leibgedinge, deren Wesen vollständig mit dem
der modernen Leibrenten übereinstimmt. Die Käufer der Leib-
gedinge, naturgemäss meist Braunschweiger Bürger oder Insassen
der Klöster in und bei der Stadt, hatten den Vorteil von einer
solchen Anlage ihres Geldes, dass sie sehr hohe Zinsen bekamen,
die Räte als Verkäufer standen sich insofern gut dabei, als sie
die geliehenen Capitalien nur im Wege der mit dem Tode der
Leibrentenberechtigten aulhörenden Verzinsung zurückznhlten.
Aus der ersten Hälfte des 14. Jahrhunderts liegt über die Leib-
gedingsverkäufe der Weichbilde wenig Material vor, und dieses
wenige ist recht dürftig, indem die wichtigsten Bedingungen,
unter denen jene vollzogen wurden , oft nicht angegeben sind.
Am frühesten tritt für uns diese Art der Anleihe in der Altstadt
auf, welche 1304 eine an zwei Wandschneiderbuden haftende
Kornhebung einer Bürgersfrau auf Lebenszeit verkaufte.*) Der
älteste genauer bekannte Leibrentenvertrag fällt aber erst ins
Jahr 1306. Damals kaufte der Bürger Johann von Alveld vom
Altstädter Rate für 110 M. eine Rente von 10 M. auf sein Lehen
und das seines Sohnes, für den, falls er in einen Orden einträte,
seine beiden Geschwister in den Genuss des Leibgedinges
gelangen sollten.*) Gewährte in diesem Falle der Rat einen
') cf. SS. 10 u. 11.
*) A. D. I, 2 «.
*) A. D. 1, 2.
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Zinsfuss von 9l/n%i 80 kommt ein geringerer — nämlich 8 */,*/„ —
in einem Vertrage des nächsten Jahres vor:1) für 12 M. erwarb
der Bürger Drusebant eine Leibrente von 1 M., deren eine Hälfte
er seinem Sohne aussetzte; möglicherweise ging auf diesen nach
dem Tode des Vaters auch die andre Hälfte über — man könnte
das aus dem niedrigen Zinse schliessen — , doch findet sich keine
ausdrückliche Bestimmung solchen Inhalts.
Im Zinsbuche der Neustadt sind unter den Ausgaben auch
einige Leibrenten in Beträgen von 1 */* bis 3 M. aufgeführt, aber
ohne dass die Kaufsummen angegeben wären, und die wir nur
erwähnen, weil es die ältesten Beispiele für jenes Weichbild sind.
Mehr interessirt es uns, wenn der Neustädter Rat 1346 einem
Bürger für 50 M. eine lOprozentige Leibrente verkauft, die nach
dem Tode des Inhabers zur Hälfte an seinen Sohn weitergezahlt
werden soll;*) später wurde dann das Capital auf 70 M. und
demgemäss die Rente von 5 auf 7 M. erhöht. Schliesslich sei
noch auf einen Vertrag von 1348 hingewiesen, in dem sich der-
selbe Rat verpflichtete, für empfangene 171/* M. 1 */e M. Leibrente,
also 84/7°/0, zu zahlen.8)
Was die übrigen Weichbilde angeht, so werden auch sie
wohl schon vor 1354 zu dem Mittel der Leibgedingsverkäufe
gegriffen haben. Sicher ist dies vom Hagen und Sack, wenn-
gleich nur durch kümmerliche Spuren. Vom Säcker Rat kaufte
1337 eine Klosterfrau zu Steterburg eine Leibrente von ’/, M.,4)
1353 vom Hägener Rat ein Ehepaar eine solche von 2 M.; in
letzterem Falle ist auch der Kaufpreis bekannt, er betrug 20 M.&)
Auf den ersten Blick könnte manchem der hier bewilligte Zins,
10°/„ sehr hoch erscheinen, weil es doch eine Rente auf zwei
Leben war; indessen wird dagegen bemerkt werden dürfen, dass
es sich ja um Mann und Frau handelte, die wohl ziemlich gleich-
altrig waren.
Insofern die Einzelräte aus Weichbildsmitteln Darlehen
gewährten und für die Weichbilde Anleihen aufnahmen, kann
ihnen durchaus nicht der Vorwurf gemacht werden, sie hätten
die ihnen 1269 gelassenen Befugnisse überschritten. Auch die
«) A. D. I, 3.
*) R. d. N. 81 *.
*) R. d. N. 80.
*) S. D. I, 12 •.
“) H. D. I, 67 '.
Mick, Finanxgeachiohtc der Stadt Rratmechweig. 5
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Verwaltung des Weichbildsgrundbesitzes konnten sie ohne Ver-
letzung der damaligen Abmachungen beanspruchen, falls sie nur
die Erträge derselben in die gemeine Kasse abführten , was
freilich, wie wir sahen, in erheblichem Umfange nicht geschah.
Anders aber wird man von einigen Verfügungen der Weich-
bildsräte denken müssen, welche die wichtigste der dem gemeinen
Rate 1269 zugewiesenen Einnahmen berührten, ich meine Schoss-
Befreiungen und Ablösungen. So bestimmte 1310 der Hagener
Rat , dass eine Baderin für käufliche Überlassung ihres Bad-
stobens an eine andre Person lebenslang schoss- und wachtfrei
sein sollte.*) Gleiche Machtvollkommenheit masstc sich der Rat
der Altstadt an , als er 1334 eine Bürgerin gegen Zahlung von
4 M. aller Schoss- und Stadtpflicht entband.*) Und hinter den
genannten blieb der Rat des Sackes nicht zurück: 1350 gewährte
er einem Weichbildsangehörigen die Gnade , er solle von den
Schossabgaben nur noch den Vorschoss zu entrichten brauchen.*)
Da in keinem dieser Fälle von einer Zustimmung des gemeinen
Rates auch nur die geringste Spur zu entdecken ist, obwohl es
sich bei jedem derselben um eine Verringerung der ihm 1269
zugesprochenen Einnahmen handelte, so muss es schon hiernach
— beweiskräftigeres wird weiter unten noch angeführt werden *)
— mindestens sehr zweifelhaft erscheinen, ob jener nicht auch
in der Verfügung über die Schossaufkünfte gewisse Ein-
schränkungen seitens der Weichbildsräte erlitt; freilich nicht
von vornherein , wenigstens nicht seitens aller , denn dagegen
sprechen die oben ausführlich behandelten Ablösungsverträge
von 1295.
Nur ein höchst ungenügendes Bild giebt uns das vorhandene
Material über die Ausgaben der Weichbilde, wenn wir von Rück-
schlüssen, wie sie uns namentlich die Altstädter Rechnungen von
1354 und 1355 gestatten, absehen. Aufwendungen für Kauf von
Grundbesitz und ablöslichen Hauszinsen, Auszahlung der wieder-
käuflichen und Leib-Renten, sowie weniger Grunderbenzinse, dazu
einige Zahlungen an Kleriker, die das Nesutädter Zinsregister
aufzählt, und die teils auf Vermächtnissen, teils, wie es scheint,
auf altem Herkommen beruhten — diese uns hauptsächlich vor-
>) H. 1). I, 3.
*) A. D. I, 97.
*) S. D. I, 33.
*) cf. S. 79.
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kommenden Ausgaben machen doch einen nicht gerade grossen
Bruchteil der Summen aus, welche die mannigfaltigen Beziehungen
und Bedürfnisse der Weichbilde erforderten. Uber jenen engen
Kreis hören wir genug, aber nur selten erfahren wir etwas über
direkte Verwendungen für gemeinnützige Zwecke. Ganz gelegent-
lich wird in einem Vertrage aus dem Jahre 1302 erwähnt, dass
der Rat im Hagen von einem gewissen Kapital 60 M. zum
Wiederaufbau des abgebrannten Gewandhauses verbraucht habe.1)
Und wenn im Jahre 1310 der Altstädter Rat die Gemeindeweide
um zwei dem Kloster auf dem Rennelberge abgekaufte Morgen
vergrösserte,*) so brachte auch diese Ausgabe der Weichbilds-
bürgerschaft unmittelbaren Nutzen. Nicht nur einem einzelnen
Weichbilde, sondern der Gesammtstadt kamen die Aufwendungen
zu Gute, welche 1346 die Neustadt im Betrage von über 51 M.
für den Stadtmauerbau machte, *) und dahin sind auch die bereits
oben berücksichtigten Zahlungen der Weichbildsräte zum Zwecke
der Gewinnung von Pfandschlössern zu rechnen. Sonst jedoch
könnten hier kaum noch Ausgaben angeführt werden, bei denen
das Moment der Befriedigung bestimmter gemeinsamer Be-
dürfnisse klar hervortritt.
5. Die Finanzverwaltung der Altstadt 1354 und 1355.
Während also dasjenige Material, welches die Weichbilds-
finanzverwaltungen in der Zeit von 1269 bis 1354 betrifft, an
einer gewissen Einseitigkeit leidet, so fällt dieser Mangel bei den
Rechnungen der Altstadt von 1354 und 1365 gänzlich fort.
Sie erst gewähren einen vollständigen Überblick über den
Haushalt eines Weichbildes, über die sämmtlichen Einnahmen
und Ausgaben eines solchen, über das Verhältniss jener zu
diesen, über die grössere und geringere Wichtigkeit der einzelnen
Einnahme- und Ausgabeklassen, wobei freilich zu bemerken ist,
dass nicht alle Partieen der Rechnungen im gleichen Grade ins
einzelne gehende Angaben enthalten. Wegen der grossen
Bedeutung, die nach dem gesagten diesen Altstädter Rechnungen
zukommt, werden wir nicht umhin können, uns etwas genauer
mit ihnen zu beschäftigen. Eine gesonderte Behandlung der-
selben muss dabei vermieden werden, einerseits um lästigen
*) O.-U. der Katharinenkirche im Br. 8t.-A.
*) O.-ü. im Br. 8t.-A.
•) K. d. N. 16.
5*
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Wiederholungen aus dem Wege zu gehen, andrerseits um eine
Vergleichung entsprechender Teile zu erleichtern.
Unter den mannigfachen Ausgaben, welche, ohne nach
sachlichem Prinzip geordnet zu sein, in einem grossen Kapitel
vereinigt beide Rechnungen eröffnen, nehmen mit den bedeutendsten
Raum die Baukosten im weitesten Sinne des Wortes ein. Um
zunächst eine negative Seite dieses Auegabencomplexes hervor-
zuheben, so finden wir darin im allgemeinen keine Aufwendungen
für erbenzinslich ausgethane Häuser des Weichbildes: die an
diesen erforderlichen oder erwünschten Bauten Hessen die Inhaber
auf ihre eigne Rechnung ausfdhren und die Summe, um welche
dadurch der Wert des Hauses sich erhöhte, stand ihnen, nicht
dem Rate, als die „Besserung“ des Hauses zu. Aber trotz dieser
Einschränkung war das Gebiet der öffentlichen Bauthätigkeit
im Weichbilde ein sehr umfangreiches. Bauliche Ausgaben
erforderten das Rathaus und die Häuser, die der Rat einigen
seiner Diener zur Wohnung angewiesen hatte; zahlreiche
Reparaturen wurden vorgenommen au den dem Weichbilde
gehörigen Verkaufsstätten, wie Scharren, Buden, Kramen u. a„
Reparaturen und Erneuerungen auch an den Thoren und Berg-
friden des Weichbildes, an den Schlagbäumen und Sperrketten;
das Pflaster der Strassen und Märkte musste in Ordnung
gehalten, die Pflasterung auch auf bisher ungepflastorten Plätzeu
und Strassen ausgeführt werden, auf Instandhaltung der Ufer-
bauten und Brücken scheint grosse Sorgfalt verwendet zu sein :
auf einen Brückenneubau wird sich wohl ein Posten der Rechnung
von 1355 beziehen, wonach für die Brücke vor dem Hohentore
24 M. 1 Perd. verausgabt sind; dieses ist die bedeutendste
Ausgabe für Bauzwecke, welche aus den beiden Rechnungen
angeführt werden kann. Ferner lag dem Rate auch die Sorge
für die Gemeindeweide ob: Tränkvorrichtungen für das Vieh
waren zu schaffen, und Umzäunungen herzustellen und zu erhalten,
in die dasselbe Nachts eingeschlossen wurde. Wenn wir
schliesslich noch betonen, dass die vortrefflichen Anlagen, die
das Weichbild zur Versorgung seiner Bürger mit gutem Wasser
hergerichtet hatte,1) eines grossen Kostenaufwandes bedurften,
so haben wir das wichtigste hier in Betracht kommende erwähnt ;
nur darauf sei noch hingewiesen, dass mehrfach Ausgaben für
verschiedenes Baumaterial genannt werden ohne Anführung eines
■) cf. Dürre S. 657 und 658.
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bestimmten Verwendungsfalls. Wahrscheinlich wird man diese
Posten aus dem in spätem Rechnungen ganz klar hervortretenden
Bestreben des Rates, sich grössere Vorräte solcher Materialien
aufzustapeln, erklären müssen.
Als einen der vielen Zweige des Weichbildsbauwesens
lernten wir eben die Pflasterung der Strassen und öffentlichen
Plätze kennen. Natürlich konnte diese ihren Zweck nur dann
voll und ganz erfüllen, wenn der Rat auch für eine regelmässige
Reinigung der Strassen und Märkte Sorge trug. So finden
wir denn in jenem grossen Kapitel der beiden Rechnungen auch
zahlreiche Ausgaben für Zusammen kehren und Abfahren des
Strassenschmutzes, deren höchste 23 Schill, beträgt. Zwei der-
artige Ausgaben scheinen in damaliger Zeit in der Altstadt
regelmässig zu Ostern, Johannis, Michaelis und Weihnachten sich
eingestellt zu haben : je 6 Schill, wurden an diesen Terminen für
Säuberung des Marktes, je 3 Schill, für Zusammenschaffung des
Schmutzes bei der St. Ulricikirche gezahlt. Man darf wohl
vermuten, dass die letztgenannten Posten der Vierteljahrslohn
für die Ausführung jener Reinigungsarbeiten waren; schon
damals also hätte die Altstadt auf die Dauer Strassenkehrer in
ihrem Dienste gehabt, obwohl solche noch nicht ausdrücklich
genannt werden.
Wenn wir damit zu den Zahlungen des Rates an sein
Gesinde übergehen, so treffen wir auch hier bereits auf sehr
ausgebildete und, wie es scheint, ziemlich festgewurzelte Zustände.
Sehr zahlreich war vor allem das Wächterpersonal. Für' jedes
der drei Thore des Weichbildes war ein besonderer Wächter
angestellt: 1354 und 1355 erhielt der eine derselben zu Ostern,
Johannis, Michaelis und Weihnachten je 15 Schill., die andern
beiden je 10 Schill. Ausserdem werden „Kurwächter“ genannt:
Ostern und Weihnachten kommen deren je zwei vor, die beide
Male zusammen 10 Schill, erhalten, Johannis und Michaelis nur
einer, dem an diesen Terminen je 4'/s Schill, gezahlt werden.
Die Kurwächter standen über den einfachen Nachtwächtern, in
denen wir wohl die fünf „Kettenschlösser“, d. h. Schliesser der
Strassensperrketten zu sehen haben; sie bekamen nach unsern
Rechnungen vierteljährlich zusammen 1 Pfd. Ausser diesen
regelmässig gezahlten Wächterlöhnen finden sich häufig auch
vereinzelt nuftretende Ausgaben für Wachtdienst bei besondem
Gelegenheiten. — Alle Vierteljahre wurde ferner dem Weinmeister,
dem Vorsteher des Weichbildsweingartens, Lohn gezahlt, jedes
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Mal 7 Schill.; dazu erhielt er ungefähr 10 Lot jährlich für seine
Kleidung und für aussergewöhnliche Dienstleistungen besondre
Gratificationen. Keinen Vierteljahrssold zahlte man den Bauer-
meistern, den eigentlichen Exekutivbeamten des Rates, deren es
später in der Altstadt vier gab. Sie empfingen an Kleidungsgeldern
1354 wie 1355 zusammen 7 Ferd.; ihre Haupteinnahme aber
bildeten die sogenannten „Freitagspfennige“, deren Betrag in jenen
beiden Jahren zwischen 3 und 4 Pfd. schwankt. Für ihre
Thätigkeit bei der Zins - und Schosserhebung wurden sie
besonders bezahlt und gelegentlich des Ratswechsels erhielten
sie 22 Schill. In späterer Zeit wurde auch für sie ein fester
Lohnsatz eingeführt. — Von andern Ratsdienern sind noch zu
erwähnen der Henker, dem man freie Wohnung und halb-
jährlich 7 Schill, gab, der Büttel, gleichfalls in einem Hause des
Rates wohnend und 3 Ferd. 1 Lot als Beihilfe für seine Kleidung
empfangend, der Knecht des Büttels, dem im ganzen 1 Pfd. das
Jahr über für seine Kleidung und Schuhwerk gezahlt wurde, die
Ratsfischer und der Koch, welch’ letztere keine festen Einnahmen
bezogen zu haben scheinen. Nicht eigentlich zur Dienerschaft
des Rates darf man den Opfermann der St. Martinikirche rechnen ;
ihm lag es ob, bei Eintritt der Nacht die Wächterglocke zu
läuten, ') eine Dienstleistung, die ihm halbjährlich mit 3 Schill,
vergütet wurde. Vereinzelte Zahlungen an den Schreiber sind
so geringfügig, dass sie hier übergangen werden können; einen
eigenen Schreiber hat demnach die Altstadt kaum gehabt.
Ausgaben an fremdes Gesinde erwuchsen dem Rate der
Altstadt bei gleichen Gelegenheiten, wie, nach dem Bruchstücke
von 1331, dem gemeinen Rate. Recht häufig kam er in die
Lage an Boten befreundeter Herren, welche von diesen Geschenke
überbrachten, Trinkgelder zahlen zu müssen, in Posten von 1 bis
7 Schill. Immer bestanden diese Geschenke in Wildpret, und
jedes Mal liess sich der Rat dasselbe auf Kosten des Weichbildes
zubereiten, was Ausgaben von 6 bis 12 Schill, verursachte.
Doch waren dies nicht die einzigen und nicht die teuersten
Mahlzeiten, bei denen der Rat die öffentlichen Mittel in Anspruch
nahm. Alljährlich tafelte er am ersten der beiden grossen
St. Autorsfeste und verbrauchte 1354 4 Pfd. 14 Schill., 1355 sogar
5 Pfd. 4 Schill, dafür. Ferner kostete die Mahlzeit des Rates
zur Schosszeit in jenem Jahre 81/* Pfd., in diesem 9 Pfd. 6 Schill.;
') ef. Dürre S. 662.
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auch die Katsumsetzung wurde mit einer grossen Schlemmerei
begangen: hierfür wurden 1354 sammt 30 Schill. Lohn für den
Koch nahe an 16 Pfd., 1355 15 Pfd. verausgabt.
Hier muss auch gleich die Sitte des Umsendens von
Geschenken durch den Kat zu verschiedenen Zeiten erwähnt
werden, denn auch sie kam fast ganz ausschliesslich den Rats-
geschlechtern zu Gute. Zwei Mal im Jahre wurden Fische
umgesandt, im ganzen für ungefähr 21/, Pfd., ausserdem ein
Mal Weintrauben aus dem Weingarten des Rates, wofür der
Weinmeister ein Trinkgeld erhielt. Überhaupt wird man von
den mannigfachen Aufwendungen für den Weingarten sagen
müssen, dass sie hauptsächlich im Interesse der Katsfamilien
gemacht wurden. Das schlimmste aber ward am grünen
Donnerstag geleistet: an diesem Tage wurden 1354 4 Pfd.
6 Schill., 1355 5 Pfd. 6 Schill, verbraucht und zwar ganz oder
zum grössten Teil, wie wir aus spätem Rechnungen schliessen,
für umgesandte Geschenke.
Absichtlich sind wir auf diese Ausgaben etwas näher ein-
gegangen, um zu zeigen, wie teuer dem Weichbilde seine
„ehrenamtliche“ Verwaltung zu stehen kam. Und kaum wird
der Rat auf die geschilderte Weise allein sich Vorteile aus den
öffentlichen Mitteln verschafft haben, wenn wir auch andre so
grobe Missbrauche nicht mehr nachweisen können. Dass die
übrigen Weichbildsräte in diesen Zeiten selbstloser ihre Stellung
aufgefasst hätten, ist nicht anzunehmen; das Beispiel, welches
ihnen der mächtige Altstädter Rat gab, wird von ihnen sicher-
lich, wenn auch in bescheidenerem Massstabe, nicht unbefolgt
geblieben sein. Erst die Reform am Ende des Jahrhunderts
beseitigte die ärgsten Auswüchse jenes Unwesens; den Aufstand
von 1374 haben dieselben — die meisten wenigstens gewiss —
noch geraume Zeit überdauert. ')
Weit geringfügiger als die eben besprochenen Aufwendungen
waren diejenigen, welche zwar auch im Interesse des Rates
gemacht wurden, aber doch nicht missbräuchliche und ver-
schwenderische genannt werden können. Es gehören dahin die
Kosten für Heizung und Beleuchtung der Ratsdorntze. Unter
den wenigen Ausgaben für jene findet sich die bedeutendste in
der Rechnung von 1355 : 3 Pfd. 4 Schill, für Brennholz; für
') Das geht aus den spätem Altstädter Rechnungen hervor, ef. auch
Cbron. VI. S. 158.
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Beleuchtung wurden sogar in beiden Jahren nur je 7 Schill,
verbraucht.
Im Anschluss hieran mögen noch einige andere Verwaltungs-
unkosten Erwähnung finden. In beiden Rechnungen sind kleine
Summen aufgeführt als verwendet zur Anschaffung von „Blei-
zeichen“, die behufs der Erleichterung des Verzollungsgeschäftes
im Gebrauch waren, ') und von sogenannten „Zeicheneisen“, mit
denen den Maassen und Gewichtsstücken das Zeichen der Stadt
aufgeprägt wurde.*) Jede der Rechnungen enthält schliesslich
eine Ausgabe von 9 Schill, für Siegelwachs.
Bedenkt man, dass zu den Obliegenheiten des Altstädter
Rates, wie wir ja sahen, die Verwaltung der Gemeindeweide
gehörte, so wird man sich kaum darüber wundern, dass es auch
als eine seiner Aufgaben erscheint, Zuchteber und Zuchtstiere
zu halten. Da er jedoch keine Ställe besass, so gab er jene bei
einigen Bürgern in Futter und Stallung. Sowohl 1354 als 1355
wurden aus Weichbildsmitteln halbjährlich je 51/, Schill, für
Unterhaltung eines Zuchtebers gezahlt; was die Zuchtstiere
angeht — denn deren scheint es mehrere in der Altstadt gegeben
zu haben — so erhielten Ostern 1354 drei Bürger für Unter-
bringung und Pflege von solchen 6, beziehungsweise 3'/j und
3 Schill.; 1355 wurden für denselben Zweck zu verschiedenen
Zeiten 5 und 3 Schill, verausgabt und für den Preis von 1 Pfd.
ein neuer Zuchtstier gekauft.
Aber nicht nur der Viehzucht, sondern auch der Fischzucht
widmete der Rat seine Sorge. Der Rechnung von 1354 zufolge
setzte er für 2 1jt Pfd. Fische aus; vorher schon ist in derselben
Rechnung eine gleiche Ausgabe von 1 M. 3 Lot verzeichnet,
doch ist dieser Posten wieder durchgestrichen.
Eine geregelte öffentliche Armenpflege war in der Zeit, von
der wir hier sprechen, iu Braunschweig unbekannt. “) Wie der
gemeine Rat, so beschränkte sich der der Altstadt in dieser
Hinsicht darauf, an gewissen Festtagen kleinere Summen „ad
stipam“ zu verwilligen. Zu solchem Zwecke wandte er 1354 und
1355 am St. Petrustage 8 Schill, auf und ausserdem beim Feste
der Kreuzerhöhung in jenem Jahre 12, in diesem 9 Schill.
•) Br. U.-B. 1, 90. 384 und 385.
*) Br. U.-B. I, 152 (cap. xuj) und 164 (cap. lxvj).
3) Überhaupt war wohl in den deutschen Städten des Mittelalters von
öffentlicher Armenpflege in uuserm Sinne keine Rede. cf. Chron. Bd. I.
S. 292 und Häuselmann, Werkstücke Bd. II. S. 252 — 254.
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73
Aber die wenigen Almosenausgaben waren nur ein kleiner Bruch-
teil aller der Kosten, welche dem Weichbilde aus den zahlreichen
in der Stadt gefeierten kirchlichen Festen erwuchsen. Die
gelegentlich derselben veranstalteten Ratsgelage und Be-
schenkungen der Ratsfamilien wurden schon besprochen. Dazu
gesellen sich dann die Ausgaben beim zweiten grossen Autors-
feste : 1354 wurden 8 Schill, für die dem heiligen Autor gewidmete
Kerze verwendet; und 5 Schill, gab man 1354 wie 1355 den
Minderbrüdern zur Belohnung für ihre Teilnahme an der auf
diesen Tag abgehaltenen Prozession. Dieselben erhielten gleich-
falls in beiden Jahren gelegentlich ihres Kirchweihfestes aus
Weichbildsmitteln ein Geschenk im Betrage von 1 M. 10 Schill.
Mit je 5 Schill, pflegte am Feste der heiligen elftausend Jungfrauen
und an dem der heiligen Elisabeth der Pfarrer der Martinikirche
vom Altstädter Rate bedacht zu werden, der zwei Gartenzinse
dazu ausgesetzt hatte. Noch im Jahre 1402 finden sich
diese beiden Posten unter den regelmässigen Ausgaben des
W eichbildes.
Viele andere Zahlungen des letztem an Cleriker beruhten
auf den mannigfaltigsten Verpflichtungen. Eine sehr merkwürdige
Ausgabe bildeten die „denarii synodales“ d. h. die „Sendpfennige“,
welche bei Abhaltung des geistlichen Sendgerichts *) dem Send-
priestergezahltwerdenmussten. Die Altstadt war, wie wir aus spätem
Rechnungen sehen, verpflichtet, alljährlich 8 Schill. Sendpfennige
zu zahlen und hat dies auch 1355 gethan. 1354 jedoch ist ein
solcher Posten nicht eingetragen, wofür die Rechnung von 1355
eine Erklärung giebt: wir ersehen aus ihr, dass das Weichbild
in diesem Jahre dem Sendrichter, dem hildesheimischen Archi-
diakonus, 7 M. */a Ferd. auszahlte „pro denariis sinodalibus retentis“.
Es wird hier das Ende eines Zwistes bezeichnet, wie er sich über
die Sendpfennige häufiger erhoben zu haben scheint. In dem
oft genannten Zinsbuch der Neustadt nämlich, welches Weich-
bild jährlich 6 Schill. Sendpfennige in den Fasten entrichtete,
bemerkt ein Nachtrag: „Anno 1354 heischten der Archidiakon
und der Sendherr 6 Schill. Sendpfennige zu Michaelis und hatten
kein Recht dazu, was ihnen auch bewiesen ward.“ In diesem
Falle hatten also die geistlichen Herren das doppelte von dem
ihnen zukommenden verlangt.
Eine ganze Anzahl zum Teil recht beträchtlicher Ausgaben
legte dem Altstädter Rate die Ausführung frommer Stiftungen
') ef. Dürre S. 371 — 373.
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auf. Int Jahre 1311 hatte er selbst den Annenaltar in der
Martinikirche fundirt und musste in Folge dessen alljährlich,
auch 1354 und 1355, dem Pfarrherrn zu St. Martini 7 Pfd.
zahlen: gewisse Erben-, Garten- und Wortzinse wurden nach den
Zinsbüchern der Altstadt dazu verwendet. Schon sieben Jahre
vorher hatte ferner dieses Weichbild gegen eine Zahlung von
77 M. die allerdings ablösbare Verpflichtung übernommen, jähr-
lich 7 Pf. für Messelesen an dem von einem Bürger in derselben
Kirche gestifteten Altäre auszugeben;1) auch diesen Posten
können wir in unsern Rechnungen nachweisen. Ausserdem
erhielt der Pfarrer von St. Martini vom Rate zwei Mal jährlich
7 Schill., und zwei Mal 31/, Schill. Seine Gegenleistung für die
31/* Schill, bestand in der Abhaltung einer Gedächtnisfeier für
einen ehemaligen Pfarrherrn; wahrscheinlich hatte derselbe vom
Altstädter Rate jene Rente zu dem erwähnten Zwecke gekauft.
Ähnlich mochte es sich auch mit der erstgenannten Rente ver-
halten. In den Zinsbüchern des Weichbilds finden wir beide
unter dem Titel „Altarzins der St. Paulscapelle“ vereinigt und
auf zwei Gartenzinse von 9, bezw. 12 Schill, angewiesen.
Schliesslich treft'en wir sowohl 1354 als 1355, später aber nicht
mehr, eine zwei Mal im Jahre zu Gunsten des Priesters der
St. Michaeliskirche gemachte Ausgabe von 5 Schill, an, über die
genaueres nicht bekannt ist.
Clerikern flössen wohl auch die 22 Schill. Zehntpfennige
(„denarii decimales“) zu, welche im ersten Ausgabekapitel beider
Rechnungen verzeichnet sind. Sicherlich haftete die hier sich
zeigende Verpflichtung an irgend welchen im Besitz des Weich-
bildes befindlichen Grundstücken. Auch später noch hat die
Altstadt Zehntpfennige zu zahlen,3) doch kehrt dieselbe Summe
nicht wieder. Unveränderlich dagegen erhielt sich bis ins
15. Jahrhundert hinein ein Grundzins im Betrage von 1 Pfd.,
welchen das Weichbild von der sogenannten „Merteningehufe“ dem
Pfarrer zu St. Martini zu geben hatte.
Als Bestandteil jenes grossen Ausgabekapitels am Anfänge
beider Rechnungen kommt endlich noch eine Anzahl von Posten
in Betracht, die sich zwar nicht um grosse Summen drehen,
aber trotzdem hohes Interesse beanspruchen: es sind Zahlungen
•) ef. A. D. I, 2 S. (U.
*) cf. das Ziusbuoh von 1402.
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an die Vögte, deren es in dieser und iu späterer Zeit in Braun-
schweig zwei gab,1) und die ihr Amt von den Pfandinhabern
der Vogtei in Pacht hatten.*) Zu ihren Aufgaben gehörte es,
dass immer einer von ihnen das Echteding zu hegen hatte.
Letzteres wurde um 1354 wohl schon in allen Weichbilden,
jedenfalls aber in der Altstadt, zwei Mal im Jahre, kurz nach
Ostern und kurz nach Michaelis, abgehalten: 3) unsern Rechnungen
zufolge zahlte der Altstädter Rat damals für jedes Echteding
dem Vorsitzenden Vogt 6 Schill. Eine andere Einnahme der
Vögte bildeten die „Friedepfennige“, welche sie gelegentlich von
Grundbesitzauflassungen erhielten. *) Ihnen stand nämlich in
erster Linie die Gültigkeitserklärung derselben zu. An solchen
Friedepfennigen wurden aus der Altstädter Kasse 1354 dem
einen der Vögte 5 Schill., dem andern 21/, Schill., 1355 beiden
zusammen 5 Schill, gegeben. Friedepfennige waren allem An-
schein nach auch die 10 Schill., welche die Vögte 1355 von der
Altstadt „pro trutina“ d. h. die Wage, das Wagehaus empfingen;5)
indessen ist in diesem Falle das Sachverhältniss zu wenig bekannt,
als dass man mit Gewissheit urteilen könnte. Schliesslich
kommen in unsern Rechnungen noch drei Posten vor, die der
Altstädter Rat den Vögten als ihren Anteil an den für ver-
botenes Würfelspiel aufgekommenen Strafgeldern auszahlte. Den
bedeutendsten derselben, 1 Pfd., erhielten beide Vögte zusammen,
während bezüglich der übrigen nur je ein Vogt als Empfänger
genannt wird. In den spätem Rechnungen und Zinsbüchern der
Altstadt ist von Zahlungen an die Vögte nie mehr die Rede.
Was die Gesammtsumme aller bisher besprochenen Ausgaben
des Weichbildes angeht, so betrug dieselbe 1354 149 M. 2 Ferd.
1 Lot oder 27,7°/0 sämmtlicher während dieses Jahres gemachten
Ausgaben der Altstadt, 1355 dagegen 163 M. 2l/a Ferd. oder
43% sämmtlicher Ausgaben. Man sieht also, wie relativ
genommen der eben behandelte Complex in der jüngeren
') Br. Ü.-B. I, 159 (cap. xlvj).
*) Obwohl also diese Vögte jetzt de facto städtische waren, so wurden
sic doch Doch — offenbar, weil nur ein Pfandverhältniss bestand, — herzog-
liche genannt. So heisst es in einem Vertrage von 1354 (1. Q. fol. 9 § 2):
„de rad heft gedhegedinget mid den vogheden user hemm van Brunswich“ etc.
— Zur Verpachtung der Vogtei of. S. 81.
*) Br. U.-B. 1, 176 (cap, cxjx) und 179 (cap. cxxxj).
*) Br. U.-B. I, 7, § 64.
‘) cf. S. 87.
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Rechnung eine weit bedeutendere Stellung einnimmt als in der
altern. Der Grund dieser Änderung wird uns bald klar vor die
Augen treten.
Wenig umfangreich ist in unsern beiden Altstädter
Rechnungen das Kapitel der Leibrenten. Es sind hier nämlich
nicht, wie es später zu geschehen pflegt, die Rentenzahlungen
einzeln aufgeführt, sondern wir ersehen nur, welchen Betrag an
Leibgedingen im ganzen an jedem der üblichen Zahlungstermine,
Ostern, Pfingsten, Michaelis, Martini — 1355 kommt noch
Johannis dazu — das Weichbild entrichten musste. Im Jahre
1354 wurde die geringste Summe, 2 ,/s M., Pfingsten verausgabt,
die höchste, 1% Ferd. über 35 M., Michaelis; 1355 die geringste,
% M., zu Johannis, die höchste, den gleichen Betrag wie im
Vorjahre erreichend, wiederum zu Michaelis. In der Gesammt-
summe der bezahlten Leibgedingc zeigt sich für 1355 ein geringes
Wachsen gegen 1354: denn in diesem Jahre betrug sie 71 M.
1 Ferd., in jenem 75 M. 1 Ferd. Von der Summe sämmtlicher
Ausgaben entfielen 1354 auf die Leibrenten 13,2%, 1355 dagegen
19,6%. Auch hier haben wir also die Erscheinung, welche uns
schon beim ersten Ausgabekapitel auffiel. Beiläufig mag darauf
hingewiesen werden, dass im Jahre 1398, aus dem zuerst die
Leibrentenzahlungen aller fünf Weichbilde ihrer Höhe nach
bekannt sind, die Altstadt rund 52 M., der Hagen 46 M., die
Neustadt 30 M., die Altewik 13 M., der Sack 6 M. dafür auf-
wenden musste. ])
Das dritte und letzte Ausgabenkapitel giebt vornehmlich
über die Summen Auskunft, welche die Altstadt 1354 und 1355
beim Ankauf von Hauszinsen — wie es scheint, ablöslichen —
verbraucht hat. Es handelt sich dabei, wenn wir gleich beide
Jahre zusammenfassen, um Renten von 1 bis 3 M., um Kapitalien
von 12 bis 45 M.; der am häufigsten vorkommende Zinsfuss ist
6%%, der höchste 8%%, der niedrigste 6 %%. Ausser diesen
Hauszinserwerbungen haben noch einige wenige andre Posten
in un8erm Kapitel Platz gefunden : so wurden, wie schon erwähnt,
1354 5 M. Bierzoll für 50 M. gekauft. Sehr auffällig ist es,
dass fast alle diese Geschäfte — nur hinsichtlich weniger kann
man ungewiss sein — vom Altstädter Rate mit Altstädter
Patriciern abgeschlossen sind. Im ganzen verwendete man für
die genannten Zwecke 1354 317% M., nahe an 60% der
’) Zinsbuoh allor fünf Weiohbilde von 1398.
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gesammten Ausgaben, 1355 nur 144 M. oder 37,4% sämmtlicher
Ausgaben. Für das letztere Jahr ist also hinsichtlich dieser
.Rubrik eine ganz bedeutende Einschränkung zu erkennen. Die-
selbe hatte die nicht zu unterschätzende Folge, dass, obwohl im
übrigen die Ansprüche an die Weichbildskasse, freilich nur
gering, wuchsen, doch die Gesammtsumme der Ausgaben von
rund 538 M. im Jahre 1354 auf rund 382 M. im nächsten
Jahre fiel.
Mit den soeben geschilderten Zinsankäufen steht im engsten
Zusammenhänge eins der drei Einnahmekapitel. Schon äusser-
lich findet dieser Zusammenhang den entschiedensten Ausdruck:
in jeder der beiden Rechnungen geht das betreffende Kapitel
dem Verzeichniss jener Erwerbungen unmittelbar voraus. Um
die für letztere erforderlichen Summen in baarem Gelde bereit
zu haben, musste der Altstädter Rat zu dem Mittel greifen,
Renten zu verkaufen. Der so gewonnene Erlös bildet den
Hauptinhalt der in Rede stehenden Einnahmerubrik. Gegen-
stände dieser Rentenverkäufe waren meist Hauszinse, wie wir
aus dem Zusatze „de domo“ ersehen können, in einigen Fällen
auch Leibrenten, was namentlich dann vermutet werden darf,
wenn jener Zusatz fehlt, und Personen geistlichen Standes als
Käufer genannt werden. Weder bei den Hauszins- noch bei den
Leibgedingsverkäufen ist der Betrag der Renten aufgeführt, und
nur für einen der ersten kann man ihn anderweitig erfahren.
Nur in diesem einen Falle ist man auch im Stande, den
Charakter des Hauszinses anzugeben: er ist als Erbenwortzins
bezeichnet. Die Gesammtsumme der beschriebenen Einnahmen
betrug 1354 339% M. , das sind 51,5% aller Jahres-
aufkünfte, während die einzelnen Posten sich zwischen den
Grenzwerten 2 M. und 70 M. hielten. Indem aber damals nur
für 317% M. Renten gekauft wurden, blieb ein Überschuss von
22 M., der in der entsprechenden Rubrik von 1355 den Haupt-
posten bildet. Der kleinste Posten in dieser erreicht eine Höhe
von 4 M., die Gesammtsumme eine solche von 99 M. oder 25%
der ganzen Jahreseinnahme. Da nun im letztgenannten Jahre für
Rentenkäufc 144 M. aufgewandt wurden, so mussten zu solchem
Zwecke auch noch andre Einnahmen herangezogen werden.
Doch was veranlasste den Altstädter Rat zu einer derartigen
Finanzoperation, wie sie sich 1354 und 1355 in den Kapiteln
der Renten verkaufe und Rentenerwerbungen darstellt? Erwuchs
etwa dem Gemeinwesen pecuniärer Nutzen daraus? Doch wohl
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kaum; denn nichts spricht dafür, dass die Kapitalien, welche durch
den Hauszinsverkauf frei wurden, vorteilhafter oder sicherer
angelegt worden wären, und geradezu unerklärlich erscheint es,
wenigstens auf den ersten Blick, weshalb man sogar Leibgedinge
verkaufte, das heisst hoch zu verzinsende Anleihen machte, um
für die Kaufsummen Hypotheken zu erwerben. Dem Weich-
bilde war also mit dieser Operation schwerlich gedient und doch
wäre es thöricht, in ihr eine absichtslose Spielerei erblicken zu
wollen, zumal da sich uns ein wichtiger Anhalt zur bessern
Erklärung darbietet. Wie wir oben betonten, hatte der Rat die
neuerworbenen Hypotheken fast ausschliesslich von Angehörigen
der Geschlechter gekauft. *) Sicherlich sassen manche von diesen
selber in dem ein durchaus aristokratisches Gepräge tragenden
Rate der Altstadt oder waren wenigstens mit Mitgliedern des-
selben verwandt. Bedenkt man nun, in wie hohem Masse sich
die Ratsherrn bei der Verwaltung ihres Amtes von Selbstsucht
leiten Hessen — sehr starke Äusserungen derselben hatten wir
ja schon früher kennen gelernt’) — , so wird man es nicht für
unwahrscheinlich halten, dass jene damals bei eignen oder ihrer
Verwandten Geldverlegenheiten mit Benutzung des Weichbilds-
vermögens und des Weichbildscredits entweder Hypotheken-
anleihen selber aufnahmen oder solche gewährten. Durch diese
Auffassung räumt man einerseits die oben zu Tage getretenen
Schwierigkeiten in dieser Angelegenheit aus dem Wege, andrer-
seits gewinnt man so einen neuen Einblick in den Geist, der in
damaliger Zeit die Altstädter Finanzverwaltung durchdrang.
Als den Grundstock der Einnahmen der Altstadt wird man
ihre Zinsaufkünfte anzusehen haben: hinsichtlich der Höhe ihrer
recht bedeutenden Erträge waren sie im allgemeinen nur geringen
Schwankungen unterworfen und so gut wie gar nicht vom Zufall
abhängig. Es gehören dahin alle die vorerwähnten Zinse, welche
ein Weichbild einnehmen konnte. Tn den Rechnungen von 1354
und 1355 ist ihnen die Gesammtbezeichnung „census de tabulis“ —
nach den Tafeln, auf denen sie von den Bezahlenden niedergelegt
wurden — gegeben, und ein gemeinschaftliches Kapitel cin-
geräumt. Hier sind die Zinse weder nach ihren Arten noch
nach den einzelnen Posten gesondert, wir erfahren nur, wie
grosse Summen an jedem der beiden hierfür üblichen Zahlungs-
>) cf. S. 76.
*) cf. S. 70 f.
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termine, Ostern und Michaelis, eingekomiuen, und daran schliesst
sich noch die Angabe des jährlichen Gesammtertrages. Sowohl
1354 als 1355 erreicht die Michaelissumme eine — freilich nur
wenig — grössere Höhe als die Ostersumme; was die Jahres-
summe angeht, so beträgt dieselbe in dem ersten der beiden
Jahre 258 M. 3 Ferd. % Lot, 39,3 °/0 aller Einnahmen, in dem
zweiten 262 M. 3 Ferd. 1 Lot, nicht weniger als 69,1% der
Gesammtaufkünfte. Die veränderte Stellung, die hiernach die
Zinseinnahmen des Weichbildes in der jüngern Rechnung gegen-
über der altern inne haben, beruht vor allem auf der wesentlichen
Verringerung der Rentenverkäufe : der grosse Umfang der
letztem im Jahre 1354 drängte die Erträge an census de tabulis
in ungebührlicher Weise in den Hintergrund.
Das dritte Einnahmekapitel , welches sich in beiden
Rechnungen zu den bis jetzt besprochenen gesellt, schliesst
1354 mit einer Summe von 60% M. , 1355 mit einer solchen
von 33 M. ab. Diese Beträge machen 9,2%, beziehungsweise
5,9% der Gesammteinkünfte aus. Indessen wird die verhältniss-
mäseige Geringfügigkeit dieser Summen aufgewogen durch die
Reichhaltigkeit des Inhalts jener Rubrik : sie bildet nämlich ein
Seitenstück zu dem umfangreichen Ausgabekapitel ; wie sich
hier ein Gemisch der verschiedenartigsten Ausgaben vorfindet,
so sind dort sehr mannigfaltige Einnahmen äusserlich vereinigt.
Uber eine Anzahl von ihnen und zwar nicht die unbedeutendsten
ist leider nichts sicheres zu ergründen , da uns nur mitgeteilt
wird, wer die betreffenden Summen dem Weichbilde gezahlt hat,
nicht aber auch, aus welchem Grunde. Die näher bekannten
Posten unsres Mischkapitels können wir in mehrere Klassen
zerlegen , von denen aber verschiedene nur sehr schwach ver-
treten sind. Es genügt daher, aus letztem das wichtigste zu
erwähnen. 1354 wurde eine grössere Summe, 7 M. , für
verkauftes Getreide vereinnahmt , sowie ein Mühlenzins im
Betrage von 1 Pfd., während 1355 die erste Rate der im Vor-
jahre erworbenen Bierzollrente mit 5 M. eingetragen ist. In
beiden Jahren floss der Altstadt nachträglich gezahlter Schoss,
sogenannter „Nachschoss“ zu: 1354 beliefen sich diese Nachschoss-
zahlungen auf 6 M. % Ferd., 1355 auf 51/, M. Wiederum haben
wir darin einen Beleg für das Nichtinnehalten der Einigung
von 1269 : da dem gemeinen Rate der Schoss zugesprochen war,
so musste folgerichtiger Weise er auch den Nachschoss erhalten,
der also eigentlich unter Altstädter Einnahmen nicht Vorkommen
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«0
dürfte, aber nocli um 1390 unter ihnen aufgeführt ist. Erst die
grosse Reform machte dem geschilderten Missbrauch ein Ende.1)
Ziemlich viel Raum nehmen in der in Rede stehenden
Rubrik die Abgaben ein, welche dem Weichbilde von den
verschiedensten Handwerkern, Handel- und Gewerbetreibenden
entrichtet wurden. Zumeist handelte es sich dabei um Abgaben
von Verkaufs-Ständen und Stätten auf dem Altstadtmarkte oder
dem sich an diesen anschliessenden Martinikirchhofe. Solche
Stätten- und Ständegelder zahlten Leinwandschneider, Altflicker,
Bäcker und Fischer, ferner die Inhaber der Kohlbänke, die auf
dem Kirchhofe sitzenden Kleiderseiler und die Händler, welche
gesalzenen Fisch gleich aus den Tonnen verkauften, schliesslich
auch noch andre nicht näher bezeichnete Verkäufer. Die hieraus
sich ergebende Gesammteinnahme betrug sowohl 1354 als 1855
etwas über 5 Pfd. ln den spätem Rechnungen und Zinsbüchern
der Altstadt begegnet uns für diese Erträge die zusammenfassende
Bezeichnung „Marktpfennige“,3) indessen sind die Zahlungen der
Leinwandschneider dort gewöhnlich in einem eiguen Kapitel
anzutrelfen. In den übrigon Wcichbilden Braunschweigs lassen
sich die Marktpfennige nicht nachweisen.
Ein andrer Charakter als der des Stättegeldes ist wahr-
scheinlich zwei Zahlungen im Betrage von 1 M. minus 14 Pfenn.
und 2 M. minus 3 Schill, eigen , deren erstre die Schuhmacher-
meister 1354, deren letztre sie 1355 dem Rate leisteten. Von
jenen Marktabgaben sind sie äusserlich streng getrennt, und ferner
spricht auch der grosse Unterschied in der Höhe der beiden
Posten dagegen, dass man es hier mit Stättegeldern zu thun hat.
Vielleicht trifft man das richtige, wenn inan jene für Gildeabgaben
erklärt. So wissen wir aus einer Eintragung im Altstädter
Degedingbuche zum Jahre 1329, dass dem Rate ein Viertel der
Gebühren zustand , die jeder Schuhmachermeister bei seiner
Aufnahme in die Gilde zu zahlen hatte.*) Auch von andern
') cf. Chron. VI, S. 152 und 153.
’) Ob die Marktpfennige ein Teil des Marktzolles oder gar der ganze
Marktzoll sind, von dessen Verpfändung an die gemoine Stadt wir zuerst
1412 (Chron. VI, S. 194 und 195} hören, erscheint sehr fraglich. Dürr«
S. 821 uml 322 nimmt es an, doch widerspricht dem vor allem, dass in
keinem der übrigen Weichbilde eine derartige Abgabe wie in der Altstadt
erhoben wurde.
s) A. D. I, TI'.
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Gildeabgaben hören wir,1) welche, obwohl sie uns nicht gerade
für die Schuhmacher bezeugt sind, doch auch von diesen wohl
entrichtet werden mussten. Insofern scheint unsre Annahme also
gut begründet, doch ist sie deshalb nicht ganz einwandsfrei, weil
von Zahlungen andrer Gilden an den Rat der Altstadt in beiden
Rechnungen keine Spur gefunden werden kann. Aber immerhin
mag daran der Zufall schuld sein.
Eis war gelegentlich der Besprechung der Ausgaben an die
Vögte schon auf die Verpachtung der Vogtei hingewiesen. Aus
unserm Kapitel geht nun hervor, dass in den hier in Betracht
kommenden beiden Jahren ein Teil der Pachtsumme der Altstadt
zufloss. 1354 erhielt sie von dem einen der zwei Vögte, Heinrich
von Polede, für die Vogtei 6 M. zu Ostern und 6 M. zu Michaelis,
höchstwahrscheinlich den ganzen Pachtzins, welchen jener zu
zahlen hatte. Denn, wie uns Notizen im 1. Gedenkbuche lehren,
nahm 1356 Hans von Kissenbruege ä) und 1363 Konrad Backer-
mann *) vom gemeinen Rate die Vogtei auf ein Jahr für 12 M.
in Pacht, so dass also die eben aufgestellte Vermutung gewichtiger
Unterstützung nicht entbehrt. Wollte man aber aus jener Angabe
in der Rechnung von 1354 den Schluss ziehen, in jener Zeit sei
regelmässig die Pachtsumme des einen Vogts an die Altstadt
gefallen, habe letzterer die Verfügung über die eine der beiden
Vogteistellen zugestanden, — damit könnte dann sehr gut in
Einklang gebracht werden, dass beide oben angezogenen Ver-
pachtungen des gemeinen Rates sich nur um eine Vogteistelle
drehen — , so würde man auf eine grosse Schwierigkeit stossen :
1355 bekommt jenes Weichbild vom gesammten Vogteizins nur
4 M. , die ihm zu Ostern derselbe Heinrich von Polede zahlt.
Leider lässt sich nicht angeben, welche Ursache eine so bedeutende
Verringerung dieser Einnahme im letztgenannten Jahre bewirkte;
man muss sich damit begnügen, die nackte Thatsache der Ver-
ringerung zu constatiren. Dazu zwingt uns vor allem das
mangelhafte Material: denn die beiden Stellen der Altstädter
Rechnungen von 1354 und 1355 sind die einzigen, welche von
Pachtzahlungen eines Vogts an eine Weichbildskasse zeugen.
Als letzten wesentlichen Bestandteil der Mischrubrik haben
wir die von der Altstadt aufgenommenen Strafgelder zu erwähnen.
*) Dürre S. 331 und 332.
*) L G. 11.
*) L G. 15.
Hack, Finfcnxgeschichte der BUdt Rraunschwoig . (j
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82
Unter den dahin gehörigen Posten betrifft nur einer aus dem
Jahre 1355 eine Übertretung der Hochzeitsordnungen, wofür
Johannes von Gotingen damals 1 Pfd. zahlen musste;1) alle
übrigen kennzeichnen sich als Busse solcher Leute, die verbotnem
Würfelspiel gehuldigt hatten. Nach den Dobelspelordnungen *)
hatte von den ertappten Würfelspielern der Gewinner seinen
Gewinn abzüglich 5 Schill. — diese Bestimmung lässt die Grenze
zwischen erlaubtem und verbotnem Würfelspiel erkennen — dem
Rate zu geben; ausserdem mussten Gewinner und Verlierer
die Stadt auf gewisse Zeit verlassen und sich nach Ablauf
derselben die Erlaubnis zur Rückkehr für je 2 Pfd. erkaufen.
Mit diesen Festsetzungen können die betreffenden Einnahmen in
unsern Rechnungen gut in Einklang gebracht werden : eine
derselben, aus dem Jahre 1354, erreicht die Höhe von 3 M. und
stellt, wie ausdrücklich hinzugefügt ist, einen Gewinn nach Abzug
von 5 Schill, dar; die übrigen Posten betragen je 2 Pfd. und
wurden wohl alle gelegentlich der Rückkehr von Spielern
entrichtet, freilich ist dies nur zu einem besonders bemerkt.
Wunderbar ist es, dass zwei für Dobelspel gezahlte Bussen in
der Rechnung von 1354 aus Anlass gewisser Abzüge von ihnen
— einmal handelt es sich dabei um Rückgabe von 5 Schill., das
andere Mal um den Vogtanteil — innerhalb des grossen Ausgabe-
kapitels erwähnt, jedoch unter den Einnahmen dieses Jahres
nicht aufgeführt sind. Ob und wie die hier zu Tage tretende
Schwierigkeit beseitigt werden kann, darauf werden wir gleich
einzugehen haben.
Sämmtliche Posten des soeben behandelten Einnahmekapitels
in der altern Rechnung kommen nochmals in einem derselben
Rechnung eingefügten Einnahmecomplex vor. Ausserdem treffen
wir hier aber auch — und das ist sehr auffallend — jene beiden
Busszahlungen, welche wir in dem Mischkapitel der Altstädter
Aufkünfte, wo wir sie zu finden erwarten mussten, vergeblich
suchten.8) Endlich sind darin noch zahlreiche andre Posten
’) Hochzeitsordnungen dieser Zeit im Br. U.-B. 8. 43 und 45. Unsern
Posten könnte man höchstens mit § lß auf S. 45 Zusammenhängen : „weme
oc en speleman van buten herin ghesant wert, de scal eme nicht mer gheuen
wanne en ewart lot bi I taln.u Freilich steht I auf Rasur.
*) Br. U.-B. S. 36 und 36.
*) Die beiden Posten lauten:
Item HI clipeoB aureos a Johanne de Gothinge, quos etiam lucratus fuit
supra quinque sol.
Item II tal ab illis de Sacco de tesseratura.
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verzeichnet, die offenbar als Aufkünfte der gemeinen Stadt
anzusehen sind und später zur genauem Besprechung gelangen
werden. Bemerkenswert ist, dass diese so sonderbar zusammen-
gesetzte Liste durchstrichen vorliegt.
Wenn Hänselmann dieselbe für ein Stück einer gemeinen
Kämmereirechnung erklärt,1) so ist das kaum zutreffend: bilden
doch Altstädter Einnahmen einen wesentlichen Teil von ihr. Zu
einer richtigem Ansicht wird man, wie ich hoffe, durch folgende
Erwägungen gelangen. Bei Aufstellung der Altstädter Rechnung
von 1354 gesellte man in unserm Verzeichniss fälschlicher Weise
zu den Posten der Altstadt eine Anzahl von Posten der gemeinen
Stadt. Sobald man jedoch diese Confundirung bemerkte, gab
man, wie das Fehlen einer Summenangabe beweist, die Fertig-
stellung dieses Verzeichnisses auf und strich es durch, um seine
Ungültigkeit kenntlich zu macheu. In ein neu angelegtes Kapitel
wurden die Einnahmen der gemeinen Stadt, welche jenes enthält,
nicht aufgenommen. Dass eine solche Vermischung Vorkommen
konnte, ist nicht oder wenigstens nicht allein darin begründet,
dass ein und devselbe Schreiber damals die Kämmereirechnungen
der Altstadt und der gemeinen Stadt schrieb. Die Hauptursache
scheint vielmehr die innige Verbindung der Finanzverwaltung
dieser mit der jener gewesen zu sein, welche um die Mitte des
14. Jahrhunderts offenbar bestand. Waren doch 1354 die beiden
Kämmerer der Altstadt und die beiden der gemeinen Stadt
dieselben Personen, Konrad Eleres und Heinrich von Kerkhof,
beide Angehörige altstädtischer Geschlechter. Und wunderbar
wäre es, wenn diese Verbindung sich nicht herauRgebildet hätte.
Das Übergewicht der Altstadt in dem 1269 gegründeten gemeinen
Rate über die andern Weichbilde war so bedeutend, dass es ihr
nicht schwer werden konnte, die gemeine Finanz Verwaltung , so
weit sie ine Leben trat, im wesentlichen in ihre Hand zu
bekommen. Unter solchen Umständen war eine gewisse Ver-
schmelzung der Altstädter Verwaltung mit der gemeinen nicht
zu vermeiden, zumal sie im Interesse des herrschstichtigen,
eigennützigen Rates jenes Weichbildes lag. Und ohne Zweifel
gingen ihre Wirkungen noch weit über die zeitweilige Unklarheit
hinaus, welche das merkwürdige Verzeichniss hervorgebracht hat.
Eine Frage für sich ist es, warum die erwähnten beiden
Strafgelderposten aus der durchstrichenen Liste in das neu
') Chron. VI 8. 277 A.nm. 3.
6*
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angelegte Kapitel nicht mit übergegangen sind, da doch mehrere
andere gleicher Natur hier wie dort zu finden sind, und da
doch , was noch wichtiger , im Ausgabeteil auf eie Bezug
genommen ist. Dies beides scheint mir mit zwingender Not-
wendigkeit auf eine unbeabsichtigte Auslassung des Schreibers
hinzuweisen. Übrigens ist dus Ergebniss, zu dem wir so gelangt
sind, nicht unwichtig, denn nun erst können wir mit Sicherheit
behaupten, dass, wie oben schon angedeutet wurde, der Altstadt
damals noch Erträge aus der Vogtei im Sacke zuflossen. Der
eine der in Frage kommenden Posten bezieht sich nämlich auf
Strafgeld, das aus diesem Weichbilde eingekommen.1)
Um schliesslich einen Blick auf die Bilanzen zu werfen, die
sich aus unsern Rechnungen ergeben, so steht 1354 einer Ge-
sammteinnahme von 668 3/4 M. 1/J Lot eine Gesammtausgabe von
538 M. 1 Ferd. 1 Lot gegenüber, während 1355 die entsprechenden
Summen nur eine Höhe von 397 M. 13 Lot und 381 M. 3% Ferd.
erreichen. Für jenes Jahr stellt sich also ein Überschuss von
rund 120 M. heraus, für dieses ein solcher von rund 16 M.
Was aus besagten Überschüssen geworden, kann nur zum
Teil sicher ergründet werden. Von den 120 M. sind in der
Rechnung von 1355 nur 22 M. wieder zu finden : sie waren
bei der geschilderten famosen Operation a) erübrigt. Der
Rest der Summe mag nach dem von 1345 her bekannten
Grundsätze, Überschüsse von Gülten und Zinsen der Weichbilde
sollten an die gemeine Kasse abgeführt werden,3) letzterer zuge-
wiesen worden sein, wenn er nicht schon vorher an den damals
gerade grosse Pfanderwerbungen vollziehenden5) Rat der gemeinen
Stadt ausgezahlt war. Ähnlich ist vielleicht das Geschick jener
16 M. gewesen, in denen kein Überschuss aus Rentenverkäufen
steckte. Ungenauigkeit der Rechnungsführung ist schuld daran,
dass wir bezüglich des Verbleibes und der Verwendung dieser
Summen gewisseres nicht sagen können.
6. Die Finanzverwaltung der Weichbilde von 1355 bis 1374.
Über die Finanzverwaltung der Weichbilde in derZeit von
1355 bis 1374 sind wir ausserordentlich mangelhaft unterrichtet,
wie vor 1354 fast lediglich durch Eintragungen von finanzieller
') cf. S. 34 Anm. 2 und S. 82 Anm. 3.
*) S. 76-78.
») S. 38.
4) cf. S. 90 u. 91.
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Bedeutung in den Weichbildsbtichern. Die Anzahl derselben ist
nicht gerade gross für diese achtzehn Jahre, sic verteilen sich auf
Altstadt, Hagen und Sack so, dass die meisten auf das zu zweit
genannte Weichbild entfallen. Ihrem Inhalt nach bieten sie neues
so gut wie gar nicht. Wir hören von Erbenzins- und Grund-
stiiekserwerbungen, sowie vom Ankauf wiederablöslicher Renten
zu frommen Zwecken durch die Weichbildsräte; auf der andern
Seite verkaufen diese Erbenzinse, Grundstücke und Leibrenten,
letztere fast nur der Hagener Rat; ablösliche Hauszinse werden
teils von den Schuldnern wieder zurückgekauft , teils von den
Räten an andere Personen überlassen: so erwirbt im Jahre 1364
Hans von Evensen vom Sacker Rate für 90 M. im ganzen 6 M.
rückkäuflicher Hauszinse.1) Als ein vereinzelt dastehendes
Vorkommniss mag noch erwähnt werden, dass im selben Jahre
der Rat des Hagen sich 60 M. auf das Wagehaus lieh.*) Wollte
man übrigens nach diesen wenigen Verträgen und Abschlüssen
beurteilen , ob in dem bezeichneten Zeitraum die Lage der
Weichbildsfinanzen eine gute oder eine schlechte gewesen sei,
so würde das sehr gewagt sein. So viel wird man indessen
sagen können, dass nichts zu der Annahme berechtigt, die
Weichbildsfinanzverhältnisse hätten zum Ausbruch des Auf-
standes von 1374 wesentlich beigetragen. Allerdings spielten
finanzielle Angelegenheiten unter den Ursachen dieses Aufstandes
eine ganz hervorragende Rolle, doch traten rücksichtlich derselben
die Weichbilde gegenüber der gemeinen Stadt vollständig in den
Hintergrund.
7. Die Finanzverwaltnng der gemeinen Stadt 1354 und 1355.
Die Finanzverwaltung der gemeinen Stadt war von uns bis zum
Jahre 1354 besprochen worden. Ihre Lage und Entwicklung in
den beiden Jahrzehnten vor dem Aufstande zur Darstellung zu
bringen, diese Aufgabe tritt jetzt an uns heran. Das Material
hierfür ist nicht gerade dürftig. Gleich für den Anfang der
Epoche liegen uns die Rechnungen der gemeinen Stadt von 1354
und 1355 vor. Auch ganz abgesehen davon, dass die jüngere
der beiden nicht vollständig erhalten ist, können sie den Ver-
gleich mit den Altstädter Rechnungen aus denselben Jahren
nicht aushalten. Denn Einnahmen enthalten sie ja gar nicht,
') S. D. I, 55.
•) H. D. I, 118.
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lassen uns also über einen Hauptteil der gemeinen Finanz Verwaltung
im unklaren und machen es auch unmöglich, das Verhältnis der
Ausgaben zu den Einnahmen festzustellen. Ausserdem stehen
die Rechnungen der gemeinen Stadt hinter den altstädtischen
auch hinsichtlich der Anordnung der Posten zurück. Zwar sind
auch in jenen Anfänge einer Kapiteleinteilung zu bemerken,
aber die dabei aufgestellten Grundsätze sind keineswegs streng
befolgt. Namentlich tritt das in der Rechnung von 1355 hervor,
welche im Gegensätze zu der von 1354, wie früher bereits gesagt
wurde, ein besonderes Kapitel für Pferdeschaden nicht mehr
kennt und dazu den Mangel einer abschliessenden Redaction
sehr stark empfinden lässt, weit stärker als ihre Vorgängerin.
Völlig von den übrigen Ausgaben gesondert sind in beiden
gemeinen Rechnungen nur die Leibrenten und Weddeschatzzinse,
welche zusammen ein Kapitel bilden. Doch sind sie innerhalb
desselben verschieden behandelt. Bezüglich der Leibgedinge
erfahren wir, wie in den Altstädter Rechnungen, nur, welche
Summen an den einzelnen Zahlungsterminen für diesen Zweck
verausgabt sind, während von den Weddeschatzzinsen jede Rente,
ja jede Rate derselben unter Hinzufügung des Namens des
Empfängers eingetragen ist. Im Jahre 1354 zahlte der gemeine
Rat zu Ostern, Pfingsten, Johannis und Aegidii, Michaelis,
Martini und Weihnachten im ganzen 85 V« M. an Leibrenten,
an ablöslichen Renten zu meist ungenannten Terminen 56 M.,
an Leibrenten und ablöslichen Renten zusammen also 141 M.
1 Ferd., eine Summe, die mit 7,7% der ganzen Jahresausgabe
gleichbedeutend ist. Der höchste Betrag an Leibrenten wurde
zu Michaelis mit 27 M. % Ferd. gezahlt, die grösste Wedde-
schatzrente in zwei Raten von je 12% M. In der Rechnung
des Jahres 1355 liegt das entsprechende Kapitel nicht vollständig
vor. Es finden sich darin von den Leibgedingzahlungen nur die
zu Aegidii, Michaelis, Martini und Weihnachten; von den
Weddeschatzrenten scheinen nur die zweiten Raten aufgeführt
zu sein. Die Gesammtsumme am Ende des Kapitels erreicht in
Folge dessen nur eine Höhe von 74 M. 1% Ferd.; die grössere
Hälfte dieses Betrages, 38 M. minus % Ferd. , entfällt auf die
Leibrenten, die allein zu Michaelis eine Ausgabe von 22 M.
3% Ferd, erforderten. Unter den für Weddeschatz aufgewandten
36% M. figuriren vor allem zwei Posten von je 12% M., deren
einer sich als Rate jener schon zum Vorjahre erwähnten rück-
käuflichen Rente zu erkenuen giebt. Insgcsammt mögen 1355
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ungefähr 145 M. für Leibrenten und Weddeschatzzinse verausgabt
sein, nahe an 6,5% aller Ausgaben. Freilich kann diese Summe
den Vorzug unbedingter Wahrheit nicht in Anspruch nehmen;
letztere würde nur dann festgestellt werden können, wenn der
verlorene Teil der Rechnung von 1355, wo ohne Zweifel die
andre Hälfte unsres Kapitels zu suchen sein würde , sich
wiederfände.
Wenden wir uns nun den Ausgaben zu, welche nach Abzug
der Leibgedinge und des Weddeschatzes noch übrig bleiben und
ein mehr oder weniger buntes Durcheinander darstellen, so fällt
sehr auf, wie wenige unter ihnen der innern Verwaltung im
weitesten Sinne des Wortes gedient haben. Zunächst lässt sich
aus beiden Rechnungen zusammen nur eine Verwendung für
einen friedlichen Zwecken gewidmeten Bau nachweisen: zur
Errichtung eines Wagehauses in der Altstadt wurden 1355 der
gemeinen Kasse 6% M. entnommen. Dass nicht mehr solcher Bau-
ausgaben anzutreffen sind, kann indessen nicht Wunder nehmen,
lag doch, wie wir schon früher sahen, die Bauverwaltung
innerhalb der Stadt in ausgedehntestem Dmfange den Weich-
bilden ob.
Zahlreicher sind die Aufwendungen, welche der gemeine
Rat unsern Rechnungen zufolge für die geistlichen Stifter
Braunschweigs machte. Aus dem Fragmente von 1331 kehren
1354 die Zahlungen an das Heiligegeistspital und die Härings-
spende für die Minderbrüder zur Fastenzeit wieder. Ferner
empfingen im letztgenannten Jahre die Klöster der Stadt aus
der gemeinen Kasse 10 Pfd. zur Almosen Verteilung, während
1331 nahe an 7 M. „ad stipam“ gezahlt wurden, was offenbar
dasselbe besagt, wie jener Posten von 1354. In der Rechnung
von 1355 begegnen uns die Zahlungen an das erwähnte Spital
nur zum Teil, die Fastenspende und die Zuwendung an die
Klöster gar nicht. Auch hieran wird die ün Vollständigkeit der
genannten Rechnung schuld sein.
Unter die im Interesse innerer Verwaltung geschehenen
Ausgaben des gemeinen Rates sind schliesslich noch die Be-
soldungen und Belohnungen einer Anzahl von Beamten und
Dienern desselben zu rechnen. An ihrer Spitze muss der
Schreiber genannt werden, dessen Thätigkeit sich freilich nicht
auf die innere Verwaltung beschränkte. Deshalb gehört sein
Gehalt, das 1354 und 1355 dasselbe ist wie 1331, eigentlich nur
zum Teil hierher, ganz jedoch die Belohnung für seine Mitarbeit
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bei der Schosserhebung. 1331 empfing er bekanntlich für letztere
1 M., 1354 kommt kein derartiger Posten vor, in der Rechnung
von 1355 dagegen zwei. Beide geben als Höhe der Vergütung
1 M. an und sind weit von einander getrennt. Wenn man nun
nicht annehmen will, dass 1354 gar kein Schoss erhoben wurde,
1355 aber zwei Mal — eine Annahme, welche einfach deshalb
unhaltbar sein würde, weil die Altstädter Rechnung von 1355
5'/s M. Nachschoss aus dem Vorjahre aufführt — , so kann man
sich aus dieser Schwierigkeit wohl nur durch die Erklärung
helfen, der 1354 ausgelassene Posten sei nachträglich in die
Rechnung des folgenden .lahres aufgenommen. Ausser dem
Stadtschreiber wird in unsern Rechnungen auch verschiedentlich
der Vemeschreiber erwähnt, der eine wichtige Rolle bei Ab-
haltung des städtischen Vemedinges *) spielte: er erhielt damals
zu Ostern und zu Michaelis je */4 M., in dem Fragment von
1331 kam er nicht vor. Zu diesen Schreibern gesellen sich
ferner der Arzt, dem 1354 ein Kleidungsgeld von 3]/a Ferd.
gezahlt wurde, der im übrigen aber von Fall zu Fall belohnt
zu sein scheint, der Henker, welcher im selben Jahre eine
Einnahme von 7 Lot hatte, der Koch, welchem man 1355 seine
Thätigkeit mit 1 Pfd. vergütete, schliesslich auch einige Diener
für untergeordnete Besorgungen, an die gleichfalls kleinere Posten
verausgabt wurden.
Je geringer die durch die innere Verwaltung dem gemeinen
Rate verursachten Kosten waren, um so bedeutendere Aufwen-
dungen musste er für die auswärtigen Angelegenheiten machen.
Diese Thatsache findet schon darin ihren Ausdruck, dass allein
an Botenlohn 1354 21 Pfd., 1355 25 Pfd. ausgegeben wurden,
unzweifelhaft aus den kleinsten Posten zusammengesetzte Summen.
Und hierzu kommen dann eine ausserordentlich grosse Anzahl
kleinerer Beträge , die gelegentlich diplomatischer Sendungen
des Schreibers, anderer Diener des Rates oder auch einzelner
Ratsherren verbraucht wurden, hierzu grössere Summen, welche
erfordert wurden, wenn zahlreiche Vertreter des gemeinen Rates
an wichtigen, auswärts gehaltenen Versammlungen und Theiduugeu
teilnahiuen, oder ein Gesandter desselben lange sich hinziehende
Unterhandlungen führte. Es wäre zu weitläufig, auf die Ein-
tragungen dieses Inhalts näher einzugehen; nur das soll nicht
unerwähnt bleiben, dass einige bedeutendere Ausgaben bis zu
■) Dia Vemogorichtsordnung of. Br. U.-B. 1, 28 uud 29.
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einer Höhe von über 38 M. an Johannes von Winhusen, die
mit anderen Posten in der Rechnung von 1354 unter dem Titel
„ausgegeben zu Helmstedt-1 vereinigt sind, kaum anders als
diplomatische Unkosten zu nennen sein werden. Denn ver-
schiedentlich wird jener in beiden Rechnungen deutlich als
Unterhändler der Stadt bezeichnet. Mit den Zahlungen an ihn
scheinen mehrere andre, ebenfalls nicht geringfügige nahe verwandt
zu sein, ln der grössten unter ihnen den Betrag von 19 M.
erreichend wurden sie einem gewissen Johannes Ebeling geleistet
und demselben Titel zugewiesen wie jene. Aller Wahrschein-
lichkeit nach wurden nicht nur die Posten Winhusens , sondern
auch die Ebelings bei Verhandlungen in Helmstedt verbraucht,
die man sich dann als sehr umfangreich und lange dauernd zu
denken hätte. Stoff für solche Verhandlungen war ja in dieser
Zeit der niedersächsischen Städtebundebestrebungen, ') an denen
Braunschweig und Helmstedt, meist gemeinsam vorgehend, sich
eifrig beteiligten, in Menge vorhanden. Sehr fraglich ist es
übrigens, ob man den Johannes Ebcliug, einen Helmstedter
Bürger, in dasselbe Verhältniss zum Braunschweiger Rate setzen
darf, wie den Johannes von Winhusen, sehr fraglich ferner, ob
man auch die 150 M., welche ihm der gemeine Rat der Rechnung
von 1354 zufolge schuldet, und die 110 M., welche derselbe ihm
1355 zahlt, in irgendwelche Beziehungen zu Verhandlungen der
angedeuteten Art zu bringen hat. Die grosse Kürze der gemeinen
Rechnungen hinsichtlich dieser wie mancher andrer Ausgaben
wird für uns zur Unklarheit.
Ziemlich geringe Aufwendungen erforderten 1354 und 1355
die Bewirtung und Beherbergung von Gästen. Ausser zwei
kleinen, gelegentlich des Aufenthalts von Helmstedter und
Goslarer Ratsherrn in Braunschweig 1354 verausgabten Beträgen
gehört nur eine Summe von 12 M. hierher, welche dem Rate
im folgenden Jahre ein Besuch, wie es scheint, des Herzogs von
Lüneburg kostete. Auch Ehrengeschenke an befreundete Herren
treten sehr in den Hintergrund: mit Sicherheit kann nur ein
Posten in diesem Sinne verstanden werden; aus seinem Inhalt
ergiebt sich, dass die Stadt dem Bischof von Hildesheim zu
Fastnacht 1355 zwei silberne Becher im Werte von 6 M. schenkte.
') Über diese Verhandlungen unterrichtet uns üäuselmanus Aufsatz:
firauuschweigs Beziehungen zu den Harz- und Seegebieten, in Werkst. I, 3 — öl.
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Zahlreicheren und bedeutenderen Ausgaben begegnen wir
erst wieder, wenn wir zu den Geldopfern übergehen, welche dem
gemeinen Kate Bestimmungen von Verträgen und Abkommen
mit Herren und Städten, vor allem mit den Herzogen, auferlegten.
AU der Bischof von Hildesheim 1854 der Bitte der Braunschweiger
entsprach, Zölle und Geleitgeldcr aufzuheben, die seine Amtleute
auf der Liebenburg ’) unrechtmässiger Weise eintrieben, that er
es nur unter der Bedingung, dass die Bittsteller für ihn dem
Rate von Goslar 10 M. zahlten. *) Dementsprechend finden wir
diese Summe in der gemeinen Rechnung des genannten Jahres
eingetrugen. Unbekannt dagegen sind die Umstände, die den
Braunschweiger Rat veranlassten , im selben Jahre dem Grafen
von Regenstein für die Goslarer eine Zahlung von 10 M. , im
folgenden eine solche von etwa 15 M. zu leisten und 1355 ferner
an die Herren von Honlege für die Magdeburger eine Schuld
von 24 M. abzutragen. Unbekannt ist auch der Grund, weshalb
der Herzog von Lüneburg aus der gemeinen Kasse im gleichen
Jahre zwei Mal 100 M. empfing. Da im letztem Falle die
Summen zu gross sind, um in ihnen ein Geschenk zu erblicken,
wird man vielleicht besser thun, sie als Darlehn gegen irgend
ein Pfand anzusehen, das leider nicht bestimmt werden kann.
Ausführlicher erweist sich die Rechnung von 1355 hinsichtlich
einer Ausgabe im Betrage von 40 M. an Herzog Ernst den
Altern: wir erfahren, was wir schon bei einer andern Gelegenheit
gesehen, dass derselbe jene Summe für eine Münzverpfändung
erhielt;®) sein Schreiber wurde für das Siegeln der Urkunde mit
'/* M. belohnt. Andre bedeutendere Zahlungen an gewisse
Herzoge, in der ersten der beiden Rechnungen vorkommend,
stehen mit Schlossverpfändungen im Zusammenhänge : wir wollen
sie mit unter den Aufwendungen des gemeinen Rates ftir
militärische Zwecke besprechen , welche in seinen Rechnungen
dieser Zeit den meisten Platz einnehmen und einen überraschend
grossen Teil der sämmtlichen Ausgaben darstellen.
310 M. zahlte die Stadt im Jahre 1354 dem Herzog Wilhelm
von Lüneburg dafür, dass derselbe ihr sein Schloss zum Kampe4)
') Barg bei Schladen.
*) I. G. fol 10' S 3
s) cf. S. 44
•) Barg nordöstlich von Braunschweig an der Schunter.
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verpfändete1) und 5 M. kostete ihr noch die darüber ausgestellte
Urkunde. Zur gleichen Zeit gab sie dem Herzog Magnus
200 M. auf sein Schloss Hessen;*) weitere 200 M. scheint sie
ihm 1355 geliehen zu haben, denn damals verpfändete ihr der
Herzog das genannte Schloss für 400 M. *) Doch sucht man
jene zweite Zahlung in dem uns erhaltenen Teile der Rechnung
von 1355 vergebens. Da die Gesamrotausgabe der gemeinen Stadt
1354 rund 1840 M. betrug, so wurden in diesem Jahre nach
dem eben angeführten nicht weniger als 28°/0 derselben für
Pfandschlosserwerbungen verwendet, während der entsprechende
Prozentsatz, wenn unsre obige Vermutung richtig ist, bei einer
Gesammtauagabe von rund 2225 M. 1355 auf 9% herabsank.
Wie aber grosse Summen dazu erforderlich waren, Schlösser
in Pfandbesitz zu bekommen, so kostete es auch viel, sich diesen
Pfandbesitz nutzbar zu machen. Darauf war in Kürze schon
oben hingewiesen, und. es tritt besonders deutlich in unsern beiden
Rechnungen hervor. Namentlich erreichten die Aufwendungen
für Burghut eine beträchtliche Höhe. Sowohl 1354 als 1355
erhielten der Hüter der Hornburg 60 M., der der Asseburg
30 M.; für die Schlösser zum Kampe und Hessen kommen erst
1355 Burghutzahlungen vor, für jenes eine im Betrage von
20 M., für dieses eine von 50 M. Was das Schloss Neuhaus4)
angeht, welches die Stadt ebenfalls — fraglich ist es, seit wann —
im Pfandbesitz hatte, so scheinen darauf an Burghut jährlich
20 M. verwendet zu sein. An diese Burgen reiht sich noch ein
als Bergfrid am Bruche bezeichnetes Kastell, dessen Befehlshaber
vom gemeinen Rate 1364 15 M. und 1355 12 M. empfing.
Die sonstigen , durch den Pfandschlossbesitz veranlassten
Ausgaben , in ihrer Mannigfaltigkeit früher bereits einmal
geschildert, sind zum grössten Teil in unsern Rechnungen in
besondern Kapiteln vereinigt,*) deren Titel die Namen der
betreifenden Burgen sind. Das der Hornburg schliesst 1354
nach Abzug der Burghut mit 11 M. 1 1 •/, Lot, doch gesellen
sich dazu noch eine Anzahl in der Rechnung zerstreuter Posten
*) cf. auch O.-U. im Br. St.-A. No. 168 und Sudendorf 11, 237.
*) Burg südlich von Sohöppenstedt.
*) Sudendorf II, 267.
*) bei Vorsfelde.
■') cf. S. 50. ln diesen Kapiteln kommen, so weit wir erkennen können,
nicht vor Zahlungen an Zinsen für Anleihen, die behufs Aufbringung der
Pfandsummen gemacht waren, dagegen treffen wir hier als neu Ausgaben
für Bestellung der zu den Schlössern gehörigen Äcker.
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im Gerammt bei rage von ungefähr 5 ’/„ M. Für die entsprechen-
den Ausgaben auf der Asseburg wurden im gleichen Jahre rund
15 M., 1355, wo die Hornburg nur ganz geringen Aufwand
erforderte, rund 9 51 . verbraucht. Bei Übernahme des
Schlosses zum Kampe im ersten der beiden Jahre wurden für
das auf den Feldern stehende Getreide 17 M. gezahlt, während
die Ausgaben des Jahres 1355 für diese Burg eine Höhe von
nicht ganz 16 M. erreichten. Neuhaus wurde 1354 mit auffallend
grossen Kosten verproviantirt, tritt aber, wenn auch weniger als
die Hornburg, in der Rechnung von 1355 in den Hintergrund.
Ausserordentlich gross sind im letztem Jahre die Summen,
welche auf das damals erst übernommene Hessen verwendet
wurden: zwei hierfür in Betracht kommende Kapitel ergeben an
Posten der bezeiehneten Art, unter denen Bauwerk in erster
Reihe steht, einen Gesammtbetrag von über 165 M.
Als die zweite Hauptgruppe der Ausgaben des Rates
gemeiner Stadt für militärische Zwecke stellt sich die Gcsammt-
heit der mannigfachen Zahlungen dar, die an oder für die ver-
schiedenen Elemente der städtischen Streitmacht geleistet werden
mussten. Kurzweg als Sold bezeichnet ist in der Rechnung des
Jahres 1354 ein Posten von 364 M. 3 Ferd., in der von 1355
ein Posten von 251 M. Die bedeutende Differenz der beiden
Summen kann kaum darauf beruhen, dass 1355 weniger Söldner
im Dienste des Rates als im Vorjahr gestanden hätten; zum Teil
wenigstens erklärt sie sich daraus, dass man eine Anzahl von
Beträgen, welche in der ältern Rechnung jener grossen Summe
mit eingefugt sind, in der zweiten selbstständig gelassen und überall
zerstreut eingetragen hat. Dieses Sachverhältniss streng nach-
zuweisen, ist leider nicht möglich, denn es wird einerseits durch
die Unbestimmtheit so vieler Posten, andrerseits durch die
Unvollständigkeit der 1355er Rechnung verhindert. Ferner aber
sind auch 1354 nicht sämmtliche Soldzahlungen von den 364 M.
mit umfasst: wie in der jüngern, so kommen auch in der ältern
Rechnung viele verschieden hohe Ausgaben bis zu 1Ü M. vor,
deren Empfänger teils in Kriegsdiensten des Rates stehende
Edelleute, teils gewöhnliche Schützen und sonstige gewappnete
Knechte wraren, und die sicherlich als Sold anzusehen sind.
Ausserordentliche Belohnungen einzelner Söldner für besonders
anstrengenden Dienst wie er beispielsweise bei Heerfahrten und
auf den Pfandschlössern herrschte, werden wohl alle für sich
eingetragen sein.
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Meist ist in den Sold die Beihülfe zur Kleidung sicherlich
mit einbegriffen gewesen, zumal da derselbe ja iu vielen Fällen
nur aus Kleidung bestand, ') doch begegnen uns auch häufig
hierauf bezügliche besondere Posten. 1354 wurden für die
Renner an Kleidungsgeld zu Ostern 11 M. 2 Ferd. 3 Lot aus-
gegeben, zu Michaelis nicht ganz 2'/« M., während derselbe
Zweck Michaelis 1355 etwas über 2 ’/s M. erforderte. Andre
geringere Beiträge seien übergangen, und nur noch darauf hin-
gewiesen, dass Herr Konrad von Lutter, der damals städtischer
Hauptmann gewesen zu sein scheint, im letztgenannten Jahre für
seine Kleidung 5 M. 5 I.ot bekam.
Mit der Verpflichtung des Rates, für die Zehrung seiner
Söldner, sei es nun aller oder nur eines Teils derselben, auf-
zukommen, hängen die in beiden Rechnungen sehr häufig sich
findenden Ausgaben zusammen, welche durch das Wort „pand-
qnitinge“ gekennzeichnet sind. Man hat darunter die von Zeit
zu Zeit vom Rate vorgenommene Auslösung der Faustpfänder zu
verstehen, welche seine Söldner bei den Wirten für Herberge
und Zehrung hinterlegten.*) Die Höhe der für diesen Zweck
verwendeten Beträge ist sehr verschieden, indem sie zwischen
wenigen Schillingen und mehreren Mark schwankt; in der grossen
Mehrzahl der Fälle sind Edelleute als diejenigen genannt, für
die Pandquitinge vollzogen wurde. Im Anschluss hieran ist zu
erwähnen, dass den Söldnern, soweit sie beritten waren und selber
das Futter ihrer Pferde kauften, ihnen auch die Futterkosten
ersetzt wurden. Verschiedne, meist kleinere Posten müssen so
gedeutet werden. Die Renner scheinen je zu Ostern und zu
Michaelis 1 M. für Hafer erhalten zu haben, und 1354 wurden
an den Hauptmann Konrad von Lutter für Heu 2 M. 3 Lot und
für Hafer 3 M. gezahlt, Summen die sich auf einen Zeitraum
von 3*/t Monaten beziehen. Auch den Hufbeschlag der den
Söldnern gehörenden Pferde musste der gemeine Rat aus seiner
Kasse bestreiten, nicht minder Reparaturen am Sattelzeug und
den Waffen. Häufig sind in unsern Rechnungen endlich Aus
gaben für Neuanschaffung von Sattelzeug und Waffen, namentlich
Armbrüsten, verzeichnet. Bei den diesbezüglichen Posten, welche
einen- Meistbetrag von 1 M. nie überschreiten, gewöhnlich weit
darunter bleiben, handelt es sich sehr oft um Entschädigungen
■) cf. S. 50 und Werkstücke, I, 110.
s) cf. Werkst. I, 111.
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für im Dienst der Stadt erlittene Verluste. Auf die weite Aus-
dehnung der Entschädigungspflicht des Rats seinen Söldnern und
den kriegsdienstleistenden Bürgern gegenüber brauchen wir hier
nicht noch einmal näher einzugehen. Doch sei erwähnt, dass in
den gemeinen Rechnungen von 1354 und 1355 in erster Linie
der Ersatz von Pferdeschäden eine Rolle spielt. In jener nehmen
sie ja sogar ein besonderes Kapitel ein, in dem wir 24 Posten
von */* M. bis 11M. finden, wälirend die Gesammtsumme 66 M.
3 Ferd. beträgt. 1355 fehlt dieses Kapitel nicht etwa deshalb,
weil die betreffenden Aufwendungen an Bedeutung verloren
hätten; sie treten uns häufig genug bald hier, bald da in der
gewohnten Höhe entgegen.
Neben diesen ausserordentlichen Ausgaben für die im Kriegs-
dienst gebrauchten Pferde kommen indessen auch die regel-
mässigem stark zur Geltung. 1354 wird eine Summe von 19 M.
„pro caballis et minoribus equis sustinendis“ verbraucht, 1355
zahlt man aus der gemeinen Kasse 33 M. „illis, qui tenent equos
proprios, cum quibus ’) tarnen serviendum est consulibus, et illis,
qui prestant pabula equis pertinentibus döminis consulibus.“ Zu
diesen beiden Hauptposten gesellen sich noch zahlreiche kleinere
Ausgaben, meist geringer oder nur wenig höher als 1 M., deren
Veranlassung durch die technischen Ausdrücke „pro cura equo-
rum“ oder „pro equo tenendo“ — doch auch andre finden sich —
ersichtlich ist. Die Neuanschaffung von Pferden durch den Rat
tritt in unsern Rechnungen gänzlich zurück und erfordert keine
grossen Summen.
Heerfahrten, wie deren bereits im Fragment von 1331 ver-
schiedne erwähnt wurden, wirkten auch 1354 und 1365 auf die
Finanzverwaltung der gemeinen Stadt ein. Mit ihnen stehen
zunächst sehr viele Pandquitinge- und Entschädigungszahlungen
im Zusammenhänge; was letztere angeht, so scheint namentlich
eine Heerfahrt oder, wie es im Texte heisst, eine „reysa“ gegen
') Dieses „cum quibus“ glauben wir nicht so deuten zu dürfen, als ob
die betreffenden Empfänger selber auf diesen Pferden dem Rate gedient
hätten, sondern so, dass jene ihre Pferde an den Rat zur Verwendung im
Kriegsdienste vermieteten als sogenannte „Nachbarpferde“, die später häufiger
erwähnt werden. Das cum wird für die erste Auffassung kaum ins Feld
geführt werden können, sie würde vielmehr „in quibus (iis) serviendum est“
erfordern. Ferner spricht auch das auf proprios gehende tarnen gegen die-
selbe. — Über die Nachbarpferde cf. Chron. VI, 146 und 147. Br. IT.-B-
122 § 266.
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Betzendorf, ') die in beiden Rechnungen oft genannt wird, ziemlich
beträchtliche Verluste für die städtischen Truppen im Gefolge
gehabt zu haben. Hinsichtlich einiger grösserer Posten, von denen
es ganz allgemein heisst, sie seien bei dieser oder jener Heerfahrt
verbraucht, kann man wohl annehmen, dass durch sie ein
Gemisch verschiedner Ausgaben zusammengefasst ist. In dem-
selben dürften freilich die Kosten für Proviant die Hauptrolle
spielen. Der grösste dieser Posten, 1354 für die Heerfahrt gegen
Betzendorf verausgabt, erreicht eine Höhe von 7 M. 1 Ferd.
Schädigungen, welche die städtischen Kriegsleute auf ihren
Zügen und Ritten im Lande anrichteten, musste der gemeine
Rat unter Umständen ersetzen, vornehmlich, wenn sie geistliches
Gut betrafen. Diese Verpflichtung tritt ganz klar bei einer
Zahlung von l1/* Ferd. hervor, die im Jahre 1354 an den
Pfarrer von Uhrde*) geleistet wurde. Und auf gleiche Weise
werden wir auch einige Ausgaben des folgenden Jahres zu
erklären haben, deren bedeutendste hier Erwähnung Anden möge:
mit 6 M. wurde ein vom Kloster Marienberg bei Helmstedt
erlittener Schaden vergütet.
In ungefährer, eher zu hoch als zu niedrig greifender
Schätzung können wir die mannigfachen, 1354 und 1355 mittel-
bar oder unmittelbar durch die Ansprüche des Wehr- und
Kriegswesens hervorgerufenen Aufwendungen gleich 50 bis 60°/#
sämmtlicher Ausgaben der gemeinen Stadt setzen. Eine genauere
Angabe ist leider nicht möglich, indessen wird auch diese
ungenaue genügen, um die Wichtigkeit des zuletzt besprochenen
Gebietes gemeiner Finanzverwaltung erkennen zu lassen.
Ob die gemeine Stadt in den genannten beiden Jahren mit
ihren gewöhnlichen Einnahmen auskam, ja vielleicht mehr als
auskam, oder ob sie zur Deckung von Deflcits Anleihen machen
musste, wiesen wir nicht, da wohl die Gesammtsummen der
Ausgaben, nicht aber auch die der Einnahmen bekannt sind.
Es ist sehr beklagenswert, dass die gemeinen Einnahmerechnungen
von 1354 und 1355 uns nicht vorliegen, aber entweder sind sie
verloren gegangen, oder sie wurden überhaupt nicht aufgestellt.
Und letzteres ist allerdings nicht unwahrscheinlich. Denn
wenigstens die Rechnung der gemeinen Stadt von 1354 macht
’} Betzendorf, Dorf an der Jeetzel, südlich von Salzwodel.
*) Ührde, Dorf bei Schöppenstedt.
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9fi
durchaus nicht den Eindruck, als ob sie uns nur verstümmelt
überkommen sei, und andrerseits kann man kaum annehmen,
die Einnahmen des gemeinen Rates seien von den Ausgaben
streng geschieden in ein andres Buch eingetragen, da man in
den behandelten Rechnungen der Altstadt, die aus derselben
Zeit stammen und in derselben Kanzlei, ja von derselben Hand
geschrieben sind, wie jene gemeinen Ausgaberechnungen, Elin,
nähme- und Ausgabekapitel vereinigt und nicht einmal in zwei
besondre Abteilungen getrennt findet.
Weshalb man aber damals keine Verzeichnisse der gemeinen
Einnahmen anfertigte, was nach dem gesagten nicht völlig ab-
gewiesen werden kann und unter allen Umständen als ein Zeichen
sehr mangelhafter Finanzverwaltung angesehen werden müsste,
bleibt ganz unklar. Allenfalls würde man dies Verfahren ver-
ständlich finden, wenn jene schon wiederholt betonte Sitte, gewisse
bedeutende Ausgaben des gemeinen Rates direkt aus Weich-
bildsmitteln zu bestreiten, auf sämmtliche Ausgaben desselben
sich erstreckt hätte Aber in einer so straffen Abhängigkeit
befand sich die gemeine Finanzverwaltung doch zu keiner Zeit.
Von jeher hatte sie Einnahmen zur selbstständigen Verfügung
und namentlich um die Mitte des 14. Jahrhunderts können diese
keineswegs unbeträchtlich gewesen seiu. Zunächst flössen in die
Kasse der gemeinen Stadt ausser den Zins- und sonstigen Erträgen
des Grundbesitzes derselben die jährlichen Überschüsse aus
Gülten und Zinsen der Weichbilde. Sodann wurde in dieselbe
Kasse im wesentlichen der Schoss abgeführt, an dem um 1854
wenigstens die Weichbilde einen grossen Anteil nicht hatten.
Letzteres geht aus den Einnahmeverzeichnissen der Altstädter
Rechnungen von 1354 und 1355 hervor: ist doch in beiden nur
je ein Nachschossposten anzutreffen. i) Des weiteren muss man
annehmen, dass damals auch die Erträge aus den gemeinsamen
Erwerbungen, vor allem den Pfandschaften, ungeschmälert dem
gemeinen Rat überwiesen und nicht, wie es früher wohl geschehen,
unter die beteiligten Weichbilde verteilt wurden. Auch das
lassen jene Altstädter Rechnungen erkennen, indem sie unter
den Einnahmen solche aus gemeinsamem Pfandbesitz nicht auf-
führen; denn, was dort von Vogtei- und Bierzolleiukünften ver-
■) S. 79.
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zeichnet ist, floss der Altstadt auf Grund der von ihr allein
vollzogenen Erwerbungen zu.’) Dagegen fiel in den Bereich der
gemeinen Finanzverwaltung die Nutzung des mannigfaltigen
Zubehörs der Pfandschlösser, der in Acker, Zollhebungen, in
Dorfgerichtsbarkeit und ähnlichen Rechten bestand ; *) dazu
gesellten sich die Einnahmen der Stadt aus der Münze’) und
spätestens seit 1364 auch solche aus den Mühlen;4) auch einen
Teil der Vogteierträge, eben den nicht der Altstadt zustehenden,
erhob der gemeine Rat: man darf kaum zweifeln, dass derselbe
die 12 M., für welche er 1356 wie 1363 die Vogtei auf je ein
Jahr verpachtete, für Zwecke der gemeinen Stadt ver-
wandte. Alle bisher genannten Aufkünfte dieser sind in der
durchstrichenen Einnah ineliste der Altstädter Rechnung, deren
merkwürdige Zusammensetzung bereits erörtert wurde, nicht
verzeichnet, anders ist es mit dem Judenzinse *) und dem Bier-
zoll, von denen jener 1354 schon seit längerer Zeit, dieser erst
ganz kürzlich und nur vorübergehend ®) in den Kreis der gemeinen
Finanz Verwaltung gezogen war. Jener tritt in der Liste mit einem
Posten von 30 M. auf, dieser mit einem von 17’/* M., welche
Summe im Hagen , und mit einem von 20 M., welcher Betrag
in der Neustadt eingetrieben wurde. An sonstigen Einnahmen
der gemeinen Stadt haben sich in die Altstädter Rechnung von
1354 verschiedene grössere, leider nicht näher mehr bestimmbare
Zahlungen verirrt, ausserdem einige kleinere Summen, die teils
die Verpachtung von Bergfriden, teils der Verkauf zum Kriegs-
dienst nicht mehr brauchbarer Pferde eintrug. Alles in allem
ist jenes wunderbare Verzeichniss durchaus nicht im Stande, uns
eine vollständige Einnahmerechnung gemeiner Stadt zu ersetzen,
insofern aber doch recht interessant, als es in seinen hierher
gehörigen Posten wenigstens ein Fragment einer solchen bildet»
das bei der Mangelhaftigkeit unseres Materials unzweifelhaft von
Wert ist.
*) Über den Vogteianteil der Altstadt vgl. 8. 21 und 32, über die
Bierzollcrwerbung dieses Weichbildes S. 41.
*) Wir finden in den Verpfändungsurkunden reichhaltiges Material
darüber.
») S. 41 ff.
‘) S. 44.
•) S. 46.
•) 8. 41.
Muck, Finnnzgeachichte der Stadt Braunzchweig. 7
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8. Oie Schäden der gemeinen Finanzverwaltung
im 14. Jahrhundert und die finanziellen Ursachen des
Aufstandes von 1374.
Behufs der technischen Leitung der gemeinen Finanz-
verwaltung, über deren Gebiete für die Mitte des 14. Jahrhunderts
einen Überblick zu geben im vorangehenden versucht wurde,
setzte in dieser Periode der gemeine Rat, wie es scheint alljähr-
lich, zwei seiner Mitglieder als Kämmerer l) ein. Ihnen lag es
ob, die fälligen Einnahmen in Empfang zu nehmen und zu ver-
wahren, die erwachsenden Ausgaben davon zu bestreiten und
die Rechnungen aufzustellen, auch wurden sie wohl mit der
Ausführung vom Rate beschlossener Finanzoperationen, wie der
Aufnahme von Anleihen und ähnlichem, beauftragt. Immerhin
wird der Kreis ihrer Geschäfte einen ziemlichen Umfang gehabt
haben, und es ist sehr fraglich, ob es einer sorgfältigen Voll-
ziehung derselben zu Gute kam, wenn, was ja 1354 und wahr-
scheinlich noch öfter, vielleicht regelmässig der Fall war, die
Kämmerer der gemeinen 8tadt zugleich dasselbe Amt in der
Altstadt versahen,5) ganz abgesehen von andern schon berührten
Übelständen, welche diese Vereinigung im Gefolge hatte. Hätte
letztre nicht bestanden, so wäre vor allem wohl eine klarere und
praktischere Rechnungsführung schon damals zur Ausbildung
gekommen, und verschiedne Missbräuche, deren wir weiter unten
noch genauer zu gedenken haben werden, zum mindesten ein-
geschränkt worden. Ein Hauptmangel freilich, das Fehlen
jeglichen Voranschlages und das damit verbundene Wirtschaften
in den Tag hinein *), wäre auch dann kaum zu vermeiden
gewesen. Denn bei der Unstätigkeit der politischen Verhältnisse,
den eben so mannigfaltigen als plötzlich eintretenden An-
forderungen des „täglichen Krieges“ war eine auch nur ungefähre
Vorausberechnung der notwendigen Ausgaben und somit über-
haupt die Aufstellung eines Etats schlechterdings unmöglich. —
Fragen wir nun, wie es mit der Kontrolle über die Amtsführung
der beiden Kämmerer bestellt war, so erhalten wir auch in dieser
*) Zwei werden in der gemeinen Rechnung von 135t genannt.
>) of. S. 83.
*) Hänselmann Chron. VI, S. 324, wo auch mit Recht darauf hingewieson
ist, dass bei den Weichbildsfinanzverwaltungen das Aufstellcn von Vor-
anschlägen viel eher möglich war. Als einen Ansatz zu einem solchen kann
man das Zinsbuch der Neustadt von c. 1330 betrachten.
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99
Beziehung eine wenig erfreuliche Antwort. Rechnungsablage
mussten die Kämmerer allerdings leisten, aber nur in einem sehr
engen Kreise. Was wir darüber erfahren, ist in einem Schreiben
enthalten, in dem sich bald nach dem Aufstande die vertriebenen
Geschlechter gegen die von den siegreichen Gilden erhobenen
Anklagen, namentlich auch gegen den Vorwurf einer schlechten,
nachlässigen .Finanzverwaltung zu rechtfertigten suchten, das
also eher ein zu günstiges als ein zu ungünstiges Bild
der Verhältnisse liefert. Nach den hierher gehörigen Sätzen
des Schreibens bestand in Braunschweig vor dem Auf-
stande ein Ratsausschuss von acht Mitgliedern , deren vier
der Altstadt, je zwei dem Hagen und der Neustadt an-
gehörten. Dieser Ratsausschuss „ging“ , wie es heisst,
„zu der Rechenschaft des Rates“, erledigte allein die geheimen
Angelegenheiten der Stadt und nahm die Rechnungsablage der
Kämmerer entgegen. Das entsprach dem völlig aristokratischen
Regimente, in dem die Altstädter Geschlechter alles bedeuteten.
Nicht nur die grosse Masse der Bevölkerung, sondern auch die
Rateherren aus Sack und Altewik, welche beiden Weichbilde seit
1345 auch in den gemeinen Säckel steuerten und deshalb Anteil
am gemeinen Rate erlangt hatten, bekamen bei solcher Zusammen-
setzung jenes Ausschusses von der finanziellen Lage der Stadt
keine Kenntniss, geschweige denn, dass sie Einfluss auf ihre
Gestaltung gehabt hätten. *) Und da ferner, wie schon einmal
bemerkt, auch in Hagen und Neustadt Altstädter Geschlechter sich
eingenistet hatten und hier eine angesehene Stellung einnahmen, *)
war es geradezu unausbleiblich, dass die gemeine Finanz-
verwaltung vor 1374 hauptsächlich ira Interesse jener gehandhabt
wurde. So lange dies geschehen konnte, ohne dass Steuern und
Auflagen eine drückende Höhe erreichten, mochte das alte System
sich behaupten; sobald aber, sei es durch Verschulden der
Regierenden, sei es durch unberechenbares Unglück, eine
ungünstige Finanzlage harten Steuerdruck erforderte, musste
die grosse Masse aufmerksam werden und, des Einblicks in die
Rechnungen entbehrend, ihr Misstrauen auf die Geschlechter
werfen, die allein die Finanz Verwaltung leiteten und um alles
') Chron. VI. S. 823 und 3&9W-: „desse achte pleghen to des Kodes
rekenscop to gande unde wirten des Rades hemeliche Ding, unde anders
nemant van den radlüden unde nemen rekenscop van den kemereren“ etc.
») ib. 8. 323.
•) cf. 8. 24.
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100
wussten. Die Vertriebenen waren also wenig berechtigt, in
ih rer Entschuldigung auf jenen Ausschuss hinzuweisen; für eine
zweckmässige, sparsame und selbstlose Verwaltung bot sein
Bestehen keine Bürgschaft.1)
Die bisher beleuchteten Missstände waren solche, denen die
gemeine Finanzverwaltung als ganzes unterworfen war; man kann
sie als Grundschäden bezeichnen. Aus ihnen gingen mehr oder
weniger unmittelbar eine Anzahl andrer Missbrauche und Miss-
stände hervor, die sich nur auf einzelnen Gebieten jener Finanz-
verwaltung geltend machten. Unsere Kenntniss derselben beruht
im wesentlichen auf der heimlichen Rechenschaft: hier ist, worauf
früher schon hingewiesen, die Schilderung der Reformen atu Ende
des Jahrhunderts immer auf der Schilderung derjenigen Mängel
aufgebaut, welche diese Reformen den Männern der neuen Aera
als notwendig erscheinen Hessen.2)
Starke Missbrauche waren es zunächst, die der gemeinen
Stadt ihre Haupteinnahme, den Schoss, schmälerten. Der Schoss
war eine direkte und ordentliche d. h. alljährlich gezahlte Steuer,
in zwei Bestandteile zerfallend, den Vorschoss, der sich als ein
Fixum von 2*) bis höchstens 84) Schill, darstellt und von allen
Steuerpflichtigen gleichmtissig erhoben wurde, und den Schoss
im engern Sinne, dessen Wesen darin beruhte, dass man ebenso
viel Pfennige, wie der Vorschuss Schillinge betrug, von jeder
Mark Wert seiner Habe entrichten musste.5) Es setzte sich also der
Schoss aus einer Personal- und einer Vermögenssteuer zusammen.*)
Die jährliche Schossquote wurde seitens des gemeinen Rates nach Be-
darf bestimmt, während die Höhe der steuerbaren Beträge auf dem
Wege eidlicher Selbsteinschätzung ermittelt wurde. Steuerpflichtig
waren im allgemeinen wohl sämmtliche selbstständigen Einge-
sessenen der Stadt, indessen konnte solchen Leuten, die in Folge
irgendwelcher kaufmännischen Unternehmungen oder Renten-
anlagen kein baaree Geld zur sofortigen Verfügung hatten, die
') Oligarchische Misswirtschaft ist bekanntlich schon für mehrere
deutsche Städte des Mittelalters nachgewiesen, cf. (thron. I, S. 295 f. und
Schönberg a. a. 0. S. 27.
’) cf. S. 15.
*1 Chron. VI, S. 177,
*) ib. 8. 140.
s) ihid. S. 137, Note 2. S. 318.
*) of. Chron. I, 8. 282 und Schönberg, a. a. O. S. 88.
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101
Schosszahlung gegen Hinterlegung von Pfändern gestundet
werden. Wo nun, wie in Braunschwcig vor dem Aufstande
einerseits die Finanzverwaitung der nötigen Energie ermangelte,
andrerseits in den regierenden Kreisen Selbstsucht und Partei-
iuteresse sich breit machten, lag die Gefahr sehr nahe, dass
diese an und für sich schon dem Gemeinwesen wenig erspriess-
liche Gewohnheit eine missbräuchliche, unerhörte Ausdehnung
finden werde; dann musste die Stadt grosse Summen, die sie
notwendig brauchte, lange entbehren, dann mussten sich die
Pfänder massenhaft ansammeln, um als totes Capital daliegend
viele Zinsen zu fressen. Und wirklich ist es dahin gekommen,
denn die heimliche Rechenschaft klagt über den grossen Schaden,
den jener Brauch der Stadt verursacht habe. ')
Entrichtet wurde der Schoss von den Steuerzaldern auf den
Weichbildsrathäusern, um dann von den Weichbildsräten an die
gemeine Kasse abgeführt zu werden. Älit dieser Sitte stand ein
weiterer Missbrauch im Zusammenhänge, wie gleichfalls aus der
heimlichen Rechenschaft hervorgeht. Dort wird uns berichtet,*)
im Jahre 1396 sei eine Bestimmung getroffen, wonach die
Weichbildsräte Schoss und Nachschoss, sobald sie eingekommen
seien, in den gemeinen Säckel zahlen und den Finanzbehörden
gemeiner Stadt Rechenschaft darüber ablegen sollten; diese
Einrichtung, fügt der Verfasser hinzu, habe der Stadt viel
genützt, und ihr Weiterbestehen werde sehr förderlich sein.
Offenbar hatten demnach in früherer Zeit die Weichbildsräte
nicht nur die Auszahlung des Schosses an den gemeinen Rat
verschleppt, sondern auch, zu einer strengen Rechnungsablage
nicht verpflichtet, mit den Erträgen dieser Steuer ungehörig
und nachlässig gewirtschaftet, indem sie dieselben, wenn auch
nur zum geringen Teil, den Weichbildskassen zu Gute kommen
Hessen. Beweise dafür haben wir in den Altstädter Rechnungen
von 1354 und 1355 gefunden.
Da der Schoss alljährlich in der ersten Woche nach Martini
zu zahlen war , so hatte der Rat der gemeinen Stadt in dieser
Zeit immer die grössten Baarmittel zur Verfügung. Aber erst
spät, erst in der Periode der Reformen, brachte er es dahin,
einen so günstigen Umstand gehörig auszunutzen , indem nun
auch die wichtigsten der regelmässig wiederkehrenden Ausgaben,
') cf. Chron. VI, S. 152 und 153: ,\Vu de Rad dat sehod vorderen achal“.
’) ibid S. 153 und 154: „Van dem schote to vorderende“.
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102
Leibgedinge und Weddeschatz, in jene Zeit verlegt wurden.
Vorher waren die genannten beiden Arten von Renten wahr-
scheinlich stets an zwei Terminen, zu Ostern und zu Michaelis,
ausgezahlt worden, *) ein Brauch , mit dem ein böser Missstand
verknüpft war. Bei der geringen Sorge für die Zukunft, welche
die Finanzverwaltung charakterisirte, bei dem Mangel jeglichen
Voranschlages ist es sehr erklärlich, dass die Schosserträge
ausserordentlich rasch verbraucht wurden. Und so hatte man
denn, wie die heimliche Rechenschaft berichtet, *) sowohl Ostern
als Michaelis fast nie Geld genug flüssig gehabt, um die Anleihe-
zinsen zu bestreiten. Da diese aber, wollte man sich den
durchaus nötigen Credit bewahren , so pünktlich wie möglich
gezahlt werden mussten, so blieb nichts andres übrig, als sich
das fehlende Geld durch neue Anleihen zu verschaffen, die
ihrerseits doch auch verzinst sein wollten. Man kann leicht
ermessen, wie sehr derartige kostspielige Gebahrungen, die bei
weniger kopfloser Wirtschaft leicht zu vermeiden gewesen wären,
einer günstigen Finanzlage entgegenwirken mussten.
Aber noch ist die Reihe der Missstände, deren wir hier zu
gedenken haben, nicht zu Ende: ebenso schlimme und folgen-
schwere, ja noch schlimmere fast als bei der Verwaltung der
Schosseinkünfte und der Regelung der Schuldenverhältnisse,
herrschten auf dem für die gemeine Stadt so bedeutungsvollen
Gebiete des Kriegswesens. Erforderte die grosse Söldnerschaar,
die zu halten man für nötig erachtete, schon an und für sich
sehr grossen Aufwand, so wurde dieser noch dadurch unver-
hältnissmässig gesteigert, dass man es an strenger Beaufsichtigung
der verwilderten Bande fehlen liess. Darum war es letzterer
sehr leicht, die Stadt an allen Ecken und Enden zu betrügen,
wozu ihnen die umfassende Haftpflicht derselben die beste
Handhabe bot. Wer konnte es ihnen denn nachweisen, wenn
sie mehr Entschädigung forderten, als sie in Wahrheit zu
') Allerdings finden wir bereits in den meisten Verträgen unseres
Weddesohatzregisters, die vor 1374 abgeschlossen sind, als Zahlungstermin
Martini festgesetzt. Da aber jenes Register erst l39ti angelegt ist und zwar
sicherlich im Zusammenhänge mit den Reformen, die damals im Anleihe-
wesen der Stadt durchgeführt wurden, so ist es nicht unmöglich , dass erst
in dieser Zeit der genannte Zahlungstermin für die vor 1374 verkauften
Renten vereinbart und nun auch die betreffenden Weddeschatzbriefe dem-
gemäss abgeändert wurden.
*) Chron. VI, S. 154 und 155: ,Wu se den tyns to gevende brachten uppe
eyne tiid“.
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103
beanspruchen hatten, wenn sie sich für Verluste bezahlen Hessen,
von denen sie gar nicht betroffen waren? Vor allem kamen die
betrügerischen Manipulationen der Söldner mit ihren Pferden
dem gemeinen Rate teuer zu stehen. Aus der heimlichen
Rechenschaft erfahren wir,1) dass ein Teil dieser Gesellen zwei,
ja drei Pferde im Jahre verbrauchte, indem sie eins nach dem
andern, um das Futtergeld zu sparen, verhungern Hessen; andre
wieder trieben es noch schlimmer : auf Kosten des Rates fütterten
sie ihre Pferde heraus, verkauften sic dann zu hohen Preisen
und steckten den Erlös in die eignen Taschen. Jenen wie diesen
musste der gemeine Rat die zur Anschaffung neuer Pferde
nötigen Summen auszahlen oder wiedererstatten. Dass dieses
Unwesen nur bei ungesunden Zuständen sich entwickeln und
zur Blüte gelangen konnte, ist wohl kaum zu bestreiten. Man
erkennt auch hieraus mit Sicherheit die Unfähigkeit und
Schlaffheit der gemeinen Verwaltung vor der Reform.
Schwieriger ist es, sich ein richtiges Urteil über einen
andern mit dem städtischen Kriegswesen zusammenhängenden
Übelstand zu bilden, unter dem die öffentlichen Finanzen Braun-
schureigs arg zu leiden hatten. Dieser beruhte auf den gewaltigen
Verwendungen für die Pfandschlösser.1) Die Pfandsummen,
durch Ausgaben für Bauten und von Zeit zu Zeit auch durch
beträchtliche Nachschüsse noch erhöht, mussten, zum grossen
Teil wenigstens, durch hoch verzinsliche Anleihen herbeigeschafft
werden, und was die mit den Schlössern verpfändeten Acker und
ertragsfähigen Rechte einbrachten, wurde von den Aufwendungen
für Burghut, für mancherlei Reparaturen, für Verproviantirung
und Besoldung der Besatzung, so weit die Stadt für letztere auf-
zukommen hatte, weit übertroffen. Freilich darf der mittelbare
Nutzen der Pfandschlösser, welcher daraus erwuchs, dass sie den
Bürgergütern und dem Handel Schutz gewährten, nicht zu
gering geachtet werden ; wenn man indessen die Entwicklung
des Pfandschlosswesens auch nur während der Zeit normaler
Verhältnisse verfolgt d. h. bis gegen Ende der sechziger Jahre
des 14. Jahrhunderts, so wird man sich kaum dem Eindruck
entziehen können, als ob der Rat, den wahren Vorteil des
Gemeinwesens aus den Augen lassend, einerseits allzu viele
Burgen pfandweise erworben, andrerseits auf einzelne derselben
') Chron. VI, S. 148: „Wu de marstello dichtet worden“. Werkst. I, 112.
*) ibid. S. 144: „Dat me sek hoede vor pandsloten“.
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104
unvcrhältnissmässig grosse Summen bewilligt und verwendet habe.
Zum Beleg für den zweiten Punkt seien zunächst die Verhältnisse
des am frühesten in die Hand der Braunschweiger gelangten
Pfandschlosses angegeben, als das wir die Asseburg kennen
lernten. 1470 M. betrug die Pfandsumme bereits bei der Ver-
pfändung von 1345 ;J) 230 M. kamen 1358 in Folge eines
Darlehns an die Herzoge Magnus und Ludwig hinzu, ä) und, als
der erstgenannte im November 1367 die Verpfändung der
Asseburg wieder um drei Jahre verlängerte, hatte die Stadt
schon 2500 M. daran stehen.8) Ganz ähnlich gestalteten sich
die Angelegenheiten des Schlosses zum Kampe. Während in
der Urkunde über die erste Verpfändung, die von 1354, die
Pfandsumme zu 310 M. angegeben ist, 4) erreichte diese mit der
zweiten Verpfändung im Jahre 1357 schon eine Hohe von
440 M.8) und zwei Jahre später bekannte sich Herzog Wilhelm
dem Rate mit 200 M. verschuldet, für die unter gewissen
Umständen gleichfalls jene Burg zu Pfand gesetzt werden sollte. *)
Auch eine Urkunde von 1366 mag hier erwähnt werden, in
welcher derselbe Herzog dem Rate gestattete, 50 M. am Hause
zum Kampe zu verbauen.7) Noch schneller aber als die
Pfandsummen für die Asseburg und den Kamp, wuchs diejenige
für Hessen. Bei der ersten Verpfändung, im Jahre 1355, betrug
sie 400 M.,H) bei der zweiten dagegen, nur drei Jahre später,
nicht weniger als 1200. 9) 100 M., die Herzog Magnus 1359 dem
Rate schuldig zu sein bekannte, sollten, wenn sie nicht bis zu
Weihnachten des nächsten Jahres zurückgezahlt wären, zu jener
Summe geschlagen werden ;,#) dieselbe wurde auch dadurch
vergrössert, dass 1363 der gemeine Rat ein Burglehn auf Hessen
für 40 M. erwarb. u)
’) ef. S. 46. cf. Dürre S. 348 ff.
J) cf. Sudendorf III, 41.
s) Sudendorf HI, 226.
*) cf. S. 90.
*) O.-D. im Br. St.-A., No. 174.
•) O.-U. im Br. St.-A., No 193.
’) O.-U. im Br. St.-A.. No. 218.
») cf. S. 91.
•) Sudendorf HI, 140.
,0) Sudendorf HI, 56.
") O.-U. im Br. St.-A., No. 202.
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105
Eingelöst wurde in der Periode von 1365 bis 1370 von allen
Pfandschlössern Braunschweigs nur eines, die Hornburg, wenn
wenigstens der Bischof von Halberstadt seine beiden Kündigungen
von 1364’) ausführte, was einigermassen zweifelhaft ist.*) Da-
gegen wurden in dieser Zeit mehrere Schlösser dem gemeinen
Kate zum ersten Male verpfändet. 1363 übergab ihm Herzog
Magnus das Schloss Esbeck und die Stadt Schöningen gegen
eine Pfandsumme von 804 M., *) gegen eine solche von 600 M.
1364 Herzog Wilhelm von Lüneburg das Haus Vorsfelde, 4)
um diese Verpfändung im nächsten Jahre unter Erhöhung der
Summe auf 700 M. zu wiederholen8) und den Bürgern 1367 zu
gestatten, 60 M. an Vorsfelde zu verbauen.*) Ebenfalls 1365
gelobte Heinrich von Wenden dem Rate von Braunschweig, dem
er 100 M. schuldete, dafür mit dem Schlosse Jerxheim zu Dienste
zu sitzen, T) und 1366 bekam letzterer vom Bischof Gerhard von
Hildesheim die Liebenburg für 500 M. in Pfandbesitz. *) — Zur
Genüge kann man aus diesen Anführungen ersehen, wie grosse
Capitalien durch das Pfandschlosswesen der Verfügung der
gemeinen Finanz Verwaltung entzogen wurden, und offenbar
machte sich das recht fühlbar. Musste sich doch die Stadt
bereite damals entschliessen, einzelne der Pfandschlösser zeitweilig
weiter zu verpfänden. Indessen bedang sie sich dabei wohl
immer aus, dass der neue Inhaber das Schloss für sie jeder Zeit
offen halte und ihr auf Erfordern Beistand gegen ihre Feinde
leiste. So kam um die Mitte der sechziger Jahre Hessen in die
Haud der Herren von Wenden,*) und 1367 übertrug der Rat
Stadt und Haus Vorsfelde auf drei Jahre für 300 M. den Herren
von Bertensleve, 10) während er 1371, um dies gleich hier hin-
’) I. G. fol. 16: am 28. Januar und am 28. September.
’) 1372 finden wir den Rat schon wieder im Besitz der Homburg:
I, G. fol. 28 >.
*) Sudcndorf HI, 14. Esbeck liegt dicht bei Schöningen.
4) O. - U. im Br. St. -A. , No. 206. Vorsfelde liegt nördlich von
Braunschweig.
4) O.-U. im Br. St.-A., No. 211.
•) O.-U. im Br. St.-A., No. 224.
>) O.-U. im Br. 8t.-A., No. 213.
•) O.-U. im Br. St.-A., No. 219.
») I G. fol. 25.
*") O.-U. im Br. St.-A., No. 223.
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106
zuzufügen, die Asseburg auf drei Jahre an Heinrich Kerlchof
gab.1) Aber das waren nur halbe Mussrcgeln, denn die
Schlösser wurden ja längst nicht alle und, wie das Beispiel
Vorsfeldes zeigt, bei weitem nicht um die Summen weiter
gegeben, welche die Braunschweiger daran stehen hatten. Von
Grund aus konnte dem Übel nur dadurch abgeholfen werden,
dass man den Weg einschlug, einige wenige Pfandschlösser fest-
zuhalten, die übrigen aber gegen Rückerstattung der darauf
verwendeten und gezahlten Summen ihren Besitzern wieder aus-
zuliefern. Dahin kam es jedoch erst in der Zeit der Reformen;1)
die Ursache, weshalb nicht schon früher, nicht schon vor 1374
so verfahren wurde, war sicher zum guten Teil der Geldmangel
der Herzoge, nicht allein Hartnäckigkeit und Verblendung
des Rates.
Übrigens wären alle die geschilderten Missbrauche und
Übelstände in der gemeinen Finauzvervvaltung für sich allein
kaum im Stande gewesen, die Stadt derartig in Schulden zu
stürzen, dass ein so gewaltiger Aufstand, wie es der von 1374
war, dadurch hätte veranlasst werden können. War doch am
Ende der sechziger Jahre die gemeine Stadt keineswegs über-
mässig von Schuldenlast gedrückt. Diese betrug damals nach
der heimlichen Rechenschaft 1587 M. 2 Ferd., ein Capital, das
jährlich mit 148 M. 3 Ferd. Leibrenten verzinst werden musste.*)
Ist auch diese Angabe der heimlichen Rechenschaft sicher nicht
ganz genau, da der Rat, wie wir mit Gewissheit aus detn unter
den Quellen genannten Weddeschatzregister nach weisen können,
*) O.-U. im Br. St.-A., No. 244.
’) Chron. VI, S. 151 und 152.
a) Auf welchen Zeitpunkt diese Angabe der hoimlichen Rechenschaft
(Chron. VI, 8. 135) geht, ist nicht genau zu bestimmen. Fast scheint es,
dass das Jahr 1367 ins Auge gefasst ist, indem an die Schilderung der
Finanzlage der Stadt in der heiml. Rechenschaft die Niederlage Herzogs
Magnus (of. S. 107) mit den Worten angeknüpft wird: „Darna gevel sek“ etc.
Da aber andrerseits eben dort die Sache so dargestellt wird, als ob jene
Summe erst gewachsen sei durch die Anleihen, welche die Verpfandung von
Wolfenbüttel erforderte (cf. Chron. VI, S. 136 und 137), so fragt es sich, wann
die ersten jener Anleihen aufgenommen wurden. Die erste Verpfändung
Wolfenbüttels erfolgte 1370, aber vielleicht erst, nachdem Herzog Magnus
schon verschiedentlich grössere Summen von den Braunschweigeru erhalten
hatte.
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107
in jener Zeit auch Weildeschatzzinse zu zahlen hatte,1) eo wird
man sich doch im wesentlichen auf sie verlassen können. Denn
in den meisten Fällen, wo eine Kontrolle der heimlichen Rechen-
schaft durch ihr Quellenmaterial möglich ist, erweisen sich ihre
Zahlenangaben als durchaus wahr, so dass man die hier sich
darbietende Schwierigkeit vielleicht durch die Annahme beseitigen
darf, unter jenen kurzweg als Leibrenten bezeichneten 148 M.
3 Ferd. sei auch der Weddeschatz mit einbegriffen. 1354 hatte
die Stadt, wie früher mitgeteilt ward, zur Verzinsung ihrer
Anleihen 141 M. 1 Ferd. aufwenden müssen, *) nur 7 */t M. mehr
wurden also, wenn unsre obige Vermutung das richtige trifft,
etwa anderthalb Decennien späterfür denselben Zweck ausgegeben.
Aber dieses langsame, geringe Anwachsen der Schulden Braun-
schweigs ging plötzlich in ein rapides Steigen über, dessen
Hauptgrund sowohl fremdes als eigenes politisches Missgeschick
war. Der erste grosse Schlag, der die gemeine Finanzverwaltung
traf, hing mit der Niederlage Herzogs Magnus des Alteren
zusammen, welche demselben am 3. September 1367 der Bischof
Gerhard von Hildesheim bei Farmsen und Dinklar beibrachte.®)
Eine der Folgen dieses Ereignisses war, dass der in Gefangen-
schaft geratene Herzog für einen Teil der ihm auferlegten
Schatzung, für 3800 M., dem Bischof sein Schloss Wolfenbüttcl
zu Pfände setzen musste. Da in der ausbedungenen Frist die
Zahlung jener Summe nicht geleistet wurde, so drohte der Ver-
fall des genannten Pfandes an das Bistum Hildesheim. Doch
nimmermehr konnten die Braunschweiger dulden, dass dicht vor
den Thoren der Stadt — ein Teil derselben, im wesentlichen aus
den Weichbilden Altstadt, Neustadt und Sack bestehend, gehörte
') Noch 1396 werden gezahlt: 1. eine Weddeschatzrente von 3 M., die
1361 für 100 M. verkauft war; 2. eine solche von 6 M. , die der Kat 1366
für 140 M. verkauft hatte. Diese beiden können wir mit Sicherheit für
unsre Behauptung ins Feld führen; ungewiss ist es, ob unter den 1587 M.
3 Ferd. auch mit eingerechnet sind: 1. eine Jiente von 16 M., die 1367 für
200 M. und 2. eine von 24 M., die 1367 für 300 M. der Hut verkaufte. Jene
betrug später nur noch 12 M., von dieser hatte 1395 der Rat 8 M. für
100 M. wieder zurückgekauft. Beide Anleihen waren vielleicht bereits im
Interesse Herzogs Magnus gemacht. Wahrscheinlich musste übrigens um
1367 die Stadt auch noch einige der Woddeschatzrenten zahlen, die in den
gemeinen Rechnungen von 1354 und 1355 auftreten.
*) cf. S. 86.
*) cf. (Jbron. VI, S. 135 und 136. Beachte auch Anm. 4 dort, denn
noch Dürre S. 157 giebt fälschlich an, Herzog Magnus II. sei damals bosiegt.
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108
zur Hildesheimer Diöccse ') - der mächtige Bischof sich festsetzte;
es gelang ihren Anstrengungen auch, die drohende Gefahr zu
verhüten, allein nur, indem sie dem Herzoge das Geld Vor-
schüssen und Wolfenbüttel selbst einnahmen. Aus den Einkünften
der gemeinen Kasse konnten indessen die 3800 M. nicht beschafft
werden, auch die Weichbildskassen scheinen ihren Dienst
versagt zu haben; nichts blieb übrig als neue Anleihen. Für
1000 M. verpfändete der Rat die Burg Hessen dem Edlen Kord
von Lutter; den grossem Rest, 2800 M., brachte er durch den
Verkauf von — wahrscheinlich achtproeentigen ?) — Wedde-
8chatzrenten an Bürger und Gotteshäuser der Stadt auf. So
wurde dieser denn das Schloss Wolfenbüttel zuerst 1370 um
1200 AI.,8) dann 1373 um 3781 M. verpfändet:4) binnen kurzer
Zeit waren ihre zu verzinsenden Schulden — jene für Hessen
erhaltenen 1000 M. berücksichtigen wir hier also nicht — nahezu
verdreifacht um den Preis eines beschwerlichen , kostspieligen
Pfandes. *) Aber es sollte noch schlimmer kommeu. Am
St. Martinsabend 1373 wurden Herzog Ernst und die Braun-
schweigcr vor dem Eime von den Magdeburgern besiegt, und
') cf. Dürre S. 369.
*) Dieser Zinsfuss ist aus einigen im 1. Wcddeschatzregistcr noch
erhaltenen, offenbar hierher gehörigen Vertrügen zu erkennen. Dauach nahm
die Stadt 187(1 ein Mal 40t), ein Mal 200, ein Mal 150, drei Mal 100, 1371
ein Mal 150, 1372 ein Mal 50 M. sämmtlich zu 3 °/o auf.
