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Full text of "Untersuchungen zur deutschen Staats- und Rechtsgeschichte"

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Untersuchungen 


Deutschen  Staats-  und  Rechtsgeschichte 

herausgegeben 


Dr.  Otto  Gierke, 

Professor  der  Rechte  an  der  Universität  Berlin. 


XXX. 


Der  deutsche  Reichstag  unter  König  Sigmund 

bis  zmn  Ende  der  Reichskriege  gegen  die  Hussiten. 

1410—1431. 

Von 


Heinrich  W endt, 

Dr.  phil. 


Breslau. 

Verlag  von  Wilhelm  Koebner. 
1889. 

Oö 


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Der 


Deutsche  Reichstag 

unter  König  Sigmund 
bis  zum  Ende  der  Reicbskriege  gegen  die  Hnssiten. 

1410-  1431. 


Von 


Heinrich  Wendt, 

Dr.  phil 


Breslau. 

Verlag  von  Wilhelm  Koebner. 
1889. 


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Inhalts -Verzeichnis. 


Seite. 


Einleitung 

...  1— 

6 

Capitel  1:  Berufung 

...  6- 

30 

Berufung  durch  den  König 

6 

Berufung  durch  die  Kurfürsten 

7 

Berufung  durch  Fremde 

10 

Der  Reichstag  beschliesst  einen  neuen 

12 

Ausdehnung  der  Berufung 

13 

Form  der  Ladeschreiben  

15 

Berufungsfristen 

16 

Übermittelung  der  Ladeschreiben 

17 

Erfolg  der  Ladung 

19 

Entschuldigungen 

20 

Unentschuldigtes  Ausbleiben 

20 

Geleite  

21 

Ort  der  Reichstage 

25 

Zeit  der  Reichstage 

30 

Capitel  2:  Zusammensetzung 

. . . 30— 

46 

T«iln«.hmA  3A 

Teilnahme  in  Person  oder  durch  Vertreter  ... 

31 

Vollmachten 

32 

Faktische  Teilnahme  

a)  Der  König  

33 

b)  Die  Kurfürsten 

37 

c)  Die  übrigen  Stände 

40 

d)  Fremde 

43 

e)  Vertreter  der  Curie 

44 

Capitel  3:  Formen  der  Verhandlung 

. . . 46—  49 

Vorsitz 

46 

Eröffnung 

49 

Vorlagen 

49 

Beratungen 

50 

Ausschüsse 

55 

Beschlüsse 

58 

Bindende  Kraft  derselben . , , . , . . , . 

1448.TG 


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Suite 

Capltel  4:  Genenst&nde  der  Verhandlung 59  1011 

Verpflichtung  des  Königs  zur  Befragung  der  Stände  . . 5!) 

Landfrieden . . . . . . . . „ . fü 

Zoll-  und  Mttnzweaen 22 

Pfahlbürger 73 

Rechtspflege 75 

Lehnsweseii 8Ü 

Reichsvikariat  und  Feldhanptmannschaft SO 

Kriegerische  Maasnahmen 86 

Das  Reichskriegssteuergesetz  von  1427  9ö 

Romzüge 106 

Sonstige  auswärtige  Beziehungen 107 

Capltel  5:  Ausfertigung  und  Ausführung  der  Beschlüsse  . . . 109—117 

Ausfertigung  durch  den  König  oder  seine  Vertreter  . . . . 109 

Kreis  der  benachrichtigten  Stände 112 

Inhalt  der  Ausfertigungen 113 

Strafbestimmungen : 113 

Entachuldi  gungen 115 

Ausführung  der  Beschlüsse 115 

Capltel  6:  Die  Stellung  der  einzelnen  Stände  unter  Sifllsmund  . 117—138 

Die  Kurfürsten  1 17 

Die  Fürsten  132. 

Die  Ritterschaft, . . . . . . . . . . . . . . . . 132 

Die  Städte . „ . . „ . . . . . . . . . . . . IM 


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Einleitung. 


( 

Die  Geschichte  des  deutschen  Reichstages  ist  in  neuerer 
Zeit  mehrfach  einer  eingehenden  Untersuchung  unterzogen  wor- 
den. In  drei  monographischen  Darstellungen ')  liegt,  abgesehen 
von  den  allgemeinen  Ausführungen  der  rechts-  und  verfassungs- 
geschichtlichen Werke,  die  Entwicklung  des  deutschen  Reichs- 
tages vom  Aufkommen  der  sächsischen  Kaiser  bis  zum  Tode 
Karls  IV  vor  uns.  Das  Jahr  1378  bot  für  die  letzte  dieser 
drei  Arbeiten  einen  natürlichen  Schlusspunkt,  da  mit  diesem 
Jahre  das  Einsetzen  der  „Deutschen  Reichstagakten“  eine  gänz- 
lich verschiedene  Behandlung  des  Gegenstandes  ermöglicht  und 
erfordert.  Einmal  gilt  es,  dem  Anwachsen  des  Materials  gegen- 
über, die  Betrachtung  auf  kleinere  Perioden  zu  beschränken; 
dann  aber  macht  innerhalb  dieser  die  Reichhaltigkeit  und  gründ- 
liche Sichtung  des  gebotenen  Stoffes  eine  ungleich  sorgfältigere 
Berücksichtigung  der  gleichzeitigen  politischen  Verhältnisse, 
welche  die  Darstellung  früherer  Zeitabschnitte  ablehnen  musste, 
zur  angenehmen  Pflicht. 

Nicht  nur  als  Verfassungsinstitut,  nein  auch  als  Gradmesser 
der  politischen  Bewegungen  und  Bestrebungen,  als  Ausdruck 
des  jeweiligen  Überwiegens  eines  oder  des  andern  der  grossen 
Componenten  des  Reichskörpers  kann  uns  jetzt  der  Reichstag  bei 
eingehender  Betrachtung  erscheinen. 

')  Guba  nI)cr  Reichstag  unter  den  sächsischen  und  fränkischen  Kaisern.“ 
Wacker  „Der  Reichstag  unteT  den  Hohenstauffen“  in  „Historische  Stu- 
dien“ Heft  VI  Leipzig  1883. — Ehrenberg  „Der  deutsche  Reichstag  in  den 
Jahren  1278 — 1378“  in  „Historische  Studien“  Heft  IX.  Leipzig  1888. 

Wen  dt,  Der  deutliche  Reichstag  unter  König  Sigmund.  1 


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2 


Für  nachstehenden  Versuch,  dem  die  Verwertung  eines 
Teils  des  in  den  Reichstagsakten  gebotenen  Materials  als  Ziel 
vorschwebt,  musste  die  Versuchung  naheliegen,  au  die  früheren 
Arbeiten  anschliessend,  den  Regierungsantritt  Wenzels:  1376 
oder  78  als  Ausgangspunkt  zu  wählen.  — Ist  dies  nicht  ge- 
schehen, beschränkt  sich  vielmehr  unsere  mit  Sigmunds  Wahl 
einsetzende  Betrachtung  für  die  Zeiten  Wenzels  und  Ruprechts 
auf  gelegentliche  Hinweise,  so  war  der  Grund  der,  dass  von 
den  oben  angedeuteten  Gesichtspunkten  aus  der  deutsche  Reichs- 
tag unter  Sigmund  die  grösste  Beachtung  verdient,  ja,  das  Ver- 
ständnis der  ganzen  folgenden  reichsgeschichtlichen  Entwicklung, 
besonders  der  grossen  Reformbestrebungen  unter  Friedrich  III 
und  Maximilian  von  einer  Beleuchtung  der  Reichs-  und  nicht 
zum  mindesten  der  Reichstagsverfassung  unter  Sigmund  auszn- 
gehen  hat. 

Zwei  Elemente  sind  es  vor  allem,  welche  dem  Strome  der 
reichsgeschichtlicheu  Entwicklung  — zwar  nicht  erst  die  Rich- 
tung, wohl  aber  die  beschleunigte,  alles  mit  elementarer  Gewalt 
fortreissende  Bewegung  geben : Sigmunds  Weltstellung  und  seine 
Persönlichkeit. 

Die  Abkehr  der  Einzelkräfte  vom  Reichsganzen  war  eiu 
herrschender  Zug  der  Zeit,  uud  es  wäre  Torheit,  diesen  oder 
jenen  Regenten  ausschliesslich  dafür  verantwortlich  machen  zu 
wollen.  Wenn  aber  ein  Fürst  den  Thron  bestieg,  nicht  um  in 
zielbewusster,  andauernder  Thätigkeit  im  Reiche  und  für  das 
Reich  noch  einmal  die  Fülle  der  Machtmittel:  wenn  nicht  zu- 
sammeuzufassen  zum  Heile  des  Ganzen,  so  doch  ihre  Divergenz 
möglichst  zu  hemmen,  die  Fülle  der  Conflikte,  welche  diese 
kräftig  emporstrebenden  territorialen  Einzelexistenzen  hervor- 
rufen  mussten,  nach  Möglichkeit  auszugleichen,  — sondern  um 
seine  fremden  Kronen  mit  dem,  freilich  schon  verblassten  Schim- 
mer des  römischen  Königtums  deutscher  Nation  zu  verklären, 
dann  war  an  ein  Aufhalten,  an  die  Verlangsamung  des  Auf- 
lösungsprocesses  nicht  mehr  zu  denken. 

Nicht,  als  hätte  es  Sigmund  unbedingt  an  Fähigkeit  oder 
gutem  Willen  gefelilt.  So  oft  wir  ihn  in  die  deutschen  Ver- 
hältnisse eingreifen  sehen,  zeigt  er  die  besten  Absichten,  nicht 
selten  sogar  die  klarste  Einsicht  dessen,  was,  wie  wir  jetzt 
rückwärts  schauend  dekretieren  können,  dem  Reiche  am  meisten 


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3 


Not  tliat.  Aber  die  Basis  seiner  Macht  lag  ausserhalb  Deutsch- 
lands. Es  war  eben  des  Reiches  Verhängnis , dass  die  Hilfsquellen 
eines  Reichsfürsten,  der  wirklich  in  deutschen  Interessen  lebte 
und  webte,  zur  Geltendmachung  der  berechtigten  Ansprüche  des 
Königs  und  des  Reiches  nicht  mehr  ausreichten,  dass  ferner, 
und  dies  trifft  wohl  deu  Kern  der  Sache,  gerade  die  Stellung 
eines  solchen  Königs  im  Reiche,  bei  jedem  Ansprüche,  jedem 
Lebenszeichen  der  oberherrlichen  Gewalt  eine  Fülle  verletzter 
oder  nur  bedrohter  Interessen  zum  Bunde  gegen  die  Centralge- 
walt zusammenrief.  Kaum  hat  man  Wenzel,  den  „ Ent  gliederet- 
des  Reiches“  wegen  Versäumung  seiner  königlichen  Pflichten 
entsetzt,  da  bedroht  der  Marbacher  Bund  Ruprecht,  weil  er  des 
Reiches  Stände  „von  ihren  Rechten  dringe,  “ l)  und  so  bildet 
das  Reichsfürstentum  auf  dem  Throne,  die  „durch  guten  Willen 
nur  um  so  trauriger  beleuchtete  Ohnmacht“ *)  König  Ruprechts 
nur  eine  spurlos  vorübergehende  Episode  der  Reichsgeschichte. 

Aber  wenn  man  im  Jahre  1410  wieder  einen  Luxemburger 
wählte  und  zwar  den,  dessen  Machtsphäre  und  Interessenkreis 
noch  mehr  als  die  Wenzels  dem  Reiche  ferulagen,  mussten  sich  da 
nicht  alle  die  unter  diesem  gemachten  Erfahrungen  wiederholen  ? 
Musste  es  nicht  schliesslich  wieder  infolge  der  Teilnahmlosig- 
keit  des  Königs  zur  Selbsthilfe  des  Reichs  kommen? 

Wohl  kam  es  während  der  Regierung  Sigmunds  zur  Selbst  hilfe, 
aber  in  andererWeise.  Wir  hören  wohl  davon,  dass  man  Sigmunds 
Absetzung  plante  und  erwog,  nicht  aber,  dass  man  sie  that- 
sächlich  durchzuführen  suchte.  Einmal  ward  dies  verhindert 
durch  die  stete  Hussitengefahr,  dann  aber  auch  durch  das  Be- 
wusstsein, dass  man  es  hier  doch  mit  einer  bedeutenden,  keines 
nachhaltigen  Wirkens  aber  gewaltiger  Anläufe  und  grosser 
augenblicklicher  Kraftentfaltung  fähigen  Natur  zu  thuen  habe, 
die  zum  änssersten  zu  treiben  nicht  geraten  war.  Andrerseits 
musste,  wenn  der  König,  wie  nur  zu  oft,  den  äusseren  und 
inneren  Nöten  und  Beschwerden  des  Reiches  nicht  anders  als 
mit  papierenen  Entschlüssen  und  Willensäusserungen  beizukom- 
men verstand,  wenn  ihn  die  Pflicht  gegen  sein  ungarisches  Reich, 

*)  Waizsäckcr  in  „Deutsche  Reicht  agsakten'  (künftig  citiert:  RTA). 
Bd.  V S.  712. 

•)  Caro  „Das  Bündnis  von  l'anterbury“  S.  53. 


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4 


seine  italienische,  polnische,  nordische,  englische  Politik  mit  den 
Reichsinteressen  nicht  selten  in  Widerspruch  brachte.  — dann 
musste  Deutschland  sich  selber  helfen,  statt  durch  Entsetzung 
des  Königs : durch  oligarchische  Zusammenfassung  der  zum  An- 
teil an  der  Reichsleitung  durch  Recht  oder  Macht  vornehmlich 
berufen  erscheinenden  Potenzen. 

Die  Entstehungszeit  der  eigentlichen  kurfürstlichen  Oli- 
garchie sind  die  letzten  Jahre  Wenzels,  aber  ihre  Ausbildung 
fällt  in  die  Zeiten  Sigmunds,  besonders  in  die  zweite  Periode  seiner 
Regierung,  als  Deutschland  von  zahllosen  inneren  Wirren  zer- 
rissen war,  die  Hussitengefahr  immer  lauter,  immer  betäuben- 
der an  die  Tore  des  Reiches  pochte  und  der  König  — in  Un- 
garn die  Türken  bekämpfte  und  dabei  grossen  Weltherrschafts- 
plänen nachhing. 

Noch  eine  zweite  bedeutungsvolle  Erscheinung  können  wir, 
zwar  auch  nicht  ihrem  Ursprünge,  wohl  aber  ihrer  weiteren 
Ausgestaltung,  ihrem  deutlichen  Hervortreten  nach  in  Sigmunds 
Zeit  verlegen:  Die  Städte,  diese  Träger  der  specifisch  wirt- 
schaftlichen Richtung  im  mittelalterlichen  Leben,  erlangen  eine 
materielle  Macht,  welche  sie  immer  mehr  zu  einem  wichtigen, 
auf  manchen  Gebieten  sogar  ausschlaggebenden  Faktor  des 
Reichslebens  macht.  Die  Städtekriege  lehrten,  sie  fürchten  — 
die  Hussitenkämpfe,  sie  bedürfen. 

Mehr  als  dass  es  einer  der  vornehmsten  Artikel  im  Staats- 
katechismus Sigmunds  war,  mit  den  Städten  zu  liebäugeln,  um 
ihr  „gutes  Zutrauen“  zu  werben , was  ihn  freilich  nicht 
hinderte,  gegebenen  Falles  seine  guten  Freunde  deren  adligen 
Gegnern  preiszugeben,  — mehr  als  alle  reiclisstädtische  Politik 
Sigmunds,  sprunghaft  und  unstät,  wie  sie  war,  führte  die  Not 
der  Hussitenkriege  die  Städte  der  vollen  Reichsstandschaft 
nahe.  Höfler1)  hat  dies  zuerst  richtig  erkannt,  indem  er  zu- 
gleich die  Verdienste  Bertholds  v.  Henneberg  um  die  Stellung 
der  Städte  auf  den  Reichstagen  auf  ihr  gebührendes  Mass  zu- 
rückführte. v.  Bezold*)  belegt  diese  Auffassung  des  weiteren ; 

*)  „Gelehrte  Anzeigen  der  kgl.  bayr.  Akademie  der  Wissenschaften,“  Bd. 
32  S.  555  ff.;  besprochen  von  Kcusscn  „Die  politische  Stellung  der  Reichsstädte 
mit  besonderer  Berücksichtigung  ihrer  Reichsstandschaft  unter  Kg.  Friedrich  III 
1440—57“  Bonn  1885  (Berliner  Diss.). 

’)  „König  Sigmund  und  die  Reichskriege  gegen  die  Husiten.“ 


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5 


neuere  Bearbeiter1)  haben  Höflers  Aufstellungen  bestätigt  und 
erweitert.  Hätten  die  Städte  damals  die  volle  Reichsstandschaft 
angestrebt,  — wir  werden  beweisen  müssen,  dass  und  'warum 
dies  nicht  der  Fall  war  — , so  musste  es  ihnen  glücken,  jetzt, 
wo  man  ihrer  bedurfte,  wo  eine  entschiedene,  aufopfernde  Mit-  _ 
Wirkung  ihrerseits  für  die  Aufgaben  des  Reichsganzen  Aussicht 
auf  Erfolg  bot,  die  Teilnahme  am  Reichsregiment  im  weiten 
und  weitesten  Sinne  des  Wortes  zu  erringen.  — Ausbildung  der 
kurfürstlichen  Oligarchie,  steigende  Bedeutung  der  Städte  für 
das  Reichsleben:  beiden  Erscheinungen  ist  von  einer  Betrach- 
tung der  Reichstage  unter  Sigmund  aus  nachzugehen. 

Erscheint  nach  dem  Gesagten  die  Beschränkung  auf  die 
vorliegende  Periode  zulässig,  so  genügt  es,  noch  kurz  den  Be- 
griff des  Reichstages,  wie  er  im  Nachstehenden  gefasst  werden 
soll,  zu  berühren.  Praktisch  wird  sich  diese  Arbeit,  wie  dem 
Material  nach,  so  auch  dem  Sprachgebrauehe  der  Reichstags- 
akten2) anschliessen.  Theoretisch  ist  von  den  drei  geltenden 
Kriterien 3) : Königliche  Berufung  — Allgemeinheit  der  Betei- 
ligung — Bedeutung  der  verhandelten  Gegenstände  — , welche 
auch  als  Einteilungsprincip  gedient  haben,  auszugehen,  wenn  auch 
diese  Merkmale  für  die  Definition  bald  zu  eng,  bald  zu  weit 
sein  mögen. 

Am  wenigsten  kann  für  unsere  Zeit  das  Kriterium  der 
königlichen  Berufung  ansreichen.  Wir  kennen  Tage,  welchen 
Zahl  und  Rang  ihrer  Besucher,  die  Wichtigkeit  ihrer  Tagesord- 
nung wie  ihrer  wirklichen  Ergebnisse  den  Rang  von  Reichs- 
tagen unzweifelhaft  zuweisen,  ohne  dass  wir  von  einer  könig- 
lichen Berufung  wüssten.4)  Der  umgekehrte  Fall,  dass  ein  Tag 

*)  Keussen  1.  c.  — Gothein  „Der  gemeiner  Pfennig  auf  dem  Reichstage 
von  Worms“  1877  Breslauer  Diss. 

*)  fcstgcstellt  und  begründet  durch  Waizsäcker  RTA  1,  S.  LIII  ff. 

')  vgl.  Ehrenberg  1.  c.,  3. 

4)  So  bei  dem  Reichstage  von  Frankfurt  Nov.  u.  Dcc.  1427,  den  Kerlcr 
selbst,  mit  übrigens  sehr  berechtigter  Inconscquenz,  trotzdem  nicht  der  Kiinig, 
sondern  der  pästlicho  Legat,  Cardinal  Heinrich  ihn  berufen  hat  (RTA  IX, 
59)  als  „Reichstag“  statt  als  „Tag  des  Cardinallegaten“  bezeichnet.  Auf  dem 
Reichstage  selbst  handelt  der  Cardinal  allerdings  mit  Autorisation  des  Königs 
(vgl.  dessen  Schreiben  vom  27.  Sejit.  1427:  RTA  IX  61),  aber  die  Berufung 
des  Reichstages  vom  21.  Sept.  d.  J.  geht  ohne  Beteiligung  des  Königs  nur 
vom  Cardinal  unter  Mitwirkung  der  Stände  aus. 


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6 


trotz  königlicher  Berufung,  ja  trotz  königlicher  Anwesenheit  ent- 
weder gar  nicht  zu  Staude  kommt  oder  in  Folge  zu  schwacher  Be- 
teiligung zu  weiterer  Thätigkeit  als  eigentlicher  „Reichstag“  nicht 
gelangt,  ist  natürlich  ebenso  häufig.  — Nur  wenig  zuverlässiger 
ist  als  Merkmal  die  Allgemeinheit  der  Beteiligung.  Siehtman 
selbst  von  dem  Norden  und  Osten  des  Reiches  ab,  so  ist  auch 
in  den  Landen  um  Rhein  und  Donau:  dem  eigentlichen  Kern  des 
Reiches,  die  Teilnahme  an  den  Angelegenheiten  desselben  viel 
zu  nngleichmässig,  um  eine  sichere  Basis  zu  bilden.  — Ebenso 
bietet  die  Bedeutung  der  auf  den  Tagen  verhandelten  Gegen- 
stände und  ihr  Charakter  als  „Reichsangelegenheiten“  nur  rela- 
tive Sicherheit.  Huldigungen,  Belehnungeu,  Beilegung  von 
Händeln,  besonders  unter  bedeutenden  Ständen,  siud  doch  ge- 
wiss Reichsangelegenheiten,  doch  werden  sie  von  Waizsäcker,1) 
und  zwar  jedenfalls  mit  Recht,  von  der  Aufnahme  in  die 
„Reichstagsakten“  ausgeschlossen. 

Keinesfalls  wird  eines  dieser  Merkmale  für  sich,  höchstens 
eine  gleichmässig  abwägende  Berücksichtigung  ihrer  aller  be- 
rechtigen, den  oder  jenen  Tag  als  Reichstag  in  Anspruch  zu 
nehmen  oder  nicht  zu  berücksichtigen. 


Capitel  I. 

Berufung. 

Die  Berufung  der  Reichsversammlungen  ist  ein  altes  könig- 
liches Recht.*)  Wird  es  auch  während  unserer  Periode  im 
Princip  nicht  angetastet,  so  ist  es  doch  nur  eine  notwendige 
Folge  der  ansserdeutschen  Stellung  Sigismunds  und  seiner  Ab- 
kehr vom  Reiche,  wenn  die  Berufung  mit  oder  ohne  seinen 
Willen  in  andere  Hände  übergeht.  Für  uns  haben  diejenigen 
derartigen  Fälle  die  grösste  Bedeutung,  in  denen  die  königliche 
Genehmigung  nicht  anzunehmen  oder  wenigstens  nicht  nach- 
zuweisen ist. 

')  RTA  I,  S.  LV. 

*)  Wacker  1.  c,  t)  — Ehrenberg  l.  c.  ö. 


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7 


Die  Aktion  gegen  Wenzel  hatte  seinerzeit  nach  einigen 
Vorläufern  mit  der  Berufung  eines  Tages  nach  Frankfurt 
für  Mai  1397  begonnen.  Der  König  sollte  geladen  werden, 
falls  er  aber  ansbliebe,  der  Tag  auch  ohne  ihn  vor  sich  gehen.1) 
Natürlich  hatte  Wenzel  gegen  dieses  Verfahren  sogleich  pro- 
testiert, sich  übrigens  dadurch  aus  der  Schlinge  zn  ziehen  ge- 
sucht. dass  er  einen  Bevollmächtigten  wenigstens  au  die  Stadt 
Frankfurt  sandte.*)  Auf  dem  Tage  zu  Frankfurt  Mai-Juni 
1400  betont  Wenzels  Botschaft  gegenüber  der  kurfürstlichen 
Initiative  durchaus,  freilich  fruchtlos,  seine  königlichen  Rechte. 
Es  erscheint  durchaus  als  eine  Anmassung,  ein  revolutionäres 
Verfahren,  wenn  die  Kurfürsten  auf  eigene  Faust  Reichsver- 
sammlnngen  ansschreiben.  Die  Städteboten  erklären  zwar  auf 
den  eben  erwähnten  Protest  der  Gesandten  Wenzels:  Die 
Fürsten  hätten  von  Alters,  „als  auch  gewonheide  hie  were“ 
die  Städte  zu  sich  beschieden,  und  diese  müssten  Folge 
leisten*)  — aber  diese  absichtliche  Verwechselung  von  gelegent- 
lichen lokalen  und  provinziellen  Zusammenkünften  mit  allge- 
meinen Reichsversammlungen  ist  offenbar. 

Die  erste  Ausnahme  von  der  königlichen  Berufung  unter 
Sigismund  finden  wir,  abgesehen  von  der  Ladung  des  Erz- 
bischofs von  Trier  zum  Aachener  Krönungstage  1414*)  in  den 
vom  Kurfürsten  Friedrich  von  Brandenburg  als  Reichsverweser 
berufenen  Tagen  von  1419.*)  Hier  liegt  indessen  nichts  vor,  als 
einfach  eine  Vertretung  des  Königs  durch  seinen  Reichsvikar. 

Das  erste  Mal,  wo  sich  die  Kurfürsten  als  solche, 
zunächst  allerdings  noch  neben  königlicher  Berufung  an 
die  Stände  wenden,  bezeichnet  der  Erlass  vom  Bopparder 
Tage  2.  März  1421.')  Vermöge  ihrer  kurfürstlichen  Stel- 
lung, nicht  als  Beauftragte  des  Königs,  verstärken  sie 
das  königliche  Gebot  der  Kriegshilfe  gegen  die  Hussiten 

»)  RTA  II  nro  251  (Vgl.  S.  418  Z.  17  ff.). 

')  1.  c.  n,  270. 

*)  1.  c.  UI,  140  (S.  188  Z.  6 — 9). 

4)  Erzbischof  Werner  v.  Trier  an  Strassbtirg  1.  c.  VII,  163.  — Vcrgl. 
dazu  8.  235  (Einleitung  zum  Kriinungstagc  unter  A). 

5)  Zuganimengestellt  1.  c.  Vn  S.  303  ff.  (Einleitung  zum  Constanzer 
Reichstage  April-Mai  1417  unter  H). 

*)  1.  e.  VUI  nro  8 (vgl.  S.  2). 


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8 


und  fragen,  ob  die  Adressaten  gewillt  seien,  den  vom  Könige 
auf  den  13.  April  1421  nach  Nürnberg  berufenen  Reichstag  zu 
besuchen.  Den  also  apostrophierten  Ständen  muss  diese  An- 
frage etwas  seltsam  erschienen  sein.  Basels  Antwort  vom  24. 
März  1421  ‘)  verweist  gegenüber  der  Mahnung  zur  Kriegshilfe 
auf  die  Gesandtschaft,  welche  seitens  der  Stadt  laut  königlicher 
Berufung  in  Nürnberg  sich  einfinden  werde.  Die  Stadt  muss 
aber  gefürchtet  haben,  mit  diesem  Hinweise  anzustossen,  denn 
sie  beeilt  sich,  hinzuzufügen : auch  ohne  königliche  Aufforderung 
würde  sie  dem  Begehren  des  Kurfürsten  gewillfahrt  haben.*) 
Mochten  es  die  Kurfürsten  beabsichtigt  haben  oder  nicht: 
die  vorsichtigen  Städter  fühlten  sofort  den  Gegensatz  zwischen 
ihrer  Aufforderung  und  der  des  Königs  heraus. 

Seine  Räte  vertreten  Sigmund  bei  den  Mahnschreiben  an 
städtische  Gesandte,  welche  aus  Ungeduld  über  das  Ausbleiben  des 
Königs  denNümberger Reichstag  1421  schon  verlassen  hatten,  dann 
aber  zurückkehren  sollten,3)  ferner  bei  Berufung  eines  Fürsten- 
und  Städtetages  nach  Boppard  zum  19.  Juli  1421, *)  wo  der 
Kanzler  des  Königs  Bischof  Georg  von  Passau  nach  vorheriger 
Verständigung  mit  den  kurfürstlichen  Räten  die  Ladungen  aus- 
fertigte. 

Selbständig,  ja  sogar  im  Gegensatz  zu  einer  ausdrücklichen 
Berufung  durch  den  König  erfolgt  die  Ladung  zu  einer  Reichs- 
versammlung vom  Kurfürstentage  zu  Wesel  19.  Juni  1422 r“)  aus. 
Sigmund  hatte  nach  Verabredung  mit  dem  Erzbischof  Dietrich 
von  Köln  im  Frühjahr  1422  einen  Reichstag  in  Nürnberg  ab- 
halten wollen.  Am  8.  März  erliess  der  König  eine  Einladung 
auf  den  31.  Mai  nach  Regensburg. c)  Aber  noch  vor  Ablauf 
dieses  Termins  erfolgte  eine  Verlegung  auf  den  1.  Juli.7) 

‘)  KTA  Vin  nro  13. 

’)  werc  aber  uns  von  sincn  kunklichcn  gnaden  vormals  nit  gcsehriben 
und  hettc  uwcr  gnad  uns  darumh  gcsehriben  und  solichs  an  uns  begert,  so 
woltent  wir  doch  uweren  gnaden  harinnc  gerne  ze  willen  gestanden  »in  . . .“ 

*)  1.  c.  VIII  nro  26  u.  27. 

4)  1.  c.  nro  78,  83  n.  S.  57. 

‘)  RTA  VIII,  111. 

*)  1.  c.  108. 

*)  1.  c.  110.  — Das»  übrigens  in  diesem  neuen  BerufungBschrciben  der 
frühere  Termin  „mit  keinem  Worte  berührt“  »ei,  wie  Kerler  1.  c.  S.  104  Z. 
44  bemerkt,  ist  ein  Irrtum,  den  seine  eigene  Note  3 zu  8.  124  berichtigt. 


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9 


Der  hieraus  entstehenden  Verwirrung  suchten  die  Kurfürsten 
zu  begegnen,  indem  sie  in  dem  erwähnten  Ausschreiben  von 
Wesel  aus  Nürnberg  als  Ort,  den  15.  Juli  als  Termin  des 
Reichstages  den  übrigen  Ständen  verkündigten.  Dem  Könige, 
gaben  sie  an,  hätten  sie  ihren  Tag  ebenfalls  mitgeteilt  und 
rechneten  auf  sein  Erscheinen.1)  Den  Konflikt  zwischen  König 
und  Kurfürsten  und  das  schliessliche  Nachgeben  des  ersteren, 
zu  welchem  diese  doppelte  Ladung  Veranlassung  gaben,  haben 
wir  weiterhin  in  anderem  Zusammenhänge  zu  berühren. 

Fast  noch  offener  ist  die  Unabhängigkeit,  ja  sogar  der 
Gegensatz  zu  den  Intentionen  des  Königs,  in  der  Einladung 
der  rheinischen  Kurfürsten  vom  13.  Mai  1423  zu  einem  Land- 
friedenstage in  Frankfurt.2)  Während,  trotz  der  Misserfolge 
von  1422  der  König  im  folgenden  Jahre  den  ganz  vergeblichen 
Versuch  macht,  die  Kräfte  des  Reiches  wiederum  gegen  die 
Hussiten  in  Bewegung  zu  bringen,  setzt  in  Deutschland  eine 
starke  Landfriedensbewegung  ein.  Die  kurfürstliche  Oligarchie, 
welche  soeben  den  dnrch  den  mainzisch-pfälzisclien  Streit  um 
das  Reichsvikariat  veranlassten  Riss  geschlossen  hatte,  erkannte 
wohl,  wie  sehr  Erfolge  in  Sachen  des  Landfriedens,  in  Befrie- 
digung der  inneren  Bedürfnisse  des  Reiches  ihre  Stellung  be- 
festigen müssten ; man  begreift,  dass  ihnen  in  ihren  Plänen  die 
plötzliche  Kriegslust  des  Königs  höchst  störend  war.  Auf  Be- 
fehl Sigmunds  bringen  daher  die  rheinischen  Kurfürsten  von 
Boppard  aus  am  12.  Mai  1423  den  Ständen  zwar  das  Verlan- 
gen des  Königs,  gegen  die  böhmischen  Ketzer  zu  rüsten,  zur 
Kenntnis,3)  ermahnen  aber  gleichzeitig,  dass  nichts,  folglich 
auch  nicht  die  Vorbereitungen  zum  böhmischen  Feldzuge,  sie 
an  der  Beschickung  des  kurfürstlichen  Tages  hindern  solle.4) 
— Überhaupt  machten  es  sich  die  Kurfürsten  bequem,  die 
Ausführung  ihnen  unliebsamer  Anordnungen  des  Königs  zu  ver- 
eiteln, selbst  wenn  sie  gezwungen  waren,  dieselben  den  Ständen 
zu  übermitteln.  So  fordert  der  König  verschiedene  Städte  auf, 


*)  1.  c.  111  ani'h  120. 

*)  KTA  Vm,  241. 

*)  L c.  240. 

‘)  1.  c.  — vgl.  S.  288  Z.  2«  ff. 


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10 


einen  Reichstag , den  der  Erzbischof  von  Mainz ')  auf  den  30. 
November  nach  Frankfurt  oder  anderswohin  berufen  werde,  zu 
besenden.2)  Die  Berufung  durch  den  Erzbischof  erfolgt  zwar,3) 
aber  ohne  ein  Wort  der  Empfehlung,  ohne  jede  Andeutung  über 
seine  oder  seiner  Mitkurfürsten  Absicht,  den  Reichstag  zu  be- 
suchen.4) Die  natürliche  Folge  war,  dass  der  Tag  nicht  zu 
Stande  kam. 

Noch  einfacher  war  es  für  die  Kurfürsten,  einen  könig- 
lichen Auftrag  zur  Berufung  eines  Reichstags  überhaupt  nicht 
zu  erledigen.  Der  König  kündigt  am  10.  Juni  1425  den  Stän- 
den die  Berufung  eines  Reichstages  nach  Wien  durch  die  Kur- 
fürsten an;5)  die  Geleitsbriefe  sind  ausgestellt,1-')  aber  die  kur- 
fürstliche Ladung  bleibt  aus.  Am  8.  December  sieht  sich  end- 
lich der  König  genötigt,  selbst  einen  Reichstag  nach  Wien  und 
zwar  auf  den  9.  Februar  1426  auszuschreiben.7)  — Der  Reichs- 
tag zu  Mainz  Februar  1427  wird  erst  nach  Verhandlung  des 
königlichen  Gesandten  Graf  Hans  v.  Lupfen  mit  den  Kurfürsten 
zu  Frankfurt  angesetzt. K) 

Wir  sehen,  wie  oft  der  König,  zu  dauernder  Abwesenheit 
von  Deutschland  gezwungen,  von  einer  werkthätigen  Teilnahme 
an  der  Reichsleitnng  abgehalten,  auf  den  mehr  oder  minder 
guten  Willen  seiner  Kurfürsten  bei  Bernfung  von  Reichsver- 
sammlungen angewiesen  bleibt. 

Und  dieses  Interregnum  brachte  nicht  nur  die  hervor- 
ragendsten Glieder  des  Reiches  in  herrschende  Stellung,  es  lud 
auch  Anssenstehende  ein,  in  die  Reichsleitnng  einzngreifen,  die 
Rolle  des  Oberhauptes  zu  spielen.  Der  Sommer  des  Jahres 
1427  sah  die  deutschen  Heere  bei  Mies  und  Tachan  vor  den 
Hnssiten  sich  auflösen : der  Herbst  sieht  einen  Ausländer,  einen 
Cardinal,  deutsche  Reichstage  berufen  und  leiten  und  die  deut- 
schen Fürsten  in  Zucht  nehmen , wie  es  ihr  Herr  und  König 
nie  gewagt  hätte.  Ein  „Seitenstück  zur  Hussitenflucht“  nennt 

')  als  „techant  des  heiligen  ricks.“ 

*)  RTA  VIII  283. 

»)  1.  c.  28«. 

♦)  1.  c.  S.  282. 

»)  1.  c.  363. 

•)  I.  c.  362. 

5)  1.  c.  367. 

•)  1.  e.  IX  1,  3,  4. 


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11 


v.  Bezold  *)  die  Thätigkeit  des  Cardinallegaten  Heinrich,  Bischof 
von  Winchester  auf  dem  Reichstage  zu  Frankfurt  November 
1427  mit  Recht.  Von  seinem  ersten,  nur  schwach  besuchten 
Tage  aus  benift  er  einen  zweiten  Reichstag  nach  Frankfurt.*) 
Seltsam  berührt  es  uns  hierbei , die  Formeln  der  königlichen  Lade- 
schreiben aus  dem  Munde  des  fremden  Kirchenfftrsten  zu  hören.3) 

Am  21.  September  1427  erlässt  der  Cardinal  seine  Ladung, 
und  erst  6 Tage  später  fertigt  der  König  fern  in  Ungarn  das 
Schreiben  aas,  welches  den  Legaten  zur  Thätigkeit  im  Reiche 
aufforderte.4)  Was  bedurfte  es  der  Ermächtigung  des  Königs?! 
— Die  Tage  des  Jahres  1428,  welche  mit  der  Ausführung  der 
Beschlüsse  des  letzterwähnten  Frankfurter  Reichstages  sich  be- 
schäftigen, können  wir,  trotzdem  die  direkte  königliche  Be- 
rufung ihnen  fehlt,  hier  ansscheiden,  da  durch  die  Übertragung 
der  Hauptmannschaft  seitens  des  Königs  an  Friedrich  von 
Brandenburg5)  derselbe  zur  Vorbereitung  aller  den  Ketzerkrieg 
betreffenden  M assregeln  eine  Art  Generalvollmacht  erhalten 
hatte. 

Die  Wiederherstellung  der  Gemeinschaft  zwischen  König 
nnd  Kurfürsten  Ende  1429  macht  sich  jn  dem  auf  dem  Reichs- 
tage zu  Pressburg  geäusserten  Wunsche,  den  König  wieder  ein- 
mal eine  Reichsversammlung  nicht  blos  besuchen,  sondern  auch 
selbst  einberufen  zu  sehen,“)  geltend.  Die  hierauf  bezüglichen 
Erklärungen  des  Erzbischofs  von  Mainz  in  Pressburg  gipfeln 
in  dem  Eingeständnis:  Wenn  sie  (d.  h.  die  Kurfürsten)  früher 
Fürsten  und  Herren  auf  Geheiss  des  Königs  berufen  hätten, 
so  wären  manche  erschienen,  manche  auch  nicht,  und  es  habe 
wohl  auch  geheissen:  man  habe  ja  einen  römischen  König,  dem 
solche  Berufung  zustehe.7)  Besser  konnte  die  Macht  der  realen 

■)  L c.  II,  124. 

»)  HTA  IX,  f>9. 

*)„...  nrgentissima  necessitate  impellente  de  couseusn  principnm 
electorum  impcrii,  prelatorum,  nobilium  ac  civitatnm  uobis  hac  vice  interessen- 
cinm  aliain  dietam  in  Frankfordin  decrevimus  convocandam.“ 

*)  1.  c.  60. 

*)  l c.  108. 

•)  1.  c.  8.  341  ff. 

*)  I.  c.  286  art  4:  „wen  si  vor  von  tosten  und  lierren  nach  seinem 
baissen  gefedert  bieten,  ain  teil  wär  körnen  oder  sein  rät,  der  ander  gar  nicht; 
and  meinten,  sie  hieten  ain  Römisch  kilnig,  der  si  zu  fodern  kiet. 


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12 


Verhältnisse  vor  der  des  Herkommens,  die  usurpierte,  vor  der 
legitimen  ihre  Ohnmacht  nicht  eingestehen. 

Aber  sowie  der  Anstoss,  den  Sigmund  durch  seine  Anwesen- 
heit in  Deutschland  1430  und  31  gegeben,  seine  Wirksamkeit 
verloren  hat,  muss  das  verwaiste  Reich  wieder  anderu  Faktoren 
seine  Leitung  übertragen. 

Wie  milde  man  Sigmund  auch  beurteilen  mag:  unvergessen 
muss  es  ihm  doch  bleiben,  dass  er  1431  unter  dem  Eindrücke  der 
furchtbaren  Katastrophe  von  Taus  Deutschland  verlassen  konnte, 
nicht  etwa,  um  seine  Erblande  vor  den  Türken  zu  beschützen, 
sondern  um  wesentlich  aus  Eitelkeit  und  Ehrsucht  einer  Krone 
nachzujagen.1)  Einen  Reichsverweser  ernannte  er  nicht,  „sein 
Interesse  an  Deutschland  war  erstorben.“  *) 

Da  richteten  sich  nach  der  Abreise  des  Königs  die  Rlicke 
auf  den  Kurfürsten  von  Mainz  als  obersten  geistlichen  Fürsten 
oder  den  Pfalzgrafen  als  Reichsvikar.’)  Einer  von  beiden  soll, 
meinte  man  auf  dem  ergebnislosen  Tage  zn  Frankfurt  Oktober 
1431,  einen  neuen  Reichstag  berufen  und  „troestlich  zu  den 
dingen  tun.“4)  Man  sieht  auch  liier:  Selbsthilfe  des  Reiches 
bei  Vernachlässigung  durch  den  König. 

Eine  Modifikation  des  königlichen  Berufungsrechtes  ist  es 
nur,  wenn  ein  Reichstag  die  Berufung  des  folgenden  beschloss, 
was  ja  auch  früher  schon  üblich  war.”)  In  Sigmunds  Zeit,  zu 
deren  Signatur  ja  die  ergebnislosen  Reichstage  ebenso  gehören, 

')  Diese  angünstige  Beurteilung  der  Motive  für  Sigmunds  zweiten  ita- 
lienischen Zug  findet  sich  bei  v.  Bezold,  ferner  bei  dem  neusten  Bearbeiter 
von  Sigmunds  italienischer  Politik:  Kagelmacher  „Pilippo  Maria  Visconti  und 
König  Sigmund“  S. I ff.  — Andere  Beurteilung  bei  Kluckhohn  „Herzog  Wilhelm  III 
v.  Bayern,  der  Protektor  des  Baseler  Concils  etc.“  in  „Forschungen  zur  deutschen 
Geschichte  II,  533  ff.  Ferner  Aschbach  IIII,  45.  Droysen  „Geschichte  der 
preussischen  Politik  I,  384. 

Kluckhohn  1.  c.  535.  — Franklin  „Reichshofgericht“  I,  218.  — Die 
Einsetzung  Herzog  Wilhelms  v.  Bayern  als  Vertreter  des  Königs  betraf  nur 
das  Concil,  nicht  das  Reich. 

*)  Das  heisst:  Vermöge  des  Kurpfalz  znstehenden  Vikariatsrechts,  nicht 
infolge  ausdrücklicher  königlicher  Bestallung. 

*)  RTA  IX,  478  n.  79.  — Am  28.  September  1431  hatten  Kurmainz, 
Kurpfalz  und  der  Bischof  Johann  von  Wtlrz bürg  ein  Schutz  nnd  Trutzbündnis 
gegen  die  Hnssiten  geschlossen.  Janssen  „Frankfurts  Reichscorrespondcuz“ 
I,  695). 

5)  Ehrenberg  S.  7. 


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13 


wie  später  unter  Friedrich  III,  tritt  dieser  Fall  häufig  genug 
ein.  Oft  ist  die  Berufung  eines  neuen  Reichstages  das  einzige 
Resultat  der  Verhandlungen  des  alten. 

Das  Ausbleiben  der  rheinischen  Kurfürsten  besiegelte  das 
Schicksal  des  Wiener  Reichstages  Februar  1426. *)  Derselbe  be- 
schloss nichts,  als  den  Zusammentritt  eines  Reichstages  zu  Nürn- 
berg: 1.  Mai  1426.*)  Die  schwach  besuchte  Versammlung  von 
Mainz  Februar  1427  vertagte  sich  bis  April  nach  Frankfurt.®) 
Den  Tag  zu  Frankfurt  September  1427  verschiebt  der  Cardinal 
von  England  mit  Zustimmung  der  versammelten  Stände4)  bis 
November.5)  Von  den  Versammlungen  in  Sachen  der  Frankfurter 
Reichskriegsteuer  1428  bedingt  die  eine  die  andere.8)  Der  Reichs- 
tag zu  Pressburg  December  1429  veranlasst  den  Tag  zu  Nürnberg 
März  1430,')  und  auf  dem  völlig  rat-  und  thatlosen  Reichstage 
zu  Frankfurt  wird  der  Zusammentritt  einer  neuen  Versammlung 
wenigstens  angeregt. 

Betrachten  wir  die  Art,  wie  die  Berufung  der  Stände  zum 
Reichstage  erfolgte,  so  haben  wir  zunächst  zu  der  Frage,  wie 
weit  die  Berufung  ausgedehnt  wurde,  Stellung  zu  nehmen. 
Ehrenberg  lässt  für  die  von  ihm  behandelte  Zeit  (1273—1378) 
die  Frage,  ob  alle  Stände  geladen  wurden,  bei  dem  Mangel  an 
direkten  Mitteilungen  offen.8)  Unter  Sigmund  ist  zwar  das 
Material  bedeutend  gewachsen,  aber  ein  absolut  sicheres  Urteil 
lässt  sich  trotzdem  nicht  fällen. 

Wir  besitzen  aus  der  Zeit  von  1412—31  etwa  80  Ladeschrei- 
ben.*) Natürlich  stellen  hier  die  Städte  das  stärkste  Contingent 

')  RTA  vm.  8.  430.  — v.  Bezold  II,  74  t 

*)  1.  c.  VUI,  376. 

*)  L c.  IX,  12  n.  13. 

*)  Vgl.  unsere  8.  11  Note  3. 

•)  RTA  IX,  69. 

°)  1.  c.  76  art  25,  nro  114  u.  130.  — v.  Bezold  II,  131  ff. 

>)  RTA  IX,  290. 

•)  1.  c.  8. 

•)  Ihre  Zahl  unter  Wenzel  und  Ruprecht  ist  noch  sehr  gering;  z.  B. 
besitzen  wir  zu  dem  grossen  Reichstage  von  Eger  1389  nur  ein  Schreiben,  welches 
allerdings  den  grossen  Städtebund  umfasst:  RTA  II,  63.  Unter  Ruprecht 
fehlen  uns  für  die  Jahre  1400  und  1401  die  Ladeschreiben  fast  ganz. 
— Bei  obiger  Zahlenangabe  ist  übrigens  der  Begriff  des  Reichstages  möglichst 
eng  gefasst.  Alle  Tage  provinziellen  Charakters  nnd  ohne,  wenigstens  indirekte 
königliche  Berufung  sind  ausgeschlossen,  ebenso  die  Tage  von  1428. 


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14 


und  von  diesen  wieder  Strassburg,  Frankfurt,  der  Ulmer  Bund, 
die  elsässischen  und  fränkischen  Städte  (Nürnberg);  seltener 
Regensburg,  Erfurt,  Cüln.  Ein  Schreiben  an  Trier1)  ist  als 
Beitrag  zur  Geschichte  der  umstrittenen  Reichsunmittelbarkeit 
dieser  Stadt  von  Interesse.*) 

Schreiben  an  Reichsfürsten  sind  selten,  der  Kurfttrstenstand 
ist  zweimal,  der  Herrenstand  gar  nur  einmal  vertreten.  Natur- 
gemäss betreffen  die  Schreiben,  welche  der  Mainzer  Eberhard  Win- 
decke uns  überliefert,  Mainz,  die  bei  Andreas  von  Regensbnrg  den 
dortigen  Bischof.  Mehr  Aufschluss  als  diese  einzelnen  Schrei- 
ben gewährt  uns  für  die  Frage,  wer  geladen  wurde,  ein  Ver- 
zeichnis der  durch  den  Kämmerer  Kourad  von  Weinsberg  zum 
Nürnberger  Reichstage  am  31.  Mai  1422  auszufertigenden  La- 
deschreiben.3) Aber  vollen  Wert  hätte  es  nur,  wenn  wir  wissen 
könnten,  wie  weit  es  den  Anspruch  auf  Vollständigkeit  machen 
kann.  Wir  vermissen  in  ihm  besonders:  die  Kurfürsten. — von 
Fürsten:  die  Brauusch weiger,  während  selbst  Pommern  und 
Meklenburg  aufgeführt  werden;  von  Städten  fehlt  besonders 
Cöln,4)  dann  Aachen;  auch  niederländische  und  schlesische 
Stände  finden  wir  nicht.  Aber  selbst  wenn  wir  an  der  Voll- 
ständigkeit des  Verzeichnisses  zweifeln,  brauchen  wir  nicht  an- 
zunehmen, dass  in  der  Regel  die  Gesammtheit  der  Reiclisstände, 
auch  nur  in  irgend  weiterem  Sinne,  zu  den  Reichstagen  be- 
rufen wurde.  — 

Der  Kreis  der  Geladenen  war  natürlich  nicht  immer  der  gleiche. 
Wir  dürfen  annehmen,  dass  immer  nur  die  zum  Besuche  der 
Reichsversammlungen  aufgefordert  wurden,  welche  durch  ihre  Stel- 
lung darauf  Anspruch  hatten : also  natürlich  die  Kurfürsten1)  und 


>)  RTA  VIII,  317. 

’)  Vgl.  Arnold  „Verfassungageschichte  der  deutschen  Frcist&dte"  II,  424. 
— Dasselbe  würde  auch  für  die  nachweisbare  Ladung  der  Stadt  Magdeburg 
gelten,  aber,  wie  die  Matrikeln  von  1422  und  31  beweisen,  nahm  es  die  Kanzlei 
Sigmunds  bei  norddeutschen  Städten  mit  der  Rcichsuimuttelbarkeit  nicht  so  genau. 

*)  RTA  Vin,  109. 

*)  dessen  Ladeschreiben  uns  erhalten  ist : vgl.  Quellenangabe  zu  1.  c.  108. 

*)  Wenn  das  Ladeschreiben  zum  Reichstage  von  Breslan  1420  nur  „etliche 
kurfürsten"  als  berufen  erwähnt,  so  bezieht  dies  Kerier  wohl  mit  Recht  auf 
die  noch  nicht,  belehnten  Kurfürsten  Otto  v.  Trier  und  Albrecht  v.  Sachsen 
(RTA  VII  S.  394  Note  1). 


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15 


die  bedeutenderen  geistlichen  und  weltlichen  Fürsten;1)  ferner 
die,  an  deren  Erscheinen  das  Reichsoberhaupt  selbst  ein  In- 
teresse hatte  oder  bei  denen  es  Interesse  für  die  Reichstags- 
verhandlungen voraussetzte.  Darunter  fallen;  die  Städte*)  und 
diejenigen  Grafen  und  Herren,  welche  besondere  Ladungen  er- 
hielten. Den  meisten  der  letzteren  wird  es  wohl  obgelegen  haben, 
auch  ohne  specielle  Aufforderung  die  Reichstage  zu  besuchen. 

In  der  Form  der  Berufungsschreiben  weist  unsere  Zeit 
nichts  besonders  charakteristisches  auf,  es  sei  denn,  dass  man 
den  Wortreichtum  und  die  hochtönenden  Phrasen  dafür  ansähe, 
mit  denen  Sigmund  seine  offlciellen  Erlasse  zu  verbrämen 
liebt.3) 

Die  Motivierung  der  Ladung  ist  fast  durchgehends  allge- 
mein. Der  Unfriede  im  Reiche  und,  seit  1420:  die  böhmische 
Ketzerei  sind  die  stehenden  Gründe.  Gleiclizeitig  mit  der 
Ladung  zum  Nürnberger  Reichstage,  März  1430,  erfolgt  die 
Ankündigung:  der  König  werde  bei  seiner  Ladung  in  deutschen 
Landen  Hofgericht  halten.4)  Der  Berufung  des  Reichstages  zu 
('onstanz,  11.  4.  1417,  fügt  der  König  die  Aufforderung  an  die 
damit  noch  Rückständigen  hinzu,  ihre  Regalien  endlich  aus 
seinen  Händen  zu  empfangen.5) 

Stiafandrohungeu  für  Säumige  weist,  bezeichnender  Weise, 
in  besonderer  Schärfe  das  Berufungsschreiben  des  Cardinais  von 
England  zum  Frankfurter  Novembertage,  1427,  auf.6)  Den 
Städten  schärft  die  Ladung  meist  mit  grösserem  oder  ge- 
ringerem Nachdrucke  die  Forderung  ausreichender  Vollmachten 


■)  Dass  auch  in  früherer  Zeit  nur  die  bedeutenderen  Fürsten  regelmassig 
geladen  wurden  vermutet  Ficker  „Fürstliche  Willebriefe  nnd  Mitbesiegelungen 4 
in  „Mitteilungen  des  Institute  für  Uetreichische  Geschichteforschung“  III,  12. 

*)  Eine  Liste  der  Städte,  an  welche  Nürnberg  sein  Empfehlungsschreiben 
rar  kurfürstlichen  Ladung  nach  Nürnberg  vom  29.  April  1430  sandte,  giebt 
die  Quellenangabe  zu  BTA  IX,  296. 

*)  Mau  vergleiche  damit,  was  Wacker  1.  c.  22  über  Friedrich  II  sagt. 

*)  Dieselbe,  BTA  IX,  291,  erging  vielleicht  nur  an  einzelne  Stände,  denn 
während  das  Ladeschreiben  zum  Reichstage  selbst  (1.  c.  290)  besonders  zahl- 
reich erhalten  ist,  verdanken  wir  den  Erlass  betreffs  des  Hofgerichtes  nur 
Windecke,  cap  169. 

“)  BTA  VII,  211.  — Aschbach  II,  236. 

•)  BTA  IX,  59. 


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16 


für  ihre  Gesandte»  ein.  Und  wenn  diese  ihre  „kleinliche  aber 
meisterhaft  durchgeführte  Zauderpolitik“ ')  auf  den  Reichstagen 
einmal  gar  zu  weit  treiben,  werden  sie  vorwurfsvoll  an  diese 
Forderung  des  Berufungsschreibers  erinnert.  Bei  Einladungen 
an  Fürsten  tritt  an  Stelle  dieses  Zusatzes  die  Mahnung,  mög- 
lichst in  Person  zu  erscheinen,  für  deren  Befolgung  aber  der 
König  selbst,  ewig  durch  andere  Aufgaben  gefesselt,  seinen 
Ständen  ein  möglichst  schlechtes  Beispiel  giebt. 

Die  Berufungsfristen  schwanken  natürlich,  wie  in  früherer 
Zeit.2)  Auffallend  kurz  erscheinen  uns  die  Fristen  gelegentlich 
mit  Rücksicht  darauf,  dass  die  Schreiben  Sigmunds  „hinten 
weit“  in  Ungarn  erlassen  werden.  Wenn  der  König  im  Lande 
und  der  Kreis  der  Teilnehmer  provinciell  beschränkt  ist,  hat 
ja  die  kurze  Frist  natürlich  nichts  auf  sich.  Aber  wenn  der 
König  den  Reichstag  zu  Speier  von  Pontestura  bei  Casale  aus 
am  16.  Juni  1414  auf  den  8.  Juli  ansetzt*)  oder  ans  Pressburg 
einen  Reichstag  nach  Wien1)  am  1.  Oktober  1429  auf  den 
1.  November  ausschreibt,5)  oder  den  Reichstag  von  Straubing 
aus  Kittsee  (bei  Pressburg)  am  20.  Juni  auf  den  6.  Juli  1430,6) 
so  müssen  diese  Fristen  sehr  kurz  erscheinen.7) 

Übrigens  halfen  sich  die  Stände  in  solchen  Fällen  sehr 
einfach:  durch  Verspätung  oder  Ausbleiben ; und  manchem  wird 
die  Kürze  der  Zeit  einen  willkommenen  Vorwand  geboten  haben, 
dem  Besuche  der  Versammlung  sich  zu  entziehen. 

Mehr  noch  als  kurze  Berufungsfristen  trägt  nicht  selten 
die  Schuld  an  mangelhaftem  Erfolge  der  Berufung:  die  unge- 
naue Fixierung  des  Zeitpunktes  für  den  Zusammentritt  des 
Reichstages,  die  sich  kreuzenden  Anordnungen,  manchmal:  des 
Königs  und  der  Kurfürsten,  manchmal  aber  auch  des  Königs 
allein.  Wie  die  Kurfürsten  vor  dem  Reichstage  zu  Nürnberg 
1422  zwei  Terminen  des  Königs  einen  dritten  entgegensetzten, 


■)  Finke  „König  Sigmunds  reicksstädtische  Politik“  S.  36. 

’)  Wacker  13  ff.  — Ehrenberg  10. 

’)  ETA  Vn,  136. 

4)  wirklich  abgehalten  4. — 13.  Itec.  1429  in  Pressburg. 

*)  1.  c.  IX,  275;  — ttbrigens  fasst  der  König  hier  die  Möglichkeit,  dass 
der  Termin  zu  nahe  sei,  selbst  ins  Auge. 

•)  1.  c.  IX,  353. 

5)  Ein  Beispiel  ähnlicher  kurzer  Ladefrist  unter  Wenzel:  1.  c.  I,  126. 


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17 


haben  wir  gesehen.  Zu  dem  Reichstage,  der  1430  zum  März 
nach  Nürnberg  berufen  war,  im  Mai  aber  erst  verhandelte,  er- 
hielten verschiedene  Städte1 * * *)  doppelte  Ladeschreiben,  teils  auf 
den  5.,  teils  auf  den  19.  März  lautend.  — Am  tollsten  ist  das 
Durcheinander  bei  dem  Reichstage  zu  Wien,  Januar  1425, 
dessen  eigentümliche  Vorgeschichte  uns  überhaupt  noch  be- 
schäftigen wird.*)  Die  Bischöfe  von  Würzburg  und  Speier  als 
Bevollmächtigte  des  Königs  einigen  sich  mit  den  Kurfürsten  auf 
den  29.  September  als  Termin  des  Zusammentrittes.’) 

Vor  der  Besprechung  mit  den  Gesandten  der  Kurfürsten, 
welche  über  das  Erscheinen  ihrer  Auftraggeber  eudgiltig  sich 
erklären  sollten,  ladet  der  König  zum  19.  November  nach  Wien.'*) 
In  der  Verhandlung  mit  den  genannten  Gesandten  nennt  er 
„gelegentlich“5 *)  den  11.  November.  Eine  vierte  Zeitangabe 
weisen  seine  nach  der  Audienz  erlassenen  Ladeschreibeu  auf: 
25.  November.®)  Aber  keiner  dieser  Tage  wird  schliesslich  von 
Sigmund  eingehalten.  Der  König,  durch  Verhandlungen  mit 
den  Türken  in  Anspruch  genommen,7)  erschien  erst  zu  Anfang 
des  folgenden  Jahres  in  Wien.8) 

Bezüglich  der  Art  und  Weise,  wie  die  Ladeschreiben  den 
Ständen  übermittelt  wurden,  finden  wir  wenig  neues. 


l)  Wahrscheinlich  auch  andere  Stände;  von  Strassburg  wissen  wir  es 
aus  ETA  IX,  307. 

*)  Vgl.  unsere  S.  26  ff. 

*)  Die*  ist  zu  schliessen  aus  RTA  VIII,  318,  dann  S.  317  Z.  23  ff.  in 
Verbindung  mit  304  und  S.  374  note  1.  Auch  erscheint  dieser  Termin  in  der, 
freilich  Entwurf  gebliebenen  Instruktion  fUr  die  kurfürstlichen  Gesandten  an 
den  KOnig:  1.  c.  303  art3a. 

«)  1.  c.  VIII  321  u.  314. 

*)  ,iu> beraten  * sagt  der  Gesandtschaftsbericht  1.  c.  311  art.  11. 

•)  1.  c.  317,  318,  322. 

*)  Vgl.  Klein-Fessler  „Geschichte  Ungarns“  II,  367  nach  Windecke 
cap  119;  dazu:  Sigmunds  Angaben  in  seinem  Schreiben  an  Grossfürst 
Witold  v.  Litthauen  ans  Buda  vom  25.  Nov.  1424  (RTA  VIII,  332);  in  dem- 
selben nennt  er  diese  Verhandlungen  als  Grund  seines  Fernbleibens  von 
Wien.  — Daraus  folgt  übrigens  auch,  dass  die  ohne  Quellenangabe  gege- 
bene Notiz  Aschbachs  (III,  451),  der  König  sei  den  grösseren  Teil  des  Ok- 
tobers und  Novembers  in  Wien  gewesen,  unrichtig  ist.  Auch  Kerler  (1.  c. 
S.  424  Note  4)  hat  diese  Angabe  übernommen. 

•)  v.  Besold  II,  n8. 

Wendt,  Der  deutsche  Reichstag  uuter  König  Sigmund.  8 


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18 


Das  schon  erwähnte  Ladungsregister  Conrads  von  Weins- 
berg1) teilt  die  Adressaten  in  7 landschaftliche  Gruppen  ein.*) 
Wahrscheinlich  erhielt  je  ein  Bote  eine  dieser  Gruppen  zur 
Bereisung  zugewieseu.  Leidei-  ersehen  wir  aus  dem  Ver- 
zeichnisse nicht,  welche  Reichsstände  besondere  Ladeschreiben 
erhielten , und  welche  mit  anderen  zusammengefasst  waren. 
Als  Regel  kann  es  gelten,  dass  die  königlichen  Berufungen 
sich  an  mehrere  Städte  zusammen  richten.  Frankfurt  wird  mit 
Friedberg,  Gelnhausen.  Wezlar,  einmal  auch  mit  Mainz  zu- 
sammen geladen.  Letzteres  erscheint  mit  Worms  und  Speier 
verbunden.  Die  oberrheinischen  Städte,  Constanz  und  die  See- 
städte, Ulm  und  seine  Einung  erhalten  meist  Collektivschreiben.*) 
Eine  weitere  Erleichterung  erwuchs  der  königlichen  Kanz- 
lei und  Kammer  daraus,  dass  bedeutendere  Städte  die  Ueber- 
mittlung  von  Ladeschreiben  übernahmen.  Nürnberg  zeigte  sich, 
nach  Ausweis  seiner  Rechnungsbücher,  vor  dem  Reichstage  zuWien 
Februar  1426, 4)  Nürnberg  Februar  1426, “)  und  Pressburg  Decem- 
ber  14298)  in  dieser  Weise  gefällig.  Ein  Beschluss  des  Frank- 
furter Kurf Urstentages,  Nov.  1426,  ordnete  an,  dass  die  3 
geistlichen  Kurfürsten  die  Ladung  zum  Mainzer  Reichstage, 
Februar  1427,  ihren  Suffraganbischöfen  einschärfen  sollten. 
Erzbischof  Conrad  von  Mainz  entledigt  sich  auch  dieser  Ver- 
pflichtung durch  ein  Schreiben  vom  10.  December  1426  an  den 
Bischof  Peter  von  Augsburg.’)  Kerlerbezeichnet  diese  Bestimm- 
ung als  neu.8)  Wir  können  zum  Vergleiche  das  Schreiben 
König  Rudolfs  an  einen  Erzbischof9)  heranziehen,  in  dem  er 
diesem  aufgiebt,  seinen  Suffraganen  den  Besuch  eines  ange- 


*)  RTA  VlII,  109. 

*)  Die  Trennung  der  beiden  letzten  Gruppen  ist  auffällig;  dio  eine  um- 
fasst: Lübeck  und  alle  Hansestädte,  die  andere:  Hamburg,  Wismar,  Rostock, 
Erfurt,  Magdeburg. 

*)  Die  indirekte  Anerkennung  der  Stüdtebilnde,  welche  hierin  liegt , ist 
immerhin  beachtenswert. 

‘)  1.  c.  380  art  1. 

*)  I.  c.  410  art  1.  — nro  380  art.  1 bezieht  sich  nicht  auf  den  Tag  zu 
Nürnberg,  wie  Kerler  S.  443  Note  1 angiebt. 

•)  1.  c.  IX,  288  art  2. 

»)  l.  c.  6. 

*)  l.  c.  S.  1. 

’)  Fontes  rerum  Austriacarum  II,  26  p.  240,  citiert  bei  Ehrenberg  12. 


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19 


sagten  Reichstages  einzuschärfen.  Als  Grund  für  diese  Er- 
scheinung vermutet  Kerler,  dass  sich  wohl  früher,  wenn  es 
sich  um  Besuch  eines  Tages  oder  Ausführung  seiner  Beschlüsse 
handelt,  gelegentlich  Bischöfe  hiuter  ihre  Metropolitanen  ver- 
steckt haben  mochten.') 

Gehen  wir  nun  von  der  Berufung  selbst  zur  Betrachtung 
ihres  Erfolges  über,  so  wollen  wir,  was  das  Erscheinen  der 
Geladenen  betrifft,  auf  das  über  die  Zusammensetzung  der 
Reichstage  Beizubringende  *)  verweisen  und  nur  der  Pünktlich- 
keit ihres  Eintreffens  einige  Worte  widmen. 

Pünktlichkeit  der  Erscheinenden  ist  bei  den  Reichstagen 
Sigmunds  so  selten,  dass  Kerler*)  bei  dem  Nürnberger  Reichs- 
tage von  1421  das  rechtzeitige  Eintreffen  grade  der  ersten 
Reichsfürsten  als  rühmliche  Ausnahme  hervorhebt.  Beispiele 
des  Gegenteils  sind  häufiger:  Der  Reichstag  zu  Wien  1426  ist 
für  den  9.  Februar  berufen.  Am  11.  schreiben  die  Gesandten 
Frankfurts  von  Nürnberg  aus  nach  Hause,  sie  hätten  noch 
nichts  versäumt;  sie  wollten  deshalb  zu  Schiffe  von  Regens- 
burg Weiterreisen.4)  Und  noch  Mitte  Februar  waren  manche 
Städte  über  Besuch  des  Reichstages  nicht  schlüssig,  wie  wir 
aus  einem  Schreiben  Speiers  vom  14.  2.5)  entnehmen.  Auf 
der  Reise  nach  Pressburg,  wo  die  Reichs  Versammlung  tagte, 
die  am  1.  11.  1429  zu  Wien  hatte  eröffnet  werden  sollen, 
passirten  die  Kurfürsten  von  Mainz  und  Brandenburg  am  14. 
November  Regensburg.*)  — Freilich  leistete  der  König  selbst  an 
Verspätung  und  Versäumnis  das  meiste.  Deshalb  halten  es  die 
Kurfürsten  für  nötig,  in  der  Instruktion  der  Gesandten,  welche 
mit  dem  Könige  wegen  Berufung  eines  Reichstages')  verhan- 
deln sollen,  ausdrücklich  zu  bemerken,  man  solle  den  König 
auffordern,  die  Kurfürsten  nicht  wieder  auf  sich  warten  zu 
lassen.8) 

*)  BTA  IX  S.  2. 

*)  Vgl.  unsere  S.  30  ff. 

*)  BTA  Vffl  S.  3 f. 

*)  I.  c.  372. 

•)  1.  c.  374. 

•)  1.  c.  IX,  273. 

*)  Nach  Begensburg,  Ende  1424. 

*)  „also  das  unser  herren  nicht  nach  iu  (den  Kiiuig)  dürfen  harren.“  1. 
e.  VIII  303  art  7. 


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20 


Wer  der  Ladung  nicht  Folge  leisten  wollte  und  es  nicht 
vorzog,  ohne  weiteres  auszubleiben,  Hess  sich  entschuldigen, 
brieflich  oder  durch  Standesgenossen.1)  Die  brieflichen  Ent- 
schuldigungen sind  meist  sehr  allgemein  gehalten:  Unsicherheit 
der  Strassen,  Fehden,  Bedrängnisse  aller  Art  müssen  als  Grund 
oder  Vorwand  dienen.  Cöln  entschuldigt  sich  einmal  *)  mit 
Verweigerung  kurpfälzischen  Geleites;  der  Hochmeister  des 
deutschen  Ordens  mit  zu  spät  erhaltener  Ladung,’)  Nürnberg 
1430  mit  Hussiteugefahr.4)  Goslar  beantwortet  die  Ladung 
zu  einem  Tage  in  der  Reichssteuersache  1428  mit  Klagen  über 
seinen  Verfall.5) 

Bei  Entschuldigung  durch  Standesgenossen  wenden  sich 
die  Städte  teils  an  befreundete,  teils  an  die  Stadt,  in  welcher 
der  Reichstag  grade  abgehalten  wird.  So  schreibt  bei  einem 
Tage  zu  Ulm  1420  Frankfurt  an  Ulm ; *)  beim  Frankfurter 
Reichstage  April  1427  entschuldigt  sich  Augsburg  durch  Frank- 
furt  mit  versäumter  Ladung;7)  Hamburg  wendet  sich  im  No- 
vember 1427,  Lübeck  October  1431  an  Frankfurt.8) 

In  den  Entschuldigungen  ausbleibender  Stände  liegt  das 
Zugeständnis  der  Verpflichtung  zum  Erscheinen  und  der  Straf- 
barkeit unbegründeter  oder  unentschuldigter  Versäumnis. 
Positive  Zeugnisse  dafür  gewähren  uns,  ausser  gelegentlichen 
Wendungen  der  königlichen  Ladeschreiben,  charakteristischer 
Weise:  das  Berufungsschreiben  und  eine  Art  städtisches  Pro- 
tokoll des  vom  Cardinallegaten  Heinrich  berufenen  Frankfurter 


')  vgl.  Ehrenberg  19. 

*)  RTA  VIU,  202. 

•)  1.  c.  IX,  134. 

*)  1.  c.  302. 

*)  1.  c.  158 : Sie  hätten  keinen  Herrn  und  Beschützer  ausser  dem  Reiche 
und  dem  Könige  „dem  wfj  leider  to  veme  sin“  — „ok  en  is  mit  uns  nein 
handelinge  der  kopenschat  noch  ran  strateu  de  dartho  gan  unde  wanderinge, 
darvan  sek  stede  behelpen,  sunder  gebuwet  tippe  berchwerk  dat  leider  gans 
rorrallen  unde  rorgan  is.“  — Hit  einem  ähnlichen  Notschrei  entschuldigt 
sich  z.  B.  Friedberg  beim  Städtetage  zu  Frankfurt  1456.  Vgl.  Janssen  II, 
195;  citiert  bei  Keussen  1.  c.  60  nte  7. 

*)  RTA  Vn,  289. 

*)  L c.  IX,  41. 

•)  1.  c.  IX  67  uud  474. 


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21 


Reichstages  im  November  1427.  Das  Berufungsscbreiben,1)  das 
sich,  wie  wir  schon  gesehen,  eng  an  die  königlichen  Erlasse 
dieser  Art  anschlieast,  droht  den  Aasbleibenden  mit  der  Strafe 
für  Begünstigung  der  Ketzerei.*)  Auf  dem  Reichstage  selbst 
gedenkt  der  Cardinal  am  Schlüsse  seiner  Eröffnungsrede  der 
Säumigen;  ihre  Bestrafung  stellt  er  den  Fürsten  anheim.3) 

Daraus  ist  übrigens  nicht  etwa  zu  schliessen,  dass  diese 
eine  regelmässige  Obliegenheit  des  ganzen  Reichstages  gewesen 
sei.  Jedenfalls  vertreten  die  Fürsten  hierin  nur  den  König, 
als  dessen  ausschliessliches  Recht  die  Bestrafung  der  Säumigen 
in  den  früheren  Perioden  durchaus  erscheint.4)  Von  wirklich 
vollzogenen  Bestrafungen  durch  die  Fürsten  hören  wir  nichts. 

„Wenn  die  Stände  dem  Rufe  des  Königs  Folge  leisteten, 
genossen  sie  beim  Kommen,  Weilen,  Gehen  nach  uralter  ger- 
manischer Rechtsanschauung  den  Schutz  des  Königs.  “ 5) 

Mit  dem  Übergänge  so  vieler  Rechte  und  Pflichten  vom 
Reiche  an  die  Territorien  finden  wir  auch,  wie  das  alte  könig- 
liche Geleite  zu  den  Reichsversammlnngen  immer  mehr  dem 
Schutze  des  betreffenden  Territorialherrn  weicht.  Verfolgen 
wir  die  Entwickeluug  dieses  territorialen  Geleites  zurück,  so 
sind  natürlich  die  „Teidigungstage“  des  grossen  Städtekrieges, 
die  ja  auch  keine  Reichsversammlungen  sind,  auszuschliessen.6) 


*)  l.  c.  59. 

*)  ,,et  hoc  sicnd  penam  fautoris  heresis  cl  infamiae  contra  contuma- 
citer  absentes  infligi  de  expresso  consensu  principuni  electornm,  prelatorum 
et  alionnn  suprascriptorum  decretam  cupitis  evitare.“ 

*)  nach  dem  städtischen  Protokolle  1.  c.  IX,  70  art  1 : „und  wen  er  ver- 
botet und  verechriben  hette,  zu  dem  tage  zu  körnen,  tede  er  lesen ; nu  weren 
ir  eins  teils  hie  und  auch  ein  teil  nit ; was  nu  die  pene  were  von  den,  die 
nit  hie  weren,  daz  emphele  er  den  fürsten. 

4)  Wacker  1.  c.  22  ff.  — Ehrenberg  22  ff. 

*)  Ehrenberg  24  — vgl.  Wacker  30  f.  — Die  von  Ehrenberg  24  Note  7 
angezogeuen  Ausführungen  Maurers  („Geschichte  der  Städteverfassung  iu 
Deutschland“  III,  319)  beziehen  sich  auf  das  königliche  Geleite  im  allgemeinen 
ohne  specielle  Anwendung  auf  Reichstage. 

*)  Geleitsverhandlnngen  zu  diesen:  RTA  II,  45—50  (Rotenburg-Mer- 
gentheim Jannar  1389)  U,  59  (Rotenburg- Mergentheim  Februar  1389)  II, 
64—66  n.  68  (Bamberg,  anfgegeben  zn  Gnnsten  des  Reichstages  zu  Eger 
1389)  H,  125  (Nürnberg  1389). 


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22 


Das  erste  Auftreten  des  Geleites  durch  die  Stadt,  in  wel- 
cher der  Reichstag  abgehalten  wird,  konstatiert  Waizsäcker') 
bei  dem  Fürsten-  und  Städtetage  zn  Frankfurt,  Jnli  1394.  Das 
Geleitswesen  ist  hier  noch  in  der  Entwicklung,  seine  Formen 
in  der  Ausprägung  begriffen.') 

Beim  Tage  zn  Frankfurt,  Mai  1397 , setzt  sich , wie  es 
scheint,  der  spätere  Modus  für  die  Geleitserteilung  fest.*)  Die 
gelegentlich  dieses  Tages  ansgestellten  Urkunden  dienen  spä- 
teren vielfach  zum  Muster.  — Das  Geleite  zum  Frankfurter  Tage, 
Januar-Februar  1400,*)  erteilte  der  Rat  erst,  nachdem  seine 
Bedenken  durch  das  Versprechen  der  Kurfürsten,  die  Stadt 
gegen  alle  etwaigen  ( ’onsequenzen  schützen  zu  wollen,5)  gehoben 
waren.  Geleitsbriefe  einer  andern  Stadt  als  Frankfurt  sind 
uns  ans  dieser  Zeit  noch  nicht  erhalten.®) 

Eine  beachtenswerte  Ausnahme  von  königlicher  Geleits- 
erteilung bietet  uns  unter  Ruprecht  das  Reichsoberhaupt  selbst: 
Zn  dem  Reichstage  von  Mainz,  October  1405,  erteilt  der  König 
Strassbnrg  Geleite,7)  aber  nur  „durch  unsere  lande  und  ge- 
piete,“  also  nicht  als  König,  sondern  als  Kurfürst  von  der 
Pfalz. 

Unter  Sigmund  tritt  uns  die  erste  Spur  des  Geleitswesens 
erst  1421  entgegen,  und  zwar  in  Nürnberg.  Am  14.  März  1421 
stellt  Nürnberg  den  4 rheinischen  Kurfürsten  auf  Wunsch  einen 
Geleitsbrief  zum  Reichstage  am  13.  April  aus.8)  Aber  in  dem 


•)  1.  c.  II,  379  39  ff 

’)  Waizsiicker  schliesst  dies  (noch  für  das  Jahr  1397)  ans  1.  c.  II,  265, 
wu  die  Kurfürsten  von  Ciiln,  Trier  und  Pfalz  der  Stadt  Frankfurt  raten,  das 
Versprechen,  welches  sic  selbst  (in  nro  254)  abgelegt  haben:  die  Stadt  wäh- 
rend der  Bauer  des  Tages  bei  etwaigen  Ruhestörungen  zu  schützen,  sich  auch 
von  andern  Reichsstünden  geben  zu  lassen. 

*)  Waizsäcker  1.  c.  II  S.  421. 

‘)  wo  es  sich  uni  Wenzels  Absetzung  handelte. 

s)  1.  c.  III,  112. 

*)  Warum  grade  in  Frankfurt  das  Geleitswesen  bei  Reichstagen  am  frühsten 
augenscheinlich  sich  entwickelte,  wissen  wir  nicht.  Möglich,  dass  die  Lage 
des  Ortes,  möglich  anch,  dass  seine  Eigenschaft  als  Wahlstadt  hierzn  beige- 
trägen  hat. 

r)  weil  diese  Stadt  Mitglied  des  Marbacher  Bundes  war.  vermutet  Waiz- 
säcker 1.  c.  V S.  762  Net*  2. 

*)  1.  c.  VIII,  16. 


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23 


Begleitschreiben  dazu  bezeichnet  Nürnberg  das  kurfürstliche 
Verlangen  als  Neuerung.1) 

Auch  den  anderen  Städten  scheint  diese  Forderung  Anlass 
zu  Erörterungen  gegebeu  zu  haben.  Basel  erwiedert  auf  eine 
Anfrage,  es  habe  für  den  Reichstag  nicht  uni  Geleite  geworben, 
wer  zu  demselben  komme,  stehe  im  Geleite  des  Königs.*)  Hier 
stehen  also  alte  und  neue  Auffassung  einander  gegenüber. 

Beim  folgenden  Reichstage  zu  Nürnberg,  Juli  1422,  macht 
die  Stadt  bei  Ausstellung  der  Geleitsbriefe  für  die  Kurfürsten 
selbst  keine  Schwierigkeiten,  trägt  aber  Bedenken,  das  Geleit 
auf  alle,  auch  nichtbenaunte  Besucher  des  Reichstages  auszu- 
dehnen. Auf  eine  Mahnung  des  Kurfürsten  von  Brandenburg 
hin  giebt  sie.  indessen  ihren  Widerstand  auf.3) 

Von  da  an  stellt  Nürnberg,  ebenso  wie  Frankfurt  jedem, 
der  es  verlangt,  anstandslos  Geleitsbriefe  aus.  Die  merkwür- 
digsten von  diesen,  allerdings  nicht  einen  Reichstag  betreffend, 
sind  die  Urkunden,  welche  Nürnberg  1430  den  Hussitenführern 
auf  Veranlassung  des  Kurfürsten  von  Brandenburg4)  zu  einem 
Religionsgespräche  ausfertigte.8)  Geleitsschreiben  anderer  Städte 
aus  dieser  Periode  besitzen  wir  nicht.  Aber  wir  wissen,  dass 
die  Kurfürsten  auf  dem  Tage  zu  Mainz,  Juli  1424,  beschlossen, 


’)  1.  c.  17 : .und  als  ewr  hochwirdikeit  darauf  an  uns  begert  hat,  eweren 
f ürsteulichen  gnaden  und  deu  eweren  geleit  zu  geben  . . . bitten  wir  ewr 
hochwirdikeit  zu  wissen,  dass  wir  awsserhalbcn  der  stat  Nürnberg  nicht  ge- 
leite« haben,  sunder  solicher  geleit  awsserhalben  ewern  fürstenlicheu  gnaden 
und  etlichen  andern  nnsern  herren  den  fürsten  und  herren  znsteen,  und  wie 
wol  wir  uns  unter  uns  selb  nit  verneinen,  dass  unser  vordem  oder  wir  so- 
licher schriftlicher  geleite  vormals  angesunnen  sein,  doch  . . .“  senden  sie 
den  Geleitsbrief. 

’)  1.  c.  19:  Basel  antwortet  ,.  . . daz  uns  nit  bedunkt  notdürftig  sin, 
unsem  hotten  gleit  ze  werbende  und  ouch  darnach  nit  geworben  hand,  wand 
wir  meinent,  sid  unser  . . . herre,  der  Römsch  kung  begert  hat,  daz  wir 
unser  butten  . . zu  einen  gnaden  schicken  solteut,  dass  si  denn  ouch  billichen 
in  sinem  geleit  riten  und  fnrer  gleitz  zu  erwerbende  nit  notdürftig  wereut.' 

’)  I.  c.  113—116.  — Kerler  in  Einleitung  zum  Nürnberger  Reichstage 
unter  IX 

* in  Ausführung  des  Bebeinstainer  Vertrages,  Droysen  (Gesell,  d.  preuss. 
Politik  I,  366)  auf  den  6.  Februar  — durch  v.  Bezold  (III,  44)  auf  den 
11.  Februar  1430  angesetzt. 

*)  RTA  IX,  314 — 16:  besonders  gewürdigt  sind  diese  Schriftstücke  durch 
t.  Bezold  ED,  46. 


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24 


vom  Könige  zum  Besuche  eines  Reichstages  in  Wien  ausser 
seinen  Geleitsbriefen  und  denen  des  Herzogs  von  Ostreich  auch 
solche  von  der  Stadt  Wien  zu  fordern.1)  Auch  die  kurfürst- 
liche Gesandtschaft  an  den  König  in  Sachen  desselben  Tages 
soll  Geleite,  das  die  Stadt  Regeusburg  als  Ort  des  Reichstages 
leisten  solle,  verlangen.*) 

Ausser  an  die  Stadt,  in  welcher  der  Reichstag  statttindeu 
sollte,  wendete  man  sich  um  Geleite  auch  an  die  Fürsten,  deren 
Gebiete  zu  passiren  waren.  Als  der  König  die  schon  erwähnte 
kurfürstliche  Gesandtschaft  bereden  wollte,  namens  ihres  Herrn 
den  Besuch  eines  Reichstages  in  Wien  zu  versprechen,  rechnete 
er  ihr  vor,  dass  der  Weg  nach  Wien  für  die  Kurfürsten  voll- 
ständig sicher  sei.  Der  Pfalzgraf  könne  dieselben  ungefährdet 
nach  Wien  bringen,  „dann  er  habe  das  Nyderland  an  irne.“ 
Der  Bischof  von  Passau  sei  ein  Bayer  und  werde  nichts  ohne 
Wissen  und  Willen  des  Königs  und  der  bayrischen  Herzoge  thun, 
und  für  den  Herzog  von  Oesterreich3)  könne  er  ihnen  bürgen. 

Daneben  besteht  die  königliche  Geleitspflicht  fort.4)  Der 
Geleitsbrief,  welchen  Kurfürst  Ludwig  von  der  Pfalz  zum  Nürn- 
berger Reichstag,  April  1421,  sich  ausstellen  lässt,5)  ist  wohl 
ein  Ausdruck  des  gespannten  Verhältnisses  zwischen  ihm  und 
dem  Könige.®) 

Zu  dem  Reichstage,  den  der  König  Ende  1425  abhalten 
will,  und  den  die  Kurfürsten  ausschreiben  sollen,  erteilt  der 
König  am  9.  Juni  denselben  freies  Geleit.7)  Diese  Geleitsbriefe 
müssen  nun  den  Kurfürsten  ungenügend  erschienen  sein8)  denn 

■)  RTA  VIII  301  art  8,  auch  303  art  11. 

*)  1.  c.  309  art  9. 

*)  seinen  Schwiegersohn  und  späteren  Nachfolger  Albrecht. 

*)  Allgemein  wird  diese  erwähnt  in  der  für  die  Kenntnis  der  könig- 
lichen Competenzen  in  damaliger  Zeit  überhaupt  sehr  instruktiven  Bestallungs- 
urkunde für  den  Kurfürsten  von  Mainz  als  Keiehsvikar,  Nürnberg  1422  1.  c. 
164  art  4 t. 

*)  1.  c.  18. 

*)  Kerler  (I.  c.  3.  3)  macht  es  sehr  wahrscheinlich,  „dass  der  Feind, 
gegen  den  der  Kurfürst  geschützt  werden  sollte,  das  Reichsoberhaupt  selbst 
war.“ 

>)  1.  c.  362. 

*)  Dies  vermutet  Kerler  1.  c.  8.  430  woltl  mit  Recht.  Die  gegenteiligen 
Ausführungen  vop  Schuster  („Der  (Konflikt  zwischen  Sigmund  und  den  Kur- 


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das  kurfürstliche  Ausschreiben  unterbleibt,  und  als  der  König 
endlich  selbst  einen  Reichstag  nach  Wien  beruft,  verlangen  die 
Kurfürsten  neue  Geleitsschreiben.1) 

Zusammenfassend  können  wir  über  das  Geleitswesen  bei 
den  Reichstagen  unserer  Periode  sagen:  Landesherrliches  und 
königliches  Geleit  bestehen  nebeneinander,  aber  das  erst  er  e 
überwiegt,  je  länger  desto  mehr,  unverkennbar. 

An  die  Betrachtung  der  Berufung  schliesst  sich  die  Frage 
nach  Ort  und  Zeit  der  Reichstage  naturgemäss  an.  Die  Dar- 
stellungen früherer  Zeitabschnitte,  welche  auf  die  Darlegung 
der  verfassungsmässigen  Normen  sich  beschränken  mussten,  fan- 
den gerade  für  diesen  Punkt  wenig  Ausbeute.  Für  unsere  Zeit 
bietet  vor  allem  die  Ortswahl , im  Zusammenhänge  mit  der  je- 
weiligen politischen  Lage  beleuchtet,  des  Interesses  genug. 
Zweimal  schliesst  sich  an  diese  eine  Kraftprobe  zwischen  König 
und  Kurfürsten  an. 

Zunächst  müssen  wir  hier  des  Punktes  gedenken,  bei  dem 
die  Darstellung  früherer  Epochen  die  einzige  Beschränkung  des 
Königs  in  der  Ortswahl  constatierte : des  eisten  Reichstages.’) 
Bekanntlich  fixierte  die  goldene  Bulle  als  bisheriges  Gewohn- 
heitsrecht und  künftige  Norm:  dass  der  erste  Reichstag  jedes 
neuen  römischen  Königs  in  Nürnberg  abgehalten  werden  solle. 

Ehrenberg  hat  die  Frage,  wie  weit  dies  geschehen  sei,  ftir 
die  ersten  Reichstage  Rudolfs  bis  Karls  IV  untersucht.  Für 
Wenzel  sieht  Waizsäcker  die  Forderung  der  goldnen  Bulle  durch 
die  Entgegennahme  der  Huldigung  zu  Nürnberg,  Sommer  1376, 
als  erfüllt  an.3)  Sieht  man  von  diesem  Tage  ab,  so  hätte  aller- 
dings Wenzels  erster  Reichstag  zu  Rotenburg  an  der  Tauber, 
Mai  1377,  stattgefunden. 

Ruprechts  erster  Reichstag  nach  seiner  Wahl  findet  zu 
Mainz,  December  1400,4)  der  erste  nach  seiner  Krönung  aber 


fürsten  und  die  Haltung  der  Stüdte  dazu')  S.  70  Note  2 können  nicht  über 
zeugen. 

')  Vgl.  Windecke  Cap.  137  und  die  Angabe  Kurfürst  Ludwigs  von  der 
Pfalz  in  einem  Schreiben  an  .Strassburg  RTA  VIII,  371.  — v.  Bczold  II,  74. 
’)  Ehrenberg  27  ff. 

')  RTA  I,  S.  204  und  nro  153. 

*)  1.  c.  IV,  S.  204. 


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zu  Nürnberg,  Februar  1401,')  statt.  — Der  erste  Reichstag,  den 
Sigmund  nach  seiner  Wahl  berufen,  allerdings  nicht  abgehalten 
hat,  fällt  nach  Frankfurt,  November  1412,*)  dann  folgt  die  Be- 
rufung nach  Speier,  Juli  14 14.3)  Der  erste  Reichstag  nach 
Sigmunds  Krönung  versammelt  sich  zu  Constanz.4)  Wir  kön- 
nen es  nur  natürlich  finden,  dass  die  Rücksicht  auf  das  gleich- 
zeitig dort  tagende  Concil  die  Vorschriften  der  goldnen  Bulle 
zurücktreten  liess.5) 

Mehr  Interesse  als  die  Frage  des  ersten  Reichstages  hat 
es  für  uns,  den  Einfluss  von  Sigmunds  ausserdeutscher  Stellung, 
die  Versuche  der  Kurfürsten,  die  Zügel  des  Reiches  seinen  Hän- 
den zu  entwinden,  grade  in  der  Ortsfrage  zu  verfolgen. 

Der  Conflikt  zwischen  König  und  Kurfürsten  (1422),  als 
Sigmund  die  Stände  nach  Regensburg  lud,  die  Kurf  ürsten  aber 
der  königlichen  Berufung  eine  solche  nach  Nürnberg  entgegen- 
stellten und  wirklich  so  das  Reichsoberhaupt  zwangen,  ihnen 
aus  Regensburg  nach  Nürnberg  nachzuziehen,  ist  durch  v.  Be- 
zold 8)  so  treffend  dargestellt  worden,  dass  es  genügt,  auf  seine 
Ausführungen  zu  verweisen.  Etwas  näher  wollen  wir  dagegen 
die  Verhandlungen,  welche  dem  Wiener  Reichstage  von  1425 
vorausgehen,  betrachten. 

Durch  ein  förmliches  Bündnis,  die  „Binger  Einung“  hatte 
sich  im  Januar  1424  die  kurfürstliche  Oligarchie  constituirt. 
Gemeinsamkeit  in  der  Verfechtung  ihrer  Interessen  und  in  der 
Fürsorge  für  das  Reich  war  ihr  Programm.  Auf  dem  Kur- 
ffirstentage zu  Mainz,  Juli  1424,  überbrachten  nun  die  Bischöfe 
von  Wfirzburg  und  Speier  den  Kurfürsten  die  Aufforderung  des 
Königs,  sich  bei  ihm  in  Wien  zu  einem  Reichstage  einzufinden. 
Diese  gehen  anfangs  nicht  ohne  Sträuben  und  Bedenken 
darauf  ein. 

■)  HTA  IV  S.  280. 

»)  1.  c.  VII,  126. 

’)  1.  c.  13ö. 

•)  1.  c.  176. 

s)  Anhangsweise  sei  hier  bemerkt:  König  Albrecht  hat  seinen  ersten 
Reichstag  nach  Nürnberg  berufen.  — Die  erste  Reichsversammlung  unter 
Friedrich  III,  wiederholt  nach  Nürnberg  berufen,  findet  in  Mainz  statt  (Keussen 
1.  c.  13  ff).  Der  erste  Reichstag  nach  Friedrichs  Krönung  tagt  in  Frank- 
furt (Keussen  S.  19). 

•)  I,  84-88. 


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Der  in  Mainz  vereinbarte  Entwurf  für  die  kurfürstlichen 
Gesandten  an  den  König1)  enthält  die  Zusage  ihres  Erscheinens 
in  Wien,  aber  nur  für  den  Fall,  dass  der  König  Regensburg 
als  Ort  ablehnte  und  durchaus  auf  Wien  bestände.  Auf  jede 
Weise  wird  aber  betont,  welch  schweres  Opfer  man  dem  Könige 
bringe.  Es  sei  unerhört,  dass  die  Kurfürsten  „soweit  von  ihren 
Landen  und  Kurfürstentümern“  einem  römischen  Könige  zum 
Reichstage  nachgefolgt  seien.*)  Und  diese  Concession  wird  be- 
gleitet von  scharfen  drohenden  Mahnungen  an  den  König,  des 
Reiches  und  der  Christenheit  sich  anzunehmen. 

Die  Anweisung  blieb  Entwurf.  Die  Instruktion,  nach  welcher 
die  Gesandten  schliesslich  handelten,8)  enthält  die  Drohungen  nicht, 
aber  auch  nicht  die  Zusage,  nach  Wien  zu  kommen.  Der  Reichstag 
soll  entweder  vom  Könige  in  Regensbnrg  oder  von  seinen  Ver- 
tretern in  Nürnberg  abgehalten  werden.  Alle  Versuche  des  Königs, 
die  Kurfürsten  zum  Besuche  einer  Reichsversammlung  in  Wien 
oder  wenigstens  in  einer  Stadt  unterhalb  Regensburgs  zu  be- 
wegen,4) scheitern.  Die  Kurfürsten  bleiben  fest,  und  das  Reichs- 
oberhanpt  erliegt  abermals.  Der  Reichstag  zu  Wien  wird  aller- 
dings, trotz  des  Ausbleibens  der  Kurfürsten  abgehalten,  aber 
die  Abwesenheit  dieser  ersten  Reichsfttrsten  genügt,  um  ihn  re- 
sultatlos verlaufen  zu  lassen. 

Die  wahrscheinlich  unter  dem  Eindruck  der  geringen  Er- 
folge des  Frankfurter  Geldsteuergesetzes  von  1427  und  der 
Landfriedensbestrebungen  von  1429  erfolgende  Annäherung  der 
Kurfürsten  an  den  König,  Ende  1429  äussert  sich  in  der  Orts- 
frage charakteristisch.  Die  Kurfürsten  von  Mainz  und  Bran- 
denburg kommen  auf  die  königliche  Berufung  hin  nach  Wien, 
ja  sie  sind  sogar  entschlossen,  im  Notfälle  dem  Könige  nach 
Ungarn  zu  folgen.5) 

Und  sie  halten  wirklich  Wort:  Als  der  König  durch  Krank- 


•)  RTA  Vin,  303. 

*)  Dabei  hatten  sie  sich  1420  in  Breslau,  «las  sicher  nicht  minder  ent- 
legen war  als  Wien,  anstandslos  ringefhndcn. 

*)  1.  c.  309. 

*)  I.  c.  311  bes.  art  n,  9,  14,  19. 

*)  Vgl.  «len  Brief  Heinrich  Welders,  eines  Frankfurter  Beamten,  an 
seine  Stadt:  1.  c.  IX,  279. 


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heit  sich  verhindert  sah,  Pressburg,  seine  bisherige  Residenz.1) 
zu  verlassen,  entschlossen  sich  die  Stände,  die  Kurfürsten  voran, 
zu  dem  „unerhörten  Schritte''  iu  einer  nichtdeutschen  Stadt: 
Pressburg,  zum  Reichstage  zusammenzutreten.2) 

Aber  mit  der  blossen  Thatsache  ihres  Erscheinens  war 
auch  das  Entgegenkommen,  wenigstens  der  Fürsten , erschöpft. 
Gleich  zu  Beginn  der  Beratung  über  die  königlichen  Vorlagen; 
Landfrieden  und  Ketzerkrieg,  erklärt  der  Kurfürst  von  Bran- 
denburg: er  sehe  nicht  ab,  wie  mau  in  diesen  Fragen  hier 
zu  einem  Abschluss  kommen  könne.  Es  werde  heissen,  man 
habe  so  wichtige  Reichsangelegenheiten  „in  eiuem  winkchel 
austragen.“  Das  eiuzige  was  man  hier  thuen  könne,  sei,  einen 
Reichstag  in  Nürnberg  oder  Frankfurt  zu  verabreden.3) 

Trotz  allen  Widerstrebens  des  Königs  beharren  die  Fürsten 
auf  ihrem  Verlangen:  der  Reichstag  solle,  wenn  der  König 
selbst  erscheine,  in  Nürnberg,  schicke  er  nur  Gesandte  in  Frank- 
furt stattfinden.  Wieder  muss  sich  der  König  fügen.  Am  18. 
December  1429  beruft  er  auf  den  19.  März  1430  einen  Reichs- 
tag nach  Nürnberg,  zu  dem  er  selbst  zu  erscheinen  verspricht,4) 
also  wörtlich  nach  der  kurfürstlichen  Forderung. 

Man  darf  in  dem  Verhalten  der  Kurfürsten  nicht  blossen 
Trotz  und  verrannte  Oppositionslust  sehen.  Ihre,  ganz  berech- 
tigte, Abneigung  gegen  Reichstage  an  der  Ostgrenze  des  Reichs 
oder  gar  ausserhalb  desselben  ist  wohl  besonders  zwei  Gründen 
zuzuschreiben.  Erstens  musste  die  Entlegenheit  des  Ortes  auf 
die  Zusammensetzung  des  Reichstages  einwirken.3)  Finden  wir 
schon  bei  Fürsten  und  Städten  Klagen  über  die  schweren  Opfer, 
die  eine  weite  Reise  und  langwieriger  Aufenthalt  in  der  Feme 
erheischten,  so  musste  den  kleineren  Fürsten,  den  Grafen  und 
Herren  der  Besuch  eines  weitabliegenden  Reichstagsortes  voll- 

‘)  Fessler-Klein  1.  c.  II,  377  Z.  4 v.  u. 

»)  v.  Bezold  IU,  22  ff. 

*)  Vgl.  die  städtischen  Gesandtschaftsberichte  RTA  IX  28tt  art  3 nnd 
287  art  2. 

4)  L c.  290. 

s)  Einen  interessanten  Beleg  für  diese  Wirkung  giebt  ein  Schreiben 
Ulms  an  Xürdlingen  vor  dem  Nürnberger  ßcichstage  März  1430  (1.  c.  297). 
Ulm  fürchtet  niimlich  „da  dieser  Tag  ohne  grossen  Aufwand  zu  besuchen“ 
sei,  würden  auf  demselben  die  Städte  durch  Ueberwiegen  des  Herrenstandes 
benachteiligt  werden. 


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ständig  zur  Unmöglichkeit  werden.  Dagegen  mussten  auf  der- 
artigen Reichstagen  die  ausserdeutsche,  einer  energischen  Reichs- 
politik aus  Princip  oder  Interesse  allezeit  feindliche  Umgebung 
des  Königs  viel  mehr  in  Wirksamkeit  treten.1) 

Zweitens  bedeuten  doch  die  wiederholten  Forderungen  der 
Kurf Qrsten  an  den  König,  einen  Reichstag  in  deutschen  Landen 
abzuhalten,  nichts  weiter,  als  dass  er  sich  des  Reiches  über- 
haupt annehmen  solle.  Von  Ofen,  Pressburg  oder  Wien  aus 
konnte  der  König  nur  mit  papiernen  Befehlen  in  Deutschland 
Ruhe  nnd  Ordnung  zu  schaffen  suchen  ; thatkräftig  eingreifen 
konnte  er  nur  in  Nürnberg  oder  Frankfurt. 

Abgesehen  von  dieser  principiellen  Frage  bietet  die  Orts- 
wahl bei  den  Reichstagen  Sigmunds  zu  Bemerkungen  wenig 
Anlass.  Der  Reichstag  findet  nach  alter  Gewohnheit  meist  in 
Reichs-  oder  Freistädten  statt.  Die  Reichstage  zu  Wien  (1425 
und  1426),  zu  Straubing  (1430)  bezeichnen  also  Ausnahmen. 
Am  häufigsten  sieht,  wie  zu  Karls  IV  Zeiten,  Nürnberg  Reichs- 
versammlungen in  seinen  Mauern.  Frankfurt,  das  unter  Wen- 
zel besonders  bevorzugt  wurde,  tritt  dagegen  zurück.*) 


■)  Vgl.  u.  a.  Droysen  1.  c.  I 267  u.  68.  — Auch  bei  Wenzel  erfahren 
wir  von  einem  derartigen  Einflüsse  seiner  Umgebung.  Bei  der  Ermordung 
der  Königlichen  Räte  auf  dem  Karlsstein  1397  ruft  Hans  von  Troppau  den- 
selben zn:  „Ihr  seid  es,  welche  Tag  und  Nacht  unserm  Herrn  Könige  raten, 
dass  er  nicht  nach  Deutschland  soll  nnd  wollt  ihn  vom  römischen  Reiche 
bringen“  (RT  All,  277).  Wenn  auch  die  Reichspolitik  seitens  der  Mörder  als  Motiv 
nur  vorgeschoben  sein  mochte  (so  vermutet  Lindner  „Geschichte  des  deut- 
schen Reiches  unter  KOnig  Wenzel“  ü,  370),  so  schliesst  da«  doch  eine  Wirk- 
samkeit der  Ratgeber  des  Königs  in  der  bezciehneten  Richtung  nicht  ans. 

*)  Vortrefflich  passen  auf  die  für  die  Ortswahl  von  uns  gefundenen  Ver- 
hältnisse die  Ausführungen  des  Severinns  de  Honzambano  (Pufendorf)  in 
„De  statu  imperii  Germania“  (Übersetzung  von  Bresslan  p.  93)  Cap.  IV  § 21, 
welche  freilich  in  einen  ganz  andern  Zeit  und  Causalzusammenhang  gehören: 
„Was  den  Sitz  des  Reichstages  betrifft,  so  ist  zwar  in  der  goldnen  Bulle  be- 
stimmt, dass  der  erste  Reichstag  in  Nürnberg  abgehalten  werden  solle,  man 
bindet  sich  aber  jetzt  nicht  mehr  daran.  In  den  Capitulationen  wird  ge- 
wöhnlich nur  gesagt,  dass  ein  passend  gelegener  Ort  innerhalb  des  Reiches 
unter  Zustimmung  der  Kurfürsten  ansgewählt  werden  9olle.  Aus  leicht  ein- 
zusehenden Gründen  wählt  man  seit  langer  Zeit  eine  freie  Reichsstadt. 
Würde  der  Kaiser  aber  z.  B.  Wien  bestimmen,  so  glaube  ich  nicht,  dass  viele 
Fürsten  erscheinen  würden.“ 


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30 


Bezüglich  der  Zeit  der  Reichstage  ist  nur  zu  bemerken, 
dsss  an  Stelle  der  früheren  Rücksichtnahme  auf  kirchliche 
Feste1)  jetzt  lediglich  Zweckmässigkeitsgründe  wirksam  sind. 

So  finden  in  der  20  er  Jahren,  wo  kriegerische  Massregeln 
gegen  die  Hussiten  den  Kern  der  Verhandluugsgegenstände  bil- 
den, die  Reichstage  meist  im  Winter  oder  Frühjahr  statt,  um 
die  Ausführung  der  Beschlüsse  im  Sommer  zu  ermöglichen.*) 
Betreffs  der  Dauer  der  Reichstage  sei  daran  erinnert,  wie 
sehr  die  unzuverlässige  und  leichtfertige  Manier  des  Königs, 
die  Stände  immer  wieder  auf  sein  Kommen  zu  vertrösten  und 
zum  Warten  aufzufordern,  manche  Reichstage,  wie  die  zu  Nürn- 
berg 1421  und  30  unnütz  in  die  Länge  zog. 


Capitel  II. 

Zusammensetzung. 

Die  Frage  nach  der  Zusammensetzung  der  Reichstage  Sig- 
munds zerfällt  naturgemäss  in  zwei  Teile:  wer  das  Recht  zur 
Teilnahme  hatte,  und  wer  von  diesem  seinem  Rechte  Gebrauch 
machte. 

Für  den  ersteren  Punkt  bietet  unsere  Periode  nur,  soweit 
die  Städte  in  Frage  kommen,  schätzenswertes  Material.  Im 
Zusammenhänge  mit  der  ganzen  Stellung  der  Städte  auf  den 
Reichstagen  Sigmunds  wird  hierauf  einzugehen  sein.  Von  den 
übrigen  Reichsständen:  Kurfürsten,  Fürsten  und  Herren  kön- 
nen wir  nur  sagen,  dass  ihr  Recht,  am  Reichstage  teilzunehmen, 
sich  erhielt  und  befestigte.  Erwünschte  Auskunft  darüber,  wer 
dieses  Recht:  das  heisst  die  Reichsstandschaft,  besass,  geben 
uns  die  unter  Sigmnnd  einsetzenden  Reichsmatrikeln.  Wer  in 
einer  solchen  angeschlagen  wurde,  war  oder  galt  als  reichsun- 
mittelbar. 

‘)  Wacker  35.  — Ehrenberg  38. 

*)  z.  B.  setzen  die  Fürsten  auf  dem  Reichstage  zu  Pressbnrg  dem  Ter- 
mine, welchen  der  Küttig  für  eine  nach  Nürnberg  zu  berufende  Versammlung 
vurgeschlagen  batte,  dem  1.  Hai,  ihrerseits  den  5.  März  gegenüber,  damit  der 
Summer  nicht  wieder  ungenutzt  verstreiche.  (RTA  IX,  280  art  24.) 


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31 


Mehr  noch  als  die  rechtliche  wird  uns  die  faktische  Teil- 
nahme an  den  Reichstagen  beschäftigen.  Sie  zeigt  uns,  welche 
Faktoren  im  Reiche,  vom  Oberhaupte  angefangen,  dem  Reiclis- 
leben  ihre  Aufmerksamkeit  noch  zuwandten , und  welche  vom 
„Reichszusammenhange  sich  weggewöhnt“  hatten.  Sie  zeigt 
deutlicher  als  manches  andere  den  Grad  der  Auflösung,  welche 
die  alte  Verfassung  ergriffen  hatte. 

Die  Stände  beteiligten  sich  an  den  Reichstagen  in  Person 
oder  durchVertreter.  Natürlich  galt  das  Erscheinen  der  Fürsten 
und  Herren  in  Person  als  wertvoller  und  für  die  Verhandlungen 
gedeihlicher.  Die  grossen  Reichstage  Sigmunds : Constanz  1415 
und  17,  Breslau  1420.  Nürnberg  1422  und  31  tragen  noch  ganz 
den  alten  Charakter  von  Fürstencongressen.  Auf  andern  wieder 
überwiegt  sehou  das  Gesaudtenelement.  In  dem  Masse  wie  das 
Interesse  der  Fürsten  an  der  Reichsleitung  überhaupt,  nimmt 
auch  ihr  persönliches  Eischeinen  auf  den  Reichstagen  ab,  bis 
wir,  schon  unter  Friedrich  III,  die  Reiclistage  ganz  in  Bot- 
schafterconferenzen  umgewandelt  sehen.1) 

Unter  Sigmund  erschien  auf  dem  Reichstage  zu  Mainz,  Fe- 
bruar 1427,  keiner  der  Kurfürsten  in  Person,  ja  die  Pfälzer 
Gesandten  kehren,  als  sie  dies  erfahren,  unterwegs  wieder  um.*) 
Von  dem  Reichstage  zu  Frankfurt,  dem  letzten  unserer  Periode, 
der  Oktober  1431,  bald  nach  der  Katastrophe  von  Taus  zusam- 
mentrat, erfahreu  wir  gar,  dass  überhaupt  nur  Gesandte  zu- 
gegen waren.3) 

Ein  weniger  staatsrechtlich  als  faktisch  sehr  bedeutsames 
Element  der  Reichstage  bilden  die  Städteboten.  Die  grössere 
Fülle  der  Nachrichten  lässt  die  Persönlichkeiten,  wenigstens  der 
bedeutenderen  unter  ihnen  mehr  als  in  früherer  Zeit  hervor- 
treten. 

An  ihrer  Spitze  stehen  die  bedeutendsten  Diplomaten  Nürn- 
bergs: Sebolt  Pönzing*)  und  Peter  Volkmeir;8)  dann:  der  lang- 

')  Züptl  ,, Deutsche  Rechtsgeschichte“  3.  Auflage  8.  565. 

•)  RTA  IX,  12. 

*)  1.  e.  S.  643  Z 13. 

4)  nicht  „Sigmund  Pfinzinger,“  wie  Schuster  S.  48  Note  2 einen  Schreib- 
fehlers Kerlers  (1.  c.  VIII  S.  384  Note  3)  abernehmend  angiebt. 

*)  Näheres  über  Pfinzing:  Städtechroniken  I,  86  (Uiman  Stromer),  377 
Note  6,  dann  378  und  380.  Über  Volkmeir  (oder  Volekamer)  ib.  I,  385  Note  2. 


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32 


jährige  Vertreter  Frankfurts,  Walter  Schwarzenberg,  dessen 
Berichte l)  durch  ihre  Klarheit  und  Frische  und  eine  erfreuliche 
Beimischung  von  Humor  uns  angenehm  berühren.  Lucas  Ingol- 
städter  vertritt  Regensburg,  Sebastian  Ilsung  Augsburg;  Ehinger 
von  Ulm  und  Bopfinger  von  Nördlingen  sind  die  gewiegtesten 
Staatsmänner  der  schwäbischen  Städte.  Die  öfter  wechselnden 
Gesandten  Strassburgs  liefern  uns  in  ihren  Berichten  ein  un- 
schätzbares Material.*) 

Die  grösseren  Städte  hatten  natürlich  immer  eigene  Ge- 
sandtschaften. Kleinere  Hessen  sich  meist  durch  die  bedeuten- 
deren mit  vertreten.  Die  Städtebünde  und  -gruppen  entsenden 
gemeinsame  Bevollmächtigte. 

Interessant  ist,  dass  Ulm  1414  vor  dem  ersten  Reichstage 
zu  Constanz  den  Vorschlag  macht,  alle  Städte  sollten  sich  nur 
durch  eine  bestimmte  Anzahl  Gesandte,  etwa  sechs,  zusammen 
vertreten  lassen.5)  Als  Grund  giebt  Ulm  an,  die  Gesandten 
könnten  am  Ende  irgendwie  vergewaltigt  werden.*) 

Als  wahren  Grund  vermutet  Finke,6)  dass  man  etwaiger 
Zersplitterung  Vorbeugen  wollte. 

Unentbehrlich  für  gedeihlichen  Verlauf  der  Verhandlungen 
war  ausreichende  Bevollmächtigung  der  Gesandten.  Die  Lade- 
schreiben, besonders  wenn  sie  an  Städte  gerichtet  sind,  betonen 
diesen  Punkt  vorzüglich ; und  mit  Recht,  denn  die  Städteboten 
sind  Meister  in  der,  überhaupt  von  den  Diplomaten  des  15.  Jahr- 
hunderts gern  geübten  Kunst,  drückenden  Zumutungen  oder 
verfänglichen  Erklärungen  durch  Hinweis  auf  mangelnde  In- 
struktion und  die  Notwendigkeit  des  „Hintersichbringens“  aus- 
zuweichen. Wenigstens  gewann  man  Zeit,  oft  aber  entging 
man  der  Erörterung  über  den  betreffenden  Gegenstand  über- 
haupt. Wie  sehr  diese  Zauderpolitik  eine  wirksame  Geltend- 


‘)  in  grosser  Zahl  erhalten  hei  Janssen  „Frankfurts  Reichscorrespondenz.“ 
’)  Die  Städtebotenliste  von  dem  königlichen  Städtetage  zn  Nürnberg 
1387  (RTA  I,  301)  zeigt  nnü  schon  eine  Reihe  von  Namen,  welche,  freilich 
erst  in  zweiter  Generation,  zu  unsrer  Zeit  sich  wiedertinden ; z.  B.  vertritt 
ein  Ilsung  Augsburg,  ein  l'tinzing  Nürnberg,  ein  Ehinger  Ulm. 

*)  1.  c.  VII,  178. 

4)  wan  wir  besorgen:  ist  daz  alle  stette  ir  botschaft  gen  Costenz  schicken 
werden!,  das  inen  deune  gewalt  zugemnolet  werde,  der  iu  nicht  lieb  werde. 
9)  „König  Sigmunds  reichsstädtiscbe  Politik1'  p.  42. 


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33 


machang  der  städtischen  Reichsstandschaft  hemmte,  werden  wir 
weiterhin  noch  sehen.  In  einzelnen  Fällen  ging  aber  auch  die 
Verschleppung  der  Verhandlungen  von  den  Fürsten  aus. 

Den  Wiener  Reichstag  1426  legen  die  rheinischen  Kur- 
fürsten durch  die  ausdrückliche  Erklärung  lahm,  die  Kurfürsten 
von  Sachsen  und  Brandenburg  kämen  auf  eigene  Faust  ohne 
Vollmacht  ihrerseits  nach  Wien.1) 

In  Pressburg  December  1429  veranlassen  die  Kurfürsten 
von  Mainz  und  Brandenburg,  um  einen  Reichstag  auf  deutschem 
Boden  zu  erzwingen,  die  Gesandten  der  übrigen  Kurfürsten  zu 
der  Erklärung:  sie  seien  zum  Eintritt  in  die  Verhandlungen 
nicht  genügend  instruiert.2)  Als  nun  die  Städtegesandten,  um 
dem  Könige  sich  willfährig  zu  zeigen,  plötzlich  erklären,  sie 
hätten  ausreichende  Vollmacht,  sind  die  Fürsten  über  dieses 
selbständige  Auftreten  sehr  ungehalten.8)  Auf  dem  Frankfurter 
Tage  1 131  hatte  keiner  der  erschienenen  Gesandten  genügende 
Vollmacht:  jeder  war  da  zu  hören,  nicht  selbst  zu  raten.4) 

Gehen  wir  nun  zur  Betrachtung  der  faktischen  Teil- 
nahme an  den  Reichstagen  über,  und  beginnen  wir  mit  dem 
Reichsoberhanpte  selber. 

Nach  seiner  ersten  zwiespältigen  Wahl  1410  und  der  zwei- 
ten einhelligen  Erwählung  1411  blieb  Sigmund  noch  3 Jahre 
dem  Reiche  fern.  Er  betritt  deutschen  Boden  zuerst  1414  in 
Basel;  seine  ersten  Tage  zu  Speier  und  Koblenz  sind  verhält- 
nismässig wenig  besucht.5)  Erst  der  Krönungstag  zu  Aachen 
sieht  eine  stattlichere  Versammlung  deutscher  Reichsangehöriger 
um  den  König  versammelt.  Der  ideale  Schwung  und  die 
geniale  Schaffenslust  und  -kraft,  mit  welcher  Sigmund  an  die 

*)  »o  schreibt  der  Kurfürst  von  der  Pfalz  an  Strassbnrg.  RTA  VIII,  373. 

*)  1.  c.  IX  286  art  3 — 287  art  2. 

*)  vgl.  v.  Bezold  III,  23. 

4)  Ulm  schreibt  am  12.  November  an  Nördlingen  (RTA  IX,  484  — S.  643 
Z. 18  t) : «...  da  wiste  aber  nieman  nichtzit  ze  raten,  denne  jedermann  ge- 
fertigt were,  ze  losen  und  wolte  sich  niemen  mer  gevvalts  annemen.“ 

•)  Die  Erzählung  Windeckes  (Cap.  31) , dass  der  König  aus  Verdruss 
über  das  Ausbleiben  so  vieler  Fürsten  habe  ungekrönt  nach  Ungarn  zurilck- 
kehren  wollen,  wird  von  Lenz  ( „ König  Sigmund  und  Heinrich  V von  Eng- 
land*) S.  61  mit  Recht  als  reine  Ausschmückung  zurückgewiesen.  Ihre  Ent- 
stehung aus  irgend  welcher  im  Unmut  hingeworfenen  Äusserung  des  Königs 
begreift  sich  ja  sehr  leicht. 

Wen  dt.  Der  deutsche  Keiclutag  unter  König  Sigmund  3 


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34 


Spitze  der  conciliaren  Bewegung  sich  stellt,  kommen  auch  dem 
Reiche  zu  gute.  Neben  dem  Concil  laufen  besonders  1415  aber 
auch  1417  deutsche  Reichstage  einher,*)  welche  zu  den  bedeu- 
tendsten dieser  Epoche  gehören.*) 

Während  des  Königs  Reise  nach  Frankreich  und  England 
bekunden  3 Ladungen  zu  Reichstagen  : aus  Constanz  Juni  1415. 
Perpignan  Oktober  1415  und  Calais  Oktober  1410 3)  seine  Sorge 
für  das  Reich. 

Der  Schluss  des  Constanzer  Ooncils  führt  Sigmund  Anfang 
1419  in  seine  lange  sich  selbst  überlassenen  ungarischen  Erb- 
lande zurück,4)  aber  schon  der  Begiun  des  nächsten  Jahres 
sieht  ihn,  umgeben  von  einer  grossen  Reichsversammlung  in 
Breslau,  auf  dem  Tage,  von  dem  die  Reichskriege  gegen  die 
Hussiten  recht  eigentlich  datiren.  — Bereits  auf  dem  nächsten 
Reichstage,  Nürnberg  1421  bilden  diese  den  Hauptgegenstand. 
Der  König,  von  den  Ständen  mit  Ungeduld  erwartet,  kommt 
nicht:  „ehafter  not  wegen“  sagt  das  Nürnberger  Schenkbuch,4) 
„v  il  licht  ander  siner  auligender  umnuss  halp.“  schreiben 
die  Kurfürsten  den  Städten  von  Wesel  aus/')  Nach  Windecke7) 
hatte  ein  Türkeneinfall  in  Ungarn,  wahrscheinlicher  aber  die 
Bedrohung  Mährens  durch  die  Hussiten  den  König  vom  Reichs- 
tage ferngehalten.8) 

Bezeichnend  ist  die  Äusserung  Sigmunds  in  dem  Schreiben 
an  seinen  Vertreter  Bischof  Oeorg  von  Passau,  worin  er  durch 
diesen  die  Kurfürsten  bitten  lässt,  auf  ihn  zu  warten  und 
hinzufügt:  „nu  heften  wir  in  (den  Kurfürsten)  selber  geren 


‘)  Tiber  die  Grenzen  zwischen  den  Heratungen  des  Concils,  besonders  in 
der  „natio  Germanica“  und  den  Reichstagsverhandlnngeu  vergl.  Kerler  in 
seiner  Einleitung  zum  Reichstage  von  Coustanz  1415  (KTAVJI  S.  255  ff.) 

*)  Aschbacli  II,  96  ff.  und  226  ff. 

3)  RTA  VII,  194,  95,  96. 

*)  Kessler-Klein  II,  342. 

s)  RTA  VIII  S.  48  Z.  18  f. 

*)  I.  c.  49.  — Ähnliche  Ansdrncksweise  in  dem  Schreiben  an  Kiinig  Wladis- 
law  v.  Polen  (1.  c.  51).  Vgl.  ib.  S.  65  nte  1. 

')  Cap.  89. 

*)  Der  Kiinig  weilte  im  März  und  April  1421  in  Mähren  (vgl.  Sigmunds 
Regesten  bei  Aschbach  111,438).  Der  Einfall  der  Türken  in  Siebenbürgen  er- 
folgte wohl  erst  im  Sommer  (vgl.  Aschbach  111,  129.  — Kessler-Klein  II,  359  f.) 


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35 


geschriben  und  forchten.  das  wir  sie  erzürnten  und  unwillige 
machten.“1) 

Auf  dem  Reichstage  zu  Nürnberg  1422  ist  der  König  an- 
wesend. aber  erst,  nachdem  er  durch  sein  Zögern  und  durch 
Verschiebung  des  ursprünglichen  Termins  den  Kurfürsten  zu 
ihrem  schon  erwähnten  eigenmächtigen  Vorgehen8)  Anlass  ge- 
geben hat.  Die  Missstimmung  gegen  Sigmund  muss  damals 
schon  allgemein  gewesen  sein,  denn  aus  Brieg  schreibt  ein  Arzt 
des  Königs  im  April  1422  dem  Deutschordenshochmeister:  er 
fürchte,  wenn  der  König  nicht,  wie  er  gelobt  und  geschworen, 
in  Regensburg  sich  einfinde,  werde  er  von  allen  seinen  Kronen 
und  Reichen  kommen.8) 

Nach  dem  Nürnberger  Reichstage  verlässt  der  König 
Deutschland4)  auf  8 Jahre.  Die  Landfriedenstage  des  Jahres 
1423  sind  das  Werk  der  Kurfürsten;  ein  von  dem  König  be- 
absichtigter Reichstag  zu  Frankfurt  November  1423  scheitert 
an  dem  passiven  Widerstande  ebenderselben.  Ähnlich  ergeht 
es  mit  dem  Reichstage  zu  Wien  Januar  1425.  In  den  Ver- 
handlungen über  denselben  zwischen  König  und  Kurfürsten  ver- 
langen letztere  immer  wieder,  Sigmund  in  Deutschland  zu 
sehen.5)  Aber  der  König  weigert  sich  beharrlich.  Auch  als 
der  Wiener  Reichstag  Februar  1426  eine  neue  Versammlung 
im  Mai  zu  Nürnberg  beschliesst,  spricht  das  königliche  Aus- 
schreiben6) nur  von  einer  Gesandtschaft.  Aber  aus  Gründen, 
die  wir  nicht  kennen,  ändert  Sigmund  seinen  Entschluss.  In 
einem  Erlasse  vom  2.  4.  1426 7)  sagt  er  sein  Erscheinen  in 
Person  zu,  freilich  nur,  um  die  Stände  doch  wieder  zu  ent- 
täuschen. Für  den  8.  Mai  war  der  Tag  berufen,  und  erst  Ende 
Juni  erfuhr  man  definitiv,  dass  auf  den  König  nicht  zu  rechnen 
sei.  Als  Grund  des  Ausbleibens  giebt  ein  Schreiben  vom  15. 


>)  RTA  VIII,  24. 

’)  Vgl.  u usern  S.  8 f. 

J)  RTA  VIII,  118. 

4)  wenn  man  von  Ostreich  absieht. 

*j  Vgl.  besonders  die  Instruktion  fiir  die  kurfürstlichen  Gesandten 
1.  c.  3o9  und  ihren  Bericht  I.  c.  311. 

•)  1.  c.  375. 

’)  1.  c.  384. 

•• 


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36 


Mai l)  Erkrankung  an.  Die  bestunterrichteten  Gewährsmänner 
für  unsere  Zeit:  Eberhard  Windecke  und  Andreas  von  Regens- 
burg erzählen  das  Ausbleiben  des  Königs,  ohne  einen  Grund 
anzugeben.*)  — Nürnberg  schreibt  dem  Könige,  es  habe  ihn  vor 
Kurfürsten  und  Fürsten  nach  Möglichkeit  „verantwortet.“  s) 

Noch  mehr  als  bisher  tritt  der  König  in  den  folgenden 
Jahren  zurück.  Der  Reichstag  zu  Mainz,  den  seine  Gesandten 
nm  sich  sammeln  sollen,  kommt  nicht  zn  Stande.4)  Die 
Ausfertigung  der  Beschlüsse  des  Frankfurter  Reichstages  April 
1427  b)  nennt  die  königlichen  Gesandten  nicht.®) 

Die  beiden  Frankfurter  Tage  Ende  1427  beruft  und  leitet 
der  Cardinal  Heinrich,  genannt:  von  England.  Der  grösste 
gesetzgeberische  und  organisatorische  Versuch  jener  Epoche 
— freilich  nur  ein  Versuch  — das  Reichskriegssteuergesetz, 
kommt  ohne  jede  Mitwirkung  des  Staatsoberhauptes  zu  Stande. 
Und  wie  am  Zustandekommen  des  Gesetzes,  so  ist  der  König 
auch  an  den  Tagen  des  Jahres  1428.  welche  seiner  Ausführung 
galten,  gar  nicht  beteiligt.  Auch  die  Landfriedensbewegung 
von  1429,  wie  sie  ja  ganz  kurfürstlichen  Interessen  entspringt, 
bedarf  des  Königs  nicht. 

Mitten  in  die  Bemühungen  um  Ausführung  des  Reichs- 
steuergesetzes fiel  die  Ankündigung  Sigmunds  an  die  Städte: 
er  werde  ins  Reich  kommen  und  daselbst  Friede  und  Ordnung 
schaffen.7)  Wenn  es  Sigmund  überhaupt  damit  Ernst  war,  so 
mag  für  ihn  der  Gedanke  an  Romfahrt  und  Kaiserkrönung  aus- 
schlaggebend gewesen  sein.  — Erst  nachdem  auf  dem  Reichs- 
tage von  Pressburg  Ende  1429  die  Stände  in  der  Person  der 
Kurfürsten  von  Mainz  und  Brandenburg  dem  König  baldiges 
Erscheinen  im  Reiche  dringend  an’s  Herz  gelegt  hatten,*)  trat 

')  bta  vni  .m. 

*)  Wimlecke  Cap.  145;  — Andreas  v.  Regensburg  ed.  Hüller  in  , Fontes 
rernm  Anstriacarum " 1,  6 S.  440. 

•)  RTA  VIII,  404. 

4)  1.  c.  IX,  13. 

»)  1.  e.  33. 

*)  Die  lateinische  Ausfertigung,  I.  c.  30,  welche  von  Vertretern  des  Königs 
spricht,  bezeichnet  Kerler  als  Entwurf  (1.  c.  S.  20). 

’)  RTA  IX,  173.  — Nachschrift. 

•)  1.  c.  284  art  4 und  11. 


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37 


im  folgenden  Jahre  Sigmund  wirklich  wieder  in  Deutsch- 
land ein.1) 

Der  Reichstag  zu  Nürnberg,  März  — Mai  1430  tagt  allerdings 
noch  ohne  den  König.  Wir  sehen  hier  wieder:  fortwährende 
Versprechungen  und  Vertröstungen  seitens  des  Königs  und  seiner 
Räte,  Misstrauen  und  Ungeduld  seitens  der  Stände,11)  bis  letz- 
tere endlich  des  Wartens  müde,  ohne  das  Reichsoberhaupt  zu 
Rat  und  That  schreiten. 

Erst  im  August  versammeln  sich  zu  Straubing  deutsche 
Reichsstände  um  Sigmund.  Im  Februar  des  folgenden  Jahres 
schaart  sich  dann  um  ihn  die  glänzendste  und  bedeutendste 
Versammlung,  die  das  Reich  seit  lange  gesehen.  — Aber  nur 
kurze  Zeit  litt  es  den  König  in  Deutschland.  Kaum  hatte  sich 
die  ganze  gewaltige  Rüstung,  welche  der  Nürnberger  Reichstag 
in's  Leben  gerufen,  vor  dem  kriegerischen  Ungestüm  der  Hus- 
siten  aufgelöst,  da  trat  der  König  seine  Romfahrt  an,  und  auf 
dem  Reichstage  zu  Frankfurt  Oktober  1431,  der  unsere  Periode 
abschliesst,  ist  weder  der  König,  noch  einer  der  Reichsfürsten 
anwesend.  — 

Je  mehr  das  Reichsoberhaupt  der  persönlichen  Leitung  der 
Reichsversammlungen , ja  damit  der  Reichsleitung  überhaupt, 
sich  entzog,  desto  mehr  musste  die  Teilnahme  der  Kurfürsten 
in  den  Vordergrund  treten,  wie  es  sich  schon  bei  Betrachtung  der 
Berufung  uns  ergeben  hat.  In  den  ersten  Jahren  Sigmunds 
zeigt  sich  beides  noch  in  geringerem  Masse. 

Auf  seinem  ersten  Reichstage  zu  Speier  sind  nur  Kurmainz 
und  Pfalz  anwesend,5)  auf  dem  ersten  Fürstentage  zu  Coblenz 
August  1414:  Mainz,  Köln,  Trier,  Pfalz,4)  in  Aachen  bei  der 
Krönung  fehlt  vom  Kurcollegium  ausser  Böhmen 5)  nur  Mainz.6) 

•)  Er  verlies«  Ungarn  zu  langer  Abwesenheit.  — Über  die  Anstalten 
Siginnnds  zu  seiner  Vertretung  vgl.  Fessler-Klein  II,  380. 

’)  Vgl.  z.  B.  das  Sehreiben  Walter  Schwarzenbergs  an  Frankfurt  (1.  c. 
IX,  338):  Der  König  habe  geschrieben,  er  werde  am  1.  Juni  in  Straubing 
sein,  ,iz  mag  gescheen,  ich  glauben  iz  net.“  — Nürnberg  zieht  durch  Boten 
Erkundigungen  über  das  Kommen  Sigmunds  eiu  (1.  c.  341  art  4). 

•)  HTA  VII  S.  175. 

*)  I.  c.  VII  nro  143. 

*)  das  für  unsere  Periode  überhaupt  wegfällt. 

•)  Die  Vermutung  Aschbachs  (I,  409),  Kurf  ürst  Johann  v.  Mainz  sei  des- 
halb nicht  erschienen,  weil  Sigmund  das  seinem  Bruder  Wenzel  bei  der  Wahl 


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Burggraf  Friedlich  von  Nürnberg  vertritt  die  brandenburgische 
Kurstimme,  die  er  schon  bei  Sigmunds  Wahl  geführt  hatte.  — 
Auf  den  Reichstagen  zu  Constanz  waren  alle  Kurfürsten  anwe- 
send ; teilweise  empfingen  sie  daselbst  ihre  Belehnung.  ■)  — 
In  Breslau  1420  waren  Sachsen,  Brandenburg,  Trier,  vielleicht 
auch  Mainz  versammelt.  *)  — In  Nürnberg  1421  finden  wir  die 
4 rheinischen  Kurfürsten,3)  ebenso  zu  Wesel.4)  Auf  dem  Für- 
sten- und  Städtetage  in  Görlitz,  wo  es  sich  darum  handelte, 
die  schlesischen  Stände  zum  Anschluss  an  den  Nürnberger 
Fttrstenbund  gegen  die  Hussiten A)  zu  bringen , sind  alle  Kur- 
fürsten ausser  Pfalz  vertreten.6)  — Der  grosse  Reichstag  zu 
Nürnberg  1422  vereinigt  alle  Kurfürsten  um  den  König.7)  — 
Auf  dem  Tage  zu  Frankfurt,  August  1423,  wo  das  Kur- 
collegium den  Städten  seine  Landfriedenspläne  vorlegt,  sind 
Mainz,  Trier,  Pfalz  in  Person,  die  übrigen  durch  Gesandte  er- 
schienen.") 

Zu  dem  Reichstage  in  Wien , Januar  1425 , kam  kein 
Kurfürst.  Der  Burgmann  aus  Friedberg,  Richard  von  Drahe, 
der  statt  dessen  von  ihnen  zum  Könige  geschickt  wurde,  war 
wohl  mehr  Bote  als  Gesandter.9) 

Nach  Wien,  Februar  1426,  kommen  nur  die  Kurfürsten 
von  Sachsen  und  Brandenburg;  ihre  rheinischen  Collegen  hielten 
sich  ostentativ  fern.10) 

Zu  dem  Reichstage  in  Nürnberg  1426  finden  sich  Mainz, 
Trier,  Sachsen  in  Person,  die  andern  3 durch  Gesandte  ein;11) 

gegebene  Versprechen,  ihm  zur  Kaiserkrone  zu  verheilen,  nicht  erfüllt  habe, 
ist  wenig  wahrscheinlich. 

*)  Aschbach  II,  38  f,  236  ff. 

*)  RTA  Vn  S.  387. 

*)  1.  c.  VIII  nro  38  art  4. 

*)  1.  c.  49  und  63. 

»)  1.  c.  29  und  30. 

«)  1.  c.  68. 

*)  1.  c.  129  und  131;  auch  Windecke  Cap.  107  (abgedruckt  RTA  VIII, 
182),  wo  nbcr  Brandenburg  fehlt. 

s)  Windecke  Cap.  112. 

“)  RTA  VIII,  335  und  36.  — Windecke  Cap.  127  nennt  irrthümlich  den 
Kurfürsten  von  Brandenburg  als  anwesend. 

'»)  RTA  Vni,  373. 

“)  1.  c.  S,  455. 


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in  Mainz  Februar  1427  erscheint  kein  Kurf ttrst  persönlich ; *) 
in  Frankfurt  Februar  1427  ist  mit  Sicherheit  nur  der  Kur- 
fürst von  Brandenburg  nachzuweisen.2)  Dem  Rufe  des  Cardi- 
nais von  England  nach  Frankfurt  leisten  Mainz,  Cüln,  Trier, 
Brandenburg  in  Person,  Sachsen  durch  Gesandte  Folge.3) 

Zu  Heidelberg  December  1427  wo  es  sich  um  den 
Beitritt  der  Städte  zu  den  Frankfurter  Beschlüssen  handelte, 
waren  fünf  Kurfürsten  in  Person  und  sächsische  Gesandte  an- 
wesend. 

Die  Tage  in  Sachen  des  Steuergesetzes,  1428.  zu  denen 
meist  der  Kurfürst  von  Brandenburg  als  Feldhauptmann  und 
Vorsitzender  der  durch  das  Frankfurter  Gesetz  bestellten 
Centralcommission , aber  auch  gelegentlich  andere  Kurfürsten 
in  Person  oder  durch  Bevollmächtigte  sich  einfanden,  übergehen 
wir;  ebenso  die  in  der  Landfriedenssache  berufenen  Tage  von 
1429,  auf  denen  der  Kurfürst  von  Mainz  die  Hauptrolle  spielt. 

Nach  Pressburg  Ende  1429,  begeben  sich  Mainz  uud 
Brandenburg:  die  übrigen,  mit  Ausnahme  Cölns,  schicken 

Vertreter.4) 

Auch  in  Nürnberg,  1430,  finden  wir  nur  Mainz  und  Bran- 
denburg in  Person.4)  In  Straubing,  der  ersten  Reichs  Versamm- 
lung, die  der  König  uacli  langer  Abwesenheit  wieder  auf  deut- 
schem Boden  abhält,  empfängt  ihn  nur  Friedrich  von  Brauden- 


•)  I.  e.  IX  12  und  13. 

*)  v.  Bezold  11,  08  nt«  1. 

•)  RTA  IX,  89. 

4)  KTA  IX  8.  343.  — Kerler  (in  der  Einleitung  zum  Reichstage  zu 
Pressburg  unter  A,  1.  c.  8.  341  f.)  entnimmt  aus  einem  I, »beschreiben  des 
Köiiigs  an  Brandenburg  vom  20.  August  1429  (1.  c.  272)  der  Königs  habe 
.auf  das  Erscheinen  der  Kurfürsten  von  Trier.  Cüln  und  Pfalz  von  vornherein 
nicht  gerechnet  ;“  besonderen  Wert  lege  er  nur  auf  die  Anwesenheit  von  Mainz, 
Brandenburg  und  Sachsen.  Als  Grund  hierfür  vermutet  er,  dass  der  König 
die  Trier  und  Cüln  unliebsame  kursttehsische  Successionsfragc  in  Pressburg 
verhandeln  wollte,  welche  er  auch  wirklich  daselbst  verhandelt  hat.  Iler  König 
sagtabor  in  nro  272  nur  ;.er  habe  dem  Erzbischof  von  Mainz  auf  seine  Botschaft  ge- 
antwortet, der  Kurf  ürst  solle  selbst  nach  Wien  kommen,  und  wer  von  seinen 
Mitknrfürsten  (d.  h.  den  rheinischen)  nicht  selbst  komme,  dessen  Gesandte 
solle  er  wenigstens  mit  sich  bringen. 

*)  1.  c.  317. 


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bürg.1)  Zu  Nürnberg,  1431,  endlich  ist  das  ganze  Kurcollegium 
mit  Ausnahme  Sachsens  erschienen.*)  — 

Mit  den  übrigen  Reichsständen  können  wir  summarischer 
verfahren. 

Den  Keni  der  Reichstagsbesucher  bildeten  Fürsten,  Herrn 
und  Städte  Schwabens,  Frankens,  Bayerns,  des  Ober-  und 
Mittelrheins.  Innerhalb  dieser  die  wechselnde  Teilnahme  ver- 
folgen zu  wollen,  würde  uns  zu  weit  führen. 

Über  diese  Gebiete  hinaus  war  die  Teilnahme  an  den 
Reichsaugelegenheiten  und  damit  auch  an  den  Reichstagen  selbst 
schon  sehr  geschwunden.  Vor  allem,  der  Zusammenhang 
des  deutschen  Nordens  und  Ostens  ist  mit  dem  Reiche  durch- 
aus gelockert. 

Seit  Karl  IV  die  grosse  Idee  gefasst,  Brandenburg  und 
Böhmen  mit  den  benachbarten  Gebieten  zu  einem  grossen 
mittel-norddeutschen  Reiche  unter  luxemburgischer  Herrschaft 
zu  vereinigen,  und  deshalb  in  die  nordische  Politik,  die  Händel 
der  sächsischen  und  lauenburgischen  Askanier,  der  Meklenburger, 
Schauenburger  und  Welfen  mit  Gewalt  und  List  eingegriffen 
hatte,3)  beachtete  man  da  oben  im  Norden  Kaiser  uud  Reich 
nicht  viel.  Die  norddeutschen  Stände  wurden  noch  immer, 
wenigstens  zu  den  grösseren  Reichstagen,  geladen,  figurierten 
noch  immer  in  den  Reichsmatrikeln,  thaten  aber  für  das  Reich 
wenig. 

Von  norddeutschen  Städten  können  wir  auf  den  Reichs- 
tagen Sigmunds  Lübeck,  ausser  in  Constanz,  wo  es  sich  nicht 
um  Teilnahme  an  den  Reichsgeschäften,  sondern  um  das  Ein- 
greifen des  Königs  und  seines  Gerichtes  in  die  Verfassungs- 
wirren der  Stadt  handelte,4)  bei  den  Nürnberger  Reichstagen 
von  1421,  22  und  31,  ferner  Hamburg  1421  nachweisen. 

Von  Fürsten  erscheinen  uns  die  Braunschweiger  öfter 


l)  1.  o.  367.  — Der  Pfalzgraf  Ludwig  lies»  «ich  durch  «einen  Bruder 
• >tto  vertreten. 

’)  Vgl.  die  Präsenzlisten  1.  e.  448—45 ; in  der  Liste  Tuchers  (444)  fehlt 
Kurtrier. 

•)  so  im  Streite  um  die  liineburgische  Erbschaft  1355—78. 

*)  vgl.  Wehrmann  in  .Hansische  (ieschichtsblätter*  1878  8.  103  ff.  — 
Finke  p.  72  ff.  — Franklin  I,  266  ff. 


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durch  Gesandt«  vertreten:  in  Aachen  1414,  Nürnberg  1430; 
in  Person:  Breslau  1420,  Nürnberg  1431. ')  Herzog  Erich 
von  Sachsen  - Lauenburg  wird  bei  dem  Nürnberger  Reichs- 
tage von  1422  genannt;  später  veranlassten  ihn  seine  Be- 
mühungen um  die  sächsische  Kur  zu  regerem  Verkehr 
mit  König  und  Kurfürsten.  Pommersche  Fürsten  begegnen 
uns  beim  Krönnngstage  1414  und  in  Nürnberg  1430.  Von  nord- 
deutschen Prälaten  finden  wir,  ausser  dem  häutiger  erscheinen- 
den Erzbischof  von  Magdeburg : die  Bischöfe  von  Verden  (Cob- 
lenz  1414),  Hildesheim  (Nürnberg  1426),  Lübeck  (Nürnberg 
1430),  Brandenburg  (Breslau  1420),  Lebns  (Nürnberg  1426). 

Der  deutsche  Orden  beschickt  mehrere  Tage  Sigmunds; 
natürlich  mehr  um  deutsche  Hilfe  gegen  seine  polnischen  Be- 
dränger zu  erlangen,  als  um  Reichsgeschäfte  zu  treiben. 

Auch  Schlesien  bekundet  nur  unter  dem  Drucke  der  Hus- 
sitengefahr  ein  lebhafteres  Interesse  für  die  deutschen  Reichs- 
tage. In  seiner  Hauptstadt  tagte  1420  eine  der  bedeutendsten 
Reichsversammlungen  Sigmunds;  hier  ertönte  die  erste  Kreuz- 
predigt gegen  die  böhmischen  Ketzer.  Eine  stattliche  Zahl 
schlesischer  Fürsten  hatte  sich  um  den  König  versammelt.*) 

In  Nürnberg  1422  finden  wir  die  Stadt  Breslau  und  2 
schlesische  Fürsten ; ebenso  2 Fürsten : 1426  in  Wien.  Die 
Stadt  Breslau  und  fürstliche  Räte  begegnen  uns  April  1427  in 
Frankfurt;  der  Bischof  von  Breslau : 1430  in  Straubing;  Herzog 
Ludwig  von  Brieg:  1431  in  Nürnberg.  Die  gleiche  Gefahr  führt 
auch  die  lausitzisclien  Stände  und  Städte,  wie  Görlitz,  Zittau 
wiederholt  zu  den  Reichstagen. 

Ein  besonderes  Element  der  Reichsversammlungen  unserer 
Epoche  bilden  die  böhmischen  Royalisten,  welche  die  stete  Be- 
drohung durch  ihre  abgefallenen  Landsleute  immer  wieder  auf 
die  Reichshilfe  anwies.  Zu  Breslau  erschien  eine  stattliche 


l)  Herzog  Wilhelm  von  Braunschweig  lässt  sich  allerdings  nur  in  der 
Zeugenreihe  des  ritterschaftlichen  Entwurfes  zum  königlichen  Pfahlbürgerver- 
bote  nachweisen  (KTA  IX,  427),  würde  aber  in  derselben  kaum  Vorkommen, 
wenn  er  nicht  in  Nürnberg  anwesend,  oder  doch  sicher  erwartet  gewesen  wäre. 

*)  Die  Zengenreihe  der  Scbiedssprnchaurknnde  zwischen  Polen  und  dein 
deutschen  Orden  (RTA  VII , 260)  führt  deu  Bischof  von  Breslau  und  acht 
weltliche  Fürsten  auf. 


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42 


Vertretung  des  böhmischen  Adels;1)  nach  Nürnberg  1422  kommen 
nach  Windecker  Präsenzliste*)  „sechs  heim  von  Beliem,  die  do 
nit  meinent  Hussen  zu  sein,“  geführt,  von  dem  bekannten' 
böhmischen  Royalisten  Ulrich  von  Rosenberg.  Von  Städten 
sind  Pilsen,  Eger,  Tachan  nachzuweisen.3)  — Zum  Reichstage 
zu  Wien  1426  ladet  der  König,  wie  wir  aus  einem  Schrei- 
ben an  Ulrich  von  Rosenberg  wissen,  auch  die  „Herren  seiner 
Partei“  ein.4) 

Gesandte  von  Eger  begegnen  uns  1426  in  Wien,  Februar 
1427  in  Mainz,  April  und  November  1427  in  Frankfurt,1)  ferner 
auf  Tagen  der  Jahre  1428  und  29.  Auch  in  Pressburg  1429 
bilden  die  Böhmen  einen  wichtigen  Bestandteil.  In  der  Er- 
öffnungssitzung vor  dem  Könige  erscheinen  die  Böhmen  in  einer 
Linie  mit  den  übrigen  Reichsständen.  *)  Am  Schlüsse  der  Ver- 
handlungen treten  sie  noch  einmal  auf.  Sie  klagen  ihre  Not 
und  geben  Anweisung,  wie  man  den  Ketzern  am  besten  bei- 
kommen könne.’) 

Wie  hier  spielen  sie  auch  auf  dem  Nürnberger  Reichstage 
von  1481  gewissermassen  die  Rolle  von  Sachverständigen.  Gleich 
in  der  ersten  Geschäftssitzung  beschliessen  die  Stände,  „den 
von  Rosenberg  und  andre  Böhmen“  kommen  zu  lassen,  um 
deren  Rat  zu  hören.  Als  aber  diese  vorwurfsvoll  ihre  Not 
klagten  und  energische  Unterstützung  durch  Geld  und  Truppen 
verlangten,  schickte  man  sie  wieder  nach  Hause.8) 

Die  königliche  Bestallungsurkunde  für  Friedrich  von  Bran- 
denburg als  Feldhauptmann 9)  nennt  unter  den  Ständen,  auf 

•)  ETA  VII  8.  387. 

a)  Cap.  107  — besser  gedruckt  in  ETA  VIII,  182  art  5 — v.  Be- 
zold  1,  94. 

s)  aus  dem  Nürnberger  Scheckbuch  ETA  VIII,  184. 

4)  1.  c.  VIII,  368. 

*)  Dem  Gesandten  Egers,  Niclas  Gumerauer  verdanken  wir  die,  abge- 
sehen von  der  städtischen  Aufzeichnung  1.  c.  IX,  70,  einzig  erhaltenen  Ge- 
sandtschaftsberichtc  zum  Frankfurter  Eeichstage  1.  c.  89  und  90. 

«)  1.  c.  286  art.  1. 

')  1.  c.  art  28. 

*)  1.  e.  433  art  1:  „und  also,1-  berichtet  der  Eatsbote  Walter  Ehinger  am 
15.  Februar  an  Ulm,  -gefiel  es  weder  den  fürsten  noch  nieman  wol,  daz  man  in 
gelt  geben  solt  und  hiess  sie  an  ir  herberg  gan.“  — vgl.  v.  Bczold  III,  94. 

•)  1.  c.  423. 


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43 


deren  Rat  die  Nürnberger  Beschlüsse  gefasst  seien,  auch:  .vil 
unser  panirherren  edlen  und  getrnwen  unser  cronec  zu  Behem.“  — 

Diese  naturgemäss  nur  ganz  skizzenhafte  Betrachtung  der 
faktischen  Teilnahme  an  den  Reichstagen  muss,  wenn  wir  die 
Verbindung  der  einzelnen  Stände  mit  dem  Reiche  vollständig 
erkennen  wollen,  durch  das  ergänzt  werden,  was  über  die 
räumliche  Erstreckung  der  Competenz  der  Reichstage  bei  einer 
ausführlichen  Darstellung  der  Reichsgeschichte  unter  Sigmund 
beigebracht  werden  könnte.  — 

Die  weitausschauende  nur  europäische  Politik  Sigmunds, 
über  deren  Peripetieen  der  König  nicht  selten  seine  nächsten 
Sorgen  und  Pflichten  zu  vergessen  liebte,  musste  den  Reichs- 
versammlungen viele  fremde  Elemente  zuführen. 

Eine  reichausgestattete  englische  Gesandtschaft  ist  auf 
dem  Fürstentage  zu  Coblenz  und  bei  der  Krönung  in  Aachen 
anwesend.  *)  Die  Präsenzliste  desselben  Coblenzer  Tages  *) 
nennt  uns  u.  a.  einen  „herzauge  von  Ruyssen“  3)  dann  den  Mar- 
quis von  Montferrat. 

Von  den  Besuchern  der  Constanzer  Versammlung,  die  ja 
in  erster  Linie  zum  Concil  und  nicht  zum  Reichstage  sich  ein- 
gefnnden  hatten,  müssen  wir  absehen. 

In  Breslau  1420  finden  wir,  ausser  einer  englischen  Ge- 
sandtschaft. die  Vertreter  des  Königs  von  Polen,4)  welche  den 
Schiedsspruch  Sigmunds  zwischen  ihm  und  dem  deutschen  Or- 
den entgegennehmen  sollten.  Beim  Nürnberger  Reichstage  1422 
begegnen  wir  griechischen,5)  englischen,  polnischen,  savoyischen 
Gesandten®).  Zn  Nürnberg  1430  fand  sich  ein  portugiesischer 
Prinz  ein.7)  Die  Präsenzlisten8)  des  Nürnberger  Reichstages 

*)  Über  den  Zweck  derselben  vergl.  Lenz  1.  c.  35  und  63.  — Caro 
.Bündnis  von  Canterbury'  16  ff.  — Kerler  1.  c.  VII,  S.  180. 

*)  RTA  TO,  143. 

5)  wahrscheinlich  ein  Herzog  Sigmund  von  W'eissmssland  (.Kerler  1.  c. 
S.  200  nte  3),  den  Caro  (.Geschichte  Polens  III,  446  nte  1)  auch  beim  Con- 
stanzer Concil  als  anwesend  constatiert. 

4)  genannt  n.  a.  RTA  VII,  277. 

6)  Windecke  Cap.  107  (RTA  VIII,  182  art  4).  — Das  Nürnberger  Schenk- 
buch : 1.  c.  184  art  7. 

•)  1.  c.  184. 

7)  1.  c.  IX  317,  auch  342  art  3. 

")  1.  c.  443-  45. 


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44 

1481  nennen  uns  einen  „Herzog  von  Tatern,“  *)  lerner  s&voyische 
und  mailändische  Gesandte. 

Endlich  finden  sich,  so  oft  der  König  in  Person  an  Heichs- 
tagen  teilnimmt,  ungarische  Herren,  gelegentlich  sogar  in  gros- 
ser Zahl,  ein. 

Pie  Vertreter  der  Curie  nehmen,  besonders  während  der 
Reichskriege  gegen  die  Hussiten,  unser  Interesse  in  Anspruch. 
Auf  dem  Reichstage  zu  Nürnberg  April  1421  und  dem  daran 
sich  anschliessenden  Tage  zu  Wesel  wirkt  der  Cardinal  von 
Piacenza,  Branda,  mit  Eifer  und  Erfolg.2)  Wahrscheinlich  dür- 
fen wir  ihm  einen  hervorragenden  Einfluss  auf  die  Gründung 
des  Nürnberger  Fürstenbundes  gegen  die  Hussiten  zuschreiben. 
Auch  auf  dem  Nürnberger  Reichstage  des  folgenden  Jahres  ist 
er  thätig.  In  dem  an  die  Ortswahl  anschliessenden  Conflikt 
zwischen  König  und  Kurfürsten  scheint  er  auf  Seiten  der  letz- 
teren zu  stehen.3) 

Auf  dem  Reichstage  zu  Nürnberg  1426  suchte  der  Cardinal 
Orsini  den  Eifer  der  deutschen  Reichsstände  gegen  die  Hus- 
siten zu  entflammen.4) 

Der  bedeutendste  Vertreter  der  Kurie  während  dieser 
Epoche  war  unstreitbar  Henry  Beaufort,  Bischof  von  Winchester, 
Cardinal  von  England  bei  den  Deutschen  genannt.  — Sein  Ein- 
fluss auf  die  Geschicke  seines  Vaterlandes  gehört  in  andern 
Zusammenhang,  aber  auch  Deutschland  hat  seine  Wirksamkeit 
wiederholt  erfahren. 


>)  RTA  IX  S.  601  nte  5. 

*)  v.  Besold  I,  50. 

*)  v.  Herold  I,  84  f.  — Dazu  passt,  dass  der  Pabst  Mai  1422  an  den 
Grossf  (traten  Witold  schreibt:  Die  Kurfürsten  würden,  selbst  wenn  der  König 
nnthätig  bliebe,  (eciara  tacente  . . . Sigismnndo)  die  Besitzergreifung  Böhmens 
durch  ihn  (Witold)  nie  zugeben,  (v.  Bezold  1,  85  nte  1),  während  er,  gleich- 
zeitig etwa,  es  nötig  findet,  Sigmund  sehr  energisch  zur  Bekämpfung  der 
Ketzerei  zti  ermahnen : RTA  VIII,  106. 

*)  1.  c.  401.  — Ein  Schreiben  Sigmunds  an  einen  in  Nürnberg  bei  den 
Ständen  weilenden  Kirchenfürsten,  worin  er  sein  Ausbleiben  rechtfertigt  (1. 
c.  405),  trägt  die  gleichzeitige  Aufschrift:  .('ardinali  de  Anglia  pro  ejestir- 
pacione  haeresis.“  Ich  möchte  diese  Notiz  lieber  für  ein  Versehen  des  Schreibers 
halten  und  als  Adressaten  f'ardinai  Orsini  annehmeu,  als  mit  Kerler  (S.  488 
nte  1)  an  Branda  oder  gar  an  Heinrich  von  Winchester  denken.  Auch  v.  Be- 
zold II,  78  nte  2 scheint  das  Schreiben  anf  Orsini  zu  beziehen. 


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45 


In  den  Gang  des  Constanzer  Concils,  vor  allem  in  den 
Streit  über  die  Priorität  der  Pabstwahl  oder  des  Reformwerkes 
greift  er  bedeutsam  ein.1)  Nach,  freilich  nur  einem  Gewährs- 
manne, der  aber  als  Augenzeuge  berichtet,  nahm  er  an  dem 
Kreuzzuge  von  1421  Teil.*)  Er  sah  im  Sommer  1427  die  deut- 
schen Heere  bei  Mies  und  Tachau  vor  den  Hussiten  zerstieben.*) 

Unmittelbar  darauf  unternahm  er  es,  die  Kräfte  des  Rei- 
ches gegen  die  böhmische  Rebellion  zusammenzufassen,  mit 
einem  kühnen  Griffe  die  Reichsleitung  vorübergehend  in  seine 
Hand  zu  bringen,  die  Schäden  der  deutschen  Reichs-  und  Kriegs- 
verfassung, die  er  klar  erkannt  haben  muss,  zu  heben.  Die 
Beratungspunkte,  welche  er  auf  dem  Frankfurter  Septembertage 
für  den  Reichstag  im  November  feststellen  liess,*)  enthüllen 
schonungslos  die  Gründe  der  steten  Misserfolge  gegen  die  Hus- 
siten. Vor  allem  soll  unter  den  Deutschen  die  vollste  Ein- 
mütigkeit herrschen,  der  trotzige  Eigenwille,  der  bisher  schon 
soviel  Unheil  gebracht  hat,  bezähmt  werden.  Die  bisher  gel- 
tende Heeresordnung  soll  gründlich  geprüft,  die  Unterstützung 
der  böhmischen  Royalisten,  das  Verhalten  bei  Verhandlungen  mit 
den  Ketzern  und  bei  der  Eroberung  von  Städten  oder  Schlössern, 
die  Frage,  ob  die  Anwesenheit  vieler  Fürsten  beim  Heere  er- 
spriesslich  sei  — Alles  soll  wohl  erwogen  werden.  Sogar  den 
Landfrieden,  als  die  unerlässliche  Vorbedingung  für  erfolgreiche 
Kriegführung,  berühren  die  Artikel.  Bei  dieser  klaren  Einsicht 
in  die  Verhältnisse  dürfen  wir  auch  den  persönlichen  Anteil 
des  Cardinais  am  Zustandekommen  des  Frankfurter  Reichs- 
kriegssteuergesetzes sicher  nicht  zu  gering  anschlagen.  Der 
deutsche  Nationalstolz  mag  sich  zu  dem  Geständnis  bequemen, 
dass  die  erste  grossartige  Organisation,  welche  jeden  Reichs- 
angehörigen gleichmässig  zu  Leistungen  für  das  Ganze  heran- 
znziehen  suchte,  der  Anregung  eines  Fremden  entsprungen  ist. 

Entsprechend  dieser  bedeutenden  Anteilnahme  übertrugen 
auch  die  Frankfurter  Beschlüsse  neben  dem  Kurfürsten  Fried- 

')  Lenz  173  ft 

*)  Jeban  de  Waurin  ed.  Hardy  in  Scriptt.  revr,  Britt.  V,  324;  citiert 
bei  Lenz  178  Note  3.  Die  bei  v.  Bezoid  I,  54  f.  für  die  Darstellung  ver- 
werteten Quellen  nennen  den  Cardinal  v.  England  nicht. 

*)  ?.  Bezoid  II,  115  ff. 

4)  KTA  IX,  58  — besprochen  durch  v.  Bezoid  II,  124  f. 


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46 


rieh  von  Brandenburg  dem  Cardinal  die  Leitung  des  Reichs- 
krieges gegen  die  Ketzer.') 

Aber  seines  Bleibens  in  Deutschland  war  nicht  lange, 
schon  im  Frühjahr  1428  riefen  ihn  andere  Pflichten  aus  dem 
Reiche  ab.*) 

Der  letzte  Vertreter  der  Curie  auf  den  Reichstagen  un- 
serer Epoche  war  der  Cardinal  Giuliano  Cesarini.  Zu  Nürn- 
berg 1431  war  es.  wo  er  den  deutschen  Ständen  seinen  glühen- 
den Feuereifer  für  die  Ausrottung  der  böhmischen  Ketzerei 
einzuflössen  suchte,  wodurch  der  König  zu  dem  salbungsvollen 
Ausspruche  sich  veranlasst  sah:  Das  sei  doch  eine  besondere 
Gnade  von  Gott  und  dem  Heiligen  Geiste,  dass  die  beiden 
Häupter  der  Christenheit,  ohne  vorherige  Verabredung,  in  dem- 
selben Vorhaben  einander  begegneten.3) 

Freilich  erwies  sich  selbst  diese  schöne  Einmütigkeit  als 
unwirksam,  und  der  Eifer  Cesarinis  erlosch  in  der  Schmach  der 
Niederlage  von  Taus. 


Capitel  TIT. 

Formell  der  Verhandlung. 

Der  Vorsitz  des  Königs  auf  den  Reichstagen  geht  während 
unserer  Periode  in  noch  höherem  Masse  als  das  königliche  Be- 
rufungsrecht in  andre  Hände,  über.  Manche  Reichstage,  die 
der  König  wenigstens  berufen  hatte,  werden  selbständig  von 
den  Fürsten  geleitet. 

So  tagt  der  Reichstag  zu  Nürnberg  1421  zwar  auf  Grund 
der  Ladung  des  Königs,  aber  nicht  unter  seiner  Leitung.  Dessen 
Vertreter,  Bischof  Georg  von  Passau,  hat  nur  das  Ausbleiben 
des  Königs  zu  entschuldigen  und  die  Stände  zum  Warten  zu 
bewegen.  Die  von  ihm  für  den  17.  April  berufene  Reichstags- 
sitzung4) verfolgt  nur  diesen  doppelten  Zweck.  Die  eigentlichen 

■)  HTA  IX  76  art  34  (S.  10!!)  — v.  Bezold  II.  132. 

*)  v.  Bezold  II,  132. 

>)  HTA  IX,  438  (S.  590)  — v.  Bezold  UI,  tot. 

4)  HTA  VIII  S.  39  Z.  15  ff. 


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47 


Verhandlungen  nehmen,  soweit  wir  sehen,  die  Fürsten  selb- 
ständig in  die  Hand.1)  — Auch  der  Reichstag  zu  Nürnberg  1426 
tagte  jedenfalls  unter  fürstlichem  Vorsitze.  Der  Graf  von 
Oettingen,  einer  der  königlichen  Gesandten,8)  erscheint  in  den 
Verhandlungen  mit  den  Städten  durchaus  nur  als  Beauftragter 
der  Fürsten.3)  — Auf  dem  Reichstage  zu  Frankfurt  November 
1427  leitet  der  Cardinal  von  England  die  Verhandlungen  ein. 
Er  ist,  es  auch  wieder,  der  in  feierlicher  Schlusssitzung  den 
Städten  die  fürstlichen  Beschlüsse  mitteilt  und  sie  auffordert, 
ihre  definitive  Erklärung  über  dieselben  in  einem  Monat  zu 
Heidelberg  abzugeben.4) 

Andere  Reichstage,  wie  zu  Nürnberg  1422  und  31.  Press- 
burg 1429  tagen  noch  ganz  in  alter  Weise  unter  königlicher  Lei- 
tung. Aber  der  Vorsitz  des  Reichsoberhauptes  beschränkt  sich 
auch  hier  meist  auf  einzelne  grosse.  Sitzungen.  Die  Einzelarbeit 
entzieht  sich  mehr  und  mehr  seinem  Einflüsse. 

So  beginnt  der  Reichstag  zu  Pressburg  am  4.  December 
mit  einer  Antrittsaudienz  der  Stände  beim  Könige,  an  welche 
keine  Verhandlungen  sich  anschliessen.5)  Am  5.  Vormittags 
findet  die  feierliche  Eröffnungssitzung  statt,  in  der  Sigmund  den 
Anwesenden  für  ihr  Erscheinen  dankt  und  einen  TJeberblick 
über  die  Aufgaben  der  Reichsversammlung  giebt.8)  Am  Nach- 
mittag desselben  Tages  tritt  sodann  die  erste  Geschäftssitzung 
unter  Leitung  des  Erzbischofs  von  Mainz  zusammen.  Herzog 
Albrecht  von  Oesterreich  legt  Namens  seines  königlichen 
Schwiegervaters  die  beiden  Beratnngsgegenstände  für  den  Tag: 
Landfrieden  und  Ketzerkrieg  vor.  Darauf  verlässt  er  mit  den 
beiden  andern  Vertretern  des  Königs  die  Versammlung  und 
kehrt  erst  auf  Antrag  des  Kurfürsten  von  Brandenburg  und 
nach  Beschluss  der  Stände  zurück.1)  Der  Anteil  des  Königs, 
wie  er  uns  ans  den  beiden  erhaltenen,  sehr  eingehenden  Be- 


•)  1.  c.  S.  43  Z.  22  ff. 

*)  1.  c.  392. 

*)  1.  c.  390  art  1 und  i>. 

•)  1.  c.  IX,  70. 

»)  I.  c.  SW«  art  1 (S.  358). 
*)  1.  e.  art.  2. 

»)  1.  c.  art  3. 


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48 


richten  über  diesen  Tag1)  hervortritt,  ist  wesentlich  der,  dass 
er  die  Beschlüsse  der  Stände,  bezw.  ihrer  einzelnen  Gruppen, 
entgegeunimmt  und  sowohl  unter  einander  als  auch  mit  seiner 
eigenen  Auffassung  in  Einklang  zu  bringen  versucht. 

Auch  auf  dem  Nürnberger  Reichstage  1431  erscheint  der 
König  zwar  als  Leiter  des  Ganzen,  an  den  Einzel  Verhandlungen 
aber  auffallend  wenig  beteiligt.  Beispielsweise  ist  er  in  der 
Zwölfercommission , welche  die  Massiegeln  gegen  die  Hussiten 
vorbereiten  soll,  nicht  vertreten.*)  Ebenso  entfernt  sich  Sig- 
mund nach  einer  Eröffnungsrede  aus  einer  Reichstagssitzung, 
als  die  Verhandlungen  beginnen.  — 

Bei  den  grossen  Versammlungen,  welchen  Sigmund  in  Per- 
son vorsitzt,  zeigt  sich  seine  Neigung  aber  auch  sein  Geschick 
zu  grossen  Staatsreden  oft  in  hervorragender  Weise. 

Selbst  die  wohl  nicht  selten  stark  abgeblassten  Berichte 
der  Städteboten  weisen  eine  Fülle  schlagender  Bemerkungen 
und  charakteristischer  Wendungen  auf.  Allgemeine  Darlegungen 
über  die  Weltlage  und  Enthüllungen  weitausschauender  Pro- 
jekte, deren  Vortrefflichkeit  nur  von  ihrer  Unausführbarkeit 
übertroffen  wird,  Versicherungen  seines  allerbesten  Willens  und 
Vorwürfe  über  das  geringe  Entgegenkommen  der  Stände,  Rück- 
blicke auf  seine  Verdienste  um  das  Reich  und  Klagen  über  Un- 
dank der  Unterthauen  wechseln  in  buntester  Weise.3) 

Noch  mehr  wie  in  seinen  Erlassen  liebt  es  der  König  in 
seinen  Reden,  den  Mund  voll  zu  nehmen  und  im  trügerischen 
Glanze  seiner  weltherrlichen  Stellung  sich  zn  bespiegeln.  Aber 
er  ist  in  solchen  Momenten  „zu  sehr  Redner  und  zu  wenig  Po- 
litiker.“ 4)  Oratorische  Musterleistungen  konnten  gegenüber  dem 

■)  RTA  IX,  286  und  87. 

*)  Pie  Nachrichten , welche  ein  l'üner  (1.  c.  433  — S.  678  Z.  17  ff.)  mul 
ein  Strassburger  Oesandtschaftsbc rieht  ilber  die  Zusammensetzung  dieses  Aus- 
schusses geben,  stimmen  zwar  nicht  ganz  Uberein:  königliche  Vertreter  er- 
wähnt aber  keiner  von  beiden.  Erst  in  einem  späteren  Stadium  der  Ver- 
handlungen nehmen  vier  köuigtiche  Räte  Teil  (1.  c.  438  — S.  592  Z.  22). 

*)  Besonders  lehrreich  hierfür  ist  der  oben  erwähnte  Bericht  vom  Press- 
burger Reichstage:  1.  c.  286.  wahrscheinlich  verfasst  von  Lukas  Ingolstetter, 
dem  Abgeordneten  für  Regensburg  (vgl.  S.  358  nte  1),  der  aus  den  9 Tagen 
der  Reichsversammlung  5 grosse  Staatsreden  Sigmunds  auszugsweise  mitteilt. 
(I.  c.  artt  2,  4,  11,  22,  27). 

*)  v.  Bezold  III,  24. 


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Grolle  der  Fürsten  und  dem  Misstrauen  der  Städte  die  Stelle 
besonnenen  und  zweckmässigen  Handelns  nicht  ausfüllen. 

Und  leider  stand  meist  die  Energie  seines  Thuens  zu  der 
seines  Redens  in  umgekehrten  Verhältnis,  so  dass  treffend  be- 
merkt worden  ist,1)  dass  Sigmund  meist  dann  zu  den  grössten 
Kraftausdrücken  sich  versteigt,  wenn  es  ihm  um  die  Sache  am 
wenigsten  Ernst  ist,  beginnt  er  erst  von  „seinen  Hals  daran 
setzen“  oder  „in  die  Grube  fahren“  — „Vergiessung  seines 
Bluts“  oder  „Niederlegung  seiner  Kronen“  zu  reden,  dann  ist 
ihm  nicht  recht  zu  trauen.  — 

Die  Eröffnung  des  Reichstages  bestand,  wie  wir  schon  ge- 
sehen haben,  darin,  dass  der  König  oder  sein  Vertreter  eine 
Uebersicht  über  die  allgemeine  Lage  und  die  Aufgaben  der 
Versammlung,  also  eine  Art  Thronrede,  gab.  Daran  mag  sich 
die  Feststellung  der  Präsenzliste , eventuell  die  Vorlegung  der 
eingegangenen  Entschuldigungsschreiben,  die  Prüfung  der  Voll- 
machten, sodann  die  Festsetzung  der  Tagesordnung  angeschlos- 
sen haben.*) 

Meist  waren  die  der  Erledigung  durch  den  Reichstag  har- 
renden Aufgaben  nur  allgemein  bezeichnet;  gelegentlich  werden 
auch  schriftliche  Vorlagen  erwähnt.  Beispielsweise  setzt  der 
Frankfurter  Septembertag  bestimmte  Artikel  für  den  Reichstag 
im  November  fest,®)  die  auch  wirklich  zur  Durchberatung  kom- 
men.4) Auch  dem  Pressburger  Reichstage  unterbreitet  der  König 
schriftliche  Vorlagen.5) 

Umgekehrt  konnte  auch  der  König  die  Stände  auffordern, 
als  Grundlage  für  die  Verhandlungen  der  Reichsversammlung 
ihre  Wünsche  und  Anliegen  in  schriftlicher  Fixirung  einzureichen. 
Eine  solche  Mahnung  enthält  das  Ausschreiben  Sigmunds, 
aus  Constanz,  Juni  1415, 6)  vor  Antritt  seiner  Reise  nach  Frank- 
reich und  England  erlassen.  Wer  ein  „Gebrechen  geistlich  oder 
weltlich“  habe,  solle  es  dem  König  schriftlich  verzeichnet  ein- 


')  Caro  „Bündnis  von  C’unterbury“  S.  89. 

*)  Vergl.  n.  a.  KTA  IX,  70. 

*)  1.  c.  58.  — Vergl.  unsere  S.  45. 

4)  1.  c.  70  art  10. 

*)  1.  c.  286  art  8.  — 287  art  3 Schluss. 

*)  L c.  VH,  194. 

Wendt,  Der  deutsche  Reichstag  unter  König  Sigmund.  4 


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50 


reichen  „das  fride,  gerechtikeit , geeichte  und  gemeyner  nuetz 
in  dem  riche  widerufgerücket  werden.“ 

Nach  seiner  Rückkehr,  Februar  1417.  wiederholt  er  diese 
Aufforderung.1)  Ob  derselben  in  weiterem  Umfange  nachgekom- 
men wurde,  wissen  wir  nicht.  Eine  Frankfurter  Aufzeichnung,  die 
wir  hierher  zu  stellen  haben,*)  enthält  statt  Vorschlägen  zur  Wie- 
deraufrichtung von  Friede  und  Ordnung  im  Reiche  nur  Frank- 
furter Localschmerzen  ohne  allgemeinere  Bedeutung.  — 

Dass  allen  irgend  wuchtigeren  Versammlungen  Vorbera- 
tungen vorausgingen,  ist  natürlich.  Jedes  Ausschreiben  einesTages 
ist  für  die  einzelnen  Städtegruppen  das  Signal,  zu  Besprechungen 
sich  zusammenzufinden.  Das  Ausschreiben  des  Nürnberger  Reichs- 
tages 1422 3)  nimmt  eine  Vorversammlung,  zu  der  die  Kur- 
fürsten einladen  sollen,  ausdrücklich  in  Aussicht.  Dass  diese 
Ladung  nicht  erfolgte,  giebt  den  Städteboten  erwünschte  Ge- 
legenheit, auf  dem  Reichstage  selbst  auf  Grund  nicht  genügen- 
der Vollmacht  einer  definitiven  Erklärung  über  ihre  Leistungen 
auszuweichen.4) 

Was  den  Gang  der  Verhandlungen  selbst  betrifft,  so  hat 
uns  vornehmlich  die  Frage  zu  beschäftigen,  in  wieweit  die  Be- 
ratungen den  Einfluss  ständischer  Gliederung  erkennen 
lassen. 

Ein  Gegensatz  zwischen  dem  adligen  und  dem  bürgerlichen, 
den  alten  und  den  neuen  Elementen,  dem  durch  historische  Tradi- 
tion und  dem  durch  seine  materielle  Macht  berechtigten  Bestand- 
teile, dem  Teile  der  Stände,  der  „für  sich  selbst“  anwesend 
wTar,  also  vollste  Freiheit  der  Entschliessung  besass  und  den- 
jenigen, welche  jedes  Wort,  jedes  Zugeständnis  ängstlich  ab- 
wägen und  darauf  prüfen  mussten,  ob  es  auch  im  Sinne  ihrer 
Auftraggeber  sei,  — ein  Gegensatz  zwischen  Fürsten  und  Städten 
musste  sich  früh  auf  den  Reichstagen  herausbilden.  Noch  do- 
minirte  das  Kurfürstentum  über  den  Rest  des  Fürsten-  und 
Herrenstandes  zu  sehr,  als  dass  sich  dieser,  wie  später,  zu  einem 
selbstständigen  Collegium  hätte  constituiren  können/’)  Fürsten 

*)  RTA  VII  211. 

*)  1.  c.  214.  — Finke  I.  c.  44. 

J)  1.  c.  vm,  108. 

•)  1.  c.  131  nml  142. 

*)  v.  Besold  III,  95. 


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Bl 


und  Städte  — Adel  und  Bürgertum  stehen  sich  bis  jetzt  noch 
allein  gegenüber. 

Ursprünglich  war  das  Verhältnis  unzweifelhaft  so,  dass  nur 
König  und  Fürsten  beschlossen,  und  ihre  Abmachungen  den 
Städten  zur  Nachachtung  mitgeteilt  wurden.  Während  der 
Hussitenkriege  verschiebt  sich  das  Verhältnis  merklich  zu  Guns- 
ten der  Städte ; fast  von  Reichstag  zu  Reichstag  lässt  sich  diese 
Wandlung  verfolgen. 

In  Nürnberg  1422  verständigen  sich  König  und  Fürsten 
(wie,  wissen  wir  des  einzelnen  nicht,1)  über  eine  Geldsteuer 
(„Schätzung“)  zum  Kriege  gegen  die  Ketzer.  Erst  nachdem  die 
„fürsten,  herren,  grofen,  ritter,  knehte,  prelaten  und  alle  hotten 
die  von  iren  wegen  do  werent“  *)  zugesagt  haben , werden  die 
Städte  gefragt.  Über  die  Genesis  des  Übereinkommens  zwischen 
König  und  Fürsten  wissen  die  Städteboten  so  wenig,  dass  Zweifel 
herrscht,  ob  von  ersterem  oder  den  letzteren  der  den  Städte- 
boteu  so  sehr  unsympathische  Antrag  auf  eine  Geldsteuer  aus- 
gegangen ist.3) 

Dem  Verhältnisse,  wie  es  auf  diesem  Reichstage  geherrscht 
haben  muss,  ganz  entsprechend  sagt  die  Instruction  für  die  kur- 
fürstlichen Gesandten  vor  dem  Wiener  Tage4):  „wann  uwer 
gnad  und  unser  herren  die  kurfursten  sich  zuvor  in  heimlickeit 
mit  einander  underredt  haben  als  sich  dann  geburet  . dann 
sollen  der  König  und  die  Kurfürsten  die  Mitwirkung  der  übrigen 
Stände  zu  ihren  gemeinsamen  Beschlüssen  zu  erlangen  suchen. 

Auf  dem  Reichstage  zu  Nürnberg  1426  stehen  dagegen  die 
Städte,  schon  in  Folge  der  Abwesenheit  des  Königs,  den  Fürsten 
viel  selbständiger  gegenüber.6) 

Zunächst  haben  die  Fürsten  die  vom  Könige  auf  dem  letz- 
ten Reichstage  zu  Wien  gemachten  Vorschläge  betreffs  Bekrie- 


*)  überhaupt  sind  unsre,  durchweg  städtischen  Aufzeichnungen,  nur  für 
Kenntnis  der  mit  den  Städten  gepflogenen  Verhandlungen  ergiebig,  über  das 
was  im  fürstlichen  Lager  vorgeht,  bleiben  die  Katsboten  meist  selbst  im  unklaren. 
*)  BTA  VIII,  135. 

*)  „und  men  meinde,  die  fürsten  hettent  den  rot  geben,  also  ist  uns 
für  wor  geseit,  daz  der  rot  und  der  anslag  usser  dem  kunig  gangen  ist, 
wanne  er  gerne  gelt  hette!“ 

4)  1.  c.  309  (S.  369  Z.  42  ff.) 

*)  Die  folgende  Darstellung  nach  BTA  VIII,  390. 


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52 


gung  der  Hussiten  diskutirt.  Das  Resultat  lassen  sie  durch 
einen  Bevollmächtigten  (den  kurpfälzischen  Gesandten  Emicho 
von  Leiningen)  den  Städteu  übermitteln.  Diese  erklären  sich 
im  allgemeinen  für  einverstanden.  Um  eine  bestimmtere  Er- 
klärung der  Städte  über  das,  was  sie  leisten  wollten,  zu  er- 
langen, fordern  die  Fürsten  die  Entsendung  eines  Ausschusses 
von  6 Städteboten  zu  ihren  Beratungen.  Diese  geben  nach 
mehrfachem  Drängen  schliesslich  auch  an,  was  die  Städte  leis- 
ten wollen,  als  aber  das  Gebotene  den  Fürsten  nicht  genügt, 
verweisen  die  sechs  Delegierten  das  fürstliche  Collegium  wieder 
auf  die  Gesammtheit  der  städtischen  Vertreter.  Eine  Verstän- 
digung dieser  mit  den  Fürsten  kommt  nicht  zu  Stande,  und  der 
in  Nürnberg  beschlossene  „Anschlag“  gegen  die  Hussiten  ent- 
behrt städtischer  Mitwirkung.1)  Uber  die  Verhandlungen  sagt 
ein  Schreiben  Ulms  an  Nördlingen  vom  29.  Juni  1426*):  es  seien 
die  Kurfürsten,  Fürsten,  Herren  und  Städte  täglich  zusammen- 
gewesen „iede  parthie  unter  ir  selb,  und  ouch  underwilen  als 
sich  denne  gepurte  alle  zu  ainander.“ 

Auf  dem  Reichstage  zu  Frankfurt,  November  1427,  laufen, 
wenigstens  anfänglich,  die  Beratungen  der  Fürsten  und  Städte 
gleiclimässig  nebeneinander  her.3) 

Beiden  wird  zuerst  ein  Landfriedensentwurf  vorgelegt  ; sie 
beraten  getrennt,  geben  aber  dann  ihr  Gutachten  über  denselben 
in  gemeinsamer  Sitzung  ab.  Betreffs  der  Artikel,  welche  der 
Cardinal  von  England  auf  dem  Septembertage  mit  den  Ständen 
für  den  Reichstag  vereinbart  hatte,  kommt  allerdings  eine 
Einigung  zwischen  beiden  Collegieu  nicht  zu  Stande,  da  die 
Städte  sich  wieder  an  dem  Vorschläge  einer  Geldsteuer  stossen. 
Die  Städte  bitten  schliesslich  unter  den  üblichen  demütigen  und 
bescheidenen  Redensarten  die  Fürsten  um  Vorlegung  eines  aus- 
gearbeiteten Anschlages,4)  der  auch,  zunächst  nur  im  Entwürfe, 
vorgelegt  wird,3)  freilich  ohne  Billigung  bei  den  Städten  zu 
finden.  Schliesslich  wird  trotzdem  der  fürstliche  Entwurf  in 
endgültiger  Fassung : das  Frankfurter  Reichskriegssteuergesetz, 

‘)  v.  Bezold  II,  78. 

>)  RTA  VIII,  407. 

*)  Das  Folgende  narli  UTA  IX,  70. 

*)  1.  c.  art  10. 

5)  I c.  art  27. 


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53 


durch  den  Cardinal  den  Städten  als  beschlossen  verkündet.') 
Das  Gesetz  ist  also  schliesslich  doch  ohne  Mitwirkung  der 
Städte,  nur  durch  Fürsten  und  Herren  »usgearbeitet , und  der 
Städteboten  geschieht  auch  in  den  Eingaugsformeln  des  Gesetzes 
keinerlei  Erwähnung.  Ihre  definitive  Erklärung  bezüglich  des- 
selben wird  ihnen  jedoch  zu  verschieben  gestattet. 

Ein  weiteres  interessantes  Bild  von  dem  Nebeneiuandertageu 
beider  Gruppen  geben  uns  die  Berichte  vom  Pressburger  Reichs- 
tage.2) 

Nach  der  üblichen  Eröffnung  durch  den  König  legen 
dessen  Bevollmächtigte  den  Ständen  die  Tagesordnung  in  ge- 
meinschaftlicher Sitzung  vor.  Die  Discussion  wird  unter 
Leitung  des  Erzbischofs  von  Mainz  eröffnet:  sofort  stellt  der 
Kurfürst  von  Brandenburg  den  Antrag,  wegen  voraussicht- 
lich ungenügender  Vollmacht  der  Erschienenen  die  Beratungen 
auf  einen  in  Anwesenheit  des  Königs  zu  Nürnberg  oder 
Frankfurt  abzuhaltenden  Reichstag  zu  verschieben.  Die 
einzelnen  Stände  werden  aufgefordert,  über  ihre  Vollmachten 
sich  zu  äussern. 

Die  Gesandten  der  übrigen  Kurfürsten8)  geben  den  beiden 
persönlich  Erschienenen  .ihre  Meinung  zu  verstehen,“  wonach  der 
Kurfürst  von  Mainz  den  Antrag  Brandenburgs  als  Beschluss 
der  Kurfürsten  verkünden.  Die  Städte 4)  zur  Abstimmung  auf- 
gefordert, erklären  sich  ihrerseits  bereit,  nach  dem  Wunsche 
des  Königs  gleich  in  die  Verhandlungen  einzntreten,  welche 
Selbständigkeit  die  Fürsten  sehr  verdriesst. 

Der  Herzog  von  Ostereich  setzt  den  König  von  diesen  ab- 
weichenden Beschlüssen  in  Kenntnis ; ausserdem  sind  diese  noch 
in  königlicher  Sitzung  durch  Vertreter  beider  Stände  dem 
Reichsoberhaupte  officiell  mitzuteilen. 

Dies  geschieht  seitens  der  Fürsten  durch  den  Erzbischof 
von  Mainz;  ehe  die  Reihe  nun  an  das  städtische  Collegium 
kommt,  nimmt  der  König  einige  Ratsboten  heimlich  bei  Seite 

')  1.  c.  art  36. 

*)  1.  c.  266 : Bericht  Ingolstetters  aus  Rcgcnsbnrg  (rgl.  unsere  S.  67 
ute  1)  nnil  267  : von  einem  ungenannten  Städter,  dein  Fundorte  naeh  wahr- 
scheinlich einem  Strassbnrgcr. 

*)  nur  Mainz  und  Brandenburg  waren  in  Person  anwesend. 

4)  eine»  besonderen  „fürstlichen“  Votums  wird  nicht  gedacht. 


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f>4 


uuil  sagt  ihuen:  er  kenne  den  Beschluss  der  Städte  und  dis- 
pensire  sie  von  der  öffentlichen  Antwort.  Die  ehrlichen  Städte- 
gesandten sind  oder  stellen  sich  überzeugt,  dass  der  König  dies 
in  bester  Absicht  gethan  habe,  um  sie  vor  dem  Unwillen  der 
Fürsten  zu  schützen.  In  Wahrheit  konnte  dieses  Verfahren 
nur  eine  Liebenswürdigkeit  Sigmunds  gegen  letztere  bedeuten; 
den  Städten  erwies  er  damit,  wie  v.  Bezold  *)  treffend  bemerkt, 
einen  schlechten  Dienst. 

Der  König  versucht  darauf  nochmals  die  Stände  zu,  wenig- 
stens vorläufigen,  Verhandlungen,  als  Grundlagen  für  den 
nächsten  Reichstag,  zu  bestimmen,  indem  er  1)  einen  Landfrie- 
densentwurf zur  Verbesserung  durch  die  Stände  vorlegt;  2)  die 
Festsetzung  von  Ort  und  Zeit*)  für  den  nächsten  Reichstag 
verlangt ; 3)  zur  Beratung  über  eine  Unterstützung  der  Grenz- 
nachbarn der  Hussiten  gegen  diese3)  auffordert.  Wieder  er- 
klären sich  die  Stände  gesondert:  die  Städte  sind  bereit  die 
königlichen  Vorschläge  ad  referendum  zu  nehmen;  die  Festset- 
zung des  neuen  Reichstages  überlassen  sie  den  Fürsten.  Diese 
in  ihrer  Antwort  bleiben  dabei,  Alles  auf  einen  unter  persön- 
licher Teilnahme  des  Königs  in  Deutschland  abznhaltenden 
Reichstag  zu  verschieben.  Bei  der  Erwiderung  des  Königs 
auf  dieses  Votum,  in  der  er  besonders  die  Schwierigkeit  für 
ihn,  in’s  Reich  zu  kommen,  darlegt,  sind  nur  die  Fürsten  selbst, 
je  ein  (d.  h.  fürstlicher)  Rat  und  6 Städteboten  zugegen.  Aber 
die  Fürsten  beharren  auf  ihrem  Verlangen,  dem  sich  endlich 
die  Städte,  unter  Aufgabe  ihrer  bisherigen  Sonderstellung,  an- 
schliessen.  In  der  entscheidenden  Schlusssitzung  wird  dem 
Könige  das  vereinigte  Begehren  beider  Gruppen  vorgelegt,  was 
ihn  zur  Nachgiebigkeit  zwingt. 

Auf  dem  Nürnberger  Tage  1431  tagen  nach  der  Eröffnung 
durch  den  König  beide  Stände  gemeinschaftlich.4)  Die  Tages- 


>)  m,  24. 

*)  beides  ist  in  dem  „eines  Tages  einig  werden“  (RTA  IX,  286  art  8) 
eingeschlossen. 

*)  also  nicht  zur  Vorbereitung  eines  Reichskrieges  durch  einen  allge- 
meinen Auschlag. 

*)  Das  Folgende  meist  nach  RTA  IX,  433.  85,  38. 


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55 

ordming  bilden  wieder:  Lamlfriede  und  Bekämpfung  der  Hus- 
siteu.  Zur  Vereinfachung  der  Beratungen  wird  eine  gemischte 
Commission  aus  fürstlichen  und  städtischen  Bevollmächtigten 
gewählt. 

In  dieser  einigt  man  sich  indessen  nur  über  den  ersten 
Punkt ; iu  Sachen  der  Leistungen  für  den  Hussitenkrieg  stehen 
wieder  Fürsten  und  Städte  einander  gegenüber.  Der  Ausschuss 
bringt  die  Ergebnisse  seiner  Beratung  vor  das  Plenum, 
dieses  vor  den  König.  Nach  weiteren,  allerdings  vergeb- 
lichen Beratungen . welche  unsere  Strassburger  Gewährs- 
männer leider  als  „zu  lang  zu  schriben“  übergehen,1)  ar- 
beiten die  Kurfürsten  „ in  irem  rate  “ die  Massregeln  für 
den  Ketzerkrieg  aus  und  legen  sie  den  Städten  vor,  um  ihre 
gemeinsamen  Beschlüsse  dem  König  übermitteln  zu  können. 
I)a  es  aber  nicht  gelingt,  sich  zu  einigen,  bringen  wiederum 
beide  Stände  gesondert  ihre  Beschlüsse  an  den  König.  Nach 
mannigfachen  weiteren  Beratungen,  welche  teils  innerhalb  der 
einzelnen  Ständegrnppen , teils  im  Plenum,  meist  aber  in  der 
Zwölfercommission  sich  abspielen,  kommt  es  zur  Einigung  zwischen 
König  und  Fürsten,  während  es  den  Städten  gelingt,  einer 
bindenden  Zusage  vorläufig  auszuweichen.*) 

Ausser  den  Verhandlungen,  wie  die  geschilderten,  an  denen 
alle  Stände  Anteil  nehmen,  spielen  sich  natürlich,  selbst  abge- 
sehen von  rein  persönlichen  und  privaten  Angelegenheiten,  Be- 
ratungen des  Königs  und  seiner  Vertreter  mit  einzelnen  Stän- 
den in  Fülle  auf  den  Reichstagen  ab. 

Handelssachen,  zuweilen  auch  Münzaugelegenheiten  regelt 
der  König  häufig  unter  Zuziehung  der  für  solche  Fragen  am 
meisten  sachverständigen  und  interessirten  Städte.  Diese  bleiben 
dafür  wieder,  wo  es  sich  um  Fragen  des  Reichsrechts,  Streitig- 
keiten unter  Fürsten  und  Verwandtes  handelt,  ausgeschlossen.”) 

Ausschussberatungen  treten  uns  in  den  verschiedensten 
Formen  entgegen. 

Ausschüsse  innerhalb  der  einzelnen  Ständegrnppen  finden 
wir  zum  Beispiel  1421  in  Nürnberg,  wo  die  anwesenden  Städte- 


')  1.  c.  435  art  4. 

*)  1.  c.  438  art  18  Schinna;  v Bezohl  III,  106. 

J)  Beispiele  dafllr:  HTA  IX,  286  art  6 ; wahrscheinlich  auch  435  art  8. 


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50 


boten,  44  an  der  Zahl,  die  Beratung  ihrer  Angelegenheiten 
einem  alle  Städtegruppen  umfassenden  Ausschüsse  von  11  Mit- 
gliedern übertragen.1) 

Seine  Städtebundspläne  wagt  der  König  auch  immer  nur 
einem  kleinen  Kreise  von  Ratsboten  anzuvertrauen,  so  1415  in 
Constanz ä)  und  1422  in  Nürnberg.3) 

Auf  dem  Nürnberger  Reichstage  1430  lassen  die  Fürsten 
ihre  Feldzugspläne  gegen  Böhmen  durch  eine  Abordnung  ihrer 
Räte  ausarbeiten.4) 

Die  aus  beiden  Ständegruppen  gemischten  Commissionen 
haben  meistens  die  Form,  dass  der  Gesammtheit  der  Fürsten 
oder  wenigstens  einer  unbeschränkten  Zahl  ihrer  Vertreter  eine 
bestimmte  Anzahl  Städteboten  beigeordnet  wird.  Dies  finden 
wir  in  Nürnberg  1422 ,5)  Frankfurt  November  1427,  Pressburg 
1429.  Auch  auf  dem  Reichstage  zu  Nürnberg  1426,  als  die 
Städte,  nach  Ansicht  der  Fürsten,  bezüglich  der  Höhe  ihrer 
Leistungen  für  den  Hussitenkrieg  nicht  recht  mit  der  Sprache 
heraus  wollen,  fordern  die  Fürsten  die  Entsendung  von  6 städ- 
tischen Vertretern,0)  welche  ihnen  denn  auch  Erklärungen,  frei- 
lich nicht  der  gewünschten  Art,  abgeben. 

Ein  zu  gleichen  Teilen  von  Fürsten  und  Städten  gebildeter 
Ausschuss  wird  zum  ersten  Male 7)  auf  dem  Nürnberger  Reichs- 
tage 1431  eingesetzt.  Die  fürstlichen  Vorschläge  zu  diesem 
Tage8)  nehmen  zur  Ausarbeitung  eines  „Anschlages“  gegen  die 
böhmischen  Ketzer  eine  Commission  in  Aussicht,  zu  welcher  der 


*)  1.  c.  Vlir,  34.  Die  vertretenen  Städte  resp.  Gruppen  sind:  Breisgau 
(durch  Basel),  Strassburg,  Mainz-Worms-Speier,  die  fränkischen  Städte,  die  Bo- 
denseestädte, Wetteran  (Frankfurt),  Schwaben  (Ulm),  Eisass  und  Nürnberg. 

1 l c.  VII,  181  art  1.  — Vgl.  Heuer  „ Städtebnndsbcstrebungen  und 
König  Sigmund“  S.  20. 

*)  RTA  VIII,  131. 

‘)  L c.  IX,  336. 

«)  1.  c.  VIII,  136. 

*)  1.  c.  390  art  3 und  3 a.  — Clilu,  Mainz,  Strassbnrg,  Constanz,  Ulm, 
Nürnberg  entsandten  ihre  Boten. 

*)  abgesehen  von  früheren  Teidigungstagen,  wie  Nürnberg  1383  (RTA  I, 
8.  418),  wo  allerdings  schon  eine  ans  je  4 Vertretern  von  Fürsten  und  Städten 
bestehende  Commission  vorkommt. 

s)  1.  c.  IX,  402  art  5.  Die  Datierung  des  Stückes  nach  Waizsücker  in 
„Forschungen  zur  deutschen  Geschichte“  XV,  420  ff. 


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57 


König  2 oder  3,  die  anwesenden  Kurfürsten  und  Fürsten  je 
einen  „und  auch  die  stete*  Vertreter  senden  sollen.  Günstiger 
für  letztere  ist  das  Zahlen  Verhältnis  in  dem  Ausschüsse,  der 
auf  dem  Reichstage  zur  Erleichterung  der  Verhandlungen  nun 
wirklich  beschlossen  wird. 

Die  Fürsten  schlagen  den  Städten  vor,  mit  Rücksicht  auf 
ihre  beiderseitige  grosse  Zahl  *)  einen  Ausschuss  von  je  6 Mit- 
gliedern beider  Ständegruppen  zu  bestellen. 

Die  Angaben  über  die  faktische  Zusammensetzung  dieses 
Ausschusses  sind  allerdings  widersprechend:  Nach  einem 

Ulmer  Gesandtschafts -Berichte  vom  15.  Februar*)  sollten  die 
Fürsten  „etlich,“  also  keine  bestimmte  Zahl,  die  Städte  sechs 
Abgeordnete  entsenden ; er  nennt  weiterhin  neun  fürstliche  Be- 
vollmächtigte; vier  davon  sind  als  kurpfälzische  Räte  nachzu- 
weisen.*) Der  Strassbnrger  Bericht  vom  22.  Februar4)  nennt  als 
fürstliche  Mitglieder  des  Ausschusses:  Kurtrier  in  Person,  je 
einen  Vertreter  Sachsens,  Cölns,  der  bayerischen  Fürsten  und 
zwei  pfälzische  Räte.  Zu  diesen  6 tritt  später  noch  ein  Ver- 
treter des  Kurfürsten  von  Mainz,  worauf  auch  die  in  den  Aus- 
schuss deputierten  Städte  nm  eine  sich  verstärken.5)  Als  letz- 
tere nennen  beide  Berichte  übereinstimmend : Cöln,  Aachen,  Ulm, 
Nürnberg,  Frankfurt,  Strassbnrg. 

Jedenfalls  erkennen  wir  selbst  ans  diesen  widersprechenden 
Angaben,  dass  die  Zusammensetzung  der  Commission  für  die 
Städte  sehr  günstig,  die  Gleichberechtigung  ihres  Collegiums 
praktisch  ziemlich  anerkannt  war.6)  — 

Zusammenfassend  können  wir  über  die  Formen  der 
Verhandlung  auf  den  Reichstagen  Sigmunds  sagen,  dass  sie 


')  sie  wären  viel,  und  die  Städte  auch,  lassen  sie  diesen  sagen. 
(RTA  IX,  432.) 

*)  1.  c.  433. 

*)  Kerlers  Note  1 zu  S.  678. 

*)  1.  c.  436. 

*)  v.  Bcznld  (III,  94)  folgt  diesen  letzteren  Angaben,  bemerkt  aber  irr- 
tümlich: schliesslich  seien  sämmtliche  Kurfürsten  im  Ausschüsse  vertreten 
gewesen.  Von  einem  brandenbnrgischen  Bevollmächtigten  hören  wir  aber  nichts. 

*)  Anf  den  Beichstagen  Friedrichs  III  erscheint  die  Bedeutung  der 
Städte  anch  in  den  Ausschussverhandlungen  sehr  gesunken.  Vergl.  Keussen 
21  und  42. 


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58 


dem,  genugsam  bekannten,  späteren  Brauche  schon  sehr  nahe 
kommen. 

Der  König  oder  seine  Vertreter  eröffnen  den  Reichstag  und 
legen  die  Tagesordnung  vor.  Die  Stände,  getrennt  in  den  Adel : 
Kurfürsten,  Fürsten,  Grafen,  Herren  — und  die  Städte,  be- 
raten, jede  beider  Gruppen  für  sich;  in  gemeinschaftlicher  Sit- 
zung suchen  sie  dann  ihre  Beschlüsse  behufs  gemeinsamer  Mit- 
teilung an  den  König  in  Uebereinstiminung  zu  bringen.1) 

Gemeinschaftliche  Verhandlungen  beider  Stände  linden  häufig 
in  Ausschüssen  statt.  Ursprünglich  bestehen  diese  Commis- 
sionen aus  der  Gesammtheit  oder  Mehrheit  der  Fürsten  und 
einer  beschränkten  Zahl  Städteboten ; erst  am  Schlüsse  unserer 
Periode  treten  uns  beide  Bestandteile  des  Reichstages  im  Aus- 
schüsse als  streng  gleichberechtigt  gegenüber.2) 

Vor  dem  König  giebt  der  Kurfürst  von  Mainz  das  fürst- 
liche Votum  ab ; das  Recht  der  Städte,  in  abweichendem  Sinne 
ihre  Stimme  abzugebeu,  bildet  sich  in  unserer  Periode  erst 
allmählig  heraus. 

Stimmt  das  fürstliche  Votum  mit  dem  Willen  des  Königs 
überein,  so  gilt  es  auch  bei  ablehnender  oder  unentschiedener 
Haltung  der  Städte  als  Reichstagsbeschluss.  Diese  können 
dann  nur  noch  in  passivem  Widerstande  die  Wirksamkeit  des 
Beschlossenen  möglichst  abzuschwächen  suchen.9) 

l)  Entgegen  der  Ansicht  v.  Bezolds  (UI,  95)  milchte  ich,  wenigstens 
fiir  einzelne  Fälle,  annehiuen,  dass  schon  in  unserer  Periode  beide  (Kollegien 
gleich  zu  Anfang,  nicht  erst  „bei  hervortretender  Meinungsverschiedenheit“ 
getrennt  berieten.  In  den  Einzelsitzungen  beschliesst  inan,  stellt  dann  in  ge- 
meinsamen Sitzungen  die  Resultate  gegenüber  und  sucht  sich  zu  verständigen. 
(Vergl.  besonders  die  erwähnten  Berichte  Uber  den  Reichstag  zn  Frankfurt, 
November  1427  und  zu  Pressburg  1429.)  Dies  passt  durchaus  zu  dem  Bilde 
des  späteren  Reichstages  mit  seinen  Relationen  und  C'orrclationcn.  — In  der 
Ablehnung  der  Dreizahl  der  Collegien  für  unsere  Zeit  schliesse  ich  mich 
dagegen  v.  Bezold  an. 

*)  Es  sei  hier  bemerkt,  dass  die  „reiclisstädtische  Registratur,“  jene 
Sammlung  von  älteren  Reichstagsakten , welche  um  1560  von  Seiten  der 
Städte  unternommen  wurde,  mit  der  Tendenz,  die  Reichsstandschaft  der  Städte 
schon  für  die  frühere  Zeit  in  möglichst  weitem  Umfange  nachzuweisen  (vgl. 
Waizsäckcr  in  RTA  I,  XIV  ff.)  auf  die  Verhandlungen  des  Nürnberger  Reichs- 
tages 1431  das  grösste  Gewicht  legt.  Vgl.  die  Auszüge  aus  der  .Registra- 
tur“ bei  Lilnig  „Reichs- Archiv  III,  2 S.  591  ff. 

3)  Der  bestimmte  Anspruch  der  Städte  „an  die  Beschlüsse  des  Kaisers 


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59 


Aber  diese  allgemein  bindende  Kraft  der  unter  Zustimmung 
der  Stände  erlassenen  königlichen  Befehle  besteht  nur  noch  in 
der  Theorie.  In  Wirklichkeit  sehen  wir  die  Reichsleitung  in 
einer  mit  den  Anschauungen  des  modernen  Staates  ganz  unver- 
einbaren Weise  mit  einzelnen  Ständen,  besonders  den  Städten, 
über  Gehorsam  oder  Nichtgehorsam  verhandeln  und  paktieren. 
Wiederholt  erhalten  die  Städte  Fristen,  um  ihren  Beitritt  zu 
den  von  König  und  Fürsten  gefassten,  theoretisch  also  absolut 
bindenden  Beschlüssen  zu  erklären.  So  schliesst  der  Reichstag 
zu  Frankfurt  November  1427  erst  einen  Monat  später  in  Heidel- 
berg ab,1)  auch  in  Nürnberg  1431  erhalten  die  Städte  4 Wochen 
Bedenkzeit.8) 


Capitel  IY. 

Gegenstände  der  Verhandlung. 

Am  Anfänge  unserer  Betrachtung  der  auf  den  Reichstagen 
verhandelten  Gegenstände,  der  Competenz  des  Reichstages, 
steht  die  Frage  nach  der  Verpflichtung  des  Königs,  in  der 
oder  jener  Angelegenheit  eine  Reichsversammlung  zu  berufen 
oder  umgekehrt:  seiner  Berechtigung,  aus  eigener  Machtvoll- 
kommenheit ohne  Mitwirkung  der  Stände  den  betreffenden  Fall 
zu  erledigen. 

Sichere  Normen  dafür,  in  welchen  Sachen  der  König  nach 
eigenem  Gutdünken  zu  entscheiden  befugt,  und  wo  er  den  Rat 
der  Stände  einzuholen  verpflichtet  war,  kennt  das  ältere  deut- 
sche Staatsrecht  nicht.*)  Als  die  Grundlage  für  die  Befugnisse 
der  Reichsstände  sieht  Ficker4)  den  freien  Willen  des  Reichs- 


und der  Fürsten  und  Herren  nicht  gebunden  zu  sein“  (Eichhorn  „Deutsche 
Rechtsgeschichte*  III,  331)  ist  zu  unserer  Zeit  nicht  erhoben  worden. 

‘)  RTA  IX,  70  art  39  und  100.  — v.  Bezold  II,  131. 

’)  1.  c.  409,  415  art  6,  S.  585  Z.  29  ff.  Die  fürstlichen  Vorschläge  IX, 
402  art  20  sprechen  sogar  davon,  dass  alle  Stände  (oder  besser : die  zur  Zeit 
nicht  in  Nürnberg  Anwesenden)  Itis  zum  1.  April  d.  J.  nach  Nürnberg  kom- 
men sollten  „einer  gnaden  (dem  Könige)  in  den  Sachen  auch  zuzesagen.“ 

*)  Waitz  „Deutsche  Verfassungsgeschichte“  VI,  456. 

4)  „Fürstliche  Willebriefe  und  Mitbesiegelnngen“  in  Mitteilungen  des 
Instituts  für  österreichische  Öeschichtsforscbung  UI,  1 ff. 


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60 


Oberhauptes  au,  das  sicli  gegen  nachträgliche  Kassierung 
etwaiger  als  ungerecht  angefochtener  selbständiger  Massregeln 
durch  das  Reichsgericht  dadurch  zu  sichern  sucht,  dass  es  vor- 
her die  Zustimmung  der  Stände  einholt. 

Dazu  kommt  der  Zwang  der  jeweiligen  politischen  Lage 
und  das  immer  fester  werdende  Gewohnheitsrecht,  welches,  je 
länger  je  mehr,  in  den  oder  jenen  Fällen  die  Mitwirkung  der 
Stände  vorzuschreiben  beginnt.1) 

Diese  Gniudauffassung  können  wir  für  unsere  Zeit  in  der 
Modificatiou  gelten  lassen,  dass  die  rechtlichen  Erwägungen 
schwächer,  das  Gewohnheitsrecht  und  vor  allem : der  Druck  der 
äusseren  Verhältnisse  entsprechend  stärker  wird.  Der  König 
holt  für  seine  Verfügungen  die  Genehmigung  des  Reichstages 
ein,  nicht  sowohl  um  sie  vor  späterer  gerichtlicher  Anfechtung 
zu  schützen,  sondern  damit  sie  überhaupt  Geltung  erlangen.  Die 
Selbstherrlichkeiten  innerhalb  des  Reiches  sind  schon  viel  zu 
sehr  entwickelt,  als  dass  sie  ohne  ihre  eigene  ausdrückliche 
Genehmigung  ihre  Interessen  unterordneu,  ihre  Kräfte  in  den  Dienst 
des  Ganzen  stellen  sollten.  Macht  der  König  einen  Versuch, 
durch  direkten  Befehl  Leistungen  für  das  Reich  anfzulegen,  so 
findet  er  kein  Gehör. 

Ein  Beispiel  genüge:  Wahrscheinlich  noch  unter  dem  Ein- 
drücke der  Erfahrungen  von  1422,  wo  ersieh  zu  Nürnberg  dem 
Willen  der  Fürsten  ganz  hatte  beugen  müssen,  macht  der 
König  Frühjahr  1423  den  Versuch,*)  nicht  etwa  auf  Grund  der 
Nürnberger  Beschlüsse,  sondern  aus  eigenster  königlicher  Macht- 
vollkommenheit, die  Stände  zur  Heereshilfe  gegen  die  Hussiten 
zu  berufen.  Der  Erlass  bleibt,  soweit  wir  sehen,  völlig  erfolglos. 

Die  Kurfürsten,  welchen  die  Landfriedensbewegung,  die  sie 
selbst  eben  in  Gang  gebracht  haben,  weit  wichtiger  ist  als  ein 
Feldzug  gegen  Böhmen,  bringen  den  Befehl  des  Königs  den 
Ständen  einfach  zur  Kenntnis,3)  ohne  sonst  weiter  Notiz  davon 
zu  nehmen.  Im  Gegenteil  erfahren  wir  ausdrücklich,  dass  sie 
nicht  die  Absicht  haben,  gegen  die  Ketzer  zu  ziehen.4)  Der 

')  Ehrenberg  62  f. 

’)  In  einein  Aussclireiben  von  Kaschiui,  22.  April:  RTA  VIII,  236 
(vgl.  Kerler  S.  277). 

*)  1.  c.  240. 

*)  Kerler  1.  c.  S.  277  Z 30  ff. 


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61 


Versuch  Sigmunds,  über  die  Köpfe  der  Fürsten  hinweg  etwas 
zu  erreichen,  misslingt  also  vollständig. 

Im  ganzen  mussten  naturgemäss  unter  Sigmunds  Regierung 
die  (Kompetenzen  und  Funktionen  des  Reichstages  auf  Kosten 
der  Krone  eher  erweitert  werden,  als  umgekehrt. 

Bei  Betrachtung  der  Verhandlungsgegenstände  der  Reichs- 
tage gilt  es  zweierlei  zu  betrachten : Einmal  müssen  wir  uns 
mit  kurzen  Andeutungen  der  Materien  begnügen  und  alles 
weitere  einer  eingehenden  Darstellung  der  politischen  Geschichte 
König  Sigmunds  zuweisen.  Ferner  gilt  es  häufig,  die  Grenze  zu 
ziehen  zwischen  dem,  was  auf  den  Reichsversammlungen  und  was 
durch  sie  geschah.  Bei  allen  Ereignissen,  die  wir  örtlich  oder 
zeitlich  einem  Reichstage  zuzuschreiben  haben,  ist  es  noch  eiue 
weitere  Frage,  ob  sie  auch  wirklich  unter  verfassungsmässiger 
Mitwirkung  der  Stände  erfolgten. 

Als  die  wichtigste  Aufgabe  für  König  und  Reichstag  in 
unserer  Zeit  dürfen  wir  die  Aufrechterhaltuug  von  Friede  und 
Recht  innerhalb  des  Reiches,  die  Sorge  für  den  Landfrieden , 
bezeichnen. 

Der  Schutz  der  öffentlichen  Sicherheit  liegt  nach  alter 
deutscher  Rechtsanschanung  dem  Könige  ob.1)  Aber  jemehr 
diese  Pflicht  anstatt  wie  früher  nur  die  Ahndung  gemeiner  Ver- 
brechen, jetzt  den  Ausgleich  von  Streitigkeiten,  die  Vermeidung 
der  Selbsthilfe  seitens  der  einzelnen  Territorialgewalten  in  sich 
schloss,  desto  mehr  bedurfte  der  König  zur  Aufrechterhaltung 
von  Friede,  Recht  und  Ordnung  der  Mitwirkung  der  Stände.*) 

Sigmund  zeigt  für  diesen  Teil  seiner  Herrscherpflichten 
gelegentlich  grossen  Eifer,  aber  während  der  langen  Jahre 
seiner  Abwesenheit  musste  sich  auch  hier  die  Selbsthilfe  des 
Reiches  regen.  Indessen  bringen  es  alle  Landfriedensbestrebun- 
gen, ob  königlich,  ob  fürstlich,  ob  städtisch,  schliesslich  über 
das  Stadium  des  Versuchs  fast  ausnahmslos  nicht  hinaus. 


')  Waitz  „Verfassuugsgeschichte“  VI,  419. 

*)  Einen  Überblick  Uber  die  Entwicklung  der  königlichen  Landfriedens- 
Verordnungen  vom  13.  bis  15.  Jahrhundert  giebt  Schweizer  in  „Vorgeschichte 
und  Grändung  des  schwäbischen  Bundes“  112  ff.  Besonders  ist  für  die  Auf- 
fassung des  verschiedenen  Charakters  der  Landfrieden  älterer  nml  jüngerer 
Zeit  auf  »eine  Ausführungen  zu  verweisen. 


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62 


Gleich  mit  Sigmunds  Ankunft  in  Deutschland  1414  beginnen 
seine  Bemühungen  um  den  Landfrieden.1) 

Auf  einem  Tage  zu  Nürnberg  lichtet  er  einen  Landfrieden 
für  Franken  ein.8)  In  Heilbronn  unterhandelt  er,  allerdings 
erfolglos,  über  ein  Gesetz  auf  gleicher  Grundlage  für  Schwaben 
und  die  Rheinlande.8)  Aber  liier  regt  sich  schon  die  Unzu- 
friedenheit und  das  Misstrauen  der  Städte.4) 

Auf  dem  Constanzer  Reichstage  1415  legt  der  König  einen 
umfassenden  Landfriedeusentwurf  vor.5)  Die  Organisation,  in 
4 unter  je  einem  Hauptmanne  stehende  Bezirke : Rheinland-Elsass- 
Wetterau,  Schwaben,  Franken,  Thüringen-Meissen-Hessen  — ge- 
teilt, umfasst  nunmehr  nicht  blos  den  Süden,  sondern  auch  die 
Mitte  des  Reiches.  Finke6)  vermutet,  dass  den  König  „die 
Klagen  der  auf  dem  Concil  mit  ihm  zusammengetroffenen  Ab- 
gesandten der  nördlich  vom  Main  gelegenen  Bezirke“  zu  dieser 
Erweiterung  veranlasst  hatten ; mit  mehr  Wahrscheinlichkeit  ist 
als  Grund  das  Vorbild  früherer  Gesetze  dieser  Art,  besonders 
des  Egerer  Landfriedens  1389 7),  anzunehmen. 

Aber  die  Haltung  der  Stände,  besonders  der  Städte  gegen 
diese  Vorlage  war  ablehnend.  Provinzielle  Verbände  hätten 
sich  diese  zur  Not  gefallen  lasseu.  aber  eine  allgemeine  Insti- 
tution, in  der  eine  Landschaftsgruppe  im  Falle  der  Not  der 
andern  beistehen  sollte,8)  bildete  für  ihren  Partikularismns 
einen  unüberwindlichen  Stein  des  Anstosses.  Einzelne  Gruppen, 
besonders  die  schwäbischen  Städte,  fühlten  sich  durch  Sonder- 


*)  Die  Landfriedeuspolitik  Sigmunds  in  seiner  ersten  Periode  bis  1418 
ist,  abgesehen  von  den  Ausführungen  Kerlers  in  den  Einleitungen  zu  RTA 
VII,  dargestellt  durch  Finke  1.  c.  38  ff.  — Die  etwa  dieselbe  Zeit  umfassende 
Arbeit  Weigels  „Landfriedeusverliandlungen  unter  Künig  Sigismund“  schliesst 
sich  sehr  eng  an  Kerlers  Darlegungen  au. 

*)  RTA  VII,  147.  — Finke  38  f. 

•)  RTA  VII,  159.  — Finke  39  f. 

*)  RTA  VII  S.  238  Z.  5. 

6)  1.  c.  182.  Finke  41.  — Heuer  „Stildtebnndsbestrebnngen  unter  König 
Sigmund“  25  f.  — Franklin  .Reichshofgericht“  I,  230. 

«)  1.  c.  41. 

7)  Derselbe  umfasste  die  Rheinlande,  Baiem,  Schwaben.  Franken,  Hessen, 
Thüringen.  Meissen:  RTA  II,  72  art  39. 

•)  1.  c.  VII,  182  art  4 — vergl.  dagegen  184. 


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63 


büudnisse  mit  den  benachbarten  Fürsten  wohl  gedeckt  und 
empfanden  das  Bedürfnis  nach  umfassenden  Reformen  gar  nicht. 
Diese  konnten  ihnen  nur  Opfer  auferlegen.  Schliesslich  moch- 
ten auch  die  gleichzeitig  von  Sigmund  aufgebrachten  Projekte 
eines  grossen  unter  seiner  Leitung  stehenden  Städtebundes  den 
Städten  eher  Misstrauen  als,  wie  deren  Urheber  sicher  gehofft: 
Vertrauen  einflössen.1) 

Nach  des  Königs  Rückkehr  aus  England  1417  werden  die 
Verhandlungen  wieder  aufgenommen,  aber  mehr  als  dies  eine 
wissen  wir  von  ihneu  nicht.*)  Der  einzige  wirkliche  Erfolg, 
den  des  Königs  Landfriedensbestrebungen  vor  und  während  des 
Constanzer  ('oncils  gehabt  hatten,  war  in  Franken  zu  ver- 
zeichnen.*) 

Eine  erneute  und  verstärkte  Bedeutung  musste  die  Land- 
friedensfrage in  der  Periode  der  Reichskriege  gegen  die  Hus- 
siten  gewinnen.  — „Seditio  civium,  occasio  hostium.“  — 
Man  merkte  bald,  dass  die  böhmische  Revolution  unüber- 
windlich sei,  solange  innere  Zwietracht,  der  unversöhnliche 
Gegensatz  kleiner  lokaler  Potenzen,  die  Kräfte  des  Ganzen  auf- 
rieben. Niemand  konnte  und  wollte  mit  Gut  und  Blut  für  das 
Reich  einstehen,  solange  ihm  dieses  nicht  wirksamen  Rechts- 
schutz, Sicherheit  seines  Lebens  und  Eigentums  gewährte.  Man 
muss  diesen  Punkt  erwägen,  ehe  man  sich  über  die  Teilnahm- 
losigkeit,  deu  kleinlichen  Egoismus,  die  ängstliche  Sehen  der 
Einzelnen  vor  Opfern  für  das  Reichsganze  sittlich  entrüstet. 

Die  Verhandlungen  über  einen  Landfrieden  zu  Nürnberg 
1422  haben  kein  Ergebnis,  da  die  Städte  erklären,  nicht  be- 
vollmächtigt zu  sein.1) 

Das  folgende  Jahr  1423  ist,  wie  schon  gelegentlich  er- 
wähnt, durch  eine  starke  Landfriedensbewegung  charakterisiert, 

’)  Vgl.  da»  städtische  Gutachten  RTA  VII,  18ö;  über  das  Misstrauen 
der  Städte  gegen  den  Küttig:  Finke  42. 

*)  RTA  VH  213  art  2 — Finke  46. 

•)  Überhaupt  muss  in  Frauken  der  Böden  für  LandfHedensbestrcbnngen 
am  günstigsten  gewesen  sein.  Über  die  Thätigkeit  des  fränkischen  Land- 
friedens . unter  Wenzel  seit  dem  Egerer  Reichstage  vergl.  Schindelwick  „die 
Politik  der  Reichsstädte  des  früheren  schwäbischen  Städtebandes  1380—1401“ 
Breslau  1888  S.  37  ff.  — Auch  unter  Sigmund  in  den  20er  Jahren  ist  die 
Landfriedensthätigkeit  in  Franken  erfolgreich. 

4)  RTA  VH!,  136. 


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64 


welche  indessen  ohne  Mitwirkung  des  Reichsoberhauptes,  ja  so- 
gar in  eiuem  gewissen  Gegensätze  zu  demselben  sich  vollzieht. 
Wahrscheinlich  bezweckten  die  Kurfürsten,  denn  sie  sind  die 
Urheber,  provinzielle  Landfriedensverbände,1)  wie  der  König 
einen  solchen  1414  für  Franken  geschaffen  und  für  Schwaben 
und  die  Rheinlande  angestrebt  hatte. 

Nach  einem,  wahrscheinlich  auf  den  Fürsten-  und  Städte- 
tag zu  Frankfurt  August  1423  gehörendem  Entwürfe,*)  werden 
4 provincielle  Verbände:  Rheinlande,  Franken,  Schwaben,  Ei- 
sass — welche  im  Notfälle  einander  unterstützen  sollen.*)  in 
Aussicht  genommen.  Möglich,  dass  auch  jetzt  wieder,  wie  1415, 
letztere  Clausei  den  Städten  das  ganze  Projekt  unannehmbar 
machte.  Wenigstens  führten  die  Verhandlungen,  welche  auf 
Frankfurter  Tagen  im  Juli  uud  August  1423,  sowie  auf  zahl- 
reichen städtischen  Sonderversammlungen  sich  abspielten,  zu 
keinem  Ergebnis.  Windecke4)  erzählt  von  dem  zweiten  Frank- 
furter Tage:  es  seien  die  Kurfürsten  von  Mainz,  Trier,  Pfalz 
und  Gesandte  von  Cöln  und  Brandenburg,6)  sowie  von  72 
Städten,6)  ausser  verschiedenen  Fürsten  und  Herren  anwesend 
gewesen.  Das  Landfriedensprojekt  sei  am  Widerstande  der 
Ritterschaft,  der  schwäbischen  und  elsässischen  Städte  ge- 
scheitert.7; Das  einzelne  bleibende  Resultat  der  kurfürstlichen  Be- 
mühungen war,  ähnlich  wie  wir  es  1415  beobachtet,  ein  vom 
Könige  vom  24.  November  1423  publicierter  Landfriede  für 
Franken  und  Baiern,8)  dem  aber  diesmal  ein  grosser  Teil  des 


')  Kcrler  in  ETA  VIII  S.  278. 

’)  1.  c.  272;  dazu  Keilers  Note  1. 

’)  1.  c.  art  2.  Diese  Bestimmung  entspricht  dem  Landfriedeusprojekte 
von  1415. 

4)  Cap.  112. 

‘)  Also  alle  Kurfürsten  — Sachsen  ist  damals  erledigt  — sind  vertreten, 
ein  Beweis  dafür,  dass  die  Landfriedensbewegung  als  eine  gemeinsame  Sache 
des  ganzen  Kurcolleginms  galt. 

*)  Die  Zahl  ist  verdächtig ; sie  begegnet  uns  schon  einmal , beim  Nürn- 
berger Reichstag  1422  (vgl.  1.  c.  Cap.  107,  Schluss). 

0 „es  mochte  aber  nit  ganck  hau,  wenne  die  ritterschaft  wolte  es  nit, 
so  wolten  die  swebischen  stete  und  die  stete  auf  dem  Eisasse  auch  nit,“ 
I,  c.  Schluss. 

•)  ETA  VIII,  278. 


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65 


fränkischen  Adels  fern  blieb.  Grund  hierfür  bildeten  Zoll- 
streitigkeiten mit  Bischof  Johann  II  von  Würzburg,  der  eins 
der  thätigsten  Mitglieder  des  Landfriedens  war.1) 

Während  die  Fürsten  anscheinend  von  ihren  Bemühungen 
um  Wiederherstellung  der  Rechtssicherheit  ablassen,  nimmt  der 
König  die  seinen  im  Jahre  1424  wieder  auf.  Ein  dem  Wiener 
Reichstage  1425  zuzuweisender  Landfriedensentwurf*)  fasst  das 
Fehdeunwesen  an  der  Wurzel.  Die  bisherigen,  meist  provin- 
ziellen Landfrieden  stellen  Verbände  dar,  welche  gegen  Fried- 
brüchige. das  heisst : solche,  die  ohne  vorher  angerufene  richter- 
liche Entscheidung  oder  regelrechte  Ankündigung  der  Fehde  mit  den 
Waffen  Selbsthilfe  üben,  einschreiten.  Sie  gelten  nur  für  ihre 
Teilnehmer;  wer  den  Landfrieden  nicht  beschwört,  „die  sollen 
des  landfrides  nicht  geniessen“  sagt  der  Egerer  Landfrieden.*) 
Dem  gegenüber  stehen  diejenigen  königlichen  Erlasse,  welche,  für 
alle  und  jeden  Geltung  beanspruchend,  Frieden  gebieten  oder 
wenigstens  ungerechte  Fehden  untersagen  und  Reichsstrafen 
androhen. 

Um  den  Entwurf,  die  Inhaltsangabe  zu  einem  solchen  Ge- 
setze, handelt  es  sich  hier.4) 

Der  Zweck  der  in  Aussicht  genommenen  Bestimmungen  ist 
der,  dass  „alle  mutwillige  kriege  vehde  und  flntschaft  ...  in 
deutschen  landen  . . . hingelegt,  verbotten  und  gewert  wurden.“ 
Niemand  soll  sich  an  des  andern  „Hab  noch  Gut“  vergreifen, 
ohne  vorher  „gütlichen  Austrag“  versucht  zu  haben.  Zuwider- 
handelnde sollen  in  genauer  festzusetzende  Strafen  verfallen 
sein.5) 


■)  BTA  VIII  260. 

')  1.  c.  331. 

*)  1.  c.  II,  72  art  46. 

4)  Ein  früheres  Beispiel  bietet  der  Entwurf  des  unveränderlichen  zehn- 
jährigen Landfriedens  Wenzels  von  1398:  ETA  III,  11.  Vgl.  Waizsftcker 
S.  6.  ff.  Erreicht  worden  damals  nur  provinzielle  Landfrieden. 

‘)  Nach  dem  Gesagten  sind  die  Ansführungen  Schweizers  1.  c.  115  f.  Uber 
den  Nürnberger  Landfrieden  von  1431  zu  berichtigen.  Nur  unter  den  be- 
schlossenen ist  er  der  erste,  „welcher  zwingende  Gewalt  über  alle  Rcichsan- 
gehiirigen  beansprucht."  Auch  in  unsem  Entwürfen  ist  „von  Annehmen, 
von  Beschwüren  gar  nicht  die  Kede.“  Auch  hier  werden  Reichsstrafen  gegen 
die  Friedbrecher  in  Aassicht  genommen.  Der  einzige  principielle  Unterschied 
ist  der,  dass  hier  ungerechte  Fehden  für  immer,  in  Nürnberg  1431: 
W « n d t , Der  deutsche  Reichstag  unter  König  Sigmund.  5 


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66 


Diese  Vorschläge  des  Königs  verquicken  sich,  wie  gewöhn- 
lich. mit  dem  Anerbieten  eines  Bundes,  den  das  Reichsober- 
haupt mit  den  Städten  und  der  Ritterschaft  zum  Heile  des 
Reiches,  ohne,  oder  besser:  gegen  die  Fürsten1)  schliessen  will. 

Wie  1425  in  Wien  die  Befriedung  des  Reiches  als  not- 
wendige Vorbedingung  für  die  Bekämpfung  der  böhmischen 
Ketzerei  erscheint,2)  so  setzt  der  König  auch  im  folgenden 
Jahre  zu  Wien  den  Landfrieden  auf  die  Tagesordnung  des 
demnächst  stattfindenden  Reichstages  zu  Nürnberg.5)  Auf 
diesem  betonen  denn  auch  die  Städte  entschieden,  dass  an 
eine  erfolgreiche  Bekämpfung  der  Hussiten  ohne  vorherige 
Wiederherstellung  von  Ruhe,  Friede  und  Ordnung  nicht  zu 
denken  sei.4)  Aber  von  Beschlüssen  in  dieser  Richtung  wissen 
wir  nichts. 

Besser  gedachte,  — aber  auch  nur : gedachte,  der  Reichs- 
tag zu  Frankfurt,  November  1427,  der  notwendigen  Verknüpfung 
von  Krieg  nach  Aussen  und  Frieden  im  Innern. 

Die  mehrerwähnteu,  auf  dem  Frankfurter  Septembertage 
für  den  Reichstag  im  November  festgesetzten  Beratnngspunkte  be- 
rücksichtigen auch  den  Landfrieden.5)  Derselbe  wird  auch  nach  Er- 
öffnung des  Reichstages  durch  den  Cardinal  als  erster  Punkt 
der  Tagesordnung  bezeichnet.  Es  wird  ein  Entwurf  vorgelegt, 
von  dem  die  städtische  Aufzeichnung,  der  wir  die  meiste  Kennt- 
nis über  die  Beratungen  des  Tages  verdanken,8)  erzählt : er 
habe  4 Landschaftsgruppen  festgesetzt,  mit  der  Verpflichtung 
gegenseitiger  Hilfleistung.7) 

alle  Fehden  auf  ein  Jahr  verboten  werden.  Es  ist  dies  nur  der  natürliche 
Gegensatz  zwischen  Ausnahmegesetz  und  dauernder  Institution.  — Per  all- 
gemeine Zwang“  der  Landfrieden  ist  demnach  dem  Nürnberger  Reichstage 
nur  in  der  Ausführung  nicht  in  der  Idee  eigentümlich. 

l)  RTA  VIII,  331  art  8. 

*)  1.  c.  art  5. 

*)  I.  c.  401 ; 8.  484  Z.  5 f. 

*)  1.  c.  vni,  390  art  1 a:  Werde  nicht  Friede  geschaffen  „so  were 
versehenlich.  daz  also  forderlich  nit  geholfen  nnd  gedienet  wurde,  also  oh 
fride  der  lande  were.“ 

*)  1.  c.  IX  58  art  9 Item  „de  generali  pace  provinciae,  sen  patriae,  vnl- 
gariter  lantfriden  nunenpata  constitnenda  et  flrmanda.“ 

•)  L c.  70. 

*)  1.  c.  art  4:  Dieser  Punkt,  erscheint  natürlich  den  Städtern  besonders 
wichtig  und  — ansttissig. 


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67 


Ein  uns  erhaltener,  wahrscheinlich  hierher  gehöriger  Ent- 
wurf1) kehrt  in  wenig  veränderter  Gestalt  bei  dem  Reichstage 
zu  Nürnberg  1431  wieder.2) 

Die  Haltung  der  Stände  gegenüber  den  Vorschlägen  des 
Cardinais  war  nicht  sehr  entgegenkommend:  Die  St.  Ge- 

orgsritterscliaft  in  Schwaben  erklärte,  an  ihrer  Einung 
genug  zn  haben;  die  fränkischen  Bischöfe  verweisen, 
ohne  dem  Projekte  im  ganzen  feindlich  zu  sein,  auf  ihre  Zu- 
gehörigkeit zum  dem  provinziellen  Landfrieden  für  Franken ; 
einzelne  Städte,  wie  Cöln,  Strassburg  meinten,  Pflege  des  Land- 
friedens sei  nur  auf  Grund  lokaler  Vereinbarung  innerhalb  land- 
schaftlich ganz  beschränkter  Gruppen  zu  ermöglichen.3)  Be- 
schlüsse in  Sachen  des  Landfriedens  sind  in  Frankfurt  wohl 
auch  nicht  zu  Stande  gekommen. 

Dafür  fällt  in  die  Verhandlungen  über  die  Ausführung 
des  Frankfurter  Reichskriegssteuergesetzes  ein  neuer  Land- 
friedensversuch der  Kurfürsten.  Einer  Mahnung  zur  Zahlung 
der  in  Frankfurt  beschlossenen  Reichssteuer  an  Ulm,  vom  Bin- 
ger  Tage,  Mai  1428,  aus  erlassen,  liegt  ein  kurfürstlicher  Ent- 
wurf bei,*)  der  die  alten  Bestimmungen  gegen  Selbsthilfe  (aus- 
genommen im  Falle  von  Rechtsverweigerung  und  nach  gehöriger 
„Ansage“),  über  die  Friedlosigkeit  herrenloser  reisiger  Knechte, 
über  die  Sicherheit  der  Strassen  für  Kaufleute  und  Pilger  etc. 
wiederaufnimmt.  Interessant  ist  der  erste  Artikel:  dass  sie 
(die  Kurfürsten)  und  die  Städte  „diese  nauchkomenden  jare 
ainander  frenntlich  mainen  sullen  und  wellen  und  zu  keiner 
veientschafte  komen.“ 

Noch  lebhafter  wird  der  Wunsch  der  Kurfürsten,  gemeinsam 


’)  RTA  IX,  69  — Unzweifelhaft  ist  allerdings  die  Datierung  des  Stückes, 
in  der  sich  Kerler  (S.  79  Note  3)  an  Wencker  (Apparatus  et  instructus  archi- 
vorum  p 320,  wo  artt  9—12  citiert  werden,)  anschliesst,  nicht. 

*)  vergl.  I.  c.  436  art  2 nnd  die  Verweisungen  Kerlers  in  den  Noten. 

*)  1.  c.  70  art  7—9  .sie  weren  vur  sich  hie,  aber  ire  ombsesser  weren 
nit  hie,“  erklärt  ('«In  als  Orund  seiner  Ablehnung. 

4)  1.  c.  IX,  189,  (vgl.  Kerler  S.  172)  — Fttr  die  Zugehörigkeit  des  Ent- 
wurfes zum  Mahnschreiben  (1.  c.  142)  vgl.  die  Quellenangabe  zu  142  unter  U 
und  147,  Nachschrift.  — Der  Entwurf  wurde  nur  an  die  schwäbischen,  frän- 
kischen und  rheinischen  Städte  gesandt  (vgl.  S.  172  Z.  19  ff);  auf  Mittel- 
nnd  Norddeutschland  verzichteten  also  diese  Landftiedenspläne  von  vornherein. 

B* 


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68 


mit  den  Städten  die  Sorge  für  Friede  und  Recht  im  Reiche  in 
die  Hand  zu  nehmen,  im  folgenden  Jahre,  1429. 

„Nicht  etwa  durch  einen  gesetzgeberischen  Akt  des  Reichs- 
oberhauptes“ erstrebte  man  die  Besserung  der  inneren  Schäden 
des  Reichs,  sondern  „auf  dem  Wege  freien  Uebereinkommens,“  ’) 
Besonders  auf  den  drei  Fürsten-  und  Städtetagen  zu  Speier: 
Mai-Juni,  Aschaffeuburg : August,  Worms:  Oktober  1429 
kommt  diese  Bewegung  zum  Ausdrucke. 

Zu  Speier  legt  der  Erzbischof  von  Mainz,  der  überall  in 
diesen  Beratungen  als  Vertrauensmann  der  Kurfürsten  er- 
scheint,8) den  Städten  drei  Artikel  als  Grundlage  für  eine  Ver- 
einigung zwischen  Kurfürsten  und  Städten  vor.3)  Schutz  der 
Strassen  und  Unterdrückung  der  unrechtmässigen  Selbsthilfe  sind 
auch  hier  als  Ziele  aufgestellt.  Diese  Punkte  sollen  die  Städte 
durchsprechen  und  dem  Kurfürsten  Antwort  zukommen  las- 
sen. Nach  Beschluss  eines  Kurfürstentages  zu  Frankfurt.  Juli 
1429,  soll  diese  Antwort  zu  Aschaffenburg  gegeben  werden.4) 

Zwischen  den  beiden  Tagen  von  Speier  und  Aschaffenburg 
spielen  nun  lebhafte  städtische  Beratungen.5) 

Die  elsässischen  Städte  versuchen,  sich  über  eine  gemein- 
same Haltung  den  Anträgen  der  Fürsten  gegenüber  zu  ver- 
ständigen „umb  das  man  nit  vor  den  fürsten  in  zwei- 
gunge  stände.“6)  Gingen  die  Vorschläge  des  Mainzers  nicht 
durch,  so  sollten  wenigstens  die  elsässischen  Städte  „von 
Weissenburg  bis  Basel“  einen  Landfrieden  zu  vereinbaren  suchen.7) 
Die  schwäbischen  Städte  wollen  jedenfalls  die  Vorschläge  der 
Kurfürsten  zu  Aschaffenburg  abermals  „ad  referendum“  nehmen.8) 


')  Kerler  RTA  IX  S.  318. 

*)  Nach  seinem  Ladeschreiben  zum  Aschaffenbnrger  Tage  (I.  c.  255) 
könnte  man  allerdings  glauben , der  Kurfürst  sei  zu  Speier  ans  eigner 
Initiative  anfgetreten.  Wahrscheinlich  ist,  dass  man  anfänglich  nur  Kur- 
mainz mit  den  Städten  verhandeln  liess,  um  diese  nicht  stutzig  zu  machen. 

*)  1.  c.  248  u.  265  (S  336  Z.  3 ff.) 

4)  1.  c.  255. 

*)  Eine  Übersicht  Uber  die  fürstlichen  und  städtischen  Versammlungen  des 
Jahres  1429  giebt  Kerler  S 319. 

*)  1.  c.  251  art  2. 

’)  1.  c.  art  4. 

")  1.  c.  258. 


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69 


Augsburg  erklärt  in  einer  Zuschrift  an  den  Erzbischof  von 
Mainz1):  allgemeinen  Beschlüssen  Folge  leisten  zu  wollen. 

Der  Aschaffeuburger  Tag.  auf  dem  die  Kurfürsten  den 
Städten  einen  auf  Grund  der  drei  Artikel  ausgearbeiteten  Ent- 
wurf8) vorlegten,  vertagte  sich  auf  den  2.  October  nach  Worms. 
Ein  grosser  Städtetag  zu  Esslingen  sollte  inzwischen  eine  ge- 
meinsame Stellungnahme  der  Städte  herbeiführen.  Dass  dies 
nicht  gelang,5)  war  schon  ein  schlimmes  Vorzeichen  für  den 
Tag  zu  Worms,  welcher  denn  auch  die  Landfrieden-Bundespläne 
der  Kurfürsten  völlig  scheitern  sah. 

Der  Bund  der  schwäbischen  und  der  Bodenseestädte  er- 
schienen in  Worms  überhaupt  nicht  mehr,  sondern  sagten 
schriftlich  ab.  Nürnbergthatdasselbe  mündlich  durch  seine  Gesandt- 
schaft.*) Von  der  Haltung  der  übrigen,  besonders  der  rheini- 
schen Städte,  wissen  wir  nichts.  Sicher  ist  nur,  dass  die  kur- 
fürstliche Landfriedensbeweguug  von  1429  wie  die  von  1423 
schliesslich  im  Sande  verlief. 

Drei  Gründe  für  die  ablehnende  Haltung  der  Städte, 
an  welcher  das  ganze  Project  scheiterte,  sind  zu  erkenuen: 

Der  erste  ist  das  tief  eingewurzelte  von  Alters  her  be- 
bestehende Misstrauen  der  Städte  gegen  die  Fürsten  und  was 
nur  von  ihnen  ausging.  Man  fürchtete  sie,  auch  wenn  sie  Friede 
und  Recht  boten.  Dazu  kamen  gerade  damals  noch  besondere 
Beschwerden,  welche  dieses  Misstrauen  als  wohlbegründet  er- 
scheinen Hessen.  Zu  derselben  Zeit,  als  die  Fürsten  den  Städten 
Entwürfe  zur  Sicherung  der  Strassen  und  Regelung  des  Fehde- 
wesens vorlegten,  waren  die  Städte  durch  Schädigung  an  Leib 
und  Gut,  welche  sie  im  fürstlichen  Gebiete  erfahren  hatten 5)  dahin 
gebracht  worden,  dass  sie  allen  Ernstes  daran  dachten,  ihren 
Kanfleuten  den  Besuch  der  Frankfurter  Messe  bis  auf  weiteres 


*)  RTA  IX  259. 

*)  L e.  260. 

”)  1.  c.  266. 

‘)  I.  c.  270  — die  Angabe,  dass  Nürnberg  zu  Worms  nicht  vertreten 
war,  ist  ein  Versehen  Kerlers  (S  319  Z.  25):  vgl.  S 339  Z.  27  u.  32. 

4)  Besonders  rief  der  Frevel  Conrads  von  Weinsberg  an  schwäbischen 
Kauflenten,  die  zur  Frankfurter  Messe  reisten,  Herbst  1426,  grosse  Anfregung 
hervor.  Vgl.  Aschbach  IH,  307.  — Stalin  „Wirtembergische  tiesch.  HI  429. 


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70 


zu  verbieten.  Das  Geleitsgeld  war  fiir  die  Städte  eine  lästige 
Steuer,  wie  für  die  Fürsten  eine  willkommene  Einnahmequelle. 
Die  Bürger  wollten  nun  ihre  Opfer  nicht  umsonst  gebracht 
haben  und  verlangten,  als  sie  im  Geleite  wiederholt  beraubt 
worden  waren,  von  den  Fürsten  schriftliche  Verpflichtung  zum 
Schadenersätze.  Diese  Forderung  erschien  wieder  den  Fürsten 
unbillig.  Sie  sprachen  viel  von  „Misstrauen  in  ihr  fürstliches 
Wort,“  das  ihnen  „Unehre  bringe;“  die  materielle  Seite  der 
Verpflichtung  wrar  ihnen  jedenfalls  noch  lästiger. 

Gerade  auf  dem  Aschaffenburger  Tage  verwahren  sich  die 
Fürsten  gegen  diese  Zumutung;1)  noch  auf  dem  Nürnberger 
Reichstag  1431  wurde  darüber  verhandelt. 

Wir  hören  nämlich,  dass  dort  die  Kurfürsten  von  Pfalz  und 
Mainz  den  Gesandten  Ulms  und  Nördlingens  (jedenfalls  als  den 
Vertretern  des  schwäbischen  Städtebundes)  diese  Forderung  ab- 
schlugen.®) Dass  die  Städte  unter  solchen  Umständen  zu  Land- 
friedensplänen der  Fürsten  kein  grosses  Zutrauen  hatten,  wird 
ihnen  niemand  verdenken. 

Dazu  kommt  noch  ein  drittes:  Wie  schon  1423  die  Kriegs- 
pläne des  Königs  die  Politik  der  Kurfürsten  kreuzten,  so  dürfen 
wir  auch  jetzt  eine  stille  aber  fühlbare  Opposition  des  Reichs- 
oberhauptes annehmen. 

Die  Kurfürsten  hatten  es  nicht  für  nötig  gefunden,  bezüg- 
lich ihrer  Absichten,  mit  dem  Könige  sich  in’s  Einvernehmen 
zu  setzen.  Natürlich  steht  dieser  nun  dem  ganzen  Plane  miss- 
trauisch gegenüber  und  sieht  darin  nichts  als  einen  neuen  Ein- 
griff in  seine  königliche  Prärogative.  Dem  entsprechend  be- 
eilen sich  anch  die  Städte,  ihre  Ablehnung  der  Landfriedens- 
entwürfe beim  Könige  sich  zum  Verdienste  zu  machen.  Peter 
Volkmeir  aus  Nürnberg  schreibt  an  Kaspar  Schlick,  den  be- 
kannten Kanzler  Sigmunds : die  Vertreter  Nürnbergs  zu  Worms 
hätten  in  der  Landfriedenssache  durchaus  auf  den  König  ver- 
wiesen.8) Augsburg  lässt  durch  seine  Gesandten  erklären,  es 
habe  sich  nie  einer  Vereinigung  von  Fürsten  und  Städten  ange- 
schlossen, noch  würde  es  das  thuen,  ohne  den  König  auszu- 


')  ETA  IX,  265  art  2. 
*)  1.  c.  433  art  2. 

■)  L c.  270. 


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71 


nehmen.1)  Nachdem  das  ganze  Projekt  zu  Worms  schon  ge- 
fallen war,  warnte  der  König  die  Gesandten  Strassburgs  vor 
solchen  Plänen  der  Kurfürsten  unter  energischer  Betonung 
seiner  oberherrlichen  Stellung : „er  wer  der,  der  daz  honbt  wer, 
und  die  korfursten  die  gelider.“  !) 

Seine  eigenen  Bemühungen  um  Herstellung  der  Rechts- 
sicherheit im  Reiche  nimmt  der  König  auf  dem  Reichstage  zu 
Pressburg,  Ende  1429,  auf.  Ketzerkrieg  und  Landfriede  stehen, 
wie  so  oft,  auch  hier  wieder  zusammen  auf  der  Tagesordnung 
der  Versammlung.  Der  König  legt  den  Ständen  einen  Entwarf 
vor,  der  aber,  soweit  wir  sehen,  nicht  durchberaten  wmde. s) 

Der  Nürnberger  Reichstag  von  1430  übernimmt  mit  der  übri- 
gen Erbschaft  seines  Vorgängers  auch  die  Sorge  für  den  Land- 
frieden. Aber  der  Entwurf,  den  die  Fürsten  den  Städten  vor- 
legen, erscheint  diesen  für  erstere  „gar  wohl  gesetzt,“  aber 
„ganz  wider  die  stette“  zu  sein.4)  Nach  ihrer  Gewohnheit 
lehnen  sie  indessen  die  fürstlichen  Vorschläge  nicht  etwa  ab, 
sondern:  „wurden  . . . alle  ainmutiklich  ze  rate:  darzu  nicht 
ze  antworten,  denne  des  schabe  hinder  sich  an  die  stette  zu 
nemen.“ 

Auch  auf  dem  Nürnberger  Reichstage  1431  galt  die  Sorge 
für  Ordnung  und  Sicherheit  im  Reiche  als  eine  der  wichtigsten 
Aufgaben;  freilich  blieben  die  Ergebnisse  auf  diesem  Gebiete 
an  Bedeutung  hinter  den  hier  beschlossenen  umfassenden  kriege- 
rischen Massregeln  zurück. 

Wir  haben  hier  2 Landfriedensentwürfe  zu  unterscheiden. 
Den  einen  führt  uns  ein  Strassburger  Gesandtschaftsbericht 
vom  22.  Februar3)  auszugsweise  an.  Wie  schon  erwähnt,  stimmt 
derselbe  in  allen  wesentlichen  Bestimmungen  mit  einem  dem 
Reichstage  zu  Frankfurt  November  1427  zugewiesenen  Entwürfe6) 
überein.  Aber  dieser  Landfrieden  muss  Entwurf  geblieben  sein. 

Diejenige  Gestalt,  in  welcher  der  Landfriede  später  zum 


*)  I.  c.  271. 

>)  L c.  277  (S  349  Z.  39.) 

*)  1.  c.  286  art  8 und  287  art  8,  Schluss. 
*)  L c.  343  art  1;  vgl.  auch  339  art  2. 

«)  1.  c.  436  art  2. 

*)  1.  c.  69.  vgl.  unsere  S.  67. 


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72 


Beschlüsse  erhoben  wurde,')  enthält  etwas  wesentlich  anderes. 
Hier  tritt  der  Landfriede  nicht  mit  dem  Ansprüche,  eine  dauernde 
Institution  zu  werden,  sondern  nur  als  Ausnahmegesetz  für  die 
Dauer  des  böhmischen  Feldzuges  auf.  Als  solches  verfährt  er 
allerdings  auch  viel  radikaler.  Er  verlangt  nicht  etwa  blos 
Sicherheit  der  Strassen  und  rechtmässiges  Ansagen  der  Fehde, 
sondern  verbietet  jede  Selbsthilfe  überhaupt  bei  schwerer  Strafe. 

Scheinbar  bedeutet  dieses  königliche  Friedensgebot  weit 
mehr  als  ein  Landfrieden,  aber  nur  scheinbar.  Es  fehlt  ihm 
jede  organisatorische  Bestimmung;  seine  Forderung  musste 
wegen  ihrer  Weite,  seine  Strafen  wegen  ihrer  Härte  illu- 
sorisch bleiben.  Einen  „höchst  ungenügenden  Versuch“  nennt 
es  v.  Bezold,*)  einen  Versuch,  der  sich  würdig  an  die  lange 
Reihe  misslungener  Landfriedensbestrebungeu  anschliesst,  welche 
die  Reichstage  unter  Sigmund  durchziehen  und  begleiten.  — 

Habeu  wir  die  Landfriedensverhandlungen  unsrer  Periode 
wegen  ihres  engen  Zusammenhanges  mit  den  kriegerischen  Unter- 
nehmungen des  Reichs,  dann  wegen  der  interessanten  Einblicke 
in  das  gegenseitige  Verhältnis  der  grossen  Faktoren  des  Reichs- 
lebens, welche  sie  gewähren,  ausführlicher  darzustelleu  versucht, 
obwohl  die  Versammlungen,  auf  denen  sie  sich  abspielen,  viel- 
fach keine  Reichstage  im  engeren  Sinne  sind  — so  können  wir 
bei  dem  Zoll-  und  Münz  wesen,  welches  mit  der  Landfriedens- 
frage vielfach  zusammenhängt,3)  uns  mit  der  Erwähnung  be- 
gnügen.4) 

Eine  Reichsgesetzgebung  auf  diesen  Gebieten  kennt  ja 
unsre  Zeit  nicht,  während  wir  zu  einer  solchen  in  Sachen  des 
Landfriedens  wenigstens  die  Ansätze  wahrnehmen.  — Auch  die 

’)  Der  Entwurf:  KTA  IX  405  — das  fertige  Gesetz : 1.  c.  411.  Letz- 
teres entspricht,  abgesehen  von  der  kürzeren  Dauer,  die  es  für  den  Landfrieden 
festsetzt,  den  fürstlichen  Vorschlägen:  402  art  13.  Besonders  entlehnt  cs 
diesen,  trotz  der  Gegenvorstellnngen  der  Städte  (406  art  3—407  art  5), 
die  strengen  Strafbestimmungen  (vgl.  402  art  19). 

»)  UI,  109. 

*)  Nachweise  für  diese  Zusammengehörigkeit  giebt  Waizsäcker  1.  c.  VI 
S.  260.  — Vgl.  auch  Ehrenberg  71. 

4)  Für  die  Münzreformversnehe  Sigmunds  bis  zum  Jahre  1418  vergl. 
Finke  S.  37  und  38,  ferner  für  die  allgemeinen  Münzverhältnisse  jener  Zeit: 
Hegel  in  Städtechroniken  I,  234  f;  über  die  Nürnberger  Münze  in  jener  Pe- 
riode Hegel  1.  c.  242  ff. 


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73 


Besteuerung  der  Juden  ist,  da  sie  keine  eigentliche  Reiclistags- 
materie  bildet,  zu  übergehen. 

Dagegen  erhebt  das  Pfahlbürgergesetz  Sigmunds  vom 
Nürnberger  Reichstage  1431,  teils  wegen  seiner  allgemeineren 
politischen  Bedeutung,  teils  wegen  des  grösseren  Masses  stän- 
discher Mitwirkung,  das  ihm  zuzuschreibeu  ist,  Anspruch  auf 
Berücksichtigung. 

Die  Wendung  von  Sigmunds  früher  so  oft,  meist  freilich 
nur  mit  Worten  bewiesener  Städtefreundlichkeit  zu  engem  An- 
schluss an  den  Adel,  von  welcher  das  genannte  Gesetz  Zeugnis 
ablegt,  muss  sich  während  Sigmunds  Aufenthalts  in  Schwaben, 
Winter  1430/31,  vollzogen  haben.  Dort  trat  die  in  der  „St.  Georgs- 
gesellschaft“ vereinigte  Ritterschaft  an  den  König  mit  der  Auf- 
forderung, den  Städten  das  Aufuehmen  und  Halten  der  sogenannten 
Pfahl-  oder  Ausseubürger  zn  verbieten,  klagend  heran. 

Die  lebhafte  städtische  Opposition  dagegen  lässt  sich  durch 
den  ganzen  Nürnberger  Reichstag  verfolgen.  In  einem 
beschränkten  Masse , soweit  es  sich  um  die  Aufnahme 
„eigener  Leute“  handelte,  würden  sie  sich  gesetzliche  Be- 
stimmungen wohl  haben  gefallen  lassen,  aber  die  ritter- 
schaftlichen  Forderungen ')  erschienen  ihnen  als  gröbliche  Ver- 
letzung des  alten  Herkommens,  wie  ihre  Gegenvorstellungen  auf 
den  Eutwnrf  der  Ritterschaft2)  zeigen.  Der  schliessliche  könig- 
liche Erlass,3)  den  ein  späteres  Ausschreiben,  merkwürdig  genug, 
auch  mit  Rat  nnd  Mitwirkung  der  Städte  zustande  gekommen 
sein  lässt,4)  befriedigt  allerdings  die  Forderungen  des  Adels 
nicht  ganz.  Abgesehen  von  einer  abweichenden  Zeugenreihe, 
in  welcher  der  niedere  Adel  weit  weniger  als  im  Entwürfe 
überwiegt,5)  nnd  einer  Erweiterung  in  der  historischen  Begrün- 
dung des  Gesetzes 6)  zeigt  die  Fassung  des  Königs  auch  in  der 
Form  des  Bflndnisverbotes  einen  wesentlichen  Unterschied. 

‘)  uiedergelegt  in  dem  Entwürfe,  RTA  IX,  427. 

*)  1.  c.  428. 

*)  1.  c.  429. 

*)  1.  c.  429  b (S.  572  Z 4)  — ein  schlagendes  Beispiel,  wie  wenig,  mangels 
andrer  Nachrichten,  ans  derartigen  Eingangsformeln  zu  entnehmen  ist. 

•)  Kerler  I.  c.  S.  500  Z 26  ff. 

*)  Ausser  anf  die  goldne  Balle  nnd  den  Egerer  Landfrieden  bernft  sich 
der  königliche  Erlass  anf  das  „Statntum  in  f&vorem  principum“  König  Hein- 
richs, Worms  1231  (Monomenta  Germania«  Leges  II,  282—83). 


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74 


Die  Vorlage  der  Ritterschaft  wendete  sich  tendenziös  gegen 
Bündnisse  „etlicher  Städte  mit  Bauern  und  armen  Leuten  gegen 
ihre  Herrn;“  „demokratische  Verbindungen“  nennt  sie  Keiler.1) 
Entschieden  richten  sich  die  städtischen  Gegenvorstellungen 
gegen  dieses  gehässige  Verlangen.  Dass  sich  Bauern  gegen 
ihre  Herrn  verbänden,  meinen  die  Städte,  dünke  sie  selber  un- 
billig, aber  dass  sie  sich  mit  ihren  Nachbarn  zum  Schutze  gegen 
Friedensstörer  vereinigten , das  erscheint  ihnen  gerechtfertigt : 
„wanne,  solte  daz  nit  sin,  so  wurde  maniger  wider  recht  be- 
raubet, der  sust  bi  billich  und  bi  recht  blibet.“  *) 

Der  König  konnte  naturgemäss  weder  auf  diese  letztere 
Auffassung,  noch  auf  das  tendenziöse  Begehren  der  Ritter  und 
Fürsten  ganz  eingehen.  Sein  Erlass  steht  mit  einem  allgemei- 
nen Bündnisverbot  für  beide  Teile  *)  zwischen  beiden  Parteien 
so  ziemlich  in  der  Mitte.4) 

Ob  das  Gesetz  einen  andern  Erfolg  hatte,  als  die  Städte 
zum  Kriege  gegen  die  Hussiten  noch  unlustiger  zu  machen,  als  sie 
es  ohnehin  waren,  und  ausserdem  unter  ihnen  die  Pläne  eines  grossen 
allgemeinen  Städtebundes  wieder  aulieben  zu  lassen,  wissen 
wir  nicht. 

Andrer  Art  war  die  Bedrohung  ihrer  materiellen  Inter- 
essen, welche  die  Städte  durch  die  Handelserlasse  des  Königs 
erfuhren.  Auch  diese  werden  zwar  gelegentlich  auf  Reichs- 

>)  RTA  IX  S.  500. 

*)  I.  c.  428  art  6. 

*)  I.  e.  42t)  art  5.  — Auch  der  Egerer  Laiulfriede  1389  hob  neben  dem 
grossen  Stildtebundo  auch  den  Fiirstenbund  auf,  verklausulierte  aber  letztere 
Massregel  in  einer  die  Städto  benachteiligenden  Weise.  (RTA  II,  72  art  35.) 
Vgl.  Lindner  II,  66;  Schindelwick  S.  1 f. 

4)  v.  Bezahl,  der  im  übrigen  von  diesen  Verhandlungen  ein  anschauliches 
Bild  giebt  (III,  92  f ; ferner  ltä  f)  verwechselt  den  ritterschaftlichen  Entwurf 
mit  der  königlichen  Ausfertigung  (auch  Kcrler  in  der  Quellenangabe  zu  RTA  IX, 
427  unter  B bemerkt  diesen  Irrtum).  Dadurch  gelangt  er  zn  einer  übertrie- 
benen Schilderung  der  Härte  des  Königs  gegen  die  Städte.  Die  Zusammen- 
fassung von  Städten,  Baueru  und  armen  Leuten,  welche  „ganz  nach  der  Aus- 
drucksweise der  rohen  Gesellen  vom  Stegreif  den  Bürger  auf  eine  Stufe  mit 
dem  verachteten  und  unterdrückten  Landvolk  stellte“  (I.  c.  116  — vgl.  auch 
v.  Bezold  „die  armen  Leute  und  die  deutsche  Litteratur  des  spätereu  Mittel- 
alters“ in  Sjbels  Hist.  Zeitschrift  Bd.  41  S.  8.)  — fällt  dem  Reichsoberhaupte 
selbst  nicht  zur  Last. 


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75 


Versammlungen  verhandelt,  bilden  aber  keine  eigentliche  Reichs- 
tagsmaterie, deshalb  sei  nur  kurz  auf  sie  verwiesen.1) 

Dasselbe  müssten  wir,  streng  genommen,  auch  von  den 
Massregeln  der  Rechtsprechung  behaupten,  welche  wir  auf 
den  Reichstagen  vollziehen  sehen. 

Eigentliche  jurisdictionelle  Befugnisse  hat  die  Reichsver- 
sammlung als  solche  zn  unserer  Zeit  nicht,  wohl  aber  bietet  sie  für 
die  richterliche  Wirksamkeit  des  Königs,  teils  durch  das  Hofgericht, 
teils  durch  persönliche  Rechtsprechung,  sodann  aber  auch  für  eine 
reiche  schiedsrichterliche  und  Vermittlungsthätigkeit  des  Reichs- 
oberhauptes wie  einzelner  Stände  den  geeigneten  Boden. 

Hier  ist  nicht  der  Ort,  auf  die  Verwirrung  und  Verwahr- 
losung der  Rechtssprechung,  die  schreienden  Missstände  beson- 
ders des  höchsten  königlichen  Gerichtshofes:  des  Reichshof- 
gerichtes, näher  einzugehen.') 

Bestechlichkeit  und  Habgier  seiner  Mitglieder,  die  über- 
lange Verschleppung  seiner  Processe,  die  an  Unmöglichkeit 
grenzende  Schwierigkeit,  bei  dem  mit  dem  Könige  fern  im  Osten 
weilenden  Gerichte  sein  Recht  zn  verfolgen,3)  die  Macht-  und 
Wirkungslosigkeit  seiner  Aussprüche  — dies  alles  musste  eine 
Umgestaltung  des  höchsten  Gerichtswesens  nach  zwei  Seiten 
an bahnen. 

Einmal  begann  die  alte  Idee  von  der  persönlichen  höchsten 
Gerichtsbarkeit  des  Königs  (als  deren  wahrer  Ansdruck  das 
Hofgericht  nicht  mehr  erschien)  wieder  aufzuleben;  die  Fälle, 

')  Nicht  der  Sorge  für  das  Reich  sondern  nur  seiner  ungarischen  Politik 
entsprangen  Sigmunds  Bemühungen,  den  deutschen  Handel  Uber  Mailand  und 
Genna  oder  auch  durch  Ungarn  (RTA  VII,  241  art  4)  statt  Uber  Venedig  zu 
leiten.  Diese  Bestrebungen  setzen  im  Jahre  1415  ein  (1.  c.  182  art  6),  steigern  sich 
1417  zu  Verboten  (1.  c.  239—241)  und  treten  uns  noch  1425  (1.  c.  VIII  S.  361 
Note  2)  und  1426  (Aschbach  ITI,  408  — RTA  IX,  nro  17  art  2 und  nro  21)  ent- 
gegen. Über  dieselben  (bis  znm  Jahre  1419)  vgl.  Finke  S.  60—65.  — Heyd 
„Geschichte  des  I/evantehandels  im  Mittelalter  II,  721  ff. 

*)  Die  folgende  Übersicht  beruht  auf  Tomaschek  „die  höchste  Gerichts- 
barkeit des  deutschen  Königs  und  Reiches  im  15.  Jahrhundert“  in  den  Sitzungs- 
berichten der  Wiener  Akademie  Bd.  XLIX  S.  521  ff.  citiert  nach  dem  Separat- 
abdrucke, Wien  1865)  und  Franklin  „Reichshofgericht“  I,  209  ff. 

*)  Einen  bedeutsamen  Beleg  f Ur  die  Wirkung  dieses  Umstandes  fuhrt  v. 
Bezold  (II,  95,  auch  ib.  Note  1)  an : Pie  St.  Georgsritterschaft  in  Schwaben  meint 
nicht  die  Pflicht  zu  haben,  ihr  Recht  beim  Könige  zu  suchen,  weun  dieser 
„in  Würczland  (Burzenland,  Siebenbürgen)  oder  soweit  und  ferre“  sich  aufhielte. 


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76 


in  denen  man  mit  Umgehung  des  Hofgerichts  an  den  König 
selbst  als  höchste  Instanz,  als  obersten  Schiedsrichter  sich 
wendet,  mehren  sich.  Es  bildet  sich  ein  immer  bestimmterer 
Gegensatz  zwischen  der  Thätigkeit  des  höchsten  Gerichtshofes 
und  der  persönlichen  Rechtssprechung  des  Königs  und  seiner 
Beistände  heraus,  bis  schliesslich  letztere,  zu  der  bestimmten 
Form  des  Kammergerichts  verdichtet,  unter  der  Regierung 
Friedrichs  III  das  Hofgericht  ganz  verdrängt. 

Dann  aber  begann  auch  hier,  jemehr  der  König  und  seine 
Vertreter  ihre  richterlichen  Pflichten  vernachlässigten,  die  Selbst- 
hilfe des  Reichs  einzutreten.  Vereinbarungen  und  Vermittlun- 
gen privaten  Charakters  suchten  der  Anrufung  der  höchsten 
Gerichtsgewalt  immer  mehr  vorzubeugeu,  und  es  greift  schon 
unter  Sigmund  die  Anschauung  Platz,  welche  unter  Friedrich  III 
(1451)  ein  Gesandter  Frankfurts  in  einem  Schreiben  an  seinen 
Rat  ausspricht:  „Ersamen  besouderu  herren,  wess  ir  uch  mit 
uwern  umbsessen  vertragen  und  ly  den  mögen  mag  besser  syn, 
dann  trost  und  ussrichtung  des  hoves  zu  suchen.“  ') 

Grade  die  grossen  Reichsversammlungen  sind  es.  bei  denen 
in  unserer  Periode  das  Reichshofgericht  allein  noch  in  ausge- 
dehnterem Masse  funktioniert. 

Dies  ist  besonders  bei  dem  Reichstage  zu  Constanz  der  Fall.*) 
Nach  mehrjähriger  Vakanz3)  setzt  hier  Sigmund  den  Grafen 
Günther  von  Schwarzburg  als  Hofrichter  ein,  unter  dessen  Lei- 
tung das  Gericht  eine  grosse  Wirksamkeit  entfaltet,4) 


‘)  (Harpprecht)  „Staatsarchiv  des  kayserl.  u.  <1.  heiligen  römischen  Reiches 
Kammergcrichts“  I,  324;  citiert  bei  Franklin  I,  226  (vgl.  auch  Jaussen  II,  167.) 

*)  Aschbach  II,  248  — Franklin  I,  214;  Jaussen  1,  485  Nachschrift.  — 
Justinger  (Berner  Chronik  p.  315,  citiert  nach  Franklin  214,  Note  1)  berichtet: 
„der  kilng  gestatt  da  menglichem  des  rechten,  wanne  er  sin  hofgericht  da 
hatt.  Und  war  (Iraf  Günther  von  Schwarzenberg  (soll  heissen:  Schwnrzburg 
hofriebter.  Da  wareut  auch  viele  fürsten  nnd  herren,  die  des  rechten  mit 
einander  pflagent.“  — Ascbbach  (I.  c.)  findet  hier  die  ersten  Spuren  des  Reichs- 
kammergerichts nachweisbar. 

J)  vgl.  die  Hofrichterliste  bei  Tomaschek  1.  c.  47. 

4)  Ein  Frankfurter  Gesandtschaftsbericht  (Janssen  I,  486)  spricht  von 
2 — 3 Sitzungen  wöchentlich.  — Einen  eigentümlichen  Schluss  auf  diese  Thätig- 
keit gewähren  auch  die  Ermahnungen  der  Gesaudteu  Frankfurts  an  ihre  Stadt 
den  Hofrichter  durch  Geschenke  für  sich  eiuzuuehmen. 


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77 


Neben  der  Einladung  zum  Nürnberger  Reichstage  1430  er- 
gebt ein  Schreiben  des  Königs  an  die  Stände:1)  er  wolle  wäh- 
rend seines  demnäehstigen  Aufenthaltes  in  Nürnberg  das  Hof- 
gericht, das  wegen  seines  langen  Fernbleibens  vom  Reiche 
ausser  Wirksamkeit  getreten  sei,  wieder  bestellen.  Jeder,  der 
eine  Sache  bei  demselben  anhängig  habe  oder  machen  wolle, 
solle  sich  danach  richten.*)  Aber  bekanntlich  erschien  der  König 
zu  diesem  Reichstage  überhaupt  nicht. 

Dagegen  ist  auf  dem  Reichstage  zu  Nürnberg  1431  das  Hof- 
gericbt,  wenn  auch  nicht  in  so  grossem  Massstabe  wie  in  Con- 
stanz,  thätig. 

Eine  immer  steigende  Bedeutung  neben  dem  Hofgerichte 
erlangen,  wie  erwähnt,  diejenigen  richterlichen  Entscheidungen, 
welche  der  König,  im  Fürstengericht  oder  unter  Zuziehung  sonstiger 
freigewählter  Beistände  — der  Keim  für  das  Kammergericht  — 
fällt;  daneben  die  schiedsmännischen  Vergleiche,  welche  König 
und  Fürsten  nach  Übereinkommen  der  streitenden  Parteien  zu 
vermitteln  suchen. 

Die  Berührung  derartiger  Vorgänge  mit  Landfriedensbe- 
strebungen ist  oft  genug  nachzuweisen;  wo  Gesetze  und  Er- 
lasse als  wirkungslos  sich  heraussteilen,  müssen  Schiedssprüche 
und  Kompromisse  nachhelfen. 

Nur  das  wichtigste  sei  hier  erwähnt : Zu  Constanz  erscheint 
der  König  als  Schiedsrichter  zwischen  Erzbischof  Dietrich  von 
Cöln  und  Herzog  Adolf  von  Berg.8)  Vor  einem  Fürstengericht 
findet  ebendaselbst  die  rechtsgeschichtlich  vielfach  interessante 
Verhandlung  gegen  Herzog  Ludwig  von  Bayern-Ingolstadt  statt.1) 
In  die  Streitigkeiten  Erzbischof  Dietrichs  mit  der  Stadt  Cöln  1419 
greift  der  König,  der  grade  damals  Deutschland  zu  verlassen 
sich  anschickt,  nicht  ein.  Er  könne  ihnen  nicht  helfen,  die 
Kurfürsten  seien  das  Recht,  erklärt  er  nach  Windecke5)  den 
Cölnern.  Der  Markgraf  von  Brandenburg,  der  damalige 
Reichs  Verweser,  sucht  seinerseits  zu  vermitteln , aber  ohne 

')  RTA  IX,  291,  nach  Windecke,  Cap.  169 ; citiert  bei  Franklin  I,  217. 

*)  Einige  nach  Nürnberg  wirklich  erfolgte  Vorladungen  erwilhnt  Kerler 
1.  c.  IX  382  Note  1. 

3)  Franklin  „Reichshofgericht“  I,  238. 

*)  Windecke  Cap.  60  — Franklin  I,  277  ff. 

»)  Cap.  66. 


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78 


Erfolg;  erst  dem  Erzbischof  von  Trier  gelingt  es,  einen  Ver- 
gleich zu  Stande  zu  bringen.1) 

Auf  dem  Reichstage  zu  Nürnberg  1422  beschäftigt  den 
König  der  Handel  des  Bischofs  mit  der  Stadt  Speier. 
Der  König  will,  berichten  Strassburger  Gesandte,1)  die 
Speiersche  Sache  nach  Rate  der  Fürsten  zu  schlichten  suchen ; 
gelingt  dies  nicht,  dann  soll  der  Rechtsweg  beschritten  werden. 

Ausserdem  gelingt  es  dem  König,  wenigstens  vorübergehend, 
in  Bayern,  wo  der  unbändige  Herzog  Ludwig  von  Ingolstadt 
mit  einer  Reihe  geistlicher  und  weltlicher  Füllten,  darunter 
seinem  Vetter  Heinrich  von  Bayern-Landshut  und  dem  Kur- 
fürsten Friedrich  von  Brandenburg,  in  Fehde  lag,  Friede  zu 
schaffen.  Freilich  war  dies  mehr  das  Verdienst  einer  Nieder- 
lage, die  Ludwig  kurz  vorher  erlitten  hatte,®)  als  des  könig- 
lichen Friedegebotes.4) 

Ein  grösserer  Erfolg  war  die  von  den  Kurfürsten  vermittelte 
Aussöhnung  des  Königs  selbst  mit  den  Markgrafen  von  Meissen.5) 

Als  interne  Sache  des  Kurcollegiums  wird  der  Streit 
zwischen  den  Kurfürsten  von  Mainz  und  Pfalz  wegen  des  dem 
ersteren  vom  Könige  auf  dem  Reichstage  zu  Nürnberg  1422  ver- 
liehenen Reichsvikariats  auf  dem  Kurfürstentage  zu  Boppard 
entschieden.6) 

Dagegen  wird  der  Streit  um  die  sächsische  Kur,  welche 
Herzog  Erich  von  Sachseu-Lauenburg  als  Erbe  seiner  askani- 
fichen  Stammesverwandten,  deren  Geschlecht  im  Jahre  1422  aus- 
gestorben war,  den  Markgrafen  von  Meissen,  welche  die  könig- 
liche Verleihung  deckte,  ein  Jahrzehnt  hindurch  mit  allen  Mitteln 
zu  entreissen  suchte,7)  von  den  Kurfürsten  auf  demselben  Tage 
zu  Boppard  dem  Könige  zur  Entscheidung  anheimgestellt,  was 
allerdings  lange  Zeit  hindurch  nicht  zum  Ziele  führte. 

Auf  dem  Reichstage  zu  Wien  1426  erfolgte  die  Aussöhnung 
zwischen  dem  Könige  und  Friedrich  von  Brandenburg.  Die 
alte  Interessengemeinschaft  beider  war  seit  Beginn  der  Hussiten- 

‘)  Eimen  „Geschichte  der  Stadt  Cöln  III,  232  u.  37. 

*)  RTA  VIII,  135;  auch  S.  142  Note  3. 

*)  v.  Bezold  I,  99. 

4)  RTA  VIII,  170. 

‘)  1.  c.  172. 

«)  Kerler  I.  c.  VITI  S.  27fi. 

’)  Aachbach  III,  218  ff.  — Franklin  I,  295—304. 


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79 


kriege,  vor  allem  dnreh  die  polnische  Politik  des  Kurfürsten, 
gesprengt  worden.  Zu  Wien  gelang  der  Ausgleich.  — Die  Be- 
endigung der  langjährigen  Fehde  der  Stadt  Strassburg  mit 
ihrem  Bischöfe  und  dessen  Helfer,  dem  Markgrafen  von  Baden, 
erscheint  seitens  der  Kurfürsten  für  den  Tag  zu  Speier,  Mai 
1429,  denselben,  auf  welchem  sie  den  Städten  ihre  3 Land- 
frieden sartikel  vorlegen,1)  in  Aussicht  genommen.*) 

Wie  sehr  der  langwierige,  besonders  seit  der  Gewaltthat 
im  Herbst  1429  akut  werdende  Streit  Conrads  von  Weinsberg 
mit  den  schwäbischen  Städten  die  Landfriedensbestrebungen  der 
Fürsten  störte,  haben  wir  gesehen.8)  Der  König  spricht  auf 
dem  Reichstage  zu  Pressburg,  eben  im  Anschluss  au  den  Weins- 
berger Streit,  sehr  ernste  Worte  über  die  Fried-  und  Recht- 
losigkeit im  Reiche.4)  Der  vermittelnden  Thätigkeit  der  Für- 
sten in  dieser  Sache  gedenkt  er  mit  Unwillen : sie  hätten,  meint  er, 
hier  nicht  unterhandeln,  sondern  strafen  sollen.  Er  will  nun  selbst 
die  Sache  unter  Zuziehung  der  beiden  anwesenden  Kurfürsten 
von  Mainz  und  Brandenburg  richterlich  entscheiden;  diese  aber 
erklären,  nur  auf  deutschem  Boden  Recht  sprechen  zu  wollen.5) 

Eine  reiche  richtende  und  vermittelnde  Thätigkeit  entfaltet 
sich  auf  dem  Reichstage  zu  Nürnberg  1431 : Hier  wird  die  Klage 
Herzog  Ludwigs  von  Bayern  Ingolstadt  gegen  Heinrich  von 
Bayern  Landshut  wegen  mörderischen  Überfalls,  geschehen  1417 
zu  (’onstanz,  durch  das  Fürstengericht  entschieden.6) 

Ferner  erfahren  wir,  dass  der  König  das  Zerwürfnis  zwi- 
schen dem  Erzbischof  von  Cöln  und  dem  Herzog  von  Berg,  fer- 
ner den  Streit  zwischen  Baden  und  der  Stadt  Strassburg  gütlich  bei- 
legen wollte.  Misslinge  der  Ausgleich,  hören  wir  auch  hier  wieder, 
so  solle  richterliche  Entscheidung  eintreten.  Auch  der  Streit  um  das 
triersche  Erzbistum7)  wird  auf  dem  Reichstage  verhandelt,8) 
aber  nicht  entschieden.  — 

*)  Vgl.  unsere  S.  68. 

*)  RTA  IX,  244  und  247  art  1. 

*)  VergL  unsere  S.  69  und  Note  ö. 

*)  RTA  IX,  287  art  3.  — Aschbach  III,  310. 

“)  RTA  IX,  297. 

*)  Aschbach  III,  359  ff.  — Franklin  I,  282.  — Windecke  Cap.  173.  — 
RTA  IX,  439  u.  440. 

*)  Aschbach  IV,  186  f. 

*)  RTA  IX  S.  585  X.  28  ff.  — Goerz  „Regesten  der  ErbischUfe  von 
Trier“  S.  161  (Urkunde  vom  10.  4.  1431). 


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80 


Wie  als  Quelle  aller  Gerechtigkeit  und  als  oberster  Schieds- 
richter zeigt  sich  der  König  auf  den  Reichstagen  gern  als 
oberster  Lehnsherr. 

Hervorragend  durch  die  Zahl  und  die  Bedeutung  der  auf 
ihm  vorgenommenen  Belehnungen  ist  besonders  der  Reichstag  zu 
Constanz  1417.  In  dem  Berufungsschreiben  vom  9.  Februar 
1417  *)  fordert  Sigmund,  da  er  nun  schon  7 Jahre  König  sei  und 
viele  Unterthanen  ihre  Regalien  noch  nicht  aus  seiner  Hand 
empfangen  hätten,  die  Säumigen  bei  Verlust  ihrer  Lehen  auf, 
dies  auf  dem  bevorstehenden  Reichstage  nachzuholen. 

Die  Mahnung  hatte  Erfolg:  eine  grosse  Anzahl  deutscher 
Reichsangehöriger  nahm  zu  Constanz  vom  Könige  ihre  Lehen 
und  erhöhte  dadurch  den  Glanz  der  Versammlung.*)  Die  bekann- 
teste und  für  die  spätere  Zeit  am  meisten  folgereich  gewordene 
der  damals  vollzogenen  Belehnungen  ist  die  des  Kurfürsten 
Friedrich  von  Brandenburg.*) 

Auf  dem  Reichstage  zu  Breslau  empfingen  unter  andern 
die  neuen  Inhaber  der  Kurwttrden  von  Trier  und  Sachsen,  viel- 
leicht auch  von  Mainz  ihre  Lehen  vom  Könige.4) 

Auf  dem  Tage  zu  Nürnberg,  Herbst  1430,  wurde  Friedrich 
der  Sanftmütige  mit  der  sächsischen  Kur  feierlich  belehnt.5) 

Bei  der  häufigen  Abwesenheit  des  Königs  von  deutschen 
Landen,  bei  den  mannigfachen  Aufgaben,  die  seiner  Sorge  für 
das  Reich  hindernd  in  den  Weg  traten,  musste  die  Bestellung 
von  Vertreten!  des  Königs  in  Krieg  und  Frieden,  von  Reich s- 
Vikaren  oder  F e 1 d h a u p 1 1 e u t e n auf  den  Reichst  agen  immer 
wiederkehren.6) 


')  RTA  VH,  211. 

*)  Ausführliche  Angaben  hei  Aschbach  II,  235  ff. 

*)  Aschbach  II,  237.  — Riedel  „Zehn  Jahre  ans  der  Geschichte  des 
Ahnherrn  des  preussischen  Königshauses“  S.  283  ff. 

*)  Aschbach  III,  43.  — Die  Anwesenheit  Konrads  y.  Mainz  in  Breslau 
ist  zweifelhaft;  nur  Illngoss  (historia  Poloniae  11,  410)  bezeugt  sie.  Vgl.Kerler 
RTA  VH  S.  387  Z 19  ff. 

*)  Stitdteehroniken  I,  377  (Nürnberger  Chronik  bis  1434/41)  und  II,  21 
nnd  22  (Endres  Tücher). 

•)  Über  die  Teilnahme  des  Reichstages  an  Vikariatsbesetznngen  in 
früherer  Zeit:  Ehrenberg  7fi  ff. 


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81 


Schon  in  den  traurigen  Tagen  der  Vernachlässigung  des 
Reiches  durch  Wenzel  war  das  Verlangen  nach  Ersatz  für  den 
König  wiederholt  aufgetaucht. 

Im  Juni  1390  hatte  Wenzel  den  Pfalzgrafen  Ruprecht  II 
als  obersten  Hauptmann  des  Egerer  Landfriedens  eingesetzt, 
bald  aber  wieder  seiner  Funktionen  enthoben.1)  Der- 
selbe Fürst  wird  im  Juli  1394,  als  Wenzel  von  dem  aufrühreri- 
schen böhmischen  Adel  gefangen  war,  für  die  Zeit  der  Un- 
freiheit des  Königs  auf  Grund  des  alten  Rechtes,  welches  sein 
Haus  auf  das  Reichsvikariat  zu  haben  meinte , zum  Reichsver- 
weser bestellt.2)  Mit  Beginn  der  revolutionären  Bewegung 
gegen  Wenzel  wird  das  Verlangen  nach  Vertretung  des  Königs 
noch  dringender.  Die  Fürsten  verlangen  auf  dem  Frankfurter 
Tage,  Mai  1397,  nicht  blos  einen  Reichsverweser  für  die  Zeit 
der  Abwesenheit  Wenzel’s,  sondern  einen  Ersatzmann  überhaupt, 
also  eine  Art  Vicekönig.*) 

Aber  dabei  blieb  man  nicht  lange  stehen.  In  Frankfurt. 
November  1399,  suchen  die  Fürsten  die  Städte  zu  veranlassen, 
keinem  Reichsverweser  zu  gehorchen,  der  nicht  mit  Bewilligung 
der  Stände  gewählt  sei.4)  Nicht  der  König,  sondern  sie,  die 
Kurfürsten,  behauptete  man,  hätten  das  Recht,  einen  Reichs- 
verweser zu  bestellen.') 

Unter  Sigmund  erscheint  die  Vikariatsfrage  zuerst  in  den 
Landfriedens-  und  Städtebundsverhandlungen  vor  und  während 
des  Constanzer  Concils. 

Auf  das  Anerbieten  des  Königs  an  die  Städte,  sie  sollten 
unter  seiner  Führung  ihren  alten  Bund,  wie  er  bis  zu  seiner 
Auflösung  auf  dem  Reichstage  zu  Eger,  1389,  bestanden  hatte,  wie- 
der erneuern,  schlagen  Mainz,  Speier  und  Frankfurt  vor,  der  König 
solle  einen  Reichsvikar  ernennen,  der  unter  Mitwirkung  städtischer 
Beisitzer  die  Sorge  für  Recht  und  Frieden  übernähme.6)  Dem 
entsprechend  nehmen  die  königlichen  Landfriedensvorschläge 


')  RTA  II  S.  145. 

r)  1.  c.  II,  223  — Lüuluer  II,  200. 

*)  1 c.  II,  423  — Lindncr  II,  303  f. 

*)  RTA  III,  90  und  91. 

6)  1.  c.  93. 

* ) 1.  c.  VII,  181  — Finke  S.  43. 

VVendt,  Der  deutsche  Ueic.hxtaK  unter  König  Sigmund.  6 


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einen  „obersten  Hauptmann  des  Landfriedens“  in  Aussicht.1) 
Aber  diese  Institution  trat  so  wenig  iu’s  Leben,  wie  eine  um- 
fassende Landfriedensorganisation  überhaupt. 

Ehe  der  König  Anfang  1419  Deutschland  verliess,  ernannte 
er,  allerdings  nicht  auf  einer  Reichsversammlung , Kurfürst 
Friedrich  von  Brandenburg  zu  seinem  Verweser.*) 

Der  Beginn  der  Reichskriege  gegen  die  Hussiten  rückte 
die  Frage  nach  Vertretung  des  Königs  während  seiner  Abwesenheit 
in  den  Vordergrund.  Juni  1421,  nach  dem  Nürnberger  Reichstage, 
bevollmächtigt  Sigmund  9 seiner  Räte  zur  Ausstellung  von  Ur- 
kunden, durch  welche  dieselben  unter  Mitwirkung  der  Stände : „fil 
oder  wenig,  dornach  man  zu  rat  wirt,“  einen  Reichsvikar  oder 
Feldhauptmann  gegen  die  böhmischen  Ketzer  einsetzeu  könnten. 

Auf  dem  Reichstage  zu  Nürnberg  1422  regelt  der  König 
im  Einverständnis  mit  den  Ständen  die  Vertretungsfrage  in 
doppelter  Weise:  Feldhauptmann  gegen  die  Hussiten  wird  Kur- 
fürst Friedrich  von  Brandenburg.3)  Die  Verwaltung  des  Reichs 
für  die  Dauer  seiner  Abwesenheit  überträgt  er  am  25.  August 
1422  Erzbischof  Konrad  von  Mainz.4) 

Diese  letztere  Ernennung  war  insofern  ein  politischer  Fehler, 
als  sie  die  Rechte  auf  Vertretung  des  Königs,  welche  Kurpfalz  von 
Alters  her  beanspruchte.5)  und  die  sich  aus  der  goldenen  Bulle 
Karls  IV  selbst  herleiteten,  ausser  Acht  Hess.6) 

Für  den  Augenblick  scheint  Pfalzgraf  Ludwig  nicht  gegen 
die  Massregel  des  Königs  protestiert  zu  haben,  wie  er  ja  auch 
1419  gegen  die  Ernennung  des  Kurfürsten  Friedrich,  obgleich 
er  damals  mit  dem  Könige  schwer  verfeindet  war,  nichts 
eingewendet  hatte.  Er  begnügte  sich  damit,  Kurmainz 
von  Übernahme  des  Vikariats  abzumalinen  und  verliess  daun 
ruhig  Nürnberg , um  sich  zu  seiner  gemeinschaftlich  mit 
dem  Erzbischof  von  Köln  zur  Unterstützung  des  deutschen 
Ordens  gegen  Polen  zu  unternehmenden  Reise  zu  rüsten.  Erst 


>)  1.  c.  VII,  182  art  5 — Vgl.  Kerler  S.  263. 

’)  1.  c.  251  — Droysen  I,  273. 

*)  RTA  VIII,  162  — Droysen  I,  314.  — v.  Bczold  I,  97. 

4)  ItTA  Vm,  164. 

6)  Vergl.:  „Von  (less  Heiligen  Römischen  Reichs  der  Chur  Fürstlichen 
Pfaltz  zustehenden  Vicariat  kurtzer  Bericht“  Heidelberg  1614. 

')  Hiiuser  „Geschichte  der  rheinischen  Pfalz  I 290  f. 


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83 


fast  einen  Monat  später,  am  21.  September  vonWttrzburg  aus, 
erhebt  er  durch  Rundschreiben  an  verschiedene  Stände  gegen 
die  Ernennung  des  Erzbischofs  Einspruch  und  fordert  dieselben 
auf,  diesen  bis  zu  seiner  (des  Pfalzgrafen)  Rückkehr  aus 
Preussen  als  Reichsverweser  nicht  anzuerkennen.1) 

Von  Preussen  aus  begab  sich  Ludwig  an  den  Hof  des  Kö- 
nigs, um  dort  gegen  die  rechtswidrige  Ernennung  Schritte  zu 
thun.s)  Da  aber  der  König  seine  Massregel  nicht  wieder  rück- 
gängig machen  konnte  oder  wollte,  erfolgte  die  Entscheidung 
des  Streites  selbständig  im  Schosse  des  Kurcollegiums. 

‘)  RTA  VIII  193  — Aus  dem  Eingänge  dieses  Schreibens:  „als  wir 
nf  hut  her  gen  Wirtzburg  kommen  sin  „.  . . auf  der  Beise  nach  Preussen 
. . . „ist  uns  für  kommen  . . .“  dass  der  König  den  Erzbischof  von  Mainz 
zum  Statthalter  gemacht  habe  — hat  man  scbliesseu  wollen,  die  Ernennung 
Konrads  sei  erst  nach  der  Abreise  des  Pfälzers  aus  Nürnberg  erfolgt.  Man 
hat  deshalb  diese  ganze  Einsetzung  vielfach  als  hinterlistiges  Intriguenspiel 
Sigmunds,  mit  dem  Zwecke:  durch  Anstiftung  eines  Streites  unter  den  Kur- 
fürsten ihre  Oligarchie  zu  sprengen,  aufgefasst  (vgl.  v.  Bezold  I,  89  f.  — 
Schuster  „Der  Conflikt  Sigmunds  mit  den  Kurfürsten  etc.“  S.  10).  — So  un- 
wahrscheinlich es  an  sich  schon  ist,  dass  eine  Staatsangelegenheit  von  dieser 
Bedeutung  Kurfürst  Ludwig  hätte  nahezu  einen  Monat  verheimlicht  werden 
und  dieser  die  Neuigkeit  wirklich  erst  am  21.  September  iu  Wiirzburg  hätte 
erfahren  können,  so  lässt  sich  noch  ausserdem  direct  nachweiseu,  dass  Lud- 
wig zur  Zeit  der  Ernennung  des  Erzbischofs  noch  in  Nürnberg  war.  Vom 
25.  August  datiert  die  königliche  Bestallung  für  Knrmainz.  Am  27.  hat 
aber  der  Pfalzgraf,  nach  einem  ganz  unverdächtigen  Zenguisse  (Bericht  des 
Oomturs  Ludwig  von  Lausee  an  den  Deutschordenshochmeister : RTA  VIII, 
138;  S.  150  Z 27  f.)  Nürnberg  erst  verlassen,  und  für  eine  RUckdatierung 
der  königlichen  Urkunde  fehlt  uns  jeder  Anhalt.  Ausserdem  führt  eine  kur- 
mainzische Aufzeichnung  über  die  auf  dem  Knrfürstentage  zu  Boppard  Juli 
1426  von  Kurpfalz  über  Kurmaiuz  erhobenen  Beschwerden  (1.  c.  417)  als 
zweiten  Punkt  an:  „Item,  von  der  vicariats  wegen:  daz  unser  lierre  (der 
Mainzer)  von  unserm  herren  dem  konige  zu  Nuremberg  erworbc  wider  soliche 
bete  so  der  pholzgrave  in  gebeten  bette  in  genwurtickait  unser  herren  von 
Collen  und  Triere  ein  solichs  nicht  zu  thnnde,“  was  sich  nur  auf  geheime 
Verhandlungen  des  Nümburger  Reichstages  von  1422  beziehen  kann.  — Der 
Grund,  warum  Ludwig  erst  nachträglich  gegen  die  Ernennung  protestierte, 
mag  darin  liegen,  dass  er  erst  die  Entfernung  des  Königs  ans  Nürnberg 
vgl. Sigmunds Itiuerar bei  Aschbach III, 444)  abwarteu  wollte;  fernerauch  darin, 
dass  grade  damals  (18.  Sept.)  die  erste  Amtshandlung  des  neuen  Statthalters : 
das  Ansschreiben  des  Wormser  Tages  (RTA  VIII,  189)  erfolgte.  Die  Ein- 
gangsformel  „uns  ist  furkommen“  (in  nro  193)  möchte  ich  aus  dem  Bedürf- 
nisse, das  bisherige  Schweigen  zu  motivieren,  erklären. 

»)  Windecke  Cap.  109  — RTA  VIII,  230  art  3. 

es 


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84 


Auf  dem  Kurfürstentage  zu  Boppard,  Mai  1428.  verzichtet 
der  Mainzer  Kurfürst  nach  Schiedsspruch  der  Erzbischöfe  von 
Cöln  und  Trier  auf  das  Reichsvikariat.1) 

Seit  diesen  Vorgängen  ist  es  zur  Ernennung  eines  Reichs- 
vikars durch  Sigmund  nicht  mehr  gekommen;  sei  es,  dass  die 
Fürsorge  des  Königs  für  das  Reich,  dem  er  ja  Jahre  lang  fern 
blieb,  überhaupt  erloschen  war ; sei  es,  dass  er  der  kurfürstlichen 
Oligarchie,  welche  ohnehin  seine  königliche  Prärogative  auf 
Schritt  und  Tritt  zu  bedrohen  schien,  keinen  Rechtstitel  an  die 
Hand  geben  wollte.  Möglich  auch,  dass  die  Erfahrungen,  die 
Sigmund  bei  der  eben  geschilderten  Vikariatsbesetzung  gemacht 
hatte,  hierin  mitwirkten. 

Nur  einmal  hören  wir  noch,  allerdings  nur  hypothetisch, 
von  der  Einsetzung  eines  königlichen  Vertreters  für  die  lteiclis- 
verwaltimg:  Die  Kurfürsteneinung  von  Bingen,  Januar  1424. 
in  der  die  kurfürstliche  Oligarchie  dem  Reichsoberhaupte,  in 
aller  Form  organisirt,  geschlossen  gegenübertritt,  nimmt  gemein- 
samen Widerstand  der  Bundesglieder  in  Aussicht  für  den  Fall, 
dass  jemand  „nach  dem  Reich  stände“  . . „mit  vicariate  oder 
anders.“  *)  Die  beiden  Gestalten,  in  denen  die  Bundesurkunde 
uns  vorliegt,  und  deren  gegenseitiges  Verhältnis  weiterhin  uns 
zu  beschäftigen  haben  wird,  zeigen  hier,  wie  an  vielen  Stellen, 
einen  bedeutsamen  Unterschied. 

Die  eine,  im  ganzen  gemässigtere,8)  bedingt  den  Wider- 
stand des  Bundes  nur  für  den  Fall,  dass  die  betreffende  Usur- 
pation wider  Willen  des  Königs  und  der  Kurfürsten  erfolge. 
Die  zweite  viel  schärfere  Fassung4)  erwähnt  hier  das  Reichs- 
oberhaupt gar  nicht.  Damit  ist  der  Fall,  dass  die  Kurfürsten 
auch  dann  gegen  einen  missliebigen  Reichsvikar  sich  auflehnen 
könnten,  wenn  der  König  selbst  ihn  eingesetzt  habe,  stillschwei- 
gend mit  eingeschlossen.  Somit  erinnert  diese  ganze  Ab- 
machung sehr  an  den  Anspruch,  den  die  Kurfürsten  kurz  vor 
Wenzels  Absetzung  erhoben,  nur  einem  mit  ihrer  Genehmigung 
eingesetzten  Reichsvikar  gehorchen  zu  müssen.5) 

‘)  RTA  VIII,  238  u.  39.  — Windecke  109  (ohne  Ortsangabe). 

*)  RTA  VIII,  294  art  5 — 295  art  6. 

>)  1.  c.  295. 

‘)  1.  c.  294. 

6)  L c.  III,  93  — vgl.  unsere  3.  81. 


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85 


In  der  Reidisverwaltung  blieb  also  während  der  Zeit  von 
1422 — 30  das  Reichsoberhaupt  ohne  rechtmässigen  Vertreter. 
Aber  für  die  Kriegsuuternehmuugen  gegen  die  Hussiten  erwies 
sich  ein  Ersatz  für  den  König  auch  in  dieser  Periode  als  un- 
erlässlich. 

Zu  einer  unpraktischen  und  wenig  glücklichen  Bestimmung 
über  die  oberste  Kriegsleitung  kam  man  in  der  Heerorduung 
gegen  die  Hussiten  vom  Reichstage  zu  Frankfurt,  April  1427. ') 
2 Hauptleute  sollen  die  ganze  Unternehmung  leiten.  Für  die 
eine  Stelle  ist  einer  der  geistlichen  Kurfürsten  in  Aussicht  ge- 
nommen: Cöln  in  erster,  Trier  in  zweiter,  Mainz  in  dritter 
Linie.  Und  dieser  eine  Hauptmann  soll  mit  Rat  eines  oder  meh- 
rerer weltlicher  Fürsten  den  zweiten  ernennen.  Die  Unzweck- 
mässigkeit dieser  Bestimmungen  leuchtet  ein. 

Ebenfalls  zweigeteilt  erscheint  die  Oberleitung  nach  den 
Frankfurter  Beschlüssen  vom  November  1427.  Zu  Hauptleuten 
werden  nach  dem  Frankfurter  Reichstagsabschied  (meist  als 
Reichskriegssteuergesetz  bekannt)*)  bestimmt:  Der  Cardinal- 
legat Heinrich,  Bischof  von  Winchester  und  der  Kurfürst 
Friedrich  von  Brandenburg.  Ein  Entwurf  des  Gesetzes 3)  nennt 
ersteren  „von  des  Papsts  wegen,“  den  letzteren  „von  des  Reichs 
wegen“  eingesetzt.  Die  lateinische  Fassung  des  Abschiedes 
nennt  beide:  „s&nctae  ecclesiae  capitanei  ordinatores  et  provi- 
sores,“  ein  Beleg  für  den  eigenthümlichen , halb  kirchlichen, 
halb  weltlichen  Charakter  dieses  Amtes,  wie  der  Frankfurter 
Beschlüsse  überhaupt. 