•) Sudendorf IV, 12.
4) Sudendorf IV, 228.
s) So stellt sich diese Angelegenheit nach der heimlichen Rechenschaft
im Verein mit den oben genannten Urkunden dar. Wie damit folgendes,
bei Sudendorf V, 9 gedruckte, seinem Charakter nach nicht näher bestimmte
Verzeichnis in Übereinstimmung gebracht werden muss, ist vollständig
unklar. Dasselbe lautet:
„Nota super Wulf XXI“ marce et X Vlllt inarca puri.
Item pro expensis. ln novo Castro ßarsfelde V“ marce sine censu.
Item super Vorsfelde VII“ marce UXXVII marce sine censu.
Item II“ marce pro Lüttere domino Luppoldo de Steinbeke.
Census annualis huius XVI marce.
Ccnsus super XXI“ marcas et XVIII1 marenm supra seriptas centum
marce cum LXX marcis minus dymidia marca.
Summa summarum huius XXXVII“ marce puri et LXXXI maree puri.
super hanc summain habent literam domini duois super wolfclbutle Burgen-
sibus in Bruusw. Obligation. Litere super Varsfelde debent adhuc domino
representari. Super hoc habcut unam literam a domiecllis nostris ipsis
noviter datam super L marcas, ijuas dederunt Borch de Steinbeke“.
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1Ö9
viele der erstem gerieten in Gefangenschaft. ') Nicht weniger
als 4000 M. Lösegeld wurden dem gemeinen Rate abgefordert
und zu 600 M. berechnete man den Schaden an verlorener Habe.
Schon jene 3800 M. für Wolfenbüttel aufzubringen, war sicherlich
sehr schwierig gewesen, als weit schwieriger aber stellte es sich
heraus, jetzt, so bald nachher, eine noch grössere Summe zu
beschaffen. Zwar hatte der Rat, wie wir aus dem gegen die
aufständischen Gilden gerichteten Anklageschreiben der Ver-
triebenen erfahren, ungefähr 200UÜ M. an den Pfandschlösseru
stehen*) — immer höher waren die Pfandsummen gewachsen — ,
doch war ihm die Verfügung über dieses Capital entzogen.
Denn, wie gleichfalls die Vertriebenen behaupten, durfte®) man
einerseits jene Burgen an andere Pürsten und Herren nicht
weiter verpfänden, andrerseits waren weder Ritter noch Knechte
im Lande zu finden, die über so grosse Mittel verfügten, dass
sie der Stadt Pfandschlösser hätten abnehmen können. Neue
Leib- und Weddeschatzrenten zu verkaufen, versuchte der Rat
entweder gar nicht, da er von vornherein diese Operation als
aussichtslos ansah, oder, wenn er es versuchte, wird er bald die
Erfahrung gemacht haben, dass der Credit der gemeinen Finanz-
verwaltung völlig vernichtet war. Und wie man auf diesem
Wege jene 4600 M. nicht auftreiben konnte, so wollte man es
nicht durch eine Erhöhung des Schosses. Ausdrücklich wird
uns mitgeteilt , hiervon sei abgesehen worden , da der Schoss
bereits 6 Schill. Vorschoss und 6 Pfenn. von jeder Mark betragen
') cf. Chron. VI, S. 136 und 137. Eigene Beilage Hänselmanns hierüber:
ibid. S. 302 fl'. Unrichtig ist dort S. 303 angegeben, der betreffende Herzog
Ernst sei der Oheim der regierenden Herzoge von Braunschweig (Magnus II.
und seines Brudors) gewesen. Dieser Ernst, der Bruder Magnus I., war
schon 1367 gestorben (cf. Hopf, historisch -genealog. Atlas I, 8. 187 oder
Cohn, Stammtafeln, Tafel 85), so dasB der 1373 geschlagene Ernst nur der
Bruder Magnus II. gewesen sein kann.
’) of. Chron. VI, S. 346leff-
*) ibid : . . „darumme, dat se der vorsten slot anderen nicht vorpenden
mochten“. „Mochten“ ist hier sicherlich mit durfteu zu übersetzen, (cf. Schiller-
Lübben, mnd. Wörtcrb. s. v. mögen). Dieses durften kann man in doppelter
Weise erklären: zunächst durfte die Stadt, wie aus den Verpfandungs-
Urkunden sich ergiebt, nicht ohne die Zustimmung der Herzoge die Schlösser
weiter verpfänden, und diese mussten es natürlich nach allen Kräften zu
verhindern suchen, dass ihre Burgen in die Hand mächtiger Kivalen kämen ;
andrerseits musste auch die Stadt im e i ge n en Interesse Weiterverpfändungen
an starke Machthaber vermeiden.
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110
habe. Man war sich wohl ganz klar darüber, dass die grosse
Masse eine weitere Schosserhöhung nicht ruhig hinnchinen werde;
vielleicht qder vielmehr gewiss klagte jene auch jetzt schon über
Bedrückung durch den Schoss und fing an der Finanzverwaltung
der Geschlechter eine misstrauische Aufmerksamkeit zuzuwenden.
So musste denn der Rat an andre Auflagen denken , wagte es
aber nicht mehr, aus alleiniger Machtvollkommenheit solche neu
einzuflihren. Vielmehr wurde eine Versammlung einberufen, zu
der ausser den Ratsmitgliedern auch die Gildemeister zugezogen
wurden : *) hier schilderte der Bürgermeister die Lage der
gemeinen Finanzen, hier setzte er die Vorschläge des Rats zur
Beschaffung der nötigen Summen auseinander.*) Was die
Absichten desselben waren , darüber weichen die Angaben der
Gilden und der Vertriebenen von einander ab. Die ersteren
behaupten, der Rat habe neue Abgaben von Laken, Korn,
Häusern, Wein, Bier, Vieh und anderen Dingen erheben wollen,
indem sie namentlich die Absicht auf Verringerung der Wein-
und Biergemässe betonen.8) Indessen machen ihre Behauptungen
den Eindruck der Übertreibung. Möglich zwar ist es, dass man
alle die genannten Auflagen in Erwägung gezogen hat, aber
wohl nur, um unter ihnen zu wählen, nicht, um sie sämmtlich
neben einander und gleichzeitig ins Leben zu rufen ; denn darin
hätte ja geradezu eine Aufforderung zum Aufstande gelegen.
Berücksichtigt man dies, so wird man den Angaben der Ver-
triebenen weit mehr vertrauen, da sie nur von dem Vorhaben
berichten, von jedem braunschweigischen Scheffel eingeführten
Getreides 1 Pfenn. erheben zu lassen,4) ein Vorhaben, das
allerdings insofern wenig glücklich war , als ja durch die
genannte Auflage das Brod verteuert worden wäre. Jedoch kam
es nicht zur Ausführung auch nur dieses Planes. Am Schlüsse
der erwähnten Versammlung wurden die Gildenmeister, welche
nach Aussage der Vertriebenen und der heimlichen Rechenschaft
') Chron. VI, 8. 137 und S. 34tj « “•
*) Chron. VI, S. 346 «*■
») Chron. VI, S. 360 «ff-
*) Chron. VI, S. 346 ” "• Hänsclmnnn ibid. S 329 und Note 3 spricht
auch über den Widerspruch zwischen der Aussage der Gilden und der der
Vertriebenen. Seinen Worten: „mau schwankte, ob dieselbe (sc. die neue
Auflage) auf eingeführtes Kaufmannsgut, auf Korn, Wein, Bier, Vieh oder
lieberauf alles dies zugleich zu legen sei“, können wir nach dem eben Gesagten
nicht beistimmen.
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111
gegen die Korngülte keinen erheblichen Einwand vorgebracht
zu haben scheinen, ’) beauftragt, mit ihren Gilden über die neue
Auflage zu beraten. Aber die Nachgiebigkeit des gemeinen
Rates gegen die Gilden war zu spät erwacht; ehe die Be-
ratungen der letzteren stattfinden konnten, brach mit elementarer
Wucht der grosse Aufstand los,*) der die Geschlechterherrschaft
stürzte und in Hinsicht der gemeinen Finanzverwaltung so
heillose Zustände schuf, wie sie vor 1374 auch nicht annähernd
bestanden hatten. Nur ein gutes hatten sie: die Reform von
Grund aus machten sie zur unabweislichen Notwendigkeit und
mit der Reform begann eine neue und zwar die glänzendste
Epoche in der Finanzverwaltung der Stadt Braunschweig.
«) Chron. VI. 8. 137, 347 > *• *.
*) Chron. VI, 8. 137 : „Dyt i» vsn der schiebt to Brunswig“.
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E. Oruh n 's Buchdrucker*!, WarnibruDn.
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TJ ntersuohungen
zur
Dentscbeii Staats- and Recltsgasclictita
heraußgegeben
von
Dr. Otto Gierke,
Professor der Hechte an der Universität Berlin.
XXXIII.
Beiträge zur Geschichte der Einzelerbfolge
im Deutschen Privatrecht
von
Dr. jur. G. Frommhold,
GeriehtsttMMor.
Breslan.
Verlag von Wilhelm Koebner.
1889.
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Beiträge
zur
Geschichte der Einzelerbfolge
im Deutschen Privatrecht.
Von
,,*v
j
Dr. jur. Cjt. X^roiiimliold, ; ft ;
Ocrichtsassessor.
Breslau.
Verlag von Wilhelm Koebner.
1889.
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Vö rbemerku ng.
Ziel und Zweck der vorliegenden Arbeit ist nicht sowohl,
eine unzweifelhaft vorhandene Lücke in der Geschichte des
deutschen Erbrechts auszufullcn, als vielmehr durch Sammlung
und Sichtung von mannigfach verstreuten Quellenzeugnisscn zu
erneuter Forschung nach dem Entstehen und Werden der
deutschrechtlichen Einzelerbfolge in den Grundbesitz Anlass zu
geben. Ist doch dieses eigenthümliche und interessante Rechts-
instit nt gerade in der Gegenwart in dem bäuerlichen Anerben-
recht wiederum zu praktischer Bedeutung gelangt, und wird
doch seine gesetzliche Weihe in dem künftigen Rechtsbuch des
deutschen Volkes lebhaft gewünscht. Sicherlich kann aber eine
richtige Beurtheilung und Würdigung desselben nur in der
Kenntniss seiner Geschichte wurzeln. Mit Recht sagt Molina
gerade bei Erörterung dieser Frage : vera namque rerum cognitio,
sccundum philosoph um, a causis prioribus derivatur, et recte
eam rem scimus, quam ex prioribus causis cognoscimus. *)
Zu dieser Kenntniss einiges beizutragen, war mir ein lange
und lebhaft gehegter Wunsch. Sollten sich neben dem gesammelten
Stoffe einige Gedanken finden, welche zur Aufhellung des über
diese Frage schwebenden Dunkels brauchbar befunden würden,
so wäre dieser mein erster Versuch rechtsgeschichtlicher Arbeit
von überreichem Erfolge gekrönt.
Breslau, im October 1889.
F.
*) de iiispanuruin primogeniorum originc ac natura (Coloniae 1601)
lib. 1, cap. 2.
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Inhalt.
Seite
I. Grundeigentum und Erbfolge in den Volksrcchten 1
II. Prinzip der Gleichberechtigung und Geraeinderschaften .... 11
III. Entwicklung der Einzelerbfolge 19
A. Lehenrecht 20
B. Dienst- und Hofrecht 27
Anhang 34
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I. Grrundeigenthnm und Erbfolge in den
Volksrechten.
ln keinem Gebiet des Privatrechts ist der innige Zusammen-
hang des Rechts mit den allgemeinen Kulturzuständen so un-
mittelbar und klar erkennbar als im Erbrecht. Aus der
eigeuthiimlichen Gestaltung des Erbrechts eines Volkes können
wir wichtige Schlüsse ziehen nicht bloss auf die wirtschaftlichen
Zustände in dem rechtserzeugenden Zeitraum, sondern auch
namentlich auf den Charakter und die Denkweise des Volkes,
welches die Satzungen geschaffen hat. Wenn wir in 1. 24
D. de V. 8. 50,16 lesen: hereditas nihil aliud est, quam
successio in Universum jus, quod defunctus habuit und in 1. 50
pr. D. de H. P. 5,3: hereditas etiam sine ullo corpore juris
intellectum habet, so schliessen wir mit Recht aus dieser
scharfen, möglichst den Begriff wiedergebenden Ausdrucksweise
auf eine hohe Entwicklungsstufe der rechtserzeugenden Macht.
Eine ähnliche Begriffsbestimmung des Erbrechts findet sich in
den älteren germanischen Rechtsquellen überhaupt nicht; aber
ziehen wir einmal zur Vergleichung einen Satz aus dem Rechts-
buche heran, welches dem deutschen Volke dieselben Dienste
leisten sollte, wie den Römern die Justinianeische Kodification,
nämlich den Satz des Sachsenspiegels I, 6 § 1 : mit swilcheme
güte der man stirbit, daz heizet allez erbe, ’) so springt uns die
Verschiedenheit der durch diese Sätze gekennzeichneten Denk-
operationen beider Völker sofort in die Augen. Dort das Suchen
') vgl. öengler, Lehrbuch des d. Priv.-R. II, § 216 S. 1283.
Frommhold, Einxelerbfolge. I
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2
nach dem Wort, welches möglichst getreu den Gedanken wieder-
giebt, die Darstellung des Erbrechtsbegriffs als eines werdenden
Rechts (successio), *) hier das Haften am Thatsächlichen , die
Darstellung des Greifbaren, der Erbschaftsmasse. Ja, wir
können, tiefer cindringend und aus der Sprache selbst, der für
die Erforschung der Volksseele lautersten Quelle schöpfend, in
den Worten sogar, nach ihrer etymologischen Bedeutung, jene
Verschiedenheit erkennen: dort heres, der Herr, dessen Wille
das herrenlose Vermögen weiter beherrschen soll , hereditas, die
Masse, welche der Herrschaft dieses Willens unterworfen ist,
und hier : erbe, das erarbeitete Gut, das Gut, in dem die Arbeit
eines Mannes steckt,8) und die Bezeichnung des Nachfolgers
als „Erben“ d. i. Zugreifers, Anfassers.8) Wenn wir hiernach
vermuthen, dass im germanischen Recht dasjenige Gut, in
welchem die mühevollste Arbeit des Menschen vergraben liegt,
der Grundbesitz, eine weit bedeutendere Rolle gespielt haben
müsse, als im Römischen Recht, welches in demselben nur ein
gleichwerthiges Stück der gesammten Vermögensmasse erblickt,
so finden wir diese Vermuthung in der That im altgermanischen
Erbrecht bestätigt. Abweichend vom römischen Recht, welches
beide Geschlechter hinsichtlich der Erbberechtigung völlig
gleichstellt und keinen Unterschied bezüglich des beweglichen
und unbeweglichen Nachlasses macht, findet nach der Mehrzahl
der altgermanischen Volksrechte eine eigenthümliche Zurück-
setzung der Weiber bei der Erbfolge in den Grundbesitz statt.
Nach den gründlichen, von Opet über diese Frage besonders
angestellten Untersuchungen4) bezog sich der Ausschluss der
Weiber nur bei den Longobarden auf die gesamrate Erb-
') vgl. R. v. Ihering , der Kampf ums Recht, 8. 16: „Die Idee des
Rechts ist ewiges Werden.“
*) vgl. Gierke, das Deutsche Genossenschaftsrecht, I S. 5t.
*) vgl. v. Amira, Erbenfolge und Verwandtschaftsgliederung nach den
altniederdeutschen Rechten, 8. 213; Heusler, Institutionen des Deutschen
Privatrechtes H, § 178 8. 560.
•) vgl. Gierke’s Untersuchungen zur Deutschen Staats- und Rechts-
geschichte, Heft 25, 8. 48 flg., 81.
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3
schuft, wobei freilich zu erwägen ist, dass t hatsächlich der
Grundbesitz, nach Abrechnung von Heergeräthe und Gerade, in
welche besondere Erbfolge eröffnet war, die Erbschaft meist
erschöpft haben wird. In den meisten übrigen Yolksrechten
waren die Weiber von vornherein nur von der Erbfolge in
Immobilien ausgeschlossen. So enthält die lex Salica in ihrer
ursprünglichen Fassung den Grundsatz: de terra vero nulla
in muliere hereditas non pertinebit, sed ad virilem sexura,
qui fratres fuerint, tota terra pertineat.') In späteren Texten
werden die Frauen von der terra Salica ausgeschlossen.*) Was
unter dieser terra Salica zu verstehen , darüber herrscht
andauernd lebhafter Streit: die einen verstehen darunter alles
salfränkische Land , ohne Unterscheidung einer bestimmten Art
von Grundeigeuthum, *) andere den Herrensitz (von sal, Herren-
haus),4) andere endlich das jedem freien Salfranken bei der
Londtheilung zugefallcne Ackerloos (sors), das Stammland,
welches zum Hofe gehörte.5) Die letztere Ansicht scheint am
meisten für sich zu haben.*) Die lex Salica würde hiernach
übereinatimmcn mit der lex Ripuaria , welche die Weiber
gleichfalls nur ausschliesst von der Erbfolge in die hereditas
aviatica, womit unstreitig das von den Vätern ererbte Gut, das
Stammgut, gemeint ist. 7) Nach sächsischem und burgundischem
Recht sind die Weiber insofern zurückgesetzt, als der gesammte
') 1. Sal. (Behrend) tit. 69 § 6.
*) vgl. auch den allerdings verderbten Text des capit. Langob. Chi»,
eod. I. 1 (Pertz leguffi I, S. 191): de terra vero Saliga nulla hereditati»
mulicris veniat, »ed ad virilem sexu tota terra hereditatiB perveniat.
*) »o unter anderen Gierke, Erbrecht und Vioinenrecht im Edikt
Cbilperich« in der Zeitschrift für Rechtsgeschichte, Bd. XII, 8. 447, dagegen
mit Recht Opet a. a. O. S. 94.
4) so Schröder, Forschungen zur Deutschen Geschichte XIX S. 149.
*) so Roth, Geschichte des Benefizialwesena 8. 66; Waitz, Das alte
Recht der salischen Franken 8. 118; Saudhaas, gerrnan. Abhandl. 8. 171;
v. Amira a. a. 0. S. 12, 40. Heusler a. a. O. II, g 183 S. 675 A. 9; noch
andere offenbar unrichtige Ansichten vgl. bei Opet a. a. O. S. 33.
•) vgl. üpet a. a. 0. S. 36.
*) 1. Rip. (Pertz leg. V) tit. 66 § 4.
1*
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4
Grundbesitz in erster Linie au die Söhne, und erst in deren
Ermangelung an die Töchter fiel,1) während sie nach thüringi-
schem Recht neben Männern überhaupt, gleichwie ira ältesten
salischen Recht, von der Erbfolge in den Grundbesitz ausge-
schlossenwaren.4) Wenn wirvondem bairischen und allemanuischen
Recht absehen, hinsichtlich deren die Meinungen über darin fest-
gesetzte Gleichstellung oder Zurücksetzung des Weiberstammes
getheilt sind,*) so ist bemerkens werth, dass gerade diejenigen
Rechte, welche sich vom Einfluss römischen Wesens und römischer
Rechtsanschauung möglichst freigehalten haben, die Zurücksetzung
der Weiber am schärfsten durchfuhren, während die Völker, welche
früher und leichter mit den Römern in nähere und dauernde
Berührung kamen, die Gleichberechtigung beider Geschlechter an-
erkennen. Letzteres ist insbesondere im westgothischen Recht der
Fall, welches direkt ausspricht: foemina ad hereditatem patris vel
matris . . . aequaliter cum fratribus veniant; für diese Ab-
weichung von den übrigen deutschen Rechten schien auch eine
Begründung nothwendig: nam justum omnino est, ut quos
propinquitas naturae cousociat, hcreditariae successionis ordo
non dividat. 4) Dass diese Abweichung auf den Einfluss des
römischen Rechts zurückzuführen ist, erscheint zweifellos.4)
Wenn wir nun nach dem Grunde für diese eigenthümliche
Bevorzugung des Mannsstammes forschen, so müssen wir uns
auf einen sozial-wirthschaftlichen Standpunkt stellen. Wir wissen
aus der Kulturgeschichte und finden dies noch heute durch
tägliche Erfahrungen bestätigt, dass den nachhaltigsten Einfluss
auf Leben und Charakter der Völker die Beschaffenheit des
Grund und Bodens , auf welchem sie leben und von dem sie
sich nähren, ausübt. Richtig, wenn auch etwas pathetisch ist
') vgl. 1. Saxonum (Pertz leg. V) tit. 41; 1. Burgund. (Pertz leg. III)
tit. 14,1; Opet a. a. O. S. 54 flg.
') 1. Angl, et Wenn. (Walter I) tit. 6,1 ; Opet S. 60 flg.
", vgl. Opet a. a. O. 8. 66 flg.
*) 1. Wiiig. (Walter I) 1. IV tit. 2 $ 9.
b) Oengler, a. a. O. 8. 1320, 1321. Opet, a. a. O. 8. 65.
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5
die Schilderung Sommere: „Nach der heiligen Sage ist der
Mensch der Erde entnommen. Kann es uns Wunder nehmen,
dass er sich erdverwandt fühlt, dass ein gewisser magnetischer
Zug ihn zu der mütterlichen Erde führt, trotz des unsterblishen
Odems, den der Ewige dem Erdenkloss eingehaucht? Das Volk
ist eins mit dem Lande, das Land mit dem Volke. Das Volk
ist dem Boden dienstbar geworden, es ist sein eigen; der Boden
ist dem Volke eigen geworden, es beherrscht ihn, und die
Geschichte verbindet sie. So der Staat , so die Einzelnen.
Diese haben immer das Streben der Allode sich zu verbinden,
die sie beherrschen, die ihnen Namen giebt, die ihnen zu einem
Geschlechte verhilft; der Mensch ist so gern glaebae adscriptus !
Der Mensch verliert sich im Boden , und der Boden erlangt
Persönlichkeit.“ *)
Durch die Bedeutung, welche der Grundbesitz für die
natürliche Erhaltung eines Volkes hat, gewinnt er auch Einfluss
auf das öffentliche und Rechtsleben desselben, und bald hat in
einfacher Zeit der Einzelne nicht als solcher Geltung und An-
sehen im Volke, sondern nur insofern er sich ein Stück des
Grund und Bodens unterworfen und zu eigen gemacht hat. Je
schwieriger aber die Herrschaft über die Scholle zu erreichen
ist und je in bedeutenderem Masse dieselbe dem Menschen die
erforderlichen Mittel zum Unterhalte gewähren muss , desto
grösser wird naturgemäss die Abhängigkeit des Menschen vom
Grund und Boden, und desto umfangreicher der Einfluss des
letzteren auf Leben, Sitte und Recht des Volkes.*) So hat von
jeher das Grundeigenthum bei den sesshaft gewordenen Germanen,
die in ihrem rauhen, sumpf-, wald- und bergreichen Lande ■’) von
anderen Kulturvölkern fast abgeschlossen, neben Jagd und
*) J. F. Sommer, Darstellung der Rechtsverhältnisse der Bauerngüter
im Herzogthum Westphalen, I, Vorrede 8. III.
*) vgl. auch Gierke, Genoss.-Recht II, 8. 69 flg.
*) Tacitus Germ. cap. 2: Ipsos Gennanos indigeuas crediderim
minimeque aliarum gentium adventibus et hospitiis mixtos . . . quis Italia
relicta Germaniam peteret, informem terris asperam caelo, tristem cultu
aspectuque, nisi si patria sit? und cap. 5: terra etsi aliquanto specie differt,
in nniversum tarnen aut silvis horrida aut paludibus foeda.
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6
Viehzucht auf die mühsam errungenen Früchte ihres Feldes
angewiesen waren, eine viel wichtigere Rolle gespielt, als bei
den Römern, die, durch Klima und Lage ihres Landes begünstigt,
früh mit anderen Völkern in Beziehungen traten. Das deutsche
Volk gab in seiner Rechtsbildung denn auch unbewusst diesem
Faktor nach, während die Römer früh die Herrschaft über
denselben gewannen und dies in ihrer Rechtsentwicklung zum
Ausdruck brachten. Daher kommt es auch, dass das deutsche
Recht auf diesem Gebiete in ganz hervorragender Weise stets
in Uebereinstimmung mit der wirtschaftlichen Entwicklung
geblieben ist; es ist ein mehr natürlicher, als künstlicher Bau,
und darum wollten auch die römischen Formen, in die man
später diesen Rechtsstoff zwängte, an allen Ecken und Enden
nicht passen. *)
Die wirtschaftliche Bedeutung des Grundeigentums ist
denn auch die Quelle jenes alten Rechtssatzes, welcher den
Vorzug der männlichen Nachkommenschaft vor der weiblichen
bei der Erbfolge in den Grundbesitz ausspricht. Denn wenn
der Besitz von Grund und Boden in jener Zeit nicht allein die
Bedingungen für die Existenz des Einzelnen, der Familie, des
Geschlechts und schliesslich des ganzen Volkes gewährte, sondern
auch in politischer Beziehung Macht und Ansehen verlieh, derart
dass die „Grundeigentümer, die boni viri, im Alleinbesitz der
wesentlichsten Freiheitsrechte“ *), dass „Stand, Freiheit und
Abhängigkeit, Ehre und Amt, Waffen- und Heeresrecht, Gerichts-
stand und Schöffenfähigkeit, Theilnahme an Recht und Ver-
waltung“®) dadurch bedingt waren, so musste nothwendig das
Bestreben der herrschenden Grundeigentümer, gleichviel ob es
') Heilster a. a. 0. H, § 203 8. 664.
*) vgl. Lewis, das Recht des Familienfideikommisses 8. 21; Walter,
Deutsche Rechtsgeschichte, I. § 9 8. 1B.
*) vgl. Gierke a. a. 0. II, 8. 89. Auf die einzelnen Streitfragen,
z. B. ob Grundbesitz Voraussetzung der Wehrfähigkeit war, ist hier nicht
näher einzugehen, s. Beseler, die Lehre von den Erbverträgen II, 8. 265;
Roth, Geschichte de» Bencfizialwesons S. 402; Waitz, Deutsche Verfassung*-
geschichte, I, 8. 36; Homcyer, Ueber die Heimath nach altdeutschem Recht,
insbesondere das Hantgemal 8. 61, 62.
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7
der Ausfluss eigennütziger oder höherer socialpolitischer Er-
wägungen war, darauf gerichtet sein, sich diese Vortheile auch
rechtlich durch Erhaltung des sie gewährenden Faktors zu
schützen. Zu diesem Zwecke wurde einmal die Verfügungs-
fähigkeit über den Grundbesitz eingeschränkt: aus diesem
Grunde gab es im alten deutschen Recht keine Testamente,1)
und wurde andrerseits den nächsten Erben ein gewisses Wider-
spruchsrecht gegen Veräusserungen von Liegenschaften durch
den Erblasser eingeräumt. *) Aus diesem Grunde wurde der
Vorzug des männlichen Geschlechts vor dem weiblichen in dieser
Erbfolge festgesetzt, weil die Frau, selber eine pars domus und
als solche vertretungsbedürftig, nicht fähig erschien, den Grund-
besitz gehörig zu vertreten und die mit demselben verbundenen
Rechte auszuüben. a) „Die Hufe ist dem auf die Ehe gegründeten
Hause unter dem Muntherm der Familie zugetheilt“, und weil
die Herrschaft über dieselbe nur ein Mann ausüben kann, darf
sie sich auch nur auf Männer vererben: das ehemals geltende
Mutterrecht flndet mit dem Sesshaftwerden der Völker sein Ende,
und es tritt die agnatische Verwandtschaft in die Geschichte ein. *)
Gleichzeitig wirkte noch ein anderes Moment mit : die innige
Verbindung der Mitglieder in der altgermanischen Familie. Der
Zeitabschnitt, in den diese Untersuchungen zurückgehen, zeigt
uns die Deutschen als ein ackerbautreibendes Volk, das zum
Theil schon zu festen Wohnsitzen gelangt ist.*) Mit diesem
*) Tacitus Germ. cap. 20; vgl. v. Inama-Stemegg , Deutsche Wirt-
schaftsgeschichte 8. 101 ; Lassalle, System der erworb. Hechte, 11, 8. 58U flg.
’) vgl. Zimmerle , Das Deutsche Stammgutssystem nach seinem
Ursprünge und seinem Verlaufe, S. 91 flg., Fipper, Das Beispruchsrecht
nach altsächsischen Recht in Gierkes Untersuchungen zur deutschen Staats- und
Hechtsgeschichte Heft 3; Pappenheim, Launegild und Garethinx ebenda,
Heft 14, S. 69; Sandhaas, germ. Abh. S. 165 flg.
’) vgl. Inama-Sternegg, a. a. O., Waitz, a. a. O. S. 202; v. Amira,
a. a. 0. S. 218; Zimmerle, a. a. O. S. 24; Waitz d. R der sal. F. S. 124;
Walter, System des D. PK § 397 S. 463; Heusler Instit. I, § 25 S. 116;
U, § 165 S. 482, § 174 S. 525.
‘) Heusler a. a. O. II, § 174 S. 624; Dargun, Mutterrecht, an ver-
schiedenen Stellen, bes. S. 60.
*) Tacitus Germ. cap. 16.
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8
Zeitpunkt beginnt nun auch die Einigung der durch gemeinsame»
Hausen und die Bande des Blutes einander nahestehenden
Personen zu einem eng geschlossenen Verbände, zur Familie.
Denn obzwar schon die ersten Ansiedlungen wohl geschlechter-
weise erfolgten und die durch verwandtschaftliche Beziehungen
verbundenen Personen gewiss schon vor der ersten festen Nieder-
lassung in einer gewissen Gemeinschaft handelten, *) so gewann
doch erst mit dem Sesshaftwerden die Blutsverwandtschaft einen
grösseren Einfluss. *) Die vordem nur locker geschlungenen
Bande des Blutes verstärkten sich und knüpften sich fester durch
gemeinsames Wohnen und Arbeiten auf derselben Scholle. Die
Hausgenossen, geeint und zusammengehalten durch die Ober-
herrschaft des Hausherren und Familienhauptes, schlossen sich
unter diesem enger aneinander und empfingen und übten
Gerechtsame nur kraft ihrer Angehörigkeit zu diesem Verbände.
Wie nun der Grundbesitz die Einigung der Familie zu einer
festen Gemeinschaft förderte, so wirkte diese wieder auf ihn
zurück. Besonders bei einer bestimmten Art des Grundeigen-
thums lassen sich diese Wechselwirkungen noch mit ziemlicher
Sicherheit erkennen. Es ist dies der ererbte Grundbesitz, die
sors, das Ackerstück, welches bei der Landvertheilung der freie
Volksgenosse durch das Loos erworben hatte. Dieses Stück
Land wurde als der eigentliche Sitz und die Heimstätte der
Familie angesehen, als von den Vätern überkommenes Gut, alode,
terra aviatica, bezeichnet,8) und war in der That die Quelle
des ganzen Haus- und Familienvermögens und -Wohlstandes.
Es galt aber zugleich auch gewissermassen als Volkseigenthum,
welches dem einzelnen Hausvater nur anvertraut und zur Be-
nützung und Bewirthschaftung übergeben war: ein eigentliches
Sondereigenthum daran war noch nicht anerkannt. 4) Daher
') Caesar, bell, gall, VI, cap. 22; Tacitus, Germ. eap. 7, 21; v. Inama-
Sternegg, a. a. 0. S. 92; Zimmerle a. a. 0. S, 20 flg.
*) Vgl. Heusler a. a. 0. II, § 174 S. 524 flg.
*) v. Amira, a. a, O. S. 13; Sohroeder, a. a. 0. S. 146 und Amn. 1;
Lassallo, a. a. O. !S. 582 flg.
‘) v. Inama-Sternegg 8. 1)8, Heusler S. 626 flg., Laasalle S. 582.
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9
zielten die ersten Voikettafzungen vor allem darauf, dieses Gut
der Familie zu erhalten uud zu verhindern, dass durch Ver-
erbung auf ein Weib die Möglichkeit gegeben würde, dasselbe
in den Besitz einer anderen Familie, als der es ursprünglich
zugetheilt worden, gelangen zu lassen. Wenn es nun nicht
unwahrscheinlich ist, dass der strengere Grundsatz, wonach die
weiblichen Nachkommen eine Zurücksetzung bei der Erbfolge in
den Grundbesitz überhaupt, ohne Unterschied zwischen ererbten
und gewonnenem Lande, erfuhren, ursprünglich der allgemein
geltende war,1) so zeigt die Vergleichung der einzelnen Volks-
rechte, worauf schon oben hingewiesen worden, gerade hier eine
gewisse romanisirende Tendenz, beide Geschlechter möglichst
unter Wahrung der allgemeinen Interessen gleichzustellen. Denn
das älteste thüringische, sächsische und alamannische, sowie
auch das sali »che Volksrecht in seiner ältesten Fassung unter-
scheiden diese Arten des Grundbesitzes bei der Erbfolge nicht,
während die Gesetze der Völker, welche früher mit römischen
Rechtsanschauungen bekannt wurden , die Erbunfähigkeit der
Weiber nur bezüglich der terra Salica, hereditas aviatica, terra
sortis titulo acquisita, aussprechen. *)
') Heusler 8. 574. Im altdänischen Recht scheinen ursprünglich die
Frauen sogar gänzlich erbunfähig gewesen zu sein ; vgl. JColderup-Rosenvingc,
Grundriss der dänischen Rechtsgeschichte, übersetzt von Homeyer § 22
8. .10; Gengier S. 1822 Anm. 17, v. Amira, S. HO.
’) die S. 3 and 4 angeführten Quellen; 1. Alam. tit. 57; Sandhaas
germ. Abh. 8. 200 Anm. 6H; v. Amira S. 216 flg. Dass übrigens eine
besondere Behandlung des ererbten Grundeigenthums nicht bloss im
Erbrecht, sondern auch in anderen Beziehungen stattfand, ist für das
fränkische Recht wohl ausser Zweifel. Ob freilich derartige Beschränkungen
der Verfügungsfreiheit, wie die durch das sogenannte Beispruchsrecht
herbeigeführte, bezw. ob Spuren des ätammgutsystems auch in den übrigen
V olksrechten zu finden sind, ist eine immor noch offene Frage (vgl. Sand-
baas 8. 165 flg.). Die von Sandhaas S. 191 aufgestellte Unterscheidung
nach sittlicher und rechtlicher Anerkennung der Ansprüche der nächsten
Erben, trifft wohl nicht das richtige. In den einfachen Zuständen der
damaligen Zeit war man sich eines solchen Unterschiedes noch nicht
bewusst: was Sitte war, war Recht, und umgekehrt. Die Volksrechte ent-
halten daher auch in der Hauptsache nicht sowohl „ausgeklügelte Rechts-
normen“ twie Stobbe V, § 269 S. 86 treffend sagt) als vielmehr einfache
Rechtsbräuche.
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10
So ist auch dieser eigentümliche Rechtssatz des altdeutschen
Erbrechts entsprossen einer jener „tiefeingreifenden Ideen, welche
ihren Gehalt bald aus der Stärke der blutsverwandtschaftlichen
Einheit, wie sie sich in der Gemeinschaft des Grundbesitzes
versinnlicht, bald aus dem inneren Zusammenhänge der Schutz-
pflicht wehrloser Familienglieder mit der Herrschaft über das
stammväterliche Erbe nehmen,“ *) Die Erhaltung des Grund-
besitzes ist der bedeutendste Bestandteil der Idee, die Sandhaas
dem deutschen Recht überhaupt zu Grunde legt, nämlich dass es
„Aufgabe des Sachenrechts sei, nicht blos einem Theil der
Staatsangehörigen, etwa den gegenwärtigen Besitzern, sondern
allen Gliedern des Rechtsvereins, insbesondere auch den
kommenden Geschlechtern die sachlichen Bedingungen eines
vernunftgemässen Daseins zu gewähren.“ *)
‘) Gerber, System d. d. Privatrechts § 248, Aum. 2, S. 687, 688.
*) a. a. O. S. 204.
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II. Prinzip der Gleichberechtigung und
Gemeinderschaften.
Wenn wir an dem Ergebnis« des vorigen Abschnitts fest-
halten, dass die Rechtssätze über die Bevorzugung des Manns-
stainmes entsprungen sind aus der Erkenntnis« der wirtschaft-
lichen und sozialen Bedeutung des Grundeigenthums für die
Staats- und Familiengemeinschaft, so erscheint es auffallend,
dass in den älteren Rechtsdenkmälern eine weitere Folgerung, zu
welcher jene Kenntniss hindrängen musste, keinen Ausdruck
gefunden hat. Es wäre zweifellos folgerichtig gewesen, wenn
anders der Grundbesitz länger als ein Menschenalter in seiner
ursprünglichen Gestalt und Grösse zum Besten der Familie
erhalten werden sollte, allgemein die Untheilbarkeit desselben
und die Einzelerbfolge (Individualsuccession) gesetzlich an-
zuordnen. *) Statt dessen sehen wir aus den Quellen, dass die
gleiche Erbberechtigung aller Söhne des Erblassers anerkannt
und die Theilung des Grundbesitzes erlaubt war. Die wichtigsten
Stellen seien hier angeführt.
1. lex Sal. tit. 5 § 6: de terra vero nulla in muliere
hereditas non pertinebit, sed ad virilem sexum, qui fratres
fuerint, tota terra pertineat, hoc est filii in ipsa hereditate
‘) vgl. Pfeiffer, Moierrecht S. 227; praktische Ausführungen IV,
S. 126, 128; Walter, System § 399, S. 456; v. Maurer, Geschichte der
Frohnhöfe IV, § 751, 8. 347, Homeyer, Über die Heimath, 8. 56. Heute
freilich giebt es noch einen anderen Weg, Gleichheit der Erbberechtigung
und V ererbung des Grundbesitzes auf Einen zu vereinigen , indem nämlich
der Werth des Grundstücks getheilt und die übrigen Erben von dem, der
es in natura erhält, abgefunden werden. Dieser Weg war dem einfachen
Hecht jener Zeit fremd.
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12
suceedunt. Seil ubi inter nepotes aut pronepotes, post
longum tempus, de alode terrae contentio suscitatur, non
per stirpes, sed per capita d i v idantur. *)
2. lex Alam. tit. 91 : Si quis fratres post mortem patri»
eorum aliquanti fuerint, di vi da nt portionein patris eorum.
Dum hoc non fuerit factum, nullus rem sunro dissipare
faciat, usque dum aequaliter parti ant.
3. lex Baiuvar. tit. I, cap. 1 : Ut si quis über persona
voluerit et dederit res suas ad ecclesiam pro redemptione
animae suae, licentiam habeat de portione sua, postquam
cum filiis suis partivit.
tit. XV, cap. 9: üt fratres hereditatem patris aequaliter
dividant, quamvis multas mulieres habuisset et totas
liberas fuissent de genealogia sua aut quas non aequaliter
divites, unusquisque hereditatem matris suae possideat,
res autem patronas aequaliter dividant.
4. lex Burgund, tit I, cap. 1 : Quia nihil de pracstita
patribus donaudi licentia vel munificentia dominantium
legibus fuerat constitutum, praesenti constitutione omnium
uno voto et voluntate decrevimus, ut patri, etiam ante-
quam dividat, de communi facultate et de labore suo
cuilibet donare liceat, absque terra sortis titulo acquisita,
de qua prioris legis ordo servabitur.
cap. 2: aut si cum filiis diviserit, et portionem suam
tulerit, et postca de alia uxore filios habuerit aut unum
aut plures, illi filii, qui de secunda uxore sunt, in illam,
quam pater accepit, portionem succedant: et illi, qui
cum patre dividentes portiones suas fuerant consecuti, ab
eis penitus nihil requirant.
5. capit Karol. M. a. 813, tit. 40: si quis Prancus homo
habuerit filios duos, hereditatem suam de silva et de
terra eis di mit tat, et de mancipiis et de peculio.
') vgl. hierzu Schulze a. a O S. 197 j Waitz, Das Recht der sal.
franken, S. 105, 117; Deutsche Verfassungsgeschiehte 1, S. 41.
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Auf diese Quellenzeugnisse gestützt, hat denn auch die
deutsche Rechtswissenschaft stets und fast einstimmig an der
Ansicht festgehalten, dass die Einzelerbfolge in den Grundbesitz,
wie wir sie später im Thronfolge-, Lehen-, Hof- und Dienstrecht
finden, nicht im ältesten germanischen Recht anerkannt, von
demselben vielmehr ausdrücklich abgelehnt, und lediglich ein
künstliches Erzeugnis» mittelalterlicher Anschauungen sei. Es
wird mit Entschiedenheit behauptet, dasB es Zweck der alt-
germanischen Rechtssatzungen gewesen sei, das Stammgut der
Familie zu erhalten, und dass aus diesem Grunde der Vorzug
des männlichen Geschlechts in der Erbfolge überall feststehe,
mit gleicher Bestimmtheit aber auch andrerseits in Abrede
gestellt, dass im ältesten Recht die Untheilbarkeit dieses Stamm-
gutes und eine damit in ursächlichem Zusammenhänge stehende
Individualsuccession anerkannt worden sei. Ein Hauptvertreter
dieser Ansicht, Beseler, spricht an verschiedenen Stellen seiner
Schriften bündig aus, dass gleich nahe Erben die Erbschaft
theilen, und dass eine Bevorzugung des Alters sich erst in dem
späteren Adels- und Bauernrechte findet,1) dass die Untheilbarkeit
der Bauergüter keine altgermanische Einrichtung sei, da sich
ein selbständiger Rechtssatz hierfür nicht nachweisen lasse, *)
endlich dass das Anerbenrecht (die Individualsuccession im
bäuerlichen Recht), wenn auch nicht nothwendig, so doch ganz
besonders in der Untheilbarkeit seinen Grund habe.*) Gegen-
über solch gewichtigen Stimmen verhallen wenig andere, die
sich für die entgegengesetzte Ansicht aussprechen, freilich ohne
dieselbe ausreichend zu begründen.4) Zu weit gehend ist aber
andrerseits die Behauptung, welche Hotneyer5) und mit ihm
') System des D. P.-R., § 133. S. 660; Erbverträge II, Abthig. 2 8. 7.
*) 8y stem, § 186. 8. 762: Erbverträge II, 2 8. 7.
*) System, § 187, 8. 767; Erbverträge II, 2 8. 199; vgl. noch Schulze,
Recht der Erstgeburt, § 31, S. 198; Zöpfl, Deutsche Rechtsgeschichte III,
8. 220, Pfaff und Hofmann, Zur Geschichte der Fideikommisse S. 5 u. a. mehr.
*) Hagemann, Landwirthachaftsrecht, § 75, S. 118; Meyer, Knlonats-
recht I, S. 119, Anm. 7.
*) Sachsensp. II, 2, § 44, 8. 455.
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14
Schulze1) aufstellt , dass der gleiche Anspruch gleich naher
Erben tief in deutscher Sitte begründet sei. Jedenfalls ist sie
in solcher Allgemeinheit nicht richtig. Derselben widerspricht
schon der eigenthümliche Charakter des germanischen Erbrechts
überhaupt und die Anerkennung von Sondererbberechtigungen
in gewisse Theile der Erbschaft, wie fleergeräth und Gerade,
deren Spuren eich bis in die ältesten Zeiten zurück verfolgen
lassen. Bemerkenswerth ist auch die vielbesprochene Stelle in
Tacitus Germania cap. 32. Die verschiedensten Erklärungen
sind fiir den Satz: inter familiam et penates et jura suoccssionum
equi traduntur: excipit filius, non ut cetera, maximus natu,
sed prout ferox bello et melier versucht worden. Der Auslegung
von Schulze, nach welcher sich das ut cetera nicht auf das
gesammte Vermögen, sondern nur auf die übrigen Theile des
Mobiliarnachlasses, die mit dem Streitross in Verbindung stehen,
mit einem Wort auf das nachmalige Heergeräthe, beziehen
sollen, *) vermag ich mich nicht anzuschlieesen. Das ut cetera wäre
eine ganz ungenügende Ausdrucksweise hierfür, welche man
Tacitus, der zwar kurz, aber immer auch treffend und genau
schildert, nicht wohl zumuthen kann. Auch würde nach dieser
Erklärung nicht ersichtlich sein, warum die Tenkterer z. B. das
Schlachtschwert, welches doch auch zum Heergeräthe gehört,
nicht gleichfalls dem Kriegstüchtigsten, sondern dem Aeltesten
überlassen hätten. Es lassen sich noch manche andere Er-
klärungen denken. Die Worte ut cetera können auch adverbial
gefasst sein, im Sinne von „wie sonst“; es ist möglich, dass
Tacitus damit hat sagen wollen: wie man sonst, nach den
Gebräuchen der übrigen Germanen hätte erwarten können, und
dass er somit speziell auf eine Sitte der Tenkterer hat aufmerk-
tnerksam machen wollen.*) Dies wird noch unterstützt durch
die Erwägung, dass Tacitus ausdrücklich in diesem Abschnitt
die Eigenthümlichkeiten einzelner Stämme schildern will, nachdem
■) B. d. E., g 31, S. 204.
*) a. a. 0., § 31, S. 203.
*) v. Arnira a, a. O., S. 219.
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er die Grundzüge der germanischen Volkssitten überhaupt dar-
gelegt hat.1) Indessen scheint es mir, — wenn auch Schulze
diese Auffassung eine oberflächliche nennt, — doch am natür-
lichsten und ungezwungensten, wenn man unter cetera das
gesammte übrige Vermögen versteht und darnach annimmt, dass
wenigstens bei den Tenkterern eine Vererbung nach den Grund-
sätzen der Individualsuccession stattgefunden habe. Freilich ist
damit für die vorliegende Frage nicht viel gewonnen, immerhin
ist die Stelle doch nichtsobedeutungslos, wie Heus ler meint.1)
Sodann wird von Homeyer selbst für das Bantgemal, den
freien Herrenhof, eine abweichende Erbfolge, bedingt durch die
Untheilbarkeit dieses Gutes, in Anspruch genommen.*) Hier
seien zwei Zeugnisse eingereiht:
1) Art. 29 des Jülichsohen Landrechts, § 1: Item wanneir
eyner van der Ritterschafften imrne furstendomp Guylich
afflyvich wyrdt und kynder achter liest , so nympt der
alste son den Ansedel vur uyss, . .. . und alsdan
fortan deyllen sy alle Erffschaften und gueter gelich
als broeder und suster. 4)
2) eine Erbtheilungsanordnung Hermanns von Altendorf
aus dem Jahre 1291: paci et concordie liberorum
meorum cupiens providere, ... ne inter Wenemarum
filiuin meum primogenitum, militem ceterosque
liberos meos de secunda uxore progenitos post mortem
meam aliqua super bonis meis diffidentia seu litis
materia valeat suscitari . . . sed curtis de Alden-
dorpe sola, quem mihi pro usufructu reservavi, ad
eundem Wenemarum post obitum meum libera et
absoluta plane devolvatur. 5)
*) Germ., oap. 27.
*) Instit. II, § 18t, S. 569 Anm. 1.
*) Über die Heimath pp. S. 45, 48, 52, 56.
*) Laoomblet, Archiv für die Geschichte des Niederrheins, L Abthlg.
I. Band, S. 136.
‘) Kindlinger, Hörigkeit, S. 328 No. 48.
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Immerhin ist zuzugeben, da«? sich ein allgemeiner
Rechtesatz, der den Vorzug eines Erben vor den übrigen
schlechtweg aufstellt, aus dem alteren Recht nicht nach weisen
lässt. Neuerdings hat nun Heusler die Bedeutung der soge-
nannten Gemeinderschaften der gleichberechtigten Familien-
mitglieder in das rechte Licht gestellt. *) Damit ist auch der
Weg angedeutet, auf welchem das ältere Recht und die Volks-
sitte zu einer Versöhnung der sich widersprechenden Prinzipe,
der Erhaltung des Grundbesitzes und der Gleichberechtigung
der männlichen Familiengenossen gelangt ist. Es ist nämlich
Heusler vortrefflich gelungen darzulegen, dass regelmässig
mit dem Tode des Vaters die Familienmitglieder, insbesondere
die Söhne das Zusammenleben im ungetheilten Haushalte mit
einander so lange als thunlich fortsetzten.*) Den obenerwähnten
Satz der lex Salica : de terra nulla in mutiere hereditas sed
ad virilem sexum, qui fratres sunt, pertineat, übersetzt er
daher: „Die Hufe gehört den in Gemeinderschaft ver-
brüderten Söhnen.“*) Die gleiche Sitte setzt auch der
edictus Rothari voraus: si fratres post mortem patris in casa
commune remanserint . . . *) Zahlreiche Belege lassen sich
noch aus den verschiedensten Quellen hierfür beibringen. 5)
') Instit. I, § 51, 8. 240, 241; H, § 181, S. 569; I, g 61, S. 229.
*) Instit. I, § öl, S. 229.
») Inst. H, g 174, S. 525.
4) edictus Rothari 167 (Pertz II. G. IV).
5) Den von Heusler beigebrachten seien noch hinzugefugt : lex Liut-
prandi (Pertz 1. IV) tit. 69: si inter fratres per 40 annos possessio fuerit
de rebus seu de casis vel de terris, quae indivisae sunt, aliae vero res,
quae divisae fuerint inter fratres et nepotes, wozu die Glosse expositio § 6
bemerkt: si quis heredum vel aliorum terram communiter habentium
eam dividere voluerit, juxte Codicis ejusdem libri capitulum, quod est:
in communione vel societate nemo compellitur invitus detineri; Beyer,
Eltester und Goerz, Urkundenbuch zur Geschichte der mittelrheinischen
Territorien, Bd. I No. 110 , 341, 640 (quod Henricus de Tris dictus cum
filiis suis Cunrado scilicet et Godefrido alterque ConraduB qui dicitur filius
Anselmi, cum ceteris ejusdem villae coheredibus allodium suum,
quod juxta vinulum dictum Luzze commune habucrunt, ad lacensium
hospitale contulerunt) ; Wartmann, Urkundenbuch der Abtei Sankt Gallun,
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17
Andrerseits hat es den Anschein, als ob Theilungen der Erb-
schaft nicht allzu häufig gewesen seien. In den Formel-
sammlungen findet sich nur e i n Muster für eine solche Theilung,
ein pactum divisionis inter fratres, ') Hierbei darf man aber
nicht ausser Acht lassen, dass diese Formelsammlungen neben
deutschen Rechtsideeen auch in hervorragendem Masse römische
Grundsätze enthalten. Waren doch ihre Verfasser nach römischem
Recht lebende Geistliche und ihr Hauptzweck Schenkungen an
die Kirche zu erleichtern! Wiederholt wird auf die lex Romana
hingewiesen, *) und die Bestimmung des deutschen Rechts Uber
die Zurücksetzung der Weiber eine diuturna, sed impia consue-
tudo genannt.') Auch in den [Jrkundensammlungen finden sich,
soweit sie dem Verfasser bekannt geworden sind, nicht eben
viele Urkunden, die auf eine vorhergegangene Theilung schliessen
lassen.4)
Es erscheint auch so natürlich, dass in der ältesten Zeit
wenigstens die Familienmitglieder, so lnnge es irgend anging,
zusammen hausten und gemeinsam wirthschafteten. Die heimath-
liche Scholle gewährte ihnen ungetheilt und gemeinsam bebaut
Bd. I No. 3, 49, 195, 436; Zeuse, traditiones posseasionesque Wizenburgenaes
No. 24, 38, 65, 66, 77, 78. 86, 126, 127, 151, 199, 205, 224, 230, 231, 235, 252;
Meichelbeck, Historiae Frisingeneee . Bd. I, Theil 2, No. 19: ego Tegiri
nomine in loco quae dicitur Holzhuair ad eccleaiam beati Archangeli
Mihaelia rem propriam, quam fundavi, tradeili filiii meia praesentibua
atque per con9ensum fratrum meorum etc, Codex principia olim
Laureahamenais Abbatiae diplomaticua Bd. I, No. 168, 185, 186, 191. 202,
170 (donatio Frumoldi ; aignum Grimoldi germani ejus teatia coneentientia
atque tradentia); Lacomblet, Urkundenbuch für die Geschichte dea Nieder-
rheins, Bd. I No. 17 (nobia coheredibus et comparticipibua in uno patrimonio)
No. 16 (noa coheredcs et comparticipea et conaanguinei), No. 45, 50, 104, 243;
vgl. noch Arnold, Anaiedlungen und Wanderungen deutscher Stämme 1, S. 281.
') form. Bignon. (Walter tom 3) No. 18.
*) form. Marc. (Walter tom. 3) II No. 10 ; form. Andeg. No. 45; form.
8irmond. 22.
*) form. Marc. II, No. 12; vgl. app. Marc. No. 49, 47.
‘) vgl. Heualer, Inst. I, § 52, S. 241. Die drei ersten Urkunden, auf
«eiche sich v. Inama- Sternegg beruft (Deutsche Wirtschaftsgeschichte
8. 105), No. 9, 10, 13 in Zeuss’ trad. Wizenb. , rühren übrigens von einem
Brüderpaare her. Ks liegt somit nur eine Theilung vor.
frommhold, Kin/.olerl)folge. 2
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weh leichter die Bedingungen ihres Daseins. Etwaige Unzu-
trüglichkeiten werden gütlich, häufig auch mit Gewalt unterdrückt
worden sein. Der Unterliegende oder der sich der Gemeinschaft
nicht mehr Fügende konnte bei dem damals noch herrschenden
Reichthum an Land sich ohne grosse Schwierigkeiten eine neue
Heimstätte gründen oder iu den Gefolgschaften der Edlen und
Fürsten eine Stelle finden. *)
') vgl Arnold a. a. O S. 2Ö9, 277 flg., v. Amira 8. 212.
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HI. Entwicklung der Einzelerbfolge.
Wenn nun auch auf der einen Seite regelmässig eine Ge-
meinschaft der £rbcn thatsächlich fortbestand und eine Auflösung
der Familie verbunden mit einer Theilung des Familiengutes
nicht häufig stattfand, so musste doch andrerseits das Familien-
haupt in mehr als einer Beziehung ersetzt, seine Herrschafts-
gewalt von einem Anderen ausgeübt werden. Gleichviel nun,
wer dieser eine aus der Sippschaft gewesen sein mag, ob der
älteste Sohn, wie dies im altfriesischen Recht festgesetzt war,1)
oder der nächste Schwertmag als Muntherr,*) immer übernahm
Einer die Vertretung der Familie nach Aussen, während nach
Innen die Gemeinderschaft gewahrt und der Grundbesitz unge-
teilt blieb. Je mehr Verpflichtungen und Herrschaftsbefugnisse
dieser Vertreter im Laufe der Zeit für die Familie übernahm,
desto mehr Rechte masste er sich auch gegenüber den einzelnen
Miterben an. Mit der Umwandlung des grössten Theiles des
freien Grundbesitzes in abhängigen häuften sich aber die Ver-
tretungspflichten und -befugnisse in hohem Grade, und zu gleicher
Zeit wird aus dem einfachen Vertretungsrecht ein vom Gesetze
anerkanntes bevorzugtes Besitz- und Erbrecht. Daher Anden
wir die ersten untrüglichen Spuren dieses Sondererbrechts in den
Satzungen des Lehen- und Hofrechts. Wir verzeichnen und
verfolgen dieselben zunächst im Lehenrecht.
') v. Amira 8. 201.
*) Heutier 11, § 165, 8. 486.
2*
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20
A. Lehenrecht.
Gegenstand dieser Untersuchungen ist nicht eine Darstellung
der Geschichte des Lehnwesens. Die Entwicklung desselben
wird als bekannt vorausgesetzt und hier nur darauf hingewiesen,
dass grade in der eigenthümlichen Natur des Lehenverhältnisses
die innige Verbindung persönlicher und dinglicher Herrschaft
und Unterthänigkeit recht deutlich zu Tage tritt, und dass
ursprünglich das persönliche Band für das dingliche Verhältniss
von massgebendem Einfluss war. ’) Die wesentlichen Beziehungen
zwischen Lehnsmann und Lehnsherrn bestanden in gewissen
ritterlichen Treudiensten auf der einen, und in einer Schutz-
herrschaft auf der anderen Seite. Für die Gestaltung des
Lehenerbrechts folgt aus der Verbindung dieser persönlichen
Beziehungen mit der vermögensrechtlichen Stellung des Lehns-
mannes als Besitzer des Lehngutes, dass nur solche Personen
zur Erbfolge in ein Lehngut für fähig erachtet werden konnten,
welche die zur Leistung jener Dienste erforderlichen Eigen-
schaften besassen ; daher denn auch ursprünglich Frauen und
Geistliche, sowie mit körperlichen Fehlern Behaftete von der
Lehnsfolge ausgeschlossen waren.*) Es folgt aber weiter daraus
die Untheilbarkeit des Lehngutes und im Zusammenhänge
damit die Anerkennung einer bevorrechtigten Erbfolge eines
Erben. Denn die Beschaffenheit der persönlichen Dienstleistungen
verträgt eine Theilung unter mehrere nicht, und andrerseits kann
nur das ganze, ungetheilte Gut den Lehnsmann zur Leistung
der Dienste fähig erhalten. s) Im Grunde sind es also die
bereits erwähnten staats- und volkswirtschaftlichen Gesichts-
punkte, welche die Anregung zur Bildung dieser Sondererbfolge
gegeben haben; nur haben hier äussere Verhältnisse, egoistische
Sonderinteressen der betheiligten Kreise, ihr zu schnellerer An-
erkennung verholten. Interessant ist die allmähliche
Entw icklung.
■) Heusler II, § 108, S. 161.
*) Heusler II, § 190, S. 613, Stobbe V, § 315, S. 325; Homeyer,
Lehenrecht II, 2 § 43, S. 448 Hg.
*) Heusler H, § 190, 8. 615.
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21
Zunächst ist das Vorrecht eines Sohnes nur ein rein that-
sächliches. Hinterlässt der Lehnsherr mehrere Söhne, so braucht
der Lehnsmann nur von Einem unter ihnen das Lehen entgegen-
zunehmen. Dieser Eine wird duroh Wahl, eventuell, wenn eine
Einigung nicht erfolgt , von dem Oberherrn bestimmt. *) Dieser
rein thatsächliche Vorgang erscheint sodann in anderen Quellen
als Rechtsgrundsatz. Nach schwäbischem Lehnreehte soll der
Oberherr den Lehnsmann an den ältesten Sohn weisen.
schwäb. Lehenr. 54: der oberre sol si also wisen, und eint
die bruder alle zir tagen nut komen , so sal er si wisen
an den el testen.*)
Nach dem Görlitzer Landrechte 35, § 1 übt der älteste
Sohn gradezu die Lehnsherrschaft aus:
of zwene man odir manigir, die brudir sint odir mage,
erbe habint an eime eigine zo lihene, unde sie selbin
undir sizzin, swelichir nach dem andirn undir in der
aldiste si, daz er daz len lihe; of die der daz len liet
nach sime tode einen sün hat, der sftn sol daz selbe len
mit rechte lien, wan daz len von sinis vatir were an in
geerbet is. a)
Hierzu bemerkt auch die Glossa latina: ex consuetudinc
senior frater nomine suo et aliorum investituram facit,4)
Wie auf Seiten des Lehnsherren, so wurde auch bei Vor-
handensein mehrerer Erben des Lehnsmannes der Vorzug Eines
mehr und mehr rechtlich anerkannt. Es tritt die Gesammt-
belehnung mehrerer Söhne gleichzeitig auf mit der Belehnung
eines einzelnen. Indessen schon in der Art und Weise der Be-
leihung , conjuncta manu, collectis manibus, erscheinen die
Mehreren als eine Person. Die Gesammtbelehnten müssen auch
■) Homeyer, Sachsensp. II. Theil, Band II, $ 41, S. 443 ; Schulze,
B. d. £., § 31, S. 203.
’) Homeyer und Schulze a. a. O.
’) Homeyer, 8. 190.
*) Homeyer, S. 443
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22
binnen bestimmter Frist einen von ihnen bezeichnen, der dem
Herrn die Dienste leiste. ')
Der Herr braucht aber nur einem Sohne das erledigte
Lehen zu geben, und wiederum wird dieser binnen bestimmter
Frist von den Brüdern gewählt, eventuell von dem Herrn selbst
erkoren. So der auctor vetus de beneficiis, I, 78, 79:
si filius, qui ad annos suos pervenerit, beneficia
secundum jus petit, habens fratres infra annos pueriles,
dominus sibi concedat, si prius fidejussorem habest, ne
fratres sui jure beneficiali eum pro hoc beneficio impetant,
cum ad annos eorum perveniant. dominus eget habere
fidejussorem, quod puer infra puerilem actatem se non
negligat, et dominus non respnndeat, nisi uni filio
pro patris beneficio.
Ebenso das Görlitzer Lehnrecht cap. 19 i. f. :
der herre bedarf burgin zo habine, wände daz kint
binnin sinin kintlichin jarin sich nicht vorsumin ne mag,
unde der herre antwerdit nicht dan eime sfineumme
des vatir len.’)
Das Wahlrecht des Herrn wird erwähnt in einer Urkunde
vom Jahre 1152:
hoc autem semper indivisum manebit et in plures
non dividatur heredes, sed si pro eodem inter se
litigaverint, illi integre dabimus, cui potius cupimus. *)
In der Regel wurde der Aelteste gewählt, dessen Vorrang
sich dann auch im Recht ausdrücklich anerkannt findet. So
') Homeyer, S. 457, Hoch holz, Aargauer Weiathümer S. 24, Aum. 1,
vergl. auch das Waldemar -Erich’sche Recht § l und 2 bei Ewers, des
Herzogthums Uhaten Ritter- und Landrechte S. 47: sterwet een man, de
sönes helft, een edder mehr, de eene, de tho sinen jahren kamen is, sali
anerfahren binnen jahr und dagh, dat is sös wecken und eyn jahr, dat syne
tho empfangende. Sin der bröder twee edder dree edder mehr in unge-
deleden gude. de hebben cre saamende hand daran und eruet van einen
up den andern, dewyle se ungedelet sint.
*) Homeyer, S. 102, 445.
s) Homeyer, a. a. O., S. 455.
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wird eine solche zunächst rein thateächliche Belehnung des
ältesten Sohnes vorausgesetzt im livländischen Bitterrecht, o. 14:
alleine de here dem eldesten söne gudt vorlenet, doch
hebben de anderen all like gudt recht dartho, dewile
se ungedelet syn,
und bei .Ruprecht von Freisingen II, § 11:
enphaecht der eltist das lehen, das sol den anderen
chinden nicht schaden, sie haben alliu diu recht
an dem lehen, die der elter prüder hab.
Schon mehr rechtlich anerkannt wird dieser Vorzug im
schwäbischen Lehnrechte c. 49 i. f. :
ob der kinde iht me ist, danne eines, daz sie den herren
nut an muten, daz er das lehengut deheinem kinde me
lihe wan dem eitesten . . . und stirbet daz, so lihe ez
ie dem eitesten darnach.
Endlich als Rechtssatz ausgesprochen ist er im kleinen
Kaiserrecht III, 29:
dy gemeinen lehin, daz se dy eldesten han czu
emphande. *)
Hierher gehört auch der Schiedsspruch über die Gerechtig-
keit der Herren und der Vögte zu Esleben, § 4:
So sollen auch die obg. vogtherren allewege der elter
die vogtie zu lehen emphohen von den obg. herren und
den andern tragen, als oft des noit geschieht, und da
von tun als lehensrecht ist än geverde. 8)
Es erscheint somit stets ein Sohn als bevorzugter Lehns-
träger. Wenn nun auch seine Eigenschaft als bevorzugter
Lehns erbe sich in diesen Stellen noch nicht ausdrücklich an-
erkannt findet, so folgt doch aus der Untheilbarkeit des Lehens,
dass ein Einzelerbrecht in das Lehngut dadurch bereits that-
sächlich anerkannt war. Dem steht nicht entgegen, dass bei
der Erbtheilung der älteste Sohn sich das Lehen anrechnen
') Homeyer 8. 466, Schulze 8. 204.
*) Homeyer S. 482.
*) (irimm, Weisthümer, Bd. VI, 8. 90.
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24
lassen musste. ') Die abweichende Anschauungsweise von Lehen
recht und Landrecht wird ausdrücklich betont :
Sachsensp. I, art. 14, § 1: al si ez hin recht, daz der
herre nicht en lihe mer einem sune sines vater lön, ez
en ist doch nicht lantrecht, daz erz alleine behalde, her
en erstatez sinen brüdern nftch deme daz es in geburet
an der teile.
Für gewisse Arten von Lehen finden wir überdies ein
vorzugsweises Erbrecht ausdrücklich festgesetzt. So für das
Fürstenleben :
holl. Sachs. 66: kaiserliche Lehen erbt der vater auf den
ältesten. *)
Ferner zeigt eich das Recht des Aeltesten als wahres Erb
recht oft bei Burg- und Vogteilehen.
1. ein Ahrer Burgfrieden, erneuert von den Grafen Gerhard
von Ahr-Nurburg und Lothar von Hochstaden aus dem
Jahre 1202 enthält hierüber folgendes:
Mortuo siquidem sine prole Theoderico comite de Are
juniore filio Lotharii, cui castrum Are ex integro
attinebat, idem castrum Are ad duos dominos jure
hereditario pervenit, videlicet ad comitem Dlricum de
Nurburg et ad comitem Theodericum de Hostade. Hi
quidem in divisione hereditatis sue durantes ita
statuerunt et juramento confirmauerunt, quod castrum
Are et omne predium Castro attinens in turribus , in
domibus, in castcllanis, in ministerialibus uel in quo-
cunque Castro attinente eisdem successoribus suis
perpetuo indivisim permanebit. Preterea domos
suas in quibus habitant et hortos et stabula eorutn
quoque duo filii seniores et successores eorum in
Castro Are patribus succedent . . . filii quoque
’) Schulze, S. 205, Stobbe V, ij 315, 8. 323.
'') Homeyer, S. 483, Schulze, S. 206.
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25
castellanorum seniores in feodo, quod dicitur
Burglehn parentibus suceedent . . . *)
2. ein Lehnbrief König Wilhelme von Oranien vom Jahre
1248 , worin er die Burg Nymwegen dem Grafen Otto
von Geldern zu Lehen giebt und dabei auch der älteeten
Tochter ein eventuelles Vorzugsrecht einräumt:
addimus et quod si dictus comes viani universae carnis
sine filio ingreditur, filiae suae seniori castrum
cum Omnibus suis attinentiis in forma praenotata
remanet obtinendum. *)
3. eine auch von Schulze angeführte Urkunde:
Si senior iiliorum suorum, quem post obitum suum
reliquerit, qui id ipsum Burcleyn jure possidebit,
decederet sine filiis , tune cederet Johanni filio
seniori.*)
4. eine Charta des Grafen Heinrich von Helfenstein:
Si vero contingeret, quod possidens dictum castrum
sine herede decedat , bonis suis aliis a predictis
indivisis inter fratres suos, si quos habuerit ex parte
patris, antiquior dictorum fratrum succedat in dicto
Castro.8)
5. eine Urkunde des Bischofs Megenerus von Trier vom
Jahre 1129, betreffend das Kloster Schiffenberg , worin
die Schutzherrschaft des Aeltesten erwähnt wird:
praeterea constituit prefata Comitissa Cleraentia, ut
quicunque heredem suorum major natu esset, super
bona predicti loci advocatiam haberet.
Dies wird bestätigt durch Clementia selbst 1141:
noverit Universitas fideliura . . ., quod ego Clementia
Comitissa de Glyzberg, cum meis nepotibus Ottone
') W. Günther, Codex diplomalicus Rheno-Mosellanus (Coblenz 1822 flg.)
Bd. II, No. 2, 8. 70 flg.
*) J. Ch. Lünig, Codex Germaniae diplomatioue (Frankfurt und Leipzig
1783) Bd. II, S. 1751, No. 13.
a) Wenok, Heu. Landesgeschichte I, No. 129 , 8. 83; Sohulze, 8. 206.
♦) Hontheim, hist, diplom. Trevir. II, S. 37; Schulze, S. 206,
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26
quam Wilhelm o, consensuetdonacione ipso rum,
in allodio meo Schyfenberg ecclesiam construi; . . .
preterea ego Clementia prefata constituo, ut predicti
fratres nullum advooatum habeant, nisi unum
majorem natu de mea progenie.1)
6. eine Aufzeichnung des Abts Berengar vom Kloster
Formbach aus dem Jahre 1094 :
tradidit namque in primis dotnina Himiltrud venerabilis
rnatrona ad eandem ecclesiam cum manu advocati sui
in usus ibidem Deo servientium hec sue proprietatis
loca ... accepit quidem ea ipsa mater familias
Thimonem Comitem in advocatum sibi, etiara dicte
ecclesie, et his omnibus, qui vel que ad hanc pertinent :
ea ratione et complacitatione : ut is post illum ejusdem
advocationis curam et regimen susciperet, qui in
filiis ejus primus esset etate: et Bic simili modo
de filiis in ülios sue posteritatis hujus tutele procuratio
transiret. *)
7. einer Schutaherrschaft des Aeltesten wird ferner Er-
wähnung gethan von J. D. Schoepflin:
caput dynastiae atque totius Comitatus est Castrum
Phirreti . . . primam et egregiam de Castro nostro
mentionem reperimus in Charta fundationis Monasterii
Veldpacensis ann. 1144, ubi Fridericus Comes de
Firretho statuit, ut ille, qui ex posteritate sua
profectioris aetatis in Castro Firretho suderit,
Advocatus ejus Monasterii esset.8)
8. von demselben:
Henricus hic, Egishemii castri possessor, a patruo suo
Leone IX. advocatus abbatiae S. Crucis in Woffen-
heim ea lege constitutus est, ut „postquam . . . diern
l) Val. F. de Uudentia , Codex diplomaticue (öottingae 1743) Bd. Hl,
No. 15 und 18, S. 104ö.
’) Monumenta Boioa, Bd. IV, No. 1, 8. 11.
s) Alsatia illustrata Germanica, Gallica, Bd. II, S. 32, § 47.
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27
clauserit extremum , ipsi qui major est natu inter
possessores castri supradicti, si plures extiterint,
advocatia debeatur“ ; data fuit haec bulla an. 1169,
sed brevi post obiit Henricus. *)
9. endlich sei noch angeführt § 39 des Märzengerichts-
büchleins vom Markt Offingen in Schwaben vom
Jahre 1381:
die vogtei daselbsten ist auch aigen unser lieben
frauen und des bistumbe (Augsburg), und die herschaft
von Oettingen hat sie zu lehen von einem bischof zu
Augspurg. und wann ein fall geschieht, es were ein
bischof oder ein herr von Oettingen, der die lehen
empfangen hat, und die vogtei also abgöt, so soll
solche allweg der ältere herr von Oettingen
empfahen von einem bischof von Augspurg . . . *)
Diese Quellenerzeugnisse mögen zur Erläuterung und Be-
kräftigung der über den Ursprung der Einzelerbfolge im Lehen-
recht aufgestellten Vermuthungen genügen.
B. Dienst- nnd Hofrecht.
Dem Lehenrecht analog gebildet ist das Dienst- und Hof-
recht Auch hier finden wir gewisse Merkmale einer Abhängig-
keit und Herrschaft, die im Dienstrecht mehr persönlicher, im
Hofrecht mehr dinglicher Natur sind. Beide stehen in natür-
lichem Zusammenhang, da ursprünglich wohl ebenso regelmässig
der Dienstmann einen Hof besass, wie der Hofraann Dienste
schuldete, so dass die Grenze beider Rechtsgebiete in der ältesten
Zeit kaum erkennbar ist. Wir können daher beide Gebiete
hier gemeinsam betrachten und unbedenklich Regeln und Grund-
sätze aus dem einem in das andere herübernehmen. 3)
Die verschiedenen Arten der bäuerlichen Leihe sind hier
nicht näher zu erörtern: sie beruhen alle auf dem gleichen
Grundgedanken der leihweisen Uebertragung eines Gutes gegen
') 1. c. 8. 482, § 43.
*) Grimm, Weitthümer, Bd. VI, 8. 209.
•) Hensler I, § ö S. 27 Anm. 2,
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28
gewisse Dienste und Abgaben an das Herrengut. Im wesent-
lichen ist auch der Entwicklungsgang der Einzelerbfolge im
Hofrecht derselbe wie im Lehenrecht. Auch hier schritt man,
als ein Theil des Grundbesitzes in Abhängigkeit gerieth,
zuvörderst zur Feststellung, wer die auf dem dienenden Gute
ruhenden Verpflichtungen, Zinsen und Dienste zu leisten habe.
Die Erwägung, dass eine Theilung des dienenden Gutes eine
Minderung der Leistungsfähigkeit desselben bewirken musste,
drängte auch hier zur Anerkennung der Einzelerbfolge. Der
allgemeine wirthschaftliche Gedanke der Erhaltung des Grund-
besitzes erscheint hier im Dienste der eigennützigen Interessen
der einzelnen Gutsherren.
Wenden wir uns nun zu den Quellen, so ist wohl das älteste
Zeugniss für die gesonderte Behandlung des Hofgutes bezüglich
der Erbfolge die Satzung des Bischofs Burchard von Worms
vom Jahre 1024. Es wird darin verordnet:
c. X: si ex familia vir aliquis et uxor ejus obierint
et fllium cum filia reliquerint, filius haereditatem
servilis terrae accipiat, filia autem vestimenta matris
et operatam pecuniam accipiat, reliqua, quae
remanserint, in Omnibus aequaliter inter se
partiantur. *)
Später fliessen die Quellen reichlicher. Zunächst seien hier
einige Stellen angeführt, aus denen erhellt, dass die Leistung
der Dienste, Zinsen und Abgaben in der Regel dem ältesten
Sohne auferlegt wurde, dessen Stellung zu den übrigen Ge-
schwistern dadurch offenbar eine gewichtigere, ansehnlichere wurde.
1. Das kölnische Dienstrecht aus dem 12. Jahrhundert
bestimmt in § 12: Item quicunque Ministerialis beat
Petri filios habuerit, mortuo patre senior filius
obsequium Patris recipiet et jus serviendi in curia
Archiepiscopi in suo officio, ad quod natus est, obtinebit. *)
') Walter corp. jur. Germ. III, S. 776.
*) Walter corp. j. Germ. III, S. 802; auch abgedruckt bei Schulze
ft d. E. S. 209; Kindlinger Müustcrischo Beiträge Bd. 2 No. 13; v. Fürth,
Oie Ministerialen S. 517.
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2D
2. eine Urkunde vom Jahre 1114, in welcher Freie sich in
den Dienst des Grafen von Arnsberg begeben, enthält
die Bestimmung: censum vero ex cognatione major
in penthecoste supra sanctum altare persolvat.1)
3. ferner eine solche aus der Zeit von 1131—1141:
sed ea mortua rursus in ipsa familia maximus annis
atque aetate et predictum censum et in decreto
tempore . . . persolvat. *)
4. Das Recht der Wachszinsigen des h. Patroklus von
Soest zwischen 1142 und 1150 verordnet:
sunt quippe in eadem familia plurime cognationes, in
quibus singulis, qui senior fuerit, duos nununos, vel
duos ejusdem precii Gere fundos annatim ad altare
patroni nostri dare debebit. Gum vero senior ille
obierit, primus etate et consanguinitate ad
persolvendum censum locum ejus obtinebit.*)
5. in einer Urkunde des Erzbischofs Adelbert von Mainz
von 1127 über die Aschaflenburger Genausten heisst es:
qui inter eos (überos) majores masculini sexus
fuerint, eadem duo predicta officia jure hercditario
obtineant; et sic per singulas generationes in perpetuum
sibi in eandem conditionem succedant. *)
6. ebenso bestimmt das Recht der Altarhörigen der Stifts-
kirche zu Triglar (1101):
ut post obiturn mulieris, qui in posteris major natu
invcniatur, eundem censum intercipiat et tempore
supradicto persolvat.*)
Gleichzeitig mit den Pflichten wird auch wenigstens that-
sächlich das Hofgut, an dessen Besitz die Leistungen und
Abgaben geknüpft wareD, auf den ältesten Sohn oder Nach-
') Kindlinger a. a. O. Urkunde No. 16.
*) Kindlinger a. a. O. No. 24.
*) Kindlinger a. a. O. No. 26; Sommer Bd. III, Beilage 36 8. 123.
*) Guden ood. diplom. I, No. 146 S. 394.
•) Kindlinger No. 6 S. 229.
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3Ö
kommen übergegangen »ein. Al» Rechtsgrundsatz wird die»
jedoch erst später anerkannt. Noch im 10. Jahrhundert können
die homine» famuli von St. Peter zu Pillich zufolge den
Bestimmungen des Erzbischofs Theoderich von Trier ihre Erb-
güter fauste 8ucce8soribus suis quandoque relinquere, und es
wird ihnen zugebilligt, dass sie liberam habeant potestatem de
prediotis inter se donandi, vendendi, commutandi. l) Auch findet
sich hier wie im Lehenrecht vereinzelt die Anschauung, dass
das älteste Kind ftir sich und gleichsam als Vertreter der
übrigen Geschwister das Hofgut empfängt. So bestimmt das
Recht des Gotteshauses zu Luzern § 1:
vnd mit dem val vnd mit erschatze hat das eitest kind
das erb empfangen ze der kinder aller händen . . .*)
und ebenso das Hofrecht zu Emmen § 10:
Swenne ouch ein mensch erstirbet, der vil kinde hinder
ime lat, so sol ein brobst bi dem eisten kind die
anderen kinden ir erbe sende, vnd hant damit dü
kinde allv ir erbe enphangen.*)
Andrerseits findet sich sehr häufig vom Beginn des 12. Jahr-
hunderts an die Einzelerbfolge in den Hofrechten festgesetzt.
Die wichtigsten Zeugnisse sind folgende :
1. Der Erzbischof Bruno von .Trier übergiebt 1115 ein Gut
dem Ministerialen Rudolf und seiner Frau unter der
Bedingung der Einzelvererbung:
ministrante . . Rudolfo prius meo, modo autem sancti
Petri mimstro, et ejus uxore, si superstes fuerit, cui
in hereditatem firmam prefatum bonum concedi, rogavi,
hanc internectens conditionem, ut unum tantum ex
filiis uel filiabus suis, si filii desunt, in hoc
bono heredem constituant, qui simili modo unum
tantum ex filiis uel filiabus suis heredem
') Günther cod. dipl. Kheno-Mos. I, No. 22 8. 77.
*) Grimm, Weiathümer IV, 8. 369.
*) Grimm, Weiathümer IV, 8. 372; ebenao das Hofrecht au Halters
§ 21 daselbst 8. 378; zu Egringen § 14, 8. 481.
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31
relinquat, ceteris suorum cognationem succedcntibus
eadetu lege firmiter designata. ')
Unter Beachtung dieser Vorschrift wird denn auch dasselbe
Gut im Jahre 1150 weitergegeben, <•
ut unus tantum de heredibus illorum hanc semper
hereditatem haberet. ä)
2. der Erzbischof Heinrich von Mainz bestätigt 1150 die
Verleihung eines Gutes zur Emphytouse unter der Be-
dingung der Unteilbarkeit und Einzelerbfolge:
Statutum est pretcrea ex consensu utriusque partis,
ut nec vendere, nec invadiare, nec inter liberos
dividerc, ulla ratione queant: Sed quod prim um
natu ex iis processerit, eodem pactu, eadem
conventione possideat; nisi forte aliquid in ea edifica-
verint preter id, quod constructum et edificatum
invenerunt. *)
3. eine ähnliche Bestimmung findet eich auch in einem
Vertrage zwischen dem Bischof Konrad und dem Herzog
Ludwig von Baiern vom Jahre 1213:
ad haec Episcopus et Dux hoc simiüter inter se
statuerunt, ut ministeriales eorum vicissim nubant,
et pueri aequaliter dividantur, hoc modo
distinguentes: quod primus puer, masculus vel
foemina, patrem sequatur sine divisione, reliquis
nihilominus dividendis . . . item si officialis episcopi,
veluti mareschalcus , dapifer, camerarius, vel alter
quilibet uxorem de ministerialibus Ducis duxerit,
Senior filius, qui patrem sequitur, habeat patris
officium, et si solus sit, nubat in potestatem domin i,
cujus erat mater; . . si vero solus non est, sed plures
sunt pueri, ipse nihilominus habeat patris officium,
*) Günther, cod. dipl. Kheno-Mo«. I, No. 87 8. 188.
*) Günther eod. No. 151 8. 381.
*) Guden rod. dipl. I, No. 73 S. 197.
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32
cum reliquig pueris, secundum quod supra dictum
est, dividendis. *)
4. Die ßechtgnachfolge deg ältesten Sohneg wird verzeichnet
in folgender Urkunde:
quidam vir sanctus ejusque uxor reliquerunt legitimos
pueroa quinque, videlicet quatuor filios et unam filiam.
Senior frater intromisit ge de cultura unius
mansi aancti pogt mortem parentum et minigtravit
ceteria confratribue et aorori necegaaria vite . . .*)
5. über ein Erbpachtgut lautet eine Urkunde von 1297 :
quod poat mortem ipaorum (conjugum) in perpetuum
senior hereg ipeorura eadem bona poseideat
indiviga, qui etiam heres auis coheredibua aliis, si
quos habuerit, recompensatn talera facere tenebitur, ut
eadem bona sine corurn praejudiciis poseideat
indiviga.*)
6. ebenso eine andere:
quod dictus Lupfridus mangionariug debet esse ibidem
et dicta bona apud unicutn heredem auum
remanere debent indiviga.4)
7. ferner eine Urkunde von 1303:
nec ipsi vel sui heredes praescripta bona vendere
poterunt, nec alienare, nec commutare . et quod
praescripta bona omnia in solo hcrede remanent
indiviga.*)
8. ferner eine solche von 1314:
hec bona post mortem predicti Wernheri Serrich
senior filiue ejus possidebit et illius filii senior
') Hund, Metropolis Saliaburgensis tom. I, S. 158; vgl. auch Schulze
B. d. K. S. 208 und 209.
*) Kindlinger, Hörigkeit, 8. 521.
*) Mone, Zeitschrift für die (iesehichte des Uberrheins, V, S. 57.
*) Mone, a. a. U.
*) Mone, a. a. O.
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33
filius et sie in infinituni, ita ut aemper mancant
indivisa aput unum.1)
9. dasselbe besagt eine Urkunde von 1324:
iidem agri et bona apud solara semper per-
sonale remaneant indivisi.*)
10. so bestimmt auch das Weisthum von Bingen von 1425 §5:
item ob sich begebe das eyn manwercker oder mehe
abgingen von toidts wegen vnd erben Hessen, iss sy
mans oder frauwen persone, so sal solich manwerke
gefallen vff den ältesten vnd nehsten erben
vnuortheylt.*)
11. endlich sei noch erwähnt das Dingrecht zu Wyler:
ouch ist zü wissen, wer es erb als ein ander
erb, so erbten ouch der meyger un,d ein kind
als das ander, des en ist es nit. es ist man-
chen ye des el testen suns, des recht erb ist es,
und wer das an demselben abgieng, so wcre es dar-
nach des ehesten erben.4)
Während nun im Lehenrecht die Einzelerbfolge nur eine
vorübergehende Anerkennung gefunden hat und nicht zur
dauernden Bechtsinstitution geworden ist, hat die Individual-
succession im Hofrecht eine weitere Ausdehnung und festere
Gestaltung erfahren. Ein grosser Theil des Grundbesitzes, auch
eine Anzahl freieigner Güter ist später ihren Regeln unterstellt
worden. Bald aber wird auch ihre Entwicklung und Aus-
gestaltung eine lokale, den einzelnen Gebieten besonders an-
gepasste und von bunter Mannigfaltigkeit. Die Schilderung der-
selben überschreitet die diesem Aufsatz gesteckten Grenzen und
bleibt einer späteren Arbeit Vorbehalten.
>) Mone. S. #».
») Mone, 8. 63.
*) Grimm, Weisthiimer IV, 8. Ö90.
*) Grimm, Weisthümer I, 8. 3Ö9.
FrommJio/rf, Einselerbfnlff*.
3
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Anhang,
Es mögen hier noch einige beinerkenswerthe Urkunden ihren
Platz finden, welche mit der erörterten Frage nicht in unmittel-
barem Zusammenhang stehen.
I. Die Assise des Grafen GeofFroi von der Bretagne vom
Jahre 1187. *)
Cum in Britannia super tcrris inter fratres dividendis
detrimentum terrae plurimum soleat evenire, ego Gan-
fridus Henrici regis filius, dux Britanniae, comes
Richemondiae, utilitati terrae providere desiderans,
petitioni episcoporutn et' omnium baronum Britanniae
satisfaciens , communi eorum assensu, assisiam feci
tempore meo et successorum mcorum permansuratn,
et conccssi.
§ 1. Quod in baroniis et feodis militum ulterius non,
fierent divisiones, sed major natu integro
obtineret dominatum et junioribus majores
providerent et invenirent honorifice neccssaria
juxta posse suum.
§ 2. ea vero, quae tum juniores possidebant in tcrris
sive denariis quamdiu viverent, tencrent; heredes
terraa detinentium in perpetuum illas possiderent
heredes vero denarios et non terras habentiura
minime post patres haberent.
') s. Warnkönig und Stein I. L'rkundenbuch, S. 27.
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35
§ 3. Item si terra majoris devenerit in Balliam, frater
major post eum Balliam habebit; quod ei fratrem
non habuerit, ille de amicis Balliam habeat, cui
decedene cum assensu domini sui ad eam voluerit
commendare.
II. Durch folgende Bestimmung fuhrt der Graf Wilhelm
von Katzenellenbogen am 19. Juni 1331 unter seinen
Söhnen das Majorat ein: *)
wir wollen auch me, das keiner dan Ein unse Leyns-
erbe ein Herre si der Herrschaf, die wir na unsem
Doide laizin, und das sal angaindis Wilhelm unse
Eiste Sun syn ein Here de Herschaft, und ob der
abegienge von Doidis wegen, das Got nit inwolle, so
soll iz Dyther unse Sun sin , und ob der abegienge,
so soll iz aber der Eiste darna sin. Und das hant
uns auch unse Sweger vorgenant gelobt, wanne das
Got ubir uns gebudet, das si kein Leynserben uns
Herschaft sollen machin me dan Einen, und das sal
alliz der Eiste sin.
III. Bezüglich der Untheilbarkeit der sogenannten „Schaff-
güter“ lässt sich ein Weisthum von Mertert v. 1589
folgendermassen aus:2)
1. sagen derhalben erstlich, ein hofsgebrauch sei, dasz
alle erbungen bey inen hinderfelligen naturcn und
den negsten blutsverwandten zuerkend werden,
jedoch dasz nach absterben des ehemans, alsz des
rechten gewesenen erben der schaffgütter, seinem ehe-
weib, und hingegen nach absterben des eheweibs ihrem
ehemann die leibzucht Vorbehalten seie, auch sich
wiederum in die schaffgütter einbestatten möge.
') H. B. W eiick, hessische Landesgeschiehte , Urkundenbuch von
Katzenelnbogen, No. 193.
*) Hardt, Luxemburger Weisthümer, S. 626.
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36
2. it. die gemelte blutsverwandten in gleichen grate,
mehr als einer, das alsdan, weil schaffgütter
vor untheilbar gehalten werden, den hern die
macht zustehe einen under allen indiegütter
einzusetzen.
3. it. so viel die rniterben anlangt, dasz dieselbige mit
sampt dem eingesetzten oder sonst von den eitern
einbestattnem erben, allen möbel (die schulden ab-
gezogen) und freyerbgütter in specie zugleich
theilen mögen, soviel aber das schaffgut anlangt,
dasz solches für ein gelt geschetzt, dergleichen
auch frön und herrendienst , und so viel dan das
schaff gut besser, dasz indem der eingesetzter erbe
seine consorten mit gelt oder geltswerth, jeden nach
seinem gebär befriedigen und ablegen sol.
IV. Bezüglich der von einer Kirche abhängigen Güter be-
stimmt:
a) Die Oeffhung zu Neukirch v. 1330 :‘)
es ist ouch wyssend, das die selbigen güetter nyemant
haben noch erben sol, denn gotzhus lütt, die yn den
dinckhoff hörend ; were ouch, da« der güetter kains yn
yngnoss hand keme, der ... sol es ainetn herren
von Costcutz verkünden , der sol schaffen , das die
güetter widerum komen in der hand, die der güettera
genoss syeund.
b) Das Weisthurn von Kirburg v. 1534:*)
§ 10. item so wisent si dem apte, ob jemand were und
lehngut hait, dasselbigt versetzte, versplisse
und verkeufte, wisent si im ein missethat,
doch gnad bei rechte.
') Grimm. Weisthümer I, S 292.
*) a. a. O., S. 6*2, 6+4.
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§ 12. item zu dem eilften mal, wo ein lehnmann sitzet
der da het ein lehen von dem gotzhaus, und
dasselbig verspliss oder verdeilt un der sein
kinder sunder wissen und willen des lccnherren,
was der verbrochen hab, sintdicinal alle jair
clerlich verboden wirt, was dnrumb recht si?
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ß. Oruhn's Buchdruckerei, Wannbrunn.
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Untersuchungen
zur
Deutschen Staats- und Rechtsgeschichte
herausgegeben
von
Dr. Otto Gierke,
Professor der Rechte an der Universität Berlin.
34. Heft.
Das Yerwandtschaftsbild des Sachsenspiegels
und sein Bedeutung für die sächsische Erbfolgeordnung
von
Ulrich Stutz;,
Breslau.
Verlag von Wilhelm Koebner.
1890.
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Das
TeiraitscMisll des Sachsenspiegels
und seine Bedeutung
für die sächsische Erbfolgeordnung
von
Ulrich Ntatz. / ?
Breslau.
Verlag von Wilhelm Koebner.
1890.
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Seinem lieben Vater
Herrn U. Stutz-Finsler
Privatdozenten der Geologie
am eidgenössischen Polytechnikum zu Zürich
in
Liebe und Dankbarkeit
gewidmet
vom
Verfasser.
Verzeichnis
der
Abkürzungen in den Litteraturzitaten.
v. Amira, E = Erbenfolge und Verwandtschaft« - Gliederung
nach den alt-niederdeutschen Rechten von Dr.
K. v. Amira. München 1874.
— Rez = Rezension der Schrift von Schanz in den
Göttinger gelehrten Anzeigen 1884 S. 38—48.
— Recht .... — .Recht“ in Paula Grundriss der germanischen
Philologie. Bd. II S. 35 f. Strassburg 1890.
Blnntschli = Zur Lehre vom deutschen Erbrecht von Blunt-
achli, krit. Ueberschau der deutschen Gesetz-
gebung und Rechtswissenschaft. Bd. I 1853.
Dsp = Der Spiegel deutscher Leute, einzige Ausgabe
von Ficker. Innsbruck 1859.
G a u p p = Germanistische Abhandlungen von E. Th. Gaupp.
Mannheim 1853.
Hensler = Institutionen des deutschen Privatrechts von
A. Heusler. Bd. II. Leipzig 1886.
Hom. Par = Die Stellung des Sachsenspiegels zur Paren-
telenordunng von Homeyer. Berlin 1860.
Lewis, IX, XIV, XVII — Besprechungen der Litteratur (Iber die ger-
manische Verwandtsclinftsberechnung und Er-
benfolge von Lewis in der kritischen Viertel-
jahrsschrift für Gesetzgebung nnd Rechts-
wissenschaft Bd. IX S. 23 — 67, Bd. XIV
S. 1-44, Bd. XVII S. 400 ff.
Mansi = Collectio Sacrorum Conciliorum nova et am-
plissima ed. Mansi. 1759 — 1798.
Mejer = lieber die sog. Gregorische Computation von
0. Mqjer, Zeitschrift für deutsches Recht von
Reyscher und WiUla. Bd. VII S. 173 f.
Migne . . . = Cursus patrolugiae completus. Series latina
accuratite J. P. Migne Parisiis 1844—1878.
Rive = Zur Frage nach dem Prinzip der Successions-
ordnung im germanischen Rechte von Rive,
1863 in Bekkera und Muthera Jahrbüchern VI
8. 197—228.
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Schanz = Dag Erbfolgeprinzip des Sachsenspiegels und
des Magdeburger Rechts von Fr. Schanz.
Tübingen 1883.
Sch r iide r, R. G. ... — Lehrbuch der deutschen Reehtsgeschichte von
R. Schröder. Leipzig 1889.
Scliwsp Der Schwabcnspiegel , Ausgabe von Frhr. von
Lassberg, 1840.
Seelig = Die Erbfolgeordnung des Schwabenspiegels von
Geert Seelig. Kieler Iuaug.-Diss. 1890.
Siegel, Erbr = Dag deutsche Erbrecht von H. Siegel. Heidel-
berg 1853.
— V. B = Die germanische Verwaudtschaftsberechnung
mit besonderer Beziehung auf die Erbeufolge
von H. Siegel. Giesgeu 1853.
— Rez = Rezension der ersten Schrift Wagsersehlebens
in der österreichischen Vierteljahrsschrift für
Rechte- und Staatswisaenschaft Bd. VI Litte-
raturblatt S. 21 f.
— R. G = Deutsche Rechtsgeschichte von H. Siegel. 2.
AnfL 1889.
Ssp = Der Sachsenspiegel, Landrecht, Bd. I der
Homeyerschcn Ausgabe. 3 Anti. Berlin 1861.
Stobbe, 1*. R = Handbuch des deutschen Privatrechts von
0. Stobbe. Bd. V. 2. Anfl. Berlin 1885.
— B = Beitrüge zur Geschichte des deutschen Rechts
von 0. Stobbe. Braunschweig 1865.
v. Sydow = Darstellung des Erbrechts nach den Grund-
sätzen des Sachsenspiegels mit Rücksicht auf
die verwandten Quellen von v, Sydow. Berlin 1828.
Wass., S. O — Das Prinzip der Successionsordnnng nach
deutschem, insbesondere sächsischem Rechte
von H. Wasserschieben. Gotha 1860.
— Repl = Die germanische Verwandtsohaftsberechnung
und das Prinzip der Erbenfolge nach deutschem,
insbesondere sächsischem Rechte. Eine Replik
von H. Wasserschieben. Giessen 1864.
— Pr. d. E = Das Prinzip der Erbenfolge nach den ältern
deutschen und verwandten Rechten von H.
Wasserschlebcn. Leipzig 1870.
— Buss = Die Bauordnungen der abendländischen Kirche
von H. Wasserschieben. Halle 1851.
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Einleitung.
Die vorliegende Schrift entstand während des laufenden
Semesters. Veranlasst wurde sie durch die Lektüre der be-
treffenden Sachsenspiegelstellen zu Anfang dieses Sommers im
Seminar für deutsches Recht in Berlin und durch den gelegentlich
derselben von dem Direktor Herrn Prof. Dr. Otto Gierke gemachten
Hinweis auf die Wünschbarkeit einer erneuten Untersuchung
über das vorliegende Thema. Seine Ergebnisse stellte der Ver-
fasser in einer Arbeit zusammen, mit welcher er sich um die
ordentliche Mitgliedschaft in dem genannten Seminare bewarb.
Die unerwartet günstige Aufnahme, welche seine Untersuchungen
trotz ihres vielfachen Abweichens von der bisherigen, auch der
parentelistischen Litteratur bei seinem hochverehrten Lehrer
fanden, sowie desselben freundliche Aufmunterung veranlassen
nun den Anfänger, mit seinem Erstlingsversuche an die Oeffent-
lichkeit zu treten. Vor der Drucklegung wurde die Arbeit
einer Revision unterzogen. Für drei Punkte lagen dazu schrift-
liche Bemerkungen von Herrn Prof. Gierke vor, welche derselbe
dem Verfasser mitzuteilen die Güte hatte, und welche an dem
betreffenden Orte als solche gekennzeichnet sind. Im Uebrigen
erfolgte die Revision selbstständig. Einzelne Partieen wurden
nach Form und Inhalt praegnanter und schärfer gefasst, da und
dort wurde auch dies oder jenes, was bei der ersten Aus-
arbeitung nur angedeutet werden konnte, quellenmässig zu be-
gründen versucht, soweit es die knapp bemessene Zeit gestattete.
Ueberhaupt möge der Umstand, dass die Arbeit innerhalb
weniger Wochen neben zahlreichen Vorlesungen, welche der
Stutz, Verwandtet;!) aftabi hl 1
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Verfasser zu hören hatte, entstanden ist, es entschuldigen, wenn
hie und da der Darstellung die Gleiehmässigkeit und Abrundung
fehlt, welche zu erzielen nur bei konzentrierter, ruhiger Arbeit
möglich ist.
Die Rücksicht auf die Zeit war es auch, welche von vorn-
herein den Verfasser bewog, die Untersuchung auf den Sachsen-
spiegel zu beschränken und von einer Hereinziehung der ver-
wandten Rechtsquellen abzusehen. Es braucht jedoch kaum
noch bemerkt zu werden, dass diese Abgrenzung bei der Beschaffen-
heit der Quelle auch materiell gerechtfertigt ist. In der Tat
haben fast alle Schriftsteller, Schanz nicht ausgenommen, die
Untersuchung für den Sachsenspiegel entweder ganz allein, oder
doch getrennt von derjenigen der übrigen Rechtsquellen geführt.
Konnte der Verfasser in diesem Punkte dem Vorgehen
Früherer folgen, so wurde ihm schon bei der Lektüre der ein-
schlägigen Litteratur klar, dass dies in einer anderen Be-
ziehung nicht möglich sei, nämlich nicht in der Methode.
Ueber die sächsische Verwandtschaftsberechnung und Erben-
folge ist man zu einer mehr oder weniger allgemein anerkannten
Ansicht noch nicht gekommen. Zwar hatte früher, namentlich
seit v. Sydow’s Schrift über das Erbrecht des Sachsenspiegels,
die Parentelentheorie allgemeine Anerkennung gefunden. Wenn
dieselbe in neuster Zeit, nachdem Siegel, Wasserschieben,
v. Amira und Andere sie lebhaft bekämpft und Homeyer und Rive
sie nicht ohne Anstrengung aufrecht erhalten haben, auch für
den Sachsenspiegel an Boden wieder gewinnt, so möchte das
wohl mehr den Erfolgen zuzuschreiben sein, welche sie für
andere Rechtsquellen und Rechtsgebiete seither errungen hat.
Dies scheint mir namentlich auch aus den Ausführungen Heus-
lers, des neusten Verteidigers der Parentelenordnung für den
Sachsenspiegel, hervorzugehen, selbst wenn man berücksichtigt,
dass er sich natürlich auch in den die Erbenfolge betreffenden
Abschnitten eine weitergehende Aufgabe gestellt hat. Für
den Sachsenspiegel allein genommen ist die Parentelenordnung
vielleicht am meisten wahrscheinlich gemacht, aber durchaus
nicht, auch nur einigermassen zwingend, nachgewiesen. Woran
liegt die Schuld an diesem wenig erfreulichen Resultate? In
der Quelle wohl nicht. Eike schildert auch in diesem Punkte
Rechtsverhältnisse, mit denen er als freier Mann seiner Zeit
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und vor Allem als Schöffe von Grund ans vertrant war. Der
Stoff, welcher seinen Berichten zu Grunde liegt, muss ihm voll-
kommen in Fleisch und Blut übergegangen gewesen sein. Dass
ihn hier seine Geschicklichkeit in der Darstellung ausnahms-
weise im Stich gelassen habe, wird wohl auch nicht ohne wei-
teres angenommen werden dürfen. Vielmehr möchte der Grund,
weshalb es bis jetzt auch nicht annähernd zu einer Einigung der
Ansichten über die sächsische Verwandtschaftsberechnung und
Erbenfolge gekommen ist, bei den modernen Erklärern des Rechts-
buches liegen u. z. in einem Punkte, der ihnen trotz aller Ver-
schiedenheit gemeinsam ist, in der Methode. Sie alle benutzten
nämlich die beiden Hauptstellen Ssp. I 3 § 3 und I 17 § 1 als
vollkommen gleichwertig; sie kombinieren deren Bestandteile
in unbeschränkter Weise; sie tragen Folgerungen aus der einen
ohne weiteres in die andere hinein ; *) sie operieren namentlich
mit dem in I 3 § 3 gegebenen Bilde, besonders den „ Hälsen“,
auch in I 17 § 1, alles ohne sich über die Berechtigung dieser
Untersuchungsweise Rechenschaft zu geben. Und doch musste
gerade im Hinblick auf das zuletzt Genannte die Tatsache
auffallen, dass von dem in I 3 § 3 gebrauchten Bilde des
menschlichen Körpers kein einziges Glied in I 17 § 1
erwähnt wird, und dass umgekehrt ein in I 17 § 1 vor-
kommender, zur Verwandtschaftsbezeichnung ver-
wendeter Körperteil in I 17 § 1 nicht erscheint.
In der Tat sind die beiden Stellen von ganz verschiedenem
Werte. Während 1 17 § 1, wie wir sehen werden, gleich allen andern
Stellen von Art. 4 an mit der Regelung eines ganz bestimmten
Rechtsverhältnisses sich beschäftigt, gehört umgekehrt 1 3 § 3
zu den drei ersten, allgemeinen, grundlegenden Artikeln des
Ssp. über die höchste Gewalt, die Stände und die Verwandt-
schaft. Ja die Stelle tritt geradezu mit dem Anspruch der
Allgemeinheit auf, denn sie will darstellen Anfang und Ende
der Blutsverwandtschaft als solcher, der Sippe, welche nicht
nur im Erbrecht, sondern ebenso gut im Vormundschaftsrechte
und bei Empfang oder Zahlung des Wergeids in Betracht
kommt. Erst am Schlüsse folgt eine Regel über die Anwendung
des vorher allgemein Entwickelten auf das Erbrecht. In Ssp.
') Vgl. z. B. Waas. S. 0. S. 30-37.
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I 3 § 3 also Allgemeinheit und erst in zweiter Linie Beziehung
auf das Erbrecht, in I 17 § 1 konkrete erbrechtliche Fragen:
diese Verschiedenheit des Inhalts und der Aufgabe muss auch
eine Verschiedenheit der Behandlung und Erklärung zur Folge
haben. Dort wird man weite Interpretation und analoge Aus-
dehnung als im Sinne der Stelle und ihres Verfassers anwenden
dürfen, ja müssen; hier wird man sich zehnmal zu besinnen
haben, bevor man eine über den Wortlaut hinausgehende Er-
klärung annimmt. Erst wenn die Stellen so behandelt, so auf
ihre Tragweite vorher geprüft werden, wenn man sie erst nach
Prüfung ihrer Kombinationsfähigkeit kombiniert, können sie mit
Hoffnung auf Erfolg verwendet werden, erst dann sind auch
sichere Resultate zu erwarten.
Nach diesen Gesichtspunkten sollen nun im Folgenden die
beiden Stellen getrennt behandelt werden. Zuvor aber drängt
es den Verfasser, auch an dieser Stelle seinem hochverehrten
Lehrer, Herrn Prof. Dr. 0. Gierke, seinen wärmsten Dank aus-
zusprechen; seine Art, dem Geiste des deutschen Rechtes und
dessen Quellen nachzugehen, hat vor Allem die Freude an dem
Studium unsers nationalen Rechtes und seiner Geschichte in dem
Schüler entfacht und gemehrt, ganz abgesehen von der persön-
lichen Förderung, welche er diesem bei seiner Arbeit überall
in reichlichem Masse freundlichst zu Teil werden lässt. Möchte
die vorliegende Schrift diese seine Bemühungen als nicht ganz
unfruchtbar erscheinen lassen, möchte sie als ein, wenn auch
geringer Beitrag zur endlichen Lösung einer der brennendsten
Fragen unserer deutschen Rechtsgeschichte sich erweisen.
Berlin, den 19. Juli 1890.
Der Verfasser.
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A. ''Sachsenspiegel, Landr. I. 3 § 3.
Die Stelle lautet:
Nu merke wie ok, war de sibbe beginne unde war se
lende. In deme hovede is besceiden man unde wif to stände,
die elike unde echtlike to samene körnen sin. In des lialses
lede die kindere, die ane tveinge vader unde müder geboren
sin. Is dar tveinge an, die ne mögen an eime lede nicht be-
stan unde scricket an ein ander lct. Nemet ok tvene brtldere
tvo siistere, unde de dridde brnder en vremede wif, ire kindere
sint doch gelike na, ire iewelk des anderen erve to nemene, of
se evenburdich sint. Ungetveider brüder kindere de stat an
deme lede, dar sciilderen unde arm to samene gat; also dut
die süster kindere. Dit is de irste sibbe tale, die man to
magen rekenet: bruder kindere unde suster kindere. In dem
eilenbogen stat die andere. In dem lede der hant de dridde.
In dem irsten lede des middelsten vingeres de vierde. In dem
anderen lede de vefte. In dem dridden lede des vingeres de
seste. In dem seveden stat ein nagel unde nicht ein let, dar
umme lent dar de sibbe, unde hetet nagel mage. — Die
tvischen deme nagele unde deme hovede sik to der sibbe
gestoppen mögen an geliker stat, de nemet dat erve gelike.
De sik naer to der sibbe gestoppen mach, de nimt dat erve
to voren. — De sibbe lent in dem seveden erve to nemene,
al hebbe de paves georlovet wif to nemene in der veften ; wende
de paves ne mach nen recht setten, dar he unse lantrecht oder
lenrecht mede ergere.
Wie schon bemerkt wurde, gehört unsere Stelle zum grund-
legenden Teile des Ssp. Aus drei Quellen fliesst für den mittel-
alterlichen Menschen sein Kecht , vom Kaiser oder König,
welcher der Urquell alles Land- und Lehenrechts ist, aus der
Zugehörigkeit zu einem Stande und ans der Mitgliedschaft im
Verbände der Blutsfreunde, in der Sippe. So hat Eike recht
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daran getan, am Anfänge seiner Gesamtdarstellung des säch-
sischen Rechtes von diesen drei Grundpfeilern zu sprechen.
Wir schieben ihm aber wohl nicht moderne Denkweise und
Ueberlegung unter, wenn wir annehmen, dass auch Gründe der
Methode ihn zu dieser Anordnung bewogen haben. Wie oft
musste er voraussichtlich in seiner Darstellung des Rechts von
den Schöffenbaren oder von den Landsasseu sprechet! Wie
ungeschickt, wenn er jedesmal wieder zu erklären hatte, wer
diese seien ! Darum mögen auch ihn, obwohl er kein Lehrbuch,
sondern ein Rechtsbuch schrieb, neben Gründen des Inhalts
Gründe der Form veranlasst haben, diese Verhältnisse am An-
fänge seines Werkes ein für allemal darzustellen. Darauf
scheint mir namentlich hinzuweisen die Behandlung der Lehn-
rechtsstände an diesem Orte. Aus materiellen Gründen hätte
die Heerschildlehre an die Spitze des Lehnrechts gehört, allein
da doch schon im Landrecht hier und dort auf sie Bezug zu
nehmen war, mochte es Eike zweckmässig erscheinen, sie eben-
falls schon hier zu behandeln.
Solche materiellen und formellen Gründe haben nun auch
die Ausführungen von I 3 § 3 unzweifelhaft veranlasst. Noch
viel mehr als bei den Ständen musste bei der Blutsverwandt-
schaft eine vorangehende allgemeine Erörterung am Platze sein,
ist doch die Zugehörigkeit zu einem Geschlechtsverbande, einer
Familie im heutigen weitern Sinne, noch jetzt für den Einzel-
nen im Rechte wichtig, wie viel mehr zur Zeit Eikes! Damals
waren noch mehr Reste vorhanden aus jener Zeit, da die Sippe
die Trägerin öffentlichen und privaten Rechtes war. Für Erb-
recht, Vormundschaftsrecht, für das allerdings dem weltlichen
Rechte entzogene Erbrecht, im Strafrecht und im Prozesse war
die Blutsfreundschaft damals noch von grösserer oder geringerer
Bedeutuug. Grund genug, über die Blutsverwandtschaft als
solche gleich am Anfang zu sprechen, was Eike auch tut. „Nu
merke wie ok, war de sibbe beginne unde war se lende,“ heisst es
zu Anfang des § 3. Es kann nicht genug betont werden, dass
der Anfang und das Ende der Blutsfreund-
schaft sowie ihre Gliederung in erster Linie
hier geschildert werden soll.1) Die Erbenfolge wird
') Vgl, Heusler 8. 600.
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zunächst ausser Auge gelassen. Nur in dem als eine Anmerkung,
als Zwischensatz sich charakterisierenden: „Nemet ok tvene
brüdere u. s. f. ist vom Erbe die Rede, und dort soll mit dem :
„sint doch gelike na, ire iewelk des anderen erve to nemene“
nicht sowohl über ihr Erbrecht Ausknnft gegeben, als an den
gleichen Teilen gezeigt werden, dass sie ganz gleich nahe ver-
wandt sind.1) Erst nach Beendigung seiner oben gestellten
Aufgabe, erst am Schlüsse lehrt uns dann Eike, wie das vor-
her Gesagte in seinem wichtigsten Anwendungsfalle, für die
Erbenfolge, verwendet werden soll. Aber gerade der gegen
das kirchliche Recht gerichtete Zusatz zeigt wieder, wie der
mit der Erbberechtigung im Verhältnis zu einer Person sich
deckende Umfang der Verwandtschaft hier überall wieder her-
vordringt.
Der Allgemeinheit des Inhaltes entspricht die Art der Be-
handlung. Während sonst Eike die Rechtssätze im Allgemeinen
ohne weitere Verarbeitung und ohne Systematik wiedergibt,
gerade so wie es der Zusammenhang mit sich bringt, syste-
matisiert er im dritten Artikel. Allerdings entnimmt er sein
System nicht dem Stoffe, sondern in ganz mittelalterlicher Weise
einem diesem fremden Ideenkreise, den mystisch - chiliastischeu
Vorstellungen und Theorien seiner Zeit. Allein nicht genug,
Eike hat nach allgemeiner Ansicht *) überhaupt die Gliederung
der Stände nach Lehenrecht hier zum ersten Male dargestellt,
er ist der Vater wie der Hauptvertreter der Heerschildtheorie.
Es tritt also in unserem Artikel nicht nur Bearbeitung son-
dern auch selbstständige Verarbeitung zu Tage.
Damit haben wir die allgemeinen Gesichtspunkte zum Ver-
ständnis unserer Stelle gewonnen und gehen nun zur näheren
Untersuchung und Erklärung derselben über.
I.
Zuerst haben wir festzustelleu , was iu Ssp. I 3 § 3
„sibbe“ bedeutet.
') Vgl. nuten Abschnitt II 2 unserer ersten Untersuchung.
*) Es genüge der Hinweis auf Schröder R. Q. S. 384.
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1) Siegel (Erbr. S. 17 und 18, 52 und V. B. S. 8) hat
die Ansicht verfochten, „Sippe“ könne zwar Blutsverwandtschaft
überhaupt bedeuten, werde aber namentlich und auch in unse-
rer Stelle für Seitenverwandtschaft gebraucht. Eine Beendigung
der Verwandtschaft in absteigender Linie gebe es nicht, eben-
sowenig in aufsteigender, wenn daher irgendwo von Beendigung
der Verwandschaft in einem bestimmten Grade die Rede sei,
so könne dabei nur die Seitenverwandtschaft in Frage kommen ;
und da nun in diesem Falle „Verwandtschaft“ durch „sibbe“
ausgedrückt sei, so ergebe sich, dass „sibbe“ auch und nament-
lich Seitenverwandtschaft bedeute. Allein abgesehen davon,
dass, wie wir im Folgenden zeigen werden, diese aus unserer
Stelle entnommene Beweisführung nicht durchschlagend ist,
weil eben auch bei anderer Deutung von „sibbe“ von einer
Beendigung der Verwandtschaft in gerader Linie nicht die Rede
ist, abgesehen hiervon schliesst Siegel selbst diese Deutung für
unsere Stelle au anderem Orte wieder aus, wenn er (Erbr.
S. 24 f. und 60) sagt, in Ssp. I 3 § 3 sei von der Verwandt-
schaft überhaupt die Rede, und wenn er (V. B. S. 8) ausführt,
dass der Ausdruck speziell für die sogenannten Seiten-
verwandten gebraucht werde, die allerdings nach germanischer
Anschauung als Nachkommen eines gemeinschaftlichen Stamm-
vaters aufgefasst werden. Wenn eben für das germanische
Recht die sögenannten Seitenverwandten nur unter dem Ge-
sichtspunkt der Deszendenz in Betracht kamen, so passt halt
der Begriff der Seitenverwandtschaft nicht für den Bau des
germanischen Geschlechtes ebenso wenig wie hier für die Er-
klärung von „sibbe.“
2) Wass. (S. 0. S. 15 Note **, S. 31) schliesst sich zwar
der Siegelschen Auffassung an, dass „sibbe“ Seitenverwandt-
schaft oft bedeute, allein er behauptet diese Deutung, nament-
lich für unsere Stelle, nicht allgemein; offenbar entgeht ihm
die Unmöglichkeit nicht, diese Bedeutung z. B. für den Satz
anzunehmen: „Nu merke wie ok, war de sibbe beginne unde
war se lende.“ Vielmehr soll eine Beziehung zur Seitenverwandt-
schaft regelmässig nur da vorliegen, wo von „sibbetale“ und
von „sik to der sibbe stuppen oder ziehen“ die Rede sei (Wass.
Repl. S. 12 f., Pr. d. E. S. 4). Darauf deute namentlich un-
sere Stelle hin, wo die Seitenverwandten in eigentümlicher
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Weise lokalisiert werden nach Gelenken des Armes und der
Hand, also nach Gliedern, welche sich vom Rumpfe seitwärts
abzweigen. Dem Rumpfe gehören noch an die Eltern (im
Haupte) nnd die vollbürtigcn Geschwister (im Halse); mit den
Kindern dieser erst beginne die Magschaft, die eigentliche
Seitenverwandtschaft, und in ihr die erste „sibbe tale.“ Die-
selbe werde sonach berechnet vom Schultergelenke bis zum
Nagel. Darauf, dass der Ssp. eine „sibbe tale“ nur in der
Seitenlinie kenne,*) weise auch die Wald des Arms und der
Hand als Seitenglieder des Rumpfes hin, die Sippezahlen der
obigen Stelle, die Bestimmung von Anfang und Ende be-
schränken sich auf die Magen oder Seiten verwandten. (Repl.
S. 13). Wenn der Ausdruck „sik to der sibbe stuppen“ auch
auf die gerade Linie anwendbar sein solle, so fehle im Ssp.
und den übrigen Rechtsbttchern jeder Anhalt nnd jede Andeu-
tung über das Verfahren hierbei u. s. w.*)
Dagegen ist nun zu erwidern:
a) „Sibbe“ heisst Friede, Friedensbund, Blutsfreundschaft,
Verwandtschaft. An sich kann also dem Worte auch in
unserer Stelle keine andere Bedeutung beigelegt werden, an
sich ist „sibbe* auch in den Verbindungen „sibbe tale“ und „sik
to der sibbe stuppen“ nicht anders zu deuten. Soll dem Worte
eine abweichende spezielle Bedeutung beigelegt werden , soll
dies namentlich nicht im ganzen Artikel sondern nur an ein-
zelnen Punkten geschehen, so ist eine solche Abweichung zuerst
deutlich zu erweisen.
b) Schon unter 1) wurde bemerkt, wie wenig passend der
Ausdruck Seitenverwandte auf die deutsche Sippegliederung an-
zuwenden ist. Gerade in nnserm Paragraphen ist die Deszen-
*) Ähnlich Heusler S. 693. „mit Bestimmtheit fingt er die Generationen
erst, zu zählen an mit den Geschwisterkindern. Im Bild des menschlichen
Körpers ist das so dargestellt, dass die Geschwister im Halse stehen, also
noch nicht in die Seitenlinie weichen, nicht jedes von ihnen ein besonderes
Glied (jedes eine Schulter) oeenpirt, sondern beide in dem einen Gliede des
Halses vereinigt sind. Erst mit der Schulter beginnt daher die
Sippe* n. s. w.
*) Vgl. dazn unten Abschnitt III sub 4c. Gegen Wass. vgl. übrigens:
Ilom. Par. S. 11, Lewis, IX S. 66, v. Amira E. S. 129, Schanz S. 44 und 46.
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denz eines Elternpaares dargestellt,1) alle Teile derselben wer-
den mit diesem in erster Linie und fast ausschliesslich iu Be-
ziehung gebracht, auf das Verhältnis der Einzelnen zu den
Stammeltern, auf die Entfernung von diesen vor Allem kommt
es an; eine Grösse, zu welcher die Angehörigen dieser Nach-
kommenschaft im Verhältnis von Seitenverwandten, als auf der
Seite befindlich erschienen, findet sich nicht.8)
c) Auch die Stellung einzelner Stufen dieser Deszendenz
iu Seitengliedern ist irrelevant. Dieselbe erfolgte nur, weil
eben der Rumpf die erwünschte und nötige Gliederung nicht
bot,3) um das Bild fortzusetzen. Oder will etwa Wass. auch
der Wahl des Mittelfingers statt des Daumens (der eben ein
Glied weniger hat) oder des kleinen Fingers Bedeutung bei-
legen? Wass.’s Benutzung des Bildes hätte nur eine Berechti-
gung, wenn er zeigen könnte, dass im dritten Gliede, unter den
Enkeln, die einen im Rumpfe weiter herabsteigen, die andern
im Seitengliede. Aber unsere Stelle sagt: „Ungetveider brüder
kindere de stat an deme lede, dar scülderen unde arm to sa-
mene gat, also dut die süster kindere.“ Mithin steht diese ganze
Generation an der Schulter. Die Darstellung der Deszendenz
überhaupt im Verhältnis zu den Stammeltern geht auf dieser
und den folgenden Stufen weiter, wie sie mit den Kindern be-
gonnen hat.
d) „Sibbe tale“ kommt im ganzen Ssp. nur hier vor. Selbst
wenn man mit Wass. annimmt, dass die Geschwisterkinder, bei
welchen von der „sibbe tale“ zuerst gesprochen wird, als
Seitenverwandte hier in Betracht kommen, so tritt doch die
Sippezahl nicht mit dem Anfang der Seitenverwandtschaft auf,
deckt sich, wenigstens wie Wass. die Sippe zählt, nicht mit
l) Davon bandeln wir nnten sub II.
*) Siehe aber unten sub II 2 eine Einschränkung; ferner Ober die Be-
zeichnung Bruder- und Schwesterkind daneben noch ebenda am Ende.
*) Auch unter Knie wird man nicht ein Stück eines Verwandtschafta-
bildes zu verstehen haben. Wenigstens weiss ich nicht, wo die übrigen
Gliederteile dazu zu finden wären. Vielmehr dürfte Knie für die Biegung
bei einer Generation gerade so gebraucht sein, wie wir jetzt bei einer Strasse
von einem Knie reden, ohne an die übrigen Glieder dabei zu denken. lieber
Buscrn vgl. v. Arnira E. S. 128. jetzt aber wieder derselbe , Recht“ S. 140;
Uber Enkel Kluges etymologisches Wörterbuch sub verbo.
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ihr. Denn zur Seitenverwandtschaft gehören doch eben auch
die Geschwister, wenn Wass. schon auf Grund unserer Stelle
ihnen für die Verwandtschaftsberechnung eine Ausnahme-
stellung zuweist. Freilich sagt er (Repl. S. 12) — offenbar im
Hinblick auf den Einwand, wesshalb denn die angeblich bei
der Seitenverwandtschaft allein und überall vorkommende
Sippezahl nicht schon bei den Geschwistern, den Seitenver-
wandten xat' efojfjjt' erwähnt werde — die Sippezahl finde sich
nur bei der eigentlichen Seitenverwandtschaft, der Magschaft.
Allein unsere Stelle sagt: „Dit is de irste sibbe tale, die man
to magen rekenet; bruder kindere unde suster kindere,“
also nicht, das ist die erste Sippezahl überhaupt, sondern
nur die erste, die zu den Magen gehört. Deutlicher kann man
eigentlich nicht sagen, dass die Sippezahl nicht erst mit den
Geschwisterkindern beginne, sondern anderswo; deutlicher kann
man, in diesem Zusammenhang, auch nicht ausdrücken, dass die
erste Sippezahl überhaupt nach dem Ausgangspunkt der ganzen
Darstellung hin liege, also entweder bei den Kindern bezw.
Geschwistern oder den Eltern. Zum Ueberfluss sagt noch die
Quedlinburger Handschrift geradezu: „Diz ist die erste mage-
sclioph.“ ‘) Dass man das nicht sieht oder sehen will,') kommt
wohl davon, dass im weitem nach Magschaften gezählt wird;
allein selbstverständlich muss man den Relativsatz überall er-
gänzen, z. B. „in dem ellenbogen stat die andere,“ nämlich
„sibbe tale die man to magen rekenet“ u. s. w.
Uebrigens lässt sich noch direkt beweisen, dass neben der
Magschaft Eike auch die Sippschaft gezählt hat, und von wo an.
Der von Eike selbst herrührende Zusatz sagt: „De sibbe
lent in dem seveden erve to nemene, al hebbe de paves
georlovet wif to nemene in der veften.“ Die Fassung „in
dem seveden“ und „in der veften“ steht unzweifelhaft fest,
alle alten und guten Handschriften geben sie. Die Verschieden-
>) Der Zusatz: „die mau zu magke rekenit* ist dann allerdings über-
flüssig.
’) Bemerkt haben es z. B. Qaupp S. 68, Stobbe P. R. S. 64, Hensler
S. 687 Note 2, ohne diese Beobachtung weiter zu verwerten; vgl. auch Lewis,
IX S. 56, gegen ihn Schanz S. 44 Note 136.
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heit in (lein Ausdruck ist also ursprünglich.1) Ist sie wohl
zufällig? Dass der Passus „De sibbe lent in dem seveden erve
to nemene“ bedeutet: Der siebente Grad ist (u. z. zuerst) nicht
mehr erbberechtigt , dass die Zählung in ihm also die gleiche
ist wie vorher bei : „In dem seveden stat ein nagel unde nicht
ein let, dar umme lent dar de sibbe, unde hetet nagel mage,“
steht ausser Zweifel.8) Wie steht es aber mit dem „in der
vefteu“? Auffällig ist schon die Form; die Ergänzungen3)
„lede,“ „grade“ sind schon durch das Geschlecht ausgeschlossen,
„linien,“ wie andere Handschriften ergänzen, deshalb, weil das
Wort sonst im Ssp. nicht vorkommt. Es bleibt: „tale“ oder
jedenfalls besser: „sibbe.“4) Aber weshalb sagt denn Eike, in
der fünften Sippe sei es gestattet zu heiraten? Weshalb drückt
er sich nicht gleich wie im Vorhergehenden aus, also „in dem
veften ? “ Der verschiedenen Form liegt eben ein verschiedener
Inhalt, eine Verschiedenheit der Zählung, zu Grunde.
In der hier angezogenen Dekretale Innozenz III. vom
vierten Lateranischen Konzil (cap. 8 X de consangu. et affin.
4, 14) verkündet der Papst, dass prohibitio qnoque copulae
coniugalis quartum consanguinitatis et afftnitatis gradum de
cetero non excedat, quoniam in ulterioribus gradibns iavn non
potest absque gravi dispendio huiusmodi prohibitio generaliter
observari. Quaternarius vero numerus u. s. w. Qunm ergo
iam usque ad quartum gradum prohibitio conjugalis copulae sit
restricta u. s. w. Keinem Zweifel unterliegt es, dass die frän-
kische Kirche des achten Jahrhunderts, welche als letzten ver-
botenen den dritten, und die des nennten Jahrhunderts, welche
') Dass der Dsp. und die lateinische Uebersetznng diesen Unterschied
nicht beachten, beweist natürlich nichts, im Gegenteil bestärkt die im ersteren
durch die Nichtbeachtung entstandene Kontusion unsere Ansicht. S. Anhang I.
5) Nimmt man aber dies nicht an, deutet man die Stelle so, dass der
siebente Grad der letzte erbberechtigte sei, dann kommt mau uoch mehr
dazu, diesen nicht von den Geschwisterkindern an zu rechnen, denn nach
dem Vorhergehenden ist ganz deutlich die sechste und nicht die siebente
Magschaft die letzte erbberechtigte.
*) Vgl. dieselben in den Noten der Homeyerschcu Ausgabe zu dieser
Stelle. Bei dem „in dem seveden“ ist übrigens im ganzen Artikel nichts zu
ergänzeu, namentlich nicht „lede“ vgl. das Ende von Ssp. I 3 § 2; cs ist
substantiviertes Neutrum = die siebente Stelle.
«) Vgl. Ssp. I 19 § 1.
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als solchen den vierten Grad germanisch -kanonischer Kompu-
tation kannte,1) diese Grade von den Geschwistern an zählte,
schon weil dieselben durch Umrechnung aus dem sechsten,
bezw. siebenten römischen Grade entstanden waren. Erst im
Anfang des elften Jahrhunderts taucht in einzelnen kirchlichen
Rechtsquellen*) eine wohl altnationale Zählung auf, welche
den ersten Grad den Geschwisterkindern gibt. Die Haupt-
steile darüber ist zwar als c. 1 C. XXXV qu. 5 in das decre-
tum Gratiani übergegangen; die in ihr enthaltene Zählweise ist
aber in dem betreffenden Beschluss des vierten Laterankonzils
sicher nicht zur Anwendung gekommen. Denn einmal hatte
schon 1056 Alexander II. in § 9 und 10 des c. 2 C. XXXV
qu. 5 sie als mit derjenigen der sancti Patres und mit dem
antiquus mos sanctae et universalis ecclesiae nicht vereinbar
verworfen, wenn er auch zugab, dass sie nicht zu irrigen Re-
sultaten führe; während man nämlich bei der alten Zählweise
bis sieben zähle, gehe man bei der neuen regelmässig nur bis
sechs. Sodann hat Innozenz HI. selbst 1212 die letztere als
willkürlich ganz abgewiesen in c. 7 X. de consangu. et affin.
4, 14, ®) sie wurde auch in der Kirche nicht angewendet.4)
’) Vgl. statt anderer Richter, Kirchenrecht 8. Aufl. S. 1086 und 1087.
*) Vgl. darüber ausführlich unten II 1.
*) Diese Stelle sagt nicht etwa argumento a contrario das Gegenteil.
Das innltum favoris, das die Ehe geniesst, besteht nicht darin, dass von den
als Zeugen besonders gewichtigen Verwandten (vgl. c. 3 X. qni matrim. accus,
poss. 4, 18) eine ganze Generation wegfällt, wenn es sich um Ehescheidung
handelt, indem dann nämlich ausnahmsweise die sieben Grade weiter oben,
bei den Geschwistern, statt wie sonst bei den Geschwisterkindern, zu zählen
begonnen würden. Das ist schon deswegen unmöglich, weil trotz der ver-
änderten Zählung kein Unterschied in dem Zeugenkreise einträte; denn,
wenn einmal von den Geschwisterkindern au gezählt wurde, blieb man ja
bei 6 stehen und zählte gar nicht auf 7. Vielmehr bestand der favor conjugii
darin, dass man es strenge nahm mit dem Verwand tschaftsbeweise, den der
Zeuge leisten musste, um zum Zengniss zu kommen. Der Zeuge konnte
nicht nur, etwa unter Berufung auf die weltliche und auch in der Kirche
nicht ganz unbekannte Zählweise, dartun, dass einer seiner Vorfahren als
Neffe eines Vorfahren eines der Ehegatten bezeichnet worden war, er musste
auch dessen Vater, den Bruder des Vorfahren der Ehe, nennen können.
Jedenfalls hat Innozenz nicht drei Jahre später in einem Konzil die von ihm
hier als willkürlich verworfene Zählung selbst angewendet, vgl. c. 9 eodem;
c. 47 X. de testibus 2, 20.
*) Oder dann als solche bezeichnet. Vgl. c. 3 in (ine X. de divortiis 4, 19.
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14
Demnach kann es keinem Zweifel unterliegen, dass in dem
Konzilsbeschlusse als erster Grad die Kinder vorausgesetzt
sind. Wenn nun der Ssp. sagt, der „paves liebbe georlovet
wif to nemene in der veften,“ also „in der vierden“ noch nicht,
so kann Eike hier — falls seine Angabe nicht geradezu un-
richtig ist, was aber nicht sein kann, weil Kienkok, der eben
diesen Zusatz angriff, sich nur gegen die Tendenz, nicht gegen
den positiven Teil des Inhalts wandte, wie denn auch die Re-
probationsbulle keineswegs eine positive Unrichtigkeit dieser
Stelle andeutet — nicht mit den Geschwisterkindern
zu zählen begonnen haben, sondern muss die Ge-
schwister als erste Sippe voraussetzen, ihnen
die erste Sippezahl geben.1)
Dies Ergebnis, dass nämlich Eike die Sippe von den Ge-
schwistern an zu zählen beginnt, erhält seine willkommene Be-
stätigung durch Ssp. I 19 § 1, eine Stelle, welche den letzten
Zweifel beseitigt, weil sie ursprünglich, kein späterer, in die
Darstellung erst eingeschobener Zusatz ist. Eike zählt
dort die Abweichungen des schwäbischen Rechts gegenüber
dem sächsischen auf. Die erste Abweichung besteht darin,
dass „die svavee nimt wol herwede unde erve boven der
seveden sibbe, also verne so he immer gereken kan, dat ein
de man von sverthalven to geboren si, oder also vern also he
getügen mach, dat en sin vorvare jens vorvaren, oder jens vor-
vare sines vorvaren herwede irvorderet liebbe vor gerichte,
oder genomen hebbe. Daraus geht argumento a contrario mit
Sicherheit hervor, dass bei den Sachsen die letzten Erbberech-
tigten „de sevende sibbe“ war; wird dieselbe von den Ge-
') Erst nachdem Obiges geschrieben war, sah ich, dass Gaupp S. 69
Note 1 bemerkt, dass ein Widerspruch zwischen dem kanonischen Hechte
und den Angaben Eikes entsteht, wenn man das „in der veften“ wie die vor-
hergehenden Zahlen von den Geschwisterkindern an berechnet. Allein die
Tragweite dieser Beobachtung bleibt ihm verhüllt, weil er den Unterschied
in der Formulierung übersieht, „in dem seveden“ und „in der veften“ gleich
zählen zu müssen glaubt, und demnach im ersten oder zweiten Teil der
Stelle eine tatsächliche Unrichtigkeit annimmt; Uber dieselbe setzt er sich,
offenbar weil die Stelle erst später hinzugefttgt ist, leicht weg. Allein Ssp.
I 19 § 1 und das oben über Kienkok Gesagte hätte ihm zeigen können, dass
weder im Haupt- noch im Nebensätze ein Fehler sich finden kamt. Vgl. auch
Stobbe P. B. S. 67 Note 13.
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15
schwisterkindern an berechnet, so tritt die Angabe in Wider-
spruch zu Ssp. I 3 § 3, wonach die sechste, so berechnete
Stufe die letzte zum Erben berechtigte ist.1) Der Widerspruch
löst sich leicht mit der Annahme einer doppelten Zählung,
derjenigen der Sippe und derjenigen der Magen. Hier liegt
schon nach der Formulierung die erstere vor, welche, wie aus
dieser Stelle wiederum ersichtlich ist, mit den Geschwistern
begonnen haben muss. Wir sehen also, gerade wo die Sippe
allein gezählt ist, wo die absolute Sippezahl, nicht die relative
(Sippezahl, die man zu Magen rechnet) in Betracht kommt,
wird nicht erst vom Beginn der „eigentlichen Seitenverwandt-
schaft“ an gezählt, sondern von den Kindern bezw. Geschwis-
tern ans als erster Sippe.8) Daneben her geht die Zählung
von Sippezahlen, die man zu Magen rechnet, oder von Mag-
schaften. Dieselbe hat, wie wir gleich sehen werden, bloss
terminologische Bedeutung und erklärt sich aus dem uralten
Gegensatz von Haus und Sippe in diesem engern Sinne, welcher
sich in der Verwandtschaftsgliederung in der Scheidung von
zwei Verwandtenkreisen geltend macht. Dieselben unterscheiden
sich rein äusserlich schon dadurch, dass die Sprache für die
Angehörigen des erstem einfache, ursprüngliche Verwandtschafts-
namen besitzt, welche dieselben in allen ihren Beziehungen zu
einander bezeichnen.3) Für die Angehörigen des letzteren
Kreises hat die Sprache keine, oder nur zusammengesetzte oder,
wenn etwa doch einfache Namen, nur solche, welche eine einzelne
') Es füllt also nicht, wie Stobbe P. R. S. 69 Note 19 meint, eine Un-
genanigkeit dem Sachsenspiegler zur Last.
*) Dadurch dass so der oben S. 10 a. E. von uns gegen Waas, gemachte Ein-
wand in betreff des Nichtzusammenfallens von Sippezäblung nnd Seitenver-
wandteu nicht für ihn, aber tatsächlich dahin fällt, wird die Beziehung
von Sippezahl und Seitenverwandtschaft nicht etwa richtig vgl. unten
suh II 2. Dass Wass. Sippschaft und Magschaft f Ur identisch gehalten hat
(vgL seine handschriftliche Bemerkung bei Schanz Note 26), war für seine
Theorie verhängnisvoll.
Nun kann auch nicht mehr der Unterschied des Ssp. I 3 § 3 und Schwsp.
c. 3 so ausgedrückt werden, dass ersterer die Sippezahl von den Geschwister-
kindern, letzterer schon von den Geschwistern an zähle. Vielmehr stimmen
beide in der Sippezählung überein, der Unterschied in der genannten Weise
besteht nur für die Magenzähluug. Vgl. übrigens unscrn ersten Anhang.
') Vgl. auch v. Amira, Recht S. 137.
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16
Beziehung zwischen zwei bestimmten Personen ausdrück en.‘)
Sie alle heissen Magen;8) um die einzelnen Gruppen zu unter-
scheiden, zählt man sie; daher spricht die Quelle von einer
ersten, einer zweiten u. s. w. Sippezahl, die man zu Magen
rechnet, d. h. von Magen erster, zweiter u. s. w. Ordnung, von
erster, zweiter u. s. w. Magschaft.
e) Wir haben ferner die Anwendung des Ausdrucks „sik
to der sibbe stuppen“ zu untersuchen, weil auch er nach Wass.
nur in der Seitenverwandtschaft vorkomrat. Er begegnet im
Ssp. zweimal, I 3 § 3 und I 17 § 1, die letztere Stelle lassen
wir vorläufig ausser Betracht.8)
Nachdem Eike erörtert hat, „war de sibbe beginne unde
war se lende“, gibt er uns eine Regel darüber, wie die Ver-
waudtschaftsgliederung in ihrer Hauptfunktion, bei der Bestim-
mung der Erbenfolge, anzuwenden sei. „Die tvischen deme
nagele unde deme liovede sik to der sibbe gestoppen mögen
an geliker stat, de nemet dat erve gelike De sik naer to der
sippe gestuppen mach, de nimt dat erve to voren.“ Jeder Leser des
Ssp., welcher mit Wass.’s Theorie nicht bekannt ist, wird ohne jeg-
liches Zögern oder Bedenken die Regel auf das Vorhergehende und
die dort gegebene Verwandtschaftsgliederung beziehen. Nun ist,
wie wir in unserm zweiten Abschnitte sehen werden, im ersten
Teil von I 3 § 3 die Deszendenz eines Stammeitem paars und
nur diese, ohne Rücksicht auf ausser ihr befindliche Personen,
dargestellt. Wir werden sehen, dass es die erste Parentel im
technischen Sinne der Liuealgradualordnung ist. Wass. dagegen
sieht in dieser Nachkommenschaft die zweite Parentel darge-
stellt. Diesen ersten Teil des Paragraphen nun mit dem zweiten
in Verbindung zu bringen, kostet Wass. die allergrösste Mühe,
zeigt sie doch, dass die nach ihm bei den Geschwisterkindern
überhaupt erst beginnende Zählung der Sippe wenigstens auf
') Wie vedderu in Ssp. I 5 § 1, nichtel in Ssp. 120 §7 nnd anderswo;
Vgl. auch v. Amira a. a. 0. und Seelig S. 39.
*) Nicht bloss die Seitenverwandten, wie Heusler S. 587 Note 2 meint.
Nach unserer Stelle sind anch die Enkel Hagen u. z. die ersten in der Nach-
kommenschaft des Erblassers. Vgl. auch unten II 2 und B II a. E.
• Es ist zu eng, wenn Heusler S. 592 den Gegensatz zum Hause, das
nicht unter die Magenzählung füllt, in den Seitenverwandten sieht.
*) vgl. über sie unten B II.
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17
die Erbeufolge keinen Einfluss hat; man mag nämlich in dem
Vorhergehenden die erste, zweite oder irgend eine höhere
Parentel sehen, überall bleibt die Tatsache bestehen, dass
alle, die tvischen deme nagele uude deme hovede (nicht halse)
sind, im Erbrecht nach demselben Prinzipe behandelt werden
Freilich nimmt Wass. zu folgenden merkwürdigen Ausführungen
seine Zuflucht. Nach der eigentümlichen Anschauung des
Spieglers gehören die Geschwister gar nicht zur Seitenlinie1)
sondern zum Stamme,*) ihre Stelle sei am Halse, sie seien
keine Magen (Wass. S. 0. S. 14, 35, Repl. S. 17), die Sippe-
zahlen beginnen bei ihnen noch nicht. Diese Singularität
trete aber nur in der Komputation hervor (S. 0. S. 35);
so nach dem Bilde in I 3 § 3. Dagegen könne es keinem
Zweifel unterliegen, dass die ersten Stufen der hohem Paren-
telen, also Elterngeschwister, Grosselterngeschwister etc. Seiten-
verwandte, Magen seien; also müssen sie Seitenglieder
innehaben und folglich können sie nicht am Halse stehen (Repl.
S. 18). Also fehle dem Bilde in den liöhcrn Parentelen
ein Glied, der Hals. Die Elternvollgeschwister u. s. w.
stehen mithin in der Achsel. Andererseits sei für die Erben-
folge der Satz „Die tvischen etc.“ nur auf die höheren Paren-
telen anwendbar, nicht auf die (im Anfang des Paragraphen
nach Wass. dargestellte) zweite; denn er nehme ja das Haupt
zum Ausgangspunkte, in der zweiten Parentel werden aber die
Magen nicht schon vom Haupte an gezählt.1) In den andern
') Natürlich kommt Hensler, welcher in dieser Beziehung mit Wass.
Ilbereinstimmt (siehe oben S. 9 Note 1), nicht zu den Resultaten Wass.’s, weil
er den Gegensatz von Seitenlinie nicht in Aszendenz und Deszendenz, sondern
in Haus findet, vgl. 3. 16 Note 2.
*) Soll wohl sagen, dass sie den Aszendenten und Deszendenten beige-
sellt werden.
*) Sehr einfach vereint Seelig S. 37 die Sonderstellung der Geschwister
mit der Regel. Diese ist nach ihm auf das Vorhergehende anzuwenden,
gagt aber nur, „dass alle Verwandten, die am gleichen Gelenke stehen,
zusammen und zu gleichen Teilen zum Erbe berufen werden. Dann erinnert
er sich daran, dass die Geschwister wie die Eltern und der Busen nicht an
Gelenken stehen, und verleiht dnreh diese Idee der Stelle neue schwerwiegende
Bedeutung. Alle diese erben eben nach einer besondem Erbfolgeordnung,
kure vor seinen Blicken hebt sich scharf der Erbenkreis der Ganervcn ab,
und er hat nun die Methode, mit deren Hülfe im einzelnen Falle der lie-
St atz, Yerw&ndUchaftubild. 2
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Parentelen aber, wo der Hals wegfalle, sei die Regel ohne
weiteres anwendbar. (Wnss. Repl. S. 19 und 20). Was nun
die Stellung der Geschwister in der Erbenfolge betrifft, so fol-
gert Wass. aus Ssp. I 17 § 1, dass sie den Deszendenten und
Aszendenten nachgehen. Sie erben in der Seitenlinie des
Erblassers (S. 0. S. 35 al. 1 Satz 2); aber sie gehören (in
der Komputation) nicht zur Seitenlinie. Diese Stellung in der
Erbfolge1) erkläre die Ausschliessung der Geschwister von der
Magschaft (also in der Komputation), sie sei ein Reflex der-
selben, eine Folge; da die Geschwister vor den übrigen Seiten-
verwandten geerbt haben, habe man sie nicht zu denselben
rechnen, zählen können, sonst hätten sie nach dem Grundsatz:
„alle de sik an geliker stat to der sibbe gestuppen mögen,“
erben gleich, mit Tanten und Oheimen erben müssen.*) (S. 0.
S. 36, Pr. d. E. S. 5). Gegen diese Ausführungen Wass.’s ist
nun zu bemerken:®)
a) Es ist nicht einzusehen, weshalb die Mittelstellung,
welche die Geschwister nach Wass. in der Erbenfolge und in
der Verwandtschaftsgliederung einnehmen, nämlich zwischen
rofene Erbe ermittelt wird“;!) Ich kann nur in dem Satze „die tvischeu deme
nagele* etc. von Gelenken nichts finden, nicht einmal von Gliedern;
denn er spricht von „stat.“ Dass eine solche, ja dass sogar allenfalls ein
Glied der Hals nicht sei, dürfte zu beweisen schwer fallen.
') Die übrigens, wie wir unten sub B II sehen werden, aus Ssp. I 17
§ 1 nicht abgeleitet werden kann.
*) Hier mischt sich noch die Wasserschlebensche Ansicht ein, dass „unter
den Magen alle diejenigen, welche sich zu irgend einem mit dem Erblasser
gemeinschaftlichen Stammvater in dem Vcrwandtschaftsbilde näher gliedern,
den übrigen Vorgehen, diejenigen, welche am gleichen Gliede stehen, zugleich
erben“ (Wass. S. 0. S. 36, Bepl. S. 36 und 37). Schon Schanz S. 34 hat da-
rauf hingewiesen, dass dies unmöglich ist, weil die Kegel „die tvischen“ u.
s. w. nur auf eine Parentel zugleich anwendbar ist Derselbe hat S. 29
und 30 den Beleg aus dem Rechtsbuche nach Distinktionen, welchen Siegel
V. B. S. 31 für das Gegenteil anführte, als nicht stichhaltig dargetan.
Nicht zu verwechseln mit dieser Wass.’schen Ansicht ist das, was v. Amira
E. S. 131 sagt, vgl. unten sub III.
*) Vgl. gegen Wass. auch Hom. Par. S. 15 tmd 16, Siegel V. B. S. 30,
31, 37 f., Lewis, IX S. 57, Schanz S. 34 f., welcher aber, wenn er in der
Charakteristik der Anwendung, die Eikes Verwandtschaftsbild durch Wass.
erfahren hat, S. 10 fortfährt: „Angewandt auf die Erbenfolge etc.“, den Unter-
schied zu übersehen scheint, den Wass. für die Stellung der Geschwister bei
der Komputation und bei der Erbfolge macht.
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19
Aszendenten und Wass’s Magen, für die Erbenfolge durch eine,
ich möchte sagen, privilegierte Stellung unter den Seitenver-
wandten zu erklären sein soll,1) in der Komputation8) aber
durch Beigescllung zu den Aszendenten. Man müsste sich doch
vorstellen, die Geschwister seien in beiden Fällen als Annex
der Aszendenten zu betrachten; denn dass die Stellung in der
Erbfolgeordnung darauf Einfluss haben könne, ob die Geschwister
zu den Magen gerechnet werden oder nicht, ist aus innern
Gründen durchaus undenkbar. Gerade bei den Germanen hat wohl
die Verwandtschaftsgliederuug unabhängig von dem Erbrecht
der Sippe, ja schon bevor sich ein solches entwickelte, bestanden.
Auch nach der ganzen Darstellung des Ssp., welcher zuerst die
Verwandtschaftsgliederung schildert und dann unter deren
Voraussetzung die Erbenfolge regelt, müsste man sagen: Weil
den Aszendenten, dem Stamm, dem Rumpfe beigesellt, erben
die Geschwister vor den übrigen Seitenverwandten, und nicht
umgekehrt. Diese Motivierung hat aber Wass. überall
sorgfältig vermieden und musste sie vermeiden. Denn wie
lassen sich die drei Linien der Deszendenten, Aszendenten und
Kollateralen als Prinzip der Erbfolgeordnung aufrecht erhalten,
wenn es sich zeigt, dass ein seinem inneren Wesen nach zu der
dritten Klasse gehöriger Bestandteil, ja sogar deren eigentlicher
Haupttypus, der zweiten (allerdings als letzte Stufe) beigesellt
wird? Wir aber werden den Schritt, den Wass. nicht getan
hat, tun müssen und, der Quelle gemäss, den Zusammenhang
zwischen der Stellung der Geschwister im Verwandtschaftsbilde
und derjenigen in der Erbfolgeordnung umgekehrt formulieren.
Wenn darob die ganze Wass.’sche Theorie nicht standhält, so
zeigt sich nur wieder einmal, wie gefährlich es ist, in einen
Stoff ein Element, das ihm ganz fremd ist, hineinzutragen,’)
wie in die deutsche Erbfolgeordnung den aus römischen An-
schauungen stammenden Begriff der Seitenverwandtschaft.
') „ln der Seitenlinie erben zuerst die vollblütigen Geschwister,“
S. 0. S. 35.
*) „Die Geschwister werden nicht znr Seitenlinie gerechnet, sondern
zun) Rumpfe,“ Repl. S. 17.
*) Daran, und nicht etwa an der andern unrichtigen Voraussetzung
Wass's., dass nämlich in Ssp. I 3 § 3 am Anfang die zweite Parentel ge-
schildert sei, scheitert die Theorie; denn für die erste Parentel, in welcher
*•
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20
ß) Allein nicht nnr aus Gründen, die in ihnen selbst liegen,
sondern auch an der Quelle scheitern die Ausführungen Wass.’s.
Es ist in Ssp. I 3 § 3 nirgeuds angedeutet, einerseits dass das
Bild, dessen aualoge Ausdehnung und Anwendung Eike, wie
wir sehen werden, allerdings voranssetzt, bei derselben ein
Glied, den Hals, verliere, so dass die Verwandtschaft und die
Erbfähigkeit in den Nachkommenschaften der höheren Aszen-
denten des Erblassers einen Grad weniger weit reichen sollte
als unter seinen und seines Vaters Nachkommen, und anderer-
seits, dass die Kegel auf die ira Vorhergehenden dargestellte
Parentel, sei es nun, welche es wolle, nicht oder nur mit Modi-
fikationen anwendbar sei.
Vielmehr ist sie offenbar gerade auf das Vorhergehende
anwendbar, gilt also auch für die Geschwister, den Hals, welche
Wasserschieben nicht zur Seitenverwandtschaft rechnet. Mithin
fällt die Behauptung, das „sich zur Sippe stuppen“ komme aus-
schliesslich nur bei Seitenverwandten vor, wenigstens im Sinne
ihres Urhebers, dahin; eine spätere Ausführung wird sie noch
vollends widerlegen, während wir hier vorläufig uns mit dem
Resultate begnügen, dass uns nichts hindert, in dem Ausdruck
„sich zur Sippe stuppen“ dem Worte Sippe seine eigentliche
allgemeine Bedeutung zu lassen.
Uebrigens entscheidet in ganz ähnlicher Weise der Satz:
allein noch der Unterschied von Magen- und Sippezählung zu Tage tritt, er-
gibt sich ini Übrigen dasselbe.
Wäre die Dreilinienordnnng die deutsche Erbfolgeordnung, so müsste sie
übrigens im Schwsp. rein dnrchgeführt sein, weil derselbe nach c. 3 die
Hagenzähluug schon mit den Kindern bezw. Geschwistern beginnt. Es
müssten also hier die Geschwister mit den Elterngeschwistern , Grosseltem-
geschwistem u. s. w. zusammen erben, was Wass. selbst nicht aDnimmt.
(Pr. d. E. S. 14). Die Aenderung der Magenzählnng hat eben nicht solche
einschneidende Aendernngen in der Erbfolgeordnung nach sich gezogen, wie
man nach Wass. erwarten müsste; höchstens verliert, wie Lewis, XIV S. 3 f.
und Seelig S. 40 annimmt, jede Parentel dadurch ein Glied, wenn uicht etwa
der Satz: „alle diezwischen dem houpte und dez nagel“ u. s. w. bloss durch
die sklavische Uebersctzung der Quelle veranlasst ist, und nach dem Schwsp.
auch die siebente Sippe der Nagel, noch erbberechtigt ist. Darauf scheint
mir der Zusatz zu deuten, dass man von dem Haupte bis auf den Nagel
zähle, sowie der im weitem folgende Satz, ein jeglich Mann beerbe seinen
Magen bis auf die siebente Sippezahl. Ebenso Stobbe P. R. S. 68, vgl. auch
Anhang I.
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21
„Die tvischen deme nagele“ u. s. w. auch gegen die Erbfolge-
ordnungen von Siegel, von v. Amira und von Schanz. Allen
diesen Autoren ist gemeinsam die Unterscheidung zweier Erben-
(in Wahrheit aber bloss Verwandten-) kreise, in welchen ver-
schiedene Erbfolgeprinzipien gelten sollen. Nun erblickt
Schanz (S. 31) iu der zu Anfang des Paragraphen dargestellten
Nachkommenschaft die zweite Parentel (S. 31 f.), ebenso wohl
Siegel,1) und nach v. Amira ist das Verwandtschaftsbild jeden-
falls auch auf die absteigende Linie, also die erste Parentel,
anwendbar (E. S. 130 a. E.). Alle diese drei Autoren finden
also in der dargestellten Nachkommenschaft Angehörige beider
Erbenkreise, Schanz und Siegel: Geschwister einerseits und
Geschwisterkinder, Geschwisterenkel u. s. w. andererseits, ebenso
v. Amira, wenn er das Bild auf die zweite Parentel anwendet,
wenn auf die erste: Kinder einerseits und Enkel (welche nach
ihm nur durch positive Ausnahme zu dem engern Kreise gehören),
Urenkel (welche nicht mehr dazu gehören) u. s. w. andererseits.
Wenn nun aber der Satz: „Die tvischen“ n. s. f., wie aus der
Quelle unwiderleglich hervorgeht, und wie wir es schon des
öftern betont haben, unmittelbar und in erster Linie auf das
Vorangehende anzuwenden ist, so folgt daraus, dass Glieder
beider Erbenkreise hier nach demselben Erbfolge-
prinzip in Betracht kommen, dass Geschwister vor den
Geschwisterkindern erben, nicht weil sie dem engern Erben-
kreise angehören, jene aber nicht, sondern weil sie sich näher
zu der Sippe stoppen können. Nicht zwei Erbfolgeprinzipe
gelten für die Angehörigen der beiden Kreise, sondern offenbar
ein und dasselbe.
Dagegen schliesst die unleugbar bestehende, dem Gegensatz
von Haus und Sippe entsprechende Scheidung in zwei Ver-
wandtenkreise, die sich in gewisser Hinsicht2) sogar im Erb-
*) Er äussert sich nirgends ganz direkt; vgl. sein Erbr. S. 23 Note 81
(aber auch V. B. S. 40); am deutlichsten aber wohl argnmeuto a contrario
aus Rez. S. 26, wo er behauptet, die Halbgcburt komme nur in Betracht bei
Geschwistern, Geschwisterkindern, Geschwisterenkeln u. s. w., also nur in der
zweiten Parentel, eine Behauptung, welche sich wohl nicht aus Ssp. II 20 § 1
erklären lässt, sondern nur, wenn er eben in den Stammeltern des Ssp. I
3 § 3 die Eltern des Erblassers, in ihren Nachkommen die zweite Pa-
rentel sieht.
*) unten B. I.
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22
recht Reitend macht, die Parentelcnordnung nicht aus. Mit der
nach Parentelen gegliederten Sippe ist eine zweite, Glieder
verschiedener Parentelen zusammenfassende Einteilung nacli
zwei Kreisen natürlich wohl vereinbar, mit der Erbfolgeordnung
hat dieselbe ja nichts zu schaffen, sobald für die beiden Kreise
nicht besondere Erbfolgeprinzipien gelten.
f) Wir haben gesehen, dass die ausschliessliche Deutung
von „sibbe“ als Seitenverwaudtschaft an keinem Punkte unseres
Paragraphen nötig, ja auch nur zulässig ist. Wollen wir das
Wort nuancieren, so liesse sich sagen, dass es neben Verwandt-
schaft überhaupt auch die Nachkommenschaft eines Stanimeltera-
paars, Linie oder Parentel im untechnischen, vielleicht auch im
technischen Sinne *) bezeichnen könne, ja dass es auch nur eine
Stufe derselben bedeutet, wenn z. B. von der vierten oder von
der siebenten Sippe die Rede ist. Jedenfalls aber lässt es sich
überall allgemein mit Blutsverwandtschaft deuten, und diese
allgemeine Bezeichnung wollen wir beibehalten; es scheint uns,
dass die Sprache nicht ohne Grund alle diese Begriffe mit dem-
selben Worte bezeichnet. Durch eine Spezialisierung dürfte
man sich das Verständnis gerade unserer Stelle nur erschweren.
H.
„Nu merke wie ok, war de sibbe beginne unde war se
lende.“
Wir untersuchen nun zuerst, wie uns Eike denn die Sippe,
ihren Anfang und ihr Ende darstellt.
1) Zunächst führt er uns Mann und Weib vor, welche eine
nach kirchlichem und weltlichen Rechte (elike unde echtlike)
vollwertige Ehe geschlossen haben. Sie bilden unstreitig Ur-
sprung und Anfang der Sippe.®) Auf sie folgen die Kinder,
daun die Kinder vollbürtiger Geschwister, die erste Magschaft,
hierauf deren Kinder, die zweite Magschaft u. s. w. bis zur
') Vgl. nuten huI III 3
’) Wo man ilie Sippe zu zählen begonnen habe, ist eine andere Frage.
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23
sechsten Magschaft; die siebente, die sog. Nagelmagschaft, ist
nicht mehr verwandt.')
Einer genauen Untersuchung bedarf Eikes Augabe über die
Verwandtschaftsgrenze. Erkennen wir nämlich mit v. Amira
E. S. 49 in dem sechsten Knie, über welches nach der lex Salica die
Berufung zum reipus nicht schreitet, eine Erbrechtsgrenze,
nehmen wir ferner mit demselben Gelehrten und Heusler S. 591
an, dass die bei den Ripuariern und den Thüringern geltende
Erbrechtsgrenze des fünften Knies von den Geschwisterkindern
an berechnet sei, berücksichtigen wir ferner, dass in der Be-
stimmung des ed. Rotharis: „omnis parentela usque in septimum
genieulum numeretur“ nach langobardischer Weise der Stamm-
vater mitgezählt ist, so erhalten wir für die Zeit der Volks-
rechte und das grosse Gebiet der genannten Rechtsquellen eine
übereinstimmende Verwandtschafts- und Erbberechtigungsgrenze
im sechsten Grade kanonischer Komputation. Vergleichen wir
damit die Angabe des Ssp., so ergibt sich eine Ausdehnung
der Verwandtschaft bezw. der Erbberechtigung um einen Grad,
während die Zählung sogar zwei Grade weiter geht. Wir
fragen uns sofort, ob diese Veränderung erst im Laufe der
Zwischenzeit erfolgt sei, oder ob sie auf altem sächsischen
Stammesrecht beruhe. Die lex Saxonum gibt uns darüber
keine Auskunft. Man möchte aber im Hinblick auf den Ssp.
im ersten Augenblick dies zu bejahen geneigt sein. Wie weit
derselbe für eine Beantwortung dieser Frage in Betracht kommen
kann, wollen wir nun untersuchen.
Es macht sich bei mehreren Schriftstellern, ich verweise
hier nur auf Hom. Par. S. 9 und Heusler S. 593, die Ansicht
geltend, dass die Verbindung der Verwandtschafts- mit der
Weltalterlehre Eike zu dieser oder jener Konzession an die
letztere veranlasse, seine Darstellung der Sippe beeinflusse,
wie solches auch bei der mit derselben Weltalterlehre verbun-
denen Darstellung der Heerschilde der Fall sei. Allein das
Verhältnis der Lehre von den Weltaltern zur erstem ist ein
anderes als dasjenige zur letzteren. Diese hat Eike, so viel
wir wissen, zum ersten Male dargestellt, also hat er auch sie
>) Anders Heusler S. 593 und 600, aber wie wir in der Anmerkung auf
3. 694; ebenso Stobbe P. ß. 3. 69 N. 19, Seelig S. 39.
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24
zum ersten Male mit der Weltaltertheorie iu Verbindung ge-
bracht, m. a. W. Eike hat jedenfalls nicht die Welt-
altertheorie im Zusammenhang mit den Heerschilden
übernommen. Lässt sich ein Gleiches wohl auch bezüglich
der Verwandtschaftsgliederung sagen? Eike wreist durch die
Berufung auf Isidor v. Sevilla, dessen origines sive etymologiae
er allerdings mit dem Kirchenvater Origines verwechselt, deutlich
darauf hin, dass nicht alles, was er uns in diesem Artikel er-
zählt, auf sächsischem Boden gewachsen ist. Hat er nur die
Weltalter übernommen, oder hat er eine Quelle benutzt, welche
ihm schon zeigte, wie man die Verwandtschaft und ihre Be-
grenzung mit den Weltaltem in Beziehung setzen konnte?
Schon der Umstand, dass ein sächsischer Schufte und Ritter
auf eine solche Idee verfallen sein könnte, ist an sich unwahr-
scheinlich, entscheidend für das Gegenteil möchte aber sein die
Tatsache, dass schon vier Jahrhunderte vor Eike unter Berufung
auf denselben Isidor in den germanischen Gebieten eine solche
Parallelisierung von Weltaltern und Geschlechtern vorkommt,
dass ihre ununterbrochene Tradition bis auf die Zeiten Eikes
und auf den heutigen Tag sich nachweisen lässt, dass dieselbe
durch die berühmtesten und am meisten gelesenen Schriften
nicht nur geistlichen, sondern auch weltlichen Inhalts erfolgte,
dass wir ihr einmal sogar, schon lange vor Eikes Zeit, in einem
Konzilienbeschlusse begegnen, und endlich, dass sie gerade mit
der von Eike geschilderten und darnach bei den Sachsen üblichen
Magenzählung eine besonders enge Verbindung eingegangen ist.
Ist dies richtig, so hätte Eike die Weltaltertheorie zwar nicht
mit der Verwandtschaftsgliederung verbunden, wohl aber auf
die Heerschilde ausgedehnt. Da aber des Zusammenhangs wegen
mit der im zweiten Artikel begonnenen Ständelehre im dritten
Artikel die Heerschildgliederung vor der Verwandtschaft dar-
gestellt werden musste, wurde auch die Weltalterlehre zuerst
mit ihr verbunden, und so hat es, namentlich bei dem Ueber-
gang von § 2 zn § 3: „alse de herschilt in me seveden
to stat, also to geit de sibbe an deme seveden,“ den An-
schein erhalten können, als ob der Verbindung von Heerschild-
nml Weltalterlehre und nicht, was sich doch bei genauerer
Ueberlegung als einzig möglich ergibt, dem Zusammenhang der
letzteren mit der Verwandtschaftslehre die Priorität gebühre-
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25
Gibt man (lies zu, so folgt ferner daran», dass Eike wohl
an der Verwandtachaftsgrenze nichts geäudert hat. Wir können
zwar nicht behaupten, dass er uns die altnationale, die sächsische
Verwandtschaftsgrenze direkt dargestellt hat; nicht nur aus
der Praxis hat er diesmal geschöpft, sondern aus seiner Ge-
lehrsamkeit. Allein falls die Verbindung der Weltalterlehre
mit der Verwandtschaftsgliederung eine Modifikation an der
Verwandtschaftsgrenze zur Folge gehabt hat, so ist dieselbe
nicht von Eike, sondern von seiner Quelle gemacht worden,
nach ihr haben wir uns umzusehen, wenn wir uns über das
Verhältnis der in Ssp. I 3 § 3 gegebenen Verwandtschafts-
grenze zur altsächsischen und derjenigen der oben genannten
Volksrechte Klarheit zu verschaffen versuchen wollen.
Isidor v. Sevilla gibt in seinen origines sive etymologiae
1. IX. c. 6 die bekannten drei Figuren der Verwandtschaft.
Zur ersten, die arbor juris darstellend, bemerkt er: Stemm ata
dicuntur ramusculi, quos advocati faciunt in genere, cum gradns
cognationum partiuntnr, utputa Ille filius, ille pater, Ule avus,
iUe agnatus et caeteri, quornm flgurae hae sunt. Zur dritten
Figur bemerkt er: Stemmata stirpis huraanae. Haec consan-
guinitas, dum se paulatim propaginum ordinibus dirimens usque
ad ultimum gradum subtraxerit, et propinquitas esse desierit,
eam rursus lex haec matrimonii vinculo reperto (repetit?) et
quodam modo revocat fugientem.1) Ideo autem usque ad sextum
generis gradum consanguinitas constituta est, ut sicut sex acta-
tibus mundi generatio et hominis Status finitur, ita propinquitas
generis tot gradibus terminaretur.
Diese Stelle hat in der Folgezeit eine ganz erstaunliche
Berühmtheit erlangt und besitzt eine höchst interessante Ge-
schichte, welche wir nun etwas näher zu verfolgen haben.
Zuerst finde ich beide Stellen ohne QueUenangabe aber im
Wesentlichen unverändert in c. 138 der Excerptiones , welche
fälschlich dem Erzbischof Egbert v. York (731 — 767) zuge-
schrieben werden,*) welche aber nach Wass. Buss. S. 45 wohl
l) Augustin de civitate Dei XV lfi § 2.
’) Vgl. Wass. Buss. S. 45, aber noch den Abdruck bei Migne, Tom. 89
col. 395 und Mansi, Tom. XII p. 426. Übrigens scheint Mejer in seiner
grundlegenden Arbeit Uber die Oregurische Komputation diese Stelle Uber-
seben zu haben.
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später, vielleicht im 9. Jahrhundert, entstanden sind. Anderer-
seits trifft man in einer, wahrscheinlich auf angelsächischent
Boden entstandenen collectio antiqua canonnm poenitentialium
c. 29, welche dem Ende des achten oder dem neunten Jahr-
hundert angehören dürfte, und welche fränkische Quellen stark
benutzt hat,1) die Stelle Isidors in wesentlich veränderter Ge-
stalt: Dicta Esydori. Beatus Esydorus de consanguinitate sic
loquitur: Cujus series VII gradibus dirimetur hoc modo: I. filius
et fllia, II. nepos et neptis, III. pronepos et proneptis, IV. abnepos
et abneptis, V. adnepos et adneptis, VI. trinepos et trineptis,
VII. trinepos filius et trineptis fllia. Haec consanguinitas, dum
se paulatim propaginem ordinibus dirimens usque ad ultimum
gradum sese subtraxerat etc. wie bei Isidor. Am Schlüsse: Huc
usque Esydori procedit sententia.
Dieselbe Stelle nur mit der Aendernng, dass trinepos filius
et trineptis fllia durch trinepotis filius et trinepotis fllia
ersetzt ist, begegnet uns in der epistola in concilium Duzi-
acense II (Douci) vom Jahre 874. Sie ist an die aqui-
tanischen Bischöfe gerichtet und hat die antiqua collectio oder
eine verwandte Quelle benutzt, denn sie teilt mit dieser
das : dum . . . . se . . . sese .... subtraxerit (allerdings dem
Original mehr entsprechend als das obige subtraxerat).*) Hier
zeigt sich auch deutlich, woher die im Widerspruch zum zweiten
Teil der Stelle stehenden septem generationes des Anfangs ge-
kommen sind. Gleich nach dem terminaretur fährt die Stelle
nämlich fort: et arbor juris legis Romanae ecclesiasticis con-
cordans legibus u. s. w.; es ist unter dem Einfluss der isido-
rischen arbor juris geschehen, welche die siebente Generation
noch angibt, sowie unter dem Einfluss des römischen Rechts
überhaupt, vor allem wohl von Paulus rec. sent. IV 11 mit der
interpretatio, einer Stelle, welcher in der Geschichte der Ehe-
verbotsgrenze ja eine sehr grosse Bedeutung zukommt.
Derselben isidorischen Stelle begegnen wir nun ca. 150 Jahre
später wieder in dem Dekrete des Bischofs Burchard von
') Vgl. Was». Bnss. 9. 48 und den Abdruck ebenda S. 288; Man«, Tom.
XII p. 503, schreibt sie dem Beda venerabili» zu.
*) Vgl. den Abdruck bei Mansi, Tom. XVII p. 285. Vgl. auch Hefele,
Konziliengeschichte 2 Aufl. IV S. 511.
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27
Worms1) Buch VII c. 10. Auch hier findet sich das dum . . .
se . . . sese .... subtraxerit, neben der Abänderung von
trinepotis filius et trinepotis filia in trinepotis nepos und tri-
neptis neptis aber noch eine weitgehende Interpolation, so dass
die Stelle nun lautet:
In qno ramusculo consanguinitatis legitima connubia fieri
possint.
c. 10. Beatus Isidorus de consanguinitate sic loquitur:
Cujus series septem gradibus dirimitur hoc modo: filius et filia,
quod estfrater etsoror, sit ipse truncus. Illis seorsum
sejunctis ex radice illius trunci egrediuntur isti ramus-
culi; nepos et neptis, primus; pronepos et proneptis, secun-
dus; abnepos et abneptis, tertius: adnepos et adneptis, quar-
tus; trinepos et trineptis, quintus; et trinepotis nepos et
trineptis neptis, sextus. Haec consanguinitas u. s. w. Ideo
autem usque ad sextum generis gradura u. s. w. bis terminetur.
Demnach hat Burchard die Magenzählung in die Stelle
hineingetragen. Man*) ist darüber einig, dass dieselbe alt-
national, nicht etwa von Burchard erfunden ist. Sie wurde
1022 von dem unter Burchards Einfluss stehenden Konzil von
Seligenstadt angewendet, aber auch schon in dem conventus ad
Theodonis villam von 1003 (bei Pertz. Mon. Germ. Script. IV
p. 663 f.) Der Grund zu der Interpolation ist wohl mit Wass.
(S. 0. S. 11 und 12) in dem Bestreben zu suchen, den Wider-
spruch zwischen dem Septem am Anfang und dem Sex am Ende
der Stelle zu heben. Mit der durch die Interpolation an-
gedeuteten Unterstellung, dass Isidor am Anfang zwar die
kanonische Komputation im Auge habe, nachher aber die sex
generationes, welche den sex aetates entsprechen müssen, von
den Geschwisterkindern an gezählt wissen wolle, war der
Widerspruch mit dem Anfang anscheinend beseitigt.*)
*) Bei Higne, Tom. 140 col. 781.
*) Namentlich v. Amira E. S. 47 f., Heusler S. 592.
*) An die Absicht, durch die Interpolation die Zahl der verbotenen
Grade anszadehnen, kann nicht gedacht werden, jedenfalls nicht gegenüber
Rom, das schon seit mehreren Jahrhunderten den siebenten kanonischen Grad,
also die sechste Magschaft, als Grenze aufgestellt hatte. Dagegen glaubt
v. Amira, E. S. 48, die Interpolation sei erfolgt, um durch Vermittlung der volks-
tümlichen Zählweise die Ausdehnung des Verbots von dem sechsten kanonischen
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28
Aber die Beseitigung war eben nur eine anscheinende,
wie die weitere Geschichte der Stelle zeigt. Leser, welche die
Interpolation nicht als solche kannten, sondern für ursprünglich
hielten, mussten nun erst recht die septem gradus auf dieselbe
Weise wie die sex zählen. Von neuem trat nun die Frage anf,
wie sich jene zu diesen verhalten. Die erneute Lösung der
Schwierigkeit ist in der nachburchardischen Geschichte der
Stelle auf zwei Arten erfolgt.
a) Von den kirchlichen Sammlungen, in welche das c. 10
Burchards zunächst übergieng, begnügte sich das decretum Ivonis
pars IX. c. 46') mit einer einfachen Wiedergabe der Stelle;
dagegen korrigierte die Panormia VII c. 76 die septem in sex
gradus;') aber es ist wohl auf diese Korrektur noch kein grosser
Grade, welcher im Frankenreiche bisher als Grenze gegolten habe, auf den
siebenten weniger auffällig zu machen und zu erleichtern. Im Konzil von
Seligenstadt sei diese Zählung unter Berufung auf die antiqui patres adop-
tiert worden; die interpolierte Stelle sollte diese Berufung rechtfertigen.
Anch ich glaube, dass Burchard in Seligenstadt sich gerade auf diese Stelle
berufen hat. Ich glaube ferner, dass die in ihr gegebene Magenzählung auf
c. 30 von Burchards siebentem Buch anzuwenden ist, wo uns berichtet wird,
der conventus Confluentiae von 922 (Pertz. Mon. Germ. leg. IV p. 17) habe
beschlossen, ne ullus Christianns infra sextam generationem nuptias copul are
praesnmat. Allein ich kann nicht annehmen, dass die Interpolation eine
solche Tragweite gehabt hat, dass sie grade gemacht worden sei, um solche
Stellen so umzninterpretieren. In diesem Falle hätte doch Burchard in allen
in seinem siebenten Buche angeführten Stellen über die Verwandtschafts-
grenze, oder doch wenigstens in denjenigen fränkischen Ursprungs die Grenze
als auf dem sextus gradus befindlich angeben müssen. Ausser in c. 30 cita-
tum und in c. 18, wo ihm die sexta (übrigens an beiden Orten direkt aus
qninta gefälschte) generatio durch seine Quelle überliefert zu sein scheint,
statuiert er sonst überall als Grenze die septima, vgl. c. 11, 12, 13, 14, 16.
Zudem lagen direkte Fälschungen der damaligen Zeit viel näher, und endlich
brauchte Burchard eine solche Anpassnng der kirchlichen Forderungen an das
weltliche Recht wohl nicht mehr, nachdem sogar der König 1003 in Dieden-
hofen, wo Burchard mit anwesend war, energisch die strenge Beobachtung
der Grenze des siebenten Grades gefordert hatte (Mon. Germ. Script. IV
p. 663). Vielmehr scheint mir die Stelle nur um ihrer selbst willen inter-
poliert worden zu sein; ja es braucht nicht einmal die Absicht zu fälschen
obgewaltet zu haben, bei der wenig historischen Auffassung jener Zeit er-
scheint es nicht unmöglich, dass Burchard wirklich der Meinung war, Isidor
habe so gezählt, und dies nur deutlich zu machen suchte.
l) Higne Tom. 161 col. 667.
*) Migne, Tom. 161 col 1299; wie die collectio trium Partium sie
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29
Wert zu legen, da dieselbe Panormia VII c. 75 ') das c. 9 des
siebenten Buchs von Burchards Dekret ausschreibt, worin derselbe
noch einmal bemerkt, dass die Zählung der sieben Generationen auf
Isidor zurückgehe. Wichtig ist dagegen, dass im decretum
Ivonis wie in der Panormia auch die echte, unveränderte Stelle
des Isidor, wie wir sie oben S. 26 in den Excerptiones gefunden
haben, wieder zum Vorschein kommt, in jenem als c. 64*) im
Anschluss an eine der Figuren Isidors, von denen Ivo zwei
gibt, in dieser als c. 74*) ohne Figur. Dieses Auf tauchen der
echten Stelle entscheidet bei der Lösung des Widerspruchs des
burchardschen c. 10. wie sie nun von Petrus Lombardus und
Gratian versucht wird.
Beide benutzen das c. 10 Burchards, entweder direkt oder
durch Vermittlung der vorgenannten Sammlungen. Beide
helfen dem darin steckenden Widerspruch durch Textkritik ab,
indem sie offenbar im Anschluss an die echte Stelle die septem
gradus am Anfang in sex abändern.*) Dass diese Schriftsteller
die Korrektur bewusst vorgenommen haben, sieht man nament-
lich hübsch bei Petrus Lombardus. Obschon die Stelle nach
seiner Korrektur von einer doppelten Zählung nichts mehr auf-
weist, und von einer Sieben, welche mit der Sechs einer andern
Zählweise zusammenfällt, nichts mehr zu sehen ist, erörtert doch
Petrus gerade im Anschluss an die burehardsche Stelle zwei
solche Zählarten. Wie fremd und unbekannt ihm aber die
Magenzählung ist, geht daraus hervor, dass er nicht ihr Ver-
wiedergibt, in welcher nach Theiner, Dizquiaitt. critic&e im Index, das
burchardäche c. 10 als III 16 c. 11 vorkommt, weise ich nicht.
•) Auch im decretum Ivonis pars IX c. 45; vgl. ferner des letztem
Titel zu c. 64 der pars IX mit Burchard VII c. 28.
*) Mignc, Tom. 161 coL 678 und 674.
*) Migne, Tom. 161 col. 1300.
*) c. 1 C. XXXV qu. 6 (vgl. mit c. un. C. XXXV. qu. 4) Petrus Lom-
bardus, Sententianun C. IV d. 40 bei Migne, Tom. 192 col. 937, wonach
die sehr interessante aber zu wenig beachtete Stelle in unserm Anhang II
abgedruckt ist. Aehnlich wie ßratian verfuhrt Hugo de S. Victore de sa-
cramentis II p. XI c. 14 (bei Migne, Tom. 176 coL 511.) Kr bringt zunächst
auch die echte isidorisebe Stelle: Haec consanguinitas u. s. w., hängt dann
aber nach dem Satz Ideo autem usque ad sextum gradum u. s. w. bis ter-
minetur ohne weiteres die burchardschen Worte an: ttlius et filia, quod cst
n. s. w. bis trinepotis nepos et trineptis neptis.
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30
hältnis zur kanonischen auseinandersetzt, wie Mejer mit Un-
recht annimmt, und wie es Alexander II. in einer sehr ähn-
lichen Stelle § 9 und 10 des c. 2 C. XXXV qu. 5 tut, son-
dern dasjenige der altlangobardischen , welche den Vater als
ersten Grad zählt, und welche ihm aus seiner Jugendzeit her
noch bekannt sein mochte. Freilich ist dann seine Angabe,
dass die Autoritäten, welche die Grenze auf den siebenten
Grad setzen, also die Kirche, den Vater als ersten rechnen, so
wenig korrekt wie die andere, dass Papst Zacharias (in c. 4
C. XXXV qu. 5) so gezählt habe.
b) Einen zweiten Versuch, den Widerspruch in Burchards
c. 10 zu lösen, muss nun aber auch eine Quelle gemacht haben,
welche dem Ssp. I 3 § 3 zu Grunde liegt, sei es unmittelbar,
oder was mir wahrscheinlicher ist, mittelbar. Vergleichen wir
I 3 § 3 mit dem genannten c. 10, so finden wir materiell keine
Aenderung. Wie bei Burchard erscheint der sechste Grad
nationaler Zählung, die secliste Magschaft, der siebente der
kirchlichen Komputation, als letzter verwandter und erbberech-
tigter. Dagegen hat formell eine Veränderung in der Art
stattgefunden, dass Eike noch einen, freilich nicht mehr ver-
wandten, siebenten Magen-, achten Sippegrad erwähnt, und
parallel damit ein siebentes aber ungewisses Zeitalter. Diese
Aenderungen nun lassen sich m. E. gar nicht anders erklären
als durch die Annahme, dass uns hier ein Lösungsversuch des
schon oft erwähnten Widerspruchs vorlicgt u. z. in folgender
Weise :
Schon bei Beda venerabilis de temporibus c. XVI f.1)
findet sich ohne Quellenangabe die mit wenigen Aenderungen
aus Isidors origines V. c. 38, 5 und 6 und c. 39 entnommene
Einteilung der Weltgeschichte in sechs Weltalter, von denen
bei Isidor das erste mit Adam, das zweite mit Noah, das dritte
mit Abraham, das vierte mit David, das fünfte mit der baby-
lonischen Gefangenschaft und das sechste mit Christi Geburt
beginnt. In den verschiedenen Zeitaltern werden die Gene-
rationen und Reiche genannt, die Summe ihrer Dauer wird am
Schlüsse jedes Mal gegeben und zum Vorhergehenden addiert;
sie steigt aber durchaus nicht von Zeitalter zu Zeitalter
’) Migne, Tom. 90 col. 288 f.
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31
genau oder auch nur annähernd um 1000 Jahre. Das sechste
Zeitalter wird bis auf die Zeit Isidors bezw. Bedas geführt,
am Schlüsse findet sich übereinstimmend der Satz: „Reliquum
sextae aetatis tempus Deo soli cognitum est (oder patet).“
Unter Ludwig dem Frommen wurde diese Chronica de sex
aetatibus mundi bis 810 weitergeführt und erscheint so in
vielen Handschriften der verschiedensten Länder.1) Im neunten,
zehnten und elften Jahrhundert wurde dieselbe als Einleitung
zu Annalen benutzt, so für diejenigen von Hersfeld, für die
annales Hildesheimenses und, was ich namentlich hervorheben
möchte, für die Annales Quedlinburgenses.*) Auch
die letztern lassen die sechs Zeitalter mit Adam, Noah, Abra-
ham, David, der babylonischen Gefangenschaft und der Geburt
Christi beginnen. Auch hier beträgt die Dauer der Zeitalter
nicht 1000 Jahre.
Die zweite Stelle aus Isidor scheint nun mit der erstem
in burehardscher Fassung vereinigt worden zu sein. Indem
man nämlich, wohl nicht ohne Beeinflussung durch andere
mystisch-chiliastische Vorstellungen jener Zeit, aus der Dauer
der Zeitalter 1000 Jahre als Durchschnitt nahm, und so jedes
Zeitalter zu einem Jahrtausend ansetzte, musste man im elften
und zwölften Jahrhundert beobachten, dass die sex aetates ab-
gelaufen waren. Und doch stand die Welt noch. Wie nun?
Daneben hatte man die andere Stelle, wo Isidor sagte, man
zähle sieben Generationen, und dann fortfuhr, deswegen zähle
man die Verwandtschaft bis zum sechsten Grade, weil es sechs
Weltalter gebe. Hier der Widerspruch einer Stelle mit sieh
selbst, dort derjenige einer andern3) wenigstens mit den Tat-
sachen: in beiden derselbe Grund für den Widerspruch, die
Annahme von sechs Weltaltern. Viel Phantasie brauchte es
nicht, um den Ausweg an beiden Orten so zu suchen, dass
man eben sieben Weltalter annahm. Freilich passte es nicht
zu dem kirchlichen und weltlichen Rechte, wenn man nun als
*) Pcrtz. Mon. Germ. Script. II p. 256. Wattenbach, Deutschlands Ge-
schicbtsqueilen im Mittelalter 5. Auä. I S. 193.
’) Vgl. Wattenbacli a. a. 0. S. 226, 320, 327. Pertz. Mon. Germ. Script.
V. p. 22 f.
*) Dass* sie auch von Isidor stammte, wusste man nicht. Vgl. S. 32.
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32
Parallele zu dem siebenten Weltalter eine siebente Generation
aufzählte. Allein eine solche zählte ja schon Isidor u. z. wie
man aus der Stelle entnahm, offenbar auch erst von den Ge-
schwisterkindern an. Trotzdem hatte das Recht bloss sechs
Magschaften als verwandt anerkannt, ganz natürlich, da eben
das siebente Weltalter auch von höchst zweifelhaftem Werte
war.1) Damit war die Lösung des Rätsels gegeben, man
musste nur die sechs Weltalter in der Umbildung der burchard-
sehen Stelle nicht wie bisher bloss als sex aetates nennen,
sondern sie und ihre Grenzen genauer angeben, was mit Hülfe
der Weltalterchronik leicht sich machen liess. Dann gieng ans
der Stelle der Ablauf der sechs Weltalter mit dem Jahre 1000
nach Christi Geburt schon von selbst hervor, und eines be-
sonderen Hinweises darauf, dass die septima generatio, von
welcher Isidor sprach, eben die dem jetzigen siebenten Welt-
alter parallel laufende, ebenso unsichere und wertlose sei, be-
durfte es kaum.
Wir können die Zeit dieser Kombination der Stellen nicht
genauer angeben, sie muss zwischen 1022, in welchem Jahre
spätestens Burchards Dekret vollendet wurde , und der Ab-
fassung des Ssp. (1215 — 1235) liegen. Ob Eike sie bald nach
ihrer Entstehung, oder ob er sie erst aus dritter oder vierter
Hand erhalten hat, wissen wir ebensowenig ; aber dass er aus
einer Quelle schöpft, welche diese Kombination selbst vollzogen
hat, oder von einer andern abstammt, in welcher die Kombination
vollzogen wnrde, kann kaum einem Zweifel unterliegen. Einmal
zeigt die Nennung des Origines, dass Eike wenigstens noch eine
dunkle Ahnung hatte, woher seine Mittheilungen stammten.
Mit der Uebernahme der Lehre von den sechs Weltaltern allein
lässt sich dies aber nicht erklären. Denn so viel mir wenig-
stens bekannt ist, gieng die chronica de sex aetatibus mnndi
stets ohne Nennung eines Autors, wenigstens ist Isidor
in den oben angeführten annales Hildesheimenses, Hersfehlenses
und Quedlinburgenses nicht genannt. Das zeigt sich auch
') Der Parallelisnma versagt hier allerdings etwas. Denn die siebente
Magschaft war nicht unbestimmt, sondern bestimmt nicht verwandt. Im Ssp.
konnte das uicht zu Unsicherheiten führen, weil dort noch das Gliederhild
dazu kam, in welchem es für die siebente Magschaft kein Glied mehr gab.
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33
gerade aus unserer Stelle; da, wo die Aufzählung der Weltalter
beginnt,1) lässt Eike es bei der Berufung auf Origines nicht
bewenden, vielmehr wird dort als Quelle die heil. Schrift
ausdrücklich genannt u. z. diese, weil man die Weltalter-
lehre eben als direkte Zusammenstellung ans der Bibel ansah,
den wahren Autor nicht mehr kannte. Die Berufung auf Ori-
gines bezieht sich also auf die Zahl der Woltalter, d. h. auf
den Bestandteil, welcher ans Burchard kommt, ver-
mehrt um die bei der Kombination nötliig gewordene Abschätzung
der Weltalter. Bei dieser isidorischen Stelle blieb aber
die Autorschaft Isidors in allen Quellen, in welchen
wir ihr begegnet sind, gewahrt. Und endlich beachte
man doch nur die Form , in welcher die ganze Mitteilung ge-
macht ist. Origines weissagte zuvor, dass sechs Welten
sein sollten, jede Welt zu 1000 Jahren angenommen, und im
siebenten2) sollte sie zu Ende gehen. Hier wird die Anhängung
des siebenten Weltalters ganz deutlich, dasselbe wird hier so-
gar nicht einmal als solches genannt, erst weiter unten spricht
Eike von „der seveden werlde.“ Die ganze Formulierung, die
Angabe, Origines habe von sechs Welten geweissagt, und die
nachherige Erwähnung einer siebenten wäre unerklärlich, wenn
die Stelle ursprünglich, wenn sie ans einem Guss entstanden
wäre. Gewiss hätte man dann gesagt, Origines habe prophe-
zeit, es sollen sieben Weltalter sein, sechse zu 1000 Jahren,
das siebente von unbestimmter Dauer. In der Tat ist dies,
wie wir schon oben S. 31 sahen, auch die Darstellungsweise
der Weltchronik. Sechs Weltalter gibt es, sagt sie, „reliquum
sextae aetatis aber soli Deo cognitum est,“ und nicht etwa:
fünf Weltalter, und im sechsten ungewissen folgt der Untergang.
*) Ob die Aenderung, welche sich gegenüber der Weltalterchronik im
Ssp. in betreff des Anfangs des vierten und fünften Weltaltcrs findet, indem
das erstere im Ssp. mit Moses statt mit David, das letztere mit David Htatt
mit der babylonischen Gefangenschaft beginnt, bei Anlass der Kombination
erfolgt ist, vielleicht, um die Jahrtausende besser zu treffen, oder ob sie da-
raus zu erklären ist, dass bei der Kombination eine in diesen Punkten schon
abweichende Version der Weltalterchronik benutzt wurde, muss ich dahin ge-
stellt sein lassen.
*) Vgl. das oben Seite 12 Note 3 Bemerkte ; dass gerade hier auch nicht
ein masknlinisches werlde zu ergänzen ist, geht schon daraus hervor, dass
Eike sonst in dem Artikel werlt als fern, braucht.
Stutz, VerwandtschaltabUil. S
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34
Kurz es dürfte auch daraus klar hervorgehen, dass Ssp. I 3 § 1
und 3 nicht eine Weiterbildung der Weltalterchronik,
sondern vielmehr eine mit deren Hülfe erfolgte Um-
bildung des zweiten Teils von Isidor-Burchard dar-
stellt, nämlich eine mit Rücksicht auf die septem gradus am
Anfang bewerkstelligte Umgestaltung des Satzes: „Ideo autem
usque ad sextum generis gradum consanguinitas constituta est,
ut sicut sex aetatibus mundi generatio et hominis Status fiuitur,
äta propinquitas generis tot gradibus terminaretur.“
Die Erzählung von den Weltaltern und Generationen hat
nun Eike wohl von geistlicher Seite erhalten,1) sei es von dem
Kompilator selbst, sei es erst längere Zeit nach der Kompila-
tion durch Vermittelung. Er hat sie nicht nur zur Erklärung
der Verwandtschaftsgrenze beibehalten, *) sondern auch seine
neue Heerschildlehre damit verbunden. Auch die Aufzählung
der Verwandten am Anfang der Stelle aus Burchard fehlt bei
Eike nicht. Sie mag ihm als Wegweiser für die Abfassung
des dritten Paragraphen gedient haben, um so mehr, als die in
ihr statuierte Zählung mit der sächsischen übereinstimmte.
Allein die Stellung des weiter gebildeten c. 10 Burchards ist
eine verschiedene gegenüber der Angabe über die Begrenzung
der Verwandtschaft und gegenüber der Darstellung des Innern
der Sippe, gegenüber ihrer Gliederung. Dort ist sie, die Quelle,
massgebend; wir werden zwar sicher annehmen dürfen, dass
bei den Sachsen die sechste Magschaft die letzte verwandte
und erbberechtigte war, denn sonst hätte Eike diese seinem
Rechte widersprechende Erzählung gewiss nicht verwendet;
allein die Anführung der siebenten nicht verwandten Magschaft
ist wohl nur eine Konzession an die Weltalterlehre, wahrschein-
lich nicht von Eike, sondern eben schon früher u. z. nur in
‘) Es mag daran erinnert werden, dass sein Gönner, Graf Hoyer von
Falkenstein, auf dessen Betreiben Eike den Ssp. übersetzte, Stiftsvogt von
Quedlinburg war.
*) Aus der Geschichte dieser Quelle erklärt sich also die Hinzufttgung
der siebenten, nicht verwandten Magschaft. Die herrschende Erklärung als
Konzession an das siebente Weltalter kann ohne Hinzuziehung der bnrchard-
schen Stelle nicht befriedigen, weil eben das siebente Weltalter auch nicht
ursprünglich ist, die Frage damit also nur hinansgeschoben, aber nicht be-
antwortet wird.
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35
ihrer Verbindung mit den septem gradus in c. 10 bei Burchard
gemacht. Ob die Quelle den Namen Nagelmagen schon gekannt
hat, wissen wir nicht; wahrscheinlicher ist er erst bei Eike
dazu gekommen.1) Hier dagegen, bei der Darstellung der Ver-
wandtschaftsgliederung, kommt der Quelle, so zu sagen, kein
Einfluss zu. Nur weil sie eben mit dem, was Eike darstellen
wollte, übereinstimmte, weil sie nichts anderes, sondern nur
weniger enthält, als er sagt, kann und darf man von ihrer
Benutzung reden. Z. B. die Magenzählung Burchards darf
man gewiss bei Eike wiederfinden, allein Eike stellt sie nicht
dar, weil sie die Quelle gibt, hier ist nicht die Quelle das
Massgebende, sondern offenbar weil sie auch in seinem heimat-
lichen Rechte galt. Das sieht man daraus, dass er für die so
gezählten Glieder den jedenfalls technischen Namen „Magen“
hat. Ferner zeigt sich die Selbstständigkeit Eikes hier in dem
Gebrauche des Gliederbildes, das ihm die Quelle ebenfalls nicht
bot. Somit gelangen wir zu folgendem Ergebnisse: Für die
Begrenzung der Verwandtschaft kann Ssp. I 3 § 3 nicht den
Wert eines Originals beanspruchen. Wenn nämlich auch nicht
daran zu zweifeln ist, dass zu Eikes Zeit nach sächsischem
Rechte die Verwandtschaftsgrenze sich an dem von ihm be-
zeichnten Punkte befand, so hat er doch hier nicht das gel-
tende Recht als solches unmittelbar dargestellt, sondern in
Anlehnung an eine Quelle, die ihm schriftlich oder mündlich*)
vermittelt war. Diese Quelle hinwiederum ist aus der Kom-
bination zweier anderer hervorgegangen, und ihre Angaben sind
nicht aus unmittelbarer Wiedergabe von Thatsachen entstanden,
sondern aus Operationen, welche an einem Bruchstücke einer
Schrift vorgenommen sind, das in einer ganz andern Epoche,
an einem ganz andern Orte, unter ganz andern Verhältnissen
und unter einem ganz anderen Rechte entstanden ist.
Als sicher kann also nur bezeichnet werden, dass die
Stelle zu Burchards Zeit dem kirchlichen Rechte inbetreff des
Umfangs des Eheverbotes entsprach.
Für die Beantwortung der Frage, ob das sächsische Volks-
') Bekanntlich wendet der Schwsp. c. 293 diese Verwandtschaftsbe-
zeichnung in anderm Sinne an.
*) Pies wohl eher, wegen des unrichtigen Zitats: Origines.
>•
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36
recht eine Verwandtschaftsgrenze gekannt hat und wenn ja.
welche, ist Ssp. 1 3 § 3 völlig wertlos. Alles ist an sich
möglich. Es lässt sich denken, dass keine Grenze bestand,
und dass es erst unter dem Einfluss der Elleverbotsgrenze zu
einer solchen kam; es lässt sich denken, dass die siebente
Sippe, die sechste Magschaft, die Verwandtschaftsgrenze bildete,
und die kirchliche Gesetzgebung über die Eheverbotsgrenze
nicht erst mit dem weltlicheu Rechte zu ringen hatte; es lässt
sich endlich denken, und dies ist wohl das Wahrscheinlichste,
dass die Sachsen wie die Angeln und Warnen. Franken und Lango-
barden die sechste Sippschaft und die fünfte Magschaft als Ver-
wandtschaftsgrenze kannten, dass aber, wie früher die Eheverbots-
grenze in Anknüpfung an die Verwaudtschaftsgrenze sich aus-
dehnte, so nun umgekehrt die Grenze der Verwandtschaft und
Erbberechtigung sich unter dem Einfluss der abweichenden
Eheverbotsgrenze um eine Generation verschoben hat. Dass
Eike am Schlüsse des Artikels gegen eine solche Beeinflussung
des weltlichen Rechtes durch das geistliche protestiert, beweist
nichts gegen eine solche Annahme, da die entscheidende Be-
wegung sich mindestens zwei Jahrhunderte vor seiner Zeit voll-
zogen haben würde. Die isidorische Stelle aber, welche für die
Verwandtschaftsberechnung als solche entstanden ist, wenn auch
mit Nebeubeziehung auf die Ehe, welche sodann ausschliesslich
für die Bestimmung der Eheverbotsgrenze benutzt wurde, da sie
ihre praktische Bedeutung für das weltliche Recht verloren
hatte, welche aber endlich im Ssp. wieder mit dem letzteren
in Beziehung gebracht wurde und, wenn auch in ganz anderer
Weise als bei ihrer Entstehung, zur Berechnung der Verwandt-
schaft diente, sie würde bei der obigen Annahme der Ent-
wicklung in trefflicher Weise ein gutes Stück Rechtsgeschichte
darstellen.
2) Ein Stammelternpaar mit seiner Nachkommenschaft wird
uns vorgeführt; wir fragen: Welches ist dasselbe, m. a. W.,
welche Parentel haben wir vor uns?
Eike nennt die Starameltern Mann und Weib, von der
ersten Generation spricht er als von Kindern. Man glaubt,
die erste Parentel vor sich zu haben. Allein von Sydow (Erbr.
S. 123 Note 374) belehrt uns, dass hier von der zweiten
Parentel die Rede sei, denn der Unterschied von Voll- und
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37
Halbgeburt falle ja in der ersten Parentel weg, da Deszen-
denten im Verhältnis zu ihren Erzeugern stets vollblütig, mit
Stiefeltern aber gar nicht verwandt seien.1) v. Sydows Ar-
gument wäre vielleicht stichhaltig gegenüber einem modernen
Gesetzgeber oder Juristen, bei Eike nicht. Wollte derselbe
wirklich die erste Parentel n. z. als Typus für alle andern
darstellen — und dies letztere müsste man ja jedenfalls au-
nelunen — warum sollte er nicht beim ersten Gliede derselben
davon reden, wo in andern Parentelen sich zuerst die Wirkung
der Halbgeburt zeigt? Wir würden es am Schlüsse in einem
Nachtrage tun, Eike behandelt es schon hier, um gleich von
vornherein eine unrichtige Anwendung des Folgenden zu verhüten.
Ueberhaupt ist zu beachten, dass der Abschnitt über die
Halbgeburt und die mehrfache Verwandtschaft schon äusserlich
als ein Einschiebsel in die ganze Darstellung sich erweist,
allerdings ein sehr erklärliches und mit dem Vorhergehenden
in engem Zusammenhang stehendes. Eike hat von den Kindern,
der ersten Generation, gesagt, dass sie ohne Ausnahme am
Halse stehen; sie sind also alle gleich nahe mit dem Erblasser
verwandt, aber auch unter sich. Die Entfernung vom
Stammvater, das Glied, gibt*) zugleich die Verwandschafts-
nähe der an diesem Punkte stellenden Verwandten unter
einander an.8) Allein nun kommt doch eine Ausnahme: Glieder
derselben Generationen sind nicht gleich nab unter einander
verwandt, stehen nicht alle au demselben Glied, sobald Halb-
gebnrt in Betracht kommt. Dagegen gilt die vorher genannte
Kegel für das, was wir mehrfache Verwandtschaft nennen, deuu
diese wird vom sächsischen Rechte nicht berücksichtigt. Gerade
hier zeigt sich wieder, wie der ganze Passus nur den Wert
') Ebenso wohl Siegel, Erbr. S. 23, soilanu Wass. Repl. 8. 17, 31, 32,
37, Rivc S. 211, Schanz S. 3, 31 f. ; nicht unbedingt Rom. Par. S. U, gar
nicht Hehler S. 600, der letztere findet hier die höchste Parentel, indem er
den Erblasser an die Fingerspitze setzt.
*) Natürlich innerhalb derselben Parentel, denn es ist uns ja hier nur
eine solche geschildert.
*) Den Hinweis darauf, dass der Gedanke der Gleichheit aller, die au
demselben Gliede stehen, nicht nur gegenüber dem Stammvater, sondern auch
untereinander den Übergang zu den llemerkuugeu über Halbgcburt tunl mehr-
fache Verwandtschaft bildet, verdanke ich Herrn Prof. Gierke. Vgl. anch
Heualer S. 688 und 589.
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38
einer Anmerkung hat. Eike steigt in seiner Hauptdarstellung
an der Sippe Stufe um Stufe in regelmässigem Schritte herunter ;
hier bei der ersten Stufe hemmt er nicht nur einen Augenblick
seinen Schritt und verweilt etwas länger, sondern er lässt sich
sogar zu einem Uebergriff auf die nächste Stufe bewegen, die
er noch gar nicht betreten hat; um nämlich zu zeigen, dass
die sog. mehrfache Verwandtschaft gar keinen Einfluss hat,
spricht er schnell sogar von den Kindern der drei Brüder, ob-
schon er ex professo erst nachher von Enkeln oder Geschwister-
kindern handelt.
Daher ist ebenso wenig durchschlagend die Bezeichnung
„brüdere unde süstere“, die Eike übrigens nicht einmal da braucht,
wo er von der Halbgeburt spricht, sondern erst in dem Satze:
„Nemet ok“ u. s. w. Hier ist sie aber ganz natürlich, denn hier
fällt einen Augenblick die Beziehung zum Stammvater ganz
weg, das Verhältnis unter den Angehörigen der Generation
zu einander kommt allein in Frage. Und endlich : die Bezeich-
nung „brüder kindere unde sfister kindere“ kann durch das
unmittelbar Vorhergehende beeinflusst sein, ist aber, weil die
Bezeichnung „Enkel“ fehlt,1) bei der Magenzählung wohl mit
Vorliebe verwendet worden.*) Darauf, dass die Bezeichnung
Geschwister und Geschwisterkinder nicht zu urgieren ist, weist
wohl auch die versio vulgata hin: in cubito esto secundus
gradus, quem pronepotes dicimus, in sexu manus ad brachium
sit tertins, quem abnepotibus concedimus.*)
Dagegen beweist nun für die erste Parentel neben der
Bezeichnung der Stammeltern als „man unde wif“ (und nicht
als vader unde müder, eldervater nnde eldermuder) sowie der
ersten Generation als „kindere“ ganz zwingend ein Argument,
das sich wieder aus der Schlussregel: „Die tvischen“ u. s. w.
ergibt. Das „sik an geliker stat“ oder „naer to der sibbe
stuppen“ heisst jedenfalls sich an gleicher Stelle oder näher
in der Verwandtschaft (genauer: Parentel im technischen Sinne,
*) Jetzt auch Seelig S. 25.
*) Vgl. z. B. c. 11 conc. Salegunstad, von 1022 bei Wass. S. 0. 8. 10,
c. 2 C. XXXV qu. 5 namentlich § 9 und 10, c. 7 X de con«. et affin. 4, 14.
*) Vgl. Schanz S. 81 Note 109, der Note 108 treffend ein weitere« Ar-
gument v. Sydow’s für die zweite Parentel widerlegt. Vgl. übrigen« zum
Ganzen auch oben S. 9 f.
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39
oder auch: Verwandtschaftsskala) zu dem Stammvater rechnen.1)
Es geht dies parallel der Zählung der Sippe und der Magen
vom Stammvater her nach den weitem Generationen, parallel
der ganzen Darstellung, in welcher die Stammeltern den Aus-
gangspunkt bilden. Wer das gleiche Glied , wer denselben
Verwandtschaftsnamen, wer dieselbe Magenzahl hat, steht
gleich; wer zur ersten Magschaft gehört, ist näher als jemand
aus der zweiten, wer Kind heisst, ist näher als irgend ein
Mage. Dass zur Bestimmung des „gelike“ oder „naer“ das
letzte Glied*) oder irgend ein zwischen ihm und dem Stamm-
vater liegendes massgebend war , kann nicht angenommen
werden; wie hätte man dann das „gelike“ und „naer“ bemessen
sollen? Nur der Stammvater gewährt einen absoluten, einen
festen Punkt. Allein wer ist der Erblasser, von wem „nemet
de dat erve gelike“ oder „to voren?“ Der ganze Zusammen-
hang weist wieder auf den Stammvater; ohne diese Annahme
ist, wie wir unten noch näher sehen werden, die Regel über-
haupt nicht anwendbar; vielmehr setzt sie voraus, dass der
Stammvater Erblasser ist,*) es wird uns die Parentel des Erb-
lassers selbst hier dargestellt, die erste Parentel.*)
Allein wir haben an diesem Ergebnisse sofort eine Modi-
fikation anzubringen. Man wird uns nämlich einwenden, dass
•) Ebenso Hensier S. 601. Direkt sagt der SchwBp. c. 3 „an dem flunf-
ten lide von dem honpte her dan gozelt.“
*) Dafür spricht nicht etwa die Formulierung der Regel: „De tvischen
deme nagele unde deme hovede“ n. s. w. statt umgekehrt Es ist nämlich
ganz natürlich, dass, nachdem Eike vom Haupte an die Glieder bis zum
Nagel herunter gezählt hat, er bei der nun zusammenfassenden Bezeichnung
der Reihe an das zuletzt genannte Glied anknüpft.
Uebrigens hat der Dsp. c. 6, sowie der Schwsp. L. c. 3 (aber nicht bei
Wackernagel c. 6) die umgekehrte Formulierung gewählt.
*) Eine Erweiterung wird sich unten S. 48 f. ergeben. Uebrigens ist es
bezeichnend, dass in dem Abschnitte von der mehrfachen Verwandtschaft,
wo die Beziehung zum Stammvater zurücbtritt, und auch nicht sein „erve*
in Betracht kommt, dies ausdrücklich gesagt ist (ire iewelk des anderen
erve), während sonst einfach von „erve“ die Rede ist, und eine Angabe darüber,
von wem es komme, als unnötig weggelassen wird.
*) Wie schon bemerkt, findet Hensier hier die höchste Parentel. Damit
treten wir nun, trotz Uebereinstimmung in dem oben auf dieser Seite Ge-
sagten sowie in dem Gesamtergebnis, mit den folgenden Ausführungen in
direkten Gegensatz zu seiner Beweisführung. Vgl. unten S. 63 f.
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40
in dieser Parentel nie so viele Grade Vorkommen, ein Ein-
wand, der sich übrigens auch gegen die Annahme der zweiten
Parentel erheben lässt; „denn niemand erlebt Deszendenten
seiner Geschwister bis zmn siebenten Grade.“ ‘) Aber Eike
führt hier eben die erste Parentel nicht so vor, wie sie praktisch
und tatsächlich vorkommt, sondern als Typus für alle andern
Parentelen, in der weitesten Ausdehnung, die je bei einer Pa-
rentel Vorkommen kann. Er will eben das Ende der Verwandt-
schaft zeigen. Darum kann man auch gegen die Annahme der
ersten Parentel nicht die Unbegrenztheit der Verwandtschaft
in absteigender Linie ins Feld führen;*) Eike will ja gar nicht
sagen . dass ein Erblasser mit seinem Deszendenten achten
Grades nicht mehr verwandt sei; die Beschränkung in unserer
Darstellung auf sieben ist nur durch die Verwendung der ersten
Parentel als Typus bedingt. Schon die dritte Generation wird
selten genug als direkte Erbin ihres Urgrossvaters in Betracht
gekommen sein, an die Doktortrage der Unendlichkeit der
Verwandtschaft in absteigender Linie hat Eike wohl überhaupt
nicht gedacht.3) Die Ergänzung der praktisch nicht vorkom-
menden Glieder der ersten Parentel bot aber weder Schwierig-
keiten noch Bedenken; wie alle andern Verwandten ausser
Vater, Mutter und Kindern bezw. Geschwistern waren die Enkel
und ihre Nachkommen Magen,4) die letztem konnten, wie die
entsprechenden Glieder der zweiten Parentel, einfach mit der
Magenzahl bezeichnet worden. Man mag das allenfalls sogar
so formulieren, Eike habe diejenigen Generationen, welche sich
in der ersten Parentel nicht fanden, aus der zweiten herüber-
genommen, mau mag in dem Ausdruck „brüder kindere“ und
„süster kindere“ eine Andeutung dieses Vorgangs sehen, falls
derselbe oben S. 38 noch nicht befriedigend erklärt sein sollte.
*) v. Sjrdow, Erbr. S. 125. Dieser Gedanke wird auch Hensler veran-
lasst haben, die höchste Parentel anzunehmen. Allein in der im Text im
weitem befolgten Weise liLsst sich wohl diese richtige Beobachtung ver-
werten, ohne dass man, wie dies bei der herrschenden Ansicht nnd am auf-
fälligsten bei der Henslerschen Erklärung geschieht, zu der Übrigen Dar-
stellung nnd der Regel in Widerspruch tritt.
*) Siegel. Erbr. S. 24, fiO f. Unter den im Folgenden entwickelten Ge-
sichtspunkten vgl. man nun noch einmal oben S. 8.
’) Jetzt auch Seelig S. 27.
4) Oben Seite 16 Note 2,
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41
Jedenfalls liabeu beide Parentelen das gemeinsam, dass die
beiden ersten Glieder znm engern Verwandtenkreise gehören,
dass sie einfache Yerwandtschaftsnaraen haben, dass dagegen
solche vom zweiten Gliede an mangeln, dass bei diesem die
Magschaft beginnt, während in den köheru Pareuteleu nur
Magen sich finden. Aber die zweite Parentel liess sich als
Typus nicht verwenden, weil el*en das Zentrum, der Schwer-
punkt, nämlich der Erblasser nicht in ihr, sondern ausser ihr
liegt., und weil dementsprechend, wie wir sofort sehen werden,
Bild und Erbrechtsregel gar nicht direkt und ohne Modifikation
anf sie anwendbar waren. Allo diese Hindernisse fielen weg
bei der ersten Parentel, die wenigen Modifikationen, welche hier
bei der weitern Anwendung nötig waren, ergaben sich von selbst
so z. B. dass man in den hohem Parentelen die Magschaft
nicht etwa erst mit dem zweiten Gliede zu rechnen begann,
dass vielmehr auch Geschwister des Grossvaters Magen waren.
In der Tat haben denn sogar die modernen Leser der Stelle,
trotz der ausserordentlichen Verschiedenheit ihrer Ansichten,
diese Modifikation alle ohne Ausnahme1) als selbstverständlich
gemacht.2)
Berücksichtigen wir nuu, dass Eike nach dem Anfangs-
satze: „Nu merke wie ok, war de sibbe beginne unde war se
lende“ zu schliessen, die Grenzen der Verwandtschaft überhaupt
darstellen wollte, dass man aber nicht nur mit seiner Nach-
kommenschaft verwandt ist, berücksichtigen wir ferner, dass
die dargestellte Deszendenz als Typus vorgeführt ist , so
kommen wir notwendig zu dem Schlüsse , dass die Verwandt-
schaft einer Person als eine Summe von Nachkommenschaften
sich darstellen muss; dass deren Ausgangspunkte die Person
*) Gewiss auch Heusler. Freilich stimmt dai wieder nicht recht zu seiner
Annahme, dass der erste Teil von Ssp. I 3 § 3 die höchste Parentel darstellt,
dass das Hanpt der höchste Stammvater des Erblassers ist. Denn alsdann würde
die Darstellung doch zn dem unmöglichen Ergebnis führen, dass der zweit-
höchste Stammvater des Erblassers nicht sein Mage hiesse, der dritthöchste
seiner ersten Magschaft angehörte u. s. w., was Heusler doch nicht sagen
will. Es zeigt sich eben auch hierin, was wir noch eingehender zu be-
gründen und auszuführen haben werden, dass Stammvater, Haupt und Erb-
lasser znsammenfallen müssen.
*) Uebrigens scheint auch Schanz, welcher S. 31 — 33 sich für die zweite
Parentel entscheidet, die Annahme der ersten nicht ganz zu verwerfen S. 3.
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selbst und ihre Vorfahren sind,1) kann kaum zweifelhaft sein
und wird sich auch weiter unten noch ergeben. Wie viele
solcher Vorfahren mit ihren Nachkommenschaften berücksichtigt
werden, ist weder direkt noch indirekt in unserer Stelle ge-
sagt,*) aus gutem Grunde, denn mit der untern Grenze ist die
obere im einzelnen Falle gegeben. Handelt es sich darum, für
eine Person die entferntesten Verwandten und Erbberechtigten
zu finden, so sind prinzipiell zwar alle ihre Stammväter jeder
mit sieben Generationen Nachkommen verwandt und erbberech-
tigt. Nur werden vom siebenten oder achten Stammvater an
keine Nachkommen aus der ersten bis siebenten Generation
seiner Nachkommen mehr am Leben sein, während solche aus
entferntem Generationen durch die untere Verwandtschafts-
grenze ausgeschlossen sind. Praktisch wird es also darauf
hinauskommen , dass die Verwandtschaft bis zur siebenten
Stammvaterschaft, bis zur siebenten Parentel reicht, was man
in der Regel als in der Quelle direkt gesagt aunimmt.*)
in.
Es bleibt uns nun noch eine Frage zur Beantwortung
übrig, diejenige, welche in der ganzen Kontroverse die be-
') So auch die Gegner der Parentelenordnung als Erbfolgeprinzip. Nur
Siegel, V. B. S. 8 sagt: „E.s gibt nur eine Parentel, die gebildet wird von
Personen, welche darum mit einander verwandt sind, weil sie von einem
Stammeltempaar gemeinschaftlich ihr Blut ableiten, gleichgültig, ob alle zu
demselben Stammvater binaufgehen müssen, oder einzelne bloss auf Ab-
stammende von diesem rekurrieren, andere auf ihn selbst.“
Diese Darstellung passt auf den römischen und modernen Stammbaum
für die germanische Verwandtschaftsberechnung aber nicht, denn diejenigen,
welche bloss auf den Abstammenden jenes Stammvaters zurUckgehen müssen,
ignorieren eben jenen höhem Stammvater ganz; für sie kommt er gar nicht
in Betracht; selbst wenn noch ein anderer da ist, welcher durch einen solchen
hühern Stammvater verwandt ist, so kommt der erste nur als Nachkomme
des niederen Stammvaters, nicht aber des höbern in Betracht.
*) Auch nicht durch das Bild, siehe den folgenden Abschnitt m (sub 4, c).
*) Also auch gegen die Unbegrenztheit der Verwandtschaft in auf-
steigender Linie verstösst man nicht, wenn man auch Sippe nicht als Seiten-
verwandtschaft deutet, vgl. oben S. 8.
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43
strittenste aber auch wichtigste ist, die Frage: Wie gestaltet
sich die Verwendung des Bildes von den Glie-
dern des menschlichen Körpers?
Eike gibt uns nämlich nicht nur die Gliederung der Sippe,
er gibt uns nicht nur die Namen der einzelnen Generationen
und Verwandten sowie ihre Zahl; sondern er stellt uns die
Verwandtschaft noch an einem Bilde dar. Jede Generation
wird veranschaulicht durch ein Glied am menschlichen Körper,
das Ehepaar durch das Haupt, die Kinder durch den Hals,
die Enkel durch die Achsel, die Urenkel durch den Ellbogen,
deren Kinder durch das Handgelenk, die drei folgenden noch
verwandten Generationen durch die drei Gelenke des Mittel-
fingers, die erste nicht verwandte Zeugung durch den Nagel
desselben Fingers.
Ueber die Anwendung dieses Gliederbildes, welches jeden-
falls nicht von Eike ersonnen ist, sondern dem lebenden sächsischen
Hechte angehört hat, ergeben sich aus unserer Quelle folgende
Grundsätze, welche teils im ersten Abschnitte unsers Para-
graphen enthalten sind, teils im zweiten oder vielmehr in einer
Verbindung beider liegen.
Aus dem ersten Teile ergibt sich :
1) Das Bild ist nur ein einseitiges, d. h. es sind nur
die Glieder einer Seite benutzt. „In des halses lede“ stehen
die Kinder; „ungetveider brüdere kindere de stat an deme
lede, dar scttlderen unde arm to samene gat; also dut die
stister kindere“ u. s. w. Soll also die Nähe der Verwandt-
schaft mehrerer, zunächst derselben Parentel angehörender
Personen ermittelt werden, wie das die Regel: „Die tvischen“
n. s. w. veranlasst, so wird das Bild nicht mehrmals gebraucht,
die beiden Praetendenten zweiten Grades sind nicht an die
Achseln,1) sondern an die Achsel zu setzen. Das erfordert
*) Anders z. B. v. Sydow in seiner Figur ; auch Hensler S. 593 und
Siegel R. 0. S. 858. Dass der Dsp. c. 6 Ton dem Gliede spricht, „da die arme
zesamene gent‘, ist eine ungenaue Uebersetzung des Ssp. und würde nur für
das Gegenteil unserer Ansicht beweisen, wenn man dartnen konnte, dass
dem Deutschenspiegler die Anwendung des Bildes ans dem Leben bekannt
war. Noch weniger beweisen Schwsp. e. 3 und Bertholds von Regensburg
Predigt von der Ehe (in Pfeiffers Ausgabe der Predigten I S. 312), denn beide
haben den Dsp. abgeschrieben und zeigen namentlich durch die Weglassung
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übrigens schon die Anwendung im Leben. Nicht mit Papier
und Tinte, nicht mit Zeichnungen und Stammbäumen hat man
in Sachsen in der Gerichtsversammlnng die Verwandtschaft
berechnet, vielmehr so, dass der Erbpraetendent den Erb-
lasser mit dem Namen nannte und nun — wir sprechen vor-
läufig immer noch von dem Falle, dass mehrere Praetendenten
ans der ersten Parentel vorhanden sind *) — die Generationen,
welche ihn mit jenem verbanden, mit der rechten Hand an
seiner linken Seite abzählte. Den Erblasser setzte er in sein
Haupt,- seine Kinder an den Hals, sich selbst zählte er, falls
er z. B. ein Enkel des Erblassers war, an seiner linken
Schulter ab. Wir haben uns offenbar den ganzen Vorgang
etwa in der Art zu denken, Avie wir jetzt noch bei der Auf-
zählung einer Reihe von Argumenten dieselben bisweilen mit
dem Zeigfinger der rechten Hand an den Fingern der linken
abzählen. Das Bild ist eine feste Schablone, an der
sich die Einzelnen abstnppen, man könnte es eben so gut durch
einen Messstab ersetzen, an dessen Kerben die Verwandten ihre
Entfernung von einem Stammvater abmessen.*)
2) Haupt kann nur ein Stammvater sein, jemand,
der Glieder, Nachkommen, hat oder wenigstens haben könnte.
Dies ist als selbstverständlich allgemein angenommen.
Aus der Verbindung des ersten Teils mit der Regel :
„Die tvischen deme nagele unde deme hovede sik to der sibbe
des Halses, dass sie mit dem Bilde nur aus Büchern und nicht ans dem
Lehen bekannt geworden sind. Vgl. nnsem Anhang I.
‘) Bei hiihem Parentelen nannte, wie vorläufig bemerkt sein mag, der
Praetendent den ihm mit dem Erblasser gemeinschaftlichen Stammvater und
begann nun die zwischen diesem nnd ihm liegenden Verwandtengenerationen
an seiner linken Seite abznzählen, indem er den Stammvater an sein Haupt
setzte; aber nur diese Verwandten, nur die Vorfahren des Erbpractendenten
wurden von demselben an seinen Gliedern abgezählt, nicht die Vorfahren des
Erblassers, bei welchen die Zählnng auf andere Weise erfolgte vgl. nnteu
sub 4, c nnd S. 57.
*) Uebrigens zeigt sich die Richtigkeit unserer Annahme, dass nur ein
Amt benutzt wurde, auch daraus, dass, sobald drei Erbpraetcndcnten der-
selben Parentel auftreten, diejenigen, welche beide Arme benutzen, doch ge-
nötigt werden, mehrere Verwandte au einen Arm zu setzen. A stirbt nnd
Unterlässt drei Enkel B, C, D. Welche zwei sollen nun an die rechte, nnd
welcher an die linke Schalter gesetzt werden?
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45
gestuppen mögen an geliker stat, de nemet dat erve gelike.
De sik naer to der sibbe gestuppen mach, de nimt dat erve to
voreu,“ ergibt sich weiter:
3) Sämtliche Glieder oder Stufen au dem Bilde
sind gleich weit von einander entfernt und gleich zu
behandeln. Dass die soeben angeführte Regel wenigstens
auf das unmittelbar vorher Dargestellte anwendbar ist u. z.
ohne weitere Modifikation, bestreitet, abgesehen von Wass.,1)
dessen Ausführungen wir oben S. 18 f. zu widerlegen versucht
haben, wohl niemand. Wir haben ferner oben S. 10 gesehen,
dass man der Stellung der Generationen in Seitengliedern
keine Bedeutung beilegen darf, und wir haben endlich schon
S. 17 und 21 gefunden, dass die Regel: „Die tvischen“ u. s. w.
alle Glieder zwischen Haupt und Nagel gleich behandelt. Von
einer privilegierten Stellung des Halses sehen wir in ihr nichts.
Hals und Haupt stehen für die Behandlung im Erbrecht nicht
näher bei einander als etwa Hals und Achsel, oder Achsel und
Ellbogen u. s. w. Man nimmt allgemein das Gegenteil an;
der Grund dieser Anuahme liegt aber einfach in der eben so
allgemeinen Voraussetzung, dass Haupt und Hals zusammen
ausser der Zählung stehen.*) Da wir aber nachgewiesen zu
haben hollen, dass diese Voraussetzung unrichtig ist, und dass
in der Sippezählung, welche für das Erbrecht allein in Be-
tracht kommt, die erste Generation als erster Grad, als erste
’) Siehe oben S. 17.
*) Vgl. Stobbe P. R. S. 67 ; Hensler S. 587 Note 2, 592; am deutlich-
sten bei v. Amira, Rez. S. 41, der wie Schanz den Hals nicht als Glied, oder
wenigstens nnr als ein halbes rechnen will S. 48. Allein so wenig jemand
anstchen wird, wegen Ssp. I 3 § 3 den Grossoheim eines Erblassers als
dessen Mag zu bezeichnen, obschon derselbe dem Urgrossvater des Erblassers
am Halse steht, während die Magenbezeichnung bei strenger Anwendung erst
mit der Schalter beginnen würde, ebenso wenig wird man, selbst bei der
Annahme, dass Geschwister des Erblassers, weil am Halse und ausser der
Zählung stehend, mit ihm besondere eng verbunden seien, eine solche be-
sonders nahe Verwandtschaft auch bei den Cfrosselterngeschwistern annehmen.
Selbst wenn also etwas derartiges für die in Ssp. I 3 § 3 dargestellte Pa-
rentel bestimmt wäre, so würde es doch zu den Besonderheiten der gerade
d&rgestellten (in diesem Falle, wo eben die Geschwister des Erblassers darin
gefunden würden, der zweiten) Parentel gehören and bei der analogen An-
wendung des Bildes auf die übrigen Parcntelen nicht mit übertragen werden
können.
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Sippe, gezählt wurde, gerade so wie die folgenden, so ist
vollends kein Grand mehr vorhanden zu der Annahme, dass
Haupt und Hals rechtlich als einander besonders nahestehend
gegolten haben.1)
4) Ueberall und nur, wo die Erbrechtsregel an-
wendbar ist, kann das Bild angewendet werden;
Überall und nur, wo das Bild anwendbar ist, kann
die Regel angewandt werden. „Diejenigen, welche sich
zwischen Nagel und Haupt an gleicher Stelle in der Sippe ab-
zuzählen vermögen, die nehmen das Erbe gleich; wer sich in
der Sippe näher abzuzählen vermag, der nimmt das Erbe
zuvor.“ Nicht die geringste Andeutung weder in der Form
noch im Zusammenhang ist uns davon gegeben , dass man
irgendwo das Gliederbild anwenden könnte, wo die Regel sich
nicht anwenden Hesse oder umgekehrt. Eine Fassung der
Regel wie die vorliegende wäre schlechterdings undenkbar,
wenn nicht die Anwendungsgebiete von Regel und Bild sich
vollständig deckten.
Mit Hülfe dieser Beobachtung ergeben sich nun über die
Anwendung des Bildes weiter folgende Sätze:
a) Das Bild ist nur einmal anwendbar; nur eine
Stammelternschaft kann Haupt sein, nur einer Stammeltern-
schaft Nachkommen können sich an der GUederschablone ab-
zählen.*) Wir haben schon oben S. 18 Note 2 gesehen, dass dies
von der Erbrechtsregel gilt. Nur eines Stammelternpaares
Nachkommenschaft ist uns in I 3 § 3 geschildert; nur im An-
schluss daran ist uns die Regel gegeben ; von einer Konkurrenz
von Stammeltemsehaften mit ihren Nachkommen unter einander
*) Es braucht kaum noch einmal daran erinnert zu werden, dass der
in den beiden ersten Parentalen sich bemerkbar machende Unterschied der
ersten Generation von den übrigen nur ein solcher der Bezeichnung ist,
Kinder und Geschwister einerseits stehen Magen andererseits gegenüber.
Dieser Unterschied ist aber an dem Bilde nicht zu sehen, Hals, Schulter etc.
in der ersten und zweiten Parentel sind nicht anders als in einer hilhern.
Darüber, dass der Weglassung gerade des Halses im Schwsp. keine tiefere
Bedeutung zukommt, vgl. Anhang I.
*) Stammelternschaft nicht Stammvater oder Stammeltorn sage ich des-
halb, weil beide Eltern des Erblassers in der zweiten, beide Grosseiternpaare
in der dritten, alle vier Urgrosselternpaare in der vierten Parentel u. s. w.
jeweilen zusammen ein Haupt bilden.
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ist nicht das Geringste angedentet, die ganze Darstellung setzt
voraus, dass es sich immer nur um eine Stammelternschaft
handeln kann, dass nur eine solche zum Erbe kommt. Es
liegt durchaus kein Grund vor, mit Wass. in unserer Quelle
eine solche Abnormität, wie es die gleichzeitige Konkurrenz
der gleichen Generationen der Nachkommenschaften aller
Stammelternschaften wäre, ausgesprochen und gefordert zu
finden. Gerade so wie mit der Kegel verhält es sich nun na-
türlich auch mit dem Bilde, nur dass bei ihm die mehrmalige
gleichzeitige Anwendung schon durch seine Natur ausgeschlossen
ist, denn es kann doch vernünftiger Weise nur ein Haupt
geben.1) Gewiss wird eine mehrmalige Anwendung versucht
werden ; mehrere gleichzeitig auftretende Erbpraetendenten ver-
schiedener Stammelternschaften werden das Bild jeder für seine
Stammelternschaft anwenden, aber keiner mit dem Gedanken,
dass mehrere Anwendungen zugleich möglich seien, sondern
jeder mit der Behauptung, dass seine Anwendung die allein
richtige sei. Und in der Tat wird vor dem Rechte dann auch
nur eine bestehen.
Herrscht über die einmalige Anwendung des Bildes mehr
oder weniger Uebereinstimmung, so kann dies nicht gesagt
werden von einer andern Frage, die man übrigens, wie mir
scheint, sich noch nie mit erwünschter Schärfe und Klarheit
formuliert hat, sonst wäre sie wohl auch schon bestimmter
beantwortet. Es ist die Frage: Ist das Bild nur auf eine
Parentel, oder genauer gesagt, nur auf die Angehörigen einer
Parentel anwendbar, oder zugleich auf Angehörige verschie-
dener Parentelen?
Diese Frage fällt nämlich mit der soeben erörterten keines-
wegs zusammen. Man übersieht das gewöhnlich u. z. nur
deshalb, weil man Parentel und das, was ich bis jetzt die
Nachkommenschaft einer Stammelternschaft nannte, als gleich
bedeutend annimmt*) Allein es ist durchaus nicht zutreffend,
') Heusler S. 601.
*) So z. B. Schanz, wenn er S. 33 sagt, aus Ssp. I 3 § 3 gehe hervor,
dass die in der Parentel, speziell der zweiten, das gleiche Glied innehaben-
den Verwandten als Erben konkurrieren. Sieht er in dem Vorhergehenden die
Nachkommen der Eltern des Erblassers, so ist das eben mehr als die zweite
Pareptel. Genauer ist v. Amira ; allein der Beweis, den er (Rez. 3. 41) für
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wenn man, wie dies z. B. Blnntschli (S. 390) und Stobbe (P. R.
S. 71 und 72) tut, die Parentel im technischen Sinne, im Sinne der
Linealgradualordnuug als Erbfolgeordnung, definiert als den
Inbegriff der von gemeinsamen parentes abstammenden Ver-
wandten. Vielmehr bezeichnet Parentel im Sinne der Pareu-
telenordnung den Inbegriff der Nachkommen einer
Stammelternschaft im Verhältnis zu dieser (erste Pa-
rentel) oder zu einem aus ihnen selbst (höhere Parentelen).
Nicht alle Nachkommen der beiden Grosselternpaare des Erblassers
bildeu dessen dritte Parentel; vielmehr müssen davon ausge-
nommen werden einmal die beiden Eltern des Erblassers mit
allen ihren Nachkommen und diese zerfallen wiederum in zwei
Teile, den Erblasser selbst mit seinen Nachkommen, welche die
erste Parentel bilden, und die Eltern mit allen übrigen Nach-
kommen, welche die zweite Parentel bilden. Dass man diese
einfache Tatsache nur zu oft übersehen hat, hat in der Litteratur
über die sächsische Erbfolgeordnung sehr verhängnisvolle
Spuren hinterlassen.
Es entsteht also die Frage, ob das Bild auf alle Nach-
kommenschaft ein und derselben Stammelterngruppe anwendbar
sei, die ich im Folgenden der Kürze halber einfach als Nach-
kommenschaft bezeichnen will, oder nur auf einen Teil der-
selben, die Parentel im technischen Sinne.
Nun haben wir aber oben S. 39 gesehen, dass die Regel
voraussetzt, dass das Erbe vom Stammvater kommt. Dies ist
zunächst und eigentlich der Fall, nur wenn der Stammvater
der Erblasser selbst ist. Wir schlossen demgemäss daraus,
dass die Sippe, welche uns der Anfang von I 3 § 3 darstellen
will, die erste Parentel sei. Dies ist die einzige Parentel,
welche alle Nachkommen eines Stammelternpaares umfasst, auf
welche also auch die ungenaue Definition der Parentel passt,
oder m. a. W.: der Stammvater als Erblasser ist der einzige
Stammvater, welcher lauter Nachkommen derselben Parentel
hat. Bei ihm fallen Nachkommenschaft und Parentel zusammen.
die gleichzeitige Anwendung des Bildes auf Angehörige verschiedener Pa-
rentelen bringen zu können glaubt, ist nicht stichhaltig, einmal weil die
Interpretation von Ssp. I 17 § 1, auf welcher er ruht, wohl nicht haltbar
int, wie wir sehen werden, sodann, weil er dae im Text von uns Bemerkte
zu übersehen scheint.
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Eben darum können sich auch alle seine Nachkommen an dem
Bilde abstuppen; aber aus demselben Grunde darf man daraus
nicht folgern, dass bei der weitern Anwendung des Bildes dies
eben so sei, dass das Bild ein Nachkommenschafts- und nicht
ein Parentelenbild sei. Der erste Teil des Paragraphen kann
nns also auf unsere Frage keine Antwort geben; wir haben
uns umznsehen, ob wir nicht anderswoher eine solche erlangen.
b) Das Haupt muss stets der Erblasser sein oder
wenigstens für seine an den Gliedern sich abstuppenden Nach-
kommen den Erblasser vertreten. Umgekehrt kann der
Erblasser in dem Gliederbilde nie eine andere Stelle
einnehmen als das Haupt. Wir haben (s. 39) gesehen,
dass das Erbe vom Haupte kommen muss, und dass dies in
erster Linie der Fall ist, wenn das Haupt mit dem Erblasser
zusanunenfällt. Allein wir dürfen jener allgemeinen Voraus-
setzung nicht diese enge Formulierung geben, sonst wären
Begel und Bild nur auf die erste Parentel anwendbar, nur
diese hätten wir dann im ersten Teil unseres Paragraphen zu
finden. Wir haben aber schon mehrmals betont, dass Eike
nicht die Absicht haben kann, uns bloss eine, bloss die erste
Parentel, bloss ihr Bild, bloss Regeln über die Erbfolgeordnung
unter ihren Angehörigen zu geben. Die dargestellte Stamm-
vaterschaft, das Bild und die Regel müssen analog auch ander-
weitig anwendbar sein. Für Bild und Regel ergibt sich bei
dieser anderweitigen Anwendung, dass nun das Haupt und der
Stammvater, nach welchem sich das „Gleich“ und „Näher*
bemisst, und von welchem das Erbe kommen muss, nicht mehr
der Erblasser selbst sein kann, dass er aber gegenüber
denjenigen, welche nach der Regel erben, und welche sich an
den Gliedern abstuppen, als Erblasser gelten, den Erblasser
vertreten muss. Das ist jedoch nie möglich für den Stamm-
vater gegenüber dem Erblasser und gegenüber dessen zwischen
dem betreffenden Stammvater und dem Erblasser stehenden
Aszendenten. Wie kann der Erblasser als solcher von jemand
anderem sich selbst gegenüber vertreten werden? Wie kann der
betreffende Stammvater gegenüber dem Erblasser und seinen
zwischen den beiden liegenden Vorfahren als Erblasser gelten?
Für diese kommt ja gar kein Erbe von ihm herunter, viel-
mehr kommt es durch sie zu ihm herauf. In der Tat ist es
Stotz, Yerwaadtachaftubilil 4
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auch noch niemandem eingefallen, die Erbrechtsregel hier anzu-
wenden, bei der Anwendung der Regel schliesst man diejenigen
Nachkommen des betreffenden Stammvaters stets aus, welche
nicht der gleichen Parentel angehören wie dieser selbst und wie
alle seine übrigen Nachkommen mit ihm. Man käme ja sonst
zu dem absurden Resultate, dass der Grossvater des Erblassers
dem Vater desselben vorgienge, weil er eben einem allen ge-
meinsamen Stammvater, z. B. dem Urgrossvater des Erblassers
näher steht. Allein was von der Regel gilt, muss nach dem
unter 4) aufgestellten leitenden Prinzipe auch für das Bild
gelten, d. h. beide sind unanwendbar für diejenigen Nach-
kommen des Stammvaters, welche einer andern Parentel ange-
hören; Regel und Bild sind also nicht anwendbar auf die
Nachkommenschaft als solche, auf die Parentel im weitern
Sinne, sondern nur auf die eigentliche Parentel. Dass Gegner
und Anhänger der Parentelenordnung das in gleicher Weise
übersehen,*) wäre verwunderlich, wenn es nicht so leicht er-
klärlich wäre. Hier rächt sich eben die unrichtige Annahme,
dass das Bild zweiarmig sei; offenbar hat man sich stets vor-
gestellt, dass der eine Arm den das Haupt bildenden Stamm-
vater mit dem Erblasser verbinde, während der andere Arm
den übrigen Nachkommen des Stammvaters zum „Abstuppen“
dienen sollte. Wir haben schon oben gesehen, dass der Ssp.
nur einen Arm als Bild verwendet, und diese Gliederschablone
ist nach dem Bisherigen nicht für alle die Personen anwendbar,
welche die communis opinio an die beiden Arme zu setzen
l) Dies gilt auch von Homeyer. Wenn derselbe S. 8 und 10 ansführt,
das Bild sei nur auf eine Parentel anwendbar, so zeigt doch seine ganze
Argumentation, dass auch er Parentel dabei mit Nachkommenschaft ein und
desselben Stammvaters identifiziert. Er führt an seiner Zeichnung aus, dass
man nicht zwei Bilder, eines vom Grossvater und eines vom Vater aus ver-
wenden könne, und dass man ebenso wenig an einem einzigen, vom Gross-
vater ausgehenden Bilde z. B. einen Neffen des Erblassers abzählen könne.
Allein nicht nur weiss er keinen Grund dafür anzuführen. sondern er denkt
sich offenbar den Erblasser und dessen Vater auch an den Gliedern des
Bildes befindlich, nur, sobald nicht die erste Generation uach dem Stamm-
vater, also der Hals, in Betracht kommt, nicht an den Gliedern derselben
Körperseite wie die Seitenverwandten.
Uebrigens nimmt auch Heasler S. 600 an, dass „Sippe“ die Gesamtheit
der vom gleichen Elternpaar abstammenden Personen bezeichnet.
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51
pflegt, sondern entspricht nur demjenigen, welcher „die andern
Nachkommen“, welcher die Parentel des Stammvaters enthält.
Somit gelangen wir zu dem dritten Satze:
c) Das Bild ist in seiner eigentlichsten Verwen-
dung nur anwendbar auf die absteigende Linie, niemals
auf die aufsteigende, und auf diejenigen Verwandten, welche
das römische und moderne Recht Seitenverwandte nennt,
nur durch deren Auffassung oder Umstempelung als ab-
steigende Linien von Vertretern der Ausgangsperson. Das
Mass, mit welchem die sächsische Verwandtschaft gemessen
wird, und die Regel, wonach die Sachsen erben, ist ein Deszen-
dentenmass und eine Deszendentenerbrechtsregel.
Die Unanwendbarkeit des Bildes auf Angehörige verschie-
dener Parentelen und auf die Aszendentenlinie entscheidet nun
vor Allem gegen die Theorieen von v. Amira und Schanz, welche
von der gegenteiligen Voraussetzung ausgehen. Für sie erklärt
die Anwendung des Bildes auf alle Nachkommen eines Stamm-
vaters einmal die Abgrenzung des engem Erbenkreises vom
weitern, v. Amira argumentiert (E. S. 131) folgendermassen :
„Des Erblasser Bruder (G) steht ebenso
H - wie der Erblasser (A) seinem Vater (D)
ß am Halse, des Erblassers Sohn (B) aber
ihm selbst am Halse, oder m. a, W. Bruder
* J und Sohn des Erblassers sind zu diesem
B im ersten Grade kanonischer Komputation
c verwandt“ •) u. s. w. „War demnach das
Verwandtschaftsbild in Ssp. I 3 § 3 auf
alle möglichen „Parentelen“ zugleich anwendbar, so lag für
Eike die Notwendigkeit vor, die Erbenordnung in I 17 § 1 in
der Art abzufassen, dass er Kinder, Eltern und Geschwister
namentlich aufzählte. Denn die gemeinschaftliche Succession
der an Hals und Haupt oder im ersten Grade kanonischer
Komputation stehenden Magen sollte ausgeschlossen sein.“2)
*) t. Amira, (Recht 8. 137 nml 138) „Im engeren Kreise standen jeden-
falls dem nämlichen Mitglied dessen Kinder und Eltern, nach einigen Hechten
aber anch dessen Geschwister gleich nahe .... Sollte in diesem eine Rang-
ordnung dnrehgeführt werden, so konnte es nur durch namentliche Angabe
der einzelnen Verwandten in ihrer Reihenfolge geschehen.“
*) Ich habe absichtlich die Ausführungen v. Amira’s wiirtlich wieder-
4“
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52
Nicht minder unhaltbar als diese Abgrenzung der Erben-
kreise wird dadurch, dass eben auf die Linie A — E das Bild
unanwendbar ist, die Komputation von v. Amira und Schanz
und ihre darauf sich bauende Erbfolgeordnung.
v. Amira komputiert folgendennassen : *) Kinder (B) und
Eltern (D) des Erblassers (A) (ein Hals) sind dem Erblasser
allerdings näher verwandt als seine Geschwister (G) (zwei
Hälse); ferner die Enkel (C) und Grosseltern (E) (beide ein
Hals und ein Glied) stehen zwar den soeben genannten Voll-
geschwistem (G) (zwei Hälse und kein Glied) nach, aber den
Kindern der Vollgeschwister (H) und den Eltern Vollgeschwistern
(F) (zwei Hälse und ein Glied) gehen sie vor.
Während diese Komputation von der Voraussetzung aus-
geht, dass der Hals nur den Wert eines halben Gliedes habe,
gegeben. Sollte das in freierer Weise geschehen, so würde ich wie Schanz
S. 17 dieselben so auffassen, dass prinzipiell Kinder, Eltern nnd Geschwister
des Erblassers diesem gleich nahe stehen, ihm gleich nahe verwandt sind, also
auch prinzipiell zusammen erben. Der engere Erhenkreis würde also aus
solchen bestehen, welche prinzipiell zusammen, und nur nach positiver Be-
stimmung nacheinander erben. Allein gegen eine solche Auffassung hat
sich v. Amira Rez. S. 42 verwahrt unter Hinweis auf E. S. 133, woraus her-
vorgehe, dass er nicht der Ansicht sein kllnne, alle Verwandten des ersten
kanonischen Grades seien gleich nah verwandt, vielmehr gebe es unter diesen
Nttanceu. Jedoch abgesehen davon, dass ich den Unterschied von „Gleich
nahe stehen“ und „Gleich verwandt sein“ nicht recht einsehc, and dass die
Argumentation v. Amira's eine solche Gleichheit als Zwischenglied zu fordern
scheint, so ist mir dieses Her- und Hiniiberspielen von der kanonischen zur
nationalen Komputation nicht recht verständlich. Entweder ist, wie mir
scheint, massgebend die kanonische; dann entsteht, weil sie wegen der Zn-
sammenziehung beider Linien etwas stumpfer ist, eine Gleichheit von Kindern,
Eltern und Geschwistern gegenüber dem Erblasser, und dann ist eine positive
Regelung der Rangordnung unter denselben nötig.. Oder es ist die v. Amira
angenommene nationale Gliederkomputation massgebend; dann erscheinen
eben nicht alle, welche nach der kanonischen Komputation gleichverwandt
sind, als solche, and die Erbfolgeordnung, wenigstens der Geschwister, rich-
tet sich nicht nach positiver Bestimmung, sondern nach ihrer Verwandt-
schaftsnähe. Die prinzipielle Gleichheit könnte also, immer voraasgesetzt,
dass ich v. Amira nicht missverstehe, nicht das Kriterium aller im engem
Erbenkreise stehenden Verwandten des Erblassers sein. Uebrigcns ist die
Frage für uns gleichgültig, da immer, wie man sie auch entscheidet, eine
unmögliche Anwendung des Bildes vorliegt.
>) Rez. S. 43.
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53
gelangt Schanz zu einer etwas andern Komputation, ') auf Grund
der Voraussetzung, dass die „Hälse“ gar nicht zählen, eine
Voraussetzung, welche allerdings dem oben S. 45 sub 3
gefundenen Prinzipe nicht weniger widerspricht als diejenige
von v. Amira. Schanz ist also z. B. der Ansicht, dass Voll-
geschwisterkinder (H; ein Glied, weil die Hälse D A und D G
nicht gerechnet werden), die Eltern vollgeschwister (F; ein
Glied, denn die Hälse E D nnd E F fallen weg) und Gross-
eltern (E; ein Glied, der Hals E D wird nicht berücksichtigt)
gleich nahe verwandt sein.*) Uebrigens gibt v. Amira (Rez.
S. 43) Schanz zu, dass seine Komputation die richtige sein könne.
Nicht weniger aber als zu diesen antiparentelistischen
Theorieen treten wir mit den oben über das Bild aufgestellten
Sätzen in Gegensatz zu den Ausführungen Heuslers, mit welchen
wir in dem Gesamtresultate übereinstimmen. Freilich betrifft
dieser Gegensatz nicht die Anwendung der Regel. Heusler
gibt (S. 594 Note 12) eine Tafel der Verwandtschaft nach unserer
Stelle. Er nennt den Erblasser h, dessen Vater g, dessen
Grossvater f u. s. w. bis zum siebenten Vorfahren des Erblassers,
den er mit a bezeichnet. Von den sieben Vorfahren gehen nun
sieben Linien Nachkommen ans; dieselben enthalten also stets die
Nachkommenschaft des betreffenden Vorfahren mit Ausnahme
derjenigen Personen, welche von ihm abstammen, aber auf der
geraden Linie unterhalb ihm nach dem Erblasser hin, oder dann
auf einer von solchen unterhalb stehenden Personen ausgehenden
Linie liegen; m. a. W. jede der Linien enthält das, was wir
oben S. 48 als Parentel im technischen Sinne bezeichnet
haben. Nur auf diese Linien, nnr auf Angehörige derselben
Parentel, wendet nun auch Heusler offenbar die Regel: „Die
tvischen“ u. s. w. an.3) Nicht dasselbe tut er bei dem Bilde;
dieses verwendet er auch für die aufsteigende Linie. Der
siebente Vorfahr erhält nach ihm das Haupt, der sechste den
Hals, der fünfte die Schulter u. s. w., den Erblasser setzt er
auf das dritte Mittelfingerglied ;4) an den Gliedern des Bildes
‘) S. 50 f.
*) Vgl. Schanz S. 53.
•) Vgl. die Bemerknngen Henslers zn Note 12 S. 594 nnd S. 601, am
letzten» Orte trotz der unmittelbar vorhergehenden weitern Definition von Sippe.
4) So in der Tafel; S. 600 dagegen auf die Fingerspitze.
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stehen in diesem Falie Angehörige lauter verschiedener, ja
aller Parentelen. Zu dieser Anwendung des Bildes scheint,
wenn ich recht sehe, Heusler zweierlei bewogen zu haben, ein-
mal die Ausdehnung der in I 3 § 3 dargestellten Nachkommen-
schaft, sodann die Vorstellung von der Zweiarmigkeit des Bildes.
„Um den weitesten Umfang der Verwandtschaft und damit die
äusserste Grenze der Erbberechtigung darzustelleu, musste Eike
zu dem siebenten Knie (Stammvater) von dem Erblasser auf-
wärts zurückgehen; in der von diesem auslaufenden Sippe ist alle
Verwandtschaft eingeschlossen.“1) Allein weil Eike nur ein
einarmiges Bild kennt, kann er an ein Einschlüssen nicht gedacht
haben, kann es von ihm nicht beabsichtigt sein, den äussersteu
Rahmen*) der Verwandtschaft in der von Heusler angenommenen
Weise zu geben. Vielmehr bezeichnet er nur die untere, nicht
die obere Grenze der Verwandtschaft, weil, wie wir oben S. 42
sahen, mit jener diese gegeben ist; eine Seitengrenze hat er
nicht zu bezeichnen, weil es eben in der Verwandtschafts-
gliederung nur ein Oben und ein Unten gibt. Die Annahme
femer, dass die höchste Stammvaterschaft dargestellt sei, ist
unmöglich, weil man sonst den Erblasser an das untere Ende
derselben setzen muss. Dies wiederum ist eben unzulässig,
weil nicht nur die Darstellung in der ersten Hälfte des Para-
graphen es wahrscheinlich macht, sondern auch die auf sie in
erster Linie zu beziehende Regel es absolut fordert, dass das
Erbe von oben, vom Stammvater her kommt.3) In der Tat
lässt sich denn auch die Ausdehnung der vorgeführten Sippe
in anderer Weise befriedigend erklären.4) Es besteht also kein
Grund, das Bild auch auf die Aszendentenlinien anzuwenden,
um so weniger, als, wie mir scheint, das Bild auch bei Heusler
in diesem Falle ganz ohne Bedeutung ist. Denn seinen beiden
Zwecken, der Regelung der Erbenfolge einerseits und der Be-
rechnung der Verwandtschaft andererseits, kann es hier nicht
dienen ; im ersteren Falle würde dies zu den S. 50 angedeuteten
widersinnigen Ergebnissen führen, aber auch das letztere schliesst
») S. 600.
«) S. 593 Note 12.
*) Über eine andere Schwierigkeit, welche die Henslerschc Annahme
der höchsten Parentel verursacht, siehe S. 41 Note 1.
4) oben S. 40
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Hensler (S. 589) selbst treffend aus, wenn er sagt, ein Kind
begründe seine Verwandtschaft mit dem Grossvater nicht damit,
dass beide von dem Urgrossvater abstammen.
ln welcher Weise nun bei den Sachsen die Verwandtschaft
berechnet und die Erbenfolge geregelt wurde, dürfte nach alle
dem, was wir über das Bild und die Regel gefunden haben,
nicht mehr zweifelhaft sein. Die Verwandten und die Erb-
berechtigten zerfielen in Parentelen oder Sippen, welche dar-
gestellt wurden durch die Gliederschablonen. Handelte es sich
dämm, den nächsten Verwandten oder die Erbberechtigten
überhaupt zu ermitteln, so wurde das Bild und die korrespon-
dierende Regel nur einmal angewendet, m. a. W.: Bild und
Regel dienten nur dazu, die Nähe und die Erbberechtigung
innerhalb der Sippe oder Parentel zu bestimmen und auch dies
nur für die Nachkommen des Elternpaares, welches das Haupt
bildet. Denn die Zählung der Sippe beginnt erst mit
der ersten Generation von Nachkommen, und die Regel
gilt nur für diejenigen, welche zwischen Haupt und Nagel
stehen, also nicht für das Haupt. Das Parentelenhaupt
erbt also bei den Sachsen nicht als erstes Parentelen-
glied. *)
Fragen wir nun, wie die Verwandtschaftsnähe unter den
Aszendenten berechnet wurde, wie die Aszendenten erbten, und
in welcher Reihenfolge die Sippen oder Parentelen auf einander
folgten, so erhalten wir für die Beantwortung dieser Frage
nur einen, allerdings hinreichenden Anhaltspunkt. Weil der
Stammvater zwar nicht in der Sippe gezählt, aber doch in die
Sippe hineingezogen ist, weil auch er einen Teil des Bildes
einnimmt, so ist, da Sippe und Bild bei der Ermittelung des
nächsten Verwandten bezw. der Erben nur einmal zur Ver-
wendung kommen, auch nur ein Stammvater (bezw. eine
Stammelternschaft) dem Erblasser gleich nahe verwandt, d. h. es
können nicht alle Aszendenten dem Erblasser gleich nahe stehen,
es können nicht alle zugleich sein Erbe erhalten, sondern nur
einer, nämlich derjenige, welcher in der allein antretenden Sippe
*) Anders bei den Langobarden. Sie zählten den Stammvater als erstes
Parentelenglied, and demgemäss müsste nnch die Regel bei ihnen gelautet
haben: Diejenigen, welche vom Haupte an bis vor den Nagel u. s. w.
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und in dem allein angewandten Bilde Ursprung und Haupt bildet.
Nur tut er das, wenigstens äusserlich,1) nicht wie die anderen
Sippegenossen, nicht nach Zahl und Entfernung ; vielmehr wird
das Erbe ihm übertragen ; wenn er lebt, lässt er es nicht weiter
gehen, es tritt, möchte ich sagen, dann für die höhern Stamm-
väter und für seine eigenen Parentelenglieder gewissennassen
gar kein Erbfall ein, es ist für sie gar kein Erblasser da.
Kann es sich also stets nnr um einen Stammvater han-
deln, ist eine Konkurrenz aller ausgeschlossen, so liegt nun die
Entscheidung über die Reihenfolge unter den Aszendenten und
damit unter den Parentelen, sowie die Bezeichnung ihrer Ent-
fernung auf der Hand; es ist eben so selbstverständlich, dass
die Eltern des Erblassers (und ihre Parentel) den Grosseltern,
diese den Urgrosseltern u. s. w. Vorgehen, dass es gar nicht
gesagt zu werden braucht. Es ergibt sich also für den Fall,
dass ein Erblasser ohne Angehörige der ersten Parentel zu
hinterlassen gestorben ist, folgende Tafel von Verwandten und
Erbberechtigten :
A ist der Erblasser, A\
A8, As sind seine Aszenden-
ten, deren Nachkommen, so-
weit sie ein und dieselbe
Parentel oder Sippe bilden,
durch die Linien Al Hl, A8
H8 u. s. w. dargestellt sind.
Alle mit einer Sieben oder
, mit H bezeichneten Personen
5 c y
J? V bilden die äussersten Ver-
wandten des A; der letzte
Erbberechtigte ist H7. Al H1 ist die zweite Parentel; die
arabischen Zahlen zeigen in ihr die Sippezahl, die römischen
die Magenzahl an. Ganz ebenso würde die erste Parentel sich
*) Dass seinem Wesen nach das Erbrecht des Stammvaters dem der
Parentelenglieder nicht gleich gewesen sei, will ich deswegen gar nicht be-
hanpten. Diese Sonderstellung des Hauptes ist eben nur eine Folge der
Zählung und der Formulierung der Regel, also von Umständen, die eben
mehr oder weniger Aeusseriichkeiten sind. Bei den Langobarden z. B., wo
der Stammvater mitgezählt wurde, stellte sich jedenfalls sein Erbrecht auch
äusserlich als demjenigen seiner Sippegenossen ganz gleich dar.
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gliedern. Soll nun der nächst« Verwandt« oder der Erb-
berechtigte bestimmt werden, so kann die Gliederschablone an
sich auf jedes A als Haupt gelegt werden, auf alle die Linien
A H wäre an sich das Gliederbild anwendbar, jedes B könnte
an sich Hals, jedes C Schulter sein u. s. w. Weil aber nur
einmal die Schablone zur Anwendung kommt, nur ein Haupt
von dem Rechte in einem solchen Falle anerkannt wird, er-
folgt die Benutzung der Schablone in der Weise, dass man
zuerst versucht sie bei A anzulegen. Ein Haupt ist hier aber
eben nicht mehr vorhanden, die Glieder fehlen ebenfalls bei
der oben gemachten Voraussetzung, hier ist also keine Ver-
wendung der Schablone möglich. Dieselbe wird nun nach
A1 gerückt, lebt dort das Haupt nicht mehr, und finden sich
keine Glieder, so rückt man nach A* n. s. w. So nach der
Tafel. Im Leben machte sich das wohl folgendennassen : Starb ein
Sachse und traten mehrere Erbpraetendenten auf, so waren
zwei Fälle möglich. Entweder sie gehörten derselben Parentel
an und nannten als ihnen mit dem Erblasser gemeinschaftlich
entweder denselben Stammvater oder wenigstens Stammväter
derselben Aszendentenstufe des Erblassers, wobei sie den
Stammvater mit Namen und unter Angabe seines Verwandt-
schaftsverhältnisses zum Erblasser bezeichnet haben werden.
Danu gieng unter ihnen das Abstuppen los, jeder begann nuu,
den Stammvater in sein Haupt setzend, sich an einer seiner
Seiten abzuzählen. Wer am höheren Gliede stand, erbte allein,
diejenigen, welche an demselben Gliede standen, erbten zu-
sammen (oben S. 44). Nannten sie Stammväter verschiedener
Aszendentenstufen des Erblassers, gehörten sie also verschie-
denen Parentelen an, so war eigentlich das Abstuppen nicht
notwendig; es hatte, wenn es doch geschah, nicht mehr Wert,
als wenn ein Beweis, dessen Resultatlosigkeit schon in seinem
Verlaufe erkannt wird, doch zu Ende geführt wird. Mass-
gebend war in solchen Fällen allein der Stammvater; ob der-
selbe der Vater oder Eltervater war,1) darauf kam es an.
Jedenfalls aber, und das mag noch einmal betont werden, er-
') Wie man sich bei den hohem Stammvätern, für welche Namen fehlten,
geholfen hat, mochte die noch nnten zu erwähnende langobardische Formel
(bei LBrsch und Schröder, Urkunden etc. 2. Aufl. N. 96) zeigen. Man sprach
von dem Eltervater de« Eltervaters des Erblassers u. dgL
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folgte die Ermittlung nicht in der Weise, wie man jetzt gewöhn-
lich anzunehmen scheint, dass man nämlich sagte, der Erblasser
stehe dem gemeinsamen Stammvater z. B. am Ellenbogen, man
stehe selbst am Handgelenk oder, bei gleicher Generationen-
zahl, man stehe mit dem Erblasser z. B. an den Ellenbogen
des gemeinsamen Stammvaters.
Ob neben der Verwandtschaftsberechnung mit Namen und
Bild in Sachsen auch eine solche durch Zahl üblich war, ist
aus dem Ssp. nicht ersichtlich,1) aber wohl möglich. Bei der
Berechnung mit Zahlen sind noch folgende Modifikationen denk-
bar, welche zwar eben im Ssp. nicht normiert sein können,
die ich aber doch kurz erwähnen möchte, weil die übrigen
ältern Rechtsdenkmiller, welche in Zalilen rechnen, sie haben,
und es mir daran liegt, zu zeigen, dass sich die Zählung jener
wohl mit derjenigen verträgt, welche wir im Ssp. finden.