Merkwürdig  ist  auch  das  staatsrechtliche  Verhältnis  die- 
ser Ernennung  im  Hinblick  auf  die  Competenz  des  Reichsober- 
hauptes : Die  deutsche  Fassung  des  die  Einsetzung  der  Hauptleute, 
statuierenden  Artikels  im  Abschiede  beginnt : „Item  dazu  haben 
unser  herren  die  kurfursten  und  ander  fürsten  ge  rattslagt 
etc.“  Der  lateinische  Text  aber  sagt : „Item  duminis  princi- 
pibus  electoribus  et  ceteris  principibus  consultum  Visum  fuit 
et  unanimi  consensu  concluserunt  etc.“  — eine  sachlich 


*)  HTA  IX  31  art  2.  — von  Bezold  H,  101. 
>)  L c.  76,  art  34. 

*)  L c.  72  (S.  88  Z 38  ff.). 


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86 


zwar  unwesentliche , formell  aber  immerhin  bemerkenswerte 
Abweichung.  •) 

Wichtiger  ist  die  Form,  in  der  Sigmund  die  Ernennung 
des  Kurfürsten  von  Brandenburg  (die  des  Cardinals  entzog  sich 
seiner  Competenz)  bestätigt  *) : Zu  Frankfurt  sei,  sagt  die  könig- 
liche Urkunde,  indem  sie  sich  an  die  deutsche  Fassung  des 
Reichstagsabschieds  anschliesst,  die  Ernennung  des  Kurfürsten 
zum  obersten  Hauptmann  gegen  die  Hussiten  „begriffen  und 
geratslagt“  worden.  Infolgedessen  hätten  die  Kurfürsten  durch 
ihre  Gesandten  (Bischof  Raban  von  Speier  und  Albrecht  von 
Hohenlohe)  den  König  ersuchen  lassen,  er  möge  den  Markgrafen 
zur  Übernahme  der  Hauptmannschaft  auffordern,  was  Sigmund 
auch  des  weiteren  tliut. 

Hier  ist  also  von  keiner  eigentlichen  Ernennung  mehr  die 
Rede;  der  König  hat  nur  die  Beschlüsse  der  Stände  nachträg- 
lich zu  sanktionieren. 

Dagegen  geht  vom  Könige,  allerdings  unter  Mitwirkung 
der  Stände,  die  Ernennung  des  Markgrafen  Friedrichs  zum  Feld- 
hauptmann  auf  dem  Reichstage  zu  Nürnberg  1431  aus.  Die  königliche 
Bestallungsurk. 5)  geht  im  wesentlichen  auf  die  von  1422  zurück.  — 

Wichtiger  und  bedeutungsvoller  als  durch  seine  Wirksam- 
keit nach  innen,  durch  das,  was  durch  die  Reichsversamm- 
lung und  auf  derselben  für  Erhaltung  von  Recht  und  Ordnung 
mittelst  allgemeiner  oder  provinzieller  Gesetzgebung,  Pflege 
von  Handel  und  Wandel,  Münz-  und  Zollwesen,  durch  richter- 
liche und  schiedsrichterliche  Thätigkeit,  zur  Vertretung  des 
Königs  in  Krieg  und  Frieden  geschah  — wichtiger  als  dieses 
muss  in  unserer  Zeit,  welche  die  Funktionen  der  Reichsver- 
waltung eine  nach  der  andern  an  die  Territorien  übergehen 
und  den  Reichszusammenhang  wesentlich  nur  noch  in  den  äus- 
seren Beziehungen  gewahrt  sieht,  die  Thätigkeit  des  Reichs- 
tages nach  Aussen  hin  sein.  Die  fruchtbringendsten  Beschlüsse, 
zu  denen  es  auf  den  Reichsversammlungen  unsrer  Periode  über- 
haupt noch  kommt,  sind  unter  dem  Drucke  einer  äusseren  Ge- 
fahr entstanden. 

l)  Vgl.  Kerlers  Einleitung  zum  Reichstage  von  Frankfurt  Nov.  — Dez. 
1427  unter  .T  (RTA  IX  S.  64). 

*)  1.  c.  108;  S.  137  Z 7 ff. 

*)  1.  c.  IX,  423  — vgl.  S.  499. 


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87 


Ehe  aber  diese  furchtbare  Bedrohung  an  Deutschland  heran- 
tritt, vor  der  Periode  der  Hussitenkriege,  linden  wir  Sigmund 
schon  zweimal  in  der  Lage,  kriegerische  Unterstützung  von  den 
Reichsangehörigen  zu  verlangen. 

Während  des  ersten  Constanzer  Reichstages  1415  fordert 
er  Hilfe  gegen  Herzog  Friedrich  von  Ostreich,  den  Gönner 
Balthasar  Cossas,  den  Frevler  an  seiner  Majestät  und  an 
der  des  Coneils.1) 

Der  zweite  Constanzer  Reichstag,  im  Jahre  1417,  zeigt  den 
König  mit  Rüstungen  gegen  Frankreich  beschäftigt  auf  Grund  des 
Bündnisses,  das  er  mit  Heinrich  V von  England  zu  Canterbury  ge- 
schlossen hatte.*)  Verschiedene  Reichsfürsten  sagen  dem  Könige 
ihre  Beteiligung  zu;  besonders  Kurfürst  Ludwig  von  der  Pfalz, 
mit  dem  englischen  Könige  befreundet  und  verschwägert,  zeigt 
grossen  Eifer.  Mau  kommt  bis  zur  Festsetzung  der  Gesammt- 
stärke  des  aufzustellenden  Heeres:  3000  Lanzen,  uud  Bestim- 
mung der  einzelnen  Contingente,  aber  dabei  bleibt  es  auch.3) 

Seitdem  der  König  zu  Breslau  1420  den  böhmischen  Ket- 
zern den  Krieg  erklärt,  seitdem  sein  kurzsichtiger  Übereifer 
den  gewaltigen  Brand  entfacht  hatte , welchen  Ströme  von  Blut 
nicht  löschten,  bis  die  Wut  der  Flammen  erschöpft  in  sich 
verlosch,  seitdem  beschäftigt  das  Aufgebot  der  Kräfte  des 
Reichs  gegen  die  Hussiten  den  deutschen  Reichstag  immer  wieder. 

Schon  die  ersten  Kriegsereiguisse  mussten  Sigmund  darauf 
hinweiseu,  dass  er  ohne  Inanspruchnahme  des  Reichs,  nur  auf 
die  Kräfte  seiner  Erblaude  angewiesen,  die  Bewegung  in  Böh- 
men niemals  werde  niederschlagen  können. 


■)  Aschbach  11,  73  ff.,  von  Finke  (S.  53  ff.)  vielfach  berichtigt. 

*)  Lenz  143  ff.  — Caro  84  ff. 

*)  Der  Ansicht  H aber  lins  (Weltgeschichte  V,  326),  (lass  sich  in  den 
Worten  des  Klageschreibens,  welches  Kurfürst  Ludwig  über  König  Sigmund 
an  den  König  von  England  richtete,  (Kymer  „Foedera  iuter  reges  Anglorum 
et  qnosdam  alios etc.“  IX,  606  ff.  — RTA  VII  237  art  6):  „et  (latus  fuit  ordo, 
quod  lanceas  quilibet  dominomm  habere  debebat,"  die  erste  Spur  einer  Reichs- 
matrikel (also  vorde  Nürnberger  von  1422)  nachweisen  lasse,  schliessen  sich 
Häusser  „Gesell,  d.  rhein.  Pfalz“  1, 284.  Note  51  und  l-enz  144,  Note  1 an.  — Wenn 
hier  wirklich  eine  Matrikel  und  nicht  blos  einzelne  private  Abmachungen 
gemeint,  sind,  so  haben  wir  doch  keinesfalls  an  ein  Reichsgesetz  von  der 
Allgemeinheit  der  Matrikeln  in  den  Hussitenkriegen  zu  denken. 


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88 


Ende  1420  ergehen  die  ersten  königlichen  Ladeschreiben,1) 
welche  zur  Beschickung  eines  Reichstages  in  Sachen  der  böh- 
mischen Ketzerei  aufforderten.  Zu  einem  Aufgebot  der  Reiehs- 
lieere,  überhaupt  zu  einem  Reichstagsbeschlusse  kommt  es,  da 
der  König  fernbleibt,  auf  dem  infolge  dieser  Ladung  zusammen- 
tretenden Reichstage  von  Nürnberg  1421  noch  nicht.  Was  er- 
reicht wird,  ist  ein  Bund  der  rheinischen  Kurfürsten,  zunächst 
untereinander,  daun  mit  einer  grossen  Anzahl  geistlicher  und 
weltlicher  Fürsten  *)  zu  gemeinsamer  Bekämpfung  der  Ketzerei, 
sei  es  iu  Böhmen  durch  Bekriegnng,  sei  es  in  ihren  eigenen 
Landen  durch  gerichtliche  Bestrafung.’) 

Die  Städte  halten  sich  diesem  Bunde  fern.  Ihre  auf  dem 
Tage  zu  Wesel  Mai  1421  abgegebene  Erklärung4)  ist  allgemein 
zustimmend,  im  einzelnen  aber  ausweichend.  Bei  aller  Sym- 
pathie für  die  Zwecke  des  Bundes  mochten  sie  sich  scheuen, 
bestimmte  aber  doch  vieldeutige  Verpflichtungen  einzugehen.’) 
Der  Bund  bringt  im  Kreuzzuge  von  1421  eine  starke  Macht 
auf,  freilich  ohne  kriegerische  Erfolge  zu  erzielen. 

Der  Nürnberger  Reichstag  von  1422  hatte  nach  dem  Miss- 
erfolge des  vergangenen  Jahres  die  doppelte  Aufgabe:  einmal 
durch  einen  Kriegszug  die  von  den  Ketzern  aufs  äusserste  ge- 
fährdeten Positionen  in  Böhmen,  vor  allem  die  Burg  Karlstein 
zu  entsetzen  — dann  durch  dauernde  Bekämpfung  „täglichen 
Krieg“  die  Rebellion  zu  schwächen. 

„Zug“  und  „täglicher  Krieg,“  diese  beiden  Mittel 
zur  Bekämpfung  der  Hussiten  treten  von  hier  an  bei  allen  Be- 
ratungen des  Königs  und  der  Stände  auf,  einander  bald  er- 
gänzend, bald  ausschliessend.  Die  Festsetzung  der  Contingeute 

')  RTA  VIII,  1:  vom  25,  11  nach  Eger;  1.  c.  2:  vom  30,  12  nach 
Nürnberg. 

!)  angeführt  in  Kerlers  Einleitung  zum  Nürnberger  Reichstage  April 
1421  unter  E.  (RTA  VTII  S.  4). 

•)  1.  c.  28—33;  v.  Bezold  I,  50. 

*)  RTA  VIII,  46. 

s)  Die  bisherige  Annahme,  welcher  zufolge  auch  die  Reichsstädte  und 
zwar  86  au  Zahl  demNümbergerKetzerbundesich  angeschlossen  hätten  (Aschbach 
III,  130  — Grünhagen  „Hussitenkämpfe  der  Schlesier“  56  — v.  Bezold  I,  60 
— vgl.  RTA  VIII,  68 — 69),  bezeichnet  Kerler  mit  Recht  als  unwahrschein- 
lich: Einleitung  zum  Weseler  Tage  unter  A,  B,  E — RTA  VIII  S.  53  ff., 
auch  S.  80  Note  5. 


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89 


zum  „täglichen  Krieg*  ‘)  ist  das  erste  uns  erhaltene  Reichsge- 
setz, das  die  militärischen  Leistungen  der  deutschen  Reichs- 
angehörigen fixirt,  die  erste  Matrikel. 

Kurfürsten,  Bischöfe,  Herzöge  und  weltliche  Fürsten,  Grafen 
und  Herren,  Äbte,  Städte:  in  dieser  Gruppierung  treten  uns 
die  Stände  mit  ihren  einzelnen  Leistungen  in  langer  Reihe  ent- 
gegen. Dieses  Gesetz  und  die  Matrikel  von  1431  haben  auf 
die  Gestaltung  der  späteren  Matrikularverfassung  des  Reichs 
sehr  wesentlich  eingewirkt.  Auf  die  Ungleichheit  der  einzelnen 
Ansätze  dieser  Aufzeichnung  ist  schon  hingewiesen  worden,*) 
ebenso  darauf,  dass  in  dem  Anschläge  viele  Ausländer  und 
solche  Reichsangehörige , von  denen  die  festgesetzten  Lei- 
stungen nie  zu  erwarten  waren,  einen  breiten  Raum  einnehmen. 
Solche  sind  die  Mehrzahl  der  norddeutschen  Stände,  die  Nieder- 
länder, die  Herzoge  von  Savoyen  und  Lothringen  u.  a. 

Es  ist  nur  noch  zu  bemerken,  wie  weit  der  Anschlag  den 
Kreis  der  Reichsstädte  zieht.  Kein  Wunder,  dass  das  Vor- 
kommen in  den  Matrikeln  später  mancher  Stadt  als  Beleg  für 
ihre  umstrittene  Reichsstandschaft  willkommen  war.3)  — Die 
beiden  letzterwähnten  Merkmale  kommen  übrigens  dem  Gesetze 
von  1431  in  noch  höherem  Masse  zu. 

Der  Anschlag  zur  Rettung  des  Karlsteins4)  durch  einen 
„Zug“  umfasste  einen  weit  engeren  Kreis:  ausser  den  Kur- 
fürsten erscheinen  nur  Grenznachbarn  Böhmens,  allerdings  mit 
viel  stärkeren  Contingenten,  in  ihm  verzeichnet. 

Abgesehen  von  diesen  militärischen  Vorkehrungen  berühr- 
ten die  Nürnberger  Verhandlungen  auch  die  finanzielle  Seite. 
Hier,  im  Jahre  1422,  nicht  erst  wie  meist  behauptet:  1431, 
tritt  zuerst  der  Gedanke  einer  „allgemeinen  Schatzung,“  einer 
Geldsteuer  nach  Art  des  späteren  „gemeinen  Pfennigs“  auf. 

Näheres  über  diesen  Plan  wissen  wir  nicht;  schon  im 
Keime  wurde  er  durch  den  energischen  Widerstand  der  Städte 
erstickt.5) 

Wollen  wir  gerecht  sein,  so  war  es  nicht  krämerhafter 

>)  1.  c.  145. 

*)  v.  Besold  I,  93. 

*)  ETA  VIII  S.  107  Z 27—31. 

*)  1.  c.  148. 

‘)  1.  c.  135. 


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!)0 


Geiz  allein,  der  die  liier  zuerst  auftretende  und  später  sich 
immer  wiederholende  Opposition  des  Bürgertums  gegen  Steuerpro- 
jekte inspirierte.  Das  in  den  Stadtmauern  vorzüglich  sich  bergende 
mobile  Capital  empfand  den  Druck  einer  Geldsteuer  am  schwer- 
sten, und  so  mochte  eine  Steuer  für  Fürsten  und  Herren  die  be- 
quemste Methode  darstellen,  Leistungen  von  sich  auf  die  Städte 
abzuwälzen.; 

Im  folgenden  Jahre  verlangt  der  König  ohne  vorherige 
Beratung  mit  den  Ständen,  Unterstützung  gegen  Böhmen.1)  Wir 
haben  schon  gesehen,4)  wie  wenig  dies  eigenmächtige  Verfahren 
den  Ständen  zusagte.  Hierin  und  in  dem  Misstrauen  gegen 
die  königlichen  Rüstungen  selbst  liegt  der  Grund  dafür,  dass 
das  Jahr  1423  ohne  Unternehmungen  des  Reiches  gegen  Böhmen 
verlief.3) 

Nicht  besser  ging  es  im  folgenden  Jahre.  Die  Unterhand- 
lungen zwischen  König  und  Kurfürsten  über  Abhaltung  einer 
Reichsversammlung  scheiterten  au  der  Weigerung  des  Königs, 
nach  Deutschland  zu  kommen,  was  die  Kurfürsten  mit  Fern- 
bleiben vom  Wiener  Reichstage,  Januar  1425,  vergalten. 

Dieses  genügte,  um  die  Festsetzung  wirksamer  Beschlüsse 
zur  Bekämpfung  der  Böhmen  auf  diesem  Tage  zu  verhindern. 

Nach  den  städtischen  Berichten4)  wissen  wir  nur,  dass  der 
König  wieder  doppelte  Kriegführung  plante.  Im  Winter  sollte 
„ täglicher  Krieg,“  besonders  von  Mähren  aus,  die  Ketzer  be- 
schäftigen, im  Sommer  sollten  Feldzüge  „bis  zur  Bezwingung 
der  Ungläubigen“  unternommen  werden. 

Sonst  erfahren  wir  noch,  dass  die  Städte,  wie  üblich,  einer 
Erklärung  über  ihre  Leistungen  zum  Sommerfeldzuge  aus  dem 
Wege  gehen.  Der  König  sucht  sie  zu  zwingen,  indem  er  ihre 
privaten  Anliegen  an  ihn  unerledigt  zu  lassen  droht,  aber  um- 
sonst ; ihre  Antwort  muss  um  3 Monate  verschoben  werden.*) 


‘)  BTA  4111  236. 

’)  Vgl.  unsere  S.  60  f. 

’)  r.  Bezold  II,  10. 

4)  Schreiben  der  Gesandten  des  Weinsberger  Stftdtebundes  (Uber  diese 
Bezeichnung  vgl.  Kerler  1.  c.  VIII  S.  398  Note  3 n.  Stälin  rWirtembergische 
Geschichte“  III,  428)  an  Nfirdlingen  vom  17.,  2.,  1425.  (1.  c.  3:18). 
ä)  v.  Bezold  II,  68. 


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91 


Der  Wiener  Reichstag,  Februar  1426,  bringt  es  auch  nur 
bis  zu  Vorberatungen  für  eine  im  Mai  zu  Nürnberg  abzuhal- 
tende Versammlung.1)  Man  nahm  für  diese  einen  Anschlag  von 
6000  Spiessen  für  den  „täglichen  Krieg“  in  Aussicht.  Die  Ver- 
sicherung des  Königs,  dass  dieser  Anschlag  „ein  gleicher“  sein 
und  niemanden  beschweren  solle,  wird  im  Laufe  der  Verhand- 
lungen zu  Nürnberg  mehrmals  von  den  Städten  gegen  die  For- 
derungen der  Fürsten  ausgespielt. 

Der  folgende  Reichstag  zu  Nürnberg,  Mai  1426,  verlor  durch 
das  Ausbleiben  des  Königs  viel  von  seiner  Bedeutung,  kam  aber 
wenigstens  zur  Beschlussfassung.  Der  dort  vereinbarte  Anschlag 
zum  täglichen  Kriege  ist  uns  nicht  mehr  erhalten;  nur  ein 
kleiner  Teil  der  Ansätze  lässt  sich  aus  den  auf  Grand  der 
Nürnberger  Beschlüsse  entsandten  Mahnschreiben  und  aus  an- 
dern Notizen  wiederherstellen.*) 

Von  den  Verhandlungen  des  Tages  wissen  wir,  dass  Für- 
sten wie  Städte  das  Verlangen  des  Königs  von  6000  Spiessen 
zu  hoch  fanden.  Die  Fürsten  gehen  auf  4ü00  herab;  das  An- 
gebot der  Städte  für  ihre  Leistungen  ist  noch  geringer.3) 

Der  König  regt  nachträglich,  nachdem  er  seine  Forderung 
an  Truppen  schon  in  Wien  bekannt  gegeben,  die  Auflegung 
einer  allgemeinen  Geldsteuer  an,  für  die  er  sich  in  einem 
Schreiben  an  den  Cardinallegaten  Orsini  4)  wiederholt  ausspricht. 
Aber  die  Fürsten,  die  sonst  einer  Geldsteuer  immer  geneigt 
waren,  müssen  diesen  Vorschlag  von  diesmal  vornherein  abge- 
wiesen haben,  da  die  städtischen  Quellen  über  den  Steuerplan 
vollständig  schweigen. 

Ausserdem  besitzen  wir  noch  von  diesem  Reichstage  ein 
Gutachten  der  Kurfürsten,  das  erste  Schriftstück  dieser  Art, 
welches  sich  mit  Vorbereitung  und  Ausführung  des  Ketzer- 
krieges beschäftigt.  Seine  Bestimmungen  über  Verpflegung  des 


•)  v.  Bezold  II  75. 

*)  Eine  Zusammenstellung  der  bekannten  Contingcnte  giebt  Kerler  1.  c. 
VIII,  S.  452  f;  ungenauer  Abdruck  bei  Schuster  1.  c.  85  Note  4.  Bei  der 
Vergleichung  des  Contingentes  Ludwigs  v.  Bayern-Ingolstadt  (10  Spiesse)  mit 
dem  in  der  Matrikel  von  143t  (ICK)  Spiesse)  übersieht  Schuster,  dass  letzterer 
Anschlag  einen  Feldzug  und  nicht  den  täglichen  Krieg,  betrifft. 

*)  RTA  VIII,  390  art  4 a. 

4)  1.  c.  405.  — Vgl.  unsere  S.  44  Note  4. 


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Heeres,  Verteilung  der  Beute , Zucht  und  Ordnung  im  Felde, 
Verbot  jeder  Sonderabmachung  mit  dem  Feinde  u.  a.  kehren  in 
den  spätem  „ Heeresordnungen  “ von  1427  und  31  wieder.  Auch 
hier  soll,  wie  es  in  den  späteren  Schriftstücken  dieser  Art  be- 
stimmt wird,  das  Ausland  in  Anspruch  genommen  werden.  Die 
Könige  von  Dänemark  und  England,  die  Herzöge  von  Burgund 
und  Savoyen  sollen  unter  anderen  zur  Hilfe  aufgefordert  wer- 
den; ob  man  sich  mit  einem  Hilfsgesuche  au  den  König  von 
Polen  wenden  solle,  wird  bezeichnender  Weise  König  Sigmund 
anheimgestellt.  ‘) 

Die  Bestimmung,  dass  niemand,  wer  es  auch  sei,  der  Ausfüh- 
rung des  vom  Reichstage  beschlossenen  Anschlages  „durch  gelt 
gnade  ader  einiger  andern  suchen  willen“  überhoben  werden  dürfe,*) 
welche,  soweit  wir  sehen,  diesem  Stücke  eigentümlich  ist,  rich- 
tet sich  gegen  das  Reichsoberhaupt  selbst,  welches  sich  die 
durch  das  Reichsgesetz  von  1422  auferlegten  Leistungen  von 
einigen  Städten  hatte  abkaufen  lassen.8)  — Im  Ganzen  ist  der 
organisatorische  Wert  dieses  Gutachtens  nicht  zu  hoch  anzuschlagen. 

Mit  diesen  seinen  Beschlüssen  hatte  der  Nürnberger  Reichs- 
tag, wie  v.  Bezold  bemerkt4):  „wenigstens  den  Schein  nicht 
Übel  gewahrt.  Mit  der  Ausführung  hatte  es  gute  Wege.“  Kurze 
Zeit  darauf  erlitten  die  deutschen  Waffen  in  der  vernichtenden 
Niederlage  bei  Aussig8)  eine  grausame  Mahnung  an  die  Unzu- 
länglichkeit der  bisherigen  Massregeln. 

In  dem  Bestreben,  die  also  erhalteue  Lehre  zu  nutzen, 
kam  der  Reichsgesetzgebung  eiue  Einzelkundgebung  zuvor : der 
fränkische  Ritterbund  gegen  die  Ketzer  auf  dem  Herrentage 
zu  Bamberg.6)  In  ihm  vereinigen  sich  die  fränkischen  Ritter 
zur  Bekämpfung  der  Ketzer  im  eigenen  Lande.  Zum  Ketzer- 
kriege, welcher  an  die  Stelle  aller  sonstigen  ritterlichen  Übun- 
gen treten  soll,  zum  „geistlichen  Turniere,“  laden  sie  jeden,  der 
Mut  und  Kraft  zum  Waffeuhandwerk  in  sich  fühlt  in  ihre 
Reihen.  — Dieser  Plan  war  sicher  ehrlich  und  wohlgemeint, 

')  BTA  VIII,  391  art  13. 

’)  1.  c.  art  9. 

*)  v.  Bezold  I,  98  u.  Note  4. 

‘)  II,  80. 

s)  r.  Bezold  I,  81. 

*)  BTA  IX,  9 — v.  Bezold  II,  95  f. 


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aber  sehr  abenteuerlich.  Manche  seiner  Bestimmungen  muten 
uns  doch  etwas  gar  zu  cavaliersinässig  an.  Aber  die  Kitter 
gaben  doch  wenigstens  ein  gutes  Beispiel  für  Hoch  und  Niedrig 
iin  Reiche,  welches  bald  Nachfolge  fand. 

Auf  dem  Reichstage  zu  Frankfurt,  April  1427,  von  dessen 
Verhandlungen  wir  leider  nichts  näheres  wissen,  muss  es  ziem- 
lich schnell  und  leicht  zu  den  uns  erhaltenen  Beschlüssen  ge- 
kommen sein.1)  Es  wird  daselbst  verabredet,  mit  4 Heeren, 
zu  denen  die  Reichsstände  nach  ihrem  Vermögen  beizutragen 
aufgefordert  werden.2)  in  Böhmen  einzufallen. 

Die  in  Frankfurt  aufgestellte  , Heeresordnung“ 5)  enthält 
zwar  eine  Fülle  zum  Teil  sehr  nützlicher  Bestimmungen  über 
die  oberste  Leitung  des  Feldzuges,  den  Einmarsch  in  Böhmen, 
Verhalten  in  Feindesland.  Manneszucht  u.  a.  und  verrät  sicht- 
lich das  Bestreben,  frühere  Mängel  zu  vermeiden;  aber  einen 
grossen  Fortschritt  weist  sie  trotzdem  nicht  auf.  Formell  zu- 
nächst erscheint  diese  Ordnung  vielfach  als  unbehilflich  uud  der 
nötigen  Klarheit  entbehrend.  Die  Artikel  folgen  in  ziemlich 
willkürlicher  Ordnung;  zusammengehöriges  ist  oft  auseiuander- 
gerissen. 

Die  materiellen  Mängel  dieser  Heeresordnung  und  der  Be- 
schlüsse des  Frankfurter  Frühjahrstages  überhaupt  hat  v.  Be- 
zold4)  berührt:  Vom  Landfrieden  hören  wir  nichts;  der  Geld- 
punkt ist  ganz  vernachlässigt ; die  Einheitlichkeit  der  Leitung 
suchte  mau  zwar  durch  mancherlei  Bestimmungen  im  Princip  zu 
sichern,  für  die  Praxis  stellte  man  aber  dieselbe  durch  schwer- 
fällige Bestimmungen  über  die  Wahl  der  obersten  Hauptleute 
und  den  von  diesen  zu  berufenden  Kriegsrat8)  wieder  in  Frage. 

Der  gleichfalls  in  Frankfurt  beschlosseue  Artillerieanschlag  *) 
ist  in  seinen  einzelnen  Ansätzen  sehr  hoch,  verpflichtet  aber 
nur  wenige  Reichsstände  zu  bestimmten  Leistungen.  Und  die- 


')  Namentlich  (las  Entgegenkommen  der  Städte  wurde  gerühmt  (v.  Be- 
zold  n,  99). 

*)  RTA  IX,  30  u.  33. 

»)  1.  c.  31  — v.  Bezold  II,  100  ff. 

4)  1.  c. 

*)  BTA  IX,  31  art  2 u.  3.  — unsere  S.  85. 

*)  1.  c.  art  35 — 45. 


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selbe  Unbestimmtheit  bezüglich  der  Heeresleistungeu,  dies  Ver- 
langen der  Hilfe  „nach  Möglichkeit“  oder  „nach  Vermögen“ 
war  überhaupt  der  schlimmste  Fehler  der  Beschlüsse  vom 
April  1427. ') 

Der  Sommer  brachte  die  Niederlagen  von  Mies  und  Tachau, 
unter  deren  Eindruck  die  Reichsversammlung  zu  Frankfurt  im 
November  1427  die  gründlichsten  und  weitschauendsten  Be- 
schlüsse, welche  die  Not  der  Hussitenkriege  überhaupt  zeitigte, 
gefasst  hat. 

Man  ging  hierbei  von  der  sattsam  erfahrenen  Unzulänglich- 
keit der  bisherigen  Kriegsverfassung  des  Reiches  aus.  Das  um- 
ständliche Matrikularwesen,  welches  so  recht  der  Selbstherrlichkeit 
schmeichelte,  die  Unabhängigkeit  der  Einzelwesen  begünstigte, 
welche  von  dem  guten  Willen  des  Einzelnen  zu  erbitten  schien,  was 
doch  Pflicht  gegen  das  Reich  war,  welches  selbst  im  günstigsten 
Falle  als  Ergebnis  immer  nur  eine  Fülle  von  Teilen  lieferte, 
die  nie  zu  einem  einheitlichen  Ganzen  werden  konnten,  — dieses 
veraltete  und  verrottete  System  erscheint  hier  beseitigt.  Jetzt 
wendet  sich  das  Reich  noch  einem  zwar  mangelhaften  aber 
doch  einigermassen  gleichmässigem  System  an  alle  seine 
Glieder  ohne  Unterschied.8)  Es  werden  hier  neue  Aufgaben,  neue 
Pflichten,  neue  Organe  geschaffen,  deren  weitere  Ausgestaltung 
zu  unabsehbaren  Consequenzen  geführt  hätte,  welche  auch  nur 
in  unsern  Gedanken  zu  verwirklichen,  wir  jener  Zeit  weit  vor- 
auseilen müssten. 

Die  grosse  Reform,  welche  in  dem  ersten  Zustandekommen  einer 
Reichskriegssteuer,  denn  um  eine  solche  handelt  es  sich, 
liegt,  tratnaturgemäss,  nicht  ohne  starken  Widerspruch  zu  erfahren, 
in’s  Leben.  Ohne  den  ernsten  Willen  des  anscheinend  die  Ver- 
sammlung ganz  beherrschenden  Cardinais  von  England  und  der 
mit  ihm  im  Einverständnis  stehenden  Fürsten  wäre  der  Wider- 
stand der  Städte,  denn  diese  widerstrebten  wie  immer  so  auch 
hier  dem  Steuerplan  besonders,  jedenfalls  nicht  überwunden  worden. 

■)  Die  schon  oft  erwähnten,  auf  dem  Frankfurter  Septembertage  für  den 
Reichstag  im  November  aufgesetzten  Artikel  (RTA  IX  58)  fassen  auch  diesen 
Paukt  in’s  Auge.  Ihr  art  4 lautet:  „an  aliquis  numerus  determinatus 
cnilibet  imponi  debeat.“ 

')  Anfangs  hat  man  auch  hier  noch  nicht  an  eine  allgemeine  Steuer 
sondern  an  freiwillige  Leistungen  gedacht.  In  den  Vorbesprechungen  zum 


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Und  es  gelingt  dies  auch  nur  unter  Zugeständnis  einer  Sonder- 
stellung, der  Einwilligung  in  eine  nachträgliche  Erklärung  sei- 
tens der  Städte  und  andere  kleine  Concessionen.  Furcht  vor 
übermässiger  Inanspruchnahme,  Misstrauen  in  die  Leistungen 
der  Fürsten  selbst  und  in  die  zweckentsprechende  Verwendung 
der  Steuererträge  veranlassen  das  Widerstreben  der  Städte. 

Genaueres  Eingehen  aufForm  oder  Inhalt  des  Frankfurter 
Reichskriegssteuergesetzes1)  dürfte  sich  nach  den  neusten 
treffenden  Bearbeitungen  desselben  durch  Droysen,2)  Waiz- 
säcker3)  und  von  Bezold4)  erübrigen. 

Es  sei  hier  nur  daran  erinnert,  dass  es  sich  hier  um  eine 
Steuer  für  alle  Reichsangehörigen,  eine  „ Mischung  von  Einkom- 
men-, Vermögens-.  Kopf-  und  Standessteuer“ s)  handelt,  deren 
Eintreibung  an  den  einzelnen  Hebestellen  durch  Commissionen 
von  je  6 Mitgliedern  erfolgen  soll.  Das  ganze  Reich  uud  ein 
Teil  seiner  Nachbarländer  ist  zu  diesem  Zw'ecke  in  5 Distrikte 
mit  je  einer  Hauptkasse  geteilt.  Die  oberste  Centralstelle  ist 
Nürnberg,  wo  sich  auch  zu  bestimmten  Zeiten  die  zur  Verwal- 
tung der  Steuererträge  bestellte  Centralcommission,  bestehend 
aus  je  einem  Vertreter  der  6 Kurfürsten  und  3 städtischen  Ab- 
geordneten unter  Vorsitz  des  obersten  Hauptmaunes  versammeln 
soll.  — Diese  Hinweise  auf  den  Inhalt  des  Gesetzes,  wie  es  zur 
Beschlussfassung  gelangte,  mögen  genügen. 

Nur  den  vorläufigen  Entwürfen  des  Steuergesetzes,  welche 
die  „Reichstagsakten“  zum  ersten  Male  veröffentlichen,  sei  eine 
kurze  Betrachtung  gewidmet. 

Zwei  derselben8)  charakterisieren  sich’)  als  Abschriften 

Frankfurter  Reichstage  ist  noch  von  Selbsteinsehätznng  die  Rede:  RTA  IX 
58  art  3. 

>)  Die  neuste  kritische  Ausgabe  stellt  RTA  IX,  67  dar.  Vergl.  dazu 
Kerlers  Ausführungen  1.  c.  S.  60—62. 

*)  „Berichte  der  kgl.  sächs.  Gesellschaft  der  Wissenschaften  zu  Leipzig“ 
phil.-histor.  Klasse  Bd.  VTI  (1855)  S.  143  ff.  — auch  „Geschichte  der  preuss.  Po- 
litik’ I,  350  ff. 

*)  „Forschungen  zur  deutschen  Geschichte“  XV,  S.  414—16. 

*)  1.  c.  II,  126  ff. 

*)  v.  Bezold  II,  128. 

•)  RTA  IX,  74  n.  75. 

')  durch  ihre  Bingangsfonueln : „geratslaget  und  beslossen;“  so  Kerler 
L c.  S.  61  Z 35  ff. 


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des  Originals,  welche  jedoch,  wir  wissen  nicht  wie,  einzelne 
den  vorläufigen  Entwürfen  eigentümliche  Elemente  in  sich  auf- 
genommen haben. 

Drei  andere  Fassungen1)  geben  sich  selbst  als  Entwürfe. 
Zwei  von  diesen  wieder,  der  eine  durch  Einschaltungen  und 
Correcturen  zum  andern  entstanden,*)  weisen  durch  ihren  Fund- 
ort auf  den  Kämmerer  Conrad  von  Weinsberg  hin.  einen  er- 
fahrenen Finanzmann,  welcher  häufig  vom  Könige  zu  mancher- 
lei Missiouen  verwendet  wurde,  und  der  sich  am  Reichstage, 
und  jedenfalls  auch  an  der  Ausarbeitung  des  Gesetzes,  durch 
einen  Vertrauensmann 3)  beteiligte.  Beide  Entwürfe  sind  höchst 
wahrscheinlich  nicht  von  Conrad  selbst  verfasst  uud  seinem  Be- 
vollmächtigten nach  Frankfurt  mitgegeben,  sondern  erst  auf 
dem  Reichstage  im  Laufe  der  Verhandlungen  entstanden.4) 
Beide  Entwürfe  weisen  gegen  das  Gesetz  selbst  verschiedene 
bemerkenswerte  Abweichungen  auf. 

Gleich  im  Eingänge  regen  sie  an : in  Anbetracht  des  guten 
Zweckes  sollten  der  Papst,  die  Cardinäle  und  der  römische 
König  zu  der  Kriegssteuer  beitragen  und  „sich  selbst  anschla- 
gen.“ Es  ist  bezeichnend,  dass  diese  Bestimmung  Entwurf 
blieb. 

Der  Teil  des  Gesetzes,  welcher  von  den  kirchlichen  Gna- 
denmitteln handelt,  welche  den  Eifer  der  Gläubigen  für  die  Aus- 
führung der  Reichsbeschlüsse  anregen  sollen,  enthält  mehrere 
specielle  Bestimmungen  über  die  Handhabuug  des  Ablasses 
durch  die  Geistlichen:  Umwandlung  von  Wallfährtsgelübden  in 
Beiträge  zur  Ketzersteuer,  Verwendung  unrechtmässig  erwor- 
benen Gutes  für  dieselbe  uud  ähnliches,  welche  Details  in  der 
Ausfertigung  des  Gesetzes  ganz  passend  durch  die  blosse  Ver- 
fügung, dass  und  wie  oft  der  Ablass  von  den  Kanzeln  zu  ver- 

*)  1.  c.  71,  72,  73. 

*)  1.  c.  72  aus  71. 

ä)  Die  Instruktion  für  diesen:  1.  c.  68. 

*)  Selbst  bei  dem  ursprünglichen  Entwürfe:  1.  c.  71  wird  man  zu  dieser 
Annahme  durch  das  Fehlen  eines  sehr  wichtigen  Teiles  des  Gesetzes:  der 
Bestimmungen  über  die  5 Hauptkassen,  auf  welche  derselbe  Entwurf  später  selbst 
hinweist,  veranlasst;  man  müsste  denn  mit  Kerler  (S.  86  Note  8)  aunehmen, 
der  bezügliche  Abschnitt  in  unserem  Entwürfe  sei  verloren.  Letzterer  Pnnkt 
ist  indessen  ohne  Kenntnis  der  handschriftlichen  Vorlage  nicht  zu  entscheiden. 


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künden  sei,  ersetzt  sind.')  Verwendet  finden  wir  indessen 
obige  Bestimmungen  der  Entwürfe  in  dem  Schreiben  des  Car- 
dinais von  England  an  die  deutschen  Erzbischöfe  und  deren 
Suffragane.*) 

Ebenfalls  Weht  für  die  Ausfertigung  geeignet  ist  ein  Ab- 
schnitt der  Entwürfe,  der  von  der  Aufforderung  zur  Beisteuer 
an  Auswärtige:  die  Könige  von  Frankreich,  England,  Polen, 
die  Herzoge  von  Burgund,  Savoyen.  Litthauen,  die  „grossen  com- 
muneir  der  Städte  Venedig,  Florenz.  Lübeck,  Gent  u.  a.  han- 
delt und  zugleich  eine  Art  Concept  für  die  an  diese  zu  rich- 
tenden Schreiben  giebt.  Diese  Ausführungen  sind  im  Gesetze 
ganz  weggefallen.  Dafür  sind  in  der  Ausfertigung  mehrere  der 
genannten  Fremden  und  noch  einige  mehr:  z.  B.  die  skandi- 
navischen Reiche,  in  die  Einteilung  des  Reichs  nach  den  fünf 
Steuerbezirken  gezogen.8) 

Eine  Eintragung  des  zweiten  Entwurfes4)  spricht  schon 
davon,  dass  die  Städte  an  einem  spätem  Termine  und  zwar  vor 
den  Kurfürsten  von  Mainz  und  Trier  bezüglich  ihrer  Stellung 
zum  Gesetze  sich  erklären  sollen.  Dieselbe  muss,  da  erst 
gegen  Ende  des  Reichstages  eine  derartige  Sonderstellung 
der  Städte  zugestanden  wurde,  einem  sehr  späten  Stadium 
der  Verhandlungen  angehören.6)  — Nur  dem  ersten  Ent- 
würfe6) ist  eine  Fassung  des  Artikels  über  die  Central- 
commission eigentümlich.  Einmal  ist  hier  die  Zusammen- 
setzung eine  andere:  neben  den  6 Vertretern  der  Kurfürsten 
stehen  nicht  3 Städteboten,  sondern  nur  2 Abgeordnete  Nürn- 
bergs. Ferner  besagt  diese  Fassung  nichts  von  regelmässig 
wiederkehrendeu  Zeiträumen,  in  denen  die  Commission  sich 
versammeln  solle,7)  sondern  es  heisst  da:  wenn  der  oberste 
Hauptmanu  Geld  braucht,  soll  er  die  Mitglieder  berufen.  Wir 
sehen  also  in  der  Ausfertigung  die  Bedeutung  der  Centralcom- 
mission gehoben  und  ihre  Organisation  vervollkommnet. 


>)  RTA  IX,  76  art  24. 

*)  1.  c.  79  (S.  1 14  Z 26  ff.) 

*)  1.  c.  76  artt.  19  u.  23. 

4)  Der  Abschnitt-  „Antworttag  der  Stftdte“  in  1.  c.  72  (S.  H9  Z 10  ff.) 

5)  1.  c.  70  art  38  n.  37. 

•)  1.  c.  71:  übergegangen  in  die  Recension  75. 
r)  wie  sie  76  art  25  festgesetzt, 

Wendt,  Oer  deutsche  Reichstag  unter  König  Sigmnnd.  7 


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Andre  Abweichungen  der  Entwürfe  vom  Originale  des  Steuer- 
gesetzes sind  unwesentlicher,  meist  redaktioneller  Natur,  an 
Stellen,  wo  die  schliessliche  Ausfertigung  teils  ausführt  theils 
präcisiert.  — 

Im  November  1427  wird  das  Frankfurter  Reichssteuerge- 
setz beschlossen;  das  ganze  Jahr  1428  und  ein  Teil  des  fol- 
genden wird  erfüllt  von  den  Bemühungen  um  seine  Ausführung. 

So  handeln  die  im  März  1428  von  der  Centralcommission 
vereinbarten  Artikel l)  von  Einzahlung  der  Steuer,  Werbung, 
Vertretung  desHauptmauns,  Einrichtung  eines  „reitenden Krieges“ 
an  der  böhmischen  Grenze  u.  a. 

Der  nächste  Nürnberger  Tag,  Ende  April,  musste  schon, 
da  inzwischen  die  verheerenden  Einfälle  der  Hussiten  in  Mit- 
tel- und  Oberdeutschland  begonnen  hatten,  an  Verth  eidigungs- 
massregeln  für  den  Fall  einer  hussitischen  Invasion  denken.*) 

Der  Widerstand  des  Landvolkes  soll  durch  die  dort  ge- 
fassten Beschlüsse  organisiert  werden ; Ein  V iertel  der  Wehrfähigen, 
im  äussersten  Notfälle  sogar  die  Hälfte,  soll  gegen  die  Ketzer  aus- 
ziehen.  Die  Anordnungen  betreffs  Ausrüstung  der  Streitwagen 
zeigten , dass  man  etwas  von  der  hussitischen  Taktik  zu  lernen 
begann. 

Während  die  in  der  Hauptsache  vergeblichen  Versuche, 
das  Frankfurter  Steuergesetz  überall  durchzuführen,  noch  fort- 
dauem,  wendet  sich  Anfang  1429  auch  der  König  wieder  ein- 
mal mit  einer  direkten  Aufforderung  zur  Kriegshilfe  au  die 
Glieder  des  Reiches.8)  Sigmund,  der  kurz  vorher  mit  den  Hus- 
sitten  zu  Pressburg  verhandelt  und  dabei  nichts  als  die  Über- 
zeugung von  der  bis  jetzt  noch  unüberbrückbaren  Kluft  zwischen 
beiden  Parteien  gewonnen  hatte,4)  steckte  jetzt  voll  von  kriege- 
rischen Plänen. 

Ein  „reitender  Krieg,“  aus  den  Mitteln  der  Centralsteuer- 
commission zu  bestreiten,8)  sollte  die  Ketzer  beschäftigen  bis 


l)  RTA  IX,  115  aus  Wiudecke  Cap  172;  vgl.  v.  Besold  II,  132  f. 

')  RTA  IX,  130.  — v.  Besold  H,  133  f. 

')  RTA  IX.  216  u.  17. 

*)  v.  Besold  ID,  7 f. 

*)  In  einem  Schreiben  vom  17.  Mai  1429  (RTA  IX,  222)  lehnte  der  Kur- 
fürst von  Brandenburg  ein  (iesuch  des  Königs  uni  Unterstützung  des  Pilsener 
Kreis  ans  den  Erträgen  des  Frankfurter  Uesetzes,  mit  der  Begründung  ab,  dass 


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za  einem  grossen  Heereszuge,  der  im  Sommer  von  3 Seiten 
aus:  von  Schlesien,  Bayern  und  Ostreich  unternommen  werden 
sollte. 

Aber  im  Reiche  fand  diese  direkte  Aufforderung  des  Kö- 
nigs zur  Kriegshilfe,  ähnlich  wie  im  Jahre  1423  keinen  grossen 
Auklaug;  die  Zusagen  der  Stände,  besonders  der  Städte  sind 
so  allgemein  gehalten,  dass  der  König  auf  dem  Reichstage  zu 
Pressburg  diese  ungenügenden  Erklärungen  als  Grund  für  das 
Nichtzustandekommen  des  Sommerfeldzuges  von  1429  anführen 
konnte.  *) 

Umgekehrt  wurden  die  kriegerischen  Beschlüsse  des  von 
Pressburg  aus  nach  Nürnberg,  Mai  1430,  verlegten  Reichstages 
durch  das  Ausbleiben  des  Königs  lahmgelegt.8) 

Man  hatte  auf  dem  nürnberger  Reichstage  an  dreierlei  ge- 
dacht: an  Festsetzung  eines  Kriegszuges,  an  täglichen  Krieg 
und  an  einen  Streifzug  nach  Böhmen,  eine  „strichende  raise.*) 
Vom  Zuge  sah  man  aber  bald  ab:  wegen  der  umständlichen 
und  zeitraubenden  Vorbereitung,  die  er  erforderte,  wie  der 
officielle  Erlass  der  Fürsten4)  sagt;  ein  Brief  Ulms  an  Nürd- 
lingen5)  giebt  das  Ausbleiben  des  Königs  als  eigentlichen  Grund  an. 

Die  Städte  zeigen  den  fürstlichen  Beschlüssen  gegenüber  die 
gewohnte  Zurückhaltung.  Man  hatte  von  ihnen  1000  Pferde 
zum  täglichen  Kriege  (*/«  der  Gesammtsumme)  verlangt,  aber 
die  Ratsboten  verschoben,  wie  üblich,  ihre  Erklärung.  Ihre 
Bestrebungen  gingen  damals  auf  Selbsthilfe,  zunächst  wohl 
gegen  die  Ketzergefahr,  dann  aber  auch  gegen  andere  Be- 
drängnisse. 

Am  1.  Mai  versammelten  sich  18  norddeutsche  Städte,  von 
denen  sonst  die  Reichsgeschichte  unserer  Zeit  schweigt,  auf 


er  ohne  Zustimmung  der  übrigen  Corainissionsmitglieder  Uber  die  gesammelten 
Steuervertrage  nicht  verfügen  dürfe. 

*)  1.  c.  286  art  2. 

*)  veranlasst  war  das  Fernbleiben  Sigmunds  durch  das  Bestreben,  Ungarn 
gegen  die  Türken  (v.  Bezuld  III,  68)  oder  die  Einfälle  der  Hnssiten  (Fesslcr- 
Klein  II,  380)  zu  sichern. 

*)  BTA  IX  349  art  2 u.  3. 

‘)  1.  c.  319  — v.  Bezold  UI,  68  f. 

‘)  RTA  IX,  349  art  2. 

r 


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100 


einem  Städtetage  zu  Braunschweig.  *)  Gegenseitige  Hilfleistung 
bei  Bedrängnis  durch  die  Hussiten,  Rüstung  dazu  durch  Anle- 
gung von  Wagenburgen  u.  ä.  wird  ausbedungen. 

Am  6.  Juni  verabreden  die  Gesandten  der  meisten  freien 
und  Reichsstädte  Oberdeutschlands  und  der  Rheinlande  einen 
Städtetag  zu  Ulm  für  den  24.  Juni,  der  dieselbe  Sache  ver- 
handeln soll.*)  Dieser  Tag  findet  auch  unter  zahlreicher  Be- 
teiligung statt  und  beschliesst  in  weit  energischerer  und  nach- 
drücklicherer Form,  als  es  zu  Braunschweig  geschehen  war*) 
gegenseitige  Unterstützung  der  Städte.  Vor  allem  sollen  die 
Reichsstädte  „ain  unczwifenlich  getruwen“  zu  der  neuen  Hilfs- 
und  Schutzeinrichtung  haben.  Freilich  schliesst  die  städtische 
Vorsicht  gleich  hieran  die  Warnung:  „daz  dehain  statt  manunge 
taete  ald  hilfe  forderte  uf  zwifel  sunder  uf  war  Sachen.“ 4) 
Und  wenn  diese  Hilfleistung  zunächst  auf  die  Fälle  von  Hussi- 
tengefahr  beschränkt  erscheint,  so  hat  man  doch  wohl  den 
Blick  auch  weiter  gerichtet.  Das  Contingent  der  Hilfleistung 
basiert  auf  der  Matrikel  des  alten  grossen  Städtebundes; 
das  Verhältnis  zum  Könige  wird  sorgfältig  erwogen.  Diese 
Anzeichen  weisen  darauf  hin,  dass  wirklich,  wie  man  mehr- 
fach vermuthet  hat,  in  der  grössten  Not  der  Hussitenkriege 
der  Gedanke  eines  grossen  mit  König  und  Ritterschaft  gegen 
die  Fürstengewalt  sich  vereinigenden  Städtebundes,  wie  er  vor 
mehr  denn  40  Jahren  zuerst  und  oft  genug  seitdem  angestrebt 
worden  war,  wiedererwacht  ist.5) 

Der  Straubinger  Reichstag  August  1430,  der  erste,  welcher 
wieder  in  Anwesenheit  des  Königs  stattfindet,  war  nicht  arm 
an  Beschlüssen.  Wieder  waren  die  geplanten  Kriegsrüstungen 
teils  offensiv  teils  defensiv.  Zum  Schutze  gegen  die  drohenden 


*)  Vgl.  ß.  Schmidt  .Beiträge  zur  Geschichte  der  Hussitenkriege.  1427  bis 
1431“  in  „Forschungen  znr  deutschen  Geschichte“  VI,  S.  175  ff,  wo  besonders 
auf  Grund  Göttinger  Materials,  der  Anteil  der  mittel-  und  niederdeutschen 
Stände  an  den  Hussitenkämpfen  beleuchtet  wird.  — Über  den  Braunschweiger 
Städtetag  vgl.  1.  c.  S.  206  ft'. 

*)  RTA  IX,  322. 

*)  Mau  vergleiche  das  Protokoll  des  Tages  (1.  c.  350)  mit  Schmidt 
1.  c.  206  f. 

4)  I.  c.  350  art  7. 

*)  v.  Besold  UI,  69  f belegt  dies  mehrfach. 


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101 


Einfälle  der  Ketzer  wurde  ein  Anschlag,  wahrscheinlich  nur 
für  die  Grenznachbarn  Böhmens,  aufgestellt.1)  Ausserdem 
aber  sollte  anfang  Oktober  ein  grosser  Feldzug  unternommen 
werden,  zu  dem  die  Stände  mit  voller  Macht  zu  erscheinen, 
einzelne  noch  ausserdem  den  vierten  Manu  aus  Stadt  und 
Land  zu  stellen  aufgefordert  werden.8)  Es  handelte  sich  also 
um  eine  bedeutende  Rüstung. 

Die  Beschlüsse  auf  dem  Reichstage  zu  Straubing  scheinen, 
da  die  Zeit  drängte,  etwas  summarisch  gefasst  worden  zu  sein: 
.die  suche  ist  gar  schnell  zugangen  mit  dein  auschlag,“  schreibt 
der  Ulmer  Gesandte  Ehiuger  an  seine  Stadt.3) 

Dieser  Kriegseifer  erwies  sich  als  übertrieben.  Schon  in 
Nürnberg,  als  sich  daselbst  im  Herbst  1430  eiue  glänzende  bunt- 
gemischte Versammlung  um  den  König  schaarte,  ging  man  von 
dem  Anschläge  des  Straubinger  Reichstages  ab  *)  und  begnügte 
sich  damit,  4000  Reisige  für  den  Grenzkrieg  zu  bestimmen.5) 

Die  bedrohlichen  Nachrichten  von  neuen  Einfällen  der  Hus- 
siten  im  Reiche  veranlassten  indessen  den  König  bald,  Hilfe 
mit  ganzer  Macht  von  den  Ständen 6)  zu  fordern.  Aber  je  all- 
gemeiner derartige  Hilfsgesuche  gehalten  waren,  destoweniger 
Erfolg  hatten  sie,  sodass  auch  das  Jahr  1430  ohne  wirksame 
Massregeln  des  deutschen  Reiches  gegen  die  böhmische  Revo- 
lution zu  Ende  geht. 

Erst  das  folgende  Jahr,  der  Nürnberger  Reichstag  von 
1431,  brachte  eine  neue  bedeutende  Kraftleistung  des  Reiches 
zu  Wege,  die  gewaltigste,  aber  auch  die  letzte,  zu  welcher  das 
Deutschthum  gegenüber  der  uationalczeehischen  Bewegung,  der 
alte  Glauben  gegen  die  Ketzerei,  die  alte  feudale  Reichskriegs- 
verfassung  gegen  fanatisierte  Volksheere  sich  erhoben  hat. 


*)  Die  fränkischen  Städte  waren  mit  100  Reisigen  veranschlagt:  RTA 
IX,  362. 

*)  Die  Mahuang,  „möglichst  stark“  Zuzug  zu  leisten,  erhält  nach  den 
uns  erhaltenen  Ansschrciben  (1.  c.  363)  Strassburg  und  Basel ; der  vierte 
Mann  wird  gefordert  von  den  fränkischen,  schwäbischen  und  elsässischen  Städten, 
ferner  vom  Herzog  von  Berg. 

•)  1.  c.  371. 

*)  1.  c.  382,  86. 

*)  L c.  386. 

*)  wahrscheinlich  nicht  blos  „von  den  Reichsstädten“  (Kerler  S.  472  Z 6.) 


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102 


Bei  dev  eingehenden  und  lichtvollen  Darstellung,  welche 
die  Verhandlungen  und  die  Beschlüsse  des  Nürnberger  Reichs- 
tages durch  v.  Bezold1)  erfahren  haben,  genügt  es,  im  ganzen 
der  Vollständigkeit  halber  die  Hauptgesichtspnnkte  hervorzu- 
heben und  im  einzelnen  dies  oder  jenes  nachzntragen. 

Von  den  Massregeln,  welche  zur  Bekämpfung  der  Hussi- 
ten  überhaupt  in  Betracht  kommen  konnten,  handelt  es  sich 
hier  um  drei:  um  Besetzung  der  Grenze  vor  einem  im  Sommer 
zu  unternehmenden  Feldzüge,  um  diesen  selbst  und  um  „täglichen 
Krieg“  nach  dem  Feldzuge. 

Diese  3 militärischen  Massregeln  treten  in  den  schriftlich 
fixierten  Vorschlägen  der  Fürsten  für  den  Reichstag  nebenein- 
ander auf.8)  Die  im  Laufe  der  Verhandlungen  immer  mehr  sich 
zuspitzende  Differenz  zwischen  König  und  Fürsten  liegt  darin, 
dass  ersterer  auf  den  täglichen  Krieg  das  Hauptgewicht  legt, 
letztere  aber  auf  den  Zug  und  löst  sich  schliesslich  durch 
Nachgeben  des  Königs.  So  kommt  eine  Matrikel  znm  Zuge  zu 
Stande,3)  welche  im  ganzen  ein  Reiterheer  von  über  32000 
Pferden  ergiebt,  von  denen  etwa  Vs  auf  die  Reichsstädte  ent- 
fällt.4) 

Vergleichen  wir  die  in  unsrer  Matrikel  aufgestellten  Stände5) 
mit  dem  Anschläge  von  1422, 6)  so  springen  uns  besondere  viele 
Abweichungen  der  Städteliste  in  die  Augen.  In  der  Matrikel 
von  1431  (B)  fehlen  besonders  viele  kleinere,  grösseren  Städte- 
gruppen angehörige  Orte,  welche  die  von  1422  (A)  anfweist. 
So  fehlen  in  B : 5 breisgauische,  7 oberrheinische,  2 elsässische. 
3 schwäbische,  2 Bodenseestädte.  Der  Grund  hierfür  ist,  dass 
A die  Posten  der  einzelnen  Städte  anführt,  während  in  B 
eine  Gesammtsumme  (1000  Spiesse)  für  alle  Reichsstädte  fest- 
gesetzt, ihre  Einzelaufzählung  also  nicht  so  notwendig  war. 
Das  Fehlen  Weinsbergs,  welches  1422  noch  unter  den  Reichs- 
städten erschien,  in  B,  ist  nicht  zufällig.  Seitdem  hatte  sich 


>)  m,  93—115. 

*)  RTA  IX,  402  art  1,  4,  5. 

«\  i i»  ms 

‘)  v.  Bezold  m,  110. 

*)  nicht  die  Grösse  der  Contingente,  denn  1422  handelt  es  sich  um 
„täglichen  Krieg,“  hier  um  einen  Feldzug. 

•)  RTA  Vin,  145. 


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103 


um  die  Reichsstandschaft  dieses  Ortes  ein  erbitterter  Streit  ent- 
sponnen,  der  weite  Kreise  in  Mitleidenschaft  zog.1)  Einige 
mitteldeutsche  Städte,  wie  Aschersleben,  Halberstadt,  Qued- 
linburg fehlen  B,  wogegen  es  eine  lange  Reihe  norddeutscher 
Städte  wie  Rostock,  Wismar,  Stralsund,  Bremen,  Braun- 
schweig, Lüneburg  vor  A voraus  hat.  Wie  in  der  Matrikel 
von  1422  zeigen  sich  auch  in  unserem  Anschläge  viele  aus- 
wärtige oder  dem  Reiche  längst  entfremdete  Stände,  von 
denen  die  Erfüllung  der  auferlegten  Verpflichtungen  nie  zu  er- 
warten war.  — 

Als  notwendige  Ergänzungen  zu  dem  Contingentalgesetze, 
welches  die  Höhe  der  einzelnen  Truppenleistungen  bestimmte, 
treten  der  Artillerieanschlag2)  und  die  Heeresordnung*)  hinzu. 

Elfterer  zeigt  gegen  die  Bestimmungen  von  1427 *)  ge- 
ringere Eiuzeileistungen,  dafür  aber  eine  grössere  Zahl  von 
Ständen,  die  zur  Stellung  von  Geschützen  verpflichtet  werden. 

Die  Heeresordnung  verrät  gegen  die  Festsetzungen  von 
1427 5)  doch  manchen  wohl  durch  die  inzwischen  gemachten  Er- 
fahrungen veranlassten  Fortschritt.  Unsere  Heeresorduung  über- 
trifft noch  ihre  Vorgängerin  durch  die  Schärfe  ihrer  gegen 
Zuchtlosigkeit  und  Auflösung  des  Heeres  gerichtete  Massregeln. 
Die  Strafen  für  gemeine  Verbrechen , Unfrieden  und  Aufruhr 
sind  härter.  Zu  ihrer  Handhabung  soll  eine  förmliche  Heeres- 
polizei eingerichtet  werden.  Wer  dem  Kampfe  durch  Flucht 
sich  entzieht,  soll  mit  Weib  und  Kind  „ewiclich  vertriben 
sin  und  alle  ir  gut  und  haben  verloren  haben.“  Das  Ver- 
lassen der  Fahnen,  das  Blasen  von  Signalen  ohne  Befehl 
der  Commandeure  wird  streng  untersagt.  Die  Bestimmung,  dass 
kein  einzelnes  Contingent  vom  Marsche  aus  eine  Stadt  bestür- 
men solle,  weist  deutlich  auf  die  Erfahrungen  hin.  welche  man 
im  Sommer  1427  vor  Mies  und  Tachau6)  gemacht  hatte.  Man 
hatte  durch  Schaden  gelernt,  aber  nur  auf  dem  Papiere. 


’)  Stalin  „Wirtembergische  Geschichte“  III,  428  f. 
*)  KTA  IX,  404. 

*)  I c.  410. 

4)  1.  c.  31  art  35 — 45. 

»)  1.  c.  31  art  1-34. 

•)  v.  Bezold  II,  113  ff. 


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104 


Die  flnauzielle  Vorbereitung  des  Krieges  wird  zu  Nürnberg 
vernachlässigt.  Die  Fürsten,  welche  auch  hier  wieder  als  Ver- 
fechter einer  Kriegssteuer  erscheinen,  beantragen  wohl,  der  Reichs- 
tag solle  für  endliche  Durchführung  der  Frankfurter  Beschlüsse 
sorgen ; aber,  wahrscheinlich  unter  Nachwirkung  der  traurigen 
Ergebnisse  des  Steuergesetzes  von  1427,  gelingt  es  den  Städten, 
die  Wiederaufnahme  der  Steuerpläne  zu  hintertreiben.1) 

Der  Nürnberger  Reichstag  schliesst  die  Reihe  der  grossen 
kriegerischen  Massregeln  des  Reiches  gegen  die  böhmische  Re- 
volution ab.  Die  Wirkung  derselben  oder  besser:  ihre  Wir- 
kungslosigkeit im  einzelnen  zu  verfolgen , überschreitet  den 
Rahmen  unserer  Aufgabe.  Aber  schon  ihre  fortwährende  Er- 
neuerung, dieses  ewige  Anfassen,  mit  halber  Kraft  Durchführen, 
Liegenlassen,  Wiederaufnehmen  und  Wieder  verwerfen  zeigt, 
wenn  auch  nicht  so  grausam  und  unmittelbar  wie  die  Kata- 
strophen von  Deutschbrod  uud  Aussig,  von  Mies  und  Taus,  dass 
die  deutsche  Kriegsverfassung  wie  die  Verfassung  des  Reiches 
überhaupt  unheilbar  krank  war. 

Einzelne  kleinere  Züge  treten  noch  zu  den  betrachteten 
militärischen  Massnahmen  hinzu,  um  das  Bild  dessen,  was  die 
deutschen  Reichsversammlungen  gegen  die  Hussiteu  unternah- 
men, zu  vervollständigen. 

Nicht  blos  mit  den  Waffen  in  der  Hand  bedrohte  die  böh- 
mische Ketzerei  das  alte  Reich  und  den  alten  Glauben.  Ihre 
Lehre,  welche  gar  leicht  in  dem  durch  geistigen  und  materiellen 
Druck  durchwühlten,  durch  Recht-  und  Zuchtlosigkeit  aufge- 
lockerten Boden  der  alten  Gesellschaft  Wurzel  schlagen  konnte, 
war  nicht  minder  zu  fürchten  als  ihr  Schwert. 

Zweimal  macht  der  Adel  auf  den  Reichstagen  den  Versuch, 
die  Städte  zur  Teilnahme  an  allgemeinen  Festsetzungen  gegen 
hussitische  Propaganda  zu  veranlassen. 

Der  Nürnberger  Fürstenbund  von  1421  *)  hatte  auch  diese 
Seite  der  Bekämpfung  der  Ketzerei  iu’s  Auge  gefasst;  hieraus 
entsprang  aber  gerade  die  Unlust  der  Städte  zum  Anschlüsse 
an  denselben. 

Dasselbe  bezweckte  die  „vereinunge  des  Unglaubens,“  welche 


')  v.  Besold  IH,  103. 
*)  RTA  VIII,  28—33. 


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105 


die  Fürsten  auf  dein  Frankfurter  Reichstage  November  1427 
den  Städten  Vorschlägen.')  Auch  hier  verhalten  sich  diese  ab- 
lehnend. Sie  wollen,  erklären  sie,  gute  Christen  bleiben  und 
die  Ketzerei  strafen,  wie  und  wo  sie  sich  zeigt,  aber  verpflich- 
ten mögen  sie  sich  zu  nichts.  Das  Misstrauen  gegen  die  Fürsten 
ist  bei  den  Städten  offenbar  grösser,  als  die  Furcht  vor  hussi- 
tischen  Sympathien. 

Mehr  im  Zusammenhänge  mit  den  ki-iegerischen  Beschlüssen 
stehen  die  Handels  und  Zufuhrverbote , welche  die  materiellen 
Hilfsquellen  Böhmens  brachlegen  sollten. 

So  ist,  sow'ohl  vor  wie  auf  dem  Reichstage  zu  Wien  davon 
die  Rede,  den  Aufständischen  die  Zufuhr  abzuschneiden.*)  Der- 
selben Absicht  entspringt  es,  wenn  der  Cardinal  Orsini  in  der 
Eröffnungsrede  des  Nürnberger  Reichstages  Mai  1426  betont: 
„es  wer  rehte  zit  in  die  frucht  zu  nemen  und  zu  wüsten  und 
in  kost  zu  weren.“3) 

Auf  dem  Nürnberger  Reichstage  1431  wird  die  Handels- 
sperre gegen  die  Hussiten  erneuert,4)  „ein  Zeichen  ihrer  bis- 
herigen Bedeutungslosigkeit.“  5)  Überhaupt  haben  wir  manche 
Andeutungen  dafür,  wie  gern  Eigennutz  und  Habsucht  dies  Ge- 
bot umgingen.  Als  zum  Beispiel  nach  der  Schlacht  bei  Aussig 
Juni  1426  gegen  den  damaligen  Führer  der  Deutschen,  Boso  von 
Vitzthum,  das,  nicht  erst  im  19.  Jahrhundert  übliche  Verrats- 
geschrei sich  erhob,6)  ist  einer  der  schwersten  ihm  gemachten 
Vorwürfe  der,  er  habe  um  schnöden  Gewinnes  willen  durch 
Zufuhr  von  Lebensmitteln  die  Ketzer  unterstützt.7) 


■)  1.  c.  IX,  70  art  23. 

’)  Sigmund  meint  in  seiner  Unterredung  mit  den  kurfürstlichen  Ge- 
sandten, im  August  1424:  Die  Ketzer  würden  sich  auf  die  Dauer  nicht  halten 
können  twanne  wir  bestelten,  das  man  ine  nichts  zufuret  oder  liess  zugeen." 
(1.  c.  VIII,  311  art  14.)  Dass  der  König  in  Wien  selbst  das  Handelsverbot 
entschärfte,  lehrt  ein  Schreiben  Ulms  an  Nördlingen  Febr.  1425  (L  c.  338  art  1 d.) 

*)  1.  c.  VIII,  401. 

‘)  1.  c.  IX,  411  art  2. 

*)  v.  Bezold  III,  109. 

*)  wie  ja  anch  nach  der  Niederlage  bei  Taus  gegen  Friedrich  von  Branden- 
burg. (v.  Bezold  III,  155.) 

7 Vgl.  v.  Liliencron  „Historische  Volkslieder“  I.  8.  293  Vers  41—46. 
„Auch  hat  er  gespeiset  die  ketzer 
„wider  got  und  die  heilige  1er. 


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106 


Ob  diese  Anschuldigung  begründet  war,  interessirt  uns  hier 
nicht;  jedenfalls  sieht  man  daraus,  wie  geläufig  jener  Zeit  ein 
derartiger  Vorwurf  sein  musste.  — 

Neben  der  Bekämpfung  des  Hussiteutums  treten  alle  andern 
Aufgaben  der  äusseren  Politik  auf  den  Reichstagen  unserer 
Epoche  zurück.  Vor  allem  gilt  dies  von  einer  Art  kriegerischer 
Unternehmungen,  welche  wir  auf  den  Reichstagen  früherer  Peri- 
oden, wenn  nicht  beschliessen , so  doch  vorbereiten  sehen:  den 
Romzügen  der  Könige  und  Kaiser.1) 

Der  erste  italienische  Feldzug  Sigmunds  im  Jahre  1413  er- 
folgt, ehe  der  König  einen  Reichstag  auf  deutschem  Boden  ab- 
gehalten hat.  Seine  Verhandlungen  mit  den  Schweizern  zu 
Chur  und  Luzern  um  Heeresfolge,  sowie  seine  Unterstützungs- 
gesuche an  verschiedene  oberdeutsche  Städte  tragen  einen  mehr 
oder  minder  privaten  Charakter.') 

Denselben  Eindruck  gewinnen  wir  hinsichtlich  seines  zwei- 
ten 1431  unternommenen  Romzuges.  Seit  1427  äussert  sich 
die  Absicht  des  Königs,  zur  Krönung  nach  Italien  zu  ziehen, 
wiederholt.  In  dem  Schreiben  an  den  Cardinal  von  England 
vom  27.  September  1427,  in  welchem  er  diesen  autfordert,  in 
Deutschland  alle,  zur  Bekämpfung  der  Ketzerei  notwendigen 
Anstalten  in  seinem  Namen  zu  treffen,  spricht  er  von  der 
Romfahrt.*)  Zwei  Schreiben  au  die  bayerischen  Fürsten,  No- 
vember 1427  und  Februar  1428,*)  beschäftigen  sich  schon  mit 
der  einzuschlagenden  Marschroute.  Aus  dem  Frühling  und 
Sommer  1428  haben  wir  mehrfache  Belege  für  die  italienischen 
Pläne  Sigmunds.“) 


„Durch  die  Gaben,  die  sie  ihm  haben  gegeben 
„dass  er  desto  bass  in  TUringen  mochte  leben. 

„von  einem  wainc  einen  gnlden  hat  er  genomen 
„dass  die  speise  in  Behmen  ist  körnen.“ 

')  Wacker  1.  c.  66  f. ; Ehrenberg  80.  — Obiges  Urteil  wird  durch  die 
Angabe  Ehrenbergs  (1.  c.  82)  dass  wir  „weder  bei  den  RBmerzügen  Ludwigs 
noch  dem  ersten  Earls  einen  vorangehenden  Beschluss  des  Reichstages“ 
bemerken,  nicht  aufgehoben. 

’)  Finke  48  ff.  — Kagelmacher  „Filippo  Maria  Visconti*  2 f,  6 ff. 

*)  RTA  IX,  61. 

*)  1.  c.  S.  73  Note  5. 

*)  1.  c.  105,  128  art  1,  173  (Nachschrift),  175,  176. 


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107 


Ein  Schreiben  an  die  wetterauischen  Städte,  März  1428  *), 
stellt  einen  Reichstag  zu  Ulm,  jedenfalls  auch  in  der  Romzugs- 
sache, in  Aussicht.  Dass  sodann  auf  dem  Tage  zu  Nürnberg 
Herbst  1430  die  Romzugspläne  des  Königs  verhandelt  wurden, 
wird  durch  das  Eintreffen  einer  mailändischen  Gesandtschaft 
zu  diesem  Tage  sehr  wahrscheinlich  gemacht.*) 

Jedenfalls  war,  schon  ehe  der  Reichstag  zu  Nürnberg  1431 
zusammentrat,  der  Romzug  beschlossene  Sache.  Von  auf  denselben 
bezüglichen  Reichstagsverhandlungen  wissen  wir  nichts.  Bald 
nach  dem  Tage,  als  der  Schlag  von  Taus  den  Ausgang  des  mit 
so  grosser  Mühe  beratenen  und  vorbereiteten  Reichskrieges  gegen 
Böhmen  eben  entschieden  hatte,  brach  der  König  mit  geringen 
Streitkräften  nach  Italien  auf.3)  — 

Von  sonstigen  Fragen  auswärtiger  Politik,  denen  wir  auf 
den  Reichstagen  unserer  Periode  begegnen,  seien  nur  zwei  wegen 
ihrer  nahen  Beziehungen  zu  deutschen  Reichsangelegenheiten 
hervorgehoben. 

Das  Verhältnis  zwischen  Polen  und  dem  deutschen 
Orden  erscheint  zum  ersten  Male  auf  der  Tagesordnung  des 
deutschen  Reichstages  zu  Breslau  1420,  den  schon  sein  Ver- 
sammlungsort so  recht  in  die  Fragen  östlicher  Politik  hinein- 
stellte. 

Allerdings  haben  wir  uns  den  Anteil  der  Reichsversamm- 
lung an  dem  Schiedssprüche,  der  hier  zwischen  Polen  und  dem 
Orden  gefällt  wurde,  nicht  zu  gross  vorzustellen.  Da  Sigmund 
erst  am  5.  Januar  in  Breslau  eintraf,  am  6.  aber  schon  den 
Schiedsspruch  verkündete,  muss  sich  der  König  schon  vor  seiner 
Ankunft  in  Breslau  über  die  zu  treffende  Entscheidung  voll- 
kommen klar  gewesen  sein.4)  Doch  erfahren  wir,  dass  der 
König,  wenn  auch  nur  zum  Scheine,  ehe  er  seinen  Ausspruch 
that,  unterstützt  von  dem  päpstlichen  Legaten  sowie  von  geist- 
lichen und  weltlichen  Reichsfttrsten  eine  Untersuchung  der 
Streitfrage  vorgenommen  habe.6) 


')  1.  c.  175  — erwähnt  bei  Kagebnaeher,  8.  94  aus  Aschbach  III,  411. 
*)  Kerler  RTA  IX  8.  472  Z 41  ff.  — Kagebnaeher  111  Note  4. 

*)  Aschbach  IHI,  43  f:  v.  Bezold  III,  160. 

*)  So:  Caro  „Geschichte  Polens“  HI,  606  Note  1. 

•)  RTA  VH,  278. 


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108 


Für  den  Anteil,  welchen  der  Reichstag  zu  Nürnberg  1422 
den  preussiscli  - polnischen  Verwicklungen  schenkte,  der  ja 
auch  schliesslich  in  der  Reise  der  Kurfürsten  von  Cöln  und  Pfalz 
nach  Preussen  seinen  Ausdruck  fand,  geben  uns  die  Berichte 
des  Deutschordensgesandten  auf  diesem  Tage,  Ludwig  von  Lan- 
see,1)  reichlichen  Aufschluss.  Hier  tritt  auch  der  Widerstand 
des  Kurfürsten  von  Brandenburg,  der  damals  in  engeu  Be- 
ziehungen zu  Polen  stand,  gegen  die  Absichten  des  Königs  nnd 
der  Fürsten,  den  Orden  zu  unterstützen,  deutlich  zu  Tage.*) 

Auf  dem  Reichstage  zu  Pressburg  1429  referiert  der  König 
in  einer  der  letzten  Sitzungen  sehr  ausführlich  über  sein  Ver- 
hältnis zu  Polen  und  Litthauen,  speciell  über  die  Zusammen- 
kunft mit  König  Wladislaw  und  Grossfürst  Witold“)  und  die 
sich  daran  anschliessenden  Verhandlungen  wegen  der  Königs- 
krönung des  Grossfürsten  „und  begert  darauf  rat  von  den 
fürsten  und  alleu.“4)  Aber  dieser  „rat“  wird,  wie  alle  übrigen 
Gegenstände  des  Pressburger  Tages , auf  den  nächsten  Reichs- 
tag, der  in  Nürnberg  stattfinden  soll,  verschoben. 

Sodann  greift  der  Reichstag  zweimal  in  die  Verhältnisse  des 
äussersten  deutschen  Nordwesteus,  die  langjährigen  Kriegswirren 
zwischen  König  Erich  von  Dänemark  und  den  Holsteiner  Her- 
zogen, ein. 

Vom  Nürnberger  Reichstage  1422  aus  geht  Herzog  Hein- 
rich von  Schlesien-Glogau  nach  Norden,  um  zwischen  den  krieg- 
führenden  Parteien  zu  vermitteln;5)  er  scheint  auch  vorüber- 
gehende Erfolge  erzielt  zu  haben. 

Dagegen  scheiterte  die  Mission  des  Kämmerers  Conrad  von 
Weinsberg,  der  vom  Nürnberger  Reichstag  1426  aus  zum  Köuig 
von  Dänemark  gesandt  wurde,  teils  um  ihn  an  die  dem  Könige 
versprochene  Kriegshilfe  gegen  die  Hussiten  zu  malmen,  teils 
um  einen  Waffenstillstand  Erichs  mit  den  Holsteinern  zu  ver- 
mitteln, vollständig.6) 

T)  RTA  VIII,  129,  30,  37,  38.  — vgl.  auch  175. 

*)  1.  c.  8.  152  Z 10  f.  Vgl.  Caro  III,  568. 

*)  zu  /juck.  Jannar  1429.  — vgl.  Caro  III,  612  ff. 

*)  RTA  IX,  286  art  27. 

5)  Aachbach  III,  191  f.  — Dahlmann  „tioschichte  Dänemark»'  III,  109.  f. 
— Die  Vollmacht  für  den  Herzog:  RTA  VIII,  179. 

•)  RTA  VIII,  395  u.  96.  Vgl.  die  Einleitung  Kerlers  zum  Nürnberger 
Reichstage  Mai  1426  unter  C. 


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109 


Diese  Misserfolge  *)  veranlassten  Weinsberg  auch,  als  ihm, 
wahrscheinlich  auf  dem  Frankfurter  Septembertage,  seitens  des 
Cardinais  von  England  und  der  Fürsten  eine  nochmalige  Sen- 
dung nach  Dänemark  zugedacht  worden  war,  sich  fast  ableh- 
nend zu  verhalten.*)  — 

Die  vorstehenden  Andeutungen  über  die  Thätigkeit  der  deut- 
schen Reichstage  unserer  Periode  nach  aussen  hin,  mögen  ge- 
nügen. Dass  aber  mit  dem  Gesagten  die  äusseren  Beziehungen  des 
Reiches  und  vorzüglich  des  Königs  selbst  in  keiner  Weise  er- 
schöpft sind,  leuchtet  ein.  Die  bunten  Fäden  europäischer 
Politik,  welche  in  mannigfaltigster,  durch  den  unerschöpflichen 
Reichtum  Sigmunds  an  immer  neuen  Entwürfen  stets  gesteiger- 
ter Fülle  an  seinem  Hofe  sich  durchkreuzten  und  verwirrten, 
irgendwie  erschöpfend  darzustellen,  kann  unsere  Aufgabe 
nicht  seiu. 


Capitel  V. 

Ausfertigung  und  Ausführung  der  Beschlüsse. 

Die  Beschlüsse  der  Reichsversammlungen  festzustellen  und 
den  Reichsangehörigen  zur  Nachachtung  mitzuteilen , ist  Sache 
des  Königs  oder  seiner  Vertreter.  Die  Vertretung  erfolgt  in 
unserer  Periode  teils  auf  direkten  Auftrag  seitens  des  Königs, 
teils  auch  ohne  einen  solchen. 

Nach  dem  Nürnberger  Reichstage  von  1421  giebt  der  König 
9 genannten  Vertretern  Vollmacht,  in  seinem  Namen  Urkunden 
betreffend  die  Bestellung  eines  oder  mehrerer  Hauptleute  für 
den  Hussitenkrieg  auszufertigen.*) 

Auf  dem  Nürnberger  Reichstag  1428  müssen  die  könig- 
lichen Gesandten  eine  gleiche  Vollmacht  gehabt  haben : Die 


*)  Oder  nach  Kerler  (1.  c.  IX  S.  77  Note  1)  der  Wunsch,  sich  finanziell 
ganz  sicher  zn  steilen. 

*)  Etwa  znr  selben  Zeit  wendet  sich  der  König  an  verschiedene  Städte : 
Dortmund,  Fankfurt,  die  fränkischen  Städte,  Ulm  und  seinen  Bnnd,  Cflln  — 
mit  der  Bitte,  ihn  in  seinem  Bestreben  die  Hansestädte  (die  Verbündeten  der 
Holsteiner  Herzöge)  vom  Kriege  mit  Dänemark  ab  zu  bringen,  zu  unterstützen 
(1.  c.  S.  27  Z 13  ff.) 

*)  1.  c.  Vm,  74. 


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110 


Ausfertigung  der  Beschlüsse  des  Tages  *)  ergeht  unter  Sigmunds 
Namen,  obwohl  dieser  sich  damals  in  Ungarn  aufhielt. 

Ferner  erfahren  wir,  dass  der  König,  vielleicht  zum  Frank- 
furter Reichstage  April  1427,  den  Kurfürsten  das  Reichssiegel 
zugeschickt  hatte.8)  Allerdings  machen  die  Kurfürsten  in  der 
Ausfertigung  der  Beschlüsse  dieses  Tages  keinen  Gebrauch 
davon. 

Öfter  geschah  die  Vertretung  ohne  ausdrücklichen  Auftrag 
bei  Abwesenheit  des  Königs.  Beim  Reichstage  zu  Nürnberg 
1422  finden  wir  das  eigentümliche  Verhältnis,  dass,  obwohl  der 
König  anwesend  ist.  die  eigentliche  Ausfertigung  der  Beschlüsse3) 
von  den  Kurfürsten  ausgeht,  der  König  sich  aber  damit  be- 
gnügt, die  Befolgung  der  kurfürstlichen  Befehle  den  Ständen 
einzuschärfen.4) 

Wo  die  Kurfürsten  selbständig  Reichstagsbeschlüsse  aus- 
schreiben, ist  natürlich  ihre  möglichste  Vollzähligkeit  erwünscht. 
Um  diese  zu  erzielen,  ist  seitens  der  Ausbleibenden  die  Bevoll- 
mächtigung von  Gesandten  zur  Mitunterzeichnung  und  -besieg- 
lung  gewöhnlich. 

Auf  dem  Tage  zu  Mainz,  Juli  1424,  wo  sich  die  Kur- 
fürsten über  den  Besuch  des  vom  Könige  beabsichtigten  Reichs- 
tages zu  Wien  schlüssig  werden,5)  heisst  es:  vier  Kurfürsten 
sollen  nach  Wien  gehen,  zugleich  als  Bevollmächtigte  der  bei- 
den andern;  letztere  sollen  aber  ihre  Schreiber  mit  ihren  Sie- 
geln in  Wien  haben. 

Verschiedene  Beispiele  für  Unterzeichnung  und  Besiegelung 
von  Erlassen  im  Namen  abwesender  Fürsten  bieten  uns  die 
Tage  von  1428  in  Sachen  des  Frankfurter  Steuergesetzes.15) 

Auf  einem  dieser  Tage,  zu  Bingen  1428,  wird  beschlossen, 
die  zu  erlassenden  Mahnschreiben  zur  Zahlung  der  Steuer  an 
die  einzelnen  kurfürstlichen  Kanzleien  zu  verteilen,  zugleich 


*)  RTA  VIII  392. 

*)  Vgl.  Urkundenbuch  der  Stadt  Lübeck  VII,  31,  wo  der  König  dies  aus- 
drücklich als  Grund  dafür  anfuhrt,  dass  er  ein  Schreiben  an  Lübeck  nur  mit 
dem  ungarischen  Siegel  versieht. 

')  RTA  VIII,  161: 

4)  1.  c.  150. 
s)  1.  c.  301. 

*)  Vgl.  ss.  B.  1.  c.  IX,  S.  216  Note  1;  ferner  228  Note  1. 


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111 


aber  wird  ausgemacht,  dass  die  Briefe  von  allen  Kurfürsten  be- 
siegelt werden  sollen.') 

Nicht  in  der  Ausfertigung  selbst,  sondern  in  der  Be- 
stellung derselben  lässt  sich  der  König  nach  dem  Reichstage 
zu  Straubing  1430  vertreten,  wie  der  Gesandte  Ulms  seiner 
Stadt  schreibt ; *)  Zeitersparnis  wird  als  Grund  angegeben. 
Andere  hierauf  bezügliche  Hinweise  enthalten  gelegentlich  die 
Stadtrechnungen. 

Die  Beschlüsse,  deren  Ausfertigungen  wir  bisher  erwähnten, 
beziehen  sich  auf  bestimmte  Leistungen;  diese  mussten 
natürlich  jedem  der  dazu  Herangezogenen,  wollte  man  sich 
ihres  Gehorsams  versichern , besonders  mitgeteilt  werden. 
Anders  finden  wir  es  gehalten  bei  Gesetzen  und  Er- 
lassen allgemeineren  Charakters.  Hier  war  die  Zahl 
der  Ausfertigungen  offenbar  beschränkt,  und  wir  hören  beson- 
ders die  Städte  manchmal  über  mangelhafte  Gesetzespublication 
klagen. 

Der  umfangreiche  Bestallungsbrief  für  Erzbischof  Konrad 
von  Mainz  als  Reichsvikar,  Nürnberg  1422, 9)  wurde  den  Städten 
nur  vorgelesen,  und  ein  ungenannter  Ratsbote  beschreibt  sehr 
anschaulich,  mit  welcher  Mühe  die  guten  Städter  den  könig- 
lichen Erlass  aus  dem  Gedächtnis  zu  reconstruieren  gesucht 
haben.4) 

Auf  dem  Reichstage  zu  Nürnberg  1431  lässt  der  König 
bekannt  machen:  wer  eine  Abschrift  des  Gesetzes  betreffend 
das  Halten  von  Pfahlbürgern  haben  wolle,  möge  sich  von  seiner 
Kanzlei,  natürlich  auf  eigeue  Kosten,  eine  solche  ausstellen 
lassen.5) 

*)  RTA  IX  S.  171  f.  — Die  Liste  der  zu  mahnenden  Stände  wurde  da- 
selbst nach  verschiedenen  Gesichtspunkten  aufgestellt: 

a)  nach  Ständen  (geistliche  und  weltliche  Fürsten  — Grafen  — Herrn 
— Städte); 

b)  nach  den  Kanzleien,  welchen  sie  zur  Mahnung  zugewiesen  waren ; 

c)  nach  der  Form  der  Schreiben.  Letztere  Liste  ist,  1.  c.  nro  141  ab- 
gedruckt; die  beiden  ersteren  erwähnt  Kerler  aus  der  handschrift- 
lichen Vorlage  im  Kreisarchir  Nürnberg  (1.  c.  S.  171  f.) 

*)  L c.  371  u.  78. 

•)  1.  c.  VIU,  164. 

*)  1.  c.  166,  Eingang  und  Schluss. 

*)  L c.  IX,  429  a. 


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112 


Dass  selbst  da,  wo  es  sich  darum  handelte,  die  einzelnen 
Stände  zu  Reichsleistungen  aufzufordern,  manche  V ersehen  Vor- 
kommen und  einzelue  keine  Ausfertigung  der  Reichstagsbe- 
schlüsse erhielten,  kann  uns  bei  dem  schlechten  Stande  der  Kanzlei 
Sigmunds  ’)  nicht  befremden.  Stark  wäre  es  aber,  wenn  beispiels- 
weise, wie  es  scheint,  ein  so  wichtiger  Reichsstand  wie  der 
schwäbische  Städtebund  bei  Zustellung  der  Ausfertigungen  der 
Nürnberger  Beschlüsse  von  1422  übergangen  worden  wäre.*) 

Freilich  begegnete  es  selbst  der  Nürnberger  Centralsteuer- 
commissiou,  welche  sonst  soweit  wir  sehen,  sehr  gewissenhaft 
ihres  Amtes  waltete,  dass  zwei  geistliche  Fürsten:  der  Bischof 
von  Basel  und  der  postulierte  Bischof  von  Utrecht5)  erklärten, 
von  den  Beschlüssen  des  Frankfurter  Reichstages  November  1427 
seinerzeit  nicht  in  Kenntnis  gesetzt  worden  zu  sein. 

Der  Kreis  der  Stände,  welche  überhaupt  von  den  Reichs- 
tagsbeschlüsseu  benachrichtigt  wurden,  von  welchen  man  also 
Befolgung  derselben  verlangte  und  erwartete,  mag  bei  den  ein- 
zelnen Mandaten  ein  verschieden  weiter  gewesen  sein.  An- 
deutungen hierüber  geben  uns,  ausser  den  erhaltenen  Aus- 
schreiben, einmal  die  Matrikeln  und  dann  die  Akten  der 
Nürnberger  Steuerkommission. 

Wir  haben  gesehen,  wie  weit  man  hierbei  oft  über  die 
Reichsgrenzen  hinausgriff.  Dies  geschah  um  so  mehr,  je  stärker 
in  den  Hussitenkämpfen  geistliche  und  weltliche  Pflicht,  die 
Anforderungen  des  Reiches  und  die  Gebote  der  Kirche  sich  ver- 
mengten, eine  „ungeheuerliche  Verquickung  des  Reiches  und 
der  Christenheit“4)  in  Kraft  trat. 

Mit  Recht  nennt  es  v.  Bezold5)  „geradezu  lächerlich, 
wenn  der  deutsche  Reichstag  des  15.  Jahrhunderts  bescliliesst, 
die  „Communen“  von  Venedig,  Florenz  und  Genua  sollen  die 
Hussitensteuer  in  vorgeschriebener  Weise  erheben  und  nach 
Nürnberg  schicken,  nicht  anders,  wie  der  Bischof  von  Bamberg 
oder  die  Stadt  Rotenburg.“  Und  dass  aller  Misserfolg  diesen 

')  über  diesen  vgl.  Lorenz  „Deutschland  (iescluchtsquelleii  im  Mittel- 
alter“  II,  293.  — Lindner  „Urkundenwesen“  S,  180. 

*)  HTA  VIII.  S.  260  Note  1. 

•)  1.  c.  IX,  S.  263  Note  4 — 268  Note  1.  * 

4)  v.  Bezold  II,  129. 

»)  1.  c. 


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113 


frommen  Grössenwahn  des  deutschen  Reichstages  nicht  ab- 
schrecken  konnte,  lehrt  ein  Blick  auf  die  Nürnberger  Matrikel 
von  1431. 

Dem  Inhalte  nach  Übertreffen  die  Ausfertigungen  gewöhnlich 
an  Wortreichtum  die  Ladeschreiben  noch  bei  weitem.  Wo  es  sich 
um  Kriegsbeschlüsse  gegen  die  Hussiten  handelt,  besteht  die 
Motivierung  der  Beschlüsse  meist  in  den  stärksten  Verwün- 
schungen der  Ketzer.  Hätten  wir  für  die  Charakteristik  der 
letzteren  keine  andern  Quellen  als  die  officiellen  Erlasse,  als 
welche  Ungeheuer  in  Menschengestalt  würden  dann  die  Hussiten 
dastehen ! 

Von  den  Strafen,  welche  alle  gegen  die  Beschlüsse  der 
Reichsversammlungen  Ungehorsamen  treffen  sollen,  erfahren  wir 
teils  ans  den  betreffenden  Mandaten  selbst,  teils  aus  anderen 
Quellen. 

Der  obenerwähnte  Erlass  des  Königs,  welcher  der  Ausfer- 
tigung der  Nürnberger  Beschlüsse  von  1422  durch  die  Kurfürsten 
beigegeben  ist  *)  befiehlt  den  Reichsangehörigen  Nachachtung:  „bey 
beheltenuss  ewr  leibe  lehenguter  und  habe.“ 

Das  kurfürstliche  Gutachten  aus  Nürnberg  1426*)  spricht 
allgemein  von  „grossen  und  sweren  pinen.“ 

AufdemReichstagezu  FrankfurtNov.  1427,  wosich  daskirch- 
liche  mit  dem  Reichsinteresse,  das  heisst:  letzteres  auch  nur 
in  kirchlichem  Sinne  gefasst  — in  der  Wirksamkeit  des  Car- 
dinais von  England  zusammenfand,  tritt  die  geistliche  Strafge- 
walt drohend  für  die  Reichsgesetze  ein. 

Mit  Bann  und  Interdikt  gebot  der  Cardinal  *)  den  deutschen 
Bischöfen,  die  Ausführung  des  Frankfurter  Gesetzes  zu  er- 
zwingen, aber  diese  sahen  selbst  bald  ein,  dass  der  Bogen  über- 
spannt war. 

Erzbischof  Conrad  von  Mainz  befiehlt  den  Geistlichen  seiner 
Diöcese,  die  Verfügung  des  Cardinais  unter  Auslassung  der  von 
den  Kirchenstrafen  handelnden  Stellen  zu  verkünden.  Bedenken, 
welche  sich,  besonders  bei  den  Laien,  geltend  gemacht  hätten , ob 
diese  Bestimmungen  zulässig  und  vor  allem,  ob  sie  den  Frank- 


«)  BTA  VIII,  150. 

»)  I.  c.  391  art  8. 

*)  L c.  IX,  79. 

Wen  dt,  Der  deutsche  Reichstag  unter  König  Sigmnnd.  8 


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114 


farter  Beschlüssen  selbst  entsprechend  seien,  giebt  er  als  Grund 
au.1)  Auch  von  anderen  Bischöfen:  denen  von  Lebus  und  von 
Schwerin  wissen  wir,  dass  sie  die  kirchlichen  Strafen  kaum 
anzudrohen,  geschweige  denn  auszuführen  wagten. 

Wo  dies  doch  geschah,  schritten  vereinzelt  die  Stände  zur 
Gegenwehr.  Manche  appellierten  an  den  Pabst,  so  der  Erzbi- 
schof von  Riga,*)  ferner  ein  Teil  der  Geistlichen  des  Bistums 
Toul. 5)  Nürnberg  veranlasste  seine  Pfarrer,  von  der  Verkün- 
digung der  anstössigen  Stellen  im  Erlasse  des  Cardinais  gut- 
willig abzustehen.  *)  Herzog  Ludwig  von  Bayern  - Ingolstadt 
beschwerte  sich  beim  Erzbischof  von  Salzburg.5)  — Weit  ent- 
fernt einzuschüchtern  oder  zum  Gehorsam  zu  veranlassen,  weckte 
diese  Strenge  nur  die  Opposition. 

Auch  der  schwäbische  Städtebund,  der  seine  Opposition 
gegen  das  Reichskriegssteuergesetz  am  längsten  fortsetzte  und 
erfolgreich  sich  weigerte,  die  Erträge  der  Reichssteuer  aus  der 
Hand  zu  geben,  liess  sich  durch  Strafandrohungen  nicht  schrecken. 

Auf  dem  Tage  zu  Heidelberg,  Anfang  Januar  1428,  auf 
welchem  die  Städte  über  ihre  Stellung  zum  Gesetze  sich  erklären 
sollten,  drohte  man  den  Schwaben,  wie  Ulm  an  Nördlingen  schreibt : 6) 
Pabst  und  König,  Cardinal  und  Kurfürsten  würden  gegen  die 
Widerspenstigen  mit  Bann  und  Acht  Vorgehen.  Im  Juli  des- 
selben Jahres  mahnt  im  Aufträge  des  Kurfürsten  Friedrich 
von  Brandenburg  Ritter  Georg  v.  Seckendorf  die  schwäbischen 
Städte  unter  drohender  Verweisung  auf  Pabst,  König  und  Kur- 
fürsten zum  Gehorsam.7)  Aber  Alles  bleibt  nutzlos. 

Eingehend  erörtert  wird  die  Frage,  wie  die  Ungehorsamen 
zu  bestrafen  seien,  auf  dem  Nürnberger  Reichstage  1431. 

Nach  den  fürstlichen  Vorschlägen8)  sollte  jeder,  der  das 
vom  Könige  zu  erlassende  Friedegebot  Uberträte  oder  seine 


>)  ETA  IX,  85. 

*)  1.  c.  203.  — v.  Besold  H,  149. 

*)  ETA  IX  209  art  19. 

‘)  und  empfiehlt  Weissenburg  dasselbe  (1.  c.  106.) 
4 1.  c.  120. 

«)  1.  c.  105. 
j 1.  c.  S.  209  Z 10  ff. 

•)  1.  c.  402  art  19. 


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115 


Kriegshilfe  nicht  leistete,  „fridloss  und  rechteloss“  sein.  Den 
Städten  erscheint  diese  Strafe  zu  hoch;  sie  meinen,  es  genüge, 
wenn  der  Zuwiderhandelnde  in  . des  Römschen  kungs  und 
des  heiligen  Römschen  richs  swer  ungnad“  verfiele. ')  Der 
König  schliesst  sich  aber  in  seinem  Erlasse®)  der  strengeren, 
von  den  Fürsten  vorgeschlagenen  Fassung  an. 

Verhältnismässig  selten  treten  uns  Entschuldigungen  und 
Bitten  um  Nachlass  dieser  oder  jener  Reichsleistung  entgegen. 

Wir  dürfen  daraus  nicht  schliessen,  dass  die  Stände  ihren 
Verpflichtungen  allezeit  pünktlich  nachgekommen  wären,  wohl 
aber,  dass  die  Lockerung  des  Reichsverbandes  es  gestattete,  un- 
bequeme Mandate  einfach  zu  ignorieren. 

Dass  das  Reichsoberhaupt  gelegentlich  die  Leistungen  der 
Stände  sich  abkaufen  liess,  haben  wir  schon  gesehen.*) 

Die  erste  unter  den  damaligen  Reichsstädten:  Nürnberg*) 
entledigte  sich  der  Pflicht,  ihr  Contingent  nach  der  Matrikel 
von  1422  stellen  zu  müssen,  durch  Zahlungen  an  den  König; 
dasselbe  that  Augsburg. 5)  Basel  bat,  in  Anbetracht  des  Krieges 
zwischen  Herzog  Friedrich  von  Ostreich  und  der  Herzogin  von 
Burgund  keine  Truppen  stellen  zu  dürfen. 6)  Als  der  König 
das  Gesuch  ablehnte,  zahlte  Basel  700  Gulden  und  unterliess 
die  Heeressendung.7) 

Die  Ausführungsbestimmungen,  welche  die  Ausfer- 
tigungen, besonders  der  militairischen  Beschlüsse  unserer  Reichs- 
tage enthalten,  lassen  an  Deutlichkeit  und  Zweckmässigkeit 
viel  vermissen. 

Beispielsweise  setzte  man  für  die  Sammlung  der  auf  Grund 
der  Nürnberger  Beschlüsse  von  1422  aufzubringenden  Truppen 
zwei  Sammelplätze:  Nürnberg  und  Eger  und  zwei  Termine:  den 
29.  September  und  16.  Oktober  fest.  *)  Ein  Durcheinander  war 


*)  1.  c.  407  art  5. 

*)  1.  c.  411  art  1 b. 

*)  Vgl.  unsere  S.  92. 

‘)  L c.  VIII,  185  art  ß u.  nro  191  — v.  Bezold  I,  98. 

*)  L c.  199. 

*)  1.  c.  206. 

»)  I.  c.  215.  — 8.  259  Note  3. 

")  v.  Bezold  I,  94. 

* ff 


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116 


unausbleiblich.  Andreas  von  Regensburg1)  hat  sicher  Recht, 
wenn  er  von  dem  ungünstigen  Einfluss  des  doppelten  Termines 
auf  die  Kriegsrüstungen  spricht. 

Die  faktische  Ausführung  der  Reichstagsbeschlüsse 
unsrer  Zeit  im  einzelnen  zu  verfolgen,  würde  mit  einer  Dar- 
stellung der  Reichsgeschichte  unter  Sigmund  schlechthin  iden- 
tisch sein.  Ausserdem  würde  das  Bild,  zu  dem  uns  die  Betrach- 
tung des  Reichtages  bisher  schon  manche  Züge  geliefert  hat,  das 
Bild  der  Auflösung  der  alten  Reichsverfassung,  dadurch,  dass 
wir  die  Fruchtlosigkeit  der  meisten  Beschlüsse  der  Reichsver- 
sammlungen im  einzelnen  erhärteten,  zwar  noch  verdeutlicht 
aber  nicht  mehr  wesentlich  berichtigt  werden. 

Verlangt  man  uach  einem  besonders  schlagenden  Beispiel 
dieser  Erfolglosigkeit,  so  verfolge  man  die  Ausführung  der  be- 
deutendsten reichsgesetzlichen  Massregel  unsrer  Periode:  des 
Frankfurter  Reichskriegssteuergesetzes,  nach  der  trefflichen 
Schilderung  v.  Bezolds  oder  den  noch  reichhaltigeren  Zusammen- 
stellungen der  Reichstagsakten.*) 

In  einem  Augenblicke  religiöser  und  patriotischer  Erhebung, 
wenn  auch  unter  fremdem  Antriebe,  scheinen  die  deutschen 
Stände  dies  Gesetz,  welches  alle  Glieder  des  Reiches  noch  ein- 
mal zum  Heil  und  Frommen  des  Ganzen  zu  vereinen  suchte, 
beschlossen  zu  haben.  Wie  bald  weicht  aber  aller  Eifer,  alle 
Opferwilligkeit ! 

Tausendfältig  ist  der  Widerstand,  den  die  durch  das  Ge- 
setz bestellte  Centralbehörde  bei  ihren  Bemühungen  findet. 
Platonische  Versicherungen  guten  Willens,  Klagen  und  Ent- 
schuldigungen, Verweis  auf  den  König,  nackte  Weigerung, 
Ausflüchte  jeder  Art  kehren  in  endloser  Reihe  immer  wieder. 
Einer  wartet  auf  den  andern,  jeder  ist  bereit,  dem  Anschläge 
nachzukommen,  wenn  er  sähe,  „dass  die  um  ihn  dasselbe 
thälen.“  Man  muss  diesen  hundertstimmigen  Protest  der  Teil- 
nahmslosigkeit, des  Eigenwillens,  der  Selbstsucht  gegen  den 
Appell  an  ihre  Opferwilligkeit  im  einzelnen  selbst  verfolgt 


')  Fontes  rerura  Anstriaearum  I,  fi  p.  437. 

*)  v.  Besold  II,  143  57.  KTA  IX  nro  190—215  (bes.  209). 


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117 


haben,  um  einzusehen,  dass  dieser  organisatorische  Versuch  wie 
jede  irgendwie  einschneidende  Massnahme  der  Reichsgesetz- 
gebung in  dieser  Zeit  erfolglos  bleiben  musste. 


Capitel  VI. 

Die  Stellung  der  einzelnen  Stände  unter  Sigmund. 

Wenn  wir  in  den  Hauptmomenten  betrachten,  wie  sich  die 
einzelnen  Stände  des  Reiches:  Kurfürsten  — Fürsten  und 
Herren  — Städte  unter  einander  und  zum  Könige  stellten, 
so  haben  wir  das,  was  der  Regierung  Sigmunds  in  unserer 
Periode  vor  allem  eigentümlich  ist,  im  wesentlichen  erschöpft. 
Dass  wir  damit  über  den  Rahmen  der  eigentlichen  Reichstags- 
geschichte  vielfach  herausgreifen,  ist  unvermeidlich. 

Beginnen  wir  mit  Betrachtung  der  Stellung  der  Kurfürsten.1) 

Man  kann  in  der  kurfürstlichen  Politik  unserer  Periode 
zwei  Abstufungen,  zwei  Richtungen,  eine  negative  und  eine 
positive  Seite,  wenn  man  will,  unterscheiden.  Die  Stellung, 
in  welche  die  zeitweilige  Gleichgiltigkeit  des  Königs  gegen  das 
Reich  die  Kurfürsten  drängte,  machte  es  diesen  zur  Pflicht, 
entweder  dem  Reichsoberhaupte  offen  und  bewusst  entgegenzu- 
treten, zu  versuchen  durch  streng  oppositionelle  Haltung  den 
König  zu  regerer  Teilnahme  an  den  Reichsangelegenheiten  zu 
zwingen  und  wenn  dies  nicht  gelänge,  ihn  in  aller  Form  aus 


*)  Für  da«  Verhältnis  der  Kurfürsten  zum  Könige  nnd  den  übrigen 
Ständen  sind  besondes  die  Ausführungen  Aschbach,  Droysens  und  v.  Bezolds  her- 
anzuziehen. Aschbachs  starke  Parteinahme  für  Sigmnnd  verhindert  ihn  aller- 
dings mitunter  an  gerechter  Würdigung  der  kurfürstlichen  Bestrebungen; 
Droysen  verfällt  durch  seine  entschiedene  Sympathie  für  Kurfürst  Friedrich 
von  Brandenburg  nicht  selten  in  den  entgegengesetzten  Fehler.  — Eine  kurze 
aber  schlagende  Charakterisierung  der  Wirkungen,  welche  Sigmunds  ausser- 
deutsehe  Stellung  auf  das  Reich  nnd  besonders  die  Entwicklung  der  kurfürst- 
lichen Macht  hatte,  giebt  Ranke  „Deutsche  Geschichte  im  Zeitalter  der  Re- 
formation“ 4.  Auflage  I,  33  f.  — .Der  neuste  Darsteller  dieser  Zeit,  Schuster 
.Der  Conflikt  zwischen  Sigmund  und  den  Kurfürsten  und  die  Haltung  der  Städte 
dazu * bietet  nur  eine  gedankenlose  W ioderholung  der  Einleitungen  Kerlers  in  RTA 
VTLI.  Ferner  fehlt  Sch.  der  Überblick  über  die  spätere  Entwicklung,  vor  allem 
über  die  Thütigkeit  der  Kurfürsten  für  das  Reich  in  den  Jahren  1427 — 29. 


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118 


dem  Reiche  hinaus  zu  drängen  — oder  stillschweigend  an  seine 
Stelle  zu  treten,  ohne  offenen  Widerstand,  nach  dem  natür- 
lichen Verlauf  der  Dinge,  eine  königliche  Pflicht  um  die  andere 
zu  erfüllen  und  damit  ein  königliches  Recht  nach  dem  andern 
zu  erwerben. 

Welche  von  beiden  Richtungen  dem  Bedürfnisse  der  Zeit 
besser  entsprach,  die  Vertreter,  welcher  von  beiden  es  mit  dem 
Reiche  ehrlicher  meinte,  ist  nicht  zu  entscheiden.  Jedenfalls 
sind  ehrgeizige  und  eigennützige  Absichten  der  kurfürstlichen 
Oligarchie  in  keiner  dieser  beiden  Gestalten  fremd  geblieben. 

Innerlich  verwandt  aber  doch  in  oft  erkennbarem  Gegen- 
sätze ringen  beide  Richtungen  um  das  Übergewicht.  Neben 
rein  provokatorischen  Massregeln  steht  häufig  eine  wenig  auf- 
fallende, jede  unnütze  Herausforderung  des  Königs  vermeidende, 
aber  in  seine  Competenzen  doch  nicht  weniger  nachdrücklich 
eingreifende  Wirksamkeit  der  Kurfürsten. 

Die  ältesten  oligarchischen  Regungen,  die  wir  unter  Sig- 
mund nachweisen  können,  dürften  reiner  Interessenpolitik  zuzu- 
schreiben sein. 

Am  7.  März  1417,  also  zur  Zeit  des  zweiten  Reichstages 
in  Constanz  verpflichten  sich  die  rheinischen  Kurfürsten:  „ob 
eynich  forderung  von  Römischen  keysem  oder  konigen  an  sie 
alle  oder  ein  teyle  gescheen  wurde,  sie  gemeinlich  antreffend,“ 
dass  sie  dann  nur  gemeinsam,  nach  Übereinkunft,  darauf  ant- 
worten sollten.1) 

Zwei  Verträge  vom  2.  August  des  Jahres  zwischen  den- 
selben Fürsten  zeugen  von  dem  noch  weiterhin  zu  verfolgenden 
Bestreben,  ausser  den  politischen  noch  die  materiellen  Inter- 
essen in  den  Kreis  gemeinsamer  Behandlung  zu  ziehen.  Der 
eine  Vertrag®)  bedingt  gemeinsamen  Widerstand  der  4 Kur- 
fürsten gegen  jeden,  der  sie  in  ihren  Rechten  und  Gütern  be- 
einträchtigen wolle;  der  zweite 3)  beschäftigt  sich  mit  der  Rhein- 
schifffahrt. Was  die  Besorgnisse  der  rheinischen  Kurfürsten 
vor  Schmälerung  ihrer  Rechte,  von  denen  diese  Bimdesurkun- 
den  Zeugnis  geben,  veranlasste,  können  wir  nur  vermuten. 

*)  J aussen  I nro  528  (S.  307.) 

!)  Janssen  I,  634  (S.  811.) 

a)  Mone  „Zeitschrift  für  Geschichte  des  Oberrheins“  Bd.  IX  S.  24. 


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119 


Jedenfalls  mochten  die  damaligen  Städtebunds-  und  Landfrie- 
denspläne des  Königs  den  Fürsten  bedrohlich  erscheinen.1 * * *) 

Zu  diesem  allgemeinen  Misstrauen  der  Fürsten  gegen  die 
Absichten  des  Königs  gesellten  sich  bald  noch  specielle  Be- 
schwerden. Besonders  äusserten  sich  diese  in  dem  Zerwürfnisse 
des  Königs  mit  Kurfürst  Ludwig  von  der  Pfalz. 

Ludwig,  der  in  den  ersten  Jahren  Sigmunds  nicht  minder 
als  Friedrich  von  Brandenburg  der  getreuste  Parteigänger  des 
Königs  war,*)  richtet  Ende  des  Jahres  1418  an  seinen  Schwa- 
ger, König  Heinrich  V von  England,  eine  Beschwerdeschrift 
über  seinen  König,  in  der  er  seine  Verdienste  um  diesen  und 
die  Schädigungen  und  Kränkungen,  mit  denen  ihm  gelohnt 
worden  sei,  hervorhebt.5) 

Mit  der  Entfernung  Sigmunds  aus  dem  Reiche  1419,  welche 
die  mehr  als  zehnjährige,  nur  einmal  (1422)  kurz  unterbrochene 
Abwesenheit  des  Königs  einleitete,  jenes  Fernbleiben,  dessen 
unheilvolle  Folgen  in  der  wachsenden  Not  der  Hussitenkriege 
immer  schwerer  empfunden  wurden,  tritt  die  Spannung  der 
Kurfürsten  gegen  das  Reichsoberhaupt  in  ein  neues  Stadium. 

Zu  der  egoistischen  Furcht  vor  Beeinträchtigung  an  Gütern 
und  Rechten  kommt  als  neues  Motiv,  bald  wirklich  zu  Grunde 
liegend,  bald  als  Deckmantel  eigensüchtiger  Bestrebungen  be- 
nutzt, die  Sorge  für  das  vom  Könige  vernachlässigte  Reich. 

Noch  vor  dem  Reichstage  zu  Nürnberg  1421,  dem  ersten, 
der  sich  mit  dem  Kampfe  gegen  die  böhmische  Ketzerei  be- 

l)  Finke  1.  c.  47. 

*)  Lenz  1.  c.  59  f.  scheint  mir  mit  Recht  darauf  aufmerksam  zu  machen, 
dass  Droysen  („Geschichte  der  preussisclien  Politik*  Band  1)  in  Darstellung 
der  Wahl  und  der  ersten  Regierungszeit  Sigmunds  den  Pfalzgrafeu  viel  zu  sehr 
gegen  Burggraf  Friedrich  zurücktreten  lasst.  Bei  der  Wahl  Sigmunds  war 
Friedrich  nicht  mehr  als  der  Agent  des  Königs  von  Ungarn,  der  Vertreter 
Sigmunds  in  Führung  der  sehr  bestrittenen  brandenburgischen  Knrstimme. 

Ludwig  aber,  nicht  nur  als  Kurfürst,  sondern  besonders  als  Sohn  des  Vor- 
gängers im  Reiche,  als  Reichsvikar  und  Bewahrer  der  Reichsinsignien,  warf 
das  ganze  Gewicht  seiner  Stellung  für  Sigmund  ausschlaggebend  in  die  Wag- 
schale. Wenn  nicht  an  Friedrichs  damalige  Bemühungen  die  Verleihung  der 

Mark  Brandenburg  anknüpfte,  würde  man  wahrscheinlich  von  seinen  Verdiensten 
um  Sigmunds  Wahl  nicht  viel  wissen.  Auch  während  des  Constanzer  Concils 
erscheint  Ludwigs  Bedeutung  viel  grösser. 

*)  RTA  Vn,  237. 


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120 


selmftigt,  treten  die  rheinischen  Kurfürsten  von  einer  Zusam- 
menkunft in  Boppard,  Anfang  März,  aus  in  Sonderaktion. 

In  die  auswärtigen  Beziehungen  greifen  sie  ein,  indem  sie 
sich  beim  Papst  und  den  Cardin&len  für  den  deutschen  Orden 
verwenden.1)  Für  die  inneren  Verhältnisse  des  Reiches  be- 
deutungsvoll war  ihre  Anfrage  an  verschiedene  Reichsstädte, 
was  sie  für  den  Hussitenkrieg  zu  leisten  und  ob  sie  den  vom 
Könige  nach  Nürnberg  berufenen  Reichstag  zu  besuchen  ge- 
dächten.*) 

Dass  die  Kurfürsten  durch  dieses  „nachdrucksvolle  Vor- 
gehen “ 3)  gewissermassen  zwischen  König  und  Städte  sich  ein- 
zudrängen  suchen,  scheinen  letztere  auch  deutlich  herausgefühlt 
zu  haben.  Beide  uns  erhaltenen  Antworten1)  verweisen  bezüg- 
lich der  Kriegsleistung  auf  die  dem  Könige  auf  dem  Reichs- 
tage abzugebende  Erklärung. 

Auf  dem  Reichstage  selbst  gehen  die  Fürsten,  da  der  König 
ausbleibt,  selbständig  vor.  Der  Anteil  Sigmunds  au  dem  da- 
selbst geschlossenen  Fürstenbündnisse  gegen  die  Hussiten  be- 
schränkt sich  auf  die  officielle  Anführung  seines  Namens  in  den 
Eingängen  der  Bundesurkunden. 

Den  richtigen  Commentar  dazu  giebt  das  gleichzeitige 
Übereinkommen  der  rheinischen  Kurfürsten,5)  welches  dahin 
geht,  Aufforderungen  des  Königs  zur  Bekämpfung  der  Ketzerei 
nur  gemeinsam  beantworten  zu  wollen.  Das  Misstrauen  des 
Königs  gegen  diese  ganze  Institution  lässt  sich  leicht  begreifen, 
selbst  wenn  nicht,  worauf  manche,  allerdings  nicht  unzweifel- 
hafte Belege  hinzuweisen  scheinen,  Absetzuugspläne  mit  dem 
Ketzerbündnisse  Hand  in  Hand  gingen.6) 


■)  RTA  Vin,  5-7;  ygl.  auch  VH,  271. 

*)  1.  c.  VIII,  8. 

8)  Kerler  1.  c.  S.  2. 

4)  von  Basel:  1.  e.  13  — von  (len  elsässiscben  Städten:  1.  c.  14. 

6)  1.  c.  28. 

•)  Die  Frage,  ob  Knrfürst  Friedrich  von  Brandenburg  damals  wirklich 
seine  rheinischen  Standesgenossen  zur  Absetzung  Sigmunds  und  zur  Neuwahl 
aufgefordert  habe,  wie  Friedrichs  Feind,  Herzog  Ludwig  von  Bayern,  auf 
Grund  eines  angeblichen  Schreibens  des  Kurfürsten  selbst  behauptete,  oder 
ob  dieser  Brief  gefälscht  sei,  berührt  v.  Bezold  I.  c.  I,  öl  Note  1.  — Unbe- 
dingt ausznschliessen,  etwa  mit  Rücksicht  auf  die  sonstige  Loyalität  des  Kur- 


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121 


Dazu  passt  die  Form,  in  der  Sigmund  den  schlesischen 
Städten  die  Teilnahme  am  Nürnberger  Bunde  gestattet.  Die 
königlichen  Rechte  werden  hierbei  nachdrücklich  hervorgehoben.*) 

Weit  gehässiger  und  rücksichtsloser  tritt  die  kurfürstliche 
Opposition  1422,  besonders  in  der  Ortsfrage  des  Reichstages8) 
dem  Könige  entgegen. 

Die  sich  öfter  wiederholenden  Versuche  der  Kurfürsten,  den 
König  zur-  Abhaltung  von  Reichstagen  in  Deutschland  selbst 
und  nicht  an  den  Grenzen,  wie  in  Wien,  oder  gar  im  Auslande, 
wie  Pressburg,  zu  veranlassen,  entspringen  durchaus  der  Wah- 
rung berechtigter  Interessen.  Aber  wenn  der  König  im  Lande 
wrar,  sich  dann  noch,  wie  es  im  Jahre  1422  geschah,  darum  zu 
streiten,  ob  der  Reichstag  in  Nürnberg  oder  Regensburg  zu- 
sammentreten solle,  zeigte  doch  zu  sehr  das  Bestreben  der  fürstlichen 
Opposition,  den  König  ihre  Macht  fühlen  zu  lassen. 

Für  den  Augenblick  wurde  der  Zweck,  das  Reichsoberhaupt 
zu  demütigen,  völlig  erreicht:  Sigmund  folgt,  wenn  auch  nur 
höchst  widerwillig,  den  Kurfürsten  von  Regensburg  nach  Nürn- 
berg. Er  erlässt  auch,  wie  wir  gesehen  haben,  das  Ausschreiben 
der  Reichstagsbeschlüsse  nicht  selbst,  sondern  begnügt  sich 
damit,  den  kurfürstlichen  Erlass  zur  Nachachtung  einznschärfen. 
Später  spricht  er  wiederholt  von  dem  „Anschläge“  den  die 
Kurfürsten  beschlossen  hätten.  Ein  Gesuch  Basels  um  Dis- 
pens von  seinen  Leistungen  lehnt  er  ab  mit  der  Begründung: 
„uu  wissent  ir  wol,  das  des  heiligen  richs  kurfursten  den  anslag 
geordcnet  haben,  und  durch  uns  allein  nit  gangen  ist.“5) 

Aber  sehr  bald  nach  seiner  Rückkehr  nach  Ungarn  spricht 
sich  Sigmunds  Groll  über  die  Gewalt,  die  man  ihm  angethan 
habe,  offen  aus. 

Vor  städtischen  Gesandten,  die  sich  w’ährend  des  Streites 
zwischen  Kurmainz  und  Pfalz  um  das  Reichsvikariat,  Anfang 
1423,  an  den  König  wenden,  äussert  er:  er  habe  dem  Kur- 


fürsten, ist  die  erstere  Annahme  nicht.  Weitere  Hinweise  auf  hochverräterische 
Pläne  in  jener  Zeit  führt  v.  Bezoid  1.  c.  an. 

')  RTA  VIII,  71. 

’)  Vgl.  unsere  S.  26,  wo  auf  v.  Bezoid  I,  84 — 88  verwiesen  ist. 

*)  RTA  VIII,  215. 


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122 

fürsten  von  Mainz  seinerzeit  mehr  Macht  verliehen,  als  er  selbst 
habe  „das  mttste  er  tun.“  *)  Im  Januar  1423  geht  in  Städte- 
kreisen das  Gerücht,  der  Köuig  wolle  die  Reichsstädte  auf  den 
23.  April  nach  Wien  berufen;  „die  knrfursten  habent  vormals 
solich  berueffung  getan,  so  welle  er  (der  König)  das  nu  selber 
tuon  und  besehen,  wer  zu  im  kommen  und  gehorsam  sin  welle,“ 
fügt  der  städtische  Gewährsmann  hinzu.®) 

Inzwischen  schritt  während  des  Jahres  1423  der  Zusam- 
menschluss der  kurfürstlichen  Oligarchie  fort ; ihre  Constituirung. 
welche  das  nächste  Jahr  vollendet,  wird  ungebahnt.  Auf  dem 
Tage  zu  Boppard,  wird  der  Zwiespalt  im  Schosse  des  Kurcol- 
legiums, der  mainz-pfälzische  Vikariatsstreit,  beigelegt,3)  Eine 
auf  demselben  Tage  getroffene  Abmachung  der  rheinischen  Kur- 
fürsten4): stets  diejenigen  Angelegenheiten,  wegen  deren  sie  sich 
versammelt  haben , zuerst  zu  erledigen,  ist  in  doppelter  Hinsicht 
interessant.  Einmal  setzt  sie  voraus,  dass  häufigere,  vielleicht  pe- 
riodische Zusammenkünfte  der  Kurfürsten  in  Aussicht  genom- 
men waren ; dann  bekundet  sie  wiederum  das  Bedürfnis  vollster 
Gemeinsamkeit  des  Handelns.  Diese  Gemeinschaft  wird  übrigens 
in  den  genannten  Urkunden  auch  auf  Rheinzollfrageu  ausge- 
dehnt. Endlich  ergeht  noch  vom  Bopparder  Tage  eine  Ladung 
an  die  Städte  nach  Frankfurt  zu  einer  Landfriedensberatung.5) 

Den  König  lässt  man,  ohne  seine  Autorität  offen  anzu- 
greifen, ganz  zurücktreten,  sodass  die  Befehle,  die  er  in  diesem 
Jahre  erlässt : das  Aufgebot  zur  Hussitenhilfe  und  die  Berufung 
eines  Reichstages  nach  Frankfurt  November  1423  wirkungslos 
verhallen.6) 

Als  eine  wenigstens  indirekte  Einwirkung  des  Königs  kann 
man  es  indess  bezeichnen,  dass  die  von  den  Kurfürsten  in’s 
Leben  gerufene  Landfriedenspolitik  erfolglos  bleibt.  Neben  dem 
natürlichen  Misstrauen  der  Städte  gegen  die  Fürsten  dürfen 
wir  für  die  ablehnende  Haltung  der  ersteren  die  Rücksicht  auf 
das  Reichsoberhaupt  als  Motiv  vermuten.  Der  Vergleich  mit 

*)  ETA  VIII,  230  art  3. 

*)  L c.  222. 

*)  1.  c.  238  u.  39.  — Vgl.  unsere  S.  82  f. 

‘)  1.  c.  242. 

»)  1.  c.  241. 

•)  L c.  236  u.  283.  — Kerler  8.  277  u.  281  f. 


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123 


dem  Ausgauge  der  analogen  Bestrebungen  des  Jahres  1429  *) 
zwingt  fast  dazu. 

Dass  aber  trotz  dieses  Misserfolges,  vielleicht  gerade  durch 
denselben  der  Zusammenhalt  des  Kurcollegiums  sich  erhielt  und 
noch  steigerte,  beweist  das  Ergebnis  des  Kurfürstentages  zu 
Bingen,  Januar  1423,  die  sogenannte  Binger  Einung. 

Die  Beurteilung  und  Würdigung,  welche  dieses  denkwür- 
dige Ereignis,  eins  der  bedeutsamsten  der  inneren  Geschichte 
unter  Sigmund  überhaupt,  erfahren  hat,*)  hat  sich  nicht  un- 
wesentlich verschoben  durch  das  Bekanntwerden  einer  zweiten 
Fassung  der  Bundesurkunde,  welche  auch  in  Originalausfertigung 
erhalten,  somit  anscheinend  der  bisher  allein  bekannten  ganz 
gleichwertig,  doch  einen  wesentlich  abweichenden  Inhalt 
bietet.3) 

Die  Binger  Einung  ist  ein  Bündnis  der  sechs  Kurfürsten, 
das  in  dem  Eingänge  beider  Urkunden  als  durch  die  Not  des 
Reiches,  besonders  durch  die  böhmische  Ketzerei  veranlasst, 
bezeichnet  wird.  Die  Contrahenten  versprechen  in  beiden  Ur- 
kunden freundnachbarliches  Verhalten  gegen  einander,  gegen- 
seitigen Schutz  bei  Angriffen  und  wollen  gemeinsam  Massregeln 
zur  Unterdrückung  der  Ketzerei  beraten. 

Damit  ist  aber  die  Übereinstimmung  beider  Urkunden  er- 
schöpft. 

Die  weiteren  Ziele  des  Bundes  sind:  gemeinsame  Haltung 
in  Kirchenfragen,  gemeinsame  Stellung  gegen  Usurpationen  im 
Reiche,  gemeinsamer  Widerstand  gegen  jede  Schmälerung  des 
Reichsgebietes. 

Hier  tritt  nun  die  Scheidung  ein : die  bisher  allein  bekannte 
Fassung  nahm  für  Erreichung  der  Ziele  des  Bundes  überall  die 


')  vgl.  unsere  S.  70  f. 

l)  Besonders  durch  Droysen  „Gesch.  d.  preuss.  Pol.“  I,  325  ff.  — v.  Be- 
sold II,  20. 

*)  Die  bisher  bekannte  Urkunde  ist  BTA  VIII,  295;  die  von  Kerler  zum 
ersten  Male  veröffentlichte:  294.  Das  Verhältnis  beider  beleuchtet  Kerler, 
ohne  ein  endgiltiges  Urteil  zu  fällen,  1.  c.  S.  333  f.  — Schuster  1.  c.  15  ff. 
beschränkt  sich  auf  Wiedergabe  der  von  Kerler  aufgestellten  3 Möglichkeiten. 
Seine  Entscheidung  für  eine  derselben:  dass  295  für  die  Publikation  bestimmt, 
294  der  entsprechende  Geheimvertrag  war  (S.  18),  entbehrt  der  sachlichen 
Begründung. 


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124 


Mitwirkung  des  Königs,  wenigstens  nominell,  in  Aussicht. 
Streben  nach  der  Herrschaft  im  Reiche  soll  nur  daun  bekämpft 
werden,  wenn  es  ohne  Willen  des  Königs  und  der  Kurfürsten 
geschieht;  gegen  Beeinträchtigung  des  Reichsgebietes  soll  die 
Hilfe  des  Königs  durch  den  Bund  angerufen  werden.  Von  alle- 
dem sagt  unsre  zw’eite  Fassung  nichts. 

Nach  dieser  soll,  was  der  Bund  erstrebt,  ohne,  ja,  muss 
man  weiter  schliessen:  auch  gegen  den  König  verfolgt  wer- 
den. Hier  gilt  ein  Versuch,  die  Führung  im  Reich  zu  über- 
nehmen, nicht  nur  dann  als  Usurpation,  wenn  er  der  Zustim- 
mung des  Königs  und  der  Kurfürsten  ermangelt,  hier  verpflich- 
tet der  entsprechende  Artikel  implicite  die  Bundesglieder  even- 
tuell zur  Bekämpfung  selbst  eines  vom  Könige  bevollmächtigten 
Verwesers,  sofern  dieser  den  Kurfürsten  nicht  genehm  ist.1) 

Und  eine  Schmälerung  des  Reichsgebietes  soll  nicht  unter 
Anrufung  des  Königs  verhindert  werden,  nein,  hier  heisst  es: 
wenn  der  König  oder  jemand  „von  sinen  wegen“  das  Reich 
beeinträchtigte  oder  entgliedere,  dann  solle  es  ihm  der  Bund 
wehren. 

Meinte  Droysen,*)  die  ihm  bekannte  Fassung  des  Bundes 
enthalte  „nicht  ein  Bündnis  zu  einem  einmaligen  Zwecke“  son- 
dern „eiu  politisches  System,“  so  müssen  wir  von  unsrer  Re- 
cension  sagen:  sie  ist  ein  revolutionaires  Pronunciaraento.  Von 
der  Drohung  mit  bewaffnetem  Widerstande  bis  zur  Proklamie- 
rung  desselben,  von  dem  Augenblicke,  wo  man  die  Möglichkeit, 
dass  das  Reichsoberhaupt  selbst,  nicht  der  „Mehrer“  sondern 
der  „unnütze  Entgliederer“  des  Reiches  sei,  in’s  Auge  fasste 
bis  zur  Behauptung  der  Thatsache,  war  kaum  ein  weiterer 
Schritt,  wie  von  einem  der  Tage  des  Jahres  1399,  auf  denen 
Wenzels  Geschick  sich  entschied,  zum  anderen.  Die  Annahme, 
dass  es  sich  für  die  Urheber  der  zweiten  Fassung  darum  han- 
delte, Sigmund  das  Schicksal  seines  Bruders  zu  bereiten,  wrird 
noch  verstärkt  durch  die  offenbaren  Anklänge  unsrer  Recension 
des  Binger  Bundes  an  die  Übereinkunft  zu  Boppard  vom  11. 
April  1399. 3) 

')  Vgl.  unsere  S.  84. 

»)  1.  c.  I,  327. 

*)  HTA  III,  41.  — Eine  dankenswerte  Gegenüberstellung  dieses  Vertrages 
mit  den  beiden  Fassungen  der  Binger  Einung  giebt  Kerler  RTA  VIII,  S.  334. 


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125 


Die  Unterschiede  beider  entspringen  fast  nur  der  verän- 
derten Weltlage.  Hier  bieten  die  Hussitenkriege,  dort  die  Ver- 
hältnisse Oberitaliens  und  die  Wirren  des  Doppelpapsttums  den 
politischen  Hintergrund  für  die  sonst  wesensgleichen  Bestre- 
bungen. 

Wir  sehen  die  zu  Beginn  unsres  Abschnittes  beleuchteten 
Richtungen  im  Verhalten  der  Kurfürsten  gegen  Sigmund  in  den 
beiden  Formen  unsrer  Bundesurkunde  mit  vollster  Deutlichkeit 
einander  gegenübertreten. 

Die  Binger  Einung  in  ihrer  ersten  Fassung  schliesst  noch 
nicht  die  direkte  Bedrohung  des  Königtums  in  sich. 

Sie  organisiert  — denn  sie  enthält  eine  ganze  Reihe  or- 
ganisatorischer Bestimmungen , welche  der  zweiten  revolutio- 
nären Fassung  fehlen  — die  Fürsorge  des  höchsten  Reichs- 
adels, der  kurfürstlichen  Oligarchie,  für  das  Reich.  Dem  Könige 
bleibt  seine  Krone  und  das  Recht,  mit  seiner  Autorität  die  kur- 
fürstlichen Massregeln  zu  decken.  Der  Gedanke,  dass  diese 
künstliche  Harmonie  zwischen  nominellen  königlichen  und  that- 
sächlichem  kurfürstlichen  Regimente  gestört  werden  könnte, 
erscheint  hier  nicht  ausgedacht. 

Anders  die  zweite  Fassung:  „Das  Reich  hat  keinen  König 
mehr“  ist  der  Grundton,  der  durch  alle  ihre  Bestimmungen  hin- 
durchklingt. Schmälerung  des  Ganzen,  Schädigung  des  Einzel- 
nen ist  von  ihm  zu  erwarten;  ihm  zu  widerstehen  ist  Recht 
und  Pflicht. 

Und  diese  beiden  so  grundverschiedenen  Aktenstücke  soll- 
ten wirklich,  wie  behauptet  worden  ist,  die  Ausfertigung  der- 
selben Bundesurkunde  sein,  nur  die  eine,  wie  man  angenommen 
hat,  für  die  Öffentlichkeit  bestimmt,  die  andere  für  das  Ge- 
heimnis der  fürstlichen  Kanzleien?  Wenn  dem  so  ist,  warum 
wissen  wir  aus  späterer  Zeit  weder  von  einem  Weiterverfolgen 
der  das  Königtum  direkt  bedrohenden  Pläne,  noch  von  Ereig- 
nissen, welche  ihre  Wiederaufnahme  unbedingt  ausgeschlossen 
hätten?  Das  ganze  spätere  Verhalten  der  Kurfürsten  scheint 
mir  immerhin  darauf  hinzuweisen,  dass  beide  Bundesentwürfe 
ursprünglich  nebeneinander  aufgestellt  waren,  und  dass  schliess- 
lich die  mildere  Richtung  über  die  „schärfere  Tonart“  ttberwog 
und  die  revolutionäre  Fassung  der  Urkunde  nicht  zur  Geltung 
gelangte.  Und  nun  noch  ein  äusserer  Grund: 


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126 


War  die  früher  bekannte  Fassung  nur  für  die  Veröffent- 
lichung bestimmt,  während  ihr  die  zweite  als  Geheimvertrag 
zur  Seite  stand,  wie  kommen  alle  die  organisatorischen  Bestim- 
mungen,1) welche  den  Bund  als  einen  dauernden,  als  Ausdruck 
eines  „politischen  Systems“  charakterisieren,  trotzdem  sie  doch 
für  die  Oeffentlichkeit  kein  Interesse  besassen,  in  dieselbe 
hinein  ? 

Zu  entscheiden  ist  die  Frage,  ob  die  „neue  Fassung“  trotz 
ihrer  Originalausfertigung  doch  nur  ein  Entwurf  oder  besser: 
ein  bald  ausser  Kraft  getretenes  Original  oder  ob  sie  ein  Ge- 
heimvertrag ist,  nach  dem  gegenwärtigen  Stande  des  Materials 
nicht.  Es  genüge  mir,  die  auf  die  erstere  Möglichkeit  hin- 
weisenden Wahrscheinlichkeitsgründe  erwähnt  zu  haben.  — 

Im  Vergleich  zu  der  Thatsache,  dass  eine  Kurfürsten- 
einung, gleichviel  in  welcher  der  beiden  charakterisierten  For- 
men in  Bingen  zu  Stande  kam,  scheinen  die  anderen  Mass- 
nahmen des  Kurcollegiums  auf  diesem  Tage  an  Bedeutung  zu 
verlieren. 

Neben  der  wenigstens  vorläufigen  Aufnahme  Friedrichs  von 
Meissen  als  Nachfolger  derAskanier ; *)  neben  dem  Eintreten  der  Kur- 
fürsten für  das  Verlöbnis  des  Sohnes  Friedrichs  von  Brandenburg 
mit  einer  polnischen  Königstochter3)  sei  noch  eine  Vereinbarung 
der  rheinischen  Kurfürsten,  die  Rheinschifffahrt  betreffend,  er- 
wähnt. Diese  gemeinsame  Wahrnehmung  politischer  und  wirt- 
schaftlicher Interessen,  das  Bestreben,  Zollstreitigkeiten  und 
sonstige  Differenzen  auf  wirtschaftlichem  Gebiete  da  zu  vermeiden, 
wo  die  Geschlossenheit  der  grossen  Politik  gestört  werden 
konnte,  lässt  sich  bei  den  rheinischen  Kurfürsten  bis  in  die. 
„Absetzungstage“  des  Jahres  1399  zurückverfolgen. 

Dem  Könige  gegenüber  trat  die  Binger  Einung  noch  im 
selben  Jahre  bei  den  mehrerwähnten  Verhandlungen  über  die 
Frage,  ob  die  Kurfürsten  den  Reichstag,  welchen  Sigmund  in 
Wien  abzuhalten  wünschte,  besuchen  sollten,  zum  ersten  Male 
in  Thätigkeit. 


')  RTA  VIII,  296  art  2 u.  9. 

»)  L c.  296  ui  97. 

*)  1.  c.  298.  — Da«  polnische  Heiratsprojekt  war  bekanntlich  einer  der 
Hauptgründe  für  das  Zerwürfnis  des  Königs  mit  dem  Kurfürsten  Friedrich. 


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127 


Auf  dem  Kurfürstentage  zu  Mainz  Juli  1424  wird  die  Ent- 
sendung des  Herrn  Konrad  von  Bickenbach  und  des  Meister 
Peter,  welcher  in  dieser  Sache  mit  den  König  verhandeln  soll- 
ten, beschlossen. 

In  den  zwei  uns  erhaltenen  Fassungen  der  Instruktion  für 
die  Genannten,  einem  Entwürfe  und  der  endgiltigen  Ausfertigung,1) 
treten  uns  wieder  die  beiden  „Strömungen“  innerhalb  des  Kur- 
collegiums entgegen. 

Der  zu  Mainz  vereinbarte  Entwurf  spricht  die  Bereitwillig- 
keit der  Kurfürsten,  nach  Wien  zu  kommen,  aus,  freilich  nicht 
ohne  sich  zugleich  im  voraus  jede  zeitliche  oder  örtliche  Ver- 
legung des  Tages  zu  verbitten.  Daneben  findet  sich  folgendes 
Verlangen  an  den  König2):  „Wenn  die  Kurfürsten  nach  Wien 
kämen,  dann  wollten  sie  ihm  versprechen : „das  si  ewer  gnade 
ewer  lebtage  für  einen  Römischen  konig  solden  hal- 
ten;“ Sigmund  aber  solle  dafür  sich  verpflichten,  gegen  den 
Papst,  die  Kurfürsten  und  alle  Reichsangehörigen  sich  so  zu 
verhalten : „als  ain  voit  der  heiligen  kirchen  und  ein  Roemischer 
konig  sich  billichen  halten  sol.“  Vergüsse  der  König  sein  Ver- 
sprechen, so  wollten  sie  ihn  als  seine  „getreuen  Kurfürsten“ 
daran  mahnen;  bliebe  die  Mahnung  erfolglos,  dann  freilich 
müssten  sie  „nachdem  sie  dem  reiche  schuldig  sein“  ihre  Mass- 
regeln  treffen. 

Glaubte  man  Sigmund  durch  diese  Drohung  so  einzuschüch- 
tern, dass  er  sich  der  Bevormundung  durch  die  Kurfürsten  der- 
gestalt willig  unterwerfen  würde? 

Jedenfalls  ist  diese  Fassung  der  Gesandtschaftsinstruktion 
Entwurf  geblieben.  Bald  nach  dem  Mainzer  Tage  raten  die 
Kurfürsten  von  Sachsen  und  Brandenburg  zu  einer  Milderung 
der  Instruktion.  *)  Es  trat  auch  wirklich  eine  solche  Ab- 
schwächung ein;  der  drohende  Artikel  verschwindet  aus  der 
Instruktion,  wie  sie  die  rheinischen  Kurfürsten  jetzt  zu  Lahn- 
stein vereinbarten. 

Aber  drang  in  diesem  Punkte  die  versöhnlichere  Richtung 
durch,  so  entschädigte  sich  die  strikte  Opposition  durch  Zurück- 

')  1.  c.  303  und  309. 

*)  1.  c.  303  art  4. 

*)  1.  c.  307. 


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128 


nähme  des  Versprechens,  den  Reichstag  zn  Wien  besuchen  zu 
wollen.  Die  Gesandten  erhielten  den  Auftrag,  auf  einen  Reichs- 
tag in  Regensburg  oder  Nürnberg  zu  bestehen.1) 

Das  Fernbleiben  vom  Wiener  Reichstage  Januar  1425,  an 
welchem  der  König  festgehalten  hatte,  war  der  letzte  Schlag, 
den  die  kurfürstliche  Oligarchie  dem  Reichsoberhaupte  beibrachte ; 
für  den  Augenblick  verfehlte  derselbe  allerdings  seine  Wir- 
kung nicht. 

Die  offizielle  Ausfertigung  der  Wiener  Beschlüsse*)  setzt 
sich  scheinbar  über  das  Nichterscheinen  der  Kurfürsten  leicht 
hinweg,  aber  der  Zorn  Sigmunds  war  aufs  Höchste  gestiegen. 

Wie  man  die  Lage  in  der  Umgebung  des  Königs  damals 
beurteilen  mochte,  lehrt  uns  ein  Schreiben  des  Kümmerers  Con- 
rad von  Weinsberg  an  einen  ungenannten  Agenten  vom  19. 
März  1425. s) 

Weinsberg  schreibt,  die  Regelung  der  kursächsischen  Suc- 
cessionsfrage  *)  durch  den  König  im  Einverständnisse  mit  den 
Kurfürsten  werde  wohl  noch  lange  auf  sich  warten  lassen : den 
tröstlichen  Versprechungen  des  Königs  sei  nicht  zu  trauen: 
„dann  zu  besorgen  ist,  daz  er  und  sein  korfursten  gar  langsam 
zusamenkomen  werden  oder  villicht  nimmer.“6) 

Sein  Unwillen  traf  zumeist  Friedrich  von  Brandenburg. 
Dieser  richtet  im  Mai  1425  eine  Gesandtschaft  an  König  Wla- 
dislaw  von  Polen,  in  der  er  sich  bitter  über  die  Schmähungen 
und  Verunglimpfungen  seiner  Person  durch  König  Sigmund  be- 
klagt,6) in  unsrer  Periode  die  zweite  Beschwerde  eines  deut- 
schen Kurfürsten  bei  einem  fremden  Herrscher  über  seinen 
König.7) 

Interessant  ist  aus  dem  Berichte  dieser  Gesandten  beson- 
ders die  Angabe,  dass  Sigmund  von  Friedrich  die  Auslieferung 


>)  RTA  VIII  309  art  2,  b,  c u.  4. 

*)  1.  c.  384  n.  36. 

')  1.  c.  435. 

4)  für  welche  sich  Conrad  als  Schwiegervater  Herzog  Erichs  von  Sachsen- 
Lauenburg  interessierte. 

»)  1.  c.  S.  408  Z 37  f. 

•)  Bericht  der  Gesandten:  1.  c.  360. 

’)  Vgl.  unsere  S.  119. 


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129 


der  gegen  ihn  gerichteten  „litterae  inscripcionum  et  contractus,“ 
jedenfalls  der  Bundesurkunden  von  Bingen1)  verlangt  habe. 
Der  Kurfürst  verweigert  die  Auslieferung:  „ex  quo  domini 
electores  imperii  sunt  domini  mei  et  seniores  mei,  quorum  prae- 
ceptis  velut  iustis  et  honestis  . . . semper  teneor  intendere,“ 
da  ferner  auch  nichts  in  jenen  Urkunden  stehe,  was  gegen  das 
Reich  oder  den  König  sei. 

Der  Kurfürst  dreht  sodann  den  Spiess  um:  nicht  die 
Kurfürsten  hätten  gegen  den  König,  sondern  dieser  gegen  die 
Kurfürsten  intriguirt.  Sigmund  habe  von  den  Städten  verlangt, 
sie  sollten  sich  ihm  zur  Hilfleistung  verpflichten  und  habe 
ihre  Zusage,  die  sich  nur  auf  die  böhmischen  Ketzer  bezog, 
auch  auf  die  Bekämpfung  der  Kurfürsten  ausdehnen  wollen: 
königliche  Städtebundspläne  aus  fürstlicher  Perspektive. 

Über  die  Thätigkeit  der  Kurfürsteneinung  zu  dieser  Zeit 
wissen  wir  wenig,8)  deshalb  können  wir  auch,  kaum  vermutungs- 
weise, über  die  Gründe,  aus  denen  damals  die  mühsam  gepflegte 
Solidarität  des  Kurcollegiums  in’s  Wanken  geriet,  uns  äussern. 
Dadurch,  dass  die  Kurfürsten  von  Sachsen  und  Brandenburg, 
wahrscheinlich,  weil  die  Verständigung  über  eine  gemeinsame 
Haltung  aller  Kurfürsten  nicht  zu  Stande  kam,  den  Wiener 
Reichstag  von  1426  ohne  und  gegen  den  Willen  ihrer  rheinischen 
Collegen  besuchten,  war  die  Binger  Einung  de  facto  gesprengt. 

Schon  während  des  Jahres  1426  hatte  eine  Gesandtschaft 
der  Kurfürsten,  diese  thaten  also  den  ersten  Schritt,  die  Ver- 
handlungen eröffnet,  welche,  nachdem  dann  wieder  die  Kur- 
fürsten einer  Mahnung  des  Königs  zur  Festsetzung  des  Termins 
für  einen  Reichstag  monatelang  nicht  nachgekommen  waren, 
zum  Wiener  Reichstage  Februar  1426  führten.3) 

Der  folgende  zu  Nürnberg,  im  Mai,  sieht,  wie  Kerler  rich- 
tig hervorhebt,4)  die  Kurfürsten  mit  den  königlichen  Räten 
äusserlich  im  besten  Einvernehmen. 

■)  Kerler  RTA  VIII  S.  425  Note  6. 

*)  v.  Bezold  II,  64  Note  2 stellt  die  erhaltenen  Nachrichten  zusammen. 
Vgl.  auch  Kerler  in  der  Einleitung  zum  Wiener  Reichstage  Januar  1425 
D — F.  Der  Kurfürst  von  Mainz  beruft  für  den  3.  Juni  seine  Standesge- 
noesen  nach  Wirzbnrg:  „sub  pena  iurisdiccionis  atme  in  eleccione.“ 

■)  Kerler  in  der  Einleitung  zu  diesem  Tage  unter  A : RTA  VIII,  8.  429  ff. 

4)  1.  c.  VIII  S.  452. 

Wen  dt,  Der  deutsche  Keichst&g  unter  König  Sigmund.  9 


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130 


Die  Periode  des  eigentlichen  Confliktes  zwischen  König 
und  Kurfhrsten  ist  zu  Ende. 

Es  beginnt  nun,  freilich  häufig  durch  Streit  und  Händel, 
sogar  innerhalb  des  Collegiums  selbst,  unterbrochen,  die  Zeit 
ruhigerer  aber  doch  nicht  minder  nachdrücklicher  Arbeit  der 
Kurfürsten  für  das  Reich.  Man  hört,  wie  es  scheint,  auf, 
gegen  den  König  zu  conspirieren ; man  tritt  statt  dessen  still- 
schweigend an  seine  Stelle. 

Bald  nach  dem  Nürnberger  Tage  versammeln  sich  die  rhei- 
nischen Kurfürsten,  wahrscheinlich  infolge  der  furchtbaren 
Kriegsnachrichten  aus  Sachsen l)  zu  Boppard.  Teils  handelte 
es  sich  dort  um  eine  interne  Sache  des  Kurcollegiums : Streitig- 
keiten zwischen  Mainz  und  Pfalz,  — teils  um  Ausführung  der 
Beschlüsse  des  Nürnberger  Reichstages.8)  — 

Eine  grosse,  aber  nur  vorübergehend  erfolgreiche  Thätig- 
keit  entfalten  die  Kurfürsten  auf  den  Frankfurter  Reichstagen 
von  1427.  Wie  sehr  auf  der  grossen  Novemberversammlung  der 
König  gegenüber  den  3 Hauptfaktoren  des  Tages : Cardinal,  Kur- 
fürsten, Städte  zurücktritt,  wissen  wir. 

Eine  gemeinschaftliche  Aufgabe  erwuchs  in  der  Folge  dem 
Kurcollegium  in  der  Ausführung  des  Frankfurter  Steuergesetzes. 
Hier  benutzte  man,  vielleicht  durch  frühere  Erfahrungen  ge- 
witzigt, wenigstens  den  Namen  des  Königs.  Man  lässt  ihn  Ge- 
horsam gebieten  und  zur  Zahlung  mahnen,  aber  trotzdem  erlebt 
man  es,  dass  einzelne  Stände,  um  sich  den  Verpflichtungen  des 
Gesetzes  zu  entziehen , die  Autorität  des  Königs  gegen  die  der 
fürstlichen  Centralcommission  auszuspielen  versuchen. 

Im  folgenden  Jahre,  1429,  wendet  sich  die  Thätigkeit  der 
fürstlichen  Reichsregimentes  von  den  Bemühungen  um  die  finan- 
zielle und  militärische  Organisation  des  Reiches,  anschliessend 
an  die  Pläne  von  1423,  der  Besserung  der  inneren  Zustände  des 
Reiches  zu.  Möglich,  dass  der  traurige  Erfolg  der  Steuerge- 
setzgebung die  Kurfürsten  dazu  trieb , durch  die  Sorge  für  den 
Landfrieden  den  Anschluss  an  die  materielle  Macht  der  Städte, 
denen  der  Landfrieden  stets  zumeist  am  Herzen  lag,  zu  gewinnen. 


')  von  der  Schlacht  bei  Aussig:  16.  Juni  1426. 
*)  RTA  VIII  S.  455  f. 


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131 


Jede  unnütze  Herausforderung  des  Reichsoberhauptes  wird 
hierbei  vermieden;  die  „schärfere  Tonart“  der  Jahre  1422 — 24 
scheint  ganz  verschwunden. 

Aber  die  schweigende  Nichtachtung,  welche  in  dem  Vor- 
gehen der  Kurfürsten  lag,  genügte  schon,  um  die  Opposition 
des  Königs  wachzurufen.  Seinen  Widerstand  haben  wir  als 
einen  der  Hauptgründe  für  das  Scheitern  der  Landfriedensbe- 
wegung von  1429  anzuführen  gehabt.1) 

Der  Schluss  unserer  Periode  führt  König  und  Kurfürsten 
zu  gemeinsamem  Wirken  endlich  wieder  zusammen. 

Das  Verlangen  letzterer  nach  persönlicher  Anwesenheit 
des  Königs  im  Reiche  war  durch  die  Ergebnisse  oder  besser: 
Ergebnislosigkeit  ihrer  Bestrebungen  der  letzten  Jahre  beson- 
ders geweckt.  Wenn  wir  sehen,  wie  die  Kurfürsten  von  Mainz 
und  Brandenburg,  begleitet  von  den  Gesandten  der  übrigen, 
nach  Wien  gehen,  dann  dem  Könige  selbst  bis  Pressburg  ent- 
gegenkommen,  um  dann  dort  alle  Beratungen  auf  einen  in 
Deutschland  abzuhaltenden  Reichstag  zu  vertagen,  so  sehen 
wir  ein,  dass  ihre  ganze  Reise  nur  bezweckte,  Sigmund  zur 
Rückkehr  in’s  Reich  zu  veranlassen. 

Dass  der  König  diesem  Verlangen  folgte,  entsprang  aller- 
dings egoistischen  Motiven:  das  Verlangen  nach  der  Kaiser- 
krone Hess  ihm  keine  Ruhe  mehr.  Aber  jedenfalls  war  der 
Erfolg  der,  dass  das  Reichsoberhaupt  wieder  einmal  die  hän- 
genden Zügel  ergriff,  freilich  um  sie  sehr  bald  wieder  aus 
der  Hand  zu  geben.  — 

So  sehen  wir,  wie  das  Kurfürstentum  aus  der  Thatsache, 
dass  ihr  König  vornehmlich  Herrscher  eines  fremden  Landes 
war,  dass  ihn  eine  Fülle  von  Neigungen  und  Pflichten  von 
Deutschland  trennte,  doppelte  Consequenzen  zog.  Einmal  er- 
wachte naturgemäss  die  Lust,  den  pflichtvergessenen  König 
seiner  Würde  zu  entkleiden,  Sigmund  enden  zu  lassen  wie  sei- 
nen Bruder.  Aber  dieser  war  kein  Wenzel.  Fehlte  ihm  die 
Stätigkeit  und  Festigkeit  zu  nachhaltigem  Wirken,  so  machte 
ihn  doch  der  schöpferische  Reichtum  seines  Geistes,  die  vor 
nichts  zurückschreckende  Kühnheit  seiner  Entwürfe,  zu  einem 
Gegner,  den  man  nicht  ungestraft  reizen  durfte. 

*)  vgl.  unsere  S.  70  f. 

9* 


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132 


Und  dann:  vielleicht  hatten  die  Kurfürsten  die  Macht, 
Sigmund  zu  stürzen,  aber  sicher  hatten  sie  nicht  die  Fähigkeit, 
einen  andern,  etwa  einen  der  ihrigen,  mit  Erfolg  an  seine 
Stelle  zu  setzen.  Ruprecht  war  in  dem  Kampfe  mit  der  ter- 
ritorialen Selbstherrlichkeit  gescheitert;  was  war  da  von  den 
Friedrich  von  Sachsen,  Ludwig  von  der  Pfalz  und  selbst  von 
Friedrich  von  Brandenburg  zu  erwarten? 

Daher  lehrt  die  besonnene  Erwägung  bald,  die  Person  des 
Reichsoberhauptes  unangetastet  zu  lassen.  Statt  ihn  zu  ent- 
setzen, ersetzt  man  ihn.  Die  W ehrhaft inachung  des  Reiches 
und  die  Wiederherstellung  von  Ruhe  und  Ordnung,  einst  Aufgaben 
der  Königsgewalt,  nehmen  jetzt  die  Sorgen  des  Kurfürstentums 
in  Anspruch,  bis  dasselbe  an  der  vergeblichen  Aufgabe  ver- 
zweifeln lernt. 

Jedenfalls  sicherten  aber  bewusstes  Streben  und  die  Gunst 
der  Verhältnisse  vereint  dem  Kurfürstenstande  nicht  bloss  dem 
Könige,  sondern  auch  den  übrigen  Gliedern  des  Reiches  gegen- 
über in  unsrer  Zeit  seinen  überwiegenden  Einfluss. 

Dies  zeigt  sich  nicht  zum  mindesten  in  der  Stellung  der 
übrigen  Fürsten. 

Wie  wir  schon  sahen,  dass  sich  auf  den  Reichstagen  Sig- 
munds ein  besonderes  Fürstencollegium  neben  dem  der  Kur- 
fürsten jedenfalls  noch  nicht  ausgebildet  hatte,1)  so  sind  selb- 
ständige Äusserungen  eines  Fürstenstandes  als  solchen  über- 
haupt in  damaliger  Zeit  kaum  zu  verzeichnen.  Scheinbar  hätte 
es  nahe  gelegen,  dass  in  den  Zeiten  des  Conflikts  zwischen 
König  und  Kurfürsten  die  übrigen  von  der  kurfürstlichen  Ari- 
stokratie ausgeschlossenen  Fürsten  in  den  Riss  zu  treten,  um 
den  König  sich  zu  schaaren  versucht  hätten. 

Aber  wenn  dies  vereinzelt  geschieht,  wenn  Herzog  Ludwig 
von  Bayem-Ingolstadt  oder  Erich  von  Sachsen- Lau enburg  oder 
Markgraf  Bernhard  von  Baden  zur  Zeit  des  schärfsten  Gegen- 
satzes eine,  jedenfalls  aufreizende  Thätigkeit  am  königlichen 
Hofe  entfalten,  so  liegen  nur  rein  persönliche  Motive  vor,  die 
keine  Ansätze  zu  einer  neuen  Parteibildung  darstellen  können. 

Dagegen  scheint  es  wiederholt,  als  ob  die  Reichsritter- 
schaft unter  Sigmund  ein  wichtiger  Component  einer  neuen 


’)  Vgl.  unsere  8.  SO. 


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133 


politischen  Constellation  werden  sollte.  Zweimal  während  un- 
serer Periode,  auf  den  Herrentagen  von  Bamberg  1427  *)  und 
Windsheim  1431  *)  tritt  sie  in  selbständige  Aktion.  Zweimal 
versucht  sie,  nach  vernichtenden  Niederlagen  des  Reichsganzen 
als  Vertreterin  der  Wehrkraft  der  Nation  den  heiligen  Krieg 
gegen  die  Ketzer  zu  organisieren.  Praktischen  Erfolg  durfte 
man  von  diesem  Wiederhervorholen  alter  Ansprüche,  dieser 
Neubelebung  veralteter  Formen  allerdings  nicht  erwarten. 

Besser  beweisen,  dass  die  Reichsritterschaft  noch  eine 
Macht  war,  die  mehrfachen  Versuche  Sigmunds,  aus  Rittertum 
und  Bürgertum  eine  Stütze  der  Reichsregierung  gegen  die  Für- 
stengewalt zu  gewinnen.  Besonders  in  der  Confliktszeit  und 
in  den  letzten  Jahren  unserer  Epoche  mehren  sich  die  Belege 
für  den  Plan  des  Königs,  Ritterschaft  und  Städte  zu  einer  dem 
Königtum  jederzeit  verfügbaren  Partei  zu  verbinden.*) 

Es  ist  sehr  wahrscheinlich,  dass  die  3 Monate  des  Auf- 
enthalts in  Schwaben,  vom  November  1430  bis  Januar  1431, 
während  welcher  uns  die  Bewegungen  und  Bestrebungen  Sig- 
munds einigermassen  im  Dunkeln  liegen,  ausser  den  Vorberei- 
tungen für  den  Romzug  auch  der  Verwirklichung  derartiger 
Pläne  gewidmet  waren.4)  Aber  jeder  Schritt  weiter,  den  der 
König  auf  dieser  Bahn  tliat,  muss  ihn  belehrt  haben,  wie  sehr 
der  unversöhnliche  wirtschaftliche  Gegensatz  zwischen  Adel  und 
Bürgertum  ein  ernsthaftes  politisches  Nebeneinande.rwirken  ver- 
hinderte. In  dem  Masse,  wie  er  die  Ritter  gewann,  ent- 
fremdete er  sich  die  Städte.  Der  Bruch  mit  ersteren,  das  Auf- 
geben der  bisherigen  traditionell  städtefreundlichen  Politik  Sig- 
munds, tritt  auf  dem  Nürnberger  Reichstage  1431  offen  zu  Tage, 
und  als  ofiicielles  Dokument  desselben  mag  man  das  königliche 
Pfahlbürgerverbot  vom  25.  März  1431*)  gelten  lassen.6) 

•)  RTA  IX,  9—11. 

»)  L c.  462—65. 

*)  Deutlich  bezeichnet  ist  diese  Coubiuation  u.  a.  in  den  Vorschlägen, 
welche  der  König  zu  Wien  Januar  1425  den  Städten  unterbreitete:  1.  c.  VIII, 
331  art  6. 

‘)  v.  Bezold  UI,  79  ff. 

•)  RTA  IX,  429. 

*)  Die  Stellung  der  Ritterschaft  in  dieser  Zeit  betrifft  auch  eine  Notiz 
in  der  Instruktion  Konrad  von  Weinsbergs  für  Stephan  v.  Leuzenbronn  zum 


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134 


Die  Stelluug  der  Städte  unter  Sigmund  giebt  nach  zwei 
zwar  verwandten,  aber  doch  wohl  zu  unterscheidenden  Eichtun- 
gen zu  Bemerkungen  Anlass. 

Die  Städtebundsbestrebungen,  teils  eigener  Initiative  ent- 
sprungen, teils  der  Anregung  des  Königs  ihre  Entstehung 
verdankend,  sind  in  neuster  Zeit  anderweitig  dargestellt  wor- 
den,1) auch  liegt  ihre  Schilderung  ohnehin  unsrer  Aufgabe 
ferner.  Dagegen  fordert  die  Entwicklung  der  Reichsstand- 
schaft der  Städte,  das  heisst  ihrer  Teilnahme  an  den  Reichs- 
tagsverhandlungen unsere  Aufmerksamkeit.8) 

Rein  gewohnheitsrechtlich  hatte  sich  seit  Ende  des  13.  und 
im  14.  Jahrhundert  die  regelmässige  Teilnahme  der  Städte  an 
den  Reichstagen  und  ihre  steigende  Bedeutung  für  dieselben 
herausgebildet.  Mit  Beginn  des  15.  Jahrhunderts  sehen  wir 
die  Städte  zweifellos  im  Besitze  eines  gewissen  auf  Sitte  und 
Herkommen  begründeten  Rechtes  zum  Erscheinen  auf  den  Reiehs- 
versaramlungen. 

Welches  ist  aber  ihre  Stellung  auf  denselben?  Bis  iu’s 
Ende  des  14.  Jahrhunderts  finden  wir  die  Städte  zwar  als  be- 


Frankfurter  Reichstage  November  1427  (RTA  IX  68  art  3).  Nach  dem  von  Vor- 
beratungen zum  Steuergesetze  und  der  eventuellen  Teilnahme  Stephans  als 
Vertreters  seines  Herrn  an  weiteren  Besprechungen  die  Rede  gewesen, 
fährt  Konrad  fort:  item  wann  der  Cardinal  (von  England)  und  ritterschaft 
enig  und  willig  zu  den  Sachen  sein  ze  tund,  so  sein  wol  weg  zu  finden,  das 
durch  den  Cardinal  wol  ein  merklich  gelt  gevelt.“  — Kerler  (1.  c.  S.  59) 
bezeichnet  den  Passus  als  „merkwürdige  Andeutung  über  ein  etwaiges  Zu- 
sammengehen des  Cardinais  mit  den  Standesgenossen  Weinsbergs,  den  Rittern.“ 
Ich  mochte  hier  nicht  mehr  als  eine  Äusserung  des  Staudesstolzes  Konrads 
sehen,  der  übrigens  nach  den  thatsächlichen  finanziellen  Mitteln  der  Ritter- 
schaft sich  nur  wenig  rechtfertigen  würde.  Vielleicht  enthalten  diese  Worte 
auch  eine  Mahnung  an  den  Cardinal,  bei  Ausarbeitung  des  Steuergesetzes  die 
Wünsche  der  Ritterschaft  zu  berücksichtigen. 

‘)  Heuer  „Städtebundsbestrebungen  unter  König  Sigmund  1 Teil“  Berlin 
1887.  — Diese  Dissertation  bezeichnet  sich  selbst  als  „Eingang  einer  grösseren 
die  Städtebnndsbestrebungen  von  1415  -23  behandelnden  Arbeit,“  an  welche 
„die  Darstellung  der  Bundesbewegung  des  Jahres  1429“  sich  anschliessen  solle. 
Beide  Arbeiten  sind  mir  nicht  zugänglich  gewesen;  trotzdem  ist  mit  Rücksicht 
auf  sie  jedes  Eingehen  auf  die  Städtebundsbestrebungen  unserer  Zeit  weggefallen. 

')  Für  die  frühere  Zeit  vgl.  Brülcke  „Die  Entwicklung  der  Reichsstand- 
schaft der  Städte  von  der  Mitte  des  13.  bis  zum  Ende  des  14.  Jahrhunderts.“ 
Für  die  Folgezeit  vgl.  unsere  S.  4 Note  1 und  5 Note  1. 


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135 


rechtigtes,  keineswegs  aber  als  ein  den  übrigen  Ständen 
gleichberechtigtes  Element  der  Reichstage  angesehen. 
Abwechselnd  erscheinen  und  verschwinden  sie  in  den  Eingangs- 
fonnein der  auf  Grand  der  Reichstagsbeschlüsse  erlassenen 
Mandate;  ihre  Rolle  ist  im  ganzen  eine  passive. 

Dieser  Stand  der  Dinge  scheint  sich  nun  in  unsrer  Periode, 
besonders  während  der  Hussitenkämpfe,  wesentlich  zu  Gunsten 
der  Städte  zu  verschieben. 

Die  Städte  treten  in  den  uns  erhaltenen  Berichten  immer  ent- 
schiedener dem  Fürstenstande  zur  Seite ; immer  deutlicher  prägt 
sich  das  Collegium  der  Reichsstädte  aus;  man  versucht,  ganz 
wie  in  späterer  Zeit,  die  Voten  beider  Gruppen  in  Überein- 
stimmung zu  bringen;  das  Recht  der  Städte,  bei  Meinungs- 
verschiedenheit mit  den  Fürsten  Separatvoten  abzugeben,  ist  in 
der  Entstehung  begriffen:  die  Städte  sind  an  der  nach  den 
Frankfurter  Beschlüssen  gebildeten  Centralsteuercommission  be- 
teiligt; in  den  Ausschüssen  des  Nürnberger  Reichstages  1431 
ist  die  numerische  Gleichberechtigung  von  Fürsten-  und  Städte- 
vertretern streng  gewahrt:  kurz,  die  Reichsstandschaft  der 
Städte,  die  Gleichberechtigung  des  Bürgertums  mit  dem  Adel 
scheint  voll  und  ganz  durchgeführt. 

Aber  neben  diese  fortschreitende  Entwicklung  treten  von 
Anfang  an  hemmende  Elemente,  welche  in  der  nächsten  Zeit 
nach  unserer  Periode,  unter  Friedrich  III,  zur  Herrschaft  ge- 
langen und  eine  vollständig  rückläufige  Bewegung  auf  diesem 
Gebiete  herbeiführen. 

Den  erwähnten  Begünstigungen  der  Städte  stehen  doch 
auch  wieder  Fälle  gegenüber,  wo  das  Bürgertum  auf  den  Reichs- 
tagen zu  der  alten  Bedeutungslosigkeit  herabgesunken  ist.  Der 
Anteil  der  Städte  an  den  Reichstags b er  a tun  gen  ist  gross, 
der  an  den  Beschlüssen  verhältnismässig  klein.  Unsere  Be- 
trachtung der  Beratungsformen ')  zeigte  uns  wiederholt,  wie 
nach  vergeblichen  Versuchen  der  Fürsten,  mit  den  Städten  sich 
zu  verständigen,  einfach  über  der  letzteren  Köpfe  hinweg  be- 
schlossen und  ihnen  im  günstigsten  Falle  nachträgliche  Erklä- 
rung gestattet  wird. 

Das  „Mitbestimmen“  für  die  Städte  ist  ebenso  gewöhnlich, 
wie  in  früherer  Zeit,  dem  „Votum  decisivum“  erscheinen  sie  zu 

•)  Vgl. unsere  S.  50 — 57. 


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136 


Zeiten  Sigmunds  noch  so  fern,  wie  unter  Wenzel,  sie  figurieren 
häufig  in  der  Eingangsformel  von  Beschlüssen,  welche  nicht 
nur  ohne  ihre  Mitwirkung,  sondern  sogar  gegen  ihre  entschie- 
denste Willensäusserung  zu  Stande  gekommen  waren.1) 

Wie  erklären  sich  diese  beiden  abweichenden  Erschei- 
nungen ? 

Die  unleugbar  erweiterte  Teilnahme  der  Städte  an  den 
Reichstagsberatungen  entsprang  sicher  dem  Wunsche  und  Willen 
der  massgebenden  Faktoren:  des  Königs  und  der  Fürsten.  Man 
brauchte  die  materiellen  Hilfsmittel  der  Städte,  deshalb  duldete 
man  ihr  stärkeres  Hervortreten  auf  den  Reichstagen;  man  er- 
teilte ihnen  Rechte,  um  ihnen  auch  Pflichten  auferlegen  zu 
können. 

Wenn  die  Städte  diese  Rechte  nicht  in  dem  weiten  Um- 
fange, wie  es  wohl  möglich  gewesen  wäre,  erlangten  und  be- 
haupteten, so  liegt  die  Ursache  einzig  darin,  dass  sich  eben  die 
Städte  zu  nichts  verpflichten:  teils  wollten,  teils  konnten. 

Keine  Darstellung  kann,  unsres  Erachtens,  den  ständischen 
Verhältnissen  damaliger  Zeit  gerecht  werden,  die  von  der  An- 
nahme eines  Strebens  der  Städte  nach  der  vollen  Reichs- 
standschaft  ausgeht.  Dieses  Streben  ist  erst  im  Reformations- 
zeitalter zu  voller  Stärke  erwachsen. 

Für  unsere  Zeit  hat  in  den  weitaus  meisten  Fällen  die 
Teilnahme  der  Städte  an  den  Reichstagen  für  diese  keinen 
anderen  Wert,  als  dass  sie  ein  Übermass  von  Verpflichtungen 
abwehren  und  unangenehme  Beschlüsse  verhindern  oder  ihre 
Vollziehung  aufhalten  können. 


')  Von  dem  Nürnberger  Reichstage  1431  allein  haben  wir  3 Beispiele 
hierfür:  Die  Stftdte  hatten  daselbst  vom  Könige  nach  vielen  Unterhandlungen 
die  Vergünstigung  erhalten,  zum  Zuge  gegen  Böhmen  sich  selbst  anzuschlagen 
(RTA  IX  454  art  1,  456  art  4,  457  (kürzere  Fassung)  art  4);  sie  waren 
also  den  Feldzngsbeschlüssen  nicht  unbedingt  beigetreten.  Die  Mandate  des 
Königs  (1.  c.  413,  14,  16,  22)  ignorieren  die  den  Städten  gemachte  Oonces- 
sion  und  erwähnen  die  Städte  schlechthin  als  mitwirkend.  — Dasselbe 
geschieht  in  einer  auf  dem  königlichen  PfalilbUrgerverbote  (1.  c.  42U)  be- 
ruhenden Mahnung  zur  Eutlassung  der  Pfahlbürger  (429  b),  obwohl  doch 
die  Städte  natürlich  gegen  das  genannte  Verbot  auf’s  äusserste  sich  verwahrt 
hatten.  Diese  Fälle  beweisen  auch,  wie  wenig  aus  den  Eingangsfonnein  zu 
erschliessen  ist.  Brülcke  (1.  c.)  operiert  mitunter  zu  viel  mit  ihnen. 


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137 


Darüber  hinaus  liegt  eine  Teilnahme  an  den  Reichstags- 
verhaudlungen  gar  nicht  in  ihrem  Interesse. 

Sowie  es  sich  um  principielle  Gesichtspunkte  theoretischer 
Natur,  nm  reine  „Doktorfragen“  handelt,  wie  gleichgiltig  sind 
die  Städteboten,  wie  gern  lassen  sie  bei  den  Erklärungen  an  den 
König  mit  vortrefflich  gespielter  Demut  den  Fürsten  den  Vortritt. 

Sowie  aber  materielle  Interessen  in  Betracht  kommen,  so- 
wie es  sich  darum  handelt,  zu  verhindern,  dass  ein  lästiges 
Geldsteuergesetz  die  „Macht  oder  Ohnmacht  der  Städte“  offen- 
bart, dass  ein  „Anschlag“  sie  über  Gebühr  beschwert,  da  er- 
wacht ihre  ganze,  freilich  nur  passive,  Energie. 

Alle  Versuche  des  Königs,  der  Fürsten,  sie  aus  ihrer  Re- 
serve herauszulocken,  scheitern;  allen  Bitten,  Ermahnungen, 
Vorwürfen,  Drohungen  setzen  sie  die  bestimmte  Forderung  des 
„Hintersichbringens“  und  platonische  Versicherungen  guten 
Willens  gegenüber. 

War  es  da  überhaupt  denkbar,  dass  die  Städte  einen  ent- 
scheidenden Einfluss  auf  die  Reichstagsbeschlüsse  erlangten? 

Und  dabei  fassten  wir  bisher  die  Städte  immer  als  Ge- 
sammtheit;  wie  gespalten  und  zwieträchtig  waren  aber  die 
Ratsboten  oft.  Häufig  finden  wir  derselben  Forderung  ge- 
genüber alle  Nuancen  des  Wollens  vertreten,  von  der  vollkom- 
menen Bereitwilligkeit,  wie  sie  zum  Beispiel  Nürnberg  als 
Reichsstadt  xar’  efox^v,  gern  zur  Schau  trägt,  bis  zu  dem 
partikularistischen  Übelwollen  Ulms  und  seines  Bundes.  War 
diese  vielköpfige,  schwerfällige  Masse  einer  verfassungsmässigen 
Teilnahme  an  der  Reichsleitung  fähig? 

Aber  seien  wir  gerecht  gegen  die  Städte:  es  war  nicht 
immer  Geiz,  nicht  bloss  „spiessbürgerlicher  Egoismus,“  *)  nicht 
durchweg  kurzsichtige  Kirchturmspolitik,  was  ihnen  ihre  Haltung 
auf  den  Reichstagen  diktierte.  Das  Misstrauen  der  Städte  gegen 
Fürsten  und  König  war  oft  kein  blosses  Phantom ; sie  mussten 
sich  fortwährend  in  ihrer  Stellung,  „der  jede  staatsrechtliche 
Garantie  fehlte,“  bedroht  fühlen.  Es  war  von  ihnen  im  Grunde 
eine  ehrliche  und  thätige  Mitwirkung  an  der  Reichsgesetzgebung 
kaum  zu  erwarten. 


*)  BrtUcke  L c.  91. 


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138 


Aber  wenn  uns  auch  die  Gerechtigkeit  zwingt,  dies  in  Be- 
tracht zu  ziehen,  wenn  wir  es  ferner  jetzt  vielleicht  den  Städten 
danken  können,  dass  sie  ihre  Kräfte  nicht  an  einem  Wieder- 
aufbau der  verfallenen  Reichsverfassung  verschwendeten,  son- 
dern für  bessere  Zeiten  und  bessere  Zwecke  aufsparten,  — so 
müssen  wir  doch  andererseits  uns  immer  vor  Augen  halten , wie 
eben  das  politische  Leben  und  Streben  der  Städte  in  damaliger 
Zeit  stets  in  den  engsten  Grenzeu  blieb. 

Ihre  unvergängliche  Bedeutung  kommt  ihnen  zu  als  Trä- 
gem der  specifisch  wirtschaftlichen  Richtung  im  mittelalter- 
lichen Leben;  grosse  politische  oder  gar  nationale  Ideen  darf 
man  bei  den  Städten  des  15.  Jahrhunderts  nicht  suchen. 

Die  biederen  Ratsboten  auf  den  Reichstagen  Sigmunds 
würden  sich  nicht  wenig  entsetzen,  hörten  sie  von  den  grossen 
nationalen  Aufgaben,  die  man  ihnen  in.  unsrer  Zeit  mitunter 
wohl  zugewiesen  hat. 


MtXOlUMUtl  MMtUI  * «HU«,  T«W»IIi  I«  MMIU- 


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Untersuchungen 

zur 

Deutschen  Staats-  und  Rechtsgeschichte 

herausgegeben 

von 

Dr.  Otto  Gierke, 

Professor  der  Rechte  an  der  Universität  Berlin. 


31.  Heft. 

Der  Ursprung  der  Stadtverfassung 

iu 

Worms,  Speier  und  Mainz. 

Ein  Beitrag  zur  (beschichte  des  Stldtewesens  im  Mittelalter. 

Von 

Carl  Koehne, 

Dr.  jnr.  et  phil. 


Breslau. 

Verlag  von  Wilhelm  Koebuer. 
1890. 


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Der 


Ursprung  der  Stadtverfassung 

in 

Worms,  Speier  und  Mainz. 


Ein  Beitrag  zur  Geschichte  des  Städtewesens  im  Mittelalter 


von 


Carl  Koehne, 

Dr.  jnr.  et  phil. 


Breslau. 

Verlag  von  Wilhelm  Koebner. 
1890. 


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Herrn  Dr.  Robert  Hoeniger 


gewidmet. 


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Einleitung. 

Die  Entstehung  der  comraunaleu  und  politischen  Autonomie 
der  deutschen  Städte  bildet  wieder  wie  zu  Conrings  und  Moritzs 
Zeiten,  in  denen  solche  Forschung  noch  von  unmittelbar  prak- 
tischer Bedeutung  war,  eine  der  am  häufigsten  behandelten 
Fragen  der  deutschen  Rechtsgeschichte.  Gewiss  liegt  dies  sehr 
wesentlich  an  der  Wichtigkeit,  welche  diesem  Ereignis  in  unse- 
» rer  nationalen  Entwicklung  zukommt.  Dennoch  wird  wohl 
^niemand  leugnen,  dass  die  fortgesetzte  Behandlung  desselben 
Gegenstandes  auch  vorzugsweise  mit  durch  den  Umstand  ver- 
~ anlasst  ist,  dass  es  bisher  Niemandem  geglückt  ist,  zu  unzweifel- 
haften und  abschliessenden  Resultaten  über  die  Art  und  Weise 
der  Ratsentstehung  und  die  dabei  wirksamen  Kräfte  zu  gelangen, 
i.  Gehen  wir  auf  den  Grund  dieser  Erscheinung  selbst  wieder  ein, 
so  tritt  uns  als  solcher  vor  allem  die  Dürftigkeit  und  Einseitig- 
keit des  der  Forschung  bisher  zu  Grunde  liegenden  Quellenstoffes 
entgegen.  So  lange  man  für  die  Erforschung  der  Entstehung 
selbständiger  und  freier  städtischer  Bürgergemeinden  inmitten 
einer  immer  mehr  in  Hörigkeit  versinkenden  Landbevölkerung 
kaum  andere  Quellen  als  Inhalt  und  Zeugenunterschriften  einer 
Anzahl  geistlicher  Urkunden  verwenden  konnte,  waren  all- 
seitig gesicherte  Ergebnisse  nicht  zu  erlangen.  Während  wich- 
tige Fragen  der  städtischen  Verfassungsentwicklung  von  Hegel, 
Waitz,  Arnold,  Nitzsch,  v.  Maurer  und  anderen  meister- 
haft klargestellt  wurden,  konnte  doch  gerade  bezüglich  des 
Ursprungs  der  Stadtverfassung  eine  Übereinstimmung  nicht 
erzielt  werden.  Eine  Anzahl  von  Hypothesen  wurde  aufge- 


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VIII 


stellt,  von  denen  jede  einzelne  im  ganzen  dem  vorhandenen 
Quellenmaterial  so  lange  zu  entsprechen  schien,  bis  ihr  Wider- 
spruch zu  einigen  der  überlieferten  Stellen  dargethan  war. 
Darauf  wurde  eine  neue  Theorie  von  derselben  Haltbarkeit 
an  ihre  Stelle  gesetzt,  um  daun  ihrerseits  durch  eine  dritte  ver- 
drängt zu  werden.  Auch  litt  die  Forschung  recht  erheblich 
darunter,  dass  in  den  grösseren  Werken,  in  denen  die  charakte- 
risierten Theorien  aufgestellt  waren,  nicht  selten  zeitlich  und 
lokal  sehr  verschiedene  Quellenstellen  ohne  Unterscheidung  be- 
nutzt wurden.1)  Andererseits  sind  aber  gerade  manche  der 
besten  der  eine  einzelne  Stadt  behandelnden  Arbeiten  von 
einer  der  so  gewonnenen  Theorien  all  zu  sehr  beeinflusst,  wäh- 
rend endlich  viele  Specialdarstellungen  schon  durch  den  Mangel 
historischer  Kritik  und  die  Unkenntnis  verwandter  Stadtent- 
wicklungen es  zu  wissenschaftlich  ausreichenden  Resultaten  über- 
haupt nicht  bringen  konnten. 

Einen  wesentlichen  Fortschritt  bedeutete  es,  als  Heu  sie  r 
1872  in  seinem  Buche : „Der  Ursprung  der  deutschen  Stadtver- 
fassung“ den  Versuch  unternahm,  „die  gegeneinander  wogenden 
Ansichten  über  den  Ursprung  der  deutschen  Stadtverfassung 
abzuklären  und  eine  Verständigung  über  die  hauptsächlichsten 
Streitpunkte  zu  ermöglichen.“  Zum  ersten  Mal  wurden  hier 
die  wesentlichsten  Theorien  in  ihrem  Inhalt  wie  in  ihren  Con- 
sequenzen  scharf  präcisiert  und  auf  ihre  Richtigkeit  an  der  Hand 
des  damals  zu  Gebote  stehenden  Quellenmaterials  geprüft.  Nach 
Heusler  ist  die  Lösung  der  in  Frage  stehenden  Probleme  wesent- 
lich durch  Gierke  im  zweiten  Bande  des  deutschen  Genossen- 
schaftsrechts gefördert  worden,  indem  daselbst  nachgewiesen  und 
scharf  hervorgehoben  wurde,  dass  die  städtische  Selbständigkeit 
in  politischer  und  rechtlicher  Hinsicht  die  Wirkung  mehrerer 
Ursachen  gewesen  ist  und  demnach  die  Feststellung  des  gegen- 
seitigen Verhältnisses,  nicht  die  Hervorhebung  einer  einzelnen 
der  in  Betracht  kommenden  Erscheinungen  die  Aufgabe  der 
Forschung  sein  muss. 


')  Dieser  Fehler  tritt  namentlich  bei  von  Mau  rer  hervor  nnd  noch 
mehr  ist  vonBelow  in  denselben  verfallen.  Über  die  Aufsätze  von  Bel ow’s 
zur  Entstehung  der  Deutschen  Stadtverfassung  vgl.  Anb.  I. 


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IX 


Freilich  das  Erreichen  unzweifelhafter  Ergebnisse  und  die 
volle  Lösung  auch  nur  der  hauptsächlichsten  der  für  den  Ur- 
sprung der  Stadtverfassung  in  Betracht  kommenden  Fragen 
scheint  auch  diesen  beiden  Forschern  nicht  gelungen.  Der 
Grund  aber,  dass  dieser  Teil  der  deutschen  Rechtsgeschichte 
trotz  des  grade  auf  ihn  verwandten  Fleisses  und  Scharfsinns 
ausgezeichneter  Gelehrter  hinter  anderen  Gebieten  dieser  Wissen- 
schaft noch  zurückgeblieben  scheint,  liegt  vor  allem  darin,  dass 
lange  Zeit  für  keine  einzige  Stadt  genügende  Quellen  vorhanden 
waren,  um  aus  ihnen  ein  klares  Bild  ihrer  ersten  Verfassungs- 
entwicklung zu  gewinnen.  Erst  durch  eine  plötzliche  Erwei- 
terung des  zu  Gebote  stehenden  Quellenstoifs  ist  man  jetzt 
im  Stande,  den  Gang  der  Verfassungsentwicklung  wenigstens 
in  einer  Stadt  von  Anfang  an  überblicken  zu  können.  Diese 
ueuen  Quellen  sind  die  von  Hoeniger  herausgegebenen  Kölner 
Schreinsurkunden,  das  erste  und  bisher  einzige  umfassendere 
Aktenmaterial  bürgerlicher  Provenienz  aus  frühstädtischer  Zeit, 
welches  wir  überhaupt  besitzen.  Nach  ihnen  hat  Hoeniger  in 
seinem  Aufsatz  über  den  „Ursprung  der  Kölner  Stadtverfas- 
sung“ (Westd.  Zeitschr.  II  S.  227  fl.)  einen  Ueberblick  der  dor- 
tigen Entwicklung  gegeben. 

Jedoch  beschränkt  sich  die  Bedeutung  der  Kölner  Schreins- 
karten für  die  deutsche  Rechtsgeschichte  nicht  auf  diese  eine 
Stadt.  Vielmehr  zeigen  sie  und  die  aus  ihnen  für  Köln  ge- 
wonnenen Resultate l)  uns  auch  den  Weg,  den  wir  bei  der  Er- 
forschung der  Verfassungsentwicklung  der  übrigen  Städte  ein- 
schlagen  müssen.  Statt  den  Theorien  zu  folgen,  welche  ohne 
Zugrundelegung  ausreichenden  Quellenmaterials  bürgerlicher 
Provenienz  aufgestellt  wurden , ist  es  sicherlich  weit  ratsamer, 


*)  Nenerdings  ist  Ernst  Kruse  in  seiner  Untersuchung  über  die  Kölner 
Richerzeche  (Ztschr.  d.  Sav.-Stftng.  IX  S.  152 — 209)  zu  Ergebnissen  gekommen, 
welche  die  Darstellung Uoeni ge rs  in  dem  citierten  Aufsatze  z.  T.  ergänzen, 
*.  T.  aber  auch  erheblich  von  ihr  abweichen.  Die  wichtigsten  der  von  mir 
benutzten  Resultate  der  Hoenigerschen  Forschungen  wie  z.  B.  die  Bedeutung 
der  Kirchspiele  oder  die  Verschiebung  der  schöffenbaren  Leute  sind  jedoch  von 
Kruse  gar  nicht  in  Frage  gestellt  worden;  andere  Behauptungen  Hoeniger s 
konnten  trotz  Kruses  Ausstellungen  zu  Analogieschlüssen  benutzt  werden, 
da  sich  hier  Kruses  Darlegungen  bei  genauerer  Prüfung  als  nicht  zu- 
treffend erwiesen.  Vgl.  unten  bes.  S.  55  N.  3,  S.  66  X.  2. 


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X 


da,  wo  eine  Entscheidung  aus  näher  liegenden  Quellen  nicht  zu 
gewinnen  ist,  zu  untersuchen,  ob  die  Verfassungsentwicklung 
nicht  auch  in  anderen  Städten  auf  ähnliche  Weise  wie  in  Köln 
vor  sich  gegangen  ist. 

Freilich  kann  meiner  Ansicht  nach  auch  eine  solche  Unter- 
suchung nur  dann  zu  klaren  und  abschliessenden  Ergebnissen 
kommen,  wenn  die  wichtigeren  Städte  zunächst  einzeln,  oder 
noch  besser  in  mehreren  in  sich  gleichartigen  Gruppen  zusammen- 
gefasst, behandelt  werden.  Allein  so  ist  es  möglich,  das  Quellen- 
material nicht  in  willkürlicher  Auswahl,  sondern  annähernd  er- 
schöpfend zu  benutzen.  Aus  verschiedenen  Gründen  sind  von 
mir  gerade  die  drei  Städte  Worms,  Speier  und  Mainz  gewählt 
worden,  um  zur  Erforschung  der  Gründe  der  Entstehung  städ- 
tischer Gemeinwesen  in  Deutschland  auf  dem  eben  angedeuteten 
Wege  einen  Beitrag  zu  liefern.  Die  Übereinstimmung  in 
der  geographischen  Lage  dieser  drei  Städte,  die  Gleichzeitig- 
keit, mit  der  sie  die  wesentlichen  Etappen  der  städtischen  Ent- 
wicklung erreichen,  und  der  ihnen  unter  sich  und  mit  Köln  ge- 
meinsame fränkische  Rechtsboden  lassen  gerade  diese  Städte  zur 
zusammenfassenden  Behandlung  unter  dem  vorerwähnten  Gesichts- 
punkte vorzugsweise  geeigneterscheinen ; dazu  kommt  noch,  dass 
alle  drei  Orte  als  alte  Römerstädte  und  Bischofssitze  auch  die 
wichtigsten  Ursachen  ihres  wirtschaftlichen  Gedeihens  mit  ein- 
ander gemeinsam  haben. 

Bei  Worms  und  Speier  wurde  die  Arbeit  wesentlich  durch 
die  neuen  von  Boos  und  Hilgard  herausgegebenen  Urkunden- 
bücher dieser  Städte  erleichtert;  bei  Mainz  dadurch,  dass  wir 
über  seine  Entwicklung  eine  der  besten  vor  der  Edition  der 
Kölner  Schreinsurkunden  verfassten  Einzelforschungen,  Hegels 
Mainzer  Verfassungsgeschichte,  besitzen. 

Während,  resp.  nach  Fertigstellung  meiner  Arbeit  widmete 
Konrad  Schaube  der  Ratsentstehung  in  Speier  und  Worms  zwei 
in  der  Zeitschrift  für  Geschichte  des  Oberrheins  publicirte  Auf- 
sätze. Dass  die  Hauptthese  der  ersten  dieser  Schaubeschen 
Abhandlungen,  die  Einsetzung  des  Speierer  Rats  durch  Hein- 
rich VT,  durchaus  nicht  als  bewiesen  gelten  kann,  hoffe  ich 
unten  zu  zeigen.  Auch  der  zweite  ausführlichere  der  Schaube- 
schen Aufsätze,  der  sich  mit  Worms  beschäftigt,  stimmt  gerade  da, 
wo  er  von  den  seit  Arnold  und  Heusler  herrschenden  Ansichten 


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XI 


abweichendes  bringt,  wenig  mit  den  Ergebnissen  meiner  Unter- 
suchungen überein.  Der  Leser  selbst  mag  urteilen,  ob  durch 
diese  Schaubeschen  Publicationen  eine  Behandlung  der  Speierer 
und  Wormser  Verfassungsgeschichte  überflüssig  geworden  ist.1) 

Die  Anregung  zu  dieser  Arbeit  verdanke  ich  den  Vorlesungen 
und  Übungen  Dr.  Hoeniger’s.  Es  sei  mir  gestattet , ihm  dafür 
an  dieser  Stelle  meinen  Dank  auszusprechen. 

Zum  Schlüsse  bemerke  ich  noch,  dass  ich  die  zur  Zeit  der 
Drucklegung  meiner  Arbeit  erschienene  zweite  Abteilung  der 
Deutschen  Rechtsgeschichte  von  Richard  Schröder  nicht 
mehr  habe  benutzen  können.  Es  freut  mich  aber  wahrgenommen 
zu  haben,  dass  meine  Einzclforschung  wenigstens  in  einigen 
hervorragend  wichtigen  Punkten  zu  Ergebnissen  gelangt  ist, 
welche  der  in  jenem  Werke  enthaltenen  trefflichen  allgemeinen 
Darstellung  der  Entwickelung  der  Deutschen  Stadtverfassung 
durchaus  entsprechen. 

')  Was  die  altere  Specialliteratur  über  unsere  Städte  betrifft,  so  bin  ich 
durch  dieselbe  vielfach  gefördert  worden,  glaube  aber  doch,  dass  man  nach 
dem  heutigen  Stande  der  Wissenschaft  in  zahlreichen  wichtigen  Fragen  zu 
anderen  Ergebnissen  als  den  in  den  früheren  Darstellungen  enthaltenen  kommen 
muss.  Aus  dieser  Literatur  sei  zuerst  auf  die  Behandlung  von  Speier  in  dem 
vor  über  50  Jahren  verfassten,  teilweis  noch  heute  beachtenswerten  Werke 
von  Ran  (Regimentsverfassung  von  Speier  1844,  45)  verwiesen.  Worms  ist 
bekanntlich  von  Arnold  vor  über  40  Jahren  in  seinem  für  die  damalige  Zeit 
ganz  ausgezeichneten  Werke,  Verfassungsgeschichte  der  deutschen  Freistädto 
(Hamb.  u.  Gotha  1854),  den  allgemeinen  Erörterungen  zu  Grunde  gelegt  worden. 
Über  Mainz  besitzen  wir  ausser  der  bereits  erwähnten  Hegelschen  Darstellung 
auch  noch  eine  recht  gute,  wenn  auch  nur  kurze,  Besprechung  der  älteren 
Verfassungsverhältnisso  in  K.  G.  Bockeuheimer's  Beiträgen  zur  Geschichte 
der  Stadt  Mainz  (Mainz  1874),  einem  Werke,  das  übrigens  mit  Unrecht  von 
competenter  Seite  ganz  übersehen  zu  sein  scheint,  (cf.  Hegel,  Chroniken 
von  Mainz  Bd.  I S.  VI,  Hoeniger  in  Westd.  Ztschr.  III  S.  58). 


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Inhalts  - Uebersieht. 


Seite. 

Einleitung VII 

Trotz  zahlreicher  Arbeiten  Uber  den  Ursprung  der  Deutschen 
Stadtverfassnng  ist  mau  auf  diesem  Gebiete  doch  noch  nicht  zu 
abschliessenden  Ergebnissen  gelaugt  Förderung  der  Forschung 
namentlich  durch  HenslersundGierkes  Vemiittelnngstheorien  (8.  VIII). 
Hoeuigers  auf  Grand  eines  reichen  bürgerlichen  nicht  geistlichen 
Urkundenmaterials  gewonnener  Ueberblick  Uber  die  Anfänge  der 
Kölner  Stadtentwicklnng  auch  zur  Erkenntnis  der  Verfassuugs- 
eutwicklung  anderer  Städte  von  grossem  Nutzen  (S.  IX).  Absicht 
meiner  Arbeit. 

Capitel  I.  Die  wirtschaftlichen  Grundlagen  der  Stadtentwicklung . . 1 

Die  Grundlagen  ihrer  wirtschaftlichen  Bedeutung  haben  unsere 
drei  Städte  aus  der  Römerzeit  ins  Mittelalter  Übernommen.  Beweis, 
dass  sie  in  der  Völkerwandernngszeit  nicht  völlig  zerstört  sind  (S.  2) 
Günstige  Handelslage  (Land-  nnd  Wasserstrassen)  (S:  6).  Leichte 
Versorgung  mit  den  notwendigen  Lebensmitteln  in  Folge  der 
Fruchtbarkeit  ihrer  Umgebung  (S.  9).  Wichtiger  als  das  Bestehen 
einer  ITalz,  welche  vor  den  Saliern  nnr  in  Worms  bezeugt  ist, 
ist  für  unsere  Städte  ihre  Eigenschaft  als  Bischofssitze  gewesen 
(8.  10).  Zeichen  von  agrarischer  Thätigkeit  in  unseren  Städten 
zur  Karoliugerzeit  (S.  II).  Gewerbe  nnd  Haudel  in  nnsereu  Städten 
(S.  12).  Speier  hat  sich  später  als  Worms  nnd  Mainz  entwickelt; 
sein  Aufblühen  ist  entschieden  vor  altem  der  Begünstigung  seines 
Bistums  durch  die  Salier  zuznschreibeu  (8.  12). 

Capitel  II.  Entstehung  des  Kaufmannsrechts 15 

Seit  dem  elften  Jahrhundert  Spuren  einer  besonderen  Kcchts- 
eutwicklnng  in  den  Städten,  allerdings  vielfach  nur  an  dem  Wider- 
stande, den  sie  findet,  erkenntlich  (S.  15).  Gesetz  Bischof  Burchnrds 
von  Worms  (tit.  19)  sucht  die  in  Übnng  gekommene  Ersetzung  des 
gerichtlichen  Zweikampfes  durch  Farteieid  zu  verhindern  (S.  17). 

Tit.  20  lässt  in  der  Stadt  bei  nicht  sofortiger  Zahlung  von  Geld- 
strafen Bürgschaftsbestelluug  in  Fällen  zn,  in  denen  auf  dem  Lande 
sofort  die  Strafe  an  Haut  und  Haar  eintrat  (S.  20).  Anfänge  spe- 


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XIV 


cifisch  städtischen  Rechts  im  Strafrecht  und  IinmobiiiRrsachenrecht 
(S.  22). 

Capitel  III.  Oie  Einwohnerstände  in  Worms,  Speier  und  Mainz.  Aus- 
bildung eines  Standes  von  Grosskaufleuten 26 

Bisherige  Ansichten  (S.  26).  Altfreie  in  allen  drei  Städten  nach- 
weisbar, aber  ohne  Einfluss  und,  abgesehen  von  der  freien  Verfügung 
über  ihr  Grundeigentum,  ohne  besondere  Vorrechte  (S.  28).  Im  all- 
gemeinen bewirkt  Empfang  bischöflichen  Grundbesitzes  zur  Erbleihe 
auch  Zurechnung  zur  bischöflichen  familia  (S.  84).  Die  familia  zer- 
fällt in  die  Oensualeu,  im  Gesetze  Burchards  fiscalini  genannt,  und 
die  Dagowarden  (S.  37).  Die  Unterscheidung  rührt  aus  dem  Gegen- 
satz von  Freien  und  Unfreien  im  karolingischen  Zeitalter  her,  hat 
aber  schon  zu  Burchards  Zeit  relativ  geringe  Bedeutung  und  ver- 
schwindet später  ganz  (S.  39).  Aufkommen  besonderer  Rechtssätze 
für  die  bischöflichen  servientes,  aus  denen  die  Ministerialen  hervor- 
gehen (S.  42).  Neue  Standesgliederung  nach  Beschäftigung  und 
Capital  besitz.  Entstehung  eines  besonderen  Kanfmannstandes. 

(S.  50). 

Capitel  IV.  Wachsender  Einfluss  des  Kaufmannstandes 53 

Den  Kaufleuteu  fällt  ein  langsam,  aber  stetig  zunehmender 
Einfluss  auf  Rechtssprechung,  Rechtsbildung,  Verwaltung  und  Po- 
litik zu: 

1)  durch  besondere  genossenschaftliche  Organisation  und  Er- 
langung öffentlicher  Rechte  für  dieselbe.  Existenz  einer  Kaufmanns- 
genossenschaft mit  selbständiger  Gerichtsbarkeit  für  Mainz  nament- 
lich durch  Urkunde  für  den  Harkt  zu  Allensbach  1075,  für  Worms 
durch  Urkunde  für  dortige  Fischhändlcrinnung  ca.  1106  nachweisbar 
(S.  53).  Ausläufer  der  Kaufmannsgeuossenschaften  in  unseren 
Städten  (S.  60). 

2)  durch  Zuziehung  zum  Rate  des  Bischofs  und  Erlangung 
bischöflicher  Aeiuter,  besonders  der  des  Zolleinnehmers  und  Münzers 
(S.  69).  Einholung  des  Konsenses  der  Mitglieder  der  Kaufmanns- 
genossenschaft wie  später  des  Rates  bei  bischöflichen  Regierungs- 
handlungen (S.  72). 

3)  durch  Besetzung  der  Schüffeustühle.  Schöffeucollegien  in 
Worms  und  Mainz,  höchst  wahrscheinlich  auch  in  Speier  (S.  73). 
Ergänzung  der  durch  Tod  entstehenden  Lücken  im  Schöffencolleg 
durch  Kooptation  (S.  74).  Besetzung  der  Schöffenstühle  mit  Kauf- 
lcuten  (S.  75). 

Capitel  V.  Die  Specialgemelnden 78 

Litteratur  der  Specialgomeinden  (S.  78).  Die  Aufgabe  (S.  81). 
Nachrichten  Uber  die  Wormser  Specialgemeinden  im  10.  und  11.  Jahr- 
hundert (S.  82).  Ueberblick  über  die  Zendereien  oder  Heimschaften 
auf  dem  Lande  im  Anschluss  an  Lamprechts  Forschungen  (S.  85). 
Ueberblick  über  die  Entstehung  der  ländlichen  und  städtischen 
Kirchspiele  nnd  ihren  Zusammenhang  mit  den  Ueimschaften  (S.  87). 


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XV 


Seit«. 

Hereinziehung  früher  ländlicher  Gemeinden  in  die  Stadtummanerung 
und  in  die  städtische  Verwaltung  in  Worms,  Speier  und  Mainz  (S.  90). 

Mainz.  Uebersicht  der  Specialgemeinden  nach  den  Stadtrech- 
nungen von  1410  und  1411  (S.  93).  Wahrscheinliches  Bestehen  der 
Mainzer  Specialgemeinden  schon  im  neunten  Jahrhundert  (S.  97).  Be- 
teiligung derselben  an  der  kirchlichen  Vermögensverwaltung  (S.  98) ; 
Einfluss  des  Bischofs  auf  Besetzung  des  Meimbnrgenamtes  (S.  99). 

Die  Heimburgen  als  Seudgcschworene  (S.  101).  Dennoch  die  kirch- 
liche Thätigkeit  nicht  die  wichtigste  Function  der  Mainzer  Special- 
gemeinden. Namentlich  sind  finanzielle  und  gewerbliche  Funktionen 
nachzuweisen  (S.  103).  Ergebnisse  (S.  104). 

Worms.  Im  11.  Jahrh.  4 Pfarrkirchen,  mit  Ausnahme' von 
St  Johannes  die  späteren  Stiftskirchen  (S.  104).  Im  14.  Jahrh.  8 
Pfarrkirchen,  von  diesen  4 in  den  Vorstädten;  die  Bezirke  der 
anderen  4 entsprechen  den  alten  Pfarrbezirken,  während  auch  noch 
bei  jedem  der  vorstädtischen  Pfarrbczirke  ein  besonderer  Zusammen- 
hang mit  einer  der  4 Pfarreien  in  der  Stadt  nachzuweisen  ist  (S. 

103).  Qnellenkritiscbe  Untersuchung  der  Beschreibung  der  Wormser 
städtischen  Aemtor ; Widerspruch  gegen  die  von  Köster  darüber  ge- 
äusserten  Ansichten  (S.  111).  Besprechung  der  in  der  genannten 
Quelle  und  in  dem  angeblichen  Privileg  Heinrichs  VI  vorkommendeu 
Nachrichten  über  die  Heiinburgen  (S.  114).  Spätere  Nachrichten 
(S.  120).  Der  im  lä.  Jahrh.  die  Stadt  als  Syndicus  vor  auswärtigen 
Gerichten  vertretende  Heimburge  hat  mit  den  alten  Wormser  Heim- 
burgen nichts  zu  thnn.  Hier  sind  Amt  und  Titel  von  auswärts 
recipiert  (S.  123).  Ergebnisse  (8.  124). 

Speier.  Hier  über  den  Heimbnrgen  nur  Nachrichten  seit  dem 
14.  Jahrh. ; doch  sind  in  denselben  noch  Überbleibsel  der  alten  Heim- 
bnrgenfunktioneu  deutlich  wahrnehmbar  (S.  115).  Die  Behörde  der 
,12  Geschworenen  zu  der  Gottes  Ehe“  (S.  131).  In  Speier  12  Pfar- 
reien (S.  133).  Ergebnisse  (8.  136). 

Gesammtergebnisse:  1)  Die  Specialgemeinden  ans  den 

alten  Markverbänden  entstanden,  der  Ausbildung  der  Ratavertässung 
vorhergehend  (S.  136).  2)  Die  Specialgemeinden  mit  wenigen  Aus- 
nahmen in  unserer  Überlieferung  nur  nach  den  Pfarrkirchen  genannt. 

In  Mainz  uud  Worms  jedenfalls,  in  Speier  höchst  wahrscheinlich  Zu- 
sammenfallen von  Pfarrbezirken  und  Specialgemeinden;  jedoch  die 
kirchlichen  Funktionen  der  letzteren  weder  die  ursprünglichen  noch 
die  hauptsächlichen.  3)  Die  Funktionen  der  Specialgemeinden.  4)  Das 
Verhältnis  der  Specialgemeinden  zu  den  Geburts-  und  Berufsständen 
(S.  137). 

Capltel  VI.  Bischöflicher  und  kSniglicher  Einfluss  In  den  Städten  bis 
zur  Zeit  Heinrichs  IV.  Die  Beamten 139 

Allgemeine  Gründe  des  Sieges  der  Bischöfe  Uber  den  Laienadel 
in  den  Bischofsstädten  und  anftretende  Gegentendenzcu  (S.  139).  ln 
Speier  tritt  Konrad  der  Rote  946  seine  sämmtlichen  Rechte  in  der 
Stadt  an  den  Bischof  ab  (S.  143);  indirekte  Bestätigung  dieses  Ver- 


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XVI 


tragen  durch  Otto  I 969  (8.  14ä).  Übertragung  gräflicher  Rechte 
und  Besitzungen  in  Worms  an  das  Bistum  bes.  979  und  1009  (S.  146). 
Übergang  der  ärafschaftsrechte  in  Mainz  an  den  dortigen  Erz- 
bischof (8.  161). 

Kein  Ausscheiden  der  Stadt  ans  dem,  Stadt  und  Land  gemeinsam 
umfassenden,  Jurisdictionsbezirke  in  Folge  des  Überganges  der  Grafen- 
rechte. Dies  geht  aus  der  Betrachtung  der  Beamtungen,  bes.  des  Burg- 
grafenamtes in  unseren  Städten  hervor.  Bisherige  Litteratur  über 
dasselbe  (S.  162). 

Worms.  Seit  1014  und  1016  ein  Graf  (Burggraf,  comes  civitatis) 
der  jetzt  formell  vom  Bischof  abhängig,  dennoch  aber  vielfach 
in  Streitigkeiten  mit  ihm  ist  (S.  166).  Identität  von  Vogt  und 
Burggraf  in  Worms  (8.  168).  Geographische  Bestimmung  des  zur 
Wormser  Burggrafschaft  gehörigen  Landgebietes  (S.  159).  Funk- 
tionen des  Wormser  Burggrafen  (S.  163).  Geschichte  des  Wormser 
Burggrafeuamtes  (8.  166).  Der  Greve  (S.  167). 

Die  Funktionen  des  alten  fränkischen  Centenars  und  des  villicns 
vereint  in  Worms  der  Vitztum  (S.  170).  Das  Amt  des  Kämmerers 
(S.  173).  Der  geistliche  Kämmerer  hat  dadurch,  den  Vorsitz  im 
Schöffengerichte  erhalten,  dass  er  in  Folge  der  ihm  zustehenden 
Propsteiwürde  die  Sendgerichte  abhielt,  bei  diesen  aber  die  Schöffen 
des  weltlichen  Gerichtes  als  Urteilsünder  zngezogen  wurden  (S.  176). 
Erblichkeit  des  ministerialischen  Kämmereramtes  (8.  178). 

Spei  er.  Identität  des  Burggrafen  und  Vogts  daselbst  bis 
1180  (S.  180);  von  da  an  verschwindet  der  Titel  Burggraf,  als  Vogt 
fungiert  ein  Hinisterial  (S.  182).  Auch  in  Speier  das  Amtsgebiet 
des  Vogt-Burggrafen  Uber  die  Stadt  hinansreicheud  (8.  183).  Hier 
auch  der  städtische  Schultheiss  zugleich  in  ländlichem  Gebiet  als 
Richter  thätig  (S.  184).  Ideutität  von  Schultheiss  und  Tribun,  dieser 
Beamte  vereint  die  Funktionen  des  alten  fränkischen  Centenars 
und  des  villicns  (8.  186).  Der  geistliche,  der  ministerialische  und 
der  bürgerliche  Kämmerer  in  Speier  (S.  188). 

Mainz.  Identität  des  Burggrafen  und  Vogts  (S.  190.)  Das 
Amtsgekiet  des  Vogt-Bnrggrafen;  seine  Funktionen  (S.  191).  Der 
Schultheiss,  auch  Tribun,  ceuturio,  villicns  genannt,  vereint  die 
Funktionen  des  Centenars  und  bischöflichen  villicus  (S.  192).  Die 
Kämmerer  (8.  192).  Der  Waltpod  (8.  195). 

Der  Zusammenhang  des  Königtums  mit  den  Vogt-Burggrafen, 
welcher  auch  in  nnsoren  Städten  uachgewiesen  werden  kann,  ist 
nicht  auf  Rechnung  der  königlichen  Baunleihe  zu  setzen  (8. 1%);  viel- 
mehr ist  er  so  zu  erklären,  dass  bis  zur  Zeit  Heiurichs  IV  unter 
kräftigen  Herrschern  noch  der  Wille  des  Königs  für  die  Beamten 
der  Fürsten  und  für  alle  anderen  von  ihnen  abhängigen  Personen 
in  erster  Linie  massgebend  war  (S.  200).  Dem  Königtum  lag  noch 
der  Schutz  aller  Reichsangehörigen  in  ihren  Rechten  ob  (S.  201). 
Beziehungen  der  Könige  zu  den  Kaufleuten  unserer  Städte  vor 
Heinrich  IV  (S.  202). 


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XVTI 


Capltei  Vil.  Das  Eingreifen  der  mlttelrbeinieehen  Städte  In  die  poli- 
tischen Verhältnisee  bin  zur  Zeit  Lothare 

Zur  Zeit  Heinrichs  III  die  Städter  zum  ersten  Male  nachweis- 
lich als  besondere  Bevölkerungsclasse  betrachtet  (S.  203).  Die  Vor- 
gänge in  Worms  Dezember  1073  und  Heinrichs  IV  Privileg  1074 
Jan.  18  lassen  die  Bürgerschaft  schon  organisiert  und  von  Handelsinter- 
essen erf  (Ult  erscheinen  (S.  205).  Der  Mainzer  Aufstand  von  1077  gegen 
Rudolf  von  Schwaben  (S.  207);  bei  den  Friedensverhandlnngen  tritt 
daselbst  eine  Behörde  der  Bürger  hervor  (S.  211).  Bei  den  Juden- 
verfolgungen 1096  in  Mainz  und  besonders  in  Worms  ist  ein  Ein- 
greifen städtischer  Behörden  wahrznnehmen  (S.  216).  Teilnahme 
der  Städte  an  dem  Kampfe  zwischen  Heinrich  IV  und  V (S.  217). 
Das  Privileg  des  letzteren  für  Speier  1111  (S.  222).  Erhebung  der 
Wormser  gegen  Heinrich  V 1111  (S.  227).  Privilegien  desselben  für 
Worms  1112  nnd  1114  (S.  229).  Aufstand  der  Mainzer  zu  Gunsten 
Erzbischof  Adalberts  1115  (S.  230).  Kampf  zwischen  Adalbert  nnd 
Heinrich  V,  in  welchem  beide  die  Städte  für  sich  zu  gewinnen 
suchen  (S.  232).  Adalberts  Privileg  für  Mainz  1118  (S.  235).  Auf- 
stand in  Worms  gegen  Heinrich  V 1124  (S.  237).  Unsere  Städte 
unter  Lothar  (S.  238).  Überblick  über  das  politische  Verhalten  der 
Städte  (S.  239).  Gründe  ihres  Eintretens  für  das  salisch-staufische 
Kaiserhaus  (S.  240). 

Capltei  VIII.  Die  Entstehung  des  Rates 

Existenz  einer  die  Bürgerschaft  repräsentierenden  und  regieren- 
den Behörde  (S.  244).  Nachweis,  dass  dieselbe  mit  dem  Schöffen- 
colleg,  dessen  Befugnisse  im  Lanfe  der  Zeit  bedeutend  erweitert 
sind,  identisch  ist  (S.  245) : Funktionen  dieser  Behörde  (indices  civici, 
cives)  als  Bürgergericht  (S.  246).  Ihr  steht  auch  die  Erhebung 
der  städtischen  Steuern  zu,  von  welchen  derselbe  Teil  der  kirchlichen 
servientes  befreit  ist,  der  auch  in  bestimmten  Fällen  von  der  Juris- 
diction des  Stadtgerichts  eximiert  ist  (S.  248).  Dies  Schöffencolleg 
führt  auch  das  Stadtsiegel  (S.  253);  es  repräsentiert  ferner  dem 
Könige  wie  dem  Stadtherren  gegenüber  die  Bürgerschaft  (S.  254). 

Demnach  zur  Zeit  des  ersten  Vorkommens  des  Ratsnamens  keine 
Verfassungsverändernng ; das  ganz  allmählich  in  den  Besitz  er- 
weiterter Competenzen  gelangte  Schöffencolleg  wird  in  der  ersteu 
Hälfte  des  13.  Jahrhunderts  Bat  genannt  (S.  256).  Keine  plötzliche 
Ratseinsetzung  durch  König,  Stadtherren  oder  Bürgerschaft.  Dies 
wird  der  vielen  entgegenstehenden  Ansichten  wegen  noch  näher  be- 
gründet (S.  257). 

Worms.  Versuch  Schaubes,  die  Echtheit  des  Privilegs  von 
1156  zu  erweisen  (8.  257).  Beweis  der  Unechtbeit  dieser  Urkunde 
(S.  257).  Die  hier  erwähnten  iudices  sind  einerseits  die  in  den  Be- 
sitz erweiterter  Befugnisse  gekommenen  Schöffen,  andrerseits  aber 
auch  das  Ratscolleg  (8.  268).  Das  falsche  Privileg  ist  in  ihrem 
Interesse  nnd  zwar  zwischen  Ende  Juni  und  Ende  November  1208 
Koehne  Ursprung  der  Stadtverfassnng  in  Worms,  Speier  und  Mains. 


Seite. 

203 


244 


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xvm 


Satt« 

angefertigt.  Auch  die  angebliche  Urkunde  Heinrichs  VI  für  Worms 
ist  eine  Fälschung  (S.  272).  Der  Ansdruck  consoles  seit  1220  be- 
zeugt, ebenso  Bürgermeister  (S.  275). 

Speier.  Im  Privileg  Philipps  von  Schwaben  ist  als  Begründer 
des  Speierer  Rats  Heinrich  V,  nicht  Heinrich  VI  gemeint  (S.  276). 
Heinrich  V hat  büchst  wahrscheinlich  die  Competenzen  dieses 
Schöffencoltegs  vermehrt  (S.  278);  bereits  unter  Friedrich  I reprä- 
sentiert es  sicher  die  Stadt  (S.  281). 

Mainz.  Der  Aufstand  gegen  Erzbischof  Arnold  hängt  mit  den 
Freiheitsbestrebungen  der  Bürgerschaft  zusammen  (S.  282).  Bis- 
herige Ansichten  über  Mainzer  Stadtbehördeu  (8.  290).  In  Mainz 
wurden  die  Schüffeu  ausser  als  indices  auch  als  erzbischöfliche  Amts- 
leute (officiales  oder  offlciati)  bezeichnet  (S.  292) ; 1219  sind  sie  zum 
ersten  Male  nachweislich  consiliarii,  1244  consules  genannt  (3.  294). 

Ergebnisse  (S.  296).  Die  Herkunft  der  Namen  consules  und 
consiliarii  (3.  297). 

Capltel  IX.  Die  Entwicklung  unterer  Städte  zu  halbsouverinen  Staats- 
gebllden 300 

Wirtschaftliche  Fortschritte  im  13.  Jahrhundert  (3.  301).  Neue 
sociale  Classeubildung  (3.  302).  Rechtsänderungen  (3.  303).  Der 
Rat  als  gesetzgebendes  und  verwaltendes  Organ  der  Bürgerschaft 
(8.  306). 

Er  erhält  die  Aufsicht  über  Allmende.  Sorge  des  Rates  auch 
für  die  geistlichen  Bedürfnisse  der  Bürgerschaft  (S.  307). 

Gemeinsames  Vorgehen  der  Bischöfe  gegen  die  städtische  Auto- 
nomie zur  Zeit  Friedrichs  II  (3. 309).  Streit  zwischen  Bischof  Heinrich 
und  der  Bürgerschaft  von  Worms  und  Ausgleich  1230  (3.  312). 
Städtefeindliche  Gesetze  Küuig  Heinrichs  und  Friedrichs  II  (3.  315). 

Neue  Zwistigkeiten  in  Worms  zwischen  Bischof  und  Bürgerschaft 
(3.  320).  Beilegung  durch  beiderseitige  Concessionen , aber  zum 
Nachteil  der  Stadt  Jedoch  bleibt  der  Wormser  Rat  noch  selbständig 
genug,  um  eine  derjenigen  seiues  Stadtherrn  entgegengesetzte  Politik 
im  8treite  Friedrichs  II  mit  seinem  Sohne  Heinrich  einzunehmen. 

(8.  331).  Regierung  Marquards  von  Sneitde  (S.  331).  Landolf  vom 
Kaiser  begnadigt,  hält  sich  in  Worms  durch  Anschluss  an  die  stau- 
fische  Partei  (3.  333).  Seit  1247  die  Stadt  thatsächlich  ganz  unab- 
hängig (3.  341);  Wiederherstellung  eines  Teils  der  bischöflichen 
Rechte  in  Worms  durch  Bischof  Konrad  von  Daun  (3.  341).  Das 
Mainzer  Privileg  von  1244  (3.  342).  Bischöfliche  und  städtische 
Rechte  in  Speier  im  dreizehnten  Jahrhundert  (S.  345). 

Territorialerwerb  seitens  unserer  Städte  (3.  367).  Rheinischer 
Bund  (8.  348). 

Capltel  X.  Ergebnisse 349 

Woran,  Speier  und  Mainz  gehören  zn  den  bei  Erforschung  des 
Ursprungs  der  Stadtverfassung  in  Deutschland  ganz  besonders  zu 
berücksichtigenden  Orten  (3.  349).  Bei  dieser  Untersuchung  ist 


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XIX 


darin  durchaus  Gierke  zu  folgen,  dass  nicht  ein  einzelnes  Moment 
für  die  alleinige  Ursache  der  Stadtverfassung  zu  erklären  ist,  und 
dass  vielmehr  die  Aufgabe  der  Forschung  darin  liegt,  die  verschie- 
denen vielfach  zu  einseitig  betonten  Momente  in  die  richtige 
Stellung  zur  Gesammtentwickelung  zu  bringen  (S.  350). 

I.  Ältere  Verfassungsinstitutionen,  an  welche  sich  die  ersten 
specifisch  städtischen  Einrichtungen  anlehnten.  An  solche  des 

römischen  Rechts  ist  nicht  zu  denken  (S.  350).  Nur  darf  nicht 
Qbersehen  werden , dass  gerade  die  mittelrheiniscbeu  Städte  die 
Grundlagen  ihrer  wirtschaftlichen  Entwicklung  der  Rümerzeit 
verdanken.  Der  Name  consules  ist  auf  Reminiscenzen  aus  dem 
klassischen  Altertum  znrttckzuführen  (S.  351).  Von  Instituten  des 
deutschen  Rechts  ist  die  Teilnahme  der  Gerichtsgemeinde  und  der 
Schöffen  an  der  Jurisdiction  von  besonderer  Wichtigkeit.  In  Worms, 
Speier  und  Mainz  ist  der  Rat  aus  dem  Schöffencolleg  entstanden; 
jedoch  kein  Zusammenfällen  des  Stadtbezirks  mit  einem  der  frü- 
heren Jnrisdictionsbezirke.  Auch  erringt  nicht  etwa  eine  altfreie 
Gemeinde  die  städtische  Autonomie  (S.  351—53).  Hofrecht  nur 
insofern  von  Bedeutung,  als  einige  hofrechtliche  Beamtungen  an 
Kaufleute  übergehen  und  in  städtischem,  nicht  in  bischöflichem 
Interesse  verwaltet  werden ; ausserdem  hat  der  den  Leibeigenen 
gewährte  Rechtsschutz  die  spätere  Verschmelzung  derselben  mit  den 
hoher  stehenden  BevOlkerungsclassen  gefördert.  Für  den  Aus- 
gleich der  alten  Standesunterschiede  auch  wichtig,  dass  die  Öffent- 
lich-rechtlichen Beamtnngen  und  diejenigen  des  bischöflichen  Hof- 
rechts in  dieselbe  Hand  kamen.  Die  Mainzer  Offlcialen  (S.  353,  54). 

Entstehung  der  Stadtverfassnng  aus  Markverfassung,  des  städ- 
tischen Rates  aus  einer  Markbehörde  entschieden  für  Worms,  Mainz 
und  Speier  abzulehnen,  dagegen  Verwaltung  innerhalb  der  einzelnen 
Specialgemeiudcu  (Kirchspiele)  wichtig  für  die  Erhöhung  des  kauf- 
männischen Einflusses;  ebenso  die  Beteiligung  der  Laien  an  der 
Kirchspielverwaltnng  und  am  Sendgericht  (S.  354,  56).  Ähnlich 
auch  Bedeutung  der  Kanfmannsgcnossenschaften  und  der  Zuziehung 
von  Kaufleuten  bei  Beratung  bischöflicher  Angelegenheiten  in  Bezug 
auf  Ursprung  der  Stadtverfassung  (S.  356). 

Der  Bat  ist  in  Worms,  Mainz  und  Speier  dadurch  entstanden, 
dass  das  Schöffencolleg  zu  einer  die  Stadt  verwaltenden  und  reprä- 
sentierenden Behörde  mit  wachsender  Selbständigkeit  wurde;  diese 
Behörde  erhielt  in  unseren  Städten  seit  der  Wende  des  12.  und 
13.  Jahrhunderts  den  Namen  „Rat*  (S.  356). 

H.  Die  wirklichen  Ursachen  der  Ausbildung  städtischer  Auto- 
nomie. Die  Ottonischen  Privilegien  haben  nur  ganz  mittelbar  Ein- 
fluss geübt;  mehr  jedenfalls  die  Kämpfe  zwischen  Königtum  und 
Fürstentum  (S.  357).  Entscheidende  Gründe  der  Ausbildung  freier 
Stadtverfassungen:  Finanzielle  und  militärische  Kraft  der  Städte 
and  die  eigenartigen  Rechtsanschauungen  und  Interessen  der  in  der 
Bürgerschaft  massgebenden  kaufmännischen  Kreise  (S.  358). 


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XX 


Anhänge  • Seit«. 

Anhang  I.  Die  Arbeiten  von  Below's  zur  Geschichte  der  Deutschen 

Stadtverfassung  360 

Einleitung  (S.  360).  Klarstellung  der  Methode  von  Below'B  durch 
Besprechung  seiner  Ausfiihrnugen  über  Freiheit  und  Unfreiheit 
der  städtischen  Bevülkerung  (S.  363  ff.) ; ferner  durch  Besprechung 
seines  angeblichen  Nachweises,  dass  die  Ordnung  von  Maas  und 
Gewicht  den  Bauerschaften  zugestanden,  und  seiner  Polemik 
gegen  Schmoller  über  die  Herkunft  des  städtischen  Gewerbe- 
rcchts  (S.  369).  Below's  Polemik  gegen  die  Ansicht,  dass  die 
Gilden  schon  vor  Entstehung  der  Batsverfassung  ezistirt  haben, 
beruht  zum  grossen  Teil  auf  Unkenntnis  der  einschlägigen  Littera- 
tur  (S.  373).  Daneben  Hauptfehler  seiner  Arbeiten,  dass  für  Fragen 
der  Entstehung  der  Stadtverfassung  erst  spät  zur  Entwickelung 
gekommene  Flecken  und  Städtchen  herangezogen  werden  (S.  376). 

Am  meisten  zu  tadeln  ist  jedoch  die  unrichtige  Wiedergabe  der 
Behauptungen  früherer  Forscher,  sowohl  wo  v.  B.  sie  als  Beweis- 
material anführt,  als  wo  er  gegen  sie  polemisiert  (S.  377).  B.’s 
Polemik  gegen  Behauptungen  einer  „herrschenden  Meinung“,  die 
von  keinem  Forscher  vertreten  werden  (S.  382) ; Nachweis  von  nach 
Below’s  Ansicht  übersehenen , in  der  That  aber  schon  recht  oft 
berücksichtigten  Gesichtspunkten  (S.  383).  Below’s  Urteile  über 
die  frühere  Forschung  und  seine  eigenen  Verdienste  (S.  38ö).  Zu- 


sammenfassung (S.  387). 

Anhang  II.  Das  Gesetz  Bischof  Burchards  von  Worms  389 

Benennung  (8.  389),  Datierung  (S.  392). 

Anhang  III.  Die  Datierung  der  Wormser  Maiierbanordnnng  ....  395 
Anhang  IV.  Zum  Gerichtsstand  der  städtischen  Immobilien  ....  398 


Bisherige  Ansichten  (S.  398).  Hoenigers  Behauptung,  dass  sich  die 
eigentümlich  städtischen  Bechtsformen  im  Grundbesitz  an  einzelnen 
Orten  schon  entwickelt  hatten,  als  ebendaselbst  der  geistliche  Grund- 
besitz noch  zu  hofrechtlichen  Abgaben  verpflichtet  war,  findet-  in 
gewisser  Weise  in  Worms  Bestätigung  (S.  400).  Jedoch  kein  be- 
sonderer Gerichtsstand  für  geistlichen  Grundbesitz  fS.  401).  Die 
Vornahme  von  ßechtsgeschäften  vor  dem  Official  ist  nicht  dadurch 
zu  erklären,  dass  dieser  Beamte  „mit  der  geistlichen  auch  die 
gmndherrliche  Gerichtsbarkeit  des  Bischofs“  geübt,  sondern  da- 
durch, dass  die  Contrahenten  ein  genügend  beglaubigtes  Docnment 
über  den  Vertragsabschluss  haben  wollten  (S.  402). 

Anhang  V.  Die  Urkunden  KSnig  Heinrichs  für  Worms  vom  August  1232  . 406 
Bisherige  Litteratur  (S.  406).  Der  scheinbare  Widerspruch  der 
Urkunde  K5nig  Heinrichs  vom  4.  August  1232  gegen  diejenigen 
vom  3.  und  8.  August  1232  erledigt  sich  dadurch,  dass  die  Ur- 
kunde vom  4.  als  ein  blosser,  von  den  Fürsten  herrührender,  Ur- 
kundenentwurf, nicht  als  eine  wirkliche  Urkunde  anzusehen  ist  (S.  416). 


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XXI 


Beilage. 

Die  Eintragungen  In  die  Mainzer  Stadtrechnungen  Uber  die  Einnahmen 
aat  der  Schatznng  In  den  Jahren  1410,  1411 420 


Verzeichnis  der  abgekürzt  oltlerten  Bücher XXII 

Register  425 

Verzeichnis  der  ausführlich  besprochenen  Urkunden 427 

Berichtigungen. 

S.  % Z.  27  lies  1411  statt  1410. 

S.  267  Note  Z.  4 lies  192  statt  190. 

S.  317  Note  4 lies  284  statt  84, 


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Verzeichnis  der  abgekürzt  citierten  Bücher. 


Arnold,  Verfassungsgeschichte  der  Deutschen  Freistädte  2 Bde.  Hamb,  und 
Gotha  1864. 

Arnold,  Zur  Geschichte  des  Eigentums  in  den  Deutschen  Städten.  Basel  1861. 
Baur,  Hessische  Urkunden  Bd.  1—6.  Dannstadt  1860  ff. 
von  Below,  Die  Entstehung  der  Deutschen  Stadtgemeinde.  Düsseldorf  1889. 
Beyer,  Urkundenbuch  zur  Geschichte  der  mittelrheinischen  Territorien  Bd. 
I— III.  Coblenz  1860—74. 

Bockenheimer,  Beiträge  zur  Geschichte  der  Stadt  Mainz.  Mainz  1874. 
Boehmer,  Fontes  rerom  Germanicarnm  4 t.  Stuttg.  1843—1868. 
Boehmer-Ficker,  die  Regesten  des  Kaiserreichs  1 198—1272.  2 Bde.  Innsbr. 
1881,  82. 

Boehmer-Hühlbacher,  Die  Regesten  des  Kaiserreichs  unter  den  Karo- 
lingern. Innsbr.  1889. 

Boehmer-Will,  Regesten  zur  Geschichte  der  Mainzer  Erzbischöfe.  Innsbr. 
1877  ff. 

Boos,  Urkundenbuch  der  Stadt  Worms  Bd.  I.  Berlin  1886. 

B resslau,  Diplomata  centum.  Berolini  1872. 

B ress  lau,  Jahrbücher  des  Deutschen  Reichs  unter  Konrad  II.  2 Bd.  Leipzig 
1879,  1884. 

Bresslau,  Handbuch  der  Urkundenlehre  Bd.  I.  Leipzig  1889. 

Brunner,  Deutsche  Rechtsgeschichte  Bd.  I.  Leipzig  1887. 

Dilmmler,  Kaiser  Otto  der  Grosse.  Leipzig  1876. 

E he  b e rg , Über  das  ältere  Deutsche  Münzwesen  und  die  Hausgenossenschaften. 
Leipz.  1879. 

Forschungen  zur  Deutschen  Geschichte.  1 — 26.  Göttingen  1862 — 86. 
Gengier,  Das  Hofrecht  des  Bischofs  Burchard  von  Worms.  Erlangen  1869. 
Gen  gier,  Deutsche  Stadtrechte  des  Mittelalters.  Erlangen  1862. 

G frö rer,  Papst  Gregorius  VII  und  sein  Zeitalter.  Bd.  I— VII.  Schaffhausen 
1869-61. 

Gfrörer,  Franz,  Verfassungsgeschichte  von  Regensburg.  Stadtamhof  1882. 
Gierke,  Das  Deutsche  Genossenschaftsrecht  1 — 3.  Berlin  1868 — 1881. 
Giesebrecht,  Geschichte  der  Deutschen  Kaiserzeit.  Bd.  I — V 6.  Aufl.  1881. 
Grimm,  Deutsche  Rechtsalterthümer.  3.  Aufl.  Göttingen  1881. 


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xxm 


Orimm,  Weiatümer.  Bd.  I— VII.  Göttingen  1840—1878. 

Gaden us,  Codex,  diplom.  anecdotorom  ree  Moguntinas  illustrantinm,  i I— V. 

Gott.  1743,  Francof.  et  Lips.  1747 — 68. 

Hegel,  Die  Chroniken  der  Deutschen  Städte  Bd.  I— XVIII.  Leipzig  1862  ff. 
Hensler,  Verfassungsgescbichte  der  Stadt  Basel.  Basel  1860. 

Heusler,  Der  Ursprung  der  Deutschen  Stadtverfassung.  Weimar  1872. 
Hensler,  Institutionen  des  deutschen  Privatrechts • 2 Bde.  Leipzig  1885, 
1886. 

Hilgard,  Urkunden  zur  Geschichte  der  Stadt  Speier.  Strassburg  1885. 
Hinschius,  Das  Kirchenrecht  der  Katholiken  und  Protestanten  Bd.  I— IV. 
Berlin  1869—88. 

Hirsch,  Jahrbücher  des  Deutschen  Reichs  unter  Heinrich  II,  vollendet  von 
Pabst  und  Bresslau  3 Bde.  Leipzig  1862—75. 

Höhlbaum,  Hansisches  Urkundenbuch.  Bd.  I— III.  Halle  1876—86. 
Huillard-Brtholles,  Historia diplomat.  Friderici II.  6 Bde.  Paris  1852— 61. 
v.  Inama-Sternegg,  Deutsche  Wirtschaftsgeschichte.  Bd.  I.  Leipzig  1879. 
Ja  ff  6,  Bibliotheca  Berum  Germanicarum  t.  I— VL  Berolini  1864—1873  (L 
III  Honumenta  Moguntina). 

Joannis,  Berum  Hogundacarum  libri.  3 t.  Francof.  1722— 27. 

Köster,  Die  Wormser  Annalen.  Leipzig  1887. 

Kruse,  Verfassungsgeschichte  der  Stadt  Strassburg  in  Westdeutsche  Zeit- 
schrift Ergänzen  gsheft  I (Trier  1884). 

Lamprecht,  Deutsches  Wirtechattsieben  im  Mittelalter.  3 Teile  in  4 Bden. 
Leipzig  1886. 

Lehmann,  Chronica  der  Reichs  Stadt  Speier.  Vierte  Edition  durchsehen, 
verbessert  und  vermehrt  durch  Johann  Melchior  Fuchs.  Franck- 
furth  1711. 

Liebe,  Die  kommunale  Bedeutung  der  Kirchspiele  in  den  deutschen  Städten. 
Berlin  1885. 

Lndewig,  Beliquiae  manuscriptornm  ....  ineditorum  adhuc,  t.  I— XU. 

Francof.  et  Lips.  1720—31,  Hai.  1733—41. 
von  Maurer,  Geschichte  der  Städteverfassung  in  Deutschland.  Bd.  I— IV. 
Erlangen  1869—71. 

Mone,  Zeitschrift  für  die  Geschichte  des  Oberrheins.  Bd.  I— XXXVIII.  Karls- 
ruhe 1850—85  (Die  letzten  Bände  herausg.  vom  General-Landesarcbive 
zu  Karlsruhe). 

Mooumenta  Germaniae.  Hannoverae  1826  ft. 

Nitzsch,  Geschichte  des  Deutschen  Volkes  3 Bde.  Leipz.  1883 — 85. 
Nitzsch,  Ministerialität  und  Bürgertum.  Leipz.  1869. 

Prutz,  Kaiser  Friedrich  I 3 Bde.  Danzig  1871— 74. 

Quidde,  Studien  z.  Gesch.  des  Rheinischen  Landfriedensbundes  von  1254. 
Frankf.  a.  M.  1885. 

Rsthgen,  Die  Entstehung  der  Märkte  in  Deutschland.  Darmstadt  1881. 
Ran,  Regimentsverfassung  von  Speier.  2 Hefte.  1844,  45. 

Remling,  Geschichte  der  Bischöfe  zu  Speier.  2 Bde.  Mainz  1852,  1854. 
Remling,  Urkundenbuch  zur  Geschichte  der  Bischöfe  zu  Speier.  2 Bde. 
Mainz  1852,  53. 


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XXIV 


Schannat,  Historia  epiacopatua  Wormaticnais.  2 t.  Francof.  1734. 
Schirrmacher,  Kaiser  Friedrich  der  Zweite.  4 Bde.  Gött.  1859—65. 
Schm  oller,  Strassburg»  Blüte  und  die  volkswirtschaftliche  Revolution  im 
XIII.  Jabrh.  Strass b.  1875. 

Schmoll  er,  Die  Strassburger  Tücher-  und  Weberznnft  und  daa  Deutsche 
Zunftwesen  im  XIII— XVII.  Jahrh.  Strassb.  1881. 

Schoop,  Verfassungsgeschichte  der  Stadt  Trier  in  Westdeutsche  Zeitschrift 
Ergänzungsheft  I (S.  65 — 162).  Trier  1884. 

Schröder,  Lehrbuch  der  Deutschen  Rechtsgeachichte.  Leipz.  1889. 
Steindorff,  Jahrbücher  des  Deutschen  Reichs  unter  Heinrich  III  2 Bde. 
Leipz.  1874,  81. 

Strassburger  Urkundenbuch  Bd.  I n.  II  herausg.  von  Wiegand  Strassb. 

1879—86,  Bd.  III  von  Aloys  Schnlte  Strassb.  1884. 

Stumpf,  Acta  Haguntina  seculi  XII.  Inabr.  1863. 

Stumpf,  Die  Reichskanzler  vornehmlich  des  X.,  XI.  und  XII.  Jahrhunderts 
Bd.  1—3.  Innsbr.  1865 — 81. 

Waitz,  Deutsche  Verfassungageschichte.  Bd.  1—8  Berlin.  1880  ff. 
Weizsäcker,  Der  Rheinische  Bund.  Tübing.  1854. 

Westdeutsche  Zeitschrift  für  Geschichte  und  Kunst,  herausg.  vonHettner 
u.  Lamprecht.  Trier  1882  ff. 

Winkelmann,  Geschichte  Kaiser  Friedrichs  des  Zweiten.  2 Bde.  Berlin 
1863,  65. 

Winkelmann,  Kaiser  Friedrich  II.  Bd.  I 1218—1228.  Leipzig  1889. 
Winkelmann,  Philipp  von  Schwaben  und  Otto  IV  von  Braunschweig.  2 Bde. 
Leipzig  1873 — 78. 

Zeitschrift  für  Geschichte  des  Oberrheins.  Neue  Folge.  Freiburg  1886  ff. 
Zeumer,  Die  deutschen  Städtesteuern.  Leipzig  1878. 

ZeuBS,  Die  freie  Reichsstadt  Speier  örtlich  geschildert.  Speier  1843. 

Zorn,  Wormser  Chronik  (herausg.  von  Arnold).  Stuttg.  1857. 


Bemerkungen  über  sonstige  Abkürzungen 
in  den  Noten. 

Die  Urkunden  in  Boos  Wormser  und  Hilgard  Speiercr  Urknndeubuch 
sind  nach  der  Nummer,  kurzweg  als  U.  1,  U.  2 etc.,  wo  es  zur  Deutlichkeit 
nötig  war,  als  W.  U.  und  Sp.  U.  citiert. 

B-W  bezieht  sich  auf  die  Regestennummeru  von  Bochmer-Will, 
B-F  von  Boehmer-Ficker,  St.  von  Stumpf  ReichskanzlerBd.il.  Unter 
Schaube  Speier  und  Schaube  Worms  sind  die  in  Zeitschrft.  f.  Gesell,  d. 
Oberrheina  N.  F.  1 S.  445 — 461  und  III  S.  257—302  erschienenen  Aufsätze, 
unter  Hegel  Maiuz  seine  in  Bd.  XVIII  der  von  ihm  beraosgegcbeucn  Chro- 
niken der  Deutachen  Städte  erschienene  „Verfassungsgeschichte  von  Mainz" 
zu  verstehen. 

Im  übrigen  wird  cs  genügen,  auf  das  obige  Bücherverzeichnis  zu 
verweisen. 


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Oapitel  I. 

Die  wirtschaftlichen  Grundlagen  der  Stadtentwicklung. 


Wie  Heusler  in  seiner  Arbeit  über  den  „Ursprung  der 
deutschen  Stadtverfassung“  mit  Recht  hervorhebt,  besteht  das 
eigentliche  Wesen  der  freien  Stadtverfassung  des  Mittelalters 
darin,  dass  die  Städte  in  den  Besitz  politischer  Rechte  ge- 
langten. Demnach  muss  der  Übergang  der  wichtigsten  Bestand- 
teile der  öffentlichen  Gewalt  au  die  Stadtgemeinde,  resp.  an  die 
sie  vertretende  Behörde,  als  der  Kernpunkt  der  ganzen  städ- 
tischen Entwicklung  angesehen  werden.  Communale  Ent- 
wicklung d.  h.  Ausbildung  einer  Gemeindeverfassung  finden  wir 
dagegen  ja  auch  auf  dem  Lande,  also  nicht  nur  in  den  Städten. 

Eichhorn,  Arnold  und  Heusler  beginnen,  darin  im  wesent- 
lichen übereinstimmend,  die  eigentliche  Untersuchung  des  Ur- 
sprungs der  Stadtverfassung  mit  der  Frage  nach  dem  Einfluss 
der  Immunitäten  und  der  Ottonischen  Privilegien  auf  die  städ- 
tische Entwicklung.  So  wichtig  diese  königlichen  Zugeständ- 
nisse an  die  Bischöfe  für  die  Ausbildung  der  Territorialgewalt 
geworden  sind,  so  haben  sie  doch  auf  die  Entstehung  freier 
Stadtverfassnngen  wenig  Einfluss  gehabt.  Den  Beweis  dieser 
Behauptung  muss  ich  allerdings  au  dieser  Stelle  auf  später  zu 
bringende  Darlegungen  verschieben.  Doch  hoffe  ich,  grade  durch 
die  vorliegende  Arbeit  die  Thatsache  überzeugend  darzutun, 
dass  ganz  im  Gegensatz  zu  der  bekannten  Heuslersehen  An- 

Koehua,  Ursprung  der  Stadt  Verfassung  in  Worms,  Speier  und  Mainz.  1 


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schauung l)  in  erster  Linie  Handel  und  Industrie  und  die  daraus 
entspringende  Geldwirtschaft  das  Streben  nach  politischen 
Rechten  seitens  der  Städte  sowohl  hervorgerufen  als  auch  zur 
Verwirklichung  gebracht  haben.  Demgemäss  will  ich  auch  zu- 
nächst die  Anfänge  und  Ursachen  dieser  wirtschaftlichen  Ent- 
wicklung ins  Auge  fassen. 

Seit  den  ArbeitenBethmann-Hollwegs  und  Hegels  ist  man 
mit  Recht  von  der  Meinung  abgekommen,  die  deutschen  Stadt- 
verfassungen des  spätem  Mittelalters  als  aus  der  römischen 
Municipalverfassung  entstanden  anzusehen.  Nicht  nur  in  Deutsch- 
land, sondern  auch  in  Italien  und  Frankreich  beruht  ja  die 
Stadtverfassung  des  Mittelalters  auf  dessen  eignen,  dem  Alter- 
tum durchaus  fremden,  germanischen  Rechtsgrundlagen.  Aber 
wesentlich  von  der  Verfässungsentwicklnng  zu  trennen  ist  die 
wirtschaftliche.  Wohl  haben  die  Germanen  die  politischen  In- 
stitutionen in  den  meisten  der  in  der  Völkerwanderung  ent- 
stehenden Reiche  und  so  auch  speciell  im  fränkischen  im  Gros- 
sen und  Ganzen  nach  ihren  eignen  Anschauungen  und  Über- 
lieferungen geordnet.  Aber  dennoch  ist  unbedingt  Sybel  darin 
zuznstimmen,2)  dass  viele  Einzelheiten  in  der  Verwaltung  wie 
besonders  die  finanziellen  Leistungen  der  Untertanen  fftr  den 
Staat  im  fränkischen  Reich  römischen  Ursprungs  waren;  den- 
noch ist  zuzugeben,  dass,  wie  es  Schm  oller8)  mit  Recht  betont 
hat,  die  gewerblichen  Einrichtungen  und  insbesondere  die  hand- 
werkliche Technik  der  Römer  auf  die  des  Mittelalters  von  ausser- 
ordentlichem Einfluss  gewesen  sind ; ebenso  kann  endlich  durch- 
aus nicht  angenommen  werden , dass  sich  die  mittelalterliche 
städtische  Entwicklung  am  Mittelrhein  im  wirtschaftlichen  ganz 


')  Cf.  z.  B.  S.  227 : „Die  Stadt  Verfassungen  de«  Mittelalters  wären  nun  und 
nimmermehr  aus  dein  Hofreeht  hervorgegangen  trotz  allem  Reichtum  und 
Handel  der  Städte,  wenn  nicht  die  Bischöfe  die  Träger  der  öffentlichen  Ge- 
walt in  den  Städten  geworden  wären,  und  der  Rat  allmälig  in  Betonung  und 
auf  Grund  grade  der  städtischen  Angehörigkeit  an  diese  öffentliche  Gewalt 
die  Befugnisse  derselben  von  dem  Bischof  und  seinen  Beamten  auf  sich  hätte 
hinUberleiten  können.“ 

’)  cf.  Entstehung  des  deutschen  Königtums  1881  S.  408—424. 

*)  Die  Strassburger  Tucher  und  Weherzunft.  (Strassb.  1881)  8.  25,  26. 


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3 


so  wie  im  Rechtssinn  von  der  römischen  ganz  unabhängig  ent- 
wickelt hat.  Dagegen  spricht  schon,  dass  wir  bis  zu  dem  recht 
späten  Aufblühen  Frankfurts  am  Mittelrhein  genau  an  den- 
selben Orten  städtische  Niederlassungen  finden,  wie  in  der 
Römerzeit.  Wohl  haben  die  drei  römischen  Stadtanlagen  am 
Mittelrhein  Worms,  Speier  und  Mainz  durch  die  germanische 
Invasion  erheblich  gelitten.  So  sehr  diese  Orte  aber  auch  in  Folge 
der  Plünderungen  der  Germanen  und  der  eintretenden  Unsicher- 
heit der  Verkehrsstrassen  in  Wohlstand  und  Bevölkerungszahl  zu- 
rückgegangen sein  mögen,  es  ist  doch  durchaus  nicht  anzunehmen, 
dass  sie  derartig  von  Grund  aus  zerstört  worden  sind,  dass  sie 
dann  ganz  unbewohnt  gewesen  wären.  Die  Stelle  des  Ammia- 
nus  Marcellinus,1)  welche  vielfach*)  für  diese  Ansicht  angeführt 
wird,  besagt  etwas  durchaus  anderes;*)  aus  allgemeiner  Ab- 
neigung der  Germanen  gegen  städtisches  Wesen  kann  eine 


’)  Rernm  gestarum  libri  (ed.  Gardthausen  1874)  XVI  2 c 12  (a.  356): 
audiens  itaque  Argentoratnm,  Brotomagum,  Taberaas,  Salisonem,  Nemetas  et 
Vangionas  et  Mogontiacum  civitates  barbaros  possidentes  territoria  eorum  ha- 
bitare  — nam  ipsa  oppida  ut  cimundata  retiis  busta  declinaut  — primam 
omnium  Brutomagum  occupavit. 

’)  cf.  Maurer  Stdtvrfssng.  S.  5,  Schmoller  Strassburga  Blüte  8.  3. 

*)  Aus  der  N.  1 angeführten  Stelle  kann  doch  nur  gefolgert  werden, 
dass  die  Deutschen  sich  356  und  überhaupt  tu  Ammiana  Zeit  noch  nicht  in 
den  von  ihnen  eroberten  Städten  niederliessen ; denn  aus  der  an  unserer  Stelle 
erwähnten  Besetzung  von  Brumat  durch  Julian  u.  ebenso  aus  der  spätem 
Erzählung  der  Überrumpelung  von  Mainz  im  Jahre  368  (Ammian  ibid  XVII 
10  c 1)  lässt  sich  doch  schliessen,  dass  die  in  XVI  2 erwähnten  Städte  nicht 
schon  356  zerstört  sein  können  cf.  Gierke  I 8.  252,  Hegel  Mainz  8.  5.  Dass 
Mainz  völlig  untergegangen,  kann  natürlich  auch  nicht  aus  der  oft  citirten 
Stelle  der  Busspredigten  Salvians  geschlossen  werden,  welche  besagt,  dass 
der  Besuch  von  Theater  und  Circus  in  Mainz  seiner  völligen  Zerstörung  wegen 
aufgehört  habe.  (Salvian  de  gubcm,  Dei  VI  c 8 Auct.  ant.  I p 74).  Dass  die 
wohlhabendere  Bevölkerung  geflüchtet  war  u.  ebendesshalb  die  Spiele  aufge- 
hört hatten,  ist  ebenso  wahrscheinlich,  wie  es  unrichtig  ist,  in  Folge  von 
Salvians  rhetorischer  Begründung  der  letztem  Thatsache  einen  gänzlichen 
Untergang  des  Orts  anzunehmen.  Aus  der  ebenfalls  oft  für  diese  Zerstörung 
angeführten  Stelle  Hieronymi  Epist  123  (Migne  Patrol.  XXII  p 1057)  aber  kann 
man  anch  nicht  mehr  als  eine  barbarische  Verwüstung  von  Mainz  schliessen ; 
dabei  darf  man  aber  nicht  vergessen,  dass  Nachrichten  von  Schreckensscenen 
mit  der  Entfernung  zu  wachsen  pflegen.  Vgl.  jetzt  auch  Schröder,  Deutsche 
Bechtsgeschichte  I S.  124,  125;  ebendaselbst  auch  Beispiele,  dass  sich  die 
Germanen  in  Köln  und  andern  eroberten  Römerstädten  niederliessen. 


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4 


solche  Zerstörung  um  so  weniger  gefolgert  werden,  als  doch 
auch  weder  die  «panischen,  noch  die  französischen,  noch  die 
italienischen  Städte  in  Folge  der  germanischen  Eroberung  aus 
der  Geschichte  verschwinden. 

Ferner  ist  es  für  die  Frage,  ob  die  mittelrheinischen  Städte 
in  der  Völkerwanderungszeit  gänzlich  zerstört  sind,  doch  auch 
von  Wichtigkeit,  dass  wir  nicht  lange  nach  dieser  Epoche  in 
ihnen  Bistümer  finden.  Für  Mainz  ist  uns  der  Bischof  Sidonius 
durch  Venantius  Fortnnatus  schon  für  die  erste  Hälfte  des 
sechsten  Jahrhunderts  bezeugt.1)  Was  unsere  andern  beiden 
Städte  betrifft,  so  sind  sie  im  Jahre  614  schon  sicher  Bischofs- 
sitze. Werden  doch  in  den  von  Friedrich  aufgefundenen  Akten 
des  in  jenem  Jahre  abgehaltenen  Pariser  Concils  auch  ein  Bischof 
Berhtulf  von  Worms  und  ein  Bischof  Hilderieh  von  Speier  ge- 
nannt.*) Dass  von  den  drei  Städten  Mainz  schon  im  Jahre  368 
einen  Bischof  besass,  geht  auch  direkt  aus  einer  Stelle  Anunians 
hervor.5)  Nach  derselben  bekannte  sich  nämlich  damals  schon 
der  überwiegende  Teil  der  Mainzer  zum  Christentum ; es  ist 
aber  bekannt,  dass  im  römischen  Reiche  jede  grössere  Stadt, 
in  der  sich  eine  christliche  Gemeinde  befand,  Sitz  eines  Bischofs 
wurde.  In  Mainz  ist  wohl  auch  überhaupt  keine  Sedisvakanz 
durch  die  Völkerwanderung  eingetreten.  An  völlige  Neugrün- 
dung früher  nicht  existirender  oder  gänzlich  zerstörter  Bistümer 
ist  hier  gewiss  nicht  zu  denken.  Grade,  wenn  wir  annehmen, 
dass  die  ganze  römische  Bevölkerung  ermordet  oder  vertrieben 
sei,  wäre  eine  Neugründung  der  Bistümer  in  so  früher  Zeit 
ganz  unerklärbar. 

Zu  demselben  Resultat  führen  uns  Nachrichten,  nach  denen 
Mainz  und  Worms  schon  im  8.  Jahrhundert  mit  Mauern  um- 
geben sind.4)  Es  ist  gewiss  nicht  anzunehmen,  dass  diese  Be- 


*)  L.  II  c 11,  12  u.  IX  c 9 (X  G.  Anct.  ant.  IV  p 40,  215,  216). 

')  Friedrich  Drei  Concilien  (Bamb.  1867)  S.  16,  55  cf.  Loening,  Gesell, 
des  deutsch.  Krchnrehts  (8trassb.  1878)  II  S.  103. 

*)  XVI  2 c 12  cf.  Hegel  Mainz  8.  6. 

4)  Für  Mainz  8.  Dronlce  Codex  Diplom.  Fuld.  (1850)  No.  2 a 750:  infra 
murum  civitatis  Mogontiae,  No.  6a  753:  fori«  immun  civitatis  Mogontiae 
für  Worms  U 25a  897:  infra  rauros  einsdem  urbis  constrnctam  cf.  auch 
Poeta  Saxo  8.  8.  I p 243  zu  a.  787 : intra  Wormacine  nmros. 


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5 


festigungen  damals  erst  völlig  neu  errichtet  sind;1)  wissen  wir 
doch  auch  vom  Niederrhein,  dass  mau  sich  dort  bis  ins  12.  und 
13.  Jahrhundert  im  wesentlichen  mit  Instandhaltung  der  römi- 
schen Stadtnramauerungen  begnügte  und  erst  von  dieser  Zeit 
an  neue  aufführte.  Erdwall  und  Pallisaden  waren  ja  bis  zum 
zwölften  Jahrhundert  die  einzigen  germanischen  Befestigungen.*) 

Endlich  werden,  während  wir  sonst  viel  von  Marktbegrttn- 
dungeu  hören,  solche  in  unsern  Städten  nirgends  erwähnt. 
Demnach  muss  hier  der  Handelsverkehr  schon  vor  der  Zeit  der 
fränkischen  Herrschaft  begründet  sein. 

Alles  dies  weist  darauf  hin,  dass  wir  keinen  vollständigen 
Untergang  der  drei  inittelrheinischen  Städte  anzunehmen  haben. 
Wohl  mochten,  wie  jetzt  überall  angenommen  wird,  die  Ger- 
manen die  Verhältnisse  des  Staats  und  Rechts  ohne  jede  Rück- 
sichtnahme auf  die  römischen  Einrichtungen  ordnen;  aber  die 
römischen  Handwerker  und  Kaufleute,  welche  in  Mainz,  Worms 
und  Speier  wohnten,  sind  gewiss  weder  sämmtlich  getötet  oder 
vertrieben,  noch  zu  anderm  Lebenserwerb  ttberzugehen  ge- 
zwungen worden.  So  haben  sich  einige  handwerkliche  Geschick- 
lichkeit und  einiger  Handelsverkehr  entschieden  aus  der  Römerzeit 
her  in  diesen  Städten  erhalten.  Ebensowenig  wie  im  übrigen  Frank- 
reich ist  aber  auch  in  ihnen  die  gesammte  römische  Bevölkerung  in 
deuZustand  der  Unfreiheit  versetzt  worden.  Wardoch  der  Romane 
nach  salischem  Recht  im  Besitz  eines  Wergeids  und  zu  Heer- 
und  Gerichtsdienst  verpflichtet,  während  es  sich  beim  Unfreien 
gerade  umgekehrt  verhielt.  Wenigstens  für  das  neunte  Jahr- 
hundert ist  es  auch  sicher  bezeugt,  dass  damals  die  Handwerker 
ihre  Waaren  bereits  selbständig  in  Worms  verkauften.*)  Da- 
durch allein  schon  könnte  die  Annahme  widerlegt  werden,  dass 
auch  in  dieser  Stadt  zur  Karolingerzeit  die  einzigen  Hand- 
werker technisch  ausgebildete  Diener  der  grossem  Fronhöfe 
gewesen  und  für  den  Markt  erat  seit  dem  elften  Jahrhundert 
gearbeitet  sei.4) 

Jederzeit  hat  sich  auch,  wie  schon  gesagt,  in  den  drei 

■)  A.  M.  Maurer  S.  6. 

*)  vgl.  Lamprecht  D.  W.  II  8.  514. 

*)  0 17. 

*)  Diese  Ansicht  beherrscht  die  Arbeiten  Arnolds,  Nitzschs,  Heuslers, 
Oeerings  et  *.  B.  Heusler  Urspr.  8.  99,  100. 


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6 


Städten  einiger  Handel  erhalten.  Insbesondere  giugen  von 
Mainz  aus  mehrere  Strassen  nach  Osten,  welche  die  Rheinlande 
mit  Westfalen  und  Thüringen  verbanden,  und  durch  welche  selbst 
das  slavische  Osteuropa  mit  der  rheinischen  Metropole  in  Ver- 
bindung stand.  Wohl  mit  Recht  nimmt  Landau  *)  an,  dass  alle 
diese  Strassen  älter  sind,  als  sie  sich  historisch  nachweisen  lassen. 
Sicher  ist  uns  die  Strasse  nach  Thüringen  wenigstens  schon  für 
das  achte  Jahrhundert  bezeugt;  zahlreiche  slavische  Kaufleute 
zogen  auf  ihr  nach  Mainz.8)  Dass  wenigstens  vom  10.  Jahr- 
hundert an  Magdeburger  Kaufleute  den  Mainzer  Markt  be- 
suchten, sehen  wir  daraus,  dass  Mainz  zu  den  Städten  gehörte, 
in  denen  die  Magdeburger  durch  eine  Urkunde  Ottos  II  von 
Zollabgaben  befreit  wurden.8)  Andrerseits  besuchten  auch  die 
Bewohner  unserer  rheinischen  Städte  auf  diesen  Handelsstrassen 
die  Märkte  des  inneren  Deutschland.  Jedenfalls  lässt  sich  aus 
dem  bekannten  Privileg  Heinrichs  IV  für  Worms  vom  Jahre  1074 
schliessen,  dass  die  Wormser  damals  über  die  selbst  noch  un- 
bedeutenderen Orte  Boppart,  Frankfurt,  Hammerstein  den  Rhein 
hinab  und  auf  dem  Landwege  nach  Sachsen  zu  ziehen  pflegten, 
wo  sie  in  Dortmund,  Goslar  und  Anger  ihre  Waren  verkauften.4) 
Noch  wichtiger  als  die  Landwege  waren  für  die  Handelslage 
mittelalterlicher  Städte  die  Wasserstrassen.  Die  drei  von  uns 
befrachteten  Orte  participierten  an  den  Vorteilen  der  Lage  an 
dem  Strome,  auf  welchem  sich,  abgesehen  von  der  Donau,  der 
Handelsverkehr  im  mittelalterlichen  Deutschland  am  frühesten 
und  intensivsten  bewegte.  Der  Lage  am  Rhein  verdanken  sie 
es,  dass  sich  in  ihnen  früh  Angehörige  des  friesischen,  be- 
kanntlich des  ersten  unter  den  deutschen  Stämmen,  der  eine 
selbständige  Handelstätigkeit  trieb,  niederliessen  und  den  aus 
der  Römerzeit  erhaltenen  Handel  in  Flor  brachten.  Schon  in 
Karolingischer  Zeit  kamen  friesische  Kaufleute  nach  Worms.5) 
Später  bildeten  die  Friesen  zu  Worms  eine  eigne  Gemeinde, 
welche  selbständig  einige  Mauerzinnen  in  Stand  zu  halten  und 

l)  Ztschrft.  f.  d.  Kultarg.  Bd.  I (1866)  S.  575  ff.,  639  ff.  n.  Bd.  II 
(1867)  S.  177  ff. 

*)  Vita  Sturmi  S.  8.  II  p.  369  c 7 a.  736. 

*)  Stumpf  II  660,  Hans.  Urkb.  I No.  1. 

*)  U 6 6. 

*)  ü 17. 


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7 


zu  bewachen  hatte;1)  nach  ihnen  sind  die  Friesenstrasse  und 
das  Frieseuthor  genannt.2)  Noch  im  13.  Jahrhundert  erinnern 
der  Name  eiues  Büttels  Friso  nnd  eines  Wormser  Bürgers  Ge- 
rungus  dictus  Friese  au  die  friesische  Abstammung  eines  Teils 
der  dortigen  Bürgerschaft.5)  Auch  in  Mainz  haben  sich  Friesen 
schon  in  karolingischer  Zeit  niedergelassen;  sie  bewohnen  liier 
den  besten  Teil  der  Stadt.4)  Dass  die  in  Speier  blülieude 
Weberei  auf  friesische  Anregung  zurückgeht,  lässt  sich  daraus 
schliessen,  dass,  als  in  Gent  das  Feilbieten  anderer  Laken  als 
der  dort  gefertigten  verboten  wird,  nur  die  in  Friesland  und  in 
Speier  gefertigten  von  diesem  Verbot  ausgenommen  werden.5) 
Durch  die  Rheinschifffahrt  kommen  Worms,  Speier  und  Mainz 
auch  in  kaufmännische  Beziehungen  zu  Köln  und  Utrecht,  die 
sich  namentlich  aus  gegenseitigen  Zollermässigungen  und  Zollbe- 
freiungen erkennen  lassen.5)  Mehrfach  haben  auch  aus  Köln 
stammende  Personen  in  einer  der  mittelrheiuischeu  Städte  Grund- 
eigentum oder  Bürgerrecht  erworben  7)  und  umgekehrt.*)  Von 

')  Forsch,  z.  D.  Gesch.  XIV  S.  398,  Boehmer  Font.  II  p 209. 

*)  U 71  platen  Frisonum.  U 57  spiza  Frisonum.  Spiza  wohl  = spicatnm, 
nach  Ducange  „gcuus  munimeuti“  und  vielleicht  ideutisch  mit  der  in  der 
Hauerbanordnung  (s.  vor.  N.)  erwähnten  Frisonum  spira,  die  von  Falk  (s. 
ebenda)  S.  399  als  Fliesensperre  = Frieseupforte  erklärt  wird.  Koester,  Worms. 
Annal.  S.  102  dentet  spiza  als  Manerecke. 

*)  U 344  u.  304. 

4)  Annal.  Fnld.  S.  S.  I p 403.  Dagegen  kann  die  früher  für  friesische 
Ansiedelung  in  Mainz  oft  benutzte  Stelle  ans  der  Vita  Gregorii  abb.  Traicet. 
auct.  Liudgero  nicht  mehr  dafür  angeführt  werden,  da  nach  der  neuesten 
Edition  dieser  Schrift  (8.  S.  XV  p 71  ed.  Holder-Egger)  das  dort  stehende 
christianorum  Fresouum  auf  willkürlicher  Änderung  der  Worte  oricntaliiun 
Francorum  beruht. 

»)  Hans.  Urkb.  III  8.  478  No.  1. 

•)  cf.  Sp.  U.  70  u.  Zollweistum  von  Speier  Urkb.  8.  488. 

’)  In  Speier  finden  wir  einen  Ratsherrn  Heinrich  von  Köln  1286—89 
u.  gleichnamige  1303—27  und  1314—26,  ausserdem  die  Bürger  Spiegel,  Heintze 
u.  Siegfried  von  Köln  in  der  ersten  Hälfte  des  14.  Jahrhunderts,  ln  dieser 
Zeit  werden  ausserdem  noch  ein  Speirer  Bürger  Albert  Kölner,  ein  publicus 
notarius  Spirensis  Friedrich  Kölner  und  ein  Jude  Jacob  Colner  erwähnt  (cf. 
Hilgard  Urkb.  Index  s.  v.  Köln).  In  Mainz  erscheint  1209  ein  Gerunc  de 
Colonia  als  Zeuge  (Baur,  Hess.  Urkb.  II  p 41).  Cf.  auch  „Smutzart,  burger 
zu  Collen“  schlicsst  mit  der  Stadt  Mainz  einen  Leibrentenvertrag  in  Mainzer 
Accidental-  u.  Bestallungsbuch  No.  1 im  Kreisarchiv  zu  Würzburg  fol  12  v. 

*)  In  den  Kölner  Schreinsurkunden  der  Hartinsparochie  finden  wir 
1142—56  einen  Garnerus  Moguntinns  (Martin  2 II  18  p 29)  und  1172—78 


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8 


den  in  Worms  und  Mainz  angesessenen  Juden  wird  die  Kölner 
Messe  bereits  zu  Beginn  des  elften  Jahrhunderts  regelmässig 
besucht.1)  Ja,  schon  zwei  Jahrhunderte  früher  erzählt  uns 
Einhard1)  von  Kölner  Kauflenten,  welche  zu  Schiff  nach  der 
in  Mühlheim  am  Main  gelegenen  Kirche  der  beiden  Heiligen, 
Marcellin  und  Petrus,  reisen  und  dort  grade  an  ihrem  Feste 
ankommen.  Auf  Hin-  und  Rückreise  mussten  sie  Mainz  be- 
rühren. Die  dort  abgehaltene  St.  Albansmesse  hat  gewiss  ebenso 
wie  die  Pilgerin,  von  der  es  Einhard  erzählt,  auch  die  Kauf- 
leute, in  deren  Begleitung  sie  reiste,  zu  längerem  Verweilen  in 
Mainz  veranlasst. 

Aus  dieser  Nachricht  Einhards  geht  demnach  auch  hervor, 
dass  Mainz  schon  im  Mittelalter  wie  heute  Rhein-  und  Main- 
verkehr verband.  Worms  und  Speier  nahmen  damals  die  Stelle 
des  heutigen  Mannheim,  das  noch  ein  unbedeutendes  Dorf  bil- 
dete, in  Verknüpfung  des  Rhein-  und  Neckarverkehrs  ein.  Im 
Jahre  1247  vereinbarten  die  Bürger  von  Speier  und  Wimpfen 
gegenseitige  Zollbefreiung.11)  Mit  Wimpfen  und  den  ebenfalls 
am  Neckar,  resp.  dessen  Zuflüssen  gelegenen  Orten  Heilbronu, 
Mosbach  und  Sinsheim  schloss  Speier  1309  einen  Vertrag  über 
Unstatthaftigkeit  der  Schuldhaft  für  Schulden  eines  Mit- 
bürgers ab.4)  Auch  Nürnberg  stand  mit  Worms  und 
Speier  im  Verkehr,5)  ohne  dass  es  sich  feststellen  lässt,  ob 
man  zu  Lande  oder  zu  Wasser  aus  der  einen  Stadt  in  die  an- 
dere gekommen  ist.  Für  das  erstere  spricht  eine  Urkunde, 


einen  Wörnerns  <le  Moguntia  (ibid.  3 V 36)  a.  einen  Albertas  de  Spiria 
(ibid.  7 V 2)  erwähnt.  In  den  beiden  Bttrgerlisteu  der  Martinspfarre  kommt 
in  der  ersten  Hälfte  des  12.  Jahrhunderts  ein  Dietwin,  Werner  und  Heinrich 
von  Worms,  circa  1130—70  Conrad  n.  H&rdung  von  Speier,  ferner  Reinher, 
Siegfried,  Conrad  filins  Lnbrandi  de  Moguntia,  Godebold,  Rudolf, 
Bern  Mogontini  vor.  Die  gesperrt  Gedruckten  sind  zugleich  Mitglieder 
der  Kaufmannsgilde.  Dies  nach  freundlicher  Mitteilung  Hoenigers. 

l)  Aronius,  Regesten  z.  Gesch.  d.  Juden  (Berlin  1887)  No.  149;  für  den 
Handelsverkehr  zwischen  Mainz  und  Köln  vgl.  auch  ibid  223. 

')  Translatio  et  iniracnla  S.  8.  Marcellini  et  Petri  c 17  (8.  S. 
XV  p 263). 

•)  Hilgard  Urkb.  S.  VIII  N.  ft. 

‘)  U 252. 

s)  vgl,  Prvlg.  Friedrichs  n für  Nürnberg  § 15,  16  (B-F  1069,  Gengier 
Stadtrechte  S.  323). 


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9 


welche  Friedrich  II  1219  für  Nürnberg  ausstellte.1)  Dass 
jedenfalls  aber  /.um  mindesten  seit  Anfang  des  12.  Jahrhunderts 
die  Wormser  Nürnberg  besuchten,  sehen  wir  daraus,  dass  sie 
1112  Nürnberg  den  Orten  hinzufügerf  Hessen,  in  denen  sie  schon 
früher  durch  kaiserliches  Privileg  Zollfreihe.it  erhalten  hatten.8) 

Endlich  muss  noch  darauf  hingewiesen  werden,  dass  unsre 
drei  Städte  in  einer  von  der  Natur  in  hohem  Grade  begünstig- 
ten Gegend  Deutschlands  gelegen3)  sind.  Schon  in  römischer 
Zeit  hatte  im  obem  Rheinthale  eine  intensive  landwirtschaft- 
liche Cultur  Platz  gegriffen.4)  Hier  bot  der  durch  günstige 
Bodeubeschaffenheit  und  mildes  Klima  beförderte  Betrieb  von 
Obst-,  Wein-  und  Ackerbau  Gelegenheit  zu  dichterer  Ansied- 
lung so  wie  schon  früh  zum  Export  der  heimischen  Naturprodukte. 
Eine  Nachricht  aus  dem  zehnten  Jahrhundert  berichtet  uns,  dass 
damals  in  den  Kellen»  des  Bischofs  von  Lüttich  vorzugsweise 
Wonuser  Rotwein  lagerte.5)  Grade  in  der  Gegend  von  Worms 
treffen  vorzügliche  Bodenzusammensetznng  und  güustige  me- 
teorologische Verhältnisse  zusammen,  um  sie  „zum  eigentlichen 
und  bevorzugten  Fruchtgarten*  der  ganzen  oberrheinischen 
Tiefebene  zu  machen.*)  Ebenso  war  es  sicherlich,  wenn  wir 
die  Lage  unsrer  drei  Städte,  insbes.  die  von  Worms  und  Mainz, 
etwa  mit  der  Basels  vergleichen,  für  sie  von  grossem  Vorteil, 
so  nahe  dem  nördlichen  Endpunkt  der  oberrheinischen  Tiefebene 
gelegen  zu  sein.  Sie  waren  die  natürlichen  Stapelplätze  für 
den  Verkehr  mit  dem  Haudelsemporium  des  10.— 12.  Jahr- 
hunderts, mit  Köln ; demnach  haben  sich  Worms  und  Mainz  auch 
so  viel  früher  als  z.  B.  Basel  zu  städtischem  Leben  entwickelt. 

Zu  der  aus  der  römischen  Zeit  erhaltenen  Haudelsthätigkeit 
und  der  günstigen  geographischen  Lage  kamen  noch  andre  Um- 
stände, welche  das  Aufblühen  unserer  Städte  begünstigten. 


’)  ibid  Einleitung,  Gengier  S.  322:  cum  locus  ille  nec  habeat  viueta 
neque  navigia. 

*)  U 61. 

’)  Cf.  die  schöne  Schilderung  von  Nitzsch  in:  Die  oberrheinische  Tief- 
ebene und  das  deutsche  Mittelalter  (Deutsche  Studien  1879  S.  125  ff.). 

*)  ibid  S.  128. 

•)  Anselmi  gesta  episcop.  Leodiensium  c 24  (S.  S.  VII  p 202). 

•)  Nitasch  a.  a.  0.  S.  128,  129. 


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Speciell  Worms  musste  durch  die  häutigen  Reichsversammlungen 
und  Synoden,  die  hier  insbes.  in  den  Jahren  von  763—790 
stattfanden,  gefördert  werden.  Auch  nach  790,  in  welchem 
Jahre  seine  Pfalz  abbranilte,1)  die  zum  mindesten  im  nächsten 
Jahrhundert  nicht  wiederhergestellt  zu  sein  scheint,*)  war 
Worms  einer  der  bevorzugten  Aufenthaltsorte  der  karolingischen 
und  sächsischen  Herrscher.  Dagegen  haben  wir  nur  sehr 
wenige  Zeugnisse  vom  Verweilen  dieser  Fürsten  in  Speier.  Es 
muss  auch  als  höchst  unwahrscheinlich  bezeichnet  werden,  dass 
in  Speier  schon  in  der  Zeit  vor  den  Saliern  eine  königliche 
Pfalz  bestand.*)  Auch  für  Mainz  ist  das  Bestehen  einer 
solchen  erst  zu  Heinrichs  IV  Zeit  sicher  bezeugt,*)  obgleich 
hier  mehrfach  grosse  Reichstage  versammelt  wurden.  „Kaiser 
Karl  wohnte  bei  längerm  Aufenthalt  regelmässig  in  der  be- 
nachbarten Pfalz  zu  Ingelheim.“*) 

Jedenfalls  war  auch  die  Pfalz  und  überhaupt  das  König- 
tum für  das  Wachsen  einer  mittelalterlichen  Stadt  von  weit 
geringerer  Bedeutung  als  das  Bistum.  Die  Anwesenheit  der 
Könige  war  immer  nur  vorübergehend ; die  grossen  Kircheufeste 
hingegen  zogen  viele  Pilger,  Kaufleute  und  Landbewohner  an 
bestimmten  und  weithin  bekannten  Daten  regelmässig  an  den- 
selben Ort.  Mainz  nicht  Ingelheim,  Köln  nicht  Aachen  sind 
diejenigen  Plätze,  welche  es  in  ihren  Territorien  zuerst  zu 
städtischer  Entwicklung  gebracht  haben.  Fassen  wir  die  Be- 
deutung der  drei  Bistümer  Mainz,  Worms  und  Speier  bis  zum 


l)  Annales  Einhardi  8.  S.  I p 177. 

*)  E»  kann  dies  daraus  geschlossen  werden,  dass  von  da  an  die  Worte 
„in  publico  palatio“  bei  den  in  Worms  ausgefertigten  Königsurkunden  Weg- 
fällen cf.  Sickel,  Acta  Carolinorum  (Wien  1867)  I p 231. 

*)  Das  Privileg  Karls  d.  Gr.  a 788  für  Bremen,  aus  dem  z.  B.  Maurer 
Stdtverfssng.  I 9,  Arnold  V.  G.  I 23,  Chronicon  Gotwicense  (Tegernsee  1732) 
III  p 49ö  und  auch  noch  Barster  Speirer  Mänzgeschichte  (Mitt.  d.  Histor.  Ver.  der 
Pfalz  Bd.  X 1882)  S.  2 das  Bestehen  einer  Pfalz  zu  Speier  schliessen,  ist  gefälscht 
s.  Bettberg  Kirchengeschichte  II  453,  Abel,  Jahrb.  Karls  d.  Gr.  S.  484  ff.. 
Sickel  Acta  Carol.  II  S.  393  , 394.  Aus  der  Stelle  Cod.  Lauresh.  I 18 
(=  S.  S.  XXI  p 348),  die  ebenfalls  vielfach  für  die  hier  bekämpfte  Ansicht 
angeführt  ist,  kann  nnr  ein  vorübergehender  Aufenthalt  Karls,  dagegen  nicht 
das  Bestehen  einer  Pfalz  zu  Speier  geschlossen  werden. 

*)  Hegel  Mainz  S.  11  mit  N.  4 n.  6. 


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11 


Schluss  der  Regierungszeit  der  sächsischen  Kaiser  ins  Auge, 
so  erhalten  wir  folgendes  Bild  der  Entwicklungsgeschichte 
unsrer  Städte : Mainz  war  das  hervorragendste  deutsche  Erz- 
bistum ; „bereits  im  8.  Jahrhundert  war  die  Stadt  mit  Kirchen, 
Klöstern  und  geistlichen  Stiftungen  reich  gesegnet.“  ’)  Worms 
war  damals  von  weit  geringerer  Bedeutung.  Weit  zurück  aber 
stand,  wie  schon  aus  dem  Urteil  eines  Zeitgenossen’)  hervor- 
geht, nicht  nur  hinter  diesen  beiden,  sondern  auch  hinter  den 
andern  deutschen  Bistümern  das  auch  in  seiner  wirtschaftlichen 
Bedeutung  erst  viel  später  erblühende  Speier. 

Bis  zum  Ausgang  der  sächsischen  Dynastie  wirkten  so  die 
geographischen,  politischen  und  kirchlichen  Verhältnisse  zu- 
sammen, um  die  Bedeutung  von  Worms  und  Mainz  zu  steigern. 
Allerdings  wird  man  keine  stetig  fortschreitende  Entwicklung 
annehmen  können.  Vielmehr  traten  gewiss  auch  manche 
Störungen  und  Hemmungen  des  wirtschaftlichen  Fortschritts 
ein,  so  insbes.  durch  die  Verwüstungen  der  Normannen.’) 

Es  genüge  im  Fortgang  unserer  Untersuchung  zu  consta- 
tieren,  dass  die  flandelsthätigkeit  in  unsern  Städten  in  Folge 
ihrer  günstigen  Lage  nie  ganz  geruht  hat.  War  doch  auch 
der  Rhein,  wie  sich  Xitzsch  treffend  ausdrückt,  nie  ganz  ohne 
Schiffahrt,  so  lange  Wein  an  seinem  obem  Laufe  gezogen  und 
Häringe  an  seiner  Mündung  gefangen  wurden.  Freilich,  dass 
in  der  Karolingischen  Zeit  die  Urproduktion  selbst  innerhalb 
der  Städte  wohl  noch  entschieden  prävalierte,  können  wir  aus 
den  Wormser  und  Mainzer  Vergabungen  an  Lorsch  und  Fulda 
sehen.4)  Es  werden  hier  nämlich  Ackerland  und  Gärten,  ganz 
bes.  auch  Weingärten,  innerhalb  der  Stadtmauern  mit  allen 

*)  ibid  S.  9.  Im  elften  Jahrhundert  wird  die  Ansicht  geäussert,  der 
Mainzer  Erzbischof  sei  secundus  post  paparo  (Hariani  Scoti  Chronicon  S.  S. 
V p 547  Z.  35).  Über  die  Bedeutung  des  Mainzer  Erzbistums  in  der  Hierarchie 
vgl.  Falk  in  Ztschrft.  des  Vereins  z.  Erforsch,  d.  Rhein.  Gesch.  Mainz  1868 
S.  99-103. 

*)  s.  unten  S.  13  N.  2. 

*)  cf.  B-W  VIII  46—49,  Giesebrecht  D.  K.  I 169,  Dttmmler  Ostfr.  B. 
Bd.  HI  (1888)  8.  148  ff.  221  ff.  307. 

*)  D.9  a 780:  dono  ....  II  iurnales  terrae  arabilis  et  I uineam  in 
Wonnatia.  vgl.  U.  21  a 832.  Dronke  Cod.  dipl.  Fuld.  (1860)  Nr.  6 a 768 : ui- 
neam unam  infra  mumm  civitatis  Maguntiae  pubücae,  ibid  Nr.  80  a 786: 
infra  murum  civitatis  bortum  menm. 


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12 


Anrechten  au  geteilter  und  ungeteilter  Mark  vergeben.  An- 
drerseits sprechen  aber  auch  gut  bezeugte  Nachrichten  schon 
für  eine  grössere  Handels-  uud  Gewerbetätigkeit  in  Worms 
und  Mainz,  die  man  sich  aber  ganz  wohl  neben  dieser  Ur- 
produktion denken  kann.  In  Worms  pflegte  die  reiche  Abtei 
Lorsch  ihre  Produkte  zu  Markte  zu  bringen ; ')  nach  Mainz  be- 
gaben sich  St.  Gallener  Mönche,  um  dort  wollene  Tücher  und 
Kleider  für  den  Klosterbedarf  zu  kaufen.“)  Noch  wichtiger 
erscheint,  dass,  als  die  Rheinlande  850  von  einer  schweren 
Hungersnot  bedrängt  waren,  der  Fuldaer  Annalist  deu  Ge- 
treidepreis zu  Mainz  in  seinem  Werke  verzeichuete.3) 

Als  Zeichen  regerer  mercantiler  Tätigkeit  in  Worms  uud 
Mainz  kann  mau  es  auch  betrachten,  dass  sich  in  ihueu  zu  der 
aus  Römern  und  Frauken  bestehenden  Stadtbevölkerung  frie- 
sische und  jüdische  Ansiedler  gesellten.  Sind  es  regelmässig 
Einwandrer  aus  wirtschaftlich  höher  entwickelten  Gegenden, 
welche  Aktivhaudel  in  noch  ganz  überwiegend  agrarischer 
Tätigkeit  ergebenen  Ländern  Ins  Leben  rufen,  so  haben  in 
Deutschland  bekanntlich  Juden  und  Friesen  die  Aufänge  eigner 
Handelstätigkeit  entwickelt.4)  Ohne  hier  auf  die  Frage  ein- 
zugehen,  ob  nicht  wie  in  Cöln  auch  am  Mittelrhein  schon  zur 
Röraerzeit  Juden  gesessen, 5)  wollen  wir  nur  constatieren,  dass 
es  jedenfalls  unter  den  sächsischen  Kaisern  in  Worms  und 
Mainz  grössre  jüdische  Ausiedlungeu  gab.6)  Über  die  friesischen 
Niederlassungen  in  unsera  Städten  ist  schon  obeu  gesprochen.7) 

Mit  dem  Regierungsantritt  der  Salier  trat  insofern  eine 
Änderung  des  wirtschaftlichen  Rangverhältnisses  unserer  drei 
Städte  ein,  als  Speier  durch  besondre  Verhältnisse  die  beiden 

‘)  U 24  Auch  das  Kloster  Limburg  sandte  später  dorthin  seine  Pro- 
dukte nun  Verkauf  cf.  tlrk.  Conrads  II  a 1035  (Stumpf  2070,  Acta  Tkeod.- 
P&lat.  t VI  p 276) 

*)  S.  S.  II  p 97. 

*)  S.  S.  I p 366  a 850:  gravissima  fames  Germauiae  populos  oppressit, 
maxime  circa  Pennin  habitantes;  nara  nnus  modius  de  fmmcuto  Mogontiaci 
vendebatnr  decem  siclis  argenti. 

‘)  Jnama-Sternegg  D.  Wg.  S.  447,  448. 

6)  Aronius  Regesten  r..  O.  d.  Juden  N.  1 verneint  diese  Frage,  aber  mit 
ungenügendem  Beweisgründe. 

•)  ibid.  N.  121,  128,  144,  149. 

S.  oben  S.  6,  7. 


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13 


anderen,  hinter  denen  es  bisher  weit  zurückgeblieben,  fast  über- 
flügelte. Diese  Verändrungen  hingen  eng  mit  dem  Wechsel  der 
Dynastie  zusammen,  indem  das  neue  Herrscherhaus  Bistum  und 
Stadt  Speier  aufs  eifrigste  begünstigte. 

Der  Ruhm  eines  Herrschers  oder  einer  Dynastie  schien  im 
10.  und  11.  Jahrhundert  durch  die  Errichtung  von  Bistümern 
besonders  erhöht  und  gefördert  zu  werden.  So  hatte  Otto  I 
das  Erzbistum  Magdeburg,  Otto  III  das  Erzbistum  Gnesen, 
Heinrich  II  das  Bistum  Bamberg  gestiftet.  Bes.  Heinrich  II 
hatte  bei  der  Errichtung  seines  Bistums  schon  mit  grossen 
Schwierigkeiten  zu  kämpfen  gehabt,  da  er  nur  durch  Ver- 
kleinerung bestehender  Diöcesangebiete  zu  seinem  Ziele  ge- 
langen konnte.  Demnach  mochten  die  Salischeu  Herrscher 
wohl  in  dem  Bewusstsein  der  Schwierigkeiten  der  Errichtung 
eines  neuen  Bistums  statt  dessen  lieber  durch  besondre  Be- 
günstigung eines  bestehenden  dieselbe  Sicherung  ihres  Andenkens 
zu  erreichen  suchen.  Stand  doch  überhaupt  jede  vornehme 
Familie  im  Mittelalter  mit  irgend  einer  Kirche  oder  einem 
Kloster  in  Verbindung,  indem  sie  ihren  Mitgliedern  dort  ein 
würdiges  Begräbnis  zu  sichern  suchte  und  durch  Schenkungen 
und  Stiftungen  für  ihre  ewige  Seligkeit  sorgte ; zugleich  wurden 
dann  in  der  Chronik  eines  solchen  Stiftes  die  Thaten  der  sie 
begünstigenden  Familie  aufgezeichnet.,)  Dass  die  Erwägung, 
den  Ruhm  ihrer  Dynastie  zu  fördern,  die  Salier  vorzugsweise 
bei  der  Begünstigung  des  Speirer  Bistums  leitete,  ist  mit 
klaren  Worten  schon  von  einem  Zeitgenossen,  Norbert  von 
Iburg,  in  seiner  Biographie  Bennos  von  Osnabrück  ausge- 
sprochen.8) Die  Begünstigung  vou  Speier  musste  abgesehen 
davon,  dass  es  den  alten  Stammsitzen  der  Dynastie  am  nächsten 


*)  Wattenbach  Deutsche  üeschiclitsqnellen  II  S.  302. 

’)  S.  S.  XII  p 62  c 4 : Eo  tempore,  quo  nrbs  Spira  in  Rheni  litore  po- 
sita  panpcrcnla  et  vetustate  collapsa  episcopitun  iam  esse  desierat,  impera- 
torum,  qui  nnnc  ibi  conditi  iacent,  Studio  et  religione,  nt  nunc  ibi  cernitur, 
reformata  convainit.  Hoc  enim  eisdem  piis  imperatoribug  videbatur  ines.se 
laudabile  Votum,  ut  quia  in  regno  fnndare  episcopatnm  ex  suis  divitiis  occa- 
sionem  non  habebant,  hunc,  qui  iam  paenc  nnllus  erat,  facultatibus  suis  rcs- 
tanrare  snaeqne  meinoriae  dedieare  deberent.  Of.  auch  Wipo  Vita  Cnonnuli 
imper.  c 3!»  (S.  8.  XI  p 274). 


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14 


lag,  sich  auch  grade  dadurch  empfehlen;  dass  seine  Macht  und 
sein  Besitz  hinter  denen  aller  übrigen  Bistümer  weit  zurttck- 
stauden.  Wie  schon  Norbert  sagt,  bezeugte  grade  wegen  der 
frühem  Dürftigkeit  Speiers  sein  späterer  Glanz  fast  wie  der 
eines  neu  errichteten  Bistums  die  Freigebigkeit  und  Frömmig- 
keit der  Salier.  Demgemäss  vermehrten  denn  auch  Conrad  II 
und  Heinrich  III  mit  königlicher  Freigebigkeit  das  Vermögen 
des  Speirer  Bistums;’)  seinen  Dom  wählten  sie  zur  königlichen 
Begräbnisstätte,  die  Stadt  selbst  bevorzugten  sie  durch  häu- 
figen Aufenthalt.  Selbst  seitdem  Heinrich  III  und  mehr  noch 
Heinrich  IV  dem  weit  entfernten  Goslar  ihre  besondre  Für- 
sorge zugewandt,  blieb  doch  die  Speirer  Kirche  in  engem  Ver- 
hältnis zum  Salischen  Herrscherhause.  Heinrich  IV  nannte  die 
Speirer  Canoniker  seine  Brüder  und  stattete  sie  mit  besondern 
Privilegien  aus;*)  ja  lebensmüde  wünschte  er  in  ihrer  Mitte 
seine  Tage  zu  beschlossen.5)  Vielfach  wurden  auch  Personen 
aus  der  Umgebung  des  Königs  auf  den  Speirer  Bischofsstuhl 
gebracht,4)  und  vielfach  finden  wir  grade  Speirer  Prälaten  von 
den  Salischen  Herrschern  zu  wichtigen  Ämtern  erhoben.5)  Der 
Bau  des  Doms  und  des  St.  Guidostifts  geschahen  vornehmlich 
auf  Kosten  Conrads  II  und  Heinrichs  HI.*) 

Durch  diese  mannigfache  Begünstigung  seitens  der  Salier 
war  Speier  in  der  ersten  Hälfte  des  zwölften  Jahrhunderts  den 
Nachbarstädten  an  Bedeutung  mindestens  gleichgekommen ; ja 
ein  ausländischer  Chronist  bezeichnet  es  sogar  zu  dieser  Zeit, 


•)  ct  Stufnpf  1855,  1894,  1963.  2030,  2215,  2305-12,  2358,  2497. 
B resslau  Conrad  U Bd.  II  S.  388.  — Zu  den  Begünstigungen  der  Speirer 
Kirche  ist  auch  die  Übertragung  der  Gebeine  des  heiligen  Guido  von  Parma 
nach  Speier  durch  Heinrich  III  zu  rechnen  s.  Herimanni  Augiensis  Chronicon 
S.  S.  V p 127  cf.  Steindorff,  Heinrich  III  Bd.  H S.  8. 

*)  Sp.  U 13.  Über  Heinrichs  IV  Sorge  für  Fortsetzung  des  Domhaus  cf. 
Helmold  Chronica  Slavornm  lib.  I c 33  (S.  S.  XXI  p 36),  Otto  Frising.  Gesta 
Frider.  Imper.  1 I c 10  (S.  S.  XX  p 358),  Vita  Heinrici  Imper.  c 1 (S.  S. 
XII  p 271). 

*)  Helmold  1.  c. 

*)  Kernling,  Gesch.  I S.  284  ff,  296  ff,  317  ff. 

•)  ibid.  S.  279  N.  507. 

•)  Bollaud  Acta  Sanctomm  Mürz  III  p 912;  Heriin.  Aug.  Chron.  S.  S. 
V p 127. 


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15 


allerdings  mit  sichtlicher  Übertreibung,  als  metropolis  Ger- 
maniae.1) 

So  kann  der  Wechsel  der  Dynastie  durch  die  damit  ein- 
tretende königliche  Begünstigung  des  Bistums  als  für  die  Ge- 
schichte der  Stadt  Speier  Epoche  machend  betrachtet  werden. 
Auch  in  Mainz  *)  und  Worms s)  fand  in  dieser  Zeit  eine  regere 
ßauthätigkeit  statt,  die  auch  auf  die  wirtschaftliche  Ent- 
wicklung dieser  Städte  fördernd  einwirken  musste.  Von 
hervorragender  Wichtigkeit  ist  es  aber,  dass  uns  in  der 
ersten  Hälfte  des  elften  Jahrhunderts  Spuren  eines  eignen 
Kaufmaunsrechts  am  Mittelrhein  entgegentreten ; freilich  ist  es 
uns  um  diese  Zeit  fast  nur  durch  die  Opposition,  welche  es 
findet,  erkennbar.  Auch  scheint  wenig  später  mit  der  Herein- 
ziehung ehedem  selbständiger  Aussenbezirke  in  die  Communal- 
verwaltung  unsrer  Städte  begonnen  zu  sein. 

Diese  beiden  Erscheinungen,  die  Bildung  eines  besonderen 
Handelsrechts  und  das  communale  Hineinwachsen  früher  bäuer- 
licher Bezirke  in  das  Stadtgebiet,  müssen  noch  ins  Auge  gefasst 
werden , ehe  zur  Erforschung  des  Erwerbs  politischer  Rechte 
seitens  der  Stadtbehörden  Ubergegangen  werden  kann. 


Capitel  II. 

Entstehung  des  Kaufmannsrechts. 

Die  Wirtschaft  des  deutschen  Volks  hat  sich  nur  langsam 
aus  einer  rein  bäuerlichen  Cultur  zu  entwickelteren  Formen 
emporgehoben.  Demgemäss  ist  auch  das  im  fränkischen  Stam- 
mesgebiet auf  dem  Lande  geltende  Recht  bis  ins  elfte  Jahr- 
hundert ein  Recht  einfacher  Naturalwirtschaft  gewesen  und  hat 
bis  dahin,  ja  bis  ins  12.  Jahrhundert  hinein,  aus  den  gering 
entwickelten  Anfängen  des  Verkehrs  nur  wenig  Anstoss  zur 

*)  Ordericus  Vitalis  ad  a.  1125  (S.  S.  XX  p 76). 

*)  vgl.  über  Bantb&tigkeit  des  Erxb.  Willigis  (976 — 1011)  B-W  p XLI 
nnd  Erzb.  Aribo’s  (1021—31)  B-W  p XLIX. 

*)  Über  Banthätigkeit  Bischof  Bnrchards  von  Worms  (999—1025)  s. 
Arnold  I S.  53—62. 


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16 


Fortbildung  erhalten.1)  Eher  noch  haben  kirchliche  Anschau- 
ungen und  politische  Einflüsse  zur  Begründung  neuer  Rechts- 
sätze und  Änderung  der  überlieferten  geführt.  Dagegen  sind 
von  dem  Augenblicke  an,  wo  der  Verkehr  eine  grössere  Be- 
deutung gewinnt,  in  deu  Städten  rasch  besondre  Rechtssätze 
entstanden,  welche  schliesslich  zur  Absondrung  eines  besondren 
Rechtskreises,  des  Stadtrechts,  vom  geltenden  Landrecht  führ- 
ten. Die  Ausbildung  dieses  Stadtrechts  tritt  uns  ganz  beson- 
ders klar  in  den  Kölner  Schreinsurkunden  schon  seit  dem  An- 
fang des  12.  Jahrhunderts  entgegen. 

Besitzen  wir  auch,  wie  in  der  Einleitung  hervorgehoben 
ist,  für  die  mittelrheinischen  Städte  nichts,  was  diesem  um- 
fassenden Quellenmaterial  bürgerlichen,  uiclit  geistlichen  Ur- 
sprungs auch  nur  entfernt  gleichkäme,  so  sehen  wir  doch  auch 
hier  ein  vom  allgemeinen  abweichendes  Recht  an  den  hervor- 
ragenden Verkehrsplätzen  entstehen,  lange  ehe  dieselben  Stadt- 
verfassungen in  dem  Sinne  des  Erwerbs  politischer  Rechte  sei- 
tens des  Rats  erhalten.  Schon  für  deu  Beginn  des  11.  Jahr- 
hunderts können  für  Worms  die  Anfänge  städtischer  Rechts- 
entwicklung constatiert  werden.  Allerdings  sind  ihre  Spuren 
in  dieser  Zeit  nur  in  einem  ganz  und  gar  von  geistlicher  Ge- 
sinnung erfüllten  Gesetze,  den  leges  et  statuta  Burcliardi  von 
1024,*)  zu  erkennen.  Vielfach3)  ist  zwar  ausgesprochen,  dass 
Burchard  überhaupt  und  grade  auch  durch  dies  Gesetz  die 
städtische  Entwicklung  mächtig  gefördert  habe.  Es  muss  auch 
durchaus  anerkannt  werden,  dass  die  Feststellung  der  Rechts- 
ordnung und  die  grossen  Bauten  in  der  Stadt,  wie  ganz  speciell 
auch  die  Instandsetzung  der  Mauern  sich  dem  commerciellen 
Gedeihen  der  Stadt  nützlich  erwiesen  haben.  Die  leges  et 

■)  cf.  Hensler,  Instit.  d.  deutsch.  Priv.  Rs.  I S.  25:  „Zunächst  steht 

ausser  Zweifel,  dass  das  Volksrecht  direkt  in  das  Landrecht  ausläuft.  Das 
alte  Stammesrecht  ist  jetzt  ....  selbst  territorialisicrt,  Landrecht  geworden, 
die  lex  geutis  Francorum  oder  Saxonnm  ist  das  Recht  fränkischen  oder 
sächsischen  Landes.  Es  ist  kein  licn  geartetes  Recht,  sein  Inhalt  ist  der  des 
alten  Volksrechts.“ 

*)  U 48,  cf.  ancli  die  conmientierte  Ausgabe  von  (lengler  (Erlangen  185i>); 
über  Name  und  Datierung  dieser  Rechtsquelle  s.  unten  Anhang  2,  über  ihr 
Geltungsgebiet  unten  Cap.  III. 

*)  Vgl.  Arnold  V.  G.  I 62  ff.,  Nitaeh  Minister.  S.  131,  132.  Köster  S.  5, 
Sclmnbe  Worms  in  Z.  f.  Gesch.  d.  Oberrh.  N.  F.  III  S.  258. 


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17 


statuta  aber  enthalten  in  keiner  Weise  eine  Beförderung  der 
städtischen  Entwicklung;  für  die  Änderung  der  Rechtsinstitu- 
tionen durch  die  neuen  wirtschaftlichen  Verhältnisse,  wie  sie 
sich  damals  schon  im  Wege  des  Gewohnheitsrechts  vollzogen 
hatte,  fehlte  Burchard  entschieden  das  Verständnis.  Dies  würde 
schon  aus  dem  einen  Beispiel  des  hier  zunächst  zu  besprechen- 
den tit.  19  des  erwähnten  Gesetzes  hervorgehen.  Derselbe 
lautet : 

Habuerunt  et  hoc  in  consuetudine,  si  quis  alteri  pecuniam 
snam  praestiterat,  redderet  quantum  voluisset,  et  quod  noluisset 
cum  iuramento  negaret.  sed  ut  declinentur  periuria,  constituimus, 
si  ille  qui  pecuniam  suam  praestiterat,  iuramentum  eius  pati 
nolnerit,  ipse  contra  eum  duello  pugnaturus  negatam  pecuniam 
acquirat,  si  voluerit;  si  autem  tarn  digua  persona  est,  qui 
pugnare  cum  eo  pro  tanta  re  dedignetur,  vicariumsuum  ponat. 

Es  war  also  auch  in  Worms  Sitte  geworden,  dass  eine 
Klage  um  Darlehnsschuld  durch  Eid  des  Beklagten  unwirksam 
gemacht  werden  konnte;  und  zwar  konnte  dieser  die  Rück- 
zahlungspflicht auf  diesem  Wege  gänzlich  oder,  wenn  er  über- 
zeugt war,  nicht  die  ganze  eingeklagte  Summe  zu  schulden,  in 
Rücksicht  des  betreffenden  Teils  von  sich  abwenden.  Das  war 
eine  bedeutende  Änderung  des  altgermanischen , noch  in  den 
Karolingischen  Capitularien *)  herrschenden  Rechts,  nach  wel- 
chem der  Kläger,  der  den  Beklagten  nicht  zum  Eide  kommen 
lassen  wollte,  stets  das  Kampfordal  beantragen  konnte,  mochte 
er  nun  die  ganze  Forderung  oder  deren  Höhe  in  Frage  stellen. 
Sicher  ist  diese  Änderung  des  Processrechts  aus  den  Rechts- 
anschauungen und  Rechtsbedürfhissen  kaufmännischer  Kreise 
hervorgegangen. 

Bereits  in  den  für  einzelne  besonders  privilegirte  Kauf- 
leute ausgestellten  Urkunden  Ludwig  d.  Fr.  findet  sich  die  Be- 
stimmung, dass  man  den  Inhaber  nicht  zum  Gottesurteil  heraus- 
fordem  dürfe.*)  In  den  ersten  Privilegien,  welche  sich  städti- 
sche Communen  verschaffen,  lassen  sie  sich  überall  das  Recht 
erteilen,  dass  ihre  Bürger  von  der  Verpflichtung  zum  gericht- 

*)  Siegel,  Gesch.  d.  deutsch.  GerichtsvTfhms.  (Giessen  1857)  S.  171,  202  ff., 
215  ff.,  v.  Bethmann-Hollweg,  der  gern). -romanische  Civilproc.  im  Ma. 
Bd.  II  (Bonn  1873)  § 88  S.  168,  169. 

*)  Form,  imper.  30  (L.  L.  V ed.  Zenmer  p 310). 

Ko  eh  ne,  Ursprung  der  St&dtverf&ssung  in  Worms,  Speier  und  Mainz.  8 


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18 


liehen  Zweikampf  befreit  sind.  Dies  ist  in  ganz  gleicher  Weise 
in  England,1)  wie  in  Flandern,*)  in  Frankreich,3)  wie  in  Italien 
und  Deutschland4)  der  Fall.  Auch  in  den  mittelrheinischen 
Städten  ist  ganz  ähnliches  walirzunehmeu.  So  lassen  die  Worm- 
ser in  das  ihnen  von  Otto  IV  erteilte  Privileg  zugleich  mit  der 
Bestätigung  des  bei  ihnen  herrschenden  Gewohnheitsrechts  noch 
ausdrücklich  die  Bestimmung  aufnehmen,  ne  quis  extranens  ali- 
quem  de  prefatis  civibus  nostris  vel  aliquis  civium  aliquem  ex- 
traneum  possit  in  duello  impetere.5)  Dass  aber  nach  dem 
Wormser  Gewohnheitsrecht  der  Zweikampf  schon  früher  völlig 
abgeschafft  war,  sehen  wir  aus  dem  von  den  Bürgern  herge- 
stellten falschen  Privileg  Friedrichs  I.6)  Dasselbe  ist  nach- 
weislich um  die  Wende  des  12.  und  13.  Jahrhunderts  entstan- 
den und  giebt,  wo  nicht  ein  sicheres  Bild  früherer  Zustände, 
so  doch  einen  festen  Anhalt  zur  Beurteilung  des  derzeit  in  der 
Stadt  geltenden  Rechts.  Hier  findet  sich  nun  folgende  Be- 
stimmung: Niemand  soll  in  Worms  gegen  einen  Einheimischen 
oder  Fremden  gerichtlichen  Zweikampf  beantragen  können. 

Wohl  ist  diese  Abschaffung  des  Kampfordais  in  Mainz  erst 
durch  Ludwig  den  Baiern,7)  in  Speier  seitens  des  Reichsober- 
hauptes urkundlich  gar  nicht  festgestellt  worden.  In  der  That 
aber  fand  auch  hier  der  Ausschluss  dieses  altgermanischen,  in 


')  Bigelow,  History  of  procedure  in  England  (London  1880)  p.  296. 

’)  Warnkönig,  Flandr.  Staats-  nnd  Rsgesch.  (Tilbing.  1835)  I S 357 
Nr.  6,  II  S.  138  Nr.  7 ff. 

’)  Schüffner,  Gesell,  d.  Rchtsvrfssng.  Frnkrchs.  Bd.II  (Fmkf.  1849)  S.  215, 
Warnkönig  Fruz.  Rsgesch.  Bd.  III  (Basel  1846)  S.  294  ff 

4)  cf.  die  von  Goldsclimidt  Handbuch  des  Handelsrechts  (Stuttg.  1875) 
8.  368  N.  5 und  von  Wagner  Haudbuch  des  Seerechts  (Leipzig  1884)  S.  35 
N.  2 gebrachten  Beispiele. 

•)  U 110. 

•)  U 73.  Die  Unechtheit  dieser  Urkunde  hat  Stumpf  (Sitzungsber.  d. 
Akad.  d.  Wiss.  zu  Wien  Bd.  32  (1860)  S.  603—638)  erwiesen.  Neuerdings 
hat  Schaube  Worms  Zschr.  f.  G.  d.  Oberr.  N.  F.  III  S.  276—286  sich  be- 
müht. zu  zeigen,  'lass  nur  die  Zengenreihe  willkürlich  zusammengesetzt, 
die  uns  erhaltene  Urkunde  aber  eine  Abschrift  des  Originals  «ei.  Die 
Widerlegung  dieser  Ansicht  folgt  weiter  unten. 

Hegel  Mainz  S.  142. 


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19 


ritterlichen  und  bäuerlichen  Kreisen ')  lange  üblich  gebliebnen 
Beweismittels  in  der  öfteren  Bestätigung  der  guten  Gewohn- 
heiten der  Stadt  und  dem  Ausschluss  auswärtiger  Gerichts- 
barkeit bereits  sehr  früh  officielle  Anerkennung.  Im  14.  Jahr- 
hundert galt  es  dem  kleinen  Kaiserrecht8)  als  allgemein  aner- 
kannter Rechtssatz,  dass  der  Stadtbürger  der  Forderung  zum 
gerichtlichen  Zweikampf  nicht  unterworfen  sei. 

Für  Burchard  lag  der  Grund  zur  Wiedereinführung  des 
Zweikampfs  in  religiösen  Bedenken  gegen  das  Beweismittel  des 
Eids,  das  er  im  weltlichen  wie  im  geistlichen  Process  nach 
Möglichkeit  zu  beschränken  suchte.8)  Die  häufige  Anwendung 
und  grosse  Wertschätzung  dieses  Beweismittels  schien  ihm  eine 
Begünstigung  des  Meineids.4)  Jedenfalls  ist  aber  in  dieser 
Reaktion  gegen  die  von  der  Wormser  Bevölkerung  schon  da- 
mals eingeführte  Beschränkung  des  Zweikampfs  ebenso  wenig 
eine  besondere  Begünstigung  des  Kaufmannstandes  wie  ein  Ver- 
ständnis für  seine  Interessen  zu  erblicken.  Trotz  Bnrchards 
Bestimmung  haben  sich  ja  im  Wormser  Stadtrecht  die  schon 
zu  seiner  Zeit  z.  T.  vollzogene  Abschaffung  des,  im  Han- 
delsprocess  schlechterdings  unbrauchbaren,  Beweismittels  des 
Kampfordais  und  seine  Ersetzung  durch  den  Eid  erhalten. 
Für  uns  aber  ist  hier  gerade  das,  was  Burchard  an  der  Rechts- 
bildung tadelt  und  rückgängig  zu  machen  sucht,  ein  wichtiges 
Zeichen  eines  sich  am  Mittelrhein  entwickelnden  besonderen 
Handels-  und  Stadtrechts. 

')  vgl.  die  häufige  Erw&lmuug  desselben  in  den  Weistiimcrn  bei  (trimm 
Wstmr.  i.  B.  dem  des  Fronhofs  zu  Kotzheim  (1610)  I S.  863,  ferner  I 305, 
II  213. 

*)  ed.  Endemann  (Cassel  1846)  S.  224. 

*)  Diese  Abneigung  gegen  das  Beweismittel  des  Eids  tritt  auch  in  den 
auf  Veranlassung  Bnrchards  gefassten  Beschlüssen  des  Coneils  von  Seligenstadt 
(gedr.  bei  Hirsch-Bresslan  Heinrich  II  Bd.  III  S.  350,  351,  c 7 u.  c 14)  hervor, 
wo  bei  kirchlichem  Prozess  über  Ehebruch  statt  des  Eids  Gottesurteil  einge- 
führt wird  cf.  Harttuug  in  Forsch,  z.  D.  G.  XVI  S.  592,  593.  In  den  leg.  et 
stat.  wird  eine  Bestimmung  ausdrücklich  folgendcrmassen  motivirt : ut  in  Om- 
nibus locis  ubicumque  tieri  possit,  declineutur  perinria  (tit  12). 

*)  vgl.  Schluss  der  vorigen  Note.  Eine  ganz  ähnliche  Tendenz,  aus  kirch- 
lichen Gesichtspunkten  den  Eid  als  Beweismittel  durch  Ordalien  zu  ersetzen, 
um  dadurch  dem  Missbrauch  des  Eides  entgegenznwirken,  ist  auch  im  Kölner 
Dienstrecht  nachzuweisen  cf.  Frenstlorff  in  Mitteil,  aus  dem  Stadtarch.  zu 
Köln  Bd.  I (1883)  Hft.  2 S.  51. 

** 


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20 


Ein  weiteres  Zeichen  hierfür  enthält  meiner  Meinung  nach  auch 
der  dem  eben  besprochenen  unmittelbar  folgende  Titel,  der  zu  den 
wenigen  gehört,  in  welchen  (wohl  meist  in  Anlehnung  an  schon 
vorhandenes  abweichendes  Gewohnheitsrecht)  für  die  Stadt  an- 
dere Bestimmungen  als  für  das  übrige  Herrschaftsgebiet  des 
Bischofs  getroffen  sind.  Dieser  tit.  20  lautet: 

Si  quis  in  civitate  Wormatia  duello  convictus  ceciderit, 
sexaginta  solidis  vadetur,1)  extra  civitatem  vero  infra  familiam, 
si  in  duello  occubuerit,  illi,  quem  impugnaverit,  pro  pugna  iniuste 
illata  suam  iustitiam  tripliciter  componat,  bannum  episcopo  per- 
solvat,  aduocato  viginti  solidos  tribuat,  aut  cutem  et  capillos 
amittat. 

Gengier *)  fasst  diese  Stelle  so  auf.  dass  in  derselben  im 
Anschluss  an  den  vorangehenden  Titel  nur  die  Bestrafung  des 
im  Zweikampf  unterlegenen  Klägers  angegeben  wird.  Er  und 
Arnold*)  meinen,  dass  das  Unterliegen  im  Zweikampf  nach 
dieser  Stelle  in  der  Stadt  bloss  die  Verurteilung  zum  Banngeld 
von  60  sol.  an  den  Bischof  nach  sich  zieht,  während  auf  dem 
Lande  auch  noch  die  verdreifachte  Frevelbusse  an  den  Sieger 
und  das  Vogtsgewedde  von  20  sol.  gezahlt  werden  müsse. 
Der  Grund  dieser  Verschiedenheit  liegt  nach  Gengier  und  Ar- 
nold darin,  dass  in  der  Stadt  der  Sieger  beim  Zweikampf  keine 
Aussicht  mehr  auf  eine  Busse  des  Besiegten  haben  sollte;  so  sei 
indirekt  ein  Zwang  geübt  worden,  andere  Beweismittel,  als  den 
Zweikampf,  zu  wählen.  Auf  diese  Weise  habe  man  eine  Ver- 
minderung der  Kampfordale  in  der  Stadt  erreichen  wollen. 

Gegen  diese  Auslegung  hat  Heusler4)  eine  Reihe  von  Einwen- 
dungen erhoben.  Er  fasst  den  Titel  so  auf,  dass  der  Unterliegende 
in  der  Stadt  60  sol,  „auf  dem  Lande  den  bischöflichen  Bann  (5 
sol?),  dem  Vogt  20  sol  und  dreifach  dem  Gegner  seine  iusti- 
tia  büssen  solle.“  So  sei  also  in  der  Stadt  eine  höhere  Busse 
für  das  Unterliegen  im  Zweikampf  verordnet,  um  von  diesem 
abzuschrecken.  Auf  dem  Lande  habe  ja  der  Unterliegende  25, 


l)  So  Boos  nach  allen  Handschriften.  Im  Sinne  ist  das  jedenfalls  = va- 
dietnr,  das  Gengier  Hofreoht  a.  a.  0.  hat. 

*)  Hofrecht  S.  24,  26. 

*)  V G.  I 63. 

4)  Ursprung  S.  121. 


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21 


in  der  Stadt  (>0  sol  zu  leisten  gehabt ; *)  die  Zahlung  der 
iustitia  au  deu  Gegner  sei  iii  beiden  Fällen  notwendig  gewesen 
nnd  nur  deshalb  neben  der  hohen  Bannbusse  nicht  ausdrück- 
lich erwähnt  worden,  weil  sie  sich  eben  von  selbst  verstan- 
den habe. 

Mit  Hecht  verwirft  Heusler  die  Arnold-Gengler’sche  Argu- 
mentation als  für  die  Denkweise  jener  Zeit  viel  zu  reflectiert. 
Fügt  er  dann  die  Frage  hinzu,  ob  der  Unterliegende  in  der 
Stadt  von  der  Zahlung  der  Busse  frei  war,  so  übersieht  er, 
dass  Gengier  den  Titel  für  nur  auf  das  Unterliegen  des  zum 
Zweikampf  herausfordernden  Klägers  bezüglich  hält  und  für 
diesen  allerdings  die  Frage  verneint.  Unser  Titel  bezieht  sich 
aber,  wie  aus  dem  si  qnis  am  Eingang  desselben  folgt,  ebenso 
auf  den  im  Zweikampf  unterliegenden  Beklagten  wie  auf  den 
Kläger.  Die  Geuglersche  Auffassung  ist  also  unmöglich.  Die 
Heuslersclie  aber  führt  zu  dem  ganz  unannehmbaren  Resultat, 
dass  auf  dem  Lande  an  den  Vogt  eine  vierfach  höhere  Busse 
als  an  den  Bischof  gefallen  sei.  Vor  allem  aber  ist  gegen 
Heuslers  Erklärung  und  zugleich  auch  gegen  die  Arnolds  und 
Genglers  anzuführen,  dass  weder  in  den  leges  et  statuta  nocli 
in  der  sonstigen  gesetzgeberischen  Thätigkeit  Burchards  irgend 
ein  Streben  nach  Beseitigung  des  Zweikampfs  bemerkbar  ist. 
Ganz  im  Gegenteil  giebt  er  ja  demselben  vor  den  wichtigsten  da- 
neben in  Betracht  kommenden  Beweismitteln,  Parteieid  und 
Zeugeneid,  überall  den  Vorzug.*) 

Mir  scheinen  alle  Schwierigkeiten  fortzufallen,  wenn  man 
vadiari  hier  nicht  in  dem  übertragenen  Sinne  von  „zahlen,“ 
sondern  in  dem  eigentlichen  des  „Bürgschaft-Leistens“  nimmt. 
Wir  können  dies  umsomehr,  als  in  tit.  32  unseres  Gesetzes  va- 
diari unzweifelhaft  in  diesem  Sinne  gebraucht  wird.*) 

Dann  erkennen  wir  in  unserem  Titel  20  eine  die  gewohn- 
heitsrechtliche Entwicklung  bestätigende  Begünstigung  des 
Kaufmanustandes.  Während  ausserhalb  der  Stadt  die  ent- 


*)  ähnlich  fasst  auch  Gierke  I S.  160  N.  16  die  Stelle  auf;  er  meint, 
dass  in  der  Stadt  60,  auf  dem  Lande  20  sol.  zu  zahlen  gewesen  seien. 

*)  cf.  oben  S.  19  mit  N.  8 n.  4. 

*)  Hier  heisst  es:  si  quis  . . furtum  fecerit  ...  et  superari  potcst, 
quod  aut  in  macello  pnblico  aut  in  conventu  concivium  debitori  (=  creditori) 
vadiatus  sit  supra  dictum  furtum. 


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22 


ehrende  Strafe  an  Haut  und  Haar  eintrat,  wenn  nicht  die 
durch  unglücklich  verlaufenes  Kampfordal  verfallenen  Geld- 
bussen sofort  gezahlt  wurden,  konnten  sich  die  Stadtbewohner 
davor  noch  durch  Bürgschaftsbestellung  sichern.  Diese  Anord- 
nung war  gewiss  zum  Vorteil  der  bischöflichen  Kasse  erlasseu 
und  lässt  uns  bereits  auf  eine  grössere  Creditfähigkeit  der 
Städter  gegenüber  den  Landbewohnern  schliessen. 

Was  die  anderen  speziell  für  die  Stadt  erlassenen  Bestim- 
mungen anbetrifft,  so  kommen  zunächst  zwei  strafrechtliche  in 
Betracht.  Nach  tit.  28  sollen  gewisse  in  der  Absicht,  einen 
Menschen  zu  ermorden,  vorgenommene  Handlungen,  wie  Schwert- 
zücken und  Bogenspannen,  sobald  sie  innerhalb  der  Stadt  ver- 
übt sind,  eine  Strafe  und  zwar  eine  solche  von  60  sol.  nach 
sich  ziehen.  Nach  tit.  27  soll  dieselbe  Strafe  auch  dann  ein- 
treten , wenn  jemand  einen  andern  auch  ohne  Tödtungsabsicht 
zu  Boden  geschlagen  hat. 

Ob  wir  in  diesen  Bestimmungen  die  Ausdehnung  bisher  für 
den  Marktverkehr  geltender  Verordnungen  auf  die  ganze  Stadt 
resp.  die  Anerkennung  einer  dahin  gehenden  Entwicklung  zu 
sehen  haben,  oder  ob  die  beiden  Titel  kanonistischen  Anschau- 
ungen entsprungen  sind,  deren  Durchführung  in  der  Stadt 
leichter  als  auf  dem  Lande  erschien,  muss  dahingestellt  bleiben. 

Auch  mit  dem  städtischen  Immobilar  - Sachenrecht  beschäf- 
tigt sich  das  Gesetz  Burchards.  Es  ist  bekannt,  von  welcher 
Wichtigkeit  für  die  ganze  städtische  Entwicklung  die  recht- 
liche Freigebung  des  Immobilienverkehrs  geworden  ist,  indem 
neben  und  zuletzt  an  die  Stelle  der  Leihe  nach  Hofrecht  die 
Leihe  nach  Stadtrecht  tritt.  Der  ohne  hofrechtliche  Gebühren 
sich  vollziehende  Umsatz  nach  Stadtrecht  war  ja  deshalb  für 
die  gesammte  städtische  Entwicklung  von  so  grosser  Bedeutung, 
weil  die  Verpfändung  der  Immobilien  den  in  Folge  des  Nicht- 
übergangs der  Schulden  auf  den  Erben  wirtschaftlich  unzu- 
reichenden Personalcredit  ersetzte. 

Was  zunächst  die  Befreiung  des  hofrechtlich  gebundenen 
Grundbesitzes  anbetrifft,  so  steht  das  Gesetz  Burchards  darin 
noch  in  den  Anfangspunkten  der  Entwicklung.  Allerdings  ent- 
hält tit.  26  eine  speciell  die  Stadt  betreffende  Bestimmung, 
welche  wenigstens  die  erste  Etappe  vom  hofrechtlich  gebund- 
nen  Erbzinsgut  zu  einer  freiem  Gestaltung  des  Leiheverhält- 


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23 


nisses  als  zuriickgelegt  erscheiueu  lässt.1)  Niemand  soll  näm- 
lich von  dem  in  der  Stadt  zu  Erbzins  besessenen  Grundstücke 
vertrieben  werden  können,  der  nicht  die  Zinszahlung  3 Jahre 
hindurch  unterlassen  und  sie  auch  nach  Ladung  zu  drei  echten 
Dingen  und  Mahnung  auf  denselben  nicht  nachgeholt  habe.  Auch 
dann  hängt  es  noch  von  dem  bischöflichen  ßeamteu  ab,  ob  das 
Zinsgut  wegen  Säumigkeit  in  der  Zinszahlung  confisoirt  wird.*) 
Dagegen  finden  wir  in  demselben  Titel  noch  ein  ausdrückliches 
Verbot,  an  dem  zu  Hofrecht  empfangnen  Grundstück  Veräus- 
serungen  vorzunehmen.*)  Für  solche  scheint  der  Verkauf  eines 
Hauses  mit  Zurückhaltung  des  übrigen  Hofraums,  auf  dem  noch 
andere  Häuser  errichtet  wurden,  typisch  gewesen  zu  sein.  In 
Folge  des  Wachstums  der  Stadt  mochte  es  ja  vielfach  dem  Iu- 
haber  eines  Zinsgrundstücks  nützlicher  erscheinen,  Teile  des- 
selben zu  Wohnzwecken  zu  verkaufen  als  den  ganzen  ihm  über- 
tragenen Platz  für  seine  Hauswirtschaft  zu  nutzen.  Die  aus 
solcher  Teilung  hervorgehende  Gefährdung  des  Zinses  lag 
freilich  nicht  im  Interesse  des  Grundherrn,  und  Bureliard  ver- 
bot deshalb  die  Teilung  der  von  ihm  ausgeliehenen  Grundstücke 
bei  Strafe  des  Verlustes  derselben.  Dass  aber  grade  im  Mittel- 
alter  die  Entwicklung  auf  immer  grössre  Teilung  der  Hofstätten 
ging , lässt  sich  aus  den  einschlagenden  Verhältnissen  in  Köln 
schliessen,  wo  mehrere  Häuser  unter  einem  Dach  sicher  be- 
zeugt sind.4) 

*)  Über  die  Bedeutung  der  Erbleihe  s.  insbes.  Arnold,  Eigeutnm  S.  34 
ff.,  S.  54  ff.,  vgl.  auch  Hoeniger  in  Jabrb.  f.  National»!;,  u.  Statistik  herausg. 
v.  Conrad  Bd.  42  S.  570  ff.  Nach  Burchards  Gesetz  gab  es  kein  zu  Erbleibe 
ansgetanes  bischiifliches  Gut,  das  nicht  auch  dem  Hofrecht,  unterstellt  gewesen 
wäre,  wie  Cap.  III  S.  34,  35  gezeigt  werden  wird. 

*)  Tit  26:  Lex  erit  concivibus,  nt  si  qnis  in  civitate  hereditalem  are- 
am  habuerit,  ad  manns  episcopi  diiudicari  non  poterit.  nisi  tres  annos  censum 
et  aliam  suam  iustitiam  inde  supersederit,  et  post  ho»  tres  annos  ad  triu  legi- 
time placita  invitetnr,  et  si  snpersessum  ius  pleniter  emendare  voluerit.  ipse 
eam  sicut  antea  possideat.  Dass  die,  hier  nnr  den  städtischen  Censnaleu 
gemachte,  Bewilligung  sich  auch  in  ländlichen  Hofrechten  findet,  aber  das 
hinzngeftigte  poterit  noch  die  Möglichkeit  weiterer  Nachsicht,  in  der  Zins- 
forderung enthält,  hat  schon  Nitzsch  S.  231  mit  Recht  betont. 

*)  Si  domnm  in  civitate  vendiderit,  aream  perilat. 

*)  cf.  Hoeniger,  Urk.  u.  Akten  d.  Kolumba-Kirchspiels  zn  Köln  (Annalen 
d.  hist.  V.  f.  d.  Niederrh.  XLVI)  S.  100  N.  117  ff.,  S.  103  N.  216  ff.  Über  die 
bes.  auch  in  Basel  nachweisbare  Tendenz  der  Teilung  des  Grundeigentums 
„bis  zur  äussersten  Grenze  des  Möglichen“  cf.  auch  Arnold  Eigentum  S.  182—184. 


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24 

Eine  andre  ebensowohl  für  die  ländlichen  wie  für  die  städ- 
tischen Hörigen  erlassene  Bestimmung  Burchards  verbietet  den- 
selben, Grundstücke,  sogar  solche,  die  sie  selbst  von  Freien  gekauft 
haben,  noch  an  andre  als  ihre  Mithörigen  zu  veräussern.1) 

Allerdings  wurde  der  Einfluss  grade  dieser  Bestimmungen 
auf  die  städtische  Entwicklung  wohl  dadurch  gemindert,  dass 
damals  die  in  die  Stadt  zuziehende  freie  Bevölkerung  ihre  Frei- 
heit meist  aufgegeben  und  den  Eintritt  in  die  bischöfliche  Hof- 
genossenschaft nachgesucht  zu  haben  scheint.  Dass  die  Zahl  der 
damals  in  die  bischöfliche  Hofgenossenschaft  neu  aufgenommenen 
Personen  recht  bedeutend  gewesen  sein  muss,  geht  aus  einer  Urkunde 
Azzechos,  des  Nachfolgers  Bischof  Burchards,  hervor.*)  Azzecho 
schenkt  darin  der  Custodei  den  Todfall  derer,  welche  in  der 
Zeit  von  seiner  Ordination  bis  zu  seinem  Tode  in  die  bischöf- 
liche Hofgenossenschaft  neu  eintraten.  Nach  seiner  Urkunde 
konnten  dies  entweder  freie  Personen  sein,  welche  sich  selbst 
dem  heiligen  Petrus  tradiert,  oder  unfreie,  welche  von  ihren 
Herrn  freigelassen  und  dem  Heiligen  übergeben  waren.*)  Offen- 
bar handelte  es  sich  hier  um  fremde  Ansiedler,  welche,  früher 
frei,  die  Censualenstellung  der  Freiheit  vorzogen,  oder,  von  Ge- 
burt unfrei,  sich  durch  Vermittlung  der  Kirche  von  ihrem  frühem 
Herrn  freikauften  und  damit  in  die  kirchliche  familia  ein- 
traten. 

Kehren  wir  nun  zu  Burchards  Gesetz  zurück,  so  wird  nach 
den  obigen  Erörtrungen  nicht  mehr  zugegeben  werden  können, 
dass  dasselbe  die  städtische  Entwicklung  in  hervorragendem 
Masse  gefördert  hat.  Wohl  lässt  sich  aus  den  leges  et  sta- 
tuta erkennen,  dass  bereits  damals  am  Mittelrhein  der  gericht- 
liche Zweikampf  oft  durch  Parteieid  ersetzt  wurde,  eine  Er- 
scheinung, in  welcher  nach  der  ganzen  Entwicklung  der  auf 
germanischen  Grundlagen  erwachsenen  Rechte  kaufmännischer 
Einfluss  erkennbar  ist;  ausserdem  war  in  der  Stadt  der  Besit- 
zer eines  hofrechtlichen  Zinsgrundstücks  günstiger  gestellt  als 

*)  tit  21 : Si  quis  ex  familia  sancti  Petri  praedium  . . . . a libero  homine 
coniparaverit  vel  aliqno  modo  acquisiverit,  extra  familiam  neque  cum  ad- 
vocato  neque  sine  advocato  nisi  commutct,  dare  non  liceat. 

*)  U 51. 

*)  Qui  . . vel  sponte  ex  libertate  se  beato  Petro  tradiderunt  vel  eervi- 
tute  liberati  aliorum  traditione  venenmt. 


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25 


auf  dem  Lande,  und  in  ihr  winden  auch  gewisse  Friedbrüche 
schärfer  bestraft,  worin  ebenfalls  Anfänge  der  spätem  städti- 
schen Rechts-Entwicklung  zu  sehen  sind.1)  Demnach  lässt  sich, 
znmal  im  Mittelalter  die  Bezeichnungen  Städter  und  Kaufmann 
oft  identisch  gebraucht  werden,*)  schon  im  elften  Jahrhundert 
die  Existenz  eines  besondern  Stadtrechts  oder  Kaufmannsrechts 
in  Worms  constatieren.  Nur  ist  dieselbe  durchaus  nicht  etwa 
Burchards  Einwirkung  zuzuschreiben.  Während  sich  unter  den 
vermögend  gewordnen  Kaufleuten  der  Stadt  bereits  neue  und 
von  den  nnter  den  ländlichen  Hörigen  der  Kirche  geltenden 
ganz  abweichende  Normen  gebildet  hatten , wollte  grade 
Bnrchard,  dass  ein  und  dasselbe  Gesetz  allen  von  St.  Peter  abhän- 
gigen Personen  vor  Augen  stehend,  über  vermögende  und  un- 
vermögende  herrsche ; „keine  redegewandte  Persönlichkeit  solle 
irgendwo  neue  Rechtsnonnen  zur  Geltung  bringen!“  *)4) 

Gewiss  aber  haben  diese  Gesetze  Burchards  die  weitre  ge- 
wohnheitsrechtliche Entwicklung  specifisch  städtischen  Rechts 
nicht  verhindern  können.  Wir  haben  schon  darauf  hingewiesen, 
dass  das  Begehren  nach  Ausschluss  fremder  Gerichtsbarkeit,  das 
später  unter  den  Forderungen  der  Bürger  voranstand,  sicher- 
lich eine  Folge  der  von  der  ländlichen  durchaus  abweichenden 
städtischen  Rechtsbildung  war.*) 


*)  Dass  für  solche  Vergehen,  die  als  Friedbruch  aufgefasst  werden 
konnten,  wie  die  in  tit.  27  n.  28  der  lege»  erwähnten,  in  den  Städten  be- 
sonders scharfe  Strafen  eintraten,  vgl.  unten  Cap.  VjU. 

’)  vgl.  Cap.  III. 

*)  Leges  et  stat.  Einl:  has  iussi  scriberc  leges,  ne  . . . aliqua  loquax 
persona  supradictae  familiae  nori  aliquid  subinferre  posset,  sed  nna  eadem- 
que  lex  diviti  et  panperi  ante  ocnlos  praenotata  omnibus  esset  communis. 

*)  Vielfach  ist  angenommen,  dass  Bnrchard  in  seinem  Gesetz  das  Buteil 
aufgehoben.  Daas  diese  Ansicht  schwerlich  richtig  ist,  wird  unten  in  Capitel 
III  8.  36  gezeigt  werden. 

*)  Früher  hielt  man  auch  das  schon  in  den  leges  et  Statut,  hervortre- 
tende Oesammthandsrccht  der  Ehegatten  (tit  6)  sowie  die  darin  herrschende 
particuläre  Gütergemeinschaft  (tit  1),  als  im  Gegensatz  zu  dem  auf  dem  Lande 
herrschenden  Systeme  der  Verwaltungsgemeinschaft  oder  Güterverbindung 
(über  den  letztem  Namen  cf.  Heusler  Institut.  II S.  364  N.  1)  stehend,  für  eine  speci- 
fisch städtische  Rechtsbildung  (cf.  z.  B.  Eichhorn  Einleit,  in  das  dentsehe  Pri- 
vatr.  (Gött.  1845)  § 298  S.  716).  Jetzt  ist  dieser  Gedanke  aufgegeben,  da 
beide  Systeme  ihre  Grundlagen  schon  in  den  deutschen  Volksrechten  haben 


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26 


Möglich  wurde  diese  neue  Rechtsbildung  besonders  dadurch, 
dass,  wie  im  vierten  Kapitel  nachgewiesen  werden  wird,  die 
Schöifenst&hle  schon  im  elften  Jahrhundert  mit  Kaufieuten  be- 
setzt wurden.  Zum  Beweise  dieser  Behauptung  und  zur  Klar- 
legung der  Verfassungs-Entwicklung  müssen  aber  noch  die  da- 
maligen Geburts-  und  Berufsstäude  innerhalb  der  mittelrheiui- 
schen  Städte  untersucht  werden. 


Kapitel  III. 

Die  Einwohnerstände  in  Worms,  Mainz  und  Speier. 
Ausbildung  eines  Standes  von  Grosskaufleuten. 

Nach  Arnold1)  zerfiel  die  Einwohnerschaft  in  unsern  Städ- 
ten in  die  Mitglieder  der  altfreien  Gemeinde  und  die  unfreien 
Stände;  zu  letzteren  gehörte  die  bischöfliche  familia,  in  welche 
auch  die  früheren  Fiscalinen  eingetreten  seien,  und  die  eigent- 
lichen Leibeignen,  welche  im  Eigentum  freier  oder  zur  familia 
gehörender  Personen  standen.  Nur  die  Altfreien  und  die 
bischöflichen  Ministerialen  hatten  nach  Arnold  am  Stadtgericht 
Anteil ; von  diesen  bei  den  Ständen  sei  auch  allein  die  städtische 
Freiheit  errungen  und  habe  sich  erst  nach  und  nach  auf  die 
übrige  Bevölkerung  ausgedehnt.*) 


und  »ich  die  Gütergemeinschaft  auch  in  rein  ländlichen  Gebieten  ebenso  wie 
in  den  Städten  findet  (Heusler  Institut.  II  S.  292  ff.  namcnti.  8.  321  cf.  auch 
Schroeder  Gesch.  des  ehel.  Güterrechts  Bd.  II  TI.  1 (Stettin  18(58)  S.  115  ff. 
S.  169  ff.  Bd.  II  TI.  2 (1871)  S.  177  mit  N.  29).  Indes»  haben  doch  nach  den 
neuesten  Forschungen  Uber  diesen  Gegenstand  zn  der  frühen  Ausbildung  der 
Gütergemeinschaft  in  den  Städten  das  dortige  Einwohuergemisch  und  der 
Umstand,  dass  sich  dort  die  Vermögen  wesentlich  durch  Thätigkeit  der  Ein- 
zelnen bildetep,  viel  beigetragen  (Heusler  a.  a,  Ort.  S.  304,  322).  Übrigens 
ist  zu  beachten,  dass  in  den  leg.  et  Statut,  die  das  eheliche  Güterrecht  be- 
treffenden Bestimmungen  nicht  auf  die  Städter  beschränkt  sind , sondern  für 
alle  gelten,  welche  zur  bischöflichen  familia  gerechnet  werden.  Nach  dem 
angeführten  erscheint  es  freilich  auch  als  möglich,  dass  der  Bischof,  damit 
unter  den  zn  »einer  familia  gehörigen  dasselbe  Recht  herrsche,  für  dieselben 
das  bis  dahin  unter  der  städtischen  Bevölkerung  geübte  eheliche  Gflterrecht 
z um  Gesetz  erhoben  hat. 

')  V.  G.  I 66—71. 

»)  ibid.  138,  187. 


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27 


Ähnliche  Gedanken  finden  sich  auch  nocli  bei  H e u s 1 e r. ')  Die 
Stadtfreiheit  wird  bei  ihm  wesentlich  von  eiuer  altfreien  Ge- 
meinde gewonnen,  welche  zwar  durch  viele  Selbstunterwerfungen 
unter  bischöflichen  Schutz  gemindert,  aber  auch  durch  zahl- 
reichen Zuzug  vom  Lande  gemehrt  und  gekräftigt  ist.  „Weil 
der  Zusammenhang  mit  dem  Reich  innerhalb  dieser  Gemeinde 
nie  abgeschnitten  worden,  so  Übernehmen  die  Städte  selbst 
wieder  die  Rechte  und  Pflichten  der  Reichsstandschaft,  sobald 
die  Bischöfe  die  Reichspflichten  nicht  mehr  erfüllen.“*)  Dagegen 
hatten  nach  dem  Vorgänge  Eichhorns*)  auch  Hegel4)  und 
Nitzsch5)  die  Bevölkerung  der  Bischofsstädte  — wenigstens  der 
in  der  vorliegenden  Untersuchung  behandelten  — im  11.  Jahr- 
hundert für  unfrei  erklärt ; in  vielen  Einzelheiten  von  einander 
abweichend,  lassen  doch  alle  drei  das  Stadtrecht  wesentlich  aus 
dem  Hofrecht  hervorgehen.  Ähnlich  meint  Gierke,*)  dass  sich 
nur  in  drei  deutschen  Städten,  in  Köln,  Magdeburg  und  Trier, 
eine  freie  Gemeinde  erhalten  habe,  und  verneint  so  die  Existenz 
derselben  in  den  hier  betrachteten  Orten.  Freilich  sei  „wahr- 
scheinlich der  Kern  der  Bürgerschaft“  in  diesen  „nur  eines 
Teils  seiner  Freiheitsrechte  verlustig  gegangen;“  doch  sei  er 
sich  des  „Anspruchs  auf  Freiheit  und  echtes  Eigentum  immer 
bewusst  geblieben.“ 

Wie  über  die  Existenz  einer  dem  Bischof  nur  öffentlich- 
rechtlich  unterworfenen  Bürgergemeinde,  so  sind  auch  über  die 
Gewalt,  die  der  Bischof  hinsichtlich  der  ihm  privatrechtlich  un- 
terworfhen  Stadtbewohner  besass,  und  über  die  Zusammenset- 
zung und  Einteilung  dieser  Bevölkerungsclasse  die  verschieden- 
sten Ansichten  geäussert.  Während  Hegel7)  das,  was  im  10. 
und  11.  Jahrhundert  die  bischöfliche  familia  genannt  wurde, 
für  eine  aus  persönlich  Freien  und  Unfreien  gemischte  Masse, 
unklar  und  trübe  in  ihrer  rechtlichen  Stellung,  hält,  erscheint 


*)  Urspr.  S.  100  ff.,  150  ff,  171  fl. 

*)  ibid.  ß.  VIII. 

*)  Ztachrft.  f.  (jcsch.  Rswas.  I 232,  233. 

*)  Sjbel’s  Hintor.  Ztachr.  II  S.  448;  Allgem.  Mon&taachr.  f.  Wia«.  und 
Litter.  Kiel  1854  S.  169,  170. 

»)  S.  117  ff 
•)  I 251. 

*)  Monutaachr.  1854  S.  170. 


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28 


Heusler1)  „ebendiese  familia  nach  Stand  und  Recht  in  abge- 
grenzte Genossenschaften  (Dienstmannen,  Censnaleu,  Dages- 
calcen)  gegliedert.“ 

Suchen  wir  diesen  Behauptungen  gegenüber  ans  den  that- 
sächlich  zu  Gebote  stehenden  Quellen  die  Standesverhaltnisse 
in  den  mittelrheinischen  Städten  für  das  11.  Jahrhundert  fest- 
znstellen.  Dazu  dürfte  es  angebracht  sein,  zunächst  zu  unter- 
suchen, was  unter  dem  vielfach  entgegentretenden  Begriff  der 
familia  in  dieser  Zeit  zu  verstehen  ist.  Schon  in  der  Mero- 
winger und  Karolingerzeit  bedeutet  familia  vielfach  die  Unfreien 
eines  bestimmten  Rechtssubjects , insbesondere  die  des  Königs 
oder  die  einer  Kirche  ;*)  jedenfalls  schon  am  Ende  des  nennten 
und  Anfang  des  zehnten  Jahrhunderts  wird  diese  Bezeichnung 
auch  ganz  allgemein  auf  alle  von  dem  betreffenden  Herrn  pri- 
vatrechtlich abhängigen  Personen  ausgedehnt.*)  Neben  den  in 
voller  Knechtschaft  stehenden  Unfreien  gehören  zu  der  familia 
einer  Kirche  auch  alle  diejenigen,  die  freigelassen  unter  ihrem 
Schutze  verblieben4)  oder  sich  in  ihren  Schutz  begeben  hatten ; 
ferner  wird  auch  der,  welcher  Land  von  der  Kirche  empfangen 
hatte,  zur  familia  gerechnet.  Tritt  diese  weitre  Bedeutung 
von  familia,  dass  nämlich  alle  privatrechtlich  der  Kirche  unter- 
worfnen  Personen  darunter  verstanden  werden,  auch  sonst  viel- 
fach hervor,*)  so  lässt  sie  sich,  wie  wir  sehen  werden,  ganz  be- 
sonders an  dem  Gesetz  Burchards  nachweisen.  Waitz6)  bemerkt 
freilich,  dass  öfters  überhaupt  alle,  welche  in  irgend  einer 


')  Ursprung  S.  107. 

*)  cf.  Gregor.  Turon.  Liber  in  glor.  confess.  c 22  (M.  G.  8cr.  Rer.  Mer.  p 
762);  Marculii  form.  82  (L.  L.  V ed.  Zentner  p 95),  form.  Senou.  reccnt.  9 
(ibid  p 215);  Capital.  Eccles.  818,  819  c 6 (L.  L.  I in  4°  ed.  Boretius  p 
277) ; 8.  8.  II  p 45  c 12  etc. 

•)  cf.  bes.  Formula  Angieus.  37  (L.  L.  V ed.  Zeumer  p.  361).  Hier  be- 
kräftigen eine  Urk.,  in  weicher  ein  einem  Kloster  gegebenes  Grundstück  dem 
Schenker  als  Precarie  zurückgegeben  wird,  auch  de  ipsa  familia  ecclesiastica 
laicorum  septem  consentientes,  die  offenbar  dieselbe  Stellung  wie  der  Empfänger 
der  Urkunde  haben.  So  ist  auch  die  in  der  Urkunde  Heinrichs  I für  Stablo 
935  Juni  8 (St.  47,  M.  G.  Dipl.  reg.  et  imp.  Germ  I p 74)  erwähnte  familia 
nnr  znr  Zinszahlung  verpflichtet. 

4)  cf.  Maurer  Gesch.  d.  Fronhöfe  (Erlangen  1862)  Bd.  I 66. 

*)  cf.  Waitz  V.  G.  V S.  190  und  die  ibid.  N.  4 gesammelten  Beispiele. 

•)  a.  a.  0. 


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29 


Unterordnung  unter  einem  andern  stehen,  zu  seiner  familia 
gerechnet  werden ; doch  scheinen  die  überhaupt  bloss  öffent- 
lichrechtlich dem  Bischof  unterworfnen  Personen,  welche  durch 
die  bekannten  Grafschaftsverleihungen  unter  seine  Jurisdiction 
gekommen  waren,  wenigstens  in  den  Urkunden  und  Gesetzen 
des  elften  Jahrhunderts  nicht  als  mit  zur  familia  gehöng  be- 
trachtet za  sein.1)  Diese  Frage  hängt  aufs  engste  mit  der  andern 
so  viel  erörterten  zusammen,  ob  noch  solche  vom  Hofrecht  gänzlich 
freigebliebenen  Personen  in  unsern  Städten  existierten.  Diese, 
die  angeblich  so  einflussreichen  „ Ältfreien“  werden  in  den  Quel- 
len, insbesondere  in  dem  Sinne  einer  von  der  familia  gesonder- 
ten, den  Bischof  nur  in  öffentlichrechtlichen  Beziehungen  unter- 
worfenen Gemeinde  direkt  gar  nicht  genannt.  In  den  leges  et 
statuta  Burchardi  scheinen  sie  nirgends  erwähnt  zu  werden.*) 

')  Von  den  bei  Waitz  V 190  N.  4 gebrachten  Beispielen  können,  da 
unter  libera  familia,  wie  gezeigt  werden  wird,  Censnalen  zn  verstehen  sind, 
auf  nnr  öffentlichrechtlich  dem  Bischof  unterworfene  Personen  höchstens  die 
beiden  Chronikens teilen  aus  dem  zwölften  Jahrhundert  (Anna).  Hild.  u.  G. 
8.  Trnd.)  bezogen  werden.  Damals  nach  noch  weitem  Fortschritt  der  Aus- 
gleichung der  alten  Stände  in  den  Städten  scheinen  wenigstens  von  kirch- 
lichen Schriftstellern  kurzweg  alle  Stadtbewohner  zur  familia  gerechnet  zu 
sein.  So  ist  es  wohl  zn  verstehen,  dass  in  den  gesta  s.  abbat.  Trndon.  IV 
c 12  (S.  S.  X p 251)  von  Otbert  von  Lüttich  gesagt  wird,  dass  er  .generöse 
natns  de  familia  et  libertate  Lovanensium"  schon  durch  diese  seine  Ab- 
stammung geeignet  gewesen,  den  Übergriffen  der  Vögte  entgegenzntreten. 
Die  Stelle  annal.  Hildesheim  a 1116  (S.  8.  III  p 131)  ist  bekanntlich  (cf. 
Scheffer-Boichorst , Die  annal.  Patherbr.  Innsbr.  1870,  p 181,  Wattenbach 
D.  Gq.  II  S.  26,  S.  36—38)  den  Paderborner  Annalen  entlehnt,  also  von 
einem  Sachsen  geschrieben.  Dieser  kann,  da  sich  die  Spitzen  aller  Bevölke- 
rungs-Klassen für  Erzb.  Adalbert  von  Mainz  bei  Heinrich  V verwandten, 
diese  als  nrbis  familia  tarn  nobiles  tarn  ministeriales  bezeichnet  haben,  ohne 
dass  daraus  etwas  anderes  geschlossen  werden  kann,  als  dass,  ausser  den  im 
ministerialischen  Dienstverhältnis  zn  Adalbert  stehenden,  auch  andere  ange- 
sehene Bürger  für  ihn  baten. 

*)  Eine  Erwähnung  einer  dem  Bischof  nur  in  öffentlich-rechtlichen  Be- 
ziehungen unterworfenen  Person  könnte  man  nur  in  tit  21  der  leges  et  sta- 
tuta finden;  allein  abgesehen  davon,  dass  dieser  über  homo,  von  dem  der 
Hörige  des  Bischofs  Immobilien  erwirbt,  selbst  wenn  es  städtische  sind,  nicht 
in  der  Stadt  zu  wohnen  braucht,  kann  er  auch,  sei  es,  dass  er  ein  städtisches, 
sei  es,  dass  er  ein  ländliches  Grundstück  verkauft,  unter  einem  vom  Bischof 
ganz  unabhängigen  Grafen  stehen.  Gengier  S.  6 und  Schanbe  Ztschr.  f.  G. 
d.  Oberrh.  N.  F.  m S.  260  meinen,  dass  die  concives  der  leges  et  statuta 
im  Gegensatz  zn  cives,  .den  vollfreien  Stadtbürgern, " stehen,  ich  finde  aber 


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30 


Obgleich  dies  Gesetz  Bestimmungen  enthält,  welche  alle  Ein- 
wohner der  Stadt  betreffen,  so  wird  doch  gesagt,  dass  dasselbe 
cum  consilio  cleri  et  militum  et  totius  familiae  erlassen  sei,  ohne 
dass  die  Altfreien  dabei  genannt  werden.  Damit  stimmt  es 
auch,  das  Aribo  von  Mainz  1025 l)  an  clerus,  militia  et  familia 
als  die  eigentlichen  Wähler  des  Wormser  Bischofs  Azzecho  in 
betreffs  der  Weihe  desselben  schreibt;  von  der  bischöflichen 
Herrschaft  freigebliebner  Stadtbewohner  wird  hier  gar  nicht 
gedacht.*) 

Man  wird  auch  nicht  als  Beweis  flir  die  Existenz  und 
Wichtigkeit  freier  Personen  in  den  Städten  den  Umstand  an- 
führen können,  dass  in  den  Zeugenlisten  mehrerer  bischöflicher 
Urkunden  des  zwölften  Jahrhunderts  vor  den  Ministerialen  liberi 
genannt  werden.  Diese  liberi  sind  ja  nicht  Stadtbürger.*)  Be- 
sonders klar  geht  dies  aus  einer  Wormser  Urkunde  von  1198 
hervor,  in  der  die  „liberi“,  offenbar  Grafen  und  Herren  der 
Umgegend  von  Worms,  in  direktem  Gegensatz  sowohl  zu  den 
Ministerialen,  als  zu  den  zuletzt  genannten  Wormser  Bürgern 
stehen.1)  Der  unter  den  liberi  in  den  Zeugenlisten  Wormser 
Urkunden  mehrfach  genannte  Walterus  liomo  de  Husen  ist  im 
Stande,  die  Vogtei  von  Rorheim  zu  vergeben;*)  auch  in 
Ibbersheim  hat  er  Vogteirechte.*)  Solche  Persönlichkeiten 
mochten  den  bischöflichen  Hof  besuchen  und  hier  mochte  ihr 
geachteter  Name  zur  Beglaubigung  von  in  ihrer  Gegenwart  ab- 
geschlossenen Rechtsgeschäften  gebraucht  werden;  von  ihnen 
stammt  aber  gewiss  ebenso  wenig  das  spätre  städtische  Patri- 
ciat  ab,  als  sie  zum  St&dtrat  gehörten.  Wird  doch  auch  der 
den  Ausdruck  dves  in  diesem  Sinne  jedenfalls  bis  zur  Mitte  des  elften  Jahrhunderts 
in  den  mittelrheinischen  Städten  gamiebt  erwähnt ; wo  er  sich  sonst  schon  ror 
der  Entstehung  der  Stadtverfassung  findet,  hat  er  aber  lediglich  lokale  Be- 
deutung und  bezeichnet  nicht  irgend  eine  Rechtsstellung  oder  Zugehörigkeit 
zu  einem  politischen  Verbände,  cf.  Uierke  II  574 — 575. 

■)  Boos  Urkb.  p.  352  N.  9.  cf.  Bresslau  Conrad  II  Bd.  I S.  96. 

*)  Die  im  Briefe  Aribos  genannte  militia  und  ebenso  auch  die  in  der 
Einleitung  der  leges  et  statuta  erwähnten  milites  bilden  nur  einen  engem 
Kreis  innerhalb  der  bischöflichen  familia;  vgl.  darüber  unten  S.  47  ff. 

*)  cf.  Hegel  in  Allgem.  Honatsschr.  1854  S.  178,  Heusler  Ursprung 
S.  88,  89. 

*)  U.  103. 

•)  U.  75. 

*)  U.  84. 


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31 


Pfalzgraf  bei  Rhein  in  der  Zeugenliste  bischöflicher  Urkunden 
genannt.1) 

Ebenso  wird  auch  nicht  für  die  Existenz  vollfreier  Per- 
sonen in  unseru  Städten  angeführt  werden  können,*)  dass  sich 
wie  in  andern,*)  so  auch  in  den  den  Bischöfen  von  Worms  und  Speier 
erteilten  Immunitätsurkunden  freie  bischöfliche  Hintersassen  be- 
sonders erwähnt  finden.4)  Die  Teilung  der  Hintersassen  in  freie 
und  unfreie  in  diesen  Immunitätsurkunden  entspricht,  wie  unten 
gezeigt  werden  wird,*)  ganz  der  in  Oensualen  und  Dagewarden 
innerhalb  der  familia. 

Demnach  kann  aus  den  Ausdrücken  liberi  oder  mgenui  in 
den  erwähnten  bischöflichen  und  königlichen  Urkunden  in  keiner 
Weise  auf  die  Existenz  altfreier  d.  h.  dem  Bischof  privatrecht- 
lich garnicht  unterstehender  Personen,  über  die  er  nur  in  Folge 
der  Grafschaftsverleihungen  Rechte  hatte,  geschlossen  werden. 
Dass  ferner  die  in  Burchards  Gesetz  tit.  26  genannten  con- 
cives*)  keine  Altfreien  sind,  wie  Arnold7)  behauptete,  sondern 
dieser  Ausdruck  grade  Mitglieder  der  bischöflichen  familia  be- 
zeichnet, 1 ist  schon  von  Nitzsch“)  und  Waitz*)  nachgewiesen. 
Mit  Recht  hat  ersterer,  wie  oben 10)  gezeigt,  darauf  hingewiesen, 
dass  wir  in  diesem  Titel  eine  auch  bei  ländlichen  Hofgenossen- 
schaften  häufige  Concession  des  Grundherrn  finden,  nur  das  die- 
selbe hier  noch  weiter  als  sonst  geht;  Waitz  hat  mit  Recht 
auf  die  Erwähnung  von  concives  in  tit.  12  und  tit.  32  unsres 
Gesetzes  hingewiesen,  in  welchen  diese  Bezeichnung  ganz  offen- 
bar auf  innerhalb  der  familia  stehende  Personen  geht.11)1*) 

*)  WU  77;  Sp.  ü.  27. 

*)  Wie  ca  von  Hensler  S.  95,  96  geschieht. 

•)  cf.  ibid;  Waitz  V.  G.  V 186  N.  3. 

*)  WU  12,  WU  32:  homines  ecolesiae  tarn  ingenuos  quam  servos;  Sp.  U 7. 

*)  vgl.  nuten  8.  39  ff. 

•)  cf.  oben  S.  29  N.  6. 

) V.  ö.  I S.  65. 

*)  Minister.  S.  231. 

•)  V.  G.  V S.  211  N.  4. 

,9)  cf  Uap.  II  S.  23  mit  N.  2. 

")  Nnr  sind,  wie  cs  anch  Waitz  a.  a.  0.  hervorhebt,  die  concives  in  tit. 
26  .als  besonderer  Teil  anfgefaast  und  die  in  der  Stadt  ansässigen  gemeint.* 

'*)  Weniger  Gewicht  kann  daran!'  gelegt  werden,  dass,  wie  Gengier  8. 6 
und  Schaube  Worms  8.  259  meinen . schon  der  Name  concives  anf  ein 


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32 


Obgleich  wir  so  die  meisten  für  die  Existenz  einer  alt- 
freien Gemeinde  gebrachten  Beweise  ablehnen  müssen,  können 
wir  doch  wohl  annehmen,  dass  es  in  Worms  im  elften  Jahr- 
hundert noch  freie,  im  Sinne  vom  Bischof  privatrechtlich  unab- 
hängiger, Personen  gegeben  habe.  Zunächst  lässt  sich  für  die 
Karolingerzeit  die  Existenz  vollfreier  Familien  zu  Worms  und 
Mainz  aus  den  erhaltnen  Lorscher  und  Fuldaer  Traditionsnr- 
kunden  schliessen.1)  Es  ist  doch  wenig  wahrscheinlich,  dass 
alle  Nachkommen  solcher  freier  Familien,  welche  zur  Karolinger- 
zeit in  Worms  gelebt  haben,  bis  zum  elften  Jahrhundert  durch 
Selbstunterwerfung  in  privatrechtlicbe  Abhängigkeit  von  der 
Kirche  gekommen  sind.  Ferner  geht  die  Existenz  vollfreier 
Personen  in  Speier  und  Mainz  auch  aus  folgender  Thatsache 
hervor,  die  zugleich  auch  einen  Analogieschluss  auf  Worms 
erlaubt.*)  Es  sind  uns  aus  den  beiden  erstgenannten  Städten 
noch  Traditionen  von  Grundeigentum  an  Klöster  aus  dem  elften 
Jahrhundert  erhalten,  von  denen  kein  Zins  an  den  Bischof,  resp. 
dessen  Kirche  gezahlt  wurde.’)  Es  ist  nun  nicht  denkbar,  dass 
es  den  Hörigen  gestattet  gewesen  sei,  von  ihrem  Grundbesitz, 
an  welchem  den  bischöflichen  Kirchen  zum  mindesten  ein  deutsch- 
rechtliches Obereigentum  zustand,  Vergabungen  an  Klöster  zu 
machen.  Vollends  abzuweisen  ist  der  Gedanke,  dass  die  Bischöfe 
sich  die  ihnen  aus  den  Gütern  ihrer  Hörigen  zustehenden  Ein- 
hofrechtliches Verhältnis  deute;  später  kommt  er  entschieden  vielfach  für 
freie  Borger  vor. 

')  W.  U 6-9,  Dronke  Cod.  dipl.  Fnld.  (1860)  No.  6,  18,  19.  Hier  wird 
von  freien  Personen  Grundeigentnm  in  der  Stadt  verkauft  und  verschenkt 
Daher  kann  die  Frage,  ob  ans  dem  Ansdrnck  civitas  pnblica,  der  sich  fflr 
unsere  Städte  nur  in  der  Karolingerzeit  findet,  auch  auf  die  Existenz  freier 
Personen  geschlossen  werden  kann  (so  Amold  I 8.  16—18,  Heusler  S.  91— 94; 
a.  M.  Hegel  Monatsschrift  1854  8.  170,  Waitx  V.  G.  V 8.  377  N.  3),  uner- 
Brtert  bleiben.  Über  die  Bedeutung  von  civitas  publica  in  W.  U.  42  ist  auf 
spätere  Erörterungen  zu  verweisen. 

*)  Zu  demselben  sind  wir  um  so  mehr  berechtigt,  als  sich  auch  in  an- 
dern Städten  ähnliches  findet  cf.  Waitz  V.  G.  V 8.  376,  376. 

*)  Codex  Hirsaugiensis  (Stuttgart  1843)  p.  89:  Propst  Berward  kauft, 
dem  Kloster  einen  Hof  zu  Speier,  der  zu  Gunsten  desselben  zu  Zins  ansgethan 
wird;  c t auch  ibid.  p.  74,  wo  ebenfalls  ein  Hof  in  Speier  gekauft  wird. 
Fflr  Mainz  cf.  Sauer,  Cod.  diplom.  Nass.  No.  159  (t.  I p.  91),  wonach  1108 
ein  Grundstück  in  der  Stadt  Privatleuten  gehSrt,  denen  davon  Zins  gezahlt 
wird,  ferner  Cod.  Hirsaug.  p.  78. 


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33 


nahmen  durch  solche  Vergabungen  schmälern  Hessen.  Es  gab 
also  noch  freigebliebne  Familien  mit  freiem  Grundbesitz  in  den 
Städten;  freien  Grundbesitz  mochten  vereinzelt  auch  fremde 
Ansiedler  zu  Eigentum  erwerben  und  sich  so  in  der  Stadt  nie- 
derlassen. ohne  ihrer  Freiheit  verlustig  zu  gehen. 

Diese  Existenz  freier  Personen  in  Worms  und  zugleich 
auch  der  Umstand,  dass  dieselben  trotz  der  Übertragung  der 
Grafschaftsrechte  von  Burchard  nicht  zur  bischöflichen  familia 
gerechnet  wurden,  scheint  mir  auch  aus  tit.  20  seines  Gesetzes 
hervofzngehen.  Hier  heisst  es  nämlich: 

Si  quis  in  civitate  Vormatia  ....  ceciderit,  . . . . ; extra 

civitatem  vero  infra  familiam,  si  occubuerit 

Da  in  der  Stadt  alles  unter  Jurisdiction  des  Bischofs  steht, 
der  hier  die  öffentliche  Gewalt  vertritt,  ausserhalb  aber  nur 
die  familia,  so  gab  es  nach  dieser  Fassung  höchst  wahrschein- 
lich noch  der  Gesetzgebung  des  Bischofs  unterworfene,  aber 
nicht  zur  familia  gerechnete  Personen;  sonst  wäre  er  wohl  kaum 
von  dem  gewöhnlichen  Anfang  der  Titel  ius  erit  familiae  abge- 
wichen und  wäre  auch  der  Zusatz  infra  familiam  als  ganz  über- 
flüssig hinter  den  Worten  extra  civitatem  fortgeblieben. 

Die  nicht  zur  bischöflichen  familia  gehörenden  Personen  in 
der  Stadt  müssen  aber  als  identisch  mit  denjenigen  Freien  an- 
gesehen werden,  welche  ihre  Freiheit  und  ihr  freies  Eigentum 
gewahrt  haben.  Der  Thatsache,  dass  der  Bischof  sie  nicht  zu 
seiner  familia  rechnet,  entspricht  es  vollkommen,  dass  er  für 
die  ganze  Stadt  nur  Process-  und  Strafgesetze  erlässt;1)  für 
die  Mitglieder  seiner  familia  hingegen  giebt  er  ausser  solchen*) 
und  den  Verordnungen  über  die  Zinszahlung*)  auch  Be- 
stimmungen über  Immobilienveräusserung ,*)  Erbrecht5)  und 
eheliches  Güterrecht,®)  während  für  die  vollfreien  in  allen  diesen 
Verhältnissen  ihr  Gewohnheitsrecht  massgebend  blieb.  Diese 
ausserhalb  der  familia  stehenden  Personen  müssen  aber,  wie 
aus  ihrer  Nichterwähnung  bei  der  Beratung  des  genannten  Ge- 

«)  tit  20,  24,  27,  28. 

»)  tit.  7-9,  12,  17,  18,  23,  30  -32. 

*)  tit.  2,  26. 

4)  tit.  6,  21. 
s)  tit.  2—5,  10,  11 
*)  tit  1,  ft,  16. 

Koehne,  Ursprung  der  Stadtverfaaaung  in  Worms,  Speier  and  Mainz.  3 


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34 


setzes  und  bei  dem  Schreiben  über  die  Bischofswahl  hervorgeht, 
nicht  besonders  einflussreich  gewesen  sein;  auch  lässt  sich  aus 
diesem  Umstande  schliessen,  dass  sie  keinen  grossen  Bestand- 
teil der  Stadtbevölkeruug  bildeten.  Alle  diejenigen,  welche  auf 
bischöflichem  Boden  sasseu,  gehörten  entschieden  nicht  zu  ihnen, 
sondern  wurden  als  zur  familia  gehörig  betrachtet.  Es  geht 
dies  aus  tit.  14  des  Gesetzes  Burchards  hervor: 

Et  si  quis  nupserit  ex  domiuicato  episcopi  in  beneficium  ali- 
cuius  suorum,  iuris  sui  respondeat  ad  dominicatum  episcopi;  si 
autem  ex  beneficio  in  dominicatum  episcopi  nupserit,  iuris  sui 
respondeat  domino  beueficii.1) 

Unter  dominicatum  wird  das  grundherrliche  Eigentum  ver- 
standen;*) nubere  aber  wird  in  der  lex  nur  vom  Heiraten  der 
Frauen  gebraucht,  während  das  der  Männer  als  uxorem  acci- 
pere,  ad  sociam  legitime  venire  bezeichnet  wird.  So  scheint 
mir  daher  dieses  Capitel,  das  Gengier  *)  „ob  seiner  concisen 
Fassung  ziemlich  dunkel“  nannte,  von  seiner  Erklärung  ab- 
weichend, wie  folgt,  verstanden  werden  zu  müssen: 

Wenn  ein  Mädchen,  dessen  Angehörige  auf  bischöflichem 
Boden  sitzen,  einen  Hintersassen  eines  Lehnsträgers  des 
Bischofs  heiratet,  so  bleibt  sie  doch  noch  unter  dem  Hofrecht 
des  Bischofs;  heiratet  aber  ein  Mädchen,  deren  Familie  zu  den 
Hintersassen  eines  bischöflichen  Lehnsträgers  gehört,  einen 
Hintersassen  des  Bischofs,  so  bleibt  die  Verfügung  über  ihr 
Vermögen  dem  betreffenden  Lehnsträger. 


’)  Im  Texte  dieses  Titels  liiti  ich  Gengier  statt  Boos  gefolgt  , der  do- 
minicatam  und  dominicata  statt  tum  und  to  liest.  Mit  Gengier  stimmt 
ausser  Schaunat  auch  die  von  Boos  B genannte  Handschrift,  wenn  auch  viel- 
leicht nur  in  Folge  späterer  Emendation,  ebenso  spricht  meiner  Ansicht  nach 
auch  Handschrift  D wohl  mehr  filr  die  von  Gengier  als  von  Boos  gewählten 
Formen.  Endlich  lässt  sich  dominicata  in  der  sonstigen  Überlieferung,  soviel 
ich  sehe,  nicht  naehweisen  und  fehlt  auch  bei  Ducange,  während  dominicatum 
auch  sonst  vorkommt.  Übrigens  muss  dem  Siuue  nach  hier  und  in  tit.  3 des 
Gesetzes,  in  welchem  Handschriften  und  Herausgeber  dieselben  Abweichungen 
zeigen,  das  dominicata  dasselbe  wie  dominicatum  bedeuten. 

*)  cf.  tit.  3 unseres  Gesetzes,  sowie  die  von  Ducange  s.  v.  dominicatum 
angeführte  Stelle  einer  Urk.  Kaiser  Ludwigs  II,  sowie  auch  dominicatns  bei 
Lamprecht  D.  W.  I S.  1099  N.  4. 

*)  S.  20. 


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35 


50  wird  schon  durch  deu  Umstand,  dass  eine  Familie  auf 
bischöflichem  Boden  sitzt,  ihre  Freiheit  geschmälert,  wenn  da- 
bei auch  keineswegs  an  völlige  Unfreiheit  zu  denken  ist. 
Andrerseits  kommen  dadurch,  dass  jemand  zur  familia  des 
Bischofs  gerechnet  wird,  auch  alle  seine  Immobilien  in  das 
Obereigentuni  der  Kirche.  Der  kirchliche  Reehtssatz,  dass 
Kirchengut  anders  als  durch  Tausch  nicht  veräussert  werden 
durfte,  tritt  bekanntlich  schon  früh  in  weltlichen  und  geist- 
lichen Rechtsquellen  auf.1)  Demgemäss  setzte  nun  Bischof  Bur- 
chard  tit.  21  fest: 

51  quis  ex  familia  s.  Petri  praedium  vel  mancipia*)  a libero 
homiue  comparaverit  vel  aliquo  modo  acquisiverit  extra  familiara 
neqne  cum  advocato  neque  sine  advocato  nisi  commutet,  dare 
non  liceat. 

Es  ist  charakteristisch,  dass  Veräusserangen  innerhalb  der 
familia  nicht  verboten  waren.  Durch  diese  wurde  ja  das  Ge- 
biet, in  dem  die  Kirche  Obereigentumsrechte  hatte,  nicht 
geschmälert. 

So  bestätigt  diese  Betrachtung  speciell  für  Worms  den 
Arnoldschen  *)  Satz,  dass  Freiheit  und  Eigentum  sich  gegen- 
seitig bedingten,  dass,  wer  auf  fremdem  Grund  und  Boden  sass, 
nicht  mehr  die  volle  Freiheit  hatte,  und  dass  derjenige,  dessen 
Freiheit  gemindert  war,  auch  nicht  mehr  über  seine  Immobilien 
unbeschränkt  verfügen  durfte.  Wir  können  deshalb  unbedenk- 
lich diesen  Rechtssatz  als  auch  in  Speier  und  Mainz  im  elften 
Jahrhundert  geltend  betrachten.4) 

Fassen  wir  nun  die  Bestimmungen  unseres  Gesetzes,  welche 
nur  die  familia  betreffen,  kurz  zusammen,5)  so  ergiebt  sich,  dass, 
abgesehen  von  einzelnen  processualischen  und  strafrechtlichen 


*)  vgl.  Laming,  Gesell,  d.  deutsch.  Kirchenreclits  I 236—240,  II  696 — 702. 
*)  Die  Unfreien  gelten  bekanntlich  seit  der  Karolingischen  Zeit  als 
Immobilien  cf.  Sohin  R.  u.  G.  R.  S.  421. 

')  Eigentum  S.  9,  34,  35. 

•)  Es  ist  dies  um  so  mehr  gestattet,  als  auch  ueneruings  Lamprecht 
sich  dafür  ausgesprochen  hat,  dass  man  bis  ins  elfte  Jahrhundert  Güter, 
welche  an  einen  Frobuhof  zinsten,  ohne  weiteres  auch  als  hörig  anspracli. 
(D.  W.  I S.  922  mit  N.  6.)  Gegen  Belows  Ansicht,  dass  es  in  den  Städten 
von  jeher  anders  gewesen  (Hist.  Ztschr.  N.  F.  XXII  S.  202)  cf.  Anhang  I. 

*)  cf.  namentlich  oben  S.  33  mit  N.  1 — 6. 

«* 


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36 


Bestimmungen,  die  den  Mitgliedern  der  familia  gegenüber  leichter 
als  bei  dem  Freien  durchzuführen  sein  mochten,  das  Obereigentum 
über  ihren  Grundbesitz  Veranlassung  gab,  auch  ihr  Erbrecht  und 
eheliches  Güterrecht  zu  ordnen.  Als  besonders  wert,  hervor- 
gehoben zu  werden,  erscheint,  dass  die  zur  familia  gehörigen 
einerseits  wenigstens  z.  T.  das  Recht  der  Freizügigkeit  haben,') 
dass  aber  andrerseits  mindestens  eine  Quote  ihres  Wergeids  an 
den  Bischof  fällt*)  und  dass  bei  einigen  Vergehen  ihre  Behand- 
lung nach  der  Verurteilung  nur  von  der  Gnade  des  Bischofs 
abhängt,*)  dessen  Kammer  auch,  falls  sie  mit  ausserhalb  der 
familia  stehenden  Frauen  Ehen  eingehen,  */»  des  Nachlasses  zu- 
fallen.4) Auch  in  anderen  als  in  diesem  speciellen  Falle  scheint 
dem  Wormser  Bischof  das  Recht  auf  das  Buteil,  bekanntlich  eine 
Quote  des  Nachlasses,5)  oder  das  Hauptrecht,  Todfall  oder  Best- 
haupt, ein  Stück  aus  dem  Nachlass,6)  zugestanden  zu  haben,  ob- 
gleich von  diesen  Abgaben  in  den  leges  et  statuta  sonst  nichts 
erwähnt  wird.7)  Eine  Verfügung  Burchards  über  die  von  einigen 
bischöflichen  Censualen  der  Kirche  zufallenden  Einnahmen 
rechnet  zu  diesen  auch  das  Besthaupt ; *)  ebenso  setzte  derselbe 
Bischof  für  seine  eignen  Censualen,  welche  er  1016  dem  Kloster 
Nonnenmünster  schenkte,  die  Todfallsabgabe  zwar  herab,  liess 


l)  cf.  tit.  2.  Dass  es  den  Mitgliedern  einer  bischöflichen  familia  anch 
sonst  erlaubt  war,  sich  aus  dem  bischöflichen  Herrschaftsgebiet  zu  entfernen, 
geht  aus  dem  von  Waitz  V.  G.  V S.  213  N.  1 angeführten  Beispiel  hervor. 
»)  tit.  9. 

*)  tit.  7 und  32  cf.  Gengier  3.  16. 

*)  tit  15. 

‘)  Waitz  V.  G.  V 241. 

•)  ibid.  S.  242  ff. 

•)  Ja  Gengier  S.  13  und  Hegel  Monatsschr.  (1854)  8.  174  meinen  sogar, 
dass  diese  Abgaben  durch  tit.  3 der  leges  et  statuta  erlassen  seien.  Jedoch 
findet  Waitz  V.  G.  V S.  250  N.  1 in  diesem  Titel:  Si  quis  in  dominicato 
uostro  (cf.  S.  34  N.  1 unten)  hereditatem  haben»  moritur,  hcres  sine  oblatione 
hereditatem  accipiat  mit  Recht  nur  eine  .Aufhebung  der  Mutationsgebühr.“ 
Eher  könnte  man  nach  Waitz  ibid.  die  Aufhebung  des  Buteils  in  tit  4 fin- 
den, doch  müsste  man  dann  gegenüber  dem  in  allen  Handschriften  überein- 
stimmenden Wortlaut  seine  Emendation  (in  dominicato  statt  indotatum)  an- 
uebmen.  Auch  sprechen  die  im  Text  angeführten  Stellen,  sowie  die  spätere 
Aufhebung  des  Buteils  durch  Heinrich  V genügend  gegen  die  Abschaffung 
desselben  unter  Burchard;  vgl.  anch  Schaube  Worms  S.  272. 

•)  ü.  37. 


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37 


sie  aber  doch  weiter  bestehen.1)  Dass  der  Todfall  von  allen 
denjenigen  geleistet  werden  musste,  welche  zur  Zeit  von  Bur- 
chards  Nachfolger  Azzecho  in  die  bischöfliche  familia  eintraten, 
geht  aus  einer  Zuwendung  dieser  kirchlichen  Einkünfte  an  die 
Cnstodei  hervor.*) 

Ähnlich  scheinen  Todfallsabgaben  auch  von  den  zur  fa- 
milia der  Bischöfe  von  Speier*)  und  Maiuz4)  gehörigen  Per- 
sonen geleistet  zn  sein,  wo  überhaupt,  soweit  aus  der  dürfti- 
gen Überlieferung  geschlossen  werden  kann,  ganz  ähnliche  Ver- 
hältnisse wie  in  Worms  herrschten. 

Nach  diesen  Erörterungen  dürfte  es  wohl  gerechtfertigt  er- 
scheinen, dass  die  familia  der  lex  Burchardi  im  Anschluss  an 
die  von  Waitz  gegebene  Definition  als  der  Kreis  aller  vom 
Bischof  irgendwie  privatrechtlich  abhängigen  Personen  definiert 
wild.4)  Während  ehemals  für  familia  im  Deutschen  das  Wort 
gedigene  oder  gesinde  gebraucht  zn  sein  scheint,0)  lässt  sich  in 
unserer  heutigen  Sprache  die  Bedeutung  von  familia  nur  sehr 
unvollkommen  durch  Ausdrücke  wie  Hörige  oder  Hintersassen, 
am  besten  vielleicht  noch  durch  Leute  (Stiftsleute)  wiedergebeu.7) 

Innerhalb  der  familia  nun  lassen  sich  nach  verschiedenen 
Einteilungsprincipien  verschiedene  Classen  unterscheiden.  Zu- 


*)  U.  45. 

*)  U.  51. 

*)  vgl.  die  Aufhebung  des  Buteils  unter  Heinrich  V (TJ.  14)  nnd  die 
authentische  Interpretation  dieses  Privilegs  durch  Friedrich  I (U.  18),  der  er- 
klärt, dass  damit  zugleich  auch  das  quod  in  quilrasdam  locis  vulgo  boubetreht 
vocatur  aufgehoben  sei. 

4)  Wenigstens  lässt  sich  darauf  kiuweisen,  dass,  als  Erzbischof  Adalbert 
1130  für  die  Canoniker  von  St.  Martin  in  Mainz  einige  Besitzungen  gekauft 
hatte,  fdr  die  auf  diesen  sitzende  Familie  festgesetzt  wurde:  si  quis  eorutn 
herede  superstite  mortuus  fuerit,  de  domo  eius  Optimum  caput  vel  optiiua 
vestis  etiam  fratribus  representetur  (B-W.  XXV  226,  Guden  Cod.  DipL  I p. 
92)  cf.  auch  B-W.  XXV  239,  Guden  Cod.  Dipl.  I p.  99. 

‘)  cf.  oben  S.  28. 

°)  vgl.  die  von  Hensler  Ursprung  S.  105—107  angeführten  Beispiele 
aber  gedigene,  von  denen  die  dem  11. — 13.  Jahrhundert  angehiirenden  mit  der 
ermittelten  damaligen  Bedeutung  von  fRinilia  übereinstimmen;  mit  gesinde 
ist  familia  in  der  alteu  Uebersetzung  des  ersten  Strassburger  Stadtrechts 
wiedergegeben  (cf.  Gaupp,  Stadtrechte  I S.  49  c 6). 

')  So  Bresslau  Conrad  II  Bd.  I,  S.  96. 


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38 


nächst  gehörte  fast  jeder  der  Stiftsleute  in  unsere  Städten 
einer  der  beiden  seit  Alters  her ')  innerhalb  der  familia  be- 
stehenden Rangstufen  an: 

entweder  der  der  Censualen,  im  Hofrecht  Burchards  Fis- 
calinen  oder  Fiscalen  genannt,*) 
oder  der  der  Dagowarden.*) 

Daneben  existirten  noch  in  der  ersten  Hälfte  des  elften 
Jahrhunderts  Leibeigene  (mancipia)  einzelner  diesen  Classen 
angehörenden  Personen;4)  später  werden  sie  in  unseren  Städten 
nicht  mehr  erwähnt.  Diese  Leibeigenen  können  aber,  da  ihnen 
weder  irgend  welche  Bedeutung  bei  der  Ausbildung  der  Stadt- 
verfassung zukommt,  noch  je  beigelegt  ist,  hier  völlig  ausser 
Acht  gelassen  werden. 

Für  Fiscalinen  und  Dagowarden  bestehen  nur  in  einzelnen 
Rechtsverhältnissen  verschiedene  Bestimmungen ; die  grosse 
Mehrzahl  der  Verordnungen  Burchards  sollte  für  die  ganze  fa- 
milia gelten.  Nur  das  scheint  den  hauptsächlichen  Unterschied 
gebildet  zu  haben,  dass  bei  den  Fiscalinen  ein  Teil  des  Wer- 
geids an  die  Sippe  des  Verletzten  fiel,  während  das  ganze  Wer- 


')  Den  Beweis  siehe  unten  S.  39  ff. 

*)  Über  die  Identität  der  Wormser  fiscales  o.  fiscalini  mit  den  censuales 
cf.  Waitz  V.  G.  V 210  N.  3:  „Dass  die  fiscales  gerade  in  Worms  den  censu- 
ales  gleichstehen,  bestätigt,  dass  es  in  dem  benachbarten  in  Weissenburg  der  Fall 
ist;  dass  ausserdem  andre  Wormser  Urkunden  (U.  87,  öl)  censuales  hoinines 
oder  tribntarii  und  keine  fiscales  nennen.'  Zwischen  fiscales  und  fiscalini  in 
den  leges  ist  kein  Unterschied  zn  machen,  wie  Hegel  Honatsschr.  8.  172  meinte, 
vgl.  Gengier  8.  6,  Waitz  V,  S.  207  N.  3. 

*)  Dieser  Name  ist  uns  für  unsere  Städte  zwar  nur  in  Worms  über- 
liefert; doch  entsprechen  den  Wormser  dagewarden  durchaus  die  mancipia  in 
Remling  Urkb.  für  Speier  N.  27.  — Über  an  andern  Orten  vorkommende 
Bezeichnungen  der  den  Wormser  dagowardi  entsprechenden  Hörigenklasse, 
welche  zum  Teil  auch  ebenso  lauten,  cf.  Gengier  Hofr.  S.  6,  Waitz  V S.  19ä 
N.  4;  zu  den  dort  gegebenen  Erwähnungen  von  dagowardi  kann  noch  Erath 
Cod.  Quedlinburg.  (Frnkf.  1764)  p.  164  und  411  hinzngefügt  werden. 

*)  Nach  tit.  2 und  tit.  11  der  leges  werden  sie  bei  Erbschaften  wie 
Immobilien  behandelt ; nach  Remling  Sp.  Urkb.  N.  27  können  sie  im  Eigentum 
anch  der  zn  der  niedrigeren  Classe  der  bischöflichen  familia  gehörenden  Per- 
sonen stehen.  — In  tit.  30  der  leges  sind  die  servi  s.  Petri  natürlich  nicht 
diese  mancipia,  sondern  alle  Angehörigen  der  familia,  wie  sich  schon  ans 
dem  Zusammenhänge  ergiebt. 


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39 


geld  des  verletzten  Dagowarden  dem  Bischof  zukam, ')  und  dass 
sich  die  Fiscalineu  der  Heranziehung  zum  unmittelbaren  bischöf- 
lichen Dienst  bis  auf  gewisse  Fälle  eutziehen  durften.*)  Dar- 
aus. dass  der  Process,  ob  jemand  fiscalinns  oder  dagowardus 
sei,  sich  in  derselben  Form  abspielte,  in  denen  sich  der  karo- 
lingische Freiheitsprocess  bewegte,3)  erkennen  wir,  dass  der 
dagewardus  zwar  dem  frühem  Unfreien  entsprach,  dass  sich 
aber  seine  Stellung  schon  erheblich  gebessert  hatte.  Die  Be- 
stimmungen über  eheliches  Gliterrecht  gelten  für  die  ganze 
familia,  Censualen  wie  Dagowarden ; 4)  dass  auch  der  Dagoward 
fähig  war,  Vermögen  zu  besitzen,  geht  ausserdem  auch  aus  tit. 
13  hervor,  nach  welchem  auch  er  mit  Geldstrafen  belegt  wer- 
den konnte.  Diese  Rechte  widersprachen  aber  durchaus  nicht 
der  Abstammung  der  Dagowarden  von  den  völlig  Unfreien,  da 
ja  die  Kirche  schon  in  früher  Zeit  danach  gestrebt  hatte,  ihre 
Ehe  zu  sichern5)  und  ihnen  Eigentumsrechte  zu  verschaffen.6) 
So  waren  daher  im  elften  Jahrhundert  schon  alle  Leute  des 
Wormser  Bistums  des  Rechts  auf  echte  Ehe  und  auf  Eigentum 
— mit  den  aus  dem  früher  erwähnten  hervorgehendeu  Be- 


’)  tit.  9 cf.  Gengler  S.  9. 

*)  tit  29. 

*)  Tit  22:  Si  quin  tiseali  viro  iustitiain  snnin  infringere  volnerit,  id  est 
a<l  dagowardnm  vel  ad  censum  iniustum,  tiseali*  vir  ctuu  septein  proximis 
suis  nun  mercede  condnetis,  iustitiain  sibi  iuuatain  obtiucat;  et  si  ex  patria 
parte  vituperetnr,  ex  eadem  parte  dnae  cognatorum  suurum  et  tertia  ex  matre 
assmnatnr;  similiter  erit  ex  parte  matris  uisi  cum  iudicio  scabiuumm  aut 
proximurum  testimouiis  snperari  possit.  Damit  vergleiche  man  z.  B.  die  ital. 
Extravaganten  II  znr  lex  Salica  (ed.  Belireud  p.  121,  eil.  Hessels  p.  421),  wo 
ebenfalls  von  der  Verwand tschaftsäcite,  um  derentwillen  jemand  als  unfrei  in 
Anspruch  genommen  wird,  die  Mehrzahl  der  Eideshelfer  gestellt  werden 
müssen,  und  ebenso  das  Zeugnis  der  vom  Beklagten  gestellten  Eideshelfer 
durch  nühere  Zeugen  aus  dessen  Verwandtschaft  ungültig  gemacht  werden 
kann.  Aus  dieser  Übereinstimmung  geht  doch  hervor,  dass  der  Unterschied 
zwischen  Censualen  und  Dagewardeu  des  elften  Jahrhunderts  in  der  freien 
oder  unfreien  Herkunft,  und  nicht,  wie  Waitz  V.  G.  V 213  meint,  in  der 
socialen  Lage  begründet  ist.  cf.  auch  unten  S.  40  N.  2 n.  4. 

«)  cf.  tit.  1,  4. 

4)  vgl.  meine  Arbeit  über  „Die  Gesclilechtsverbiudnng  der  Unfreien  im 
fränkischen  Recht.“  Breslau  1888.  (Gierke.  Unten.  Bd.  XXII)  S.  26 — 28. 

*)  cf.  Poenitentiale  Theoilori  (Wassersehleben  Bussordnnugcn  Halle  1851) 
P-  217  § 3. 


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40 


schräukuugeu  — teilhaft  geworden,1)  wie  ja  überhaupt  die 
Sklaven  der  Kirche  vielfach  besser  als  die  Privater  gestellt 
waren.  Wenn  übrigens  der  Name  der  Dagowarden  darauf  hin- 
deutet,8) dass  es  anfangs  diejenigen  Knechte  waren,  welche  täg- 
lichen Dienst  zu  leisten  hatten,  dafür  also  Kost,  Kleidung  nud 
eventuell  Lohn  von  ihren  Herrn  erhalten  mussten,  so  spricht 
die  Voraussetzung  eignen  Vermögens  bei  den  Dagowarden  in 
tit.  13*)  entschieden  dafür,  dass  dieselben  damals  schon  — wenig- 
stens überwiegend  — auf  eigne  Rechnung  wirtschafteten.4) 

Sind  die  Dagowarden  als  die  Nachkommen  der  frühem 
Leibeignen  zu  betrachten,  so  bestehen  dagegen  die  Censualeu, 
abgesehen  von  in  diese  Stellung  gekommenen  Dagowarden , aus 
Freien,  welche  unter  kirchliche  Voigtei  gerathen  sind.  Darauf, 
dass  sie  gegenüber  den  Nachkommen  der  frühem  Leibeignen 
die  alten  Vorrechte  der  Freien  noch  nicht  verloren  hatten,  weist 
der  Umstand,  dass  für  ihre  Ehen  mit  den  Dagowarden  noch 
der  Grandsatz:  „Das  Kind  folgt  der  ärgern  Hand“  galt.5) 


')  Die  Ehe  mit  zu  fremder  familia  gehörenden,  die  auderswo  überhaupt 
verboten  war  (cf.  Heusler  Instit.  I S.  143),  hatte  in  Worms  den  Verlust  vou 
’/•  der  Habe  für  die  Kinder  zur  Folge;  das  Eigentum  an  Immobilien  wurde 
durch  das  Veräusserungs  verbot  des  tit.  21  beschränkt,  cf.  oben  S.  24  No.  1. 

*)  dag  = Tag,  ward  von  warten,  auf  jemand  achten,  schauen,  dann 
auch  jemand  dienen,  untergeben  sein  (nach  Lexer  Mittelhochdeutsches  Hand- 
wörterbuch). Mit  Recht  wendet  sich  Waitz  V S.  195  N.  4 gegen  die  Über- 
setzung Grimms  (R.  A.  S.  319):  „Tagelöhner,“  „da  sie  eben  nicht  filr  Lohn, 
nur  für  Kost  arbeiteten.“  Dagegen  hatten  sich  im  elften  Jahrhundert  die 
Verhältnisse  so  verschoben,  dass  die  Dagowarden  als  solche  nicht  mehr  zu 
täglichem  Dienst  verpflichtet  waren,  wohl  aber  die  servientes,  in  welche 
Stellung  auch  Censualeu  kommen  konnten,  vgl.  unten. 

*)  So  haben  auch  die  bei  Erath  Cod.  dipl.  Quedl.  (Frankf.  1764)  p.  411. 
No.  155  a.  1327  erwähnten  „Dachworten“  Abgaben  vou  ihrem  Gute  zu  zah- 
len; die  „dagewarchten“,  die  a.  1237  ibid.  p.  164  No.  74  erwähnt  werden, 
haben  zu  Hofrecht  Landgitter,  sind  also  auch  schwerlich  noch  zu  täglichem 
Dienst  verpflichtet. 

*)  Dass  sie  nur  als  die  Nachkommen  solcher  rechtlich  in  der  här- 
testen Knechtschaft  stehender,  wirtschaftlich  der  Verfügung  Uber  die  eigene 
Arbeitskraft  ermangelnder  Unfreier,  nicht  aber  selbst  als  solche  in  härtester 
Knechtschaft  stehende  Personen  zu  betrachten  sind,  dürfte  aus  dem  angeführ- 
ten unzweideutig  hervorgehen.  Es  mag  noch  darauf  hingewieseu  werden, 
dass  auch  nach  Sachsensp.  UI,  44,  § 3 die  „dagewerchten“  Geburtsstand 
nicht  Berufsstand  sind. 

*)  tit.  16. 


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41 


Ebendieser  Satz  war  ja  schon  in  der  merowingischen  Zeit,  so- 
bald echte  Ehen  zwischen  Freien  und  Unfreien  Überhaupt  mög- 
lich geworden,  für  die  Bestimmung  des  Standes  der  aus  solchen 
Ehen  stammenden  Kinder  im  fränkischen  Recht  massgebend.') 

Denselben  Grundsatz  finden  wir  auch  zu  der  Zeit,  der 
Burchards  Statuten  für  Worms  angehören,  in  Speier.  Ans  einer 
Urkunde  Bischof  Walters  von  Speier*)  ergiebt  sich  nämlich, 
dass  hier  genau  dasselbe  Verhältnis  zweier  rechtlich  gesonder- 
ten Classen  der  bischöflichen  Hörigen  wie  in  Worms  bestand 
und  dass  die  aus  den  Ehen  derselben  hervorgehenden  Kinder 
der  „ärgern  Hand“  folgten.3)  Auch  die  niedriger  stehende  Classe 
hatte  Eigentum  und  konnte  sich  mit  diesem  selbst  Erhebung  in 
die  höhere  verschaffen,  was  dann  als  Freilassung  bezeichnet 
wird.4)  Ähnlich  wird  auch  die  Versetzung  einer  bisher  einem 
Privaten  gehörigen  Leibeignen  unter  die  Oensualeu  der  Kirche 
Altenmünster  in  Mainz  Freilassung  genannt.4)  Die  Freigelassne 
und  ihre  Nachkommenschaft  soll  der  Kirche  jährlichen  Zins 
zahlen  und  unter  dem  Schutz  ihrer  Rectoren  stehen,  zugleich 
aber  wird  ihr  das  Recht  der  Freizügigkeit  gegeben.6)  Es  ent- 
spricht dieser  eigentümlichen  Stellung  der  Censualen,  dass  sie 
mitunter  liberi  oder  iugenui  genannt  werden,7)  andrerseits  unter 
der  familia,  ja  den  servi  ecclesiae  inbegriffen  sind.8) 

Jedenfalls  sind  sie  zu  Zins  verpflichtet,  unterliegen  den 
Todfallsabgaben  und  können  wenigstens  in  bestimmten  Fällen 
wie  die  dagowardi  zu  täglichen  Diensten  herangezogen  werden. 
So  war  die  ganze,  aus  älteren  Zeiten  stammende,  Unterscheidung 
zweier  Classen  innerhalb  der  bischöflichen  familia,  in  welchen 
noch  die  maucipia,  die  Vorfahren  der  dagowardi,  gar  keine 

’)  cf.  meiue  S.  39  N.  5 citierte  Arbeit  S.  19—21. 

*)  Remling  N.  27. 

*)  ibid. : quud  ipse  duos  fratres  ...  et  sorores  eonim  . . . ex  servili 
patre  et  matre  ingeuua  progenitos  . . . censnaies  fecisset. 

4)  epiacopo  . . licere,  ecclesiasticos  liberos  facere. 

*)  B-W.  XIV  21  (Wenck,  Hess.  Landesgesch.  Bil.  III  Urkb.  [Frnkf.  1803] 
No.  33  p.  30)  a iiigo  servi  tu  tis  absolvo  . . . . ita  nt  ingenua  sit. 

•)  Dass  das  „pergat,  quocumque  volnerit“  nicht  als  blosse  Phrase  auf- 
gefasst werden  darf,  geht  aus  dem  oben  S.  36  angeführten  hervor. 

*)  cf  die  oben  z.  B.  S.  31  N.  4,  S.  41  N.  4 angeführten  Stellen. 

*)  z.  B.  W.  U.  48  tit  30  (S.  44  Z.  2 ff.):  ut  in  curriculo  unius  anni 
XXXV  servi  sancti  Petri  . . ex  servis  eiusdem  ecclesiae  sint  interempti. 


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Recht«  hatten,  sicher  schon  in  der  ersten  Hälfte  des  elften 
Jahrhunderts  des  grössten  Teils  ihrer  Bedeutung  verlustig  ge- 
gangen. Später  ist  sie,  ohne  dass  man  von  irgendwelchen  ge- 
setzlichen Massregeln  ihrer  Aufhebung  hört,  ganz  verschwunden. 

Beruht  nämlich  der  Gegensatz  der  censuales  und  dagowardi 
innerhalb  der  bischöflichen  familia,  wie  gezeigt  worden  ist, 
durchaus  auf  dem  altgermauischen  Gegensatz  zwischen  Freien 
und  Unfreien,  so  ist  davon  die  zur  Zeit  der  leges  et  statuta  in 
ihren  Anfängen  begriffene,  später  noch  mehr  Bedeutung  ge- 
winnende Absonderung  der  servientes  episcopi  von  der  übrigen 
familia  durchaus  zu  trennen.  Dieser,  mit  der  Enstehung  des 
Ministerialenstandes  zusammenhängende,  Gegensatz  beruht  viel- 
mehr auf  einer  socialen  Classenbildung,  deren  Hanptveranlas- 
sung  in  der  Exemtion  gewisser,  dem  Bischof  nahestehender, 
Personen  von  den  allgemeinen  Gerichtsbehörden  der  familia  lag. 

Zun»  Nachweise  dieser  Behauptung  werden  wir  am  bestell 
von  tit.  30  der  leges  et  statuta  ausgehen.  Hier  sind  zunächst 
Bestimmungen  über  die  Bestrafung  von  Tödtungen  von  der  la- 
milia  episcopi  augehörendeu  Personen  getroffen ; dabei  ist  ausser 
dem  Fall,  dass  der  Mörder  selbst  der  familia  angehört,  auch 
der  berücksichtigt,  dass  er  zu  einer  fremden  familia  gehört, 
aber  auf  bischöflichem  Boden  sitzt.  Dann  fährt  das  Gesetz  fort : 
si  auteui  noster  servitor  qui  in  uostra  curte  est  aut  uoster 
ministerialis  talia  audet  praesumere,  volumus,  ut  hoc  sit 
in  nostra  potestate  et  consilio  nostrorum  fidelium,  qua- 
liter  talis  praesumptio  vindicetnr. 

Sehen  wir  nun  zunächst,  was  hier  der  Ausdruck  ministerialis 
bedeutet.  In  den  statuta  Burchardi  wird  er  in  der  Einlei- 
tung, sowie  in  den  Titeln  2,  25,  29  und  30  erwähnt.  In  tit. 
2 ist  er  offenbar  identisch  mit  dem,  ebenfalls  in  diesem  Titel 
vorkommenden,  loci  minister  oder  magister,  der  nach  diesem  sowie 
nach  tit.  12,  24,  25  die  Einweisung  in  die  Hofstätten  und  eine 
Jurisdiction  bei  kleineren  Streitigkeiten  ausübt.  Ist  damit  die 
Bedeutung  des  Ausdrucks  ministerialis  in  tit.  2 und  tit.  25,  wo 
er  ebenfalls  mit  loci  minister  identisch  ist,  ein  für  allemal  fest- 
gestellt, so  geht  aus  der  Erwähnung  in  den  andern  Titeln  des 
Gesetzes  nicht  hervor,  dass  in  ihnen  mit  ministerialis  etwas  da- 
von abweichendes  bezeichnet  werden  soll.  Nach  der  Einleitung 
soll  dieser  Ortsvorsteher  — der  gleich  hier  ausführlich  bespro- 


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eben  werden  mag,  da  er  auch  noch  für  spätere  Erörterungen 
von  Interesse  ist  — ebensowenig  wie  der  Voigt  oder  Vitztum 
selbständig  neue  Rechtsnormen  einführen.1)  Nach  tit.  29  gehört 
das  Amt  zu  derjenigen,  welchen  sich  der  Fiscaliu  nicht  ohne 
weiteres  entziehen  darf,  und  im  tit.  30  wird  der  Ministerial,  wie 
wir  saheu,  besondem  Bestimmungen  unterworfen,  wenn  er  einen 
Mord  begangen  hat.  Es  liegt  hier  also  eine  ganz  bestimmte 
Beamtung  vor,  die  der  Bischof  einem  seiner  Leute  überträgt. 
Das  wird  auch  allgemein  zugegeben.*)  Jedoch  halten  Gengier*) 
und  ebenso  auch  neuerdings  Roth  von  Schreckenstein1)  den 
ministerialis  der  tit.  29  und  30  für  einen  am  bischöflichen  Hofe 
lebenden  Wirtschaftsbeamten,  der  mit  dem  in  den  andern 
Titel  vorkommenden  Ortsrichter,  der  ansser  minister  loci  auch 
ministerialis  genannt  werde,  nicht  verwechselt  werden  dürfe;  nur 
letztrer  entspreche  dem  unter  den  Kölner  Dienstmannen  begeg- 
nenden advocatus,  qui  reditus  curtium  episcopalium  colligit  et 
eonservat.  Allein  tit.  2 sagt  ausdrücklich,  dass  der  hier  er- 
wähnte minister  loci  oder  miuisteralis,  den  Gengier  und  Roth  von 
Schreckensteiu  nur  für  einen  Ortsrichter  halten,  auch  die 
Anweisung  von  frei  gewordenen  bischöflichen  Hufen  an  die  Mit- 
glieder der  familia  zu  vollziehen  hatte. 

So  sind  in  Worms  jurisdictionelle  und  administrative  Be- 
fugnisse in  dem  untersten  Ortsbeamten,  dem  Ministerial,  ver- 
schmolzen, wie  sich  später  ähnliches  bei  dem  Heimburgen  wahr- 


')  ne  aliquis  advocatus  sen  vicedomiuns  aut  ministerialis  . . . novi  ali- 
qnid  snbinferre  posset,  sed  una  eademque  lex  . . . 

*)  cf.  Fürth,  Ministerialen  (Köln  1836)  8. 41,  42,  Gengier  S.  8,  Nitzsch  8. 75. 
238,  Hegel  Monatsschrift  1854  8.  171,  Schaube  Worms  S.  259.  Andrer  Mei- 
nung ist  allerdings  Waitx  V.  G.  V 432,  der  auch  die  angeführte  Stelle  Hegels 
missverstanden  zu  haben  scheint  Waitz  a.  a.  O.  glaubt,  dass  in  tit.  29  mit 
ministerialis  nicht  ein  bestimmter  höherer  Verwaltnngsbeamter  gemeint  sei, 
sondern  dass  .nur  wie  in  tit.  30  ein  Hof-  und  anderer  Beamter  neben  ein- 
ander genannt  werden.“  Doch  kann  wohl  mit  den  vorher  genannten  For- 
schern ans  den  Worten  des  tit.  29  ad  alind  servitium  ponere  non  debeat, 
nisi  ad  camerariura  aut  ad  pincemam  vel  ad  infertorem  vel  ad  agasonem 
vel  ad  ministerialem  mit  Sicherheit  geschlossen  werden,  dass  hier  unter 
ministerialis  eine  ganz  bestimmte  Beamtung  zu  verstehen  ist. 

•)  S.  8,  32. 

4)  Ritterwürde  und  Ritterstand.  (Freiburg  1886.)  8.  462. 


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44 


nehmen  lassen  wird.1)  Auch  existirt  im  Mittelalter  überhaupt 
keine  so  principielle  Scheidung  zwischen  den  Beamten  der  Selbst- 
verwaltung und  den  gruudherrschaftlicheu  ,*)  dass  wir  anznneh- 
men  brauchen,  dass  in  demselben  Gesetz  unter  demselben  Namen 
zwei  ganz  verschiedene  Beamte  verstanden  werden  müssten. 
Es  ist  also  ganz  unbegründet,  unter  dem  Beamten,  der  vom 
Bischof  zu  seinem  Ministerial  gemacht  wird,  etwas  vom  loci 
minister  verschiedenes  zu  verstellen.  Aus  einer  ums  Jahr 
1000  ausgestellten  Urkunde  ergiebt  sich  auch,  dass  im  Herr- 
schaftsgebiet des  Wormser  Bischofs  die  Ministerialen  auch  die 
Erhebung  der  Wergeider  für  den  Bischof  zu  besorgen  hatten, 3) 
was  ganz  gut  mit  ihrer  Stellung  als  Gerichts-  und  bischöflicher 
Wirtschaftsbeamter  übereinstimmt.  Ähnlich  scheinen  nach  einer 
Urkunde  Conrads  II  aucli  in  der  Grundherrschaft  des  Speirer 
Bischofs  die  bischöflichen  Ministerialen  im  elften  Jahrhundert 
sowohl  jnrisdictionelle  als  wirtschaftliche  Befugnisse  gehabt  zu 
haben.4)  Bezeichnet  aber  in  der  lex  Burchardi  ministerialis  ent- 
schieden eine  bestimmte  Beamtung,  so  muss  es  auch  als  höchst 
unwahrscheinlich  erklärt  werden,  dass  etwa  in  der  genannten 
Speier  betreffenden  Urkunde  oder  sonst  irgendwo  am  Mittel- 
rhein  im  elften  Jahrhundert  unter  Ministerialen  die  bischöflichen 
Beamten  schlechthin  oder  eine  besondere  Classe  der  bischöflichen 
familia  verstanden  wären. 

Kehren  wir  nun  nach  dieser  Feststellung  der  Bedeutung 
von  ministerialis  in  den  leges  et  statuta  zu  der  Stelle  des  tit. 
30,  von  welcher  wir  ausgingen,  zurück.5)  Hier  ist  für  die  ge- 
nannten bischöflichen  Lokalbeamten  sowie  für  die  servitores  in 
curte  die  besondere  Bestimmung  getroffen,  dass  sie  nach  Gut- 
befinden des  Bischofs  gerichtet  werden  sollten,  der  dann  aber 

•)  cf.  vorläufig  Arnold  I S.  202  ff. 

*)  vgl.  Lamprecht  D.  W.  passim  z.  B.  I 173. 

*)  W.  U.  37:  Qnae  potestas  talis  fuit,  ut  si  ullus  oonsualium  liomiuuin 
iuterficeretur,  ministerialea  nostri  wirgeldum  ad  cameram  noatram  exigereut. 

4)  Remling  Urkb  No  26:  ne  aliquis  . . . potestatem  babeat,  . . . para- 
tas  vel  coHcctas  faciendi  aut  fideiugsores  tollendi  ...  vel  aliquid  ex  indici- 
ali  sententia  exigendi,  preter  advocatum  et  ministeriales,  quos  cpiscopns  et 
fratres  Spirensis  ecclcsie  cidein  loco  prefccerint  Dagegen,  dass  hier  unter 
Ministerialen  schlechtweg  Beamte  verstanden  weiden,  spricht  der  Sprachgc- 
gebranch  in  Worms. 

*)  cf.  oben  S.  42. 


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45 


seine  fideles  zu  Rate  ziehen  werde.  So  unterstanden  also  minis- 
teriales  in  curte  und  servitores  bei  Mordanklagen  nicht  der  re- 
gulären Gerichtsbarkeit  der  farailia.  Dies  ist  wohl  folgender- 
massen  zu  erklären.  Hatte  die  Kirche  schon  in  fränkischer 
Zeit  verordnet,  den  Sklaven  nicht  ohne  vorherige  Verurteilung 
hinzurichten,  •)  so  hatte  sie  um  so  mehr  ihre  eigenen  Leute,  so- 
wohl die  C-ensualen  als  die  nach  Volksrecht  des  Rechtsschutzes 
überhaupt  entbehrenden  Leibeigenen,  eines  ordentlichen  Gerichts 
teilhaft  werden  lassen.  Gerade  gegenüber  den  am  bischöflichen 
Hofe  selbst  beschäftigten  und  denjenigen  Mitgliedern  der  familia, 
welche  mit  der  Beaufsichtigung  und  dem  Gericht  über  die 
übrigen  betraut  waren,  schien  aber  eine  strengere  Disciplin,  als 
wie  sie  durch  die  eigentlichen  Gerichte  gegeben  werden  konnte, 
geboten ; andrerseits  musste  aber  doch  ihre  Verurteilung  in 
diesen  oft  dem  Grundherrn  und  dessen  Verwaltung  störend  sein. 
Auch  mochte  es  sowohl  bei  den  Beamten  wie  bei  der  Hofdiener- 
schaft in  hohem  Grade  wichtig  erscheinen,  sie  der  ja  oft  mit 
den  Interessen  der  Grundherrschaft  in  Widerstreit  stehenden 
Vogtsgewalt  zu  entziehen.*)  Solchen  Erwägungen  oder  vielleicht 
auch  darauf  beruhenden  frühem  Einrichtungen  mag  Heinrich  II 
gefolgt  sein,  als  er  in  seine  Bestimmungen  gegen  die  Fehden 
der  Hörigen  von  Lorsch  und  Worms  nach  ausdrücklicher  Fest- 
setzung nicht  durch  Geld  ablösbarer  Strafen  an  Haut  und  Haar 
folgende  Verordnung  aufnehmen  liess: 

de  servientibus  episcopi  et  abbatis  illud  constituimus,  ut 
si  quis  illorum  tale  aliquid  fecerit,  predictae  penae  subia- 
ceat  vel  decera  libris  denariorum  redimatur.*) 

So  wurde,  während  sonst  persönliche  Verwendung  des 
Grundherrn  resp.  seiner  Beamten  nichts  gegen  den  Vollzug  der 
Strafe  an  Haut  und  Haar  helfen  sollte,  doch  mit  den  servientes 
der  Grundherrn  eine  Ausnahme  gemacht.  Sie  sollten  sich  von 
der  Strafe  an  Haut  und  Haar  freikaufen  können,  resp.  von 
ihrem  Grundherrn  freigekauft  werden  dürfen. 


')  cf.  Concil.  Epaon.  c.  84  (Bruns,  Canon,  apost.  et  concil.  Berlin  1839 
t.  II  p.  171):  Si  qnis  servnm  proprium  sine  conscientia  iudicis  occiderit,  exconi- 
mnnicatione  biennii  effnsionem  sanguinis  expiabit. 

*)  c l Lamprecht  D.  W.  I 1128,  1129. 

*)  W.  U.  47 


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46 


Näheres  über  die  Classe  der  servientes  erfahren  wir  nun 
durch  Vergleichung  der  folgenden  Quellenstellen.  In  tit.  30  der 
Statuten,  welcher  auf  dem  oben  citirten  kaiserlichen  Decret  be- 
ruht, wurden,  wie  wir  sahen,  die  servitores  in  cnrte  und  die 
Ortsvorsteher  dem  consilinm  fidelium  unterstellt.  Combinieren 
wir  hiermit  tit.  29  desselben  Gesetzes.  In  diesem  werden  als 
Ämter,  die  einem  Fiscalinen  nicht  gegen  seinen  Willen  über- 
tragen werden  dürfen,  ausser  dem  des  Ministerials  das  des 
Kämmerers,  des  Mundschenks,  des  Truchsessen  und  des  Mar- 
schalls genannt.  Die  daraus  entspringende  Vermutung,  dass 
die  genannten  Beamtungen.  mit  Ausnahme  der  des  Ministerials, 
der  ja  nicht  am  Hofe  war,  die  hervorragendsten  Stellungen  von 
servitores  in  curte  bezeichnten,  wird  durch  das  von  Heinrich  II 
für  die  Leute  von  Fulda  und  Hersfeld  erlassne  Edict  bestätigt,1) 
das  mit  dem  für  Lorsch  und  Worms  bestimmten  im  Sinne  und 
vielfach  auch  im  Wortlaut  ttbereinstimmt.')  Hier  werden  dem 
von  uns  erörterten  ganz  analog  die  durch  Tödtung  und  Heim- 
suchung verwirkten  Strafen  an  Haut  und  Haar  für  durch 
Geld  ablösbar  erklärt,  wenn  jemand  de  kamerariis  et  pincernis 
aliisque  honoratis  utrorumque  abbatum  servitoribus  die  betreffen- 
den Delicte  begangeu.  Das  in  tit.  30  der  leges  Burcliardi  er- 
wähnte consilium  fidelium  wird  nach  dem  im  deutschen  Recht 
herrschenden  Grundsätze,  jeden  möglichst  von  seinesgleichen 
richten  zu  lassen,  auch  vorwiegend  aus  servitores  in  curte  und 
ministeriales  in  dem  angegebenen  Sinne  bestanden  haben.  Da- 
mit stimmt  nun  vortrefflich,  dass  der  Abt  von  Lorsch  ca.  1040  in 
seinem  Strafgesetz  für  seine  familia  sagt,  er  habe  dasselbe 
cum  consilio  advocatorum  (meorum)  et  militum  erlassen.*)  Viel- 
fach sehen  wir  in  dieser  Zeit,  wenn  gesagt  wird,  dass  eine 
Handlung  auf  den  Rat  bestimmter  Personen  unternommen  sei, 
erst  einen  weiteren,  dann  einen  engeren  Kreis  genannt.  So  ist 
sicher  auch  hier  der  Gegensatz  zwischen  advocati  und  milites 
kein  prägnanter,  vielmehr  gehören  auch  die  advocati  zu  den 
milites.  Dann  aber  entsprechen  diesen  Lorseher  advocati  genau 

')  Dronke  Cod.  diplom.  Fuld.  I p.  349. 

’)  vgl.  B resslau  Heinrich  II  Bd.  III  p.  293. 

*)  Chron.  Lauresh.  S.  S.  XXI  p.  411.  Dies  Gesetz  lehnt  sieh  wie  tit.  30 
der  lex  Burcliardi  vielfach  an  W.  U.  47  an  nnd  kann  daher  zur  Interpreta- 
tion dieser  Urkunden  vorzüglich  herangezogen  werden. 


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47 


die  Ministerialen  des  Wormser  Hofrechts,  den  milites  die  ser- 
vieutes.  Damit  gelangen  wir  auch  zu  einer  genügenden  Er- 
klärung der  bisher  noch  streitigen1)  Bedeutung  von  milites  in 
der  Einleitung  der  leges  et  statuta.  Das  dort  erwähnte  con- 
silium  militum  ist  mit  dem,  aus  den  hervorragendsten  servientes 
in  curte  und  den  ministeriales  bestehenden,  consilium  fidelinm 
des  tit.  30  identisch.  Die  bischöflichen  Beamten,  sowohl  die  den 
einzelnen  Besitzungen  Vorgesetzten,  wie  diejenigen,  denen  ein  be- 
stimmtes Hofamt  zufiel,  wie  die  Aufsicht  über  des  Bischofs  Küche, 
Keller  und  Marstall,  trugen  ritterliche  Waffen  und  konnten  da- 
her milites  genannt  werden.  Dem  entspricht  es  durchaus,  dass 
wir  den  Bischof  Burchard  in  seiner  Biographie  immer  von 
milites  umgebeu  sehen*)  und  dass  gerade  die  milites  bei  den 
Bischofswahlen  von  allen  Laien  den  meisten  Einfluss  üben.’) 

Konnte  mit  miles  an  sich  jeder,  der  ritterliche  Bewaffnung 
trug,  bezeichnet  und  konnte  daher  das  Wort  in  sehr  verschie- 
denem Sinne  gebraucht  werden,  so  sind  doch  auch  in  der  lex 
Burchardi  und  so  überhaupt  am  Mittelrhein  im  elften  Jahr- 
hundert unter  milites  die  nach  Ritterart  bewaffneten  Beamten 
der  Grossgrundherrschaft  zu  verstehen.  So  werden  z.  B.,  als 
bei  einem  Grenzstreit  zwischen  Worms  und  Lorsch  die  Ent- 
scheidung durch  kaiserliches  Decret  einer  Commission  übertragen 
wurde,  als  Mitglieder  derselben  ausser  dem  Grafen  des  be- 
treffenden Gaus  und  mehreren  Schöffen,  welche  die  kaiserliche 
Autorität  zu  vertreten  hatten,  auch  ein  Wormatiensis  miles 
Sigibodo,  sowie  ein  Laureshamensis  miles  Wernherus  genannt,4) 
welch’  letztere  offenbar  die  Interessen  ihrer  Grundherren  wahr- 
zunehmen hatten. 

So  bezeichnet  servientes  und  servitores  im  elften  Jahr- 

')  Arnold  V.  Ci  I 68,  Geugler  S.  6.  Arnold  a.  a.  0.  bezeichnet  die 
Milites  als  „Dieustmanuen“,  weiche  neben  den  bischöflichen  Beamten  (ministri) 
als  Ministerialen  die  erste  Stelle  iu  der  familia  eingenommen.  Abgesehen 
davon,  dass  Ministerial  in  der  spätem  Bedeutung  des  Worts  in  der  lei  noch  nicht 
gebraucht  wird,  ist  nicht  einzusehen,  warum  die  bischöflichen  Beamten  nicht 
zu  den  milites  gerechnet  wurden.  Wenn  Gengier  a.  a.  0.  meint,  die  milites 
hatten  ausserhalb  des  Hofverbandes  gestanden,  so  ist  das  nach  dem  oben  er- 
örterten nur  in  Beziehung  auf  den  in  tit.  30  behandelten  Fall  riohtig. 

’)  Vita  Burchardi  c 22  (S.  8.  IV  p.  84ö),  c.  23  (p.  846). 

’)  Boos  Worms.  Urkb.  8.  352  N'o.  9.  cf.  ancli  oben  S.  30,  Nitzsch  S.  140. 

4)  U 41,  Schaunat  II  Nr.  46  p.  39. 


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48 


hundert  die  unter  besonderer  Disciplin  stehenden,  deshalb  aber 
auch  von  den  gewöhnlichen  Gerichten  eximirten  Personen  inner- 
halb der  bischöflichen  fämilia.  Es  werden  darunter  sowohl 
die  einem  bestimmten  Bezirk  Vorgesetzten  bischöflichen  Beamten, 
wie  die  in  Folge  der  ihnen  zugewiesenen  Beschäftigung  dauernd 
am  bischöflichen  Hof  lebenden  Personen,  hohe  wie  niedere,  be- 
zeichnet. Sie  alle  sind  von  den  gewöhnlichen  Gerichten 
der  Grundherrschaft  eximirt;  aus  der  Beratung  des  Bischofs 
bei  Verhängung  von  Strafen  über  diese  Personen  (consilium 
fidelium)  hat  sich  dann  allmählich  ein  besonderer  Gerichtsstand 
derselben  entwickelt.  Ganz  besonders  werden  eines  solchen 
die  höher  stehenden  Personeu  aus  diesen  servientes,  die  milites, 
teilhaft. 

Das  aber  muss  hervorgehoben  werden,  dass  diese  Classe 
der  servientes  mit  der  der  dagowardi  nichts  zu  thun  bat.  Be- 
kanntlich hat  die  Stellung  der  in  härtester  Knechtschaft  leben- 
den Unfreien  unter  die  allgemeine  Gerichtsbarkeit  damit  be- 
gonnen, dass  sie  in  Capital  verbrechen  (besonders  homicidium 
und  incendium)  unter  den  öffentlichen  Richter  gestellt  wurden.  *) 
Die  servientes  des  elften  Jahrhunderts  hingegen  sollten  gerade 
bei  Tödtungen  und  der  meist  mit  Brandstiftung  verbundenen 
Heimsuchung  nicht  im  öffentlichen  Gericht  verurteilt,  sondern 
nach  Gutbefinden  des  Grundherrn  behandelt,  resp.  von  den  ent- 
ehrenden Strafen  an  Haut  und  Haar  freigekauft  werden  können.*) 
Ferner  traten  auch  Censualen  in  diesen  Stand  ein,  ja,  konnten 
in  gewissen  Fällen  sogar  zum  Eintritt  in  denselben  gezwungen 
werden;*)  selbst  Vollfreien  mochte  die  Stellung  bischöflicher  Hof- 
beamten oft  verlockend  erscheinen 

Auf  die  spätere  Entwicklung,  die  unten  zu  besprechen 
sein  wird,  kann  hier  nicht  näher  eingegangen  werden.  Nur  sei 
es  gestattet,  ehe  wir  diese  Untersuchung  über  die  servientes 
schliessen,  noch  einen  Blick  auf  die  Litteratur  zu  werfen.  Dass 
serviens,  servitor,  minister,  ministerialis,  sowohl  alle  beim  Dienst 
des  Bischofs  beschäftigten  Personen,  als  auch  speciell  die  höheren, 
wie  auch  speciell  die  niederen  bezeichnen  kann,  hat  besonders 


')  vgl.  Georg  Meyer  in  Ztsclir.  il.  Snvigny-Stift.  Bd.  III  S.  111. 
•)  vgl.  oben  S.  46. 

*)  Leg.  et  «tat.  tit.  29. 


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49 


Waitz  hervorgehoben.1)  Ebenderselbe  betont  auch,*)  dass  „was 
ursprünglich  als  unterste  Stufe  der  Abhängigkeit  galt,  oft  die 
Staffel  höherer  Geltung  geworden  ist.“  Nur  die  scharfe  Unter- 
scheidung der  von  den  alten  geburtsständischen  Unterschieden 
ganz  unabhängigen  neuen  socialen  Classenbildung,  die  freilich 
wohl  nicht  überall  so  klar  wie  am  Mittelrhein  entgegentritt, 
findet  sich  bei  ihm  noch  nicht.  Auch  v.  Maurer*)  unterschied 
schon  die  innere  und  äussere  familia  der  Grundherrschaft,  was 
dem  Gegensatz  der  servientes  zu  der  übrigen  familia  ungefähr 
entspricht;  nur  beruht  nach  Maurer  der  Unterschied  darauf, 
dass  die  einen  innerhalb,  die  andern  ausserhalb  der  Grund- 
herrschaft wohnen,  während  doch  wenigstens  am  Mittelrhein 
auch  die  auf  dem  Lande  angesessenen  Ministerialen  zu  den 
servientes  zählen.*) 

Unabhängig  von  den  alten  geburtsständischen  Unterschieden, 
mit  der  Ausbildung  eines  bevorrechteten  Standes  der  servientes 
resp.  der  Ministerialen  in  einigen  Punkten  zusammenhängend, 
aber  doch  durch  ganz  andere  Ursachen  hervorgerufen,  ist  die 
sociale  Classenbildung,  zu  der  wir  jetzt  übergehen. 

Aus  dem  früher  angeführten  ging  hervor,  dass  nicht  nur 
die  Censualen,  sondern  auch  die  Dago warden  dem  Rechte  des 
Todfalls  unterworfen  waren.  Daraus,  dass  nach  den  zahlreichen 

‘)  V.  G.  V 295  cf.  428  ff. 

*)  ibid.  S.  198. 

*)  Gesch.  der  Fronhöfe  (Erlangen  1882)  I 256. 

*)  Es  sei  erlanbt,  bier  anf  die  analogen  Verhältnisse  in  StrnBsbnrg  zn 
verweisen.  Dort  sind  nach  § 10  des  ersten  Stadtrechts  die  Ministerialen  und 
die  Beamten  des  Erzbischöfe  von  der  Gerichtsbarkeit  des  Scholtheissen  exi- 
miert;  ebenso  nach  § 38  die  Dienerschaft  der  Klöster.  Neuerdings  sind  nun 
gerade  die  Strassburger  Verhältnisse  von  der  herrschenden  Ansicht  (vgl.  Ar- 
nold I S.  88  ff.)  abweichend,  aber  durchaus  unrichtig  von  v.  B e 1 o w (Sybel 
Hist.  Zeitschr.  Bd.  58  S.  205  ff.  n.  Enstehung  der  Stadtgemeinde  S.  35  ff.) 
dargestellt  worden.  Ohne  die  oben  citierten  Warnungen  der,  grade  seiner 
Ansicht  nach  vernachlässigten,  Forschungen  von  Maurer  und  Waitz  irgend- 
wie zu  beachten,  sieht  Below  in  jeder  Erwähnung  von  familia,  miuistri  oder 
servientes  „hörige  Handwerker“  gemeint.  Besonders  hierdurch  ist  er  dann  zu 
seiner  grundfalschen  Benrteilnng  der  Strassburger  Verhältnisse  geführt  wor- 
den die  sofort  erhellt,  wenn  man  § 6 der  citierten  Rechtsquelle  mit  Below s 
Erörterungen  vergleicht;  zur  Erklärung  des  ersten  Strassburger  Stadtrechts 
«.  B.  des  darin  vorkommenden  Ausdrucks  homines  ecclesiae  hätte  die  Analogie 
des  Gesetzes  Burchards,  nicht  die  der  Rechtsaufzeichnungen  von  Hameln  ans  dem 
dreizehnten  Jahrh.  herangezogen  werden  müssen  vgl.  unten  Anli.  I. 

Koehne,  Ursprung  der  Stadtverfsssung  in  Worms,  Speier  und  Mainz.  4 


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50 


Rechtsquellen,  aus  welchen  wir  über  die  Lage  der  Ministerialen J) 
unserer  Bistümer  genaueres  erfahren,  die  Todfallsabgaben  von 
ihnen  erhoben  wurden,  ergiebt  sich,  dass  die  Ministerialen  als 
solche  wenigstens  am  Mittelrhein  nie  davon  befreit  waren. 

Dagegen  ist  in  Speier  eine  Classe  der  Bewohner  höchst 
wahrscheinlich  früh  von  dieser  Verpflichtung  freigeworden,  die- 
selbe Classe,  die  sich  auch  in  Worms  und  Mainz  allmälig  aus 
der  übrigen  bischöflichen  familia  als  besonders  bevorrechtete 
heraushob.  Diese  Classe  bestand  aus  den  durch  Handel  reich 
gewordenen  Kaufleuten,  deren  offizielle  Vertretung  in  Speier  der 
Gesellschaft  der  Hausgenossen  zugefallen  war.  Diese  Vereini- 
gung hat , wie  wir  später  sehen  werden , in  den  Städten  am 
Mittelrhein  und  spec.  in  Speier  vielfach  die  Rolle  der  Kölner 
Gilde  als  Sammelpunkt  der  kapitalistischen  Elemente  der  Bürger- 
schaft gespielt.  Dass  die  Mitglieder  der  Hausgenossengesell- 
schaft vom  Buteil  freigeblieben,  hat  Rau*)  richtig  aus  einer 
Urkunde  Ludwigs  des  Baiem  in  Verbindung  mit  dem  bekann- 
ten Privileg  Heinrichs  V,  in  welchem  dieser  das  Buteil  aufhebt, 
geschlossen.  Heinrich  V verordnet  nämlich  in  dieser  Urkunde,8) 
dasä  die  vom  Buteil  befreiten  Einwohner  von  Speier  am  Jahres- 
tage seines  Vaters  mit  Kerzen  zur  Abendmesse  kommen  sollen. 
Kaiser  Ludwig  bestätigt  nun  1330  dem  Münzmeister  das  Recht 
der  Beaufsichtigung  dieser  damals  noch  von  den  Zünften  dem 
Andenken  Heinrichs  IV  gebrachten  Huldigung.4)  Danach  schei- 
nen die  Hausgenossen,  die  sonst  gewiss  auch  erwähnt  wären, 
an  dieser  Leistung  nicht  teilgenommen  zu  haben,  und  gerade 
dieser  Umstand  lässt  wieder  darauf  schliessen,  dass  sie  schon 
tu  Heinrichs  V Zeit  vom  Buteil  befreit  gewesen. 

So  scheint  mir,  während  die  alten  Unterschiede  zwischen 
Freien , Vogteileuten  und  Leibeignen  mehr  und  mehr  verschwan- 
den, sich  eine  neue  Standesgliederung  nach  Beschäftigung  und 
Besitz  gebildet  zu  haben;  dieselbe  gab  freilich  den  darin  be- 
günstigten zunächst  nur  tatsächliche,  und  erst  allmälig  auch 

l)  vgl.  die,  eine  Bewidmung  mit  Mainzer  Ministerialenrecht  enthaltende, 
freilich  verdächtige  Urkunde  Erzbischof  Adalberts  B — W XXV  33  (Grandi- 
dier Hist.  d’Alaace  t.  II  p.  223),  ferner  B-W  XXV  239  (Guden  I p.  99). 

*)  Eegimentsverf.  Bd.  I S.  10  N*. 

*)  U.  14. 

‘)  U.  386  S.  316  Z.  6. 


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51 


mehr  und  mehr  rechtliche  Vorzüge.  Der  Handel,  welcher  im 
elften  Jahrhundert  in  Speier  erblühte  und  sich  in  ebendieser 
Zeit  in  Worms  und  Mainz  bedeutend  hob,  schuf  in  allen  diesen 
Städten  eine  Reihe  von  vermögenden  Leuten,  welche  auch  Welt- 
erfahrung und  Geschäftskenntnis  gesammelt  hatten.  Bereits  von 
Otto  I war  ein  reicher  Mainzer  Kaufmann  als  Gesandter  nach 
Constantinopel  geschickt  worden.1)  Als  Erzbischof  Sigfried  I von 
Mainz  1064  eine  Pilgerfahrt  ins  heilige  Land  unternahm,  fiel  die 
grosse  Anzahl  von  reichen  Leuten , die  sich  in  seinem  Gefolge 
befanden,  vielfach  auf,  wie  aus  ihrer  Erwähnung  in  von  einander 
unabhängigen  Quellen  hervorgeht.*)  Am  Ausgang  des  elften 
Jahrhunderts  vermochte  ein  Mainzer  Bürger  Wignand  dem 
Kloster  Hirschau  11  Wagenladungen  Wein  zu  senden;*)  durch 
seine  Gaben  war  auch  die  Stiftung  des  Klosters  Camberg  mög- 
lich.4) Um  dieselbe  Zeit  befreite  ein  Wormser  Bürger  Liut- 
fred  dadurch,,  dass  er  das  Kloster  Reichenberg  zum  Erben  ein- 
setzte, dasselbe  aus  grosser  finanzieller  Bedrängnis:5)  ein  and- 
rer Wormser  Bürger,  Erkanbert,  stiftete  im  Jahre  1125  das 
Kloster  Frankenthal.6)  Wesentlich  unterstützt  durch  die  Ca- 
pitalskraft  der  rheinischen  Städte  vermochten  endlich  Hein- 
rich IV  und  Heinrich  V ihre  jahrelangen  Kriege  gegen  welt- 
liche und  geistliche  Rebellen  zu  führen. 

Wenn  hier  und  im  folgenden  von  Kaufleuten  schlechthin 
gesprochen  wird,  so  mag  noch  ausdrücklich  darauf  hingewiesen 
werden,  dass  dem  Sprachgebrauch  der  Quellen  entsprechend  unter 
Kaufleuten  alle  diejenigen  verstanden  werden,  welche  ihre  Waaren 
auf  dem  Markte  zu  Verkauf  stellen.  Wie  schon  das  canonische 


•)  Liutpr.  VI  c.  4 (M.  G.  in  8°  ed.  Dflmniler  p.  120) : domini  nostri  tnnc 
regia,  nunc  imperatoria,  . . . nuntinm,  Lintefredmn  scilicet,  Magontinum  in- 
stitorem  ditisaimum. 

*)  B-W  XXII  31. 

•)  Vita  Willhelmi  abb.  Hireaug.  S.  S.  XU  p.  216  c.  13. 

*)  Boehmer  Fontes  I p.  463. 

•)  Vita  Theogeri  epiac.  Metenais  c.  19  S.  8.  XU  p.  458. 

*)  Schannat  Up.  65  N.  72:  Ego  Burchardua,  Worin.  eccL  epis.  . . . 
committo  memoriae,  qualiter  in  villa,  quae  Frankenthal  nominatur,  Erkenbertus, 
iraius  Crbis  noatrae  civia,  eccleaiam  . . . dedicari  fecit  ot  . . conatitnit.  cf. 
Ludevrig  Reliqn.  Manuscript.  t U p.  88  ssq. 


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62 


Recht,1)  so  sieht  auch  der  heutige  gewöhnliche  Sprachgebrauch  in 
der  Regel  einen  Kaufmann  nur  in  Demjenigen,  der  die  Güter 
in  unveränderter  oder  doch  wenigstens  wesentlich  unveränderter 
Form  wieder  verkauft.  Fabrikant  und  Handwerker  werden  votn 
Kaufmann  geschieden.  Ganz  abweichend  ist  der  Sprachgebrauch 
in  Deutschland  in  der  von  uns  betrachteten  Zeit  mindestens 
vom  11.  bis  13.  Jahrhundert.  Damals  wurden  Schwertfeger, 
Tischler,  Zimmermann  und  andere  Handwerker  noch  durchaus 
zu  den  Kaufleuten  gerechnet,®)  da  sie  ihre  Waaren  auf  dem 
Markte  ihrer  Heimatsstadt  auszustellen  und  selbst  fremde 
Märkte  zu  beziehen  pflegten.5)  So  kam  es,  dass,  als  der  über- 
wiegende und  in  politischer  und  socialer  Hinsicht  massgebende 
Teil  der  Stadtbewohner  zur  Beschäftigung  mit  Handwerk  und 
Handel  übergegangen  war,  die  Worte  Städter  und  Kauf- 
mann oft  geradezu  identisch  gebraucht  wurden.4)  Gehen  wir 

*)  c.  IJ  § 2 D 88 : Quicnmqe  rem  comparat,  non  nt  ipsam  reni  integram 
et  iuimutatam  uendat,  sed  ut  materia  sibi  sit  inde  aliqnid  operandi,  iiie  non 
est  negotiator ; qui  autem  comparat  rem  nt  iliam  ipsam  integram  et  immntatam 
dando  lucretur,  illc  est  mercator  vgl.  Goldschmidt  Handelsrecht  (Stuttg.  1875) 
§ 41  N.  1. 

*)  cf.  Waitz  V.  G.  V 357  und  die  daselbst  N.  2 citirte  Stelle.  Be- 
zeichnend ist  es  auch,  dass  die  älteren  Quellen  für  den  Grosshändler  keine 
specifische  Bezeichnung  haken.  „Erst  die  jüngere  Statuten-  und  Urknnden- 
sprache  bietet  uns  in  den  Ausdrücken  gewelbherren  oder  kanflierren  Special- 
namen für  den  Grosshändler  dar*  (Gengier  Deutsche  Stadtrechtsaltertümer 
[Erl.  1882]  S.  455,  450  vgl.  auch  Bücher  Bvlkrng.  von  Frankfurt  a.  M.  [Titbing. 
1886]  S.  153). 

*)  Vgl.  ausser  der  bei  Waitz  V.  G.  V 357  N.  3 citierten  noch  folgende  schon 
der  karolingischen  Zeit  angehörende  Stelle  W.  U.  17 : nt  quanticumque  nego- 
tiatores  vel  artifices  . . apud  Uuangionem  civitatem  devenissent,  omne  telonenm 

undecumque  fiscus  telonenm exigere  poterat,  eidein  ecclesie  conces- 

sissent.  Wie  Heusler  Instit.  II  S.  313  N.  2 bemerkt,  ist  das  vel  im  Sprach- 
gebrauch jener  Zeit  am  besten  durch  uuser  „und  allfällig*  wiederzugeben. 

4)  cf.  Gaupp  Stadtrchte  II S.  6,  Homeyer  Sachsenspiegel  Bd.  II  TI.  2 S.  299, 
Waitz  V.  G.  V 357  N.  1 Z.  4,  Gengier  Deutsche  Stdtrsaltertümer  S.  453,  Beh- 
rend  Handelsrecht  (Berlin  1886)  S.  21.  Von  den  bei  Gaupp  und  Waitz  a.  a. 
0.  angeführten  Beispielen  wird  trotz  Osenbrüggen’s  (Studien  z.  deutsch,  u. 
Schweiz.  Bechtsgesch.  Basel  1881  S.  23  ff.)  und  Heinrich  Maurer's  (Ztschr. 
f.  Gesch.  d.  Oberrhns.  N.  F.  II  S.  189)  Widerspruch  auch  in  Conrads  von 
Zähringen  Prvlg.  für  Freiburg  an  der  Identität  der  mercatores  und  burgenses 
festgehalten  werden  müssen.  Da  nach  der  Einleitung  die  Kaufleute  einen 
bestimmten  Bauplatz  erhalten,  so  sind  sie  nach  tit.  40  derselben  Urkunde 
sämmtlich  burgenses,  vgl.  für  die  Identität  auch  tit  5.  Auch  die  von  Osen- 


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53 


nun  dazu  über,  zu  zeigen,  wie  den  Kaufleuten  (im  ange- 
gebenen Sinne)  allmillig  ein  maasgebender  Einfluss  in  Rechts- 
sprechung, Rechtsbildung  und  Verwaltung,  welche  Gebiete  ja 
nicht  so  scharf  und  principiell  wie  heute  geschieden  waren,  und 
schliesslich  im  politischem  Leben  der  Städte  zufiel.  In  dieser  Unter- 
suchung selbst  wird  es  auch  gelingen,  darzntun,  dass  diese  Kauf  leute 
durchaus  nicht  bloss  oder  auch  nur  vorwiegend  Nachkommen  freier 
und  altangesessener  Stadtbewohner  waren.  Es  wird  sich  vielmehr 
zeigen,  dass  die  sich  neu  bildenden  Ständeunterschiede  mit  der 
aus  älterer  Zeit  stammenden  Teilung  der  Stadteinwohner  in 
Freie,  Hörige  und  Leibeigene  garnichts  zu  tun  haben. 


Capitel  IV. 

Wachsender  Einfluss  des  Kaufmannsstandes. 

Auf  dreierlei  Weise  erlangte  der  Kaufmannsstand  in  den 
mittelrheinischen  Städten  jenen  bestimmenden  Einfluss,  der  sich 
zuletzt  in  den  meisten  Beziehungen  des  Staats-  und  Rechts- 
lebens zeigte: 

1)  durch  genossenschaftliche  Organisation  und  Erlangung 
öffentlicher  Rechte  für  dieselbe; 

2)  durch  Teilnahme  am  Rat  des  Bischofs, 

3)  durch  Besetzung  der  Schöffenstühle. 

Was  zunächst  den  ersten  Punkt  betrifft,  so  ist  uns  am 
Mittelrhein  von  einer  genossenschaftlichen  Organisation  der 
Kaufleute  in  der  angegebenen  Bedeutung  d.  h.  aller  derer,  welche 
auf  dem  Markt  ihre  Waren  feilboten,  der  uns  vielfach  im  ger- 
manischen Rechtsleben  entgegen  tretenden  sog.  Gilde,  nur  wenig 
direkt  überliefert;  nicht  einmal  der  Gebrauch  des  Namens  der 
Gilde  ist  uns  für  Süddeutschland  bezeugt. 

brüggen  3.  25  herangezogene  Stelle  kann  durchaus  nicht  für  einen  Gegensatz 
▼on  burgenses  und  mercatorcs  in  den  z&hriugischen  Städten  angeführt  wer- 
den. Diese  Stelle  besagt  vielmehr  nur,  dass  — wenn  schon  jeder  Bürger, 
sofern  nur  nicht  schon  der  Process  bei  dem  Schnltbeisseu  begonnen,  sich  durch 
gütliche  Uebereinkunft  mit  dem  Gegner  dem  Schultheissenge  rieht  entziehen 
kann  — bei  Streitigkeiten  von  Kaufleuten  über  ihre  Waaren  stets  die  ge- 
nossenschaftliche Gerichtsbarkeit  eintreten  soll.  Dauach  konnten  die  Kauf- 
lente  sehr  gut  einen,  ja  den  zahlreichsten  Teil  der  Bürger  ausm&cbeu. 


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54 


Zwei  der  bedeutendsten  Kenner  der  socialen  Einrichtungen 
des  Mittelalters,  Schmoller1)  und  Nitzsch,*)  behaupten  sogar, 
dass  diese  genossenschaftliche  Organisation  dem  Süden  Deutsch- 
lands überhaupt  gefehlt  habe.  Schmoller  schreibt  dies  nament- 
lich der  älteren  Cultur  desselben  zu.  „Da  war  in  den  Bischofs- 
städten mit  ihren  älteren  Ordnungen  von  Handel  und  Gewerbe, 
Markt  und  Verkehr,  mit  ihrem  Adel  und  ihren  Ministerialen- 
geschlechtern weniger  Platz  und  weniger  Bedürfnis  für  eine 
Bildung  von  Kaufmannscorporätionen,  von  kaufmännischen  Vor- 
rechten und  Gilden.“8)  Nitzsch4)  kommt  sogar  in  Folge  der 
Ähnlichkeit  der  Gildeeinrichtung  in  Sachsen,  England  und  Schles- 
wig, welchen  Ort  noch  Adam  von  Bremen  „eine  Stadt  der  über- 
elbischen Sachsen“  nennt,  zu  der  Annahme , dass  wir  es  in  der  Gilde 
„mit  einer  uralten  sächsischen  Bildung  zu  tun  haben,  deren 
Bedeutung  für  den  Verkehr  in  die  Zeit  der  alten  Stammesver- 
fassung, ja  vielleicht  vor  die  Zeit  der  Besiedlung  Britanniens 
zurückreicht.“  Ist  aber  nicht  Groningen,  dessen  Gildezustände 
Nitzsch  ausführlich  schildert,5)  auf  friesischem  und  sind  nicht 
Köln  und  Utrecht,  wo  er  ebenfalls  eine  den  übrigen  analoge 
Kaufmannsgilde  annimmt6),  auf  fränkischem  Rechtsboden  gelegen? 

Auch  in  Süddeutschland  finden  wir  ganz  zweifellose  Docu- 
mentationen  einer  genossenschaftlichen  Organisation  der  Kauf- 
leute wenigstens  an  einer  Stelle,  in  Regensburg.  Dort  ist  uns 
spätestens  für  das  letzte  Viertel  des  zwölften  Jahrhunderts  eine 
Vereinigung  der  gesammten  Kaufmannschaft,  die  Hanse,  bezeugt, 
deren  Vorsteher,  der  Hansgraf,  eine  Gerichtsbarkeit  in  Handels- 
sachen besass.7) 


‘)  Strassb.  Tücher-  und  Weberrunft  (Strassburg  1881)  S.  40. 

’)  Über  die  niederdeutschen  Genossenschaften  des  12.  und  13.  Jahrbdrta. 
(Sitzungsbericht  der  Berliner  Akad.  1879)  S.  6,  S.  26  ff. 

*)  Schmoller  a.  a.  0. 

‘)  a.  a.  0.  S.  27. 

•)  Sitzungsber.  d.  Bert.  Akad.  1880  S.  382—403. 

*)  ibid.  8.  394  vgl.  auch  Schoop  S.  141,  142,  wo  das  Bestehen  einer 
Kaufmannsgilde  in  Trier  sehr  wahrscheinlich  gemacht  wird. 

’)  Monom.  Boica  XIII  p.  70.  N.  67;  Urk.  Philipp«  von  Schwaben  9.  März 
1207  (B-F.  142).  Vgl.  F.  Gfrörer.  Vrfssngsg.  von  Regensburg  S.  61,  Schmeller 
Bair.  Wörterbuch  S.  1134  s.  v.  Hanse,  Hansa.  Eine  Hanse  als  Kaufmanns- 
gilde ist  übrigens  auch  in  Hesaen-Cassel  bezeugt  vgl.  Vilmar  Idiotikon  von 
Kurhessen  (Marburg  1869)  S.  149  s.  v.  Hansegrebe. 


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56 


Demnach  kann,  falls  sich  genügende  Spuren  einer  ge- 
nossenschaftlichen Organisation  der  Kaufleute  am  Mittelrhein 
finden,  daratas  auf  die  Existenz  einer  solchen  geschlossen 
werden,  mag  sie  nun  Gilde  oder  Hanse  oder  wie  sonst  immer 
genannt  worden  sein.  Findet  sich  doch  auch  in  Köln,  aus  dem 
eine  viel  reichre  Überlieferung  als  aus  den  mittelrheinischen 
Städten  sich  bis  in  unsre  Zeit  erhalten  hat,  der  Name  Gilde 
nur  in  drei  Urkunden,  nämlich  in  dem  bekannten  Mitglieder- 
verzeichnis  derselben  und  in  den  beiden  Bürgerlisten  des  zwölf- 
teu  Jahrhunderts,  erwähnt.')  Demnach  kann  es  als  festgestellt 
angesehen  werden,  dass  hier  bereits  im  Anfang  des  elften  Jahr- 
hunderts*) eine  genossenschaftliche  Organisation  aller  Kaufleute 
bestand,  die  uns  in  der  Mitte  des  zwölften  als  Gilde,  später 
als  Richerzeche  entgegen  tritt.5)  Diese  Vereinigung  umfasst  alle 

')  Vgl.  Kruge  in  Zeitgehr,  der  Savig.-Stftng.  IX  S.  164  N.  3. 

*)  Vita  Heribeiti  c 9 (8.  8.  IV  p.  748). 

*)  Hoeniger  Westdeutsche  Ztschr.  II  247  vgl.  auch  Wilda  Gilde  8.  176  ff. 
Neuerdings  hat  Kruse  (Ztschr.  d.  Savigng.  St.  IX  162—201)  diese  Ableitung 
der  Bicherseche  aus  der  Gilde  in  Abrede  gestellt.  Eine  ins  einzelne  gehende 
Widerlegung  aller  von  Kruse  gegen  die  Resultate  der  Forschungen  Hoeni- 
gers  erhobenen  Einwände  würde  an  dieser  Stelle  zu  weit  führen.  Jedoch 
mag  hier  nach  einer  Hittheilung  Hoenigers  darauf  hingewiesen  werden,  dass 
gleich  die  erste  von  Kruse’s  Einwendungen  (a.  a.  0. 8. 169)  offenbar  völlig  unzu- 
treffend ist,  dass  nämlich  die  ,ca.  1300“  Mitglieder  der  Gilde , deren  Namen  uns  die 
aus  der  Mitte  de*  12.  Jahrhunderts  erhaltene  Gildeliste  überliefert  habe,  im  Laufe 
zweier  Menschenalter  auf  die  30  vollberechtigten  Mitglieder  der  Bicherzeche 
zusammengeschmolzen  seien.  Es  liegt  nämlich  zunächst  kein  Grund  vor,  nur 
die  Mitglieder  erster  Klasse  innerhalb  der  Bicherzeche,  und  nicht  auch  die 
zweiter,  .deren  Zahl  ca.  1360  als  361  angegeben  wird“  (Kruse  S.  171),  als 
Überreste  der  frühem  Gildemitglieder  anzusehen.  Dazu  kommt  noch,  dass 
die  Gilde  zur  Zeit  der  Liste  nur  etwa  600  Mitglieder  enthielt,  da  fast  alle 
Namen  darin  doppelt  Vorkommen,  wie  jedem,  der  die  Liste  oder  eine  Abbil- 
dung derselben  gesehen,  bald  deutlich  wird,  und  da  ferner  nicht  der  Per- 
sonalbestand eines  bestimmten  Zähltages,  sondern  eine  durch  etwa  zwanzig 
Jahre  geführte  Mitgliederliste  vorliegt,  mithin  ein  Brachteil  bei  der  Fest- 
stellung der  jeweilig  vorhandenen  Personenzahl  auszusebeiden  ist.  Ein  Zu- 
sammenschmetzen  der  Mitgliederzahl  einer  sich  aristokratisch  oder  richtiger  pluto- 
kra tisch  abschliessenden  Corporation  auf  etwa  '/»  der  frühem  Mitgliederzahl 
bat  doch  nichts  besonders  auffallendes.  So  sind  denn  auch  in  der  Liste  nicht  je 
2 pincemae,  monetarii,  pannifices,  wie  Kruse  S.  160  meint,  erwähnt,  sondern 
nur  je  einer,  wie  schon  die  stets  gleichen  Namen  dieser  Doppelgänger  dartun. 
Wäre  es  endlich,  was  demnach  noch  sehr  zweifelhaft  ist,  auch  sicher  richtig, 
dass  die  Gilde  zur  Zeit  der  Liste  noch  .eine  Genossenschaft  von  grösstem 


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in  Köln  ansässigen  oder  auch  nur  dort  Handel  treibenden  Kauf- 
leute.1) Die  Entscheidung  der  Streitigkeiten  derselben  unter 
sich  und  die  Gewerbegerichtsbarkeit  über  Gilde-  und  Nichtgilde- 
genossen, sowie  ferner  die  Gewerbe-  und  Handelspolizei  ist  zum 
Teil  noch  später  in  den  Händen  der  officiales  de  richerzecheyde, 
der  Vorsteher  dieser  Genossenschaft.*) 

Dass  auch  in  den  inittelrheinischen  Städten  eine  solche  ge- 
nossenschaftliche Gerichtsbarkeit  bestand,  sehen  wir  aus  den 
Verordnungen,  die  Eggehard,  Abt  von  Reichenau,  für  den  von 

Umfange“  gewesen  (S.  158)  und  „Hunderte  von  kleinen  Leuten  umfasste“ 
(S.  160),  so  sckliesst  dies  doch  garnicht  aus,  dass  schon  damals  die  Leitung 
der  Gilde  in  wenigen  plutokratischen  Händen  war! 

*)  Vgl.  Hoeniger  in  Schmollen  Jalurb.  f.  Geaetzgeb.  (1887)  XI  S.  729. 

*)  Hoeniger  Westd.  Ztschr.  II  247.  Kruse  a.  a.  0.  8.  172 — 179  meint 
freilich,  dass  die  Kicherzeche  grade  das  wichtigste  gewerbepolizeiliche  Hecht, 
die  Erteilung  des  Zunftzwangs,  nicht  von  der  Gilde,  welche  dasselbe  nie  be- 
sessen, sondern  von  Erzbischof  Engelbert  erhalten  habe,  der  ihr  dies  früher 
den  Schöffen  zustehende  Becht  übertragen  habe.  Kruse  selbst  sagt  jedoch 
über  die  Forschungen  Nitzschs  referierend,  dass  die  Gilde  „ihren  Mitgliedern 
das  exclusive  Becht  des  Verkehrs  an  dem  betreffenden  Platze“  gewährte. 
(8.  157).  Steht  dies  aber  fest,  so  kann  auch  nicht  mehr  angenommen  werden, 
dass  für  bestimmte  einzelne  Waaren  ein  exclusives  Verkehrsrecht  — worin, 
wie  grade  Kruse  (S,  172—174)  schön  nachgewiesen  hat,  die  sog.  „Lehnung 
der  Bruderschaft*  bestand  — an  einzelne  (Korporationen  ganz  ohne  Mit- 
wirkung der  Gilde  hätte  übertragen  werden  können.  Trotz  Kruses  Wider- 
spruch (S.  177)  wird  man  in  der  Urk.  von  1149  unter  den  meliores  civitatis 
die  Gildevorsteher  verstehen  müssen,  die  also  in  der  Erteilung  des  Zunft- 
zwauges  eine  ähnliche  Bolle  wie  später  die  Vorsteher  der  Bicherzeche  spielen. 
Erwähnt  sei  auch  noch  der  Einwurf,  den  von  Below  Stadtgemeinde  S.  125 
gegen  die  Ableitung  der  Bicherzeche  aus  der  Gilde  erhebt.  „Wir  finden 
weder  bei  der  Bicherzeche  etwas  von  dem,  was  der  regelmässige  Zweck  der 
Kaufmannsgilden  ist,  noch  bei  irgend  einer  Kaufmannsgilde  etwas  von  dem, 
was  die  Kompetenz  der  Kicherzeche  ausmacht.  Der  Bicherzeche  steht  z.  B. 
das  Becht  der  Aufnahme  in  den  Bürgerverband  zu.“  Diese  Befugnis  könne 
nicht  von  einer  Gilde  stammen,  besonders  da  die  Mitglieder  zum  Teil  gar 
nicht  dem  Bürgerverbande  angehörten.  Gegen  diese  Bemerkungen  Belows  sei 
ausser  auf  den  bereits  erwähnten  Zusammenhang  des  allgemeinen  Verkaufs- 
rechts mit  der  Schaffung  specieller  Verkaufsrechte  bestimmter  Vereine  für  be- 
stimmte Waaren  darauf  verwiesen,  dass  die  Kicherzeche  im  Besitz  der  Dom- 
wage ist,  während  grade  auch  das  Becht  auf  die  Wage  überall,  wo  wir  über 
die  Gildeverhältnisse  genauer  unterrichtet  sind,  dieser  letztem  Genossenschaft 
zusteht.  Der  Einwand,  dass  Becht  der  Aufnahme  in  den  Bürgerverband,  das 
nachweislich  von  der  Bicherzeche  ausgeübt  wurde,  nicht  aus  der  Gilde  her- 
stammen könne,  da  die  Mitglieder  der  Gilde  z.  T.  garnicht  dem  Bürger- 


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57 


ihm  geschaffenen  Markt  zu  Allensbach  1075  erliess.')  Hier 
wird  zunächst  auf  Verletzung  des  Marktes  und  der  Marktbe- 
sucher dieselbe  Strafe  gesetzt,  welche  dies  Verbrechen  in  Mainz, 
Worms  oder  Constanz  trifft,  und  den  in  Allensbach  angesessenen 
villani  das  Recht  gegeben,  zum  Handelsbetriebe  überzugehen. 
Dann  sollen  sie  und  ihre  Nachkommen  als  Kaufleute  betrachtet 
werden,  mit  Ausnahme  aber  derer,  welche  sich  noch  weiter 
mit  Wein  und  Ackerbau  beschäftigen.*)  Die  Urkunde  fährt  fort: 
Ipsi  antem  mercatores  inter  se  vel  inter  alios  nulla 
alia  faciant  iudicia  praeterquam  quae  . . . omnibus  mer- 
catoribus  ab  antiquis  temporibus  sunt  concessa. 

Das  kann  nur  von  der  genossenschaftlichen  Gerichtsbarkeit 
der  Kaufleute  gesagt  sein;  in  der  Urkunde  ist  nun  ausge- 
sprochen, dass  eine  solche  allen  Kaufleuten  zusteht,  während 
vorher  gerade  auch  Wormser  und  Mainzer  Recht  zum  Vergleich 
herangezogen  ist.  Wir  sind  also  wohl  zu  dem  Schluss  berech- 
tigt, dass  auch  in  Worms  und  Mainz  eine  genossenschaftliche 
Handelsgerichtsbarkeit  bestand.  Auf  diejenigen  Einwohner,  die 
bei  Acker-  und  Weinbau  blieben,  bezog  sie  sich  auch  dort  wohl 
ebenso  wenig  wie  in  Allensbach. 

Speciell  in  Worms  und  wohl  auch  in  den  andern  Städten 
waren  auch  Teile  der  Marktverwaltung  in  den  Händen  der 
kaufmännischen  Genossenschaft.*)  Es  geht  dies  aus  einer  von 
der  Wormser  Gilde,  wenn  wir  die  Genossenschaft  so  nennen 
wollen,  selbst  ca.  1106  ausgestellten  Urkunde  hervor.*)  Dass 
die  Ausstellung  dieser  Urkunde  der  Kaufmannsgenossenschaft 
und  nicht  dem  Bischof  oder  irgendwelcher  weltlichen  oder  geist- 
lichen Behörde  zuzuschreiben  ist,  lässt  sich  aus  Form  und  In- 
halt dieses  Docnmentes  ersehen. 

Es  handelt  sich  in  dieser  Urkunde  um  die  Ordnung  des 
Fischverkaufs.  Es  ist  darin  allerdings  gesagt,  dass  der  Bischof 
Adalbert  auf  Bitten  des  Grafen  Werner  eine  Fischhändlerinnung 
errichtet  und  die  Einrichtungen  derselben  festgesetzt  habe. 

verbände  angehört  bitten,  erledigt  sich  durch  Kruses  Nachweis  (a.  a.  0. 
8.  180),  dass  die  Verleihung  des  Bürgerrechts  überhaupt  erst  spät  an  die 
Bicherzeche  gekommen  ist. 

')  Zeitscbr.  f.  Geschichte  des  Oberrheins  Bd.  XXXII  S.  59  ft 

*)  exceptis  hie,  qui  in  exercendis  vineis  vel  agris  occnpantur. 

*)  Vgl.  über  analoge  Verhältnisse  in  Kein  oben  S.  56. 

‘)  W ü 58. 


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58 


Gewiss  ist  auch  zuzugeben,  dass  man  sich  vor  Ausstellung  dieser 
Urkunde  der  bischöflichen  Genehmigung  dazu  versichert  hat. 

Aber  die  Urkunde  ist  nicht  von  der  bischöflichen  Kanzlei 
ausgestellt;  das  beweisen  klar  ihre  Abweichungen  vön  der  Form 
der  dort  ausgestellten  Urkunden.  Zunächst  ist  es  bemerkens- 
wert, dass  die  Urkunde  objektiv  abgefasst  ist.  Es  wird  vom 
Bischof  in  der  dritten  Person  gesprochen,  während  er  in  allen 
sicher  aus  der  bischöflichen  Kanzlei  hervorgegangenen  Urkunden 
persönlich  als  redend  eingeführt  ist.1)  Damit  hängt  zusammen, 
dass  der  Bischof  als  venerabilis  episcopus  bezeichnet  ist,  was 
in  den  uns  sonst  aus  dieser  Zeit  überlieferten  Urkunden  höchst 
selten  der  Fall  ist.*)  Endlich  fehlt  die  Datierung,  während 
dieselbe  auch  in  Urkunden  erhalten  ist,  welche,  wie  die  jetzt 
betrachtete,  uns  nur  in  Copialbüchem  überliefert  sind.  Noch 
im  dreizehnten  Jahrhundert  fehlen  in  von  bürgerlichen  Behör- 
den in  Worms  ausgegangenen  Urkunden  öfters  Incarnationsjahr 
und  Indiction ; die  Zeit  wird  mitunter  garnicht,  mitunter  nach 
den  amtierenden  Stadtbehörden  bestimmt.*)  So  fehlt  auch  in 
der  ältesten  uns  erhaltenen  Mainzer  bürgerlichen  Urkunde , die 
wir  später  noch  genauer  betrachten  werden,  die  Datierung;*) 
ähnliches  lässt  sich  auch  in  der  Praxis  der  Kölner  Schreinsbe- 
amten wahrnehmen.*) 

Entstammt  so  unsre  Urkunde  von  1106  nicht  der  bischöf- 
lichen Canzlei,  so  zeigt  ihr  Inhalt  klar  ihren  Ursprung.  Bei 
erblosem  Versterben  eines  piscator  sollen  die  „urbani“  das 
Hecht  haben,  an  seiner  Stelle  einen  anderen  der  Innungsrechte 
teilhaft  zu  erklären.  In  Folge  von  Uebertretungen  des  ge- 
gebenen Gewerberechts  confiscierte  Fische  sollen  unter  die  ur- 

■)  Vgl.  die  in  den  Jahren  1000  bis  1141  in  der  Wormser  bischöflichen 
Kanzlei  aasgefertigten  Urkunden:  U 37,  43,  44,  45,  48,  60,  öl,  65,  57,  64, 
65,  70,  71  ferner  Schaunat  No.  55  und  72. 

*)  Es  findet  sich  nur  in  der  Datierungszeile  von  U 55,  die  der  Urkunde 
wohl  erst  nachträglich  hinzugefügt  ist,  wofür  jedenfalls  die  von  Boos  con- 
statierte  Verschiedenheit  der  Handschrift  spricht. 

*)  So  ist  z.  B.  U 111  nur  nach  der  Amtszeit  des  Zollbeamten,  U 159 
garnicht  datiert  In  U 126  geht  die  Datierung  nach  den  Bürgermeistern 
des  Jahres  der  nach  Incarnations-  und  Indictionqahr  voraus. 

‘)  Stumpf,  Acta  Magnnt.  No.  84. 

‘)  Vgl.  die  von  Hoeniger  heransgegebenen  Schreinskarten  (Bonn  1884—88, 
inshes.  Vorbemerk.  S.  1—6)  sowie  Hoeniger  in  Mitteil.  a.  d.  Stdtarch.  v.  Köln 
Bd.  I Heft  1 S.  43  ff.,  S.  46. 


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59 


bani  geteilt  werden.  Die  Mitglieder  der  Innung  haben  nicht 
das  ausschliessliche  Faugrecht,  sondern  ausschliessliches  Recht 
des  heute  sogen.  Speculationskaufs,  des  Kaufs  von  Fischen  zu 
Verkaufszwecken.  Doch  dürfen  sie  selbst  bis  zu  einer  bestimm- 
ten Stunde  nicht  einkaufen;  mit  andern  Worten  die  Consu- 
menten  werden  davor  geschützt,  dass  die  Händler  den  direk- 
ten Verkehr  mit  den  Fischfängern  unmöglich  machen.  Die  pis- 
catores,  aus  denen  die  Erbinnung  besteht,  sind  also  entschieden 
Fischhändler,  nicht  Fischfänger. 

Meiner  Meinung  nach  geht  aus  diesem  Inhalt  der  Urkunde 
ihr  Ursprung  klar  hervor. 

1)  Sie  muss  von  einer  Behörde  ausgegangen  sein,  da  unter 
nrbani  hier  entschieden  nur  ein  Ausschuss  von  Stadt- 
bewohnern verstanden  werden  kann.  Es  ist  unmöglich, 
hier  unter  den  nrbani  mit  Waitz  ‘)  die  Gesammtheit  der 
Stadtbewohner  gemeint  zu  finden.*) 

2)  Sie  kann  nur  von  der  Kanfgilde  ausgegangen  sein,  nicht 
von  einer  der  ans  Schöffentum  oder  der  Markgemein- 
schaft herrührenden  Behörde.*) 

•)  V.  G.  V S.  359  N.  3. 

*)  Dies  geht  insbesondere  ans  der  Verteilung  der  confiscierten  Fische 
unter  die  nrbani  hervor.  Wenn  Schaube  Worms  S.  262,  der  sich  Waitxs  An- 
sicht an  geschlossen  hat,  grade  ans  dieser  Bestimmung  schliessen  will,  dass 
die  Zahl  der  freien  Bürger  damals  noch  eine  geringe  gewesen,  so  ist  es  nur 
um  so  anffallender,  dass  er  andererseits  das  Verdienst  der  Erringung  der 
Stadtfreiheit  gTade  der  freien  Gemeinde  schreibt  Die  piscatores  sind  ihm 
.Zinspflichtige  der  Bürger;*  dafür  dass  es  solche  gab,  führt  er  aber  nur 
Urkunden  aus  der  zweiten  Hälfte  des  13.  Jahrhunderts  an,  in  denen  der 
Stadt  zustehende  Renten  an  Privatpersonen  verkauft  werden.  — 

Auffallend  ist  übrigens,  dass  die  piBcatores  in  dieser  Urkunde  von 
Schanbe  wie  von  der  ganzen  frühem  Literatur  (z.  B.  Arnold  I S.  171,  von 
Maturerl  204,  II 327)  immer  ausschliesslich  für  Fischfänger  gehalten  sind ; es  fin- 
den sich  in  der  Urkunde  aber  keine  Bestimmungen  über  Fischfang,  sondern 
nur  solche  Uber  Kauf  und  Verkauf  von  Fischen.  Auf  S.  60  Z.  28  ff.  stehen  auch 
die  ipei  qui  capiunt  zu  den  supradicti  XXlfl  piscatores  gradezu  im  Gegensatz. 

*)  Arnold  V.  G.  I S.  171  und  Heusler  Ursprung  S.  167  ff.  Anden  in 
dem  nrbani  den  aus  dem  Schöffentum  herrührenden , Maurer  I 172  und  204 
seinen  aus  den  Markvorständen  bestehenden  Rat  cf.  dagegen  ausser  den  Aus- 
führungen im  Text  auch  Schaube  Worms  S.  268 — 270.  Abgesehen  davon, 
dass  wie  die  Ausdrücke  consules  und  consiliatores  damals  noch  nicht  Vorkommen, 
so  auch  eine  die  Stadt  repräsentierende  und  verwaltende  Behörde  in  Deutschland 
überhaupterst  viel  später  erscheint,  würde  auch  die  Ordnung  derMarktangelegen- 


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60 


Können  wir  in  dieser  Urkunde  die  urbani  nur  als  Vor- 
steher der  Gilde  betrachten,  so  liegt  es  jedenfalls  nahe,  die  in 
einer  Wormser  bischöflichen  Urkunde  vou  1016*)  nach  den 
namentlich  aufgeführten  Zeugen  noch  erwähnten  pene  omnes 
urbani  auch  als  Gildevorstand  anzusehen. 

So  viel  kann  zum  mindesten  als  das  Resultat  dieser  bis- 
herigen Untersuchungen  betrachtet  werden,  dass  in  Worms  und 
Mainz  in  der  zweiten  Hälfte  des  elften  Jahrhunderts  ein  be- 
sonderes aus  Kaufleuten  zusammengesetztes  Gericht  für  Han- 
delssachen bestand,  und  dass  in  Worms  die  Errichtung  von 
neuen  Innungen  um  1106  der  Mitwirkung  einer  die  Interessen 
des  Handelsstandes  vertretenden  Genossenschaft  bedurfte.  Zu- 
gleich mit  der  Bestätigung  der  Existenz  dieser  mit  weitgehen- 
den Verkehrsvorrechten  ausgestatteten  Genossenschaft  lässt  sich 
einer  älteren  Quellen  entstammenden  Nachricht  eines  Schrift- 
stellers des  fünfzehnten  Jahrhunderts2)  auch  entnehmen,  dass 
für  ebendiese  Genossenschaft  der  Name  Brüderschaft  gebräuch- 
lich war. 

Noch  wichtiger  als  die  bisherigen  Erörterungen  ist  zur 
Erforschung  des  Einflusses  der.  der  niederdeutschen  Gilde  im 
wesentlichen  entsprechenden,  kaufmännischen  Organisationen 
am  Mittelrhein  die  genaue  Betrachtung  der  Ausläufer  derselben, 
hciten  durch  die  Schöffenbekörde  oder  die  Markgemeinde  sie  im  Besitz  vou  Competen- 
zen  erscheinen  lassen , welche  sie  sonst  nie  besitzen.  Endlich  bestand  damals 
schwerlich  eine  Markgemeinde  der  Stadt  Worms,  sondern  nur  eine  Mark- 
gemeinde eines  grossem  Distrikts,  in  welchem  auch  Landbewohner  waren, 
und  die  städtischen  Specialgemeinden  (vgl.  Capitel  V Ergebnisse  und 
Capitel  IX). 

•)  U 46. 

*)  Chronicon  Wormat.  auctore  Honacho  Kirsgart.  anon.  c.  38.  (Lude- 
wig  Beliquiae  Manuscriptormn  t.  II  Francof.  et  Lipsise  1720  p.  111):  „Socie- 
tatem,  quae  uulgariter  uocatur  die  Brüderschaft,  in  Wormatiensi  civitate 
destmxit  ad  commodum  et  libertatem  omuium  vendentium  et  ementitim.' 
Über  diesen  Schriftsteller  vgl.  jetzt  Köster,  Wormser  Annalen  S.  10 — 20.  Da- 
nach kann,  wenn  auch  der  genannte  Mönch  seine  Quellen  oft  ungenau 
wiedergiebt  und  namentlich  in  der  Chronologie  sehr  verwirrt  ist  (ibid.  S.  14), 
doch  unsere  Nachricht  unbedenklich  zum  Nachweis  der  Existenz  und  Benen- 
nung der  Kaufmannsgenossenschaft  in  Worms  verwandt  werden.  Die  ange- 
zogene Nachricht  kann  nicht  auf  Erfindung  beruhen,  sondern  muss  einer 
älteren  Quelle  entnommen  sein.  Über  die  Statthaftigkeit  der  Benutzung  uns 
durch  den  Mon.  Kirsgart.  überlieferter  Annalen-  und  Urkundenstellen  cf. 
noch  Köster  S.  51,  Quidde  Bhein.  Landfriedensbund  S.  12  ft 


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61 


insbesondere  der  sog.  Münzerhausgenossenschaft.  Nitzsch1) 
weist  darauf  hin,  dass  sich  die  Gilde  in  ihrer  ursprünglichen 
Verfassung  meist  nur  in  solchen  Städten  erhalten  hat,  welche 
in  ihrer  wirtschaftlichen  und  politischen  Entwicklung  jähe 
Hemmung  erfahren  haben.  Auch  in  Norddeutschland  bieten 
nur  gerade  in  derartigen  Orten  entstandene  Dokumente  näheres 
über  Natur  und  Einrichtungen  der  Gilde.  Bei  in  lebhaftem 
Fortschritt  begriffenen  Städten  fallen  die  meisten  und  wichtig- 
sten Funktionen  der  Gilde  bald  teils  dem  Rat,  teils  den  In- 
nungen zu.  Der  Gilde  selbst  bleibt  alsdann,  wie  auch  Hoeni- 
ger*)  ausführt,  nur  noch  Entwicklung  nach  der  socialen  Seite 
offen;  sie  wird  zum  Organ  einer  mehr  oder  minder  social  ab- 
geschlossenen städtischen  Aristokratie,  die  in  der  Hauptsache 
aus  den  Nachkommen  der  in  der  Gilde  reich  gewordenen  Kauf- 
leute besteht.  Dabei  behält  die  Gilde  ihre  Funktionen  als 
Mittelpunkt  des  geselligen  Verkehrs  ihrer  Mitglieder.  Daneben 
stehen  ihr  oft  gewerbepolizeiliche  und  auf  verschiedene  Weise 
errungene  politische  Rechte  zu.  Eine  solche  mit  politischen 
Rechten  ausgestattete  Vergnügungsgesellschaft,  wie  sie  uns  be- 
sonders in  der  Kölner  Richerzeche  entgegentritt,  ist  in  unsem 
Städten  nicht  bezeugt.  Dagegen  spielt  in  zweien  von  ihnen 
und  ebenso  auch  im  benachbarten  Weissenburg,  das  bekanntlich 
im  Mittelalter  dem  fränkischen  Gebiete  zuzurechnen  ist,  die 
Münzerhausgenossenschaft  eine  mehr  oder  weniger 
grosse  Rolle  als  Sammelpunkt  der  plutokratischen  Elemente. 
Ähnliche  Entwicklung  scheint  mir  in  dem  benachbarten  Strass- 
burg anzunehmen  zu  sein  *)  und  auch  in  Köln  fällt  die  genannte 
ehedem  ministerialische  Beamtung  in  die  Hand  dieser  Geld- 
aristokratie;4) jedoch  steht  an  letzterem  Orte  die  Münzerhaus- 
genossenschaft als  politische  und  sociale  Vertreterin  derselben 
bekanntlich  erst  in  zweiter  Linie  nach  dem  direkten  Ausläufer 
der  alten  Gilde,  der  Richerzeche.  Ganz  singulär  sind  die  Ver- 
hältnisse in  Basel,  was  sich  dadurch  erklärt,  dass  daselbst  die 
Münze  viel  später  als  in  den  übrigen  Bischofsstädten  errichtet 

*)  Sitzungsb.  d.  Berl.  Akad.  1880  8.  376,  383,  384. 

*)  Jahrb.  f.  Gesetzg.  d.  deutsch.  Reichs  XI  1887  S.  739. 

*)  Vgl.  Eheberg  (das  ältere  deutsche  Milnzwesen  Leipzig  1879)  S.  126 
und  S.  172. 

4)  ibid.  S.  126. 


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wurde.  Hier  wählte  der  Bischof  die  Münzer  aus  den  Gold- 
und  Silberschmieden;  daher  stehen  die  Baseler  Hausgenossen 
bei  den  Kämpfen  zwischen  den  Ausläufern  der  Gilde , den  Stuben- 
gesellschaften, und  den  Zünften,  in  den  Reihen  der  letztem.1) 

Die  Zusammenstellung  von  Gilde  und  Hausgenossenschaft 
kann  auffallend  erscheinen.  Wohl  sind  die  Hausgenossenschaf- 
ten schon  von  Wilda  zu  den  Gilden  gerechnet  worden;  aber 
gerade  die  neuere,  von  Nitzsch  und  Hoeniger  vertretene,  Ansicht 
über  die  Gilde,  welche  die  Institution  als  Vereinigung  der  für 
den  Markt  arbeitenden  fasst,  scheint  die  Möglichkeit  auszu- 
schliessen,  dass  eine  aus  Ministerialen  bestehende  Genossen- 
schaft mit  der  Gilde  in  Zusammenhang  stehe.  Allerdings  kann 
ebendiese  Thatsache  nur  dann  befremden,  wenn  man  noch  mit 
der  ältern  von  v.  Fürth  *)  begründeten  Ansicht , von  der  aber 
noch  Arnold  beherrscht  ist,  die  Ministerialen  als  einen  das 
ganze  Mittelalter  hindurch  im  wesentlichen  unverändert  fort- 
bestehenden kriegerischen  Berufsstand  fasst.  Dagegen  hoffe  ich 
im  vorigen  Capitel*)  nachgewiesen  zu  haben,  dass  es  im  elften 
Jahrhundert  am  Mittelrhein  noch  keinen  besondem  Geburts- 
stand der  Ministerialen  gab.  Ein  solcher  bildete  sich  vielmehr 
erst  allmälig  aus,  als  die  Entwicklung  der  rheinischen  Städte 
zu  politischer  Selbständigkeit  bereits  zu  einem  gewissen  Ab- 
schluss gekommen  war. 

Dagegen  sind,  wie  oben*)  dargelegt  ist,  einzelne  Personen, 
welche  mit  der  speciellen  Bedienung  der  Bischöfe  betraut  sind, 
und  die  hofrechtlichen  Beamten  bereits  im  11.  und  12.  Jahr- 
hundert besonderen  Bestimmungen  in  Rechtssprechung  und  Ge  • 
richtszuständigkeit  unterworfen.  In  Beziehung  auf  diese  be- 
sondere Stellung  innerhalb  der  Bevölkerung  wurden  die  genann- 
ten Personen  als  servientes  später  auch  als  ministeriales*), 


*)  vgl.  Eheberg  S.  121,  Heusler  Verfassungsgeschichte  d.  Stadt  Baaei 
(Basel  1860)  8 . 87,  88,  Boos  Geach.  der  St  Basel  (Basel  1877)  Bd.  I 1877 
S.  42  und  106  N.  2.  Abweichend,  aber  schwerlich  richtig  Geering,  Handel  u. 
Ind.  v.  Basel  (Basel  1886)  S.  13. 

*)  Die  Ministerialen  (Köln  1836)  g 43. 

*)  S.  42-44. 

*)  S.  45,  48. 

s)  Nach  Waita  V.  G.  V S.  429  wird  das  Wort  ministerialis  ,im  Sinne 


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bezeichnet,  wie  ursprünglich  die  hofrechtlichen  Beamten,  die 
einer  bestimmten  Ortschaft  vorstanden,  genannt  wurden.  Waren 
nun  die  servientes  oder  ministeriales  zunächst  auch  nur  im 
Interesse  der  bischöflichen  Verwaltung  in  ihre  besondere  Stel- 
lung innerhalb  der  familia  gekommen,*)  so  konnte  die  Stellung 
des  bischöflichen  Ministerialen  doch  auch  in  vieler  Hinsicht  dem 
freien’)  wie  dem  censualischen  Kaufmann  verlockend  erschei- 
nen. Sogar  gegen  ihren  Willen  durften  ferner  censualische 
Kaufleute  vom  Bischof  mit  verschiedenen  Beamtungen  betraut 
und  so  in  die  Classe  der  servientes  versetzt  werden.*)  Für  die 
Kaufleute  mochte  unter  diesen  Beamtungen  der  servientes  oder 
ministeriales  i.  w.  S.  die  der  Münzer  besonders  angemessen  er- 
scheinen. 

Wie  die  Wechselthätigkeit  derselben,  die  doch  nur  eine 
besondere  Art  der  Handelsthätigkeit  darstellt,  schon  früh  der 
rein  technischen  der  Münzherstellung  an  Bedeutung  mindestens 
gleichkommt,’)  so  sind  auch  schon  früh  Kaufleute  mit  der  Ver- 
waltung der  Münze  in  enge  Berührung  gekommen.  Bereits  nach 
dem  edictum  Pistense  sollen  geeignete  Leute  von  den  Grafen 
oder  Immunitätsinhabern  zur  Beaufsichtigung  des  Münzverkehrs 
und  der  Münzverwaltung  zugezogen  werden.®)  Wie  in  dem  ge- 
nannten Gesetze,  das  ja  allerdings  nur  für  das  westfränkische 
Reich  erlassen  war,  vielfach  ältere  Verwaltungsgewohnheiten 


nicht  von  Beamten,  sondern  einer  eigentümlichen  Classe  besser  gestellter, 
wenn  auch  eben  wohl  nm  der  Art  ihres  Dienstes  willen  gehobener  abhängiger 
Leute*  . . . „im  Lanfe  des  11.  Jahrhunderts  gewöhnlicher,  erhält  aber  erst 
im  12.  das  Übergewicht.*  Die  von  Waitz  ans  dem  11.  Jahrhundert  ange- 
führten Beispiele  sind  aber  ans  Sachsen,  Thüringen,  Hessen,  nicht  vom 
Mittelrhein.  In  einer  Speirer  Urkunde  finden  sich  Ministerialen  in  diesem 
Sinn  1100  (Remling  Urkb.  No.  70  p.  70),  die  erste  Anwendung  dieses  Wortes 
in  der  Mainzer  Kanzlei  geschieht  1093  (B-W  XXIV  14),  häufiger  ist  es  erst 
unter  Erzb.  Adalbert  (1110 — 1137). 

*)  ygL  oben  S.  45  ff. 

•)  cf.  z.  B.  das  von  Lamprecht  D.  W.  S.  1167  N.  1 angeführte  Beispiel 
eines  sich  in  Abhängigkeit  gebenden  freien  Kaufmanns. 

*)  Leges  et  Btat.  tit  29. 

*)  rgl.  W.  Harster,  Versuch  einer  Speirer  Münxgesch.  in  Mitt.  des  hist 
Vereins  der  Pfalz  Bd.  X (Speier  1882)  S.  31,  32. 

*)  L.  L.  I (ed.  Pertz)  p.  490  c.  8. 


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neu  eingeschärft  sind,  so  wird  auch  diese  Verordnung  nichts 
absolut  neues  geschaffen  haben.  Auch  am  Mittelrhein  mag  man 
früh  zur  Beaufsichtigung  des  Münzwesens  geeignete  Elemente, 
die  der  Technik  desselben  fernstanden  und  deren  Einsicht  und 
Vermögen  doch  der  Verwaltung  nützlich  werden  konnte,  also 
vor  allem  Kauflente  zugezogen  haben ; bei  ebendiesen  soll  auch 
schon  nach  einem  Capitular  Ludwigs  des  Frommen1)  der  Graf 
nach  etwa  umlaufenden  falschen  Münzen  Erkundigungen  ein- 
ziehen. Ein  direktes  Beispiel  eines  Kaufmanns,  der  eine  Zeit 
hindurch  Münzer  gewesen,  finden  wir  in  einem  Briefe  der 
Mönche  von  St.  Gallen  an  ihren  Abt  im  Jahre  1022.*) 

Wohl  wurden  die  vom  Bischof  belehnten  Inhaber  städ- 
tischer Ämter  gleich  denen,  die  ihm  für  Verleihung  von  Land- 
gütern Dienste  leisteten,  im  11.  und  12.  Jahrhundert  und  noch 
sogar  lange  darüber  hinaus  Ministerialen  genannt.  Dennoch 
hatte  das  Verhältnis,  in  dem  sie  zum  Bischof  standen,  mit  dem 
Lehnsvertrage,  wie  er  sich  zur  Befriedigung  militärischer  Inte- 
ressen unter  agrarischen  Wirtschaftsformen  herausgebildet,  ab- 
gesehen von  der  beibehaltenen  Treuverpflichtung  wenig  gemein- 
sames. Der  vom  Münzmeister  namens  seiner  Genossenschaft  ge- 
schlossene Vertrag  gleicht  vielmehr  schon  im  Anfang  des  12. 
Jahrhunderts  ganz  der  Übernahme  der  Ausbeutung  eines  Staats- 
monopols seitens  eines  Privatmannes  resp.  einer  Privatgesell- 
schaft bei  ausgebildeter  Geldwirtschaft.  Ein  klares  Beispiel 
giebt  eine  das  Amt  des  Wormser  Zolleinnehmers  betreffende 
Bestimmung  Heinrichs  V,*)  das  dem  des  Münzers  ganz  analog 
ist.  Als  der  König  deu  Wormser  Bürgern  das  Privileg  erteilt, 
dass  niemand  mehr  gezwungen  werden  solle,  das  Amt  des  the- 
lonearius  zu  übernehmen,  führt  er  zugleich  einen  neuen  Zoll 
ein,  um  dadurch  das  Amt  gewinnreicher  zu  machen  und  so  dem 
Mangel  an  Bewerbern  vorzubeugen.*)  Ganz  entsprechend  heisst 

')  Capitulare  de  moneta  ca  820  c.  6 (L.  L.  I ed.  Boretius  p.  300). 

*)  Neugart  Cod.  dipl.  Alemanniae  (Sanblas.  1791)  t II  p.  25:  venum- 
data  sunt  in  mannm  euiusdam  mercatoris  de  Buchovva,  qui  dicitur  Pero.  et 
quondara  ibi  moneta  rius  erat. 

*)  W D 62. 

4)  a.  a.  0:  ut  nnllus  . . . invitns  super  theloneum  navinm  constitnatnr. 
Sed  ne  servitium  inde  nobis  constitutum  vilescat,  dtim  uuusquisque  boc  of- 
ficium timore  damni  recipere  non  nudeat,  tradimus  in  supplementum  ad  hoc 
officium  de  nigris  et  grossis  ianeis  paunis  theloneum  constitutum 


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66 


es  in  dem  Privileg  Friedrichs  I für  die  Wormser  Münzer1): 
Vort  setzen  wir  . . dass  niemands  in  der  gantzen 
stad  gewalt  habe  gelte  zu  wescheln  ane  allein  die  munt- 
zer,  die  iren  gesatzten  zinsz  davon  bezalen. 

In  ebendiesem  Privileg  wird  aucji  bestimmt,*)  dass,  wenn 
die  Münze  so  gering  werden  sollte,  dass  die  Münzer  keinen 
Vorteil  daraus  ziehen  können,  eine  andere  Art  der  Ausnutzung 
des  Münzregals  eintritt.  Der  Bischof  erhält  den  Gewinn,  hat 
aber  auch  dafür  die  Kosten  des  Münzens  zu  tragen;  einer  der 
Münzer  wird  zwar  noch  mit  der  Überwachung  der  Arbeit  be- 
traut, wird  aber  dafür  vom  Bischof,  dem  er  die  Einnahmen  ab- 
zugeben hat,  mit  einer  festen  Summe  entschädigt.  Am  klarsten 
kann  das  Übergehen  kaufmännischer  Elemente  in  die  Hausge- 
nossenschaft daraus  ersehen  werden,  dass  insbesondere  die  Main- 
zer Patricier  in  ihren  Kämpfen  mit  den  Zünften  als  ihre  ihnen  von 
Alters  her  zustehende  Freiheit  neben  dem  Hausgenossenrecht 
das  sogen.  Gadenrecht  d.h.  das  Recht  des  Gewandschnittes  unter 
den  Tuchhallen  in  Anspruch  nehmen.*)  Ein  Volkslied,  das  den 
Kampf  zwischen  Geschlechtern  und  Zünften  in  Mainz  behandelt , 
nennt  erstere  geradezu  „die  Alden  unter  den  Gaden.“4) 

Noch  wichtiger  als  der  blosse  Übertritt  vieler  Kaufleute  in 
die  Hausgenossenschaft  ist  es,  dass  dieselbe  in  Mainz  und  be- 
sonders in  Speier  die  Rolle,  die  anderswo  der  Gilde  zufiel,  ge- 
spielt hat.  In  Köln  ist,  wie  aus  den  Angaben  einiger  Urkunden 
des  12.  und  13.  Jahrhunderts*)  erhellt,  das  Haus  der  Richer- 
zeche auch  das  älteste  Rathaus.  Dem  entspricht  es  vollkom- 
men, dass  auch  in  Speier  bis  zum  Ende  der  Geschlechterherr- 
schaft das  Münzhaus  zu  den  Ratsversammlungen  benutzt  wurde. 
Als  es  1289  durch  einen  Brand  vernichtet  war,  wurde  es  auf 
gemeinsame  Kosten  des  Rats  und  der  Hausgenossen  neu  aufgebaut.6) 

')  WD80  (S.  65  Z.  44). 

>)  ibid  (S.  65  Z.  25  ft). 

*)  Hegel  Mainz  3.  65  mit  N.  1 
‘)  ibid  N.  5. 

•)  Im  12.  Jahrh.  heisst  dort  dasselbe  Gebäude  domus  divitum,  welches 
im  13.  als  Bürgerhaus  (domus  civinm)  und  in  einer  hebräischen  Urkunde  auch 
als  Haus,  welches  Zccheide  genannt  wird,  bezeichnet  ist.  Vgl.  Hoeniger  und 
Stern,  Das  Judenschreiusbnch  der  Laurenzpfarre  (Berlin  1888)  3.  228.  Dies 
nach  freundlicher  Mitteilung  Hoenigers. 

«)  Sp.  U 162. 

Ko  eh  ne,  Ursprung  der  Stadt.verfassuug  in  Worin*,  Speier  und  Mainz.  5 


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66 


Die  gemeinsame  Benutzung  des  neuen  Gebäudes  seitens 
beider  Corporationen  regelte  ein  uns  erhaltener  Vertrag.  Da- 
nach durfte  der  Bat,  so  lange  und  so  oft  es  ihm  gut  dünkte, 
sich  in  und  vor  der  Ratsstube  (in  stupa  vel  ante  stupam)  ver- 
sammeln, im  übrigen  aber  blieb  das  Haus  im  Eigentum  der 
Münzer  und  Hausgenossen  und  sollte  von  ihnen  wie  bisher  be- 
nutzt werden  dürfen.  Aus  Urkunden  von  1317 ‘)  und  1328*) 
ersehen  wir,  dass  der  Rat  damals  noch  in  dem  Münzgebäude 
tagte.  Doch  lassen  sich  Rat  und  Münzer  schon  1324  von  Lud- 
wig dem  Baiem  *)  eine  Urkunde  des  Inhalts  erteilen , dass  er 
den  Münzern  auf  ein  besonderes  Ansuchen  Verlegung  der  Münze 
gestatten  werde.  Offenbar  hängt  dies  mit  dem  Einfluss,  den 
die  Zünfte  damals  bereits  auf  die  Ratsbesetzung  gewonnen,  und 
der  Furcht  der  noch  hausgenössischen  Majorität  der  Ratsmit- 
glieder vor  weiteren  Fortschritten  der  Zunftbewegung  zusammen.4) 
Erst  im  Jahre  1340,  als  mindestens  schon  die  Hälfte  des  Rats 
aus  Vertretern  der  Zünfte  bestand,5)  wurde  von  ihm  ein  besonderes 
Grundstück  erworben  und  die  Ratssitzungen  dorthin  verlegt.6) 

Dies,  sich  in  der  Benutzung  desselben  Gebäudes  kundge- 
bende, enge  Verhältnis  zwischen  Rat  und  Münzerhausgenossen- 
schaft  ist  allein  durch  die  uns  auch  sonst  ausreichend  bezeugte 
Thatsache  zu  erklären,  dass  beide  Corporationen  die  meisten, 
wo  nicht  alle,  Mitglieder  anfänglich,  gewissennassen  in  Per- 
sonalunion, miteinander  gemeinsam  hatten ; sobald  sich  dies  geän- 
dert , hört  auch  die  gemeinsame  Benutzung  desselben  Hauses  auf. 

Ganz  in  demselben  Verhältnis  nun,  wie  hier  der  Rat  zur 
Hausgenossenschaft,  steht  er  in  Köln  zur  Gilde ; auch  hier  wer- 
den die  Gildevorsteher  als  Hauptvertreter  der  kaufmännischen 

*)  U 312  S.  249  Z.  8 u.  Z.  35. 

•)  U 379  S.  305  Z.  24:  super  moneta  in  loco,  nbi  prndentes  viri  . . . 
consnles  civitatis  Spirensis  solent  conailium  habere. 

*)  U 358. 

*)  Arnold  V.  Q.  II  349  ff.,  Harster  i.  Ztach.  f.  Gesch.  d.  Oberrb.  Bd.  38 
(1885)  S.  228  ff. 

•)  Harster  ibid  S.  312,313  verlegt  die  durch  den  Goldschmid  Knopfeimann 
verursachte  Andrang  in  der  Ratsbesetzung,  nach  der  die  Majorität  der 
Ratsstellen  von  der  Gemeinde  besetzt  wird,  wohl  mit  Recht  auf  Grund  der 
Ratslisten  in  das  Jahr  1345,  während  Arnold  V.  G.  II  S.  362  diese  Ändrung 
schon  bald  nach  1332  eintreten  lässt. 

*)  U 4G4  vgl.  Zeuss  S.  16. 


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67 


Kreise  zugleich  Ratsmitglieder  gewesen  sein.  Als  wesentliches 
Vorrecht  der  Gilde  wird  es  in  Köln  und  anderen  Orten  be- 
trachtet, dass  der  Gildevorsteher  das  Recht  hat,  alle  Gewichte 
und  Wagen  der  betreffenden  Stadt  zu  inspirieren.1)  Dem  ent- 
spricht es,  dass  dem  Speierer  Mttnzmeister  nach  dem,  ältere  Ge- 
wohnheiten bestätigenden,  Privileg  von  1330  das  Recht  zustand, 
alle  Gewichte  und  Wagen  der  apothecarii  et  alii  institores. 
welche  Waaren  nach  Gewicht  verkauften,  viermal  im  Jahre  zu 
revidieren.2)  Noch  in  bedeutend  späterer  Zeit,  als  die  Speierer 
Münzerhausgenossenschaft  schon  den  grössten  Teil  ihrer  poli- 
tischen und  wirtschaftlichen  Vorrechte  verloren  hatte,  war  ihrem 
Vorsteher  doch  noch  das  Recht  der  Eichung  aller  privaten 
Wägeapparate  wie  auch  der  Frohnwage  des  Zollers  geblieben.*) 

Ähnlich  mussten  in  Mainz,  wie  ein  Weistum  von  1365  be- 
richtet,4) alle  Wagen  nach  der  des  Münzmeisters  geaicht  wer- 
den. So  oft  er  wollte,  konnte  er  in  Begleitung  eines  Richters 
und  zweier  ehrenhaften  Bürger  alle  Ellenmasse , Gewichte  und 
Wagen  inspirieren,  und  erhob  dann  für  falsches  Mass  und 
Gewicht  eine  Geldstrafe  von  60  Schillingen.4) 

Ganz  besonders  galt  es  ferner  in  allen  unseren  Städten  als 
Privileg  der  Hausgenossen,  dass  diesen  ein  weitgehendes  Exemp- 
tionsrecht  von  der  gewöhnlichen  Gerichtsbarkeit  zustand.5)  Nur 
in  wenigen  Fällen  brauchten  sie  vor  dem  ordentlichen  Richter 
Recht  zu  geben,  im  übrigen  unterstanden  sie  nur  der  Gerichts- 
barkeit des  Münzmeisters  und  ihrer  Genossen.  So  konnten  sich 
in  diesen  Gerichten  leicht  besondere  Grundsätze  bilden,  die  den 
veränderten  wirtschaftlichen  Verhältnissen  mehr  als  die  früheren 
entsprachen.  Da  die  Hausgenossen,  wie  gezeigt  werden  wird, 
als  Schöffen  an  den  ordentlichen  Gerichten  teilnahmen,®)  so  ver- 
pflanzten sich  bei  ihnen  neugebildete  Rechtssätze  auch  in  die 
allgemeine  Rechtssprechung. 


*)  Vgl.  bes.  die  Abhandlungen  von  Nitzsch  (Iber  die  Gilde  passim. 

*)  Sp.  ü 386  p 314  Z.  30—34. 

*)  Ztschr.  f.  ü.  d.  Oberrhns.  Bd.  XXXII  S.  474-477  Nr.  39-46. 

*)  Hegel  Chroniken  der  mittelr.  Städte  I S.  351  § 6 vgl.  ibid.  II,  Ver- 
fssgsg.  S.  67. 

•)  Vgl.  für  Worms  U 80  S.  65  Z.  35  ff.,  Speier  U 386  p 313  Z.  38  ff, 
p 314  Z.  39  ff  und  Mainz  Hegel  Chronik  I S.  350,  351  § 3,  g 4. 

*)  S.  unten  S.  76. 

5* 


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68 


So  zeigt  sich  der  Einfluss  der  Hausgenossenschaft  als  eines 
Sammelpunktes  der  hervorragendsten  kaufmännischen  Elemente 
in  Verwaltung,  Rechtssprechung  und  Rechtsbildung.  Auch  bei 
dem  Erwerb  politischer  Rechte  seitens  der  Kaufleute,  der  ja 
in  der  Erlangung  der  städtischen  Unabhängigkeit  durch  den 
aus  ihnen  zusammengesetzten  Rat  liegt,  hat  die  Hausgenossen- 
schaft, wenn  sie  auch  bei  Haupt-  und  Staatsaktionen  selten 
direkt  in  den  Vordergrund  getreten,  sicher  bedeutenden  Anteil 
gehabt.  Insbesondere  muss  dies  in  Speier  und  Mainz  der  Fall 
gewesen  sein.  Grössten  Teils  dieselben  Geschlechtsnamen  fin- 
den wir  unter  den  zur  Zeit  der  Erlangung  der  Unabhängigkeit 
an  der  Spitze  Speiers  stehenden  Personen  — es  sei  nur  an  die 
Lambesbuch,  Gotschalk,  Hun  erinnert  — welche  uns  später 
unter  den  Vorkämpfern  des  Patriciats  gegen  die  Zünfte  ent- 
gegentreten.1) Aus  Mainz  ist  uns  ein  Verzeichnis  der  Münzer 
vom  Jahre  1421  überliefert.*)  Wir  finden  darin  die  meisten 
Patriciergeschlechter,  wie  die  Dulin,  Salman,  Genssfleisch, 
Schlüssel,  zum  Jungen,  zur  Eiche  mehrfach  vertreten. 

In  Speier  wie  in  Mainz  werden  auch  die  Patricier  gewöhnlich 
im  Gegensatz  zur  Gemeinde  Münzer  oder  Hausgenossen  genannt. 
In  dem  benachbarten  Weissenburg,  dessen  noch  unaufgeklärte 
Verfassungsgeschichte  mit  der  von  Speier  viel  Ähnlichkeit  gehabt 
haben  muss,  wird  nach  Hertzogs  Elsässischer  Chronik  von  1592  *) 
noch  zu  jener  Zeit  ein  Teil  des  Rats  aus  den  Hausgenossen  ge- 
nommen. Ebenso  sollen  in  Weissenburg  nach  einer  Entschei- 
dung König  Rudolfs  bei  einem  Streit  zwischen  Abt  und  Bür- 
gern die  letzteren  in  der  dann  zusammentretenden  besonderen 
Commission  durch  7 Hausgenossen  vertreten  sein.4) 

In  Worms  findet  sich  die  Bezeichnung  der  Geschlechter 
als  Münzer  nicht.  Eben  hier  hatten  wir  oben  mindestens  für 
den  Beginn  des  zwölften  Jahrhunderts  die  Existenz  einer  Kauf- 
mannsgenossenschaft, Bruderschaft  genannt,  constatiert,5)  wel- 
che mit  der  niederdeutschen  Gilde  in  wesentlichen  Zügen  über- 

')  Vgl.  Harster  (in  dem  oben  8.  63  N.  3 citierten  Aufsätze)  8.  25. 

*)  Hegel  Chroniken  Mainz  I 8.  352. 

*)  Lib.  X p 178. 

4)  Charta  concordat.  inter  abbat.  et  cives  Wizenb.  per  ßndolf.  imp.  a 
1275  (Zeuse  Tradit.  Wizenb.  Spirae  1842  p.  332). 

*)  cf.  oben  8.  57—60. 


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69 


einstimmte.  Wie  lange  diese  „Bruderschaft“  in  Worms  sich 
erhalten,  und  was,  als  der  Rat  einen  Teil  ihrer  Funktionen 
übernahm,  als  Organ  der  städtischen  Aristokratie  an  ihre  Stelle 
getreten  ist,  muss  dahingestellt  bleiben.  Dass  die  Wormser 
Entwicklung  in  dieser  Beziehung  abweichend  von  der  in  Speier, 
Mainz  und  Weissenburg  vor  sich  gegangen,  kann  aus  einer  Be- 
stimmung der  ersten  Rachtung  zwischen  Stadt  und  Bischof  vom 
Jahre  1233  geschlossen  werden.  Damals  wurden  bekanntlich 
alle  Innungen  mit  Ausnahme  der  der  Hausgenossen  und  Wild- 
werker aufgehoben. ')  Arnold  *)  hat  wohl  mit  Recht  aus  dieser 
Bestimmung  den  Schluss  gezogen,  dass  die  Münzer  bei  dem  da- 
maligen Streit  zwischen  Rat  und  Bischof  auf  Seiten  des  letz- 
tem gestanden  haben.  Dafür  spricht  jedenfalls  die  gleichzeitige 
Aufrechterhaltung  der  Innung  der  Wildwerker  (Kürschner), 
welche  wohl  durch  ihre  Gewerbsinteressen  auf  die  Seite  der 
bischöflichen  Hofhaltung  geführt  waren.  So  hatte  sich  also 
schon  1233  die  Hausgenossenschaft  von  dem  übrigen  Patriciat, 
das  Unabhängigkeit  von  der  Stadt  erstrebte,  getrennt.  Durch 
alles  dies  wird  es  denn  auch  erklärlich,  dass  uns  in  Worms  um 
die  Weüde  des  zwölften  und  dreizehnten  Jahrhunderts  nicht 
die  Hansgenossen , sondern  die  Tuchmacher,  zu  denen  aller 
Wahrscheinlichkeit  nach  die  angesehensten  Wormser  Kaufleute 
gehörten,  im  Besitze  des  Emennungsrechtes  von  allerdings 
untergeordneten,  aber  für  die  ganze  Stadt  wirksamen  Beamten 
entgegen  treten.*) 

n.  Wie  überhaupt  die  deutschen  Fürsten,  so  pflegten  auch 
die  Rheinischen  Bischöfe  bei  wichtigen  Regierungshandlungen 


*)  U 163  (8.  123  Z.  3):  Item  omnes  fraternitates  civium  husgenoz  et 
wiltwerkere  illia  exceptis  ammodo  penitns  cessabunt  vgl.  unten  Capitel  IX. 

*)  V.  G.  H 36,  86. 

*)  Boehmer  Fontee  II  p 215:  Pannifices  duos  pidelloe  quovis  anno  sta- 
tnant  qnibne  tantnm  burgensee  obediant  et  nnllo  pidello  alii.  Diese  Worte 
sind  den  Fragmenten  eines  von  Wormser  Bürgern  angefertigten  Privilegs 
Heinrichs  VI  von  119U  entnommen,  das  aber  doch  für  die  Wende  des 
12.  n.  13.  Jahrhunderts  als  Quelle  für  städtische  Verfassnngsverhältnisse  be- 
nutzt werden  darf  (vgl.  unten  Cap.  VIII).  Ob  hier  pannifices  für  mercatores 
überhaupt  steht,  oder  ob  sich  die  Kaufmannsgenoasenschaft  damals  auf  die 
pannifices  concentriert  hatte,  ist  nicht  mit  Sicherheit  zu  entscheiden. 


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70 


Personen  aus  ihrer  Umgebung  zur  Beurkundung  als  Zeugen  zuzu- 
ziehen.1)  Vielfach  ist  auch  zu  Regierungshandlungen  der  Bischöfe 
der  anfänglich  gewiss  mehr  thatsächlich  als  rechtlich  notwen- 
dige Consens  bestimmter  Personen  nachgeholt  worden;  die  er- 
teilte Zustimmung  wird  dann  gewöhnlich  auch  in  der  Urkunde 
noch  besonders  erwähnt.11)  Endlich  pflegten  die  Bischöfe  in 
wichtigen  Angelegenheiten  ihre  Umgebung,  also  bes.  die  Cano- 
niker  und  Ministerialen,  um  .Rat  zu  frageu  und  Hessen  dann 
auch  in  die  Beurkundung  der  Handlung  die  Personen,  die  ihnen 
mit  ihrem  Rat  dazu  gedient,  aufnehmen. s) 

Dabei  werden  dann  die  Zeugen,  die  Consentienten  und 
Ratgeber  durchaus  nicht  scharf  von  einander  geschieden. 
Mitunter  ist  in  bischöflichen  Urkunden  dieser  Zeit  aus- 
drücklich die  Zustimmung  einer  Ratsbehörde  (consilium)  zu  der 
Rechtshandlung  des  Ausstellers  erwähnt.*)  Insbes.  Heusler4) 
hat  nachgewiesen , dass  dieser  „Territorialrat“  je  nach  Ver- 
schiedenheit der  Fälle  aus  sehr  verschiedenen  Elementen  bestand. 
Handelt  es  sich  „um  rein  geistliche  Angelegenheiten  oder  Ver- 
fügungen über  die  innere  Ökonomie  geistlicher  Anstalten“,  so 
„wird  das  Domstift  allein  oder  der  Convent  des  fraglichen 
Klosters“  zu  Rat  gezogen. s)  Handelt  es  sich  nm  Veräusserung 
von  Gütern  des  Bistums  etwa  durch  Schaffung  neuer  Lehen,  so 
werden  vor  allem  die  Ministerialen  herangezogen;  bei  den 
wichtigsten  Sachen  finden  wir  daneben  liberi,  freie  Herren  der 
Umgegend,  erwähnt.  Seit  Beginn  des  zwölften  Jahrhunderts 
tritt  uns  in  den  burgenses  eine  dritte  Klasse  der  laici,  die  zu 
bischöflichen  Regierungshandlungen  um  Rat  gefragt  werden, 
entgegen.  Die  ganze  Entwicklung  erhält  bekanntlich  in  der, 
auf  dem  Reichstage  zu  Worms  1231  gefassten,  Reichssentenz 
ihren  Abschluss,  dass  kein  Fürst  oder  Landesherr  eine  Ver- 


l)  Über  die  rechtliche  Notwendigkeit  von  Zengenunterschriften  bei  Pri- 
vatorkunden,  zu  denen  in  dieser  Zeit  ja  anch  die  von  den  Bischöfen  ausge- 
stellten gehörten,  vgl.  Bresslau  Urkundenlehre  S.  799. 

*)  Vgl.  ttber  diese  Verhältnisse  Waitz  V.  G.  VII  309 — 311,  v.  Below, 
Wahlrecht  der  Domcapitel  (Leipz.  1883)  S.  17  ff. 

•)  Heusler  Ursprung  S.  163  ff. 

*)  ibid,  vgl.  auch  Arnold  V.  G.  I S.  172-178,  Nitzsch  167,  301  ff., 
304,  Heusler  Basel  146. 

6)  Heusler  Urspr.  ibid. 


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71 


Ordnung  ohne  Zustimmung  der  meliores  et  maiores  terrae 
erlassen  könne.1) 

Für  unsere  Untersuchung  kommt  diese  für  andere  Parthien 
der  deutschen  Verfassungsgeschichte  noch  ungleich  wichtigere 
Erscheinung  deshalb  in  Betracht,  weil  in  diesem  „Territorial- 
rat“ auch  städtische  und,  was  dasselbe  sagen  will,  kaufmänni- 
sche Elemente  vorhanden  waren. 

Zunächst  können  schon  unter  den  ministerialischen  Zeugen 
Zolleinnehmer  und  Münzer  als  dem  Kaufmannsstande  angehörig 
betrachtet  werden.  Beide  werden  etwa  von  der  Wende  des 
12.  und  13.  Jahrhunderts  an  unter  den  burgenses  genannt,  was 
damit  zusammenhängt,  dass  sich  damals  einerseits  die  ländlichen 
Ministerialen,  andrerseits  die  gesammte  städtische  Bürgerschaft 
unter  sich  enger  zusammen  und  zugleich  von  einander  abschlos- 
sen.*) So  finden  wir  in  Speierer  Bischofsurkunden  1181  einen 
Billnngus  monetarius  noch  unter  offenbar  ministerialischen  Zeu- 
gen,*) dagegen  im  Jahre  1218  Godefridus  magisteu  moneta- 
riorum  ausdrücklich  unter  den  cives  im  Gegensatz  zu  den  mini- 
steriales  genannt.4)  Ebenso  steht  1226  Bertholdus  monetarius 
unter  den  Mainzer,*)  1233  Sigelo  monetarius  unter  den  Worm- 
ser Bürgern.*)  Vielfach  ist  die  Nennung  des  monetarius  unter 
den  burgenses  in  Urkunden  des  13.  Jahrhunderts  dadurch  er- 
klärt worden,  dass  die  ministerialischen  Hausgenossen  altfreie 
Bürger  unter  sich  aufgenommen.7)  Aber  der  monetarius  blieb 
Ministerial  des  Erzbischofs  im  13.  Jahrhundert  ganz  wie  im  12., 
nämlich  in  Betreff  der  Leistung  des  Lehnseides  und  des  Ge- 
nusses der  gerichtlichen  Vorrechte  des  Ministerialenstandes. 
Nur  seiner  bürgerlichen  Beschäftigung  wegen  wurde  er  von  da 

>)  L.  L.  n p 283. 

*)  cf.  i.  B.  eine  von  Arnold  V.  G.  I S.  241  eitierte  Stelle  einer  noch  nn- 
gedruckten  Wormser  Urkunde:  et  alii  qnam  plures  tarn  clerici  quam  laici 
tarn  nobiies  qnam  de  plebe  cives  Wormatiensis  civitatis,  ministeriales  quoqne 
domini  Wormatiensis  extra  civitatem  in  rure  habitantes  (Kopialbuch  des  An- 
dreasstifts I £ 13  im  Darmstädter  Archiv). 

*)  Remling  Urkb.  Nr.  106  p 181. 

*)  Sp.  U 31 ; vgl.  Sp.  U 28  n.  534. 

*)  Bodmann  Bheinganische  Altertümer  (Mainz  1819)  I S.  200,  Joan- 
nis  Her.  Mogont.  II  630  (B— W XXXII  605,  606). 

*)  W U 170,  171. 

*)  i.  B.  Eheberg  126,  Harster  (L  d.  S.  63  N.  3 citierten  Aufsatze)  S.  26. 


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an  zu  den  burgenses  gerechnet.  Besonders  wird  dies  dadurch 
klar,  dass  wir  in  der  verwandten  Beamtung  des  thelonearius 
denselben  Wechsel  in  der  Zurechnung  zu  ministeriales  und  bur- 
genses wahmehmen.  So  wird  z.  B.  in  Worms  Gerbodo  thelo- 
nearius 1127  und  1140  *)  und  Wernber  thelonearius  im  Jahre 
1152  unter  den  ministeriales  erwähnt;*)  wahrscheinlich  derselbe 
Wernherus  thelonearius  oder  vielleicht  sein  gleichnamiger  Sohn 
wird  aber  im  Jahre  1182  unter  den  cives  im  Gegensatz  zu  den 
ministeriales  genannt.*)  Ebenso  erscheint  in  Speier  im  Jahre 
1217  ein  Dytmarus  thelonearius4)  nnd  im  Jahre  1223  ein  Hein- 
rieu8  filius  Thelonearii  *)  unter  den  cives. 

Wie  Zöllner  und  Mtinzer,  so  werden  auch  andere  Personen 
kaufmännischen  Berufe  in  den  Bischofeurkunden  als  Zeugen  oder 
Consentienten  genannt.  Die  pene  omnes  urbani,  die  uns  in 
einer  Wormser  Urkunde  von  1016  als  Zeugen  begegnen,  er- 
klärten wir  oben*)  mit  Rücksicht  auf  die  Analogie  der  urbani, 
welche  bei  der  Stiftung  der  Fischhändler-Innung  entgegentraten, 
als  den  Vorstand  einer  kaufmännischen  Genossenschaft.  Die 
meisten  der  hier  namentlich  aufgeführten  Vorsteher  werden 
auch  als  Zeugen  in  Schenkungen  an  Wormser  Stifte  in  den 
Jahren  1106  und  1110  genannt.7) 

Wie  seit  der  Ratsentstehung  die  Befugnisse  kaufmännischer 
Genossenschaften  vielfach  auf  den  Rat  übergingen,  so  scheint 
auch  der  Bischof  vielfach  dieser  Behörde  seine  Zeugen  ent- 
nommen zu  haben;  so  erscheinen  denn  auch  dem  Rate  der  Stadt 
angehörende  Personen  besonders  häufig  in  dem  je  nach  Mass- 
gabe  des  einzelnen  Falls  verschieden  zusammengesetzten  Terri- 
torialrate. So  schliesst  z.  B.  die  Zeugenliste  einer  Urkunde 
Bischof  Liupolds  von  Worms  über  einen  Verkauf  von  Gut  des 


‘)  ü 63  u.  6«. 

«)  U 72. 

*)  W D 89.  Dass  wir  es  hier  wahrscheinlich  mit  derselben  Person  wie  im 
Jahre  1152  zu  tun  haben,  kann  auch  daraus  geschlossen  werden,  dass  auch 
1166  ein  Wemher  thelonearius  in  U 80  nnd  U 81  erwähnt  wird. 

*)  Sp.  U 30. 

»)  D 34. 

*)  8.  60. 

*)  Vgl.  die  Zeugen  listen  von  0 69  und  D 60  mit  der  von  ü 68, 


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73 


Bistums  aus  dem  Jahre  1198,1)  nachdem  geistliche  Zeugen,  freie 
Herren  und  Ministerialen  genannt  sind,  mit  28  unter  den  Col- 
lectivbegriff  de  Wormatia  fallenden  namentlich  aufgefQhrten 
Zeugen,  die  mindestens  zum  Teil  kaufmäunischen  Kreisen  an- 
gehören,*) und  den  Worten  et  de  quadraginta  iudicibus  de  Wor- 
matia. Eben  diese  Urkunde  lässt  der  Bischof  ausser  mit  sei- 
nem eigenen  Siegel  und  dem  der  Stifte  von  St.  Peter  und  Cy- 
riacus  auch  seitens  der  Stadt  Worms  besiegeln.  Ebenso  ver- 
sichert der  erwählte  Bischof  Heinrich,  als  er  1220  den  König 
Friedrich  II  mit  Wimpfen  belehnte,  sich  der  dazu  erteilten  Zu- 
stimmung des  Wormser  Rats  noch  ausdrücklich  durch  besondere 
Urkunde,  ne  super  huiusmodi  quasi  alienacione  posset  aliqua- 
tenus  calumpnia  suboriri.*)  Während  die  Ansicht  durchaus  ab- 
zulehnen ist,  dass  sich  aus  dem  bischöflichen  Territorialrate  der 
Stadtrat  entwickelt  hat  ,*)  wird  man  der  Mitwirkung  städtischer 
Bürger  im  bischöflichen  Consilium  einen  bedeutenden  Einfluss 
auf  Stärkung  der  Macht  und  des  Selbstvertrauens  dieser  bürger- 
lichen Kreise  zuschreiben  müssen. 

Als  dritte  Quelle  des  Einflusses  des  Kaufmannsstandes 
haben  wir  oben  neben  der  eigenen  genossenschaftlichen  Organi- 
sation desselben  und  dem  Eindringen  in  den  bischöflichen  Rat 
die  Schöffengerichte  genannt. 

Schon  zur  Merowingerzeit  wurde  nach  fränkischem  Rechte  das 
Urteil  von  einem  Ausschuss  der  Gerichtsgemeinde  gefunden  und  vom 
Richter  nur  publiciert.5)  Durch  die  Gerichtsreform  Karls  des 
Grossen  war  dann  die  Urteilsfindung  an  bestimmte  auf  Lebens- 
zeit zu  „Schöffen“  ernannte  Personen  gekommen.*)  Diese  aus 
altfränkischen  Rechtsgewohnheiten  hervorgegangene  Einrichtung 

»)  U 103. 

*)  Dies  kann  man  ans  den  Namen  C.  de  Moneta  nnd  Emicho  Jndaena 
echlieeeen.  vgl.  unten  S.  77  N.  1,  2. 

*)  U 123.  Vgl.  auch  Gudenus  Syiloge  variorum  diplomat.  (Franco furti 
1728)  N.  67  p 167:  Hier  werden,  ala  eine  im  Uinisterialenverhältnis  zum 
Speierer  Bischof  atehende  Familie  ein  in  der  Wormser  Diöcese  gelegenen  Gut 
an  verschiedenen  Terminen  vor  den  beiden  Bischöfen  an  das  Kloster  Schönau  ver- 
kauft, als  Zeugen  auch  Universitas  consiliariorum  in  Spira  et  Wormatia  erwähnt. 

4)  wie  sich  aus  späteren  Ausführungen  ergeben  wird. 

*)  Bnmner  B.  G.  I 160,  8chröder  R.  G.  1 161. 

*)  v.  Maurer  Gesch.  d.  altgerm.  Gerichtsvrfhrns.  (Heidelb.  1824.)  S.  66, 
66,  Sohin  Fr.  R.  u.  G.  V.  S.  376,  376,  Schröder  R.  G.  I 163. 


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74 


ist,  wie  neuerdings  Brunner1)  schön  ausgeführt,  im  Gebiete  des 
fränkischen  Rechts  vollkommen  durchgednuigen,  während  sie 
sich  im  übrigen  Deutschland  gamiclit  oder  nur  für  bestimmte  Ge- 
richte dauernd  zu  halten  vermochte.  In  unseren  mittelrheinischen 
Städten  werden  auch  zu  Worms  und  Mainz  mehrfach  Schöffen  er- 
wähnt. Aus  Speierist  uns  freilich  wederNamenochEinrichtungaus- 
drücklich  überliefert,  und  daher  haben  v.  Maurer  *)  uud  noch  kürz- 
lich Schaube s)  behauptet , dass  es  daselbst  Schöffen  überhaupt 
nicht  gegeben  habe.  Allein  abgesehen  davon,  dass  das  Gebiet 
von  Speier  sich  durchaus  nach  Sprache  und  Recht  als  frän- 
kisch erweist  und  das  Fehlen  der  Erwähnung  von  Schöffen  in  der 
Stadt  Speier  bei  der  allgemeinen  Dürftigkeit  unserer  Überlieferung 
nicht  weiter  auffallend  ist,  sind  uns  Schöffen  ausdrücklich  zu  Ede- 
koben , einem  zum  Speiergau  gehörigen  Dorfe,  bezeugt.4)  Sollte 
es  aber  in  der  Stadt  Speier  nicht  zur  Ausbildung  eines  Schöffencollegs 
gekommen  sein,  — was  nach  dem  gesagten  doch  höchst  unwahr- 
scheinlich ist,  — so  wird  sich  doch  auch  hier  der  Richter  mehr  nach 
der  Rechtsüberzeugung  der  einflussreichsten  Personen,  als  nach  der 
der  ganzeu  Gemeinde  gerichtet  haben.  In  der  Auswahl  dieser  Per- 
sonen werden  aber  im  grossen  und  ganzen  dieselben  Rücksichten  vor- 
gewaltet haben , wie  in  den  anderen  Städten  bei  Ernennung  der 
Schöffen. 

Bekanntlich  sind  die  Schöffen  in  der  Karolingischen  Zeit 
von  Graf  und  Gerichtsgemeinde  gemeinsam  eingesetzt  worden.5) 
Das  Mitwirkungsrecht  der  letzteren  nun  ist  vielfach,  z.  B.  in 
Köln,  auf  das  Schöffencolleg  selbst  Ubergegangen;  das  Recht 
des  Grafen  kommt  dort  an  den  Burggrafen  und  wird  mehr  und 
mehr  zu  einem  bloss  formellen  Bestätigungsrecht.8) 

Über  die  Wahl  und  Amtsdauer  der  Schöffen  in  unseren 
mittelrheinischen  Städten  haben  wir  nur  dürftige  Nachrichten. 

')  in:  Die  Herkunft  der  Schöffen  (Hitteil,  des  Instit.  für  österr.  Ge- 
schichtet. 1887  Bd.  VIII  8.  177  ff.). 

*)  Stdtvrfssng.  I 634  und  HI  679. 

*)  Speier  S.  453. 

4)  Grimm  Weist  I 771.  Im  benachbarten  Lobdengau  sind  Schöffen 
schon  am  Anfang  des  elfen  Jahrhdrts.  bezeugt  s.  W.  U.  41  (Schannat  Q p 39). 

•)  Sohm  R.  n.  G.  V.  S.  378,  Schröder  R.  G.  I S.  163. 

*)  Sohm  ibid  N.  21  vgl.  Liese  gang  Sondergemeinden  Kölns  S.  12  ff; 
auch  in  Trier  stand  den  Schöffen  wenigstens  de  facto  Selbstergänzungsrecht 
zu  s.  Schoop,  Vrfssngsgesch.  von  Trier  S.  117. 


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75 


In  Mainz  stand  das  Recht  der  Schöffenernennung  dem  Erz- 
bischof zu,  bis  dieser  1349  darauf  verzichtete.1)  Doch  wird 
damals  sicher  der  entscheidende  Einfluss,  wie  auf  die  Ernennung 
der  Beamten,  so  auch  auf  die  der  Schöffen  schon  längst  anderen 
Kreisen  zugefallen  sein.11 * * V) 

In  Worms  könuen  wir  aus  der  ältesten  Ergänzung  des 
Rats  ein  Urteil  über  die  der  Schöffen  gewinnen.  Ist  doch  hier 
das  Hervorgehen  des  Rats  aus  dem  Schöffeutum  am  klarsten, 
wofür  wir  vorläufig  ausser  auf  unsre  späteren  Ausführungen3) 
auf  die  diesbezüglichen  Untersuchungen  von  Arnold  *)  und  Heus- 
ler  *)  verweisen.  Der  Rat  aber  besass  damals  das  Recht  der 
Selbstergänzung B)  und  ich  glaube  nicht  fehlzugehen,  wenn  ich 
daraus  schliesse,  dass  auch  das  Wormser  Schöffencolleg,  ehe  es 
zum  Rat  wurde,  gleich  dem  Kölner  und  Trierer  *)  durch  Tod 
oder  sonst  (etwa  durch  längere  Abwesenheit)8)  entstehende 
Lücken  selbst  ausfüllte. 

Noch  weit  wichtiger  als  die  Entscheidung  der  Frage,  wie 
das  Schöffencolleg  zusammengesetzt  wurde,  ist  es  für  uns,  Klar- 
heit darüber  zu  gewinnen,  welcher  Klasse  von  Personen  die 
Schöffen  angehörten.  Auf  die  bekannte  Controverse  zwischen 
W a i t z und  S o h m , ob  in  älterer  Zeit  nur  Grundbesitzer  zu 
Schöffen  ernannt  werden  durften,9)  will  ich  nicht  eingehen. 
Jedenfalls  kann  ja  unter  Bezugnahme  auf  die  in  den  Capitu- 


l)  Hegel  Mainz  S.  53.  Ebenso  war  in  Cambray  mit  den  übrigen  üraf- 
scliaftsrechteu  auch  das  Beeilt  der  Erueuunug  der  Schöffen  an  den  Bischof 
ilbergegangen,  wie  aus  der  Bestätigung  dieses  Rechts  durch  Friedrich  I her- 
vorgeht St  4339  (Boehmer  Acta  imperii  Innsb.  1870  p 134). 

*)  s.  unten  Cap.  IX. 

*)  vgl.  besonders  Cap.  VIII. 

«)  V.  G.  I 280  ff.,  289. 

•)  Ursprung  8.  181. 

*)  Boehmer  Font.  II  p.  160,  161. 

*)  s.  oben  S.  74  N.  6. 

*)  Gerade  auch  die  Ersetzung  eines  Ratsmitgliedes  in  Folge  längerer  Ab- 
wesenheit desselben  ist  1233  ausführlich  geordnet  worden,  als  der  Rat  das 
Princip  deT  reinen  Cooptation  der  Mitglieder  auch  bei  durch  Tod  entstehenden 
Lücken  aufgeben  musste  (cf.  W U 163). 

•)  s.  Waitz  V.  G.  II«  8.  143,  IV  8.  394,  Sohm  G.  V.  8.  334  ff.,  376  ff, 
vgl.  auch  v.  Bethmann-Hollweg,  Der  Civilprocess  des  gemeinen  Rechts 

V 2 (Bonn  1873)  S.  25. 


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76 


larien  oft  eingescliärfte  Verordnung,  die  Angesehensten  zu 
Schöffen  zu  machen,  der  Satz  ausgesprochen  werden,  dass  bei 
vorwiegender  Naturalwirtschaft  in  der  Regel  wohl  nur  altan- 
gesessenen Familien  angehörige  und  grundbesitzende  Personen 
zu  Schöffen  genommen  wurden.1) 

Hoeniger  *)  hat  besonders  durch  Heranziehung  der  Urkunde 
Erzbischof  Philipps  für  Anderuach  1171  und  Vergleichung  der 
Ratsverzeichnisse  mit  den  in  den  Schreinskarten  vorkommenden 
Namen  nachgewiesen,  dass  in  Köln  „eine  Verschiebung  der  ur- 
sprünglich schöffenbaren  Leute  stattgefunden  haben  muss.“  An 
Stelle  der  alten  schöffenbaren  Geschlechter  waren  reiche  Kauf- 
leute getreten. 

Dafür,  dass  ebenso  auch  in  Worms  kaufmännische  Elemente 
auf  die  Schöffenstühle  gelangten,  spricht  schon,  dass  in  dem 
Privileg  Friedrichs  I für  die  dortigen  Münzer  diesen  ausdrück- 
lich das  Recht  gegeben  wird,  nur  mit  ihrem  Willen  zu  Schöffen 
genommen  zu  werden.*) 

Diese  Tatsache  ergiebt  sich  ferner  aus  der  Betrachtung 
einiger  Namen  der  Mitglieder  der  regierenden  Stadtbehörde  zn 
der  Zeit,  in  der  ihre  Bezeichnung  noch  zwischen  iudices  und 
consules  schwankt,  sowie  aus  der  ersten  Zeit  des  Bestehens 
des  Rats,4)  also  im  ganzen  etwa  der  Zeit  vom  Ende  des  12.  bis 
Mitte  des  13.  Jahrhunderts.  Damals  werden  in  Worms  einzelne 
Ratsmitglieder  nach  benachbarten  Dörfern  benannt,5)  sind  also 
sehr  wahrscheinlich  von  da  zugewandert  und  gehören  schwer- 
lich einer  altangesessenen  Bevölkerung  an.  Der  Name  eines 
Ratsmitgliedes  Johannes  under  gademen  giebt  sich  doch  als  der 
eines  Kaufmanns.6)  der  des  Schöffen  C.  de  moneta  als  der  eines 
Münzers  zu  erkennen.7)  Endlich  kommen  unter  den  Stadtvor- 
stehern auch  Namen  wie  Syfridus  Saxo  und  Bertholdus  Saxo 
vor,  die  offenbar  auf  fremden  Ursprung  hindeuten.8)  Ausser 

*)  So  im  wesentlichen  jetzt  auch  Schröder  E.  Q.  I 163. 

•)  Westd.  Ztschr.  II  241  ff. 

*)  W U 80. 

4)  Dass  es  erlaubt  sein  muss,  anch  die  Ratsznsammensetzung  in  der 
ersten  Zeit  seines  Bestehens  in  der  Untersuchung  hineinzuziehen,  geht  aus 
der  S.  75  zu  N.  3 ff.  gemachten  Bemerkung  herror. 

‘)  z.  B.  in  W U 144 : Bertoldus  de  Muterstat,  Uemodns  de  Peffelnkeim. 

")  ibid,  cf.  auch  U 223  ein  Ratsmitglied  Eberhardns  de  vico  Lane. 

»)  U 103. 

’)  U 118,  (vgL  Schenk  zu  Schweinsberg  in  Westd.  Ztschr.  VII  S.  88),  144. 


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77 


diesen  eingewanderten  sächsischen  Kaufleuten  scheinen  auch 
Nachkommen  von  Juden  in  Worms  zu  Schöffen  gemacht  wor- 
den zu  sein.  Darauf  lässt  wenigstens  schliessen,  dass  sich  1198 
unter  den  iudices  ein  Emicho  Judaeus  befindet l) ; so  ist  auch  aus 
dem  dreizehnten  Jahrhundert  ein  consul  Helemannus  Jndaei  be- 
zeugt.*) Alles  dies  berechtigt  wohl  zu  der  Annahme,  dass  in 
Worms  ganz  wie  Köln  die  Schöffenstühle  an  kaufmännische 
Elemente  gelangt  sind. 

Dass  sich  auch  in  Mainz  ein  ähnlicher  Vorgang  abspielte, 
dafür  spricht  es,  dass  wir  in  der  ersten  Hälfte  des  11.  Jahr- 
hunderts von  der  Geisslung  eines  Stadtschöffen  hören.*)  Dieser 
Strafe  wurden  freie  Personen  nach  fränkischem  Rechte  nicht 
unterworfen;4)  dagegen  kann  es  nicht  auffallen,  dass  die  Voll- 
ziehung derselben  an  einer  zwar  hörigen,  aber  durch  Vermögen 
und  Tüchtigkeit  einflussreich  gewordenen  Person,  welche  auch 
das  Schöffenamt  erlangt  hatte,  Aufsehen  erregen  musste. 

Während  die  Bedeutung  der  Besetzung  der  Schöffenstühle 
mit  Kaufleuten  auf  die  Rechtssprechung  unmittelbar  erhellt, 
muss  der  Einfluss,  den  dies  Schöffencolleg  auf  Verwaltung  und 
Politik  gewonnen  hat,  noch  besonders  dargestellt  werden.  Es 
dürfte  aber  angebracht  sein,  vorher  noch  die  Verwaltungstä- 
tigkeit zu  betrachten,  die  von  anderen,  kaiserlichen,  bischöflichen 
und  communalen,  Behörden  in  der  Stadt  ausgeübt  wurde.  Mit  den 
letzteren,  also  mit  der  Tätigkeit  der  Vorsteher  der  Heimschaf- 
ten,  will  ich  beginnen.  


*)  V 103  Auch  in  Köln  finden  »ich  Personen  jüdischer  Abstammung  nnter 
den  Schöffen  vgl.  Hoeniger,  Ztschr.  f.  Gesch.  der  Juden  in  Dentschl.  I.  S.  73.  ff. 

*)  U 406  Vgl  über  die  Lage  der  Juden  im  älteren  Mittelalter  ansser 
dem  in  der  vorigen  N.  citierten  Aufsatz  noch  Kriegk,  Frankf.  BUrgerzwiste 
und  Zustände  im  Mittelalter  (FTankf.  1863)  S.  406—418.  In  Mainz  wird 
übrigens  1220  ein  Friedrich  Jnd  unter  den  Zeugen  einer  erzbischöflichen 
Urkunde  genannt,  gehört  also  jedenfalls  zu  den  angesehensten  Bürgern. 
(B — W XXXn  369);  dasselbe  ist  1046  mit  Boezzo  filius  Dudonis  Judaei 
der  Fall.  (B  -W  XXI  16).  Im  dreizehnten  Jahrhundert  finden  wir  das  Ge- 
schlecht der  .Juden  vom  Stein*  im  Besitz  mehrerer  wichtiger  Stadtämter; 
dasselbe  führt  einen  bärtigen  Judenkopf  im  Wappen  (Lehne  Ges.  Schriften 
Mainz  1837  Bd.  IV  S.  163),  stammte  also  höchst  wahrscheinlich  von  Juden  ab. 

*)  .Taffe  Mon.  Mogunt.  p 626. 

4)  Vgl.  Waitz  V.  G.  I 442.  Thonissen,  L’organisation  iudiciaire,  le  droit 
ptaal  et  la  procfcdure  pbnale  de  la  loi  Salique  (Bruxelles  1881)  p 171. 


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78 


Kapitel  V. 

Die  Specialgemeinden. 

Die  Bedeutung  der  Kirchspiele  für  die  Geschichte  der 
deutschen  Stadtverfassung  ist  zuerst  1827  von  Hüllniann  her- 
vorgehoben worden.  Dieser  Forscher  vertrat  die  Ansicht,  dass 
in  einer  Anzahl  deutscher  und  italienischer  Städte  darunter 
auch  in  Worms  der  Rat  durch  Zusammentritt  der  Beamten  der 
einzelnen  Pfarrsprengel  entstanden  sei.1)  Der  eigentliche  Be- 
gründer der  neuern  wissenschaftlichen  Erforschung  der  deut- 
schen Stadtgeschichte.  Arnold,  hat  sich  sehr  scharf  gegen  die 
Hüllmannsche  Theorie  ausgesprochen.8)  Indess  hat  auch  gerade 
Arnold  die  Wichtigkeit  der  Parochien  für  die  städtische  Ver- 
fassungsentwicklung mehrfach  betont.*)  Auch  er  hält  diese  Ver- 
bände für  älter  als  den  Rat  und  sieht  in  ihnen  ehemals  com- 
munal  selbständige  Gemeinden. 

Andrerseits  spricht  Arnold  freilich  auch  den  Gedanken  aus, 
dass  die  Kirchspiele  nach  der  Ratsentstehnng  „als  politische 
Abteilungen  neuer  Corporationen  auch  eine  neue  Bedeutung  er- 
hielten;“4) danach  hätten  sie  also  auch  viele  der  Verwendungen, 
in  welchen  sie  zur  Zeit  der  ansgebildeten  Ratsverfassung  be- 
gegnen, erst  damals  erhalten. 

Während  Arnold  sich  bei  seinen  Ausführungen  noch  auf 
die  im  vorigen  und  im  Anfang  unseres  Jahrhunderts  erschienenen 
Specialarbeiten  von  Glasen 5)  und  Wallraf0)  über  Köln  stützte, 
sind  seitdem  die  Kölner  Verhältnisse  vielfach  insbesondere  auch 
durch  die  vor  kurzem  veröffentlichten  Forschungen  Hoenigers7) 
und  Liesegangs8)  weit  gründlicher  erhellt  worden,  als  es  zu 
Arnolds  Zeit  der  Fall  war.  Ferner  lassen  sich  jetzt  auch  mit 
den  in  der  Kölner  Entwicklung  entgentretenden  verwandte  Er- 

*)  Städtewesen  des  Mittelalters  (Bonn  1826  ff.)  II  S.  446  ff. 

«)  V.  G.  I 8.  297. 

*)  I 292  ff.,  II  227  ff. 

‘)  II  230. 

6)  Erste  Gründe  der  Kölner  Schreinspraxis  (Köln  1782). 

*)  Beiträge  z.  G.  der  Stadt  Köln  (Köln  1818)  s.  bes.  Bd.  I S.  92—95,  97. 

*)  Mitteil.  a.  d.  Stdtarch.  v.  Köln  1882  Bd.  I Heft  1 S.  35—53;  Westd. 
Zeitschrift  II  (1883)  S.  228  ff.;  Annal.  d.  hist.  Ver.  f.  d.  Xiederrh.  Bd.  46. 
S.  72  ff 

•)  Die  Sondergemeinden  Kölns  (Bonn  1885). 


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79 


scheinungen  in  den  flandrischen  Städten,  in  Metz  und  in  Er- 
furt1) nach  weisen.  Ebenso  haben  auch  in  Braunschweig  *)  und 
in  Münster*)  nach  neueren  Forschungen  Sondergemeinden, 
die  in  gewisser  Beziehung  zu  den  Pfarrkirchen  standen,  eine 
Rolle  gespielt.  Von  Strassburg  und  Basel  haben  wir  wenig- 
stens einige  Spuren  von  Verwendung  der  Kirchspiele  in  der 
städtischen  Verwaltung*),  und  auch  in  unsem  mittelrheinischen 
Städten  sind  mehrfach  solche  entdeckt  worden. 

So  konnte  schon  Hoeniger  in  seiner  Kritik  von  Hegels 
Mainzer  Verfassungsgeschichte  auf  diesen,  bei  der  Darstellung 
der  älteren  städtischen  Entwicklung  nicht  mehr  zu  vernachläs- 
sigenden, Punkt  unter  Heranziehung  einiger  der  genannten  Bei- 
spiele hinweisen.5)  Alsdann  hat  Gengier  inseinen  „Deutschen 
Stadtrechtsaltertümern“6)  die  Arten  der  Stadteinteilung  nach  for- 
malen Gesichtspunkten  gesondert  und  dabei  auch  eine  Anzahl 
von  Stellen  angeführt,  die  Berührungen  zwischen  parochialen 
Stadteinteilungen  und  dem  bürgerlichen  Gemeinde-  und  Ver- 
kehrsleben bezeugen.7)  Aber,  abgesehen  davon,  dass  „die  Zahl 
und  Bedeutung  dieser  Berührungen  grösser“  ist,  „als  es  nach 
Gengier  scheint,“8)  ist  auch  hier  wie  sonst  so  oft  die  rechtsan- 
tiquarische Forschung  für  die  rechtsgeschichtliche  mehr  durch 
die  Stellung  neuer  Probleme  als  durch  die  Zuführung  neuer 
Resultate  von  Wert.9)  Zu  den  von  Gengier  angeführten  Fällen 

*)  vgl.  Warnkönig,  Flandrische  Staats-  und  Rechtsgeschichte  (Tilb.  1835) 
I 333,  IXi  55,  72,  Vollbaum,  die  Specialgemeinden  der  Stadt  Erfurt  (Erfurt 
1881),  Klipffel,  Leg  paraiges  Messing  (Metz  et  Paris  1863)  und  besonders 
Hoeniger  Westd.  Ztschr.  III  (1884)  S.  60,  61. 

*)  Hänselmann  in  Chroniken  d.  deutsch.  Städte  Bd.  VI  S.  I — XXU. 
Hier  haben  sogar  die  5 Stadtteile,  aus  denen  die  Stadt  erwachsen  ist,  jede 
einen  besonderen  Rat  nnd  erst  seit  1345  ist  von  „einem  gemeinen  Rate  aller 
fünf  Weichbilde“  von  Brannschweig  die  Rede. 

*)  Tibus,  die  Stadt  Münster  (Münster  1882)  S.  34  ff.,  S.  102  ff 

4)  Liebe  S.  51,  64;  über  andere  Städte  (Soest,  Schleswig,  Hamburg) 
vgl.  auch  ibid.  S.  12,  Gengier  S.  60. 

*)  Vgl.  den  oben  N.  1 citierten  Aufsatz. 

*)  Erlangen  1882, 

S.  49-66. 

*)  Liehe  S.  6. 

*)  Vgl.  Brunner  D.  R.  G.  I.  S.  21;  ähnlich  speciell  in  Bezug  auf  das 
Gengiersche  Buch  auch  Gierke  in  Jahrbüchern  f.  Nationalök.  Bd.  41  (1883) 
S,  266-67. 


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80 


ist  1885  eine  Reihe  neuer  von  Liebe  in  seinem  Buche: 
„Die  communale  Bedeutung  der  Kirchspiele  in  den  deut- 
schen Städten  (Berlin  1885)“  hinzugefügt  worden.  Viel- 
fach hat  Liebe  darin  auch  die  Entstehung  und  Ent- 
wicklung der  Beziehungen  zwischen  weltlicher  und  kirch- 
licher Stadteinteilung  festzustellen  gesucht.  So  verdienst- 
lich seine  Schritt  aber  auch  deshalb  sowie  in  Folge  der 
versuchten  Heranziehung  analoger  Erscheinungen  auf  dem 
Lande  ist,  so  kann  sie  doch  als  abschliessend  in  keiner  Weise 
betrachtet  werden. 

Zunächst  sind  die  einschlägigen  Verhältnisse  in  Erfurt  bei 
Liebe  ganz  unberücksichtigt  geblieben ; gerade  hier  hat  aber  die 
Einteilung  in  nach  Kirchspielen  benannte  Sondergemeinden  be- 
sonders zahlreiche  Zeugnisse  hinterlassen  und  sich  in  einigen 
Ueberlebseln  bis  auf  unsere  Zeit  erhalten.1)  Ferner  lässt  sich 
auch  für  die  in  dieser  Arbeit  behandelten  Städte  noch  recht 
viel  nicht  herangezogenes  Material  nachtragen.  Endlich  konnte 
Liebe  auch  schon  deshalb  nicht  leicht  zu  wirklich  abschliessen- 
den Resultaten  gelangen,  weil  er  die  Untersuchungen  Lam- 
prechts  Uber  die  deutschen  Markgenossenschaften  und  das  Amt 
des  Heimburgen  noch  nicht  benutzen  konnte.  Gerade  diese 
Lamprechtschen  Forschungen*)  scheinen  mir  aber  auch  die 


')  Vgl.  d&B  oben  S.  79  N.  1 angeführte  Buch  von  Vollbauin  bes.  S.  121  ff. 

*)  Lamprecht  hat  diese  Ausführungen  über  Mark-  und  Gerichtsverfassung 
de*  Mittelalters  im  fränkischen  Rechtagebiet  (D.  W.  I 169 — 323)  meiner  An- 
sicht nach  mit  so  überzeugendem  Beweismaterial  gestützt,  dass  eine  von 
Lamprecht  — anders  als  vielleicht  nur  in  manchen  Details  — abweichende 
Auffassung  dieser  Verhältnisse  wissenschaftlich  wohl  kaum  mehr  begründet 
werden  kann.  Von  competenten  Beurteilern  hat  auch  Inama-Sternegg.  (GBt- 
ting.  gelehrte  Anzeigen  1887  S.  320,  321)  speciell  diesen  Ausführungen  Lam- 
prechts  vorbehaltlos  beigestimmt;  ebenso  Gierke,  Jahrbücher  für  Nationalök. 
Bd.  48  (1888)  S.  529,  der  nur  vor  zu  rascher  Verallgemeinerung  des,  zunächst 
doch  nur  f ür  das  fränkische  Rechtsgebiet,  festgestellten  auf  die  ganze  deutsche 
Entwicklung  warnt.  (Vgl.  noch  über  das  Lamprechtsche  Werk  die  den 
wissenschaftlichen  Wert  desselben  feststellenden  Recensionen  von  Schmoller  in 
Jahrbuch  für  Gesetzgebung  XII  (1888)  S.  203 — 218,  Bruder  in  Histor.  Jahr- 
buch VIII  (1887)  S.  502—519  und  Jastrow  Mitteil,  aus  der  bistor.  Litter&tur 
XVI  (1888)  8.  206—218).  Diese  Lamprechtschen  Ausführungen  über  Mark- 
und  Gerichtsverfassung,  deren  wesentlichster  Inhalt  im  Text  kurz  angegeben 
werden  soll,  können  daher  zweifellos  als  sichere  Ergebnisse  der  Wissenschaft 
betrachtet  und  den  folgenden  Untersuchungen  zu  Grunde  gelegt  werden. 


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81 


Lösung  der  von  Liebe  behandelten  Fragen  bedeutend  zu 
fördern. 

Wie  alle  wichtigeren  Probleme  der  städtischen  Verfassungs- 
geschichte wird  wohl  auch  dasjenige  der  Bedeutung  der  Kirch- 
spiele am  besten  auf  die  Weise  gelöst  werden,  dass  man  es, 
unter  Berücksichtigung  der  allgemeinen  Ergebnisse  der  deut- 
schen Verfassungsgeschichte,  zunächst  bei  einzelnen  Städte- 
gruppen zu  lösen  sucht,  die  aus  nach  Lage  und  Entwicklung 
zusammengehörigen  Städten  gebildet  sind.  Bei  jeder  der  ein- 
zelnen Städtegruppen  muss  alsdann  der  für  dieselben  erhaltene 
Quellenstof  nicht  in  willkürlicher  Auswahl,  sondern  vollständig 
herangezogen  werden.  Nützlich  dürfte  es  auch  sein,  wenn  da- 
bei für  jede  der  Städte  der  einzelnen  Gruppen  zunächst  folgende 
Einzelfragen,  in  welche  das  umfassende  Problem  der  Special- 
gemeinden zerlegt  werden  kann,  beantwortet  werden: 

1)  Seit  wann  bestehen  die  Specialgemeinden  ? Lässt  es  sich 
feststellen,  dass  sie  schon  vor  der  Existenz  einer  einheit- 
lichen Stadtgemeinde  oder  wenigstens  vor  der  Ratser- 
richtung Vorkommen?  Sind  sie  ganz  selbständig  ent- 
standen oder  irgendwann  gesetzlich  eingeführt? 

2)  Ist  dort,  wo  die  Sondergemeinden  nach  den  Kirchen  ge- 
nannt sind,  die  Pfarrgemeinschaft  das  eigentlich  mass- 
gebende oder  ist  diese,  weil  man  es  dabei  nur  mit  einer 
populären  Bezeichnung  zu  tun  hat.  ganz  nebensächlich') 
oder  ist  etwa  für  einen  Mittelweg  zu  entscheiden? 

3)  Welches  sind  die  Funktionen  der  Specialgemeinden  vor 
und  nach  der  Entstehung  der  Ratsverfassung?  Wie 
werden  die  Vorsteher  der  Specialgemeinden  genannt  und 
gewählt? 

4)  Wie  verhält  sich  die  Einteilung  der  Städter  in  Special- 
gemeinden zu  ihren  Status-  (frei,  unfrei)  und  Standes- 
verhältnissen (Ackerbauer,  Kaufleute,  Handwerker)? 


Betreffs  der  ganz  allein  stehenden,  durchaus  abwegigen,  Einwendungen  Belows 
(vgl.  Histor.  Ztschrft.  Bd.  59  8.  213—216  und  Stadtgemeinde  S.  8,  9)  muss 
auf  die  unten  Anhang  1 gegebenen  Ausführungen  verwiesen  werden,  da  eine 
eingehende  Besprechnung  dieser  Einwendungen  an  dieser  Stelle  den  Zu- 
sammenhang allzusehr  unterbrechen  würde. 

‘)  Ersteres  ist  die  Ansicht  Warnt önigs  in  bezug  auf  die  flandrischen  Städte, 
letzteres  die  Vollbaums  in  bezug  auf  Erfurt  (vgl.  die  Citate  auf  S.  79.  N.  1.) 

Koehne,  Ursprung  der  Stadtverfaaeung  ln  Worms,  Speier  und  Mainz.  6 


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82 


Es  liegt  nun  die  Aufgabe  vor,  das  bei  jeder  Stadt  ge- 
gebene Quellenmaterial  auf  diese  Fragen  hin  zu  untersuchen; 
sofern  man  daraus  bei  einer  derselben  in  einer  einzelnen  Stadt 
nicht  zu  sicheren  Resultaten  gelangt,  wird  oft  die  Analogie  der 
Städte  derselben  Gruppe  zu  hinreichend  sicheren  Resultaten 
führen. 

Es  scheint  angebracht,  diese  Untersuchungen  mit  einigen, 
von  Gengier  und  Liebe  nicht  herangezogenen,  Nachrichten  über 
Wormser  Verhältnisse  im  10.  und  11.  Jahrhundert  zu  beginnen. 
Diese  Nachrichten  sollen  dann  durch  die  aus  dem  Lamprecht- 
schen  Forschungen  sich  ergebenden  Resultate  klargestellt  wer- 
den. Von  den  so  gewonnenen  Grundlagen  aus  müssen  darauf  die 
schon  von  Liebe  zusammengestellten,  aber  noch  vielfach  im 
einzelnen  zu  ergänzenden  Nachrichten  über  die  Teilgemeinden 
in  Worms,  Speier  und  Mainz  besprochen  werden.  Alsdann  hoffe 
ich,  unter  gelegentlicher  Heranziehung  der  von  der  früheren 
Forschung  besonders  für  Köln  und  Erfurt  gewonnenen  Resul- 
tate, auch  für  unsere  Städte  die  obigen  Fragen  teils  mit  Ge- 
wissheit, teils  mit  einem  hohen  Grade  von  Wahrscheinlichkeit 
beantworten  zu  können. 

In  den  Statuten  Burchards  haben  wir  oben l)  einen  Beam- 
ten minister,  magister  loci  oder  ministerialis  kennen  gelernt, 
der  (in  einem  lokal  begrenzten  Kreise)  die  Besitzeinweisung  in 
die  Hofstätten  und  eine  Gerichtsbarkeit  bei  geringeren  Delikten 
und  Geldschuldklagen  besitzt.  Diese  Gerichtsbarkeit  übt  er 
cum  subiectis  sibi  concivibus  aus.*)  So  liegt  also,  wie  es  schon 
der  Name  des  Vorgesetzten  Beamten  ergiebt,  hier  eine,  insbe- 
sondere für  die  niedere  Gerichtsbarkeit  entscheidende,  Eintei- 
lung der  familia  von  wesentlich  lokaler  Natur  vor.  Neben 
dieser  Einteilung  der  familia  enthalten  die  Statuten  noch  eine 
andere,  welche  wir  wohl  mit  Gengier,  *)  Waitz*)  und  Gierke5) 
als  ebenfalls  auf  lokalen  Verhältnissen  beruhend  und  mit  ersterem 


‘)  8.  42—44. 

*)  Leg.  et  at&t  tit.  12. 
*)  Hofreclit  S.  6 und  7. 
*)  V.  G.  V 347. 

*)  I 160. 


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83 


„ohne  allzugrosse  Kühnheit“  als  mit  der  früher  erwähnten  in 
Zusammenhang  stehend  betrachten  können.  Es  ist  die  Ein- 
teilung in  societates.  Nach  tit.  13  soll  für  Delicte,  die 
an  einer  derselben  societas  angehörenden  Person  verübt 
sind,  ein  grösseres  Gewedde  gezahlt  werden , als  wenn 
das  Verbrechen  an  einer  extra  societatem  stehenden  Person  be- 
gangen sei.  Dafür,  dass  hier  und  in  tit.  8,  wo  der  Fall  be- 
sprochen wird,  dass  jemand  seiner  eigenen  societas  angehörende 
Personen  mit  Hilfe  von  Fremden  schädigt,  societas  lokal  zu 
fassen  ist,  spricht  namentlich  die  schon  von  Waitz  *)  angeführte 
Analogie  einer  Stelle  *)  eines  Weissenburger  Urbare,  in  welcher 
socii  die  Dorfgenossen  bezeichnet.8)  Freilich  ist  dies  bis  jetzt 
wenig  mehr  als  Hypothese.  Auch  lässt  sich,  da  Burchards 
Gesetz  nicht  nur  für  die  Stadt,  sondern  für  die  gesammte  fa- 
milia  der  Wormser  Kirche  erlassen  war,  aus  dem  bisher  er- 
örterten noch  nicht  ersehen,  ob  die  damalige  Stadt  nur  eine 
societas  bildete  oder  in  mehrere  zerfiel. 

Dagegen  giebt  uns  die  — übrigens  nicht  von  Burchard, 
sondern  von  seinem  Vorgänger  dem  Bischof  Theodalach  (891  bis 
914)  herrührende4)  — Wormser  Mauerbauordnung5)  von  einer  1 


•)  a.  &.  0. 

*)  Zenas  Traditionen  Wizenburgenses  (Spirae  1842)  p.  283  nr.  61 : süniliter 
seruiunt  sicut  socii  eorum. 

*)  Arnold  V.  0.  I 67  giebt  in  diesen  societates  Innungen;  dagegen 
wendet  Qengler  Hofr.  8.  6 mit  Recht  das  Fehlen  jedes  qnellenmässigen  An- 
halts f ttr  diese  Ansicht  ein.  Ebendaselbst  tritt  Gengier  auch  der  von  Wal- 
ter Deutsche  Rechtsgesch.  (Bonn  1857)  Q S.  57  versuchten  Zusammenstellung 
der  societates  der  leges  et  statuta  mit  den  „westfälischen  Echten“  entgegen. 
Letztere  seien  „offenbar  Standes-  oder  Rangclassen  innerhalb  der  bischöf- 
lichen Hofgenossenschaft'  gewesen  und  demnach  mit  der  Scheidung  in  Fisca- 
linen  und  Dagowarden  zu  vergleichen.  Diese  Waltersche  Ansicht,  der  übri- 
gens auch  Heusler  Ursprung  S.  142  gefolgt  zu  sein  scheint,  ist  desshalb  un- 
annehmbar, weil  es  nach  den  Ursachen  der  Unterscheidung  von  Fiscalinen 
und  Dagowarden  unerklärbar  wäre,  warum  ein,  an  einer  innerhalb  derselben 
societas  in  diesem  Sinne  stehenden  Person  verübtes,  Verbrechen  schärfer  als 
dasselbe  Delict  an  dem  einer  andern  societas  ungehörigen  bestraft 
worden  wäre. 

*)  S.  Anhang  IH. 

*)  Die  beste  Ausgabe  derselben  mit  den  in  den  verschiedenen  Drucken 
vorkommenden  Varianten  gab  Falk  in  Forsch,  z.  D.  Gesch.  XIV  S.  397  ff. ; da- 
selbst sind  auch  die  in  Betracht  kommenden  topographischen  Fragen  gelöst. 

«• 


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84 


Einteilung  der  Stadt  Kunde.  Hier  wird  — wie  sich  bekannt- 
lich analoges  auch  vielfach  bei  anderen  mittelalterlichen  Städ- 
ten findet,1)  — Instandhaltung  und  Bewachung  der  einzelnen 
Teile  der  Wormser  Mauer  unter  die  Gemeinden  der  Stadt  und 
ihrer  Umgebung  verteilt.  Dabei  heisst  es  nun: 

De  loco,  qui  dicitur  Frisonenspira  usque  ad  Rhe- 
num  ipsi  Frisones  restauranda  muralia  procurent.  Ri- 

delsheim,  Gimsheim a supradicta  Frisonenspira 

usque  ad  locum,  qui  Rhenispira  vocatur,  provideant. 

In  eodem  latere  civitatis  familia  S.  Leodegarii  portam 
quandam  reaedificare  debent. 

Deinde  usque  ad  Pawenportam  urbani  qui  Heimgerei- 
den  vocantur,  operando  pervigilent. 

Unter  der  familia  S.  Leodegarii  haben  wir  die  Leute  des 
Klosters  Murbach  im  Eisass  zu  verstehen,  das  diesem  Heiligen 
geweiht  war,  da  gerade  diese  mehrfach  so  genannt  werden.*) 
Ob  von  Murbach  ein  Teil  der  Stadtbewohner  derart  abhängig 
war,  dass  derselbe  als  seine  familia  bezeichnet  werden  konnte, 
oder  ob  die  familia  S.  Leodegarii  zu  den  zum  Mauerbau  hinzu- 
' gezogenen  Landgemeinden  gehörte,  habe  ich  nicht  ermitteln 
können.  Dagegen  sind  jedenfalls  die  Friesen,  welche  einen 
Teil  der  Wormser  Stadtmauer  auszubessern  haben,  mit  den- 
jenigen identisch,  deren  Ansiedlung  in  der  Stadt  Worms  die 
im  Jahre  1141  erwähnte8)  platea  Frisonum  ihren  Namen  ver- 
dankt. Aus  der  Art  der  Erwähnung  der,  vielleicht  auch  unter 
ähnlichem  Namen*)  begegnenden,  Frisonenspira  geht  übrigens  her- 

l)  Vgl.  für  Mainz  Hegel  Mainz  S.  43  und  die  daselbst  N.  1 gegebenen 
Citate,  für  Speier  und  Bingen  die  Citate  daselbst  N.  3 und  4,  ferner  für 
Saarburg  und  Coblenz  Beyer  Mittelrh.  Urkb.  (Coblenz  1860  ff.)  I p.  362  und 
II  p.  416,  für  Weissenburg  M.  G.  Dipl.  reg.  et.  imp.  Germ.  I Nr.  287  p.  401, 
für  Magdeburg  ibid.  N.  300  p.  416,  vgl.  auch  Maurer  Stadtverfassung  I S.  491 
ff.  Eine  verwandte  Erscheinung  ist  es,  wenn  in  Hameln  und  Bremen  gewisse 
in  der  Nähe  der  Stadt  gelegene,  aber  unter  fremder  Herrschaft  stehende 
Dörfer  verpflichtet  sind,  jährlich  eine  bestimmte  Quantität  Brückenholz  zu 
liefern,  vgl.  Meinardus  Urkundenbuch  von  Hameln  (Hannover  1887)  S.  ü,  III 
n.  Hansische  Gescbichtsbl.  1873  8.  180. 

’)  Vgl.  Grandidier  Histoire  de  l’eglise  de  Strassbourg  (Strassb.  1776)  I 
p.  251 , Schöpflin  Alsatia  diplomatica  (Manuh.  1772)  I p.  68  No.  69,  p.  133 
Nr.  166  etc.  So  auch  Falk  Forsch.  XIV  S.  399 
•)  W.  U.  71. 

4)  W.  U.  57:  spiza  Frisonum. 


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85 


vor,  dass  man  in  ihr  eine  Mauerpforte  oder  eine  Mauerecke 
sehen  muss.1)  Mit  Sicherheit  ergiebt  sich  aber  jedenfalls  aus 
diesem  Documente,  dass  die,  einen  am  Rheinufer  gelegenen  Stadt- 
teil bewohnenden,  Friesen  eine  andere  Gemeinde,  als  die  urbani, 
qui  dicnntur  heimgereiden , die  Markgenossen  der  Altstadt,®) 
bildeten.  Aus  der  Combination  der  Nachrichten  der  leges  et 
statuta  Burchardi  mit  denen  der  Mauerbanordnung  ergiebt  sich 
demnach,  dass  innerhalb  der  Stadt  mindestens  zwei  verschiedene 
Bezirke  der  Wirksamkeit  von  Ortsvorstehern  mit  ihnen  beige- 
ordneten  concives  bestanden,  und  dass  jeder  solche  Be- 
zirk eine  Markgenossenschaft  bildete. 

Zur  Rechtfertigung  dieser  Behauptung  und  zur  weiteren 
Fortführung  der  Untersuchung  dürfte  es  angebracht  sein,  jetzt 
die  Ergebnisse  der  Forschungen  Lamprechts  über  die  Vorsteher 
der  kleineren  Markgenossenschaften  und  ihr  Verhältnis  zur  Ge- 
richtsverfassung heranzuziehen. 

Der,  der  alten  fränkischen  Hundertschaft  entsprechende, 
Hochgerichtsdistrikt  zerfiel  nach  Lamp  recht8)  in  eine  Anzahl 
von  Teilen,  die  sogen.  Zendereien  oder  Heimschaften , welche 
zugleich  Gerichtsbezirke  und  Markgenossenschaften  bildeten. 
Diese,  prsprünglich  wohl  aus  der  benachbarten  Niederlassung 
und  gemeinsamen  Inbesitznahme  grösserer  Landstrecken  seitens 
der  Geschlechtsgenossen  herrührenden,  Verbände  wurden  im  6. 
Jahrhundert,  insbesondere  um  das  damals  überhandnehmende 
Räuberunwesen  zu  vernichten,  von  der  Staatsgewalt  zur  Frie- 
denssicherung benutzt.  In  dem  von  Childebert  und  Chlotar  er- 
lassenen Pactus  pro  tenore  pacis*)  wird  die  Centene  ausdrück- 
lich „verpflichtet,  innerhalb  ihres  Gebiets  ertappte  Räuber,  ge- 
fänglich einzubringen  und  bis  zur  Gebietsgrenze  zu  verfolgen.“ 


•)  vgl.  oben  S.  7 mit  N.  2. 

*)  Die  heimgereiden  halte  ich  für  die  Tbeilnehmer  am  heimgerade.  Es 
ist  beim  Dorf  oder  auch  Mark,  gerede  = Beredung,  Besprechung,  also  heimge- 
rede = Bauernsprache,  = Versammlung  der  Dorf-  und  Markgenossen.  Vgl. 
Thodichum  Gau-  und  Markverfassung  (Giessen  1860)  S.  39,  Lamprecht  I S.  304 
N.  2.  Dass  wir  unter  urhs  i.  teeh.  S.  die  schon  in  älterer  Zeit  mit  Mauern  ver- 
sehenen Stadtteil,  also  hier  unter  urbani  die  Bewohner  der  Altstadt  verstehen 
dürfen,  wird  sich  aus  den  weiter  unten  folgenden  Erörterungen  ergeben. 

•)  I S.  198  ff.,  8.  224  ff. 

4)  L.  L.  II  in  4°  (ed.  Boretius)  p.  6 o.  9. 


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Sie  hat  ferner  dem  Bestohlenen  sofort  Schadenersatz  zu  leisten 
und  empfängt  dagegen  einen  grossen  Teil  der  Busse.1)  Wie 
schon  Lamprecht  betont,  dass  damals  die  Centenen  schwerlich 
erst  eingerichtet  seien,*)  was  ich  ihrer  markgenossenschaftlichen 
Funktionen  wegen  überhaupt  für  unmöglich  halte,  so  ist  es  ge- 
wiss auch  weniger  dem  genannten  Gesetze,  als  vielmehr  der 
sich  in  ihm  nur  documentirenden  Entwicklung  zuzuschreiben, 
dass  die  Centene  seitens  des  Staats  in  umfassender  Weise  zur 
Sicherheitspflege  herangezogen  wurde.*) 

Die  den  Centenen  in  der  Zeit  des  Frankenreichs  erwach- 
senen polizeilichen  und  rechtlichen  Befugnisse  blieben  ihnen 
auch  in  der  nachfränkischen  Zeit,  in  welcher  sie  uns  als  Zende- 
reien  oder  Heimschaften  entgegentreten;  nur  sind  die  Befug- 
nisse der  Gemeinde  selbst  durch  diejenigen  ihres  Vorstehers 
vermindert.4)  An  der  Spitze  der  einzelnen  Cent  finden  wir 
nämlich  schon  unter  den  Merowingern  einen  von  der  Centge- 
meinde gewählten,  von  den  königlichen  Beamten  bestätigten 
Centenar.5)  Aus  dieser  Beamtung  entwickelt  sich  die  des  uns 
in  den  späteren  Quellen  entgegentretenden  sogen.  Zenders  oder 
Heimburgen.6)  Derselbe  ist  der  einzige  grössere  Beamte  der 
Markgemeinde.7)  Als  solchem  fällt  ihm  die  Berufung  und  Lei- 
tung der  Markgemeindeversammlungen  und  die  Einweisung  der 
übrigen  Markbeamten,  wie  Flurschützen  und  Förster,  in  ihr 
Amt  zu.  Ausserdem  hat  sich  nach  Lamprecht  aus  den  mero- 
wingischen  Verordnungen  der  Friedenswahrung  innerhalb  der 
Markgemeinde  und  der  Vertretung  derselben  nach  aussen  für 

*)  Lamprecht  ibid. 

*)  S.  224  vgl.  auch  S.  226  N.  2. 

*)  Eine  Haftung  der  Markgemeinde  für  in  ihrem  Gebiete  vorgekommene 
Verbrechen  liegt  z.  B.  auch  schon  in  Capitol,  ad  leg.  Sal.  I c.  9 (Boretins 
bei  Behrend  p.  91).  Man  beachte  auch,  dass  die,  sp&ier  Heimschaft  oder 
Zenderei  genannte,  Markgemeinde  in  älterer  Zeit  i.  d.  E.  aus  Mitgliedern 
einer  Sippe  bestand,  was  sich  insbesondere  auch  aus  der  Anwendung  von 
genealogia  in  lokalem  Sinne  ergiebt  cf.  Fonnula  Patav.  5 (in  L.  L.  V in  4* 
ed.  Zeumer  p.  469)  und  die  anderen  vonWaitz  V.  G.  I*  S.  81  N.  1—3  ange- 
führten Stellen. 

‘)  Lamprecht  S.  227. 

*)  Pactum  pro  tenore  pacis  c.  16  (L.  L.  in  4°  n ed.  Boret.  p.  7).  Vgl. 
Lamprecht  S.  226. 

*)  So  Lamprecht  S.  227.  Vgl.  S.  198  N.  2. 

’)  Lamprecht  S.  315,  316. 


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den  Zender  die  niedere  Gerichtsbarkeit  in  der  Zend  sowie  die 
Pflicht,  vorgekommenen  Friedensbruch  im  Hochgericht  zu  rügen, 
entwickelt;  meist  hat  er  auch  das  Recht  erhalten,  dort  als 
Schöffe  zu  urteilen.1) 

Ferner  ist  der  Heimburge  in  Folge  der  ihm  übertragenen 
Führung  bei  der  Verfolgung  von  Verbrechern  sowie  der  Lei- 
tung der  in  Waffen  stattflndenden  Gemeindeversammlung  auch 
zum  Heerführer  seiner  Gemeinde  geworden.*) 

So  liegen  denn  der  Markgemeinde  wie  ihrem  Vorsteher,  dem 
Zender,  eine  Reihe  von  Obliegenheiten  wirtschaftlicher,  poli- 
zeilicher, jurisdictioneller  und  militärischer  Natur  ob.  Alle 
diese  Funktionen  der  Markgemeinde  hören  auch  dadurch  nicht 
auf,  dass  die  Freiheit  eines  Teils  oder  aller  ihrer  Mitglieder 
gemindert  wird.  Nur  gelingt  es  den  Herrn  der  hörigen  Mark- 
genossen gewöhnlich,  besondere  Rechte  bei  der  Albemendenut- 
zung  und  der  Ernennung  der  Markbeamten  zu  erlangen.8)  So 
hält  sich  auch  der  Zender  vielfach,  wenn  das  Amt  grundherr- 
lich wird.4) 

Nach  diesen  Ergebnissen  der  Lamprechtschen  Forschung 
glaube  ich  in  den  societates  der  Statuten  Burchards  solche 
Markgenossenschaften  sehen  zu  können,  während  der  loci  ma- 
gister  wohl  ganz  dem  Heimburgen  einer  grundherrlich  gewor- 
denen Zent  entspricht.  Die  Richtigkeit  dieser  Identification 
wird  vor  allem  dadurch  bestätigt,  dass  gerade  in  Worms  die 
Heimburgen  später  vielfach  erwähnt  werden. 

Ehe  nun  aber  diese  Erwähnungen  näher  betrachtet  werden, 
muss  noch  eine  grössere  Digression  gestattet  sein.  Da  nämlich 
die  Heimburgen  in  unseren  Städten  fast  immer  im  Zusammen- 
hang mit  den  Kirchspielen  genannt  werden,  so  erscheint  es  zum 
Verständnis  dieser  Erscheinung  notwendig,  auf  die  allgemeine 
Entwicklung  und  Bedeutung  dieser  Institution  sowie  ihren  Zu- 
sammenhang mit  den  Markgenossenschaften  näher  einzugehen. 

Nach  der  herrschenden  Lehre  der  Canonisten  bestanden  bis 
zum  Ende  des  10.  Jahrhunderts  und  in  der  Regel  noch  lange 


*)  Lamprecht  S.  217  ff. 

*)  A.  a.  0.  S.  216. 

*)  ibid.  8.  998  und  1006  vgl.  auch  1078,  1079. 
‘1  ibid.  S.  230  N.  1. 


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darüber  hinaus  in  den  Bischofsstädten  keine  besonderen  Pfarr- 
kirchen und  Pfarrgemeinden.1)  Die  einzelnen  Kultusakte  konn- 
ten entweder  in  jeder  Kirche  und  Kapelle  oder  nur  im  Dome 
geschehen;  die  Geistlichen  wurden  vom  Bischof  oder  vom  Pa- 
tron mit  bischöflicher  Zustimmung  ernannt.  Da  ausserdem  die 
Errichtung  einer  Kirche  jedem  Privatmanne  auf  seinem  Grund 
und  Boden  freistand,  so  liegt  keine  Veranlassung  vor,  irgend 
eine  Beziehung  in  Zahl  und  Patronatsrechten  zwischen  kirch- 
lichen und  irgendwelchen  politischen  oder  wirtschaftlichen  Ver- 
bänden innerhalb  der  Stadt  anzunehmen. 

Dagegen  ist  allerdings  auf  dem  Lande  die  Institution  der 
Pfarrkirche  schon  im  achten  und  neunten  Jahrhundert  zu  voll- 
kommenen Abschluss  gelangt.*)  Schon  damals  wurden  für  die 
Spendung  der  Sacramente  insbesondere  der  Taufe  sowie  für 
den  Gottesdienst  an  den  Feiertagen  bestimmte  Kirchen  reser- 
viert, und  die  Landbewohner  je  nach  ihrem  Domicil  an  eine 
dieser  Pfarrkirchen  gewiesen.*)  Dennoch  aber  fand  kirchen- 
rechtlich bei  der  Bestimmung  der  Pfarrkirchen  und  ihrer  Be- 
zirke keine  Rücksichtnahme  auf  irgendwelche  bestehenden  recht- 
lichen und  wirtschaftlichen  Verbände  statt.4)  Daher  hat  auch 
neuerdings  Lamprecht  sich  der  Tatsache  des  regelmässigen 
Zusammenfallens  der  kirchlichen  mit  rechtlichen  und  wirtschaft- 
lichen Bezirken  erst  dann  als  Hilfsmittels  zu  seiner  Forschung 
bedient,  nachdem  er  dies  Zusammen  fallen  für  sein  spezielles 
Gebiet,  das  Moselland,  im  einzelnen  topographisch  nachgewiesen. 
Dieser  Nachweis  ist  ihm  aber  für  seinen  Distrikt  völlig  ge- 


‘)  Hinschius  Kirchenrecht  (Berlin  1869  ff.)  II  S.  278,  279,  Friedberg 
Lehrbuch  des  Kirchenrechts  (Leipzig  1884)  § 71  I.  Es  darf  aber  jedenfalls 
nicht,  wie  es  von  Liebe  S.  11  geschieht,  aus  den  Worten  Worma- 
ceusis  parochiae  episcopus  (W.  U.  12  a.  814)  geschlossen  werden,  dass 
selbst  grössere  Städte  wie  Worms  damals  nur  eine  Parochie  ge- 
bildet hätten.  Parochia  heisst  hier  wie  oft  in  karolingischer  Zeit  einfach 
Amtssprengel  des  Bischofs;  ganz  klar  geht  diese  Bedeutung  ans  mehreren 
Capitularienstellen  (z.  B.  L.  L.  II  in  4°  p.  74  c.  6,  p.  174  c.  16,  p.  214  c.  ö,  p.  242) 
hervor,  (vgl.  auch  Hinschius  a.  a.  0.  S.  38  N.  4 u.  267  N.  4). 

*)  Hinschins  a.  a.  0.  S.  266,  267. 

*)  Vgl.  z.  B.  die  Beschlüsse  der  Mainzer  Synode  von  852  (L.  L.  I 
ed.  Pertz  p.  415)  c.  17.  dazu  Dümmler  Ostfr.  Reich  I (1887)  S.  360  N.  1 u. 
S.  363,  364. 

*)  Lamprecht  D.  W.  I S.  238  ff. 


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langen.1)  Auch  muss  doch  die,  insbesondere  von  Landau*)  und  von 
Maurer*)  betonte,  Tatsache  berücksichtigt  werden,  dass  christ- 
liche Kirchen  zumeist  an  Stellen  heidnischer  Kultstätten  er- 
richtet wurden,  diese  aber  jedenfalls  in  enger  Verbindung  mit 
den  weltlichen  Verbänden  standen.  Gewiss  ist  vorwiegend 
gerade  dies  der  Grund,  dass,  wie  es  Lamprecht  gezeigt 
hat,  im  Mosellande  den  Hundertschaften  die  kirchlichen 
Decanien  und  den  Zendereien  die  Pfarrspiele  in  der  Regel 
topographisch  entsprechen.  Auch  für  den  Mittelrhein  lassen 
sich  mehrere  besonders  bezeichnende  Beispiele  solcher  Identität 
weltlicher  und  kirchlicher  Bezirke  nachweisen.4) 

Dafür,  dass  solche  Uebereinstimmung  im  elften  Jahrhundert 
durchaus  Regel  war,  spricht  es  auch,  dass  bei  den  zahlreichen 
in  dieser  Zeit  vorgenommenen  Rodungen  weltliche  und  kirch- 
liche Bezirke  durchaus  zusammenfallen.5)  Gerade  hier  ist  daher 
die  Bezeichnung  des  Ortes  nach  seinem  Kirchspiel  statt  nach 
seinem  Gau  die  Regel.  In  Folge  dessen  ist  Liebe*)  zu  der 
Ansicht  gekommen,  dass  bei  diesen  Neugründungen  sich  die 
Vorstellung  des  Kirchspiels  als  eines  lokalen  Bezirks  zuerst  aus- 
gebildet, und  von  hier  aus  sich  auch  auf  die  alten  Siedlungen 
verbreitet  habe.  Wenn  auch  eine  ins  Jahr  977  verlegte  Ur- 
kunde, in  welcher  eine  ganze  Markgenossenschaft  sammt  ihrer 
Mark  als  Pertinenz  ihrer  Pfarrkirche  angesehen  wird,7)  von  der 
neueren  Forschung  als  unecht  erkannt  ist,  so  weist  doch  auch 
diese  Fälschung,  da  sie  im  12.  Jahrhundert  verfasst  ist,  auf  ein 
regelmässiges  volles  Zusammenfallen  des  wirtschaftlichen  und 
kirchlichen  Bezirks  hin. 

Zur  Erklärung  dieser  doch  recht  auffallenden  Thatsache 
kann  wohl  neben  dem  früher  erwähnten,  schon  von  Landau  und 

‘)  ibid.  244 — 254.  Mehrfache  Übereinstimmungen  zwischen  den  kirch- 
lichen nnd  den  gerichtlichen  Bezirken  im  Eisass  hat  nenerdings  Schlicker  in 
Straasburger  Studien  Bd.  II  (1884)  S.  381—385  nachgewiesen. 

*)  Territorien  (Hamburg  1854)  S.  370  ff. 

*)  Gesch.  d.  Dorfverfassung  (Erlangen  1866)  I 110. 

4)  v.  Maurer  Gesch.  d.  Markenverfassung  (Erlang.  1866)  194,  195,  Dorf- 
verfass. I 112. 

*)  Lamprecht  D.  W.  I S.  699,  Liebe  S.  7,  8. 

•)  8.  7. 

*)  Urk.  Ottos  II  für  Kloster  Murbach  Stumpf  No.  705  ‘D.  D.  II 
No.  323  p 380'. 


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v.  Maurer  betonten,  Gesichtspunkte  auch  der  folgende  herange- 
zogen werden.  Sicherlich  waren  die  weltlichen  Verbände  auf 
dem  Lande,  wie  wir  es  später  bei  städtischen  sehen  werden, 
sowohl  au  dem  Bestehen  von  Pfarrkirchen  in  ihrer  Nähe  wie 
an  der  Ausübung  gewisser  Rechte  in  Bezug  auf  dieselben  leb- 
haft interessiert.  Gewiss  sind  dadurch  oft  Markgemeinden, 
welche  noch  keine  eigenen  Pfarrkirchen  besassen,  zur  Erbauung 
neuer,  resp.  zu  Aufwendungen  für  schon  bestehende  Pfarr- 
kirchen, an  denen  sie  dadurch  einzelne  Patronatsrechte  er- 
warben, veranlasst  worden. 

Ungeachtet  der  strengen  Ausbildung  der  Hierarchie  und 
des  Strebens  derselben  nach  Unabhängigkeit  von  der  Laien- 
welt finden  wir  doch  gerade  im  Mittelalter  weltliche  Gemeinden 
im  Besitze  weitgehender  Rechte  an  der  Vermögensverwaltung 
der  Kirche.1)  Überall  da  wo  diese  Verwaltung  von  der  Gemeinde 
allein  geführt  wird,  sie  also  selbst  Patron  ihrer  Kirche  ist, 
wird  sie  wohl  als  Stifterin  derselben  anzusehen  sein.*) 

An  die  Teilnahme  an  der  Vermögensverwaltung  knüpfte 
sich  in  der  Regel  das  Recht  der  Einsetzung  des  Küsters  und 
Glöckners,  oft  auch  das  des  Pfarrers;  selbst,  wo  das  Patronat 
einem  einzelnen  zustaud,  hatte  doch  die  Gemeinde  oft  auf  die 
Besetzung  dieser  Stellen  Einfluss.  Sogar  unfreie  Gemeinden 
finden  wir  hier  und  da  ihren  Kirchen  gegenüber  in  autonomer 
Stellung.*) 

Mochten  auch  in  den  Bischofsstädten  selbst  solche  Rechte 
der  Pfarrgemeinden  sowie  auch  die  ganze  Institution  der  Pfarr- 
kirchen erst  nach  Analogie  der  ländlichen  Verhältnisse  in 
späterer  Zeit  eingerichtet  werden,  so  bestanden  doch  jedenfalls 
Pfarrkirchen  und  oft  auch  Gemeinderechte  an  der  Pfarrkirche 
schon  früher  in  den  ausserhalb  der  Mauern  entstehenden 
Niederlassungen,  die  mit  der  Zeit  den  Städten  incorporiert 
wurden. 

Diese  Angliederung  vorher  selbständiger  ländlicher  Ge- 


*)  cf.  Friedberg,  De  finium  inter  civit.  et  eccl  regund.  (Lipsiae  1861) 
p.  176  n 3 , Binschius  in  Doye'a  Ztechr.  f.  Krchnr.  II  S.  421  N.  3 n.  Kirchen- 
recht (Berlin  1869  ft)  II  687  und  38,  v.  Maurer  Dorfverfasanng  I § 147  und  148. 
*)  Hinschiua  Kirchnr.  II  S.  638  N.  1,  Lamprecht  D.  W.  I 240. 

*)  vgl.  Lamprecht  a.  a.  0.  N.  2 und  3. 


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91 


meinden  lässt  sich  auch  gerade  bei  unseren  drei  Städten  wahr- 
nehmen. In  Worms  werden  979  geradezu  drei  Teile:  1)  die 
antiqua  nrbs,  2)  die  nova  urbs,  3)  suburbinm  nnd  villa  unterschie- 
den. *)  WieHellwig*)  nachgewiesen,  verstand  man  unter  einer  civitas 
oder  urbs  in  der  Ottonenzeit  einen  mit  einer  Mauer  umgebenen 
grösseren  bewohnten  Ort.  Dagegen  bezeichneten  villa  und  oppi- 
dum  einen  nicht  ummauerten  Wohnplatz;*)  wird  aber  villa 
mit  einem  sonst  als  civitas  oder  urbs  vorkommenden  Ortsnamen 
verbunden,  so  haben  wir  darunter  in  der  Regel  eine  ausserhalb 
der  Mauern  des  betreffenden  Orts  gelegene  Niederlassung  zu 
verstehen.4)  Antiqua  urbs  bezeichnet  also  in  der  Urkunde  von 
979,  ganz  den  Strassburger  Verhältnissen®)  entsprechend,  die 
Römerstadt,  nova  urbs  neue  Ansiedelungen,  welche  aber  schon 
zum  ummauerten  Stadtgebiet  gezogen  sind.  Suburbinm  ist  als- 
dann die  ganze  Umgebung  der  Stadt,  villa  eine  besondere  Nieder- 
lassung darin. 

So  finden  wir  auch  bei  Speier  schon  969  eine  villa  Spira,8) 
welche  1084  ummauert7)  und  wahrscheinlich  später  mit  der 

>)  W.  U.  36. 

*)  Deutsches  Städtewesen  zur  Zeit  der  Ottonen  (Breslau  1875) 

8.  6 — 12. 

*)  ibid. ; besonders  bezeichnend  sind  die  von  Hellwig  in  Note  69  und  70 
angeführten  Stellen. 

‘)  ibid.  S.  10. 

*)  Vgl.  Hegel  Städtechroniken  Strassburg  II  925.  In  Betreff  der  von 
SchmoUer  Strassburgs  Blüte  (Strassb.  1876)  S.  3 und  4 mit  Note  **)  gegen  diese 
Ansicht  Hegels  erhobenen  Einwendungen  ist  zur  Auslegung  der  Stelle 
Ammi&ns  auf  das  oben  S.  3 N.  3 gesagte  zu  verweisen.  Deshalb,  weil 
Markt  und  Stadtgericht  in  der  Neustadt  lagen,  braucht  noch  nicht  ange- 
nommen zu  werden,  dass  die  Altstadt  gänzlich  zerstört  und  die  Neustadt 
dann  von  den  eingewanderten  allemannischen  Bauern  begründet  wurde. 
Vielmehr  siedelten  sich  in  der  Neustadt  vor  allem  die  zuziehenden  Kaufleute 
an ; ähnlich  der  Kölner  Rheininsel  ist  die  Strassburger  Neustadt  durch  ihre 
Lage  am  Flusse  zum  Hauptsitze  des  kaufmännischen  Verkehrs  und  der  sich 
daraus  entwickelnden  städtischen  Institutionen  geworden.  Vergl.  auch  über 
entsprechende  Verhältnisse  in  Begensburg  und  Augsburg  Nitzsch  8.  187. 

c)  U.  6. 

) U.  11 : cum  ex  Spirensi  villa  urbem  facerem.  Diese  Worte  können 
nach  den  im  Text  gegebenen  Erörterungen  über  die  damalige  Bedeutung 
von  villa  und  urbs  nur  so  erklärt  werden,  dass  die  ausserhalb  der  eigent- 
lichen urbs  Spira  gelegene  villa  damals  ummauert  wurde;  keineswegs  darf 
man  unter  villa  Spirensis  das  eigentliche  Speier  verstehen,  wie  es  Arnold  I 
8.  76  tut. 


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92 


Stadt  vereinigt  ist.1)  Ausserdem  entstehen  um  die  Stadt  vier 
Vorstädte,*)  von  denen  eine  wenigstens  schon  1148  bezeugt  ist.*) 

Ebenso  ist  auch  Mainz,  wie  unten  gezeigt  werden  wird, 
mehrmals  durch  Hineinziehung  benachbarter  Gemeinden  in  Stadt- 
verwaltung und  Stadtgerichtsbarkeit  erweitert  worden ; in  vielen, 
aber  nicht  in  allen,  Fällen  war  damit  die  lokale  Iucorporation 
in  das  von  deu  Mauern  umschlossene  Stadtgebiet  verbunden.4) 
Auch  hier  treten  uns  nova  civitas5)  und  suburbium6)  entgegen. 

In  solchen  neu  hineingezogenen  früher  ländlichen  Bezirken 
unserer  Städte  bestanden  nun  oft  die  von  uns  geschilderten, 
im  engsten  Anschluss  an  die  untersten  wirtschaftlichen  und 


■)  Dass  aus  den  in  der  vorigen  N.  citierten  Worten  der  bischöflichen 
Urkunde  schon  für  1084  eine  Hereinziehung  dieser  Vorstadt  in  die  Ummane- 
rung  der  Stadt  gefolgert  wird,  wie  es  von  Beinling  Geschichte  S.  310, 
Schaube  S.  466,  Aronius  (in  dem  S.  8 N.  1 citierten  Werke)  Nr.  168  ge- 
schieht, scheint  mir  kaum  zu  billigen. 

*)  Vgl.  Zenas  S.  8—10.  Nur  ist  es  gewiss  unrichtig,  wenn  Zeuse  S.  8, 
wie  auch  Remling  Geschichte  S.  311,  die  1084  (U  11)  erwähnte  villa  Spira 
mit  der  spätem  Vorstadt  Altspeier  identiflciert.  Diese  Identification  stützt 
sich  besonders  darauf,  dass  Bischof  Büdiger  1084  den  Juden  Wohnsitze  in 
der  villa  Spira  einräumt,  später  aber  der  Begräbnisplatz  der  Speierer  Juden 
in  Altspeier  nachweisbar  ist  Jedoch  folgt  aus  dieser  Urkunde  von  1084 
durchaus  nicht,  dass  der  Friedhof,  wie  es  bei  den  Wohnplätzen  der  Juden 
der  Fall  war,  in  der  villa  Spira  gelegen  war.  Vielmehr  sagt  der  Bischof  in 
der  citierten  Urkunde : Locum  . . habitacionis  eorum,  quem  iuste  acquisieram 
— primo  namque  clivum  partim  pecunia  partim  commutacione,  vallem  autem 
dono  coherednm  accepi  — tradidi  eis.  Später  heisst  es:  Dedi  insuper  eis  de 
predio  ecclesie  locum  sepulture.  Der  BegTäbnisplatz  war  also  wohl  gamicht 
in  der  villa  Spira  gelegen.  Unbegründet  ist  es  übrigens,  wenn  Maurer  I 
S.  23  meint,  Speier  sei  in  der  Nähe  des  Dorfes  Altspeier  gebaut  worden. 
Das  frühere  Bestehen  von  Altspeier  ist  hier  offenbar  aus  dem  Namen  dieser  späteren 
Vorstadt  von  Speier  geschlossen,  aber  mit  Unrecht.  Da  Spir  nämlich  Flussname 
ist,  so  bezeichnet  Altspira  nur  das  ältere  zum  Teil  verlassene  Bett  des,  in  den 
mittelalterlichen  Quellen  als  Spira,  Spiraha,  Spirbach  öfters  erwähnten, 
Flüsschens  bei  Speier,  resp.  den  daran  liegenden  Ort  vgl.  Zeuss  S.  4,  Förste- 
mann  Altdeutsches  Namenbuch  Bd.  II  (Nordh.  1872)  8.  45  s.  v.  Altaich  u.  S. 
1362  s.  v.  Spir. 

*)  Remling  Urkb.  No.  86. 

4)  Dies  wird  weiter  unten  gezeigt  werden. 

•)  Guden  Cod.  dipl.  DI  p.  878  a 1206:  in  nova  civitate  apud  eccl.  s. 
Stephani. 

*)  B-W  Xffl  18  a.  944  — 948  und  XXTI  62  a.  1069:  eccl.  8.  Petri, 
quae  sita  est  in  suburbio  civitatis  Maguntinae  ad  plagam  aquilonarem. 


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93 


jurisdictionelien  Verbände  organisirten,  Pfarrgemeinden  mit 
freier  kirchlicher  Vermögensverwaltung.  Diese  weltlichen  und 
kirchlichen  Einrichtungen  und  die  damit  in  Zusammenhang 
stehenden  Beamtungen  haben  sich,  wie  wir  unten  sehen  wer- 
den. dann  oft  noch  längere  Zeit  nach  der  Hineinziehung  ins 
Stadtgebiet,  mehr  oder  weniger  intakt,  erhalten.  Besonders  be- 
zeichnend für  das  Fortbestehen  der  kirchlichen  und  weltlichen 
Organisationen  auch  nach  der  Incorporation  sind  die  Verhält- 
nisse in  Strassburg. 

Hier  finden  wir  im  ältesten  Stadtrecht  die  Bestellung  von 
drei  Heimburgen  erwähnt,  eines  für  die  Altstadt  und  zweier 
für  die  Neustadt.1)  Die  Altstadt  nun  bildet  die  Pfarrei  des 
Münsters,  die  damalige  Neustadt  die  von  St.  Thomas  und  Alt 
St.  Peter.*)  Es  sind  also  zwei  Markgemeinden,  die  jedenfalls 
früher  ausserhalb  der  Stadt  gelegen  waren,  schon  zur  Zeit  des 
ersten  Stadtrechts,  also  in  den  mittleren  Jahrzehnten  des  12. 
Jahrhunderts,9)  mit  der  Stadt  vereinigt  gewesen;  dabei  haben 
sich  aber  die  frühere  kirchliche  Organisation  und  die  alte  Mark- 
und  Gerichtsbeamtung  noch  in  jedem  der  drei  Teile  erhalten. 
Dass  auch  für  die  Altstadt  ein  Heimburge  eingesetzt  wurde, 
kann  nicht  Wunder  nehmen,  wenn  man  sich  erinnert,  dass  in 
den  deutschen  Städten  lange  Zeit  hindurch  die  Urproduktion 
durchaus  prävalierte,*)  und  dass  die  erobernden  Germanen  Recht 
und  Verfassung,  auch  wo  die  römische  Bevölkerung  sitzen  blieb, 
im  wesentlichen  nach  ihren  eigenen  Anschauungen  und  Ueber- 
lieferungen  zu  ordnen  pflegten. 

Nach  diesen  notwendigen  Vorerörterungen  gehen  wir  nun 
dazu  über,  die  in  unserer  Überlieferung  erhaltenen  Spuren  der 
Bedeutung  der  Specialgemeinden  zu  erläutern  und  möglichst  zu 
einem  einheitlichen  Bilde  zu  gestalten.  Es  ist  schon  oben  da- 
rauf hingewiesen,  dass  sich  gerade  in  Mainz  beobachten  lässt, 
wie  sich  die  Stadt  lokal  und  noch  mehr  administrativ  und  juris- 


•)  Strassburger  Urkb.  (Strassb.  1879)  I p.  467  c.  9. 

*)  VergL.  die  Karte  in  Städtechroniken  IX  (Strassburg),  auch  Liebe  S.  52. 
*)  so  Wiegand  in  Strassb.  Urkb.  I S.  476  in  Übereinstimmung  mit  Hegel 
St&dtechroniken  IX  923 — 927  und  Winter  Geschichte  des  Kates  in  Strassburg 
(Breslau  1878)  S.  29.  So  i.  wesen  tL  auch  Kruse  Strassb.  8.  7. 

4)  8iehe  oben  S.  11. 


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94 


dictionell  durch  die  Incorporation  ländlicher  Gemeinden  vergrös- 
sert  hat.  Eine  Übersicht  über  die  Mainzer  Specialgemeinden 
kann  man  sich  leicht  aus  den  ins  Würzburger  Archiv  ver- 
schlagenen Mainzer  Stadtrechnungen  von  1410  und  1411  ver- 
schaffen.1) In  den  darin  enthaltenen,  von  mir  als  Beilage  pn- 
blicierten,  Fragmenten  der  Einnahmen  aus  der  allgemeinen  Per- 
sonensteuer, der  sogen.  Schatzung,  lässt  sich  nämlich  wahrnehmen, 
dass  die  Sammlung  dieser  Steuer  und  ihre  Ablieferung  an  die 
städtische  Centralkasse  nach  Stadtteilen  geschah,  welche  nach 
Kirchspielen  bezeichnet  sind.  Im  ganzen  sind  es  nun  8 Bezirke,  von 
denen  die  Erträge  gebucht  sind ; 6 davon  sind  je  nach  einer  Pfarr- 
kirche genannt,  nämlich  nach  der  Stephans-,  Nyclas-,  Ignaz-,  Quin- 
tins-,  Christophs-,  Heilramspfarre,  während  Odenmünster  und  St 
Paul,  sowie  die  vier  Pfarren  zum  Dom,  zu  unsrer  Frauen,  St.  Jo- 
hann und  St.  Mauricien  stets  zusammengenannt  werden.  Unter  diesen 
zwölf  Pfarrkirchen  befinden  sich  alle  uns  in  der  sonstigen  Über- 
lieferung dieser  Zeit  in  Mainz  entgegentreteuden  Parochien; 
mit  Ausnahme  von  St.  Nyclas  (Nicolaus)  liegen  sie  sämmtlich 
innerhalb  des  Mauerrings.*) 

An  sich  wäre  nun  eine  zweifache  Erklärung  der  uns  hier 
entgegentretenden  Art  der  Steuereinsammlung  denkbar.  Man 
könnte  vielleicht  annehmen,  dass  die,  zur  Steuerhoheit  gelangte, 
städtische  Commune  beschlossen,  die  Schatzung  nach  Teilen  der 
Stadt  sammeln  und  registrieren  zu  lassen,  dabei  aber  die  be- 
stehende kirchliche  Einteilung  zu  Grunde  gelegt  habe.  Dagegen 
spricht  aber  zunächst  schon  die  Analogie  der  Kölner  Verhält- 
nisse, wo  wir  ebenfalls  nach  ihren  Pfarrkirchen  benannte  Teil- 
gemeinden noch  zur  Zeit  der  Ratsverfassung  im  Besitz  einer 
selbständigen  Finanzverwaltung  finden.’)  Sicher  haben  hier 
aber  schon  vor  dem,  im  12.  Jahrhundert  erfolgten,  Zusammen- 
schlüsse der  Einzelgemeinden  zur  communitas  civium,  mit 
verwaltungsrechtlichen  Funktionen  ausgestattete  Selbstverwal- 
tungskörper bestanden.4)  Ähnliches,  nämlich  die  Existenz  von 
Sondergemeinden,  welche  den  in  den  Rechnungen  genannten 

‘)  Auf  dieselben  hat  Hegel  Mains  S.  91  aufmerksam  gemacht. 

*)  Vergl.  Lehne's  Karte  von  Mainz  im  Mittelalter  (Mainz  1824), 
auch  Scbaab  II  411. 

*)  Hoeniger  in  Annal.  d.  hist  Vrns.  f.  d.  Ndrrh.  Bd.  46  8.  94,  95. 

4)  Hoeniger  in  Westd.  Ztachr.  II  3.  230  und  IH  8.  60. 


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Pfarren  genau  entsprechen,  noch  ehe  sie  Bestandteile  der  vom  Rat 
beherrschten  Stadt  geworden,  resp.  ehe  ein  solcher  Rat  über- 
haupt entstanden,  lässt  sich  auch  für  Mainz  nachweisen. 

Unter  den  Pfarren,  deren  Steuererträge  1410/1411  gebucht 
sind,  befand  sich  auch  die  St.  Nicolausparochie.  Die  Pfarrkirche 
dieses  Namens  lag,  wie  schon  mitgeteilt,  ausserhalb  der  Stadt- 
mauern und  zwar  in  der  Vorstadt  Vilzbach,  welche  früher  erz- 
bischöfliches  Lehen  derer  von  Hohenfels  gewesen  und  im  Jahre 
1294  an  die  Stadt  gekommen  war.1)  Damals  war  bestimmt 
worden,  dass  die  bis  zu  dieser  Zeit  hörigen  Bewohner  von  Vilz- 
bach dasselbe  Recht  und  Gericht  wie  die  Mainzer  erhalten  sollten. 
Dass  sich  hier  kirchliche  und  weltliche  Gemeinde  vollkommen 
decken,  sehen  wir  daraus,  dass  in  Folge  dieses  über  die  Bewohner 
von  Vilzbach  geschlossenen  Vertrages  auch  das  erzpriesterliche 
Sendgericht  an  der  Nicolauskirche  aufhörte.  Die  früher  diesem 
Sende  unterworfenen  Personen  hatten  von  da  an  wie  die  üb- 
rigen Bürger  zu  Mainz  den  an  der  dortigen  Johanneskirche 
abgehaltenen  Send  zu  besuchen.*) 

Eine  andere,  die  Ignazpfarre,  entspricht  der  Gemeinde  Sel- 
hofen,*)  welche  beim  Mauerbau  im  Jahre  1200  mit  der  Stadt 
vereinigt  ist.4)  Vor  dieser  Vereinigung  wird  der  Ort  oft  zur 
näheren  Kennzeichnung  aus  ihm  stammender  Personen  dem  Na- 
uen derselben  hinzugefügt;5)  auch  bilden  die  dortigen  Wein- 
schröder (Ablader  der  Weinfässer)  noch  in  späterer  Zeit  eine 
besondere,  von  denen  der  Altstadt  getrennte,  Zunft.*) 

*)  Guden  Cod.  dipl.  I No.  414  p.  873  ssq.,  Würdtwein  Diplom.  Mogunt. 
(1788)  I No.  26  p.  47  und  No.  27  p.  48  vgl.  Schaab  I 241  ff,  II  411  und  Wagner 
WQstongen  in  Hessen  (Dannstadt  1865)  III  S.  109 — 116. 