Ist die Zahl der Zeugungen nach dem Erblasser und nach
dem Praetendenten hin gleich, so genügt bei Zahlenberechnung
eine einzige Zahl; z. B. soll in unserer oben gegebenen Tafel
die Verwandtschaft von Ca mit A berechnet werden, so braucht
man nicht beide Linien anzugeben, also zu sagen C» ist mit
A verwandt 2 : 2, wie man dies tut, wenn man bei der anderen
Berechnung den Stammvater in seinem Verhältnis zum Erb-
lasser sowie das Glied angibt; man kann vielmehr einfach
sagen, A und Ca seien im zweiten Grade verwandt, wobei
man nun, statt Al und B8 und A und C* gesondert auf den
beiden verschiedenen Linien zu zählen, sie zusammen als Gene-
ration zählt. Dies ist kanonische Komputation, sie ist vor
Allem eben da möglich, wo der verschiedene Wert der beiden
Linien nicht in Betracht kommt, wie natürlich bei der Frage, ob
zwei Personen sich heiraten dürfen; hier ist die Entfernung
allein massgebend. Sobald aber die Zahl der Zeugungen nicht
gleich ist, sobald die Linien verschieden sind, zeigt sich wieder
deutlich, dass beide Linien gezählt werden, denn alsdann gibt
das ältere kanonische Recht ebenfalls zwei Zahlen. Darum
bestimmt auch das cdictum Rotharis c. 153, dass der Erb-
') Ich denke natürlich nicht an den Fall, das» man filr das Glied die
Sippe angibt, z. B. statt „Schulter“ die „zweite Sippe,“ sondern an die reine
Zahlenberechnung, wo auch die Aszendentenlinie in Zahlen ausgedrückt wird.
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praetendent die Namen nicht nur seiner, sondern auch der
Vorfahren des Erblassen) angeben müsse.1)
Nur eine weitere Anwendung des oben Gesagten ist es,
wenn für zwei Erbpraeteudenten, für welche beide die Zahl
der Zeugungen von den ihnen mit dem Erblasser gemein-
schaftlichen Stammvätern nach dem Erblasser und nach ihnen
hin gleich ist, die Verwandtschaft durch zwei statt durch vier
Zahlen angegeben wird.*)
Erwähnen wir endlich noch einmal, dass nach dem Ssp.
Halbgeburt, in der Sippe ein Glied zurücksetzt,5) und dass
mehl-fache Verwandtschaft nicht beachtet wird,4) so dürfte
wohl der Inhalt des Paragraphen erschöpft sein. Wir ge-
langen somit zu dem Schlüsse:
Unter allen von der Wissenschaft aufgestellten
Erbfolgeordnungen entspricht die Linealgradual-
oder Parentelenordnung allein dem Rechtszustande,
welchen Ssp. I 3 § 3 uns überliefert; ob sie das Prinzip,
welches der sächsischen Erbfolgeordnung zu Grunde liegt,
richtig trifft,5) oder ob sie nur äusserlich, im Erfolge, mit
') So nach der richtigen Interpretation, welche das „unicuique* nicht
Ubersieht, wie cs Wass. getan hat. Vgl. statt aller andern Heusler S. 590
N 8, Schröder R. G. 8. 824. N. 424. Die Berücksichtigung beider Linien betont
namentlich v. Amira £. 8. 49; sie findet im Ssp., der einzigen filtern Quelle,
welche die Verwandtschaft nicht mit Zahlen berechnet, ihre Bestätigung.
’) So in der schon erwähnten langobardischen Formel, vgl. Anhang III.
*) Nicht nur in der zweiten Parentel wie Wass. (8. O. S. 61), Siegel
(Rez. 8. 26) annimmt; dagegen entscheidet der von Schanz (S. 52) angeführte
Grund.
*) Der Grund ist leicht einzusehen. Er liegt in der sächsischen Ver-
wandtschaftsbcrcchnung, welche mehrfache Verwandtschaft nicht zum Aus-
druck bringen kann. Stirbt das einzige Kind eines der Brüder, welche die
zwei Schwestern geheiratet haben, bo kommt es als Erblasser in unserer
Tafel an die Stelle von A zu stehen. Bei C* stehen nun seine Vettern,
z. ß. einer, welcher von dem andern Bruder abstammt, der eine der beiden
Schwestern geheiratet hat, und ein Sohn dessen, welcher ein fremdes Weib
nahm. Die beiden unterscheiden sich dadurch, dass der letztere bei A’ nur
den väterlichen Grossvater, der erstere auch den mütterlichen mit A gemein-
sam hat. Allein das nutzt diesem nichts, alle bei A’ stehenden Personen
bilden ein Haupt, wie der bloss einfach verwandte kann er sich nur ein mal
abstuppen.
») Vgl. Heusler S. 597.
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dieser übereinstinimt, kann nach der Quelle kaum entschieden
werden, weil dem Verfasser des Sachsenspiegels eben eine
wissenschaftliche Erkenntnis seines Rechtes abgeht, er also
auch hier nicht das Prinzip, das Wesen der Erbfolgeordnung,
sondern nur diese selbst dar stellen kann und will. Für eine
innere Uebereinstimmung möchte aber der Umstand sprechen,
dass das Gliederbild, gewiss nicht ein Produkt Eikes sondern
des Volksgeistes , genau der Parentel der modernen Theorie
entspricht, welche also schon von dem unbewusst schaffenden
Geiste der das Recht erzeugenden Faktoren als Grundelement
der Verwaudtschaftsgliederung und Erbfolgeordnung aufgefasst
worden zu sein scheint.
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B. Sachsenspiegel Landr., 1 17 § 1.
Stirft die man ane kint, sin vader nimt sin erve; ne
hevet he des vader nicht, it nimt sin rander mit mereme rechte
dan sin bruder. Vader unde müder, allster unde bruder erve
nimt de sone unde nicht de dochter ; it ne si dat dar nen sone
ne si, so nimt it de dochter. — Sven aver en erve versüsteret
unde verbruderet, alle de sik gelike na to der sibbe gestuppen
mögen, de nemet gelike dele dar an, it si man oder wif;
disse betet de sassen gau erven. — Doch nimt sones unde
dochter kint erve vor vader unde vor müder unde vor bruder
unde vor slister, durch dat: it ne geit nicht ut dem busmen,
de wile de evenburdige busme dar is. — Sve so dem anderen
evenburdig nicht ne is, de ne mach sin erve nicht nemen.
Neben der allgemeinen Ausführung in Ssp. I 3 § 3 kommt
für die Erbfolgeordnung des Ssp. wesentlich nur noch unsere
Stelle in Betracht. Wie wir schon in der Einleitung sahen,
unterscheiden sich die Artikel 4 u. f. von den drei ersten, in-
dem sie den speziellen Teil des Rechtsbuches bilden. Allge-
meine Erörterungen sowie Systematik findet sich hier nicht
wie dort, die konkreten Aeusserungen der Rechte werden uns
dargestellt.
So auch hier; unsere Stelle hat eine ganz bestimmte, spe-
zielle Aufgabe, nämlich darzustellen, wie der Geschlechtsunter-
schied auf das Erbrecht wirkt. Dass dies teilweise Zweck und
Aufgabe des Paragraphen sei, wird allgemein zugegeben; dass
es nicht nur die Hauptaufgabe, sondern die einzige sei, ebenso
allgemein verneint. Homeyer hat, nach der Titelüberschrift
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dieses Paragraphen in seiner Ausgabe sowie aus seiner Schrift
über die Erbfolgeordnung des Ssp. zu schliessen, die Dar-
stellung der Erbenfolge für das eigentliche Thema unserer
Stelle gerade so gut gehalten wie v. Amira und alle Andern,
welche ohne Weiteres auf dieselbe mehr oder weniger allein
ihre Theorieen aufbauen. Alle von der Parentelenordnung ab-
weichenden, von Schanz, v. Amira, Wasserschieben und Siegel
aufgestellten Theorieen stützen sich in erster Linie auf diese
Stelle; so die Wasserschlebensche für den Vorzug der Deszen-
denten und Aszendenten und die Sonderstellung der Geschwister,
so die Theorieen von den zwei Erbenkreisen mit verschiedenen
Erbfolgeprinzipien. Und doch sprechen dafür, dass nicht die
Erbfolgeordnung sondern nur die Wirkung des Geschlechts-
unterschiedes auf dieselbe Gegenstand dieser Stelle ist, schon
folgende allgemeine Gründe:
1) Die Mehrzahl der Artikel, welche zwischen I 3 § 3
und I 17 § 1 liegen, beschäftigen sich mit erbrechtlichen Ver-
hältnissen,1) setzen aber alle die Erbfolgeordnung schon
voraus,8) bringen auch teilweise Modifikationen daran an. Na-
mentlich in I 16 kehrt Eike nach einer kleinen Abschweifung
wieder zum Erbrecht zurück und beginnt mit der Erörterung
eines ersten speziellen Erfordernisses des Erben , der Eben-
bürtigkeit, um sodann im Folgenden auf ein zweites, das
männliche Geschlecht überzugehen, das freilich nicht in allen
Fällen erforderlich ist, und dessen Mangel, auch wo es ver-
langt wird, nicht absolut, sondern nur relativ ausschliesst.
2) I 17 § 2 handelt unzweifelhaft nur von dem Einfluss
des weiblichen Geschlechts auf das Erbrecht, ja dieser Ge-
danke vermittelt den Uebergang zu I 18; die Abweichung des
Schwabenrechts bezüglich des Erbrechts der Weiber veranlasst
die Darstellung der Unterschiede von Schwaben- und Sachsen-
recht überhaupt, und nachdem diese beendet ist, kehrt der
Spiegler wieder zu seinem Ausgangspunkte, dem Einfluss des
weiblichen Geschlechts zurück und handelt von dem Hechte der
Frau an der Morgengabe u. s. w.
') Auch die nicht direkt auf das Erbrecht sielt beziehenden Stellen
scheinen doch Fragen zu behandeln, welche bei eiuein Erbfall besonders
praktisch werden konnten.
*) Den Hinweis darauf verdanke ich Herrn Prof. Qierkc.
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63
3) Es ist nicht einzusehen, weshalb Eike, der die Erbfolge-
ordnung in I 3 § 3 endgültig und allgemein geregelt hat, hier
noch einmal darauf zurückkommen soll. Nimmt man aber an,
I 3 § 3 gebe keine erschöpfende Eegelung, weshalb hat denn
Eike die Darstellung der Erbenfolge so zerstückelt, so ausein-
ander gerissen, und weshalb redet er hier, wenn er nach v.
Amira und Schanz noch nachträglich die Verhältnisse des
nähern Erbenkreises regeln will, noch einmal vom weitern,
weshalb findet sich endlich keine Spur von dem zur Regelung
der Erbenfolge doch jedenfalls unentbehrlichen Bilde?
Die herrschende Ansicht wird aber vollends widerlegt
durch den Inhalt unsers Paragraphen, zu dessen Untersuchung
wir nun übergehen. Derselbe zerfällt in drei, in unserm
obigen Abdruck angedeutete Abschnitte, welche beginnen mit
den Worten: Stirft, Sven aver, Doch.
L
Das deutlichste Zeichen davon, dass von der Erbfolge-
ordnung unter den engem Erben in diesem ersten Abschnitte
des Paragraphen die Rede sei, und nicht die Lehre von dem
Einfluss des weiblichen Geschlechts auf das Erbrecht in erster
Linie stehe, erblickt v. Amira (E. S. 132) im Bau des Ab-
schnittes. Zuerst werden die drei Klassen ohne Rücksicht
auf das Geschlecht in ihrer Reihenfolge hingestellt. Sodann
werde die Regel nachgetragen, dass unter den Kindern der
Sohn die Tochter, unter den Geschwistern der Bruder die
Schwester ausschliesse. Allein schon Lewis (XVII S. 415) hat
mit Recht bemerkt, dass dies im Widerspruch stehe mit der
Stelle, nach welcher die Geschlechter abwechselnd genannt
werden. Vielmehr ist gerade der Bau des Abschnittes, wie
mir scheint, der beste Beweis für meine Auffassung.
Man überlege sich doch einmal, wie Eike, falls er den
Einfluss des Geschlechtsunterschiedes auf die Erbfolgeordnung
darzustellen hatte — und nebenbei soll er das ja in der Tat
tun — diesen ausdrücken konnte. Er musste nämlich nicht
nur den Vorzug des männlichen Geschlechts vor dem weiblichen
feststellen, sondern auch, dass derselbe nur relativ, nur inner-
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hall) derselben Stufe wirksam sei,1) dass also das weibliche
Geschlecht einer frühem Stufe noch jedem, auch dem männ-
lichen der folgenden vorgehe, und nicht etwa wie die Halbge-
burt mit der folgenden Stufe zusammen erbe. Nun betlenke
man ferner, dass eine abstrakte Formulierung dieses Rechts-
satzes bei Eike gar nicht in Frage kommen konnte, sondern
er einfach die Aeusserung desselben, die Tatsache, dass Männer
innerhalb der eben angegebenen Grenzen einen Vorzug ge-
messen, zu konstastieren hatte, so wird sich ergeben, dass er
dies nur in der vorliegenden Weise tun konnte. Mit Formeln
wie „de son nimt dat erve to voren“ u. dgl. war nichts ge-
sagt, weil so die blosse Relativität des Vorzugs gar nicht
ersichtlich war; nur das eine war möglich, nämlich für jede
der drei in Frage kommenden Stufen zu sagen : Das männliche
Geschlecht einer Stufe erbt vor dem männlichen (und natürlich
auch weiblichen) der folgenden, das weibliche Geschlecht der
erstem Stufe erbt nach dem männlichen derselben Stufe, wird durch
dasselbe ausgeschlossen, allein immerhin wie das männliche noch
vor dem männlichen (und weiblichen) der folgenden. Das ist, ganz
ausführlich und breit dargelegt, der Ausdruck, den Eike dem
obigen Satze gegeben hat,2) ein Ausdruck der begreiflich, ja
natürlich ist, wo man eine Regel noch nicht erkennt oder zu
formulieren weiss. Das letztere wäre in dem vorliegenden
Falle, um so schwieriger und kaum kürzer oder einfacher ge-
wesen, da neben der Regel noch der Kreis hätte angegeben
werden müssen, innerhalb dessen sie gelten sollte. Kurz, wTas
man auf die Erbfolgeordnung bezieht, ist gar nicht um seiner
selbst willen gesagt, ist nur Mittel zum Zweck, ist nur die
Form, um die bloss relative Wirkung des Geschlechtsvorzugs
darzustellen.
Mit dieser Erklärung fällt aber auch eine Frage weg,
die man sich, falls die Erfolgeordnung Hauptthema oder
überhaupt Thema wäre, doch aufwerfen muss. Weshalb hat
•) VgL auch Heusler S. 677.
’) Eike verkürzt ihn, wo es zulässig ist. Z. B. sagt er am Anfang ein-
fach: sin vader nimmt sin erve (nicht: vor dem bruder), d. h. er erspart sich
hier im ersten Teil der Formel, welche vom männlichen Geschlecht handelt,
die Angabe der folgenden Stufe, offenbar, weil sie selbstverständlich ist und
beim weiblichen Geschlecht dann gleich genannt wird.
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denn Eike nicht die erste l) Stufe, die Kinder, zuerst behandelt,
und erst hernach die Eltern und Geschwister? Weshalb hält
er, wenn er die Erbfolgeordnung schildern will, dieselbe gar
nicht inne? Eine Antwort dürfte die herrschende Ansicht
schuldig bleiben. Dagegen erklärt sich die Reihenfolge, wenn
die Rücksicht auf die Erbenfolge wegfiel, und nur der Einfluss
des Geschlechts geschildert werden sollte; Eike begann in der
Einflusssphäre oben und gieng dann auf die beiden unteren Stufen
über. Die Reihenfolge der Stufen ist eben gleichgültig.*)
Aus dem ganz speziellen und konkreten Inhalt der Stelle
folgt nun:
a) „Kint“ darf nicht als gleichbedeutend mit Nach-
kommen überhaupt gefasst werden, wie Homeyer und Wasser-
schieben tun.3) Eine solche Ausdehnung wäre zwar nicht gerade
unrichtig, wie v. Ainira und Schanz annehmen,4) aber unbegründet
und mit der ganzen Fassung des Abschnittes nicht vereinbar.
Es liegt kein Anhaltspunkt zu der Annahme vor, dass Eike
bei dem Satze : „stirft de man ane kint“ an mehr gedacht hat,
als er nach dem strengen Wortlaute sagt; „kint“ ist ebenso
wörtlich zu fassen wie die Gegensätze dazu : „vader“, „müder“,
„bruder“, „süster“; der Bedingungssatz soll einfach ermöglichen,
von der Erbfolge des Vaters und der Mutter zu sprechen.5)
Jedenfalls aber kann schon aus dem letzten Grunde die Er-
wähnung der Kinder auch nicht die urgierte Bedeutung haben,
die ihr v. Amira und Schanz beilegen, von denen der erstere
(E. S. 132) sagt, weil das Verwandtschaftsbild in I 3 § 3 zu-
gleich auf alle Parentelen anwendbar gewesen sei, habe Eike
■) n. e. nach der Parentelenordnung wie nach den Theorieen von Siegel,
Wasaerschleben, v. Ainira nnd Schanz.
*) Natürlich hat die Stolle einen ganz andern Sinn erhalten im Schwsp.
(c. 14 mit Note 14 bei Lassberg, c. 15 bei Wackcniagcl). Da derselbe die
beiden Geschlechter gleichstem, wurde der Artikel für ihn eigentlich über-
flüssig und ist offenbar nnr der Quelle wegen beibchalten worden. Im
Schwsp. wurde er also erst, was er nach der herrschenden Ansicht schon im
Ssp. Bein soll, eine speziellere Wiederholung von vorher allgemeiner Darge-
stelltem. Vgl. auch Seelig S. 11.
s) Jetzt auch Seelig S. 26; dass im Schwsp. „kint“ gewöhnlich Deszen-
denten überhaupt bedeutet, ist natürlich für den Ssp. ohne Beweiskraft.
*) Der letztere S. 36 und 37.
s) Vgl. auch Hausier S. 573.
Stotz, VerwandtschaftsbUd. 5
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hier Kinder, Eltern und Geschwister mit Namen anflihren
müssen, damit man nicht aus dem Bilde schliesse, sie erben
gemeinschaftlich. Wäre das letztere Überhaupt denkbar, und
hätte unsere Stelle die genannte Aufgabe, so wäre es, worauf
schon hingedeutet wurde, zum wenigsten sehr auffallend, dass
nicht der Satz: „vader unde müder, süster unde bruder erve“
u. s. w. an der Spitze steht, sondern die wichtigste erste Klasse
vorläufig und nebenbei mit dem Satze: „stirft de man ane
kint“ abgetan wird.
b) Geradezu unmöglich ist die Unterstellung sämtlicher
Aszendenten unter „ vader unde müder“, wie sie Wasserschieben
(S. 0. S. 60) behauptet. Homeyer (Par. S. 11) und Lewis
(IX. S. 55 f.) haben aber diese Ansicht schon so überzeugend
widerlegt, dass sie seither allgemein aufgegeben ist.1)
Fassen wir den Inhalt des ersten Abschnittes zusammen,
so kommen wir zu Folgendem: Das weibliche Geschlecht steht
auf der Stufe der Kinder, Eltern und Geschwister des Erblassers
hinter dem männlichen zurück, doch nicht so, dass es, etwa
wie die Halbgeburt, eine Stufe zurückgesetzt wird, vielmehr
wirkt der Geschlechtsunterschied nur innerhalb einer Stufe.
II.
Auch dass in dem zweiten, mit: „Sven aver en erve ver-
süsteret unde verbrüderet“ beginnenden Teile der Einfluss da«
Geschlechts eine Rolle spielt, wird nicht geleugnet: nur sieht
man auch hier dies allgemein als Nebensache an, der Haupt-
inhalt soll sein die Regelung der Erbenfolge in einem weiteren
Erbenkreise als demjenigen des ersten Teils. Nach der ver-
schiedenen Auffassung von diesem wird jener bestimmt.
1) Siegel, der annimmt, im ersten Teile sei vom Erbrecht
der Deszendenten (son, dochter, kint), der Eltern und Ge-
schwister gehandelt, findet in unserm zweiten die Erbfolge
aller übrigen Verwandten geregelt u. z. nach seiner älteren
Ansicht in Klassen von Verwandten gleichen römischen Grades
') v. Aiiiira, E. S. 128, Schanz, S. 45.
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(Erbr. S. 60, 61, 26), nach seiner späteren in Kategorieen, deren
Angehörige dieselbe längere Linie haben, gleichgültig ob es die
Linie vom gemeinschaftlichen Stammvater nach dem Erblasser
oder nach dem betreffenden Erbansprecher sei (V. B. S. 31,
R. G. S. 360, 433).
2) Wasserschieben findet in dem ersten Satze eine besondere
Erbfolge in der Art bestimmt, dass nach den Deszendenten
(kint) die Aszendenten (vader, müder), sodann die Geschwister
erben. Unser Abschnitt regele also die Erbfolge unter den
Seitenverwandten mit Ausnahme der Geschwister, also der von
ihm so genannten Magen. Für sie bestimme der Satz: „alle
de sik gelike* u. s. w., dass alle, welche sich zu irgend einem
mit dem Erblasser gemeinschaftlichen Stammvater gleich gliedern,
gleich erben (S. 0. S. 36, oben S. 18 Note 2, S. 46, 47).
3) Diesen Ansichten gegenüber haben v. Amira und Schanz
durch die enge Interpretation von „kint“ und „vader“ die
Verwandten, deren Erbfolge im ersten Abschnitt behandelt sei,
auf Kinder, Eltern und Geschwister eingeschränkt; nach ihnen
bezieht sich demnach der Abschnitt: „Sven aver“ auf alle an-
dern Verwandten, also weitere Deszendenten,1) Aszendenten,
Seltenverwandte. Dieselben erben in Klassen bestimmt nach
den Graden der Verwandtschaftsnähe.*)
Wie sich Homeyer die Aufgabe dieses zweiten Teils denkt,
ist nicht ganz klar, jedenfalls betont er als Hauptinhalt die
Erbfolgeordnung.*) Doch scheint er in unserm Paragraphen
mehr eine praktische Anwendung, eine Erläuterung von I 3
§ 3 zu sehen. Dabei findet er darin den Vorzug der gesamten
Deszendenz und die Scheidung in zwei Kreise ausgesprochen,
in denen die Behandlung des weiblichen Geschlechts bezüglich
der Erbenfolge eine verschiedene sei (Par. S. 7).
In der Tat scheint es mir, falls man überhaupt die Erben-
folge Hauptthema des zweiten Teils unsere Paragraphen sein
') Enkel seien nur durch eine in dem dritten Teile folgende, besondere
Bestimmung davon ausgenommen.
*) Darüber, wie diese von v. Amira und von Schanz berechnet werden,
vgL oben S. 62, 68.
*) VgL oben 8. 61 a. E., 62. Ebenso Heusler, welcher S. 600 den Satz:
„Die tvischen“ n. s. w. als nebensächlich hinzngefilgt bezeichnet und ihm
seine eigentliche Stelle in I 17 § 1 zuweist.
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lässt, gar nicht anders möglich, als in demselben eine An-
wendung oder Wiederholung des I 3 § 3 Gesagten zu sehen.
Das: „alle de sik gelike na to der sibbe gestuppen mögen, de
nemet gelike dele dar an“ klingt zu sehr an den Satz: „Die
tvischen deme nagele“ u. s. w. an, als dass man nicht geradezu
einen Hinweis auf jene Stelle darin sehen müsste. Und zwar
wird in I 3 § 3 die Regel allgemeiner und im Zusammenhänge
mit dem Verwandtschaftsbilde gegeben; es ist dort auch
gesagt, wie das „gelike“ zu berechnen sei, und wie
mau es im Falle eines „ungelike“ zu halten habe, was
beides Eike, hier übergeht, wie er auch von den Gliedern
nichts erwähnt. Daher kann der Satz „alle de sik gelike“
u. s. w. nie zur Herleitung eines Erbfolgeprinzipes
benutzt werden, gerade so wenig, als man Eike zumnten
darf, er habe früher ex officio vollkommener Gesagtes noch
einmal ex officio ungenauer sagen wollen. Vielmehr muss
die Bedeutung des erwähnten und bloss gestreiften
Prinzips allein aus I 3 § 3 ermittelt werden, nur die
dort erschlossene Erklärung kann für die vorliegende
ungenauere Fassung massgebend sein.1) Damit ist eigent-
lich dem Passus jede selbstständige Bedeutung für die Erben-
folge genommen, und wir werden schon deswegen das, was die
herrschende Ansicht als Nebeninhalt betrachtet, zum alleinigen
Inhalt erheben müssen.
Wir haben gesehen, dass im ersten Satze gesagt ist, unter
Kindern, Eltern und Geschwistern bestehe ein Vorzug des
männlichen Geschlechts. Hier in dem weiteren Verwandten-
kreise soll das Geschlecht als für die Erbenfolge irrelevant
dargestellt werden. Wie nun oben der Vorzug so ausgedrückt
ist, dass gesagt wird, der männliche Teil gehe den folgenden
Stufen vor, der weibliche komme erst in Ermangelung eines
*) Es ist also z. B. unstatthaft, wenn Wass. aus dem „alle9 den Schluss
zieht, dass die gleichen Glieder in allen Parentelen zusammen erben, sofern
sich dies nicht aus I 3 § 3 ergibt (was eben nicht der Fall ist. Oben S. 18
Note 2, S. 46, 47). Ebenso wenig kann auch daraus, dass hier gar keine Andeutung
Uber den Vorzug derselben Grade aber einer nähern Parentel gemacht ist,
ein Argument gegen die Parenteleuorduung geholt werden, da eben Eike
hier nicht „die Aufgabe hatte, die Parentelenordnung in ihren Hanptztlgen
zu charakterisieren.' Wass. Bepl. S. 31, 32.
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männlichen zum Erbe, aber noch vor denselben weitern Stufen,
so werden auch hier Männer und Weiber als Erbausprecher
gesetzt. Hier konnten nnn, da es sich um einen grossen
Komplex von Verwandten handelte, die folgenden Stufen nicht
mit Namen genannt werden, es konnten beide Teile nicht als
gleichberechtigt zusammen solchen folgenden Stufen gegenüber
gestellt werden, Eike musste die Einflusslosigkeit des Geschlechts
in diesem weiten Kreise allgemein regeln. Deshalb knüpfte er
an die Regel: „Die tvischen“ n. s. w. an, u. z. konnte das
nur geschehen in Bezug auf denjenigen Teil derselben, der von
gleich nahen Gliedern spricht. Denn dass ein Weib, welches
sich näher zu der Sippe ziehen konnte, jedem entferntern Manne
ohne Weiteres vorgieng, galt ja sogar unter den engem Ver-
wandten, war also selbstverständlich. Indem nun Eike mit
Recht voraussetzte, dass man die Tragweite und Anwendung des
Satzes: „Die tvischen“ u. s. w. von I 3 § 3 her kenne, sagte
er einfach: Die in I 3 § 3 gegebene Regel, dass, wer sich
gleich nahe zur Sippe stuppen könne, gleiche Teile
nehme, also gleich naher Erbe sei, gelte (abgesehen von
den I 17 § 1 im ersten Abschnitt erwähnten Verwandten)
auch, „it si man oder wif.“ Deutlicher und richtiger konnte
dies Eike in konkreter Fassung wohl überhaupt nicht aus-
drücken.
Von diesen letzteren Verwandten, den Angehörigen des
weitem Kreises, fügt er hinzu, dass sie die Sachsen Ganerben
nennen, d. h. coheredes, Miterben, Gleicherben, nicht weil, wie
die herrschende Ansicht meint, hier verschiedene Gruppen gleich
nahe stehender Verwandter zusammen erben, sondern weil hier
die beiden Geschlechter Miterben sind, und nicht das weibliche
bloss als Nacherbe auftritt.1)
III.
Der wahre Grund, weshalb man unsere Stelle hauptsächlich
auf die Erbenfolge bezieht, liegt wohl im dritten Abschnitte;
*) Dabei deckt sich der erbrechtliche Begriff Ganerben genau mit den
Magen der Verwandtsckaftsgliederrmg, oben S. 16 Note 2.
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in ihm scheint nämlich eine Bezugnahme auf das Geschlecht
ganz fern und ausser dem Bereiche der Möglichkeit zu liegen.
In der Tat hat auch nur ein einziger Schriftsteller l) eine solche
als Nebenaufgabe unsers Abschnittes zu bezeichnen versucht,
ohne indessen näher darauf einzugehen.
Vielmehr nehmen die Parentelisten sowie Siegel und
Wasserschieben an, dass hier von der Erbfolge der Enkel
gehandelt werde, welche eigentlich durch den Satz „Stirft de
man ane kint“ erledigt sei, sowie von deren Vorzug vor dem
Vater des Erblassers, also ihrem Urgrossvater, und dessen
Kindern, des Erblassers Geschwistern. Allein dem gegenüber
haben, abgesehen von der Unhaltbarkeit einer so weiten Inter-
pretation von „kint“,*) Boretius,8) sodann namentlich v. Amira
(E. S. 129 und Rez. S. 39) und Schanz S. 38, 39, 49 4) mit Recht
auf das „Doch“ hingewiesen. Dasselbe dente nämlich darauf
hin, dass aus dem im zweiten Teile erwähnten Kreise, in
welchem das Prinzip der Gradesnähe gelte, ein Stück heraus-
gehoben und in den engem Kreis gestellt werde, d. h. dass die
Enkel Ganerben (im Sinne v. Amira's, also Miterben = Graderben)
seien, aber durch ausdrückliche Bestimmung dem engem Erben-
kreise beigesellt werden. Dass dies nur durch eine Ausnahme
geschehe und nicht, wie nach der Parentelenordnung, vermöge des
allgemeinen Prinzips, schliesse eben diese Erbfolgeordnung aus.8)
So richtig nun auch die Beobachtung ist, dass diese For-
mulierung eine gewisse Gleichstellung der Enkel mit den im
zweiten Abschnitt genannten Blutsfreunden voraussetzt, so kann
sie doch nicht in der Richtung liegen, die v. Amira und Schanz
annehmen. Sofort entsteht nämlich die Frage, weshalb denn
Eike die Enkel zuletzt erwähne, welche, wenn auch nur kraft
einer Ausnahme, den im ersten Abschnitt genannten Verwandten
sogar Vorgehen, also alles dort Gesagte illusorisch machen.
Die Antwort, man müsse eben zuerst die Regel („Sven aver“)
und dann die Ausnalune („Doch“) bringen, trifft nicht zu, weil
*) Lewig IX S. 51, gegen ihn Schanz S. 39.
*) Oben S. 65.
*) Bei Lewis IX S. 60.
*) Ihnen schliesst sich an Seelig S. 23 und 24.
s) Dagegen, aber ohne Erfolg Lewis IX 8. 50, XVII S. 415 ; vgl. v. Amira,
E. S. 129, Bez. S. 39, Schanz 8. 38.
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das Erbrecht der Enkel und der weitern Verwandten auch nach
v. Amira und Schanz nur seinem Wesen nach, nur juristisch
gleich wäre, weil auch nach ihnen Enkel Ganerben nur eigent-
lich wären, Ganerben nur einmal gewesen sind und als solche
behandelt werden sollten, v. Amiras Deutung der Stelle und
der Gedankengang, den er in I 17 § 1 findet, würde also zu
der merkwürdigen Tatsache führen, dass Eike hier eine wissen-
schaftliche, eine juristische Klassifikation der Erbrechte gäbe
u. z. noch obendrein eine Klassifikation, die sich auf die
Geschichte der Rechte aufbaut. Zuerst würde der engere
Erbenkreis mit seinem besonderen Prinzipe, dann der weitere
mit dem seinigen dargestellt, und hierauf eine tatsächlich zu
jenem, historisch und juristisch sich aber als mit diesem
gleichwertig erweisende Gruppe erwähnt. Ob wohl nicht Eike
wie sonst die Rechte nach ihrer äussem Wirkung behandelt,
ob er wohl nicht das stärkste Erbrecht im engern Kreise, das
der Enkel, einfach als erstes in diesem dargestellt hätte?
Man wird eben gut daran tun, sich wieder in Erinnerung zu
rufen, dass in unserm Artikel vom Einfluss des Geschlechts die
Rede ist.
Im ersten Abschnitte des Paragraphen hatte Eike gesagt,
unter Kindern, Eltern und Geschwistern gehe das männliche
Geschlecht vor, speziell komme, so lange ein Sohn vorhanden
sei, die Tochter nicht zum Erbe. Im zweiten Abschnitte hatte
er weiter ausgeführt, dass alle andern Verwandten ohne Unter-
schied des Geschlechts gleich erben, sofern sie gleich nahe ver-
wandt seien ; diese heissen in Sachsen Ganerben. Daraus ergibt
sich, dass die Enkel Ganerben sind, nicht bloss eigentlich
und nicht nur urspünglich, sondern auch jetzt noch, d. h. also
dass Enkel männlichen und weiblichen Geschlechts gleich erben.
Allein nun entstand die Frage, wie es zu halten sei, wenn
deren Eltern verschiedenen Geschlechts waren. Soll
das Geschlecht des vorverstorbenen Mittelgliedes entscheiden
nach dem Satze, dass der Sohn die Tochter ausschliesse , oder
soll das Geschlecht der Eltern gleichgültig sein. Diese Frage
musste jeder aufmerksame Leser, wenn er die beiden voran-
gehenden Sätze so verstanden hatte, wie wir sie als richtig
annehmen, sofort aufwerfen; sie trat ja auch bei den Ge-
schwisterkindern auf, sie wiederholte sich, sobald Verwandte
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vom Vater oder von der Mutter her, Vater- und Muttennagen,
zum Erbe kamen, aber sie trat am unmittelbarsten und
schrofi'sten bei den Enkeln zu Tage und wird deshalb in Bezug
auf sie geregelt, sei es dass Eike au die andern Fälle gar
nicht dachte, sei es dass er erwartete, man werde sie dann
analog entscheiden. Diese Frage hat Eike in unserrn Abschnitte
beantwortet, u. z. in einem mit „Doch“ eingeleiteten Satze,
offenbar in dem Bewusstsein oder dem instinktiven Gefühle,
man könnte aus dem Vorhergehenden das Gegenteil seiner
Antwort ableiten. Es ist also „sones unde dochter kint“
zu betonen nicht das „vor.“ *) Dass dies der Inhalt und der
') Herr l’rof. Gierke findet unsere Auslegung des dritten Abschnittes
etwas gewagt. Die beiden ersten fasst er wie wir, findet aber den Gedanken-
gang so: „Bei der Berufung von Eltern, Kindern und Geschwistern gilt Ge-
schleclitsvorzng. Werden weitere Verwandte als Geschwister berufen, so
stehen die Geschlechter einander gleich (wobei es sieb von selbst versteht,
dass nicht bloss das Geschlecht des Erben, sondern auch das Geschlecht aller
den Erben mit dem Erblasser verbindenden Zwischenglieder unerheblich ist).
Doch darf man hieraus nicht etwa folgern, dass die Erbenklasse mit Ge-
schlechtsvorzug durchweg der Erbeuklasse ohne Geschlechtsvorzng vorgehe,
wie das die Darstellung Eikes nahe zu legen scheinen mochte. Eike will
daher den Schein zerstören, als habe er zuvörderst für alle nähern Erben
Geschlechtsvorzng statuiert, und demnächst alle Erben, bei denen Geschlechts-
vorzug nicht gilt, als entferntere Erben qualifiziert. Darum sagt er: Doch
nehmen Enkel, obschou sie nicht nur ohne BUcksicht auf ihr eigenes Ge-
schlecht, s indem auch ohne Rücksicht darauf, ob sie Sohnes- oder Tochter-
kinder sind, gleichzeitig berufen werden, Erbe vor Eltern und Geschwistern,
bei denen doch Geschlechtsvorzug gilt. Dies drückt er allerdings in starker
Verkürzung aus.“ Das hinzugefügte Motiv aber sagte nur: deun sie gehören
eben zmn allernächsten Erbeukreise, ziun Busen (gleich Nachkommen über-
haupt) bei dessen Vorhandensein jedo andere Erbfolge ausgeschlossen ist.
Leider kann ich mich dieser Erklärung nicht anschliesseu, obgleich ich
gerne anerkenne, dass sie mit dem Gesamtresultat gerade so gut übereiu-
stinuut wie die meinige, und dass durch sie die Erklärung des genannten
Motives vereinfacht wird. Allein sie scheint mir eine Mittelansicht zwischen
der herrschenden Deutung des Paragraphen und der meiuigen darzustellen,
die erst nach Aufstellung jener überhaupt möglich geworden ist. Nach dem,
was ich obeu Uber die beiden ersten Abschnitte gesagt habe, scheint mir
Eike unmöglich gefürchtet haben zu können, man möchte seine Auseinander-
setzung Uber den Geschlechtsvorzng zu unrichtigen Folgerungen auf die
Erbfolgeordnung benutzen. Dies nm so mehr, als er die letztere in I 3 § 3
schon des bestimmtesten geordnet hatte, und, was wir immer bedenken
müssen, er kein Lehrbuch sondern ein B e c h t s b u c h schrieb. Seine Leser
waren als Leute des Mittelalters mit dem Rechte doch wohl so vertraut,
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Gedankengang ist , zeigt namentlich die Form der Dar-
stellung.1)
Der Vorzug des Sohnes vor der Tochter, welcher im ersten
Abschnitt in dem Satze ausgedrflckt ist: „vader unde müder
süster unde bruder erve nimt de sone unde nicht de dochter“
lässt sich nach Analogie des ersten Satzes in demselben Ab-
schnitte auch so formulieren: „De sone (des Erblassers) nimt
erve (seines Vaters, des Erblassers) vor vader unde vor müder
unde vor bruder unde vor süster (alle des Erblassers); is dar
nen sone, de dochter nimt dat erve vor vader unde vor* u. s. w.
oder „de dochter nimt it mit rnereme rechte dan de vader“ u. s.w.
Auch so wäre der Vorzug des männlichen Geschlechts vor dem
weiblichen unter Kindern ausgedrückt gewesen, freilich, wie die
I nebenstehende Figur I zeigt, nicht
gegenüber den nächsten Verwand-
r " ten, Vater, Mutter, Bruder und
man | » bruder, süster Schwester der als „sone“ und
* on. * dochter „dochter bezeichneten Personen,
sondern gegenüber den übrigen
nächsten Verwandten, Vater, Mutter, Bruder und Schwester
des Erblassers, also Grossvater, Grossmntter Oheim, und
Tante von „sone“ und „dochter.“ Weil nun aber Eike
das Verhältnis der beiden Geschlechter einer Stufe zu der
ihnen unmittelbar folgenden Stufe darstellen wollte, wählte er dio
in dem ersten Abschnitte im zweiten Satze benutzte Formel,
jj jjj welcher die Figuren II
* und III entsprechen,
müder K d. h. er gibt hier die
6*WU
t i i
i doc
dochter
i rarfex» müder
» dochter
bruder,
süster
■N
Uöchtcr Voraussetzung: „Stirft
de man ane kint“ auf,
dass, falls in Sachsen die I’arentelenordnuug galt, sie gar nicht auf deu Ge-
danken kommen konnten, andere Verwandte könnten hier der Nachkommen-
schaft vorgesogen sein. Dagegen muten wir Eike mit unserer Erklärung
wohl nicht eine Entscheidung über die moderne Streitfrage zu, ob das Erb-
recht der Enkel aus dem Repraesentationsrecht entstanden sei oder nicht.
Vielmehr konnte eine unrichtige Ansicht in dem angedenteteu Sinne aus
blossem Anklammern on den Wortlaut der vorhergehenden Abschnitte entstehen.
l) Es zeugt von grossem Mangel an Verständnis, kann aber nicht etwa
gegen uns in's Feld geführt werden, wenn die lateinische Uebersetznng
„sones unde dochter kint“ wiedergibt durch „utriusque scius nepotos.“
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IV
vader amuder
man | » bruder, süster
son | dochter
so/icsl unde dochter -
kint
„vader, müder“ (Figur II} betrachtete er in der ersten
Hälfte des Satzes, „bruder, sttster“ (Figur III) in der
zweiten als Erblasser, nicht „de man.“ Dagegen liegt die
obige Fassung unserm dritten Abschnitt zu Grande, wie schon
die dazu gehörende Figur IV mit
I verglichen zeigt.*) Vor ihm ist
wie vor dem „Sven aver“ des
zweiten Abschnitts zu ergänzen:
„Stirft de man ane kint,“ ein Satz,
der nicht umsonst so ostentativ an
die Spitze des Paragraphen bezw.
Artikels gesetzt ist. Hätte nun
Eike den Sohneskindern einen Vorzug vor den Tochter-
kindern geben wollen, so hätte die von nns oben rekon-
struierte Formel mit Einsetzung von „sones kint“ und „doch-
ter kint“ an Stelle von „sone“ und „dochter“ so gelautet:
„sones kint nimt erve vor vader unde vor müder unde
vor bruder unde vor süster“ und, weil der Vorzug ein bloss
relativer, bloss auf derselben Stufe wirkender sein konnte,
weiter: „is dar nen sones kint, dochter kint nimt erve vor
vader“ u. s. w. oder „mit mereme rechte dan de vader.“ Allein
Eike entschied nicht für die Ungleichheit von Sohnes- und
Tochterkindern , nicht nach der für den engem Verwandten-
kreis geltenden Hegel ,*) er erklärte mithin, dass durch die
Kindeskinder das Geschlecht ihres vorverstorbenen Elternteils
nicht repräsentiert werde. Deshalb zog er einfach die beiden
soeben formulierten Sätze in einen zusammen, beide, Sohnes-
*) vgl. die Zeichnung bei Kraut, Grundriss § 146 Note 101.
*) Wir finden den innem Grund, weshalb bei den Enkeln das Geschlecht
der Eltern nicht in Betracht kommt, darin, dass ihr Erbrecht eben nicht aus
dem Repraescntationsrecht hervorgcgangeu ist (von dem Ssp. I 5 g 1 handelt).
Ist unsere Interpretation des Abschnitts richtig, so dttrfte er ein nicht zu
unterschätzendes Argument gegen die gegenteilige Ansicht von v. Amira, E.
S. 182 f. und Schanz S. 52 (dagegen Lewis XVII S. 414) abgebeu und zu-
gleich ein älteres Quellenzeugnis über das Erbrecht der Enkel bei Nichtvor-
handensein von Kindern darstellen, wie es Hensler S. 583 (vgl. auch ebenda
Note 16) vermisst
Jedenfalls ist auch das Erbrecht der Kinder als unabhängig vom Re-
praesentationsrecht nicht auf die Kinder unabgesonderter Kinder zu be-
schränken. (Ebenso Lewis XVII S. 414, Schanz S. 52 Note 141; anders
v. Amira, E. S. 130.)
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75
und Tochterkinder, nehmen Erbe vor Vater, Mutter, Bruder,
Schwester des Erblassers, sie stehen sich völlig gleich.1)
Allein Eike gibt für seine Aussage auch einen Grund
an u. z. den allgemeinen Rechtssatz: „it ne geit nicht us
dem busmen, de wile de evenburdige busme dar ia.“ Dieser
Satz möchte wohl die herrschende Interpretation des dritten
Abschnitts und dann auch der beiden ersten veranlasst haben,
sagt er doch offenbar, dass das Erbe aus einem besonders
innigen Verwandtschaftsverhältnis , welches mit „busmen“ be-
zeichnet wird, nicht unnötig herausgehe. Die Personen, auf
welche es herausgienge, sind in nnserm Falle schon Angehörige
des oft genannten engem Verwandtenkreises, „vader, müder,
bruder, süster,“ der „busmen“ deckt sich mithin nicht mit
diesem, sondern, da nach unserer Stelle die dem engem Ver-
wandtenkreise nicht angehörigen Enkel offenbar zum „busmen“
gehören, muss dieser vielmehr alle Nachkommen oder einen Teil
derselben umfassen. Der Satz würde also den Sinn haben:
Das Erbe geht nicht an andere Verwandte, solange Nachkommen
oder wenigstens gewisse Grade von solchen vorhanden sind. Augen-
scheinlich, denkt man, soll hier der Vorzug eines gewissen Ver-
wandtenkreises im Erbrecht gegenüber andern festgestellt werden.
Nun ist aber der Umfang des „busmen“ in technischem
Sinne sehr bestritten. Neben dem Ssp., welcher ihn lediglich
an dieser Stelle erwähnt, kommen für die Bestimmung des-
selben wesentlich nur die Magdeburger Rechtsquellen in Be-
tracht. Nach diesen umfasste aber der Busen ohne allen
') Sehr auffallend ist, dass die süddeutschen Bearbeitungen unsere Para-
graphen, Dsp. c. 6 und Schwsp. c. 14 (Wackemagel c. lö) die beiden ersten
Abschnitte benutzen , den dritten aber weglassen (trgl. Scelig S. 24), und dass
ebenso die Magdeburger Rechtsquellen zwar den zweiten haben, den dritten
dagegen in gleicher Weise fallen lassen (Schanz 8. 120 f.). Den Grund kann
man darin linden, dass der am Ende des Abschnitts verkommende „busen“
jenen gar nicht, diesen wenigstens in anderem Sinne bekannt war. Mir will
aber fast scheinen, als ob diese Uebereinstimmung in der Weglassung des
Satzes mit „Doch“ aus einem andern, dem süddeutschen und magdeburgischen
Rechte gemeinsamen Punkte zu erklären sei, aus der gänzlichen Ignorierung
des Geschlechtsunterschieds. Man sah vielleicht an beiden Orten ein, dass
in diesem Falle der Satz ganz bedeutungslos wurde, während Anfang und Mitte
durch Umdeutung auf die Erbfolge noch einen Rest von Sinn behalten konnten.
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76
Zweifel nur Eltern und Kinder, nicht noch die Enkel;1) be-
züglich der letztem wurde in Älterer Zeit auch kein Unter-
schied gemacht, ob das vorverstorbene Zwischenglied abge-
sondert war oder nicht ; *) erst später rechnete man die Kinder
unabgesonderter Kinder zum Busen uud gab ihnen einen ent-
sprechenden Vorzug im Erbrecht, offenbar unter dem Einflüsse
des sächsischen Landrechts.3) Bedenkt man nun, dass der
„busmen“ wohl gemeinsächsisch war, dass er als blosser Ver-
wandtschaftsbegriff an sich auch mit ganz verschiedenen Erb-
folgeordnungen sich vereinigen liess, und sieht man, mit welchem
Eifer der bei Wass. S. 0. S. 57 abgedruckte Spruch sich ge-
rade gegen unsere Sachsenspiegelstelle wendet, ja wie die bei
v. Amira S. 127 wiedergegebene Glosse zu unserer Stelle von
der magdeburgischen Bedeutung nicht ablassen kann, so dürfte
man wohl richtig gehen, wenn man mit v. Amira, E. S. 128
annimmt, der Busen habe auch im Rechtsgebiet des Ssp.
ursprünglich dieselbe enge Bedeutung gehabt wie noch später
in Magdeburg.“) Dann würde unsere Ssp.-Stelle eine Aenderung
und Erweiterung enthalten, gegen welche man in Magdeburg
protestierte, weil man in der dortigen Erbenfolge das Erbrecht
mit dem Busen in Beziehung brachte, einen Vorzug der Des-
zendenz aber nur für die Kinder anerkannte, nicht auch für
weitere Nachkommen insbesondere Enkel, wie dies eine solche
Erweiterung des „busmen“ nun mit sich gebracht hätte.
Fragen wir aber nach Art und Grund der Neuerung des Ssp.,
so haben wir uns wieder an die Entstehung unsere Abschnittes zu
erinnern, wie wir sie soeben wahrscheinlich zu machen versuchten.
') Vgl. Wass. S. 0. S. 56 und 57, die lat. Glosse S. 58, vgl. auch S. 87:
Stobbe B. S. 48, ▼. Amira S. 126, Schanz 8. 39 f.
*) Vgl. Waas. S. 0. S. 55—57.
’) Vgl. Wass. S. 0. S. 58, 88, 170.
*) Deswegen braucht aber durchaus nicht wie der Busen auch das Des-
zendeutenerbrecht so eingeschränkt gewesen zu sein. Wenn die Magdeburger
den Vorzug der Kinder vor andeni Verwandten damit begründen, dass die-
selben zu dem Verwandtenkomplex des Busens gehören, und einen Vorzug
der Enkel ausschliessen mit der Begründung, dass dieselben nicht zum Busen
gehören, so ist doch damit nicht gesagt, dass überall der Busen für das Erb-
recht und nur für dasselbe Bedeutung gehabt habe. Ich halte ihn für die
Bezeichnung eines engem Nachkommenkreises, der an sich für die Erben-
folge gerade so wenig Bedentnng hat wie der engere VerwandtenkTeis in
der Sippe im weitem Sinn.
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77
Dem ganzen Satze mit „Doch“ liegt zu Grunde ein Doppel-
satz des Inhalts, dass der Sohn des Erblassers erbe vor Vater
und Mutter, Bruder und Schwester desselben, dass die Tochter
erst in Ermanglung eines Sohnes erbe, aber ebenfalls vor den
genannten andern Verwandten. Als Grund für die letztere
Behauptung wird man angegeben haben: Das Erbe geht nicht
aus dem Busen, solange ein ebenbürtiger Busen da ist. Hier
passt der Satz, man mag nun in dem Busen sehen, was man
will; ja hier hat er wohl überhaupt seinen eigentlichen Platz.
Nimmt man nämlich mit v. Amira die ursprüngliche Beschrän-
kung des Busens auf die Kinder an, so möchte es wohl für
eine Erbfolgeordnung nach der Theorie v. Amira’s wie für jede
andere etwas trivial klingen, wenn man das Erbrecht der
Kinder durch den allgemeinen Satz begründete, dass das Erbe
nicht aus dem ebenbürtigen Busen gehe. Um den Vorzug der
Kinder vor allen übrigen Verwandten zu rechtfertigen, hat es
wohl nie eines anderen Grundes bedurft, als dass die be-
treffenden Verwandten zum Erblasser im Kindesverhältnis
standen. Ganz andern Gehalt und Sinn bekommt aber unser
Motiv, wenn es angeben soll, weshalb die vom Sohn ausge-
schlossene Tochter immerhin noch vor und nicht mit Eltern
und Geschwistern erbe. Dann sagt es, dass die Tochter eben
immerhin noch zum Busen, einem besonders engen Verhältnis
von Erzeugern und Erzeugten1) gehöre.
Indem man nun aber die gedachten beiden Sätze durch
Ersetzung von „sone“ und „dochter“ durch „sones kint“ und
„dochter kint“ erweiterte und aus dem „Nach“ (Sohn, dann
Tochter) ein „Und“ (Sohnes- und Tochterkind) machte, erhielt
das Motiv eine ganz veränderte Stellung und Bedeutung. Es
war vorher Motiv nur zu dem zweiten Satze, jetzt nach der
Zusammcnzieliung gehörte es zu beiden; es hatte vorher nur
den Vorzug einer Person aus der ersten Deszendentenstufe be-
gründet, nach der Hineinschiebuug von Sohneskind bezw.
Tochterkind bezog es sich mindestens auch auf die zweite; es
hatte vorher ein „Nach, aber doch vor“ begründet, jetzt recht-
fertigte es ein „Mit“ oder „Zusammen vor.“
Diese Verschiebung des Motivs und seiner Bedeutung
') Vgl. die Erklärung des Bugen bei v. Amira, E. S. 128, aber auch
„Recht“ S. 140.
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78
kann anf zwei Arten vorgegangen sein. Entweder ist sie ein
Rest der Entstehung des dritten Abschnittes, eine Eierschale
desselben. Verwunderlich wäre das nicht. Gerade bei der
Entstehung von Formeln, gerade bei reiflicher Ueberlegnng,
bei mehrmaligem Niederschreiben eines sorgfältiger zu formu-
lierenden Abschnitts in mehreren Entwürfen kann zu leicht in
einem spätem Stadium ein Rest aus einem frühem hängen
bleiben, wobei man zu bedenken hat, dass Eike die Formu-
lierung seiner Rechtssätze wohl noch bedeutend mehr Mühe
gekostet hat als manchem Schriftsteller oder Gesetzgeber
von heute.
Allein Eike kann sich der Aenderung auch, sei es von An-
fang, sei es erst später, bewusst gewesen sein. Er kann ab-
sichtlich „busmen“ in einem weitem Sinne') gebraucht haben und
hier sagen wollen: Sohneskinder und Tochterkinder , beide
erben (zusammen) vor den weitern Verwandten; sie, auch die
Tochterkinder, gehören eben zum Busen, aus welchem das Erbe
nicht herausgeht, solange davon noch ein dem Erblasser eben-
bürtiges Glied vorhanden ist. Das Erbe erfasst alle im Busen
befindlichen, Sohnes- wie Tochterkinder, bevor es den Busen
verlässt.*)
') Dass dieser weitere Sinn mir Kinder und Enkel umfasst habe, ist
nirgends gesagt. Unsere Stelle zeigt nur, dass der Busen nach dem Ssp.
wenigstens diese beiden enthielt, aber er kann ebenso gut schon hier die
ganze Deszendenz einbegriffen haben. Ebenso wenig ergeben die Magde-
burger Quellen, welche nur den Fall erörtern, dass Enkel nicht zum Busen
gehören, argumeuto a contrario für das sächsische Recht eine Beschränkung
auf Kinder und Enkel. Der nach Magdeburger Recht vollends undenkbare
Fall der Bevorzugung der Urenkel und ihrer Einbeziehung in den „busmen*
bedurfte selbstverständlich nie einer besondern Behandlung nnd Abweisung.
Vgl. übrigens die Quellenstelle bei Waas. S. O. S. 58 und 170 und v. Amira,
E. S. 127, welche sogar eher für Basen = Deszendenz sprechen.
*) Uebrigens möge hier auch noch darauf aufmerksam gemacht werden,
dass die Frage, weshalb der Busen nicht in I 8 § 3 vorkomme, sich nach
dem Obigen auf zwei Arten beantworten lässt. Bei der cngern Bedeutung
von Busen war der Begriff in I 3 § 3 nicht verwendbar, weil die dort vor-
geführte Nachkommenschaft eine Kette in einander gTeifeuder Busen ge-
bildet hätte. (Vgl. das Scböffennrteil bei Waas. S. 0. S. 57). Bedeutet Busen
aber die ganze Nachkommenschaft des Erblassers, so erscheint er nicht, weil
er die ganze dort vorgef ührte erste Parentel umfasst und eine analoge An-
wendung derselben verhindert oder erschwert hätte.
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79
Wie dem aber auch sei, dass dieser Satz vom Busen, wie
er in unserer Stelle steht, in ungewöhnlicher, auffälliger, inkor-
rekter Weise angewendet war, zeigen die spätem Bechts-
quellen unstreitig, indem sie dagegen opponieren, oder die
widersprechendsten Deutungen von Busen geben.1) Das möchte
Grund genug sein, unsere obige Erklärung zu rechtfertigen, ja
als notwendig erscheinen zu lassen, die unter andern Um-
ständen , namentlich wenn nicht der innere Bau der Stelle und
die übrigen Quellen sie rechtfertigten, allerdings zu kompliziert
und wohl sogar gewaltsam erscheinen möchte.
Jedenfalls aber soll unser dritter Absatz nicht etwa die
Stellung der Enkel vor Eltern und Geschwistern als eine Aus-
nahmestellung bezeichnen, die ihnen wie den übrigen Deszen-
denten eigentlich nicht zukäme.
Dagegen bestätigt nun der ganze Paragraph , und damit
möchten wir unsere Untersuchung schliessen, indirekt, auch
ohne dass er ex professo von der Erbfolgeordnung handelt,
die schon aus I 3 § 3 erschlossenen Ergebnisse. Er zeigt uns,
dass zunächst Deszendenten, Kinder uud Enkel (Urenkel sind
nicht erwähnt, weil sie in Betreff des Geschlechtsvorzugs nicht
in Frage kommen) erben, dann die Eltern, hierauf die Geschwister,
endlich die weitem Verwandten nach der in I 3 § 3 gegebenen
Regel. Die Parentelenordnung findet sich indirekt also auch
hier ausgedrückt; und wenn bei der Erklärung von I 3 § 3
ein Punkt nicht zwingend nachgewiesen werden konnte, nämlich
dass in Ermangelung von Nachkommen des Erblassers die
Stammväter desselben mit ihren Sippen in der Weise folgten,
dass der unterste Stammvater zuerst kam, und dass der Stamm-
vater allemal, wenn er noch lebte, seine Nachkommen ausschloss,
so findet sich auch dafür hier noch ein sicherer Beleg.
’) Eltern nnd Kinder, linea deecendentium, ja sogar die ganze gerade Linie.
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Anhang I.
Unser Ergebnis, dass der Ssp. neben der Magenzahl auch
eine von den Kindern bezw. Geschwistern an berechnete Sippe-
zahl kennt, nnd dass diese rechtlich sogar allein massgebend
ist, während der Magenzahl nur terminologische Bedeutung zu-
kommt, dürfte geeignet sein, auch einiges neues Licht anf
Schwsp. c. 3 und c. 377 11 zu werfen. Quelle für c. 3 war in
erster Linie, aber nicht allein, Dsp. c. 6. Derselbe zeigt in
dieser Stelle namentlich zwei Abweichungen vom Ssp., indem
er sagt: „ungezwaiter prüder chint. deu stant an dem lide der
schultern, da die arme zesame gent. also tünt die geswister
chint. ditz ist deu erste sippe zal. die magschaft get von prüder
chinden. und von swester chiralen,“ und indem er den ersten
Teil des Zusatzes im Ssp. folgendermassen wiedergibt : „ez erbet
igleich man seinen magen untz an die sibenden sippe auch hat
der habest weib ze nemen. in der fünften sippe daz ist auch recht.“
Die erstere Angabe enthält zum mindesten eine Ungenauig-
keit; wer den Ssp. nicht kannte, mnsste dieser Formulierung
entnehmen, dass die Geschwisterkinder die erste Sippezahl
überhaupt liabeu. Die zweite Angabe ist geradezu unrichtig.
Der Deutschenspiegler übersieht die Verschiedenheit des Aus-
drucks bei „in dem seveden“ und „in der veften,“ er übersetzt:
„an die sibenden sippe“ und „in der fünften sippe“, eine
Flüchtigkeit, welche sich der Uebergehung des Zeitworts in dem
Satz vom Papst würdig an die Seite stellen würde, falls die
letztere nicht bloss dem Schreiber unserer Handschrift zur
Last fällt.
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81
Aus dem Dsp. schöpften nun zwei Autoren, der Prediger
Berthold von Regensburg für seine Predigt „von der e“ (in der
Ausgabe Pfeiffers I S. 312) nnd der Schwabenspiegler u. z.
der letztere so, dass er zugleich auch Berthold benutzte.1)
Beide Autoren waren Geistliche und, wenigstens der des
Schwsp., wohl bewandert „in den buchen decret und decretal“.
Ihnen beiden musste der Widerspruch der Angabe ihrer Quelle
mit dem kirchlichen Rechte auffallen. Denn sie sagte, der
fünfte Grad sei der erste frei gegebene, aber diesen fünften
berechnete sie nicht wie die Kirche von den Geschwistern,
sondern von den Geschwisterkindern an, kam also auf den
sechsten kirchlichen. Diese Unrichtigkeit haben in der Tat
beide bemerkt, beim Schwabenspiegler tritt das nur deutlicher
hervor, weil er die Erbberechtigungsgrenze angibt und den
Zusatz des Ssp. reproduziert, was beides für Berthold ausser
Betracht fiel. Beide haben auch dem Mangel in gleicher Weise
abgeholfen; da sie nämlich die Urquelle, Ssp. I 3 § 3, nicht
kannten,*) blieben ihnen nur zwei Wege, entweder zu sagen,
der Papst habe erlaubt im vierten Grade zu heiraten oder die
Zählung der Quelle zu ändern. Dass sie den letzteren wählten,
ist natürlich, einmal, weil es bedenklich scheinen musste, eine
auch nur anscheinend dem Kirchenrechte widersprechende An-
gabe zu machen, ferner weil in ihrem Rechte (wie eben auch
in dem richtig verstandenen Ssp.) die Sippe von den Geschwistern
an gezählt wurde, wie ja auch die kirchlichen Quellen die
*) Darüber kann nun wohl kein Zweifel mehr sein, vgl. Strobl in den
Sitzungsberichten der Wiener Akademie XCI von 1878 S. 216 f.; es geht
gerade in unserer Stelle bei einer genauen Vergleichung fast aus jedem Satze
hervor.
’) Seelig behauptet S. 11 Note 4 im Widerspruch zu der allgemeinen
Ansicht, dem Verfasser des Schwsp. habe ausser dein Dsp. auch der Ssp.
Vorgelegen. Dass dies nicht richtig ist, zeigt die Art und Weise, wie sich
in dem im Text besprochenen Punkte der Schwsp. mit seiner Quelle ausein-
andersetzt. Hätte er den Ssp. gekannt, so wäre er unzweifelhaft einfach
auf ihn zurückgegangen. Wenn Seelig seine Behauptung darauf gründet,
dass der Schwsp. sich oft an den Ssp. mehr anschliesst als an den Dsp., so
zeigt sich dies allerdings auch in unserer Stelle (vgl. z. B. die erste sippezahl,
die man ze magen rechent) , es würde aber nur f Ur die Ansicht Seeligs be-
weisen, wenn gerade die uns erhaltene Handschrift des Dsp. die dem Schwsp.
zu Grunde liegende sein müsste.
Stutz, Verwandtschaftsblld. S
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82
Zählung von den Geschwisterkindern an ausdrücklich verwarfen.
Berthold liess nun einfach die Erwähnung des Anfangs der
Magschaft weg; dass er sich aber bewusst war, welche Folgen
die Aenderung für die ganze Stelle hatte, dass nämlich gegen-
über dem Dsp. nun ein Glied wegfiel, sieht man daraus, dass
er im Bilde den Hals, das entbehrlichste Glied, wegfallen
liess. Nicht nur die erste Sippezahl muss er den Kindern ge-
geben haben, sondern, wenn er es auch, als für seine Zwecke
unnötig, nicht sagt, auch die erste Magenzahl. Ausdrücklich
dagegen erwähnt dies nun der Schwsp., welcher den Zusatz,
„die man ze magen rechent“, zu den Geschwistern setzt und
energisch gegen die ungelehrten Leute vorgeht, welche anders
zählen. Dazu gehört offenbar der Deutsclienspiegler, den der
Schwabenspiegler auf seiner Flüchtigkeit ertappt hat, in aller
erster Linie, während man nun die Polemik auf den Ssp.,
den ja der Schwabenspiegler nicht kannte, wohl nicht
mehr beziehen darf. Es zeigt übrigens auch dieser Punkt
wieder, wie manche Abweichungen des Schwsp. nicht sowohl
aus prinzipiellem Gegensatz zum sächsischen Rechte, sondern
einfach aus dem Umstande zu erklären sind, dass der Dsp.
das Mittelglied zwischen Ssp. und Schwsp. bildet. Endlich
dürfte unsere Schwsp. - Stelle sowie Bertholds Predigt ge-
eignet sein darzutun, dass die Verwandtschaftsgrenze und das
Verwandtschaftsbild in Süddeutschland nicht praktisch waren,
sonst hätte man nicht der Quelle zulieb einfach eine Gene-
ration und ein Glied weggelassen, hätte man auch nicht das
Bild zweiarmig sich gedacht.
Anhang II.
Petrus Lombardus. Sententiarum L. IV dist. 40 (nach
Migne, Patrologiae cursus lat. Tom. 192 col. 937.) vergl.
oben S. 29 und 30.
2. De computatione graduum consanguinitatis.
Quomodo autem gradus consanguinitatis computandi sint,
Isidorus ostendit sic, libr. 9 Etym. c. 3. Series consanguini-
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tatis sex gradibus dirimitur, hoc modo: filius et fllia, quod est
frater et soror, sit ipse truncns. Illis seorsnm sejunctis ex
radice illius truuci egrediuntur isti ramusculi: ncpos et ueptis,
primus; pronepos et proneptis, sccundus; abnepos et abneptis,
tertins; aduepos et adneptis, qnartus; trinepos et trineptis,
quintus; trinepotis nepos et trineptis neptis, sextus. Attende
quod sex gradus tantum pouit Isidorus, quia tnincum iuter
gradus non computat. Alii vero, qui septem gradus ponunt,
truncum iuter gradus computant. Varie namque computantur
gradus consanguinitatis. Alii enim patrem in primo gradu,
filios in secundo ponunt: alii primum gradum filios appellant,
negantes gradum cognationis in patrem et filium esse , cum
una caro sint pater et filins. Auctoritates ergo, quae consan-
guinitatis cautelam usque in septimum gradum prohibent, pa-
trem ponunt in primo gradu. Illi vero, qui usque ad sextum
gradum prohibent, primum gradum filios appellant. Atqne ita
fit, ut eaedem personae secunduin hanc diversitatem inveni-
antur in sexto et septiino gradu. Patrem vero in primo gradu
ponit, qui fratres dicit esse secundum gradum. Hoc modo
computat Zacharias papa, inquiens ibidem (c. 4 C. XXXV qu. 5):
Parentelae gradus taliter computamus : Ego et frater meus una
generatio sumus, primumque gradum efficimus. Rursus filius
meus et fratris mei filius secunda generatio suut et secundum
gradum faciunt: atque ad huuc modum caeterae successiones.
Inter illos vero, qui sex computant gradus, et illos, qui septem
computant gradus. nnlla in sensu existit diversitas, quamvis in
nnmero graduum varietas videatur. Ultima enim generatio, si
a fratribus sumat initinm numerandi, septima invenitur.
Anhang III.
Der bei Boretius, über Papiensis, Alon. Germ. Leg. 4, 317
Sp. 2 Z. 24 nnd bei Lörsch und Schröder, Urkunden etc.
2. Aufl. N. 96 S. 73 abgedruckten Formel zu ed. Roth. c. 153
liegt das durch Figur I veranschaulichte Verwandtschaftsver-
»•
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hältnis zu Grunde. Nach der Parentelenordnung dargestellt
I
avtuMarcoardi
et proaai Petri
Patrrpn/\ P^Mpr^D
aviP, T Y FroaoujJjonuruci
proaousPh j hMarcoa rduj A** Martini
aviuP. o 4 o aousD.avusn z T^avwiAlart.
paterP. I .< ]/(" \ pater Mart
JclntM i rt „ O . * A Martinus.
JßO&tintcus
gibt es Figur II und zeigt, dass, wie im Texte S. 59 bemerkt
wurde, für beide Praetendenten Parentelcn- und Gradzahl
gleich war und somit durch je eino statt zweier Zahlen wieder-
gegeben werden konnte. Für beide ist eben der jedem mit
dem Erblasser gemeinschaftliche Stammvater von Erblasser
und Praetendent um gleich viele Zeugungen entfernt. Nicht
dagegen hätten beide Linien für jeden znsammengefasst werden
können, wenn die Verwandtschaft nach sächsischer Weise mit
Namen und Glied berechnet worden wäre. Alsdann hätte sich
Martinus am Ellbogen eines mütterlichen proavus des Domini-
cas abgestuppt, Petrus dagegen am ersten Mittelfingerglied
eines väterlichen avns (Marcoardi) proavi Dominici. Es wären
also beide. Linien gezählt worden, und den Ausschlag hätte die
Parentel, in unserm Falle die Linie von Dominicas nach dem
nähern Stammvater, gegeben. Dass auch bei der Zahlenbe-
rechnung der Formel die Vier nicht als Parentelenzahl , son-
dern als Grad- (Glied-) zahl ausschlaggebend war, kann aus
der Formel selbst so wenig bewiesen werden, wie das Gegen-
teil, obschon das letztere wahrscheinlicher ist, da die Nennung
der Aszendenten des Dominicus nicht viel Sinn gehabt hätte,
wenn es nur auf die Linien von den Stammvätern nach Petrus
und Martinus hin angekommen wäre.
II
Duckd uekerei Marct/.kc A MUnkn, Trebiiity in Schlea.
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JJ ntersuchungea
zur
Deutschen Staats- und Rechtsgeschichte
herauagegeben
Dr. Otto Gierke,
Professor der Rechte an der Universität Berlin.
35. Heft
Zur Entstehungsgeschichte
der freien Erbleihen
ln den Rheingegenden
und den Gebieten der nördlichen deutschen Colonlsutlon
des Mittelalters.
Eine rechtsgeschichtliche Studie
von
W ■- ' ,s/‘ ‘
Dr. Ernst Freiherrn von Schwind. / -
Breslau.
Verlag von Wilhelm Koebner.
1891.
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Zur Entstehungsgeschichte
der
freien Erbleihen
in den Rheingegenden
und den
Gebieten der nördlichen deutschen Colonisation
des Mittelalters.
Eine rechtsgeschichtliche Studie
von
Dr. Ernst Freilierru von Schwind.
B reslaa.
Verlag von Wilhelm Koebner.
1891.
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Meinem lieben Vater
als
verspätete Festgabe
zu seinem
neunzigsten Greburtstage.
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Vorwort,
Die vorliegende Studie verdankt ihre Entstehung der An-
regung meines väterlichen Freundes, des Herrn Professors und
Sectionschefs von Inama-Sternegg, der es mir nahelegte,
das für die Wirtschaftsgeschichte des deutschen Mittelalters so
bedeutsame Problem der Entstehung und Entwickelung freier
erblicher Landleihen vom rechtsgeschichtlichen Standpunkte aus
einer Untersuchung zu unterziehen, und der auch im Verlaufe
der Arbeit mich mit seiner reichen Erfahrung und seinem werth-
vollen Rathe vielfach und in der freundlichsten Weise unterstützte.
Das Thema, das hier in der angegebenen Richtung seine
\ Behandlung finden soll, gehört einer Zeit an, die in vielfacher
Beziehung als eine Periode des Überganges und der Gährung
bezeichnet werden darf. Wie in politischer Beziehung die alten
Grundfesten des Reiches erschüttert und ins Wanken gerathen
waren, und eine lange Zeit verstreichen musste, ehe das Toben
und Treiben wilder leidenschaftlicher Parteien, die gewaltigen
Strömungen im Kampfe zwischen alt und neu endlich wieder
der längst ersehnten Ruhe und Ordnung gewichen waren, so
befand sich auch das gesammte sociale, wirthschaftliche und
rechtliche Leben in dem Zustande der Bewegung und des
Werdens, und überall finden wir absterbende Trümmer einer
veralteten und spriessende Keime einer neu aufblühenden Welt. Die
alte hehre Macht des einen Kaiserthumes war untergegangen vor
den aufstrebenden und immer mehr erstarkenden Gewalten einer
grossen Zahl von Landesfürsten; diesen erwuchsen wieder ihre
Rivalen aus den unteren Kreisen der Bevölkerung, vor allen in
den kräftig sich entfaltenden Städten, denen es in immer weiterem
Umfange gelang, die ihnen widrige Oberherrschaft von Fürsten
und Bischöfen von sich zu schütteln und eine unabhängige und
freie Stellung zu erreichen. Und bis auf die untersten Schichten
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YIII
der ländlichen Bevölkerung lässt sich eine ähnliche Bewegung
verfolgen; überall geht der Zug der Zeit dahin, die tiefer Ge-
stellten zu erheben und das Übergewicht der Höheren zu brechen
oder zu vermindern, und Spuren dieser Strömung zeigen sich
auf allen Gebieten, auf dem politischen nicht minder wie auf
dem socialen, im wirtschaftlichen Leben ebenso wie in der Ent-
wickelung des Rechtes.
Das Ergebnis dieser Strömung speciell auf dem Gebiete der
bäuerlichen und bürgerlichen Grundbesitzverhältnisse war das Auf-
tauchen und die immer häufigere Anwendung freierer Landleihc-
formen und demgegenüber das allmähliche, aber ebenso entschiedene
Zurückweichen der älteren Formen eines persönlich gebundenen
Leiherechtes. Dies bedeutete für die gesammte Wirthschaftsver-
fassung die wesentlichsten und einschneidensten Veränderungen:
vielfach eine Verselbstständigung und Loslösung der einzelnen
bäuerlichen Betriebe aus dem Organismus der grossen Grund-
herrschaften, anderwärts sogar die Entstehung gänzlich neuer
Formen für die bäuerlichen Rechtsverhältnisse. Völlig parallel
mit dieser Umwälzung der wirthschaftlichen Verhältnisse hielt sich
die analoge Umgestaltung ihrer rechtlichen Grundlagen, ins-
besondere des Güterleiherechtes. Während früher die leiherecht-
liche Übernahme fremden Grund uud Bodens immer eine gewisse
Rückwirkung auf die persönliche Freiheit und Selbstständigkeit
des Empfängers ausübte, also von einem statusrechtlichen Ein-
flüsse begleitet war, kamen später rein vermögensrechtliche
Landleihen in Gebrauch, welche auf die Persönlichkeit der Con-
trahenten keinen Einfluss übten, oder in welchen die Beliehenen
wenigstens keinem anderen Abhängigkeitsverhältnisse ihrem
Leiheherrn gegenüber sich zu unterwerfen hatten, als cs durch
deren obrigkeitliche Stellung von selbst geboten war.
Die vorliegende Studie befasst sich mit jener Übergangszeit,
in welcher die alten Formen aus dem Leben noch nicht
geschwunden, und die neuen Principien noch nicht allseits zum
Durchbruche gelangt waren. Als ich an die Untersuchung
herantrat, gieng zunächst meine Absicht dahin, die beiden Typen
des gebundenen uud freien Leihercchtes, deren Vorhandensein
aus den Quellenzeugnissen jener Zeiten bald unzweifelhaft wird,
nach ihrem rechtlichen Inhalte und Character möglichst klar
festzustellen und die markanten Unterscheidungsmerkmale zu
bestimmen, aus deren Vorhandensein auf die rechtliche Natur
des einzelnen Leihevertrages zu schliessen wäre. Die Unmöglich-
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IX
keit der Durchführung dieses Gedankens für das Gebiet der
Coloniaationen musste bei einem näheren Eingehen auf die be-
zügliche urkundliche Überlieferung bald zu vollster Gewissheit
werden. Aber auch für das in seiner späteren Entwickelung
rein private Leiherecht der westlichen, culturell vielleicht am
meisten vorgeschrittenen Gebiete hat die Untersuchung mit dem
Ergebnisse geendet, dass zwischen den gebundenen und freien
Leiheformen eine grosse Reihe verbindender Zwischenglieder
nachzuweisen sind, welche die Bestimmung einer Grenzlinie, die
beide Gebiete scharf von einander trennte, unmöglich machen,
dagegen die Annahme einer rechtsgeschichtlichen (Kontinuität un-
endlich nahe legen.
Die Methode, welche für den Gang und die Durchführung der
Untersuchung massgebend war, wird, wie ich meine, hauptsächlich
nach einer Seite hin einer Rechtfertigung bedürfen. Denn dass jede
derartige rechtsgeschichtliche Studie eich vorwiegend auf dasjenige
Quellengebiet stützen muss, welches über das untersuchte Pro-
blem die reichsten Nachrichten gibt, bedarf wohl keiner besonderen
Begründung, und ebenso scheint es mir unzweifelhaft, dass gerade
für die Zeit der Entstehung und der Entwickelung eines neuen
Rechtsinstitutes Urkunden, die hier vornehmlich herangezogen
werden mussten, gewiss die verlässlichste Quelle zur Beurtheilung
eines solchen Werdeprocesses sind; wo nämlich die Bewegung
noch nicht in ausgefahrenen Geleisen erfolgt, muss in der für den
einzelnen Fall aufgenommenen Urkunde der wesentliche Inhalt
des Geschäftes und insbesondere das Neue, also eben das un-
zweideutig zum Ausdrucke kommen, was für den Entwickelungs-
gang bestimmend und entscheidend ist. Die Bearbeitung und Aus-
beutung dieses quellenmässig gebotenen Materiales über ein gewohn-
heitsrechtlich entstehendes Rechtsgebilde kann dann natürlich nur
in der W eise erfolgen, dass man aus den vorliegenden Einzelfällen die
in ihnen enthaltenen allgemeineren rechtlichen Grundgedanken ab-
strahiert und so die Regeln ermittelt, denen das Leben zu-
fällig oder aus inneren Gründen, aber jedenfalls unbewusst und
ohne den Zwang äusserer Normen in seinen Einzelerschei-
nungen gefolgt ist.
Aber auch bei einem solchen möglichst objectiven Vorgehen
bleiben wir doch nie ganz auf dem Boden stehen, der der alten
Zeit und den alten Verhältnissen angehört. Denn wenn wir
auch sonst nichts in die Vergangenheit hineintragen, so ist doch
der Massstab, mit dem wir messen, die rechtlichen Grundbegriffe,
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X
die wir bei jeder juristischen Analyse, und sei es auch nur zum
Zwecke der Vergleichung, nothwendig heranziehen müssen, ge-
wiss wenigstens zum Theile ein Product unseres Geistes und
unserer Zeit; und oft sind sie uns so sehr zu eigen geworden,
dass wir nicht mehr auseinanderzuhalten wissen, was eine
historische Entwickelung zu ihrer positiven Ausgestaltung beige-
tragen (was also nur wir hineinzulegen gewohnt sind) und was
wirklich in der Natur der Sache begründet ist, und darum unter
allen Verhältnissen seine Giltigkeit behaupten kann. Nun fusst
unsere moderne Jurisprudenz und unser heutiges juristisches
Denken auf zwei ihrem Wesen nach sehr verschiedenen Elementen,
dem römischen und dem deutschen Hechte, und wenn wir auch
in einer Zeit leben, in welcher die wenigstens auf dem Gebiete
der gelehrten Jurisprudenz zur Wirklichkeit gewordene, von den
Vorkämpfern des Romanismus seinerzeit als selbstverständlich
hingenommene Alleinherrschaft des römischen Rechtes auf vielen
Gebieten einer wesentlich anderen Auffassung gewichen ist, so
ist doch unser heutiges Rechtsleben und die juristische Doctrin
vorwiegend oder wenigstens zum grossen Theile von seinem
Ideenkroise durchdrungen.
Das bis weit in unser Jahrhundert hinein noch viel-
fach beliebte Verfahren, alle Rechtsgebilde vom romanistischen
Standpunkte erklären, die rechtlichen Bildungen eines be-
liebigen Culturzustandes mit der Gelehrsamkeit der römischen
Juristen und mit den Entscheidungen der byzantinischen
Kaiser begründen und begreifen zu wollen , ist jetzt
wenigstens für das Gebiet germanistischer Untersuchungen gänz-
lich aufgegeben worden. Die Thatsache, dass seit den Tagen
der Reception eine ungeheuere Menge geistiger Kraft in dem
Bestreben verbraucht wurde, die eigenartigen Formen des deutschen
Rechtslebens mit irgend einer der wenigen Typen der römischen
Begriffswelt zu indentificieren , und dass diese Bemühungen so
häufig mit der Erkenntnis enden mussten, dem deutschen Rechts-
institute komme gegenüber allen auf römischem Boden zur Ent-
stehung gelangten Rechtsformen seiue eigene Individualität zu,
und keine der römischen Rechtsschablonen könne unmittelbar
übertragen werden, all dies dient heutzutage als Warnung, nicht
neuerlich die gleiche Sisyphusarbeit zu beginnen.
Im directen Gegensätze zu dieser älteren Richtung löst sich
die moderne germanistische Rechtschule möglichst los von dem
Banne der römischen Begriffswelt und ist von der gewiss vollauf be-
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XI
gründeten Absicht geleitet, ungetrübt und unbeinflusst von fremden
Rechtsgedanken, den wahren Ideeninhalt des eigenen Rechtes
klarzulegen. Ihr ist es darum zu thun, den reichen Gedanken-
schatz zu heben, den das ältere heimische Recht birgt, an Stelle
römischer Begriffe, die trotz ihrer durch Jahrhunderte währenden
Giltigkeit sich nie völlig einbürgern, nie zu den unseren werden
konnten, auch auf dem Gebiete der gelehrten und abstrahieren-
den Jurisprudenz den Producten des deutschen Geisteslebens zu
ihrem Rechte zu verhelfen.
Auch die vorliegende Schrift will eine germanistische Ab-
handlung in diesem Sinne sein ; auch ihr Ziel ist dahin gerichtet,
die untersuchten Rechtsinstitute in ihrem wahren Wesen zu er-
kennen, sie aus ihrem Geiste, nicht dem der römischen Juris-
prudenz zu erklären ; und die Ergebnisse, mit welchen sie ab-
schliesst, dürften wohl geeignet sein, die Orginalität der hier
behandelten rechtlichen Gebilde und ihren Gegensatz zu dem
römischen Rechte im ganzen, wie auch in Einzelheiten klarzu-
legen. Und doch entfernt sich die Untersuchung auf dem Wege,
der zu diesem Endziele geführt hat, in mancher Richtung von
dem, was nach dem oben Gesagten erwartet werden dürfte; die
Behandlung des Stoffes mag nämlich wenigstens äusserlich be-
trachtet in mehrfacher Beziehung mehr romanistisch erscheinen,
als man mit den hier vertretenen Principien für vereinbar halten
dürfte. Dafür waren die folgenden Überlegungen bestimmend.
Man mag über die Vortheile und Nachtheile der Reception
der fremden Rechte denken, wie man will, die Thatsache ist
nicht aus der Welt zu schaffen, dass durch Jahrhunderte die
Entwickelung und die fortschreitende Erkenntnis des Rechtes
unter dem Banne des Romanismus gestanden, unter seiner Leitung
und in seinen Formen sich vollzogen hat. Und so sehr man
auch zugeben muss, dass in diesem Entwickelungsgange unser
nationales Recht vielfach Schaden genommen hat, und mancher
lebensfrische Keim, überwuchert von den mächtiger aufschliessen-
den Trieben einer fremden Saat, erstickt wurde: die Vortheile
und Ergebnisse, zu welchen die Jurisprudenz in diesen Jahr-
hunderten gelangt ist, sind doch ein Gemeingut für uns alle ge-
worden. Die Frage ist müssig, wie es um die heutige Juris-
prudenz stünde, wenn das römische Recht von Bologna her nicht
die Welt erobert hätte; aber nachdem es durch fast ein halbes
Jahrtausend die Welt beherrscht hat, fusst doch unsere juris-
tische Erkenntnis, auch die Erkenntnis unseres einheimischen
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Rechtes zum grossen Theile auf der Schulung, die uns und
unseren Vorfahren das römische Recht gegeben hat, und viel-
fach sind wir zur richtigen Erfassung allgemeiner juristischer
Gedanken an der Hand der strengen Formen seiner individuell
entwickelten Rechtsgrundsätze gelangt.
In allen Fällen nun , in welchen die Bestimmung solcher
allgemeiner juristischer Begriffe oder Unterscheidungen dank der
positiven Entwickelungsgeschichte unserer Jurisprudenz auf dem
Wege des Romanisinus gewonnen, auf dem Gebiete des römischen
Rechtes zu voller Klarheit entwickelt wurde, schien mir die
Übertragung derselben auch im römischen Gewände auf unsere
deutschen Rechtsverhältnisse gerechtfertigt , sofern ihnen nur
wirklich allgemeine Giltigkeit oder wenigstens Anwendbarkeit
auf den concreten, eben in Frage stehenden Fall zukam; sie
schien mir begründet, wo an den technischen Ausdruck der
römischen Rechtesprache ein Begriff von grösserer Klarheit und
Fräcision geknüpft ist als an das entsprechende deutsche
Wort. Denn mag auch für Gesetzgebung und Lehre das Be-
streben dahin gehen, das deutsche Recht nicht nur materiell,
sondern auch formell und sprachlich auf seinem Gebiete zur
Geltung zu bringen, so schien mir unter den heutigen Ver-
hältnissen für die wissenschaftliche Discussion der Ausdruck der
beste, der den gewollten Begriff am unzweideutigsten und am
kürzesten bezeichnet.
Aber nicht nur aus diesen mehr äusserlichen Gründen hielt
ich die Anlehnung an die römische Terminologie und römisch-
rechtlichen Begriffe für geboten; auch innere Gründe waren mir
dafür entscheidend.
Die von der modernen germanistischen Schule gewonnenen
juristischen Abstractionen sind naturgemäss von jener Einfachheit
und Einheitlichkeit ziemlich weit entfernt, welche die römischen
Begriffe auszeichnet. Der Grund dafür liegt sicher nicht etwa
in einer geringeren Präcision der germanistischen Jurisprudenz,
sondern in der grösseren Vielgestaltigkeit der Verhältnisse selbst,
die sich frei und in reicher Ausgestaltung entwickelt haben, ohne
dabei durch positive Können und formale Vorschriften in be-
stimmte Geleise gelenkt zu werden. Bei der so zur Enstehung
gelangten Mannigfaltigkeit der rechtlichen Verhältnisse selbst ist
es begreiflich, dass selbst unter den Vertretern der deutschen
Rechtswissenschaft über manche ganz wesentliche Begriffe keine
volle Einigung erzielt wurde ; und es ist nur natürlich,
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XIII
dass dag, wag auf dem eigenen Boden nicht völlig gesichert ist
und manchen Angriff erfahren mues, ausserhalb des eigenen Ge-
bietes oft überhaupt keine Anerkennung findet. Entfernt gich
nun die germanistische Rechtswissenschaft gänzlich von ihrer,
vielleicht feindlichen, Schwester und stellt sich ausschliesslich
auf ihre eigenen Beine, so liegt wohl nichts näher, als dass auch
diese sich um sie nicht kümmert und über ihre Ergebnisse die
Achsel zuckt, weil sie häufig schon die Grundlagen nicht aner-
kennt, auf denen das juristische Gebäude aufgeführt wurde. Und
es ist wohl nicht nothwendig, darauf zu verweisen, dass dies
auch in unserer Zeit nicht nur in vereinzelten Fällen geschieht.
Darum erschien mir eine Annäherung an das römische Recht um
des deutschen Rechtes willen nothwendig und gerathen, und die
Begründung manchor Sätze in weiterem Umfange geboten, als
es vom rein germanistischen Standpunkt vielleicht wünschens-
werth erscheinen mag. Wenn wir vom römischen und modernen
Rechte für die deutschen Verhältnisse soviel acceptieren , als,
ohne diesen Gewalt anzuthun, möglich ist, dann gewinnen wir
eine Operationsbasis, die auch ausserhalb unseres Gebietes An-
erkennung finden muss, und wenn wir auf dieser Grundlage zu
Ergebnissen gelangen, welche von dem abweichen, was der
Roraanismu8 nicht nur für sich behauptet, sondern häufig als all-
gemein giltig, weil angeblich logisch nothwendig bezeichnet, so
kann man daran auch im feindlichen Lager nicht mehr achtungs-
los vorübergehen. So ist die Annäherung, die hier versucht
wurde, vielleicht nicht mehr als ein Waffenstillstand, zunächst
abgeschlossen mit der kriegerischen Absicht, die Mittel und Wege
zu schaffen, um den Feind danach mit seinen eigenen Waffen
um so wirksamer bekämpfen zu können, bis später einmal
ein wirklicher Friede die heute bestehenden Gegensätze dauernd
ausgleicht und endgiltig vereint.
Freilich birgt ein solches tactisches Vorgehen auch nicht geringe
Gefahren für die eigene Partei. Namentlich die Frage, wie viel
aus dem fremden Gebiete herüber genommen werden darf, ohne
dem eigenen zu schaden, in welchem Umfange den Ergebnissen
der romanistischen Jurisprudenz wirklich jene Allgemeinheit
innewohnt, die vorausgesetzt werden muss, wenn die Über-
tragung auf deutsche Rcchtsgebilde berechtigt sein soll, ist oft
schwer und nicht mit Sicherheit zu beantworten, und leicht
können Vorurtheile oder Meinungen, die in unserer an dem
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XIV
positiven Rechte gebildeten Rechtsauffassang tief eingewurzelt
sind, für eine unrichtige Beantwortung bestimmend werden.
Dass die vorliegende Untersuchung diesen Gefahren nicht
ganz entkommen ist, unterliegt mir keinem Zweifel; ich wäre
zufrieden, wenn ihr Inhalt trotz aller vorhandenen Mängel im
allgemeinen dafür Zeugnis ablegen würde, dass sie durchgeführt
wurde in dem Bestreben nach einer möglichst objectiven und vor-
urtheilsfreien Erkenntnis von Inhalt und Wesen der hier be-
sprochenen rechtlichen Gebilde.
Zum Schlüsse sei es mir gestattet, allen denen, die durch
ihre freundliche Unterstützung an dem Zustandekommen und
der Vollendung dieses Erstlingsversuches Theil haben, meinen
besten und aufrichtigsten Dank auszusprechen. In ihrem Ent-
stehen hat die vorliegende Studie von vielen Seiten in der freund-
lichsten Weise Anregung und Förderung erfahren; möge die
gleiche wohlwollende Gesinnung auch der fertigen Schrift in dem
ernsten Augenblicke zur Seite stehen, da sie den schweren Schritt
in die Öffentlichkeit thut !
Wien, am 21. October 1890.
Schwind.
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Inhaltsübersicht.
Einleitung.
(S. 1—81.)
Die älteren Loihefonnen (1) u. zw. Precarien (2), Beneficien (3) und
hofrechtliche Leihen (3). — Die leiherechtlichen Bestimmungen der Rechts-
bücher (4) u. zw. des Sachsenspiegels (4), des Spiegels deutscher Leute und des
Schwabenspiegels (7); der Glosse zum Sachsenspiegel (7); des Wiener Weich-
bildbuches (9): über Bergrecht (9) über Burgrecht (12). — Allgemeines Vor-
kommen analoger Leibeformen in den Städten ( 18), sowie auch auf dem Lande
(19). — Ziel und Grenzen dieser Arbeit (20).
I. Freie Landleihe vertrSge in den Rheingegenden.
(S. 22-192.)
Das Auftreten neuer Leiheverträge in den rheinischen Urkunden des
12. und 13. Jahrhunderts (22); ihr wesentlicher Inhalt, Beispiele (23) ;
„jus hereditarium“ als technische Bezeichnung (25). — Anordnung der Dar-
stellung (26).
Dogmatlsolier Thell,
(8. 26-83.)
t. Die rechtliches Beziehungen zum Leihegute. (Die sachearechtüchen Elemente).
(8. 26-44.)
Jus hereditarium und Eigenthum (26). Das Eigenthum des Gutsherrn
(S. 28). — Der Umfang der leiherechtlichen Befugnisse (29): freies Verfügungs-
recht (29); Erblichkeit und deren Schranken (30); Mangel des Rechtes der
Veräusserung (32), der Verpfändung (33) und ursprünglich auch der Weiter-
verleihung (34), die rechtlichen Schicksale der Besserung (35). — Objecte
der Leihen (36), Subjecte (37). — Form der Begründung des Leiherechtes (38),
die Leiheurkunden nach Form und Inhalt (38), Mitwirkung des Gerichtes ?
(39). ■ Besitzweohsel im Erbgange (42). —
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XVI
2. Die rechtlichen Beziehungen zwilchen ElgenthOmer und Beliehenern.
(Die obllgatlonenrechtllchen Elemente.)
(8. 45-83.)
Die Zinsverpflichtung (45 — 71): Form und Inhalt derselben (45);
ihre Tin Veränderlichkeit (46); ihre juristische Natur (47): Hechtsverlust
wiederholt als letzte Folge der Zinsaäumnis ausgesprochen (48), Ausschluss
persönlicher Klagen wegen des Zinses (51), die Erfüllung der Zinspflicht
sonach Bedingung für den Fortbestand der Leihe (52); Giltigkeit des
gleichen Recbtsgedankens auch für die Fülle, die ihn nicht ausdrücklich be-
zeugen (53). Ergebnis : F'olgen der Hora nur Rechtsverlust nicht Personal-
execntion (56); Angemessenheit dieser rechtlichen Ordnung für die Ver-
hältnisse ihrer Zeit (56); einzelne Consequenzen aus dem allgemeinen Prin-
cipe (59). — Kein gesetzliches oder gewohnheitsrechtliches Pfändungsrecht
wegen der Zinsforderungen (62). — Veränderungen in der Zinsverpflichtung
(64): Wechsel in der Person des Zinsberechtigten (Gutsherrn) (64) und de«
Zinspflichtigen (65) namentlich durch Erbgang (65); Rechtsverhältnis zwischen
Erblasser und Erben in Bezug auf rückständig gebliebene Zinsraten (66).
Analogien aus dem späteren Rechte (68). — Garantien und Sicherstellungs-
mittel für die Vertragsverbindlichkeiten (72). — Secundäre Verpflich-
tungen (74): zu Bauführungen, Culturarbeitcn und Meliorationen (74), Be-
8itzübertragungs- und Einweisungsgebühr (76); rechtliche Behandlung der-
selben (77). Ersatzansprüche (78), insbesondere wegen der Besserung (79).
— Endergebnis: Das Leiherecht in allen Beziehungen beherrscht von dem-
selben einheitlichen und einfachen Grundgedanken (80); Einschränkungen (81).
Hlatorlschcr Thcil.
Das Verhältnis zu den verwandten älteren und gleichzeitigen Leihen.
(8. 83-122.)
Das Verhältnis zu den Precarien des älteren Rechtes (84); Unmöglich-
keit einer rechtsgescbiohtlichen Continuität (85). — Die Landleihen im Kreise
der geschlossenen WirthBchaftsvorbäude (86); die persönlichen wirthschaft-
liehen und gerichtlichen Verhältnisse am Herrnhofe (87). Leihereohtliche
oder dem Leihrechte analoge Übertragungen von Grund und Boden an
Angehörige solcher Wirthschaftsverbände (89): an Unfreie (ursprünglich
rein factisoher und sehr preoärer Natur) (89), au Angehörige des Mittel-
standes (91): trotz der persönlichen Abhängigkeit doch selbstständiges Reoht
gegenüber dem Herrn (91); als Folgen der ersteren neben der Zinspflicht
noch audere Abgaben, wie Vorheuer, Kurmede, Lizenzgebühr und wirkliche
persönliche Beschränkungen (92). Urkundliche Nachrichten über die per-
sönliche Stellung von solchen Beliehenen (94). Neben und trotz diesen per-
sönlichen Momenten die vermögensrechtlichen Bestimmungen hier dieselben
wie in den freien Leihen (97), Die Vermuthung eines rechtsgeschichtlichen
Zusammenhanges bestärkt durch das Vorhandensein von Übergangsfällen
(101) zweifacher Art: Anwendung entschieden hofrechtlicher Formen auf
gewiss nicht abhängige Personen, insb. kirchliche Institute (102) und Über-
gangsfälie im Kreise des wirtschaftlichen Betriebes (105). Demnach kein
unvermittelter Gegensatz sondern allmählicher Übergang zwischen hofrecht-
licher und freier Leihe (112); Zusammenhang auch mit der städtischen Leihe
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XVH
(113). Ergebnis: die freien (städtischen wie ländlichen) Erbleihen eine Um.
bildung der hofrechtlichen Leihe (118). Wirthschaftliche Ursachen für die
Entstehung der neuen Rechtsform (119); Einfluss der für kirchliche Zwecke
begründeten Zinsverpflichtungen auf diese Entwickelung (ISO).
II. Die bäuerlichen Zinsgttter der nördlichen deutschen
Colontsatlonsgeblete.
(8. 123-183.)
Allgemeines (133). Die Coloniengriindungen des Erzbischofs Friedrich
von Hamburg -Bremen aus dem Jahre 1106 (125), des Bischofs Udo von
Hildesheim zwischen 1079 und 1114 (129) und ihr Verhältnis zur ersteren (131).
Übersicht über die holländische Colonisation in der Bremer Landschaft (133) :
Die Colonie Hartwig I. von Bremen im Stedingerlande 1149 (183). Die
Machtenstedt’schen Colonisationsurkunden (134); die Colonie Hartwig II.
von Bremen 1201 (135). — Colonien mit vorwiegend einheimischer Be-
völkerung (136): Die Colonisierung des Niederviehlandes bei Bremen von 1143
durch Erzbischof Adalbero (136) und die Bremer Colonie von 1181 des Erz-
bischofs Siegfried (138). —
Die in den genannten Colonisationsprivilegien zu Tage tretende recht-
liche Entwickelung: die Ordnung der öffentlichen Angelegenheiten anfäng-
lich den Colonisten frei überlassen, später durch den herrschaftlichen Willen
geregelt; immer engere Einordnung in den herrschaftlichen Verband (141).
Die weitere Entwickelung des Colonistenrechtes vorwiegend auf dem Gebiete
des öffentlichen Reohtes (142). Die Leiter der Colonien ursprünglich nur
Anführer ihrer Genossen, zum Schlüsse als Schultbeissen von der Herrschaft
eingesetzte und anerkannte obrigkeitliche Functionäre (143). — Übergangs-
falle, urkundlich nachweisbar insb. aus der Gegend um Magdeburg (143):
Die Dorfprivilegien des Erzbischofs Wichmann für Krakau bei Magdeburg
(143), des Bischofs Gerung v. Meissen von 1154 für Coryn (144), des Abtes
Arnold v. Ballenstedt von 1159 für zwei früher slavische Dörfer (145), des
Erzbischofs Wichmann für Pechau und Wusterwitz (146) und sein älteres
Holländerprivileg aus der Naumburger Gegend von 1152 (148). —
Überblick über die weitere deutsche Colonisation, zunächst mit vor-
nehmlichcr Berücksichtigung ihrer öffentlichen Verhältnisse (149): Die
Colonisation in d. Lausitz und in Schlesien (149), in Mähren und Böhmen
(151), in Brandenburg und Preussen (152), in Mecklenburg (154) und in
Holstein und Lübeok (157). —
Die vermögensrechtlichen Seiten des Colonistenrechtes (157) : Die Zins-
pflicht (158) — Die dinglichen Rechte an den Colonistengütern (168). Die
verschiedenen Ansichten über die Qualität des Bauernrechtes (159); ihr Recht
ein Eigenthum nach Wersebc, Tzschoppe und Stenzei, Knothe, Sommer u. a.
(159) nach anderen Erbzins, Emphytcuse oder ein ähnliches Recht (159):
Schröder (160), Borcbgrave (160); die Meinungen DroyBen’s und Knapp’s (161).
Die unmittelbaren urkundlichen Nachrichten über diese Rechtsverhältnisse
(161): Das Recht des Bauern (161): unzweifelhaft ein weitreichendes
Nutzungsrecht (162), ob darum Eigenthum in unserem Sinne? (163) Gründe
dagegen (164); — das Recht der Colonistenführer (166), dessen vorwiegend
öffentlichrechtlicher Character (167); — das Recht des Landes- oder Grund-
herrn (168), gleichfalls vorwiegend öffentlicher Natur (168); daneben auch
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XVIII
private Befugnisse: Zins (V) und die Rechte, die den Bauern von vollem Eigen-
thume fehlen (169). Gleichwohl erscheint das landesherrliche Recht nicht
als Eigenthum (170). — Ergebnis : keiner der Berechtigten hat Eigenthum
(171). — Ist dies juristisch möglich? (171). — Der Begriff des Eigenthuras:
priucipielle Allgewalt und Möglichkeit concreter Beschränkungen (172). Das
Eigenthum als Privatrecht kein unbegrenztes Recht; jenseits der privaten
Omnipotenz können noch andere (öffentliche) Rechte bestehen (175). Die
im römisch -modernen Rechte an den privaten Rechtskreis geknüpfte Ver-
muthung der Allgemeinheit kann auch mit dem öffentlichen Rechtskreise
verbunden sein (176); in diesem Falle eine rechtliche Ordnung möglich,
nach der niemand Eigenthiimer i. u. 8. ist (177). Die Verhältnisse in den
Colonisationsgebieten für die Entstehung einer solchen Rechtsordnung be-
sonders geeignet (178). — Ergebnisse (179), Nomenclatur (180); die Über-
einstimmung der Forderung der juristischen Construotion mit den oben
gewonnenen Resultaten (181). — Scblussbemerkung: Die enge Verbindung
von öffentlichen und privaten Rechten als erklärender Factor für die spätere
Entwiokelung (181).
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Einleitung.
Der Gebrauch, Grund und Boden zum Zwecke seiner
Bestellung und Bebauung an Nichtbesitzende leiherechtlich zu
überweisen, lässt sich in den deutschen Landen fast ebensoweit
zurückverfolgen , als überhaupt unsere Kunde über deren ger-
manische Bevölkerung zurückreicht Erzählt uns doch schon
Tacitus in seiner Germania von Unfreien, denen wie den römischen
Colonen gegen bestimmte Abgaben Grundbesitz sowie das Recht,
einen selbstständigen Haushalt darauf zu führen, eingeräumt
worden ist1).
Die spätere Zeit mit ihren wachsenden und vielfach sich
ändernden wirtschaftlichen wie rechtlichen Bedürfnissen hat
leiherechtliche Bildungen in grosger Mannigfaltigkeit erzeugt, und
wenn auch die reiche Ausgestaltung und Ausbreitung, zu der das
Landleiherecht fernerhin gelangt ist, schliesslich mit dem Auf-
kommen neuer Rechtsformen und der Entstehung eines beweg-
licheren Verkehrsrechtes wieder bedeutend in den Hintergrund
gedrängt wurde, so ist dasselbe doch niemals aus dem deutschen
Rechtsleben völlig geschwunden.
Die fränkische und die ihr folgende Periode haben die für
die älteste Zeit schon beglaubigte leiherechtliche Überlassung
von Grundbesitz an Unfreie und Leute mit geminderter Freiheit
beibehalten und weiter gebildet, daneben manche römischrechtliche
*) Germ. c. Zf)., vergl. v. In am a-Sternegg, Deutsche Wirthschafts-
geachichte I. 11; Waitz, Deutsche Verfassungsgescbiohte I*. 108.
v. Scfciciml, Erbleihen. 1
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2
Form, wie insbesondere in den Grenzgebieten den Colonat l) über-
nommen, ausserdem aber in der Precarie und dem Beneficium
neue Formen der Landleiben geschaffen, denen auch noch für
spätere Zeit die grösste Bedeutung zukam. Ob und in wie weit
die Precarie, die ihren Namen dem römischen Preearium entlehnt
und auch manche Bestimmungen des römischen Rechtes *) in
sich aufgenommen, bald aber wieder abgestreift hat, ganz auf
römischen Ursprung zurückzuführen sei, ist eine Frage, die sich
mit Bestimmtheit kaum wird lösen lassen 3). Hier genügt wohl
der Hinweis, dass sie frühzeitig bei gar mannigfaltiger Aus-
gestaltung 4) im Einzelnen und in der Erfüllung der verschiedensten
wirtschaftlichen Functionen jede Beziehung auf das namens-
gleiche römische Rechtsinstitut verloren hat. Mit der Ver-
schiedenheit, dass den Beliehenen in einzelnen Fällen eine Zins-
pflicht traf, in anderen jede solche Verpflichtung fehlte, bestanden
alle Precaricn in der Überlassung eines zeitlich beschränkten,
gewöhnlich lebenslänglichen Nutzungs- und Gebrauchsrechtes
an einem bestimmten Stücke Landes, das nach Ablauf dieser
Zeit an den Leiheherrn zurückfallen sollte. Nicht der juristischen,
sondern der öconomischen Bedeutung nach unterscheidet die
heutige Jurisprudenz 5) drei Haupttypen, die precaria data,
bei welchen der Leiheherr gewöhnlich als Lohn für geleistete
Dienste oder aus einem anderen Anlass dem Precaristen ein
Gut in der bezeichneten Weise überliess, ihr Gegenspiel die
precaria oblata, welche sich aus einer Schenkung des
fraglichen Gutes an den Leiheherrn und einer Riickiibertragung
zu precarischem Rechte zusammensetzte, und endlich die precaria
remuneratoria, eine Verbindung der beiden eben ge-
nannten Formen, in welcher die Gutsschenkung durch die
prccarische Verleihung desselben Gutes und weiterer, dem Leihe-
herrn gehöriger Ländereien ihre Erwiderung fand. *) Iu diesen
■) vcrgl. Waitz, V. G. LP. 1. 241.
s) so z. B. die Nothwendigkeit der Erneuerung nach ö Jahren, vergi.
Waitz a. a. O., S. 292.
s) vergl. Waitz, a. a. O., S. 291.
4) Schröder, Deutsche Hechtsgeschichte, S. 275; Brunner, Deutsche
Kcchtsgeschichte, I 210.
6) zuerst wenigstens der Hauptsache nach Albrocht, Gcwere, 8. 105.
“) vergl. Koth, Feudalitat und Unterthaneuverbaud. S. 147 ff.;
Waitz a. a. O., S. 203.
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ä
Formen waren die Precarienverträge durch Jahrhunderte hindurch
ein beliebtes Mittel zur Erlangung eines leiherechtlichen Besitzes,
welcher die persönliche Freiheit und Selbstständigkeit nicht
schmälerte *) und, da meist die Kirche in der Rolle des Leihe-
herrn stand, gewiss ein nicht unbedeutender Factor, der das An-
wachsen des kirchlichen Besitzthuines gefordert hat Mit der
Ausbildung neuer, demselben Zwecke dienlicher Rechtsformen
und der Veränderung der wirtschaftlichen Grundlagen in den
letzten Jahrhunderten des Mittelalters ist dann auch die precarische
Leihe immer seltener geworden und ausser Gebrauch gekommen.
Das beneficium, anfänglich von der precaria nicht bestimmt
zu unterscheiden *), hat später durch die Beziehung auf königliche
Zuwendungen zu einem technischen Begriffe sich entwickelt ®),
und hat in dieser Form und durch die Verbindung mit der Vassal-
lität 4) die sachenrechtliche Grundlage für das die privaten und
öffentlichen Rechtsverhältnisse des deutschen Volkes bis weit
hinein in die Neuzeit beherrschende Lehenrecht abgegeben.
Und war auch die eigentliche Domäne desselben das militärische
oder staatsrechtliche Lehen, so haben dieselben Grundsätze im
Laufe der Zeiten auch Anwendung und Übertragung gefunden
auf die kleinen und niederen Rechtskreise der bäuerlichen
Verhältnisse *).
Daneben ist auch die Überlassung von Grundstücken gegen
Zins an Unfreie und Liten als niedere Leiheform dauernd in
Gebrauch geblieben ®), und diese sogenannten Zinsgüter haben
in der wirtschaftlichen Betriebsform jener Zeiten eine wesent-
liche und bedeutende Rolle gespielt 7). Aus ihnen hat sich
später, als mit der Ausbildung eines Hofrechtes die wenn auch
beschränkte Rechtsfähigkeit und Persönlichkeit der unfreien und
') vergl. Waitz, a. a. O., 8. 301.
*) vergl. Waitz, a. a. 0., S. 299 und VL 82 gegen Roth a. a. O.,
S. 144, Schröder, a. a. O., S. 275, Brunner, Deutsche Rechtsgeschichte
L 211.
*) Roth, a. a. O., 8. 174 ff. Schröder a. a. O., S. 276.
*) Siegel, Deutsche Rechtsgesohichte, S. 188, Schröder, S. 152 ff. etc.
*) vergl. Lamprecht, Deutsches Wirtschaftsleben, I 2, S. 901 ff.,
der urkundliche Belege für unzweifelhaft bäuerliche Lehen erst aus verhält-
nismässig später Zoit beibringt; bei den älteren Citaten scheint mir theils
der specifisch lehenrechtliche, theils der bäuerliche Character zweifelhaft.
°) Brunner, R.-G. 1 209.
’) v. Inama-Sternegg, W.-G. I 121 ff.
1*
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4
abhängigen Bevölkerungsklassen in greifbarer Weise Anerkennung
fand, die Zinsleihe nach Hofrecht entwickelt, über die uns
urkundliche Überlieferungen mannigfache Auskunft geben, und
bezüglich deren z. B. das Wormser Statut des Bischofs Burchard
namentlich das Moment der Erblichkeit hervorhebt und als etwas
Selbstverständliches voraussetzt *).
Die Zeit der fiechtsbücher, mit der sich die vorliegende
Untersuchung beschäftigt, kennt gleichfalls Landleihen der ver-
schiedensten Art, Neben den grossen politischen Landleihen,
die in dem sorgsam ausgebikleten Lehenrechte ihre rechtliche
Regelung fanden und weit über das Gebiet des Privatrechtes
hinaus sich zur Grundlage des gesainmten öffentlichen Rechtes
erhoben, war die precarische Leihe allmählich immer mehr in
den Hintergrund getreten. Dagegen hat für das Gebiet der
bäuerlichen und bürgerlichen Rechtsverhältnisse, die uns hier
besonders beschäftigen werden, die Leihe gegen Zins mit bald
schroffer, bald minder entschiedener Betonung einer persönlichen
Abhängigkeit des Beliehenen, bald wieder ohne jeden Hinweis
auf solche persönliche Beziehungen in jener Zeit weitverbreitete
Anwendung gefunden. Und es lassen sich wohl namentlich aus
späterer Zeit auch Spuren nachweisen, dass auch lehenrechtliche
Bildungen auf das Leiherecht dieser unteren Volksklassen über-
tragen wurden *).
Die Rechtsbücher selbst, die mit mehr oder weniger Aus-
führlichkeit über solche zinsbare und vererbliche Landleihen unter
verschiedenem Namen handeln, lassen die Mannigfaltigkeit der
Anwendung und der Ausgestaltung des Rechtes der Zinsgüter
deutlich erkennen und legen die Vermuthung nahe, dass es sich
dabei um Rechtsinstitute handle, die nicht zu vollendeter Ent-
wickelung und Abgeklärtheit gelangt waren , sondern noch in
einem Werde- und Gährungsprozesse sich befanden.
So enthält, um nur das Prägnanteste hervorzuheben, schon
der Sachsenspiegel an mehreren Orten Bestimmungen über Zins-
güter und ihr Recht, und wenn auch die Einzclangaben sich
nicht zu einem vollkommenen Systeme zusammenschliesscn , so
■) vergl. z. B. c. 2, 3, 4, 6 u. a.
*) vergl. z. B Lamprecht, a. a. U. 1. 2, S. 900 ff.
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5
lässt eich doch mit ziemlicher Bestimmtheit erkennen, dass er
zwei Kategorien, nämlich die gewöhnlichen Zinsgüter und die
Erbzinsgüter unterscheidet *).
Beiden Arten gemeinsam sind zunächst die Bestimmungen
des Art. 54 des ersten Buches -), der neben anderen zum Theii
processualen Regelungen a) die unter dem Namen Rutscherzins
bekannte strenge Strafe für Zinssäumnis festsetzt, wonach der
nicht rechtzeitig bezahlte Zins nach erfolgter Mahnung von Tag
zu Tag sich verdoppeln soll *). Von Interesse ist auch das
privilegirte Pfandrecht, welches dem Zinsherrn für seine Zins-
forderung am Gute zusteht *). Speciell der Zeitleihe gelten vor-
nehmlich die Normen über die Kündigungsfristen für Leiheherrn
und Beliehenen ®) und die Regelung der Rechte und Pflichten
des Erben des Verpächters, der vor Ablauf der Pachtzeit stirbt7).
Vorwiegend hierher gehört auch, wenigstens der practischen
Anwendung nach, die Bestimmung über die Frage, welche mit
dem Grund und Boden in Verbindung gebrachte Baulichkeiten
’) vergl. I Art. 54 § 5. Nen tinsman ue raut ok atougruvo noch lem-
gruve graven anc sines herren orlof .... uppe aime tinsgude, it ne ei sin
•rvc tinsgut; II Art. 59 § 1. tins man, . . . die to’me gude nicht geboren ia.
*) Die Gloase bezieht es auf Zinsleute, die zu den Gütern allzeit gehören.
*) 3 3. Beweiaregeln für Streitigkeiten über die Zinszahlung.
•) § 2. Sve einen tina to rechten tagen nicht ne gift, tvigelde aal he
in geven dea anderen dages, unde alle dage also, de wile he ine under ime
hevet, deate ime die herre mit rechten ordelen volge, unde ime to sineme
huae esche; wende man n’ia nicht plichtich ainen tina buten sin hus to gevene.
e) § 4. Die Herre mut wol panden uppe aine gute umme ein geld, dat
man ime von sime gude gelovet hebbet, ane sines richterea orlof. vergl.
dazu I, 53, S 3.
•) II, 59 § 1. Wel en herre wisen sinen tinsman von aincm gude die
to'me gude nicht geborn ia, dat aal ho ime kündegen to lichtmisaen. Dit
aelve aal die man dun, of he’t laud laten wel.
7) III, 77 § l. Dut en man ain lant beaeiet ut to tinse oder to plege
to besceidenen jaren, dat man't ime weder beaeiet late; to svelkor tiet he
binnen den jaren stirft, man sal’t den erven beaeiet weder laten, wende he
ia in nicht lenger geweren ne moclitei wen die wile dat he levodo. § 2. Die
erven solen ok von der sat aogedanen tina oder plege geven jeneme, an den
it gut gehöret, ala man jeneme aolde, die it ut dede ; wende it sines selves
pluch nicht nc beging do he starf.
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6
und Pertinenzen der scheidende Zinsmann mit sich von dem
Gute führen und welche er gegen Ersatz des Werthes auf dem
Gute lassen müsse J).
Bezüglich der Erbzinsgüter stellt zunächst Art. 21 des
zweiten Buches im allgemeinen den Grundsatz auf, dass im
Erbgang das Grundstück und die darauf errichteten Gebäude
gleichmässig und ungetheilt an die ’erven uppe tinsgude* gelangen
sollen*). Einer besonderen Art von Erbzinsgütern gedenkt end-
lich noch der Art. 79 des dritten Buches, nämlich der Bauerngüter
in neu gegründeten Dörfern. Solchen Colonistenbauern soll der
Dorfherr Erbzinsrecht gewähren können , wenn sie auch nicht
zu dem Gute geboren sind 8).
Auch sonst enthält der Sachsenspiegel in beiden Theilen 4)
manchen Hinweis auf Zinsgütcr und Zinslcute, und wenn wir,
wie schon eingangs bemerkt, aus diesen einzelnen abgerissenen
Bestimmungen vielleicht noch keinen vollen Einblick in das
') II, 63. Svat die man buvet uppe vremedem gude, dar he tins af govet,
dat mut he wol afbreken, of he dannen veret, unde sin erve na sime dode,
anc den tun vore uude hindene unde dat hus unde den mes ; dat sal die
herre losen na der bure köre. Ne dat he’s nicht, he vort dat eue mit dem
anderen wech.
•) Die tinsman, sve he si, die erft sin gebu uppe sinen erven uppe tins-
gude, it ne si en man von ridderes art, die't sime wive to morgen gave
hebbe gegeven. Die entgegengesetzte Erklärung die Schilter, Praxis juris
romani in foro germanico Frankfurt 1733, Exercitatio ad Pandektas XLV
§ 35 u. 36 und mit ihm andere annehmen, erscheint mir mit Rücksicht auf
den Zusammenhang mit den §§ 2, 3 und 4 des gleichen Artikels, in welchen
analoge Fälle in der im Texte angegebenen Weise behandelt werden und die
Wortfassung keinen Zweifel aufkommen lässt, dass in allen vier §§ Gleich-
artiges gesagt sein will, unmöglich. Die Bedenken, die man aus der Glosse:
,,tlie beginnet er zu setzen, das das Gebew sol bleiben bei der stadt; das sagt er
darumb, das alle Dorfgew erbe sind. Darumb erbet er’s auf seine erbon, er
sey wer er sey, das ist, er gehör zu dem zinsgut oder nicht“ vielleicht er-
hoben werden könnten, verschwinden und finden ihre Erklärung aus der
Glosse zu II 59, welche besagt, dass in der Hark die Bauern, obwohl sie
nicht zum Gute geboren sind „Erb am Zinsgut“ haben, „und mögen
es lassen wem sic wollen“. Dieses Recht steht sonst nur den zum Ziusgute
Geborenen zu.
s) § I. Svar gebure cn nie dorp beaettet von wilder wortelen, den
mach des dorpes herre wol geven ervclinsrecht an domo gude, al ne sin sic
to deme gude nicht geboren.
*) vcrgl. z. B. Landrecbt III 76 § 3 Leheurecht Art. 60, 63, 73.
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Zinsgüterrecht jener Zeit gewinnen können, so können wir doch
aus all den Einzelheiten entnehmen, wie geläufig ein solches
Güterleiherecht der damaligen Zeit und speciell auch dem Land-
rechte gewesen ist, wenn für den Verfasser des sächsischen
Rechtsbuches so oft Veranlassung war, auf diese Fragen zurück-
zukommen — des Hofrechtes ganz zu geschweigen, dessen Mannig-
faltigkeit im Einzelnen, wie Eike von Repgow angibt, ihn von
der Schilderung desselben gänzlich abhielt *).
Die im unmittelbaren Anschluss an den Sachsenspiegel ent-
standenen Rechtsbücher, wie namentlich der Spiegel deutscher
Leute1) und der sogenannte Schwabenspiegel s), stehen in ihren
Bestimmungen über das Recht an Zinsgütern fast völlig auf dem
gleichen Standpunkte wie ihre Vorlage. Es sei hier nur der
näheren Ausführung gedacht, welche das Recht des „Rutscher-
zinses“ schon im Spiegel deutscher Leute 4) dahin gefunden hat,
dass dem Zinsgläubiger, sobald die Zinsschuld durch ihr straf-
weise» Anwachsen den Wert des Zinsgutes erreicht hatte, die
Befugnis zugesprochen wird, das Gut unter Mitwirkung des Ge-
richtes sich anzueignen, sich desselben zu „unterwinden“.
Mehr Interesse bieten die Angaben, welche der Glosse zum
Sachsenspiegel über unsere Frage zu entnehmen sind, wenn auch
ihre Ausführungen für die Beurtheilung des ursprünglichen
Characters der Rechtsinstitute insoferne mit etwas Vorsicht
aufgenommen werden müssen, als in ihr die jener Zeit eigene
') Ssp. Lehenrecht Art. 63 § 1 Svelk. gut deme manne ane mansebap
gelegen wert, dat ne hot nen recht len, also dat gut dat die lierrc sime
dienst manne lietauemanscapto hoverechte, dar sol he hoverechtea
af plegen unde nicht len reohtes. Na hoverecht sal jewelk dienstmann ge-
boren driiszte sin oder schenke oder tnarscalk oder kemerere. § 2. Durch
die manuichvalde tveungc irs rechtes so no spreche ik von irme rechte
nicht vorbat, wen neder jewelke me bischope unde abbede unde cbbedischen
seget in die dienstmanne sünderlik recht to. Ähnlich Landrecbt 111 42 § 2.
*) vergl. Landrecht Art. 75, 122, 123, 158, 174. 345, Lehenrecht 169, 170,
171, 175, 263, 264 u. a.
*) vergl. Art. 83, 84, 149, 150, 155, 187, 217, u. a. (Lassborg).
4) Art. 75 Swer zins von gut sol geben, niht von fahrendem gute, der
sol in geben auf den tag, als im geschaiden wirt, so man im das gut leihet,
und geit er im den zins des Tages niht. er sol in geben zwivaltig des anderen
tages. uud alle tage als vil, die weil er don Zins inne hat; und als des
Zinses als vil wirt, als das gut werde ist, so sol der herre sich des gutes
unterwinden mit des richten) poten Ebenso Schwabenspiegel (Lassberg)
Art. 84, (Gengier 69).
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romanisirende Tendenz allüberall zum Ausdrucke gekommen ist,
die in dem Bestreben, die überkommenen Rechtsverhältnisse
in eine der wenigen römischen Kategorien eiuzuzwüngen, nicht
selten eine Trübung von deren ursprünglichem Gehalte bewirkt
hat. Speciell über die verschiedenen Arten der Zinsgüter
finden sich in der Glosse mehrere, nicht in allem völlig über-
einstimmende Angaben; so erläutert sie zu Art- 76 des 3. Buches:
’zinsgut ist auch zweierlei, das ist, es kömpt auch den leuten
zweierlei weise zu. Entweder wird einem von erbe oder von
gab. Den es von erbe wird, die sollen darzu geborn sein und
die mag man von dem gut nicht geweisen . . . . *) zum andern
mal, so wirt es in, so man es in mit zinsrecht gibt* ’). Hiezu
bestimmt dann mit besonderer Rücksicht auf die märkisch -bäuer-
lichen Verhältnisse die Glosse zu Art. 79, nachdem sie den
Gegensatz von Zinsgut, Eigen, Erbe und Lehen betont hat: ’Nu
merk hie auch das zinsgut ist zweierley. Das ein ist, das man
nicht verkauften mag, das haben die Lassen, die sind darzu ge-
boren . . . Diese sind schier als vil als eigen . . . Diese heissen
pfleghaften. Die anderen die zinsgut haben, das sind alle Gebawer,
die erben das gut, das über iren zins ist, auf iren nechsten
und verkeuffen es wem si wollen, also das si es iren Herren von
ersten zu kaufte anbieten. Das si an dem gut haben, das heisst
die besserung, davon sich das gut von irer arbeit gebessert hat.
Und diese heissen Landtsesscn, das ist arbeitend gebaweru . . .‘
Mit diesen Festsetzungen in Uebereinstimmung stehen die Er-
klärungen am Ende der Besprechung des Art. 59 des 2. Buches *).
Ist hier schon das persönliche (Standes-) Verhältnis berührt, so
gibt die Frage, ob Rittersleute Pachtgüter besitzen sollen, — eine
Möglichkeit, die an einer Stelle des Sachsenspiegels vorausgesetzt
wird4), — dem Glossator Veranlassung, den statusrechtlichen Elin-
fluss der Beleihung zu besprechen und auch mit Rücksicht auf dieses
Moment eine Scheidung der Zinsgüter in zwei Arten anzugeben.
') Hinweis auf Art. 21 des 2. Huches und romanistische Belege.
*) Hinweis auf Art. 7il des 3. Buches und romanistische Belege.
*) Hie wisse, dass man zu dem gut nit geboren wird, daran scheidet
Sachsen-Recht und Harkes-Kecht. Denn wer in Sachsen-Recht zu Zinsgut
geboren ist, der heisst ein Lass, der mag sich des gutes nicht (on des herren
willen) verzeihen Mit uns aber (das ist, in der Mark) haben die
gebawer Erb an Zinsgut . . . und mügen es lassen, wem si wollen.
♦) II. Art. 21 § 1, (2).
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lm Ganzen hält die Glosse daran fest, dass die Uebernahme
eines Pachtgutes mit der Ritterbürtigkeit nicht vereinbar sei *),
doch führt sie anderwärts1) aus: ’zinsgut ist zweierley. Etlich
gut hat auf! im zins, denselben hat der Besitzer villeicht zu
lehen, den mögen die Ritter wol haben .... Das ander zins-
gut, da man einem andern zins von gibt, das sollen von Rocht
die Ritter nicht haben’. Es ist vielleicht nicht unbegründet, hinter
diesem Bestreben des Glossators, einen Ausweg gegenüber dem
strengen Rechte zu suchen, und hinter seinen Worten, die Ritter
sollen von Rechtswegen solche Zinsgüter nicht besitzen, zu ver-
muthen, dass er Ausnahmen von der alten Regel im Leben seiner
Zeit thatsüchlich begegnet sei und dafür eine juristische
Erklärung habe finden und angeben wollen.
Ähnliche, zum Theile freilich auch abweichende*) Bestim-
mungen, wie sie die Spiegel enthalten, finden sich mit mehr oder
weniger Ausführlichkeit in allen Rechtsbüchern jener Zeit.
Vielleicht der reichhaltigste und detaillierteste Bericht über
erbliche Zinsleihen, welcher in den Rechtsbüchern des Mittel-
alters Aufnahme gefunden, liegt uns aber in dem Wiener Stadt-
rechts- oder Weichbildbuche vor, u. zw. sind es zwei scharf aus-
geprägte Grundtypen, die darin ihre Regelung finden, das Berg-
recht (perchtrecht) als die Erbleihe, welche an Weinbergen ge-
bräuchlich war und im Anschlüsse an die Weinberg Verfassung sich
entwickelt hatte, und dem gegenüber das Burgrecht (purkrecht)
als die Erbleihe des städtischen Rechtes.
Was zunächst das Erstere anlangt, so lassen die sorgfältigen
und ausführlichen Bestimmungen über die Pflicht zur Bebauung des
') vergl. Glosse zu II. 59. Wer auff gemietem gut sitzt, der sol nicht
sein von Ritters art, denn erverleurt sein ritterschaft damit; denn
er nimmt den zu einem herrn, der cs im thut. Und das sagt dieser artikel
hie, da er sagt: Wil ein Herr seinen Zinsmann etc.; als ob er sprech: der
die Zinsgiiter nimpt, der wird jenes zinsman, und der, des das gut ist, der
wird sein herr. Hie wisse, dass dieser ist schnöder, denn ob er sein Lehen-
mann wero. Denn umb Lehen fürt er die wapen und bleibt bei Kitterschaft.
Und um Zinsgut verzeihet er sioh der Kitterschaft und wirt ein gebawer.
*) zu Art. 21 des II. Buches.
*) vergl. insb. das Kaiserrecht, das z. B. besonders strenge Bestimmung
für die mora bei Zinszahlungen und sonst verschiedene Modifikation enthält,
vergl. (Ausgabe von Endemann) cap. 99, 101, 111, 112, 113. Bemerkeuswerth
ist auch die Scheidung von Gütern in ,eygen gut' und ,gut da man zu dinge
von gen muz.‘
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Weingartens '), sowie zuin Besuche des Bergtaidings *) und über
das Verfahren auf demselben 8), endlich über die Ausschliesslich-
keit seiner Competcnz 4) in allen Bergrechtsangelegenheiten an
der streng genossenschaftlichen Vereinigung der Weinbergbesitzer
keinen Zweifel aufkommen. Und ebenso sprechen die stricten
Festsetzungen über die Zehentleistungen *), die bezüglichen Ver-
pflichtungen und Rechte der Weinbauern einerseits und des
Bergmeisters und Zehentners andererseits, desgleichen die Regelung
der Rechte und Privilegien des Weinhüters ®) u. a. m. für die Ein-
*) Wiener Stadtreehtsbuch (Ausgabe von Schuster) Art. 128. 'Werain
Weingarten hat, und laet den liegen ungepaut iar und tag, also das er in nit
begreifet mit messer noch mit hauen, und auch dem porkmaister sein perk-
recht als lang auch nicht gegeben hat*, so sollen drei Taidinge abgewartet
werden, 'also das er zu dem dritten mal oder eetaiding nicht für churabt,
so sol man denselben Weingarten zu reis sagen, und sol in der pergmeister
ziechen in sein gewalt lediglich Wer also ein perkrecht verderben
wolt, des sol der pergmaister noch die perggenossen nicht gestatten. Wer
aber von rechter armuet sein pcrgrecht lies liegen, . . . ungepauen, da
gehört gnad über, oder in hais es der pergmeister verkaufen.*
s) Art. 111. Wer perchtrecht hat der sol suechen die taiding die der-
selb percht mit altem recht hat herpracht, in dem das recht leit, und schol
da geben sein vogtphennig oder recht ....
») Art. 112 und 115.
4) Art. 112. Alleu perchtrecht habent das recht, daz man seu nindert
verantwurten schol, denn in rechtem perchtaiding. Wer darüber ansprachiges
perchtrecht hat, der schol daz nindert verantwurten, denn in rechtem taiding
als nu perchrechtes recht ist.
5) Art. 114. Wer sein zechent ze rechter Zeit nicht geit, dem verpeut
man sein pau wol mit recht, untz daz er aller ding abdingt mit phenning
oder mit wein. Es schol auch chain zcchentner niemant höcher treiwen,
denu, waz er pei seinen treun geit. Wil der zcchentner iner, denn er ze
recht schol, so schol der ander waigern lür gericht und schol daz bewären
mit seinen treun, ob er es nicht gelauben wil, as er all sein wein recht ver-
zechet habe und sei damit ledig . . , . Peut man dor über ein zechentner
oder ein pergmaister an alleu seinen zechent oder perchreeht, daz schol er
nemen mit rechten mazz, die gemercht ist mit dem marich, der ham vor sand
Michel .... Ist awer daz ein zechentner sein zechent let sten in einer
prezz, darnach, und man in ze rechter Zeit anpeut, es sei vor lazheit oder
vor andern vergezzunden dingen, so schol der perchtgenazze denselben zechent
giezzeu in ein raincs vas und schol in schon dechen und lazz in dar inne
sten, als lang unz in der zcchonter nem. Chumt er darnach nicht, waz dem
wein dann gesohiecht, daz mues der zechouter der schaden haben.
*) Art. 114. Wenn der Weinhüter um seinen Lohn klagen muss und
ihn erst daraufhin erlangt, so soll er den doppelten Betrag, und der Richter
oder Bsrgmeister 72 Pfennig Uewetto erhalten.
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•>
heitlichkeit der Ordnung, zu welcher die bergrechtlichen Ange-
legenheiten in der Zeit der Entstehung des Stadtrechtsbuckes
bereits gelangt waren.
Bezüglich der eigentlich leiherechtlichen Prägen, die es ebenso
einheitlich löst, setzt das Stadtrechtsbuch voraus, dass der Grund
und Boden von einet» Bergherrn ’) gegen Zins an die eigent-
lichen Weinbauern überlassen ist, denen daran ein unzweifelhaft
vererbliches Beeilt zusteht. Das Kecht der Veräusserung a) ist
abhängig gemacht von des Bergmeisters Wissen und Mitwirkung,
indem jede auf andere Weise durchgeführte Veräusserung oder
Verpfändung mit Ausnahme der unentgeltlichen 8) Zuwendungen
(zue steur oder sunst ze lieb) an die Descendenz des Besitzers
ohne die Intervention des Bergmeisters wirkungslos sein soll4). Die
Zinsung, die für gewöhnlich als Naturalabgabe gedacht ist, und
für die gleichfalls der Name perchtrecht gebraucht wird, soll zu
rechter Zeit als Most abgeliefcrt werden Ä) oder, wenn dies ver-
säumt wird, zu St. Martin 'aus dem vazze*. Bleibt eie auch
hier aus, so soll sie der Bauer am nächsten Taiding 'mit zwispilt
geben und fürbas immer zwispil von ainem perchtaiding
untz auf das ander, als lang, untz daz der weingart nicht
theurer sei4. Dann sollen vier Berggenossen den Weingarten
schätzen und, wenn dessen Werth durch die Zinsschuld
schon übertroffeu wird, ’so ziech (der Bergmeister) den Wein-
garten in sein gewalt, und behalt in nach Satzung untz auf
das nächst taiding*. Bis dahin mag er immer ’ob er welle, wan
das stet in seinen genaden* dem säumigen Zinsmann den Wein-
garten wieder cinräumcn, danach aber soll er lediglich nach
seinem Vortheil darüber verfügen Ein ähnliches Verfahren
sollte gelten, wenn das „Bergrecht“ in einen Geldzins umge-
wandelt wurde, und zwar sollte, wenn nicht gelegentlich dieser Um-
wandlung anderes bestimmt wurde, auch diese die Naturalabgabe
') Art. 113, 116.
’) Art. 116 u. 120, s. unten S. 13, Anin. 2.
s) Art. 116. Es mag auch ein vater oder ein muoter chainem irem
chind einen Weingarten versetzen oder verckaufen an des pergmaisters wizzen,
daz es icht kraft müg gehaben, awer umb sunst .... mag ein vater oder
ein mueter seinem chind gar wol geben purehtrecht odor perchtrecht an
ir paider wizzen purchtherrcn und perehtherren.
*) Art. 116. Wer sein perchtrecht verchanfen wil, dor schol daz tuen
mit seines porigmaister wizzen, und auch mit seiner hant, oder es hat chain
chraft.
s) Art. 113,
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ersetzende Geldschuld von Tniding zu Taiding, nicht aber etwa
wie der Rutscherzins des Sachsen- und Schwabenspiegels ') von
Tag zu Tag sich verdoppeln.
Diesem regelrechten Verfahren gegenüber wurde die her-
gebrachte Gewohnheit des Bergherrn, den säumigen Weinberg-
besitzer in der Bebauung seines Grundes zu hindern, als unrecht
verworfen. Und auch noch in anderer Beziehung wurde das
Recht und Interesse des abgabepflichtigen Weinbauern sicher
gestellt: die mora accipiendi des Bergherm sollte ihm, wenn er
nur gewisse Cautelen beobachtete, keinen Nachtheil bringen *).
Nur nebenbei sei hier bemerkt, dass diese bergrechtliche
Leihe, wie schon ein flüchtiger Blick auf das ältere österreichische
Urkundenmaterial klar stellt, schon mehr als ein Jahrhundert
vor der Entstehung des Rechtsbuches als ein gebräuchliches, wenn
auch damals vielleicht nicht so entwickeltes Rechtsinstitut nach-
weisbar ist *).
Ebenso klar und rechtlich nur noch vollkommener durch-
gebildet sind die Bestimmungen des gleichen Rechtsbuches über
die städtische Erbleihe, das jus civile oder Burgrecht 4), das trotz
seines auf das städtische Recht verweisenden Namens freilich auch
ausserhalb des Weichbildes vielfach Anwendung fand b).
Daraufhin weist schon die Definition des Art. 119: (purkrecht)
sind heuser, tischstet, fleischpenk, protpenk, hofstet, und was
‘) vergl. oben S. 5 Anm. 4 und S. 7 Anm. 4.
’) Art 118. Ist »wer, dar. ein man seinem perchtherren anpeutet sein
pcrchtrecht zue rechter zeit, und let es der pergmaister vor lazheit dornach
do sten, als lang daz das perkrccht dann ze leid wirt und wil den percht-
genazzeu darnach nicht ansprechen umb dasselb perchtrecht, mag der perg-
genazze daz pringen mit zwain erbern manneu, daz er ins ze rechter zeit hab
angepoten, und es darüber hat lazzen sten, was dem perkrecht dann geschcchen
ist, do ist der pcrchtgeuazz unschuldig an, und mues der pergmaister den
schaden haben.
’) vergl. z. B. Zahn, Steirisches U. B. I c. 1145, 229; 1150, 831; 1165,
469 ad montis iusticiam, id cst, ut de singulis vineis una urna vini . . .
annuatim persolvatur u. viele andere.
*) vergl. darüber insbee. Fr. von Hess in den Sitzungsberichten der
Wiener k. Academie 1353, 11. Bd., S. 761 ff. und Bruder, Finanzpolitik
Herzog Rudolf IV. p. 15 ff.
s) vergl. die Bestimmungen über richterliche Competenz in Art. 1 19,
die ausdrücklich von dem ’pnrkreoht draussen in dem geu‘ sprechen, ausser-
dem die zahlreichen ländlichen Burgrechtsurkuuden z. B. in Hauswirth’s
Urkundenbuch der Bencdictinerabtei unserer lieben Frau zu den Schotten
(fontes rerum Austriacarum II. 18).
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darzu gehört, darnach miilen, pauuigarten und werd, wismad,
ecker, krautgarten, und mairhof, und phenning gelt, wo das leit
auf der erb ainem, wonach ala Object des Burgrechtes unzweifel-
haft neben städtischen liegendem Gut auch nicht städtische
Grundstücke, ja man darf wohl sagen, jede Art von Immobilien
mit Ausnahme der dem Bergrechte unterworfenen Weingärten
aufgezählt wurden. Dass neben diesen realen Objecten auch
Zinsungen genannt sind, dürfte nicht so sehr daher kommen,
dass damals auch Rentenrechte als Object weiterer Verleihungen
zu Zinsrecht dienten, sondern vielmehr darin seinen Grund haben,
dass der Name purkrecht für die Zinsungen selbst ebenso wie
für die Zinsgüter üblich war, und ein ungenauer Sprachgebrauch
objective und subjective Bedeutung nicht auseinander hielt.
Die wesentlichen Bestimmungen über das Burgrecht stimmen
mit den bergrechtlichen Festsetzungen völlig überein. Auch hier
setzt das Weichbildbuch ursprünglich ein leiherechtliches Verhältnis
voraus, das von dem als Burg- oder Grundherrn bezeichneten
Eigenthümer des geliehenen Gutes seinen Ausgang nimmt. So
ist denn auch des Grundherrn Vermittelung und Mitwirkung nach
dem Rechte desWeichbildbuches1) zu Übertragungen des Leihegutes
noch nothwendig, so zwar, dass jede ohne solche Intervention voll-
zogene Übereignung dem Grundherrn nach Jahr und Tag das
Unterwindungsrecht gibt"). Die Competenz für Burgrechtsstreitig-
keiten in der Stadt und zwischen Wiener Bürgern *) steht allerdings
dem Stadtrichter zu, ist aber für alle Burgrechtsangelegenheiten
') dass es bald anders wurde, dazu vergl. Freih. v. Hormayr Ge-
schichte Wien’s 5. Bd. Urk 142 vom 2. August 1360, Schuster in der
Einl. p. 29.
*) Art. (116) 120. Wer ein perchtrecht oder oin purchtrecht chaufet
der schol daz aufnemen und enphachen von dem gruutherm oder von dem
perchtherrn .... Vor denselben mag man wol versetzen oder verchaufen
purohtrecht und perchtrecht Swer darüber ein purchtrecht oder ein percht-
recht chaufet und nicht enphecht nach aufnimmt von dem, und er ze recht
scbol, inner jar und inner tag, der hat alles sein recht daran verlern, und
zeucht sich der purclitkerre oder der perchtherre mit recht darzue.
s) Art. 119. Was purkrechts gelegen ist in der stat und aussen umb
die stat, das man Verlosung und verstreuret mit der stat, das sol man ver-
antworten vor dem statrichter. . . . Hat ein purger ein purkrecht draussen
in dem geu, es sei auf ekern, oder auf wismad, und das ein ander purger
von im hat, der auch hie zu wienn ist in der stat gesessen, versitzt der
selb purger sein purkrecht also, daz er es zu dem rechten tag nicht engeit,
den sol man auch clagen vor dem statrichter.
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auf dem Lande noch dem Burgherrn gewahrt1); desgleichen
unbedingt denjenigen Burgherren, die mit eigener Gerichtsbarkeit
ausgestattet sind *).
Die Vorschriften über die Zahlung des Zinses, für welchen
gleichfalls die Worte gruntrecht, purkrecht gebräuchlich sind,
und die Anordnungen über die Folgen der Zinssüumnis sind den
Bestimmungen über das Bergrecht ganz analog gestaltet, nur
sind hier die Fristen für die Verdoppelung der ursprünglichen
Schuldigkeit nicht wie nach Bergrecht von Taiding zu Taiding
festgesetzt, sondern in anderer Weise geregelt *). Der Burgherr
soll den Säumigen zuerst 'durch vier taiding nach der stat recht
klagen*. Bis dahin knnn dieser jederzeit durch den Erlag des
doppelten Betrages seiner ursprünglichen Schuld sich befreien ; ver-
streicht auch der vierte Gerichtstag, so ’sol man darnach dem purk-
herrn erteilen zwispild seines purkrechtes zu vierzehen tagen*, und
soll der Burgherr befugt sein, nach Ablauf dieser Frist sich vom
Gerichte eine neue gleich lange ertheilen zu lassen, nach welcher
die Schuld sich wieder verdopple, bis sie endlich den Werth des
Gutes erreicht. Das sodann eingeleitete Verfahren, das mit der
Unterwindung des Gutes endet, schliesst sich den bezüglichen
Bestimmungen über Bergrechtzinse vollständig an.
Desgleichen ist die Regelung über die Folgen der mora
accipiendi für Burgrecht sowie Bergrecht ziemlich gleichartig,
nur geht hier das Bestreben , den Zinspflichtigen vor Willkürs-
acten seines Herrn zu schützen, besonders weit. Es ist ncmlich
die Zulässigkeit eines gerichtlichen Erlages mit voller Rechts-
wirkung ausdrücklich ausgesprochen; ja cs sollen sogar in einem
solchen Falle, wenn der Burgherr wegen derlei Streitigkeiten
seine Mitwirkung bei Veräusserungsgeschäften verweigern wollte,
*) Art. 119. Was in dem |?eu gelegen ist, als eker, wismad. mairhöf
das sol man verantworten vor dem purkherron, dem das purkrecht dint . .
Ist . . das ain paur seinem herreu sein purkrccht nicht endint. als er zu
rocht sol, den phendet der herre wol oder sein amhtmann mit recht auf
zwispild also lang zu virzchen tagen, untz das das purkrecht nicht teurer ist,
oder untz das der gepaur des herrn huld gewinnet.
*) Art. 126.
*) Art. 121, vcrgl. auch für das, wie es scheint, einfache Verfahren vor
dem Burgherrn die oben Anm. 1 abgedruckten Bestimmungon des Art. 119.
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die Bürger an seiner Stelle die Übertragung rechtskräftig voll-
ziehen können 1).
Wichtiger indess als diese Details und auch ungleich be-
deutender als die processualen Bestimmungen für Rechtastreitig-
keiten über die Höhe der Zinsen *), den Ausschluss von Pitznige
und Ebenteure 3) u. dergl. sind jene Festsetzungen , welche uns
das Burgrecht als Rentenrecht und Afterleiherecht erkennen
lassen; und zwar zeugt uns speciell die sorgfältige Regelung,
welche dem „Überzins“ zu Theil ward4), von der reichen An-
wendung, die das Burgrecht in diesem Sinne gefunden hat.
Überall dort, wo eine Mehrheit von Zinsungen auf dasselbe
Gut gelegt war, stellt der im allgemeinen durchgeführte Sprach-
gebrauch des Rechtsbuches den ersten, also den eigentlichen
Leihezins den anderen nachfolgenden Zinsen als ’gruntrecht* im
Gegensätze zu ’pnrkrecht' gegenüber, wie auch der erste Verleiher
als Eigenthümer des Grundes den Namen ’gruntherrn* im Gegen-
sätze zu den späteren als ’purkherrn* bezeichnten Zinsberechtigten
fuhrt, — eine Sprechweise , die auch in den gleichzeitigen
Urkunden sich widerspiegelt.
Bezüglich beider Gattungen von Zinsen sollen nach altem
Herkommen die gleichen Grundsätze gelten und namentlich
sollen auch für den Überzins, Burgrecht bez. Kaufrecht dieselben
Säumnisfolgen, wie sie oben angegeben wurden, ein treten *).
’) Art. 123. Ist das der purkherr darüber sein purkrecht widert, als
man in das anpeutet, so sol es der richter versigeln und also lang behalten,
und es der purkherr gar gern neme. ü uschi echt dem man di weil des purk-
rechtz dürft r.e versetzen oder zu verkaufen, und daz in der purkherr des
irren wil, so sullen die burger nemen ahlaite und anlaite, und sullen das
legon versigelt zu dem vordem purkreuht, und sullen aufnemen von dem
hingeber, und dem chaufcr aufgeben, und auch schermen seinen chauf mit
der stat insigel.
*) Art. 124.
*) Art. 122 vergl. die gegentheiligen Bestimmungen in Art. 112.
4) Art. 125. Bemerkt sei, dass dieser Art. sowohl Afterverpfändung
wie Rentenbegründung i. t. S. kennt und auseinanderhält: Was man . .
gelts darnach (nach dem (irundziuso) darauf setzet ....(=» Kenten-
begründung); Ist das ein man sein purkrecht hie geit, es sei ein haus oder
anderlai an phenning zu ainem wemden dinst .... (— Afterleihe).
‘) Art. 125. Es wellent aber die purger, was ein man auf seinem
purkreoht gelts verkaufe, oder unter sich stifte zu kaufrecht, das haisset
purkrecht, und ist auch als lang herkommen mit altem rechten, das si das
nu wehertet habend, und wellent, daz, wer denselben überzins versitze, das
man den pesser mit zwispild, als purkrechts recht ist.
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Besonderes Interesse bieten dabei die ausführlichen Bestimmungen '),
welche eine Collision der beiden Hechte für den Fall der Unter-
windung zu beseitigen streben. Bleibt nämlich der Grundzins
oder der Uberzins so lange aus, dass das oben geschilderte
Zwispildverfahren eingeleitet werden kann , so steht dessen
Durchführung nichts im Wege. Nur soll gegebenen Falles
keiner der Zinsberechtigten die Zinsforderung durch Ver-
doppelung allzu hoch anwachsen lassen, sondern es soll bei der
Abschätzung des Gutes auf die übrigen darauf lastenden
Zinse Rücksicht genommen und zur Unterwindung schon in
einem Zeitpunkte geschritten werden, in welchem der Werth
des Gutes die angewachsene Zinsschuld noch um soviel übersteigt,
dass durch diese ’Uberteuerung“ der Zins des anderen Berechtigten
gedeckt erscheint, und der, der das Gut an sich zieht, es ohne
Schaden mit dieser Zinslast übernehmen kann. Soweit diese
Bestimmung die Rechtsverhältnisse des 'purkherrn* betrifft, ent-
hält sie nichts Auffallendes, muss vielmehr als ganz entsprechend
bezeichnet werden ; denn es ist nur natürlich, dass der jüngere
Zinsberechtigte die Rechte des Grundherrn berücksichtigen muss
und nicht bei Seite schieben kann. Dass auch das Umgekehrte
gilt, und dass auch der Grundherr die Rechte seines Nachmannes
anerkennen und schonen müsse, möchte um so mehr Befremden
erregen, als er bei der Stiftung des Uberzinses nicht mitzuwirken
braucht und nicht gefragt wird, „weil er damit an seinem Rechte
nichts verliert“. Die Anordnung in diesem Sinne zeigt nur, wie
') Art» l.’ö. Versitzt ein man gTuntrecht als lang, da* dem gruntherrn
sein zwispild darauf ertailt wirt. und des selben zwispiides wirt also vil . .
so das das haus nicht teurer ist. so sol der gruntherr vil recht achten, zu
welcher zeit er sich desselben erbs unterwinden sülle, so das dem purk-
herrn sein überzias nicht abgee, der nach dem gruntherrn auf demselben
erib verchaufet uud gestiftet ist ... . Ist das dem gruntherrn sein
gruntrecht also lang versessen wirt, das im das haus mit zwispild vor
rechtem gericht ertailt wirt, so sol er im poten haissen geben auf dasselb
erbe, die das schetzen, und sol das pei zeit tuen, das des zwispiides icht zu
vil auf dem erb werd, so das er dannoch als vil überteuerung darauf bab.
ob im das erb beleih, das er dem purkherrn von derseben Überteuerung alle
jar sein .... purkrecht müg gedienen .... Ist aber, das dem purkherrn
sein .... pnrkrecht versessen wirt, der sol mit seinem zwispild auch nicht
zu verre jagen, also beschaidenlich, oh im das haus ertailt werd mit recht
in sein gewalt, das er dannoch als vil hab an demseben hause , das er das
gruntrecht wol davon verdienen mug. So verleuset ir ietweder seines
rechtens nicht, wenn das under in baiden versessen wirt, es sei der grunt-
herr, oder der purkherr
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17
sehr das Grund- und das Burgrecht von dem Character eines
.Leiherechtes sich entfernt hatte und vorwiegend als Rentenrecht
aufgefasst wurde, und wie sehr das Zwiepild verfahren zunächst
als Executionsmittel uiit dein Zwecke der Befriedigung des
Rentengläubigers galt, das dem Zweckgedanken gemäss nur in so
weit zur Anwendung und zur Durchführung gelangen sollte, als
es das Recht des einen erforderte, und als nicht unnöthig Rechte
und Interessen anderer geschädigt wurden. Dass man die Ver-
letzung solcher Rechte dort nicht scheute, wo es zur Wahrung
der an erster Stelle zu berücksichtigenden Rechte erforderlich
war, zeigt die Bestimmung, dass bei dem Untergänge des auf
dem Leihegrunde Erbauten unter Umständen aller Überzins ver-
loren gehen könne *).
Und ebenso wurde die Reihenfolge der Zinsberechtigungen
dort genau gewürdigt, wo das Leihegut durch die Mehrzahl der
daraufgelegten Zinsungen überbürdet erschien. Zwar enthält
hierüber das Stadtrechtsbuch selbst keine Bestimmung; doch sei
es gestattet um der Ergänzung des bisher Gesagten willen und
wegen des besonderen Interesses, welches der Frage zukommt,
ausnahmsweise das unmittelbare Gebiet der Rechtsbücher zu
verlassen und auf die schon von Hess berufene Urkunde zu
verweisen, welche uns über das richterliche Verfahren in solchen
Fällen Kenntnis verschafft*). Nach dieser wird zunächst den
■) Art. 125. Wann, so die Stiftung abging, von feur, oder von andern
sachen. so daB der grünt 1er bestund und ungezimert, so züg sich der
gruntherr mit recht zu seinem grünt, und wer der uberzins aller
verloren ....
2) v. Mess, a. a. 0. 8. 773 u. 792 ff.; Rauch, rerum austriacarum scrip-
tores III p. 79 Urk. 1356, No. 15. Bruder Ott, der Vertreter des St. Jacobs-
kloster zu Wien erklärt vor Gericht, dass sein Frauenstift auf einem
Wiener Mause 7 <55. Wiener Pfennige Burgrechts besessen hatte. Danach
batte ein gewisser Perichtold und seine Gesohwister und auch eine Anna,
die Wittwe eines Friedrichs von Tirnach, sowie deren Geschwister weitere
Burgrechtszinse auf demselben Hause. Nun war 'daz Maus alz tewr nicht,
daz es daz Purchrecht alles das dar auf leg, nicht getragen möcht* und Ott
frug vor Gericht, was Rechtens sei und erfuhr : ’Ez sol Perichtolten . . . und
sein Ueswistreiden und frowen Annen Friedrichs witib von Tirnach mit
Irn Geswistreiden mit (Meinem) vronboten auf das nast taidiug ze wissen
tun, ob si Sich dos Maus uuterwinden weiten. Und reichten die Geistleiohen
vrowen, datz sanct Jacob ir Purkrecht von ze rechten tegen. W ölten
aber si des nicht tun, Swaz si dann Purchrechts auf dem
Haus hieten, Datz soltensigenczleichen verloren haben1, — ein
Ergebnis, zu dem es auch endlich kam.
i. .Schwind, Erbleiheu. 2
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letzten Zinsberec.htigten aufgetragen, sich bis zum nächsten Tai-
ding zu erklären, ob sie sich des Gutes unter Uebemahme der
älteren Zinsverpflichtungen unterwinden wollten. Wollten oder
konnten sie darauf nicht eingelien, so giengen sie ihres Zinsrechtes
gänzlich verlustig, und den Erstberechtigten stand dann natur-
gemäss das Dnterwindungsrecht (und zwar ohne Berücksichtigung
der nachfolgenden Zinsen) zu. —
So tritt uns das „Burgrecht“, wie es das Wiener Weich-
bildbuch schildert, als ein durohgebildetes und voll entwickeltes
Leihe- und Rentenrecht entgegen, das sich schon weit entfernt
von dem unentwickelten Character des Zinsleiherechtes, wie es
aus den kaum hundert Jahre älteren Spiegeln nach den obigen
Ausführungen zu erschliessen ist. Die Urkunden, die aus der
Zeit des Weichbild buches auf uns überkommen sind, geben uns
ein deutliches Zeugnis von der reichen und vielfachen Anwendung,
welche unser Rechtsinstitut damals im städtischen und auch im
ländlichen Güterverkehre gefunden hat.
Die rechtliche Bildung aber, über welche uns nach
dem eben Gesagten Weichbildbuch und Urkunden für Wien
und seine Umgebung in so umfassender Weise berichten,
war indes nicht etwa auf dieses enge Gebiet beschränkt.
Nicht nur, dass der Name Burgrecht für städtisches Leihe-
recht in Rechtsaufzeichnungen und Urkunden, auch für andere
Orte , namentlich Süddeutschlands vielfach nachzuweisen ist.
findet sich das gleiche Rechtsinstitut, wenn auch unter
wechselndem Namen, und nicht überall in gleich typisch
entwickelten Formen, man darf wohl sagen, in allen deutschen
Städten jener der Entwickelung des städtischen Lebens so
günstigen Zeit. Die schönen und gründlichen der Entstehung des
Rentenrechtes gewidmeten Untersuchungen, die durch Arnold1)
eingeleitet und angeregt wurden, und die er selbst zunächst für
Basel, die Rosenthal*) für Würzburg und Gobbers ®) für Köln
durchgeführt haben, und auch schon die ältere, den lübischen
Wikboldsrenten gewidmete Studie von Pauli *) führen alle auf
*) Zur Geschichte des Eigenthums in den deutschen Städten, 1861.
*) Zur Geschichte des Eigenthums in der Stadt Wirzburg, 1878.
*) 'Die Erbleihe und ihr Verhältnis zum Rentenkaufe im mittelalterlichen
Köln des XII.— XIV. Jahrhunderts’ in der Zeitschrift der Savignystiftung für
Rechtsgeschichte IV., germ. Abtb. S. 130 ff.
*) Abhandlungen aus dem Lübischen 4. Theil die s. g. Wicbohlsrenten
oder die Rentenkäufe des Lübischen Rechts.
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19
ein in diesen Städten gebräuchliches Erbleiherecht zurück, das
in der dauernden und erblichen ßodcnverleihung durch die
Grundherrn zur Entstehung kan» und so den Beliehenen gegen
die Übernahme einer bestimmten Zinspflicht die Möglichkeit zur
Gründung eines eigenen Heimes in der Stadt verschaffte.
So finden wir in den Städten in derjenigen wirthschafUichen
Periode, welche der Blüthe des Rentenkaufrechtes vorangieng,
aber auch noch darüber hinaus ein Erbleiherecht in ziemlich
allgemeinem Gebrauche, das mit den eingangs gekennzeichneten
älteren leiherechtlichen Formen nichts oder nicht viel gemein
hat und das sich durch den Mangel eines die Persönlichkeit des
Beliehenen umstrickenden Bandes von den lehen- und hofrecht-
lichen Leihen der früheren und der gleichen Periode ebenso
unterschied, wie durch die Betonung des Erblichkeitsmomentes
und wohl auch durch die Zinspflicht von den früher so allge-
mein gebrauchten Precarien.
Aber auch dem ländlichen Rechte späterer Zeit sind ähn-
liche Erbleihen nicht fremd. Um auch hier, statt auf alle die
complicirten Fragen der späteren bäuerlichen Rechtsverhältnisse
einzugehen, nur eines Beispieles zu gedenken, zeigt uns schon
ein Blick auf die Landrechte, wie sie z. B. v. d. N ahmer in
seinem Handbuche des rheinischen Particularrechtes zusammen-
gestellt hat *), auch ländliche Güter einem Erbleiherechtc unter-
') vergl. z. B. von der Nähmet-, p. 10 ff. da* Solmser Land Hecht von
1571. Sechster Theil : 'von der Erbleihe1, worin sieh genaue Bestimmungen
finden für den Fall ,,Wann dann jemand eim andern eyn leygend Gut, es
seye Stadt, Dorf oder Feldt zu rechtem Erb, das ist jhme und seynen nach-
kommenden Leibs-Erben umb einen nahmhaften järlichen Zins oder Ffacht . .
verleyhan wolte“. Davon sei hervorgehoben: „Zum dritten so hatt die
Erbleyhe diese Art, dass sie sich nicht alleyn auf die Bestende re, sondern
auch derselben ehelich Leibserben, und furtahn auch derselben ehelich
Leibserben für und für erstreckt, und derwegen denselben, so lang sie die
Lehengüter in rechtem Wesen und Bawe halten, und die Zins oder Pflicht
der Gebür nach davor ausrichten, unnd lieffern, solche vererbte Güter nicht
mögen entzogen werden.
Zum vierdten Soll der Bestender oder dessen Erben alle jarc die
Erbzins oder pfacht dem Eigenthumbsherrn gütlich ausrichten, Theten
sie solches nicht , und Hessen aufs wenigst drey Jar (römischracht-
licher Einfluss) 'zusammen wachsen und verttiessen, ohn dass sie die Zins
oder Pflicht ausrichten, (ob sie gleich von dem Zins oder Pfaclitherrn
darumb nicht angemahnet würden), so soll derselbig Lebnherr nach ab-
lauffung solcher zeyt, macht haben, solche Güter, als verwirkt und jhme
verfallen, widerutnb zu sich (doch vermittelst Recht und Rechtlicher er-
käuntuuss, zuerfordern, zu nemen unnd den PfachtmanD davon zustossen.
2*
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20
worfen, das einfach auf vertragsrechtliche Vereinbarung zu-
rückzufiihren ist, und das in ziemlich weitverbreiteter Anwendung
gestanden zu sein scheint.
Diese wenigen bruchstückweise an einander gereihten An-
gaben, bei denen ein Eingehen auf die einzelnen sich ergebenden
Streitfragen absichtlich vermieden wurde, wie auch der Anspruch
auf Vollständigkeit durchaus nicht erhoben wird, werden
ausreichen zur Feststellung der Thatsache , dass das endende
Mittelalter jedenfalls seit der Zeit der Hechtsbücher erbliche,
mit einer Zinsverpflichtung belastete Landleilieverhäitnisse —
etwa zu vergleichen mit der römischen Emphyteuse — in weitem
Umfange und der mannigfaltigsten Ausgestaltung gekannt und
entwickelt hat, — Landleihen, die bald mit entscheidendem Elin-
flusse auf die persönlichen Verhältnisse der Beliehenen sich
äusserten, bald alle persönlichen Beziehungen unberührt Hessen
oder nur wenig alterierten.
Die Entwickelung, zu welcher diese mehr oder weniger
freien Landleihen in späterer Zeit gelangte, ist in ziemlich zahl-
reichen Untersuchungen bereits besprochen worden
Die vorliegende Studie will es versuchen, die Enstehung
dieses Erbleiherechts aufzusuchen und zu zeigen, aus welchen
Keimen das später im Leben so mächtige und bedeutende Hechts
institut geworden. Dagegen liegt ihr die Absicht ferne, ihm auf
dem späteren Entwickelungsgange weiter nachzugehen. Schon die
Mannigfaltigkeit, mit der es frühzeitig auftritt, und die unleug-
baren sachlichen und territorialen Verschiedenheiten schliessen eine
Darstellung aus, welche alle Fälle des Erbleiherechtes in ein
einziges System zusamtnenfassen wollte 1 ) , gebieten vielmehr
eine Scheidung nach den genannten, in den Verhältnissen selbst
Zum iunfTteu, Ist der Lebuherr, (denn ulso pflegt man den Verleiher
und Eigenthumbsherru abusive iu dieser Landart auch zu nennen,) in solchem,
auch allen dergleichen Fällen, da das Lehen oder die Erbleyhe verwirkt
wird, nicht schuldig, dem Bestender oder Ffachtmann eynige erstattung
oder besserung zu thun, dann durch die Verwirkung wird der Ffachtmann
nicht alleiu des Lehengutes sonder auch der besserung verlustig.“ Dora Leihe-
tierru steht kein Kiindiguugsrecht zu, der Beliehene hat das Gut in gutem
Stande zu erhalten etc. S. auch a. a. 0. S. Iü5 cap. VII. der Nassau -Catzen-
elnbogischen Landordnung: von den Erhheständuisseu u. S. 420 ö. Titel
des ’Churfür8tlieh Pfalz bei Kheiu erneu ert und verbessert Landrecht’ : Von
Erbverleihung oder Erbbeständniss ligender Güter u. a. m.
') Vergl. Stobbe, Deutsches Privatrecht II’ S. 509 Anm. 1.
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21
begründeten Gesichtspunkten Jedenfalls würde eine auf das
gesammteErbleiherecht ausgedehnte rechtsgcschichtliche Forschung
die Zugrundelegung des gesammten aus jener Zeit nicht mehr gar
spärlich überlieferten urkundlichen Materiales zur ersten Voraus-
setzung haben.
Aus der kaum zu umfassenden Menge erbrechtlicher Bildungen
sollen im folgenden zunächst nur zwei territorial und sachlich
strenge geschiedene Gebiete einer Untersuchung in der oben an-
gegebenen Richtung unterzogen werden: Die freien Erbleihe-
verhältnisse in den Rheinlanden und die bäuerlichen Besitz-
verhältnisse in den Colonisationsgebieten der deutsch - slavischen
Grenzdistrikte.
So wie durch die örtliche Lage des Schauplatzes, auf dem
sie zur Entstehung gelangt sind, so stehen sie durch ihre innere
Ausgestaltung und Ausbildung in einem gewissen Gegensätze :
Das Landleihrecht am Rheine das Ergebnis einer freien, dem
individuellen Bedürfnisse entspringenden und ihm sich unpassenden
Entwickelung — die bäuerlichen Besitzverhältnisse in den Colonien
stets im engsten Zusammenhänge mit dem Schicksale der ge-
sammten Ansiedlung, nicht individualistisch sondern für alle Ge-
nossen einheitlich, genossenschaftlich geregelt.
So mag die Zusammenstellung dieser beiden Entwickelungs-
gebiete, die wenig Gemeinsames enthalten, gerade um des eben
gekennzeichneten Gegensatzes willen gerechtfertigt erscheinen,
indem die so zur Sprache kommenden Leiheformen als juristische
Grenzfälle im Sinne der freiheitlichsten bez. gebundensten Art
leiherechtlicher Bildungen betrachtet werden können , zwischen
denen andere Erbleihen als Zwischenstufen sich einschieben.
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Freie Landleihe vertrage in den Rheingegenden
In dem reichen Urkunden vorrath, der in mannigfaltiger
Überlieferung aus den Rheinlanden des 12. und 13. Jahrhunderte
auf uns gekommen ist, treten anfange spärlich, dann immer
häufiger und vielgestaltiger neue Formen für Übertragungen von
Grundbesitz zu Tage, Formen, die eich aus den Urkunden früherer
Jahrhunderte gar nicht oder höchstens vereinzelt nachweieen lassen.
Das, was früher zur Erreichung des gleichen oder eines
ähnlichen wirthschaftlichen Zweckes eich in jenen Gegenden im
Gebrauche findet, sind, wie schon in der Einleitung angegeben
wurde, vornehmlich die zwei Formen des Beneficiume und der
Precarie, welche in vielseitiger individueller Ausgestaltung dann
überall zur Anwendung kamen , wenn bei Übertragungen von
Grund und Boden irgend welche Rücksichten die Begründung
eines unbedingten und unbeschränkten Rechtes, die Gewährung
des vollen Eigenthumes nicht wünschenswert!» erscheinen Hessen.
Dass neben diesen dem Land- und Lehenrechte ungehörigen
Formen auch innerhalb der geschlossenen Kreise der grösseren
Wirthschaftsbetriebe die leihweise Überlassung von Grundstücken
an Hofgenossen, wie anderwärts, so auch liier frühzeitig gebräuchlich
war, ist wohl mit aller Bestimmtheit anzunehmen , wenn auch
ein urkundlicher Nachweis in frühe Zeiten zurück schon aus
dem Grunde schwer durchzuführen ist, weil bei der embryonalen
Gestaltung des „Hofrechtes“ und bei dem Übergewichte des
herrschaftlichen Willens und herrschaftlicher Willkür es in den
seltensten Fällen zu Aufzeichnungen derartiger „Rechte“ ge-
kommen sein mag.
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23
Der characteristische Rechtsinhalt der neuen Leiheformen
gegenüber den» älteren Rechte liegt bei aller Mannigfaltigkeit
der Einzelheiten in der Abmachung, dass ein Eigenthümer von
Grund und Boden ein Stück Landes an einen Einzelnen dauernd
und zu erblichem Nutzungsrechte überliess, wofür dieser die Ver-
pflichtung zur regelmässigen Bezahlung eines für alle Zeiten fix
bestimmten jährlichen Natural- oder Geldzinses oft unter ge-
wissen Strafandrohungen übernahm, ohne dass dabei eine persön-
liche Unterordnung unter den Leiheherrn begründet worden ■wäre.
So übertrug, um einige Beispiele aus älterer Zeit anzuführen,
nach einer Urkunde *) des Jahres 1092 der Probst des Simeon-
stiftes in Trier Poppo, der Anregung seines Vorgängers folgend,
Theile des Saallandes zur Anlegung von Weinbergen 'ea . . .
conditione, ut post primos octo annos medietas ibidem crescentis
vini in tempus reliquum ad fratres rediret. Item alia . . . .
octo iugera . . . . , ut singulis annis octo solidi inde solverentur
fratribus; reliquum etiam omnem domini calemterram . . .
singulis annis pro UI albis et II solidis Die später
als Begründung für die Beurkundung folgenden Worte ’ut stabi-
liter permaneret a generatione in generationem1 lassen über die
beabsichtigte Dauer des Verhältnisses keinen Zweifel aufkoinmeu.
Zwischen 1081 und 1105’) entliess der Probst von Werden
eine Hörige zur Vermählung an einen freien Mann. Dieser gab
dafür einem ,,St. Liudger“ Altar der Kirche zunächst oin Grund-
stück, dann aber, um dieses wieder zurück zu erhalten, eine andere
Magd. Der Probst geht auf diesen Handel in der Weise ein,
dass er ipsum predium pro duobus per siugulos annos denariis
ad idem altare Sancti Liudgeri persolvendis quasi hereditario
iure concederet possidendum.
Erzbischof Adalbert von Mainz gibt gewisse Gärten dem
Cantor des Conventes, ’ita ut salva ortulanorum lege cum omni
fructuario usu de cetero ad ipsius Cantoris potestatem et utilitatem
respiciant. Ea videlicct conditione, ut quicumque Cantor predicte
ecclesie existat de reditibus supra dictorum ortorum decem solidos
annuatim fratribus persolvat* *).
Der Abt der S. Eucharius-Kirche bei Trier überlässt ’salicam
terram .... duobus rusticis de familia nostra B. et R. heredi-
') Beyer, Hittelrhcinisches U. B. 1. 386.
*) Lacoinblet, Siederrheinisches U. ß. L Ü66.
*} Urk. von 1133 ans txudenus, Codex diplomaticus I. S. 108.
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tario jure . . ea conditione, ut vineas in ea plantent et colant . .
dimidietatem quoque fructua ecclesie fideliter representent et de
reliqua parte decimas peraoivant“. Wenn sich bei der Inspicierung
der Güter bei einem Colonen etwas nicht in Ordnung fände, ’aut
emendationem faciat aut hereditate sua privabitur* l).
Der Abt von Eberbach beurkundet, dass ein gewisser
'Wichardus thelonearius .... vineam ... ab ecclesia hereditario
iure possidendam suscepit sub censu duorum aolidorum . . . .
hoc condicto, ut quicunique censum . . . tardavcrit in penam negli-
gentie in spatio VIII dierum sequentium censum duplicabit. Si
vero et hoc tempus pretergressus fuerit, sine ulla litis contesta-
tione usus vinee ecclesie s. Symeonis cedet et heredes suo iure
privabuntur* *).
Einem gewissen Johannes, der dem Kloster S. Eucharii bei
Trier ein Haus und Weingarten geschenkt hatte, wird seine
Bitte gewährt, die dahin gieng, dass die (die Urkunde ausstellenden)
Conventualen seinem Neffen Everardo beides 'hereditario iure a
nobis tenendem cencedere vellemus, ita videlicet ut singulis annis
de domo VI denarios persolveret, vineam autem coleret et
dimidietatem ecclesie presentaret* 3).
Schon die wenigen hier aufgeführten Beispiele geben ein
Bild von der Mannigfaltigkeit der Ausgestaltung dieser Land-
leibcverträge im Einzelnen, wie von der Verschiedenartigkeit der
wirthschaftlichen und rechtlichen Functionen, welche sie zu er-
füllen hatten. Der Hinweis auf die dem einzelnen Falle zu Grunde
liegenden thatsächlichen Verhältnisse und die rechtliche Regelung
einzelner Details, wie vor allen die Bestimmung der Grösse, der
Art und der Termine der Zinsleistungen, Festsetzung besonderer
dabei übernommener Verpflichtungen oder der rechtlichen Folgen
säumigen Verhaltens und manches andere mehr gibt jedem solchen
Vertrage sein characteristisches Gepräge; demgegenüber liegt das
Gemeinsame, bei allerVerschiedenheit des Einzelnen überall Wieder-
kehrende, wie oben bereits gesagt, in der Gewährung eines dauernden
und erblichen Nutzungs- und Verfügungsrechtes auf der einen Seite
und der Übernahme der Verpflichtung zur Leistung eines ebenso
dauernden Entgeltes in Form der Zinspflicht auf der anderen Seite.
>) 1168 Mittelrh. ÜB. L 652.
*) 1186 MH. UB. IL 71.
*) 1164-89 MH. UB. II. 100.
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Es wird wohl nicht erforderlich und wohl auch kaum thunlich
sein, schon an dieser Stelle den Gegensatz und die Unterschiede
dieser neuen Leiheform gegenüber den anderen oben erwähnten
näher auszuführen. Wae über das Wesen des Beneficiums und
der Precarie allgemein bekannt ist, dürfte die wichtigsten Ver-
schiedenheiten leicht erkennen lassen, und der Mangel eines Hin-
weises auf persönliche Abhängigkeit und Pflichten unterscheidet,
soweit die hofrechtlichen Aufzeichnungen aus der gleichen Zeit er-
schliessen lassen, unsere Landleihen von den analogen Güter-
übertragungen im gebundenen hofrechtlichen Kreise , nur dass
der Mangel eines solchen Hinweises nicht immer auch ein Fehlen
eines solchen hofrechtlichen Nexus erweist.
Hervorzuheben ist nur noch, dass die schon in den wenigen
hier angeführten urkundlichen Beispielen mehrmals vorkommenden
Ausdrücke, wie 'jure hcreditario concedere“ und andere verwandten
Sinnes, die in den späteren Urkunden mit grösserer Regelmässig-
keit wiederkehren, ziemlich bald, man darf wohl sagen, zu einer
technischen Bezeichnung für das in Frage stehende Rechtsinstitut
sich eingebürgert haben, so dass diese leiherechtlichen Bildungen in
der Urkundensprache jener Zeiten auch durch einen gemeinsamen
Namen zu einer gewissen Einheit zusammengefasst erscheinen.
Was der bisher gegebene allgemeine Überblick bereits ange-
deutet hat, wird bei näherem Eingehen freilich nur aufs Neue
bekräftigt werden, dass dieser äusseren Einheit durchaus nicht
immer auch eine innere Gleichartigkeit entspricht.
Die folgende Darstellung beabsichtigt zunächst, aus den vor-
handenen, uns überlieferten I^eihe vertragen dieser Art dogmatisch
Art und Umfang der dabei in Betracht kommenden rechtlichen
Grundsätze im allgemeinen, w ie in ihrer Ausgestaltung im Einzelnen
zu ermitteln. Dabei ist bei einem Rechte, welches, wie aus dem
Vorhergehenden entnommen werden konnte, sachenrechtliche Herr-
schafte- und persönliche Verpflichtungsverhältnisse in sich schliesst,
in der Darstellung eine äussere Scheidung nach diesen Gesichts-
punkten naheliegend und geboten. Der dogmatischen Darstellung
des positiven Rechtsinhaltes soll die rechtsgeschichtliche Stellung
unseres Rechteinstitutes in seinem Verhältnisse zu anderen ver-
wandten Rechtsbildungen der gleichen und der vorangegangenen
Zeit unter besonderer Berücksichtigung des eventuellen rechts-
geschichtlichen Zusammenhanges mit dem früheren in einem
weiteren Abschnitte folgen.
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Dogmatischer Theil.
1. Die rechtlichen Beziehungen znm Leihegute.
(Die sachenrechtlichen Elemente.)
Schon die wenigen bisher gegebenen Andeutungen lassen
darüber keinen Zweifel, dass das bei Landübertragungen „zu
Erbrecht“ auf Seiten des Erwerbers begründete dauernde und
vererbliche Nutzungs- und Verfügungsrecht von ungemein weit-
reichendem Inhalt war und sich wenigstens seinem äusseren Er-
scheinen nach von wirklichem Eigenthume nicht viel unterschied.
Auch die Form, welche zur Beurkundung derartiger Rechts-
geschäfte gewählt wurde '), war häufig die gleiche, wie sie immer
für Übereignung im vollen Sinne des Wortes gebraucht werden
mochte. Und ebenso sind die Wendungen, in denen der recht-
liche Übertragungswille zum Ausdrucke gelangte, wie etwa die
Worte ’concederc in perpetuum iure hereditario possidendum1 und
ähnliche häufig derart, dass sie bei völligen Eigenthumsüber-
tragungen ebenso gut am Platze wären. Auch in der Art, wie
der zu erblichem Rechte eingesetzte Besitzer über sein Besitz-
thum verfügte, wie er auf seinem Gute wirthschaftete, wird sich
der Regel nach ein wesentlicher Unterschied gegenüber einem
Eigenthümer äusserlich nicht erkennen lassen. Und selbst die
Zinspflicht, in der man wohl zunächst geneigt wäre, das Kenn-
zeichen für den Mangel des Eigenthumes auf seiner Seite zu
erblicken, wird nicht mehr als ein dafür so entscheidendes Merk-
mal angeführt werden können, wenn man erwögt, dass sich aus
ziemlich derselben Zeit Übertragungen zu vollem Eigenthume
unter gleichzeitiger Statuirung einer Zinsenverbindlichkeit nach-
weisen lassen *).
Aber trotz dieser vielfach zu Tage tretenden Ähnlichkeiten
unterschied schon die damalige Zeit auf das strengste unsere
Übertragungen zu erblichem Leiherechte von Eigenthumsüber-
tragungen im vollen Sinne des Wortes. Bei der Bedeutung,
welche damals dem Grundeigenthume in so vielen Rücksichten
zukam, und den Beschränkungen, welchen volle Übereignungen
oft unterlagen, ist diese scharfe Scheidung wohl zur Genüge
begreiflich.
') vergl. i. B. die sehr oft genannte Zustimmung dos Capitels und
ähnliches, über die Verschiedenheiten s. unten S. 39 ff.
*) vergl. z. B. Buueu-Kckert/., Quellen zur Geschichte der Stadt
Köln, 1. 1180, 93 ; III. 1278, 171 u. a. vergl. unten am Schlüsse de« hist. Theiles.
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Sie äussert sich auch wiederholt in dem sprachlichen Aus-
drucke, dessen sich die Urkunden bedienten: ab ecclesia iure
hereditario possidendum suscipere ’); ut B. et heredes sui iure
hereditario vinee prefate possessores existerent *); in perpctuam
emphy teosim concessimus possidendum 3) ; locavimus seu concessi-
mus iure hereditario4); titulo locationis perpetue et hereditarie
.... recepimus habendam, edificandam, possidendam et diverten-
dam*); servato nostro allodio omnique iure ecclesie in domo
nostra hereditariam mansionem concessimus*) und viele ähnliche
verwandte Redewendungen werden für den Akt der Verleihung
gebraucht, wogegen die Überlassung zu vollem Eigenthume, sei
es mit oder ohne Constituirung eines Zinses unter Hinweis auf
dessen weiten Umfang als plenum ius hereditarium ") oder in
der Weise gekennzeichnet wird, dass von einem coneedere iure
proprietatis perpetue possidendum8) oder einfacher von einem
coneedere pleno iure possidendum*), einem dare et tradere iure
perpetuo10) oder wieder ausführlicher von einem coneedere ita . . .
ut . . . tamquam libera proprietate pro libera utantur voluntate,
sicut usui et voluntati sue per omnia decreverint fructuosius
expedire”) die Rede ist1*).
Die Belastung eines so zu Eigenthum übertragenen Gutes
mit einem Zinse findet dann naturgemäss ihre besondere Er-
') 1185 MH. UH. 11. 71.
*) 1189 MR. ÜB. II. 98.
») 1242 MR. ÜB. Hl. 743.
*) 1267 Ennen H. 496.
*) 1294 Ennen III. 897.
•) 1177 Ennen I. 89.
’) 1287 Lac. H. 827.
") 1251 Lac. II. 372.
•) 1269 Lac. U. 477.
'”) 1297 Lac. H. 976.
») 1217 MR. ÜB. IH. 71.
■’) Auch in einer Urkumlo Ut oft der Gegensatz scharf gekennzeichnet;
eo in der oben citierten Urk. 1177 Ennen-Eckcrtz 1. 89, oder Urk. 1299 Ennen
HI. 489. Wohl auch Böhmer, Frankfurter UB. 1286 p. 224. Wie «ehr
sich der Ausdruck „iure hereditario“ als technisch für den Begriff des Leihe-
verhältnisses eingebürgert hatte, zeigen namentlich die Fälle, in denen er
gebraucht wird, obwohl von einer Erblichkeit des Reohtes, die doch dem
Ganzen den Namen gegeben hatte, überhaupt nicht die Rede ist, vergl. z. B.
1152 MR. UB. I. 568. Hermannus . . . vineam .... hereditario iure
quamdiu ipso viveret . . . colendam suscepit.
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wähnung; so Urk. 1180 (Ennen I. 93) . . . proprietatem loci
libere in manus nostras resignaverunt, nur mit der Bedingung,
dass die fratres cenobii aureum nummum ecclesie b-
Gerconis . . . persolvant ').
Schon diese scharfe Scheidung zwischen den Übertragungen
zu Eigenthum und zu Erbrecht, welche in dem sprachlichen Aus-
druck jener Zeit wiederholt zu Tage tritt, macht die Annahme
unmöglich, dass in der Verleihung zu Erbrecht etwa der Regel
nach eine Überlassung zu Eigenthum unter gleichzeitiger Be-
gründung einer Zinspflicht gelegen sei. Eine nähere Betrachtung
der in Frage stehenden Fälle zeigt uns auch sehr bald, dass
das Eigenthumsrecht des Verleihers auch während der Dauer des
Erbleiheverhältnisses fortbesteht, (wohl zunächst nur schlummernd,
etwa wie die nuda proprietas gegenüber dem römischen usus-
fructus oder der Emphyteuse), dass es aber eine Reihe von
Fällen gibt, in welchen es wieder zu voller Machtentfaltung
gelangen konnte.
Das Leihegut unterlag sonach einer zweifachen Herrschaft:
der umittelbaren Macht des ßeliehenen, der das Gut rechtlich
und thatsächlich beherrschte, und dem durch dieses Leiherecht
zunächst fast in jeder Lebensäusserung beengten, nahezu völlig
brach gelegten Eigenthume des Gutsherrn. So gestalten sich
denn auch die sachenrechtlichen Verhältnisse an dem Leihegute
unendlich einfach. Ein Nutzungsrecht mit weiten, aber fest ge-
gezogenen rechtlichen und in gewissem Sinne auch zeitlichen
Schranken und das Eigenthum, das überall zum Durchbruche
und zur Geltung zu gelangen bemüht ist, wo ihm nur neben
jenem Nutzungsrecht ein Raum zur Bethätigung geboten wird.
Eine Menge von Fällen und Combinationen, in welchen das
Recht des Beliehenen erlosch oder ins Wanken kam und damit
das Eigenthum sich Geltung verschaffen konnte, sind nicht auf
sachenrechtliche sondern auf anderwärtige Ursachen zurück-
zuführen; und während die Ausführung von all den einzelnen
Eventualitäten, welche ein solches Aufleben des Eigenthumes
verursachen konnten, einem anderen Orte Vorbehalten bleiben
muss, werden hier einige schwache Hinweise genügen: Es ist
nichts anderes als ein Wiedererwachen des schlummernden Eigen-
thumes, wenn, wie unten ausgeführt wTerden wird, der Leiheherr
bei unpünktlicher Zahlung des Zinses oder mitunter bei Ver-
’) Achnlich 1278 Ennen III. 171.
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29
schlechterung oder auch nur ungenügender Pflege des Gutes
den Erbpächter entsetzen kann ; wenn im Falle erblosen Todes
des Beliehenen das Recht am Gute sich in des Leiheherrn
Händen consolidiert, und wenn eventuelle Veräusserungen des
Leihreehtes , sofern dieselben Überhaupt zulässig sind, an die
Mitwirkung des Leiheherrn gebunden sind, und manches
andere mehr.
An dieser Stelle sei auch gleich hervorgehoben — die
nähere Ausführung bleibt wieder einem späteren Orte überlassen
— dass dieses Eigenthumsrecht das Gut nicht nur in der Form
erfasste , wie es ursprünglich übergeben worden war, sondern
dass cs sich naturgemäss auch auf alle mit dem Gute vorge-
kommenen und damit verbundenen Besserungen erstreckte, also
in diesem Sinne auch während des Bestandes des Leiheverhält-
nisses eine und zwar oft ganz wesentliche Erweiterung erfahren
konnte. All dies macht es gewiss begreiflich, dass der Besitz
dieses zunächst freilich nicht actuellcn Rechtes, auch abgesehen
von den sonst an den Grundbesitz geknüpften rechtlichen Präro-
gativen auch auf rein privatrechtlichem Gebiete mächtig empfunden
wurde und sonach auch seinen Ausdruck Anden musste.
Näher einzugehen ist hier nur noch auf die Grenzen, welche
für Beginn und Ende der Bcthätigung des Eigenthumsrcchtes
aus unmittelbaren sachenrechtlichen Ursachen gesetzt sind, oder
was dasselbe ist, auf den Umfang und Inhalt der leihcrcchtlichen
Befugnisse, deren Besprechung sich indes gleichfalls mit wenigen
Worten erledigen lässt.
Wir finden den Beliehenen im Genüsse und der Ausübung
eines weitreichenden Verfügungsrechtes. Abgesehen von ganz
singulären Bestimmungen fehlt es an Festsetzungen, die den Be-
sitzer an irgend welchen Dispositionen hinderten, welche die ge-
wöhnliche Benützung des Gutes mit sich bringt oder erfordert.
Wo nicht ein engerer Verband mit dem herrschaftlichen Wirth-
schaftsorganismus anderes verlangte oder sonst vertragsmässig
Specialculturen vorgeschrieben waren, standen auch Veränderungen
der Cultur, Meliorationen jeder Art ') und jede Vorkehrung, die
nicht zur Verschlechterung des Gutes fuhrt, in der rechtlichen
Macht des Beliehenen. Und selbst für Depravationeu sind nur
selten rechtliche Nachtheile angedroht *).
') Ausnahmen: z. ß Art. 1 206— 1 1 Eimen II. 38, wo Bauführungen au
die Zustimmung des Leiheherrn gebunden sind.
*) z. B. 1233 MB. ÜB III. 481.
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30
Ale Nutzniesser und Besitzer stand er natürlich in der Ge-
were und erfreute sich all der Vortheile, welche diese mit
sich bringt.
Dieses weitgehende Recht, dessen Genuss dem Erbpächter
eingeräumt ist, ist überdies nicht gebunden an eine bestimmte
Zeit; es ist auch nicht geknüpft an das Leben einer einzelnen
Person *). Im Gegentheile tritt gerade das Moment der Erblich-
keit des Rechtes so sehr in den Vordergrund, das nach ihm allein
das ganze Rechtsinstitut seinen Namen erhielt, und es fehlt nicht
an besonderen Verbürgungen für die Dauer und Unverbrüchlich-
keit des Verhältnisses für alle Zeiten *).
Nach den gewöhnlichen Bestimmungen der Leiheverträge
wird das Gut dem zunächst Beliehencn, seinen Kindern und
deren Nachkommen überlassen. Also die Descendenz des Be-
liehenen ist im allgemeinen zur Nachfolge in das Leiherecht be-
rufen. Dabei finden sich dann im Einzelnen Erweiterungen und
Beschränkungen verschiedenster Art. Bald sind auch andere
Verwandte des ersten Erwerbers als Rechtsnachfolger zu-
gelassen *) oder es sind die Ascendenten im Falle des Abgangs
einer Descendenz zur Nachfolge berechtigt 4). Bald ist wieder
ausdrücklich das ausschliessliche Recht der Descendenteu 5) oder
auch nur der ehelichen Nachkommenschaft des ersten Be-
rechtigten ®) normiert.
Häufiger indes und wichtiger als diese mehr zufälligen,
nicht nothwendig einem inneren Grunde entsprungenen Erb-
einschränkungen, ist eine andere Art derselben, nämlich die
') freilich finden sich vereinzelt auch solche Fälle, doch sind dies
natürlich nicht Erbleihen. Zcitleihen z. B. MH. UB. I. c. 1160, 613; III.
1249, 1015 Vitalleihen z. B MR. UB. I. 1122, 449; III. 1221, 173 u. a.; auf
das Leben zweier Ehegatten z. B. Hoeniger, Kölner Schreinsurkunden
I. Mart. 10. III. 1. Eine vollständige Zusammenstellung hei Lamprccht
D. W. L. I. 2. 936 Aum. 3.
") z. B. 1115 MR. UB. I, 432, 1136, 484; 1295 Lac. II. 957 ähnlich
auch 1140 MR. UB. II. Nachtrag zu I. No. 40.
“) z. ß. 1135 MR. UB. I. 481.
«) z. B. 1234 MR. UB. III. 514.
») z. B. 1200 MR UB. II. 182.
•) z. B. 1184 Ennen I. 98.
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31
Beschränkung auf einen ') oder wenige ’) Leibeeerben - eine Ver-
fügung, welche der „Sorge für die Erhaltung der Bauerngüter“,
oder vielleicht richtiger gesagt *), der Besorgnis vor einer die
grundherrlichen Einkünfte schädigenden Zersplitterung der zins-
pflichtigen Hufen ihre Entstehung verdankte. Dieses Prädomi-
niren des leiheherrlichen Interesses findet seine besonders deut-
lichen Ausdrücke in den Abmachungen, in welchen das recht-
liche Schicksal des Gutes nicht weiter beeinflusst wurde, sondern
nur dieUntheilbarkeit der Zinslast im Vertrage bedungen wurde4). —
Mögen nun diese Beschränkungen und Regelungen über die
Art der Vererbung wie immer gestaltet gewesen sein, immer
verschaffte die Verleihung zu Erbrecht dem Besitzer die Gewähr,
dass das ihm überlassene Land bei seiner Familie dauernd ver-
bleiben, dass, wenn er zur Besserung des Grundes etwas beitrug,
die Früchte seiner Arbeit ihm und den Seinen zum Vortheile ge-
reichen sollten, dass kein Willkürsnct der Gutsherrschaft ihm
das entreissen konnte, was er mit seinem Schweisse erarbeitet hat.
So gross nun auch nach dem Gesagten die Bedeutung war,
welche die Erblichkeit des Rechtes für den Berechtigten hatte,
und so sorgfältig die Pflege war, ivelche in Folge dessen gerade
den Bestimmungen über die Vererbung zu Theil wurde, so dürfte
doch darin allein noch nicht der Grund dafür gelegen gewesen
sein, dass das ganze Rechtsinstitut seit früher Zeit und später
immer allgemeiner gerade nach dem Momente der Erblichkeit
und nur nach dieser seinen Namen erhielt. Denn alle Kreise
des damaligen Rechtslebens, das Landrecht nicht minder wie
Lehen und Dienstrechte kannten zur Genüge vererbliche Rechte
an Grund und Boden, und speciell das Lehen und Hofrecht hatte
damals schon vererbliche Nutzungsrechte an fremdem Lande ge-
zeitigt, und auch dem Landrechte kann solches nicht ganz fremd
geblieben sein *).
•) z. B. MR. UB. I. 1115, 431; c. 1132, 474; 11. 1200, 182; 1204, 221;
1206, 225; III. 1232, 460; 1233. 481; 1234. 514; Lac. II. 1264. 548; 1286.
821; Banen III. 1281, 211; Quix ood. dipl. Aquensia 1206, 70.
!) zwei Brben z. B. 1187 MR. ÜB. II. 90.
3) die« hebt schon hervor L. F. Gabkens, Grundsätze des Dorf- und
BauernrechteB, Halle 1780 § 126.
*) so bestimmt z. B. Urk. 1233 MR. UB. III. 489 nur, dass immer
der älteste unter den Brben zur Zahlung des Zinses verpflichtet sein soll.
Vergl. auch Quix 1206, 70.
5) vergl. dafür u. a. die Zinsleute in den Spiegeln, die wenn auch be-
schränkt so doch mitunter vererblichen Precarien u. a. m.
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32
Die Erblichkeit scheint hier nur auch noch im negativen
Sinne von Bedeutung gewesen zu sein, indem die Verleihung
an einen bestimmten Besitzer und seine Erben indirect zugleich
auch den Ausschluss aller etwaigen anderen Erwerber, den Aus-
schluss der Veräusserungsbefugniss, auszusprechen scheint.
Das Nutzungsrecht war der Regel nach bestimmt für eine
Familie, nämlich für die Familie des zuerst Beliehenen ; es war
aber nicht bestimmt für den freien Güterverkehr; es konnte sich
nicht loslösen von dem einen Hause, weil es nur in Verbindung
mit ihm rechtlich existierte *).
Entscheidend in dieser Beziehung ist zunächst die Fassung
der Urkunden, welche die Vererblichkeit des Rechtes, den Rechts-
übergang auf die Descendenz des Beliehenen entweder nur im
allgemeinen festsetzen oder auch, und zwar in nicht seltenen Füllen,
mit sorgfältiger Berücksichtigung von Einzelheiten ausführlich be-
sprechen *), eines Vcräusserungsrechtes aber meist nicht mit einem
Worte gedenken *). Denn es ist doch entschieden nicht anzu-
nehmen, dass die Leiheurkunden, welche die rechtlich relevanten
Momente des Leihevertrags oft so detailliert enthalten, uns eine so
wichtige Befugnis verschwiegen hätten; es erschiene eine solche
Annahme um so weniger gerechtfertigt, als auch die Regelung,
welche das gleiche Rechtsverhältnis in späteren Jahrhunderten
erfahren hat, mit dem Inhalte der älteren Urkunden völlig
Ubereinstimmt *).
In einzelnen Urkunden jener Zeit findet sich die Frage auch
positiv geregelt. Gewiss nicht die Minderzahl unter ihnen er-
wähnen aber die Veräusserungsbefugnis nur, um sie mit desto
') der gleichen Ansicht auch äobbers, a. a. 0. S. 152. ln späterer
Zeit ist dies freilich anders geworden.
*) vergl. oben S. 30.
*) vergl. z. B. MR. Uß. I. 1092, 386; 1115, 432; o. 1132, 474; 1134, 477;
1135, 481; Lac. I. 1158, 396; Knnen I. 1177, 89; 1179, 92; 1184, 98; II.
1200, 2; 1217, 56; 1225, 89; 1243, 229; Gudcn I. 1189, 105, MR ÜB. II.
1200, 182; 1208. 239; und sehr viele andere. Bezeichnend in dieser Rück-
sicht sind gewiss auch die Urkk., wie 1155 Lac I. 385 und 1253 (luden V.
p. 24., welche bei der Statuierung einer (iebertragungsgebühr als einzigen
h'allfB des Rechtsüberganges nur des Krbganges gedenken.
*) vergl. die oben S. 19 Anm. 1 abgedruckten und citiertcu Stellen
aus dem Solmser Landrecht VI. Theil, wo die Rechte der Berechtigten aus-
führlich genaunt, eine Verkaufsbefugnis gleichfalls nicht erwähnt ist; aus
der Nassau - Catzenelebog’schen Landordnung VII. 3 (Nahmer p. 166) . . .
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33
grösserem Nachdrucke auszuschliessen1). Daneben finden sich
dann freilich auch noch andere, die dem Erbpächter den Ver-
kauf seines Rechtes zwar gestatten, dies aber entweder an des
Leiheherru Zustimmung knüpfen *) — also eigentlich mehr eine
rechtliche Möglichkeit ins Auge fassen, ohne dafür ein wirk-
liches Recht zu gewähren — oder wenigstens durch die Statuierung
eines Vorkaufsrechtes s) dem Eigenthümer die Macht ver-
leihen, jeden Unliebsamen vom Erwerbe auszuschliessen. Bemerkt
sei nur, dass das spätere, namentlich das städtische Recht von
dieser Gebundenheit vielfach abgegangen ist4). Für das ländliche
Recht blieb aber dieser conservative Character lange gewahrt,
und wo ja einmal die Uebertragung des Leiherechtes von einem
Hause auf das andere wirthschaftiches Bedürfnis war, half die
auch später noch gerne beliebte Form, dass der Besitzer auf
sein Recht verzichtete und der Leiheherr den von jenem Vor-
geschlagenen neu und unmittelbar erblich belieh &).
Dieselbe anfängliche Beschränkung des freien Verkehres
äusserte sich auch dort, wo es sich um partielle Veräusserung
des Leiherechtes, namentlich in Form der Verpfändung und
auch ohne Verwilligung seine* Leihe- oder Erb-Gutsherrns nicht zu vertheilen
viel weniger etwas daraus zu veräussern noch mit Zinsen ... zu beschweren.
Das churpfälzische (1611 zuerst) erneuerte Landrecht enthält, wenigstens in
der bei v. d. Nahmer p. 401 ff. gedruckten Neupublicatiou von 1698, V. 7
p 422 die Veräusscrungsliefugnis dem Rechte des römischen Emphyteuten
analog geregelt, was jedoch wahrscheinlich auf römischen Einfluss zurück-
zuführen ist.
') z. B. MR. IJB. II 1189, 98; 1206, 225; III 1215, 32; 1227, 324;
1242, 760; 1245, 814; (Juix 1206, 70; Lac. II 1264, 548; 1286, 821.
*) z. ß. 1206 Ennen II 34; 1246, 250; 1247 MR. ÜB. HI 899, sowie als
Zeugnis für eine auf Grund solcher Genehmigung erfolgten Rechts-
übertragung 1299 Ennen III 488.
•) z. B. MR. DB. I 1168. 652; II 1204, 221; III 1239—1240, 646;
1242, 743; ähnlich auch 1284 Ennen III 245.
4) z. B. schon 1181 Lac, I 477; Ennen II 1254, 380; 1257, 874; wohl
anch III 1294, 397 u. 402; dann die bei Ennen Gesell, der Stadt Köln I
S. 421 Anm. 1 genannte Urk. Ferner als Beispiele von Uebertragungs-Dr-
kunden, die einer leiheherrlichen Bestätigung nicht Erwähnung thun, Lac. II
1260, 362; 1295, 957; die ganze Entwickelung eingehend dargestellt bei
Arnold. Rosenthal, Gobbers a. a. O.
») z. B. Ennen II 1265. 485; III 1286, 259; 1306, 536.
v. Schuind, Krbleibsn. 3
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34
Weiterverleihuug (Afterleihe) handelte *). Nur das» aus den bei
Arnold*) angedeuteten Gründen die ^Fortbildung des Leihe-
rechtes dort, wo das Bedürfnis nach einem freieren Verkehrs-
rechte besonders lebhaft empfunden wurde, also vornehmlich in
den Städten, sich für diese Fälle verhältnismässig leichter voll-
ziehen konnte. Da nämlich das Recht des Leiheherrn völlig
unverändert aufrecht blieb und durch das Hinzutreten solcher
neu Berechtigter sich nur der Kreis derer erweiterte, die an dem
ordnungsgemässen Bestände des Leiheverhältnisses ein rechtliches
Interesse hatten, da also durch derartige Rechtsgeschäfte un-
zweifelhaft nur eine Verstärkung der leiheherrlichen Position
geschallen wurde, so fehlte es an einem Grunde für ein die
Verkehrsbedürfnisse beschränkendes Eingreifen des Leiheherrn.
Doch kam dem auf dem Gebiete des ländlichen Rechtes natur-
gemäss keine sonderliche Bedeutung zu.
Hier blieb es vielmehr der Regel nach schlechthin bei dem
eben gekennzeichneten zweifachen Rechte, dem in jeder Land-
leihe das Leihegut unterworfen war. Dem Eigenthume des
Leiheherru stand das „Erbrecht“ des Beliehenen gegenüber, ein
Recht, welches für die Dauer seines Bestandes die principielle
Omnipotenz des Eigenthümers nahezu zu völliger Machtlosigkeit
brachlegte. Erst wenn durch Aussterben der beliehenen Familie,
oder schon früher in abnormaler Weise — z. B. durch strafweise
Besitzentsetzung oder durch die gewiss zulässige Dereliction *)
') Verpfändung verboten u. a MR. UB. II 1 1 H9, 9H; 1206. 226; Lac. II
1264, 548; 1286. 821 ; Quix 1206, 70 — dagegen Recht zur Weitervermiethuug
eingeräumt 1235 MR. UB. III 543 (städtisch.)— Über Afterverleihung vergl.
die bei Lamprecht, deutsches Wirthschaftsleben. I. S 942, Anm. 3
cit. Quellenstellen, welche die Afterverleihung ausschliessen. Die älteste
unter ihnen 1165 MR. UB. II Nachtrag zu I No. 43 scheint richtiger nicht
als Afterverleihung zu deuten zu sein, indem die Worte sine legitimi tra-
ditoris dono nicht auf den Mangel einer Zustimmung zur Aftervcrleihung
sondern auf den Mangel eines Erwerbstitels überhaupt zu beziehen sein
dürften, ohne den der fragliche uolonus Theile von dem Colonats Gute mit
dem benachbarten zu besserem Rechte besessenem Gute verbinden wollte.
— vergl. ausserdem Eunen II 1235. 155 u. 1237, IBS, wo dasselbe Gut, das
zuerst als Erbgut einem Herzog v. Brabant geliehen wurde, vou diesem als
Lehen weiter begeben wurde. Gobbers S. 163 f. fasst es als Afterleihe.
*) Gesch. d. Eigenthumes 8. 110.
*) Sachenrechtlich gewiss zulässig; über die Wirkung auf die Zins-
pflicht s u. S. 60.
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35
des Leihegutes von Seiten des Beliehenen — das Erbrecht sein
Ende erreichte und erlosch, lebte das Eigenthum in vollem Um-
fange wieder auf.
Dabei tritt, was noch hervorzuheben ist, deutlich zu Tage,
dass die beiden dinglichen Rechte das Leihegut, wie oben schon
angedeutet wurde, in seiner Totalität erfassten. Von einer ver-
schiedenen Behandlung des Gutes und der Besserung, wie Arnold
sie für Basel annimmt *), findet sich keine Spur, ganz abgesehen
davon, dass eine solche Trennung, die im städtischen Rechte
noch denkbar wäre, bei Landgütern, deren Besserung haupt-
sächlich in Grund und Boden liegt, in der Mehrzahl der Fälle
real überhaupt nicht durchführbar gewesen wäre. Grund und
Boden und die darauf gelegten Meliorationen waren dem gleichen
rechtlichen Schicksale unterworfen, an ihren Vortheilen erfreute
sich während der Dauer des Leiherechtes die Familie des Be-
liehenen, und wenn das Leiherecht schliesslich selbst sein Ende
erreichte, so gelangte das gebesserte Gut in die Hände des Leihe-
herrn zu weiterer Verfügung zurück *). Ueberall ist das Gut
nur als eine Einheit genannt, das Gut, wie es sich eben befindet,
als Rechtsobject in den Händen des Eigenthümers wie des Be-
sitzers; von der Besserung wird überhaupt nicht gesprochen. Die
späteren Ausführungen über den Zins und dessen Sicherungs-
inittel werden zeigen , dass in vielen Fällen auch nur diese
Ordnung der Dinge den Ansprüchen und dem Interesse des
Leiheherrn zu genügen vermochte *).
Demnach erscheint das ganze Verhältniss durchaus einheitlich
gestaltet, und unsere Landleihe ist frei von all den Complicationen,
zu denen die Arnold’sche Ansicht führte.
Zum Schlüsse dieser sachenrechtlichen Betrachtung der
Leiheverhältnisse soll noch die Form der Begründung derselben
unter Hinweis auf die Rechtsgebiete, in denen sie sich finden,
einer kurzen Erörterung unterzogen werden.
Der Grund für diese systematische Anordnung mag darin
erblickt werden, dass alle eventuellen Formvorschriften, welche
für die Begründung der Leihen in Betracht kommen können,
’) Zur Geschichte des Eigenthums iu den deutschen Stödten.
S. 172 ff., vergl. auch S. 150 ff. und Gobbers a. a. 0. S. 158.
*) Ausdrücklich ausgesprochen z.B. 1257 Lac. II 446; 1194 En ne n III 397.
*) vergl. unten.
3*
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36
eich nur auf die Begründung dee in ihr gelegenen dinglichen
Rechtes, nicht auf die damit verknüpften obligatorischen Yer-
pflichtuugsverhältnisse beziehen können. Denn dass bei der Er-
richtung von Leiheverträgen sich keine Spur eines solennen
Schuldversprechens findet, wird schon bei der oberflächlichsten
Betrachtung der Urkunden zur vollsten Gewissheit.
Der eigentlichen Besprechung des formellen Theiles soll
aus Gründen, die sich bald darthun werden, ein kurzer Hinweis
auf die Rcchtsgebiete (in persönlicher und sachlicher Beziehung)
vorausgehen, welchen unsere Leihe vertrage angehören; sind doch
in jenen Zeiten persönliche und sachliche Beziehungen für Form
und Inhalt der Rechtsverhältnisse oft von wesentlichem Einflüsse.
Dass nur unbewegliche Güter Object von Landleihen sein
konnten, bedarf wohl keiner besonderen Erwähnung, und es wird
in dieser Richtung wohl alles Nöthige gesagt sein mit dem Hin-
weise, dass auf dem Lande neben Grundstücken, die entweder
schlechthin oder mit der Widmung für eine bestimmte, in vielen
Fällen auch erst zu schaffende Cultur übergeben wurden, auch
Mühlen *) und selbst Zehentrechte *), und dass in der Stadt neben
Bauplätzen auch fertige Häuser oder Theile derselben wiederholt
zu Erbrecht ausgeliehen wurden.
Wichtiger ist die Frage nach den am Leiheverhältnisse be-
theiligten Rechtssubjecten.
Abgesehen von manchen in den wirthschaftlichen wie recht-
lichen Verhältnissen jener Zeit gelegenen Momenten, welche
vielfach dafür bestimmend waren, dass gerade geistliche
Anstalten oft geneigt sein mussten, ihre Güter leiherechtlich zu
vergeben, liegt wohl in der Art der Ueberlieferung und der Er-
haltung des urkundlichen Materials der vornehmlichstc Grund
dafür, dass in den auf uns überkommenen Urkunden fast aus-
nahmslos der todten Hand die Icihehcrrlichcu Rechte zukommen.
Gewöhnlich sind es Klöster, Kirchen, Stifter und andere kirch-
lichen Institute, die uns als Leihehcrru in den Urkunden ent-
gegentreten.
') 1156 Lac 1 385; 1162 No. 13 der von Merlo in den Ann. des
hist. Vereins f. d Niederrhein abgodruckten Urkk ; 1196 Quix cod. dipl.
Aquensis 88. Vcrfrl. auch die Zusammenstellunj? bei Lamprecht I). W. L. I. 2.
S. 931 Anra 6; Krhreehtsverleihun^ eines Hades 1240 Quix 100.
») z. B. 1161 MR UB. I 630, 1256 Böhmer Frankf. 1TB p. 99; 1274
p. 170; s. d. Zusammenstellung bei Lamprecht D. \V. L. I. 2, S. 932 Anm. 1.
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Wie es überhaupt mit der Erhaltung weltlicher Privat-
urkunden aus früheren Zeiten sehr schlimm bestellt ist, so sind
auch von Leihebriefen weltlicher Personen nur sehr wenige auf
uns gekommen, und die Phantasie hat ziemlich freien Spielraum,
will sie die Zahl der Verlorenen hoch oder niedrig anschlagen.
Die wenigen erhaltenen Urkunden, in denen die Leiheherren
weltliche Personen waren, werden später noch in einem andern
Zusammenhänge kurze Erwähnung finden
Bunter und abwechslungsreicher ist das Bild, welches uns
die Schar der Beliebenen gibt. Hier finden sich wohl Leute
aus allen Ständen, wenn auch nicht alle in völlig gleicher Art.
In einer Urkunde des kölnischen Klosters Weiher ist der Herzog
von Brabant mit einem Hause belieben1); nicht selten stehen
Abte*) und Canoniker*), Vögte4) und Rittersleute5) oder Bürger*)
als passive Glieder in Erbleiheverträgen. Auch Kirchen und
geistliche Anstalten sind häufig in erbrechtlichen Besitz von
Grundstücken gesetzt worden; sei es, dass andere kirchliche
Institute sie in dieser Weise dotierten, oder dass Private ihre
frommen Zuwendungen in diese Formen gekleidet haben. Es
hängt unzweifelhaft wieder mit der Überlieferung älterer Urkunden
zusammen, dass fast alle uns vorliegenden Leihebriefe weltlicher
Herren Zuwendungen an Kirchen zum Gegenstände haben.
Sehr oft gibt uns die Urkunde überhaupt keine Auskunft
über Stand und persönliches Recht der Beliebenen; aber man
wird wohl bei dem Umstande, dass ein höherer Stand in Ur-
kunden meistens doch zum Ausdrucke gelangt ist, in vielen
solchen Fällen nicht irre gehen, wenn man solche Beliehene,
namentlich auf dem Lande, in den Kreisen der Bevölkerung mit
geminderter Freiheit, also unter der ländlichen Bauernbevölkerung
oder unter anderen Hofangehörigen sucht, aus deren Mitte ja
immer, wo es galt, unmittelbar landwirtschaftliche Zwecke zu
erreichen, die meisten Kräfte scheinen herangezogen worden
zu sein.
Dabei ist noch auf eine Verschiedenheit hinzuweisen, welcher
') 1235 Knnen II 165.
«) z B 1181 MR. UB. II 45.
>) z. B. 1187 MR OB. II 87; 1230 MR UB. EU 410.
4) *. B. 1221 Lac II 97.
>) z. B. 1189 MR. UB. II 98; 1204, 221; 1256 Lac. II 425.
*) z. B. 1251 MR. UB. III 1092 n. a.
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38
nicht nur äusserliche Bedeutung zukommt. In vielen Fällen ist
einem Einzelnen oder einigen wenigen bestimmt bezeichnten
Personen der leiherechtliche Besitz eingeräumt. Dabei bietet
sich wenig Besonderheit. Aber schon in einigen der zuletzt
genannten Fälle, allgemeiner überhaupt dort, wo gleichzeitig
eine Mehrheit, namentlich abhängiger Leute in ein Leihever«
hältnis eintraten1), äusserte sich nicht selten die Tendenz einer
grösseren Annäherung an analoge hofrechtliche Institutionen mit
deren genossenschaftlichen Einrichtungen, so dass die Scheidung
zwischen beiden im einzelnen oft auf Schwierigkeiten stösst.
Wenden wir uns nun nach dieser vorbereitenden Besprechung
der eigentlichen Hauptfrage nach der Form der Begründung
unserer Leiheverträge zu, so ist wohl zunächst mit wenigen
Worten die Fassung unserer Urkunden selbst zu berühren.
Cartae im technischen Sinne, also Constitutivurkunden sind
dieselben wenigstens in der grossen Mehrzahl gewiss nicht. Eis
sind vielmehr Noticien im Sinne Brunner’s, Urkunden, aufge-
nommen zu Beweiszwecken und als Beweismittel für spätere
Zeiten. Oft und oft ist dies in dem Schriftstücke selbst bezeugt,
und in andern Fällen , in denen es nicht besonders zum Aus-
drucke kommt, lässt der ganze Inhalt der Urkunde darüber
keinen Zweifel entstehen.
Verbrieft ist darin, ’ut firmum et inconvulsum permanent*, der
Inhalt des Erbleihevertrages, die Thatsache der Überlassung des
Gutes gegen Zins und die näheren Bedingungen, die dabei ver-
abredet wurden ; also, wenn man die Terminologie, welche für
Eigenthumsübertragungen namentlich in älterer Zeit festzuhalten
ist, zur Analogie heranziehen will, etwa das, was der Sale im Sinne
Sohm's5) entspricht; von der traditio hingegen ist dabei nicht die
Bede. Nun stehen unsere Leihverträge allerdings in einer Zeit,
in welcher dieser Gegensatz auch für den Eigenthumsübergang
seine Bedeutung verloren hat*), und da die Begründung des
Leiherechts wenigstens auf städtischem Boden nachweisbar bald
in gerichtlicher Form sich vollzog und in der Anschreinung in
*) Bemerkt sei, dass solche Beleihungsurkundcn unter den erhaltenen
Leihebriefen der Zahl nach bei weitem in der Minorität sind.
*) In der Festgabe für Th öl. Zur (ieschichte der Auflassung, S. 96
(16) f.
*) vergl. Heusler, Institutionen d. deutschen Privatrechts II 80.
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39
den Gerichtsbüchern ihren Ausdruck fand, so tritt bei Beurtheilung
des formalen Begriindungsactes zunächst die Frage in den Vor-
dergrund, ob für die Erbleihen in der Stadt und namentlich auch
auf dem Lande gerichtliche oder aussergerichtliche Bestellung
gebräuchlich war, beziehungsweise gar die gerichtliche Bestellung
für nothwendig galt.
Wie Heusler') hervorhebt, stehen der liösung dieses Pro-
blemes deshalb besondere Schwierigkeiten im Wege, weil uns
aus dem Kreise landrechtlicher Leihen nur solche Beispiele vor-
liegen, welche Güter geistlicher Anstalten betreffen, also Güter,
die nicht dem Grafengerichte unterstanden. Für Güter, „die von
der landrichterlichen Gewalt befreit waren, ohne deshalb in 'einen
grundherrlichen Hof zu gehören, fiel die Nothwendigkeit gericht-
licher Verleihung weg, und darum finden wir in der That die
Leihe regelmässig durch Ausstellung des Leihebriefes begründet“.
Tn der Hauptsache, namentlich in der zuerst genannten Be-
ziehung wird man H c usler’s allgemein ausgesprochener Ansicht
auch für unsere Gegenden unbedingt beitreten müssen. Was
oben über die Personen unserer Leiheverträge gesagt wurde,
lässt darüber keinen Zweifel aufkommen. Sind in der Mehrzahl
der uns vorliegenden Fälle die Leiheherrn kirchliche Institute,
und können die von ihnen gebrauchten Rechtsformcn wegen der
exemten Stellung der Kirche nicht als entscheidende Anhalts-
punkte für die Beurtheilung des allgemeinen Landrechtsbrauches
herangezogen werden, so enthalten die wenigen von weltlichen
Herrn erhaltenen Leihebriefe fast ausnahmslos Zuwendungen an
die Kirche, die als solche gleichfalls von kirchlichen Rechts-
sätzen nicht unbeeinflusst sein dürften.
Dem letzten Punkte, der oben angegebenen Heusler’schen
Ausführungen, dass die Leihe regelmässig durch Ausstellung des
Leihebriefes begründet worden sei, wird man nach dem oben
über die Form der uns vorliegenden Leiheurkunden Gesagten
speciell für die Rheingegenden sich nicht unbedingt anschliessen
können; dieselben werden vielmehr nach den dort gegebenen
Begründungen als schriftliche Zeugnisse über den in ihnen ge-
nannten Vertragsinhalt aufgefasst werden müssen.
Als solche bezeugen sie die Thatsache der Verleihung und
') a. a. O. II 179.
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40
erwähnen dabei häufig, dass der Vertrag, der meist von dem Vorstande
einer geistlichen Anstalt ausgieng, mit Zustimmung oder Rath der
Mitglieder’) derselben und oft auch noch unter der Zeugen-
schaft *) von Personen abgeschlossen wurde, die auf dem Briefe
verzeichnet wurden. Oft wird die von einer weniger mächtigen
geistlichen Körperschaft vorgenommene Verleihung vom kirch-
lichen Obern, namentlich dem Bischöfe, bestätigt 8).
Eine ausdrückliche Betonung, dass das geistliche Gericht
bez, der Herr des kirchlichen Gutes als Gerichtsherr die Be-
stellung des Leiherechtes vornahm, lässt sich durchaus nicht
nach weisen; die Urkunden sprechen vielmehr gewöhnlich, wie
oben schon ausgeführt wurde, davon, dass der zur rechtlichen
Verfügung über das Gut Berechtigte dasselbe zu erblichem Rechte
an diesen oder jenen ausgethan habe, und dass zur Bekräftigung
dieses Rechtsaktes, der nach allem auch ohne diese Bestätigung
perfect erscheint4), der Leihebrief unter Hinweis auf die an-
wesenden Zeugen ausgestellt, eventuell auch besiegelt wurde.
Dabei haben denn auch die Zeugen viel mehr die Rolle von
Beurkundungs- als von Gerichtszeugen, wofür auch der Umstand
zu sprechen scheint, dass man nicht selten ihrer gar nicht ge-
dachte und es sich mit der Verbriefung und Besiegelung allein
genügen Hess •),
Freilich findet inan daneben vereinzelt auch die Erwähnung
von eigentlichen Gerichtszeugen, den Schöffen ®) namentlich im
Gebiete des städtischen Rechtes, in welchem die gerichtliche
*) 1180 MR. Uß. II 39; 1181, 45.
*) 1235 J1R. Uß. III 541.
*) Der Grund hierzu kann ebenso in der Gerichtsbarkeit des ßischotes
wie darin gelegen sein , dass bei Einräumung eiues so weit reichenden
Hechtes an einem kirchlichen Gute die Zustimmung des ßischofs erforder-
lich schien. (Kirchliches Veräusserungsverbot.'i
4) z. B. Ut autem possessio hec prescripto pacto eis stantibus in con-
vulsa permaneat, nomina . . . prelatorum quam ceterorum canonicorum,
qui huic facto interfuerunt annotari dignum duximus. 1100 MR. Uß. 1618-
*) vergl. z. ß. MR Uß. II 1206, 226. III 1218, 86; 1230, 409; 1233,
481; 1233, 489; 1237, 608; 1246, 882; Lac. II 1221, 97 u. a. m.
«) vergl. z. B. 1216 Ennen II 53 MR. IJB. III 1223, 218; 1228—1229,
340 oder die ausdrückliche Beurkundung einer Erbleihcbestellung durch
Mainzer Richter 1181 MR. Uß. II 49. Vergl. auch die ßchreinsnoten;
dieselben begnügen sich zwar in der Regel mit dem Hinweise inde testi-
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41
Bestellung sieh insbesondere in späterer Zeit zur allgemeinen
Regel herausgebildct hat’). Doch scheint in den älteren Leihe-
briefen auch hier die Heranziehung der Schöffen mehr die Be-
deutung einer möglichst öffentlichen Beglaubigung des bereits
perfecten Geschäftes gehabt zu haben, als die einer Mitwirkung
des Gerichtes zum Zwecke der Begründung und Constituierung
des Leihe Verhältnisses, wofür man in dem nicht selten beliebten
Wortlaute der Urkunden eine Stütze finden kann, die ausführen,
dass der Vertrag mit diesem oder jenem Inhalte abgeschlossen
worden sei, und dann etwa weiter fortfahren: in huius rei testi-
monium, also zum Zwecke der Bezeugung des abgeschlossenen
Vertrages, praesentem cedulam .... sigillis nominibusque pre-
fatorum ecclesie nostre et canonicorum nec non et scabinorum
Treverensium fecimus communiri -).
Überall hier handelt es sich um Rechtsgeschäfte kirchlicher
Anstalten, und wenn auch nach dem Gesagten das hier Übliche
einen Schluss auf eine analoge Ausgestaltung in dem Rechtsver-
kehre von Privaten nicht schlechthin zulässt, so darf man doch
gewiss für einzelne Punkte in dem für geistliche Institute ange-
wendeten Rechte den Ausdruck allgemeiner Rechtsgedanken
erblicken. So ist es doch sicher auffallend, wenn in einer und der-
selben Urkunde, die von einem complicierteren Rechtsgeschäfte be-
richtet, gelegentlich der Bestellung gewisser dinglicher Rechte, wie
des Eigenthums und Pfandrechtes, die Mitwirkung der Schöffen aus-
drücklich hervorgehoben wird, während unmittelbar darauf, wo über
die Begründung eines Erbleiherechtes an demselben Gute und unter
denselben Personen gesprochen wird, jeder analoge Hinweis fehlt8).
moninm civibus ut iuetum ent dedisso und Ähnlichem z. B. Hoeniger I,
Mart. 2 II 33; 43; 2 IV 22; 34; 3 II 29; dagegen ausführlich: Ut hoc
voro factum a nullo mutari vel infringi possit sub testimonio (I. et D. qui
tune magistri civium craut notari fecimus etc. i.aur. 1 VI I, ähnlich Laur.
1 VII 8; die Notiz factum coram iudicc et magistris . . . z. B. a. a. O Mart,
5. III. 2 (Zeitpacht).
*) s. Oobbers, Erbleihe und Rentenkauf, S. 171 fl'.
*) 1278 MR. UB. III 340.
*) vergl. Urk. 1228 — 29 MR. UB. 111 340, wo von der Erbreehtbemellung
ohne weiteren Zusatz berichtet, dagegen bei der gleichzeitigen Begründung
des Pfandrechtes zur Sicherstellung der Zinsleistuug die Mitwirkung der
Schöffen hervorgehoben wird; dann Urk. 1286 Lac. II 821, wo bei der Eigen-
thumsiibertragung an das Kloster (freilich ist der Verüusserer eine weltliche
Person) die Mitwirkung der Schöffen ausführlich erwähnt wird, während
bezüglich der gleich darauf beurkundeten Rückverleihung zu Erbrecht nichts
davon gesagt ist.
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42
Da dürfte denn doch die Annahme naheliegen, dass derselbe
Rechtsgebrauch, der in dem älteren Rechte nach ziemlich all-
gemein herrschender Ansicht l) für die Übertragung zu leihe-
rechtlichem Besitze weniger solenne Investitursförmlichkeiten
als für Eigcnthumeübertragungen verlangt hat, auch in der späteren
Zeit noch zur Geltung kam.
Zum Schlüsse sei hier noch darauf verwiesen, dass auch die
ganz singulär erhaltenen Leihebriefe, welche über Rechtsgeschäfte
unter Weltlichen aufgezeichnet wurden, nicht gegen diese Ver-
muthung sprechen *).
Nach all dem scheint die Annahme gerechtfertigt, dass die
Begründung des Erbleiherechtes weniger strengen Rechtsformen
unterlag, als für Eigenthumsübertragungen vorgeschrieben
waren, und dass die Mitwirkung des Gerichtes im allgemeinen —
wenigstens für das flache Land — nicht als Erfordernis gegolten hat*).
Es erübrigt noch, mit wenigen Worten auf die Modalitäten
einzugehen, unter welchen sich der Rechtsübergang von einem
Besitzer auf den Nachfolger vollzog. Nach den obigen Aus-
führungen spielt dabei die Übertragung des Leiherechtes inter
vivos für die älteren Zciteu und namentlich auf dem Lande
sicherlich keine bedeutende Rolle. Man wird hier im allgemeinen
mit der Annahme nicht irre gehen, dass der Regel nach jede
') vergl. Keusler, Die (lewere, S. 53; Beseler, Erbverträge I § 4.
J) vergl. 1263 Lac. II 539 . . . ego Willielmus vir nobilis de Hunen-
brueke una cum uxoro mea ... et filio meo . . . bona de ßunterbruck, que
conventus de Same comparavit a Godeswino mitite et suis beredibus, ad
nos pertinontia couventui iamdicto iu Same iure contulimua hereditario,
eu videlicet conditione ut m. conventus nobis et noatris beredibus anno quo-
libet feato Martini ... V sol. den . . . exhibeat sine omni molestia vadio-
rum et sic ab omni inquietudine exemte permaneant. nec atiquid de eiadem
bonis Dobis ex accidenti provenire poterit. Ut autem hoc factum in con-
vulsum et staldle permaneat, hanc ccdulam nostri sigilli appensione dignura
duximua roborari. Actum et datum . . . Testes . . .
’) Dass die Erbleihen in der Stadt, spcoiell in Köln häufig, vielleicht
regelmässig in die Schreinskarten eingetragen wurden, ist aus denselben
zu entnehmen; vergl. Hoeniger, Kölner Sehreinsnrkunden, z. B. Mart.
2 11 33; 43; 2 III 15; 2 IV 22; 34; 3 I 14; 42; 45; 3 II 29; 3 IV 12; 17;
4 II 7; 4 III 9; 4 V 8; 9 I 13; 9 IV 13; 13 1 15; Laur. 1 VI 1 ; 1 VII
8; 3 III 2; 4 11 18; 4 IV 7; 5 UI 9; Brig. 1 II 1; 5; 7; 2 I 16; 21; 2 II
22; 23; 2 III 28; 3 III 7; 3X1; Col. 2 VIII 12 u. a. m.
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43
solche Übertragung unter Lebenden in irgend einer Weise die
Mitwirkung des Leiheherrn zur Voraussetzung hatte, und dass
die dabei beobachteten Formen sieh oft von dem nicht unter-
schieden haben mögen, was bei Neubegründungen von Leihe-
rechten gebräuchlich war — kam ja doch vielfach die Über-
tragung dadurch zustande, dass das Recht in der Person des
Erwerbers neu ins Leben gerufen wurde — ; gewiss aber sind die
hiebei geforderten Formen namentlich in Beziehung auf eine
eventuelle Mitwirkung des Gerichtes nie strenger als bei der
Begründung gewesen.
Wichtiger ist die Frage nach dem Rechtserwerbe im Erb-
gange. Trat der Erbe unmittelbar in das Recht und den Be-
sitz seines Erblassers ein, oder war hiezu eine Einweisung oder
Bestätigung oder überhaupt eine Mitwirkung des Leiheherrn, etwa
wie im Lehenrechte, erforderlich?
Für die Stadt Köln neigt BichGobbers einer Entscheidung
der Frage im Sinne der zweiten hier gestellten Alternative zu
und zwar auf Grund mehrerer Urkunden, in welchen einer solchen
leiheherrlichen Bestätigung als einer landesüblichen Sitte, eines
Gewohnheitsrechtes gedacht wird. Indessen spricht die älteste
der von ihm genannten Urkunden *) überhaupt nicht von einer
leiheherrlichen Investition, sondern bestimmt nur: cum veroaliquem
ipsorum decedere contigerit, sicut mos est civitatis ibidem
quod quantum solvcre annuatim tenentur tantum ecclesie nostre
assignabunt, — eine Festsetzung, die höchstens den Schluss
rechtfertigen könnte, dass eine solche Todfallsabgabe landesüblich
gewesen sei. Wahrscheinlich aber beziehen sich die Worte ’sicut
mos est civitatis* zunächst auf die Höhe dieser Abgabe, die dem
jährlichen Zinse glcichkommen soll. In diesem Sinne sind ganz
unzweifelhaft die entsprechenden Worte in der zweiten vonGobbers
angeführte Belegstelle *) zu deuten, in der freilich von einer
') a. 1233. ilitgetheilt von Cardauns in den Annalen des hist.
Vereins für den Niederrhein, Heft 33 S. 13 (recte 17) als No. 20.
’) 1245 Eunen II. 244. Statuimus etiam , ut quandocumque vcl quo
cienscumque institutio heredum in dicta bona fuerit innovanda, ipsorum
bonorum requiBitio ab herede ad illum tieri debet, qui prefuerit officio
luminat ium. Et idem . . . heredem ad ipBa bona recipere tenebitur, illo dum-
taxat iure contentus pro receptione, quod sibi deberi certum est ex
tribus solid is an tedictis (=jährlicherZins)secundum consuetudinem
adiacentiuin arearum, quod etiara intelligi volumus de quolibet . . . .
successore.
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44
durch den Vorsteher des officium luminarium des St. Gereons-
stiftes vorzunehmenden Erneuerung und Einweisung in die Leihe
gesprochen ist. Nur die dritte als Argument bezogene Urkunde •)
von 1268, die demselben St. Gereonsstifte angehört, spricht von
der Investierung, sicut moris est et consuetudinis, und bezeichnet
dieselbe als zugehörig zu dem auch oben genannten officium
quod dicitur luminarium.
Ueberlegt man demgegenüber, dass in der weitaus über-
wiegenden Mehrzahl der Leihebriefe und Leihereverse, die auf
uns gekommen sind, von ähnlichen Bestimmungen und Hinweisen
auf leiheherrliche Bestätigungen sich im allgemeinen nicht eine
Spur findet, so wird man wohl berechtigt sein, die von Gobbers
alsStützen für seine Ansicht hcrangezogenen urkundlichen Beispiele
eher als Singularitäten *) zu betrachten, statt in ihnen den Aus-
fluss einer allgemeinen Regel zu erblicken. Es fällt doch gewiss
schwer, anzunehmen, dass von der Nothwendigkeit einer Rechts-
bekräftigung durch den Leiheherrn, wenn sie wirklich in
grösserer Allgemeinheit bestanden hätte, nur so ausnahmsweise
Erwähnung geschehen wäre, zumal in solchen Fällen, in welchen
z. B. die ausdrückliche Befreiung von jeder Ubertragungsgebühr
es wohl nahe genug gelegt hätte, demgegenüber dieses Er-
fordernisses der Bestätigung zu gedenken.
Hier sei nur aus der späteren Darstellung s) vorgegriffen, dass
in den meisten Leihen auch keine Übertragungsgebühr im Erbgange
verlangt wurde, und nicht wenige eine solche besonders aus-
schliessen. So dürfte es wohl berechtigt sein, in dem Mangel
einer solchen für den Erbgang zu zahlenden Gebühr bez. der
ausdrücklich stipulierten Befreiung davon einen Hinweis auf die
Formlosigkeit des Rechtsüberganges von Todeswegen und darin
weiter vielleicht mit eine Ursache zu erblicken für die aus der
späteren Geschichte des Institutes bekannte immer weiter fort-
schreitende Verflüchtigung des alten leiheherrlichen Eigeuthums-
rechtes.
*) Ennen II. 503.
*) Als solche darf wohl die auch sonst abnormale Urk. von 1162 gelten, mit-
getheilt von ilerlo in den Ann. des hist. Vereins f. d. Niederrhein Bd. 23
No. 13: XII den . . . pro nova in ipsa molendini susceptione dare deberent;
ebenso 1206 Quix 70. — Andere analoge Fälle, die freilich meist nicht völlig
freien (Iharacter tragen, s. unten S. 76.
•) vergl. des näheren S. 76 f.
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45
2. Die reehtlicheu Bezieh ungen zwischen Elgenthiimer
und Beliehenern.
(Die obligationenrechtlichen Elemente.)
Die einzige wesentliche und in allen Leiheabmachungen
wiederkehrende Vertragsbestimmung, welche gegenseitige Rechte
und Verbindlichkeiten zwischen Leiheherrn und Beliehenern fest-
setzte, war die Bestimmung über die Zinspflicht, die dem Letzteren als
Gegenleistung für die gewährte Nutzung oblag. So war auch
die Bezahlung des Zinses die erste Pflicht des Besitzers des
Leihegutes, gewissennassen die Bedingung fiir den Fortbestand
seines Rechtes, und umgekehrt das Zinsbezugsrecht die wichtigste
oft einzige actuelle Befugnis des Leiheherrn.
■Seinem Inhalte nach konnte der Zins ein sehr verschiedener
sein. Wir finden oft Geldzinse und wenigstens in den einfacheren
Verhältnissen daneben ebenso Naturaizinse, diese wieder bald
quotativ, bald quantitativ festgesetzt, oft wieder Geld- und Na-
turalleistungen mit einander verbunden und unter den letzteren
selbst wieder nach Art und Zahl die grösste Mannigfaltigkeit.
Nur in einem Punkte stimmen alle Uberein. Einheitlich und
der Idee nach unabänderlich für alle Zeiten wurde der Zins
allüberall schon bei Eingehung des Vertrages defiuitiv normiert ') ;
eine Veränderlichkeit seiner Art und Grösse bei etwaiger spä-
terer Veränderung der Gutsterhältuisse log nicht in den
Intentionen der vertragschliessenden Theile, und nicht selten ist
die Un Veränderlichkeit des Zinses trotz aller Wandlungen, welche
dem Gute begegnen mögen, für alle Zeiten ausdrücklich garantiert*).
Aber auch in den anderen Fällen, in welchen ein besonderer
') Dem steht Dicht entgegen, dass zuweilen für bestimmte Jahre, z. B.
fiir die Zeit der Rodung, besondere Ziusbestimmuugen sich finden, wie z. B.
1204 MR. UB. II. 221, oder dass dem zuerst Beliehenen gegenüber seinen Nach-
folgern ein geringerer Zins auferlegt wurde, wie 1168 t^uix 65.
*) z. B. rata et indissulobili conventione fruantur 1115 MR. UB. I 432;
Erhöhung ausgeschlossen z. B. Lac. I 1181. 477; II 1210, 33; ähnlich 1263,
589; 1233 MR. UB. III 48! I; trotz Beschädigung des Gutes keine Herab-
minderung des Zinses z. B. 1236 MR. UB. III 577 und sehr häufig im
städtischen Rechte; trotz Sterilität oder anderen Uuglücksfällen auf länd-
lichem Boden Unveränderlichkeit des Zinses, z. B. 1206 Quix 70: Propter
sterilitatem vel quecumque alia infortunia peusio . . . non est inminuenda,
mit der Motivierung: Utiliores enim auni cum minus utilibus crunt com-
pensandi.
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46
Hinweis dieser Art fehlt, lassen die Leiheurkunden über die be-
absichtigte Constanz des Zinses einen Zweifel nicht aufkommen.
Ganz abgesehen davon, dass, wenn eine Veränderung des Zinses
in Aussicht genommen wurde, dies seine genaue Normierung fand,
spricht doch der überall als wesentlich wiederkehrende Vertrags-
inhalt ’concessimus iure hereditario in perpetuum possidendum . . .
ea ratione ut singulis annis V sol od. dimidietatim vini, tot maldra
silignis solvat* mit Entschiedenheit für die obige Ansicht, so dass
man wohl befugt sein dürfte, in der einzelnen Verträgen beige-
fiigten Clausel, welche diese Unabänderlichkeit expreasis verbis
hervorhebt, eher einen Protest gegen eine als ungebührlich
empfundene Anmassung Einzelner, als eine Ausnahme gegenüber
einer gegentheiligen Regel zu erblicken *).
Auch in dem namentlich später oft zu Tage tretenden sorg-
samen Bemühen, die Zinsleistung gegen Veränderung durch den
Wechsel der Messeinheiten und des Geldfusses zu schützen *),
kann man einen Hinweis in der gleichen Richtung erblicken.
Denn wozu all diese Cautelen und Vorsichtsnahmen, wenn man
in dem Zinse eine veränderliche, etwa nach den jeweiligen Zeit-
verhältnissen zu bestimmende Grösse gesehen hätte!
So kann man diese principielle Gonstanz des Leihezinses
geradezu als wesentliches Moment des Erbleiheverhältnisses be-
zeichnen, und es wird die Behauptung wohl keinem Widerstande
begegnen, dass dieser Umstand nicht minder zur Verbreitung
und Einbürgerung des Rechtsinstitutes in die weitesten Ge-
sellschaftskreise beigetragen hat, wie die Erblichkeit und die
Freiheit von hofhörigen, persönlichen Lasten. Nichts hätte auch
den Eifer des Landmannes zur Ueberwindung aller Mühen einer
schweren Rodungsarbeit und zu stetigen Verbesserungsbestrebungen
') Auch in anderen Fragen lässt sich hier verfolgen, wie manches zu-
nächst als selbstverständlich Verschwiegene später, um Zweifel auszu-
schliessen, eigens stipuliert wird.
*) z. B. neben dem Geldfusse Angabe des Gewichtes : Ä) so!. ■= 1 marca argeuti
1160 HR. Uli. 1 618; oder Hinweis auf das jeweils um Zahlungsorte gang-
bare (leid: Ennen 111 1281), 331 pro tempore solutionis currentis; ähnlich
1294, 397; 1306, 535; Guden II 1292, S. 273; oder noch ängstlichere Be-
stimmungen, wie die Deponierung einer Hustermünze in einen Schöffenschrein
1301 Lac. HI 11.
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47
mehr anfachen können, als die Aussicht, dass das Ergebnis
seiner Bemühungen, die Frucht seines Fleisses ausschliesslich ’)
seinem Hause zu Gute kommen sollte! —
Ueber die juristische Natur der an Zinse gelegenen Zahlungs-
verbindlichkeit sagen uns die Quellen unmittelbar natürlich gar
nichts. Ausdrücke wie concessimus illi ea conditione * ••)) , ea
ratione*), hoc ordine4), eo pacto5), sub tali forma"), ita7), ut
persolvat, sind die gewöhnlichen Worte, in welche die Statuierung
der Zinspflicht in den Urkundeu gekleidet wurde. Daneben
finden sich Wendungen, wie in hac forma contraximus, oder unde
(= von dem geliehenen Gute) quolibet anno . . persolvere tenetur *)
oder noch kürzer sub pensione annua®), oder censu10) dare, susci-
pere, concedere pro tot maldris solvendis ") und viele andere mehr.
Ueberall kommt zum Ausdrucke, dass der jeweilige Besitzer
zur Zahlung des vereinbarten Zinses verpflichtet sei, und dass
an den Besitz des Gutes als Äquivalent für die dauernd über-
lassene Nutzung eiue dauernde Zinspflicht gebunden sei.
Bei dem völlig stabilen Charakter, den damals das Erbleihe-
verhältnis trug, kamen eine Beihc vou Fragen, die später actuell
wurden, als das Leiherecht viel von seiner conservativen Natur
verloren und sich zu einem beweglichen Objecte des Güterver-
kehres umgewandelt hatte, überhaupt gar nicht zur Entstehung.
Das Eine war sicher: Wer durch Beleihung oder durch Erbgang
•) Dies trifft freilich nur bei fixem Geld oder fixem Naturalzinse ganz
zu. Bei quotativ bestimmtem Zinse nimmt der Leiheherr verhältnismässig
Antheil, und da der Zins dann der Regel nach vom Brutto-Ertrage berechnet
wurde, so konnte der Leiheherr, der für die Arbeitskosten nicht zu sorgen
hatte, besser daran sein als der Beliebene.
>) z.B. MR. UB. I 1160, 618; II 1164—1189, 100; 1198-1210, 272; III
1214, 28; 1220, 147; Enneu II 1230, 120; 1210, 206 ; 209; 1100 Quix 78.
*) z. B. MR. ÜB. II 1181, 45.
*) z. B. MR. UB. n 1194, 137.
») z. B. 1189, (lud. I p. 291. MR. UB. II 1208, 239; III 1218, 86;
1248 Annalen dos hist. Verein f. d. Niederrhein 38, p. 18. No. 21.
*) z. B. MR. UB. II 1197, 170; 1200, 182.
’) z.B.MR UB. II 1181, 49; 1189, 100; 1200, 186; Ennen II 1238, 179.
•) z. B. MR. UB. II 1187, 90; ähnlich JII 1223, 218.
•) z. B. MR. UB UI 1215, 32.
••) z. B. MR. UB II 1185, 71; 1212, 286.
”) z. B. Quix 1196, 68.
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in den Besitz des Gutes gelangte, war zur Zahlung des Zinses
verpflichtet, und den Säumigen trafen alle die Kechtsnachtheile,
die als Folgen der Saunisai durch besoudere Vertragsbestimmung
in concreto stipuliert oder auf Grund eines allgemeinen Her-
kommens gebräuchlich waren.
Neben Verabredungen, welche die Sicherheit des Zinses
garantieren sollten, wie namentlich Pfandbestellungen, finden sich
zunächst nicht selten Conventionalstrafcn, die den Zweck hatten,
die pünktliche Zahlung des Zinses zu verbürgen.
Dabei begegnet man im Einzelnen vielfachen Verschieden-
heiten. Manchmal treffen wir sehr strenge Bestimmungen, wie
z. B. Verdoppeln ng des Zinses ') oder eine stetige Vergrösserung
der Zinsschuld, je länger die Säumnis währt *). ln anderen Fällen
war es dem säumigen Leihemann wieder gestattet, noch eine
gewisse Zeit nach dein Fälligkeitstermine durch Zahlung von
Zins und einer einheitlich festgestellten Conventionalstrafe sein
Vergehen zu sühnen ®).
Genügten aber die so angedrohten Strafen zur Erreichung
ihres Zweckes nicht, und blieb die Zahlung über die in den
einzelnen Verträgen vereinbarten letzten Termine aus, dann wurde
fast in allen 4) Leiheabmachungen, welche Conventionaistrafen
festsetzten, als Folge weiterer Säumnis der Verlust und Unter-
gang des Leiherechtes ausgesprochen.
Die gleiche Rechtsfolge wurde häufig unmittelbar für jede
inora in Aussicht gestellt, ohne daBs zuvor Conventionaistrafen
eingetreten wären. Vielfach ist dafür eine Frist 5) nach dem
') 1185 MR. UB. 11 71 in spatio octo dierum ccnsum duplicabit.
*) Ohne zeitliche Beschränkung 1187 MR. UB. II 90 si vero in pre-
fata die non persolverit summa XX den levis monete ezeessus sui negli-
gentiam emendet, et si ad XV dies in eadem temeritate perstiteyt totidem
persolvat, et sic deinceps quoadusque satisfactionem plenariam de debito
obtulerit; oder durch ein Jahr hindurch für jedes Monat 8 sol. z. B. 1257
Lac. II. 416; ein Monat unbestraft, im zweiten und dritten je 4 sol, 1261
Ennen II. 420; zweimal für je 4 Wochen 6 sol 1248, No. 15 der von Merlo
in den Annalen des hist. Verein f. d. Niederrhein Heft 23 veröffentlichten
Urkunden.
*) z. B. 1215 MR. UB. HI 32.
*) Ausnahmen ausser der oben Anm. 2 abgedruckten Urk. 1187 MR
UB. II 90 etwa Hilgard, Urkunden zur Beschichte der Stadt Speyer
1241, 63; 1253, 78.
s) 14 Tage: t B. 1177 Ennen I 89; 1198—1210 MR. UB. II 272; drei.
Wochen: 1235 MR. UB. III 543; vier Wochen: Ennen II 1252, 309; III 1289, 331 ;
1298, 464; 1248 No. 21 der von Cardauus in den Ann. d. hist. Vereins f. d.
Niederrhein Heft 38 mitgetheilten Urkk. ; ein Monat : Urk. 1290 No. 14 ebendas.
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eigentlichen Fälligkeitstermine gewährt, oder ein grösserer Zeit-
abschnitt '), nicht ein einzelner Tag als Zahlungszeit anberaumt.
Nach den Festsetzungen anderer Urkunden tritt der Rechts-
Verlust ein, sobald die Zahlung an dem Fälligkeitstage *) nicht
erfolgt ist, während wieder andere Urkunden sich weniger be-
stimmt ausdrücken und nur im allgemeinen den Verlust des
Leiherechtes als Saumseligkeitsstrafe hinstellen *).
Die Wendungen, deren sich die Urkunden dabei bedienen,
sind etwa folgende:
Urk. 1115 MR. Uß. I 423. Nach der Festsetzung der Zins-
leistungen die Bestimmung: si vero suo tempore omnis hec non
servabitur conventio, libera ecclesie restituatur supradicta possessio.
Urk. 1162*) si ipsa die non persolverit, emendationi et
dampno subiacebit et si temerarius effectus fuerit, ipsius molen-
dini possessione carebit.
Urk. 1184 Ennen I 98 si vero post aliquos annos vel ipse
vel heredes sui predictum censum solvere noluerint, predicta area
cum suppositis edificiis ad potestatem canonicorum s. Petri
redeat, ut quomodo velint inde disponant.
Urk. 1185 MR. UB. II 71 hoc condicto, ut quicuraque
censum . . . solvere tardaverit, in penam negligentie in spatio
VIII dierum sequentium censum duplicabit. Si vero et hoc tempus
pretergressus fuerit, sine ulla litiscontestatione, usus vinee ecclesie
s. Simeonis cedet et heredes suo iure privabuntur.
Urk. 1198—1210 MR. UB. II 272. Si vero . . censum
. . quacumque accedente Casus occasione infra terminum diffinitum
minime persolverint, ab hereditario iure prorsus decidant, et
ecclesia nostra agros . . ut proprium fundum libere possideat.
Urk. 1221 Lac. II 97. Qui autem aliqua temeritate debitam
pensionCm infra tempus predictum solvere neglexerit, in optione
prepositi erit tune existentis, agros illius pro utilitate ecclesie et
sua, prout melius potuerit et ubi voluerit, collocare.
Urk. 1248 5) ea tarnen conditione , quod si iufra quatuor
■) z. B. 1181 JiR. ÜB. II 49; 1221 Lac. II 97 (Eudtermin).
'■) z. B. aus den von Merlo mitgetheilten Urkk. in den Annalen des
hist. Vereins f. d. Niedorrhein, Heft 19 No. 4, a. 1290. Hoeniger Kölner
Schreinsurkk. I. Mart. 9 VI 12 (Vitalleihe).
*) z. B. 1184 Ennen I 98.
4) mitgetheilt von Merlo a. a. O. Heft 23 No. 13.
5) mitgetheilt von Cardauns a. a. O. floft 38 No. 21.
t. Stäici'M, ErMeihen. 4
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60
hebdomadas post dictos terrainos proximo futuras eundera censum
solvere neglexerint, domus curn area ad ecclesiam nostram omni
iure redeat libere et absolute.
Urk. 1261 Ennen II 420 ita quod si in fine quarti
mensis cum penis predictis integraliter solutus census non
fuerit memoratus, sine qualibet contradictione dicte domus ad
nostram ecclcsiam libere revertentur et disponere poterimus de
eisdem, que viderimus expedire etc.
In diesen und allen ähnlichen Fällen *), in welchen durch
den Leihevertrag die Folgen vertragswidrigen Vorgehens auf
Seiten des Zinspflichtigen, wie die dem Leiheherm erwachsenden
Rechte formuliert wurden, kann man sich ein ziemlich klares Bild
entwerfen, von der Art, wie der Leiheherr den widerspenstigen
Schuldner zur Zahlung des geschuldeten Zinses zu bestimmen
vermochte oder sich sonst zu seinem Rechte verhalf. Wo die
angedrohten Rechtsnachtheile als Drohungen nicht zu dem ge-
wünschten Ziele führten, schritt der Leiheherr zur Rechteent-
setzung als dem letzten ihm gewährten Executionsmittel, das freilich,
wenn nicht ausdrückliche Vertragsabmachungen ein anderers
festsetzten *), zu seiner Durchführung gerichtliche Intervention
und Urtheilsspruch erfordert zu haben scheint4).
’) Ausser den bereits citierten u- a.: MR. UB. I lllö, 431 ; c 1132, 474;
1186 . 484; 1168, 652; II 1189, 98; 1308, 239; IH 1223, 218; 1229, 375;
Hilgard 1226, 37; 1231, 46; 1272, 120; Quiz 1229, 151; besonders häufig im
späteren städtischen Rechte z. B. Euneu II 1217, 56; 1243, 229; 1255, 361;
III 1294, 402; 1299, 488; 1310, 575 etc. — Hoeniger, Kölner Schreins-
urkunden I Mart. 10 II 18, (ca. 1182—1184), die allerdings von dem Kaufe
einer bereits auf einem Hause liegenden Rente handelt, bestimmt: quod si
infra 15 dies post predictos terminos census ille solutus non fuerit, dimidia
pars cellarii sub eadem domo positi . . . propria sit G1 et heredum suorum.
(der Zinsberechtigten) Brig. 1 II 5; 7; 3 HI 7; 3 IV 12 (Rente); 3X1.
*) z. B. 1289 Ennen IH 331; 1310, 576.
*) vergl. dafür zunächst die Fälle, in denen uns eine solche gericht-
liche Rechtsabspreohung wegen Ausbleibens deB Zinsleistung urkundlich er-
halten ist, wie z. B. 1289 Ennen IH 321. Auch die allgemein mit jedem
Besitz gegebene Position , nicht durch private Gewalt, sondern nur auf
richterlichen Befehl von dem Besitze lassen zu müssen, spricht dafür. Vergl.
auch für Köln Gobbers a. a. O. § 12. Die Nothweudigkeit eines Gerichts-
Urtheils (iudicium parium) ausdrücklich ausgesprochen: 1136 MR. UB. I
484 u. Kölner Schreinsurkk. Brig. 3 X 1. 1295 Ennen III 420 spricht ein-
fach von der Thatsache des Rückfalles.
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51
ln dieser Befugnis, den säumigen Erbpächter, wenn er zur
Zahluug in keiner Weise zu bestimmen war, von dem Gute zu
vertreiben, also ihm gegenüber das schlummernde Eigenthum
wieder zu actueller Bedeutung zu erwecken, lag gewiss das vor-
züglichste, in vielen Fällen vielleicht das einzige wirkliche Zwangs-
mittel, das geeignet war, dem Leiheherrn zur Realisierung seiner
Ansprüche zu verhelfen.
Freilich, wo Pfandbestellung oder Bürgschaft die Erfüllung
der Vertragsverbindlichkeiten im Ganzen oder wenigstens der
einzelnen Zinsleistungen garantierten, konnte der Zinsherr durch
Rückgriff auf das Pfand, durch Execution gegen den Bürgen
sich zu dem Rechte verhelfen, das der Schuldner ihm nicht ge-
währte.
Sieht man aber von solchen besonderen Vereinbarungen ab,
so wird man sich der einen Thatsache nicht verschliessen können,
dass diese Leihebriefe, welche den Rechtsverlust als einfache
Folge der Zinsvernachlässigung hinstellen, nur in diesem Ent-
setzungsrechte des Leiheherrn eines Mittels gedenken, welches
geeignet war, ihm die effective Befriedigung seiner Ansprüche zu
verschaffen. Es fehlt nämlich in den erhaltenen Urkunden jeder
Hinweis, dass dem Zinsherrn eine persönliche Klage gegen den
Erbpächter zugestanden hätte, dass es ihm möglich gewesen
wäre, die Zinsforderung etwa wie eine Darlehnsschuld hereinzu-
bringen. Fasst man z. B. eine Urkunde ins Auge, die mit mög-
lichster Ausführlichkeit über Säumnisfolgen spricht, wie etwa die
oben schon angeführte Urkunde von 1185 (MR. UB. H 71), so
finden wir als erste Folge der Unpünktlichkeit in der Zahlung
die Bestimmung: in pena negligentie censutn duplicabit — zu-
nächst eine Strafsanction durch Androhung einer Erweiterung
der Verpflichtung, aber kein Zwangsmittel für ihre Erfüllung und
Realisierung. Eis bleibt vielmehr die Zinsforderung — vergrössert um
die Strafsumme — immer noch als Forderung aufrecht bestehen,
die sich in ihrem W erthe für den Gläubiger erst dann bewährt,
wenn sie erfüllt wird. E’ür den anderen Fall aber, dass der
Schuldner zur Erfüllung dieser erweiterterten Verpflichtung sich
nicht bestimmt fühlt, setzt die Urkunde die weiteren Rechtsfolgen
fest mit den Worten: sine ulla litis contestatione usus vinee
ecclesie s. Simeonis cedet et heredes suo iure privabuntur — eine
Bestimmung, die so unzweideutig gefasst ist, dass sie wohl keine
weitere Erklärung verlangt.
4*
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52
Diese Zusprechung des Leiheobjektes, welche bei dauernder
Zinssäumnis eintritt (hier ipso jure, in anderen Fällen erst durch
gerichtliche Abjudication), gab dem Leiheherrn unmittelbar einen
Vermöge ns werth in die Hand, der zur Deckung seiner Ansprüche
unter allen Umständen vollkommen liingereicht, den Werth der
Zineforderung wohl stets bei weitem überragt hat. Wenn nun die
oben citierten Worte dieser einen Urkunde und die analogen
nicht minder deutlich sprechenden Wendungen vieler anderer ge-
rade wegen der Bestimmtheit ihrer Fassung die Annahme aus-
zuschliessen scheinen, dass daneben noch andere Executions-
massregeln bestanden hätten, so ist wohl zu überlegen, ob ein
persönliches Klagerecht, das wir etwa unter den heutigen Rechts-
verhältnissen vermissen würden, für den Leiheherrn damals über-
haupt nothwendig war, wo ihm mit dem Rechte, das Leihever-
hältnis schlechthin aufzulösen , das einfachste und zugleich
mächtigste Executionsmittel zu Gebote stand. Wenn wir nach
den obigen Ausführungen berechtigt sind anzunehmen, dass in
diesen Leiheverträgen die Leistung des Zinses einfach als Be-
dingung ') für das Fortbestehen des Leiherechtes hingestellt
wurde, deren Ausbleiben in Gemässheit der oben besprochenen
Vertragsklausel die völlige Lösung des Leihe Vertrages und aller
damit in Zusammenhang stehenden Rechtsfragen bewirkte, dann
entfällt die Nothwendigkeit eines kunstvollen Ausbaues des im
Leihevertrage liegenden obligationenrechtlichen Verhältnisses,
es entfallen die Schwierigkeiten der rechtlichen Construction, auf
die wir bei unseren Reallasten stossen : die Zinspflicht war an den
Besitz als Bedingung für dessen Fortbestand gebunden, und die
lex commissoria, die auch sonst im deutschen Vertragsrechte eine
grosse Rolle spielte, löste in der einfachsten Weise alle die Fragen,
') Gleichwohl geht Haan, Untersuchungen Uber den Begriff der Real-
1 asten, entschieden zu weit, wenn er in der Erfüllung der Reallastverbindlichkeit
nicht die Erfüllung einer Obligation, sondern nur die Erfüllung einer Be-
dingung sehen will. Denn, mag immerhin die Einsleistung Bedingung für
den Bestand dos Leiherechtes sein, und für die Erfüllung derselben manches
abweichend von den gewöhnlichen obligationenrechtlichen Bestimmungen
geregelt sein, so ist doch primär der Vertragswille auf die Begründung
einer dauernden Ei na Verpflichtung gerichtet, an deren obligationenrecht-
lichen Character die angegebenen singulären Festsetzungen nichts zu ändern
vermögen. — Das Gleiche gilt gegen Friedlieb, Rechtstheorie der Real-
lasten, S. 4 und Uff) ; vergl. auch S. 207 und unten S. 71 Anm, 3.
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53
die aus der Ausserachtlassung dieser Verpflichtung entstehen
konnten. Bei dieser Deutung, welche, wie uns scheinen will, die
in Betracht zu ziehenden Leiheurkunden nahe legen, gewinnt
überdies das ganze in ihnen geschilderte Rechtsverhältniss so
viel an Einfachheit und Klarheit, dass man wohl auch darin
eine Stütze für ihre Richtigkeit erblicken mag ').
Wie stand es aber in den anderen zahlreichen Fällen, in
denen keine besondere Festsetzung, für den Fall der Zinssäumnis
urkundlich verbrieft wurde? Für diese Frage ist zunächst zu
bemerken, dass eine einheitliche, alle Fälle ausnahmslos umfassende
Rechtsnorm sich kaum auffinden lassen dürfte, weil sie auch im
Leben nicht bestanden haben mag. Die Fälle, in welchen solche
Leiheverträge zur Anwendung kamen, waren im einzelnen zu ver-
schiedenartig, als dass sie immer einer und derselben Schablone
hätten folgen können. Aber im allgemeinen und für die grosse Mehr-
zahl der Fälle scheint sich doch eine gewisse Regel für ein
ziemlich weites Anwendungsgebiet herausgebildet zu haben.
In dieser Richtung lässt sich nämlich zuvörderst feststellen, dass
die sprachlichen Wendungen, welche die Begründung der Zins-
pflicht enthalten, hier wie in den oben besprochenen Leihever-
trägen völlig die Gleichen sind. Da nun die wirtschaftlichen
Verhältnisse, aus denen beide Gruppen von Verträgen entsprungen
sind, in nichts von einander abweichen, so legen die Ausdrücke
wie ea ratione, ea conditione concessimus u. dergl. die Ver-
mutung nahe, dass auch hier die Zinspflicht als Bedingung für
den Bestand des Leiheverhältnisses angesehen wurde — eine
Vermutung, die auch darin eine nicht unwesentliche Verstärkung
erfährt, dass gleichzeitige Urkunden dieser Art, obwohl sie die
Folge des Rechtsverlustes nicht ausdrücklich aussprechen, sie
doch in dem eben angegebenen Sinne als selbstverständlich
annehmen *).