*)  e.  Urk.  des  Arcbipresbyters  Heinricus  de  RodinBtein  in  Würdtwein 
Dioecesis  Mogunt.  (Mannhemii  1768)  I p.  30 — 32. 

*)  Guden  Cod.  dipl.  I 220  vergl.  Liebe  8.  46,  Wagner  a.  a.  0.  S.  186—188. 

*)  Schaab  I S.  183—186. 

*)  Ein  Verzeichnis  der  Personen,  deren  Namen  ein  in  Selboria  oder 
ähnliches  beigefügt  ist,  giebt  Nohlmanns  Vita  Amoldi  (Bonn  1871)  8.  12  ff, 
der  nur  irrtümlich  alle  diese  Personen  für  ans  einem  Geschlechte  stammend 
Mit,  vgl.  Hegel  Mainz  8.  38  N.  1. 

*)  Gewöhnlich  werden  sie  als  snperiores  viniscrotarii  seil,  de  Selhovia 
bezeichnet  cf.  Guden  Cod.  DI  p.  963  No.  596  a 1339  und  Baur  Hess.  Urk.  n 
p.  617  No.  620  a.  1302.  Nach  der  Sendsatzung  von  1300  (bei  Würdtwein  in 
dem  oben  N.  2 citierten  Buche  p.  27)  gab  es  im  ganzen  tres  societatee  der 
Weinschröder  in  Mainz. 


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96 


So  entsprechen,  mindestens  in  den  beiden  Fällen  von  St. 
Nikolaus-  und  St.  Ignaz,  den  in  den  Rechnungen  genannten  Pfar- 
ren weltliche  Specialgemeinden,  welche  schon  vor  ihrer  Ver- 
einigung mit  der  Stadt  nachweisbar  sind.  Wodurch  kommt  es 
aber,  dass  nur  sechs  der  zur  Steuereinsammlung  benutzten 
Stadtteile  den  Namen  einer  Parochie  tragen,  während  zwei 
aus  mehreren  Pfarrspielen  bestehen?  Vielleicht  ist  folgende 
Erklärung  richtig. 

Die  4 Pfarren,  „Dom,  zu  unsrer  Frauen.  St.  Johann  und 
St.  Mauricien“  scheinen  das  älteste  ummauerte  Stadtgebiet  ge- 
bildet zu  haben.  Hier  ist  demnach  vielleicht  die  Pfarreintei- 
lung überhaupt  erst  später  nach  dem  Muster  der  ländlichen 
Entwicklung  eingeffthrt  worden,  so  dass  sie  ohne  Einwirkung 
auf  die  weltlichen  Verhältnisse  blieb.  Ob  auch  bei  Odenmüns- 
ter und  St.  Paul  ein  ähnlicher  Grund  obgewaltet  hat,  wage  ich 
nicht  zu  entscheiden.  Auch  ist  es  durchaus  nicht  ausgeschlos- 
sen, dass  die  Zusammenfassung  der  Kirchspiele  in  den  Rech- 
nungen aus  einer  ganz  anderen  Ursache  herrührt.  Aus  der  in 
der  Beilage  gegebenen  Tabelle  ist  leicht  ersichtlich,  dass  gerade 
bei  den  mehrere  Kirchspiele  zusammenfassenden  Einträgen  die 
Steuerablieferungen  geringer  sind  als  bei  den  nur  aus  einem 
Kirchspiel  bestehenden  Steuerdistrikten.  Es  ist  dies  wohl  haupt- 
sächlich aus  der  Steuerfreiheit  der,  gewiss  besonders  zahlreich 
in  jenen  Bezirken  wohnhaften,  Geistlichen1)  und  ihrer  Diener- 
schaft zu  erklären.  Wie  stark  ist  nicht  in  den  Rechnungen  schon 
der  Abstand  zwischen  Pfarrspielen  wie  St.  Quintin,  bei  welchem 
als  erste  der  drei  Steuerablieferungen  des  Jahres  1410  nicht 
weniger  als  899  Pfund  verzeichnet  sind,  und  jene  vier  Pfarren, 
welche  gleichzeitig  zusammen  nur  60  Pfund  einbringen!  Wie  viel 
störender  würde  sich  die  Verschiedenheit  in  den  Rechnungs- 
summen noch  geltend  gemacht  haben,  weun  die  vier  Pfarren 
nicht  schon  in  Erhebung  und  Registrierung  zusammengefasst 
wären!  Welche  dieser  beiden  Erklärungen  für  die  aus  meh- 
reren Kirchspielen  bestehenden  Steuerbezirke  auch  vorzuziehen 
sein  mag,  so  viel  kann  doch  schon  als  Ergebnis  unserer  bis- 
herigen Untersuchung  betrachtet  werden,  dass  die  nach  Pfarren 
genannten  Teilgemeinden  nicht  erst  durch  den  Rat  geschaffen, 


')  Dom  und  Bischofshof  lagen  ja  in  diesen  Bezirken. 


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97 


resp.  dass  nicht  erst  durch  diesen  die  kirchliche  Einteilung  der 
Stadt  auch  verwaltungsreehtliche  Bedeutung  gewonnen  hat. 

Für  das  Bestehen  einer  Einteilung  der  Stadt  in  Special- 
gemeinden schon  zur  Karolingerzeit  kann  man  wohl  auch  eine 
Urkunde  ans  dem  Jahre  815  anführen,  in  welcher  in  der  Stadt 
Mainz  dem  Kloster  Hersfeld  unter  anderen  Grundstücken  auch 
ein  in  loco,  qui  dicitur  porta  S.  Quirini,  und  ein  anderes  in  loco, 
qui  dicitur  Bahhada  porta,  gelegenes  geschenkt  wird.1)  Ab- 
gesehen davon , dass  in  mehreren  italienischen  Städten 

z.  B.  in  Mailand  die  Teilgemeinden  oft  nach  den  „Haupttoren 
der  Stadt“  benannt  wurden,*)  findet  man  ganz  ähnliches  auch 
in  Deutschland  und  zwar  auf  fränkischem  Boden.  In  Aachen 
richteten  sich  die  Namen  der  groyschafen  (Grafschaften), 
wie  hier  die  Teilgemeinden  bezeichnet  werden,  grossen 
Teils  nach  den  Stadttoren:  von  Kolneyer  porze,*)  von  Bur- 
schider  porze,  von  Scharporze  etc.  Ebenso  haben  2 der 
fünf  Parentelen  in  Metz  nämlich  de  Porta  Salie  (Porte- 
Saillie)  und  de  Porta  Moselle  (de  Porte  - Muzelle)  ihren 
Namen  von  den  Stadttoren  erhalten.4)  Eine  solche  Be- 
zeichnung der  Stadtgemeinden  lag  auch  deshalb  nahe,  weil 
ja,  wie  von  Worms  gezeigt  ist,  eine  jede  Gemeinde  ein  be- 
stimmtes Stadttor  zu  bewachen  und  in  Stand  zu  setzen  hatte. 
Jedenfalls  kann  bei  der  oben  erwähnten  Mainz  betreffenden 
Stelle  die  porta  S.  Quirini  und  die  ßahhada  porta  nur  als  Ort, 
in  welchem  ein  Grundstück  gelegen  ist,  nicht  mehr  als  Tor 
aufgefasst  werden.  Es  ist  aber  auch  wohl  nicht  zu  gewagt, 
trotzdem  die  Stelle  in  der  Mainzer  Überlieferung  einzig  steht, 
nach  den  erwähnten  Analogien  in  den  beiden  Ortsnamen  schon 
zwei  Stadtbezirke  und  zugleich  zwei  der  später,  wenn  auch 

')  Scriba  Regesten  d.  Urk.  z.  Gsch.  v.  Hessen  (Darmst.  1847  ff.)  ITI  No.  758, 
Wenck  Hess.  Landesgeschichte  (Darmst.  1783  ff.)  II  Urkb.  S.  20  No.  15. 

')  Hegel  Ital.  Stadtverfassung  (Leipzig  1847)  II  218,  219  vgl.  auch 
Hilllinann  Städtewesen  des  Mittelalters  (Bonn  1826  ff.)  II  421  und  Ducange 
s.  v.  porta. 

*)  Gengler  Sdtrsaltrt.  S.  62. 

4)  ibid.  S.  63,  Heusler  Verfassungsgeschichte  d.  Stadt  Basel  S.  467.  Es 
kommt  hier  vorzugsweise  darauf  an,  nachzuweisen,  dass  solche  städtische 
Bezirke  überhaupt  nach  den  Stadttoren  benannt  werden  konnten.  Dagegen 
kann  hier  nicht  auseinandergesetzt  werden,  dass  inan  in  den  Metzer  Paren- 
telen und  ebenso  auch  in  den  Aachener  Grafschaften,  den  in  unseren  mittel- 
Ko  ahne,  Ursprung  der  Stadtverfassung  in  Worms,  Speier  und  Maiuz  7 


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98 


unter  anderen  Namen  bezeugten,  Specialgemeinden  zu  er- 
blicken. 

Wir  haben  oben1)  gesehen,  dass  die  Stadt  Mainz  noch 
1294.  also  als  sie  schon  lange  Befreiung  aller  ihrer  Bürger  von 
jeglicher  Art  hofrechtlicher  Abgaben  durchgesetzt,  die  bis  dahin 
dem  Hofrechte  unterworfene  Gemeinde  Yilzbach  als  gleichbe- 
rechtigt in  ihren  Bürgerverband  aufnahm. 

Auch  in  der  kirchlichen  Vermögensverwaltung  haben  sich 
die  Rechte  der  einzelnen  Mainzer  Gemeinden  ganz  verschieden- 
artig entwickelt,  ohne  dass  indess  auch  in  dieser  Hinsicht  nach 
Erringung  der  Stadtfreiheit  die  von  einigen  Gemeinden  erwor- 
benen Rechte  auch  von  den  übrigen  erreicht  wären. 

So  stand  z.  B.  in  der  Ignazpfarrei  die  Verwaltung  des 
Kirchenvermögens  der  Gemeinde  selbst  zu.  Hier  wird  näm- 
lich 1291  von  zwei,  als  Vertretern  derselben  fungirenden, 
Laien , den  magistri  fabrice  seu  procuratores  parochiae, 
dem  Wildwerker  Eberhard  und  dem  Oelhändler  Conrad 
Wolf,  eine  der  Kirche  gehörige  Geldrente  verkauft.')  In  der 
Christophsparochie  ging  die  Autonomie  der  Kirchengemeinde 
sogar  so  weit,  dass  dort  noch  in  viel  späterer  Zeit  der  Pfarrer 
von  den  curatores  ecclesiae,  also  Laien,  welche  die  Gemeinde 
zu  ihren  Vertretern  gewählt,  ernannt  wurde.')  Bei  anderen 
Pfarren  z.  B.  St.  Emmeran  standen  dagegen  der  Gemeinde  nicht 
solch  weitgehende  Rechte  zu.  Wir  sehen  dies  besonders  darans, 
dass,  als  das  St.  Petersstift  die  Nutzungen  der  Erameranspfarre 
und  die  Ernennung  des  dortigen  Plebans  1220  vom  Erzbischof 
Sigfrid  erhielt,  einer  Zustimmung  der  Gemeinde  oder  ihrer 
Vertreter  nicht  einmal  gedacht  wird.4) 


rheinischen  StRdten  entgegentretenden  analoge,  Specialgemeinden  d.  h.  auf 
ehemaliger  gemeinsamer  Ansiedlung  einer  ganzen  Sippe  und  Markgenossen- 
schaft beruhende  Selbstverwaltungskörper  mit  polizeilichen,  militärischen  nnd 
finanziellen  Funktionen  zu  sehen  hat.  Doch  hoffe  ich,  dass  sich  diese  Thatsache 
jedem,  der  die  in  diesem  Capitel  gegebenen  Ausführungen  mit  den  über 
Metz  und  Aachen  überlieferten  Nachrichten  vergleicht,  unmittelbar  er- 
geben wird. 

')  S.  95  mit  N.  1. 

*)  S.  Baur.  Hess.  Urk.  V No.  149  p.  131  mit  der  Note. 

*)  Joannis  Rerum  Moguntiacarum  vol.  I (Francof.  1792)  p.  76  No.  111. 

‘)  ibid.  U p.  472,  B-W  XXXII  362. 


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99 


Standen  so  alle  diese  Kirchen,  welche  durchgängig  schon 
lange  vor  der  Vereinigung  der  Teilgemeinden  existirten,  auch 
später  ausser  Verbindung  mit  dem  städtischen  Rate,  so  ist  es 
demselben  doch  gelungen , sich  an  einem  anderen  kirchlichen 
Institut  weitgehende  Rechte  zu  verschaffen.  In  dem  Privileg 
von  1244.  welches  man  als  das  zweite  Grundgesetz  der  Mainzer 
Stadtfreiheit  betrachten  kann,  lässt  sich  der  Rat  von  Erzbischof 
Sigfrid,  unter  anderem  das  Recht  bewilligen,  den  Priester  im 
Hospital  bindend  vorschlagen  und  absetzen  zu  können;  auch 
die  Vermögensverwaltung  dieses  Instituts  fiel  dem  Rate  zu.1) 

Übte  so  die  spätere  politische  Entwicklung  auch  auf  diese 
kirchlichen  Verhältnisse  namhaften  Einfluss  ans,  so  war  andrer- 
seits auch  früher  der  Übergang  der  Stadtherrschaft  auf  den 
Bischof  nicht  ohne  Einfluss  auf  die  innere  Verfassung  der 
Specialgemeinden  geblieben. 

Durch  die  bischöfliche  Stadtherrschaft  und  daneben  durch 
die  schon  ohnehin  den  Specialgemeinden  und  ihren  Beamten 
obliegenden  kirchlichen  Verpflichtungen  ist  es  erklärbar,  dass 
der  Mainzer  Erzbischof  den  Angehörigen  einiger  Innungen  für 
kirchliche  Leistungen  Befreiung  von  der  Pflicht  der  weltlichen 
Gemeindeämter,  speciell  des  Heimbnrgenamts,  gewähren  konnte. 

In  einer,  nur  aus  den  einfachen  Vorstellungen  primitivster 
Lebensführung  halbwegs  erklärbaren,  Weise  war  der  Heimburge, 
der  Inhaber  eines  nur  wenig  für  den  Müheaufwand  pecuniär 
entschädigenden,  oft  noch  zu  besonderen  Ausgaben  nötigenden  *) 
Amtes,  zugleich  Vorsteher  und  Diener  seiner  Gemeinde.*)  Er, 
der  Leiter  ihrer  Versammlungen,  ihr  Richter  und  Anführer 
musste  selbst  durch  Glockenläuten  sie  zusammenrufen,*)  ja  wohl 
auch  hier  und  da  der  Gemeinde  bei  Festen  aufwarten.5)  Es 

*)  B-W  XXXIII  504,  Gndenne  Cod.  I 581  § 5 mit  den  bei  B-W  a.  a.  0. 
gegebenen  Verbesserungen  Bodinanns:  coucedimus  . .,  quod  cousiliarii  civitatis 
habeant  plenariam  potestatem,  in  Hospitale  present&ndi  sacerdotem;  et,  si 
exegerint  culpae  suae,  mediante  auctoritate  uoatra  destituendi  eundem;  et 
administrationem  temporalium  committent  civibos  quibus  voluerint,  et  quos 
ad  hoc  viderint  expedixe. 

*)_  i.  B.  Einquartierung*-  u.  Bewirtungslasten  vgl.  Grimm.  W.  I 758, 
II  209,  456,  UI  820. 

*)  Lamprecht  S.  314,  Maurer  Dorfverfassung  U 20. 

*)  Grimm  W.  II  441,  466,  IH  821. 

*)  Lamprecht  I S.  314  vgl.  das  ibid.  8.  327  abgedruckte  Feiler  Einigsrecht, 

r* 


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100 


ist  also  nicht  wunderbar,  dass  bei  der  Änderung  der  socialen 
Anschauungen,  welche  notwendig  mit  der  Steigerung  der  mate- 
riellen Cultur  eintrat,  es  vorteilhafter  schien,  das  Heimburgen- 
amt nicht  übernehmen  zu  brauchen.  So  liess  sich  denn  die,  in 
Folge  der  frühen  Blüte  der  Weberei  in  Mainz  gewiss  zu  beson- 
derem Ansehen  gelangte,  Weberzunft  1099  vom  Erzbischof  mit 
Zustimmung  der  Gemeindebehörde  gegen  Übernahme  von  Repara- 
turen an  der  Stephanskirche  von  der  Verpflichtung  zum  Heim- 
burgenamt befreien;1)  zugleich  wurden  ihre  Mitglieder  auch 
davon  losgesprochen,  das  Schenkenamt,  das  hier  wie  es  scheint, 
als  Abzweigung  des  Heimburgenamts  auftritt,*)  annehmen  zu 
müssen.  Auch  wurde  den  Webern  gestattet,  in  der  genannten 
Kirche  ihren  Begräbnisort  zu  haben,  dagegen  sollten  sie  für 
die  Kerzen  und  andere  Bedürfnisse  derselben  Sorge  tragen. 
Die  Beaufsichtigung  dieser  Leistungen  wird  dem  Custos*)  der 
Kirche  übertragen. 

wo  es  in  §7  heisst:  „ sein  schuldig  der  erwehlter  newer  zender“  (und  die  an- 
deren Genieindebeamten)  „der  ganzen  gemeinden  bis  zu  end  des  glachs 
ufzu warten  n.  zu  dienen.“  Vgl.  auch  Grimm  W.  II  164  Weistm.  v.  Guten- 
berg 1498:  „Auch  soll  man  setzen  einen  heimbnrger,  der  soll  auch  dem  herm 
und  der  gemein  gehorsam  sein.“ 

■)  B-W  XXIV  27,  Joannis  Rer.  Mog.  (s.  oben  S.  98  N.  3)  II  518. 

*)  1.  c:  Relaxamus  eisdem  textoribus  dilo  officia,  qnae  rulgari  appelia- 
tione  appcllantur  Heimburgen  - Amt  et  Schechen  - Amt,  nt  liberati  et 
exonerati  ....  Hegel  Mainz  II  33  N.  4 u.  34  N.  2 erklärt  Schecben  — Amt 
filr  falsche  Lesung  statt  Schenkenamt,  insbes.  mit  Rücksicht  darauf,  dass  in 
der  unsere  Urk.  bestätigenden  von  1175  (s.  unten  8.  101  mit  N.  1)  die 
Weber  ausser  vom  Heimburgen-  auch  vom  Amt  des  Schenko  befreit 
werden.  So  auch  Liebe  S.  47.  Das  Schenkenamt  erklärt  Hegel  S.  34 
als  Aufsicht  über  den  öffentlichen  Weinschank  und  Liebe  bringt  es  mit 
der  den  Wormser  Heimburgen  zufallenden  Aufsicht  über  die  Gemässe  zusam- 
men. I)a  bei  dem  Schenken  hier  keinesfalls  an  das  bofrechtlicbe  Amt  des 
pincerna  zu  denken  ist  u.  wir  sonst  einen  Schenken  in  dieser  Bedeutung  nicht 
finden,  so  hätten  wir  in  seinem  Amte  eine  specielle  Mainzer  Abzweigung 
vom  Heimbnrgenamt  zu  erblicken.  Vielleicht  ist  deshalb  Waitz  V.  G.  VIII 
81  N.  1 zuzustimmen,  der  statt  schechenamt  scherschenamt  liest  und 
darin  das  weit  verbreitete  Amt  des  Schergen  o.  Büttels  findet,  das  anch  in 
Mainz  mehrfach  bezeugt  ist. 

*)  Hegel  Mainz  S.  33  übersetzt  Küster,  was  leicht  falsche  Vorstellung 
hervorrufen  kann.  Der  hier  gemeinte  custos  ist  vielmehr  einer  der  Canoniker. 
Derselbe  hat  nach  Hinschi us  Kirchenrecht  II  S.  103  insbes.  für  Beschaffung 
und  Aufbewahrung  der  gottesdienstlichen  Gerätschaften,  sowie  für  die  Be- 
leuchtung und  das  Geläute  in  der  Kirche  zu  sorgen;  an  vielen  Orten  und 


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101 


Nach  einer  Urkunde  Erzbischof  Christians  I *)  aus  dem 
Jahre  1175  wurde  damals  den  Webern  die  Befreiung  vom 
Heimburgeu-  und  Schenkeuamt  und  das  Begräbnis  in  der 
Stephanskirche  von  neuem  zugesichert,  dafür  aber  als  Gegen- 
leistung die  jährliche  Zahlung  von  2 Denaren  festgesetzt. 

Später  werden  dann  noch  die  Mainzer  Heimburgen  nur 
noch  zweimal  in  einer  Urkunde  von  1300 2)  erwähnt,  welche 
sich  damit  beschäftigt,  die  Pflicht  des  Sendbesuchs  und  der 
Feiertags-  und  Sonntagsruhe  für  die  einzelnen  Handwerker- 
innungen festzusetzen.  Als  Seudrichter  begegnet  uns  hier  der 
Erzpriester;  die  genannte  Satzung  beruht  auf  einem  von  ihm 
mit  den  Vertretern  der  Stadt  geschlossenen  Vertrage.  Vor 
das  Sendgericht  gehörte  bekanntlich  auch  die  Rüge  wegen  Ar- 
beit oder  Verkauf  am  Feiertage,  die  sich  doch  bei  ausgebilde- 
tem Markt-  und  Handelsverkehr  oft  schwer  vermeiden  lassen. 
Wie  sich  schon  früh  die  Gewohnheit  einstellte,  dass  die  Kirchen- 
busse vom  vermögenden  Sünder  abgekauft  wurde,8)  so  wird  in 
unserer  Urkunde  den  einzelnen  Innungen  Ausbleiben  vom  Sende, 
sowie  Arbeit  und  Verkauf  an  Feiertagen  gegen  feste  Natural- 
und  Geldlieferungen  vom  Erzpriester  gradezu  erlaubt.  In  diese 
Festsetzungen  nun  haben  auch  die  städtischen  Beamten,  die  in 
denselben  als  Vertreter  der  Stadt  figurieren,  einige  ihnen  selbst 
zu  machende  Leistungen  hineingebracht.  So  sollen  die  Waffen- 
schmiede dem  Schultheissen  jährlich,  wenn  die  Heimburgen  bei 
der  Emmeranskirche  eingesetzt  werden,  2 sol.  zahlen,  auch 
sollen  sie  dann  zwei  Schwerter,  eins  für  den  Schultheissen  uud 
eins  für  seinen  Mitrichter,  reinigen  uud  mit  neuen  Scheiden 
versehen.4)  Ob  diese  Gaben  der  Schwertfeger  eine  Entschädi- 
gung für  die  Nichtinanspruchnahme  als  Heimburgen  bildeten5) 

so  auch  gerade  in  Mainz  fiel  ihm  auch  die  SeeUorge  im  Stifte  selbst  zu  vgl. 
Hinschius  II  S.  105  N.  3,  (luden  Cod.  dipl.  I p 652  (B-W  XXXV  117). 

*)  B-W  XXXI  128  (Baur,  Hess.  Urk.  II  No.  12  p.  23). 

*)  Würdtwein  Dioec.  (in  dem  oben  S.  95  N.  2 citiert.  Buche)  I 20  ff., 
vgl.  Hegel  Mainz  S.  68  ff. 

*)  vgl.  Friedberg,  Aus  deutschen  Bussbüchem  (Halle  1868)  S.  29 — 31, 
Wasserschieben  Bussordnungen  (Halle  1851)  S.  28—30. 

*)  Würdtwein  ibid  p 22. 

*)  So  Liebe  8.  48 ; für  diese  Annahme  spricht,  dass,  wenn  sie  richtig,  von 
den  Waffenschmieden  für  Nichtinanspruchnahme  als  Heimburgen  dieselbe 
Summe  wie  von  den  Webern  gezahlt  wurde. 


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102 


und  so  also  auch  diese  Zunft  von  der  Verpflichtung  zur  An- 
nahme des  Heimburgenamtes  befreit  war,  oder  ob  hier  die  Heiui- 
burgenerneuuung  nur  zur  Zeitbestimmung  dient,  muss  dahin- 
gestellt bleiben. 

Die  zweite  Erwähnung  der  Heimburgen  in  der  genannten 
Urkunde  von  1300  lautet  folgender  Massen: 

sartores  magistri  inter  Gades,  ubi  panni  lanei  venduntur 
....  Archipresbyteri  synodum,  quin  Heimborgeu  facti 
sint,  nullatenus  frequentabmit,  ....*) 

Wahrscheinlich  ist  die  Stelle  so  zu  erklären,  dass,  wie  in 
deu  weltlichen  Hochgerichten  die  Heimburgen  oft  die  Schötfen 
bildeten,  so  auch  den  Mainzer  Heimburgen  in  deu  vom  Erz- 
priester über  die  Stadt  abgehalteuen  Sendgerichteu  vorzugs- 
weise die  Rolle  der  Sendzeugen  zufiel.4)  So  kounte  der  Besuch 
des  Sendes  deu  Gewandschneidern,  soweit  sie  nicht  gerade 
Heimburgen  waren,  erlassen  werden.  Erinnern  wir  uns,  dass 
die  Mainzer  Patricier  als  die  Alten  unter  deu  Gaden  bezeich- 
net wurden,3;  so  geht  aus  unserer  Stelle  hervor,  dass  auch  sie 
noch  ebensogut  wie  die  Handwerker  im  Jahre  1300  zu  Heim- 
burgen gewählt  werden  konnten.4) 

Eine  andere  Bestimmung  unserer  Satzung  über  die  Rechte 
des  Erzpriesters  bestätigt  die  früher  gemachte  Beobachtung, 
dass  die  Parochien  Selbstverwaltungskörper  mit  eigenem  Ver- 
mögen waren,  das  durchaus  nicht  ausschliesslich  bloss  kirch- 
lichen Zwecken  gewidmet  wurde.  Es  findet  sich  hier5)  näm- 
lich auch  folgende  Vorschrift: 

*)  Würdtwein  ibid.  p.  24. 

*)  vgl.  Ober  die  Sendzengen  Dove  in  Herzog’g  Realencyclopacdie  f. 
evang.  Theologie  s.  v.  Sende  Sendgericht  Bd.  XIV  S.  120  ff..  S.  125. 

*)  s.  oben  S.  65  mit  N.  3. 

*)  Ebenso  ist  der  Irrtum  Liebes  (S.  50)  zu  berichtigen,  dass  die,  in  den 
Rechnungen  von  1410  n.  1411  genannten,  Steuereinnehmer  der  einzelnen 
Pfarren  zilnftische  Ratsherrn  gewesen  sind.  Bei  einigen  wie  Peter  Wyde 
und  Jockei  Schenkenberg  lässt  sich  ihre  Zugehörigkeit  zu  den  Geschlechtern 
daraus  ersehen,  dass  sie  an  der  Ausfahrt  der  Patricier  aus  der  Stadt  im 
Jahre  1411  teilnahmen  (vgl.  Hegel  Stdchroniken  XVII  S.  46,  47);  andere  wie 
Orte  zur  Eiche,  Fryle  Genssfleisch , Humbrecht  werden  in  der  Liste  der 
Milnzerhauagenossen  von  1421  (ibid.  S.  352)  genannt  und  gehören  also  ebenso 
gewiss  znm  Patriciat. 

*)  p.  27,  28. 


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103 


Item  quelibet  parochia,  in  qua  Darre  iuveniuntur.  Archi- 
presbytero  singulis  anuis  dnos  solidos  solvere  tenebitur 
et  ultra  boc  parochiani  illius  parochie  uou  suut  per 
Archipresbyterum  cobercendi. 

Wir  haben  dies  gewiss  so  zu  verstehen,  dass  die  Arbeit 
an  den  Darren  d.  h.  das  heute  sog.  Bosten  der  Flachsfasern 
am  Feiertag  nicht  unterbrochen  werden  konnte,  und  dass  die 
Specialgemeinden,  in  deren  Bezirk  diese  Industrie  betrieben 
wurde,  ihren  Mitgliedern  gegen  eine  jährliche  Abgabe  ein  für 
allemal  die  Erlaubnis  zu  dieser  Feiertagsarbeit  verschafften. 
Liebe  *)  behauptet,  dass  diese  Abgabe  der  Feuersgefährliclikeit 
der  Darrenanfertigung  wegen  gezahlt  werden  musste.  Dagegen 
spricht  aber,  dass  in  unserer  Urkunde  sonst  nur  *)  Bestimmungen 
über  Sendbesuch  und  Feiertagsruhe,  resp.  wegen  Überschreitung 
dieser  Pflichten  festgesetzte  Abgaben  enthalten  sind.  Dem 
Erzpriester  stand  auch  zu  keiner  Zeit  „die  ganze  Polizeigewalt“ 
derart  zu,  dass  er  auch  über  Vermeidung  von  Feuersgefahr 
hätte  wachen  müssen.  So  viele  Verbrechen  des  weltlichen 
Rechts  auch  vor  das  Sendgericht  gezogen  sind,  andere  als 
solche,  deren  Vermeidung  auch  als  religiös-sittliche  Pflicht  an- 
gesehen wurde,  sind  doch  nie  vor  den  geistlichen  Richter 
gekommen. 

Für  uns  ist  aber  diese  Stelle  deshalb  besonders  wichtig, 
weil  wir  hier  die  Specialgemeinden  für  die  Erwerbstätigkeit 
ihrer  Mitglieder  gegen  aus  geistlichen  Anschauungen  erwach- 
sende Henmisse  eintreten  sehen,  wozu  es  bei  ländlichen  Ge- 
meinden nie  gekommen  zu  sein  scheint.  Die  geschützte 
Tätigkeit  ist  ja  auch  eine  industrielle.  So  treten  hier  die 
Specialgemeinden  in  der  Fürsorge  für  die  heimischen  Gewerbe 
geradezu  als  Vorläufer  der  späteren  städtischen  Regierungen 
auf,  welche  bekanntlich  zuerst  unter  allen  politischen  Gewalten 

‘)  S.  49  unter  Bezugnahme  auf  die  vom  Stadtherm  u.  Bat  erlassene 
Stadtordnung  von  Hüfingen  ans  dem  Jahr  1452,  in  der  allerdings  das  Anferti- 
gen von  Darren  aus  Gründen  der  Wohlfahrtspolizei  überhaupt  verboten  wird. 

*)  p.  24  unt.  u.  25  ob.  wird  allerdings  gesagt,  dass  nicht  dem  Erzpriester, 
sondern  dem  Marktmeister  die  Bestrafung  wegen  Feilbietens  verdorbenen 
Fleisches  zustebt.  Dergleichen  konnte  man  aber  wohl  als  unter  den  Delicts- 
begriff  des  Meinkaufs  fallend  ansehen  und  demnach  unter  die  geistliche  Ge- 
richtsbarkeit ziehen,  wenn  auch  speciell  nach  dieser  Stelle  in  Mainz  der  geist- 
lichen Behörde  diese  Competenzerweiterung  nicht  gelungen  ist 


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104 


die  Gewerbepolitik  zu  einer  ihrer  hervorragendsten  Aufgaben 
gemacht  haben.  Fassen  wir  zum  Schlüsse  die  für  Mainz  ge- 
fundenen Resultate  kurz  zusammen,  so  können  wir  constatieren, 
dass  die  dortigen  Specialgemeinden  entschieden  vor  der  Rats- 
verfassung und  höchst  wahrscheinlich  schon  in  der  Karolinger- 
zeit bestanden  haben.  Werden  sie  auch  häufig  nach  den  Pfarr- 
kirchen genannt  und  finden  wir  auch  einzelne  Mainzer 
Gemeinden  im  Besitz  weitgehender  Rechte  an  der  kirchlichen 
Vermögensverwaltung,  so  kann  die  kirchliche  Thätigkeit  doch 
weder  als  der  ursprüngliche  noch  als  der  hervorragendste  Zweck 
der  Mainzer  Specialgemeinden  angesehen  werden.  So  konnten 
auch  unter  ihren  Funktionen  neben  diesen  kirchlichen  vor  allem 
finanzielle  und  gewerbliche  nachgewiesen  werden. 

Wie  in  Mainz,  so  müssen  wir  auch  in  Worms  von  der 
kirchlichen  Einteilung  ausgehen,  da  die  Specialgenieinden  fast 
immer  nach  Pfarrkirchen  bezeichnet  werden.  Die  Einteilung 
in  Pfarrgemeinden  tritt  uns  in  Worms  am  frühesten  in  einer, 
freilich  in  ihrer  Echtheit  bezweifelten,  Urkunde  von  1016  *)  ent- 
gegen. Hier  wird  die  damals  gestiftete  Pfarrei  St.  Paul  quarta 
parochia  civitatis  genannt.  Damit  stimmt  überein,  dass  in 
einer  späteren  Urkunde  *)  Bischof  Adalbert  im  Jahre  1080  sagt, 
dass  schon  von  seinen  Vorgängern  Burchard  und  Arnold  die 
Stadt  in  4 Parochien  geteilt  sei.  Jedenfalls  sind  auch  die 
späteren  vier  Stifte  der  inneren  Stadt,  der  Dom,  der  St.  Peter 
geweiht  war,  St.  Paul,  St.  Andreas  und  St.  Martin,  nach  der 
Biographie  Burchards  *)  zu  seiner  Zeit  teils  vollendet,  teils 
wenigstens  zu  bauen  begonnen  worden. 

Daneben  baute  dieser  Bischof  auch  schon  die  Taufkirche 
St.  Johannes,*)  welche  später  in  der  Parochie  des  Domes  zur 

')  U 43  Wattenbach  bezeichnet  sie  in  Ztachr.  f.  Gesch.  d.  Oberrh.  24 
S.  152  allerdings  als  Fälschung,  Boos  Worms.  Urkb.  S.  35  meint,  dass  dies 
Document  zwar  erst  am  Anfänge  des  XII.  J&hrh.  geschrieben  ist,  ihm  aber 
eine  echte  Aufzeichnung  zu  Grunde  liegt. 

*)  ü.  57. 

•)  c.  9,  14,  15,  16,  20  (S.  S.  IV  p 837,  839,  840,  844)  vgl.  Arnold  V.  G. 
I 66-59. 

4)  Schann.  I 333  wohl  nach  verlorener  Quelle:  sacris  aedibus  . . a novo 
construendis  intendit,  nam  prope  Templum  maius  iacta  fuere  octogonalis  Ba- 
silicae  fundamenta  vgl,  ibid  62  u.  Arnold  V.  G.  I 58.  Die  erhaltene  Vita 
Burchardi  spricht  allerdings  von  dieser  Kirche  nicht. 


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105 


alleinigen  Pfarrkirche  geworden  ist.  Während  nämlich  nach 
der  Urkunde  von  1080  am  Ende  des  11.  Jahrhunderts  die 
regelmässigen  Pfarrfuuktionen  noch  den  vier  Stiftskirchen, 
höchstens  eben  mit  Ausnahme  des  Domes,  zugefallen  zu  sein 
scheinen,  sind  im  13.  und  14.  andere  Kirchen  an  deren 
Stelle  getreten.  St.  Peter,  St.  Paul,  St.  Andreas  und  St.  Mar- 
tin finden  wir  vom  12.  Jahrhundert  ab  nicht  mehr  als  Pfarr- 
kirchen erwähnt.  Dagegen  kommen  in  einer  Urkunde  von 
1380 l)  folgende  7 Pfarrkirchen  zu  Worms  vor:  St.  Johann, 
St.  Magnus,  St.  Amand,  S.  Cäcilia,  St.  Michael,  St.  Andreas 
auf  dem  Berge,  St.  Lamprecht.  In  der  übrigen  Überlieferung 
findet  sich  nur  noch  eine  achte  nämlich  St.  Kupert*)  erwähnt. 
Von  diesen  Pfarrkirchen  nun  liegen  vier,  s.  Andreas  in  monte, 
s.  Amand.,  s.  Michael.,  s.  Caecilia,  in  den  Vorstädten ; die  vier 
anderen  in  der  inneren  Stadt.  Nach  diesen  in  der  inneren  Stadt 
gelegenen  Pfarrkirchen  werden  auch  Teile  der  Bürgerschaft  ln 
weltlicher  Rücksicht  genannt.8)  Daneben  finden  wir  aber  auch 
einmal8)  parochiae  s.  Petri  et  s.  Andreae  als  medietas  civitatis 
erw.ähut.  Es  erklärt  sich  dies  dadurch,  dass  jede  der  vier 
innerstädtischen  Pfarrkirchen  zu  einer  der  alten  Stiftskirchen 
in  besonderer  Beziehung  steht.  So  wird  z.  B.  schon  1141  bei 
einer  Aufzählung  der  Besitzungen  des  Stiftes  St.  Andreas  da- 
runter auch  die  Magnnskirche  genannt.8)  Die  Einkünfte  dieser 
Kirche  fielen  der  Propstei  des  Stiftes  zu,  bis  sie  1238  vom 
Propste  Gerhard  unter  bischöflicher  Zustimmung  ausdrücklich 
dem  Stifte  selbst  übertrageu  wurden.6)  Doch  hat  diese  Ver- 
fügung schwerlich  dauernde  Geltung  erlangt,  da  18  Jahre 
später  ein  anderer  Propst  von  St.  Andreas  das  volle  Patronat 
über  S.  Magnus  mit  Vorbehalt  nur  der  Oathedral-  und  Archi- 
diakonatsrechte  von  neuem  an  sein  Stift  überträgt.7)  Dass 
dem  Capitel  von  St.  Andreas  von  da  an  die  Wahl  und  Reprä- 
sentation des  Pfarrers  an  der  Magnuskirche  freistehen  sollte, 
wird  dabei  ausdrücklich  hervorgehoben. 


>)  Baur  Hess.  Urk.  V N.  495  8.  465. 

*)  z.  B.  ü 296  a 1261. 

*)  Boehmer  Font  II  p 206. 

4)  ibid  p 188. 

*)  Baur  Hess.  Urk.  II  N.  6 p 11. 

•)  U 195. 

*)  Baur  ibid  H N.  145  S.  137  cf.  U 269. 


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106 


In  ähnlicher  Weise  standen  dem  Propste  von  St.  Martin 
Patronatsrechte  auf  die  Kirche  St.  Lambert  zu,  welche  am 
Ende  des  12.  Jahrhunderts  von  dem  Propste  Sigfrid  von 
Eppenstein,  dem  späteren  Mainzer  Erzbischof  Sigfrid  II,  an 
das  Decanat  von  St.  Martin  derart  übertragen  wurden,*)  dass 
der  dortige  Decan  stets  zugleich  der  Pfarrer  von  St.  Martin 
sein  sollte. 

Über  die  Ruprechtskirche  hatte  das  Paulsstift  das  Patro- 
nat, das  jedoch  hier  nicht  dem  Propst,  sondern  dem  Cnstos  zu- 
stand.  Wir  ersehen  dies  aus  einer  Urkunde,*)  in  welcher  der 
Erzbischof  von  Mainz  als  Schiedsrichter  zwischen  dem  Propste 
Marquard  und  dem  (Justos  Heinrich  des  genannten  Wormser 
Stiftes  fungiert  und  dabei  dem  ersteren  das  Patronat  an  der 
Ruprechtsparochie  zuspricht,  da  Zeugen  und  Privilegien  die 
Gerechtigkeit  seiner  Sache  erwiesen  hätten.  Ein  custos  Hein- 
rich 3)  von  St.  Paul  schenkte  alsdanu  seine  Patronatsrechte  au 
S.  Rupert  seinem  Capitel  und  diese  Schenkung  wurde  vom  Bi- 
schof Lupoid,  sowie  dessen  Nachfolger  Laudolf  bestätigt.4)  Da- 
nach konnten  die  Canoniker  von  St.  Paul  zur  Stelle  des  Ple- 
bans  an  der  Ruprechtskirche  einen  aus  ihrer  Mitte  oder  auch 
einen  fremden  dem  Archidiacon  präsentieren  : der  so  eingesetzte 
Pleban  musste  dann  mit  der  ihm  zugewiesenen  Präbende  zu- 
frieden sein,  während  die  Einkünfte  der  Ruprechtskirche  an 
das  Capitel  fielen. 

Auf  enge  Beziehungen  der  Johanneskirche  zum  Dom  deutet 
schon  ihre  Lage  neben  demselben.5)  Damit  stimmt  überein, 
dass  Dach  Schannats6)  Bericht  auch  ihr  Patronat  dem  Custos 
des  Domes  zustand  und  daun  1264  an  Capitel  und  Decan  des- 
selben überging.  So  steht  also  von  den  4 Pfarren  der  inneren 
Stadt  die  Magnuskirche  unter  dem  Patrouate  des  Andreasstiftes, 


■)  B-W  XXXII  138,  W.  U 114. 

*)  B-W  XXX  306,  W.  U 95  a 1194. 

s)  Ob  es  derselbe  gewesen,  dem  dfts  Patronat  1194  zngesprochen,  lässt 
sieb  nicht  ermitteln. 

*)  U 196  a 1239. 

•)  Vgl.  Wagner,  Qeistl.  Stifte  Hessens  II  S.  466.  So  wird  auch  die 
Pfarrkirche  S.  Ruprecht  in  U 296  als  der  Stiftskirche  8.  Paul  benachbart  (con- 
tigua)  bezeichnet. 

•)  I p 64  § I 1. 


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107 


St.  Lambert  unter  dem  des  Martin-,  St.  Ruprecht  unter  den 
des  Pauls-,  St.  Johannes  unter  dem  des  Domstiftes.  Diese 
engen  Beziehungen  zwischen  Stifts-  und  Pfarrkirchen,  sowie 
das  Verschwinden  der  ersteren  als  Pfarren  drängen  zu  der  An- 
nahme. dass  überhaupt  nur  der  Ort  der  Sacramentsspenduug, 
keineswegs  aber  die  kirchliche  Einteilung  der  inneren  Stadt 
sich  vom  11.  bis  zum  14.  Jahrhundert  verändert  hat.  Dem- 
nach konnte  auch  in  der  Bürgerchronik  noch  1250  von  den 
parochiae  St.  Petri  und  St.  Audreae  gesprochen  werden,  *)  da 
diese  alten  ßezeichungen  sich  gewiss  noch  hielten,  auch  als  die 
Pfarrfuuktionen  schon  an  St.  Johann  und  S.  Magnus  überge- 
gangen waren. 

Der  Umstand,  dass  so  die  Wormser  Pfarrspreugel  vom 
11.  bis  14.  Jahrhundert,  während  in  der  inneren  Stadt  sicher 
eine  bedeutende  Bevölkerungszuuahnie  stattfand,  ungeteilt 
blieben,  muss  uns  überhaupt  gegen  die  Annahme  von  Teilungen 
städtischer  Pfarrspreugel  kritisch  machen.  Mit  den  Vorstädten 
sind  dagegen  neue  Pfarren  zu  denen  der  inneren  Stadt  hinzu- 
gekommen. Dadurch  wird  es  freilich  sehr  auffällig,  dass  noch 
1250  St.  Peter  und  Andreas,  1270  Ruprecht  und  Lambert  als 
medietas  civitatis  bezeichnet  werden  konnten.  Vielleicht  können 
wir  dies  damit  in  Zusammenhang  bringen,  dass  gerade  in  Worms 
die  vorstädtischen  Pfauen,  die  allmählich  wirtschaftlich“)  und 
rechtlich 3)  der  Stadt  amalgamiert  wurden,  kirchlich  schon  früher 
mit  ihr  eug  znsammenhiugen.  Gewiss  haben  zwei  und  höchst 
wahrscheinlich  alle  vier  vorstädtischen  Wormser  Pfarren  in 
Abhängigkeit  und  enger  Beziehung  zu  den  innerstädtischen 
Stiftskirchen  gestanden.  Sie  haben  wohl  im  elften  Jahrhundert, 
als  noch  die  Stiftskirchen  die  eigentlichen  Pfarrfunktionen  be- 
sassen,  zu  diesen  gehört  und  sind  erst  allmählich  vom  Zusam- 
menhänge mit  ihnen  gelöst  worden. 

Besonders  deutlich  tritt  das  bei  der  Pfarrkirche  s.  Andreas 
in  moute  (pfarre  uf  s.  Andresbergen)  hervor.  An  ihrer  Stelle 
stand  zu  Burchards  Zeit  eiue  Stiftskirche.  Dieser  verpflanzte 
ihre  Kanoniker,  als  er  durch  die  Wiederherstellung  der  Um- 


*)  Boehmei  Fontes  II  p 188. 

*)  cf.  Bauer  Hess.  Urk.  II  N.  86  a 1207  vgl.  unten  Cap.  IX. 
*)  cf.  U 202  vgl.  unten  a.  a.  0. 


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mauerung  das  Stadtgebiet  mehr  von  der  Umgegend  abgeschlossen, 
der  grösseren  Sicherheit  halber  in  die  innere  Stadt,  wo  er  fi'tr 
sie  die  Kirche  St.  Andreas  baute.1)  Die  alte  Kirche  ausser- 
halb der  Mauern  aber  bestand  weiter  und  blieb  im  Eigentum 
des  Stiftes.  Im  Jahre  1243  tritt  sie  uns  als  Pfarrkirche  ent- 
gegen.*) Auf  dem  zu  ihr  gehörigen  Kirchhof  wurden  auch  die 
Bewohner  des  innerstädtischen  Pfarrsprengels  S.  Magnus,  der 
ja  auch  unter  dem  Patronat  von  Andreas  stand,  begraben.*) 

In  dem  genannten  Jahre  1243  wurde  dann  das  Patronats- 
recht von  St.  Andreas  in  monte  durch  Vergabung  des  Propstes 
Gerhard  von  St.  Andreas3)  dem  ebenfalls  auf  dem  Andreasberge 
gelegenen  Kloster  der  Reuerinneu  übertragen.  Der  von  diesen 
gewählte  Propst  sollte  künftig  auch  Pleban  der  genannten 
Pfarre  sein. 

Das  Patronat  von  S.  Amand  stand  dem  Decan  und  Ka- 
pitel der  Domkirche  zu;  wir  sehen  dieselben  nämlich  1283  die 
genannte  Pfarre  dem  Frauenkloster  Himmelskrone  in  Hochheim 
gegen  eine  jährliche  Gülte  von  50  Maltern  abtreten.4) 

Die  beiden  noch  übrigen  vorstädtischen  Pfarrkirchen  stehen 
nach  den  uns  überlieferten  Urkunden  im  dreizehnten  Jahr- 
hundert in  Abhängigkeit  von  dem  in  einer  Vorstadt  von 
Worms  gelegenen  Kloster  Nonnen- Münster.  Das  Patronate 

der  Cäcilienkirche  wird  1253  von  der  Abtissin  au  die 
Nonnen  des  genannten  Klosters  abgetreten,1)  während  ebendiese 
in  demselben  Jahre  das  Patronat  von  St.  Michael  dem  Bischof 
überlassen.0)  Wir  haben  aber  oben  gesehen,  dass  zwei  der 
vorstädtischen  Pfarrkirchen  ursprünglich  dem  Patronate 
städtischer  Stifte  unterworfen  waren  und  dann  im  13. 
Jahrhundert  in  der  Nähe  von  Worms  gelegenen  Frauenklöstern 
incorporirt  wurden.7)  Es  kann  für  im  hohen  Grade  wahr- 

*)  s.  Vita  Bnrchardi  c.  16  (SS  IV  p 840)  cf.  Wagner  II  436. 

*)  ü 209. 

•)  ibid  ct  Wagner  Stifte  II  86. 

*)  Baur  Hess.  Urkb.  V N.  125  p 109  vgl.  auch  W U 411  u.  Wagner 

a.  a.  0.  S.  63. 

*)  W U 241,  242  vgl.  Wagner  a.  a.  0.  S.  166,  167. 

*)  So  Schannat  I 65. 

’l  Über  das  seit  dieser  Zeit  häufige  Vorkommen  solcher  Incorporationen 
von  Pfarrkirchen  an  Klfister,  um  diesen  die  Mittel  ihres  Unterhalts  zu  ge- 
währen, vgl.  Hinscbius  II  445. 


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scheinlich  gelten,  dass  auch  bei  den  letztgenannten  vorstädtischen 
Pfarrkirchen,  St.  Michael  und  St.  Cäcilia,  etwas  ähnliches 
geschehen,  dass  sie  also  auch  früher  unter  städ tischen  Stiften 
gestanden  haben. 

Es  lässt  sich  demnach  annehmen,  dass  die  ursprünglichen 
Pfarrbezirke  im  wesentlichen  das  Gebiet  der  städtischen  und 
vorstädtischen  Patronatsrechte  der  vier  Stiftskirchen  hatten,  in 
denen  wir  die  ursprünglichen  Pfarrkirchen  zu  erblicken  haben. 
Dann  ergiebt  sich  eine  bemerkenswerte  Übereinstimmung  der 
in  der  Bürgerchronik  des  13.  Jahrhunderts  und  auch  sonst 
hervortretenden  Einteilung  der  Stadt  in  vier  Parochien , welche 
wir  stets  zu  rein  weltlichen  Zwecken  benutzt  sehen,  und 
der  ursprünglichen  kirchlichen  Einteilung. 

Solche  Übereinstimmung  schliesst  wohl  gänzlich  die  Ansicht 
aus,  dass  diese  weltliche  Einteilung  erst  im  13.  Jahrhundert 
oder  nicht  lange  vorher  im  Anschluss  an  die  Kirchsprengel  ge- 
schaffen sei;  es  wäre  ja  gamicht  einzusehen,  warum  damals 
ein  Anschluss  an  die  frühere  kirchliche  Einteilung  in  4 statt 
des  an  die  zu  jener  Zeit  bestehende  in  8 Sprengel  gewählt  worden. 
Es  wäre  dies  um  so  auffallender,  als  wir  Zeugnisse  dafür  haben, 
dass  die  Laien  an  den  neugeschaffenen  kleineren  Kirchsprengeln 
nicht  nur  durch  Unterwerfung  unter  den  Pfarrzwang,  sondern  auch 
durch  Beteiligung  an  der  kirchlichen  Vermögensverwaltung, 
sowie  der  geistlichen  Gerichtsbarkeit  erheblich  interessiert 
waren.  Es  hätte  doch  den  Wormser  Bürgern  gerade  desshalb 
auch  noch  näher  gelegen,  ihre  weltliche  Organisation  der  be- 
stehenden kirchlichen  analog  zu  gestalten,  wenn  sie  die  welt- 
liche erst  damals  geschaffen  hätten.  Andrerseits  haben  diese 
wenigen  überlieferten  Nachrichten  von  Autonomie  der  kirch- 
lichen Gemeinden  um  so  mehr  Interesse,  als  sie  das  Bild  der 
kirchlichen  Verwaltung,  welches  die,  doch  ganz  überwiegend 
aus  Urkunden  geistlicher  Provenienz  herrührende,  Überlieferung 
sonst  in  uns  hervorrufen  könnte,  erheblich  raodificieren.  Kann  es 
doch  gerade  nach  dem  oben,  bei  Gelegenheit  der  Feststellung 
der  Patronatsverhältnisse  der  Wormser  Kirchen,  mitgeteilten 
nur  all  zu  leicht  scheinen,  als  ob  in  Worms  die  gesammte 
Kirchenverwaltung  in  der  Hand  der  Geistlichkeit,  teils  des  Bi- 
schofs, teils  der  in  Besitz  der  Pfarrpatronate  befindlichen  geist- 
lichen Dignitäre  und  Stifte,  gewesen  sei.  Dass  dies  aber  nicht 


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der  Fall  war,  erhellt  insbesondere  aus  folgendem  Beispiele. 
Wir  haben  gesehen,  dass  die  Pfarrei  St.  Michael  unter  dem 
Patronate  des  Klosters  Nonnenmfinster  uud  vorher  höchst  wahr- 
scheinlich unter  dem  eines  der  städtischen  Collegiatstifte  stand. 
Im  Jahre  1300  ttberliess  der  Decau  des  Domkapitels  mit  dessen 
Zustimmung  den  iurati  und  der  Universitas  parochiae  s.  Micha- 
elis einen  neben  ihrem  Kirchhofe  gelegenen  Garten  gegen  eine 
jährliche  Rente  von  18  Unzen;1)  zur  Sicherung  dieser  Rente 
verpfänden  nun  die  iurati  den  Garten  und  zwei  benachbarte 
der  Pfarrgemeinde  gehörige  Häuser.*)  Demnach  tritt  also  als 
Subjekt  des  Pfarrvermögens  nicht  der  Patron,  sondern  die  Ge- 
meinde auf  und  die  freie  Verfügung  über  dasselbe  steht  einem 
Ausschüsse  der  Gemeinde,  den  iurati  parochiae,  zu. 

Ein  anderes  Beispiel  von  Organisation  des  Laienelements 
innerhalb  der  kirchlichen  Pfarrsprengel  bietet  uns  eine  Urkunde 
von  1243.  Hier*)  wird  seitens  des  Wormser  geistlichen  Gerichts 
das  Recht  des  Plebans  von  St.  Magnus  gegen  widerstrebende  Ge- 
meindemitglieder mit  Strafen  vorzugehen,  festgestellt,  dabei 
aber  ausdrücklich  betont,  dass  er  ohne  Zustimmung  der  iurati 
parochiae  keine  Excommunikation  aussprechen  darf.  Besonders 
beachtenswert  ist  dabei  auch,  dass  die  hier  urkundenden 
Richter  dem  Clerus  angehören.  Keinesfalls  wird  die  Entschei- 
dung derselben  den  Laien  mehr  Rechte  zugesprochen  haben, 
als  ihnen  in  dieser  Zeit  zu  Worms  wirklich  von  der  Geistlich- 
keit eingeräumt  waren. 

Für  uns  sind  diese  Beispiele  der  Teilnahme  des  Laien- 
elements an  der  Pfarrverwaltung  von  St.  Michael  und  St.  Mag- 
nus darum  wichtig,  weil  sie  zeigen,  dass  die  Einteilung  in  die  vier 
Parochien  seitens  der  weltlichen  Verwaltung  der  bestehenden  kirch- 
lichen Pfarrteilung  nicht  nachgebildet  ist,  da  wir  sonst  auch 
in  der  weltlichen  Einteilung  acht  Parochien  haben  müssten. 
So  spricht  alles  dafür,  dass  auch  in  Worms  wie  in  Köln  und 


')  U 506. 

•)  ibid  vgl.  auch  den  von  Boos  bei  dieser  Gelegenheit  (S  339  Z.  4t)  er- 
wähnten, von  ihm  leider  nicht  abgedrnckten,  Gegenbrief  der  inrati  iiarochie 
s.  Hichalielis. 

•)  U 20Ö. 


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Erfurt  die  Specialgemeinden  weit  älter  sind  als  die  Ratsver- 
fassung. Als  Aufgabe  dieser  Sondergemeinden  in  Worms  ist 
uns  schon  im  zehnten  Jahrhundert  die  Ausbesserung  und  Be- 
wachung eines  Teils  der  Mauern,  welche  zu  diesem  Zwecke 
unter  die  einzelnen  städtischen  und  die  benachbarten  ländlichen 
Gemeinden  geteilt  waren,  entgegengetreten.  Damit  stimmt  über- 
ein, dass  im  dreizehnten  Jahrhundert  nach  den  gleichzeitigen 
Aufzeichnungen  der  Bürgerchronik  in  der  Regel  uur  je  zwei 
Sondergemeinden  znm  Kampf  ausgezogen  zu  sein  scheinen,  wäh- 
rend die  beiden  anderen  in  der  Stadt  zurückblieben.1)  So  bil- 
deten also  die  Mannschaften  jeder  Specialgemeinde  eine  beson- 
dere Heeresabteilung. 

Dass  mit  diesen  militärischen  Funktionen  die  aus  älterer 
Zeit  überkommene  Bedeutung  der  Wormser  Specialgemeinden 
im  12.  und  13.  Jahrhundert  noch  lange  nicht  erschöpft  ist, 
folgt  sicher  aus  anderen  Nachrichten.  Doch  bleiben  trotz  der- 
selben noch  viele  Zweifel  und  Ungewissheiten  im  Einzelnen, 
namentlich  deshalb,  weil  wir  bei  den  meisten  dieser  Nachrichten 
weder  die  Entstehnngszeit  feststellen  können,  noch  auch  diplo- 
matische und  historische  Treue  unserer  Überlieferung  irgend- 
wie sicher  ist.  Die  hier  in  Betracht  kommenden  Documente, 
welche  uns  über  die  Verwaltungstätigkeit  der  Wormser 
Specialgemeinden  und  ihrer  Vorsteher,  der  Heimburgen,  Kennt- 
nis geben,  sind  nämlich  nur  in  späten  Abschriften  und  Über- 
arbeitungen erhalten.  Am  wichtigsten  ist  ein  uns  in  einer 
Niederschrift  des  17.  Jahrhunderts  erhaltenes  Fragment  einer 
Urkunde,  welches  sich  selbst  als  Auszug  aus  einem  der  Stadt 
erteilten  Privileg  Heinrichs  VI®)  giebt. 

Daneben  kommt  hier  noch  eine  Beschreibung  der  städtischen 
Ämter  erheblich  in  Betracht,  die  inhaltlich  etwa  dem  dreizehnten 
Jahrhundert  entspricht.  Boehmer  hat  dieselbe  nach  eiuer 
Niederschrift  des  17.  Jahrhunderts,  welche  sich  selbst  als  Ex- 
trakt einer  alten  Wormser  Chronik  giebt,  in  den  annales  Wor- 
matienses  veröffentlicht.®)  Zur  Ermittlung  der  Entstehungszeit 


•)  Boehmer  Fontes  II  p 182,  188,  206  vgl.  Liebe  S.  46. 
*)  Boehmer  ibid  p 215,  216. 

*)  ibid  p 210  Z.  7-214  Z.  2 cf.  ibid.  p XXII  c. 


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112 


dieser  Ämterbeschreibung  können  zwei  die  Familie  der  Kämmerer 
von  Worms,  der  späteren  Dalbergs,  betreffende  Notizen  dienen;1) 
dieselben  stammen  aus  dem  Jahre  1483  oder  84.®)  Arnold s) 
verlegt  desshalb  auch  die  Entstehung  der  ganzen,  die  Beamten 
behandelnden,  Fragmente  in  das  15.  Jahrhundert;  es  ist  dies 
auch  entschieden  richtiger  als  die  Ansicht  Kösters,4)  welche  den, 
die  Notizen  über  die  Dalbergs  enthaltenden,  Artikel  de  origine 
camerariorum  Wormatiensium  als  später  entstanden  aus  den 
übrigen  angeblich  im  13.  Jahrhundert  verfassten  Aufzeichnungen 
ausscheidet.  Dass  alle  diese  Nachrichten  durchaus  nicht  gleich- 
zeitiges, sondern  etwas  vergangenes  berichten,  ergiebt  sich  nämlich 
schon  aus  der  häufigen  Wahl  des  Imperfects  z.  B.  in  Camerarius 
. . possidebat  tria  placita  super  curia,5)  Tenebatur  quoque  dare 
multis  militibus  libras  . quorum  (lies  quarum)  summa  fuit . . . ®) 
Daneben  findet  sich  freilich  vielfach  auch  das  Futurum.7) 
Es  ist  diese  Verschiedenheit  am  einfachsten  so  zu  erklären, 
dass  die  Aufzeichnung  in  der  Form,  wie  sie  uns  überkommen 
ist,  eine  Relation  vergangener  Zustände  enthält,  dass  aber  eben 
diese  Relation  auf  Grund  und  zum  Teil  mit  wörtlichem  An- 
schluss an  eine  oder  mehrere  frühere  Aufzeichnungen  geschrieben 
ist,  welche  Rechte  und  Verbindlichkeiten  der  Beamten  — wenn 
auch  auf  Grund  bestehender  Zustände  — neu  feststellten. 

Dafür,  dass  hier  eine  solche  eigentliche  Rechtsquelle  später 
zu  einer  historischen  Darstellung  verwandt  ist,  spricht,  dass 
in  dieser  Wormser  Aemterbeschreibung  vielfach  allgemeinen  Be- 
zeichnungen die  speciell  im  Wormser  Rechtsleben  des  drei- 
zehnten Jahrhunderts  gebrauchten  im  Präsens  oder  Imperfect 
hinzugefügt  sind,  so  z.  B. 

S.  210  Z.  34,  35:  iudicia,  quae  tum  illis  temporibus  pla- 
cita vocabant 

')  p 211  Z,  20:  Aute  anno»  CCCCLX1II  plus  minusve  Heribertua  qui- 
dam  archiepiscopus  Coloniensis  et  ante  ftnnog  CCCLVI1I  Erkenbertna  qni 
Frankenthalinm  exatroxit,  hanc  farailiam  celebrem  reddiderunt. 

*)  cf.  Boehmer's  Note  I 1.  c. 

*)  V.  G.  I 295. 

4)  S.  82. 

*)  p 210  Z.  7. 

«)  p 212  Z.  6 ff. 

’)  z.  B.  p 210  Z.  14:  parabnnt,  Z.  17:  habebit,  Z.  19:  acciiaabunt: 
p 211  Z.  30:  dabit,  Z.  33:  ministrabit ; p 212  Z.  1:  dabit  etc.. 


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113 


S.  210  Z.  38 : apparitores,  quos  heiraburgios  appela- 

bant 

S.  211  Z.  4:  assessoram,  quos  illi  tune  scabinos 

appellabant 

Z.  32 : passagio  Woran.,  quod  dicitur  burgervar 

S.  212  Z.  6:  vini  emptum,  quod  dicitur  weinkauf 

S.  213  Z.  18:  telonium  domiui  episcopi.  quod  dicitur 

puntzoll. 

Geradezu  eine  deutsche  Übersetzung  ist  hinzugef ligt : 

S.  212  Z.  28:  de  quolibet  vaso  qui  examinatur  (so 

geeicht  wird). 

In  dem  von  den  Verbindlichkeiten  und  Rechten  des  Schult- 
heissen  handelnden  Capitel  heisst  es  endlich: 

Hec  servabantur  MCCLVIV.1) 

Hier  muss  also  der  Darstellung  eine  Urkunde  von  1259 
zu  Grande  gelegen  haben,  welche  Einnahmen  und  Abgaben  des 
Schultheissen  im  einzelnen  bestimmte.  Vielleicht  hatte  dieselbe 
auch  Weistumsform,  indem  die  Festsetzung  im  wesentlichen  den 
Aussagen  kundiger  Leute  über  das  bestehende  Recht  folgte.  Un- 
sere Kenntnis  der  Mainzer  mittelalterlichen  Beamtenverhältnisse 
verdanken  wir  bekanntlich  vorwiegend  derartigen  Weisttimern.2) 
Da  uns  aber  solche  in  Worms  nicht  erhalten  sind,  sind  wir 
auf  die  Benutzung  der  genannten,  im  fünfzehnten  Jahrhundert 
verfassten,  Bearbeitungen  der  früheren  Rechtsquellen  angewiesen. 
Freilich  werden  wir  dabei  stets  im  Auge  zu  behalten  haben, 
dass  für  uns  nur  dasjenige  massgebend  sein  kann,  was  der 
Bearbeiter  aus  den  Quellen  genommen  hat,  dass  dagegen  alles 
das,  was  aus  seiner  Reflexion  hervorgegaugen,  derselben  Kritik 
unterworfen  werden  muss,  wie  Combinationen  eines  modernen 
Forschers. 

Diese  Aufzeichnungen  nun  und  das  vorher  erwähnte  angeb- 
liche Privileg  Heinrichs  VI  vereinigend,  giebt  die  Zorn-Flers- 
heimsche  Chronik J)  bei  Besprechung  der  Regierungszeit  Hein- 
richs VI  eine  Schilderung  der  Heimburgen.  Diese  Darstellung 

')  p 212  Z.  13,  14. 

*)  nämlich  dem  Weistum  über  das  Kämmereramt  (vgl.  Hegel  Mainz 
S.  54  mit  N.  2),  und  dem  über  das  Amt  des  Waltpoden  (ibid  S.  (50  mit  N.  2). 

*)  S.  59.  60. 

Koehne,  Ursprung  der  Stad  Verfassung  in  Worms,  Speier  und  Mainz  8 


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114 


der  Chronik  kann  leicht  den  Schein  erwecken,  dass  die  bei 
Boehmer1)  in  den  Annalen  vorliegenden  Nachrichten  ebendieser 
Urkunde  entstammen,  was  auch  der  neueste  Erforscher  der 
Wormser  Geschichtsquellen,  Köster2),  für  sicher  erklärt.  Jedoch 
haben  nach  dem  Privileg  die  sich  am  Martinstage  auf  dem 
Bischofshofe  versammelnden  Bürger  die  Heimburgen  zu  wählen,*) 
nach  der  Darstellung  der  Aufzeichnung  bestellt  sie  der  Büttel 
nach  eigenem  Willen.4)  Dazu  kommt  noch,  dass  an  der  einzigen 
Stelle,  wo  Privileg  und  Aufzeichnung  inhaltlich  das  gleiche  be- 
richten,6) dazu  ganz  verschiedene  Ausdrücke  gewählt  sind,  und 
dass  endlich  derselbe  Beamte  im  Privileg  nur  villicus,  in  der 
Aufzeichnung  nur  scultetus  genannt  wird.  Es  ist  also  nicht  an- 
zunehmen, dass  dem  Verfasser  der  Aufzeichnung  das  Privileg 
Heinrichs  Vorgelegen  hat;  noch  weniger  dürfen  wir  dasselbe 
ohne  weiteres  aus  der  Aufzeichnung  ergänzen. 

Es  ist  dies  um  so  bedauerlicher,  als  unser  Fragment,  dem- 
nach der  einzige  Überrest  des  Privilegs,  selbst  nur  in  soweit 
einen  Auszug  aus  demselben  geben  will,  als  darin  die  Heim- 
burgen erwähnt  sind.  Es  hat  aber  dazu  zwei  Stellen  aus 
demselben  abgeschrieben  und  zwar  offenbar  in  umgekehrter 
Reihenfolge.  Demnach  scheint  es  angebracht,  diese  beiden 
Stellen  nach  dem  Vorbilde  Arnolds6)  und  Liebes7)  in  folgen- 
der Weise  zu  combinieren: 

Eligantur  etiam  16  viri,  qui  heimburgenses  dicuntur, 
quorum  quilibet  dabit  libram  ...  Hi  iurare  debent  se- 
cundum  legem  dei  . . . 

Es  wurden  also  jährlich  16  Heimburgen  und  zwar  je  4 in 


»)  S.  212  Z.  29—38. 

•)  S.  82. 

*)  Daselbst  wird  gesagt,  dass  die  Börger  am  Martinatage  Schultbeissen 
und  Amtsleute  wählen  sollen.  Darauf  folgt  dann  die,  gleich  unten  im  Texte 
gegebene,  Stelle  über  die  Heimburgenwahl:  Eligantur  etiam  .... 

4)  vgl.  Liebe  8.  20,  21  und  unsere  folgenden  Ausführungen. 

•)  Im  Privileg  heisst  es  p 215  Z.  27  ff.:  iurare  secundum  legem  dei 
iustam  mensuram  ad  dandum  et  accipiendum  ordinäre;  in  der  Aufzeichnung 
p 212  Z.  32  ff.  iurabunt . . .,  quod  per  annum  illum  meusuras  qualescumque  ab 
omnibus  exigant,  examinent  et  iustificent,  falsas  dirumpant  sine  dolo,  nullas 
amicitiaa  et  inimicitias  attendendo. 

*)  V.  G.  L 292. 

»)  S.  20. 


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115 


jeder  der  4 Parochien  der  Stadt  von  den  Bürgern  am  Martins- 
tage gewählt.  Diese  Heimburgen  mussten  beim  Amtsantritte 
schwören,  jeglicher  gemäss  Gottes  Gesetz  in  seinem  Pfarrspiele 
auf  gerechtes  Mass  zu  halten.  Sie  wurden  zu  Abgaben  an  den 
Greven,  den  Schultheissen  und  die  Amtsleute  verpflichtet,  dagegen 
von  solchen  an  Propst  und  Archipresbyter  freigesprochen. 

Was  zunächst  die  Zahl  der  Heimburgen  betrifft,  so  ist  es 
auffallend,  dass  wir  hier  in  jeder  Parochie  vier  haben.  Sonst 
tritt  uns,  wie  wir  es  auch  bei  Mainz  und  Strassburg  gesehen 
haben,  in  der  Hegel  in  jeder  Gemeinde  nur  je  ein  Heimburge 
entgegen;  nur  ist  an  manchen  Orten  neben  dem  neu  erwählten 
Heimburgen  der  abgetretene  noch  wirksam.1)  Vielleicht  haben 
wir  in  den  Wormser,  den  Pfarrgemeinden  entsprechenden,  Teil- 
gemeinden schon  Verschmelzungen  kleinerer  Teilgemeinden  an- 
zunehmen, wie  solche  von  Vollbaum  bei  Erfurt,  wenn  auch 
erst  für  spätere  Zeit,  nachgewiesen  sind.*)  Bemerkens- 
wert ist  ferner  in  der  angegebenen  Stelle  der  Aufzeichnung, 
dass  die  Heimburgen  von  den  Abgaben  an  Propst  und  Erz- 
priester befreit  werden.  Die  Archidiaconatsrechte  waren  seit 
der  Zeit  der  sächsischen  Kaiser  in  der  Regel  mit  den  Propsteien 
der  Cathedrale  und  der  Collegiatstifte  verbunden,3)  an  die 
Archidiaconen  und  Erzpriester  war  aber  damals  in  Folge  der 
Beteiligung  der  Bischöfe  am  Reichsregiment  die  Abhaltung  des 
Sendes  gekommen.4)  Aus  der  Befreiung  der  Keimburgen  von 
Abgaben  an  diese  Sendrichter  geht  aber  hervor,  dass  solche 
Leistungen  ihnen  früher  wirklich  obgelegen,  oder  zum  mindesten 
von  ihnen  verlangt  waren.5)  Es  erklärt  sich  dies  aber  sehr  ein- 
fach dadurch,  dass  in  Worms  wie  in  Mainz  gerade  die  Vor- 
steher der  Specialgemeinden  vorzugsweise  zu  Sendzeugen  ge- 
nommen wurden,5)  und,  dabei  oder  für  Befreiung  von  dieser  Last, 
sich  zu  Abgaben  an  die  Sendrichter  verstanden  hatten. 

*)  vgl.  Lamprecht  S.  814,  316.  Mitunter  mochten  danach  freilich  auch 
abnorme  Verhältnisse  durch  .Eingriff  von  aussen“  berbeigeführtsein.  (a.a.O.N.3). 

*)  S.  22-24. 

•)  Dove  in  Herzogs  Realencyd.  d.  Theol.  s.  v.  Send  S.  123. 

‘)  ibid  8.  123,  124. 

»)  vgl.  Arnold  I 8.  293. 

*)  Daraus,  das  die  Heimburgen  früher  Abgaben  an  die  geistlichen 
Richter  zahlten,  kann  aber  nicht,  wie  Liebe  8.  21  meint,  geschlossen  werden, 
dass  sie  ehemals  von  diesen  ernannt  wurden. 

s* 


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116 


Diese  Annahme  wird  dadurch  bestätigt,  dass  wir  die  Auf- 
sicht über  die  Masse  in  dem  Privileg  den  Heimburgen  über- 
tragen fanden.  Diese  Befugniss  scheint  aber  aus  der  Rügepflicht 
bei  Fälschungen  hervorgegangen  zu  sein;  letztere  selbst  war 
eine  Folge  der  Bestellung  der  Heimburgen  zu  Sendzeugen , die 
sie  ja  nötigte,  alle  vom  kirchlichen  Gesichtspunkte  aus  straf- 
baren Handlungen  zu  rügen.  Dass  den  Wormser  Heimburgen 
eine  Rügepflicht  zukam,  geht  auch  aus  den  früher  charakteri- 
sierten Aufzeichnungen1)  hervor.  Eigentümlich  ist  hier  jedoch 
die  Bestimmung,  dass  die  Heimburgen  ihre  Rügen  bei  dem 
Kämmerer  anzubringen  haben;*)  dieser  Kämmerer  ist  nämlich 
erzbischöflicher  Ministerial.  Es  folgt  dies  daraus,  dass  in  allen 
Abschnitten  der  Aufzeichnung  immer  nur  von  diesem,  nicht  aber 
von  dem  Unterkämmerer,  der  ein  städtischer  Bürger  war,  oder 
einem  geistlichen  Kämmerer  die  Rede  ist.  Von  diesem  mini- 
sterialischen  Kämmerer  nun  wird  in  der  Aufzeichnung  gesagt, 
dass  er,  seit  der  Bischof  sich  die  Stadtherrschaft  anzumassen 
begonnen,  eine  Zeit  lang  der  oberste  Richter  in  der  Stadt  ge- 
wesen und  jährlich  drei  Gerichtstage  im  Bischofshofe  abgehalten 
habe.*)  Arnold4)  erklärt,  dass  damit  die  Zeit  nach  1233  ge- 
meint und  demnach  im  Interesse  der  Stadt  falsches  berichtet 
sei,  indem  die  Jurisdiction  des  Kämmerers  älter  gewesen,  als 
die  Erneuerung  der  Bischofsherrschaft  durch  die  erste  Rachtung 
und  vielmehr  gerade  im  dreizehnten  Jahrhundert  abgekom- 
men sei.  Ich  glaube,  dass  die  Aufzeichnung  garnicht  die  Periode 
nach  1233,  sondern  den  ersten  Erwerb  der  Stadtherrschaft  sei- 
tens der  Bischöfe  im  Auge  hatte,  indem  schon  in  der  zweiten 
Hälfte  des  15.  Jahrhunderts,  in  der  unsere  Aufzeichnung  ja  ent- 
standen ist,  die  später  bei  Zorn,  Moritz  u.  s.  w.  ausgesprochene 
Anschauung  die  bürgerlichen  Kreise  beherrschte,  Worms  sei 
seit  der  Römerzeit  nur  dem  Kaiser  unterworfen  gewesen.  Jeden- 
falls ist  auch  die  Ansicht  des  Autors  der  Aufzeichnung  über 

r)  Boehmer  Fontes  II  8.  212  Z.  37—39  , 8.  210  Z.  16—18  vgl.  oben 
8.  111—113. 

')  Böhmer  ibid. 

*)  ibid.  p 210:  Snpremns  aliqn&ndo  in  hac  urbe  iudex  camerarius  fuit, 
qm  singulis  annis,  postea  quam  iuris  »liquid  in  cives  episcopi  sibi  arrogare 
ceperuut,  tria  iudicia,  quae  tum  iilis  temporibus  placita  vocabant,  in  episco- 
pali  curia  exercebat. 

«)  V.  G.  I 8.  296. 


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117 


die  Entstehung  der  Jurisdiction  des  Kämmerers  nach  dem  früher 
ausgeführten  für  uns  in  keiner  Weise  massgebend.  Dagegen 
sind  die,  wie  wir  aus  ihrer  Form  ersehen,  alten  Urkunden  ent- 
nommenen Nachrichten  von  grosser  Wichtigkeit,  dass  die  Käm- 
merer 3 jährliche  Gerichtstage  (placita)  im  Bischofshof  abzu- 
halten  haben  und  dass  die  Heimburgen  auf  Anfragen  der  Käm- 
merer ihnen  zu  rügen  haben,  quicquid  noverint  esse  contra 
iusticiam  et  nocivum  civitati  in  vicis  et  plateis.1)  Arnold  hat 
davon  ausgehend,  dass  die  hier  erwähnten  drei  Dinge  von  den 
drei  echten  Dingen  des  Volksrechts  stammen,  die  Vermutung 
ausgesprochen,  dass  „der  Kämmerer  Stellvertreter  des  Burg- 
grafen war  und  dass  er  nach  dem  Ausfall  des  letzteren  die 
drei  echten  Dinge  zu  hegen  hatte.“*)  „Das  echte  Ding  aber 
habe  seine  Bedeutung  verloren“  und  sei  „zum  blossen  Rüge- 
gericht  herabgesunken.  “*)  Diese  Vermutung  wird  nach  Liebes 
Urteil  durch  die  Hegel’schen  Forschungen  über  Mainz  „zur  Ge- 
wissheit erhoben.“4)  Ohne  hier  auf  die  Widerlegung  dieser  An- 
sicht näher  einzugehen,  will  ich  doch  meine,  an  anderer  Stelle 
genauer  zu  begrüudende,  Meinung  aussprechen,  dass  das  Gericht 
des  Kämmerers  aus  den  diesem  Beamten  zustehenden  Finanzbefug- 
nissen  hervorgegangen  ist.  Die  Rüge  ist  jedenfalls  dem  echten 
Ding  immer  ganz  fremd  gewesen,  und  die  Überlassung  der  Rüge- 
gerichtsbarkeit an  ein  unter  Laienvorsitz  tagendes  Gericht  er- 
scheint als  Concession  für  die  Bürgerschaft;  sie  hängt  mit  dem 
Erlasse  der  Abgaben  der  Heimburgen  an  die  geistlichen,  der 
Einschärfung  von  Abgaben  an  die  weltlichen  Beamten  aufs 
engste  zusammen. 

Soviel  glaube  ich,  wird,  auch  wenn  meine  Auffassung  des 
Rügegerichts  des  Kämmerers  nicht  angenommen  wird,  sich  doch 
schon  aus  dem  bisher  erörterten  ergeben  haben,  dass  die  Rüge- 
pflicht der  Heimburgen  Folge  ihrer  Hineinziehung  ins  Send- 
gericht ist. 

Es  ist  schon  oben  bei  der  quellenkritischen  Analyse  der 
Aufzeichnung  aus  dem  15.  Jahrhundert  darauf  hingewiesen,  dass 

')  Vgl.  S.  116  N.  1 und  3 Bes.  bezeichnend  fttr  die  Benutzung  älterer  Ur- 
kunden ist  die  Form  tria  iudicia,  quae  tum  illis  temporibus  placita  vocabant 

*)  S.  296. 

s)  8.  296. 

*)  S.  24. 


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118 


dem  Verfasser  derselben  eine  andere  Quelle  als  das  Privileg 
Heinrichs  bei  seiner  Notiz  über  die  Ernennung  der  Heimbnrgen 
Vorgelegen  haben  muss.  In  dieser  Aufzeichnung  wird  nämlich 
darüber  folgendes  gesagt: 

pedellus  civitatis  denominabit  in  stega  sedecim  viros, 
qui  dicuntur  heimburgen,  quos  ipse  solus,  per  se 
in  quattuor  parochiis  eligit  et  constituit.1) 

Nach  dem  Privilege  dagegen  musste  angenommen  werden, 
dass  die  Heimburgen  zur  Zeit  desselben,  ebenso  wie  der  Schult- 
heiss  und  die  Amtsleute,  von  den  Bürgern  frei  gewählt  wurden. 
Freilich  mag  schon  in  dieser  Zeit  das  Aufrufen  der  zu  Erwäh- 
lenden dem  Büttel  übertragen  sein,  der  sich  dazu  auf  die  Treppe 
(stega)  des  Bischofshofes  stellte,  wo  ja  damals  die  Wahl  statt- 
fand. Da  die  Büttel  aber  nach  dem  Privileg  selbst  von  der 
Tuchmacherzunft  eingesetzt  wurden,  so  mag  es  durch  den  Ein- 
fluss dieser  Genossenschaft  dahin  gekommen  sein,  dass  sich  aus 
dem  blossen  Vorschlagsrecht  mit  der  Zeit  ein  Ernennungsrecht 
entwickelte.  Ob  die  von  den  Heimburgen  gewählten  Büttel 
vorzugsweise  Mitglieder  ihrer  Zunft  zu  Heimburgen  ernannten, 
wie  Liebe*)  annimmt,  ist  nicht  zu  entscheiden.  Nur  dürfen 
jedenfalls  nach  den  früheren  Erörterungen  *)  diese  Tuch- 
macher nicht  für  eine  Mittelklasse  zwischen  Patriziern  und 
Plebejern  erklärt  werden,  wie  es  von  Liebe  geschieht ; dieselben 
waren  teils  frei,  teils  unfrei  und  gehörten  jedenfalls  zum  aller- 
grössten Teil  der,  sich  freilich  erst  später  social  abschliessenden, 
Geldaristokratie  an. 

Der  de  heimburgis  betitelte  Abschnitt  der  Aufzeichnung 
enthält  noch  eine  Nachricht  über  die  Funktionen  der  Heimburgen : 
„Jurabunt  coram  magistris  civium,  ....  quod  ad  pulsationem 
campane  curie  semper  parati  existant.“  Arnold4)  übersetzt,  „dass 
sie  zum  Läuten  der  Hofglocke  allezeit  bereit  sein  sollen,“ 
Liebe ')  und  dem  Sinne  nach  ebenso  auch  schon  die  Zorn-Flers- 
heimsche  Chronik®):  „dass  sie  auf  das  Läuten  der  Hofglocke 

')  Boehmer  II  p 212. 

>)  8.  22. 

*)  8.  oben  Cap.  III  und  IV. 

*)  I S.  295. 

*)  8.  22. 

•)  8,  59. 


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119 


stets  bereit  sein  sollen.“  Meiner  Ansicht  nach  ergiebt  sich 
aus  den  früher1)  erwähnten  Funktionen  der  ländlichen  Heini- 
burgen, dass  die  Übersetzung  Arnolds  den  Vorzug  verdient. 
Der  von  Liebe  gegen  dieselbe  erhobene  Einwand,  dass  zum 
Läuten  der  Glocke  nicht  16  Mann  nötig  gewesen,  erledigt  sich 
dadurch,  dass  die  Heimburgen,  namentlich  die  aus  den  vorneh- 
meren Stadttheilen,  sich  gewiss  gerade  von  dieser  lästigen  Ver- 
pflichtung zu  befreien  suchten.  Es  wurde  ihnen  daher  einge- 
schärft, dass  stets  derjenige,  dem  es  die  magistri  civium  jedes- 
mal auftrugen,  zum  Läuten  der  Glocke  bereit  sein  musste. 

In  den  übrigen  Teilen  der  Aufzeichnung  werden  die  Heim- 
bnrgen  noch  einige  Male  erwähnt,  ohne  dass  wir  dadurch  aber 
viel  neues  erfahren.  In  dem,  die  Rechte  und  Pflichten  des 
Schultheissen  behandelnden,  Abschnitte,*)  welcher,  wie  oben  an- 
geführt, wohl  zum  grössten  Teil  einem  Weistume  von  1253  ent- 
nommen ist,  wird  die  Angabe  des  Privilegs,  dass  die  Heimbur- 
gen dem  genannten  Beamten  12  Pfund  zu  geben  haben,  wieder- 
holt. Dazu,  dass  die  Heimburgen  an  den  vom  Kämmerer  ge- 
haltenen Gerichtstagen  ihm  und  seinen  Schöffen  die  Sitze  zu- 
zurichten haben,  — was  auch  von  der  Aufzeichnung  berichtet 
wird*)  — mag  es  dadurch  gekommen  sein , dass  ein,  dem  hohen 
Geistlichen,  der  die  Sendgerichte  abzuhalten  hatte,  seitens  der 
als  Sendzeugen  zugezogenen  Ortsvorsteher  geleisteter,  Ehren- 
dienst später  zusammen  mit  dem  im  Sende  gehandhabten  Rüge- 
gericht an  die  Kämmerer  überging. 

Eigentümlich  ist  in  dem  Abschnitte  über  den  Schultheissen 
die  Erwähnung  von  heimburgenses  ante  portam  S.  Martini, 
welche  diesem  beim  Amtsantritt  8 Unzen  zu  geben  hatten.4) 
Nach  einem  anderen  Weistume  hatten  die  Kämmerer  von  Worms 
bis  1315  ein  Gericht  in  suburbio  Martiniano.5)  Es  dürfte  wohl 
diese,  zwischen  dem  Martins-  und  Mainzer  Thor  gelegene,  Vor- 
stadt ein  höriges  Dorf  gebildet  haben,  welches  erst  allmählig 
mit  der  Stadt  vereinigt  wurde;  ähnliches  haben  wir  ja  bei  der 
Mainzer  Vorstadt  Vilzbach  wahrgenommen,  die  auch  früher  ein 

•)  ygl.  oben  S.  99  N.  4. 

*)  p 211,  212. 

*)  p 210. 

‘)  p 212  Z.  23. 

•)  p 211  Z.  13,  14. 


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120 


höriges  Dorf  bildete.1)  Die  dem  Wormser  Selml theissen  seitens 
der  Heimburgen  der  Martinsvorstadt  zu  leistende  Abgabe  ist 
alsdann  aus  dem  Übergänge  von  Herrschaftsrechten  an  die  Stadt 
zu  erklären.  Freilich  muss  hervorgehoben  werden,  dass  hier, 
wie  bei  den  meisten  der  zuletzt  besprochenen  Nachrichten,  we- 
der Entstehungszeit  noch  Reinheit  der  Überlieferung  irgendwie 
feststeht. 

Eine  sowohl  in  ihrer  Datierung  wie  ihrer  Tradition  nach 
sichere  Nachricht  tritt  uns  dagegen  in  der  ersten  Rachtung 
zwischen  Stadt  und  Bischof  vom  Jahre  1233  entgegen.*)  Nach- 
dem daselbst  die  Art  und  Weise  der  Ernennung  des  Stadt- 
rats festgesetzt  ist,  wird  bestimmt,  dass  zum  Zwecke  der  Erhebung 
des  Ungelds  und  zur  Beratung  der  städtischen  Angelegenheiten 
von  Bischof  und  Rat  gemeinsam  16  Bürger  und  zwar  je  vier  aus 
jeder  der  vier  Parochien  gewählt  werden  sollen.  Keinesfalls 
haben  wir  es,  wie  Maurer*)  anzunehmen  scheint,  hier  mit  einer 
neuen  Einrichtung  zu  tun.  Gerade  die  Steuereinziehung  knüpfte 
in  Worms,  wie  in  Köln  und  Mainz,  gewiss  von  Anfang  an  an 
die  Teilung  in  Specialgemeinden  an.  Die  Pflicht  der  Aus- 
besserung der  Stadtmauern,  die  schon  im  zehnten  Jahrhundert 
in  Worms  den  Teilgemeinden  oblag,4)  setzt  doch  auch  schon 
einen  besonderen  Haushalt  derselben  voraus,  wie  ja  auch  später 
das  Ungeld  sowohl  in  Worms  wie  in  anderen  Städten  vorzugs- 
weise „zu  der  Stadt  Bau“  d.  h.  „zur  Befestigung,  zum  Strassen- 
bau  und  zu  anderen  öffentlichen  Bauten“  verwendet  wurde.5) 
So  haben  die  damals  neu  eingesetzten  Sechzehn  gewiss  einen 
Teil  der  Funktionen  der  Heimburgen  übernommen.  Eine  andere 
Frage  ist  es,  ob  ueben  den  Sechzehn  die  früheren  Heimburgen 


')  vgl.  oben  S.  95. 

•)  U 163,  164. 

•)  Stdtverfsang.  I S.  605. 

4)  vgl.  oben  S.  84,  85. 

*)  Zeumer  8.  93.  Dafür,  dass  den  Heimbargen  aach  an  anderen 
Orten  finanzielle  Befugnisse  zufielen,  spricht  die  Übersetzung  von  die  ,erer* 
(=  aerarii,  die  Personen,  die  die  Gemeindekasse  unter  sich  haben)  mit  „dy 
heimbergen“  in  einem  alten  Zinsbuche  aus  dem  Breisgau  s.  Mone  Ztschr.  Bd. 
XIV  S.  277  u.  Liebe  8.  30, 


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121 


fortbestanden.  Dafür  bat  sich  von  Maurer,1)  dagegen  Hegel,*) 
Arnold  *)  uud  Liebe1)  ausgesprochen.  Mit  Recht  führt  Maurer, 
namentlich  gegen  Hegel,  für  das  besondere  Fortbestehen  der 
Heimburgen  ihre  spätere  Erwähnung  im  15.  Jahrhundert  an. 
Arnold  und  Liebe  meinen  allerdings,  dass  die  Trennung 
des  Heimburgen  von  dem,  in  der  Wormser  Stadtgeschichte 
noch  lange  bedeutungsvoll  hervortretenden,  Sechzehneramt 
erst  später  eintrat.  Arnold*)  hält  es  für  wahrscheinlich, 
dass  die  beiden  Beamtungen  unter  Bischof  Emicho  (1294 
bis  99)  an  verschiedene  Personen  kamen,  als  neben  die  vom 
Rat  gewählten  Sechzehn  noch  eine  andere  aus  sechzehn  Per- 
sonen bestehende  Behörde,  die  aber  von  der  Gemeinde  gewählt 
wurden,  zur  Controlle  der  Ungelderhebung  trat.  Dagegen  glaubt 
Liebe,*)  dass  jene  Trennung  wohl  eher  in  das  Jahr  1300  zu 
verlegen  sei,  in  welchem  den  von  der  Gemeinde  gewählten 
Sechzehn  eine  Teilnahme  an  den  meisten  wichtigen  Regierungs- 
handlungen verliehen  wurde.  Mir  scheint  diese,  übrigens  ja  nicht 
so  belangvolle,  Frage,  ob  in  Worms  schon  von  1233  oder  erst 
von  den  neunziger  Jahren  des  13.  oder  vom  Beginn  des  14. 
Jahrhunderts  an  die  Heimburgen  von  den  sog.  Sechzehnern 
getrennt  waren,  aus  dem  gedruckt  vorliegenden  Material  nicht 
beantwortbar  zu  sein. 

Einige,  aber  nicht  genügende,  Nachrichten  über  das  Worm- 
ser Heimburgenamt  im  15.  Jahrhundert  finden  wir  noch  in  zwei 
nach  Arnold7)  wohl  um  1460  entstandenen  Berichten  über  die 
Besetzung  der  städtischen  Ämter.8)  Es  treten  uns  hier  wieder 
16  Heimburgen  aus  den  vier  Pfarren  der  Stadt  entgegen,  wel- 
chen besonders  eine  Tätigkeit  ira  Sende  zugeschrieben  wird.*) 
Eigentümlich  und  kaum  anders  als  durch  Missverständnis  eines 
alt  überkommenen  Rechtssymbols  erklärbar  ist  folgende  Angabe: 

')  StdtvrfBgng.  I S.  605. 

*)  Gesuch,  d.  itaL  Stdtv.  II  430. 

*)  fl  36. 

4)  8.  29. 

')  H 454. 

•)  8.  42. 

ins.  452. 

*)  Schann&t  II  439—441. 

*)  ibid.  439. 


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Danach  gibt  der  Bürgermeister  . . . dem  Bischoff  sein  Bür- 
germeister ampt  uff  mit  des  Heimburger  Stabe.“1) 

Wahrscheinlich  liegt  hier  eine  Vermengung  zweier  schon 
zu  Rechtsantiquitäten  gewordenen  Symbole  vor. 

Der  Heimburge  pflegte  von  alten  Zeiten  her  einen  Stab 
als  Zeichen  der  ihm  zur  Ordnnngserhaltung  in  der  Volksver- 
sammlung zustehenden  Gewalt  zu  tragen;*)  dabei  hatte  dieser 
Stab  gewiss  auch  als  eventuell  benutztes  Hilfsmittel  zur  Ord- 
nungserhaltung hinreichend  praktische  Bedeutung.  Wie  so 
häufig  die  Belehnungen  und  Auflassungen,5)  so  geschahen  aber 
auch  in  Worms  wohl  die  Investierungen  in  die  städtischen 
Ämter  mittels  eines  Stabes,  der  also  hier  Symbol  der  Macht- 
Übertragung  war.  Als  jährlicher  Wechsel  der  Ämter  aufge- 
kommen, liess  der  Bischof  sich  bei  Beendigung  der  Amtsfüh- 
rung symbolisch  den  bei  Beginn  derselben  verliehenen  Stab 
zurückreichen,  um  ihn  dem  Nachfolger  des  Beamten  zu  über- 
geben. Da  man  aber  in  Worms  nur  an  den  Heimburgenstab 
gewohnt  war,  so  sah  man  auch  den  dem  Bürgermeister  bei  sei- 
ner Investierung  gereichten,  beim  Amtsabtritt  von  ihm  zurück- 
gegebenen Stab  als  Heimburgenstab  an. 

Einmal  werden  in  der  genannten  Beamtenordnung  noch 
zwei  Heimburgen  erwähnt.4)  Wie  die  Ratsherren,  die  Schreiber 
und  die  sogenannten  Vierer  vor  den  Thoren  sollen  auch  sie  von 
den  Bürgermeistern  bei  der  jährlichen  Amtsniederlegung  einen 
Gulden  von  den  Strafgeldern,  welche  das  Jahr  über  an  die 
Stadt  gefallen  sind,  erhalten.  Diese  Bestimmung  drängt  zu  der 
Annahme,  dass  die  genannten  beiden  Heimburgen  in  einer  be- 
sonders engeu  Beziehung  zum  Criminalgericht  standen.  Dem 
entspricht  völlig,  dass  nach  der  Wormser  Reformation  von  1498, 
jener  bekannten  von  römisch  gebildeten  Juristen  verfassten 
Codification  des  Stadtrechts,5)  die  Ladung  der  Zeugen  seitens  der 
Parteien  „durch  einen  Heimbergen  oder  sunst  des  Rats  oder 
Gerichts  verordenten  Diener“  geschehen  soll.8) 

^Tbid~440. 

*)  Boehmer  n 210  Z.  16  Über  den  Stab  als  Zeichen  der  Gewalt  et 
Grimm  R.  A.  S.  134. 

*)  Über  den  Gebrauch  des  Stabes  bei  Güterabtretung  vgl.  Grimm  S.  133, 
cf.  auch  ibid  S.  137  und  Heusler  Instit.  I S.  74. 

♦)  Sch&nnat  II  439. 

*)  Stobbe  Rechtsquellen  II  S.  381—336. 

•)  Ausgabe  von  1499  Worms  fol  VII  r Z.  10,  11. 


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123 


In  welchem  Verhältnis  non  diese  beiden  in  der  Criminal- 
justiz  verwandten  Heimburgeu,  die  Heimbargen  der  Wormser 
Reformation  and  die  Sendheimbargen  im  15.  Jahrhundert  stan- 
den, lässt  sich  zum  mindesten  aus  den  bis  jetzt  gedruckten 
Quellen  nicht  beantworten. 

Ebenso  lässt  sich  auch  nicht  angeben,  was  es  mit  dem 
nach  Arnold ')  und  Liebe  *)  im  Jahre  1315  als  famulus  superior 
iudicii  erwähnten  Heimburgen  für  eine  Bewandnis  hat.  Da 
keiner  von  beiden  eine  Belegstelle  für  diese  Erwähnung  anführt, 
mir  aber  auch  keine  solche  iu  den  Quellen  entgegengetreten 
ist,  so  scheint  es  nicht  unmöglich,  dass  Arnold  zu  seiner  An- 
gabe durch  irgend  ein  Missverständnis  gekommen  ist,  während 
Liebe  dieselbe  einfach  referiert.  Es  lässt  sich  auch  nicht  aus- 
reichend bestimmen,  welches  Amt  und  Stellung  des  von  der 
Wormser  Chronik  zum  Jahre  1407  erwähnten  Wormser  Stadt- 
schreibers, „ Johann  Speyer  heim  bürg,“  gewesen  ist.’)  Vielleicht 
hängt  die  Bezeichnung  desselben  als  Heimburgen  damit  zu- 
sammen, dass  der  Wormser  Rat  sich,  wie  aus  dem  ihm  1404 
verliehenen  Privileg  König  Ruprechts4)  hervorgeht,  vor  aus- 
wärtigen Gerichten  durch  einen  seiner  Heimburgen  vertreten 
lassen  konnte;  für  solche  Fälle  mochte  man  auch  angesehene 
Personen  wie  den  Stadtschreiber  zu  diesem  Amte  erwählen. 
Namentlich  fiel  diesem  Heimburgen,  der  so  gewissermassen  als 
Syndikus  der  Stadt  auftrat,  das  Leisten  der  von  ihr  in  bürger- 
lichen Processen  zu  schwörenden  Parteieide  zu.  Auch  abge- 
sehen davon,  dass  sich  in  Speier  ganz  ähnliches  findet,5)  hat 
man  es  hier  bei  dieser  processualischen  Vertretung  der  Stadt 
durch  den  Heimburgen  schwerlich  mit  einem  specifisch  Wormser 
Institut  zu  tun.  Man  erinnere  sich,  dass  bei  den  ländlichen  Gemein- 
den die  Vertretung  der  Gesammtheit  nach  aussen  dem  Heimburgen 
zufiel ; dergleichen  war  wohl  auch  bei  kleineren,  aus  Dörfern  er- 
wachsenen, Städten  der  Fall,  in  denen  sich  erst  allmählig  der 


■)  I 296  u.  U *64. 

*)  S.  30. 

•)  Zorn  8.  164. 

*)  Chmel  Regesta  Ruperti  (Frankf.  1834)  N.  1794. 

*)  Die«  geht  besonders  aas  dem  analogen  Berichte  Uber  Speierer  Ver- 
hältnisse (Lehmann-Fuchs  lib.  IV  c.  21  p.  299)  hervor. 


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124 


Heimburge  den  wohlklingenderen  Namen  des  Bürgermeisters  bei- 
legte.1) Es  ist  nicht  unmöglich,  dass  die  grossen  Städte,  als 
sie  zwecks  processualischer  Vertretung  besondere  Beamte  er- 
nannten, da  sie  ihre  Bürgermeister  in  der  Stadt  selbst  behalten 
wollten,  ihre  Vertreter  in  auswärtigen  Rechtsstreitigkeiten  nur 
nacli  dem  Vorbild  der  kleineren  Gemeinwesen  Heimburgen  ge- 
nannt haben. 

Im  übrigen  sind  ja  alle  diese  Nachrichten  über  das  Heim- 
burgenamt vom  14.  Jahrhundert  an,  die  hier  der  Vollstän- 
digkeit wegen  besprochen  werden,  für  die  Frage  nach  der  Be- 
deutung der  Specialgemeinden  für  die  ältere  städtische  Verfas- 
sungsentwicklung nahezu  bedeutungslos.  Dasselbe  ist  von  den 
vorliegenden  Nachrichten  über  die  Sechzehner  zu  sagen,  jene 
Behörde,  welche,  wie  oben  gezeigt,  aus  Übertragung  von  Be- 
fugnissen der  Heimburgen  an  besondere  Beamte  hervorgegangen 
ist.  Nur  kommt  hier  noch  hinzu,  dass  zum  Verständnis  der 
Entwicklung  dieser  Beamtung,  welche  zuletzt  die  Gemeinde 
dem  Rat  gegenüber  selbständig  vertritt,  die  ganze  Wormser 
Verfassungsgeschichte  des  14. — 16.  Jahrhunderts  dargestellt 
werden  müsste.  Desshalb  soll  hier  nur  noch  auf  die  Tatsache 
hingewiesen  werden,  dass  diese  Sechzehner  bis  1505  nach  den 
Parochien  gewählt  wurden.*)  Diese  lange  Dauer  der  Verwen- 
dung der  Parocbialeinteilung  in  der  städtischen  Verfassung  be- 
stätigt entschieden  die  früher  gewonnene  Ansicht,  dass  die 
Pfarrsprengel  nicht  zufälliger  Weise  in  Nachahmung  der  beste- 
henden kirchlichen  Teilung  zu  städtischen  Zwecken  verwandt 
sind,  sondern  desshalb,  weil  sie  wenigstens  in  der  Haupt- 
Sache  selbständigen  bürgerlichen  Gemeinden  entsprachen. 

Um  so  mehr  können  wir  also  die  schon  in  karolingischer 
Zeit  bestehende  Stadteinteilung  mit  der  uns  später  entgegen- 
tretenden für  im  wesentlichen  identisch  erklären.  Von  den 
Funktionen  der  Wormser  Specialgemeinden,  die  mit  den  ältesten 
Kirchspielen,  aber  nicht  mehr  mit  denen  der  Zeit  ihrer  Er- 
wähnung übereinstimmen,  konnten  unmittelbar  aus  der  Über- 
lieferung besonders  militärische  und  finanzielle  nachgewiesen 
werden. 

')  So  c.  B.  in  Seligenstadt  Maurer  I 366. 

*)  Vgl.  Liebe  S.  43-46. 


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125 


Wenden  wir  uns  nun  zu  der  dritten  der  mittelrheinischen 
Städte,  zu  Speier.  Hier  finden  wir  freilich  für  die  in  Betracht 
kommenden  Fragen  i.  g.  weniger  Material  als  in  Worms  und 
Mainz.  Wohl  lässt  sich,  wie  früher  anseinandergesetzt,  con- 
statieren,  dass  auch  Speier  aus  verschiedenen  gesonderten  An- 
siedlungen erwachsen  ist.1)  So  geht  auch  aus  der  öfteren  Er- 
wähnung von  Heimburgen  zu  Speier  noch  in  späterer  Zeit  her- 
vor, dass  hier  ursprünglich  Ortsvorsteher  mit  demselben  Namen 
und  wohl  auch  ganz  denselben  Competenzen  wie  in  den  beiden 
anderen  mittelrheinischen  Städten  an  der  Spitze  der  Sonder- 
gemeinden gestanden  haben.  Doch  sind  Documente,  welche  die 
Heimburgen  erwähnen,  erst  vom  14.  Jahrhunderte  an  erhalten. 
In  dieser  Zeit  sind  die  Heimburgen  schon  untergeordnete  Be- 
amte des  Rats  geworden;  mehrfach  werden  sie  zwischen  den 
Schreibern  desselben  und  den  Stadtknechten  genannt.*)  An 
frühere  wichtige  Funktionen,  welche  denen  der  Heimburger  in 
den  anderen  Städten  entsprochen  haben  müssen,  erinnert  frei- 
lich, dass  die  Speierer  Heimburgen  noch  in  der  Mitte  des  14. 
Jahrhunderts  Masse  und  Wage  zu  bewahren  hatten.*)  Dem- 
gemäss wurde  auch  später,  als  1452  die  Selbständigkeit  des 
Münzmeisters  bei  der  jährlichen  Eichung  der  Masse  und  Ge- 
wichte vom  Rate  beschränkt  wurde,  bei  derselben  ein  vom  Rate 
bestellter  Heimburge  zur  Controlle  zugezogen;  derselbe  erhielt 
die  Hälfte  der  bei  dieser  Eichung  verfallenen  Bussen.4) 

Dass  auch  die  Einziehung  der  an  die  Stadt  fallenden 
Bussen  den  Heimburgen  oblag,  lässt  sich  aus  dem  Umstande 
schliessen,  dass  diesen  Beamten  nach  einem  Ratsbeschlnsse  von 
1314  auch  daran  offenbar  Anteile  zufielen.*)  Dasselbe  ergiebt 
sich  aus  einem,  1333  zwischen  dem  Stadtrate  und  dem  Vorstande 
der  jüdischen  Gemeinde  zu  Speier  geschlossenen,  Vertrage.*) 
Hier  wird  nämlich  der  jüdischen  Gemeindebehörde  zur  Einziehung 
von  Geldstrafen,  die  wegen  Zuwiderhandlung  gegen  von  ihr  er- 


*)  s.  oben  S.  91,  92. 

*)  Speierer  ürkb.  ü 280  p 214  Z.  32,  ü 470  p.  427  Z.  10,  ferner  p.  226 
Z.  36. 

*)  ibid  p.  476  Z.  42. 

*)  Eheberg  in  Mone  Ztachrft.  Bd.  XXXVI  S.  326 — 328  n.  402. 

•)  ü 280  p.  214  Z.  32. 

*)  U 421. 


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126 


lassene  Vorschriften  verwirkt  seien,  der  Heimburge  von  der 
Stadt  zur  Verfügung  gestellt;  dagegen  sollte  die  Stadtkasse, 
wenn  der  Heimbnrge  zur  Einziehung  von  Geldstrafen  über  drei 
Pfund  verwandt  war,  die  Hälfte  der  Busse  erhalten.  Die  gleiche 
Bestimmung  wurde  in  Betreff  derjenigen  Bussen  getroffen,  welche 
der  genannte  Vorstand  auf  die  Nichtablieferung  von  Steuerteilen 
gesetzt  hatte,  die  für  das,  der  ganzen  Gemeinde  auferlegte,  Ge- 
schoss nach  seiner  Repartition  von  den  einzelnen  Gemeindemit- 
gliedern gezahlt  werden  mussten.  Auch  hier  konnte  sich  dem- 
nach der  Vorstand  zur  Einholung  der  Steuern  und  der,  durch 
nicht  freiwillige  Ablieferung  derselben  verwirkten,  Bussen  der 
Heimburgen  bedienen.  Man  wird  gewiss  mit  der  Annahme 
nicht  fehlgehen,  dass  die  Verwendung  der  Heimburgen  zur  Ab- 
holung der  der  Stadtkasse  selbst  von  allen  Einwohnern  ge- 
schuldeten Steuern  und  Geldstrafen  schon  vor  diesem  Vertrage 
in  Übung  war.  Darin  ist  aber  dann  wohl  im  Zusammenhänge 
mit  dem  früher  erwähnten  der  Rest  einer  ehemals  den  Heim- 
burgen in  ihrer  Specialgemeinde  zustehenden  Finanzverwaltung 
zu  erblicken. 

Ebenso  kann  man  auch  wenigstens  mit  Wahrscheinlichkeit 
in  einigen  noch  viel  späteren  Bestimmungen  über  Wirksamkeit 
des  Heimburgen  Überreste  der  alten  Heimburgenfunktionen 
finden.  In  Speier  ist  nämlich  ein  Heimburge  bis  zur  völligen 
Aufhebung  der  freien  Verfassung  der  Stadt  am  Ende  des  vori- 
gen Jahrhunderts  nachweisbar,  und  gerade  die  Bestallungs- 
briefe1) des  Heimburgen  aus  dem  17.  und  18.  Jahrhundert 
lassen  darauf  schliessen,  dass,  soviele  Änderungen  auch  an  Zahl. 
Einsetzungsart  und  Pflichten  dieser  Beamten  im  Laufe  der  Zeit 
vorgenommen  sind,  doch  einige  Funktionen  sich  alle  Jahrhun- 
derte hindurch  unverändert  erhalten  haben.  So  wird  noch 
1681*)  zu  den  Pflichten  des  Heimburgen  die  Aufsicht  über  die 
Bewachung  der  Stadt  und  das  allabendliche  Schliessen  ihrer 
Thore  gerechnet.  Die  Fürsorge  für  die  Befestigungen  ist  als 
Pflicht  der  Specialgemeinde  in  Worms  nacbgewiesen  *)  und  hat 


*)  Dieselben  sind  in  Speirer  Stadt-Archiv  Acta  N.  64  erhalten. 

’)  ibid  fase.  11  BestaUnngaakte  für  den  Heimbnrgen  Johann  Crnciger 
N.  2 n.  3. 

*)  oben  8.  84  ff. 


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127 


auch  in  anderen  Städten  wie  in  Köln,1)  Aachen*)  und  RegenB- 
burg*)  den  Teilgemeinden  obgelegen;  gewiss  ist  dies  auch  in 
Speier  der  Fall  gewesen  und  die  früheren  Vorsteher  der  Spe- 
cialgemeinden behielten  wohl  daher  hier  die  Aufsicht  über  die 
Bewachung  der  Festungswerke,  auch  als  die  Bewachung  selbst 
Pflicht  der  Gesammtgemeinde  geworden  war. 

Ähnlichen  Ursprung  hat  wohl  die  Bestimmung  der  Be- 
stallungsakte für  den  1681  eingesetzten  Speierer  Heimburgen, 
dass  derselbe  „wenn  Aufruhr  oder  Feuersnot  in  der  Stadt 
seien  . . . , die  Bürger  auf  dem  Markt  in  Ordnung  stellen* 
soll.4)  Noch  bezeichnender  ist  folgende  Stelle  aus  demselben 
Documente : 

„8)  soll  er  dem  Ausschuss  der  Bürgerschaft  als  deren  Haupt- 
mann getreulich  vorstehen,  denselben  bei  Ausführung  und 
Übung  dessen  mit  Bescheidenheit  regieren  und  sich  dabei 
zu  jeder  Zeit  willig  und  unverdrossen  anlassen.“ 

Die  einem  so  subalternen  Beamten  wie  dem  damaligen 
Heimburgen  übertragene  Ftthrerrolle  des  Bürgerausschusses 
kann  nur  als  aus  vergangenen  Zeiten  übrig  gebliebene  Rechts- 
antiquität erklärt  werden.  Wie  der  gekorene  Heimburge  des 
zehnten  und  elften  Jahrhunderts,  hat  noch  der  des  18.  die 
Führung  des  Bürgeraufgebots;  freilich  steht  die  ihm  gegebene 
Führerrolle  mit  seiner  sonstigen  socialen  Stellung  in  solchem 
Widerspruch,  dass  ihm  dabei,  ehe  er  sein  Amt  antritt,  noch 
ausdrücklich  „Bescheidenheit*  anbefohlen  wird. 

Während  nach  den  Bestallungsakten  des  17.  und  18.  Jahr- 
hunderts dem  Heimburgen  damals  noch  polizeiliche,  militärische 
und  Repräsentationsfunktionen,  dagegen  keine  gerichtlichen  mehr 
oblagen,  liegt  Grund  vor,  anzunehmen,  dass  er  im  14.  Jahr- 
hundert auch  in  der  Justiz  verwandt  wurde.  Freilich  erweist 
sich  hier  wieder  die  Dürftigkeit  der  Überlieferung  als  höchst  stö- 
rend. Von  der  Tätigkeit  Speierer  Heimburgen  im  Gericht  haben 
wir  nur  durch  die  Chronik  von  Lehmann  und  Fuchs  Nachricht, 
die  auch  nur  in  soweit  als  Geschichtsquelle  benutzt  werden 


*)  Liesegang  8.  40,  41. 

*)  Gengier  8.  61,  62. 

•)  8.  ibid  64,  66,  vgl.  anch  oben  8.  97  mit  N.  4. 

4)  N.  4 in  der  oben  8.  126  N.  2 citierten  Urkunde. 


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128 


kann,  wie  die  oben  besprochenen,  im  15.  Jahrhundert  verfass- 
ten, Wormser  Aufzeichnungen  über  Zustände  des  13.,  also  nur 
da,  wo  die  Verfasser  dieser  Chronik  gleichzeitige  Quellen  wieder- 
geben oder  aus  solchen  richtige  Schlüsse  gezogen  haben. 

Bei  seiner  ausserordentlich  wirren  Beschreibung  der  vor 
dem  Rat  zur  Zeit,  als  auf  ihn  das  Stadtregiment  überging,  ver- 
handelten Rechtshändel  sagt  Lehmann : ’) 

„Darbey  es  den  Process  gehabt,  dass  der  Heymbürger  oder 
Hauptmann  der  Stadt,  der  von  Alters  ein  gebohrner  Bürger 
und  Adelichen  Geschlechts  seyn  müssen,  vermög  alter  Urkunden 
bey  der  Audienz  und  Fürtrag  der  Partheyen  vor  Rath  gestan- 
den, und  den  Stab  auffrecht  vorwerts  gegen  den  Bürgermeistern 
gehalten : nach  beschehenen  Fürtrag  und  Abtritt  der  Partheyen 
und  Heymbürgers  hat  ein  Rath  von  den  Sachen  geredt . . . 

Die  hier  gebrauchte  Bezeichnung  „ Heymbürger  oder  Haupt- 
mann der  Stadt“  ist  wohl  Übersetzung  von  „heimburgus  seu 
centurio  villae.“  *)  Diese  Bezeichnung  macht  aber  in  hohem 
Grade  wahrscheinlich,  dass  wirklich  im  12.  oder  13.  Jahrhun- 
dert eine  Bestimmung  getroffen  wurde,  nach  der  ein  Vertreter 
der  Specialgemeinden  bei  den  vom  Rat  verhandelten  Rechts- 
sachen zugegen  sein  musste.  Dagegen  scheint  es  in  keiner 
Weise  zulässig,  mit  Arnold9)  und  Liebe*)  aus  dieser  Stelle  der 
Chronik  zu  schliessen,  dass  es  in  Speier  im  14.  Jahrhundert 
einen  „patricischen“  Heimburgen  gegeben,  „der  als  Ankläger 
im  Rath  erschien  und  den  Stab  als  Zeichen  der  Gerichtsbarkeit 
führte.“  Zunächst  will  ja  Lehmann  a.  a.  O.  die  Zustände,  die  „seit 
der  Rat  an  Stelle  der  Gaugrafen  herrschte,“  eingetreten  waren, 
schildern,9)  hat  also  mindestens  das  12.  und  13.  und  jedenfalls 


>)  L.  IV  C.  XV  8.  282. 

*)  Über  den  häufigen  Gebrauch  des  Wortes  centurio  fttr  den  Heimbur- 
gen (Zender)  vgl.  Lamprecht  D.  W.  G.  8.  198  mit  N.  2,  auch  Urk.  v.  1292 
in  Anon.  Bericht  vom  Adel  in  Deutschi.  (Frankf.  1721)  p 300:  sub  tes- 
timonio  Centurionum,  qui  vulgariter  Hein be rger  vocantur. 

*)  V.  G.  I 296. 

•)  8.  60,  51. 

•)  8.  282 : „Dieser  Brauch  ...  ist  von  der  Regierung  der  FrSnckischen 
Könige  und  ihrer  verordneten  Regenten  den  Gaugrafen  auf  die  neue  Re- 
gierung des  Raths  gepflanzt,  ....  Darbei  es  den  Process  etc. 


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129 


nicht  das  14.  Jahrhundert  im  Auge.  Weit  wichtiger  ist  aber 
noch,  dass  die  ganze  Nachricht  über  die  Herkunft  des  Gerichts- 
heimburgen, wie  aus  der  Form  der  Mitteilung  hervorgeht,  nur  auf 
Combination  Lehmanns  beruht.  Danach  hat  diese  Angabe,  als 
Ansicht  eines  in  der  zweiten  Hälfte  des  17.  Jahrhunderts  leben- 
den Schriftstellers  über  bedeutend  frühere  Zustände,  durchaus 
keineu  Quellenwert.  Auch  finden  sich  derartige  Bestimmungen, 
dass  ein  Beamter  „adlig“  sein  müsse,  auch  zur  Zeit  der  aus- 
gebildeten Geschlechterherrschaft  in  den  mittelrheinischen  Städ- 
ten nirgends.  Schwerlich  wird  man  auch  derartiges  in  irgend 
welchen  Gesetzen  der  übrigen  deutschen  Städte  nachweisen 
können,  da  die  Bekleidung  bestimmter  Ämter  wie  die  aus- 
schliessliche Besetzung  des  Rats  mit  Mitgliedern  bestimmter 
Familien  überall  nur  auf  der  gegenseitigen  thatsäehlichen  Unter- 
stützung dieser  Familieu,  nirgends  aber  auf  ausdrücklichen 
Rechtsbestimmungen  beruhte. 

Was  die  dem  Heimburgen  zugeschriebene  Rolle  des  Offi- 
cialanklägers  betrifft,  so  könnte  man  sich  dafür-  vielleicht,  ausser 
auf  die  schon  wiedergegebene,  auch  auf  zwei  andere  Stellen 
Lehmanns  berufen,  deren  eine  Liebe  im  Zusammenhang  mit  der 
oben  mitge  teilten  bespricht.1)  Nach  dieser  von  Liebe  besprochenen 
Stelle2)  hatte  der  Heimburge,  weun  jemand  in  der  Stadt  er- 
mordet und  der  Thäter  entkommen  war,  ehemals  vor  den 
Schranken  des  dann  versammelten  Gerichts  folgende  Worte  ge- 
rufen : „Hör  zu,  die  vier  Richter  von  wegen  Bürgermeister  und 
Raths  der  Stadt  Speyr  heischen  Dich  N.  des  Todtschlags  hal- 
ben, den  Du  freventlicher  Weiss  an  N.  begangen,  zu  erscheinen 
und  Dich  dessen  zu  verantworten  . . 

Nachdem  dann  drei  Termine  vergeblich  auf  die  Rückkehr  des 
flüchtigen  Todschlägers  gewartet  war,  wurde  derselbe  verurteilt 
und  das  Contumacialurteil  wieder  vom  Heimburgen  verkündet.*)  Es 
ist  oben  gezeigt,  dass  dem  Speierer  Heimburgen  im  14.  und  15. 
Jahrhundert  die  Einziehung  der  an  die  Stadt  fallenden  Geld- 

>)  s.  61. 

*)  Lehmann  S.  289. 

*)  ibid:  Dieweil  N.  auff  der  vier  Richter  Rufen  nicht  furkommen  und 
sich  des  freventlichen  Todtschlags  nicht  öffentlich  verantwort : So  du  dann  in  der 
Stadt  Speyr  Zwingen,  Bannen  und  Gebieten  betretten,  als  dann  solt  du  um 
begangenen  Todschlag  gericht  werden. 

Koehne,  Ursprung  der  Stadtverfassong  in  Worms,  Speier  and  Kainz.  S 


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130 


strafen  oblag;1)  ebenso,  dass  derselbe  Beamte  in  dem  benach- 
barten Worms  damals  die  Zeugenladungen  zuzustellen  hatte.*) 
Beiden  Funktionen  entspricht  doch  vollkommen  die  Ladung  des 
Angeklagten  vor  Gericht,  die,  wenn  derselbe  nicht  zu  erreichen 
war,  am  Gerichtsorte  symbolisch  geschah;  aus  dieser  Ladung 
konnte  aber  leicht  auch  die  Verkündung  einer  in  Abwesenheit 
des  Beklagten  erfolgten  Verurteilung  hervorgehen. 

In  dem  Heimburgen,  der  zur  Zustellung  der  Ladungen  und 
Einziehung  der  Geldbussen  ausgeschickt  wurde,  ist  aber  jeden- 
falls der  oben*)  besprochene,  vom  Rat  angestellte  Beamte  zu 
finden.  Seine  mannigfachen  Dienstleistungen  sind  überwiegend 
niedriger  Art;  nur  einzelne  derselben  tragen,  weil  aus  älteren 
Verfassungszuständen  überkommen,  einen  höheren  Charakter. 
So  kann  mau  doch  auch  aus  der  wörtlich  wiedergegebenen 
Stelle  der  Speierischen  Chronik  durchaus  nicht  schliessen, 
dass  der  Heimburge  ein  Officialankläger  gewesen.  Für  die 
Anwesenheit  des  Heimburgen  scheint  uns  die  Erklärung  am 
einfachsten,  dass  man  den  gesetzlichen  Vertreter  der  Special- 
gemeinde des  Klägers  oder  Beklagten  gern  zur  Erreichung 
grösserer  Publicität  des  Processes  beizog;  auch  später  noch, 
als  die  Heimburgenernenuung  auf  den  Rat  übergegangen  und 
die  Beziehung  dieses  Beamten  zu  den  Specialgemeinden  ver- 
wischt war,  mochte  man  dann  den  Heimburgen  den  alten  Tra- 
ditionen gemäss  zuziehen. 

So  hängt  auch  vielleicht  die  letzte  Nachricht,  welche  die 
Lehmann-Fuchs’sche  Chronik4)  über  den  Heimburgen  giebt, 
mit  dessen  alter  Stellung  zusammen.  Hiernach  soll  nämlich  der 
Heimburge  vor  der  Hinrichtung  vom  Rate  zum  Tode  verurteilter 
Personen  sich  noch  formell  nach  dem  Urteil  erkundigen  und 
dann  dasselbe  publicieren.  In  dem  Erfordernis  besonderer 
Bekräftigung  der  Rechtsgtiltigkeit  der  Urteile  des  Rats  seitens 
des  Heimburgen  mag  eine  den  Specialgemeinden  eingeräumte 
Garantie  gelegen  haben.  Doch  darf  nicht  verschwiegen  werden. 


*)  S.  126,  126. 
*)  8.  119. 

•)  8.  125. 

*)  8.  291. 


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131 


dass  hier  möglicher  Weise  die  ganze  formelle  Fragstellung  und 
Urteilsverkündung,  die  anderswo  dem  Scharfrichter  oblag,  dem 
Heimburgen  als  niederem  Ratsbeamten  übertragen  ist  und  über- 
haupt nur  dem  mittelalterlichen  Bestreben,  die  einzelnen  Rechts- 
akte möglichst  sinnlich  hervortreten  zu  lassen,  ihren  Ursprung 
verdankt.  Es  kommt  hier  nur  vor  allem  darauf  an,  die  Grund- 
losigkeit der  Annahme  Arnolds  und  Liebes  nachzuweisen,  dass 
es  zu  Speier  im  13.  und  14.  Jahrhundert  einen  von  den  üb- 
rigen Heimburgen,  die  als  Subalternbeamte  im  Dienste  des  Rats 
zu  bezeichnen  sind,  ganz  verschiedenen  Gerichtsheimburgen  mit 
dem  Amte  des  Officialanklägers  gegeben  habe.  Dieser  Nach- 
weis aber  kann  wohl  als  geführt  gelten.1) 

Damit  sind  auch  für  Speier  alle  Nachrichten  über  die 
Heimburgen,  die  ehemaligen  Vorsteher  der  Specialgemeinden, 
erwähnt  und  nach  Möglichkeit  in  ihrem  gegenseitigen  Zusammen- 
hänge zu  erklären  gesucht.  Es  wird  jedoch  sowohl  von  Arnold*) 
als  von  Liebe*)  nach  dem  Vorgänge  von  Rau4)  und  zwar  nicht 
ganz  mit  Unrecht  in  die  Besprechung  der  Speierer  weltlichen 
Specialgemeinden  ein  ursprünglich  kirchliches  Institut  hineinge- 
zogen, das  der  „Geschworenen  zu  der  Gottes  Ehe,“  d.h.  zu  Gottes 
Gesetz.5)  Es  ist  dies  eine  aus  dem  Dompropst  und  12  Laien 
bestehende  Behörde,  welche  sich  offenbar  aus  dem  Sendgerichte 
entwickelt  hat.  Das  lässt  sich  am  Namen,  an  der  Zusammen- 
setzung und  den  Competenzen  erkennen,  welch’  letztere  weiter 
unten  ausführlich  besprochen  werden  sollen.  Was  die  Zu- 
sammensetzung betrifft,  so  haben  wir  den  Dompropst  schon 


')  Der  in  einer  von  Haitaus  (Gloss.  Germ  med.  aevi  1758)  s.  v.  heim- 
burge  p.  857  angeführten,  aber  seitdem  übersehenen  Urkunde  von  1426  (Leh- 
mann-Fuchs p.  299)  auftretende  Speierer  Heimburge  ist  auch  sicher  nicht  Of- 
ficialankläger.  Derselbe  hat  vielmehr,  analog  den  in  Ruprechts  Privileg 
für  Worms  erwähnten  (s.  oben  S.  123  N.  4),  Heimburgen  einen  der  städti- 
schen Commune  auferlegten  Parteieid  zu  schwören;  es  bandelt  sich  dabei  um 
einen  Ersatzanspruch,  den  ein  Edelknecht  gegen  die  Stadt  Speier  seinem 
Vater  zugefügten  Schadens  halber  erhoben  hat. 

*)  II  454. 

*)  S.  61. 

‘)  H 8.  29. 

•)  fi  = che-£wa  Gesetz,  cf.  Brinckmeyer,  Gosaar.  diplom.  I (Gotha 
1856)  S.  653. 


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132 


mehrfach  als  Leiter  des  Sendes  kennen  gelernt.  Die  Thätigkeit 
der  Laien  im  Sende  war  ursprünglich  auf  die  Rügepflicht  be- 
schränkt und  erst  allmälig  ist  ihnen  daraus  an  einigen  Orten 
auch  Schöffenfunktion  erwachsen.*)  So  sind  auch  die  12  Ge- 
schworenen zu  Gottes  Gesetz  ursprünglich  Sendzeugen  gewesen. 
Es  ist  oben  nachgewiesen,  dass  in  Worms  die  Sendzeugenschaft 
früh  an  ein  aus  den  Heimburgen  der  einzelnen  Stadtteile  zusam- 
mengesetztes Colleg  gekommen  ist ;!)  ebenso  auch,  dass  in  Mainz 
vorzugsweise  die  Heimburgen  zu  Sendzeugen  genommen  wur- 
den.1) Dass  derartiges  auch  in  Speier  vorgekommen,  lässt  sich 
nach  den  vielfachen  Ähnlichkeiten,  die  sich  in  der  kirchlichen 
und  weltlichen  Entwicklung  der  drei  mittelrheinischen  Städte 
zeigen,  wohl  vermuten. 

Doch  gehen  Arnold*)  und  Liebe5)  entschieden  zu  weit, 
wenn  sie  nun  auch  die  Speierer  Sendrichter  einfach  als  Heim- 
burgen ansehen.  Es  ist  uns  nirgends  direkt  die  Identität  von 
Speierer  Sendrichtern  mit  den  dortigen  Heimburgen  bezeugt. 

Ebensowenig  berechtigt  uns  das  vorliegende  Material  zu 
der  Annahme,  dass  die  Zwölfzahl  der  Speirer  Sendzeugen  aus 
einer  Einteilung  in  drei  geistliche  Bezirke  hervorgegangen,  in- 
dem, wie  bei  den  16  Wormser  Sendzeugen,  je  vier  aus  jeder 
Parochie  genommen  seien.  Liebe5)  giebt  auf  Zeuss6)  gestützt, 
der  seine  Angabe  dem  Speierer  Chronisten  Wolfgang  Baur 
(f  1516)  entnommen  hat,  an,  dass  die  eigentliche  Stadt  acht 
Pfarrkirchen  gehabt  habe.  Doch  zeigt  nach  Liebe  „die  Lage 
der  drei  Stiftskirchen  in  den  drei  Ecken  der  Stadt  an,  dass 
sie  die  städtische  Seelsorge  unter  sich  teilten,  bis  die  Menge 
des  Volkes  eine  Verkleinerung  der  Sprengel  nötig  machte.“  Es 
lag  jedoch  zur  Zeit  Heinrichs  III  die  St.  Guidokirche  noch 
ausserhalb  der  Stadt.1)  Ausserdem  lag  damals  und  so  auch 


')  vgl.  Dove  in  Herzogs  Realencyklop.  f.  Theol.  Bd.  XTV  s.  v. 
8.  122  n.  126,  auch  Dove  in  Ztschr.  f.  Krchnr.  (1865)  Bd.  V S.  15  ff. 
*)  S.  oben  S.  116  ff. 

*)  8.  102. 

*)  H 454. 

•)  8.  61. 

•)  8.  13. 

T)  Herimanni  Ang.  Chronicon  SS  V p.  127  Z.  14. 


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133 


noch  spater  ausserhalb1)  der  Stadtmauern,  aber  in  nächster 
Nähe  derselben,  das  Germanusstift.  Neben  den  Capiteln  des 
Doms  und  denen  der  Guido-  und  Trinitatiskirche  erscheint 
aber  auch  dasjenige  dieses  Germanusstiftes  regelmässig  bei  den 
Streitigkeiten  zwischen  Clerus  und  Stadt,*)  war  also  sicher  lokal 
im  Machtbereiche  derselben  gelegen. 

Weit  besser  als  mit  den  später  innerhalb  der  Stadtmauern  ge- 
legenen Stiftern  lässt  sich  auch  die  Zwölfzahl  der  Geschworenen  zu 
Gottes  Gesetz  vielleicht  mit  derZwölfzahl  der  Speierer  Pfarreien 
in  Verbindung  bringen,  welche  im  Jahre  1296  zu  constatieren 
ist.  Damals  *)  wurde  ein  Ratsbeschluss,  der  gegen  eine  bischöfliche 
Rechtshandlung  Protest  einlegte,  vor  den  Plebanen  der  Pfarr- 
kirchen „s.  Mauricii,  s.  Stephani,  s.  Georii,  s.  Bartolomei,  s. 
Jacobi,  s.  Egidii,  s.  Petri,  s.  Marci  et  s.  Martini,“  sowie  vor 
der  Geistlichkeit  des  Doms  und  der  Stifter  St.  Germanus,  St. 
Guido  und  St.  Trinitatis  verlesen.  Da  auch  jedem  dieser  drei 
Stifter  Pfairrechte  in  einem  bestimmten  Bezirke  zustanden,  so 
erhalten  wir,  abgesehen  von  dem  Bezirke  des  Doms,  welcher 
wohl  nur  die  Wohnungen  der  Geistlichkeit  umfasste,  zwölf 
Pfarrbezirke ; ihre  Zahl  entspricht  vollkommen  der  der  Ge- 
schworenen zu  Gottes  Gesetz. 

Als  Symptom  dafür,  dass  diesen  Pfarreien  auch  weltliche 
Gemeinden  entsprochen  haben,  kann  vielleicht  angesehen  wer- 
den, dass  in  einer  Schenkungsurkunde  des  Jahres  1276  die  Be- 
merkung enthalten  ist:  actum  et  datum  est  in  choro  Spirensi 
apud  s.  Stephanum.4)  Auch  mag  an  dieser  Stelle  erwähnt  wer- 
den, dass  vielleicht  in  der  Speierer  Entwicklung  die  in  der  Nähe 
des  Rheins  gelegene  St.  Georgspfarre  eine  ähnliche  Rolle  wie 
in  der  Kölner  die  Martinspfarre  gespielt  hat.5)  Wenigstens 
scheint  es  so  erklärt  werden  zu  müssen,  dass  die  durch  Tod 
oder  Amtsniederlegung  veranlassten  Wahlen  zum  Rat  gerade  in 
dieser  Kirche  stattfanden  und  dass  gerade  hier  die  neugewählten 
Ratsherren  vereidigt  wurden.8) 

*)  cf.  Boehmer  Fontes  II  p 157  Z.  20  n die  Karte  bei  Zeuss. 

*)  z.  B.  ü 106. 

*)  cf.  U 188  p 148  Z.  27  ff. 

4)  U 129. 

*)  Vgl.  Höniger  Westd.  Ztsehr,  II  S.  241. 

•)  ü 227  p.  178  Z.  10  ff  cf.  U 397  p.  326  Z.  33  und  U 424  p.  375  Z.  14. 


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134 


Der  Umstand,  dass  im  Sendgerichte  wahrscheinlich  jede 
Pfarre  und  damit  wohl  auch  jede  der  weltlichen  Specialgemein- 
den durch  je  einen  Laien  vertreten  war,  mag  dieser  Behörde  die 
besonders  weiten  Competenzen  verschafft  haben,  in  deren  Be- 
sitze wir  sie  in  Speier  finden.  Allerdings  können  diese  Com- 
petenzen des  Collegs  nicht  so  genau  bestimmt  werden,  wie  es 
bei  ihrer  Ausdehnung  erwünscht  wäre.  Für  dieselben  liegen 
nämlich  nur  zwei  Quellen  vor. 

Zunächst  ist  eine  Bestimmung  über  den  Eid,  den  die  zwölf 
zu  leisten  haben,  erhalten;  Hilgard  hat  dieselbe  im  Anhänge 
seines  Urkundenbuches  veröffentlicht.1)  Danach  sollen  die  Zwölf, 
die  jährlich  zu  der  Gottes  Ehe  gesetzt  werden,  schwören,  bei  jeder 
Rüge,  sowohl  über  Reiche  als  Arme,  gerechte  Richter  zu  sein 
und  ihnen  selbst  hinterbrachte  Rügen  nur  dann  bei  Gericht  vor- 
zutragen, wenn  der  Rüger  die  Wahrheit  seiner  Anzeige  durch 
Eid  versichere.  Rau®)  ist  der  Ansicht,  dass  dies  von  1298  an 
der  Eid  der  Geschworenen  gewesen  sei.  Abgesehen  davon,  dass 
sich  aus  dem  von  Hilgard  gegebenen  Material  kein  Grund  für 
die  Wahl  gerade  dieses  Jahres  erkennen  lässt,  scheint  die  Auf- 
zeichnung überhaupt  nicht  den  ganzen  Eid  der  Geschworenen 
geben  zu  wollen;  sie  enthält  vielmehr  wohl  bloss  einen,  auf 
besonderer  Hinzufügung  durch  den  Rat  beruhenden,  Teil  des 
Eides. 

Aus  der  Aufzeichnung  folgt  zwar  jedenfalls  die  doppelte 
Stellung  der  Geschworenen  zur  Gottes  Ehe  als  Schöffen  wie  als 
Rügebeamte,  die  auch  ihnen  hinterbrachte  Rügen  vor  Gericht 
vorzutragen  haben.  Dagegen  scheint  es  mir  unrichtig,  mit  Rau 
aus  dem  angegebenen  Eideswortlaut  zu  schliessen,  dass  die  Be- 
fugnis der  iurati  ganz  unbeschränkt  gewesen  sei. 

Die  städtische  Gerichtsbarkeit  stand  damals  teils  dem 
ganzen  Rat,  teils  einem  Ausschüsse  desselben,  dem  Colleg  der 
sog.  Monatsrichter,  zu.*)  Schwerlich  wird  im  13.  und  14.  Jahr- 
hundert in  Speier  ein  unter  geistlichem  Vorsitz  tagendes  Ge- 
richt andere  als  die  nach  kanonischem  Rechte  sog.  delicta  mere 
eccles.  und  delicta  mixtae  condicionis  an  sich  gezogen  haben. 


‘)  Sp.  Urkb.  p.  480. 
•)  n S.  29. 

*)  Arnold  n 360. 


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135 


Die  Beschränkung  auf  diese  Delictsgattungen  war  wohl  zu 
selbstverständlich,  um  noch  ausdrücklich  erwähnt  zu  werden. 

Dass  dabei  aber  aus  der  Gerichtsbarkeit  bei  Rügen  wegen 
Meinkaufs  auch  in  Speier  weitgehende  Consequenzen  gezogen 
wurden,  ist  aus  dem  zweiten  Documente  über  die  Funktionen 
der  Geschworenen  zu  der  Gottes  Ehe  zu  erkennen,  welches  in  einer 
von  dieser  Behörde  im  Jahre  1298  ausgehenden  Verordnung 
besteht.1)  Es  ist  ein  weitläufiger  Erlass  über  Tuchfabrikation 
und  Tuchverkauf;  seine  zahlreichen  Bestimmungen  sind  durch- 
weg von  dem  Bestreben  erfüllt,  betrügerische  Benachteiligung 
des  Käufers  unmöglich  zu  machen.  Desshalb  war  auch  für  das 
Tuch,  ehe  es  zum  Walken  kommen  durfte,  eine  Schau  angeordnet, 
bei  welcher  ausser  zwei  Handwerksmeistern  auch  wenigstens 
einer  der  Geschworenen  selbst  zugegen  sein  musste.*) 

Inwieweit  noch  in  Bezug  auf  andere  Handwerke  derartige 
Besichtigungen  stattfanden,  lässt  sich  nicht  ermitteln.  Auch 
ist  es  bei  dem  später  in  Speier  herrschenden  Zunftregiment 
wenig  wahrscheinlich,  dass  die  Einrichtung  dieser  Waarenschau 
seitens  der  Geschworenen  zur  Gottes  Ehe  lange  Bestand  gehabt. 

Freilich  war  eine  Anwendung  der  dieser  Behörde  einge- 
räumten Befugnisse  im  Sinne  einer  der  regierenden  Stadtbehörde 
fremden  Wirtschaftstheorie  schon  durch  den  engen  Zusammen- 
hang zwischen  beiden  Collegien  ausgeschlossen.  Nach  den,  von 
Hilgard  herausgegebenen,  Listen s)  der  Geschworenen  zur  Gottes 
Ehe  in  der  Zeit  von  1343 — 49  gehören  sie  fast  alle  in  den  Jah- 
ren, die  ihrer  Amtsführung  vorhergingen  und  folgten,  dem  Rate 
an.4)  Wie  dieser,  so  war  auch  ihr  Colleg  damals  aus  Mitgliedern 
der  Geschlechter  und  aus  Handwerkern  zusammengesetzt.  Ob 
in  diesen  fünfziger  Jahren  des  14.  Jahrhunderts  noch  Beziehun- 
gen in  der  Wahl  der  Mitglieder  des  Collegs  der  Geschworenen 
zur  Gottes  Ehe  und  den  einzelnen  Speierer  kirchlichen  und  welt- 
lichen Teilgemeinden  bestanden,  ist  nicht  zu  ermitteln. 

Erwähnenswert  scheint  noch,  dass  in  Speier  die  Vorstadt 

*)  U.  199. 

*)  ibid.  S.  156  Z.  30  ff. 

*)  U 471,  478,  485,  493,  499,  511,  515. 

4)  Dass  sich  unter  ihnen  .auch  die  Bürgermeister  und  Herrn  aus  dem 
sitzenden  Bat  befinden,“  wie  Bau  II  S.  29  meint,  ist  wenigstens  aus  den 
Listen,  die  Hilgard  giebt,  nicht  zu  ersehen. 


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136 


Hasenpfuhl  ausschliesslich  oder  wenigstens  so  überwiegend  von 
Angehörigen  ein  und  derselben  Zunft,  nämlich  Schiffern  und 
Fuhrleuten  (sog.  Kärchera),  bewohnt  war,  dass  diese  Zunft 
geradezu  als  die  der  Hasenpfuhler  bezeichnet  wird.1)  Diese 
Vorstadt  war  aber  der  Pfarrsprengel  der  Magdalenenkirche;*) 
aller  Wahrscheinlichkeit  nach  bildete  sie  wie  eine  besondere 
kirchliche,  so  auch  eine  besondere  weltliche  Gemeinde.3) 

So  bietet  Speier  hauptsächlich  durch  die  Erwähnung  der  Heim- 
burgen und  einzelner  ihnen  in  späterer  Zeit  obliegenden  Pflich- 
ten Stoff  zur  Beantwortung  der  in  Betracht  kommenden  Fragen. 
Freilich  kann  man  aus  diesen  Thatsachen  und  ebenso  aus  der 
Zusammensetzung  des  Sendgerichtes  wesentlich  nur  in  Folge  der 
analogen  Verhältnisse  in  den  beiden  andern  Eheinstädten  auf 
die  Bedeutung  der  Specialgemeinden  schliessen ; wichtiger  ist 
dagegen  in  dieser  Beziehung  das,  im  Anfänge  der  Untersuchung 
nachgewiesene,  Zusammenwachsen  Speiers  aus  verschiedenen 
Stadtbezirken. 

Damit  dürfte  für  die  drei  Städte,  auf  welche  sich  die 
Untersuchung  über  die  Specialgemeinden  programmmässig  be- 
schränkt, das  gedruckt  vorliegende  Material  erschöpft  sein. 
Demnach  darf  nunmehr  zwecks  Zusammenfassung  der  gewonnenen 
Resultate  die  Beantwortung  der  im  Beginne  des  Capitels  aufge- 
stellten Fragen  versucht  werden: 

1)  Zunächst  war  für  das  Ziel  der  Forschung  der  Gesichts- 
punkt als  massgebend  aufgestellt  worden,  möglichst  genau  fest- 
zustellen, wann  und  wie  die  Specialgemeinden  entstanden  seien. 
Zum  ersten  Male  treten  sie  uns  in  Worms  zur  Zeit  des  Bischofs 
Theodalach,  also  um  die  Wende  des  neunten  und  zehnten  Jahrhun- 
derts, in  Mainz  aller  Wahrscheinlichkeit  nach  sogar  noch  früher, 
nämlich  um  815,  entgegen.  Funktionen,  Namen  der  Vorsteher 
und  die  ganze  Geschichte  der  Specialgemeinden  weisen  gleich- 
mässig  darauf  hin,  dass  sie  aus  den  alten  Geschlechts-  und 
Markverbänden , welche  allmälig  zu  blossen  Communal -Ver- 
bänden geworden  waren,  organisch  erwachsen  und  nicht  zu  ir- 
gend welcher  Zeit  eingerichtet  sind. 

*)  Kau  II  S.  3 u.  4,  Mone  Ztachr.  XV  S.  52,  J.  A.  Weis«  Zunftwesen 
(Frnkf.  1798)  S.  27. 

’)  vgl.  Zcuss  S.  13. 

*)  vgl.  U 446. 


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137 


2)  Von  den  beiden  Mainzer  Stadtteilen  Vilzbach  und  Sel- 
hofen  und  der,  freilich  nur  in  einem  Fall  überlieferten,  Be- 
nennung von  Mainzer  Stadtteilen  nach  nahe  gelegenen  Thoren 
abgesehen,  sind  in  unserer  Überlieferung  die  Specialgemeinden 
durchgängig  nach  den  städtischen  Pfarrkirchen  bezeichnet.  Es 
fiel  i.  d.  R.  gewiss  in  Mainz  und  Worms,  sowie  wahrscheinlich 
auch  in  Speier  Kirchspiel  und  Specialgemeinde  zusammen. 

Wenn  auch  zugegeben  werden  muss,  dass  durch  die  kirch- 
liche Einigung  und  die  Beteiligung  an  der  Kirchen -Verwaltung 
das  communale  Leben  in  den  Parochien  gestärkt  sein  mag,  so 
sind  doch  diese  kirchlichen  Funktionen  im  Gemeindeverbande 
weder  die  ursprünglichen  noch  die  ausschlaggebenden  gewesen. 

3)  In  der  Zeit  des  Übergangs  zur  Ratsverfassung  scheinen 
den  Specialgemeinden  in  unseren  Städten  noch  die  Mehrzahl 
der  wichtigeren  Funktionen  der  ländlichen  Heimschaften  und 
Zendereien  zugestanden  zu  haben.  Wohl  mochten  sich  damals 
schon  vielfach  aus  der  Änderung  des  wirtschaftlichen  Lebens 
innerhalb  der  Gemeinden  auch  Änderungen  und  Abschwächungen 
der  Funktionen  des  Gemeindeveibandes  ergeben  haben.  Doch 
scheint  es  andrerseits  sogar  nicht  an  einzelnen  Erweite- 
rungen der  Gemeindefunktionen  gefehlt  zu  haben;  eine  solche 
lag  z.  B.  in  der  seitens  einer  Mainzer  Specialgemeinde  von  den 
geistlichen  Behörden  erkauften  Erlaubnis  bestimmter  industrieller 
Arbeiten  an  Feiertagen. 

4)  Das  letzte  der  früher  gestellten  Probleme,  die  Ermitt- 
lung der  Beziehungen  der  Specialgemeinden  zu  den  Standes- 
und  Statusverhältnissen,  lässt  sich  aus  dem  vorliegenden  Ma- 
terial nur  teilweis  lösen.  Eine  gänzlich  dem  Hofrecht  unter- 
worfene Gemeinde  ist  uns  in  dem  Mainzer  Stadtteil  Vilzbach 
begegnet;  für  die  anderen  Specialgemeinden  scheinen  die  alten 
Statnsverhältnisse,  entsprechend  dem  Zurücktreten  und  all- 
mäligen  Erlöschen  des  Unterschiedes  zwischen  den  unfreien, 
halbfreien  und  freien  innerhalb  der  städtischen  Bevölkerung, 
keine  Rolle  gespielt  zu  haben.  Es  ist  ja  auch  bekannt,  dass 
in  einer  Markgenossenschaft  freie  mit  hörigen  und  unfreien 
Genossen  vereint  sein  konnten;  von  Maurer  hat  dies  noch 
besonders  an  einem  Beispiel  einer  städtischen  Markgenossen- 
schaft erwiesen.1)  Dafür,  dass  auch  unsere  Specialgemeinden 

')  StadtTerfassung  I 8.  99,  100,  vgl.  im  allgem.  auch  oben  S.  87. 


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138 


gewiss  i.  d.  R.  Angehörige  der  drei  Stände  in  diesem  Sinne 
enthielten,  genüge  es,  auf  die  Zusammensetzung  der  städtischen 
Bevölkerung  im  allgemeinen  und  die  häufige  Entstehung  von 
Unfreiheitsverhältnissen  durch  Selbsttradition  einzelner  au 
kirchliche  Anstalten  hinzuweisen. 

Als  sich  dann  im  13.  Jahrhundert  der  neue  Gegensatz  zwi- 
schen der  social  abgeschlossenen  Geldaristokratie  und  den  Hand- 
werkern ausgebildet,  finden  sich  sowohl  unter  den  Heimburgen, 
den  ehemaligen  Vorstehern  der  Specialgemeinden,  als  in  den 
vorzugsweise  mit  diesen  Beamten  besetzten  Sendgerichten,  als 
unter  den  mit  der  Steuerhebung  in  den  Specialgemeinden  be- 
trauten Personen  beide  Classen  der  Bevölkerung  vertreten. 

Als  Folge  der  völligen  Unterwerfung  der  Specialgemeindeu 
unter  den  Rat  und  des  Aufhörens  ihrer  politischen  und  com- 
munalen  Funktionen  erscheint  es,  dass  später  der  Heimburge 
in  Worms  und  Speier  zum  blossen  Ratsdiener  wird;  dass  im 
15.  Jahrhundert  ein  gewissermassen  als  Stadtsyndicus  auftreten- 
der Beamter  in  diesen  Orten  Heimburge  genannt  wird,  hat 
dagegen  höchst  wahrscheinlich  mit  den  Specialgeraeinden  gar- 
nichts  zu  tun. 

Was  das  Verhältnis  der  Specialgemeinden  unserer  Städte 
zu  den  Gewerbsständen  (Ackerbau,  Industrie,  Handel)  anbetrifft, 
so  scheint  jedenfalls  in  der  Zeit,  aus  der  wir  Nachrichten  über 
die  Heimburgen  in  ihnen  haben,  die  Urproduktion  in  rein  länd- 
licher Art  wenig  in  Betracht  gekommen  zu  sein.  Dafür  spricht 
jedenfalls  der  Umstand,  dass  einer  der  in  Dörfern  und  Acker- 
baustädten am  häufigsten  erwähnten  Funktionen  des  Heimbur- 
gen, des  Pfändens  bei  Flurschaden,  in  unseren  Städten  nirgends 
gedacht  ist.  Dagegen  weist  manches  darauf  hin,  dass  die  Spe- 
cialgemeinden mit  dem  gewerblichen  Leben  in  enger  Beziehung 
standen ; dazu  gehörte  die  Bestimmung  des  Mainzer  Dompropst- 
weistums über  die  von  den  Specialgemeinden,  in  denen  Darren 
bereitet  wurden,  übernommenen  Abgaben,  die  Bezeichnung  einer 
Speierer  Zunft  nach  der  Vorstadt  Hasenpfuhl  und  endlich  die 
auch  in  unseren  Städten  oft  vorkommenden  Benennungen  von 
Strassen  nach  Handwerken. 

Als  wichtigstes  Ergebnis  des  ganzen  Capitels  erscheint 
nun  jedenfalls  die  Darlegung  der  zeitlichen  Priorität  der  Spe- 
cialgemeinden vor  der  Ratsverfassung  in  unseren  Städten ; also 


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139 


ein  Resnltat,  das  dem,  was  Hoeniger  nnd  Liesegang  in  Köln, 
Vollbaum  in  Erfurt  gefunden  haben,  vollständig  entspricht. 

Wenn  sich  die  Untersuchung  jetzt  nach  Besprechung  der 
communalen  den  königlichen  und  bischöflichen  Beamten  in  un- 
seren Städten  zuwendet,  so  wird  sie  dabei  zugleich  den  Einfluss 
feststellen  können,  den  daselbst  die  in  der  ersten  Hälfte  des 
Mittelalters  massgebenden  politischen  Factoren,  Königtum, 
Kirche  und  Laienadel,  ausübten.  Nur  werden  in  dieser  letz- 
teren Hinsicht  die  Verhältnisse  vor  und  nach  dem  grossen 
Zwiespalt  zwischen  Königtum  und  Kirche  und  dem  ersten  po- 
litischen Auftreten  der  deutschen  Städte  besonders  behandelt 
werden  müssen. 


Capitel  VT. 

Bischöflicher  und  königlicher  Einfluss  in  den  Städten 
bis  zur  Zeit  Heinrichs  IV. 

Die  Beamten. 


Es  ist  oben  gezeigt,  wie  unsere  drei  mittelrheinischen 
Städte  schon  in  der  Regierungszeit  der  ersten  Salier  bedeutende 
Handelsplätze  geworden,  und  wie  sich  schon  in  dieser  Zeit  in 
ihnen  ein  besonderer  Kaufmannsstand  entwickelt  hatte.  Durch 
seine  genossenschaftliche  Organisation  und  seine  Beteiligung 
am  Schöffengericht  und  Bischofsrat,  sowie  höchst  wahrschein- 
lich auch  an  den  communalen  Geschäften  der  Specialgemeinden 
war  es  diesem,  die  Mehrzahl  der  Stadtbewohner  umfassenden, 
Stande  gelungen,  sich  mannigfachen  Einfluss  auf  Rechtsbildung, 
Rechtssprechung  und  Verwaltung  zu  verschaffen.  Bis  zu  den 
Zeiten  Heinrichs  IV  steht,  soweit  unsere  Nachrichten  reichen, 
der  städtische  Kaufmann  und  Handwerker  den  politischen 
Kämpfen  in  Deutschland  fern , die  wesentlich  durch  die 
Gegensätze  von  Centralgewalt  und  Stammesunabhängigkeit, 
von  geistlichem  und  weltlichem  Fürstentum  bestimmt  sind. 
Unterdessen  hatten  die  drei  mittelrheinischen  Städte  in  den 


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durch  diese  Kämpfe  sich  lokal  verschiedenartig  gestaltenden 
Entwicklungen  dasselbe  Schicksal,  unter  die,  in  der  Bildung 
begriffene,  Territorialherrschaft  ihres  Bischofs,  soweit  von  einer 
solchen  schon  in  dieser  Zeit  geredet  werden  darf,  zu  geraten. 

Es  kann  hier  natürlich  die  Entwicklung  der  Landesherr- 
schaft, eine  der  wichtigsten,  aber  noch  am  wenigsten 
erforschten  Parthien  der  Deutschen  Verfassungsgesckichte,1) 
nicht  im  einzelnen  verfolgt  werden.  Es  würde  selbst  zu  weit 
führen,  die  ins  10.  und  11.  Jahrhundert  fallenden  Anfangs- 
stadien dieser  Entwicklung,  welche  auch  allein  die  Probleme 
dieser  Arbeit  berühren,  einer  ausführlichen  Untersuchung  zu 
unterwerfen.  Doch  verdient  hervorgehoben  zu  werden,  dass 
gerade  in  den  Bischofsstädten,  die  sich  zum  grössten  Teil  der 
fürstlichen  Landeshoheit  später  am  ersten  entzogen  haben,  ge- 
wisse Stufen  ihrer  Entwicklung  zuerst  zurückgelegt  sind.  Der 
Grund  der  Ausbildung  der  ersten  Stadien  des  geistlichen  Terri- 
torialstaates in  vielen  der  damaligen  bischöflichen  Residenzen  ist 
sicher  zum  grössten  Teil  darin  zu  suchen,  dass  gerade  hier  die  eine 
der  es  zur  Territorialbildung  bringenden  Gewalten,  das  kirch- 
liche Fürstentum,  sich  dem  hohen  Laienadel  gegenüber  gänz- 
lich überlegen  erwies,  während  sonst  besonders  durch  den  Wider- 
streit dieser  beiden  Mächte  die  Territorialstaatsbildung  aufge- 
halten wurde.  Bereits  zur  Zeit  der  Völkerwanderung  hatten 
die  Bischöfe  in  ihren  Städten  oft  als  Vertreter  und  Leiter  der 

*)  Auch  sie  ist  zwar  neuerdings  durch  Lamprecht’sD.  W.  (s.IS.  1252  ff.) 
erheblich  erhellt  worden.  Doch  liegen  L.'s  Untersuchungen,  da  er  die  Unter- 
werfung der  Städte  unter  Territorialherrschaft,  sowie  die  aus  den  Reichsge- 
setzen zu  gewinnende  Erkenntnis  programm&ssig  ausschliesst,  den  hier  be- 
handelten Forschungen  fern.  Auch  Berchtold  (Entwickelung  der  Landeshoheit 
in  Deutschland  1663)  kommt  für  uns  wenig  in  Betracht,  da  er  seine  Unter- 
suchungen erst  mit  der  Zeit  Friedrichs  II  beginnen  lässt.  Ich  brauche  Übrigens 
wohl  kaum  gleich  an  dieser  Stelle  zu  betonen,  dass,  wenn  auch  im  folgenden 
von  den  ersten  Stadien  der  Territorialherrschaft  oder  Landeshoheit  der 
Bischöfe  in  den  Bischofsstädten  gesprochen  wird,  diese  in  vieler  Hinsicht  nur 
als  königliche  Beamte  in  ihnen  regierten.  Andrerseits  wird  ja  doch  kaum 
bestritten  werden  können,  dass  mitunter  die  Bischöfe  selbst  sich,  resp.  die 
Heiligen  ihrer  Kathedrale  (vgl.  Qierke  II  S.  528),  schon  als  Landesherren 
ansahen,  cf.  W.  U 44  a.  1016:  redacta  Wormatia  in  potestatem  beati  Petri, 
ferner  aus  späterer  Zeit  den  Kölner  Schied  von  1258  (Lacomblet,  Ukb.  d. 
Ndrrhns.  II  p 249  insbesondere:  summa  potestatis  et  re  rum  tarn  in  spiritua- 
libus  quam  in  temporaübus  est  d.  archiepiscopi). 


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141 


eingesessenen  Bevölkerung  eine  nicht  unbedeutende  Rolle  im 
politischen  Leben  gespielt.1)  Dieselbe  war  im  Merowingerreich 
eher  gestiegen  als  gesunken.2)  Insbesondere  sei  an  die  gewal- 
tige Ausdehnung  des  Kirchengutes,  die  geringe  Bildung  des 
Laienstandes,  welche  die  Zuziehung  von  Geistlichen  bei  allen 
wichtigeren  Regierungshandlungen  notwendig  machte,  und  den 
Einfluss,  welchen  die  Bischöfe  seit  der  Annahme  des  christlichen 
Glaubens  als  Lehrer  desselben  auch  auf  die  Könige  und  die 
germanische  Bevölkerung  gewinnen  mussten , erinnert.  Die 
Verwaltungspläne  des  Karolingischen  Reiches  haben  dann,  auf 
das  Zusammenwirken  der  geistlichen  und  weltlichen  Gewalt 
berechnet,  geradezu  den  Bischof  neben  dem  Grafen  zum  Ver- 
treter der  kaiserlichen  Autorität  gemacht.  Durch  die  Immuni- 
täten wurde  die  unmittelbare  Einwirkung  des  weltlichen 
Beamtentums  auf  die  Hintersassen  der  Kirche  aufgehoben,  wäh- 
rend der  Bischof  nach  wie  vor  auf  die  übrige  Einwohnerschaft 
durch  geistliche  und  weltliche  Mittel  wichtigen  Einfluss  ausübte. 

Dadurch,  dass  zu  den  Bischöfen  übel-wiegend  den  ersten  Ge- 
schlechtern angehörige  und  bei  Hofe  einflussreiche  Männer 
gewählt  wurden,  standen  die  Vertreter  der  geistlichen  Gewalt 
in  den  Bischofsstädten  zu  den  dort  allodial  angesessenen  oder 
mit  Ämtern  versehenen  Adelsfamilien  ganz  anders  als  die  ein- 
fachen Landpriester,  welche  der  Grundherr  selbst  oder  seine 
Hörigen  eingesetzt  hatten.  Die  das  Reich  erfüllenden  Kämpfe 
zwischen  Laienadel  und  Geistlichkeit 3)  wurden  in  den  Bischofs- 
sitzen, an  denen  sich  mächtige  Adelsfamilien  befanden,  am 
erbittertsten  geführt.  Verschiedene  Umstände  verliehen  hier  in 
der  Regel  den  Bischöfen  den  Sieg.  Zunächst  sei  daran 
erinnert,  dass  die  Vertreter  der  Kirchengewalt  den  sie  befeh- 
denden Laien  oft  geistig  wie  sittlich  überlegen  waren.  Dann 
sei  auch  noch  der  bekannten  Tatsache  gedacht,  dass  bis  zu 


')  Loening  Gesell.  d.  Kirchenrchts.  IS.  314  ff.,  Hatch Grundlegung. d.  Krchn.- 
vrfssng.  Westeuropas  (übers,  von  Hamack  1888)  S.  6. 

*)  Loening  II  220  ff.,  Hatch  S.  7,  Waitz  D.  V.  G.  II.  S.  67  ff. 

*)  Vgl.  Nitzsck  D.  G.  I 263  ff.,  278,  279  etc.,  ferner  den  Brief  des  Erz- 
bischofs Wilhelm  von  Mainz  an  den  Papst  Agapet  (Jaflfö  Bibi.  III  p 348: 
Dux  comesque  episcopi,  episcopus  ducis  comitisque  sibi  operam  vindicat) 
und  die  Schilderung  in  Bischof  Salomo’s  III  von  Constanz  Gedicht  (in  Mit- 
teiL  der  Antiqu.  Gesellsch.  in  Zürich  XII  S.  230  ff.  bes.  S.  233  Vers.  117). 


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142 


den  Zeiten  Gregors  VII.  die  deutschen  Könige  an  den  Bischöfen 
eine  wirksame  Stütze  gegen  den  unbotmässigen  Laienadel  fanden 
und  daher  die  Stärkung  der  Bischofsmacht  als  in  ihrem  eigenen 
Interesse  liegend  ansahen. 

Endlich  kann  noch,  als  zum  Siege  der  geistlichen  Gewalt 
in  den  Bischofsstädten  führend,  die  Erscheinung  erwähnt  wer- 
den, dass  die  Herzöge  und  Grafen  ihre  Rechte  in  der  Bischofs- 
stadt oft  gegen  politische  Concessionen  oder  im  Tausch  gegen 
Besitzungen  auf  dem  Lande  aufgaben,  während  der  Bischof  das 
lebhafteste  Interesse  daran  hatte,  alleiniger  Herr  seines  Resi- 
denzortes zu  sein.  So  ist  es  wohl  erklärlich,  dass  der  Wider- 
streit zwischen  Bischofs-  und  Grafengewalt  öfters  damit  endete, 
dass  das  alte  Grafengeschlecht  alle  seine  Rechte  am  Bischofs- 
sitze verlor  und  denselben  überhaupt  räumte.  Doch  ist  es  nicht 
zu  verkennen,  dass  sich  dieser  Entwicklung  auch  Gegentendenzen 
entgegenstellten  und  sie  wesentlich  aufhielten  oder  gänzlich 
verhinderten. 

Zunächst  litt  das  Bistum  an  der  allgemeinen  Schwäche 
jedes  Wahlfürstentums,  den  Beraubungen  in  den  Interregnen 
und  gelegentlich  zwiespältigen  Wahlen.  Ferner  gab  es  auch 
Bischöfe,  welche  wie  z.  B.  der  heilige  Wolfgang  von  Regens- 
burg,1) rein  geistlich  gesinnt,  die  Pflege  des  kirchlichen  Lebens 
nur  durch  geistliche  Mittel  erreichen  wollten  und  in  ihrer 
mönchischen  Richtung  keinen  Sinn  für  die  Vorteile  hatten, 
welche  weltliche  Machtstellung  ihren  Bestrebungen  gewähren 
konnte.  Endlich  wurde  die  Superiorität  der  geistlichen  Gewalt 
in  den  Bischofsstädten  auch  dadurch  zeitweise  bedeutend  be- 
schränkt, dass  die  Machtmittel  weltlichen  Beamtentums  und 
eines  ausgedehnten  Grundbesitzes  mehrere  Generationen  hindurch 
bei  ein  und  demselben  willensstarken  Adelsgeschlechte  vereinigt 
waren. 

Solche  Gegentendenzen  machten  sich  auch  in  unseren  Städten 
bemerkbar,  ohne  dass  aber  dadurch  in  ihnen  das  angedeutete 
regelmässige  Ergebniss  der  Streitigkeiten  zwischen  Bischof  und 
Laienadel  nicht  zur  Verwirklichung  gekommen  wäre.  Wie 
erbittert  speciell  in  Speier  der  Kampf  zwischen  weltlichen  und 
geistlichen  Grossen  gewesen  sein  muss,  lässt  sich  daraus 


*)  vgl.  F.  Gfrörer  Ecgeaaburg  S.  40. 


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143 


erkennen,  dass  dort  im  Jahre  913  ein  Bischof  namens  Einhard 
von  den  beiden  Grafen  Werner  und  Konrad  des  Augenlichts 
beraubt  wurde.1)  Der  Sohn  dieses  Werner  nun,  der  als 
Schwiegersohn  Otto’s  I.  bekannte  Konrad  der  Rothe,  hatte  im 
Rheinischen  Franken,  gestützt  auf  allodialen  Besitz  im  Speier-, 
Worms-,  Nahe-  und  anderen  Gauen,  sowie  auf  den  Besitz  der 
Grafenwürde  in  mehreren  derselben,  eine  herzogsähnliche  Gewalt 
erworben.*)  Speciell  in  den  beiden  Bischofsstädten  Worms  und 
Speier  besass  Konrad,  abgesehen  von  der  ihm  als  Grafen  des 
Gaus  zustehenden  Gerichtshoheit  und  Anführung  im  Kriege, 
noch  andere  Rechte,  welche  wohl  teils  auf  Grundherrschaft, 
teils  auf  Usurpation  oder  besonderer  königlicher  Verleihung  be- 
ruht haben  mögen. 

Konrads  Rechte  in  Speier  erfährt  man  bei  Gelegenheit 
ihrer  Abtretung  an  das  Bistum,  welche  im  Jahre  946,  und 
zwar  im  Tausch  gegen  verschiedene  ländliche  Grundstücke 
stattfand.8)  Danach  besass  er  in  der  Stadt,  abgesehen  von  den 
schon  erwähnten  gräflichen  Rechten,  sowie  einem  Grundstück 
und  einer  Anzahl  Unfreier,  noch  folgendes: 

1)  Polizeigewalt  gegen  Diebe  mit  Anrecht  auf  das  ge- 
stohleue  Gut,  eine  Befugnis,  die  wohl  aus  der  Gerichtshoheit 
entstanden  ist. 

2)  Münze  und  Hälfte  des  Zolls  (theloneum);  die  andere 
Hälfte  war  nämlich  schon  früher  an  den  Bischof  übergegangen.4) 
Unter  Zoll  ist  hier  nicht  ein  Passierzoll,  sondern  die  übliche 
Verkehrssteuer,  „welche  bei  jedem  Kaufgeschäft,  in  Gestalt 


*)  So  Dümmler  OstfirKnk.  Reich  Bd.  in  8.  693.  Nach  Dümmler  ibid. 
S.  608  starb  Einhard  erst  918.  Hingegen  lassen  ihn  Giesehrecht  D.  0. 1 8. 197 
nnd  Kernling  Gesch.  I 8.  227,  228  schon  913  getödtet  werden.  Ansser  ans 
den  von  Wimmler  a.  a.  0.  für  die  Richtigkeit  seiner  Ansicht  angeführten 
Belegstellen  ergiebt  sich  dieselbe  anch  ans  den  Beschlüssen  der  Synode  von 
Hohenaltheim  im  Jahr  916  (LL  II  p.  659  c.  31).  Da  hier  den  Verbrechern 
ausser  anderen  Strafen  auch  die  Leistung  einer  Geldhusse  an  Bischof  Einhard 
auferlegt  wird,  muss  dieser  doch  damals  noch  gelebt  haben. 

*)  vgl.  Dümmler,  Otto  I 8.  101, 102,  Köpke,  Widukind  (Berlin  1867)  S.  124 
— 126,  Bresslau,  Konrad  II  8.  6 mit  N.  6 nnd  Waitz  V.  G.  VH  S,  98  N.  2. 

*)  Sp.  U.  4. 

4)  medietatem  thelonei,  nam  altera  pars  semper  erat  illius  loci  ponti- 
ficum  . . . 


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144 


einer  Quote  des  Kaufpreises  erhoben  wurde,“  zu  verstehen,  wie 
sich  aus  der  Zusammenstellung  mit  der  Münze  ergiebt.1) 

3)  Die  Abgaben  der  Fremden,  welche  den  Speierer  Markt 
besuchten,  insbesondere  von  Wein,  Salz  und  Pech,  wohl  beson- 
dere Zuschläge  zu  der  erwähnten  Verkehrssteuer,  welche  nur 
den  auswärtigen  trafen.*) 

4)  Abgaben  bei  Ausfuhr  von  Waaren,  welche  indess  von 
einheimischen  nur  dann  geleistet  zu  werden  brauchten,  wenn 
sie  zu  Speculationszwecken  Waaren  ausführten.8) 

Die  Aufgabe  dieser  Rechte  seitens  Konrads  des  Roten 
kann  wohl  damit  in  Verbindung  gebracht  werden,  dass  Speier, 


')  vgl.  Rathgen,  die  Entstehung  der  Markte  in  Deutschland  (D&rmstadt 
1881)  S.  6 und  S.  44,  46,  47. 

*)  Nach  MUDze  und  Zoll  nennt  die  Urkunde  noch  salis  denarium,  quem 
vulgus  vocat  salzfenninc,  ac  picis  denarium,  qni  aliter  dicitur  Bteinfennmc, 
atqne  pro  re  denarium  hoc  est  flichtifeuninc,  ast  namque  vini  denarium,  qui 
theutonica  locucione  amfenninc,  que  tarnen  non  ex  habitatoribus  illios  civi- 
tatis sed  ab  extraneis  et  de  aliena  patria  venientibus  diligenter  sunt  acqui- 
renda.  Aus  dem  Zusammenhänge  ergiebt  sich,  dass  es  sich  hier  um  eine 
Abgabe  beim  Kauf  und  Verkauf  handelt,  nicht  um  Stenern,  wie 
Rau  8.  ä,  Remling  Gesell.  S.  233,  auch  nicht  um  Abgaben  von  eingeführten 
Waaren  wie  Schaube  S.  454  meint.  Ampfennig  ist  Übrigens,  wie  schon  Rem- 
ling a.  a.  0.  erkannt  hat,  = Ohmpfennig  (vgl.  auch  Kehrein,  Samlng.  alt- 
und  mittelhochd.  Wörter  in  lat.  Urk.  Nordh.  1863  S.  22);  es  musste  also  von 
jedem  Ohm,  dem  bekannten  Weinmass  des  Mittelalters  (vgl.  Lamprecht  D. 
W.  II  510)  beim  Weinschank  eine  Abgabe  an  den  Grafen,  später  an  den 
Bischof,  geleistet  werden. 

*)  Dies  ist  wohl  der  Sinn  der  Worte;  ut  quicqnid  negotiatores,  qui 
aliunde  ex  diversig  locis  fluctivagando  advenerint  navesque  suas  cum  vinifero 
pondere  vel  aliqua  causa  onerare  voluerint  vel  incolc  civitatis  lucrandi 
gratia  similiter  exire  templaverint,  a nullo  alio  licencia  est  acqnireuda 
nisi  a solo  pontifice  illiusque  ministris.  Freilich  ist,  da  die  Überlieferung 
der  Urkunde  nur  auf  einem  Copialbuche  beruht,  die  Richtigkeit  dieser  Stelle 
wie  die  Echtheit  der  ganzen  Urkunde  nicht  zweifellos,  wenn  letztere  auch 
sicher  aus  alter  Zeit  herrührt,  (vgl.  Waitz  V.  G.  VIII  S.  279  N.  6).  Rau 
S.  6 meint,  dass  es  sich  hier  tun  die  Erlaubnis  zur  Umgehung  der  Zoll- 
stätte gebandelt  habe,  zu  welcher  Auslegung  jedoch  gar  kein  Grund  vorliegt. 
Wenn  Remling  Gescb.  I S.  234,  Waitz  a.  a.  0.  und  Schaube  Speier  S.  454 
dem  Wortlaut  der  Urkunde  folgend,  das  Recht,  die  Ausfuhr  zu  erlau- 
ben, als  Otto  zustehend  und  von  ihm  übertragen  ansehen,  so  ist  doch  vor 
allem  zu  beachten,  dass  das  Recht  solcher  Erlaubniserteilung  damals  rein  fis- 
calisch  als  Einnahmequelle  für  den  erhebungsberechtigten  gehandhabt  wurde, 
vgl.  Rathgen  (in  dem  N.  1 citierten  Buche)  S.  44,  46. 


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wie  früher  erwähnt,  erst  seit  (1er  Regierung  der  Salischen 
Herrscher  einen  lebhafteren  Aufschwung  nahm.1)  So  mochten 
für  den  Grafen  sowohl  alle  diese  Verkehrsabgaben  wie  auch 
seine  Gerichtshoheit  von  wenig  Ergiebigkeit  sein,  während  es 
für  den  Bischof  höchst  wichtig  war,  .jenes  Grafengeschlecht, 
das  seinen  Vorgänger  des  Augenlichtes  beraubt  und  ihm  selbst 
jederzeit  gefährlich  werden  konnte,  ganz  aus  der  Stadt  zu 
entfernen.  Der  Kaiser  mag.  obgleich  der  Vertrag  nicht  an 
seinem  Hofe  geschlossen  war,  demselben  doch  nicht  fern  ge- 
standen haben.  Gerade  Otto  I.  stützte  sich  ja  damals  vorzugs- 
weise auf  die  kirchlichen  Grossen  und  vermehrte  ihre  Macht 
im  Reichsinteresse.*)  Andererseits  hat  doch  wohl  vornehmlich 
Rücksicht  auf  den  eigenen  Vorteil,  besonders  die  Absicht,  seine 
Besitzungen  zu  arrondieren,  Konrad  bestimmt,  seinen  ganzen 
Besitzstand  in  Speier  zu  räumen.  Nähere  Betrachtung  des 
Vertrages  von  946  lehrt  nämlich,  dass  Konrad  ausser  seinen 
Rechten  und  Besitzungen  in  der  Stadt  Speier  auch  4 Hufen  in 
der  villa  Lusslieim,  welche  auf  der  rechten  Rheinseite  liegt, 
abtrat  und  vom  Erzbischof  als  Gegenleistung  den  Ort  Röders- 
heim, sowie  Güter  in  Erpolzheim  und  Dürkheim  empfing;  die 
drei  letzteren  Orte  liegen  sämmtlich  im  Wormsgau,  im  Vergleich 
mit  den  von  Konrad  abgetretenen  Besitzungen  der  lothringischen 
Grenze  nahe.*)  Da  Konrad,  als  944  Herzog  Gisilbert  von  Lo- 
thringen und  bald  darauf  auch  dessen  Sohn  Heinrich  gestorben 
waren,  das  dortige  Herzogtum  erhalten  hatte,4)  musste  ihm 
eine  Arrondierung  seiner  Besitzungen  nach  den  diesem  Lande 
benachbarten  Gegenden  hin  von  besonderem  Werte  sein. 

Im  Jahre  969  gab  Kaiser  Otto  dem  Speierer  Bistum 
insofern  indirekt  eine  Bestätigung  der  durch  Tausch  erworbe- 
nen Rechte  in  seiner  Residenzstadt,  als  er  in  einer  Urkunde 
dem  dortigen  Bischof  Ottkar  ausdrücklich  das  Recht  verlieh,5) 
dass  in  der  civitas  und  der  villa  Spira  niemand,  sich  auf  Ottos 
Befehl  oder  Erlaubnis  berufend,  Gericht  halten  oder  juris- 

»)  S.  oben  8.  12—15. 

*)  vgl.  Dftmmler  Otto  I 8.  532 — 534,  Giesebrecht  D.  K.  I S.  821,  S 
S.  330  ff.,  Nitach,  D.  G.  I 8.  334. 

*)  vgl.  Sprnner-Menke  Handatlas  Karte  Nr.  34. 

4)  Dttmmler  ibid  8.  131,  Gieaebrecht  D.  K.  I 8.  287,  288. 

•)  Sp.  D.  5. 

Ko  eh  ne,  UrapranR  der  Ntadtverfasanng  ln  Worm»,  Speier  und  Mainz.  10 


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146 


dictionelle  Zwangshandlungen  vornehmen  dürfe.  Gemäss  den 
im  ganzen  Reich  wachsenden  Rechten  der  Bischöfe  tritt  in  den 
Bestätigungen  dieser  Urkunde  durch  Otto  II.,  Otto  III.  und 
seine  Nachfolger1)  an  Stelle  der  villa  Spira  der  circuitus  extra 
civitatem  und  dann  die  marca,  quae  eidem  eivitati  adiacens  est. 
In  diesen  Privilegien  wird  auch  ausdrücklich  untersagt,  dass 
in  diesem  speciellen  Herrschaftsgebiet  der  Speierer  Kirche  irgend 
jemand  ausser  dem  Bischöfe  und  seinem  Vogte  Zoll,  Münze 
oder  sonstige  Einkünfte  in  Anspruch  nehmen  solle.  So  war 
die  Stadt  Speier,  dadurch,  dass  Konrad  der  Rote  alle  seine 
Rechte  in  ihr  aus  Gründen  seiner  Hauspolitik  aufgegeben, 
unter  die  Herrschaft  ihres  Bistums  gekommen.  Wie  weit  diese 
noch  durch  kaiserliche  Reehte  beschränkt  war,  wird  weiter 
unten  erörtert  werden. 

Ähnlich  wie  in  Speier  ging  die  Entwicklung  der  Bischofs- 
macht Uber  die  Stadt  in  Worms  vor  sich.  Zunächst  sind  für 
das  Wormser  Bistum  einige  Privilegien  aus  der  Zeit  der  karo- 
lingischen und  ersten  sächsischen  Herrscher  erhalten;  in  diesen 
Urkunden  wurden  dem  Bistum,  abgesehen  von  der  Immunität 
seiner  gesammten  Besitzungen,  auch  königliche  Grundstücke, 
sowie  zwei  Drittel  der  Zolleinkünfte  in  der  Stadt  geschenkt.*) 
Fenier  hatten  die  Bischöfe  schon  damals  zwei  Drittel  der 
städtischen  Gerichtseinkünfte  zu  erwerben  gewusst;  Otto  II. 
bestätigte  dieselben  973  dem  damaligen  Bischof  Anno  zugleich 
mit  den  übrigen  Besitzungen  und  Rechten  des  Wormser  Epis- 
copats.*)  Da  diese  beiden  Drittel  der  Gerichts-  und  Zolleinkünfte 
früher  dem  Könige  zugefallen  waren,  war  also  die  Macht  des 


*)  Sp.  ü.  6—10. 

*)  W.  U.  12,  17,  28,  81,  32. 

*)  D 34.  Dem  Wortlaute  nach  werden  hier  dem  Bischof  schon  die 
ganzen  Gerichts-  and  ZolleinkOnfte  zugesprochen.  Doch  geht  aus  U 35  her- 
vor, dass  er  973  doch  «ur  '/»  derselben  besass.  Der  scheinbare  Widerspruch 
in  den  Bestimmungen  der  beiden  Urkunden  ist  jedoch  schon  von  Arnold  V. 
G.  1 31  durch  die  Erklärung  gelöst  worden,  dass  der  königliche  Fiscus  schon 
zur  Karolingerzeit  „von  allen  Gerichtsgefällen,  Wetten,  Bussen  und  sonstigen 
Strafgeldern  zwei  Teile“  erhalten  und  dieser  an  den  Fiscus  fallende  Anteil 
von  den  Königen  zuerst  veräussert  war.  Das  letzte  Drittel  hingegen  fiel  stets 
an  die  Grafen  und  blieb  ihnen  auch  in  Worms  so  lange  Vorbehalten,  als  ihre 
ordentliche  Jurisdiction  dauerte,  „da  es  gleichsam  einen  Teil  ihrer  Besoldung 
ausmachte.“  (Arnold  a.  a.  0.). 


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147 


Gaugrafentums  in  Worms  noch  nicht  beschränkt  worden.  Graf 
des  Wormsgaus  war  seit  dem  955  erfolgten  Tode  Konrads  des 
Roten  dessen  Sohn  Otto. 

Welch  bedeutende  Machtstellung  dieser  Fürst  gerade  in 
Worms,  das  den  Mittelpunkt  seiner  Herrschaft  bildete,  gehabt 
haben  muss,  geht  daraus  hervor,  dass  er  von  den  Annalisten 
und  im  Volksmund  mehrfach  als  der  Herzog  von  Worms  be- 
zeichnet wurde.*) 

Im  Jahre  979  übertrug  nun  Kaiser  Otto  II.  auch  das  letzte 
Drittel  der  Zoll-  und  Banneinkiinfte,  das  bisher  diesem  Otto, 
seinem  Vetter,  zugestanden,  an  das  Bistum.*)  Demnach  sollten 
also  alle  Abgaben  in  der  antiqua,  der  nova  urbs  und  der  villa 
an  den  Bischof  fallen,  und  niemand  innerhalb  der  Stadt  Gericht 
halten,  als  wen  der  Bischof  zum  Vogt  ernannt  habe.  Höchst- 
wahrscheinlich war  Herzog  Otto  durch  königliche  Concessionen 
zur  Zustimmung  zu  dieser,  ihn  beeinträchtigenden,  Bereicherung 
des  Bistums  bewogen  worden. 

Man  wird  wohl  nicht  fehlgehen,  wenn  man  Ottos  Einwilli- 
gung zu  der  Verfügung  des  Königs  damit  in  Zusammenhang 
bringt,  dass  er  ein  Jahr  vorher  von  diesem  mit  dem  Herzogtum 
Kärnthen  belehnt  war.*)  Dass  die  Verleihung  nicht  gegen  den 
Willen  Ottos  geschah,  geht  deutlich  daraus  hervor,  dass,  als  sie 
985  im  Namen  Ottos  III.  von  der  damaligen  vormundschaft- 
lichen Regierung  bestätigt  wurde,  dabei  als  Fürbitter  neben 
Willigis  von  Mainz  auch  Herzog  Otto  genannt  wird.4) 

Jedenfalls  dauerte  aber  der  Friede  zwischen  Otto  und  dem 
Wormser  Bistum  nicht  lange.  Abweichend  von  der  oben  ge- 
schilderten Entwicklung  in  Speier  wurde  bei  der  Überlassung 
der  Gerichtsbarkeit  au  den  Bischof  von  Worms  sein  Resi- 
denzort noch  nicht  von  den  Kouradiuern  geräumt.  Ihre  Burg 
in  der  Stadt  hatten  sie  behalten ; 5)  während  Otto  sich  meist  in 
seinem  Herzogtum  Kärnthen  aufhielt,  scheint  sein  Sohn  Kon- 


*)  Vgl.  Breaälan  in  Forsch  z.  D.  G.  XIII  S.  106,  107,  Henner,  Herzog- 
liche Gewalt  der  Bischöfe  von  Wirzburg  ( Wirz  bürg  1874)  S.  44,  Waitz  V.  G. 
TO  8.  98. 

»)  U 35. 

*)  Oiesebrecht  D.  K.  I 580. 

4)  ü 36:  Vuilligiso  et  Ottone  ilnce  subuixi«  precibu»  adhortantibus. 

•)  S.  S.  IV  p 835  c.  7. 

io* 


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148 


rad  dauernd  in  Worms  geweilt  zu  haben.  Mit  Hildibalds  zweitem 
Nachfolger  Burchard  (996 — 1025)  finden  wir  nun  Otto  und  Kon- 
rad  in  erbitterten  Streitigkeiten.  Wahrscheinlich  waren  die- 
selben dadurch  hervorgerufen,  dass  die  Konradiner  ihre  Rechte  in 
der  Stadt  wiederzugewinnen  suchten,  während  der  Bischof  auch 
ihre  Burg  seinen  Gesetzen  unterwerfen  wollte.  Es  ist  wohl 
nur  ein  Zeichen  der  durch  diese  Kämpfe  erzeugten  Erbitterung, 
dass  in  der  Vita  Burchardi  Konrad  und  Otto  geradezu  als  An- 
führer von  Räubern  und  Wegelagerern  geschildert  werden. 
Dagegen  ist  glaubwürdig,  dass  die  Konradinische  Burg  allen, 
welche  sich  gegen  den  Bischof  vergangen  hatten,  sichere  Zu- 
flucht bot.1)  Die  erwähnte  Biographie  des  Wormser  Bischofs 
berichtet  auch  von  zahlreichen  Ermordungen  und  Todtschlägen, 
welche  durch  den  Kampf  der  Konradinischen  und  der  bischöflichen 
Partei  in  der  Stadt  veranlasst  wurden.*)  Der  Bischof  Hess  zu- 
letzt, um  sich  und  seine  Anhänger  zu  sichern,  auch  seinen  Hof 
mit  einer  Mauer  umgeben.  So  war  die  Stadt  gewisser  Massen 
in  zwei  „feindliche  Heerlager“  geteilt.*) 

Erst  kurz  vor  dem  Ende  der  Regierung  Ottos  III.  wurden 
diese  Streitigkeiten  beigelegt;4)  nach  dem  Tode  dieses  Herr- 
schers hätten  aber  die  allgemeinen  politischen  Verhältnisse  die- 
sen Bürgerkrieg  leicht  von  neuem  anfachen  können,  während 
sie  freilich  deD  Anlass  zu  seiner  gänzlichen  Beseitigung  gaben. 

Bei  den  damals  entstehenden  Thronstreitigkeiten  trat  näm- 
lich Otto  von  Kärnthen,  dem  selbst  die  Krone  angeboten  ge- 
wesen, für  Heinrich  II.  ein;*)  hingegen  ergriff  Konrad  die 
Partei  seines  Schwiegervaters,  des  Herzogs  Hermann  von 
Schwaben.6)  Burchard  scheint  sich  anfangs  ab  wartend  verhal- 
ten zu  haben.  Als  dann  aber  Heinrich  nach  dem  Mittelrhein 
kam,  traten  Erzbischof  Willigis  von  Mainz  und  Bischof  Bur- 
chard von  Worms  unter  der  Bedingung  auf  seine  Seite,  dass 
er  das  Wormser  Bistum  in  Besitz  der  Burg  der  Konradiner  in 


')  ibid. 

’)  ibid.:  ob  hoc  obtruncationea  et  homicidia  multa  ex  utraque  parte 
bebaut. 

•)  So  Arnold  V.  G.  I S.  43. 

*)  Vita  Burchardi  c 8 (S.  S.  IV  p 836.) 

*)  Oieaebrecht  D.  K.  II  16,  Hirsch  HeinHch  II  Bd.  I S.  193. 

*;  Gieaebrecht  a.  a.  0.,  Hirach  ibid.  S.  207. 


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149 


Worms  setze,  und  somit  dies  Geschlecht  zttm  Verlassen  der 
Stadt  nötige.1) 

Als  Heinrich  sich  in  der  Zeit  von  Juni  bis  Oktober  1002  all- 
seitige Anerkennung  errungen,  gelang  es  ihm  auch,  dies  Ver- 
sprechen, an  das  er  von  Burchard  fortwährend  erinnert  wurde, 
zu  erf üllen.  Otto  liess  sich  bereit  finden,  gegen  die  Abtretung 
des  Königshofs  Bruchsal  und  anderer  Güter,  sowie  einer,  von 
Bischof  Burchard  selbst  gezahlten,  Geldsumme  sein  gesammtes 
Allod  in  Worms  dem  Könige  aufzulassen,  der  es  dann  dem 
Bischof  verlieh.*)  Vielleicht  zeigte  sich  Otto  deshalb  zu  diesem 
Tausche  bereit,  weil  wohl  gerade  auch  in  diesen  Tagen  der 
König  Ottos  Sohne  Konrad  den  Anschluss  an  Herzog  Hermann 
verzieh.*) 

So  war  jetzt  das  Konradinische  Grafengeschlecht  aus  Worms 
ganz  so  wie  früher  aus  Speier  verdrängt  worden.  Dem  Bis- 
tum war  es  durch  erfolgreiche  Politik  und  Abtretung  ländlicher 
Besitzungen  gelungen,  die  Amtsrechte  und  Allodien  der  Grafen 
zu  erwerben. 

Bemerkenswert  ist  die  Bedeutung,  die  Burchard  selbst 
diesem  Ereignisse  beilegte,  indem  er  der  Pauluskirche,  welche 
er  an  Stelle  der  sofort  niedergerissenen  Burg  bauen  liess,  die 
Inschrift  gab:  Ecclesia  ob  libertatem  civitatis.4)  So  fasst  auch 
einer  der  bedeutendsten  zeitgenössischen  Chronisten,  Thietmar  von 
Merseburg,  dies  Ereignis  nicht  nur  als  Vorteil  für  den  Bischof, 
sondern  auch  als  Befreiung  der  Stadt  auf4)  und  ähnlich  wird 
es  auch  in  der  Biographie  Burchards  bezeichnet.*)  Giebt  dies 
alles  auch  nur  die  Anschauung  des  geschehenen  Ereignisses 
vom  geistlichen  Standpunkte,  so  hätte  dasselbe  doch  nicht  der- 

*)  Vit*  Bnrchardi  c 9 (p  836.) 

*)  Die  Thatsache  der  Abtretung  und  Verleihung  der  Burg  ergiebt  sich 
aus  TJ  39  u.  Vita  Bnrchardi  c 9,  ans  letzterer  auch,  dass  der  König  an  Otto 
den  Hof  Bruchsal  abtrat.  Dass  zugleich  der  Bischof  an  Otto  eine  Geldsumme 
sahlte,  ergiebt  sich  aus  den  Worten  von  D 43:  quam  ego  prediis  meis  et 
peeunia  a duce  Ottone  redemi. 

*)  Damals  wurde  auch  zwischen  Hermann  und  Heinrich  Friede  ge- 
achloesen.  Hermann  musste  dem  Strassburger  Bischof  ähnliche  Concessionen 
machen,  wie  die  Konradiner  dem  Wormser  vgl.  Hirsch  Heinrich  II  Bd.  I S.  299. 

*)  Vita  Burchardi  c 9 (p  837),  cf.  auch  U 43  (s.  oben  N.  2.) 

*)  8.  S.  m 804  Z.  20  ff.,  vgl.  Arnold  V.  G.  146,  Hirsch  Heinrich  II  Bd.  1 3. 488. 

*)  c.  9:  ita  Wormatia  iniqno  servitio  über  ata  est. 


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150 


art  betrachtet  werden  können,  wenn  es  Unterwerfung  der  freien 
Stadtbewohner  unter  bischöfliches  Hofrecht  nach  sich  gezogen 
hätte.  Es  scheint  angebracht  dies  hier  ausdrücklich  hervorzu- 
heben, weil  noch  kürzlich  Kruse  in  seiner  Verfassungsgeschichte 
Strassburgs  *)  eine,  der  besprochenen  Wormser  ganz  analoge  Ver- 
stärkung der  Strassburger  bischöflichen  Herrschaftsrechte  als 
Ursache  der  angeblich  später  hervortretenden  Hörigkeit  der  ge- 
sammten  Einwohnerschaft  charakterisiert  hat. 

Dass  freilich,  seitdem  979  und  1002  in  der  Stadt  Worms 
die  Allodien  und  Regierungsrechte  des  Grafen  mit  der  geist- 
lichen Gewalt  und  dem  Vermögenscomplex  der  Kirche  vereinigt 
waren,  diese  zwischen  dem  einzelnen  und  dem  Königtum  ste- 
hende Macht  bedeutender  wachsen  konnte,  als  wo  sich  Bischof 
und  Graf  oder  Herzog  gegenüberstanden,  und  jeder  von  beiden 
die  königliche  Unterstützung  für  sich  erlangen  wollte,  ist  selbst- 
verständlich. Zwar  fehlte  es,  wie  wir  sehen  werden,  auch 
noch  nach  1002  in  der  Stadt  Worms  nicht  an  Streitigkeiten 
zwischen  Bistum  und  Laienadel.  Das  Seltenerwerden  derselben 
war  aber  gewiss  schon  in  wirtschaftlicher  Hinsicht  für  die 
Städter,  insbesondere  für  die  kaufmännische  Bevölkerung,  als 
Glück  zu  betrachten. 

Wohl  wurden  wie  oben")  gezeigt,  z B.  in  der  Frage,  ob 
Zweikampf  oder  Eid  als  Beweismittel  vorzuziehen  sei,  die 
kaufmännischen  Interessen  vom  Bischof  bisweilen  gänzlich 
verkannt;  dennoch  durften  sie  immer  noch  bei  ihm  auf  weit 
mehr  Unterstützung  und  Verständnis  als  bei  dem  damaligen 
Laienadel  hoffen.  Verfassungsrechtlich  hatte  die  Vermehrung 
der  Bischofsrechte  keine  Herabdrückung  der  noch  freien  Ein- 
wohner ins  Hofrecht,  sondern  vielmehr  nur  die  Ausbildung 
eines  selbständigen  geistlichen  Territoriums  zur  Folge.  Es  ist 
ja  auch  schon  oben*)  gezeigt  worden,  wie  Bischof  Burchard 
1024  nicht  alle  Stadtbewohner  zu  seiner  familia  zählt,  durch 
die  Änderung  der  wirtschaftlichen  Verhältnisse  aber  damals  die 
alte  Unterscheidung  in  Freie  und  Unfreie  schon  im  Erlöschen 
ist.  Mit  dem  Übergang  der  gräflichen  Rechte  und  Allodien  hat 


*)  S.  4 — 6. 

*)  S.  17—22. 

»)  S.  32,  33,  8.  40  ff. 


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161 


diese  Erscheinung  freilich  sehr  wenig  zu  tun.  Ehe  dies  aber 
insbesondere  durch  Feststellung  der  Thätigkeit  und  Herkunft 
der  Beamten,  welche  sich  nach  dem  besprochenen  Ereignis  in 
Worms  finden,  erläutert  werden  kann,  muss  noch  ein  Blick  auf 
die  dritte  der  behandelten  Städte,  auf  Mainz,  geworfen  werden. 
Hier  finden  wir  im  zehnten  und  elften  Jahrhundert  dieselbe 
bischöfliche  Herrschaft  wie  in  Speier  und  Worms,  während  wir 
allerdings  über  die  Entwicklung  derselben  weniger  unter- 
richtet sind. 

Dass  fiskalische  Einkünfte  auch  in  Mainz  schon  früh  an 
den  dortigen  Erzbischof  übergegangen  sind,  lässt  sich  ans  einer 
Urkunde  Ottos  II.  von  975  schliessen,  in  welcher  dieser  dem 
Mainzer  Erzbistum  unter  anderen  Verleihungen  seiner  Vorgänger 
auch  monetas  und  thelonea  bestätigt.1)  Es  ist  ja  höchst  un- 
wahrscheinlich, dass,  wenn  das  Mainzer  Erzbistum  überhaupt 
schon  im  Besitz  derartiger  königlicher  Einkünfte  gewesen,  ihm 
nicht  auch  die  seiner  Residenzstadt  überwiesen  seien.  Dass 
aber  damals  die  ganze  Grafengewalt  in  Mainz  schon  au  den 
Erzbischof  gekommen  war,  ist  mit  Recht  allgemein1)  aus  der 
oben  besprochenen  Urkunde  Ottos  II.  für  Worms  von  979  ge- 
schlossen worden.*)  Hier  ist  nämlich  gesagt,  dass  der  Worm- 
ser Bischof  alle  Zoll-  nnd  Gerichtseinkünfte  seiner  Residenzstadt 
erhalten  und  diese  unter  der  alleinigen  Jurisdiktion  seines 
Vogtes  stehen  soll,  ganz  wie  es  bei  den  Erzbischöfen  von  Köln 
und  Mainz  der  Fall  sei.  Demnach  existirte  also  auch  in  letz- 
terem Orte  keine  von  der  Kirche  unabhängige  Grafengewalt 
mehr.  Ob  sich  die  Herrschaftsrechte  der  Konradiner  früher 
auch  auf  Mainz  erstreckt  und  dies  Geschlecht  auf  seine  dortigen 
Rechte  ebenso  wie  in  Worms  und  Speier  ausdrücklich  verzichtete 
oder  ob  vielleicht  ein  dort  waltender  Graf  in  Abhängigkeit  von 
der  geistlichen  Gewalt  trat,  indem  er  die  Vogtei  von  ihr  zu 
Lehen  nahm,4)  muss  unentschieden  bleiben.  Dass  aber  in  Mainz 
im  elften  Jahrhundert  ganz  ähnliche  Verfassungsverhältnisse, 


*)  Stumpf  641,  Guden  Cod.  dipl.  I p.  7. 

*)  Arnold  V.  G.  I 32,  Bockenheimer  S.  5,  Hegel  S.  18. 

•)  W.  U.  36. 

*)  Derartiges  vermutet  für  Basel  Heusler,  Vrfssugsg.  d.  Stadt  Basel 
S.  21,  26 — 35,  und  weist  ftlr  Verdun  Wait«  nach  (V.  G.  VII  46). 


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152 


wie  in  unseren  anderen  beiden  Städten  herrschten,  lässt  sich 
aus  einem  Vergleich  derselben  erkennen.  Ein  näheres  Eiugehen 
auf  die  bischöflichen  Beamten  in  unseren  Städten  in  der  Zeit 
der  bischöflichen  Machthöhe  in  ihnen  erscheint  auch  um  so 
mehr  angebracht,  als  sich  daraus  ergiebt,  dass  mit  dem  Weg- 
züge des  alten  Grafengeschlechts  die  Reibungen  zwischen  Laien- 
adel und  geistlicher  Gewalt  noch  nicht  aufhörten;  ferner,  was 
noch  viel  wichtiger  ist,  dass  durch  die  Ottonischen  Privilegien 
kein  Ausscheiden  der  Stadt  aus  dem  sie  umgebenden  Lande 
in  der  Rechtssprechung  und  noch  weniger  eine  völlige  Lösung 
der  unmittelbaren  Beziehungen  der  Einwohner  zu  dem  Reichs- 
oberhaupte stattfand. 

Zugleich  kann  auch  dadurch  das  viel  behandelte  Problem 
des  Ursprungs  und  der  Bedeutung  der  Burggrafen  seiner  Lö- 
sung näher  geführt  werden,  da  diese  schon  als  die  höchsten 
und  wichtigsten  Beamten  in  unseren  drei  Städten  eine  beson- 
dere eingehende  Besprechung  verlangen. 

Der  erste  Gelehrte,  welcher  der  Frage  nach  dem  Ursprung 
des  Burggrafenamts  nachgegangen  ist,  Gau  pp,1)  erklärte  be- 
kanntlich die  Burggrafen  für  „gewöhnliche  Gaugrafen  mit  der 
rein  faktischen  Eigentümlichkeit,  dass  ihr  Gau  einzig  oder  doch 
hauptsächlich  in  einer  Stadt  bestand.“  Darin  mit  ihm  wesent- 
lich übereinstimmend,  war  Arnold  in  seinersehr  ausführlichen 
Untersuchung  über  die  Burggrafschaft*)  doch  auch  zu  dem 
Ergebnisse  gekommen,  dass  der  Burggraf  nur  in  mit  Pfalzen 
versehenen  Städten  sich  finde  und  der  in  diesen  „vom  König 
gesetzte  eigentümlich  städtische  Richter  für  Freie“*)  sei. 
Wichtig  ist  auch,  dass  er  gegen  Eichhorn,4)  welcher  die 
Immunitäten  als  den  Grund  der  Exemtion  der  Stadt  von  der 
Landschaft  erklärte,  diese  Exemtion  schon  in  der  Errichtung 
der  Stadtgrafschaften  fand,  welche  er  in  unseren  Städten  noch 
in  die  karolingische  Zeit  hinaufreichen  liess.8) 

')  Über  deutsche  Stildtegrflndtmg,  Stadtverf.  n.  Weichbild  (Jena  1824) 
bes.  S.  55  n.  S.  258  ff. 

*)  V.  Q.  I S.  76—128. 

*)  s.  bea.  S.  122. 

4)  Ztschrft  fllr  gesch.  Rchtwssnuclift,  I 8.  147—247.  insbes.  230—232. 
D.  B.  O.  (5.  Auli.  1843)  II  § 224  a. 

*)  & 122,  183.  129,  130. 


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168 


Gegen  diese  Auffassung  hat  dann  Hegel1)  verschiedene 
Bedenken  geltend  gemacht,  die  namentlich  darin  gipfeln, 
dass  in  Magdeburg,  Augsburg  und  Nürnberg  die  Beamtung  des 
Burggrafen  entschieden  nicht  aus  einer  älteren  Gau-  oder  Stadt- 
grafsehaft  stammt 

Noch  weiter  entfernte  sich  dann  von  der  Theorie  Gaupps 
und  Arnolds  Nit zsch  in  den  einschlagenden  Stellen  von  „ Minis  te- 
rialität  und  Bürgertum.“  *)  Er  erklärte  die  Burggrafschaft  für 
eine,  in  der  spätkarolingischen  Zeit  entstandene,  Pf&lzbeamtung, 
welche  durch  die  erhöhte  Bedeutung  der  Städte  und  den  wachsen- 
den Wert  derselben  für  das  königliche  Finanzwesen  hervorgerufen 
sei.  Zu  ziemlich  ähnlichen  Resultaten  war  auch  der  gerade 
hierin  wohl  beachtenswerte  Gfrörer*)  gekommen,  welcher  den 
Ursprung  der  Burggrafschaft  teils  in  den  sächsischen  Burg- 
wardien,  teils  in  dem  von  den  deutschen  Königen  in  Rom  ein- 
gesetzten pr&efectus  urbis  fand ; in  den  Burggrafen  der  Bischofs- 
städte sah  er  königliche  Beamte,  welchen  angeblich  besonders 
die  Überwachung  der  Bischöfe  oblag. 

Die  grosse  Unwahrscheinlichkeit  der  Theorie  von  Nitzsch 
ist  von  Hensler6)  mit  sprachlichen*)  und  geschichtlichen6)  Be- 
weisgründen dargetan  worden,  wobei  mittelbar  auch  ein  Teil 
der  Gfrörerschen  Aufstellungen  sich  als  unrichtig  herausstellt. 
Nach  Hensler  ist  der  Stadtgraf  wie  der  Gaugraf  Organ  der 
Reichsregierung,  nur  dass  er  statt  einem  Gau  einem  städtischen 
Bezirke  vorgesetzt  ist.  Andrerseits  gelangte  nach  Hensler  gerade 
der  Burggraf  vielfach  durch  die  Ottonischen  Privilegien  in  eine 
doppelte  Stellung,  da  er  zugleich  bischöflicher  Beamter  für  Aus- 
übung der  Gerichtsbarkeit  und  königlicher  für  Überwachung 
der  noch  übrig  gebliebenen  Pfalzeinkünfte  wurde.7)  Im  übrigen 
betonte  Hensler,  dass  man  kaum  fehlgehen  wird,  wenn  man 
für  die  Burggrafschaften  einen  gleichen  Ursprung  wie  für  die 
anderen,  innerhalb  der  alten  Gaue  entstandenen,  kleineren  Graf- 


•)  Allgemeine  Monatsschrift  1864  S.  164 — 167. 
*)  S.  144—163. 

*)  Gregor  VII  Bd.  VII  S.  249  ff. 

4)  Ursprung  8.  52 — 87. 

‘)  s.  bes.  S.  53,  54. 

*)  8.  56  ff 
’)  8.  72. 


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164 


schäften  annimmt,  und  dass  demnach  das  Verhältnis  der  burg- 
gräflichen  Städte  zur  Gaueinteilung  im  einzelnen  festzustellen 
sei.  So  verwies  schon  Heusler  für  diese  Frage  auf  eingehende 
Detailuntersuchung.  Den  Heuslerschen  Resultaten  schloss  sich 
auch  der  Altmeister  der  deutschen  Verfassungsgeschichte,  Georg 
Waitz,  in  seiner,  an  Vorführung  von  Quellenstellen  ausser- 
ordentlich reichen  Untersuchung  über  das  Burggrafeuamt,')  an; 
dabei  bemerkt  er  jedoch,  es  sei  kein  Grund  anzunehmen,  dass 
„der  Burggraf  jemals  zugleich  bischöflicher  Beamter  für  die  Ge- 
richtsbarkeit, königlicher  für  Überwachung  von  Pfalzeinkünften 
gewesen.“  *) 

So  hat  sich  also  Waitz  eigentlich  ganz  für  die  alte  Gaupp- 
sche  Ansicht  erklärt  und  nicht  nur  die  Aufstellungen  von  Nitzsch 
und  Gfrörer,  sondern  auch  die  Modificationen,  mit  welchen  diese 
Ansicht  von  Arnold  und  Heusler  angenommen  ist,  verworfen. 
Dagegen  hat  sich  neuerdings  wieder  Lamprecht*)  der  von  Nitzsch 
vertretenen  Auffassung  der  Burggrafschaft  angeschlossen,  ohne 
aber  selbst  die  Frage  endgültig  entscheiden  zu  wollen.  Um  so 
wichtiger  ist  es,  durch  Specialuntersnchungen  die  Burggraf- 
schaften in  den  einzelnen  Städten  zu  erforschen,  um  den  Ur- 
sprung und  die  Entwicklung  dieses,  für  die  Verfassungsgeschichte 
so  wichtigen,  Amtes  allmählich  klarzulegen. 

Als  sicheres  Ergebniss  derartiger  Specialuntersuchungen  kann 
schon  jetzt  angesehen  werden,  dass  ein  in  den  Quellen  erwähnter 
comes  einer  unter  bischöflicher  Regierung  stehenden  Stadt  unter 
Umständen  durchaus  nichts  mit  dem  alten  Gaugrafen  zu  tun 
haben  kann  und  ebensowenig  immer  für  einen  Burggrafen  zu 
halteu  ist.  Dies  geht  insbesondere  aus  den  recht  instruktiven 
Forschungen  Schoops  über  Trier*)  hervor,  dessen  angebliche 
Burggrafen  vielfach  mit  den  alten  Gaugrafen  in  Verbindung 
gebracht  sind.6)  Hier  wurde  in  der  Mitte  des  elften  Jahr- 
hunderts, nachdem  bis  dahin  lange  Zeit  nur  ministerielle  Vögte 
existiert  hatten,  in  Folge  der  Bedrohung  des  Erzbistums  durch 
die  Luxemburger  ein  mächtiger  Graf  der  Umgegend,  Theodorich, 

*)  V.  G.  Bd.  VII  S.  41  ff. 

»)  S.  42  N.  1. 

»)  D.  W.  I S.  1368—71. 

‘)  S.  66-162. 

*)  rgl.  i.  B.  Heusler  Urapr.  S.  67. 


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166 


mit  der  Vogtei  des  Erzstifts  betraut. ')  Obgleich  dieser  Theo- 
dorich  bei  gleichzeitigen  Schriftstellern  auch  als  comes  de  militia 
Trevirorum,  ja  als  comes  Trevironim  bezeichnet  wird*),  so  stand 
er  doch  nach  Schoop*)  durch  seine  Eigenschaft  als  Schirmvogt 
des  Bischofs  noch  in  gar  keiner  näheren  Beziehung  zur  Stadt 
als  zu  dem  übrigen  erzstiftischen  Gebiete.  Vollkommen  von 
dieser  Schirmvogtei  über  das  Bistum,  die  ihren  Inhaber  fälsch- 
lich als  Grafen  von  Trier  erscheinen  lässt,  zu  trennen,  ist  die 
Trierer  Burggrafschaft,  in  deren  Besitz  wir  zwischen  1129  und 
1140  einen  bischöflichen  Ministerialen  Ludwig  finden,  die  aber 
sonst  nicht  erwähnt  wird.4)  Dieser  Ludwig  hatte  sich  durch 
persönliche  Tüchtigkeit  während  zweier  schwacher  bischöflicher 
Regierungen  der  Stadtherrschaft  bemächtigt  und  sich  selbst  den 
Titel  pr&efectus  nrbis  gegeben. 

Wie  in  Trier,  so  hat  auch  in  Strassburg  die  Burggrafschaft 
mit  der  alten  Gaugrafschaft  garnichts  zn  tun,  vielmehr  scheint 
hier  nach  den  Untersuchungen  Kruses  der  Name  einfach  von 
auswärts  auf  einen  „städtischen  Polizeimeister  des  Bischofs* 
übertragen.5)  Zu  entgegengesetztem  Resultate  führte  die  Special- 
forscbung  bei  Regensburg,  an  welchem  Orte  das  Amt  des  Burg- 
grafen gerade  zuerst  in  bestimmter  Ausbildung  entgegen  tritt*) 
Betreffs  dieses  Ortes  sprach  sich  nämlich  F.  Gfrörer ’)  ganz  im 
Sinne  der  alten  Gauppschen  Theorie  dafür  aus,  dass  daselbst 
der  Burggraf  der  Nachfolger  des  früheren  Gaugrafen  sei. 

Suchen  wir  nun  für  unsere  drei  Städte  das  erste  Vorkommen 
der  Burggrafen  festzustellen.  Für  Worms  lässt  sich  die  Existenz 
deiselben  am  frühesten,  nämlich  schon  1014  und  1016,  con- 


')  Schoop  S.  87—95. 

*)  S.  88. 

*)  S.  93—95. 

«)  S.  96—99. 

*)  15 — 18.  Ebenso  hat  sich  neuerdings  durch  Specialforschung  ergeben, 
dass  i.  Ggstx.  zu  der  noch  von  Heu  »1er  Ursprung  8.  63  vertretenen  Anschauung 
in  Corvey  und  den  anderen  westfälischen  Städten  kein  Zusammenhang  «wi- 
schen StadtgTafentum  und  Gaugrafentum  besteht  s.  Lüvinson,  Beitr.  «. 
Vrfssngsg.  d.  Westf.  Reichsstiftastädte  (Paderborn  1889)  namentl.  3.  40  ff., 
44  ff.,  76  ff.,  126. 

•)  Vgl.  Waitt  V.  G.  VII  S.  43. 

*)  8.  31  ff 


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166 


statiren');  in  Mainz  ist  ein  Burggraf  zuerst  zur  Zeit  des  Erz- 
bischofs Bardo  (1031 — 61)*),  in  Speier  dagegen  erst  1101 
ausdrücklich  bezeugt.8)  So  fällt  denn  das  Schwergewicht  der 
Untersuchung  nach  dem  Ursprünge  der  Burggrafschaft  auf 
Woi-ms.  Hier  wurde  1016  dem  „comes  civitatis“  jegliche  Amts- 
handlung in  der  Umgebung  der  damals  errichteten  Kirche  St. 
Paul  untersagt.4)  So  hatte  also  auch  nach  dem  Wegzuge  der 
Konradiner  ein  Graf  Gewalt  in  der  Stadt. 

Diese  Thatsache  geht  auch  aus  der  viel  besprochenen  Ur- 
kunde Kaiser  Heinrichs  II  vom  Jahre  1014 5)  hervor,  welche  er 
für  Bischof  Bnrchard  von  Worms  auf  die  gemeinsame  Beschwerde 
der  Bischöfe  nnd  Äbte  seiner  Provinz  ansstellte.  Hier  wird, 
ohne  dass  von  irgend  einer  Beschränkung  auf  städtisches  oder 
nichtstädtisches  Gebiet  die  Rede  ist,  gesagt,  dass  alle  Personen, 
die  zur  familia  des  Wormser  Bistums  gehören,  für  innerhalb 
der  familia  verübte  Verbrechen  nur  dem  Vogte  zum  Vorteile 
des  Bischofs  Busse  zu  leisten  haben. 

Bei  Vergehen  gegen  Auswärtige  sollen  sie  vom  Vogte  vor 
dem  Grafen  vertreten  werden.  Dem  Grafen  sollte  eine  direkte 
Gewalt  über  Leute  der  Kirche  nur  dann  zustehen,  wenn  sie 
im  echten  Ding  von  den  Schöffen  verurteilt  würden ; auf  hand- 
hafter  That  ergriffene  Diebe  sollte  er  bis  zum  nächsten  Gerichts- 
tage in  Gewahrsam  halten  dürften.  Es  ist  möglich,  dass  da, 
wie  später  gezeigt  werden  wird,  Burggraf  und  bischöflicher 
Vogt  damals  in  der  Stadt  dieselbe  Person  waren,  diese 
Bestimmungen  sich  nur  auf  die  ausserstädtischen  Hö- 
rigen beziehen  mochten.  Anders  aber  steht  es  mit  der  letzten 
Verordnung  unserer  Urkunde. 

*)  W D.  42  u.  43  vgl.  unten. 

*)  Hegel  S.  20,  vgl.  auch  S.  27,  28. 

*)  Sp.  ü 13. 

4)  U 43.  Über  die  Echtheit  dieser  Urk.  vgl.  oben  S.  104  N.  1.  Jedenf&Il  Ist 
die  Frage,  ob  die  Worte  der  Urkunde:  „Infra  hunc  terminnm  nec  coues 
civitatis  nec  aliqnis  iudex  aliqoid  agere  vel  exigere  praesumat"  dem  Anfänge 
des  11.  oder  12.  Jahrhunderts  angeboren,  deshalb  von  wenig  Belang,  weil  die 
Existenz  von  dem  Bischof  unterstehenden  Grafen  im  Beginn  des  11.  Jahr- 
hunderts sich  schon  aus  der  sogleich  zu  besprechenden  Urkunde  von  1014  (U 
42)  ergiebt. 

s)  U 42  vgl.  Arnold  V.  G.  I 46,  47,  Nitzsch  Ministerialitit  219,  220, 
Hensler  Ursprung  S.  39 — 41  Schaube  Worms  S.  258. 


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157 


Nach  derselben  hatten  sich  nämlich  der  Bischof  and  die 
übrigen  Geistlichen  ganz  besonders  darüber  beklagt,  dass  die 
Grafen  unrechtmässiger  Weise  60  sol.  als  Gewedde  zu  fordern 
wagten.  Der  gräfliche  Bann  wurde  daher  auf  5 sol.  ermässigt; 
60  sol.  sollten  nur  in  den  Städten  des  Staats  (publicae  civi- 
tates)  erhoben  werden.1) 

Die  Erhöhung  des  gräflichen  Banns,*)  der  nach  fränkischem 
Recht  15  sol.  betragen,*)  auf  60  also  die  Höhe  des  Königsbanns, 
hängt  mit  der  allgemeinen,  auch  in  Italien*)  zu  constatierenden 
Entwickelung  zusammen.  Gerade  in  den  Städten  musste  schär- 
fere Bestrafung  auch  der  geringeren  Vergehen  vielfach  heilsam 
scheinen.  Andrerseits  suchten  natürlich  die  Bischöfe  ihre 
Hintersassen  gegen  solche  Erhöhung  der  gräflichen  Strafen  zu 
schützen,  und  der  Kaiser  sah  sich  daher  gezwungen,  diese  für 
die  nicht  direkt  unter  dem  Reich,  sondern  unter  einem  Bischof 
stehenden  Städte  auszuschliessen.  Worms  wird  also  in  dieser 
Urkunde,  wie  meiner  Ansicht  nach  entschieden  mit  Hegel*)  und 
Waitz6)  angenommen  werden  muss,  nicht  mehr  als  civitas  pu- 
blica angesehen.  Gerade  aus  diesem  letzten  Teile  unserer  Ur- 
kunde ergiebt  sich,  dass  sie  sich  nicht  nnr  auf  die  ländlichen 
Besitzungen  des  Wormser  Bistums,7)  sondern  vor  allem  auch 
auf  die  Stadt  bezog.  Demnach  gab  es  auch  hier  wieder  einen 
Grafen  und  zugleich  sind  Streitigkeiten  zwischen  Bistum  und 
Laienadel  in  der  Stadt  trotz  des  12  Jahre  vorher  erfolgten 
Wegzuges  der  Konradiner  von  neuem  bezeugt.  Jedoch  ist  der 
Umstand,  dass  Worms  nicht  mehr  zu  den  civitates  publicae  ge- 


*)  Illos  vero  LX  solidos,  qnos  usque  nunc  iniusta  et  irrationabili  lege 
receperunt,  omnino  interdicimus  nisi  in  pubücis  civitatibus. 

*)  Bekanntlich  tritt  vielfach  schon  in  karolingischer  Zeit  der  Bann, 
d.  h.  die  gegen  bestimmte  Verordnungen  verwirkte  Strafe  des  Amtsrechts,  an 
Stelle  des  volksrechtlichen  Geweddes;  so  kbnnen  für  das  spatere  Mittelalter 
beide  Aasdrücke  synonym  gebraucht  werden,  vgl.  Sohm,  Fränk.  Reichs-  und 
Gerchtsvrfssng.  8.  178. 

*)  vgl.  Sohm  G.  V.  S.  176,  Schroeder  R.  G.  S.  130. 

4)  Ficker  Forsch,  zur  Reichs-  und  Rsgschchte.  Italiens  I S.  72  ff.  Sohm  a. 
a.  0.  S.  178—179. 

e)  Allg.  Monatsschr.  1854  S.  164,  171. 

•)  V.  G.  Vn  S.  376  N.  3. 

*)  Dieser  Ansicht  ist  Arnold  V.  G.  I S.  47;  von  ihr  aus  ist  aber  die 
besondere  Bezugnahme  anf  die  publicae  civitates  garnicht  zu  erklären. 


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158 


hörte,  nur  dann  zu  erklären,  wenn  der  dortige  Graf  formell 
vom  Bischof  abhängig  war. 

Höchst  wahrscheinlich  bestand  nun  die  Abhängigkeit  des 
Grafen  der  Stadt,  dessen  Bann  1014  erniedrigt  wurde,  vom 
Bischof  darin,  dass  er  als  Vogt  zu  den  bischöflichen  Vasallen 
gehörte.  Dafür  sprechen  vor  allem  die  Worte,  in  denen  Otto  III 
985  den  Übergang  der  Grafenrechte  an  den  Bischof  bestätigt:1) 
„possideant  et  nullus  comes  vei  iudex  aut  aliqua 
iudiciaria  persona  in  predicta  civitate  Vuangione  ullam 
deinceps  exerceat  potestatem  preter  nisi  issolusquem 
pastoralis  dignitatis  sollertia  prefecerit  advocatum.“ 

Gerade  in  diesen  Worten  weicht  die  Urkunde  von  ihrer 
Vorurkunde,  *)  der  sie  sonst  zum  grossen  Teil  wörtlich  folgt, 
ganz  erheblich  ab.  Hier  heisst  die  betreffende  Stelle: 

„possideant  nullaque  iudiciaria  persona  in  pre- 
dicta civitate  ullam  deinceps  exerceat  potestatem  preter 
ipsam,  quam  pastoralis  dignitatis  sollertia  prefecerit 
advocatum. 

So  lässt  sich  also  aus  der  Urkunde  von  985  in  Verbindung  mit 
dem  erwähnten  Privileg  vom  29.  Juli  1014*)  schliessen,  dass 
der  Vogt  die  gewöhnlichen  Grafenrechte  in  der  Stadt  als  bischöf-. 
licher  Lehnsträger4)  ausübte,  der  Bischof  sich  aber  gegen  Erb- 
lichwerden oder  königliche  Verleihung  des  Grafenamts,  sowie 
gegen  Übergriffe  des  Grafen  nach  Möglichkeit  durch  königliche 
Privilegien  zu  schützen  suchte. 

Dafür,  dass  schon  in  der  Wende  des  10.  und  11.  Jahrhun- 
derts Vogt  und  Burggraf  in  Worms  identisch  waren,  lässt  sich 
auch  noch  der  Umstand  anftthren.  dass  in  Burchard’s  Gesetzen 
der  Burggraf  überhaupt  nicht  erwähnt  wird,  dagegen  von 
den  zu  verhütenden  Übergriffen  der  Vögte  die  Rede  ist.  Ar- 
nold 5)  vermutet  auch,  dass  in  der  Stiftungsurkunde  von  S.  Paul,®) 
in  welcher  der  comes  civitatis  erwähnt  wird,  er  nur  desshalb 


‘)  W.  U.  36  8.  28  Z.  36  ff. 

*)  Urk.  Ottos  II  979  Ang.  11  (W.  ü.  35). 

•)  W.  U.  42. 

*)  Vgl.  such  W.  U.  58:  comitis  Wernlieri  petitione  alioruinque  optima- 
tum  suornm  consilio. 

»)  V.  G.  I 113. 

*)  ü 43. 


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159 


in  der  Zengenliste  zu  fehlen  scheint,  weil  er  in  ihr  als  advo- 
catus  bezeichnet  wird.  Endlich  ist  für  spätere  Zeit  die  Iden- 
tität von  Vogt  und  Burggraf,  wie  unten  nachgewiesen  werden 
wird,  nicht  nur  in  Worms,  sondern  auch  in  Mainz  und  Speier 
völlig  sicher. 

Wenn  so  Grund  genug  vorhanden  ist,  diese  Identität  mit  Ar- 
nold *)  schon  für  den  Anfang  des  elften  Jahrhunderts  anzunehmen, 
so  lässt  die  besprochene  Abweichung  der  Urkunde  Ottos  HI. 
von  ihrer  Vorurkunde  darauf  schliessen,  dass  mindestens  seit 
985  Vogtei  und  Grafenrechte  in  dem  Gebiet,  für  welches  diese 
dem  Bischof  damals  übertragen  waren,  von  demselben  bischöf- 
lichen Beamten  ausgeübt  wurden,  den  wir  deshalb  als  Vogt-Burg- 
grafen bezeichnen  können.  Nähere  Betrachtung  des  Amtsge- 
bietes dieses  Wormser  Vogt-  Burggrafen  ergiebt,  dass  dasselbe 
sich  nicht  auf  die  Stadt  beschränkte  und  auch  nicht  erst  985 
geschaffen  war.  Die  erstere  Thatsache  kann  zweifellos  aus  fol- 
genden Worten  einer  Urkunde  von  1137  geschlossen  werden: 

curtim  nostram  in  Crigesheim  et  quidquid  in  eadem 
villa  habuimus,  in  comitatu  praefecturae  civitatis  nos- 
trae  sitam.*) 

Dass  unter  praefectus  im  elften  Jahrhundert  ganz  allge- 
mein der  Burggraf,  unter  praefectura  also  die  Burggrafschaft 
verstanden  wird,  geht  aus  einer  Stelle  der  gesta  Trevirorum,*) 
sowie  aus  dem  ganz  gleichförmigen  Gebrauch  der  beiden  Amts- 
namen, der  vielfach  in  unseren  Städten  nachgewiesen  werden 
kann4),  zweifellos  hervor. 

*)  v.  G.  i m 

*)  ü 64. 

•)  S.  S.  VIII  p.  260:  burggravius  id  eat  praefectus  urbis,  Tgl. 
auch  Wilmans,  Kaiserurk.  Westfalens  II  (Münster  1881)  8.309:  quandam 
similitudinem  dignitatis  sibi  . . . vendicabat,  quam  praefectnram  appell- 
abat  et  se  Bnrkgravium  appellari  faciebat 

*)  Für  Worms  vgl.  Wernherus  comes  civitatis  a 1106  (U  59)  u.  a.  1116 
(Stumpf  Acta  imp.  iaedita  No.  328  8.  476)  mit  defuncto  praefecto  nostro 
comite  Wemhero  (a.  1123)  in  noch  unedierter  Drk.  eines  Wormser  Copial- 
buchs  im  Archiv  au  Hannover  (letzteres  nach  Arnold  V.  G.  I 8.  114  mit 
N.  4);  für  Mainz  vorläufig  Arnoldus  urbis  praefectus  a 1135  (Beyer  Mittelrh. 
ürkb.  I p.  535)  u.  Anna).  Pegav.  (S.  S.  XVI  p.  235  Z.  4)  a 1116:  Amoldo 
ipaius  civitatis  comite , für  Speier  Egbertus  praefectus  in  Mone  Anzeiger  f. 
Kunde  d.  deutschen  Vorzeit  VII  (1838)  S.  447  Nr.  13  u.  Cod.  Hiraaug.  p 67 
mit  ibid  p 49,  wo  derselbe  comes  genannt  wird,  sowie  Arnold  V.  G.  I 84,  85. 


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160 


So  lässt  sich  also  ans  der  obigen  Urkunde  schlossen,  dass 
Crigesheim,  das  heutige  Kriesheim  an  der  Pfrimm,  (drei  Stun- 
den von  Worms)  zur  Wormser  Burggrafschaft  gehörte. 

Um  die  Ausdehnung  des  Gebietes  derselben  näher  zu  bestimmen, 
lässt  sich  vielleichtdie  frühererwähnteMauerbauordnungbenntzen, 
da  die  Bewachung  und  Instandhaltung  der  Festungswerke  an 
vielen  Orten  und  höchst  wahrscheinlich  auch  in  unseren  Städten 
zu  den  Befugnissen  des  Burggrafen  gehörte.  Unter  den  in  der 
Bauordnung  genannten  Orten  sind  nämlich  von  den  am  Rhein 
gelegenen  am  meisten  von  Worms  entfernt  rheinabwärts  Riedels- 
heim und  Gernsheim,  stromauf  liegt  am  entferntesten  Hemming- 
heim.1)  So  war  schwerlich  das  ganze  am  Rhein  gelegene  Ge- 
biet des  Wormsgaus  sowohl  südlich  als  nördlich  von  Worms 
selbst,  abgesehen  schon  von  dem  früh  separierten  Nahegau a),  zur 
Teilnahme  an  der  Erhaltung  und  Verteidigung  der  dortigen 
Mauern  verpflichtet.  Noch  sicherer  ist  dies  bei  den  im  Westen 
des  Wormsgaus  gelegenen  Ortschaften  der  Fall  gewesen, 
welche  später  unter  das  Grafengeschlecht  der  Emichonen  ge- 
langten.*) 

Es  lässt  sich  also  wohl  vermuten,  dass  gerade  das  aus 
den  in  der  Bauordnung  genannten  Orten  bestehende  Gebiet  den 
Jurisdictionsbezirk  der  Wormser  Burggrafen  bildete.1) 

')  vgl.  Falk  in  Forsch,  z.  D.  Gesch.  XIV  S.  397  ff.  und  den  nach  den 
Hamannschen  Handzeichnungen  entworfenen  Atlas  von  Worms  und  Umgegend 
im  dortigen  Stadtarchiv. 

*)  vgl.  Landen,  Die  Territorien  (Hamb.  1854)  S.  263,  264. 

*)  vgl.  Arnold  V.  G.  I S.  42,  H.  Leo  Die  Teritorien  I (Halle  1865) 
S.  647  ff. 

4)  So  schon  Crollius  Orgines  Bipontinae  (Biponti  1761)  I 262  , 263,  der 
nnr  fälschlich  den  ganzen  Wormsgan  in  der  Manerbanordnnng  finden  will.  Vgl. 
Bodmann  Rheinganische  Altertfimer  (Mainz  1819)  I S.  25  nnd  Arnold  V.  G.  I 116. 
Letzterer  erklärt  die  Bestimmnng  der  Burggrafschaft  aus  den  znm  Mauerbau 
herangezogenen  Orten  wenigstens  im  allgemeinen  für  vollkommen  gerecht- 
fertigt, fügt  aber  hinzu:  „Es  sind  indess  einmal  wolil  nicht  alle  Orte  darunter, 
welche  zur  Grafschaft  gehörten, und  sodann  können  wieder  andere  darunter  sein, 
die  nicht  dazu  gehörten.*  Dies  ist  nach  dem  im  Text  ansgeführten  freilich  sehr 
unwahrscheinlich,  soweit  es  sich  nicht  etwa  um  überhaupt  erst  später  ent- 
standene Orte  handelt.  Es  spricht  wohl  auch  kaum  gegen  unsere  Identifica- 
tion, dass  1160  die  Villa  Gimmensheim  (Gernsheim)  als  in  comitatu  comitis 
de  Leiningen  gelegen  bezeichnet  wird  (Sohannat  II  Nr.  86  p.  81).  Gerade 
dieser  Ort  war  Grenzort  der  Wormser  Bnrggrafschaft  und  konnte  daher  am 
leichtesten  in  eine  andere  Grafrchaft  übergehen. 


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161 


Diese  Hypothese  wird  nun  durch  zwei  andere  Tatsachen  zu 
einem  hohen  Grade  von  Wahrscheinlichkeit,  durch  die  Überein- 
stimmung mit  ähnlichen  Verhältnissen  in  Speier  und  Mainz 
fast  zur  Gewissheit  erhoben.1)  Zunächst  scheint  nämlich 
schon  am  Ende  des  neunten  Jahrhunderts  der  eigentliche 
Wormsgau  in  mehrere  Grafschaften  zerfallen  zu  sein.’)  Als  er 
später  unter  die  Herrschaft  der  Konradiner  kam,  haben  diese 
Fürsten , welche  auswärtige  Herzogtümer  erwarben  und  in 
Rheinfranken  selbst  eine  herzogsähnliche  Stellung  einnahmen,’) 
wohl  in  dem  ihnen  gehörigen  Wormsgau  noch  besondere  comites 
unter  sich  gehabt.4)  Dabei  spielte  demnach  das  Stadtgebiet 
keine  besondere  Rolle,  sondern  war  wohl  mit  einer  Anzahl 
kleinerer  Orte,  die  gewiss  überwiegend  in  der  Mauerbau- 
ordnnng  enthalten  sind,  in  ein  und  derselben  Grafschaft 
vereinigt. 

Damit,  stimmt  nun  überein,  dass  Personen,  welche  nicht 
Wormser  Bürger  sind,  in  Sunthoven  und  Scharren,  dem  heutigen 
Sandhofen  und  Scharrhof,  gelegene  Güter  vor  dem  Wormser 
Rate 5)  übertragen.*)  Diese  Orte  liegen  innerhalb  des  Gebietes, 
welches  nach  der  Mauerbauordnung  mit  der  Stadt  strategisch 
verbunden  war;  die  erwähnte  Tatsache  der  Übertragung  vor 
dem  Wormser  Rate  aber  weist  auch  auf  jurisdictionelle  Zuge- 
hörigkeit. Ohne,  dass  hier  auf  die  Frage  der  örtlichen 

')  S.  die  unten  folgenden  Ausführungen. 

*)  In  den  Jahren  881,  888  und  897  wird  als  Graf  des  Wormsgaus  Wa- 
laho,  889  aber  Megingaud  genannt  (S.  8.  XXI  p 375,  378,  W.  U.  26;  Drenke 
Cod.  dipl.  Fuld.  [Cassel  1850]  p 289.)  Da  in  allen  diesen  Fällen  bei  topo- 
graphischen Angaben  der  Lage  im  Wormsgau  noch  hinzugeftlgt  ist,  in  wessen 
Grafschaft  der  betreffende  Ort  liegt,  so  ist  die  Thatsache  der  gleichzeitigen 
Erwähnung  mehrerer  Grafen  in  diesem  Gau  am  einfachsten  durch  Teilung 
desselben  in  mehrere  Grafschaften  zu  erklären. 

*)  Vgl.  oben  8. 143  mit  N.  2,  8.  146  mit  N.  4,  S.  147  mit  N.  3. 

*)  Vgl.  Wait*  V.  G.  VU  8.  34. 

*)  Demselben  standen  nämlich  damals  auch  noch  die  Funktionen  des 
Schüffencollegs  zu,  ans  dem  er  hervorgegangen,  vgl.  unten  Cap.  VIII  und  IX. 

*)  Gudenus  Sylloge  Variorum  Diplomatar.  (Francof.  1728)  N.  66  p 132 
u.  N.  66  p 152  (Regesten  W.  U.  131  u.  141).  Dass  es  sich  hier  nicht  etwa 
um  blosse  Besiegelung  zur  Bekräftigung  eines  fremden  Rechtsgeschäfts  (vgl. 
über  diese  Bresslau,  Urkunden!  8.  636—538)  handelt,  sondern  dass  hier  die 
Rechtsgeschäfte  wirklich  vor  dem  Rate  vollzogen  waren,  geht  aus  dem  In- 
halte beider  Urkunden  hervor  vgl.  z.  B.  N.  66:  coram  nobis  renuntiavit 

Koehne,  Ursprung  der  Stadtverfässung  ln  Worms,  Speier  und  Mains.  11 


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182 


Zuständigkeit  der  Gerichte  im  fränkischen  Rechte  näher  einge- 
gegangen  wird,  kann  doch  als  sicher  angesehen  werden,  dass 
bei  Akten  der  freiwilligen  Gerichtsbarkeit  neben  dem  gebräuch- 
lichen forum  rei  sitae  der  Immobilien  nur  noch  das  forom  do- 
micilii der  Contrahenten  in  Betracht  kommen  konnte.1) 
So  lagen  also  auch  Sunthoven  und  Scharren  im  Wormser  Gr&f- 
schaftsgebiet  und  hätten  auch  als  in  comitatu  praefecturae 
Wormatiensis  sita  bezeichnet  werden  können.*) 

Alles  dies  drängt  zu  der  Annahme,  dass,  schou  im  neunten 
Jahrhundert,  also  vor  den  Ottonischen  Privilegien  und  dem  Über- 
gange der  Grafschaftsrechte  an  das  Bistum,  sich  innerhalb  des 
alten  Wormsgaus  eine  besondere  Grafschaft  gebildet,  die  später 
mit  der  Vogtei  über  die  bischöflichen  Leute  verbunden  und 
als  praefectura  civitatis  Wormatiensis  (Wormser  Burggrafschaft) 
bezeichnet  wurde.  Der  Übergang  der  Grafschaftsrechte  hat 
also  die  spätere  Trennung  der  Stadt  von  dem  sie  umgebenden 
Lande  noch  nicht  vorbereitet,  andererseits  aber  auch  schwer- 
lich die  Exeniption  eines  kleineren  Gebietes  aus  dem  alten 
Wormsgau  bewirkt.  Ein  schon  früher  bestehendes  Grafschafts- 
gebiet ist  nur  ans  der  Abhängigkeit  von  den  Konradinern  in 
die  der  Bischöfe  gekommen,  indem  es  von  jener  Zeit  an  statt 


*)  vgl.  Sohin  R.  n.  O.  V.  S.  297,  301,  302,  Stobbe  in  Jahrbuch  des  gern, 
deutschen  Rechts  hcrausg.  von  Bckker  u.  Mnther  I (1857)  S.  434 — 436,  439, 440. 

*)  Crollius  (in  dem  oben  S.  160  N.  4 citierten  Buche)  I p 262  versucht 
auch  die  in  WU  58  gegebene  Verordnung,  der  Speculationsverkauf  von  Fischen 
solle  für  andere  als  die  Mitglieder  der  Wormser  Fischbändlerinnnng  verboten 
sein  (vgl.  oben  S.  59),  zur  Bestimmung  des  Gebietes  der  Wormser  Burggraf- 
schaft  heranzuziehen.  Diese  Verordnung  soll  nämlich  nach  W.  U.  58  selbst 
für  die  Gegend  zwischen  den  beiden  Orten  Suelntheim  und  Altdruphen  gelten. 
Wohl  ist  anzunehmen,  dass  das  Verbot  nur  für  das  Gebiet  gegeben  wurde, 
in  dem  ihm  der  Vogt-Burggraf  auch  wirklich  Geltung  verschaffen  konnte. 
Zn  topographischen  Zwecken  kann  indess  diese  Stelle  erst  dann  benutzt 
werden,  wenn  die  beiden  Orte  selbst  sicher  festgestellt  sind,  was  bisher 
noch  nicht  der  Fall  ist.  Boos  (ira  Register)  erklärt  Altdruphen  vermutungsweise, 
Schenk  zu  Sch  weinsberg  (Westdeutsche  Ztschr.  VII  S.  94)  sicher  für  Altripp 
südl.  von  Mannheim.  Suelntheim,  das  noch  nicht  bestimmt  worden  ist,  ist 
vielleicht  verstümmelt  aus  dem  sonst  erwähnten  Sultzbeim  (Obersülzen  im 
Pfälz.  Kreisamt  Grünstadt)  vgl.  Oesterley,  Hist. -geogr.  Wrtb.  des  Mas.  (1883) 
S.  668.  Da  entschieden  aber  von  beiden  Orten  einer  südlich,  der  andere  nörd- 
lich von  Worms  liegen  muss,  so  ist  sicher  eine  der  beiden  Bestimmungen 
unrichtig. 


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163 


unter  einem  Vasallen  der  Konradiner  unter  einem  bischöflichen 
Vasallen  stand.  Dass  der  Vogt-Burggraf  derart  vom  Bischof 
abhängig  geworden,  wird  ausdrücklich  durch  die  früher  be- 
sprochene Urkunde  für  die  Fischhändlerinnung  von  ca.  1106“) 
bestätigt;  dieselbesagt  nämlich,  dass  der  Bischof  comitis  Wern- 
heri  petitione  aliorumque  optimatum  suorurn  consilio  die  Innung 
errichtet  habe. 

Freilich  war  die  Abhängigkeit  des  Vogt-Burggrafen  vom 
Bischof  keine  derartige,  dass  er  sich  nicht,  wie  es  sich  am 
deutlichsten  bei  Besprechung  der  Mainzer  Verhältnisse  zeigen 
wird,  vor  allem  als  Beamter  des  Kaisers  fühlte.  Gerade  von 
Burggraf  Wernher  hören  wir,  dass  er  sich  beim  Kaiser,  nicht 
beim  Bischof  über  Widerstand  beklagte,*)  der  ihn  an  der  Aus- 
übung seiner  richterlichen  Amtstätigkeit  gehindert  hatte.  Von 
dem  hohen  Ansehen,  das  dieser  Wernher  genoss,  zeugt  es  auch, 
dass  er  in  einer  Urkunde  Friedriclts  von  Schwaben,  des  Schwie- 
gersohnes des  Kaisers,  unter  den  Zeugen  direkt  nach  dem 
Bischof  und  vor  einem  Propst  genannt  wird.3) 

So  geht  aus  dieser  Urkunde  auch  hervor,  dass  die  Wormser 
Burggrafschaft  einem  Vollfreien  zustand.  Wie  dieser  Umstand, 
so  weisen  auch  alle  mit  der  in  Frage  stehenden  Beamtung 
verbundenen  Befugnisse,  welche  uns  in  den  Quellen  entgegen- 
treten, darauf  hin,  dass  wir  in  ihr  eine  Fortsetzung  des  alten 
fränkischen  Grafenamtes  zu  sehen  haben.  Die  Pflichten  des 
fränkischen  Grafen  waren  ja  bekanntlich  teils  gerichtliche,  teils 
militärische.  Was  die  gerichtlichen  betrifft,  so  lag  wie  wir 
gesehen  haben,4)  das  bei  den  Wormser  Burggrafen  hervortre- 
tende Verlangen  der  Erhöhung  des  Bannes  von  15  auf  60  solidi 
im  allgemeinen  Streben  der  Grafen.  Auch  die  Art  der  Besol- 
dung des  Wormser  Burggrafen  für  seine  gerichtliche  Tätigkeit 


»)  W.  ü.  58  vgl.  oben  S.  57—59. 

’)  Monachus  Kirsgart.  bei  Ludewig  Rel.  Uns.  II  p 83  n.  Alei.  Kauf- 
mann in  Monatscbr.  f.  Gesch.  Westdeutschi.  Bd.  IV  (1878)  S.  25  ff.  Über  diese 
Quellen  vgl.  ausser  Kaufmann  a.  a.  0.  noch  BresBlau  in  Jahreab.  d. 
Gescbichtaw.  I 141  und  Wattenbach  D.  Gq.  II  S.  366,  367. 

*)  W.  U.  59  vgl.  auch  Stumpf,  Acta  imperii  inedita  (Innsbr.  1865)  p. 
467  N.  328,  wo  Wernher  als  Zeuge  in  einer  Urkunde  Kaiser  Heinrichs  V ge- 
nannt wird. 

*)  S.  oben  S.  157. 

n» 


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164 


war  höchst  wahrscheinlich  der  der  Grafen  ganz  analog,  indem 
ihm  seihst  ein  Teil  der  von  ihm  eingezogenen  Gerichtsgefälle 
zufiel,  während  der  andere  jetzt  an  die  Kammer  des  Bischöfe, 
statt  wie  früher  an  die  des  Königs  abgegeben  werden  musste. 
Auf  solche  Verteilung  der  Gerichtsbussen  kann  nämlich  daraus 
geschlossen  werden,  dass  derartiges  bei  denjenigen  Strafgeldern 
eingerichtet  wurde,  welche  die  Aufrechterhaltung  der  zuerst 
nur  kraft  Genossenschaftsrechts  gesetzten,  dann  aber  vom  Stadt- 
graf und  Bischof  anerkannten  Gewerbebestimmungen  sichern 
sollten.1)  Eine  solche  Teilung  der  Strafgelder  zwischen  Bischof 
und  Burggraf  wird  auch  in  baupolizeilichen  Satzungen  festge- 
setzt.8) Die  in  dieser  letzteren  Hinsicht  dem  Wormser  Vogt- 
Burggrafen  zustehenden  Befugnisse  sind  entschieden  als  Folge 
der  militärischen  Funktionen  der  Grafen  zu  erklären.8)  Ganz 
besonders  spricht  hierfür  eine  mit  dieser  Baupolizei  verbundene 
Einrichtung.  Der  Burggraf  selbst  oder  ein  von  ihm  bestimmter 
Vertreter  pflegte  nämlich  mit  einer  Stange  in  der  Hand  durch 
die  Stadt  zu  reiten  und  hatte  das  Recht,  alle,  bei  dieser  Ge- 
legenheit unbequemen,  baulichen  Beengungen  der  Strassenfront 
beseitigen  zu  lassen  und  mit  Strafe  zu  belegen.*)  Ein  solches 
„Stangenrecht“5)  stand  nun  nicht  nur  den  Burggrafen  in  den 

l)  W.  D.  58. 

»)  W.  U.  301  vgl.  Boebmer  Fontes  II  201. 

*)  Vgl.  Nitzgeh,  Minist.  S.  150,  wo  schön  auseinandergesetzt  wird,  dass, 
.sowie  die  Burgen  nicht  nur  feste  Häuser,  sondern  grosse  und  wohlorg&nisirte 
Umwallungen  waren,“  es  auch  Aufgabe  der  Erhaltung  und  Verteidigung  der 
Burgen  wurde,  zu  verhüten,  dass  „die  Willkühr  der  Privatbauten  nicht  allein 
die  Strasseu,  sondern  auch  die  Mauern  beengten  und  durch  beides  die  mili- 
tärische Sicherheit  des  Platzes  gefährdeten.*  Nur  hat  Nitzgeh  die  Aufsicht 
über  die  Verteidigung  der  Stadt  für  eine  Folge  der  Pfalzbeamtung  des  Burg- 
grafen erklärt,  während  doch  auch  diese  militärische  Leistung  schon  in  frän- 
kischer Zeit  einen  Teil  der  Gauverteidigung  bildete.  Waren  doch  schon  864 
die  Gaueingegessenen  von  Alters  her  zur  Arbeit  an  den  Befestigungen  und 
zur  Bewachung  derselben  verpflichtet.  Es  liegt  gar  kein  Grund  vor,  anzu- 
nehmeu,  dass  in  letzteren  Hinsichten  der  Graf  nicht  ebenso  wie  beim  Aus- 
züge gegen  den  Feind  der  Führer  seiner  Gauleute  gewesen  ist,  vgl.  L.  L.  I 
(ed.  Pertz)  p 495  c 27 : ut  iuxta  autiquam  consnetudinem  ad  civitates  novas  . . . 
operentur  et  in  civitate  atque  in  marcha  wactas  faciant  und  Waitz  V.  U.  IV 
S.  629. 

*)  Boehmer  Fontes  II  p 570,  571. 

')  ibid:  de  requisitione  iuris  falange,  quod  Stange  vulgariter  nun- 
cupatur. 


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165 


verschiedensten  Reichsteilen,1)  sondern  auch  den  Grafen  von 
Namur  in  dem  ihnen  gehörigen  Teile  von  Dinant  zu,’)  die  von 
dem  Lütticher  Bischof,  der  über  den  anderen  Teil  von  Dinant 
herrschte,  ganz  unabhängig  geblieben  waren.8)  Ausdrücklich 
wird  auch  in  einer  die  Rechte  dieser  Grafen  zu  Dinant  fest- 
stellenden Urkunde  gesagt,  dass  sie  diese  Befugnis  kraft  ihres 
ihnen  von  den  Königen  übertragenen  Amtes  ausübten;4)  damit 
ist  aber  auch  sicher  keine  Pfalzbeamtung  gemeint,  da  in  Dinant 
gar  keine  Pfalz  bestanden  hat.6)  Demnach  ist  dies  Stangenrecht 
weder  aus  einer  Aufsicht  über  die  Pfalzen,  noch  aus  vogtei- 
lichen  Befugnissen  zu  erklären.  So  weisen  auch  gerade  solche 
Rechte,  aus  deren  Besitz  man *)  auf  hofrechtliche  Herkunft  des 
Vogt-Burggrafen  geschlossen  hat,  darauf  hin,  dass  man  in  ihm 
einen  Nachfolger  des  alten  Gaugrafen  zu  sehen  hat,  der  nur 
in  Abhängigkeit  von  der  Kirche  geraten  ist. 

Mit  dieser  Ableitung  der  Baupolizei  der  Wormser  Burg- 
grafen steht  es  auch  nicht  in  Widerspruch,  dass  dieselben  nach 
Verlust  ihrer  eigentlichen  gerichtlichen  und  militärischen  Be- 
fugnisse noch  aus  der  Aufsicht  über  das  Bauwesen  sich  erge- 
bende Rechte  auf  gewisse  Strafsummen  wie  ihnen  privatrechtlich 
zustehende  Forderungen  in  Anspruch  nahmen.7)  Es  zeigt  sich 
nämlich  in  unsern  drei  Städten  bei  den  Vogt-Burggrafen  eine 
ganz  ähnliche  Erscheinung  wie  früher  bei  den  daselbst  resi- 
dierenden Gangrafen;  wieder  überlassen  die  Vertreter  des 
Laienadels,  welche  mit  der  Zeit  dem  Bischof  unbequem  geworden, 
ihm  wohl  gegen  andere  Concessioneu  ihre  Rechte  in  der  Stadt, 
nur  dass  auch  die  Bürgerschaft  in  vieler  Hinsicht  die  Rechts- 
nachfolgerin des  Burggrafen  wurde.  Zunächst  ist  es  ja  un- 
zweifelhaft, dass  in  allen  drei  Städten  die  Vogt-Burggrafen  auf 

*)  Vgl.  über  Regensbarg  F.  Gfrörer  S.  33,  34,  Köln  Hegel  in  Städte- 
chroniken Köln  Bd.  III  S.  XXXIV  u.  Knnen  n.  Eckertz  Qu.  z.  Gesell,  d.  8t. 
Köln  (Köln  1860)  I N.  76  p 657  n.  II  N.  166  p 168,  ferner  Strassburg  (Erstes 
Stadtrecht  g 81). 

*)  Waitz  Drk.  z.  D.  Vffsg.  (Berlin  1886)  Nr.  9 8.  81,  Ygl.  Pirenne, 
Hist,  de  la  Constitution  de  la  rille  de  Dinant  (Gand  1889)  p.  10  mit  N.  2. 

*)  ibid  p.  3,  4,  6 mit  N.  8. 

4)  Waitz  a.  a.  0.:  secundnm  eam,  quam  tenet  a rege  potestatem  et 
insticiam  . . . auctoritate  regia  deicitur. 

•)  Pirenne  p.  1,  8. 

*)  s,  Nitzich  8.  162. 

*)  Boehmer  fontes  II  200,  201. 


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166 


dem  Lande  angesessenen  Dynastenfamilien  angehörten.  Schon  der 
früher  erwähnte  Wormser  Burggraf  Wemlier  war  auch  Graf  von 
Neckarau  und  Maden,  sowie  Besitzer  der  Burg  Achalrn;  ferner 
besass  er  noch  die  Vogtei  aber  das  Stift  Fritzlar  und  das 
Kloster  Kaufungen.1)  Er  gehörte  also  sicher  einer  der  mäch- 
tigsten mittelrheinischen  Adelsfamilien  an. 

Seit  1141  begegnet  dann  im  Besitze  der  Wormser  Vogtei 
und  Burggrafschaft  Graf  Simon  von  Saarbrücken,2)  in  dem  wir 
nach  Crollius3)  und  Arnold’s4)  Untersuchungen  einen  Enkel  des 
Vogt-Burggrafen  Wernher  zu  sehen  haben.  Die  Nachkommen 
dieses  Simon , die  Grafen  vou  Saarbrücken  und  Zweibrücken, 
finden  sich  nicht  mehr  als  Wormser  Burggrafen  erwähnt.  Auch 
für  Simon  ist  die  Führung  des  Titels  Burggraf  nur  bis  1166 
bezeugt,  obgleich  er  erst  1180  gestorben  ist.5)  Dies  hat 
Arnold5)  veranlasst,  auzunehmen,  Simon  selbst  habe  zwischen 
1166  und  1180  auf  das  genannte  Amt  verzichtet.  Abgesehen 
davon,  dass  Simons  Nachkommen  noch  in  der  Mitte  des  13.  Jahr- 
hunderts auf  dies  Amt  Anspruch  machen  und  eine  aus  dem- 
selben stammende  Eente  wirklich  zugesprochen  erhalten,7)  wird 
auch  in  dem  1208  entstandenen8)  Privileg  Friedrichs  I.  dem 
Vogt-Burggrafen  ein  Anteil  an  der  auf  Rechtsbeugung  ange- 
drohten Busse  zuerkannt.*)  In  dem  wahrscheinlich  um  dieselbe 
Zeit  entstandenen  augeblichen10)  Privileg  Heinrichs  VI.  wird  eine 
Abgabe  der  Heimburgen  au  deu  comes  erwähnt.")  Arnold12) 

')  Schenk  zu  Schweinsberg  ün  Correspondenzbi.  <1.  Gesammtver- 
eius  <1.  D.  Geschichtsv.  1875  S.  49—52. 

*)  W.  U.  68-71,  74,  76,  80-82. 

*)  in  dem  oben  S.  160  N.  4 citierteo  Buche  p.  279.  274. 

*)  V.  G.  1 116,  116.  Demnach  hatte  sein  Vater  Friedrich  von  Saarbrücken 
die  Wormser  Burggrafschaft  durch  seine  Ehe  mit  Gisela,  Tochter  des  Burg- 
grafen Wernher,  erworben. 

*)  Crollius  ibid.  p.  239. 

•)  S.  116. 

*)  Boehmcr  font.  II  p.  200,  201. 

•)  Der  Nachweis  wird  unten  im  Capitel  VIII  gegeben  werden. 

•)  W.  U.  59  S.  60  Z.  28. 

,0)  Betreffs  des  Nachweises  gilt  dasselbe  wie  in  Note  8. 

“)  Boehmcr  font.  II  p.  216. 

**)  V.  G.  I S.  286.  Da  er  das  angebliche  Privileg  Friedrichs  I für  echt 
und  also  aus  dem  Jahre  1156  stammend  ansah,  fand  er  in  demselben  keinen 
Widerspruch  bezüglich  des  Verzichts  Simons  auf  Vogtei  und  Burggrafschaft. 


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167 


will  freilich  den  comes  an  letzterer  Stelle  nicht  als  Burggrafen 
angesehen  wissen;  er  findet  vielmehr  in  ihm  einen  anderen 
Beamten,  den  Greven,  der  „ein  zweiter  überflüssiger  Vorsteher 
des  Stadtgerichts  und  Stellvertreter  des  Schultheissen  gewesen 
sei.“  Tn  älterer  Zeit  sei  dieser  Greve  Unterbeamter  des  Vogt- 
Burggrafen  gewesen,  der  ihn  auch  noch  1190  ernannte,  als 
Heinrich  VI.  den  Bürgern  das  erwähnte  Privileg  gab;  bald 
nachher  aber  habe  der  damalige  Greve  sein  Amt  aufgegeben 
nnd  die  jährliche  Neuwahl  eines  anderen  Greven  durch  die 
Bürgerschaft  gestattet,  seinen  Titel  jedoch  auch  noch  nachher 
geführt.1)  Durch  letztere  Vermutung  sucht  Arnold  die  Tat- 
sache zu  erklären,  dass  in  der  Zeugenliste  „einer  Urkunde  von 
1196  ein  Albertus,  comes  und  ein  Hartungus  comes  neben  ein- 
ander Vorkommen,*)  der  erstgenannte  aber  1198  und  1208 
wiederum  als  comes  erscheint.“*)  Nun  hat  allerdings  Schenk  zu 
Schweinsberg4)  die  Ansicht  ausgesprochen,  es  habe  sich  in 
diesen  Fällen  und  ebenso  auch  bei  der  Erwähnung  eines  Gudel- 
mannus  comes  in  der  Zeugenliste  einer  Urkunde  von  1268  „um 
Bürger  mit  dem  Beinamen  Graf  gehandelt.“  In  der  Tat  ist 
auch  um  die  Mitte  des  13.  Jahrhunderts  Graf  als  Eigenname 
eines  Wormser  Bürgers  bezeugt.8)  Dennoch  wird  sich  zeigen,  dass 
mindestens  bei  Gudelmann  „comes“  sicher  Amtsbezeichnung  ist 
und  das  Grevenamt  jedenfalls  seit  Ende  des  12.  Jahrhunderts 
bestand,  wenn  auch  Herkunft  und  Competenzen  dieses  Amtes 
wohl  andere  als  die  von  Arnold  angegebenen  sind.  Aus  der 
früher*)  besprochenen  Beschreibung  der  Wormser  Aemter  im 
13.  Jahrhundert  geht  hervor,  dass  damals  dem  Greven  die 
Vollstreckung  der  von  den  Schöffen  gefällten  Todesurteile  oblag.7) 
Auch  die  Verhaftung  von  Verbrechern  hatte  er  zu  vollzieheu; 


*)  Arnold  ibid.  286,  287. 

*)  W.  U.  99. 

*)  W.  U.  108  nnd  109.  Ferner  findet  sich  dieser  Albertus  comes  noch 
1194,  1196,  1197,  1209  und  1216  (W.  U.  96,  98,  100,  101,  113,  120). 

4)  Westdeutsche  Ztschr.  VII  S.  96. 

*)  Zorn  3.  118:  Vila  genannt  Graf. 

•)  oben  3.  111  ff. 

*)  Boebmer  fontes  II  p.  213:  Quem.  . . scultetns  ...  ad  locum  pcne  deducet 
et  ibi  ipsum  vel  ipso«  comiti  praesentabit,  qui  super  hoc  iudicium  edictum 
supplebit  vel  perficere  continuo  procurabit. 


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168 


dieselbe  durfte  er,  abgesehen  von  den  Häusern  bestimmter  pri- 
vilegirter  Personenklassen,  auch  in  Privatwohnungen  vornehmen.1) 
Ausserdem  berichtet  die  genannte  Quelle,  dass  jährlich  am 
11.  November  Schultheiss,  Greve  und  die  beiden  Amtsleute 
(offlciarii,  auch  iudices  und  ministri  genannt*))  gewählt  wurden.*) 
Zwischen  denselben  Beamten  wird  nun  der  Greve  vielleicht 
auch  in  dem  angeblichen  Privileg  Friedrichs  I.  erwähnt;4) 
ferner  wird  1268  Gudelmannus  comes  zwischen  dem  Schult- 
heissen  Conrad  und  den  Amtsleuten  Godebert  und  Morderanft 
genannt.4)  Endlich  wird  des  Grevenamtes  noch  in  den  Bürger- 
annalen6) bei  Gelegenheit  des  Vertrages  von  1261  über  die  den 
Grafen  von  Zweibrücken  aus  dem  Burggrafenamte  noch  zu- 
stehenden Rechte  gedacht.  Damals  durften  diese  Dynasten  in 
Folge  dieses  ihren  Vorfahren  zustehenden  Amtes  noch  vom 
Wormser  Greven  jährlich  12  Pfund  fordern ; ausser  dem  gehörte 
ihnen  noch  ein  Hof  in  der  Stadt.’)  Auf  alle  übrigen  Rechte 
verzichteten  sie  ausdrücklich. 

Die  erwähnten  Abgaben  des  Greven  an  den  Burggrafen 
scheinen  zusammen  mit  der  ganzen  Beamtung  des  ersteren  zur 
Zeit  der  frühesten  Erwähnung  derselben  geschaffen  zu  sein; 
sie  waren  wohl  mit  ein  Äquivalent  für  die  ehedem  den  Burg- 


')  ibid. : Si  aliquis  malefactor  io  ci vitale  repertusfuerit  in  domo  alicoioa, 
illum  poteat  coraea  civitatis  excipere  et  edttcere,  exceptia  domibus  et  curiia  cle- 
ricorum,  ministerialium,  raonetariorum  et  wiltwerker  huagenoz. 

»)  Vgl.  Arnold  V.  G.  I S.  287,  288. 

*)  ibid.  p.  213,  214:  Singulia  annis  in  die  s.  Martini  conatitmmtor  iudices 
civitatis,  videlicet  scultetaa,  comes  et  duo  offlciarii  vulgariter  dicti  ammetmann. 

•i  W.  D.  73  S.  61  Z.  6:  senke  tum,  prefectum  et  iudices.  Allerdings 
wird  hier  wahrscheinlich  unter  iudices  etwas  anderes  zu  verstehen  sein  vgl. 
unten  in  Cap.  VIEL 

*)  U 344  S.  224  Z.  15.  Demnach  ist  hifr  jedenfalls  und  bei  den  oben 
8.  167  N.  2,  3 angegebenen  Quellenstellen  höchst  wahrscheinlich  comes  Amtsbe- 
zeichnung und  Schenk  zu  Schweinsberg  hat  Unrecht,  wenn  er  an  der  ibid. 
N.  4 citierten  Stelle  Boos  tadelt,  weil  er  im  Index  diese  comites  unter  den 
Wormser  Beamten  anfuhrt. 

')  Boehmer  Fontes  II  p 201.  Dass  wir  in  diesen  Bericht  gleichzeitige 
Bilrgerannalen  zu  sehen  haben,  hat  Köster  S.  85  ff.  nachgewiesen. 

*)  ibid.  p 201 : quod  dominus  comes  non  aliud  iuris  haberet  in  civitate, 
nisi  duodecim  libras  wormatiensis  monete,  quas  comes,  qui  eligitur  in  feste 
s.  Martini  Bingulis  annis,  sibi  . . . solvere  . . teneretur  et  ipsum  dominum 
comitem  habere  curiam  prope  S.  Kilianum  sitam. 


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169 


grafen  aus  den  Bussen  zufliessenden  Einkünfte.  Da  nämlich 
in  unserer  Überlieferung  nichts  darauf  hindeutet,  dass,  wie 
Arnold1)  meint,  schon  vor  den  neunziger  Jahren  des  12.  Jahr- 
hunderts Greven  als  Unterbeainte  der  Stadtgrafen  existirt,  so 
kann  wohl  angenommen  werden,  dass  die  ganze  Beamtung 
überhaupt  erst  damals  geschaffen  ist.  Ebenso  wird  auch  Ar- 
nolds*) Ansicht,  dass  der  Greve  neben  dem  Schultheissen  an 
der  Spitze  der  Wormser  Schöffen  gestanden,  meines  Erachtens 
nach  nicht  durch  die  Quellen  gerechtfertigt;  ausser  dem  Schult- 
heissen findet  sich  nämlich  in  unserer  ganzen  Überlieferung 
nur  einmal  an  der  Spitze  der  Schöffen  resp.  des  aus  diesen 
hervorgegangenen  Rates  der  Kämmerer  ausdrücklich  erwähnt,*) 
dagegen  nie  der  Greve.  Demnach  sind  gewiss,  wenn  z.  B. 
1254  ministeriales , consules,  iudices,  scabini  et  universi  cives 
Wonnatienses  eine  Urkunde  ausstellen,4)  unter  den  iudices 
Schultheiss  und  Kämmerer,  nicht  Schultheiss  und  Greve 
zu  verstehen.  Der  Greve  erscheint  also  als  Nachfolger  des 
Burggrafen  in  den  gerichtlichen  Zwangshandlungen,  speciell 
Verhaftungen  und  Executionen.  Die  Grafen  von  Saarbrücken 
und  Zweibrückeu  aber  haben  nach  dem  obigen  ihre  burggräf- 
lichen  Rechte  in  Worms,  wie  früher  die  Kouradiner  ihre  gau- 
gräflichen, ganz  allmälig  aufgegeben.  Anlässe  und  Zeitpunkte 
des  Verzichtes  auf  die  einzelnen  Befugnisse  sind  nicht  mehr 
festzustellen.  Immerhin  weisen  das  Auftreten  des  Grevenamtes, 
das  Aufhören  der  Erwähnungen  der  Burggrafen  in  Wormser 
Urkunden  und  der  Verzicht  auf  alle  wichtigeren  burggräflichen 
Rechte  darauf  hin,  dass  der  Anfang  des  letzten  Decenniums 
des  zwölften  und  das  Ende  des  ersten  Decenniums  des  drei- 
zehnten Jahrhunderts  sowie  das  Jahr  1261  wohl  als  Epochen 
in  dieser  Entwicklung  betrachtet  werden  können.  Daher  kann 
denn  auch  als  der  eigentliche  Grund  des  Aufgebens  der  gräf- 


*)  I 286  vgl.  oben  8.  166,  167.  Arnold  ist  offenbar  bes.  dadurch  zu 
seiner  Ansicht  bewogen  worden,  dass  er  U 73  für  echt  hielt  und  dann  in  dem 
einen  der  beiden  officiati,  die  daselbst  S.  60  Z 29  erwähnt  werden,  den  burg- 
gräflichen  Unterbeamten  sah.  Dieselben  sind  aber,  wie  aus  dieser  Stelle 
selbst  hervorgeht,  die  Amtsleute. 

»)  I 287  vgl.  oben  8.  167. 

»)  W.  U.  418. 

‘)  U.  252,  253. 


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170 


liehen  Rechte  die  Ausbildung  der  bischöflichen  Territorialhoheit 
einerseits  und  das  Wachstum  der  bürgerlichen  Autonomie  andrer- 
seits angesehen  werden,1)  wozu  dann  wohl  noch  das  Interesse 
der  ehemaligen  Wormser  Burggrafen  an  der  Consolidierung 
ihrer  ländlichen  Besitzungen  kommt. 

Wenden  wir  uns  jetzt  wieder  zu  den  Beamten  des  11.  und 
12.  Jahrhunderts.  Ausser  dem  Vogt-Burggrafen  sind  uns  schon 
in  den  leges  et  statuta  Burchardi  die  magistri  locorum  (oder 
ministeriales  in  diesem  Sinne)  begegnet , deren  Stellung  oben 
ausführlich  besprochen  ist.*)  In  demselben  Gesetze  wird  noch 
ein  anderer  Beamter  in  jenen  einleitenden  Worten  genannt,  in 
welchen  der  Bischof  als  Ursache  seiner  Gesetzgebung  die  Ab- 
sicht hinstellt,  die  unbefugte  Einführung  von  neuen  Rechts- 
sätzen zu  verhindern.*)  Zwischen  Vogt  und  Meier  (magister 
loci)  steht  hier  der  Vitztnm  (vicedominus).  Aus  den  Erwäh- 
nungen dieses  Vitztums  in  zahlreichen  Zeugenreihen  von  Wormser 
Urkunden  geht  nun  hervor,  dass  er  bischöflicher  Ministe rial*) 
und  nach  dem  Vogt-Burggrafen  der  höchste  bischöfliche  Beamte 
war.5)  Dass  der  Wormser  Vitztnm  auch  noch  in  der  zweiten 
Hälfte  des  12.  Jahrhunderts  speciell  in  der  Stadt  vielen  Ein- 
fluss besass,  geht  daraus  hervor,  dass  1184  bei  einer  Privile- 
gierung der  Wormser  Bürgerschaft  des  Vitztums  Zustimmung 
bes.  eingeholt  wurde.®)  Im  übrigen  reicht  jedoch  zur  Beant- 
wortung der  Frage  nach  den  Competenzen  dieses  Beamten  das 
Wormser  Material  nicht  aus,  und  so  sind  wir  auf  Analogieschlüsse 


’)  Dass  diese  beiden  Erscheinungen  gerade  in  der  angegebenen  Zeit  dem 
Ende  des  12.  und  Anfang  des  18.  Jahrhunderts  eine  Periode  entscheidenden 
Fortschritts  zeigen,  wird  unten  namenti.  in  Cap,  VIII  dargelegt  werden. 

*)  S.  42—44. 

•)  W.  U.  48:  has  iussi  scribere  leges,  ne  aliquis  advocatus  aut  vicedo- 
minus ant  ministerialis  . . . novi  aliquid  subinferre  posset,  sed  una  e&demque 
lex  ...  . 

*)  Nur  1162  und  1160  wird  ein  Cleriker  als  Vitztnm  erwähnt  (W.  D.  72, 
76),  während  sonst  stets  und  zwar  schon  seit  1068  (U  55)  der  Vitztnm  tmter 
den  Laien  erscheint.  In  U 63,  118,  120,  144,  189  wird  er  ausdrücklich  unter 
den  bischöflichen  Ministerialen  genannt,  während  er  nie  unter  den  Vollfreien  steht. 

6)  In  D 68—71  folgt  er  unmittelbar  auf  den  Burggrafen,  in  D 64,  65,  67, 
in  denen  der  Burggraf  nicht  vorkommt,  steht  er  als  erster  Zeuge. 

•)  U.  90  S.  74  Z.  4:  cmn  beneplacito  etiam  Burchardi  Wormatiensis 

vicedomini. 


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171 


aus  den  an  anderen  Orten  wahrnehmbaren  Vitztumsfunktionen 
angewiesen.  Dort  ist  nun  der  Vitztum  grundherrlicher  Gerichts- 
nnd  wahrscheinlich  auch  Wirtschaftsbeamter  fttr  die  gesammte 
Grundherrschaft,  resp.  grosse  Teile  derselben.1)  Zwischen  ihm 
und  den  Lokalbeamten,  den  Meiern,  giebt  es  nach  Lamprecht*) 
keine  Zwischeninstanzen.  An  manchen  Orten  wird  nun  nach 
demselben  Gelehrten  der  Vitztum  später  Schultheiss  genannt, 
au  anderen  wird  dagegen  neben  dem  Lokalbeamten,  dem  Meier, 
für  die  Gerichtsfunctionen  desselben  ein  Schultheiss  gewählt.11) 
Dass  nun  speciell  in  Worms  der  Vitztum  jedenfalls  Gerichts- 
functionen gehabt,  geht  aus  der  angeführten  Stelle  der  leges 
Burchardi  hervor.*) 

Was  nun  den  Schultheissen  anbetrifft,  so  erscheint  derselbe 
in  Wormser  Urkunden  zuerst  1165.®)  Er  ist  freilich  hier  weder 
mit  dem  Vitztum  identisch,  da  beide  Ämter  gleichzeitig  und 
als  verschiedenen  Personen  zustehend  erwähnt  werden,6)  noch 
etwa  Nachfolger  der  alten  magistri  locorum  speciell  als  Gerichts- 
beamter, da  diese  ja  einem  viel  kleineren  Gebiete  vorgesetzt 
waren.  Dagegen  wird  allerdings  der  Schultheiss,  wenn  auch 
nur  in  einer  einzigen  Quelle  als  Meier  (villicus),  sein  Amt  als 
viilicatio  bezeichnet;7)  ferner  hat  der  Vitztum,  als  die  städtische 
Autonomie  sich  völlig  ausgebildet,  seine  Jurisdictionsrechte 


•)  Vgl.  Lamprechtl  S.  733,  SchröderR.  G.  I S.  104.  Ersterer  will  frei- 
lich den  Vitztum  nur  als  Richter  angesehen  wissen,  letztrer  hingegen  meint, 
dass  er  gerade  für  die  nicht  gerichtlichen  Geschäfte  bestellt  war,  aber  „auch  die 
Gerichtsbarkeit  über  die  Grundholdcu“  erhalten  konnte.  Dass  der  Vitztum 
wirklich  zunächst  Wirtschafts beamter  war,  wenn  das  Amt  auch  in  die  deut- 
schen Diöcesen  vielleicht  nur  als  jurisdictionelles  übertragen  sein  mag.  geht 
meines  Erachtens  daraus  hervor,  dass  der  viccdominus  in  merowingischer  Zeit 
auch  als  oeconomus  bezeichnet  wird,  vgl.  Loening,  Gesch.  d.  D.  Krchnrchts. 
Bd.  II  (Strssb.  1878)  S.  343  N.  2. 

*)  I 733. 

*)  Lamprecht  I 733,  735,  736. 

*)  s.  oben  S.  170  N.  3.  Dass  der  Wormser  Vitztum  auch  wirtschaftliche 
Functionen  gehabt,  ist  dcsshalb  unwahrscheinlich,  weil  wir  hier  für  diese, 
insbes.  die  Finanzfunctiouen,  einen  anderen  Beamten,  den  Kämmerer,  finden, 
s.  unten. 

»)  U.  80,  81. 

*)  U,  80  S.  66  Z.  38:  Sifrid  vitztum,  Z.  40  Rigolio  schultheiss,  vgl.  auch 
U 81  S.  68  Z.  37  und  39. 

;)  Boelnner  Fontes  II  p.  216 


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172 


jedenfalls  an  den  Schultbeissen  verloren.  Soviel  kann  daher 
aus  diesem  lückenhaften  Wormser  Material  geschlossen  werden, 
dass  in  Worms  nicht,  wie  es  Heus ler1)  ganz  allgemein  für  die 
bischöflichen  Städte  ausführt,  Schultheiss  und  villicus  neben 
einander  fungierten  und  dann  im  Laufe  der  Zeit  der  erste  den 
zweiten  verdrängte.  Vielmehr  scheinen  im  Worms  die  Befug- 
nisse der  beiden  Beamten  zunächst  in  eine  Hand,  die  des  Vitz- 
tums,  gekommen  zu  sein;  das  spätere  Auftreten  des  Schult- 
heissen  ist  dann  ganz  unabhängig  von  den  alten  Verhält- 
nissen. Denn,  dass  etwa  der  Schultheiss  in  Worms  schon  lange, 
ehe  er  in  unserer  Überlieferung  erwähnt  wird,  existirt  habe, 
dagegen  sprichtschon  die  erwähnte  von  Lamprecht*)  beobachtete 
Erscheinung,  dass  in  den  von  ihm  erforschten  Grundherrschaften 
ein  Schultheiss  erst  um  die  Mitte  des  12.  Jahrhunderts  erscheint. 
Ferner  ist  es  bei  der  relativ  grossen  Anzahl  erhaltener  Wormser 
Bischofsurkunden  sehr  unwahrscheinlich,  dass  gerade  dieser  Be- 
amte nie  in  ihren  Zeugenlisten  genannt  wäre,  um  so  mehr,  als 
das  Wormser  Scliultheissenamt  zur  Zeit  seiner  ersten  Erwähnung 
mit  einem  bischöflichen  Ministerial  besetzt  ist.*)  So*)  sind  denn, 
wie  zur  Zeit  des  Übergangs  der  Grafschaftsrechte  an  das  Bis- 
tum das  Amt  des  Burggrafen  und  des  Vogts  verschmolzen 
wurden,  so,  uud  zwar  wohl  auch  schon  damals,  auch  das  des 
Centenars  und  des  hofrechtlichen  Unterbeamteu  (Vitztum  oder 
villicus)  in  eine  Hand,  die  des  Vitztums,  gegeben  worden.  Erst 
als  die  Stadtfreiheit  schon  mehrere  Stufen  ihrer  Entwickelung 
znrückgelegt,  tritt  der  Schultheiss  auf.  Daher  wird  auch  die 
Besprechung  dieser  Beamtung,  insbesondere  ihrer  Besetzung 
durch  Wahl  der  Bürgerschaft  und  kaiserliche  Investitur,  erst 
später  gegeben  werden.  Dagegen  ist  hier  noch  ein  anderer 
Wormser  Beamter  zu  berücksichtigen,  der  Kämmerer. 

■)  Ursprung  S.  84. 

*)  I 737. 

*)  In  U.  80  wird  Schultheiss  Rigolio  und  sein  Bruder  Gerlach,  in  U.  81 
Gerlacus  et  Rikezo  scultetus  erwähnt.  In  U.  76  erscheint  nun  Gerlahus 
et  Richinzo  frater  eius  unter  den  Wormser  Uinisterialen  vgl.  auch  U.  7ö  u.  78. 

*)  Daraus  geht  auch  hervor,  dass  der  Wormser  Schultheiss  nicht  etwa 
„als  ein  alter  flacalischer  Schultheiss*  zu  erklären  ist,  der  „bei  Ver- 
äusserung  des  alten  Fiscaigebietes  mit  an  den  nenen  Herren“  Ubergegangen  wäre, 
wie  ähnliches  nach  Lamprecht  I 736  N.  1 in  Boppard,  vielleicht  auch  in 
Trier  der  Fall  war. 


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173 


Während  der  Kämmerer  im  Gegensatz  znm  Vogt-Burggrafen 
nnd Schaltheissen  zweifellos  stets  nur  bischöflicher,  nie  königlicher 
Beamter  gewesen  ist,  hat  man1)  doch  gerade  in  ihm  einen  Beam- 
ten sehen  wollen,  welcher  die  „der  kaiserlichen  Kammer  zu- 
stehenden Renten  undGtlter  zu  verwalten“  hatte.  Jedoch  war  der 
königliche  Kämmerer  im  Frankenreiche  und  in  der  deutschen 
Kaiserzeit  nurHofbeamter,  nicht  Beamter  für  einzelne  Domänen; 
„als  adlatus  der  Königin“  hatte  er  den  Reichsschatz  unter  sich 
und  besorgte  die  Verwaltung  sämmtlicher  Reichspfalzen  „nach 
Ausstattung  und  Baulichkeiten.“ *)  Später  ist  dann  nach  diesem 
Vorbilde  an  den  Höfen  der  Grossen  eine  gleiche  Beamtung  ge- 
schaffen worden.8)  In  Worms  begegnet  ein  Kämmerer  zuerst  1016 
und  zwar  tritt  uns  als  solcher  ein  Geistlicher,  der  Propst  Emicho, 
entgegen.4)  Das  Gesetz  Bischof  Burchard’s  nennt  dann  wenige 
Jahre  später  unter  den  Hofbeamtungen,  deren  Annahme  der 
Censual  nicht  weigern  darf,  auch  das  Amt  des  Kämmerers.6) 
So  tritt,  wie  es  für  Mainz  schon  von  Hegel8)  festgestellt  ist, 
auch  in  Worms  neben  oder7)  an  die  Stelle  des  geistlichen 
Kämmerers  ein  laicaler,  der  zu  den  servientes,8)  später  zu  dem 
sich  aus  ihnen  entwickelnden9)  Ministerialenstande  gehört.  Un- 
richtig ist  es  demnach  jedenfalls,  diesen  Kämmerer  für  einen 
ursprünglich  königlichen  Beamten  zn  halten, ,#)  der  dann  bei  der 
Übertragung  der  Grundstücke  und  Einkünfte  an  den  Bischof 
selbst  unter  dessen  Herrschaft  gekommen  wäre;  ebenso  kann 


*)  Friedr.  Töpfer  in  Urkb.  z.  G.  d.  Vögte  von  Hunolstein  Bd.  II 
(Nürnberg  1867)  8.  419,  420;  F.  Falk  in  Monatsscbr.  f.  rhein.-westf.  Gesch. 
n.  Altertumsk.  III  8.  125,  126. 

*)  Lamprecht  I 803,  1469,  Waitz  V.  G.  III  602,  IV  8. 

*)  Lamprecht  I 1469  vgl  Waitz  VII  311  ff. 

4)  W.  ü.  46  8.  37  Z.  6. 

•)  W.  U.  48  tit  29. 

•)  Mainz  8.  30,  31. 

*)  Ein  geistlicher  Kümmerer  wird  allerdings  in  Worms  in  der  Folgezeit 
nicht  genannt.  Es  spricht  aber  manches  dafür,  dass  das  geistliche  Kämmerer- 
amt nur  deshalb  nicht  erwähnt  ist,  weil  es  iu  Worms  regelmässig  mit  der 
Dompropstei  verbunden  war,  vgl.  die  nnten  im  Text  gegebenen  Ausfüh- 
rungen. 

•)  s.  oben  N.  5. 

•)  s.  oben  8.  62,  63. 

'*)  wie  es  von  den  oben  N.  1 citierten  Forschern  geschieht. 


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man  von  dem  Wormser  Kämmerer  auch  nicht,  wie  es  Arnold1) 
und  Liebe*)  tun,  vermuten,  er  sei  ursprünglich  Stellvertreter 
des  Burggrafen  bei  der  Gerichtsbarkeit  gewesen.  Daraus,  dass 
bei  der  früher  besprochenen  Aufzählung  der  richterlichen  Be- 
amten in  Burchard’s  Gesetz*)  des  Kämmerers  garnicht  gedacht 
wird,  lässt  sich  wohl  schliesen,  dass  er  damals  noch  keine  juris- 
dictioneilen Funktionen  hatte.  Vielmehr  wird  der  Kämmerer 
in  Worin 8 wohl  zunächst  ganz  dieselben  Funktionen  am  Bischofs- 
hofe wie  der  Kämmerer  des  Königs  an  dessen  Hofe  versehen 
haben,  also  Aufsicht  über  Baulichkeiten  und  Ausstattung  der 
Pfalzen  sowie  Schatzverwaltung.4)  Zu  letzterer  gehörte  es  nun 
auch,  die  Abgaben  in  Empfang  zu  nehmen,  welche  dem  Bischof 
von,  in  besonderer  Abhängigkeit  von  ihm  stehenden,  Personen 
geleistet  wurden.*)  Mit  solcher  Abhängigkeit  war  nun  im  Mittel- 
alter  regelmässig  ein  besonderes  Schutzverhältnis  verbunden. 
Da  nun  aber  der  Verkehr  des  Bischofs  mit  solchen,  besonderer 
Abgaben  und  Dienste  halber  unter  seinem  speciellen  Schutz 
stehenden  Personen  durch  den  Kämmerer  geschah,  so  wurde  der 
Schutz  auch  zunächst  von  ihm  geleistet.  So  kam  die,  ja  haupt- 
sächlich ihrer  Abgaben  halber  von  den  Bischöfen  geduldete 
und  beschützte,  jüdische  Gemeinde  wie  in  zahlreichen  anderen 
Orten*)  so  auch  in  Worms  in  ein  bes.  enges  Verhältnis  znm 
Kämmerer.7)  Während  der  christliche  Schuldner,  wenn  er  ange- 

*)  V.  G.  I.  s.  2%. 

*)  S.  24. 

•)  8.  oben  S.  170  N.  3. 

*)  Entsprechendes  weist  Lamprecht  I 1469  in  Trier  nach. 

*)  vgl.  Bochmer  fontes  II  p 210:  Ipsi  (sc.  camerario)  ratio  de  eensn, 
qnem  camere  appellabant,  reddenda  erat. 

*)  vgl.  Stobbe,  Die  Jnden  in  Deutschland  (Braunschw.  1866)  S.  145, 
256,  257. 

')  In  welche  Zeit  die  Anfänge  der  Abgaben  an  Bischof  und  Kämmerer 
und  das  besondere  Schutzverhältnis  bei  der  Wormser  Jndengemeinde  fallen, 
muss  dahingestellt  bleiben.  Jedenfalls  ist  es  bemerkenswert,  dass  das  dem 
Wormser  Judenbischof  Salman  und  seinen  Genossen  erteilte  Privileg  Heinrichs  IV, 
das  uns  freilich  nur,  nachdem  es  schon  durch  eine  Reihe  von  Transsumiemngen 
gegangen,  in  einer  Urkunde  Friedrich  II  erhalten  ist  (vgl.  Uber  dasselbe  und  die 
darüber  vorhandene  Literatur  Aronius  in  dem  oben  S.  8N.  1 citierten  Werke 
No.  171)  al»  Personen,  von  deren  Gerichtsbarkeit  und  Bestenmng  die  Empfänger 
unabhängig  sein  sollen,  ausser  Bischof,  Grafen  und  Schultheisseu  auch  den 
Kämmerer  nennt.  Allerdings  ist  vielleicht  daraus,  dass  der  um  diese  Zeit 


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175 


klagt  weder  durch  Bärgen,  noch  durch  Pfänder  Sicherheit  leisten 
konnte,  vom  Burggrafen,  später  von  Greven  in  Haft  gehalten 
werden  konnte,  kam  der  jüdische  Schuldner  in  solchem  Falle 
ins  Gefängnis  des  Kämmerers,  musste  ihm  aber  dafftr  nach 
erfolgter  Entscheidung  der  Sache  eine  besondere  Abgabe  leisten.1) 
Ebenso  durften  die  Juden  auch  nur  durch  den  Kämmerer  oder 
seine  Boten  vor  das  bischöfliche  Gericht  geladen  werden.*)  Wäh- 
rend diese  Bestimmungen  der  Ämterbeschreibung  des  dreizehnten 
Jahrhunderts  angehören,  melden  spätere  Nachrichten  von  einem 
— aber  auch  schon  zu  ihrer  Zeit  altüberlieferten  — Brauche, 
dass  Hochzeits-  und  Begräbniszüge  der  Juden  vom  Kämmerer 
einen  Stabträger  zum  Schutzgeleit  erhielten.*)  Auch  hat  der 
Kämmerer  zeitweise  eine  Jurisdiction  über  die  Juden*)  wohl 
bei  Bechtsstreitigkeiten  derselben  mit  Christen  besessen.*) 

Wichtiger  ist  noch,  dass  auch  den  Ministerialen  gegenüber 
der  Kämmerer  Befugnisse  besass,  die  sonst  anderen  Beamten 


in  Worms  sonst  noch  nicht  nachweisbare  Schultheis»  in  einem  Zusammenhänge 
genannt  wird,  wo  man  den  Vitxtnm  erwarten  würde  (vgl.  oben  S.  170 ff.),  zu 
schliessen,  dass  diese  Stelle  bei  einer  der  Transsumierungen  geändert  ist. 

*)  Boehmer  fontes  II  p 210,  vgl.  Arnold  S.  74. 

•)  ibid. 

*)  Zorn  S.  68,  Schannat  I p 206. 

*)  Vgl.  den  Lehnsbrief  des  Heinrich  Kämmerer  vom  Jahre  1406  (Schannat 
266).  Arnold  S.  74  hält  anf  das  dreimal  jährlich  in  snburbio  Martiniano  vom 
Kämmerer  abgehaltene  Gericht,  welches  die  Kämmerer  1316  an  die  Stadt 
verkauften  (s.  Boehmer  Fontes  II  211,  Zorn  S.  134)  für  das  .Judengericht,“ 
da  diese  Vorstadt  .dem  Judenviertel  zunächst  lag.“  Es  wäre  aber  so  nicht 
abzusehen,  warum  dies  Gericht  nicht  auch  in  unseren  Quellen  als  .Judengericht“ 
bezeichnet  wäre;  ferner  haben  nach  dem  oben  citierten  Lehnsbrief  die  Käm- 
merer ja  auch  noch  nach  1315  das  Juden-Gericht  zu  Worms  (Schannat  a.  a. 
0.).  Über  das  iudicinm  in  suburbio  Martiniano  vgl.  die  oben  S.  119  gegebene 
Erklärung. 

•)  Processe  der  Juden  untereinander  wurden  in  älterer  Zeit  von  ihnen 
selbst,  nämlich  von  dem  episcopus  Judaeorum  und  seinen  Ratslenten,  ent- 
schieden. Vgl.  die  oben  S.  174  N.  7 citierte  Urkunde  Friedrich  II  9 14 : .Qnod 
si  Judei  litern  inter  se  . . h&buerint,  a suis  paribus  et  non  ab  alils  iudicentur* 
und  den  Vertrag  Bischof  Emerichs  mit  den  Wormser  Juden  vom  Jahre  1312: 
Vom  ersten,  dass  der  Juden  Ratlude  zvvelif  sollen  sin  . . und  die  zvvelif 
solln  under  in  nach  Jutschem  Recht  richten  als  ez  von  alter  berkommen  ist. 
(Schannat  II  p 162  N.  1.)  Über  den  Gerichtsstand  der  Wormser  Juden  in 
späterer  Zeit  vgl.  Schannat  I p 206,  207  und  Fr.  Janson,  de  episcopo 
Judaeorum  Wormatiensi  (Heidelb.  Doctordissert.  von  1786)  p 6—7,  18. 


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176 


zustanden.  Hatte  schon  1016  der  Bischof  Interesse  daran,  dem 
Burggrafen,  obgleich  er  als  Vogt  sein  Vasall  war,  das  Betreten 
der  Umgebung  der  damals  gestifteten  Paulskirche  zu  unter- 
sagen,1) so  brachte  er  es  wohl  auch  frühzeitig  dahin,  dass  die 
Vornahme  von  Verhaftungen  dem  Burggrafen  im  Bischofshofe 
und  in  den  Wohnungen  der  bischöflichen  Ministerialen  entzogen 
wurde.*)  Hier  konnte  nnn  der  Kämmerer  um  so  leichter  für 
den  Burggrafen  eintreten,  als  ihm  nach  dem  Vorbilde  des 
Kämmerers  am  Königshofe  wohl  die  Aufsicht  über  die  Baulich- 
keiten der  Pfalz  übertragen  war.  In  ähnlicher  Weise  ist  es 
bei  der  erwähnten  Aufsicht  des  Kämmerers  über  den  Bischofs- 
schatz leicht  erklärlich,  dass  im  zwölften  Jahrhundert  in  die 
Münzerhausgenossenschaft  neu  aufgenommene  Mitglieder  ausser 
an  Bischof  und  Münzmeister  auch  an  den  Kämmerer  Abgaben 
leisten  mussten.’)  Ob  die  Wormser  Kämmerer  endlich  auch, 
wie  es  von  denen  anderer  Orte4)  feststeht,  öfters  als  Stellver- 
treter ihres  Bischofs  dem  ministerialischen  Dienstgerichte  vor- 
sassen,  muss  dahingestellt  bleiben. 

Dagegen  ist  es  sicher,  dass  der  Kämmerer  im  13.  Jahr- 
hundert der  Rügegerichtsbarkeit  über  die  ganze  Stadt  Vorstand, 
da  uns  dies  die  Ämterbeschreibung  ausdrücklich  berichtet.’) 
Es  ist  schon  oben  bei  Besprechung  des  Amtes  der  Heimburgen, 
welche  uns  daselbst  als  mit  der  Erhebung  der  Rüge  betraut 
entgegentraten,  erklärt  worden,  dass  dies  Rttgegericht  des 
Kämmerers  aus  dem  Sendgerichte  entstanden  ist.*)  Der  — übri- 
gens, wie  aus  der  Ämterbeschreibung  selbst  hervorgeht,  dem 
Ministerialenstande  angehörende7)  — Kämmerer  war  damals 
der  Vorsitzende  des  Sendgerichtes,  die  städtischen  Schöffen  die 

■)  W.  U.  43  vgl.  über  diese  Urkunde  oben  S.  156  N.  4. 

*)  vgl.  Boehmer  font.  t.  II  p 213  Z.  32,  33. 

•)  W.  U.  80  S.  66  Z.  21. 

‘)  Vgl.  i.  B.  Stumpf  3568  (Wilmans,  Kaiserurk.  der  Prov.  Westfalen  II 
Münster  1881  No.  226  S.  309)  für  Corvey : cum  hanc  potestatem  sub  se  ha- 
buerint,  ut  (sc.  abbas)  quicqnid  a suis  infra  muros  delinqueretur,  aut  ipse  cor- 
rigeret  aut  camerario  vel  dapifero  . . corrigendum  . . committeret.  vgl.  auch 
Urk.  Bischof  Ottos  von  Halberstadt  in  von  Ledebur,  Arch.  f.  Gesch.  d.  Preuss. 
Staats  VIII  (1832)  S.  282:  a camerario  hanc  causam  terminandam  censemns. 

‘)  Boehmer  Fontes  II  p 210,  211,  vgl.  oben  S.  116,  117. 

•)  ibid. 

’)  ibid.  8.  211  Z.  9-11,  vgl.  oben  S.  173. 


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177 


Sendschöffen  nnd  die  Heimburgen  die  Sendgeschworenen.  So 
war  ein  ursprünglich  rein  geistliches  Gericht  hier  ganz  in 
Laienhände  gekommen.  Zur  Erklärung  dieser  auffallenden  Er- 
scheinung sei  es  erlaubt,  eine  Frankfurter  Urkunde  vom  Jahre 
1283  ‘)  heranzuziehen.  In  derselben  verzichtet  der  Frankfurter 
Pleban  gemäss  eines  von  Oanonikern  und  Schöffen  gefällten 
Schiedsspruches  völlig  auf  Teilnahme  am  Sende  und  Ernennung 
der  Sendzeugen.  Die  Schöffen  selbst  sollen  das  Sendgericht  ab- 
halten; dabei  sollen  dann  von  ihnen  ernannte  Sendgeschworene 
(eitsveren)  auf  Befragen  vorgekommene  Feiertagsentheiligung 
rügen.*)  So  war  demnach  in  dem  doch  viel  später  als  Worms 
sich  entwickelnden  Frankfurt  schon  in  der  zweiten  Hälfte  des 
dreizehnten  Jahrhunderts  der  Send  in  Laienhände  gekommen. 
Dass  dasselbe  in  Worms  mindestens  schon  im  Beginne  dieses 
Jahrhunderts  der  Fall  war,  kann  wohl  aus  der  eigentümlichen 
Bemerkung  des  angeblichen  Privilegs  Heinrichs  VI.  geschlossen 
werden , dass  die  Heimburgen  künftig  von  jeder  Abgabe  an 
Propst  und  Arehidiacon,  also  die  geistlichen  Sendrichter,  frei 
sein  sollten.5)  Dazu,  dass  gerade  der  Kämmerer  den  Vorsitz 
im  Sendgerichte  erhielt  , mag,  abgesehen  von  der  sonstigen  ju- 
risdictionellen  Tätigkeit  desselben,  besonders  der  Umstand  bei- 
getragen haben,  dass  wohl,  wie  es  für  Worms  gerade  in  dem  einen 
Falle,  in  dem  ein  geistlicher  Kämmerer  überhaupt  erwähnt  ist,4) 
und  für  das  benachbarte  Mainz  sehr  oft  bezeugt  ist.5)  das  geist- 
licheKämmereramt  dem  Propste,  dem  regelmässigen  Sendrichter,0) 
zustand.  Hatte  der  ministerialische  Kämmerer  den  geistlichen 
im  Sende  anfangs  vertreten,  so  mochte  sein  Vorsitz,  bei  dem 
wachsenden  Selbstgefühl  der  städtischen  Bürgerschaft,  von  den 
Schöffen  dem  des  geistlichen  Kämmerers  vorgezogen,  diesen 
allmälig  ganz  verdrängen.  War  bei  Sendgerichtsfragen  der 

’)  Boehmer  Codex  diiilom.  Moenofrancofiirt.  (Frankf.  1836)  p 211. 

*)  Jedoch  fallen  nach  dieser  Urkunde  die  Bussen  für  das  Vergehen  — 
freilich  in  von  den  Schöffen  bestimmter  Höhe  — an  den  Fleban. 

*)  Boehmer  Fontes  II  p 21  ö:  nnllns  eomm  (sc.  heiinburgenainm)  quid- 
qnam  darc  debet  praeposito  ant  archipresbyter»  nlei  aut  denariomm  ant  alius 
rei  vgl.  oben  S.  115  mit  N.  4 nnd  5. 

*)  W.  U.  45:  Signum  Emichonis  praepositi  et  cauierarii. 

‘)  s.  die  Beispiele  bei  Hegel  Mainz  S.  30,  31. 

*)  vgl.  oben  S.  115. 