') vergl. hiezu und gegen die Auffassung der Zinspflicht als einer
anderen Verpflichtungen persönlicher Art gleichstehenden Verbindlichkeit
die Quellenstellen bei Dunker Reallastcn S. 71 ff., der freilich in seinem
Bestreben, die (Grundstücke selbst als verpflichtete Subjecte darzustellen, über
die (Grenzen des Möglichen hinausgeht. Vergl. ferner für das Rentenrecht
S tob be in der Zeitschrift für deutsches Recht XIX. 201, 202.
*) vergl. z. B. 1205 Ennen II. 18, eine Leiheurkunde, die eingangs
schlechthin besagt : susceperunt iure hercditario hao conditione, ut . . sol-
vent, und doch im Schlusssätze unser Ergebnis voraussetzt, indem sie be-
stimmt, ut sua quiete gaudeant possessione, nisi forte prefatam sol-
vere pensionem supersedentes a iure suo cadant.
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54
Im übrigen wird man eich auch nicht verhehlen dürfen, dass
bei jedem solchen Erbleihe vertrage den einzelnen Zinsleistungen
fac tisch als Gegenleistung die Überlassung des Nutzungsrechtes
für die entsprechende Zinsperiode gegen Uberstand, und dass dem-
nach in der Zeit, da das Eigenthum des Leiheherrn noch in
voller Kraft stand und sich nicht in dem Rechte auf den Zins-
bezug erschöpfte, nichts natürlicher war, als den Fortbestand der
Leihe von der Erfüllung der daran geknüpften Verpflichtungen
abhängig zu machen '). Kann ja doch bei dem ganzen Character
der damaligen Rechtsauflässung niemand auf den Gedanken
kommen, dass man die Einheitlichkeit des eingeräumten ding-
lichen Rechtes so sehr in den Vordergrund gestellt hätte, um
alle Beziehung zu den damit zusammenhängenden Leistungs-
pflichten gänzlich aus dem Auge zu verlieren.
Wenn man hierzu überlegt, dass die in den Leihebriefen ge-
wählten Ausdrücke der oben angegebenen Deutung keineswegs
entgegenstehen, sie vielmehr in vielen Fällen auf das kräftigste
unterstützen — waren sie doch geeignet L. M a n n in der Ansicht
zu bestärken, dass die Leistung des Zinses überhaupt nicht als
Erfüllung einer Obligation sondern lediglich als Erfüllung der
Bedingungen anzusehen sei, an welche der Bestand des Leihe-
rechtes geknüpft ist, — und wenn man weiter in Erwägung
zieht, dass Dank des correlativen Verhältnisses von Leistung und
Gegenleistung speciell auf dem Gebiete der precarischen und
hofrechtlichen Landleihen und ebenso auf dem Gebiete des Lehen-
rechtes frühzeitig*) der Grundsatz galt, dass das Ausbleiben der
bedungenen Gegenleistungen den Verlust des Leiherechtes im
Gefolge habe, so wird man wohl mit Fug und Recht sich der
Ansicht zuneigen dürfen, dass man das, was oben für die eine
') Bezeichnend in dieser Richtung drückt Bich eine Urk. des Kölner
St. Ursulastiftes von 1261 aus Johanni opilioni et Irmentrudi et heredibus
eorum . . . pro pensione concessimus annuali quam diu dictam per-
sionem de supra dictis agris siugulis annis in festo b. Kemigii dandis sol-
verint expedite.
*) vergl. Cap. von 846 o. 63 M. G. LL. 1 392: Der Satz: qui negligit
censum perdat agrum wird als legale et antiquum dictum bezeichnet. Für die
spätere Zeit vergl. die bei Heusler Gewere S. 133 cit. Weisthümer Grimm
I 1344 pag. 330 Abs. 4; 1397 pag. 339 Abs. 1; 1417 pag. 375 Abs. 1; 1477
pag. 392 Abs. 3; 1320 pag. 672; 1320, pag. 674 Abs. 2; 1320 pag. 699; ?
720 Ab». 2; V. 1413 pag. 78 § 12 etc. — Für die precarischen Zinsleihen
vergl. Schröder R. G. S. 275.
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_66_
Kategorie von erbrechtlichen Leihen als letzte Folgen des Aus-
bleibens der Zinszahlung erwiesen wurde, als wenn auch nicht
ausnahmslose Regel auch für die anderen Fälle der freien Erb-
leihen wird annehmen müssen ‘).
Besteht aber in diesem einen Funkte Harmonie und Über-
einstimmung zwischen den Verleihungen zu Erbrecht, mag in
dem Leihebriefe Rechtsverlust als Folge ungehöriger Erfüllung
der Zinspflicht ausdrücklich stipuliert sein oder nicht, so fehlt es
wohl an jedem Grunde, in anderen Beziehungen, in denen eine
solche Discrepanz des urkundlichen Inhaltes nicht besteht, eine
Verschiedenheit bezüglich des rechtlichen Inhaltes und der recht-
lichen Behandlung anzunehmen.
Dies gilt namentlich auch für die oben berührte Frage nach
dem Vorhandensein persönlicher Klagen und Rechtsmittel für die
Erzwingung der einzelnen Zinsleistung. Denn auch hier fehlt es
in den betreffenden Urkunden an jedem Hinweis auf ein persön-
liches Zwangsmittel für die Geltendmachung des obligatorischen
Anspruches, an jedem Hinweise darauf, dass dem Leiheherrn
das Recht einer persönlichen ExecutionsfUhrung wegen verfallener
Zinsen zugestanden habe*). Die Ausfüllung dieser durch den
Mangel unmittelbarer Quellenzeugnisse entstandenen Lücke kann
*) Je mehr in der späteren Entwickelung des Leihereohtes »ich das
Eigenthumsrecht des Leiheherrn verflüchtigte und der Rentencharacter »ich
ausbildete, desto mehr konnte auch diese rechtliche Regelung eventuell
durch andere Bestimmungen in den Hintergrund gedrängt werden. Dass sie
gleichwohl auch unter ganz veränderten Verhältnissen noch vielfach be-
stehen blieb, darüber vergl. unten S. 08 £f. Auf der anderen Seite war auch
dort, wo der primäre Zweck des Rechtsgeechäftes die Constituierung eines
Zinses, insbesondere für kirchliohe Zwecke war, vielleicht vielfach Veran-
lassung zu einer anderen rechtlichen Behandlung geboten. S. unten am Schlüsse
des historischen Theiles. — Vergl. auch 1206 Quix 70, wo die neuen Erwerber,
die investiert werden, fidel i täte m ecclesiis facient et de termino solvende
pensionis observando et de aliis que in hoc privilegio conscripta sunt
observandis iuramentum prestabunt, und dem entsprehend auch im weiteren
Verlaufe eine besonders strenge Haftpflicht eintritt. In einem Urtheil
vom 17. Sept. 1341 werden die säumigen Zinsschuldner zur unverweilten
Abtragung des gesammten Rückstandes, also (wenigstens zunächst) nicht
zu Rechtsverlust verurtheilt. Hilgard 1287, 160 Anm.
*) Wenigstens dem äusseren Erfolge nach kommt es dabei ziemlich
auf dasselbe hinaus, wenn das durchzuführende gerichtliche Verfahren sich
in einzelnen Fällen in die Form der Pfändung und Fröhnung gekleidet hat,
die ihrem Wesen nach doch wieder nur Unterwindung des zinspflichtigen
Hutes war.
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aber nach dem eben Gesagten wohl nur im Sinne dieser einen,
nicht aber im Sinne der anderen gegentheiligen Auffassung vor-
genommen werden, wenn diese auch heutzutage bei der völlig
veränderten Gestaltung des wirthschaftlichen und rechtlichen
Lebens leichter mit unseren Rechtsideen vereinbar erscheint.
Sonach gelangen wir bezüglich des rechtlichen Inhaltes
der Verpflichtung zur Zinszahlung zunächst zu folgendem Er-
gebnisse: Bei allen Landleihen zu erblichem Rechte (jure heredi-
tario) bestand für den Nutzniesser des Gutes, der durch den
Leihevertrag oder kraft „Erbrechtes“ im Besitze des Gutes sich
befand, die Verpflichtung zur Bezahlung des bedungenen Zinses
an den Eigenthümer des Leiheobjectes — eine Verpflichtung, die
jedoch in der Regel nicht nach Art anderer Schuldverhältnisse
durch Personalexecution sondern lediglich durch Absprechung des
gewährten Nutzungsrechtes, durch Rechtsentsetzung erzwingbar
und realisierbar war. Oder anders ausgedrückt: die Nichterfüllung
der aus dem Leihevertrage dem Nutzniesser erwachsende Zins-
verpflichtung hatte im allgemeinen für den Beliehenen lediglich
den Verlust seines Leiherechtes, also namentlich nicht Personal-
execution zur Folge *).
Es ist nicht schwer zu zeigen, dass dieses Ergebnis, zu dem
uns die Untersuchung des Quellenmateriales geführt hat, den
Anforderungen vollkommen genügt, welche die wirthschaftlichen
Bedürfnisse jener Zeit stelleu mochten, und dass demnach ein
Rechtsinstitut dieses Inhaltes ausreichte für den Zweck, den es zu
erfüllen berufen war.
Da Ackerbau und Grundbesitz in Stadt und Land allgemein
von der grössten Bedeutung waren, so gewährte unzweifelhaft
jede solche erbliche Leihe für den Beliehenen selbst dann unbe-
dingt einen Vortheil, wenn ausnahmsweise ein verhältnismässig
hoher Zins gefordert wurde. Sieht man auch ganz ab von den
*) Vergl. hiezu die freilich einem ferneliegenden Uebiete und such
nicht den völlig gleichen Rechtsverhältnissen ungehörige Stelle des Brünner
Schöffenbuches c. 120, die denselben Rcchtsgedanken zum Ausdrucke
bringt : sententiatum fuit in consilio, quod tantum in molendino (deren Zins
nicht gezahlt wurde) et in bonis ad molcndinum spectantibus .... impig-
norare sccundum justiciam teneretur, non est enim justum, si homo plures
habens hereditates distinctas de una earum tantum censuat, quod pro censu
huiusmodi non soluto in aliis, quas cetisuales non fecit, impignorationes ali-
quanter patiatur.
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nicht seltenen Fällon , wo Gutsuntertbänige durch diese Art
Beleihung zu einer selbstständigen, von den Schranken . der
Hofhörigkeit nicht beengten Stellung gelangten, bo war, da
eine Capitalszahlung für die Besitzüberiassung nicht geleistet
wurde, all das, was nach Abzug des Zinses vom Erträgnisse
des Gutes übrig blieb, für den Besitzer reiner Gewinn, und
da der Zins constant blieb, mochte auch durch Meliorationen,
der Werth des Grundstückes und dessen Erträgnis beliebig
steigen, so war das Interesse des Beliehenen im höchsten
Masse an den Gutsbesitz gefesselt. Die Unkündbarkeit des
Verhältnisses durch den Leiheherrn und die dadurch begründete
Uneutziehbarkeit des „Erbrechtes“ bot nun für den Beliehenen
die nöthige Sicherheit, um sich auf dem geliehenen Grunde
heimisch zu fühlen und wie auf einem eigenen Grunde alles
vorzukehren, was zur Erhöhung des Erträgnisses des Leihe-
gutes und zu seiner grösseren Verwerthbarkeit erforderlich war.
Und wenn dieser Rechtsgenuss abhängig gemacht war von der
pünktlichen Erfüllung der Zinsverbiudlichkeit, so musste der
Nutzniesser die Bezahlung seiner Schuld als seine wichtigste
Obliegenheit, als eine Angelegenheit des eigensten Interesses
betrachten.
War so die als Folge der Zinssäumnis in Aussicht gestellte
Rechtsentsetzung für den Zinspflichtigen das mächtigste Compelle
zur Erfüllung seiner Schuldigkeiten, so bot sie auch auf der
anderen Seite dem Gutsherrn die vollste reale Sicherheit, dass
er durch Nachlässigkeit des Zinsmannes nicht zu Schaden
kommen konnte. Denn, sobald die aus dem Leihevertrage ge-
schuldete Zinsleistung nicht pünktlich an den Hof des Leiheherrn
gebracht wurde , konnte dieser in der Regel sofort — die
Wartefrist wurde, wenn überhaupt, so meist nur auf ganz kurze
Zeit festgesetzt *), — zur Ejection des Besitzers schreiten1) und
erhielt in dem Gute selbst, das mit allen Pertinenzen und Me-
liorationen an ihn zurückfiel, einen Vermögenswerth in die Hände,
welcher nicht bloss die einzelne Zinsrate bedeutend überragte,
>) s. o. S. 48 f.
*) Dabei ist gewiss zuzugeben, dass das practische Leben vielfach
milder war, als es der Strenge des Rechtes entsprochen hätte, und dass oft
auch nach der Verfallszeit in L'ebereinstiramung mit den allgemeinen Prin-
oipien des processualen Verfahrens, noch durch Zahlung die Ejection ver-
mieden wurde. Vergl. z. B auch Friedlieb, a. a. 0. S. 274.
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sondern auch dem Capitalswerthe der Verzinsung zum mindesten
gleichkam, ihn jedoch meistens bei weitem übertraf. Für sehr
viele Fälle, vielleicht für die grosse Mehrzahl der Ver-
leihungen zu Erbrecht ist kaum zu zweifeln, dass während
der Dauer des Leihe Verhältnisses das Leiheobject an Werth ge-
stiegen ist, sei es dass auf dem Lande schlecht oder gar nicht
cultivierter Boden einem besseren Zustande entgegengeführt wurde,
sei es dass städtischer Grund durch Häuserbau erst recht ver-
werthet wurde; denn überall drängte zu solchen Meliorationen
des Beliehenen eigenes Interesse mächtig hin, und zwar in um
so höherem Masse, je grösser der aufgelegte Zins war. Und
wenn ja einmal die besonderen Verhältnisse des einzelnen
Falles die Möglichkeit einer Gefahr für den Leiheherrn be-
gründeten, dann wurden gewiss durch besondere Cautionen
Garantien geschaffen, welche seine vollste Sicherheit ver-
bürgten l).
Im allgemeinen war aber das dingliche Moment, das in
der Leihe lag, allein für alle Anforderungen ausreichend, die
vom wirthschaftlichen Standpunkte aus bestanden.
Da das dingliche Recht des Beliehenen als eine unent-
ziehbare Macht desselben über den Grund und Boden ihm alle
für den Grundbesitz wünschenswerthe Sicherheit und Ruhe ge-
währleistete, soferne er nur die Erfüllung seiner Pflichten nicht
versäumte, und da andererseits auch der Leiheherr in dem leben-
digen Fortbestehen seines dinglichen Rechtes (des Eigenthumes)
die vollste und sicherste Garantie für die Befriedigung seiner
rechtlichen Interessen besass, so fehlte es auch vom wirthschaft-
lichen Gesichtspunkte aus, wie dies oben in juristischer Be-
ziehung gezeigt wurde, an einem Grunde, neben der Ausgestaltung
dieses sachenrechtlichen Elementes im Leiherechte noch das
obligationenrechtliche Band zwischen Leiheherrn und Beliehenern
besonders enge und fest zu knüpfen *). —
Das hier für die Anfänge des Leiherechtes gewonnene Re-
sultat über die rechtliche Ausgestaltung der Zinspflicht entfernt
•) vergl. unten S. 72 ff.
') vergleiche hiezu und zu dem folgenden: Dunker, die Lehre von den
Reallasten S. 74 ff.
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sich freilich nicht unwesentlich von dem, was unsere heutige
Rechtsanschauung für ähnliche Fälle anzunehmen geneigt wäre,
und wird auch für die damalige Zeit nicht allgemein angenommen.
Namentlich Gobbers, der sich mit den rheinländischen (speciell
kölnischen) Urkunden ausschliesslich und eingehend beschäftigt *),
ist auch für die ältere Zeit zu einem anderen Ergebnisse ge-
langt, zu einer Annahme, die sich gewiss in grösserer Ueber-
einstimmung mit unseren Ansichten über die aus Reallasten
entspringenden Verpflichtungen befindet, indem sie sich für eine
grössere Selbstständigkeit und weitere Ausbildung des obligationen-
rechtlichen Momentes im geraden Gegensätze zu den obigen
Ausführungen für das städtische Recht ganz allgemein ent-
scheidet. Gerade wegen dieser eben hervorgehobenen Ueber-
einstimmung mit den modernen Rechtsanschauungen fehlte ihm
jeder Anlass für eine allgemeine weiter ausholende Begründung
seines principiellen Standpunktes. Dem entsprechend entfällt auch
hier die Nothwendigkeit und Möglichkeit einer allgemeinen Ent-
gegnung, die zu den obigen Ausführungen hinzutreten könnte,
vielmehr wird es genügen, bei der im folgenden sich ergebenden
Besprechung der Einzelheiten die Anschauungen Gobbers mit
zu berücksichtigen.
Die Richtigkeit des hier vertretenen allgemeinen Grundge-
dankens angenommen, ergeben sich nämlich, um die oben S. 56
unterbrochene dogmatische Darstellung wieder aufzunehmen, für
uns die folgenden Consequenzen :
Mit unserer Behauptung, dass in der Befugnis der Rechts-
entsetzung das einzige dem Zinsberechtigten zustehende Mittel,
die Befriedigung zu erzwingen, gelegen gewesen sei, ist zunächst
implicite schon gesagt, dass mit der Vertreibung des zinspflich-
tigen Besitzers die Verpflichtung zur Bezahlung bereits früher
verfallener Zinsen und etwaiger Conventionaistrafen erlöschen
musste, dass Rechtsvcrlust und Zinsschuld nicht cumulativ zu
einander hinzu traten, sondern die Nichterfüllung der obliga-
torischen Verpflichtungen die Bedingung für den Untergang des
dinglichen Leiherechtes, und dass sohin die Ejection ihrer Wirkung
nach primär nicht schlechthin Strafe, sondern Strafe und Be-
friedigungsmittel war.
') Die Drbleihe und ihr Verhältnis zum Kentenkauf im mittelalterlichen
Köln des XU.— XIV. Jahrhunderts. Savigny-Zeitschrift IV. fid. S. 130 ff.
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60
Nach der anderen Seite ist damit die Noth Wendigkeit ge-
geben, die Frage, ob die Dereliction *) des Leihegutes den Erb-
pächter von der Haftung für verfallene und neu entstehende
Zinsschulden befreie, für die Regel der Fälle unbedingt zu be-
jahen und die Annahme einer über das Leihegut hinausreichende,
etwa das ganze Vermögen des Beliehenen erfassenden persönlichen
Verpflichtung zur Zinszahlung ebenso unbedingt von der Hand
zu weisen *).
In allen diesen Punkten ist Gobbers*) auf Grund seiner
Auffassung consequent zu den entgegengesetzten Ergebnissen
gelangt. Ihm „erlosch durch Anfall oder Dereliction die ver-
fallene Zinsschuld keiueswegs, denn der Rückfall des Leihe-
objectes an den Leiheherrn war ja nur eine Strafe, die den Be-
liehenen traf, nicht Befriedigungsmittel. Die Zinsschuld blieb
ungetilgt ; ihre Realisierung erforderte ebenso wie die jeder anderen
Obligation, im Falle der Schuldner in Verzug war, gerichtliche
Durchführung des klägerischen Anspruches und eventuell eine
auf diese sich stützende Pfändung.“
Demgegenüber lässt sich gewiss nicht in Abrede stellen,
dass namentlich bei einer späteren Entwickelung ein solches
Verfahren nicht selten vertragsmässig vereinbart wurde, vielfach
sogar gewohnheitsrechtlich sich einbürgerte4). Aber es ist auch auf
der anderen Seite nicht zu übersehen, dass die wenigen Quellen-
stellen, die Gobbers zur Begründung seiner allgemein hingestellten
Behauptung heranzieht, und zwar sowohl die für das Fortbestehen
der Zinspflicht trotz eingetretenen Rechtsverlustes angeführte
Erkunde von 1375 Ennen V 92 s), als auch die Urkunden von
’) b. o. S. 34 Anm. 3.
*) vergl. hiezu auch die oben S. 56 Anm. 1 abgedruekte Stelle.
*) a. a. 0. S. 150 und § 12.
*) vergl. über eine der Unterwindung vorhergehende Pfändung
Dunkcr a. a. O. S. 72 f; s. auch unten S. 62.
5) Ein Leihevertrag über ein Haus, in welchem neben der gewöhnlichen
Zinspflicht die Verpflichtung zur sorgsamsten Erhaltung und zu Ballführungen
mit bestimmtem Aufwande, ferner die Bestimmung, dass leves personae nicht in
das Haus aufzunehmen sind , verabredet und für jede Abweichung vom Vertrage in
der strengsten Form Rechtsnachtheile stipuliert wurden, (ex tuno statim et in
continenti dicta domus cum Omnibus suis pertinentiis et melioratione prout
tune fuerit situata .... libere revertetur et soluto) und in diesem Zusammen-
hang festgesetzt ist, dass ausserdem noch die Zinspflicht anfrecht erhalten
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61
1376 Ennen IV 474 ') und 1227 Ennen II 106 '), welche gegen
die Befreiung von der Zinspflieht durch Dereliction des Leihe-
gutes sprechen sollen, erst dem späteren städtischen Rechte
angehören und überdies, wie in der Anmerkung dargelegt ist, in
vielen Punkten einen völlig singulären Charakter tragen. Dem-
nach sind sie gewiss nicht geeignet, als entscheidender Gegen-
beweis gegen die obigen Ausführungen zu gelten und die
dabei gewonnenen Ergebnisse als unhaltbar hinzustellen. Es
spricht vielmehr der Wortlaut der früher besprochenen Urkunden,
die meist nur die Beendigung des Leiherechtes als Rechtsfolgen
der Säumnis nennen, so deutlich, dass man aus solchen ver-
einzelt vorkomnienden Fällen, wie die von Gobbers citierten, keinen
Schluss auf die allgemeine Regel ziehen darf. Und dies ist um so
weniger gestattet, wenn man berücksichtigt, dass die Fassung gerade
derjenigen Leiheurkunden, die sich besondere ausführlich mit
den Folgen der mora beschäftigen, indem sie Säumnisstrafen
werde (et nihilominus nos conjuges ... et nnstri heredes ad solutionem
ce. n mus erimuB penitus adstricti) — also unzweifelhaft eine besonders strenge
Uebereinkunft. Vergl. auch die folgende Anmerkung.
') In diesem Leihevertrag, der gleichfalls über ein Haus, nioht
schlechthin über Grund und Bodeu abgeschlossen wurde, findet sich ausführlich
bestimmt, dass die Beliehenen ausser zur Zinszahlung auch zur Instande-
haltung des Hauses, ja sogar zum Wiederaufbau im Falle der Zerstörung
desselben verpflichtet sein sollten, und dass auch für die Zeit der Bau-
fiihrung der Zins unverändert fort zu bezahleu sei. Hierauf folgten dann
die Worte: . . . si . . . non reedificaverint et nobis censum non peraol-
verint requisiti, elegoruut ipso G. et H. (Die Erbpächter) j>ro se et suis
heredihus, quod bona eorum mobilia et immobile, et res quascumque, que
et quas habent et invenire poterimus, tenere et capere et de ipsis nos
intromittere poterimus in recuperationem iuris nostri. — Es scheint un-
zweifelhaft, dass die Haftbarkeit mit dem ganzen Vermögen, die hier ein-
trat, eben die Folge der besonders stipulierten Verpfändung war; und auch
der Grund für diese Verpfändung liegt offen zu Tage: für die von den
Beliehenen übernommenen weitgehenden Verpflichtungen reichte eben die
gewöhnliche reale Sicherheit nicht aus. — In ähnlichem Sinne spricht allge-
mein Arnold z. Gesell, d. Eigenthums S. 125.
’) Ganz ähnlich wie die vorletzte Anm. Weil für die Verpflichtung zu
Wiederaufbau im Falle der Zerstörung der geliehenen Gaddemen und für die
auch dann noch fortbestchende Zinspflicht das gewöhnliche Sicherheitsmittel,
das in der Einziehung des Leihegutes lag, nicht genügte, uud vielleicht
daneben auch noch aus anderen Gründen, wurde überdies die Excommuni-
cation als Strafe des Vertragsbruches angedroht.
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62
und Ähnliches festsetzen, mit der hier vertretenen Ansicht sich
in Uebereinstimmung befindet ').
Zum Schlüsse ist noch ein weiteres, freilich zunächst nega-
tives Ergebnis zu verzeichen, zu dem die Betrachtung unserer
Leiheurkunden führt. Die Rechtsbücher und Statuten, namentlich
aus dem 13. und 14. Jahrhunderte *) gedenken nämlich ziemlich
allgemein eines Pfändungsrechtes um Zins- und Gültenforderungen,
welches dem Zinsberechtigten die Befugnis gibt, wegen ver-
sessener Zinsen Fahrhabe des Schuldners oder solche bewegliche
Güter, die sich auf dem zinspflichtigen Grundstücke befinden,
zur Deckung der Zinsschuld, in vielen Fällen sogar ohne Mit-
wirkung des Gerichtes, zu pfändeu. In Uebereinstimmung
damit nimmt die herrschende Lehre ganz allgemein die
Existenz eines solchen Pfandrechtes für Zinsforderungen an *),
das bis ins 16. Jahrhundert, zum Theile auch noch darüber
hinaus als gemeines Recht gegolten hat, das auf dem Lande
länger in Gebrauch blieb als in den Städten, wo es verhältnis-
mässig frühzeitig verschwand, und dessen Ursprung mau,
wenn man auch zu völliger Klarheit nicht gelangen konnte, im
allgemeinen in ziemlich frühe Zeiten zurückzuverlegen geneigt ist.
Insbesondere betont Wilda4), dem hierin andere folgen, an der
Hand von Urkunden vorwiegend des 14. Jahrhundertes, dass
dieselben einen Beleg dafür enthalten, „wie wenig bis in die
spätere Zeit durch das in Verträgen hervorgehobene Pfändungs-
recht dem Gläubiger ein wirkliches Recht eingeräumt wurde,
das er nicht schon ohnehin besass.“
*) Auch Urkk., wie 1253 ((Juden V. p. 26), welche eine Verpfändung
des ganzen Vermögens enthält, dürfte kaum als Gegenargument gegen die
hier als allgemeine Kegel bezeichneten Ergebnisse angeführt werden
können; sie enthält nicht nur hierin, sondern auch in der Bestellung von
Bürgen eine Besonderheit.
*) vergl. die Zusammenstellung bei Stobbe Handb. des deutschen
Privatrechtes 1" 8. 596 Anm. 2ö und insb. Wilda, das Pfändungsrecht,
Halle 1839 (aus der Zeitschr. f. deutsches Recht) 8. 46 ff Hie älteste derartige
Bestimmung (vergl. Wilda a. a. O. S. 58) ist wohl Sachsenspiegel II Art.
54 § 1 (oben 8. 5 Anm. 5), wonach dem Gutsherrn dieses Pfändungsrecht
zusteht. Walter R. G. § 537, Anm. 1 u. 2; § 538 Anm. 10, 13 u. 14;
§ 516 Anm. 13; § 525 Anm. 6.
*) vergl. Stobbe a. a. 0. § 70 III, v. Meibom Pfandrecht, 8. 204 ff.,
Wilda a. a. 0. S. 45-62. Walter R. G. §§ 537, 538, 525.
*) a. a. O. S. 49 f. vergl. auch v. Meibom Pfandrecht 8. 206.
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63
All dem gegenüber ist es gewiss bezeichnend, dass die hier
zur Sprache gekommenen Leihebriefe (also namentlich auch die
der ältesten Zeit und Entwickelungsstufe angehörigen) von einem
solchen Pfändungsrechte nicht mit einer Silbe Erwähnung thun,
und zwar auch dann nicht, wenn sie ausführlich der Rechtsfolgen
jeder Zinsaäumnis gedenken, also unter Umständen, welche die
Annahme auszuschliessen scheinen, dass eine derartige Befugnis
als etwas Selbstverständliches verschwiegen worden sei1). Es mahnt
dies zum mindesten zur Vorsicht gegenüber allzuweit reichenden
Schlussfolgerungen im Sinne der eben angegebenen Wilda’schen
Deductionen und legt die Präge nahe, ob dieses später sicher
nachweisbare Pfandrecht nicht zum Theile als eine Abschwächung
der in dem Unterwindungsrechte enthaltenen strengeren Rechts-
norm ins Leben getreten sei, ein Entwickelungsgang, der dann
neben den im allgemeinen*) angeführten Entstehungsursachen für
die Ausbildung dieses Rechtsinstitutes massgebend gewesen wäre1).
Jedenfalls geben die auf uns überkommenen Leiheurkunden
der Rheingegenden auch in diesem Punkte keinen Anlass, ein Ab-
weichen von den für andere Beziehungen oben als giltig
dargethanen Grundsätzen anzunehmen. Man ist vielmehr auf
Grund der urkundlich überlieferten Quellenzeugnissen jener
Zeit, wie uns scheinen will, berechtigt, allgemein zu be-
haupten, dass das damalige Leiherecht, zunächst wenigstens der
*) Las gleiche Ergebnis für Köln: Gobbers a. a. O. S. 150.
*) vergl. Wilda a. a. 0. S. 53 ff., v. Meibom a. a. O. 8. 206.
’) Ab Üborgangsfalle dieser Art, Abschwächungen des strengeren
Rechtes, sind bezeichnend die Urkk. wie Kölner Schreinsurkk. Mart. 10 1
18 (s. o. S. 60 Anm. 1), in welcher nur ein Theil des zinspflichtigen Gutes
der ITeberwindung unterstehen soll, dann z. B. die bei Dunk er a. a. O. S.
72 ff. genannten Urkk., nach denen der ultima ratio eine vergebliche Pfän-
dung der Fahrnis vorangehen soll. — Berücksichtigt man, die oben S. 56
dargelegte Ausschliesslichkeit der realen Haftung des Gutes für die Zins-
schuld, welche von allen persönlichen Momenten abstrahiert und die unleug-
bar in vielen Dingen zu Tage tretende enge rechtliche Verbindung von
Grundstücken und darauf liegender Fahrhabe — vergl. Heusler, Gewcre
S. 279; Albrecht, Gewere 8. 21 geht freilich zu weit — , bo gibt die im
Texte vertretene Ansicht vielleicht auch einen Anhaltspunkt zur Erklärung
dafür, dass oft nur die auf dem Gute befindliche Fahrnis, diese aber wieder-
holt auch unabhängig von der Frage, in wessen Eigenthum sie stehe, der
Pfändung ausgesetzt war. — Vergl. i. A. Wach, Arrestprocess 1 S. 31,
H e u s 1 e r a. a. O. 8. 212 ff.
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Rheinlande, vorwiegend dinglich ') Ausgestaltet war, nämlich
in dem Sinne, dass der Regel und dem Grundgedanken unseres
Rechtsinstitutes nach nicht die Person des jeweiligen Besitzers
und auch nicht dessen Vermögen, sondern lediglich das ziaabe-
lastete Grundstück für die Erfüllung der Zinspflicht aufzukommen
hatte. In diesem Zusammenhang ist der erneute Hinweis auf
Rechtsdenkmäler jener Zeit, die einen ähnlichen Rechtsgedanken
zum Ausdrucke bringen, gewiss nicht ohne Interesse, mögen
dieselben auch nicht gerade dem hier in Frage stehenden
örtlichen Gebiete angehören. Sie sind in ihrer Uebereinstimmung
mit den hier gewonnenen Ergebnissen doch immer ein Beweis
dafür, dass diese mit den unmittelbar überlieferten und beglau-
bigten Rechtsgedanken ihrer Zeit nicht in Widerspruch stehen.
Vor allem sei hier der schon mehrmals erwähnten Stelle des
Brunner Schöffenbuches *) gedacht, die ausdrücklich jede über
das Zinsgut selbst hinausreichende Haftung als etwas Ungerecht-
fertigtes verwirft. Und was könnte weiters in der gleichen
Richtung deutlicher sprechen als die Regelung über die Be-
handlung versessener Zinse, welche der Spiegel deutscher Leute
und die sich ihm anschliessenden Rechtsbücher s) statuieren, indem
sie zunächst die Zinsschuld durch fortwährend eich erneuende
Säumnisstrafen (Rutscherzins) bis zum Wert he des zinspflichtigen
Grundstückes Anwachsen lassen, um dann schlechthin dieses selbst
dem Zinsberechtigten zuzuweisen. —
Bei dieser sachenrechtlichen Behandlung der Zinsverpflichtung
war naturgeraäss eine enge Verbindung von Eigenthum und
Zinsbezugsrecht nahe gelegen, ja sogar nothwendig. Es erscheint
eine Trennung der Gläubigerrolle von dem Eigenthume an dem
Gute, eine Überlassung des einen Rechtes ohne gleichzeitige
Übertragung des anderen anfänglich undenkbar. Man findet
auch in der That erst in späterer Zeit, als das Leiherecht in
’) Dies ist nicht etwa in dem Sinne zu verstehen, dass die Verpflichtung
zur Zinszahlung (Keallaat) als ein Recht dinglicher Natur im Sinne der
älteren Reallasttheorien gedeutet würde; vergl. darüber insb. Stobbe, ‘Zur
Geschichte und Theorie des Rcntenkaufes' in der Zeitschrift f. d. R. XIX, S.200.
*) cap. 120, abgedruckt oben S. 66 Aum. 1.
*) vergl. die Ausführungen oben S. 7, Spiegel deutscher Leute c. 76
Schwabenspiegel c. 84 (Lassberg); s. auch Wiener Stadtrechtsbuch Art.
118, 121 und 126 (oben S. 11 und 14), insbes. die Bestimmungen für den Fall
der Concurrenz von versessenen Grundrechts- und Burgrechtszinsen (oben S. 16)
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seinen Grundzügen wesentliche Veränderungen durchgemacht und
viel von seinem ursprünglichen Character eingebüsst hatte, eine
vom Schicksale des Eigentumsrechtes unabhängige Übertragung
des Zinsbezugsrechtes, während für die erste Zeit der enge Zu-
sammenhang zwischen beiden in allen erhaltenen Übertragungs-
urkunden zu Tage tritt und auch von allen die Frage behan-
delnden Schriftstellern anerkannt und hervorgehoben wird ').
In diesem Hinweise auf die Möglichkeit der Übertragung
der leiheherrlichen Rechte durch den Wechsel in der Person
des Eigentümers des zinspflichtigen Gutes ist bereits einer
Veränderung gedacht, von welcher das Leiheverhältnis während
seines Bestandes betroffen werden kann, und zugleich die Art
und Weise angegeben, in welcher diese Veränderung die Zins-
pflicht berührt. Es sei hier nur nebenbei bemerkt, dass ebenso
wie die durch Vertrag gewillkürte Veränderung in der Person
des zinsberechtigten Eigentümers auch der Wechsel durch Erbgang
fiir den Zins eben nicht mehr bedeutete, als eine Veränderung
in der Gläubiger-Rolle, in dem berechtigten Subjecte, die für
Bestand, Inhalt und Umfang der Obligation ohne Einfluss war.
Fragen wir nach den anderen Veränderungen und Umge-
staltungen, welche innerhalb des Erbleiheverhältnisses normaler
Weise sich ereignen mochten und geeignet waren, eine Rück-
wirkung auf das in der Zinspflicht zu Tage tretende obligationen-
rechtliche Moment zu üben, so weist uns schon der Name jus
hereditarium zunächst auf die durch Erbgang geschaffenen Ver-
änderungen hin. Wenn Besitz und Nutzungsrecht jure hereditario
von dem jeweils Berechtigten auf dessen Erben übergiengen, so
war damit rücksichtlich der Zinspflicht ein Wechsel in der
Schuldner-Rolle gegeben, der für die Verpflichtungen in concreto
von mehrfachem Einflüsse sein konnte. Zunächst konnte, wenn
nicht — wie dies häufig vorkam — besondere Vertragsklauseln
die Einheitlichkeit und Untheilbarkeit des Gutes garantierten
und den Rechtsübergang auf mehrere Erben von vorneherein aus-
schlossen, an Stelle des einen zur Nutzung Berechtigten und
zur Zinszahlung Verpflichteten eine Mehrheit solcher treten,
wobei dann fraglich erscheinen kann , in welche Beziehung die
einzelnen Schuldner zu ihrer Schuld und zu einander traten.
Ganz vereinzelt ist diese Frage freilich dadurch abgeschnitten,
') Arnold a. a. O. S. HO. Rosenthal a. a. O. S. 6ö. Gobbera
a. a. O. S. 105.
v. Sehtnnd. Krblaibw. Ö
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dass im Leihevertrag gleich für alle Zeiten ein Bestimmter,
z. B. der Älteste1) dem Leiheherrn gegenüber für verpflichtet
erklärt, und auf diese Weise künstlich die Einheit der Ver-
pflichtung fortgesetzt wurde. Aber auch für alle anderen Fälle
lässt die Fassung der Urkunden eine Entscheidung nur im Sinne der
solideren Haftung aller Erben zu, indem nirgends von einer ge-
sonderten Behandlung der Einzelnen die Rede ist, vielmehr immer
alle wie eine Einheit genannt werden, und namentlich der Ein-
tritt der angedrohten Folge einer mora objectiv an die Th&tsache
des Ausbleibens der fällig gewordenen Leistung allgemein und
ohne Einschränkung geknüpft erscheint.
Diese Gestaltung lag unzweifelhaft im Interesse und in den
gewöhnlichen Intentionen *) des Leiheherrn, der durch eine Zer-
splitterung seines Zinsrechtes den empfindlichsten Schaden hätte
leiden können, und es darf wohl nicht erst hervorgehoben werden,
dass unter der Voraussetzung der Richtigkeit unserer Annahme
über die principielle Frage des Verpflichtungsverhältnisses nur
die solidarische Haftung aller für den ganzen Zins im Geiste
des Institutes gelegen, und dass nur diese rechtlich consequent
überhaupt denkbar war8). Eine scheinbare Ausnahme dem Ge-
sagten gegenüber findet sich nur in einzelnen Fällen von Villi-
cationsverträgen, in denen die Beleihung mit einem ganzen Güter-
complexe dem Anscheine nach einheitlich an mehrere Ansiedler
erfolgte , dann aber die einzelnen an jeden „heres“ kommenden
Antheile doch ein völlig selbstständiges Schicksal erlitten.
Neben den Rechtsverhältnissen, die zwischen einer Mehrzahl
von Erben zur Entstehung kamen, sind für den Erbgang noch
die Beziehungen zwischen Erblasser und Erben von Belang, also
namentlich die Frage, in wie weit der letztere in die Rechte
und Pflichten des Verstorbenen eintrat. Hier speciell ist noch
darauf einzugeben, in welcher Weise der Nachfolger im Leihe-
verhältnisse den bereits unter dem Vorgänger fällig gewordenen
Zinsleistungcn gegenüber sich zu verhalten hatte. Mehr noch als
') z. B. 1173—1188 MK. ÜB. II 101; 123:» MR. UB. III 489; 1249
Booi, 'Wormser UB. I 223.
*) Zeuge dessen die oftmalige ausdrückliche EinschrSnkuug auf eineu
oder wenige Krben s. o. 8. 31 Anm. 1.
*) vergl. i. a. auch die Ausführungen bei Ennen, Gosch, d. Stadt
Köln I 8. 418 u. Gobbers a. a. O. S. 166 ff.
m
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die Thatsaehe, da?» die Succession nach Erbrecht erfolgte, wobei
doch immer die crblasserischen Schulden als eine auf dem
Nachlasse, zunächst der Fahrhabe, ruhende Last den Nachfolger
in gewissem Umfange trafen *), nöthigt uns die vorwiegend ding-
liche und objectivc, von der Person des jeweils Besitzenden fast
gänzlich abstrahierende Formulierung der Vertragsverpflichtungen
zu der Annahme, dass der Erbe mit dem Gute und mit der Zins-
pflicht pro futuro auch die Verpflichtung zur Zahlung bereits
ehedem fällig gewordener Zinsraten übernehmen musste. Nirgends
findet sich in den Urkunden ein Hinweis, auf eine getrennte
rechtliche Behandlung des Beliehenen und seiner Erben; es
werden vielmehr alle zum Rechte aus der Leihe Berufenen gleich-
massig und zusammen als Träger des Rechtes genannt, sie er-
scheinen gleichmässig auch als Träger der leiherechtlichen Ver-
pflichtungen, und, was das Wichtigste ist, ohne Beziehung auf einen
Einzelnen werden allen gegenüber die Rechtsfolgen genannt,
welche die Thatsaehe der Zinssäumnis für sie im Gefolge haben
sollte. Blieb eine Zinszahlung aus, so fragte der Leiheherr sicher
nicht, ob dieser oder jener daran Schuld trug, er konnte die
stipulierten oder selbstverständlichen Consequenzen eintreten lassen
oder mit ihnen drohen, und in seinem eigenen Interesse, um sich
den Besitz zu erhalten, musste der Erbe die Versäumnis nach-
holen , die vielleicht nicht ihm, sondern seinem Vorgänger zur
Last zu schreiben war.
Hiermit dürften die wichtigsten und hauptsächlichsten den
Zins betreffenden Fragen erledigt sein , die im Bestände des
Leiheverhältnisses in der ältesten Form seiner Ausgestaltung von
Belang sein mochten und aus dem erhaltenen Urkundenvorrathe
ihre Beantwortung finden können. Man braucht sich nur der
Schranken zu erinnern, die nach den eingangs gegebenen Aus-
führungen dem Leiherecht ursprünglich gesetzt waren, und man
darf namentlich nur des Umstandes gedenken, dass das Leihe-
recht den Angehörigen einer Familie allerdings in perpetuum,
aber als ein wenigstens gedankenmässig unveräusserliches Recht
verliehen wurde, um sofort darüber im Klaren zu sein, dass eine
Reihe von Rechtsfragen zunächst gar nicht zur Entstehung ge-
') Dieses Argument wäre dann von mehr Belang, wenn im Sinne der
hier bekämpften Ansicht die Zinsschuld mit den gewöhnlichen persönlichen
Obligationen auf gleiche Stufe zu stellen wäre.
ö*
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langen konnten, die später practisch wurden, als die Leihe zu einem
beweglichen Verkehrsohjecte geworden war. Alle die Contpli-
cationen , die dadurch entstanden , dass das jus hereditarium
aus seiner ursprünglichen Gebundenheit gelöst, wie andere Rechte
durch Vertrags willkür von dem einen auf den andern über-
tragen oder selbst wieder als Object neuer Leiherechte weiter
verliehen und belastet werden durfte, konnte nicht auftauchen
in einer Zeit, in der das Leiherecht fest an eine Familie, eiuen
von vomeherein genau begrenzten Kreis, gebunden war und
überhaupt nicht an aussen stehende Personen gelangen noch
auch partiell ihrer Machtsphäre unterworfen werden konnte.
Wie es nun nach dem in der Einleitung Gesagten nicht im
Plane und in der Absicht der vorliegenden Untersuchung gelegen
ist, des näheren auf die spätere Entwickelung des Institutes ein-
zugehen, so kann es auch nicht unsere Aufgabe sein, die Reflex-
wirkungen näher zu verfolgen, welche die Umgestaltung des
Leiherechtes in toto auf die einzelnen rechtlichen Elemente des-
selben ausgcübt hat. Nur auf ein dem Leihe- bez. Rentenrechte
der späteren Zeit characteristisches Moment soll noch mit einigen
Worten hingewiesen werden.
Das Unterwindungsrecht , welches im Erbleiherechte dem
Zinsgläubiger gegenüber jedem säumigen Schuldner zustand, findet
sich nämlich auch im völlig ausgebildeten Rentenrechte vielfach
wieder, also selbst unter Umständen, in welchen seine ursprüng-
liche Grundlage, das Eigenthum des Zinsberechtigten an dem
Gute, längst weggefallen war1). Demgemäss waren in einer
Zeit, da die leiheherrlichen Befugnisse auf ein Minimum zurück-
gedrängt waren, dieselben characteristischen Rechtsfolgen an die
Zinssäumnis geknüpft, welche von Alters her bei dem Ausbleiben
der Zinszahlung für den Zinspflichtigen eintraten: zunächst oft
die Verpflichtung zur Zahlung von Conventionaistrafen und dann
Verlust dos Leiherechtes an den Rentenberechtigten, in der Form,
') vergl. ausser den Genannten Hausier, Bildung des Coneursprocesses
nach schweizerischem Rechte in der Zeitschrift für schweizerisches Recht,
Bd. 7 S. 117 ff. und insb. Gobbers a. a. O. S. 197 und die dort genannten
Quellenbelege vom Ende des 14. Jahrhundertes, ebenso S. 211, wo für die
Urhleihen der dritten (letzten) Entwicklungsstufe die Signatur dahin ange-
geben wird, dass das leiheherrliche Recht, das Obereigenthura sich ooncentriert
in dem Rechte auf Zinsbezug und in dem aus diesem Rechte bei Nicht-
befriedigung erwachsenden Anspruch auf Anwältigung des verliehenen Gutes.
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dass dieser in dieselbe rechtliche Stellung zur Sache einrückte,
die der Verpflichtete bis dahin inne hatte.
R s fällt nicht schwer, zu zeigen, zu welchen Consequenzen
diese principielle Auflassung, die auch noch das spätere Recht
beherrschte, bezüglich der eben berührten Fragen im allgemeinen
führen musste, die mit der grösseren Beweglichkeit des Leihe-
und Zinsrechtes zur Entstehung kamen. Als nämlich die oben
ausgeführte Regel der Einschränkung des Leiherechtes auf den Kreis
bestimmter Personen und die dadurch bedingte Regierung jedes
Veräusserungsrechtes namentlich auf städtischem Gebiete ver-
hältnissmässig früh geschwunden war, und Rechtsübertragungen
nicht mehr wie ursprünglich nur durch den Willen des Leihe-
herrn möglich waren, sondern ohne Rücksicht auf diesen durch
freie Vertragseinigung zu Stande kamen, tauchten naturgemäss
analoge Fragen auf, wie sie bei dem Rechtsübergang im Wege
Erbrechtes zu lösen waren. Sowohl über die Behandlung vom
Vorgänger rückständig gebliebener Zinsen als auch über die freilich
selten actuelle Frage nach dem Schicksale des Zinses im Falle
der Theilung des Gutes muss wohl hier wie dort in gleicher
Weise entschieden werden, da ja die principielle Grundlage des
Rentenrechtes dieselbe ist, die bei den obigen Ausführungen für
das ältere Leiherecht angenommen wurde.
Denn auch für das spätere Leihe- und Rentenrecht, solange
die Möglichkeit der Unterwindung überhaupt bestand, muss es in
der Macht des Zinsberechtigten gelegen gewesen sein, wegen des
Ausbleibens einer Zinsrate, bezüglich deren er vielleicht gar
nicht wusste, wem die Zahlung ursprünglich oblag, mit der Rechts-
entsetzuug zu drohen und so indirect die gegenwärtigen Besitzer
zur Zahlung einer Summe zu zwingen, die vielleicht primär dem
Rechtsvorgänger oblegen wäre.
Von ganz besonderem Interesse ist aber die rechtliche Aus-
gestaltung, zu welcher die consequente Anwendung des einen
Grundgedankens auf einem gleichfalls einer viel vorgeschritteneren
Rechtsentwickeluug angehörigen Gebiete, nämlich in den Fällen
der Afterverleihung und der üumulierung mehrerer Zinspflichtig-
keiten auf demselben Objecte gefunden hat.
Wenn es nämlich im späteren Rentenrechte vorkam, dass
auf einem und demselben Gute verschiedene Zinse an ver-
schiedene Personen lasteten, dann liegt wegen der sonst unver-
meidlichen Concurrenz ihrer Rechte die Vermuthung nahe, dass
dies doch nicht mehr nach der für das Leiherecht behaupteten
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Kegel behandelt werden konnte, weil nicht leicht einzusehen ist,
wie das Unterwindungsrecht einer Mehrheit von Berechtigten
konnte zugestanden haben. Indessen ist auch hier das dingliche
Element, das Leihezins- und Rentenforderung sonst allgemein be-
gleitete, vollständig zu seinem Rechte gekommen. Denn that-
sächlich stand auch in diesen E'ällen mancherorts jedem Rent-
gläubiger das Recht zu, wenn seine Rente nicht bezahlt wurde,
sich in den Besitz des Zinsgutes zu setzen, nur musste er stete
die seiner Rente vorangehenden älteren Zinse mit dem Gute
übernehmen. Diese Rechtslage ist wohl auch von Arnold1) vor-
ausgesetzt, wenn er für den Fall, dass „die belastete Sache sich
unfähig erwies, sämmtliche Zinse zu tragen“, die practische Aus-
tragung in der Weise skizziert, dass er meint „es musste der
Jüngste, um sein Capital nicht ganz zu verlieren, sich der Bache
unterwinden; wo nicht, so that es ein früherer, der dann aber
nur die vorhergehenden, nicht die jüngeren Renten übernehmen
musste. . . .“ In gleicher Weise kennzeichnet Heusler das
Zugverfahren im schweizerischen Rechte *). Eine Erklärung für
diese rechtliche Ausgestaltung kann nie im Rentenrechte selbst,
sondern nur durch den rechtsgeschichtlichen Zusammenhang mit
dem Rechte der Afterleihen gefunden werden. Wie nämlich bei
dem einfachen Leihevertrage das Zinsforderungsrecht begleitet und
gedeckt war durch das Eigenthum an der Sache, so gieng Hand
in Hand mit einem zweiten und dritten Zins als dessen rechtliche
Bchutzwehr das in der Leihe oder Afterleihe gelegene dingliche
Recht, dessen Geltendmachung hier wie dort als Zwangs- und
Executionsmittel die Zahlung verbürgte; und als später jedes
dingliche Recht des Zinsgläubigers sich gänzlich verflüchtigt
hatte, blieb das Unterwindungsrecht genau in den alten Formen
bestehen.
Die Lösung, welche die eben berührten Fragen in späterer
Zeit gefunden haben , ist auch nicht ohne Belang für die Beur-
theilung des älteren uns zunächst interessierenden Problems.
Denn es ist gewiss nicht Zufall, das derselbe Rechtsgedanken,
dem wir als Grundzug des Leiherechtes in seiner Entstehung
begegneten, trotz all den späteren einschneidenden Veränderungen
sich unverändert erhalten hat, um noch am Schlüsse der Ent-
wickelung, nachdem das Rechtsinstitut sich fast bis zur Unkennt-
’) Z. Ge sch. d. Kigenthums S. 123.
Heusler a. a. O. S. 119 ff.; vergl. auch oben S. 17.
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lichkeit verändert hatte, als rother Faden wieder an den Tag zu
treten. In dieser Übereinstimmung zwischen den Ergebnissen,
welche für die spätere Zeit ohne Berücksichtigung der hier an-
genommenen historischen Grundlage von anderen gewonnen wurden,
und dem, was nach der hier vertretenen Ansicht sich als noth-
wendige Consequenz ergibt, kann man sicherlich einen Anhalts-
punkt für deren Richtigkeit erblicken; sie zeigt, wie tief die oben
angegebene Grundauffassung im alten Rechte eingewurzelt gewesen
sein muss, dass sie, trotz aller Veränderungen, die das Rechts-
institnt erfuhr, bis an das Ende seiner Entwickelung erhalten blieb.
Nach all dem erscheint die Zinspflicht, wie schon die da-
malige Zeit sich gerne ausdrückte, als eine auf dem Leihegute
liegende Last '), deren Erfüllung jedem Gutsbesitzer unter An-
drohung schwerer Rechtsnachtheile oblag. Dabei war die Ver-
bindung mit dem Gute noch weit enger, als es nach unseren
heutigen Begriffen bei Reallasten anzunehmen wäre. Denn so
wie einerseits angenommen werden muss, dass sich die Verpflich-
tung des jeweiligen Besitzers nicht nur auf die während der
Zeit seines Besitzes fällig werdenden Zinsraten, sondern ebenso auch
auf die von einem Besitzvorgänger rückständig gebliebenen Be-
träge ganz gleichmässig erstreckte, ist andererseits eine über das
Leiheobject hinausreichende, das übrige Vermögen des Beliehenen
in irgend einer Weise erfassende persönliche Verpflichtung des-
selben als Regel gewiss nicht zu behaupten, so zwar, dass weder
der gegenwärtige Besitzer wegen Zinsrückständen mit seinem
anderweitigen Vermögen herangezogen *), noch — Ausnahmen ab-
gerechnet — ein früherer Besitzer wegen versessener Zinsen
nachträglich haftbar gemacht werden konnte.*) —
’) vergl. z. B. 1181 Lac. I 477 cuilibet aree onu» pensionis II soli-
dorum . . . annuatim solvendorum imposuit oder 1227 Ennen II 106 o u m
tali onere memorata cubiculu .... sunt concessa.
*) Dem steht nicht entgegen , wenn in einzelnen z. B. in den von
Dunkcr a. a. O. S. 72 1'. berufenen Fällen vor der Unterwindung des Gutes,
als dem grossen Übe), zunächst die Pfändung in die Mobilien versucht wurde.
*) Diese Ergebnisse zeigen zugleich, wie gefährlich die „aus der Natur“
eines Rechtsverhältnisses auf dessen äussere Behandlung gezogenen Schlüsse
sind. So gibt, um nur ein Beispiel anzuführen, Unger (System des öst.
Privatrechts I 560) eine Reallastdeünition, die unzweifelhaft mit dem gleichen
Rechte, mit welchem sie für die modernen Reallasten Giltigkeit beanspruchen
kann, auch auf die uns vorliegenden Fälle (trotz S. 554) angewendet werden
darf: das Recht auf die Reallasten erscheint „an sich und im Ganzen als
ein unmittelbar an und auf dem Grundstücke haftendes Recht, dessen In-
halt darin besteht, dass der Berechtigte von dem jeweiligen Besitzer des
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Wegen des engen Zusammenhanges mit dem Zinsreohte
als der principalsten Pflicht des Beliehenen, seien hier noch die
zur Garantie der Zinsleistungen vielfach stipulierten Cautionen
kurz besprochen, wenn auch der Umstand, dass dieselben gleich-
massig auch andere Vertragsverpflichtungen sicherzustellen be-
rufen waren, von streng systematischem Gesichtspunkte aus ihre
Besprechung an einem späteren Orte erheischte.
Derartige Verstärkungen der Garantien für die aus den Ver-
trägen erwachsenden Verbindlichkeiten, also eine Ausdehnung
der Haftbarkeit über das Leihegut hinaus auf andere Theile des
Vermögens des Verpflichteten, Anden wir vornehmlich in Leihe-
verträgen über solche Güter, die selbst dafür nicht genügende
Deckung gewährten. Oft repräsentierte nämlich das Object der
Leihe zunächst wohl einen Werth, der eine hinreichende Sicher-
heit gegeben hätte, war aber selbst in seinem intacten Bestände
mancherlei Zufälligkeiten ausgesetzt, die der Leiheherr oft aus
gutem Grunde von sich auf die Schultern des Besitzers abwälzen
wollte. So namentlich auf dem Gebiete des städtischen Rechtes,
insbesondere wenn nicht Bauplätze, sondern fertige Häuser zu
Erbrecht verliehen wurden, und der Eigenthümer für seinen Zins
ungeachtet etwaiger Elementarschäden dauernd gesichert sein
wollte, oder wenn er in einzelnen Pallen gar ein Mittel in der Hand
Grundstückes als solchem einzelne positive Leistungen fordert; in diesen
einzelnen Leistungen geht das Hecht in ein rein persönliches auf und er-
scheint sonach in seinen einzelnen Ausflüssen als ein wahres Forde-
rungsrecht. . . . “. „Aus dieser Natur der Keallasten
ergeben sich folgende Grundsätze : .... 6) die einzelnen fälligen
Leistungen sind persöuliche Verbindlichkeiten des Besitzers, unter welchem
sie fällig wurden, er kann sich daher diesen Rückständen durch die Dere-
liction des Grundstückes nicht mehr entziehen; 7) daher haftet aber auch
der Nachfolger im Besitz nicht für die Rückstände seines Vorgängers, ausser
wenn er als (Jniversalsuccessor in dessen Obligation eintritt, oder wenn die
Rückstände ausnahmsweise mit einer Hypothek bedeckt sind.“ Hag man
die Richtigkeit dieser Annahmen für das moderne Recht zugeben, bo haben
die Ausführungen im Texte, die den obligationenrcchtlichen Character der
Zinsverbindlichkeit gewiss in vollem Masse anerkannten und zur Grundlage
nahmen, wenigstens die Möglichkeit einer anderen Regelung dargethan, und
damit allein ist die logische Schlüssigkeit obiger Dcductioneu widerlegt.
Es ist eben kein Naturgesetz und auch logisch nicht nothwendig. dass eiu
Recbtsiustitut, welches der Regel nach eine gewisse äussere Behandlung
erfährt, unter allen Umständen und ausnahmslos die gleichen rechtlicher
Schicksale erfahren müsse.
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73
haben wollte, den Besitzer zur Ausführung der etwa über-
nommenen Pflicht zum Wiederaufbau wirksam zu zwingen1).
War hier die Besorgnis vor einer Deteriorierung des an sich
werthvollen Jjeiheobjectes der bestimmende Grund für Schaffung
besonderer Garantien, so war es in anderen Fällen, wo der Zins
mit Rücksicht auf erst vorzunehmende Meliorationen ziemlich
hoch bemessen war, der geringe Werth des geliehenen Gutes,
der, allein ungenügend, noch die Heranziehung anderer Cautionen
für die Vertragspflichten wünschenswerth erscheinen liees*).
Einen Fall dieser Art enthält z. B. eine ürk. von 1250 s), nach
welcher zur Sicherstellung eines Leihezinses ein Joch Landes zu
Pfand gegeben wurde, donec sic bona nostra edificaverit, quod
perpetuo certi simus de nostro censu. Das Beispiel ist darum
besonders lehrreich, weil hier ausdrücklich gesagt ist, dass die
ausserhalb des Leiheobjectes gebotene Garantie nur in so lange
in Anspruch genommen werden sollte, als das Leihegut selbst
hiefür nicht ausreichte, und weil man darin immerhin einen
quellenmässigen Beleg dafür erblicken kann, dass — wenigstens
in concreto — die Zulänglichkeit oder Unzulänglichkeit der in
dem Leiheobjecte gelegenen Deckung für die Stipulierung be-
sonderer Cautionen entscheidend war.
Als Mittel für eine solche Sicherstellung wurde häutig die
Verpfändung eines Grundstückes gewählt — eine gewiss recht
naheliegende und zweckmässige Form 4). Daneben aber fand sich
vielleicht noch häufiger eine andere, wohl dem älteren Precarien-
rechte entlehnte Modalität zur Begründung einer solchen über
das eigentliche Leihegut hinausreichenden realen Haftung. Es
wurde aus dem Vermögen des Beliehenen ein Gut bestimmt,
welches das rechtliche Schicksal des Leiheobjectes theilen, also im
Falle des Vertragsbruches mit diesem an den Leiheherrn ge-
langen sollte *). Die Verbindung der beiden Grundstücke war
dann in den einzelnen Fällen eine verschiedene; bald wurden
*) vergl. dazu oben 8. 60 Anm. 5 ff.
’) z. B. 1249 Enncn II 290.
*) MB. UB. UI 1076. Ähnlich 1261, 1092.
*) z. B. MB. UB. UI 1216, 55; 1228-1229, 340; 1285, 541; 1260, 1092,
1290 Wormser UB. I 446. Aus Frankfurt, wo überhaupt frühzeitig eine
weitere Ausgestaltung des Leiherechtes eingetreton zu sein scheint: 1290
Böhmer, Frankf. UB. p. 252. — Verpfändung eines Zinsreobtes 1274
Wormser UB. I 368.
s) z. B. c. 1150 MB. UB. I 556; 1217, Ennen II 56; 1223, MB. UB.
UI 218; 1232, 460; 1249 Ennen II 290; 1252, 309: 1264 Lao. II 548.
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beide wirklich zu einem einzigen Gute vereinigt1), so dass eine
getrennteBehandlung überhaupt ausgeschlossen war; bald begnügte
man sich schon mit der einen Festsetzung, dass beide für den
Fall der Zinssäumnis dem Leiheherrn verfallen sein sollten;
aber unter allen Umständen war in der denkbar einfachsten
Weise, und ohne in den Leihevertrag Fremdartiges hineinzu-
tragen, das Eine erreicht, dass das dingliche Substrat für das
Zinsrecht seinem Werthe nach jene Erweiterung erfuhr, die
nothwendig war, um den im Leihevertrag zur Entstehung ge-
langenden obligatorischen Verpflichtungen wie sonst die genügende
sachenrechtliche Deckung zu geben.
Der ganzen Natur des Leihezinsrechtes entsprechend mussten
das Pfandrecht und die in der zuletzt angegebenen Weise be-
wirkte Sicherung der Vertragsverpflichtungen die wichtigsten
für die Hegel allein brauchbaren (Kautionen erscheinen — ist
ja doch für eine der Idee nach ewige Verpflichtung nur ein
dingliches, gedankenmässig gleichfalls ewiges Recht eine wirk-
liche Gewähr. Dem gegenüber können die ganz vereinzelt vor-
kommenden anderwärtigen Gautionen, wie z. B. der oben be-
rührte Fall mit Bürgen bestcllung und Verpfandung des ge-
summten Vermögens des Beliebenen *), als Singularitäten, die
durch die Verhältnisse des Einzelfalles geboten und für die all-
gemeine Betrachtung ohne Bedeutung sind, wohl füglich über-
gangen werden. —
Von den anderweitigen Verpflichtungsverhältnissen, die neben
der Zinspflicht aus dem Leihecontracte zu Entstehung kommen
konnten , sind einzelne gelegentlich der Schilderung der ver-
schiedenen Vertragsgarantien schon erwähnt worden. So zu-
nächst die manchmal in den Leihevertrag aufgenommene Ver-
pflichtung zur Vornahme von Meliorationen und Herstellungen,
') So wahrscheinlich 1150 HK. U£. I 556; 1264 Lac. II 548; nach
Gobbers a. a. O. S. 151 auch 1217 Ennen II 56.
*) Hierher gehört auch die oben besprochene Urk. 1227 Ennen
II 106, in welcher als Sanction für die Pflicht zur Zinszahlung und Recon-
struction neben der nicht volle Sicherheit gewährleistenden Androhung des
Rechtsverlustes die Excommunication als weiteres Zwangsmittel in Aus-
sicht genommen wurde; vergl. auch 1206 Quix 70; 1253 Hilgard 78 etc.
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die öconomisch gewiss zu den wichtigsten Bestimmungen des
Leiherechtes gehörte. Der Verschiedenheit der Verhältnisse ent
sprechend war auch diese Pflicht, wo sie überhaupt bestand, im
einzelnen sehr mannigfachen Inhaltes. Ira Kreise des städtischen
Rechtes erstreckte sie sich oft auf die BaufUhrung, den völligen
Aufbau eines Hauses auf der geliehenen Bauarea *) ; oft be-
schränkte sie sich auf die Verpflichtung zu Verbesserungen *)
und zur Instandhaltung *) des zu Erbrecht gegebenen Hauses,
und umfasste dabei manchmal auch die Pflicht zur Wieder-
herstellung und Reconstruction für den Fall einer partiellen
oder gänzlichen Zerstörung durch elementare Mächte 4), also
namentlich durch Brände, denen damals so oft ganze Stadttheile
zum Opfer fielen. Die analoge Verpflichtung, die Leihevertäge
über ländliche Grundstücke vielfach enthalten, ist die Pflicht
zur sorgfältigen Cultur des geliehenen Bodens5), die sich dann
häufig auch als Pflicht zur Schaffung einer neuen Cultur auf
bisher ungerodetem Lande, oder oiuer Specialcultur auf einem
bisher noch nicht so sehr gepflegten Boden Uuesern konnte.
Die Anlegung von Weinbergen spielt dabei die hervorragendste
Rolle. Waren Mühlen das Object der Leihe, so näherten sich
die Vertragsbestimmungen über die Conservationspflicht natur-
gemäss mehr den Abmachungen im städtischen Rechte *), das
überhaupt der eigentliche Boden für Bestimmungen dieser Art
war, während auf dem Lande, wo eine Stabilität des ganzen
Verhältnisses vorauszusehen war, sich in der Regel wenig Anlass
bot, in dieser Richtung in der Vertragsurkunde eigens Vorsorge
zu treffen.
‘) 1262 Ennen LL 309; in gewissem Sinne auch 1260 MR. UB. III 1092.
*) Dabei war oft die Somme bestimmt, die auf das Out zn verwanden
war, z. B. 1240 MR. DB. I1J 676; 1261 Ennen II 420; 1294, 397.
*) z. B. 1227 Ennen II 106.
*)». B. 1234 Ennen II 143; 1236 MR. DB. Hi 577; 1266 Wormser
UB. I 323; in anderer Eorm 1263 Ennen II 466, wo der Beliehene sieb
binnen Monatsfrist erklären muss, ob er das Haus wieder aufbauen will,
oder auf das Erbrecht verzichtet.
5) z. B. MR. UB. I 1055 recte 1236, 342; 1136, 484; 1152, 568; 1168,
662; II 1180, 39; 1200, 182; 1208, 239; III 1218, 86; 1 267; 123;-!, 481; 1239,
6Ö7; 1247, 930; 1256, 1291 u. a.
*) z. B. 1211 MR. UB. II 274.
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76
Eine andere Verpflichtung, die im Gegensätze zur eben be-
sprochenen mit den wirthschaftiichen Verhältnissen in gar keinem
Zusammenhänge steht, wurde nach einzelnen Leihebriefen für
den Fall des Besitz Wechsels auf das Gut gelegt, in der Weise,
dass jeder neue Besitzer zur Zahlung einer Gebühr verpflichtet
war, die sich unter verschiedenen Namen wie Vorhure *,) Gewerf *),
oder auch allgemein vinicopium 3) findet und am ehesten mit
der Lehnware des Lehenrechtes oder dem laudemium der rö-
mischen Emphyteuse vergleichen lässt. Manchmal traf diese
Abgabenpflicht bei jedem Besitze schlechthin ein 4), in anderen
Fällen ist dabei nur des ErLganges gedacht *), während wieder
andere Male nur der Rechtsübergang durch Vertrag Er-
wähnung findet *), oder der Erbe einem fremden Erwerber gegen
Uber nur einer geringeren Abgabenpflicht unterlag ’). Dass eine
solche Gebühr allgemein gewesen wäre, ist gewiss nicht zu be-
haupten *) ; nur wird man annehmen dürfen, dass die Leihever-
träge, je näher sie den analogen Bildungen des Hof- und Lehen-
rechtes stehen, desto häufiger eine derartige Abmachung enthalten,
da ja diese Gebühr gerade in diesen Rechtsgebieten ursprünglich
ihre Heimat hatte. Und namentlich in solchen Fällen *) war der
neue Erwerber häufig zur Zahlung einer derartigen Uebertraguugs
') t B. 1197 Knnen 1 111 (™Lac. 1 55«); 1220 Lac. U 91.
*) t. B. 1269 Lac. II 692; 1299 Birnen JU 48a
*) z. B. 1181 Lac. I 477; 1239 MH. UB. III 646.
*) z. B. 1181 Lac. I 477 mit der besonderen Bestimmung, dass diese
Gebühr die privilegirte Stellung des Leibegutes ausdrücke: areas privi-
legiatas et acommnni lege reliquarum domorum agros videlioet non haben-
tium penitus exemtas; 1239 MH. UB. III 646; 1257 Knnen II 374.
«) *. B 1155 Lac. I 386; 1239 Guden II p. 77; V. 1253 p. 25; 1215
MR UB. ID 32.
*) z. B. 1295 Lao. H 967.
’) z. B. 1205 Knnen II 18: im Krbgang 12 den., bei Verkäufen 2 toi.
*) Urkk., in denen des Verkauftrechtes wenigstens als einer Möglich-
keit gedacht wird, und die gleichwohl keine Gebühr erwähnen, s. B. 1168
MR. ÜB. I 652; II 1204, 221; 1238 Lac. II 234. — Urkk., in denen
die Uebertragungsgebühr besonders ausgeschlossen ist, z. B. 1187 MR UB
II 90. Decrevimnt etiam, quod absque omni mercedis inpentione feodum
suum snscipere deberent; 1214 MR UB. UI 28; 1246, 847; 1258 Lac. II 458
*) z. B. ? MR. UB. III 156 ; 1206 Quix 70. — Trotz der vorgeschriebenen
Investierung von keiner Gebühr die Rede 1252 Knnen U 309.
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77
gebühr verbunden, in denen eine besondere Einweisung durch
den Leiheherrn fiir den Rechtserwerb erforderlich war. ■)
Im allgemeinen geht diesbezüglich im ländlichen Rechte die Ent-
wickelung wohl dahin, dass, je mehr der Inhalt der Leihe vertrage von
dem gewöhnlichen Rechtsinhalte der hofrechtlichen Leihe sich ent-
fernt, mit anderen, der Letzteren angehörigen Belastungen auch
die für den Erbgang r.u zahlende Gebühr verschwindet. Da-
gegen darf man für die Uebertragungsgebühr, soferne sie bei
einem Besitz Wechsel auf Grund eines Veräusserungsgeschäftea
▼erlangt wurde, namentlich für das städtische Recht im allge-
meinen annehmen, dass sie in dem Masse in den Vordergrund
trat, als das leiheherrliche Eigenthumsrecht und speciell der leihe-
herrliche Einfluss bei solchen Uebertragungen an Inhalt verlor,
und in dem durch diese Gebühr erlangten Einkommen ein Er-
satz gesehen und gesucht wurde für die ehemals lebenskräftige
jetzt verschwundene Verfügungsgewalt. ’)
Vom dogmatischen Standpunkte ist zu constatieren, dass auch
bezüglich all dieser neben dem Zinse zu nennenden Verpflichtung
des Beliehenen, wohl die gleiche Art der Haftung und der Er-
zwingbarkeit anzunehmen ist, wie für die Hauptverbindlichkeit,
den Zins selbst. Die Verpflichtung zu Kulturarbeiten und Bau-
fUhrungen zunächst wird in den Urkunden fast immer unver-
mittelt neben der Zinspflicht genannt, so dass man wohl ge-
zwungen ist, das dort Gütige auch hier als Regel anzunehmen.
Und die obigen Ausführungen über die Cautionen haben gezeigt,
wie sehr man auch in den Füllen, welche besondere Sicherheiten
forderten, bemüht war, auch für diese weitergehenden Ver-
pflichtungen jenen sachenrechtlichen Hintergrund zu schaffen,
der dem ganzen Leiherechte jener Zeit seinen eigenthümlichen
Character gab.
Was ferner die Besitzeinweisungagebühr anlangt, die der
neue Erwerber an den Leiheherrn zahlen sollte, also die
Leistung, die dafür verlangt wurde, dass ein bisher noch nicht
Besitzender in das Nutzungsrecht eingewiesen werde, dürfte,
wenigstens solange das leiheherrliche Eigenthum noch lebens-
kräftig bestand und nicht zu einem Schatten herabgesunken
war, ein Zweifel darüber überhaupt nicht aufkommen können,
') z. B. 1216 HK. UB. III 32; ? 156; 1239, 646; 1247, 930; 1245 Eonen
II 244; 1252, 809; 1263, Lac. II 397.
*) vergl. (Jobbers a. a. O. § 26.
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78
dass die Verweigerung einer solchen ausbedungenen Leistung
naturgemäss in der Verweigerung der Besitzeinweisung oder in
der Entsetzung aus einem ungehörig erworbenen Besitze ihre
Erwiderung und Sühne finden musste.
Andere ganz vereinzelt ausbedungene Leistungen, wie z. B.
die Gewährung von Proc.urationen an den zum Zinsempfang oder
zur Inspicierung des Gutes abgesendeten leiheherrlichen Boten,
oder die Verpflichtung, dem Eigenthümer im Falle der Noth
unentgeltliche Unterkunft zu gewähren, und ähnliche Detail-
verabredungen, die ab und zu sich finden, können hier wegen
ihrer völlig untergeordneten Bedeutung ausser Acht gelassen
werden. Dagegen sollen noch mit wenigen Worten diejenigen
obligationenrechtlichen Verhältnisse berührt werden, die nicht
unmittelbar aus dem Vertrags willen entsprungen, sondern als
Reflexwirkungen der saehenrechtliohen Befugnisse , als Begleit-
erscheinungen des dinglichen Rechtes zu bezeichnen sind. Freilich
sind auch sie von äusserst geringer Bedeutung und dürften
kaum eine nennenswerthe Rolle gespielt haben. Denn es ist
nach dem vorstehend über die Grundzüge des ganzen Leihe-
rechtes Gesagten klar, dass die hier in Betracht zu ziehende
Frage nach Ersatzansprüchen, die für den Leiheherrn etwa wegen
Verschlechterung des Leihegutes, für den Beliehenen wegen dafür
ausgelegten und verwendeten Aufwandes zur Entstehung kommen
konnten, auch ganz abgesehen von der primitiven Entwickelungs-
stufe, auf welcher damals das Schadensersatzrecht sich befand,
nur in den seltensten Fällen actuell werden konnte. Für Guts-
verschlechterung ist in der Mehrzahl der Fälle überhaupt nicht
vorgesehen '), sei es, dass der Leiheherr ihrer gar nicht gedachte,
weil ihm mit der Erfüllung der Zinspflicht Genüge geschah, sei
es, dass eine Deteriorierung des Gutes nach dessen ursprünglichem
jeder Cultur entbehrenden Zustande oder bub dem Grunde nicht
zu besorgen war, weil des Beliehenen lebendigstes Interesse ihn
zur Pflege und zur Verbesserung des geliehenen Grundstückes
hindrängte. Wo unter den Verhältnissen des einzelnen Falles
gleichwohl eine Gofahr in dieser Richtung zu besorgen war,
wurde dem entweder in der Begründung der Pflicht zu ge-
höriger Cultivierung oder durch Einführung besonderer Sicher-
stellungsmittel Rechnung getragen. Eine allgemeine, in dem
gewöhnlichen Leihevertrage als solchem — ohne Rücksicht auf
') vergl. oben S. 2ö.
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specielle Verabredungen — gelegene Ereatzpflicht läset eich aue
dem vorliegenden Urkundcntnateriale nicht erechlieseen.
Noch einfacher wo möglich erledigt sich die andere Frage
nach Ersatzansprüchen dee Nutzungsberechtigten oder der Seinigen
für Aufwände, die auf das Leihegut verwendet worden sind und
ihm zum Vortheile gereicht haben. Denn bei normalem Verlaufe
des Leihe Verhältnisses kam diese Frage der Regel nach über-
haupt gar nicht zur Entstehung. Das Grundstück und die darauf
gelegte Besserung theilten, wie oben ’) schon ausgeführt wurde,
das gleiche rechtliche Schicksal. Mit dem Erlöschen des Leihe-
rechtes kam das Gut mit der Besserung in des Leiheherrn un-
beschränkte Verfügungsgewalt; dass dieser eine Entschädigung,
eine Ablösung für die Meliorationen zu zahlen hätte, davon ist
wohl nirgends mit einem Worte die Rede. Und bei der Sach-
lage, bei der es zu einer solchen Beendigung des Leihever-
hältnisses kam, lag dafür auch keine Veranlassung vor.
Wenn das Leihegut nach dem Aussterben der beliehenen
Familie an den Leiheherrn zurückfiel, dann mochte es nämlich in der
Regel überhaupt an einem Subjecte fehlen, welches Ersatzan-
sprüche erheben konnte. Zudem lag in der Gewährung des
Erbrechtes in der Regel eine so bedeutende Begünstigung für
das Haus des Beliehenen, dass es nur billig erscheinen musste,
wenn endlich nach dem Aussterben der berechtigten Personen
der Leiheherr in dem Empfange der Besserung auch etwas an
dem durch seine Gunst ermöglichten Vortheile participierte. Eine
gleiche rechtliche Regelung für die Fälle des strafweisen Rechts-
verlustes war aber gewiss noch weit mehr in dem Willen und
den Intentionen des Cnntrahenten gelegen, gewährten doch in vielen
Fällen gerade die Meliorationen erst die genügende Sicherheit
für den Vertrag.
Auch die Rechtsbücher geben einen gewissen Anhaltspunkt
in dieser Richtung, indem namentlich die Bestimmungen des
Sachsenspiegels *) über das rechtliche Schicksal der auf Zins
und Lehengüter errichteten Baulichkeiten wohl für beide Rechts-
gebiete in gleicher Weise die Annahmen zu rechtfertigen scheinen,
dass bei dem Heimfall die Besserung nicht vergütet wurde. Die
Festsetzungen des Sachsenspiegels *), welche ausdrücklich eine
Verpflichtung des Herrn zur Ablösung gewisser Meliorationen,
*) «. 8. 36.
*) II Art. 21 § 1 und 2, vergl. auch oben S. 6 insb. Amn. 2.
•) II Art. 53 s. o. 8. 6.
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die der abziehende Zinsmann geschaffen hatte, statuierten, gelten
aber, so weit sie sich überhaupt auch auf Erbleihen beziehen,
unzweifelhaft nur von dem letzten noch möglichen Falle der
Beendigung eines Leiheverhältnisses, nämlich dem der freien
Vereinbarung des Leihcherrn und Beliehenen. Hier musste
wohl der freie Vertragswille, der das Leiheverhältnis auflöste,
auch die auftauchenden Ersatzfragen erledigen, ohne dass es
dabei zur Ausbildung einer allgemeinen Regel gekommen wäre.
Darauf finden wir auch noch in den späteren rheinischen Land-
rechten einen ziemlich deutlichen Hinweis ,).
Indem hiermit der Kreis der bei dem Leiheverhältnisse in
Betracht kommenden Verpflichtungs Verhältnisse ziemlich erschöpft
ist, dürfte deutlich zu Tage getreten sein, dass die neben
der Zinspflicht vorkommenden , secundären Vertragsverbindlich-
keiten dem gleichen rechtlichen Grundgedanken folgen, wie
er oben für die im Zinse liegende Hauptverbindlichkeit darge-
stellt wurde. Die rechtliche Ausgestaltung, welche die einzelnen
Verträge bei aller Verschiedenheit in den Details erfahren
haben, erscheint, die Richtigkeit der obigen Ausführungen vor-
ausgesetzt, möglichst einfach und einheitlich. Der Bestand des
Leiheverhältnisses war schlechthin an die gehörige Erfüllung der
Vertrags Verpflichtung geknüpft und das dem Leiheherrn ver-
bleibende Eigenthum, beziehungsweise die Möglichkeit einer Be-
freiung desselben von den es eindämmenden Schranken, gab
diesem die Mittel für die Erzwingbarkeit und zugleich für die
Realisierbarkeit seiner Ansprüche gegenüber jedem in die Hand,
der als Besitzer des Leihegutes in der Erfüllung seiner Ver-
pflichtungen säumig war. Dabei bedurfte es keiner complicierten
juristischen (Jonstruetion dee persönlichen Verpflichtungs Verhält-
nisses in dem die Gewährung des Nutzungsrechtes von den verlangten
Gegenleistungen nicht isoliert wurde, sondern die Erfüllung der
Zinspflicht und der anderen Vertragsverbindlichkeiten dem ge-
währten Gebrauchsrechte wirthschaftlich als Äquivalent, zugleich
aber rechtlich als Bedingung für dessen weitere Dauer gegen-
überstand. Und wenn in diesen Punkten die vorwiegend sachen-
rechtliche Behandlung des Leiheverhältnisses dem Eigenthümer
eine Macht in die Hände spielte, die viel einfacher und off
') vergl. v. d. Nahm er a. a. O. I S. 12, 422.
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wirksamer als irgend welche bei gewöhnlichen Verpflichtungen
eingeräumte Zwangsmittel die Befriedigung seiner Ansprüche
sicherstellte, so galt in dem Ausschlüsse einer Uber die in den
Leihevertrag einbezogenen Güter hinausreichenden Haftbarkeit
das gleiche Princip auch dort, wo es dem Leiheherru nicht zum
Vortheil gereichte.
So ist das Erbleiherecht auf dieser Stufe seiner Entwickelung
nach allen wichtigen Beziehungen von demselben Rechtsgedanken
beherrscht. Es ist das Eigenthum des Leiheherrn, welches seinen
Ansprüchen Erzwingbarkeit verlieh und ihre Durchsetzung ver-
bürgte, zugleich aber auch die Grenzen für die leiheherrliche Macht
fixierte, wie überhaupt jede Ingerenz, welche dem Leiheherrn bei
normalem und abnormalem Verlaufe des Leiheverhältnisses zu-
stand, in letzter Linie auf das Eigenthun) zurückzuführen ist.
Dieser Grundgedanke übte sogar, wie bei der Besprechung der
Cautioncn sich zeigte, über den ihm eigentlich unterworfenen Rechts-
kreis hinaus einen Einfluss aus auf die Art der Behandlung
anderer Rechtsverhältnisse ').
Es bedarf keines besonderen Hinweises darauf, das diese
einheitliche und einfache Ausgestaltung des Rechtsinstitutes, die
wir als Ergebnis unserer Untersuchung bezeichnen können, für
die Verhältnisse der damaligen Zeit völlig angemessen erscheint.
Gerade der Vergleich mit dem, was eine spätere, reichere Ent-
wickelung (namentlich auf städtischem Bodein) aus den ursprüng-
lich einfachen Rechtsbildungen gemacht, der Vergleich mit einer
Form rechtlicher Ausgestaltung, in der vieles so anders geworden
war, dass wir den ursprünglichen Keim und damit den Schlüssel
zur Erklärung mancher Eigent hümlichkeit kaum zu finden ver-
mögen, und in der wir weder Einfachheit noch Einheitlichkeit
wieder erkennen, weist mit voller Bestimmtheit darauf hin, dass
für die Zeiten, die wir im Auge hatten, das Leiherecht nicht
über eine anfängliche Stufe seiner Entwickelung hinausgekommen
war, wie sic wohl höchstens auf dem Gebiete des conservativen
ländlichen Rechtes von Dauer bleiben konnte.
Indessen geben gerade diese zuletzt hervorgehobenen Mo-
mente, der Hinweis auf die einfache und einheitliche rechtliche
Ausgestaltung und auf die primitive Entwickelungsstufe unseres
') s. o. S. 7H f.
t>. Srhirind, Krbleilien. ß
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Leiherechtes Anlass zu einigen ergänzenden und einschränkenden
Bemerkungen, welche naheliegende Misversländnisse nusschliessen
sollen.
Zunächst wäre es irrig, wollte man wegen der hier dar-
gelegten und hervorgehobenen Einheit des dem Leiherechte zu
Grunde liegenden rechtlichen Gedankens eine volle Uniformität
unter den einzelnen Leihe Verträgen annehmen, wollte man die
Einheitlichkeit des Principes im Sinne einer Gleichheit der Einzel-
abmachungen deuten. Nichts könnte weniger der Wirklichkeit
entsprechen. Sind ja doch die Leiheverträge ohne die äussere
Directive irgend welcher gesetzlicher Normierungen unmittelbar
aus dem Leben entstanden, so dass sich in ihnen die ganze
Mannigfaltigkeit wiederspiegelt, welche das Leben und seine Be-
dürfnisse auszeichnet, weil jeder einzelne Vertrag, angepasst den
Verhältnissen, aus denen er entsprungen, seine eigene individuelle
rechtliche Ausbildung erhielt ').
So wird das als Grundlage des Leiherechtes behauptete ein-
heitliche Princip in seinem Bestände nicht in Frage gestellt,
wenn in einzelnen solchen Abmachungen manches anders fest-
gesetzt wurde, als es nach den obigen Ausführungen im allge-
meinen gebräuchlich war, und man wird auch darin keinen
Widerspruch erblicken , wenn im einzelnen sich Abweichungen
von den Conscquenzen finden, die aus dem allgemeinen Grund-
gedanken zu folgern wären. Denn fertig und unwandelbar fest-
stehende Rechtsgrundsätze, wie sie sich in einem legislativ aus-
gebildeten Rechtssysteme finden können, Rechtsprincipien, die
mit zwingender Kraft die Lebensverhältnisse in ihren rechtlichen
Beziehungen sich unterwerfen und jede Ausnahme, jedes Ab-
weichen von der Regel unmöglich machen können, sind
dem auf der Grundlage freier Willensdispositioncn sich bil-
denden Gewohnheitsrechte in seinem Werdeprocesse überhaupt
vollkommen fremd. Und wenn das Ergebnis unserer Unter-
suchung dahin führte, festzustellen, dass die grosse Mehrzahl
der Leiheverträge auf Grund desselben Rechtsgedankens ihre
rechtliche Ausgestaltung gewonnen haben, obwohl kein zwin-
gendes Gesetz, keine Vorschrift materiellen oder formellen In-
haltes eine solche Gleichmässigkeit verursacht haben, dann sind
*) Dabei ist freilich zuzugeben, dass das Vorhandensein von mehr oder
weniger allgemein gebräuchlichen Vertragsformularen manches von dieser
Ursprünglichkeit verdrängen konnte.
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83
wir wohl berechtigt, diesem Grundgedanken, ungeachtet ein-
zelner Ausnahmen, principielle Bedeutung zuzuerkennen.
Wichtiger indes als das eben Gesagte sind die Ueber-
legungen historischer Art, zu welchen die obigen Andeutungen
über den eine anfängliche Entwickelungsstufe kennzeichnenden
Character unserer Leiheverträge Anlass geben. Denn so sicher
es fest steht, dass die freie Erbleihe, wie sie eben geschildert
wurde, eine vorwiegend erst dem 12. Jahrhunderte angehörige neue
Rechtsbildung ist, die sich früher so nicht findet, so gewiss ist
es demgegenüber, wie schon in der Einleitung hervorgehoben
wurde, dass sich .Landleihen auf deutschem Boden bis auf die
ältesten Zeiten zurück nachweisen lassen, und so irrig wäre es,
wollte man annehmen , dass die dem neuen Leiherechte zu
Grunde liegenden ßechtsgedanken dem älteren deutschen Rechte
völlig unbekannt gewesen wären. Einer solchen Vermuthung
Hesse sich sogar der Satz entgegenstcllen, dass kein Bestandtheil
des positiven Rcchtsinhaltes der neuen Leiheform genannt werden
könnte, der in den verschiedenen Formen der älteren Leihe
sich nicht gleichfalls fände, oder nicht wenigstens sein Vorbild
und die Wurzel für seine Entstehung im älteren Rechte zu
suchen hätte. Wenn nun auf diese Art der characteristische
Inhalt für die hier besprochene Leiheform darin bestehen muss,
dass gerade die oben ausgeführten rechtlichen Momente sich bei-
sammen finden, und dass in ihnen der rechtliche Gehalt der Leihe-
verträge sich erschöpft, so ist damit schon zur Genüge begründet,
dass ein volles Verständnis des neuen Erbleiherechtes ohne Be-
rücksichtigung des historischen Hintergrundes und die Art seiner
Entstehung überhaupt nicht zu erreichen ist. Diese historische
Untersuchung soll im folgenden Abschnitte versucht werden.
Historischer Theil.
Das Verhältnis zu den verwandten älteren und
gleichzeitigen Laudleihen.
Die bisherigen Ausführungen haben sich darauf beschränkt,
den rechtlichen Inhalt der untersuchten Landleiheform in vor-
wiegend dogmatischer Weise festzustellen. Es galt zunächst
zur Gewinnung einer festen Grundlage für weitere vergleichende
6*
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84
und ergänzende Untersuchungen, klarzulegen, welche rechtlichen
Momente nach den uns über das fragliche Institut unmittelbar
erhaltenen Verbriefungen als dessen wesentlichen und typischen
Merkmale anzusehcn seien. Historische Abschweifungen, eine
Rundschau auf die gleichzeitigen analogen Rcchtsbildungen
wurden im allgemeinen vermieden, um eine Trübung der Ergeb-
nisse durch vielleicht unberechtigte Übertragungen anderwärts
geltender Grundsätze nach Thunlichkeit hintanzuhalten. Liegt in
dieser engen Begrenzung des der Untersuchung zu Grunde gelegten
Materiales die gewiss nicht abzuleugnende Gefahr einer möglichen
Einseitigkeit und Un Vollständigkeit der gewonnenen Resultate, so ist
doch auf der anderen Seite nicht zu übersehen, dass selbst in Zeiten,
in denen die Beurkundungen sich nicht durch übergrosse Genauig-
keit auszeichneten, die wesentlichen und characteristischen Ver-
tragsbestimmungen in den Vertragsaufzeichnungen zum Ausdrucke
gelangt sein dürften, und dass demnach — mögen andere Details
des Vertragsinhaltes als selbstverständlich oder aus Übersehen
vernachlässigt worden sein — aus einer grösseren Anzahl von
Urkunden die prägnanten Momente immerhin zu gewinnen sein
dürften.
Wenn nun im folgenden der Versuch unternommen werden
soll, das bisher Gewonnene aus seiner isolierten Stellung in die
ihm gebührende historische Umrahmung zu bringen, so dass
daun das Einzelne nicht mehr als losgerissenes Glied, sondern
als Theil eines einheitlichen Ganzen erscheinen kann, so lasst
sich aus einer solchen rechtsgeschichtlichen Untersuchung in
zweifacher Richtung ein Gewinn erhoffen: Zunächst in dogma-
tischer Beziehung, indem möglicherweise der Inhalt unseres Rechts-
institutes durch Vergleichung mit verwandten Rechtsgebilden
manche Ergänzung, in der Gegenüberstellung mit anders gearteten
dort und da eine schärfere Abgrenzung erfahren kann; dann in
Rücksicht auf die rechtsgeschichtliche Continuität, insoferne das
geschichtlich Vorangehende und parallel Laufende einen inneren
Zusammenhang mit dem Neuentstaudenen aufweisen knnu.
Für eine solche rcchtsgeschichtlichc Vergleichung möchte
man zunächst vielleicht geneigt sein, das ulte freie Leihe-
verhältnis, das als Precarie in den verschiedensten Formen
zur Anwendung kam, als möglichen Vorläufer der späteren
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Leihen in den Kreis des Betrachtung zu ziehen. Denn unter
den mannigfaltigen Ausgestaltungen, zu denen die Precarien in
den weiten deutschen Landen kamen '), stehen manche ihrem
Rechtsinhalte nach den hier besprochenen Landleihen ziemlich
nahe. Gleichwohl lässt sich leicht und mit aller Bestimmtheit
nachweisen, dass für die hier besprochenen Gegenden am Rheine
jede Möglichkeit fehlt, einen inneren oder äusseren Zusammenhang
zwischen beiden Leiheformen aufzufinden *).
Es ist in dieser Beziehung noch weniger entscheidend, dass
zeitlich eine rechte Continuität zwischen den späteren sog. freien
und den älteren precarischen Leihen fehlt, indem das erhaltene
Urkundenmaterial die Annahme aussehliesst, dass beide .Formen
durch eine Periode, die sich als Übergangszeit kennzeichnen
würde, neben einander bestanden hätten, vielmehr die Precarei-
verträge schon zu einer Zeit selten werden und aussterben, in
der das neue Rechtsintitut noch kaum in den ersten Anfängen
zu erweisen ist.
Mächtiger fällt der weitere Umstand in die Wage, dass dem
rechtlichen Inhalte der Prec.areiverträge, wie er seit den Anfängen
des 10. Jahrhunderts mit grosser innerer Constanz gebräuchlich
wurde, jede Beziehung zu den Elementen des späteren Leihe-
rechtes fehlt. Denn fast ausnahmslos finden sich dort Precarien,
die als characteristische und ungetrübte Fälle der precaria remu-
neratoria im Sinne der heutigen Rechtssprache sich darstellen.
Eis waren in der Regel einzelne freie Leute und Besitzer von
Grundstücken, nicht selten geistliche Würdenträger, die sich
an ein Stift oder Kloster oder sonst eine geistliche Corporation
mit der Bitte wendeten, einen Precareivertrag eingehen zu dürfen.
Sie überliessen sodann mit allem für die Investitur vorge-
schriebenen Ceremoniell einen Thcil oder all ihre liegenden
Güter dem geistlichen Hause , das seinerseits dem Precaristen
gewisse Grundstücke an wies, ea scilicet ratione, wie sich
z. B. eine solche Urkunde8) ausdrückt, ut usque ad terminum
vite mee et quod dedi et quod accepi sccundum precarium ins
absque ullius contradictione possideam, post obitum vero meum
utraque cum omni integritate ad predictum coenobium redeant.
*) vergl. oben Einleitung S. 2.
*) vergl. auch Lampreoht, D. W. L. 1 2 S. 891 ff.
*) 975 MK. UB. I 215.
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Der Regel nach waren hier diese Precarien auf Lebens-
dauer des Beliehenen ') und nur ausnahmsweise auch für eine
nachfolgende Generation’) abgeschlossen; wirkliche Erblichkeit
scheint dagegen den rheinländischen Precarien fremd geblieben
zu sein. Ebenso ist gewöhnlich von einem Zinse keine Rede,
und unter den wenigen Fällen, die einen solchen erwähnen, wird
er meist als eine Zahlung genannt, die der Precarist in Er-
weiterung der von dem Grundherrn gewährten Concessionen erhält*),
erscheint somit als ein Zins recht, nicht eine Zinspflicht des
Beliehenen. Man wird daher nicht Unrecht thun zu behaupten,
dass gerade die beiden das Erbleiherecht beherrschenden charac-
teristischen Bestimmungen, Erblichkeit des Rechtes und Zins-
pflicht des Besitzers, in den hier in Betracht kommenden Pre-
carienverträgen vollends fehlen. Berücksichtigt man hiezu, was
Lamprecht4) hervorhebt , dass der Kreis der Personen *),
welche Precarien eingiengen, den höherstehenden Volksschichten
angehörte, Volksschichten, die sich des Besitzes grösserer Güter
zu erfreuen hatten, während die Leiheverträge, wie oben an-
gedeutet, meist den ärmeren Klassen zu Gute kamen, und dass
die wirtschaftliche Function der beiden Leihen eine völlig ver-
schiedene war, so dürfte bei der Verschiedenheit der Zeit, in
der sie nachweisbar sind, ihres rechtlichen Inhaltes, sowie ihres
Anwendungsgebietes und öconomischen Zweckes die Annahme
eines inneren Zusammenhanges zwischen beiden wohl jeder
Begründung entbehren.
Anders steht es mit denjenigen Leiheformen, die im Kreise
des Wirthsehaftsbetriebes namentlich der grösseren Grundbesitzer
zur Entstehung gelangten und bald nuch den gewöhnlichen
Grundsätzen des Hofrechtes, bald in Anlehnung an lehenrechtliche
Gebräuche ihre Regelung fanden. Hier überall, wie bei den oben
geschilderten freien Erbleihcverhältnissen, galt es die Lösung des
gleichen wirtschaftlichen Problemcs der indirecten Verwertung
>) z. B. MR. UB. 1 948—950, 190 ; 964, 219; 967, 228 ; 971, 235; 975,
245; 996, 273; 1041, 315; ?, 324.
») z. B. MR UB. I 1062, 338; wobl auch c. 948, 186.
*) MR. UB, I 996, 273; 1041, 315; ?, 324.
*) D.W.L. I, 2. S. 898 f.
s) z. B. MR UB. 1 948—950, 190 vir iugenuus; 967, 228 Chorbischof;
975, 245 Archidiakon; 996, 273 domna Bertha; 324 ein Graf etc.
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eines herrschaftlichen Grundstückes, das nicht in unmittelbarer
Benutzung und Bewirtschaftung des Herrnhofes stand, dessen
Bebauung und Nutzung vielmehr irgend welchen Angehörigen
der Gutsherrschaft überlassen wurde.
Es ist bekannt, dass innerhalb des weiten Kreises der Hof-
verbände, wie solche bei dem grossen Grundbesitze der geist-
lichen und weltlichen Herrn zur Ausgestaltung kamen, sich Ele-
mente aus den verschiedensten Stauden und socialen Schichten
zusammenfandeu. Neben Unfreien, die in dem Verhältnisse der
strengsten Abhängigkeit zu jedem Dienste bereit sein mussten,
den ihnen des Herrn Befehl und Laune zuwies, wieder andere,
deren LeistungspHicht auf ein bestimmtes Mass beschränkt war,
und denen oft sogar ein mehr oder minder weit reichendes Be-
sitz- und Nutzungsrecht an einem Stücke Grund und Bodens,
jenem wichtigsten Erwerbsquell der damaligen Zeit, einge-
räumt war. Unter ihnen werden oft mit besonderem Rechte
genannt Ministerialen und andere, die durch die Gunst des Herrn
zu einer Sonderstellung gegenüber den Genossen gelangt waren;
daneben wieder einstmals Freie, die unter gewissen Bedingungen
eich der Freiheit entäussert und sich nur Besitz und Nutzung an
der ehemals eigenen Hufe in dieser oder jener Form für sich
oder auch für die Nachkommenschaft Vorbehalten hatten, als
sie in das Gewaltverhältnis eingetreten waren; dann wieder
Freigelassene . die — ursprünglich vielleicht in grösserer
Abhängigkeit — mit der Freiheit ein Mehr- oder Mindermass
von Rechten für ihre Person wie für ihr Vermögen erlangt hatten;
endlich wirklich Freie, die nur in ein Schutzverhältnis zu dem
Herrn getreten waren, ihm ihr Gut gegen Rückverleihung unter
mannigfachen Bedingungen aufgetragen hatten, und dann im
weiteren Verlaufe der Zeiten bei dem Übergang von einer Ge-
neration zur anderen bald mehr bald weniger von den alten
Freiheiten und Rechten an die grosse Grundherrschaft verloren
oder für sich erhalten haben.
Dieses gewiss schon hinreichend bunte Bild erfuhr noch
weitere Nuancierungen und Abstufungen durch die Verschieden-
heiten, welche die wirtschaftlichen wie die rechtlichen Beziehungen
des Einzelnen zu seinem Herrnhofe und dessen Verwaltungs-
organen mit sich brachte. Wie die grundherrschaftliche Gutsver-
waltung die wirthschaftlichen Kräfte der ihr ungehörigen Glieder
sich zu Nutzen machte und ihrem Organismus einfügte oder unter-
stellte, ob der Einzelne in unmittelbare Beziehung zum Salhofe
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und dessen centralen Verwaltungsorganen gebracht, oder ob er
einem nahen oder entfernten Meierhofe und Meieramte zugewiesen
wurde, oder ob andererseits der einzelnen Individualität ihre
volle wirtschaftliche Selbstständigkeit belassen wurde, all die«
sind Fragen, die, ihrer Natur nach zunächst öconomischer Art, in
ihren Wirkungen auch auf dem Gebiete des Rechtes für den
Betroffenen von grosser, oft von der einschneidensten Bedeutung
sein konnten.
Unmittelbar die rechtliche Stellung betraf wieder die Be-
ziehung zu den verschiedenen innerhalb der Herrschaft ausge-
bildeten Gerichten und gerichtlichen Gewalten, die im Laufe
der Jahrhunderte sich entwickelt hatten. Ursprünglich entstanden
aus der Disciplinargewalt über die Unfreien hatte das Hofgericht
in seinen verschiedenen Anwendungen einen immer grösser
werdenden Competenzkreis in sachlicher und persönlicher Be-
ziehung sich errungen. Das rechtliche und wirtschaftliche
Abhängigkeitsverhältnis , in dem die verschiedenen Glieder
des Gutsverbandes standen, war natürlich auch ausschlag-
gebend für die Art der concreten Entwickelung. Die ent-
scheidensten und vielleicht am tiefsten empfundenen Fragen
giengen darauf hinaus, ob der Hofnngehörige der vogtei-
lichen Gerichtsbarkeit am einzelnen Meierhofe oder unmittelbar
der herrschaftlichen Gerichtsbarkeit des Gutsherrn unterstand,
(ob er bei dem einen oder dem anderen dingpflichtig war), oder
ob ihm gar jede Beziehung zu dem herrschaftlichen Gerichte fehlte,
und das Landgericht des Grafen für ihn das ausschliesslich com-
petente Gericht blieb. Wollte man ausserdem noch all der
Specialgerichte gedenken, die innerhalb der Gutsherrschaften zur
Entstehung kommen konnten, und noch betonen, dass auch lehen-
rechtliche Elemente unter Umständen hier zu Einfluss gelangt
sind, so würde darin der Hinweis auf weitere mögliche Compli-
cationen enthalten sein.
Indes wird auch schon das bisher Gesagte geeignet sein, eine
Vorstellung zu geben von der unerschöpflichen Mannigfaltigkeit
der rechtlichen und factischcn Verhältnisse, die in einer solchen
Gutsherrschaft sich beisammen finden konnten, zumal wenn man
bedenkt, dass die Verschiedenheiten persönlicher, wirtschaft-
licher und gerichtlicher Art, die hier nach dem Scheidungs-
grunde gesondert aufgeführt wurden , im Leben sich gegen-
seitig durchdrungen haben, und dass die einzelnen hier
genannten Momente doch nur die wichtigsten Abstufungen
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aus einer grösseren Reihe bedeuten , innerhalb deren die in-
dividuelle Willkür und zufällige Beeinflussungen von Gau zu
Gau und von Hof zu Hof den Grund für eine weitere Viel-
gestaltigkeit abgeben konnte.
Es liegt völlig abseits von dem Zwecke und der Absicht
der vorliegenden Untersuchung, den Einzelheiten nachzugehen,
die innerhalb eines aus so vielerlei Elementen gebildeten, von
Verschiedenheiten so vielfacher Art durchdrungenen Organismus
entstanden und oft bis zu einer kaum mehr entwirrbaren
chaotischen Gestaltung gelangt sind.
Der Grund, warum hier auf diese Verhältnisse hingewiesen,
und warum des Vorhandenseins dieser Oomplicationen überhaupt
gedacht wurde, liegt vielmehr ausschliesslich darin, dass in dem
so gestalteten Wirthschaftssysteme eine reiche Fülle von Land-
leihcn ins Leben traten, die mit den früher besprochenen in
vieler Beziehung verwandt sind und übereinstimmen, und die
ihrerseits durch die oben geschilderten persönlichen und recht-
lichen Verhältnisse des Wirthschaftsverbandes um so wesentlicher
mit bestimmt wurden, als die uns heutzutage geläufige Scheidung von
persönlichem und Vermögensrecht, von öffentlichrechtlicher und
privatrechtlicher Gewalt der damaligen Zeit vielfach nicht
zum Bewusstsein gekommen war, und allüberall Elemente
der genannten verschiedenen Rechtsgebiete sich beisammen
gefunden und durchdningen haben.
Die unterste und am schlechtesten gestellte Klasse der
Hörigen, die als Dienerschaft für den täglichen Dienst im
Herrenhause zu sorgen hatten oder als Tagewerker auf dem
Felde verwendet wurden, konnten sich freilich eines Grundbesitzes
nicht erfreuen. Aber es lag in den Verhältnissen einer fast aus-
schliesslich der Landwirtschaft zugewendeten volkswirtschaft-
lichen Periode, dass eine möglichst grosse Zahl der einem Herren-
hofe unterstehenden Leute in diesem Productionsgebiete ihre Ver-
wendung finden mussten. Frühzeitig war die Form dafür, soferne
nicht der unmittelbar herrschaftliche Betrieb im Sallande anderes
verlangte, die Überlassung eines Grundstückes an Eigenleute zu
mehr oder weniger selbstständiger Pflege desselben. Dieses
ursprünglich vielleicht rein factische Verhältnis, das wenigstens
äusserlich als Leihe erschien, kam später häufig zu einer
Art rechtlicher Bedeutung. Die Besitzeinräumung, anfänglich
höchst preeärer Natur und in Dauer und Umfang abhängig von
dem Belieben des Herrn, wurde dem Beliehenen bald bleibend, auf
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Lebensdauer oder auch darüber hinaus, zugesichert, und
das Maas der Gegenleistungen und Verpflichtungen, welche
dieser dem Herrn schuldete, wurde von früherer Unbe-
schränkthcit in gewisse feststehende Grenzen eingedämmt, die
einzuhalten der Herr freilich durch keine äussere zwingende
Macht, wohl aber durch sein inneres Rechtlichkeitsgefühl und
vielfach auch durch die Gebote bestimmt wurde, welche ihm die
Wahrung seiner eigenen Interessen auferlegte.
In den Verhältnissen dieser Art überwiegt unzweifelhaft
gemäss der rechtlichen Stellung des Herrn zu seinen Hörigen
in allem und jedem das herrschaftliche Gewalt Verhältnis ; dem
entspricht es auch, dass die Besitzer solcher Hufen im Verhält-
nisse zu anderen Zinspflichtigen oft mit besonders weit reichenden
persönlichen Pflichten belastet erscheinen '). Die den Hörigen
gemachten Concessioncn sind vielfach mehr factiecher als
streng rechtlicher Art; zum mindesten liegt in ihnen mehr
eine Selbstbeschränkung, die sich der Herr selbst auferlegt hat,
als eine gegenseitige Abmachung nach Art eines Vertrages.
Aber trotz dieses Übergewichtes der herrschaftlichen Rechte
lässt sich uicht selten eine relativ günstige Lage für solche Hö-
rige urkundlich nachweisen, so selten auch in jenen Zeiten ein
Anlass zur Aufzeichnung dieser Rechtsverhältnisse vorhanden
gewesen sein mag. Eine Urkunde des Mainzer Erzbischöfe*
von 1074 lässt z. B. schliessen, dass eine ganze Gruppe unter
seinen Hörigen , die er als die bcstgestellte bezeichnet, die
Güter auf die im Hofverbande bleibenden Söhne vererben
konnte*). Zahlreiche Urkunden*) namentlich aus dem Wetz-
') vgl. ■>.. B. in dem Güterverzeichnisse des Stiftes zu Carden J1R ÜB.
1 4m) die Gegenüberstellung von mansus centum residentes and mansus
servitiales, qui multiplici iure curti subserviunt, oder Urk. 1176
Lao. I 457, wo ursprünglich zwei Dritttheile des Frucbtertrages für die Guts-
herrschaft in Anspruch geuomuien wurden, u. a.
*) MR. UB. I 374 . . . id ius in serviendo ccinecssum est, quod Opti-
mum ecclesiae nostrae servieutes habent. Bonaautem eorum illis morien-
tibus ad filios suos, qui nostre ecclesie sunt, pertineant.
*) z. B. 1192 — 1210 ME. UB. II 208 nt inhabitarent in domo illa
quam diu viverent, uon sicut heredes, sed sicut coloni (dabei ist in
concreto von Freien die Rede); 1238 Gudenus V pag. 5; 1252 MR UB. III
1138, wo die Neuverleihung an die Erben sogar in Aussicht gestellt ist.
Der Beliehenc ist als Färber bezeichnet, gehört also kaum der untersten
socialen Schichte an; 1253 Gud. V p. 26 etc. etc.; vergl. auch aus älterer
Zeit die Triersche Urkunde 1097 MH. UB. I 393, die von einem erblichen
Rechte der mcrcennarii (nach Lamprecht mansionarii) am Sallandu spricht
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larer Gebiete zeigen die dortigen Colonen in einem wenigstens auf
Lebenszeit gesichertem Besitze, und vereinzelt finden sich sogar
Bestimmungen, welche den Hofgenossen wenigstens innerhalb
des herrschaftlichen Machtkreises eine nahezu unbeschränkte
Dispositionsgewalt einräumen ').
Von grösserem Interesse speciell für unsere Fragen sind in-
des die Landleilien, in denen als Beliehene Angehörige jenes
grossen in sich die verschiedensten Elemente umfassenden und
nach aussen vielleicht nicht ganz strenge abzugrenzenden Mittel-
standes auftreten, jenes Standes, in welchem geminderte Freiheit
und erleichterte Unfreiheit sich zusammcnfanden und vermischten,
und der immer noch durch Freilassung schlechter Gestellter und
Ergebungen ursprünglich Freier seine stete Erweiterung erfuhr.
Manche Bevorzugungen, die zunächst nur Freien zu theil wurden,
fanden Anwendung auf die zu besserem Hechte gelangten Unfreien
und trugen bei zur Hebung und Verbesserung ihrer Lage, und
umgekehrt wurden Grundsätze, die zunächst in Anwendung auf
Hörige ihre Berechtigung hatten, auf ursprünglich freie Leute
übertragen. So entwickelte sich häufig auch über diese aus dem
einstigen Munt- oder Vogtei Verhältnisse eine gewisse herrschaft-
liche Gewalt und Machtbefugnis, die im einzelnen sehr verschiedenen
Inhalt und Umfang haben konnte, aber doch nicht bis zur völligen
Unterdrückung der rechtlichen Persönlichkeit der Censualen
reichte. Hierfür mag mit bestimmend gewesen sein, dass so viele
Glieder dieses Standes bei ihrem Eintritte freie Volksgenossen
gewesen sind, die als solche befähigt waren, durch vertrags-
mässige Vereinbarung ihr und ihrer Nachkommen rechtliches
Schicksal festzustellen, und die sich vertragsmäseig ein gewisses
Maas von Rechten und einen Rest der im übrigen geopferten
Freiheit Vorbehalten konnten.
Diese Mischung von persönlicher Abhängigkeit und selbst-
ständigem Rechte gegenüber der Herrschaft drückt sich vielleicht
nirgends deutlicher aus als in den Urkunden über solche im
') z. ß. in der freilich viel älteren Urkunde MR. L'ß. I 230 von lJ6ö- 975,
welche den hominibus scilicet famulis e. Petri den Güterbesitz bestätigt und
bestimmt ... ut sine interdictu omnium successorum nostrorum
feliciter teneant, fortuna volente jiossideant fauste succossoribus suis
quandoque relinquaut et liberam habeant po testet cm de pracdictis
praediis inter se donandi veudendi commutandi.
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92
Herrschaft 8 verbände der grossen Grundbesitzer abgeschlossene
Leiheverträge. Auf der einen Seite die Einräumung eines
dauernden weitgehenden Rechtes an dein geliehenen Gute, das
wie unten des näheren ausgeführt werden soll, oft fast mit den-
selben Rechten und Pflichten, wie sie im freien Leiherechte üb-
lich waren, den Angehörigen der Grundhorrschaft überlassen
wurden; und demgegenüber neben der Zinspflicht als einer An-
gabe rein vermögensreclitlicher Natur die Verpflichtung zu ver-
schiedenen anderen Gebühren und Leistungen, die oft einen un-
freien Character trugen oder wenigstens ein bestehendes persön-
liches Abhängigkeitsverhältnis zum Ausdruck brachten, sowie
endlich die Statuierung von persönlichen Einschränkungen, die
mit wirklicher Freiheit nicht wohl verträglich waren.
Wenden wir uns zunächst im Anschluss an das eben Aus-
geführte der Besprechung der in solchen Leihen zur Geltung
kommenden persönlichen Momente zu, so finden wir eine ziemliche
Mannigfaltigkeit der vorkommenden Bestimmungen, die hier zu
erschöpfen nicht unsere Absicht ist, bezüglich deren vielmehr ein
Hinweis auf die wichtigsten gebräuchlichen Kategorien genügen
dürfte.
Neben der Verpflichtung zur Zinszahlung, die keine Be-
sonderheit bietet, findet sich in solchen hofrechtlichen und ministe-
rialischen Leihen zunächst z. B. nicht selten die Verpflichtung
zu bestimmten im Leihebriefe näher präcisierten oder auch durch
die am Hofe allgemein geltenden Gewohnheiten festgesetzten
persönlichen Dienstleistungen '). Dann die gewöhnlich mit dem
Namen Vorhure bczeichnete Gebühr für den Rechtsübergang an
einen neuen Besitzer, in welcher der Hinweis auf eine bestehende
oder wenigstens ehedem einmal actuell gewesene Verpflichtung
des Nachfolgers gelegen ist, eine neue Verleihung des Gutes bei
dem Herrn anzusuchen. Nicht selten findet sich auch diese Ver-
pflichtung selbst ausdrücklich in den Urkunden genannt*), und
') z. B. MR. UB. I 332 .... venuas reticere, croadas facere, ad opera
Castelli venire, nniversa secundum antiquas institutioues iussum laudatumque
cst, adimplere . .; oder 1237 Lac. II 223 . . . tarn in prestandis decimis et
pensionibus annuis quam in aliis iuribus et consuetudinibus fideliter con-
servent et persolvent, sicut ccteri homines de familia dicte curtis ratione
suorum bonorum faciunt et facere tenentur, prout ipsa familia dixerit faci-
endum et ordinandum
») z. B. 1247 MR. UB. UI 930; 1249 Gud. II p. 948 f.; V 1253 p. 23
und 26 u. a.
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93
ihr kam begreiflicher Weise namentlich dann grössere Bedeutung
zu, wenn die Erblichkeit des Leiherechte6 mehr factisch als recht-
lich bestand.
Als ein Rest ursprünglich höriger Verhältnisse erscheint die
häufig genannte Abgabe pro curinede, das Besthauptsrecht des
herrschaftlichen Hofes, dem wir in verschiedenen Modificationen
ziemlich häufig begegnen, und das, gegenüber den früheren
analogen Abgaben zwar eine wesentliche Erleichterung *), gleich-
wohl den Beigeschmack der Unfreiheit in der Mehrzahl der Fälle
auch späterhin beibehalten hat.
Ein unmittelbarer Einfluss auf die Persönlichkeit des Censu-
alen äussert sich endlich in all den einschränkenden Bestimmungen,
welche die Freizügigkeit desselben ausschlossen und seinen
familienrechtliehen Angelegenheiten gewiss häufig hart empfundene
Schranken auferlegte. Hieher gehört die als licentia5) genannte
Abgabe, die im Falle der Verehelichung dem Herrn zu zahlen
war. In späterer Zeit oft nichts mehr als eine Gebühr, war sie
ursprünglich eine Gabe für den vom Herrn ertheilten Eheconsens,
also der greifbare Ausdruck dafür, dass diesem ein mächtiger,
oft entscheidender Einfluss auf die Eheschliessuugen seiner Leute
zukam. In dem nicht selten stipulierten Versprochen, Ehen nur
mit Personen, die derselben Herrschaft unterstanden, cinzugehen 4)
und endlich in der Zusicherung, dass die ganze Descendenz
derer, die das bezügliche Verhältnis eingiengen, dem Herrn
dauernd zugehören sollte5), findet dieses persönliche Abhängig-
keitsverhältnis seinen deutlichsten Ausdruck.
Genauere Auskünfte über die persönliche Stellung, welche
solche Angehörige des herrschaftlichen Verbandes, die mit Grund-
besitz beliehen wurden, zur grundherrschaftlichen Verwaltung in
*) neben vielen anderen z. B 1163 I.ac. 1 378; 1176 Ennen I 88; 1231
Lac. II 179; Gudenua V 1238, p. 5 12Ö3 p. 23; 26; 1266 MR. OB. III 1294;
1269 Lac II 592 u. a. m
*) vergl. z. B. 1166 Lac. I 416, wonach die Gräfin Hadewig von
Meer ihren Anspruch auf 2 Drittel bez. 1 Drittel des Nachlasses von hö-
rigen Leuten auf das Besthauptrecht herabmiudert.
■) z. B. 1153 Lac. I 378.
4) Erhard, Cod. dipl. Westfaliae 11276 in beneficium . . secundum
ius ministerialium a nobis susceperuut, insuper et fidem in manus nostras
sacramento firmantes dederunt, quod filii et filie eorum ecolesie
uostre filiis conubio iungereutur, ne possessiones ipsorum ab
ccclesia alienarentur u. a.
'•) 1282 Eunen 111 227 crimus homines ipsius curtis.
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rechtlicher, wie in wirtschaftlicher Beziehung einnahmen, geben
uns die für Einzelfälle erhaltenen Leiheurkunden der Regel nach
nicht, sie enthalten nur ab und zu gewisse Anhaltspunkte, die
eine mehr oder weniger bestimmte Deutung zulassen. Ein
Hinweis auf diese specifisch herrschaftlichen Verhältnisse war
ja auch nur in den Fällen geboten, in welchen das bisher Be-
stehende aus Anlass oder durch den Eintritt in die Leihe in
besonderer Art geändert werden sollte. Für alle anderen Fälle
war mit der Aufzeichnung der mit dem Grundbesitze übernommenen
Pflichten, mit der Festsetzung der von dem Beliehenen an die
Gutsherrschaft zu leistenden Dienste und Abgaben alles Wesent-
liche verzeichnet, indem das persönliche Verhältnis des Be-
liehenen, seine Stellung zum Gutsherrn und dessen Organen ent-
weder unverändert weiter bestand, oder sich den gegebenen Ortes
allgemein gütigen Grundsätzen einzupassen hatte1).
Mehr Anlass, auch diese Uber das Vermögensrecht hinaus-
reichenden , zwischen der Herrschaft und ihren Leuten
bestehenden Wechselbeziehungen in den Leiheurkunden zu
berühren, bot sich in jenen Fällen, wo ein grösserer Gütercomplex
an eine Mehrheit von Leuten zur Bebauung gleichzeitig ausge-
than oder schon bestehende Ansiedelungen dieser Art einer neuen
Regelung unterzogen wurden*). Denn hier handelte es sich
nicht mehr um so geringfügige Momente, wofür die rechtliche
Lage einer Einzelindividualität gehalten werden mochte, sondern
um eine grössere Gemeinschaft, deren Recht nicht schlechthin
nach dem der einzelnen Genossen bestimmt oder bestimm-
bar war, sondern — an sich gar mannigfacher Gestaltung
fähig — einer Regelung in concreto bedurfte, und auch wohl
meistens eine solche erfuhr. Die hierfür vorliegenden Urkunden
') vergl. 1245 MR.UB. 111 814 .... iure horeditario concessiraua ex-
colend&s. Ea videlicet conditione, ut ipsi iura curtis nostre in Neve more
aliorum censualium ad eaudem curtem pertinentium plenariter exequantur.
*) vergl. z. ß. die ziemlich ausführlichen Angaben in der Urk. des Mainzer
Erzbischöfe» Ruthardus (1100), abgedruckt in Joannis rerum Moguntiacarum
tom. U p. 738. Concessimus eciam familie ad predictum locum pertinenti
in perpetuum .... ut nullum Advocatum habest, niai me et successores
meoe. ut ad nullius Advocati pl ft ei tum conveniat, nulla advocacionis iura
persolvat; eura obierit vir sive mulier, Optimum pecus vel vestimeutum,
quod reliquerit, ad altare S. Justini deferutur, et ut nullus Uhorepis-
copus aliquant potestatem habest vel exerccat, niai ab Abbate fuerit vocatus.
tune quinque solidi in eius sumptus dentur etc.
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gehen freilich auch nicht gar weit ins Detail, sprechen aber
immerhin Uber die entscheidenden Fragen mit genügender Deut-
lichkeit.
So enthält z. B. die Urkunde '), mit welcher Abt Geldolf
von Brauweiler die von dem Abte Bertolf augeordnetc Vertheilung
des zum Hofe Kaiffcnhaim gehörigen Sallandes an die dortigen
Hofhörigen bestätigte, neben der Festsetzung der Zinssummen
die ausdrückliche Befreiung der Colonen von der Herrschaft und
dem Rechte des Meiers, die Befreiung von der Theilnahme an
dem Bauding und demgegenüber die Bestimmung, dass sie sich
nur an den drei Echtedingen des Vogtes betheiligen und un-
mittelbar dem Abte als Herrn des Gerichtes und der Gefälle,
sowie seinem Stellvertreter unterstehen sollten.
Eine ähnlich gefreite Stellung auf städtischem Boden verlieh
Erzbischof Bruno von Köln *) an 17 seinem Hofe zugehörigen
Familien, denen er ebenso viele Hofstätten zu censualem Rechte
überwies, mit der Zusicherung, dass sie von keiner weiteren
finanziellen oder Vogteilast betroffen werden, vielmehr „soluta
pensione predicta sub nostra protectione publicum ius civile in
causis civilibus“ gemessen sollten, und dass alle eventuellen
Streitigkeiten , welche die Hofstellen und die darauf gebauten
Häuser beträfen , „non nisi coram nobis vel etiam cui nos hoc
commiserimus“ würden verhandelt werden.
Anders wieder in strenger Einordnung in die gewöhnliche
grundherrliche Ordnung bestimmt eine Urkunde Theodorichs von
Isenburg *) die Abgabenpflicht der einzelnen an Hofgenossen ver-
gabten Grundstücke, und unterstellt gleichzeitig diese Leute der
Dingpflicht, wonach es ihnen oblag, dreimal jährlich an den
zugehörigen Hof zur Gerichtspflege zu kommen.
Ganz ähnlichen Bestimmungen begegnen wir dort, wo solche
ländliche Ansiedelungsverhältnisse ihre Regelung unter lehen-
rechtlichen Einflüssen fanden, also in den Fällen, wo die lehenrecht-
liche Form aus ihrer eigentlichen höheren Sphäre des militärischen
oder politischen Lehens herab auch auf das bäuerliche Recht
übertragen wurde 4).
*) 1149 Lac. I 967, ähnlich wie die eben abgedruokte Mainzer Urkunde.
») 1306—1208 Knnen II 29
>) 1247 MR. UB. UI 980.
•) *. B. 1236 Lac. II 211; 1260, 491; 1264 MH. UB. III 1265; 1271
Lamprecht UW.li. III No. 47 u. a. m. ; vergl. auch a. a. O. I 2
S. 901 ff.
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Diese lehenrechtlich ausgestalteten Landleihcn, die freilich
erst im 13. Jh. nachweisbar werden, gewähren noch dag eine
besondere Interesse, dass hier die persönlichen Beziehungen
analog den sonst im Lehenreehtc geltenden Grundsätzen geregelt
und auf ein Treueverhältnis gegründet werden. Dies findet auch
in dem Wortlaute der Urkunden, die oft des*juramcntum fide-
litatis gedenken oder des hommagiura Erwähnung thun ’), seinen
deutlichen Ausdruck.
Liegt in allen diesen zuletzt besprochenen Fällen das per-
sönliche Verhältnis des Hofgenossen zu seiner Herrschaft
wenigstens insofern klar, als der Bestand einer herrschaftlichen
Gerichtsbarkeit über den Beliehenen , dessen Dingpflicht , sowie
seine Stellung zu Vogt und Meier oder unmittelbar zu seinem
Herrn in dein Leihebriefe mit mehr oder weniger Deutlich-
keit bezeichnet wurde, so sind wir in anderen Fällen, wo
derlei ausdrückliche Angaben fehlen, auf das Gebiet der
Vcrmuthung gewiesen. Für diese geben dann allerdings, wie
schou oben angedeutet, einzelne nicht ausdrücklich der Haupt-
frage gewidmete Bestimmungen, wie namentlich der Hinweis
auf gewisse Arten von Abgaben und Beschränkungen, Anhalts-
punkte von nicht zu unterschätzendem Werthe, deren Ausbeutung
im einzelnen unter Berücksichtigung des anderwärts Bekannten
vielleicht zu ziemlich sicheren Ergebnissen führen könnte.
Für unsere Untersuchung ist indes die Beantwortung dieser
Detailfragen von secundärer Bedeutung. Es genügt vielmehr
festzustellen, dass im Kreise der grundherrschaftlichen Ver-
waltungsorganismen in vielseitiger Anwendung Landleihever-
hältnisse gebräuchlich waren, bei welchen abgesehen von den
rein vermögensrechtlichen Beziehungen zwischen Eigenthümer
und Besitzer auch noch andere die Persönlichkeit des Beliehenen
mit mehr oder weniger Macht erfassende rechtliche Bande be-
standen, also personenrechtliche Momente, wie solche sich na-
mentlich in den ausgebildeten eben wegen dieses Gegensatzes als
frei bezeichneten Leihen nicht auffinden lassen.
') Aus dem Kreise bäuerlicher Leihen z. B Lac. II 1227, 14s jura-
vit fidelitatcui; 1200, 491 fidelitatis hommagium; 1319 Lamprecht D.
W. L. III No. 96 iure feodi ligii cum onore iuramentis tidelitate. Zu
übersehen ist jedoch nicht, dass der Sprachgebrauch wie Lehen oder bene-
ticium etc. allein nicht immer ein sicherer Anhaltspunkt für die Annahme
eines gerade lehenrechtlichen Characters des Leiheverhältnisses ist, da diese
Ausdrücke wiederholt für Leihe überhaupt gebraucht werden. Vergl. die
oben S. 20 Anm. abgedruckte Stelle des Solmser Landrechtes.
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Es erübrigt noch nach dieser kurzen Skizzierung der bei
den verschiedenen Leihen gutsherrschaftlichen Characters rele-
vanten persönlichen Verhältnisse den schlechthin vermögensrecht-
lichen Inhalt derselben etwas näher zu bestimmen und dabei
die sich ergebenden Ähnlichkeiten und Verschiedenheiten gegen-
über den freien Leihen zu ermitteln. Die Beziehungen zu den
freien Erbleihen, welche bei den ganzen Ausführungen ihrem
Zwecke nach im Auge behalten werden musste, wird es recht-
fertigen, dass auch hier bei den censualen Leihen vornehmlich
nur erbliche Verhältnisse berücksichtigt werden.
Wenn man zunächst den Wortlaut der hier in Betracht
kommenden Leiheurkunden, soferne sie sich in eine nähere Prä-
cisierung des Falles einlassen und sich nicht auf allgemeine An-
gaben, wie etwa sub jure censuali und Ähnliches beschränken, ins
Auge fasst, so liegt schon in ihm eine weitgehende Ueberein-
stimmung mit den analogen Vereinbarungen in freien Verträgen,
oft bis auf den einzelnen sprachlichen Ausdruck.