Koeline.  Ursprung  der  Stadtvcrfii-ssung  in  Worms,  Xpeier  nnd  Mninr..  li 


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178 


Kämmerer  einmal  Vorsitzender  der  Schöffen,  so  lag  es  dann 
nabe,  ihn  zu  jener  Zeit,  als  der  Vogt-Burggraf  seine  Rechte 
in  der  Stadt  aufgab,  neben  dem  Schul theissen  zum  Vorsitzenden 
des  Schüffencollegs  in  der  weltlichen  Gerichtsbarkeit  zu  machen.1) 
Während  die  gerichtlichen  Zwangshandlungen,  nämlich  Ladungen 
und  Executionen,  damals  an  den  von  den  Bürgern  gewählten 
Greven  kamen,*)  übernahm  der  Kämmerer  den  bis  dahin  dem 
Burggrafen  zustehenden  Vorsitz  im  Schöffengericht.  Als  Minis- 
terial  war  der  Kämmerer  vom  Bischof  abhängiger  und  ihm  dess- 
halb  genehmer  als  der  Vogt-Burggraf;  andrerseits  war  er  in 
Folge  der  schon  eingetretenen  Erblichkeit  seines  Amtes  hin- 
reichend unabhängig , um  auch  das  städtische  Interesse  gegen- 
über dem  bischöflichen  vertreten  zu  können. 

Wohl  konnte  nämlich  ursprünglich,  wie  aus  dem  Gesetze 
Burchard’s  hervorgeht,  der  Bischof  das  Kämmereramt  frei  ver- 
geben.3) Indess  kann  daraus,  dass  in  der  zweiten  Hälfte  des 
eilten  Jahrhunderts  nachweisbar  ein  Erkenbert  im  Besitze  des 
Wormser  Kämmereramtes  ist,4)  gerade  dieser  Name  in  seiner 
Familie  öfters  vorkam5)  und  ein  Kämmerer  Erkenbert  in  Ur- 
kunden von  1137 — 1141  als  Zeuge  erscheint,6)  wohl  geschlossen 
werden , dass  damals  schon  das  Kämmereramt  tatsächlich  in 
einer  Familie  forterbte.  In  den  ersten  Jahrzehnten  des  13. 
Jahrhunderts  hatte  aber  die  allgemeine  Entwicklung  schon  da- 
hin geführt,  dass  diese  Beamtuug  unentziehbar  und  erblich  ge- 
worden war;  in  dieser  Zeit  wurde  nämlich,  als  gerade  damals 
die  Fürsten  mehrfach  Entscheidungen  des  Reichsgerichts  durch- 
setzten, dass  die  Ministerialenlehen  bei  Herrenfall  und  Manns- 


')  Daher  erscheint  der  camerarius  teils  allein,  teils  mit  dem  scultetos 
unter  dem  Namen  indices  an  der  Spitze  der  Schöffen  vgl.  oben  S.  169. 

*)  vgl.  oben  S.  167  ff. 

*)  W.  U.  48  tit.  29. 

4)  S.  die  Biographie  Erkenbert«,  des  Stifters  des  Klosters  Frankenthal, 
in  Ludewig  Reliq.  Uanusc.  II  p 78  sq.  Danach  war  der  Oheim  desselben, 
nach  dem  er  seinen  Namen  führte,  Kümmerer  des  Wormser  Bischofs  (a.  a.  0. 
p 78,  79);  der  Stifter  des  genannten  Klosters  aber  wurde  1080  geboren,  da 
er  1192  im  Alter  von  52  Jahren  starb  (a.  a.  0.  p 99,  100,  vgL  F.  Falk  in 
Monatssehr.  f.  rhein  -westfäl.  Gesch.  III  S.  127). 

*)  Dies  geht  aus  dem  in  der  vorigen  Note  erwähnten  hervor. 

•)  D.  64,  U.  69—71. 


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179 


fall  ledig  würden,  das  Kämmereramt  dabei  stets  ausdrücklich 
ausgenommen.1) 

In  Worms  spricht  für  noch  frühere  Erblichkeit  dieses  Amtes 
auch  die  Tatsache,  dass  bei  der  im  Besitze  desselben  befind- 
lichen Familie  die  Bezeichnung  Kämmerer  schon  im  dreizehnten 
Jahrhundert  Geschlechtsname  geworden  ist.  Allerdings  kann 
die  relativ  früh  überlieferte*)  Ansicht,  dass  dieses  Geschlecht 
schon  zur  Zeit  des  Kölner  Erzbischofs  Heribert  (f  1021)  das 
Wormser  Kämmererarat  besass  und  dass  dieser  aus  Worms 
stammende  Prälat  ihr  angehörte,  nicht  als  historisch  ausreichend 
bezeugt  angesehen  werden.5)  Auch  zur  Zeit  Erkenberts,  des 
Stifters  des  Klosters  Frankenthal,  haben  die  Verwandten  des 
gleichnamigen  Kämmerers  die  Amtsbezeichnung  jedenfalls  noch 
nicht  als  Titel  geführt.4)  Dagegen  wird  wohl  schon  in  den 


')  B-F.  1062,  3895,  4149,  4411,  4465,  5017.  (L.  L.  II  ed.  Pertz  p 234, 
252,  Huillard-BrGholles  III  p 409,  L.  L.  II  p 333,  334,  Huil.-Brfeh.  VI  p 839, 
L.  L.  n p 366). 

*)  Dieselbe  findet  sich  schon  in  der  Wormser  Ämterbeschreibung  von 
1483  oder  84  (s.  Boehmer  fontes  II  p.  211  mit  der  Note).  Für  diese  Tradition 
hat  sich  anch  F.  Falk  in  Corrcspoudenzbl.  des Gsmmtvereins  d.  D.  Oschtsvereine 
Bd.  XXII  (1874)  S.  44  und  in  der  oben  S.  178  N.  4 angegebenen  Ztschr.  aus- 
gesprochen. 

*)  Sowohl  die  Ämterbeschreibung  als  die  Unterschrift  eines  in  unbe- 
kannter Zeit  entstandenen  Bildes,  welches  Falk  Correspdzbl.  a.  a.  0.  erwähnt, 
stehen  den  erzählten  Ereignissen  zeitlich  ganz  fern.  Die,  im  Jahrhundert  des 
Todes  Heriberts  von  Lantbert  verfasste,  Biographie  desselben  sagt  nur  von 
ihm,  dass  er  clarissima  Wormaciensium  progenie  mundo  editus  gewesen  (S. 
S.  IV  p 741).  Ihr  sind  anch  Oiesebrecht  d.  K,  I 718,  Cardauns  in  derAUg. 
Deutschen  Biogr.  s.  v.  Heribert  und  Ennen  Oesch.  der  Stadt  Köln  (Köln  1863) 
8.  260  gefolgt  Die  erwähnte  Tradition  ist  vielleicht  dadurch  entstanden,  dass 
Heribert  (geistlicher)  Kämmerer  in  Worms  gewesen  ist,  ebe  er  Erzbischof 
wurde,  und  daher  in  einer  nicht  mehr  erhaltenen  Urkunde  als  camerarius 
Wormatiensis  bezeichnet  ist. 

4)  Dass  der  Neffe  des  Kämmerers  Erkenbert  vom  Monachus  Kirsgartensis 
in  der  Überschrift  des  Capitel  27  (Ludewig  Reliq.  II  p 78)  auch  camerarius  ge- 
nannt wird,  obgleich  er  selbst  dies  Amt  nicht  bekleidet  hat,  kann  natürlich 
nicht  als  Beweis  gelten.  Der  älteren  Quellen  entnommene  Text  spricht  eher 
gegen  als  für  die  Annahme,  dass  die  ganze  Familie  damals  schon  so  bezeichnet 
wurde.  Dass  die  späteren  Kämmerer  von  Worms  wirklich  von  dieser  Familie 
des  Stifters  von  Frankenthal  abstammen,  was  Falk  an  den  oben  N.  2 citierten 
Stellen  und  Remling  in  Gesch.  d.  Abteien  und  Klöster  in  Rheinbayern  (Neustdt. 
a/d.  Hardt  1836)  Bd.  II  S.  4 behaupten,  dagegen  Weidenbach  im  Rhein. 

is* 


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180 


dreissiger,1)  spätestens  in  den  sechziger  Jahren  des  dreizehnten 
Jahrhunderts  der  Kämmerertitel  sicher  von  mehreren  Mitglie- 
dern derselben  Familie  geführt.  Im  Jahre  1261  sagt  nämlich 
Emicho  camerarius  der  Stadt,  um  eine  Busse  nicht  leisten  zu 
brauchen,  das  Bürgerrecht  auf  und  wird  auch  1264  unter  den 
Gegnern  der  Stadt  genannt;*)  dagegen  ist  Heinricus  camera- 
rius 1262  Bürgermeister.’)  Ja,  nicht  nur  der  Name,  sondern 
auch  die  Reste  der  Beamtung  scheinen  schon  1279  mehreren 
Mitgliedern  des  Geschlechts  durch  Erbschaft  zugefallen  zu  sein.4) 
Im  vierzehnten  Jahrhundert  verschmelzen  dann  die  Kämmerer 
mit  der  damals  aussterbenden  Familie  der  Dalbergs5)  und 
heissen  von  da  an  Kämmerer  von  Worms,  genannt  von  Dalberg,6) 
oder  auch  kurzweg  Kämmerer  von  Dalberg.7)  So  gehen  sie 
zuletzt  völlig  in  den  Landadel  auf,  bleiben  aber  nicht  nur 
Lehnsleute  des  Wormser  Bistums,8)  sondern  behalten  auch  bis 
zum  Ende  des  achtzehnten  Jahrhunderts  einige  aus  ihrem  frü- 
heren Amte  stammende  Berechtigungen  in  Worms.9) 

Wenden  wir  uns  nun  zur  Betrachtung  der  Beamten  in  Speier. 
Auch  hier  ist  die  Identität  von  Burggraf  (Stadtgraf,  comes,  prae- 


Antiquarius  2.  Abt.  Bd.  XVI  (Coblenz  1869)  S.  223  bestreitet,  kann  also  auch 
nicht  als  sicher  festgestellt  angesehen  werden. 

■)  Schannat  II  No.  121  p 113,  W.  U.  186,  vgl.  noch  W.  U.  236. 

’)  Boehmer  fontes  11  p 202,  203. 

•)  ibid.  p 203. 

•)  In  W.  U.  390  nennt  Bischof  Friedrich  von  Worms  Heinricum  et  Ger- 
harduni  fratres  „camcrarios  nostros.“ 

*)  vgl.  Weidenbach  (in  der  S.  179  N.  4 citierten  Ztschr.)  3.  224, 
F.  Falk  im  ibib.  N.  2 angeführten  Correspbl.  S.  43,  44,  F.  Toepfer  in  dem 
oben  S.  173  N.  1 citierten  Werbe  S.  421. 

*)  Vgl.  z.  B.  Baur  Hess.  Urk.  IV  N.  1 p 1 : Johann  Kemmerer,  den  man 
nennet  von  Dalberg. 

’)  S.  die  in  Note  5 angeführt«  Litteratur. 

*)  vgl.  Schannat  I p 256-258. 

*)  Vgl.  den  ibid.  abgedruckten  Lehnsbrief.  Nach  der  oben  8.  176  N.  5 
citierten  Schrift  von  Janson  § 14  p 18  hatten  freilich  die  Kämmerer  im  acht- 
zehnten Jahrhundert,  obgleich  ihnen  in  diesen  Lehnsbriefen  das  Judengericht 
und  das  Recht  „die  Juden  zu  schirmen,  als  Herkommen  ist“  übertragen  wird, 
doch  in  dieser  Hinsicht  keine  weiteren  Rechte  als  dass  sie  einen  Stab- 
träger  bei  den  oben  S.  175  mit  N.  3 erwähnten  Gelegenheiten  stellen  und  eine 
kleine  Gebühr  dafür  einziehen  durften.  So  ist  es  auch  zweifelhaft,  ob  die  in 


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181 


fectus  urbis)  und  Vogt  (advocatus)  sicher.  Dieselbe  geht  schon 
daraus  davor,  dass  im  Jahre  1103  in  einer  Urkunde  über  eine 
zu  Speier  in  Gegenwart  des  dortigen  Bischofs  Johannes  I.  voll- 
zogene Vergabung1)  unter  den  Zeugen  als  erster  der  ingenui 
Heinrich  advocatus,  in  einer  von  diesem  Bischof  selbst  1104 
ausgestellten  Urkunde*)  aber  an  entsprechenderstelle  „Heinrich, 
praefectus  urbis“  genannt  wird.  Ferner  ist  für  1109,  1115 
und  1164  ein  Burggraf  Ekbert  bezeugt;*)  durch  das  Tra- 
ditionsbuch von  Hirschau  ist  aber  überliefert,  dass  ein  prae- 
fectus Spirensis  Ekbert  einen  Sohn  Ekbert  hatte,  der  schon 
zu  des  Vaters  Lebzeiten  comes  genannt  wurde.*) 

Demnach  haben  wohl  zwei  gleichnamige  Personen , die 
als  Ekbert  I und  II  unterschieden  werden  können,  das 
Speierer  Burggrafenamt  in  den  55  Jahren  zwischen  1109  und 
1164  bekleidet.  In  dieser  Zeit  ist  nun  auch  ein  Eckbert  ad- 
vocatus 1115  in  Speier  bezeugt,6)  so  dass  wieder  die  Iden- 
tität von  Vogt  und  Burggraf  deutlich  wird.  Man  war  sogar 
damals  schon  so  gewohnt,  dass  die  beiden  Titel  advocatus  ec- 
clesiae  und  praefectus  urbis  derselben  Person  zukamen,  dass 
man  sie  förmlich  durcheinander  mengte;  derart  muss  es  doch 
wohl  erklärt  werden,  dass  dieser  Ekbert  in  einer  zwischen  1120 
und  1149  entstandenen  Urkunde  als  comes,  per  divinam  miseri- 
cordiam  Spirensis  ecclesiao  praefectus,  bezeichnet  wurde.6) 

Dass  die  beiden  Ekberts  ebenso  wie  ihr  Vorgänger  Hein- 
rich dem  Stande  der  Freien  angehörten,  lässt  sich  schon  daraus 
schliessen,  dass  der  Speierer  Canoniker  Hermannus,  Ekberti  Co- 
den Lehusurkunden  den  Kämmerern  zngcsicherte  Freiheit  von  allen  städtischen 
Stenern  damals  noch  wirklich  bestand,  welche  cinzuschränken  der  Rat  schon 
im  Jahre  1398  vergeblich  versucht  hatte  (vgl.  Quden  Cod.  dipl.  V p 746). 

*)  Beinling  ürkb.  N.  76  p 84. 

*)  ibid.  N.  78  p 86;  vgl.  auch  Boehmer  Fontes  IV  p 323,  wonach  ein 
zur  Speierer  Diöcese  gehöriger  comes  urbis  Heinrich  am  19.  Juli  gestorben  ist. 

*)  Codex  Hirsaug.  p 49;  Stumpf  Nr.  3ö25  (Beyer  Mittelrh.  Crkb.  [Oob- 
lenz  1860]  Bd.  I No.  643  S.  601);  Würdtwein  Snbsidia  diplom.  t.  X (Francof. 
et  Lips.  1777)  p 349.  Vgl.  auch  das  Todtenbuch  des  Speierer  Domstifts,  wonach 
ein  Eggebertus  comes  am  25.  Januar  gestorben  ist.  (Mone  Ztschr.  Bd.  XXVI 
a 419). 

‘)  Cod.  Hirsaug.  p 57:  Ebbertns  prefectus  Spirensis  et  uxor  eius  Had- 
wic  cum  fllio  comite  Eckeberto  dederunt  . . . 

*)  St.  3097  Bemling  No.  81. 

•)  Mone  Anzeiger  f.  Kunde  der  Deutschen  Vorzeit  VII  (1838)  S.  447  N.  13. 


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182 


mitis  Alias,  1184  nobilis  vir  genannt  wird.1)  Dazu  kommt  noch, 
dass  1146  Eckebertas  comes  de  Spira  in  einer  Urkunde  Kun- 
rads  m unter  den  Zeugen  erscheint.*)  Mit  den  Ekberts  ver- 
schwindet in  unserer  Überlieferung  für  den  Vogt  die  Be- 
zeichnung Burggraf  (praefectus  urbis,  comes  urbis).  Da  diese 
Familie  nachweisbar  auch  Güter  ausserhalb  Speiers  besass,3)  so 
kann  man  wohl  annehmen,  dass  die  Speierer  Burggrafen  ganz 
wie  die  Wormser  und  Mainzer  ihre  Rechte  in  der  Stadt  all- 
mälig  aufgegeben  haben. 

Nach  dem  Verschwinden  des  Vogt-Burggrafen  in  Speierer 
Urkunden  tritt  daselbst  ein  wohl  dem  Wormser  Greven4)  ent- 
sprechender Beamter  in  dem,  nun  nicht  mehr  dem  Stande  der 
freien  Herren  angehörenden,  „Vogt“  entgegen.  Zwischen  1201 
und  1220  wird  ein  „Vogt  Anselm“  mehrfach  unter  den  Minis- 
terialen genannt.5)  Neben  diesem  ministerialischen  Vogt  gab 
es  noch  einen  anderen,  der  dem  Bürgerstande  angehörte. 
Ein  solcher  erscheint  1218  in  einer  Zeugenliste,  die  auch  den 
ministerialischen  Vogt  Anselm6)  enthält;  als  bürgerlicher  Vogt 
wird  hier  der  Münzmeister  Gotfried  genannt.7)  Ebenso  finden 
wir  im  Jahre  1265  den  einer  Münzerfamilie  angehörenden  Mar- 
quard  Lambesbuch  als  Vogt.")  Die  Collegialität  des  Speierer 
Vogtamts  scheint  jedoch  bald  aufgehoben  zu  sein;  wenigstens  be- 


')  St.  1184,  Würdtweiu  Nova  subsidia  diplom,  XII  (Heidelb.  1788)  p 114. 

*)  StumpfNr.  3528  (Beyer  Mr.Urkb.  an  der  oben  8. 181 N.  3 citierten  Stelle). 

*)  vgl.  Cod.  Hirsang.  p 57. 

‘)  Beide  haben  einen  Teil  der  Befugniese  des  Vogt-Burggrafen  erhalten 
and  der  Speierer  Vogt  wird  wie  der  Wormser  Greve  bei  Aufzählungen  der 
Beamten  hinter  Schuitheiss  und  Kämmerer  genannt,  s.  D.  159  S.  119  Z.  25 
und  Hilgard  Urkb.  8.  474  Z.  39.  Freilich  folgt  aus  U 110  (8.  81  Z.  39)  und 
U 293  (8.  233  Z.  5)  dass  der  Speierer  Vogt  auch  Gerichtsbarkeit  übte,  wäh- 
rend diese  dem  Greven  fehlte  vgl.  oben  8.  169.  Das  Wort  Greve  selbst  kommt 
in  Speier  nur  als  Eigenname  vor  (U  253,  U 359). 

*)  Baur  Hess.  Urk.  II  No.  22  p 36,  Remling  Urkb.  No.  123,  Sp.  U.  28, 
29,  31—33. 

•)  U.  31.  Neben  Anselm  erscheint  1209  auch  noch  ein  ebenfalls  ministe- 
rialischer  Vogt  Walter  in  einer  Urkunde  Bischof  Konrads  von  Speier  (Winkei- 
mann, Otto  IV  Append.  N.  3S.  518).  Es  muss  aber  dahingestellt  bleiben,  ob 
dieser  Walter  mit  städtischen  Verhältnissen  etwas  zn  tun  hat. 

T)  U.  31  Z.  37 : Godefridus  advocatus,  magister  monetariorum.  So  fasst 
diese  Stelle  auch  Hilgard  im  Register  8.  525  auf. 

•)  U.  110. 


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183 


gegnet  seit  Anselm  kein  ministerialischer  Vogt  mehr  und  in 
einer  Aufzeichnung  des  14.  Jahrhunderts  wird  ausdrücklich 
berichtet,  dass  der  Bischof  nur  einen  Vogt  in  der  Stadt  hat.1) 
Derselbe  wurde  wie  Schultheiss  und  Kämmerer  vom  Rate  ge- 
wählt und  vom  Bischof  nur  belehnt.*) 

Kehren  wir  jetzt  zur  Betrachtung  des  Vogt -Burggrafen 
zurück.  Die  mannigfachen  demselben  in  Speier  zustehenden 
Befugnisse  lassen  sich  auf  seine  Doppelstellung  zurückführen. 
Aus  der  Grafenwtirde  stammten  die  gerichtlichen  Befugnisse*) 
und  die  Aufsicht  über  die  Festungswerke,  welche  den  Burg- 
grafen in  Stand  setzten,  die  Stadt  dem  in  Empörung  gegen 
seinen  Vater  begriffenen  Heinrich  V,  offenbar  wider  Willen  der 
Bürger,  auszuliefern  ;*)  als  Vogt  war  derselbe  Beamte  Vertreter 
des  Bischofs  5)  und  hatte  auch  wohl  jene  Befugnisse  erworben, 
welche  Heinrich  V.  1111  zu  Gunsten  der  Bürger  aufhob.6) 

Die  Competenzen  des  Burggrafen  gingen  auch  in  Speier 
über  das  unmittelbare  Gebiet  der  Stadt  hinaus.  Schon  in 
den  Ottonischen  Privilegien  hatte  der  Bischof  nicht  nur  in  der 
Stadt , sondern  auch  im  umliegenden  Lande  die  Grafen- 
rechte erhalten  ,*)  und  der  Umstand , dass  Mutterstadt, 
Gommersheim  und  Freispach  ganz  bestimmt  an  der  In- 
standhaltung der  Speirer  Mauern  beteiligt  waren,8)  zeigt,  dass 
dies  Gebiet  ziemlich  umfangreich  war.  Mit  dem  engeren  um 

»)  Hilgard  Urkb.  S.  489  Z.  22. 

*)  U.  184  8.  141  Z.  11  ff.  vgL  Ran  Regünentsv.  II  24.  Unberücksichtigt 
kann  hier  der  von  dem  Rate  im  14.  Jahrhundert  zum  Stadtsyndicus  vor  geist- 
lichen Gerichten  bestellte  Jurist  bleiben,  welcher  auch  advocatus  genannt 
wurde;  vgl.  über  ihn  Sp.  U.  339,  345. 

*)  U 13  (S.  16,  Z.  40,  S.  17,  Z.  2). 

4)  Annales  Hildesheim.  a 1106  (S.  8.  III  p 109)  vgl.  unten  Cap.  VII. 

*)'vgt.  Acta  Theod.-  Palatina  III  p 268.  Hier  wird  bei  einem  im 
Jahre  960  vorgenommenen  Gütertausche  der  Bischof  von  Speier  durch  den 
Vogt  Ruothard  vertreten. 

•)  U.  14  S.  19  Z.  9 ff:  Nullus  prefectus  vinum  quod  appellatur  banwin 
presumat  vendere  aut  alieuius  civis  navim  ad  opus  sui  domini  illo  invito  accipere. 

*)  vgl.  oben  S.  146. 

•)  vgl.  Lebmann-Fnchs  Chronicon  Spirense  S.  18,  19.  Für  Mutterstadt 
folgt  die  Beteiligung  am  Mauerbau  ans  einer  Inschrift  auf  einem  Mauerstein : 
Muderstat  pinnas  sibi  vendicat  istas,  für  Gommersheim  und  Freispach  daraus, 
dass  sie  noch  zu  Fuchs  Zeiten  die  in  Folge  der  Beteiligung  an  Instandhaltung 
und  Bewachung  der  Mauern  ihnen  ehemals  erteilten  Rechte  in  Anspruch  nahmen. 


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184 


» 

Speier  gelegenen  Bezirk,  in  dem  der  Bischof  seit  989  die 
Grafenrechte  übte,  wurden  1086  noch  weitere  dadurch  verbun- 
den, dass,  in  Folge  der  königlichen  Schenkungen  Lutrainsforst 
und  Forchheim,  fast  der  ganze  Speiergau  an  den  Bischof  überging.1) 
Jedenfalls  geht  die  Tatsache,  dass  die  Befugnis  des  Speierer 
Vogts  über  die  Stadt  hinausreichte,  auch  aus  folgendem  hervor : 
Als  1103  das  Kloster  Herd  dem  Domstift  übergeben  wurde, 
wurde  zugleich  verordnet,  dass  dafür  kein  besonderer  Vogt 
eingesetzt  werden  sollte,  sondern  dass  der  Speierer  Domvogt 
dreimal  im  Jahr  zu  den  dortigen  Gerichtstagen  kommen  sollte.*) 

Die  Tatsache,  dass  die  Stadt  unter  bischöflicher  Herrschaft 
durchaus  noch  kein  besonderes  Gebiet  bildete,  ergiebt  sich  aber 
ganz  besonders  daraus,  dass  auch  der  dem  Vogt-Burggrafen 
untergeordnete  Beamte,  der  Speierer  Sch  ult  heiss,  neben  dem 
städtischen  auch  ländlichen  Gebietsteilen  vorgesetzt  war.  Nach 
einer  Urkunde  von  1230  musste  damals  ein  Hof  in  Affolterloch 
jährlich  zwei  Unzen  an  den  Speierer  Schultheissen  zahlen,*)  wo- 
raus wohl  auf  jurisdictionelle  Abhängigkeit  zu  schliessen  ist. 
Damit  stimmt  überein,  dass  später,  als  der  Speierer  Scliultheiss 
aus  einem  bischöflichen  ganz  vorzugsweise  ein  städtischer  Be- 
amter geworden,  zwischen  Rat  und  Bistum  lebhafter  Streit 
darüber  entstand,  wie  es  mit  der  Gerichtsbarkeit  in  einer  Reihe 
von  Ortschaften 4)  gehalten  werden  sollte,  die  seit  Alters  her  zum 
Bezirk  des  Speierer  Scliultheissengerichts  gerechnet  wurden. 
Noch  1294  wurde  in  einem  Vertrage  Bischof  Friedrichs  und 
der  Stadt  diese  Frage  unentschieden  gelassen.*) 

Was  nun  den  Ursprung  des  Speierer  Schultheissenamtes 
anbetrifft,  so  ist  zu  bemerken,  dass  dasselbe  ausdrücklich  in 

>)  St.  2874,  Remling  Urkb.  I N.  68. 

*)  Remling  Urkb.  I N.  76. 

*)  Remling  Urkb.  I No.  176:  quod  eorum  curia  in  Affoluderuloch  sin- 
gulis  annis  quatuor  uncias  Spirenses  scnlteto  nostre  civitatis  nomine  uostro 
debet  persolvere. 

4)  Es  waren  nach  U.  184  S.  141  Z.  20:  Berghuseu,  Harthuseu  (siidwestl. 
von  Speier),  Heyenhoven,  Tutenhoven  (westl.  von  Speier)  und  Walhesheim 
(Walsheim).  Letzteres  verlegt  Hilgard  im  Index  in  das  pfälzische  Bezirksamt 
Landau.  Es  ist  aber  wohl  dahinter  ein  anderer  näher  bei  Speier  gelegner  Ort 
Walasheim  auch  Walsheim,  der  heute  Waldsec  genannt  wird,  zu  verstehen 
vgl.  Lamejus  in  Acta  Theod.-Palat.  III  p 237,  238. 

•)  U.  184. 


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185 


dem  überlieferten  Material  nicht  vor  11631)  erwähnt  wird. 
Dagegen  war  in  Speier  jedenfalls  vor  dem  Auftreten  des  Schult- 
heissen  neben  dem  Vogt-Burggrafen  nicht,  wie  in  Worms,  der 
Vitztum,  sondern  ein  Tribun  als  Gerichtsbeamter  tätig,  der 
am  Ende  des  11.  und  Anfang  des  12.  Jahrhunderts  in  dieser 
Funktion  mehrfach  erwähnt  ist.*)  Er  entschied  geringere  Pro- 
cesse  und  hatte  mit  dem  Burggrafen  die  Verhaftung  von  Ver- 
brechern vorzunehmen.’) 

Obgleich  Burggraf  und  Tribun  von  den  Bischöfen  abhängig 
waren,4)  haben  diese  doch  auch  in  Speier  danach  gestrebt,  ge- 
wisse unter  ihrem  besonderen  Schutze  stehende  Personenclassen 
der  Unterordnung  unter  die  genannten  Beamten  möglichst  zu 
entziehen.  So  übte  z.  B.  ein  vom5)  Bischof  eingesetzter  Archi- 
synagog  über  die  von  Bischof  Rüdiger  in  der  villa  Spira  ange- 
siedelten Juden  die  richterlichen  Befugnisse  aus,  die  den  übrigen 
Einwohnern  Speiers  gegenüber  der  Tribun  hatte,  während 
bedeutendere  Sachen  vom  Bischof  selbst  oder  dessen  Kämmerer 
entschieden  wurden.6)  So  ist  es  auch  den  Mitgliedern  des 
Speierer  Domstifts  gelungen,  durchzusetzen,  dass  sie  in  ge- 
wissen Strafsachen  nur  vor  einem,  unter  Vorsitz  ihres  Decans 

>)  ü.  16. 

*)  s.  U.  11  a 1084  (S.  12  Z.  3),  U.  13  a 1101  (8.  16  Z.  29,  40,  S.  17  Z.  2) 
ferner  Cuono  tribunus  aU  Zeuge  in  Urk.  Heinrichs  V für  Speier  von  1113 
Ang.  29  (Beinling  Urkb.  Nr.  81  S.  90;  Stumpf  3097). 

»)  s.  U.  11  u.  U.  13  a.  a.  0. 

*)  Für  den  Tribun  geht  dies  aus  dem  Ausdrucke  tribunus  episcopi 
(U  13  S.  16  Z,  29)  hervor. 

*)  Dass  dieser  Beamte  damals  vom  Bischof,  weun  derselbe  darin  auch 
zunächst  als  Vertreter  des  Kaisers  fungirte,  nicht  vom  Kaiser  selbst  ein- 
gesetzt wurde,  kann  wohl  aus  dem  ganzen  Ton  von  U.  11  sowie  aus  den 
Worten  von  U.  12  (S.  13  Z.  29) : qui  ex  parte  episcopi  preest  Synagoge  ge- 
schlossen werden.  Aronius  Begesten  z.  Gesch.  d.  Juden  in  Deutschi.  (Berlin 
1887)  No.  168  und  170  erklärt  freilich  nicht  nur  mit  Hoeniger  und  Stobbe 
die  letztere  Urkunde  für  zu  Gunsten  des  Bischof  überarbeitet,  sondern  hält 
es  auch  für  möglich,  dass  auch  die  Urkunde  Bischof  ßüdigers  nicht  unver- 
fälscht überliefert  ist,  da  die  Beeilte  an  den  Juden  erst  später  an  die  Bischöfe 
gekommen  sein.  Durch  die  Urkunde  Heinrichs  V von  1113  August  29  (s. 
oben  N.  2)  steht  aber  jedenfalls  fest,  dass  die  Juden  in  Speier  bis  zu  dieser  Zeit 
an  den  Bischof  (nicht  den  Kaiser)  zinsten,  indem  damals  der  Bischof  den 
Zins  mit  dem  Domkapitel  gegen  Güter  zu  Oppenweiler  vertauschte. 

•)  U.  11.  8.  12  Z.  4 ff. 


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186 


abgehaltenen,  Genossengerichto  Recht  zu  nehmen  brauchten; ') 
ferner  haben  sie  auch  ihren  Wohnungen  Asylrechte  zu  ver- 
schaffen gewusst.®)  Endlich  bemühten  sich  auch  Bischof  und 
Capitel  nicht  ohne  Erfolg  sich  für  ihre  servientes  eine  beson- 
dere Gerichtsbarkeit  zu  schaffen  und  sich  die  Befreiung  der- 
selben von  Körperstrafen  gegen  Geldstrafen  zu  ermöglichen.*) 

Nach  dem  erörterten  kann  es  nun  als  gewiss  betrachtet 
werden,  dass  dieser  Speierer  Tribun  einfach  der  alte  Hundert- 
schaftsvorsteher der  Merowinger-  und  Karolingerzeit  ist,  der 
ja  auch  schon  öfters  diesen  Namen  führte;4)  nur  war,  wie  der 
Burggraf,  so  auch  der  Tribun  vom  Bischof  abhängig  geworden. 
Bei  dem  Auftreten  des  Schultheissen  handelt  es  sich  dann  auch 
nur  um  eine  Namensänderung.5)  Einer  solchen  entspricht  es 
auch,  dass  in  Mainz,  wie  Hegel8)  nachgewiesen  hat,  derselbe 
Beamte  bald  als  Schultheiss,  bald  als  Tribun  bezeichnet  wird. 
Hervorzuheben  aber  ist,  dass  in  Speier,  wie  der  Burggraf  durch 
die  Übernahme  der  Vogtei,  so  auch  der  Schuhheiss  (Tribun), 
als  der  Bischof  die  Grafenrechte  erhielt,  zugleich  bischöflicher 
Beamter  wurde  und  die  seinen  öffentlich  rechtlichen  Funktionen 
entsprechenden  Rechte  gegen  die  bischöfliche  familia — abgesehen 
von  der  Classe  der  servientes  — erhielt.  Es  geht  dies  daraus 

')  U 13  S.  17  Z.  1 ff. : Si  vero  aliquis  fratrum  aliquem  forensero  vulnera- 
verit,  despoliaverit  vel  in  aliquo  leserit,  non  ab  hoc  vel  a prefecto  Tel  a 
tribnno  capiatur,  aed  ipsa  questio  ad  decanum  et  ad  alios  fratres  deferatnr. 

*)  ibid  S.  IG  Z.  39  ff. 

•)  U 13  3.  26  Z.  16  ff.  Diese  Urkunde  selbst  ist  dem  Domkapitel  ge- 
geben und  enthält  auch  Beeinträchtigungen  des  Bischofs,  der  z.  B.  in  älterer 
Zeit  selbst  die  Jurisdiction  Ober  alle  Geistlichen  seiner  Diöcese  übte,  soweit 
sie  überhaupt  der  weltlichen  Gerichtsbarkeit  entzogen  waren,  vgl.  Schröder 
R.  G.  8.  179 — 181.  Man  darf  also  diese  Urkunde  Heinrichs  IV  nicht,  wie 
es  Schaube  Speier  S.  456  mit  N.  4 tut,  als  blosse  Bestätigung  der  den  Spei- 
erer Bischöfen  von  den  Vorgängern  dieses  Kaisers  erteilten  Privilegien  an- 
sehen.  Im  übrigen  folgt  auch  aus  der  f ür  dies  Privileg  (U  13)  hier  gegebenen 
Erklärung,  dass  die  eigentlich  bischöflichen  servientes,  von  denen  in  dem- 
selben nicht  die  Rede  ist,  die  Rechte,  welche  darin  den  servientes  der  D o m - 
herren  erteilt  werden,  damals  Bchon  besassen. 

4)  Sohm  V.  G.  S.  230—240  (vgl.  bes.  S.  237  mit  N.  79),  und  Schröder 
R.  G.  S.  127  mit  N.  15. 

*)  So  auch  schon  Arnold  V.  G.  I S.  84,  während  Schaube  Speier  S.  456 
Tribun  und  Schultheiss  wie  zwei  ganz  verschiedene  Beamte  bespricht. 

•)  Mainz  S.  29  mit  N.  4—7. 


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187 


hervor,  dass  noch  1211  ein  Speierer  Schultheiss  ausdrücklich 
als  villicus  bezeichnet  wird.1)  Dem  entspricht  cs,  dass  der 
Schultheiss  anfänglich  in  den  Zeugenlisten  unter  den  bischöf- 
lichen Ministerialen  erscheint;*)  später  steht  er  unter  den  Bür- 
gern.*) Was  seine  Ernennung  betrifft,  so  geht  aus  unseren  Quellen 
hervor,  dass  er  vom  Bischof  investiert,  zugleich  aber  auch , dass 
er  wenigstens  in  späterer  Zeit  von  den  Bürgern  gewählt  wurde.*) 
Als  1293  Bischof  und  Stadt  im  Streit  lagen,5)  nahm  in  der 
Beglaubigung  der  Rechtsgeschäfte  bes.  über  Immobilien  seitens 
der  Stadt,  welche  ebenfalls  dem  Schultheissen  oblag,  einer  der 
Ratsherren  Knoltzo  Zoller  als  „electus  in  scultetum  quoad  sub- 
scripta  expedienda,  quia  Spirensis  civitas  sculteto  caret  in  presenti“ 
seine  Stelle  ein.8)7)  Nach  mehreren  erhaltenenürkunden  sass  dieser 
damals  dem  Rate  bei  Grundbesitzübertragungen  vor  und  bestellte 
die  Zeugen;8)  in  denselben  Funktionen  tritt  uns  sonst  der  Schult- 
heiss entgegen.8)  Wie  hier  in  der  freiwilligen  Gerichtsbarkeit 
so  ist  dieser  Beamte  auch  in  der  bürgerlichen  und  Strafge- 
richtsbarkeit als  Vorsitzender  nachweislich  thätig  gewesen.10) 

')  Sp.  U.  27  S.  30  Z.  3:  Conradus  villicus.  Derselbe  Conrad  ist  1207, 
1209  trnd  1211  als  Schultheiss  bezeugt  (U  24,  26,  634). 

•)  ü 16,  17  (a.  1163,  1164.) 

*)  ü 29,  30  (a  1213,  1217)  Wirtemb.  Urkb.  Bd.  ÜI  (Stuttg  1871)  No. 
623  S.  91  (a  1219)  Über  die  Ursachen  dieser  Veränderung  vgl.  das  oben 
S.  71  ff  über  Zolleinnehmer  und  Münzer  gesagte. 

4)  Es  geht  dies  aus  dem  sofort  zu  besprechenden  Ereignis  von  1293 
hervor,  vgl  auch  die  Bezeichnung  des  scultetus  als  ofBcialis  noster  seitens 
des  Bischofs  in  U 44  Z.  30,  ferner  U 184  Vertrag  des  Bischofs  mit  der 
Stadt,  in  welchem  dieser  (S.  141  Z.  10  ff)  sagt : quod  iudicia  et  officia  nostra 
civitatis  Spirensis  in  epifania  domini  annuatim  locare  et  concedere  debemus 
aeeuudum  dictum  et  sententiam  consulum  Spirenainm  vel  maioris  partis 
eorundem,  quam  suo  proferent  iuramento. 

*)  vgl.  U 183. 

•)  U 176,  179,  182.  Dass  er  Ratsherr  war,  geht  daraus  hervor,  dass 
er  in  U 182  und  183  unter  den  consules  genannt  wird. 

Die  Erscheinung  ist  besonders  deshalb  erwähnenswert,  weil  hier  eine 
nachweisliche  Einwirkung  kanonischen  Rechts  auf  das  Stadtrecht  vorliegt. 
Auch  bei  den  Bischo&wahlen  wurde  damals  der  Gewählte  erst  durch  eine 
besondere  Ceremonie  (Consecration)  Bischof,  konnte  aber  schon  vorher  Amts- 
handlungen vornehmen,  vgl.  Hinschius  Krchnr.  II  S.  571  mit  N.  5. 

•)  s.  die  in  N.  6 angeführten  Urkunden. 

*)  U 97,  161,  167,  167,  168  etc. 

**)  vgl.  U 44  und  U 110. 


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188 


Eben  so  wenig  wie  der  Vogt-Burggraf  nnd  der  Schultheiss 
ist  der  Speierer  Kämmerer  im  elften  und  zwölften  Jahr- 
hundert ein  im  speciellen  Stadtgebiet  fungirender  Beamter. 
Derselbe  hatte  vielmehr  Schatz  und  Pfalzbaulichkeiten  des 
ganzen  Bistums  unter  sich.1)  Dafür  dass  das  Kämmereramt 
auch  in  Speier,  wie  es  für  Worms  und  Mainz  feststeht,  *)  ur- 
sprünglich einem  Geistlichen  übertragen  war,  lässt  sich  ausser 
dieser  Analogie  noch  anführen,  dass  dort  wenigstens  in  späterer 
Zeit  ein  solcher  geistlicher  Kämmerer  nachweisbar  ist.’) 
Die  hauptsächlichsten  Funktionen  dieses  Beamten  sind  freilich 
wohl  schon  früh  an  einen  Laien  übergegangeu,  wenn  auch 
der  geistliche  Kämmerer  vom  Official  später  bei  Übertragung 
von  Grundstücken  zugezogen  wurde.*)  Seit  Mitte  des  12.  Jahr- 
hunderts sind  uns  ministerialische  Kämmerer  Anselm  (1148-66),’) 
Dietrich,  (1176), 6)  Dudo7)  (1181),  und  Albert  (1209,  1212. 1213)’) 
bezeugt.  Zugleich  findet  sich  schon  ein  Unterkämmerer  Conrad.9) 
Dieser  hat  wohl  die  Stellung  des  später  begegnenden  städtischen 
Kämmerers.  Letzterer  ist  vom  Rat  angestellt  und  vertritt 

*)  vgl.  die  oben  S.  173  mit  N.  2,  3 gegebenen  Erörterungen.  Wie  an 
anderen  Orten,  so  hatte  sich  auch  in  Speier  au»  der  Schatzverwaltung  für 
den  Kämmerer  ein  besonderes  Jurisdictiousrecht  über  die  Juden  entwickelt  vgl. 
oben  S.  174  mit  N.  6. 

*)  s.  oben  8.  173. 

’)  Zum  ersten  Male  ist  ein  geistlicher  Kämmerer  in  Speier  im  Jahre 
1211  bezeugt  (U  27). 

*)  So  haben  wir  es  wohl  zu  erklären,  dass  vor  diesen  beiden  geistlichen 
Beamten,  dem  Official  des  Dompropstes  und  dem  Kämmerer,  dem  Canoniker 
Engelinus,  im  Jahre  1327  und  1329  Grundstficksttbertragungen  stattfinden 
(U  375  und  U 382).  Jedoch  ist  die  Zuziehung  des  geistlichen  Kämmerers 
bei  vor  dem  Official  vollzogenen  Rechtsgeschäften  über  Immobilien  in  Speier 
nicht  unbedingt  notwendig  gewesen;  sie  wird  z.  B.  in  der  von  diesem  voll- 
zogenen Beurkundung  U 381  nicht  erwähnt.  Über  die  Wirksamkeit  des 
Officials  in  der  freiwilligen  Gerichtsbarkeit  vgl.  Schulte  im  Strassburger 
Ukb.  III  (1884)  S.  XVII  lf.,  B ress  lau  Urkl.  S.  539  N.  4 und  in  der  vor- 
liegenden Schrift  unten  Anhang  IV. 

*)  Remiing  Urkb.  Nr.  85,  88,  92,  94,  100,  Sp.  U.  16,  17. 

•)  Mone  Ztschr.  f.  G.  d.  O.  XIX  S.  167,  vgl.  auch  ibid.  XXVI  S.  431. 

')  Remiing  Urkb.  Nr.  106. 

*)  Winkelmann  Otto  IV  S.  519  Nr.  6,  Sp.  U 28,  29.  Der  hier  erwähnte 
Albertus  camerarius  ist  wohl  auch  mit  dem  a.  1223  erwähnten  Albertus  de 
Jochenheim  olim  camerarius  ecclesiae  identisch  (U  34  S.  34  Z.  29). 

*)  U 28  a 1212:  Conradus  subcammerarius. 


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189 


dessen  Interessen.  Es  folgt  dies  besonders  daraus,  dass  in 
dieser  Stellung  1275  Sigfrid  Retschel  den  Decan  und  das 
Capitel  des  Doms  vor  ein  weltliches  Gericht  ruft,  ohne  sich 
durch  die  Androhung  kirchlichen  Bannes  schrecken  zu  lassen.1) 
Der  ministerialische  Kämmerer  wird  seit  1213  nicht  mehr  er- 
wähnt.*) Von  den  Funktionen  des  bürgerlichen  Kämmerers, 
welche  vielleicht  aus  solchen  des  gleichnamigen  geistlichen  Be- 
amten entstanden  sind,  mag  erwähnt  werden,  dass  ihm  damals  eine 
Mitwirkung  bei  Übertragungen  von  städtischen  Grundstücken 
zustand,  mit  weicherauch  eine  Eintragung  in  Grundbücher  zu- 
sammenhing.*) Ferner  übte  er  nach  einer,  aus  dem  vierzehnten  Jahr- 
hundert stammenden,  Aufzeichnung  über  Speierer  Beamtenfunk- 
tionen damals  auch  die  Baupolizei  innerhalb  der  Strassen  der  Stadt 
aus.4)  Das  Amtsgebiet  dieses  Kämmerers  entsprach  wohl  voll- 
kommen dem  wirklichen  Stadtgebiet.  Die  ganze  Beamtung  ist 
aber  überhaupt  wohl  erst  zur  Zeit  ihrer  ersten  Erwähnung 
in  unseren  Quellen,  nämlich  zu  Beginn  des  13.  Jahrhunderts, 
entstanden,  also  als  die  Stadt  schon  weitgehende  Autonomie 
erlangt  hatte. 


')  U 127  vgl.  auch  U 128. 

*)  Nach  der  oben  S.  188  N.  8 angef  Uhrten  Urkundenstelle  scheint  Albert  der 
letzte  ministerialische  Kümmerer  gewesen  zu  sein  und  auf  dies,  ja  damals 
lebenslängliche  und  erbliche,  Amt  (vgl.  oben  S.  178,  179  mit  N.  1)  freiwillig 
verzichtet  zu  haben. 

*)  Nach  Sp.  U.  28  a 1212  ist  jemand  in  Bezug  auf  ein  bestimmtes 
Grundstück  in  tabula  civitatis  intitulatus  und  die  Eintragung  wird  durch 
einen  Spruch  der  Bürgerbehörde  gelöscht ; nach  der  dem  14.  Jahrhundert  an- 
gehörenden Speierer  Ämterbeschreibung  fuhrt  aber  damals  der  bürgerliche 
Kämmerer  tabulae,  in  welche  Eigentumsänderungen  an  Immobilien  eingetragen 
werden  (Hilgard,  Urkb.  S.  490  Z.  11  ff).  Dass  solche  unter  seiner  Mitwirkung 
geschahen,  ist  auch  durch  eine  Urkunde  von  1310  (Sp.  U.  262)  bezeugt.  So 
kann  wohl  angenommen  werden,  dass  die  Führung  der  tabula  civitatis  stets 
zu r Competcnz  des  bürgerlichen  Kämmerers  gehört  hat.  Es  ist  möglich,  dass 
sie  der  Mitwirkung  des  geistlichen  Kämmerers  bei  Übertragung  von,  im  Über- 
eigentum der  Kirche  stehenden,  Grundstücken  nachgebildet  ist. 

*)  Hilgard  Urkb.  8.  490  Z.  7 ff.  Diese  Funktion  des  bürgerlichen  Käm- 
merers ist  vielleicht  mit  der  dem  alten  Kämmereramte  zustehenden  Aufsicht 
Uber  die  Pfalzbaulichkeiten  in  Zusammenhang  zu  bringen,  vgl.  die  oben  S.  164 
N.  3 angeführte  Stelle  von  Nitzsch. 


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190 


Den  Beamtencompetenzen  in  Worms  und  Speier  entsprachen 
im  wesentlichen  die  in  Mainz.  Dieser  Ort  war  bekanntlich  in 
Älterer  Zeit  nicht  wie  die  beiden  andern  Städte  Gauhauptstadt, 
sondern  wurde  zum  Wormsgau,  später  zum  Nahegau  gerechnet.  *) 
Es  wurden  dann , wie  oben  *)  gezeigt  ist,  die  Grafschaftsrechte 
in  nicht  mehr  festzustellender  Zeit,  aber  jedenfalls  vor  979  an 
dem  Erzbischof  übertragen.  Dieser  übte  sie  durch  seinen  Vogt, 
für  den  sich  auch  hier  die  Namen  Burggraf,  praefectus  urbis 
und  comes  angewandt  finden.  Bereits  1008  ist  das  Stephans- 
stift per  advocatum  ipsius  ecclesiae  comitem  Ezzonem  bei  einem 
Tausche  vertreten.*)  Ist  hier  allerdings  noch  ein  Zweifel  be- 
rechtigt, ob  man  es  auch  mit  einem  Burggrafen  zu  tun  bat,  so 
ist  dagegen  Erkenbald  als  Graf  und  bischöflicher  Stadtpräfect  zur 
Zeit  des  Erzbischofs  Bardo  (1031 — 1051)  sicher  bezeugt;4)  diesen 
Erkenbald  nun  hat  Bresslau6)  schon  für  das  Jahr  1028,  also 
die  Regierungszeit  Aribos,  als  Vogt  des  Mainzer  Erzbistums 
nachgewiesen.  Aus  Vulculds  vita  Bardonis  ergiebt  sich,  dass 
Erkenbald  Vasall  der  Erzbischöfe  war  ; von  dem  erzbischöflichen 
Lehnsgerichte  wurde  diesem  Burggrafen,  der  sich  seinem  Era- 
bischof  ungehorsam  zeigte  und  ihn  beim  Kaiser  verleumdete,6) 
sein  Lehen  entzogen. 

Für  die  unter  den  Nachfolgern  Erkenbalds  wieder  klar 
hervortretende  Verbindung  der  Burggrafschaft  mit  der  Vogtei, 
das  Erblichwerden  des  Burggrafenamtes  und  das  schliessliche 
Erlöschen  desselben  kann  auf  die  Hegel’ sehen  Forschungen7) 
verwiesen  werden,  da  hier  nur,  wenn  etwa  neues  Material  zu 
dem  bisherigen  kommen  sollte,  neue  Resultate  gefunden  und 
die  von  Hegel  offen  gelassenen  Fragen  beantwortet  werden  könn- 

')  Vgl.  Laraejua  in  Acta  Theodoro-Palatina  I (Xanhetnii  1776)  p 287, 
V (1783)  p.  127  8,  Land  an  an  der  oben  8.  160  N.  2 citiertcn  Stelle. 

*)  8.  161. 

•)  Stumpf  Acta  imp.  ined.  (Innsbr.  1866—81)  Nr.  34  p 40. 

0 Vulculdi  vita  Bardonia  in  Jaffa  Mon.  Kognnt.  (Bibi.  III)  p 625,  626. 

»)  Konrad  II  Bd.  I 8.  326  N.  3. 

•)  vgL  die  N.  4 angeführte  Stelle. 

*)  Fonch.  i.  Deutsch.  Gesch.  Bd.  XIX  8.  572  ff,  Mainzer  Vrfssugsgschichte 
8.  27 — 29.  Zn  der  an  letzterer  Stelle  8.  28  gegebenen  Liate  der  Erwähnungen 
von  Mainzer  Burggrafen  kann  hinzu  gefügt  werden,  daaa  Gebern  ausser  1069 
und  1081  auch  noch  1083  ala  Burggraf  nachweisbar  ist  (Joannis  Rer.  Vogunt. 
II  p 737). 


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191 


ten.  Dagegen  ist  es  sicher  angebracht,  ausdrücklich  hervorzuheben, 
dass  auch  in  Mainz  die  Burggrafschaft  keineswegs  principiell 
oder  thatsächlich  auf  den  Stadtbezirk  beschränkt  war.  Es 
geht  dies  daraus  hervor,  dass  die  Orte  Elzheim  und  Esenheim 
1213  als  im  Jurisdictionsgebiete  des  Mainzer  Burggrafen  gelegen 
bezeichnet  werden.1)  So  wird  auch  1064  der  Ort  Arenheim 
als  in  pago  Magociacensi  gelegen  bezeichnet,*)  worunter  wohl 
das  Gebiet  verstanden  wird,  in  dem  der  Mainzer  Erzbischof 
mittels  seiner  Burggrafen  die  Jurisdiction  übte. 

Die  Befugnisse  dieser  Beamten  lernen  wir  besonders  durch 
eine,  bisher  für  verfassungsgeschichtliche  Fragen  fast  unbe- 
achtet gebliebene,  Urkunde  von  1147  kennen.*)  In  derselben 
bestätigt  Erzbischof  Heinrich  den  Verkauf  eines  Mainzer  Hofes 
seitens  der  dortigen  Canoniker  von  St.  Peter  an  ein  in  Bamberg 
gelegenes  Kloster.  Dieses  Rechtsgeschäft  hatte  nun  in  dem 
dreimal  jährlich  unter  Vorsitz  des  Burggrafen  (iudex)  abgehal- 
tenen echten  Dinge  stattgefunden  und  war  dann  durch  burg- 
gräfliche  Verlautbarung  (praefectorio  edicto)  bekräftigt  worden, 
ohne  dass  ein  Einspruch  geschehen  war.4)  So  ist  es  denn 
sicher,  dass  der  Vogt-Burggraf  den  Vorsitz  im  echten  Ding 
führte  und  dass  daselbst  die  Übertragungen  von  Immobilien 
stattfanden. 

Hinsichtlich  der  übrigen  Mainzer  Stadtbeamten,  des  Schult- 
heissen,  des  Kämmerers  und  des  Waltpoden  kann  wieder  auf 


*)  Gaden  Cod.  dipl.  I No.  161  p 423  (B-W  XXXII  209),  vgl.  Arnold 
V.  G.  I 80  mit  N.  9. 

*)  Stumpf  2643,  Lacomblet  Urkb.  f.  d.  G.  d.  Niederrb.  (Coblens  1876)  t. 
I Nr.  201  Tgl.  auch  die  Erwähnungen  de»  Mainzgaus  1325  (8p.  U 364  S.  291 
Z.  40),  1332  (ibid.  406  8.  345  Z.  43),  1334  (ibid.  432  8.  386  Z.  17),  wo  das 
Wort  aber  wahrscheinlich  in  anderem  Sinne  gebraucht  ist. 

*)  B-W  XXVIII  79,  Spiess  Aufklärungen  in  d.  Gesch.  und  Diplomatik 
(Bayreuth  1791)  p 222. 

4)  in  concione  popnli,  cum  praesidente  Jndice  civilia  iura  tractaren- 
tur,  sient  tribus  vicibus  in  anno  fieri  solet,  contractu»  ille  ter  publi- 
catns  et  absqne  ullius  contradictione  prefectorio  edicto  ecclesie  Babenbergensi 
ter  confirmatus  est.  Über  die  bei  Grundbesitzübertragnngen  übliche  gerichtliche 
„Aufbietung  gegen  Einsprecher“  vgl.  He  u sl  er  Instit.  II  8.  81  ff.  In  unserer 
Urkunde  ist  für  den  an  der  Spitze  der  Zeugeniiste  auftretenden  comes  Reim- 
boldns  wohl  Arnoldus,  der  Name  des  damaligen  Vogt  - Burggrafen , zu 
emendieren. 


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192 


die  ausgezeichneten  Untersuchungen  Hegels ')  verwiesen  werden. 
Nur  mag  es  mir  gestattet  sein,  hier  noch  die  wenigen  Punkte, 
in  denen  ich  zu  abweichenden  Ergebnissen  gekommen,  und  des 
Zusammenhanges  wegen  zugleich  auch  die  wichtigsten  Resultate 
der  Hegel’  sehen  Forschungen  kurz  anzugeben. 

Nach  denselben  finden  sich  in  Mainz  die  Namen  tribunus, 
villicus,  centurio  und  scultetus  ganz  identisch  gebraucht;*)  der 
Mainzer  Schultheiss  kann  danach,  ganz  wie  der  Speierer,  als 
direkter  Nachfolger  des  Ceutenars  angesehen  werden. 

Neben  Vogt-Burggrafen  und  Schultheissen  waren  auch  in 
Mainz  die  Kämmerer  im  Besitze  wichtiger  Amtsfunktionen.  Ein 
Mainzer  geistlicher  Kämmerer  ist  uns  schon  für  das  Ende  des 
zehnten  Jahrhunderts  durch  die  vita  Burchardi  bezeugt.*) 
Allerdings  wird  man  daraus,  dass  diese  Quelle  den  späteren 
Wormser  Bischof  in  seinem  Mainzer  Amte  als  primas  civitatis 
bezeichnet,*)  noch  nicht  schliessen  können,  dass  damals  mit 
diesem  Amte  die  Stadtregierung  verbunden  gewesen.5)  Auch 
in  Mainz  wird  die  Thätigkeit  der  Kämmerer  nach  dem  Vorbilde 
der  Kämmerer  am  Königshofe  ursprünglich  in  Verwaltung  des 
erzbischöflichen  Schatzes  und  der  Aufsicht  über  die  Baulichkeiten 
und  die  Ausstattung  der  Pfalz  bestanden  haben.®)  Dafür  spre- 
chen zahlreiche  auch  noch  später  diesem  Beamten  zustehende 
Befugnisse,  wie  sein  Verhältnis  zu  den  Münzerhausgenossen  und 
sein  Recht  auf  Dienstleistungen  der  Bauhandwerker. 7)  Eigen- 

*)  Mainz  S.  29-31,  S.  62  ff. 

s)  a.  a.  O.  8.  29. 

*)  c 2 (S.  S.  IV  p 833):  (Willig-isuB  Burchardnm)  sibi  familiarissimura  elegit 
et  suae  camerae  magistrum  ac  civitatis  primatem  constituit. 

4)  a.  a.  0. 

*j  Der  Biograph  ßurchards  meint  vielmehr  imr,  dass  Burchard  durch  die 
Zuneigung  des  Erzbischofs  damals  der  einllussreicliste  Mann  in  Mainz  gewesen 
«ei.  Übrigens  hat  auch  Manitius  im  Neuen  Archiv  XIII  (1888)  S.  197  ff  nach- 
gewiesen, dass  der  Verfasser  der  vita  Burchardi  keineswegs  so  „gut  unter- 
richtet war,  als  er  sich  den  Anschein  giebt.“ 

*)  S.  oben  S.  173  N.  2,  3. 

’)  vgl.  das  Kämmererweistum  aus  dem  15.  Jahrh.,  heransgeg.  von  Wyss 
im  Arch.  d.  hist.  Vereine  f.  d.  Grossh.  Hessen  Bd.  XV  S.  146 — 176.  Danach 
hat  er  z.  B.  für  Aufrechterhaltung  der  Rechte  der  Hausgenossen  an  der 
HUnze  zu  sorgen,  nimmt  an  der  Jurisdiction  des  Miinzmeisters  Teil  und  wird 
von  den  Hausgenossen  zu  Grabe  getragen.  Die  Bauleute  müssen , wenn  er 
es  verlangt,  einen  Tag  im  Jahre  für  ihn  arbeiten  etc.  Vgl.  H egel  Mainz  8. 54  und 
über  ähnliche  Rechte  des  Trierer  Kämmerers  Lamprecht  I S.  1469,  1470. 


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193 


tfimlich  und  wohl  durch  die  hohe  Bedeutung  der  Hofhaltung 
des  Mainzer  Erzstifts,  „dessen  unmittelbarer  Sprengel  sich“ 
ja  „vom  Odenwald  und  Spessart  bis  zum  Harz  ausdehnte,“  *) 
zn  erklären  ist  es,  dass  uns  in  Mainz  seit  Beginn  des  zwölften 
Jahrhunderts  öfters  zwei  geistliche  Kämmerer,  ein  camerarius 
curiae  und  ein  camerarius  urbis,  begegnen.*)  Allerdings  lässt 
sich  nicht  mit  Sicherheit  behaupten , dass  diese  beiden  Kämmerer 
immer  neben  einander  bestanden  hätten,  „da  in  der  Regel  doch 
nur  ein  Kämmerer,  sei  es  als  camerarius  schlechthin  oder  be- 
stimmter als  camerarius  civitatis,  genannt  wird.“  *) 

Mitunter  kommen  auch  Laien  als  Stadtkämmerer  vor,  so 
schon  1056.4)  Seit  1133  werden  dann  Laien  und  zwar  Minis- 
terialen oft  als  Kämmerer  erwähnt.  So  kommt  1148  der  Mi- 
nisterial  Rocher  als  camerarius  und  zwar  in  derselben  Zeugen- 
liste mit  dem  geistlichen  Kämmerer  Arnold,  dem  späteren 
Mainzer  Erzbischof  Arnold  I,  vor;  1155  wird  ein  ministerialischer 
Kämmerer  ausdrücklich  als  subcammerarius  bezeichnet.5)  Es 
liegt  nahe  anzunehmen,  dass  damals  die  wirklichen  Aratsge- 
schäfte  vorwiegend  von  dem  ministerialischen  Kämmerer  ver- 
sehen wurden,  da  z.  B.  der  erwähnte  geistliche  Kämmerer 
Arnold,  der  zugleich  in  der  Reichskanzlei  tätig  war,  sich  meist 
am  Königshofe  aufgehalten  hat.5) 

In  der  Mitte  des  dreizehnten  Jahrhunderts  geht  das  Amt 
des  ministerialischen  Kämmerers,  das  damals  dem  Geschlechte 
zum  Turm  (de  turn)  zustand,  nachweislich  vom  Vater  auf  den 
Sohn  über,  wird  aber  doch  nicht  in  dieser  Familie  erblich.1) 
Vielmehr  scheint  es  später  bald  mit  Laien,  bald  mit  Geist- 
lichen besetzt  zu  sein,  während  seit  Mitte  des  vierzehnten  Jahr- 
hunderts wieder  nur  geistliche  Kämmerer  bezeugt  sind.8) 


')  So  Stampf,  AcU  Magnat.  Kinl.  p VII. 

»)  Hegel  Heinz  S.  30,  31. 

*)  a.  a.  0. 

‘)  B-W.  XXI  16,  Gaden  Cod.  dipl.  I p 371. 

»)  vgL  Hegel  Mainz  S.  81. 

*)  ygl.  Banmbach  Amold  v.  Selehofen  (Berlin  1872)  S.  15. 

*)  Hegel  Mainz  S 63. 

•)  ibid. 

Koehne,  Unpruag  der  StadtverfaMUng  in  Woran,  Speier  und  Mainz.  iS 


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194 


Es  mag  hier  noch  darauf  hingewiesen  werden,  dass  wir 
später  an  der  Spitze  der  Mainzer  communalen  Verwaltungs- 
behörde, die  zugleich  das  Stadtgericht  bildete,  und  dann  des 
Mainzer  Rates  den  Kämmerer  finden  werden.1)  Es  ist  nämlich 
vielfach  aus  dieser  Erscheinung  geschlossen  worden,  dass  in 
älterer  Zeit  der  Mainzer  Kämmerer  den  Burggrafen  bei  dessen 
häufiger  Abwesenheit  im  Gerichtsvorsitz  vertreten  habe.®) 
Jedoch  ist  in  unseren  Quellen  für  diese  Ansicht,  die  auch 
mit  dem  allgemeinen  Ursprünge  des  Kämmereramtes  unverein- 
bar erscheint,  nirgends  ein  Anhalt  nachweisbar.5)  Aus  den- 
selben Gründen  ist  es  auch  ungerechtfertigt  „zu  vermuten,  dass 
die  Einsetzung  dieses  Amtes  mit  dem  Übergang  der  Stadtherr- 
schaft an  den  Erzbischof  in  der  sächsischen  Kaiserzeit  zu- 
sainmenhing“  und  „der  Stadtkämmerer  im  allgemeinen  der 
Stellvertreter  des  Erzbischofs  in  dessen  Beziehungen  zur  Stadt“ 
gewesen  sei.*)  Vielmehr  scheint  es  gerade  als  wahrscheinlich 
behauptet  werden  zu  dürfen,  dass  erst  zu  der  Zeit,  als  der 
Vogt-Burggraf  seine  Rechtein  der  Stadt  aufgab,  der  Kämmerer  den 
Vorsitz  im  echten  Ding  erhielt.  Freilich  ist  es  auch  nicht 
unwahrscheinlich,  dass  er  schon  vorher  mit  den  Schöffen,  die 
wie  gezeigt  werden  wird,  in  Mainz  ehemals  auch  die  communale 
Stadtbehörde  bildeten,  in  Beziehungen  stand;6)  zur  Erklärung 
dieser  Tatsache  kann  man  jedoch  nur  die  Vermutung  aus- 
sprechen, dass  analog  den  Wormser  Verhältnissen6)  die  Käm- 
merer durch  die  ihnen  sehr  oft  zustehende  Propstwürde7)  send- 

l)  vgl.  vorläufig  z.  B,  W.  U.  252  (a  1254):  Amoldus  camerarius, 
Fridericus  scultetus,  iudices,  consilium  et  universi  cives  Maguntini  u.  Guden 
Cod.  dipl.  11  p 440  N.  2 (a  1256),  p 441  N.  3 (a  1269). 

*)  So  Aruold  1 S.  81,  Bockenbeimer  S.  7,  Hegel  S.  62,  Liebe  S.  24. 

*)  Dass  in  dem  Briefe  der  Mainzer  an  Heinrich  V „F.  camerarius,  A. 
centurio,  cum  universis  min  ist  rin  ac  civibus“  an  der  Spitze  stehen  (s.  Ja® 
Bibi.  t.  V p 234),  kann  natürlich  nicht  solcher  gelten.  Vgl.  das  über 
diesen  Brief  im  nächsten  Capital  gesagte. 

Hegel  8.  30.  Über  die  von  Hegel  für  diese  Ansicht,  die  meines 
Erachtens  auch  mit  der  sub  N.  2 erwähnten  Behauptung  dieses  Forschers  un- 
vereinbar ist,  angeführte  Stelle  der  vita  Burchardi  vgl.  oben  S.  192  N.  5. 

*)  vgl.  die  oben  Note  3 angeführte  Stelle. 

•)  s.  oben  S.  116  ff,  176  ff. 

T)  vgl.  die  Beispiele  bei  Hegel  S.  30,  31,  denen  noch  hinzugefügt  wer- 
den kann,  dass  auch  Burchard  von  Worms,  als  er  Kämmerer  von  Mainz  war, 
'zugleich  dort  die  Propstwürde  bekleidete  (S.  S.  IV  p 834). 


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196 


rechtliche  Befugnisse  erlangt  und  durch  diese  in  Verbindung 
mit  dem  Schöffencolleg  gekommen  sind. 

Von  den  Mainzer  Beamtungen  bleibt  jetzt  nur  noch  die 
des  Waltp öden  zu  besprechen.  Dieser  Beamte,  der  uns  von 
unseren  drei  Städten  nur  in  Mainz,  aber  speciell  am  Mittelrhein 
auch  sonst  öfters1)  begegnet,  war  wohl  ursprünglich  Stellver- 
treter des  Burggrafen  in  Polizeisachen.  Allerdings  ist  dies 
nur  Vermutung,*)  da  unseren  Quellen  aus  dieser  Zeit  direkt 
nichts  anderes  zu  entnehmen  ist,  als  dass  es  wenigstens  seit 
1118  einen  Waltpod  gab,*)  der  in  den  Zeugenlisten  der  Urkunden 
unter  den  Ministerialen  erscheint.  Darauf  wird  er  auch  unter  den 
Stadtvorständen  und  später  unter  dem  sich  daraus  entwickelnden 
Rate  genannt.4)  Über  die  Befugnisse  des  Waltpoden  erfahren 
wir  sicheres  erst  aus  einem  Weistum  von  1399  ;5)  hier  werden 
ihm  sehr  verschiedenartige  einzelne  Rechte  zugeschrieben,  welche 
sich  etwa  unter  den  Begriff  der  Polizeigewalt  zusammenfassen 
lassen.8)  Zu  dieser  Zeit  wird  der  Waltpod  vom  Erzbischof  er- 
nannt;*) wahrscheinlich  hatte  derselbe  dies  Recht  erlangt,  als  die 
Burggrafen  auch  ihre  übrigen  Befugnisse  in  Mainz  aufgaben. 

Als  hauptsächlichste  Ergebnisse  der  bisherigen  Untersuchung 
über  die  Beamten  der  mittelrheinischen  Städte  können  nun 
etwa  folgende  genannt  werden: 

1)  Burggraf  und  Vogt  sind  in  allen  drei  Städten  identisch; 
in  jeder  steht  diese,  frühzeitig  erblich  werdende,  Beamtung  einer 
Dynastenfamilie  zu. 

•)  vgl.  Thndichum  .Die  Qauvrfssng.1'  (Giessen  1860)  S.  58,  59,  Waitx, 
V.  G.  VII  36  N.  2. 

*)  Dieselbe  stützt  sich  namentlich  auf  die  erkennbare  Stellung  des 
Waltpoden  an  anderen  Orten,  vgl.  bes.  die  von  Thudichum  a.  a.  S.  59  er- 
wähnte, Komburg  betreffende,  nnd  die  von  Lamprecht  I S.  215  N.  3 gegebene 
Qnellenstelle,  sowie  Sohm  G.  V.  S.  480  N.  6.  u.  S.  519.  Wenn  Waitz  VII 
S.  36  N.  3 gegen  diese  Auffassung  Sohms  polemisiert,  so  hat  er  in  betreff 
der  Waltpoden  in  K&mthen  jedenfalls  Recht,  nicht  aber  in  betreff  der,  von 
diesen  wohl  gänzlich  zu  trennenden,  Waltpoden  am  Mittelrhein. 

*)  B-W  XXV  76  (Forsch,  z.  d.  G.  XX  S.  443). 

*)  Hegel  Mainz  S.  30,  59,  vgl.  auch  50  N.  4. 

*)  Arch.  d.  hist.  Vereins  f.  Hessen  Bd.  XV  S.  176  ft. , vgl.  Hegel 
Mainz  60. 

•)  Hegel  ibid. 

*)  s,  Hegel  ibid.  8.  59  mit  N.  1. 

13* 


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196 


2)  Das  Gebiet  der  Burggrafschaft  reicht  in  allen  drei 
Städten  über  die  Mauern  und  das  Markgebiet  des  betreffenden 
Ortes  hinaus. 

3)  Neben  dem  Vogt-Burggrafen  erscheint  in  Speier  und 
Mainz  der  Schultheiss  (Tribun),  der  auch  den,  auf  hofrechtliche 
Befugnisse  deutenden,  Namen  des  villieus  trägt.  In  Worms 
scheint  den  Funktionen  des  Schultheissen  und  villieus,  deren 
Amt  also  vereint  wurde,  entsprechende  Befugnisse  in  älterer 
Zeit  der  Vitztum  geübt  zu  haben ; dieselben  gehen  dann  später 
auf  den,  in  der  zweiten  Hälfte  des  12.  Jahrhunders  auftretenden, 
Schultheissen  über. 

4)  Wenigstens  für  Speier  ist  es  nachweisbar,  dass  auch 
das  Gebiet  des  Schultheissen  über  das  Markgebiet  der  Stadt 
hinausgereicht  haben  muss. 

5)  Unter  Burggrafen  und  Schultheissen  stehen  principiell 
alle  Stadtbewohner,  auch  die  bischöfliche  familia;  nur  einzelnen 
Klassen,  insbesondere  den  Geistlichen,  den  Juden  und  den  ser- 
vientes,  den  Beamten  und  der  Hofdienerschaft  der  Geistlichen, 
sowie  den  Münzern1)  gelang  es,  sich  in  einigen  oder  allen 
Beziehungen  von  der  Unterordnung  unter  Burggrafen  und  Schult- 
heissen frcizuhalten  oder  zu  befreien. 

Eine  Frage  ist  bei  dieser  Untersuchung  bisher  nur  gestreift 
und  absichtlich  zur  Besprechung  im  Zusammenhänge  Vorbehalten 
worden.  Es  ist  nämlich  noch  nicht  erörtert  worden,  in  wie 
weit  die  genannten  Beamten,  der  Vogt-Burggraf  und  der  Schult- 
heiss, in  allen  drei  Städten  als  bischöfliche,  in  wie  weit  als 
königliche  Beamten  zu  betrachten  sind.*)  Bei  Besprechung 
dieser  Frage  wird  zugleich  festzustellen  sein,  in  wie  weit  und 
wodurch  überhaupt  ein  Einfluss  des  Königtums  in  diesen  Bischofs- 
städten stattfand;  dabei  muss  sich  die  Untersuchung  notwendig 
auf  die  Zeit  zwischen  der  Ausbildung  der  Bischofsherrschaft 


*)  Über  diese  vgl.  oben  S.  67,  sowie  noch  speciell  über  die  Wormser 
Münzer  Boehmer  fontes  II  p 213  Z.  33.  Interessant  ist  es,  dass  nach  dieser 
Wormser  Ämterbeschreibung  auch  die  Wildwerter  von  den  Verhaftungen 
seitens  der  regelmässigen  Stadtbeamten  in  ihren  Wohnnngen  befreit  waren, 
indem  solche  nur  ihr  Zunftmeister  vornehmen  durfte  (ibid.  Z.  34). 

')  Dass  die  Kämmerer  in  unseren  Städten  stets  nur  bischöfliche,  nie 
königliche  Beamte  waren,  ist  oben  nachgewiesen. 


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197 


(Regierung  der  Ottonen)  und  der  des  ersten  selbstständigen 
Auftretens  der  Städte  (Regierung  Heinrichs  IV)  beschränken. 

In  der  herrschenden  Auffassung,  wie  sie  von  Arnold,1) 
Heusler*)  und  Gierke*)  vertreten  ist,  wird  grosses  Gewicht 
darauf  gelegt,  dass  der  Vogt-Burggraf  der  ihm  zustehenden 
Blutsgerichtsbarkeit  wegen  vom  Kaiser  mit  dem  Banne  belehnt 
wurde.  So  erklärt  Heusler  die  Vogtei  desshalb  geradezu  als 
ein  „den  geistlichen  Grundherrschaften  im  Interesse  der  freien 
Grundholden  und  der  Aufrechterhaltung  ihrer  Verbindung  mit 
dem  Reich  aufgenötigtes  Kontrollmittel.“1)  Dagegen  hat  nun 
Kruse5)  mit  Recht  geltend  gemacht,  dass  „die  Bannleihe  des 
Königs  nur  eine  weitverbreitete  Förmlichkeit  war,  hinter  welcher 
alles  eher  als  politische  Gedanken  gesucht  werden  könnten.“ 
Nehmen  wir  selbst  an,  dass  diese  königliche  Bannleihe  überall 
von  den  bischöflichen  Vögten  nachgesucht  wurde,*)  so  haben 
doch  die  Könige  den  Bischöfen  durchaus  das  Recht  erteilt  und 
gelassen,  in  der  Wahl  der  Vögte  unbeschränkt  zu  sein.  Tat- 
sächlich sehen  wir  ja  die  Bischöfe  später  in  diesem  Rechte 
beschränkt,  aber  nicht  durch  Eingreifen  der  Könige,  sondern 
durch  das,  in  allen  mittelalterlichen  Beamtungen  hervortretende, 
Princip  der  Erblichkeit.  Trotz  der  zahlreichen  Zerwürfnisse 
zwischen  Königtum  und  Bistum  ist  doch  weder  in  den  mittel- 
rheinischen Städten  noch  sonst  irgendwo  von  einem  Streit  über 
die  Bannleihe  die  Rede;  ebenso  wenig  tritt  irgendwo  ein  Ein- 
fluss des  Königs  auf  die  Besetzung  des  Vogts-  und  Burggrafen- 
amtes kraft  besonderen  Verhältnisses  dieses  Amtes  zur  Reichs- 
gewalt zu  Tage.  Der  Sachsenspiegel  sagt  ausdrücklich,  dass 
der  König  die  Bannbusse  denen,  welche  ein  Recht  darauf  hatten, 


»)  V.  G.  I 8.  120. 

*)  Ursprung  S.  78—83. 

*)  I S.  257. 

4)  Urspr.  8.  80. 

*)  Strassburg  8.  13. 

*)  Die  älteste  Quelle  für  diesen  Vorgang  scheint  mir  das  erste  Strass- 
burger Stadtrecht  c 11  zu  sein.  Für  die  allgemeine  Verbreitung  der  könig- 
lichen Bannleihe  für  die  mit  dem  Blutbann  betrauten  bischöflichen  Richter 
spricht  der  Schwabenspiegel  c.  LXXV  § 3 (ed.  Gengier  Erlangen  1876  8.  69): 
Hat  ein  pfaffen  fürste  Regalia  von  dem  künige,  der  mac  niemande  da  von 
deheinen  ban  gelihen,  da  ex  den  liuten  an  ir  lip  oder  an  ir  blut  get 


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198 


nicht  weigern  durfte.')  „Wo  ein  reeller  Einfluss  des  Königs 
auf  die  Vogtei  sich  zeigt,  da  tritt  er  in  der  Form  des  wirk- 
lichen Besitzes  der  Vogtei  auf.“*)  Derartiges  ist  gerade  in 
jenen  Fällen  zu  constatieren,  welche  von  Heusler8)  für  die  den 
Königen  in  Bezug  auf  die  Vogteien  zustehende  Gewalt  ange- 
führt werden,  in  Augsburg  und  Basel.  Die  Rechte,  welche 
hier  Friedrich  I,  resp.  Rudolf  von  Habsburg,  in  Anspruch  nahm, 
wurden  nur  desshab  von  diesen  Herrschern  geltend  gemacht, 
weil  sie  den  Herzögen  von  Schwaben  und  den  Grafen  von  Habs- 
burg schon  vor  ihrer  Erhebung  auf  den  Kaiserthron  zugestan- 
den hatten.*)  Auch  darauf  kann  nicht  mehr  Gewicht  gelegt 
werden,')  dass  es  in  der  altersgrauen  Urkunde,  welche  in  dem 
bekannten  falschen  Kölner  Privileg  von  1169  erwähnt  und  dort 
schon  als  halb  unleserlich  bezeichnet  wird,  heisst,  dass  Burggraf 
und  Bischof  den  Bann  zusammen  vom  Kaiser  erhalten.*)  Heute 
kann  ja  dieser  Satz  nur  noch  desshalb  Interesse  erwecken, 
weil  er  von  der  Auffassung  der  Bannleihe,  welche  das  Bürger- 
tum des  dreizehnten  Jahrhunderts  erstrebte,  Kunde  giebt. 
Steht  doch  die  schon  von  Stumpf7)  nachgewiesene  Unechtheit  des 
Privilegs  v.  1169  trotz  des  Einspruches  En  ne  ns  und  Lamberts 
jetzt  durch  die  Untersuchungen  von  Richthofen’s  und  Tan- 
nerts8)  unzweifelhaft  fest!  Im  übrigen  muss  hervorgehoben 
werden,  dass  die  Notwendigkeit  königlicher  Bannleihe  für  die 
Kriminalbeamten  der  Bischöfe,  weil  aus  kirchlichen  Vorschriften 
entsprungen,  nicht  weniger  für  die  ländlichen  als  für  die  städtischen 
Besitzungen  der  Bischöfe  galt.  Es  ist  nicht  einzusehen,  wesshalb 
die  königliche  Bannleihe  auf  dem  Lande  andere  Ursachen  und 
Folgen  als  in  der  Stadt  gehabt  hätte. 

Treten  uns  auch  ebensowenig  besondere  Rechte  des 

‘)  III  84  § 5 (ed.  Homeyer  Berlin  1861  S.  361):  Die  koning  ne  mach 
mit  rechte  nicht  weigeren  den  han  to  liene,  deine  it  gericbte  gelegen  is. 

*)  Krnae  S.  13. 

*)  Ursprung  S.  76,  77,  81. 

*)  Vgl.  Kruse  a.  a.  0. 

‘)  Vgl.  Gierke  I S.  256  N.  17. 

*)  Lacomblet  (in  dem  N.  135  citierten  Urkb.)  p I 302  (Gengier  Stdtrchte. 
S.  68  c 2):  qnod  una  nobiscum  bannum  iudicii  ab  imperio  tenet. 

’)  Sitzngsb.  d.  Wiener  Akademie  1859  S.  603—638. 

•)  Forsch,  z.  D.  G.  VIII  (1868)  S.  61  ff;  Mitteil,  aus  dem  Kölner  Stadt- 
archiv (Köln  1883)  Bd.  I Heft  1 S.  55—69. 


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199 


Königs  bei  der  Wahl  der  Vögte  als  ein  enges  Verhältnis  des 
Vogt-Burggrafen  zu  noch  frei  gebliebenen  Bewohnern  der 
Bischofsstadt  entgegen,  so  lassen  sich  doch  gerade  in  den  mittel- 
rheinischen Städten  zwei  Fälle  konstatiren,  aus  denen  schein- 
bar auf  eine  nähere  Beziehung  des  Vogt-Burggrafen  zum  Könige 
geschlossen  werden  könnte. 

Von  dem  oben  erwähnten  Mainzer  Burggrafen  Erkenbald 
ist  überliefert,  dass  erden  Schultheissen  beim  Kaiser  verklagte.1) 
Auf  desselben  Burggrafen  Veranlassung  hin  legte  der  Kaiser 
einen  Mainzer  Bürger  in  Ketten,  der  sich  dann  nur  durch  Geld 
vor  der  Strafe  der  Verstümmlung  retten  konnte;  der  Schult- 
heiss  hingegen  musste,  obgleich  der  Erzbischof  selbst  sich  für  ihn 
verwandte,')  seine  Unschuld  durch  die  Wasserprobe  erweisen. 
Zuletzt  verläumdete  der  Burggraf  sogar  den  Erzbischof  beim 
Kaiser  und  zwar  mit  solchem  Erfolge,  dass  dieser  dem  Prälaten 
eine  Geldbusse  auferlegto.  In  Folge  dessen  wurde  Erkenbald 
vom  Vasallengerichte  zum  Verlust  seines  Lehens  verurtheilt •;  *) 
doch  ist  er  bald  nachher  gegen  neue  Leistung  des  Treuschwurs 
vom  Erzbischof  begnadigt  worden.*)  So  ist  nach  diesen,  in  den 
beiden  Biographien  Erzbischof  Bardos  berichteten,  Tatsachen 
Erkenbald  zwar  Beamter  des  Erzbischofs,  sucht  aber  gegen 
diesen  mit  Erfolg  die  Hilfe  des  Kaisers.  Auf  dessen  Eintreten 
wird  wohl  auch  die  Wiedereinsetzung  Erkenbalds  in  sein  Amt 
zurückzuführen  sein.  Ebenso  beklagt  sich  auch,  wie  wir  oben5) 
gesehen  haben,  der  Vogt-Burggraf  Wernher  von  Worms  über 
ihm  in  seiner  Amtstätigkeit  geleisteten  Widerstand  beim  Kaiser, 
nicht  bei  seinem  Bischof. 

Dennoch  würde  man  meiner  Ansicht  nach  sehr  irren, 
wenn  man  diesen  Anschluss  der  Burggrafen  an  den  Kaiser  und 
ihre  Unterstützung  durch  letzteren  mit  der  Bannleihe  in  Ver- 
bindung brächte.  Vulculds  Biographie  Bardos  berichtet  uns  ja 
geradezu,  dass  viele  Vasallen  und  Ministerialen  Bardo  verliessen 

*)  JafR  Mon.  Mognnt.  p 526  cf.  Hegel  Mainz  S.  20,  21. 

*)  Diez  folgt  ans  der  von  Monachus  Fuldensis  verfassten  Biographie 
Bardos.  (Jaffb  ibid.  p 549).  Der  hier  erwähnte  dispensator  ist  wohl  der  von 
Vnlcnld  (p  526)  als  tribonus  plebis  bezeichnete  Schultbeiss. 

*)  ibid  p 526. 

‘)  ibid. 

•)  S.  163  mit  N.  2. 


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200 


und  in  den  königlichen  Dienst  eintraten.  ‘)  Gerade  Konrad  II.  hat 
seine  politischen  Erfolge  z.  B.  bei  dem  Aufstande  Ernsts  von 
Schwaben  vorzüglich  der  Tatsache  zu  danken,  dass  zu  seiner 
Zeit  die  Vasallen  und  Dienstleute  der  Fürsten  die  Pflichten 
gegen  das  Königtum  für  wichtiger  als  die  gegen  ihren 
Lehnsherrn  hielten.1) 

So  kann  eben  das  Verhalten  Erkenbalds  durchaus  nicht, 
wie  es  von  Seiten  der  kirchlich  gesinnten  Biographen  Bardos 
geschieht,  kurzweg  als  Verrat  charakterisirt  werden,  so  wenig 
wie  die  Vasallen  Ernsts  von  Schwaben  eine  derartige  Beur- 
teilung verdienen.  Nicht  aus  der  Bannleihe , sondern 

daraus  ist  demnach  Erkenbalds  Stellung  zu  erklären, 
dass  unter  einem  kräftigen  Kaiser  die  Fürsten  nur  als  dessen 
Beamte,  nicht  als  Landesherren  betrachtet  wurden.  Sowohl  die 
den  geistlichen  und  weltlichen  Fürsten  untergeordneten  Be- 
amten, als  ihre  übrigen  Vasallen  und  Ministerialen,  wie  über- 
haupt alle  ihnen  unterworfenen,  freien  und  unfreien,  Personen 
hatten  jederzeit  auch  auf  die  Wünsche  des  Königs  Rücksicht 
zu  nehmen.  Es  geht  dies  auch  aus  einer,  gerade  unsere  mittel- 
rheinischen Gegenden  betreffenden,  Urkunde  hervor,  aus  welcher 
man  nur  fälschlich  auf  eine  besondere  Abhängigkeit  der  Vögte 
geistlicher  Grundherrschaften  von  der  königlichen  Gewaltscliliessen 
würde.  In  einer  Urkunde  Heinrichs  II.,  welche  in  Folge  der  Streitig- 
keiten der  Leute  der  Wormser  und  Lorscher  Kirche  erlassen 
wurde,*)  setzt  dieser  Kaiser  nämlich  für  die  Hörigen  beider  Stifter 
mehrere  Strafbestimmungen  fest  und  bedroht  die  Vögte,  welche 
sich  der  Rechtsbeugung  schuldig  machen  würden,  mit  Verlust 
der  königlichen  Gnade  und  ihres  Amtes. 

Die  ganze  Urkunde  ist  deshalb  besonders  bemerkenswert, 
weil  sie  und  einige  ähnliche  rechtliche  Festsetzungen4) 
zeigen , dass  das  Königtum  nicht  nur  für  die  freien, 
sondern  auch  für  die  hörigen  Elemente  in  den  geistlichen 
Grundherrschaften  bindende  Vorschriften  erlassen  konnte;  diese 


»)  Jafffe  1.  c.  p.  625. 

*)  Vgl.  Bresalau  Konrad  II  Bd.  II  S.  372—375. 

Ö W U 47. 

*)  Über  drei  nachweisbare  Verordnungen  Konrads  II  für  Leute  geist- 
licher Stifter  vgl.  Br  esslau  Konrad  II  Bd.  II  S.  379. 


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201 


Befugnis  wird  in  gleicher  Weise  den  ländlichen,  wie  den 
städtischen  Hörigen  gegenüber  geübt.  Nur  als  Folge  dieser 
Anschauung,  dass  alle  Untertanen,  auch  die  einer  Grundherr- 
schaft unterworfenen  den  Gesetzen  des  Königs  zu  gehorchen  hatten, 
ist  es  zu  betrachteu,  dass  eine  königliche  Verordnung  die  Be- 
amten der  Grundherrschait  mit  Amtsverlust  bedrohen  konnte.  Ganz 
deutlich  geht  dies  Verhältnis  des  Königs  zu  den  Hintersassen 
geistlicher  Grundherrschaften  auch  daraus  hervor,  dass  nach 
Wipos  Bericht1)  zu  den  Processen,  durch  deren  schnelle  Erledi- 
gung Konrads  II.  Eifer  für  die  Rechtspflege  noch  vor  seiner 
Krönung  hervortrat,  auch  die  Klage  eines  ländlichen  Hinter- 
sassen der  Mainzer  Kirche’)  gehörte.  Dass  selbst  die  aller- 
untersten Classen  unter  den  Hörigen  der  Grundherrschaft  durch 
das  Königtum  wenigstens  gelegentlich  vor  allzu  grosser  Be- 
drückung beschützt  wurden,  geht  aus  dem  Edict  Konrads  II. 
gegen  den  unerlaubten  Verkauf  von  Leibeigenen*)  hervor,  wel- 
chen der  Bischof  von  Verden  verübt  hatte. 

Alle  diese  Beispiele  zeigen  doch  deutlich,  dass  dem  König- 
tume  noch  die  Sorge  für  den  Schutz  aller  Reichsangehörigen  in 
den  ihnen  zustehenden  Rechten  oblag;  dasselbe  war  durchaus 
nicht  bloss  auf  die  Beziehungen  zu  etwa  bestehenden  altfreien  Ge- 
meinden beschränkt. 

Nicht  durch  die  Erteilung  des  Bannes  an  den  Vogt-Burg- 
grafen, sondern  durch  die  allgemeine  Stellung  des  Königtumes 
ist  ein  gewisser  Zusammenhang  zwischen  den  deutschen 
Herrschern  und  den  Bewohnern  der  Rheinstädte  auch 
in  der  Zeit  zwischen  den  Ottonischen  Privilegien  und  der 
Regierung  Heinrichs  IV.  aufrecht  erhalten  worden.  Der  häufige 
Aufenthalt  der  Könige  in  unseren  Städten  mochte  dann  zur 
Festigung  dieses  Zusammenhanges  nicht  wenig  beitragen; 
schliesslich  hat  sich  derselbe  ja  als  weit  stärker  wie  der  Ein- 
fluss der  Bischöfe  in  diesen  Städten  gezeigt.  Für  den  König 
erhoben  sich  die  Städte  gegen  ihre,  schon  seit  Alters  von  den 
Herrschern  mit  der  Regierung  betrauten,  Bischöfe. 

Es  wird  Aufgabe  des  nächsten  Capitels  sein,  weiter  nach- 


*)  c 5 (M  G.  in  8*  p.  19). 

*)  colonni  eedesiae  Mognntinensis. 
St  2137  (LL  II  38.) 


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202 


zuweisen,  dass  bei  dieser  Erhebung  der  Städte  das,  von  den 
neueren  so  oft  betonte,  Interesse  einer  altfreien  Bevölkerungs- 
classe,  ihre  Freiheit  zu  erhalten  oder  die  verlorene  Freiheit 
wiederzugewinnen,  gar  keine  Rolle  spielt;  es  wird  sich  viel- 
mehr zeigen,  dass  ganz  besonders  die,  ihrer  Zusammensetzung 
nach  früher  geschilderte,  Kaufmannschaft  für  den  König 
eintrat. 

Eben  desshalb  aber  wird  es  wohl  angebracht  sein,  schon 
hier  darauf  hinzu  weisen,  dass  auch  schon  in  der  Zeit  vor  Hein- 
rich IV.  Beziehungen  der  Könige  zu  den  Kaufleuten  der 
Bischofsstädte  nachweisbar  sind.  Es  ist  oben1)  bereits  erwähnt, 
dass  Otto  I.  sich  eines  Mainzer  Kaufmanns  zu  einer  Gesandt- 
schaft nach  Byzanz  bediente.  Noch  wichtiger  ist  es,  dass 
bereits  vor  Heinrich  IV.  die  Kaiser  den  Gilden  in  einzelnen 
Bischofsstädteu  Handelsprivilegien  erteilten.  So  verlieh  Otto  II. 
975  der  Kaufmannsgilde  zu  Magdeburg  weitgehende  Zollfrei- 
heiten,*)  welche  Konrad  II.  1025  bestätigte,*)  Von  diesem 
Kaiser  sind  ausserdem  noch  Urkunden  für  die  Gilden  der  Bi- 
schofsstädte Quedlinburg,  Naumburg  und  Halberstadt  nachweis- 
bar.4) Wie  in  der  Karolingerzeit  einzelne  Kaufleute,  so  wurden 
unter  den  Sächsischen  und  Salischen  Kaisern  die  Kaufmanns- 
genossenschaften mit  kaiserlichen  Privilegien  versehen. 

Hat  sich  auch  von  derartigen  Documenten  aus  den  mittel- 
rheiuischen  Städten  nichts  erhalten,  so  ist  es  damit  noch  durch- 
aus nicht  ausgeschlossen,  dass  auch  die  dortigen  Kaufmanns- 
genossenschaften solche  Privilegien  erhalten  haben.  Jedenfalls 
sind  aber  in  den  Spuren  direkter  Beziehungen  zwischen  den 
Herrschern  und  der  kaufmännischen  Bevölkerung,  nicht  aber  in 
der  königlichen  Bannleihe  des  Vogt-Burggrafen  die  Grundlagen 
des  späteren  Bündnisses  zwischen  Städten  und  Königtum  zu 
suchen. 

>)  S.  51  N.  l. 

>)  St.  660  (Hans.  Urkb.  N.  1) 

*)  St.  1871 

‘)  s.  Bresslau,  Konrad  II  Bd.  II  S.  380.  Über  diese,  den  Uilden  er- 
teilten, Urkunden  vgl.  auch  unten  Cap.  VIII  und  Anhang  I. 


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203 


Capitel  VII. 

Das  Eingreifen  der  mittelrheinischen  Städte  in  die 
politischen  Verhältnisse  bis  zur  Zeit  Lothars. 


Wenn  in  diesem  Capitel  nach  dem  Vorbilde  Arnolds  und 
Hegels  die  Untersuchung  der  Verfassungsentwicklung  unserer 
Städte  durch  die  Darstellung  ihres  Eingreifens  in  die  politische 
Entwicklung  Deutschlands  scheinbar  unterbrochen  wird,  so  be- 
darf dies  wohl  kaum  der  Begründung.  Hoffe  ich  doch,  auch 
gerade  durch  die  folgende  Darstellung  zu  zeigen,  welch  wichtige 
Anhaltspunkte  uns  die  Erforschung  der  politischen  Vorgänge 
für  die  richtige  Auffassung  socialer  und  verfassungsrechtlicher 
Veränderungen  zu  bieten  vermag. 

Es  ist  früher  gezeigt  worden,  wie  zur  Zeit  der  Karolinger 
in  unseren  Städten,  obgleich  sich  dort  seit  der  Römerzeit  stets 
einiger  Handel  und  einige  Industrie  erhalten  hat,  die  Urproduk- 
tion entschieden  noch  überwog,1)  wie  dann  aber  etwa  seit  dem 
Beginne  des  elften  Jahrhunderts  in  ihnen  specifisch  städtisches 
Wirtschaftsleben  klüftig  erblühte.  *)  Wir  sahen  auch,  wie  die 
Änderung  der  wirtschaftlichen  Verhältnisse  zu  Änderungen  der 
Rechtsinstitutionen  führte*)  und  wie  die  Klasse  der  Kauflente, 
zu  der  alle,  welche  Waaren  auf  den  Märkten  feilboten, 
gerechnet  wurden,  au  Zahl  und  Einfluss  zunahm.4)  Dadurch 
ward  es  möglich,  dass  von  der  Mitte  des  elften  Jahrhunderts 
an  die  Städter  insgesammt  der  ländlichen  Bevölkerung  entgegen- 
gesetzt werden  konnten.  Das  — wenigstens,  soweit  die  hier 
behandelten  Städte  in  Betracht  kommen,  — erste  Beispiel  einer 
solchen  Unterscheidung  finden  wir  in  einem  interessanten  Briefe 
Bischof  Wazos  von  Lüttich5)  noch  während  der  Regierung 
Heinrichs  III.  Als  dieser  Herrscher  1047  in  Italien  weilte  und 
dort  die  Kaiserkrone  empfing,  rüstete  sich  König  Heinrich  I 

■)  S.  oben  S.  11. 

*)  vgl.  S.  12  ff. 

*)  oben  S.  16 — 25. 

‘)  S.  50  ff. 

*)  Anselmi  geata  episc.  Leod.  Bec.  II  c 57  (S.  8.  XIV  p 116). 


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204 


von  Frankreich  zu  einem  Einfalle  in  die  Rheinlande.1)  Ver- 
geblich wies  der  eben  genannte  Prälat  den  König  auf  die  alten 
Freundschaftsbeziehungen  zwischen  beiden  Völkern  hin  und  bat 
ihn  dringend  Frieden  zu  halten.*)  Da  dies  Schreiben  nichts 
fruchtete,  warnte  der  Bischof  den  König  in  einem  zweiten 
Briefe.  Hier  hielt  er  ihm  nicht  nur  „das  rechtlich  und  mora- 
lisch Gehässige  seiner  Handlungsweise“  *)  vor,  sondern  betonte 
auch,  dass  der  Einfall  auf  heftigen  Widerstand  stossen  würde ; 
würden  ihm  doch  die  Bewohner  von  Mainz,  Köln  und  Lüt- 
tich und  vieler  anderen  Städte  mit  Kraft  entgegentreten.4) 

So  wurden  damals,  als  die  Rheinlande  zeitweise  von  Rittern 
entblösst  waren,5)  — während  der  Bauernstand  daselbst  wenig 
Kriegstüchtigkeit  bewahrt  hatte6)  — die  Städter  schon  als  wohl 
zu  berücksichtigende  militärische  Macht  angesehen.  Zu  dem 
beabsichtigten  Einfall  der  Franzosen  ist  es  freilich  damals  — 
vielleicht  mit  in  Folge  eben  dieses  Hinweises  auf  die  Kriegs- 
macht der  Rheinstädte  — nicht  gekommen. 

Daher  finden  wir  denn  das  erste  wirkliche  politische  und 
militärische  Auftreten  der  Städte  erst  in  der  Zeit  Heinrichs  IV. 
Diese  wichtige  Epoche  der  deutschen  Geschichte,  welche  den 
Beginn  des  zuletzt  zur  Machtlosigkeit  des  Kaisertums  führenden 
Kampfes  desselben  mit  dem  Papsttum,  den  glänzenden  Aufschwung 
des  Adels,  die  Erhebung  der  Städte  und  die  für  Jahrhunderte 
letzte  Teilnahme  des  Bauernstandes  an  grossen  politischen 
Kämpfen7)  enthält,  ist  oft  und  von  verschiedenen  Gesichts- 
punkten aus  zum  Gegenstände  historischer  Darstellung  gewählt 
worden.  Daher  dürfte  es  wohl  angebracht  sein,  die  Untersuchung 

l)  ibid.  cf.  Anselm.  Bec.  1 c.  61  (S.  S.  VII  p.  225),  Steindorff,  Hein- 
rich UI  Bd.  II  8.  2,  3. 

*)  ibid. 

•)  So  Steindorff  a.  a.  0. 

‘)  Anselmi  g.  Rec.  II  a.  a.  0.:  omne  Moguntinorum,  Colonieusinm, 
Leodiensinm  aliarnmque  multarnm  nrbinm  robnr  ad  repugnandum  noveris 
occurrere. 

*)  S.  S.  VH  ibid.:  rarus  apud  nos  miles. 

•)  vgl.  Waitz  V.  G.  Vin  125,  Nitz  sch  D.  G.  I 332,  II  7,  8,  75,  99. 
Danach  war  damals  nur  in  Sachsen  der  Bauer  noch  kriegerisch  genug,  um 
zur  Zeit  Heinrichs  IV  noch,  wenn  auch  nur  vorübergehend,  eine  bedeutende 
politische  Rolle  zu  spielen. 

’)  vgl.  die  vorige  Note. 


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205 


wesentlich  darauf  zu  beschränken,  festzustellen,  welche  Schlüsse 
sich  aus  den  Berichten  der  Historiker  über  die  politischen  Er- 
eignisse in  Verbindung  mit  den  übrigen  Zeugnissen  auf  die 
städtische  Verfassungsentwicklung  ziehen  lassen  und  welche 
Ideen  die  Stadtbevölkerung  veranlassten , in  den  Kampf  der 
herrschenden  Stände  einzugreifen.1) 

Bekannt  sind  die  im  December  1073  in  und  vor  Worms  sich 
abspielenden  Ereignisse.*)  Als  Heinrich  IV,  um  die  Fürsten- 
versammlung in  Mainz,  welche  zur  Wahl  Rudolfs  von  Schwaben 
geplant  war,  rechtzeitig  zu  verhindern,  aus  Baiern  in  die  Rhein- 
gegenden eilte,  da  beschloss  der  damalige  Wormser  Bischof 
Adalbert,  dem  Könige  den  Einzug  in  seine  Stadt  zu  verwehren;*) 
er  folgte  damit  nur  dem  Beispiele  vieler  anderen  Fürsten.1) 
Dabei  hatte  er  aber  die  Anhängigkeit  der  Wormser  Bürger  an 
Heinrich  IV  nicht  in  Rechnung  gezogen.  Diese  erhoben  sich 
und  vertrieben  die  Dienstmanneu  des  Bischofs;  Adalbert  selbst 
entging  nur  durch  schnelle  Flucht  dem  Schicksale,  dem  Könige 
gebunden  ausgeliefert  zu  werden.  Die  Bürger  aber  holten 
wohlgerüstet  und  wohlgeordnet  Heinrich  in  ihre  Stadt  ein;  hier 
leisteten  sie  ihm  den  Treuschwur,  mit  Gut  und  Blut  für  ihn 
einzutreten.  Der  König  hatte  so  in  der  wohlbefestigten  und 
reichlich  mit  Vorräten  aller  Art  versehenen  Stadt  einen  festen 
Stützpunkt  für  seine  Unternehmungen  gefunden.5)  Ferner  hatten 
die  Wormser  Vorgänge  auch  die  Folge,  dass  der  Fürstentag  zu 
Mainz  nicht  zu  Stande  kam:  viele  Bischöfe  mussten  ja  fürchten, 
dass  sie  bei  weiterem  Vorgehen  gegen  den  König  von  dem 
Schicksale  Adalberts  betroffen  würden. 

Den  Wormsern  lohnte  Heinrich  die  ihm  bewiesene  Treue 
durch  Befreiung  von  den  königlichen  Zöllen  zu  Frankfurt, 


*)  Bei  solchen  Tatsachen , welche  gerade  für  diese  Prägen  Ton  herror- 
T&gender  Wichtigkeit  sind,  sei  es  mir  gestattet,  von  den  bisherigen  Dar- 
stellungen abweichende  Forschungsergebnisse  ausführlich  an  begründen,  auch 
wenn  es  sich  dabei  zunächst  nnr  um  Feststellung  politischer  Ereignisse  handelt. 

*)  vgL  Arnold  V.  Q.  I 149—161,  Giesebrecht  D K.  HI  290,  291, 
Nitisch  D.  G.  II  78—80,  8chaube  Worms  S.  263—266. 

•)  Lamberti  ann.  Hersfeld.  (M.  G.  in  8*)  p 132. 

4)  cf.  W D 66:  cum  singnlae  civitates  quasi  immo  vere  in  nostrum 
adventum  clauderentnr. 

*)  Lambert  p 133. 


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206 


Boppard,  Hammerstein,  Dortmund,  Goslar  und  Engem.1)  Wich- 
tig ist  der  proklamationsartige  Charakter  der  hierüber  ausge- 
stellten Urkunde,  welche  sicher  dazu  bestimmt  war,  noch  andere, 
den  rebellischen  Fürsten  unterworfene,  Städte  zum  Anschluss 
an  den  König  zu  bewegen.  „Königliche  Pflichterfüllung  erheischt 
es,  dass  die,  welche  sich  besonders  eifrig  in  unserem  Dienste  be- 
wiesen haben,  sich  auch  besonderer  Belohnung  erfreuen.  Desshalb 
haben  wir  die  Bürger  von  Worms  für  besonderer  Belohnung 

würdig,  ja  würdiger  als  die  jeder  andern  Stadt  erkannt 

Sie  mögen  die  ersten  im  Empfang  der  Belohnung  sein,  da  sie 
ja  in  der  Leistung  des  Dienstes  die  ersten  waren;  sie  mögen 
allen  in  der  würdigen  Vergeltung  des  Dienstes  zum  Beispiel 
dienen,  da  sie  im  Beweise  der  Treue  allen  voranstehen;  beson- 
ders die  Bewohner  der  Städte  mögen  sich  über  die  ihnen  zu- 
stehende Aussicht  auf  die  Belohnung  freuen,  welche  die  Worm- 
ser jetzt  erlangt  haben.  Die  den  Wormsern  erwiesene  Gnade 
kann  zwar  in  wenigen  Worten  berichtet  werden,  aber  in  ihrer 
eigenen  Schätzung  gilt  sie  nicht  als  gering,  sondern  als  dankens- 
wert und  ehrenvoll. “*) 

Sehen  wir  nun,  was  sich  aus  dieser  Wormser  Erhebung 
von  1073  für  die  in  Betracht  kommenden  Fragen  gewinnen 
lässt,  so  fällt  zuerst  der  Umstand  ins  Auge,  dass  die  Erhebung 
in  Worms  und  der  Anschluss  der  Bürgerschaft  an  Heinrich 
schon  eine,  wie  auch  immer  beschaffene,  Organisation  derselben 
vermuten  lässt.  Wohlgeordnet  ziehen  ihm  ja  die  Bürger  ent- 
gegen; demnach  ist  daran,  dass  der  Bischof  nur  durch  einen 
führerlosen  Strassenaufstand  vertrieben  sei,  nicht  zu  denken. 
Lambert  hebt  die  dem  Könige  geleisteten  Eidschwüre  hervor; 
möglich,  dass  sich  damals  die  Bürgerschaften  der  Teilgemeinden 
auch  zuerst  unter  sich  eidlich  verbuuden  haben.  Vielleicht 
kann  man  auch  aus  Lambert’s  Worten:  „sumptus  ad  bellum 
administrandum  ex  sua  re  familiari  singuli  pro  virili  portione 
offerunt“  schliessen,  dass  die  Stadtbehörde  mit  königlicher 
Autorisation  eine  Ungeldserhebung  einführte.*)  Doch  bleibt 

•)  W U 56. 

*)  a.  a.  0.  3.  48  Z.  13—20. 

*)  Dass  damals  die  früheren,  an  den  Bischof  gehenden,  Einzelstenern  der 
Bürger  für  das  Beich  in  .eine  von  den  Bürgern  selbst  umgelegte  Kollekte1 


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207 


dies  letztere  freilich  nur  Vermutung.  Dagegen  ist  sicher 
und  von  hoher  Bedeutung,  dass  in  der  Urkunde,  welche 
die  den  Wormsern  erteilten  Belolinungen  aller  Welt  verkünden 
sollte,  nur  von  einer  Begünstigung,  welche  allein  den  Kauf- 
leuten zn  Gute  kommen  konnte,  die  Rede  ist.  Hätte  es  sich, 
wie  es  die  herrschende  Meinung  ist,  darum  gehandelt,  dass  eine 
seitens  des  Bischofs  unterdrückte  Gemeinde  durch  ihre  Erhe- 
bung ihre  alte  Freiheit  im  Anschluss  an  deu  König  hätte  wie- 
dererlangen wollen,1)  so  hätte  eine  Lösung  dieser  Gemeinde  aus 
dem  Hofrecht  und  eine  Stellung  derselben  unter  Reichsbeamte 
sicher  in  dieser  Urkunde  Erwähnung  gefunden.  Es  ist  weder 
einzusehen,  warum  Heinrich  dies  nicht  hätte  gewähren  sollen, 
noch  warum  er  etwa  solche  Concessionen,  wenn  er  sie  ge- 
währt, nicht  in  der  Urkunde  erwähnt  hätte.  Gerade  sie  hätten 
in  Mainz,  in  Köln,  in  Magdeburg,  wo  doch  nach  der  herrschen- 
den Ansicht  auch  unterdrückte  altfreie  Gemeinden  des  Augen- 
blicks warteten  das  bischöfliche  Joch  abzuwerfen,  und  wo 
gerade  damals  erbitterte  Feinde  Heinrichs  auf  den  Bischofs- 
stühlen sassen,  die  Erhebung  für  den  König  beschleunigen 
müssen.  Das  erteilte  Zollprivileg  lässt  demnach  klar  er- 
kennen, dass  der  Aufstand  in  Worms  von  der  kaufmän- 
nischen Bevölkerung  ausging  und  nicht  die  Lösung  von 
einer  zu  Unrecht  eingeführten  Hörigkeit  bezweckte.  Dem 
entspricht  übrigens  alles,  was  sich  Lamberts*)  Schilderung 
über  den  Charakter  der,  ein  Jahr  nach  der  Wormser  statt- 
findenden, Kölner  Erhebung  entnehmen  lässt.  „Der  Streit  um 
ein  'Kaufmannsschiff,  das  der  Erzbischof  in  Anspruch 
nimmt,  giebt  den  äusseren  Anstoss  zur  Empörung.  Einen  Kauf- 
mannssohn sehen  wir  an  der  Spitze  der  Rebellen  und  Kauf- 
herren sind  es,  die  in  grosser  Zahl  die  Stadt  verlassen,  nach- 
dem der  Erzbischof  dieselbe  wieder  unter  seine  Botmässigkeit 
gebracht  hat.“*) 

Im  Jahre  1077  also  4 Jahre  nach  diesen  Kölner  Vorgängen, 
fanden  auch  die  Mainzer  Gelegenheit,  dem  Könige  ihre  Treue 

verwandelt  »eien , wie  Z e um  e r S.  53  annimmt,  ist  jedenfalls  ans  Lamberts 
Worten  nicht  zn  entnehmen. 

*)  vgl.  z.  B.  Arnold  I 161,  170,  Hensler  Urspr.  8.  216. 

*)  p 150—168. 

*)  vgl.  Hoeniger  in  Westd.  Ztschr.  II  8.  238. 


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208 


zu  beweisen.  Der  Mainzer  Erzbischof,  Sigfrid  I,  hatte  sich 
schon  1073  Heinrichs  Feinden  angeschlossen  und  blieb  seit  1076 
dauernd  auf  ihrer  Seite.1)  Als  der  König  1077  nach  Italien 
geeilt  war,  um  Lösung  von  dem  ihm  auferlegten  Banne  zu  er- 
halten, gehörte  Sigfrid  zu  den  Fürsten,  welche  zur  Besetzung 
des  in  ihren  Augen  erledigten  Thrones  zu  Forchheim  zusammen- 
kamen und  Rudolf  von  Schwaben  auf  denselben  erhoben.1)  Als 
Ort  der  Krönung  wurde  Mainz  ausersehen  und  Sigfrid  dem- 
gemäss mit  der  Vornahme  derselben  betraut.  Da  geschah  das 
unerwartete,  dass  Rudolf  kurz  nach  der  Krönung  von  den 
Mainzern  gezwungen  wurde,  die  Krönungsstadt  schleunigst  zu 
verlassen. 

Über  diesen  Mainzer  Aufstand  haben  wir  verschiedene, 
von  einander  vielfach  abweichende,  Nachrichten.  Zwei,  die  des 
Ekkehard  von  Aura1)  und  des  Sigebert4)  gehören  der  kaiser- 
lichen Partei  an;  dagegen  sind  die  Berichte  Bruno’s,5)  Pauls 
von  Bernried,*)  Bertholds7)  und  Bernolds8)  im  Sinne  der  grego- 
rianischen Partei  geschrieben.  Demnach  wird  das  gesammte 
Ereignis  auch  von  den  heutigen  Forschern  in  seinem  tatsäch- 
lichen Verlaufe  sehr  verschieden  dargestellt.  Es  hängt  dies 
hauptsächlich  mit  der  Färbung  des,  der  modernen  Darstellung 
von  den  einen  zu  Grunde  gelegten,  alten  Berichtes  sowie  mit  der 
verschiedenen  Art,  wie  die  andern  die  5 Berichte  zu  vereinen 
suchen,  zusammen.  Meiner  Ansicht  nach  lassen  sich  freilich 
alle  Widersprüche  beseitigen,  auch  ohne  dass  man  zu  der  Hypo- 
these zu  greifen  braucht,  dass  Ekkehard  und  Sigebert  nur  eine 
die  Erfolge  der  Partei  Heinrich’s  bedeutend  übertreibende 
Tradition  wiedergeben.9)  Noch  weniger  freilich  scheint  es  an- 

■)  B-W  XXII  86,  131. 

*)  ibid.  134. 

*)  Chronicon  8.  8.  VI  p 202,  203. 

4)  Chronica  ibid.  p 364. 

*)  Bellum  Saxon.  c 92  (8.  8.  V p 366,  366). 

*)  Vita  Gregorii  VII  c 98  (Watterich , Pontific.  Roman,  vitae  [Lipsiae 
1862]  t I p 632). 

*)  Annales  (8.  8.  V p 292). 

*)  Annales  (ibid.  p 433). 

*)  So  neuerdings  Bachholz,  Ekkehard  von  Aura  (Leipa.  1888)  8.  69 ff. 
Indess  hat  schon  Gf rörer  Gregor  VII  Bd.  VII  8.  604  darauf  hingewiesen, 
dass  die  Wahrheit  Ton  Ekkehards  Bericht  gegenüber  den  Darstellungen 


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209 


gebracht,  die  einzelnen  Ereignisse  auf  zwei  Tage  so  zu  verteilen, 
dass  man  annehmen  muss,  die  päpstlich  gesinnten  Schriftsteller 
hätten  nur  das,  was  am  ersten,  Ekkehard  und  Sigebert,  was 
am  zweiten  Tage  passiert  sei,  erzählt.*)  Was  zunächst  den 
äusseren  Verlauf  des  Aufstandes  angeht,  so  kann  als  festgestellt 
angesehen  werden,  dass  den  Anlass  zu  den  Unruhen  ein  junger 
Mensch  gab,  welcher  einem  von  den  Hofleuten,  die  mit  den  am 
Sonntag  Laetare  herkömmlichen  Spielen  beschäftigt  waren,  die 
Halskrause  abschnitt.*)  Bruno  lässt  diesen  iuvenis  mit  einigen 
Genossen  von  den  urbani  zwecks  Unruhstiftung  abgesandt  sein.’) 
Da  aber  der  gut  unterrichtete  Paul  von  Bernried  es  ausdrücklich 
ungewiss  lässt,  ob  dieser  iuvenis  aus  eigenem  Antrieb  oder  auf 
irgend  jemandes  Zureden  gehandelt,*)  so  scheint  Brunos  Bericht 
hierin  nur  die  Ansicht  der  Partei  Rudolfs  anzugeben.  Paul 
berichtet,  dass  dieser  iuvenis  darauf  von  dem  Verletzten  fest- 
gehalten und  dem  pröcurator  civitatis,  also  wohl  dem  Schult- 
heissen,  übergeben  sei.  Nach  der  Darstellung  dieses  Schriftstellers 
kommt  es  dann,  da  der  iuvenis  vom  Schultheissen  unbestraft 
freigelassen  wird,  zum  Streit. 

Damit  ist  die  Darstellung  Brunos  wohl  vereinbar,  nach 
welcher,  als  der  Ritter  die  ihm  zugefügte  Beleidigung  auf  der 
Stelle  durch  Schläge  straft,  die  Städter,  die  sich  zum  Schutze 
ihres  Mitbürgers  gesammelt,  über  ihn  und  seine  Kameraden 
herfallen.  Unglaubwürdig  ist  die  Erzählung  Brunos  wohl  in 
der  dann  folgenden  Bemerkung,6)  die  Städter  seien  bewaffnet 
gewesen,  die  Ritter  aber  hätten  ihre  Waffen  in  den  Quartieren 
gelassen  und  ihre  Wirte  dafür  gesorgt,  dass  sie  dieselben  in 
der  kritischen  Zeit  nicht  finden  konnten.  Abgesehen  davon, 

Bertholds  und  Bernolds  durch  seine  teilweise  Übereinstimmung  mit  der  des 
Budolfinisch  gesinnten  Bruno  gesichert  ist. 

l)  Diese  Ansicht  vertritt  Gie  sehr  echt,  D.  K.  III  S.  435 — 437. 

’)  So  Paul  u.  Bruno  a.  a.  0. 

*)  Urbani  . . . cogitabant,  iilum  ludum  turbare  ....  Miserunt  ergo 
quosdam  suos  iuvenes,  ut  curialium  ludo  se  miscerent,  et  aliquam  qualibet 
arte  materiam  belli  construerent. 

*)  1.  c.:  nescimus  si  propria  voluntate  ductus  an  ab  aliquo  persuasus. 

*)  1.  c, : urbani  in  subsidiis  ad  hoc  ipsum  collecti,  curiales  inermes  in- 
currunt  armati  . . . Nam  arma  curialium  in  hospitiis  derelicta,  dum  ipsi  circa 
regem  frequentes  essent,  urbani  praeripuerant  et  ne  illi,  quorum  erant,  ea 
invenire  possent  effecerant. 

Koehne,  Ursprung  der  Stadtverfassung  in  Worms,  Speier  und  Mainz.  u 


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210 


dass,  wenn  die  Ritter  insgesammt  unbewaffnet  gewesen  wären, 
der  ganze  weitere  Verlauf  der  Sache  unverständlich  wäre,  ist 
die  Nachricht  vom  Verstecken  der  Waffen  auch  aus  innerlichen 
Gründen  abzulehnen.  Dagegen  mögen  allerdings,  da  auch  Ber- 
nold‘)  und  Paul*)  die  Waffenlosigkeit  der  zunächst  Angegriffenen 
betonen,  diese  ihre  Spiele  ohne  Waffen  getrieben  haben.  Auch 
ist  es  wahrscheinlich,  dass  wirklich  ein  Eintreten  des  Pöbels 
für  den  misshandelten  Jüngling  stattfand,  woraus  sich  dann 
bei  der  feindlichen  Gesinnung  der  Stadtbevölkerung  gegen 
Rudolf  und  sein  Gefolge  der  ganze  Aufstand  erklärt.  Ein 
an  sich  geringfügiger  Anlass  genügte  eben  dazu,  um  die 
innere  Erbitterung  der  Bürger  über  Rudolfs  Krönung  sich  auch 
in  Handlungen  Ausdruck  geben  zu  lassen.  Was  nun  die  Er- 
zählung Pauls  von  der  Übergabe  des  Jünglings  an  den  Schult- 
heissen  betrifft,  so  braucht  sie,  obwohl  sie  bei  Bruno  fehlt, 
doch  nicht  verworfen  zu  werden.  Es  ist  ja  sehr  glaublich, 
dass  der  Ritter  sich  erst  dann  an  dem  iuvenis  persönlich 
rächte,  als  ihm  der  Schultheiss  keine  Genugthuung  verschaffte; 
diese  Thatsache  aber  mag  Bruno  nicht  weiter  berichtet  sein. 

Der  Kampf  tobte  nach  dem  übereinstimmenden  Zeugnis 
aller  ausführlicheren  Berichte  um  die  Martinskirche  und  die 
nahe  gelegene  Pfalz.  Von  hier  aus  machten  die  Königlichen 
einen  Ausfall,  welcher  den  Mainzern  schwere  Verluste  brachte; 
ein  Teil  fand  durch  die  Waffen  der  Feinde,  ein  Teil  dadurch 
seinen  Tod,  dass  er  sich  in  hastiger  Flucht  bis  in  den  Rhein 
stürzte.  Bertholt  lässt  die  Ritter  dabei  nur  zwei  Mann,  Bernold 
nur  einen  verlieren.  Dagegen  geben  beide  übereinstimmend  an, 
dass  der  Kampf  mehr  als  hundert  Mainzern  das  Leben  gekostet 
hat.  Doch  scheinen  diese  beiden  päpstlich  gesinnten  Schrift- 
steller den  Verlust  ihrer  eignen  Partei  unter-,  den  der  Gegner 
überschätzt  zu  haben.*) 

Auch  der  Ausgang  des  ganzen  Ereignisses  wird  nach 


*)  1.  c.:  dextera  Dei  milites  novi  principis,  licet  inermes,  protexit. 

*)  p.  533:  plebs  . . . a militibus  regis  compescitur  licet  inermibus.  Nam 
in  diebua  quadragenimae  consuetudo  erat  sine  armis  procedere , eed  et  ipsa, 
ai  quae  kabebant,  per  civitatem  in  hospitiis  di  miss  a , prae  seditione  civium 
acquirere  non  poterant 

*)  Immerhin  giebt  auch  Ekkehard  1.  c.  bedeutende  Verluste  der  Städter  zu. 


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211 


der  Parteiseite,  welcher  die  einzelnen  Berichterstatter  angehören, 
sehr  verschiedenartig  dargestellt.  Nach  Ekkehard  verbürgte 
sich  der  Erzbischof  den  Stadtbewohnern  gegenüber  für  schnellen 
Abzug  des  Königs;  nachdem  dieser  die  Stadt  verlassen,  wird  auch 
der  Erzbischof  vertrieben.1)  Ähnlich  stellt  auch  Sigebert  in 
seinem  kurzen  Berichte  den  Ausgang  des  Aufstandes  dar,  nur 
dass  hier  der  Erzbischof  schon  zugleich  mit  Rudolf  die  Stadt 
verlässt.*)  Nach  Bruno  hingegen  kamen  an  dem  auf  den  Sieg 
der  Ritter  folgenden  Morgen  die  gesammten  Stadtvorsteher 
(omnes  ex  urbe  maiores)  zu  Rudolf,  um  sich  ihm  auf  Gnade 
und  Ungnade  zu  übergeben,  und  leisteten  ihm  den  Treueid. 
Der  König  aber  habe  ihnen  keinen  Glauben  beigemessen  und 
desshalb  aus  Furcht  vor  neuen  Aufständen*)  — in  diesem 
Punkte  stimmt  also  Bruno  mit  den  heinricianisch  gesinnten 
Schriftstellern  — die  Stadt  verlassen.  Auch  nach  Berthold 
versuchten  die  Mainzer  von  König  und  Erzbischof  Vergebung 
für  ihre  That  zu  erlangen;  bei  Rudolf  sei  es  ihnen  mit  vieler 
Mühe  dadurch  gelungen,  dass  auch  der  Erzbischof  sich  für  sie 
verwandte.*)  In  hohem  Grade  bemerkenswert  ist  die  Angabe 
Bernolds,5)  dass  den  Städtern  von  den  päpstlichen  Legaten  die 
Strafe  auferlegt  sei,  jeder  40  Tage  zu  fasten  oder  einmal  je 
40  Arme  zu  speisen,  dabei  aber  doch  sich  der  Gemeinsamkeit 
mit  der  Kirche  zu  enthalten.  Diese  Strafe  traf  offenbar  die 
Vertreter  der  Stadt,  welche  namens  ihrer  Mitbürger  die  Ver- 
handlungen geführt  hatten.  Aus  dem  Umstande,  dass  diese 
Abgesandten  in  solcher  Weise  für  die  Gesammtheit  verantwort- 


*)  (vuigus)  ....  regiaa  aedes  incendere  voluit,  nisi  qood  episcopu» 
Sigefridus  pro  veloci  discessione  Ruodolfl  obsidem  se  interposuit.  Ita  Ruo- 
dolfus  et  cnncti,  qui  cum  eo  veneruut,  eiecti  sunt;  ipse  quoque  Sigefridu« 
wagnis  blaaphemiis  eliminatus  Hoguntiam  non  rediit. 

*)  S.  S.  VI  p.  364 : facta  a Mognntini»  seditio  contra  eos,  Rodolfu»  cum 
archiepiscopo  noctu  aufugit. 

*)  Dies  liegt  entschieden  in  den  Worten  Bruno’»  p.  366:  ut  posth&c  im- 
perpetuum  fideles  ei  uanerent,  iuraverunt.  Sed  rex  non  haben»  eis  fidem, 
civitatem  dimiait. 

*)  a.  a.  0.:  eius  (sc.  episcopi)  adepta  gratia,  gratiam  regi»,  ip»o  . . . 
interveniente  vii  acquisivissent. 

*>  Quibu»  pro  homicidiis  a legatis  apostolicae  sedi»  tali»  penitentia  im- 
posita  est,  ut  singuli  aut  40  dies  ieiunarent,  aut  40  pauperes  aemel  paacerent, 
uec  tarnen  aecclesiasticam  communionem  quasi  homicidae  vitarent. 

14* 


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212 


lieh  gemacht  wurden,  und  aus  Brunos  Angabe,  dass  omnes  ex 
urbe  maiores  zum  Könige  zwecks  der  Verhandlungen  kamen, 
lässt  sich  schliessen,  dass  damals  in  Mainz  schon  eine  organi- 
sierte Gemeindevertretung  bestand.  Andrerseits  ist  aber  dio 
Strafe,  wenn  wir  an  die  überlieferte  Bestrafung  von  unter- 
drückten städtischen  Aufständen,  etwa  an  die  oben1)  erwähnte 
Kölner  Erhebung  von  1074*)  oder  an  die  Bestrafung  des  Mainzer 
Aufstandes  gegen  Erzbischof  Arnold  in  den  Jahren  1 160  und  63 
denken,*)  verhältnismässig  sehr  gering.  Von  irgend  welchen 
anderen,  den  Aufständischen  auferlegten  Strafen  oder  Bussen 
hören  wir  ja  nichts.  Gerade  die  Überlieferung  der  geringen 
Strafe  macht  es  aber  sehr  wahrscheinlich,  dass  der  Aufstand 
durchaus  siegreich  und  die  Übernahme  der  erwähnten  kirchlichen 
Sühnung  in  Wahrheit  die  Gegenleistung  für  den  sofortigen  Ab- 
zug des  Königs  war.  So  stimmen  Bernolds  Angabe  über  die 
Bestrafung  der  Städter  und  Brunos  Motivierung  des  Abzugs 
Rudolfs  vollständig  zu  dem,  was  die  kaiserlich  gesinnten  Schrift- 
steller über  den  Ausgang  des  Aufstandes  melden.  Es  finden  sich 
also,  abgesehen  von  den  Übertreibungen  betreffs  der  Zahl  der 
Gefangenen  und  der,  durch  die  Gesinnung  der  Autoren  hervor- 
gerufenen, verschiedenen  Form  in  dem  Berichte  desselben  that- 
sächlichen  Materials,  kaum  bemerkenswerte  Widersprüche  zwischen 
den  verschiedenen  Quellen. 

Ehe  nun  aber  auf  Grund  dieser  Untersuchung  eine  kurze 
zusammenfassende  Darstellung  des  Mainzer  Aufstandes  von  1077 
gegeben  wird,  muss  noch  kurz,  auf  Grundlage  des  bis  jetzt 
Festgestellten,  die  Ursache  des  Aufstandes  ermittelt  werden. 
Gerade  über  diesen  Punkt  sind  die  Quellen  nicht  ausreichend 
glaubwürdig.  Dem  Umstande  entsprechend,  dass  sie  aus  geist- 
licher Feder  geflossen  sind,  lieben  sie  es,  die  Ursachen  der 
geschilderten  Ereignisse  in  kirchlichen  Verhältnissen  zu  finden. 
So  stellt  daher  Paul  von  Bernried4)  als  Ursache  des  Aufstandes 
die  Thatsache  hin,  dass  der  König  einen  durch  Simonie  zu 
seinem  Amte  gelangten  Subdiacon,  der  vor  der  Krönung  die 
Messe  lesen  wollte,  fortgewiesen  habe.  Darauf  habe  die  Mainzer 

')  S.  207. 

*)  s.  Lambert  p.  156 — 158.  Arnold  I 153,  154. 

*)  Hegel  Mainz  S.  40,  41,  B-W  XXX  19  vgl.  unten  Cap.  VJLÜ. 

*)  a.  a.  0. 


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213 


Geistlichkeit,  die  zum  grössten  Teil  ebenfalls  durch  Simonie  in 
ihre  Ämter  gekommen  war  und  sich  auch  nicht  gerade 
durch  Reinheit  des  Wandels  ausgezeichnet,  Absetzung  gefürchtet, 
und  in  Folge  dessen  die  Bürger  zum  Aufstande  bewogen.  So 
lässt  auch  Bernold  diese  Mainzer  Unruhen  durch  Einflüsterung 
simonistischer  Priester1)  erregt  werden.  Nach  Bruno  hingegen 
beschlossen  die  Städter  aus  Ergebenheit  für  Heinrich  IV  und 
Hass  gegen  Rudolf  den  Aufstand , um  den  Gegenkönig  des 
Saliers  zu  beseitigen.*)  In  dieser  Gegnerschaft  gegen  Rudolf 
wird  auch  der  wahre  Grund  des  Aufstandes  zu  suchen  sein, 
wenn  auch  zugegeben  werden  kann,  dass  die  gegen  die  kirch- 
lichen Verordnungen  gewählten  und  desshalb  um  den  Besitz 
ihrer  Stellen  besorgten  Geistlichen  denselben  geschürt  haben 
mögen.  Das  Verhalten  der  übrigen  Städte  und  die  fernere 
Haltung  der  Mainzer  Bürgerschaft  sprechen  entschieden  dafür, 
dass  ein  die  Bürger  tief  erregendes  Interesse  sie  auf  die  Seite 
Heinrichs  IV  führte.  Nicht  nur  die  städtische  Geistlichkeit,  son- 
dern auch  die  ländliche  war  zum  grossen  Teil  durch  Simonie  in 
ihre  Ämter  gekommen  und  hatte  sich  derCoelibatsvorsclirift  unge- 
horsam gezeigt.  Berthold3)  zählt  geradezu  die  Landpfarrer  (villa- 
ni  sacerdotes)  zu  denjenigen,  welche  aus  diesem  Grunde  den 
„gemeinen  Mann“4)  gegen  Rudolf  aufbrachten.  Doch  treten 
die  Bauern  nirgends  so  wie  die  Städter  im  Kampfe  hervor  und 
ihre  Parteinahme  für  den  Salier  buchte  ihm  jedenfalls  keinen 
Nutzen.4)  So  ist  denn  die  Erhebung  der  Mainzer  gegen  Rudolf 
in  erster  Linie  nicht  auf  ein  Eintreten  für  die  simonistische 
Geistlichkeit,  sondern  auf  die  (noch  unten  näher  zu  erörternden) 


')  per  snggestionem  simoniacorom  clericorum  uiaxima  seditio  llogontiae 
orta  est. 

*)  qnia  magis  f&vcbant  exregi  qu&m  regi,  cogitabant  . . . seinen  aliquot! 
unde  seditio  nasceretur,  immittere,  ad  quam  sedandam  dum  lex  procederet. 
modo  quolibet  occisus  interiret. 

*)  S.  S.  V p 294. 

*)  So  gibt  Ufrürer  Gregor  VII  Bd.  VII  S.  606  ansprechend  die  turba 
plebeiomm  Bertholds  (a.  a.  0.)  wieder. 

•)  Fränkische  und  schwäbische  Bauern , welche  1078  bei  Heinrichs 
Rückkehr  von  Italien  seinem  Aufgebote  gefolgt  waren,  wurden  bekanntlich 
am  7.  August  dieses  Jahres  am  Neckar  gänzlich  geschlagen,  vgl.  Nitzsch  D. 
G.  II  S.  99,  Giesebrecht  D.  K.  III  S.  470,  vgl.  auch  ibid.  468.  Sonst 
sind  Volksbewegungen  für  Heinrich  nur  in  den  Städten  nachweisbar. 


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214 


allgemeinen  Motive,  welche  die  Städter  auf  Seite  der  Salier 
brachten,  zurückzuführen. 

Von  Hass  gegen  Rudolf  erfüllt,  konnten  demnach  die 
Mainzer  schon  durch  einen  geringfügigen  Anlass  zum  Angriff 
auf  den  Gegenkönig  des  rechtmässigen  Herrschers  und  sein 
Gefolge  bewogen  werden.  Nachdem  die  Städter  zuerst  sieg- 
reich gewesen,  richteten  die  Ritter,  welche  sich  in  der  Martins- 
kirche gesammelt  und  von  hier  aus  einen  Ausfall  gemacht, 
unter  ihnen  grosse  Verheerungen  an.  Die  Nacht  machte  end- 
lich dem  Kampfe  ein  Ende,  aber  die  Unruhen  drohten  sich  am 
nächsten  Tage  zu  wiederholen.  Mit  Tagesanbruch  eilten  die 
Stadtvorsteher,  um  dies  zu  verhindern,  in  die  Pfalz.  Rudolf 
hielt  es  für  geraten,  den  gefährlichen  Mainzer  Aufenthalt  so 
bald  als  möglich  aufzugeben.  Gegen  das  Versprechen  des 
Königs,  die  Stadt  sofort  zu  verlassen,  erklärten  sich  die  Stadt- 
vorsteher bereit,  eine  ihnen  von  den  päpstlichen  Legaten  auf- 
erlegte kirchliche  Busse  zu  übernehmen.  Mit  oder  kurze  Zeit 
nach  Rudolf  verliess  auch  der  Erzbischof  die  Stadt. 

Sich  von  Mainz  aus  südlich  wendend,  musste  Rudolf  auch 
an  Worms  so  schnell  wie  möglich  vorüberzieheu. 

Zwar  hatte  sein  Anhänger  Bischof  Adalbert  durch  den 
Vertrag  vpn  Oppenheim  (Okt.  1076)  diese  Stadt  zurückerhalten,1) 
Heinrich  aber  seine  Besatzung  herausziehen  und  nach  Lam- 
berts Bericht  sogar  Geiseln  und  Treuschwur  dafür  leisten 
müssen,  dass  es  zu  keinem  neuen  Aufstande  der  Wormser  gegen 
ihren  Bischof  kommen  werde.*)  Dennoch  erhoben  sich  auf 
die  Nachricht  von  der  Wahl  des  Gegenkönigs  die  Bürger  von 
neuem  für  den  Salier.  Sie  sammelten  unter  Heranziehung  der 
Heinrich  treu  gebliebenen  Ministerialen  ein  nicht  unbedeutendes 
Heer  und  leisteten  sich  gegen  ihren  Bischof  und  Rudolf  Treu- 
schwüre.*) 


■)  Lambert  p.  248  vgl.  Giesebrecht  D.  K.  III  389,  390. 

*)  ibid. 

")  Bertholdi  annales  S.  8.  V p 292:  Cives  Wormacienscs  assnmptis 
undique  non  modicis  militaribus  praesidiis,  contra  regem  et  episcopnm  sunm 
rebellantes  coninrabant.  Bei  den  militaria  praesidia  ist  übrigens  schwerlich  an 
Soldtruppen  an  denken ; dieselben  waren  vielmehr  wohl  königliche  Dienstlente, 
die  Heinrich  treu  geblieben,  und  vielleicht  mit  den  milites  identisch,  weiche 


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215 


Es  wird,  in  Folge  der  öfteren  Erwähnung  derartiger  con- 
iurationes  im  Fortgang  der  Untersuchung,  nicht  ausgeschlossen 
scheinen,  dass  damals  März  1077  in  Worms  eine  dem  iuraraen- 
tum  pacis  der  französischen  Städte  und  der  coniuratio  pro  liber- 
tate  von  1112  in  Köln1)  analoge  Bildung  einer  Eidgenossen- 
schaft erfolgte.  Vielleicht  traten  bei  dieser  Gelegenheit  die, 
durch  Adalbert  getrennten,  Stadtteile  wieder  zu  einem  einheitlichen 
Verwaltungskörper  zusammen;  soviel  aber  kann  als  sicher 
gelten,  dass  diese  gegenseitige  eidliche  Versicherung,  trotz  Ru- 
dolfs Wahl  an  Heinrichs  Königstum  festzubalten , ein  nach 
aussen  bemerkenswertes  Moment  der  Erhebung  bildete.  Dieser 
Umstand , sowie  auch , dass  damals  vielfach  derartige  Eid- 
genossenschaften (coniurationes)  im  Südwesten  Deutschlands 
für  Heinrich  geschlossen  wurden,  geht  nämlich  aus  einem  in 
eben  dieser  Zeit  von  den  päpstlichen  Legaten  an  alle  Bewoh- 
ner des  Elsasses,  Lothringens  und  des  rheinischen  Frankens 
gerichteten  Schreiben  hervor.*)  Hier  wurden  nämlich  zugleich 
Friedensstörungen,  Dienstleistungen  für  Heinrich  und  alle  con- 
iurationes verboten. 

Die  politische  Wichtigkeit  dieser  Erhebungen  von  Worms 
und  Mainz  gegen  ihre  Bischöfe  zeigt  sich  besonders  darin,  dass 
Heinrich  bald  nach  seiner  Rückkehr  aus  Italien  in  diese  ihm 
ergebenen  Städte  eilte  und  von  hier  aus  sich  zum  Kampf  gegen 
Rudolf  rüstete.  Dass  das  Heer,  welches  Heinrich  in  Worms 
Herbst  1077  gesammelt,  vorzugsweise  aus  Kaufleuten  bestand, 
ist  von  Bruno  ausdrücklich  überliefert.*)  Aus  dem  langwieri- 

Heinrich  zur  Besatzung  von  Worms  gemacht  und  nach  Lambert  (p.  248)  im 
Okt.  1076  wieder  hatte  herausziehen  müssen. 

>)  vgl.  Westd.  Ztschr.  II  239. 

*)  cf.  Berthold  (S.  S.  V p 297).  Unter  den  dort  erwähnten  litterae 
apostolicae  auctoritatis  hat  man  ja,  wie  Gicaebrecht  D.  K.  III  439  und  1147 
mit  Recht  bemerkt,  ein  Schreiben  der  päpstlichen  Legaten,  nicht  ein  solche« 
des  Papstes  zu  verstehen. 

*)  Bruno  c.  96  (S.  8.  V p.  366) : Heinricus,  exercitn  nec  magno  nec  forti 
congTegato  — nam  maxirna  pars  eins  ex  mercatoribus  erat  — obviam  nostris 
ire  paravit.  Gegen  seine  Behauptung,  dass  es  diesem  Heere  an  Tapferkeit 
gefehlt,  sprechen  Übrigens  sowohl  die  folgenden  Ereignisse  als  die  Angabe 
des  gleichfalls  päpstlich  gesinnten  Berthold  (S.  S.  V p.  300):  exercitum  non 
modicum  contraxerat  vgl.  Arnold  V.  G.  I S.  156.  — Dass  insbesondere  viele 
Wormser  Heinrich  auf  diesem  Feldzuge  folgten,  geht  auch  aus  Carmen  de 
bello  Saxonico  L,  III  v.  69 — 73  (S.  S.  XV  p.  1230)  hervor. 


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216 


geH  Bürgerkriege,  der  nun  entbrannte,  ist  namentlich  von  Regens- 
burg, Augsburg,  Wttrzburg  und  Goslar  ein  mutiges  Eintreten  der 
Bürgerschaften  für  Heinrich  IV.  überliefert.1)  Wenn  die  mittel- 
rheinischen Städte  in  dieser  Zeit  weniger  erwähnt  werden,  so 
liegt  dies  sicher  zum  grössten  Teil  daran,  dass  in  ihrer  Gegend 
die  Herrschaft  Heinrichs  überhaupt  ganz  unangefochten  war. 
Speciell  in  unseren  drei  Städten  hatte  er  auch  ihm  ergebene 
Personen  auf  die  Bischofsstühle  gebracht.  Die  Speierer  Bischöfe 
hat  er  — wohl  hauptsächlich  in  Folge  der  früher  geschil- 
derten besonderen  Begünstigung  dieses  Bistums  durch  das 
Salische  Haus  *)  — stets  zu  seinen  Anhängern  rechnen 
dürfen.*) 

Von  Worms  gelang  es  ihm,  Bischof  Adalbert  Jahre  lang 
fernzuhalten;  dort  wurden  mehrere  Wibertinisch  gesinnte 
Gegenbischöfe  eingesetzt.4)  In  Mainz  wurden  nach  dem  Tode 
Sigfrids  (1084)  in  Wezilo  und  Ruthard  von  Heinrich  IV.  eifrige 
Anhänger  auf  den  erzbischöflichen  Stuhl  gebracht;  Ruthard 
trat  jedoch  1098  auf  Seite  der  Gegner  des  Kaisers,  weil  Hein- 
rich ihn  und  seine  Verwandten  wegen  der  Judenverfolgung 
von  1096  zur  Rechenschaft  zog.5)  Die  Juden  hatten  sich  da- 
mals auf  den  Bischofshof  geflüchtet,  waren  aber  von  Ruthard, 
der  sich  ihres  Vermögens  bemächtigte,  der  Ermordung  durch 
die  Kreuzfahrer  preisgegeben  worden.*)  Für  unsere  Unter- 
suchung ist  es  entschieden  bemerkenswert,  dass  die  Juden  beim 
Erzbischof,  nicht  bei  kaiserlichen  oder  städtischen  Beamten 
Schutz  suchten;  nur  vom  Burggrafen  wird  berichtet,  dass  er 
einen  Teil  der  Verfolgten  in  seinem  Hofe  unterbrachte. T)  Da- 
gegen erfahren  wir,  dass  die  Juden  ihr  Geld  den  Städtern  zur 

*)  Arnold  I 156—161,  Giesebrecht  D.  K.  m 445,  536,  625,  626. 

*)  s.  oben  S.  13,  14. 

•)  Vgl.  Remliug,  Gesch.  I S.  296,  303,  317,  318,  Arnold  V.  G.  I 177. 

*)  Als  solche  sind  in  Worms  bezeugt  Thietinar  a.  1086  (s.  Annal.  Wirzib. 
S.  S.  II  p.  2451,  Wintherus  a.  1086—88  (Chron.  Laureahani.  S.  S.  XXI  p.  421), 
Ebbo  a.  1090  (ibid.  p.  423)  und  Cnno  a.  1101  (Stumpf  2951—55;  S.  S.  XXI 
p.  316,  Vos,  Lobbes  [Louvain  1865]  N.  18  p.  441,  Stumpf  Acta  imperii  N.  81 
p.  90,  Miraeus,  Opera  diplom.  I [Bruxellis  1723]  p.  369,  Beyer  Mttirb.  Urkb.  I 
S.  459)  vgl.  Schannat  I p.  347,  Arnold  V.  G.  I 168,  169. 

5)  B-W  XXIV  25  vgl.  auch  Aronius,  Regesten  z.  G.  d.  Juden  N.  205. 

•)  B-W  XXIV  18.  Aronius  N.  185. 

T)  Aronius  a.  a.  0. 


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217 


Aufbewahrung  gegeben  hatten  und  dass  diese  spater  von  dem- 
selben die  Leichen  der  Erschlagenen  begraben  liessen.1)  Dabei 
werden  wir  wohl  hier  unter  den  „Städtern*  nicht  Privatpersonen, 
sondern  die  Stadtbehörde  zn  verstehen  haben. 

Bei  der  kurz  vorher  in  Speier  eingetretenen  Verfolgung  wird 
nur  der  Bischof  als  Inhaber  der  öffentlichen  Gewalt  und  Be- 
schützer der  Juden  im  Aufträge  des  Kaisers  erwähnt.*)  Hin- 
gegen ist  aus  Worms  berichtet,  dass,  während  auch  dort  ein 
Teil  der  Juden  in  den  Bischofshof  geflüchtet  war,  die  Städter 
denjenigen  Juden,  welche  in  ihren  Häusern  bleiben  würden, 
ausdrücklich  Schutz  versprachen.  Zugleich  wird  auch  erzählt, 
dass  diese  Wormser  Städter  ein  Gesetz  erliessen,  wonach  die 
Ermordung  der  Juden  mit  dem  Tode  bestraft  werden  sollte.*) 
So  bestätigen  diese  Nachrichten  die,  wie  wir  sehen  werden, 
auch  sonst  mehrfach  bezeugte  Existenz  einer  Gemeindebehörde 
in  unseren  Städten;  es  entspricht  auch  dem,  was  aus  anderen 
Anzeichen  geschlossen  werden  kann , dass  diese  Gemeinde- 
behörde damals  gerade  in  Worms  das  grösste  Hass  von  Selb- 
ständigkeit erlangt  hatte. 

Durch  die  Erhebung  Heinrichs  V.  änderte  sich  die  Lage 
des  Kaisers.  Der  Kampfplatz  wurde  aufs  neue  an  den  Mittel- 
rhein verlegt.  Ende  Juni  1105  rückte  der  junge  König  nach 


*)  Ibid.  Die*  ist  einer  hebräischen  Quelle  zn  entnehmen,  über  welche 
Aronins  N.  176  za  vergleichen  ist 

’)  Vgl.  den  Zusatz  zn  Bernold  aus  dem  Anfänge  des  12.  Jahrhdrts. 
(S.  S.  V p.  465)  und  Aronius  N.  183.  Dass  Heinrich  „die  Fürsten,  Bischöfe 
nnd  Grafen,*  nnd  nicht  die  commtmalen  Behörden  als  seine  Vertreter  ansah, 
gebt  auch  aus  dem  Aronins  N.  178  erwähnten  kaiserlichen  Schreiben  hervor. 

*)  Diese  von  Aronius  übergangene  Notiz  steht  in  der  N.  1 er- 
wähnten Quelle,  wenigstens  in  der  Darmstädter  Handschrift  derselben,  welche 
von  Mannheimer  (Die  Judenverfolgungen  in  Speyer,  Worms  und  Mainz  im 
Jahre  1096  Darmst.  1877)  übersetzt  ist  (a.  a.  0.  S.  15).  Als  blosse  Zusiche- 
rung von  Privatleuten  kann  diese  Stelle  gewiss  nicht  angesehen  werden,  wenn 
wohl  auch  erst  die  in  Aussicht  gestellte  neue  Übersetzung  des  ganzen  Berichts 
volle  Klarheit  schaffen  wird.  Bemerkenswert  ist  anch  die  Erhöhung  der 
Strafe  in  der  statutarischen  Stadtgesetzgebung,  da  nach  den  Privilegien  Hein- 
richs IV  für  die  Juden  in  Worms  nnd  Speier  ihre  Ermordung  nur  mit  Ab- 
hauen der  Hand  nnd  Blendung  bestraft  wurde  (Aronius  N.  170  und  171  § 13). 
Dieselbe  Strafe  hatte  auch  den  Mörder  eines  Juden  zur  Zeit  Heinrichs  HI 
getroffen  (ibid.)  und  wurde  1096  vom  Speierer  Bischof  über  Kreuzfahrer,  die 
sich  dieses  Verbrechens  schuldig  gemacht,  verhängt  (ibid.  N.  183). 


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218 


Mainz,  um  den  von  seinem  Vater  vertriebenen  Erzbischof  Eutliard 
wieder  einzusetzen.1)  Der  Kaiser  aber  sammelte  im  Mainzer 
Hafen  eine  Flotte  und  verhinderte  unter  Beihilfe  der  Bürger- 
schaft seinen  Sohn  den  Rhein  zu  überschreiten.4)  Dennoch 
waren  bekanntlich  die  Erfolge  Heinrichs  IV.  in  diesem  letzten 
Kampfe  nur  sehr  vorübergehende,  da  viele  Anhänger  sich  von 
seinem  Sohne  gewinnen  Hessen.  Nur  die  Städter  und  besonders 
gerade  die  Mainzer  haben  die  Sache  Heiurichs  IV.  bis  zu  seinem 
Ende  wie  ihre  eigene  betrachtet. 

Als  der  Kaiser  Herbst  1105  in  Regensburg  seinem  Sohne 
gegenüberstand,  hatte  Mainz  einen  combinierten  Angriff  der 
wichtigsten  Gegner  Heinrich  IV.  zu  befürchten.3)  Von  Osten 
wollte  sich  der  König  mit  den  Sachsen  und  Thüringern,  von 
Westen  die  Bischöfe  von  Metz  und  Verdun,  sowie  Herzog  Hein- 
rich von  Niederlothringen  und  Heinrich,  Sohn  des  Grafen  Otto 
von  Ztitphen,  gegen  diese  Stadt  aufmachen.  Spätestens  am 
St.  Michaelstage  (29.  September)  wollten  sie,  wie  die  Mainzer 
in  Erfahrung  gebracht,  Ruthard  zum  Schimpfe  des  Kaisers 
wieder  einsetzen. 

Die  Bürger  baten  daher  Heinrich  dringend,  ihnen  zu  Hilfe 
zu  kommen,  oder  wenigstens  ausreichende  Unterstützung  zu 
senden,  da  sie  auf  längere  Zeit  ihre  Stadt  nicht  gegen  so  viele 
Feinde  zu  verteidigen  vermöchten.4)  In  dem  Schreiben,  das 
diese  Bitte  enthält,  sind  als  Absender  „Moguntinensis  ecclesiae 
humiles  servi,  F.  camerarius,  A.  centurio,  cum  universis  mi- 
nistris  ac  civibus  inibi  manentibus“  genannt.4) 

Wir  haben  also  einen  sicheren  Beweis  dafür,  dass  nach 
Vertreibung  Ruthards  jedenfalls  nicht  eine  altfreie  Gemeinde 
ihre  Selbständigkeit  wieder  erlangt  hat;  vielmehr  blieben  die 
früheren,  in  erster  Linie  vom  Bischof  abhängigen,  Beamten  im 


*)  vgl.  Arnold  I 161,  Giesebrecht  UI  S.  734,  B-W  XXIV  52. 

’)  Annal.  Iiildesb.  a.  1105  (S.  S.  EU  108):  Pater.  . . . mann  militum  et 
civinm,  ne  transiret,  prohibnit. 

*)  S.  daa  Schreiben  der  Mainzer  an  Heinrich  vom  Jahre  1105  (Jaffe  Bibi. 
V p.  234):  Veraciter  nobia  innotuit ....  vgl.  Arnold  V.  G.  I 162,  Hegel 
Mainz  S.  23.  Giesebrecht  D.  K.  III  S.  739.  Die  von  Druffel  (Heinrich 
IV  und  seine  Söhne  Regcnsb.  1862  S.  49  und  50)  erhobenen  Zweifel  an  der 
Echtheit  dieses  Briefes  sind  vonGiesebrecht  a.  a.O,  S.  1187  zurückgewiesen. 
*)  ibid. 


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219 


Besitze  des  Stadtregiments.  Ja  auch  eben  diese  Abhängigkeit 
vom  Bistum  wurde  noch  offlciell  beibehalten,1)  wenn  auch  in 
Wahrheit  die  Verhältnisse  so  lagen,  dass  eine  schon  früher  be- 
stehende communale  Behörde  seit  der  Vertreibung  des  Erz- 
bischofs die  Stadt  völlig  selbständig  regierte. 

Bemerkenswerth  ist  noch  in  dem  erwähnten  Briefe  der 
Mainzer  die  Nachricht,  dass  sie  mit  allen  ihren  „Comprovinci- 
alen“  auf  beiden  Seiten  des  Rheins  einen  Eidesbund  errichtet 
hätten,  bei  Heinrich  auszuharren;  diese  „Comprovincialen“ 
seien  kürzlich  mit  den  Mainzern  in  der  Nähe  ihrer  Stadt  ver- 
sammelt gewesen,  und  habe  man  dabei  20000  Mann  an  Rittern 
und  Fussvolk  gezählt.*)  Was  haben  wir  hier  unter  Compro- 
vincialen  zu  verstehen?  Hegel  übersetzt  Leute  des  Rheingaus, 
Giesebrecht*)  einfach  Nachbarn,  Floto4)  Landsleute;  Ar- 
nold*) sieht  dagegen  in  den  comprovinciales  die  Bewohner 
der  Nachbarstädte. 

Diese  letztere  Auffassung  ist  aber  jedenfalls  abzulehnen. 
Eine  Versammlung  der  Wormser  und  Speierer  Mannschaften  bet 
Mainz  erscheint  deshalb  unannehmbar,  weil  diese  Städte  selbst 
gegen  ihre  Gegner  gedeckt  werden  mussten;  war  es  doch  ge- 
rade besonders  wichtig,  dass  Speier  gegen  die  Angriffe  des 
Königs  gehalten  wurde , da  sich  hier  der  Kriegsschatz 
befand. *) 

Ausserdem  ist  sowohl  gegen  Arnolds  Übersetzung  wie  gegen 
alle  übrigen  geltend  zu  machen,  dass  comprovinciales  sonst 
überwiegend  für  die  Bewohner  einer  Erzdiöcese  oder  Diöcese 
oder  für  die  eines  Herzogtums  oder  einer  Grafschaft  gebraucht 
wird,  wie  auch  provincia  gewöhnlich  in  den  entsprechenden  Be- 
deutungen vorkommt.6)  Dass  hier  mit  provincia  jener  mit 

■)  Das  liegt  sicher  in  dem  Ansdruck : Mognntinensis  ecclesiae  humilea  servi. 

*)  Omnes  etiam  comprovinciales  nostri  ex  utraque  parte  Rheni  coniura- 
verunt  persistere  nobisenm.  Qui  proxime,  nobiscum  inxta  civitatem  nostram 
congTegati,  equites  et  pedites  viginti  milia  numerati  snnt. 

*)  S.  die  S.  218  N.  3 gegebenen  Citate. 

4)  Heinrich  IV  Bd.  II  (Stnttg.  1856)  S.  397. 

*)  Ekkehardi  Chron.  a.  1105  (S.  S.  VI  p 229). 

*)  Über  den  Gebranch  des  Wortes  provincia  für  den  Metropolitanbezirk 
vgl.  Hinschius Kirchenrecht  II S.  6 N.  12,  13  und  Dncange  s.  v.  provincia. 
Dort  auch  ein  Beispiel,  in  dem  es  einen  Bistnmsbezirk  bezeichnet.  In  dieser 
letzteren  Bedeutung  wird  auch  Vangionum  provincia  in  Wandalberti  vita 


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220 


Mainz  strategisch  und  jurisdictionell  verbundene  Bezirk  gemeint 
ist,  welchen  wir  als  das  Gebiet  der  Mainzer  Burggrafschaft  kennen 
gelernt,1)  ist  nicht  wahrscheinlich.  Dasselbe  erstreckte  sich 
höchst  wahrscheinlich  bei  keiner  unserer  drei  Städte  auf  die 
rechte  Rheinseite,  *)  und  20000  Bewaffnete  hat  es  damals  in 
der  Mainzer  Burggrafschaft  keinesfalls  gegeben.  Da  nun,  wie 
bemerkt,  die  Möglichkeit  einer  Heranziehung  von  Wormser 
und  Speierer  Mannschaften  ausgeschlossen  zu  sein  scheint,  so 
liegt  es  jedenfalls  am  nächsten,  unter  comprovinciales  die  dem 
Kaiser  treu  gebliebenen  Bewohner  des  Mainzer  Diöcesangebiets 
zu  verstehen,  um  so  mehr,  als  auch  die  Ausdehnung  desselben 
über  beide  Rheinseiten  und  die  erwähnte  Truppenzahl  fttr  diese 
Annahme  zu  sprechen  scheinen. 

Der  von  den  Mainzern  gefürchtete  Anschlag  auf  ihre  Stadt 
kam  nicht  zu  Stande,  obgleich  der  Kaiser  erst  Ende  Oktober 
dorthin  zurückkehrte.5)  Dagegen  gelang  es  dem  jungen  Hein- 
rich, den  Rhein  bei  Speier  zu  überschreiten  und  sich  dieser 
Stadt,  sowie  der  dort  befindlichen  Schätze  seines  Vaters  zu  be- 
mächtigen.4) Diese  Erfolge  hatte  ihm  die  Bestechlichkeit  des 
Speierer  Burggrafen  ermöglicht.  Da  der  Speierer  Bischofsstuhl 
gerade  erledigt  war,  so  besetzte  der  junge  König  ihn  mit  einem 
ergebenen  Anhänger,  dem  Abte  Gebhard  von  Hirschau.5) 

Nach  dem  Falle  von  Speier  war  auch  Mainz  nicht  mehr 
zu  halten.  Der  Kaiser  verliess  es  bald  darauf,  da  ihm  auch 
sein  Sohn  mit  Belagerung  der  Stadt  drohte.6)  Nun  zog  dieser 

S.  Goftris  (S.  S.  XV  p.  369  Z.  48  u.  p.  372  Z.  35)  gebraucht.  Über  provincia 
in  der  Bedeutung  von  pagus  vgl.  WaitzV.  G.  VS.  179  N.  1,  über  die  Ver- 
wendung dieses  Wortes  zur  Bezeichnung  von  Herzogtümern  (Stammgebieten) 
ibid.  S.  178  N'.  5.  Über  den  entsprechenden  Gebrauch  von  comprovinciales 
vgl.  die  angeführten  Stellen,  ferner  Waitz  VIII  S.  18  N.  4 u.  Ducange  s.  v. 
comprovinciales.  Nach  letzterem  bezeichnet  es  auch  gelegentlich  die  Mark- 
genossen ; ein  Beispiel  von  entsprechendem  Gebrauch  von  proviucia  s.  bei 
Lamprecht  D.  W.  I 310  N.  6. 

')  vgl.  oben  S.  191. 

*)  ibid.  vgl.  auch  S.  160 — 162,  182,  183.  Alle  Orte,  von  denen  hier 
nachgewiesen  ist,  dass  sie  zur  Burggrafschaft  einer  unserer  Städte  gehörten, 
liegen  nämlich  links  vom  Bhein. 

*)  Giesebrecht  D.  K.  III  S.  739. 

4)  Annal.  Hildesheim.  a.  1105  (S.  S.  III  p.  109),  Ekkeh.  an  der  oben 
S.  219  N.  5 angef.  Stelle. 

*)  ibid. 


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221 


dort  ein  und  gab  Kuthard  Amt  und  Herrschaft  zurück.  Ein 
Chronist  berichtet,  dass  die  Mainzer  Bevölkerung  darüber  in 
grosser  Freude  gewesen.1)  Dies  ist  aber  um  so  unwahrschein- 
licher, als  später  Heinrich  V den  erzwungenen  Verzicht  seines 
Vaters  auf  die  Reichsgewalt  absichtlich  in  Ingelheim,  nicht  in 
Mainz  entgegennahm,  weil  er  ein  Eintreten  des  Volkes  zu 
Gunsten  des  Kaisers  fürchtete.*)  Als  Heinrich  aus  der  Burg 
Ingelheim  nach  Lüttich  geflüchtet  war  und  sich  nun  der  Kampf 
zwischen  Vater  und  Sohn  erneuerte,  da  sollen  auch  die  mittel- 
rheinischen  Städte  sich  wieder  für  den  Kaiser  gerüstet  haben.3) 
Durch  den  Tod  Heinrichs  IV  wurde  jedoch  dieser  Kampf  bald 
beendigt. 

Nicht  weniger  als  unter  Heinrich  IV  machten  die  Städte 
ihre  Interessen  und  Neigungen  in  der  allgemeinen  Reichspolitik 
unter  seinem  Nachfolger  geltend.  Als  besonders  wichtig  für 
die  Geschichte  der  mittelrheinischen  Städte  ist  dabei  hervor- 
zuheben,  dass  es  ihnen  in  dieser  Zeit  gelungen  ist,  sich  ihre 
Rechtseinrichtungen  urkundlich  sichern  zu  lassen.  Bereits  zu 
Beginn  des  elften  Jahrhunderts  konnten  am  Mittelrhein  im 
Privat-,  Process-  und  Strafrecht  besondere  städtische  Rechts- 
bildungen constatirt  werden;*)  freilich  waren  dieselben  noch 
zumeist  nur  durch  den  Widerstand  erkenntlich,  den  sie  bei  den, 
von  landrechtlichen  und  canonistischen  Rechtsüberzeugungen 
geleiteten,  Bischöfen  fanden.  Da  diese,  ganz  überwiegend  aus 
den  Familien  des  Landadels  stammenden,  Geistlichen  aber  weiter 
Stadtherren  blieben,  musste  es  für  die  Bürger  von  hohem 
Interesse  sein,  Urkunden  zu  besitzen,  mit  denen  sie  ihre,  immer 
mehr  selbständig  gewordene,  Rechtsbildung  gegen  diese  ihre 
Stadtherren  schützen  konnten.  Solche  Urkunden  haben  sie 
sich  nun  teils  von  den  Kaisern,  teils  von  den  Bischöfen  selbst 
zu  verschaffen  gewusst.  Zur  Zeit  Heinrichs  V tritt  nämlich 
auch  schon  ein  geistlicher  Stadtherr  auf,  welcher  den  Nutzen, 
den  ihm  die  Unterstützung  der  Bürger  in  seiner  Politik  zu  ge- 
währen vermochte,  klar  erkannte,  Erzbischof  Adalbert  I von 

■)  Ekkehard  1.  c. 

*)  ibid.  p.  231,  vgl.  Buchholz  in  dem  oben  S.  208  N.  9 angeführten 
Werke  S.  222. 

*)  Ekkehard  p 235. 

*)  i.  oben  Capitel  U. 


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222 


Mainz.  Dieser  Prälat  gab  zweien  seiner  Städte  weitgehende 
Privilegien  und  wirkte  auch  bei  mehreren  von  Heinrich  V und 
Lothar  ausgehenden  städtischen  Freiheitsbriefen  in  hervorragen- 
der Weise  mit.1)  Diese  Urkunden  unterscheiden  sich  auch  sehr 
wesentlich  von  allen  bis  dahin  aus  der  Deutschen  Reichskanzlei 
hervorgegangenen  Dokumenten.  Wie  die  von  Adalbert,  so  ent- 
halten nämlich  auch  die  von  Heinrich  V und  Lothar  den  Städten 
verliehenen  Privilegien  vor  allem  Sicherung  städtischer  Rechts- 
institutioneu  und  selbständiger  städtischer  Rechtsbildung,  wäh- 
rend vorher  städtische  Bürger  in  Deutschland  von  den  Kaisern 
nur  Urkunden  erhalten  hatten,  in  denen  wir  ausschliesslich  oder 
doch  ganz  vorwiegend  Zollbegünstigungen  finden.*) 

Zollbegünstigungen  enthalten  allerdings  auch  die  ersten  der 
hier  in  Betracht  kommenden  Privilegien,  nämlich  diejenigen, 
welche  Heinrich  V 1111  August  14  den  Speierern  verlieh,*) 
als  er  durch  die  feierliche  Beisetzung  seines  Vaters  die  Unter- 

')  s.  die  unten  folgenden  Ausführungen. 

*)  Vgl.  die  von  Bresslau  Konrad  II  Bd.  II  S.  380  znsammenges  teilten 
Erwähnungen  von  kaiserlichen  Urkunden  für  Deutsche  Städte  (resp.  ihre 
Kaufmannsgenosseusehaften  vgl.  oben  S.  202)  vor  Heinrich  IV  sowie  W U 56 
und  St.  2714.  Von  der  Mehrzahl  dieser  Art  von  Privilegien  vor  Heinrich  V 
haben  wir  freilich  nur  durch  Notizen  in  anderen  Privilegien  Kunde;  jedoch 
genügen  die  erhaltenen,  um  ihren  Inhalt  festznstellen.  Es  sind  dies  die 
Urkunden  Ottos  II  und  Konrads  II  für  Magdeburg  (St.  660  u.  1871  s.  auch 
Höhlbaum  Hans.  Urkb.  [Halle  1876]  I S.  1 Nr.  1),  die  Urk.  Heinrichs  III 
für  Quedlinburg  (St.  2229,  s.  jetzt  auch  Janicke  in  Geschicbtsqnellen  der 
Prov.  Sachsen  Bd.  II  Halle  1873  S.  8 No.  9)  und  die  Urkunden  Heinrichs  IV 
für  Halberstadt  (St.  2714,  0.  Schmidt  in  Gschchtsq.  d.  Pr.  Sachsen  Bd. 
VII  Halle  1878  S.  2 No.  3)  und  Worms  (W  U 56).  Von  diesen  Urkunden 
enthalten  nun  diejenigen  für  Magdeburg  und  Worms  ausschliesslich,  die- 
jenigen für  Halberstadt  und  Quedlinburg  ganz  vorwiegend  Zollbefreiungen. 

*)  Sp.  U 14.  Eigentlich  sind  cs  zwei  in  einem  späteren  Traussiunpte 
überlieferte  Privilegien , von  denen  nur  das  erste  dies  Datum  trägt.  Die 
zweite  dieser  Urkunden  ist  überhaupt  nicht  vollständig  erhalten  und  so  fehlt 
auch  die  Datierung.  Doch  hat  man  mit  Recht  allgemein  für  beide  Privi- 
legien die  gleiche  Datierung  angenommen  (vgl.  z.  B.  Arnold  I S.  190,  Schaube 
Speier  S.  456  ff.,  Stumpf  Nr.  3072,  Qiesebrecht  D.  K.  III  S.  824).  Dieselbe 
ergiebt  sich  daraus,  dass  beide  Privilegien  auf  derselben  Platte  über  dem 
Portale  der  Domkircbe  angebracht  sind,  in  der  ersten  aber  diese  Art  der 
Sicherung  der  Überlieferung  schon  als  geschehen  erwähnt  ist.  Das  Fehlen 
der  Datierung  im  zweiten  Privileg  ist  wohl  auch  gerade  dadurch  veranlasst, 
dass  man  in  der  Inschrift,  der  unsere  Überlieferung  entstammt,  die  Datierung 
der  zweiten  Urkunde,  weil  mit  der  der  eisten  völlig  übereinstimmend,  wegliess. 


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223 


Stützung  desselben  gewissermassen  nachträglich  sanctioniert  hatte. 
Wie  den  Wormsern  1074  an  einer  Reihe  kaiserlicher  Zollst&tten 
Zollfreiheit  verliehen  war,  so  erhielten  nun  1111  die  Speierer 
dieselbe  für  alle  Orte,  an  denen  die  Erträge  noch  direkt  an 
den  Kaiser  fielen;  ferner  sollten  sie  auch  an  allen  Zollstätten 
ihres  Bistums  von  jeder  Leistung  befreit  sein.1)  Endlich  durfte 
auch  in  Zukunft  in  Speier  selbst  nur  noch  von  Waaren  Fremder 
ein  Passierzoll  erhoben  werden ; dies  folgt  aus  einer  Bestimmung 
unserer  Urkunde,  dass,  wer  von  den  Speierern  eigene  Waaren 
auf  eigenen  oder  gemieteten  Schiffen  vorbeiftihre,  zollfrei 
sein  solle.*) 

Ausser  diesen  Zollprivilegien  empfing  aber  Speier  damals 
von  Heinrich  V,  da  er  es  vor  allen  anderen  Städten  erhöhen 
wollte,3)  noch  eine  Anzahl  anderer,  ungleich  wichtigerer,  Be- 
günstigungen. Als  ganz  besonders  für  die  städtischen  Interessen 
ins  Gewicht  fallend  wird  in  dem  ersten  Privileg  Heinrichs  V 
für  Speier  die  Aufhebung  des  Buteilsrechtes  hervorgehoben, 
jener  Verpflichtung  zur  Auslieferung  eines  Teils  des  Nachlasses, 
welche,  wie  früher4)  gezeigt  ist,  im  elften  Jahrhundert  höchst 
wahrscheinlich  der  Mehrzahl  der  Einwohner  unserer  Städte 
ihren  Bischöfen  gegenüber  oblag.3)  Ferner  wurde  mit  dem 
Buteil  zugleich  auch  das  Hauptrecht  aufgehoben,  d.  h.,  wie 
ebenfalls  schon  früher*)  erwähnt,  die  mit  dem  Buteil  eng  ver- 
wandte Berechtigung  des  Herren  auf  das  beste  Stück  des  Nach- 
lasses,7) die  übrigens  wohl  auf  Milderung  dieses  Buteilsrechtes 

‘)  N alias  ab  eis  theloneum  in  toto  episcopatu  aut  in  locis  fiscalibns, 
id  eat  ad  ntilitatem  imperntoris  singulariter  pertinentibus,  extorqueat. 

*)  Voinmus  eciam,  nt  nichil  exigatur  ab  biis,  qui  res  proprias  propriis 
seil  conductis  uavibus  transfebunt. 

*)  Quouiam  . . . locum  istum  . . . . pre  ceteris  sublimere  proponimus. 

‘)  S.  oben  8.  36,  37. 

*)  a lege  neqnissima  et  nephanda,  videlicet  a parte  illa  qne  vulgo 
badeil  vocabatar,  per  quam  tota  civitas  ob  nimiam  paupertatem  adnichilabatnr, 
ipsos  suosque  . . heredes  excussimus,  ne  vero  aliqua  persona  maior  vel  minor, 
non  advocatns,  non  eorum  naturalis  dominus,  Ulis  morientibus  de  eorum 
suppellectUe  quicquam  auferre  praesumat  interdiximus , et  ut  omnes  liberam 
po  teste  tem  babeaut  suis  beredibus  relinquendi  vel  pro  anima  sua  dandi  vel 
coicumque  peraone  dare  voluerint  . . . .,  coucessimus  et  confirmavimus. 

•)  8.  36. 

’)  Der  Name  des  Hauptrechts  wird  zwar  in  der  Urkunde  nicht  erwähnt, 
wohl  aber  sein  wesentlicher  Inhalt  (vgl.  N.  3).  So  entschied  auch  später 


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224 


beruht.1)  Künftighin  sollte  allen  Einwohnern  von  Speier  volle 
Freiheit  letztwilliger  Verfügung  zustehen.*) 

Ausdrücklich  ist  dabei  in  der  Urkunde  betont,  dass  durch 
das  Buteil  die  ganze  Stadt  der  Gefahr  der  Verarmung  ausge- 
setzt gewesen.*)  Aus  diesen  Worten  geht  sicher  hervor,  dass, 
wenn  nicht  alle,  so  doch  der  bei  weitem  überwiegende  Teil  der 
Einwohner  Speiers  dieser  Verpflichtung  unterworfen  war.  Es 
ist  auch  schon  früher4)  darauf  hingewiesen  worden,  dass  die 
Annahme  wohl  gerechtfertigt  erscheint,  dass  bis  1111  die  ge- 
sanimte  gewerbliche  Bevölkerung  Speiers  mit  Ausnahme  der 
Hausgenossen  zur  Leistung  des  Buteils  an  den  Bischof  ver- 
pflichtet war,  damals  aber  davon  befreit  wurde.  Aus  unserer 
Urkunde  geht  ferner  hervor,  dass  zu  gleicher  Zeit  auch  alle 
Herren-  oder  Vogts-Rechte  auf  die  Hinterlassenschaft  in  Speier 
eingewanderter  oder  in  Zukunft  einwandernder  Personen  auf- 
gehoben wurden.6)*) 

Jedes  solche  Recht  ist  nach  der  Urkunde  als  neqnissima 
et  nefanda  lex  zu  betrachten.1)  Die  hier  offenbar  wiedergegebene 
Anschauung  der  Speierer  Bürgerschaft  muss  als  zutreffend  be- 

Friedrich  I 1182,  dass  die  Speierer  schon  in  dieser  Urkunde  nicht  nur  vom 
Bnteile,  sondern  auch  vom  Hauptrechte  befreit  seien  (Sp.  U 18  S.  22  Z.  5-16). 

l)  So  Hcusler  Instit.  I S.  141,  Lamprecbt  D.W.  1 1182.  Bemerkenswert 
ist,  dass  diese  Auffassung  dadurch  bestätigt  wird,  dass  Bischof  Ulrich  von 
Speier  der  Ansicht  war,  dass  er  nach  Aufhebung  des  Buteils  das  Hauptrecht 
geltend  machen  dürfe  (U  18  S.  22  Z.  7—10). 

*)  S.  die  S.  223  N.  & angeführte  Stelle. 

•)  ibid. 

4)  oben  8.  60. 

6)  Vgl.  das  omnes,  qui  in  civitate  Spirensi  modo  habitant  vel  deinceps 
habitare  voluerint,  undecumque  venerint  . . . (S.  18  Z.  19  ff). 

*)  Dass  die  Todfallsabgaben  jedenfalls  von  dem  überwiegenden  Teil  der 
Stadtbewohner  verlangt  wurden,  geht  auch  aus  der  oben  N.  7 erwähnten  Stelle 
hervor,  wonach  später  auch  das  Hauptrecht  ab  eis  d.  h.  denSpeierern  ge- 
fordert wurde  und  die  ganze  Erhebung  desselben  für  ungerecht  erklärt  wurde. 
Hit  Unrecht  lässt  jedenfalls  v.  Below  das  Buteil  nur  für  Unfreie  im  Besitze 
von  Stadtrechtsgut  aufgehoben  werden  (Histor.  Ztschr.  1887  8.  209 — 213, 
1888  8.  236  N.  1)  vgl.  darüber  Anhang  L Richtig  hebt  aber  Schaube  Speier 
8.  467  Nr.  2 gegen  die  Ausführungen  von  Nitzsch  8.  314  und  Heusler 
Urspr.  S.  148  hervor,  dass  aus  der  Bestimmung,  dass  ferner  kein  Stadt- 
bewohner dem  Buteile  unterworfen  sein  soll,  nicht  geschlossen  werden  darf, 
dass  bis  dahin  alle  demselben  unterlagen. 

•)  s.  oben  S.  223  N.  6. 


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225 


zeichnet  werden,  da  die  Erbgebtihr  ja  ein  starkes  Hindernis 
städtischen  Gewerbefleisses  bildet,1)  während  sie  auf  dem  Lande, 
wo  das  Gutsinventar  oft  vom  Herren  verliehen  war,  eine  ge- 
wisse Berechtigung  besass  und  sich  desshalb  so  viel  länger 
gehalten  hat.*)  Die  ganze  Art  aber,  wie  von  diesem  Buteils- 
rechte  in  unserer  Urkunde  gesprochen  wird,  macht  meines  Er- 
achtens die  Annahme  notwendig,  dass  sich  gegen  dasselbe  schon 
vor  1111  in  städtischen  Kreisen  lebhafter  Widerspruch  erhoben 
hatte  und  dass  es  nicht  nur  die  Interessen,  sondern  auch  das 
Rechtsgefühl  der  Bürger  verletzte. 

Eine  Anerkennung  schon  bestehenden  specifisch  städtischen 
Rechtes  liegt  dagegen  wohl  in  der  Bestimmung  unseres  Privi- 
legs, dass,  wer  in  Speier  Haus  und  Hof  Jahr  und  Tag  besessen 
habe,  sich  von  niemandem,  der  davon  Kenntnis  gehabt,  Ein- 
spruch gegen  seinen  Besitz  gefallen  zu  lassen  brauche.*)  Ist 
auch  die  Frist  von  Jahr  und  Tag  schon  im  älteren  fränkischen 
Rechte  von  Bedeutung,4)  so  kann  doch  die  ausdrückliche  Zu- 
sicherung, dass  durch  diese  Frist  geschaffene  rechte  Gewere6) 
alle  Ansprüche  von  diesem  Besitze  wissender  vernichte,  nur 
dadurch  erklärt  werden,  dass  man  in  ihr,  von  dem  auf  dem 
Lande  geltenden  abweichendes,  städtisches  Recht  sieht.  Die 
Richtigkeit  dieser  Erklärung  wird  dadurch  bestätigt,  dass  später 
bei  Veräusserungen  von  Immobilien  in  Speier  die  Tradenten  öfters 
die  Haftung  dafür  ausdrücklich  übernehmen,  dass  binnen  Jahr 
und  Tag  kein  Einspruch  stattfinden  werde.*)  Es  lässt  sich 

■)  vgl.  A r n o 1 d V.G.  I S.  190  u.  Stnd.z.  D.  Colturg.  (Stuttg.  1882)  S.  196, 197. 

*)  vgl.  z.  B.  Kindl inger,  Hörigkeit  (Berlin  1819)  8.  634  N.  8 und  9, 
S.  638  N.  8. 

*)  S.  19  Z.  15:  8i  quis  curtem  nnt  domum  per  annum  et  diem  «ine 
contradictione  poseederit,  nulli  hoc  interim  ecienti  ultra  inde  respondeat. 

*)  Vgl.  Form.  Sal.  Bign.  N.  3 und  5 (L.  L.  V ed.  Zeumer  p 229)  und 
mehrere  andere  der  von  Qrimm  R.  A.  8.  222  angeführten  Beispiele. 

*)  Vgl.  über  diese  besonders  die  instruktiven  Erörterungen  von  Heusler 
Instit.  II  8.  103—112,  von  denen  ich  freilich  gerade  in  Bezug  auf  die  — 
mindestens  für  Suddeutschland  entschieden  aufrecht  zu  erhaltende  — Unter- 
scheidung der  Entwicklung  im  Land-  und  im  Stadtrechte  zu  abweichenden 
Ergebnissen  gekommen  bin.  Die  Richtigkeit  derselben  folgt  meines  Erachtens 
schon  ans  den  im  Text  angeführten  Beispielen;  eine  ins  Detail  gehende  Aus- 
einandersetzung mit  Heusler  aber  würde  an  dieser  Stelle  zu  weit  führen. 

*)  Sp  U 182 ; . . . constituens  se  waraudum  redituum  eorundem  super 
domibus  prelibatis  per  annnm  et  diem.  Sp.  U.  187:  constituentes  «e 
Ko  ebne,  Ursprung  der  Stadt  Verfassung  in  Worms,  Speierand  Mainz.  IS 


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226 


auch  für  diese  Auffassung  auf  die  bemerkenswerte  Analogie  der 
Augsburger  Verhältnisse  verweisen,  da  nach  dem  dortigen  Stadt- 
buche *)  die  Haftung  des  Veräusserers  bei  Gütern  in  der 
Stadt  Jahr  und  Tag,  dagegen  bei  auf  dem  Lande  oder  ausserhalb 
der  Stadt  gelegenen  Gütern  zehn  Jahre  dauern  soll.*) 

Unter  den  übrigen  Verordnungen  unserer  Urkunde  ist  die 
Bestimmung  noch  besonders  hervorzuheben , dass  weder  der 
Bischof  noch  sonst  jemand  einen  Rechtsstreit,  dessen  Behandlung 
vor  dem  Stadtgericht  schon  begonnen  hatte,  noch  vor  ein  an- 
deres Gericht  bringen  solle  ;s)  der  Brauch,  einen  und  denselben 
Process  in  seinen  verschiedenen  Terminen  an  verschiedenen 
Hunderschaftsgerichten  zu  verhandeln,4)  war  damit  für  die  in 
Speier  behandelten  Processe  reichsrechtlich  ausgeschlossen. 
Wurde  so  die  städtische  Rechtsbildung  dem  Einflüsse  der  Land- 
gerichte völlig  entzogen,  so  wirkte  das  Verbot,  einen  Speierer 
Bürger  vor  ein  ausserstädtisches  Vogtsgericht  zu  ziehen, 
nicht  nur  in  der  gleichen  Richtung,  sondern  trug  auch  dazu 
bei,  einwandernde  Eigenleute  von  den  Verpflichtungen  gegen 
ihre  früheren  Herren  zu  befreien.5) 

warandos  . . . adversus  quemlibet  per  annuni  et  diem,  inxta  ins  et 
consuetudinem  civitatis  Spirensis  generalem;  Aber  die  ganz 
gleiche  Erscheinung  in  Worms  vgl.  W.  U.  304,  375,  443,  485. 

')  herausgeg.  von  Ch.  Meyer  (Augsb.  1872)  Art  74:  Ist  daz  ein  burger 
dem  bnrger  eigen  git  hie  in  der  stat  . . . . , der  sol  im  daz  staeten  iar 
unde  tak  ....  Git  aber  iemen  dem  andern  ein  eigen  ze  kauffene  nf  dem 
lande  oder  uzerhalp  der  stat,  der  sol  iin  daz  staeten  nach  des  landes 
rehte  daz  sint  zaehen  iar. 

»)  Es  liegt  nahe,  zur  Erklärung  der  Entstehung  dieses  stadtrechtlichen 
Satzes  an  den  öfteren  Eigentumsübergang  von  Immobilien  in  der  Stadt  und 
die  Benutzung  der  städtischen  Immobilien  zur  Creditsicherung  zu  denken  (vgl. 
oben  S.  22,  23  mit  N.  1).  Wenn  Schaube  Speier  S.  458  die  Bestimmung, 
dass  „durch  einjährigen  widerspruchlosen  Besitz  eines  Hofes  jeder  spätere 
Einspruch  dagegen  beseitigt“  ist,  als  „zu  Gunsten  neuer  Ansiedler  in  der 
Stadt“  gegeben  aneieht,  so  liegt  wohl  eine  Verwechselung  mit  der  in  späterer 
Zeit  oft  auftretenden  Bestimmung  vor,  dass  Hörige  durch  Aufenthalt  von 
Jahr  und  Tag  in  der  Stadt  frei  werden. 

*)  S.  19  Z.  17  ff:  Causam  in  civitate  iam  inceptam  non  episcopus  ant 
alia  potestas  extra  civitatem  determinari  compellat. 

*)  Vgl.  über  diesen  Brauch  der  fränkischen  Zeit,  der  sich  auch  ,im 
späteren  Mittelalter  erhalten“  hatte,  Sohm  G.  V.  S.  330 — 332,  Schröder 
R.  G.  S.  162,  163. 

*)  Die  städtischen  Gerichte  hatten  natürlich  über  diese  Verpflichtungen 


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227 


Endlich  finden  wir  in  den  Privilegien  Heinrichs  V für 
Speier  noch  einige  das  Steuerhebungsrecht  des  Bischofs  be- 
schränkende Bestimmungen l)  sowie  das  Verbot,  die  Münze  ohne 
Zustimmung  der  Bürger  zu  verschlechtern.*)  Diese  Verordnun- 
gen sowie  die  meisten  anderen  in  unserer  Urkunde  enthaltenen 
Vorschriften  minderten  zweifellos  die  bischöflichen  Einkünfte  und 
Herrschaftsrechte ; dem  entspricht  es,  dass  die  wohl  für  sonstige 
kaiserliche  Concessionen  erlangte  Einwilligung  des  damaligen 
Speierer  Bischofs  Bruno  ausdrücklich  in  der  ersten  Urkunde  er- 
wähnt ist.*) 

Diese  Speier  am  14.  August  1111  gewährten  Begünstigungen 
konnten  in  Worms  wohl  den  Wunsch  nach  ähnlichen  erregen. 
Das  Privileg  Heinrichs  IV  für  diese  Stadt  war  damals  von 
seinem  Nachfolger,  obgleich  sich  derselbe  im  vorhergehenden 
Jahre  dort  aufgehalten,4)  noch  nicht  bestätigt  worden.  Wahr- 
scheinlich hat  gerade  dieser  Umstand  jenes  bis  jetzt  noch  wenig 
beachtete  Ereignis5)  hervorgerufen,  welches  sich  seiner  nicht  zu 
erwartenden  Folgen  wegen  als  wichtiges  Zeugnis  für  die  Be- 
deutung von  Worms  innerhalb  der  die  deutsche  Politik  bestim- 
menden Mächte  betrachten  lässt. 

Als  der  Kaiser  September  1111  auf  einem  Zuge  von  Strass- 
burg nach  Mainz  durch  schwere  Krankheit  in  Neuhausen  bei 
Worms  festgehalten  wurde,®)  sah  er  sich  plötzlich  von  seinen, 

ganz  andere  Anschauungen  als  die,  unter  Vorsitz  des  Herrn  oder  seines  Ver- 
treters stattflndenden,  ländlichen  Vogtsdiugc.  Diese  Bestimmung  war  also 
noch  unendlich  wichtiger,  als  dass  sich  ihre  Bedeutung  auf  die  Ersparnis! 
von  „Zeitversäumnis  und  Unkosten'  beschränkte,  wie  Schaube  Speier  S.  469 
annimmt. 

')  S.  19  Z.  4 ff. 

*)  S.  19  Z.  12  ff.:  Monetam  quoque  nulla  potestas  in  levius  aut  in 
deterius  imminuat  aliqua  racione,  nisi  communi  civium  consilio  commutet 
vgl.  darüber  unten  Cap.  VIII. 

J)  S.  18  Z.  27:  ipso  Spirensi  episcopo  Brunone  in  pulpito  astante  et 
concedente. 

*)  Ein  Aufenthalt  Heinrichs  V zu  Worms  1110  Juni  12  ergiebt  sich 
ans  St.  3099. 

*)  vgl.  Uber  dasselbe  Giese brecht  III  826,  Kolbe  Adalbert  I (Heidelb. 
1872)  S.  41,  42. 

*)  vgl.  Landulfus  de  S.  Paulo  c 27  (S.  8.  XX  p 31)  u.  Manifest  Heinrichs  V 
nach  der  Gefangennahme  Adalberts  (B-W.  XXV  27,  Giesebrecht  D.  K.  III 
S.  1263).  Die  Krankheit  Heinrichs  ist  auch  durch  den  Brief  Paschalis  II  an 
ihn  von  1111  Okt.  26  (Jaffb  — Loewenfeld  6305)  beiengt.  Anch  Zorns 

16* 


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228 


ehedem  bo  königstreuen,  Wormser  Untertanen  auf  das  erbit- 
tertste angegriffen.  Ein  bewaffneter  Haufe  derselben,  der  in 
das  kaiserliche  Lager  eingedrungen  war,  konnte  nur  mit  grösster 
Mühe  zurückgeschlagen  werden.1)  Was  hat  diesen  Aufstand 
der  Wormser  veranlasst?  Heinrich  V selbst  schrieb  die  Be- 
wegung später  in  seinem  Manifest  gegen  den  Mainzer  Erz- 
bischof Adalbert  dessen  Aufstachlung  zu.  Dies  Zeugnis  ver- 
liert aber  dadurch  an  Glaubwürdigkeit,  dass  der  Kaiser 
an  dieser  Stelle  alle  Unruhen  im  Reiche  auf  die  Ränke  des 
genannten  Prälaten  zurückftihren  wollte.  Der  Chronist  Lan- 
dulf  von  St.  Paul,  dem  wir  den  ausführlichsten  Bericht  über 
dieses  Ereignis  verdanken,  erzählt,  dass  die  Wormser  das  Lager 
deshalb  angegriffen  hätten,  weil  sie  auf  den  Tod  Heinrichs 
grössere  Hoffnungen  als  auf  sein  Leben  gesetzt  und  sich  der 
Regalien  hätten  bemächtigen  wollen  (ut  regalia  sibi  vendica- 
rent).  Giesebrecht  und  Kolbe*)  verstehen  diese  Stelle  so,  dass 
die  Wormser  sich  in  Besitz  der  Königsinsignien  hätten  setzen 
wollen.  Es  ist  nicht  zu  verkennen,  dass  für  diese  Auffassung 
das  oben  erwähnte  Manifest  Heinrichs  spricht,  wonach  Erz- 
bischof Adalbert  damals  versucht  hätte,  sich  der  Insignien  der 
Reichsgewalt,  des  Kreuzes  und  der  heiligen  Lanze,  zu  bemäch- 
tigen.5) Andrerseits  werden  aber  damals  schon  die  Regalien 
auch  im  Sinne  von  Herrschaftsrechten  gebraucht,4)  so  dass  es 
durchaus  nicht  unwahrscheinlich  ist,  dass  sie  auch  hier  diese 
Bedeutung  haben.  Während  es  nicht  recht  ersichtlich  ist,  was 
die  Wormser  mit  den  Reichsinsignien  gewollt  hätten,  mag  der 
italienische  Schriftsteller  ihr  Verlangen  nach  Freiheiten  in  der 
Art  der  soeben  Speier  erteilten  als  ein  solches  nach  Regierungs- 
rechten bezeichnet  haben.  Immerhin  kann  eben  der  doppelten 
Bedeutung  des  Ausdrucks  regalia  wegen  auf  diese  Nachricht 
kein  entscheidendes  Gewicht  gelegt  werden.  Dagegen  erscheint 
es  zur  Beurteilung  der  Gründe  des  Aufstandes  und  daher  auch 
des  Interesses,  das  Heinrich  an  der  Rückgewinnung  der  Zu- 

Wormser  Chronik  berichtet  S.  61:  „Anno  1112  ist  kaiser  Heinrich  zu  'Worms 
tödtlich  krank  worden,*  irrt  also  nur  in  der  Zeitangabe. 

*)  B-W  XXV  27. 

*)  s.  die  Citate  von  S.  227,  N.  6. 

*)  crucem  et  lanceam  nobis  insidiose  temptat  proripere  (B-W  XXV  27 
S.  247). 

*)  So  im  Vertrage  Heinrichs  V mit  Paschalis  II 1111  (L.  L.  II  p 69  Z.  23). 


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229 


neigung  der  Wormser  hatte,  höchst  bedeutungsvoll,  dass  sie 
schon  ein  sowie  drei  Jahre  nach  diesem  Aufstande  von  Hein- 
rich V wichtige  Privilegien  erhielten.  In  dem  ersten  bestätigte 
und  erweiterte  er  die  von  seinem  Vater  den  Wormsern  ver- 
liehenen Zollfreiheiten  und  erliess  ihnen  ausserdem  das  bis  da- 
hin gezahlte  Wachtgeld,  wogegen  sie  jetzt  selbst  die  Verteidi- 
gung der  Mauern  übernahmen.1)  In  dem  zweiten  Privileg 
erhielten  sie  einen  Teil  der  Speierllll  verliehenen  Freiheiten, 
namentlich  Aufhebung  der  Erbgebühren  und  Gewährung  unge- 
teilten Zufallens  des  Nachlasses  an  den  überlebenden  Ehegatten, 
respective  sonstige  Erben.*)  Ist  es  nicht  sehr  wahrscheinlich, 
dass  die  Wormser  1111  desshalb  gegen  den  Kaiser  zu  den 
Waffen  gegriffen  haben,  um  dasjenige  zu  erhalten,  was  ihnen 
später  wirklich  — zum  mindestens  teilweise  — vom  Kaiser 
verliehen  wurde?  Ganz  besonders  mochten  sie  dabei,  wie  schon 
gesagt,  dadurch  zum  Angriff  auf  Heinrich  V bewogen  sein,  dass 
er  ihnen  in  den  ersten  6 Jahren  seiner  Regierung  namentlich 
auch  bei  seinem  Wormser  Aufenthalt  1110  das  von  seinem 
Vater  gegebene  Privileg  nicht  bestätigte  und  Worms  gegenüber 
die  Nachbarstadt  Speier,  deren  Burggraf  ihm  zum  Siege  gegen 
seinen  Vater  verholfen,  in  der  auffallendsten  Weise  begünstigte. 
In  welch  hohem  Grade  die  den  Speierern  von  Heinrich  V ver- 
liehenen Privilegien  die  Eifersucht  der  Wormser  erregt  hatten, 
lässt  sich  auch  aus  folgendem  ersehen.  Heinrich  IV  hatte  die 
Wormser  in  Hinsicht  auf  die,  für  Unterstützung  seiner  Sache 
in  Aussicht  gestellten,  Belohnungen  für  würdiger  als  die  Bür- 
ger aller  anderen  Städte  erklärt;8)  Heinrich  V aber  hatte 
den  Speierern  1111  versprochen,  ihre  Stadt  über  alle  anderen 
Orte  zn  erhöhen.4)  Dadurch  fühlten  sich  die  Wormser  veran- 
lasst, in  das  ihnen  von  Heinrich  V im  Jahre  1112  erteilte 
Privileg  den  Satz  zu  interpolieren,  dass  er  sie  für  würdiger 
als  die  Bürger  jeder  andern  Stadt  erkläre.5) 


>)  W.  ü.  61. 

*)  W.  0.  62.  Über  die  Bestimmung,  dass  niemand  gezwungen  werden 
sollte,  das  Amt  des  thelonearius  zu  übernehmen  s.  oben  S.  64. 

*)  W.  U.  66  vgL  oben  S.  206. 

*)  Sp.  U.  14  s.  oben  8.  223.  N.  5. 

*)  W.  U.  61:  Et  ut  omnes  horum  imitacione  regibus  et  dominis  suis 
discant  servare  fidelitatem  (vgl.  W.  U,  56  8.  48  Z.  17),  nos  eos  omuibus  cuius- 


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230 


Auch  in  Mainz  haben  in  dieser  Zeit  die  allgemeinen  poli- 
tischen Verhältnisse  die  erste  Gewährung  eines  Privilegs  für 
die  Bürger  verursacht.  Hier  war  seit  Anfang  1110,*)  Adal- 
bert Erzbischof,  der  Erzkanzler  Heinrichs  V.  gewesen,  und 
von  Zeitgenossen  vielfach  als  der  Urheber  der  Gefangennehmung 
Papst  Paschalis  durch  den  Kaiser  bezeichnet  ist.*)  So  hat  denn 
Heinrich,  als  er  diesem  Manne  den  Bischofssitz  in  der  rheini- 
schen Metropole  verlieh,  sicher  geglaubt,  sich  unbedingt  auf  ihn 
verlassen  zu  können.  Kaum  war  aber  Adalbert  auf  den  erz- 
bischöflichen  Stuhl  gelangt,  als  er  auch  schon  mit  dem  Könige 
in  heftigen  Streit  geriet.  Derselbe  ist  vor  allem  aus  der 
natürlichen  Collision  der  Interessen  des,  in  der  Ausbildung  be- 
griffenen, Mainzer  geistlichen  Fürstentums  mit  den  auf  Ver- 
mehrung der  kaiserlichen  Macht  gerichteten  Plänen  Heinrichs 
zu  erklären.*)  Adalbert  wurde  so  zum  Verbündeten  der  Hein- 
rich feindlichen  Fttrstenpartei  und  der  streng  kirchlichen  Rich- 
tung. Vom  Kaiser,  um  sich  zu  verantworten,  zu  Hofe  geladen, 
erklärte  der  Erzbischof,  sich  nur  in  Worms  stellen  zu  wollen, 
worauf  Heinrich  höchst  ungern  einging.  An  diesem  Orte  durfte 
er  es  nämlich  nicht  wagen,  gegen  Adalbert  mit  Gewalt  vor- 
zugehen, da  derselbe  die  Wormser  Bürgerschaft  für  sich  ge- 
wonnen und  — wie  wenigstens  der  König  später  behauptete  — 
auch  mit  Waffen  versehen  hatte.*)  Ein  erbitterter  Kampf 


libet  urbis  civibus  digniores  iudicarons  et  eis  maximam  totius  iusticie  digni- 
tatem,  quam  apud  predecessores  meos  et  mecum  habuerunt,  in  eternum  finnam 
concedimus.  Dieser  Zusatz  ist  nicht  in  der  Reichskanzlei  gemacht,  wie  ans 
der  abweichenden,  wenn  auch  derselben  Zeit  angehtirenden,  Handschrift  und 
aus  .dem  ungeschickten  i'bergehen  der  Fassung  aus  der  Mehrzahl  (nos  iudic&mus) 
in  die  Einzahl  (praedecessores  meos  et  mecum)*  hervorgeht.  Vgl.  Ficker 
Beitr.  z.  Frkdnlehre.  II  (Innsbr.  1878)  § 216  S.  52  und  Boos  Urkb.  S.  53 
Z.  18  ff.  Bresslau  Diplomata  centum  (Berolini  1872)  p 187  N.  81  vermutet, 
dass  diese  Stelle  auf  persönliche  Initiative  des  Kaisers  zurückgeht.  Diese  An- 
nahme steht  jedoch  mit  den  oben  im  Text  erzählten  Vorgängen  in  Widerspruch. 
»)  vgl.  B-W  Ein!.  S.  LXII,  LXIII. 

*)  ibid.  S.  LXI,  LXII,  Kolbe  Adalbert  I S.  36. 

*)  Vgl.  Schum  in  Götting.  gelehrte  Anzeigen  1873  Bd.  II  S.  1059, 
Nitzsch  D.  G.  II  S.  149. 

‘)  B-W  XXV  27. 

*)  ibid.  vgl.  tiiesebrecht  III  S.  1253. 


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231 


zwischen  Heinrich  und  Adalbert  stand  bevor.  Da  fügte  es  der 
Zufall,  dass  Heinrich  sich  im  Dezember  1112  der  Person  seines 
Gegners,  als  er  mit  ihm  auf  einem  Zuge  nach  Thüringen  zu- 
sammentraf, durch  einen  glücklichen  Handstreich  bemächtigen 
konnte.1)  Drei  Jahre  blieb  Adalbert  in  Haft;  weder  die  Bitten 
des  Papstes  noch  die  der  mächtigsten  Fürsten  konnten  den  Kaiser 
zur  Freigebung  des  Erzbischofs  veranlassen.*)  Die  Mainzer 
aber  erreichten,  was  dem  Papste  und  den  Fürsten  nicht  gelungen 
war.  Auf  den  1.  November  1115  hatte  Heinrich  eine  Fürstenver- 
sammlung zu  Mainz  angesagt;  um  die  immer  heftiger  gegen 
ihn  anwachsende  Opposition  zu  bändigen,  hatte  er  sogar  ver- 
sprochen, sich  gegen  alle  Klagen,  die  hier  gegen  ihn  erhoben 
würden,  persönlich  zu  verteidigen.3)  Es  fanden  sich  jedoch 
nur  wenige  Bischöfe,  von  den  weltlichen  Fürsten  niemand  ein. 
Wohl  dieser  Umstand  gab  den  Mainzern  den  Mut,  unter  Füh- 
rung ihres  Burggrafen  Arnold  beim  Kaiser  für  die  Freilassung 
Adalberts  energisch  einzutreten.4)  Da  jedoch  die  Erfüllung 
aller  darauf  gerichteten  Bitten  versagt  wurde,  drangen  ritter- 
mässig  Gewaffnete  und  Volk3)  in  die  kaiserliche  Pfalz  ein. 
Nur  durch  schleunige  Geiselstellung  für  Freilassung  Adalberts 
vermochte  der  Kaiser  sein  und  der  Seinigen  Leben  zu  retten. 
Bald  darauf  wurde  noch  ein  besonderer  Vertrag  zwischen  den 
Mainzern  und  dem  Kaiser  geschlossen.  Sie  versprachen  ihm 
Treue,  falls  er  ihnen  den  Erzbischof  zurückgebe;  für  den  Fall, 
dass  Adalbert  dann  gegen  den  Kaiser  von  neuem  untreu  würde, 
erklärten  sie  sich  bereit,  den  Erzbischof  aus  der  Stadt  zu  ver- 
treiben.*) Da  dies  Versprechen  auch  durch  Geiselstellung  ge- 
sichert wurde,  so  scheinen  die  Mainzer  in  der  That  an  die 

>)  Kolbe  S.  51,  52,  Giesebrecht  S.  841,  B-W  XXV  27. 

*)  Kolb«  R 60. 

*)  Kolbe  8.  62,  63. 

4)  B-W  XXV  36.  Die  Teilnahme  des  Burggrafen  Arnold  folgt  aus  den 
Annalen  von  Pegau  (8.  S.  XVI  p 2531.  Dass  die  Mainzer  sich  zuerst  mit 
Bitten  an  Heinrich  gewandt,  geht  aus  den  Ann.  Patberbrun.  ed.  Scheffer- 
Boichborst  p 181  (=  Annal.  Hildh.  8.  8.  III  113,  Annal.  Colon,  max.  8.  8. 
XVII  751)  hervor,  vgl.  Kolbe  3.  64  N.  1. 

*)  Dies  geht  aus  dem  militum  plebisque  ferventissimo  furore  bei  Ekkehard 
S.  3.  VI  p 249  hervor. 

*)  Daran  wurden  sie  später  vom  Kaiser  erinnert  (Jafft  Bibi.  V p 310), 
vgl.  Kolbe  8.  64  N.  2. 


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232 


Möglichkeit  des  Friedens  zwischen  dem  Kaiser  und  ihrem  Erz- 
bischöfe geglaubt  zu  haben.  Kaum  war  aber  Adalbert  freige- 
lassen, so  kümmerte  er  sich  nicht  mehr  um  die  Treuversiche- 
rungen, die  er  bei  seiner  Freilassung  hatte  geben  müssen ; viel- 
mehr bekämpfte  er  den  Kaiser  noch  heftiger  als  vor  seiner 
Gefangennahme.  Da  die  Mainzer,  trotz  ihres  Versprechens,  Ad- 
alberts neuen  Abfall  vom  Kaiser  nicht  mit  einem  Aufstande 
gegen  den  Erzbischof  beantworteten,  hielt  Heinrich  sich  für 
berechtigt,  sich  an  den  von  ihnen  gestellten  Geiseln  in  grausamer 
Weise  zu  rächen.') 

Bald  darauf,  im  Februar  1116,  begab  sich  der  Kaiser  nach 
Italien,  um  dort  Verständigung  mit  dem  Papste  zu  suchen.*) 
In  Deutschland  führten  unterdessen  Herzog  Friedrich  von 
Schwaben  und  Pfalzgraf  Gottfried  von  Calw  seine  Sache.*) 
Heftige  Kämpfe  fanden  besonders  am  Mittelrhein  statt,  und 
hier  wird  uns  auch  wieder  mehrfach  eine  aktive  Beteiligung 
der  Städter  gemeldet. 

Adalbert  belegte  die  Heinrich  ergebene  Stadt  Speier  mit 
dem  Interdikt  und  den  dortigen  Bischof,  seinen  Bruder  Bruno, 
mit  der  Eicomraunication.1)  Vergeblich  begab  sich  Bruno  zu 

’)  Vgl.  Prvlg.  Adalberts  für  Mains:  alii  tnembris  truncati  redierunt, 
alii  farae,  alii  exilio  depntati,  alii  nnditate  et  corporis  egritudine  preoccapati 
perierunt  (Hegel,  Forsch,  z,  D.  Q.  XX  S.  442;  B-W  XXV  76). 

»)  Vgl.  Kolbe  8.  69,  Giesebrecht  D.  K.  IH  8.  867. 

*)  a.  a.  0.  S.  886. 

4)  Vgl.  den  Brief  des  Bischofs  B.  an  Heinrich  V (Jaffa  Bibi.  V p 321,  322  ; 
B-W  XXV  58).  Anch  Stenzei,  Gesch.  Deutsch!  unter  d.  frSnk.  Kaisern 
(Leipz.  1827)  I 698  nnd  Jaffb  a.  a.  0.  linden  in  B.  Bischof  Bruno  von 
Speier,  während  Giesebrecht  IO  888  nnd  1214  N.  1,  Kolbe  8.  75,  76  und 
Will  a.  a.  0.  Bischof  Burchard  oder  Buggo  von  Worms  für  den  Ver- 
fasser des  Briefes  halten.  Schon  Jaffi  hat  hervorgehoben,  dass  die  Worte 
des  Briefes  meo  labore  et  consilio  coniuraverint  omues  a Worin atia  usque 
Argentinam  auf  das  in  der  Mitte  zwischen  beiden  Diöcesen  gelegene  Speier 
am  besten  passen.  Anch  dass  von  Adalbert  darin  als  von  illo  Moguntino 
gesprochen  wird,  woraus  man  auf  Urheberschaft  Buggos  hat  schliessen  wollen, 
scheint  bei  Adalberts  Bruder  Bruno,  der  damals  sein  politischer  Gegner  ge- 
worden und  von  ihm  gebannt  war,  erklärlich;  ein  Fremder  hätte  sich  in 
einem  Brief  an  den  Kaiser  Uber  ihren  gemeinsamen  Feind  sicher  noch  viel 
schärfer  ausgedrUckt  (vgl.  die  von  der  kaiserlichen  Kanzlei  Uber  Adalbert 
gebrauchten  Ausdrücke  B-W  XXV  27  und  Jaffa  Bibi.  V 311).  Endlich  ist 
noch  zu  bemerken,  dass  die  in  dem  Briefe  hervortretende  entschieden  kaiser- 
liche Haltung  eines  Mainzer  Diöcesanbischofs,  der  nur  durch  seine  Bemühungen, 


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233 


Adalbert  und  suchte  ihn  zur  Zurücknahme  dieser  Kirchen- 
strafen zu  bewegen.  Nach  Brunos  eigener  Aussage  hat  ihn 
Adalbert  als  Gebannten  überhaupt  nicht  vorgelassen.1)  Bald 
darauf  versicherten  sich  die  Bewohner  der  Rheingegend  von 
Worms  bis  Strassburg  durch  gemeinsamen  Eidschwur  ihrer 
Treue  gegen  Heinrich.  Dies  führte  Bruno  auf  seine  eigene  Ver- 
anlassung zurück,  als  er  fürchtete,  der  Kaiser  könne  wegen 
seiner  Reise  nach  Mainz  gegen  ihn  Verdacht  schöpfen.*) 

Zur  Beurteilung  von  Brunos  damaliger  Parteistellung  sind 
wir  freilich  auf  die  in  diesem  Entschuldigungsschreiben  gegebe- 
nen Nachrichten  angewiesen  und  können  nicht  beurteilen,  in 
wie  weit  dieselben  der  Wahrheit  entsprechen.  Die  Thatsache, 
dass  von  einem  missglückten  Überrumpelungsversuch,  den  Adal- 
bert auf  Speier  unternahm,*)  berichtet  wird,  ohne  dass  dabei 
Brunos,  der  ihn  sonst  gewiss  von  der  Stadt  aus  unterstützt  hätte, 
Erwähnung  geschieht,  spricht  allerdings  dafür,  dass  derselbe 
damals  noch  mit  seinen  Bürgern  auf  Heinrich’s  Seite 
stand.  Später  finden  wir  Bruno  freilich  unter  den  Anhängern  Ad- 
alberts.4) 

Bald  entbrannten  auch  um  Worms  heftige  Kämpfe.  Hier- 
her hatten  sich  Juli  1116  Friedrich  von  Staufen  und  Pfalzgraf 
Gottfried  begeben;  Anfang  August  rückten  dann  Adalbert  und 
andere  Heinrich  feindliche  Fürsten  vor  die  Stadt.5)  Während 
die  genannten  Führer  über  einen  Waffenstillstand  beratschlag- 
ten, machten  die  Wormser  — wohl  um  das  Zustandekommen 
eines  solchen  zu  verhindern  — ohne  Wissen  der  Fürsten  einen 
Aasfall,  wurden  aber  zurückgeschlagen. 

Weitere  Kämpfe  wurden  jedoch  in  dieser  Gegend  durch 
einen  bald  darauf  geschlossenen  Waffenstillstand  verhindert.*) 

sich  vom  Banne  zu  lösen,  dem  Kaiser  verdächtig  geworden,  bei  Bruno  wahr- 
scheinlicher als  bei  Buggo  ist,  gegen  den  Heinrich  kurz  vorher  einen  Gegen- 
bischof aufgestellt  hatte,  vgl.ZornS.54,SchannatI  3öO,  Arnold,  V.  G.  1 203. 

')  Jaffb  Bibi.  V p 322. 

*)  ibid. 

*)  vgl.  Heinrichs  Brief  an  die  Mainzer  (Jaffe  ibid.  p 311).  Kolbe 
setzt  freilich  dies  Unternehmen  vor  die  Eicommunication,  vgl.  aber  dagegen 
Schum  in  Götting.  gelehrte  Anzeigen  1873  S.  1062. 

4)  So  nahm  er  z.  B.  an  der  Synode  der  Heinrich  feindlichen  Bischöfe 
zu  Fritzlar  am  28.  Juli  1118  teil  (B-W  XXV  73). 

4)  vgl.  Giesebrecht  S.  886,  Kolbe  S.  71  B-W  XXV  63. 

*)  ibid. 


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234 


Nicht  viel  später  kam  cs  aber  in  Mainz  zu  einem  Auf- 
stande, bei  dem  Adalbert  vertrieben  wurde.1)  Es  ist  entschie- 
den bedeutungsvoll,  dass  sich  nun  auch  hier  die  Solidarität  der 
städtischen  Interessen  geltend  machte;  hatten  doch  früher  ge- 
rade die  Mainzer  die  Rückkehr  Adalberts  von  Heinrich  V.  erzwun- 
gen und  hatte  dieser  sich  doch,  wie  erzählt  ist,  an  einem  Teile 
der  von  den  Mainzern  gestellten  Geiseln  grausam  gerächt.*) 
Vielleicht  ist  dieser  Aufstand  auch  zum  Teil  mit  auf  die  Be- 
mühungen Bischof  Brunos  von  Speier  zurückzuführen,  der  dem 
Kaiser  früher  mitgeteilt,  dass  er  die  vornehmsten  unter  den 
Mainzern  für  ihn  gewonnen  habe.*) 

Voll  Freude  über  diesen  Aufstand  sandte  der  Kaiser  so- 
gleich ein  Belobigungsschreiben  an  Clerus  und  Laien  in 
Mainz;*)  beachtenswert  ist,  dass  letztere  dabei  als  Mogonti- 
nensis  ecclesiae  cives  bezeichnet  werden.  Es  findet  sich 
auch  keine  Spur  davon,  dass  der  Kaiser  die  Stadt  etwa  unab- 
hängig vom  Erzbistume  machen  wollte.  Vielmehr  verspricht 
Heinrich  in  diesem  Briefe  den  Bürgern,  falls  sie  sich  ihm  dau- 
ernd treu  erweisen  würden,  nur  seine  besondere  Zuneigung  und 
volle  Verzeihung  für  ihr  früheres  gewaltsames  Eintreten  zn 
Gunsten  Adalberts.  Dieser  wird  als  Eidbrüchiger  und  Verräter 
bezeichnet,  der  nicht  nach  Verdienst,  sondern  nur  dem  Namen 
nach  Bischof  sei.  Ganz  besonders  werden  die  Bürger  davor 
gew'arnt,  ihn  wieder  in  ihre  Stadt  aufzunehmen.5) 

Dieser  Brief  hat  aber  wohl  Mainz  überhaupt  erst  erreicht, 
als  sich  der  Erzbischof  wieder  der  Stadt  bemächtigt  hatte. 
Bald  nach  seiner  Vertreibung  griffen  nämlich  seine  Verbündeten 
eine  Abteilung  der  Bürger  unvermutet  an,  tödteten  einige  ihrer 
Führer  und  nahmen  die  übrigen  gefangen.  Darauf  zog  Aldal- 
bert  wieder  in  die  Stadt  ein.6) 

Im  folgenden  Jahre  rückte  Herzog  Friedrich  vor  Mainz 
und  belagerte  es;  von  einem  Sturme  auf  die  Stadt  stand  er 


‘)  Annalista  Saxo  S.  8.  VI  p 78. 

*)  Vgl.  oben  S.  232  N.  L 

•)  Jaff6  Bibi.  V p 322,  vgl.  oben  S.  232  N.  4. 

*)  Ja ffi  Bibi.  V p 310.  Fälschlich  bezeichnet  B-W  XXV  56  diesen 
Brief  als  Beschwerden  Heinrichs  bei  den  Mainzer  Clerikern. 

*)  ibid. 

*)  B-W  XXV  57, 


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235 


ab,  nach  Otto  von  Freisings  Meinung,  um  ihre  Heiligtümer 
nicht  der  Gefahr  der  Zerstörung  auszusetzen,  *)  Der  Erzbischof 
bewog  auch  bald  durch  trügerische  Unterhandlungen  und  Ver- 
sprechungen den  Herzog  zum  Abzüge;  sobald  dieser  aber  auf- 
gebrochen, liess  er  ihn  von  den  Seinigen  verfolgen.*)  In  dem 
so  entstehenden  Kampfe  kamen  aber  auch  viele  der  Städtischen 
um,  und  nur  mit  Unwillen  ertrug  die  Bevölkerung,  die  den 
Verlust  ihrer  Verwandten  und  Freunde  und  die  vielfache  Be- 
drängnis der  Stadt  mit  Recht  Adalbert  zuschrieb,  noch  länger 
die  Herrschaft  desselben.5)  Um  so  wichtiger  war  es  für  den 
Erzbischof,  sich  die  Gunst  der  städtischen  Bevölkerung  wieder- 
zugewinnen. Dies  scheint  ihm  auch  durch  das  Privileg  von 
1118  gelungen  zu  sein,  worin  er  alle  Einwohner  von  Mainz  von 
Gerichten  und  Beden  auswärtiger  Vögte  und  von  allen  Steuer- 
leistungen, denen  sie  nicht  selbst  zustimmen  würden,  befreite.4) 
Es  ist  bemerkenswert,  dass  wie  Mainz  auch  Erfurt  Adalbert 
ein  Privileg  verdankt,  worin  die  Bürger  gegen  übermässige 
Geldforderungen  geschützt  wurden.5)  Auch  bei  den  kaiserlichen 
Privilegien  für  Speier  und  Strassburg  hat  Adalbert  mitgewirkt.*) 
Die  Urkunde  Heinrichs  V.  für  Speier  hat  er  noch  als  Kanzler 
desselben  recognosciert,  die  Lothars  für  Strassburg  als  Reichs- 
erzkanzler und  erster  Zeuge  unterschrieben.7)  Besondere  Be- 
ziehungen Adalberts  zur  Wormser  Bürgerschaft  sind  schon 
oben*)  erwähnt. 

In  dem  Mainzer  Privileg  von  1118  gab  nun  Adalbert  den 
Einwohnern  seiner  Residenz  zunächst  einen  Teil  der  Rechte, 


>)  ibid.  63. 

*)  ibid. 

*)  Otto  Fris.  Gesta  Frid.  I c 13.  (S.  S.  XX  p 359):  Cives,  qni  paren- 
tes  et  amicos  in  illa  caede  amUerant,  tanta  cordis  amaritudine  affecti  erant, 
nt  pene  in  proprium  episcopnm,  Teint  huius  concusnionis  anctorem,  irruerent. 
‘)  Hegel  Forsch,  z.  D.  G.  XX  8.  442  ff;  B-W  XXV  76. 

•)  B-W  XXV  102,  Beyer,  Urkb.  v.  Erfurt  (Halle  1889)  Nr.  13. 

*)  Sp.  D.  14;  Wiegand  Strassb.  Urkb.  I N.  78  S.  61. 

*)  Tgl.  Hegel  Forsch,  a.  D.  G.  XX  S.  437.  Auch  kann  wohl  die  Ver- 
mutung ausgesprochen  werden,  dass  bei  der  Urkunde  Heinrichs  V.  für  Speier 
die  Einwilligung  des  dortigen  Bischofs  Bruno,  des  Bruders  Adalberts,  in  die 
Nachteile,  die  das  PriYileg  seinen  Rechten  und  Einkünften  sufttgte,  Ad- 
alberts Vermittlung  EUzuschreiben  ist, 

•)  8.  230. 


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236 


welche  mit  seiner  Mitwirkung  Heinrich  V.  1111  den  Speierern 
verliehen  hatte ; dann  fügte  er  noch  das  Steuerbewilligungsrecht 
in  den  absichtlich  gewühlten  Bibelworten  hinzu: 

quare  cui  tributum,  tributum,  cui  vectigal,  vectigal  gra- 
tis, nullo  exigente,  persolverent.1) 

Aller  Wahrscheinlichkeit  nach  hat  Adalbert  diese  Bibel- 
worte absichtlich  gewählt,  um  damit  auch  in  den  Burgern 
anderer  Städte  die  Hoffnung  zu  erwecken,  dass  sie  gerade 
durch  Anschluss  an  die  kirchliche  Partei  ihre  auf  Erweiterung 
der  communalen  Rechte  gerichteten  Bestrebungen  am  besten 
erreichen  würden.  So  legte  Adalbert  sowohl  als  kaiserlicher 
Staatsmann,  wie  als  Führer  der  aufständischen  Fürsten  darauf 
Gewicht,  den  Handelsstand  für  seine  Interessen  zu  gewinnen. 
Damit  stimmt  überein,  dass  er  ein  für  seine  Zeit  höchst  sel- 
tenes Verständnis  für  die  Wichtigkeit  des  Handelsverkehrs  be- 
kundet, indem  er  in  Mainz  gegen  die  Heinrich  treu  gebliebenen 
Städte  Kampfzölle  einführte.*)  Mag  unter  diesen  Kampfzöllen 
auch  Mainz  selbst  gelitten  haben,  so  mussten  sie  doch  die 
Hilfsmittel  Heinrichs  und  besonders  die  Ausdauer  der  ihn  unter- 
stützenden Städte  schwächen.  So  wenig  Adalberts  Charakter 
Sympathie  zu  erwecken  vermag,  so  erregt  doch  gerade  sein 
Verständnis  für  wirthschaftliche  Verhältnisse  und  sein  von  Er- 
folg gekröntes  Streben,  auch  unter  den,  früher  durchaus  kaiser- 
lich gesinnten,  Städtern  Anhänger  zu  erwerben,  Bewunderung. 
Ist  Adalbert  von  Gieseb  recht  als  „Meister  in  der  Staatskunst 

')  Will  macht  darauf  aufmerksam,  daas  diese  Worte  Pauli  epist.  ad 
Eom.  cap.  13  vers  7 entnommen  sind  (B-W  XXV  76).  Au«  dieser  Thatsacbe 
erklärt  sich  die  Wahl  dieses,  für  die  Mainzer  Verhältnisse  entschieden  dunkelen, 
Ausdrucks.  Zur  Zeit  der  Verleihung  des  Privilegs  ist  er  wohl  so  verstanden, 
dass  neue  Steuern  und  Zölle  nur  mit  Zustimmung  der  communalen  Stadt- 
behörde erhoben  werden  sollten.  So  auch  Hegel  Mainz  S.  26,  26.  Wäre 
mit  dem  Satze  nur  gemeint,  man  solle  nicht  unbefugter  Weise  Zölle  und 
Steuern  fordern,  wie  BockenheimerS.  18  behauptet,  so  wäre  er  ganz  nichts- 
sagend. Jedenfalls  wurde  aber  schon  in  der  Mitte  des  zwölften  Jahrhunderts, 
wie  im  nächsten  Capitel  gezeigt  werden  wird,  in  diesen  Worten  die  Gewährung 
völlige  r Steuerfreiheit  gefunden,  die  Adalbert  entschieden  nicht  gemeint  hatte. 

*)  Es  geht  dies  aus  einer  Urkunde  Erzbischof  Arnolds  von  Mainz  fftr 
die  Bürger  von  Duisburg  vom  Jahre  1165  hervor,  in  welcher  dieser  den  Zoll 
aufhob,  den  Adalbert  ihnen  1121  „non  ob  suam  culpam,  sed  propter  domni 
sui  videlicet  regis  inuidiam*  auferlegt  hatte  (Lacomblet  Niederrh.  ürkb.  I 
N.  382,  S.  264),  vgl.  B-W  XXV  % u.  XXIX  13,  Kolbe  142,  143. 


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237 


jener  Zeiten“  bezeichnet  worden,1)  so  muss  die  hier  beobachtete 
Erkenntnis  der  Wichtigkeit  des  Handels  und  des  Handelsstandes, 
welche  sich  an  Adalbert  wahrnehmen  lässt,  die  Achtung  vor 
seiner  staatsmftnnischen  Begabung  entschieden  noch  erhöhen. 

Wohl  als  Folge  dieser  bürgerfreundlichen  Politik  Adalberts, 
insbesondere  des  erwähnten  Privilegs  von  1118  kann  es  be- 
trachtet werden,  dass  die  Mainzer  noch  in  demselben  Jahre 
mit  dem  sächsischen  Heere  das  kaiserlich  gesinnte  Oppenheim 
zerstörten.*)  Während  Worms  und  Speier  ihre  Bischöfe,  welche 
zur  antikaiserlichen  Partei  übergegangen  waren,  vertrieben 
hatten,*)  zeigten  sich  die  Mainzer,  als  sich  der  Kaiser  im  Juni 
1 121  ihrer  Stadt  näherte,  bereit,  für  Adalbert  eine  Belagerung 
auszuhalten.1)  Jedoch  ist  es  dazu  nicht  gekommen,  vielmehr 
wurde  damals  ein  Reichstag  zu  Würzburg  zur  Wiederherstellung 
des  inneren  Friedens  in  Deutschland  verabredet.5)  Aus  den 
Beschlüssen  desselben  ist  hier  besonders  hervorzuheben,  dass, 
während  alle  anderen,  nach  den  Ordnungen  der  Kirche  gewählten 
und  consecrierten,  Bischöfe  in  ihre  Städte  zurückkehren  durften, 
der  Bischof  von  Worms,  Buggo,  seiner  Residenz  noch  fem- 
bleiben  musste.*) 

Auch  später,  nach  dem  Wormser  Concordat,  liess  der  Kai- 
ser diesen,  ihm  offenbar  besonders  verhassten,  Bischof  nicht  in 
seine  Stadt  heimkehren.  Vielmehr  wurde  Worms  damals  von 
der  ausserhalb  der  Mauern  gelegenen  Pfalz  aus  durch  kaiser- 
liche Beamte  verwaltet.7)  Zwischen  diesen  und  den  Städtern 
entstanden  jedoch  bald  heftige  Streitigkeiten  und,  als  Heinrich 
im  August  1124  auf  einem  Zuge  gegen  Frankreich  Metz  bela- 
gerte, hieben  die  Wormser  mehrere  seiner  Leute  nieder,  zer- 
störten die  Pfalz  und  riefen  Buggo  wieder  zurück.  Friedrich 


•)  D.  K.  IV  8.  6. 

*)  Ann.  Pegav.  (8.  8.  XVI  p 253  Z.  49). 

•)  Ekkebardi  Chron.  1121  (8.  8.  VI  p 267). 

*)  ibid. 

*)  Anaal.  Saxo  (8.  3.  VI  p 757),  vgl.  Kolbe  8.  104. 

*)  Vgl.  Giesebrecbt  D.  K.  HI  8.  932.  977. 

^ Vgl.  hierzu  und  zum  folgenden:  Ekkeh.  Chron.  (8.  8.  VI  p 262  263.); 
Annal.  Colon,  mai.  (8.  & XVII  p 763);  Otto  Fri».  Chron.  Lib.  VII  e 16  (8. 
3.  XX  p 256)  »owie  Gieaebrecht  a.  a.  0.,  Arnold  V.  O.  I,  8.  204,  205. 


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von  Schwaben,  der  Schwiegersohn  und  präsumptive  Nachfolger 
des  Kaisers,  scheint  bei  dieser  Erhebung  beteiligt  gewesen 
zu  sein;  jedenfalls  hofften  die  Wormser  wohl  auf  seine  Unter- 
stützung.1) 

Auf  die  Nachricht  von  diesen  Ereignissen  kehrte  der 
Kaiser  sofort  zurück,  und  es  kam  zur  Belagerung  von  Worms. 
Ein  Ausfall  der  Städter  wurde  zurückgeschlagen;  die  bei  dieser 
Gelegenheit  gemachten  Gefangenen  liess  der  Kaiser  als  Rebellen 
verstümmeln  und  blenden  und  sie  so  in  die  Stadt  zurück- 
schicken. Da  hier  zuletzt  auch  der  Proviant  ausging,  mussten 
die  Wormser  es  noch  als  Gnade  ansehen , dass  Heinrich 
ihnen  gegen  das  Versprechen  von  5000  Pfand  Silbers 
verzieh.*) 

Wenn  die  Veranlassungen  dieses  Wormser  Aufstandes  auch 
wohl  zufällige  gewesen  sind,  so  weist  doch  die  Teilnahme  der 
ganzen  Bevölkerung  und  die  Begnadigung  seitens  de3  Kaisers 
gegen  das  blosse  Versprechen  einer  Contribution  darauf 
hin,  dass  die  Stadt  eine  geordnete  Regierung  besass  und 
die  Mitglieder  derselben  auch  als  Vertreter  der  Stadt  anerkannt 
waren. 

Damit  wären  wir  ans  Ende  der  Regierung  Heinrichs  V. 
gelangt.  Unter  seinem  Nachfolger  Lothar  wird  von  unseren  drei 
Städteu  nur  Speier  in  der  politischen  Geschichte  erwähnt. 
Gleich  den  Bürgerschaften  der  übrigen  deutschen  Städte  *)  sahen 
auch  die  Speierer  in  den  beiden  Staufern,  den  Herzögen  Kon- 
rad  und  Friedrich  von  Schwaben,  und  nicht  in  Lothar  die 
rechtmässigen  Nachfolger  der  Salier;  für  die  Staufer  ertrugen 
sie  zwei  Belagerungen  des  Königs.4)  Ja  Speier  galt  damals 


*)  Ekkehard  I.  c.  berichtet  darüber:  Niinciatur Wormatienses 

anxilio  ducis  Friderici  contra  volnntatem  imperatoris  Buggonem  . . . 
sedi  suae  restituisse.  Gegen  die  Richtigkeit  dieser  Erzählung,  die  Ekkehard 
ja  auch  nur  als  Bericht  wiedergiebt,  spricht,  dass  Friedrich  bei  diesen  Worm- 
ser Ereignissen  nicht  weiter  erwähnt  wird,  andrerseits  war  er  damals  wirklich 
mit  dem  Kaiser  zerfallen  vgl.  Giesebrecfat  S.  976. 

*)  Ekkehard  1.  c.  Die  annal.  Colon,  max.  1.  c.  sprechen  von  bina  mar- 
carum  tnilia. 

•)  vgl.  Arnold  V.  G.  I,  S.  205  ff. 

4)  a.  a.  0.  S.  206,  207,  Bernhard!  Jahrb.  Lothars  S.  194,  244—246,  Giese- 
brecht  IV  S.  32,  36,  36. 


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239 


als  Mittelpunkt  der  Staufiscken  Macht;  die  bald  nachher  ent- 
standene Kaiserchronik  *)  bezeichnet  es  geradezu  als  die  Haupt- 
stadt der  geächteten  Staufer. 

Fassen  wir  jetzt  das  politische  Verhalten  unserer  drei 
Städte  in  der  hier  behandelten  Periode  noch  einmal  kurz  zu- 
sammen. In  der  Zeit  Heinrichs  IV.  sahen  wir  alle  drei  die 
Sache  des  Kaisers  auf  das  treueste  unterstützen.  Unter  seinem 
Sohne  steht  dagegen  nur  das  von  diesem  ganz  besonders  be- 
günstigte Speier  stets  auf  kaiserlicher  Seite;  Mainz  und  Worms 
sind  damals  durch  die  gewandte  Politik  seines  Gegners  Adal- 
bert, vielleicht  auch  durch  einige  Missgriffe  des  Königs  und  die 
Erinnerung  an  sein  Benehmen  gegen  seinen  Vater  zeitweise 
auf  die  Seite  der  kirchlichen  Partei  geführt  worden.  Die  letzte 
Erhebung  von  Worms  gegen  Heinrich  V.  ist  ausser  durch  diese 
Momente  auch  noch  durch  die  Hoffnung  auf  die  Unterstützung 
des  präsumptiven  Thronfolgers,  Friedrich  von  Staufen,  zu 
erklären.  Der  Umstand,  dass  man  in  Friedrich  und  seinem 
Bruder  Kourad  die  wirklich  zum  Throne  berechtigten  sah, 
erklärt  endlich  das  politische  Verhalten  Speiers  zur  Zeit 
Lothars. 

So  zeigen  sich  unsere  Städte  im  grossen  und  ganzen  dem 
Salischen  Königshause  treu  ergeben;  gleiche  Treue  haben 
sie  auch  seinen  legitimen  Nachfolgern,  den  Staufern,  bewiesen. 

Man  hat  die  politische  Anhänglichkeit  unserer  Städte  an 
das  Salisch-Staufische  Kaiserhaus  und  besonders  ihr  mutvolles 
Eintreten  für  Heinrich  IV.  damit  in  Verbindung  gebracht,*) 
dass  die  alten  Stammsitze  der  Salier  am  Mittelrhein,  also  in 
der  Nähe  unserer  Städte,  gelegen  sind,  von  denen  auch  Speier 
und  Worms  selbst  früher  unter  der  Herrschaft  der  Vorfahren 
der  Salier  gestanden  haben.  Mag  auch  dieser  Umstand  von 
einiger  Bedeutung  sein,  so  reicht  er  doch  zur  Erklärung  der 
politischen  Stellungnahme  der  Städter  nicht  aus.  Nicht  nur  am 
Mittelrhein,  sondern  auch  in  Köln,  Regensburg,  Würzburg, 
Lüttich  und  Goslar  treten  ja  die  städtischen  Bürgerschaften 


*)  cd.  M&ssmami  (Quedlinb.  1849)  Bd.  II  S.  623  v.  17073  ff:  Eine  borc 

heizet  Spire wände  sie  der  achtaere  honbetst&t  was  vgl.  Bernhardi 

a.  a.  O.  S.  246. 

*)  vgl.  z.  B.  Scbanbe  Worms  S.  263. 


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240 


begeistert  für  Heinrich  IV.  ein,1)  während  der  Bauernstand  ge- 
rade da,  wo  er  allein  noch  Kriegstüchtigkeit  bewahrt  hatte, 
nämlich  in  Sachsen,  auf  Seite  des  rebellischen  Adels  focht.*) 
Die  insbesondere  von  Arnold  und  Heusler*)  vertretene  An- 
sicht, es  hätten  in  der  Mehrzahl  der  genannten  und  so  auch 
in  unseren  Städten  altfreie  Gemeinden  die  Gelegenheit  benutzt, 
das  bischöfliche  Joch  abzuwerfen  und , da  die  Bischöfe  die 
Reichspflichten  nicht  mehr  erfüllten,  diese  selbst  übernommen, 
steht  sowohl  mit  dem,  was  sich  aus  der  Zusammensetzung  der 
Bevölkerung  in  unseren  Städten,  als  mit  dem,  was  sich  aus  den 
politischen  Ereignissen  in  dieser  Hinsicht  schliessen  lässt,  in 
schärfstem  Widerspruche. 

Es  muss  also  eine  andere  Erklärung  für  das  Eintreten 
der  städtischen  Bürgerschaften  zu  Gunsten  Heinrichs  IV.  er- 
mittelt werden.  Nach  unseren  früheren  Ausführungen  ist  es 
in  hohem  Grade  wahrscheinlich,  dass  das  Verhältnis  zwischen 
bischöflichen  Stadtherrn  und  den  leitenden  kaufmännischen 
Kreisen  der  Städte  durch  die  Verschiedenheit  ihrer  Rechts- 
anschauungen viele  Störungen  erfahren  hatte. 

Ferner  liegt  es  auch  sehr  nahe,  anzunehmen,  dass  der 
Handelsstand  selbst  fühlte,  dass  seine  Interessen  durch  ein 
starkes  Kaisertum  gefördert,  durch  Erweiterung  der  Territorial- 
fürstenmacht geschädigt  werden  mussten.  Was  nun  diese  That- 
sache  selbst,  nämlich  die  Wichtigkeit  einer  kräftigen  Reicbs- 
gewalt  für  den  erblühenden  Handel,  anbetrifft,  so  mag 
für  ihr  Vorhandensein  hier  zunächst  auf  jenes,  allerdings 
nur  aus  einzelnen  Spuren  erkenntliche,  Streben  der  Reichs- 
regierung  verwiesen  werden,  die  Verübung  von  Zollbedrückungen 


l)  vgl.  Arnold  V.  G.  I S.  161 — 164.  Wenn  die  Bürger  von  Goslar  1073 
auf  Seite  von  Heinrichs  Gegnern  kämpfen , so  geschah  es  doch  vornehmlich 
nur,  weil  ihnen  seine  Dienstmannen  ihre  Heerden  geraubt  hatten,  vgl.  Carmen 
de  bello  Saxonico  1.  I v.  193  ff  (S.  S.  XV  p.  1122,  1123,  Lamberti  annales  in 
8#  p 134,  135.  Im  Jahre  1088  haben  sich  ja  die  Bürger  Goslars  für  Hein- 
rich IV  erhoben  (vgl.  Arnold  I 159). 

*)  oben  S.  204.  N.  6. 

*)  vgL  ausser  den  oben  S.  26,  27  angeführten  Stellen  noch  Arnold 
S.  148,  Both  von  Schreckenstein,  Patriziat  (Tübingen  1856)  S.  97  ff., 
welch  letzterer  allerdings  ausser  den  Altbürgern  auch  die  reichgewordenen  Kauf- 
leute sich  gegen  die  Bischofsherrschaft  auflehnen  lässt. 


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241 


an  dem  Reiche  angehötigen  Kaufleuten  seitens  der  Lokalge- 
walten zu  verhindern.  So  ermässigte  z.  B.  Heinrich  V auf  die 
Klage  der  Bürger  von  Utrecht,  dass  die  ihre  Stadt  besuchenden 
Kaufleute  durch  hohe  Forderungen  bedrückt  würden,  welche  mit 
.Herkommen  und  Vernunft“  in  Widerspruch  ständen,  die 
dortigen  Zollabgaben  und  setzte  einen  neuen,  der  Gewohnheit 
und  Billigkeitsrücksichten  entsprechenden,  Tarif  fest.*)  Ferner 
ist  uns  von  Friedrich  I ein  Einschreiten  gegen  ungerechte,  auf 
dem  Maine  erhobene,  Zölle  vom  Jahre  1157  überliefert.*)  Ganz 
besonders  kommen  hier  endlich  jene  Urkundenstellen  in  Betracht, 
in  denen  es  ausgesprochen  ist,  dass  die  mercatores  imperii  oder 
die  mercatores  (institores)  urbium  regalium  d.  h.  alle  dem  Reiche 
angehörenden  Kaufleute  in  ihren  Reisen  nicht  gehindert  werden 
dürfen  und  nur  zu  bestimmten  Zöllen  verpflichtet  sind.  Freilich 
wollte  Nitz  sch’)  in  den  institores  urbium  regalium  eine  be- 
sondere Bevölkerungsklasse  sehen,  nämlich  mit  dem  Absätze 
der  Überschüsse  der  Naturalerträge  der  Domänen  zu  eigenem 
Rechte  betraute  Beamte;*)  doch  genügt  es,  zur  Widerlegung 
dieser  Ansicht  auf  die  Heuslerschen  Ausführungen6)  zu  ver- 
weisen. Nitzsch  führt  ja  auch  zum  Nachweise  der  Existenz 
dieser  Bevölkerungsklasse  nur  eine  einzige  Urkunde  an,  in  der  wir 
wirklich  institores  urbium  regalium  erwähnt  finden,  das  Privileg 
Ottos  III  für  das  Erzbistum  Hamburg-Bremen  von  988  März  16.*) 
Hier  wird  dem  Erzbischof  unter  anderen  Begünstigungen  auch 
bestätigt,  dass  denjenigen  Einwohnern  von  Hamburg,  die  Kauf- 
leute seien,  die  Rechte  der  institores  ceterarum  urbium  regalium 


')  St.  3179,  Höhlbaum,  Hang.  Urkb.  I S.  6 N.  8 , vgl.  Waitz  V.  Q.  VTU 
S.  297. 

*)  L.  L.  n p.  100,  101. 

*)  MinisterialitSt  8.  187—193,  bes.  S.  187. 

4)  ln  dieser  Bevölkerungsclasse  findet  Nitzgeh  dann  bekanntlich  die 
Nachkommen  der  karolingischen  scararii  und  den  Kern  der  späteren  städtischen 
Bürgerschaft,  (a.  a.  0.  bes.  S.  191). 

*)  Ursprung  S.  108,  109.  Ganz  besonders  sei  an  die  treffende  Heran- 
ziehung der  Urkunde  Karl  des  Grossen  für  Strassburg  (jetzt  Boehmer-MUhl- 
bacher  N.  195)  erinnert. 

*)  8t.  912,  Ehmck  u.  v.  Bippen, Bremisches  Urkb.  (Bremen  1873)  N.  14,  8. 15. 
Derselbe  Ausdruck  findet  sich  in  dem  darin  als  Vorurkunde  benutzten  Privileg 
Ottos  I für  das  Erzbistum  von  965  Aug.  10.  (8t.  407,  D.  D.  I N.  307  p.  422,  423). 

Ko  ebne,  Ursprang  der  S tedtverfueang  in  Worms,  Speierund  Mainz.  IS 


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242 


per  regnum  zustehen  sollen.1)  Dass  nun  mit  diesem  Ausdrucke 
einfach  die  Deutschen  Kaufleute  gemeint  sind,  geht  aus  der 
von  Nitzsch*)  selbst  angeführten  Thatsaehe  hervor,  dass  in 
einer  späteren  fast  wörtlichen  Bestätigung  dieser  Urkunde  durch 
Heinrich  II  es  das  Recht  der  maiorum  civitatum  institores  ist, 
das  in  derselben  Weise  zum  Vergleich  herangozogen  ist.5) 
Worin  nun  diese  Rechte  der  Reichskaufleute  bestanden,  geht 
klar  aus  einer  Urkunde  Konrads  II  für  Asti  von  1037  Juni  18 
hervor.4)  Danach  hatte  nämlich  der  dortige  Bischof  den  König 
gebeten,  den  Bürgern  von  Asti  den  Durchzug  durch  alle  Pässe 
zu  gestatten,  durch  welche  er  den  übrigen  Reichskaufleuten 
zum  Erwerbe  ihres  Lebensunterhaltes  freistände.5)  Der  Kaiser 
verordnet  darauf,  dass  kein  Beamter  den  Kaufleuten  aus  Asti 
irgend  welche  Nachteile  zufügen  oder  von  ihnen  höheren  Zoll 
fordern  dürfe,  als  auch  andere  Reichskaufleute  ordnungsmäßig 
zu  zahlen  hätten.5)  So  findet  sich  entschieden  auch  schon  vor 
dem  Mainzer  Landfrieden  von  1235,  in  welchem  ausdrücklich 
bestimmt  wird,  dass  niemand  ohne  kaiserliche  Genehmigung 
neue  Zölle  einführen  oder  bestehende  erhöhen  dürfe,7)  ein 
Streben  der  Reichsregierung,  Zollbedrückungen  seitens  der  Par- 
ticulargewalten  zu  verhindern.  Diese  Thatsaehe  steht  auch  mit 
der,  insbesondere  von  Lampreeht8)  hervorgehobenen,  Erschei- 


')  a.  a.  0.:  quin  etiam  negotiatores,  eiusdem  incolaa  loci,  nostrae  tui- 
tionia  patrocinio  condonavimus,  precipientes  hoc  imperatoriae  anctorit&tis 
precepto , quo  in  omnibus  tali  patrocinentur  tutela  et  potiantur  iure,  quali 
ceterarum  regalium  institores  urbium  per  nostrum  regnum  potiri  noscuntnr. 

')  S.  187. 

*)  St.  1637,  Ebmck  a.  a.  0.  N.  16,  S.  16:  tali  tutela  et  iure  poti- 
antur, quali  maiorum  videlicet  civitatum  institores  per  nostrum  regnum  potiri 
noscuntur. 

4)  Histor.  Patr.  Monum.  (Aug.  Taur.  1836)  Chart,  t.  I p.  513  N.  300. 
Der  von  S t u m p f 2093  gegen  die  Echtheit  dieser  Urkunde  erhobene  Zweifel  ist 
von  Br  essl  a u Kanzlei  Konrads  II  (Berlin  1869)  S.  150  N.  237  zurückgewiesen. 

*)  *•  a.  0.:  . . . per  quas  ceteri  mercatores  nostri  imperii  uitae 
praesentis  solent  conquirere  subsidium. 

*)  a.  a.  0.  p.  614:  ab  eis  aliquidyeiigere  praesumat  propter  (=  praeter) 
Thelonea  per  regnum  nostrum  imperialiter  statuta,  que  etiam  ceteri  nostri 
Imperii  mercatores  iure  legali  hactenus  solvebant. 

*)  L.  L.  II  p.  315  § 6. 

•)  D.  W II  S.  272,  273.  Die  Frage,  ob  das  Zollerhebungsrecht  im 
eigentlichen  Mittelalter  als  königliches  oder  grundherrliches  galt  (s.  die  ent- 


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243 


nung  nicht  in  Widerspruch,  dass  das  Königtum  sich,  ohne  auf 
die  Bedürfnisse  des  Handels  Rücksicht  zu  nehmen,  bis  zur 
Wende  des  12.  und  13.  Jahrhunderts  mit  Zollvergabungen  all- 
zu freigebig  zeigte  und  sich  seit  dieser  Epoche  mit  geistlichem  und 
weltlichem  Fürstentum  „um  die  Wette  um  Anlegung  neuer 
Zollstätten  und  Erweiterung  der  alten“1)  bemühte. 

Aus  diesem  Grunde  muss  man  freilich  annehmen,  dass 
noch  mehr  als  anf  den  inländischen  Handel  die  Stellung  des 
Deutschen  Kaisertums  auf  den  Handel  mit  dem  Auslande  Ein- 
fluss übte.  Für  diese  Behauptung  kann  es  genügen,  Beispiels 
halber  auf  eine  englische  Zollordnung  zu  verweisen,  nach  der 
in  London  von  der  Mitte  des  zehnten  bis  zur  Mitte  des  elften 
Jahrhunderts  die  homines  imperatoris  anderen  fremden  Kauf- 
leuten gegenüber  besonders  bevorrechtet  waren.*)  Auch  ist  uns 
wenigstens  ein  Beispiel  von  diplomatischem  Eintreten  des 
Reiches  zu  Gunsten  seiner  Kaufleute  überliefert.  Im  Jahre 
1 164  oder  65  schrieb  der  kaiserliche  Kanzler  Christian  Deutscher 
Kaufleute  wegen,  die  der  vicecomes  von  Mäcon  ihres  Gutes 
beraubt,  an  König  Ludwig  von  Frankreich  und  verlangte  drin- 
gend die  Auslieferung  der  confiscierten  Waaren  und  eines  in 
Haft  gehaltenen  Deutschen.3) 

So  erklärt  sich  die  politische  Stellungnahme  der  Städte  am 
leichtesten  aus  den  Gefühlen  und  Gewerbeinteressen  des,  in 
ihnen  massgebenden,  Kaufmannstandes.  Aus  Erbitterung  über 
die  Eingriffe  der  bischöflichen  Stadtherren  in  ihre  Rechtsent- 
wicklung nnd  in  dem  Gefühl,  dass  ihr  eigener  Vorteil  eine 
starke  Reichsgewalt  erheische,  haben  die  Städte  — soweit 
nicht  particulare  Interessen  und  Abneigung  gegen  Heinrich  V 
in  Betracht  kamen  — die  Sache  des  salisch-staufischen  Hauses 
aufs  eifrigste  verteidigt.  Diesen  Motiven  der  politischen  Thätig- 
keit  der  Städte  entspricht  es  auch,  dass  die,  ihnen  für  ihre 
Unterstützung  von  den  Kaisern  verliehenen,  Urkunden  teils 


gegenstehenden  Ansichten  von  Waitz  V.  Q.  VIII  8.  303  und  Lamprccht 
a.  a.  0.  271)  berührt  unsere  Untersuchung  nicht. 

*)  Lamprecht  II  S.  273. 

*)  Höhlbaura  Hans.  Urkb.  I N.  2,  S.  2,  vgl.  auch  ibid.  III  S.  380  ff. 

*)  BQsching,  Hagazin  für  die  neue  Historie  und  Geographie  XIII  (Halle 
1779) S.  536 N.  XVI.  Zur  Datierung  dieses  Briefes  vgl.  Varrentrapp,  Erzb. 
Christian  I von  Mainz  (Berlin  1867)  8.  140  N.  1,  ferner  B-W  Bd.  II  Einl  S.  X. 

is* 


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244 


Zollprivilegien,  teils  Sicherung  specifisch  städtischer  Rechtsent- 
wicklung enthalten.1) 

So  lassen  sich  die  Beweggründe,  welche  die  Städter  zu 
ihrer  lebhaften  Teilnahme  an  den  Bürgerkriegen  bestimmten, 
bei  Erforschung  dieser  politischen  Ereignisse,  wenigstens  bis 
zu  einem  gewissen  Grade  erhellen;8)  dabei  haben  sich  uns 
auch  einzelne  für  Erkenntnis  der  städtischen  Verfassungsent- 
wicklung wichtige  Momente  ergeben.  Es  wird  Aufgabe  des 
nächsten  Capitels  sein,  mit  Hilfe  des  so  ermittelten  und  dessen, 
was  sich  aus  anderen  Quellen  gewinnen  lässt,  die  Entwicklung 
der  städtischen  Autonomie  darzustellen. 


Capitel  Vm. 

Die  Entstehung  des  Rates. 


In  der  Zeit  der  letzten  Salier  sahen  wir  unsere  Städte 
in  den  inneren  Kämpfen , welche  damals  Deutschland 
zerrissen,  eine  bedeutende  politische  Rolle  spielen.  Mehr- 
fach nahmen  wir  auch  in  ihnen  Behörden  wahr,  welche 
die  finanziellen  und  militärischen  Kräfte  der  Bürgerschaft, 
mehr  oder  minder  unabhängig  von  der  jeweilig  herrschenden 
königlichen  oder  bischöflichen  Gewalt,  zusammenfassten  und 
mit  Bischöfen  und  Königen  als  verantwortliche  Vertreter  ihrer 
Stadt  verhandelten. 


l)  So  bemerkt  auch  Gierke  I S.  264,  dass  die  älteren  kaiserlichen  Pri- 
vilegien die  innere  Verfassung  der  Bürgergemeinden  wenig  berührten,  während 
er,  freilich  Arnold  und  Hensler  folgend,  doch  in  der  „freien  Gemeinde,* 
welche  das  „ihr  anfgezwnngene  Joch*  abwirft,  die  Vorkämpferin  der  ge- 
sammten  Einwohnerschaft  findet  (s.  bes.  S.  259). 

*)  Es  kam  hier  namentlich  auf  den  Nachweis  an,  dass  die  Annahme 
altfreier  Gemeinden,  die  durch  Verbindung  mit  dem  Könige  ihre  alten  Rechte 
wiedererlangen  wollten,  aufgegeben  werden  muss;  lassen  sich  doch  mit  den 
Berichten  über  die  politischen  Ereignisse  und  den  von  dem  Königtum  den  Städ- 
tern gegebenen  und  in  Aussicht  gestellten  Belohnungen  (vgl.  bes.  oben  S.  207) 
weit  besser  übereinstimmende  Motive  für  die  Unterstützung  desselben  ermitteln. 
Im  übrigen  braucht  wohl  kaum  bemerkt  zu  werden , dass  trotz  dieser  realen 
Bestimmungsgründe  des  politischen  Verhaltens  der  Städter  durchaus  nicht 


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245 


Schon  früher  ist  festgestellt  worden,  dass,  ähnlich  wie  in 
Köln,  auch  in  jeder  unserer  drei  mittelrheinischen  Städte  eine 
Vereinigung  der  Kaufleute  bestand.1)  Diese  Genossenschaften 
haben  nicht  nur  jedenfalls  in  Marktverwaltung  und  Jurisdiction 
innerhalb  der  einzelnen  Städte  eine  wichtige  Rolle  gespielt, 
sondern  es  kann  auch  als  wohl  möglich  angesehen  werden,  dass 
sie  in  älterer  Zeit  die  massgebenden  Kreise  der  Bürgerschaft 
auch  in  unseren  Orten  nach  aussen  vertraten.*)  Neben  der 
Kaufmannsgenossenschaft  haben  wir  das  Schöffencolleg  wahr- 
genommen, das,  wie  oben*)  gezeigt,  auch  in  den  mittelrheini- 
schen Städten  allmählich  mehr  und  mehr  mit  Grosskaufleuten 
besetzt  wurde.  Es  ist  feiner  schon  früher1)  nachgewiesen,  dass 
wenigstens  in  Worms  und  Mainz  die  Befugnisse  dieses  Schöffen- 
collegs  dadurch  bedeutend  erweitert  wurden,  dass  man  ihm 
hier  auch  die  Rolle  der  Sendschöffen  übertragen  hatte.  In 
Worms  ist  freilich  diese  Verwendung  der  Schöffen  im  Send- 
gericht erst  für  das  dreizehnte  Jahrhundert  sicher  bezeugt, 
wenn  sie  auch  gewiss  schon  viel  früher  bestanden  hat.5)  Für 
Mainz  muss  hingegen  angenommen  werden,  dass  daselbst  schon 


etwa  der  Ansicht  Boths  von  Schreckenstein  (Patriciat  in  d.  D.  Stödten 
Tüb.  1856  S.  102)  zugestimmt  werden  kann,  dass  „der  Gehorsam“  der  Städter 
„gegen  den  König  nicht  sowohl  naiver  als  berechnender  Art  gewesen“  sei. 
Gerade  die  wichtigsten  Erhebungen  der  Städte  für  Heinrich  IV,  die  Wormser 
von  1073,  die  Kölner  von  1074  nnd  die  Mainzer  von  1077  sind  in  Momenten 
geschehen,  in  denen  Erfolg  und  ein  aus  demselben  zu  ziehender  eigener 
Gewinn  kaum  erwartet  werden  konnte.  Ausserdem  weist  auch  die  feindliche 
Haltung  von  Worms  und  Köln  (vgl.  über  letztere  Arnold  I.  S.  198,99)  gegen 
Heinrich  V darauf  hin,  dass  die  Bürger  seinen  Vater  nicht  bloss  etwa  in  Aus- 
sicht stehender  materieller  Vorteile  halber  unterstützt  haben. 

*)  S.  oben  S.  54—69. 

*)  Namentlich  kann  man  wohl  aus  der  Analogie  der  den  Kaufuanns- 
genossensebaften  anderer  Städte  (vgl.  oben  S.  202  n.  222  N.  2)  erteilten  Zoll- 
begünstigungen schliessen,  dass  auch  das  Zollprivileg  Heinrichs  IV  für 
Worms  (W.  U.  66  vgl.  oben  8.  205,  206)  von  der  dortigen  Kaufmanns- 
genossenschaft erbeten  und  aufbewahrt  ist. 

*)  S.  75—77. 

4)  VgL  oben  8.  177,  178,  194,  196. 

•)  Dass  in  Worms,  wie  die  Heimbnrgen  zu  Sendzeugen,  so  die  Schöffen 
zu  Sendschöffen  genommen  wurden,  ergab  sich  ja  a.  a.  0.  aus  Boehmer 
Fontes  II  p.  210,  211,  einem  Teile  der  Wormser  Ämterbeschreibnng.  Über 
diese  Quelle  selbst  vgl.  oben  S.  111  ff. 


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246 


längere  Zeit  vor  der  ersten  Hälfte  des  zwölften  Jahrhunderts 
das  Schöffencolleg  auch  in  dem  — unter  Vorsitz  des  Propst- 
Kämmerers,  der  die  Archidiaconatsrechte  austibte,  abgehaltenen 

— Sende  das  Urteil  fand,  da  schon  damals  der  Kämmerer  an 
die  Spitze  des  Schöffencollegs  getreten  war.1)  Ob  ähnliches 
auch  in  Speier  stattgefunden  hat  und  besonders,  seit  wann  in 
Worms  und  Mainz  die  Schöffen  des  weltlichen  Gerichts  mit  der 
Urteilsfindung  im  Sende  betraut  wurden,  lässt  sich  in  Folge 
der  Dürftigkeit  unserer  Quellen  nicht  mit  Sicherheit  angeben.*) 
Doch  werden  wir  kaum  fehlgehen,  wenn  wir  annehmen,  dass 
dieser  Vorgang  in  . allen  drei  Städten  im  elften  Jahrhundert 
stattfand. 

Man  kann  nun  auch  chronologisch  nicht  im  einzelnen  fest- 
stellen, wann  dem  Schöffencolleg  seine  übrigen  Befugnisse  er- 
wachsen sind,  in  deren  Besitze  wir  es  noch,  ausser  den  richter- 
lichen, im  elften  und  zwölften  Jahrhundert  finden;  handelt  es 
sich  dock  hier  um  ein  ganz  allmähliches  Werden.  Dass  aber 

— ganz  den  Kölner*)  und  Trierer*)  Verhältnissen  entsprechend 

— das  Schöffencolleg  auch  in  unseren  Städten  in  der  angege- 
benen Periode  im  Besitze  viel  weitergehender  Functionen  war, 
als  sie  den  Schöffen  in  der  karolingischen  Zeit  zustanden,  ja 
dass  es  schon , bis  zu  einem  gewissen  Grade  selbständig , die 
Stadt  regierte  und  vertrat,  wird  eine  Zusammenstellung  der 
Competenzen  dieser  Behörde  ergeben.5)  Es  braucht  kaum  be- 
merkt zu  werden,  dass  man  bei  der  Sammlung  der  einschlägigen 
Quellenzeugnisse  nicht  an  die  den  Namen  scabini  enthaltenden 
gebunden  ist.  Vielmehr  finden  sich  ja  hier  in  den  lateinisch 
geschriebenen  Urkunden,  wie  so  oft,  für  ein  und  dieselbe 
Behörde  sehr  verschiedene  Bezeichnungen.  Häufig  wird  sie 

')  vgl.  oben  S.  218  mit  N.  i und  die  nnten  folgenden  Ausführungen. 

’)  Nnr  sei  noch  bemerkt,  dass  nach  Dove  weltliche  Urteilsfinder  io 
Sendgericht  in  der  Zeit  vor  dem  elften  Jahrhundert  nirgends  bezeugt  sind, 
s.  Ztschr.  f.  Kirchenrecht  V (1865)  S.  16. 

*)  vgl.  Hoeniger  in  Wstd.  Ztschr.  II  S.  235,  236,  239. 

4)  vgl.  Schoop  S.  118  ff. 

*)  Es  wird  sich  dabei  zeigen,  dass  auch  die,  oben  erwähnte,  im  Ver- 
kehre mit  Königen  und  Bischöfen  die  Stadt  vertretende,  Behörde  seit  Hein- 
rich IV  das  Schöffencolleg  ist.  Nnr  in  dem  oben  S.  245  N.  2 besprochenen 
Falle  ist  es  wahrscheinlich , dass  die  Kaufmannsgenossenschaft  nicht  das 
Schöffencolleg  die  Stadt  vertrat, 


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247 


kurzweg  cives  genanut,  wie  es  z.  B.  in  einer  in  der  Zeit 
von  1143—1153  von  ihr  selbst  ausgestellten  Gerichts- 
urkunde der  Fall  ist.1)  Die  cives  Moguntine  metropolis  machen 
darin  einen  zwischen  dem  Ministerialen  Arnold  und  seiner  Frau 
Geba  einerseits  und  den  Ministerialen  Dudo,  Meingot  und 
Hartwin  andrerseits,  alles  Mainzer  Bürgern,  abgeschlossenen 
Erbvertrag  bekannt  und  beglaubigen  ihn  durch  Aufdrückung 
ihres  Siegels,  ganz  wie  ähnliches  später  der  Rat  vornimmt. 
Das  hier  verwandte  Siegel  ist  auch  schon  das  später  von  diesem 
geführte  Stadtsiegel.2) 

Der  Ausdruck  cives  findet  sich  für  das  Schöffencolleg  auch 
sonst  und  besonders  dort  angewandt,  wo  dasselbe  wirklich  die  Ge- 
sammtheit  der  Bürger  vertritt.5)  Die  Bezeichnung  der  Schöffen 
als  cives  in  der  besprochenen  Gerichtsurkunde  erklärt  sich  dar- 
aus, dass  die  Schöffen  damals  auch  ihre  jurisdictioneilen 
Funktionen  gewissermassen  nur  als  Vertreter  des  als  Gerichts- 
umstand versammelten  Volkes  übten.4) 

Dieser  Thätigkeit  der  Schöffen  in  der  freiwilligen  und  strei- 
tigen Gerichtsbarkeit  entspricht  es,  dass  sie  vorzugsweise 
iudices,  öfters  auch  iudices  civici  genannt  werden.  Bei  den 
iudices  civici  in  Mainz  klagte  z.  B.  1175  das  dortige  Peters- 
stift gegen  einen  gewissen  civis  Heroldus,  der  ein  dem  Stifte 
zinspflichtiges  Grundstück  ererbt  und  die  Zinszahlung  wieder- 
holt verabsäumt  hatte.  Die  iudices  civici,  welche  nach  städti- 
schem Gewohnheitsrecht  richten  und  im  Besitze  des  Stadtsiegels 
erscheinen,  sprachen,  da  sich  Heroldus  ihnen  nicht  stellte,  dem 
Stift  lediges  Eigentum  au  dem  bisherigen  Zinsgrundstück  zu.5) 
So  wurden  also  auch  Erbverträge  der  Ministerialen  uud  Strei- 
tigkeiten über  Zinsgrundstücke  geistlicher  Stifter  vor  den 

')  Stampf  Acta  Mog.  N.  50  p.  54. 

*)  b.  Stumpf  a.  a.  0.  p.  55  und  Eiul.  p.  XXXII,  XXXIII,  Hegel  Maiuz S.  36. 

•)  S.  z.  B.  W.  U.  111,  Sp.  U.  23,  44. 

4)  Die  Anwesenheit  des  Gerichtsumstandes  kann  für  das  Mainzer  Stadt- 
gericht im  12.  Jahrhundert  aus  der  oben  S.  191  besprochenen  Urkunde  von 
1147  (B-W  XXVIII  79)  geschlossen  werden.  Daselbst  ist  von  der  Publication 
eines  Vertrages  in  coucione  populi,  cum  praesidente  Judice  civilia  iura  trac- 
tarentur,  sicnt  tribus  vicibus  in  anno  fieri  solet,  die  Rede. 

*)  Stumpf,  Acta  Mogunt.  N.  84  p.  87.  Diese  Urkunde,  welche  die  Wie- 
derherstellung des  alten  Pachtverhältnisses  enthält,  ist,  wie  das  in  N.  1 
erwähnte  Document,  mit  dem  Stadtsiegel  beglaubigt. 


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248 


Schöffen  verhandelt;  so  wenig  wie  am  Anfang  des  elften  Jahr- 
hunderts ist  das  Schöffengericht  auf  die  Angelegenheiten  der 
Freien  und  des  freien  Grundbesitzes  beschränkt.  Vielmehr 
entspricht  die  persönliche  und  lokale  Competenz  dieser  iudices 
civici,  wie  sie  uns  im  12.  Jahrhundert  in  Worms,  Mainz  und 
Speier  entgegentritt,  ganz  der  der  Schöffen  in  den  Gesetzen 
Bischof  Burchards  von  Worms;  nur  hat  sich  die  dort  in  ihren 
Anfängen  beobachtete  besondere  Rechtsprechung  bei  gewissen 
Verbrechen  bischöflicher  servientes  und  die  dadurch  bewirkte 
teilweise  Exemption  dieser  Personen  von  dem  Schöffengericht1) 
inzwischen  weiter  entwickelt.  Allerdings  kamen,  während  im 
Anfänge  des  elften  Jahrhunderts  nur  im  engeren  Dienst  des 
Bischofs  stehende  Leute  den  ordentlichen  Gerichten  entzogen 
wurden,  jetzt  auch  die  servientes  der  Canoniker *)  in  dieser 
Beziehung  in  Betracht.  Es  muss  jedoch  gleich  bemerkt  werden,  dass 
sich  diese  Exemption  nie  auf  alle  servientes  der  Geistlichen 
und  auf  die  ganze  Thätigkeit  des  Schöffengerichts  bezogen  hat. 
Es  geht  dies  auch  aus  gerade  im  Interesse  der  Geistlichkeit 
und  ihrer  servientes  erlassenen  Bestimmungen  hervor.  So  setzte 
z.  B.  Heinrich  IV.  in  seinem  Privileg  für  die  Speierer  Dom- 
herrn, in  welchem  er  ausdrücklich  erklärte,  dass  er  dieselben 
mehr  als  die  Speierer  Bürger  begünstige,3)  doch  nur  für  diejenigen 
servientes  Ausnahmebestimmungen  fest,  welche  täglich  Unter- 
halt und  Wohnung  von  den  Canonikern  empfingen.4)  Diese 


’)  vgl.  oben  S.  42 — 48. 

*)  Erst  mit  dem  Aufhören  des  gemeinschaftlichen  Lebens  der  Capitnlares, 
das  sich  in  der  Zeit  vom  9. — 11.  Jahrhundert  vollzog  (vgl.  Hinschius, 
Kirchenrecht  II  S.  65 — 67),  trat  eine  derartige  Scheidung  des  Vermögens 
des  Domcapitels  von  dem  bischöflichen  ein , dass  überhaupt  von 
servientes  fratrum  gesprochen  werden  konnte.  Ursprünglich  war  ja  das  ganze 
kirchliche  Vermögen  der  Disposition  der  Bischöfe  unterworfen  gewesen  (vgL 
auch  Lamprecht  D.  W.  I S.  1280  ff.). 

•)  Sp.  U.  13  S.  16  Z.  25:  Alio  qnoque  iure  fratres  nostros  Spirenses 
civibns  huius  loci  preferimus. 

*)  ibid.  Z.  26 : si  quis  illonun  serviens  hospicio  et  convictu  alieuius  eoram 
cotidiano  participans  . . . . Si  vero  aliquis  fratrum  alium  neqne  ipsius  hospicio 
neque  cotidiano  victu  utentem,  servientem  in  urbe  habest,  communi  civium 
iuri  snbiaceat.  Kur  die  täglichen  Unterhalt  geniessenden  servientes  sind  wohl 
auch  unter  den  offteiati  capituli  Spirensis  laici  zu  verstehen,  für  die  1256 
das  altüberkommene  Recht  bestätigt  wird,  dass  sie  bei  geringeren  Delicts- 


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249 


servientes  sollten  bei  Criminalanklagen  nicht  vor  das  Bttrger- 
gericht  wie  die  übrigen  Einwohner  geladen  werden  dürfen. 
Sie  sollten  zwar  die  nach  Stadtrecht  den  Verletzten  zukommende 
Bosse  bezahlen-,  im  übrigen  hatte  aber  der  Canoniker,  in  dessen 
Dienste  sie  standen,  selbst  das  Recht  zu  bestimmen,  ob  eine 
über  sie  verhängte  Körperstrafe  vollzogen  oder  in  eine  Geld- 
strafe von  60  8ol.  verwandelt  werden  sollte.1) 

Zum  Teil  treten  uns  die  Berechtigungen  der  geistlichen 
servientes  in  den  Münzerprivilegien  entgegen.  Die  Münzerhaus- 
genossen liessen  sich  ja,  obgleich  dem  Patriciat  angehörig  und  an 
der  Erringung  der  städtischen  Rechte  beteiligt,11)  dennoch  von 
den  Kaisern  auch  den  regulären  Bürgerpflichten  entgegenste- 
hende*) Berechtigungen  verbriefen;  unter  diesen  Vorrechten 
interessieren  uns  hier  diejenigen,  welche  sich  aus  dem  Dienst- 
verhältnisse der  Münzer  zum  Bischof  ergaben.  Dahin  gehört 
das  den  Wormser  Münzern  1165  von  Friedrich  I.  bestätigte 
Recht,  in  kein  anderes  Gefängnis  als  in  des  Bischofs  Kammer 
gebracht  zu  werden,4)  eine  Berechtigung,  deren  Besitz  gerade 
für  mehrere  Dienstmannschaften  nachweisbar  ist.6)  Ausserdem 
sollten  die  Wormser  Münzer  auch  zur  Übernahme  der  Schöffen- 
thätigkeit  und  zu  anderen  städtischen  Beamtnngen  nicht  ge- 
zwungen werden  dürfen.*)  Dass  gerade  in  Worms  letzteres 
Recht  allen  servientes  des  Clerus  zukam,  folgt  aus  einer 
Stelle  der  Zorn’schen  Chronik.7)  Danach  nahm  noch  1266,  also 
nach  der  Ratsentstehung,  der  Wormser  Clerus  es  als  altes 


klagen  eich  sowohl  als  Kläger  wie  als  Beklagte  an  das  geistliche  Gericht 
halten  können  (Sp.  U.  85). 

•)  ibid.  S.  16  Z.  30-34. 

*)  vgl  oben  S.  60 — 68. 

*)  Man  denke  namentlich  an  ihren  privilegierten  Gerichtstand  vor  dem 
MQnzmeister,  vgl.  darüber  oben  S.  67. 

4)  U.80  S.66  Z.llff. : Anchwereez,  das  ein  mnntzer  beclaget wurde und 

knnde  keinen  bargen  gebaben,  daz  er  zn  rechte  wolde  sten,  so  sal  man  yn 
in  kein  gefengnisze  oder  hnde  setzen,  dann  allein  in  des  bischoffs  camer,  da 
«in  gemeine  dyenere  inne  bebntet  werden. 

*)  cf.  Das  Recht  der  Dienstmannen  des  Erzbischofs  von  Köln  (Mitt.  a. 
d.  Stadtarch.  von  Köln  1883  Heft  2 S.  7)  c.  7:  tune  recludent  enm  in  Ca- 
mera ....  snb  palatio  episcopi,  vgl.  anch  Fürth,  Ministerialen  (1836)  8. 388. 389. 
•)  U.  80.  S.  65  Z.  22  ff. 

*)  S.  123. 


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250 


Recht  in  Anspruch , dass  seine  Beamten  von  der  städtischen 
Gerichtsbarkeit  und  der  Pflicht  zur  Übernahme  städtischer 
Ämter  frei  seien.  Die  Stiftsbeamtungen  wurden  nach  Zorn 
damals  vielfach  für  Geld  erkauft,  um  diese  Vorrechte  zu  er- 
langen.1) Freilich  waren  schon  1182  in  Worms  die  Vorrechte 
der  servientes  in  einer  kaiserlichen  Urkunde  deneu  abgesprochen, 
welche  sich  nur  desshalb,  um  sich  Bürgerverpflichtungen  zu 
entziehen , in  den  Dienst  des  Clerus  begeben  würden.*)  An 
dieser  Stelle  ist  allerdings  zunächst  nur  von  der  Steuerverpflich- 
tung die  Rede,  welche  die  Bürger  auch  den  servientes  des  Clerus 
aufzulegen  versucht  hatten.  Dennoch  kann  diese  Urkunde  sehr 
wohl  mit  der  früher  erwähnten8)  Bestimmung  des  den  Speierer 
Canonikern  gegebenen  Privilegs  in  Parallele  gestellt  werden. 
In  Speier  wurden  nämlich  diejenigen  servientes  von  den 
städtischen  Gerichten  eximiert,  die  täglich  Wohnung 
und  Unterhalt  vom  Clerus  empfingen;*)  in  Worms  wurden  die- 
jenigen von  den  Stadtsteuern  befreit,  welche  täglich  in 
eigner  Person  der  Kirche  oder'  den  Kanonikern  dienten , sich 
dabei  aber  nicht  mit  Handel  beschäftigen  oder  auf  dem  Markte 
ihre  Waaren  zum  Verkauf  stellen  würden.  Auch  sollten  hier 
diejenigen  nicht  steuerfrei  sein,  welche  sich  blos  zu  dem  Zwecke, 
der  Stadtsteuer  zu  entgehen,  in  den  Dienst  der  Canoniker  be- 
geben würden.5)  Ist  auch  die  Begrenzung  der  exemten  ser- 
vientes in  Speier  und  Worms  etwas  verschieden,  es  lässt  sich 
doch  mit  Sicherheit  wahrnehmen,  dass  es  wenigstens  im  grossen 
und  ganzen  dieselben  Personen  gewesen  sind,  die  von  der 
städtischen  Besteuerung,  wie  die,  welche  von  den  städti- 
schen Gerichten  eximiert  waren. 

So  standen  sich,  wie  aus  dem  erörterten  hervorgeht,  schon 
im  12.  Jahrhundert  die  Auffassung  der  Burgerbehörde  und  der 


')  So  kaufte  z.  B.  ein  vornehmer  Wormser  vom  Domcapitel  die  Stelle 
des  „Todtengräberg,  “ um  nicht  die  städtische  Beamtung  des  tireven,  zu  der 
er  gewählt  war,  Übernehmen  zu  müssen  (Zoru  S.  124). 

•)  U.  89  S.  73  Z.  1. 

*)  S.  248. 

*)  vgl.  ibid.  N.  4. 

*)  U.  89 : hii  videlicet,  qui  fratribus  et  ecclesie  cotidie  in  propria  persona 
deserviaut,  nec  mercimoniis  operam  dant  nec  foro  renuu  venalinm  Student, 
nec  pro  subterfugio  nostre  collecte  obseqnio  fratrnm  se  npplicaut, 


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251 


Geistlichkeit  in  diesen  Fragen  der  Ausdehnung  der  städtischen 
Gerichtsbarkeit  und  Besteuerung  so  schroff  gegenüber,  dass  die 
Beichsgesetzgebung  eingreifen  musste.  Dasselbe  geschah  in 
Folge  der  Verschiedenheit  der  bürgerlichen  Bechtsanschauungen 
und  der  canonischen  Lehren  über  das  Erbrecht  der  Geistlichkeit. 
Diese  Streitigkeiten  kommen  für  unsere  Untersuchung  nament- 
lich deshalb  in  Betracht,  weil  in  ihnen  die  Competenz  der 
Bürgerbehorden  zur  Nachlassregulirung  garnicht  in  Frage  gestellt 
und  ein  direktes  Eingreifen  der  Bischöfe  zu  Gunsten  der  geist- 
lichen Bechtsanschauung  nirgends  erwähnt  wird.  Es  tritt  dies 
besonders  bei  der  Beichsgerichtsentscheidung  von  1165  Septem- 
ber 26  hervor.1)  Dieselbe  war  dadurch  veranlasst,  dass  nach 
Wormser  Gewohnheitsrecht  auf  dem  Krankenbette  nur  über  5 
solidi  des  Nachlasses  verfügt  werden  durfte.*)  So  wollten  nun 
auch  die  Wormser  Schöffen  verfahren,  als  ein  Canoniker  von 
St.  Paul  Namens  Wernher  auf  seinem  Todtenbette  ein  Testament 
über  seine  Mobilien  errichtet  hatte  und  ein  Verwandter  Wern- 
hers  dasselbe  anfocht.  Als  Friedrich  I sich  1165  in  Worms 
aufhielt,  wurde  dieser  Process  vor  sein  Hofgericht  gebracht. 
Der  Kaiser  entschied  zu  Gunsten  des  Klerus,  insbesondere  durch 
die  Gutachten  der  Geistlichkeit  und  die  Berufung  derselben 
auf  Gesetze  der  Päpste  und  der  römischen  Kaiser  sowie  auf 
Karolingische  Capitularien  bewogen. 

Danach  sollten  die  Geistlichen  unbedingte  Testirfreiheit 
über  ihre  Mobilien  geniessen.  Dass  die  Immobilien  der  Cleriker 
an  die  nächsten  Blutsverwandten  fielen,  — ein  Bechtssatz,  der 
sich  nur  bei  Jurisdiction  der  bürgerlichen  Behörden  in  diesen 
Erbschaftssachen  erhalten  konnte,  — wurde  also  garnicht  weiter 


>)  W U 81. 

*)  ibid.  S.  67  Z.  32:  asserens  dictaote  ioatitia  neminem  in  lecto  inftrmita- 
tis  sne  aliquid  de  bonis  suis  Tel  mobilibns  preter  quinque  solides  erogare  ali- 
qnid  sine  consensn  heredum  suomm.  Boos  ibid.  S.  67  n.  3 meint,  „derText  scheint 
hier  verdorben  xu  sein;*  diese  Annahme  ist  wohl  unnBtig,  indem  das  erogare 
als  erogare  posse  anfznfassen  ist.  Es  wird  verboten,  von  Immobilien  über- 
haupt etwas,  nnd  von  Mobilien  etwas  ausser  6 solidi  zu  veräussern.  — So 
hatte  auch  Burchard,  obgleich  über  das  in  Worms  geltende  und  nach  obigem 
ancb  noch  später  geltend  gebliebene  Gewohnheitsrecht  hinausgehend,  doch 
nur  bestimmt,  dass  znm  Seelger&te  (pro  anima)  zwar  Mobilien  und  selbst- 
erworbeue  Grundstücke,  von  ererbten  aber  nur  ein  geringer  Teil  (aliquid) 
den  Erben  entzogen  werden  dürfe  (W.  U 48  tit.  11,  vgl.  G e n g 1 e r Hofrecht  S.  19). 


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252 


bestritten.1)  Die  Richtigkeit  dieses  argnmentum  e silentio  geht 
aus  einer  Reichsgericlitsentsckeidung  von  1173  hervor,  welche 
durch  einen,  dem  erzählten  Wormser  ähnlichen,  Rechtstreit  in 
Mainz  veranlasst  war.*)  Damals  wurde  den  Mainzer  Clerikern 
das  Recht  über  ihre  Mobilien  zu  verfügen  zugesprochen, 
gleichzeitig  aber  ausdrücklich  festgestellt,  dass  die  Immobilien 
an  die  nächsten  Verwandten  des  Verstorbenen  fallen  sollten.*) 
Dem  entspricht  vollkommen,  dass  sich  auch  keine  Immobilien 
unter  den  Gegenständen  finden,  über  welche  die  Speierer  Ca- 
noniker  nach  dem  früher  erwähnten  Privileg  Heinrichs  IV  letzt- 
willig verfügen  durften.4) 

Als  besonders  bemerkenswert  bei  allen  diesen  Bestimmungen 
ist  jedenfalls  der  Umstand  hervorzuheben,  dass  die  Gerichts- 
barkeit der  Bürgerbehörde,  auch  wo  es  sich  um  den  Nachlass 
von  Geistlichen  handelt,  garnicht  in  Frage  gestellt  wurde;  noch 
weniger  als  den  Geistlichen  selbst  wird  etwa  in  solchen  Fällen 
ihren  servientes  Exemption  von  den  bürgerlichen  Gerichten  und 
vom  bürgerlichen  Rechte  gewährt  sein. 

So  waren  alle  Stadtbewohner  schon  im  12.  Jahrhundert 
dem  Schöffengerichte  und  dem  in  der  Rechtssprechung  desselben 

')  W.  U.  81  S.  68  Z.  22:  dccedenti  bonorum  auorum  mobilia m quod 
optaverit,  relinqnere  ant  pro  remedio  anime  gue  Tel  alio  quovi«  respectu 

tribnere  et  teatamentum  facere , huic  libertati  perpetuam  tribnimns 

Annita  tem. 

*)  L.  L.  II  p.  142.  Eigentümlich  ist,  dass  bei  der  Darlegung  dieses 
Rechtfalls  hervorgehoben  wird,  dass  der  Cleriker  Uber  Mobilien,  die  er  im 
Immunitätsgebiet  (infra  emunitatem)  gehabt,  verfugt  hatte,  und  dass  die  Mainzer 
Geistlichen  Beweis  anboten,  dass  sie  40  Jahre  hindurch  talem  in  emunitatibus 
gnis  libertatem  optinuisaent,  quod  omnia  mobilia  aua  qnolibet  tempore  cui 
vellent  possent  donare.  Die  vom  Kaiger  um  ihr  Gutachten  angegangenen 
Prälaten  bezeugen  dann,  illam  emunitatig  Übeltätern  quam  Maguntinug  clerns 
aibi  vendicabat  in  multia  imperii  noatri  aervari  eccleaiia.  Diese  Beschränkung 
auf  die  in  der  Immunität  befindlichen  Gegenstände,  die  dann  auch  in  der 
Entscheidung  des  Kaiaera  enthalten  ist,  fehlt  in  den  entsprechenden  Bestim- 
mungen für  Worms  (W.  U.  8t)  und  Speier  (vgl.  unten  N.  4)  gänzlich. 

*)  Die  um  ihr  Gutachten  befragten  Cleriker  sagten  aua:  . . . patrimo- 
nium,  quod  bereditario  iure  ad  clericos  devenisaet,  illia  qui  in  linea  agnationis 
aeu  cognationia  eis  eaaent  proximi,  post  mortem  auam  reünquere  deberent. 

*)  U.  13  S.  15  Z.  40  : Liberam  etiam  habeat  potestatem  pecuniam 
auam,  vinum,  frumentnm,  veates,  equoa  et  omnem  auppellectilem  auam  et 
quicquid  mobilia  rei  posaideat,  inanper  prebendam  auam  per  annum  post  mortem 
auam  cuicnmque  mortaüum  aibi  plaeuerit,  . . . donandi. 


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253 


angewandten  Stadtrechte  unterworfen  ; besonderer  Exeinption 
ist  es  zuzuschreiben,  wenn  bestimmte  Personenklassen  dem 
Stadtgerichte  oder  Stadtrechte  in  einzelnen  Beziehungen  ent- 
zogen waren.1) 

Das  Schöffengericht  hatte  jedoch  nicht  nur  jurisdictioneile 
Befugnisse,  sondern  repräsentierte  geradezu  die  Stadt.  Es  kann 
dies  vor  allem  daraus  geschlossen  werden,  dass  es  das  Stadt- 
siegel führte.  Zwei  Fälle  der  Benutzung  des  Mainzer  Stadt- 
siegels seitens  des  dortigen  Gerichts  aus  der  Mitte  des  12. 
Jahrhunderts  sind  schon  oben’)  erwähnt  worden.  Es  ist  wohl 
nur  der  Dürftigkeit  unserer  Überlieferung  an  bürgerlichen  Ur- 
kunden zuzuschreiben,  dass  andere  Beispiele  in  Mainz  erst  zu 
Anfang  des  13.  Jahrhunderts*)  erscheinen.  In  Worms4)  und 
Speier6)  bedienten  sich  jedenfalls  seit  der  Wende  des  12.  und 
13.  Jahrhunderts  die  Schöffen  des  Stadtsiegels.  Diese  That- 
sachen  sind  nun  sowohl  zur  Erkenntnis  der  Bedeutung  des 
Schöffencollegs  als  zur  Untersuchung  der  Entstehung  des  Rats, 
an  den  ja  später  die  Führung  des  Stadtsiegels  überging,  von 
hervorragender  Bedeutung.  Sehen  wir  doch  später  die  Gerichte 
in  Worms  und  Mainz,  als  daselbst  Jurisdiction  und  Verwaltung 
noch  im  Laufe  des  13.  Jahrhunderts  getrennt  wurden,')  nicht 


*)  Diese  Ansicht  muss  auch  den  ihr  gleichm&ssig  widersprechenden  — 
wenn  auch  unter  sich  abweichenden  — Theorien  Arnolds,  Sohms  und 
Hoeni gers  gegenüber  aufrechterhalten  werden,  wie  in  Anhang  IV  nachge- 
wiesen werden  wird. 

*)  S.  247. 

*)  Vgl.  Joannis  Rer.  Moguntin.  U p.  652  a.  1206:  Arnoldus  camerarius, 
Herboldus,  Ernestus,  Friderieus  Scado  et  Bertholdus,  Maguntini  officiati  be- 
urkunden eine  Schenkung  und  beglaubigen  sie  sigillo  civitatis.  (Über  die  Be- 
zeichnung der  Richter  als  officiati  a unten)  Cf.  auch  Ouden  Cod.  dipl  n 
p.  439  a.  1229:  Otto  scnltetus,  Bertolfns  monetarius,  Rndolfus,  Gotfridus  bonos 
et  Arnoldus  filius  Advocati,  iudices  Maguntine  civitatis  beurkunden  einen 
Vergleich  und  bekräftigen  ihn  mit  dem  Stadtsiegel  (eamque  sigillo  civitatis 
fecimus  communiri)  cf.  auch  Joannis,  II  p.  471  a.  1200. 

4)  U.  109  a 1208:  Die  cives  Wormacienses  beurkunden  ein  Schenkung; 
an  der  Urkunde  noch  Zeichen  der  Besiegelung.  Cf.  U.  103  a 1198,  eine  Ver- 
kaufssurkunde  des  Bischofs,  bei  der  die  Notiz  et  de  quadraginta  iudicibus  in 
Wormatia  den  Schluss  der  Zeugenreihe  bildet,  wird  unter  andern  auch  mit 
dem  Stadtsiegel  (sigillo  civium  Wormatiensium)  beglaubigt 

•)  cf.  ü.  23  a 1208;  U.  636  a 1214. 

*)  Vgl.  Arnold  V.  G.  I 8.  280,  281, 289,  II  S.34,  Heusler  Urzp.  S.  182. 


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254 


mehr  das  Stadtsiegel  führen.  Vielmehr  wurden  damals  die 
Urteilssprüche  des  Stadtgerichts  durch  das  Siegel  des  Schult- 
heissen  und  die  Privatsiegel  von  Richtern  und  Zeugen,  welche 
im  Besitz  solcher  waren,  beglaubigt.1)  So  lässt  demnach  diese 
Verwendung  des  Stadtsiegels  durch  das  Schöffencolleg  in  der 
Mitte  des  12.  Jahrhundert  darauf  schliessen,  dass  diese  Behörde 
damals  die  Stadt  repräsentierte.  Schon  zur  Zeit  der  letzten 
Salier  traten  aber  die  Bürgerschaften  unserer  Städte  als  selbst- 
ständige politische  Körperschaften  auf  und  wurden  durch  eigene 
Behörden  repräsentiert;*)  nach  dem  eben  erörterten  können 
nun  diese  Behörden  nur  die  Schöffencollegien  gewesen  sein. 
Die  Schöffen  waren  also  die  Leiter  der  äusseren  Politik  unserer 
Städte ; sie  waren  es,  welche  für  Aufstände  in  den  Städten  ver- 
antwortlich gemacht  wurden;8)  ihnen  wurden  die  Privilegien 
Heinrichs  V und  Adalberts  verliehen. 

Geht  die  Richtigkeit  der  Ansicht,  dass  die  Städte  mindestens 
seit  der  ersten  Hälfte  des  12.  Jahrhunderts  durch  ihre  Schöffen- 
collegien repräsentiert  und  regiert  wurden,  vor  allein  aus  der 
Thatsache  hervor,  dass  es  schon  in  dieser  Zeit  eine  solche  ver- 
waltende und  repräsentierende  Behörde  gab,  wenig  später  aber 
gerade  das  Schöffencolleg  in  dieser  Stellung  nachweisbar  ist,  so 
können  dafür  auch  noch  folgende  specielle  Erwägungen  geltend 
gemacht  werden. 

Es  ist  bereits  eine  Urkunde  Friedrichs  I erwähnt,  in  wel- 
cher die  Erhebung  einer  Steuer  in  Worms  seitens  einer  städti- 
schen Behörde  als  selbstverständlich  betrachtet  und  nur  Aus- 
dehnung der  Besteuerung  auf  exempte  Personen  verboten  ist.*) 


')  cf.  z.  B.  U 389  a 1279:  In  testimoninm  . . litteram  sigilto  meo  et 
testium  sigilla  habencium  dedi  munitam;  in  U 232  a 1251  wird  ein  vor  scul- 
tetus  u.  acabini  ergangenes  Urteil  nachträglich  vom  Bat  beurkundet  und 
mit  dem  St&dtaiegel  bekräftigt.  Für  Mainz  cf.  Gaden  II  p.  444 : Im  Gericht 
ist  corain  Eberhardo  camerario,  Heinrico  de  Deinone,  Dudone  et  Jacobo  de 
Fonte  iudicibns  eine  Gutsübertraguug  vollzogen  worden.  Nos  Ebcrhardns 
camerarius,  I)udo,  Heinricus  et  Jacobus  iudices  et  Huinbertus  de  ariete  (letzterer 
ist  vorher  als  Zeuge  erwähnt)  ad  petitionem  praedictarum  partium  sigilla 
nostra  praesentibus  dignum  dnximus  appeudenda  cf.  auch  Guden  II  p.  446  a. 
1294  u.  II  p.  449  a.  1303. 

*)  Vgl.  das  vorige  Capitel  bes.  S.  206,  211,  212,  217,  238. 

*)  vgl.  bes.  S.  211,  212. 

*)  W.  U.  89. 


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255 


Aus  eben  dieser  Urkunde  geht  hervor,  dass  die  von  der  Bürger- 
behörde erhobenen  Steuern  mindestens  z.  T.  an . den  Kaiser 
fielen,  wie  auch  sonst  vielfach  Geldleistungen  der  städiscben 
Gemeinwesen  an  die  Reichskasse  bezeugt  sind.1)  Es  ist  aber 
auch  bereits  im  vorigen  Capitel*)  erwähnt  worden,  dass  Hein- 
rich V.  1112  von  den  Wormsern  gezwungen  wurde,  ihnen  eine 
bestimmte  Steuer,  nämlich  das  Wachtgeld,  zu  erlassen  und  ihnen 
gleichzeitig  die  Bewachung  ihrer  Mauern  selbst  anzuvertrauen.5) 
Es  ist  nun  doch  höchst  wahrscheinlich,  dass  die  Behörde,  welche 
die  Leitung  der  Bewachung  der  Stadt  übernahm  und  die  Ur- 
kunde von  1112  erhielt,  identisch  mit  derjenigen  ist,  welche 
bis  1112  das  Wachtgeld  an  den  Kaiser  ablieferte  und  auch 
später  noch  die  städtische  Reichssteuer  erhob.  Dass  diese 
oberste  Finanzbehörde,  welche  zugleich  für  die  Bewachung  der 
Stadt  zu  sorgen  hatte,  mit  der  bürgerlichen  Gerichtsbehörde 
identisch  ist,  kann  schon  aus  der  im  Princip  gleichen  Abgren- 
zung ihrer  Competenzen  gegenüber  der  Geistlichkeit  gefolgert 
werden;4)  dazu  kommt  noch,  dass  ca.  1208  die  Wormser  Schöffen 
an  sie  fallende  Strafsummen  ad  commune  opus  civitatis  ver- 
wenden.5) Ebenso  sorgen  auch  in  Mainz  die  Schöffen 

ums  Jahr  1200  im  Namen  der  Stadt  für  den  Mauer- 

bau.*) Aus  allem  diesem  geht  hervor,  dass  es  die  Schöffen 
wären,  welche  zu  Heinrichs  V.  wie  zu  Friedrichs  I.  wie  zu 
Ottos  IV.  Zeit  die  städtische  Kriegsführung  und  Steuererhebung 

')  Z e u m e r Sthdtestenern  S.  52  ff. 

»)  8.  228. 

*)  W.  U.  61.  ‘ 

4)  Vgl.  oben  S.  250. 

*)  W.  U.  111. 

*)  Dies  geht  ans  einer  von  iudices  et  universi  cives  Maguntini  ums 
Jahr  1200  ansgestellten  Urkunde  hervor  (Johannis  II  471) : Einige  Canoniker 
von  St.  Peter  hatten  Steine  der  alten  — von  Friedrich  l 1 162  z.  T.  zerstörten 
— Stadtmauer  zu  privatem  Hftnserbau  verwendet.  Als  die  Stadt  im  Jahre 
1200  (Annal.  Disib.  S.  S.  XVII  30,  vgl.  Hegel  Mainz  S.  42  mit  N.  6)  den 
Neuban  der  Mauern  begann,  wandten  sich  die  Schöffen  gegen  diese  Canoniker 
(pro  iam  dictis  lapidihus  instanter  pnlsavimus),  welche  aber  dann  einen  Ver- 
gleich mit  ihnen  schlossen  (qui  transactionem  nobiscum  inierunt).  Diese  steu- 
erten eine  Summe  zum  Mauerbau  bei,  welche  die  Schöffen  in  Empfang  nah- 
men fque  solucio  rite  et  ordine  debito  constat  esse  celebrata  et  a nobis  ac- 
ceptata).  Dafür  blieben  die  Canoniker  im  Besitz  der  der  Mauer  entnommenen 
Steine,  nnd  dies  wurde  von  den  Schöffen  mit  dem  Stadtsiegel  beglaubigt. 


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256 


leiteten.1)  Dass  die  Wormser  Schöffen  auch  schon  um  die 
Wende  des  11.  und  12.  Jahrhunderts  eine  gewisse  autonome 
Legislative  in  der  Stadt  ausübten,  kann  aus  dem  früher  er- 
wähnten 1096  von  ihnen  zum  Schutz  der  Juden  erlassenen 
Strafgesetze  gefolgert  werden.*) 

So  finden  wir  denn  schon  am  Ende  des  11.  und  im  12. 
J ahrhundert  das  Schöffencolleg  im  faktischen  Besitz  vieler  später 
dem  Rat  znstehender  Rechte.  Es  ist  demnach  für  die  Zeit, 
in  welcher  der  Rat  erwähnt  wird,  wohl  Wachstum  der  städti- 
schen Autonomie  sowie  Machterweiterung  und  Umnennung  des 
Schöffencollegs,  in  keiner  Weise  aber  eine  gänzliche  Neuschaffung 
von  Verfassungseinrichtungen  anzunehmen.  Vielfach  ist  auf 
das  erste  Vorkommen  der  Namen  Rat  und  Räte  der  Stadt  (con- 
silium,  consules,  consiliarii)  — welche,  um  es  hier  gleich 
zu  bemerken,  in  Worms  seit  1215  und  1216,*)  in  Speier  seit 
1224,*)  in  Mainz  seit  12195)  sicher  nachweisbar  sind  — grosses 
Gewicht  gelegt  worden.6)  Damit  steht  in  Verbindung,  dass 

')  Die  Steuer,  welche  eich  die  Wormser  Bürger  1073  für  Heinrich  IV 
auferlegten  (cf.  Lambert  8.  8.  V p.  204)  war  wahrscheinlich  auch  schon  von 
den  Schöffen  erhoben.  .Wenigstens  sind  in  dem  Bericht  Lamberts  schon  die 
wesentlichen  Züge  der  Kollekte  von  1182  zu  erkennen."  So  Zenmer  S.  63. 
Ob  aber,  wie  Zenmer  a.  a.  0.  behauptet,  Beit  den  Vorgängen  von  1073 
in  Folge  der  Erhebung  der  Wormser  ßeichssteuern  durch  die  städtische  Be- 
hörde die  Abgaben,  welche  einzelne  Bürger  vorher  an  den  Bischof,  aber  für 
das  Reich  zu  leisten  hatten,  beseitigt  waren,  muss  allerdings  dahingestellt 
bleiben,  vgl.  oben  S.  206  N.  3. 

•)  Vgl.  oben  8.  217  N.  3. 

*)  Frey  und  Remling,  Urkb.  d.  Klosters  Otterberg  (Mainz  1845)  N.  16 
8. 16,  W.  U.  120. 

•)  Sp.  U.  36. 

•)  B-W  XXXH  326. 

*)  Maurer  Stdtvrfssng.  I 8.  566:  .In  sehr  vielen  Städten  . . wurde 
an  Stelle  der  alten  eine  ganz  neue  Behörde  gesetzt"  Zu  diesen  werden 
dann  gerade  auch  Worms,  Speier  und  Mainz  gerechnet,  vgl.  auch  ibid.  I 662, 
Hegel  Allg.  MonaUscbr.  (1864)8.180—182  und  Mainz  8. 43.  Arnold  V.  0. 
passim  bes.  I 8.  172  und  Heusler  Ursprung  8.  167  finden  den  Rat  schon 
im  elften  und  Anfang  des  zwölften  Jahrhunderts,  obgleich  sie  andrerseits  be- 
merken, dass  an  eine  feste  Organisation  jener  Behörde  in  damaliger  Zeit  noch 
nicht  zu  denken  ist.  Gegen  die  von  ihnen  angenommene  Erwähnung  des 
Wormser  Rata  im  Jahre  ca.  1106  vgl.  oben  8.67 — 60  bes.  S.  59  N.  3;  gegen 
ihre  unbegründeten  Annahmen  von  Erwähnungen  des  Speierer  Rates  zur  Zeit 
Heinrichs  V und  Friedrichs  I vgl.  die  unten  folgenden  Ausführungen  und 
Schaube  Speier  8.  446 — 463,  dem  aber  in  der  Annahme  der  Ratserrichtung 


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257 


man,  ohne  übrigens  eine  allmähliche  Entwicklung  der  städtischen 
Autonomie  vollständig  in  Abrede  zu  stellen,  doch  annahm,  in 
einer  kaiserlichen  oder  bischöflichen  Ratseinsetzung  oder  wenig- 
stens Ratsbestätigung  das  entscheidende  Moment  der  Entwicklung 
sehen  zu  müssen ; *)  oder  man  fand  dasselbe  doch  zum  mindesten 
in  der  Einsetzung  eines,  sei  es  autonomen  sei  es  kaiserlichen 
Friedensgerichtes,  aus  dem  sich  dann  im  Laufe  der  Zeit  ein 
Rat  entwickelt  habe.*)  Gehen  wir  zur  Prüfung  dieser  Ansich- 
ten, die  gerade  auch  neuerdings  Vertretung  gefunden,  auf  die 
diesbezüglichen  Verhältnisse  der  einzelnen  Städte  näher  ein. 

Für  die  Annahme  kaiserlicher  Ratserrichtung,  mit  der 
gleichzeitig  völlige  Befreiung  der  betreffenden  Stadt  von  der 
bischöflichen  Herrschaft  verbunden  gewesen,  schien  man  sich 
lange  ganz  besonders  auf  das  Beispiel  von  Worms  berufen  zu 
können.  Der  Altmeister  der  Deutschen  Städteforschung,  Arnold,*) 
lässt  Friedrich  I.  die  Stadt  Worms  durch  den  Freiheitsbrief 
vom  20.  Oktober  1156  zu  einem  unter  dem  Schutz  des  Kaisers 
stehenden  Freistaate  machen.  Friedrich  habe  den  Rat,  der 
vorher  „ nur  aus  Not“  Gerichtsbarkeit  geübt,  förmlich  mit 
kaiserlicher  Gerichtsbarkeit  bekleidet;  „vermutlich“  habe  er  auch 
„die  eisten  Mitglieder  des  Stadtgerichts,“  also  gerade  nach  Ar- 
nolds Auffassung  auch  des  Rats,  „selbst  ernannt.“4)  Nach 
Nitzsch5)  schuf  Friedrich  I.  zwar  keine  unabhängige  Ver- 
fassung, aber  doch  eine  besondere  Behörde  für  städtische  An- 
gelegenheiten; die  40  iudices  sind  auch  für  ihn  zugleich  die 
consiliarii.  Hegel0)  und  Gierke7)  meinen,  dass  Friedrich  in 

durch  Heinrich  VI.  durchaus  nicht  beigestimmt  werden  kann.  Mit  Hecht  er- 
klärt übrigens  Gierke  I S.  278,  dass  die  iudices  in  Worms,  auch  ehe  sie 
sich  consules  nennen,  als  wahrer  Rat  erscheinen. 

')  Dies  war  insbes.  bei  Speier  der  Fall  vgL  z.  B.  Schaube  S.  460  und 
Hegel  Monatsschrift  1854  S.  181,  Gierke  1275.  Dagegen  hat  schon  Hegel 
Mainz  S.  35  f ür  Mainz  die  Existenz  eines  eigenen  Organs  der  Gemeindeverwaltung 
vor  der  Ratsentstehung  nachgewiesen,  vgl.  auch  Hoeniger  Westd.  Ztschr.  III 
S.  60;  nur  betont  meines  Erachtens  Hegel  zu  sehr  den  Charakter  bischöflicher 
Beatmung  dieser  Gemeindevertretung,  wie  sich  aus  dem  folgenden  ergeben  wird. 

*)  Gierke  I S.  273;  Schaube  Worms  S.  279,  280. 

*)  V.  G.  I 214. 

4)  ibid.  I 216. 

*)  Ministerialität  S.  331. 

*)  Ital.  Stdtvrfss.  (Leipz.  1847)  II  Anhang  S.  428,  Monatsschr.  (1854)  S.  179. 

>)  I S.  268. 

Koehne,  Ursprung  der  Stadtverfauung  in  Worms,  Speier  und  Kainz.  17 


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258 


dem  Privileg  nur  eine  geschworene  Stadtfriedenseinuug  bestätigt; 
nach  beiden  brachten  dann  die  iudices  durch  allmähliche  Erweite- 
rung ihrer  Befugnisse  das  Stadtregiment  an  sich  und  wurden 
so  zum  Rat. 

Die  ganze  Untersuchung  nahm  dadurch  einen  anderen  Cha- 
rakter an,  dass  sich  1859  Stumpf1)  mit  gewichtigen  Gründen 
für  die  Unechtheit  des  Privilegs  von  1156  aussprach.  Er  lässt 
es  in  den  Jahren  1198 — 1208  auf  Anregung  des  Speierer  Frei- 
heitsbriefes von  1198  durch  einen  im  Interesse  des  Wormser 
Rats  thätigen  Fälscher  verfasst  sein.  Diese  Ergebnisse  der 
Stumpfschen  Forschung  wurden  bis  ganz  vor  kurzem  fast  all- 
gemein als  richtig  anerkannt;*)  so  wurde  denn  die  Meinung 
unhaltbar,  dass  ein  von  Friedrich  I.  verliehener  Stadtfriede  den 
Anfang  der  Entwicklung  gebildet.  Arnold*)  selbst  gestand 
jetzt  zu,  dass  der  Rat  nicht  auf  Grund  eines  Privilegs  ent- 
standen sei.  „Sachlich  freilich  wird“  nach  Arnold,  was  die 
Erkenntnis  der  in  Worms  herrschenden  Zustände  betrifft, 
„durch  die  Entdeckungen  Stumpfs  nur  wenig  geändert.“  Da 
der  „Inhalt“  der  falschen  Urkunde  „bereits  in  die  unzweifelhaft 
echten  Privilegien  Friedrichs  II.  von  1220  und  1236  wörtliche 
Aufnahme  gefunden“  hatte,  so  werde  die  Fälschung  kaum  mehr  für 
die  bürgerliche  Freiheit  enthalten  haben , als  was  die  Bürger  zu 
Anfang  des  13.  Jahrhunderts  schon  erlangt  hatten. 

Neuerdings  ist  nun  die  von  Stumpf  behauptete  Fälschung 
unserer  Urkunde  von  Schaube4)  wieder  in  Frage  gestellt 
worden.  Dieser  erklärte  das  Privileg  für  völlig  echt;  nur  be- 
sässen  wir  in  der  uns  vorliegenden  Ausfertigung  lediglich  eine 
von  einem  Schreiber  angefertigte  spätere  Abschrift  des  Origi- 
nals von  1156,  welche  in  der  kaiserlichen  Kanzlei  zwischen 
1183  und  1186  besiegelt  und  beglaubigt  wäre.  Damals  sei 
auch  die  Zeugenreihe  hinzugefügt,  die  desshalb  teils  aus  Per- 
sonen, welche  zur  Zeit  des  Originals,  teils  aus  solchen, 
welche  zur  Zeit  der  Beglaubigung  der  Copie  lebten, 

>)  Sitzungsberichte  der  Wiener  Acad.  1859  (Bd.  32)  S.  603  ff. 

*)  vgl.  die  von  Schaube  Worms  S.  276  N.  4 und  6 angeführte  Literatur. 

')  Arnold  Eigentums.  XVIII  ff.,  vgl.  auch  H eus  1 er  Urspr.  8.  180, 181, 
von  M aurer  I 8.602. 

4)  Worms S.  276 ff.;  Schaubes  hier geSusserten  Ansichten  hat  sich  Aloyi 
Schulte  in  Gött.  gel.  Anzeigen  1887  S.  926  angeschlossen. 


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259 


bestehe.  Im  übrigen  enthält  die  Urkunde  nach  Schaube  gar 
keine  Ratseinsetzung,  sondern  die  Einsetzung  eines  Frie- 
densgerichtes; „in  diesem  sei  zuerst  ein  gemeinsames 
Organ  der  beiden  wichtigen  Faktoren  des  Stadtwesens,  des 
Bürgertums  und  der  Ministerialität,  geschaffen,“  „das  sich 
später  durch  Usurpation  zu  einer  communalen  Ratsbehörde 
entwickelte.“  *) 

Kann  man  den  Einwendungen  Schaubes  gegen  die  von 
Stumpf  vertretene  Ansicht  zustimmen?  Der  erste  Grund, 
den  Stumpf  gegen  die  Echtheit  unserer  Urkunde  geltend 
macht,  besteht  in  dem  Nachweise,  dass  die  in  der  Ur- 
kunde genannten  Zeugen  nicht  zum  Jahre  1156  passen 
und  dass,  wenn  wir  auch  das  Datierungsjahr  unserer  Ur- 
kunde verändern  dürften,  „sich  doch  keines  ermitteln“  liesse, 
„in  welchem  ein  gleichzeitiges  Zusammensein  obiger 
Zeugen“  angenommen  werden  könnte.*)  Im  Fortgange  seiner 
Untersuchung  machte  Stumpf  dann  darauf  aufmerksam,  dass 
alle  in  dieser  Zeugenliste  vorkommenden  Namen  bis  auf  drei 
derjenigen  der  Worms  erteilten  Urkunde  von  1165  September  26 
und  der  des  Freiheitsbriefs  Friedrichs  I.  für  Worms  von  1184 
Januar  3*)  entnommen  seien.  Von  den  drei  übrigen  Namen 
seien  Bischof  Gottfried  von  Speier  und  Abt  Heinrich  von  Lorsch 
„wohl  nur  als  die  beiden  mächtigsten  Nachbarn  des  Gebietes 
von  Worms  willkürlich  herbeigezogen“  und  „Protonotar  Kon- 
rad  vielleicht  nur  desshalb  in  die  Urkunde  aufgenommen  wor- 
den, weil  gerade  in  den  beiden  Husterurkunden  kaiserliche 
Protonotare  als  Zeugen  erscheinen.“4)  Schaube  findet  es  nun 
auffallend,  dass  gerade  für  diese  Beamtung  der  Fälscher  einen 
anderen  Namen  als  die  in  den  Musterurkunden  vorkommenden 
gewählt  habe,  und  sieht  sich  daher  veranlasst,  anzunehmen, 
dass  ein  Protonotar  Konrad,  den  er  in  einer  zwischen  1198 
und  1200  ausgestellten  Urkunde5)  nachweist,  „vielleicht  schon 


*)  ibid.  S.  288. 

*)  8.  611. 

*)  W.  U.  81  und  90. 

‘)  8.  624  , 625. 

*)  Wiirdtwein  Nora  subsidia  diplo.  (Heidelb.  1789)  XII  p.  131.  Es  ist  das 
eine  Urk.  Erzb.  Johannes  von  Trier,  welche  mit  den  Siegeln  König  Philipps  und  Bi- 
schof C(onrad)8  vonW ttrzburg  (1198— 1 202)  beglaubigt  und  vonProtonotarC(onrad) 

i r 


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260 


1183—86  gelebt“  *)  und,  wie  wir  ganz  in  seinem  Sinne  hinzu- 
setzen müssen,  dies  Amt  verwaltet  habe.  Der  Protonotar, 
welcher  in  der  von  Schaube  erwähnten  Urkunde  vorkommt, 
ist  nun  aber  der  nur  zwischen  1198  und  1200  fungierende  Kon- 
rad  von  Scharfenberg;8)  seine  Zeugenschaft  kann  also  in  keiner 
Weise  mit  der  Ansicht  Schaubes  über  unsere  Urkunde  in  Ein- 
klang gebracht  werden.  Es  ist  aber  auch  nicht  möglich,  durch 
den  Einwand,  dass  in  der  Zeugenreihe  ein  anderer,  sonst  nicht 
erwähnter,  Protonotar  Konrad  gemeint  sei,  Schaubes  Theorie 
zu  verteidigen.  Im  Jahre  1156  bestand  nämlich  das  Amt  des 
Protonotars  noch  nicht8)  und  zwischen  1181  und  1188  ist 
Eudolf  als  Protonotar  bezeugt.4)  Es  gab  aber  stets,  wie  nur 
einen  Hofkanzler,  so  auch  nur  einen  Protonotar.5) 

Auch  die  Erwähnung  der  nach  Stumpfs  Ansicht  der  Ur- 
kunde von  1165  entnommenen  Zeugen,  welche  1183 — 1186  schon 
z.  T.  verstorben  waren,  bliebe  bei  Richtigkeit  von  Schaubes 
Theorie  doch  recht  auffällig.  Unmöglich  wäre  ja  allerdings 
durch  dies  Moment  Schaubes  Hypothese  noch  nicht.  Die  1156 
ausgestellte  Urkunde  würde  dann  gewissermassen  die  Vorur- 
kunde ihrer  uns  vorliegenden  Bestätigung  von  1183—86  sein, 
die  freilich  sonderbar  genug  in  dem  Datum  1156  das  ihrer 
Vorurkunde  trüge.  Es  sind  nun  nach  Bresslau6)  immerhin 
Beispiele  königlicher  Urkunden  bezeugt,  in  denen  die  Zeugen- 
listen der  Vorurkunden  mit  Auslassungen  und  Hinzufügungen 
wiederholt  sind.  Dann  würde  aber  immer  noch  die  Aufnahme 
von  Bischof  Gottfried  von  Speier,  Propst  Emicho  von  St.  Paul 
und  Protonotar  Conrad  in  die  Zeugenliste  unerklärbar  sein,7) 
da  alle  drei  weder  zu  1156  noch  zu  1183—1186  passen. 

unterschrieben  ist.  Ans  der  Erwähnung  des  letzteren  folgt,  dass  die  Urkunde 
in  die  Jahre  1198—1200  zu  setzen  ist. 

«)  8.  287. 

’)  Bresslau  Urkundenlehre  S.  419. 

*)  ibid.  S.  369. 

4)  ibid.  8.  379. 

»)  ibid.  8.  369. 

*)  ibid.  S.  658,  vgl.  auch  677. 

*)  Gottfried  war  1164 — 67  Bischof  von  Speier.  Propst  Emicho  von  St. 
Paul  ist  von  1161 — 73  bezeugt,  spätestens  1182  ist  er  nicht  mehr  in  diesem 
Amte,  da  alsdann  Marquard  darin  bezeugt  ist  (Sp.  U.  18).  Über  Protonotar 
Conrad  vgl.  das  oben  im  Text  gesagte. 


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261 


So  ist  die  Zeugenliste  jedenfalls  unecht.1)  Dass  dieselbe 
aber  nicht  etwa  erst  später  der  fertigen  Urkunde  zugefiigt  ist, 
ergiebt  die  Einheitlichkeit  der  Handschrift  unseres  Documents.*) 
Zu  diesem  aus  der  Form  der  Urkunde  erkennbaren  Grunde*) 
der  Unechtheit  kommen  nun  noch  diejenigen,  welche  aus  dem 
Inhalte  hervorgehen.  Schaube4)  erklärt,  er  würde  selbst  die 
Urkunde  für  unecht  halten,  „weun  nach  ihr,  wie  Arnold  will, 
Friedrich  ein  republikanisches  Stadtregiment  in  Worms  geschaffen 
hätte,  was  seiner  ganzen  Politik  widersprach.“  Die  Erörterung 
darüber,  in  wie  weit  die  Urkunde  eine  Anerkennung  der 
städtischen  Selbständigkeit  oder  Schaffung  republikanischer 
Stadteinrichtung  enthält,  möge  noch  auf  später  verschoben 
werden.  Schon  von  gar  nicht  in  Frage  zu  stellenden  Bestim- 
mungen des  Privilegs  von  1156  lässt  sich  ja  nachweisen,  dass 
dieselben  mit  der  von  Friedrich  I.  vertretenen  rechtlichen  und 
politischen  Auffassung  in  solchem  Widerspruch  stehen,  dass  au 
der  Unechtheit  dieses  Privilegs  garnicht  zu  zweifeln  ist.  Er- 
innern wir  uns  zunächst  der  früher  erwähnten  Stelle  desselben, 
nach  der  — ganz  im  Geiste  des  sich  bildenden  Stadtrechts  — 
der  gerichtliche  Zweikampf  verboten  wird,5)  und  vergleichen 

■)  Schaube  S.  287  meint  allerdings,  .dass  Unregelmässigkeiten  in  der 
Zengenreihe  auch  von  Urkunden,  die  in  der  kaiserlichen  Kanzlei  angefertigt 
sind,“  nichts  ungewöhnliches  seien,  und  beruft  sich  dafür  auf  Ficker  in 
Uittcil.  des  Inst.  II  8.  179  ff.  Dort  wird  aber  nur  gesagt,  dass  gewisse  Un- 
regelmässigkeiten in  der  Zeugenreihe  wie  Hinzufilgnng  nicht  consentierender 
Zengen,  Fehler  in  der  üblichen  Rangordnung  der  Zengen  und  dergleichen 
Urkunden  noch  nicht  unecht  machen.  Dagegen  hebt  Ficker  a.  a.  0.  gerade 
folgendes  hervor:  „Für  das.  zwölfte  Jahrhundert  ist  nicht  zu  bezweifeln,  dass 
die  Zeugenreihe  dem  Einzelteile  genau  angepasst  und  nur  solche  (Zeugen)  auf- 
genommen wurden,  welche  bei  dem  für  das  Zeugnis  massgebenden  Akt  per- 
sönlich gegenwärtig  waren“  (Ficker  S.  181). 

*)  So  nach  persönlicher  Einsicht  in  dasselbe,  vgl.  auch  Stumpf  S.  618: 
„Das  Document  zählt  23  Zeilen,  die  sämmtlich  von  einem  Schreiber  ge- 
schrieben sind.“ 

*)  Dazu  kommen  noch  die  anderen  von  Stumpf  (S.  618,  619)  ange- 
führten diplomatischen  Gründe  für  Unechtheit  unseres  Privilegs,  wie  das 
rohe  Pergament,  die  schmutzig  blassbranne  Tinte,  die  ungewöhnliche  Form 
der  .Buchstaben  etc.,  die  schwerlich  alle  durch  die  Schaube 'sehe  Annahme, 
dass  wir  hier  eine  von  der  Kanzlei  besiegelte  Copie  vor  uns  haben,  hin- 
reichend erklärt  sind. 

4)  S.  287  unten. 

*)  nulli  liceat,  burgeusem  aut  extraneum  ad  duellum  provocare. 


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262 


damit  z.  B.  die  Bestimmungen  in  Friedrichs  I.  Constitutio  de 
pace  tenenda.1)  Hier  wird  gerade  das  genannte  Beweismittel 
ausdrücklich  anerkannt,  indem  nur  mit  Hilfe  desselben  ein 
wegen  Tödtung  oder  Körperverletzung  angeklagter  darthun 
konnte,  dass  er  sich  bei  Begehung  der  That  im  Zustande  der 
Notwehr  befunden  habe.*)  Ferner  wird  in  dem  angeblichen 
Privileg  Friedrichs  I.  Appellation  gegen  die  Urteile  des  Stadt- 
gerichts ausdrücklich  verboten;*)  ebendieser  legte  aber  bekannt- 
lich bei  den  Constanzer  Friedensverhandlungen  ganz  besonderes 
Gewicht  darauf,  wenigstens  das  Recht  der  Processentscheidung 
in  der  Berufungsinstanz  zu  behalten.1)  Auch  die  Gerichtsbar- 
keit der  Bischöfe  in  ihren  Städten  hat  er  nachweislich  niemals 
in  Frage  gestellt  oder  gemindert.  Endlich  wird  in  unserer 
Urkunde  der  überwiegend  aus  Kaufleuten  bestehenden  Stadt- 
gemeinde ein  weitgehendes  Recht  der  Selbsthilfe  gegen  aus- 
wärtige Feinde  verliehen;*)  ähnliches  findet  sich  nicht  nur  in 
keinem  anderen  Documente  Friedrichs,  sondern  hier  tritt  grade 
die  Anschauung  hervor,  dass  Kaufleute  nur  bei  Notwehr  das 
Schwert  ziehen  dürfen.8)  Alles  dies  spricht  für  die  Richtigkeit 
der  Auffassung  Stumpfs,  dass  unser  ganzes  Document  erst 
nach  dem  Tode  Friedrichs  I.  von  einem  städtischen  Fälscher 

‘)  L.  L.  II  p.  101.  Pertz  1.  c.  und  ebenso  Prutz  Friedrich  I.  Bd.  I 
8.  100  lassen  diesen  Landfrieden  am  18.  September  1156  anf  dem  Regens- 
burger Reichstag  verkündet  werden.  Neuerdings  hat  jedoch  Kflch  (die 
Landfriedensbestrebungen  Kaiser  Friedrich’s  I.  Harb.  1887  8.  13—16)  nach- 
gewiesen, dass  dieser  Landfrieden  mit  dem  erwähnten  Reichstage  in  keinem 
Zusammenhang  steht,  und  dass  das  Datum  dieses  Gesetzes  nur  in  so  weit 
festzustellen  ist,  dass  es  nach  dem  9.  März  1152  und  jedenfalls  vor  1155  er- 
lassen ist. 

*)  c.  1 und  2,  cf.  auch  die  mehrfache  Erwähnung  des  duellnm  in  dem 
1158  für  das  Heer  erlassenen  Friedensgesetze  Rahewin  Gesta  Frid.  I 1.  IH 
c.  28  (cd.  Waitz  M.  G.  in  8 0 p.  169  ssq  ). 

*)  S.  60  Z.  15:  si  quis  burgensis  suum  conburgensem  super  aliqua  causa 
voluerit  impetere,  coram  indicibns  hoc  faciat  et  eo  iure  contentns  sit  quod  ei 
iudices  per  sententiam  secundum  iura  civitatis  dictaverint  et  non  appellet 
ad  maiorem  audientiam. 

4)  vgl.  Prutz,  Friedrich  I.  Bd.  III  8.  143  und  374. 

5)  S.  60  Z.  43  ff. : si  locus  munitns  fuerit obsidione  eum  cingant 

. . . et  si  locus  expugnari  poterit,  gratum  habeant. 

*)  L.  L.  II  p.  102  c.  13:  Mercator  negotiandi  causa  per  provinciam 
transiens,  gladium  suum  Bellae  alliget,  et  super  vehieninm  suum  ponat,  ne 
unquam  laedat  innocentem,  set  ut  se  a praedone  defendat. 


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263 


( 


verfasst  ist.1)  Was  von  den  Einwendungen  Schaubes  gegen 
diese  Theorie  noch  nicht  besprochen  ist,  kann  auch  leicht  er- 
ledigt werden.  Polemisiert  er  *)  gegen  die  Bemerkung  Stumpfs, 
dass  die  Wormser  Privilegien  den  Speier  erteilten  nachzufolgen 
pflegten,  und  dass  desshalb  die  Fälschung  durch  das  Speier 
1198  erteilte,  die  Gewährung  eines  Stadtrats  enthaltende  Pri- 
vileg hervorgerufen  sei,  so  trifft  er  damit  höchstens  die  von 
Stampf  zur  näheren  Erklärung  der  Fälschung  herangezogenen 
Thatsachen,  nicht  die  gegen  die  Echtheit  des  Privilegs  von 
1156  angeführten  Gründe.  Im  übrigen  ist  von  Stumpf  das 
Wormser  Zollprivileg  von  1074  an  dieser  Stelle  ganz  mit  Recht 
ausser  Acht  gelassen, s)  und  was  es  mit  dem  angeblichen  Privi- 
leg Heinrichs  VI.4)  für  Worms  für  eine  Bewandnis  hat,  wird 
später  festgestellt  werden.  Immerhin  wichtiger  als  dieser 
Ein  wand  mag  es  noch  erscheinen,  dass  nach  Schaube6)  die 
Erwähnung  Werners  von  Boianden  in  der  „Rolle  eines  vom 
Kaiser  verordneten  Helfers  der  Bürgerschaft  bei  Verfolgung 
von  Friedensbrechern“  „eine  Fälschung  als  nicht  recht  begreif- 
lich erscheinen  lasse.“  „Das  Geschlecht  der  Boianden  hätte 
von  einer  solchen  ihm  übertragenen  Hilfeleistung  doch  etwas 
wissen“  und  ein  Fälscher  daher  von  ihm  „Aufdeckung  des  Be- 
truges“ erwarten  müssen. 5)  Durchaus  richtig  bemerkt  Schaube,*) 
dass  von  einem  kaiserlichen  Vicedominus  von  Worms, 
Werner  von  Boland,  welchen  schon  Fiersheim7)  in  unserer 
Urkunde  gefunden  hat,  mag  man  sie  nun  für  echt  oder  falsch 


*)  Sucht  Schaube  S.  281  die  Echtheit  dee  Privilegs  dadurch  wahr- 
scheinlich zu  machen,  dass  er  das  angebliche  Friedensgericht  mit  der  von 
der  Wormser  Chronik  berichteten  Plünderung  der  Stadt  durch  Pfalzgraf 
Eonrad  bei  Rhein  in  Verbindung  bringt,  so  übersieht  er,  dass  dieser  erst 
1167  die  Pfalz  erhielt  (vgl.  Prutz  Friedrich  I.  Bd.  II  S.  139). 

*)  S.  277. 

*)  Als  die  Speierer  1111  dasselbe,  was  dies  Privileg  den  Wormsern  ge- 
wühlte, erhielten,  wurden  ihnen  zugleich  noch  weit  grössere  Rechte  gegeben 
(U  13),  und  es  ist  oben  S.  227  ff.  gezeigt  worden,  dass  aller  Wahrscheinlich- 
keit nach  gerade  dies,  Speier  erteilte,  Privileg  die  Wormser  veranlasste,  sich 
die  gleichen  Berechtigungen  mit  Gewalt  zu  verschaffen. 

*)  Boehmer  Fontes  U p.  216,  216. 

»)  S.  283. 

•)  S.  285,  286. 

ln  den  Zusitzen  zu  Zorns  Chronik  (ed.  Arnold  S.  67). 


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264 


halten,  keine  Eede  sein  kann.1)  Dennoch  ist  gerade  die  Er- 
wähnung Werners  von  Boianden  mit  der  Ansicht,  dass  die 
Urkunde  gefälscht  ist,  sehr  wohl  in  Verbindung  zu  bringen, 
wobei  auch  die  Zeit  der  Fälschung  eben  dadurch  genauer, 
als  es  von  Stumpf  geschehen,  bestimmt  werden  kann.  Die 
Thatsache,  dass  das  Geschlecht  der  Boianden  mit  der  Bolle  der 
vom  Kaiser  den  Wormsern  bestimmten  Verteidiger,  welche 
ihnen  die  angebliche  Urkunde  Friedrichs  I.  gab,  wohl  zufrieden 
war,  lässt  sich  schon  aus  der  Bestätigung  dieser  Urkunde  vom 
Jahre  1220  mit  Sicherheit  ersehen.*)  Wo  die  Urkunde  von 
1156  Werner  (I.)  von  Boianden  nennt,  da  erscheinen  1220  seine 
Enkel  Werner  (III.)  und  Philipp  (II.);  beide  begegnen  auch  in 
der  Zeugenliste  dieser  letzteren  Urkunde. 

Nach  dem  Lehensbuche  Werners-  II.  von  Boianden  war 
sein  Geschlecht  in  der  Stadt  wie  in  der  Umgegend  von  Worms 
reich  begütert;*)  eins  seiner  Wormser  Häuser  bezeichnet  er 
ausdrücklich  als  seinen  gewöhnlichen  Aufenthaltsort.4)  Im 
Jahre  1200  gerieten  nun  die  schon  erwähnten  Söhne  dieses 
Werners  IL,  nämlich  Werner  III.  und  Philipp  H.  von  Boianden, 
mit  Bischof  Lupoid  von  Worms,  von  dem  sie  mehrere  Lehen 
hatten,5)  in  einen  Conflikt,  der  uns  auch  Aufklärung  über  ihre 
Erwähnung  in  unserer  Urkunde  giebt.  Damals  wurde  nämlich 
dieser  dem  staufischen  Hause  treu  ergebene  Prälat  von  der 
Mehrzahl  der  Mainzer  Domherrn  auf  Empfehlung  König  Philipps 
hin  zum  Erzbischof  gewählt.6)  Kurz  darauf  übertrag  jedoch 
eine  von  den  beiden  Bolandischen  Brüdern  beeinflusste  Minder- 


*)  Mit  Hecht  führt  Schaube  a.  a.  0.  aus.  dass  in  der  die  Helfer  der 
Stadt  aufzäblcndcn  Stelle  (Boos  S.  61  Z.  4 ff.)  hinter  Wernherum  de  Bonlanden 
ein  Komma  stehen  muss,  weil  dieselbe  in  den  späteren  Bestätigungen  durch 
antedictos  de  Bol.  fratres,  vicedominum,  scnltetum  etc.  wiedergegeben  ist. 
Auch  wird  unter  den  Zeugen  der  Urkunde  ausdrücklich  Bnrcardus  als  rice- 
dominns  genannt.  Übereinstimmend  mit  Schaube  hat  übrigens  auch  schon 
früher  Bresslau  Diplomata  centum  p.  129  interpungiert. 

*)  U 124. 

*)  Sauer,  Die  ältesten  Lehnsbücher  der  Herrschaft  Bolauden  (Wiesb. 
1882)  S.  18,  22,  25,  30,  36. 

‘)  ibid.  S.  36. 

•)  ibid.  S.  21,  22. 

°)  Über  die  Mainzer  Doppel  wähl  des  Jahres  1200  cf.  B-W  Bd.  II  Einl. 
p.  XVIll— XXIII  und  N.  XXXII  1. 


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265 


heit  diese  Würde  an  einen  Verwandten  derselben,1)  den  Propst 
Sigfrid  von  Eppenstein.  Dieser  fand  Schatz  und  Anerkennung 
bei  Otto  IV,  auf  dessen  Seite  auch  die  Boianden  übertraten.') 
Papst  InnocensIH.  entschied  darauf  bekanntlich  für  Sigfrid  und 
sprach  über  Lupoid,  da  derselbe  darauf  beharrte,  beiden  Bistümern 
gleichzeitig  vorzustehen,  den  Bann  aus.3)  Dennoch  vermochte 
sich  Lupoid,  so  lange  Philipp  lebte,  in  beiden  Bistümern  zu 
behaupten.4)  Anders  war  es  naeh  Philipps  Ermordung  (1208 
Juni  21).  Während  Sigfrid  alsbald  nach  Mainz  zurückkehrte, 
sah  sich  Lupoid  gezwungen,  nicht  nur  die  Mainzer,  sondern 
auch  die  Wormser  Diöcese  zu  meiden.  Mehrere  Jahre  musste 
er  in  Verbannung  verbringen;8)  mit  den  übrigen  staufischen 
Parteigängern  wurden  hingegen  auch  die  Boianden,  die  seit 
1202  auf  Philipps  Seite  zurückgekehrt,6)  von  Otto  amnestiert.7) 
Sie  standen  auch  Sigfrid  bei  der  Verwaltung  des  Wormser 
Bistums  zur  Seite,  die  derselbe  in  Lupolds  Abwesenheit  kraft 
seiner  Diöcesangewalt  und  besonderer  päpstlicher  Ermächtigung 
führte.*)  Diese  Herrschaft  Sigfrieds  und  der  Boianden  im 
Wormser  Bistum  endigte  mit  der  Zurückführung  Lupolds  durch 
Friedrich  II.  1212. 

Demnach  sind  als  die  äussersten  Zeitgrenzen,'  innerhalb 
deren  die  Fälschung  entstanden  sein  kann,  die  Jahre  1208 
und  1212  zu  bezeichnen.  Jedenfalls  hätte  ja  vor  1208 

*)  cf.  B-W  t.  II  Einl.  p XV  sowie  Wink el m ann,  König  Philipp  S.  523. 

*)  Winkelmann  S.  191  N.  2 meint,  .der  Abfall  . . geschah  wahrscheinlich  bei 
Ablauf  des  Waffenstillstandes*  (derselbe  dauerte  nach  S.  173  bis  Martini). 

*)  B-W  XXXII  a 9. 

4)  Chron.  ürsperg.  S.  S.  XXIII  p.  369:  nec  iste  (Errb.  Adolf  von  Köln) 
nec  prefatus  Sifridns  Maguntinus  potuernnt  acquirerc  tcmporalium  administra- 
tionem  nsque  ad  mortem  Philippi. 

•)  cf.  Schannat  II  p.  97  N.  104  a 1212:  reversus  ab  exterminio,  in  quo 
diu  desndavi. 

•)  Noch  in  dem  seinem  Tode  vorhergehenden  Monat  beurkundet  Philipp 
ein  von  Wernher  von  Boianden  vorgenommenes  Rechtsgeschäft  (Urk.  Philipps 
von  1208,  Mai  17,  B-F  181). 

*)  Sie  erscheinen  1208,  Dec.  2,  (B-F  247,  Sp.  U.  25)  in  einer  Urkunde 
Otto’s  IV.  als  Zeugen. 

•)  cf.  B-W  XXXII  138  (=  W U 114,  Schannat  II  N.  103),  Urk.  Sig- 
frids , worin  er  die  Pfarrei  St.  Lambert  zu  Worms  mit  dem  Decanat  des 
Blartinsstifts  vereinigt:  Nunc  super  ecclesia  Wormatiensi  ordinariam  simnl  et 
apostolicam  auctoritatem  habentes,  eo  quod  pastoris  proprii  sit  regimine  de- 
stitnta  et  specialiter  ipsius  ordinatio  sollicitudini  nostrae  ab  apostolica  sede 


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266 


Juni  21,  also  in  der  Zeit,  in  welcher  die  Wormser 
mit  Lupoid  zusammen  auf  Philipps  Seite  fochten,  die  An- 
fertigung einer  die  Bistumsrechte  mindernden  Urkunde  keinen 
Sinn  gehabt,  weder  in  den  Jahren,  in  denen  die  Boianden  sich 
zu  Ottos,  noch  in  denen,  in  welchen  sie  sich  zu  Philipps  Partei 
hielten.  Es  folgt  auch  aus  dem  erörterten,  dass  es  durchaus 
kein  Zufall  ist,  dass  sich  die  Häupter  dieses  Ministerialen- 
geschlechts stets  zur  Zeit  von  Bestätigungen  des  angeblichen 
Privilegs  in  der  Umgebung  des  bestätigenden  Königs  befanden.1) 
Man  kann  gradezu  annehmen,  dass  Werner  (III.)  und  Philipp 
(II.)  von  Boianden  an  der  Fälschung  beteiligt  waren.  Dies 
wird  noch  mehr  erhellen,  wenn  mittels  dieser  Bestätigungen 
die  Entstehnngszeit  dieses  Documents  noch  genauer  festgestellt 
ist.  Zu  diesem  Zweck  muss  auf  den  Inhalt  der  gefälschten 
Urkunde  selbst  näher  eingegangen  werden;  dadurch  wird  zu- 
gleich wichtiges  Material  zur  Lösung  der  hier  hauptsächlich  in 
Betracht  kommenden  Frage  nach  der  Herkunft  des  Rats  ge- 
wonnen werden.  Allerdings  erteilt  das  angebliche  Privileg  den 
Wormsern  auch  Rechte,  welche  sie  nie,  auch  nicht  zur  Zeit 
seiner  officiellen  Bestätigung,  besessen  haben.  Dies  ist  z.  B. 
mit  der  Verordnung  der  Fall,  ein  Auswärtiger,  der  einen 
Wormser  in  irgend  einem  Teile  des  Reichs  angegriffen  oder 
geplündert  habe,  solle  vor  das  Wormser  Gericht  gebracht  und, 
wo  er  sich  auch  befinde,  diesem  ausgeliefert  werden.*)  Diese 

commissa.  In  dieser  Urkunde  werden  ausser  je  einem  Wormser  und  Mainzer 
Geistlichen  nur  Werner  und  Philipp  von  Boianden  als  Zeugen  genannt.  Für 
Sigfrids  Verwaltung  der  Wormser  Diöcese,  vgL  auch  B-W  XXXII  133, 137, 176. 

')  Zur  Zeit  des  Privilegs  Otto’s  für  Worms  1208  (U  110),  worin,  wie 
unten  gezeigt  werden  wird,  die  erste  Bestätigung  des  gefälschten  Privilegs 
zu  finden  ist,  waren,  wie  aus  B-F  247  hervorgeht,  die  beiden  Brüder  in 
Otto's  Umgehung;  in  den  spätem  wörtlichen  Bestätigungen  durch  Fried- 
rich II.  (U  124  und  U 182)  erscheinen  sie  unter  den  Zeugen. 

*)  si  quis  comprovincialium  vestrorum  aliquem  de  civibus  in  quovis  im- 
perii  loco  invaserit  aut  depredatus  fuerit,  vulneraverit  aut  occiderit  mmorque 
ad  vos  pervenerit,  burgenscs  vestri  illum  insequantur  et  ... . taliter  de  eo 
iudicium  sumatur  ac  si  hec  infra  civitatem  comississet.  Qnod  si  aufn- 
gerit  ...  et  in  aliqua  civitate  vel  castello  receptus  fuerit,  burgenses  illnc 
veniant  et  ipsum  . . . reposcant;  sie  dürfen  sich  dann  auch,  um  seiner  hab- 
haft zu  werden,  der  Gewalt  bedienen.  — Im  Beginn  dieser  Stelle  muss  es 
abweichend  von  Boos  Lesart  comprovincialium  nostrorum  vielmehr  vestro- 
rum heissen,  wie  auchBresslau  diplomata  p.  129  liest;  so  auch  die  Bestiti- 


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267 


Bestimmung  kann  entschieden  nur  als  Ansdruck  der  Wünsche 
der  Wormser  Bürgerschaft  betrachtet  werden;  als  Zeichen 
wirklich  geltenden  Rechts  ist  sie  keineswegs  zu  benutzen, 
weder  für  die  Zeit,  in  welcher  die  Fälschung  entstanden,  noch 
für  die  Zeiten  der  officiellen  Bestätigungen,  geschweige  denn 
für  die  Mitte  des  12.  Jahrhunderts,  in  welcher  ja  der  Fälscher 
das  Privileg  gegeben  sein  lässt.  Ganz  anders  können  jedoch 
die  Stellen  verwertet  werden,  in  welchen  es  sich  um  Einrich- 
tungen in  der  Stadt  selbst  handelt.  Hier  ist  anzunehmen,  dass 
die  Fälschung  nur  die  zur  Zeit  ihrer  Entstehung  wirklich  herr- 
schenden Zustände  durch  Zurückführung  derselben  auf  Friedrich  I. 
rechtlich  sichern  wollte.  Auf  diese  Weise  lassen  sich  nun  besonders 
diejenigen  angeblichen  Verordnungen  Friedrichs  I.  historisch 
benutzen,  welche  die  Behörde  der  40  iudices  betreffen.  Diese 
Behörde  bestand  zweifellos  wirklich,  wie  es  nach  der  Fälschung 
sein  sollte,  aus  12  ministeriales  und  28  burgenses;  auch  die 
Angabe,  dass  dieselben  darauf  vereidigt  waren,  gerecht  zu 
richten,1)  ist  zweifellos  den  wirklichen  Verhältnissen  entnommen. 
Zum  mindesten  für  die  nächste  Zeit  nach  der  ersten  kaiserlichen 
Bestätigung  der  Urkunde  also  nach  1208  ist  auch  anzunehmen, 
dass  ihr  gemäss  Majorität  unter  den  iudices  entschied  und 
diese  selbst  das  Recht  hatten,  unwürdige  Mitglieder  aus  ihrem 
Colleg  auszustossen.  Sie  richteten  secundum  iura  civitatis  d.  h. 
nach  dem  damals  voll  ansgebildeten  städtischen  Gewohnheits- 


gungsurkunde  U 124  (S.  96  Z.  20).  An»  dem  Zusammenhang  geht  hervor, 
dass  comprovinciales  hier  nicht  Wormser  Bürger  sind.  Arnold  I.  8.  221 
übersetzt  „Landesgenossen“,  Pfalz  (Bilder  aus  d.  deutsch.  Städteleben 
1869)  S.  190,  indem  er  der  Lesart  compr.  nostrorum  folgt,  .Untertanen*. 
Über  die  verschiedenen  Bedeutungen , in  denen  comprovinci&lis  gebraucht 
werden  kann , vgl.  oben  S.  219  N.  6.  Hier  scheinen  damit  die  Bewohner 
jenes  Bnrggrafenbezirks  gemeint  zu  sein , der  mit  der  Stadt  in  älterer  Zeit 
jnrisdictionell  und  strategisch  verbunden  war.  Als  die  Stadt  sich  als  selbst- 
ständiges Territorium  aus  diesem  Gebiete  herauszuschälen  begann,  suchten 
die  Städter  den  früheren  Zusammenhang,  wie  schon  aus  der  hier  besprochenen 
Stelle  folgt,  soweit  er  ihnen  vorteilhaft  war,  noch  festzuhalten.  Es  wird 
später  gezeigt  werden,  dass  dies  wenigstens  den  Wormsern  entschieden  nicht 
gelungen  ist. 

*)  Dieselbe  liegt  in  den  Worten:  si  qnis  antem  iudicum aliquem 

malo  ingenio  tueri  et  contra  iuramentum  qnod  fecit  vel  innocentem  con- 
dempnare  attemptaverit. 


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268 


recht  nnd  erhielten  einen  Teil  der  Bussen.  Im  übrigen  tritt 
in  der  Urkunde  dem,  überwiegend  strafrechtlichen,  Inhalte  der- 
selben entsprechend  die  Thfttigkeit  der  iudices  in  Strafsachen 
ganz  besonders  hervor,  wie  ja  auch  dieser  für  sie  überwiegend 
gebrauchte  Name  auf  richterliche  Competenzen  deutet. 

Aus  den  früheren  allgemeinen  Erörterungen  ergiebt  sich 
nun,  dass  in  diesen  iudices  der  Urkunde  das  Schöffencolleg  zu 
sehen  ist.  Dasselbe  geht  auch  ans  dem  Amtseid  der  iudices 
hervor,  da  die  Schöffen  allgemein  auf  gerechte  Führung  ihres 
Richteramts  vereidigt  wurden.1)  Andrerseits  erscheinen  nun 
diese  iudices  wenig  später  als  Ratscolleg;  das  beweist  ilire 
Mitgliederzahl  40,  welche  als  die  des  Rats  bis  zum  Jahre  1233 
bezeugt  ist.*)  Ferner  zeigt  es  sich  darin,  dass  40  iudices  im 
Jahre  1198  ganz  wie  später  der  Rat  eine  Veräusserung  bischöf- 
lichen Grundbesitzes  mit  dem  Stadtsiegel  bekräftigen.*)  Endlich 
scheint  mir  aus  folgender  Stelle  des  gefälschten  Privilegs  auch 
hervorzugehen,  dass  der  Verfasser  desselben  selbst  schon  ftir 
das  Colleg  der  40  iudices  den  Namen  Rat  gebraucht  hat: 

Super  integritate  huius  pacis  conservanda  primos  et  preci- 
puos  adiutores  et  consiliarios  habere  debetis  videlicet  Wernherum 

')  Sohm  Fr.  R.  n.  G.  V.  S.  379  mit  N.  26. 

*)  U 120  a 1216  S.  92  Z.  28  adstipnlantibus  XL  consiliariis  nostrc 
civitatis.  Im  Jahre  1233  wurde  bekanntlich  durch  die  erste  lischt  ung  die 
Zahl  der  Ratsmitglieder  auf  lö  herabgesetzt  (cf.  U 163).  Zur  Zahl  der 
Consuln  vgl.  auch  folgende  Stelle  der  Wormser  Chronik : Fncrnnt  olim  multis 
temporibus  in  civitate  Wormatieusi  qnadraginta  cousulcs  videlicet  viginti 
octo  cives  et  duodecim  milites  ecclcsie  ministeriales  qui  per  se  sine  episcopo 
totam  rexerunt  civitatem.  Et  si  unus  decessit,  ipsi  per  ge  alium  coustituerunt, 
pacem  etiam  iudicantes.  (Boebmer,  Fontes  II  p.  160  vgl.  auch  ibid.  p.  161 
Z.  14—18).  Arnold  I S.  233,  Nitzsch  S.  331  und  Hegel  Monatsscbr. 
S.  182  legen  auf  diese  Stelle  viel  Gewicht,  während  nach  Schaube  S.  280 
dieselbe  wohl  nur  unserer  gefälschten  Urkunde  entnommen  ist.  Nach  Kösters 
Untersuchungen  (Worms.  Annal.  S.  45—73)  stammt  die  Stelle  Boehmer  p.  160 
Z.  1 — 7 aus  einer  im  14.  oder  15.  Jahrh.  verfassten  Bischofschronik;  derselben 
Quelle  aber,  aus  der  diese  hier  geschöpft  hat,  entnahm  nach  Köster 
(S.  74  ff.,  S.  92)  eine  gleichzeitige  Bttrgerchronik  die  Stelle  p.  161  Z.  14 — 18. 
Aus  der  in  dem  angeblichen  Privilege  Friedrichs  I.  fehlenden  Stelle  Uber  die 
Ergänzung  des  Ratscollegs  durch  Cooptation  scheint  mir  zu  entnehmen  zu 
sein,  dass  dasselbe  nicht  die  gemeinsame  Quelle  der  beiden  Chroniken  ist 
Für  die  entgegengesetzte  Ansicht  kann  allerdings  das  pacem  etiam  iudi- 
cantes  (p.  161  Z.  18)  angeführt  werden. 

*)  U 103  cf.  U 127;  U 141.  In  U 127  geschieht  eine  Schenkung  cor&m 
episcopo  et  consiliariis  Wannatiensibus. 


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269 


de  Bonlanden,1)  vicedominum,  Ricbizonem  scultetum,  prefectum 
et  indices  de  civitate,  qui  vos  pariter  precedant. 

Meiner  Ansicht  nach  sind  hier  Werner  und  die  genannten 
Beamten  die  adiutores,  die  iudices  de  civitate  die  consiliarii.*) 
Im  übrigen  geht,  mag  man  nun  die  Stelle  so  auffassen  oder 
auch  die  Worte  adiutores  und  consiliarii  ganz  allgemein  mit 
„Helfer  und  Berater  der  Wormser  Bürger“  übersetzen,  gerade 
aus  der  gefälschten  Urkunde  selbst  hervor,  dass  die  Wormser 
iudices  auf  die  Anerkennung  ihrer  Befugnisse  viel  Wert,  dagegen 
nur  höchst  geringen  auf  den  Ratsnamen  legten.  In  der  Urkunde, 
in  welcher  sie  sich  zum  ausschliesslichen  Gerichtshof  für 
Streitigkeiten  der  Bürger  untereinander,  ferner  für  gewisse 
Fälle  zu  Richtern  über  Fremde,  welche  Wormser  Bür- 
ger verletzen  würden , erklären  und  sich  das  Fehderecht 
geben , haben  sie  es  nicht  für  nötig  befunden , sich  das 
Recht , den  Titel  consiliarii  zu  führen , ausdrücklich  bestäti- 
gen zu  lassen. 

Jedenfalls  enthält  das  erfundene  Privileg  die  reichsrechtliche 
Anerkennung  der  leitenden  städtischen  Gerichts-  und  Regierungs- 
behörde und  in  seinen  ersten  strafrechtlichen  Bestimmungen  die 
des  herrschenden,  z.  T.  wohl  von  dieser  Behörde  autonom  ge- 
gebenen , Wormser  Particularrechts.  Die  darin  enthaltenen 
Bestrafungen  an  Leib  und  Leben,  welche  an  Stelle  der  früheren, 
noch  in  den  leges  Burchardi  vorgeschriebenen , Geldbussen 
traten,  haben  ganz  gewiss  den  Einkünften  des  Bischofs  Abbruch 
gethan.3)  Freilich,  dass  die  Stadt  durch  die  spätere  königliche 

■)  Über  diese,  von  der  bei  Boos  abweichende,  Interpnnction  vgl.  oben 
S.  264  N.  1. 

*)  So  fasst  die  Stelle  auch  Nitasch  S.  331:  Friedrich  weist  den  vice- 
dominns  ....  an,  die  40  indices  oder  consiliarii  bei  Aufrechterhaltung  des 
nenen  Friedens  zu  unterstützen.“  Vgl.  auch  Arnold  I 217,  nach  welchem 
das  Privileg  selbst  „die  Bichter  geradezu  auch  als  Ratsherrn  bezeichnet,“ 
während  er  freilich  „zu  dem  vollständigen  Bat“  auch  die  „alten  Gerichts- 
beamten* zu  zählen  scheint.  Gegen  Arnold  vgl.  Hegel  Monatsschr.  S.  180, 
Schaube  S.  279. 

*)  Vgl.  z.  B.  in  unserer  Urk.  (S.  60  Z.  1 ff.) : „Si  quis  aliquem  . . vel 
verberibus  afflixerft  aut  vulneribus  plagaverit,  reus  pacis  habeatnr  et  manum 
proscriptam  tnmcctur“  mit  Leges  et  Statut.  Burchardi  tit  27,  wonach  bei 
einem  Schlage,  der  den  Geschlagenen  zu  Boden  wirft,  60,  bei  einem  gerin- 
geren Schlage  6 sol.  an  den  Bischof  zu  zahlen  sind  (s.  auch  die  Erklärung 
Genglers  in  seiner  Ausgabe  S.  30,  31).  Man  vergl.  ferner  in  unserer  Urk. 


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270 


Bestätigung;  des  Privilegs  ihrem  Bischof  entzogen  und  „zu  einem 
unter  dem  Schutz  des  Kaisers  stehenden  Freistaat“  erklärt 
sei,1)  kann  man  nicht  sagen.  Die  Fälschung  enthält  ja  sogar 
die  ausdrückliche  Bestimmung,  dass  ein  Teil  der  Bussen  des 
wegen  Rechtsbeugung  verurteilten  iudex  an  den  Bischof  fällt.*) 
Ferner  hatte  auch  die  Zeit  für  Beurkundung  direkter  Unter- 
stellung von  Stadtgemeinden  unter  den  Kaiser,  wie  sie  freilich 
nur  in  Italien  vorgekommen  zu  sein  scheinen,  schon  eigene 
Formen  ausgebildet,3)  von  denen  sich  in  dem  gefälschten  Privileg 
nichts  findet.  Dasselbe  ist  nun,  wie  es  schon  Stumpf4)  er- 
kannt hat,  schon  in  der  Urkunde  Ottos  IV.  für  Worms  vom 
Jahre  1208 5)  bestätigt,  war  also  damals  jedenfalls  vorhanden. 


(S.  60  Z.  3 ff.):  Si  quis  autem  aliquem  occiderit  et  <le  bomicidio  convictus 
fuerit,  iugulus  eius  proscribatnr  mit  Leg.  et  stat.  tit  30  (Boos  S.  44  Z.  30) : 
Si  quis  ex  f&miiia  in  civitate  ..  aliquem  ex  fumilia  interfecerit,  corium  et  capillos 
perdat  et  combuslionem  . patiatur  et  bannum  pcrsolvat  et  wergeidum  reddat. 
Diese  Umwandlung  von  Geldstrafen  iu  Leibesstrafen  (resp.  von  mit  Geld- 
strafen verbundenen  Lcibcsstrafen  in  die  Todesstrafe)  hat  sicherlich  nichts 
mit  der  .fortgeschrittenen  Strafgewalt  des  Kaisers,*  mit  der  sie  Arnold  V. 
G.  I S.  220,  oder  mit  dem  Königsfriedeu  der  Residenz  des  Herrschers,  mit 
der  sie  H e g e 1 Htsscbr.  S.  1 79  in  Verbindung  bringt,  zu  thnn ; vielmehr  liegt  auch 
hier  nur  ein  Fall  der , den  veränderten  Lebcnsverbältnisscn  entsprechenden, 
Rechtsändemngen  vor.  Zngleich  ist  auch  eine  Usurpation  von  Jnrisdietions- 
rechten  der  bischiiflichen  Beamten  seitens  des  SchCffcncollegs  zu  constatieren. 
Han  vgl.  die  späteren  in  der  Absicht,  die  bischöfliche  oder  königliche  Vogtei 
wertlos  zu  machen,  vorgenommenen  Stadtfriedenseinungen  (Heusler , Ursprung 
S.  224—226). 

*)  So  Arnold  V.  G.  I S.  214  cf.  Eigcntm.  Einl.  S.  XVIII,  cf.  dagegen 
Hegel  Monatsschr.  S.  176,  Schaube  S.  2S7,  Ottok.  Lorenz  im  Sitzuugs- 
ber.  d.  Wiener  Akad.  1878  (Bd.  89)  S.  32. 

*)  Boos  S.  60  Z.  26:  Insupcr  ....  septem  libras  monetc  persolvat,  tres 
scilicet  episcopo.  Diese  drei  Pfund  sind  = 60  sol,  dem  Grafenbann,  der  dem 
Bischof  von  Alters  her  in  Worms  znstand. 

*)  vgl.  Friedrichs  I.  Urk.  för  Assisi  1160,  Nov.  26,  (Stumpf  3900a, 
Ficker  Forsch,  z.  R.  u.  Rg.  Ital.  IV  p.  169  N.  128):  Notum  sit,  quod  civitas 
Assisi  . . . . ita  specialiter  et  libere  ad  nostram  imperialem  iurisdictionem 
pertinet , quod  nulli  potestati  de  aliquo  habet  respondere,  nisi  nostre  persone, 
ferner  die  Urk.  des  kaiserlichen  Legaten  Erzb.  Rainald  von  Köln  für  Anghi- 
ari  (Ficker  ibid.  N.  131  p.  173):  cognovimus,  prefatum  castrum  et  populum 
Anglarcnsem  soli  domino  imperatori  et  imperio  specialiter  attinere  cf.  aoeh 
Winkel  mann,  Acta  imperii  ined.  (1880)  I N.  285. 

4)  S.  626. 

‘)  U 110. 


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271 


Dieses  Document  lehnt  sich  allerdings  hauptsächlich  an  die 
Urkunde  Heinrichs  V.  von  1114  Nov.  30')  an;  dass  aber  die 
Fälschung  bei  Abfassung  desselben  schon  mit  anderen  Wormser 
Freiheitsbriefen  dem  Könige  Otto  IV.  vorgelegt  ist,  geht  aus 
der,  in  seiner  Urkunde  enthaltenen,  Bestätigung  der  privilegia 
de  pacis  confirmatione  hervor.  Ferner  ist  darin  das  Verbot  des 
gerichtlichen  Zweikampfes  geradezu  aus  der  Fälschung  über- 
nommen; an  diese  muss  auch  gedacht  sein,  wenn  Otto  den 
Wormsern  alia  quoque  iura  qualiacumque  und  bonas  consue- 
tudines  privilegiatas  bestätigt,  wobei  unter  letzteren  entschieden 
besonders  die  erwähnten  strafrechtlichen  Bestimmungen,  weiche 
die  Einnahmen  des  Bischofs  minderten,  zu  verstehen  sind. 
Dieses  Privileg  Ottos  ist  wohl  bei  seinem  Aufenthalte  in  Worms 
1208  ca.  23.  Nov.*)  gewährt  und  spätestens  Anfang  December 
ausgefertigt  worden.5)  Jedenfalls  kann  daher  mit  Sicherheit 
angenommen  werden,  dass  der  königlichen  Kanzlei  Ende  No- 
vember mit  den  anderen  Wormser  Privilegien  auch  die  auf  den 
Namen  Friedrich  I.  lautende  Fälschung  vorgelegt  ist.  So  ist 
demnach  November  1208  Endtermin  der  Entstehungszeit  der 
Urkunde;  oben*)  ist  gezeigt  worden,  dass  sie  vor  dem  Tode 
König  Philipps  (1208  Juni  21.)  nicht  angefertigt  sein  kann. 
Die  Fälschung  ist  also  in  der  Zeit  von  Ende  Juni  bis 
Ende  November  1208  entstanden.  Im  übrigen  scheintsich  nun 
gerade  in  dieser  Zeit,  in  welcher  der  falsche  Freiheitsbrief  verfasst 
wurde,  und  in  den  darauf  folgenden  Jahren  die  Stadt  unter 
kaiserlicher  Oberhoheit  faktisch  selbst  regiert  zu  haben;  war 
doch  Sigfrid  schon  durch  die  notwendige  Berücksichtigung  der 
Stimmung  der  Bürgerschaft  an  energischer  Geltendmachung  der 
Bistumsrechte  gehindert.  Freilich  konnte  der  Rat,  wie  schon 
ausgeführt  ist,  nicht  daran  denken,  diese  faktische  Unabhän- 
gigkeit, sei  es  auch  nur  durch  untergeschobene  Urkunden,  recht- 
lich zu  sichern. 


*)  0 62. 

*)  Damals  urkundet  er  dort  (B-F  246). 

•)  Die*  geht  daraus  hervor,  dass  der  Kaiser  damals  rbeinaufwSrts  sog, 
das  Privileg  für  Worms  aber  gleich  der  Urlr.  für  Speier  vom  2.  Desember 
(B-F.  247)  apud  Spiram  ausgestellt  ist  und  der  Kaiser  schon  am  11.  Decbr. 
xu  Strassburg  urkundet  (B-F  249). 

*)  S.  265. 


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272 


Der  constatierten  Verminderung  der  Bischofsrechte  in  der 
Stadt  entspricht  es  nun,  dass  der  in  dieser  Zeit  mehrfach  be- 
gegnende Schultheiss  Ingebrand  in  der  Zeugenliste  einer  im 
übrigen  verlorenen  Urkunde  folgender  Massen  bezeichnet  wird: 

Iggebrandus  cui  tum  temporis  rex  Otto  vicem  suarn  in 
iudicando  commiserat1)  .... 

Zu  diesen  Worten  passt  nun  auch  alles  das,  was  das  an- 
gebliche Privileg  Heinrichs  VI.*)  für  Worms  verordnet.  Diese 
Urkunde  liegt  uns  nur  in  einer  Niederschrift  des  16.  Jahrhun- 
derts und  noch  dazu  nur  höchst  fragmentarisch  vor.  Mit  Recht 
ist  von  den  meisten  neueren  Forschem  der  Überlieferung,  dass 
diese  Fragmente  als  Stücke  einer  Urkunde  Heinrichs  VI.  an- 
zusehen seien,  kein  Glaube  geschenkt  worden.8)  Zunächst  sind 
die  Worte  hi,  quos  vulgariter  dicimus  heimburger  in  einer 
kaiserlichen  Urkunde  doch  recht  auffällig.  Weit  wichtiger  ist 
noch,  dass  diese  Urkunde  ganz  abweichend  von  allen  anderen 
der  Stadt  Worms  erteilten  weder  im  Original,  noch  in  einem 
städtischen  Oopialbuch  erhalten  ist.  Endlich  scheinen 

nach  Stumpfs4)  Mitteilungen  in  Worms  gerade  damals 
Fälschungen  durchaus  nichts  ungewöhnliches  gewesen 

zu  sein. 

Derselbe  verweist  auf  ein  erfundenes  Privileg  Ottos  III. 
von  991  Sept.  13.  aus  Rom,  das  offenbar  nur  deshalb  fabriciert 
sei,  um  der  Entscheidung  Kaiser  Heinrichs  VI.  1196  Juni  10. 
über  den  Bopparder  Zoll 5)  als  urkundliche  Grundlage  zu  dienen. 


*)  Die*  Fragment  ist  durch  Zorn  (e<L  Arnold)  S.  24  überliefert  ; nach 
demselben  haben  wir,  wie  auch  Arnold  V.  G.  I S.  285  ausführt,  in  Ingebrand 
den  Schultlieissen  der  Stadt  au  sehen.  Derselbe  wird  U 113  a 1209  in  der 
Zeugenliste  als  erster  der  laici,  U 120  a 1216  unmittelbar  nach  dem  Vitztum 
als  zweiter  der  ministeriales  erwähnt.  Ausserdem  erscheint  er  noch  in  Zeugen- 
listen der  Jahre  1196  (ü  99),  1199  (U  105),  1208  (U  109). 

*)  St.  4659,  W.  U.  93,  Boehmcr  Fontes  II  215  sq. 

*)  Toeche  Heinrich  VI  (Leipz.  1867)  erwähnt  diese  Urkunde  im  Texte 
garnicht,  obwohl  er  sie  kennt  (s.  Beilage  XIII  S.  646  N.  80),  Stumpf  bezweifelt 
ihre  Correktheit;  Boos  hat  sie  nicht  in  sein  Urkundenbuch  ausgenommen, 
sondern  will  sie  im  Chronikenbande  abdrucken.  Nur  Schaube  S.  277  und 
289  behandelt  das  Privileg  als  unzweifelhaft  echt;  warum  er  aber  so  von  der 
herrschenden  Meinung  abweicht,  giebt  er  jedoch  nicht  an. 

4)  Wiener  Sitzungsber.  1859,  S.  627. 

*)  Stumpf  5003,  Sckannat  II  p.  90  N.  97. 


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273 


Ein  anderes  Beispiel  einer  Fälschung  in  Worms  ist  in  der  an- 
geblichen Urkunde  Friedrichs  I.  für  die  Stadt  von  1156  nach- 
gewiesen. Ohne  Bedenken  können  also  aus  den  angeführten 
Gründen  auch  die  Fragmente  des  Privilegs  Heinrichs  VI.  für 
die  Wormser  Bürgerschaft  als  Fälschung  und  als  Quelle  der 
städtischen  Verfassungs Verhältnisse  zur  Zeit  Ottos  IV.  be- 
trachtet werden.  In  diesen  Fragmenten  ist  nun  der  Rat  über- 
haupt nicht  erwähnt;  vielmehr  handeln  sie  nur  von  der  Ein- 
setzung der  Beamten.  Insbesondere  kann  aus  diesen  Fragmenten 
geschlossen  werden , dass  der  Schultheiss  ‘)  von  den  Bür- 
gern frei  gewählt  und  darauf  vom  König  investiert  wurde.*) 
Zugleich  mit  dem  Schultheissen  wurden  auch  jährlich  zwei  Ge- 
hilfen desselben,  officiati  oder  Amtsleute  genannt,  von  den 
Wormsern  gewählt,*)  welche  zur  Ausübung  ihres  Amtes  nicht 
weiter  vom  König  investiert  zu  werden  brauchten.4)  Bezüglich 
dieser  Wahlen  kann  man  übrigens  wohl  der  Annahme  Arnolds5) 
zustimmen,  dass  sie  im  wesentlichen  vom  Rat  vollzogen  wurden 
und  die  übrige  Bürgerschaft  nur  ein  Zustimmungsrecht  ausübte. 
Diese  Wormser  Freiheiten  nun  haben  sich  bis  zum  Jahre  1233 
erhalten.  Bedroht  mochten  sie  allerdings  erscheinen,  als  Bischof 
Lupoid  durch  Friedrich  H.  1212  in  sein  Amt  zurückgeführt 
wurde.  Wenigstens  spricht  dafür  das  Privileg,  welches  Lupoid 
von  diesem  Kaiser  1212  erhielt.*)  Wohl  gerade  in  Berücksich- 

‘)  Frflher  nahm  die  Stelle  desselben  ein  bischöflicher  Beamter,  der  Vitz- 
tum,  ein  vgl.  oben  S.  172,  173. 

*)  Boehmer  Fontes  H p 216 : Volnmns  etiam,  nt  omni  anno  in  festo  S.  Martini 
bnrgenses  . . . snper  cnriam  nostram  couveniant  et  omninm  consensn  personam 
convenientem  ad  officium  vjjJiicationis  ibi  denuo  eligant,  que  a nobis  et  suc- 
cessoribus  nostria  investiatnr,  vgl.  die  oben  -S.  272  citirte  Stelle  über  Ingebrand. 

*)  Boehmer  ibid. : statimque  dno  miniatri,  amptmann  vulgariter  dicti, 
gtatnantnr. 

*)  Dies  hat  Arnold  V.  G.  I S.  288  mit  Becht  aus  dem  zu  eligatur  im 
Gegensatz  stehenden  statu antur  geschlossen. 

*)  I 283,  vgl.  dagegen  Schaube  S.  290.  Die  allgemeinen  psychologischen 
and  intellectuellen  Vorbedingungen  zn  einer  wirklichen  Wahl  der  Beamten 
dnrch  das  ganze  Volk  fehlten  jedoch  damals  sicherlich;  auch  kennt  die  erste 
Bachtung  (D  163)  nur  Wahl  der  Beamten  durch  den  Bat,  nur  dass  hier 
Beteiligung  des  Bischofs  bei  der  Wahl  bestimmt  wird.  Jedenfalls  wird  der 
Bat  die  Wahl  der  Beamten  damals  nicht  erst  erhalten  haben,  wie  es  nach 
Schaubes  Ansicht,  dass  vorher  die  ganze  Gemeinde  gewählt  habe,  der  Fall 
•ein  müsste. 

•)  D 116. 

Ko  eh  ne,  Ursprung  der  Stadtver&ssung  in  Worms,  Speier  und  Kainz.  IS 


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274 


tigung  des  den  Wormsern  von  Otto  IV.  erteilten  Privilegs,  worin 
dieser  ihnen  iura  qualiacumque  et  bonas  consuetudines  privile- 
giatas  bestätigte,1)  geschah  es,  dass  Friedrich  II.  dem  Bischof 
ausdrücklich  alle  Rechte  und  anerkannten  Gewohnheiten  sicherte, 
welche  er  in  der  Stadt  Worms  ausgeübt  und  die  ihm  dort  nach- 
weislich zustanden.*)  Dass  das  Bistum  damals  sogar  mehr 
erhielt,  als  es  vor  Lupolds  Verbannung  besessen,  tritt  in  dem 
dann  folgenden  Versprechen  Friedrichs,  Steuern  bei  den  Bürgern 
nur  durch  den  Bischof  erheben  zu  wollen,  noch  besonders  her- 
vor;*) war  es  doch  schon  zu  Friedrichs  I.  Zeit  als  Regel  be- 
trachtet worden,  dass  die  Wormser  Reichssteuer  von  der  Bürger- 
schaft selbst  erhoben  wurde.4)  Ob  Lupoid  nun  diese  Urkunde  dazu 
benutzen  wollte,  die  städtischen  Freiheiten  zu  beschränken  oder 
gänzlich  zu  beseitigen,  ist  nicht  zu  erkennen;  hat  er  solche 
Absichten  gehabt,  so  ist  er  jedenfalls  damit  nicht  durchge- 
drungen.5) Gerade  in  den  letzten  Jahren  von  Lupolds  Re- 
gierung (.1212 — 17)  sehen  wir  den  Bischof  und  andere  Geist- 
liche die  leitende  Stadtbehürde  zur  Bekräftigung  ihrer  Ur- 
kunden zuziehen  und  zwar  nicht  nur  einzelne  Personen,8)  son- 

')  U 110. 

’)  universa  iura  . . et  consuetudines  approbatas,  qne  idem  episcopus  . 
in  civitate  Wornmtiensi  ....  habere  consuevit  vel  que  ad  eum  pertinere  nos- 
cuntur,  ea  remittimus  illibata,  nt  siue  quolibet  impedimento  libere  utatur  eisdem. 

*)  concessimus  . ipsi,  ut  quamcnmque  petitionem  in  civitate  Wonnati- 
ensi  . . facere  voluerimus,  per  cum  solum  et  non  per  aliam  person&m  faci&mus. 

*)  U 89:  collectas,  que  in  civitate  ad  nostrum  tiunt  obsequinm,  vgl.  oben 
8.  254,  255. 

*)  Ans  der  ganzen  Entwicklung  der  Wormser  Stadtverfassung  ergiebt 
sich,  dass  von  Lupoid  nichts  wesentliches  daran  geändert  wurde.  SchannatI 
S.  365  berichtet  ex  anonym,  chron.  Worin,  ms.,  Lupoid  habe  beabsichtigt, 
die  Bürger  (populäres)  aus  dem  Bat  zu  entfernen  und  ihn  auf  12  Ministerialen 
zu  beschränken,  doch  sei  er  durch  seine  Abwesenheit  im  Dienste  des  Kaisers 
daran  verhindert  worden.  Das  von  Scbannat  benutzte  Manuscript  war  eine 
Biscbofschronik , welche  wohl  in  der  Mitte  des  sechszehnten  Jahrhunderts 
verfasst  ist.  (vgl.  Köster  8.  43).  Oh  die  Nachricht  derselben  über  die  Absicht 
Lupolds  und  dereu  Vereitlung  richtig  ist,  wie  Arnold  V.  ü.  II  19  annimmt, 
oder  nur  als  „vage  Vermutung“  angesehen  werden  muss,  wie  Schaube  S.  293 
N.  1 behauptet,  ist  nicht  sicher  zu  entscheiden.  Jedenfalls  spricht  das  oben 
erwähnte  Privileg  Friedrichs  II  von  1212  für  Am  old 's  Ansicht;  doch  ist  Lu- 
poid 1213  und  1215  in  Worms  bezeugt  (cf.  U 116,  118,  Frey  und  Remling, 
Urkb.  d.  Kl.  Otterlnirg  1845  N.  15),  war  also  sicher  nicht  an  der  Ausfüh- 
rung gegen  die  Stadtfreiheit  gerichteter  Plane  durch  Abwesenheit  verhindert. 

•)  So  iu  U 118. 


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275 


dern  auch  das  ganze  Colleg.1)  Dabei  wird  dasselbe  dann  schon 
1215  als  consilium  bezeichnet;*)  1216  werden  ferner  die  XL 
consiliarii  ausdrücklich  als  Zeugen  bei  einem  Grundstückkauf 
genannt.*)  Dies  letztere  Rechtsgeschäft  beurkunden  sie  auch 
als  Universitas  consilii4)  et  primatum  civitatis  und  beglaubigen 
es  mit  ihrem  Siegel. 

Die  Macht  dieser  Stadtbehörde  wuchs  bald  darauf  noch 
insofern,  als  Friedrich  II.  1220,  April  20,  der  Stadt  ihre 
früheren  Privilegien  bestätigte  und  dabei  den  angeblichen  Frei- 
heitsbrief von  1156  ausdrücklich  in  seine  Urkunde  aufnehmen 
liess.5)  Zu  dieser  Begünstigung  der  Bürger  scheint  er  dadurch 
bewogen  zu  sein,  dass  Bischof  Heinrich,  welcher  1217  auf 
Lupoid  gefolgt  war,  nicht  so  wie  dieser  in  seiner  Gunst  stand.6) 
Der  damalige  Zwiespalt  zwischen  König  und  Bischof  veranlasste 
auch  Heinrich  1220,  die  Zustimmung  des  Rats  zur  Belehnung 
König  Friedrichs  mit  Wimpfen  ausdrücklich  einzuholen,  als  er 
dadurch  dessen  Gunst  wieder  zn  erringen  suchte;1)  so  hatte 
damals  der  Rat  Anteil  an  der  Regierung  des  bischöflichen 
Territoriums.  Aus  eben  diesem  Jahre  1220  ist  nun  auch  für  die 
Stadtbehörde,  welche  sich  bis  dahin  nur  als  iudices , cives , consi- 
lium, consiliarii  bezeichnet  findet,  zuerst  der  Name  consules 
bezeugt.8) 

Im  Jahre  1220*)  treten  uns  auch  zum  ersten  Male  Beamte  ent- 
gegen, welche  sowohl  den  alten  volksrechtlichen  Grundlagen  der 
Wormser  Verfassung,  wie  den  aus  der  bischöflichen  Verwaltung 
der  Stadt  herrührenden  Einrichtungen  völlig  fremd  sind,  die 
magistri  civium.  Aus  der  Art  ihrer  Erwähnung: 


*)  g.  U 120  and  die  in  der  folgenden  Note  erwähnte  Urkunde. 

*)  Frey  und  Beinling,  Urkb.  d.  Kl.  Otterbnrg  (1845)  N.  15  S.  15,  Zeugen, 
Laici:  Gernoduä,  Gerliardus,  Syfridus  cum  universo  consilio  Wormatienai. 

*)  U 120. 

4)  So  ist  für  das  von  Boos  gegebene  concilii  zu  emendieron  vgl.  Schulte 
in  Giitting.  gelehrte  Anzeigen  1887  8.  926. 

6)  U 124. 

*)  cf.  U 123:  cum  benevolenciam  . . Fr.  Bomanorum  regis  . .non  haberet. 
»)  U 123. 

*)  Die  eben  erwähnte  Zustimmungsurkuude  zur  Belehnung  mit  Wimpfen 
(U  123)  beginnt : Hinisteriales  consules  cum  universis  in  Wormacia  civibus .... 
Über  die  Herkunft  des  Conaulnameng  s.  unten  S.  297  ff. 

*)  U 126  vom  23.  August  1220. 

18* 


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276 


datum  Vormacie  X kal.  sept.  sub  magisterio  Godofridi 
de  Moro  et  Gernerodi  Longi 

geht  hervor,  dass  sie  jährlich  wechselten;  zugleich  zeigen  diese 
Worte  auch,  dass  die  Bürgermeister  schwerlich  damals  erst 
eingesetzt  sind.1)  Vielleicht  sind  auch  sie  während  der  Ver- 
bannung Lupolds  aufgekommen.  Muss  dies  dahingestellt  bleiben, 
so  kann  doch  nach  den  obigen  Untersuchungen  gerade  diese 
Zeit  als  die  wichtigste  Epoche  der  städtischen  Verfassungsent- 
wiekelung  betrachtet  werden;  damals  entstand  aus  einem,  frei- 
lich im  Besitz  erweiterter  Competenzen  befindlichen,  Schöffencolleg 
ein  Bat.  Nur  war  die  ganze  Entwicklung  eine  lange  vorbereitete, 
deren  letzte  Consequenzen  wie  z.B.  der  Consultitel  auch  erst  in  den 
folgenden  Jahren  zu  Tage  traten.  Jedenfalls  kann  in  Worms  von 
einer  kaiserlichen  Einsetzung  eines  Rats  oder  eines  Friedens- 
gerichts, aus  dem  derselbe  dann  hervorgegangen,  keine  Rede  sein. 

Auch  für  Speier  trifft  die  Theorie  der  Ratseinsetzung 
durch  kaiserlichen  Freiheitsbrief  nicht  zu,  obgleich  sie  gerade 
in  Bezug  auf  diese  Stadt  viele  Vertreter  gefunden  hat.*)  Die- 
selben berufen  sich  auf  das  1198  den  Speierern  von  Philipp  von 
Schwaben*)  gewährte  Privileg.  In  dieser  den  Bürgern  für  ihr 
Versprechen,  ihn  zu  unterstützen,  gewährten  Urkunde  sagt  Philipp 
nach  Zusicherung  einiger  anderer  Vergünstigungen  folgendes: 
Preterea  secundum  ordinationem  H.,  felicis  memorie 
imperatoris  augusti,  civitati  tarn  auctoritate  domini 
regis  quam  nostra  indulsimus,  ut  libertatem  habeat  XU 
ex  civibus  suis  eligendi,  qui  per  iuramentum  ad  hoc 
constringuntur,  ut  universitati  prout  melius  possint  et 
sciant  provideant,  et  eorum  consilio  civitas  gubernetur. 
Hier  entsteht  nun  die  Frage,  welcher  Kaiser  Heinrich,  ob  der 
V.  oder  VI.,  gemeint  ist;4)  dieselbe  ist  deshalb  wichtig,  weil 
sie  mit  der  Entstehungsart  des  Rats  eng  zusammenhängt. 
Nimmt  man,  wie  es  Schaube  gethan,  an,  dass  hier  Heinrich  VI. 

')  Vgl.  Arnold  I S.  299,  der  auch  in  hohem  Orade  wahrscheinlich  macht, 
dam  stets  ein  Bürgermeister  ans  dem  Stande  der  Ministerialen , der  andere 
atu  dem  der  Bnrgensen  gewählt  wurde. 

*)  s.  oben  S.  257  N.  1. 

•)  Sp.  ü 22. 

4)  Die  bisherige  Litteratur  über  diese  Frage  bei  Schanbe  Speier  S. 
445,  446;  hinzu  znftigen  sind  noch  Hegels  Ausführungen  in  der  Allgemeinen 
Monatsschrift  1864  S.  180—182. 


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277 


gemeint  ist,  so  folgt  daraus,  dass  hier  nicht  von  einer  kaiser- 
lichen Ratsbestätigung,  sondern  einer  Ratseinsetzung  die  Rede 
ist.  Dann  müsste  wirklich,  wie  es  Schaube  behauptet,  Hein- 
rich VI.  beschlossen  haben,  den  Bürgern  einen  von  ihnen  zu 
wählenden  Rat  zu  gewähren,  und  nur  an  der  Beurkundung  dieses 
Beschlusses  durch  seinen  frühen  Tod  gehindert  sein.  Ist  aber 
in  dem  erwähnten  H.  Heinrich  V.  zu  sehen , so  ist  zugleich  an- 
zunehmen, dass  eine  die  Speierer  Bürgerschaft  vertretende 
Behörde  nicht  erst  am  Ausgang  des  zwölften  Jahrhunderts  ge- 
schaffen ist,  während  andrerseits  auch  der  Nachweis  des  frü- 
heren Bestehens  dieser  Behörde  die  Auffassung,  dass  in  dem 
Privileg  Heinrich  VI.  gemeint  ist,  unmöglich  macht. 

Scharfsinnig  hat  nun  Schaube1 * * *)  nachgewiesen,  dass  den 
der  Urkunde  selbst  oder  einer  angeblichen  Speierer  Tradition 
für  die  Beantwortung  unserer  Frage  entlehnten  Gründen  kein 
Beweiswert  zukommt.  Hiernach  könnte  sowohl  Heinrich  V. 
als  Heinrich  VI.  gemeint  sein.  Es  liegt  nun  jedenfalls  nahe, 
zur  Entscheidung  der  Streitfrage  Charakter  und  Politik  der 
beiden  gleichnamigen  Kaiser  mit  in  die  Untersuchung  zu  ziehen. 

Mit  Heinrichs  VI.  Politik  wäre  eine  solche  Massregel 
wie  die  erste  officielle  Anerkennung  des  Speierer  Stadtrats  — 
und  damit  überhaupt  die  erste  Anerkennung  einer  deutschen 
bischöflichen  Stadt  als  eines  vom  Territorialherren  unabhängigen  un- 
mittelbaren Reichsgebiets  — schlechterdings  nicht  zu  vereinen. 
Durch  sein  Streben  nach  Weltherrschaft  war  Heinrich  VI.  der 
liebevollen  Sorge  für  die  inneren  Angelegenheiten  des  Reichs 
bekanntlich  entfremdet.  Im  wesentlichen  stützte  er  sich  auf  die 
Macht  der  weltlichen  und  geistlichen  Fürsten.  Daher  findet 
sich  auch  zur  Zeit  Heinrich  VI.  nach  dem  Ausspruch  seines 
vorzüglichen  Biographen  Toeche*)  kaum  eine  nennenswerte 
Begünstigung  der  Städte  durch  die  Reichsgewalt.5)  Speciell 


l)  S.  den  in  der  vorigen  N.  citirten  Aufsatz  8.  448,  449. 

•)  Heinrich  VI.  8.  496. 

*)  Heinrichs  VI.  angebliche  Urkunde  für  Worms  ist,  wie  oben  gezeigt, 
eine  Fälschung.  Was  Baron  (Politik  der  Staufer  gegenüber  den  deutschen 
St&dten  BresL  1876)  8. 15 — 18  und  Emil  Schneider  (die  deutschen  Städte- 
privilegien Friedrichs  L und  Heinrichs  VI.  Eisleben  1863)  8.  73 — 79  von 

Begünstigungen  der  Städte  durch  Heinrich  VI.  anführen,  besteht  in  Zoll- 

befreiungen der  Kaufleute  einiger  Königsstädte;  ferner  wird  den  Bischöfen 


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278 


mit  dem  zu  seiner  Zeit  fungierenden  Speierer  Bischof,  Otto  von 
Henneberg,  ist  Heinrich  VI.  immer  in  gutem  Verhältnis  gewesen;1) 
gerade  dieser  Kaiser  untersagt  es  den  Speierer  Bürgern,  mit 
Umgehung  der  bischöflichen  Instanz  das  Hofgericht  in  Anspruch 
zu  nehmen.*)  Wie  anders  war  die  Politik  Heinrichs  V. ! Von 
ihm  wissen  wir,  dass  er  Speier  mächtig  gefördert  hat*)  und 
wie  sein  Vater  sich  vielfach  der  Hilfe  der  Bürger  gegen  ihre 
Bischöfe  bediente.  Vor  allem  erinnere  man  sich,  dass  Heinrich 
seit  der  Erhebung  der  bischöflichen  Partei  1115  auf  die  Ver- 
ordnung Paschalis  II.  zurückkam,  welche  ihm  die  Regalien  der 
geistlichen  Fürsten  zurückgab.  Da  er  nach  den  Erfahrungen, 
welche  sein  Vater  mit  der  Absetzung  von  Geistlichen  gemacht, 
• es  nicht  wagte,  die  kirchliche  Stellung  von  Bischöfen  anzutasten, 
so  suchte  er,  um  ihren  Einfluss  zu  schwächen,  ihnen  das  zu 
nehmen,  was  sie  vom  Reiche  erhalten  hatten.4)  Unter  den  von 
den  Bischöfen  dem  Reiche  zurückzugebenden  Regalien  waren  aber 
in  dem  Concordat  von  1111  auch  die  civitates  und  ebendiese 
sogar  noch  vor  den  Grafschaften  und  Herzogtümern  genannt 
worden.5)  Speciell  betreffs  Speiers  lässt  sich  feststellen,  dass  von 
dort  1120  der  Bischof,  der  zu  den  Feinden  Heinrichs  hielt, 
vertrieben  und  die  Stadt  in  die  Hand  des  Kaisers  gekommen 
war.*)  Mussten  da  nicht  Einrichtungen  getroffen  werden,  welche 

in  den  ihnen  gewahrten  Urkunden  mitunter  Befreiung  ihrer  Kanfletite  von 
Zöllen  gewährt.  „Dass  den  Bürgern  von  Constanz  1192  Sept.  24  Freiheit 
von  Besteuerung  seitens  des  Bischofs  oder  Vogts  zugesichert  wurde,“  war  nach 
Toeche  S.  496  und  Baron  S.  17  „weniger  freundliches  Entgegenkommen  des 
Kaisers  als  ein  Akt  der  Gerechtigkeit , da  das  Privilegium  der  Stadt  von 
Alters  her  znkam  und  Heinrich  sich  zu  demselben  anch  erst  nach  langen 
Untersuchungen  entschloss,“  vgl.  auch  Schneider  a.  a.  0.  S.  76.  Für  Forde- 
rung städtischer  Verfassungsentwicklung  findet  sich  auch  unter  den  von 
Baron  gesammelten  Urkunden  kein  Beispiel.  Die  Vorgänge  in  Bremen  (vgl. 
Toeche  S.  121,  214,  385 ff.,  Sch n e id er  S.  77),  au  welchem  Orte  der  Kaiser 
den  Bürgern  die  Verwaltung  der  Einkünfte  ihrer  Stadt  anvertraut  hatte,  sind 
ganz  singulär  und  aus  der  Feindschaft  zwischen  Heinrich  und  dem  dortigen 
Erzbischof  zu  erklären. 

')  Kernling,  Gesch.  der  Bisch,  zu  Speier  (Mainz  1852)  S.  416. 

*)  U 19. 

*)  U 14,  vgl.  oben  S.  222  ff. 

4)  vgl.  Giescbrecht  D.  K.  III  865. 

»)  L.  L.  II  p 69  Z.  23. 

‘)  Giesebrecht  D.  K.  III  929,  vgl.  oben  S.  237  mit  N.  3. 


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279 


die  Ruhe  in  der  Stadt  sicherten,  und  war  es  nicht,  da  die 
Bürger  kaiserlich  gesinnt  waren,  die  klügste  Politik,  ihnen  eine 
gewisse  Autonomie  zu  gewähren,  wie  sie  in  der  Erweiterung  der 
Funktionen  des  Schüffencollegs  zum  Ausdruck  kam?  Hat  Heiu- 
rieh  V.  1112  den  Wormser  Schöffen,  höchst  wahrscheinlich  ge- 
zwungenermassen,1)  die  Bewachung  ihrer  Stadtmauern  überlas- 
sen,*) so  liegt  es  nahe,  dass  er  später  dieselbe  Berechtigung 
auch  den  in  seiner  Gunst  stehenden  Speierem  gewährte.  So 
spricht  eiu  Vergleich  der  Reichspolitik  unter  den  beiden  Kaisern 
Heinrich  entschieden  dafür,  dass  Speier  von  Heinrich  V.  und 
nicht  von  Heinrich  VI.  wesentliche  Begünstigungen  und  die  Aner- 
kennung einer  leitenden  Stadtbehörde  empfangen  hat;  es  stellte 
sich  zugleich  als  wahrscheinlich  heraus,  dass  diese  Anerkennung 
1120  oder  1121  stattfand. 

Für  diese  Annahme  kann  auch  eine,  bisher  noch  nicht  näher 
besprochene,  Stelle  des  Privilegs  Heiurichs  V.  für  Speier  von 
1111  August  14.s)  angeführt  werden,  da  aus  derselben  hervor- 
geht, dass  damals  bereits  einer  die  Bürgerschaft  vertretenden  Be- 
hörde eine  ihrer  Competenzen  vom  Kaiser  ausdrücklich  be- 
stätigt wurde.  In  dieser  Urkunde  heisst  es  nämlich: 

Monetam  quoque  nulla  potestas  in  levins  aut  in  dete- 
rius  imminnat  aliqua  racione , nisi  communi  civium 
consilio  permutet. 

Schaube  will  allerdings  diese  Stelle  so  verstehen,  dass 
eine  Verschlechterung  der  Münze  an  die  Billigung  der  gesumm- 
ten Bürgerschaft  geknüpft  wird.  Gerade  aus  dieser  Stelle  gehe 
hervor,  „dass  es  damals  eine  Vertretung  der  Bürgerschaft  noch 
nicht  gegeben  habe,  sondern  die  gesammte  freie  Gemeinde 
zur  Beschlussfassung  ihrer  Angelegenheiten  zusammentrat.  “ 4) 
Dabei  sind  aber  nach  Schaubes  Meinung  unter  den  cives  hier 
nur  die  altfreie  Gemeinde,  die  meist  Weinbau  treibenden  Grund- 
besitzer und  Grosskaufleute,  zu  verstehen.5)  Es  ist  aber  doch 
höchst  sonderbar  anzunehmen,  dass  die  „Weinbau  treibenden 
Grundbesitzer“  besonderes  Interesse  an  den  Münzverhältuissen 

*)  vgl.  oben  S.  227—289. 

*)  W-U  61  cf.  oben  S.  255. 

*)  U 14  vgl.  oben  S.  222  ff. 

*)  Speier  S.  452,  458. 

»)  a.  a.  0.  S.  458  N.  2. 


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280 


und  Verständnis  für  dieselben  gehabt  haben  sollen.  Der  Streit 
zwischen  Patriciat  und  Gemeinde  war  in  Speier  ein  solcher 
zwischen  Münzerhansgenossen  und  Zünften.1)  Die  Münzerhaus- 
genossen  in  Speier  sind  aber  bis  etwa  1259  bischöfliche  Mini- 
sterialen.*) Wenn  noch  1223,  nachdem  schon  die  Notwendigkeit 
der  Zuziehung  des  städtischen  Rats  zur  bischöflichen  Stadt- 
verwaltung reichsgesetzlich  anerkannt  war,  die  Zustimmung 
der  ministeriales  bei  einem  die  Interessen  der  Stadt  berühren- 
den Tausche  ausdrücklich  nachgesucht  wird,*)  so  ist  das  wohl 
am  einfachsten  so  zu  erklären,  dass  auch  die  Speierer  Rats- 
mitglieder, welche  ausschliesslich  oder  überwiegend  bischöfliche 
Ministerialen  waren,  so  bezeichnet  wurden.  Um  so  weniger 
kann  der  Bischof  früher  gerade  bei  Beschlüssen  über  Münzver- 
änderung an  die  Zustimmung  einer  altfreien  Gemeinde,  die 
vorzugsweise  Weinbau  und  Grosshandel  getrieben,  gebunden 
gewesen  sein.  Vielmehr  haben  wir  es  in  der  angeführten  Stelle 
der  Urkunde  Heinrichs  V.  sicher  mit  einem  die  Bürgerschaft 
vertretenden  Ausschüsse  zu  thun;  freilich  lässt  es  sich  nicht 
feststellen,  ob  man  bei  Münzveränderungen  an  Stelle  der  ge- 
sammten  Bürgerschaft  die  Vorsteher  der  Kaufmannsgenossen- 
schaft oder  das  damals  schon  vorwiegend  aus  Kaufleuten  be- 
stehende Schöffencolleg  zuzog. 

Zugleich  mag  auch  eingeräumt  werden,  dass,  könnte  man 
mit  Hegel  und  Schaube  in  dem  Privileg  Philipps  Heinrich  VI. 
gemeint  finden,  auch  die  Annahme  berechtigt  wäre,  die  Urkunde 
Heinrichs  V.  bestimme  nur,  dass  der  Bischof  überhaupt  sach- 
verständige Leute  aus  der  Bürgerschaft,  etwa  auch  nach  eigener 
Auswahl,  bei  Münzveränderungen  zuziehe.  Dieser  Annahme 
widersprechen  aber  die  schon  oben  erwähnten  allgemeinen 
politischen  Verhältnisse  unter  den  beiden  Kaisern;  ferner  ist 


*)  vgl.  oben  S.  66,  68,  Earster  in  Ztschr.  f.  Oesch.  d.  Oberrbeins 
Bd.  38  (1886)  8.  212  ff. 

*)  vgl.  oben  8.71,  Harster  in  Mitteil.  d.  hist.  Vereins  der  Pfalz,  Bd.  X 
(Speier  1882)  8.  Bö.  Gegen  Hegels,  in  Chroniken  d.  D.  Städte  Bd.  XIV  S. 
CCLX — CCLXVH  gegebene  Ausführungen , dass  die  Hausgenossen  überall 
nicht  Ministerialen,  sondern  freie  Bürger  gewesen  seien,  vgl.  auch  Eheberg  8. 
118—123. 

*)  U 34:  per  sentenciam  requisitam  a ministerialibus  ecclesie  . fuit 
approbatum. 


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281 


die  Existenz  eines  Schöffencollegs  und  einer  Kaufmanns- 
genossenschaft, welche  die  Bürger  repräsentierten,  auch  für 
Speier  höchst  wahrscheinlich.1)  Ein  anderer  Grund  gegen 
die  obige  Annahme  ergiebt  sich  aus  dem  Privileg  Friedrichs  I. 
für  Speier.*)  Es  ist  in  diesem  Privileg  sichtlich  dasjenige 
Heinrichs  V.*)  benutzt,  das  also  doch  so  lange  in  der  Obhut 
einer  städtischen  Behörde  gewesen  ist.  Doch  will  ich  darauf 
nicht  Gewicht  legen,  da  allenfalls  auch  die  Inschrift  am  Dome 
bei  Abfassung  dieses  Privilegs  benutzt  sein  mag.  Heisst  es 
aber  in  dieser  Urkunde  Friedrichs  L,  die  Rücksicht  auf  Er- 
haltung des  kaiserlichen  Ansehens  fordere,  dass  er  die  Privi- 
legien seiner  Vorgänger  bestätige,  so  ist  es  ja  bekannt,  wie  wenig 
Glaubwürdigkeit  derartige  Arengen  in  Anspruch  nehmen  dürfen. 
Sicherlich  haben  die  Speieref  ihre  Urkunde  nur  auf  ihr  Gesuch 
und  sehr  wahrscheinlich  nur  auf  klingende  Leistungen  hin  er- 
halten. Derartige  Gesuche  setzen  aber  wiederum  eine  Stadt- 
behörde voraus.  Endlich  ist  die  Thatsache  von  grosser  Wich- 
tigkeit, dass  das  Privileg  Friedrichs  I.  im  Original  im  Speierer 
Stadtarchiv  erhalten  ist,  während  sich  keine  einzige  für  den 
Bischof  oder  das  Domcapitel  ausgestellte  Urkunde  dort  vorfindet.*) 
Demnach  hat  also  schon  1182  ein  eigenes,  vom  bischöflichen 
getrenntes,  städtisches  Archiv  bestanden,  und  dieser  Umstand 
setzt  sicherlich  eine  besondere  Stadtbehörde  voraus.  Es  kann 
also  nicht  mehr  davon  die  Rede  sein,  dass,  wie  Hegel®)  meint, 
der  Speierer  Rat  erst  von  Heinrich  VI.  in  einer  uns  verloren 
gegangenen  Urkunde  eingesetzt  sei.  Ist  auch  die  oben®)  er- 
wähnte Ansicht  Schaubes,  Heinrich  VI.  habe  den  Plan  gehabt, 
Speier  mit  einem  Stadtrat  zu  beglücken,  sei  aber  vor  Ausführung 
dieses  Planes  gestorben,  zu  verwerfen,  so  gilt  dasselbe  noch 

*)  vgl.  oben  S.  60  ff.,  S.  74. 

*)  U 18. 

*)  U 14. 

4)  Die  ihnen  von  den  Herrschern  gegebenen  Privilegien,  sowie  ihre 
anderen  Urkunden  liegen  uns  teils  im  Original,  teils  im  Copialbuch  862  im 
General-Landesarchiv  zu  Karlsruhe  (cf,  Hilgard  p X,  XI)  vor.  Ersteres  gilt  von 
D 6 — 10,  D 5 (wenigstens  dort  gewesen),  letzteres  von  U 1 — 4,  11 — 18,  15, 
19—21,  32—35,  48,  49  etc.  Dagegen  sind  im  Speierer  Stadtarchiv  U 18, 
23,  25,  47,  51,  53  etc.,  lanter  für  den  Stadtrat  bestimmte  Urkunden. 

*)  Gesch.  d.  itaL  Stdtv.  II  431,  432  mit  N.  1. 

•)  S.  277. 


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282 


ganz  besonders  von  der  Behauptung  Schaubes,1)  „dass  sich  das 
Wünschenswerte  einer  bestimmten  Vertretung  der  Stadtgemeinde 
nach  dem  Aufschwünge,  den  die  Städte  seit  den  Staufern  ge- 
nommen, bei  den  Bürgern  herausgestellt,  und  sie  Heinrich  VI. 
angegangen  haben  werden,  ihnen  die  Wahl  solcher  Vertreter  zu  ge- 
statten.“ Die  Bürgerschaft  Speiers  besass  eben  schon  lange 
vorher  eine  sie  vertretende  Behörde,  welche  kaiserliche  Privi- 
legien empfangen  hatte  und  bewahrte;  die  erste  kaiserliche 
Anerkennung  dieser  Behörde  wurde  zur  Zeit  Philipps  von 
Schwaben  — aller  Wahrscheinlichkeit  nach  ganz  richtig  — 
auf  Heinrich  V.  zurückgeführt.  Aus  den  früheren  allgemeinen 
Erwägungen,  namentlich  auch  daraus,  dass  der  spätere  Rat 
auch  die  Gerichtsbarkeit  übte,  geht  nun  hervor,  dass  wir  in 
dem  in  Philipps  Freiheitsbrief  erwähnten  Oolleg  von  12  auf  das 
Wohl  der  Stadt  vereideten  Personen  das  Schöffencolleg  zu  sehen 
haben.  Philipp  gewährte  den  Bürgern  das  Recht,  dass  dies 
Colleg  von  ihnen  gewählt  und  ihre  Stadt  durch  diese  Ratsbehörde 
regiert  werden  sollte.  Diese  Stadtbehörde  schliesst  nun  ca. 
1207  mit  der  Wormser  einen  Vertrag  über  gegenseitige  Zoll- 
erhebung; 1208  werden  von  beiden  darüber  Urkunden  ausgestellt, 
welche  durch  die  Stadtsiegel  bekräftigt  sind.*)  Als  1224  offen- 
bar dieselbe  Speierer  Stadtbehörde  mit  dem  in  Speier  selbst 
gelegenen  Germanusstifte  einen  Zollvertrag  abschloss,  wurde  sie 
hierbei  mit  dem  an  dieser  Stelle  zuerst  für  Speier  benutzten 
Namen  consiliarii  bezeichnet;5)  1228  erscheint  dann  für  diese 
Behörde  auch  der  Name  consules.*) 

Später  als  für  unsere  beiden  anderen  mittelrhcinischen 
Städte,  nämlich  erst  1244,  ist  für  Mainz  die  freie  Wählbarkeit 
des  Rats  urkundlich  gesichert  worden;5)  ferner  ist  diese  Stadt 

‘)  S.  451. 

*)  Sp.  I'  23,  cf.  W-U  111.  Fälschlich  giebt  Hilgard  der  Urk.  das  Datum 
c.  1207,  während  dort  von  Philipp  schon  als  „beatc  memorie  regis“  gesprochen 
wird.  Andererseits  folgt  aus  der  Bemerkung,  der  der  Urknnde  zn  Grunde 
liegende  Vertrag  sei  in  Philipps  Gegenwart  geschlossen,  dass  dieser  Vertrag 
vor  dem  21.  Juni  1208  stattfand. 

•)  ü 36. 

4)  Eubel,  Gesch.  d.  oberdeutschen  Minoriten-Provinz  (WUrzburg  1886). 
S.  200  N.  41.  — Die  erste  Erwähnung  der  magistri  burgensium  in  den  uns 
erhaltenen  Speierer  Urkunden  fällt  ins  Jahr  1239  (U  61). 

*)  B-W  XXXIII  504. 


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283 


auch  weit  später  als  Worms  und  Speier,  nämlich  erst  1236, 
in  den  Besitz  kaiserlicher  Privilegien  gekommen.1)  Diese  Er- 
scheinungen häugen  sicher  mit  dem  grossen  Einflüsse  des  Mainzer 
Erzbischofs  auf  alle  Reichsangelegenheiten  zusammen,  indem  sich 
die  Reichsgewalt  gegen  ihn  weniger  als  den  schwächeren  Prä- 
laten von  Worms  und  Speier  gegenüber  auf  die  städtischen 
Bürgerschaften  stützen  konnte.  Zum  Teil  ist  diese  spätere 
Entwicklung  von  Mainz  auch  aus  dem  unglücklichen  Ausgange 
seines  Aufstandes  gegen  die  erzbischöfliche  Regierung  von 
1158 — 1160  zu  erklären,  da  dieser  entschieden  eine  zeitweilige 
Zurückdrängung  der  wirtschaftlichen  und  politischen  Entwicklung 
der  Stadt  zur  Folge  hatte.  Der  Zusammenhang  dieser  Unruhen, 
die  desshalb  hier  nicht  völlig  übergangen  werden  können,  mit 
der  Mainzer  städtischen  Verfassungsentwicklung  hat  nun  sehr 
verschiedene  Beurteilung  erfahren.  So  betrachtet  z.  B.  Arnold*) 
die  Absicht  der  Mainzer,  den  Rat  zu  einer  unabhängigen  städ- 
tischen Obrigkeit  zu  machen,  als  Ursache  des  Aufstands ; ähnlich 
sieht  Gier ke1)  in  diesem  Aufstande  „den  ersten  Versuch,  den 
Rat  gegen  den  Erzbischof  durchzusetzen.“  Lässt  ferner 
Nitzsch*)  die  Erbitterung  gegen  (len  Erzbischof  namentlich 
aus  dessen  hofrechtlichen  Forderungen  entspringen,  so  zeigt 
sich  auch  die  ganze  Darstellung  der  Unruhen  bei  Wegele*) 
von  dem  Gedanken  durchdrungen,  dass  die  Bürger  sich  keine 
Vermindrung  ihrer  Rechte  gefallen  lassen  wollen,  eine  starke 
Partei  unter  ihnen  aber  nach  Vermehrung  derselben  strebte. 
Diesen  Ansichten  gegenüber  suchten  Nohlmanns*)  und  Bau  Ja- 
bach,1) deren  Resultaten  sich  Will8)  anschloss,  die  Meinung 
zu  erweisen,  dass  die  Empörung  gegen  Arnold  „durchaus  nicht 
als  Freiheitskampf  der  Städter“  betrachtet  werden  könne. 
Während  dieselbe  Anschauung  jetzt  auch  von  Hegel*)  ver- 

*)  B-F  2182,  Hnillard  IV  892.  . 

*)  V.  G.  I S.  367. 

s)  I S.  276  N.  73. 

4)  Deutsche  Gesch.  II  270,  271. 

*)  Arnold  von  Selenhofen,  Erzb,  von  Mainz  (Jena  185ö)  passim , vgl. 
namentl.  S.  2,  10,  15. 

*)  Vita  Arnoldi  de  Selenhofen  (Bonn  1871),  bes.  p 6 und  42. 

*)  Arnold  von  Selehofen  (Berlin  1871)  bes.  S.  43,  66,  96,  96  etc. 

'*)  B-W  Bd.  I Einl.  S.  LXXVIl  nnd  LXXVIII. 

•)  Mainz  S 41. 


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284 


treten  wird,  hat  es  neuerdings  wieder  Giesebrecht1)  als 
Plan  der  Mainzer  hingestellt,  sich  vom  Erzbischof  unabhängig 
zu  machen.  So  mag  denn  im  folgenden,  ohne  dass  eine  ins 
einzelne  eingehende  Schilderung  des  Aufstandes  selbst  gegeben 
wird,  doch  eine  kurze  Untersuchung  des  Verhältnisses  desselben 
zur  städtischen  Verfassungsentwicklung  versucht  werden. 

Zunächst  kann  nach  den  Untersuchungen  Baumbachs*) 
von  einer  Beteiligung  der  Bürgerschaft  an  den  Unruhen  des 
Jahres  1155  keine  Rede  mehr  sein.  Diese  waren  vielmehr 
dadurch  hervorgerufen,  dass  Erzbischof  Arnold  ins  Eigentum 
seiner  Vasallen,  insbesondere  des  Pfalzgrafen  bei  Rhein,  ge- 
langtes Kirchengut  zurückforderte;  den  Vasallen  schloss  sich 
im  Kampfe  gegen  Arnold  nur  das  zu  den  Ministerialen  des 
Erzstifts  gehörige  Geschlecht  der  Meingote  an,  das  seit  alter 
Zeit  mit  Arnolds  Sippe  verfeindet  war.*)  Mittelbar  gab  frei- 
lich dieser  Kampf  auch  zu  grosser  Erbitterung  der  Stadtbevöl- 
kerung gegen  Arnold  Anlass;  denn  gerade  durch  diesen  Streit, 
in  welchem  der  Erzbischof  zuletzt  unterlag,  wurden  die  erz- 
stiftischen  Finanzen  völlig  zerrüttet.4)  Die  Folge  davon  war 
aber,  dass  Arnold,  als  Kaiser  Friedrich  I.  seine  Beteili- 
gung an  dem  Romzug  von  1158  forderte,  sich  gezwun- 
gen sah,  von  den  Mainzern  eine  Beisteuer  zur  Heerfahrt  zu 
erheben.4) 

Nun  wurde  aber  damals  volle  Steuerfreiheit  als  Recht  der 
Mainzer  angesehen;*)  man  leitete  dasselbe  aus  der  früher  be- 
sprochenen dunkelen  Stelle  der  Urkunde  Adalberts  I.  für  die 


l)  D.  G.  V S.  362-373  bes.  S.  372. 

*)  S.  37—44.  Hegel  Mainz  8.  38  berichtet  allerdings  anch  von  , wildem 
Strassenkampf  der  beiden  Faktionen*  im  Jahr  1156.  Diese  Ansicht  setzt 
aber  voraus,  dass  man  das  gewöhnlich  dem  Erzbischof  Christian  zugesebriebene 
Chronicon  Moguntintun  für  die  Zeit  Arnolds  als  Geschichtsqnelle  benutzt, 
was  mir  nach  den  Erörterungen  Baumbachs  8.  10  und  Dittmar's  de 
fontibus  historiae Frider. I nonnullis  Regimonti  1864  p 33  (vgl.  auch  Will  in 
Ztschr.  d.  Görres-Ges.  II  8.  352  ff.)  als  unrichtig  erscheint. 

*)  Jaffi,  Mon.  Mog.  614  und  616  cf.  Bau  mb  ach  S.  38—40. 

*)  cf.  Baumbach  S.  50,  51. 

»)  B-W  XXIX  67. 

*)  Der  Beweis  folgt  unten  im  Texte, 


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285 


Stadt  ab.1)  So  wurde  denn  die  Steuer  von  den  Mainzern  unter 
Berufung  auf  den  genannten  Freiheitsbrief  verweigert. 

Wenn  es  auch  bei  dem  Biographen  Arnolds  nicht  deutlich 
hervortritt,  so  befanden  sich  doch  die  Steuerverweigerer  un- 
zweifelhaft im  Recht.*)  Dies  kann  gerade  daraus  geschlossen 
werden,  dass  Arnold,  so  nützlich  eine  Heranziehung  der  Steuer- 
kraft seiner  Residenz  für  die  erzstiftischen  Finanzen  gewesen 
wäre,  diesen  Versuch  erst  in  letzter  Stunde,  als  alle  übrigen 
Hilfsquellen  versagten,  unternahm.  Ferner  spricht  die  Art, 
wie  er  selbst  nach  der  Darstellung  seines  Biographen  die  Ein- 
willigung der  Bürgerschaft  zu  der  Steuer  nachsuchte,  ent- 
schieden dafür,  dass  er  ein  sicheres  Recht  zur  Erhebung  nicht 
besass.*) 

Als  entscheidend  ist  endlich  zu  betrachten,  dass  1147  in 
einer  von  dem  damaligen  Erzbischof  Heinrich  I.  ausgestellten 
Urkunde  es  als  feststehend  betrachtet  wird,  dass  von  den 
Mainzer  Bürgern  weder  Zins  noch  Bede  gefordert  werden 
dürfe.4)  Demnach  waren  also  die  Mainzer,  als  Arnold  die 
Heersteuer  verlangte,  durchaus  im  Rechte,  als  sie  gegen 
diese  Forderung  einwandten,  dass  sie  zu  keinerlei  Abgaben 
verpflichtet  seien,  und  sich  dafür  auf  das  Privileg  Adal- 
berts von  1118  beriefen.6)  In  der  That  hatte  sich  jener 


')  s.  oben  S.  236  mit  N.  1. 

*)  A.  M.  Banmbach  8.  56,  67.  Sein  Ein  wand,  dass  das  Privileg 
Adalberts  hier  nicht  in  Betracht  kommen  durfte,  da  es  nicht  von  den  Kaisern 
bestätigt  war,  trifft  desshalb  nicht  tu,  weil  die  Forderung  ja  zunächst  vom 
Eribischof  ausging.  Die  Bürger  konnten  verlangen , dass  der  Enbischof 
seinen  ßeichspflichten  wie  bisher,  ohne  sie  selbst  in  Anspruch  in  nehmen, 

nftp.hkft.m- 

*)  Vita  Arnoldi  (Jafffe  Mon.  Mag.  p 626):  proponena  eis,  qnod  — cum  fre- 
quentisaime  pro  honore  ecclesie  et  totius  civitatis  magnis  laborasset  impendiis, 
sive  in  imperiali  sive  in  apostolica  curia,  sive  contra  hostes  ecclesie  — nihil 
exegiseet  ab  eis,  vgL  Baumbach  S.  49 — 62. 

4)  B-W  XXVIII  79,  Spiess  Aufklärungen  in  d.  Gasch,  u.  Diplom. 
(Bayreuth  1791)  p 222:  ut  deinceps  . . . sicut  cives  eiusdem  civitatis 
computarentur  etdecenau  sive  alia  qualivis  exactione  nullam  omnl- 
modo  molestiam  a qnovis  sustinerent. 

*)  Vita  Arnoldi  ibid. : aiebat  — forte  ex  privilegio  per  Albertnm  civibus 
concesso,  quod  allegavit,  — ipso*  de  iure  nihil  debere,  nihil  domno  episcopo 
ex  iustitia  debere. 


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286 


Rechtssatz  aus  dieser  Urkunde,  ohne  ursprünglich  darin  aus- 
gesprochen zu  sein,*)  entwickelt. 

Als  Arnold  seine  Forderung  verweigert  sah,  musste  er  mit 
seinen  Truppen,  ohne  die  Beisteuer  der  Städter  erhalten  zu 
haben,  ins  Feld  rücken ; an  ein  rechtliches  Vorgehen  gegen  die 
Steuerverweigerer  — etwa,  soweit  sie  auch  erzstiftische  Va- 
sallen waren,  im  Lehnsgericht  — war  der  üblichen  langen 
Gerichtsfristen  wegen  nicht  mehr  zu  denken.  Am  kaiserlichen 
Hofgericht  holte  nun  Arnold  über  seinen  Fall  eiu  Gutachten 
ein.  Dasselbe  bestimmte,  dass  die  Lehnsleute  bei  Strafe  des 
Lehnsverlustes  den  verlangten  Beitrag  zahlen  und  ausserdem 
zur  Strafe  der  dem  Lehnsherren  bezeigten  Missachtung  die  Bann- 
busse  erlegen  sollten.’) 

Während  Arnolds  Abwesenheit  war  ihm  aber  seine  Herr- 
schaft über  Mainz  vollständig  entzogen  worden.8)  Propst  Bur- 
chard  von  Jechaburg  aus  dem  Arnold  feindlichen  Geschleckte 
der  Meingote  hatte  mit  seiner  Sippe  die  Gewalt  in  der  Stadt 
an  sich  gezogen.  Arnold  selbst  hatte  diesem  Geistlichen  und 
seinen  beiden  Neffen,  ehe  er  nach  Italien  zog,  seine  Vertretung 
in  der  Stadt  übertragen,  da  er  sie  alle  für  völlig  ausgesülmt 
hielt.  Doch  bald  erfuhr  er,  wie  sehr  er  sich  getäuscht  hatte. 
Von  den,  seit  dem  missglückten  Steuererhebungsversuch  aufs 
heftigste  gegen  Arnold  erbitterten,  Bürgern  liess  sich  Burchard 
selbst  zum  Erzbischof  erheben.  Von  ihm  und  seinen  Anhän- 
gern wurden  dann  die  Beamtungen  (officiatus)  neu  vergeben, 
die  Rechtseinrichtungen  geändert,  und  die  angeseheneren  Bür- 
ger gegen  Arnold  bewaffnet.  Nur  mit  Gewalt  gelang  es  daher 
dem  heimkehrenden  Erzbischof,  sich  den  Weg  in  seine  Residenz 
zu  erschlossen  ;8)  darauf  verliessen  die  Häupter  der  ihm  feind- 
lichen Partei,  teils  freiwillig,  teils  gezwungen,  Mainz  und  be- 
gaben sich  an  den  kaiserlichen  Hof,  um  sich  über  Arnold  zu 
beklagen.4)  Sie  erlangten  jedoch  nur  kaiserliche  Entschuldi- 
gungsbriefe, welche  den  Erzbischof  veranlassten , seine  Gegner 
auf  das  Versprechen  angemessener  Bussleistung  hin  wieder  in 


')  vgl.  oben  S.  236  N.  1. 

’)  Vita  Arnoldi  (a.  a.  0.  p 628). 
*)  vgl.  B-W  XXIX  35  und  75. 

*)  ibid.  79. 


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287 


Mainz  zu  dulden.  Über  die  Höhe  derselben  konnte  aber  keine 
Einigung  erzielt  werden.1)  Als  Arnold  darauf  versuchte,  durch 
die  Mainzer  Diöcesansynode  mit  kirchlichen  Strafen  gegen  seine 
Feinde  vorzugehen,  erhob  sich  die,  inzwischen  ganz  von  ihnen 
gewonnene,  städtische  Bevölkerung  gegen  den  Erzbischof;  je- 
doch wurden  die  ungeordneten  Schaaren  mit  geringer 

Mühe  von  dessen  Gefolge  zurückgeschlagen.2)  Sobald 

Arnold  aber  einer  verabredeten  Zusammenkunft  mit  dem  Bi- 
schof von  Würzburg  halber  die  Stadt  verlassen  hatte,  bemäch- 
tigten sich  seine  Gegner  der  Herrschaft  aufs  neue.  Wilde 
Volkshaufen  plünderten  den  Dom,  den  Palast  des  Erzbischofs 
und  die  Häuser  der  ihm  ergebenen  Geistlichen.  Die  Thore 
der  Stadt  wurden  geschlossen,  um  Arnold  an  der  Heimkehr  zu 
hindern.*) 

Dieser  begab  sich  darauf  an  den  kaiserlichen  Hof,  um 
über  seine  Gegner  Klage  zu  führen;4)  gleichzeitig  kamen  auch 
einige  von  diesen  an  den  Hof,  um  sich  ihrerseits  über  den  Erz- 
bischof zu  beschweren.  Unter  dem  Einfluss  der  für  Arnold  eintreten- 
den Fürsten  entschied  Friedrich  vollständig  zu  seinen  Gunsten . Die 
Mainzer  sollten  ihm  die  Herrschaft  über  ihre  Stadt  zurttckgeben,  wie 
sie  ihm  im  Sommer  1158  zugestanden;  ausserdem  sollten  sie  ihm 
Schadenersatz  und  Sühne  leisten.5)  Letztere  wurde  dann  auf 
der  Synode  zu  Pavia  (Febr.  1160)  noch  genauer  für  die  ver- 
schiedenen Stände  festgesetzt.*)  Die  Geistlichen  sollten  von 
St.  Alban  bis  St.  Peter  die  Harmschar 7)  tragen ; dieselbe  Strafe 
traf  die  Vorsteher  der  Bürgerschaft,  welche  ausserdem  für  den 
dem  Erzbischof  zugefügten  materiellen  Schaden  Ersatz  leisten 
und  ganz  besonders  auch  seinen  Palast  wieder  aufbauen  sollten. 
Die  Lehnsträger  endlich  sollten  sich  eidlich  verpflichten,  Stadt 
und  Erzbistum  so  lange  zu  meiden,  bis  es  ihnen  gelungen  sei, 

l)  Vita  Amoldi  (a.  a.  0.  p 631). 

*)  B.-W.  XXIX  83. 

•)  ibiil.  85. 

4)  ibid.  86. 

‘)  ibid.  88,  89. 

•)  ibid.  94. 

')  Unter  harmschara  wird  nach  Grimm  R.  A.  8.  681  zunächst  alles, 
was  zur  Qual  von  der  Obrigkeit  auferlegt  wird  , also  zunächst  jede  Strafe 
verstanden,  daun  specialisiert  sich  der  Begriff  auf  die  Strafe  der  schimpf- 
lieben  l'roeesaion  mit  Huud-  oder  Satteitragen,  cf.  Grimm  R.  A.  8.  7 13 ff. 
und  Vita  Amoldi  (Jafffe  Mon.  Hog.  615). 


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288 


Freisprechung  im  Lehnsgericht  oder  Begnadigung  durch  den 
Erzbischof  zu  erreichen. 

Dies  wurde  als  kaiserliche  Verordnung  den  Mainzern  ver- 
kündet.1) Die  erzbischöflichen  Lehnsleute,  welche  an  der  Ver- 
schwörung Anteil  hatten,  leisteten  den  verlangten  Eid,  blieben 
aber  dennoch  in  Mainz  oder  begaben  sich  bald  wieder  dorthin 
zurück.  Von  neuem  wurden  die  Bürger  gegen  Arnold  aufge- 
stachelt und  die  Stadt  verbarrikadiert.*)  Hierauf  entschloss 
sich  nun  Arnold,  mit  Hilfe  der  ihm  treu  gebliebenen  Vasallen 
und  befreundeter  Fürsten , besonders  Heinrichs  des  Löwen, 
seine  Gegner  zu  vernichten.*)  Diese  erklärten  sich,  hierdurch 
erschreckt,  scheinbar  zur  Unterwerfung  bereit  und  lockten  so 
den  Erzbischof  in  das  nahe  der  Stadt  gelegene  Jacobskloster. 
Dasselbe  wurde  dann  während  der  Unterhandlungen  erstürmt 
und  Arnold  grausam  ermordet.4) 

Hegel5)  meint,  es  sei  besonders  auffallend,  dass  von  den 
Stadtbeamten  nirgends  die  Rede  sei,  „als  ob  eine  geordnete 
Stadtregierung  garnicht  existiert“  habe.  In  der  That  lässt 
sich  nur  constatieren , dass  von  erzbischöflichen  Beamten  der 
Schultheiss  Hermann  und  dessen  Bruder  der  Vitztum  Helfrich 
auf  Seite  Arnolds  standen,  da  sie  noch  in  dessen  letzten,  kurz 
vor  seinem  Tode  ausgestellten,  Urkunden  als  Zeugen  begegnen.*) 
Im  übrigen  wird  man  in  der  oben7)  erwähnten  Änderung  der 
Beamten  (offlciati)  und  Rechtssatzungen  (iustitiae)  durch  die 

*)  Vita  Arnoldi  (ibid.  644):  Hec  ....  privilegio  üuperiali  confirmau 
ac  per  nuncios  imperiales  ....  Maguntinis  constat  esse  delata. 

*)  B-W  XXIX  100. 

*)  ihid.  102. 

‘)  ihid.  104,  110. 

*)  Mainz  S.  41. 

•)  B-W  106—107.  Helfrich  war  auch  von  Arnold  nach  Mainz  geschickt, 
um  für  ihn  mit  den  Aufständischen  zu  unterhandeln  (B-W  104).  Übrigens 
waren  Helfrich  und  Hermann  nach  B-W  XXVIII  79  Söhne  des  Ernst  von 
Seihofen.  Sie  scheinen  beide  von  Arnold  selbst  ihr  Amt  erhalten  zu  haben, 
da  nnter  Arnoldi  Vorgänger  als  Schultheiss  Hertwich  und  als  Vitztum  Mein- 
got  begegnet  (B-W  XXVIH  157—160).  Ob  Helfrich  und  Hermann  mit  Arnold 
verwandt  waren,  wofür  ihre  gemeinsame  Bezeichnung  de  Seihofen  sprechen 
könnte,  muss  dahingestellt  bleiben  (vgl.  oben  S.  95  N.  6).  Übrigens  war  der 
Mainzer  Vitztum  nicht  Stadtbeamter,  sondern  Verwalter  erzbischöflicher  Be- 
sitzungen ausserhalb  der  Hauptstadt,  vgl.  Hegel  Mainz  S.  31. 

>)  S.  286. 


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289 


Gegner  Arnolds  wohl  insbesondere  eine  Absetzung  der  erz- 
bischöflich gesinnten  Stadtbeamten  und  eine  Erweiterung  der 
städtischen  Freiheiten  zu  sehen  haben;  werden  doch  in  Mainz 
die  Mitglieder  der  Stadtbehörde  vielfach  kurzweg  als  Beamte 
(officiati)  bezeichnet.1)  Beamter  (officiatus)  wird  auch  gerade 
Reginbodo  de  Pinguia  in  einer  späteren  Urkunde  genannt,*) 
der  in  der  Vita  Arnoldi*)  als  einer  derjenigen  Lehnsleute  er- 
wähnt wird,  welche  gegen  ihren  Eid  in  Mainz  blieben.  Die 
mehrfach  erwähnte  Beteiligung  der  Bürgerschaft  an  dem  Auf- 
stande setzt  ein  lebhaftes  Interesse  derselben  an  dessen  Gelin- 
gen voraus;4)  Arnolds  Feinde  stellen  ihnen  entschieden  die 
städtische  Freiheit  als  durch  den  Erzbischof  bedroht  vor.5)  In- 
sofern hatten  sie  jedenfalls  nicht  Unrecht,  als  die  Wiederher- 
stellung aller  im  Laufe  der  Zeit  geminderten  erzbischöflichen 
Rechte  sicher  auch  der  städtischen  Autonomie  gefährlich  ge- 
worden wäre.  Selbst  Arnolds  Biograph,  der  sonst  dessen 
Sanftmut  nicht  genug  zu  rühmen  vermag,  berichtet,  dass  der 
Erzbischofschon  vor  seiner  Wahl  öfters  geäussert  habe,  dass,  wer 
über  die  Mainzer  herrsche,  „gleichsam  eine  Tyrannis  ausüben 
müsse.“*)  Die  häufigen  Gesandtschaften  der  Gegner  Arnolds 
an  den  Kaiser  sind  wohl  nur  dadurch  zu  erklären,  dass  sie 
wirklich  annahmen,  dieser  sei  der  Erlangung  einer  grösseren 
Autonomie  der  Stadt  vom  Erzbistum  günstig  gesinnt;1)  der 
ganze  Streit  entbrennt  auch  über  die  Auslegung  eines  speciell 
nur  den  Einwohnern  von  Mainz  verliehenen  Privilegs.  So  lässt 
sich  denn  der  Ansicht  derjenigen,  welche  den  Aufstand  gegen 
Arnold  in  engen  Zusammenhang  mit  den  Freiheitsbestre- 
bungen der  Mainzer  bringen  wollen,  alle  Berechtigung  nicht 

*)  i.  unten  8.  291  ff. 

*)  Joannis  II  707:  Dudo  camerarius,  Regio  botho  de  Pinguia  officiati. 

*)  p.  646. 

4)  cf.  auch  annal.  Diaib.  (Boehmer  fontea  III  p.  214  u.  8 8 XVII  29): 
Quidam  ex  clero  ....  omneaqne  aimul  urbani,  maiores  cum  mino- 
ribua,  epiacopum  auum  Amoldum  nimia  exoaum  coeperunt  habere. 

*)  Vita  Arnoldi  (Jaff6  Mon.  Mog.  p.  646) : ipsum  eaae  aevum  hoatem  loci, 
destructorem,  predonem,  exactorem  . . . totiusque  civitatis  mortificatorem. 

•)  ibid.  p.  611:  Popuius  enim  hic  meua  ....  nec  domari  potest  aut 
ad  viam  rectitudinia  duci , nisi  aculeo  flagellia  scorpionibuaque  cedatur 
Moguntinum  enim  oportet  quasi  tyrannidem  exeroere. 

’)  wie  es  etwa  die  Salier  gewesen  wären. 

Koahna,  Ursprung  dar  Sudtvarfaaaung  in  Worin*.  Spaiar  und  Mainz.  18 


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290 


absprechen,  wenn  auch  gerade  unsere  einzige  ausführliche 
Quelle  in  der  Hauptsache  nur  den  alten  Hass  zweier 
rivalisierender  Ministerialenfamilien  als  Grund  des  Aufstandes 
ansieht. 

Unzweifelhaft  wirkte  auch  die  Ermordung  Arnolds  dadurch 
bedeutend  auf  den  Wohlstand  der  Stadt  ein,  dass  viele  ange- 
sehenen Bürger  mit  ihren  Familien  Mainz  aus  Furcht  vor  dem 
kaiserlichen  Strafgerichte  verbessern  *)  Von  den  Entscheidungen 
desselben  war  für  die  Stadt  wichtig,  dass  ihre  Mauern  und 
Häuser  zum  Teil  zerstört*)  und  die  Bürgerschaft  ihrer  Privi- 
legien für  verlustig  erklärt  wurde.*) 

Welche  Wirkungen  die  Bestrafung  des  Aufstandes  etwa 
noch  auf  die  Rechte  der  Bürgerbehörde  im  einzelnen  gehabt 
hat,  ist  nicht  zu  erkennen. 

Was  nun  die  Herkunft  dieser  Behörde  betrifft,  so  ist  sie 
bis  jetzt  noch  nicht  näher  untersucht  worden.  Arnold4)  hält 


l)  Annal.  Egraund.  (S.  S.  XVI  p.  462). 

*)  B-W  XXX  19  vgl.  Hegel  Mainz  S.  42  N.  4,  der  nachweist,  dass  trotz 
entgegenstehender  Berichte  einzelner  Quellen  doch  nur  ein  Teil  der  Mainzer 
Befestigungen  geschleift  wurde.  Dass  der  Kaiser  auch  einen  Teil  der  Häuser 
zerstörte , geht  aus  den  von  B-W  a.  a.  0.  angeführten  Stellen  der  annal. 
Magdeb.  u.  Egmnndani  sowie  aus  einem  Briefe  hervor,  den  ca.  1196  Guibert  von 
Gembloux  an  Erzb.  Konrad  I.  von  Mainz  richtete  (B-W  XXX  363,  Guden 
Cod  V p.  1104).  Hier  heisst  es  nämlich:  Miserabilem  urbis  destructionem, 
quae  in  ultione  Domini  Arnoldi  . . . imperialis  Curie  iudicio  facta  fuerat  . . ; 
cf.  auch  ibid.  p.  1105:  quociens  . . . Mogunciam  mittebar,  videns  civitatem 
dirutam  . . ingemiscebam. 

*)  Dass  die  Mainzer  damals  ihre  Privilegien  verloren,  berichtet  aller- 
dings nur  Christiani  Chron.  Magunt.  (Jaffft  Mon.  Mog.  p.  692;  über  diese 
Quelle  vgl  oben  S.  284  Note  2).  Jedoch  ist,  wie  schon  Arnold  V.  G.  I S.  368 
bemerkte,  „an  der  Fassung  des  Privilegs“,  welches  Friedrich  II.  den  Mainzern 
1236  erteilte  (B-F  2182),  zu  erkennen,  „dass  es  mit  der  Kassation  der  Privi- 
legien durch  Friedrich  I.  Emst  war“ : Friedrich  II.  erteilte  den  Mainzern 
dasjenige  neu,  'was  ihnen  schon  Adalbert  I.  verliehen.  Ausserdem  bemerken 
die  annal.  ßatisb.  (S.  S.  XVII  588),  Mainz  habe  damals  das  Stadtrecht  ver- 
loren, womit  wohl  entschieden  die  Entziehung  der  Privilegien  gemeint  ist. 
Nur  durch  die  Aufhebung  des  Privilegs  Adalberts  ist  es  auch  erklärlich,  dass 
später  Erzbischof  Konrad  von  Mainz  sagt,  dass  er  secundum  consuetudinem 
omnium  episcoporam  et  aliorum  principum  terrae  von  allen  Einwohnern  seiner 
Diöcese  Beden  erhebe  (B-W  XXX  98),  vgl.  G.  Scholz,  De  Conradi  archiep. 
Mag.  principatn  territoriali  (Diesen.  Bonon.  1871)  p.  19 — 22. 

*)  V.  G.  I S.  368,  369. 


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291 


die  erzbischöflichen  Richter  (oföciati)  f ilr  eine  besondere  neben  dem 
Rat  bestehende  Behörde;  letzterer  habe  „selbständige  Rechte  nur 
so  weit  geltend  machen“  dürfen,  „als  der  Erzbischof  zu  gestatten 
für  gut  fand,“  „trete  aber  erst  seit  dem  Jahre  1244  mit  unter 
den  Obrigkeiten  der  Stadt  auf.“  Hegel1)  lässt  den  Rat  über- 
haupt erst  in  diesem  Jahre  entstehen.  Doch  „fehlte“  es  nach 
seinen  Erörterungen  „der  Stadt  Mainz  schon  vorher  nicht  an 
einem  eigenen  Organe  der  Gemeindeverwaltung,  wiewohl  dieses 
allein  aus  den  vom  Erzbischof  ernannten  Richtern  und  Amts- 
leuten bestanden  und  darum  auch  noch  nicht  Rat  der  Stadt 
(consilium  civitatis)“  geheissen  habe.  Diese  Gemeindebehörde 
nun  seien  die  rectores  et  offlciati,  deren  Zustimmung  1099  in  der 
Urkunde  Erzbischof  Ruthards8)  für  die  Weberzunft  erwähnt 
wird.  Die  Rektoren  seien  Kämmerer  und  Schultheiss,  die 
Officiaten  die  „Amtleute  des  Erzbischofs  für  die  Stadtverwaltung, 
welche  jenen  in  einem  Kollegium  zur  Seite  standen  und  später 
dem  selbstgewählten  Rat  der  Bürger  Platz  machten.“*) 

In  seiner  Besprechung  von  Hegels  Mainzer  Verfassungs- 
geschichte hat  nun  Hoeniger4)  die  Meinung  ausgesprochen, 
Hegels  Ansicht  nähere  sich  sehr  wesentlich  „dem  von  Heus- 
ler  vertretenen  Standpunkt,“  also  der  Herleitung  des  Rates 
aus  dem  Schölfencolleg.  Hoeniger  stellt  denn  auch,  Hegels 
Forschungen  gewissermassen  resümierend,  diese  Mainzer  Offlci- 
aten  mit  dem  Kölner  Schöffensenat  in  Parallele.  Die  Beweise 
für  diese  auf  den  ersten  Blick  doch  befremdende  Anschauung 
sind  bis  jetzt  freilich  noch  nicht  gebracht. 

Zunächst  mag  nun  der  Gedanke  als  unrichtig  abgewiesen 
werden,  dass  der  Name  Ratsleute  (consiliarii)  erst  von  dem 
Jahre  (1244)  an  vorkomme,  in  welchem  den  Bürgern  die  freie 
Ratswahl  urkundlich  gesichert  ist.  In  einer  1219  ausgestellten 
Urkunde  Erzbischof  Sigfrieds*)  erscheinen  nämlich  unter  den 
Laienzeugen  nach  den  Vasallen  und  dem  Kämmerer  als  beson- 
dere Gruppe  offlciati  7 Personen  namentlich  aufgeführt,  denen  aus- 

*)  Mainz  8.  36. 

*)  «.  oben  8.  100. 

*)  Hegel,  Mainz  8.  34. 

*)  Westdeutsche  ZtschrfL  in  8.  60. 

*)  B-W  XXXII 326  Baur,  Hess.  Urk.  II  N.  44  p.  54 : Offlciati : Amoldus 
de  queren,  Amoldus  Waltbodo,  Bertoldns  monetarius,  Oodescalcus  advocatus, 
Bodnlphus,  Bertoldns  in  marcstraza,  Gebeno  et  ceteri  consiliarii  moguntini. 

ir 


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292 


drücklich  ceteri  consiliarii  moguntini  folgen.  Daraus  ergiebt 
sich,  dass  der  Rat  nicht  erst  1244  geschaffen  ist;1)  ferner 
lässt  sich  aber  anch  aus  dieser  Zeugenliste  schliessen,  dass  die 
Mainzer  consiliarii  damals  zu  den  officiati  gerechnet  wurden 
oder  mit  ihnen  identisch  waren.  Die  Bedeutung  von  ofißcialis 
oder  officiatus  in  Mainz  ist  schon  von  Hegel’)  ausführlich  be- 
sprochen worden.  Derselbe  wies  nach,  dass  dies  sonst,  gleich 
dem  deutschen  „Amtmann  oder  Beamter“  in  allgemeiner  und 
verschiedenen  speeiellen  Bedeutungen  vorkommende,  Wort  offi- 
cialis  oder  officiatus  *)  in  Mainz  vorzugsweise  die  Mitglieder  der 
Stadtbehörde  bezeichnet.  Richtig  hat  Hegel  auch  schon  die  „rec- 
tores,  officiati  et  omnes  burgenses“ , welche  in  dem  Privileg  Erz- 
bischof Ruthards  für  die  Weberzunft  zu  den  erzbischöflichen 
Massnahmen  ihre  Zustimmung  erteilen,4)  mit  den  im  Schreiben 
der  Mainzer  an  Heinrich  IV.  (1105)  als  Absender  genannten 


*)  Bockenheimer  Beiträge  S.  12  mit  N.  3 behauptet  freilich,  gegen  v. 
M aurer  I S.  208  polemisierend,  dass  hier  consiliarii  nicht  den  Stadtrat,  sondern 
einen  aus  „Stiftsgeistlichkeit“  und  erzbischöflichen  „Dienern“  bestehenden  Terri- 
torialrat bezeichne.  Indess  erledigt  sich  sein  gegen  die,  oben  im  Texte  vertretene, 
Ansicht  erhobener  Einwand,  der  Stadtrat  könne  mit  einem  Qütertausche 
zwischen  dem  Erzbischof  und  dem  Kloster  Eberbach  nichts  zu  thun  haben, 
durch  die  Thatsache,  dass  die  Bischöfe  vor  der  Erlangung  völliger  Selb- 
ständigkeit ihrer  Städte  die  Ratsbehörde  derselben  auch  sonst  bei  Ver- 
äusserung  von  Kirchengut  befragen  (vgl.  z.  B.  oben  S.  73  u.  S.  275 mit  N.  6).  Ferner 
ist  consiliarii  in  der  Bedeutung  von  Teilnehmern  des  bischöflichen  Territorial- 
rats  — wenigstens  am  Hittelrhein  — sonst  nicht  bezeugt.  Dagegen  sind 
die  Ausdrücke  Consilium  und  consiliarii  för  Rat  und  Räte  der  Stadt  Worms 
schon  in  den  Jahren  1215  und  1216,  för  solche  von  Speier  1198  und  1224 
nachzuweisen  (vgl.  oben  S.  275, 276,  282).  In  derselben  Bedeutung  findet  sich 
consilium  för  Strassburg  1214  (Strasab.  Urkb.  I N.  160  p.  127),  für  Basel  1218 
(L.  L.  II  p.  230).  Es  kann  demnach  als  gewiss  angenommen  werden , dass 
consiliarii  hier  die  Mitglieder  der  städtischen  Ratsbehörde  bezeichnet  Dies 
wird  noch  dadurch  bestätigt,  dass  auch  vor  1244,  nämlich  1232,  der  Mainzer 
Erzbischof  sich  eine  besondere  Ausfertigung  der,  gegen  die  städtischen  Bau- 
behörden gerichteten , Beschlüsse  des  Reichstages  von  Ravenna  geben  liess 
(B-F  1917). 

’)  Mainz  S.  32  ff. 

*)  Nach  Lamprecht  D.  W.  I 8. 1374  N.  2 „gehen“  diese  Formen  so- 
wie der  — in  Mainz  nicht  nachweisbare  — Ausdruck  officiarius  „lange 
durcheinander“,  bis  offlcialis  dann  speciell  auf  den  Richter  der  geistlichen 
Kurie  bezogen  wird. 

‘)  B-W  XXIV  27,  Joannia  II  618,  vgl.  oben  291  mit  N.  2. 


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„F.  camerarius,  A.  centurio  cum  universis  ministris  ac  civibus“  ‘) 
identificiert.  „Wenn  die  Urkunde  von  1099  beweist,  dass  die 
Rectoren  und  Officialen  die  Stadtverwaltung  mit  einer  gewissen 
Autonomie  führten,  da  ihre  Zustimmung  zu  dem  Privilegium 
des  Erzbischofs  eingeholt  wurde,  so  zeigt  der  Brief  derselben 
an  den  Kaiser,  dass  sie  sich  unter  Umständen  auch  der  erz- 
bischöflichen  Herrschaft  offen  widersetzten,  obwohl  sie  sämmt- 
lich  Amtsleute  und  Diener  des  Erzbischofs  waren.“ *)  Hegel*) 
selbst  hat  nun  auch  schon  dies  Bürgercolleg  der  Offici- 
ateu  mit  den,  sich  schlechtweg  cives  nennenden,  Ausstellern 
einer  Urkunde  von  ca.  1150 4)  für  identisch  erklärt,  „welche 
eine  Handlung  freiwilliger  Gerichtsbarkeit  mit  Rechtskraft 
vollzogen“  und  die  Beurkundung  derselben  mit  dem  Stadtsiegel 
beglaubigten.  Das  hier  cives  genannte  Colleg  ist  aber  das- 
selbe wie  die  einen  Tausch  bekräftigenden  und  mit  dem  Stadt- 
siegel beglaubigenden  Aussteller  einer  Urkunde  von  1209, *) 
welche  darin  folgendermassen  bezeichnet  werden: 

Arnoldus  camerarius,  Dietherus  scultetus  cum  universis 
iudicibus  Maguntinis. 

Danach  stehen  hier  nun  auch  an  der  Spitze  der  iudices 
wie  der  der  officiati  der  Weberurkunde  und  der  der  ministri 
von  1105  Kämmerer  und  Schultheiss.  Ein  Beweis  mehr,  dass 
die  Identification  von  officiati,  ministri,  cives,  iudices  in  den 
herangezogenen  Urkunden  richtig  ist. 

Hat  sich  nun  schon  früher*)  gezeigt,  dass  die  iudices  in 
der  Urkunde  von  1209  und  ähnlichen  die  Schöffen  sind,  so  wird 
man  in  den  Namen  officiati  oder  officiales  nur  eine  besondere 
in  Mainz  übliche  Bezeichnung  der  Schöffen  erkennen.  Lässt 
sich  eine  ähnliche  Benennung  der  Schöffen  auch  in  Worms  und 
Speier  nicht  nachweisen,  so  bietet  sie  doch  nichts  für  das 


*)  Jaflfc  BibL  V p.  234,  vgl.  oben  8.  218. 

*)  Hegel,  Mainz  8.  34,  36. 

*)  ibid.  8.  35. 

4)  Stampf  Acta  Mag.  N.  60  p.  54,  cf.  oben  S.  247. 

•)  Banr  Heg«.  Urk.  1 N.  8 p.  9,  cf.  anch  Kossel  Urkb.  der  Abtei  Eber- 
bach (Wieab.  1862)  I 8.  197  N.  97  a 1216:  Cunrados,  maior  praepositus 
et  camerarius,  Dytheras  gcolthetus,  iudices  et  universi  cives  beurkunden 
ein  Rechtsgeschäft  und  beglaubigen  es  mit  ihrem  Siegel. 

•)  oben  S.  247  -253. 


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fränkische  Rechts-  und  Sprachgebiet  auffallendes.  Auch  in 
einer  lothringischen  Urkunde1)  wird  der  Schöffe  zu  den  Offici- 
alen  gerechnet  nnd  auch  aus  Andernach’)  ist  die  Bezeichnung 
des  Schöffenamts  als  officium  bezeugt.  Da  nun  das  Mainzer 
Schöffencolleg  seine  Befugnisse  schon  im  11.  und  12.  Jahrhun- 
dert sehr  erweitert  hatte,  so  konnte  Hoeniger  es  mit  Recht 
mit  dem  Kölner  Schöffensenat  in  Parallele  stellen;  wird  doch 
mit  diesem  Namen  von  Heusler*)  das  Kölner  Schöffencolleg 
zu  jener  Zeit  bezeichnet,  in  welcher  es  eine  Reihe  der  späteren 
Ratsbefugnisse  schon  erworben  hat  und  sich  selbst  senatus 
nennt,  während  der  Ratsname  zu  Köln  noch  nicht  bezeugt  ist. 
Für  die  dem  Schöffensenate  entsprechende  Mainzer  Behörde 
scheint  nun  der  Name  Rat  ganz  allmählich  aufgekommen  zu 
sein,  da  in  der  erwähnten  Urkunde  von  1219  die  consiliarii 
entweder  zu  den  erzbischöflichen  officiati  als  den  Beamten 
schlechtweg  gezählt  oder,  was  wohl  wahrscheinlicher,  beide 
Ausdrücke  ganz  identisch  gebraucht  sind. 

Unter  diesem  Rat  war  nun  die  Bürgerschaft  in  den  drei- 
ssiger  Jahren  des  dreizehnten  Jahrhunderts  wieder  derart  er- 
starkt, dass  es  selbst  für  das  Kaisertum  Friedrichs  II.  wichtig 
erscheinen  konnte,  ihre  Hilfe  zu  gewinnen.  Dieser  ertheiite 
ihnen  1236  das  Recht,  nicht  vor  auswärtigen  Gerichten  belangt 
zu  werden,*)  also  dasselbe,  was  ihnen  in  dem  von  seinem 
Grossvater  Friedrich  I.  für  nichtig  erklärten  Privileg  Erzbischof 
ädalberts  verliehen  war.  Wie  Mainz  aber  im  Gegensatz  zu 
Worms  und  Speier  sein  erstes  Privileg  vom  Erzbischof,  nicht 
vom  Kaiser  erhalten,  so  trat  ähnliches  auch  in  der  Beurkun- 
dung des  Überganges  des  ausschliesslichen  Stadtregiments  an 
den  Rat  ein.  Diese  gewährte  bekanntlich  den  Mainzern  1244 
Erzbischof  Sigfried  DI.,*)  um  ihre  Unterstützung  gegen  Konrad  IV. 
zu  gewinnen.®)  Der  Erzbischof  gestattet  in  diesem  Vertrage, 

*)  Calmet  Hist,  de  Lorraine  (Nancy  1745)  t.  II  Prenves  p.  222 : villicttm 
et  scabinionem  et  caeteros  officiales. 

*)  Beyer  Mittelrh.  Urkb.  II  N.  6 S.  41 : statuentes,  nt  nullus  antedictonm 
virorum  (sc.  scabinorum)  ab  hoc  officio  recederet  etc.,  vgl.  Lamprecht 
D.  W.  I S.  1374  N.  2. 

•)  Ursprung  S.  190,  vgl.  Hoeniger  in  Westd.  Ztechr.  II  S.  236. 

4)  B-F  2182. 

»)  B-W  XXXIII  504,  tinden  I p.  580. 

*)  Hegel,  Mainz  S.  45,  46. 


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dass  die  Bürger  24  Personen  zum  Stad  trat  wählen,  und  dass 
nach  dem  Tode  jedes  dieser  Ratsmitglieder  seine  Stelle  wieder 
durch  freie  Wahl  der  Bürgerschaft  besetzt  wird.1) 

In  dem  1254  mit  Worms  und  Oppenheim  geschlossenen  Bunde 
wird  alsdann  die  Stadt  Mainz  als  staatsrechtlicher  Körper  durch 
Amoldus  camerarius,  Fridericus  scultetus,  iudices,  Con- 
silium et  universi  cives 

repräsentiert;*)  dasselbe  ist  bei  dem  in  ebendiesem  Jahre  mit 
Bingen  geschlossenen  Bunde  der  Fall.5)  In  der  ersten  dieser 
beiden  Urkunden  wird  nun  ein  Bundesgericht  aus  je  4 consules 
jeder  Stadt  eingesetzt;4)  dass  Oppenheim,  welches  in  der  Inti- 
tulation  dieser  Urkunde  nur  durch  scultetus,  scabini,  milites  et 
universi  cives  repräsentiert  ist,  eigentlich  nur  scabini  nicht 
consules  in  das  Bundesgericht  entsenden  konnte,  wird  nicht 
weiter  berücksichtigt.  Darin  ist  doch  auch  ein  Beweis  — 
dessen  es  freilich  kaum  mehr  bedarf  — zu  sehen,  dass  man 
sich  in  Mainz  und  Worms  damals  noch  dessen  bewusst  war, 
dass  der  Consulname  nur  eine  allmählich  aufgekommene  Benennung 
für  das  Schöffencolleg  war. 

Die  noch  in  demselben  Jahre,  nämlich  1254  Juli  13,  aus- 
gestellte Gründungsurkunde5)  des  Rheinischen  Bundes  trägt 
den  Titel: 

iudices  et  consules  et  universi  cives  Mogontinenses,  Oo- 
lonienses,*)  Wormacenses,  Spyrenses  .... 

Hier  werden  demnach  die  dem  Rate  Vorsitzenden  Beamten, 
Kämmerer  und  Schultheiss,  als  iudices,  der  Rat  als  consules  be- 
zeichnet. Nach  dem  obigen  ist  nun  aber  dieser,  im  Jahre  1254 


*)  Gnden  I p.  581  § 8:  It:m  annuemns  et  pemiittemua,  quod  ipsi  cives 
viginti  quattuor  eligent  ad  consilium  civitatis,  sic,  quod  uno  decedente  alter 
in  locum  suum  snccedens  protinus  eligatur. 

*)  Boehmer  Cod.  Moeuo-Fraucof.  p.  101,  cf.  auch  Weizsäcker  S.  48. 

*)  Boehmer  Cod.  Moeno-Francof.  p.  102. 

‘)  a.  a.  0.  102,  Weizsäcker  S.  51  § 4,  cf.  ibid.  S.  199. 

»)  ibid.  8.  15  ff.  cf.  S.  41  ff 

*)  DassBusson  (Zur  Gesch.  des  gr. Landfriedensbundes  deutsch.  Städte 
1254  Innsbr.  1874  8.  17)  und  Quidde  8.  8,  9 bestreiten,  dass  Colonienses  in 
der  Grilndungsurkunde  gestanden  hat,  während  Weizsäcker  8.  60 ff.  »ich 
für  diese  Annahme  ausgesprochen  hat,  kommt  für  unsere  Benutzung  der 
Urkunde  nicht  weiter  in  Betracht. 


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mehrfach  vorkommende,  Name  consules  doch  erst  über  30  Jahre 
später  als  die  Benennung  consiliarii  bezeugt;  da  ähnliches 
auch  in  Speier  und  Worms  der  Fall  war,1)  so  wird  es  nicht 
bloss  der  Dürftigkeit  unserer  Überlieferung  zuzuschreiben  sein. 

Aus  den  angeführten  Urkunden  geht  auch  noch  hervor, 
dass  wie  früher  an  der  Spitze  der  officiales  oder  iudices  (in 
der  Bedeutung  von  scabini),  so  in  der  Mitte  des  13.  Jahrhun- 
derts an  der  Spitze  des  consilium  der  Kämmerer  und  Schult- 
heiss  standen. 

So  hat  sich  demnach  in  allen  drei  Städten  der  Rat  ganz 
allmählich  aus  dem  Schöffencolleg  entwickelt;  von  Schaffung  oder 
Einsetzung  einer  Ratsbehörde  durch  einen  einzelnen  Rechtsakt 
kann  in  unseren  drei  mittelrheinischen  Städten  keine  Rede 
sein.  Wenn  aber  neuerdings  von  Below*)  die  Ansicht  ausge- 
sprochen hat,  der  Rat  könne  aus  dem  Schöffencolleg  nnr  derart 
hervor gegangen  sein,  dass  die  Stadt  diesem  die  Funktionen 
eines  Gemeindeausschusses  mit  übertragen  habe,  so  kann  nach 
dem  ausgeführten  in  Worms,  Speier  und  Mainz  jedenfalls  nur 
von  einer,  sich  im  Laufe  der  Zeit,  den  Zeitgenossen  selbst 
unbewusst,  vollziehenden  Übertragung  dieser  Funktionen  die 
Rede  sein.  Nur  die  mit  dem  Sendschöffentum  zusammenhängen- 
den Aufsichtsrechte  über  Kauf  und  Verkauf  sind  durch  einen 
einzelnen  Akt  vermutlich  im  elften  Jahrhundert  an  das  Schöffen- 
gericht übergegangen ; *)  die  Urteilsfindung  im  Sende  hat  dieser 
Behörde  aber  nicht  die  Gemeinde,  sondern  der  Bischof  als  geist- 
licher Gerichtsherr  übertragen. 

Aus  dem  erörterten  folgt  auch,  dass  von  den  mit  der  Zeit 
zunehmenden  Funktionen  des  Schöffencollegs,  namentlich  in 
Verwaltung  und  Vertretung  der  Stadt,  die  Bezeichnung  dieser 
Behörde  als  consules  völlig  zu  scheiden  ist.  Während  die 
genannten  Funktionen  den  Schöffen  schon  im  11.  und  12.  Jahr- 
hundert zustanden,  fanden  wir  sie  doch  erst  am  Ende  dieser 
Zeit  als  consilium  und  consiliarii,  noch  später  als  consules  be- 

')  In  Worms  sind  consilium  and  consiliarii  1208,  1216  und  1216,  in 
Speier  1198  und  1224  bezeugt;  consules  erscheinen  dagegen  zum  ersten  Mal 
in  unserer  Überlieferung  in  Worms  1220  und  in  Speier  1241,  vgl.  oben 
8.  275  mit  N.  1,  2,  6,  S.  276,  S.  282  mit  N.  3,  4. 

*)  Stadtgemeinde  S.  88,  100, 

*)  s.  oben  S.  245,  246. 


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zeichnet.  Es  scheint  nicht  zn  gewagt  zu  sein,  letzteres  damit 
in  Verbindung  zu  bringen,  dass  der  Name  consules  entschieden 
ein  vom  Auslande  recipierter  ist,  während  der  Ausdruck  consi- 
liarii  als  Übersetzung  einer  einheimischen,  schon  lange  Zeit 
hindurch  für  die  Mitglieder  der  Bürgerbehörde  benutzten,  Be- 
zeichnung aufisufassen  ist. 

Was  den  Namen  consules  anbetrifft,  so  geht  aus  dem 
Sprachgebrauch  der  lateinisch  schreibenden  deutschen  Schrift- 
steller des  elften  und  der  ersten  Hälfte  des  zwölften  Jahrhun- 
derts hervor,  dass  consules  damals  diesseits  der  Alpen  für 
Stadtvorstände  noch  nicht  gebraucht  wurde.  Sonst  hätten  diese 
Schriftsteller  nicht  „geistliche  und  weltliche  Regenten  in  fürst- 
licher Stellung“  als  consules,  ihr  Amt  als  consulatus  bezeichnen 
können.1)  Die  erste  Erwähnung  von  consules  im  Sinne  von 
Bttrgerbehörde  einer  in  Deutschland  gelegenen  Stadt  begegnet 
1165  in  einer  Urkunde  Erzbischof  Rainalds  von  Köln  für  das 
westfälische  Städtchen  Medebach;1)  wenig  später  findet  sich 
dies  Wort  in  demselben  Sinne  in  zwei  aus  der  Kanzlei  Friedrichs  I. 
hervorgegaugenen  Urkunden.9)  Das  Aufkommen  des  Titels  Con- 
suln  für  die  städtischen  Behörden  in  Deutschland  erklärt  sich 
nnn  leicht  aus  den  engen  Beziehungen  zwischen  Deutschland 
und  Italien  zur  Stauferzeit.  Ferner  hat  schon  Hegel  darauf 
hingewiesen,  dass  der  genannte  Kölner  Erzbischof,  der  zuerst 
den  Titel  consules  in  Deutschland  angewandt  und  ihn  wohl 

')  Vgl.  Hegel  Ital.  Stadtvrfsa.  I 8.  312  N.  2 n.  Monatschr.  8.  706,  sowie 
die  dort  citierten  Stellen. 

*)  Oengler,  Stadtrechte  des  Mttltrs.  8.  284  § 20.  Freiburg  und  Soest 
können  nicht  mehr  als  ältere  Beispiele  der  Erwähnungen  von  consules  ange- 
führt werden;  gegen  y.  Maurer  I 8.  685  vgl.  jetzt  v.  Below  Stadt- 
gem.  8.  100  N.  307. 

*)  Vgl.  Stumpf  4502,  Cod.  diplom.  Lubccensis  (Lübeck  1843)  I N.  7 p.  10. 
Dass  auch  schon  Heinrich  der  Löwe  den  Stadtvorstand  von  Lübeck  consules  ge- 
nannt, ist  jedenfalls  nicht  erweislich.  Vgl.  Frensdorff,  Stadt-  und  üerichtsvrfss. 
Lübecks  (Lübeck  1861)  8.  27—29, 50, 61.  Vgl.  ferner  Stumpf  4335,  Ughelti  Italia 
sacra  t.  V.  (Venetiis  1720)  p.  600:  statuimus,  utTridentina  civitas  Consulibus 
perpetuo  careat  et  sub  episcopi  sui  gubematione  imperio  fldelis  et  devota 
consistat,  sicut  et  aliae  Regni  Teutonicl  civitates  ordinatae  dignoscuntur. 
ln  Hamburg  wird  der  Rat  zwar  in  dem  von  Friedrich  I.  1189,  Mai  7,  dieser 
Stadt  erteilten  Privileg  (St.  4522,  Lappenberg  Hamb.  Urkb.  [Hamb.  1842] 
S.  263)  noch  nicht  erwähnt,  wohl  aber  erscheinen  consules  schon  in  der  Be- 
stätigung dieser  Urkunde  von  1190  (Lappenberg  a.  a.  0.  8.  258). 


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auch  in  die  kaiserliche  Kanzlei  eingeführt  hat,  „als  Kanzler 
Friedrichs  L,  die  diplomatischen  Verhandlungen  mit  den  italie- 
nischen Städten  geführt“  und  dabei  die  Bezeichnung  consules 
für  Ortsvorstände  grösserer  und  kleinerer  Communen  kennen 
gelerut  hatte.1)  Zur  Verbreitung  des  Consultitels  mag  es  noch 
beigetragen  haben,  dass  die,  sei  es  im  Heerdienste  des  Reiches, 
sei  es  auf  Handelsreisen  nach  Italien  kommenden  deutschen 
Städter  den  Namen  Consuln  in  Italien  hörten  und  ihn  als  Sinn- 
bild städtischer  Autonomie  betrachten  lernten.*)  Die  italieni- 
schen Stadtrepubliken  haben  ja  bekanntlich  den  Namen  consules 
für  ihre  Magistrate  in  Erinnerung  „an  die  alte  römische  Stadt- 
grösse“ gewählt,  „welcher  nachzueifern  sie  sich  stolz  genug 
fühlten.“ a)  So  wird  es  auch  in  den  deutschen  Städten,  minde- 
stens bei  den  städtischen  Urkundungsbehörden4)  nicht  so  sehr 
au  Kenntnis  des  classischen  Altertums  gefehlt  haben,5)  dass 

*)  Monatschr.  8.  710.  Über  Rainalds  von  Köln  grossen  Einfluss  als 
Kanzler  und  Erzkanzler  vgl.  auch  Bresslan  Urkundenlehre  S.  367,  368. 

*)  Dass  es  den  Deutschen  auffiel,  dass  die  Bewohner  der  italienischen 
Städte  sich  durch  ihre  Consuln , nicht  aber  durch  andere  Gewalthaber  re- 
gieren Hessen , kann  aus  den  Worten  Otto’s  v.  Freising  geschlossen  werden : 
In  civitatum  dispositione  ac  rei  publicae  conservatione  antiquorum  adhuc 
Komanornm  imitantur  solertiam.  Denique  libertatem  tantopere  affectant,  nt 
potestatis  insolentiam  fugieudo,  consulum  potius  quam  imperantium  regantnr 
arbitrio  (Lib.  II  c.  13  S.  S.  XX  p.  396).  Dafür,  dass  man  schon  thatsächlich 
italienische  und  deutsche  Stadtverf.  verglich,  vgl.  das  von  vonBelow 
Histor.  Ztschr.  1888  S.  206  angeführte  Beispiel  und  die  oben  S.  297  N.  3 
citierte  Urknndenstelle. 

*)  Hegel,  Ital.  Stadtvrfssg.  II  8.  168,  169,  Monatschr.  S.  703. 

4)  Obgleich  ein  Stadtschreiber  in  unseren  Städten  erst  1295  ausdrück- 
lich bezeugt  ist  (W  U 466),  so  kann  doch  wohl  angenommen  werden,  dass 
dies  Amt  schon  in  der  ersten  Hälfte  des  dreizehnten  Jahrhunderts  bestanden 
hat.  Darauf  weist  vor  allem  das  Häufigerwerden  von  erhaltenen  Urkunden 
in  dieser  Zeit  sowie  die  nachweisbare  Existenz  von  Stadtsiegeln  in  Mainz 
ca.  1150,  in  Worms  1198  nnd  in  Speier  1208  (s.  oben  8.  247,  263  mit  N.  3,  4). 
In  letzterem  Orte  ist  uns  sogar  eine  förmliche  unter  dem  Stadtgericht  ste- 
hende Uruudbnchführung  für  das  Jahr  1212  bezeugt.  (Sp.  U.  28.)  Endlich 
wird  der  Stadtschreiber  anch  in  der  Wormser  Ämterordnung  erwähnt  (Boehmer 
fontes  II  p.  214),  vgl.  Arnold  I S.  301,  302,  v.  Maurer  HI  S.  237, 
Bresslau  Urkl.  S.  459. 

*)  Über  Kenntnis  des  Lateinischen  bei  Deutschen  Kaufleuten  vgl.  Stieda 
in  Hansische  Gescbichtsblätter  XIII  (Leipz.  1886)  S.  157,  Hoeniger  in 
Westd.  Ztschr.  II  237,  38. 


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299 


hier  nicht  die  Bezeichnung  consules  in  Erinnerung  an  ihre 
ehemalige  Bedeutung  für  besonders  würdevoll  galt. 

Ganz  anders  nun  als  mit  dem  Titel  consul  scheint  es  mit 
dem  Ausdruck  consiliarius  zu  stehen.  Wenn  v.  Maurer1) 
richtig  darauf  hingewiesen  hat,  dass  die  deutsche  Übersetzung 
dieses  Wortes  nämlich  „Ratgeb“  sich  schon  in  Glossen  des 
zehnten  Jahrhunderts  findet,  so  kann  man  diesem  Forscher  doch 
durchaus  nicht  zustimmen,  wenn  er  daraus  schliesst,  dass  da- 
mals schon  „die  Bildung  von  Stadträten  begonnen“  habe.  Viel- 
mehr ist  „Ratgeb“  identisch  mit  Rachinburg,  der  Bezeichnung 
der  Urteilsfinder  im  älteren  fränkischen  Rechte.*)  Als  die 
Urteilsfindung  durch  Karl  den  Grossen  an  die  vom  Könige  er- 
nannten Schöffen  gekommen  war,  wurde  der  Name  Rachinburg 
bekanntlich  auch  auf  diese  übertragen.4)  Consiliarius  aber  ist 
die  wörtliche  Übersetzung  von  Ratgeber  (Rachinburg)  und  auch 
schon  in  alten  Glossaren  derart  wiedergegeben.5)  Bemerkens- 
wert ist  jedenfalls,  dass  in  diesen  Quellen  auch  scabinus  durch 
Ratherr  übersetzt  ist.*)  Freilich  ist  bei  der  ganzen  Natur 

')  I S.  582,  586. 

*)  Freilich  gehören  gerade  die  von  Maurer  a.  a.  0.  N.  46  angegebenen 
Beispiele  gar  nicht  in  den  Zusammenhang  dieser  Untersuchungen,  da  in  ihnen 
ratgebo  durch  auricularius  wiedergegeben  ist ; dies  Wort  wird  nämlich,  soviel 
ich  Behe , nur  von  einem  Berater  eines  Fürsten  gebraucht  und  bezeichnet 
meist  einen  bestimmten  Hofbeamten,  vgl.  die  bei  Waitz  V.  Q.  II  2 8.  81 
N.  4,  HI  8.  519  N.  1,  VI  S.  293  N.  3 stehenden  Beispiele.  Bei  derartiger 
Wiedergabe  hat  dann  das  Wort  mit  dem  städtischen  Rat  gamichts  zu  thun; 
indessen  findet  sich  auch  noch  eine  andere  hier  beachtenswerte  Übersetzung 
von  ratgebo  in  den  alten  Glossaren  s.  unten. 

*)  Diese  Erklärung  von  „Rachinburg*  als  „Ratgeber  des  Richters,  Ur- 
teilsfinderJ kann  jetzt  als  allgemein  angenommen  gelten,  vgl.  Sohm  G.  V. 
S.  373,  Brunner  R.  G.  I S.  150,  Schröder  R.  G.  8.  161  N.  6.  Überältere 
Erklärungen  und  Ableitungen  dieses  Wortes  vgl.  Georg  Cohn,  Justiz- 
verweigerung im  altdeutschen  Recht  (KarlsT.  1876)  8.  12  N.  2,  3. 

4)  Sohm  8.  385 ff.,  Schröder  R.  G.  S.  163  N.  22. 

*)  Vgl.  Suhm,  Symbolae  ad  litteraturam  Teutonicam  (Havniae  1807) 
p.  300,  Diefenbach  und  Wülcker,  Hoch-  und  Niederdeutsches  Wrtb.  (Basel 
1885)  8.  812. 

*)  Diefenbach,  Novum  glossarium  (Fmkf.  1867)  p.  328.  Dass  rachinbur- 
gius  noch  im  zwölften  Jahrhundert  gebränchlich  war , geht  auch  ans  den 
Glossae  Trevirenses  in  A.  H.  Hoffmann  Althochdeutsche  Glossen  (Breslau 
1826)  S.  12  Z.  20  hervor,  wo  das  Wort  mit  lanttehari  (leg.  iantrehari) 
übersetzt  ist.  (Über  das  Alter  dieser  Glosse  vgl.  ibid.  p.  XXVII.) 


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300 


dieses  Quellenmaterials  Vorsicht  nothwendig.1)  Es  genüge  dess- 
halb,  hier  nachgewiesen  zu  haben,  dass  auch  dieser  von  von 
Maurer  für  seine  Theorie  angeführte  Beweisgrund  unzutreffend 
ist,  und  dass  es  als  möglich  bezeichnet  werden  muss,  dass  die 
Bezeichnungen  consiliarii  und  Ratgeber*)  (Ratherren)  unmittel- 
bar vom  Schöffencolleg  auf  die  städtische  Bürgerbehörde  tiber- 
gegangen sind. 

Auf  ganz  anderer,  völlig  sicherer  Grundlage  beruht  jeden- 
falls der  oben  geführte  Nachweis,  dass  in  Worms,  Speier  und 
Mainz  das  Schöffencolleg  durch  blosse  Erweiterung  seiner  Be- 
fugnisse schon  zur  richtenden,  verwaltenden  und  repräsentieren- 
den Bürgerbehörde  lange  vor  der  Zeit  geworden  war,  in  der 
uns  der  Titel  Rat  für  dieselbe  ausdrücklich  bezeugt  ist. 


Capitel  IX. 

Die  Entwicklung  unserer  Städte  zu  halbsouveränen 
Staatsgebilden. 

Im  vorigen  Capitel  ist  die  Frage  nach  der  Herkunft  der 
leitenden  städtischen  Behörde,  des  Ratscollegs,  untersucht;  es 
hat  sich  dabei  herausgestellt,  dass  dasselbe  im  wesentlichen  aus 
dem  Schöffencolleg  hervorgegangen  ist,  wobei  man  freilich  zu 

*)  Da  diese  Glossarien  meist  ältere  Vorlagen  benutzt  und  spätere  Zu- 
sätze erfahren  haben,  so  ist  es  nicht  sicher,  ob  im  einzelnen  Falle  das  Wort 
, Ratgeb*  wirklich  der  in  Betracht  kommenden  Zeit  vom  10.— 12.  Jahrhundert 
entstammt  Es  kann  ja  auch  älterer  Zeit  angehören,  wo  es  als  , Rachin- 
burg* allgemein  für  die  Schöffen  im  Gebrauch  war,  oder  später  hinzugefOgt 
sein,  als  Ratgeb  zur  Übersetzung  von  consul  gebraucht  wurde.  Auch  ist  die 
Datierung  dieser  Glossarien  selbst  im  einzelnen  noch  nicht  sicher.  Wichtig 
ist  es  desshalb,  dass  Ratgeb  sich  auch  sonst  hie  und  da  als  Bezeichnung  der 
Urteiler  findet,  vgl.  Cohn  a.  a.  0.  N.  ö,  bes.  das  dort  angeführte  Rechts- 
sprichwort: .Wer  das  Urteil  findet,  ist  des  Richten  Ratgeber*  (Graf  und 
Dietherr,  Deutsche  Rechtssprichwörter  Nördl.  1869  S.  414,  416). 

*)  Es  sei  noch  bemerkt,  dass  dies  Wort  .Ratgeber*  in  Augsburg  und 
Nürnberg  als  gewöhnliche  Bezeichnung  der  Ratsmitglieder  bestehen  bleibt, 
vgl.  Städtechroniken  Augsburg  II  8.  47  Z.  23,  S.  131  Z.  7 etc.,  Nürnberg 
ID  S.  34  Z.  1. 


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301 


beachten  hat,  dass  die  Schöffen  besonders  in  Mainz  vom  Stadt- 
herrn selbst  vielfach  als  seine  Beamten  betrachtet  wurden. 
Gehen  wir  jetzt  den  inneren  Gründen  dieser  Entwicklung  nach, 
in  welcher  Worms,  Speier  und  Mainz  im  Laufe  der  Zeit  zu 
Freistädten  geworden  sind!  Suchen  wir  festzustellen,  wie  und 
wann  diese  Städte  jene  halbsouveräne  Stellung  erworben  haben, 
welche  den  Reichsstädten  und  ganz  besonders  den  Freistädten 
der  zweiten  Hälfte  des  Mittelalters  eigen  war. 

Als  früher  die  wirtschaftliche  Entwicklung  unserer  Städte 
untersucht  wurde,  zeigte  es  sich,  dass  in  ihnen  die  Ausbildung 
von  Handel  und  Industrie  schon  zu  Beginn  der  Salierzeit  einen 
solchen  Grad  erreicht  hatte,  dass  sie  sich  auch  in  der  Ent- 
stehung eines  besonderen  städtischen  Gewohnheitsrechts  kund 
geben  konnte.  Diese  Entwicklung  hatte  nun  in  den  Zeiten  der 
salischen  und  staufischen  Kaiser  noch  weitere  bedeutende  Fort- 
schritte gemacht.  Konnte  schon  aus  der  Höhe  frommer  Schen- 
kungen einzelner  städtischer  Bürger  in  der  Wende  des  elften 
und  zwölften  Jahrhunderts  auf  ihren  Reichtum  geschlossen 
werden,1)  so  ist  aus  dem  13.  ein  Fall  bezeugt,  in  welchem  das 
in  tiefste  Schuldennot  geratene  Kloster  Reichenbach  durch  Ver- 
kauf eines  Teils  seiner  Immobilien  an  einen  Wormser  Bürger 
Bichelmann  sich  von  seinen  Schulden  vollständig  befreit.*) 
Gerade  damals  scheinen  aber  auch  erst  alle  Teile  des  von  den 
Stadtmauern  umschlossenen  Gebietes  wirklich  städtisches  Aus- 
sehen erlangt  zu  haben.  Wurden  in  früherer  Zeit  vielfach 
Getreidefelder  und  Weinberge  in  der  Stadt  erwähnt,*)  so  kann 
ans  den  besonders  seit  der  zweiten  Hälfte  des  13.  und  dem 
14.  Jahrhundert  zahlreich  überlieferten  Testamenten,  die  in  der 
Regel  eine  Aufzählung  der  Besitzungen  des  Erblassers  ent- 
halten, wohl  geschlossen  werden,  dass  sich  zwar  noch  viele 
Gärten,  aber  keine  Felder  und  Weinberge  mehr  innerhalb  der 
städtischen  Ringmauern  befanden.4)  Dass  in  Worms  zu  Anfang 
des  13.  Jahrhunderts  früher  landwirtschaftlich  benutzte  Grund- 
stücke mit  Häusern  und  Hütten  bedeckt  wurden,  ist  aus  einer 
Urkunde  von  ca.  1207  zu  ersehen,  welche  ein  schiedsrichter- 

*)  vgl.  oben  S.  51. 

*)  Banr  He»*.  Urkb.  V N.  107  p.  92. 

*)  8.  oben  8.  11  mit  N.  4. 

*)  vgL  z.  B.  W-D  199,  221,  228  etc. 


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302 


liches  Urteil  in  einem  Streit  zwischen  dem  Wormser  Domstift 
und  der  Cyriacuskirche  in  Neuhausen  enthält.1)  Derselben  Ur- 
kunde lässt  sich  auch  die  Existenz  zahlreicher  eigentumsloser 
Personen  in  Worms  entnehmen,  welche  fester  Wohnsitze  er- 
mangelten;*) zugleich  geht  aber  aus  diesem  Documente  auch 
hervor,  dass  solche  Personen  an  dem  aufbltlhenden  Handels- 
plätze durch  Handarbeit  und  Geschäfte  ein  so  reichliches  Ein- 
kommen zu  gewinnen  vermochten,  dass  sich  über  ihre  Zehnten 
zwischen  verschiedenen  Kirchen  Streit,  erheben  konnte. 

So  hatte  sich  durch  den  allgemeinen  wirtschaftlichen  Fort- 
schritt der,  schon  in  früherer  Zeit  zu  beobachtende,  Gegensatz 
der  an  Capital  Reichen  und  Armen  in  unseren  Städten  mächtig 
weiter  entwickelt.  Dagegen  ist  der  alte  Unterschied  der  Stadt- 
bewohner nach  freiem,  hörigem  und  unfreiem  Geburtsstande 
völlig  verschwunden.  Abgesehen  von  dem  Gegensätze  zwischen 
Ministerialen  und  Nichtministerialen  existiert  nur  noch  der 
zwischen  Reichen  und  Armen.  Stehen  im  grossen  und  ganzen  auch 
die  Ministerialen  mit  den  anderen  Bürgern  im  städtischen  Frei- 
heitskampf zusammen,*)  so  hat  auch  der  Gegensatz  zwischen 
maiores  und  minores  cives,  der  jetzt  mit  divites  und  pauperes 
identisch  ist,1)  im  dreizehnten  Jahrhundert  in  unseren  Städten 
noch  nicht  die  Schärfe  angenommen,  die  er  schon  damals  an 
anderen  Orten  besonders  in  Strassburg  gehabt  zu  haben  scheint. 
Ging  doch  auch  gerade  von  zweien  unserer  Städte,  von  Worms 
und  Mainz,  die  Gründung  des  rheinischen  Bundes  aus,  in  dessen 
Akten  mehrfach  betont  ist,  dass  auch  die  minores  an  den 
Friedenssegnungen  teilnehmen  sollten.5)  Von  Versuchen  des 


«)  Baur  Hess.  Urkb.  II  N.  25. 

•)  vagi  homineB  et  vacui  bonorum  (ibid.  p.  38). 

*)  So  ist  i.  B.  in  Hainz  gerade  der  Hinisterial  Arnold  der  Rote  1158 
der  Verletzung  des  Privilegs  der  städtischen  Steuerfreiheit  zuerst  entgegen- 
getreten (Jafffe  Mon.  Mogunt.  III  p.  625).  In  Worms  enthielt  der  dem  Bischof 
im  Jahre  1232  entgegentretende  Rat  12  Ministerialen  (cf.  D 124  S.  96  Z.  4). 
Aus  veränderten  Verhältnissen  ist  es  zu  erklären , dass  hier  am  Ende  des  13. 
Jahrhunderts  die  ritterlichen  Ratsherren  sich  öfters  z.  B.  in  den  Streitig- 
keiten, welche  die  Stadt  mit  Bischof  und  Clerus  hatte,  weigerten,  an  den 
Ratssitzungen  teilzunehmen  (cf.  U 405,  Arnold  V.  G.  II  S.  110  § 3). 

4)  vgl.  Weizsäcker  S.  177. 

*)  ibid.  S.  178  cf.  auch  p.  18:  ordinavimus  haec  statuta  observanda,  ut 
exmde  gaudeant  pauperes  et  maiores  ....  vgl.  auch  Quidde,  S.  49. 


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303 


Bischofs  im  Kampfe  gegen  den  Rat,  die  ärmere  Bevölkerung 
auf  seine  Seite  zu  ziehen,  wie  sie  in  Strassburg  zu  constatieren 
sind,1)  findet  sich  in  unseren  Städten  nichts.  Dieser  Änderung 
der  wirtschaftlichen  und  ständischen  Verhältnisse  ging  nun  eine 
Rechtsänderung  parallel,  deren  Entwickelung  schon  in  ver- 
schiedenen Punkten  behandelt  ist.  Es  sei  hier  auf  die  früheren 
Erörterungen  über  die  Abschaffung  des  gerichtlichen  Zwei- 
kampfs, über  die  Befreiung  von  persönlicher  Zinsverpflichtung 
und  über  Einführung  von  Lcibesstrafen  und  Stadtverweisun- 
gen  an  Stelle  von  Geldbusseu  erinnert.  Eigentümlich  griff  in 
das  bis  dahin  geltende  Processrecbt  eine,  zwar  von  Bischof 
Beringer,  aber  durchaus  auf  Veranlassung  und  im  Geiste  der 
Speierer  Bürgerschaft  erlassene,  Verordnung  von  1230,  März  2, 
ein.2)  Während  bisher  der  Angeklagte  sich  nur  durch  Zeugniss 
von  sieben  Personen  vor  sofortiger  Inhaftnahme  und  den  Frevel- 
bussen  schützen  konnte,  musste  von  nun  an  der  Kläger  sein 
Recht  gleich  bei  Erhebung  der  Klage  mit  zwei  Eideshelfern 
beschwören  ;*)  sonst  sollte  schon  Eineid  des  Schuldners  genügen, 
um  sich  vor  diesen  Folgen  der  Klagerhebung  zu  schützen  und 
dem  Gegner  die  Beweislast  zuzuschieben.4)  Beringer  sagt  in 
seiner  Urkunde  ausdrücklich,  dass  das  Gesetz,  das  freilich  auch 
ohnedies  hätte  erlassen  werden  müssen,  durch  dringende  Bitten 


■)  cf.  (las  Manifest  Walters  von  Geroldseck  Strassb.  Urkb.  I N.  471  S.  365 
passim  z.  B.  daz  wir  des  wandel  schaffen,  wand  wir  billiche  beide  armen  unde 
riche  berihten  und  schirmen  suln. 

*)  Sp.  U 44.  Der  Nachweis,  dass  diese  Rechtsänderung  in  Wahrheit 
von  der  Bürgerschaft  ansging,  folgt  nnten  im  Text. 

*)  ibid.  S.  40  Z.  1:  actori  ad  minns  se  tercio  interpositis  inramentis 
inenmbat  onns  probandi. 

4)  Es  tritt  im  Stadtrecht  überhaupt  die  Tendenz  auf,  den  Angeklagten 
vor  in  Folge  blosser  Processhandlungen  des  Klägers  eintretendem  Freiheits- 
Verluste  zu  schützen.  Vgl.  z.  B.  anch  folgende  im  Privileg  Heinrichs  für 
Ltlttich  v.  1230,' April  9,  vorkommende  Stelle:  Nullus  civis  debet  capi  vel 
teneri  sine  iudicio  scahinorum  (B-F  4151,  Huill.-Brfeh.  III  p.  413).  Eine  der  in 
Speier  constatierten  ganz  ähnliche  Entwicklung  finden  wir  im  sächsischen 
Rechtsgebiet;  auch  hier  musste  sich  im  Stadtrecht  abweichend  vom  Land- 
recht der  Kläger  anf  Eid  von  Privatpersonen  stützen , da  andernfalls  die 
Klage  durch  einfachen  Unschuldseid  des  Beklagten  unwirksam  gemacht  wer- 
den konnte  s.  Planck,  Das  deutsche  Gerichtsverfahren  im  Mittelalter  (Braun- 
schw.  1879)  I S.  840  ff. 


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304 


der  Bürger  veranlasst  sei;1)  die  Richtigkeit  dieser  Darstellung 
gejit  aus  der  dann  folgenden  Bemerkung  der  Urkunde  hervor, 
dass  die  Bürger  dem  Bischof  eine  Abfindung  in  Geld  gewährten, 
da  sein  Beamter,  der  Schultheiss,  in  Folge  der  Rechtsänderung 
geringere  Einnahmen  erhielte.*)  Die  Bürger  wurden  auch 
als  Petenten  genannt,  als  König  Heinrich  VII,  der  Sohn 
Friedrichs  II.,  im  Jahre  1231  die  Bestimmung  Beringere  be- 
stätigte ;*)  ein  Zeichen  mehr,  dass  diese  Änderung  des  Process- 
rechts  aus  den  bürgerlichen  Interessenkreisen  erwachsen  ist. 

In  ein  anderes  Rechtsgebiet  führt  uns  eine  in  der  Mitte 
des  13.  Jahrhunderts  erlassene  Verordnung  des  Speierer  Rats,4) 
wonach  niemand  bei  Strafe  der  Stadtverweisung  und  des  Ver- 
lustes des  gesammten  Vermögens  Sohn  oder  Tochter  von 
Speierer  Bürgern  ohne  die  Einwilligung  ihrer  Eltern  oder, 
falls  diese  gestorben,  ihrer  beiden  nächsten  Verwandten  hei- 
rathen  darf.  Dieselbe  Strafe  sollte  auch  diejenigen  treffen, 
die  sich  ohne  Consens  dieser  Personen  dem  geistlichen  Stande 
widmen  würden.6)  Zu  ebendieser  Zeit  wurden  auch  in  Speier 
neben  mehreren  anderen  ff  emdenrechtlichen  Verordnungen  strenge 
Bestimmungen  gegen  diejenigen  erlassen,  welche  unter  Stadt- 
schutz stehenden  Fremden  Schaden  zufügen;')  in  diesem  Ge- 
setz sind  auch  die  ausserordentlich  hohen  Strafen  bemerkens- 
wert, die  auf  Verbindung  von  Speierer  Bürgern  mit  Fremden 
gegen  Einheimische  gesetzt  sind.7) 

')  8.  39  Z.  37 : ad  precea  civium  noatrorum  bono  zelo  et  pia  intentione 
iusta  petentium  — 8.  40  Z.  7:  licet  sine  aiiquorum  precibua  per  nos  haue 
legem  et  hoc  ins  pro  iniuria  debuerimus  edidiase. 

*)  ibid.  Z.  8 : ipsi  civea  noatri  officio  aculteti  noatri  ex  aboletione  predicte 
consuetudinis  considerantes  aliquantam  deperire,  XXXV  libraa  Spirans«  monete 
in  naoa  epiacopatus  noatri  ....  contulerant. 

*)  8p.  U.  47  8.  42  Z.  16:  cum  . epiacopua  et  civea  noatri  a nobia  cum 
magna  precum  instantia  poatulaverint  .... 

4)  Sp.  ü.  105  a 1264. 

*)  ibid.  Es  braucht  wohl  kaum  bemerkt  zu  werden,  dass  diese  Anord- 
nungen mit  dem  geltenden  kirchlichen  Rechte  über  Priesterweihe  und  Ehe- 
achlieasung  in  Widerspruch  standen.  Über  dieses  ist  Hinschius  Kirchen- 
recht I 8.  33,  Friedberg,  Das  Recht  der  Eheachliessung  (Leipx.  1865) 
8.  103 ft,  Scheurl  in  Herzogs  Realencyclopädie  f.  Theologie  Bd.  4 3.  89, 
Richter  Lebrb.  d.  Kirchenrechts  (Leipz.  1886)  8.  1068  zu  vergleichen. 

•)  ü 108  a 1263. 

•)  ibid. 


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305 


Lassen  sich  derartigen  Bestimmungen  uns  aus  dieser  Zeit 
erhaltener  Urkunden  auch  stets  nur  einzelne  Rechtsänderungen 
entnehmen,  so  zeigt  doch  ihr  Auftreten  und  ihre  Verteilung 
auf  alle  Rechtsgebiete,  dass  im  zwölften  und  dreizehnten  Jahr- 
hundert eine  totale  Änderung  der  Rechtsanschauungen  in  un- 
seren Städten  erfolgte.  Wie  diese  Rechtsänderungen  fast 
sämmtlich  direkt  oder  indirekt  auf  den  Rat  als  den  Vertreter 
der  neuen  bürgerlichen  Anschauungen  zurückzufübren  sind,  so 
ist  der  Bürgerschaft  in  dieser  Behörde  auch  ein  kräftiges 
Verwaltungsorgan  für  ihre  materiellen  wie  geistigen  Interessen 
erwachsen.  Was  zunächst  die  ersteren  betrifft,  so  ist  spätestens 
im  dreizehnten  Jahrhundert  in  unseren  mittelrheinischen  Städten 
die  Allmende  in  die  Verwaltung  des  Rats  gekommen.  Nach 
den  früheren  Erörterungen  kann  kein  Zweifel  sein,  dass  nicht 
die  einzelnen  Städte,  sondern  die  Specialgemeinden  in  ihnen  in 
alter  Zeit  Markgemeinden  waren;1)  daneben  standen  die  Sonder- 
gemeinden jeder  Stadt  wahrscheinlich  noch  in  einem  grösseren 
Markverbande,  welcher  ausser  ihnen  eine  Anzahl  von  Dörfern 
umfasste.*) 

Wird  in  Worms  1208  eine  communis  paschua  burgensium 
erwähnt,5)  so  kann  aus  dieser  Bezeichnung  mit  Sicherheit  ge- 
schlossen werden,  dass  inzwischen,  da  alle  Stadteinwohner  zu 
einer  communalen  und  politischen  Gemeinde  durch  das  zum  Rat 
gewordene  Schöffencolleg  geeint  waren,  auch  die  Allmende  in 
den  Besitz  dieser  Stadtgemeinde  gekommen  war.  Wie  es  bei 
dem  Übergange  der  Allmendeverwaltung  an  eine  andere  Behörde 
leicht  erklärlich  ist,  scheinen  in  dieser  Verwaltung  zur  Zeit 


')  S.  oben  Capitel  V. 

*)  vgl.  Waitx  V.  G.  1 210,  v.  Maurer  Stdtvrfssg.  II  8.  175,  176, 
Lamprecht  D.  W I 8.  258  ff.  Auf  die*  grössere  Markgebiet  sind  wohl  Aus- 
drücke wie  in  Mogontiorum  inarca  a 779  (Dronke  Cod.  diplom.  Fuld.  N.  64 
p.  41),  in  marca  Wormacia  a 771  (W  U 7)  zu  bexiehen.  Dass  die  Special- 
gemeinden  in  Worms  mit  in  der  Nähe  der  Stadt  gelegenen  Dörfern  in  All- 
mendegemeinschaft standen,  kann  ganz  bes.  auch  aus  U 388  (vgl.  unten  8. 
306  zu  N.  8,  9)  geschlossen  werden. 

*)  Aus  der  Art  der  Erwähnung,  nämlich  als  Grenze  des  städtischen 
Gebiets  in  dem  1208  hergestellten  angeblichen  Privileg  Friedrichs  I.  von 
1156  (U  73  S.  60  Z.  12),  geht  auch  hervor,  dass  eine  solche  specielle  Bttrger- 
weide  (man  beachte  den  „Stadtbürger“  bezeichnenden  Ausdruck  burgensium) 
wohl  schon  längere  Zeit  bestanden  hat. 

Koehne,  Ursprung  der  ätadtvarfassung  in  Worms,  Speier  und  Mainz.  SO 


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306 


jenes  Ereignisses  grosse  Missbräuche  aufgekommen  zu  sein.  So 
haben  wir  es  wohl  zu  verstehen,  dass  in  den  ersten  Decennien 
des  dreizehnten  Jahrhunderts  von  Privaten  über  Teile  des 
Bilrgerfeldes  als  Eigentümern  verfügt  wurde;  ganz  wie  Privat- 
eigentum wurden  nämlich  Morgen  im  Bttrgerfelde  (iurnales l)  in 
campo  bnrgensinm)  verkauft8)  und  zu  Lehen  gegeben,3)  letzt- 
willig4) und  unter  Lebenden  verschenkt.3)  Im  Jahre  1277 
scheint  dann  eine  Regelung  dieser  Verhältnisse  eingetreten  zn 
sein,  indem  alle  diejenigen,  welche  gegen  Willen  der  Stadt  zu 
Privatzwecken  Gemeindeland  occupicrt  hatten,  zur  Entschädi- 
gung eine  Summe  an  die  Stadtkasse  zahlen  mussten ; dafür  er- 
hielten sie  Eigentum  an  den  occupierten  Stücken.6) 

Damals  stand  nun  schon  ganz  entschieden  dem  Rat  die 
Verfügung  über  die  Allmende  zu.  Wenn  sich  dieser  gerade 
1278  sein  Recht,  dieselbe  auf  die  geschilderte  Weise  zn  ver- 
äussern  und  auch  sonst  frei  über  sie  zu  dispouieren , von  dem  er- 
wählten Bischof  Friedrich  noch  besonders  bestätigen  liess,7)  so  ver- 
folgte er  damit  wohl  hauptsächlich  den  Zweck,  sein  Recht  auch 
geistlichen  Instituten  gegenüber,  die  Teile  der  Allmende  occupiert 
hatten,  geltend  machen  zu  können : vor  allem  beuutzte  man  aber 
hier  die  günstige  Zeit  vor  der  Weihe  und  vielleicht  auch  vor  der 
allgemeinen  Anerkennung  des  Bischofs,  um  etwa  früher  bestehen- 
dem bischöflichen  Obereigentum  an  der  Mark  alle  Rechtswirksam- 
keit zu  nehmen.  Übrigens  wurden  damals  vom  Rat  nicht  nur  auf  die 
den  städtischen  Specialgemeinden,  sondern  auch  auf  die  den  Land- 
gemeinden von  Pfiffligheim  und  Hochheim  gehörenden  Allmenden 
Ansprüche  gemacht.3)  Dies  erklärt  sich  am  einfachsten  so,  dass 
jenes  Gebiet  zu  der  früher  erwähnten  grösseren,  nicht  den  Stadt- 
einwohnern allein  zustehenden,  Mark  gehört  hatte;*)  auch  hier 

•)  Über  den  Ausdruck  iurnalis  (=  Morgen)  vgl.  Lamprecht  I S.  $44, 345. 

*)  W U 200  (S.  140  Z.  22  ff.). 

»)  U 231. 

‘)  U 200,  U 245  (S.  104  Z.  3). 

•)  ü 221  (S.  152  Z.  8),  U 231. 

*)  U 381,  383,  vgl.  auch  aunal.  Wormat.  in  Boelnuer  Font.  II  p.  207 
Eine  ähnliche  Massregel  fand  1314  statt  (Wllrdtwcin  Chronicon  diplora. 
inonagt.  Schönau  Mannhemii  1792  N.  86  p.  253). 

*)  U 383. 

•)  ü 388. 

*)  So  auch  v.  Maurer  I S.  17C. 


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307 


hat  der  Bischof  1278  auf  alle  Rechte  zu  Gunsten  der  Bürger- 
schaft verzichtet.1)  Auch  in  der  Stadt  besass  der  Wormser 
Rat  Grundeigentum,*)  von  welchem  ein  Teil  zu  Gunsten  der 
städtischen  Finanzen  verwendet  wurde.  So  war  er  z.  B.  Eigen- 
tümer von  Fleischbänken,  welche  er  gegen  Zins  an  Gewerbe- 
treibende austhat.5)  Auf  ähnliche  Verhältnisse  in  Speier  deuten 
einige  Urkunden,  nach  denen  der  Rat  auch  hier  innerhalb  und 
ausserhalb  der  Stadt  gelegene  Immobilien  besass.4)  So  hat  die 
Speierer  Bürgerschaft  entschieden  die,  ehemals  ihren  Special- 
gemeinden zustehende,  Allmende  erworben.  Daneben  kann  es 
freilich  auch  nicht  zweifelhaft  sein,  dass  sowohl  in  Speier  als 
in  den  anderen  Städten  manche  Grundstücke  nicht  als  alte 
Allmenden,  sondern  durch  privatrechtlichen  Erwerb  in  die  Rats- 
verwaltung gekommen  sind.6)  Besonders  erwähnenswert  er- 
scheint ein  eigentümliches  Rechtsgeschäft,  welches  im  Jahre 
1228  in  Speier  beurkundet  wurde.6)  An  den  Rat  (die  consules 
civitatis),  dessen  Einwilligung  dazu  besonders  nachgesucht  ist, 
wurde  ein  zu  Erbzins  ausgethanes  Haus  der  Trinitatiskirche  von 
seinem  Besitzer  derart  vermacht,  dass  es  den  Minoriten  zur 
Wohnung  dienen  sollte;7)  dieser  Orden  durfte  ja  bekanntlich 


*)  Auffallend  ist,  dass,  während  Bischof  Friedrich  1278  Dec.  6 (U  388) 
allen  Ansprüchen  auf  die  genannten  Allmenden  entsagt,  er  1279,  Mai  20, 
(U  390)  seinen  Streit  mit  der  Stadt  Worms  über  diese  Allmenden  einem 
Schiedsgericht  überweist.  Arnold  V.  0.  II  107  sieht  den  Schiedsspruch  als 
Orund  des  bischöflichen  Verzichtes  an , was  doch  nur,  wenn  das  Datum  in 
einer  der  Urkunden  falsch  sein  sollte,  möglich  ist. 

*)  Auch  dieses  wurde  Allmende  genannt,  cf.  Boehmer,  Fontes  II  207, 
ferner  Urkb.  d.  Stdt.  Strssbrg.  Bd.  I N.  160  S.  127  a 1214:  terris  in  civitate 
sive  extra,  qnae  vulgo  nuncupantur  almeine. 

»)  U 210. 

«)  Sp.  U 67,  71  etc. 

6)  Dies  war  z.  B.  bei  dem  vom  Wormser  Rat  im  Anfänge  der  dreissiger 
Jahre  des  dreizehnten  Jahrhunderts  gekauften  steinernen  Gebäude  in  der 
Hagengasse  der  Fall,  das  dann  zum  Rathaus  umgebaut  w'nrde,  cf.  Boehmer 
fontes  II  p.  161. 

•)  Eubel,  Geschichte  der  oberdeutschen  Minoriten-Provinz  (Würzburg 
1886)  S.  200  N.  41. 

’)  Ego  . . , quamdiu  vixero , dominns  ero  domus  et  hospes  fratrnm  et 
persolvam  pro  fratribus  custodi  dictae  ecclesiae  aunuum  censum  videl.  solidum 
unum;  postquam  autem  decessero,  de  rogatu  fratrnm  sic  fieri  decerno:  Con- 
gules  civitatis  hac  coudicione  mihi  succedent:  quamdiu  fratres  in  eadem 

w 


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308 


damals  noch  kein  Eigentum  haben.  Für  den  Fall,  dass  die 
Minoriten  die  Stadt  verlassen  sollten,  hatte  sich  der  Rat  ver- 
pflichtet, das  Haus  wieder  an  die  Trinitatiskirche  fallen  zu 
lassen. 

So  wurde  hier  schon  entgegen  dem  sonst  im  Mittelalter 
herrschenden  Princip,  Cultussachen  als  Domäne  der  Kirche  zu 
betrachten,  vom  Rat  auch  für  das  religiöse  Interesse  seiner 
Stadt  gesorgt.1)  Damit  ist  zu  vergleichen,  dass  sich  die  Main- 
zer Bürger  1244  nicht  nur  die  Verwaltung  des  Hospitals  von 
ihrom  Erzbischof  übertragen  lassen,  sondern  auch  das  Recht, 
den  an  demselben  angestellten  Geistlichen  präsentieren  und 
eventuell  absetzen  zu  dürfen.*)  Siebzehn  Jahre  später  wurde 
in  Speier,  wo  bis  dahin  nur  ein  von  Geistlichen  geleitetes 
Spital  bestand,  neben  diesem  vom  Rat  ein  neues  geschaffen 
und  die  Einrichtung  desselben  eingehend  geordnet.*)  Drei 
vom  Rate  gewählten  Laien  sollte  die  Verwaltung  des 
Spitals  auf  Lebenszeit  übertragen  werden;  bei  Veräusserung 
von  Gebäuden,  Besitzungen  und  Einkünften  waren  sie  aber  an 
die  Zustimmung  des  Rats  gebunden.  Dies  so  unter  Leitung 
von  Laien  stehende  Spital  scheint  in  bürgerlichen  Kreisen 


domo  deo  deserviunt,  ipsi  eortim  hospites  erunt  et  tutores  et  anntium  censum 
solvent  secundum  quod  solvi  debet ; ei  autera  fratres  ipsi  . . ab  ipsa  area 
recesserint,  cuius  fundi  proprietas  est  ecclesiae  praelibatae,  ad  eandem  eecle- 
siam  dominium  eiusdem  areae  transeat  absolute,  nee  buie  statuto  consules 
vel  aliqua  alia  persona  se  possit  opponerc  cum  effectit  ....  Haec  vero,  qnia 
de  consensu  et  consilio  ecclesiae  aanctissimae  Triadis simul  et  civitatis 
statuta  sunt,  praesentem  schedulam  (sigillis)  dictae  ecclesiae  et  civitatis . . . 
obtinni  roborari. 

‘)  Früher  batten  nur  die  einzelnen  Special  gemeinden  gewisse  Rechte 
in  Bezng  auf  die  kirchliche  Vermögensverwaltung  gehabt,  aus  denen  dann 
auch  weitergebende  Befugnisse  in  Cnltnssachen  entstanden  waren  (vgl.  oben 
8.  98,  109,  110);  jetzt  standen  solche  Kochte  auch  dem  Kate,  dem  Vertreter 
der  gessmmten  Bürgerschaft,  zu. 

*)  B-W  XXXIII  504  (Guden.  I p.  581  § 15) : Et  concedimus  hunc  Arti- 
culum , quod  Consiliarii  .civitatis  habeant  plenariam  potestatem , in  Hospitale 
praeseDtandi  Sacerdotem;  et  si  exegerint  culpae  snae,  mediante  anctoritat« 
nostra  destituendi  enndem.  Et  administrationem  temporalium  committent 
civibns  quibus  volnerint  et  qnos  ad  hoc  viderint  expedire. 

*)  Sp.  U.  98.  Auch  in  Oppenheim  stand  das  Spital  unter  einem  welt- 
lichen „Pfleger“,  cf.  B-W  XXXVI  503,  Würdtwein,  Dioecesis  Mogunt.  (1768) 
t I p.  375  ssq. 


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309 


grösseres  Vertrauen  als  das  alte,  von  Geistlichen  geleitete,  be- 
sessen zu  haben.1)  Auch  hier  ist  höchst  wahrscheinlich  für  das 
Bürgerspital  ein  eigner  Geistlicher  ernannt,  dessen  Wahl  dem 
Bäte  zustand.9) 

So  hatten  die  Bürgerschaften  unserer  Städte  in  Juris- 
diction, Gesetzgebung  und  Verwaltung  eine  immer  weitergehende 
Autonomie  erworben;  innerhalb  der  einzelnen  Bürgerschaften 
entwickelte  sich  ein  immer  lebhafteres  Gemeingefühl.  Der 
alte  Stadtherr  schien  immer  mehr  auf  blosse  Ehrenvorrechte 
beschränkt  zu  werden;  nicht  ganz  mit  Unrecht,  wenn  auch 
übertreibend,  sagt  eine  alte  Wormser  Chronik*)  von  der  Zeit 
vor  der  Katastrophe  von  1234,  der  dortige  Bischof  sei  damals 
von  den  Bürgern  nur  soweit,  wie  andere  Prälaten  auch,  ge- 
achtet worden.  Freilich  waren  alle  diese  politischen  Fortschritte 
des  Bürgertums  bis  zur  Zeit  Friedrichs  II.  nur  dadurch  er- 
möglicht worden,  dass  die  Kämpfe  wesentlich  auf  die  einzelnen 
Bistumsgrenzen  beschränkt  blieben.  Von  Bündnissen  der  Bi- 
schöfe gegen  die  Fortschritte  der  städtischen  Autonomie  findet 
man  noch  nichts.  Das  Königtum  hatte  ferner  im  grossen  und 
ganzen  die  der  anwachsenden  Bischofsmacht  die  Wage  haltende 
städtische  Bewegung  oft  befördert,  selten  gehemmt. 

Ganz  anders  wurden  die  Verhältnisse  unter  Friedrich  II., 

')  Es  kann  dies  wohl  ans  U 179  geschlossen  werden.  In  dieser  Urkunde 
schenkt  ein  Speierer  Bürger  den  beiden  Spitälern,  dem  alten  prope  S.  Stepha- 
num und  dem  neuen  prope  S.  Georgium,  jährliche  Renten.  Hier  findet  sich 
nnn  folgende  Bestimmung:  Wenn  die  dem  alten  Spital  zugewiesenen  Renten 
nicht  zweckmässig  verwandt  würden,  sollten  sie  dem  neuen  zufallen.  Offen- 
bar hatte  also  der  Schenker  zu  letzterem  mehr  Vertrauen. 

*)  Nach  U 100  war  ca.  1262  über  die  Besorgung  des  Gottesdienstes  im 
neuen  Spital  zwischen  den  Verwaltern  desselben  und  dem  Kaplan  von  St. 
Georg,  in  dessen  Pfarre  es  lag,  ein  Streit  ausgebrochen.  Vom  Bischof  wurde 
nun  eine,  den  Vorteil  beider  Parteien  berücksichtigende,  (commoditate  hospi- 
talis  et  cappellani  nostri  hinc  inde  considerata),  von  beiden  gern  angenom- 
mene, Verordnung  (parcium  ad  hoc  accedente  volnntate)  erlassen.  Dem  Spital 
wurde  eine  jährliche  Abgabe  für  den  Kaplan  anferlegt,  der  Gottesdienst  im 
Spital  aber  sollte  in  gewohnter  Weise  stattfinden ; würde  er  aber  vernach- 
lässigt werden,  so  sollte  der  Bischof  oder  der  Kaplan  einen  Priester  und 
eine  geeignete  Pfründe  für  denselben  aus  den  Hospitalseinkünften  festsetzen 
dürfen.  Hieraus  folgt  entschieden,  dass  damals  der  Geistliche  des  Speierer 
Bürgerspitals  i.  d.  R.  vom  Rat  oder  den  Spitalpfiegem  gewählt  und  be- 
soldet wurde. 

*)  Boehmer  fontes  II  p 160. 


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310 


als  die  vereinigte  Macht  der  Bischöfe  und  des  Königtums  sich 
gegen  die  Stadtfreiheit  richtete.1)  Von  den  Bestimmungen 
Friedrichs  II.  und  seines  Sohnes  Heinrich  kommt  für  uns  zu- 
nächst*) die  des  letzteren  von  1226,  November  27,*)  in  Betracht. 
Dieselbe  scheint  dadurch  veranlasst  zu  sein,  dass  sich  Leute 
des  Mainzer  Erzstifts  nach  dem  im  Juni  1226  von  Friedrich  II. 
mit  Steuerfreiheit  beliehenen4)  Orte  Oppenheim  begeben  hatten ; 
die  ersten  Versuche,  dagegen  einzuschreiten,  scheinen  dadurch 
verhindert  zu  sein,  dass  die  Bürger  von  Oppenheim  an  denen 
vou  Mainz,  Worms,  Speier,  Bingen,  Frankfurt,  Gelnhausen  und 


')  Schaube  (Worms)  S.  297,  298  meint:  .Der  Kaiser  war  dem  Fürsten- 
tum hold,  das  ihm  in  den  Kämpfen  mit  dem  P&psttnm  zur  Seite  gestanden, 
mochte  dagegen  wenig  von  Städtefreiheit  wissen,  mit  der  er  und  das  deutsche 
Kaisertum  so  Üble  Erfahrungen  in  der  Lombardei  gemacht  hatte.*  Diese 
Ansicht  kann  jedoch  durch  die  Ausführungen  von  Löher  Fürsten  und  Städte 
zur  Zeit  der  Hohenstaufen  (Halle  1846)  S.  57,  Schirrmacher  Friedrich  II 
Bd.  I S.  188  und  Forsch,  z.  D.  Gesch.  Bd.  XI  S.  321,  322,  Nitzsch  D.  G.  III 
S.  65  ff.,  sowie  namentlich  durch  die  letzte  ausführliche  Behandlung  dieser  Frage 
vonRodenberg(in  Histor.  Aufsätze  dem  Andenken  an  Waitz  gewidmet,  Han- 
nover 1886)  S.  228  ff.  (s.  bcs.  S.  235)  als  gänzlich  beseitigt  angesehen  werden. 
Danach  erliesseu  Friedrich  und  sein  Sohn  Heinrich  ihre  städtefeindlichen  Gesetze 
nur  deshalb,  weil  sie  sich  den  Fürsten  gegenüber  in  einer  Zwangslage  befanden. 
So  neuerdings  auch  Winkelmann  Friedrich  II.  Bd.  I (1889)  S.  60,  62. 

’)  Anzuführen  wären  vielleicht  auch  schon  einige  Bestimmungen  des 
von  Friedrich  II.  am  26.  April  1220  erlassenen  Privilegs  für  die  geistlichen 
Fürsten  (B-F  1114).  Es  musste  z.  B.  die  Beschränkung  königlicher  Jnris- 
dictionsrcchte  in  den  Bischofsstädten  auf  die  Zeit  unmittelbar  vor,  nach  und 
während  eines  Reichstages  den  Zusammenhang  der  Städte  mit  dem  König- 
tum mindern.  Man  denke  an  die  oben  in  Capitel  VI  angeführten  Beispiele 
königlicher  Rechtssprechung  und  Gesetzgebung  für  die  Leute  im  Bischofs- 
gebiet! Die  genannte  Urkunde  ist  jedoch  von  Philipp!  (Zur  Gesch.  der 
Reichskanzlei  unter  den  letzten  Staufern  Münster  1885  S.  106  ff.)  für  unecht 
erklärt  worden;  a.  M.  Winkelmann  (Gött.  gelehrte  Anzeigen  1885  S.  795 
bis  813  sowie  Friedrich  II.  S.  64  ff.)  Weil  and  (in  den  oben  N.  1 citierten  dem 
Andenken  Waitz’s  gewidmeten  Aufsätzen  S.  249  ff.),  unter  denen  letzterer 
jedoch  auch  die  Echtheit  der  Urkunde  nicht  für  völlig  gesichert  hält  Über 
den  Inhalt  des  Privilegs  s.  jetzt  Winkelmann  Friedrich  II.  a.  a.  0.  Für 
die  Echtheit  sprechen  jedenfalls  die  bisher  noch  nicht  herangezogenen  Wormser 
Vorgänge  von  1232,  bei  denen,  ganz  c.  7 dieses  Gesetzes  entsprechend,  der 
Verhängung  des  bischöflichen  Bannes  in  kurzer  Zeit  die  Acht  folgt,  s.  unten. 

*)  B-F  4028  (L  L II  p.  267);  vgl.  über  diese  Verordnung  jetzt  Winkel- 
mann a.  a.  0.  S.  491. 

4)  B-F  1635,  Huillard-Brfeh,  II  S.  623. 


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311 


Friedberg  Bundesgenossen  fanden,  welche  sicli  ihnen  eidlich  zur 
Hilfeleistung  verpflichteten.  Heinrich  verordnete  nun  die  Rück- 
gabe der  in  Oppenheim  aufgenommeneu  Personen,  die  Vermei- 
dung ähnlicher  Vorkommnisse  und  die  Auflösung  des  Bundes 
Schwerlich  haben  die  Städte  ihren  Bund  gegen  dies  Reichs- 
gerichtsnrteil  aufrechterhalten  können. 

Noch  weit  mehr  als  dasselbe  haben  aber  auf  unsere  mittel- 
rheinischen Städte  die  im  nächsten  Jahrzehnt  erlassenen  Gesetze 
eingewirkt.  Gegenüber  der-  sich  gerade  damals  mehr  und  mehr 
consolidierenden  Ftirstenmacht  war  auch  für  die  Städte  ein 
Festhalten  des  bis  dahin  errungenen  nur  bei  weiteren  Fort- 
schritten möglich;  solche  zu  en-eichen,  ja  auch  die  schon  er- 
worbenen Rechte  zu  bew-ahreu,  wurde  ihnen  damals  durch  Be- 
schränkung ihrer  Kampfesmittel  ausserordentlich  erschwert. 
Die,  durch  allmähliche  Machterweiterung  des  sich  in  einen  Rat 
nmwandelnden  Schöffencollegs  sowie  die  etwa  auf  andere  Weise 
in  deu  Besitz  politischer  Rechte  gelangten,  Städte  konnten  sich 
selbst  nur  durch  eidliche  Verpflichtungen  (coniurationes)  die 
nötige  Festigkeit  zum  Kampfe  geben.  Diese  immer  wieder  vou 
neuem  auftauchenden  gegenseitigen  Eidesverbindungen  konnten 
dreierlei  Art  sein.1)  Zunächst  konnten  sich  alle  Stadtbewohner 
eidlich  verpflichten,  gewissen  Ratsbeschlüssen,  namentlich  auch 
mittelbar  oder  unmittelbar  gegen  den  Stadtherrn  gerichteten, 
zu  gehorchen;  dadurch  allein  mochte  ihre  Befolgung  ausreichend 
gesichert  erscheinen.*)  Ferner  wurde  oft  auch  ein  Teil  der 
Landbewohner  eidlich  zu  Gunsten  der  Stadt  verpflichtet;  hier- 
mit hing  sowohl  die  Zulassung  von  hörigen  und  unfreien  Land- 
bewohnern zum  Wohusitz  in  der  Stadt  und  zur  Aufnahme  ins 
städtische  Bürgerrecht  als  die  Aufnahme  ausserhalb  der  Stadt 
wohnen  bleibender  Landleute  ins  Bürgerrecht  zusammen.  Am 
mächtigsten  endlich  wurden  die  Städte  durch  Bündnisse  unter- 
einander. War  ihnen  das  letztere  Kampfmittel  im  Verfassungs- 
streit schon  durch  den  erwähnten  Reichsgerichtsschluss  von 
1226  genommen,  so  war  ihnen  auch  schon  durch  ebendiesen 
die  Hineinziehung  der  umwohnenden  Landleute  in  die  städtischen 

*)  vgl.  LiSher,  Fürsten  und  Städte  z.  Zt.  der  Hohenst.  (Halle  1846) 
S.  81,  52. 

*)  Man  vergleiche  auch  die  späteren  Stadtfriedenseimuigen , über  die 
Beusler  (Ursprung  224—226)  spricht. 


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312 


Interessen  verboten  worden.  Viel  weiter  ging  noch  ein  auf 
den  Namen  König  Heinrichs  erlassenes  Edict  der  Fürsten  vom 
23.  Januar  1231. ‘)  Eis  ist  ein  Reichsgerichtsschluss,  dessen 
städtefeindlicher  Inhalt  sich  aus  dem,  von  Friedrich  II.  ver- 
anlassten,  Siege  der  Fürstenpartei  an  Heinrichs  Hofe  erklärt.*) 
In  Opposition  gegen  die  Fürsten  hatte  Heinrich  noch  am  30. 
Juni  1230  den  Bürgern  von  Lüttich  die  von  ihnen  gegen  ihren 
Bischof  geschlossene  Einnng  bestätigt  und  dabei  zugleich  aus- 
drücklich bemerkt,  dass  er  zur  Bestätigung  solcher  Einungen 
berechtigt  sei.*)  Am  21.  Jannar  des  nächsten  Jahres  musste 
Heinrich  dies  Privileg  widerrufen  und  demütigend  genug  be- 
kennen, dass  er  solche  Einungen  in  den  fürstlichen  Städten 
ohne  Zustimmung  des  Stadtherrn  nicht  bestätigen  dürfe.*) 

Mit  diesem  Siege  im  Lütticher  Streite  beruhigten  sich  aber 
die  Fürsten  nicht;  ihnen  lag  daran,  auch  für  die  Folgezeit  vor 
allen  Einmischungen  des  Königtums  in  ihr  Verhältnis  zu  ihren 
Bürgerschaften  gesichert  zu  sein.  Dies  musste  ihnen  um  so 
wichtiger  erscheinen,  als  damals  in  mehreren  Städten  heftige 
Kämpfe  zwischen  Stadtherren  und  Bürgerschaften  schwebten. 
Für  uns  kommen  hier  die  damals  in  Worms  geführten  Streitig- 
keiten in  Betracht,  über  welche  wir  auch  am  besten  unter- 
richtet sind.  Hier  hatte  der  damals  regierende  Bischof  Hein- 
rich, wie  früher  erzählt  ist,6)  am  14.  April  1220  selbst  die  Ein- 
willigung der  Bürgerschaft  nachgesucht,  als  er  sich  zur  Ver- 
äußerung geistlichen  Guts  veranlasst  sah,  um  damit  die  Gunst 
des  Königs  zu  gewinnen ; sechs  Tage  darauf  hatte  EYiedrich  II. 
der  Stadt  das  angebliche  Privileg  seines  Grossvaters  bestätigt 
und  ihr  so  weitgehende  Rechte  gesichert.*)  Als  aber  1230  die 
Macht  der  Fürsten  dadurch  noch  ausserordentlich  gestiegen 
war,  dass  sie  im  Frieden  von  S.  Germano  als  Vermittler  zwischen 
Kaiser  und  Papst  auftraten,  sollte  sich  gerade  Bischof  Heinrich 
der  Hilfe  der  Reichsgewalt  gegen  seine  Bürger  mit  Erfolg  be- 
dienen. Mit  diesen  war  er  damals  in  heftigen  Streit  gerathen. 

')  B-F  4183. 

*)  vgl.  Schirrmacher  in  Forsch,  i.  D.  G.  XI  391. 

•)  B-F  4169. 

*)  B-F  4181. 

•)  s.  oben  S.  275  mit  N.  6. 

*)  ibid.  mit  N.  4. 


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313 


Die  wirkliche  Ursache  desselben  wird  zweifellos  in  dem,  zu 
Worms  schon  lange  wieder  nachweisbaren,  Gegensätze  der  An- 
schaaungen  von  Clerus  und  Bürgerschaft  über  Recht  and  Staat 
und  in  den  Collisionen  ihrer  beiderseitigen  Machtansprüche1) 
zu  suchen  sein.  Als  äusserer  Anlass  zu  diesem  Zwiespalt 
Bischof  Heinrichs  mit  den  Wormsern  ist  uns  jedoch  das  Streben 
des  ersteren  bezeugt,  auch  das  ererbte  Vermögen  seiner  Cano- 
niker  von  der  städtischen  Steuererhebung  zu  befreien ; bisher  war 
nämlich  nur  das  eigentliche  Kirchenvermögen  von  dieser  ver- 
schont geblieben.*)  Ferner  erregte  es  Heinrichs  Unwillen,  dass 
damals  ein  Rathaus  auf  städtischem  Grund  und  Boden  errichtet 
wurde;*)  bis  dahin  scheint  der  Wormser  Rat  entweder  im  Bischofs- 
hof oder  in  kirchlichen  Gebäuden  getagt  zu  haben,4)  was  dann 

')  Vgl.  die  früheren  Ausführungen  bes.  8.  250,  251,  304  , 309  etc. 

*)  Vgl.  Zorn  S.  61.  Dass  die  Auffassung  Zorns  , dass  in  Worms  bis 
dahin  nur  die  Präbenden  der  Canoniker,  also  das  eigentliche  Kirchenvermögen, 
nicht  die  sonstigen  Einkünfte  derselben,  also  ihr  Privatvermögen,  steuerfrei 
waren,  richtig  ist,  kann  aus  W U 89  geschlossen  werden.  Hiernach  hatten 
sich  die  Wormser  Canoniker  1182  beim  Kaiser  beklagt,  dass  die  im  Dienste 
der  Kirche  stehenden  Leute  in  Worms  besteuert  würden;  von  Besteuerung 
nnd  Steuerfreiheit  der  Canoniker  selbst  ist  nicht  die  Bede.  A.  M.  Schaube 
Worms  S.  295,  296;  jedoch  ist  die  Ansicht  desselben,  dass  .der  Bat  seine 
Competenz  anch  der  Deutlichkeit  gegenüber  überschritten*  habe,  in  den 
Quellen  nicht  begründet. 

*)  Boehmer  Fontes  II  p.  161. 

4)  Dass  der  Wormser  Bat  vorher  im  Bischofshof  getagt,  berichtet 
Arnold  V.  0.  II  20,  ohne  aber  dafür  Belege  anzuführen;  aus  Arnold 
hat  diese  Thatsache  wohl  Liebe  S.  27  entnommen,  der  sich  aber  dafür 
anf  Boehmer  Fontes  II  p.  161  beruft,  wo  nichts  davon  steht.  Mit  Sicher- 
heit ist  die  Frage,  wo  der  Wormser  Bat  in  älterer  Zeit  regelmässig  getagt 
hat,  nicht  zu  entscheiden.  Im  Jahre  1208  wird  eine  Schenkung  vor  dem 
Rat  in  clanstro  s.  Petri  ante  crucifixum  vollzogen  (U  109);  ebenso  geschieht 
ein  Kanf  1216  mediantibus  et  adstipulantibus  XL  consiliariis  (nostre)  civitatis 
in  ecclesia  sancti  Stephani  (U  120).  Über  die  Bedeutungen  von  claustnun 
cf.  Dncange  II  p.  363  u.  Brinckmeier,  Glossarium  diplom.  (Gotha  1856); 
danach  wird  darunter  auch  .ein  mit  Mauern  umgebener  Ort*  verstanden,  womit 
hier,  da  der  Wormser  Dom  St  Peter  geweiht  war,  der  Hof  zwischen  Dom 
nnd  Bischofspalast  gemeint  sein  konnte.  In  der  erwähnten  Urkunde  von 
1208  ist  aber  doch  wohl  das  Innere  der  Kirche  gemeint;  dafür  spricht  jeden- 
falls die  Erwähnung  des  crucifixum  und  die  Analogie  der  Urkunde  von  1216. 
Im  Bischofshof  fanden  zweifellos  die  Wahlen  der  städtischen  Beamten  statt 
(Boehmer  fontes  II  212  und  215);  hier  geschah  auch  die  Bekanntmachung 
des  Ausgleichs  mit  dem  Bischof  1231  und  1253  (U  159  S.  120  Z.  1;  Zorn 


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314 


als  Zeichen  seiner  Abhängigkeit  vom  fürstlichen  Stadtherrn 
gedeutet  werden  konnte.  Der  Bischof  wandte  sich  nun  klagend 
an  den  König.  Dieser  stand  damals  derart  unter  dem  Einfluss 
der  Fürstenpartei,  dass  er  den  Städtern  Unrecht  geben  musste. 
Zwei  geistlichen  Fürsten,  Sigfrid,  erwähltem  Erzbischof  von 
Mainz,  und  Bischof  Sigfrid  von  Regensburg,  wurdo  es  über- 
tragen, das  der  Wormser  Kirche  zugefügte  Unrecht  zu  unter- 
suchen und  alle  den  Privilegien  derselben  widersprechenden 
Ratsbeschlüsse  für  ungültig  zu  erklären.  Die  Massnahmen  dieser 
Schiedsrichter  sollten  die  Autorität  königlicher  Verordnungen 
gemessen  und  allen  ihnen  entgegenstehenden  Urkunden  jede 
Rechtswirksamkeit  nehmen.  (1231  Jan.  18.)') 

Das  Erkenntnis,  zu  welchem  nun  diese  beiden  Prälaten 
gekommen  sind,  ist  nicht  mehr  vollkommen  festzustellcn.*)  So- 
viel kann  als  gewiss  angesehen  werden,  dass  sie  Frieden  zwischen 
Bischof  und  Bürgerschaft  stifteten,  welche  sich  darauf  gegen- 
seitig versprachen,  einander  auf  alle  Weise  zu  unterstützen. 
Ferner  versprach  der  Bischof  den  Bürgern,  die  ihnen  von  seinen 
Vorgängern  eingeräumten  Rechte  zu  lassen.3)  In  dieser  Fassung 
des  Vertrages  konnte  schon  ein  Zugeständnis  der  Bürger  liegen, 
da  diese  wohl  schon  gleich  der  spätem  Bürgerchronik,4)  ihre 
Rechte  als  ihnen  von  alters  her  zustehend,  nicht  als  auf  bischöf- 
lichen Concessionen  beruhend,  ausahen.  In  wie  weit  die  Bür- 
ger sonst  noch  nachgaben,  ist  nach  der  Natur  unserer  Quelle 

S.  96)  und  hier  leisteten  1273  die  Wormser  Rudolf  von  Habsburg  den  Treu- 
eid (Boehmer  Font.  II  p.  207).  Ob  aber  dieser  Biscbofsbof  oder  die  erwähnten 
Kirchen  oder  etwa  doch  noch  ein  auderer  Platz  als  der  regelmässige  Sitzuugs- 
ort  des  Schöffencollegs  und  dann  bis  zur  Erbauung  des  Rathauses  des  Rates 
anzusehen  ist,  muss  dahingestellt  bleiben. 

>)  W U 147. 

’)  Unsere  einzige  Quelle  ist  nämlich  U 159,  die  Darstellung  dieser 
Streitigkeiten  seitens  der  Stadt  in  einer  Urkunde  , durch  welche  sie  einen 
Rechtsgelehrteu  zu  ihrer  Verteidigung  am  päpstlichen  Hof  suchte.  Die  Auf- 
fassung ist  hier  natürlich  ganz  parteiisch;  dagegen  spricht  es  ffir  die  Rich- 
tigkeit der  hier  angegebenen  Thatsachen,  dass,  wo  wir  dies  Manifest  durch 
Urkunden  contxolliereu  können,  sich  kein  Widerspruch  zeigt  und  dass  Ent- 
stellung damals  noch  leicht  zu  constatierender  Vorgänge  den  Bürgern  mehr 
geschadet  als  genützt  hätte,  vgl.  Köster  S.  47  ff. 

*)  U 159:  Ut  nullnrn  ius  ab  antecessoribus  suis  civibus  indultum  ali- 
qualiter  infirmaret. 

*)  Boehmer  Fontes  II  p.  161  Z.  15. 


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315 


über  diesen  Schiedsspruch  nicht  mehr  zu  ermitteln.  Jedenfalls 
behielten  sie  ihr  Rathaus.  Im  ganzen  scheint  der  Bischof  da- 
mals von  der  von  ihm  selbst  herbeigeführten  Gelegenheit,  die 
Macht  des  Bistums  über  die  Stadt  zu  erweitern,  keinen  Ge- 
brauch gemacht  zu  haben;  es  lag  wohl  hauptsächlich  daran, 
dass  er  sich  gerade  zu  jener  Zeit  in  einem  heftigen  Streite  mit 
den  Dominikanern  befand,  die  er  gegen  den  Willen  des  Papstes 
von  seiner  Diöceso  fernhalten  wollte.1) 

So  ist  wohl  am  einfachsten  der  Widerspruch  zu  erklären,  in  dem 
diese  Nachgiebigkeit  des  Wormser  Bischofs  zu  der  gleichzeitigen, 
höchst  wahrscheinlich  von  ihm  selbst  veranlassten , städte- 
feindlichen Reichsgesetzgebung  zu  stehen  scheint.  Zunächst 
hatte  ja  schon  derselbe  Wormser  Reichstag,  von  dem  am  18. 
Januar  die  beiden  Prälaten  mit  der  Untersuchung  der  Beschwer- 
den Bischof  Heinrichs  betraut  worden  waren,*)  am  23.  Januar 
durch  die  erwähnte,3)  den  Lütticher  Streit  entscheidende,  Reichs- 
sentenz ein  Reichsgesetz  zum  Nachteile  aller  Städte  erlassen.4) 
Es  war  nämlich  damals  als  geltendes  Reichsrecht  erkannt  und 
bestätigt,  dass  keine  Stadt  irgendwelche  — wie  auch  immer 
genannte  — Eidesverbindungen  ohne  Zustimmung  ihres  Stadt- 
lierreu  und  des  Königs  errichten  dürfe ; weder  der  König  könne 
ohne  Zustimmung  des  Stadtherrn,  noch  der  Stadtherr  ohne  Zu- 
stimmung des  Königs  solche  Einungen  bestätigen.  Dass  durch 
diese  Bestimmungen  gerade  auch  zwei  unserer  Städte  eines 
Hauptkampfmittels  im  Streite  gegen  ihre  Stadtherren  beraubt 
werden  sollten,  kann  daraus  geschlossen  werden,  dass  die  Be- 
urkundung dieser  Reichssentenz  in  für  den  Erzbischof  von  Mainz 
und  den  Bischof  von  Worms  erlassenen  Ausfertigungen  er- 
halten ist.5) 

Ist  nun  in  diesen  Urkunden  die  enge  Zusammenfassung  der 
Bürger  einer  einzelnen  Stadt  oder  das  Bündnis  mehrerer  im 
Kampf  für  ihre  Rechte  verboten,  so  wurde  dann  im  Mai  1231 
ein  Gesetz  veröffentlicht,  das  jede  Hereinziehung  der  Landbewohner 


*)  Boehmer  Fontes  II  p.  174,  W-U  161,  vgl.  Arnold  V.  O.  II  S.  170 ff. 
*)  vgl.  oben  S.  314. 

*)  vgl.  oben  S.  312. 

‘)  B-F  4183. 

5)  Wie  schon  Ficker  a.  a.  0.  bemerkt  hat,  sind  nämlich  in  diesen 
Urkunden  die  jedesmaligen  Empfänger  nicht  in  der  Zeugenliste  genannt. 


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316 


in  die  Interessen  der  Stadt  unter  Strafe  stellte.1)  Der  nächste 
Zweck  dieses  von  den  Fürsten  im  Namen  König  Heinrichs  er- 
lassenen Gesetzes  war  Förderung  ihrer  Machtstellung;  daher 
ist  es  auch  ganz  treffend  von  Pertz  bekanntlich  als  statutum 
in  favorem  principum  bezeichnet.  Es  enthält  besonders  Con- 
cessionen  des  Kaisers,  durch  welche  die  aus  königlichen  Pfalzen 
erwachsenen  eigentlichen  Reichsstädte  *)  an  Benachteiligung  der 
Fürsten  gehindert  werden,  so  dnrch  das  allgemeine  Verbot 
der  Erteilung  des  Bürgerrechts  an  auf  dem  Lande  wohnen 
bleibende  Personen.*)  Ferner  wurde  allen  Städtern  verboten,  von 
den  Bauern  Renten  an  Getreide,  Wein  und  Geld  zu  beziehen;  von 
noch  geschuldeten  sollten  die  Bauern  frei  gesprochen,  neue  nicht 
mehr  begründet  werden.4)  Abgesehen  davon , dass  einzelne  Bürger 
Besitzungen  auf  dem  Lande  erwerben  und  gegen  Zins  austhun 
mochten,  konnten  sich  auch  gegen  einmalige  Capitalleistungen 
von  Städtern  die  Bauern  zu  jährlicher  Zinsleistung  verpflichtet 

')  B-F  4195,  L.  L.  U p.  282. 

*)  Arnold  V.  0.  11  12  meint,  „in  diesem  Gesetze  seien  mit  dem  Aus- 
drucke civitates  nostrae  nicht  bloss  die  königlichen  Hofstadt«,  sondern  alle 
bedeutenderen  Städte  Deutschlands  gemeint , deren  Einwohner  wenigstens 
x.  T.  aus  Freien  bestanden.'  Er  nndLöherS.  71  finden,  dass  sich  dies  Gesetz 
„vor  allem  auf  die  Bischofsstädte“  bezieht,  „deren  Bürger  diiecti  fideles  nostri 
in  königlichen  Urkunden  genannt  würden.*  Das  Gesetz  vom  Mai  1231 
scheint  aber,  wie  auch  Nit  zach  Minister.  S.  389,  390  ausführt,  seinem  gan- 
zen Wortlaut  nach  von  den  Fürsten  entworfen  zu  sein , unter  welchen  die 
Bischöfe  als  Stadtherren  auch  ihrerseits  die  genannten  Städte  als  civitates 
nostrae  bezeichneten.  Das  Gesetz  enthält  vielfach  Aufhebung  von  Nach- 
teilen, welche  den  Fürsten  durch  die  zahlreichen  von  den  Stanferu  begrün- 
deten und  damals  mächtig  aufblühenden  Städte  erwuchsen  (vgl.  Nitzsch  D. 
G.  III  S.  66,  67,  92).  Einige  Bestimmungen  des  Gesetzes  gehen  sicher  auf 
alle  Städte;  es  erscheint  höchst  gewagt,  bei  den  ausdrücklich  für  civitates 
nostrae  erlassenen  statt  an  die  Pfalz-  an  die  Bischofsstädte  zu  denken. 
Wären  sie  in  erster  Linie  gemeint  worden,  so  wären  sie  wohl  auch  genannt 
oder  die  Bestimmungen  würden  wie  das  Verbot  der  Pfahlbürger  ganz  allge- 
mein lauten,  vgl.  auch  Nitzsch  a.  a.  0. 

*)  Item  cives,  qui  phalburgere  dicuntnr,  penitus  deponantur. 

*)  Item  census  frumenti,  vini,  pecunie  vel  alii  quos  rustici  constituerunt 
se  soluturos,  relaxentur,  et  ulterius  non  recipiantur.  Löher  S.  85  meint,  es 
handle  sich  um  „Schatzungen,  welche  das  mit  den  Städten  verbürgerte  Land- 
volk an  die  städtische  Kammer  zu  leisten  übernommen  hatte.'  Die  Erwer- 
bung des  Bürgerrechtes  war  jedoch  schon  vorher  in  dem  Verbot  des  Pfahl- 
bürgertums verboten  und,  da  sie  schon  an  und  für  sich  ungesetzlich  war, 
hätte  ein  Lösen  von  daraus  entspringenden  Verpflichtungen  keinen  Sinn  gehabt. 


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317 


haben.  Natürlich  war  eine  derartige  Belastung  der  Bauern  zu 
Gunsten  städtischer  Bürger  — welche  übrigens  nach  Testa- 
menten der  letzteren  im  dreizehnten  Jahrhundert  am  Mittel- 
rhein schon  oft  nachweisbar  ist l)  — den  ökonomischen  Interessen 
der  Grundherrn  schädlich.  Die  Durchführung  der  in  dem  Gesetz 
enthaltenen  Massregel,  zu  der  es  wohl  höchstens  an  einzelnen 
Stellen  gekommen  ist,  hätte  aber  eine  Beraubung  der  städtischen 
Gläubiger  auf  ihnen  vertragsmässig  zustehende  Rechte  in  sich 
geschlossen;  auch  politisch  wäre  sie  in  sofern  von  Wichtigkeit 
gewesen,  als  die  Schuldner  der  Städter  leicht  auch  politisch 
von  der  Stadt  abhängig  wurden.  Auch  für  die  Bischofsstädte 
erscheint  ferner  die  Bestimmung  unseres  Gesetzes  von  Wichtig- 
keit, dass  niemand  seinen  Wohnsitz  ausserhalb  derjenigen  Cent 
wählen  solle,  in  der  er  bisher  gesessen  sei.*)  Hierauf  konnten 
sich  die  Fürsten  berufen,  wenn  sie  persönlich  freie  Leute  ihres 
Territoriums  an  der  Einwanderung  in  die  Städte  verhindern 
wollten.  Die  Aufnahme  von  leibeigenen  Leuten  (homines  pro- 
prii)  in  die  Städte  wurde  schlechthin  verboten.*)  Ergänzt  wurde 
diese  Bestimmung  durch  die  Reichssentenz  vom  29.  Juni  1231, 
wonach  der  Nachlass  von  in  die  Städte  geflüchteten  Leibeigenen 
der  Kirche  dieser  gehöre.4) 

Wie  mehrere  Bestimmungen  der  früher  genannten  städte- 
feindlichen Gesetze  stand  auch  diese  mit  den  Anordnungen 
zahlreicher  königlicher  Privilegien  in  direktem  Widerspruch.5) 

*)  vgL  z.  B.  W.  U.  109,  200,  303,  Sp.  ü.  60,  77,  97,  136. 

*)  Item  locum  cente  nemo  mutabit  «ine  consensu  domisi  terre.  Über 
die  Bedeutung  dieser  Bestimmung  vgl.  Löher  8.  78,  der  such  ihre  Wichtig- 
keit hervorhebt.  Nitz  sch  D.  0.  III  93  meint,  d&ss  es  sich  hier  um  ein 
Verbot  der  Verlegung  der  Gerichte  handle;  so  auch  Winkelmann  I 8.  397 
N.  2,  der  aber  ausserdem  noch  mit  Löher  das  Verbot  des  Wegzuges  aus 
der  Cent  in  dieser  Stelle  findet.  Jedoch  werden  sich,  während  der  Zuzug 
vom  Lande  bekanntlich  zu  vielem  Zwist  Anlass  gab,  Beispiele  von  Streitig- 
keiten wegen  Gerichtsverlegung  wohl  kaum  nachweisen  lassen. 

*)  Item  principum,  nobilium,  ministerialium,  ecclesiarum  homines  proprii 
non  recipiantur  in  civitatibus  nostris.  Die  zahlreichen  Bestimmungen  des 
Gesetzes , welche  sich  in  erster  Linie  auf  die  eigentlichen  Reichsstädte  be- 
ziehen, übergehen  wir  hier  (vgl.  8.  316  N.  2). 

*)  B-F  4207  L.  L.  II  p.  84. 

•)  z.  B.  der  in  den  Urkunden  Heinrichs  V.  für  Worms  und  Speier  ent- 
haltenen Bestimmung,  dass  der  Nachlass  aller  dortigen  Einwohner  an  ihre  Kinder 
resp.  sonstige  Verwandte  oder  Testamentserben  fallen  sollte,  vgl.  oben  8.  224, 229. 


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Nach  welcher  Rechtsquelle  nun  in  solchen  Fällen  zu  ent- 
scheiden sei,  konnte  zweifelhaft  erscheinen.  Gerade  mit 
dieser  Frage  haben  sich  1231  und  1232  die  in  Oberitalien  von 
Friedrich  II.  zum  Reichstage  von  Ravenna1)  versammelten 
deutschen  Fürsten  beschäftigt.  Friedrich  war  damals  wohl 
auch  durch  die  in  Aussicht  stehende  Empörung  seines  Sohnes 
genötigt,  allen  Wünschen  der  Fürsten  zu  entsprechen;  so  hat 
er  die,  in  Heinrichs  Namen  von  ihnen  erlassenen,  Gesetze  nicht 
nur  ausdrücklich  als  kaiserliche  publiciert,  sondern  auch  darein 
gewilligt,  dass  durch  sie  alle  entgegenstehenden,  aus  kaiser- 
lichen Privilegien  abgeleiteten,  Rechte  für  aufgehoben  erklärt 
wurden.  So  wurden  Heinrichs  Concessionen  an  die  Fürsten 
vom  1.  Mai  1231  etwa  ein  Jahr  später  auf  dem  Reichstage 
zu  Cividale  bestätigt;*)  dabei  wird  aber,  während  es  in  der 
Vorlage  noch  heisst,  dass  die  Privilegien  Friedrichs  und  Hein- 
richs durch  diese  Begünstigungen  der  Fürsten  nicht  berührt 
werden  sollen,’)  in  dem  zu  Cividale  erlassenen  Gesetze,  das 
sonst  dem  Wormser  meist  wörtlich  folgt,  gerade  diese  Stelle 
weggelassen. 

Noch  wichtiger  für  unsere  mittelrheinischen  Städte  als 
dies  zu  Cividale  veröffentlichte  Gesetz  erscheint  die  Bestätigung  des 
Reichsbeschlusses  vom  23.  Januar  1231  gegen  Eidesverbin- 
dungen in  den  Städten,  welche  schon  früher  zu  Ravenna  (De- 
zember 1231)  stattgefunden  hatte.4)  Hier  wurden  nämlich  nicht 
nur  die  Eidesverbindungen  in  den  Städten,  sondern  auch  die 
Ratsbehörden,  die  Bürgermeister-  und  alle  übrigen  Ämter  auf- 
gehoben, deren  Inhaber  von  der  Gesammtheit  der  Bürger  ohne 
Erlaubnis  der  Erzbischöfe  und  Bischöfe  eingesetzt  waren.5) 
Ferner  wurden  die  sämmtlichen  Vereine  von  Gewerbstreibenden, 

*)  Dieser,  auf  1.  Nov.  1231  nach  Ravenna  berufene,  Reichstag  wurde 
bekanntlich  erst  Weihnachten  1231  eröffnet,  von  Märe  1232  an  nach  ver- 
schiedenen Orten  verlegt  und  endete  erst  20.  Mai  1232,  vgl.  Wacker,  Der 
Reichstag  unter  den  Hohenstaufen  (Leipzig  1882)  S.  108,  109. 

*)  B-F  I960  L L II  p.  291. 

•)  B-F  4196  (L.  L.  II  p.  283  Z.  10):  salvis  privilegiis  a patre  nostro 
obtentis  et  ab  eo  vel  a nobis  in  posterum  obtineudis. 

*)  B-F  1917,  L L II  p.  286. 

l)  revocamus  in  irritum  et  cassamns  in  omni  civitate  vel  opido  Ale- 
manniae  cominunia,  consilia  et  magistros  civium  seu  rectores,  vel  alios  quos- 
libet  officiales,  qui  ab  nniversitate  civium  sine  arehiepiscoponun  vel  episcoporum 


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319 


welchen  Namen  sie  auch  führen  sollten,  verboten.1)  Während 
aus  mehreren  Urkunden,  in  denen  die  Stadtherrn  solchen  Ver- 
einen Rechte  einränmen,*)  zu  schliessen  ist,  dass  ihnen  diesel- 
ben bisher  gänzlich  ungefährlich  erschienen  waren , fürchtete 
man  damals  jede  Betkätigung  des  Einungstriebs  unter  den 
Städtern.  Nachdem  dann  noch  die  Erträge  des  fürstlichen 
Münzregals  besonders  gesichert  sind,’)  wird  bestimmt,  dass  die 
ganze  Regierung  der  Stadt  den  Bischöfen  und  den  von  ihnen 
eingesetzten  Beamten  zustehen  sollte,  wie  es  in  früheren  Zeiten 
der  Fall  gewesen.  Ein  diesen  bischöflichen  Rechten  entgegen- 
stehendes Gewohnheitsrecht  soll  keine  Bedeutung  haben;  kai- 
serliche und  bischöfliche  Privilegien,  welche  zum  Nachteil  der 
Fürsten  und  des  Reichs  den  Städten  Eidgenossenschaften  oder 
Rat  sichern,  wurden  für  ungültig  erklärt.*) 

Die  letztere  Bestimmung  ist  entschieden  in  Hinsicht 
auf  die  Wormser  Verhältnisse  erlassen,  da  sich  gerade  hier  die 
Bürger  auf  den  Reichsgerichtssentenzen  widersprechende  kaiser- 
liche Privilegien  berufen  konnten.5)  Speciell  vom  Wormser 

beueplacito  statuuutur,  quocumque  pro  diversitate  locornm  nomine  censeantar. 
Damit  ging  Friedrich  noch  hinter  den  von  Beinern  Sohne  im  Gesetz  von  1231, 
Januar  23 , beobachteten  Standpunkt  (vgl.  oben  S.  315)  znriiek , indem  er  da- 
mit jeder  Einwirkung  auf  die  Ratsbildnng  in  den  Bischofsstftdten  entsagte, 
vgl.  Nitzsch  Minister.  S.  397.  Dass  Friedrich  freilich  nur  so  handelte,  weil 
er  darin  den  einzigen  Weg,  den  Episcopat  auf  seiner  Seite  zu  behalten,  kann 
aus  seinem  späteren  Privileg  für  Regensburg  (B-F  3516)  geschlossen  werden. 

')  Irritainus  nihiloiuinus  et  cassainus  eniuslibet  artificii  confraternitates 
seu  societates  quocumque  nomine  vulgariter  appellantur. 

*)  vgl.  z.  B.  ans  Mainz  B-W  XXIV  27  (Joannis  II  518)  n.  XXXI  128 
(Baur,  He3s.  Urk.  II  23)  sowie  oben  S.  100,  101. 

*)  placuit  statuendum,  nt  in  omni  civitate  vel  oppido,  ubi  moneta  iure 
enditur,  nec  mercimonia  nec  victualia  aliquo  argenti  pondere  vendantur  vel 
emantnr,  prater  quam  illis  denariis,  qni  cuilibet  civitati  vel  oppido  sunt 
communes,  vgl.  Eheberg  S.  61—55. 

4)  omnia  privilegia,  litteras  apertas  et  clansas,  qnas  vel  nostra  pietas 
vel  predecessorum  nostromm,  archiepiscoporum  etiam  et  episcoporum,  super 
societatibus , communibus  seu  consiliis  in  preiudiciiun  principum  et  imperii 

aive  privatae  personae  dedit  sive  cuilibet  civitati in  irritum  revocamus 

et  inania  indicamns. 

*)  vgl.  Arnold  V.  G.  II  15,  der  auch  das  Verbot  der  Ratsbehörden 
als  durch  die  Wormser  Entwicklung  veranlasst  erklärt.  Ob  andererseits  das 
Verbot  des  Bürgermeisteramtes  und  die  Aufhebung  der  Einrede  des  langen 
Bestehens  der,  durch  Reichsgesetz  verbotenen,  Einrichtungen  gerade  auf 
Köln  weisen,  wie  Arnold  a.  a.  0.  meint,  erscheint  zweifelhaft.  Abgesehen 


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320 


Bischof  wird  auch  berichtet,  dass  er  einer  der  Haupturheber 
der  städtefeindlichen  kaiserlichen  Gesetze  gewesen  sei. !)  Hein- 
rich war  nämlich  bald,  nachdem  er,  wie  oben*)  erwähnt,  mit 
seiner  Bürgerschaft  Frieden  geschlossen,  mit  ihr  von  neuem  in 
Zwist  gerathen.  Ähnlich  wie  bei  dem  Streite  der  Mainzer  mit 
ihrem  Erzbischof  Arnold  von  Selenhofen  *)  gab  auch  hier  die 
Forderung  der  Beisteuer  zum  Reichsdienst  des  Stadtherrn  den 
Anlass  dazu,  dass  der  schon  lange  vorhandene  Gegensatz  zum 
offenen  Kampfe  wurde.*)  Von  Friedrich  II.  war  auch  Bischof 
Heinrich  zu  dem  erwähnten  Reichstag  von  Ravenna  berufen.*) 
Als  er  sich  mit  der  Bitte  um  eine  Beisteuer  an  seine  Bürger 
wandte,  wurde  ihm  dieselbe  verweigert;*)  auch  ein  Versuch, 


davon,  dass  es  in  KBln  in  Folge  dieses  Edicts  nicht  zu  Streitigkeiten  kommt 
(Arnold  V.  6.  Q 15),  konnten  sich  doch  nach  die  Wormser  auf  lange  Aus- 
übung ihrer  Hechte  berufen  (cf.  die  consuetudo  approbata  in  O 154  Z,  16) 
und  ganz  wie  die  Einsetzung  des  Rates  wird  auch  die  der  Bürgermeister  hier 
später  in  Folge  dieses  Edikts  anders  geordnet. 

l)  W U 159. 

•)  S.  314,  315. 

•)  vgl.  oben  Cap.  VIII  S.  284  ff. 

*)  Für  diesen  Zwist  des  Bischofs  mit  der  Bürgerschaft  sind  namentlich 
als  Quellen  zu  verwenden : 1)  W U 159  (vgl.  oben  S.  314  N.  2),  2)  ein  Abschnitt 
einer  nicht  gleichzeitigen  Bischofschronik  (Boehmer  Font.  II  S.  160 — 161,  Z.  13, 
vgl.  KB ster  S.  45  ff,  S.  92a),  3)  eine  Bürgerchronik,  der  gleichzeitige 
BUrgeraufzeichnungen  zu  Grunde  liegen  (Boehmer  161  Z.  14 — 162  Z.  23,  vgl. 
Küster  S.  73 ff,  8.  91c.). 

•)  Nach  U 159  (tarn  dominus  noster  episcopus  quam  cives  vocabantur 
ad  curiam  Ravenne  celebraturam)  sind  auch  die  Wormser  Bürger  zu  dem 
Hoftag  berufen  worden.  Ob  dies  richtig  ist,  muss  dahingestellt  bleiben.  War 
es  der  Fall,  so  geschah  es  nur,  damit  sie  bei  den  Verhandlungen  die  Rechte 
ihrer  Stadt  vertraten.  An  den  eigentlichen  Reichstagsberatungen  nahmen 
damals  jedenfalls  die  deutschen  Städte  nicht  Teil  (vgl.  Wacker,  Reichstag 
unter  den  Hohenstaufen  S.  61  u.  65).  Wenn  nach  den  Annalen  des  Genuesen 
Bartolomäus  die  Ladungen  fidelibus  imperii  videlicet  rectoribus  civitatum  et 
aliis  viris  magnatibus  geschickt  wurden  (S  S XVIII  p.  177),  so  sind  damit 
doch  nur  die  italienischen  Stadtvorstände  gemeint. 

•)  Boehmer  p.  161.  Ob  der  Bischof  ein  Recht  auf  die  Bede  gehabt  hat. 
was  Schirrmacher  Forsch,  z.  D.  G.  Bd.  XI  S.  324  mit  N.  3 ebenso  ent- 
schieden behauptet,  wie  es  Arnold  V.  G.  H S.  21  entschieden  verneint  hat, 
ist  nicht  zu  ermitteln.  Die  Zusicherung  Friedrichs  II.  an  Lupoid  von 
Worms  1212,  Okt.  6,  (W  U 115),  Steuern  von  den  Wormsern  nur  durch  ihn 
zu  erheben,  auf  welche  sich  Schirrmacher  a.  a.  0 beruft  ist  wohl  nur 
als  diesem  Bischof  persönlich  gemachte  Concession  anzusehen. 


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321 


sie  durch  das  Versprechen  der  Vermehrung  ihrer  Rechte  um- 
zustimmen , missglückte.  Ein  Teil  der  Ratsmitglieder  schlug 
zwar  vor,  dem  Bischof  wenigstens  60  Pfund  als  Beisteuer  zu 
gewähren , doch  wurde  dies  von  der  Majorität  abgelehnt.1). 
Auf  eigene  Kosten  schickten  hingegen  die  Wormser  an  den  kai- 
serlichen Hof  Gesandte,  deren  Ausrüstung  ihnen  weit  mehr 
kostete.  Diese  reisten  scheinbar  in  des  Bischofs  Gefolge  ; in 
Wirklichkeit  wollten  aber  die  Städter  in  ihnen  Vertreter  ihrer  ei- 
genen Interessen  am  kaiserlichen  Hofe  haben.  Dort  wirkte  nun  der 
Bischof,  während  er  offenen  Conflikt  mit  den  Städtern  ver- 
mied, in  entschieden  städtefeindlichem  Sinn.*)  Mit  seinen  Be- 
mühungen ist  es  wohl  in  Zusammenhang  zu  bringen,  dass  das 
Edikt  von  Ravenna  speciell  auf  die  Wormser  Verhältnisse  ge- 
richtet scheint.  Im  Januar  1232  liess  Bischof  Heinrich  nun 
eine  Ausfertigung  dieses  Edikts  nach  Worms  schicken.’)  Hier 


*)  Boehmer  p.  161,  U 159. 

*)  ibid. 

*)  In  der  Biscbofecbronik  (Boehmer  p 160  Z.  19  — 24)  ist  von  litterae 
bullatae  dio  Rede,  welche  der  Bischof  vom  Kaiser  empfängt  und  durch  Rein- 
hard von  Lautern  in  die  Stadt  schickt.  Unter  diesen  kann  nur  die  Beurkun- 
dung des  besprochenen  Gesetzes  (B-F  1917),  nicht  die  spätere  kaiserliche 
Achtserklärung  und  das  Mandat , das  Rathaus  abbrechen  zu  lassen  (U  155 
n.  156),  gemeint  sein.  Zunächst  ist,  wie  schon  Oargun  Forsch.  XIX  S.  369 
ausfuhrt,  nur  B-F  1917  mit  einem  Metallsiegel  (bulla)  versehen , hei  U 155 
und  U 156  werden  nur  Wachssiegel  (sigilla)  erwähnt;  vgl.  freilich 
B ress  lau,  Urkundenlehre  S.  939,  940.  Entscheidend  ist  aber  jedenfalls,  dass 
nach  U 159  sich  die  Bürger  in  Folge  der  dem  Bischof  erteilten,  kaiserlichen 
Privilegien,  durch  welche  alle  Rechte  und  Freiheiten  der  Stadt  aufgehoben 
wurden,  an  König  Heinrich  wandten,  der  ihnen  darauf  ihre  Rechte  bestätigte. 
Die  Urkunde,  in  der  er  dies  that,  kann  aber  nur  das  den  Wormsern  am 
17.  März  1230  erteilte  Privileg  (W  U 154)  sein.  In  Folge  dessen  hat 
dann  nach  W U 159  der  Bischof  die  Ächtung  der  Bürger  durch  den 
Kaiser  herbeigeführt.  Demnach  ist  also  Boehmer»  Bemerkung  zur 
Bischofschronik  (p.  160  Z.  20)  „Mai“  in  „Januar*  zu  verbessern;  auch 
die  von  Köster  S.  96  vorgeschlagene  Verbesserung  „Januar  und  Mai“  ge- 
nügt nicht,  da  in  der  Bischofschronik  vom  Interdict  und  der  Anklage  (de- 
nnnciatio) , welche  doch  die  Ächtung  erst  zur  Folge  hatte , erst  später  die 
Rede  ist.  Dass  Reinhard  von  Lautem  nach  B-F  1983  (Schannat  tl  p.  113) 
wahrscheinlich  Mai  1232  am  kaiserlichen  Hofe  ist,  spricht  nicht  gegen  diese 
Datierung  seiner  Sendung,  wie  aus  der  Bemerkung  Fickers  zu  B-F  4228 
geschlossen  werden  könnte.  Reinhard  hat  sich  gewiss  sogleich  nach  dem 
erfolglosen  Ausgange  seiner  Reise,  um  denselben  dem  Bischof  von 
Ko  ebne,  Ursprung  der  sudtverfwsung  in  Worms,  Speier  und  Meine  i! 


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322 


dachte  man  aber  nicht  daran,  demselben  zu  folgen  und  nun 
Rat  und  Innungen  aufzulösen.  Da  die  Wormser  sahen,  dass 
sie  vom  Kaiser  nichts  mehr  zu  hoffen  hatten,  wandten  sie  sich 
an  König  Heinrich.1)  Dieser  zeigte  sich  ihnen  geneigt;  höchst 
wahrscheinlich  wollte  er  sich  ihre  Hilfe  für  den  schon  von  ihm 
vorgesehenen  Fall  von  Zwistigkeiten  mit  seinem  Vater 
sichern.*)  Er  gewährte  den  Wormsern  alles,  was  sie  nur  ver- 
langen konnten,  ohne  sich  dabei  irgendwie  durch  die  Gesetze 
von  Aquileja  für  gebunden  zu  erachten.  Die  Wormser  sollten 
ihren  Rat,  sowie  alles,  was  ihnen  in  ihren  Privilegien  verlie- 
hen sei,  behalten  und  nach  ihren,  von  ihm  anerkannten,  Ge- 
wohnheiten weiter  für  Ehre  und  Vorteil  ihres  Gemeinwesens 
sorgen.*) 

Sobald  der  Bischof  von  dieser  Unterstützung  der  Stadt 
durch  den  König  Kunde  erhielt,  that  er  den  Wormser  Rat  in 
Bann;*)  später  sprach  er  auch  noch  das  Interdikt  über  die 
ganze  Stadt  aus.*) 


Worms  zu  melden,  wieder  au  den  kaiserlichen  Hof  begeben;  an  diesem  ist 
Heinrich  nach  den  Begesten  Friedrichs  von  December  1231  bis  Mai  1232 
nachweisbar,  vgl.  B-F  1917 — 1988  und  Dargun  Forsch.  XIX  370.  Wenn 
letzterer  aber  bemerkt,  dass  .ein  Conradus  (sic)  Wormaciengis  episcopus*  in 
Huil.-Breh.  IV  370  (=  B-F  1991)  unter  den  Zeugen  einer  kaiserlichen  Ur- 
kunde noch  im  Juli  erscheint,  so  hat  er  ganz  Ubersehen,  dass  es  sich  dabei 
mir  um  eine  transsumierte  Urkunde  Friedrichs  I.  handelt,  in  deren  Zeugen- 
liste Bischof  Conrad  von  Worms  vorkam. 

*)  W U 159,  vgl.  die  vorige  Note. 

*)  vgl.  Sch  irr  mach  er  Friedrich  II  Bd.  I 8.  204,  205  und  Forsch. 
XI  8.  327,  B-F  4228  S.  767,  Dargun  Forsch.  XIX  S.  354. 

*)  W U 154  vgl.  8.  321  N.  3.  Darüber,  ob  der  Satz  in  U 154  .pater 
noster  nostre  dicioni  deputavit  terram  Alemannie  plenius“  richtig  sei, 
ist  viel  gestritten,  vgl.  Winkelmann  Friedrich  II  8.  408,  Schirrmacher 
Forsch.  XI  8.  329  u.  Ficker  zu  B-F  4228  8.  767  am  Schluss.  Mir  er- 
scheint sehr  möglich,  dass  Friedrich  seinem  Sohne  dnrch  seinen  Kanzler,  der 
schon  am  17.  März  1231  (B  — F 4227  a)  mit  ihm  zusammentraf,  grossere 
Macht  in  Aussicht  stellte,  um  ihn  dadurch  zur  Zusammenkunft  in  Aquilqja 
zu  veranlassen,  und  dass  Heinrich , da  er  sich  dazu  entschlossen  , diese 
Machterweiterung  auch  als  schon  geschehen  ansah. 

*)  U 159:  Ob  hec  dominus  episcopus  proecriptionem  et  bannum  nobis 
procura  vit. 

•)  U 169  ist  vom  Interdict  noch  nicht  die  Bede,  woraus  hervorgeht, 
dass  dies  Manifest  wohl  nach  Bann  und  Acht,  aber  vor  dem  Interdict  aus- 
gestellt ist.  Die  Bischofschronik  (Boehiner  Font  II  p.  160  Z.  22 — 33)  lässt, 


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323 


Ferner  wusste  der  Bischof  es  durchzusetzen,  dass,  da  der 
Rat  in  seinem  Widerstande  beharrte,  dem  Banne  Mai  1232  die 
Reichsacht  folgte.1) 

In  Worms  erhielt  man  nun  Nachrichten  über  die  Verhand- 
lungen. welche  dieser  Verordnung  vorausgingen,  und  fürchtete, 
dass  der  Bischof  oder  der  den  Bürgern  damals  feindliche 
Kaiser  das  von  ihnen  errichtete  Gebäude  zur  Zwingburg  für 
die  Stadt  machen  würde. 

So  blieb  dem  Bischof  die  Ausführung  der  Zerstörung  des 
Gemeindehauses  erspart;  am  2.  Mai  1232  wurde  es  von  der 
Bürgerschaft  selbst  verbrannt.*) 

Im  August  kam  es  zu  Verhandlungen  zwischen  Bischof  und 
Bürgerschaft,  bei  denen  König  Heinrich  die  Vermittlung  über- 
nahm. Am  dritten  dieses  Monats  bestätigte  er  den  Wormsern 
noch  einmal  ihre  Privilegien,  um  sie  so  dessen  zu  versichern, 
dass  sie  bei  dem  von  ihm  herbeigeführten  Vergleiche  nichts 
verlieren  würden,  was  ihnen  nach  dem  Wortlaut  ihrer  Freiheits- 
briefe zustand.*)  Jedenfalls  wollte  auch  der  König  sich  dies- 


als  der  Bischof  mit  geistlichen  Strafen  vorgeht  (gladinm  suiim  spiritualem 
admisit),  ihn  zuerst  das  Interdict  aussprechen  und  daun  alle  Bürger  (als 
Excouununicierte)  anzeigeu.  Letzteres  (cives  universos  denuntiavit)  ist  wohl 
von  der  Anzeige  an  den  Kaiser  behufs  Verhängung  der  Reicbsacht  gemeint 
(vgl.  L.  L.  II  p.  236  c.  6 u.  7,  Winkelmann  Friedrich  II  (1889)  S.  69,  70,  oben 
S.  310.  N.  2 Schluss,  sowie  unten  nächste  Note).  Nach  der  Bischofschronik  folgte 
dann  der  Befehl  des  Bischofs  an  den  Clerus,  die  Stadt  zu  verlassen.  Da  die 
Acht  aber  nur  diejenigen  traf,  welche  am  Bat  beteiligt  waren  oder  sich  noch 
daran  beteiligen  würden  (vgl.  nächste  N.),  so  gilt  dies  auch  vom  Bann. 
Auch  hier  erweist  sich  also  die  Bischofschronik  im  einzelnen  als  unzuverlässig. 
Über  die  Unterscheidung  zwischen  Excommunication  (Bann)  und  Interdict 
und  die  Beobachtung  dieser  Unterscheidung  im  Mittelalter  vgl.  Kober  Arch. 
f.  katbol.  Kirchenrecht  Bd.  21  (1869)  8.  22  ff.  — Wenn  es  in  der  Bischofs- 
chronik  (Boehm.  font  p.  160  Z.  32,  33)  später  heisst:  Et  cum  hec  sententia 
de  die  in  diem  aggravata  fere  per  anmun  durasset,  so  ist  damit  die  Dauer 
der  gesummten  fortwährend  verschärften  Kirchenstrafen,  die  über  Worms 
verhängt  waren,  gemeint. 

')  U 156.  Der  Kaiser  ächtet  hier : omnes  illos,  qui  post  predicte  nostre 
constitutionis  «dictum  in  civitate  Wormaciensi  consilium  facere  et  ipso  uti 
officio  ucceptarunt  vel  amodo  acceptabunt.  Da  der  Bat  damals  nicht  erst 
neugebildet  ist,  so  sind  also  nur  die  ßatsmitglieder  geächtet  worden. 

*)  Bürgerchronik  (Boehmer  fontes  II  p.  162). 

*)  U 167. 

«• 


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324 


mal  nicht  als  Werkzeug  der  Fürstenpartei  gegen  die  Wormser 
gebrauchen  lassen.  Dem  Wunsche  der  Fürsten  hätte  er  näm- 
lich entsprochen,  wenn  er  Rat  und  Innungen  in  Worms  durch 
königliches  Mandat  aufgehoben  und  dann  die  Neuordnung  der 
dortigen  Verfassung  einer  Commission,  in  der  die  Fürsten  die 
Majorität  gehabt,  übertragen  hätte.1)  Dem  Könige  gelang  es 
aber,  die  Zustimmung  des  Wormser  Bischofs  dazu  zu  erhalten, 
dass  eine,  aus  zwei  Fürsten  nud  zwei  Ministerialen  bestehende, 
Commission  zwischen  Bischof  und  Stadt  einen  Vergleich  zu 
Stande  bringen  sollte,  der  jeder  Partei  erträglich  erscheinen 
könnte.*)  Freilich  musste  der  König  andererseits  — sonst  hätte 
sich  wohl  der  Bischof  nicht  zu  diesen  Concessionen  verstanden 
— in  der  Urkunde,  in  der  er  den  Bürgern  dieselben  anzeigte, 
ihnen  auch  nachdrücklich  befehlen,  dass  sie  Rat  und  Innungen 
auflösen  und  die  Gerechtigkeit  des  über  sie  ergangenen  Bannes 
bei  ihm  und  seinem  Hofrat  beschwören  sollten.*)  Dazu  wollten 
sich  aber  damals  die  Bürger  noch  nicht  entschliessen.4)  Schon 
bevor  ihnen  überbracht  war,  dass  ihr  Bischof  sie  in  Bann  ge- 
than,  hatten  sie  gegen  ihn  an  den  Papst  appelliert;®)  zwischen 
August  1232  und  Mai  1233  setzten  sieeiue  Belohnung  für  denjenigen 
Rechtsgelehrten  aus,  der  ihre  Verteidigung  bei  der  Curie  über- 


')  Die»  wird  in  Anhang  V nachgewiesen  werden. 

*)  U 160:  quod  utriqne  parti  tolerabile  videatur. 

•)  vgl.  Anh.  V. 

4)  Heist  wird  angenommen,  dass  schon  die  Verhandlungen  vom  August  zum 
Frieden  geführt;  als  Grund  der  Verzögerung  wird  in  der  Regel  *.  B.  hei 
Arnold  V.  G.  II  29  noch  die  Gefangennahme  des  Bischofs  durch  Konrad 
von  Thüringen  angesehen.  Wäre  schon  am  8.  August  1232  die  Stadt  zur  Auf- 
lösung des  Rates  und  der  Innungen  entschlossen  gewesen,  so  sehe  ich  nicht 
ein,  warum  dennoch  die  Verhandlungen  noch  bis  zum  17.  Febr.  1233,  an  dem  der 
wesentliche  Inhalt  des  späteren  Vertrags  urkundlich  gesichert  wird  (vgl. 
S.  325  Note  6),  gedauert  haben  sollen,  während  dann  der  Vertrag  nach  kurzer 
Zeit,  nämlich  am  27.  Februar  1233  fertig  ist.  Dazu  kommt  noch,  dass  die  stets 
drückender  werdenden  geistlichen  Strafen  nach  der  Bischofschronik  (p.  160)  schon 
ein  Jahr  gedauert  hatten,  als  die  Bürgerschaft  sich  zum  Frieden  entschloss. 
Endlich  sollen  nach  U 160  alle  Innungen  aufgelöst  werden;  davon,  dass 
die  der  Münzer  und  Wildwerker  bestehen  bleiben,  ist  noch  nicht  die  Rede. 

*)  D 159;  Nos  vero  ante  denunciationem  nobis  factam  ad  sedem  apos- 
tolicam  provocavimus. 


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325 


nehmen  würde.')  Vielleicht  hatten  die  Bürger  nicht  ganz  Un- 
recht, vou  der  Curie  Unterstützung  zu  hoffen;  noch  Oktober 
1232,  also  wie  sie  sich  schon  im  Banne  befanden,  sandte  ihnen 
Gregor  IX.  einen  Brief,  in  welchem  er  ihre  Bereitwilligkeit  bei 
der  Aufnahme  des  Nonnenordens  der  büssenden  Schwestern 
lobte  und  allen,  welche  diese  Schwestern  unterstützen  wollten, 
Ablass  gewährte.*)  Jedoch  ist  es  ganz  erklärlich,  dass  Gregor 
dem  Bischof  im  Kampfe  für  die  Rechte  der  Kirche  nicht  ent- 
gegentrat; dass  er  ihn  vielleicht  zur  Versöhnung  gemahnt,  ist 
desshalb  nicht  ausgeschlossen.  Das  Interdict  hat  der  Papst 
jedenfalls  nicht  aufgehoben.  Schwer  lastete  es  auf  der  Bürger- 
schaft. Den  gesammten  Clerus  mit  Ausnahme  der  Pfarrer  hatte 
der  Bischof  aus  der  Stadt  abberufen;  diese  aber  durften  das 
Abendmahl  nur  Kranken  und  gegen  die  Zusage  geben,  dass  sie 
nach  ihrer  Genesung  dem  Bischof  in  allen  Stücken  gehorchen  wür- 
den.*) In  der  Stadt  fürchtete  man  auch,  dass  der  Bischof  seine 
Rechte  mit  Hilfe  seiner  Verwandten,  der  Grafen  von  Leiningeu’ 
mit  Gewalt  geltend  machen  werde.1)  So  kam  es,  dass  ein  Teil 
der  Bürger  und  ganz  besonders  die  Münzer,  deren  Einkünfte 
wohl  unter  dem  Interdict  litten,5)  nach  Versöhnung  mit  dem 
Bischof  verlangten.  Neue  Verhandlungen  begannen.  Dieselben 
wurden  zu  Frankfurt  unter  Vermittlung  des  Königs  geführt  und 
fanden  ihren  vorläufigen  Abschluss  in  einer  dort  am  17.  März 
1233  ausgestellten  Urkunde.*)  Als  den  wesentlichsten  Inhalt 

•)  D 159,  vgl.  oben  S.  322.  N.  5. 

*)  ü 161. 

*)  Boehmer  p.  160. 

‘)  ibid. 

*)  Man  denke  an  ihr  Wechselmonopol.  Vielleicht  fürchteten  sie  auch 
Verlast  ihrer  Lehen,  was  Arnold  V.  O.  II  25  vermutet. 

•)  Diese  Urkunde  ist  uns  in  der  Chronik  des  Kirscbgartener  Münchs  er- 
halten (Ludewig  Reliq.  II  p.  112,  113);  ferner  ist  sie  auch  in  einer  von  Ar- 
nold nicht  benutzten  Handschrift  der  erweiterten  Zorn'schen  Chronik  er- 
wähnt (die  Stelle  ist  abgedruckt  bei  Becker,  Beitr.  z.  Qesch.  v.  Wonus  u. 
der  daselbst  errichteten  Schulen,  Darmst.  1880  S.  7).  Sie  ist  bis  vor  kurzem  ganz 
übersehen,  von  Boos  U 166  fälschlich  mit  der  bei  Schannat  II 116  gedruckten, 
am  27.  Februar  in  Oppenheim  ausgestellten,  Urkunde  für  identisch  gehalten 
worden.  Das  Verdienst,  auf  sie  anfmerksam  gemacht,  und  sie  als  das  Resultat  der 
Vorverhandlungen  erkannt  zu  haben,  hat  Küster  S.  61,  62.  Wie  von  diesem 
aasgeführt  ist,  enthält  die  Urkunde  vom  17.  Februar  die  wesentlichen  Be- 
stimmungen der  vier  Urkunden  vom  27.  Februar,  weicht  aber  im  Wortlaut 


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326 


derselben  kann  man  betrachten,  dass  die  Herrschaft  des  Bi- 
schofs dadurch  anerkannt  wurde,  dass  er  und  in  seiner  Ab- 
wesenheit ein  von  ihm  ernannter  Vertreter  im  Rate  den  Vor- 
sitz führen  sollte.  Andererseits  sollte  aber  doch  eine  Ratsbe- 
hörde im  Besitz  des  Stadtregiments  bleiben ; nur  wurde  sie 
von  40  auf  15  Mitglieder  vermindert  und  ging  nicht  mehr  aus 
freier  Wahl  der  Bürgerschaft  hervor.  Vielmehr  fiel  dem  Bi- 
schof bei  der  Zusammensetzung  des  Rats  der  Hauptanteil  zu, 
da  er  neun  Mitglieder  ernannte  und  von  ebendiesen  die  übrigen 
sechs  cooptiert  wurden.  Immerhin  wurde  jedoch  das  Mass  der 
der  Stadt  vertragsmässig  bleibenden  Selbständigkeit  dadurch  ge- 
sichert, dass  der  Bischof  oder  ein  höherer  Geistlicher  für  ihn 
beschwören  sollte,  dass  bei  der  Neubildung  des  Rats  geeignete 
und  nützliche  Personen  in  diese  Behörde  gewählt  würden. 

Auf  Grundlage  dieser  Vereinbarungen  wurde  dann  am 
27.  Februar  1233  zwischen  Bischof  und  Stadt  zu  Oppenheim 
ein  feierlicher  Vertrag,  die  später  sogenannte  erste  Rachtung, 
geschlossen;  über  diese  stellten  ausser  den  beiden  Paciscenten 
auch  der  König  und  das  Domcapitel  Urkunden  aus.1)  Die 
wichtigsten  Momente  der  Verfassung,  welche  die  Stadt  so  er- 
hielt, sind  folgende : *) 

1)  Der  Rat  besteht  aus  15  auf  Lebenszeit  bestellten  Mit- 
gliedern und  zwar  aus  9 vom  Bischof  ernannten  Bürgern  und 
aus  6 von  diesen  neun  bürgerlichen  Ratsmitgliedern  ge- 
wählten Ministerialen.  Er  tagt , wie  schon  im  Vorverträge 
festgestellt  war,  unter  Vorsitz  des  Bischofs;  war  dieser  ab- 
wesend, so  sollte  ein  von  ihm  ernannter  Vertreter  den  Vorsitz 
führen. 

2)  Aus  den  bürgerlichen  Ratsleuten  wählt  der  König  einen 
Bürgermeister,  und  zwar  steht  es  ihm  frei,  jährlich  einen  ande- 
ren zu  wählen  oder  den  gewählten  länger  im  Amte  zu  lassen. 


von  ihnen  ab.  Auffallend  ist,  dass  die  Aufhebung  der  Innungen  garnicht 
erwähnt  ist ; dies  kann  als  Mangel  der  Überlieferung  der  Urkunde  oder  der- 
art, dass  mau  sich  am  17.  über  diesen  Punkt  noch  nicht  geeinigt  hatte,  er- 
klärt werden. 

•)  W U 163—166. 

’)  vgl.  die  ausführliche  Besprechung  des  Inhalts  dieser  Urkunden  bei 
Arnold  V.  0.  II  S.  30—37,  ferner  Schaube  Worms  S.  300 ff. 


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327 


Den  anderen  Bürgermeister  wählt  der  Bischof  aus  den  sechs 
ritterlichen  Ratsherren,  doch  muss  er  ihn  von  Jahr  zu  Jahr 
wechseln. 

3)  Zur  Beratung  über  Steuererhebung  werden  noch  vom 
Bischof  und  Rat  gemeinsam  ernannte  Personen  und  zwar  je 
vier  aus  jedem  Kirchspiel  zugezogeu.1) 

4)  Alle  Innungen  mit  Ausnahme  der  der  Hausgenossen  und 
Wildwerker  sind  aufgehoben. 

5)  Schultheiss  und  Amtsleute  werden  in  Zukunft  von  Bi- 
schof und  Rat  gemeinsam  gewählt. 

6)  Alle  durch  die  bisherigen  Bestimmungen  nicht  ge- 
troffenen Rechte,  Privilegien  und  Gewohnheiten  der  Stadt 
bleiben  erhalten. 

Wenn  auch  beide  Parteien  nachgegeben  hatten,  so  ist  doch 
bei  der  Beurteilung  dieses  Vertrages  darauf  Gewicht  zu  legen, 
dass  die  Bürger  dadurch  de  iure  Untertanen  des  Bischofs,  die 
unter  seinem  Vorsitz  tagenden  Ratsleute  seine  Beamten  ge- 
worden waren.  Es  tritt  dies  besonders  auch  aus  dem  ihnen 
damals  anferlegten  Amtseide  hervor,  bei  dem  sie  an  erster 
Stelle  schwören  mussten,  der  Kirche  und  dem  Bischof  treu  zu 
sein;*)  daneben  wurden  sie  dann  auch  auf  gerechte  Führung 
ihres  Richteramts  und  auf  die  Rechte  und  guten  Gewohnheiten 
der  Stadt  vereidet.  Wie  es  bei  den  Speierer  Ratsmitgliedern 
als  sicher,*)  so  kann  es  bei  den  Wormsern  als  höchst  wahrschein- 
lich betrachtet  werden,  dass  sie  bis  zu  diesem  Vertrage  nur  zu 
Gunsten  der  Stadt  und  nicht  auch  auf  Bischof  und  Kirche  ver- 
eidet waren.4)  Auch  die  Zusammensetzung  des  Rats  aus  15 
Mitgliedern  schädigte  die  Interessen  der  Stadt,  da  die  geringere 


*)  Über  den  Zusammenhang  dieser  Sechzehner  mit  den  Heimbnrgeu, 
vgl.  oben  S.  120,  121. 

*)  Boehmer  font.  II  p.  163:  quod  domino  episcopo  et  ecclesiae  fldeles 
semper  existerent  eomm  iura  in  omnibus  defendendo. 

*)  Nach  Sp.  U 22  schwören  die  Speierer  Ratsherrn : ut  Universität!  prout 
melius  possint  et  sciant  provideant. 

4)  Es  lässt  sich  das  aus  der  oben  geschilderten  Unabhängigkeit  der 
Stadt  schiiessen,  ferner  aus  dem  Privileg  Friedrichs  II.  für  Worms  von  1220, 
auch  wo  die  Absetzung  eines  Ratsmitgliedes  daran  geknüpft  ist,  dass  er  gegen 
seinen  Eid  reum  aliquem  malo  ingenio  tueri  vel  iunocentem  condempnare 
attemptaverit  (U  124  p.  96  Z.  9 ff.). 


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328 


Zahl  vom  Bischof  weit  leichter  beeinflusst  werden  konnte  und 
darin  auch  die  Ministerialen  verhältnismässig  stärker  als  in 
dem  alteu  Rate  von  40  Personen  vertreten  waren.1)  Die  Be- 
trachtung der  späteren  Wormser  Verfassungsgeschichte  wird  auch 
zeigen,  dass  die  Bürger,  soviel  sie  nur  konnten,  nach  der  Wieder- 
herstellung dieses  grösseren  Rates  gestrebt  haben. 

Während  so  die  Verfassung  umgestaitet  wurde,  scheint 
man  gerade  in  den  Punkten,  welche  die  äussere  Veranlassung 
zum  Zwist  des  Bischofs  mit  der  Stadt  gegeben,  keine  definitive 
Entscheidung  getroffen  zu  haben.  So  ist  eine  eigentliche  Re- 
gelung der  Pflicht  der  Stadt  zur  Beisteuer  zu  den  Leistungen 
des  Bischofs  für  das  Reich  nicht  nachweisbar;*)  ebenso  hat 
auch  Bischof  Heinrich  den  Platz,  auf  dem  das  Rathaus  gestanden, 
nicht  kraft  der  kaiserlichen  Verfügung  vom  Mai  1232  an  sich 
gezogen.  Dieser  Platz  wurde  vielmehr  von  der  Stadt  zur  Auf- 
bewahrung ihrer  Kriegsgeräthschaften  benutzt ; s)  1266  hat  dann 
der  damalige  Bischof  Eberhard  ausdrücklich  allen  aus  der  kai- 
serlichen Urkunde  dem  Bistum  zustehenden  Rechten  auf  den- 
selben entsagt.4) 

So  gab  es  trotz  der  Rachtung  noch  Streitpunkte  genug, 
bei  denen  die  verschiedene  Auffassung  des  Bischofs  und  der  Bür- 
gerschaft von  den  ihnen  zu  Recht  zustehenden  Befugnissen  neue 
Kämpfe  hervorrufen  konnte.  Die  Bürger  hatten  auch  schwerlich 
den  Gedanken  aufgegeben,  die  alte  Selbständigkeit  wieder  zu 
erringen;  der  Standpunkt  des  Bistums  war  der,  die  erlangte 


')  vgl.  Arnold  V.  0.  II  S.  32,  33,  Winkelmann  Friedrich  IL  S.  430, 
Koester  S.  62.  Aus  der  ganzen  Entwickelung  der  Wormser  Verfassungs- 
geschichte ergiebt  sich,  «lass  die  Verwaltungsbehörde,  welche  die  Bürgerschaft 
damals  „vertragsra&ssig  zugestanden  erhielt,“  nicht,  wie  Schaube  S.  302 meint, 
das  Ziel  war,  „wonach  sie  seit  dem  Anfänge  des  Jahrhunderts  gestrebt.“ 
Wenn  derselbe  Forscher  betont,  dass  die  Selbständigkeit  der  Stadt  unter 
dieser  Verfassung  noch  weitere  Fortschritte  machte,  so  liegt  dies  doch  nicht 
an  den  Bestimmungen  dieser  Bachtung,  sondern  daran,  dass  ganz  im  Gegen- 
satz zu  ihnen  Rat  und  Bürger  sich  nur  durch  die  Interessen  der  Stadt,  nicht 
durch  die  der  Bischöfe  bestimmen  liessen. 

’l  Dieselbe  ist  in  der  S.  327  unter  Nr.  3 gegebenen  Bestimmung  des 
Vertrages  zu  Oppenheim  doch  schwerlich  zu  finden. 

*)  Boehmer  fontes  II  p.  173,  vgl.  Arnold  V.  G.  II  100,101,  Koester 

S.  75. 

4)  ibid.,  ferner  W U 335. 


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329 


Machthöhe  so  viel  als  möglich  festzuhalten,  ja  nach  Möglichkeit 
zu  erweitern , gleichzeitig  aber  unbedeutende,  schwer  zu  be- 
hauptende, Rechte  scheinbar  freiwillig  aufzugeben,  um  so  das 
Anseben  grosser  Friedfertigkeit  zu  erringen.1)  So  verkaufte  z.  B. 
Bischof  Heinrich  1234  den  Bürgern  sein  Recht  an  der  Münze  auf 
1Ü  Jahre,  um  wie  er  sagte,  seinerseits  jeglichen  Anlass  zur  Zwie- 
tracht zu  beseitigen ; *)  gleichzeitig  liess  er  der  Bürgerschaft  den 
Gebrauch  des  Marktplatzes,  den  sie  schon  vorher  benutzt  hatte,  für 
dieselbe  Zeit.  *)  Doch  behielten  sich  dabei  Bischof  wie  Stadt  aus- 
drücklich die  spätere  Geltendmachung  ihrer  Rechte  vor.4)  Aus 
dieser  Clausei  geht  deutlich  hefvor,  dass  der  1233  neu  ein- 
gesetzte Rat  faktisch  das  Stadtinteresse  gegen  den  Bischof 
vertrat.  Ebendies  zeigt  sich  auch  bei  den  nächsten,  unsere 
Stadt  berührenden,  politischen  Ereignissen,  den  bald  nach  der 
ersten  Rachtung  sich  am  Mittelrhein  abspielenden  Bürgerkriegen. 
Zunächst  kommt  hier  der  Aufstand  König  Heinrichs  gegen 
seinen  Vater5)  in  Betracht.  Seit  1234  herrschte  in  Worms 
Bischof  Landolf,8)  welcher  vom  Könige  durch  ein  weitgehendes, 
auch  die  Rechte  der  Bürgerschaft  minderndes,  Privileg7)  auf 
seine  Seite  gezogen  wurde.8)  Hingegen  blieb  die  Wormser 
Bürgerschaft  dem  Kaiser  treu ; zu  dieser  Stellungnahme  mochte 


‘)  vgl  Koester  S.  63,  54. 

*)  U 172:  sopita  interim  ex  parte  nostra  omni  m&teria.  qne  inter  nos 
et  civea  alicuius  diacordie  poterit  et  rancoria  fomitem  ministrare. 

*)  ibid. 

*)  ibid.:  salvo  ex  tnnc  tarn  nobia  quam  eia  iure  ano. 

*)  vgl.  darüber  Schirrmacher  Friedrich  II  Bd.  I S.  231 — 254,  Win- 
kelmann Friedrich  II  Bd.  I (1863)  S.  449-473  u.  Forach.  Bd.  I S.  11— 43, 
Bohden  in  Forsch.  XXII  353—414. 

•)  Boehmer  Fontes  II  p.  163. 

*)  U 175.  Landolf  erhält  daa  Hecht , dass  alle  auf  dem  Bischofshofe 
errichteten  Häuser,  wenn  er  es  wolle,  von  den  Eigenthümem  abgerissen 
werden  müssen,  da  daa  Bistum  diesen  Hof  vom  Beiche  zu  Lehen  habe ; ausser- 
dem darf  er  alle  von  seinen  Vorgängern  verliehenen  Lehen  einziehen. 

“)  Boehmer  font.  II  p.  164:  Landolfus  episcopus  propter  bona  sibi  im- 
pensa  a domino  Heinrico  rege  exstitit  sibi  devotus  et  familiaris.  Köster  S.  55 
meint,  unter  den  .bona  sibi  impensa“  könnte  man  .nur  die  Vorrechte  ver- 
stehen, welche  die  Bachtung  von  1233  dem  Bischof  gewährte.“  Diese  waren 
aber  doch  nicht  Landolf,  sondern  seinem  Vorgänger  verliehen.  Viel  näher 
liegt  es  jedenfalls , bei  diesen  .Wohlthaten  des  Königs“  an  das  erwähnte 
Privileg  zu  denken. 


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330 


sie,  abgesehen  von  der  so  oft  hervortretenden  loyalen  Gesinnung 
der  rheinischen  Bischofstädte ')  und  der  Benachteiligung  in  der 
eben  erwähnten  Urkunde,  auch  durch  die  Hoffnung  bewogen 
sein,  auf  diese  Weise  ihre  alte  Verfassung  wieder  zu  erlangen.*) 
Der  Wormser  Rat  zeigt  sich  nun  wieder  ausschliesslich  von 
den  Interessen  und  der  Gesinnung  der  Bürgerschaft  geleitet. 
Als  der  König  verlangte,  die  Wormser  sollten  ihm  gegen  jeder- 
mann Treue  schworen,  verweigerte  der  Rat  diesen  Eid,  wofern 
nicht  der  Kaiser  ausdrücklich  ausgenommen  würde,’)  und  mel- 
dete diesem  die  von  seinem  Sohne  gemachte  Zumutung.4)  Die 
Wormser  hielten  dann  auch  ferner  treu  auf  der  kaiserlichen 
Seite  aus,  während  die  Speierer  sich  von  ihrem  Bischof  über- 
reden Hessen,  den  anfangs  auch  von  ihnen  verweigerten  Eid 
zu  leisten. *)  Mehrere  Gesandtschaften  des  Königs,  auch  die  Ab- 
sendung Landolfs  nach  Worms  waren  vergeblich;6)  eben  so 
wenig  Einfluss  hatte  es,  dass  der  König  über  die  Stadt  die 
Acht  aussprach  und  dies  von  übelgesinnten  Nachbarn  zu  viel- 
fachen Angriffen  auf  die  Bürger  benutzt  wurde.7)  Endlich  be- 
schloss Heinrich  sich  mit  Waffengewalt  des  wichtigen  Ortes  zu 
bemächtigen;  sein  am  25.  April  gegen  Worms  ausgesandtes 
Heer  wurde  jedoch  von  den  Bürgern  völlig  geschlagen.*)  Als 

')  Auch  Speier  hielt  ursprünglich  zum  Kaiser,  vgl.  nnteu  N.  5.  Das 
Bündnis  des  Kfmigs  mit  Strassburg  vom  8.  März  1233  (B-F  4272)  kann  nach 
Rohden  Forsch.  XXII  S.  368  nicht  gegen  den  Kaiser  gerichtet  gewesen  sein. 
Die  Treue  gegen  den  Kaiser  gilt  anch  der  Bürgerchronik  als  Grund  der 
Parteinahme  gegen  Heinrich.  Boehmer  Font.  II  p.  178:  Cives  respeetn  iusticic 
et  eciam  dilectionis  quam  habebant  ad  dominum  imperatorem  .... 

*)  So  auch  Rohden  Forsch.  XXII  8.  386,  386. 

*)  Boehmer  fontes  II  p.  178. 

4)  Dies  ist  in  W D 178,  der  Antwort  des  Kaisers  auf  diesen  Brief, 
erwähnt. 

*)  Boehmer  Fontes  p.  178;  Erant  cives  Spirenses  cum  Wormacieusibns  in 
hoc  articnlo  aliquamdiu  stantes.  Sed  in  brevi  per  episcopum  eorum  . . . 
sedneti  conscntierunt  regi  et  iuraverunt  ad  omnem  eius  voluntatem. 

•)  ibid.  p.  179. 

*)  ibid.  vgl.  das  Schreiben  des  Kaisers  an  die  Wormser  U 179  (Huill.- 
Brth.  IV  p.  628,  529) : nostrorum  hdelinm  persecutiones  et  dampna  non  pos- 
sumus  absque  compassione  nimia  pertransire  ...  Et  ecce,  quod  nobilibns 
vestris  vicinis  et  universis  fidelibus  nostris  per  litteras  nostras  speciales  et 
generales  demandamus,  nt  nullus  eorum  vos  pro  aliquo  presnmat  offendere. 

•)  Boehmer  font  II  p.  179,  vgl.  anch  Gotefr.  Vit.  Contin.  Funiac.  et 
Eberb.  (8.  8.  XXII  348), 


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331 


darauf  der  Kaiser  nach  Deutschland  zurückgekehrt  war  und 
durch  sein  blosses  Erscheinen  den  Aufstand  überwunden  hatte, 
feierte  er  einen  glänzenden  Einzug  in  die  treue  Stadt.1) 

Der  Sieg  des  Kaisers  hatte  für  die  Wormser  zunächst  die 
Folge,  dass  der,  ihm  unter  Heinrichs  Anhängern  besonders  ver- 
hasste, Bischof  Landolf  die  Stadt  verlassen  musste ; er  verbarg 
sich  zunächst  in  dem  bei  der  Stadt  gelegenen  Kloster  Nonnen- 
münster.  *)  Da  Landolf  noch  nicht  die  Weihe  erhalten, s)  dachte 
Friedrich  daran,  ihm  das  Wormser  Bistum  zu  entziehen  und 
dasselbe  seinem  Notar  Heinrich  Münch  von  Bilversheim4)  zu 
verleihen. 

Indess  verzichtete  er  darauf,  vielleicht  weil  er  bei  diesem 
Plane  nicht  die  nötige  Unterstützung  seitens  der  Bürgerschaft 
erhielt,5)  und  richtete  vorläufig  in  Worms  eine  kaiserliche  Re- 
gierung unter  einem  schwäbischen  Ministerialen,  Marqnard  von 


*)  Boehmer  fontes  II  164. 

*)  Soviel  wird  an  dem  Bericht  der  Bischofschronik  (p.  164)  jedenfalls 
wahr  sein.  Im  übrigen  ist  bei  der  Kritik  ihrer  Nachrichten  überall  der 
Umstand,  dass  sie  nicht  gleichzeitig  sind,  und  noch  mehr  die  Tendenz  zu  be- 
achten, dass  sie  ganz  im  Gegensatz  zu  den  wirklichen  Verhältnissen  Bischof 
and  Bürger  als  einträchtig  und  einander  ergeben  erscheinen  lassen  wollen, 
vgl.  Köster  8.  66 — 68.  Es  ist  daher  auch  sehr  zweifelhaft,  ob  die  Nach- 
richt der  Bischofschronik,  dass  die  Bürgerschaft  sich  beim  Kaiser  für  Landolf 
verwandte,  begründet  ist. 

*)  Die  Bischofschronik  (p.  163)  lässt  ihn  allerdings  schon  bald  nach 
seinem  Regierungsantritt  geweiht  werden.  Ausser  ans  vielen  anderen  Ur- 
kunden , in  denen  Landolf  noch  electus  heisst,  geht  aber  auch  ans  einem 
päpstlichen  Schreiben  vom  5.  Hai  1236  (M.  G.  Epist.  saec.  XIII  t.  I [ed.  Roden- 
berg] N.  689)  hervor,  dass  Landolf  1236  jedenfalls  noch  nicht  geweiht  war;  in 
der  genannten  Urkunde  erhält  nämlich  der  Erzbischof  von  Mainz  den  Auftrag, 
dem  electus  Wormaticnsis  endlich  die  Weihe  zu  erteilen,  (vgl.  KösterS.  64). 
Nur  der  Umstand,  dass  Landolf  damals  noch  nicht  geweiht  war,  erklärt  es, 
dass  Friedrich  an  seine  Absetzung  dachte,  indem  er  die  ganze  Wahl  als 
noch  nicht  geschehen  betrachtete. 

4)  Boehmer  p.  166.  Hier  ist  Heinrich  als  Protonotar  Heinricus  de 
Cathanea  bezeichnet.  Die  Würde  des  Protonotars  erlangte  er  aber  erst 
später;  dass  er  in  der  Wormser  Bischofscbrouik  wie  auch  in  einigen  Urkunden 
den  Beinamen  de  Cathanea  führt,  „geht  wohl  darauf  zurück,  dass  Friedrich  II. 
1232  Beine  Erhebung  zum  Bischof  von  Catania  durchzusetzen  versuchte,“ 
vgl.  Bresslau,  Urkundenlehre  S.  421  N.  3. 

*)  Dies  giebt  wenigstens  die  Bischofschronik  1.  c.  als  Grund  dafür  an, 
dass  Friedrich  von  diesem  Plane  Abstand  nahm. 


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332 


Sneitde,ein.‘)  Derselbe  löste  den  bestehenden  Rat  auf  und  bestellte 
einen  neuen,  in  dem  neben  7 Bürgern  4 Ministerialen  sassen.  Mit 
diesen  11  führte  er  die  Verwaltung  her  Stadt;1)  von  der  kaiser- 
lichen Kanzlei  ist  er  als  iudex  Wormatiensis  bezeichnet  worden.*) 

Widersprach  schon  die  ganze  Bestellung  dieses  neuen  kai- 
serlichen Beamten  den  Rechten  des  Wormser  Erzstifts, 
so  scheint  derselbe  in  heftige  Zwistigkeiten  mit  dem 
Clerus  auch  durch  Nichtbeachtung  seiner  Stenerprivilegien  ge- 
raten zu  sein.  *)  In  Folge  dessen  sprach  nun  Landolf  das  In- 
terdict  über  die  Stadt  aus;*)  gleichzeitig  begab  er  sich  an  den 
päpstlichen  Hof,  da  er  von  Gregor  IX.  aufgefordert  war,  sich 
wegen  seiner  Parteinahme  für  König  Heinrich  zu  rechtfer- 
tigen.5) Auch  die  Bürger  schienen  mit  Marquard's  Regierung 
nicht  zufrieden  gewesen  zu  sein.  Sie  verschafften  sich  im  Mai  1236 
vom  Kaiser  ein  'Privileg,  in  dem  dieser  ihnen  ihren  Rat  von  40 
Personen  und  ihre  alte  Unabhängigkeit  bestätigte.6) 

Indess  gelang  es  noch  im  Jahre  1236  dem  Bischof  Landolf, 
sich  beim  Papste  zu  rechtfertigen  und  die  Gnade  des  Kaisers 
wieder  zu  gewinnen. 1)  Er  kehrte  nach  Worms  zurück,  wählend 

•)  Boehmer  p.  165.  Dass  Harqnard  aus  Schwaben  stammte  (und  zwar 
ans  dem  heutigen  wirtemb.  Oberamt  EUwangen,  wo  die  Ort«  Ober-  und 
Unterschneidheim  liegen),  kann  aus  einer  Urkunde  von  1239  (Wirtemb.  Urkb. 
III  3.  427)  geschlossen  werden,  in  der  er  als  Zeuge  erwähnt  ist  (vgl.  Schenk 
zu  Schweinsberg,  Westd.  Ztachr.  VII  S.  84). 

*)  B-F  2153. 

*)  Bischofschr.  p.  165. 

«)  ibid. 

*)  Nach  der  Bischofschronik  (Boehmer  font.  II  p.  165)  ging  der  Bischof 
von  Worms  mit  dem  ron  Speier  und  Würzburg  freiwillig  nach  Korn,  um 
sich  über  den  Kaiser  zu  beklagen.  Audiens  autem  imperator  hos  episcopos 
ad  dominum  papam  accessisse,  valde  timuit.  Nach  dieser  Quelle  wird  dann 
nur  durch  die  Intervention  des  Deutschordensmeisters  der  Papst  besänftigt. 
Allein  dieser  gehörte  zu  den  Gegnern  König  Heinrichs  und  der  ihn  unterstützen- 
den Bischöfe  (vgl.  Winkelmann  I S.  462,  Schirrmacher  I S.  246).  Am 
24.  September  1236  trug  die  Curie  den  Bischöfen  von  Regensburg  und  Hil- 
desheim  auf,  mehrere  Anhänger  Heinrichs  unter  der  höhern  Geistlichkeit,  da- 
runter auch  den  clectus  von  Worms,  aufzufordem,  sich  innerhalb  zweier  Mo- 
nate in  Rom  zur  Verantwortung  einznfiuden  (Huill.-Brth.  IV  p.  777).  Dies, 
nicht  die  Absicht,  über  den  Kaiser  Klage  zu  führen,  muss  also  als  Ursache 
von  Landolfs  Reise  nach  Italien  angesehen  werden,  vgl.  Köster  S.  56,  57. 