So klingt es z. B. unmittelbar an das bei freien Leihen Ge-
läufige an, wenn eine Urkunde *) von 1153 bestimmt; . . . ea
conditione concessit, quatenus omni anno in feste S. Remigii
X modios tritici inde persolvant, oder eine Urkunde*) von
1176: . . . Cunradus mansum ... ab ecclesia sub iure censuali
recepit ita videlicet, utquolibet anno X sol. ecclesie sol vat.
Ähnlich eine Urkunde*) von 1205 — 1208 . . cessisse hominibus . . .
iure censuali, ita ut annuatim . . . quilibet eorum piperis duarum
lnarcarunt .... et tantundem cymeti .... nobis persolvat.
Andere gebräuchliche Ausdrücke, die freilich von den vorigen
etwas abweichen, finden sich noch etwa in den folgenden Bei-
spielen :
Urk. *) 1269 .... quod de curti in Kerbusch ego meique
successores, quicumque dictam curtem possederint, ecclesie . . . .,
cuius ipsa curtis cst allodium, sex solidos . . . nomine annui
census tenemur persolvere annuatim , wobei die Beurkundung
durch den Beliehenen und die besonders deutlich ausgesprochene
Verbindung der Zinspflicht mit dem Gute auffalien, während wieder
•) Lac. 1 378.
*) Ennen I 88.
*) Ennen II 29.
*) Lac. II 592.
v. Schwind, Erbleihen.
7
die etwa 200 Jahre ältere Urkunde ’) von St. Maximin, welche
anlässlich einer den Colonen gewährten Verbesserung ihrer
Lage aufgezeichnet wurde, in ihrer Fassung: decretum est, ut
quanticumque predictoruni curtiliuni possessores fuerint, singulis
annis a singulis curtilibus III solidos denariorum per-
solvant, das Übergewicht der herrschaftlichen Macht zum Aus-
drucke bringt.
In all diesen Beispielen, deren Zahl sich beliebig vermehren
liesse, bezeugt die erhaltene Urkunde den Bestand eines Leihe-
verhältnisses, welches in den hauptsächlichsten Punkten mit dem
Rechte der freien Leihen übereinstimmt. Hier wie dort das
Recht auf dauernden Genuss und Nutzung des geliehenen Grund-
stückes, und hier wie dort dem gegenüber als Gegenleistung be-
stimmte, oft dauernd und einheitlich festgesetzte Abgaben.
Aber auch in den Einzelheiten des rechtlichen Verhältnisses
lässt sich vielfach eine analoge Ausgestaltung tiachweisen.
Dass unter den dem Hofverbande eingeordneten Leihen
Naturalzinse vielleicht relativ häufiger sich finden mögen als
bei freien Verträgen, ist juristisch wohl ohne Belang ; vermag
doch die Zahl, die der einen oder der anderen Anwendungsform
entspricht, in rechtlicher Beziehung nichts mehr zu besagen, so
bald einmal festgestellt ist, dass in beiden Gruppen beide Zins-
formen sich finden. Und wirthschaftlich ist es ja begreiflich, dass
in jener Zeit einer ausgehildeten Naturalwirthschaft, je enger
der Verband mit der herrschaftlichen Wirthschaftsverwaltung
vorhanden war, desto häufiger Naturalzinse zur Anwendung
kommen mussten.
Dagegen ist es für die rechtliche Betrachtung von grösserer
Bedeutung, wenn sich zeigt, dass auch die Art und Weise der
Haftung für den Zins und die vorhandenen rechtlichen Zwangs-
mittel für die Erfüllung dieser Verbindlichkeiten, wie sie das
freie Leiherecht beherrschten, auf dem Boden des censnalen
Rechtes gleichfalls aufzufinden sind.
So lassen sich, um nur das \V ichtigste hervorzuheben, dafür,
dass dauernde Vernachlässigung der Zinspflicht endlich mit dem
Verluste des Zinsgutes bestraft wurde, dass also die Möglichkeit
der Rechtsentsetzung als Mittel zur Verbürgung und Sicher-
stellung des Zinses, wie als Zwangsmittel für dessen Herein-
bringung dienlich war, zunächst der oben angegebene Wortlaut der
•) MR. UB. I 332.
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99
Leiheurkunden und die schon früher ') erwähnten Bestimmungen des
älteren Rechtes als gewiss nicht belanglose Argumente anfiihren.
Will man aber dieser Begründung, die ja allerdings nicht
zu unbedingt sicheren Resultaten führt, noch nicht recht ver-
trauen, so lässt sich da« Vorkommen dieses an sich sehr nahe
liegenden rechtlichen Gedankens im Kreise des grundherrschaft-
lichen Rechtes, u. a. durch den Hinweis auf eine Verordnung Kaiser
Heinrich V. vom Jahre 1112, in welcher die Verhältnisse der
Vögte und Bauern in St. Maximin geregelt werden, unmittelbar
quellenmässig bezeugen *). ln ihr erscheint die Einziehung des
Zinsgutes wegen Saumseligkeit in der Zahlung als eine fast selbst-
verständliche Thatsache, die bei der Regelung des Weiteren
vorausgesetzt wird. Allerdings liegt in diesem Rechte, wie schon
dieselbe Urkunde angibt, nicht oder wenigstens nicht immer
das einzige Machtmittel, welches der Herrschaft zu Gebote stand.
Eis wirken eben die oben berührten persönlichen Verhältnisse
auch auf diese zunächst vermögensrechtlichen Fragen zurück.
Ist es doch in der Natur der Sache begründet, dass das Vor-
handensein eines Herrschaftsverhältnisses dem Herrn für alle
seine Ansprüche eine Menge von Zwangsmitteln rechtlich oder
auch bloss factisch in die Hände gebeu musste , die auf der
Grundlage eines freien Vertragsrechtes nicht zur Entstehung
kommen konnten, und die um so bedeutender sein mussten, je
mächtiger die Bande waren, mit welcher die Herrschaft ihre
Leute an sich schloss ®). Um von Vielem nur des einen Mo-
mentes zu gedenken, wie wesentlich wurde nicht speciell auch
■) S. 51 Anm. 2.
*) MR Uß. I 423 Si propter census negligeutiam vel ob quam-
libet aliam culpam mansus aut possessio alieuius hominis in placitis abbatia
publicata sive dominicata f'uerit, omnia abbatia eruut, nisi bonis eisdem
quilibet rei poatea si intromiserint. Bonorum autem que in placitis advo-
catorum publicata fuerint, duas partes abbas tertiam advocatus babebit ex-
ceptis frugibus . . etc
Si villani debitum cenaum abbati voluerint denegare, primuni per alioa
iudices, deinde in ipso loco Trcvcris per illos iudicos ac ministros qui scare-
manni dicuntnr ad viam si possunt reducautur; sin autem per cartam vel
advocatum, ad ultimum vero per manifestum iudicium, in quo si convioti
fuerint, Omnibus bonis suis carebunt et nu llum ius nisi quod abbas
eis postea concesserit habebuut.
*) vergl. ausser den zuletzt genannten Worten der Verordnung Heinrich V.
(Anm. 2) die Urk. 1145 Ennen I 54 , wo als Folge für unpünktliche
Zahlung verfügt ist, non solura quod teneut in eadem sitva, (das Leihegut)
sed quidquid de iure beati Martini habere videntur, amittant.
7*
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100
für unsere rein vermögensrechtliche Frage die Stellung de»
Einzelnen verändert, je nachdem ihm da« Recht der Freizügig-
keit zuatand oder versagt war? Welch üble Folgen musste der
säumige Zinsmann, der in seiner weiteren rechtlichen
Existenz noch immer von der Herrschaft abhängig blieb,
lediglich aus diesem Grunde über sich ergehen lassen, denen
der freigestellte und freizügige Mann ungehindert sich entziehen
konnte. In diesem Sinne spricht, wie es scheint, die oben citierte
Urkunde Heinrich V, wenn sie als Folge fortgesetzter Zinsver-
weigerung neben dem Eintritte des Rechtsverlustes noch her-
vorhebt, dass die Zinssäumigen für die Zukunft sich mit dem
Masse von Rechten begnügen müssen, das die Gnade des Herrn
ihnen nach freiem Ermessen gewährt.
Wie weit dann im einzelnen die Macht und das Recht des
Herrn in dieser Richtung gereicht hat. war verschieden nach der
Art der individuellen Beziehung zwischen den Beliehenen und
der Grundherrschaft, und es dürften sich hiefur die möglichen
Grenzen kaum allgemein angeben lassen. Fraglich mag immerhin
erscheinen, ob auch für solche Leihezinse je das strenge Recht
gegolten haben kann, welches für den persönlichen Zins ver-
einzelt nachweisbar ist, jenes harte Recht, das dem Herrn ge-
stattete, nach einem gewissen geregelten Verfahren an den
säumigen Zinsmann sogar Hand anzulegcn und so persönliche Exe-
cution gegen ihn zu fuhren1). Der von Anfang an empfundene
und im Laufe der Geschichte immer mehr ausgeprägte Unter-
schied zwischen rein persönlichen Pflichten und auf den Grund
und Boden gelegten Lasten macht eine solche Annahme wenig
wahrscheinlich, und bei dem Mangel eines jeglichen bestimmten
urkundlichen Hinweises könnte eine derartige Vermuthung gewiss
nicht gerechtfertigt erscheinen.
Für alle Fälle, mögen sie dann im einzelnen wie immer ge-
ordnet gewesen sein, ist aber daran festzuhalten, dass es doch
') vergl. z. B. die bei L am pr echt D.W.L. 1 2S. 1229 abgedruckte Urkunde
aus dem Anfänge des 14. Jb.: ... Bi uon satisfacerent de ceusu predirto . . .
tune sine eraenda posaunt aatisfaerre bis zuin nächsten Ding; dann Strafe
von 20 d., die sich bis zum 2. Ding verdoppelt und bis zum dritten ver-
dreifacht, et extunc si non satisfecerit nec gratiam . . prepositi ohtinere
meruerit, tune scultetus , . prepositi ponet eum in penam que dicitur ge-
vronit et extune poterit prepositus et officiatus suus manus apponerc ad
Corpus et res.
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101
stets nur eine Riick Wirkung der bestehenden persönlichen
Rechtsbeziehungen war, welche in diesen Besonderheiten zum
Ausdrucke kam und den Leihen eine individuelle Färbung und
Nuancierung verlieh, und dass abgesehen von diesen Reflex-
wirkungen der feststehende und bei all diesen Verschieden-
heiten immer wiederkehrende rein vermögensrechtliche Grund-
stock den oben geschilderten rechtlichen Inhalt aufweist, den-
selben Inhalt, der freilich in anderer Umrahmung den Kern und
die Grundlage für die Entwickelung des freien Leiherechtes
abgnb.
Nun ist allerdings dieser rechtliche Gedanke, welcher nach
den obigen Ausführungen den gebundenen und freien Leihen
gemeinsam ist — die dauernde Ueberlassung von Grundbesitz
unter der Bedingung der Zahlung eines jährlichen Zinsenent-
geltes — ein so einfacher, dass er leicht auch ohne Zusammen-
hang mit ähnlichen früheren Bildungen selbstständig immer
wieder entstehen und in neuen Anwendungsformen zur Ver-
wirklichung gelangen konnte, wo immer nur analoge Verhältnisse
analoge Bedürfnisse erzeugten. Es wäre demnach voreilig aus
einer derartigen Übereinstimmung allein auf das Vorhandensein
eines inneren rechtsgeschichtlichen Zusammenhanges zu schliessen.
Wenn man aber berücksichtigt, dass diese nach der einen
Beziehung gleichartig ausgestaltetcn Rechtsinstitutc auf dem-
selben Boden gewachsen, ähnlichen wirthschaftliclien Verhältnissen
entsprungen und eine gewisse Zcitperiode hindurch mit nicht
immer scharf gezeichneten Grenzen neben einander einhergegangen
sind, so ist doch die Vermuthung begründet, dass diese innere
Harmonie auf eine historische Verwandtschaft zurückzuführen
sei, mag der Gegensatz zwischen persönlicher Abhängigkeit und
Freiheit ein noch so bedeutender sein ').
Eine solche Annahme findet zunächst eine äussere Be-
kräftigung in dem Umstande, dass gerade in der Uebergangszeit
sich Leiheurkunden finden, welche nach freier Art das Rechts-
verhältnis in der oben angegebenen Art normieren und daneben
die Befreiung von allen weiteren Abgaben und Verpflichtungen
') Diesen Gegensatz betont besonders Gobbers a. a. O. S. 140, der
um Beinetwillen die Möglichkeit einer geschichtlichen Continuität, der Ent-
stehung des einen aus dem anderen für ausgeschlossen hält; s. darüber
unten S. 113 ff.
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102
besonder» hervorheben *), als wollten »ie damit zum Ausdrucke
bringen, das» sie nur die genannten Bestimmungen von den
anderen Leihen heriibernehmen und gegen die Anwendung
weiterer dort gebräuchlicher Grundsätze Protest erheben.
Aber auch wenn man die vorliegenden Leihebriefe ihrem
inneren Gehalte nach unter diesem Gesichtspunkte prüft, zeigt
sich gar bald, dass jene Kluft zwischen freiem und unfreiem
Leiherechte in der That nicht so unüberbrückbar ist, als sie
Gobbers erscheinen mochte, wenn er die fertig entwickelte
städtische Leihe in unvermittelten Gegensatz zu den Leihe-
formen des Hofrechtes stellte. Vielmehr ist eine Annäherung der
beiden Extreme an der Hand der Urkunden in zweifacher Richtung
nachweisbar.
Zunächst findet sich Dämlich diejenige Leiheform, die sich
ganz an die hofrechtlichen Leihen anschloss, in welcher neben
dem Zinse noch die für die Unfreiheit characteristische Kurmede
von dem herrschaftlichen Hofe verlangt wurde, im Laufe der
Entwickelung auch in solchen Fällen in Anwendung, in welchen
von persönlicher Abhängigkeit keine Rede sein konnte.
Sodann lässt sich eine noch weit grössere Reihe von Leihe-
urkunden nennen, die ihrem wesentlichen Inhalte nach ganz mit
den ausgesprochen freien Leihen übereinstimmen , von allen
auf für Hofangehörigkeit characteristischen Zusätzen nichts ent-
halten und doch durch ihre Beziehung auf den wirthschaftlichen
Betrieb und durch einen mehr oder weniger engen Zusammen-
hang mit der grundherrschaftlichen Gutsverwaltung den Bestand
') vergl. z. B. 1112 MK. UB. I 424 . . . iure tradidit hereditario ca
scilicet conditione, quatenus singulis annis X solidorum tributuni solventes,
deinueps prorsus ab omni alia iuris coactionc existant immunes. — 1210
Lac. II 33 concessit perpetuo possideiulam, hac pactionis forma inter-
posita quatiuus . . . ccclesie XV sol. ... et villico eorundem IV sol. persolvat
et ita ab omni vexatione et omni iure, ad quod silra pretaxata tenebatur,
über existat; ähnlich 1233 MK. UB. 111 480; 1246 Lac. II 309 (allerdings
eine Schenkung mit Zilisauflage); 129ö Lac. 11 9Ö7; endlich für ein bc-
liehcnes Kloster mit ganz besonderer Deutlichkeit, 1200 Enuen II 2 . . .
hereditario iure tradiderunt, hac videlicet couditiones forma interposita, ut
. . . . persolvat, sieque ab omni iure quod vulgo dicitur dinc-
suoche et cormede, ab omni quoque onero, quod de huiusmodi
bouis emergere solet, über permanens iam dictum bonum perpetua
pace possideat u. a. m.
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103
eines persönlichen Abhängigkeitsverhältnisses in vielen Fällen
ziemlich wahrscheinlich machen, also auf diese Art eine Ver-
bindung zwischen den Gegensätzen herzustcllcn scheinen.
In der ersteren Beziehung waren es vornehmlich Leihen
an kirchliche Institute, welche eine Umänderung und eine Ent-
wickelung in der obeu bezeichnten Richtung fast nothwendig
mit sich brachten. Namentlich dann, wenn einzelne Güter, die
früher an Hofangehörige verliehen waren, an Kirchen und Stifter
zu Leiherecht gegeben wurden, und der Grundherr an den früheren
Nutzungen nichts einbüssen, durch die Veränderung in der Person
des Beliehenen seine nutzbaren Rechte nicht berührt sehen wollte,
lag ja nichts näher, als alle Zinsungen und persönlichen Abgaben
unverändert fortbestehen zu lassen, wenn auch die Herrschafts-
verhältnisse, unter deren Bann die Leihe ursprünglich zur Ent-
stehung gelangt war, gegenüber dem neuen Beliehenen unmöglich
in der alten Weise fortbestehen konnten. Was bei der alten
hofrechtlichen Leihe Ausfluss des persönlichen Herrschaftsver-
hältnisses war, musste dann natürlich seinen herrschaftlichen
Character abstreifen, und schlechthin zu einer vermögensrechtlichen
Abgabe werden.
Für die regelmässig wiederkehrenden jährlichen Zinsen, die
nach den obigen Ausrührungen in freien und gebundenen Leihen
ziemlich gleich behandelt wurden, bedurfte es dabei keiner be-
sonderen Festsetzungen; so wie früher ein Angehöriger des Gutes,
oder wer sonst sich des Leiherechtes zu erfreuen hatte, zu diesen
Zahlungen verpflichtet war, so trat jetzt die beliehenc geistliche
Anstalt in den Kreis dieser Verpflichtungen ein. Für die un-
mittelbaren Dienstleistungen und die an keinen feststehenden
Fälligkeitstermin gebundenen Abgaben, wie Kurmede und Vor-
hure, welche den Tod des Besitzers oder überhaupt einen Be-
sitzwechsel zur Voraussetzung hatteu, war der Kirche als einer
juristischen und unsterblichen Persönlichkeit gegenüber eine be-
sondere Regelung erforderlich, wenn die aus solchen Leistungen
entspringenden Vortheile dem Leiheherrn nicht entzogen werden
sollten. Eine solche erfolgte in verschiedener Weise. Oft — und
hierin liegt wohl das zäheste Festhalten an Form und Inhalt
des früheren hofrechtlichen Leihesystems — wurde das neu be-
liehene Kloster verpflichtet, irgend welche nicht dem geistlichen
Stande angehörigen Leute auf das Gut zu setzen, welche ferner-
hin für alle jene Leistungen dem Gutsherrn aufzukommen hatten,
die er zuvor von dem Besitzer jenes Gutes zu verlangen ge-
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wohnt war1). Wenn Besthauptrecht und Übertragungsgebühren
dazu gehörten, so sind die dafür entscheidenden Momente wohl
nach dem Leben dieser Laien beurtheilt worden.
Lässt sich hier der Fortbestand eines herrschaftlichen Ver-
hältnisses, dem zwar nicht die bcliehene Abtei, sondern die von
ihr aufgestellten Strohmänner unterstanden hätten, noch wenigstens
als möglich denken, (in einzelnen ähnlichen Fällen *) ist dies sogar
direct ausgesprochen), so entfällt auch diese Möglichkeit, wenn
wieder anderemale die Pflicht, eine Abgabe pro Kurmede zu
zahlen, an den Tod des Kirchen- oder Klostervorstandes oder
desjenigen Mitgliedes der geistlichen Corporation geknüpft ward,
welches (mitunter eigens zu diesem Zwecke) als Besitzer des
Leihegutes designiert wurde.
In vielen Fällen endlich, vielleicht in der Mehrzahl, wurde
dieser Bestimmungen überhaupt nicht gedacht, und damit wurde
vollends das Ergebnis erzielt, dass solche Leihen auch der
äusseren Form nach jede Spur von Gebundenheit verloren, ihrem
inneren Wesen nach sich als ein auf freier Willenseinigung
beruhender Vertrag darstellten, und alle diejenigen Momente in
sich vereinigten, in denen der rechtliche Inhalt der freien Leihen
gelegen war und sich erschöpfte. Dabei ist freilich nicht zu über-
sehen, dass eine solche dem unbedingt freien Vertragsrech tc an;
gehörige Vereinbarung unter geistlichen Anstalten, die in der
Kegel ja doch selbstständig einander gegenüberstanden, weniger
Besonderes an sich trägt, als zwischen einer mächtigen Gute-
herrschaft und den wenigstens materiell abhängigen Bauersleuten,
dass vielmehr hier nur solche Verträge, in welchen von einem
herrschaftlichen Momente keine Spur sich findet, dem rechtlichen
Verhältnisse des Contrahenten entsprochen haben. So oft eine
■) 1234 Lac. II 198.
*) 1237 Lac. II 223: der Johanniter Ordensmeister Iteinard und der
Ordensbruder Heinrich von Steinford , Meister des Ordeushauses zu Deutz
nehmen von dem Kunibertstifte zu Köln 4 Maasen iu Erbpacht, ea videlicet
rationc, quod iidem fratres duos viros yduneos de suis fratribus constituent,
qui fidelitatem predicti ecclesie et curti de Mouwiuheim prestabunt et de
eisdem bonis omnia placita, que vulgariter Dine et Rinc appellantur, obser-
vabuut, et omnia iura ecclesie nominale et curtis predictc tarn in prestandis
decimis et pensionibus annuis quam in aliis iuribus et consuctudinibus
tideliter conservenl et persolvant, sicut ceteri hoinines de lämilia dictc
curtis ratione suorum bonorum faciunt et facere tenentur, prout ipsn familia
dixerit faciendum et ohservandum
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106
unbedingte und vorbchaltslose Eigenthumsübertragung nicht in den
Intentionen des reicheren Stiftes lag, sich dieses vielmehr eine
fortdauernde Nutzung Vorbehalten wollte, war ja eine durch
freien Vertrag begründete Leihe unzweifelhaft das einfachste
und nächstliegende Mittel zur Erreichung des angestrebten
Zweckes. Und doch — oder vielleicht gerade darum in er-
höhtem Masse — dürfte es von Interesse sein, dass auch solche
Leiheverträge sich an die älteren Formen der gebundenen Leihen
in einzelnen Fällen nachweisbar angelehnt haben.
Diese hier besprochene Annäherung erfolgte freilich ausser-
halb desjenigen Gebietes, auf welchem die gebundenen Landleihen
heimisch waren, und auf dem auch eine grosse Zahl der freien
Leihen eingegangen wurden; sie erfolgte unabhängig von den
Zwecken und Bedürfnissen des wirtschaftlichen Betriebes und
ausserhalb des grundherrschaftlichen Verbandes. Mit der Über-
tragung des leiherechtlichen Gedankens auf einen anderen Per-
sonenkreis, dem gegenüber Herrschaftsverhältnisse unanwendbar
waren, musste, wie oben schon gesagt, die Leihe alle Elemente
persönlicher Art verlieren und einen lediglich vermögensrecht-
lichen Character gewinnen, wie er dem freien Leiherechte eigen
war. Aber auch innerhalb des herrschaftlichen Wirth schafts ver-
bandes, innerhalb des Kreises von Personen und Objekten, in
welchem die hofrechtlichen Leihen gediehen waren, lassen sich
in grosser Zahl Übergangsfälle naclnveisen, die eine Mittelstufe
zwischen Freiheit und Gebundenheit einuehmen, und im ein-
zelnen bald mit den hofrcchtlich abhängigen, bald mit den
unbedingt freien Leihen näher verwandt sind.
Die Fälle, die hier in Betracht kommen, steheu insgesammt
in enger Beziehung zu dem Ausbau des Landes; Rodung des
Waldes, Anlegung und Hebung von Specialculturcn, namentlich
des Weinbaues, siud der wirtschaftliche Zweck, dem diese Leihe-
verträge ihre Entstehung verdanken. Die Verpflichtung, das
erblich überlassene Grundstück zu cultivieren und zu pflegen, und
von dem Ertrage einen festbestimmten Zins jährlich an den
Leiheherrn abzuführen, ist der auch hier regelmässig wieder-
kehrende Vcrtragsinbalt, der überhaupt in freien und unfreien
Leihen so häufig sich findet.
Die für unsere Frage speciell belangreichen Momente, die
Art und der Inhalt der zwischen Leiheherrn und Beliehenen
bestehenden persönlichen Beziehungen, lassen sich wohl nur
an Einzelfällen genauer feststellen , weshalb zunächst eine
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Reihe von Beispielen, die für den Übergang characteristisch sind,
zur Veranschaulichung des oben in allgemeinen Umrissen ge-
kennzeichneten Verhältnisses herangezogen werden soll.
Wenn man von einer dem Jahre 952 angeliörigen, in der
Urkundensanmilung von Lörsch und Schröder als Erbpacht,
beziehungsweise als Erbzins bezeichncten Leiheurkunde l) absieht,
die ausser ihrer zeitlichen Isolierung auch durch manche inhaltliche
Eigentümlichkeiten sich von den späteren Leiheurkunden entfernt,
so dürfte der Leihebrief*) des Probates Poppo des St. Simonstiftes in
Trier aus dem Jahre 1092 wohl eine der ältesten der hier in Betracht
zu ziehenden Urkunden sein. Ihr Inhalt ist etwa der folgende:
Schon Burchard, der Vorgänger des damaligen Probstes, hatte
einen Thcil des „in curte Hoinga“ gelegenen, dem Stifte ge-
hörigen Sallandcs zum Zwecke der Anlage von Weinbergen
gegen Ablieferung des halben Ertrages zu erblichem Leiherechte
ausgethan. Seinem Beispiele folgt Poppo, indem er auch den
Rest des dort gelegenen Salgutcs, das bis dahin wenig Nutzen
gewährt hatte, gegen bestimmte Zinssätze verlieh und die Ver-
leihung in feierlicher Versammlung bekräftigte, nachdem er die
ganze Angelegenheit zuvor mit dem dortigen Vogte und den
prudentioribus et fidelioribius eiusdem familie viris besprochen
hatte. Nähere Angaben fehlen in der Urkunde. Sic sagt uns
namentlich nichts darüber, wer in den Besitz dieser Güter ge-
langte3), noch weniger über der Beliehenen persönliche Be-
ziehungen zu dem abtcilichen Hofe und zu dem Leiheherrn,
dem Stifte selbst. Jedoch machen die Nennung des Vogtes
und, was über die Form der Bestellung gesagt ist, das Vor-
handensein eines persönlichen Abhängigkeitsverhätnisses der
Beliehenen ziemlich wahrscheinlich und eine solche Annahme
findet wohl darin ihre weitere Bestätigung, dass der ganze
Leihebrief, der schon nach seinen Eingangsworten die Aufgabe
hat zu zeigen, zu welchem Nutzen der Probst das früher unbenützte
Stück Landes gebracht hat, nur der dem Stifte zukommenden
Vortheile gedenkt und der Beliehenen und ihres Rechtes erst
*) Lörsch und Schröder 1. Aufl. No. 56, 2. Aufl. No. 76; Mit. UB.
1 193; vergl. dazu Lamprecht D. W. L. I, 2, S. 908 Aura. 2.
*) MR. UB. I 386.
‘) Nur bezüglich einer curtis stabularia sind EDgelbertus et Hetzel als
Empfänger genannt.
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in der Corroboratio mit den Worten : „ut stabiliter permaneret
a generatione in generationein“ eine dürftige Erwähnung thut.
Wenn nun auch in allen Leiheurkunden dem Leiheherrn, schon
als beurkundender Person, im Verhältnisse zu dem Beliehenen eine
übergeordnete Stellung zukoimnt, so reicht dieselbe hier doch weit
über das gewöhnliche Mass, und das eben besprochene Oocument
kann bei dieser Form nur als der Ausdruck einer herrschaft-
lichen Gunstbczeuguug und Concession aber gewiss nicht als
Beurkundung eines Vertrages gedeutet werden. Das Prädominieren
des Leiheherrn in seiner herrschaftlichen Stellung macht es be-
greiflich, dass über die persönlichen Beziehungen der Abhängigen
keine weiteren Worte verloren wurden; sie blieben eben ver-
muthlich in der Stellung, die sie vordem einnahmen, und an
der zu rütteln niemand einen Anlass fand. Hervorzuheben ist
nur noch, dass die in der Urkunde ausdrücklich aufgenommenen
rechtlichen Festsetzungen sich völlig mit dem Inhalte der freien
Leiheverträge decken und deren gewöhnlichen und nothwendigen
Bestimmungen gegenüber weder ein Mehr noch ein Weniger
enthalten.
Ziemlich analoge Verhältnisse dürften geschaffen worden
sein bei der Gründung jener Waldcolonie, die nach der im
Diplomatar des Marienstiftes bei Trier uns erhaltenen Urkunde*)
der Abt dieses Klosters dadurch ins Leben rief, dass er den
Bewohnern eines benachbarten Dorfes (habitantibus in vico T.
homnibus) ein Stück nutzlosen Waldes gegen einen in Wein be-
stimmten, eventuell in Geld ablösbaren Zins zur .Rodung über-
liess. Die Qualität des zur Zinszahlung abgelieferten Weines,
der von den Bauern an den nächstgelegenen herrschaftlichen
■) 1115 MK. UB. I 432 .... silvam . . . habitantibus . . in vico
Tembleti hominibus excidendam concessi, non tarnen sine jure annuali et
utilitate conditionali. Kst autem hec con di tio, quatenus in ipsa b. Martini
festivitatis die tres anias vini mihi raeoque inposterum successori persolvant,
et easdem die eadem in Velrecbo quocunque modo del'erant; quod si
ibidem cunveniente familia mea vinum aceeptabile probabitur, rata et indis-
solubili conventione iruantur; si vero aliqua iuter utramque partem contro-
versia oritur, et detractionis causa vinum fortassis inreprobabile reprobabitur
duos superioris proxime et totidom inferioris ville viros iudices sibi consti-
tuant, et eorum super hec re deliberationem ratam teneant .... Si vero
suo tempore omnis hec non servabitur conventio, libera ecclesie restituatur
supradicta possessio.
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108
Hof zu führen war, wurde zunächst unter eine gewisse Controle
dieses Hofes, in zweiter Instanz unter eine Art Schiedsgericht
gestellt, und für den Fall gehöriger Erfüllung aller Verbindlich-
keiten die Dauer des Vertrages, für den anderen Fall die Auf-
lösung desselben in Aussicht genommen. Weist hier die Be-
zeichnung der Abmachung als Vertrag (conveutio) und die
grössere Anlehnung an die sonst bei freien Leihen übliche Form
auf eine freiheitliche Bildung hin , so liegt in der wenigstens
partiellen Unterstellung der Weinbauern unter einen herrschaft-
lichen Hof vielleicht ein Hinweis auf das Vorhandensein einer
gleichwohl noch bestehenden persönlichen Unterordnung unter
die Herrschaft, die ihren Einfluss möglicherweise auch noch in
anderer Richtung geltend machen konnte.
Annähernd gleichen Inhalt hat die Urkunde1) des Abtes
Wilhelm von St. Martin, der den Leuten eines bestimmten
Hofes ein Stück Waldes gegen jährliche Zinsleistungen über-
liess. Die in den Leihebrief aufgenommene Bestimmung,
dass die zur Zahlung verpflichteten Bauern durch Nachlässigkeit
in der Erfüllung ihrer Obliegenheiten nicht nur ihres
Antheiles am Walde, sondern alles Rechtes, das ihnen die
Herrschaft gewährt hatte, verlustig gehen sollten, begründet wohl
die Annahme, dass sie, die fortwährend als homincs villae be-
zeichnet werden, zu dem Marienstiftc schon vordem in einem
Abhängigkeitsverhältnissc gestanden seien, an dem freilich durch
die neue Begünstigung zunächst nichts geändert werden sollte.
Ob aber die Verleihung von solchem Rodelande, wenn damit
eine grössere Zahl von Angehörigen eines Hofes begünstigt
wurde, diesen nicht — zunächst vielleicht bloss factisch, dann auch
rechtlich — zu einer grösseren Selbstständigkeit und Unabhängig-
keit verhalf, ist eine Vermuthung, die ebensowohl in gewissen,
den bezüglichen Leihebriefen augehörigen Wendungen4), wie in
') 1145 Ennen I 54.
*) Als solche könnten etwa bezeichnet werden die Ausdrücke, welche
diu Abmachung als Vertrag bezeichnen, die Constituierung eines Schieds-
gerichtes, wie in 1115 MH. U'B. I 432 oder sonst die Designierung eines
bestimmten Gerichtes für Streitigkeiten zwischen Lciheherrn uud Beliehenen,
vielleicht auch unter Umständen die Zahlung eines Kaufpreises bei Ein-
gehung des Verhältnisses, die besondere Motivierung des Geschäftsabschlusses
im Eingang der Leiheurkunde u. a. m.
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der durch spatere Weisthümer zu erweisenden1) thatsächlich
privilegierten Stellung solcher Colonien, besonders der Weinberg-
genossenschaften eine Stütze finden kann.
Bestimmter und mit noch mehr Grund wird man aber eine
solche Entwickelung im freiheitlichen Sinne für alle Fälle be-
haupten können, in welchen nicht eine ganze Gruppe von Hof-
genossen eine geschlossene Corporation, sondern nur Einzelne
mit solch geliehenem Grundbesitze ausgestattet wurden. Kamen
dort die Vortheile oft nur der Gesammtheit oder ihrem Vorstande
(villicus) zu Gute, während der Einzelne eben an diese Gesammt-
heit und ihre Organe nach wie vor durch die gleichen rechtlichen
Bande geknüpft war, so fielen hier die gewährten Begünstigungen
dem Einzelnen unmittelbar und ungeschmälert zu.
In dem Leihebrief*) des Domcapitels in Trier, wodurch ein
durch Precarienvertrag erworbenes Stück Landes, dessen Bewirt-
schaftung im Eigen betriebe für das Capitel wegen derer entfernten
Lage unbequem erschien, einem gewissen Woluechinus und dessen
Sohne Lambertus erblich und für alle Zeiten zu sorgsamer Cultur
gegen Zinsabgaben überlassen wurde, gibt noch die Beziehung
auf die in der Nachbarschaft üblichen Zinse und die Unter-
stellung unter einen herrschaftlichen Boten einige Anhaltspunkte
für die Art der Einordnung in den herrschaftlichen Verband,
wenn man auch nach dem Inhalte der Urkunde eine sehr inten-
sive Betätigung eines etwaigen Herrschaftsrechtes nicht gerade
für wahrscheinlich halten mag.
Ihrem Inhalte nach nicht viel verschieden ist die vom Probate
Gottfried von Trier vollzogene und beurkundete *) erbrecht-
liche Übertragung eines schlecht gepflegten zum kirchlichen Sal-
lande gehörigen Weingartens, der zur besseren Pflege cuidain
homini eiusdem curie Rezelino und seinen Erben gegen Ablieferung
des halben Ertrages überlassen wurde. Die weitere Bestimmung,
dass die Besitzer nur dann, wenn sie das Grundstück veröden
Hessen oder betrügerisch vorgiengen, desselben durch ein Urtheil
von Genossen entsetzt werden dürfen, wurde gewiss mehr zum
*) vergl. Lamprecht D.W.L. I 6. Absohnitt, 3.
*) o. 1182 11R. ÜB. I 474.
*) 1133 MR. UB. I 484, ähnlich 1168, 652.
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Vortheile als zu Ungunsten derselben in den Leihebrief aufge-
nommen. Man darf hier wohl mit Grund eine relativ selbstständige
Stellung des Beliehenen annehinen, und die Fassung der Urkunde,
die von einer Einordnung in den Herrschaftsverband nichts mehr
spricht, macht es wahrscheinlich, dass der lioino curie im Leben
wenig von seiner Abhängigkeit verspürt haben dürfte.
Urkunden eines derartigen Inhaltes stehen nicht vereinzelt da.
Gemeinsam ist ihnen das negative Moment, dass sie über ein per-
sönliches Abhängigkeitsverhältnis des Beliehenen, seine Unter-
ordnung unter die herrschaftliche Wirtschaftsordnung unmittelbar
keinen Aufschluss geben. Und wenn ja gewisse schwache Hin-
weise dazu berechtigen, das Vorhandensein von derlei rechtlichen
und wirtschaftlichen Beziehungen zu vermuten, so enthält das,
was in den bezüglichen Urkunden Aufnahme fand, doch wesent-
lich denselben rechtlichen Inhalt, der hei analogen Leiheverträgen
mit freien, der Gutsherrschaft nicht unterworfenen Personen zur
Anwendung kommen konnte und zur Anwendung kam, weil
eben alle Momente, die eine Einfügung in den grundherrschaft-
lichen WirthschaftsorgunismuB zum Ausdruck brachten, wie die
Regelung der Beziehungen des Erbpächters zu dem Meier, Vogte
oder Gutsherrn selbst, dem Vertragsinhalte ferne geblieben sind.
Als Beispiele hiefiir könnten etwa noch der Leihevertrag des
Stiftes Münstermaifeld mit Heinrich agnoraento iaculatori über
einen Weingarten im Orte Lehmen1), sowie der des üomcapitels
Trier mit dem dortigen Bürger Elmenricus über ein erst zu einem
>) 1200 Mft ÜB. II 182 .... quod cum Henrico agnomento iaculatore
super quadam vinea ... in medio ville que dicitur limine iu hac forma cos-
traxi mus, quod Henricus predictam vineam fideliter et diligentcr excoleret.
et tempore vindeiniarum provisorem uostrum ... in victu sicut expediret
procuraret, ac dimidietatem vini inde provenientis suis expensis nobis ibidem
fideliter absque diminutione presentaret. Eodem quoque tempore cellerario
nostro quartale vini, sumbrinum avone, octo nummos levis monete ad expen-
sam persolvet. Preterea in domo ecclesie nostre torcular et dolia sufficien-
tia tarn ad nostram quam ad suam vini portionem recipiendam procurabit
et peracto vindemiarum tempore, claves domus cellerario nostro restituet
Si vero vel ipse H aut uxor eius hadewich decesscrit, qui snperstes fuerit,
predicto gaudeat iure. Similiter si prolem babuerint, unus tarnen filiorum
integraliter et indivisam excolet vineam, et pretaxato gaudebit iure. Si
autem sine prole decesserint, nullus heredum in his bonis obtineudis se
aliquo iure tueri poterit.
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111
Weingarten umzugestaltendes Rodeland ') u. a. *) angeführt
werden. Ihr wesentlicher Inhalt ist die erbliche Überlassung des
Grundstückes zur Cultur gegen das Versprechen gehöriger Zins-
leistung. Dies wird ergänzt durch eine nähere Regelung der
erbrechtlichen Bestimmungen, die Einschränkung auf nur einen
Erben, und durch andere weniger belangreiche Momente. Die
Verbindlichkeit, das Leihegut zu cultivieren und zu pflegen, und
bei der erstgenannten Urkunde die detaillierten Bestimmungen
über die Ablieferung des Weines an den herrschaftlichen Keller
und die dabei zu erfüllenden Leistungen weisen allein noch auf
einen Zusammenhang mit dem Wirthschaftsbetriebe des Herrn-
gutes hin.
Auch dieser letzte Hinweis fehlt endlich . in älterer Zeit
freilich nicht all zu häufig, später aber in grösserer Allgemein-
heit, in dem Inhalte solcher Leiheverträge, und damit ist jene
Form erreicht, die geeignet war, gleichtnässig auf dein flachen
Lande und auf detn städtischen Boden und mit freien, selbst
edeln Herrn®), ebenso wie mit abhängigen Leuten vielseitig An-
wendung zu finden, jene Form, über deren rechtlichen Inhalt
schon früher ausführlich gesprochen worden ist.
Schon die hier angeführten Beispiele dürften genügen, den
Eindruck hervorzurufen, den ein Ueberblick über das ganze er-
haltene Urkundcnmatcrial in erhöhtem Masse gewährt, dass
') 1204 Mft. Uß. II 221 . . . quod . . . elmenrieo civi treverensi quan-
dam terram incultam in ruselingrove ... ad vineam plantandam et exeo-
lendam, et suis post eum heredibas iure bereditario habendam sub annuali
ceusu concessimus. Hane autem inter ecclesiam nostram et prefatum civem
seu suum hcredem ordinationem observandam statuimus, quod annuatim us-
que ad quatuor annos ... V solidos in festn b. martini super memorata
terra refeotorii nostri administratori reddere tenetur. In quinto vero anno
et deinceps a prefato cive sive suo berede ama una vini cum claustrali
mensura super eadem terra prenotato ammiuistratori annuatim reddetur, aut
si vinum defecerit X solidi pro ama vini in festo b. martini solventur. Hoc
etiam adnectere curavimus, quod pretaxata hereditas nou in plures berodes
dividetur sed integra a sola persona memoratus census persolvetur. In-
super si sepedictus elmenricus sive suus heres prenotatam hereditatem sibi
alicnarc et vendere volet, hoc primum ecclesie nostre evidenter denuntiabit,
et si nec ad opus ecclesie nostre nec ad opus cuiusquam fratrum nostrorum
inter fratres capituli noBtri emptorem invenerit, cuicumque alii volet vendendi
liberain potestatem habebit.
») z. B. MR. ÜB. II 1202, 239; III 1215, 32 u. a.
*) s. oben S. 37.
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112
nämlich eine Reihe continuierlich sich an einander schließender
Übergangpfiille zwischen den alten, dem Hofrechte angehörigen
Landleihen und den freien, ungebundenen Leihen, wie sie im 12.
und 13. Jahrhunderte häufig wurden, eine Verbindung hersteilen
und die Annahme einer historischen Entwickelung ungemein
nahe legen.
Man sieht in bunter Mischung leiherechtliche Abmachungen
der verschiedensten Art für die verschiedensten wirthschaftlichen
Bedürfnisse in Anwendung, Landleihen, die bald die Merkmale
streng hofrechtlicher Gebundenheit, bald den Character völlig
freier, von personenrechtlichen, herrschaftlichen Elementen unbe-
einflusster Verträge an sich tragen , oder dazwischen liegende
Mittelstufen einnehmen, ohne dass die auf uns überkommenen
Nachrichten stets die nöthigen Anhaltspunkte gewähren würden,
um den einzelnen Pall mit Sicherheit der einen oder anderen
Gruppe zuzuweisen und an den Übergängen scharfe Grenzlinien
ziehen zu können.
Der ländlichen Leihe freilich blieb selbst in der freiesten
Ausgestaltung, zu der sie gelangt ist, immer noch ein gewisser
Zusammenhang mit dem wirthschaftlichen Grossbetriebe gewahrt.
Wenn es auch in vielen Fällen für den Leiheherrn factisch
darauf hinauskam, dass er für den aufgegebenen Besitz einen
fixen Geldzins erhielt, so erschöpfte sich hierin gewiss nicht der
bei Abschluss des Leihecontractes intendierte Zweck. Die Absicht,
das Grundstück der Oultur zuzufdhren oder in einem guten
Culturzustande zu erhalten, blieb wenigstens neben dem Gedanken,
aus dem dabei zu gewinnenden jährlichen Zinsenerträgnisse
ein mühelos zu erwerbendes und sicheres Einkommen zu erlangen,
immer das entscheidende Motiv für die Begründung solcher
Erbleihen. Zu einem reinen Geldgeschäfte ist die ländliche
Erbleihe nie geworden; und noch mehr. Der Zins hat freilich
von dem ihm früher eigenen, an Unfreiheit oder Abhängigkeit
erinnernden Beigeschmäcke viel oder alles verloren und sich seine
Bedeutung nur in seinem pecuniären Werthe erhalten. Aber in
gleicher Weise, wie in wirthschaftlichen Beziehungen ein Zu-
sammenhang mit dem Herrngute gewahrt blieb, mochte sich
für den beliehenen Bauer eine persönliche, wenn auch wenig
bedeutsame, Unterordnung unter die Herrschaft und ihr (später
patrimoriales) Gericht oft dauernd erhalten haben.
Wenn man nun bei dieser Sachlage auch für die freien
Leihen des ländlichen Güterrechtes eine vollständige Befreiung
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113
von allen herrschaftlichen Einflüssen, die durchgreifende Trennung
aller persönlichen und vermögensrechtlichen Elemente nicht
anzunchmen hat, ist der Gegensatz zwischen dem alten, hof-
rcchtlich gebundenen und dem neuen Leiherecht ein sehr be-
deutender, und zwischen beiden liegt ein mächtiger Fortschritt
im Sinne einer freiheitlichen Entwickelung, ein Fortschritt, der
auch in den Zeiten des Ueberganges, da beide Formen neben
einander vorkamen, als ein wesentlicher allgemein empfunden
wurde.
Zeugen dessen sind uns die freilich nicht all zu zahlreich
erhaltenen Urkunden, in welchen gelegentlich der Begründung
neuer Leiheverträge die Befreiung von den Lasten der älteren
gebundener Leiheformen, die durch das bessere Recht verdrängt
wurden, Erwähnung thun ’). Hier kommt der Gegensatz klar zum
Ausdrucke. Was bei Betrachtung des historischen Werdepro-
zesses als Anfang und Endpunkt einer continuierlichen, allmähligen
Entwickelung erschien, äussert sich bei solch’ unvermitteltem
Übergange als ein Sprung von dem einen Extreme in das andere.
Noch ein gutes Stück gewaltiger ist der Contrast, wenn
man den alten, gebundenen Landleihen, welche das Hofrecht in
den verschiedensten Formen gezeitigt hat, das städtische 1-ieihe-
rccht und die Entwickelung, die es späterhin genommen hat,
gegenüberstellt. Während auf ländlichem Boden die Fortdauer eines
wenn auch sehr beschränkten herrschaftlichen Momentes im
Leiherechte vielleicht als Regel auch für die spätere Zeit noch
wird angenommen werden müssen, findet sich davon bei den
gewöhnlichen städtischen Erbleihen sicher nicht mehr die ge-
ringste Spur*). Und was eben für die ländlichen Leihen mit
Entschiedenheit in Abrede gestellt werden konnte, die Um-
wandlung der Leihe zu einem Geschäfte lediglich pecuniären
Characters, die Anwendung ihrer Form für geldgeschäftliche
Speculation, das hat sich innerhalb der Mauern der Städte that-
snchlich vollzogen3).
Wenn man dieses städtische Leiherecht mit einem Hinblicke
auf die eben angedeutete spätere Entwickelung in Betracht zieht
') vergl. oben S. 101 f.
*) vergl. Heusler, (lewere S. 142, Verfassuugsgeschichte der Stadt
Basel S. 172.
s) vergl. Arnold und (Jobbers a. a. O.
v. .SrAwimf, Krbleibeu. 8
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114
und ihm die Leiheverhältnisse de« alten, strengen und noch nicht
gemilderten Hofrechtes gegenüberhält, dann erscheint der Unter-
schied allerdings so bedeutend, wie ihn Gobbers in seiner oft
genannten Untersuchung über Erbleihe und ßentenkauf des
mittelalterlichen Kölns kennzeichnet '). Dann stehen sich in der
That „Häuserleihc und Hofrecht stracks gegenüber: dort Freiheit,
hier Unfreiheit, dort dingliches Recht, hier gar keines, höchstens
ein von dem Belieben des Grundherrn abhängiges, wenn auch
nicht von ihm nach Willkür gehandhabtes Recht“. Dann ist
es allerdings „nicht ersichtlich, wie aus dem einen Rechtsinstitut
das andere sich entwickelt haben soll“ *) und man mag sich
gerne der Auffassung zuneigen, dass hier ein neues zeitgemässeres
Rechteinstitut die unbrauchbaren alten Formen verdrängt habe,
nicht aus ihnen herausgewachsen sei.
Und doch fällt die weitreichende Conformität der städtischen
und ländlichen Erbleihcn in den verschiedenen Formen ihres
ersten Auftretens unwillkürlich in die Augen.
Auch auf städtischem Boden finden wir hofrechtliche Leihen —
eine Thatsache, die wohl von keiner Seite bestritten wird*). Selbst
Urkunden aus späterer Zeit, die auch ihrem Inhalte nach einer
späteren Entwickelung angehören , wie z. B die zahlreichen
Kölnischen Leihebriefe, die einen „Hofzins“ erwähnen, bringen
unzweideutig den Bestand von solchen älteren Verhältnissen zum
Ausdrucke4). Auch hier finden wir Leiheverträge, die in
*) 8. 140, § 6.
*) Die von Arnold, Gesch. des Eigentbums 8.36 vertretene Ansicht.
*) Selbst nicht in der Abhandlung v. Be low 's „zur Entstehung der
deutschen Stadtverfassung 1 Hist. Zeitschrift 58. Bd. p. 203 f. u. 243 f.
vergl. ausserdem Heus ler, Verfassungsgeschichte v. Basel S. 170, Institutionen
§ 95 u. 111, Gobbers a.a.0. 8.177 Ennen, Gesch. der Stadt Köln 1 113.
*) z. B. Ennen II 1205, 18; 1214, 44; 1217, 66; 1232, 128; 1238, 179;
1242, 223; 1243, 229; 1249, 290; 291; 1256, 361; 1261, 420; 1364, 466; III
1283, 233; 1287, 283; vergl. auch 1. eod. 1285,253; Hoeniger Schreinsurkk.
I Laur. 1 VI 1. — Da das jus hereditarium in Köln rechtlich ziemlich
auf gleicher Stufe steht mit dem jus civile anderer Städte, so muss man die
genannten Urkk. als Leihen nach Stadtrecht deuten, bei welchen sich gleich-
wohl eine Abgabe findet, que hovecius dicitur; will man andererseits den
stadtrechtlichen Character dieser Leihen nicht zugebeu, und ihnen wegen
des Hofzinses hofrechtliche Natur vindicieren, daun muss mau hervorhebeo,
dass einzelne von ihnen die Verpflichtung zur Traguug von stadtrecht-
liclien Lasten ausdrücklich aussprechen (z. li. Eunen II 1217 56: ausser dem
Erbzins: insuper et censum que Curie dicitur nec non ct omne jus civile
qualecumque fieri contigerit . . . omne admiuistrabuut und 1255, 361: insuper
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116
dem Ausschlüsse der bei hofrechtlich gebundenen Formen ge-
botenen persönlichen Beschränkungen oder in der Statuierung
einzelner derselben auf den Gegensatz und die Verwandt-
schaft der beiden Leiheformen Hinweisen. Wie gleichartig
endlich die entwickelten freien Leihen in Stadt und Land
ihrem Inhalte nach gestaltet waren, hat schon die obige dog-
matische Darstellung erwiesen, indem alle dort dargelegten Grund-
sätze gleichmässig in Beispielen des städtischen und ländlichen
Rechtes ihre Stütze fanden. Einige speciell hieher gehörige Ur-
kunden sollen dies noch besonders in Erinnerung bringen.
So gab z. B. der Domprobst von Köln ') einem gewissen Eiko von
Halle einen Baugrund zu erblichem Rechte, so zwar, dass derselbe
nach des Beliehenen Tode an dessen eheliche Nachkommenschaft
unter Aufrechterhnltung dieser „Schenkung“ gelange, dafür aber
ein jährlicher Zins von 7 sol. an die Angehörigen der Kölner St.
Peterskirche zu bestimmten Termine zu bezahlen sei. Sollten
die Besitzer den Zins nicht zu zahlen gewillt sein, so solle die
Hofstättc sammt dem darauf Erbauten an die Canonicer von
St. Peter zurückfallen. Die weitere Bestimmung, dass ausser
dem Zinse auch alle civiles exactiones an die Bürger zu bezahlen
seien, ist zwar durch diu Besonderheiten des städtischen Rechtes
verursacht; ihr Hinzutreten zu den eigentlich leiherechtlichen
Festsetzungen ändert aber nichts an deren Character und deren
Uebereinstimmung mit dem Inhalte analoger Landleiheverträge.
Enthält eine ziemlich verwandte Urkunde des Mainzer Erz-
censnm qui hovezins dicentur collectas et omne ius civile persolvent). Über-
legt man hiezu, dass auch bei unzweifelhaft städtischen Leihen Abgaben
hofrechtlicher Art wie z. B. die V'orheucr sioh finden, (vergl. Arnold
a. a. 0. S. 35 u. 70, Rose n tbal a, a. 0. S. 76), so wird man den Ausführungen
v. Below’sa a. O. S. 203 f, z. B. dem Satze : „der Grundbesitz zu Rof-
recht ist von den städtischen Lasten frei, der Grundbesitz zu Stadtrecht
von den hofrechtlichen“ gewiss nicht beipflichteu können.
') 1184 Birnen 1 98 ... . tradidi Bikoni de halle arearn quandain
. . . . hereditario iure, ut videlicet post eius obitum ad legitimos ipsius
heredes sub eiusdem donationis obtentu devolvatur, hoc pacto, ut singulis
annis in anniversario Herimanni solvat omni cxcuBatione remota fratribus
s. Petri eoloniensis monete VII solidos et praeterea civibus omnes civiles
exactiones sine nostro dampno et uostri ceusus diminutione. Si vero post
aliquot anuos vel ipse vel heredes Bui predictum censum solvere noluerint,
predicta area cum suppositis edificiis ad potestatem canonicorum s. Petri
redeat.
8*
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bischofes Conrad1), welcher die erbliche Verleihung eines Mainzer
Bauplatzes an den Wagenbauer Hartrad verbriefte, die Besonder-
heit eines in Wachs zu entrichtenden Zinses und damit viel-
leicht einen Hinweis auf Wachszinsigkeit, so bewegt sich, um
noch ein weiteres Beispiel zu nennen, ein Leihebrief des Abtes
von St. Martin in Köln *) und viele andere solche städtische
Leihen wieder ganz in den Formen des Leiherechtes überhaupt.
Der Abt überlässt einem gewissen Tirricus summt Frau und
Erben ein kleines Haus zu Erbrecht mit der Verabredung, dass
davon ein jährlicher Zins und überdies der sogenannte Hofzins,
sowie die bürgerlichen Abgaben von den jeweiligen Besitzern
ohne Beeinträchtigung des Leihezinses zu bezahlen seien.
Abgesehen von dem Hofzinse, indem man wohl einen Best
ehemals hofrechtlicher Zinspflicht erblicken muss®) und der
demnach vielleicht eine Besonderheit enthält, schliesst sich auch
dieses Übereinkommen den ländlichen Leihen vollkommen an.
So findet sich in diesen und in allen anderen Fällen 4) von
städtischer Erbleihe, so lange sie noch nicht in ihrem weiteren
Fortschreiten neue Formen gewonnen hat, im wesentlichen
völlig die gleichen Bestimmungen, die in freien Leihen auf dem
Lande gebräuchlich sind. Und wenn man will, lässt sich
auch in manchem untergeordneten, an sich belanglosen Detail
eine analoge Ausgestaltung der leiherechtlichen Bildungen inner-
halb und ausserhalb der Stadtmauern verfolgen. So entsprechen
doch die im städtischen Rechte häufig wiederkehrenden Be-
stimmungen über die Pflicht zum Bau und zur Erhaltung
') 1189 Guden. 1 p. 291 .... quod Aream quandam ... in Buperiore parte
Moguntine civitatis Muro adiacentem inter t'ossatum fidcli nostro Hartrado
carpentario et uxori eius Gertrudi eorumque liberis et ipsorum heredibua
perpetuo contulimua . . . ., eo pacto ut annuatim . . . duas libras cere ad
concinanda noatra lumina, in Genau ad nostram Cameran persolvant.
*) 1217 Ennen II 56 ... . quod nos domunculam . . . cuidam Tirrico
et uxori eius Hildegundi ac corum heredibus in perpetuum iure heredi-
tario possidendam donavimus talis pactio, ut nobia exinde . . .
II aol. annuatim persolvant, insuper et cenaum qui curie dicitur et omue
iua civile, qualccumque fieri contigerit, ipsiua aree puasessores absque dimi-
nutione noatri cenaua aimuiuiatrabunt.
*) vergl. Ennen, Geach. der Stadt Köln 1414, sowie Enuen, Quellen
III 1285, 253.
*) vergl. z B. MH. UB II 1212, 286; UI 1282, 460; 1235, 543 u. v. a.
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117
von Häusern *) völlig den Anordnungen über die ländliche
Rodung und Cultur. Ebenso sind hier wie dort die gleichen
Cautioncn und Sicherstellungen3); und analog ist auch das Ver-
halten zu den älteren, gebundenen Leiheformen und die besondere
Betonung des besseren Rechtes3).
Behält man diesen unverkennbaren Parallelismus der Er-
scheinungen des städtischen und ländlichen Rechtes im Auge
und berücksicht mau , dass es im wesentlichen dieselben
geistlichen Anstalten und grossen Grundbesitzer waren, die inner-
halb und ausserhalb des städtischen Weichbildes ihren Grund
und Boden in der gleichen Weise durch Überlassung zu Erb-
recht sich nutzbar machten, dann mag man immerhin zugeben,
dass specifisch städtische, wirtschaftliche wie rechtliche, Momente
in dem Entwickelungsgange des städtischen Leiherechtes manche
Modifieation bewirkten, aber es ist doch wohl nicht mehr möglich,
den Zusammenhang mit dem Rechte des flachen Landes schlecht-
hin in Abrede zu stellen und zu behaupten, dass beide unab-
hängig von einander sich entwickelt hätten, und die städtische
Leihe selbstständig und originär entstanden sei 4). Die Thatsache
allein, dass man auf städtischem Boden, wo der Übergang viel-
leicht ein rascherer war, die einzelnen Bindeglieder nicht so
deutlich verfolgen kann, ist wohl nicht geeignet eine derartige
Vermuthung zu begründen.
Es drängt vielmehr alles zu der Annahme hin, dass die
beiden Formen der freien Erbleihe, welchen wir in den Rhein-
ländern jener Zeit in Stadt und Land begegnen, einer und der-
selben gemeinsamen Quelle entsprungen sind, und dass sie
anfänglich in gemeinsamem Entwickelungsgange und sich gegen-
seitig beeinflussend zu ihrer individuellen Ausgestaltung gelangt
>) Ennen II 1226, 89; 1252, 309; 1261, 420; III 1294, 397; MH. ÜB.
III 1236, 543; 1236, 577; 1240, 676.
*) vergl. z. JB. Ennen Q 1217, 56; 1252, 309 a. a.
*) z. B. 1181 Lac. I 477. Anklänge an frühere, wahrscheinlich un-
freie Leiheverhältnisse vielleicht in 1292 Und. II p. 273; 1299 Ennen III
488 u. a.
4) vergl. in dieser Beziehung auch Liesegang in der Zeitschrift der
Savigny- Stiftung XI S. 26. — Die im Texte ausgeführten Überlegungen,
namentlich die Annahme einer inneren rechtsgeschichtlichen Continuität
zwischen den Leihen nach Hofrecht und den späteren städtischen Leihen,
wird selbst dann nicht alteriert oder in Frage gestellt, wenn man der Ansicht
v. B el o w ' s (Hist. Zeitschrift 58 S. 203 u. 241 ff.) beipfliehten und die völlige
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eind. Die zunächst geringen Verschiedenheiten sind später mächtiger
geworden und mit dem Aufschwünge der Städte konnte die
Erbleihe dort eine Entwickelung nehmen, die naturgemäß in
den conservativen Verhältnissen des ländlichen Grundbesitz sich
nicht entfalten konnte. Während ursprünglich bei geringeren
Differenzen eine wechselseitige Beeinflussung noch möglich war,
musste später, sobald die Gegensätze grösser wurden, vollständige
Trennung erfolgen. —
So würde die hier durchgeführte rechtsgeschichtliche Unter-
suchung zu dem Ergebnisse führen, dass die freie Erbleihe, wie
sie in den Verträgen über städtischen und ländlichen Gutsbesitz
der Rheingegenden des 12. und der folgenden Jahrhunderte vielfach
wiederkehrt, auf eine zeitgemässc Umbildung der älteren Leihe-
formen , namentlich des Hofrechtes zurückzuführen ist ,). Die
alten precarischen Leihen haben bei diesem Entwickelungs-
gange keinen Antheil gehabt; dagegen mögen immerhin
lehenrechtliche Formen, die freilich vornehmlich anderen
Rechtsgebieten angehört haben, auch auf diese kleinen Leihen
manchen Einfluss geübt haben. Die eigentliche Fortbildung,
die aus dem Hofrechte und seinen Leiheformen sich vollzog,
gieng in der Art vor sich, dass auf der einen Seite das
ursprünglich ganz preeäre Leiheverhältnis im Laufe der Zeiten
immer mehr zu einem dinglichen Rechte erstarkt ist, und auf der
anderen Seite die anfangs vielleicht allein ausschlaggebenden
und durchgreifende Verschiedenheit und frühzeitige Trennung von Hof-Gericht
und Stadt - Gericht annehmen wollte, weil die innerliche materiell-
rechtliche Entwickelung durch Schranken, welche etwa die verschiedenen
Rechtsgebiet« trennen, nicht aufgehalten wird oder wenigstens nicht notb-
wendig und nicht unbedingt aufgelmltcn werden muss. Freilich ist nicht
in Abrede zu stellen, dass durch die hier gegebenen Ausführungen v.ilclow’s
Hypothese namentlich für die älteste Zeit nicht gerade an Wahrscheinlich-
keit gewinnt.
') Hält man an diesem Zusammenhänge fest, und berücksichtigt man
dass die freie Erbleihe entstanden ist zu einer Zeit, in welcher die Erb-
lichkeit auf hofrechtlichem und lehenrechtlichem Gebiete schon ziemlich
eingebürgert war, und dass die ganze wirthschaftliche Lage in vielen Fällen
nur eine erbliche Verleihung möglich machte, so wird man vielleicht die
von Lamprecht a. a. O. S. i)38 f. vertretene Auffassung, dass der Erb-
leihe eine Zeitleihe in der Entwickelung vorausgegangen sei, nicht als
nothwendig annehmen müssen, wenn auch gewiss zuzugehen ist, dass die
Ausbildung zeitlich beschränkter leihen auch für eine freiheitliche Ent-
wickelung der Erbleihcn nur förderlich sein konnte.
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herrschaftlichen Momente im Leiherechte sich immer mehr ver-
flüchtigt haben. Dabei war die Entwickelung freilich nicht derart,
dass diese neue, freiheitlich ausgestaltete Rechteform die ältere
in ihrer Totalität verdrängt und sich allgemein an ihre Stelle
gesetzt hätte, und dass man in streng geschlossener zeitlicher
Aufeinanderfolge die Entwickelung und den Übergang von der
ulten zur neuen Form verfolgen könnte. Der Erfolg war vielmehr
nur ein partieller; nur in einzelnen Gebieten des wirthschaftlichen
Lebens, die eine freiere Gestaltung bedurften, kam das neue Recht
zum Durchbruche und trat dann zu den daneben noch fort-
bestehenden älteren Formen in um so grelleren Gegensatz.
Fragt man nach den Ursachen dieser freiheitlichen Entwicke-
lung, so sind es wohl im allgemeinen dieselben , die auch auf
anderen Gebieten und in anderen Formen in jener Zeit einem
neuen, freien Geiste zum Durchbruche verhelfen.
Der Mangel an hinreichenden Arbeitskräften auf dem Lande,
der um so empfindlicher wurde, je mehr die grösseren Gutsherr-
schaften genöthigt wraren, zu weiterem , mühsamen Ausbau des
Landes zu schreiten, und die in der Zeit der Colonisation des
Ostens und des Aufblühens der Städte der ländlichen Bevölkerung
gegebene Möglichkeit durch völligen Austritt aus den bisherigen,
vielleicht beengenden Verhältnissen zu besserer und unabhängiger
Stellung zu gelangen, und viele andere Umstände, die für uns
hier weniger Interesse bieten, versetzten die grossen Gutsherrn
oft in die Zwangslage, im eigenen Interesse, zur Erhaltung der
für sie nothwendigen bäuerlichen Bevölkerung, von der Strenge
des alten Rechtes nachzulassen und freiere Grundsätze zur An-
wendung zu bringen.
Unmittelbare Veranlassung boten dann, wie schon eingangs
erw’ähnt, meist die Fälle, wo die Verwerthung des Gruud und
Bodens, die von der Herrschaft angestrebt wurde, erst durch eine
mühsame, kostspielige Arbeit erreicht werden konnte. Rodung
von Wäldern, Anlage von Wiesen und Weinculturen, Erbauung
und Erhaltung von Mühlen und Ähnliches auf dem Lande und
der Häuserbau in den Städten, all dies erforderte einen den ge-
wöhnlichen Durchschnitt übersteigenden Einsatz von wirthschaft-
lichen Kräften und gab deshalb vielfach Anlass zur Anwendung
eines günstigeren, privilegierten Rechtes. Die Bedürfnisse eines
regeren Güterverkchres in den Städten förderten dort eine
weitere Entwickelung.
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Näher einzugehen auf all die Pactoren des wirtschaftlichen
und socialen Lebens, welche die neuen Rechtsbildungen erzeugt
und eingebürgert und dann ihre Eigenart gepflegt und zur Ent-
faltung gebracht haben, erscheint bei dem hier verfolgten Zwecke
nicht geboten; es kann umsomehr übergangen werden, als über
diese vorwiegend wirthschaftsgeschichtlichen Prägen von berufener
Seite schon ausführlich gehandelt wurde1).
Hier sei, der Vollständigkeit halber, nur noch eines juristischen
Momentes gedacht, das in dem eben geschilderten Entwickelungs-
gange zu einer immer freiheitlicheren Behandlung der Leihever-
träge zum mindesten als forderndes Element mitgewirkt hat,
wenn ihm nicht eine noch weiter reichende Bedeutung zukommt.
Es ist schon an früherer Stelle1) des Einflusses Erwähnung
geschehen, welchen der rechtliche Verkehr unter geistlichen An-
stalten in einer Beziehung auf den hier verfolgten Umwandlungs-
und Werdeprocess geübt hat. Hier kommt noch eine andere
Einwirkung in Betracht. Wenn auf irgend einem Gebiete des
damaligen Verkehrsleben das Bedürfnis nach einem gedanken-
niässig ewig währenden Einkommen, einem nie erlöschenden
Nutzungsrechte ein reges und lebhaftes war, so muss in erster
Linie das kirchliche Vermögensrecht dazu Anlass gegeben haben.
All die frommen Stiftungen, welche die Verehrung Gottes oder
eines Heiligen dauernd sichern, oder die fromme Erinnerung an
einen Verstorbenen durch Gebete und Todtenfeiern für immer
wach erhalten sollten, mussten ewig sein, wie die Kirche, an die
sie gelangten, und wie die Leistungen, die angestrebt wurden.
Das geeignetste Mittel zur Begründung eines solchen dauernden
und Jahr für Jahr wiederkehrenden Einkommens lag unzweifel-
haft in der Zuwendung von Grund und Boden oder davon
kommenden Einkünften. Die Übertragung von Eigenthum war
die einfachste, aber nicht die einzige Perm; in der Zuweisung
des Erträgnisses oder der Abgaben eines zinspfliehtigen Gutes
mit oder ohne eine gleichzeitige Übertragung des Eigentums-
rechtes, lag ein anderes Auskunftsmittel, das überdies den
Vortheil hatte, dass dabei durch die jährliche Zahlung an
einem festgesetzten Tage die Widmung für den bestimmten Zweck
(z. B. für Abhaltung einer Memorienfeier) besser zu Tage treten
konnte. Was uns dabei interessiert, ist, dass auch Leihe-
') vergl. Lamprecht a. a. 0. I, VI. Theil.
*) S. 103 f.
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Verhältnisse zu diesem Zwecke in mannigfacher Art ins Leben
gerufen wurden. Nicht selten wollte nämlich der Gründer einer
solchen Stiftung bei der Übertragung des Grundstückes für sich
selbst und seine Leute doch noch etwas zurückbehalten; dann
liess er sich für sich und seine Descendenz entweder direct eiuen
ewigen Zinsbezug zusichern, oder er liess sich das Gut zu erb-
lichem oder lebenslänglichem Rechte (jure hereditario) zurück-
verleihen, wofür er seinerseits sich zu einem Zinsentgelte ver-
pflichtete. In anderen Fällen lag es dem Schenker eines Gutes
wieder daran, einen bestimmten Zinsmanu auf demselben zu be-
lassen und die eigentliche Zuwendung an die Kirche bestand
dann in dem Zinsbezugsrechte, als der einzigen actuellen Äusserung
des überlassenen Eigenthumsrechtes. Für eine solche Verfügung
war vielleicht mitunter massgebend, dass der bisherige Herr
und Eigcnthümer eines Grundstückes für einen bestimmten seiner
Leute besonderes Vertrauen hegte und ihm darum neben dem
Grundbesitze auch die Fürsorge für die gehörige Verwendung des
der Kirche zugedachten Einkommens, etwa für Abhaltung von
Gedächtnisfeiern, Beleuchtung der Grabstätte oder eines Altares
u. a. m. überweisen wollte So gab der hier gekennzeichnete
religiöse Zweck vielfach Veranlassung zur Begründung von neuen
oder zur Beurkundung von schon bestehenden Leihen, die dann
nach den Verhältnissen des einzelnen Falles einen mehr oder
weniger freien Character trugen*).
So mannigfaltig diese Bildungen im einzelnen gewesen sein
mögen, so ist ihnen doch das eine gemeinsam, dass sie nicht aus
wirthschaftlichen sondern aus kirchlichen Bedürfnissen heraus-
gewachsen sind, und dass ihr Zweck vornehmlich in der intendierten
Zinszahlung bez. in der Verwendung des Zinses gelegen ist. Ent-
fernen sie sich so von dem Gebiete des eigentlich wirthschaft-
lichen Lebens, so liegt in der Erhebung der Zinsleistung zu dem
das Rechtsverhältnis zunächst bestimmenden Factor, eine wesent-
liche Verschiedenheit gegenüber den anderen Leihen. Und gewiss
lag in dem Umstande, dass auf diesem einen Gebiete eine solche
") Etwa wie in Urk. 1222 Böhmer, Frankf. UB. p. 34.
*) z. B. lllö MR. UB. I 431; 1150, 556; 1258 Böhmer, Frankf. UB.
p. 121 u. a. Schenkungen mit Begründung einer Zinspflicht für einen Jahr-
tag 1101 MR. UB. 1 402; ähnlich 1133 Ouden I p. 108; 1253 Böhmer,
Frankf. UB. p. 87; 1258 p. 120 und desgleichen in den Kölner Schreinsui k.
Ho eniger I z. B. Schreinskarte der Martinspfarre 2 IV 22 (c.1142 — 1156).
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122
Umwandlung zum Durchbruche gelangt ist, eine wesentliche
Förderung des lcihcrechtlichen Entwicklungsganges, der ja gerade
damals sich in dieser Richtung bewegte1).
Die wirthscbaftliche, sociale und rechtliche Bedeutung aber
die einer solchen Entwickelung zukam, die wird gewiss niemand
gering anschlagen wollen. Sieht man auch ganz ab von den Vor-
theilen, welche die ferner Ausbildung des Leiherechtes in den
Städten für den geldgeschäftlichen Verkehr im Gefolge hatte, so
ist auch auf dem Gebiete des ländlichen Rechtes die Anbahnung
und das Durchdringen freierer Leiheformen, welche die Persön-
lichkeit des Bauern nicht mehr in so enge Schranken schlossen,
sowie die Ausbildung beweglicher Formen für den bäuerlichen
Immobiliargüterverkehr überhaupt ein Fortschritt von ganz hervor-
ragendem Werthe.
') vergl. in dieser Beziehung auch die Ausführungen bei Arnold,
Geschichte des Eigenthums S. 94 ff.
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II.
Die bänerlichen Zinsgüter der nördlichen deutschen
Colonisationsgebiete.
Ungefähr zur gleichen Zeit, in welcher in den Rheinlanden
der Ausbau von uncultiviertem Lande namentlich durch die An-
lage von Weinbergen und anderen Specialculturen auf früher
ungeordnetem Boden, sowie das Aufblühen der Städte in mancher
Beziehung eine Umwälzung der wirtschaftlichen Verfassung
und die oben geschilderte Entwickelung des neuen, freiheitlichen
Landleiherechtes hervorgerufen hat, wurde in den nördlichen
und östlichen Grenzgebieten der damaligen deutschen Cultur, in
den Niederungen und Sümpfen längs der Meeresküste und in
den der slavischen Nachbarschaft abgerungenen Ländereien, die
Bebauung und Besiedelung völlig unwirtlicher und unbewohnter
Landstriche durch die Heranziehung einer zahlreichen Colonisten-
bevölkerung in der umfassendsten Weise ins Werk gesetzt. Es
liegt auf der Hand, dass die Erreichung des angestrebten Zweckes,
das Gedeihen dieses Colonisationsunternchmens, dessen Bedeutung
die Grossen jener Gebiete, wenigstens insoweit ihr Nutzen in
Betracht kam, klar erkannten, nur dadurch möglich war, dass
den neuen Ansiedlern weitreichende Vortheile und besondere
Privilegien gewährt wurden. Denn materiell war die Lage, welche
die Colonisten wenigstens für die erste Zeit zu erwarten hatten,
nichts weniger als günstig. Musste doch der Grund und Boden,
der in Hinkunft die neue Heimstätte für den Colonisten sein
sollte, durch Kunst und mühevolle Arbeit den feindlichen Ele-
menten oft erst abgerungen werden. Die Überlassung der dem
einzelnen zugewiesenen Hufe zu erblichem und dauerndem Be-
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124
sitzrechte gegen eine geringe Zinsabgabe und die Gewährung
und Sicherung der persönlichen Freiheit waren im allgemeinen
die Zugeständnisse, die sich geeignet erwiesen, Colonisten aus
weiter Ferne zu der beschwerlichen und oft gewagten Cultur-
arbeit zu gewinnen.
Welch grosse Bedeutung in wirthschaftlicher, rechtlicher
und politischer Beziehung diesem Colonisationswerke zukam, das
aus kleinen Anfängen zu weiter Ausdehnung gelangte, ist aus
den dieser Frage speziell gewidmeten Untersuchungen *) wie
allgemeinen geschichtlichen "Werken zur Genüge bekannt. Und
ebenso ist die Geschichte der Ausbreitung dieser colonisatorischen
Bewegung in älteren Abhandlungen und durch neuere Forschungen,
die das wirtschaftlich so merkwürdige Ereignis bald auf dem
ganzen Gebiete, auf dem es sich vollzog, bald wieder mit vor-
nehmlicher Berücksichtigung der einzelnen davon betroffenen
Territioricn behandelt haben, so oft und so gründlich besprochen
worden, dass eine neuerliche Erörterung des geschichtlichen
Problemes fast als überflüssig erscheinen möchte.
Darum liegt es auch nicht in der Absicht der vorliegenden
Studie auf diese Frage von neuem einzugehen. Hier handelt
es sich weder um eine Würdigung der culturgeschichtlichen Be-
deutung, noch auch um die Darstellung des Fortschreitens und
der Verbreitung dieser die Germanisierung der Grenzgebiete be-
gründenden Colonisation ; es sollen vielmehr lediglich die recht-
lichen Formen, in welchen diese Ansiedelungen ins Leben ge-
rufen wurden, namentlich die Beziehungen der Colonisten in
ihrer rechtlichen Stellung zum Grund und Boden einer beson-
deren Untersuchung unterzogen werden.
Naturgemäss folgt dabei die rechtsgeschichtliche Darstellung
am besten dem Entwickelungsgange, den die Colonisation selbst
eingeschlagen hat. An die Besprechung der rechtlichen Ge-
staltung, welche bei den ersten Coloniengründungen ins Leben
gerufen, und die auch später im allgemeinen beibehalten wurde,
wird sich füglich der Hinweis auf die Veränderungen anschliessen,
welche die einmal gewonnene und im Principe unveränderte recht-
liche Form in ihrer Anwendung und Übertragung auf andere ver-
wandte Unternehmungen im weiteren Verlaufe erfahren hat. Da-
bei mag der enge Zusammenhang von öffentlichrechtlichen und
*) vergl. die Zusammenstellung der einschlägigen Literatur z. ö. bei
Schröder D.R.G. S. 375 Anm. 15 und S. 407 Anm. 1.
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125
privatrechtlichen Elementen, der schon bei einem flüchtigen
Blicke auf die belangreichen Urkunden zu Tage tritt, es recht-
fertigen, wenn neben den privatrechtlichen Besitzverhältnissen
auch die öffentliche, namentlich die gerichtliche Organisation der
Colonien in ziemlich weitem Umfange in den Kreis der Be-
sprechung gezogen wird.
Der Ausgangspunkt für alle unserem Gegenstände gewid-
meten Untersuchungen ist wohl von jeher der Vertrag gewesen,
durch welchen der grosse Erzbischof Friedrich von Hamburg-
Bremen mehreren holländischen Unternehmern die Trockenlegung
von unwirklichen Sumpfländereien zum Zwecke der Gründung
neuer und ausgedehnter Ansiedelungen gestattet und rechtlich
wie factisch ermöglicht hat*). Und gewiss mit vollem Grunde
wird gerade diese Abmachung zur Grundlage für alle modernen
Darstellungen der Colonisationsgeschichte gewählt. Dieselbe ist
freilich nicht die älteste auf uns gekommene Aufzeichnung *)
über eine Ansicdlung einer grösseren Zahl von Colonisten;
und es fehlt auch nicht an Anzeichen, dass, noch ehe Erzbischof
Friedrich diese holländische Oolonie ins Leben gerufen hat,
auch schon andere fremdländische Ansiedler sich in jenen
Gegenden niedergelassen haben*). Aber der hier genannte
Vertrag'*) ist grundlegend für unsere Kenntnis über die
Rechtsverhältnisse der holländischen Colonien und ein Ver-
gleich mit späteren analogen Abmachungen zeigt, dass die in
ihm enthaltenen Rechtsgedanken weiterhin wohl ergänzt und in
Einzelheiten modificiert wurden, im wesentlichen aber auf lange
Zeit hin massgebend blieben. Mit diesen, freilich erst im wei-
teren Verlaufe der Darstellung zu erhärtenden Behauptungen
dürfte ein genaues Eingehen auf seinen Inhalt vorläufig gerecht-
fertigt erscheinen*).
') 1106, Elimck und v. bippen, Bremer UB. No. 27, 8 unten Anm. ö.
’) b. unten S. 129.
s) vergl. Eduard Otto Schulze, Niederländische Siedelungen, Hannover
1889 8. 24.
4) Über Art und Glaubwürdigkeit der Überlieferung s. ausser dem
bremer Ub. und Cappenberg, Hamburger UB. (bei No. 129.) insbes.
Werse be, Über die niederländischen Colonien (Hannover 1815 — 16) I 27 fl'.
*) Sein Wortlaut nach der Ausgabe im Bremer Urkundeubuche No. 27:
J. n. s. e. i. t. Friedericus dei gratis Hammenburgensis ecclesie an-
tistes universis fldelibus in Christo preBeutibus et futuris, perpetuam bene-
dictionem. Pactionem quandam, quam quidam cis Rhenum «imma-
nentes, qui dicuntur Hollandi, nobiscuin pepigerunt, omnibus notara
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120
Schon seiner äusseren Form nach trägt er den Character
des Besonderen, indem er nicht als eine Enuntiation des herr-
schaftlichen Willens, nicht als ein Privilegium des mächtigen
Kirchenfürsten auftritt, sondern als eine schlichte Vereinbarung,
welche der Erzbischof und sechs Holländer, als die Leiter des
Colonisationsunternehmens und Anführer ihrer Genossen, wie
gleichberechtigte Parteien unter sich ausgehandelt haben.
volumus haberi. Prefati igitur viri maiestatem (?) nostram couvenerunt
obnixe rogantes, quatenus terram i n epi seopalu nostro si t n m, acten u s
incultam paludosamque , nostris indigenis superfluam eis ad
excolendamconcederemus. Nos itaque tali petitione nostrorum usi con-
silio fideliurn, perpendentes remnobisnostrisqucsuccessnribusprofu-
turani, non abnuente petitioni eorum assensum tribuimus. Hui ub
autem petitionis talis fiebat pactio, ut de prefateterre singulis
mansis singnlos denarios singulis annis nobis darent. Mansi
vero mensionem, ne discordia in postcrum in populo habere tu r. que menaio
in longitntine septingentas et viginti, in latitudine vero XXX habet regales
virgas, cum rivulis terram interfluentibus, quos eis simili modo concedimus
hic inscribi neeessarium duximus. Condixerunt denique secundum decrotum
nostrum dccimam se daturos, ita videlicet, ut de frugibus terre un deci mu m
manipulum, de agnis X , de porcis similiter, de capris similiter, de anseri-
bus similiter nec non et decimam mensuram mellis et de lino simili modo
darent; pulium equinum educatum usque ad festivitatem sancti Martini solo
denario, vitulum obulo redimerent. Ad si nodale in iusticiam secun-
dum sanctorum decreta patrum et canonicam justiciam et iDstitu-
tionera Trajectensis ecclesie nobis so per omnia obtemperaturos pro-
miserunt. ludiciaet placita secularis legis, ne ab extraneia
preiudicium paterentur, ipsi ut omnes rerura dissentiones
inter se diffinirentur, de singulis centum mansis II msreas singulis
annis se persolvere asseruerunt. Majorum placita sive iudicia reruin,
si ipsi inter se diffinire nequirerent, adepisoopiaudientiani referrent,
uumque secum ad causam diffiniendam ducentes, inibi quamdiu moraretur,
de suo ipsimet procurarent: eo tenore, ut de placitali questu duas
partes haberent, tertium vero episcopo preberent. Ecclesias in
prefata terra, ubi eis eongruum videretur, constitui conceasimus. Quihua
ecclesiis decimam decimarum nostrarum parroebiarum ecclesiarum earnndera
distincte in usus sacerdotis iuibi deo servituri prebuimus. Parrocbiani
vero uiohilominus singularuni ecclesiis inansum unum in dotom ad predictus
usus sacerdotis se daturos confirmant. Nomina virorum, qui nos ob hanc
pactionem faciendam conlirmnndamque convenerunt, hec sunt: Heynrirus
aacerdos. cui prefatas ecclesias in vita sua conccssimus, ceterique laioi : Uc-
likinus, Arnoldus. Hiko, Eordolt, Heferic; quibus iam sepedictam
terram secundum seculi lege« et prel'atam conventionem
concedimus et ipsorum heredibus post ipsos. Datum, Siegel.
Si quis ista contradixerit, anathema sit.
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127
Nach diesem Übereinkommen überliess Erzbischof Friedrich
den holländischen Colonisten einen allem Anscheine nach
ziemlich ausgedehnten, aber sumpfigen, bisher völlig unbebauten
und unbenutzten Landstrich '), den diese sich zur Cultivierung
erbeten hatten. Der ganze District sollte vermessen und in
Hufen von bestimmter Form und Grösse gethcilt werden, und
zwar reichte deren Umfang weit über das gewöhnliche Ausmass
hinaus. Gleichwohl wurde neben der Zehentabgabe, die sich nach
dem holländischen Gebrauche richtete '), von jeder Hufe nur der
minimale Zins von einem Denare verlangt. Bezüglich der Gerichts-
barkeit wurde für geistliche Angelegenheiten das allgemeine
canonische Recht und der Gerichtsgebrauch von Utrecht, als der
Diöcese, aus welcher die Colonisten kamen, für massgebend erklärt,
die niederen weltlichen Gerichte aber gegen eine jährliche
Abgabe, die für je 100 Hufen mit zwei Mark bestimmt wurde,
den Colonisten zur freien, selbstständigen Regelung überlassen;
damit war ihnen gleichzeitig die Anwendung des heimischen
Rechtes zugestanden und gewährleistet. Nur die höhere Gerichts-
barkeit behielt sich der Bischof vor, jedoch findet sich auch
hier eine ausserordentlich weit reichende Concession, indem
die Colonisten nicht gezwungen wurden, an den Sitz des bischöf-
lichen Hofes zu ziehen, sondern berechtigt waren, gegen Leistung
der nothwendigen Procurationen den Bischof für solche Fälle in ihr
Land zu rufen, der dann ein Drittel der Gerichtsgefälle für sich in
Anspruch nehmen konnte. Hierin liegt bei der Organisation
des damaligen Gerichtswesens naturgemäss eine neue Gewähr
für die Anwendung des heimischen Rechtes. Auch in kirch-
licher Beziehung wurde ihnen viel Freiheit gewährt. Sie konnten
Kirchen bauen, wo und wie sie wollten , nur musste jede mit
einem Mansus dotiert werden. Zu Gunsten des an ihnen fungierenden
Geistlichen verzichtete der Erzbischof auf den zehnten Theil
') Über die geographische Lage der Colonie vergl. insbes. W ersehe
a. a. O. S. 33, dann mit gegenteiliger Ansicht Langenthal, Gosch, d.
deutschen Landwirtschaft 1847 ff. II 8.76 ff.; aus neuerer Zeit Schröder,
die niederl. Kolonien in Norddeutschland, in Virchov und Holtxendorüs
Sammlung v. Vorträgen XV. Serie, Heft 347 8. 8 (360) und Schulze
a. a. O. S. 12 ff.
*) undecimum manipulum, also die II. nicht schon die 10. Garbe
vergl. dazu Gustav Heinrich Schmidt, zur Agrargesch. Lübeks und Ost-
holsteins 8. 18, auch Schulze a. a. O. 8. 33.
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128
seines Zehentertrage.«, Zum Schlüsse wird noch die Dauer des
Vertrages, seine Giltigkeit auch über das Leben der Contrahenten
hinaus, für deren Erben zugesichert.
Es unterliegt gewiss keinem Zweifel, dass unter der Vor-
aussetzung des Gedeihens der Colonie, soferne also die erste
Culturarbeit zu dem gewünschten Ziele führte, die Vortheile,
welche aus einem solchen Vertrage den Colonisten zufielen, sehr
bedeutende werden mussten: neben dem sicheren Genüsse der vollsten
persönlichen Freiheit, des eigenen Rechtes und des eigenen Ge-
richtes die dauernde Überlassung der zugewiesenen Hufen init
all den Vortheilen, die aus ihnen zu gewinnen waren. Und dem
gegenüber ist die Gegenleistung, welche der Grundherr für sich
in Anspruch nahm, gewiss verschwindend klein. Nur der Um-
stand, dass der überlassene Boden vor dem gar kein Erträgnis
abwarf, also schon das Mindeste für den Grundherrn reiner Ge-
winn war, und dass andererseits sehr günstige Bedingungen noth-
wendig waren, um Colonisten zu werben und durch sie wenigstens
diese geringen pecuniären Vortheile zu gewinnen, macht die
Abschliessung des Vertrages mit diesem Inhalte begreiflich. Zu
beachten ist übrigens, dass auch von den wenigen Abgaben, die
der Bischof für sich forderte, nur ein Theil unmittelbar auf den
Schultern der angesiedelten Bauern ruhte, nämlich nur Zehent
und Zins, während die Gerichtsabgaben in beiden Formen
zunächst nur die Träger der dortigen Gerichtsbarkeit trafen.
Wer dieselben waren und wie sich ihr Verhältnis zu den
eigentlichen Bewohnern der Colonie gestaltete, darüber gibt
uns der vorliegende Vertrag keine Auskunft. Sein Zweck ist
nur die Regelung des Verhältnisses zwischen der erzbischöflichen
Curie und der Colonie als einer Einheit, oder vielleicht richtiger
gesagt, des Rechtsverhältnisses zwischen Erzbischof und den
sechs genannten Unternehmern, den Begründern der Holländer-
niederlassung. So blieb auch die Ordnung der inneren Ange-
legenheiten den Colonisten selbst überlassen; wie dieselbe er-
folgte, darüber können wir uns nur Vermuthungen hingeben,
Vermuthungen, für welche die Analogie späterer ähnlicher Nieder-
lassungen gewisse Anhaltspunkte gewährt.
Es ist wahrscheinlich, dass die Führer, die im Namen und
als Stellvertreter ihrer Genossen die Verhandlung mit dem Erz-
bischof durchgefuhrt und zum Abschlüsse gebracht haben, auch
fernerhin in dem Colouistendorfe eine leitende Stellung dürften
eingenommen haben Vielleicht kam in ihre Häude durch den
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129
Willen ihrer Genossen die Leitung der Dorfgerichte, auf welche
der Bischof für seine Person verzichtet hatte; vielleicht konnten
sie auch diese und manche andere Vortheile sich erzwingen, da
der Wortlaut des Vertrages eben sie, die sechs Führer, als die
erblich berechtigten Besitzer jenes Landstriches bezeichnete und
eines Rechtes ihrer Genossen dabei keine Erwähnung geschah.
Auch ist es nicht ausgeschlossen, dass die Unternehmer ihrer-
seits bei der Ansiedelung der einzelnen Holländer Bauern eich
vielleicht einen Kaufpreis ausbedungen, oder die von dem Erz-
bischöfe auf die Hufen gelegten Abgaben zu ihren Gunsten er-
weitert haben.
In der Gewährung eines eigenen Gerichtes und der darin
verbürgten Zusicherung des Fortbestandes ihres eigenen,
heimathlichen Rechtes, das auch in der Ferne giltig und in An-
wendung bleiben sollte, sowie endlich in der freiheitlichen,
keiner Grundherrschaft unterstellten Organisation des neuen
Dorfes lagen aber jedenfalls so bedeutende Vortheile, dass ihnen
gegenüber solche von der Dorfobrigkeit vielleicht verfügte Be-
lastungen noch immer leicht erträglich erscheinen mochten.
Um des Gegensatzes willen, der gerade bezüglich der per-
sönlichen Freiheiten der Colonistcn besteht, sei an dieser Stelle
einer anderen der gleichen Zeit entstammenden Vertragsabmachung
gedacht ') , die auch die Gründung einer Holländercolonie
zum Gegenstände hatte, aber nicht die gleichen, freiheitlichen
Principien zur Anwendung brachte. Zwischen 1079 und 1114, wahr-
scheinlich noch vor dem Entstehen der ersten Bremischen Hol-
länderansiedelung, hat nämlich Bischof Udo von Hildesheim
gleichfalls eine holländische Niederlassung, aber unter anderen
Bedingungen ins Leben gerufen. Über die dabei getroffenen Be-
stimmungen erhalten wir Kunde aus einer Bestätigungsurkunde *)
') Die gleiche Gegenüberstellung findet sich schon bei Schröder,
nieder! Kolonien S. 6 (348).
*) Böhmer, Acta imperii solecta Nr. 1129 .... Decretum est . . .
et epiechopo et eodem advena populo assensum in idem praestante: — Si
qnis vir obierit, nt vel ex animalibus eius Optimum quodeumque fuerit, vel
si pocius epischopo videbitur unum, quod ex vestimentis eius preciosum magis
iudicabitur in usnm transeat epischopi. Porro uxor mortui nubat in domino,
nullius potentia seu timore coercita, tantum ut maritus Bubsequens epischo-
pali debito secundum institutionera non contradicat. — In excolendis quo-
que agris hanc conventionis legem acceperunt: Quantumcunque aliquis ar-
borum silvestrium deiecerit et eradicatis vepribus seu aliis incommodis in
usum redactis. quamdiu solo rastro colitur, nec tributo nec decime
subiaoeat. Quam cito autem vomere prosciflsus ager uberiorem fruc-
0. Srhicirul, Krbtethen. 9
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130
des Bischofs Bernhard von Hildeshehn aus der Zeit zwischen
1133 und 1137. Wir entnehmen derselben, dass der Zweck dee
tum attulerit, septem annis tributum neseiat: sed in ipso septimo
duos denarioa reddat, in octavo quatuor, in nono octo, in decimo soli-
dum et por singulos aunos deinceps hanc summam non excedat. — In
causis etiam secularibus discutiendis advocatum accipiant, quem discretio
episcopi ex gratia utpote exulibus providerit, et ter in anno concionandi
causa conveniant, responsuri sine banno regia et comitis ; et si alio con-
querente rous aliquis couvictus fuerit. advocato tres solidos et coni)Uerenti
duos vadiet, gratiam tarnen in hiis acceplurus. Es folgen weitere processuale
Bestimmungen, dann: Qui prccium possessionis sue comperare voluerit, villico
episcopi sex denarios offerat, quod appellant licentiam; eo tarnen iure
emptor tenendum non ambigat, quo venditor ante possidebat. Quod si malicia
villici ad amplius venditorem coegerit, sub civium suorum testimonio sex
iterum denarios ei oßerat. Quod si accepturum se pertinaciter negaverit,
suspendat cos iufra parietes domus sue et rocedat. Quem si violentia villici
persequens ccperit, assumpto eoruudcm civium testimonio probet, se et ante«
obtulisse etprecium, ubi iusticia poscebat, suspendisse; et cum hac excusa-
tione securuB abccdat. Porro si aut negligentia incautus aut arrogantia pro-
tervus huius instituti decretum non egerit et rebus suis venditis abire vo-
luerit, captus privetur Omnibus, que secum detulit, nec plagatus aut alicuius
membri imminutione mutilatus — Si querne glandis ubertas adve-
nerit et homo ecclesie iu pasturam porcos adraiserit, duplicet numerum homo
ecclesic, scilicet si sex inponat homo ecclesie, tres adbiheat advena; si ille
quatuor, iste duos ln aquarum discursibus piscari, per ambitus sil-
varum venari non prohibetur, nisi in foresto episcopi, in quo si quis depre-
hensus fuerit, quinque solidorum amissione delictum corrigat, — Si quis
iter faciens in domo alicuius bospitandi gratis intraverit vel etiam mansi-
onem in eadem diutius fecerit, si ibi obicrit, uxori ac filiis eius remaneat
cius substancia; si vero heredem in presenti non habest, sint in custodia
hospitis reliquie illius annum et diem. Si infra prelinitum tempns quisqunm
venerit et eo modo, quo iusticia exigit, hereditarium ius ad se pertinere do-
cuerit, reddantur illi; si nullus venerit infra anni circulum, transeant eidem
reliquie in usurn episcopi. — Si penuria cogentc aut subita inimici atroci-
tate aliquis non habita liceutia discesscrit, maneat inconvulsa annum et dieiu
eius substantia. Si redierit et pro indisciplina satisfecerit, contradictionem
bonorum suorum non patiatur. Si non redierit, alicui suorum eadem bona
familiarius et levius per gratiam villici non negentur. Quicquid in areis, in
agris sive quihuscumque commodis villicus alicui contulcrit, irritum fiere
non potest. Et si assumpto civium testimonio aliquis a curia se suscepiase
quiequam ostenderit, inconvulsum existat. — In nostre iustitutionis exordio
confirmatum est, epischopum nec advoentum licere aut debere aliquem ex
uostris suorum testimonio conviucere, sed eorum, qui nostre legis decretum
acceperunt
Primam autem pretaxate legis institutionem susceperunt Benzo, Menzo,
Immo, Egezo, Udone episcopo; contirmationem eiusdem denuo acceperunt
Bernardo episcopo cum sigilli annol atione sub anatliemate isti : nun folgeu
eine Reihe von Namen geistlicher und weltlicher Leute.
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131
Unternehmens wieder die Cultivierung eines unfruchtbaren Land-
striches war, und finden dabei die besondere Begünstigung einer
vollkommenen Freiheit von Zins und Abgaben für die Zeit bis
einschliesslich des sechsten Jahres nach vollendeter Rodung.
Der Zins für die folgenden Jahre wurde mit 2, 4, bez. 8 Denaren
und vom 10. Jnhre an mit einem Solidus von jeder Hufe fest-
gestellt. Daneben bestand natürlich die Zehentpflicht. Ab-
gesehen von der Grösse des Zinses, welcher nach dem Gesagten
den der Bremer Colonisten um ein sehr Bedeutendes überragt,
(hier ein Solidus, dort ein Denar), stimmt in allen bisher be-
sprochenen Punkten der rechtliche Inhalt der beiden Verträge
im Ganzen noch überein.
Die Abweichungen zeigen sich, wie schon oben angedeutet,
erst in den Bestimmungen über die persönlichen und gericht-
lichen Verhältnisse der Colonisten. Todfallsabgabe und gewisse
eherechtliche Beschränkungen weisen ziemlich deutlich auf das
Vorhandensein einer herrschaftlichen Gewalt, welche der Bischof
über die Colonie in Anspruch nahm, und vollends zeigt die
Unterordnung unter einen vom Bischof zu bestellenden Vogt un-
zweifelhaft die Einordnung in den Herrschaftsverband des bischöf-
lichen Hofes an. Die Detailbestimmungen, in welchen diese Be
Ziehungen und die Rechte der Colonisten ihre Regelung fanden,
gewährten ihnen dann allerdings Begünstigungen, welche vielleicht
nicht allen Hofangehörigen zugestanden haben, wie z. B. das
Recht der Freizügigkeit und die Befugnis, das Grundstück gegen
eine dem Vogt zu bezahlende Licenzgebühr zu verkaufen —
eine Befugnis, deren Ausübung sogar gegen den Willen des
Vogtes unter Beobachtung bestimmter Form Vorschriften ertrotzt
werden konnte. Und doch liegt gerade darin, dass für den Ver-
kauf der Hufe und für das Verlassen des Dorfes dem Vogte eine
Abgabe zu gewähren war, gegenüber dem Rechte der Bremer
Colonisten eine persönliche Einschränkung, die dort nicht bestand.
Im Verhältnis zum gewöhnlichen Hofrechte dürften wieder
als Begünstigungen erschienen sein die Zugeständnisse freier Jagd
und Fischerei und nochmehr gewisse processualc Erleichterungen,
die offenbar darin ihren Grund hatten, dass die Abgeschieden-
heit von dem eigentlichen Heimathlande den Colonisten die Be-
weisführung, namentlich die Aufbringung von Eideshelfern in der
Zahl und Art, wie es das gewöhnliche Processrecht verlangte,
unter allen Umständen erschwert, oft unmöglich gemacht hätte.
Gegenüber diesen Bevorzugungen fehlt es indes auch nicht an
9*
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132
einzelnen, freilich weniger bedeutenden Momenten, in welchen
die Colonisten ungünstiger als die homines ecclesiae gestellt
waren.
Der Grund, warum diese holländischen Ansiedler sich mit
einem Mindermass von Freiheiten zufrieden geben und sich die
mehr oder weniger vollständige Einordnung in den herrschaft-
lichen Verband gefallen lassen mussten, lag, soweit die in der
Urkunde gelegenen Andeutungen vermuthen lassen, aller Wahr-
scheinlichkeit nach darin, dass sie landflüchtige Leute waren,
die unfreiwillig den heimathlichen Boden verlassen hatten,
für die demnach die Erlangung neuen Grundbesitzes selbst unter
minder günstigen Bedingungen eine Existenzfrage war, die auch
ein Preisgeben eines Theiles der persönlichen Freiheit und Selbst-
ständigkeit begreiflich machte, während ihre rechtlich und wirt-
schaftlich selbstständigen Landsleute, die Erzbischof Friedrich nach
Bremen rief, in freie Unterhandlungen mit diesem treten konnten
und sich nur denjenigen Bedingungen zu unterwerfen brauchten,
die ihnen hinreichend vortheilhaft und günstig erschienen.
Die beiden bisher besprochenen Colonisationsprivilegien
können vielleicht, was die persönlichen Rechtsverhältnisse der
Colonisten betrifft, als die Extreme genannt werden, zwischen
denen die bezügliche Entwickelung sich im einzelnen bewegte.
In der Holländercolonie des Erzbischofes Friedrich von Ham-
burg-Bremen fehlt nnhezu jedes Eingreifen der bischöflichen
Autorität in die inneren Rechtsangelegenheiten der Dorfschaften.
Wie sich kein Hinweis findet, der sich als eine durch die bischöf-
liche Herrschaft veranlasste Einschränkung der persönlichen
Freiheit des Individuums deuten Hesse, so blieb auch die recht-
liche Organisation der Gesammtheit fast ausschliesslich den An-
siedlern selbst überlassen. In beiden Beziehungen steht das
Gründungsdiplom des Hildesheimer Bischofs Udo auf dem völlig
entgegengesetzten Standpunkte. Die Freiheit der einzelnen Colo-
nisten ist geschmälert durch eine Reihe persönlicher Ein-
schränkungen und Lasten, und die Gesammtheit ist eingefügt in
die grundherrschaftliche Organisation, einem herrschaftlichen
Vogte unterstellt und in ihrem inneren Leben beeinflusst und
geleitet durch den herrschaftlichen Willen. Hier also ein strenges
Festhalten an den alten, hergebrachten Formen des Hofrechtes,
dort eine weitreichende Loslösung von dem Herkömmlichen, eine
freie Ausgestaltung ohne Verbindung mit dem Alten.
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133
Die weitere Colonisierung in (1er Bremer Gegend, zu deren
Besprechung nunmehr zurückzukehren ist, blieb nicht bei der völlig
unveränderten Anwendung der von Erzbischof Friedrich ge-
wählten Rechtsform für die Dauer stehen, wenn freilich der
Grundgedanke sich nicht veränderte. Als typisch wiederholt
sich zunächst immer wieder die Gewährung von eigenem, freiem
Rechte und Gerichte und die Überlassung eines zu cultivierenden
Stückes Grund und Bodens an die einzelnen Bauern gegen
Zehentleistung und eine geringe Zinslast. Dabei ist nur die
eine , zwischen den beiden oben gekennzeichneten Extremen
vermittelnde, Entwickelung zu bemerken , dass den öffentlich-
rechtlichen, internen Verhältnissen der Oolonistengemeinden
und ihrer Beziehungen zu den oft ausdrücklich zu Begründern
und Leitern der neuen Colonie erhobenen Mittelsmännern, ein
etwas grösseres Maas von Aufmerksamkeit zugewendet wurde,
und so das Verhältnis zu den alten Herrschaftsbereichen die
nothwendige Regelung fand.
Dies gilt zunächst schon von der Colonisationsurkunde des
Erzbischofs Hartwig von Bremen aus dem Jahre 1149'), welche
uns die Modalitäten der Coloniengründung im Stedinger Lande
in Oldenburg berichtet und nach dem Vertrage des Erzbischofs
Friedrich wohl als das älsteste Ansiedelungsprivileg für aus-
ländische Colonisten zu bezeichnen ist, das uns aus jener Gegend
erhalten ist. Freilich können wir demselben entnehmen, dass in
der Landschaft bei Stade inzwischen eine ähnliche Colonisation
ins Leben gerufen wurde, deren Gründungsurkunden nicht auf
uns gekommen sind, und es ist wohl leicht möglich, dass auch
noch andere Colouiengründungen dieser Art inzwischen liegen. Nach
dem Berichte der Urkunde *) wurde eine Sumpflandschaft die aus-
') Über die Urk. 1142, v. Hoi ne mann, Anhalter UB. 292, s. unten S. 136 ff.
*) Hamburger UB. 189 .... Hartwicus . . . Bremenais seu Hammen-
burgensia archiepiscopus, . . . paludem quandara, partim preposito et fratribua
majoris ecclesie Bremenaia, partim vero mihi et miniatcralibus admodum
paucis pertinentem, duobus viria, Johanni videlicet et Symoni, vendendam
et excolendam, fratrum omnium atque corum, qui participea erant ministeri-
alium, deliberato aaaensu tradidi, et iusticiam quam affectabant, acilicet
qualemHollandcnsia populus cireaStadium habere oonsuevit, conceasi. Hierauf
folgen Grenzbestimmungen (Stedingerland), dann die Zuweisung des Ze-
hentes vom Kodelande wegen des Bestandes besonderer Rechtsverhältnisse
an Probst und Conventualen. Do decima vero frugum hoc ex gratia con-
cedimus, ut undecimum acervum, quem Hollandenses lingua sua vimmen
vocant, persolvant, de animalibus autem veluti poledris denarium, de vitnlis
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134
gebaut werden sollte, mit Zustimmung der früheren Eigenthümer
zwei Unternehmern, Johannes und Simon, zum Verkaufe an die
Colonisten Ubergeben und dem einen derselben, Johannes, zu be-
neficialeni Rechte überlassen. Den Colonisten gewährte Hartwig,
sowie früher den Ansiedlern in der Gegend von Stade dasselbe
Hass ven Rechten und Pflichten, das Erzbischof Eriedrich einst
seiner Colonic gegeben hatte. Sowohl die Zinspflicht von einem
Denare für die Hufe als auch die Zehentabgabc mit der Besonderheit
der elften Garbe und den weiteren detaillierten Festsetzungen
stimmen mit den Anordnungen des Erzbischof Friedrich nahezu
völlig überein. Bezüglich der Gerichtsbarkeit findet sich die
Bestimmung, dass Streitigkeiten, die sieh ergäben, auf den drei-
mal jährlich abzuhaltenden ordentlichen Gerichtstagen nach ihrem
heimathlicheu Rechte Entscheidung finden sollten.
Fast unter den gleichen Bedingungen versuchte Abt Friedrich
von Machtenstedt die Besiedlung der Sumpfländereien in der
nächsten Nähe seiner Abtei. Um seinen Ansiedlern die nöthigen
Freiheiten sicherzustcllen , erwirkte er, gleichsam als Unter-
nehmer, von den über ihm stehenden geistlichen und weltlichen
Herrn die Genehmigung für seine Coloniengründung, sowie die
landesherrlichen Privilegien für die Colonisten. So erfahren wir
von deren Umfange aus einer Urkunde Herzog Heinrich
des Löwen ') und aus einem Documente des Bremer Erzbischofs
Siegfried *), welche die Erlaubnis zur Begründung dieser freien
Ansiedelung ertheilten. Dass aber auch das Reichsoberhaupt
selbst den neuen Ansiedelungen seine Beachtung schenkte und
dem neuen Unternehmen seinen Schutz und Schirm lieh, bezeugt
uns ein Diplom Kaiser Friedrich I. für dieselbe Colonie*), die
nach dem ursprünglichen Plane schon viel früher durch die
Vermittlung eines gewissen Bovo hätte ins Leben treten sollen.
obolum, de reliquis quoque justam decimationem amministrent, et quolibet
anno denarios singulos pro singulis nmuaia reddant. Placita quoque tribus
anni vicibus celebrent, et qui incusatj in hia non aatisfocerint. ad alia post-
modum vocati sua lege respoudeant. Districtum autem Johanni croptori.
quem supra recitavi, iure beneficiali concessi, ea videlicet ratione.
ut suo eodem jure lieeat relinquere successori.
') 1170 Hamb. ÜB. 238.
*) 1181—83 Hamb. ÜB. 260.
•) 1158 Hamb. UB. 209.
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135
Die Colonisationsurk linden enthalten wieder die für Hol-
länderansicdlungen einmal gewählten und üblichen Detailbe-
atimmungen über den Zehent und die Belastung jeder Hufe
mit einem Jahreszins von einem Denare; und auch das ange-
borene Recht scheint den Colonisten wenigstens einigermassen
gewährt worden zu sein, indem nach den Bestimmungen der
Urkunden der Abt unter des Herzogs und des Erzbischofs
Autorität die einzelnen Hufen „zu Holländer -Recht verkaufen“
sollte. Aber die Gerichtsbarkeit wurde den Bewohnern des neu
besiedelten Landes nicht mehr völlig frei überlassen. In ziem-
lich weitgehender Art lassen sich die Protectoren der Colonie
in die Ordnung und Regelung ihrer Ausübung ein. Schon das
Kaiserprivilegium von 1158 anerkennt den damals in Aussicht
genommenen Käufer des Ganzen, den Unternehmer Bovo, auch
als habitatorum ipsius (paludis) iudicein, und die processualen
Bestimmungen, die Herzog Heinrich und fast wörtlich gleich-
lautend später Erzbischof Siegfried erliess, enthalten immerhin
eine Privilegierung der dortigen Gerichte und der gerichtlichen
Stellung der Colonisten ; aber eben darin, dass eine so eingehende
Regelung erfolgte , äusserte sich zugleich eine Ingerenz der
Gerichtsherren auf die inneren Angelegenheiten der Colonie und
zugleich die Tendenz, Beziehungen und Verbindungen zwischen
den alten und den Colonial-Gerichten herzustellen.
Dasselbe gilt schliesslich von der Colonisationsurkunde *) des
Erzbischofs Hartwig II, durch welche die Colonisierung der Gegend
bei Hamburg und Bremen ihren Abschluss fand. Neben den
stets gleich bleibenden Bestimmungen über Zehent und Zins
und der Gewährung des Holländerrechtes an die Bewohner und
neben der Regelung der niederen Gerichtsbarkeit in voller
Übereinstimmung mit dem zuletzt besprochenen Machtenstedt’schen
Privilegium finden wir für die höhere Gerichtsbarkeit aus-
drücklich die Giltigkeit der leges terrae ausgesprochen und die
bevorzugte Stellung, welche den Gründern der Colonie, Heinrich
und Hermann, innerhalb derselben gewahrt blieb, gelangt am
deutlichsten dadurch zum Ausdrucke, dass der erzbischöfliche
Hof zu ihren Gunsten auf den Zehent jeder zehnten Hufe Ver-
zicht geleistet hat. Die Überlassung dieses auf öfifentlichrecht-
lichcr Grundlage fussenden Einkommens ist gewiss bezeichnend
und kann vielleicht als eine Anerkennung der öffentlichrecht-
') 1201 Hamburger UH. 332.
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136
liehen Stellung gedeutet werden, die etwa dem Schultheis&en-
amte der späteren Dorfgründungen namentlich in Schlesien
analog gewesen sein mochte.
Es erübrigt noch, auf zwei uns erhaltene Colonisations-
urkunden aus derselben Gegend hinzuweisen, die den zuletzt
besprochenen gegenüber in manchen Beziehungen eine singuläre
Stellung einnehmen, indem sie in einem viel engeren Zusammen-
hänge mit den alten hofrechtlichen Formen stehen.
Der Grund dieser Besonderheit dürfte wohl darin gelegen
sein, dass es sich in beiden Fällen, wie es scheint, nicht um
Niederlassungen holländischer oder überhaupt fremdländischer
Colonisten gehandelt hat, vielmehr die neuen Ansiedlungcn vor-
wiegend aus den Reihen der einheimischen Bevölkerung dürften
gegründet worden sein.
Diese Annahme scheint zunächst berechtigt für das Diplom
des Erzbischofs Adalbero '), durch welches die Colonisierung des
') 1142, Anhalter UB. I 292 notum sit . . . qualiter et
nos (Erzb. Adalbero) et domina ducissa Gertrudis et filius suus Heinricus
puer, dux Saxonurn, .... paludum australem, scilicet villis istis : Santou.
Strabiliughehusen, Ochtmunde, Hasbergen conterminam, equa inter nos por-
cione divisimus, et ab omni tarn nobilium quam ministerialium seu ruri-
colarum appellatione liberam factam babitatoribus excolendam deditnus,
melius et utilius estimantes colonos inibi locari et ex eoruin nobis
labore fructum proveuire quam incultam et peue inutilem eam
permanere. Erat autem nobis hec cum colonis illis conventio ut quotquot
ibi mansi habeantur, totidem nobis a possessoribus eorum de-
narii quolibet anno persolvantur, quo predium non suum sed
ecclesiae et nostrum esse pro fiteautur, et decimam frugum et
anserum, ovium, et caprarum atque apum examinum secundum usum terre
nos t re dare non negligant, sed et poledrum denario et vitulum dimidio
redimant. (Folgen Bestimmungen Uber Kircheubau und geistliche Angelegen-
heiten.) In p laci t i s ve ro secularibus eum, quem sibi prefecimus,
audiant et defunctis patribus tarn flliae quam filii eorum allodia pari divi-
sione suscipiant. Tribus etiam annuatira diebus ad placita sui advocati ex
condicto veniant et bannum pro quolibet suo commisso tantum quatuor
solidis redimant. Si quis ad nos über intraverit et se, sicut est, liberum
professus fuerit, libertate sua, si velit, utatur ; sin autem nisi prius relictis
bonis, nequaquam alias quam ecclesiae proprius fieri permittitur. Si vero
alius se servum fecerit, predio suo carcat ot ad usum archiepiscopi
illud absque contradictione prnveniat. Similiter qui venerit et sc servum
esse non negaverit, heres oius in suscienpicndo inatrimonio illi sucoedere
poterit; qui si defuerit, dominus eius ab suscipienda bereditatc sua omnino
exclusus sit, sed archiepiscopus illam accipit. Wenn einer Freiheit vorgibt
und unfrei ist und zu seinem Herrn zurückkehren muss, so verliert er ohne
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137
Niederviehlandes bei Bremen beurkundet wurde. Auch die
dortigen Ansiedler erhielten das in Parzellen aufgetheilte Land
zur Cultur und freier Nutzung zu erblichem und veräusserlichem
Rechte. Aber der , freilich sehr geringe , Zins wird hier
ausdrücklich verlangt, quo prcdium non suum sed ecclesiae et
nostrum (des Erzbischöfe«) esse profiteantur, und der bischöfliche
Hof behielt sich ein Vorkaufsrecht für jeden Fall einer Hufen-
veränsserung vor. Die Zehentpflicht schloss sich, wie besonders
hervorgehoben wurde, dem in der Bremer Diöcese Gebräuch-
lichen an, und es findet sich weder bei den diesbezüglichen De-
tailbestimrnungen ein Hinweis auf das holländische undecimum
manipulum, noch sonst eine Erwähnung des Holländer Rechtes
und Gerichtes, wie sie sich mit grösserer oder geringerer Deut-
lichkeit in allen bisher besprochenen Bremer Urkunden doch
immer noch fand.
Dagegen wurden die Colonialen (wenigstens für geringere
Angelegenheiten) einem vom Erzbischöfe ernannten Vogte unter-
stellt, und es schien noth wendig, in detaillierter Weise zu regeln,
welche rechtliche Folgen in Bezug auf den Hufenbesitz die
Statusverhältnisse, namentlich die Hörigkeit und Abhängigkeit
von dem Bischof, oder von einem fremden Herrn ausüben
sollten — gewiss allein schon ein deutliches Zeichen dafür, dass
eine einheimische Bevölkerung in die Colonie eintreten sollte.
Berücksichtigt man zu all dem noch weiters, dass der Erz-
bischof ohne Dazwischenkunft einer Mittelsperson selbstständig
die Colonie ins Leben gerufen und die Normen für ihre innere
und äussere Gestaltung in weitreichender Anlehnung an die ge-
wöhnlichen grundherrschaftlichen Verhältnisse einseitig festgesetzt
hat, ohne dass irgend welcher Vorunterhandlungen gedacht würde,
so dürfte bei dem Fehlen jedes Hinweises auf einen fremd-
ländischen Character die Annahme wohl unabweisbar sein, dass
ausschliesslich oder wenigstens vorwiegend bereite im Lande An-
sässige zu der neuen Dorfgründung herangezogen wurden.
Denn diese durch den Inhalt der Urkunde in jeder Richtung
begründete Vermuthung macht nicht nur deren Verschiedenheiten
Erbgeld sein Gut. Daun folgen Bestimmungen über den Rückfall des
Gates bei Vermählungen mit Unfreien fremder Herrn. Preterea si aliquem
predia sna, nt sepe necessitatis causa fit, vendere veile contigerit, primum
archiepiscopo sc, sicut si alias compararc velit, exbibeat ; quod si noluerit
archicpiscopus, alii cuilibet emere licebit, attamen et quod is qui vendidit
annuatim debitus fuit et bunc solvere postmodum oportebit ....
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138
gegenüber den gewöhnlichen Colonisutions vertrügen und die
nähere Beziehung zu den hofrechtlichen Institutionen begreiflich,
sondern erklärt es auch, dass ein solches Mindermass von
Rechten und Begünstigungen sich doch für das Zustandekommen
der Colonie hinreichend erwies. Für die einheimische Bevölkerung,
namentlich den unfreien Thcil derselben, mussten auch solche
weniger weit reichende Vortheile noch begehrens werth erscheinen,
die vielleicht nicht genügt hätten, fremde und freie Leute aus
der Ferne zu gewinnen.
Auch die durch Erzbischof Sigfried von Bremon durch-
geführte Coloniengründung, durch welche nach ziemlich allge-
mein herrschender Ansicht der bei der Colonisation des Erz-
bischofs Friedrichs frei gebliebene Theil des Hollerlandes bei
Bremen besiedelt wurde, dürfte vorwiegend von einheimischen
Colonisten bewerkstelligt worden sein. Zwar wird bis in die
neueste Zeit immer die Ansicht vertreten, dass das betreffende
bischöfliche Diplom ') an eine Holländerniederlassung im wahren
’) 1181 Bremer UB. No. 56 ... . Noverit . . ., qualiter ego Siffridus dei
clementia archiepiscopus Bremensis, inito consilio cum fratribus meis cano-
nici», viris mei» et ministerialibus veudidi quoddam desertum, quod Over-
nigelaut dicitur, Kocwinkil, Osterholtet Vurholt, quod emptum est emtione
libera. Eiusdem autem loci incolas tarn moderuos quam futuros ad unam
statuimua pertinere parrochiam. Ter in anuo synodo intererunt. Decima
talis est : decima v i m a, decimus agnus . . ., idem de ansere et porcello ; pro
poledro nummum unum dabunt in die »aneti Martini, pro vitulo obulum;
de pulliB nulla contingit decima. Mansu» annuatim solvit nummum
pro ccnsu in die sancti Martini. Post sex hebdomada» placito intererunt,
ita dioo, »i tribus diebus ante indictum fuorit Post merediem apud eos in
nullius collum nee hereditatem agetur. Qui tardus ad placitum venerit,
octo nummos vadiabit; pro banno quatuor solidoe; qui litigaverit sive
qui alii iniurias intulerit et convictus fuerit, sexaginta solidos persolvet.
item si quis pro debito accusatus fuerit in placito et si confessus fuerit, quod
hoc debeat, nihil inde solvet iudici: si autem iudex praeceperits debitori,
quod debitum reddat et debitor hoc neglexerit, in proximo placito quatuor
solidos vadiabit. Qui apud eos de herediate conqueritur, ei non licet festes
adducere nisi eos, qui propriam hereditatem possident, ita ut tideles sint, de
eadem parrochia. Contra mortuum testari non licet. Post mortem partris
vel matris soror et frater omnia equaliter parcientur. Item si unus corum
alteri nnpserit et alter sine herede morte prevontus fuerit, possessio de-
functi redibit ad proximos. Item si moritur intcr eos sliquis et si iufra
annum nullus venerit, qui se defuncti oognatum fuiesse probot, possessio
mortui ad regiam man um transibit. Licet ctiam eis hereditatem suam
vendere, ingredi, egredi, quod nichil spectat ad iudicem Nullus eorum
aeieno stabit iudicio, sed tantum ibi, ubi ipse habet iudicem. In meo epis.
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139
Sinne des Wortes dächte, dass die, wie man insgemein annimmt,
nicht genannten Käufer1), Holländer gewesen sein müssen, und
Schulze’), der auch die rechtlichen Verhältnisse der Colonie ge-
nauer bespricht, kommt zu dem Ergebnisse, dass „die Stellung
der Ansiedler in wirthschaftlicher Beziehung ebenso günstig, in
rechtlicher ebenso selbstständig war, wie die der Holländer
von 1106; nur dass man sich veranlasst gesehen, einzelne Punkte
genauer zu fixieren“. Mag man nun immerhin den weiteren
Ausführungen Schulze’s beitreten und wegen des holländischen
Wortes vima für Garbe und des Berichtes des Stader Copiar's,
welcher Holländer als Bewohner jener Gegenden nennt, sich der
Annahme zuneigen, dass Holländer in jene Colonie gelangt sind,
so wird man doch die von ihm behauptete Gleichstellung
mit den Rechten der Colouisten von 1106 gewiss nicht zugeben
können. Denn wenn dort den (Kolonisten ihr eigenes Recht und
die freieste Ordnung ihrer gerichtlichen Angelegenheiten unter
völligem Ausschlüsse jeder bischöflichen Ingerenz zugesichert
wurde, und hier statt dessen die eingehendste Regelung der
Gerichtspflicht und des gerichtlichen Bussenwesen nebst Bestim-
mungen über erbrechtliche Fragen sich finden, so liegt darin
doch gewiss mehr als lediglich eine genauere Bestimmung über
einzelne Punkte. Und wenn man weiter überlegt, dass ausser
in dem Wörtchen vima nicht der geringste Hinweis auf hollän-
disches Recht und holländische Gebräuche in unserer Urkunde
enthalten ist, dagegen die positiven Bestimmungen mit dem hei-
mischen Rechte in vollem Einklänge stehen, dass namentlich per-
sönliche Dienste, wie sie das Wapenrecht erfordert, von den
allen , freien wie unfreien , Ständen ungehörigen Colonistcn
verlangt wurden, und dass auch hier Mittelpersonen, durch deren
Intervention die Regelung der Angelegenheiten erfolgt wäre,
nicht genannt sind, so liegt wohl die Vermuthung nahe, es
müsse diese Colonie ziemlich auf gleicher Stufe mit der zuletzt
copatu nullum dabunt thelonium. Item si wapenroebt contigit, qui ad
boc supersederit, si liber 1‘ucrit decem solidos vadiabit, m iniater ia 1 is
totidum ; si proprius fuerit crines et pellem vel quinque solidos persolvet.
Herestratc regia erit, ubi ipsi communiter eam esse decreverint et iudex
preceperit. Weteringe autem deducentur quo eis, qui sworenen diountur,
placuerit et iudici.
') Bremer UB. No. 56 S. 64 Anm. 2, Schulze a. a. 0. S. 18.
») a, a. O. S. 20.
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140
besprochenen stehen, und bei der Formulierung der Ansiedlungs-
bedingnissc sei zunächst an einheimische Landbebauer gedacht
worden, neben denen dann Hollunder sich immerhin mit einge-
funden haben mögen.
Ja man kann wohl auch in den Eingangsworten : „qualiter
ego .... inito consilio cum fratribus meis canonicis viris
meis et ministerialibus vendidi quoddam desertunr* eine Be-
stätigung für die hier vertretene Ansicht erblicken , da das ge-
wöhnliche Formular ähnlicher Urkunden der Erzbischöfe von
Bremen der Deutung nicht im Wege steht, dass mit den viris
meis et ministerialibus nicht Berather des Bischofes, sondern
(indem die Worte als Object zu vendidi zu ziehen wären) die
Käufer, deren Nennung in der Urkunde stets vermisst wurde,
gemeint gewesen seien ’).
Gemeinsam ist den beiden zuletzt besprochenen Colonisations-
privilegien jedenfalls, dass in ihnen des specifischen Holländer-
rechtes keine Erwähnung geschieht, und dass die ausführliche
Regelung der processualen Angelegenheiten eine freie und selbst-
ständige Ordnung dieser Dinge unmöglich gemacht, dafür aber
die ganze gerichtliche Organisation den hof- und grundherrlichen
Gerichten näher gerückt oder gleichgestellt hat. —
Bei einem schliesslichen Rückblicke über das hier be-
sprochene, der Gegend von Hamburg und Bremen ungehörigen Ur-
kundenmaterial tritt uns die eingangs schon erwähnte eine
Thatsache als unbestreitbar entgegen, dass die Erzbischöfe, oder
wer sonst die Privilegien der Colonien ausfertigte, in ihrer öffent-
lichrechtlichen Stellung, nicht schlechthin als private vertrag-
schliessendc Parteien den Colonisten gegenüberstanden, was schon
darin seinen äusseren Ausdruck fand, dass die Colonisationsurkunden
öffentlichrechtliche Angelegenheiten vielfach in weiterem Umfange
und mit grösserer Sorgfalt ordneten, als die gleichzeitig zu regelnden
privatrechtlichen Fragen.
Auch wurde schon aus den bisherigen Ausführungen klar,
dass die Art und Weise, in welcher dieser öffentlichrechtliche
') vergl. auch die bei Wersebe a. a. O. S. 35 Amu. 19 citierten Worte
von Renners Chronik zum J. 1181 (fol m. 175 p. 2). Anno 1181 verkoffte
Bischop Sifridus dat Holderland der Stadt Bremen mit Willen des Dohm.
Capitels. Auel) hier ist nur die Zustimmung des Domcapitels erwähnt.
Dass die Stadt Bremen nicht die Käuferin gewesen sein kann, dafür vergl.
Bremer UB. S. 64 Anra. 2.
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141
Einfluss zur Geltung kam, bei den einzelnen Coloniengründungen
eine verschiedene war.
Das älteste Diplom des Erzbischofs Friedrichs vom Jahre 1106
ist in diesen öffentlichrechtlichen Bestimmungen zum grossen
Theile negativ, indem es die grundherrlichen Rechte des Bis-
thums in enge Schranken eindämmte und in vielen Beziehungen
gänzlich ausschloss, und so der neuen Niederlassung volle Freiheit
zu eigener, selbstständiger und eigenartiger Entwickelung gewährte.
Es mussten völlig neue Grundsätze, frei von den Banden des
alten Hofrechtes, zur Anwendung kommen, wenn das gewagte
und kühne Unternehmen Aussicht auf Gedeihen haben sollte.
Und darum begnügte man sich auch, neben den nothwendigsten
Festsetzungen, durch die das herrschaftliche Interesse gewahrt
werden sollte, nur noch wenige allgemeine Sätze über die höhere
Gerichtsbarkeit zu vereinbaren, während man alles andere völlig
freigab und jede Ordnung den Colonisten selbst überliess ').
So war allerdings den Colonisten die nöthige Freiheit und
Selbstständigkeit gewährt, der nothwendige Bruch gegenüber
dem Alten vollzogen und eine freie Entwickelung für die Colonie
gesichert; aber hei diesen zunächst rein negativen Bestimmun-
gen fehlte eben fast jeder Zusammenhang mit dem Früheren,
namentlich mit der herrschaftlichen Ordnung, die doch die neuen
Ansiedelungen ine Leben gerufen hatte. Diese völlige Isolierung
blieb auf die Dauer nicht erhalten. Schon bei der Gründung
der Colonie im Stedingerlaude *) voh 1149 wurde der Zusammen-
hang wenigstens äusserlich wieder hergestellt, indem der eine
der Unternehmer den ganzen District erblich zu beneficialem
Rechte zugewiesen erhielt, und auch anderwärts fiel den Unter-
nehmern eine leiteude obrigkeitliche Stellung in der Colonie und
damit die Vermittlerrolle zwischen ihr und der Grundherrschaft
zu. So ist Bovo nach dem oben*) genannten Diplom Kaiser
Friedrichs für die damals geplante Colonie bei Machtenstedt als
judex der Colonisten in Aussicht genommen, und auch in den
späteren, hier erwähnten Colonisationsurkunden tritt die öffentlich-
rechtliche Function dieser Mittelsmänner unverkennbar zu Tage,
die, wie später noch zu zeigen sein wird, schliesslich die Stellung
von Schultheissen erlangt haben. Die Regelung der gerichtlichen
') vergl. auch H. A. Sch umacher, Die Stadin^er, Bremen, 1865, S. 46.