•)  W U 182. 

’)  Dass  die  Wiedereinsetzung  Landolfs  resp.  seine  Begnadigung  durch 


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333 


Marqnard  abberufen  wurde,  und  stellte  hier  die  von  der  ersten 
Bachtung  bestimmte  Verfassung  mit  dem  alten  Rat  der  15 
wieder  her.1) 

In  der  Folgezeit  gehörte  nun  Landolf  zu  den  treuesten 
Anhängern  des  Kaisers*)  und  gewann  daher  dessen  Gunst  in 
besonderem  Grade.  Dies  benutzte  er  dann,  um  sich  Privilegien 
zu  verschaffen,  durch  welche  er  die  Stadt  im  geeigneten  Moment 
völlig  der  Gewalt  des  Erzstiftes  hätte  unterwerfen  können. 
So  Hess  er  sich  im  November  1238  einen  Spruch  des  Hofgerichts 
beurkunden,*)  der  jegliche  Verleihung  von,  einem  Bistum  zu- 
stehenden, Zoll-  oder  Münzrechten,  Schultheissenämtern , welt- 
licher Gerichtsbarkeit  und  ähnlichen  Befugnissen,  welche  die 
Bischöfe  vom  Kaiser  zu  Lehen  empfingen,  für  ungültig  erklärte, 
solange  nicht  der  Kaiser  seine  Zustimmung  dazu  gegeben.  In 
ebendieser  Urkunde  wird  Landolf  ausdrücklich  ermächtigt,  alle 
von  seinen  Vorgängern  ohne  den  Consens  Friedrichs  II.  ver- 
liehenen derartigen  Rechte  den  zeitigen  Inhabern  abzufordern. 
Durch  dies  Privileg  erhielt  Landolf  also  z.  B.  das  Recht,  die 
1234  von  Bischof  Heinrich  den  Bürgern  auf  10  Jahre  über- 
lassene Münze  wieder  an  sich  zu  ziehen. 4)  Noch  wichtiger  war 
es,  dass  er  überhaupt  solche  Rechte,  in  deren  Ausübung  das 


den  Kaiser  spltter  als  die  eben  erwähnte  Urkunde  Friedrichs  für  die  Wormser 
zu  setzen  ist,  hat  Köster  S.  58,  69  gezeigt;  er  wies  nämlich  daraufhin,  dass 
der  Erzbischof  von  Mainz,  obgleich  vom  Papste  schon  am  6.  Mai  ermahnt, 
Landolf  zu  weihen  (vgl.  oben  S.  331  N.  3),  die  Weihe  doch  bis  mindestens  zum 
16.  Oktober  aufgeschoben  hat , offenbar  weil  Landolf  erst  am  Ende  des 
Jahres  vom  Kaiser  begnadigt  wurde.  Am  16.  Oktober  wird  Landolf  nämlich 
noch  electus  genannt  (Schann.  II  p.  119). 

>)  Boehraer  L c.  165,  166. 

*)  Er  begleitete  ihn  1237  und  1238  auf  den  beiden  longobardischen  Feld- 
zügen ; ferner  verfasste  er  mit  den  Bischöfen  von  Würzburg,  Vercelli  und  Parma 
die  Beschwerdeschrift  des  Kaisers  an  den  Papst  vom  28.  Oktober  1238,  vgl. 
Schirrmacher  Ol  38,  39  und  IV  23,  Huill.-Breholl.  V p.  249.  Auch  als 
Friedrich  vom  Papste  gebannt  war  und  fast  der  gesammte  deutsche  Episcopat 
von  ihm  abfiel,  ist  Landolf  dem  Kaiser  treu  geblieben.  Ob  freilich  nicht 
ein  Versprechen  Friedrichs,  Landolf  für  seine  Unterstützung  die  Interessen 
der  Wormser  Bürgerschaft  anfznopfem,  den  Grund  zu  seinem  Eifer  im  Dienst 
der  kaiserlichen  Sache  bildete,  muss  nach  der  Beschaffenheit  unseres  Quellen- 
materials  dahingestellt  bleiben. 

•)  U 193. 

*)  vgl.  oben  S.  829. 


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334 


Bistum  sich  in  der  ersten  Rachtung  Beschränkungen  auferlegt 
hatte,  wie  z.  B.  die  weltliche  Gerichtsbarkeit  und  Beamtener- 
nennung, jetzt  ohne  weiteres  ausliben  konnte,  da  ja  die  Rachtnng 
zwar  von  König  Heinrich,  aber  nicht  vom  Kaiser  bestätigt  war. 

Etwa  um  dieselbe  Zeit,  nämlich  am  6.  November  1238, 
verschaffte  sich  Landolf  noch  ein  anderes  kaiserliches  Privileg,1) 
welches  die  Interessen  der  Bürger  noch  weit  mehr  bedrohte. 
Er  wurde  nämlich  dadurch  in  Stand  gesetzt,  auch  das  politisch 
wichtigste  der  Bürgerschaft  in  der  Rachtung  gelassene  Recht 
zu  beseitigen.  Noch  war  ihr,  wie  oben  gezeigt,*)  in  dem  Rat 
ein  ihre  Rechtsstellung  und  Rechtsauffassung  auch  gegen  den 
Bischof  verteidigendes  Organ  geblieben;  damals  aber  wurde 
Landolf  ermächtigt,  den  bestehenden  Rat  aufzulösen  und  einen 
anderen  zu  bilden.  Ohne  jede  Zuziehung  der  Bürgerschaft 
sollte  er  ganz  selbständig  einen  Rat  von  12  Personen,  4 Rittern 
und  8 Bürgern,  ernennen  und  mit  ihnen  gemeinsam  die  Stadt 
regieren;  nur  sollte  er  diesen  Rat  jährlich  wechseln.  Wäre 
dies  Privileg  zur  Ausführung  gekommen,  der  Rat  also  völlig 
vom  Bischof  aus  seinen  Anhängern  ernannt  worden,  so  hätte 
es  jede  Autonomie  der  Stadt  — wenigstens  vorübergehend  — 
vernichtet;*)  freilich  lässt  sich  nicht  wahrnehmen,  dass  die  er- 
wähnten Verordnungen  Friedrichs  II.  auf  die  Wormser  Ver- 
fassungsverhältnisse irgend  welchen  Einfluss  geübt  haben.  Dieser 
Umstand,  sowie  die  Folgerungen,  welche  aus  der  Urkunde  vom 
6.  November  auf  Friedrichs  und  Landolfs  Politik  gezogen  werden 
müssen,  haben  zu  sehr  verschiedenen  Auffassungen  des  in  Frage 
stehenden  Doeuments  geführt.  Die  W ormser  Bischofschronik4) 
lässt  garnicht  Landolf,  sondern  vielmehr,  ohne  dessen  Wissen, 
als  er  schon  den  Hof  verlassen  hatte,  seine  Gegner  den  Kaiser 
um  dies  Privileg  ersuchen;  dieselben  wollen  so  Landolf  zum  Bruch 
der  beschworenen  Rachtung  verleiten,  um  dadurch  seinen  Sturz 
herbeizuführen.  Landolf  aber  habe,  als  er  das  Privileg  erhielt, 
geäussert:  „er  würde  sich  eher  von  Kopf  bis  Fuss  schinden 


')  w U 190. 

*)  vgl.  8.  326  und  330. 

*)  vgl.  Arnold  V.  0.  II  8.  45,  46. 
•)  Boehmer  Föntet  II  p.  166. 


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335 


lassen,  als  je  an  der,  von  seinem  Vorgänger  und  vom  Clerus 
mit  Mühe  erlangten,  Rachtung  rütteln.“  *) 

Nun  ist  jedoch  das  Privileg,  in  welchem  Landolf  die  Be- 
fuguiss  erhielt,  die  von  seinen  Vorgängern  verliehenen  Regalien 
den  derzeitigen  Inhabern  abzufordern,  unzweifelhaft  von  ihm 
selbst  veranlasst.*)  Es  ist  gar  nicht  abzusehen,  warum  Lan- 
dolf das  die  Ratseinsetzung  verleihende  Privileg  nicht  ebenso  gut 
wie  das  ihm  die  Regalien  zurückgebende  sich  selbst  verschafft 
hat;  in  beiden  erweitert  er  gleichmässig  die  Rechte  des  Stifts 
über  die  zu  Zeiten  seiner  Vorgänger  vertragsmässig  festge- 
stellten Grenzen.  Während  Arnold’)  und  noch  mehr  Schirr- 
macher*) und  Winkelmann5)  sich  an  die  Darstellung  des 
Wormser  Chronisten  anschliessen  und  damit  den  Text  der  Ur- 
kunden in  Verbindung  zu  bringen  suchen,  hat  Hesselbarth,*) 
aber  mit  unzureichenden  Gründen,  die  Unechtheit  der  Urkunde 
vom  6.  November  1238  zu  erweisen  gesucht.  Neuerdings  hat 
nun  Köster’)  im  Zusammenhang  mit  seinen  Forschungen  über 
den  Wert  der  Bischofschronik  den  Weg  zur  richtigen  Erkennt- 
niss  der  Wormser  Vorgänge  von  1238  gezeigt.  Sicher  wird 
nach  Kösters  Untersuchungen  niemand  mehr  die  Auffassung 
Schirrmachers  teilen,  welcher  den  Gedanken,  „die  Bürger  hätten 
für  ihre  Treue  sich  vom  Kaiser  mit  Undank  belohnt  geglaubt,“ 


')  ibid. : qnod  prius  de  corona  capitis  osque  ad  plantam  pedis  Teilet 
excoriari,  quam  minimum  articulnm,  sui  predeceasoris  maximis  iaboribus  et 
expensis  ac  cleri  obtentnm,  in  vita  sua  deponere  vellet. 

*)  Vgl.  in  dieser  Urkunde  (U  193):  snpplicavit  celsitndini  nostre  vene- 
rabilis  Wormatiensis  episcopns,  quatenns  ea,  qne  per  predecessores 

Silos  alienata  snnt ad  ins  et  possessionem  eccleaie  Wormaciensis  re- 

vocari  mandaremus. 

*)  V.  G.  II  S.  46-47. 

*)  Friedr.  II  Bd.  IV  S.  22—26. 

*)  Friedr.  II  Bd.  II  (1865)  8.  101.  N.  2. 

•)  Forsch,  t.  D.  G.  XVI  S.  371  ff.,  vgl.  dagegen  treffend  Boos  Note 
zu  U 190  p.  184:  „Hesselbarth  will  die  Unechtheit  der  Urk.  erweisen, 
einmal,  weil  ihr  Inhalt  mit  den  Angaben  der  Annalen  in  Widerspruch  stehe, 
dann  weil  Schannat  die  Herkunft  der  Urk.  verschweige.  Letzteres  Argu- 
ment fällt  dahin,  da  die  Urkunde  im  Original  vorhanden  ist,  und  das  erste 
Argument  ist  nicht  stichhaltig,  weil  es  in  diesem  Teil  der  Annalen  auch 
sonst  an  Widersprüchen  nicht  fehlt.“  Vgl.  gegen  Hessel  bar  th  auch  Köster 
8.  61,  62  u.  B-F  2402. 

*)  a.  a.  0. 


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336 


schon  d esshalb  für  unzutreffend  hält,  „weil  die  Annalen  der 
Stadt,  deren  Verfasser  unzweideutig  die  herrschende  Ansicht 
des  Bürgertunis  vertritt,  auch  nicht  die  leiseste  Andeutung 
davon  enthalten.“1)  Was  Schirrmacher  als  Stadtannalen 
ansieht,  sind  ja  Fragmente  einer  nicht  gleichzeitigen  Bischofs- 
chronik! 

Als  sicher  kann  demnach  von  den  Wormser  Ereignissen 
des  Jahres  1238  gewiss  betrachtet  werden,  dass  Landolf  den 
Kaiser  um  die  beiden,  die  städtische  Autonomie  gefährdenden.  Ur- 
kunden gebeten  und  dieselben  auch  von  ihm  erlangt  hat. 

Die  von  der  Bischofschronik  gegebene  Charakteristik  von 
Landolfs  Verhältnis  zur  Bürgerschaft  ist  jedenfalls  durchaus 
unrichtig;  die  Rechte  des  Bistums  suchte  gerade  er,  auch  auf 
Kosten  der  dem  Rate  vertragsmässig  zustehenden  Rechte,  so 
viel  als  möglich  zu  erweitern.  Dass  der  Kaiser  aber  seinen 
Gesuchen  trotz  der  von  den  Wormsern  bewiesenen  Treue  will- 
fahrte, ist  wohl  dadurch  zu  erklären,  dass  Friedrich  dafür 
auf  Landolfs  Unterstützung  rechnete  und  ihr  die  Interessen 
der  ihm  ergebenen  Stadt  zum  Opfer  brachte.  Schon  Ende 
1238  war  der  Kaiser  in  schwieriger  Lage,  und,  wenn  er  auch 
darnach  strebte,  den  Frieden  mit  der  Curie  zu  erhalten,  so 
konnte  ihm  bei  dem  drohenden  Conflict  mit  derselben  *)  die  Un- 
terstützung eines  geistlichen  Fürsten  auch  durch  so  weitgehende 
Concessionen  wie  die  Preisgabe  der  treuen  Stadt  nicht  zu 
teuer  erkauft  scheinen.  Freilich  ist  nun  in  dem  Privileg  über 
die  Regalien  ausdrücklich  gesagt,  dass  ihre  Weiterverleihung 
das  Recht  des  Kaisers  verletze,  weil  er  dadurch  in  der,  ihm 
bei  Reichstagen  und  bischöflicher  Sedisvaeanz  zustehenden,  Be- 
nutzung derselben  behindert  würde;  ebenso8)  wird  in  der  Ur- 
kunde über  die  Ratsernennung  ausdrücklich  hervorgehoben,  dass 
durch  jährlichen  Wechsel  der  Ratsmitglieder  auch  der  Vorteil 
der  Stadt  gefördert  werde.4)  Schwerlich  ist  jedoch  in  solchen 

*)  Bd.  IV  S.  22. 

*)  Vgl.  Winkelmann  II  117,  Bodenberg  in  dem  oben  S.  310.  N.  1 
citierten  Aufsätze  8.  244,  Koehlcr,  Verhältnis*  Friedrich*  11  zu  den  Päpsten 
(Breslau  1888)  S.  36. 

*)  U 193:  cum  qnilibet  imper&tor  indicta  (nicht  in  dicta,  wie  bei  Boo«) 
curia  percipere  debet  integraliter,  et  vacantibns  ecclesiis  omnia  usque  ad  con- 
cordem  electionem  habere,  donec  electus  ah  eo  regalia  accipiat. 

4)  U 190:  ut  per  viciasitudinem  et  providentiaro  succedcntium  Status 


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337 


Motivirungcn  etwas  anderes  als  ein  scheinbares  Eingehen  auf, 
vorn  Bischöfe  für  seine  Forderungen  geltend  gemachte,  Vor- 
wände und  eine  Beschönigung  der  kaiserlichen  Concessionen 
zu  sehen.1) 

Die  Durchführung  der  Verfassungsänderung  in  der  von  dem 
kaiserlichen  Privileg  festgesetzten  Form  ist  Landolf  nicht  ge- 
lungen. Ausser  dem  Widerstande  der  Wormser  mag  vielleicht 
der  ausbrechende  Bürgerkrieg  den  Bischof  zum  einstweiligen 
Verzicht  auf  die  Geltendmachung  der  ihm  vom  Kaiser  einge- 
räumten Rechte  bewogen  haben.  Musste  er  doch  fürchten,  die 
Wormser  durch  zu  schroffes  Vorgehen  auf  die  Seite  seiner 
Gegner  zu  treiben.  Ob  Landolf,  um  dergleichen  zu  verhüten, 
die  ihm  von  dem  Chronisten  in  den  Mund  gelegten  Worte 
wirklich  gesprochen  hat*)  und  sich  diese  dann  in  der  Tradi- 
tion erhielten  oder  ob  sie  von  dem  Verfasser  unserer  Quelle 
einfach  erfunden  sind,  muss  dahin  gestellt  bleiben. 

Jedenfalls  fand  Landolf  noch  Gelegenheit,  den  Rat  ganz 
seinen  Wünschen  gemäss  abweichend  von  den  Bestimmungen 
der  Rachtung  zu  gestalten.  Wodurch  er  in  diese  Lage  kam, 
ist  nicht  mehr  sicher  festzustellen.  Die  Bischofschronik  be- 
richtet, sämmtliche  Ratsmitglieder  hätten  freiwillig  ihr  Amt 
niedergelegt,  um  sich  von  der  Gemeinschaft  mit  einem  in  den 
Verdacht  einer  Blutschuld  gekommenen  Ratsmitgliede,  Marquard 
Buso,  zu  befreien,  auch  hätten  sie  dem  Bischof  das  Recht  ge- 
geben, nach  Gutdünken  andere  Personen  an  ihre  Stelle  zu 
setzen.*)  Der  Bischof  habe  dann  nur  5 von  den  bisherigen 
Mitgliedern  in  den  neugebildeten  Rat  genommen  und  die  übrigen 
zehn  Ratsstellen  anderweitig  vergeben.4) 

Diese  freiwillige  Resignation  der  Ratsmitglieder  auf  ihr 
Amt  erscheint  jedoch  wenig  glaublich,  zumal  wenn  der  Bischof 


ecclesie  et  civitatis  commoditas  de  bono  promoveatnr  in  melins  et  in  pace 
et  iusticia  eonservetur. 

*)  Vgl.  die  Ausführungen  Rodenbergs  a.  a.  0.  S.  236. 

*)  wie  Arnold  II  47  n.  Köster  S.  62  annehmen. 

*)  Boehmer  Fontes  II  p.  168. 

4)  So  ist  wohl  die  etwas  dunkle  Stelle  a.  a.  0.  xu  verstehen.’  Ipse  vero 
epiaeopns  assumens  in  animam  snam  (in  Verdacht  xiehend?)  omnes  protcr 
qninqne,  in  locum  illornm  alios  substituit  et  sic  iterum  cum  illis  quindecim 
consulibus  sedit  in  pace. 

Koehne,  Ursprung  der  Stadtverfaaaung  in  Warme,  Speier  and  Mains.  SS 


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338 


dadurch  freies  Ernennuugsrecht  in  Bezug  auf  den  Rat  erhielt. 
Sahen  wir  doch  den  Rat  stets  darauf  bedacht,  die  Rechte  der 
Stadt  dem  Bistum  gegenüber  zu  vertreten.  Ins  Gewicht  fällt 
auch,  dass  gerade  Marquard  Buso,  der  nach  den  Annalen  früher 
Ratsmitglied  war,  in  den  Jahren  1246  und  1249  in  Zeugen- 
listen von  Urkunden  *)  unter,  von  den  consules  getrennten,  cives 
erscheint.  Daraus  kann  wohl  geschlossen  werden,  dass  diese 
Behörde  im  Widerspruch  mit  der  von  der  Rachtung  bestimmten 
Lebeuslänglichkeit  ihrer  Mitgliedschaft  vor  1246  neu  zusammen- 
gesetzt ist.  Audrerseits  spricht  jedoch  die  Zuziehung  Marquards 
zur  Zeugenschaft  von  Beurkundungen  nicht  für  die  Erzählung 
der  Bischofschronik,  er  sei  so  gemieden  worden,  dass  die  übrigen 
Ratsmitglieder,  um  der  Gemeinschaft  mit  ihm  zu  entgehen,  ihr 
Amt  niedergelegt  hätten. 

Als  Bestätigung  der  Nachricht,  dass  es  Landolf  dazu  ge- 
bracht, den  Rat  mit  seinen  Anhängern  zu  besetzen,  kann  eine 
Notiz  einer  anderen  Chronik*)  gelten.  Hiernach  erfuhren  nämlich 
die  Ratsmitglieder  im  Jahre  1246  vielfache  Schmähungen  von 
einer  Partei  unter  den  Bürgern,  welche  die  Wiederherstellung 
des  alten  Rats  von  40  Personen  verlangten.8)  Die  Schmähungen 
werden  sich  besonders  darauf  bezogen  haben,  dass  der  vom 
Bischof  eingesetzte  Rat  nicht  mehr  die  Stadtinteressen  vertrat. 

In  dieser  Chronik  wird  auch  erzählt,  dass  der  Rat  damals 
12  Mitglieder  hatte,  da  drei  gestorben  waren  und  nicht  ersetzt 
wurden.4)  So  war  denn  Landolf  am  Ende  seiner  Regierung 
im  Besitze  der  wichtigen  Rechte,  welche  ihm  die  kaiserliche 
Urkunde  von  1238,  Nov.  6,  gewährt  hatte.5)  Der  Rat  bestand 
aus  seinen  ergebenen  Anhängern  und  war  auf  12  Mitglieder 


l)  U.  217  u.  226. 

’)  Boebmer  Font.  II  p.  185  Z.  15 — 26;  Küster  S.  93d.  hält  diese  Stelle 
für  einen  Teil  der  anf  gleichzeitigen  von  den  Bürgern  geführten  Annalen 
beruhenden  Bürgerchronili.  Allein,  da  hier  von  einem  Bischof  der  Ausdruck 
venerabilis  gebraucht  wird,  was  sonst  bei  Aufzeichnungen  bürgerlichen  Ur- 
sprungs nicht  der  Fall  ist  (vgl.  Klister  S.  39),  so  möchte  ich  gerade  diese 
Stelle  als  unter  bischöflichem  Einfluss  entstanden  ansehen. 

*)  Boehmer  a.  a.  0.,  vgl.  auch  die  Bischofschronik  ibid,  p.  168  Z.  15  ff. 
*)  Boehmer  p.  185  Z.  25  ff.  consiliariis  Wormaciensibus,  quoram  erant 
duodecim,  et  tres  mortui  tune  erant,  et  nondum  erat  numerus  eorum  impletus 
•)  vgl.  oben  8.  333—336. 


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339 


reduciert.  Dass  der  Bischof  nicht  auch  den  von  der  kaiser- 
lichen Urkunde  bestimmten  Wechsel  der  Mitglieder  einftthrte, 
mag  vor  allem  daran  gelegen  haben,  dass  es  ihm  an  der  ge- 
nügenden Zahl  zuverlässiger  und  geeigneter  Personen  fehlte. 

Hat  so  Landolf  den  durch  die  Rachtung  hergestellten 
Rechtszustand  zu  Gunsten  des  Bistums  geändert,  so  strebte 
hingegen,  wie  schon  erwähnt,  eine  Partei  unter  den  Bürgern 
nach  Wiedereinsetzung  des  alten  aus  40  Personen  bestehenden 
Rats;  dieselbe  wurde  von  den  vom  Bischof  abgesetzten  Consuln 
geführt.  Freilich  hatten  ihre  Bestrebungen  keinen  Erfolg.1) 
Hingegen  ist  es  als  Machterweiterung  der  Bürger  zu  betrachten, 
dass  sie  die  Vogtei  über  das  Kloster  Nonnenmünster,  welche 
dem  Kaiser  als  bischöfliches  Lehen  zustand,  und  von  diesem  an 
seinen  Burggrafen  von  Spiegelberg  verliehen  war,  letzterem  mit 
kaiserlicher  Genehmigung  abkauften.  Darauf  wurden  die  Rats- 
herren vom  Bischof  mit  der  Vogtei  belehnt.*)  Jedenfalls  wäre 
es  auch  für  den  Bischof  nicht  minder  gefährlich  als  für  die 
Bürger  gewesen,  wenn  sich  in  unmittelbarer  Nähe  der  Stadt  ein 
Reichsministerial  hätte  festsetzen  können.  Ebenso  begleitete 
Landolf  1241  die  Wormser  auf  einem  Zuge  gegen  die  Bewohner 
des  benachbarten  Dorfs  Osthofen,  welche  einige  Bürger  beleidigt 
hatten.*)  Die  Osthofener  mussten  sich  damals  der  Stadt  zu 
Dienst  verpflichten  und  versprechen,  ihre  von  den  Wormsern 
zerstörten  Befestigungen  nicht  wiederherzustellen.4)  Auf  den 
Einfluss  der  Bürgerschaft  ist  es  wohl  auch  zurückzuführen,  dass 
Landolf  in  den  damals  Deutschland  zerrüttenden  Bürgerkriegen 
sich  nicht  von  den  Gegnern  Friedrichs  II.  gewinnen  liess.  Er 
unterstützte  zu  Zeiten  eifrig  den  Kaiser,5)  zu  Zeiten  suchte  er 
wenigstens  neutral  zu  bleiben.*)  Von  der  kirchlichen  Partei 

')  vgl.  die  oben  S.  338  N.  2 und  3 angeführten  Quellenstellen. 

*)  U 202  vgl.  Boehmer  p.  187. 

*)  Boehmer  Fontes  II  p.  180. 

4)  ibid.  p.  181. 

*)  VgL  U 208  a 1243  Aug. : Friedrich  II  verspricht,  in  Anbetracht  der 
unbegrenzten  Treue  und  der  ergebenen  Dienstleistung  (attendentes  immensem 
fidem  et  devota  servicia)  des  Bischofs,  des  Klerus  und  der  Bürgerschaft  von 
Worms,  mit  der  Römischen  Kirche  keinen  Vergleich  einzugeben,  ohne  die- 
selben ausdrücklich  einznschliessen. 

*)  In  der  Bürgerchronik  (p.  18ö)  wird  von  der  Schlacht  au  der  Nidda 
(6.  Aug.  1246),  zu  weicher  die  Wormser  dem  König  Konrad  Hilfe  schickten, 

B* 


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340 


desshalb,  zusammen  mit  der  Bürgerschaft,  excommuniciert,  wusste 
er  durch  pecuniäre  Leistungen,  vielleicht  auch  durch  Vor- 
stellungen über  seine  gefährliche  Lage  wenigstens  vorüber- 
gehend Freisprechung  vom  Banne  für  sich  und  die  Bürger  zu 
erlangen.1)  Mit  bewundernswerter  Treue  kämpften  nämlich 
die  Wormser,  obgleich  sie  so  oft  von  Friedrich  II  ihren  Gegnern 
gegenüber  benachteiligt  waren,  für  ihn  und  seinen  Sohn  Konrad.*) 
Demnach  hätte  ein  Eintreten  Landolfs  für  die  kirchliche  Partei 
wohl  zu  seiner  Vertreibung  aus  seinem  Bistum  geführt;  ob 
Landolf*)  sich  durch  die  Erkenntnis  in  seiner  Politik  be- 
stimmen liess,  welchen  Nachteil  es  ihm  gebracht,  als  er  sich  im 
Anfänge  seiner  Regierung  den  Gegnern  des  Kaisers  angeschlossen, 
muss  dahingestellt  bleiben. 

Dass  Landolf  die  Möglichkeit,  sich  in  der  Stadt  zu  be- 
haupten und  seine  Herrschaftsrechte  sogar  noch  zu  erweitern, 
vor  allem  dem  Anschluss  an  die  staufische  Partei  verdankte, 
lässt  sich  daraus  erkennen,  dass  seine  Nachfolger,  weil  Gegner 
der  Staufer,  von  der  Bürgerschaft  überhaupt  nicht  in  die  Stadt 
hineingelassen  wurden.  Dies  war  zuerst  bei  Konrad  von  Dürk- 


gesagt:  quia  Laudolfus  episcopus  buic  conflictni  non  interfait,  dampnificatus 
est  a domino  Moguntino  ad  centum  inarcas  et  amplius.  Vgl.  xu  Landolfs 
Stellung  in  diesen  Kämpfen  auch  die  Bischofschr.  (p.  168):  quia  cives  dictis 
duminis  (Friedrich  und  Konrad)  totalitär  adherebant,  dominus  episcopus  nolens 

et  timens  eos  offendere,  sua  pecunia  magna bas  sententiaa  saepius 

liberavit  Die  Aufforderung  des  päpstlichen  Legaten  Albert  von  Beham  sich 
vor  ihm  zu  rechtfertigen  und  an  den  gegen  Friedrich  abgehaltenen  Be- 
ratungen sich  zn  beteiligen,  hat  Landolf  nicht  befolgt;  andererseits  aber 
doch,  was  die  anderen  nicht  päpstlich  gesinnten  Bischöfe  unterliessen,  Boten 
geschickt,  um  sein  Ausbleiben  zn  entschuldigen,  vgl.  Akten  Alberta  v.  Beham 
in  Bibi,  des  literar.  Vrns.  XVI  (Stuttg.  1847)  S.  122.  Mit  Becht  sagt 
Köster  8.  64:  „Ebenso  unklar,  wie  am  Ende  der  Regierung  Landolfs  seine 
Stellungnahme  zwischen  Kaiser  und  Papst  ist,  stellt  sich  auch  der  Bericht*  (der 
Bischofschronik)  „über  dieselbe  dar.“ 

>)  Boehmer  Font.  II  p.  168,  Zorn  8.  80,  81,  vgl.  Arnold  V.  G.  II 
8.  62,  66,  Schirrmacher  IV  8.  209.  Der  Rat  des  päpstlichen  Legaten, 
die  Absetzung  der  widerspenstigen  Bischöfe  mit  Landolf  zu  beginnen,  ist 
jedenfalls  von  der  Curie  nicht  befolgt  worden  (vgl.  die  in  der  vorigen  Not* 
citierten  Akten  Alberte  v.  Beham  8.  123). 

*)  Vgl.  Arnold  8.  49-66. 

•)  wie  Koester  8.  64  annimmt. 


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341 


heim  der  Fall,1)  der  indessen  schon  im  zweiten  Monate  seines 
Episcopats  starb.*)  Dann  trat  eine  Doppelwahl  eiri,  in  welcher 
der  eine  Candidat,  Richard  von  Daun,  sich  anfangs  auf  die 
Stadt  gestützt  zu  haben  scheint;*)  als  er  sich  aber,  da  der 
Papst  für  ihn  entschieden4)  und  Sein  Rival  resignirt  hatte, 
offen  an  die  antistauflsche  Partei  angeschlossen,  wurde  er  von 
der  Bürgerschaft  lange  an  der  Rückkehr  nach  Worms  ge- 
hindert.6) Indessen  wurde  die  Stadt,  wie  ein  ganz  unabhän- 
giges Territorium,  von  ihrem  Rate  regiert,  der  jetzt  wieder 
durchaus  die  Interessen  der  Bürger  vertrat.  Bemerkenswert 
ist  es,  dass  man  nicht  nur  bei  dieser  Gelegenheit  den  alten 
Rat  von  40  Personen  nicht  wiederherstellte,  sondern  auch  die 
durch  Tod  erledigten  Stellen  des  Rats  der  15  nicht  wieder 
besetzte.  Daher  kam  es,  dass  die  Zahl  der  Ratsmitglieder 
schon  in  den  Jahren  1249 — 1252  auf  9,*)  im  Jahre  1253 
schon  auf  8 Mitglieder  zusammengeschmolzen  war.7)  An  diesen 
Rat  wandte  sich  auch  1261  Innocens  IV,  um  die  Stadt  zum 
Anschluss  an  König  Wilhelm  und  die  kirchliche  Partei  zu  be- 
wegen.8) Jedoch  hatte  dies  Schreiben  auf  die  Wormser  so 
wenig  Einfluss  wie  lange  Zeit  hindurch  alle  weltlichen  und 

*)  Boehmer  p.  169,  Zorn  S.  88,  vgl.  Köster  8.  64,  66. 

*)  Die  Daten  der  Wahl,  der  Weihe  und  de»  Tode»  diese»  Bischof»  sind 
in  Folge  der  widerspruchsvollen  Angaben  unserer  Quellen  (Zorn  a.  a.  O., 
Boehmer  ibid.,  Hon.  Kirsgart.  8.  129)  nicht  mit  Sicherheit  zu  bestimmen. 
Vgl.  Köster  S.  64,  66,  99,  cf.  auch  M.  0.  Epist.  saec.  XIII  t II  N.  429  p. 
311  u.  Joannis  II  p.  217. 

*)  Boehmer  ibid.,  Zorn  S.  89,  vgl.  Arnold  V.  Q.  II  60. 

4)  vgl.  ü 220,  222.  . 

*)  Zorn  8.  93,  vgl.  Arnold  II  63. 

*)  Dies  lässt  sich  daraus  schlieasen,  dass  in  zwei  Urkunden  des  Jahres 
1249  (U  225  und  226)  und  in  je  einer  des  Jahres  1261  und  52  (U  228  und 
234)  ganz  dieselben  neun  Personen  als  consulea  bezeichnet  sind. 

*)  Nach  der  Bischofschronik  (p.  170)  hat  Bischof  Bichard  damals  den 
Kat  der  fünfzehn  durch  Besetzung  der  drei  erledigten  Ratsstellen  erneuert; 
gemeint  können  hier  nur  die  9 bürgerlichen  Ratsstellen  sein.  Es  geht  dies 
zunächst  daraus  hervor,  dass  in  dem  späteren  neuen  Rat  von  1263,  dessen  Mit- 
gliederliste Zorn  8.  98,  99  überliefert  hat , von  den  neun  bürgerlichen  Räten 
6 und  von  den  ministerialischen  2 dem  früheren  Rate  angebörten ; dessen  Mit- 
gliederliste ist  uns  ja  durch  die  in  der  vorigen  Note  erwähnten  Urkunden 
überliefert.  Ferner  überliefert  Zorn  a.  a.  0.  auch  folgende,  weil  lateinisch, 
wohl  alten  Quellen  entnommene  Nachricht : Isti  novem  (d.  h.  die  bürgerlichen 
Consuln)  sex  milites  elegerunt. 

•)  W U 230. 


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342 


geistlichen  Kampfesmittel ; auch  noch,  als  König  Konrad  Oktober 
1251  nach'  Italien  gegangen,  hielt  die  Bürgerschaft  uner- 
schüttert  au  seiner  Sache  fest.1)  Hierin  trat  zunächst  auch  keine 
Änderung  ein',  als  der  Rat  im  Februar  1253  den  Bischof,  der 
kurz  vorher  das  Interdict  aufgehoben,  in  die  Stadt  einliess; 
ausdrücklich  wurde  ausgemacht,  dass  er  sie  nur  als  einfacher 
Geistlicher  betreten  sollte.*)  Indess  gelang  es  Richard,  nachdem 
er  in  die  Stadt  zurückgekehrt,  sich  daselbst  allmählich  eine 
grosse  Partei  zu  schaffen.*)  Gleichzeitig  verloren  die  Anhänger 
der  Staufer  in  Worms,  die  mit  den  härtesten  kirchlichen  Strafen 
belegt  wurden,  daselbst  nach  und  nach  immer  mehr  an  Einfluss; 
jedoch  fand  der  Anschluss  der  Stadt  an  König  Wilhelm  erst 
nach  dem  Tode  Konrads  IV.  statt.4)  Hingegen  gelang  es  dem 
Bischof,  obgleich  die  Bürgerschaft  damals  den  Rat  der  40, 
in  dem  man  die  Verkörperung  der  vollen  Stadtfreiheit  gesehen 
zu  haben  scheint,  wiederhergestellt  wissen  wollte,  die  Rückkehr 
zu  den  Bestimmungen  der  ersten  Rachtung  durchzusetzen.8)  So 
kann  es  als  Resultat  dieser  Streitigkeiten  unter  Landolfs  Nach- 
folgern angeführt  werden , dass  die  von  diesem  errungenen  Er- 
weiterungen der  Bischofsmacht  wieder  abgeschafft  wurden , die 
Stadt  aber  nach  wie  vor  in  weitgehender  Abhängigkeit  von  den 
Bischöfen  blieb. 

Eine  weit  grössere  Autonomie  als  Worms  erlangte  zur  Zeit 
ebendieses  Bürgerkrieges  die  Stadt  Mainz.  Anfangs  hatten 
die  Mainzer  gleich  den  Wormsern  und  Speierern  im  Gegensatz 
zu  ihren  Stadtherren  die  staufische  Sache  eifrig  verfochten.*) 
Dem  Vorbilde  seines  Vorgängers  Adalberts  I.’)  folgend,  hat 
alsdann  auch  Erzbischof  Sigfrid  III.  (1230 — 1249)  der  Bür- 
gerschaft, um  sie  für  sich  zu  gewinnen,  ein  ihre  Rechte  in 
hohem  Masse  vermehrendes  Privileg  gegeben.  Jedoch  musste 
die  Hilfe  der  Stadt  damals  durch  viel  weitergehende  Conces- 

«)  vgl.  w ü 233. 

’)  Zorn  S.  94,  95. 

•)  a.  a.  0. 8.  96—99,  Mon.  King,  bei  Ludewig  II  p.  121  ff.,  vgl.  Arnold 
II  S.  64,  65,  KOster  S.  65,  66,  Hinze,  Das  Königtum  Wilhelms  von  Hol- 
land (Leipz.  1885)  8.  77,  78. 

*)  Zorn  S.  103,  vgl.  U 249,  KBster  8.  66,  67,  Hinze  8.  170. 

*)  Bischofscbr.  (p.  170),  Zorn  8.  98,  99,  Monachus  Kirsgart.  p.  124, 
vgl.  oben  8.  341  N.  7. 

*)  vgl.  Schirrmacher  IV  S.  18,  Hegel  Mainz  8.  45,  46. 

’)  vgl.  oben  Cap.  VI  S.  236  ff. 


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343 


sionen  gewonnen  werden,  als  sie  einst  Adalbert  gewährt  hatte. 
In  der  bekannten  Urkunde  von  1244  November  13.  *)  wurde 
die  Stadt  von  jeder  Verpflichtung  zu  Kriegsdienst  und  Steuer- 
leistung für  den  Erzbischof  befreit.  Ferner  erhielten  die  Bürger 
unter  anderem  auch  das  Recht,  das  bis  dahin  von  ihnen  in  der 
Stadt  erhobene  Ungeld,  so  lange  es  ihnen  angemessen  erscheine, 
weiter  zu  erheben;  ebenso  wird  ihnen  auch  die  Berechtigung 
garantiert,  ihren  Rat  ganz  selbständig  ohne  jede  Beteiligung 
des  Erzbischofs  zu  wählen  und  zu  ergänzen.*)  Endlich  ver- 
sprechen sich  auch  Erzbischof  und  Bürger,  einander  gegen  ihre 
Feinde  Beistand  zu  leisten. 

So  war  die  Mainzer  Bürgerschaft  in  Besitz  von  Finanz- 
und  Militärhoheit,  sowie  ganz  selbständiger  Wahl  ihrer  lei- 
tenden Behörde  gekommen;  als  Zeichen  der  städtischen  Macht- 
vollkommenheit kann  es  betrachtet  werden,  dass  der  Erzbischof 
für  sich  und  seine  Nachfolger  darein  willigen  musste,  stets  nur 
mit  soviel  Gefolge  in  die  Stadt  zu  ziehen,  als  diese  selbst  für 
gut  finden  würde.*)  Immerhin  behielt  jedoch  der  Erzbischof  noch 
wichtige  Rechte  in  der  Stadt.  So  blieb  ihm  die  Besetzung  der 
Beamtungen  des  Kämmerers,  Schultheissen  und  Waltpod,4) 
welche  erst  nach  und  nach  an  Einfluss  verloren;8)  ebenso  be- 


')  B-W  XXXIII  604;  Gmlen  Cod.  I 580,  dessen  Text  aber  nach  den 
von  Bodmann  handschriftlich  Oberlieferten,  von  Will  a.  a.  0.  pnblicierten 
Abweichungen  des  Originals  zu  corrigieren  ist. 

*)  Item  annuemos  et  pennittemus,  qnod  ipsi  cives  viginti  qnattuor  eli- 
gent  ad  consilinm  civitatis  sic,  qnod,  nno  decedente,  alter  in  locnm  sumn 
protinns  eligatnr.  Dass  nicht  erst  durch  diese  Bestimmung  ein  Bat,  geschweige 
denn  Oberhaupt  erst  eine  die  Interessen  des  Bürgertums  vertretende  Behörde, 
geschaffen  wurde,  ist  im  vorigen  Capitel  gezeigt  worden.  Freilich  ist  zu 
vermuten,  dass  damals  der  Rat  ganz  neu  gewühlt  wurde,  während  fernerhin 
Wahlen  von  Ratsmitgliedern  nur  bei  Freiwerden  von  Ratsstellen  durch  Tod 
stattfanden.  Eben  damals  wird  auch  die  Verbindung  von  Rat  und  SchOflfen- 
tum  gelost  sein,  da  die  Schöffen  nach  wie  vor  vom  Erzbischof  ernannt  wur- 
den, während  er  auf  die  Ernennung  der  Ratsmitglieder  jeden  Einfluss  ver- 
loren hatte. 

*)  Wenn  es  1.  c.  § 11  heisst,  quam  quod  nobis  et  nostris  civibus  Visum 
fuerit  expedire,  so  ist  das  ja  ganz  selbsverst&ndlich,  dass  das  Gefolge  des 
Erzbischofs  nicht  grosser  war,  als  er  es  für  richtig  fand ; die  HinznfOgung  des 
nobis  verdeckt  schlecht  die  für  den  Erzbischof  demütigende  Bestimmung. 

4)  Hegel  Mainz  S.  56,  59. 

*)  vgl.  Hegel  passim,  Bockenheimer  S.  32—34. 


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344 


hielt  er  bis  1349  seine  Mitwirkung  bei  der  Besetzung  des 
Schöffencollegs,  sowie  bei  der  der  Richterstellen.  *)  Desshalb  kann 
man  auch  nicht  sagen,1)  Mainz  habe  1244  Reichsunmittel- 
barkeit erworben;  kaiserliche  Privilegien  hatte  es  schon 
früher  erhalten*)  und  es  hörte  damals  nicht  auf,  jedem  Erz- 
bischof nach  seiner  Wahl  — wenn  auch  erst  nach  Bestätigung 
seiner  Privilegien  — den  Huldigungseid  zu  schwören.4)  Auch 
darauf,  dass  hier  Stadt  und  Erzbischof  wie  zwei  gleichberech- 
tigte Mächte  einen  Vertrag  schliessen,  darf  man  wohl  kein 
besonderes  Gewicht  legen.*)  Dies  war  z.  B.  auch  bei  der 
ersten  Wormser  Rachtung  der  Fall,  in  welcher  doch  dem  Stadt- 
herren sehr  weitgehende  Rechte  eingeräumt  wurden.*) 

Als  entscheidend  muss  aber  jedenfalls  angesehen  werden, 
dass  die  Mainzer  Bürgerschaft  seit  1244  in  dem  ohne  jede  Mit- 
wirkung des  Erzbischofs  besetzten  Rate  ein  festes  unbeein- 
flusstes Organ  für  ihre  Interessen  besass  und  dass  ebendiesem 
die  freie  und  ausschliessliche1)  Verfügung  über  die  städtische 
Finanz-  und  Heereskraft  zustand. 

*)  Hegel  S.  58  and  153,  Bockenheimer  S.  19.  Über  die  vier 
Richter  in  Mainz , welche  dort  ausser  dem  Kämmerer , Schultheis«  und 
Schöffen  zum  Stadtgericht  gehörten,  vgl.  Hegel  S.  56.  ln  wie  weit  der  Erz- 
bischof bei  der  Besetzung  des  Schöffencollegs  durch  Rücksichtnahme  auf 
Wünsche  und  Vorschläge  der  Schöffen,  bei  der  der  anderen  Beamtungen  auf 
solche  des  Rats  beschränkt  war,  scheint  nach  dem  dürftigen  Quellenmaterial 
nicht  mehr  festzustellen  möglich.  Beachtungswert  ist  aber  jedenfalls,  dass 
in  einem  Bestallungsbriefe  eines  Richters  der  Erzbischof  1401  sagt,  er  habe 
ihm  „nach  Rate  unser  Frunde  ( = nach  Vorschlag  des  städtischen  Rats)  und 
mit  rechtem  wissen“  das  .Richter- Amt  übertragen*  (Senckenberg  Meditationes 
ius  publicum  privatum  et  histor.  concernentes  t III  (Qissae  1740)  p.  541), 
vgl.  auch  die  Speierer  Verhältnisse  unten  S.  346. 

*)  wie  es  Bockenheimer  3.  17  thut.  Noch  weniger  hat  Main  zdamals 
.Reichsstandschaft*  erworben,  was  Bock.  a.  a.  0.  auch  behauptet.  Teilnahme 
an  den  Reichstagen  wurde  den  deutschen  Städten  ja  erst  später  zu  Teil,  vgl. 
Weizsäck er  Rheinischer  Bund  3.189— 198,  Brülcke  Entwickelung  d.  Reichs- 
tandsch.  der  Städte  (Hamb.  1881)  3.  3 ff.  und  oben  3.  320  N.  5. 

*)  Hegel  S.  139,  140. 

‘)  ibid.  3.  154,  155. 

*)  wie  es  Hegel  S.  46  thut. 

•)  vgl.  oben  8.  326. 

Dies  geht  aus  § 1 de«  Privilegs  von  1244  mit  Sicherheit  hervor: 
Ipsi  nunquam  servient  nobis,  exeundo  civitatem  cum  exercitu  et  armatii ; 
neque  aliqua  bona  nobis  conferent,  nisi  de  ipsorum  bona  fuerit  voluntate. 


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345 


Einen  ähnlichen  ganz  selbständig  gewählten  Bat,  wie  ihn 
Mainz  1244  erhalten,  besass  Speier,  wie  oben1)  gezeigt,  schon 
seit  1198.  Wohl  gerade  aus  diesem  Ornude  treten  hier  im 
13.  nnd  14.  Jahrhundert  die  Zwistigkeiten  zwischen  Stadt- 
herren und  Bürgerschaft  gegenüber  denjenigen  zwischen  Ge- 
schlechtern and  Zünften  sehr  wesentlich  zurück.*)  Die  Stadt 
hatte  hier  früh  die  meisten  Rechte  erlangt,  um  derentwillen  die 
Bürgerschaften  anderer  Städte  mit  ihren  Bischöfen  in  Conflict 
gerieten;  andererseits  sind  von  den  Speierer  Bischöfen  nur 
wenige  Versuche  gemacht  worden,  sich  wieder  grössere  Rechte 
Ober  die  Stadt  namentlich  anch  in  Bezug  auf  die  Ratsernen- 
nung zu  verschaffen.  Nur  als  ganz  vorübergehende  Episode  in 
der  Stadtgeschichte  erscheint  es,  dass  1258  in  Folge  von  Strei- 
tigkeiten innerhalb  des  Rats  dem  Bischof  freiwillig  das  Recht 
eingeränmt  wird,  ganz  selbständig  einen  Rat  von  18  Mitgliedern 
zu  ernennen  und  die  Interessen  des  Bistums  verletzende  Rats- 
herren abzusetzen.*)  Nicht  lange  darauf  erscheint  wieder  ein 
Rat  von  12  Mitgliedern,4)  der  die  Interessen  der  Stadt  auch 
gegen  den  Clerus  mannhaft  vertritt.6)  Die  Frage  der  Rats- 
ernennung kommt  auch  bei  einem  Streit,  welcher  1292  zwischen 
Stadt  und  Bistum  entstanden  war  und  1294  geschlichtet  wurde,*) 
gar  nicht  in  Betracht.  Vielmehr  handelte  es  sich  hier,  abge- 
sehen von  Streitigkeiten  über  die  Competenz  der  geistlichen 

Wenn  dennoch  Erzbischof  Wemher  von  Mainz  1265  ihm  in  der  Stadt  zu- 
stebendes  Ungeld  seinem  Domcapitel  verpfändet  (B-W  XXXVI  135,  Sencken- 
berg  p.  521  in  dem  N.  1 citierten  Werke  mit  falscher  Datierung),  so  kann  dies 
also  nnr  darauf  beruhen , dass  in  dieser  Beziehung  nach  1244  eine  vorüber- 
gehende Reaction  zu  dunsten  des  Erzbistums  eingetreten  war,  indem  die 
Stadt  ihm  die  Erhebung  des  Ungelds  zugestanden  hatte. 

')  3.  276—282. 

»)  vgl.  Arnold  II  S.  347,  348. 

*)  U 90.  An  der  Richtigkeit  des  Inhalts  dieser  Urkunde  zu  zweifeln, 
liegt  deshalb  kein  Grund  vor,  weil  sie  von  dem,  freiwillig  sein  Amt  nieder- 
legenden, Rate  selbst  ausgestellt  ist. 

4)  In  einer  im  Jahre  1265  entschieden  von  dem  ganzen  Rat  ausgestellten 
Urkunde  (U  109)  erscheinen  11  Ratsherren,  was  nur  bei  einer  normalen  Rats- 
zahl von  12,  nicht  von  18  Mitgliedern  erklärlich  ist. 

*)  vgl.  U 104— 107,  109  etc.,  Rau  3. 16,  17,  Arnold  II  348,  Barster 
in  Ztschr.  f.  G.  d.  Oberrh.  XXXVIII  S.  216. 

*)  U 184;  über  die  Dauer  des  Streites  vgL  U 183  3.  138  Z.  4:  iam 
fere  per  biennium  eodem  iudicio  privavit. 


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346 


Gerichte  vorzüglich  um  die  Ernennung  der  weltlichen  Gerichts- 
und Regalienbeamten  Vogt,  Schultheis«,  Münzer  und  Zollein- 
nehmer.  Dieselbe  stand  von  altersher  dem  Bischof  zu;  dass 
aber  dabei  dem  Rate  wohl  schon  lange  eine  bedeutende  Mit- 
wirkung eingeräumt  war,  lässt  sich  gerade  aus  einigen  Bestim- 
mungen dieser  Speierer  Rachtung  von  1294  schliessen.  Danach 
durfte  der  Bischof  nämlich  nur  diejenigen  zu  diesen  Beam- 
tungen ernennen,  welche  der  Rat  oder  die  Majorität  desselben 
Vorschlag,1)  übte  also  in  Wirklichkeit  nur  ein  formelles  Be- 
stätigungsrecht aus.  Ferner  sollten  auch  Ausschüsse  des  Rats 
die  Thätigkeit  dieser  Beamten  controllieren  und  eventuell  Geld- 
strafen über  sie  verhängen  dürfen.*)  So  bestand  denn  der 
ganze  Nutzen,  den  der  Bischof  noch  von  diesen  Ämtern  hatte, 
in  pecuniären  Vorteilen;  für  ihre  Verleihuug  liess  er  sich  näm- 
lich von  den  mit  diesen  Ämtern  Belehnten  Geld  geben,  wie 
er  denn  auch  in  diesem  Vertrage  von  Vermieten  (locare)  der 
Ämter  spricht.*) 

So  waren  um  die  Mitte  des  dreizehnten  Jahrhunderts  in 
allen  drei  Städten  dem  Organe  der  Bürgerschaft,  dem  Rate, 
die  wichtigsten  Herrschaftsrechte  zugefallen.  Nur  in  Worms 
übte  der  Bischof  überhaupt  noch  einigen  Einfluss  auf  die  Be- 
setzung dieser  Behörde  aus;  in  den  beiden  anderen  Städten 
war  der  Rat  vom  Bischof  ganz  unabhängig,  indem  er  sich  völlig 
selbständig  ergänzte.  In  allen  drei  Orten  stand  der  bürger- 

')  Item  quod  iudicia  et  officia  nostra  civitatis  Spirensis  ....  annuatim 
locare  et  concedere  debemus  secundum  dictum  et  sententiam  con- 
suium  Spirensinm  vel  maioria  partis  eorundem , quam  sno  proferent 
iuramento. 

*)  si  quis  eoram  excederet  in  aliquo  hoc  ad  instructionem  illorum.  qui 
eum  de  hoc  merito  instruere  tenentur,  debet  totalitär  reformare  et  inantea 
non  facere  quoqnomodo. 

*)  Dass  auch  noch  am  Ende  des  dreizehnten  Jahrhunderts  diese  Ämter 
in  erster  Linie  der  damit  verbundenen  Einnahmen  wegen  übernommen  wur- 
den (vgl.  oben  S.  64),  kann  daraus  geschlossen  werden , dass  die  mit  diesen 
Ämtern  Belehnten  an  Einnahmen  und  Ausgaben  andere  Personen  ganz  wie 
bei  einem  Handelsgeschäft  beteiligten.  Diese  Thatsache  selbst  geht  aus  einem 
Ratsbeschluss  von  1287  (U  169)  hervor.  Als  damals  n&mlich  festgesetzt 
wurde,  dass  kein  Ratsmitglied  diese  Beamtungen  mehr  bekleiden  sollte,  wurde 
zugleich  verordnet,  dass  keiner  derselben  vel  partem  aliquam  habest  vel 
communitatem  ad  usum  sunm  cedentem,  publice  vel  occnlte  in  aliquibus 
officiis  praedictis  vel  aliquo  eorumdem  officiorum  . . . 


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347 


liehen  Behörde  freie  Verfügung  über  Finanz-  und  Heereswesen, 
sowie  unbeschränktes  Verwaltungsrecht  zu;  auch  auf  die  dem 
ehemaligen  Stadtherren  gebliebene  Gerichtsbarkeit  hatte  diese 
Behörde  Einfluss  gewonnen.  Ferner  waren  auch  um  die  Mitte 
des  dreizehnten  Jahrhunderts  bereits  wenigstens  die  ersten 
Anfänge  zur  selbständigen  Ausbildung  städtischer  Territorien 
gelegt.  Wir  haben  schon  gesehen,  wie  1242  die  Wormser  die 
Vogtei  über  Nonnenmünster  durch  Kauf  erlangten  und  sich 
ihnen  ein  Jahr  vorher  die  Bewohner  des  nahe  der  Stadt  ge- 
legenen Dorfes  Osthofen  zu  Dienst  hatten  verpflichten  müssen.1) 
Es  verdient  übrigens  an  dieser  Stelle  hervorgehoben  zu  werden, 
dass  gerade  hiernach  die  ihre  Stadt  repräsentierenden  Bürger- 
behörden zunächst  nur  ein  eng  begrenztes  Gebiet  unter  sich 
hatten.  Kam  doch  die  Mainzer  Vorstadt  Vilzbach,  wie  früher*) 
gezeigt  worden  ist,  erst  1294  unter  das  Stadtregiment;  ebenso 
handelt  es  sich  auch  bei  den  erwähnten  Wormser  Erwerbungen 
nur  um  ganz  in  der  Nähe  von  Worms  gelegene  Orte.  So  war 
demnach  wenigstens  in  unseren  Städten  für  die  lokale  Aus- 
dehnung der  Ratsherrschaft  das  Gebiet  massgebend,  das  von 
den  Stadtmauern  umschlossen  wurde,  indem  nur  das  Markgebiet 
der  städtischen  Gemeinden  hinzukam.*)  Dem  entspricht  völlig, 
dass  später  die  beiden  Städte,  die  von  unseren  drei  mittel- 
rheinischen  ihre  Freiheit  bis  zum  Untergange  des  alten  deut- 
schen Reichs  zu  wahren  gewusst,  Worms  und  Speier,  wesent- 
lich kein  weiteres  Territorium  als  ihre  Stadtmark  besassen.4) 

’)  S.  oben  S.  339. 

')  8.  95. 

*)  Neben  den  früher  den  Specialgemeinden  gehörenden  Allmenden  moch- 
ten vereinzelt  auch  solche,  die  im  gemeinsamen  Eigentnme  derselben  und 
benachbarter  Dörfer  gestanden  hatten,  zur  Stadtallmende  (vgl.  oben  8.  306) 
and  dadurch  auch  zum  städtischen  Territorium  gezogen  worden  sein. 

4)  vgl.  Berghans  Deutschland  vor  100  .fahren  (Leipzig  1853)  Bd.  I S. 
363,  364,  Leo  Territorien  I (Halle  1865)  8.  647.  In  den  Mainzer  Stadt- 
rechnungen von  1410  nnd  1411,  von  denen  unten  ein  Auszug  als  Beilage  folgt, 
werden  auch  Steuern,  die  Mainz  in  Oppenheim  nnd  Gernsheim  erhob,  erwähnt. 
Oppenheim  war  1356  der  Stadt  Mainz  von  Karl  IV.  verpfändet,  indess  war 
diese  Pfandschaft  schon  1375  aufgehoben  worden,  vgl.  Boehmer-Huber, 
Regesten  Kaiser  Karls  IV.  (1877)  N.  2656,  6666,  6567,  Hegel  Mainz  8.  144, 
146,  147,  Franck  Gesch.  d.  Rchstdt.  Oppenheim  (Darmst.  1859)  3.  53,  60, 
61.  Wesshalb  die  beiden  genannten  Orte  an  Mainz  Abgaben  zahlten,  muss 
also  hier  dahingestellt  bleiben. 


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348 


Der  früher  besprochene  Versuch  der  Wonnser,  das  alte  Juris- 
dictionsgebiet ihrer  Schöffen  zur  Grundlage  ihres  Herrschafts- 
gebietes zu  machen,1)  muss  jedenfalls  als  völlig  gescheitert  an- 
gesehen werden. 

Weit  mehr  als  durch  die  Territorialbildung  haben  ja  auch 
unsere  Städte  durch  ihre  unmittelbare  Teilnahme  an  den  in- 
neren Kriegen  Einfluss  auf  die  politische  Entwickelung  Deutsch- 
lands geübt.  Da  in  diesen  Kämpfen  die  einzelnen  Glieder  des 
Reiches  eine  selbständige  Rolle  spielen  konnten,  haben  unsere 
mittelrheinischen  Städte  sich,  wie  wir  gesehen  haben,  schon 
seit  der  zweiten  Hälfte  des  elften  Jahrhunderts,  ihre  Partei- 
Stellung  nicht  mehr  von  ihren  Stadtherren  vorschreiben  lassen. 
Die  Anhänglichkeit  der  Bürgerschaften  an  das  Salische  und 
Staufische  Herrscherhaus,  daneben  auch  mitunter  das  Inter- 
esse an  der  Ausdehnung  ihrer  eigenen  Rechte  bestimmten  aus- 
schliesslich ihr  politisches  Verhalten.  So  hatten  daher  die 
mittelrheinischen  Städte  schon  im  II.,  12.  und  der  ersten  Hälfte 
des  13.  Jahrhunderts  einen  nicht  zu  unterschätzenden  Einfluss 
auf  den  allgemeinen  Gang  der  politischen  Entwickelung  geübt; 
dennoch  erreicht  alles  vorhergehende  nicht  das  Mass  jener  po- 
litischen Bedeutung,  welches  die  mittelrheinischen  Städte  im 
Jahre  1254  durch  die  Begründung  des  Rheinischen  Bundes 
ausgeübt  haben.  Welche  Bedeutung  Worms  und  Mainz  als 
Vororte  dieses  Bundes  gehabt,  braucht  hier  nicht  näher  er- 
örtert zu  werden ; ebenso  wenig  wie  die  allgemeine  Bedeutung 
dieses  Bundes  hier  noch  auseinandergesetzt  zu  werden  braucht. 
Ist  es  doch  erst  neuerdings  in  ausgezeichneter  Weise  ausge- 
führt worden,  wie  durch  den  Rheinischen  Bund  die  wichtigste 

')  Derselbe  Hess  sich  ans  einer  Bestimmung  des  von  den  Wormsern  an- 
gefertigten angeblichen  Kaiserprivilegs  von  1136  constatieren,  vgl.  oben  S.  266 
N.  2.  Da  zum  Speierer  Schultheissengebiete  ehemals  noch  die  Orte  Berg- 
hausen, Harthansen,  Dndenbofen  und  Walsheim  gebürten,  so  ist  auch  der 
Versuch  Speiera,  die  Herrschaft  über  dasselbe  zu  erlangen  (vgl.  oben  S.  184) 
als  gescheitert  anzusehen,  weil  ja  auch  Speier  später  ausser  der  Feldmark 
kein  Gebiet  hatte,  vgl.  Berghans  a.  a.  0.,  Leo  a.  a.  0.  Dagegen  ist  es  z.  B. 
Frankfurt  gelungen,  seinen  politischen  Einfluss  .durch  Ausnutzung  der  früheres 
Zugehörigkeit  der  Stadt  zur  fiscalischen  Hundertschaft  der  Umgegend  an  er- 
weitern.* 8.  Bücher  in  dem  oben  S.  32  N.  2 citirten  Werke  S.  474  ff., 
Lamprecht  im  Archiv  f.  sociale  Gesetzgeb.  u.  Statistik  (Tüb.  1888)  Bd.  I 
S.  321,  622. 


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349 


gesetzgeberische  Leistung  der  Hohenstaufenzeit,  der  Hainzer 
Landfriede,  in  die  folgende  Periode  hinübergerettet,  ein  bahn- 
brechendes Beispiel  für  das  spätere  Bündniswesen  zum  Zwecke 
der  Landfriedensbewahrung  geschaffen  und  endlich  die  Reichs- 
standschaft der  Städte  angebahnt  ist.1) 


Capitel  X. 

Ergebnisse. 

Es  kann  wohl  angebracht  erscheinen,  jetzt,  nachdem  die 
Verfassungsentwickelung  von  Worms,  Speier  und  Mainz  bis 
znr  Zeit  des  Rheinischen  Bundes  untersucht  ist,  die  für  die 
allgemeinen  Fragen  des  Ursprunges  der  Stadtverfassung  in  Be- 
tracht kommenden  Ergebnisse  zusammenzustellen.  Eine  solche 
Zusammenstellung  wird  wohl  auch  durch  den  Umstand  als  ge- 
nügend gerechtfertigt  erscheinen,  dass  gerade  durch  die  vor- 
liegende Specialuntersuchung  sich  herausgestellt  hat , dass 
Worms,  Speier  und  Mainz  bei  Erforschung  des  Ursprungs  der 
städtischen  Verfassungen  in  Deutschland  zu  den  hauptsächlich 
zu  berücksichtigenden  Orten  zu  rechnen  sind.  Es  hat  sich  ja 
gezeigt,  dass  unsere  drei  mittelrheinischen  Städte  entschieden 
mit  zu  den  ersten  in  Deutschland  gehören,  in  denen  wir  spe- 
cifisch  städtisches  Wirthschaftsleben,  specifisch  städtische  Rechte- 
bildung und  specifisch  städtische  Behörden  finden;  gerade  an 
unseren  Orten  sehen  wir  diese  städtischen  Behörden  schon 
im  11.  und  12.  Jahrhundert  über  Finanz-  und  Wehrkraft  der  Bür- 
ger entscheiden.  Ferner  spielen  auch  die  drei  mittelrheinischen 
Städte  früher  als  die  meisten  anderen  eine  selbständige  und  zwar 
sehr  einflussreiche  politische  Rolle.  Endlich  ist  hervorzuheben, 
dass  gerade  in  Worms,  Speier  und  Mainz  — auch  bei  genauester 
Prüfung  des  für  sie  erhaltenen  Quellenmaterials  — in  der  Zeit 

l)  vgl.  Weizsäcker,  Der  Rheinische  Bund  insbes.  S.  160 ff.,  8.  189  ff., 
Quid  de,  Studien  s.  G.  d.  Rheinischen  Landfriedensbundes  von  1254,  insbes. 
S.  60  ff. 


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350 


der  Ausbildung  einer  selbständigen  Stadtverfassung  nirgends 
eine  Spur  der  Herübernahme  von  Verfassungs-  und  Rechtsin- 
stitutionen  anderer  deutscher  Städte  entgegentritt.  Deun,  dass 
in  der  zweiten  Hälfte  des  15.  Jahrhunderts,  wohl  in  Anleh- 
nung an  anderen  Orts  herrschende  Verhältnisse, 
Worms  und  Speier  sich  bei  Processen,  in  denen  die  Stadt  selbst 
Partei  war,  durch  einen  Heimburgen  vertreten  Hessen,1)  ge- 
hört schon  einer  so  späten  Zeit  an,  dass  cs  kaum  noch  als  ge- 
ringfügige Ausnahme  von  der  durchaus  originären  Herkunft  der 
Verfassungsinstitutionen  unserer  Städte  betrachtet  zu  werden 
braucht.  Nur  desshalb  verdiente  es  ja  überhaupt  Erwähnung, 
damit  man  nicht  länger  diese  vereinzelte  Erscheinung  mit  der, 
im  übrigen  ganz  selbständigen,  Entwickelung  des  alten  (und 
eigentlichen)  Heimburgenamtes  in  unseren  Städten  in  Verbin- 
dung bringt. 

Wie  in  der  Einleitung  hervorgehoben  ist,  scheint  mir  die 
in  der  letzten  zusammenfassenden  Erörterung  des  Problems 
des  Ursprungs  der  Stadtverfassung,  in  der  öierke’schen ,*) 
formulierte  Fragstellung  den  richtigen  Weg  zur  Lösung  des- 
selben zu  zeigen;  es  gilt  nämlich,  die  bisher  einseitig  von  den 
verschiedenen  Forschern  betonten  Momente  „in  die  richtige 
Stellung  zur  Gesammtentwickelung“  8)  zu  bringen.  Unter  diesen 
Momenten  lassen  sich  noch  die  Verfassuugsinstitutionen,  an 
welche  sich  die  ersten  specifisch  städtischen  Einrichtungen  an- 
lehnten, und  die  Ursachen,  aus  denen  es  zur  Ausbildung  städti- 
scher Verfassungen  gekommen  ist,  unterscheiden. 

Was  die  Anlehnung  an  frühere  Verfassungsinstitntionen 
betrifft,  so  sind  von  der  älteren  Forschung  bekanntlich  sowohl 
die  des  römischen  als  die  des  deutschen  Rechtes  zur  Erklärung 
unseres  Problems  herangezogen  worden.  Da  jetzt  aber  die 
Annahme  der  Entstehung  der  deutschen  Stadtverfassung  aus 
der  römischen  allgemein  aufgegeben  ist,  so  braucht  kaum  noch 
besonders  bemerkt  zu  werden,  dass  in  Verfassung  und  Rechts- 
leben unserer  drei  Städte  Fortbestand  römischer  Einrichtungen 
nicht  zu  finden  ist.  Freilich  darf  dennoch  der  Umstand  vou 


')  8.  oben  S.  123,  124,  131  N.  1. 
*)  I S.  2öO  ff.,  (I  S.  588  ff. 

•)  Gierke  II  S.  589. 


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361 


der  Forschung  nicht  vernachlässigt  werden,  dass  die  rein  wirt- 
schaftliche Bedeutung  der  Städte  schwerlich  nach  der  Völker- 
wanderung erst  wieder  ganz  neu  begründet  wurde.  Ihre  Um- 
mauerung,  ihre  Eigenschaft  als  Bischofssitze  und  die  Überreste 
des  einst  blühenden  Verkehrs-  und  industriellen  Lebens,  sowie 
eben  dadurch  die  Keime  ihrer  späteren  Blüte  haben  unsere 
Städte,  insbesondere  Worms  und  Mainz,  entschieden  aus  dem 
Altertum  in  das  Mittelalter  hinübergerettet.1)  Ferner  ist  we- 
nigstens in  einer,  allerdings  ziemlich  nebensächlichen,  Hinsicht 
eine  Einwirkung  der  Kenntnis,  die  man  im  Mittelalter  vom 
klassischem  Altertum  besass,  auf  die  städtische  Entwicke- 
lung am  Mittelrhein  ganz  unbestreitbar.  Es  ist  die  Bezeichnung 
der  Ratsmitglieder  als  consules,  welche  in  jeder  unserer  drei 
Städte  in  der  ersten  Hälfte  des  dreizehnten  Jahrhunderts  an 
die  Stelle  früher  gebrauchter  anderer  Namen  tritt.*)  Nachdem 
die  Italiener  in  bewusster  Nachahmung  der  Antike  ihre  Stadt- 
vorstände als  consules  bezeichnet  hatten,  ist  dieser  Titel  auch 
auf  die  deutschen  Bürgeibehörden  übertragen  worden.  Ob  auch 
schon  in  dom  früher  bezeugten  Namen  consiliarii  Anlehnung  an 
fremde  Vorbilder  oder  nur  eine  Übersetzung  des  für  die  Schöffen 
schon  in  früher  Zeit  bezeugten  Namens  „ Ratgeben  “ zu  finden 
ist,  musste  dahingestellt  bleiben. 8) 

Gehen  wir  nun  zu  den  Instituten  des  deutschen  Rechts 
über!  In  der  vorliegenden  Einzeluntersuchung  wird  man  an 
vielen  Stellen  eine  Bestätigung  der  Ansicht  Gierkes4)  ge- 
funden haben,  dass  keinesfalls  irgend  ein  einzelnes  deutsch- 
rechtliches Iustitut  als  die  eigentliche  Ursache  der  Ausbildung 
freier  Stadtverfassungen  bezeichnet  werden  kann ; zugleich  wird 
es  auch  schon  klar  geworden  sein,  aus  welchen  älteren 
Rechtseinrichtungen  speciell  am  Mittelrhein  unter  den  po- 
litischen und  wirtschaftlichen  Verhältnissen,  welche  die  städti- 
sche Autonomie  hervorriefen,  die  specifiscb  städtischen  Verfas- 
sungsformen erwachsen  sind. 

Vor  allem  hat  sich  herausgestellt,  dass  mit  Recht  vqn 
Arnold,  Heusler  und  Gierke  vorzüglich  die  Mitwirkung 

l)  vgl.  oben  S.  2 — 6. 

*)  3.  3.  296  mit  N.  1. 

*)  oben  3.  299,  300. 

*)  vgl.  die  3.  350  N.  2 gegebenen  Citate. 


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352 


weiterer  Kreise  bei  der  Rechtssprechung  herangezogen  ist;  hat 
sich  doch  ebendiese,  die  Urteilsfindung  seitens  der  Schöffen 
und  die  Urteilsbekräftigung  seitens  der  als  Oerichtsumstand 
versammelten  Gemeinde,  allein  von  der,  in  der  Urzeit  üblichen, 
Beteiligung  der  breiten  Masse  der  Gemeinfreien  bei  allen  Fragen 
des  Staatslebens  das  ganze  Mittelalter  hindurch  erhalten.  In- 
sofern sind  in  der  That  „ Stadtverfassung  und  Bürgertum“  als 
„Verjüngung  der  fränkischen  Hundertschaftsverfassung“  ’)  und 
der  freien  Volksgerichtsgenossenschaften  zu  bezeichnen.  Nur 
geschah  diese  Entwickelung  nicht  in  der  Art,  dass  „die  Bür- 
gerschaft das  städtische  Gemeinwesen  als  eine  durch  die  Im- 
munität nach  aussen  hin  abgeschlossene  und  durch  das  Schöffen- 
tum  und  die  echten  Dinge  organisierte  Gerichtsgemeinde  in  die 
Hand“  nahm.*)  Demgegenüber  lässt  sich  vielmehr,  wie  gezeigt 
ist,  für  Worms,  Mainz  und  Speier  mit  Sicherheit  nachweisen, 
dass  das  Stadtgebiet  weder  mit  dem  Jurisdictionsbezirke  des 
Burggrafen  noch  mit  dem  des  Schultheissen  identisch  ist;*) 
ebensowenig  fällt  es  auch  mit  dem  Immunitätsgebiet  des  geist- 
lichen Stadtherren  zusammen.  Vielmehr  entwickelt  sich  das 
eigentliche  Stadtgebiet  aus  einer  Anzahl  von  Heimschaften, 
welche  unter  dem  in  der  Stadt  residierenden,  aus  Stadtbürgem 
bestehenden  und  die  Interessen  der  städtischen  Bürgerschaft 
vertretenden  Schöffencolleg  zu  einer  zunächst  communalen,  dann 
auch  politischen  Einheit  zusammenwuchsen ; später  wird  mit- 
unter noch  zu  dem  ursprünglichen  ein  weiteres  Gebiet  durch 
Kauf  und  Eroberung  erworben.4) 

Völlig  zutreffend  ist  demnach  für  unsere  Städte  die  Ab- 
leitung des  Rats  aus  dem  Schöffencolleg;  dasselbe  hat  einfach 
zu  seinen  ursprünglichen  noch  eine  Reihe  anderer  Befugnisse 
hinzuerworben  und  hat  zunächst  als  neben  anderen  vorkom- 
menden, zuletzt  als  ausschliesslichen  Namen  die  Bezeichnung 
„Rat“  erhalten.  Dagegen  darf  die  Erringung  der  Stadtfrei- 
heit durchaus  nicht  einer  städtischen,  aus  Altfreien  bestehenden. 
Gerichtsgemeinde  zugeschrieben  werden ; nicht  die  Gemeinde 
der  Altfreien,  sondern  die,  sich  unabhängig  von 

')  So  Henaler  Ursprung  S.  VIII,  vgl.  oben  S.  26,  27. 

*)  So  Gierke  II  S.  690. 

*)  vgl.  oben  S.  347,  343. 

‘)  •.  8.  95  N.  1,  2,  339  N.  3,  6,  347  N.  4. 


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353 


der  alten  ständischen  Gliederung  entwickelnde  Classe 
der  Kaufleute  erringt  die  städtische  Freiheit. 

Zu  änderen  Ergebnissen,  als  es  bei  der  Zurückführung 
der  Stadtverfassung  auf  die  Institutionen  des  alten  Volksrechtes 
der  Fall  ist,  kommen  wir  bei  einer  Betrachtung  der  Wirkungen 
von  Hofrecht  und  Hofverfassung.1)  Dass  einige  hofrechtliche 
Beamtungen  wie  die  des  Kämmerers , Münzers  und  Zollein- 
nehmers zur  Zeit  der  Ausbildung  der  städtischen  Verfassung 
in  kaufmännische  Hände  übergingen  und  allmählich  mehr  im 
Sinne  der  Bürgerschaft , als  in  dem  des  Stadtherren  geführt 
wurden,8)  wird  kaum  unter  die  Wirkungen  des  Hofrechtes  ge- 
rechnet werden  können.  Hingegen  kann  als  auch  für  den  Ursprung 
der  Stadtverfassungen  höchst  bedeutsames  Moment  die  von 
Heusler5)  hervorgehobene  Thatsache  angeführt  werden,  dass 
gerade  durch  die  Ausbildung  des  Hofrechts  Deutschland  davor  be- 
wahrt wurde,  dass  „aus  den  Grundherrschaften  grosse  Lati- 
fundien wie  in  Rom  erwuchsen,  die  im  besten  Falle  mit  einem 
besitzlosen  Proletariat,  im  wahrscheinlicheren  aber  mit  einem 
unermesslichen  Sklavenbestande  bevölkert  gewesen  wären.“ 
Gerade  durch  das  Hofrecht,  speciell  auch  durch  das  Streben 
der  Bischöfe,  alle  ihre  Leute  der  echten  Ehe,  der  Eigentums- 
rechte und,  von  den  servientes  abgesehen,  der  ordentlichen  Ge- 
richtsbarkeit teilhaft  werden  zu  lassen,  wurden  die  Dagowarden, 
die  Nachkommen  der  früher  völlig  Unfreien,  in  so  günstige 
Lage  versetzt,  dass  sie  allmählich  mit  der  höher  stehenden  Be- 
völkerung verschmelzen  konnten.4)  Ebenso  ist  es  für  die  Ver- 
schmelzung der  Vogteileute  und  Unfreien  mit  den  persönlich 
völlig  frei  gebliebenen  von  Wichtigkeit,  dass  frühzeitig  die 
Gerichtsbeamtungen  für  die  bischöfliche  familia  und  für  die 
ausserhalb  derselben  stehenden  Personen  in  ein  und  dieselbe 
Hand  kamen.  Es  ist  oben6)  nachgewiesen,  dass  unter  der 
Bischofsherrschaft  Vogt  und  Burggraf  identisch  wurden,  ebenso 
auch,  dass  dasselbe  mit  dem  Wormser  Vitztum  sowie  dem 
grundherrlichen  Schultheissen  in  den  beiden  anderen  Städten 

‘)  Diese  Ansicht  ist  bekanntlich  von  Nitisch  vertreten,  vgl.  oben  S.  27. 
*)  vgl.  oben  S.  63 — 66. 

*)  Instit.  I 8.  41. 

*)  vgL  oben  8.  38 — 40. 

*)  s.  Cap.  VI. 

Koehne,  Ursprung  der  Stadtverfassung  ln  Worms,  Speier  und  Mainz.  » 


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354 


einerseits  und  dem  alten  fränkischen  Centenar  (tribunus,  cen- 
turio)  andererseits  eintrat.  Dadurch  erhielt  auch  das,  unter 
dem  Vorsitze  der  volksrechtlichen  Beamten  tagende,  Schöffen- 
colleg  die  Jurisdiction  über  die  bischöfliche  familia,  soweit 
nicht  einzelne  Classen  derselben  ihr  in  einzelnen  Fällen  aus 
besonderen  Gründen  entzogen  waren;  wenigstens  principiell 
stand  seitdem  die  ganze  Stadt  unter  demselben  Gericht.1)  Die 
durch  diese  Umstände  geförderte  Verschmelzung  der  freien, 
hörigen  und  unfreien  Bevölkerung  wirkte  natürlich  ausser- 
ordentlich günstig  auf  das  Zusammenhalten  aller  Stadtein- 
wohner. 

Insofern,  aber  auch  nur  insofern  ist  ein  Einfluss  des  Hof- 
rechtes und  „eine  Verwertung  brauchbarer  Elemente  der  Hof- 
verfassung seitens  der  Bürgerschaft“  *)  in  Bezug  auf  die  Aus- 
bildung der  Stadtverfassung  anzuerkennen.  Allenfalls  könnte 
man  auch  noch  daran  denken , dass  speciell  in  Mainz  die 
Schöffen  vor  der  Erlangung  der  städtischen  Autonomie  als  erzbi- 
schöfliche Officialerf  die  Stadt  verwalteten.*)  Es  mag  allerdings 
das  in  dieser  Bezeichnung  liegende  Abhängigkeitsverhältnis 
hier  die  Befugnisse  der  Schöffen  in  manchen  Beziehungen  vor- 
übergehend vermehrt  haben,  während  in  den  übrigen  Städten 
dieselbe  Erweiterung  der  Schöffenrechte  stattfand,  ohne  dass 
sich  die  Abhängigkeit  dieses  Collegs  vom  Bischof  auch  im  Na- 
men kundgegeben  hätte. 

Wenn  schon  Heus ler4)  und  Gierke4)  die,  neuerdings 
durch  von  Below6)  wieder  aufgenommene,  Theorie  von 
Maurer’ s,  der  die  Stadtverfassung  aus  der  Mark  Verfassung 
ableitet,  bekämpften,  so  kann  die  Einzelforschung  die  Ableh- 
nung dieser  Ansicht  wenigstens  für  unsere  Städte  nur  bekräf- 
tigen. In  jeder  derselben  bestehen  in  älterer  Zeit  mehrere 
Markgenossenschaften;  durch  Zusammentritt  der  Vorsteher  dieser 


*)  vgl.  oben  S.  196  N.  5 und  Anhang  IV. 

')  So  Gierke  II  S.  589. 

•)  S.  oben  3.  291  ff. 

*)  Ursprung  S.  245—48. 

•)  II  S.  589. 

*)  Über  das  Verhältnis  der  Ergebnisse  der  vorliegenden  Eineeiforschung 
tu  von  Below's  Theorie,  vgl.  noch  besonders  oben  S.  296  und  Anhang  I- 


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356 


Specialgemeinden , der  Heimburgen,1)  ist  der  städtische  Rat 
keinesfalls  entstanden.  Eine  Verfügungsgewalt  der  Stadt- 
behörde über  die  Allmende  tritt  auch  erst  zu  einer  Zeit  hervor, 
als  diese,  ja  aus  dem  Schöffencolleg  erwachsene,  Behörde  schon 
anderthalb  Jahrhunderte  als  Vertreterin  der  städtischen  Bürger- 
schaft fungiert  hatte.*)  Dagegen  ist  zuzugeben,  dass  der  Stand 
der  Kaufleute  und  Handwerker  zunächst  in  der  Verwaltung 
einzelner  Specialgemeinden  eine  ausschlaggebende  Stellung  er- 
langt haben  wird.*)  Die  Gemeindeverwaltung  hat  also 
dazu  beigetragen,  diesen  Stand  an  die  Ordnung  commu- 
naler  Angelegenheiten  in  seinem  Sinne  zu  gewöhnen  und 
seinen  Einfluss  innerhalb  der  einzelnen  Städte  zu  verstärken. 

In  dieser  Hinsicht  wird  man  den  Specialgemeinden  um  so 
mehr  Bedeutung  zuschreiben  können,  als  sie  ja,  wie  gezeigt  ist, 
auch  der  Parochialeinteilung  zu  Grunde  lagen1)  und  in  einzel- 
nen Kirchspielen  dem  Laienelement  eine  weitgehende  Teilnahme 
an  der  Verwaltung  des  Kirchen  Vermögens  zustand.6)  Ausser- 
dem erlangten  die  Vorsteher  der  Specialgemeinden  wenigstens 
in  Worms  und  Mainz  und  wahrscheinlich  auch  in  Speier  als 
Sendzeugen  Einfluss  in  der  geistlichen  Gerichtsbarkeit;8)  eben- 
diese diente  aber  auch  dazu,  die  Macht  des  Schöffencollegs  in 
Worms  und  Mainz  zu  verstärken,  indem  diesem  die  Urteils- 
findung im  Sende  übertragen  wurde.7) 

Wie  diese  Kirchspielsverwaltung  hat  auch  die  selbständige 
Rechtssprechung  und  Marktordnungj  enerKaufmannsgenossen- 
schaften  am  Mittelrhein,  welche  daselbst  wahrscheinlich  eine 
der  norddeutschen  Gilde  entsprechende  Rolle  gespielt  haben,8)  einen 
nicht  zu  unterschätzenden  Einfluss  auf  die  steigende  Bedeutung 
des  Kaufmannstandes  geübt,  ohne  dass  man  desshalb  irgendwie 
die  Vorstände  dieser  Genossenschaften  ohne  weiteres  mit  dem 
Rate  in  Verbindung  bringen  dürfte.  Während  die  Kaufmanns- 


')  wie  Maurer  I S.  204,  206  für  Worms  annimmt, 

•)  vgl.  oben  8.  305  ff. 

*)  vgl.  oben  be*.  S.  103,  133,  138. 

4)  vgl.  S.  93-97,  104—109,  132,  133,  137. 

•)  s.  oben  S.  90,  98,  109,  110,  133. 

•)  vgl.  S.  102,  116-117,  131,  132. 

*)  8.  oben  8.  176—178,  194,  196. 

•)  Vgl.  oben  8.  53—60. 

M* 


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356 


genossenschaften  alle,  die  ihre  Waaren  auf  dem  Markte  zum 
Verkauf  stellten,  umfassten  und  scharfe  Gegensätze  zwischen 
Reichen  und  Armen  innerhalb  der  Handel  und  Gewerbe  trei- 
benden Bevölkerung  zur  Zeit  der  Ausbildung  der  Stadtver- 
fassung noch  nicht  erkennbar  sind,  wurden  später  die  Ausläufer 
dieser  Kaufmannsgenosseuschaften  zu  Organen  einer  sich  social 
abschliessenden  Geldaristokratie.  *) 

Endlich  kann  man  auch  nicht  sagen,  dass  in  unseren  Orten 
der  städtischeRatausdem  Territorialrate  des  Bischofs  entstan- 
den sei.’)  Damit  steht  nicht  in  Widersprach,  dass  die  Zuziehung 
von  Schöffen  oder  Mitgliedern  der  Kaufmannsgenossenschaft  zum 
Territorialrat  deu  Einfluss  der  Handelskreise  gestärkt  haben 
mag,®)  und  dass  nach  der  Entstehung  des  städtischen  Rates 
die  Einwilligung  desselben  auch  zu  nicht  speciell  die  Stadt  be- 
treffenden4) bischöflichen  Regierungshandlungen  eingeholt  wurde. 
Wenn  der  Rat  auch  so  gewissermassen  an  die  Stelle  der  oft 
unter  Consentienten  und  Zeugen  bischöflicher  Urkunden  ge- 
nannten Schöffen  tritt,  so  folgt  daraus  doch  noch  nicht,  dass  er 
aus  einer  Abteilung  des  Territorialrats  herrührt. 

Vielmehr  hat  man  sich  die  Entstehung  des  Rates 
in  unseren  Städten  entschieden  so  zu  denken,  dass 
das  Schöffencolleg  im  Laufe  der  Zeit  eine 
Reihe  wichtiger  Befugnisse  zu  seinen  ursprünglichen 
jurisdictionellen  h i n zu  er  war  b .*)  Formell  blieb  dies 
Schöffencolleg  vom  Bischof  abhängig,  thatsächlich  wurde  es  im 
Laufe  der  Zeit  immer  selbständiger.  Je  mehr  die  Politik  der 
geistlichen  Stadtherren  und  der  Bürgerschaft  auseinanderging, 
desto  freier  wurde  das  Schöffencolleg  in  der  Verwaltung  der 
Stadt  und  der  Vertretung  derselben  nach  aussen.  Es  ist  ge- 
wiss nicht  der  wichtigste  Punkt  in  dieser  Entwicklung,  dass 
unter  die  verschiedenen  Bezeichnungen  dieser  die  Bürgerschaft 
richtenden,  verwaltenden  und  repräsentierenden  Behörde  im 
dreizehnten  Jahrhundert  der  Name  consules  trat  und  dann  bald 
zum  alleinigen  Titel  dieser  Behörde  wurde.*) 

>)  Vgl.  oben  S.  61—69. 

J)  wie  Arnold  I S.  171  ff.,  Nitzach  Minist.  3.  300 — 318  meinen. 

•)  Tgl.  oben  S.  72. 

‘)  vgl.  oben.  S.  73,  S.  276. 

*)  8.  oben  S.  263  ff. 

*)  Tgl.  für  alles  dies  Cap.  VIII. 


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357 


Es  erübrigt  noch,  die  Ursachen  etwas  näher  zu  erörtern, 
aus  denen  es  dazu  gekommen  ist,  dass  das  Schöffencolleg  als 
Organ  der  städtischen  Bürgerschaft  ein  so  hohes  Mass  von 
Selbständigkeit  und  Regierungsrechten  e'rlangte,  dass  unsere 
Städte  am  Ende  der  von  uns  betrachteten  Zeit  als  fast 
ganz  selbständige  politische  Gewalten  angesehen  werden  können. 

Wie  schon  in  dieser  Übersicht l)  angedeutet  ist.  kann  unter 
den  politischen  Ereignissen  den  sogenannten  Ottonischen  Pri- 
vilegien nicht  die  Wirkung  zugeschrieben  werden,  dass  durch 
sie  die  Stadt  jurisdictioneil  aus  dem  Gau  ausgeschieden  sei 
Allerdings  haben  diese  Privilegien  mittelbar  zur  Verschmelzung 
der  alten  Geburtsstände  in  unseren  Städten  beigetragen.*)  Auf 
die  Ausbildung  freier  Verfassungsformen  haben  sie  aber,  davon 
abgesehen,  höchstens  noch  dadurch  ganz  indirekt  gewirkt,  dass 
sie  die  in  den  Städten  begüterten  mächtigen  Adelsgeschlechter 
aus  ihnen  entfernten  und  so  die  Kämpfe  zwischen  geistlicher 
und  weltlicher  Aristokratie  innerhalb  der  Stadtmauern  zum 
grössten  Teil  beseitigten.*) 

Viel  höher  anzuschlagen  für  die  Machterweiterung  der 
Bürgerschaft  in  unseren  Städten  ist  jedenfalls*  der  Einfluss  der 
zahlreichen  inneren  Kriege  in  Deutschland;  besonders  kommen 
dabei,  wie  aus  den  früheren  Ausführungen  folgt,  diejenigen  der 
Zeit  Heinrichs  IV.  und  V.,  die  Kämpfe  der  Gegenkönige  Phi- 
lipps von  Schwaben  und  Ottos  IV,  sowie  endlich  die  sich  in 
den  letzten  Jahren  Friedrichs  II.  und  während  des  Inter- 
regnums abspielenden  in  Betracht.  Die  bis  dahin  herrschenden 
Mächte,  Königtum  und  Fürstentum,  wären  vereint  stark  genug 
gewesen,  die  Erringung  politischer  Rechte  seitens  der  Städte 
zu  verhindern.  In  den  erwähnten  Epochen  sehen  wir  aber 
Kaiser  und  Stadtherren  kein  Bedenken  tragen,  den  Bürgern 
politische  Rechte  zu  gewähren , um  sie  so  auf  ihre  Seite  zu 
ziehen.  Nicht  nur  auf  Kosten  ihrer  Gegner,  sondern  selbst 
durch  eigene  Concessionen  haben  sie  in  ihren  Kämpfen  die 
städtische  Macht  erweitert.4) 

*)  S.  362. 

*)  Sie  hatten  ja  die  Unterordnung  aller  Stadtbewohner  unter  dasselbe 
Gericht  wenigstens  indirekt  sur  Folge,  vgl.  oben  S.  353,  354. 

*)  vgl.  oben  S.  141  ff.,  S.  147  ff,  S.  160. 

*)  vgl.  oben  S.  222  ff,  229,  236,  236,  276,  276  ff,  332,  342  ff. 


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358 


Dass  nun  unsere  Städte  in  der  Politik  solchen  Einfluss  ge- 
winnen konnten,  dass  die  mit  einander  streitenden  Parteien  be- 
deutende Opfer  brachten,  um  sie  für  sich  zu  gewinnen,  lag 
ausser  an  dem  Capitalreichtum  und  der  Wehrhaftigkeit  der 
Städter  vor  allem  an  dem,  die  Bürger  jeder  Stadt  unter  sich 
verbindenden,  Gemeingefühl.  Hierbei  kommen  dann  das  schon 
erwähnte  Verschwinden  der  alten  Unterschiede  zwischen  Freien, 
Hörigen  und  Unfreien  und  die  Entstehung  des,  bald  in  den 
Städten  Ausschlag  gebenden,  Standes  der  mercatores  in  Betracht. 
Besonders  gefördert  wurde  die  Einigkeit  dieser  massgebenden 
Kreise  der  Städter  durch  den  gemeinsamen  Gegensatz  ihrer 
Rechtsanschauungen  zu  denjenigen  ihrer  Stadtherren,  die  den 
Kreisen  des  Landadels  entstammten  und  in  kanonischen  Lehren 
erzogen  waren.  Diese  Thatsache  musste  zu  um  so  schärferen 
Conflikten  führen,  als  es  meist  an,  auf  gegenseitigen  Concessi- 
onen  beruhenden,  schriftlichen  Rechtsfestsetzungen  fehlte  and 
die  Geistlichen  ebenso  ihr  kanonisches  Recht  und  ihr  durch 
dasselbe  beeinflusstes  Rechtsgefühl,  wie  andererseits  die  Bür- 
ger das  ihren  Rechtsanschauungen  entsprechende  städtische 
Gewohnheitsrecht  als  die  von  Rechts  wegen  einzig  und  allein 
entscheidende  Norm  betrachteten.  Im  einzelnen  konnten  Unter- 
schiede der  Rechtsanschauungen  bezüglich  des  Eherechts,1)  der 
väterlichen  Gewalt,4)  des  Erbrechts,*)  des  Immobiliarrechts,4) 
des  Processrechts5)  und  Strafrechts*)  nachgewiesen  werden; 
vielfach  machte  sich  dabei  auch  ein  scharfer  Gegensatz  gegen 
das  aus  fiskalischen  Rücksichten  zu  erklärende  Festhalten 
des  Stadtherren  an  den  alten  landrechtlichen  Bestimmungen 
bemerklich.7)  Ebenso  tritt,  soweit  nicht  einzelne  Stadt- 
herren wie  besonders  die  Mainzer  Erzbischöfe  Adalbert  I.  und 
Sigfrid  III.  den  Städtern  freiwillig  Rechte  ihrer  Kirche  opfern, 
auch  ein  scharfer  politischer  Gegensatz  zwischen  Bürgern  und 
Stadtherren  hervor.  Die  auf  Machterweiterung  der  geist- 


*)  i.  oben  S.  304. 

*)  ibid. 

•)  b.  oben  S.  224,  226,  261,  262. 

‘)  S.  22,  23,  226,  226. 

•)  S.  17—19,  226. 

•)  S.  20-22,  S.  269  N.  3,  S.  303,  304. 

')  Vgl.  oben  S.  223-226,  269  N.  3,  303,  304, 


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359 


liehen  Gewalt  und  des  territorialen  Fürstentums  gerichteten 
Bestrebungen  der  Stadtherren  standen  eben  zu  den  Gefühlen 
und  den  Interessen  der  Bürger  in  unvereinbarem  Wider- 
spruch.1) 

So  müssen  denn  als  die  letzten  entscheidenden 
Gründe  für  die  Ausbildung  freier  Stadtverfassungen 
die  finanzielle  und  militärische  Kraft  der  Städte  und 
die  von  denen  des  Adels  und  der  Geistlichkeit  durchaus 
abweichenden  Rechtsanschau  ungen  und  Inte- 
ressen der  in  der  Bürgerschaft  massgebenden  kauf- 
männischen Kreise  betrachtet  werden. 


■)  vgl.  oben  S.  205  ff,  208  ff,  218  ff,  234,  239—243,  329  ff 


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Anhänge. 


Anhang  I. 

Die  Arbeiten  von  Below’s  zur  Geschichte  der  Deut* 
sehen  Stadtverfassung. 

Man  wird  bemerkt  haben,  dass  die  vorliegende  Arbeit 
danach  strebte,  nicht  nur  die  Ergebnisse  ihrer  Einzelunter- 
suchnng  denjenigen-  abweichenden  Behauptungen  gegenüber  zu 
rechtfertigen,  welche  speciell  die  hier  behandelten  Städte  be- 
treffen, sondern  auch  die  Resultate  möglichst  zu  berücksichtigen, 
welche  die  Forschung  für  die  Entwickelung  des  deutschen 
Städtetums  im  allgemeinen  gefunden  hat  oder  gefunden  zu 
haben  meint.  Für  eine  Einzeluntersuchung,  welche  für  die 
Gesammtforschung  erspriesslich,  sein  will,  ist  es  ja  gewiss  rat- 
sam, von  dem,  was  im  allgemeinen  sicher  festgestellt  ist  oder 
dafür  gilt,  nicht  ohne  hinreichende  Begründung  abzuweichen; 
daneben  hat  sie  aber  auch  die  Aufgabe,  ihrerseits  auf  Wider- 
sprüche allgemeiner  Theorien  mit  den  wirklichen  Verhältnissen 
hinzuweisen,  welch’  letztere  ja  gerade  bei  der  Specialforschung 
am  deutlichsten  hervortreten. 

Daher  mag  es  nun  in  gewisser  Weise  auffallend  erscheinen, 
dass  die  letzten  Arbeiten,  die  sich  die  Aufgabe  gestellt,  das 
Problem  des  Ursprungs  der  Stadtverfassung  zu  lösen,  die  Auf- 
sätze von  Below’s1),  nur  an  sehr  wenigen  Stellen  dieser  Un- 

*)  Gemeint  sind  die  beiden  in  von  Sybel’s  Histor.  Ztachrft.  Bd.  58 
(1887)  S.  193 — 244  und  Bd.  59  (1888)  S.  194 — 247  veröffentlichten  Aufsätse 
von  Below’s:  „Zur  Entstehung  der  Deutschen  Stadtverfassung“  und  die 
als  selbständige  Publication  erschienene  Abhandlung  desselben  Verfassers: 
Die  Entstehung  der  deutschen  Stadtgemeinde  (Düsseldorf  1889).  Diese  drei 
Arbeiten  von  Below's  sind  im  folgenden  als  I,  II,  III  citiert. 


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361 


tersucbung  berücksichtigt  sind.  Ja,  mancher  Leser  mag  sich 
schon  darüber  gewundert  haben,  dass  in  der  Einleitung  der 
vorliegenden  Arbeit  da,  wo  von  den  letzten  beachtenswerten 
Versuchen,  die  Frage  der  Stadtentstehung  im  allgemeinen  zu 
beantworten,  die  Rede  ist,  Below’s  Theorie  nicht  näher  be- 
sprochen, es  vielmehr  für  genügend  erachtet  wurde,  auf  den 
Hauptfehler  dieser  Aufsätze,  die  unterschiedlose  Benutzung  zeit- 
lich und  lokal  sehr  verschiedener  Quellenstellen,  kurz  hin- 
zuweisen. 

So  sehr  ich  auch  persönlich  jeder  litterarischen  Polemik, 
welche  anderes  als  gegenseitige  Verständigung  bezweckt,  ab- 
geneigt bin,  so  zwingt  mich  doch  die  Rücksicht  auf  alle  die- 
jenigen, welche  noch  nicht  Zeit  gefunden,  Below’s  Behandlung 
der  in  Betracht  kommenden  Fragen  zu  prüfen,  die  Ergebnisse 
einer  genauen  und  vorurteilslosen  Prüfung  seiner  Aufsätze  an 
dieser  Stelle  zu  publicieren.  Die  fast  gänzliche  Nichtbeach- 
tung der  Be  low 'sehen  Abhandlungen  würde  sonst  na- 
mentlich dem,  dessen  Forschungsgebiete  die  hier  behandelten 
Fragen  im  ganzen  ferner  liegen,  kaum  erklärlich  sein;  ausser 
der  Aufnahme  der  beiden  ersten  der  Below’schen  Untersuchungen 
in  eine  unserer  ersten  Fachzeitschriften  ist  auch  die  Sicher- 
heit in  Rechnung  zu  ziehen,  mit  welcher  Below  unerwiesene 
Behauptungen  als  Ergebnisse  seiner  Forschung  vorträgt  und 
alle  von  der  seinen  abweichenden  Ansichten  für  irrig  erklärt. 

Eigentümlich  muss  es  freilich  schon  berühren,  dass  Below 
zu  seiner  Theorie,  die  er  seit  1887  mit  äusserster  Schärfe  den 
bisher  geltenden  Ansichten  gegenüber  vertritt,  überhaupt  erst 
zwischen  1886  und  1887  gekommen  ist.  Er  selbst  sagt  in 
seinem  ersten  Aufsatze  über  Stadtverfassung,  dass  er  zur  Zeit 
seiner  Arbeit  über  die  Landstände  in  Jülich  und  Berg,  die 
1885  und  1886  erschienen  ist,  „noch  ein  Anhänger  der,“  jetzt 
von  ihm  bekämpften,  „Theorie  von  einem  allmählichen  Empor- 
steigen der  Bürger  aus  der  Hörigkeit  zur  Freiheit  war;“  l)  er 
bezeichnet  selbst  die  Auffassungen , zu  denen  er  sich  in  diesem, 
ein  Jahr  vorher  erschienenen,  Werke  bekannt  hat,  für  unrich- 
tig *)  und  nimmt  z.  B.  eine  damals  gegebene  Erklärung  zurück.  *)  J a, 

*)Ts.  210  N.  2. 

*)  ibid. 

*)  I S.  232  N.  2, 


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362 


selbst  in  der  kurzen  Zeit,  welche  zwischen  der  Veröffentlichung 
der  Arbeit  über  Jülich  und  der  des  ersten  Aufsatzes  über  Stadt- 
verfassung lag,  hat  Below  nach  seiner  eigenen  Angabe  „mit 
Arbeiten  aus  ganz  anderen  Gebieten  beschäftigt,“  dieser  Unter- 
suchung „nur  wenige  freie  Stunden“  widmen  können.1)  Daher 
ist  es  auch  nicht  wunderbar,  dass  mehrere  der  von  Below  in 
dem  ersten  Aufsatze  über  Stadtverfassung  aufgestellten  An- 
sichten schon  in  den  beiden  anderen,  doch  nur  ein,  resp.  zwei 
Jahre  später  erschienenen,  Aufsätzen  erheblich  modificirt 
werden.*)  Auch  in  der  Form  der  Polemik  gegen  die  frühere 
Litteratur,  auf  der  doch  auch  Below ’s  Untersuchungen  beruhen, 
ist  im  zweiten  und  namentlich  im  dritten  Aufsatze  wenigstens 
eine  geringe  Annäherung  an  den  sonst  in  der  Wissenschaft 
üblichen  Ton  zu  bemerken.  Es  ist  sicher,  dass  Below,  je 
mehr  er  sich  überhaupt  ernstlich  mit  den  in  Betracht  kom- 
menden Fragen  beschäftigt,  desto  mehr  erkennen  wird,  dass 
den  bisher  geltenden  Theorien  zum  mindesten  eine  relative 
Berechtigung  zukommt,  und  es  ist  nur  zu  bedauern,  dass  B.  auf 
so  ungenügender  Basis  seine  beiden  ersten  Aufsätze  über  Stadt- 
verfassung veröffentlicht  hat,  da  doch  deren  Berichtigung  von 
ihm  selbst  so  bald  als  notwendig  erkannt  wurde.  Jedenfalls 
kann  es  niemandem  verargt  werden,  dass  er  den  Gang  seiner 
Untersuchung  nicht  durch  Widerlegung  von,  bei  dem  Autor 
selbst  noch  gar  nicht  ausgereiften,  Theoremen  unterbricht.  Thun 
wir  jedoch,  um  einen  Ausdruck  Below’s  zu  gebrauchen,  ein 
übriges  und  suchen , zur  Klarstellung  des  wissenschaftlichen 
Wertes  seiner  Aufsätze  über  Stadtverfassung  uns  über  die 
von  ihm  befolgte  Methode  zu  orientieren.  Dazu  dürfte  es  angebracht 
sein,  zunächst  eine  einzelne  These  und  die  Art  ihres  Beweises 
ins  Auge  zu  fassen.  Ich  wähle  hierfür  Below’s  Ausführungen 
über  die  Freiheit  der  handwerklichen  Bevölkerung  der  Städte, 


')  I 228  N.  1. 

*)  vgl.  II  S.  236  N.  2,  HI  S.  63  N.  189;  vgl.  ferner  IS.  207:  Die 
Handwerker  der  Klöster  and  die  des  Bischofs  auf  der  einen  Seite  und  die 
städtischen  Handwerker  auf  der  andern  Seite  stehen  vollkommen  getrennt 
neben  einander,  dagegen  III  S.  I : „wohl'  machen  sich  auch  Unfreie  von  den 
städtischen  Frohnhöfen  los,"  worin  offenbar  eine  Einschränkung  der  von  Below 
in  I aufgestellten  Ansicht  zu  sehen  ist. 


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363 


sowie  den  Einfluss,  welchen  der  Empfang  städtischer  Grund- 
stücke zur  Erbleihe  auf  die  Freiheit  der  Empfänger  ausübte.1) 

Be  low  sucht  zuerst,  im  Gegensatz  zur  herrschenden  An- 
schauung, nachzuweisen,  dass  die  breite  Masse  der  Landbevöl- 
kerung das  ganze  Mittelalter  hindurch  nicht  hörig  geworden 
ist.*)  So  wenig  mir  dieser  Beweis  erbracht  scheint,  so  braucht 
doch  darauf  nicht  näher  eingegangen  zu  werden,  da  diese  ganze 
Frage  gerade  nach  der  Below’schen  Darstellung  mit  der  Frage 
nach  Freiheit  oder  Unfreiheit  der  Stadtbewohner  nichts  zn  thun 
hat.  Nach  Below  ist  nämlich  zwar  der  grösste  Teil  der  Stadt- 
bevölkerung vom  Lande  zugewandert,  ob  die  Zuwandernden  aber 
ihrer  Herkunft  nach  frei  oder  unfrei  sind,  das  kommt  nach  Below 
„für  die  Stadtverfassung  natürlich  (!)  gar  nicht  in  Betracht. 
Sobald  die  Unfreien  das  Stadtgebiet  betreten , sind  sie  (falls  sie 
nicht  innerhalb  Jahr  und  Tag  von  ihrem  früheren  Herrn  re- 
clamiert  werden)  frei.“*) 

So  übersieht  Below  vollständig,  dass  der  stadtrechtliche 
Satz  von  der  Erlangung  der  Freiheit  durch  einen  gewissen  Auf- 
enthalt in  der  Stadt  sich  erst  allmählich  ausgebildet  hat  und  gerade 
erst  eine  Folge  der  Entstehung  eines  besonderen  Stadtrechts 
und  der  Exemption  aller  in  der  Stadt  gesessenen  von  auswär- 
tigen Gerichten  ist.  Wie  dieser  Satz,  soweit  ich  sehe,4)  sich 
nicht  vor  dem  Ende  des  12.  Jahrhunderts  nachweisen  lässt,  so 

*)  Abgesehen  davon,  dass  Below  damitseine  Untersuchungen  Ober  Stadt- 
verfassung beginnt,  bewog  mich  zur  Wahl  gerade  dieses  Punktes  vor  allem 
die  Hoffnung,  dass  meine  Ausführungen  aberzeugend  darthun  werden,  wie 
wenig  es  nötig  ist,  bei  der  Behandlung  der  Ständeverhältnisse  in  den  Städten 
auf  die  Below' sehen  Erörterungen  näher  einzngehen,  vgl.  oben  S.  35  N.  4, 
S.  49  N.  4. 

•)  I 196-200. 

•)  I 202.  N.  3. 

4)  Below  bringt  fttr  die  Oeltuug  dieses  Satzes  keine  Beweisstellen. 
Beispiele  von  Erwähnungen  des  Rechtssatzes,  dass  Unfreie  durch  Aufenthalt 
in  der  Stadt  frei  werden,  haben  Qrimm  R.  A.  S.  337,  338  und  v.  Maurer 
Stadtverfassung  I 380  gesammelt;  jedoch  gehören  die  hier  angeführten  Fälle 
von  Erwähnungen  dieses  Satzes  in  städtischen  Privilegien  und  Statuten  mit 
einer  einzigen  Ausnahme  dem  13.  Jahrhundert  oder  noch  späterer  Zeit  an. 
Die  Ansnahme,  Freiburger  Stadtrecht  §11,  beruht,  wie  Heinrich  Maurer 
Ztschrft,  f.  Gesch.  d.  Oberrh.  (1886)  N.  F.  II  S.  176  (vgl.  S.  196)  nachge- 
wiesen hat,  auf  späterer  Einschaltung,  ist  alBo  auch  nicht  vor  dem  Ende  des 
12.  Jahrhunderts  entstanden. 


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364 


hat  es  bekanntlich  sehr  lange  gedauert,1)  bis  derselbe  allge- 
meine Anerkennung  gefunden  hat.  Es  wird  jedenfalls  von  Be- 
1 o w auch  keine  Spur  eines  Beweises  dafür  gegeben , dass  die- 
jenigen Unfreien,  welche  etwa  von  Privaten  oder  von  den  Vor- 
ständen der  grossen  geistlichen  Institute,  von  den  Bischöfen  und 
Äbten,  in  die  Stadt  versetzt  wurden,  um  hier  zu  persönlichen 
Dienstleistungen  oder  als  Handwerker  benutzt  zu  werden,  im 
10.  und  11.  Jahrhundert  durch  diese  Versetzung  in  die  Stadt 
frei  geworden  wären.  Noch  weit  wichtiger  aber  ist  folgendes : 
Bekanntlich  ist  von  Arnold*) die  Meinung  vertreten  worden, 
dass  in  älterer  Zeit  Freiheit  und  Eigentum  sich  gegenseitig 
bedingten,  dass  nur  der  freie  Mann  freies  Eigentum  besass  und 
dass  „wer  selber  kein  Eigentum  hatte,  damit  auch  von  der 
Freiheit  ausgeschlossen  war.“  „Neben  den  freien  Eigentümern 
gab  es“  nach  Arnold  „daher  blos  Hörige,  die  auf  ihrer  Herren 
Grund  sassen  und  dies  war  nicht  blos  auf  dem  Lande,  sondern 
ursprünglich  auch  in  den  Städten  der  Fall.“’) 

Wie  stellt  sich  nun  Below  zu  dieser  Frage?4)  Er  sagt: 


*)  Es  genüge,  auf  die  Reichssentenz  von  1231  Juni  29  (L.  L.  II  p 284)  zu 
verweisen,  wonach  der  Eigenmnnn  einer  Kirche,  weicher  sich  in  eine  Stadt  be- 
geben, noch  von  der  Kirche,  in  deren  Eigentum  er  gestanden  hatte,  beerbt 
wurde  (vgl.  oben  S.  317).  Daraus  geht  doch  hervor,  dass  damals  Aufent- 
halt in  der  Stadt  das  frühere  Unfreiheitsverhältnis  des  Eingewanderten  noch 
nicht  löste. 

*)  Eigentum  in  den  deutschen  Städten  S.  34,  35  ff. 

•)  ibid.  8.  34. 

4)  Es  sei  noch  besonders  hervorgeboben,  dass  gerade  diese  Frage  für 
die  ganze  weitere  Untersuchung  Bclows  grundlegend  ist , weil  auch  nach 
seiner  Ansicht  „die  städtische  Bevölkerung  namentlich  der  ersten  Zeit  über- 
wiegend aus  eingewanderten  Personen11  bestand  und  „die  einwandernden 
Personen  natürlich  darauf  angewiesen“  waren,  „sich  Land  zu  Wohnpl&tzeu  von 
den  alten  Bewohnern  der  betreffenden  Ortschaft  geben  zu  lassen.*  (I  201.) 
Auch  Below  lässt  die  einwandernden  Personen  Land  nicht  durch  Kauf,  son- 
dern „gegen  Übernahme  der  Pflicht  zur  Zinszahlung“  erhalten  (I  202). 
Et  kommt  also , wenn  die  Below’sche  These  von  der  vollen  Freiheit  der 
11  ehrzahl  der  Stadtbewohner  als  richtig  anerkannt  werden  soll,  alles  daranf 
an,  dass  zunächst  nachgewiesen  wird,  dass  in  den  Städten  schon  vor  der 
Entstehung  freier  Stadtverfassungen  Empfang  von  Land  zu  Zins  die  Freiheit 
der  Empfänger  nicht  gemindert  hat.  Andernfalls  müsste  gerade  nach  Belows 
Ausführungen  angenommen  werden,  dass  die  breite  Masse  der  Stadtbevölkerung 
— da  sie  als  eingewandert  auf  fremdem  zu  Zins  geliehenen  Boden  sass  — 
unfrei  war! 


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365 


„Im  Mittelalter  war  nun  vielfach  Land  nur  zu  erhalten,  wenn 
der  Erwerber  der  Hörige  des  Grundherrn  wurde,  in  dessen 
Hofirecht  ein  trat.“1)  Dabei  verweist  B.  selbst  auf  eine  von 
Lamprecht  angeführte  Urkunde,  aus  der  klar  hervorgeht, 
dass  man  bis  in  das  elfte  Jahrhundert  hinein  Güter,  welche  an 
einen  Frohnhof  zinsten,  ohne  weiteres  auch  als  grundhörig  an- 
sprach.“ (so  Lamprecht.)*) 

„Allein  in  den  Städten  ist  es“  nach  Below*)  „ganz  anders 
gewesen.“  „In  den  Ortschaften,  in  welchen  besondere  wirt- 
schaftliche Verhältnisse  grössere  Menschenmengen  zusammen- 
führten, hat  man  auch  ohne  Eintritt  in  das  Hofrecht  Land  er- 
halten.“ „Wir  erfahren  nämlich,  dass  die  einwandernden  Per- 
sonen Grundbesitz  nach  ius  civile  (Stadtrecht,  Weichbildrecht, 
Burgrecht)  erhalten.  Ius  civile  bildet  den  Gegensatz  zum  Hof- 
recht, wie  durch  unzählige  Urkunden  bewiesen  wird.“  „Die  Ur- 
kunden zeigen,  dass  der  Grundbesitz  zu  ius  civile  von  der  Hof- 
gerichtsbarkeit und  den  hofrechtlichen  Abgaben  frei  ist.“4) 

Nun  betrachte  man  aber  die  von  Below  in  den  Noten 
gebrachten  Beweisstellen.  Es  findet  sich  auch  nicht  eine  da- 
runter, welche  vor  der  zweiten  Hälfte  des  zwölften  Jahrhunderts 
liegt.5)  Wie  der  Ausdruck  Weichbildrecht  und  seine  Syno- 
nymen von  Below  nicht  vor  dieser  Zeit  nachgewiesen  werden, 
So  wird  auch  der  Gegensatz  der  nach  Stadtrecht  zu  den  nach 
Hofrecht  ausgethanen  Grundstücken  nur  durch  eine  einzige  Ur- 
kunde aus  dem  Ende  des  12.,  sowie  durch  zahlreiche  Citate 
aus  Urkunden  des  13.  und  14.  Jahrhunderts  bewiesen.*) 

*)  *1^201,  202. 

*)  D.  W.  1 922  N.  6. 

•)  I 202. 

4)  I 202  u.  203. 

*)  Aach  geht  nur  eine  einzige  Beweisstelle  in  das  zwölfte  Jahrhundert 
zurück,  eine  Urkunde  au«  Lübeck  von  1182  (Pauli  Wiebolsdrenten  Lüb.  1866  S.  8). 

')  Ausser  dem  in  der  vorigen  Note  erwähnten  Citat  weist  Below  I 8.  203 
N.  3 auf  Mittelrh.  Urkb.  III  67  (Urk.  von  1217),  Pauli  S.  6 ff.  (Urk.  von  1246 
u.  1254)  WilmansWestf.  Urkb.  m N.  349  (Urk.  von  1221),  in  ibid.  N.  6 auf 
Pauli  S.  8 (Urk.  von  1182),  Seibertz  I 8.627  § 6,  7 u.  8 (Ulk.  von  1290), 
Gengier  Codex  8.  234  § 1 (Prvig.  von  1360),  Kopp,  Hess.  Gerichte  I Bei- 
lagen 8.  23  (Statuten  von  1239),  hin.  Hütte  Below  die  hier  binzugefügten 
Jahreszahlen  der  von  ihm  erwähnten  Urkunden  und  Gesetze  genannt,  so 
würde  er  damit  den  Eindruck,  den  sie  als  Belegstellen  seiner  Ausführungen 
machen  können,  ganz  verwischt  haben. 


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366 


Grundlage  eines  von  dem  auf  dem  Lande  herrschenden  völlig 
abweichenden  städtischen  Rechts  in  Bezug  auf  die  zu  Erbzins 
ausgethanen  Grundstücke  ist  notwendig  eine  von  der  ländlichen 
völlig  getrennte  städtische  Gerichtsbarkeit.  Die  grundlegende 
Frage,  ob  es  zur  Zeit  der  Entstehung  der  ersten  deutschen 
Stadtverfassungen  auch  schon  besondere  städtische  Gerichts- 
barkeit gegeben,  wird  hier  von  Below  garnicht  gestellt. 

An  einer  anderen  Stelle1)  spricht  Below  freilich  davon, 
dass  es  zum  Begriffe  einer  mittelalterlichen  Stadt  gehöre,  dass 
der  betreffende  Ort  einen  besonderen  Gerichtsbezirk  bilde.  Zum 
Beweise  dieser  Behauptung  führt  Below  dann  zunächst  die  be- 
kannte Reichssentenz  vom  22.  Juli  1218  *)  an,  iudem  er,  sich 
auf  dieselbe  beziehend,  sagt:  „Wir  besitzen  ein  Reichsgesetz, 
welches  es  ausspricht,  dass  zu  einer  Stadt  ein  Gerichtsbezirk 
gehört.“ 

In  der  Urkunde  wird  aber  festgesetzt,  dass  in  den  durch 
besondere  kaiserliche  Urkunden  verliehenen  Märk- 
ten der  Graf  keine  Gerichtsbarkeit  haben  soll,’)  sondern  dass  ihm 
die  Verbrecher  zur  Vollziehung  der  durch  den  Marktherrn  ver- 
hängten Strafen  ausgeliefert  werden  sollen.  Below  ist  demnach 
durch  das  ungenaue  Regest  P e r t z ’ s : ,,  sententia  de  immunitate  civi- 
tatum  imperii“  zu  seiner  irrigen  Auffassung  verleitet  worden.*) 
Aus  diesem  ungenauen  Regest  nun  und  Urkunden  von  Bocholt 
1206),  Dudeldorf  (1345),  Anweiler  (1345)  und  Brühl  (1285)  wird 
dann  geschlossen,  dass  jede  Stadt  einen  eigenen  Gerichtsbezirk  ge- 
bildet habe.6)  Jedenfalls  beweisen  aber  alle  diese  Urkunden 
durchaus  nicht,  dass  in  den  Städten,  in  welchen  schon  in  der 


*)  II  20t. 

*)  L.  L.  II  (ed.  Pertz)  p.  229. 

*)  a.  a.  0.:  signiäcamus  vobis,  talem  . . . latam  esse  sententiam;  qood 
si  forte  alicni  per  chirothecam  noitram  contulerimus  forum  animale  Tel  septi- 
manale  in  quocunque  loco,  quod  comes  aut  alius  iudex  aliquis  illius  provincie 
non  debeat  illic  habere  iurisdictionem  vel  aliquam  potestatem  pnniendi 
maleficia. 

4)  Besser  ist  entschieden  noch  das  Regest : Privilegium  fori,  das  in 
Monum.  Boica  XI  (1771)  p.  185  dieser  Urkunde  gegeben  ist.  Huillard- 
Brbbolles  t.  I p.  552  spricht  von  ihr  als  sententia  lata  super  iuris- 

dictione  fori per  chirothecam  coucessi.  Vgl.  über  diese 

Urk.  jetxt  auch  Winkel  mann,  Friedrich  II  B.  I (1889)  S.  58  mit  N.  3. 

•)  II  201. 


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367 


zweiten  Hälfte  des  elften  Jahrhunderts  selbständiges  politisches 
Leben  sich  geltend  machte,  und  die  im  zwölften  schon  politische 
Hechte  erhielten,  nicht  noch  gerade  in  dieser  Zeit  dasselbe  Ge- 
richt und  dasselbe  Recht  wie  auf  dem  Lande  geherrscht  hat. 
Ohne  diese  Bedingungen  ist  aber  eine  solche  Rechtsverschieden- 
heit , dass  auf  dem  Lande  Empfang  von  Erbzinsgrund- 
stftcken  hörig  macht,  dagegen  in  der  Stadt  nicht,  absolut  nicht 
zu  erklären. 

So  glaubt  Below  aus  Urkunden,  die  bedeutend  später 
als  die  Eutstehung  der  Stadtverfassnngen  in  Deutschland 
sind,  den  Gegensatz  von  Stadtrecht  und  Hofrecht  vor  der  Ent- 
stehung der  Stadtverfassung  zu  erweisen;  damit  ist  dann  für 
ihn  auch  der  Nachweis  der  Freiheit  der  Stadtbewohner  zu  letz- 
terer Zeit  geführt.  Doch  fügt  er  noch  eine  angebliche  Wider- 
legung der  für  die  Ansicht  eines  allmählichen  Aufsteigens  der 
Städter  zur  Freiheit  geltend  gemachten  Gründe1)  hinzu  und 
bespricht  dabei  das  erste  Strassburger  Stadtrecht  und  das  Pri- 
vileg Heinrichs  V.  für  Speier  vom  Jahre  1111.*)  Seine 
Auffassung  der  ersteren  Quelle  konnte  schon  oben*)  gekenn- 
zeichnet werden;  besonders  charakteristisch  für  Belows  Me- 
thode aber  ist  die  Art,  wie  er  die  aus  der  Urkunde  von  1111 
gegen  die  volle  Freiheit  eines  bedeutenden  Teils  der  Stadtein- 
wohner geltend  gemachten  Gründe  zurückweist.*)  Zieht  er 
allerdings  die  in  dem  ersten  Aufsatze  gegebene  Erklärung  schon 
im  zweiten5)  wieder  zurück,  so  hält  er  doch  durchaus  daran  fest, 
dass  die  Urkunde  „nicht  die  Verhältnisse  eines  bischöflichen 
Fronhofs  ordnen  will.“  „Diese  Auffassung  verbietet  sich  schon 
dadurch,  dass  das  Privileg  auf  Bitten  des  Bischofs  erteilt  ist.“ s) 
Soweit  Below:  Es  sei  zunächst  bemerkt,  dass  die  Urkunde 
selbst  folgende  Worte  enthält: 

ipso  Spirensi  episcopo  in  pulpito  astante  et  con- 
cedente.7) 


*)  I 206  ff. 

*)  Sp.  U.  14  vgl.  oben  8.  222  ff 
•)  8.  49  N.  4. 

*)  I 8.  209-213. 

*)  n 8.  236  N.  2. 

•)  I 211. 

')  Hilgard  Urkb.  8.  187  Z.  27. 


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368 


So  ist  es  also  ausdrücklich  überliefert,  dass  der  Erlass  des 
Buteils  für  die  Städter  auf  einem  Zugeständnis  des  Bischöfe 
beruhte.1)  Ganz  verkehrt  aber  und  überhaupt  wohl  nicht  ernst 
zu  nehmen  sind  Einwendungen  von  der  Art  der  folgenden: 
„Hält  man  es  für  möglich,  dass  ein  Herrscher  des  12.  Jahr- 
hunderts so  weit  in  die  Rechte  Anderer  eingriff,  dass  er  deren 
Hofgerichte  beseitigte?“*)  Nicht  um  Beseitigung  des  Hofge- 
richts handelt  es  sich  hier  — davon  hat  nie  jemand  ge- 
sprochen — sondern  um  Beseitigung  einer  einzelnen  hof- 
rechtlichen Abgabe,  zu  deren  Erlass  Heinrich  den  Bi- 
schof wohl  durch  anderweitige  Zugeständnisse  bewogen  hatte.*) 
Zur  Kennzeichnung  der  Methode  Belows  sei  noch  folgen- 
des hervorgehoben : Eichhorn,  Arnold  und  Heusler  stellen 
bekanntlich  als  Wirkung  der  Ottonischen  Privilegien  dieThat- 
sache  hin , dass  in  Folge  dieser  Verleihungen  das  öffentliche 
und  das  herrschaftliche  Gericht  verschmolzen  seien.  Nach 
Below“)  freilich  könnte  es  „nur  die  menschenfreundlichste 
Gutmütigkeit  gewesen  sein,  durch  welche  die  Bischöfe  sich 
zu  jenem  Schritte  veranlasst  gesehen  hätten;  kein  anderes  Mo- 
tiv käme  in  Betracht.“  „Der  Hinweis  darauf,  dass  den  Bi- 


')  Die  Thataache,  dass  der  Speierer  Bischof  — wie  übrigens  auch  Yiele 
andere  Pürsten  — unter  den  Intervenienten  genannt  wird,  kommt  für  unsere 
Frage  gar  nicht  in  Betracht,  vgl.  Ficker  Beitr.  z.  Urklehre  Bd.  I (Innsbr. 
1877)  § 134  S.  236:  „Der  Zweck“  (der  Erwähnung  von  Intervenienten 
in  den  späteren  Urkunden  Heinrichs  IV.  und  demjenigen  Heinrichs  V.)  „ist 
nnr  der,  kenntlich  zn  machen,  dass  der  König  nicht  ohne  Kenntnissnahme 
und  demnach  auch  mit  Billignng  der  am  Hofe  anwesenden  Fürsten  verfügte.“ 

*)  I 210. 

’)  vgl.  oben  8.  227.  Dass  die  Urkunde  zahlreiche  Concessionen  des 
Bischofs  enthielt,  geht  z.  B.  auch  aus  der  Minderung  seiner  Zolleinkünft« 
hervor,  vgl.  oben  8.  223  mit  8.  143,  144  ff.  Es  sei  hier  auch  nochmals  anf 
die  früher  (8.  224  N.  6)  besprochene  Urk.  Friedrichs  I.  von  1182  (Sp.  U.  18) 
verwiesen.  In  dieser  interpretierte  der  Kaiser,  einen  Streit  zwischen  dem 
Bischof  nnd  den  Speierern  schlichtend,  die  Urkunde  Heinrichs  V.  dahin,  dass 
in  derselben  mit  dem  Buteii  zugleich  auch  das  Be3thaupt  aufgehoben  sei. 
So  hatte  die  Befreiung  von  der  schwersten  hofrechtlichen  Abgabe  mit 
der  Zeit  auch  die  Befreiung  von  den  übrigen  zur  Folge ; Below  aber  entstellt 
die  bisher  gegebenen  Erklärungen  dieser  Urkunde , indem  er  gegen  die  An- 
sicht polemisiert,  Heinrich  V.  habe  1111  Aufhebung  der  Hofgericbte  in 
Speier  angeordnet. 

*)  I 8.  236. 


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369 


schöfen  der  Ottonenzeit  die  schönen  Eigenschaften,  durch  welche 
wir  sentimentalen  Menschen  von  heute  ans  auszeichnen,  fehlten, 
genügt  vollkommen,  um  die  Ansicht  Arnolds  zu  widerlegen.“  *) 

Der  schon  von  Eichhorn*)  und  Arnold,*)  insbesondere 
aber  von  Heusler4)  vielfach  ausgesprochene  Gedanke,  dass  es 
vor  allem  die  aus  Competenzstreitigkeiten  der  verschiedenen  Be- 
amten hervorgehenden  Unzntr&glichkeiten  waren , welche  die 
Bischöfe  zur  Zusammenlegung  der  Gerichtsbarkeit  veranlasst 
haben,  wird  von  Below  ganz  ignorirt.  Dennoch  müsste  diese 
Thatsache  ihm  doch  um  so  näher  gelegen  haben,  da  er  gerade 
betont,  dass  auch  die  Hörigen  in  mehrfachen  Beziehungen  unter 
dem  öffentlichen  Richter  standen.5)  So  können  die  Bischöfe  zu 
der  völligen  Unterordnung  der  Kirchenhörigen  unter  die  öffent- 
lichen Beamten  sicherlich  durch  weit  triftigere  Gründe  bewogen 
sein  als  durch  jene  menschenfreundliche  Gutmütigkeit,  „durch 
welche  wir  sentimentalen  Menschen  von  heute  uns“  nach  Belows 
Ansicht  „auszeichnen.“*)  Hier  sind  offenbar  die  Ansichten  Eich- 
horns, Arnolds  und  Heuslers  sowie  ihre  entscheidenden 
Argumente  in  der  Anführung  v.  Belows  so  stark  verzerrt  und 
entstellt,  dass  sie  nicht  mehr  zu  erkennen  sind. 

In  ähnlicher  Weise  sucht  von  Below’)  Scbmoller8) 
gegenüber  nachzuweisen,  dass  die  Ordnung  von  Mass  und 
Gewicht  den  Versammlungen  und  Behörden  der  Bauer- 
schaften  zugestanden  habe , dass  also  das  hieran  ankntip- 
fende  Gewerberecht  in  Deutschland  autochthon  entstanden 
sei.  Below  lebt  in  dem  Glauben,  diese  Ansicht  für  ganz 
Deutschland  durch  Berufung  auf  eine  Stelle  des  Sachsenspiegels, 
also  eine  Quelle  des  dreizehnten  Jahrhunderts,  und  zwei  Stellen 


')  ibid. 

*)  Zschr.  f.  gesch.  Rechtswissenschaft,  Bd.  I (Berlin  1815)  8.  218—220. 

*)  V.  Q.  IS.  27:  „Dass  in  einer  solchen  geteilten  Gerichtsbarkeit  die  Quelle 
häufiger  Conflikte  lag,  dürfen  wir  wohl  annehmen“,  vgl.  auch  a.  a.  0.  S.  119. 

4)  Ursp.  8.  31,  32,  85,  86.  An  letzterer  Stelle  heisst  es  ausdrück- 
lich: Die  „Competenz“  (von  Schultheiss  und  Meier)  ,war  eine  zu  ver- 
wandte und  die  Anfrechterhaltung  des  Unterschiedes  ....  erschien  nicht 
mehr  gerechtfertigt;  so  wurde  die  beiderseitige  Thätigkeit  verschmolzen.* 

*)  I 8.  198. 

•)  8.  die  beiden  oben  8.  368  (N.  4)  und  8.  369  (N.  1)  citierten  Stellen. 

')  III  8.  4 ff.,  64  ff. 

•)  Tücher-  und  Weberzunft  8.  377  ft,  vgl.  auch  Strassburgs  Blüte  8.  11. 

Koehne,  Ursprung  der  Stadtverfassung  in  Worms,  8peier  und  Heinz.  St 


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370 


aus  fränkischem  Rechtsgebiete  beweisen  zu  können,  von  denen  die 
eine  dem  Ende  des  vierzehnten,  die  andere  gar  dem  sieb- 
zehnten Jahrhundert  angehört.’)  Indess  wird  man  schon  bemerkt 
haben,  dass  derartiges  bei  ihm  noch  als  geringerer  Fehler  an- 
zusehen ist.  Dasselbe  kann  davon  gelten,  dass  die  oft  bespro- 
chene karolingische  Reform  des  Mass-  und  Gewichtswesens  *)  von 
B e 1 o w nicht  genügend  in  Betracht  gezogen  ist,  die  einfach  ganz  un- 
erklärbar wäre,  wenn  dergleichen  damals  nicht  auch  zur  staat- 
lichen Competenz  gehört  hätte.®)  Schlimmer  ist  es  schon,  wenn 
Below  durch  Heranziehung  zweier  gar  nicht  hierher  gehöriger 
Stellen  Lainpreclits  und  v.  Inama-Sterneggs  den  Anschein 
erweckt,  als  ob  der  letztere  Gelehrte  mit  der  von  ihm  ver- 
tretenen Ansicht  übereinstimme.4)  Allein  durchaus  nicht  mehr 
ernsthaft  zu  nehmen  ist  die  Art,  wie  Below  die  Ansicht 
Schmollers6)  zu  widerlegen  sucht,  dass  „das  Gewerberecht, 

*)  Wenigstens  sprechen  von  Mass-  und  Gewichtswesen  unter  den  von 
Below  III  S.  5 angeführten  Quellenstellen  nur  die  Ostheim  und  Erpel  be- 
treffenden, während  die  übrigen  andere  Jurisdictionsverhältnisse  behandeln. 
Schlägt  man  aber  die  für  Ostheim  und  Erpel  gegebenen  Ci  täte  nach,  so  er- 
giebt  sich,  dass  an  letzterem  Orte  von  einer  1396  „in  Bildung  begrif- 
fenen Competenz*  der  Gemeindebehörde  (Lamprecht  IS.  232)  die  Bede 
ist,  von  Ostbeim  aber  sogar  nur  ein  Weistum  von  1623  vorliegt  (Thu  dich  um, 
Gau-  und  Markvrfssng.,  Giessen  1860)  S.  41,  Diese  von  Below  angeführten 
Beispiele  sind  also  so  spät,  dass  sie  für  Verhältnisse  vor  der  Zeit  der 
StAdtentstebung  entschieden  nicht  angeführt  werden  dürfen. 

*)  vgl,  v.  ln  ama-Sternegg  D.  Wrtschaftsgschte.  (Leipz.  1879)  I 
S.  456—461,  Waitz  V.  G.  IV  8.  74-76. 

*)  An  anderer  Stelle  (III  63)  erwähnt  Below  allerdings,  dass  die  karo- 
lingischen Capitularien  die  Ordnung  von  Mass  und  Gewicht  als  Aufgabe  der 
öffentlichen  Gewalt  hinstellten,  schiebt  aber  diese  Thataache  ohne  weitere 
Motivierung  als  völlig  bedeutungslos  bei  Seite. 

4)  Erst  wenn  man  die  Stellen  nachgeschlagen,  merkt  man,  dass  sie  in 
keiner  Weise  zur  Unterstützung  der  von  Below  a.  a.  0.  vorgetragenen 
Theorie  benutzt  werden  können.  Lamprecht  nennt  S.  283  (nicht  282) 
unter  den  Zwecken  der  Wirtschaftsgemeinschaft,  für  welche  die  Mark 
in  der  Urzeit  irgendwie  in  Betracht  kommen  konnte,  auch 
„Mass-  und  Gewicbtsgewähr  und  Verkehrsbefriedung.“  Von  dieser  Möglich- 
keit bis  zur  Behauptung,  dass  der  Mark  allein  alle  diese  Angelegenheiten 
zugestanden  hätten,  ist  doch  noch  ein  weiter  Schritt.  Inama-Sternegg 
S.  461  aber  polemisiert  dagegen,  dass  in  den  Stammesherzogtümern  vor  Karl 
dem  Grossen  gesetzliche  Gewichtsfeststellungen  existiert  hätten;  damit 
wird  die  Frage,  ob  die  Gemeinde  Rechtssprechung  über  Mass  und  Gewicht 
gehabt,  garnicht  berührt. 

•)  Weberzunft  S.  379,  380. 


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371 


wie  wir  es  in  den  Stadtrechten  des  zwölften  und  dreizehnten 
Jahrhunderts  vor  uns  haben,  ...  in  der  Hauptsache  ....  eine 
Frucht  sittlich  christlicher  und  romanisch  staatlicher  Anschau- 
ungen ist“  Als  die  Institutionen,  durch  welche  die  Errungen- 
schaften einer  älteren  Cultur  in  Form  von  überlieferten  Einrichtun- 
gen und  Rechtssätzen  in  das  deutsche  Leben  eindrangen,  erwähnt 
Schmoller1)  das  Amtsrecht  der  Karolingerzeit  und  die  Be- 
nutzung des  Bannrechts  seitens  der  Grafen  zur  Ordnung  von 
Markt  und  Verkehr.  Dann  fügt  er  hinzu : „Die  Bussordnungen 
und  das  geistliche  Gericht  verfolgten  mit  noch  grösserem  Nach- 
druck dieselben  Ziele.“*) 

Wie  sucht  nun  Below  diese  Ausführungen  Schmoller’szu 
widerlegen?  Fast  scheint  er  mit  einem  sehr  billigen  Scherze 
die  Sache  für  abgemacht  zu  halten,  indem  er  sagt: 

„Wenn  wirklich  aus  den  „Bussordnungen“  d.  h.  den  Pöni- 
tentialbüchern,  „der  grösste  Teil  des  späteren  Gewerbe-  und 
Zunftrechts“  hervorgegangen  ist,  so  haben  wir  in  dem  heil. 
Columban,  in  dem  Griechen  Theodorus  von  Cauterbury,  in  Beda 
Venerabilis,  Commean,  Halitgar  von  Cambrai  die  Väter  des 
deutschen  Stadtrechts  dankbar  zu  verehren.“  s) 

Es  ist  von  Schmoller  nie  behauptet  worden,  dass  diese 
Verfasser  von  Poenitentialbüchern  etwa  Delictsbegriffe  „wie 
Wucher  und  Meinkauf“  selbst  geschaffen  hätten;  sie  haben  die- 
selben ja  nur  aus  ihren  Quellen  in  die  Poenitentialbücher  übernom- 
men und  dadurch  mittelbar  zur  Einführung  von  ausländischen 
Sittlichkeits-  und  Rechtsanschauungen  in  Deutschland  beigetragen. 
Warum  nennt  aber  Below  unter  den  Verfassern  der  Bussbücher 
fast  nur  Ausländer  und  noch  dazu  vorwiegend  solche,  deren  Werke 
in  Deutschland  weniger  Verbreitung  gefunden?  Sind  ihm  unsere 
deutschen  Landsleute,  Regino  von  Prüm  und  Burchard  von 
Worms,  ganz  unbekannt? 

Zweifellos  ist  es  endlich  eine  völlige  Verkennung  der 
Schmoller 'sehen  Ansichten,  wenn  man  aus  denselben  fol- 
gern zu  können  glaubt,  dass  „man  in  dem  heiligen  Colum- 
ban und  dem  Griechen  Theodorus  von  Canterbury  etc.  die 
Väter  des  deutschen  Stadtrechts  verehren  müsse.“  Schm o Ilers 

•)  ft.  ft.  0.  379,  380. 

*)  ».  a.  0.  379. 

*)  III  8.  66. 

w 


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372 


Ausführungen  ist  vielmehr  nur  zu  entnehmen,  dass  diese  Män- 
ner bei  der  Übertragung  eines  Teils  der  dem  städtischen  Ge- 
werberechte zu  Grunde  liegenden  Quellen  mitgewirkt  haben. 
Below  aber  hat  hier  wieder  einmal  die  von  ihm  bekämpfte 
Ansicht  karrikiert,  um  dann  mit  leichter  Mühe  als  Sieger 
zu  triumphiren. 

Freilich  thut  er  wieder  ein  übriges,  indem  er  angeblich 
noch  „die  quellenmässige  Grundlage  der  Behauptung  Schmollers“ 
prüft.  Er  meint,  es  gebe  nur  eine  „einzige  Stelle,  die  mit 
einem  gewissen  Schein  der  Berechtigung“  für  die  Einwirkung 
der  geistlichen  Gerichte  auf  wirtschaftliche  Verhältnisse  ange- 
führt werden  könnte,  und  nennt  als  solche  einen  Passus  aus 
dem  Kölner  Schied  von  1258. l)  Es  braucht  wohl  kaum  be- 
merkt zu  werden,  dass  die  hier  vorkommende  Behauptung  des 
Erzbischofs,  dass  ihm,  seinem  Offlcial,  seinem  Burdecan  und 
seinen  Leutpriestern  zu  Köln  die  Jurisdiction 

„de  falsis  mensuris  et  de  omni  eo  quod  vulgariter 
meynkoyf  dicitur  et  quod  in  synodis  accnsari  consuevit“ 
zukomme,  nicht  völlig  aus  der  Luft  gegriffen  sein  kann,*)  wenn 
auch  seinen  Ausführungen,  als  denen  einer  unter  zwei  streiten- 
den Parteien,  nicht  unbedingt  Glauben  geschenkt  werden  darf. 
Es  giebt  aber  noch  viele  andere  Quellenstellen,  aus  denen  un- 
widerleglich hervorgeht,  dass  die  geistlichen  Gerichte  Meinkauf 
und  Wucher  vor  ihr  Forum  gezogen  und  Waarencontrolle  und 
Preisregulierung  ausgeübt  haben.  Es  genüge  hier  die  Anfüh- 
rung einiger  schon  in  der  früheren  Litteratur*)  erwähnten 
Stellen : 


l)  Lacomblet  Urkb.  f.  Gesell,  d.  Ndrrhns.  II  S.  245  § 20. 

*)  Auch  die  Schiedsrichter,  die,  obgleich  sie  dem  Clerus  angehörten, 
durchaus  nicht  in  allen  Punkten  dem  Erzbischof  Recht  geben,  erkennen 
an,  dass  bei  falschem  M&ss  und  Gewicht,  sowie  bei  Meinkauf  sowohl  der 
geistliche  als  der  weltliche  Richter  competent  sei  a.  a.  0.  S.  250. 

*)  Bis  sei  noch  besonders  bemerkt,  dass  dieselben  fast  sämmtlich  nicht 
der  canonistischen,  sondern  der  germanistischen  Literatur  entnommen  sind. 
In  dieser  haben  nämlich,  was  Below  unbekannt  geblieben  zu  sein  scheint, 
Nitzsch  Minister.  8.  135,  136,  213  ff.,  und  Dove  in  Ztschr.  f.  deutsches 
Recht  Bd.  XIX  S.  357  Uber  diese  B'rage  geschrieben.  Ausserdem  kommen 
für  dieselbe  noch  Friedberg  De  finium  inter  ecclesiam  et  rem  pnblicsm 
regundorum  . . , (Lipsiae  1861)  p.  98  u.  Dove  in  Ztschr.  f.  Krchnr.  Bd.  V 
8.  6 in  Betracht. 


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373 


Pippini  Capit.  Suessionense  744  c 6 : Et  omnino  decre- 
vimus,  ut  unusquisque  episcopua  ....  per  omnes  ci- 
vitatis legitimus  forus  et  mensuras  faciat  secundum 
habuudantia  temporis.1) 

vgl.  auch  Karls  des  Grossen  Admonitio  generalis  vom  Jahre 
789  c 74.*)  Zu  den  in  Burchards  Decret9)  aufgezählten  Syno- 
dalfragen gehört  auch  folgende: 

Est  aliquis  qui  iniusta  mensura  suam  annonam  aut 
vinum  vendat,  cum  Dominus  dicat:  Aequus  sit  tibi 
modius  et  aequus  sextarius?  (vgl.  auch  ibid.  78).*) 

Ähnliche  Fragen  finden  sich  auch  in  Reginos  Sammlung.9) 
Endlich  sei  noch  auf  eine  Stelle  einer  friesischen  Reehtsquelle  *) 
verwiesen : 

qui  monetam  falsificant,  in  tribus  precipuis  solempni- 
tatibus  in  singulis  ecclesiis  denunciabuntur  excommuni- 
cati  et  sacra  communione  indigni. 

Diese  Stellen  könnten  mit  leichter  Mühe  vermehrt  wer- 
den.7) Doch  werden  schon  sie  ausreichen,  um  auf  die  gegen 
Schmoller  gerichtete  Bemerkung  Belows8):  „Unter  diesen 
Umständen  ist  es  Ironie,  das  geistliche  Gericht  als  ordentliches 
Organ  für  die  Regelung  von  Mass  und  Gewicht  zu  bezeichnen,“ 
genügendes  Licht  zu  werfen. 

Wie  hier  zum  Teil  Unkenntnis  der  einschlägigen  Literatur 
es  verursacht,  dass  Below  gegen  die  Ergebnisse  bewährter 


*)  L.  L.  n (ed.  Boretins)  p.  90. 

*)  ibid.  p.  60. 

*)  in  Migne  PatroL  Latina  t.  140  (Paris  1853)  p.  578  interrog.  77. 

*)  ibid.  p.  579. 

•)  L.  II  c.  5 § 78,  79  (ed.  Wasserschieben,  Lipsiae  1840  p.  216). 

•)  Gesetze  der  Fivelgoer  § 19  in  v.  Riehthofen  Friesische  Rechta- 
qnellen  (Berlin  1840)  S.  287. 

*)  Abgesehen  von  den  von  Friedberg  an  der  S.  372  N.  3 citierten  Stelle 
angeführten  Beispielen  sei  besonders  noch  an  den  oben  S.  131  ff.  besprochenen  Fall 
der  Waarenschan  eines  geistlichen  Gerichtes  in  Speier,  .der  sog  Geschworenen 
zu  der  Gottes  Ehe*,  nnd  daran  erinnert,  dass  in  Frankfurt  a.  M.  der  Propst 
des  S.  Bartholomäus-Stiftes  das  ganze  Mittelalter  hindurch  die  Aufsicht  Uber 
Masse  und  Gewichte  hatte,  vgl.  Kriegk,  Frankfurter  Bürgerzwiste  (Frnkf. 
1862)  S.  151. 

*)  III  8.  67. 


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374 


Forscher  polemisiert,  so  ist  ähnliches  noch  recht  oft  zu  con- 
statieren.  Es  sei  hier  nur  noch  die  Art  hervorgehoben,  wie  er 
die  mit  Recht  allgemein  angenommene1)  Thatsache  bestreitet, 
dass  zum  mindesten  in  vielen  Orten  Norddeutschlands  schon 
vor  der  Ratsverfassung  eine  Kaufmannsgenossenschaft  (Gilde) 
bestand.*)  Die  Existenz  dieser  Gilden  geht  bekanntlich  ganz 
besonders  aus  den  ihnen  selbst  (mercatoribns)  von  Kaisern  und 
Bischöfen  erteilten  Privilegien  *)  hervor,  zu  deren  Besprechung 
Be  low4)  Heinrichs  III.  Privileg  für  Quedlinburg  vom  Jahre 
1040  gewählt  hat.5)  Während  diese  Urkunde  bisher  von  allen 
Forschern  übereinstimmend  für  ein  der  Kaufmannsgilde  von 
Quedlinburg  erteiltes  Privileg  angesehen  ist,*)  will  Below 
nachweisen,  dass  es  nur  der  dortigen  Bauerschaft  erteilt  sein 
könne.  Dass  von  gegenseitigem  Treuschwur  der  Gildegenossen 
in  dieser  Urkunde  keine  Rede  ist,  kann  doch  sicher  kein  Ar- 
gument gegen  die  herrschende  Meinung  sein;7)  ebensowenig,  dass 
negotiatores  oder  mercatores  mitunter  identisch  mit  cives  ge- 
braucht wird.8)  Viel  mehr  fällt  doch  ins  Gewicht,  dass  es  sich 
hier  nur  um  Zusicherung  freien  Handelsverkehrs  im  Reiche 
handelt,  und  dass  in  dieser,  wie  in  den  übrigen  den  Kauf- 
leuten (mercatoribus)  eines  Ortes  erteilten  Privilegien  stets  nur 


*)  vgl.  ausser  den  von  Below  III  8.  30  N.  76  selbst  angeführten 
Forschern  besonders  noch  Gierke  I S.  243,  244,  264  ff.,  R&thgen  Märkte 
S.  65 ff.,  ferner  N i tisch  in  den  oben  S.  54  N.  2 n.  6 citierten  Aufsitzen 
sowie  in  den  Hans.  Geschichtsblättern  Jahrg.  1880, 1881  (Leipz.  1882)  S.  19,  20. 
')  IH  S.  30—32,  68,  69. 

*)  vgl.  über  diese  oben  S.  202,  222  N.  2. 

‘)  m 8.  30  ff. 

*)  Stumpf  2229,  Janicke  Urkb.  d.  Stadt  Quedlinburg  (Geschichtsq  & 
Prov.  Sachsen  Bd.  II  Halle  1873)  N.  9 S.  8. 

•)  s.  oben  N.  1. 

')  Der  Kaiser  hatte  ja  keine  Veranlassung,  in  seinem  Privileg  dieses 
gegenseitigen  Treuschwurs  der  Gildegenossen  zu  einander  zu  gedenken. 

•)  Freilich  nicht  in  unserer  Urkunde,  wie  Below  IU  30  meint.  Hier 
wird  gerade  festgesetzt,  dass  zwar  die  Jurisdiction  de  omnibus,  qnae  ad 
cibaria  pertinent,  der  Gilde  znstehen  sollte,  dass  aber  die  Gerichtseinkünfte 
zwischen  Bichter  und  Bürgerbebörde  geteilt  werden  sollten.  Aus  der  von 
der  Gilde  gefertigten  angeblichen  Urkunde  Konrads  II  (Janicke  a.  a.  O.  N.  8) 
geht  dentlicb  hervor,  dass  die  Gilde  auch  nach  den  Gerichtseinkünften  im 
iudicium  de  cibariis  strebte,  und  dass  man  hier  zwischen  mercatores  und 
cives  i.  techn.  Sinne  (Gilde  und  Bürgerbehörde)  unterschied. 


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375 


von  Rechten  die  Rede  ist,  die  ausschliesslich  oder  doch  ganz 
vorzugsweise  dem  Handelsstande,  nicht  der  ganzen  Gemeinde 
zu  Gute  kommen  mussten.  Meint  Below  wirklich,  dass  eine 
Bauerschaft  sich  das  Recht,  im  ganzen  Reiche  ungehindert1) 
ihre  Waaren  abzusetzen,  hätte  verleihen  lassen?*) 

Ganz  besonders  beruft  er  sich  auf  die  Bestätigung  dieser 
Urkunde  durch  Lothar  1134,*)  in  welcher  den  mercatores  von 
Quedlinburg  gegen  eine  jährliche  Abgabe  auch  Weiderechte  an 
einer  im  Obereigentum  der  Äbtissin  stehenden  Allmende  und 
ein  Vorrecht  in  Bezug  auf  den  geistlichen  Gerichtsstand  ge- 
geben werden.  Er  fragt:  „Was  in  aller  Welt  soll  eine  Kauf- 
manusgilde  mit  einer  Allmende  zu  thun  haben?  Wer  hat 
jemals  gehört,  dass  einer  Kaufraannsgilde  ein  Privileg  hinsicht- 
lich der  geistlichen  Gerichtsbarkeit  gegeben  worden  ist?“4) 

Nun  ist  es  aber  bekannt,  dass  bis  spät  ins  Mittelalter  hin- 
ein auch  von  Kaufleuten  und  Handwerkern  Vieh  gehalten 
wurde,4)  und  sehr  begreiflich,  dass  für  die  Gilde,  die  sicher 
zum  Teil  aus  Eingewanderten  bestand,  denen  die  Nutzung  des 
Ortsallmende  nicht  ohne  weiteres  gestattet  war,  ein  der  Corpo- 
ration als  solcher  zustehendes  Weiderecht  erstrebenswert  sein 
konnte.  Ebenso  hat  es  gar  nichts  besonderes  auffallendes, 
dass  einer  Kaufmannsgilde  hinsichtlich  der  geistlichen  Gerichts- 
barkeit ein  Privileg  gegeben  wurde.  Wir  haben  schon  ge- 
sehen, wie  sich  in  Bezug  auf  diese  später  einzelne  Zünfte  wich- 
tige Vorrechte  geben  Hessen.*)  Ferner  hat,  abgesehen  davon, 
dass  von  allen  angeseheneren  Ständen  Privilegien  in  Bezug  auf 
den  geistUchen  Gerichtsstand  nachweisbar  sind,1)  die  in  unserer 

•)  a.  a.  0. : ut  per  omnis  nostri  regni  mercatus  ubique  suum  exerceant 
negotium,  vgl.  dazu  Below  III  31 : „Hiernach  besteht  kein  Zweifel,  dass  die 
Urkunde  Heinrichs  ....  ein  Privileg  für  die  B an  erschaft  Quedlinburg  ist.* 

’)  Welchen  Sinn  kann  übrigens  die  Stelle:  ut  de  omnibus,  quae  ad 
cibaria  pertinent,  inter  se  iudicent  haben,  wenn  hierdurch,  wie  Below  meint, 
das  Gericht  über  die  Lebensmittel  der  Bauerschaft  zugesprochen  sei,  anderer- 
seits aber  eben  diese  Funktion  so  wie  so  allen  Bauerschaften  zugestanden 
h&tte,  vgl.  HI  3.  4,  5. 

*)  Janicke  in  dem  oben  8.  374  N.  5 citierten  Buche  N.  10  S.  9. 

*)  m 8.  81. 

*)  Bücher,  Bevölkerung  v.  Fmkfrt.  (Tüb.  1886)  8.  263,  264,  280,  vgl. 
Schm  oller  in  Ztschr.  f.  ges.  Staatswissenscb.  Bd.  27  (Tüb.  1871)  S.  297,  298. 

*)  s.  oben  8.  101,  102. 

*)  vgl.  die  von  Dove  in  Herzogs  Bealencycl.  f.  Theologie  Bd.  XIV 


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376 


Urkunde  enthaltene  Privilegirung  überhaupt  nur  Sinn  als 
eine  Kaufleuten  erteilte.  Den  mercatores  wird  nämlich  hier 
das  ihnen  schon  gewohnheitsmässig  zustehende  Recht  bestätigt, 
nur  in  Quedlinburg  selbst  auch  vor  die  unteren  geistlichen  Ge- 
richte gezogen  zu  werden;  anderwärts  brauchen  sie  sich  nur 
vor  dem  bischöflichen  Gericht  zu  verantworten.1)  Hätte  es  ir- 
gend welchen  Sinn  gehabt,  einer  Markgenossenschaft  solche 
Rechte  zu  geben?  So  liegt  also  sicher  gar  kein  Grund  vor, 
um  dieser  Urkunde  willen  von  der  herrschenden  Meinung  ab- 
zuweichen. 

Noch  viel  schwerer  aber  als  dieses  leichtfertige  Aufstellen 
neuer  Ansichten  wiegt  ein,  bei  Bel ow  fort  und  fort  wieder- 
kehrender, methodischer  Fehler ; es  ist  derselbe,  den  Heusler*) 
und  Gierke*)  schon  mit  Recht  an  Maurers  Untersuchungen  ge- 
tadelt haben.  Es  wird  nämlich  von  Below,  wie  einst  von  Maurer, 
gänzlich  übersehen,  dass  für  Fragen  der  Entstehung  der  deutschen 
Stadtverfassung  nicht  spät  zur  Entwickelung  gekommene  Flecken 
und  Städtchen  herangezogen  werden  dürfen,  auf  welche  nur  das, 
anderwärts  schon  selbständig  erwachsene,  Stadtrecht  in  mehr  oder 
weniger  bescheidenem  Umfange  übertragen  wurde.  Wie  v.  M a u - 
rer  seine  Theorie,  dass  der  Stadtrat  dieselbe  Competenz  gehabt, 
wie  die  Dorfvorsteher,  durch  das  Beispiel  von  Montzingen , Se- 
ligenstadt, Grüningen,  Waldkappel  und  ähnlichen  Orten  nach- 
weisen  zu  können  glaubte,  so  hat  v.  Below4)  z.  B.  zum  Nach- 
weise des  Zusammenhanges  des  Stadtgerichtes  mit  dem  Bur- 
ding Läppstadt,  Medebach,  Emmerich  und  Büren  herangezogen. 

Als  höchst  bezeichnend  für  diese  Methode  sind  gewiss  fol- 
gende von  Below5)  selbst  geäusserten  Worte  zu  betrachten: 
„Jede  Arbeit,  welche  die  Geschichte  der  deutschen  Stadtver- 
fassung im  Allgemeinen  darstellt,  wird  das  Hamei  er  Urkun- 

S.  124  ftlr  Befreiung  von  Edelherren  und  Ministerialen  von  den  unteren 
geistlichen  Gerichten  angeführten  Beispiele. 

’)  Quia  vero  usque  ad  tempora  nostra  synodali  censure  et  examini  non 
nisi  in  fato  loco  idest  Quitelinebure  prefati  mercatores  se  repraesentare  con- 
sueverunt,  volumus,  ut  in  ecclesiasticis  negotiis  episcopum  et  archidiaconum 
ibidem  tantum  audiant  et  synodali  censure  subiaceant,  exceptis  Urnen  his 
qui  propter  aliquam  inoboedientiam  ad  episcopalem  sedem  vocantur. 

*)  Ursprung  S.  160,  161. 

•)  H S.  589. 

*)  IU  a 76. 

*)  s.  Zarncke’s  Litterarisches  Centralbl.  (Leipzig  1887)  S.  1527. 


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377 


denbnch  mit  zu  Bat  ziehen  müssen.“  Es  ist  das  wahrlich  das- 
selbe, wie  wenn  jemand  behaupten  wollte,  die  Entstehung  des 
modernen  Verfassungs-  und  Verwaltungsrechtes  könne  nicht 
ohne  Kenntnis  der  Entwickelung  von  Lippe-Detmold  und  Beuss 
jüngere  Linie  erforscht  werden,  oder:  man  dürfe  bei  dem 
Studium  der  Bechtsbeziehungen  der  modernen  Staaten  zu 
einander  nie  das  Verhältnis  des  Fürstentums  Monaco  oder 
der  Bepnblik  Andorra  zu  ihren  Nachbarn  ausser  Acht 
lassen. 

Die  erwähnte  Einwendung  Heuslers  und  Dierkes  gegen 
die  Heranziehung  von  Orten,  die  überhaupt  nur  wenig  Stadt- 
charakter erlangt  haben,  hat  von  Below  nirgends  berück- 
sichtigt1) 

Noch  bedenklicher  freilich  als  der  dadurch  veranlasste,  oft 
wiederkehrende  methodische  Fehler  ist  es,  dass  v.  Below,  wie 
sich  schon  bei  Besprechung  einzelner  seiner  Ausführungen*) 
gezeigt,  die  Behauptungen  früherer  Forscher,  sei  es,  dass  er  sie 
als  Beweismaterial  heranzieht,  sei  es,  dass  er  gegen  sie  pole- 
misiert, ganz  unrichtig  wiedergiebt.  Gerade  dies  begegnet  bei 
ihm  in  seltsamer  Häufigkeit.  In  zahllosen  Fällen  kommt  man, 
wenn  man  das,  was  v.  Below  als  fremde  Meinung  wiedergiebt, 
und  das,  was  das  Citat  mit  klaren  Worten  besagt,  vergleicht, 
zu  den  unerwartetsten  Ergebnissen. 

Bei  Anführung  von  Beweisstellen  für  diese  Behauptung 
wird  dadurch  oft  noch  grössere  Deutlichkeit  erzielt  werden, 
dass  man  direkt  neben  Below’s  Citat  die  von  ihm  herange- 
zogenen Ausführungen  setzt.  Beispiele: 


*)  Die  III  S.  114  anscheinend  zur  Erläuterung  einer  Stelle 
Roscher's  gemachte  Bemerkung:  „bekanntlich  ist  jede  Stadt,  auch 

die  grSsste,  ursprünglich  einmal  klein  gewesen  * kann  gewiss  nicht  als 
genügende  Auseinandersetzung  mit  der  wichtigen  methodischen  Feststellung 
Heuslers  angesehen  werden.  Es  kommt  eben  darauf  an,  ob  eine  Stadt 
zur  Zeit  der  Ausbildung  von  Stadtverfassungen  in  Deutschland,  also  etwa 
von  der  zweiten  Hälfte  des  11.  bis  zur  ersten  des  13.  Jahrhunderts,  gross 
genug  war  und  genug  städtisches  Wirtschaftsleben  in  sich  barg,  um  selb- 
ständig eine  städtische  Verfassung  hervorzubringen , oder  ob  sie  diese  nur 
von  aussen  recipiert  bat.  Über  die  angeführte  Stelle  Belows  HI  S.  114  vgl. 
auch  unten  S.  380. 

»)  s.  oben  8.  369  u.  371. 


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378 


Below  II  S.  198.  Die  Ver-  Schmoller  a.  a.  0.  (Strass- 
treter der  herrschenden  Ansicht  burgs  Blüte  S.  7).  Ich  zweifle 
haben  sich  nicht  nur  (um  einen  nicht,  dass  die  künftige  Ge- 
treffenden  Ausdruck  Schmollers  schichtsforschungdiesenhervor- 
[Strassburgs  Blüte  S.  7]  zu  ge-  ragenden  Gelehrten  (Nitzseh), 
brauchen)  kein  klares  Bild  des  der  allein  sich  ein  klares  Bild 
ganzen  wirtschaftlichen  Ent-  des  ganzen  wirtschaftlichen 
wicklungsprocesses  des  Mittel-  Entwicklungs  - Processes  des 
alters  gemacht,  sondern  ....  Mittelalters  gemacht  hat,  noch 

mehr  anerkennen  wird  als  es 
bisher  geschehen. 

Wer  sind  nun  nach  Be  low  die  Vertreter  der  herrschen- 
den Ansicht?  Es  ist  zwar  an  dem  betreffenden  Orte  nichts 
darüber  gesagt,  aber,  wer  nur  ein  paar  Seiten  Below’s  ge- 
lesen, weiss,  dass  in  erster  Linie  Nitz  sch  gemeint  ist.1)  Below 
citirt  nun  die  Worte  „klares  Bild gemacht“  buch- 

stäblich richtig.  Nur  erweckt  er  bei  jedem  unbefangenen  Leser 
die  Vorstellung,  dass  er  sich  bei  dem  tadelnden  Urteil  über 
die  Wirtschaftshistoriker  der  Zustimmung  Sch mo  11er ’s  erfreut; 
dass  Schmoller  dem  Sinne  nach  das  Gegenteil  von  dem,  was 
Below  behauptet,  sagt,  und  dass  Schmoller  gerade  Nitzscb 
desshalb  rühmt,  weil  er  sich  ein  klares  Bild  des  wirtschaftlichen 
Entwickelungsprocesses  des  Mittelalters  gemacht  hat,  ist  nur 
demjenigen  Leser  ersichtlich,  der  das  Citat  Below’s  nachschlägt. 

Ein  anderes  Beispiel!  Below  sagt  I.  S.  197:  „Da  durch 
die  Gesetzgebung  des  fränkischen  Reiches  den  Herren  das  Recht 
der  Tödtung  ihrer  Sklaven  entzogen  war,  da  das  öffentliche 
Gericht  das  Urteil  über  Sklaven  sprechen  musste.“ 

Er  führt  dazu  G.  Meyer  in  Ztschr.  der  Savignyst.  HI 
110,  Wilhelm  Sickel  Mitt.  des  Instituts,  Ergänzungsb.  II  205 
u.  211  und  Schröder  D.  R.-G.  176  an. 

Jeder  Leser,  der  die  Below’sche  Methode  nicht  kennt, 
wird  wohl  den  obigen  Satz  für  trefflich  gestützt  halten.  Man 
schlage  aber  die  Citate  nach!  Deckt  sich  schon  das,  was 
G.  Meyer  a.  a.  0.  sagt,*)  durchaus  nicht  mit  dem  Citate  Be- 

*)  Über  Be  Iowa  Versuch,  deu  Eindruck  der  hier  näher  gekennzeichneten 
Benutzung  von  Schmoller«  Urteil  über  N i tz  s c h zu  verwischen,  s.  unten  S.  385. 

*)  „Bei  gewissen  schweren  Verbrechen*  (der  Sklaven)  „treten  schon  in 
karolingischer  Zeit  die  ersten  Anfänge  einer  unmittelbaren  Unterordnung 


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379 


low’s,  so  kann  man  geradezu  behaupten,  dass  Schröder  und 
Sickel  entgegengesetzter  Ansicht  wie  Below  sind.  Schröder 
handelt  S.  176  nur  von  der  Dingpflicht  der  freien  Hinter- 
sassen, sagt  aber  S.  174  V ausdrücklich:  „Die  unbegrenzte 
Strafgewalt  der  Herren  über  ihre  unfreien  Leute  dauerte  in 
alter  Weise  fort.“  Ebenso  sagt  Sickel  a.  a.  0.,  dass  die 
„Sklaven“  überhaupt  „nicht  gerichtet  werden  konnten.“ 

Nicht  mehr  aus  blosser  Nachlässigkeit  in  der  Benutzung  in 
der  citirtei)  Litteratur  erklärbar , sondern  überhaupt  völlig 
unergründlich  sind  die  Worte  v.  Below’s  I S.  200  N.  4:  „Lamp- 
recht  beansprucht  für  sich  das  Verdienst,  zuerst  die  Geschichte 
der  Vogtei  allseitig  behandelt  zu  haben.  Diese  Allseitigkeit 
besteht  darin,  dass  er  alle  ihm  bekannt  gewordenen  Urkunden, 
in  denen  das  Wort  Vogt  sich  findet,  zusammenstellt,  ohne 
Rücksicht  darauf,  was  es  bedeutet.“  Wer  die  diesbezüglichen 
Ausführungen  Lamprechts  *)  oder  auch  nur  die  wohlgeordnete 
Disposition  derselben  liest,  die  man  in  der  Inhaltsangabe  findet,*) 
wird  erkennen,  dass  die  Bezeichnung  dieser  Forschungen  als 
einer  blossen  Urkundenzusammenstellung  nur  als  der  unge- 
rechtfertigte Ausdruck  persönlicher  Animosität  gegen  den  Ver- 
fasser anzusehen  ist.*) 

An  einer  anderen  Stelle4)  erweckt  Below  den  Anschein, 
dass  Lamprecht  Stadt  und  Markt  aus  den  Frohnhöfen  er- 
wachsen lasse,  während  Lamprecht  gerade  an  der  Stelle, 
die  Below  anftthrt,  zeigt,  dass  Märkte  von  mehr  als  vorttber- 


der  Unfreien  unter  die  öffentlichen  Gerichte  hervor.  Es  sind  das  solche  Ver- 
brechen, bei  denen  der  Gesichtspunkt  einer  Zuwiderhandlung  gegen  die  öffent- 
liche Ordnung  oder  einer  Störung  des  öffentlichen  Friedens  besonders  in  den 
Vordergrund  tritt.“  Davon,  dass  die  Sklaven  von  ihrem  Herren  nicht  ge- 
todtet  werden  durften  oder  dass  sie  auch  nur  in  der  Begel  unter  öffentlichem 
Gerichte  standen,  steht  hier  gamichts. 

')  I S.  1062-1138. 

*)  Bd.  I TL  2 S.  VI,  VII. 

*)  Letztere  dürfte  aus  dem,  kurz  vor  dieser  Pubiication  stattgefundenen, 
Streite  mit  Lamprecht  in  der  Deutschen  Litteratur-Zeitung  VIII  (1887) 
S.  310,  437,  438,  741,  742  herrühren. 

‘)  H S.  197. 


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380 


gehender  Bedeutung  nur  durch  die  natürlichen  Verhältnisse  des 
Verkehrs  und  nicht  aus  Frohnhüfen  entstanden  sind.1)*) 

Als  besonders  charakteristisch  für  diese  Art  Below’s, 
wörtlich  richtig  zu  citieren  und  dabei  doch  die  citierte  Ansicht 
in  ihr  Gegenteil  zu  yerkehren,  sei  noch  folgendes  angeführt.  Unter 
denjenigen  Forschern,  welche  die  Ansichten  Arnold’s,  Nitzsch’s, 
Heusler’s  und  öierke’s  abgelehnt  und  sich  von  Mau  rer ’s  Theo- 
rie angeschlossen,  wird  von  Below  auch  Roscher  genannt.*) 
Dazu  beachte  man  folgende  Zusammenstellung: 

v.  Below  HI  S.  114:  Ferner  Roscher  Nationalök.  III 
sagt  Roscher  (III S.  14  Anm.  7) : 8.  12 : Bei  der  Frage  nach  dem 

Maurers  Ansicht  „bleibt  um  so  Ursprünge  der  politischen  Per- 
mehr der  Wahrheit  nahe,  je  sönlichkeit  der  neueren  Städte 
kleiner,  dorfähnlicher  dieStadt.“  darf  mau  nicht  zu  einseitig  bloss 
Diese  Bemerkung  trifft  vollkom-  an  einen  Kern  denken.  Dazu  III 
menzu.  Sie  enthält  keines-  S.  16  Anm.  7:  Vgl.  bes.  die 

wegs  eine  Einschränkung  Schriften  von  G.  L.  Maurer 
des  von  Maurer  aufgestell-  (Herleitung  der  Städte  aus  der 
ten  Satzes.  Denn  bekanntlich  Markgenossenschaft,  eine  An- 
ist jede  Stadt,  auch  die  grösste,  sicht , die  um  so  mehr  der 

einmal  klein  gewesen.  Mitbeson-  Wahrheit  nahe  bleibt,  je  klei- 

derer  Energie  aber  hat  kein ner,  dorf ähnlicher  die  Stadt); 

geringerer  als  Sohm  die  Ueber-  K.W.  Nitzsch  Minist (Her- 

einstimmung von  Landgemein-  leitung  aus  dem  Hofrecht) ; 

■)  Als  im  höchsten  Grade  sonderbar  muss  es  jedenfalls  bezeichnet  wer- 
den, wenn  Below  II  S.  197  auch  die  Ansicht  ansspricht,  dass  „eine Statistik 
der  Orte,  an  welchen  Märkte  angelegt  worden  ....  sind,  die  Unrichtigkeit 
der  Ansicht  von  der  massgebenden  Bedeutung  der  Frohnhöfe  für  die  städtische 
Entwickelung  in  voller  Deutlichkeit  erscheinen  lassen  würde"  und  dabei  gegen 
Lamprecht  wie  gegen  einen  Vertreter  dieser  Ansicht  polemisirt.  Gerade 
Lamprecht  hat  ja  D.  W.  II  256—260  eine  Statistik  der  Märkte  des  Mosel- 
gebietes gegeben  und  ist  dabei  zu  den  Ansichten  gekommen,  welche  wir, 
wenn  anch  etwas  verzerrt,  bei  Below  a.  a.  O.  finden. 

*)  Mehrfach  wird  Lamprecht  auch  von  Below  als  grundsätzlicher 
Gegner  der  Theorie  von  Maurers  über  Entstehung  der  Stadtverfassung 
hingestellt.  Es  genüge  hier  auf  Lamprechts  eigene  Ausführungen  im 
Archiv  für  sociale  Gesetzgebung  n.  Stat.  Bd.  I (Tüb.  1888)  8.  532  zu  ver- 
weisen, da  L.  hier  die  falsche  Wiedergabe  seiner  Ansichten  durch  Below 
speciell  an  diesem  Beispiele  schlagend  nachgewiesen  hat. 

•>  in  in. 


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381 


degewalt  und  Stadtgemeinde-  Arnold  a.  a.  0.  und  Heu sl er 
gewalt,  von  Burding  und  Rats-  Ursprung  . . . (Herleitung  aus 
gericht  betont.“1)  der  verjüngten  freien  Volks- 

(ibid.  S.  115  werden  dann  gemeinde  der  fränkischen  Zeit), 
andere  Forscher,  „welche  den  Das  Verdienst,  diese  Einseitig- 
Hauptwert  nicht  auf  den  Zn-  keiten  zur  richtigen  Auffassung 
sammenhang  der  Stadtgemeinde  verbunden  zu  haben,  gebührt 
mit  der  Landgemeinde  legen,“  Gierke. 
den  früher  genannten,  also  auch 
Roscher,  gegenübergestellt.) 

So  bringt  Below  in  diesen  und  in  unzähligen  anderen 
Fällen,  dem  Wortlaute  nach  richtige,  Citate  in  solchen  Zusam- 
menhang, dass  der  betreffende  Forscher  in  den  citierten  Worten 
etwas  ganz  anderes  zu  behaupten  scheint,  als  er  unzweifelhaft 
hat  sagen  wollen.  Doch  kommt  es  Below  sogar  darauf  nicht  an, 
gelegentlich  auch  unter  Anführungszeichen  von  der  citierten 
Stelle  abweichendes  wiederzugeben.  Als  Beispiel  diene  folgendes ; 

v.  Below IU 118  N.  368:  Jas-  Jastrow  (Jahrb.  f.  Gesetz- 
trow  erklärt  hier  (Jhrb.  f.Gesetz-  geb.  1884  S.  875):  „Noch  immer 
geb.  1884  S.  874  f.),  theoretische  weisen  viele  Historiker  darauf 

Vorkenntnisse  seien  unter  Um-  hin , wie  selbst  ein 

ständen  sogar  schädlich,  wie  Mann  wie  Sohm,  dem  doch 
man  ah  Sohm  sehe,  welcher,  niemand  historische  Auffassung 
weil  er  davon  zu  viel  besessen,  abstreiten  wird , dennoch  der 

„über  die  Strenge  geschlagen“  Versuchung  nicht  hat  wider- 
(so  schreibt  J.  wörtlich!)  habe.  stehen  können,  ab  und  zu  über 

die  Stränge  zu  schlagen.“ 

J astro w giebt  also  die  Ansicht,  die  ihm  v.  Below  zuschreibt, 
nnr  als  tadelndes  Urteil  anderer  wieder  uud  zwar  als  ein 
übertreibendes.  Dass  dies  Urteil  auch  noch  in  der  von  J a s- 

')  Übrigens  mag  an  dieser  Stelle  noch  constatiert  werden,  dass  auch  Sohm 
von  Below  ganz  mit  Unrecht  für  einen  Anhänger  der  von  Maurer  und 
Below  selbst  vertretenen  Ansicht  erklärt  ist.  Sohm  B.  u.  G.  V.  S.  232 
sagt  ausdrücklich:  „Die  Stadtfreiheit  datirt  erst  von  dem  Übergang  der 
Grafen-  und  Schultheissenrechte  an  die  Stadtgemeinde.*  Diese  Ansicht  deckt 
sich  fast  völlig  mit  der  von  Heusler  vertretenen,  der  nur  ausser  dem  Über- 
gange der  Jurisdictionsrechte  auch  den  der  übrigen  Grafschaftsrechte  (insbes. 
Heerbann  uud  Besteuerung)  für  wichtig  hält.  Below  meint  freilich  II S.  206 
N.  5,  dass  in  Sohm’ s angeführten  Worten  ein  „lapsus  calami*  stecke,  indem 
„die  Konsequenz  seiner  sonstigen  Ausführungen“  etwas  anderes  „verlange.“ 
Zu  dieser  Annahme  fehlt  aber  jede  Veranlassung. 


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382 


trow  ihm  gegebenen  Form  meines  Erachtens  unrichtig  ist,  ent- 
schuldigt weder  die  falsche  Wiedergabe  desselben  durch  Be- 
low  noch  die  wahrhaft  kindische  orthographische  Ent- 
stellung. 

Mit  dieser  ganz  unverständigen  Auffassung  und  falschen 
Wiedergabe  der  Behauptungen  früherer  Forscher  — eigent- 
lich müsste  die  Sache  noch  weit  schärfer  bezeichnet  wer- 
den — hängt  es  auch  zusammen,  dass  Below  sich  unzählige 
Male  eine  gar  nicht  existierende  herrschende  Meinung  con- 
struiert  hat.  Dieser  weist  er  mit  Leichtigkeit  die  grössten 
Irrtümer  nach;  in  der  Regel  ist  freilich  dasjenige,  was  Below 
für  herrschende  Meinung  erklärt,  nie  von  einem  Forscher  ver- 
treten und  nur  eigenstes  Fabrikat  des  Herrn  von  Below 
selbst.  Einige  Beispiele  mögen  genügen: 

I S.  194:  Der  allgemeinen  Betrachtungen  über  den  Ur- 
sprung der  deutschen  Stadtverfassungen,  meint  man,1)  gebe  es 
genug;  wer  von  neuem  eine  allgemeine  Erörterung  versuchen 
wollte,  würde  sich  darauf  beschränken  müssen,  eine  von  den 
aufgestellten  Hypothesen  gegen  eine  andere  zu  verteidigen;  die 
Zahl  der  möglichen  Hypothesen  sei  erschöpft.  Nachdem  es  ge- 
lungen, die  zu  lösenden  Fragen  zu  fixiren,  komme  es  auf  den 
statistischen  Nachweis  an,  welche  Hypothese  durch  die 
meisten  Einzelfälle  gestützt  werde.  (!) 

II  S.  199:  Maurer  und  Waitz  sind  diejenigen  Forscher, 
von  denen  unsere  Wirtschaftshistoriker  stets  nur  mit  Achsel- 
zucken reden. 

II  S.  197:  „Herrschende  Ansicht  von  der  massgebenden 

Bedeutung  der  Frohnhöfe.“ 

I S.  204 : „Man  nimmt  ohne  weiteres  an,  den  Grundstock 

der  städtischen  Bevölkerung  hätten  Hörige  gebildet.“ 

II  219:  „Man  zieht  heute  das  Hofrecht  bei  jeder  Gelegen- 
heit heran,  wie  früher  das  Keltische;  es  soll  alles  erklären.“ 

Ganz  besonders  gern  macht  Below  auf  Gesichtspunkte 
aufmerksam,  welche  die  bisherige  Forschung  seiner  An- 
sicht nach  gänzlich  übersehen  hat.  Es  mag  genügen,  einige 

*)  Below  unterlässt  es  in  diesen  und  zahlreichen  weitereu  Fällen  be- 
stimmte Namen  zu  nennen.  Er  begnügt  sich  mit  dem  beqnemen  .mau 
nimmt  an,  man  meint;'  dies  Wörtchen  „man“  begegnet  fort  und  fort  iu 
Below»  Untersuchungen. 


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383 


der  Stellen , in  denen  sich  über  diese  gerade  schon  recht  oft 
behandelten  Probleme  und  Thatsachen  weit  besseres  als  bei  Be- 
low  findet,  neben  seine  gegen  die  bisherige  Forschung  er- 
hobenen Vorwürfe  zu  setzen.  Freilich  wird  der  Kundige  auch 
schon  ohne  dies  erstaunt  sein,  dass  Be  low  das  als  neuge- 
prägtes Gold  unter  die  Menge  wirft,  was  in  der  That  doch 
schon  recht  abgegriffene  Scheidemünze  ist. 


Below  I 204:  Pie  Frage, 
in  welche  Stellung  die  ältesten 
Einwanderer  gekommen,  scheint 
man  sich  nicht  vorgelegt  zu 
haben. 


Vgl.  dazu  Arnold  V.  G.  I 
S.  141:  Die  zahlreichen  Ein- 
wanderungen vom  Lande  in  die 
Städte  gingen  ....  aus  dem 
Streben  hervor,  der  fortdauern- 
den Verschlechterung  des  freien 
Standes  auf  dem  Lande  zu  ent- 
gehen. Denn  soviel  war  schon 
im  11.  Jahrh.  wahrzunehmen, 
dass  eine  städtische  Unfreiheit 
milder  sei  als  Hörigkeit  oder 
Leibeigenschaft  auf  dem  Lande. 
Vgl.  ferner  Heusler  Ursp.  S. 
102, 103:  (Die  Einwanderungen 
in  die  Städte)  durchdrangen 
alle  Classen  der  Bevölkerung. 
Aus  dem  Steinhause  des  Edel- 
mannes auf  dem  Lande  kam 
der  jüngere  Sohn  und  erhielt 
. . . . Aufnahme  in  die  Dienst- 
mannschaft  Schon  das 

ist  hierbei  von  Wichtigkeit, 
dass  die  auf  dem  Lande  vor- 
herrschende Starrheit  der  Stan- 
desunterschiede in  den  Städten 
teilweis  gebrochen  wird.  Glie- 
der desselben  Hauses  finden 
wir  als  Mittelfreie  auf  dem 
Lande,  als  Ministerialen  und  als 
Burgensen  in  der  Stadt.  Der 
freie  Bauer  auf  dem  Lande 
lässt  seinen  Sohn  ein  städti- 


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384 


sches  granarium  bauen  .... 
und  damit  vogteipflichtigen  mer- 
cator  des  Bischofs  werden.*) 

Ähnlich  wirkt  der  Vergleich  von: 

Below  I S. 224 : „Die  Binsen-  mit  Arnold  I 147:  „Handel, 
Wahrheit,  dass  die  städtische  Wohlstand  und  Reichtum  sind 
Entwickelung  an  Handel  und  von  jeher  die  Quelle  politischer 
Verkehr  anknüpft,  hat  man  Freiheit  gewesen“  und Hensler 
ganz  ausser  Acht  gelassen.“  ürspr.  S.  160,  151:  „Arnold 

hat  das  richtige  Wort  gefunden, 
indem  er  an  die  Spitze  des 
Abschnitts  Uber  die  Emanci- 
pation  der  Städte  von  der  bi- 
schöflichen Herrschaft  den  ein- 
fachen Satz  stellte:  Handel, 

Wohlstand “ (es  folgt 

dann  das  eben  erwähnte  Citat). 

Dass  Below  solche  Stellen  wie  die  eben  citierten  ganz 
übersehen  hat,  ist  sicher  nur  aus  der  Hast  erklärlich,  mit  der 
er  nach  seinem  eigenen  Geständnis  seinen  ersten  Aufsatz 
schrieb.  Dieser  Hast  wird  es  wohl  auch  zuzuschreiben  sein, 
dass  sich  in  diesem  Aufsatze  ganz  sinnlose  Behauptungen 
finden.  Below  sagt  z.  B.:*)  „Die  Kirchspielskirchen  haben 
unendlich  viel  grössere  Bedeutung  für  das  Aufkommen  der 
Städte  als  die  Frohnhöfe;  der  Landmann,  welcher  Sonntags  zur 
Kirche  ging,  besorgte  dabei  zugleich  seine  Einkäufe.“ 

Ist  Below  der  Ansicht,  dass  die  Pfarrkirchen  der  ländlichen 
Pfarrbezirke  in  der  Stadt  lagen?  Wenn  der  Landmann  Sonntags  zur 
Stadt  kam,  so  besuchte  er  sicher  den  stolzen  Dom  oder  die  reichen 
Kloster-  und  Stiftskirchen,  nicht  eine  der  städtischen  Pfarr- 
kirchen. Die  Kirchspiele  haben  allerdings,  wie  ja  namentlich 
von  Hoeniger,  Liebe  und  Liesegang  nachgewiesen  ist,*) 
eine  bestimmte  Bedeutung  für  die  ältere  städtische  Verfassungs- 

*)  Die  Frage,  welche  man  sich  nach  Below  a.  a.  0.  nicht  vorgelegt 
zu  haben  scheint,  ist  ausserdem  auch  schon  von  Heusler  Basel  S.  64,  65 
und  Hoeniger  Westd.  Ztscbr.  II  S.  242  behandelt  worden. 

*)  I 224. 

*)  vgl.  oben  S,  78  ff. 


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385 


geschichte,  und  Reminiscenzen  aus  diesen  Forschungen  mögen 
die  citierte  Behauptung  Below’s  hervorgerufen  haben.  Was 
sollen  aber  die  Kirchspiel kirchen  in  diesem  Zusammenhang? 

Genug  der  Beispiele  für  den  Wert  der  Below’schen  Auf- 
sätze! Jeder  unbefangene  Leser  dürfte  befriedigt  sein. 

Es  muss  nur  noch  constatiert  werden,  dass  mit  der  man- 
gelhaften Sachkenntnis  von  Below’s  die  Urteile  durchaus 
harmonieren,  welche  er  über  eine  grosse  Anzahl  hervorragender 
Gelehrter,  verstorbener  wie  lebender,  fällt,.  Wie  diese  Urteile 
ja  nur  aus  mangelnder  Sachkenntnis  erklärlich  sind,  so  könnte 
umgekehrt  letztere  aus  ihnen  allein  schon  mit  voller  Sicher- 
heit gefolgert  werden!  Beispiele: 

Arnold  vertritt  „die  übrigens  natürlich  irrige  Meinung.“1) 
Die  Beschi’änkung,  die  er  einem  Worte,  sowie  die  Erklärung, 
die  er  einer  Verordnung  giebt,  sind  „willkürlich.“8) 

Nitzsch’s  „Theorie  ist  nur  eine  Übertreibung  einer 
Eichhorn’schen  Idee.“*)  Der  im  Jahrbuch  für  Gesetzgbng. 
VIII.  873  ff.  veröffentlichte  schöne  Nachruf  auf  Nitzsch  „macht“ 
nach  Below  „einen  geradezu  peinlichen  Eindruck.“  „Solche 
Dithyramben  können  nur  aus  mangelnder  Sachkenntnis  ent- 
springen.“ 4) 


*)  I 236  N.  2. 

•)  I 202  N.  4,  I 232  N.  2. 

•)  I 194. 

4)  a.  a.  0.  Note  1,  Es  sei  noch  bemerkt,  (lass  das  hier  und  an 
anderen  Stellen  (i.  B.  I S.  194  N.  1,  II  S.  198,  vgl.  oben  S.  378)  gcäusserte 
absprechende  Urteil  über  Nitzsch  von  Below  in  III  S.  VIII  ff.  wenigstens 
teilweise  zurückgenommen  wird.  Auch  Schmoliers  Urteil  über  N.  (vgl  oben 
S. 378) wird ibid. S. XI  richtig  angeführt.  In  III  S. IX spricht  v.B. freilich  doch 
wieder  die  Ansicht  aus,  die  Arbeiten  Liesegang's  und  Oeering's  wären 
besser  geworden,  wenn  diese  Forscher  Nitzsch  nicht  gekannt  hätten.  Below 
selbst  scheint  nach  dem  Becept,  Nitzsch  lieber  nicht  kennen  zu  lernen , ver- 
fahren zu  sein.  Schon  oben  S.  372  ff.  ist  constatiert  worden , dass  ihm 
die  von  Nitzsch  Minist.  S.  136,  213 ff.  gesammelten  Stellen  über  die  Com- 
petenz  des  geistlichen  Gerichts  in  Mass-  und  Gewichtssachen  unbekannt  sind. 
Ferner  ist  es  im  höchsten  Grade  auffallend,  dass  man  Werke  von  Nitzsch  bei 
Below  nie  citiert  findet,  sondern,  dass  für  die  mehr  oder  weniger  karrikiert 
wiedergegebenen  Ansichten  dieses  Gelehrten  höchstens  auf  dieCitateAnderer 
ans  Nitzsch  verwiesen  wird.  Endlich  würden  ja  auch  die  „wenigen  Stunden“, 
welche  Below  nach  seiner  eigenen  Angabe  vor  Abfassung  seines  ersten  Auf- 
satzes über  Stadtverfassung  diesen  Studien  gewidmet  hat,  nicht  hingereicht 
Koehne,  Ursprung  der  Stadtverfassung  in  Worms.  Speinr  und  Hains.  25 


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386 


Heusler’s  „Buch  ist  bloss  eine  weitere  Ausführung  einer 
von  Sohm  nebenbei  hingeworfenen  Bemerkung.“1)  Heusler 
„lässt“  wichtige  Bemerkungen  „ausser  Acht;“8)  auf  seine  „unrich- 
tigen Behauptungen  im  einzelnen  einzugehen“,  unterlässt  Below.8) 

Lamp  recht  hat  die  „herrschende  Ansicht  in’s  Äusserste 
übertrieben *)  zu  einer  „absprechenden  Bemerkung  ist  er  wahrlich 
nicht  berechtigt.“*)  Seine  „Ausführungen  über  Gemeindewesen 
bedeuten  einen  Rückschritt  noch  hinter  Gierke  zurück.“*) 

Sohm  „übersieht“  in  Betracht  kommende  Thatsachen7)  und 
„beruft  sich  auf  eine“  Quellenstelle,  „aus  welcher  nichts  ge- 
folgert werden  kann.“8)  Auch  er  lässt  wichtige  Bemerkungen 
„ausser  Acht.“8) 

Schmoller’s  Erklärung  einer  Quellenstelle  wird  als  „nichts- 
sagend“ bezeichnet ; l0)  ebenderselbe  stellt  ein  Verlangen,  welches 
„überall  gestellt,  die  Möglichkeit  historischer  Forschung  fast 
ausschliesst.“  “) 

Stieda’s  Ansicht  „widerlegt  sich  schon  durch  ihre  in- 
neren Widersprüche ; 18)  anderswo  verwickelt  sich  dieser  selbst 
„in  einen  auffallenden  Widerspruch.“ 1S) 

Das  Verletzende  dieser  Äusserungen  v.  Below’s  liegt  auch 
oft  nicht  sowohl  in  dem  einzelnen  Wort,  als  in  dem  wegwer- 
fenden Ton,  in  dem  Below  die  gesammte  frühere  Forschung 
beurteilen  zu  müssen  glaubt.  Vgl.  z.  B.  1 238:  „Diese  Ansicht 
ist,  obgleich  sie  die  Billigung  der  ersten  Autoritäten  der  Deut- 


haben, „Nitzach,  Minis  terialitiit  und  Bürgertum*,  eines  der  schwierigsten 
Werke  der  Literatur  der  deutschen  Verfassungsgeschichte,  überhaupt  genügend 
kennen  zu  lernen. 

')  II  205  N.  5. 

»)  I 19«  N.  1. 

•)  I 199  N.  1. 

‘)  H 235  N.  1. 

*)  H 214  N.  1. 

•)  II  204  N.  1. 

7)  I 198  N.  4. 

')  I 199  N.  3. 

•)  I 196  N.  1. 

,0)  III  64. 

")  I 226. 

'*)  I 213  N.  3. 

“)  I 216. 


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387 


sehen  Rechtsgeschichte  (Sohm,  Brunner),  gefunden  hat,  doch 
leicht  zu  widerlegen.“  *) 

So  findet  sich  also  auf  diesem  von  der  deutschen  For- 
schung so  vielfach  bearbeiteten  Gebiete,  wenn  wir  Be  low 
Glauben  schenken  müssten,  nicht  viel  mehr  als  Thorheit  und  Un- 
verstand. Allerdings  bietet  Below  selbst  Trost;  es  lässt  sich 
nämlich  einer  seiner  Bemerkungen  entnehmen,  dass  es  auch 
jenseits  der  Vogesen  bei  Erforschung  der  Verfassungsgeschichte 
nicht  besser  zugehe.  „Die  französischen  Historiker“,  meint 
er,  „huldigen  sämmtlich  einem  „Irrtum“,  den  „jedes  fran- 
zösische Urkundenbuch“  berichtigen  könnte.’) 

Endlich,  seitdem  Below  sich  der  deutschen  Städteforschung 
zugewandt,  sind  seinen  eigenen  Behauptungen  nach  die  allein 
richtigen  Anschauungen  zum  Siege  gekommen.  Below  scheut 
nicht  davor  zurück , sich  selbst  die  grössten  Verdienste  zuzu- 
schreiben. Beispiele: 

I 201  erklärt  er,  seine  Ausführungen  zusammenfassend: 
„Die  herrschende  Vorstellung  von  der  Verbreitung  der  Hörig- 
keit im  Mittelalter  ist  damit  widerlegt.“  Zugleich  wird  seiner 
Ansicht  nach  durch  den  von  ihm  „erbrachten  Nachweis“  „auch 
die  gegenwärtig  gewöhnliche  Erklärung  der  Entstehung  der 
obligatorischen  gerichtlichen  Auflassung  hinfällig.“*) 

I S.  242  N.  2 spricht  er  die  Hoffnung  aus,  dass  seine 
Abhandlung  „den  Beweis“  liefert,  dass  „sämmtliche  bis- 
herigen Untersuchungen  (von  Arnold,  Nitzsch.  Heusler 
u.  s.  w.)  über  den  Stand  der  Stadteinwohnerschaft  ....  unzu- 
länglich sind.“  Beschränkt  sich  Below’s  Urteil  hier  noch  auf 
eine  — wenn  auch  hervorragend  wichtige  — Einzelfrage,  so 
sagt  er  am  Beginne  seiner  Arbeit  (I  194)  ganz  allgemein: 

„Der  Verfasser glaubt  für  seine  Ausführungen  ein  Ver- 

dienst jedenfalls  beanspruchen  zu  können:  Die  Herrschaft  der 
Ideen,  unter  deren  Bann  die  Forschungen  über  den  Ursprung 
der  deutschen  Stadtverfassung  seit  nunmehr  siebzig  Jahren 
stehen,  definitiv  beseitigt  zu  haben.“ 


>)  Vgl.  ferner  I 8.  194,  I S.  242  N.  2. 

*)  II  243  N.  ö. 

•)  1 201  N.  2. 

S8‘ 


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Die  unbefangene  Forschung  wird  nun  freilich  über  die 
Belowschen  Leistungen  im  Gebiete  der  mittelalterlichen  Stadt- 
verfassung ganz  anders  als  Herr  von  Below  selbst  urteilen.  Hie 
und  da  macht  v.  Below  allerdings  auf  bisher  noch  nicht  ge- 
nügend berücksichtigte  Probleme  aufmerksam;  hie  und  da 
bietet  er  wohl  auch  eine  Bereicherung  unserer  Kenntnisse. 
Im  grossen  und  ganzen  aber  gehören  diese  Below’schen  Auf- 
sätze über  Stadtverfassung  sicher  zu  der  von  Delbrück1) 
trefflich  charakterisierten  pseudowissenschaftlichen  Litteratur. 
Soweit  man  an  den  in  der  älteren  Litteratur  vertretenen  An- 
sichten festhält  oder  zu  von  den  Below’schen  abweichenden 
Ergebnissen  kommt,  wird  man  sich  mit  ihm  nicht  im  einzelnen 
auseinander  zu  setzen  brauchen ; hingegen  wird  es,  sobald  je- 
mand meint,  sich  auf  von  Below  aufgestellte  Behauptungen 
berufen  zu  können,  stets  notwendig  sein,  „in  jedem  einzelnen 
Falle  der  Benutzung  den  speciellen  Grund  anzugeben,  weshalb 
dem  Autor  hier  Glauben  beigemessen  werden  dürfe.“  *) 


•)  Preus».  Jahrb.  Bd.  54  (Berlin  1884)  S.  678,  579;  Bd.  55  (1885)  S.  356. 
*)  Delbrück  a.  a.  0. 


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Anhang  II. 


Das  Gesetz  Bischof  Burchards  von  Worms. 

(Leget  et  statuta  familiae  S.  Petri  Wormatieneis). 

Es  mag  gestattet  sein,  das  Gesetz  Bischof  Burchards  von 
1024,  *)  welchem  wir  ja  unsere  Kenntnis  der  Rechtszustände 
der  mittelrlieinischen  Städte  in  der  ersten  Hälfte  des  elften 
Jahrhunderts  znm  grössten  Teil  verdanken,  hinsichtlich  seiner 
Benennung  und  Datiernng  noch  einer  besonderen  Betrach- 
tung zu  unterziehen;  in  beiden  Beziehungen  ist  oben*)  von 
den  Angaben  des  letzten  Herausgebers  dieser  Rechtsquelle, 
Boos,  abgewichen. 

Zunächst  muss  es  gerechtfertigt  werden,  dass  ich  diese  Ur- 
kunde durchgehends  als  „Gesetz  Bischof  Burchards“  oder  als 
„leges  et  statuta  familiae  S.  Petri“  bezeichnet  habe,  während 
sie  doch  in  der  neuesten  Edition  „das  Hofrecht  des  Bischofs  Bur- 
chard  von  Worms“  und  „lex  familie  Wormatiensis  ecclesie“  ge- 
nannt wird.5) 

Das  Gesetz  ist  uns  nicht  im  Original,  sondern  nur  in  drei 
Copialbüchem  überliefert.4)  In  dem  Gesetz  selbst  findet  sich 
kein  Name  für  dasselbe ; 5)  dagegen  haben  die  erwähnten  Copi- 
albücher,  wie  sie  überhaupt  den  in  ihnen  enthaltenen  Urkunden 

>)  W.  ü.  48. 

»)  S.  16. 

*)  8.  Worms.  Urkb.  S.  39,  40. 

4)  a.  a.  0.  S.  45. 

*)  Bnrcliard  sagt  in  der  Eiuleitnng:  Ego  Burcbardus  ....  cnm  con- 
silio  cleri  et  militum  et  totins  familiae  lins  iussi  scribcre  leges,“;  daraus  kann 
aber  für  den  Titel  oder  Inhalt  nichts  gefolgert  werden,  vgl.  oben  S.  33,  34. 


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390 


besondere  Titel  geben,  so  auch  unser  Gesetz  mit  einer  beson- 
deren Überschrift  bezeichnet.  Dieselbe  lautet  in  dem,  um 
die  Mitte  des  zwölften  Jahrhunderts  geschriebenen,  Chartula- 
rium  Wormat. : 

Lex  familie  Wormatiensis  ecclesie,1) 
in  dem  Chartul.  Worin,  saec.  XV : 

Lex  familiae  data  a Burkardo  episcopo  Wormatiae,*) 
in  dem  Vidimationsbuch  von  1616: 

Lex  familiae  data  a Burghardo  episcopo  Worma- 
tiensl.*) 

Zu  den  Überlieferungsformen  mittelalterlicher  Urkunden 
sind  nun  aber  bekanntlich  nicht  nur  die  geschriebenen  zu 
rechnen,  sondern  auch  ., diejenigen  Drucke,  welche  aus  nicht  mehr 
erhalteneu  Quellen  geflossen  sind.“*) 

Eine  solche  Überlieferung  liegt  für  unsere  Urkunde 
in  dem  Abdrucke  Schanuat’s  vor.  In  diesem1)  wird  die 
Urkunde : 

Burchardi  episcopi  leges  et  statuta  familiae  S.  Petri 
praescripta 

genannt. 

Hätte  Schannat  die  Urkunde  aus  einem  der  uns  erhal- 
tenen Copialbiicher  geschöpft,  so  wäre  eine  Änderung  des  Titels 
in  der  angegebenen  Art  nicht  erklärlich ; ausserdem  zeigen  auch 
seine  Abweichungen  im  Text  der  Urkunde,  dass  er  für  sie  eine 
andere  Quelle  benutzt  hat.5)  Es  ist  nun  auch  kaum  anzu- 
nehmen, dass  Schannat  etwa  selbst  diesen  Titel  gebildet  hat. 
Seinen  Tendenzen,  die  Macht  des  Bistums  über  die  Stadt  so 
gross  als  möglich  erscheinen  zu  lassen,  lag  die,  wie  unten  ge- 
zeigt werden  wird,  unrichtige  Beschränkung  des  Gesetzes  auf 
die  familia  durchaus  fern.  Es  ist  daher  höchst  wahrscheinlich, 

')  S.  die  Handschrift  in  der  Königl.  Bibi,  zu  Hannover  p 26  v. 

*)  Dies  ergab  persönliche  Einsicht  der,  im  Archiv  tu  Dannstadt  befind- 
lichen, Manuscripte. 

')  vgl.  Sickei  in  Jlon.  Germ.  D.  D.  I Einl.  p.  IX. 

*)  t.  II  p.  43. 

•)  vgl.  Boob  Urkb.  S.  45.  Daaa  Schannat  nach  Boos  vielfach  einen 
jüngeren  Text  zeigt,  kommt  hier  nicht  in  Betracht,  da  der  Titel  des  Gesetze» 
demselben  überhaupt  nur  bei  der  Aufnahme  in  die  Copialbücher  gegeben  zu 

sein  scheint. 


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391 


dass  Schannat  den  Titel,  wenn  auch  nicht  dem  Original,  so 
doch  einem  alten  Copialbuch  entnommen  hat.  Diese  Ansicht 
scheint  auch  Gengier  gehabt  zu  haben,  wenn  er  sagt: 

„Diese  Rechtssammlung  ist  unter  dem  Titel  „Leges  et 
statuta  familiae  sancti  Petri,“  wenn  auch  nicht  in  der  ursprüng- 
lichen Ausfertigung,  doch  jedenfalls  in  sehr  alten  Niederschriften 
auf  uns  gekommen.“  *) 

Gerade  Gengier  hat  nämlich  zu  seiner  Ausgabe  keine 
handschriftlichen  Quellen,  sondern  nur  die  vorhandenen  Drucke 
und  die  von  Boehmer  im  Archiv  für  Hessische  Geschichte  und 
Altertumskunde  Bd.  II  (1841)  gegebenen  Varianten  benutzt;*) 
letztere  sind  aber  dem  oben  erwähnten,  in  der  Mitte  des  zwölften 
Jahrhunderts  geschriebenen,  Chartul.  Wormat.  entnommen.*) 
Wenn  ich  nun  hinsichtlich  des  lateinischen  Namens  mit 
Gengier  lieber  an  der  durch  Schannat,  als  an  der  durch 
die  erhaltenen  Copialbücher  überlieferten  Bezeichnung  festhalte, 
so  geschieht  es,  weil  jener  gleich  den  anderen  höchst  wahr- 
scheinlich aus  dem  Mittelalter  stammende  Name  als  in  der  Litte- 
ratur  fest  eingebürgert  gelten  kann.*) 

Etwas  anderes  ist  es,  was  mich  bewogen  hat,  lieber  von 
dem  „Gesetz“  als  von  dem  „Hofrecht“  Bischof  Burchards  zu 
sprechen.  Jene  Bezeichnung  ist  in  Folge  des  Inhalts  der 
Rechtsquelle  entschieden  vorzuziehen.  Es  ist  ja  oben4)  fest- 
gestellt worden,  dass  dieselbe,  ausser  den  speciell  die  bischöf- 
liche familia  betreffenden  Verordnungen,  auch  Process-  und 
Strafgesetze  enthält,  welche  für  alle  Einwohner  der  Bischofs- 
stadt erlassen  sind. 

Demnach  sind  die  von  den  Copialbüchern  unserer  Urkunde 
gegebenen  Namen,  da  dieselbe  danach  nur  der  familia  gegebene 
Vorschriften  zu  enthalten  scheint,  nicht  genau  zutreffend; 
vollends  wird  die  der  „lex  familiae“  oder  den  „statuta  familiae“ 


')  Das  Hofrecht  Bischof  Burchards  S.  2. 

•)  a.  a.  0.  S.  3,  4. 

»)  vgl.  Eichhorn  K.  G.  U S.  194  N.  e,  Stobbe  R.  Q.  I S.  583, 
Arnold  I S.  62,  Roth  von  Schreckenstein  P&triciat  (TUb.  1856)  S.  56 
(spricht  kurzweg  von  Burchards  Statut),  ders.,  Ritterstand  und  Ritterwürde 
(Freib.  1886)  S.  449,  Schulte  und  Weigand  in  Allgem.  Deutsche  Biogr. 
e.  v.  Burchard  von  Worms. 

‘)  S.  33. 


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392 


entsprechende  deutscheBezeichnung,,Hofrecht“  *)za  vermeiden  sein, 
da  sie  besonders  leicht  falsche  Vorstellungen  über  den  Geltungs- 
bereich der  Urkunde  hervorrufen  kann.  Dass  die  Verordnung 
Burchards  von  den  Copialbüchern,  den  ihr  gegebenen  Über- 
schriften nach,  als  nur  auf  die  familia  bezüglich,  angesehen 
wird,  ist  nicht  auffallend,  da  sich  ja  nur  zu  oft  in  mittelalter- 
lichen Werken  keine  volle  Übereinstimmung  zwischen  Über- 
schrift und  Inhalt  zeigt.  Jedenfalls  brauchen  die  genannten 
Bezeichnungen  der  Copialbücher  in  keiner  Weise  als  mass- 
gebend betrachtet  zu  werden.  Trotz  derselben  und  trotz  der 
Bezeichnung  der  Rechtsquelle  als  Hofrecht  in  der  letzten  Edition 
ist  doch  der  Name:  „Gesetz  Burchards“  als  den  Inhalt 

richtiger  wiedergebend  vorzuziehen. 

Was  nun  die  Datierun  g des  Gesetzes  anbetrifft,  so  mag  es 
hier  auch  noch  besonders  gerechtfertigt  werden,  dass  oben  der 
Urkunde  das  Datum  1024  gegeben  ist;  denn  Boos  nennt  zwar 
dieselbe  Jahreszahl,  giebt  aber  durch  Einklammerung  seine  Un- 
gewissheit darüber  zu  erkennen,  ob  sie  die  richtige  ist. 

Obgleich  die  aus  dem  Mittelalter  überlieferten  Handschriften 
des  Gesetzes  kein  Datum  haben,  lässt  sich  meines  Erachtens 
doch  das  Jahr  der  Entstehung  mit  Sicherheit  feststellen. 
Zunächst  giebt  schon  die  Regierungszeit  Bischof  Burchards 
(1000—1025)  die  für  die  rechtsgeschichtliche  Benutzung  dieser 
Quelle  notwendige  Begrenzung  ihrer  Entstehungszeit.  Der  ter- 
minus  a quo  lässt  sich  jedoch  noch  viel  genauer  mit  Hilfe  des 
Decrets  feststellen,  durch  welches  Kaiser  Heinrich  II.  1023 
Dezember  2 die  Streitigkeiten  zwischen  dem  Bistum  Worms  und 
der  Abtei  Lorsch  schlichtete.*)  In  tit.  30  der  leges  et  stat. 
ist  die  kaiserliche  Urkunde  unzweifelhaft  benutzt  worden,  wie 
sich  schon  aus  der  folgenden  Zusammenstellung  ergiebt: 


Decrct  v.  1023  Dec.  2 
(U  47) 

1)  ob  inveteratas  et  frequentes 
contentiones  et  inimicitias 
....  quae  iam  in  tantum 


Gesetz  Burchard’s 

(U  48  tit  30) 

propter  homicidia,  quae  quasi 
cotidie  flebant 


*)  Über  die  Bedeutung  von  familia  in  dieser  Zeit,  vgl.  oben  S.  28, 29, 37. 
*)  VV.  ü.  47. 


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393 


convaluerunt,  ut  etiam  in- 
numerabilia  inter  se  fterent 

homicidia,  et  in  hoc  maximum  ob  illud  maximum  detrimentum 

detrimentum  utraque  pate-  nostrae  ecclesiae 
retur  ecclesia. 

2)  cum  consilio  meorum  fidelium  cum  consilio  nostrorum  fidelium 
id  ordinäre  disposui  hanc  correctionem  fieri  decre- 

istud  constitui  decretum  vimus 

Vielleicht  könnte  man  noch  den  Einwand  erheben,  dass  die 
Übereinstimmung  zwischen  den  beiden  Gesetzen  zwar  bestehe, 
aber  dem  Burchards  Priorität  zukomme.  Zunächst  ist  es  aber 
doch  sehr  unwahrscheinlich,  dass  ein  königliches  Decret  einem 
einzelnen  Abschnitte  eines  bischöflichen  Gesetzes,  der  noch 
dazu  nur  die  Verhältnisse  der  bischöflichen  Hintersassen  ordnet, 
vielfach  im  Wortlaut  gefolgt  sei,  während  das  umgekehrte  sehr 
wohl  möglich  ist.  Ferner  wird  auch  in  dem  Decrete  Hein- 
richs II.  sowohl  für  den  Bischof  wie  für  den  Abt  eine  Straf- 
satzung für  den  Fall  festgesetzt,  dass  sie  das  kaiserliche  Ge- 
setz für  ungültig  erklären  würden.  Endlich  lässt  sich,  worauf 
Bresslau1)  aufmerksam’ gemacht  hat,  aus  der  eigentümlichen 
Form  der  Urkunde  schliessen,  dass  der  Kaiser  sie  aus  „eigener 
Initiative“  erlassen  hat;  „abweichend  von  dem  herkömmlichen 
Stil  der  Kanzlei“  wird  nämlich  der  „Kaiser  mehrfach  nicht  im 
Plural,  sondern  im  Singular  eingeführt.“  *) 

So  ist  also  das  Gesetz  Burchards  später  als  das  kaiserliche 
Decret  von  1023  Dezember  2.  Freilich,  dass  Burchard  sein 
umfangreiches  Gesetz,  das  er  nach  seiner  eigenen  Angabe  noch 
mit  Clerus,  Vasallen  und  Hintersassen  beraten  hat,  noch  im 
Dezember  1023  hätte  veröffentlichen  können,  ist  jedenfalls  sehr 
unwahrscheinlich.  So  bleibt  denn  als  terminus  a quo  das 
Jahr  1024. 

Den  äussersten  terminus  ad  quem  giebt  der  Tod  Bischof 
Burchards,  welcher  am  20.  August  1025  erfolgte.’)  Eine  noch 
*)  Jahrbücher  Heinrich  II  Bd.  III  S.  295. 

*)  Bresslau  a.  a.  0.;  nach  diesem  schützt  der  Umstand  die  Urkunde 
Heinrichs  für  Worms  und  Lorsch  gegen  jeden,  aus  der  erwähnten  Abweichung 
im  Kanzleibrauch  abgeleiteten,  Verdacht,  dass  dieselbe  Abweichung  sich  auch 
in  der  Urkunde  Heinrichs  für  Lorsch  und  Fulda  von  1023,  März  9,  findet 
(Bresslau  ibid.  N.  2). 

*)  cf.  Calendarium  necrolog.  Weissenburg.  (Boehmer  Fontes  IV  p,  313) 


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394 


nähere  Bestimmung  gewährt  aber  die  Nachricht  der  vita  Bur- 
chardi,1)  dass  Burchard  einige  Zeit  vor  Juli  1025  von  zuneh- 
mender Körperschwäche  befallen  wurde  und  dem  Tode  stünd- 
lich entgegensah.  Als  König  Konrad  dann  vom  18.  bis  24.  Juli 
seinen  alten  Lehrer  besuchte,  da  war  Burchard,  als  Konrad 
ihm  acht  Tage  früher  seinen  Besuch  ansagte,  schon  so  krank, 
dass  er  kaum  hoffen  konnte,  den  König  empfangen  zu  können. 
Fast  als  Wunder  wurde  es  angesehen,  dass  Burchard  nach 
langem  Gebet  seine  Kräfte  soweit  zurückerhielt,  dass  er  den 
Besuch  des  Königs  entgegennehmen  konnte.*) 

Mithin  ist  es  höchst  unwahrscheinlich,  dass  die  Publicatiou 
oder  gar  die  Beratung  und  Abfassung  von  Burchards  Gesetz  in 
dessen  Sterbejahr  fallen. 

Mau  kann  mit  an  Gewissheit  grenzender  Wahrscheinlich- 
keit das  Jahr  1024  als  das  der  Entstehung  des  Gesetzes  an- 
sehen,  während  Dezember  1023  bis  August  1025  mit  Sicher- 
heit als  die  äussersten  möglichen  Grenzen  seiner  Entstehung  be- 
zeichnet werden  müssen. 

und  die  Notix  des  Klerikers  llermann  im  Ckartular.  Wormat  (S.  S.  IV  p. 
829  N.  1). 

')  c.  21  (S.  S.  IV  p.  844):  Conradits  . . . rerum  potitns  est.  Post 
hinc  bienninm,  quam  rex  in  rcgni  solium  est  sublimatns,  imbecillitas  vi- 
rium  servo  Dei  ultra  solitum  accrescere  coepit . Onmque  languore  nimio  aegro- 
taret,  intra  civitatem  se  recepit,  diem  et  horam  futurae  redemptionis  exspec- 
tans.  Et  cnm  aliquanto  tempore  aegritudine  magna  detineretnr, 
legati  regis  ad  eum  veniebant.  Ans  diesen  Worten  kann  nur  soviel  ent- 
nommen werden,  dass  Burchard  beim  Besuch  Konrads,  18. — 24.  Juli  1025. 
(dies  Datum  bat  B resslau  Konrad  II  Bd.  I S.  90  festgestellt)  schon  einige 
Zeit  (wohl  mehrere  Monate)  sehr  krank  war.  Würde  man  das  „post  hinc 
biennium,  quam  rex  ....  est  sublimatus“  als  zwei  Jahre  nach  der  Wahl 
Konrads  fassen,  so  würde  die  Krankheit  Burchards  seit  December  1026  einen 
ernsten  Charakter  angenommen  haben,  während  er  doch  schon  am  25.  Aug. 
1025  gestorben  ist;  denn  die  Wahl  Konrads  II.  fand  nach  Bresslau  (ibid. 
S.  25,  26)  am  6.  oder  7.,  die  Krönung  am  8.  December  1024  statt.  So  kann 
hier  der  Ausdruck  post  hinc  biennium  höchstens  als  im  zweiten  Kalenderjahre 
nach  dem  Regierungsantritte  König  Konrads  erklärt  werden.  Übrigens  ist 
der  ganze  Ausdruck  auf  Rechnung  wörtlicher  Nachbildung  einer  Stelle  von 
Alpert  de  diversitate  temporum  zu  setzen  (vgl.  Manitius  Neues  Archiv  XIII 
S.  197  ff.,  bes.  S.  201)  und  eben  desshalb  ohne  besonderen  Wert. 

’)  Vita  Burchardi  1.  c. 


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Anhang  III. 


Die  Datierung  der  Wormser  Mauerbauordnung. 


Es  dürfte  nicht  unangebracht  sein,  noch  einer  anderen 
Wormser  Rechtsquelle,  die  in  der  Arbeit  benutzt  ist,  einige 
Worte  zu  widmen.  Es  bedarf  nämlich  wohl  der  Rechtfertigung, 
dass  oben1)  erklärt  wurde,  die  bekannte  Wormser  Mauerban- 
ordnung*) müsse  dem  Bischof  Theodalach  (891 — 914)  und  nicht 
Bnrchard  (1001—1024)  zugeschrieben  werden.  Die  Angabe  der 
Gründe  für  diese  Behauptung  dürfte  gewiss  nicht  für  unnütz 
erachtet  werden;  entstammt  doch  die  Mauerbauordnung,  je 
nachdem  man  den  einen  oder  den  anderen  der  beiden  Wormser 
Bischöfe  für  ihren  Verfasser  hält,  entweder  schon  der  Wende 
des  neunten  und  zehnten  oder  erst  dem  elften  Jahrhundert. 
Eine  eingehende  Erörterung  dieser  Frage  schien  mir  auch  des- 
halb wichtig,  weil  gerade  neuerdings  Schaube*)  und  Köster4) 
sich  für  Zurückführung  dieses  Documenta  auf  Bischof  Bur- 
chard  ausgesprochen  haben,  was  ich  durchaus  nicht  für  richtig 
halten  kann. 

Es  nennen  nun  von  unseren  Quellen5)  Theodalach  als  den 
Verfasser  die  annal.  Wormat.,*)  Burchard  der  Abdruck  der 

')  8.  83. 

»)  ed.  Falk  in  Forsch,  x.  D.  G.  XIV  398. 

•)  Worms  S.  261. 

«)  S.  82. 

*)  (1.  b.  von  den  für  die  Überlieferung  unserer  Urkunde  in  Betracht 
kommenden  Handschriften  und  Drucken.  Vgl.  über  diese  Falk  a.  a.  0.  8.  397. 

*)  Boehmer  Fontes  II  209. 


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396 


Bauordnung  bei  Schannat1)  und  die  Zorn-Flersheimsche  Chronik 
in  Arnolds  Ausgabe.*)  Dagegen  führt  eine  andere  Hand- 
schrift derselben  Chronik  die  Bauordnung  auf  Theodalach 
zurück.’) 

Gerade  diese  Handschrift  stammt  aber  nach  Boos  von 
Zorn  selbst 4)  und  ihre  Lesart  hat  daher  jedenfalls  mehr  Wert, 
als  die  aller  späteren  Überarbeitungen  der  Chronik. 

Jedenfalls  ist  nun  die  bei  Boehmer  vorliegende  Überliefe- 
rung der  Bauordnung  besser  als  die  bei  Arnold  in  der  Ausgabe 
von  Zorn-Flersheim  und  die  bei  Schannat  gegebene.  Dass  sie 
der  ersteren  vorzuziehen  ist,  folgt  daraus,  dass  der  Eisbach 
bei  Boehmer  wie  auch  sonst  öfters5)  Isana,  bei  Aruold  Isara 
genannt  wird,  welche  Form  sonst  nicht  nachweisbar  ist.  Dass 
die  Überlieferung  bei  Boehmer  besser  als  die  bei  Schannat  ist, 
folgt  aus  ihrer  grossem  Vollständigkeit  bezüglich  der  zum  Bau 
verpflichteten  Ortschaften,  da  Weglassung  solcher  bei  Entleh- 
nung von  Nachrichten  ans  früheren  Chronisten  weit  wahrschein- 
licher als  Hinzufügung  ist. 

Hierzu  kommt  noch , dass  gerade  der  Umstand,  dass  in 
Burchards  Biographie  seine  Sorge  für  Herstellung  der  Mauern 
besonders  gerühmt  wird,®)  einen  spätem  Schriftsteller  veran- 
lassen konnte,  Burchard  statt  des  ihm  überlieferten  unbekann- 
teren Theodalach  für  den  Urheber  der  Bauordnung  zu  erklären; 
hingegen  könnten  Gründe  zu  einer  Änderung  von  Burchard  in 
Theodalach  kaum  gefunden  werden. 

Diesen  Erwägungen  gegenüber  fällt  der  von  Schaube7)  für 
die  Zurückführnng  der  Bauordnuug  auf  Burchard  angeführte 
Grund,  dass  „zu  Theodalachs  Zeit  der  Bischof  noch  gar  nicht 
Herr  der  Stadt  war“  nicht  allzu  sehr  ins  Gewicht.  Zweifellos 
haben  die  Bischöfe  schon  damals  vielfach  die  Stadtherrschaft 

')  I 2ll. 

*)  ed.  Arnold  S.  39. 

’)  «.  Arnold  a.  a.  0.  S.  G. 

*)  Archival.  Ztschr.  herausg.  von  v.  Löher  IX  (1884)  S.  113.  Arnold 
nnd  Köster  sind  allerdings  anderer  Ansicht.  Jedoch  würde  die  Unter- 
suchung, wem  hier  Recht  zu  geben  ist,  viel  zu  weit  führen;  sie  ist  auch 
für  die  in  diesem  Anhänge  behandelte  Frage  nicht  von  besonderer  Wichtigkeit. 

‘)  W.  U.  43,  44,  50,  104. 

•)  S.  S.  IV  p.  835  c.  6. 

’J  Worms  S.  261, 


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397 


erstrebt  und  bei  ihnen  günstigen  Verhältnissen  ausgeübt.  So 
schlägt  z.  B.  Erzbischof  Liutbert  von  Mainz  zweimal  die  seine 
Stadt  bedrohenden  Normannen  (883  und  885).1)  Von  der  Ver- 
teidigung der  Stadt  bis  zu  Anordnungen  betreffs  Erhaltung  der 
Mauern  ist  doch  nur  ein  Schritt.  Ja.  der  Umstand  scheint 
noch  eher  der  Berücksichtigung  wert  zu  sein,  dass  das  Ende 
des  neunten  und  der  Anfang  des  zehnten  Jahrhunderts  gerade 
die  Zeit  der  Anlage  vieler  neuen  Befestigungen  und  der  Wieder- 
herstellung älterer  ist,“)  indem  die  Einfälle  der  Normannen 
und  Ungarn  zu  derartigen  Massregeln  Veranlassung  gaben. 

So  sprechen  denn  die  in  Betracht  kommenden  Thatsachen 
übereinstimmend  dafür,  dass  die  Wormser  Mauerbauordnung 
von  Bischof  Theodalach  also  aus  der  Wende  des  neunten  und 
zehnten  Jahrhunderts  herrührt. 


*)  B-W  VIII  46,  49  (Annal.  Fuld.  S.  S.  1 p.  398,  401). 

’)  vgl.Waitz,  Heinrich  I S.  96,  97,  Ranke,  Weltgeschichte  VIS.  134  ff. 


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Anhang  IV. 


Zum  Gerichtsstand  der  städtischen  Immobilien. 

Es  ist  oben  *)  nachgewiesen  worden,  dass  alle  Stadtbewohner 
ihren  allgemeinen  Gerichtsstand  vor  dem  Schöffengerichte 
hatten,  und  dass  nur  in  Folge  besonderer  Standesrechte  ein- 
zelne Personenclassen  diesem  Stadtgerichte  in  bestimmten 
Fällen  entzogen  waren.  Ebenso  ist  auch  nachgewiesen,  dass 
dies  Stadtgericht  auch  für  Rechtstreitigkeiten  über  allen  in  der 
Stadt  gelegenen  Grundbesitz  competent  war.*) 

Es  dürfte  nun  jedenfalls  nicht  unangebracht  sein,  eine  be- 
sondere Untersuchung  der  Prüfung  der  dieser  Ansicht  entgegen- 
stehenden Behauptungen  Arnolds,  Sohms  und  Hoenigers 
zu  widmen.  Die  Theorien  dieser  Forscher  stimmen,  wenn  sie 
auch  unter  einander  vielfach  abweichen,  doch  darin  überein, 
dass  nach  ihnen  für  einen,  jedenfalls  nicht  unbedeutenden,  Teil 
der  städtischen  Immobilien  und  daher  auch  für  einen  Teil  der 
Stadtbewohner  besondere  grundherrliche  Gerichte  bestanden 
haben. 

Arnold*)  behauptet  bekanntlich,  dass  vor  den  Stadt- 
gerichten nur  die  Rechtssachen  des  freien  Grundbesitzes 
verhandelt  seien,  während  über  den  zu  Zins  ausgeliehe- 
nen Besitz  der  geistlichen  Stifter  deren  grundherrliche  Ge- 
richte entschieden  hätten.  Er  beruft  sich4)  zum  Nachweis 

»)  S.  252,  253. 

*)  a.  S.  247,  248. 

*)  Eigentum  S.  160,  161. 

‘)  a.  a.  0.  3.  161,  162. 


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399 


dieser  Ansicht  hauptsächlich  auf  die  Thatsache,  dass  wir, 
insbesondere  für  Basel,  eine  grosse  Anzahl  von  Urkunden  be- 
sitzen, in  welchen  Rechtsgeschäfte  über  geliehenen  Besitz  nicht 
von  den  gewöhnlichen  bürgerlichen,  sondern  von  den  geist- 
lichen Gerichten,  namentlich  von  dem  bischöflichen  Official  be- 
urkundet werden.  Hier  treten  nun  als  die  Inhaber  des 
geliehenen  Besitzes  meist  Handwerker  auf,  während  für  die 
von  den  städtischen  Patriciern  im  13.  und  14.  Jahrhundert 
abgeschlossenen  Rechtsgeschäfte  vielfach  vom  Rat  oder  Schult- 
heissengericht ausgestellte  Urkunden  vorliegen.1)  Daraus  schliesst 
nun  Arnold,*)  dass  die  Handwerker  eist  am  Ende  dieser  Pe- 
riode, an  welchem  sie  auch  in  den  Rat  gelangten,  völlig  von 
den  Schranken  des  Hofrechts  und  dem  grundherrlichen  Gerichts- 
stände befreit  worden  seien. 

Während  sich  Sohra3)  diesen  Ausführungen  Arnolds  an- 
schloss, kam  Hoeniger*)  auf  Grundlage  der  Kölner  Schreins- 
urkunden zu  von  diesen  Arnoldschen  Behauptungen  abweichen- 
den Ergebnissen.  Hatte  schon  Ar  nol  d 3)  die  Vermutung  geäussert, 
dass  sich  in  Städten,  wie  Köln,  Mainz  und  Worms,  die  Entwicklung 
des  städtischen  Immobilienrechts  zu  freieren  Verkehrsformen 
schneller  abgespielt  haben  mochte  als  in  Basel,  so  nahm  Hoe- 
niger  geradezu  zwei  verschiedene  Entwicklungsreihen  an,  von 
denen  nur  die  eine  mit  den  von  Arnold  für  Basel  behaupteten 
Forschungsergebnissen  übereinstimme.  Neben  dem  in  , geist- 
licher Hand  und  unter  Hofrecht  stehenden  Gute“  habe  es  noch 
besonderen  „unter  Stadtrecht  stehenden  Grundbesitz“  ge- 
geben; derselbe  sei  aber  bei  Arnold,  der  nur  Urkunden  kirch- 
licher Provenienz  benutzte  und  das  erst  neuerdings  erschlossene 
Kölner  bürgerliche  Urkundenmaterial  (Schreinskarten)  noch 
nicht  kannte,  ganz  unberücksichtigt  geblieben.*)  Im  Gegensätze 
zu  der  Darstellung  dieses  Forschers  glaubt  Hoeniger  betonen 
zu  müssen,  „dass  nicht  das  geistliche  Gut  zuerst  in  die  Bahnen 
einer  freieren  Entwicklung  einlenkte,  sondern  dass  die  eigen- 

‘)  vgl.  auch  Heus ler  Basel  8.  174,  176. 

*)  a.  a.  0.  S.  163. 

*)  Ztscbr.  der  Savigny-Stiftung  f.  Kechtsgesch.  I (1880)  8.  49. 

*)  Conrads  Jahrb.  für  Nationalök.  Bd.  42  I.  8.  670 — 574. 

*)  vgl.  Eigentum  8.  75,  164,  260. 

*)  Hoeniger  a.  a.  0.  8.  672. 


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400 


tümlicli  städtischen  Rechtsformen  im  Grundbesitzverkehr  umge- 
staltend wirkten  zu  einer  Zeit,  als  noch  das  kirchliche  Eigen- 
tum iu  den  Fesseln  des  Hofrechtes  lag.“  l) 

Versteht  man  hier  „unter  den  Fesseln  des  Hofrechtes“ 
nur  die  unter  hofrechtlichen  Verhältnissen  üblichen  Abgaben, 
so  wird  aus  dem  in  unseren  Städten  überlieferten  Quellenstoffe 
kein  Einspruch  gegen  die  Richtigkeit  dieser  Ansicht  erhoben 
werden  dürfen.  Freilich  sind  gerade  die  wichtigsten  hofrecht- 
lichen Abgaben,  die  Erbgebühren,  in  Speier  1111  und  1182 
und  in  Worms  1114  ausdrücklich  für  alle  Einwohner  beseitigt 
worden,*)  und  es  findet  sich  keine  Spur  davon,  dass  sie  etwa 
von  den  Personen,  welche  geistliche  Güter  zu  Zins  inne  hatten, 
noch  später  erhoben  wurden.  Hingegen  kann  allerdings  als 
feststehend  betrachtet  werden,  dass  es  im  dreizehnten  Jahr- 
hundert in  Worms  Häuser  gegeben  hat,  von  welchen  der  hier 
„Wandlung“  genannte  Ehrschatz,  d.  h.  eine  an  den  Obereigen- 
tümer bei  Handänderungen  des  geliehenen  Gutes  zu  leistende 
Abgabe,*)  erhoben  wurde,  und  andere  Häuser,  die  von  dieser 
Abgabe  frei  waren;4)  diese  Erscheinung  wird  aber  wenigstens 
mit  einem  gewissen  Rechte  mit  der  von  Hoeniger  consta- 
tierten  Unterscheidung  von  Stadtrechtsgut  und  geistlichem  Be- 
sitz in  Parallele  gestellt  werden  dürfen.*) 

Nun  kann  man  jedoch  die  Behauptung  Hoenigers,  dass 
das  kirchliche  Eigentum , während  das  bürgerliche  in  die 
Bahnen  einer  freien  Entwicklung  einlenkte,  noch  „in  den 
Fesseln  des  Hofrechts“  *)  lag  und  sie  erst  im  14.  Jahr- 
hundert abgestreift  habe,7)  auch  so  verstehen,  dass  dies  kirch- 


')  a.  &.  0.  S.  574. 

*)  vgl.  oben  S.  222—25,  229. 

*1  vgl.  über  dieselbe  Arnold  Eigentum  S.  70,  73  ff. 

*)  Es  gebt  dies  daraus  hervor,  dass  Personen,  welche  eine  Rente  auf 
ihr  Haus  gelegt  haben,  1297  das  Recht  erhalten,  dieselbe  anf  andere  Häu- 
ser, de  quibus  . . . ius,  quod  vulg&riter  dicitur  wandelunge,  non  est  dari 
consuetum,  zu  übertragen,  (W.  D.  478),  vgl.  auch  462  und  Baur  Hess.  Urk. 
II  N.  781  p.  780. 

*)  Auch  Arnold  (Eigent.  S.  75)  meint,  hieraus  schliessen  zu  kennen, 
dass  die  Wandelung  „in  Worms  von  Anfang  an  nicht  allgemein  gewesen, 
denn  Ehrschatzablösungen  waren  in  dieser  Zeit  noch  selten.* 

•)  an  der  oben  S.  399  N.  4 citierten  Stelle  S.  672. 

*)  ibid. : „Han  kann  im  allgemeinen  sagen,  dass  im  14.  Jahrhundert 


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401 


liehe  Eigentum  bis  dahin  seinen  Gerichtsstand  vor  beson- 
deren grundherrlichen  Gerichten  gehabt  habe.  Diese 
Auffassung  liegt  um  so  näher,  als  sich  Hoeniger  ja,  soweit  nicht 
das  von  ihm  sogenannte  Stadtrechtsgut  in  Betracht  kommt, 
der  Ansicht  Arnolds  angeschlossen  hat;1)  dieser  Forscher 
hat  sich  aber  für  exclusiven  grundherrlichen  Gerichtsstand  der 
von  geistlichen  Instituten  verliehenen  Güter  ausdrücklich  aus- 
gesprochen.*) 

Die  Wichtigkeit  des  behandelten  Gegenstandes  mag  es 
entschuldigen,  dass  ich  hier  noch  einmal  auf  den  früher  be- 
sprochenen Fall  des  von  zwei  geistlichen  Instituten  abge- 
schlossenen Grundstücksverkaufs  vor  dem  Stadtgericht  und  der 
Inanspruchnahme  ebendesselben  zur  Entsetzung  eines  mit  dem 
Zinse  säumigen  stiftischen  Hintersassen  seitens  seines  Stiftes 
erinnere.*)  Ferner  ist  auch  schon  gezeigt  worden,  dass  sich 
das  Verbot  der  Veräusserung  von  Immobilien  auf  dem  Todten- 
bette  auf  alle  in  der  Stadt  gelegenen  Grundstücke  bezog.4) 
Endlich  lässt  sich  nach  weisen,  dass  sich  die  Stifter  ihr  Recht 
auf  Zinsbezug  bei  solchen  Grundstücken , die  sie  zur  Erbleihe 
austhaten,  von  Rat  und  Stadtgericht,  ausdrücklich  bestätigen 
Hessen.5) 

das  ursprünglich  unter  ungeschwächtem  Hofrecht  stehende  geistliche  Eigen- 
tum auf  diejenige  Entwicklungsstufe  gelangt  ist,  welche  für  das  zu  Stadt- 
recht behandelte  Bürgergut  mit  dem  Stadtrecht  selbst  gegeben  war.“ 

‘)  ibid. 

*)  Eigentum  S.  160,  161. 

*)  vgl.  oben  S.  247  N.  6.  Besonders  sei  hier  noch  anf  eine  Urkunde  Bischof 
Beringers  von  Speier  verwiesen  (Remling  N.  164).  Danach  hatten  die  dor- 
tigen Canoniker,  wenn  sie  sich  behufs  Einklagung  der  ihnen  als  Präbenden 
zustehenden  Einkünfte  gegen  ihre  „censuales“  au  das  weltliche  (Bericht 
(iudicium  saeculare)  wandten,  viele  Zeit  versäumt,  bis  sie  ihr  Recht  durch- 
gesetzt. Der  Bischof  erlaubte  desshalb  1225,  März  4,  dass  in  solchem  Falle 
der  Decan  oder  Vicedecan  der  Kirche  den  säumigen  Ziusmann  excommunicierc. 
So  gehörten  also  Klagen  gegen  censnales  der  Kirche  unbestritten  vor  das 
weltliche  Gericht ; auch  Beringer  gestattet  der  Geistlichkeit  nur  Anwendung 
geistlicher  Zwangsmittel,  um  ihr  Recht  zu  erlangen.  Hier  kann  aber  unter 
weltlichem  Gericht  nur  das  Stadtgericht  gemeint  sein,  in  welchem  eben  da- 
mals eine,  unter  Umständen  Säumnis  des  Schuldners  begünstigende,  Änderung  der 
Modalitäten  der  Klagerhebung  eingetreten  war,  (Sp.  U.  44,  vgl.  oben  S.  303, 304.) 

*)  oben  8.  261,  252. 

*)  Ausser  dem  schon  oben  S.  247  besprochenen  Falle  (Stumpf,  Acta 
Ko  eh  ne,  Ursprung  dar  8tadtverfa*saug  in  Worms,  Speier  and  Heinz.  SS 


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402 


Nun  hat  sich,  wie  erwähnt,1)  Arnold*)  zum  Beweise  der 
Zuständigkeit  besonderer  grundherrlicher  Gerichte  für  die  zur 
Erbleihe  ausgethanen  Grundstücke  darauf  berufen,  dass  zahl- 
reiche Urkunden  geistlicher  Gerichte  und  ganz  besonders  solche 
des  Officials  über  Rechtsgeschäfte  vorliegen , welche  über  ab- 
hängigen Grundbesitz  und  unter  gerichtlichen  Formen  vorge- 
nommen sind.  Solche  Urkunden  sind  auch  aus  unseren  Städten 
erhalten.*) 

Dennoch  lässt  sich  gerade  aus  einer  genaueren  Betrach- 
tung der  Urkunden  des  geistlichen  Gerichts  ersehen,  dass  die 
Vornahme  von  Rechtsgeschäften  vor  dem  Offlcial  nicht  da- 
durch zu  erklären  ist,  dass  er  wie  in  der  geistlichen,  so 
auch  in  der  grundherrlichen  Gerichtsbarkeit  den  Bischof  ver- 
treten habe.4)  Schon  Arnold5)  selbst  räumte  ein,  dass  auch 
in  Sachen,  in  denen  das  bischöfliche  Gericht  an  sich  nicht  com- 
petent  war,  es  als  Schiedsgericht  angerufen,  und  dass  der 
ergangene  Schiedsspruch  dann  von  dem  Offlcial  der  Sicherheit 
halber  beglaubigt  werden  konnte.  Die  neuere  Forschung  hat 
jedoch  gezeigt,  dass  man  sich  im  13.  und  14.  Jahrhundert  zur 
Bekräftigung  von  Verträgen  jeder  Art  an  das  Officialat 


Magnat.  N.  84),  in  welchem  das  Petersstift  einen  säumigen  Zinsmann  durch 
ein  Urteil  des  Schöffengerichts  entsetzen  und,  als  es  ihm  sein  Zinsgut  wieder 
zurückgegebeu,  die  Urkunde  von  derselben  Behörde  besiegeln  lässt,  vgl.  auch 
noch  W.  U.  270,  wo  von  einem  einem  Stifte  gezahlten  Grundzinse  gesagt 
wird : que  nobis  debetur  singulis  annis  curia  de  eadem  . . , ut  plenius  docere 
possumus  per  litteram  sigillo  civitatis  Wormatiensis  munitam  Vgl. 
ferner  für  Worms  W.  U.  413,  416,  Baur,  Hess.  Urk.  II  N.  669,  Arnold  Eigent. 
S.  445,  470,  für  Speier  8p.  U.  138  u.  535,  für  Mainz  Baur  ibid.  III  N.  947, 
979,  980  etc. 

*)  s.  oben  398,  399. 

*)  Eigent.  S.  161,  vgl.  bes.  auch  die  S.  261  ff.  gegebenen  Urkunden- 
auszüge. Soweit  es  sich  in  den.  Arnold’schcn  Deductionen  nur  um  specifisch 
Baseler  Verhältnisse  handelt  wie  *.  B.  um  die  dortigen  iurati  ecclesiae,  würde 
die  Erörterung  der  Gründe,  aus  denen  ich  ihm  gegenüber  meine  abweichenden 
Forschungsergebnisse  aufrechterhalte,  an  dieser  Stelle  zu  weit  führen. 

*)  vgl.  für  Worms  W.  U.  270,  336,  466,  467,  473—476,  Baur,  He» 
Urk.  II  N.  696,  638,  862,  871,  für  Speier  Sp.  U.  108,  118,  123,  147,  für 
Mainz  Baur  ibid.  II  N.  644,  688,  V N.  508  etc. 

*)  Diese  Ansicht,  von  der  sich  Arnold  offenbar  leiten  lässt,  ist  von 
Sohm  an  der  S.  399  N.  3 erwähnten  Stelle  ausdrücklich  ausgesprochen. 

*)  Eigent.  S.  162. 


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403 


wandte,  um  bei  etwaigen  spateren  Streitigkeiten  sein  Recht 
auf  ein  ordnungsmässig  ausgestelltes  und  untersiegeltes  Docu- 
ment  stützen  zu  können.')  Für  diejenigen,  welche  von  geist- 
lichen Stiftern  Grundstücke  zur  Erbleihe  erhalten  hatten,  lag 
es  daher  nahe,  die  verschiedenen  Geschäfte,  die  mit  diesen 
Gütern  vorgenommen  werden  konnten,  wie  Erbteilungen,  After- 
leihe, Verkauf  vor  dem  geistlichen  Gerichte  vorzunehmen  und  von 
demselben  beurkunden  zu  lassen.  Ebenso  konnten  auch  die  Stifter 
ihre  eigenen  Verleihungen  durch  eine  von  ihnen  selbst  oder 
vom  Official  ausgestellte  Urkunde  sichern ; doch  haben  sie  sich 
auch  nicht  selten  eine  Urkunde  des  weltlichen  Gerichts  über 
ihre  Verleihungen  verschafft.*) 

Die  Ursache,  aus  welcher  die  Rechtsgeschäfte  über  Immo- 
bilien vor  den  geistlichen  Gerichten  vorgenommen  werden 
konnten,  liegt  darin,  dass  die  wirkliche  gerichtliche  Auflassuug, 
die  Auflassung  vor  dem  Stadtgericht*),  damals  noch  nicht  obli- 
gatorisch war.1) 


*)  S.  darüber  bes.  die  schönen  Ausführungen  Schulte'«  in  Strassb. 
Urkb.  Bd.  III  S.  XIV — XXIX.  Danach  wurden  vom  geistlichen  Gericht  Ur- 
kunden über  jede  Art  von  Rechtsgeschäften  beglaubigt  (a.  a.  0.  S.  XXVII, 
XXXIII  ff.);  ferner  wird  in  Strassburg  beim  städtischen  Gericht  eiue  vom  geist- 
lichen Gerichte  gesiegelte  Urkunde  ebenso  zum  Urkundeubeweis  zngelasseu, 
wie  wenn  sie  mit  dem  Stadtsiegel  beglaubigt  ist  (a.  a.  0.  S.  XXII).  Endlich 
war  zeitweise  „das  bischöfliche  Hofgericht  fast  die  einzige  Urkuuduugsbehiirde“ 
im  Bistum  Strassburg,  während  gerade  damals  „die  Beurkundung  von  Rechts- 
geschäften Regel,  die  Nichtbeurknndung  Ausnahme  war.“  (a.  a.  0.  S.  XXVII.) 
Vgl.  auch  B ress  lau,  Urkl.  S.  638:  „Höhere  richterliche  Behörden,  weltliche  und 
geistliche,  und  unter  letzteren  besonders  die  bischöflichen  Hofgerichte  haben 

Rechtsgeschäfte  aller  Art,  die  vor  ihnen  verlautbar  wurden, 

. . beglaubigt.'  Ähnliches  sagt  in  Bezug  auf  die  Officialate  in  Fraukreieh 
Fournier  in  Biblioth.  de  l'ecole  des  ebartes  i 40  (Paris  1879)  p.  309. 

«)  vgl.  oben  S.  401  N.  5. 

')  Dass  die  Leihe,  welche  nicht  vor  dem  Stadtgericht  geschah,  nur  als 
„aussergerichtlicher  Akt*  betrachtet  werden  kann,  hat  auch  schon  v.  Below 
Hiat.  Ztschr.  N.  F.  Bd.  22  (1887)  8.  242  erkannt. 

')  Dafür,  dass  die  gerichtliche  Auflassung  wenigstens  in  Suddeutschland 
bis  zum  Ausgange  des  Mittelalters  nicht  obligatorisch  war,  vgl.  Brunuer 
in  v.  Holtzendorffs  Encyclop.  d.  Rw.  (Leipz.  1889)  S.  274,  Stobbe  in  Iherings 
Jahrb.  f.  Dogm.  des  Prvtrs.  Bd.  XII  (1873)  S.  166;  cf.  auch  Heusler  Inst. 
II  S.  88  ff  Über  die  entgegenstehende  Ansicht  Sohms  bezüglich  der  südd. 
Bischofsstädte  vgl.  die  unten  folgenden  Ausführungen. 

S8* 


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404 


Wohl  mochte  besonders  da,  wo  Einspruch  von  Erben  zu 
befürchten  war,1)  die  Vornahme  der  Auflassung  im  Schöffen- 
gericht, das  ja  bei  Rechtsstreitigkeiten  über  diese  Grundstücke 
entschied , sehr  wünschenswert  erscheinen.  In  anderen  Fällen 
aber  konnte  man  sich  auch  mit  hinreichender  aussergerichtlicher 
Beglaubigung  des  geschehenen  Rechtsgeschäfts  begnügen.  Statt 
an  Schultheiss  und  Schöffen  wandte  man  sich  dann  an  andere 
Personen.  So  haben  wir  z.  B.  aus  dem  Anfänge  des  dreizehnten 
Jahrhunderts  eine  Urkunde,  nach  welcher  man  eine  Gutsüber- 
tragung in  einer  Synode  vornahm  und  dann  vom  Bischof  beur- 
kunden Hess.“)  So  konnte  man  denn  die  Rechtsgeschäfte  über 
Immobilien  auch  von  den  geistlichen  Gerichten  und  besonders 
dem  Official  beglaubigen  lassen.5) 

Daraus , dass  man  sich  dieser  Form  der  Beglaubigung 
vielfach  bei  Rechtsgeschäften  über  Immobilien  der  geistlichen 
Stifter  bediente,  kann  also  nicht  geschlossen  werden,  dass  diese 
Güter  oder  gar  die  Paciscenten 4)  vor  dem  Official  ihren 
ordentlichen  Gerichtsstand  gehabt  hätten. 

Als  sicheren  Beweis  für  die  Unrichtigkeit  dieser  Ansicht 
können  wir  die  Urkunden  betrachten,  in  welchen  Stadtgericht 
und  geistliches  (also  nach  Arnold,  Sohm  und  Hoeniger  hier 
als  grundherrlich  thätiges)  Gericht  zugleich  in  ein  und  dem- 
selben Documente  ein  über  Grundbesitz  abgeschlossenes  Rechts 
geschäft  bestätigen.5)  Demnach  kann  man  gewiss  nicht  an- 
nehmen, dass  zwei  verschiedene  Arten  von  Grundbesitz  in  den 


')  vgl.  Heu s ler  Instit.  II  S.  88  n.  oben  S.  261,  262. 

*)  W.  U.  133 : coram  nobis  iu  public«  sinado  . . . tradidit. 

*)  Es  sei  hier  noch  speciell  auf  die  bei  Boos  Urkb.  S,  224  Note  erwähnte 
Urkunde  verwiesen,  ein  Vidimus  de«  bischöflichen  Hofgerichtes  zu  Worms, 
das  man  sich  über  eine  kaiserliche  Urkunde,  die  in  Worms  gelegene  Reichs- 
lehen betraf,  geben  lies«.  Auch  sei  zum  Nachweis,  dass  das  geistliche  Ge- 
richt auch  Urkunden  über  Grundbesitz  ausstellte,  wo  es  sich  gewiss  nicht 
um  in  geistlichem  Obereigentum  stehenden  Grundbesitz  handelt,  auf  Banr 
Hess.  Urk.  V N.  109,  228,  S.  390  Note  a.  1282,  N.  484,  495  verwiesen. 

‘)  wie  nach  dem  oben  S.  35  u.  S.  398  angeführten  Arnold  meint. 

•)  Sp.  U.  338:  Nos  iudices  curie  Spirenses  nosque  iudices,  consules  et 
universi  cives  Spirenses  beurkunden  eine  Schenkung  von  Grundbesitz,  vgl. 
auch  Sp.  U 165,  W.  U.  478.  In  Sp.  U.  151  wird  über  einen,  schon  vor  dein 
weltlichen  Gerichte  abgeschlossenen,  Verkauf  noch  eine  besondere  Urkunde  des 
geistlichen  Gerichts  aufgenommen. 


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405 


Städten,  eine,  welche  vor  den  bürgerlichen,  und  eine  andere, 
welche  vor  den  grundherrlichen  Gerichten  ihren  Gerichtsstand 
gehabt,  unterschieden  werden  müssen. 

Ein  Wort  sei  noch  in  Bezug  auf  die  Ansichten  Soli  ms  in 
dieser  Frage  gestattet,  welche  derselbe  bei  Gelegenheit  der 
Untersuchung  des  Ursprungs  der  obligatorischen  Auflassung  ge- 
äussert  hat.1)  Dieser  Forscher  lässt  den  kleinen  städtischen 
Grundbesitz  „in  weitaus  den  meisten  Fällen  aus  ursprünglich  hinter- 
sftssigen  Verhältnissen“  hervorgehen.  Der  Bischof  habe  in  Folge 
seiner  Grundherrschaft  das  Recht  der  Mitwirkung  bei  Übertragun- 
gen jenes  geliehenen  Gutes  besessen,  das  sich  allmählich  in  Eigen- 
tum verwandelt  habe.  So  sei  denn  aus  der  grundherrlichen 
Mitwirkung  bei  Grundbesitzübertragnngen  eine  obrigkeitliche 
geworden  und  namentlich  auch  die  Auflassung  im  Gerichte  des 
bischöflichen  Offlcials  entstanden,  „welcher  mit  der  geistlichen 
auch  die  grundherrliche  Gerichtsbarkeit  des  Bischofs“  aus- 
geübt habe. 

Es  ist  in  der  That  zuzugeben,  dass  in  unseren  Städten  ent- 
schieden in  älterer  Zeit  der  gesammte  Grundbesitz  der  kirch- 
lichen familia,  also  wohl  der  überwiegende  Teil  der  Stadt,  als  im 
Obereigentume  des  Bischofs  stehend  angesehen  wurde.*)  Allein 
nicht  nur,  dass  die  Besitzungen  auswärtiger  Klöster  in  der 
Stadt  wohl  jederzeit  und  diejenigen  der  zur  Diöcese  gehörigen 
Stifter  und  Klöster  seit  dem  elften  Jahrhundert  vom  Bischof 
und  bischöflichen  Hofgericht  mehr  oder  minder  unabhängig 
waren,*)  es  gab  ja  immer  auch  noch  freien  Grundbesitz  in  un- 
seren Städten.4) 

Bnrchards  Verordnung,  dass  der  der  familia  gehörige  Grund- 
besitz nicht  an  ausserhalb  der  familia  stehende  Personen  ver- 
äussert  werden  sollte,')  ist  schwerlich  lange  aufrecht  erhalten 


*)  Ztachr.  <1.  Savigny-Stft.  I S.  49. 

’)  vgl.  oben  S.  34,  35. 

*)  S.  oben  S.  248  N.  2;  vgl.  auch  z.  B.  W.  U.  76  a.  1160,  wo  bei  der 
erblichen  Verleihung  eines  dem  Kloster  Lorsch  gehörigen  Hofes  der  Wormser 
Bischof  nur  als  Zeuge  erscheint. 

4)  Vgl.  oben  S.  32,  33.  Dass  es  — wenn  auch  nur  vereinzelt  — in 
unseren  Stödten  im  dreizehnten  Jahrhundert  auch  wieder  zu  Lehen  ausgetbanen 
Reichsbesitz  gab,  geht  aus  W.  U.  345  hervor. 

»)  S.  oben  S.  34,  35. 


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406 


worden.  Die  diesen  Grundbesitz  betreffenden  Rechtsgeschäfte 
wurden  ja  vor  dem  Schöffengerichte  abgeschlossen.  Allerdings 
fand  dasselbe  unter  Vorsitz  des  Vogt-Burggrafen  und  Schult- 
heissen,  mitunter  auch  des  Bischofs  selbst  statt ; *)  ebenso  hatte 
dieser  auch  auf  die  Einsetzung  der  Schöffen  selbst  Einfluss  ge- 
wonnen. Allein  vor  eben  diesem  Schöffengericht  wurden  auch 
die  Rechtsgeschäfte  des  freien  Grundbesitzes  abgeschlossen  und 
hier  hatten  alle  Stadtbewohner  ihren  Gerichtsstand.*)  Ferner 
hatten  sich  die  Beamten  und  noch  mehr  die  Schöffen  stets  eine 
gewisse  Selbständigkeit  gewahrt;  insbesondere  vertrat  das  vor- 
zugsweise mit  Kaufleuten  besetzte  Schöffencolleg  die  Rechts- 
anschauungen dieses  Standes. 

So  hat  denn  der  Umstand,  dass  die  geistlichen  Stadtherrn 
lange  Zeit  auf  das  Stadtgericht  grossen  Einfluss  hatten,  und 
dass  sie  zugleich  auch  in  älterer  Zeit  Eigentümer  eines  grossen 
Teils  der  Stadt  waren,  mit  der  späteren  Sitte  der  Grundstücks- 
übertragung vor  dem  Official  gar  nichts  zu  thun.  Als  gericht- 
liche Auflassung  kann  nur  die  vor  dem  Stadtgericht  vorgenommene 
betrachtet  werden.  Diese  aber  war  in  unseren  Städten 
wenigstens  vom  11.  bis  14.  Jahrhundert  nicht  obligatorisch.  Es 
lässt  sich  nicht  einmal  behaupten,  dass  sie  entweder  vor  dem 
Schöffengerichte  oder  dem  geistlichen  Gerichte  stattfinden  musste, 
da  sich  auch  reine  Privaturkunden  über  mit  Grundbesitz  vor- 
genommene Rechtsgeschäfte  finden.*) 

*)  S.  W.  D.  127  S.  99  p.  ö:  hanc  curtis  donationem  coram  epis- 
copo  et  consiliariis  Wormaciensibus  publice  ac  solempniter  celebratam,  vgl. 
W.  U.  184,  201,  344,  360,  372. 

*)  Sonst  hatte  Burchard  nicht  für  alle  Einwohner  seiner  Stadt  process- 
und  strafrechtliche  Bestimmungen  treffen  können,  vgl.  oben  S.  33  mit  N.  1. 

*)  S.  z.  B.  W.  U.  76,  385,  Sp.  U.  82.  Vgl.  auch  die  Ergebnisse  der 
Forschungen  Bogenthal’s  für  Würzburg  (Z.  Gesch.  d.  Eigentums  i.  W. 
1878  S.  69—61)  und  Schulte’s  für  Strassburg  a.  a.  0.  S.  XXI,  XXII). 
Letzterer  sagt  in  Bezug  auf  diesen  Ort  für  die  Zeit  von  1226—1330:  ,1)  Eine 
Beurkundung  der  privatrechtlichen  Geschäfte  wird  Begel.  Ein  Zwang  ist 
nicht  vorhanden.  2)  Die  Art  der  Beurkundung  ist  ganz  frei.  Es  finden  sich 
nebeneinander  I’rivaturkunden  und  öffentliche  Urkunden.“  Soweit  aus  dem 
gedruckten  Material  für  unsere  drei  Städte  Schlüsse  gezogen  werden  können, 
dürften  auch  für  sie  diese  beiden  von  Schulte  für  Strassburg  aufgestellten 
Satze  richtig  sein. 


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Anhang  V. 


Die  Urkunden  König  Heinrichs  für  Worms  vom 
August  1232. 


Der  Streit  der  Wormser  mit  ihrem  Bischof  1232  bildet 
eine  der  interessantesten  Episoden  der  Wormser  Verfassungs- 
gesehichte  und  steht  zugleich  durch  das  Eingreifen  Kaiser 
Friedrichs  II.  und  seines  Sohnes  König  Heinrichs  (VII.)  im 
engsten  Zusammenhänge  mit  der  allgemeinen  Reichsgeschichte. 
Wohl  sind  die  Wormser  Vorgänge  von  1232  schon  oft  Gegen- 
stand historischer  Untersuchung  gewesen  und  gerade  der 
Gegensatz,  in  welchem  die  beiden  Urkunden  König  Heinrichs 
vom  3.  und  4.  August1)  stehen,  hat  Arnold,  Schirrmacher, 
Winkelmann,  Dargun  und  Ficker*)  zu  eingehenden  und 
scharfsinnigen  Forschungen  Anlass  gegeben.  Dennoch  dürfte 
es  wohl  angebracht  sein,  diese  beiden  Urkunden  einer  neuen 
Untersuchung  zu  unterwerfen.  Von  den  drei  Forschern,  die 
sich  zuletzt  mit  diesem  Gegenstände  beschäftigt  haben , ist 
ja  der  eine,  Ficker,*)  zu  keinem  festen  Ergebnisse  ge- 
kommen, und  den,  sich  übrigens  widersprechenden,  Behaup- 


*)  W.  D.  167,  158,  vgl.  oben  S.  323,  324. 

*)  vgl.  Arnold  V.  G.  II  S.  26 — 28,  Schirrmacher  Friedrich  II 
(Gött  1859)  IS.  210 — 213,  Wink  el  mann  Friedrich  II  (Berlin  1863)  IS.  429, 
Forsch.  *.  D.  Geschichte  I 30  (Winkelmann),  XI  333,  334  (Schirrmacher), 
XIX  353 — 372  (Dargnn),  Mitteil.  d.  Instit.  f.  »sterr.  Geschichtsforsch.  II 
(1881)  S.  179—221  (Ficker). 

•)  a.  a.  0. 


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408 


tungen  der  beiden  anderen,  Schaube1)  und  Köster*),  kann 
durchaus  nicht  zugestimmt  werden. 

Sowohl  der  allgemeine  Gang  der  Wormser  Verfassungs- 
entwicklung als  die  Reichsgeschichte,  insbesondere  das  Ver- 
hältnis Friedrichs  II.  zu  seinem  Sohne,  darf  hier  wohl  als  be- 
kannt vorausgesetzt  werden.5)  Dagegen  wird  es  nützlich  sein, 
auch  die  Urkunde  Heinrichs  vom  8.  August*)  in  den  Kreis 
unserer  Betrachtung  zu  ziehen.  Fassen  wir  jetzt  kurz  den 
Inhalt  der  drei  erwähnten  Urkunden  zusammen. 

1)  Am  3.  August4)  bestätigt  König  Heinrich  in  Berück- 
sichtigung der  ihm  und  seinen  Vorfahren  geleisteten  treuen 
Dienste  den  Wormsern  die  sämmtlichen  Rechte,  welche  sie  von 
Friedrich  I.,  Heinrich  VI.  und  Friedrich  II.  erhalten  haben. 
Wer  diesen  Privilegien  entgegentrete,  solle  der  königlichen 
Gnade  verlustig  gehen  und  eine  Strafe  von  100  Pfund  Gold 
zahlen  müssen,  welche  zur  Hälfte  an  die  königliche  Kammer, 
zur  Hälfte  an  den  Verletzten  fallen  solle.  Diese  Urkunde  nennt 
zahlreiche  Fürsten  als  Zeugen. 

2)  Auf  Antrag  seiner  Räte,  so  schreibt  Heinrich  am 
4.  August8)  den  Wormsern,  hebt  er  alle  Ratsversammlungen 
(consilia)  und  Brüderschaften  zu  Worms  auf  und  befiehlt  den 
Wormsern,  in  der  Zukunft  von  solchen  Einrichtungen  zu  lassen. 
Auch  schickt  er  den  Erzbischof  von  Mainz , den  Markgrafen 
von  Baden  und  Gerlach  von  Büdingen  zu  ihnen,  damit  diese 
zusammen  mit  dem  Bischof  von  Worms  die  Lage  der  Stadt  zu 
des  Kaisers  und  des  Reiches  Ehre  ordnen.  Ihren  Anordnungen 
sollten  die  Wormser  ohne  Widerstand7)  gehorchen. 

3)  Am  8 August  schreibt  Heinrich  seinen  getreuen  Worm- 
sern,8) dass  er  den  Frieden  zwischen  ihnen  und  ihrem  Bischof 

>)  Worms  S.  299  N.  4. 

*)  8.  103-105. 

*)  vgl.  oben  8.  320  ff. 

*)  W.  U.  160. 

•)  U 167. 

•)  U 158. 

*)  Das  re . . . atione  am  Schlosse  dieser  Urkunde  (Boos  Urkb.  8.  119 
Z.  21)  ist  jedenfalls  nicht,  wie  es  von  Boos  geschieht,  an  remuneratinne, 
sondern  entweder  zu  refr&gatione  oder,  was  aber  wohl  unwahrscheinlicher 
ist,  zu  recnsatione  zu  ergänzen. 

■)  U 160. 


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409 


vermittelt  habe,  indem  er  wünsche,  dass  sie  Rat  und  Brüder- 
schaften auf  seinen  Rat  auflösen  und  die  Gerechtigkeit  des  über 
sie  ergangenen  Bannes  bei  ihm  und  seinem  Hofrat  beschwören 
sollten. ')  Er  habe  beschlossen,  am  29.  August  seine  Vertrauten, 
den  Erzbischof  von  Mainz,  den  Markgraf  von  Baden,  Gerlach 
von  Büdingen  nnd  den  Truchsess  Eberhard  von  Waldburg  zu 
ihnen  zu  schicken;  diese  sollten  unter  ihnen  einen  Vergleich  zu 
Stande  bringen,  der  jeder  Partei  erträglich  scheine. 

Nachdem  schon  der  früheren  Litteratur*)  der  Widerspruch 
zwischen  den  beiden  Urkunden  vom  3.  und  4.  August  aufge- 
fallen war,  glaubte  Arnold’)  diesen  Widersprach  dadurch  er- 
klären zu  können,  dass  er  der  ersten  der  beiden  Urkunden 
lediglich  formell  juristische  Bedeutung  zuschrieb.  In  Folge  des 
königlichen  Privilegs,  welches  die  Verletzung  der  städtischen 
Rechte  verbot,  sei  „die  Busse,  in  welche  die  Stadt  wegen  ihres 
Ungehorsams  gegen  das  Edikt*  (von  Ravenna)  „verfallen  war, 
jetzt  durch  die  Busse  aufgewogen,  welche  der  Bischof  wegen 
Verletzung  der  städtischen  Privilegien  verwirkte.“  Dabei  geht 
Arnold  davon  aus,  dass  Heinrich  in  der  Urkunde  vom 
3.  August  nicht  Wie  in  der  vom  17.  März  versprochen,  die 
Privilegien  der  Stadt  zu  erhalten,  sondern  er  habe  nur  deren 
Verletzung  verboten. 


*)  So  glaube  ich  die  schwer  verständlichen  Worte:  volentes,  ut  cousilium 
vestrum  et  confraternitates  vestras  dimittatis  super  consilium  et  iuretis  bauni 
iosticiam  super  nos  et  consilium  nostrura  Ubersetzerf  zu  mUsaeu.  Zur  Auf- 
fassung von  inrare  super  vgl.  Ducange  IV  462  iurare  super  animara  suam, 
über  den  damals  schon  gewisser  Massen  als  organisierte  Behörde  bestehenden 
Hofrat  vgl.  Isaacsohn,  de  consilio  a Friderico  II  in  Germania  constituto 
(Berol.  1874)  p.  10—16.  Schirrmacher  Friedr.  II  S.  213  übersetzt:  Es 

ist  unser  Wille,  dass  ihr den  Eid  schwört,  bei  Meidung  der  Acht  uus 

und  unserem  Rate  Folge  zu  leisten.“  Die  Wormser  sind  aber  bereits  seit  Mai 
1232  in  der  Reichsacht  (vgl.  oben  S.  323).  Winkelmann  Friedr.  II  S.  429 
erklärt  die  Auslegung  Schirrmacher’s  für  irrig,  will  aber  die  Urkunde 
so  verstehen,  die  königliche  Commission  solle  „am  29.  August  an  die  Stelle 
des  bisherigen  Stadtrates  als  interimistische  Verwaltungsbehörde  treten  nnd 
die  Bürgerschaft  soll  ihr  desshalb  schwören.“  Das  liegt  aber  gewiss  nicht 
in  den  oben  citierten  Worten  und  widerspricht  auch  dem  Schluss  der  Ur- 
kunde: dictis  familiaribus  nostris  credatis  in  biis,  quae  vobis  dixerint 
et  praeceperint  facienda. 

*)  Hegel,  Gesell,  d.  Städtevrfssng.  in  Italien  (Leipz.  1847) II S. 430 N.  1. 

')  II  28. 


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410 


Heinrich  bestätigt  aber  ausdrücklich  alle  Rechte  und  Pri- 
vilegien, also  auch  den  Bestand  des  Rates,  der  den  Wormsern 
in  der  von  Heinrich  für  echt  gehaltenen  Urkunde  Friedrichs  I. 
vom  20.  Oktober  1156')  verliehen  war.  Ausserdem  lässt  sich  in 
der  von  Franklin*)  gesammelten  Praxis  des  Reichshofgerichts 
kein  einziger  Fall  ermitteln , in  welchem  einem  Angeklagten 
die  Rechte,  welche  ihm  durch  Rechtsspruch  aberkannt  waren, 
nachdem  er  schon  wegen  Ungehorsams  gegen  diesen  Rechts- 
spruch in  die  Acht  gethan,  noch  einmal  bloss  zu  dem  Zwecke 
bestätigt  werden,  dass  er  sich  nun  der  endlichen  Aberkennung 
dieser  Rechte  leichter  füge. 

Der  Ansicht  Arnolds  steht  die  von  Schirrmacher*)  ge- 
äusserte  sehr  nahe,  der  meint,  dass  „die  Wormser  Sache  sich 
durch  das  königliche  Schreiben  vom  17.  März  so  heillos  ge- 
staltet habe,  dass  der  König,  um  allen  Teilen  gerecht  zu  wer- 
den, einen  Ausweg  sophistischer  Art  einschlagen  musste,  der 
dem  gesunden  Menschenverstand  der  Wormser  nicht  einleuch- 
tete und  dem  König  bei  der  Nachwelt  den  Vorwurf  der  Doppel- 
züngigkeit einbrachte.“ 

Später  hat  Schirrmac  her4)  diese  Ansicht  wieder  aufge- 
geben und  den  ganzen  Widerspruch  zwischen  den  beiden  Ur- 
kunden für  einen  scheinbaren  erklärt;  er  meint,  dass  sich  die 
behandelten  Urkunden  garnicht  widersprechen.  Dass  insbe- 
sondere die  von  Friedrich  I.  angeblich  gegebenen  und  von 
Heinrich  am  3.  August  bestätigten  Privilegien  durch  die  beiden 
Mandate  nicht  vernichtet  werden,  glaubt  Schirrmacher  daraus 
schliessen  zu  können,  dass  diese  Urkunde  Friedrichs  I.  „trotz 
der  im  Februar  1233  zwischen  dem  Bischof  und  den  Bürgern 
getroffenen  Übereinkunft  und  der  Umbildung  der  städtischen 
Verwaltung  von  Friedrich  II.  1236 5)  nochmals  confirmiert“  wurde. 
Hier  wird  aber  zunächst  das  Privileg  Friedrichs  I.  nur 
mittelbar  als  ein  in  ein  anderes  (dasjenige  Friedrichs  II.  von 
1220)  transsumiertes  bestätigt.  Dann  gehört  aber  das  Privileg 

•)  ü 73  vgl.  oben  S.  267  ff.,  322. 

’)  Reichshofgericht  i.  Ma.  (Weimar  1869),  vgl.  auch  desselben  Sententise 
curiae  regiae  (Hannover  1870). 

*)  Friedrich  II  Bd.  I S.  213. 

4)  Forsch,  i.  D.  G.  XI  333,  334. 

*)  ü 182. 


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411 


zu  einer  Anzahl  von  damals  ausgestellten  Städteprivilegien ;')  in 
denen  Friedrich  nur  als  Kaiser  seine  Verleihungen  aus  seiner 
Königszeit  confirmierte.*)  Damals  mochten  in  der  That  die 
Kanzleibeamten  nicht  prüfen,  ob  einzelne  Bestimmungen  der 
Privilegien  inzwischen  antiquiert  waren.  Ebenso  kann  auch 
dagegen,  dass  in  der  Urkunde  vom  3.  August  die  Zeugennamen 
erschlichen  oder  gefälscht  seien  — selbst  wenn  dies  nicht  der 
Fall  ist  — der  Umstand  nicht  angeführt  werden,  „dass  diese 
Urkunde  von  König  Adolf  1293 s)  wörtlich  wiederholt  wurde.“4) 
Bei  der,  nach  jedem  Regierungsantritt  üblichen  Bestätigung  der 
ihnen  vorgelegten  früheren  Privilegien  haben  die  Könige  und 
ihre  Kanzler  keine  historisch-diplomatisch-juristischen  Studien 
gemacht,  um  sich  der  Echtheit  und  Rechtsgültigkeit  von, 
vor  mehr  als  70  Jahren  erlassenen,  Privilegien  zu  versichern. 

Kaum  zu  erwähnen  brauchen  wir  hier  die  Erklärung, 
durch  welche  Huillard-Bröholles5)  die  Widersprüche  der 
beiden  Urkunden  zu  erläutern  sucht.  Heinrich  habe  aus  Furcht 
vor  seinem  Vater  die  am  3.  gemachten  Zugeständnisse  schon 
am  4.  zurückgenommen.  Winkelmann8)  wendet  dagegen  mit 
Recht  ein,  es  sei  nicht  abzusehen,  warum  sich  der  König  nicht 
schon  am  3.,  sondern  erst  am  4.  August  gefürchtet  habe. 
Aber  auch  Winkelmann  ist  der  Ansicht,  dass  Heinrich  nur 
die  Urkunde  vom  3.  August  aus  eigenem  Willen  erlassen  habe.7) 
Zu  dem  Mandate  vom  4.  sei  er  durch  die  Fürsten  gezwungen 
worden.  Wenn  in  der  Urkunde  vom  3.  zahlreiche  Fürsten  als 
Zeugen  genannt  werden,  so  müsse  dies  Zeugnis  „erschlichen 
oder  gefälscht  sein;  denn  die  Fürsten  wiesen  Heinrich  sofort 
zurecht,  instrncti  de  plenitudine  consilii  musste  er  am 


*)  U 124. 

*)  Vgl.  B-F  2144,  2161,  2162,  2167,  2189.  Insbesondere  sind  auch  noch 
die  politischen  Verhältnisse  von  1236  — Friedrich  hatte  damals  den  Wormser 
Bischof  aus  seiner  Besidenz  vertrieben  — in  Rechnung  zu  ziehen,  vgl. 
oben  8.  331. 

*)  U 452. 

*)  Schirrmacher  Forsch.  XI  S.  333  meint,  dies  wäre  nicht  „denkbar“, 
wenn  die  Urkunde  gefälscht  oder  erschlichen  wäre. 

*)  Hist.  dipl.  Friederidi  II  t.  IV  p.  581  n.  1. 

*)  Friedrich  II  S.  429  N.  1,  Forsch,  z.  D.  ö.  I 30  N.  1. 

’)  a.  a.  0. 


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4.  August  den  Stadtrat  aufheben.“  Ob  die  Zeugeuliste  schon 
mit  dem  übrigen  Inhalte  der  Urkunde  in  der  königlichen 
Kanzlei  entstanden  oder  erst  später  der  fertigen  Urkunde 
hinzugefttgt  sei,  darüber  hat  sich  Winkel  mann  nicht  aas- 
gesprochen. 

Die  Ansicht,  dass  die  Zeugeunamen  der  Urkunde  erst 
später  beigefügt  worden  seien,  um  ihr  grössere  Rechtskraft  zn 
verleihen,  wird  dadurch  ausgeschlossen,  dass  das  Original  dieses 
Privilegs  in  Worms  erhalten  ist  und  von  keinem  der  zahlreichen 
Gelehrten,  die  dasselbe  gesehen,  Zweifel  an  seiner  einheitlichen 
Niederschrift  erhoben  sind.  So  bleibt  nur  die  Auffassung  von 
der  Ansicht  Winkelmann’s,  Heinrich  habe  durch  seine  Kanzlei- 
beamten  die  Urkunde  anfertigen  und  dolos  mit  den  Unter- 
schriften nicht  einwilligender  Zeugen  versehen  lassen.  Bei 
dieser  Auffassung  bleiben  aber  noch  immer  unvereinbare  Wieder- 
sprüche zwischen  den  beiden  Urkunden  vom  4.  und  8.  August, 
die  unten  noch  näher  beleuchtet  werden  sollen.  Ausserdem 
stehen  aber  dieser  Erklärung  Winkelmanns  noch  eine  Reihe 
schon  von  Dargun1)  geltend  gemachter  Einwürfe  entgegen. 
Es  ist  zunächst  unwahrscheinlich,  dass  die  Fälschung  vom 
3.  schon  am  4.  in  Frankfurt  , wohin  die  Kunde  doch  über 
Worms  hätte  kommen  müssen,  bekannt  war.  Ferner  ist  es 
höchst  auffallend,  dass  die  ungültige  Urkunde  nicht  zurück- 
gefordert und  cancelliert,  ja  nicht  einmal  in  dem  Mandate 
vom  4.  erwähnt  worden  ist s)  Aus  welchem  Grunde  hätte 
sich  endlich  Heinrich  der  ihm  drohenden  Demütigung  aus- 
setzen sollen,  die  eintreten  musste,  sobald  die  Fürsten  von 
der  Fälschung  ihrer  Unterschriften  erfuhren. 

So  sind  denn  in  der  That  die  beiden  Urkunden  vom 
3.  und  4.  unvereinbar,  und  Dargun  kam  desshalb  zu  dem 
Schlüsse,  dass  die  Urkunde  vom  3.  Arbeit  eines  Wormser 
Fälschers  sei.  Diese  Ansicht  suchte  er  nun  namentlich  auch 


■)  Forsch.  XIX  368,  359. 

*)  In  der  Urkunde,  in  welcher  Heinrich  »ein  Privileg  fftr  Verdun,  von 
den  Fürsten  gezwungen,  widerrufen  musste,  wird  die  frühere  Urkunde  aus- 
drücklich für  ungültig  erklärt  (s.  Huill.-Brfeh.  111  p.  327,  B-F  4059) ; dasselbe 
finden  wir  in  dem  ganz  ähnlichen  Falle  der  Rücknahme  der  den  Bürgern 
von  Cambray  erteilten  Privilegien  seitens  Friedrichs  II  (s.  Huill.-Brih.  I 406, 
B-F  816). 


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413 


durch  Hervorhebung  einer  Reihe  von  Unregelmässigkeiten  in 
der  Zeugenliste  der  Urkunde  wie  z.  B.  des  Voranstehens  eines 
Teils  der  geistlichen  Zeugen  vor  den  weltlichen  zu  erweisen.1) 

Es  ist  jedoch  nicht  nötig,  auf  die  von  Dar  gun  angeführten 
Beweisgründe,  soweit  sie  sich  auf  die  Form  der  Zeugenliste  be- 
ziehen, näher  einzugehen.  Dass  aus  ihnen  die  Unechtheit  der 
Urkunde  nicht  gefolgert  werden  kann,  hat  ja  einer  der  ersten 
Meister  der  Diplomatik,  Ficker,*)  schon  überzeugend  nachge- 
wiesen. Auffallend  bleibt  es  nach  den  Ausführungen  dieses 
Forschers  nur , dass  man  hier  die  Namen  von  Fürsten  unter 
den  Zeugen  einer  Urkunde  fiudet,  die  der  Politik  dieser  Für- 
sten auf  das  heftigste  widersprach.*)  Von  einer  Fälschung  der 
Urkunde  kann  aber  nach  Ficker4)  eigentlich  keine  Rede  sein, 
da  die  Zeugen  in  Deutschland  nur  in  seltenen  Ausnahmsfällen 
eigenhändig  unterschrieben.  Auch  steht  es  gar  nicht  fest,  dass 
die  Zeugen  im  dreizehnten  Jahrhundert  auch  nur  von  allen  Ur- 
kunden Kenntnis  erhielten , unter  die  ihr  Name  gesetzt  wurde. 
Gerade  bei  blosser  Erneuerung  früherer  Privilegien  mag  sich 
der  Brauch  entwickelt  haben,  dass  man  einfach  die  am  Hof 
anwesenden  Grossen  in  der  Confirmationsurkunde  als  Zeugen 
nannte,  ohne  sie  ihnen  überhaupt  vorher  zur  Kenntnis  zu  bringen, 
da  ja  im  allgemeinen  bei  Ausfertigungen  dieser  Art  die  all- 
seitige Zustimmung  nicht  zweifelhaft  sein  konnte.  Die  „Er- 
schleichung des  Zeugnisses  hätte“  daun  — wenn  man  doch 
noch  von  einer  solchen  reden  will  — hier  „nur  darin  gelegen, 
dass  mau  eine  üblich  gewordene  oberflächliche  Behandlung  auch 
in  einem  Einzelfalle  anwandte,  wo  man  sich  bewusst  sein  musste, 
dass  die  Voraussetzungen,  welche  sie  im  allgemeinen  entschul- 
digen konnten,  nicht  zutrafen.“  *) 

Bei  dieser  Auffassung  der  Zengenunterschriften  ist  es  auch 
ganz  glaublich,  dass  die  Fürsten  sich  mit  dem  reellen  Siege 
des  Wormser  Bischofs  begnügten  und  nicht  wieder,  wie  es  bei 
dem  Processe  Verduns  geschehen  war,8)  die  Auslieferung  des 

*)  a.  a.  0.  S.  360  ff. 

*)  an  dem  oben  S.  407  N.  2 angeführten  Orte. 

•)  a.  a 0.  S.  180. 

•)  ibid. 

h)  Picker  a.  a.  0.  S.  182. 

*)  vgl.  die  oben  8.  412  N.  2 citierte  Stelle. 


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414 


königlichen  Privilegs  verlangten.  Ficker  kommt  auch  dem- 
gemäss zu  demselben  Resultat,  wie  Winkel  mann,  dass  zur  Er- 
klärung des  Widerspruches  der  beiden  Urkunden  vom  3.  und 
4.  August  der  Gegensatz  zwischen  der  vom  Kaiser  begünstigten 
Politik  der  Fürsten  und  den  persönlichen  Absichten  des  Königs 
vollkommen  ausreiche.  Jedoch  lässt  Ficker  hier  noch  die 
Möglichkeit  offen,  dass  die  Erklärung  auch  „in  anderer  Rich- 
tung“ gesucht  werden  könne. l)  Später  hat  er  sich  freilich  mit 
noch  grösserer,  wenn  auch  noch  nicht  mit  voller,  Sicherheit  für 
Winkelmanns  Ansicht  ausgesprochen.*) 

Dagegen  hat  sich  Schaube*)  wieder  für  die  Arnold 'sehe 
Ansicht  erklärt,  die  beiden  Urkunden  seien  nicht  als  Folge  des 
Gegensatzes  zwischen  der  Politik  des  Königs  und  der  der 
Fürsten  zp  betrachten,  sondern  als  zusammengehörig,  als  ge- 
wisser Massen  gemeinsam  die  „Basis“  feststellend,  „auf  der  die 
Verhandlungen  erfolgen  sollten.“ 

Noch  weniger  als  dieser  Ansicht,4)  kann  der  von  Köster5) 
aufgestellten  zugestimmt  werden.  Dieser  schliesst  sich  zwar 
den  Ausführungen  Fickers  an,  dass  die  Unechtheit  der  Ur- 
kunde vom  3.  August  nicht  aus  angeblicher  Unechtheit  ihrer 
Zeugenliste  allein  geschlossen  werden  könnte,  behauptet  aber, 
dass  diese  Urkunde  dennoch  aus  formalen  Gründen  für  eine 
Fälschung  gehalten  werden  müsse.  Er  vergleicht  dies  Privileg 
nämlich  mit  einigen  anderen,  Worms  betreffenden,  Urkunden 
Heinrichs  (VII)8)  und  findet  dabei,  dass  es  in  Folge  des  Be- 
sitzes eines  Chrismon,  einer  Iuvocation,  der  Formel  „divina 
favente  clementia“,  ferner  des  Fehlens  der  Adresse,  sowie  seines 
weitläufigen  Datums  und  seiner  Signumszeile  wegen  für  „sehr 
verdächtig“  angesehen  werden  müsse.  Alle  die  genannten 
Merkmale  seien  aber  den  Wormser  Urkunden  der  Heinriche 
aus  dem  Salischen  Hause  eigen;  Köster’)  vermutet  daher,  dass 


*)  Mitt.  des  Instituts  II  S.  179. 

»)  s.  B-F  4246. 

*)  Worms  S.  299  N.  4. 

4)  vgl-  gegen  dieselbe  die  oben  S.  410  gegebenen  Ausführungen. 
•)  S.  103—105. 

•)  nämlich  W ü 154,  158,  160 
')  S.  105. 


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415 


der  Wormser  Fälscher  „in  naiver  Weise“  eine  solche  bei  Her- 
stellung unserer  Urkunde  als  Vorlage  benutzt  habe. 

Köster  hat  nun  aber  den  unter  den  Urkunden  der  Staufer- 
zeit zwischen  Privilegien  und  Mandaten  zu  machenden  Unter- 
schied *)  garnicht  in  Rechnung  gezogen.  Die  von  ihm  zum  Ver- 
gleich herangezogenen  Urkunden  Heinrichs  sind  sämmtlich  Man- 
date, während  die  Urkunde  vom  3.  August  1232  zu  den  aus  der 
Kanzlei  dieses  Herrschers  hervorgegangenen  Privilegien  ge- 
hört. Vergleicht  man  sie  mit  einem  anderen  Privileg  König  Hein- 
richs (VII.)  z.  B.  mit  dem  an  Speier  1234  Dezember  21*)  er- 
teilten, so  findet  man  hier  sämmtliche  Merkmale,  von  denen 
Köster  annimmt,  dass  sie  nur  der  salischen,  nicht  der  staufischen 
Kanzlei  eigen  gewesen.8) 

So  muss  also  der  Versuch,  die  Unechtheit  der  Urkunde 
vom  3.  August  nachzuweisen , jedenfalls  als  völlig  missglückt 
angesehen  werden.  Aber  auch  durch  die  von  Winkelmann 
aufgestellte,  von  Ficker  als  wahrscheinlich  bezeichnet«  Er- 
klärung scheint  mir  die  Frage  noch  nicht  gelöst  zu  sein.  Zu- 
nächst wird  es  immer  schwer  begreiflich  bleiben,  dass  schon 
am  4.  in  der  königlichen  Kanzlei  ein,  dem  am  Tage  vorher 
gegebenen  Privileg,  das  richtig  nach  Worms  gesandt  wurde, 
so  widersprechendes  Mandat  ausgefertigt  werden  konnte. 
Ferner  ist  der  zwischen  den  beiden  Mandaten  vom  4.  und 
8.  August  vorhandene  Widerspruch  zu  berücksichtigen. 

Gemeinsam  sind  beiden  Urkunden  nur  die  Aufhebung  des  Stadt- 
rats und  der  Innungen.  Aber  sonst,  welche  Verschiedenheit!  Am 
4.  August  nimmt  der  König  den  Wormsern  ihren  Rat  und 
ihre  Innungen  (auferimus),  und  eine  Commission  von  drei  Per- 
sonen wird  nach  Worms  geschickt,  um  mit  dem  dortigen  Bi- 
schof zusammen  die  Lage  der  Stadt  zu  ordnen.  Den 
Bürgern  wird  aufgegeben,  den  Anordnungen  dieser  Commission 
in  allem  zu  gehorchen.  Am  8.  August  schreibt  der  König 
den  Wormsern,  er  habe  sie  mit  dem  Bischof  versöhnt.  Ferner 

')  vgl.  über  diese  wichtige  Unterscheidung  Ficker  Beiträge  zur  Ur- 
kundenlehre II  (Innsbr.  1878)  § 194  S.  6—7  u.  Bresslau  UrkL  8.  66—59. 

*)  8p.  U 53. 

*)  Auch  die  von  Kaiser  Friedrich  II  der  Stadt  Worms  1220  und  1236 
erteilten  Privilegien  (W  U 124  u.  182)  zeigen  gerade  dieselben  Merkmale, 
um  derentwillen  Köster  das  Privileg  Heinrichs  für  unecht  erklärt. 


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416 


schickt  Heinrich  jetzt  zwar  wieder  eine  Commission  nach  Worms; 
in  ihr  ist  aber  zu  den  drei  Personen  der  vorigen  Urkunde 
noch  eine  vierte  gekommen,  und  die  so  zusammengesetzte  Com- 
mission erhält  den  Auftrag  den  Ausgleich  so  zu  treffen, 
dass  er  beiden  Parteien  erträglich  erscheine.  Der  König 
befiehlt  den  Bürgern,  zu  allen  Erklärungen  und  Vorschriften 
seiner  Abgesandten  Vertrauen  zu  haben. 

Die  Stellung  und  Aufgabe  der  Commission  ist  also  nach 
dieser  Urkunde  eine  ganz  andere.  Ausserdem  können  wir  aus 
ihr  schliessen,  dass  eine  förmliche  Aussöhnung  zwischen  Bi- 
schof und  Vertretern  der  Bürger  stattgefunden  hatte;  dieselbe 
ist  aber  nicht  in  Worms,  sondern  in  Frankfurt  vor  sich  ge- 
gangen, weil  sonst  der  König  sie  der  „Universitas  civiiun  Wor- 
matiensium“  nicht  hätte  mitzuteilen  brauchen.  Das  Mandat 
vom  4.  enthält  aber  keine  Anzeichen  einer  solchen  Versöhnung; 
es  müsste  also,  da  darin  als  bestimmt  angenommen  wird,  dass 
in  den  auf  den  vierten  folgenden  Tagen  auch  der  Bischof  in 
Worms  ist,1)  die  zwischen  dem  4.  und  8.  liegende  Aussöhnung 
in  Worms  selbst  geschehen  seien.  Ferner  ist  auffallend,  dass 
in  der  Urkunde  vom  8.  auch  der  Erzbischof  von  Mainz  zu  den 
familiäres  des  Königs  gezählt  wird,  während  in  der  Urkunde 
vom  4.  zwar  Baden  und  Büdingen  familiäres  nostri  genannt 
werden,  der  Erzbischof  von  Mainz  aber  mit  dem  Titel  dilectus 
princeps  noster  den  familiäres  vorangestellt  wird. 

Auf  die  richtige  Spur  zur  Erklärung  dieser  Ungleichheit 
führt  uns  die  Art.  der  Überlieferung  der  drei  von  uns  hier  be- 
trachteten Urkunden.*)  Mindestens  seit  der  Zeit,  in  der  ein 
eigenes  Stadtsiegel  von  Worms  nachweisbar  ist  (1198),  bestand 
zu  Worms  ein  eigenes  Stadtarchiv,  das  von  dem  geistlichen 
(damals  noch  bischöfliche  und  domstiftische  Urkunden  zusammen 
enthaltenden)  Archiv  ganz  gesondert  war.3)  Das  reichs- 
städtische Archiv  hat  sich  im  wesentlichen  in  Worms  erhalten, 


‘)  Mittentes  ad  tos  . . . archiepiscopum  Moguntinensem  et  dilectos  fa- 
miliäres nostros  . . . , ut  ctim  episcopo  Wormatiensi  consedeant  (D.  168  S. 
119  Z.  16  ff.). 

•)  Vgl.  zum  Folgenden:  Boos,  Vorwort  zum  Wormser  Urkb.  insbes. 
8.  IX— XIII,  Arnold  V.  G.  I S.  XIII,  Sickel  in  M.  G.  Dipl.  reg.  et  imp.  S.  655. 

*)  So  auch  Boos  in  Archival.  Ztschr.  herausg.  von  von  Löher Bd.  IX 
(1884)  8.  101. 


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417 


während  von  den  früheren  geistlichen  Archiven  von  Worms  die 
Trümmer  grössten  Teils  nach  Darmstadt  und  (durch  Verkauf 
aus  dem  Nachlass  des  Professor  G&tterer)  nach  Luzern 
gelangten. 

Es  sind  nun  die  Urkunden  vom  3.  und  8.  August  zu 
Worms  im  Original,  die  vom  4.  dagegen  nur  in  der  Ab- 
schrift eines  Copialbuchs  erhalten.  Dieses  Copialbuch,  das  sich 
in  Darmstadt  befindet  und  das  wir  nach  dem  Vorgänge  von 
Boos  mit  D bezeichnen  können,  ist  nach  der  übereinstimmen- 
den Ansicht  aller,  die  sich  damit  beschäftigt  haben,  im  Auf- 
träge und  Interesse  des  Domstiftes  geschrieben.  Der  Autor 
von  D hat  nun  jedenfalls  nur  das  geistliche  Archiv,  nicht  das 
städtische  benutzt;  es  kann  dies  besonders  auch  daraus  ge- 
schlossen werden,  dass  keine  von  den  zahlreichen  durch  D 
überlieferten  Urkunden,  welche  ins  Wormser  Urkundenbuch 
aufgenommen  sind,  sich  im  Stadtarchiv  befindet. 

Dass  das  Mandat  vom  4.  August  nicht  in  diesem  erhalten 
ist,  würde  an  sich  nicht  so  auffällig  sein ; sind  doch  in  den  beiden 
letzten  Jahrhunderten  insbesondere  seit  Aufhören  der  Reichs- 
nnmittelbarkeit  der  Stadt  ihrem  Archive  zahlreiche  Urkunden 
abhanden  gekommen.1) 

Dagegen  schliesst  der  Umstand,  dass  ein  an  den  Wormser 
Rat  gerichtetes  Mandat  uns  nicht  durch  das  Stadtarchiv,  son- 
dern gerade  nur  durch  das  Copialbuch  D überliefert  ist,  fast 
die  Möglichkeit  aus,  dass  cs  sich  je  im  Wormser  Archiv  be- 
funden hat.  Dazu  kommt,  dass  nach  dem  früher  erörterten 
ebendiese  Urkunde  vom  4.  August  den  beiden  vom  3.  und  8. 
datierten  widerspricht , die  untereinander  sehr  gut  vereinbar 
sind , so  dass  entweder  die  Urkunde  vom  4.  oder  die  beiden 
anderen  nicht  rechtskräftig  geworden  sein  können. 

Bei  dieser  Sachlage  liegt  es  nun  jedenfalls  sehr  nahe, 
die  Urkunde  vom  4.  nicht  als  wirkliches  Mandat  Heinrichs, 
sondern  nur  als  ein  von  der  bischöflichen  Partei  entworfenes 
Concept  zu  solchem  Mandate  anzusehen.  Mit  dieser  Annahme 
erledigen  sich  sämmtliche  Schwierigkeiten.  Die  sich  scheinbar 
widersprechenden  Urkunden  sind  alsdann  auf  folgende  Weise 
entstanden : 


*)  Boos  a.  a.  0.  S.  101,  Urkb.  Einl.  S.  XX. 

Koehne,  Ursprung  der  SUdtvnrfuwung  in  Worms,  Spaior  und  Mainz.  27 


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418 


König  Heinrich  hatte  die  Absicht,  den  Streit  zwischen 
Bischof  und  Bürgerschaft  von  Worms  derart  beizulegen,  dass 
er  sich  keine  der  beiden  Parteien  entfremdete ; wahrscheinlich 
ganz  im  Einverständnis  mit  den  von  seinem  Vater  in  Ravenna 
erhaltenen  Weisungen.1)  Um  die  Wormser  zur  Unterwerfung 
unter  seinen  Richterspruch  friedlich  zu  bewegen,  bestätigt 
ihnen  Heinrich  am  3.  August  ihre  alten  Privilegien.  Er  konnte 
cs  um  so  mehr,  da  selbst  die  angebliche  Urkunde  Friedrichs  1. 
von  1156,  die  den  Wormsern  einen  Rat  einräumt,  noch  so  ge- 
fasst war,  dass  die  Strafbussen  ungerechter  Ratsherren  an  den 
Bischof  fallen  sollten,  und  dass  über  die  Ernennung  des  Rats 
darin  nichts  näheres  gesagt  wurde.  In  das  diese  Urkunde  be- 
kräftigende Privileg  aber  lässt  Heinrich  so,  als  ob  es  sich  hier 
um  eine  der  ganz  gewöhnlichen  Confirmationen  früherer  Urkun- 
den gehandelt  hätte,  die  Namen  der  bedeutenderen  Fürsten,  die 
sich  an  seinem  Hofe  befanden,  als  Zeugen  eintragen;  es  wäre 
auch  wohl  auffallend  gewesen  und  hätte  die  Wormser  besorgt 
gemacht,  wenn  in  der  Urkunde  die  übliche  Zeugenliste  ge- 
fehlt hätte.  Diese  Bestätigung  der  alten  Privilegien,  die  etwa 
am  4.  oder  5.  in  Worms  angelangt  sein  mochte,  vermehrt  dort  den 
Wunsch  nach  Frieden.  Es  werden  sofort  Gesandte  an  den  könig- 
lichen Hof  geschickt,  welche  die  Stadt  mit  dem  Bischof  unter  der  Be- 
dingung versöhnen  sollten  , dass  der  König  resp.  eine  von  ihm 
ernannte  Commission  die  Wormser  Angelegenheiten  ordne. 

Unterdessen  hatte  der  Bischof  resp.  seine  Partei  einen  Entwurf 
zu  einem  königlichen  Mandat  ausgearbeitet,  das  ihren  Wünschen 
ganz  entsprochen  haben  würde : Eine  Commission,  bestehend  aus 
zwei  Bischöfen  (Mainz  und  Worms),  einem  Magnaten  und  einem 
königlichen  Ministerialen  sollte  nach  Worms  gesandt  werden, 
um  die  dortigen  Verhältnisse  zu  ordnen.  Der  König  aber  ver- 
söhnt selbständig  den  Bischof  mit  Vertretern  der  Bürger- 
schaft’) und  weicht  in  der  Ordnung  der  Verhältnisse  bedeutend 
von  den  Ratschlägen  der  geistlichen  Partei  ab.  Das  tritt 
schon  darin  hervor,  dass  in  der  Commission,  die  Heinrich  am  8. 


')  Hierfür  scheinen  die  Worte  ex  gratin  et  potestate,  qnam  . . . a patre 
nostro  nnpcr  snmus  adepti  in  W.  U.  157  zu  sprechen. 

’)  U ICO : sigiiificandnm  duximua  universitati  veatre,  qnod  nos  . . . inter 
epiacopnm  vcstruni  et  vos  roncordiam  fecimus. 