«) a. o. S. 133.
») s. S. 134.
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142
und processualen Angelegenheiten, bei welcher der Geist der im
Colonisationsgebiete heimische Rechtsanschauungen in grösserem
oder geringerem Masse zum Durchbruche kam, fügten der
äusseren Verbindung auch eine innere Annäherung hiuzu,
und es braucht wohl nicht erst hervorgehoben zu werden, dass
gerade für diese Entwickelung das Entstehen analoger Colonien
von einheimischen Leuten sehr wesentlich fördernd einwirken
musste.
Die weitere Entwickelung, welche das Colonistenrecht nahm,
bewegt sich denn auch vornehmlich auf diesem Gebiete des
genossenschaftlichen, öffentlichen Rechtes.
Sehen wir vorläufig von der Besprechung der durch die
Coloniengründungen ins Leben gerufenen privaten Rechtsver-
hältnisse ab, und wenden wir zunächst, uni den Fortgang der
colonisatorischen Bewegung zu übersehen, unseren Blick den
anderen Gebieten des deutschen Nordens und Ostens zu, in
welchen sich Spuren einer Colonisation mit mehr oder weniger
Deutlichkeit verfolgen lassen, so werden wir zunächst der äusseren
Thatsache gewahr, dass an die specifisch holländische Besiedelung
sich bald eine flämische und eine allgemein deutsche anschloss,
die im allgemeinen von ähnlichen Grundsätzen beherrscht war.
Freilich lässt sich dies nicht überall in gleicher Weise verfolgen,
dann lange nicht aus allen Gegenden, für welche sich eine solche
holländische oder deutsche Colonisation nachweisen lässt, ist uns
auch das urkundliche Materiäl erhalten, welches uns einen un-
mittelbaren Aufschluss über die Art der Coloniengründungen
und über das Colonistenrecht zu geben vermöchte.
Für die Gegenden aber, aus welchen uns, wenn auch nur
dürftige, urkundliche Behelfe über die Ansiedelung selbst vorliegen,
ist der Zusammenhang mit den ersten Coloniengründungen ausser
allem Zweifel, aber wir erkennen auch sogleich, dass die Ent-
wickelung, die wir in dem Bremerlande verfolgen konnten, ander-
wärts nur noch entschiedener zuin Durchbruche kam. Konnten
wir dort erfahren, dass die öffentlichrechtliche Ausgestaltung
des Rechtes der Colonien zu immer grösserem Umfange gelangte,
und immer mehr verdeckte, was an privatrechtlichen Institutionen
damit Hand in Hand gieng, 'so finden hier in den Diplomen
über neue Gründungen neben der Sorge für die öffentlichen An-
gelegenheiten privatrechtliche Fragen zur Regelung nur mehr
wenig Raum; und war es bei den Colonien im Bremerlande,
namentlich den ältesten, vielleicht noch möglich daran zu denken.
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143
der Bischof hätte bei der Coloniengriindung neben und in den
öffentlichrechtlichen Frageu auch noch private Zwecke ange-
strebt, so begegnen wir hier der Sorge des Fundators für ein
gutes Gedeihen des Dorfes, und zwar des Dorfes als einer dem
gesummten Verwaltungsorganismus eingeordneten öffentlichrecht-
lichen Gemeinde mit dem für ihre Verwaltung nothwendigen
Organe. Denn die Leiter der Colonie und Anführer der Colo-
nisten, deren Macht ursprünglich vielleicht nicht selten bloss
factisch bestand aber nicht rechtlich gewollt war und nach
unseren Urkunden meist nur zu vermuthen und nicht zu beweisen
ist, treten uns hier im Kleide von Schultheissen unverkennbar
als eingesetzte Obrigkeiten entgegen.
Den Übergang zwischen diesen freieren und den späteren
dorfrechtlich geschlossenen Formen, die namentlich in der
Lausitz, Schlesien und Böhmen besonders zahlreich nachweisbar
sind, bilden unverkennbar Coloniengründungen von der Art, wie
wir solche iu der Gegend von Magdeburg und Meissen urkund-
lich beglaubigt vorfinden.
Mit den eigentlichen Holländercolonien in der Form ihrer
Gründung am nächsten verwandt ist die Besiedelung des Dorfes
Krakau bei Magdeburg. Nach der auf uns überkommenen Über-
lieferung ') beurkundet nämlich Erzbischof Wichmann, dass der
') Mühlvers teilt Kegesta Archiepiaeopatua Magdeburgensis I No. 1461
a. 1161 ? nach einer dem 15. Jahrhundert Angehörigen Copie mit unrichtiger
Datierung. Oedruckt bei H offmann, Geschichte Magdeburgs, 1847, II.
S. 408 f . . . . Wichmannus . . Archiepiscopus. Noverit .... qualiter
Oerhardus maioris ecclcsie prepositus in Magdeburg villam quandam contra
civitatem super albie ripam sitam krakoe nominatam cum Omnibus ad eam
pertinentibus Burebardo cuidam et Simoni sub assignacione cuius-
dam certo pccunie ad excolendam contradidit assensu nostro et canouicorum
maioris ecclesie et Sifridi schulteti cuius cadem villa beneficium ante fuerat
ca videlicet co nvcncione interposita ut quoscunque agrorum cultores preno-
minati viri ibidem locaverint quantoscunque agros pecunia sua ernennt
eosdem iure hereditario possideaut suisque heredibus possidendos relinquant.
Addidit eis praeterea ut eiusdem noveile plantacionis inhabitatores in Om-
nibus causis ac negotiis sive placitis suis iusticiam et consuetudinem seu
plebiscita hollandensium habeant hoc nimirum eis indulgens ut ab omni
angaricione et peticione et vara et expeditione Bint liberi ut tantummodo
fossatiB ad restringendam aquam vacent et jure hollandiensium annuatim per-
solvant XII nummos de quolibet manso cum decimacione omnium fructuum
suorum et omnium decimandorum tocius quoque decimacionis tres Bant
particiones quarum uua in usus prebendales canonicorum majoris ecclesie
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144
Magdeburger Domprobst Gerhard die Dorfschaft Krakau an der
Elbe mit allem Zugehör zwei Leuten, Burchard und Simon, unter
Anweisung eines bestimmten Geldbetrages mit Zustimmung der
Canoniker und de» früheren Dorfschultheissen Sifridus zum Aus-
bau übergeben habe. Die beiden sollten dort möglichst viele
Bebauer des Landes ansetzen, die eine beliebige Anzahl von Ackern
sich ankaufen und dann zu erblichem Rechte fiir sich und
ihre Nachkommen besitzen sollten. Den Colonisten wurde der Ge-
brauch des holländischen Rechtes in allen ihren Rechtshändeln,
sowie die Freiheit von persönlichen Diensten zugesichert und nur
die Verpflichtung zur Besorgung gewisser Wasscrarbeiten und
„nach Holländerrecht“ zur Zahlung von 12 11. für jede Hufe
und zur Zehentleistung auferlegt. Sowohl in den positiven Be-
stimmungen über die Abgabenpflicht, wie in der wenig präcisen
Formulierung der rechtlichen Stellung der Dorfgründer zu den
Dorfangehörigen steht dieses Diplom des Erzbischofs Wichmann
mit den eingangs besprochenen Colonisationsurkunden ziemlich
auf gleicher Stufe.
Demgegenüber erscheint schon in den folgenden Urkunden
aus der gleichen Gegend die obrigkeitliche Stellung der Dorfvor-
steher durch den Bischof gewissermassen officiell anerkannt, was
u. a. in der Verleihung eines gefreiten Grundbesitzes an die Dorf-
obrigkeit ihren greifbaren Ausdruck erhielt. Die älteste unter
den hierher gehörigen Urkunden ist ein Diplom des Bischofs Ge-
rung von Meissen1), welches uns berichtet, dass dieser tüchtigen
proveniat Secundam ecclcsia eiusdem ville et sacerdoa qui ibidem fuerit in
perpetuum posaideat Tertia vero ei quieuuque dominus vel posaeaaor eiusdem
ville oxtiterit remaneat. Kt hec quidem tradicio aeu vendicio quemadinoduru
aupra dicta eat, facta eat
') 1154 Cod. dipl. Saxoniae II 1 No. 50 ... . notum eaBe volumua
qualiter ego .... atrenuos viros ex Flandrenai provincia adventantes in
quodam loco inculto et pene habitatoribua vacuo collouaverim et in stabilem
aeternainque et liereditariain pussesaionem tarn ipsis, quam omni eorurn
posteritate villam eandem quae Coryn (Kühren bei Wurzen, dicitur cum
subscripto iure tradiderim. Praefatis etenim Klandrenaibus in memoriam
et signum emptae posseasionia quatuor talcnta et eandem villam . . . tradidi.
Ex quibu8 videlicet (XVIII) manais unum eccleaiae cum omni deciina eiua-
dem mansi conceaai ; duos autem eorundem incolarum magiatro, quem scul-
tetum appellant, absque decima permisi. Keliqui mansi numero XV singulis
annis XXX sol., et pro iuaticia, que zip vocatur, XXX nummoa persoluunt
Omnium rerum auarum decimam praeter, apuin et lini, praefati bominia dant
et ter in anno advocato in placitia, quae cum ipsia et apud ipsoa cum paucis
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145
Männern au» Plaudern das nahezu unbewohnte Dorf Coryn mit
allem Zubehöre zu dauerndem und erblichem Besitze zur Besiede-
lung überliess. Von den 18 Hufen, welche das Dorf enthielt,
widmete er eine der Dorfkirche, zwei andere zins- und zehent-
frei dem incolarum mngistro, quem scultetum appellant, während
die übrigen neben dem vollen Zehent einen (ixen Zins zu leisten
hatten. Zur Ausübung der Gerichtspflege wurden jährlich drei
Gerichtstage, die unter der Leitung des bischöflichen advocatus
in dem Dorfe selbst abgehalten werden sollten, angeordnet; dabei
nahm der Bischof von den Gerichtsgefällen zwei Dritttheile für
sich in Anspruch, wahrend er das dritte dem Schultheissen über-
wies. Endlich wurde den Ansiedlern volle Freiheit von allen
weiteren bischöflichen, vogteilichen und Schultheissensteuern
zugesichert.
Ähnlich sind, wie wir aus der im Dessauer Archive erliegen-
den Originalurkunde1) des Abtes Arnold von Ballenstedt vom
Jahre 1159 erfahren, die Bedingungen, unter welchen dieser
zwei bisher von Slaven bewohnte Dörfer (Nauzedele et Nimiz)
hahiturus est, sumptuB adminiatrant. Duae partes, quae in placitis advocati
vel sculteti aeccaserint, episoopo, tertia sculteto datur. Tbcolonio in locis
nostris sint liheri nisi qui fuerint puhlicis negotiatoribua maucipati. Panea
et cereviaiam et carnes inter se ipsos licite vendant, non tarnen in villa sua
publico mcrcatu insistant. Ceterum ab omni exactione epiacopi, advocati,
villici seu hominum roliquorum liberoa eos reddimua . . . Zu nennen iat
vielleicht auch noch Urk. 1185 1. eod. No. 59, die freilich vielfach anderen
Character trägt.
') v. Heinemann, Anhalter Urkundenbach I 1159, 454 N. . . s. . . .
qualiter ego Arnoldus. .... Ballenatadenaia cenobii minister, et fratres nostri
pari conaensu . . . duaa villulaa nostras trana Mildam sitas, Nauzedele vide-
licet et Nimiz, hactenua a Slavis poasesaas, Flamiggia petentibus iure
auo poaaidendaa vendidimus. Quaa villas in unnm redactas in XXIV
mansoa partieutes. duobus cum omni utilitate eia, qui ßurmeatere vocan-
tur, inbeneficiatis, unum cum aui iuris quantitate eccleaie contulimus, quam
liberam ab omni infensione noatra et advocati auctoi itate atatuimus, ceteria
in censu8 noatros redactia hoc pacto. Annuatim ad integrum auo posaidenti
decima de omnibua cultis aolvatur, adinncto annuali Genau, acilicet
duobus modiia silignis et duobus tritici et duobus sue monete aolidia in
feato ».Martini. Super eosdem vero incolas nulluni dominari diacer-
nimua preter solum marchionem seu eiua heredem, cuiua aucto-
ritate generale placitum ter in anno fieri volumua. t^uia vero
reapectu divine remunerationis hec bona n marchione suorumque avorura
largitate eccleaia noatra suacepit, seoundum iura Flamiggorum, qui
in eiadem partibus ipsiua aubiecti sunt dicioni et nostris, vivendum
censemua.
t. Virilst, Erbleihcn. 10
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146
an Flamländer verkauft hat. Die beiden Dörfer sollten zu einer
Einheit verbunden und dann in 24 Hufen aufgetheilt werden,
von denen zwei mit allem Zubehöre den Dorfvorstehem und
eine dev Kirche völlig frei überlassen, die anderen aber für
zins- und zehentpflichtig erklärt wurden. Gleichzeitig wurde
die Freiheit der Bewohner von jeder Herrschaft ausser der
des Markgrafen anerkannt, und bestimmt, dass sie unter seinem
Banne dreimal jährlich einen allgemeinen Gerichtstag abhalten
und nach ihrem eigenen Rechte leben sollten
Liegt hier hauptsächlich in der Verleihung eines privilegierten
Besitzstandes an die Leiter der Dorfschaft ein Kennzeichen der
späteren Entwickelung, so tragen schon die Dorfprivilegien des
Erzbischofes Wichmann für Pechau und Wusterwitz, die von
Heinemann in seiner Darstellung des Lebens Albrecht des
Bären unmittelbar nach der eben besprochenen Urkunde zum
Abdrucke brachte, vollends den oben angedeuteten Oharacter der
späteren Zeit *).
') Der wesentlichste Inhalt dieser Urkk. ist nach dem Drucke in von
Hei ne man n, Albrecht der Bär, Darmstadt 1864 S. 468 ff.:
Urk. 1159 (No. 40) N . s . . . q . ego Wicmannus .... Magdebur-
gensis ecclesic archiepiseopus villam quandam, que Pechoe dicitur, cum
Omnibus ad eam pcrtinentibus agris pratis silvis et stagnis ad excolen-
dum et fructificandum tradidi cuidam Heriberto, tali
inter me et ipaum facta conventione. Incolis, quos ipse locaret in eisdem
bonis, cam iustiuiain, quam ius burgenso vocant in Omnibus suis et ne-
gotiis s t a b i 1 i v i , ipsi quoque Heriberto sex mansos ibidem
in beneficium concessi , unura mansum ecclesie ad usum sacerd oti
in dotem dedi. Similiter statui, ut neque comes neque advooatus aliquis
quidquam iuris ibi habest, sed idem Heribertus et post ipsum
heres suus de Omnibus, que inter ipsos tractanda fuerint, ordine iudi-
oiario iudicet, meo tarnen villioo presente, et quid-
quid questus inde provenerit, II portiones mihi . . . tertia vero in usus . . .
Heriberti sive sui heredis cedat. Die Hufen sollen nicht an andere ver-
liehen werden. Auf 10 Jahre Freiheit von der „Burgwere“. Si vero con-
tingat, euudem Heribertum aut suum beredem cum eisdem incolis adiacen-
tium villarum aliquas emere, eam, que supra dictaest, iustitiam in Omnibus
habeant ac debitum annuatim persolvendum secuuduiu
ius burgense mihi sive meo successori imperpetuum p e r s o 1 v a n t.
Urk. o. D. (ca. 1159) No. 41 N . . . q . ego IVychmannus . . . villam
quaudam, que Wosterwize dicitur. silam prope Havelam contradidi cuidam
Heinrico aliisque, qui per ipsum et cum ipso ad me veneriut,
Flamingis . . . . ita videlicet, ut per omuia et in oinuibus eam habeant ius-
titiam, que Scartocnsis appellatur. Eidern quoque Heurico IV mansos et
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147
Die Urkunde für Pechau sugt nichts über die Lamlesange-
hörigkeit der Colonisten ; sie spricht nur schlechthin von Ansied-
lern, welche das Land zum Ausbau und zur Culti vierung über-
nehmen. In dem Diplome für Wusterwitz sind wieder ausdrück-
lich Flaminger als Colonisten genannt; auch findet hier die Zins-
pflicht (2 sol. von der Hufe) und der Zehent wieder besondere
Erwähnung, während die Pechauer Urkunde solche Verpflich-
tungen nicht statuiert. Gemeinsam ist beiden die Übertragung
des Dorfes an einen Einzelnen, der vielleicht am besten als
Schultheiss zu bezeichnen wäre, die erbliche Belehnung desselben
mit einigen gefreiten Hufen, sowie endlich dessen Bestellung zum
Leiter der Gerichte, deren Erträgnisse zu zwei Dritttheilen dem
Erzbischöfe, zu einem Dritttheile dem Schulzen zugewiesen wurden.
Ausserdem enthalten die Privilegien noch manche andere für
das öffentliche Recht der Dörfer bedeutende Garantien, wie die
Befreiung von dem Burgwerk , Zollfreiheiten, Verleihung von
städtischem Rechte u. a. m. Die Zusicherung des ferneren Ge-
brauches des flämischen Rechtes fehlt in beiden Documenten,
obwohl wenigstens das eine derselben die flämische Nationalität
der Colonisten ausdrücklich hervorhebt.
Im ganzen ist aber hier unzweifelhaft jene Form erreicht,
die für Dorfgründungen nach holländischem oder deutschem Rechte
in den früher slavischen Grenzländern insbesondere in Schlesien
und den angrenzenden Gebieten ganz allgemein gebräuchlich
unum talentum ac suo heredi ibidem in beneficium concessi, anum vero
mansuin ecclesie tune ibi divino adiutorio construende quasi in dotem dedi
et pretcr hos quinque, ne quis ibi m&nsus vel a me vel ab aliquo meorum
auccessorum cuiquam inbeneficietur aut quovismodo ab usu archiepiscopi
sequestretur, omni qua oportuit stabilitate firmavi. Dedi quoque eiusdem
ville inhabitatoribus, ut sint immunes et liberi ab eo ministerio, quod burg-
wore vulgo vocatur, nisi ad mummen et securitatem semetipsos circumvallare
et contra paganos adiacentes eis precipiatur. Bst etiam boc firmatum,
ut preter eundem Henricum neque oomitem super se habeant,
neque advocatum. Von den Gerichtsgefällen 2 Tbeile dem Ersb. ein
Theil dem Judex. Cultores etiam agrorum pro quolibet manso annuatim
solvant II sol. in festo b. Martini et preterea omnium rerum decimandarum
plenam decimationem. Jahrmarkt mit dem Rechte, wie es Magdeburg hat
und ausschliesslicher Gerichtsbarkeit Heinrichs u. s. Erben. Bür 5 Jahre
Zollfreiheit und für die gleiche Zeit, qui cives ac domestici eiusdem fori fuerint,
nullum pro areis suis solvant tributum. Danach hospites ot transeuntes de-
bitum persolvent theloneum. C.ivis quoque unusquisque pro area quolibet
anno solvat sex nummos ab inde usque in sempiternum .... Über das
Burgwerk s. z. B. Riedel, Mark Brandenburg II 227 ff.
10*
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148
wurde. Sowohl die Verfassung des Dorfes, die Leitung desselben
durch einen mit gefreitem Besitze ausgestatteten Schulzen, der
zugleich Träger der niederen Gerichtsbarkeit und Polizeigewalt
war, als auch die Regelung der privaten Besitzverhältnisse der
Bauernschaft und ihres Vorstehers kehren in allen deutschen
Colonistendörfern jener Zeit regelmässig in der gleichen Weise
wieder.
Hier sei zum Schlüsse um des localen Zusammenhanges
willen noch ein weiteres Holländerprivileg1) des Bischofes Wich-
mann aus dem Jahre 1152, also noch aus der Zeit seines Nnuni-
burger Episcopates erwähnt. Dasselbe nennt, in gewissem Gegen-
sätze zu der über Holländercolonien allgemein herrschenden
Meinung*), neben freien Colonisten auch unfreie Ansiedler, für
die alle gleichtnässig die Bestimmungen des Statutes massgebend
sein sollen, und bespricht, was anderwärts meist fehlt, auch das
rechtliche Schicksal, dem die Grundstücke verfallen, wenn der
letzte Besitzer ohne Erben stirbt. Das erblose Gut fällt dann
zu zwei Dritttheilen an den Bischof, der Rest an die Pfarrkirche ;
') Cod. dipl. Sax. 1 2. 24t) N. b. q. ego Wiclimannua . . Nuemburgensis
ep. cuidam populo de terra, que H oll anth nominatur, a predecessore men
Udone in eundem episcopatum coadunato hoc privilegium contuli, in quo, nt
Omnibus exponerem, qua lege ustricti tencantur vel qua libertate iruantur,
utile .... cstirnavi. Data est igitur eis a me libera potestas infra episco-
patum vendendi et emendi siue omui genere exactionis vel tbeloDei et. si
alicuiuB eorum possessio reualis expouitur, compatriote suo tantum et non
extero ill&m emere liceat. Causa etiam correctionis ter in anno cum eis
Colloquium babeat, quicumque fuerit episcopus, in quo, si quis eorum aliquo
excessu iniuste exorbitaverit, 111 sol. compositionem inveniat. Scnlthetum
quoque, quemeumque sibi prelecerint, sine contradictione babeant, in cuius
colloquiis IV den. compositionem faciaut et, si quis eorum iuramento se
expurgare voluirit, uulla occasione impediatur, nullis verborum insidiis ca-
piatur .... De cetero, quod ipsi spontanea voluntate optulerunt, ... de
quolibet mauso solidum uuum sing, anuis fratribus ad usum maioris ecclesie
persolvant, et, quicumque successores eorum fueriut et eadein boua obtiuue-
riut, sive liberi, sive servi, sub quueumque lege vel moribus vivant
idem statutuni et obsurvent et faciant. Hoc quoque statutum est, ut, si quis
eorum sine berede moriatur, possessio eius integra sine distractione in custo-
dia per cireulum auui et diem teneatur, ut, si legitimus heres interim adve-
nerit sine contradictione locum prioris possideat. Sin autem episcopus duas
partes accipiat, terciam vero ad usum ecclesie relinquat. Vergl. auch in
Beziehung auf diu gerichtlichen Bestimmungen 1 eod. 1188, 523; 118611 I , öü
*) vergl. z. B. Schröder, 1t. U. 417.
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149
nur soll zuvor die Frist von Jahr und Tag abgewartet werden,
um etwa abwesenden Anwärtern Gelegenheit zur Geltendmachung
ihrer Hechte zu geben.
Das reichste urkundliche Material über anderweitige coloni-
satorische Dorfgründungen ist uns unzweifelhaft aus der Lausitz
und aus Schlesien erhalten, wie denn auch das Colonisations-
recht dieser Gegenden vielleicht die umfassendste Bearbeitung
erfahren hat *). Hier wiederholen sich ungezählte Male Dorf-
gründungen und Bewidmungen mit deutschem Rechte*), das im
Gegensätze zu dem polnischen Rechte3) als gefreit und privilegiert
allseits angestrebt wurde. Regelmässig steht ein locator, ein
Schultheiss, an der Spitze der neuen deutschen Ansiedelung;
er übernimmt es, Colonisten in das Dorf zu rufen und den
Grund und Boden an Bauern zur Culturarbeit zu übertragen,
und behält dann auch nach Errichtung der neuen Colonie
das Schulzenamt mit der niederen Gerichtsbarkeit zu erblichem
Rechte. Für diese Mühewaltung — pro expensis et laboribus
in fundacione et regimine loci, wie eine Urkunde sagt —
empfängt er einige Freihufen , bald in fest bestimmter Zahl,
bald im Verhältnisse zur Zahl der cultivierten Hufen4), etwa jede
zehnte oder sechste, mit voller Freiheit von jeder Zehent- und
Zinslast und zu unbeschränktem, vererblichem und veräusserlichem
Rechte. Ausserdem wurde ihm mit der Gerichtsbarkeit ein An-
theil an deren Erträgnissen und überdies noch andere Einnahms-
') vergl. insb. von Urk. - Büchern : Tzschoppe und Stenzei, Ur-
kuudensammlung zur Geschichte des Ursprungs der Städte und der Ein-
führung und Verbreitung deutscher Kolonisten und Rechte in Schlesien
und der Oberlausitz, Hamburg 183:1; Cod. dipl. Silesiae, insbes. d. 4. Bd.;
uud von Bearbeitungen: die Einleitung zu dem UB. von Tzschoppe und
Stenzei bes. Cap. 2 u. 3, dann für die Lausitz: K not he „Zur Gescta. der
üormanisatiou in der Oberlausitz“, in Webers Archiv für sächs. Gesch.
N. Folge 2 Bd., und „Die Stellung der Gutsunterthanen in der Oberlausitz
zu ihren Gutsherrschaften“ im Lausitz sehen Magazin Bd. fit ; für Schlesien:
Mcitzen, Einleitung zum 4. Bd des Cod. dipl. Sil. und Wo hl brück,
Geschichte des ehemaligen Bistum Lcbus 182t) I 201 f. Anm.
’) Über die Bedeutung von deutschem und fränkischem Rechte s. u. a
Tzschoppo und Stenzei, Einleitung S. 97 fl'. Mei t zen, Cod. dipl. Sil. IV
Einleitung S. 97, Schulze, Nicderläml. Siedelungcu S. 147 ff. Altere An-
sichten z. B. Anton, Geschichte der deutschen Landwirtschaft, Görlitz
1799 1802 II S. 19 f.
*) Neben einer erweiterten Abgabenpflicht wurde der Mangel eines
gesicherten, uuentzichbaren Besitzrechtes schwer empfunden.
*) vergl. desnäheren bei Tzschoppe undStenz elEinl.S. 151Anm.3u.4.
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150
quellen, wie Mühlen, Schankrechte, Brot- und Fleischbänke u. a.
EUgewiesen ').
Von dem Hechte der Bauern, der eigentlichen Dorfbesiedler,
handeln die Urkunden mit weniger Ausführlichkeit und Sorgfalt.
In der Hegel erfahren wir nicht mehr, als dass auf den einzelnen
Bauernhufen neben dem Zehent die Verpflichtung zur Abgabe
eines jährlichen Zinses oder auch zu persönlichen Leistungen
ruhte. Das Recht der Bauern an der Hufe war, wie man wohl
bestimmt annehmen kann, ein vererbliches*) und veräusserliches *),
und nur in einzelnen Ausnahmsfällen haftete daran für den, der
das Gut verlassen wollte, die Verpflichtung, einen tauglichen
Nachfolger zu stellen4).
Die technische Bezeichnung für dieses Bauernrecht ist jus
teutonicum, ein Ausdruck, der freilich nicht nur auf das Grund-
besitzrecht sondern auf die ganze dorfrechtliche Organisation an-
gewendet wurde; daneben findet sieh namentlich in etwas späterer
Zeit die einer fernen Analogie des römischen Rechtes entlehnte
Wendung jus emphyteuticutn *). Vereinzelt erfährt die herrschaft-
liche Stellung des Fundators, als Trägers einer herrschaftlichen Ge-
walt über die Güter *), wie über die Dorfbewohner 7), eine besondere
Betonung.
') vergl. auch Wo hl brück a. a. O. I 203 f. und die das. S. 208 f. be-
sprochene ausführliche Urkunde von 1389, Anders, Schlesien, wie cs war
1810 II S. 324 ff., welche über die Umwandlung eines polnischen Dorfes iu
ein deutsches Dorf handelt und neben dem Hinweise, dass der Dorfherr
aus dieser Veränderung für sich ein erhöhtes Einkommen erhofft, mit be-
sonderer Ausführlichkeit der Pflicht des Schulzen gedenkt, für die Besiede-
lung und Bebauung des Dorfes durch Bauern Sorge zu tragen.
■) vergl. z. B. 1309 Cod. dipl. Siles. I 23.
*) Die Veräusserung mitunter an die Zustimmung des Grundherrn ge-
bunden, vergl. Tzschoppe und Stenzei, Einleitung S. löö.
*) z. B. 1206 Tzschoppe und Stenzei UB. No. 2.
*) z. B. 13öüCod. dipl. Siles. IV psg. 10; 1361, pag. 27; 1337, pag. 145. f.
•) vergl. 1336 1 eod. I 34, wo der Zins, der von jedem laneus zu zahlen
ist, bezeichnet wird als jure dominii et ducali.
’) 1334, 1. c. IV pag. 144 in den Worten dantes . . . potestatem plena-
riam exponendi, herditandi, locandi et vendendi dictos mansos agrorum rusticis
incolis et agricolisiurehercditarioperpetuis teinporibuspossideudos ethabeudos
pro annuo ... et perpetuo ccusu, sub hoc modo ut rustici incole sive agricolc
ac universi et singuli possessorcs dictorum agrorum ad nos et ad nostros
successores tamquam ad veros dominos suos respectum habere debeant ac
nobis nostrisque successoribus ... de quolibet manso sing, annis . . . mediam
marcam ... et uuum maldratain duplicis grani . . . cum eorum periculis,
laboribus et expensis in civitate Wratislavicnsi presentetur . . .
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151
Über die Zinspflicht und deren Charaetcr, die Folgen der
Zinffäumnis und Ähnliche» melir fehlt in den Fundationsurkunden
jede Bestimmung. Ihr hauptsächlicher und wesentlicher Inhalt
bewegt sich vielmehr, wie eben angedeutet wurde, auf dem Gebiete
der öffentlichen Angelegenheiten, die oft eine detaillierte .Regelung
erfuhren J).
In Rechtsformen, die nicht wesentlich verschieden waren von
den eben gekennzeichneten, vollzog sich die Colonisation durch
deutsche Ansiedler auch auf mährischem und böhmischem
Gebiete *). Auch hier steht ein Schulze an der Spitze des
') Vergl. als Beispiel für eine sulche Loeationsurkunde : 1223 Tzschoppe
und Stenzei UB. No. 7 . . . Laurencius . . .Wratislaviensis ep. notum facimns . . .
quod . . . cum communi consensu capituli . . . damus et concedimus et pre-
senti pagina confirnmmus Walthero, advocato nostro in Nyza, locare Theuto-
nicos in territorio saneti Johannis in Vyasd pro sexto manso, ita videlicet,
quod de quolibet manso solvatur decima annuatim in campo, mense episcopali,
et dimidius ferto argenti in ponderc Theutonicali, similiter annuatim, in
censu, excepto penitus sexto manso, cuius decimam et censum idem W. cum
suis heredibus in perpetuum libere recipiet et quiete pro expensis suis et
luboribus in fundauione et regimine loci iam dicti, addito, quod ad araturam
nostram sex mansos excipimus in divisione mansorum per sortem, more
Theutonico, recipiendos, quorum omnem utilitatem nobis et nostris succes-
soribus perpetuo reservamus, eidem W. cum heredibus snis IV mansos cum
eorum utilitate, ad suam araturam in perpetuum concedentes, de reliqnis
vero mansis Omnibus quinque partes, cuiuslibet utilitatis, nobis et nostris
successoribus reservamus, sextam partem tantum eiusdem utilitatis prefato
\V. cum suis heredibus conferentes. Kt quoniam tarn in judiciis, quam eciam
in aliis procuracionibua eundem W. c. s. h. in prefato loco teuere volnmus
et habere proenratorem, et solum in jure Theutonico advocatum, ter-
tiam partem iudiciorum eidem c. s. h„ nomine advocati, et quartam partem
nomine sculteti, concedimus et confirmamus. Omnem eciam; utilitatem et
proventum , quem in loci eiusdem aquis et silvis idem poterit procurare
sibi et h. s. damus et confirmamus, exceptis duobus stagnis nostris, et quod
anuonam, nobis et nostris successoribus necessariam, in molendinis, ab eodem
fundandis, moli statuimus statim cum ad molendinum mittetur. Quia vero
tarn locum forensem, quam villas ibidem fundandas eodem iure, quo ntitur
Novum Forum ducis Henrici, quod Srzoda dicitur, volumus ab eodem et per
eundem locari, sextam curiam in loco forenBi et sextum mansum in villia,
prenominato W. c. s. h. damus et concedimus, locum curie nobis et nostris
successoribus necessarie, in loco, nobis congruo reservantes .... Ähnliche
Urkk. ausser den zahlreichen in Tzschoppe u. Stenzei und in Cod. diph
Silesiae IV noch r. B. Cod. dipl. Silesiae I 1274, !); (19); (21); 1809, 28;
II 1. 1284, 7; 1279, 17; 1281, 18; VI Urk.-Beilage 12&4 No. I u. a. m.
’) Vergl. Palaoky, Geschichte von Böhmen II 159 II'., Tomaschek,
liecht und Verfassung der Markgrafschaft Mähren, Einleitung; vergl. auch
Majestas Carolina c. 82, 74. (Ausg. von fl. Jirecek).
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152
Dorfes, dem wie anderwärts gewisse Freiheiten eingeräumt wurden,
und auch hier begegnen wir der Zinspflicht '), die fest und ein-
heitlich bestimmt war und dadurch in einen Gegensatz trat zu den
mannigfaltigen und oft ungemessenen Lasten der slavischen Bauern.
Dieser Gegensatz musste natürlich in den Fällen am schärfsten
zu Tage treten, wo „deutsches Recht“ ohne eigentliche Colonisa-
tion an schon bestehende slavische Dörfer verliehen wurde.
Nur darin besteht eine gewisse Verschiedenheit anderen Ge-
bieten gegenüber, dass hier das Burgrecht, also die städtische
Leihe, auf die Art der ländlichen Besiedelung mannigfach Ein-
fluss nahm, was schon im Namen vielfach seinen Ausdruck fand
und oft zur Entstehung von privaten, vom Dorfrechte unab-
hängigen Landleihen führte *).
Auch für Brandenburg und Preussen, wo freilich die
deutsche Besiedelung nicht auf friedlichem Wege sonderu durch
gewaltsame Bezwingung der früher ansässigen slavischen Be-
völkerung erfolgte, fehlt es trotz mancher Verschiedenheiten im
einzelnen nicht an Anzeichen , die darauf schliessen lassen , dass
auch dort die für deutsche Colonisation im allgemeinen üblichen
Rechtsformen Anwendung und Fortbildung erfahren haben*);
nur scheint die Colonisation in der Regel durch Ritter,
und nicht durch bäuerliche Schulzen bewerkstelligt worden
‘) vergl. z. ß. ßoezek, Cod. dipl. Moraviae II 1228, 189; IV, 1270,
35; 1273, 72; Emler, Regest» Bohemiae et Moraviae II 1254, 11 u. a.
’) vergl. z. B. Boczek IV 1276, 121, 122, 136; Emler a. a. O. 1254,
39; 1256, 91, 96, 117 etc. Diesen Einfluss des städtischen Rechtes hebt be-
sonders hervor Tomaschck a. a. 0. S. 7 ff. Die JCntstehung des Burg-
rechtes und die Wechselbeziehungen zwischen diesem städtisohen und dem
ländlichen Leiherecht der deutschen Dörfer /.u verfolgen, müsste Gegenstand
einer besonderen Untersuchung sein.
3) vergl. hiezu die Specialdarstellungon bei Meitzen, der Boden und
die landwirtschaftlichen Verhältnisse des preussischeu Staates, Berlin 1868
I Bd., Abschnitt X u. XI, L. Korn, Geschichte der bäuerlichen Rechts-
verhältnisse in der Mark Brandenburg in der Zeitschrift für Rechtsgeschichte
11. Band 1873 und darauf fussend G. K. Knapp, die Bauernbefreiung und
der Ursprung der Landarbeiter in den älteren Theilen Preusscns, Leipzig 1887
I Bd. Einleitung; von Alteren: Riedel die Mnrk Brandenburg im Jahre 1250,
Berlin 1810, Wohlbrück Geschichte des Bisthum Lebus I, insbes. S. 209 ff.
A. Lette u. L. v. Rönne Landesculturgesetzgebung dos preussischeu
Staates, Berlin 1853, Einleitung; Sattler „das Ordensland Preussen und die
Hansa bis zum Jahr 1370“ i. d. Preuss. Jahrb. 41. Bd. S. 327 ff. Einleitung;
Wersche a a. O. S. 441 fl.
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153
zu sein. So stehen z. ß. die Bestimmungen, unter welchen
der Landmeister Hermann ßalk dem edeln Dietrich von Tiefenau
1236 die Burg Klein Quedin mit einem der Cultur zuzuführenden
Gebiete von 300 flämischen Hufen überwies, in einem gewiss
nicht verkennbareu Zusammenhänge mit dem Inhalte der bisher
besprochenen Colonisationsurkunden; aber der vorwiegend mili-
tärische Charactcr, welcher das colonisatorische Unternehmen
beherrscht, gelangt dabei nicht minder deutlich zum Ausdrucke *).
Ähnliche Beziehungen enthalten auch manche andere Urkunden*)
namentlich aus der Gegend von Kulm 3) , durch dessen Grün-
dung und Befriedung mit deutschem Rechte ein Bollwerk gegen
') Voigt Codex diplomatieus Prussicus T. 1236, 46. Not um esse cupi-
mus . . . quod de consensu capituli uoatri Nobili viro domino Theoderico de
Dypeuow contulimus Castrum quod dicitur parvum Quedin ndiaeentes qnoque
ae inculte que possunt culta tieri CCC mansos flamingieos, quorum ipsc mime-
rum mensurabit Item liberam piscationem in lacubus insule Item
decimas de uncis trium villarum .... Hec predicta contulimus eidem et
suis beredibus utriusque sexus iure perpetuo hereditarie possidenda. Dabit
autcm ipse et sui suecessores domui nostre pro annuali censu talentum cere
id est poDdus . . . marcum et coloniensem denarium, pro decima vero de
singulis aratris Theutonicalibus unam mensuram que schepil dicitur silignis
et aliam tritici annuatim et quia nobilitati eius deferre decernimua ipsi et
heredibus suis nullum describimus obscqui quantitatem, hoc autem addicimus
ut si ipse vel heredes suorum voluerint ea vendere vendat libere cui vult
preterquam Polono seu Pomerano. Knitor autem tenebitur cum suis suc-
cessoribus non solum ad censum predictum sed ctiam in duabus militaribus
personis et uno armigero perfectis ut armari solent milites, armaturia
contra omnes qui dotnum nostram inquictaverint deservire. Necpretercundum
ut omnes cultores mansorum quos diximus ad defeusionem et firma-
mentum terre sicud alii tenebuntur . . . Vergl. übrigens auch Wohlbriick
a. a. 0. S. 210 ff.
*) z ß. Cod. dipl. pruss. I 1242, 54, Riedel Cod. dipl. Brandenbur-
gensis 1 1, 1293 p. 124 u. a
*) vergl. z. B. Cod. dipl. pruss. I. 1285, 170 KrneutesGründungspriv.d Stadt
Rheden im Kulmerlande. Vergl. auch die Privilegierung des Dorfes Stendal
(Abgedruckt aus Buch holz, Geschichte Brandenburgs bei W ersehe
S. 476). die neben der Befreiung von Zöllen die Verleihung des Magde-
burger Rechtes und die Bestimmung enthielt: Areas suprauominatae villae
hereditario et libcro eis iure concessimus quateuus vendendi et pro arbitrio
disponondi liberam habeant faeultatem, eo tarnen modo, ut censum earum
arearum quatuor videlicet nummos annuatim inde persolvant. Iudicialis po-
testas prefeeturae iudicialis prefatae villae Stendale homini inco Ottoni ex
meo benehciato iure obveuit, ubi duac partes mihi, tertia vero praefato
Ottoni aut heredi eius iure debetur.
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die heranstürmenden Slaven und eine Pflanzstätte der deutschen
Cultur und des deutschen Rechtes im fernen Osten geschaffen
worden war.
Unmittelbare Quellen Zeugnisse über solche Dorfgründungen
sind uns indes aus der älteren, eigentlichen Colonisationsperiode
in sehr geringer Zahl erhalten. Nur aus späteren Nachrichten
und den Bestimmungen des Sachsenspiegels, wie insbesondere
seiner Glosse1) erfahren wir, dass das Recht der Bauern etwas
besser als das der Erbzinsleute gestaltet war, und dass sie gegen
Zins und andere Dienstleistungen eich eines gesicherten Besitzes zu
erfreuen hatten. Auch hier erfolgte die Ansiedelung durch Unter-
nehmer (locatores, emtores), die hier wie anderwärts einen ge-
freiten Besitz und obrigkeitliche Functionen im Dorfe zugewiesen
erhielten; und wenn man abeieht von den Einzelheiten der
überall sehr verwickelten Zinsverhältnisse, so mag man vielleicht
in der hier mehr als anderswo betonten Verpflichtung der
Bauern zu militärischen Dienstleistungen (Burgdienst und fleer-
dienst) eine in den Verhältnissen wohl begründete Besonderheit
des märkischen Bauernrechtes erblicken. Im übrigen zeigen so-
wohl die urkundlichen Überlieferungen, die uns vorliegen, wie die
darauf fussenden speciell diesen Fragen gewidmeten überaus gründ-
lichen Untersuchungen aus älterer und neuerer Zeit, dass auch hier
die fernere Entwickelung des Colonisationsrechtes sich hauptsäch-
lich auf dem Gebiete des Dorfrechtes weiter vollzogen hat, und
damit zwar ein für den ganzen Stand der bäuerlichen Dorfbe-
völkerung massgebendes, durch die Dorfverfassung bestimmtes
Grundbesitzrecht geschaffen und weiter gebildet wurde, das aber
nicht in der Ausgestaltung eines für den Güterverkehr geeigneten
privaten Landleiherechtes seinen Abschluss fand.
Auch Mecklenburg und die anstossenden Gebiete sind von
der deutschen Colonisation nicht unberührt geblieben. Ja es ist
dort kaum ein Landstrich zu nennen, in welchem sich nicht
Spuren derselben nachweisen Hessen *). Aber es fehlt nahezu
völlig an Urkunden, die unmittelbar über Dorfansetzungen berichten
l) a. oben S. 7 ff
*) Vergl. im allg. F. Boll, Mecklenburgs deutsche Colonisation im
12. u. 13. Jahrh. in den Jahrb. des Vereins für Meoklenburg'sche (ieschichte
und Alterthumskunde XIII (1818) S. 57 ff. Wersebe a. a. 0. S. 407,
ii. Ernst, Die Colonisation Mecklenburgs im 12. und 13. Jahrhundert in
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würden '). Nur iudirect und aus späteren Nachrichten müssen wir
alles erschlossen. Nach diesen und den darauf basierten Aus-
führungen namentlich von Ernst erfolgte die Dorfgründung bald
unmittelbar durch den Bischof oder Landesherrn, bald durch Ver-
mittelung von locatores, die zum Thcile dem Ritterstande, theils
dem Bauernstände angehörten. Dass solche Dorfschulzen in ähn-
licher Weise, wie in der Gegend um Magdeburg und auch in
Schlesien, — mag dort auch sonst die Art der Colonisation ziemlich
verschieden gewesen sein, — mit gefreitem Grundbesitze (Schulzen-
lehen, Settinge) ausgestattet wurden, lässt sich nicht nur durch
das wiederholte Vorkommen von solchen Schulzengütern, sondern
auch aus einzelnen direct sprechenden Urkunden3) mit voller
Bestimmtheit ersehen. In ihren Händen finden wir auch
bald in weiterem, bald in geringerem Umfange eine Antheils-
nähme an der Gerichtsbarkeit, und auch ein Theil der Gerichts-
gefälle ist ihnen wiederholt zugewiesen.
Über die Stellung der Bauern herrschen die verschiedensten
Meinungen*). Doch liegen mannigfache Anhaltspunkte vor, welche
die Annahme einer ziemlich weitreichenden Selbstständigkeit und
persönlicher Freiheit begründet erscheinen lassen. Wenig Be-
stimmtes erfahren wir auch über ihr Recht an der von ihnen
bebauten Hufe. Ernst nimmt in seiner Schrift über die Coloni-
sation Mecklenburgs im allgemeinen an, das Pachtverhältnis, auf
Grund dessen die Bauern ihre Grundstücke inne hatten, „be-
stand, wie grossentheils noch heute in einer Zeitpacht auf
unbestimmte Jahre, deren Contract nie erneuert wurde, die
aber jederzeit vom Verleiher kündbar war, falls nicht das
Verhältnis in Erbpacht geändert wurde, was zu Ende des (13.)
Jahrhunderts bei Einführung der Bede häufig der Fall war.“
Aus seiner Darstellung ist nicht zu entnehmen, ob die Ana-
Scbirmachers Beiträgen zur Geschichte Mecklenburgs. 2. B<i. 1875;
Bühlau Mecklenburg'sches Lamlrcckt 1. Bit. Eiuleitung. — Dänische Colo-
uisten nur genannt in der Bewidmungsurkunde für Dargun, 1179 Mecklenb.
U. B. 1 114.
') Eine solohe für Holzhagen unweit Pölitz von 1262 D reger, Codex
Pumeraniae diplomaticus No. 349.
’) vergl. z. B. 1221 Meklenburger CB 278. 1222 , 284 u. a. m.
*) vergl. u. a. Hubert v. Bilgucr’a Inaugur.il - Dissertation „Über
die Entwickelung der ländlichen Besitzverhältnisse und die Vertheilung von
Grund und Boden in Mecklenburg-Schwerin“ und die daselbst insbes. S. 28 ff.
cit. Literatur.
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logie des heutigen Rechte?, auf die er verweist, oder das Fehlen
eines die Erblichkeit des Rechtes bestimmt ausdriickenden Zu-
satzes in den meisten Urkunden, oder was sonst für Gründe für
seine Ansicht bestimmend waren. Gewiss ist nicht zu leugnen,
dass das Mecklenburg’sche Bauernrecht Zeitleihen mit beliebiger
Kündbarkeit, so wieErns t sie als die gewöhnliche Form hinstellt *),
kennt; aber daneben finden sich auch unzweideutig als erblich
bezeichnete Besitzrechte an bäuerlichen Grundstücken *). Be-
rücksichtigt man hiezu, dass die von Ernst als Zeitleihen an-
geführten Urkunden*) zum grossen Theile keinen Anhaltspunkt
in sich enthalten, aus welchem auf die zeitliche Beschränkung des
bäuerlichen Rechtes ein zwingender Schluss gezogen werden könnte,
und überlegt man, dass die Urkunden, welche an einzelne
Stifter oder geistliche Anstalten das Recht verliehen, Colonien ins
Leben zu rufen, ihrem Inhalte nach sich von anderweitigen ana-
logen Privilegien nicht unterscheiden, so wird man gewiss ge-
neigt sein anzunehmen, dass auch den Mecklenburg'schen Colo-
nisten in den ersten Zeiten ein Recht von nicht so preeärem Gehalte
eingeräumt worden sei, als es den Ausführungen Ernst’s ent-
sprechen würde.
Genaues wird sich übrigens hier kaum feststellen lassen;
denn das ganze urkundliche Material, insbesondere die Urkunden,
die über Colonisationen unmittelbar berichten, lassen sich auch hier
fast ausnahmslos in eine Ordnung der privatrechtlichen Fragen 4)
') a. a. 0. S. 124, vergl. die dort zu Anm. 4 cit. Urk. 1286 Mecklenb.
UB 1816.
2) vergl. z. B. die von Ernst a. a. 0. S. 124 Anm. 5 cit. Urkk. Dreger
1256. 280; M.V. Bll 1267, 1110; 1286, 1150; 1271, 1235; UI, 1283, 1677;
1284, 1758; 1295, 2361; 1296, 2398. Hiezu sei bemerkt, dass von diesen
Urkunden, die nach Ernst die Umwandlung der von ihm als normal an-
genommenen kündbaren Zoitpacht in Erbpacht zum Aufdrucke bringen, keine
des früheren Bestandes einer Zeitleihe ausdrücklich Erwähnung thut, und
wenn auch einzelne derselben vielleicht eine solche Deutung nahelegen, so
handeln andere, wie No. 1235, 1677 und 1758, dem Anscheine nach haupt-
sächlich von der Zusicherung, keine Nachmessungen mehr vorzunehmen,
oder sind sonst Rechtsaufzeiclinungen, bei denen gewiss nicht nothwendig
an eine Änderung des Leiherechtes gedacht werden muBs. Urk. 1284, 1758
spricht von gar keinem Zinse, aber einem um so weiter reicheuden Hechte
der Erwerber.
s) wie z. B. allo 8. 127 als Zeitleihen genannten l'rkk. M. U. B. 1
1243 , 546 ; 547; H 1271, 1236; 1279, I486; III 1285, 1787.
*) ln dieser Beziehung ist nooh am ausführlichsten von allen 1262
Dreger No. 349.
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überhaupt nicht ein , sondern unterwerfen , wie die meisten
Colonisationsurkunden , nur die offen tlichreehtlichen Angelegen-
heiten des Dorfes einer Regelung ').
Ziemlich ähnlich stehen in dieser Beziehung die Ver-
hältnisse in Holstein und Lübeck, aus welchen Gegenden die
wenigen erhalteneu Urkunden über die uns besonders interessieren-
den Verhältnisse gleichfalls wenig Nachricht geben®).
So gewinnen wir für das ganze Gebiet , auf welchem die
deutsche Colouisation sich bethätigt hat, die Überzeugung, dass
die weitere Fortentwickelung des den Colouiengründungen ent-
sprossenen Rechtes die Bahnen einschlug, welche oben namentlich
für Schlesien und Brandenburg gekennzeichnet wurden. Denn all-
überall enthalten die Colonisntionsurkunden primär, ja fast aus-
schliesslich eine Regelung der Dorfverfassung, eine Ordnung der
obrigkeitlichen Ämter, Rechte und Befugnisse, und wenn sie dabei
die mit dem Dorfrechte zur Entstehung gelangenden, den Grund-
besitz betreffenden privatrechtlichen Fragen nebenher berühren, so ist
auch dabei zunächst nur des herrschaftlichen Zinsbezugsrechtes,
nicht des bäuerlichen Besitzrechtes gedacht. Ein Blick auf die
Entwickelung, welche das bäuerliche Recht jener Gegenden in
späterer Zeit genommen hat, zeigt auch zur Genüge, dass nicht
die privatrechtlichen Befugnisse der Dorfbewohner, sondern die
herrschaftlichen Rechte der Schulzen das kräftigere und be-
deutendere , das lebens- und cntwickelungsfähige Element im
Dorfrechte waren , und dass nicht jenen , sondern diesen die Zu-
kunft gehörte. Endigte doch die Geschichte der Dörfer des
deutschen Ostens, bevor unter völlig neuen Umständen auch
wieder eine neue Bewegung eintrat, mit dem Untergange der
anfangs so hoch geschätzten persönlichen Freiheit des deutschen
Rechtes und der vollen Ausbildung einer Grundherrschaft, ähn-
lich wie sie anderwärts aus anderen Ursprüngen entstand.
Die weitere Verfolgung dieser Entwickelung liegt ausser-
halb des Rahmens unserer Untersuchung; hier erübrigt nur auf
•) vergl. z. B. Mecklonb. ÜB. I 1225, 312; 1226, 330; 1223, 373; 1241,
523; 1243, 562; II 1262, 945; 1268, 1146. Dreger 1241, 134 etc.
*) vergl. das Lübeck’sche Urk.-B. und Gustav Heinrich Schmidt zur
Agrargeschichte Lübeck’» und Ostholstoin’s 1887 insb. S. 30 u. die urkuudl.
Beilagen.
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Grund der oben angebenen, freilich spärlichen Daten die an den
Colonistengütern selbst bestehenden Rechtsverhältnisse einer
Prüfung zu unterziehen.
Dabei sei zunächst mit wenigen Worten die Frage der Zins-
pflicht berührt. Die im ersten Theile der vorliegenden Unter-
suchung besprochenen Urkunden über die freien Leiheverträge
der Rheingegenden enthalten in dieser Beziehung sehr zahlreiche,
oft recht detaillierte Angaben und aus den Bestimmungen über
die Folgen der Zinssäumnis, über Cautionen und dergl. liess sich
ein ziemlich klares Bild über die Zinsverhältnisse entwerfen,
ln unseren Dorfurkunden fehlt fast jeder Anhaltspunkt , und
wüssten wir nicht aus den Rechtsbüchern jener Zeit die all
gemeinen Grundzüge , so könnten wir uns kaum irgend welche
Vorstellung über das Zinsrecht der üolonisationsgebiete machen.
Der Grund dafür, dass die Colonisationsurkunden über diese
Fragen so wenig Aufschluss geben, liegt offenbar in der Uni-
formität der Verhältnisse und in der genossenschaftlichen Aus-
bildung des Dorfrechtes. Wo die Zinszahlung wenigstens ihrer
Form nach von einer Besteuerung sich nicht wesentlich unter-
schied, wo der Schultheiss, der gewiss in der Regel mit der
Einhebung des Zinses betraut war, zugleich als obrigkeitliche
Behörde und Richter fungierte, und wo die Zinsverpflichtung ganz
allgemein statuiert war, bedurfte es keiner besonderen Regelung
für den einzelnen Fall. Zudem mochte es dem Grundherrn, der
sich meist nur an den Schulzen hielt, gleichgiltig sein, wie dieser
zu seinem Gelde gelangte, und sonach für ihn jede Veranlassung
fehlen, Bestimmungen über diese Frage in die Dorfprivilegien
aufzunehmen.
Wenden wir uns nunmehr der eigentlichen Hauptfrage nach den
an den Colonistengütern bestehenden unmittelbaren (dinglichen)
Rechten zu, so formulieren wir dieselbe nach den uns geläufigen
romanisti8ch-modernen Rechtsbegriffen zunächst dahin, in wessen
Eigenthume dieselben gestanden sind, oder anders ausgedrückt,
ob den Bauern an ihren Hufen das Eigenthumsrecht oder nur ein
beschränktes dingliches Recht zugestanden ist; denn diese Frage
erscheint uns für die richtige Beurtheilung aller Sachenrechte
grundlegend und entscheidend.
Ihre Beantwortung begegnet freilich in dem vorliegenden
Falle zunächst der äusseren Schwierigkeit, dass die Colonisations-
privilegien uns nur sehr dürftige Kunde gerade über diese Rechts-
verhältnisse geben. Da sie, wie mehrmals erwähnt, meist nur
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die öffentlichen Angelegenheiten der Colonien behandeln, erzählen
sie uns gewöhnlich nichts über die Art und Weise, wie die Über-
tragung der einzelnen Hufen an die Bauern erfolgte; und über-
haupt scheinen die Quellenzcugnisse der damaligen Zeit an der uns
so wichtig erscheinenden Rechtsfrage mit auffallender Gleich-
giltigkeit vorübergegangen zu sein.
Unter diesen Umständen ist es wohl begreiflich, wenn in
der älteren und neueren juristischen Literatur die manigfachsten
Meinungen über die rechtliche Qualität des Bauernrechtes aus-
gesprochen worden sind.
Wcrsebe*) spricht den Colonisten volles Eigenthum zu,
das ihnen mit der Verpflichtung zu bestimmten Zinsleistungen
eingeräumt wurde; die Colonistengüter sind ihm, wie er weiter
ausfUhrt, weder Lehen-, noch Meier-, noch cmphyteutische Güter,
sondern frei vererbliche Zinsgüter, — eine Ansicht, die in
der späteren Literatur über die Colonisation des deutschen
Nordens und Ostens ziemlich weite Verbreitung fand, indem sie
ungeändert oder mit geringen Modiflcationen in Specialunter-
suchungen wiederholt übernommen wurde; so namentlich von
Tzschoppe und Stenzei *) in der Einleitung zu ihrem ür-
kundenbuche, Knothe*) in seinen Untersuchungen über die
Lausitz u. a. *).
Stellen die Genannten das Erbziusrccht mit dem Eigenthuine
schlechthin auf eiue Stufe, so setzen es andere dazu in einen
Gegensatz und erklären es für ein jus in re aliena von sehr
weitem Umfange. Die älteren Juristen folgten dabei der Tendenz
ihrer Zeit, alle Rechtsgebilde in irgend eine Kategorie des
römischen Rechtes unterzubringen, und kennzeichneten es als
Emphyteuse *) oder ein damit verwandtes Rechtsinstitut, während
•) a. a. O. zunächst 8. 141.
5) 8. 166: Die Colonisten erhielten „die zum Dorfe gehörigen Äcker
erb- und eigenthümlich als Erbzinsgüter“.
*) a. a. O. 8. 167 in Verbindung mit 199.
*) Hieher zu zählen ist wohl auch Sommer (Geschichtliche und
dogmatische Entwickelung der bäuerlichen Rechtsverhältnisse in Deutsch-
land I § 631 der mit Runde das Recht der Bauern als ein dominium utile,
germanicum, eine Art Eigenthum bezeichnet.
*) vergl. die Zusammenstellung der verschiedenen Meinungen nament-
lich die Eelking’s undfioche’s bei Borchgrave Histoire des Colonies
Beiges, Bruxelles 1866 S. 172 ff. — Stenzei. Geschichte Schlesiens I.
•S. 213 behauptet für die Colonisten der älteren Zeit geradezu als Regel
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Neuere auf die Unzulänglichkeit dieser römischen Begriffe für
die vorliegenden deutschen .Rechtsformen hinweisen.
Schröder1) bezeichnet das Recht der Colonisten als ein
„Erbzinsrecht nach Art der städtischen Hausleihe, ohne die Be-
gründung einer privaten Unterthänigkeit wie bei Vogtleuten und
Pfleghaften.“ „Das Eigenthum erlangten sie nicht, vielmehr be-
hielt der Herr das Obereigenthum, das er auch auf andere über-
tragen konnte.“ Der Zins hatte, wie er weiter ausfuhrt, häufig
„überhaupt keinen materiellen Werth, sondern nur die Bedeutung
eines Anerkennungszinses.“ Für alle Fälle aber erscheint er als
privatrechtliche, nicht als öffentlichrechtliche Last, was nament-
lich bei dein Vergleiche mit dem Grafenschatze zu berück-
sichtigen sei *).
Borchgrave8) hebt mit besonderem Nachdrucke hervor, um
wie viel das Recht der holländischen Colonisten hinnusreichte über
das der römischen Emphyteuten, indem sich keine Spur eines Rück-
falles an den Grundherrn oder eines Vorkaufsrechtes desselben, kein
Hinweis auf die Verpflichtung zu einer Laudemialgebühr und ähn-
lichen Abgaben der Colonisten findet. Nur durch die Zinspflicht, die
auf den Hufen lastete, unterscheidet sich ihm das Recht derselben
von vollem Eigenthume: „Le droit de propriete qu’obtinrent nos
colons, sans ötre un dominium plenum, dans le sens que l’on atiache
gönöralement a ce mot, en avait tous les attributs ... La seule
chargc qui pesait sur le colon etait lu redcvance foneiere ....
sauf cette redevance nos colons, s’ils ne jouissaient pas d’un
dominium plenissimum, avaient neanmoins des droits plus etendus
qu’un emphyteote ordinaire; c’etaient, ii peu de chose pres, des
proprietaires dans le sens strict du mot; plus encore que les
emphyteotes, ils avaient un jus dominio proximum“ — eine
„freies, erbliches, theilbares Eigenthum, über welches sie durch Verkauf,
Schenkung und Vergabung frei verfügen konnten. Zwar wurden schon im
13. Jahrhunderte einzelne (Grundstücke zuweilen gegen erblichen Zins aus-
gethan, bei welchem sich der (Grundherr bei Verkäufen das Vorkaufsrecht
vorbehielt; allein erst seit dem Anfänge des 14. Jahrhundertes finden
wir ganze Dörfer, deren Hufen als Erbzinsgüter emphyteutisch ausgethau
wurden , wobei der Grundherr sich das Obereigenthum vorbehielt, was
früher nicht der Kall war.“
’) Niederländische Kolonien S. 39. (383'.
Deutsche Rechtsgeschichte S. 43ä.
•) a. a. O. 8. Ui u. 173.
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161
Ausführung, die freilich mehr eine äusserliche Beschreibung uls
eine juristisch präcise und verwerthbare Begriffsbestimmung
enthält.
Genauer drückte sich Droysen aus, von dessen Ansicht
über das Recht der märkischen Colonisten Borchgrave in nichts
Wesentlichem abweicht. Er zeigt1), dass die Colonisten freie
Bauerngemeinden bildeten mit vollem Erb- und Eigen thumsrechte,
soweit ein solches überhaupt nach dem Wescu der
Markverfassung möglich war, wozu er später ergänzend
ausführte, „das alte ächte Eigenthum im altgermanischcn Sinne
hatten sie nicht, das hatte in den Marken niemand*1, nur war
ihr Recht doch weit besser als das der Erbzinsleute.
Die schärfste juristische Formulierung dieses Gedankens findet
sich unstreitig bei Knapp*), auf dessen Auffassung unten des
nähern einzugehen ist*). —
Will man zur Prüfung dieser vielfach widerstreitenden An-
sichten die uns überlieferten urkundlichen Nachrichten heran-
ziehen , so muss man vor allem die eine Thatsache sich vor
Augen halten, dass in den Fällen von Dorfschaftsgründungen,
in welchen Mittelsmänner irgend welcher Art zwischen dem
Colonisator und den Colonisten standen, nicht nur zwei, sondern
möglicher Weise drei Personen in eine rechtliche Beziehung
zu den Grundstücken treten konnten, und dass demgemäss zur
Lösung unseres Problemen die rechtlichen Befugnisse dieser
drei Personenkreise in Betracht zu ziehen sind.
Für die Beurtheilung des Rechtes der Bauern, worüber
zunächst gehandelt werden soll , geben uns freilich , wie oben
allerorts hervorgehoben wurde, die Urkunden unmittelbar wenig
bestimmte Auskunft, und wir stosseu hier noch auf die besondere
Schwierigkeit, dass namentlich in den älteren Urkunden das
Bauernrecht oft nur in der engsten Verbindung mit dem Rechte
ihrer Anführer Erwähnung findet, und so die beiden Rechts-
gebiete nicht scharf zu trennen sind.
Die erste Holländerurkundc des Erzbischofes Friedrich ent-
hält über die Rechte der angesiedelten Bauern überhaupt gar
’) (ieacliiihtu der preussischen Politik I. S 61 f. und 64.
’) Die Bauernbefreiung und der Ursprung der Landarbeiter in den
älteren Theilen Preussens 1887 1 S. 36 f.
*) s. S. 171.
ü. Schwind, Erbleiheo. 11
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162
keine Bestimmung1). Die Urkunde Hartwig I gibt den ganzen
District dem einen Unternehmer „iure bcneficiali . . . ea videlieet
ratione, ut suo eodem iure liceat relinquere succcssori“, eine Fest-
setzung, die in den unmittelbar vorhergehenden Worten „paludem
. . . . vendendam et excolendam . . . tradidi“ ihre Ergänzung
erfährt, aber auch so noch nicht völlige Klarheit über die end-
giltige rechtliche Regelung zu geben vermag’). Die Privilegien
für die Colonie in Machtenstedt*) heben gleichfalls die kaufweise
Weiterübertragung hervor (quicumque a Bovone .... posaes-
sionem . . . mercatus fuerit) und gebrauchen — man darf wohl
sagen — einen technischen Ausdruck, wenn sie dem Unternehmer
zugestehen, ut . . . venderet quibuslibet emtoribus sibi et suis
heredibuB iure Hollandrico possidendam, eine Formu-
lierung, die in dem Diplom des Erzbischofs Hartwig II. von 1201 4)
ihre Ausführung und Erweiterung fand, indem dieser beurkundete :
paludem ... ad vendendum H° et H° sub certa huius dis-
positionis forma tradidimus. Emtoribus paludis predicte con-
cedimus terram hanc iure hollandrico libere entere et suis
heredibus perpetuo possidendam libere vendere aut
relinquere. In anderen Urkunden finden sich Wendungen,
wie ad excolendum contradidi *) oder Flamingis petentibus iure
suo possidendas vendidimus *), ad excolendum et fructificandunt
tradidi 7) u. a. m. Schlesische Dorfprivilegien gebrauchen gewöhn-
lich die Worte concedere jure teutonico collocandum *) oder locan-
dum®), was vereinzelt dahin ergänzt wird, quam hereditatis bcuI-
tetiam vel dominus M. vel D. ipsorumque posteri cum agricolis
ibidem residentibus .... iure hereditario perpetuo possidebunt;
von diesem Charakter weichen auch die Bestimmungen in den
übrigen Colonisationsgebieten nicht wesentlich ab.
') s. oben S. 126 f.
*) 8. oben S. 133 Anm. 2.
*) s. oben S. 134 f.
*) s. oben S. 135.
•) Urkunde für Krakau 8. o. 8. 143 Anm. 1.
°) 1169 Anhalter UB. 464 b. o. 8. 146 Anm. 1.
’) 1159 v. Heinemann, Albrecht der Bär No 40 8. o. S. 140 Anm 1.
’) z. B. cod. dipl. Silea. I 1274, No. 9.
’) z. B. 1. cod. 1288, 18; 1290, 21 ; II 1203, 4 p. ti u. viele andere.
,0) wie 1309 1. eod. I. 23.
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163
Nach all dem ist es wohl nicht zu bezweifeln, dass den Co-
lonistenbauern eine sehr weit reichende rechtliche Macht über ihre
Hufen zustand. Die Tendenz, ihnen eine solche zu gewähren,
tritt allüberall deutlich zu Tage, und gewiss konnte jeder solche
Bauer ziemlich unbeschrankt auf seinem Gute schalten und
walten. Wenn man hiezu in Betracht zieht, dass dieses weit-
reichende Verfiigungsrecht, das ihm zukam, wenigstens der Regel
nach auch noch vererblich und veräusserlich war, so wird man
wohl zugeben müssen, dass die practisch wichtigsten Befugnisse
eines Eigentümers von Grund und Boden auch in den Händen
der bäuerlichen Colonistcn sich beisammen fanden. Darin liegt
denn auch unzweifelhaft der entscheidende Grund, der vielfach
zur Annahme wirklichen Eigenthumes bestimmte.
Gleichwohl kann einer solchen juristischen Erklärung, die
nur auf den hier angeführten Momenten fusst, volle Zuverlässig-
keit nicht zugesprochen werden. Denn es ist nicht zu übersehen,
dass wenigstens unser heute gütiges Recht ‘) im Anschlüsse an
die scharf ausgebildete romanistische Doctrin nicht das Ausmass
und den Umfang der jeweils actuellen rechtlichen Befugnisse,
') Der Grund, warum hier und in den folgenden Ausführungen mehr,
als cs vielleicht sachlich begründet erscheinen mag, auf die romanistisch-
modernen Begriffe zurückgegriffen wird, liegt vornehmlich in dem Mangel
einer einheitlichen, allgemein eingebürgerten Terminologie für die das mittel-
alterliche Sachenrecht beherrschenden Rechtsbegriffe. Speciell für das sog.
doutschreehtliche Eigenthum gibt es keinen einheitlichen, allgemein aner-
kannten Begriff, der als solcher geeignet wäre, als feststehende Grundlage
für juristische Dcductionen zu dienen. Wird er doch ausserhalb der ger-
manistischen RechtsBchule in seiner Existenzberechtigung vielfach überhaupt
nicht anerkannt. Demgegenüber ist nicht zu leugnen, dass, mag auch für
den romanistischen Eigenthumsbegriff vielfach absolute Giltigkeit in An-
spruch genommen werden, es immer mislich, vielleicht auch gefährlich ist,
mit einem so specifisch entwickelten Rechtshegriffe an rechtliche Verhält-
nisse heranzutreten, die auf einem ganz anderen Boden und unter Umständen
entstanden sind, die mit den rechtserzeugenden Kactoren des römischen
Rechtes nichts gemein haben. — Hält man sieb aber im Laute der Unter-
teilung stets vor Augen, dass die unmittelbare Anwendbarkeit dos Begriffes
auf die untersuchten Rechtsverhältnisse nicht bewiesen ist, und übernimmt
man nur so viel, als durch sachliche Gründe gerechtfertigt erscheint, so
kann man den Gefahren, welche mit dem hier gewählten Vorgehen verbunden
sind, aus dem Wege gehen und entkommen, und man gewinnt dabei den
Vortheil einer fixen, allseitig gesicherten Uperationshasis, welche auch geeignet
ist, für allenfalls zu bestimmende neue Reehtsbegriffe die nötbigen Anhalts-
und Vergleichspunkte zu gewähren.
11*
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164
sondern die hievon unabhängige Tendenz des Rechtes nach Univer.
salität und Schrankenlosigkeit als die wesentlichen Elemente des
EigenthumsbegrifFes betrachtet, und dass demnach selbst bei dem
unbestrittenen Zusammentreffen noch so weit reichender sachen-
rechtlicher Befugnisse der Schluss auf dos Vorhandensein wirk-
lichen Eigenthumes immer noch einer besonderen Begründung
bedarf.
Für eine solche Schlussfolgerung aber gewähren uns die auf
die Gegenwart überkommenen urkundlichen Zeugnisse des Mittel-
alters ihrem positiven Inhalte nach sicherlich nicht die geringste
Stütze; ja gar manche Momente, wie die oft unverkennbar aus-
gesprochene Zweckbestimmung der Güter, der nicht selten zu
Tage tretende Einfluss der Grundherrschaft, die Zinspflicht, die
so häufig die Anerkennung einer Herrschaft zum Ausdrucke
brachte, und ähnliche in den Gründungsurkunden enthaltene
Bestimmungen sprechen wenigstens äusserlich genommen dagegen ;
und wenn auch für die juristische Construction vielleicht die
Möglichkeit besteht, in all dem nur Beschränkungen eines prin-
cipiell allgemeinen Rechtes zu erblicken, so mahnen sie zum min-
desten zur Vorsicht, aus dem weiten Umfange des Rechtes, der
nicht zu bezweifeln ist, nicht zu früh und nicht zu leicht noch
Weiteres folgern zu wollen. Und in gleicher Richtung spricht
auch die im Mittelalter vielfach zu beobachtende Abneigung der
Grundherrn gegen definitive Veräusserungen des Grund und Bodens,
zu der sich speciell für kirchliche Grundstücke noch die kirch-
lichen Veräusserungsverbote gesellen, welche in der Regel die
Übertragung des Eigenthumes ausschlossen, die Begründung von
Erbleihen aber gestatteten 1).
Auch aus dem Inhalte der hier besprochenen Urkunden,
also unmittelbar aus quellenraässigen Zeugnissen lässt sich in der
gleichen Richtung die häufige Parallelstellung von jus teutonicum
und jus emphyteuticum anführen, die uns namentlich in den süd-
*) vergl. z. ß. die unzweifelhaft hielter zu beziehende Stelle e. 7 X de
rebus ecclesiae alienandis vel non III 13, wo sich in unmittelbarem Anschlüsse
an Veräusserungsverbote die Worte Alexander III finden: Ilias terras, quae
de silvis exstirpatae sunt arubiles factae, eia hereditario iure poteris concedere
sub annuo censu tenendas. a quibus ipsas suo vel parentum suorum labere
constiterit fuisse exstirpatas; uisi forte tune aliis possint ad majorem ecclesiae
utilitatem cum eodem labore et onere conferri.
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165
Höheren Colonisationsgebieten wiederholt begegnet1); so wenig zu-
treffend auch sonst dieser in den Urkunden gebräuchliche Hinweis
sein mag, das eine bringt er doch mit Bestimmtheit zum Aus-
drucke, dass der damaligen Zeit das beschränkte Recht des
römischen Emphyteuten und nicht das Eigenthum dem bäuer-
lichen Rechte verwandt und analog erschien.
Noch deutlicher sprechen die Rechtsbücher selbst. So stellt
z. fi. der Sachsenspiegel und namentlich die Glosse Eigen und
Zinsgut in directen Gegensatz5) und aus der letzteren erfahren
wir auf das bestimmteste, dass die bäuerlichen Güter der Coloni-
sationsgcbiete als Erbzinsgüter in die letztere Kategorie gehörten.
Von ihnen sagt die Glosse3) sogar ausdrücklich, wie es deutlicher
nicht mehr ausgesprochen werden kann : „Zinsgut ist weder eigen,
erbe, noch lehen .... Ziusgut ist aber darumb kein Eigen, das
der Herr darauff einen zins hat .... denn eigen hat man on
allen zins. Es ist auch darumb kein erbe, das es der richter
nicht aufgeben mag. Es ist auch kein Lehen, das man davon
zins gibt . . . .” Die Motivierung, welche den einzelnen Sätzen
beigeftigt ist, kann vielleicht im einzelnen manches Bedenken
wachrufen; aber dass zu jener Zeit das Bauernrecht nicht als
Eigenthum galt, ist solchen Erklärungen gegenüber nicht mehr
hinwegzuleugnen, und damit ist es wohl auch für uns geboten,
wenigstens vorläufig au dem beschränkten rechtlichen Character
des bäuerlichen Rechtes, so wie er positiv in den Urkunden be-
glaubigt ist, festzuhalten und ihm die Universalitätstendenz des
romanistisch-modernen Eigenthumsbegriffes nicht zuzusprechen,
wenn auch vereinzelte Dorfgründungsurkunden den Bauern ein
Recht einräumten, das noch über das hier geschilderte, gewöhn-
liche Mass hinausgereicht hat4).
') vergl. namentlich M e 1 1 z e n C’od. dipl. Siles. IV insb. Einleitung
S 108 f., wo das Wort jus emphyteuticum gewiss mit Recht als Übersetzung
von Erbzinsrecht gedeutet wird.
*) vergl. oben S. 5 ff.
*) zn Art. 79 des 2. Buches des Landrechtes.
4) vergl. z. B die oben S. 153 Anm. 4 abgedruckte Urk. für Stendal:
Areas snpranominatae villae hereditario et libero eis iure concessimus, qua-
tenus vendendi et pro arbitrio disponendi liberam habeant facultatem, eo
tarnen modo, ut censum . . . inde persolvant; oder 1256 Dreger Cod. dipl.
Pomeraniae 280 ; dabei kann die Frage, ob solche Fälle als Ausnahmen von
der Regel zu deuten sind, oder ob auch dieses erweiterte Recht sich noch
von dem Eigenthume unterscheidet, füglich unerörtert bleiben.
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166
Nur Gründe juristisch technischer Art könnten eventuell be-
stimmend sein, von diesem hier gewonnenen Ergebnisse abzugelien1).
Dem Rechte der Bauern, als der Besitzer der einzelnen Hufen,
steht die rechtliche Macht der Dorfschulzen oder Anführer der ein-
einzelnen Niederlassungen und die der Grundherrn, als der Gründer
der Colonien, gegenüber. Der kritischen ßeurtheiluug ihrer recht-
lichen Stellung in Beziehung auf das neu besiedelte Land stellt
sich abgesehen von den früher angeführten Momenten vor allem
noch die Schwierigkeit entgegen, dass in ihren Händen öffentliche
Herrechaftsbefugnisse und private Rechte so enge verbunden
wareu, dass wir im einzelnen Falle nicht zu unterscheiden ver-
mögen, was als ßethätigung des einen oder des anderen Rechts-
kreises zu gelten habe. Auch geben die urkundlichen Quellen
uns wenig Anhaltspunkte über die Qualität ihres Rechtes.
Um zunächst von den Colonis t e na n füh rern zu handeln,
finden wir ihre Macht bei den ersten Holländercolonien aus der
Gegend um Bremen nach dem Wortlaute der Gründungsurkunden
allerdings in sehr weitem Umfange gewährleistet’), und ebenso
wurde namentlich in den märkischen Gebieten, wenn die Dorf
gründung durch Ritter bewerkstelligt wurde, bezüglich des ganzen
Dorfdistrictes ein sehr weitreichendes Recht in ihre Hand gelegt*);
doch ist dabei zu berücksichtigen , dass diese Urkunden meist
nur die zunächst geschaffene rechtliche Lage im Auge haben
und vielfach nicht an den endlichen Zustand denken, der dann
eintrat, wenn das Land vermessen und an die Bauernbevölkerung
vertheilt war. Für die späteren Holländercolonien aus der Umgebung
von Bremen, bei denen das Recht der Anführer des Unternehmens
nur mehr als ein beneficialisches4) bezeichnet, oder in denen gar
über ihre Köpfe hinweg unmittelbar das Recht der Käufer ge-
währleistet wurde8), ist nicht daran zu denken, dass den Leitern
der Colonie etwa eine eigenthumsähuliche Macht über sämmtliche
Colonistenhufen wäre eingeräumt worden. Und ebenso fehlt
') vergl. unten S. 171 ff.
*) vergl. oben S. 125 ff.
’) vergl. z. B. oben S. 153 Anm. 2 oder 1242 Cod. dipl prussicus 1 54.
4) 1149 Hamburger UB. lf->9 Districtum . . . Johanni . . . jure bene-
ficiali coucessi.
8) 1201 Hamburger UB. 332 Emturibus paludis eoncedimus terrum hanc
iure hollandrico libere emero et suis heredibus possidendam libero vundere
et relinquere.
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167
jeder Grund und jeder Anhaltspunkt für eine ähnliche Annahme
betreffs all der Dorfgi ünduugen, in welchen Dorfschulzen an der
Spitze der Unternehmung standen. Ihr Recht erstreckte sich
über die ihnen überlassenen Freihufen, die sie nebst anderen
Vortheilen als frei vererbliches und veräusserliches Schulzengut
zugewiesen erhielten; bezüglich der anderen Grundstücke, der
eigentlichen Bauernhufen, hatten sie ihre bestimmte Mission, vor-
wiegend eine polizeiliche und gerichtliche Gewalt, sowie das
Recht und die Aufgabe, die Güter dem Zwecke der Colonien-
gründung gemäss mit Colonisten zu besetzen. Dies letztere konnte
möglicherweise auch während des Bestandes des Dorfes wieder
zu Bedeutung kommen, wenn einzelne Hufen von den Bauern
verlassen wurden, und wurde auch später vielfach in der Weise
zur Bereicherung des Schulzengutes ausgebeutet, dass solche ver-
waiste Bauernstellen nicht neu vergeben, sondern schlechthin ein-
gezogen wurden. Das Vorhandensein einer rechtlichen Herr-
schaft des Leiters der Dorfschaft über deren Gebiet ist bei dieser
Sachlage nicht zu bestreiten, und es liegt nach der uns geläufigen
Rechtsauffassung unzweifelhaft am nächsten, dieses dem Schulzen
zustehende Herrschaftsrecht einfach dem öffentlichen Rechts-
gebiete zu vindicieren, und in allen einzelnen Befugnissen nur
die Bcthätigung seiner üffentlichrechtlichen Stellung zu erblicken1).
Die gleiche Auffassung wird auch vom Standpunkte des mittel-
alterlichen Rechtes im allgemeinen gerechtfertigt sein. Denn wenn
dort auch die Scheidung dieser beiden Rechtsgebiete nicht so
durchschlagend war und empfunden wurde, so bleibt doch immer
wahr, dass der den Leitern solcher Dorfcolonien zustehende
rechtliche Einfluss an den Bauerngütern mehr eine Herrschaft
über die darauf befindlichen Personen als eine unmittelbar sachen-
rechtliche Befugnis gewesen ist. Nur für die Fälle, in denen
entweder von Anfang an eine engere Beziehung zu dem ganzen
Colonisationsgebiete festgestellt wurde’), oder wo im Laufe der
') Die gleiche Auflassung z. B. bei Sommer, Geschichtliche und dog-
matische Entwickelung der bäuerlichen Rechtsverhältnisse in Deutschland
I ij 77 bezüglich der Entmeierung: Die Entmeierung ist nicht Heimfall des
Gutes an den Gutsherrn, sondern dieser übt für die Staatsgesellschaft das
Wiederbesetzungsrecht aus; er muss den Hof mit einem . . . Colonen besetzen
und darf dabei die Abgabe nicht erhöhen.
*) vergl. oben S. 166 Anm. 8 u. 4.
168
späteren geschichtlichen Entwickelung ') den Schulzen ein
grösserer unmittelbarer Einfluss auf die einzelnen Bauernhufen
zufiel, wird man die Möglichkeit zugeben müssen, dass in und
neben den öffentlichen Befugnissen derselben auch eine sachen-
rechtliche Macht vorhanden gewesen sei, ohne dass man jedoch
bei der engen Verbindung und gleichförmigen Behandlung, welche
alle mit Grund und Boden zusammenhängenden Rechte im
Mittelalter erfuhren, die nach unserer heutigen Anschauung für
disparat erscheinenden beiden Rechtskreise in dem einen
Schulzenrechte genau zu scheiden, oder gar mit Sicherheit den
Umfang der privatrechtlichen, speciell sachenrechtlichen Befug-
nisse festzustellen vermöchte.
Den gleichen Schwierigkeiten der juristischen Construction
begegnen wir bei der dritten Gruppe von Rechten, die an den
Colonistengütern bestehen konnten, den Rechten der Laodes-
oder Grundherrn, also derjenigen, die durch die Verleihung
des für die Colonisationszwecke gewidmeten Bodens, oft auch
durch die Gewährung ihres Schutzes und von Privilegien das
Zustandekommen der neuen Ansiedelungen ermöglicht haben.
Auch für sie unterliegt es keinem Zweifel, dass das Schwer-
gewicht ihrer rechtlichen Macht dem öffentlichen Rechte an-
gehörte. Die herrschaftliche, beziehungsweise landesherrliche
Stellung, die sie vor der Coloniengründung über das uncultivierte
oder nur von den für rechtlos gehaltenen Slaven bebaute Terri-
torium ausgeübt hatten, blieb ihnen meist auch über die neue
Niederlassung dauernd gewahrt, wenigstens insoweit, als nicht
die der Colonie und ihren Organen gewährten Zugeständnisse
eine ßethätigung derselben ausschlossen. Als Ausfluss dieser
obrigkeitlichen oder herrschaftlichen Machtbefugnis über das
Colonisationsgebiet erscheint dann vor allem die Gerichtshoheit,
die sich iui einzelnen in mannigfaltigen Formen äusserte ; bald
blieb dem Grundherrn die höhere Gerichtsbarkeit, bald die Be-
aufsichtigung des unteren Richters Vorbehalten, während in
anderen Fällen durch seine Machtvollkommenheit alle auf das
Gericht sich beziehenden Angelegenheiten einer sorgfältigen
Regelung unterzogen wurden; fast ausnahmslos aber bedeutete
die Gerichtshoheit für die Herrschaft den Anspruch auf einen
') Eine solche Veränderung vollzog sich gewöhnlich dadurch, dass
Rechte, die ursprünglich dem Grundherrn zustanden, an manchen Orten in
immer weiterem Umfange an die mächtigen Schulzengeschlechter Übergiengen
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169
bestimmten Theil der bei der Ausübung der Gerichtsbarkeit sich
ergebenden Gefälle. Unzweifelhaft öffentlichen Character trägt
auch das Hecht auf den Zehent, zu dessen Leistung wenigstens
geistliche Fundatoren in Übereinstimmung mit der in kirchlichen
Kreisen damals allgemeinen Anschauung bei der Neuanlage von
Colonistendörfern die einzelnen Hufen regelmässig verpflichtet
haben.
Dagegen lässt sich von dem Ansprüche auf den Zins, welchen
dieGrundherrscbaft auf jeder Bauernhufe sich vorbehielt, wenigstens
gewiss nicht als nothwetidig behaupten, dass er auf deren herr-
schaftliche , obrigkeitliche Stellung zurückzuführen sei. Viel-
mehr wird mit gutem Grunde geradezu der privatrechtliche
Character desselben vielfach angenommen ’); und die in einzelnen
Urkunden enthaltenen Wendungen, wie z. B., dass er pro recogni-
tione terrae*) oder jure dominii et ducali s) und dergl. bezahlt
werde, in Verbindung mit dem Umstande, dass von Grund und
Boden vorbehaltenen Zinsen damals so häufig die Bedeutung von
Anerkennungszinsen zukam, und auch alle anderen Momente, die
oben 4) gegen die Annahme eines bäuerlichen Eigenthumsrechtes
angeführt wurden, sind in ihrer Gesammtheit wohl geeignet, die
Vermuthung zu rechtfertigen, dass auch hier der Zins berufen
gewesen sei, den Bestand eines der Grundherrschaft auch nach
der Colonisation verbliebenen Hechtes an den Bauerngütern zum
Ausdrucke zu bringen5).
Das Vorhandensein einer solchen unmittelbaren (sachen-
rechtlichen) Macht, die namentlich dann zu actueller Bedeutung
kommen mochte , wenn z. B. das Aussterben einer Coionisten-
fnmilie oder die Nachlässigkeit der mit der Sorge über die
einzelnen Hufen und die Dorfschaft Betrauten ein unmittel-
bares Eingreifen der Grundherrn erforderten, wird eich auch in
der That kaum bestreiten lassen ; und wenn wir oben eine Reihe
von Gründen anfuhrten, welche gegen die Annahme eines un-
beschränkten Rechtes auf Seite der bäuerlichen Golonisten sprachen
und so zu dem Ergebnisse führten, dass diesen ein gewisses Mass
von Rechten von wirklicher Machtvollkommenheit abgieng, so
’) vorgl. z. B. Schröder, Deutsche Rechtsgevohich te S. 435.
’) 1201 Hamburger UB. 332.
*) 1336 Cod. dipl. Sileaiae I 83.
*) vergl. S. 164 insb. Anm. I.
*) vergl. z. B. Schröder, niederländische Kolonien S. 39 (381).
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170
fordert es schon die Consequenz der juristischen Logik mit Noth-
wendigkcit, dass der dort fehlende Theil rechtlicher Gewalt der
Machtsphäre eines anderen Berechtigten zugestanden habe, ln
den meisten Fällen konnte es gewiss nur der Grund- oder Landes-
herr, nicht der Schulze gewesen sein , dem eine derartige Be-
rechtigung zukam. Wie viel daun von dieser unmittelbaren
(sachenrechtlichen) Macht, die in den Händen des Grundherrn
sich finden konnte, privaten Character trug, wie viel ab Ausfluss
seiner herrschaftlichen (öffentlichen) Stellung zu gelten habe, lässt
sich freilich mit Bestimmtheit nicht feststellen; vielleicht ist alles
diesem letzteren Einflüsse zuzuschreiben. Jedenfalls macht die
enge Verbindung beider Gruppen von Befugnissen, die Uusser-
lich völlig gleichartige Behandlung aller irgendwie territorial
fundierten Hechte und die jenen Zeiten vielfach mangelnde
Empfindung für eine derartige rechtliche Unterscheidung eine
genaue Grenzbestimmung unmöglich und wohl auch überflüssig.
So lässt sich auch aus den ^tatsächlichen Verhältnissen mit Be-
stimmtheit nicht deducicren, ob diese sachenrechtliche Gewalt
als eine Beschränkung des bäuerlichen Rechtes zu gelten habe,
das vielleicht mit der Universalitätstendenz ausgestattet war, oder
ob sie etwa analog der römischen nuda proprietas gegenüber
dem cmphyteutischen Rechte die Seele eines durch fremde
Rechte auf ein Minimum actucller Befugnisse eingeschränkten
Eigenthums enthielt1). Die oben angeführten Grunde sprechen
unzweideutig gegen die Entscheidung im Sinne der ersten
Alternative, aber zunächst wenigstens und ohne zwingende Gründe
dürfte man auch kaum geneigt sein , die zweite Alternative zu
wählen. Eis fällt uns schwer anzunehmen, dass die geringen
Ansätze privater Befugnisse, deren Existenz vielleicht vielfach
') Bemerkt sei, dass man hier für die Frage, wer unter den mehreren
Berechtigten Eigentbümer sei, auch durch die Untersuchung, in wessen
Händeu dusKccht bei dem Wegfallen des gegrntbeiligen Hechtes sich consolidiere,
also durch das Mittel, welches für unsere heutigen Verhältnisse am sichersten
zum Ziele führt, nichts gewinnen kann. Auf der einen Seite stösst mau
nämlich auf die Schwierigkeit, dass man ein Untergehen der dem bäuer-
lichen Hechte gegeuüberstehendeu rechtlichen Befugnisse überhaupt nicht
oder wenigstens nicht obue völlige Zerstörung der Keohtsgrundlagen denken
kann, auf welchen das ganze Verhältnis aufgebaut ist; es ist nicht mehr
Bauernrccht, wenn die Gewalt des Schulzen und des Grund- oder Landes-
herrn hinwegfällt; die Verhältnisse die man einander gegenüberstellen würde,
sind nicht mehr vergleichbar, und deshalb kann man aus der rechtlichen
Lage, die nach dieser Veränderung bestünden, keinen Rückschluss thun auf
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171
überhaupt bestritten werden kann, die Keime eines privaten
Eigenthumsrechtes enthalten sollten. Nur das eine kann man
sicher behaupten , dass die Gcsamnitheit der dem Grundherrn
zustehenden Gewalten privater und öffentlichrechtlicher Natur
den Inhalt desjenigen Rechtes abgab, das die spätere Jurisprudenz
mit dem Namen eines Obereigenthumes bezeichnete.
Für die Eigenthumsfrage an den Colonistengütern kommen
wir nach all dem zunächst zu einem lediglich negativen
Ergebnisse, ähnlich wie es Knapp für die märkischen Dorf-
ausiedelungen ausgesprochen hat1). Wir können von keinem
der drei Personen, die an einem Colonistengute möglicherweise
dinglich berechtigt sein können, behaupten, dass sie Eigenthümer
in unserem Sinne des Wortes seien, um wenn auch für die
juristische Construction vielleicht die Möglichkeit besteht, das
eine oder andere Recht in diesem Sinne zu deuten, die that-
sächlichen Verhältnisse zwingen uns gewiss nicht dazu, sprechen
vielmehr in mannigfacher Beziehung dagegen.
Bei dieser Sachlage könnte aber ein derartiger juristisch-
constructiver Versuch nur dann gerechtfertigt erscheinen, wenn
die Forderungen der juristischen Consequenz und Logik, also
juristisch technische Gründe ein solches immerhin etwas gewalt-
eten rechtlichen Bestand vor dieser Metamorphose. — Auf der anderen
Seite sehen wir wirklich ein Aufleben gewisser rechtlicher Befugnisse bei
dem Schulzen oder I.andesherrn, wenn das Kecht des Bauern erlischt. Aber
wenn da das Grundstück in die freie Verfügungsgewalt des Landesherrn
zurückfallt, oder wenn der ächultheiss seiner Stellung als Colonisator gemäss
es einem neuen Besitzer zuweist — auch wenn der Dorfherr der späteren
Zeit cs für sich selbst zurückbehält, und in anderen ähnlichen Fällen : liegt
darin ein Aufleben eines bisher schlummernden Eigenthuines oder schlecht-
hin die Bethätigung ihrer öfl’entlichrechtlichen Gewalt?
') Die Bauernbefreiung und der Ursprung der Landarbeiter in den
älteren Theilen Preussens 1887 I S. 36. Nach seiner Auffassung ist die
Frage, wer Eigentümer sei, gar nicht aufztiwerfen, daher auch nicht zu be-
antworten: „Der Markgraf war so weuig Eigenthümer des ganzen Landes,
wie es heute ein Landesherr ist: er hatte ein Herrschaftsverhältnis, aber
Dicht das im Eigenthume liegende, zum Lande. Die Grossen trugen das
Land zu Lehen, was auch wieder nicht Eigenthum ist. Der Bauer war
seinerseits meistens nur belohnt, es genügte ihm, dass die Nutzung aufseine
Nachkommen übergieng, und der Grundherr dachte nur an deu Einfluss,
den ihm das Recht der Überwachung dieser Erbfolge sicherte Für
die grosse Masse des Bodens . . ., worauf Bauern sassen, die einen Grund-
herrn über sich hatten, war der Begriff des Eigenthums nicht vorhanden;
wie es ja eine bekannte Erscheinung ist, das Grundstücke nicht immer und
nicht überall gerade in der Form des Eigenthums besessen werden.“
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172
eamoH Vorgehen mit absoluter und unabweisbarer Nothwendig-
keit verlangten, oder concret gesprochen, wenn jede Sache, die
in der Gesammtheit ihrer rechtlichen Beziehungen einer recht-
lichen Beherrschung unterstellt sein soll, nothwendig in irgend
jemandes Eigenthume stehen muss.
Mag nun die Richtigkeit dieses letzeren Satzes unseren
romanistisch-modemen Rechtsanschauungen1) geläufig und plausibel
erscheinen , so ist es doch gewiss begründet und nothwendig,
die Grundlagen desselben und seine eigentliche Bedeutung zu
prüfen, und zwar um so mehr, als die Betrachtung der uns
vorliegenden Fälle uns trotz des eben gekennzeichneten negativen
Ergebnisses keine Lücke in der Beherrschung erscheinen Hess,
und als andererseits die Giltigkeit und Richtigkeit dieses Satzes
ganz allgemein und mit specicller Beziehung auf die hier in
Rede stehenden Verhältnisse von Einzelnen auf das bestimmteste
in Abrede gestellt wird1).
Dabei handelt es sich zunächst natnrgcmäss um den Begriff
des Eigenthumcs selbst, welches die moderne Jurisprudenz im
Anschlüsse an die roraanistische Lehre als die principielle All-
hcrrschaft über eine Sache zu kennzeichnen gewohnt ist, die
zwar Beschränkungen durch fremde Rechte oder durch allgemeine
staatliche Bestimmungen mit ihrem Wesen ganz wohl verträgt,
bei aller Beschränkung im einzelnen aber immer die Kraft und
das Bestreben in sich besitzt, mit dem Fallen oder Zurückweichen
solcher Schranken wieder zu möglichster Unumschränktheit und
Allseitigkeit sich zu erweitern und auszubreiten*).
’) vergl. zunächst die oben S. 161 und 171 Anm. 1 abgedruckten Aus-
führungen von Droysen und Knapp.
•) vergl. z. B. J hering, Der Zweck im Rechte I S. 519.
3) In diesem Sinne detiniren: Windscheid Pandekten 6. Auflage
I 5ö9 fl'. : Dass jemandem eine Sache dem Rechte nach eigen ist, will sagen,
dass sein Wille für sie entscheidend ist in der Gesammtheit ihrer Be-
ziehungen . . . Aber man darf nicht sagen, dass das Eigenthum aus einer
Summe einzelner Befugnisse bestehe, dass es eine Verbindung einzelner Be-
fugnisse sei. Das Eigenthum ist die Fülle des Rechtes an der Sache, and
die einzelnen in ihm za unterscheidenden Befugnisse sind nur Äusserungen
und Manifestationen dieser Fülle. Das Eigenthnm ist schrankenlos
(es ist die Negation der Beschränkung); aber es verträgt Be-
schränkungen .... Die Eigcnthnmsbeschränknngen sind doppelter Art:
Entweder beruhen sie auf einer allgemeinen Rechtsregel oder auf dem er-
worbenen Rechte eines Dritten. —
Arndts, Pandekten 12. Auflage § 130. Das Eigenthum ist seinem
Grundbegriffe nach das einem Subjecte zustehende Recht vollkommener
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173
So nimmt die Definition des Eigenthumsbegriffes zwei wesent-
liche und einander ergänzende Momente in sich auf:
Zunächst die Tendenz des Rechtes nach möglichster All-
gemeinheit, die principielle Unbeschränktheit desselben, die ihren
Ausdruck findet in der Annahme , dass dem Eigenthümer
jedwede rechtliche und factische Verfügungsgewalt zusteht, so-
weit nicht besondere Umstände es in concreto verhindern.
Auf der anderen Seite den Hinweis auf die Möglichkeit
von gewissen Beschränkungen , die wiederum von zweierlei Art
sein können. Die eine Gruppe hat ihren Grund in bestimmten
dinglichen Rechten, welche dritten Personen an der fremden
Sache zustehen und die, in so weit sie diesen eine rechtliche
Ingerenz einräumen, dem Eigenthümer gewisse Schranken auf-
erlegen. Die andere (Truppe *) ist unmittelbar auf gesetzliche
Bestimmungen zurückzuführen, indem diese gewisse Kategorien
rechtlicher Befugnisse dem Kreise der privatrechtlichen Dis-
Herrschaft über eine körperliche Sache , vermöge dessen man sagen kann,
dass die Sache im Ganzen dieser Person gehöre, ihrem Willen schlechthin und
total unterworfen Bei“ — ein Hecht, das seinem Begriffe nach eine Beschränkung
durch Rechte anderer oder allgemeine Rechtsvorschriften nicht ausschliesst,
das aber „sowie und soweit solche das Kigenthum beschränkende Rechte
anderer wieder aufhöreu .... vou selbst wieder in seiner Unbegrenztheit
und Ausschliesslichkeit hervortritt.“
Gerber, Deutsches Privatrecht 15. Auflage § 78 kennzeichnet das
Eigentbum als „das Recht der principiell totalen Verfügungsgewalt über
Sachen.“
Stobbe, Handbuch des deutschen Privatrechts 2. Auflage II § 78
„Das Eigenthum ist die oberste rechtliche Herrschaft über eine Sache, aus
welcher andere Rechte an ihr abgeleitet sind“, wozu dann bemerkt wird,
dass „es seinem Wesen nicht widerspricht, dass über dieselbe Sache auch
anderen Personen als dem Eigenthümer Rechte zustehen.“
Entgegen namentlich Windscheid, der das Moment der Schranken-
losigkeit entschieden utriert, definiert Hartmann (Rechte an eigener Sache,
Untersuchungen zur Lehre vom Eigenthum in den Jahrb. für Dogmatik XVII
S. 129) : „Begriffswesentlich ist das Eigenthum . . die an sich meist- um-
fassende, oberste privatrechtliche Macht und Herrschaft, welche das
Recht . . überhaupt anerkannte, ... sie ist jedoch keineswegs eine unbe-
grenzte Macht.“ Endlich
Randa, Das Eigenthumsrecht I § 1: Das Eigentbum ist die durch das
objective Recht gewährte und durch dasselbe begrenzte rechtliche Möglich-
keit relativ vollster, unmittelbarer Herrschaft über eine körperliche Sache.
') vergl hiezu Jhering, Geist des röm. Rechtes IIS. 141 Anm. 165
(2. Auflage).
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174
poaition entziehen ; namentlich das Immobiliargüterrecht musste
Beschränkungen dieser Art reichlich erzeugen ') Dabei werden
in der Regel nur diejenigen Rechte genannt , die insoferne an
der Grenze zwischen öffentlichen und privatreehtlichen Befugnissen
stehen, als sie ihrer Natur nach beiden Rcchtsgebieten angehören
könnten, und nur in concreto wegen gewisser Interessen derGesammt-
heit der privaten Verfügungsgewalt des Einzelnen entzogen sind *).
Von denjenigen Befugnissen, die unzweifelhaft öffentlichrechtlichen
Characters sind, wird dabei gewöhnlich nicht erst gesprochen,
denn es bedarf bei der uns geläufigen Scheidung der beiden Ge-
biete wohl keiner besonderen Betonung, dass das Eigenthum als
ein Institut des Privatrechtes keine Befugnisse öffentlicher Natur
in sich schliesst *).
Wenn wir für unsere Zwecke unser Augenmerk gerade auf
diese im Eigenthume nicht enthaltenen öffentlichrechtlichen Be-
fugnisse legen, so drängt sich zunächst die Frage auf, ob unter
ihnen sich auch solche finden, die man als dingliche Rechte im
technischen Sinne bezeichnen darf.
Denkt man hiebei nur an die staatlichen Rechte, wie Gerichts-
oder Finanzhoheit, und üherhaupt nur an diejenigen Staatshoheits-
rechte, die sich mehr als eine Herrschaft über die auf dem staat-
lichen Territorium wohnenden Menschen, und nicht als eine
Herrschaft über das letztere selbst charactrisieren, so wird man
diese Frage entschieden zu verneinen geneigt sein. Und auch
das viel umstrittene Rechtsverhältnis des Staates zu seinem Ge-
biete wird in seiner Allgemeinheit vielleicht noch keine Hand-
habe für die Beantwortung der Frage im entgegengesetzten
Sinne geben, wenn auch einzelne der darüber verfochtenen An-
sichten dem nicht mehr so unbedingt entgegenstehen a).
Aber unter allen Umständen wird zuzugeben sein, dass dem
Staate als solchem über den seinem Eigenthume unterworfenen
Grund und Boden eine Reihe rechtlicher Befugnisse zustehen,
die sich ihrem Wesen nach von privatrechtlichen Befugnissen
') J bering, Jahrb. f. Dogmatik VI S. 83 ff.
*) Die Definition Hartmann’s (vcrgl. S. 173 Anm.) hebt auch dieses
Moment besonders hervor.
*) vergl. Labaud. Das Staatsrecht des deutschen Reiches I § 20 S. 181
„Die Staatsgewalt ist ein (iewaltverhältuis gegenüber den Unterthanen, ein
staatsrechtliches Sachenrecht gegenüber dem Territorium1-, s. auch die zu-
gebötige Anm. 3.
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in nichts unterscheiden, gleichwohl aber dem Einzelnen verwehrt
sind. Man denke nur z. B. au den Bau von Festungen und
Burgen, Wasserwerken, Strassen und Eisenbahnen u. a. m., was
alles, rein sachlich genommen, sich von Häuserbau und ähnlichen
privaten Anlagen doch nur dadurch unterscheidet, dass es mit
Rücksicht auf die Gesammtheit der Machtsphäre des Einzelnen
entzogen und der des Staates überwiesen ist. Ja es lassen sich
auch Fälle denken, in welchen die Gebietsabtretung oder die
Gewährung eines Nutzungsrechtes an einen fremden Staat, mögen
damit noch so viele öffentliche Rechte concnrrieren, als die Be-
gründung eines dinglichen Rechtes aufgefasst werden können, zu
welcher aus öffentlichen Rücksichten wohl der Staat, nicht aber
der Einzelne befugt ist’).
Es mag hier unerörtert bleiben, in wie ferne für das Mittel-
alter auch Staatshoheitsrechte, die als Ausfluss des Rechtes an
dem Gebiete erschienen, unter einem ähnlichen Gesichtspunkte
gezogen werden können , und nur flüchtig sei hiezu bemerkt,
dass auch die Scheidung von Rechten über Personen und über
Sachen, welche heutzutage alle die bezüglichen Fragen sicher
entscheidet , nicht unbedingt auf mittelalterliche Verhältnisse
übertragen werden darf, wo die Persönlichkeit im juristischen
Sinne weiten Klassen der Bevölkerung in grösserem oder geringerem
Umfange fehlte, und gewisse Schichten derselben geradezu als
Pertinenz des Grund und Bodens betrachtet und rechtlich be-
handelt wurden *).
Unabhängig von der Entscheidung dieser Frage ist aber
immer daran fcstzuhalten, dass das Privateigenthum trotz der in
ihm begrifflich hervorgehobenen principiellen Omnipotenz wenigstens
in Beziehung auf den Grund und Boden doch nicht ein wirklich
unbegrenztes und unendliches Recht ist8); vielmehr kommen
wir zu dem speciell für unsere Zwecke wichtigen Ergebnisse,
’) z. B. die Einräumung- des Rechtes der Benutzung einer Baulichkeit
für militärische Zwecke an einen Nachbarstaat.
*) vergl. Heus ler Instit. I § 68.
*) vergl. hiezu J he ring, Geist des röm. Rechtes II S. 111 Anm. 165
(2. Aufl.); Zweck im Recht I S. 518 -532; Hartmann, a. a. 0. S. 130 f. ;
Rauda, Eigeuthumsrecht g 1. „Das Eigenthum ist so wenig als irgend ein
Privatrecht einejederRücksichtentbundene, absolute, schrankenlose Herrschalt.
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dass auch noch jenseits der im Eigenthume gelegenen (privat-
rechtlichen) Allgewalt an dem beherrschten Gute noch andere
dingliche Rechte bestehen können und thatsächlich bestehen, die
man beute vielleicht kurzweg als öffentliche bezeichnen darf.
So findet man, wenn man die Gesaramthcit der rechtlichen
Beziehungen , welche an Grund und Boden bestehen , ins Auge
fasst und nicht einseitig nur die daran bestehendenPrivatrechte
berücksichtigt, zwei einander ergänzende und begrenzende Rechts-
kreise, den Kreis des öffentlichen und privaten Rechtes, unter
deren Bann das Gut einer wirklich allseitigen rechtlichen
Herrschaft unterworfen ist, die nirgends eine Lücke lässt.
In einem Rechtssysteme, in welchem das Recht des Indi-
viduums und seine privatrechtliche Macht in den Vordergrund
gestellt ist, und wo dem entsprechend das private Recht an dem
Grund und Boden mit möglichst weitem Umfange ausgestattet
ist, wie vor allen anderen im römischen Rechte, ist die Ver-
muthung der Allseitigkeit an den privaten Rechtskreis ge-
knüpft, und in der Sphäre des öffentlichen Rechtes sind nur
diejenigen Befugnisse gelegen , die nach dessen allgemeinen
Principien oder nach besonderen gesetzlichen Bestimmungen ihr
zugewiesen sind. Im Zweifel steht dann eine einzelne Befugnis
dem Träger des obersten Privatrechtes zu, und nur, was durch
besonderen Rechtsgrund für öffentlich erklärt ist, fehlt diesem
an seiner rechtlichen Allgewalt; mithin tragen alle öffentlich-
rechtlichen Befugnisse, da sie gleichsam von der Macht des Eigen-
thümers ausgeschieden sind, den Character einer Beschränkung
des privaten Eigenthums durch positive, gesetzliche Bestimmung.
Dem gegenüber aber ist zu erinnern, dass an der Universalität
der rechtlichen Beherrschung eines Gutes nichts geändert wird,
wenn in einer nicht so individualistisch ausgestalteten Rechts-
ordnung das Verhältnis in der umgekehrten Weise geordnet ist,
d. h. wenn die Vermuthuug der Allgemeinheit nicht mit dem
privaten, sondern mit dem öffentlichen Rechtskreise verbunden
wird. Dann stehen gedankenmässig alle Einzelrechte bei dem
Träger der öffentlichrechtlichen Gewalt, und ihm fehlen nur
diejenigen, die durch besondere Verfügung an andere, z. B. an
Privatberechtigte übertragen sind. Mögen dann alle diese öffent-
lichen und privaten Rechte im einzelnen Falle in der Hand eines
Einzigen liegen, oder unter eine Mehrheit von Berechtigten ver-
theilt seien: immer erfassen sie das Gut mit einer Totalität, die
der des römischen Eigentumes in nichts nachsteht, ja über
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dieses weit hinausreicht ’), weil sie eben neben allen privaten
auch alle öffentlichrechllichen Befugnisse in sich schliesst.
Liegt dann in irgend einer Weise eine Theilung der Ge-
walten vor, so müssen aber selbst dem etwaigen Besitzer der
obersten privatrechtlichen Macht nicht alle privatrechtlichen
Befugnisse zustehen , vielmehr wird in sehr vielen Fällen *) sein
Recht ein wesentlich beschränktes sein , dem das Bestreben,
über diese Schranken hinaus zu dringen , völlig mangelt —
ein Recht, das gewiss nicht Eigenthum im modernen Sinne
des Wortes ist *). Aber auch der Träger der öffentlichen Be-
fugnisse kann nicht als Eigenthümer in unserem Sinne gelten,
weil nach den unserer Rechtssprache geläufigen Begriffen nur
das mit der Universalitätstendenz ausgestattete private ding-
liche Recht als Eigenthum bezeichnet wird. Und wenn auch
die Möglichkeit vorhanden ist, dass in der weiteren, private wie
öffentliche Befugnisse umfassenden Rechtseinheit, die jenem zu-
kommt, die Elemente des Privateigenthumes sämmtlich zur Be-
thätigung gelangen können, so müssen sie doch nicht nothwendig
als selbstständige, vielleicht untergeordnete Rechtseinheit in dem
weiteren Begriffe enthalten sein ; sie können vielmohr unter Um-
ständen ebenso gut unverbunden und nur als Elemente darin ge-
legen sein, und dies muss immer dann der Fall sein, wenn in
der positiven Entwickelung des Rechtes die Voraussetzungen
und Bedingungen nicht erfüllt wurden , welche die Zusammen-
fassung gerade dieser Gruppe von Befugnissen zu einer im positiven
Rechte anerkannten Rechtseinheit nothwendig gemacht oder nahe
gelegt hätten.
Berücksichtigt man zu all dem, dass die hier aus unserem
gegenwärtigen Rechte schlechthin übernommene und nicht näher
begründete oder geprüfte Scheidung von privaten und öffent-
lichen Rechten gewiss keine absolut und unbedingt gütige ist.
’) vergl. Gierke, Genossenschaftsrecht II 141.
*) Auch bei dieser rechtlichen Grundlage ist natürlich die Möglichkeit
nicht ausgeschlossen, dass aus dem weiteren Kreise dieser herrschaftlichen
Gewalt heraus an einen Einzelnen der Inbegriff aller privatrechtlichen Be-
fugnisse positiv übertragen und dadurch Eigenthum begründet wurde.
*) Darin, dass auch dieses Kecht die Tendenz hat, besonderen Be-
schränkungen gegenüber sich auf den ursprünglichen Umfang zu erweitern,
kann man keinen Grand für die Qualification als Eigenthnm erblicken, denn
Elasticität in diesem Sinne besitzt jedes dingliche, ja überhaupt jedes Kecht;
vergl. auch Hartmann a. a. O. S. 84 und 130.
v. Schwind, Krblpihen. 12
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dass sie vielmehr nach den Verhältnissen und Anschauungen
der verschiedenen Zeiten vielfach geschwankt hat, und die Ab-
grenzung der verschiedenen Rechtskreise auch unter anderen
Gesichtspunkten erfolgte und erfolgen kann '), so ist theoretisch
die Möglichkeit gewiss nicht zu bestreiten, dass Grund und
Boden durch eine Mehrheit von Berechtigten in der Totalität
seiner Beziehungen beherrscht werden kann, ohne dass irgend
einem derselben Eigenthum in unserem Sinne zustehe.
Wo aber sollte zu einer solchen, die publicistischen Elemente
in den Vordergrund stellenden Auffassung, wie sie bei diesen
theoretischen Erwägungen vorausgesetzt wurde, mehr Anlass ge-
wesen sein, als in den deutschen Colonisationsgebieten zur Zeit
ihrer Besiedelung mit holländischen und deutschen Bauern.
Passen wir zunächst die Verhältnisse ins Auge, wie sie in
den Colonisationsgebieten vor ihrer holländisch -deutschen Be-
siedelung bestanden haben. Zum Theile waren es wüste und un-
cultiviert daliegende, unbewohnbare Landstriche, an denen niemand
ein Recht in Anspruch nahm, und über die der Bischof oder
Landesherr (Markgraf, Herzog etc.) wenigstens factisch unbe-
stritten in jeder Weise verfugen konnte, bezüglich deren er
sich auch kraft seiner staatlichen oder kirchlichen Stellung
unbedingt für berechtigt hielt, völlig frei und nach Gutdünken
zu disponieren. Zum anderen Theile waren es Districte , die
von einer wenig zahlreichen und nahezu für rechtlos geltenden
slavischen Bevölkerung bewohnt wurden. Auch hier zweifelte
man nicht an der rechtlichen Allgewalt des Gebietsherrn, der
vielfach in der Vertreibung der Slaven ein durch die politischen
Verhältnisse gebotenes, auch gottgefälliges Werk sah, und dem
es dann naturgemäss zukam, bei der neuen Ordnung der Dinge
alles nach seinem Gutdünken einzurichten und zu regeln, wie
es seine Machtstellung und die concreten Verhältnisse des einzelnen
Palles erforderten oder wünschenswerth machten.
So lagen in den Händen des Gebietsherrn alle denkbaren
territorialen Rechte vereinigt; er konnte in der Regel ebenso
gut privatrechtlich und staatsrechtlich über den Grund und
Boden verfügen, wie ihm die Gerichtsbarkeit und alle Staats-
hoheit über die Bevölkerung und das Gebiet zustand.
') vergl. insbesondere Heusler, Institntionen 1, 1. Buch 2. Capital.
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Auf dieser rechtlichen und factischen Grundlage sind die
Dorfcolonien ins Leben gerufen worden. Dabei erfahren wir,
wie oben an der Hand der Colonisationsprivilegien gezeigt wurde,
dass der Grundherr bei dem Besiedelungsacte aus der Fülle
seiner Machtbefugnisse heraus dem Schultheissen ein bestimmtes
festgesetztes Muss von persönlichen (obrigkeitlichen) und ding-
lichen Befugnissen , und mittelbar oder unmittelbar den Bauern
das Nutzungsrecht und die Verfügungsgewalt an ihren Hufen
zuwies, und allen dafür bestimmte Verpflichtungen auferlegte. Und
wie nun in dem obersten herrschaftlichen Rechte des Grund-
herrn private und öffentliche Befugnisse sich ungesondert neben
einander fanden und sich vielfach durchkreuzten, so konnten
auch in den davon ausgeschiedenen und abgeleiteten Rechten,
(namentlich in dem Rechte des Schulzen,) verschiedenartige Be-
fugnisse in enger Verbindung beisammen sein. Auch fehlte es
an einem Anlasse besonders hervorzuheben, dass der vielleicht
sehr geringe Rest an persönlichen und sachlichen Befugnissen,
der bei dieser Vertheilung der Gewalten weder an den Dorf-
schultheiss noch an die Bauern übertragen wurde, bei dem
Grundherrn verblieb , und dass dessen herrschaftliches Recht in
allen eventuellen Lücken zu Tage treten und sich Geltung ver-
schaffen konnte, die zwischen oder neben den Rechten der beiden
anderen Berechtigten freiblieben oder entstanden. Brachte doch
schon die prädominierende Stellung der Grundherrn allein es mit
sich, dass alle etwa auftauchenden zweifelhaften Fragen zu ihren
Gunsten entschieden werden mussten, und sonach überall ihr
Einfluss nothwendig zur Geltung kam.
Sicher aber fehlt es an jedem Grunde für die Annahme,
dass irgend einem der auf diese Weise mit bestimmten Grenzen
ins Leben gerufeneu Rechte die Tendenz nach Erweiterung über
diese Grenzen hinaus innegewohnt hätte1); vielmehr hatten all
diese Rechte genau den Umfang, wie er ihnen bei ihrer Begrün-
dung zugemessen wurde, und nur innerhalb desselben kam,
wie überhaupt jedem, so auch diesen Rechten die Fähigkeit
zu, mit dem Fallen irgend welcher das Recht vorübergehend
einengender, besonderer Beschränkungen wieder bis zu dem ur-
sprünglichen Ausmasse sich zu erweitern. Eine Veränderung in
') Damit soll nicht gesagt sein , dass nicht im Leben thatsäcblich das
Bestreben Einzelner dahin gieng, (eventuell auch auf Kosten anderer) das
eigene Recht zu erweitern.
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dieser so festgesetzten Vertheilung der privaten und öffentlichen
Befugnisse trat nur dann ein , wenn etwa durch den völligen
Untergang des Rechtes des einen oder des anderen Theiles das
Recht des bezüglichen Autors, in diesem Punkte von seiner Be-
schränkung befreit , wieder in weiterem Umfange zur Be-
thätigung kam. So mochte bei Erledigung einer Bauernstelle,
wenn nichts anderes verfügt war, der Schultheiss oder auch un-
mittelbar der Grundherr zu rechtlichen Verfügungen über die-
selben in dieser oder jener Art berufen sein ’).
Unter allen Umständen aber dürfte die Behauptung gerecht-
fertigt erscheinen, dass bei dieser Ordnung der Dinge und Ver-
theilung der rechtlichen Gewalten die Voraussetzungen vollends
fehlten, welche die Zusammenfassung gerade aller privatrecht-
lichen Befugnisse zu einer rechtlichen Einheit, also die Entstehung
eines Rechtsbegriffes nach Art unseres Eigcnthumsbegriffes nahe-
gelegt oder auch nur begreiHich gemacht hätten.
Die Frage endlich, ob man das Recht der Bauern an ihren
Hufen, als dasjenige unter den actuellen Rechten, welches vor-
wiegend privaten Inhalt hat und so anderen Grundbesitzrechten
am nächsten verwandt ist, mit dem Namen eines dominium utile
oder germanicum, eines „deutschrechtlichen Eigenthumes“ be-
zeichnen, oder ob man bei dem älteren, freilich auch wieder viel-
deutigen Ausdrucke Erbzinsrechte bleiben solle, und ebenso die
Frage, ob man das oberste Recht über die Güter, das Recht des
Grundherrn ein dominium directum oder ein Obereigenthum
taufen solle, ist zum grössten Theile Sache des individuellen Ge-
schmackes. Berücksichtigt man für die erste Frage, dass die
mittelalterlichen Grundbesitzverhältuisse in Deutschland überall
von den Rechten der Gemeinde oder der Gcsammtheit mit be-
stimmt wurden, und dass in Folge dessen selbst dasjenige Recht
an Grund und Boden, das man unbedenklich als Eigenthum be-
zeichnen kann, auf deutschem Boden in der Regel nicht zu jener
extremen Ausgestaltung gelangte, die für das römische Eigen-
thum characteristisch ist, vielmehr mit verschiedenem Inhalte
und mit mannigfaltigen Beschränkungen bestehen konnte, so
') Vergl. in dieser Beziehung die Ausführungen Wohlbrück’s
a. a. O. S. 370 ff. über das rechtliche Schicksal derjenigen Erb- und Lchen-
schultiseien, die von dem Landesherrn als Lehen an Vasallen übergeben
worden waren, und die dann sobald die zuuächst berechtigten Erbschulzen
ausstarben, häufig von den darüber gestellten Leheusträgern eingezogen
w urden.
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möchte man vielleicht geneigt sein , auch hier den Träger des um-
fassendsten Privatrechtes als einen „Eigenthümer im deutschrecht-
lichen Sinne" zu bezeichnen. Ob diese Einschränkungen iu concreto
noch etwas weiter reichten als sonst, das könnte ja nicht mehr von so
wesentlichem Belange sein. Demgegenüber ist aber zu bedenken,
dass trotz der durch die allgemeinen Interessen oft bedingten
Beschränkungen das, was der damaligen Zeit als Eigen erschien,
doch weit selbstständiger und unabhängiger war als das Recht
unserer bäuerlichen Colonistcn, und wenn man schon damals
sich veranlasst sali, Eigen und Zinsgut einander gegenüber-
zuatellen, so fehlt doch für die heutige Zeit um so mehr jeder
Grund, in der sprachlichen Bezeichnung die rechtlichen Ver-
schiedenheiten zu verwischen und eine Nomenclatur zu wählen,
die zur Klärung der juristischen Begriffe gewiss nicht beitragen
kann. Ohne Gefahr mag man dagegen das Recht der Grundherrn
als ein Obereigenthum bezeichnen; denn dass dieser Ausdruck
die verschiedenartigsten, herrschaftlichen und privatrechtlichen
Verhältnisse umfasst, ist zu sehr bekannt, als dass man aus dem
gewählten Worte eine bestimmte, irreführende Deutung abzu-
leiten geneigt sein könnte. Immer aber muss es für die juristische
Kritik feststehen, dass, wie oben ausgeführt wurde, weder das
Recht des Grundherrn noch das der Bauern in unserem Sinne
Eigenthum ist, weil beiden die Merkmale fehlen, welche nach
dem heute allgemeinen juristischen Sprachgebrauchc dem Eigcn-
thumsbegriffe wesentlich sind.
Damit sind wir bei demselben Ergebnisse wieder augelangt,
zu dem wir oben aus der unmittelbaren Betrachtung der Ver-
hältnisse gekommen waren. Auch die Forderungen der juris-
tischen Construction sind mit den dort gewonnenen Resultaten
in Einklang und verlangen nicht eine gewaltsame Umdeutung
und Umformung der im Leben erzeugten rechtlichen Gebilde.
Zugleich aber dürfte die Bezeichnung des bäuerlichen Rechtes
als einer Form der Erbleihen aus sachlichen Gründen, wie aus
dem Sprachgebrauch der damaligen Zeit gerechtfertigt erscheinen.
Zum Schlüsse sei noch bemerkt, dass die eben betonte enge Ver-
bindung von privaten und öffentlichen Befugnissen zu einem einheit-
lichen Rechtsganzen auch in gewissem Sinne zur Erklärung mancher
Eigentümlichkeiten des späteren rechtlichen Entwickelungsganges
beizutragen geeignet ist. Enthielt nämlich der eine Herrschafts begriff
politische und private Rechtsverhältnisse ungesondert beisammen, so
ist es auch begreiflich, dass im ferneren Verlaufe die Kräftigung oder
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Schwächung des einen oder anderen Berechtigten in politischer
Beziehung leicht auch eine Vermehrung oder Verminderung seiner
privaten Befugnisse zur Folge haben konnte — leichter
zum mindesten, als wenn die beiden Gebiete des öffentlichen und
privaten Rechtes wie in unseren Zeiten als toto genere verschieden
strenge aus einander gehalten gewesen wären. Die Zukunft auf
politischem Gebiete gehörte damals von allen drei betheiligten
Parteien gewiss am wenigsten dem Bauernstände. Die Landes-
herrn und vielleicht noch mehr die Herrn der einzelnen Dörfer,
die namentlich dann mächtigen Einfluss gewannen, wenn die
Schulthcissenrechte und die Leitung (Herrschaft) über die Dörfer
auf Rittergeschlechter übergieng, die durch bedeutenden Grund-
besitz besonders mächtig waren, gewannen in der Folgezeit ein
immer grösseres Mass von Ansehen, Einfluss und herrschaftlichem
Rechte, und dem entsprach auf der anderen Seite ein immer
beträchtlicheres Zurücktreten der persönlichen und freiheitlichen,
aber auch der privatrechtlichen Maehtsphäre der Bauernschaft ').
Der ganze Werdeprocess findet seinen Abschluss in der Aus-
bildung einer kräftigen, mächtig entfalteten Guts- und Grund-
herrschaft mit patrimonialer Gerichtsbarkeit und so weit reichenden
Hoheits- und Herrschaftsrechten, dass man von dem ursprüng-
lich freien Bauernrechte nicht die Spur mehr ausfindig machen
kann ’).
Überblickt man die ganze Entwickelung, die von der vollsten
Freiheit einer auf Grund frei vereinbarter Verträge geschaffenen
Rechtsordnung ihren Ausgang nahm, um mit dem geraden Wider-
spiele von all dem zu schliesscn, so wird mau ein gewisses Be-
fremden nicht unterdrücken können. Gar mannigfach und ge-
') Dies zeigt sich deutlich namentlich zur Zeit der Reception des
römischen Rechtes, welche bei dem Bemühen, die bäuerlichen Rechtsver-
hältnisse in römische Formen zu bringen, vielfach das bäuerliche Recht
schmälerte und Vermuthungen zu Ungunsteu der Bauern schuf.
*) vergl. dazu inBb. L, Korn, Geschichte der bäuerlichen Rechtsver-
hältnisse in der Mark Brandenburg, Zeitschrift für Rcchtsgeschichte 11. Bd.
(1873) insb. S. 10 ff.; Boruhak, Entstehung des Rittergutsbesitzes in den
Ländern östlich der Elbe, in den Forschungen zur Deutschen Geschichte,
20. Bd. (1886) S. 12ö f. ; lleitzen; der Boden des preussischen Staates 1
S. 366 ff., Cod. dipl. Sil.1V Einl. S. lili ff. ; Kitzseh. der holsteinische Adel
im XII. Jahrh. in der allg. Monatsschrift für Wissenschaft und Litteratur,
Braunschweig 1851 S. 366 ff.; Christian Meyer, zur Gesoh. d. d. Bauern-
standes, Freuss. Jahrbücher 42. Bd. u. a.
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waltig mussten die Zeitverhältnisse und Zeitströmungen sein, die es
ermöglichten, dass der einstige Hort der Freiheit, das deutsche
Colonistenrecht, durch einen allmählichen Entwickelungsgang alle
freiheitlichen Momente von sich abstreifte und in einer auf ge-
minderter Freiheit und geminderter Freizügigkeit aufgebauten
Ordnung des bäuerlichen Hechtes seinen Abschluss fand, wie es
aus den strengsten hofrechtlichen Abhängigkeitsformen nicht
strenger hätte erwachsen können.
Und doch, wenn wir genauer Zusehen, lag schon in den
ersten Ansätzen ein schwacher Keim für die spätere Entwicke-
lung. Zwar bildeten die privatrechtlichen Bestimmungen der
Colonistcnverträge einen nicht unwesentlichen Theil ihres Inhaltes.
Aber das Schwergewicht des ganzen Unternehmens lag schon
in dem ersten Vertrage des Erzbischofes Friedrich und noch aus-
gesprochener bei den unmittelbar folgenden Coloniengründungen
auf den herrschaftlichen Verhältnissen, die ihre Ordnung und
Regelung erheischten und auch bald in der umfassendsten Weise
gefunden haben. Und so erwiesen auch sie und nicht die Privat-
rechtsverhältnisse sich fernerhin als lebenskräftig und zu einer
weiteren, inneren wie äusseren Machtentfaltung geeignet, und die
Entwickelung, zu der sie gelangten, brachte mit der Ausbildung
des die Dorfverfassung bestimmenden herrschaftlichen Rechtes
auch eine Erweiterung und Erstarkung der herrschaftlichen Rechts-
Sphäre mit sich — natürlich nur auf Kosten der bäuerlichen
Freiheit.
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E. Gruhn's Bucbdruckerei, Warmhruon.
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VNJYr‘- OF - -ITC] f,
JAN 25 1939
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