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419 


nach  Worms  sendet,  die  Geistlichen  in  der  Minorität  sind;  denn 
diese  Commission  soll  aus  einem  Bischof,  einem  Magnaten  und 
zwei  königlichen  Ministerialen  bestehen.  Diese  königlichen 
Abgesandten  sollen  in  Worms  den  Streit  so  schlichten  und 
solche  Einrichtungen  treffen,  dass  ein  für  beide  Teile  erträg- 
licher Zustand  gewonnen  wird.1)  Wirklich  kommt  es  denn 
auch  später  zu  einer  vereinbarten,  nicht  einseitig  vom  Bischof 
uud  den  königlichen  Abgesandten  gegebenen  Verfassung,  über 
welche  demgemäss  ausser  vom  Könige  und  vom  Bischof  auch  von 
der  Bürgerschaft  eine  besondere  Urkunde  ausgestellt  wird.*)  — 
Das  wohl  von  einem  Geistlichen  des  Bischofs  verfasste 
Concept  aber  gelangt  in  die  bischöfliche  Kanzlei  und  wird  hier 
im  15.  Jahrhundert  von  dem  Verfasser  des  Copialbuchs,  viel- 
leicht nicht  einmal  wider  besseres  Wissen,  wie  eine  echte  Ur- 
kunde in  seine  Sammlung  eingetragen. 


*)  Bei  dieser  Erklärung  wird  es  auch  verständlich,  dass  in  U 158  der 
Erzbischof  von  Mainz  als  Beichsfürst  und  in  U 160  als  Vertrauter  des  Königs 
bezeichnet  ist.  Heinrich  wollte  es  eben  den  Wormsern  bemerklich  machen, 
dass  die  Zuziehung  des  Erzbischofs  zu  der  ('ommission  nicht  aus  seiner  fürst- 
lichen Stellung  oder  seiner  Metropolitangewalt  ilber  Worms,  sondern  ans  be- 
sonderem königlichen  Vertrauen  zu  ihm  hervorgegangen  sei.  Vgl.  über  ähn- 
liche Unterscheidungen  bezüglich  der  Bezeichnungen  familiäres  und  principes 
in  der  Interventionsclausel  zur  Zeit  Heinrichs  IV  Ficker  in  dem  oben 
S.  415  N.  1 citierten  Werke  I g 134  8.  235. 

*)  vgl.  oben  8.  326. 


S7* 


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Beilage. 


Die  Eintragungen  in  die  Mainzer  Stadt- 
rechnungen über  die  Einnahmen  aus  der  Schatzung 
in  den  Jahren  1410,  1411. 

Die  oben  S.  94  erwähnten  Eintragungen  in  die  Mainzer 
Stadtrechnungen  über  die  Einnahmen  aus  der  nach  Pfampielen 
erhobenen,  direkten  Steuer  oder  Schatzung  der  Jahre  1410  und 
1411  (Mainzer  Accidental-  und  Bestallungsbuch  No.  1 im  Königl. 
Kreisarchiv  zu  Würzburg)  lauten: 
fol.  12  v: 

Disz  ist  das  Innemen  disz  czukunfftigen  gantzen  Jares  etc. 

Item  her  Peder  Wyde  und  her  Gisenhenne  (heimc?)  der 
schuchmann  brachten  von  der  schatzunge  in  sent  Stepphans 
parre  czuin  ersten  male  74  */»  gul.  valet  89  Pfd.  8 ß. 

Item  her  Pederman  hern  Heintzen  Rebstocks  son  und  her 
Heynrich  Lentzeman  hant  geantwort  von  der  schatzunge  in 
Odemonster  und  sent  Paulusparre  czum  ersten  male  64  */*  Pfd.  6 ß. 

Item  Henn  Humbrecht  und  Henn  Rotmuller  der  beckir 
hant  bracht  von  der  nehsten  schatzunge  in  sant  Nyclaspharre 
zum  andern  male  10  Pfd.  2 ß. 

Item  her  Rüdiger  zu  Landecke  und  her  Jeckein  Wide- 
gauwe  der  holzschuwer  hant  bracht  von  der  nehsten  schatzunge 
in  sant  Ignacien  pharre  zum  dritten  male  54  Pfd. 

Item  her  Gocze  zum  Aldenschnltheiss  und  her  Heincze 
Esinheimer  hant  bracht  von  der  nehsten  schatzunge  in  sant 
Quintins  pharre  zum  andern  male  351 V«  Pfd.  2 ß. 


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421 


fol.  13: 

Iteni  her  Jeckel  Schenckcnberg  und  her  Wolff  Scheider 
haut  bracht  vou  der  liebsten  schatzunge  in  sant  Christofeis 
phaiTe  zum  andern  male  47  Pfd.  71/*  ß- 

Item  her  Pedermann  Eebestog  und  her  Heinczc  Lenczeman 
haut  bracht  von  der  schatzunge  in  Odenmonster  und  sant  Pau- 
wels  pliarre  zum  andern  male  13  Pfd.  4 ß. 

Item  her  Frylc  Gensefleisch  und  her  Hanneman  zum  Wie- 
der liant  bracht  zum  andern  male  von  der  schatzunge  iu  s. 
Heilrams  pliarre  297  Pfd.  1 ß. 

fol.  14  v: 

Item  her  Rüdiger  zu  Landecke  und  her  Jeckel  Wiede- 
gauwe  iiant  bracht  zum  dritten  male  von  der  schatzunge  in 
sant  Ignacien  pharre  24  Pfd.  2 ß 

Item  her  Gocze  zum  Aldcnschultheiss  und  her  Heincze 
Esinheimer  hant  bracht  zum  dritten  male  von  der  schatzunge 
in  sant  Quintinspharre  14'/«  Pfd.  8 ß. 

Item  her  Jeckein  Hiertz  und  her  Herbort  Hexheimer  haut 
bracht  von  der  schatzunge  in  den  vier  pharren:  zmn  dume,  zu 
unser  frauwen,  zu  sant  Johann,  zu  sant  Mauricien  zum  dritten 
male  7 Pfd.  8 ß. 

fol.  16  v: 

Item  her  Fryle  Gensefleisch  und  her  Hanneman  zum  Wie- 
der hant  bracht  von  der  schatzunge  in  saut  Heilrams  pharre 
8 Pfd.  6 hell. 

fol.  17: 

Item  her  Wilkin  Salman  und  her  Emel  König  hant  geant- 
wort  von  der  schatzunge  in  sant  Ignacien  pharre  zum  ersten 
male  dy  man  in  dieser  fasten  angefangen  hat  offezuheben  251 
Pfd.  7/J4  hell. 

Item  her  Johan  Walderthenner  und  her  Eckart  sedeler 
hant  gegeben  von  derselben  schatzunge  in  den  vier  pharren 
zum  dume,  zu  unser  frauwen,  zu  sant  Johanne  und  zu  sant 
Mauricien  zum  ersten  male  60  lib. 

Item  her  Orte  zur  Eicht  Jer  junge  und  her  Heintze  Ben- 
dere  hant  bracht  von  der  nuwen  schatzunge  in  Odemonster  und 
sant  Pauwelspharre  czu  dem  ersten  male  48  Pfd. 

Item  her  Jeckel  Hirtz  und  her  Roricb  zum  roden  lewen 


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422 


off  dem  DieCinarte  hant  bracht  von  der  sehatzunge  in  sant 
Heilramspharre  zum  ersten  male  639  gülden  valet  766  lib.  16  ß. 

Item  her  Jeckel  Schenckenberg  und  her  Winckelhenne  der 
czu  . . . hant  geantwort  von  der  schatzunge  in  sant  Christoffels 
pharre  zum  ersten  male  240  lib. 

Item  her  Götze  zum  Aldenschultheiszen  und  her  Peder 
Mey  hant  bracht  zum  ersten  male  von  der  schatzunge  in  sant 
Quintinsphan  e 749  guld.  4 ß valet  899  lib. 

Item  her  Johann  Waldertheimer  und  her  Eckard  sedeler 
hant  gegeben  zum  andern  male  von  der  schatzunge  in  den  vier 
pharren  zum  dume,  zu  unser  frauwen,  zu  sant  Johann  und  zu 
sant  Mauricien  27  Pfd.  6 ß hell. 

Item  her  Jeckel  Hirtze  und  her  Rorich  zu  dem  Roden 
leven  off  dem  Dietmarte  hant  bracht  von  der  schatzunge  in 
sant  Heilramspharre  zum  andern  male  301  gülden  valet  411 
Pfd.  4 ß hell. 


Die  oben  S.  96  erörterte  Verschiedenheit  der  Höhe  der 
Einträge  der  Steuerablieferungen  aus  deu  einzelnen  Pfarren 
zeigt  die  folgende  nach  diesen  Fragmenten  entworfene  Tabelle: 
(Siehe  nächste  Seite). 


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Tabelle  Uber  die  Schatzung  zu  Mainz  in  den  Jahren  1410,  1411. 


13 


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Register. 

Allmende  S.  305—307.  375.  I Eherecht  S.  84.  40.  41.  304. 


Altfreie  S.  29—34.  207.  240.  352. 
353. 

Altspeier  S.  92  N.  2. 

Bannleihe  S.  197 — 201. 

Basel  S.  61.  62.  198. 

Bischöfe  v.  Worms:  BnrehardS.  16 ff., 
148—150.  393.  394,  AdelbertS.  205. 
214,  Lnpold  S.  264.  265.  273—75, 
Heinrich  II  S.  313—15.  319—329, 
LandolfS.  329—340,  KonradS.341, 
Richard  S.  341.  342. 

Bistümer,  Entstehung  in  Worms,  Speier 
nnd  Mainz  S.  4,  Bedeutung  am 
Schluss  der  Regierungszeit  der 
sächs.  Kaiser  S.  11,  Begünstigung 
des  Speierer  B.  durch  die  Salier 
S.  13  ff. 

Bürgermeister  S.  275.  276.  282  N.  4. 

Burggrafen  8.  152 — 155,  195,  in 
Worms  156—170,  in  Speier  8.  180 
bis  184,  in  Mainz  190.  191. 

Buteil  S.  36.  50.  23—225. 

Claustrum  S.  313  N.  4. 

Comprovinciales  . 8.  219.  220.  267 

N.  2. 

Conan les,  consiliarii,  Consilium  S.  256. 
257.  268.  269.  276  ff.,  282.  294 
bis  99.  361. 

Condves  S.  31  N.  2. 

Coniurationes  8.  206.  215. 

Dagowarden  S.  38 — 42. 

Dominicatum  S.  34  mit  N.  2. 


Eheliches  GUterrecht  8.  25  N.  6. 

Erbleihe  8.  23.  247.  364.  365.  401. 

| 402. 

Erbrecht  8.  251.  252.  317  mit  N.  5, 
vgl.  Buteil,  Hauptrecht. 

Erzbischöfe  v.  Mainz:  Ruthard  S.  216, 
Adalbert  I S.  221.  222.  228.  230 
bis  237,  Arnold  v.  Seihofen  8.  282 
bis  290,  Sigfrid  II  8.  265,  Sigfrid 
III  S.  208—214. 

Familia  8.  28  ff.,  35.  36.  37. 

Fiscalinen  S.  38—42. 

Friesen  S.  6.  7.  84.  85. 

Gerichtsstand  S.  45—48.  67.  248  bis 
253.  389-406. 

Geschworene  zu  der  Gottes  Ehe  S.  131. 
132.  134.  135. 

Greve  S.  167—169.  182  N.  4. 

Gottesurteil  S.  17—20.  261.  262. 

Handelsstrassen  S.  6. 

Hanre  S.  51  N.  6. 

Harmschar  8.  387  mit  N.  7. 

Hauptrecht  8.  36.  37.  223.  224. 

Heimburgen  8.  86.  87.  99.  100;  in 
Mainz  S.  100 — 102,  in  Worms  S.  114 
bis  124,  in  Speier  S.  125—181. 

Heimgereiden  8.  85  N.  2. 

Hospitäler  S.  308.  309. 

Immobiliarrecht  8.  22—24.  35.  225. 
226.  389—406. 

Jahr  und  Tag  8.  225.  226.  363  N.  4. 

Juden  3.  8.  12.  77  mit  N.  2,  8.  126. 


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426 


126.  174.  175.  185  mit  N.  5.  188 
N.  1.  216.  217. 

Kämmerer  in  Worms  S.  116.  117. 
173-180,  in  Speier  8.  188.  189, 
in  Mainz  S.  192—195. 

Kaufleute  S.  50—63.  63.  64.  76.  77. 
207  . 216.  241 — 43.  Kaufmannsge- 
nossenschaften  8.  62 — 69.  72.  202. 
222.  N.  2.  355.  356.  374-376. 

Rcichskaufleute  (mercatores  impe- 
rii)  S.  241.  242. 

Kirchspiele  8.  86—90,  in  Mainz  S.  94. 
96.  102—104,  in  Worms  104—110, 
in  Speier  132,  133. 

Köln  S.  7 ff.,  19  N.  4.  66  N.  3.  66 
N.  2.  198. 

Marquard  von  Sneitde  8.  331.  332. 
Ministerialen  (Ortsvorsteher)S.  42—44. 

82;  (Stand)  62.  63.  71.  73.  302. 
Münze,  Münzer,  Miinzerhausgenossen 
S.  60.  63-69.  71.  73.  72  mit  N. 
3 u.  7.  8.  279—281.  325.  329. 
Nürnberg  S.  8.  9. 

Officiales , officiati  S.  289—294. 
354. 

Pfalzen  S.  10.  210.  237. 

Processrecht  S.  20—22.226.  303.304. 

(vgl.  Gottesurteil). 

Priesterweihe  8.  304. 

Rat  (Besetzung)  S.  326.  327.  334 
bis  343.  345 — 347,  (Competenzen) 
S.  300—309.  346.  347,  (Entstehung) 
S.  244—300.  356,  (Sitzungsort) 
(Rathaus)  S.  65.  66.  313,  N.  4.  323. 
328. 

Ravenna,  Reichstag  zu,  S.  318 — 320. 


Rechtssymbole  S.  121.  122. 
Regensburg  8.  51  mit  N.  5. 
Reichsstandschaft  8.  320  N.  5.  S.  344 
N.  2. 

Seihofen  8.  96. 

Send,  Sendgericht  8.  95  mit  N.  2. 
8.  101—103.  115—117.  119.  131 
—35.  176—  78.  245.  246.  372. 
373. 

Schöffen  S.  73-76.  176—178.  245  bis 
256. 

Schnltheiss  (in  Worms)  S.  171.  172. 
271  N.  1,  (in  Speier)  S.  184-187, 
(in  Mainz)  8. 192. 

Servientes,  (canonicornm , ecclesiae, 
episcopi),  S.  42.  48.  49.  62.  63. 186. 
248-250.  313  N.  2. 

Stadtschreiber  S.  298  N.  4. 
Stadtsiegel  S.  253.  254. 

Strafrecht  S.  22.  45.  269  N.  3.  303. 
304. 

Strassburg  8.  49  N.  4.  8.  91  N.  5. 

S.  93.  S.  150.  154.  155. 
Territorialrat  S.  70—73.  356. 

Trier  S.  154.  155. 

Tuchmacher  S.  69.  118. 

Utrecht  S.  7. 

Vitztum  S.  170-172.  286  N.  6. 

I Waltpod  S.  195. 

Wandlung  S.  400. 

Weissenbnrg  8.  38  N.  2.  S.  61.  68. 
Zoll  (Zollprivilegien),  thelouenm  S.  7. 
8.  143.  144.  205.  206.  222.  223. 
242.  243. 

Zolleinehmer  (thelonearius)  8.  71.  72. 
Zweikampf  (gerichtl.)  s.  Gottesurteil. 


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Verzeichnis 

der  ausführlich  besprochenen  Urkunden. 


Wormser  Urkunden. 

ü 93:  S.  69  N.  3 S.  114—117.  166. 
167.  177.  272.  273. 


ü 34:  S.  146  N.  8. 

ü 41:  S.  47. 

U 42:  S.  156-168. 

ü 43  : 8.  104  N.  1.  S.  156. 

U 47:  S.  45,  S.  200. 

U 48 : S.  17.  392—394,  Einl. : 8.  25. 
43  mit  N.  1.  47.  170,  tit.  1:  S.  25, 
N.  5,  tit.  2 : S.  42,  tit  5:  8.  25  N.  5, 
tit  14:  S.  34,  tit  19:  8.  17  ff.,  tit. 
20:  8.  20  ff,  33,  tit  21:  S.  24,  29 
N.  2.  35,  tit  22 : S.  89  N.  3,  tit. 
25  : 8.  42,  tit  26:  S.  22.  23.  31, 
tit.  27.  28  : 8.  22,  tit  29:  8.  43 
N.  2,  8.  46,  tit  30  : 8.  38  N.  4, 
8.  42.  44.  45.  46. 

U 51:  8.  24. 

U 56  : 8.  206. 

U 68  : 8.  57  ff.  162  N.  2.  164. 

U 61:  S.  229  mit  N.  5. 

U 64  : 8.  159. 

U 73  : 8.  257—271. 

U 80:  S.  249. 

U 81 : 8.  251  mit  N.  2.  252. 

U 89  : 8.  250. 

Spelerer 

Sp.  0 4:  8.  143.  144. 

V 11:  8.  91  N.  7,  8.  92  N.  1,  8.  185 
N.  6. 

U 13:  8.  186  N.  3,  248.  249. 

U 14:  S.  222—227,  279-81. 

U 22:  S.  276. 

U 44  : 8.  303,  304. 

U 85  : 8.  248  N.  4. 

U 103:  8.  304. 


U 100:  8.  309  N.  2. 
ü 115:  S.  273.  274. 

U 120:  S.  275  N.  4. 
ü 131 : S.  161  N.  6. 

U 141:  S.  161  N.  6. 

U 154 : S.  322  N.  3. 

U 158  : 8.  407—419. 

U 159:  S.  314  N.  2,  S.  320  N.  5, 
8.  407  -419. 

U 163:  S.  120.  326.  327. 

U 179:  S.  309  N.  1. 

U 190:  S.  330—339. 

U 344:  S.  167.  168. 


Mauerbauonhiung  S.  83  ff.  160.  394 
—396. 

Ludcwig  Rel.  II  p.  112  (1233  Mürz 
17):  S.  235  N.  6. 

Banr  Hess.  Urk.  II  Nr.  25  (ca.  1207): 
S.  301.  302. 


Urkunden. 

| U 105  : 8.  304. 

U 111:  S.  282  N.  2. 

U 184:  S.  184  N.  4.  348  N.  1. 


Remling  No.  27:  8.  41. 

Kernling  Nr.  164  : 8.  401  N.  3. 
Eubel,  Minoriten  S.  200  N.  41 : S.  307. 
308. 


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428 


Mainzer  Urkunden. 


B-W  XXIV  27  : 8.  100  N.  2,  S.  292. 
293. 

XXV  66  : 8.  234.  293. 

68:  8.  232  N.  4. 

76  : 8. 236. 236  mit  N.  1. 
XXVIII  79  : 8.  191.  247  N.  4. 

XXXI  128:  8.  101. 

XXXII  326  : 8.  291.  292  mit 
N.  1. 

XXXIII  604  : 8.  204.  206,  343. 


Scriba  Regesten  IQ  768  (a  816)  S. 
97. 

L.  L.  n p.  142  (a.  1173):  8.  262. 
Stumpf  Acta  Hogunt.  N.  84  (a.  1176): 
8.  247  mit  N.  6. 

Wtlrdtwein  Dioec.  I 20  (a.  1300):  S. 
101—103. 


Ztachr.  f.  Gescb.  d.  Oberrh.  Bd.  XXXII  8.  60  ff.  (a.  1U76):  S.  57  ff. 
B-F  1114  (1220  Apr.  26):  8.  310  N 2. 

1917  (1231  Dec.):  8.  S18.  319. 

(195  (1231  Mai):  8.  815-317. 


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Untersuchungen 

zar 

Deutschen  Staats-  unfl  Rechtsgeschichte 

herausgegeben 

von 

Dr.  Otto  Gierke, 

Professor  der  Rechte  an  der  Universität  Berlin. 


XXXII. 

Die 

Finanzverwaltung  der  Stadt  Braunschweig 

bis  zum  Jahre  1374 


Heinrich  Mack, 

Dt.  phll. 


Breslau. 

Verlag  von  Wilhelm  Koebner. 
1889. 


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1 lumltut 

der 

Stadt  Braunschweig 

bis  zum  Jahre  1374. 


Von 

Hoinrioh  Mack, 

Dr.  phll. 


Breslau. 

Wilhelm  Koehner. 
1889. 


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Meinen 

lieben  Eltern. 


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Vorwort. 


Indem  ich  vorliegende  Abhandlung,  welche  aus  Studien  im 
Braunschweiger  Stadtarchiv  hervorgegangen  ist,  hiermit  der 
Oeffentlichkeit  übergebe,  fühle  ich  mich  gedrungen,  meinem  väter- 
lichen Freunde,  Herrn  Professor  Dr.  Haenselmann,  von  dem 
mir  die  Anregung  zu  jenen  Studien  ward,  aufrichtigsten  Dank 
zu  sagen.  Mehrfach  hat  mir  auch  mein  hochverehrter  Lehrer, 
~ Herr  Professor  Dr.  Julius  Weizsaecker,  der  vor  wenigen  Wochen 
der  Wissenschaft  und  seinen  Schülern  so  unerwartet  und  viel 
zu  früh  durch  den  Tod  entrissen  wurde,  wertvollen  Rat  zu  Teil 
werden  lassen.  Den  Dank,  welchen  ich  ihm  an  dieser  Stelle 
abzustatten  gedachte,  werde  ich  immer  in  meinem  Herzen  hegen. 


Der  Verfasser. 


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Inhalt. 

Seite 

Einleitung:  Litteratur  zur  Geschichte  der  Finanzverwaltung  in  den 

deutschen  Städten  de«  Mittelalters,  insbesondere  in  Braunschweig  1—7 
I.  Quellen  zur  Geschichte  der  Finanzverwaltung  Braunschweigs  bis 

zum  Jahre  1374  8—17 

11.  Die  Geschichte  der  Finanzverwaltung  Braunschweigs  bis  zum 

Jahre  1374  18—111 

1.  Die  Finanzverwaltung  in  den  fünf  Weichbilden  Braunschweigs 

bis  1269  18—24 

2 Die  Einigung  von  1269  24  —26 

3.  Die  Finanzverwaltung  der  gemeinen  Stadt  von  1269—1354  . 26—57 

4.  Die  Weichbildsfiuanzverwaltungen  von  1269 — 1354  ....  67—67 

5.  Die  Finanzverwaltung  der  Altstadt  1354  und  1355  ....  67—84 

6.  Die  Finanzverwaltung  der  Weichbilde  von  1364 — 1374  . . 84 — 85 

7.  Die  Finanzverwaltung  der  gemeinen  Stadt  1354  und  1355  . 85—97 

8.  Die  Schäden  der  gemeinen  Finauzverwaltung  im  14.  Jahr- 
hundert und  die  finanziellen  Ursachen  des  Aufstandes  von  1374  98 — 111 


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Abkürzungen. 


1.  Ohron.  — Die  Chroniken  der  deutschen  Städte. 

■2.  Br.  C.-B.  = Urkundenbueh  der  Stadt  Braunsebweig. 

3.  Br.  8t.-A.  = Brauuschweiger  Stadtarchiv. 

4.  O.-U.  - Originalurkunde. 

5.  A.  D.  = Altstädter  Dcgedingbueh. 
fi.  H.  D.  Hagener  Dogedingbuch. 

7.  N.  D.  = Neustädter  Degedingbuch. 

8.  S.  D.  -----  Sacker  Degedingbuch. 

9.  H.  d.  N.  =r  Rechtsbuch  der  Neustadt. 

10.  G.  --  Gedenkbuch. 


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Einleitung. 


Erst  kurze  Zeit  ist  verflossen,  seit  man  begonnen  hat,  sich 
mit  der  Finanzgeschichte  der  deutschen  Städte  im  Mittelalter, 
die  sowohl  für  die  Gesammtgeschichte  dieser  Städte,  als  auch 
für  die  Wirtschaftsgeschichte  des  Mittelalters  von  hervorragender 
Wichtigkeit  ist,  eingehend  zu  beschäftigen;  kein  Wunder  also, 
dass  man  auf  dem  bezeichneten  Felde  Umschau  haltend  hier 
noch  manches  zu  thun  findet.  Einzelne  Bemerkungen  zwar, 
■welche  die  städtische  Finanz  Verwaltung  betreffen,  begegnen  uns 
an  vielen  Orten  und,  wie  es  in  der  Natur  der  Sache  liegt, 
namentlich  in  solchen  Werken,  die  Geschichte  und  Verfassung 
der  mittelalterlichen  Städte  behandeln ; *)  gering  aber  ist  die  Zahl 
zusammenfassender  Darstellungen  auf  diesem  Gebiete. 

Wie  für  Städtegeschichte  überhaupt,  so  hat  auch  im  besonderen 
für  den  finanziellen  Teil  derselben  K.  Hegel  tüchtiges  geleistet. 
In  seiner  Tätigkeit  als  Herausgeber  deutscher  Städtechroniken 
hat  er  auch  sein  Augenmerk  auf  den  Stadthaushalt  in  Nürnberg*) 


')  Besonders  hingewiesen  sei  hier  aufGierke,  das  deutsche  tienosaenschafts- 
recht,  H.  S.  678 — 778.,  ferner  auf  O.  Richter,  Verfassungsgeschichte  der 
Stadt  Dresden,  Dresden  1885,  namentlich  S.  122  ff.,  endlich  auf  Kriegk, 
Frankfurter  Bürgerzwiste  und  Zustände  im  Mittelalter,  Frankf.  a.  11.  1862, 
S.  27  ff.  und  auf  Reinhold,  Verfassungsgeschichte  der  Stadt  Wesel,  Breslau  1888, 
S.  100  ff. 

*)  Die  Chroniken  der  deutschen  Städte  vom  14.  bis  ins  16.  Jahrh.  Bd.  I, 
S.  263  -296,  Beilage  XII. 


I 


und  Mainz  *)  gerichtet  und  in  zwei  wertvollen  Beilagen  darüber 
gehandelt.  Er  ging  hierbei  im  wesentlichen  von  den  Stadt- 
rechnungen aus , denen  er  als  einer  der  ersten  *)  einen 
hervorragenden  Platz  unter  den  mittelalterlichen  Geschichts- 
quellen mit  Recht  an  wies.  Nur  einen  Zweig  städtischer 

Finanzwirtschaft  betreffen  FrensdorfF  s Ausführungen  über 
das  Ungeld  in  Augsburg,*)  während  Gramich’s  interessante 
Arbeit  „Verfassung  und  Verwaltung  der  Stadt  Würzburg  vom 
13.  bis  15.  Jahrhundert“,4)  wie  schon  ihr  Titel  besagt,  auch 
andre  als  finanzielle  Dinge  berührt.  Mit  besonderm  Nachdruck 
ist  sodann  auf  die  Darstellung  der  Finanzverhältnisse  der  Stadt 
Basel  im  14.  und  15.  Jahrhundert  hinzuweisen,  die  G.  Schönberg 
unternommen  hat. 6)  In  dem  ersten  und  bis  jetzt  noch  einzigen 
Bande  dieses  umfassend  angelegten  Buches  geht  der  Verfasser 
nach  einer  Einleitung,  welche  uns  über  die  herangezogenen 
archivalischen  Quellen,  vor  allem  die  Rechnungen,  ferner  über 
den'allgemeinen  Gang  der  Geschichte  des  Baseler  Stadthaushaltes 
und  die  Münzverhältnisse  Basels  Aufschluss  giebt,  in  ausführlicher 
Weise  auf  das  Besteuerungs wesen  und  die  speeielle  Geschichte 
einzelner  Steuern  ein.  Lange  nicht  so  umfangreich , doch  auch 
sehr  bedeutend  ist  eine  hierher  gehörige  Abhandlung  Schmollers  :•) 
durch  sie  erhält  man  ein  klares  Bild  von  den  Zuständen  der 
Finanzverwaltung  Strassburgs  zur  Zeit  der  Zunftkämpfe  und 
von  der  Reform  derselben  im  15.  Jahrhundert.  Über  den 


*)  Chron.  XVIII.,  2.  Hlfte.,  S.  9L — 115,  Beil.  XIII;  manches  hierher 
gehörige  auch  schon  S.  72—90,  Beil.  XII. 

*)  Die  klassische  Stelle  über  den  Wert  der  Stadtrecbnungen  als 
Geschiohtsquellen  findet  sich  Chron  I.  8.  263  und  264.  — Schon  im  Anfang 
dieses  Jahrhunderts  verwertete  Gemeiner  die  Stadtrechnungen  in  seiner 
Regensburgischen  Chronik  (cf.  Göttinger  gelehrte  Anzeigen,  1868  S.  820). 
Dann  gab  Grünhagen  1860  im  3.  Bande  des  Codex  diplomaticus  Silesiae 
verschiedene  die  Stadt  Breslau  betreffende  finanzielle  Aufzeichnungen  — 
darunter  die  Stadtrechnung  von  1387  — heraus,  die  er  mit  einem  fortlaufen- 
den Commentar  versah.  Kinc  zusammenfassende  Übersicht  über  die  Finanz- 
verwaltung Breslaus  ist  uns  hier  leider  nicht  gegeben,  weshalb  unsern 
Zwecken  die  angeführte  Beilage  XII  des  erst  1862  erschienenen  1.  Bandes 
der  Nürnberger  Chroniken  weit  mehr  entspricht. 

*)  Chron.  IV.,  S.  157 — 165,  Beil.  IX. 

4)  Würzburg  1882. 

5)  Finanzverhältnisse  der  Stadt  Basel  im  Mittelalter,  Tübingen  1879. 

•)  Strassburg  zur  Zeit  der  Zunftkämpfe  und  die  Reform  seiner  Ver- 
fassung und  Verwaltung  im  15.  Jahrh.,  Strassb.  1875. 


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3 


Stadthaushalt  Aachens  hat  uns  der  ehemalige  dortige  Archivar 
J.  Laurent  unterrichtet;1)  in  seinem  einschlägigen  Werke,  das 
sich  auf  das  14.  Jahrhundert  beschränkt,  finden  wir  auch  im 
Anhänge  verschiedene  Rechnungen  abgedruckt. 

Alle  die  bisher  genannten  Abhandlungen  und  grossem 
Darstellungen  betreffen,  wie  aus  dem  angeführten  ersichtlich  ist, 
nur  süd-  und  westdeutsche  Städte;  die  Geschichte  der  Finanz- 
verwaltung in  den  mittel-  und  norddeutschen  Städten  ist  erst  in 
geringerem  Umfange  in  den  Kreis  wissenschaftlicher  Betrachtung 
gezogen.  Was  jene  angeht,  so  kann  hier  nur  die  Veröffent- 
lichung von  Stadtrechnungen  Kassels  aus  dem  16.  und  16.  Jahr- 
hundert durch  Stölzel  genannt  werden,*)  die  mit  einer  kurzen 
Einleitung  und  recht  brauchbarem  Sachregister  versehen  ist;  eine 
umfassende  Bearbeitung  der  öffentlichen  Finanz  Wirtschaft  Dresdens 
ist  zwar  von  O.  Richter  in  Aussicht  gestellt,  aber  noch  nicht 
erschienen.*) 

Unter  den  norddeutschen  Städten  kommt  für  uns  in  erster 
Linie  Hamburg  in  Betracht,  da  wir  die  Ausgabe  seiner  Kämmerei- 
rechnungen von  Koppmann  besitzen;4)  dem  ersten  Bande  der 
letzteren  ist  eine  wertvolle  Einleitung  vorausgeschickt,  welche 
namentlich  eine  klare,  ins  Einzelne  gehende  Übersicht  über  Ein- 
nahmen und  Ausgaben  der  Stadtkasse  enthält.  Ferner  hat 
neuerdings  in  einem  knappen,  aber  sehr  inhaltreichen  Aufsatze 
A.  Ulrich  neben  der  politischen  vornehmlich  die  finanzielle  Lage 
Hannovers  am  Ende  des  14.  Jahrhunderts  ausführlich  geschildert.*) 
(cf.  Anm.  *.) 

')  Aachener  Stadtrechnungen  aus  dem  14.  Jahrh.,  Aachen  1866;  un- 
veränderte Ausgabe  unter  neuem  Xitel  1876. 

*)  Kasseler  Stadtrechnungen  aus  der  Zeit  von  1468  bis  1&53.  Zeit- 
schrift des  Vereins  für  hessische  Geschichte  und  Landeskunde.  Neue  Folge. 
3.  Supplement.  Kassel  1871. 

*)  Vgl.  das  Vorwort  zu  dem  in  Anm.  1 S.  1.  genannten  Werke  Richters. 

4)  Kämmereirechnungen  der  Stadt  Hamburg,  I.  Bd.  1350 — 1400;  Ham- 
burg 1869. 

5)  Die  politische  und  finanzielle  Lage  der  Stadt  Hannover  am  Ende 
des  14.  Jahrhunderts,  im  Hannoverschen  Unterhaltungsblatt,  1887.  Nro.  1—6. 

*)  Zum  Zweck  einer  möglichst  vollständigen  Aufzählung  der  ein- 
schlägigen Litteratur  sei  hier  ausser  ürünhagens  Veröffentlichung 
(cf.  8.  2 Anm.  2)  wenigstens  mit  einem  Wort«  noch  eine  solche  von  Hertel 
erwähnt:  Einnahmen  und  Ausgaben  der  Stadt  Kalbe  a.  S.  im  Jahre  1478. 
(Geschichtsblätter  für  Stadt  und  Land  Magdeburg,  1882.  Jahrgang  17. 
Heft  2,  S.  128-149). 


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4 


In  der  vorliegenden  Arbeit  soll  ein  Abschnitt  aus  der 
Geschichte  der  mittelalterlichen  Finanzverwaltung  in  einer  Nach- 
barstadt  Hannovers,  in  Braunschweig,  besondrer  und  näherer 
Betrachtung  unterzogen  werden.  Mehrere  Gründe  lassen  sich 
für  die  Wahl  dieser  Aufgabe  geltend  machen.  Zunächst  ist 
dabei  massgebend,  dass  wissenschaftliche  Forschung  auf  einem 
grossem  Gebiete  erst  dann  wahrhaft  fruchtbringend  sein  kann, 
wenn  sie  sich  anfangs  in  Einzelarbeiten  auflöst,  um  hierauf  die 
Resultate  derselben  zusammenzufassen.  Das  ist  eine  Behauptung, 
deren  unzweifelhafte  Richtigkeit  namentlich  für  die  deutsche 
Städtegeschichte  jetzt  wohl  allgemeine  Anerkennung  gefunden 
hat.  Ferner  aber  ist  im  besondern  das  mittelalterliche  Braun- 
schweig eine  Stadt,  welche  wichtig  genug  erscheint,  dass  man 
die  erforderliche  Mühe  auf  eine  solche  Arbeit  verwende.  Unter 
den  niedersächsischen  Städten  nahm  sie  unstreitig  eine 

hervorragende  Stellung  ein : erlangte  sie  doch  zu  den 

Zeiten  der  Hansa  Rang  und  Bedeutung  eines  Vororts.  Und 
wenn  Braunschweig  auch  formell ')  sich  nie  zur  Reichsstadt 
emporgeschwungen , sondern  immer  unter  der  Herrschaft 
der  welfischen  Herzoge  gestanden  hat,  wir  sehen  es  wenigstens 


')  Wenigstens  ist  der  reich sstädtischo  Charakter  Braunscliweiga.  so 
weit  wir  sehen  können,  nie  allgemein  anerkannt  worden.  Sonderbarer 
Weise  scheint  im  15.  .Jahrhundert  eine  gewisse  Unsicherheit  geherrscht 
au  haben,  ob  Braunschweig  als  Reichs-  oder  Territorialstadt  zu  betrachten 
sei.  Reichstagaakten  Bd.  VIII.  S.  107.  Zeile  29  ff.  bemerkt  Kerler:  „Städte 
nämlich,  welche  sich  als  reichsunmittelbar  gegen  die  Zugriffe  der  Territorial- 
fürsten zu  behaupten  suchten  (z.  B.  Braunschweig),  beriefen  sich  mit  Nach- 
druck darauf,  dass  sie  in  die  Matrikel  von  1422  neben  Städten,  deren  Reichs- 
unmittelbarkeit nicht  bestritten  wurde , eingesetzt  seien.“  Damit  mag 
R.-T.-A.  IX,  8.  272,  Anm.  1 verglichen  werden,  wo  die  Bereitwilligkeit 
Braunschweigs,  Reichskriegsteuer  zu  zahlen,  dadurch  erklärt  wird,  dass  die 
Stadt  bei  ihren  Kämpfen  um  Unabhängigkeit  von  den  Herzogen  den  un- 
mittelbaren Zusammenhang  mit  der  Reichsgewalt  mehr  und  mehr  habe 
befestigen  wollen.  Am  8.  Dez.  1425  richtete  Kaiser  Sigismund  einen  Brief 
an  „burgermeister  und  rat  der  stat  zu  Brfinswig  unsere  und  des  riebs  liebe 
getrften"  (R.-T.-A.  VIII,  436,  Z.  H8)  und  zu  gleicher  Zeit  einen  solchen  an 
die  freie  und  Reichsstadt  Strassburg  mit  fast  gleichlautender  Adresse:  „den 
ersamen  meister  und  rate  der  stat  zfi  Straspurg  unsern  und  des  richs  lieben 
getrewen.“  (1.  c.  Z.  25.)  Auch  ein  Brief  Sigismunds  vom  11.  Nov.  1430 
geht  an  „bfirgermeister  und  rat  der  stat  Brunschwig  unsern  und  des  richs 
lieben  getrewen.  (R.-T.-A.  IX,  S.  490,  Z.  4 ff.)  — In  schroffem  Widerspruch 
mit  diesen  Stellen  steht  dagegen  ein  Contingentsverzeichniss  von  1422,  wo 
wir  lesen:  „Bernhart  und  Wilhelm  von  Brunswig  mit  iren  steten  nemlich 
Brunswig  und  Luueburg  etc.“  (R.-T.-A.  VIII,  158,  Z.  24). 


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5 


im  Anfänge  des  15.  Jahrhunderts  schon  die  meisten  wesentlichen 
Hoheitsrechte,  wie  Besteuerung,  Zölle,  Münze  und  Vogtei  in 
festem  Besitze  haben.  Seine  wahre  Macht  unterschied  sich  also 
damals  von  der  einer  Reichsstadt  fast  gar  nicht.  Freilich 
erreichte  Braunschweig  diese  seine  höchste  Blüte  erst  nach  der 
Zeit,  auf  die  unsre  Abhandlung  sich  beschranken  wird,  und  deren 
Anfangs-  und  Endpunkt  die  Juhre  1227  und  1374  bezeichnen 
mögen ; auch  kann  man  nicht  sagen,  dass  für  diesen  Abschnitt 
der  Finanzgeschichte  genannter  Stadt  die  Quellen  sehr  reich- 
lich flössen,  zumal  da  recht  empfindliche  Lücken  sich  geltend 
machen.  Dennoch  aber  haben  wir  die  zeitlichen  Grenzen  der 
Aufgabe  so,  wie  es  oben  angegeben,  nicht  ohne  die  begründetste 
Absicht  bestimmt.  Im  Anfang  der  Periode  tauchen  die  ersten 
Spuren  des  Bestehens  öffentlicher  Stadthaushaltung  auf,  be- 
deutungsvolle Phasen  in  der  Entwicklung  ihrer  Organisation 
schliessen  sich  daran;  die  wichtigsten  Erwerbungen  von  Ein- 
künften und  ertragsfähigen  Rechten  werden  seit  ungefähr  1300 
angebahnt  und  zum  Teil  schon  vor  1374  vollendet,  die  ersten 
Kämmereirechnungen,  verstümmelte,  wie  auch  vollständige,  fallen 
in  die  zweite  Hälfte  unseres  Zeitraums:  kurz  wir  finden  hier  die 
erkennbaren  Anfänge,  die  Grundlage  der  Finanzverwaltung  der 
Stadt  Braunschweig.  Abgeschlossen  wird  diese  Zeit  durch  den 
grossen  Gildenaufstand  von  1374,  der  zum  wesentlichen  Teil  als 
eine  Folge  ärgster  Zerrüttung  der  öffentlichen  Wirtschaft,  her- 
vorgerufen durch  das  Zusammenwirken  äussern  Unglücks  und 
innerer  Missstände  sich  darstellt.  Welche  Bahnen  nach  dem 
grossen  Aufstande  die  finanziellen  Verhältnisse  Braunschweigs 
einschlugen,  darauf  einzugehen  muss  einer  spätem  Arbeit  Vor- 
behalten bleiben. 

Bei  den  neuern  Arbeiten  über  die  Geschichte  der  alten 
Weifenstadt  hat  man  den  mittelalterlichen  Stadthaushalt  keines- 
wegs unberücksichtigt  gelassen.  Dürre  hat  in  seiner  „Geschichte 
der  Stadt  Braunschweig  im  Mittelalter“  *)  ihrer  Finanzverwaltung 
ein  besonderes  Kapitel s)  gewidmet,  in  welchem  er  zunächst  die 
Einnahmen  des  Rates,  sodann  seine  Ausgaben,  schliesslich  die 
städtischen  Finanzbeamten  behandelt.  Doch  beziehen  sich  Dürre’s 
Ausführungen  in  diesem  Kapitel  fast  nur  auf  den  Anfang  des 


')  Braunschweig  1861  und  Wolfenbüttel  1875. 
*)  8.  314-317. 


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15.  Jahrhunderte,  geben  uns  aleo  einen  Durchschnitt  ohne  aus- 
reichende Anknüpfung  an  die  vorhergehende  und  die  nachfolgende 
Entwicklung.  Es  ergab  eich  für  Dürre  diese  Beschränkung  aus 
dem  geringen  Umfange  des  ihm  vorliegenden  Materials,  ein  Nach- 
teil, der  es  auch  schwierig  oder  unmöglich  machte,  mehrere 
Hauptpunkte  genügend  klar  zu  stellen.  Der  genannte  hat  für 
seine  Arbeit  die  eigentlichen  Rechnungen  weder  für  das  14.  noch 
für  das  15.  Jahrhundert  herangezogen,  vielleicht  weil  ihr  Vor- 
handensein, als  er  sein  Werk  schrieb,  noch  allzu  wenig  oder  gar 
nicht  bekannt  war.  Die  grosse  Finanzreform,  die  am  Ende  des 
14.  Jahrhunderts  in  Braunschweig  durchgeführt  wurde  und  schon 
ausserhalb  des  Rahmens  unsrer  Betrachtung  fällt,  hat  Dürre 
allerdings  nicht  bei  Seite  liegen  lassen,  du  der  klassische  Bericht 
über  dieselbe,  die  heimliche  Rechenschaft,  bereits  sehr  lange 
bekannt  ist.  Ein  einheitliches  Bild  von  dieser  Reform  können 
wir  aber  aus  seinem  Werke  nur  mit  Mühe  gewinnen;  denn  die 
einzelnen  Nachrichten  der  heimlichen  Rechenschaft  über  That- 
sachen,  Vorgänge  und  Zustände  hat  jener  für  seine  Zwecke  von 
einander  getrennt,  indem  er  sie  bald  nach  chronologischen,  bald 
nach  sachlichen  Rücksichten  mit  andern  Stoff  vermischte.  Sehr 
verdienstlich,  wenn  auch  nicht  in  allem  unbestreitbar,  sind  die 
Zusammenstellungen  Dürre’s  über  die  mannichfachen  Erwerbungen 
der  Stadt.1)  — Auch  Hänselmann,  dem  wir  die  Erschliessung 
so  mancher  Schätze  des  Braunschweiger  Archivs  verdanken,  hat 
die  Bedeutung  der  Geschichte  des  Stadthaushaltes  wohl  zu 
schätzen  gewusst,  und  er  hat  nun  vor  allem  auf  die  Wichtigkeit 
der  Stadtrechnungen  hingewiesen,  diese  so  zu  sagen  neu  entdeckt. 
Sehr  häufig  hat  er  in  den  Anmerkungen  in  seiner  Ausgabe  der 
Braunschweigischen  Chroniken  *)  zur  Erläuterung  die  Rechnungen 
herangezogen,  namentlich  in  den  Noten  zur  heimlichen  Rechen- 
schaft®) und  zum  Gedenkbuch  Hans  Porners. 4)  Er  eröflrhete 
uns  auch  klare  Einblicke  in  gewisse  Perioden  der  städtischen 
Verwaltung:  dahin  gehört  die  Kritik  der  Finanzverwaltung  durch 
den  patricischen  Rat  vor  dem  Aufstande  von  1374,®)  dahin  die 
Schilderung  der  Verhältnisse  und  des  Geistes,  die  zum  Beginn 


')  S.  286-395;  8.  348  ff. 

*)  Chron.  Bd.  VI:  Braunschweig,  Bd.  I,  1868. 
*)  Chron.  VI,  8.  121—207. 

*)  ibid,  S.  209-281. 

6)  ibid.,  namentlich  S.  319—330. 


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7 


und  zur  glücklichen  Vollendung  des  grossen  Reorganisations- 
werkes führten. *)  Die  Entwicklung  der  Weinschanksgerechtsame 
in  Braunschweig  hat  Hänselmann  in  einem  besondern  Aufsatze  *) 
behandelt,  den  wir  ebenso  berücksichtigen  müssen,  wie  auch  seine 
Darstellung  „Braunschweig  im  täglichen  Kriege  des  Mittelalters“.8) 
ferner  gewährt  uns  die  Einleitung  desselben  Verfassers  zum 
1.  Bande  der  Chroniken  dieser  Stadt 4)  für  unsern  Zweck 
mancherlei  Aufschluss  über  die  grundlegenden  Verhältnisse. 
Kurz  in  jeder  Hinsicht  ist  der  folgende  Versuch  auf  Hänsel- 
manns Arbeiten  aufzubauen.8) 


*)  ibid.,  S.  123-132. 

’)  Werkstücke,  gesammelte  Stadien  und  Vorträge  zur  Braunschwei- 
gischen Geschichte,  Wolfenbüttel  1887,  Bd.  I.,  S.  273 — 306. 

*)  Werkstücke  1.  S.  56 — 131. 

«)  Chron.  VI.  S.  XIII— XXXV. 

5)  Erst  als  diese  Abhandlung  schon  vollendet  war,  kam  dem  Verf. 
v.  Kostanecki’s  Arbeit  „der  öffentliche  Credit  im  Mittelalter.  Nach  Urkunden 
der  Herzogtümer  Braunschweig  und  Lüneburg.  Leipzig  1889",  zu  Gesicht. 
In  dem  IV.  Abschnitt  der  letzcrn,  welcher  über  den  städtischen  Credit 
handelt,  geht  v.  K.  auch  auf  den  öffentlichen  Credit  der  Stadt  Braunschweig 
ein.  Da  indessen  nur  wenige  Bemerkungen  v.  K.'s  in  das  Gebiet  der  vor- 
liegenden Abhandlung  fallen,  und  dieses  wenige  nicht  über  das,  was  bisher 
schon  bekannt  war,  hinausgeht,  so  lag  keine  Veranlassung  vor,  v.  K.’s  Arbeit 
im  Texte  zu  berücksichtigen. 


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I.  Die  Quellen  zur  Geschichte  der  Finanz- 
Verwaltung  Braunschweigs  bis  zum  Jahre  1374. 


Wenn  in  einem  kurzen  Überblicke  die  Quellen  für  die 
Finanzgeschichte  Braunschweigs  in  dem  gewählten  Zeitraum 
betrachtet  werden  sollen,  ist  es  zunächst  unumgänglich  notwendig, 
die  wichtigsten  historischen  Verhältnisse  zu  erwähnen,  welchen 
jene  Quellen  — es  sind  fast  ohne  Ausnahme  Urkunden  und 
amtliche  Aufzeichnungen  — ihr  Dasein  verdanken,  und  von 
denen  man  sich  bei  der  Einteilung  derselben  leiten  lassen  muss. 
Fünf,  keineswegs  gleichzeitig  entstandene  Weichbilde  machten 
in  ihrer  Vereinigung  die  Stadt  Braunschweig  des  spätem  Mittel- 
alters aus:  die  Altstadt,  der  Hagen,  die  Neustadt,  die  Altewik 
und  der  Sack.  Die  hier  gewählte  Reihenfolge  giebt  uns  die 
Abstufung  in  der  Bedeutsamkeit  der  Weichbilde  an;  bei  chrono- 
logischer Ordnung  würde  der  Altenwik  der  erste  Platz  gebühren: 
sie  wird  urkundlich  zuerst  im  Jahre  1031  erwähnt,  während  das 
zuletzt  entstandene  Weichbild,  der  Sack,  erst  im  13.  Jahrhundert 
sich  entwickelt  hat.  Den  Herzogen  gegenüber  standen  diese 
fünf  Weichbilde  nicht  alle  auf  gleicher  Stufe.  Denn  im  Gegen- 
satz zu  Altstadt,  Hagen  und  Neustadt  zahlten  die  Bewohner 
der  Altenwik  und  des  Sacks  wahrscheinlich  bis  gegen  Ende  des 
13.  Jahrhunderts  eine  bald  Schoss  bald  Bede  genannte  Steuer 
an  die  Herzoge,  die  auf  eine  besonders  grosse  Abhängigkeit  der 
beiden  letztgenannten  Weichbilde  hinweist,  eine  Abhängigkeit, 
welche  eine  scharfe  Trennung  dieser  von  den  übrigen  dreien 
begründete.  So  kam  es,  dass  im  Jahre  1269  Altstadt,  Hagen 
und  Neustadt  allein  dahin  sich  vertrugen,  für  gemeinsame  An- 
gelegenheiten einen  gemeinen  Rat  mit  gemeiner  Finanzverwaltung, 
der  gewisse  Einnahmen  zufliessen  sollten,  ins  Leben  zu  rufen. 
Ganz  allmählich  wurden  auch  Altewik  und  Sack,  indem  die 
Herzoge  ihre  dortigen  Rechte  und  Hebungen,  vor  allem  jene 


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9 


Bede,  den  drei  verbundenen  Weichbilden  verpfändeten,  in  die 
Einigung  dieser  hineingezogen.  Hier  rangen  sie  sich,  wenn  auch 
langsam,  von  einer  rein  unterthänigen  Stellung  zu  einer  gewissen 
Mitregierung,  zur  Teilnahme  am  gemeinen  Rat  empor.1) 

Doch  kann  es  jetzt  nicht  unsre  Aufgabe  sein,  die  eben  kurz 
angedeutete,  mit  dem  Jahre  1345  im  wesentlichen  abschliessende 
Entwicklung  genauer  zu  verfolgen,  wir  müssen  vielmehr  zu  der 
Übereinkunft  von  1269  zurückkehren.  Vor  derselben  gab  es  nur 
die  fünf  Weichbildsfinanzverwaltungen  unverbunden  neben  ein- 
ander, soweit  damals  überhaupt  jedes  Weichbild  diesen  Zweig 
der  Verwaltung  ausgebildet  hatte;  nach  der  Einigung  indessen 
finden  wir  neben  den  weiter  bestehenden  Einzelverwaltungen  die 
gemeine  Finanzverwaltung,  anfangs  freilich  nur  für  Altstadt, 
Hagen  und  Neustadt,  die  ihr  zu  Gunsten  auf  gewisse  Geschäfte 
und  Einnahmen  verzichteten,  bald  aber  auch  für  Altewik  und 
Sack  von  Bedeutung.  Der  so  dargelegte  Gegensatz  zwischen 
der  Zeit  vor  und  nach  1269  ist  hinsichtlich  der  Einteilung  der 
Quellen  massgebend : zu  der  einen  Gruppe  des  Materiale,  die  nur 
die  einzelnen  Weichbilde  angeht,  kommt  mit  dem  genannten 
Jahre  eine  zweite,  aus  der  wir  die  Finanzverwaltung  der  ge- 
meinen Stadt  kennen  lernen.  Darum  muss  jener  Zeitpunkt  einen 
Einschnitt  in  unsrer  Quellenbetrachtung  bedeuten. 

Aus  der  Periode  vor  der  so  sehr  zu  betonenden  Über- 
einkunft ist  nun  allerdings  für  unsern  Zweck  nur  ganz  wenig 
erhalten:  es  sind  ein  paar  Urkunden  Ottos  des  Kindes,  bis  auf 
eine  im  Original  vorliegend,  aber  nicht  alle  von  unbestrittener 
Achtheit  oder  sicherer  Datirung;  dazu  gesellen  sich  zwei  gleich- 
falls im  Original  erhaltene  Abtsurkunden,  deren  eine  auch  als 
Copie  im  ersten  Degedingbuche  des  Hägens  sich  findet,  sowie 
ein  in  das  erste  Altstädter  Degedingbuch  aufgenommener  Vertrag. 
Das  ist  alles,  was  aufgeführt  werden  kann. 

Indem  wir  deshalb  zu  den  Quellen  aus  der  Zeit  nach  1269 
fortschreiten,  wollen  wir  zunächst  diejenigen  erwähnen,  aus  denen 
man  über  die  Finanzverwaltung  der  einzelnen  Weiohbilde  bis 
1374  Aufschluss  erhält.  Die  Zahl  der  heranzuziehenden  Urkunden 
ist  gering,  beträgt  kaum  mehr  als  zehn;  meist  sind  es  solche, 
die  von  geistlichen  Stiftern  ausgestellt  wurden,  sie  betreffen 
gewöhnlich  Altstädter  oder  auch  Hagener  Erwerbungen  oder 


')  Ausführlichere  Darstellung  dieser  Verhältnisse  in  der  Einleitung  zu 
Chron.  VI. 


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10 


Verkäufe,  ln  weit  grösserem  Umfange  muss  man  sich  jetzt  auf 
die  Degedingbiicher  stutzen,  indem  hier  nicht  nur  zwischen 
Dritten  getroffene  Abmachungen,  sondern  auch  die  Weichbilds- 
räte selbst  angehende  eingeschrieben  wurden.  Sehr  viel  bieten 
besonders  das  erste  und  das  zweite  Degedingbuch  der  Altstadt, 
von  denen  dieses  mit  dem  Jahre  134Ö  an  die  Stelle  jenes  tritt, 
viel  auch  das  erste  des  Hagen;  letztres  schließet  wie  auch  das 
für  uns  weit  weniger  ergiebige  erste  Degedingbuch  des  Sacks 
erst  lange  nach  1374  ab.  Nur  bis  1330  haben  wir  das  erste 
Degedingbuch  der  Neustadt  zu  berücksichtigen,  dann  wird  es, 
während  das  zweite  ganz  bei  Seite  gelassen  werden  kann,  ersetzt 
durch  das  sogenannte  Rechtsbuch  dieses  Weichbildes,1)  das  uns 
vom  Anfang  des  14.  Jahrhunderts  bis  gegen  Ende  desselben 
begleitet  und  ausser  einer  Anzahl  von  Statuten  auch  mehrere 
Eintragungen  finanzieller  Art  namentlich  über  Verkäufe  enthält. 
Für  die  Altewik  liegt  aus  der  hier  in  Betracht  kommenden 
Zeit  kein  Degedingbuch  vor;  in  Folge  dessen  ist  unser  Wissen 
von  der  dortigen  Finanzverwultung  ein  ganz  besonders  spärliches. 

Als  älteste  Spur  umfassenderer  finanzieller  Aufzeichnungen, 
die  rein  im  Interesse  der  Einzelhaushalte  der  Weichbilde  ge- 
macht wurden,  und  zu  denen  vor  allem  Kämmereirechnungen 
letzterer  gezählt  werden  müssen,  ist  ein  in  lateinischer  Sprache 
abgefasstes,  undatirtes  Verzeichniss  anzusehen.  Dieses  nimmt 
anderthalb  Seiten  im  ersten  Degedingbuche  der  Altstadt  ein  *) 
und  stammt  in  seinen  frühesten  Bestandteilen,  wie  aus  der 
Gleichheit  der  Schrift  einiger  später  hinzugekommenen,  auf 
Rasur  stehenden  Posten  mit  der  datirter  Eintragungen  in  dem- 
selben Buche  hervorgeht,  noch  aus  der  Zeit  vor  1313,  ist  aber 
sicherlich  erst  nach  1300  angelegt.  Seine  jetzige  Gestalt  hat  es 
im  wesentlichen  zwischen  1313  und  1320  erhalten.  In  diesem 
Verzeichniss  finden  wir  Zinsposten  zusammengetragen,  welche 
die  Räte  in  der  Altstadt,  dem  Hagen  und  der  Neustadt  alljähr- 
lich an  gewisse  Personen  oder  Kirchen  zu  zahlen  hatten.  Es 
handelt  sich  hierbei  im  allgemeinen  um  ablösliche  Renten,  indem 
zu  Anfang  jeder  der  drei  Abteilungen  unsres  Verzeichnisses 
festgesetzt  wird,  mit  wie  viel  Mark  Kapital  jeder  Rat  eine  Mark 


')  Däne  bezeichnet  das  Rechtsbuch  der  Neustadt  als  erstes  Degeding- 
buch dieses  Weichbildes  und  in  Folge  dessen  das  erste  Degedingbuoh  als 
zweites. 

«)  fol.  68  ■ und  69. 


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11 


Zins  wiederkaufen  könne,  indessen  kommt  auch  eine  Leibrente 
vor.  Die  drei  Abteilungen  sind  verschieden  lang:  die  längste 
ist  die  der  Altstadt,  die  kürzeste  die  der  Neustadt. 

Sowohl  was  den  Umfang  als  die  Mannigfaltigkeit  des  Inhalts 
angeht,  wird  dieses  Stück  von  der  zweiten  hier  zu  besprechenden 
Aufzeichnung  weit  übertrofFen.  Letztere  ist  uns  im  Rechtsbuch 
der  Neustadt  auf  fol.  65 1 bis  fol.  75  aufbewahrt.  Sie  charakterisirt 
sich  als  ein  vollständiges  Verzeichniss  der  Einnahmen  und  Aus- 
gaben des  Rates  der  Neustadt  an  ewigen  und  rUckkäuflichen 
Zinsen,  eine  Zusammenstellung,  wie  sie  uns  später,  jedoch  nicht 
mehr  vor  1374 , noch  häufiger  unter  dem  Namen  Tinsbok 
begegnet.1)  Die  Einnahmen  stehen  voran:  zunächst  die  nach 
Strassen  geordneten  unablöslichen  und  ablöslichen  Zinse,  die 
der  Rat  von  Häusern  und  Gärten  bezieht,  dann  die  ihm  alljähr- 
lich als  Miete  für  die  Verkaufsstätten  im  Gewandhause  und  die 
Brot-  und  Fleischscharren  zufliessenden  Einkünfte.  Die  Ausgaben 
zerfallen  in  Zinszahlungen  an  Geistliche  und  geistliche  Stifter,  welche 
sich  aus  verschiedenen  Rechtsansprüchen  herleiten,  und  in  die 
vom  Rat  verkauften  Leibgedinge  und  rückkäuflichen  Renten.  Sehr 
viele  Posten,  namentlich  unter  den  Einnahmen,  sind  durchstrichen, 
auch  Rasuren  finden  sich  oft;  Nachträge  sind  mehrfach  hinzugefügt, 
der  erste  derselben  stammt  nach  seiner  Datirung  aus  dem 
Jahre  1354.  Da  das  Zinsbuch  selbst  nicht  datirt  ist,  so  kann 
man  wenigstens  aus  diesem  Nachtrage  schliessen,  dass  es  in 
seiner  ursprünglichen  Gestalt  vor  1354  abgefasst  worden  ist. 
Andrerseits  verbieten  die  klare  und  zweckmässige  Kapitel- 
anordnung, weniger  der  Umstand,  dass  das  Lateinische  hier 
durch  das  Niederdeutsche  verdrängt  ist,  ein  weites  Zurück- 
schieben der  Abfassungszeit.  Aus  der  Schrift  kann  man  kaum 
einen  sicheren  Schluss  ziehen:  datirte  Stücke  von  der  gleichen 
Hand  sind  im  Rechtsbuche  der  Neustadt  in  ziemlicher  Anzahl 
anzutreffen,  die  ältesten  derselben  gruppiren  sich  um  das  Jahr 
1310  herum,  das  jüngste  fällt  ins  Jahr  1331. 

Wirkliche  Kämmereirechnungen  eines  Weichbildes  sind 
zuerst  aus  den  Jahren  1354  und  1355  erhalten;  zugleich  sind 
diese  die  einzigen,  welche  für  unsre  ganze  Periode  vorliegen. 


•)  So  das  Zinsbuch  der  Altstadt  von  1878  und  die  Zinsbücher  aller  fünf 
Weichbilde  von  1398  und  1402. 


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12 


Sie  finden  sich  in  einer  28  Blätter  umfassenden  Papierhandschrift, 
in  der  vier  Rechnungen  vereinigt  sind:  diejenigen  der  Altstadt 
und  der  gemeinen  Stadt  von  1354,  dann  die  gleichen  von  1355. 
Die  Titelseite  der  Altstädter  Rechnungen  trägt  ein  grosses, 
verziertes  A (antiqua  civitas),  die  der  gemeinen  Rechnung  von 
1354  ein  entsprechendes  C (communis  civitas),  welches  bei 
derjenigen  von  1355  fehlt.  Alle  diese  vier  Stücke  sind  von  ein 
und  derselben  Hand  geschrieben  und  in  lateinischer,  ab  und  an 
mit  niederdeutschen  Brocken  untermischter  Sprache  verfasst. 
In  beiden  Altstädter  Rechnungen  — die  der  gemeinen  Stadt 
sind  erst  später  genauer  zu  betrachten  — gehen  die  Ausgaben 
den  Einnahmen  voran,  nur  ein  Kapitel  jener  steht  in  ihnen  ganz 
am  Schluss : es  ist  das  der  Aufwendungen  für  Ankauf  vor- 
nehmlich von  Häuserzinsen.  Ausser  diesem  Kapitel  sind  die 
Ausgaben  nur  noch  in  die  Rubrik  der  Leibrentenzahlungen  und 
in  die  der  sämmtlichen  übrigen  Ausgaben  geteilt.  Letztere  ist 
die  umfangreichste  in  jeder  der  beiden  Rechnungen,  die  in  ihr 
zusammengetragenen  Posten  scheinen  nach  chronologischem 
Princip  geordnet  zu  sein.  Was  die  Einnahmen  anbetrifft , so 
sind  auch  diese  in  drei  Kapitel  eingeteilt:  die  Einnahmen  an 
Zinsen  vom  Weichbildsgut,  die  Einkünfte  aus  dem  Verkauf  von 
Renten  und  die  Rubrik , unter  der  alle  übrigen  Einnahmen  ver- 
einigt sind.  Am  Schluss  jeder  Seite  und  jeden  Kapitels  sind, 
jedoch  nicht  ganz  ohne  Ausnahme,  die  Gesammtsummen  der 
aufgeführten  Posten  angegeben,  ferner  finden  wir  auch  in  beiden 
Rechnungen  die  löbliche  Absicht,  das  Facit  aller  Ausgaben  zu 
ziehen,  die  indessen  nur  unvollkommen  zur  Ausführung  gelangt; 
bei  den  Einnahmen  ist  etwas  ähnliches  gar  nicht  versucht,  so 
dass  von  Aufstellung  einer  Bilanz  keine  Rede  sein  kann.  Zu 
Beginn  der  so  gestalteten  Rechnungen  der  Altstadt  sind,  was 
endlich  noch  bemerkt  werden  mag,  die  Namen  der  beiden 
Kämmerer  dieses  Weichbildes  genannt. 

Unter  den  Quellen  für  die  Geschichte  des  öffentlichen 
Haushalts  der  gemeinen  Stadt  zwischen  1269  und  1374  sind 
zuerst  wieder  die  Urkunden  zu  nennen;  sie  sind  in  nicht 
unbeträchtlicher  Anzahl  bei  diesem  Teile  unsrer  Arbeit  zu  berück- 
sichtigen und,  wenn  auch  über  die  ganze  Periode  zerstreut,  doch 
besonders  reichlich,  wie  es  ja  natürlich  ist,  aus  den  letzten  Jahr- 
zehnten derselben  vorhanden.  Bei  weitem  die  meisten  sind 
Verpfändungsurkunden  oder  Scbuldbescheinigungen  der  Herzoge, 
welche  ziemlich  vollzählig  in  dem  Sudendorf sehen  Urkunden- 


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13 

buche  ’)  Aufnahme  gefunden  haben.  Hierzu  gesellen  sich  seit 
1342  eine  Menge  von  Eintragungen  im  ersten  Gedenkbuche. 
Dieses  ist  für  die  gemeine  Stadt  von  gleichem  Werte,  wie  fiir 
die  Weich  bilde  die  Degedingbücher  und  enthält  viele  Abmachungen 
und  Bestimmungen,  manche  kurze  Bemerkungen  und  längere 
Berichte,  die  in  das  Gebiet  der  gemeinen  Finanzverwaltung 
fallen.  Die  Kenntniss  der  letztem  läset  sich  gelegentlich  auch 
aus  dem  oben  bereits  erwähnten  Rechtsbuche  der  Heustadt 
erweitern. 

Wie  von  den  Rechnungen  der  Weichbilde,  so  sind  von 
denen  der  gemeinen  Stadt  aus  der  bezeichneten  Periode  nur 
noch  traurige  Reste  übrig.  Der  älteste  dieser  Reste  ist  ein 

Fragment  aus  dem  Jahre  1331,  erhalten  auf  einem  langen, 
schmalen  Pergamentblatte.  Auf  der  Rückseite  desselben  sieht 
man  an  einigen  Stellen  unleserliche  Schriftzüge,  die  aus  spätrer 
Zeit  zu  stammen  scheinen,  die  Vorderseite  zeigt  in  der  Schmal- 
seite des  Blattes  parallel  laufenden  Zeilen  eine  Reihe  von  Aus- 
gabeposten. Diese  Ausgaben  machten,  einer  einleitenden  Be- 
merkung zufolge,  im  Jahre  1331  die  Ratsherrn  Braunschweigs, 
womit  nur  der  gemeine  Rat  bezeichnet  sein  kann.  Eine  Ein- 
teilung der  sehr  verschiedne  Gebiete  berührenden  Posten  — im 
ganzen  sind  es  69  — ist  nicht  vorhanden,  eben  so  wenig  ist  eine 
Gesammtsumme  gezogen.  Zur  nähern  Besprechung  wird  der 
Inhalt  erst  im  Hauptteile  gelangen.  *) 

An  die  Schilderung  des  Stückes  von  1331  muss  hier  unmittel- 
bar die  der  gemeinen  Kämmereirechnungen  von  13&4  und  1355 
gereiht  werden,  da  aus  der  Zwischenzeit  nichts  derartiges 
erhalten  ist.  Die  enge  äusserliche  Verbindung  und  Verwandt- 
schaft jener  beiden  Rechnungen  mit  denen  der  Altstadt  aus  den- 
selben Jahren  war  oben  bereits  betont  worden,  im  übrigen  aber 
fehlt  es  nicht  an  durchgreifenden  Unterschieden  zwischen  letztem 
und  den  erstgenannten.  Vor  allem  ist  zu  bemerken,  dass,  während 
die  Altetädter  Rechnungen  sowohl  Ausgaben  als  Einnahmen 
enthalten,'  in  denen  der  gemeinen  Stadt  nur  Ausgaben  sich  finden. 
Von  diesen  nehmen,  wie  dort,  die  in  sachlicher  Hinsicht  bunt 
durcheinander  gewürfelten  Posten  den  meisten  Platz  ein,  sind 
indessen  nicht  in  ununterbrochener  Reihe  aufgeführt,  sondern  in 


*)  Sudendorf,  Urkundenbach  zur  Geschichte  der  Herzoge  von  Braun- 
schweig  und  Lüneburg  und  ihrer  Lande,  11  Bde.,  Hannover  1869— 1883. 

*)  cf.  II  cap.  3. 


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14 


mehreren  von  einander  getrennten  Stöcken.  Chronologische 
Ordnung  kann  ihnen  höchstens  1354  zu  Grunde  liegen.  Ein 
eignes  Kapitel  ist  den  Ausgaben  an  Leib-  und  rückkäuäichen 
Renten  eingeräumt , ebenso  dem  Sold  für  die  bewaffnete 
Mannschaft  sammt  den  Kosten  für  die  Unterhaltung  und 
Miete  der  Pferde;  die  Aufwendungen,  welche  der  Ersatz 
von  Pferdeschaden  erforderte,  sind  nur  in  der  Rechnung 
von  1354  in  einer  besondern  Rubrik  vereinigt.  Schliess- 
lich haben  auch  einige  im  Pfandbesitz  der  Stadt  befind- 
liche Schlösser  in  beiden  Rechnungen  eigene  Kapitel  erhalten, 
wo  die  mannigfaltigen  Ausgaben,  die  Verwaltung  und  Nutzbar- 
machung dieser  Schlösser  mit  sich  brachten,  zusammengetragen 
worden  sind.  Mehrere  Inconsequenzen  der  so  sich  darstellenden 
Kapiteleinteilung  treten  schon  durch  das  gesagte  zu  Tage;  dazu 
kommt  nun  aber  noch,  dass  die  Grenzen  zwischen  den  Misch- 
rubriken und  den  speciellen  Kapiteln  durchaus  fliessende  sind, 
denn  manche  Ausgaben,  die  eigentlich  in  eins  der  letztem  hinein- 
gehören, haben  in  einer  der  erstem  ihren  Platz  gefunden.  Am 
Ende  jeder  Rubrik,  in  der  Regel  am  Ende  einer  Seite,  zuweilen 
auch  am  Schluss  grösserer  Abteilungen  ist  das  Facit  angegeben ; 
ferner  hat  man  die  Gesammtsumme  der  Ausgaben  des  betreffenden 
Jahres  zu  ziehen  versucht,  doch  ist  es  dabei  nicht  anders  gegangen, 
wie  in  den  Altstädter  Rechnungen:  auf  die  gefundenen  Summen 
folgen  noch,  namentlich  1355,  eine  ganze  Anzahl  nicht  mit  ein- 
gerechneter Aufwendungen.  Die  Rechnung  von  1355  ist  uns 
nur  unvollständig  überkommen.  Das  erhellt  zunächst  daraus, 
dass  bei  Aufstellung  der  Gesammtsumme  ein  Betrag  von  fast 
1000  Mark  mit  hineingezogen  wird,  von  dem  man  nicht  weis*, 
woher  er  kommt.  Sodann  fehlen  in  dem  uns  erhaltenen  Stück 
ungefähr  die  Hälfte  der  Leibrenten-  und  Weddeschatzzahlungen, 
wie  später  nachzuweisen  sein  wird.1)  Endlich  wird  unsere  Be- 
hauptung auch  durch  einen  Vergleich  der  Anfänge  der  beiden 
gemeinen  Rechnungen  erhärtet.  Während  die  von  1354  mit  den 
Namen  der  beiden  Kämmerer  gemeiner  Stadt  beginnt,  ist  dies 
bei  der  von  1355  nicht  der  Fall , und  während  dort  der  erste 
Ausgabeposten  mit  imprimis  eingelcitet  ist,  wird  er  es  hier  durch 
das  auf  vorangehendes  hinweisende  item. 

Gemeine  Kämmereirechnungen  liegen  aus  unsrer  Periode 
nicht  weiter  vor,  die  nächsten  fallen  erst  in  den  Anfang  des 

')  cf.  II.  cap.  7. 


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15 


16.  Jahrhundert»;  dagegen  ist  hier  noch  einer  andern  acten- 
mässigen  Quelle  rein  finanziellen  Inhalts  zu  gedenken,  weil  sie 
bereit»  mit  1361  einsetzt.  Es  ist  das  älteste  erhaltene  Wedde- 
echatzregister,  ein  starker  Pergamentcodex  in  Grossfolio,  der 
dazu  bestimmt  war,  über  den  Verkauf  ablöslicher  Renten  durch 
den  gemeinen  Rat  ausgestellte  Briefe  in  Abschriften  aufzunehmen. 
.Freilich  wurde  dieses  Register  erst  1396  angelegt,  geht  aber,  wie 
gesagt,  bis  1361  zurück  und  enthält  aus  der  Zeit  von  1361  bis 
1374  dreizehn  solcher  Weddeschatzbriefe;  ein  älteres  Wedde- 
scbatzregister  hat  es  gegeben,  doch  ist  dasselbe  nicht  mehr  vor- 
handen. *)  Copieen  von  früher  als  1374  ausgefertigten  Leib- 
rentenbriefen  können  nicht  nachgewiesen  werden:  das  erste  der 
auf  uns  gekommenen  Leibgedingsregister,  welches  wahrscheinlich 
gleichfalls  1396  eingerichtet  wurde,  *)  beginnt  mit  Stücken  aus 
dem  Jahre  1392. 

Während  bisher  nur  von  Überresten  geschäftlichen  Materials 
die  Rede  war,  soll  endlich  noch  eine  mehr  in  das  Gebiet  der 
Chroniken  gehörige  Quelle  wenigstens  mit  einigen  Worten 
erwähnt  werden.  Wir-  meinen  die  heimliche  Rechenschaft,  jene 
schon  verschiedentlich  genannte,  ohne  Frage  auf  bestem  amt- 
lichen Material  und  reicher  persönlicher  Erfahrung  beruhende 
Darstellung  der  Verwaltungsreform  in  Braunschweig  am  Ende 
des  14.  Jahrhunderts.  Über  Veranlassung,  Zeit  der  Abfassung 
und  den  Verfasser  der  heimlichen  Rechenschaft,  sowie  über  ihren 
rein  officiellen  Charakter  ist  alles  wesentliche  von  Hänselmann 
bereits  gesagt  worden.  *)  Für  diese  Arbeit  kommt  zunächst  der 
erste  Teil  jener  in  Betracht,  wo  die  starke,  plötzlich  eintretende 
Verschuldung  der  Stadt  kurz  vor  dem  Aufstande  und  ihre 
Ursachen  geschildert  werden,  dann  aber  auch  der  zweite,  in  dem 
bei  Besprechung  der  verschiedenen  Reformen  auch  die  vor 
Durchführung  der  letztem  bestehenden  Missbrauche  und  Un- 
vollkommenheiten erörtert  werden.  Unmittelbarer  noch  als  die 
heimliche  Rechenschaft  klären  uns  über  den  Einfluss  der  finanziellen 
Verhältnisse  auf  den  Ausbruch  des  Aufstandes  einige  gleich- 


*)  Auf  diese«  ältere  Weddeschatzregister  wird  verwiesen  in  der  Heim- 
lichen Rechenschaft,  Teil  1.  Kap.  2 (Chron.  VI,  S.  136);  dort  ist  auch  die 
Anm.  3.  zu  vergleichen. 

*)  Sein  Äussere9  stimmt  nämlich  vollständig  mit  dem  unsres  Wedde- 
schatzregisters  überein;  in  beiden  ist  die  älteste  Hand  die  gleiche. 

*)  Chron.  VI.  8.  123-132. 


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16 


falls  von  Hänselmann  gedruckte  Briefe  auf. ')  Dieselben  richteten 
bald  nach  jenem  Ereignisse  teils  die  aufständischen  Gilden,  teils 
die  vertriebenen  Geschlechter  an  andere  Städte,  um  sich  selber 
zu  rechtfertigen  und  die  Gegner  anzuklagen.  Durch  Combination 
dieser  von  entgegengesetzten  Stundpunkten  aus  geschriebenen 
Briefe  wird  sich  manches  thatsächliche  feststellen  lassen. 

Uber  das  Münzwesen  der  Stadt  Braunschweig,  dessen  genaue 
Kenntniss  für  eine  recht  vollständige  und  fruchtbare  Ausnutzung 
des  geschilderten  Materials,  namentlich  der  Rechnungen  nicht  zu 
entbehren  ist,  sind  leider  noch  keine  eingehenden  Untersuchungen 
veröffentlicht : 4)  so  ist  eine  Umrechnung  der  damaligen  Braun- 
schweigischen Münze  in  unsre  heutige  Reichsmünze  vorerst  nicht 
möglich.  Gerechnet  wird  in  den  aufgeführten  Quellen  einerseits 
nach  mark,  ferding,  lot  und  quentin3),  andrerseits  nach  pfund, 
Schilling  und  pfennig.  Bei  der  Aufstellung  von  Gesaraintsummen, 
überhaupt  bei  Anführung  von  grossem  Beträgen  finden  wir  das 
Pfundsystem  regelmässig  auf  das  Marksystem  reducirt , welch' 
letzteres  somit  in  der  Rechnung  den  ersten  Rang  einnahm.  Aus 
diesen  Reductionen  ergiebt  sich  für  die  Braunschweigische  Mark 
ein  Durchschnittswert  von  30  Schillingen,  ich  sage  ein  Durch- 
schnittswert, denn  in  Folge  der  zu  Anfang  jedes  Jahres  durch- 
gefdhrten  Münzumsetzung4)  war  bis  ins  15.  Jahrhundert  der 
Kurs  der  Mark  zu  verschiedenen  Zeiten  des  Jahres  ein  ver- 
schiedener. Rechenfehler  kommen  in  unsern  Quellen  nicht  selten 
vor;  den  Grund  hiervon  werden  wir  einerseits  in  den  verwickelten 
Münzverhältnissen,  andrerseits  in  dem  ausschliesslichen  Gebrauch 
der  römischen  Ziffern  6)  zu  sehen  haben.  Übrigens  sind  ja  solche 


■)  ibid.  S.  346  bis  348  Anklagescbreiben  der  Vertriebenen  gegen  die 
Gilden;  S.  350  und  351  Anklageschreiben  der  Gilden  gegen  die  Vertriebenen: 
S.  357  bis  361  Rechtfertignngsscbreiben  der  Vertriebenen. 

*)  Das  einzige  Werk,  das  hier  erwähnt  werden  kann,  ist  Bode,  das 
ältere  Münzwesen  der  Staaten  und  Städte  Niedersachens,  Braunschweig  1847. 

*)  1 mark  = 4 ferding  = 16  lot  = 64  quentin.  1 pfd.  = 30  schill.  = 
240  pfenn. 

*)  Über  die  HUnznmsetzung  im  Anfang  des  15.  Jahrh.  giebt  äusserst 
wertvolle  Aufschlüsse  das  leider  noch  nicht  herausgegebne  und  erklärte 
Münzbuch  Hans  Porners.  Zura  3.  Bde.  der  Braunschw.  Chron.  wird  darüber 
eine  Beilage  Häuselmann’s  zu  erwarten  sein.  cf.  Vorwort  zum  2.  Bde.  der 
Braunschw.  Chron.  (Chron.  XVL)  S.  V. 

•)  Erst  im  Anfang  des  15.  Jahrh.  finden  sich  in  den  Braunschweiger 
Quellen  arabische  Ziffern  (3  und  4)  und  zwar  in  Vermischung  mit  römisches. 


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17 


lrrtümer  ein  Charakteristicum  der  meisten  mittelalterlichen  Be- 
rechnungen, ’)  so  dass  wir  uns  wundern  müssten,  wenn  sie  gerade 
im  Braunschweigischen  Material  fehlten.  Auf  eine  durchgreifende 
Berichtigung  derselben  sich  einzulassen,  würde  sehr  gewagt  sein, 
da  bei  unsrer  wie  gesagt  so  unvollkommenen  Kenntniss  des 
Münzwesens  Braunschweigs  wir  häufig  dort  einen  Rechenfehler 
erblicken  können,  wo  in  Wahrheit  gar  keiner  vorliegt. 


*)  So  zum  Beispiel  begegneten  «ie  Koppmann  in  den  Hamburger 
Kämmereirechnungen  ; of.  Hamb.  K.  I.  S.  XXIII. 


Kack,  Finanxgcschicht«  der  Stadt  Braun  schweig. 


li 


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II.  Die  Geschichte  der  Finanzverwaltung 
Brannschweigs  bis  zum  Jahre  1374. 


I.  Die  Finanzverwaltung 

in  den  fünf  Weichbilden  Braunsehweigs  bis  1269. 

Über  die  Anfänge  einer  geregelten  Finanzverwaltung  der 
Stadt  Braunschweig  liegen  so  gut  wie  gar  keine  Überlieferungen 
vor.  Deshalb  können  wir  uns  nur  einen  höchst  ungenügenden 
Einblick  in  diese  Anfänge  verschaffen,  einen  Einblick,  der 
namentlich  auch  dadurch  erschwert  wird,  dass  Braunschweig, 
wie  oben  bereits  ausgeführt  wurde,  ’)  allmählich  zusammen- 
gewachsen ist  aus  verschiedenen,  zu  verschiedenen  Zeiten  ent- 
standenen und  verschiedenartigen  Teilen,  den  Weichbilden. 
Und  wie  auf  andern  Gebieten,  so  haben  sich  auch  auf  dem  der 
Finanzverwaltung  die  fünf  Weichbilde  zunächst  in  vollständiger 
Trennung  von  einander  entwickelt,  wodurch  jedoch  nicht  aus- 
geschlossen ist,  dass  diese  erste  Entwicklung  in  den  rechtlich 
auf  wesentlich  gleicher  Stufe  stehenden  im  grossen  und  ganzen 
die  gleiche  gewesen  sein  kann.  Anders  allerdings  wird  sich  der 
öffentliche  Haushalt  in  der  Altstadt,  dem  Hagen  und  der  Neu- 
stadt in  seinen  Anfängen  ausgebildet  haben,  andere  im  Sack  und 
der  Altenwik,  welch’  letztere  ursprünglich  in  grundherrlicher 
Abhängigkeit  von  den  Herzogen  gestanden  haben;9)  vergeblich 
aber  werden  wir  uns  bei  der  Unvollständigkeit  unsrer  Über- 
lieferung bemühen,  die  sämmtlichen  oder  auch  nur  die  wichtigsten 
Unterschiede  zwischen  diesen  beiden  hauptsächlichsten  Ent- 
wicklungsreihen festzustellen. 

Von  allen  Weichbilden  Braunsehweigs  lässt  sich  zuerst  im 
Hagen  das  Bestehen  einer  Finanzverwaltung  nachweisen.  Es 

*)  of.  S.  8. 

»)  c£  Chron.  VI,  S.  XVIII.  und  XIX. 


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19 


kommt  dafür  die  von  Hänselmann  ins  Jahr  1227  gesetzte 
Urkunde  Herzog  Ottos  des  Kindes  in  Betracht,  *)  in  welcher  er 
dem  Hagen  alle  Rechte  und  Freiheiten  bestätigt,  die  demselben, 
wie  der  Aussteller  angiebt,  von  Anfang  seiner  Gründung  an 
Herzog  Heinrich  der  Löwe  zugestanden  habe.  Das  zweite  der 
aufgeführten  Privilegien  bestimmt  nämlich,  dass  die  Bürger  des 
Weichbildes  einen  aus  ihrer  Mitte  zum  Vogt  wählen  sollen,  der 
von  den  aufgenommenen  Gerichtseinkünften  ein  Drittel  der 
Herrschaft  abzuliefern  habe.  Die  übrigen  zwei  Drittel  werden 
dem  Weichbilde  zugewiesen,  damit  man  sie  für  dessen  Nutzen 
und  Bedürfnisse  verwende.  Hier  ist  demnach  sowohl  von  öffent- 
lichen, wiederkehrenden  Einnahmen  als  auch  von  öffentlichen,  aus 
diesen  Einnahmen  zu  bestreitenden  Ausgaben  die  Rede.  In 
Folge  dessen  sind  wir  berechtigt  zu  behaupten,  dass  im  Hagen 
schon  seit  seiner  Gründung  durch  Heinrich  den  Löwen  eine 
Finanzverwaltung  des  Gemeinwesens,  zum  mindesten  Ansätze 
dazu  bestanden  haben.  Damit  ist  aber  auch  unser  Wissen  über 
diese  Verhältnisse  in  so  früher  Zeit,  in  der  zweiten  Hälfte  des 
12.  Jahrhunderts  erschöpft. 

Annähernd  in  die  gleiche  Zeit,  in  der  dera  Hagen  die 
Privilegien  Heinrichs  des  Löwen  neu  bestätigt  wurden , fallen 
diejenigen  Urkunden,  welche  zuerst  die  Existenz  einer  Finanz- 
verwaltung in  dem  bedeutendsten  Weichbilde,  der  Altstadt, 
bezeugen.  Zunächst  nämlich  enthält  das  von  Otto  dem  Kinde 


')  Hänselmann , Urkundcnbuch  der  Stadt  Braunschweig.  I.  Bd. 
Statute  und  Rechtsbriefe;  Braunschweig  1873,  S.  2,  § 4.  — Docbner,  die 
Städteprivilegien  Herzog  Otto  des  Kindes  etc.,  Hannover  1882,  S.  7,  will 
«las  Privileg  für  den  Hagen  erst  nach  1235  setzen,  aus  Gründen,  denen 
unsrer  Ansicht  nach  die  Beweiskraft  fehlt.  Von  diesen  Gründen  wird  der 
zweite,  dass  das  Siegel  den  Titel  dux  de  Bruneswic  und  nicht  princeps  et 
dominus  de  Luneburg  aufweist,  von  Doebner  selbst  als  wenig  gewichtig 
hingestellt,  während  der  erste  von  der  kaum  haltbaren  Ansicht  ausgeht,  die 
Gemeinde  hätte  damals  die  ersten  Schritte  zur  Erlangung  der  Autonomie 
noch  nicht  zurückgelegt  gehabt  (cf.  über  die  Entwicklung  des  Hagen 
Chrom  VI,  S.  XVI  und  XVII).  Andrerseits  ist  wohl  nioht  zu  leugnen,  dass 
der  Bericht  der  Braunschweiger  Reimchronik  zum  Jahre  1227,  wonach  der 
Herzog  „gaph  den  borgeren  gnade  vil“,  sowie  die  Angabe  im  Privileg  der 
'Wantschneider  im  Hagen,  Otto  das  Kind  habe  das  Recht  der  Wantschneider 
— und  wohl  auch  die  übrigen  Rechte  des  Hagen  — bestätigt , „cum 
intraret  civitatem“,  sehr  starke  Stützen  für  Hänselmann's  Datirung  abgeben 
cf.  Br.-Ü.  I,  S.  1—3. 

2* 


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20 


der  Altstadt  erteilte  Recht')  — Hänselmann,  dem  wir  auch  hier 
uns  anschliessen , setzt  die  betreffende  Urkunde  gleichfalls  ins 
Jahr  1227’)  — zwei  in  jener  Hinsicht  belangreiche  Artikel. 


■)  Br.  U.-B.  I,  8.  3 ff.,  §§  4 u.  50. — Von  der  frühem,  auch  von  Dürre 
8.  95  ala  wahrscheinlich  bezeiohneten  Annahme  Hänselmann's  (a.  a.  O.  8.  3 
und  4),  dass  das  ottonische  Hecht  vod  1227  der  Altstadt,  dem  Hagen  und 
der  Neustadt  erteilt  sei , wird  man  mit  diesem  Gelehrten  jetzt  ahsehen 
müssen.  Denn  zunächst  besass  die  Neustadt  das  Hecht  der  Pfarrerwabl, 
welches  nach  dem  Artikel  54  jener  Urkunde  den  Inhabern  derselben 
zustand,  im  13.  Jahrh.  wenigstens  nicht,  da  dieser  Artikel  in  dem  das 
Hechtsbuch  der  Neustadt  eröffnenden  Stadtrechte  (Br.  U.-B  S.  21  ff.)  fehlt, 
und  nioht  anzunehmen  ist,  die  Pfarrerwahl  sei  dem  genannten  Weichbilde, 
nachdem  es  dieselbe  einmal  erhalten,  wieder  genommen,  (cf.  auch  Dürre 
8.  473.)  Hiernach  wäre  ja  aber  noch  möglich,  dass  sich  die  Verleihung 
Ottos  auf  Altstadt  und  Hagen  erstreckt  habe.  Dem  widerspricht  jedoch, 
dass  im  Artikel  60  die  Empfänger  des  Rechts  „de  borgere  van  Bruneswich* 
genannt  werden.  Denn  es  kommt  zwar  vor,  dass  der  Altstadt  allein  der 
Name  Bruneswich  beigelegt  wird  (Br.  U.-B.  8.  3),  nie  aber  werden  Altstadt 
und  Hagen  zusammen  so  bezeichnet,  und  dass  in  diesem  einzelnen  Falle 
eine  Ausnahme  von  der  Hegel  gemacht  worden  wäre,  ist  um  so  weniger 
glaubhaft , weil  zu  einer  solchen  Bezeichnung  gar  kein  Anlass  vorlag. 
Otto  das  Kind  begabte  also  1227  die  Altstadt  allein  mit  jenem  Stadtrecht. 
Dieselben  Gründe  scheinen  es  mir  zu  gebieten,  das  Stadtrecht  des 
Herzogs  Johann  von  1265  der  Altstadt  allein  zuzuweisen. 

Im  Anschluss  hieran  sei  bemerkt,  dass  unsrer  Meinung  nach  das  Privileg 
Ottos  des  Kindes  von  1245  (Br.  U.-B.  S.  10),  in  dessen  erstem  Teile  allen 
Einwohnern  der  Altenwik  das  Recht  verliehen  wird,  mit  den  von  ihnen 
bereiteten  Laken  in  gleicher  Weise  Handelschaft  zu  treiben,  wie  dies  in  der 
Altstadt  geschehe,  durch  den  Satz:  Et  per  omnia  tale  ius  damus  ipsis.  quod 
habent  nostri  burgensesantique  civitatis,  ut  illud  servent  perpetuo  in  Universum 
(Doebner  a.  a.  O.  8.  25  inconvulsum)  keineswegs  das  ganze  Altstädter 
Stadtrecht  an  die  Altewik  überträgt.  Denn  einmal  wäre  es  sonderbar, 
wenn  ein  so  umfassendes  Privilegium  nur  ganz  beiläufig,  als  Anhängsel 
einer  sehr  speciellen  Bestimmung,  erteilt  worden  wäre,  andrerseits  wider- 
spricht dem  auch  die  noch  lange  nachher  so  untergeordnete  Stellung  der 
Altenwik  der  Altstadt,  dem  Hagen  und  der  Neustadt  gegenüber.  Wahr- 
scheinlich drückt  dieser  Satz  nur  die  Verleihung  der  Innungsorduungen  der 
Altstadt  an  die  Altewik  aus.  Hänselmann  lässt  Br.  U.-B.  S.  10  die  Frage 
unentschieden,  während  er  sich  Chron.  VI,  8.  XIX  fiir  die  von  uns  ver- 
worfene Auslegung  erklärt. 

*)  Frensdorff,  über  das  Alter  mittelalterlicher  Hechtsaufzeichnungen, 
Hansische  Geschichtsbl.  1876,  S.  97 — 142,  und  ihm  folgend  Doebner  (a.  a.  O. 
8.  6)  bestreiten,  dass  das  ottonische  .Stadtrecht  schon  ins  Jahr  1227  zu 
setzen  sei.  Ihre  Gründe  sind  jedoch,  wie  wir  meinen,  nicht  durchschlagend 
genug,  um  eine  Abweichung  von  Hänselmann’s  Datirung  zu  rechtfertigen. 
Gengier,  cod.  iur.  munic.  Germ.  I,  287  setzt  das  Ottonianum  in  die  Zeit 
zwischen  1245  und  1252. 


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21 


Der  eine  derselben  ist  dem  oben  besprochenen  Privileg  des 
Hägens  sehr  ähnlich,  indem  er  dahin  lautet,  dass,  falls  Jemand 
einen  andern  verwundet  oder  getödtet  habe  und  nach  vollbrachter 
That  flüchtig  geworden  sei,  sein  Haus  mit  Beschlag  belegt 
werden  und  ein  Drittel  seines  Wertes  dem  Gerichte,  zwei  Drittel 
dem  Weichbilde  zufallen  sollten.  Wiederum  begegnen  uns  also 
öffentliche  Einnahmen  aus  Gerichtsgefällen,  nur  ist  in  diesem 
Falle  ihr  Kreis  beschränkter.  In  dem  andern  und  wichtigem 
der  beiden  heranzuziehenden  Artikel  begnadigt  der  Herzog 
diejenigen  Bürger  mit  einer  gewissen  Zollfreiheit,  welche  auf 
eine  Weile  aus  der  Stadt  fahren  und  in  ihr  Schosses  und 
Rechtes  pflegen.  Dieser  letzte  Satz  verdient  besondere  Beachtung, 
denn  es  geht  aus  ihm  hervor,  dass  von  den  Bürgern  der  Altstadt 
damals  bereits  der  Schoss,  die  weiter  unten  näher  zu  besprechende 
directe  Steuer,  erhoben  zu  werden  pflegte;  wir  sagen  pflegte,  da 
unsre  Urkunde,  die  den  Schoss  nur  an  dieser  einzigen  Stelle 
erwähnt,  von  ihm  wie  von  einer  schon  geraume  Zeit  bestehenden 
Einrichtung  spricht:  wird  doch  hier  das  Zahlen  des  Schosses 
als  das  eine  der  beiden  Erkennungszeichen  eines  vollberechtigten 
Bürgers  aufgeführt.  Und  dass  dieser  Schoss  in  den  Säckel  des 
Weichbildes  floss,  eine  stehende  Einnahme  desselben  bildete,  ist 
nicht  zu  bezweifeln,  denn  den  Herzogen  gegenüber  waren  die 
Bürger  der  Altstadt  keinesfalls  zu  einer  solchen  Abgabe  ver- 
pflichtet. 

Nicht  auf  Grund  von  Vermutungen,  sondern  auf  Grund  ihrer 
eignen  bestimmten  Datirung  ist  dem  Jahre  1227  eine  andre 
Urkunde  Ottos  des  Kindes  zuzuweisen,  die  ebenfalls  ein  Licht 
auf  die  finanziellen  Verhältnisse  der  Altstadt  als  Gemeinwesen 
wirft.  In  dieser  Urkunde  bekennt  der  Herzog,  dass  er  den 
Bürgern  des  genannten  Weichbildes  seine  dortige  Vogtei  mit 
allen  an  ihr  haftenden  Rechten  und  allem  Nutzen  gegen  eine 
jährliche  Zahlung  von  30  Pfund  Braunschweigischer  Pfennige 
geschenkt  habe.1)  Ein  solcher  Kaufvertrag  setzt  notwendig  eine 
ziemlich  hohe  Entwicklung  der  Finanzverwaltung  der  Altstadt 
voraus:  wir  sehen,  wie  sich  dieses  Gemeinwesen  damals  nicht 


')  Kudendorf  VI,  106.  — Frensdorff  (a.  a.  O.  S.  123)  und  Doebner 
(a.  a.  O.  S.  7)  zweifeln  die  Achtheit  dieses  Privilegs  an,  doch  wird  es  von 
keinem  der  beiden  entschieden  verworfen.  Sudendorf  (VI,  105)  und  Hänsel- 
mann (Chron.  VI,  S.  XXIX)  haben,  wie  mir  scheint  mit  liecht,  die  Ächt- 
heit  der  Urkunde  gar  nicht  angezweifelt. 


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22 


mehr  die  Befriedigung  «einer  nächsten  Bedürfnisse  allein  als 
Aufgabe  stellte,  sondern  wie  es  bereits  fortgeschritten  war  zur 
Erwerbung  nutzbarer  Hechte,  indem  es  zu  diesem  Zwecke  die 
öffentlichen  Ausgaben  um  eine  jährliche  Rente  vermehrte. 

Weitern  Aufschluss  über  das  Wesen  des  Altstädter  Haus- 
haltes giebt  erst  wieder  eine  Urkunde  des  Jahres  1249.*) 
Teodericus,  Abt  des  Aegidicnklosters  in  der  Altenwik,  bekennt 
in  ihr,  dass  er  vom  Rate  der  Altstadt  gegen  13  Schillinge 
„wortpenningeu  8 Schillinge,  die  ihm  alljährlich  am  24.  Juli 
zu  zahlen  seien,  eingetauscht  habe.  Zum  ersten  Male  begegnen 
uns  hier  urkundlich  als  Einnahme  eines  Weichbildes  die  Wort- 
zinse, welche  später  in  den  Zinsbüchern  häufig  genannt  werden, 
während  sie  in  den  Rechnungen  von  den  ewigen  und  ablöslichen 
Hauszinsen  gar  nicht  geschieden  sind.  Es  kann  jedoch  nur  rein 
zufällig  sein,  dass  sie  in  der  Überlieferung  jetzt  erst  unter  den 
öffentlichen  Finanzen  Vorkommen.  Denn  wie  die  Herzoge,  wie 
begüterte  geistliche  Stifter  und  auch  reiche  Private  Grund  und 
Boden  gegen  unablöslichen  Grundzins  austhaten,  so  hat  sicher- 
lich auch  der  Rat  der  Altstadt,  sobald  sich  diese  zum  Gemein- 
wesen ausgebildet  hatte,  damit  begonnen,  diejenigen  Teile  der 
Weichbildsalmende,  welche  man  nicht  zu  andern  Zwecken,  wie 
Strassen-  und  Befestigungsanlagen  bedurfte,  in  Bauplätze  zu 
zerlegen  und  namentlich  an  Neubürger  gegen  Wortzins  zu  über- 
lassen. Auch  im  Hagen  und  in  der  Neustadt,  in  denen,  wie  in 
der  Altstadt,  von  einem  herrschaftlichen  Wortzinse  nichts 
verlautet,  *)  also  wohl  eine  freie  Almende  vorhanden  war,  wird 
man  letztere  auf  gleiche  Weise  dem  gemeinen  Besten  dienstbar 
gemacht  haben.  — Dass  freilich  nicht  nur  auf  dem  eben 
beschriebenen  Wege  ein  Weichbild  in  den  Besitz  von  Wortzinsen 
kommen  konnte,  lehrt  jene  Urkunde  von  1249.  Die  dort 
erwähnten  Wortpfennige  erwirbt  die  Altstadt  durch  Tausch  und 
zwar  vom  Aegidienkloster,  dem  vor  allem  die  Bürgerschaft  der 
Altenwik  mit  Grundzins  verpflichtet  war.*) 

Eine  Zinserwerbung  andrer  Art,  welche  wiederum  für  die 
Altstadt  gemacht  wird,  finden  wir  durch  eine  Eintragung  zum 
Jahre  1268  im  Altstädter  Degedingbuche  bezeugt. 4)  Der  Bürger 


')  Orig.-U.  im  Br.  St.-A. 

«)  Chron.  VI,  S,  XIV,  XVII,  XVIII. 
*)  Chron.  VI,  S.  XVIII. 

•)  A D.  I,  iol.  13. 


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23 


Sevenbrot  verkauft  dem  Rate  sein  Haus,  erhält  dasselbe  jedoch 
von  diesem  zurUck,  indem  ihm  die  Verpflichtung  auferlegt  wird, 
jährlich  24  Schillinge  Zins  zu  zahlen.  Ob  wir  es  hier  mit 
unablöslichem  Zinse,  sogenanntem  Erbenzinse,  oder  mit  ablös- 
lichem, sogenanntem  Weddeschatz,  zu  thun  haben,  kann  nicht 
festgestellt  werden.  Doch  erkennt  man  aus  dieser  Gebahrung, 
dass  der  Rat  als  Leiter  der  Finanzverwaltung  bestrebt  ist,  die 
öffentlichen  Gelder  möglichst  sicher  anzulegen. 

Fast  alle  bisher  besprochenen  Reste  der  Überlieferung  bezogen 
sich  auf  die  Verhältnisse  der  Altstadt;  nur  eine  Angabe,  allerdings 
die  am  weitesten  zurückgreifende,  gab  uns  Auskunft  über  ein 
anderes  Weichbild,  den  Hagen.  Das  nächste  den  Haushalt  des 
letztem  berührende  Stück , eine  Urkunde , stammt  erst  aus  dem 
Jahre  1268. *)  In  derselben  erklären  Abt  und  Convent  des 
Klosters  Riddagshausen,  dass  der  Rat  des  Hagen  ihren  von  einem 
Bürger  gekauften  Hof  am  Redingerthor  mit  einer  Ausnahme  von 
allen  dem  Weichbild  zu  leistenden  Pflichten,  namentlich  aber  von 
Schoss-  und  Wachtpflicht,  gegen  einen  Jahreszins  von  5 Schillingen 
befreit  habe.  Im  Hagen  wurde  also  zu  jener  Zeit  bereits  Schoss 
erhoben , was  freilich  auch  ohne  das  Vorhandensein  dieser 
Nachricht  für  gewiss  angenommen  werden  könnte.  Ferner  aber 
erscheint  hier  überhaupt  zum  ersten  Male  in  Braunschweig  die 
Ablösung  der  städtischen  Pflichten  von  Gütern  in  geistlichem 
Besitz  durch  eine  feste  dem  Gemeinwesen  zu  zahlende  Rente, 
ein  Vorgang,  der  sich  später  oft  wiederholt,  indem  von  Be- 
sitzungen und  Einkünften,  die  an  Geistliche  oder  geistliche 
Stifter  fallen,  die  Schosspflicht  durch  den  sogenannten  Schosszins 
abgelöst  wird. 

Wie  sich  nun  bis  zu  dem  so  einschneidenden  Jahre  1269 
die  Verwaltung  des  öffentlichen  Haushalts  in  den  vorher  nur 
beiläufig  berührten  Weichbilden  Sack,  Altewik  und  Neustadt 
entwickelte,  darüber  mangelt  jede  directe  Auskunft  durch  die 
Überlieferung.  Nur  mit  mehr  oder  weniger  sicheren  Vermutungen 
kann  man  die  hier  auftauchenden  Fragen  beantworten.  Durch 
die  Fesseln  ihrer  weitgehenden  Abhängigkeit  von  den  Herzogen 
beengt  waren  Altewik  und  Sack,  welch’  letzterer  überhaupt  eben 
erst  entstanden  oder  noch  im  Entstehen  begriffen  war,*)  1269  wohl 
noch  nicht  zu  der  Selbstständigkeit  in  der  Finanzverwaltung 


')  O.-U.  im  Br.  St.-A.  und  H.  D.  I,  fol.  1. 
*)  Chron.  VI,  S.  XIX. 


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24 


gelangt,  wie  sie  uns  in  den  wenigen  Nachrichten  für  Altstadt 
und  Hagen  bezeugt  ist.  Vor  allem  fehlte  ihren  Bürgern  wahr- 
scheinlich das  Recht,  sich  selbst  zum  Nutzen  des  Gemeinwesens 
zu  besteuern ; denn  der  Schoss , welchen  sie  allerdings  zahlten, 
wurde  den  Herzogen  entrichtet,  beziehungsweise  für  diese  von 
den  schon  früh  dort  angetroffenen  Räten  erhoben.  Vielleicht  hat 
beiden  Weichbilden  auch  eignes  Vermögen,  insbesondere  der 
Besitz  von  Wort-  und  Erbenzinsen  noch  völlig  gemangelt,  da  sie 
doch  wohl  über  eine  freie  Almende  nicht  verfugen  konnten. 

Mit  grösserer  Sicherheit  wird  man  ein  Urteil  über  die 
entsprechenden  Verhältnisse  in  der  Neustadt  fällen  können.  Wie 
der  Hagen  von  Heinrich  dem  Löwen  gegründet  und  im  wesent- 
lichen mit  ihm  auf  gleicher  Stufe  stehend  wird  sie  ihre  Finanz- 
verwaltung in  derselben  Weise  wie  jener  ausgebildet  haben. 
Aber  wir  können  noch  einen  Schritt  weiter  gehen:  in  der  Neustadt 
sowohl  als  im  Hagen  ist  man,  was  die  Grundzüge  der  Verwaltung 
anbetrifft,  wahrscheinlich  dem  Vorbilde  der  benachbarten  Altstadt 
gefolgt,  des  ältesten  Weichbildes  nächst  der  Alten wik  und  des 
entwickeltsten  von  allen.  Diese  Annahme  wird  durch  den 
Umstand  fast  zur  Gewissheit  erhoben,  dass  im  Hägener  und 
Neustädter  Rat  von  vornherein  Angehörige  angesehener  alt- 
städtischer Geschlechter  gesessen  haben,  ‘)  welche  Einrichtungen 
und  Gebräuche  der  Altstadt  mit  Notwendigkeit  auf  jene  beiden 
jüngern  Weichbilde  übertragen  haben  müssen. 

2.  Die  Einigung  von  1269. 

Unter  der  Einwirkung  der  geschilderten  Verhältnisse  hatten 
sich  die  gegenseitigen  Beziehungen  der  fünf  Weichbilde  am  Ende 
der  sechziger  Jahre  des  13.  Jahrhunderts  etwa  folgendermassen 
ausgestaltet:  auf  der  einen  Seite  standen  Altewik  und  Sack, 
nicht  selbstständig  genug,  um  an  dem  kräftigen  Emporstreben 
der  übrigen  Weichbilde  teilzunehmen,  auf  der  andern  Seite 
Altstadt,  Hagen  und  Neustadt,  durch  viele  gleiche  politische 
und  wirtschaftliche  Interessen  mit  einander  verbunden  und,  was 
gar  nicht  zu  unterschätzen,  auch  durch  Verwandtschaft  zwischen 
den  in  ihnen  regierenden  Geschlechtern  an  einander  gekettet. 
AUes  dieses  drängte  mit  Macht  auf  einen  engem  Zusammen- 
schluss der  letztgenannten  drei  Weichbilde  hin.  1269  fand 
derselbe  seine  Verwirklichung,  indem  am  18.  November  dieses 

*)  Chron.  VI,  S.  XX. 


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25 


Jahres  die  betreffenden  Bäte  eine  Einigung  abschlossen,  mit 
deren  Inhalt  und  Zielen  uns  die  darüber  ausgestellte  Urkunde 
bekannt  macht.1)  Über  die  Angelegenheiten  der  durch  die  Ver- 
bindung entstehenden  Gesammtstadt,  so  lautet  die  erste  Bestimmung, 
soll  von  Ratsherrn  aus  allen  drei  Weichbilden,  10  aus  der  Altstadt, 
6 aus  dem  Hagen  und  4 aus  der  Neustadt,  gemeinsam  beraten 
werden.  Die  Erneuerung  dieses  Rates  wird  genauen  Festsetzungen 
unterworfen.  Ferner  wird  — und  hierauf  muss  besonders  Gewicht 
gelegt  werden  — bestimmt,  dass  Schoss-  und  Zinseinkünfte  *)  der 
vereinigten  Weichbilde  in  eine  gemeinsame  Kasse  fliessen  sollen 
zur  Bestreitung  von  Ausgaben  für  Nutz  und  Noth  der,  wie  es 
später  heisst,  gemeinen  Stadt.  Schliesslich  wird  auch  die  Aus- 
übung der  Weinschanksgerechtsame  geregelt:  in  der  Altstadt  soll 
beständig  Wein  verkauft  werden,  nur  beschränkte  Zeit  hindurch 
im  Hagen  und  in  der  Neustadt,  indem  immer  abwechselnd  hier 
und  dort  ein  Fass  verzapft  werden  soll. 

Sicherlich  ist  die  Bedeutung  dieses  Vertrages  keine  geringe: 
eine  Centralbehörde  und  eine  Centralkasse  mehrerer  Weichbilde 
wurden  durch  ihn  geschaffen,  gewiss  ein  grosser  Fortschritt 
gegenüber  der  bisherigen  Zersplitterung.  Auf  der  andern  Seite 
darf  aber  auch  die  Tragweite  der  Einigung  nicht  überschätzt 
werden.  Denn  einmal  waren  dem  gemeinen  Rate  nur  die  An 
gclegenheiten  der  Gesammtstadt  zur  Behandlung  überwiesen, 
während  die  innern  Verhältnisse  der  einzelnen  Weichbilde  offenbar 
den  weiter  bestehenden  Sonderräten  unterstellt  bleiben  sollten. 
Ferner  aber  sollte  im  besondern  die  Finanzverwaltung  der 
einzelnen  Weich  bilde  in  der  der  gemeinen  Stadt  keineswegs 
völlig  aufgehen.  Zwar  waren  ja  Schoss-  und  Zinseinkünfte, 
welche  jetzt  der  gemeinsamen  Kasse  zugewiesen  wurden,  ohne 
Frage  bisher  die  wichtigsten  Einnahmen  der  Weichbilde  gewesen, 
aber  doch  nicht  die  einzigen.  Die  Sonderkassen  wurden  also 
durchaus  nicht  überflüssig.  Indessen  ausser  diesem  negativen 


')  Br.-U.  8.  15. 

*)  Dass  dies  hier  die  richtige  Übersetzung  von  redditas  ist,  scheint 
keinem  Zweifel  zu  unterliegen.  Denn  erstens  wird  redditas  im  mittelalter- 
lichen Latein  fast  nur  von  Zinserträgen  gebraucht  (cf.  s.  v.  redditus  bei 
Du  Gange , Dieffenbach  , glossarium  Latino  - Germanioum  , Brinokmeier, 
glossarium  diplomaticum,  Koppmann,  Hamb.  K.  I,  8.  XXIV),  zweitens 
kann  redditus  hier  nicht  von  Einkünften  im  allgemeinen  gesagt  werden, 
weil  es  in  der  Urkunde  heisst:  collecte  et  redditus. 


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26 


giebt  die  Vertragaurkunde  auch  einen  positiven  Beweis  für  die 
Absicht,  jene  ununterbrochen  fortbestehen  zu  lassen.  Würde  sich 
denn  die  Altstadt  eine  ausgedehntere  Weinschanksgerechtsame 
als  sie  den  beiden  übrigen  Weichbilden  bewilligt  wurde,  Vorbe- 
halten haben,  wenn  sie  die  hieraus  sich  ergebenden  Einkünfte  in 
den  gemeinsamen  Säckel  hätte  abliefern  müssen  ? Das  ist  doch 
kaum  denkbar,  sehr  wohl  aber  lässt  sich  diese  Handlungsweise 
erklären,  wenn  man  annimmt,  dass  jene  Einnahme  von  den 
Weichbilden  für  ihre  Sonderzwecke  zurückbehalten  wurde.') 
Ohne  Zweifel  wollte  man  die  gemeinschaftliche  Kasse  nur  mit 
solchen  Ausgaben  belasten,  die  allen  vereinigten  Weichbilden  zu 
gute  kämen,  während  ein  jedes  derselben  für  die  Befriedigung 
seiner  besondern  Bedürfnisse  nllein  die  Mittel  aufzubringen  hatte. 
Wahrscheinlich  deutet  auch  die  Vertragsurkuude  selbst  dieses 
8achverhältnis8  an,  wenn  sie  sagt,  dass  die  gemeinsame  Kasse 
zur  Bestreitung  gemeinsamer  Ausgaben  eingerichtet  werden  solle. 

3.  Die  Finanzverwaltung 
der  gemeinen  Stadt  von  1269  bis  1354. 

Für  die  der  besprochenen  Übereinkunft  unmittelbar  folgenden 
Zeiten  fehlen  Nachrichten  über  die  Wirksamkeit  der  gemeinen 
Finanzverwaltung  gänzlich.  Darin  liegt  eine  empfindliche  Lücke 
unsrer  Kenntniss  des  öffentlichen  Haushalts  in  Braunschweig 
begründet.  Denn  es  ist  uns  durch  diesen  Mangel  unmöglich 
gemacht  zu  beurteilen,  ob  Zustände,  welche  nachweislich  im 
14.  Jahrhundert  herrschten  und  eine  starke  Abschwächung  der 
finanziellen  Bestimmungen  desVertrages  voraussetzen,  das  Resultat 
einer  langen,  allmählichen  Entwicklung  waren,  oder  ob  es  der 
Widerstand  von  Hagen  und  Neustadt  gegen  die  grossen  Vor- 
rechte der  Altstadt  und  die  gegenseitige  Eifersucht  der  Weich- 


*)  Die  'Weiterexistenz  der  Weichbildsfinanzverwaltungen  ist  hierdurch 
auch  für  den  Fall  erwiesen , dass  unsre  Übersetzung  von  redditus  falsch, 
d.  h.  zu  eng  sein  sollte,  flanselmann  (Chron.  VI,  319  und  320  und  Werkst.  I, 
S.  288),  der  die  Urkunde  von  1269  so  aufgefasst  wissen  will,  als  ob  in  ihr 
die  Absicht  ausgesprochen  sei,  die  gesammten  Aufkiinfte  der  drei  Weich- 
bilde unter  gemeinsame  Verwaltung  zu  stellen,  ist  der  Meinung,  auch  di« 
Erträge  der  Weinschanksgerechtsame  seien  damals  der  gemeinen  Fasse 
zugewiesen.  Dürre  (8.  107)  berührt  die  Weinschauksverhältnisse  nicht  und 
sagt,  wenn  auch  sehr  unbestimmt,  so  doch  nicht  unrichtig  : „der  Schoss  der 
Bürger  und  andere  Einkünfte  des  Batos  [nicht:  die  andern J sollen  von  nun 
an  in  die  gemeinsame  Stadtkasse  fliessen“  etc. 


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27 


bildsräte  überhaupt  sogar  zu  Wege  brachten,  dass  die  Einigung 
von  vornherein  nur  in  merklich  geschmälertem  Umfange  ins 
Leben  trat.1)  Als  denkbar  kann  beides  hingestellt  werden. 

Die  ersten  Spuren  vom  Betriebe  der  gemeinsamen  Finanz- 
verwaltung, welche  natürlich  dem  gemeinen  Rate  übertragen 
war,  finden  sich  in  Urkunden  aus  dem  Jahre  1295.  *)  Am 
22.  April  verträgt  sich  der  genannte  Rat  mit  dem  St.  Blasien- 
stifte dahin*),  dass  Laien,  welche  etwa  auf  dem  Stifte  gehörigen 
Worten  am  Redingerthor  wohnen  werden,  der  Stadt  die  gleichen 
Pflichten  wie  alle  andern  Bürger  erfüllen  müssen,  dass  jedoch, 
falls  Kleriker  auf  jenen  Worten  sitzen , dieselben  von  allen 
Leistungen  an  die  Stadt  befreit  sein  sollen.  Das  Stift  verpflichtet 
sich,  seinerseits  zum  Entgelt  hierfür  alljährlich  der  letztem  zwei 
Schillinge  zu  zahlen.  Die  Lage  der  hier  in  Frage  kommenden 
Worten  ist  leider  nicht  genau  zu  bestimmen:  entweder  gehörten 
sie  zum  Hagen  oder  zur  Altenwik.4) . War  das  erstere  der  Fall, 
so  wird  man  auf  die  Einigung  von  1269  sich  berufen  können, 
um  zu  erklären,  weshalb  das  Stift  seinen  Vertrag  mit  dem  ge- 
meinen Rate  schloss:  bei  weitem  die  vornehmste  der  abgelösten 
Pflichten  war  die  Schosspflicht,  und  der  Schoss  war  ja  durch  die 
Einigung  der  gemeinsamen  Kasse  zugewiesen.  Demnach  hätten 
wir  wenigstens  einen  Anhaltspunkt  für  die  Scheidung  der 
damaligen  Befugnisse  des  gemeinen  Rates  von  denen  der 
Einzelräte  der  drei  vereinigten  Weichbilde.  Lagen  jene  Worten 
aber  in  der  Altenwik,  so  ergäbe  sich  aus  dieser  Urkunde  schon 
eine  gewisse  Abhängigkeit  des  letztgenannten  Weichbildes  von 
den  verbündeten,  deren  früheste  sichere  Spuren  erst  aus  der  nun 
zu  besprechenden  nachgewiesen  werden  können. 


')  Hierüber  cf  Chron.  VI,  S.  819  und  320. 

’)  Was  das  Schiebt  buch  über  die  braunschweigische  Finanzvcr«  altung 
und  ihre  Oeschicke  während  des  Gildemeisteraufstandes  von  129*2  bis  1294 
mitteilt  (Chron.  XVI,  S.  806  — nach  dem  dort  gesagten  müsste  die  Stadt 
schon  damals  Anrechte  auf  Münze  und  Zoll  gehabt  haben  — , 807)  kann 
hier  nicht  berücksichtigt  werden,  da  jenes  erst  200  Jahre  später  verfasst 
wurde,  cf.  die  Einleitung  Hänselmanns  zum  Schicbtbuch  Chron.  XVI, 
278-290. 

*)  Braunschweigische  Händel  II,  S.  270. 

4)  Das  Redingerthor  lag  auf  der  Grenze  des  Hagen  gegen  die  Altewik, 
cf.  Dürre  S.  719. 


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28 


Am  24.  Juni  desselben  Jahres  vom  Rate  der  Altenwik  aus- 
gestellt besagt  sie,1)  dass  dieser  unter  Zustimmung  des  gemeinen 
Rates  mit  dem  neuen  Marienspitale  in  Braunschweig  sich  über 
gegenseitige  Verpflichtungen  auseinandergesetzt  habe.  Den  dabei 
getroffenen  Bestimmungen  zufolge  erlässt  das  Spital  dem  Weich- 
bilde eine  gewisse,  jährlich  zu  leistende  Zahlung  von  7 Schillingen, 
während  der  Weichbildsrat  mehrere  im  Besitz  des  Spitals  befind- 
liche Worten  von  der  an  ihnen  haftenden  Schoss-  und  Wacht- 
gcldpflicht  für  frei  erklärt.  Dieser  Vertrag  ist  in  verschiedner 
Hinsicht  merkwürdig.  Hier  zuerst  tritt  uns  eine  öffentliche 
Finanz  Verwaltung  in  der  Alten  wik  entgegen,  und,  was  wir  über 
sie  erfahren,  weist  auf  eine  innige  Verwandtschaft  mit  der 
Organisation  desselben  Verwaltungszweiges  in  Altstadt,  Hagen 
und  Neustadt  hin.  Auf  die  Frage  aber,  wie  es  sich  mit  der 
Leitung  des  Haushalts  der  Altenwik  verhielt,  eröffnet  unsre 
Urkunde  einen  Einblick  in  ein  ganz  eigentümliches  Verhältniss. 
Den  erwähnten  Vertrag  mit  dem  Marienspitale  schloss,  wie  gesagt, 
der  Rat  jenes  Weichbildes  unter  Zustimmung  des  gemeinen  Rates, 
die  er  sicherlich  nicht  eingeholt  hätte,  wenn  sie  nicht  erforderlich 
gewesen  wäre.  Die  Altewik  war  also  damals  bereits  von  der 
gemeinen  Stadt  abhängig:  der  erste  Schritt  zur  Überbrückung 
einer  weiten  Kluft  war  gethan.  Wie  sich  diese  Abhängigkeit 
gebildet  hatte,  darüber  lässt  sich  eine  ziemlich  begründete  Ver 
mutung  aufstellen.  Aller  Wahrscheinlichkeit  nach  waren  den 
drei  verbundenen  Weichbilden , wie  das  später  wiederholt 
geschehen,  von  den  Herzogen  ihre  Einnahmen  aus  der  Altenwik 
verpfändet  worden  und,  wenn  nicht  alle,  so  doch  jedenfalls  die 
wichtigste  derselben,  der  Schoss.  Indem  in  dieser  Hinsicht  die 
Herzoge  ihre  Stellung  dem  gemeinen  Rate  einräumten,  überliess 
der  letztere,  wie  es  wohl  schon  jene  gethan,  dem  Weichbildsrate 
die  Erhebung  und  Verwaltung  der  Schosserträge,  nicht  jedoch, 
ohne  sich  die  endgültige  Verfügung  über  dieselben  vorzubehalten. 
Aus  solchen  Zuständen  würde  sich  die  bemerkenswerte  Stelle 
unsrer  Urkunde  sehr  gut  erklären  lassen.  Welchen  Umfang 
übrigens  die  Rechte  des  gemeinen  Rates  bezüglich  der  Altenwik 
damals  gehabt,  kann  aus  derselben  nicht  klar  erkannt  werden; 
eine  bestimmte  Angabe  in  dieser  Hinsicht  finden  wir  zuerst  in 


')  Copic  des  18.  J&hrh.  unter  den  Urkunden  des  Maricnspitals  im  Br. 
8t.-A. 


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29 


einer  Urkunde  des  nächsten  Jahres,1)  die  um  so  wichtiger  ist 
als  sie  nun  auch  ein  Licht  auf  die  uns  angehenden  Verhältnisse 
des  fünften  Weichbildes,  des  Sackes,  wirft.  Hier  in  Kürze  ihr 
Inhalt.  Am  14.  Mai  1296  verpfändet  Herzog  Albrecht  dem  Rate 
der  Stadt  Braunschweig,  d.  i.  offenbar  dem  gemeinen  Rate,  für 
350  Mark,  welche  dieser  teils  für  ihn  auszulegen  versprochen, 
teils  ihm  baar  dargeliehen  hat,  alle  seine  Einnahmen  aus  den 
Vogt  eien  und  andern  Gerichten,  der  Münze,  den  Zöllen  und 
Mühlen  in  der  Stadt,  auch  alles,  was  bisher  aus  Altewik  und 
Sack  für  ihn  erhoben,  auf  so  lange,  bis  jene  Summe  völlig 
zurückgezahlt  ist.  Die  wichtigsten,  wenn  nicht  gar  alle  herzog- 
lichen Einkünfte  aus  sämmtlichen  fünf  Weichbilden  Braunschweigs 

— Herzog  Albrecht  war  damals  von  dieser  Stadt  als  alleiniger 
Herr  anerkannt,  sein  Bruder  Heinrich  ganz  bei  Seite  geschoben  *) 

— wurden  damit  dem  gemeinen  Rate  zugewiesen , freilich  nicht 
auf  immer.  Aber  war  es  auch  nur  eine  Erwerbung  auf  Zeit,  so 
darf  man  doch  ihre  Bedeutung  nicht  zu  gering  anschlagen.  Denn 
einmal  stellte  die  Verwaltung  der  vielen  aus  den  verschiedensten 
Quellen  fliessenden  Einnahmen,  mochte  nun  die  Haupdast  derselben 
auf  dem  gemeinen  Rate  oder  den  Weichbildsräten  ruhen,  was 
aus  der  Überlieferung  leider  nicht  hervorgeht,  neue,  ausgedehnte 
Aufgaben,  bei  deren  Bewältigung  manches  gelernt  werden  konnte. 
Ferner  war  auch  durch  die  einfache  Verpfändung  Anlass  genug 
gegeben,  die  Selbstständigkeit  der  Stadt  den  Herzogen  gegenüber 
zu  fordern.  Genugsam  ist  ja  bekannt,  wie  häufig  im  spätem 
Mittelalter  Verpfändungen  dauernde  Zustände  schufen.  So  war 
es  auch  in  diesem  Falle  sehr  fraglich,  ob  nicht  von  den  zahlreichen, 
oben  aufgezählten  Pfändern  wenigstens  das  eine  oder  das  andere 
allmählich  in  immerwährenden  Besitz  der  Stadt  übergehen  würde, 
eine  Entwicklung,  welche  sich  namentlich  in  der  Weise  vollziehen 
konnte,  dass  der  Pfandvertrag  mit  oder  ohne  gleichzeitige  Erhöhung 
der  Pfandsumme  mehrfach  verlängert  wurde,  bis  schliesslich  an 
eine  Einlösung  gar  nicht  mehr  zu  denken  war,  der  Verpfänder 
seine  Ansprüche  fallen  liess.  Dabei  ist  wohl  zu  bemerken,  dass 
bezüglich  verschiedener  in  der  Urkunde  mit  aufgeführter  Rechte 
die  Erwerbung  durch  die  Stadt  schon  vor  1296  angebahnt  ward. 
Die  Vogtei  in  der  Altstadt  war  bereits  1227,  wie  wir  sahen, 
durch  Kauf  an  dieses  Weichbild  übergegangen,  und  von  den 


')  Br.  U.-B.  I,  S.  17  und  18. 

*)  Dürre  S.  122.  — Chron.  VI,  XXXI  und  XXXU. 


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30 


Einkünften  des  Herzogs  aus  der  Altenwik  war  ja  mindestens 
der  Schoss  schon  1295  im  Pfandbesitz  des  gemeinen  Rates.  Auch 
hinsichtlich  des  Sackes,  der  sowohl  in  der  eben  besprochenen,  als 
auch  in  mehreren  spätem  Urkunden  ähnlichen  Inhalts  in  engster 
Verbindung  mit  der  Altenwik  genannt  wird,  mag  dieses  der 
Pall  gewesen  sein.  Sehr  gut  stimmt  mit  alle  dem  zusammen, 
dass  von  den  1296  verpfändeten  Aufkünften  die  aus  den  Vogteien, 
aus  der  Altenwik  und  dem  Sack  zuerst  in  ihrer  Gesammtheit 
und  auf  die  Dauer  von  ihren  ursprünglichen  Eigentümern 
thatsächlich  aufgegeben  wurden.  Doch  damit  die  Verhältnisse 
soweit  gediehen , bedurfte  es  einer  langsam  fortschreitenden 
Entwicklung.  Ihre  Anfänge  lernten  wir  bereits  kennen,  auch 
ihren  weitern  Gang  vermögen  wir  uns  durch  wertvolle  Urkunden 
zu  veranschaulichen. 

Unter  diesen  nimmt  der  Zeit  nach  die  erste  Stelle  der  Sühne- 
vertrag ein,  zu  dem  sich  im  Jahre  1299  die  Herzoge  Albrecht 
und  Heinrich  einerseits  und  die  Bürger  von  Braunschweig 
andrerseits  nach  nicht  näher  bekannten  Zwist  vereinigten.*)  Wie 
man  aus  einem  der  zahlreichen  Artikel  desselben  ersieht , ver- 
pflichteten sich  Altstadt,  Hagen  und  Neustadt,  gemeinsam  die 
zur  Bestreitung  ihrer  eignen  Bedürfnisse  sowohl,  als  auch 
deijenigen  der  Herzoge  aufgenommenen  Schulden  abzutrageo, 
wogegen  ihnen  Albrecht  und  Heinrich  gestatteten,  nach  dem 
Beschlüsse  der  drei  Weichbildsräte  von  der  Altenwik  und  dem 
Sacke  Schoss  zu  fordern.  Auf  wie  lange  diese  Erlaubniss 
Geltung  haben  sollte,  ist  im  Vertrage  nicht  gesagt,  doch  ist  man 
deshalb  nicht  zu  der  Schlussfolgerung  berechtigt,  dass  damit  die 
Herzoge  sich  ihrer  Rechte  auf  den  Schoss  jener  beiden  Weich- 
bilde für  immer  begeben  hätten.  Hatten  doch  noch  die  Nach- 
kommen der  herzoglichen  Brüder  Anrechte  auf  die  genannten 
Erträge,  so  dass  auch  in  diesem  Falle  nichts  andres  als  eine 
Verpfändung  anzunehmen  ist.  Durch  den  Sühnevertrag  verlor 
die  Urkunde  von  1296  ihre  Rechtskraft,  wenn  sie  wenigsten« 
1299  solche  noch  besass.  Denn  zunächst  war  sie  zu  einer  Zeit 
erteilt,  wo  Herzog  Albrecht  als  alleiniger  rechtmässiger  Herr  der 
Stadt  galt  und  ihrer  Unterstützung  bedurfte,  jetzt  aber  — 1299 
— lagen  die  Verhältnisse  völlig  anders.  Albrecht  hatte  sich 
mit  seinem  Bruder,  der  1296  sein  Feind  gewesen,  vertragen  und 
sich  mit  ihm  gemeinsam  gegen  die  Stadt  gewendet , welche 


*)  Br.  U.-B  I,  S.  20  und  31. 


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at 


solcher  Macht  nicht  gewachsen  schliesslich  in  das  für  sie  reoht 
ungünstige  Abkommen  willigen  musste.  Nun  waren  beide  Brüder 
Herren  Braunschweigs.  Sicherlich  strebte  Heinrich  dahin,  der 
ohne  seine  Zustimmung  geschehenen  und  so  umfassenden  Ver- 
pfändung von  1296  ihre  Giltigkeit  zu  nehmen  und  sicherlich 
auch  fand  er  in  diesem  Streben  den  thätigen  Beistand  Albrechts, 
welcher  damals  nur  im  Drange  der  Not  sich  zu  so  weitgehenden 
Zugeständnissen  herbeigelassen  hatte.  Ausser  der  politischen 
Lage  spricht  aber  vor  allem  die  Vertragsurkunde  von  1299  selbst 
dafür,  dass  durch  sie  die  Urkunde  von  1296  ungültig  wurde. 
Denn  falls  man  in  der  angeführten  Bestimmung  jener  nur  eine 
etwas  anders  gefasste  Wiederholung  von  dieser  sehen  wollte,  so 
würde  man  nicht  verstehen,  warum  dann  die  Herzoge  als  ihre 
Gegenleistung  für  Bezahlung  der  Schulden  durch  die  Stadt  nur 
die  Überlassung  des  Schosses  von  Altewik  und  Sack,  nicht  aber 
auch  die  andern  1296  verpfändeten  Einkünfte  erwähnt  hätten. 
Wollte  man  aber,  streng  dem  Wortlaute  folgend,  sich  dahin 
entscheiden,  dass  die  beiden  Urkunden,  so  weit  ihr  Inhalt  uns 
hier  angeht,  ganz  verschiedene  Dinge  berührten  und  in  dieser 
Weise  zugleich  Rechtskraft  gehabt  hätten,  so  wäre  über  den 
Schoss  jener  Weichbilde , nachdem  er  schon  einmal  vergeben 
worden,  zum  zweiten  Male,  ohne  Aufhebung  der  ersten  Ver- 
gabung, und  zwar  zu  einem  ganz  andern  Zwecke  verfügt,  was 
doch  eine  reine  Unmöglichkeit  ist.1)  Von  den  Vorteilen  also, 
die  von  der  gemeinen  Stadt  im  Jahre  1296  errungen  waren, 


< 

*)  Durch  den  Artikel  dea  Sühnevertrages  : „uae  m tintige  unde  uae  tolen 
de  scole  we  (nämlich  Albrecht  and  Heinrich)  hebben  mit  alaodaneme  rechte 
also  bi  uaes  eldervader  tiden  was“,  wird  durchaus  noch  nicht  die  Ungültig- 
keit der  Urkunde  von  1296  ausgesprochen.  Wir  finden  hier  nur  einen  Vor- 
behalt von  Rechten,  neben  dem  die  Verpfändung  von  Münze  und  Zoll  sehr 
wohl  hätte  weiter  bestehen  können.  Anders  Dürre  S.  124,  der  auch  8.  291 
dieaen  Artikel  für  entscheidend  zu  halten  scheint. 

Beiläufig  mag  hier  erwähnt  werden,  dass  1299  in  zwei  wesentlich  über- 
einstimmenden Urkunden  die  Herzoge  Albrecht  und  Heinrich  der  Neustadt 
erlaubten,  in  ihrem  Rathause  Want,  Wein  and  andre  Waaren  zu  verkaufen, 
ohne  irgendwelche  Einsprache  und  Hinderung  nach  gebilligter  Gewohnheit 
der  Stadt  (O.O.-U.U.  im  8t.-A.  zu  Br.).  Hänselmann  (Werkstücke  I,  289) 
behauptet,  diese  Urkunden  sprächen  der  Neustadt  das  Recht  des  Wein- 
schanks ohne  alle  Einschränkung  zu  and  setzten  sich  so  in  Widerspruch 
mit  den  Abmachungen  des  Jahres  1269.  Dies  erscheint  mir  fraglich,  da 
der  Zusatz  „nach  gebilligter  Gewohnheit  der  Stadt“  reoht  gut  auf  die 
Einigung  von  1269  hindeuten  kann. 


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32 


blieb  ihr  drei  Jahre  später  nur  ein  kleiner  Teil  übrig.  Die 
Ausdrücke  freilich,  in  denen  ihr  die  Herzoge  diesen  zusicherten, 
lassen  deutlich  erkennen,  dass  dieselben  an  eine  Rückerwerbung 
vorläufig  wenigstens  nicht  dachten. 

In  mehrfach  andersartige  Verhältnisse,  wie  die  Sühneurkunde, 
führen  uns  die  nächsten  erhaltenen  Nachrichten  Uber  die  Geschicke 
der  Aufkünfte  aus  Altewik  und  Sack  ein.  Diese  Nachrichten 
finden  sich  vornehmlich  in  einer  undatirten  Aufzeichnung  im 
zweiten  Altstädter  Degedingbuche , deren  Abfassung  nach  einer 
dieselbe  Angelegenheit  berührenden  Eintragung  im  Rechtabuche 
der  Neustadt  ins  Jahr  1325  zu  setzen  ist.1)  Die  Ratsherren  der 
Altstadt,  des  Hagen  und  der  Neustadt  — so  besagt  die  erstere 
— haben  von  den  Söhnen  Herzog  Heinrichs  alle  ihre  Rechte 
und  Einkünfte  aus  Sack  und  Altewik  mit  Ausnahme  ihrer  An- 
sprüche auf  die  Vogtei  für  450  Mark  — offenbar  nur  pfand  weis  — 
erworben.  Von  dieser  Summe  hat  die  eine  Hälfte  der  Rat  der 
Altstadt,  die  andere  die  Räte  des  Hagen  und  der  Neustadt 
zusammen  gezahlt.  Für  590  Mark  haben  dieselben  den  Anteil 
der  Söhne  Albrechts  in  ihre  Hände  bekommen.  Hiervon  brachte 
der  Altstädter  Rat  zunächst  300  Mark  auf,  weshalb  er  von  dem 
mitverpfändeten  Schosse  alljährlich  30  Mark  voraus  bekommen 
soll,  die  übrigen  290  Mark  zahlten  zur  Hälfte  die  Altstadt,  zur 
Hälfte  Hagen  und  Neustadt.  Was  die  Anrechte  der  Söhne 
Albrechts  auf  die  Vogtei  von  Altewik  und  Sack,  über  welche 
besonders  verfügt  ist , betrifft , so  haben  diese  Herzog  Otto  und 
seine  Brüder  dem  Rate  der  Altstadt  allein  für  100  M.  überlassen.*) 

Das  eben  mitgeteilte  findet  eine  Ergänzung  durch  jenes  oben 
erwähnte  Stück  im  Rechtsbuche  der  Neustadt.  Danach  steuerte 
der  Rat  der  letztem  zu  den  Erwerbungen  von  1325  im  ganzen 
136  Mark  3 Ferding  bei,  wovon  90  Mark  die  Söhne  Herzog 
Heinrichs  erhielten,  während  der  Rest  der  Summe  den  Söhnen 


’)  Br.  U.-B.  I,  8.  33  und  34. 

*)  Nach  Dörre  (8.  289)  hätten  damals  Otto  der  Milde  und  seine  Brüder 
die  Vogtei  — d.  h.  ihre  gesammten  Vogteirechte  in  Braunschweig  — der 
Altstadt  für  100  M.  überlassen.  Die  ganze  Aufzeichnung  dreht  sich  indessen 
um  die  herzoglichen  Rechte  auf  Altewik  und  Sack,  so  dass  Dürres  Ansicht 
nur  dann  richtig  sein  könnte,  wenn  statt : „Insuper  advocacia  ex  parte  ducis 
Ottonis“  etc.  fortgefahren  würde : „Insuper  advocacia  in  Brunswic  ex  parte 
dncis  Ottonis“  etc.  Dass  Hänsclmann  mit  Dürre  nicht  Ubereinstimmt , geht 
ans  der  Überschrift  hervor,  welche  er  der  Eintragung  gegeben : „Verpfändung 
der  Altenwik  und  des  Sackes  an  den  Rat“. 


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33 


Al  brecht  9 ausgezahlt  wurde;  für  den  Fall,  dass  die  Herzoge  die 
beiden  Weichbilde  zurückerwerben  würden , bedang  sich  der 
Neustädter  Rat  die  Rückzahlung  seines  Beitrages  aus. 

Nach  zwei  Richtungen  hin  unterscheidet  sich  das  Bild,  das 
wir  hier  erhalten,  ganz  bedeutend  von  dem,  welches  die  gleiche 
Sache  am  Ende  des  13.  Jahrhunderts  darbot.  Während  1296 
die  Einkünfte  aus  Sack  und  Altewik  sämmtlich  in  den 
gemeinsamen  Pfandbesitz  von  Altstadt,  Hagen  und  Neustadt 
kamen,  wurde  jetzt  der  Anteil  Herzog  Ottos  und  seiner  Brüder 
an  der  Vogtei  jener  Weichbilde  der  Altstadt  allein  verpfändet. 
Und  während  noch  1299  bestimmt  war,  dass  das  gemeinsam 
errungene  auch  gemeinsam  verwendet  werden  solle,  wurde  1325 
dieser  Grundsatz  nicht  mehr  befolgt.  Denn  zum  ersten  ist  ja 
ganz  klar  gesagt,  dass  von  den  Schosseinkünften  von  vornherein 
30  M.  jedes  Jahr  für  die  Altstadt  abgezogen  werden  sollten. 
Und  auch  die  dann  noch  übrig  bleibenden  Erträge  aus  dem 
gemeinsamen  Pfandbesitz  sind  wahrscheinlich  nicht  in  die 
gemeine  Kasse  geflossen,  sondern  an  die  einzelnen  Weichbilde 
im  Verhältnisse  ihrer  Einzahlungen  verteilt.  Darauf  scheint  mir 
der  Umstand  hinzuweisen,  dass  im  Altstädter  Degedingbuche  so 
streng  zwischen  den  Beiträgen  der  Altstadt  einerseits  und  denen 
des  Hägens  und  der  Neustadt  andrerseits  geschieden  ist. 
Allerdings  sind  diejenigen  des  Hägens  und  der  Neustadt,  die 
doch,  wie  die  an  zweiter  Stelle  erwähnte  Aufzeichnung  lehrt, 
keineswegs  gleich  gross  waren,  nicht  auch  von  einander  getrennt 
aufgeführt,  und  das  könnte  manchem  bedenklich  erscheinen,  doch 
ist  es  ganz  natürlich,  wenn  ein  in  der  Altstadt  in  besonderm 
Interesse  derselben  geführtes  Buch  über  andere  Weichbilde 
weniger  genaue  Auskunft  giebt. 

Nach  der  Verpfändung  von  1325,  deren  Vorgeschichte  übrigens 
gänzlich  im  Dunkeln  liegt,  scheint  die  Stadt  in  ununterbrochenem 
Besitze  dessen,  was  ihr  damals  von  den  Herzogen  überlassen 
wurde,  und  zu  dem  sie  auch  noch  die  Anrechte  der  Nachkommen 
Heinrichs  des  Wunderlichen  auf  die  Vogtei  hinzu  erwarb5), 
geblieben  zu  sein.  Zwar  liegen  uns  verschiedene  Urkunden  aus 
späterer  Zeit  vor,  in  denen  bald  dieser  bald  jener  Herzog  über 
Vogtei,  Altewik  und  Sack  verfügt,  aber  keine  derselben  kann 
die  oben  aufgestellte  Vermutung  entkräften.  Nur  eine  Bestätigung 
des  im  Jahre  1325  vollzogenen  war  es,  als  am  15.  Februar  1345 


■)  cf.  8.  36:  Urkunde  Herzog  Albreohts  vom  12.  September  1370. 

Muck,  Flnanxgeschichte  der  Stadt  Braun  schweig.  •} 


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34 


Albrechts  des  Feisten  Söhne  Magnus  und  Ernst  bekannten,  sie 
hätten  den  Ratsherren  der  drei  verbündeten  Wcichbilde  für  690  M. 
sowohl  die  Vogtei  in  Braunschweig,  wie  sie  jenen  Herzog  Otto, 
ihr  verstorbener  Bruder,  abgetreten  habe,  überlassen,  als  auch 
gestattet,  von  den  Bürgern  der  AJtenwik  und  des  Sackes  Schoss 
und  sonstige  Leistungen,  nicht  minder  Gehorsam  in  allen  Stücken 
wie  von  ihren  eignen  Bürgern  zu  fordern.1)  690  M.  hatten  ja 
Herzog  Otto  und  seine  Brüder  schon  1325  von  den  drei  Weich- 
bilden für  ihre  Ansprüche  auf  Altewik  und  Sack  erhalten, 
und  es  ist  kaum  zweifelhaft,  dass  die  damals  gezahlten  690  M. 
mit  den  hier  erwähnten  identisch  sind,  zumal  da  sich  Magnus 
und  Emst  bei  Anführung  der  Vogtei  auf  die  Abtretung  derselben 
durch  ihren  Bruder  Otto  berufen.  Darin  dürfen  wir  eine  Bezug- 
nahme auf  das  1325  Geschehene  erblicken.  Denn  der  scheinbare 
Widerspruch,  der  sich  daraus  ergiebt,  dass  1325  von  der  Vogtei 
in  Altewik  und  Sack,  1345  aber  von  der  in  Braunschweig  die 
Rede  ist,  lässt  sich  vielleicht  sehr  einfach  lösen : Albrechts  Söhne 
werden  eben  nur  noch  Anrechte  auf  die  Vogtei  in  jenen  beiden 
Weichbilden,  nicht  aber  auch  auf  die  in  den  andern  Teilen  der 
Stadt  geltend  gemacht  haben.  — Auf  die  Frage,  ob  man  es  1345 
noch  in  gleicher  Weise  mit  der  Verteilung  der  erworbenen  Auf- 
künfte  gehalten  habe  wie  1325,  giebt  die  Urkunde  vom 
15.  Februar  jenes  Jahres  keine  Antwort.  Und  das  ist  auch 
gar  nicht  wunderbar;  denn  auf  solche  Verhältnisse,  welchen 
durchaus  nur  Abmachungen  der  vereinigten  Weichbilde  unter 
einander  zu  Grunde  lagen,  brauchten,  ja  konnten  vielleicht  die 
Herzoge  in  der  von  ihnen  ausgestellten  Urkunde  nicht  eingehen. 

Aber  auch  aus  den  Aufzeichnungen,  welche  die  beste  Quelle 
für  unsere  Erkenntniss  der  innern  Angelegenheiten  jener  Weich- 
bilde sind,  wird  uns  kein  sicherer  Aufschluss  über  den  bezeichneten 
Punkt  zu  Teil.  Möglich  freilich  ist  es,  dass  die  Altstadt  1345 
noch  die  alleinige  Inhaberin  des  1325  erworbenen  Anteils  der 
Vogtei  in  Sack  und  Altewik  gewesen  ist:  wenigstens  scheint 
sie  einem  Posten  der  ältesten  Altstädter  Rechnung  zufolge*) 
noch  1354  wirklich  vogteiliche  Einnahmen  aus  dem  Sack  gehabt 
zu  haben.  Sonstige  Einkünfte  jedoch  aus  den  beiden  verpfändeten 


•)  Br.  U.-B.  8.  40  und  41. 

*)  Item  VII  s ot.  minuB  IIII  den.  Polede  de  duobus  talentis  de  Sacco 
pro  dobelspel.  Über  den  entsprechenden  Einnahmeposten  cf.  II,  oap.  5. 


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35 

Weichbilden  werden  weder  in  dieser  noch  in  spätem  Rechnungen 
der  Altstadt  aufgefiihrt,  woraus  man  mit  Notwendigkeit  auf  ein 
Abgehen  von  der  1325  angetroffenen  Verteilung  schliessen  muss, 
ein  Abgehen,  das  sich  allerdings  erst  nach  1345  vollzogen 
hnben  mag. 

Am  Schlüsse  ihrer  Bestätigungsurkunde  hatten  sich  Magnus 
und  Ernst  den  Rückkauf  der  genannten  Rechte  und  Einnahmen 
für  690  M.  ausdrücklich  Vorbehalten.  Dass  dieser  Vorbehalt 
doch  etwas  mehr  als  eine  rein  formelle  Bedeutung  hatte,  zeigt 
eine  Urkunde  Ernst’s  vom  1.  November  1363. ')  Durch  dieselbe 
gab  der  Aussteller  seinem  Bruder,  dem  Herzog  Magnus,  und 
dessen  Sohne  Ludwig  die  Erlaubniss  für  345  M.  seinen,  Emst’s, 
Anteil  an  Sack  und  Altewik,  sowie  an  Gericht  und  Vogtei  zu 
Braunschweigf  welche  Objecte  er  mit  Magnus  zusammen  ver- 
pfändet habe,  wieder  einzulösen;  gleichzeitig  behielt  er  seiner- 
seits sich  die  Einlösung  von  seinen  Verwandten  vor.  Hiernach 
scheint  es,  als  ob  Herzog  Magnus  damals  wirklich  die  Absicht 
gehabt  habe,  den  1345  in  Aussicht  gestellten  Rückkauf  zu  voll- 
ziehen. Über  die  blosse  Absicht  ist  jedoch  Magnus  höchst- 
wahrscheinlich gar  nicht  hinausgekommen.  Denn  nirgends  findet 
sich  in  der  Überlieferung  eine  Spur  von  der  Ausführung  seines* 
Vorhabens,  nirgends  bemerken  wir  etwas  von  einer  Lockerang 
der  Bande,  welche  damals  bereits  Altewik  und  Sack  eng  mit 
den  übrigen  W eichbilden  verknüpften,  und  nichts  berechtigt  uns 
anzunehmen,  der  genannte  Herzog  habe  in  jener  Zeit  über 
bedeutende  Geldmittel  verfügt,  zumal  da  er  dem  Rate  ganz  bald 
□ach  Ausstellung  der  Urkunde  Ernst’s  andre  wichtige  Einkünfte 
aus  der  Stadt  verpfändet.*)  Wurde  aber  trotz  alledem  1363 
die  Einlösung  vollzogen , so  ist  sie  sicherlich  schon  nach 
kurzer  Zeit  wieder  hinfällig  geworden.  Andernfalls  würde  man 
einer  Urkunde  8)  Magnus  des  Jüngern,  des  Sohnes  des  bereits 
mehrfach  erwähnten  Magnus  des  Altern,  die  auf  den  14.  Februar 
1371  datirt  ist,  den  Vorwurf  grober  Unglaubwürdigkeit  machen 
müssen.  Damals  bekannte  der  erstgenannte,  dass  er  dem  Rate 
und  den  Bürgern  zu  Braunschweig  300  M.  schulde,  die  am 
nächsten  Michaelistage  von  ihm  zurückgezahlt  werden  müssten. 
Wenn  er  dies  nicht  thue,  so  sollten,  bestimmte  er,  die  300  M.  zu 


')  Sudendorf  UI,  128. 

*)  Am  28.  Jan.  1364.  Sudendorf  III,  137. 

*)  Br.  U.-B.  I,  57. 

3* 


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36 


der  Summe  geschlagen  werden,  für  die  sein  Vater  seine  Anrechte 
an  Altewik , Sack , Vogtei  und  Münze  der  Stadt  verpfändet 
habe.  Auch  verpflichtete  er  sich,  die  Ansprüche  seines  Bruders 
Ernst  auf  diese  Pfandobjecte  zu  befriedigen.  — Was  sich  hieraus 
ergiebt,  ist  leicht  zu  ersehen.  Jedenfalls  war  beim  Tode  Magnus 
des  Altern  die  Stadt  Braunschweig  im  Besitze  dessen,  was  der- 
selbe 1363  hatte  einlösen  wollen.  Ob  freilich  mit  der  Verpfändung 
durch  seinen  Vater,  auf  die  Magnus  der  Jüngere  hinweist,  die 
von  1345  oder  eine  erst  nach  1363  erfolgte  gemeint  ist,  muss 
unentschieden  gelassen  werden. 

Nach  dem  Jahre  1371  scheinen  die  Nachkommen  Herzog 
Albrechts  des  Feisten  ihre  Ansprüche  auf  Sack  und  Altewik  auf 
über  fünfzig  Jahre  gänzlich  fallen  gelassen,  wenigstens  nicht 
mehr  in  Urkunden  geltend  gemacht  zu  haben,  -und  als  nach 
1420  die  Söhne  Magnus  II.  wieder  mit  solchen  Ansprüchen 
auftraten,  haben  sie  doch  keinen  praktischen  Erfolg  errungen. ') 

Lange  nicht  so  zäh  hielten  die  Nachkommen  Heinrichs  des 
Wunderlichen  an  ihren  entsprechenden  Rechten  fest.  Nur  ein- 
mal noch  nach  1325  tauchen  die  letztem  in  einer  Urkunde  auf. 
Am  12.  September  1370  ging  Herzog  Albrecht,  ein  Enkel 
Heinrichs,  folgende  Verpflichtung  ein:  Falls  der  Rat  von  ßraun- 
schweig  wegen  einer  Bürgschaft  in  Anspruch  genommen  für  ihn, 
den  Herzog,  eine  gewisse  Summe  bezahlen  müsse,  so  wolle  er 
um  letztere  die  Pfandsumme  erhöhen,  für  welche  Herzog  Ernst, 
sein  Vater,  und  er  selbst  der  Stadt  ihren  Anteil  an  der  Vogtei, 
dem  Sack  und  der  Altenwik,  sowie  an  andern  nutzbaren  Rechten 
überlassen  hätten.  Die  Abfindung  seiner  Vettern,  der  Söhne 
Herzog  Heinrichs  II.,  versprach  er  auf  sich  zu  nehmen;  sein 
Bruder,  der  junge  Herzog  Friedrich,  gab  zu  allem  seine 
Zustimmung.  *) 

Auf  das  Verhältnis  zwischen  den  beiden  Weichbildsgruppen, 
die  von  vornherein  unterschieden  werden  mussten,  hatten  diese 
letzten  Verpfändungen  oder  vielmehr  Verpfändungsbestätigungen 
keinen  Einfluss  mehr.  Diejenige  Entwicklung,  deren  Endziel  der 
möglichst  enge  Zusammenschluss  von  Altstadt,  Hagen  und 
Neustadt  mit  Altewik  und  Sack  zu  einem  Ganzen  bedeutete. 


*)  Dürre,  S.  206  und  207. 

*)  Br.  U.-B.  I,  56.  — Herzog  Albrecht  von  Grubcnhagon  war  ein  Sohn 
Herzog  Ernst  des  Altern  und  ein  Enkel  Heinrichs  des  Wunderlichen. 


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37 


war  schon  lange  vor  1370  vollendet.  Den  Beweis  dafür  giebt 
eine  Urkunde  vom  24.  November  1345, eine  Urkunde  also, 
welche  nur  neun  Monate  nach  der  oben  besprochenen 
der  Herzoge  Magnus  und  Ernst  ausgestellt  ward.  In  ihr 
berichtet  der  gemeine  Kat  von  einem  zwischen  ihm  und  dem 
Kate  der  Alten wik  vereinbarten  Vertrage.  Diesem  zufolge  sollte 
der  letztere,  wie  auch  die  andern  jenem  unterstellten  Weichbilde 
thäten,  die  Überschüsse  von  Gülten  und  Zinsen  seines  Weichbildes 
über  dessen  eignen  Bedarf  hinaus  zur  Bestreitung  von  Ausgaben 
der  gemeinen  Stadt  drei  Jahre  lang  beisteuern;  nach  Ablauf  der 
drei  Jahre  aber  sollte  die  angeführte  Vereinbarung  nur  dann 
hinfällig  sein,  falls  sich  der  Rat  der  Altenwik  auf  eine  Verlängerung 
derselben  nicht  cinlassen  würde.  Aller  Wahrscheinlichkeit  nach 
traf  der  gemeine  Kat  ein  gleiches  Abkommen  auch  mit  dem  Kate 
des  Sackes,  welches  Weichbild  sich  ja  in  derselben  Lage  befand 
wie  die  Altewik. 

Vergegenwärtigen  wir  uns  die  Tragweite  einer  solchen 
Übereinkunft.  Bisher  konnten  die  drei  selbstständigem  Weich- 
bilde von  den  beiden  übrigen  nur  solche  Leistungen  ver- 
langen, zu  deren  Eorderung  sie  durch  die  Erwerbung  der 
herzoglichen  Ansprüche  berechtigt  waren.  Nie  aber  hatte  den 
Herzogen  das  Recht  zugestanden,  über  etwaiges  Weichbilds- 
eigentum in  Sack  und  Altewik  zu  verfugen.  Indem  nun  jetzt 
diese  und  wohl  auch  jener  sich  bereit  erklärten,  die  Überschüsse 
von  den  Erträgen  des  Weichbildseigen  zum  Besten  der  gemeinen 
Stadt  herzugeben,  übernahmen  sie  eine  Last,  welche  sie  bis 
dahin  noch  nicht  zu  tragen  verpflichtet  gewesen  waren.  Billiger 
Weise  musste  ihnen  also  eine  Entschädigung  geleistet  werden, 
und,  wo  eine  solche  am  natürlichsten  zu  finden  war,  lag  nahe. 
Zunächst  werden  sie  verlangt  haben,  dass  der  Begriff  der  gemeinen 
Stadt,  welcher  bis  jetzt  auf  die  Vereinigung  von  Altstadt,  Hagen 
und  Neustadt  beschränkt  gewesen,  auch  auf  sie,  die  ausserhalb 
dieser  Vereinigung  stehenden  Stadtteile,  ausgedehnt  werde;  ferner 
aber  war  es  auch  nicht  mehr  als  recht  und  billig,  dass  sie  über 
die  Verwendung  der  von  ihnen  mit  aufgebrachten  Summen  auch 
mit  beschliessen  durften,  dass  also  auch  der  Altenwik  und  dem 
Sack  Anteil  am  gemeinen  Kate  zugestanden  wurde.  Und  das 
ist  geschehen.  Denn  nur  auf  diese  Ursache  wird  man  es  zurück- 


*)  Chron.  VI,  S.  320  Note  3. 


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38 


führen  können,  wenn  man  nacli  1345  fast  nur  noch  von  einem 
gemeinen  Rate  aller  fünf  Weichbilde  hört.1) 

Aber  auch  nach  einer  andern  Richtung  hin  ist  der  Vertrag 
von  1345  sehr  beachtenswert:  sein  Inhalt  wirft  ein  helles  Licht 
auf  die  Art  und  Weise,  in  der  man  damals  die  Bestimmungen 
des  Jahres  1269  zur  Ausführung  brachte  oder  vielmehr  nicht 
zur  Ausführung  brachte.  In  jener  bekannten  Einigung  war 
festgesetzt,  die  Weichbilde  sollten  ihre  gesammten  Zinseinkünfte 
an  die  gemeinsame  Kasse  abführen,  um  1345  aber  wurden  nur 
noch  die  Überschüsse  von  diesen  Einnahmen  so  verwendet. 
Denn  das  beweist  ganz  klar  diejenige  Stelle  unsrer  Urkunde, 
wo  der  Altenwik  die  oben  erwähnte  Verpflichtung  auferlegt 
wird  unter  dem  ausdrücklichen  Hinweis  darauf,  dass  dieselbe 
Last  auch  von  den  übrigen  unter  dem  gemeinen  Rate  stehenden 
Weichbilden  getragen  werde.  Von  den  Einkünften  also,  welche 
1269  der  gemeinschaftlichen  Finanzverwaltuug  zur  Verfügung 
gestellt  waren,  wurde  ihr  gegen  Mitte  des  14.  Jahrhunderts  ein 
sehr  bedeutender  Teil  nicht  mehr  zugewiesen.  Vielleicht  hatte 
eie  denselben  schon  lange,  vielleicht  von  Anfang  an  entbehren 
müssen.  So  bot  die  Kasse  der  gemeinen  Stadt  keine  genügend 
feste  Grundlage  dar,  auf  welcher  sich  eine  starke  und  selbst- 
ständige Centralfinanz  Verwaltung  hätte  aufbauen  können.  Der 
gemeine  Rat  war  nicht  im  Stande  mit  den  ihm  regelmässig 
zufliessenden  Summen  gleichzeitig  die  gewöhnlichen,  laufenden 
Ausgaben  zu  decken  und  auf  eigne  Faust  grössere  Erwerbungen 
durchzuführen.  Hieraus  erklärt  es  sich,  dass  gelegentlich  der 
besprochenen  Verpfändung  von  1325  die  Pfandsumme  durch 
Beiträge  der  einzelnen  Weichbilde  für  diesen  bestimmten  Zweck 
aufgebracht  wurde.  Ähnliches  wird  öfter  vorgekommen  sein. 
Den  eigentlichen  Nutzen  von  Erwerbungen,  die  auf  solchem 
Wege  vollzogen  wurden,  hatte  zunächst  wenigstens  nicht  die 
gemeine  Stadt,  sondern  die  einzelnen  beteiligten  Weichbilde. 

Nachdem  wir  so  die  Wirksamkeit  des  gemeinen  Rates  in 
einer  Angelegenheit  verfolgt  haben,  deren  langsame,  aber  ziel- 
bewusste Durchführung  für  die  Entwicklung  der  gesammten 


*)  Zum  ersten  Male  finden  wir  am  29.  Jan.  132Ö  in  der  Universitas 
conaulum  auch  Ratsherrn  der  Altenwik  und  des  Sackes,  cf.  Dürre  S.  294- 
Doch  ist  das  ein  ganz  vereinzelter  Fall.  Andrerseits  wird  der  gemeine  Rst 
von  Altstadt,  Hagen  und  Neustadt  noch  verschiedentlich  nach  1345  genaust, 
z.  B.  im  Zinsbuch  der  Altstadt  von  1378. 


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39 


Verfassung  und  Verwaltung  Braunschweigs  überhaupt,  insbesondere 
auch  für  die  Ausgestaltung  des  öffentlichen  Finanzwesens  dieser 
Stadt  von  grundlegender  Wichtigkeit  gewesen  ist  und  deshalb 
ein  genaueres  Eingehen  erforderte,  müssen  wir  jetzt  das  Gebiet 
unsrer  Betrachtung  erweitern,  uns  dem  zuwenden,  was  sich  sonst 
noch  in  der  Überlieferung  über  das  Auftreten  der  gemeinsamen 
Finanzverwaltung  in  der  ersten  Hälfte  des  14.  Jahrhunderts 
aufbewahrt  findet.  ' Im  allgemeinen  werden  wir  hierbei  über  das 
Jahr  1354  nicht  hinausgehen,  da  mit  diesem  ein  neuer  Abschnitt 
der  vorliegenden  Arbeit  zu  beginnen  hat. 

Nach  dem  in  der  Einigung  von  1269  aufgestellten  Grund- 
sätze, der  gemeine  Bat  solle  in  seinen  Geschäftskreis  alle  die 
Gesammtstadt  angehenden  Verhältnisse  hineinzichen,  musste  ihm 
vornehmlich  die  Vertretung  derselben  nach  aussen  zufallen. 
Und  diese  scheint  er  auch  von  vornherein  und  ununterbrochen 
im  wesentlichen  gehabt  zu  haben.  Eine  der  Hauptaufgaben, 
welche  ihm  dadurch  erwuchsen,  war  die  Vermittlung  zwischen 
der  Stadt  und  den  Herzogen;  sie  erstreckte  sich  nicht  zum 
geringsten  Teil  auf  Dinge  finanzieller  Natur.  Da  sind  in  erster 
Reihe  die  Verpfändungen  zu  nennen,  durch  welche  sich  die 
Herzoge  aus  ihren  ewigen  Geldverlegenheiten  zu  ziehen  suchten. 
Und  niemanden  fanden  sie  mehr  in  der  Lage  und  bereit  auf 
solche  einzugehen  als  ihre  Stadt  Braunschweig,  denn  diese  konnte 
einerseits  ohne  grosse  Schwierigkeiten  die  Pfandsummen  zusammen- 
bringen, andrerseits  glaubte  sie,  so  ihre  Macht  und  Selbstständig- 
keit am  erfolgreichsten  zu  fördern.  Die  älteste  näher  bekannte 
und  schon  besprochene  Verpfändung  herzoglicher  Hechte  und 
Einkünfte  an  die  gemeine  Stadt  fällt  ins  Jahr  1296.  Und  wenn 
sie  ja  auch  1299  zum  grössten  Teile  rückgängig  gemacht  wurde, 
so  wirkte  doch  der  Anstoss,  den  sie  gegeben,  weiter.  Auf 
ziemlich  gleichem  Wege,  wie  Altewik,  Sack  und  Vogtei,  aber 
langsamer  und  später  errang  die  Stadt  auch  das,  was  1296 
ausserdem  verpfändet  war:  die  Zölle,  die  Münze,  die  Mühlen- 
aufkünfte. 

Vom  Zoll  hatte  Braunschweig  schon  bald  nach  1300  wieder 
Einnahmen,  wenn  man  wenigstens  das  merkwürdige  Zollstatut 
im  Rechtsbuche  der  Neustadt1)  mit  Recht  in  den  Anfang  des 


')  K.  d.  N.  fol.  7 ilg.  Das  Zollstatut  steht  dort  hinter  dem  Statute 
vom  Herwede  (1303)  und  vor  einem  Vergleich  der  Lakenmacher  mit  den 
Juden  (1312). 


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40 


14.  Jahrhunderts  setzt.  Dieses  Statut,  im  wesentlichen  ein  Tarif, 
enthält  unter  andern  folgende  Bestimmung:  „Wer  fremdes  Bier 
hier  in  der  Stadt  verzapft,  er  sei  Bürger  oder  Gast,  bezahlt  für 
das  Fuder  2 Schillinge  Zoll,  wovon  die  eine  Hälfte  dem  Zöllner, 
die  andre  dem  Rate  zukommt“  Von  welchem  der  beiden  Herzoge, 
Albrecht  oder  Heinrich,  die  Stadt  diese  Einnahmen  erworben 
hatte,  lässt  sich  nicht  erkennen,  auch  kann  man  nicht  feststellen, 
ob  ihr  damals  ausser  der  Hälfte  des  Zolls  von  fremdem  Biere 
auch  noch  andere  Zollaufkünfte  zustanden.1)  Aber  nicht  nur 
für  den  Anfang,  sondern  bis  gegen  Ende  des  Jahrhunderts 
erhalten  wir  aus  der  Überlieferung  über  die  Geschicke  der  in 
Braunschweig  erhobenen  Zölle  sehr  mangelhafte  Auskunft.  Was 
zunächst  den  Anteil  der  Nachkommenschaft  Heinrichs  des 
Wunderlichen  betrifft,  so  ist  hier  nur  zu  erwähnen,  dass  Herzog 
Wilhelm,  der  1360  starb,  die  Hälfte  der  Bierzollerträge  dieser 
Linie  an  die  braunschweigische  Familie  Meyse  verpfändete, 
während  die  andre  Hälfte  sein  Bruder  Ernst  der  Familie 
Gottinghe  zu  Lehen  gab.  *)  Zollüberlassungen  an  die  Stadt 
können  wir  für  diese  Periode  ebenso  wenig  seitens  der  Gruben- 
hagener Herzoge  nachweisen,  wie  seitens  der  Nachkommen 
Albrechts.  Des  letztem  ältester  Sohn  Otto  der  Milde  übertrug 
die  Hälfte  des  Zolls  in  Braunschweig  d.  h.  seine  und  seiner 
Brüder  Anrechte  dem  Braunschweiger  Bürger  Johann  von  der 
Heyde,  in  dessen  Familie  die  Erträge  hiervon  noch  im  Anfänge 
des  nächsten  Jahrhunders  waren.8)  Den  Anteil  der  Söhne 

')  Wenn  Dürre  das  Zollatatut,  das  auch  er  dem  Anfänge  des  11.  Jahr- 
hunderts zuweist  (S.  128),  mit  der  Verpfändung  von  1296  zusammenbringt 
und  in  Folge  dessen  behauptet,  der  Rat  habe  die  eine  Hälfte  der  Zollab- 
gaben (sämmtlioher?)  als  den  ihm  von  Herzog  Albrecht  dem  Feisten  ver- 
pfändeten Anteil,  die  andre  Hälfte  für  die  grubenhagensche  Linie  d.  h.  für 
Herzog  Heinrich  den  Wunderlichen  erhoben,  so  kann  das  schon  deshalb 
kaum  richtig  sein,  weil  auch  Dürre  meint,  die  Stadt  habe  1299  ihrer 
Anrechte  auf  den  Zoll  entsagen  müssen,  cf.  S.  31,  Amu.  I. 

’)  cf.  Chron.  VI,  S.  277  und  278.  Der  Widerspruch,  der  dort  von 
Hänselmann  constatirt  ist  und  darin  besteht,  dass  Herzog  Ernst  den 
„verdendeyl  kopenpeuninghe“  an  die  Qotinghe  versetzt  hat,  während  Herzog 
Wilhelm  den  „halven  bertollen“  den  Meysen  überliess,  wonach  also  die 
grubenhagensche  Linie  eigentlich  ’/,  des  Bierzolls  gehabt  hätte,  lässt  sich 
vielleicht  so  lösen,  wie  es  im  Texte  angedeutet  wurde:  wenn  Herzog 
Wilhelm  den  „halven  bertollen“  vergabt,  so  vergabt  er  damit  nur  die 
Hälfte  des  grnbenhagenschen  Anteils.  — A.  a.  O.  sind  auch  die  sämmtlichen 
Quellcnstellen  über  die  Verpfändung  des  Bicrzolls  angeführt. 

*)  cf.  Sudendorf  H,  S.  48  *•  und  IH,  S.  60,  ferner  Chron.  VI,  S.  229. 


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41 


Albrechts  am  Bierzoll  finden  wir  schon  1318  im  Lelmsbesitz  von 
Angehörigen  der  braunschweigischen  Geschlechter  Kerkhof  und 
Salghe.  Sie  gestanden  im  Jahre  1353  die  Nutzung  dieser  Hälfte 
auf  ein  Jahr  dem  gemeinen  Bäte  gegen  eine  Zahlung  von 
24  Mark  zu;1)  1354  verlängerten  die  beiden  genannten  Parteien 
ihre  Abmachung  um  zwei  Jahre  mit  der  Änderung,  dass  die 
fährliche  Entschädigungssumme  auf  28  Mark  erhöht  wurde.*) 
Wie  damit  eine  Notiz  der  Altstädter  Rechnung  von  1354  in 
Einklang  zu  bringen  ist,  der  zufolge  die  Altstadt  in  diesem 
Jahre  an  Ludolf  Salghe  50  M.  für  5 M.  Rente  aus  den 
Bierzullaufkünften  zahlte,  eine  Rente,  deren  erste  Rate  unter  den 
Einnahmen  in  der  Altstädter  Rechnung  von  1355  gebucht  ist, 
muss  dahin  gestellt  bleiben.  Übrigens  haben  die  Erpachtungen  von 
1353  und  1354,  welche  nach  einem  Zeitraum  von  fünfzig  Jahren 
zuerst  wieder  das  Bestreben  der  Stadt  andeuten,  die  Einnahmen 
aus  den  Zöllen  für  sich  auszunutzen,  kein  dauerndes  Verhältnis 
herbeigefiihrt.  Ein  zielbewusstes  Vorgehen  des  gemeinen  Rates 
hinsichtlich  der  Erwerbung  der  Zölle  und  dementsprechende 
Erfolge  sind  erst  in  einer  weit  spätem  Zeit  zu  erkennen,  als  ein 
völliger  Umschwung  in  der  Finanzverwaltung  eingetreten  war. 

Um  einfachere  Verhältnisse  handelt  es  sich  bei  der  Geschichte 
der  Münzerwerbung  durch  die  Stadt.  Nachdem  1299  die  Münz- 
verpfändung Albrechts  von  1296  ihre  Gültigkeit  verloren  hatte, 
scheint  der  Rat  auf  einige  Zeit  die  Ausführung  seiner  Absicht, 
diese  so  wichtige  und  ertragreiche  Gerechtsame  der  Stadt  zu 
erringen,  aufgegeben  zu  haben,  nur  eine  Vermutung  freilich,  die 
lediglich  darauf  gegründet  ist,  dass  in  der  Überlieferung  durch 
mehrere  Jahrzehnte  sich  nicht  die  geringste  Spur  vom  Gegenteil 
findet.  Erst  eine  Urkunde  vom  Jahre  1332 8)  weist  wieder  auf 
Massnahmen  des  gemeinen  Rates  in  der  Münzangelegenheit  hin. 
Damals  sandte  nämlich  Herzog  Wilhelm,  ein  Sohn  Heinrichs 
des  Wunderlichen,  einen  vom  31.  Januar  datirten  Brief  an  jenen, 
in  dem  er  ausser  nnderm  bat,  dem  Briefweiser  die  10  M. , um 
welche  er,  der  Herzog,  mit  der  Stadt  wegen  der  Münze 
übereingekommen  sei , auszuzahlen ; hingegen  wolle  er  in 
kürzester  Frist  die  deshalb  besiegelte  Urkunde  ausfolgen. 
Hinsichtlich  des  Inhalts  der  die  Münze  betreffenden  Abmachung, 


')  L G.  fol.  5 '. 

•)  I.  G.  foL  8 '. 

«)  O.-ü.  Nro.  73  im  Br.  St.-A. 


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welche  nach  dem  Wortlaut  diese?  Briefes  zwischen  Herzog 
Wilhelm  und  dem  gemeinen  Rate  1332  bestanden  haben  muss, 
ist  näheres  nicht  zu  ergriindeu;  auch  kann  man  nicht  erkennen, 
wie  lange  sie  in  Geltung  gewesen,  und  ob  und  inwiefern  sie  mit 
den  Verfügungen  andrer  Herzoge,  namentlich  der  Grubenhagener 
Linie  in  Zusammenhang  stand.  Nicht  besser  sind  wir  mit  der 
nächsten  einschlägigen  Nachricht  daran,  die  ins  Jahr  1343  fällt. 
Im  ersten  Gedenkbuche  *)  ist  eine  Abrechnung  des  gemeinen 
Rates  mit  dein  Münzschmiede  Hcneken  Wulvramme  verzeichnet, 
aus  welcher  hervorgeht,  dass  dieser  damals  im  Aufträge  der 
Stadt  Pfennige  geschlagen  hatte.  Das  regt  die  Frage  an:  welcher 
Herzog  hatte  die  Stadt  zur  Ausübung  des  Münzrechtes  ermächtigt 
und  auf  Grund  welches  Vertrages?  Aber  auf  beides  müssen 
wir  die  Antwort  schuldig  bleiben. 

Eine  stattliche  Reihe  von  Urkunden,  die  untereinander  in 
engem  Zusammenhang  stehen  und  von  uns  hier  heranzuziehen 
sind,  ist  aus  der  Regierungszeit  Herzogs  Magnus  des  Altern 
erhalten.  Am  29.  Mai  1345  überliess  derselbe  seinen  Anteil  an 
der  Münze  zu  Braunschweig  dem  Rate  und  den  Bürgern  auf 
drei  Jahre;*)  für  welche  Summe  oder  für  welche  Einräumungen 
ist  leider  nicht  gesagt.  Am  1.  Juni  1348  verlängerte  er  die 
Vergabung  um  fünf  Jahre.8)  Ob  er  dann  1353  eine  neue  hierher 
gehörige  Urkunde  ausgestellt  hat,  wissen  wir  nicht;  vielleicht 
that  er  es  zuerst  wieder  1354.  Denn  unter  den  in  der  gemeinen 
Kämmereirechnung  dieses  Jahres  verzeichneten  Ausgaben  findet 
sich  ein  Posten,  wonach  der  Schreiber  Herzogs  Magnus  für  eine 
auf  die  Münze  bezügliche  Urkunde  1 Ferding  erhalten  hat. 
Weiterhin  erneuerte  Magnus  am  4.  Juni  1357  die  Überlassung 
der  Münze  an  die  Stadt  auf  drei  Jahre4)  und  am  31.  Mai  1360 
abermals  auf  dieselbe  Zeit;5)  auf  letztere  Urkunde  werden  wir 
bald  zurückkommen  müssen.  Zum  letzten  Male,  wie  es  scheint, 
verfügte  Magnus  der -Altere  1369,  wohl  Anfang  Juni,  über  die 
Münze,  indem  er  seinen  Anteil  daran  für  50  M.  der  Stadt  ver- 
pfändete.*) Sein  gleichnamiger  Sohn  bestätigte  die  Verpfandung 


>)  I G.  fol.  2. 

«)  Br.-U.-B.  S.  42. 
=>)  ibid.  S.  42. 

4)  ibid.  S.  49. 

«)  Br.  U.-B.  8.  51. 
«)  ibid.  S.  55. 


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des  Vater»  in  jener  schon  angezogenen  Urkunde  vom  14.  Februar 
1371,  in  welcher  er  auch  die  Rechte  der  Stadt  auf  Altewik, 
Sack  und  Vogtei  anerkannte.1) 

Um  den  Zusammenhang  nicht  zu  zerreissen,  war  von  uns 
oben  eine  Stelle  aus  der  Urkunde  von  1360  einstweilen  bei  Seite 
gelassen  worden,  die  eingehende  Würdigung  verdient.  Sie  ist 
in  der  Urkunde  von  1369  wiederholt  und  lautet  in  dem  mittel- 
niederdeutschen Text,  wie  folgt:  „Weret  ok,  dat  dijt  veile  bynnen 
desser  tijd  — d.  h.  innerhalb  der  Vertragsdauer  — dat  se  — 
die  Ratsherren  — unser  vedderen  willen  nicht  en  hedden  to  der 
muntye,  also  dat  se  nene  penninghe  slogen  unde  den  slach 
liggen  leten,  des  scolden  se  von  os  unbedcghedinget  bliuen.“ 
Hieraus  lassen  sich  mehrere  wichtige  Ergebnisse  gewinnen. 
Zunächst  kann  man  feststcllen,  dass  die  Stadt  mit  den  Rechten 
des  Herzogs  Magnus  auf  die  Münze  eigentlich  auch  die  Pflicht 
übernahm,  diese  Rechte  auszuüben,  Münze  zu  schlagen.  Denn 
was  hätte  sonst  jenes  ausdrückliche  Versprechen  des  Herzogs  zu 
bedeuten,  er  wolle  die  Stadt  nicht  belangen,  falls  sie  keine 
Pfennige  präge.  Aber  die  damit  ausgesprochene  Pflichtbefreiung 
erstreckte  sich  nur  auf  einen  gewissen  Fall,  nur  auf  den  Fall 
nämlich,  dass  der  Rat  den  Willen  der  Vettern  Magnus’  zu  der 
Münze  nicht  haben  d.  h.,  dass  diese  Vettern  sich  weigern  würden, 
ihren  Anteil  an  der  Münze  ebenfalls  der  Stadt  zu  verpfänden, 
ln  einer  Hand  musste  demnach  die  Münzgerechtsame  sein,  nur 
einer  durfte  in  Braunschweig  münzen,  entweder  die  herzogliche 
Familie  oder  die  Stadt.  Doch  weiter!  Da  Magnus  hier  nur 
von  dem  Willen  seiner  Vettern  spricht,  nicht  aber  auch  von  dem 
seines  Bruders  Ernst,  der  ja  erst  1367  starb,  so  haben  sich 
möglicher  Weise  seine  Münzverpfändungen  nicht  auf  seinen 
persönlichen  Anteil  allein,  sondern  auch  auf  den  des  Göttinger 
Herzogs  bezogen,  oder  beide  haben  wenigstens  in  vollstem  Ein- 
verständnis» in  dieser  Angelegenheit  gehandelt,  man  müsste  sonst 
annehmen,  der  Aussteller  habe  unter  dem  Ausdruck  Vettern  seine 
sämmtlichen  männlichen  Verwandten  zusammengefasst.  Würde 
aber  ferner  der  Rat  auf  die  Überlassung  durch  Magnus,  welche 
doch  nicht  umsonst  geschah,  eingegangen  sein,  wenn  er  die 
erworbenen  Rechte  nicht  hätte  ausnutzen  können,  wenn  er  nicht 
auch  den  Anteil  der  Vettern  jenes,  worunter  wohl  die  gruben- 
hagenschen  Herzoge  verstanden  sind,  im  Pfandbesitz  gehabt 

')  cf.  SS.  35  und  36  dieser  Arbeit. 


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hätte?  Hieraus,  wie  auch  aus  der  Ausdrucksweise  der  ange- 
führten Stelle,  welche  ein  Zurückziehen  der  Einwilligung  seitens 
der  Vettern  nur  hypothetisch  in  Aussicht  stellt,  ergiebt  sich, 
dass  damals  auch  die  Grubenhagener  Linie  ihrer  Anrechte  auf 
die  Münze  zu  Gunsten  der  Stadt  zeitweilig  entsagt  hatte. 
Herzog  Wilhelm  war  unseres  Wissens  der  erste  grubenhagensche 
Herzog,  der  — gegen  1332  — ein  Abkommen  wegen  der  Münze 
mit  dem  Rate  schloss,  dann  erhielt  Wilhelms  Bruder,  Ernst  der 
Altere,  nach  der  gemeinen  Rechnung  von  1355  in  diesem  Jahre 
vom  Braunschweiger  Rate  für  die  Münze  40  M.,  wobei  wir  die 
Frage  offen  lassen  müssen,  ob  seine  Verpfändung  den  Anteil  der 
grubenhagenschen  Linie  oder  nur  seinen  eignen  betraf.  Ver- 
pfändung der  Münzgerechtsame  der  ganzen  Linie  kann  mit 
Sicherheit  erst  aus  den  genannten  Urkunden  von  1360  und  1369 
nachgewiesen  werden.  Die  dort  vorausgesetzten  Verträge  bestätigte 
Herzog  Albrecht,  der  Sohn  Ernsts,  in  der  schon  erwähnten 
Urkunde  vom  12.  September  1370:  in  ihr  ist  ausser  andern 
Pfandobjecten  auch  die  Münze  aufgeführt. ') 

Übrigens  gewann  die  Stadt  durch  diese  Einräumungen  der 
Herzoge  noch  nicht  die  Verfügung  über  die  gesammten  Erträge 
der  Münze.  Jene  hatten,  wie  es  vereinzelt  auch  beim  Zoll 
vorkam,  aus  den  Münzeinnahmen  vielfach  Renten  zu  Lehen 
ausgethan,  und  diese  wurden  erst  bei  der  endgültigen  Erwerbung 
der  Münze  für  die  Stadt  im  Jahre  1412  abgelöst.5) 

Unter  den  herrschaftlichen  Rechten  und  Gefällen,  welche 
Herzog  Albrecht  1296  dem  gemeinen  Rate  verpfändet  hatte,  war 
endlich  der  Mühlenzins  — alle  Mühlen  Braunschweige  waren 
ursprünglich  herzoglich  — genannt  worden.  Wie  Zoll  und 
Münze,  so  muss  auch  jener  1299  der  Stadt  wieder  genommen 
sein,  um  ihr  schliesslich  doch  ganz  anheimzufallen.  Aber  erst 
im  Jahre  1364  sehen  wir  durch  eine  Verpfändung  Magnus  des 
Altern  abermals  den  Mtthlenzins,  wenigstens  einen  Teil  desselben, 
in  städtischen  Besitz  übergehen.8)  Dass  in  der  Zwischenzeit  der 
Finanzverwaltung  Braunschweigs  Einnahmen  vom  Mühlenzinse 
zugeflossen  seien,  dafür  fehlt  in  der  Überlieferung  jeglicher 
Hinweis. 


')  cf.  8.  36  dieser  Arbeit. 

»)  Chron.  VI.  8.  196-198  und  Br.  Ü.-B.  S.  186  ff. 
*)  Sudendorf  HI,  8.  137. 


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Umgekehrt  kann  man  sagen , wie  beim  Mühlenzinse , liegen 
die  Verhältnisse  bei  einer  andern  Einnahme,  die  gleichfalls 
anfänglich  herzoglich  war,  dem  Judenschutzgelde.  Zwischen 
den  in  der  Urkunde  von  1296  aufgezählten  Pfandobjecten  hatte 
sich  der  Judenzins  nicht  befunden , was  vielleicht  damit 
zusammenhängt,  dass,  so  viel  wir  wissen,  im  selben  Jahre  zum 
ersten  Male  eine  Judenfamilie  in  die  Stadt  aufgenommen  wurde.1) 
1320  überliess  Herzog  Otto  der  Milde  5 M.  jährlicher  Rente 
aus  seinen  Aufkiinften  von  den  Juden  an  zwei  Bürger 
Braunschweigs*);  gleiche  Vergabungen  sind  uns  auch  von 
seinen  Brüdern  Magnus  und  Ernst  bezeugt.8)  Das  Gemein- 
wesen selbst  erhob , wie  aus  einer  Aufzeichnung  im  ersten 
Gedenkbuche  hervorgeht,  im  Jahre  1351  von  acht  jüdischen 
Haushaltungen  im  ganzen  80  M.  Jahresabgabe4);  dies  ist  das 
erste  Mal,  dass  wir  von  einer  Besteuerung  der  Juden  durch  den 
Rat  hören.  1354  entrichteten  diese  30  M.  an  die  gemeine  Kasse; 
zufällig  ist  der  betreffende  Posten  unter  die  Einnahmen  in  der 
Altstädter  Rechnung  von  1354  geraten,  wo  er  dann  als  nicht 
dorthin  gehörig  durchstrichen  wurde.  Im  Jahre  1358  einigten 
sich  die  Vertreter  der  „gemeinen  Juden“  mit  dem  Rate  dahin, 
dass  sie  sich  verpflichteten  jährlich  24  M.  Zins  zu  zahlen,8)  und 
1360  wurde  das  von  der  Judenschaft  aufzubringende  Jahrgeld 
auf  insgesammt  13  M.  1 Ferding  1 Lot  festgesetzt.8)  Ohne 
Frage  beruhte  das  in  den  aufgefiihrten  Fällen  hervortretende 
Recht  der  Stadt,  von  den  Juden  Abgabe  zu  erheben,  auf  einer 
oder  mehreren  Verpfändungen  seitens  der  Herzoge,  wenn  wir 
auch  von  solchen  in  so  früher  Zeit  noch  nichts  hören.  Die 
erste,  über  die  wir  gewisse  Kunde  haben,  fällt  ins  Jahr  1364.7) 
Damals  versetzte  Magnus  am  28.  Januar  alle  seine  Anrechte 
auf  Judenschutzgeld  und  Mühlenzins  dem  Braunschweiger  Rate 
für  18  M.  Was  die  Ansprüche  der  grubenhagenschen  Linie 
angeht , so  sprach  Herzog  Albrecht  in  jener  Urkunde  des 
12.  September  1370  auch  von  seinem  Teil  des  Judenzinses  als 
von  einem  der  Stadt  bereits  verpfändeten  Gefäll. 


')  Dürre  S.  123.  — A.  D.  I.  fol.  18«. 
*)  8udendorf  I,  195. 

•)  Sudendorf  II,  49,  63. 

‘)  L G.  fol.  7. 
s)  L G.  fol.  11  *. 

•)  I.  G.  fol.  12*. 

’)  Sudendorf  III,  137, 


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Aber  die  pfandweisen  Erwerbungen,  bei  welchen  der  gemeine 
Rat  mit  den  Herzogen  in  geschäftlichen  Verkehr  trat,  beschränkten 
sich  nicht  auf  deren  Eigentum  innerhalb  der  Stadt,  sie  dehnten 
sich  auch  auf  ihren  Besitz  ausserhalb  dieser  aus,  vornehmlich 
auf  ihre  Burgen.  Schon  in  der  ersten  Hälfte  des  14.  Jahr- 
hunderts begann  sich  das  Pfandschlosswesen  auszubilden,  das 
zur  Zeit  seiner  höchsten  Blüte  ein  ganz  besonders  wichtiges 
Gebiet  der  gemeinen  .Finanzverwaltung  war.  Um  den  bereits 
hoch  entwickelten  Handel  Braunschweigs  und  die  ausserhalb 
seiner  Mauern  gelegnen  Güter  der  Bürger  einigermassen 
wenigstens  vor  der  Bedrückung  durch  die  ritterlichen  Wege- 
lagerer zu  schützen,  griff  der  Rat  zu  dem  Mittel,  die  wichtigsten 
der  rings  um  die  Stadt  im  Lande  zerstreut  liegenden  Burgen 
in  seine  Hand  zu  bringen.1)  Einmal  wurde  dadurch  dem  Mies- 
stande vorgebeugt,  dass  sich  hier  Feinde  der  Bürger  festsetzten, 
und  andrerseits  war  es  möglich,  von  hier  aus  als  von  festen 
Stützpunkten  dem  Treiben  der  Landschinder  Einhalt  zn  thun. 
Die  meisten  der  Burgen  waren  Eigentum  der  Herzoge,  so  auch 
die  erste,  die  wir  im  Pfandbesitz  der  Stadt  finden,  die  Asseburg.8) 
Diese  scheinen  die  Braunschweiger  1331  in  ihre  Hand  bekommen 
zu  haben.  Damals  wenigstens  brachte  der  Rat  der  Neustadt 
durch  Anleihen  350  M.  auf,  die  mit  den  Beiträgen  der  übrigen 
Weichbilde  an  Herzog  Otto  auf  die  Asseburg  ausgezahlt  werden 
sollten.8)  Und  dass  es  sich  dabei  nicht  um  ein  einfaches 
hypothekarisches  Darlehn,  sondern  um  eine  wirkliche  Ver- 
pfändung handelte,  beweist  ein  Posten  des  Bruchstücks  der 
gemeinen  Stadtrechnung  von  1331:  23  M.  1 Lot  gab  der  Rat 
für  Bauwerk  an  der  Asseburg  aus.  Die  von  Herzog  Otto  über 
letztere  getroffene  Verfügung  bestätigten  seine  Brüder  Magnus 
und  Ernst  am  15.  Februar  1345,  indem  sie  dem  gemeinen  Rate 
für  1470  M.  die  Asseburg  sammt  Zubehör  verpfändeten,  wie  sie 
jenem  ihr  verstorbner  Bruder  verpfändet  habe.*)  An  demselben 
Tage  erklärten  die  beiden  Herzoge  ferner,  dass  sie  dem  Rate 
binnen  Jahresfrist  dem  Herzog  Otto  geliehene  100  M.  zurück- 
zahlen oder  um  diesen  Betrag  die  auf  der  Asseburg  stehende 


')  Werkstücke  I,  99. 

*)  Die  Asseburg  lag  auf  der  Aase,  einem  Höhenzuge  südöstlich  von 
Wolfenbüttel. 

»)  R.  d.  N.  fol.  79. 

*)  Sudendorf  II,  61. 


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Pfandsumme  erhöhen  wollten.1)  Man  sieht  die  Bande,  welche 
jenes  Pfandschloss  an  die  Stadt  fesselten,  wurden  immer  enger, 
immer  unwahrscheinlicher  eine  baldige  Einlösung. 

Ausser  der  Asseburg  ist,  so  weit  wir  sicher  wissen,  vor  1354 
nur  noch  ein  Schloss  in  den  Pfand  besitz  der  Braunschweiger 
gekommen,  die  Bornburg.*)  Sie  gehörte  zwar  dem  Bistum 
Halberstadt,  mag  aber  der  Sache  halber  gleich  hier  erwähnt 
werden.  Da  in  einem  Verzeichnisse  vom  Neustädter  Rate 
während  der  Jahre  1338  und  1339  verkaufter  Benten*)  sich 
zwei  befinden,  von  denen  es  in  der  Nachricht  über  ihre  Einlösung 
zu  Ende  October  1346  heisst1),  ihr  Kaufpreis  sei  für  die  Horn- 
burg verausgabt  worden , so  erfolgte  die  Verpfändung  derselben 
wahrscheinlich  in  einem  der  beiden  erstgenannten  Jahre.  Zugleich 
ersehen  wir  hieraus,  dass,  wie  die  Pfandsumme  für  die  Asseburg, 
so  auch  die  für  die  Hornburg  durch  Beiträge  der  Weichbildsräte 
aufgebracht  wurde. 

Neben  der  ausgedehnten  Verpfändungswirtschaft  treten 
Angelegenheiten,  bei  denen  vor  1354  der  gemeine  Rat  sonst 
noch  in  finanzielle  Berührung  mit  den  Herzogen  kam,  mehr  in 
den  Hintergrund  Im  engen  Zusammenhänge  mit  dem  eben 
besprochenen  steht  ein  Zwist  zwischen  der  Stadt  und  dem 
Herzog  Magnus  wegen  der  au  der  Asseburg  aufgewandten 
Baukosten.  Den  Ersatz  derselben  forderte  jene  auf  Grund  der 
Verpfändungsurkunde  Herzog  Ottos , während  Magnus  sich 
weigerte,  ihn  zu  leisten.  Ausgetragen  wurde  die  Sache  durch 
einen  1350  gefällten  Schiedsspruch  des  Bischofs  Heinrich  von 
Hildesheim. *) 

Ein  andres  Zcrwürfniss  zwischen  der  Stadt  und  Magnus 
dem  Altern,  gleichfalls  finanzieller  Natur,  fand  1349  seine  Er- 
ledigung. Indem  letzterer  im  Lande  Beden  erhob,  wodurch  die 
Meier  der  bürgerlichen  Güter  beschwert  wurden,  und  ausserdem 
von  den  Braunschweiger  Bürgern  durch  seine  Amtleute  wider- 
rechtlich Zoll  eintrieb,  fühlte  sich  die  Stadt  empfindlich  geschädigt. 
Durch  einen  Vergleich  vom  27.  März  genannten  Jahres  wurde 
schliesslich  die  Aussöhnung  herbeigeführt.  Magnus  erkannte  die 


')  Sudendorf  II,  62. 

*)  Südlich  von  ßörssum  belegen. 
*)  R d.  N.  fol.  81. 

‘)  R d.  N.  fol.  81 '. 
s)  Sudendorf  II,  S.  199. 


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Beschwerden  der  Bürger  als  berechtigt  an , wogegen  ihm  diese 
unter  dem  Namen  eines  Geschenkes  aus  gemeinen  Mitteln  100  M. 
zahlten.1) 

Während  in  den  beiden  besprochenen  Fällen  ein  Widerstreit 
der  Interessen  der  Stadt  und  des  Herzogs  hervortrat,  so  waren 
doch  gerade  in  der  ersten  Hälfte  des  Jahrhunderts  viel  häufiger 
freundschaftliche  Beziehungen  zwischen  jenen  und  ihren  Herren 
von  Bedeutung  für  den  städtischen  Haushalt.  Wenn  freilich  der 
Rat  mehrfach  Mitgliedern  des  herzoglichen  Hauses  gelegentlich 
ihrer  Anwesenheit  in  Braunschweig  Geldgeschenke  machte,*)  so 
kann  man  daraus  allein  noch  nicht  mit  Sicherheit  auf  solche 
Beziehungen  schliessen.  Wohl  aber  darf  man  diesen  Schluss 
ziehen , wo  man  die  Herzoge  in  ihren  Plänen  und  Unter- 
nehmungen durch  die  Bürger  thatkräftig  unterstützt  sieht,  ein 
Vorgehen,  das  immer  mit  Kosten,  zuweilen  mit  recht  bedeutenden 
verknüpft  war.  Als  es  beispielsweise  im  Jahre  1331  galt,  die 
Wahl  Herzog  Heinrichs  zum  Bischof  von  Hildesheim  zu  befördern, 
durfte  der  Rat  auch  die  Geldopfcr  nicht  scheuen , welche  die 
hierauf  bezüglichen  Verhandlungen  erforderten.3)  Weit  höhere 
Summen  aber  als  durch  derartige  Hülfeleistungen  wurden  unter 
Umständen  dann  verschlungen,  wenn  die  Stadt  den  Herzogen 
bei  kriegerischen  Unternehmungen  Beistand  gewährte.  Hier  ein 
Beleg  dafür:  700  M.  Lösegeld  musste  der  gemeine  Rat  für 
diejenigen  seiner  Bürger  aufbringen,  welche  im  Jahre  1347  in 
dein  unglücklichen  Treffen  von  Gardelegen,  wo  sie  für  Herzog 
Magnus  den  Altern  gegen  den  Erzbischof  Otto  von  Magdeburg 
gekämpft  hatten,  den  Feinden  in  die  Hände  gefallen  waren.4) 

Dies  die  mannigfaltigen  Aufgaben,  die  der  gemeinsamen 
Finanzverwaltung  durch  die  besondern  Beziehungen  der  Stadt 
zu  den  Herzogen  erwuchsen.  Natürlich  musste  mit  den  letztem 
auch  ein  diplomatischer  Verkehr  gepflogen  werden,  aber  in 
solchem  Verkehr  stand  Braunschweig  nicht  nur  mit  den 
Herzogen,  sondern  auch  mit  den  benachbarten  Bischöfen,  Abten, 
mächtigem  Adligen  und  Städten.  Die  durch  denselben  an  die 
Kasse  des  gemeinen  Rates  immerwährend  gestellten  Anforderuhgen 


*)  I.  G.  fol.  6'.  cf.  Dürre  S.  144. 

*)  Bruchstück  der  gemeinen  Rechnung  von  1331. 
*)  ibidem. 

*)  Dürre  S.  144,  wo  auch  die  Belegstellen. 


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waren  nicht  gering.  Das  ersehen  wir  sehr  gut  aus  der  gemeinen 
Rechnung  von  1331,  die  vor  1354  über  diesen  Punkt  allein 
Auskunft  giebt.  Zunächst  gehören  dahin  die  Zehrungskosten 
für  die  von  der  Stadt  ausgeschickten  gewöhnlichen  Boten;  von 
mehreren  derartigen  Posten  sei  nur  der  erste  und  bedeutendste 
genannt,  wonach  für  solche  Sendungen  10  Pfd.  verausgabt  wurden. 
Hiervon  zu  trennen  sind  die  Zahlungen  an  einzelne  mit  gewissen 
Geschäften  betraute  Abgesandte ; sehr  häufig  wurde  der  Schreiber 
dafür  verwandt,  der  unter  andern  1331  für  eine  Reise  zu  Herzog 
Ernst  21/*  Ferd.  erhielt.  Dazu  kommen  die  Summen,  welche  die 
zu  Verhandlungen  in  benachbarten  Städten  abgeordnetcn  Rats- 
herren verbrauchten ; so  erforderten  damals  zu  Helmstedt  gepflogene 
Verhandlungen  die  stattliche  Ausgabe  von  ß M.  5 Lot. 

Weitergehend  wenden  wir  uns  dann  zu  den  in  Braunschweig 
selbst  ira  Interesse  des  diplomatischen  Verkehrs  gemachten  Auf- 
wendungen. Jeder  Überbringer  einer  Botschaft  von  Seiten 
fremder  Herren  oder  Städte,  jeder  Überbringer  eines  Geschenkes 

— nicht  selten  schickte  einer  der  Herzoge  oder  einer  der 

benachbarten  Prälaten  dem  Rate  ein  Stück  Wildpret  — erhielt 
ein  gutes  Trinkgeld;  dasselbe  betrug  meist  1/i  M.,  in  einem 
Falle  sogar  2 M.  Hieran  reihten  sich  die  Kosten  für  Be- 

herbergung und  Bewirtung  auswärtiger  Abgeordneter,  wenn  in 
Braunschweig  Verhandlungstage  abgehalten  wurden.  Zwei  Mal 

— so  scheint  es  wenigstens  — waren  1331  Göttinger  und 
Mindener  Ratsherren  in  der  Stadt  anwesend:  über  5*/*  M. 
wurden  gelegentlich  ihres  ersten , 6 Pfd.  gelegentlich  ihres 
zweiten  Besuches  verausgabt.  Und  mit  diesen  Posten  hängt  der 
Sache  nach  ein  weitrer  eng  zusammen,  demzufolge  in  dem 
genannten  Jahre  an  Gäste  der  Stadt  für  45  M.  Wein  ausge- 
schenkt wurde. 

Ausser  der  Leitung  der  auswärtigen  Politik  lag  dem  gemeinen 
Rate  ferner  die  Sorge  für  das  mit  jener  sich  vielfach  nahe 
berührende  Kriegswesen  der  Stadt  ob;1)  war  dies  doch  gleich- 
falls ein  Gebiet,  wo  Interessen  aller  fünf  Weichbilde  zusammen- 
liefen. Die  in  dieser  Richtung  der  gemeinen  Finanzverwaltung 
erwachsenden  Ausgaben  waren,  wie  das  zu  einer  Zeit,  in  welcher 
der  „tägliche  Krieg“  im  Lande  wütete,  gar  nicht  anders  zu 
erwarten,  verglichen  mit  den  Erfordernissen  für  sonstige  Zwecke 


’)  Über  das  städtische  Kriegswesen  giebt  eroen  gHten  Überblick 
fiänselmann  in  Werkst.  1,  99—116. 

Mack,  Finanxgeschichto  der  Stadt  Braun  schweig.  .j 


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60 


ganz  unverhältnissmässig  gross.  In  erster  Linie  muss  hier  auf 
die  bedeutenden  Summen  hingewiesen  werden , die  für  das 
Institut  der  Pfaudschlösser  an  Zinsen,  an  Baukosten  — letztere 
wurden  freilich  im  allgemeinen  von  den  Besitzern  zurückerstattet, 
beziehungsweise  auf  die  Pfandsumme  geschlagen  *)  — , ferner  zum 
Unterhalt  der  Besatzung  und  endlich  für  die  meist  an  Edelleute 
übertragene  Burghut  aufgewandt  wurden.  Zu  dem  oben  bereits 
angeführten  mag  an  dieser  Stelle  noch  hinzugefugt  werden,  dass 
1331  auf  das  zur  pfandweisen  Erwerbung  der  Asseburg  benötigte 
Kapital  112  M.  Zins  gezahlt  und  für  nicht  näher  bezeichnete 
Zwecke  auf  derselben  Burg  über  97  M.  ausgegeben  werden 
mussten.  *) 

Um  ihre  Bürger  beschützen,  ihre  Pfandschlösser  besetzen, 
ihre  Fehden  auskämpfen  zu  können,  war  die  Stadt  gezwungen, 
sich  Söldner  zu  halten,  denn  die  bürgerliche  Wehrpflicht  reichte 
zur  Erfüllung  aller  dieser  Aufgaben  nicht  aus.  In  wie  um- 
fassendem Massstabe  jenes  Mittel  zur  Anwendung  gelangte,  lässt 
wiederum  die  Rechnung  von  1331  sehr  gut  erkennen.  In  ihr 
sind  zuuächst  300  M.  für  „stipendiarii“  verzeichnet,  wobei  wir 
sicherlich  an  Soldzahlungen  zu  denken  haben.  Sodann  ist  die 
Gesammtsumme  des  Soldes  der  „cursorea“  oder  „Renner“  *)  d.  h.  der 
berittenen  Söldner  der  Stadt  mit  76  M.  eingetragen;  ausserdem 
wurde  ihnen  für  4 M.  Hafer  gegeben,  und  3 M.  1 Ferd.  wandte 
man  für  ihre  Winterkleidung  auf;  von  letztem  beiden  Posten 
möchte  man  kaum  behaupten,  dass  sie  sich  auf  alle  Renner 
bezögen.  Schliesslich  wurde  zu  Ostern  des  genannten  Jahres 
für  über  11  M.  die  Kleidung  der  „famuli“  beschafft,  in  welch’ 
letztem,  falls  sie  überhaupt  von  den  stipendiarii  streng  geschieden 
werden  können,  vielleicht  die  nur  für  Unterhalt  und  Kleidung 
dienenden  streitbaren  Knechte  zu  sehen  sind;  dass  dies  häufiger 
vorkam,  zeigen  eine  Anzahl  von  Oontracten  der  spätem  Zeit. 

Die  für  seine  Streitmacht  erforderlichen  Pferde  stellte  zum 
Teil  der  Rat,  indem  er  solche  entweder  käuflich  erwarb  und 
dann  gegen  Entgelt  — städtische  Marställe  kommen  erst  gegen 


’)  cf.  S.  47.  Der  Schiedsspruch  des  Bischofs  lautete  dahin , dass 
Herzog  Hagnus  nur  die  Kosten  derjenigen  Bauten  an  der  Asseburg  zu 
ersetzen  habe,  zu  deren  Ausführung  die  Stadt  vorher  seine  Einwilligung 
eingeholt  hätte,  cf.  ferner  11,  cap.  8. 

*)  Bruchstück  der  gern.  Rechnung  von  1381. 

*)  Werkst.  I,  S.  110  und  111. 


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51 


Ende  des  Jahrhunderts  vor  — bei  Bürgern  in  Pflege  gab,  oder 
indem  er  sie  sich  von  diesen  mietweise  verschaffte.  Teilweise 
aber  hielten  sich  die  Söldner  auch  ihre  Pferde  selbst,  was 
natürlich  auf  die  Höhe  ihres  Soldes  nicht  ohne  Einfluss  blieb. 
Wurden  im  Dienste  der  Stadt  gerittene  Pferde  beschädigt  oder 
getödtet,  so  musste  der  Rat  einen,  wie  es  scheint,  meist  recht 
hoch  bemessenen  Ersatz  leisten.  Diese  Gliederung  der  mannig- 
faltigen Ausgaben  für  Beschaffung  eines  tüchtigen  Pferdematerials 
ergiebt  sich  erst  aus  den  jüngeren  Rechnungen ; *)  nach  der 
Rechnung  von  1331  könnte  man  sie  wegen  zu  ungenauer 
Bezeichnung  der  betreffenden  Posten  — immer  heisst  es  nur 
pro  equo  — nicht  aufstcllen.  Immerhin  wird  man  vermutungs- 
weise sagen  können,  dass  die  kleinern  Beträge  von  2 Ferd.  bis 
2 M.  für  Unterhalt,  Miete  oder  geringere  Beschädigungen,  die 
grossem  von  4 bis  7 M.  für  Anschaffung  von  neuen  Pferden 
oder  zur  Entschädigung  für  gänzlich  unbrauchbar  gewordene 
und  getödtete  zu  zahlen  waren. 

Aber  nicht  nur  für  Pferdeschaden,  wie  der  technische  Aus- 
druck lautet,  musste  der  Rat  aus  gemeinen  Mitteln  aufkommen, 
sondern  auch  für  alle  sonstigen  Verluste,  welche  diejenigen,  die 
ihm  irgendwelche  Kriegsdienste  leisteten , hierbei  erlitten.  So 
erklärt  es  sich,  wenn  er  einem  seiner  Söldner  1331  4 Schill,  für 
einen  eisernen  Helm  und  einem  andern  10  Schill,  für  Steigbügel 
zahlte.  Und  eng  mit  dieser  Ersatzpflicht  hing  die  weitre  Pflicht 
des  Rates  zusammen,  den  im  Streite  für  die  Stadt  gefangen 
genommenen  wieder  auszulösen.  Ein  sehr  gutes  Beispiel  bietet 
dafür  eine  Urkunde  vom  8.  Mai  1350, 4)  in  der  Hinrik  von 
Evessem  feierlich  erklärt,  dass  er  im  Dienste  des  Hägener  oder 
des  gemeinen  Rates  etwa  gefangen  weder  den  einen  noch  den 
andern  über  30  M.  hinaus  ansprechen  wolle,  mit  welcher  Summe 
sie  ihm  zu  Hilfe  zu  kommen  versprochen  hätten.  Auch  aus 
dem  Grunde  ist  diese  Urkunde  beachtenswert,  weil  sie  durch  die 
Erwähnung  des  Hägener  Rates  erkennen  lässt,  wie  zu  jener 
Zeit  die  Leitung  des  Kriegswesens  nicht  ganz  und  gar  in  den 
Händen  des  gemeinen  Rates  lag,  sondern  auch  die  Competenz 
der  Weichbildsräte  auf  dieses  Gebiet  Übergriff. 

Lies8  sich  nun  die  Stadt  auf  grössere  Actionen  ein,  auf 
eine  Vereinigung  bedeutenderer  Streitmassen,  namentlich  zur 

')  cf.  II,  oap.  7. 

*)  O.-U.  im  B.  St.-A. 

4’ 


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52 


Belagerung  von  Burgen  oder  sonstiger  fester  Plätze  ihrer  ärgsten 
Feinde,  so  gesellten  sich  zu  alle  den  aufgezählten  Ausgaben  noch 
andre  grosse  Erfordernisse.  Das  Heer  musste  reichlich  mit 
Proviant  versehen,  die  Belagerungswerkzeuge  in  Stand  gesetzt 
und  transportirt , der  nötige  Vorrat  an  Schleudergeschossen 
beschafft  werden.  Au  derartiges  werden  wir  zu  denken  haben, 
wenn  es  in  der  Rechnung  von  1331  heisst,  vor  Warmstorf1) 
seien  ö M.  4 Ferd.,  vor  Groningen  *)  12  M.  3 Ferd.  verbraucht. 

Dies  das  wesentliche,  was  wir  aus  der  Zeit  vor  1354  von 
den  Beziehungen  der  Finanzverwaltung  der  Gesammtstadt  zum 
Kriegswesen  hören ; nur  Ausgaben  waren  es,  die  dabei  erwähnt 
werden  konnten,  während  von  dem  gelegentlichen  Gewinn,  den 
der  Stadt  ihre  Kämpfe  brachten,  nämlich  Lösegcld  für  die 
Gefangenen  und  Beute  an  Pferden,  Waffen  und  dergleichen,  aus 
der  Überlieferung  der  ersten  BLälfte  des  Jahrhunderts  nichts  zu 
erfahren  ist. 

Im  Interesse  der  Sicherung  und  Erleichterung  des  Verkehrs, 
allerdings  nicht  allein  hierfür,  geschah  es,  dass  der  gemeine  Rat 
für  eine  starke  Wehrmacht  sorgte  und  im  Interesse  des  Verkehre 
handelte  er  auch,  wenn  er  die  wichtigem  Landstrassen  im  Stadt- 
gebiet in  gutem  Zustande  erhielt.  1331  erforderte  der  Strassen- 
darnin  bei  Klein-Schöppenstedt  einen  Aufwand  von  10  Schill., 
die  lange  Brücke  bei  Vechelde  einen  solchen  von  1 Pfd.  Und 
eine  charakteristische  Aufzeichnung  im  1.  Gedenkbuche  zum 
Jahre  1347 8)  besagt,  dass  Olrik  von  Hedelendorpe  dem  gemeinen 
Rate  4 M.  7 Lot.  übergeben  habe,  die  um  Gott  und  seiner 
Seele  willen  zum  Damm  bei  Vechelde  verwandt  werden  sollten. 

So  haben  wir  denn  gesehen,  wie  bis  zur  Mitte  des  14.  Jahr- 
hunderts die  Wahrnehmung  der  äusseren  Interessen  der  Stadt 
den  gemeinsamen  Haushalt  beeinflusste;  jetzt  soll  der  Zusammen- 
hang des  letztem  mit  der  Vertretung  jener  durch  den  gemeinen 
Rat  nach  innen  zu,  den  Elementen  gegenüber,  die  in  ihrer 
Gesnmmtheit  die  Stadt  selbst  bildeten,  für  die  gleiche  Zeit 
betrachtet  werden.  Zuerst  wenden  wir  uns  da  zu  den  Be- 
ziehungen der  gemeinen  Finanz  Verwaltung  zum  städtischen 


')  „Warmeatorp“.  Vielleicht  ist  Warmadorf  in  der  Grafschaft  Hoya 
darunter  zu  verstehen. 

*)  „Groningen“.  Gemeint  ist  entweder  das  Dorf  Groningen  bei  Aschers- 
leben oder,  was  weniger  wahrscheinlich,  das  Dorf  Groningen  bei  Salzwedel. 
*)  1-  G.  fol.  4 '.  Die  Datirung  1347  ist  nicht  ganz  sicher. 


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53 


Klerus.  Freilich  war  die  Stellung  desselben  eine  sehr  selbst- 
ständige und  abgesonderte,  aber  doch  aicht  in  dem  Grade,  dass 
es  ungerechtfertigt  erscheinen  könnte,  auf  jenen  Punkt  hier 
einzugehen.  Waren  auch  die  Leistungen  des  Klerus  an  das 
Gemeinwesen  in  Folge  der  kanonischen  Forderung,  die  Geist- 
lichkeit und  alles  Kirchengut  solle  von  bürgerlichen  Lasten 
befreit  bleiben,  weit  geringere  als  die  der  Bürger,  so  fehlten  sie 
doch,  da  jene  Forderung  strenger  Durchführung  ermangelte, 
nicht  gänzlich.  Wir  hatten  ja  bereits  oben  Gelegenheit,  einige 
Urkunden  kennen  zu  lernen,  in  denen  sich  geistliche  Stifter  gegen 
Ablösung  gewisser  dem  Gemeinwesen  als  solchem  schuldigen 
Leistungen  zu  andern  Leistungen  an  dieses  verpflichteten.1)  In 
der  Rechnung  von  1331  kommen,  da  sie  ja  nur  eine  Ausgabe- 
rechnung ist,  ausschliesslich  Zahlungen  des  Rates  an  den  Klerus, 
nie  das  umgekehrte  vor.  Bei  einem  Teile  der  betreffenden  Posten 
handelt  es  sich  um  Geschenke:  so  erhalten  die  Minderbrüder 
1 M.  1 L.  zum  Kauf  einer  Tonne  voll  Häring 4)  und  denselben 
wird  bei  ihrem  Hauptfeste,  der  Kirchweih,  1 M.  verabreicht.  In 
der  Aufgabe  der  Armenpflege  gewährt  der  Rat  dem  Klerus  seine 
Unterstützung,  indem  er  „ad  stipam“  — zu  Almosen  — fast  7 M. 
hergiebt.  Denn  dass  diese  Summe  zur  Verteilung  an  die  Armen 
den  Klöstern  in  der  Stadt  ausgezahlt  ward,  wenn  auch  vielleicht 
nicht  in  einem  Male,  sondern  in  kleinern  Beträgen  an  ver- 
schiedenen Festtagen,  wird  man  aus  einer  der  unsrigen  eng 
verwandten  Eintragung  in  der  gemeinen  Rechnung  von  1354") 
schliessen  dürfen.  Ungewiss  ist  es,  wie  der  Posten  erklärt 
werden  muss , wonach  dem  Pfarrer  der  Heiliggeistkapelle 
7 Pfd.  und  für  Lichter  in  derselben  10  Schill,  gezahlt  worden 
sind;  dieselben  beiden  Ausgaben  kehren  in  ebenso  enger  Ver- 
bindung noch  nach  Jahrzehnten  wieder,  vielleicht  handelte  es 
sich  also  dabei  um  ein  Vermächtniss,  dessen  Ausführung  dem 
Rate  übertragen  war.  Im  unklaren  sind  wir  ferner  über  den 
Character  des  Nonnenzinses,  der  in  der  Rechnung  von  1331  mit 
einem  Betrage  von  10  M.  figurirt,  aber  auch  nur  hier  erwähnt 
ist;  nur  so  viel  wird  wohl  sicher  sein,  dass  die  Empfängerinnen 
dieses  Zinses  die  Benedictinerinncn  im  Kloster  auf  dem  Rennel- 
berge  vor  dem  Petrithore  waren.  Der  Vollständigkeit  halber  sei 

<)  cf.  SS.  23,  27  u.  28. 

*)  Diese  Spende  erhielten  sie  offenbar  in  den  Fasten,  wie  aus  der 
Rechnung  von  1354  hervorgeht.  cf.  U,  cap.  7. 

■')  Item  X talenta  claustris  ad  elemosinas.  cf.  II,  cap.  7. 


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54 


hier  noch  auf  einige  Notizen  im  1.  Gedenkbuche  hingewiesen, 
die  indessen  von  keinem  grossen  Belang  sind.  Zu  den  Jahren 
1348,  1349,  1351  sind  verschiedene  von  geistlicher  Seite  dem 
Rate  geschuldete  Ausstände  eingetragen;1)  die  bei  weitem  grösste 
Forderung  des  letztem  beläuft  sich  auf  34  M.  Ausserdem  ist 
zum  Jahre  1353  der  Verkauf  eines  der  Stadt  gehörigen  Hofes 
erwähnt,  den  die  Heiliggeistkapelle  für  30  M.  erworben  hat.*) 
Über  die  finanziellen  Berührungen,  in  welche  vor  1354  der 
gemeine  Rat  mit  den  Bürgern  Braunschweigs  trat,  wird  uns  nur 
spärliche  Auskunft  zu  Teil.  Wir  erfahren  lediglich  von  einigen 
wenigen  Angelegenheiten  ineist  rein  privatrechtlichen  Charakters. 
Für  die  Rentenverkäufe,  die  wir  später  in  der  gemeinsamen  Finanz- 
verwaltung und  im  Weichbildshaushalt  schon  in  dieser  Periode  eine 
so  bedeutende  Rolle  spielen  sehen,  ist  uns  nur  ein  Beispiel  aus  dem 
Jahre  1302  genauer  bekannt.  Damals  kaufte  Johann  von  Alvelde 
beim  Rate  der  Stadt  Braunschweig,  wie  es  heisst,  für  12  M.  eine 
wiederkäufliche  Rente  von  1 M.,  die  zu  einer  täglichen  Messe 
in  der  Martinikirche  verwendet  werden  sollte.  *)  Häufiger  siud 
die  Fälle,  in  denen  cs  sich  um  Verkauf  oder  zinsweisc  Über- 
lassung von  Häusern  oder  sonstigen  Grundstücken  seitens  des 
gemeinen  Rates  handelt.  1348  verkaufte  derselbe  einem  Bürger 
und  seiner  Frau  ein  Haus  auf  beider  Lebenszeit  für  12  M.; 
zugleich  wurde  damit  die  Abmachung  verknüpft,  dass  sie  auf 
dem  Grundstück  einen  Brunnen  graben  lassen  und  gegen  jähr- 
liche Zahlung  von  1 Ferd.  schossfrei  sein  sollten.4)  In  demselben 
Jahre  überliess  der  Rat  einem  andern  Bürger  ein  Haus  gegen 
l’/9  M.  jährlichen  Zins;5)  davon  sollte,  so  ward  bestimmt,  1 M. 
als  Erbenzins  gezahlt  werden,  während  die  übrige  M.  vom 
Inhaber  für  6 M.  in  zwei  Malen  abgelöst  werden  sollte.  Um 
die  gleiche  Zeit  endlich  wurde  seitens  der  gemeinen  Stadt  ein 
Haus  auf  drei  Jahre  für  einen  jährlichen  Pachtzins  von  14  Ferd. 
vermietet.  *)  — Alan  sieht  schon  aus  den  angeführten  Fällen,  wie 


■)  L G.  fol.  4 ■,  ö,  7 '. 

>)  I.  G.  6*. 

*)  A.  D.  I,  fol  2.  Es  ist  dort  von  den  „cousules  civitatis  Brunswic“ 
die  Rede,  so  dass  man  kaum  umhin  kann,  den  gemeinen  Kat  als  Verkäufer 
anzunehmen. 

*)  I.  G.  fol.  6. 
s)  ibidem. 

•)  ibidem. 


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5o 


die  mannigfaltigsten  Combinationen  bei  derartigen  Geschäften 
zur  Anwendung  kamen.  Strenge  Regelmässigkeit  in  der 
Abzahlung  der  dem  Rat  he  geschuldeten  Hauszinse,  worauf  dieser, 
da  es  doch  öffentliche  Gelder  waren,  durchaus  hätte  bestehen 
sollen,  scheint  nicht  geherrscht  zu  haben ; das  kann  man  aus 
einem  sich  über  die  neun  Jahre  von  1342  bis  1350  erstreckenden 
Verzeichniss  von  Hauszinsen  schliessen,  welche  die  Söhne 
Tiderik  Dörings  „des  groten“  — die  Döring  waren  eins  der 
angesehensten  Patrieiergeschlechter  in  der  Altstadt  — dem 
Gemeinwesen  schuldig  geblieben  waren.  Ihre  Gesammtschuld 
belief  sich  am  £nde  dieses  Zeitraumes  auf  nicht  weniger  als 
47  M.  3 Ferd.  1 Lot.1) 

Ein  sonderbares  Licht  auf  die  damaligen  Zustände  der 
Finanzverwaltung  gemeinen  Rates  wirft  auch  das,  was  wir  aus 
der  oben  bereits  erwähnten  Abrechnung  dieses  mit  dem  Münz- 
schmiede Heneken  Wulvramme  ersehen. *)  Letzterer  hatte  im 
Jahre  1343  rund  462  M.  lötigen  Silbers,  offenbar  zur  Aus- 
prägung, überwiesen  erhalten,  und,  obwohl  vier  Ratsherren,  zwei  aus 
der  Altstadt,  einer  aus  dem  Hagen  und  einer  aus  der  Neustadt 
die  Oberaufsicht  über  die  Münze  führten,  war  es  doch  möglich, 
dass  Heneken  am  Ende  des  Jahres  sammt  einer  Summe  von 
45  M.,  die  er  noch  von  1341  her  schuldig  war,  der  Stadt  über 
240  M.  schuldete.  Jene  Abrechnung  lehrt,  auf  welche  Weise 
der  Rat  sich  schadlos  zu  halten  suchte.  Er  übernahm  den  aus 
Wiesen,  Worten,  einer  Hufe  und  einem  Hause  bestehenden, 
freilich  stark  verschuldeten  Grundbesitz  des  Münzschmiedes, 
sowie  eine  Quantität  Korn  und  seine  Ausstände  im  Betrage  von 
ungefähr  40  M. 

Wenn  wir  schliesslich  auch  einen  Blick  auf  die  Beziehungen 
zwischen  dem  gemeinen  Rate  und  den  Weichbildsräten  werfen, 
soweit  dieselben  uns  hier  angehen,  so  war  schon  früher  fest- 
gestellt worden , dass  die  Erträge  der  mit  Weichbildsmitteln 
vollzogenen  Erwerbungen  zeitweise  wenigstens  auf  die  Weich- 
bildskassen verteilt  zu  sein  scheinen.*)  Vielleicht  darf  man  in 
zwei  Posten  des  Bruchstücks  von  1331  Belege  für  eine 
derartige  Verteilung  erblicken,  indem  der  erste  eine  Ausgabe 
von  281/,  M.  an  den  Rat  des  Hägens,  der  zweite  eine 


*)  I.  G.  4*. 
*)  of.  8.  42. 
•)  of.  8.  33. 


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56 


solche  von  19  M.  I1/,  Ferd.  an  den  Rat  der  Neustadt  bezeugt. 
Diese  Vermutung  gewinnt  nocli  dadurch  an  Wahrscheinlichkeit, 
dass  jene  Summen  sich  zu  einander  fast  wie  3 : 2 verhalten, 
ein  Verhältniss,  welches  zwischen  den  Zahlen  der  die  beiden 
Weichbilde  im  gemeinen  Rate  vertretenden  Ratsherren  gleich- 
falls bestand. J)  Auf  denselben  oder  ähnlichen  Zuständen 
mochten  auch  wohl  die  Ansprüche  der  Neustadt  an  die  gemeine 
Finanzverwaltung  beruhen,  die  in  einer  Eintragung  im  Rechts- 
buche genannten  Weichbildes  hervortreten.*)  Hier  erklärte  der 
Rat  des  letztem  um  das  Jahr  1330,  der  Kaufpreis  für  einen 
Badstoben  und  einen  Brotscharren,  die  er  wiedergekauft  habe, 
solle  aus  den  Mitteln  gemeiner  Stadt  entrichtet  werden. 

Es  bleibt  nur  noch  übrig,  betreffs  der  vor  1354  auftretenden 
besoldeten  Beamten  und  Diener  des  gemeinen  Rates  ein  Wort 
hinzuzufügen.  Die  Söldner  und  Boten  wurden  schon  oben 
genannt,  ebenso  auch,  aber  nur  beiläufig,  der  Schreiber,  der  eine 
wichtige  Stellung  bekleidete.  Nach  der  Rechnung  von  1331 

erhielt  er  8 Pfd.  Gehalt,  für  seine  Kleidung  4 Ferd.;  seine 

Thätigkeit  bei  der  Schosserhebung  wurde  ihm  mit  1 M.  vergütet 
und  zur  Anschaffung  von  Pergament  1 Pfd.  ausbezahlt.  Ausser 
ihm  kommt  sodann  noch  der  Henker  vor,  der  '/*  M.  für 
Kleidung  erhielt,  ferner  ein  Meister  Sander,  wohl  ein  Rats- 

handwerker, an  welchen  l1/*  M.  ausgegeben  wurden.  Schliess- 
lich mag  noch  des  Kohlenträgers  gedacht  werden,  ihm  werden 
für  seine  Kleidung  8 Ferd.  gezahlt.  *)  Ausgaben  für  andre 

Beamte  des  gemeinen  Rates  sind  in  unser  Epoche  nicht  fest- 
zustellen. 

Indem  hiermit  die  Übersicht  über  die  Thätigkeit  der  gemein- 
samen Finanzverwaltung  von  ihrem  Entstehen  an  bis  1354  zu 
Ende  geführt  ist,  wird  es  gut  sein,  uns  daran  zu  erinnern,  wie 
viele  Unklarheiten  und  Lücken  das  gewonnene  Bild  aufweist. 


>)  cf.  S.  25. 

*)  R.  d.  N.  fol.  79. 

*)  VIII  fert.  pro  vestibus  Frederici  caulistae.  caulista  ist  ohne  Zweifel 
von  caulis  = Kohl  abgeleitet.  Wenn  wir  trotzdem  hier  Kohlenträger  über- 
setzen, so  werden  wir  dazu  einmal  dadurch  bewogen , dass  das  öffentliche 
Amt  eines  Kohlträgers  nie  erwähnt  wird,  wohl  aber  das  eines  Kohlenträgers 
(Gongier,  Stadtrechtsaltertümer  S.  197),  ferner  aber  dadurch,  dass  der 
Kohlenträger  im  Mittelniederdeutschen  koldreyer  heisst,  sehr  leicht  also 
eine  Verwechslung  beim  Übersetzen  ins  Lateinische  vorfallen  konnte, 
cf.  Schiller-Lübben,  mittelniederdeutsches  Wörterbuch  s.  v.  lcol(t)dreger. 


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57 


Hinsichtlich  der  Ausgaben  zwar  sind  wir  Dank  der  so  oft 
erwähnten  Rechnung  von  1331  nicht  gerade  schlecht  unterrichtet, 
aber,  um  die  Einnahmen  der  gemeinen  Stadt  ihrem  Umfang, 
ihrer  Herkunft  und  der  Art  ihrer  Erhebung  nach  auch  nur 
einigermassen  sicher  kennen  zu  lernen,  dazu  bietet  die  trümmer- 
hafte  Überlieferung  in  keiner  Weise  genug  Material.  Namentlich 
wird  man  über  die  so  hochwichtige  Quelle  des  Schosses,  was 
die  behandelte  Periode  angeht,  fast  völlig  im  Dunkeln  gelassen. 
Als  einen  zweiten  Hauptmangel  möchte  ich  den  bezeichnen, 
dass  es  uns  unmöglich  ist,  die  Abhängigkeit  des  gemeinen  Rates 
von  den  Weichbildsräten  rücksichtlich  seiner  Einnahmen  scharf 
zu  begrenzen. 

4.  Die  Weichbildsflnanzrerwaltungen  von  1269  bis  1354. 

Da,  wie  bereits  bemerkt  wurde,  nach  der  Einigung  von 
1269  die  Einzelfiuanzverwaltungen  der  Weichbilde  nicht  nur 
weiter  bestanden,  sondern  sogar  sich  so  kräftig  und  lebensfähig 
erwiesen,  dass  die  Bestimmungen  jener  zu  ihren  Gunsten  Ein- 
schränkungen erlitten,  ist  für  die  richtige  Erkenntniss  der 
Braunschweiger  Finanzverhältniase  seit  1269  ein  näheres  Ein- 
gehen auf  diese  Weichbilds  Verwaltungen  doppelt  nötig.  Auch 
hierbei  kommt  dem  Jahre  1354  trennende  Bedeutung  zu,  liegt 
doch  aus  ihm  die  erste  wirkliche  Weichbildsrechnung  vor.  Für 
die  voraufgehende  Zeit  sind  wir  fast  ganz  auf  die  früher 
genannten  Weichbildsbücher1)  angewiesen,  aus  denen  wir  eine 
stattliche  Sammlung  hierher  gehöriger  Verträge  und  einiger 
sonstiger  Aufzeichnungen  zusammenbringen  können.  Davon 
entfällt  der  grösste  Teil  auf  die  Altstadt;  an  diese  reihen  sich 
Neustadt  und  Hagen,  jene  durch  die  Erhaltung  des  besprochenen 
Zinsbuches  ausgezeichnet;  sehr  wenige  Nachrichten  berühren  die 
Finanzverwaltungen  des  Sackes  und  der  Altenwik,  und  von  dem 
wenigen  — im  ganzen  sind  es  sechs  bis  sieben  Angaben  — 
gehört  das  meiste  den  spätem  Jahrzehnten  der  Periode  an.  Bei 
der  Einteilung  des  Stoffes  wird  es  am  zweckmässigsten  sein,  sich 
in  erster  Linie  von  den  sachlichen  Kategorieen,  welche  sich  in 
nicht  gerade  grosser  Zahl  aus  den  Weichbildsbüchern  ergeben, 
leiten  zu  lassen,  sodann  innerhalb  der  einzelnen  Kategorieen 
nach  den  Weichbilden  zu  scheiden. 


>)  cf.  S.  10. 


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58 


Besonders  vieles  und  wichtiges  enthalten  unsere  Quellen  über 
die  Verwaltung  des  Weichbildsgrundbesitzes,  aus  der  den  Einzel- 
räten verschiedene  Aufgaben  erwuchsen.  Für  die  Gebahrung 
freilich,  die  in  weiter  zurückliegenden  Zeiten  von  den  Räten  der 
Altstadt,  des  Hagen  und  der  Neustadt,  wo  wir  von  vornherein 
eine  freie  Ahnende  annehmen  dürfen,  vielfach  geübt  sein  muss, 
für  die  Ausgabe  von  Bauplätzen  aus  dem  Weichbildsgut  gegen 
Wortzins,  können  wir  aus  dieser  Periode  kein  einziges  Beispiel 
anführen.  Häufig  dagegen  wurden  in  entsprechender  Weise 
schon  bebaute  Grundstücke  verliehen;  der  in  solchen  Fällen 
dem  neuen  Inhaber  auferlegte  Zins  wurde  mit  der  allgemeinen 
Bezeichnung  Erbenzins  — denn  auch  der  Wortzins  war  ein 
Erbenzins  — benannt.  Zum  ersten  Male  ist  eine  derartige 
Vergabung  um  1299  mit  Sicherheit  uachzuweisen ; es  war  der 
Neustädter  Rat,  welcher  damals  dem  Bürger  Ekgeling  Martening 
ein  kleines  Haus  gegen  einen  Erbenzins  von  10  Schill,  überliess. ') 
30  Schill.  Erbenzins  bedang  sich  der  Rat  des  Hagen  im  Jahre 
1304  gleichfalls  bei  Überlassung  eines  Hauses  aus,  doch  verkaufte 
er  den  erworbenen  Zins  sofort  an  einen  Bürger  von  Lübeck 
weiter. s)  Für  Hagen  und  Neustadt  Hessen  sich  namentlich  mit 
Berücksichtigung  des  Neustädter  Zinsregisters  bis  1354  noch 
mehrere  ganz  entsprechende  Geschäfte  beibringen  und  reconstruiren, 
mit  Durchschnittsbeträgen  von  10  bis  12  Schill.  Zins  für  ein  Haus-, 
nur  die  Juden  zahlten  durchschnittlich  1 M.  Hinsichtlich  des 
Rates  der  Altstadt  können  wir  nur  eine  Angelegenheit  hier 
erwähnen,  welche  zeigt,  dass  die  Weichbilde  wohl  auch  auf 
andere  Weise  in  den  Besitz  von  Hauserbenzinsen  kamen. 
Gemäss  einer  Abmachung  vom  11.  November  1310*)  sollte  das 
Haus  eines  Bürgers,  wenn  derselbe  nicht  innerhalb  einer 
bestimmten  Frist  dein  Altstädter  Rate  5 M.  entrichte,  diesem  zu 
1 M.  ewigen  Zinses  verpflichtet  bleiben,  andernfalls  nur  zu 
17  Schill. 

Als  Erbenzinse  kennzeichnen  sich  ferner  die  Erträge,  welche 
den  Weichbilden  die  von  ihnen  auf  ihrem  Grund  und  Boden 
erbauten  Verkaufs -Hallen,  Scharren  und  Buden  einbrachten. 
Aus  einem  im  Jahre  1341  vom  Säcker  Rate  mit  den  Knochen- 
hauermeistern im  Sacke  geschlossenen  Vertrage4)  ersehen  wir, 

Tcf-  A.  D.  I,  fol.  20. 

»)  H.  D.  I,  11. 

*)  A.  D.  I,  37  >. 

*)  8.  JD.  I,  20. 


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59 


«läse  dieses  Weichbild  damals  bereits  Fleischscharren  und 
Kaldaunenbänke  besass  und  gegen  £rbenzins  nusthut  — der  erste 
Hinweis  auf  freien  Grundbesitz  des  genannten  Gemeinwesens. 
1347  traf  auch  der  Hagener  Bat  mit  seinen  Knochenhauern  eine 
Abkunft,  durch  welche  er  ihnen  41  Fleischscharren  gegen  einen 
Erbenzins  von  je  8 Schill,  überliess.  *)  Hierher  gehört  ferner 
eine  interessante  Eintragung  im  Hagener  Degedingbuche  zum 
Jahre  1342. s)  Damals  empfing  vom  Bäte  des  Hagen  ein 
Gewandscheerer  eine  der  Weichbildsscheerbuden  gegen  Erbenzins, 
wobei  ihm  jener  versprach,  er  werde  nur  noch  zwei  Gewand- 
schecrer  im  Weich  bilde  und  zwar  ebenfalls  auf  seinen  Zins,  wie 
es  heisst,  wohnen  lassen.  — Was  über  die  Verkaufsstätten  der 
Altstadt  in  dieser  Periode  verlautet,  zeigt  uns  den  Weichbilds- 
rat keineswegs  in  uneingeschränktem  Besitze  der  Einkünfte  aus 
ihnen.  So  muss  er  sich,  um  nur  ein  Beispiel  anzuiuhren,  1304 
einen  Zins  von  4’/j  Schill,  aus  den  Altstädter  Fleischscharren 
erst  für  2 */,  M.  von  dem  Vicar  des  St.  Blasienstiftes  Ludolf 
Witte  erwerben ; *)  freilich  ist  hierbei  die  Möglichkeit  nicht  aus- 
geschlossen, dass  dieser  Zins  ursprünglich  doch  dem  Weichbilde 
zustand.  — Um  nun  zur  Neustadt  überzugehen,  so  zählt  jenes 
schon  wiederholt  erwähnte  Zinsbuch  Einkünfte  von  verschiedenen 
Verkaufestätten  auf.  Jede  Bude  im  Gewandhause  dieses  Weich- 
bildes brachte  danach  2 Schill.,  jeder  Fleischscharren  8 Schill., 
jeder  kleine  Scharren  in  der  Judenstrasse  6 Schill,  und  jeder 
Brotscharren  8 Schill,  jährlichen  Erbenzins.  Dies  ist  wohl  die 
vollständigste  Notiz,  die  hier  herangezogen  werden  kann. 

Ausser  den  Erbenzinsen  von  Häusern  und  Kauflokalen 
lernen  wir  durch  das  Zinsbuch  noch  zwei  andre  Arten  von 
Grunderbenzinsen  kennen.  Die  eine  derselben  ist  der  Grabenzins, 
welcher  uns  nur  in  der  Neustadt  begegnet  und  meist  in  Posten 
von  6 Pfenn.  auftritt;4)  bezahlt  wurde  er  von  den  Inhabern  der 

■ThT  D.  I,  46  ■. 

»)  H.  D.  I,  27  >. 

*)  O.-U.  im  Br.  St.-A. 

4)  Dürre  8.  641  sagt:  „an  der  Erhaltung  der  Gräben  mitzuarbeiten 
war  jeder  Einwohner  der  Stadt  verpflichtet,  einzelne  Strassen  . . . zahlten, 
vermutlich  um  jene  Verpflichtung  abzulösen,  jährlich  einen  bestimmten 
Grabenzins.“  Dabei  ist  indessen  zu  bemerken,  dass  erstens  nur  solche 
Hausinhaber  Grabenzins  zahlten,  deren  Grundstücke  an  den  Hauergraben 
stiessen,  zweitens  nicht  alle  in  dieser  Lage  sich  befindenden  Hausinhaber, 
sondern  nur  die  in  der  Neustadt.  Deshalb  ist  es  sehr  fraglich,  ob  Dürres 
Erklärung  richtig  ist. 


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60 


am  Graben  bei  der  Mauer  liegenden  Häuser;  wag  für  Verhältnisse 
sonst  hierbei  in  Betracht  kamen,  ist  leider  kaum  sicher  fest- 
zustcllen.  Der  andre  bisher  noch  nicht  berührte  Erbenzins  ist 
der  Gartenzins,  von  ausgethanem  Weichbildsgartenland  her- 
stammend.  Diese  Einnahme  kann  man  übrigens  nicht  nur  in 
der  Neustadt,  sondern  auch  in  andern  Weichbilden  nachwcisen, 
wenngleich  zum  Teil  erst  nach  1354.  Gartenzins  der  Altstadt 
wird  bereits  zum  Jahre  1345  genannt. ') 

Aus  jenem  Zinsregister  ersehen  wir  aber  schliesslich,  dass 
ein  Weichbild,  wie  es  Erbenzinse  einnahm,  so  auch  unter  Um- 
ständen solche  zu  entrichten  hatte:  es  sind  dort  namentlich  zwei 
Posten  verzeichnet,  welche  die  Neustadt  alljährlich  von  gewissen 
Grundstücken  zahlen  musste:  einen  von  4 Schill,  an  das  Blasien- 
stift, einen  von  10  Schill,  an  das  Rennelbergkloster.  Auf  zwie- 
fachem Wege  können  diese  Verpflichtungen  des  Weichbildes 
entstanden  sein:  entweder  hatte  es  jene  Grundstücke  von  den 
Stiftern  unmittelbar  zu  Erbenzins  empfangen,  oder  es  hatte  sie 
von  Leuten  erworben,  die  bereits  ihrerseits  den  Stiftern  dafür 
zinspflichtig  gewesen  waren  und  nun  nicht  nur  die  Grundstücke, 
sondern  auch  die  darauf  ruhenden  Lasten  dem  Käufer  übertrugen. 
Doch  streifen  wir  hiermit  schon  eine  neue  Seite  der  Thätigkeit 
der  Weichbildsräte,  auf  welche  wir  jetzt  unser  Augenmerk 
lenken  wollen. 

Den  Einzelräten  als  Verwaltern  des  Weichbildsgrundbesitzes 
lag  nämlich  neben  der  Regelung  aller  dieser  Zinsverhältnisse  der 
An-  und  Verkauf  von  Grundstücken  im  Interesse  ihrer  Weich- 
bilde ob.  Um  zunächst  vom  Erwerb  neuen  Grundbesitzes  zu 
sprechen,  so  geht  hierin  der  Altstädter  Rat  allen  voran.  1262 
erwirbt  er  vom  Aegidienkloster  einen  an  der  Oker  belegenen 
Platz,’)  1310  von  demselben  den  Bruch,  ein  ziemlich  aus- 
gedehntes Sumpfgebiet  am  Südende  der  Stadt.”)  Auch  noch 
auf  anderm  Wege  als  durch  Kauf  weise  er  seinen  Grundbesitz 
zu  erweitern.  So  muss  ihm  1326  einer  seiner  Bürger  eine  Wort 
zu  Lehndorf  als  Busse  dafür  überlassen,  dass  er  mehrere  Gärten 
an  das  Blasienstift  verkauft  und  dadurch  dem  Wcichbildsrecht 
entzogen  hat.4)  Ausser  dem  angeführten  ist  hier  nur  noch  jener 


■)  A.  D.  II,  35  >. 

»)  O.-U.  im  Br.  St.-A. 
*)  O.-U.  im  Br.  8t.-A. 
*)  O.-U.  im  Br.  St.-A. 


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61 


bereits  erwähnte  Kauf  eines  Badstobens  und  eines  Brotscharrens 
durch  den  Bat  der  Neustadt  heranzuziehen,  welcher  um  1330 
stattfand.1)  Sonstige  von  den  Binzeiräten  vollzogene  Erwerbungen 
an  Grund  und  Boden  gehen  uns  hier  nicht  an,  weil  sie  zu 
Gunsten  verschiedner  Stifter  innerhalb  der  Stadt  geschahen,  bei 
deren  Vermögensverwaltung  jene  mitwirkten. 

Wenn  wir  uns  sodann  dem  Verkauf  von  Grundbesitz  durch 
die  Weichbilde  mit  wenigen  Worten  zuwenden,  so  muss  vor 
allem  betont  werden,  dass  dabei  in  unserer  Periode  ein  Verkauf 
für  immer  überhaupt  nicht  vorkommt,  sondern  nur  solche  auf 
Lebenszeit  der  Käufer.  Im  Jahre  1312  verkauft  der  Rat  der 
Altstadt  dem  Bürger  Santberg  für  20  M.  auf  seine  Lebenszeit 
ein  Haus*)  und  1345  Herrn  Ludolf  von  dem  Spetale  unter  der- 
selben Bedingung  ein  Vorwerk  für  24  M.*)  Derartige  Verkäufe 
des  Altstädter  Rates  wären  noch  mehrere  anzuführen;  dass  auch 
die  andern  Weichbilde  in  dieser  Zeit  jene  Gebahrung  geübt 
hätten,  dafür  fehlt  in  der  Überlieferung  jeder  Beleg. 

Von  den  unablöslichen  Hauszinsen,  deren  früher  gedacht 
wurde,  müssen  ganz  streng  die  ablöslichen  Hauszinse  geschieden 
werden;  in  der  Weichbildsfinanzverwaltung  spielten  sie  eine 
mindestens  eben  so  bedeutende  Rolle  wie  jene.  Am  besten  wird 
man  sie  durch  die  moderne  Bezeichnung  Hypothekzinsen 
charakterisiren,  da  sie  für  Capitalien  gezahlt  wurden,  welche  die 
Räte  aus  den  baaren  Mitteln  der  Weichbilde  an  einzelne  Bürger 
auf  die  Häuser  derselben  ausliehen.  Es  handelte  sich  also 
hierbei  um  eine  sichere  Anlage  überschüssiger  öffentlicher 
Gelder.  Wiederum  begegnet  uns  nicht  in  allen  VVeichbilden 
Braunschweigs  diese  Finanzoperation  vor  1354,  sondern  nur  in 
Altstadt,  Neustadt  und  Sack.  Die  ältesten,  sicher  bekannten 
Fälle  berühren  die  Altstadt,  deren  Rat  im  Jahre  1310  drei 
Hypotheken  im  Betrage  von  15,  30  und  45  M.  gegen  einen  Zins 
von  6*/g°/0  auslieh. 4)  Den  genannten  Zinsfuss  scheint  der  Alt- 
städter Rat  gewöhnlich  gefordert  zu  haben,  obwohl  zuweilen 
auch  höhere  oder  niedere  Procentsätze  vorkamen.  So  brachte 
nach  einer  Eintragung  von  1311  ein  Capital  von  86  M.  7°/0l), 


')  cf.  S.  56. 

»)  A.  D.  I,  42». 

»)  A.  D.  I,  170. 

♦)  A.  D.  I,  34»,  35». 
“)  A.  D.  I,  41. 


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62 


während  bei  Ausleihung  einer  Hypothek  von  15  M.  im  Jahre 
1334  nur  5°/0  ausgemacht  wurden  *)  und  zwar  wohl  deshalb, 
weil,  wie  uns  ausdrücklich  mitgeteilt  wird,  es  der  erste  auf  dem 
betreffenden  Hause  lastende  Zins  war. 

Einen  besonders  guten  Einblick  können  wir  uns  in  die  den 
Hypotheken- Erwerb  und  Besitz  der  Neustadt  betreffenden  Ver- 
hältnisse verschaffen.  In  dem  reichhaltigen  Zinsbuche  jener  finden 
sich  unter  den  Einnahmen  mehr  als  dreissig  Posten  ablöslicher 
Hauszinse,  und  bei  jedem  derselben  ist  die  Höhe  des  Capitals 
mit  verzeichnet,  so  dass  wir  also  wieder  die  Proeentsätze 
berechnen  können.  Diese  schwanken  zwischen  6'/«  und  91/,, °jn, 
wobei  aber  wenig  oder  gar  nicht  die  Grösse  des  Capitals  von 
Einfluss  gewesen  zu  sein  scheint.  Freilich  wurde  für  das 
bedeutendste  Kapital  von  271/s  M.  der  höchste  Zins  von  9 7n®/o 
gezahlt,  dagegen  brachte  das  doch  wenig  geringere  von  24  M. 
nur  6V4U/o!  während  in  einem  andern  Falle  8 M.  7 l/«#/o  trugen. 
Am  häufigsten  treten  unter  den  vom  Neustädter  Rate  für 
Hypothekendarlehne  geforderten  Zinssätzen  67*.  6*/*,  7>/7%  auf. 
unter  welchen  wiederum  der  erstgenannte  den  ersten  Platz 
einnimmt. 

Aus  dem  dritten  der  oben  genannten  Weichbilde,  dem  Sack, 
sind  uns  aus  dieser  Periode  zwei  Hypothekengewährungen  seitens 
des  Rates  überliefert.  1346  erwarb  letzterer  für  3*/s  M.  einen 
ablösiichen  Hauszins  von  1 Ferd.*),  welcher  Betrag  einem  Pro- 
centsatz von  71/,  9/0  gleichkommt.  Im  folgenden  Jahre  bedang 
sich  derselbe  für  eine  Hypothek  von  6 M.  7«  M.  Zins , also 
87,*/„  aus.®)  Weshalb  der  Rat  in  diesem  Falle  eine  so  be- 
deutende Forderung  stellte  und  offenbar  auch  bewilligt  erhielt, 
erklärt  sich  daraus,  dass  von  dem  belasteten  Hause  ausser  jenem 
Hypothekzinse  des  Rates  ein  bevorrechtigter  Wortzins  gezahlt 
werden  musste. 

Andre  als  hypothekarische  Darlehen  scheinen  die  Weichbilde 
nur  selten  gewährt  zu  haben,  denn  wir  können  aus  unsrer  Periode 
nur  einen  sichern  Beleg  dafür  nachweisen:  am  14.  Februar  1344 
nahmen  beim  Altstädter  Rate  zwei  Brüder  Döring  eine  Anleihe 
von  15  M.  auf,4)  die  sie  mit  6*/s%  zu  verzinsen  sich  verpflichteten. 


«)  A.  D.  I,  96. 

•)  S.  D.  I,  25  *. 

*)  S.  D.  1,  26 «. 
•)  A.  D.  I,  158  ’. 


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63 


Davon,  dass  diese  Summe  auf  ein  Haus  eingetragen  sei,  ist  nichts 
gesagt,  jedoch  wurde  die  hypothekarische  Sicherheit  durch  eine 
andere  ersetzt,  indem  die  genannten  Brüder  Bürgen  stellten; 
ohne  Bürgenstellung  würden  sie  gewiss  das  Darlehn  entweder 
überhaupt  nicht  oder  wenigstens  nicht  zu  so-  geringem  Zinsfuss 
erhalten  haben. 

Aber  die  Weichbilde  liehen  nicht  nur  aus,  sondern  sie  kamen 
auch  häufig  in  die  Lage,  selber  Anleihen  machen  zu  müssen. 
Dies  bewerkstelligten  sie  auf  zwei  verschiedene  Weisen,  entweder 
verkauften  sie  wiederkäufliche  Renten  oder  Leibgedinge  d.  h. 
Leibrenten.  Was  zunächst  jene  anbetrifft,  so  entsprachen  sie  am 
meisten  den  eben  behandelten  ablöslichen  Hauszinsen,  nur  fehlte 
ihnen  in  der  Regel  der  hypothekarische  Charakter.  Damit  hängt 
es  vielleicht  zusammen , das  die  Weichbilde  für  ihre  rückkäuf- 
lichen Anleihen  im  Durchschnitt  höhere  Zinsen  zahlen  mussten, 
als  sie  für  ihre  rückkäuflichen  Darlehen  erhielten.  So  ging  die 
Altstadt  in  den  uns  bekannten  Fällen,  w’o  sie  Capitalien  von  36 
bis  120  M.  aufnahm,  gewöhnlich  auf  einen  Zinsfuss  von  8*/s°/0 
ein.  Der  niedrigste  der  vorkommenden  Procentsätze  ist  6*/u°/o 
bei  77  M.  Capital;1)  den  höchsten,  10°/0,  bewilligte  der  Alt- 
städter Rat  1322  für  eine  Anleihe  von  120  M.a)  In  demselben 
Jahre  nahm  diese  Körperschaft  noch  36  M.  gegen  einen  Zins 
von  8Vs7o  UD(1  60  H.  gegen  einen  solchen  von  7’/6°/o  auf.*) 
Auch  hier  also  machen  wir  die  Beobachtung,  dass  die  Grösse 
der  geliehenen  Summen  keineswegs  immer  im  Einklang  mit  der 
Höhe  des  Zinses  stand. 

Wie  der  Altstädter  Rat,  so  bewilligte  auch  der  Neustädter 
bei  Anleihen,  für  die  er  keine  besondere  Sicherheit  gewährte, 
gewöhnlich  8l/g%  Zinsen;  unter  den  vor  1354  vorkommenden 
Fällen  dieser  Art,  ungefähr  10  an  der  Zahl,  findet  sich  nur  zwei 
Mal  ein  andrer  Procentsatz,  nämlich  ein  Mal  7*/,°/0 4)  und  ein 
Mal  7*/4°/o-s)  Auffallender  Weise  wurde  letzterer  für  ein  Capital 
von  64  M.  gezahlt,  während  zu  gleicher  Zeit  verschiedentlich 
12  M.  zu  8 7s#/o  aufgenommen  wurden.*)  Geringere  Zinse  er- 
hielten die  Darleiher  zugestanden , welche  auf  Hauszinse  des 

')  A.  D.  I,  2'.  1804. 

*)  A.  D.  I,  78 '. 

*)  A.  D.  I,  74. 

4)  R.  d.  N.  fol.  81 : Verzeichnis«  von  Zinsverkäufen  in  den  Jahren 
1338  u.  1339. 

*)  ibidem. 

°)  ibidem. 


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64 


Rates  angewiesen  wurden  und  diese  unmittelbar  von  den  Haus- 
inhabern  erhoben.  Das  Zinsbuch  der  Neustadt  lehrt  uns,  dass 
der  Rat  des  Weichbildes  ein  Capital  von  32  M.  mit  2 M.  Haus- 
zins, also  mit  ß'/iVo’  und  15  M.  mit  1 M.  Hauszins,  also  mit 
verzinste.  Ohne  Frage  beruhten  diese  geringem  Procent- 
sätze darauf,  dass  die  Gläubiger  schlimmsten  Falls  an  den 
betreffenden  Häusern  sich  hätten  schadlos  halten  können. 

In  dem  unter  den  Quellen  besprochenen  Register  rückkäuf- 
licher Weichbildsanleihen  aus  dem  Anfang  des  14.  Jahrhunderts ') 
ist  ausser  der  Altstadt  und  Neustadt  auch  der  Hagen  vertreten 
und  zwar  mit  Zinsposten  von  1 bis  3 M.  Da  als  Rückkaufs- 
preis  für  jede  Mark  Zins  der  Betrag  von  12  M.  angegeben  ist, 
so  ist  es  uns  möglich  auch  für  alle  diese  Anleihen  des  Hagen 
den  Zinsfuss  von  8'/8%  festzustellen. 

In  scharfem  Gegensatz  zu  der  eben  behandelten  Art  der 
öffentlichen  Anleihen,  dem  Weddeschatz,  steht  die  zweite  Klasse 
derselben,  die  Leibgedinge,  deren  Wesen  vollständig  mit  dem 
der  modernen  Leibrenten  übereinstimmt.  Die  Käufer  der  Leib- 
gedinge, naturgemäss  meist  Braunschweiger  Bürger  oder  Insassen 
der  Klöster  in  und  bei  der  Stadt,  hatten  den  Vorteil  von  einer 
solchen  Anlage  ihres  Geldes,  dass  sie  sehr  hohe  Zinsen  bekamen, 
die  Räte  als  Verkäufer  standen  sich  insofern  gut  dabei,  als  sie 
die  geliehenen  Capitalien  nur  im  Wege  der  mit  dem  Tode  der 
Leibrentenberechtigten  aulhörenden  Verzinsung  zurückznhlten. 
Aus  der  ersten  Hälfte  des  14.  Jahrhunderts  liegt  über  die  Leib- 
gedingsverkäufe  der  Weichbilde  wenig  Material  vor,  und  dieses 
wenige  ist  recht  dürftig,  indem  die  wichtigsten  Bedingungen, 
unter  denen  jene  vollzogen  wurden , oft  nicht  angegeben  sind. 
Am  frühesten  tritt  für  uns  diese  Art  der  Anleihe  in  der  Altstadt 
auf,  welche  1304  eine  an  zwei  Wandschneiderbuden  haftende 
Kornhebung  einer  Bürgersfrau  auf  Lebenszeit  verkaufte.*)  Der 
älteste  genauer  bekannte  Leibrentenvertrag  fällt  aber  erst  ins 
Jahr  1306.  Damals  kaufte  der  Bürger  Johann  von  Alveld  vom 
Altstädter  Rate  für  110  M.  eine  Rente  von  10  M.  auf  sein  Lehen 
und  das  seines  Sohnes,  für  den,  falls  er  in  einen  Orden  einträte, 
seine  beiden  Geschwister  in  den  Genuss  des  Leibgedinges 
gelangen  sollten.*)  Gewährte  in  diesem  Falle  der  Rat  einen 

')  cf.  SS.  10  u.  11. 

*)  A.  D.  I,  2 «. 

*)  A.  D.  1,  2. 


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65 


Zinsfuss  von  9l/n%i  80  kommt  ein  geringerer  — nämlich  8 */,*/„  — 
in  einem  Vertrage  des  nächsten  Jahres  vor:1)  für  12  M.  erwarb 
der  Bürger  Drusebant  eine  Leibrente  von  1 M.,  deren  eine  Hälfte 
er  seinem  Sohne  aussetzte;  möglicherweise  ging  auf  diesen  nach 
dem  Tode  des  Vaters  auch  die  andre  Hälfte  über  — man  könnte 
das  aus  dem  niedrigen  Zinse  schliessen  — , doch  findet  sich  keine 
ausdrückliche  Bestimmung  solchen  Inhalts. 

Im  Zinsbuche  der  Neustadt  sind  unter  den  Ausgaben  auch 
einige  Leibrenten  in  Beträgen  von  1 */*  bis  3 M.  aufgeführt,  aber 
ohne  dass  die  Kaufsummen  angegeben  wären,  und  die  wir  nur 
erwähnen,  weil  es  die  ältesten  Beispiele  für  jenes  Weichbild  sind. 
Mehr  interessirt  es  uns,  wenn  der  Neustädter  Rat  1346  einem 
Bürger  für  50  M.  eine  lOprozentige  Leibrente  verkauft,  die  nach 
dem  Tode  des  Inhabers  zur  Hälfte  an  seinen  Sohn  weitergezahlt 
werden  soll;*)  später  wurde  dann  das  Capital  auf  70  M.  und 
demgemäss  die  Rente  von  5 auf  7 M.  erhöht.  Schliesslich  sei 
noch  auf  einen  Vertrag  von  1348  hingewiesen,  in  dem  sich  der- 
selbe Rat  verpflichtete,  für  empfangene  171/*  M.  1 */e  M.  Leibrente, 
also  84/7°/0,  zu  zahlen.8) 

Was  die  übrigen  Weichbilde  angeht,  so  werden  auch  sie 
wohl  schon  vor  1354  zu  dem  Mittel  der  Leibgedingsverkäufe 
gegriffen  haben.  Sicher  ist  dies  vom  Hagen  und  Sack,  wenn- 
gleich nur  durch  kümmerliche  Spuren.  Vom  Säcker  Rat  kaufte 
1337  eine  Klosterfrau  zu  Steterburg  eine  Leibrente  von  ’/,  M.,4) 
1353  vom  Hägener  Rat  ein  Ehepaar  eine  solche  von  2 M.;  in 
letzterem  Falle  ist  auch  der  Kaufpreis  bekannt,  er  betrug  20  M.&) 
Auf  den  ersten  Blick  könnte  manchem  der  hier  bewilligte  Zins, 
10°/„  sehr  hoch  erscheinen,  weil  es  doch  eine  Rente  auf  zwei 
Leben  war;  indessen  wird  dagegen  bemerkt  werden  dürfen,  dass 
es  sich  ja  um  Mann  und  Frau  handelte,  die  wohl  ziemlich  gleich- 
altrig waren. 

Insofern  die  Einzelräte  aus  Weichbildsmitteln  Darlehen 
gewährten  und  für  die  Weichbilde  Anleihen  aufnahmen,  kann 
ihnen  durchaus  nicht  der  Vorwurf  gemacht  werden,  sie  hätten 
die  ihnen  1269  gelassenen  Befugnisse  überschritten.  Auch  die 


«)  A.  D.  I,  3. 

*)  R.  d.  N.  81  *. 

*)  R.  d.  N.  80. 

*)  S.  D.  I,  12  •. 

“)  H.  D.  I,  67  '. 

Mick,  Finanxgeachiohtc  der  Stadt  Rratmechweig.  5 


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66 


Verwaltung  des  Weichbildsgrundbesitzes  konnten  sie  ohne  Ver- 
letzung der  damaligen  Abmachungen  beanspruchen,  falls  sie  nur 
die  Erträge  derselben  in  die  gemeine  Kasse  abführten , was 
freilich,  wie  wir  sahen,  in  erheblichem  Umfange  nicht  geschah. 
Anders  aber  wird  man  von  einigen  Verfügungen  der  Weich- 
bildsräte denken  müssen,  welche  die  wichtigste  der  dem  gemeinen 
Rate  1269  zugewiesenen  Einnahmen  berührten,  ich  meine  Schoss- 
Befreiungen  und  Ablösungen.  So  bestimmte  1310  der  Hagener 
Rat , dass  eine  Baderin  für  käufliche  Überlassung  ihres  Bad- 
stobens  an  eine  andre  Person  lebenslang  schoss-  und  wachtfrei 
sein  sollte.*)  Gleiche  Machtvollkommenheit  masstc  sich  der  Rat 
der  Altstadt  an , als  er  1334  eine  Bürgerin  gegen  Zahlung  von 
4 M.  aller  Schoss-  und  Stadtpflicht  entband.*)  Und  hinter  den 
genannten  blieb  der  Rat  des  Sackes  nicht  zurück:  1350  gewährte 
er  einem  Weichbildsangehörigen  die  Gnade , er  solle  von  den 
Schossabgaben  nur  noch  den  Vorschoss  zu  entrichten  brauchen.*) 
Da  in  keinem  dieser  Fälle  von  einer  Zustimmung  des  gemeinen 
Rates  auch  nur  die  geringste  Spur  zu  entdecken  ist,  obwohl  es 
sich  bei  jedem  derselben  um  eine  Verringerung  der  ihm  1269 
zugesprochenen  Einnahmen  handelte,  so  muss  es  schon  hiernach 

— beweiskräftigeres  wird  weiter  unten  noch  angeführt  werden  *) 

— mindestens  sehr  zweifelhaft  erscheinen,  ob  jener  nicht  auch 
in  der  Verfügung  über  die  Schossaufkünfte  gewisse  Ein- 
schränkungen seitens  der  Weichbildsräte  erlitt;  freilich  nicht 
von  vornherein , wenigstens  nicht  seitens  aller , denn  dagegen 
sprechen  die  oben  ausführlich  behandelten  Ablösungsverträge 
von  1295. 

Nur  ein  höchst  ungenügendes  Bild  giebt  uns  das  vorhandene 
Material  über  die  Ausgaben  der  Weichbilde,  wenn  wir  von  Rück- 
schlüssen, wie  sie  uns  namentlich  die  Altstädter  Rechnungen  von 
1354  und  1355  gestatten,  absehen.  Aufwendungen  für  Kauf  von 
Grundbesitz  und  ablöslichen  Hauszinsen,  Auszahlung  der  wieder- 
käuflichen und  Leib-Renten,  sowie  weniger  Grunderbenzinse,  dazu 
einige  Zahlungen  an  Kleriker,  die  das  Nesutädter  Zinsregister 
aufzählt,  und  die  teils  auf  Vermächtnissen,  teils,  wie  es  scheint, 
auf  altem  Herkommen  beruhten  — diese  uns  hauptsächlich  vor- 


>)  H.  1).  I,  3. 
*)  A.  D.  I,  97. 
*)  S.  D.  I,  33. 
*)  cf.  S.  79. 


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kommenden  Ausgaben  machen  doch  einen  nicht  gerade  grossen 
Bruchteil  der  Summen  aus,  welche  die  mannigfaltigen  Beziehungen 
und  Bedürfnisse  der  Weichbilde  erforderten.  Uber  jenen  engen 
Kreis  hören  wir  genug,  aber  nur  selten  erfahren  wir  etwas  über 
direkte  Verwendungen  für  gemeinnützige  Zwecke.  Ganz  gelegent- 
lich wird  in  einem  Vertrage  aus  dem  Jahre  1302  erwähnt,  dass 
der  Rat  im  Hagen  von  einem  gewissen  Kapital  60  M.  zum 
Wiederaufbau  des  abgebrannten  Gewandhauses  verbraucht  habe.1) 
Und  wenn  im  Jahre  1310  der  Altstädter  Rat  die  Gemeindeweide 
um  zwei  dem  Kloster  auf  dem  Rennelberge  abgekaufte  Morgen 
vergrösserte,*)  so  brachte  auch  diese  Ausgabe  der  Weichbilds- 
bürgerschaft unmittelbaren  Nutzen.  Nicht  nur  einem  einzelnen 
Weichbilde,  sondern  der  Gesammtstadt  kamen  die  Aufwendungen 
zu  Gute,  welche  1346  die  Neustadt  im  Betrage  von  über  51  M. 
für  den  Stadtmauerbau  machte, *)  und  dahin  sind  auch  die  bereits 
oben  berücksichtigten  Zahlungen  der  Weichbildsräte  zum  Zwecke 
der  Gewinnung  von  Pfandschlössern  zu  rechnen.  Sonst  jedoch 
könnten  hier  kaum  noch  Ausgaben  angeführt  werden,  bei  denen 
das  Moment  der  Befriedigung  bestimmter  gemeinsamer  Be- 
dürfnisse klar  hervortritt. 

5.  Die  Finanzverwaltung  der  Altstadt  1354  und  1355. 

Während  also  dasjenige  Material,  welches  die  Weichbilds- 
finanzverwaltungen in  der  Zeit  von  1269  bis  1354  betrifft,  an 
einer  gewissen  Einseitigkeit  leidet,  so  fällt  dieser  Mangel  bei  den 
Rechnungen  der  Altstadt  von  1354  und  1365  gänzlich  fort. 
Sie  erst  gewähren  einen  vollständigen  Überblick  über  den 
Haushalt  eines  Weichbildes,  über  die  sämmtlichen  Einnahmen 
und  Ausgaben  eines  solchen,  über  das  Verhältniss  jener  zu 
diesen,  über  die  grössere  und  geringere  Wichtigkeit  der  einzelnen 
Einnahme-  und  Ausgabeklassen,  wobei  freilich  zu  bemerken  ist, 
dass  nicht  alle  Partieen  der  Rechnungen  im  gleichen  Grade  ins 
einzelne  gehende  Angaben  enthalten.  Wegen  der  grossen 
Bedeutung,  die  nach  dem  gesagten  diesen  Altstädter  Rechnungen 
zukommt,  werden  wir  nicht  umhin  können,  uns  etwas  genauer 
mit  ihnen  zu  beschäftigen.  Eine  gesonderte  Behandlung  der- 
selben muss  dabei  vermieden  werden,  einerseits  um  lästigen 


*)  O.-U.  der  Katharinenkirche  im  Br.  8t.-A. 

*)  O.-ü.  im  Br.  8t.-A. 

•)  K.  d.  N.  16. 

5* 


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Wiederholungen  aus  dem  Wege  zu  gehen,  andrerseits  um  eine 
Vergleichung  entsprechender  Teile  zu  erleichtern. 

Unter  den  mannigfachen  Ausgaben,  welche,  ohne  nach 
sachlichem  Prinzip  geordnet  zu  sein,  in  einem  grossen  Kapitel 
vereinigt  beide  Rechnungen  eröffnen,  nehmen  mit  den  bedeutendsten 
Raum  die  Baukosten  im  weitesten  Sinne  des  Wortes  ein.  Um 
zunächst  eine  negative  Seite  dieses  Auegabencomplexes  hervor- 
zuheben, so  finden  wir  darin  im  allgemeinen  keine  Aufwendungen 
für  erbenzinslich  ausgethane  Häuser  des  Weichbildes:  die  an 
diesen  erforderlichen  oder  erwünschten  Bauten  Hessen  die  Inhaber 
auf  ihre  eigne  Rechnung  ausfdhren  und  die  Summe,  um  welche 
dadurch  der  Wert  des  Hauses  sich  erhöhte,  stand  ihnen,  nicht 
dem  Rate,  als  die  „Besserung“  des  Hauses  zu.  Aber  trotz  dieser 
Einschränkung  war  das  Gebiet  der  öffentlichen  Bauthätigkeit 
im  Weichbilde  ein  sehr  umfangreiches.  Bauliche  Ausgaben 
erforderten  das  Rathaus  und  die  Häuser,  die  der  Rat  einigen 
seiner  Diener  zur  Wohnung  angewiesen  hatte;  zahlreiche 
Reparaturen  wurden  vorgenommen  au  den  dem  Weichbilde 
gehörigen  Verkaufsstätten,  wie  Scharren,  Buden,  Kramen  u.  a„ 
Reparaturen  und  Erneuerungen  auch  an  den  Thoren  und  Berg- 
friden  des  Weichbildes,  an  den  Schlagbäumen  und  Sperrketten; 
das  Pflaster  der  Strassen  und  Märkte  musste  in  Ordnung 
gehalten,  die  Pflasterung  auch  auf  bisher  ungepflastorten  Plätzeu 
und  Strassen  ausgeführt  werden,  auf  Instandhaltung  der  Ufer- 
bauten und  Brücken  scheint  grosse  Sorgfalt  verwendet  zu  sein : 
auf  einen  Brückenneubau  wird  sich  wohl  ein  Posten  der  Rechnung 
von  1355  beziehen,  wonach  für  die  Brücke  vor  dem  Hohentore 
24  M.  1 Perd.  verausgabt  sind;  dieses  ist  die  bedeutendste 
Ausgabe  für  Bauzwecke,  welche  aus  den  beiden  Rechnungen 
angeführt  werden  kann.  Ferner  lag  dem  Rate  auch  die  Sorge 
für  die  Gemeindeweide  ob:  Tränkvorrichtungen  für  das  Vieh 
waren  zu  schaffen,  und  Umzäunungen  herzustellen  und  zu  erhalten, 
in  die  dasselbe  Nachts  eingeschlossen  wurde.  Wenn  wir 
schliesslich  noch  betonen,  dass  die  vortrefflichen  Anlagen,  die 
das  Weichbild  zur  Versorgung  seiner  Bürger  mit  gutem  Wasser 
hergerichtet  hatte,1)  eines  grossen  Kostenaufwandes  bedurften, 
so  haben  wir  das  wichtigste  hier  in  Betracht  kommende  erwähnt ; 
nur  darauf  sei  noch  hingewiesen,  dass  mehrfach  Ausgaben  für 
verschiedenes  Baumaterial  genannt  werden  ohne  Anführung  eines 


■)  cf.  Dürre  S.  657  und  658. 


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69 


bestimmten  Verwendungsfalls.  Wahrscheinlich  wird  man  diese 
Posten  aus  dem  in  spätem  Rechnungen  ganz  klar  hervortretenden 
Bestreben  des  Rates,  sich  grössere  Vorräte  solcher  Materialien 
aufzustapeln,  erklären  müssen. 

Als  einen  der  vielen  Zweige  des  Weichbildsbauwesens 
lernten  wir  eben  die  Pflasterung  der  Strassen  und  öffentlichen 
Plätze  kennen.  Natürlich  konnte  diese  ihren  Zweck  nur  dann 
voll  und  ganz  erfüllen,  wenn  der  Rat  auch  für  eine  regelmässige 
Reinigung  der  Strassen  und  Märkte  Sorge  trug.  So  finden 
wir  denn  in  jenem  grossen  Kapitel  der  beiden  Rechnungen  auch 
zahlreiche  Ausgaben  für  Zusammen  kehren  und  Abfahren  des 
Strassenschmutzes,  deren  höchste  23  Schill,  beträgt.  Zwei  der- 
artige Ausgaben  scheinen  in  damaliger  Zeit  in  der  Altstadt 
regelmässig  zu  Ostern,  Johannis,  Michaelis  und  Weihnachten  sich 
eingestellt  zu  haben : je  6 Schill,  wurden  an  diesen  Terminen  für 
Säuberung  des  Marktes,  je  3 Schill,  für  Zusammenschaffung  des 
Schmutzes  bei  der  St.  Ulricikirche  gezahlt.  Man  darf  wohl 
vermuten,  dass  die  letztgenannten  Posten  der  Vierteljahrslohn 
für  die  Ausführung  jener  Reinigungsarbeiten  waren;  schon 
damals  also  hätte  die  Altstadt  auf  die  Dauer  Strassenkehrer  in 
ihrem  Dienste  gehabt,  obwohl  solche  noch  nicht  ausdrücklich 
genannt  werden. 

Wenn  wir  damit  zu  den  Zahlungen  des  Rates  an  sein 
Gesinde  übergehen,  so  treffen  wir  auch  hier  bereits  auf  sehr 
ausgebildete  und,  wie  es  scheint,  ziemlich  festgewurzelte  Zustände. 
Sehr  zahlreich  war  vor  allem  das  Wächterpersonal.  Für'  jedes 
der  drei  Thore  des  Weichbildes  war  ein  besonderer  Wächter 
angestellt:  1354  und  1355  erhielt  der  eine  derselben  zu  Ostern, 
Johannis,  Michaelis  und  Weihnachten  je  15  Schill.,  die  andern 
beiden  je  10  Schill.  Ausserdem  werden  „Kurwächter“  genannt: 
Ostern  und  Weihnachten  kommen  deren  je  zwei  vor,  die  beide 
Male  zusammen  10  Schill,  erhalten,  Johannis  und  Michaelis  nur 
einer,  dem  an  diesen  Terminen  je  4'/s  Schill,  gezahlt  werden. 
Die  Kurwächter  standen  über  den  einfachen  Nachtwächtern,  in 
denen  wir  wohl  die  fünf  „Kettenschlösser“,  d.  h.  Schliesser  der 
Strassensperrketten  zu  sehen  haben;  sie  bekamen  nach  unsern 
Rechnungen  vierteljährlich  zusammen  1 Pfd.  Ausser  diesen 
regelmässig  gezahlten  Wächterlöhnen  finden  sich  häufig  auch 
vereinzelt  nuftretende  Ausgaben  für  Wachtdienst  bei  besondem 
Gelegenheiten.  — Alle  Vierteljahre  wurde  ferner  dem  Weinmeister, 
dem  Vorsteher  des  Weichbildsweingartens,  Lohn  gezahlt,  jedes 


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70 


Mal  7 Schill.;  dazu  erhielt  er  ungefähr  10  Lot  jährlich  für  seine 
Kleidung  und  für  aussergewöhnliche  Dienstleistungen  besondre 
Gratificationen.  Keinen  Vierteljahrssold  zahlte  man  den  Bauer- 
meistern, den  eigentlichen  Exekutivbeamten  des  Rates,  deren  es 
später  in  der  Altstadt  vier  gab.  Sie  empfingen  an  Kleidungsgeldern 
1354  wie  1355  zusammen  7 Ferd.;  ihre  Haupteinnahme  aber 
bildeten  die  sogenannten  „Freitagspfennige“,  deren  Betrag  in  jenen 
beiden  Jahren  zwischen  3 und  4 Pfd.  schwankt.  Für  ihre 
Thätigkeit  bei  der  Zins  - und  Schosserhebung  wurden  sie 
besonders  bezahlt  und  gelegentlich  des  Ratswechsels  erhielten 
sie  22  Schill.  In  späterer  Zeit  wurde  auch  für  sie  ein  fester 
Lohnsatz  eingeführt.  — Von  andern  Ratsdienern  sind  noch  zu 
erwähnen  der  Henker,  dem  man  freie  Wohnung  und  halb- 
jährlich 7 Schill,  gab,  der  Büttel,  gleichfalls  in  einem  Hause  des 
Rates  wohnend  und  3 Ferd.  1 Lot  als  Beihilfe  für  seine  Kleidung 
empfangend,  der  Knecht  des  Büttels,  dem  im  ganzen  1 Pfd.  das 
Jahr  über  für  seine  Kleidung  und  Schuhwerk  gezahlt  wurde,  die 
Ratsfischer  und  der  Koch,  welch’  letztere  keine  festen  Einnahmen 
bezogen  zu  haben  scheinen.  Nicht  eigentlich  zur  Dienerschaft 
des  Rates  darf  man  den  Opfermann  der  St.  Martinikirche  rechnen ; 
ihm  lag  es  ob,  bei  Eintritt  der  Nacht  die  Wächterglocke  zu 
läuten, ')  eine  Dienstleistung,  die  ihm  halbjährlich  mit  3 Schill, 
vergütet  wurde.  Vereinzelte  Zahlungen  an  den  Schreiber  sind 
so  geringfügig,  dass  sie  hier  übergangen  werden  können;  einen 
eigenen  Schreiber  hat  demnach  die  Altstadt  kaum  gehabt. 

Ausgaben  an  fremdes  Gesinde  erwuchsen  dem  Rate  der 
Altstadt  bei  gleichen  Gelegenheiten,  wie,  nach  dem  Bruchstücke 
von  1331,  dem  gemeinen  Rate.  Recht  häufig  kam  er  in  die 
Lage  an  Boten  befreundeter  Herren,  welche  von  diesen  Geschenke 
überbrachten,  Trinkgelder  zahlen  zu  müssen,  in  Posten  von  1 bis 
7 Schill.  Immer  bestanden  diese  Geschenke  in  Wildpret,  und 
jedes  Mal  liess  sich  der  Rat  dasselbe  auf  Kosten  des  Weichbildes 
zubereiten,  was  Ausgaben  von  6 bis  12  Schill,  verursachte. 
Doch  waren  dies  nicht  die  einzigen  und  nicht  die  teuersten 
Mahlzeiten,  bei  denen  der  Rat  die  öffentlichen  Mittel  in  Anspruch 
nahm.  Alljährlich  tafelte  er  am  ersten  der  beiden  grossen 
St.  Autorsfeste  und  verbrauchte  1354  4 Pfd.  14  Schill.,  1355  sogar 
5 Pfd.  4 Schill,  dafür.  Ferner  kostete  die  Mahlzeit  des  Rates 
zur  Schosszeit  in  jenem  Jahre  81/*  Pfd.,  in  diesem  9 Pfd.  6 Schill.; 


')  ef.  Dürre  S.  662. 


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71 


auch  die  Katsumsetzung  wurde  mit  einer  grossen  Schlemmerei 
begangen:  hierfür  wurden  1354  sammt  30  Schill.  Lohn  für  den 
Koch  nahe  an  16  Pfd.,  1355  15  Pfd.  verausgabt. 

Hier  muss  auch  gleich  die  Sitte  des  Umsendens  von 
Geschenken  durch  den  Kat  zu  verschiedenen  Zeiten  erwähnt 
werden,  denn  auch  sie  kam  fast  ganz  ausschliesslich  den  Rats- 
geschlechtern zu  Gute.  Zwei  Mal  im  Jahre  wurden  Fische 
umgesandt,  im  ganzen  für  ungefähr  21/,  Pfd.,  ausserdem  ein 
Mal  Weintrauben  aus  dem  Weingarten  des  Rates,  wofür  der 
Weinmeister  ein  Trinkgeld  erhielt.  Überhaupt  wird  man  von 
den  mannigfachen  Aufwendungen  für  den  Weingarten  sagen 
müssen,  dass  sie  hauptsächlich  im  Interesse  der  Katsfamilien 
gemacht  wurden.  Das  schlimmste  aber  ward  am  grünen 
Donnerstag  geleistet:  an  diesem  Tage  wurden  1354  4 Pfd. 
6 Schill.,  1355  5 Pfd.  6 Schill,  verbraucht  und  zwar  ganz  oder 
zum  grössten  Teil,  wie  wir  aus  spätem  Rechnungen  schliessen, 
für  umgesandte  Geschenke. 

Absichtlich  sind  wir  auf  diese  Ausgaben  etwas  näher  ein- 
gegangen, um  zu  zeigen,  wie  teuer  dem  Weichbilde  seine 
„ehrenamtliche“  Verwaltung  zu  stehen  kam.  Und  kaum  wird 
der  Rat  auf  die  geschilderte  Weise  allein  sich  Vorteile  aus  den 
öffentlichen  Mitteln  verschafft  haben,  wenn  wir  auch  andre  so 
grobe  Missbrauche  nicht  mehr  nachweisen  können.  Dass  die 
übrigen  Weichbildsräte  in  diesen  Zeiten  selbstloser  ihre  Stellung 
aufgefasst  hätten,  ist  nicht  anzunehmen;  das  Beispiel,  welches 
ihnen  der  mächtige  Altstädter  Rat  gab,  wird  von  ihnen  sicher- 
lich, wenn  auch  in  bescheidenerem  Massstabe,  nicht  unbefolgt 
geblieben  sein.  Erst  die  Reform  am  Ende  des  Jahrhunderts 
beseitigte  die  ärgsten  Auswüchse  jenes  Unwesens;  den  Aufstand 
von  1374  haben  dieselben  — die  meisten  wenigstens  gewiss  — 
noch  geraume  Zeit  überdauert. ') 

Weit  geringfügiger  als  die  eben  besprochenen  Aufwendungen 
waren  diejenigen,  welche  zwar  auch  im  Interesse  des  Rates 
gemacht  wurden,  aber  doch  nicht  missbräuchliche  und  ver- 
schwenderische genannt  werden  können.  Es  gehören  dahin  die 
Kosten  für  Heizung  und  Beleuchtung  der  Ratsdorntze.  Unter 
den  wenigen  Ausgaben  für  jene  findet  sich  die  bedeutendste  in 
der  Rechnung  von  1355  : 3 Pfd.  4 Schill,  für  Brennholz;  für 


')  Das  geht  aus  den  spätem  Altstädter  Rechnungen  hervor,  ef.  auch 
Cbron.  VI.  S.  158. 


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Beleuchtung  wurden  sogar  in  beiden  Jahren  nur  je  7 Schill, 
verbraucht. 

Im  Anschluss  hieran  mögen  noch  einige  andere  Verwaltungs- 
unkosten Erwähnung  finden.  In  beiden  Rechnungen  sind  kleine 
Summen  aufgeführt  als  verwendet  zur  Anschaffung  von  „Blei- 
zeichen“, die  behufs  der  Erleichterung  des  Verzollungsgeschäftes 
im  Gebrauch  waren, ')  und  von  sogenannten  „Zeicheneisen“,  mit 
denen  den  Maassen  und  Gewichtsstücken  das  Zeichen  der  Stadt 
aufgeprägt  wurde.*)  Jede  der  Rechnungen  enthält  schliesslich 
eine  Ausgabe  von  9 Schill,  für  Siegelwachs. 

Bedenkt  man,  dass  zu  den  Obliegenheiten  des  Altstädter 
Rates,  wie  wir  ja  sahen,  die  Verwaltung  der  Gemeindeweide 
gehörte,  so  wird  man  sich  kaum  darüber  wundern,  dass  es  auch 
als  eine  seiner  Aufgaben  erscheint,  Zuchteber  und  Zuchtstiere 
zu  halten.  Da  er  jedoch  keine  Ställe  besass,  so  gab  er  jene  bei 
einigen  Bürgern  in  Futter  und  Stallung.  Sowohl  1354  als  1355 
wurden  aus  Weichbildsmitteln  halbjährlich  je  51/,  Schill,  für 
Unterhaltung  eines  Zuchtebers  gezahlt;  was  die  Zuchtstiere 
angeht  — denn  deren  scheint  es  mehrere  in  der  Altstadt  gegeben 
zu  haben  — so  erhielten  Ostern  1354  drei  Bürger  für  Unter- 
bringung und  Pflege  von  solchen  6,  beziehungsweise  3'/j  und 
3 Schill.;  1355  wurden  für  denselben  Zweck  zu  verschiedenen 
Zeiten  5 und  3 Schill,  verausgabt  und  für  den  Preis  von  1 Pfd. 
ein  neuer  Zuchtstier  gekauft. 

Aber  nicht  nur  der  Viehzucht,  sondern  auch  der  Fischzucht 
widmete  der  Rat  seine  Sorge.  Der  Rechnung  von  1354  zufolge 
setzte  er  für  2 1jt  Pfd.  Fische  aus;  vorher  schon  ist  in  derselben 
Rechnung  eine  gleiche  Ausgabe  von  1 M.  3 Lot  verzeichnet, 
doch  ist  dieser  Posten  wieder  durchgestrichen. 

Eine  geregelte  öffentliche  Armenpflege  war  in  der  Zeit,  von 
der  wir  hier  sprechen,  iu  Braunschweig  unbekannt.  “)  Wie  der 
gemeine  Rat,  so  beschränkte  sich  der  der  Altstadt  in  dieser 
Hinsicht  darauf,  an  gewissen  Festtagen  kleinere  Summen  „ad 
stipam“  zu  verwilligen.  Zu  solchem  Zwecke  wandte  er  1354  und 
1355  am  St.  Petrustage  8 Schill,  auf  und  ausserdem  beim  Feste 
der  Kreuzerhöhung  in  jenem  Jahre  12,  in  diesem  9 Schill. 

•)  Br.  U.-B.  1,  90.  384  und  385. 

*)  Br.  U.-B.  I,  152  (cap.  xuj)  und  164  (cap.  lxvj). 

3)  Überhaupt  war  wohl  in  den  deutschen  Städten  des  Mittelalters  von 
öffentlicher  Armenpflege  in  uuserm  Sinne  keine  Rede.  cf.  Chron.  Bd.  I. 
S.  292  und  Häuselmann,  Werkstücke  Bd.  II.  S.  252 — 254. 


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73 


Aber  die  wenigen  Almosenausgaben  waren  nur  ein  kleiner  Bruch- 
teil aller  der  Kosten,  welche  dem  Weichbilde  aus  den  zahlreichen 
in  der  Stadt  gefeierten  kirchlichen  Festen  erwuchsen.  Die 
gelegentlich  derselben  veranstalteten  Ratsgelage  und  Be- 
schenkungen der  Ratsfamilien  wurden  schon  besprochen.  Dazu 
gesellen  sich  dann  die  Ausgaben  beim  zweiten  grossen  Autors- 
feste : 1354  wurden  8 Schill,  für  die  dem  heiligen  Autor  gewidmete 
Kerze  verwendet;  und  5 Schill,  gab  man  1354  wie  1355  den 
Minderbrüdern  zur  Belohnung  für  ihre  Teilnahme  an  der  auf 
diesen  Tag  abgehaltenen  Prozession.  Dieselben  erhielten  gleich- 
falls in  beiden  Jahren  gelegentlich  ihres  Kirchweihfestes  aus 
Weichbildsmitteln  ein  Geschenk  im  Betrage  von  1 M.  10  Schill. 
Mit  je  5 Schill,  pflegte  am  Feste  der  heiligen  elftausend  Jungfrauen 
und  an  dem  der  heiligen  Elisabeth  der  Pfarrer  der  Martinikirche 
vom  Altstädter  Rate  bedacht  zu  werden,  der  zwei  Gartenzinse 
dazu  ausgesetzt  hatte.  Noch  im  Jahre  1402  finden  sich 
diese  beiden  Posten  unter  den  regelmässigen  Ausgaben  des 
W eichbildes. 

Viele  andere  Zahlungen  des  letztem  an  Cleriker  beruhten 
auf  den  mannigfaltigsten  Verpflichtungen.  Eine  sehr  merkwürdige 
Ausgabe  bildeten  die  „denarii  synodales“  d.  h.  die  „Sendpfennige“, 
welche  bei  Abhaltung  des  geistlichen  Sendgerichts  *)  dem  Send- 
priestergezahltwerdenmussten. Die  Altstadt  war,  wie  wir  aus  spätem 
Rechnungen  sehen,  verpflichtet,  alljährlich  8 Schill.  Sendpfennige 
zu  zahlen  und  hat  dies  auch  1355  gethan.  1354  jedoch  ist  ein 
solcher  Posten  nicht  eingetragen,  wofür  die  Rechnung  von  1355 
eine  Erklärung  giebt:  wir  ersehen  aus  ihr,  dass  das  Weichbild 
in  diesem  Jahre  dem  Sendrichter,  dem  hildesheimischen  Archi- 
diakonus,  7 M.  */a  Ferd.  auszahlte  „pro  denariis  sinodalibus  retentis“. 
Es  wird  hier  das  Ende  eines  Zwistes  bezeichnet,  wie  er  sich  über 
die  Sendpfennige  häufiger  erhoben  zu  haben  scheint.  In  dem 
oft  genannten  Zinsbuch  der  Neustadt  nämlich,  welches  Weich- 
bild jährlich  6 Schill.  Sendpfennige  in  den  Fasten  entrichtete, 
bemerkt  ein  Nachtrag:  „Anno  1354  heischten  der  Archidiakon 
und  der  Sendherr  6 Schill.  Sendpfennige  zu  Michaelis  und  hatten 
kein  Recht  dazu,  was  ihnen  auch  bewiesen  ward.“  In  diesem 
Falle  hatten  also  die  geistlichen  Herren  das  doppelte  von  dem 
ihnen  zukommenden  verlangt. 

Eine  ganze  Anzahl  zum  Teil  recht  beträchtlicher  Ausgaben 
legte  dem  Altstädter  Rate  die  Ausführung  frommer  Stiftungen 

')  ef.  Dürre  S.  371 — 373. 


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74 


auf.  Int  Jahre  1311  hatte  er  selbst  den  Annenaltar  in  der 
Martinikirche  fundirt  und  musste  in  Folge  dessen  alljährlich, 
auch  1354  und  1355,  dem  Pfarrherrn  zu  St.  Martini  7 Pfd. 
zahlen:  gewisse  Erben-,  Garten-  und  Wortzinse  wurden  nach  den 
Zinsbüchern  der  Altstadt  dazu  verwendet.  Schon  sieben  Jahre 
vorher  hatte  ferner  dieses  Weichbild  gegen  eine  Zahlung  von 
77  M.  die  allerdings  ablösbare  Verpflichtung  übernommen,  jähr- 
lich 7 Pf.  für  Messelesen  an  dem  von  einem  Bürger  in  derselben 
Kirche  gestifteten  Altäre  auszugeben;1)  auch  diesen  Posten 
können  wir  in  unsern  Rechnungen  nachweisen.  Ausserdem 
erhielt  der  Pfarrer  von  St.  Martini  vom  Rate  zwei  Mal  jährlich 
7 Schill.,  und  zwei  Mal  31/,  Schill.  Seine  Gegenleistung  für  die 
31/*  Schill,  bestand  in  der  Abhaltung  einer  Gedächtnisfeier  für 
einen  ehemaligen  Pfarrherrn;  wahrscheinlich  hatte  derselbe  vom 
Altstädter  Rate  jene  Rente  zu  dem  erwähnten  Zwecke  gekauft. 
Ähnlich  mochte  es  sich  auch  mit  der  erstgenannten  Rente  ver- 
halten. In  den  Zinsbüchern  des  Weichbilds  finden  wir  beide 
unter  dem  Titel  „Altarzins  der  St.  Paulscapelle“  vereinigt  und 
auf  zwei  Gartenzinse  von  9,  bezw.  12  Schill,  angewiesen. 
Schliesslich  treft'en  wir  sowohl  1354  als  1355,  später  aber  nicht 
mehr,  eine  zwei  Mal  im  Jahre  zu  Gunsten  des  Priesters  der 
St.  Michaeliskirche  gemachte  Ausgabe  von  5 Schill,  an,  über  die 
genaueres  nicht  bekannt  ist. 

Clerikern  flössen  wohl  auch  die  22  Schill.  Zehntpfennige 
(„denarii  decimales“)  zu,  welche  im  ersten  Ausgabekapitel  beider 
Rechnungen  verzeichnet  sind.  Sicherlich  haftete  die  hier  sich 
zeigende  Verpflichtung  an  irgend  welchen  im  Besitz  des  Weich- 
bildes befindlichen  Grundstücken.  Auch  später  noch  hat  die 
Altstadt  Zehntpfennige  zu  zahlen,3)  doch  kehrt  dieselbe  Summe 
nicht  wieder.  Unveränderlich  dagegen  erhielt  sich  bis  ins 
15.  Jahrhundert  hinein  ein  Grundzins  im  Betrage  von  1 Pfd., 
welchen  das  Weichbild  von  der  sogenannten  „Merteningehufe“  dem 
Pfarrer  zu  St.  Martini  zu  geben  hatte. 

Als  Bestandteil  jenes  grossen  Ausgabekapitels  am  Anfänge 
beider  Rechnungen  kommt  endlich  noch  eine  Anzahl  von  Posten 
in  Betracht,  die  sich  zwar  nicht  um  grosse  Summen  drehen, 
aber  trotzdem  hohes  Interesse  beanspruchen:  es  sind  Zahlungen 


•)  ef.  A.  D.  I,  2 S.  (U. 

*)  cf.  das  Ziusbuoh  von  1402. 


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75 


an  die  Vögte,  deren  es  in  dieser  und  iu  späterer  Zeit  in  Braun- 
schweig zwei  gab,1)  und  die  ihr  Amt  von  den  Pfandinhabern 
der  Vogtei  in  Pacht  hatten.*)  Zu  ihren  Aufgaben  gehörte  es, 
dass  immer  einer  von  ihnen  das  Echteding  zu  hegen  hatte. 
Letzteres  wurde  um  1354  wohl  schon  in  allen  Weichbilden, 
jedenfalls  aber  in  der  Altstadt,  zwei  Mal  im  Jahre,  kurz  nach 
Ostern  und  kurz  nach  Michaelis,  abgehalten: 3)  unsern  Rechnungen 
zufolge  zahlte  der  Altstädter  Rat  damals  für  jedes  Echteding 
dem  Vorsitzenden  Vogt  6 Schill.  Eine  andere  Einnahme  der 
Vögte  bildeten  die  „Friedepfennige“,  welche  sie  gelegentlich  von 
Grundbesitzauflassungen  erhielten.  *)  Ihnen  stand  nämlich  in 
erster  Linie  die  Gültigkeitserklärung  derselben  zu.  An  solchen 
Friedepfennigen  wurden  aus  der  Altstädter  Kasse  1354  dem 
einen  der  Vögte  5 Schill.,  dem  andern  21/,  Schill.,  1355  beiden 
zusammen  5 Schill,  gegeben.  Friedepfennige  waren  allem  An- 
schein nach  auch  die  10  Schill.,  welche  die  Vögte  1355  von  der 
Altstadt  „pro  trutina“  d.  h.  die  Wage,  das  Wagehaus  empfingen;5) 
indessen  ist  in  diesem  Falle  das  Sachverhältniss  zu  wenig  bekannt, 
als  dass  man  mit  Gewissheit  urteilen  könnte.  Schliesslich 
kommen  in  unsern  Rechnungen  noch  drei  Posten  vor,  die  der 
Altstädter  Rat  den  Vögten  als  ihren  Anteil  an  den  für  ver- 
botenes Würfelspiel  aufgekommenen  Strafgeldern  auszahlte.  Den 
bedeutendsten  derselben,  1 Pfd.,  erhielten  beide  Vögte  zusammen, 
während  bezüglich  der  übrigen  nur  je  ein  Vogt  als  Empfänger 
genannt  wird.  In  den  spätem  Rechnungen  und  Zinsbüchern  der 
Altstadt  ist  von  Zahlungen  an  die  Vögte  nie  mehr  die  Rede. 

Was  die  Gesammtsumme  aller  bisher  besprochenen  Ausgaben 
des  Weichbildes  angeht,  so  betrug  dieselbe  1354  149  M.  2 Ferd. 
1 Lot  oder  27,7°/0  sämmtlicher  während  dieses  Jahres  gemachten 
Ausgaben  der  Altstadt,  1355  dagegen  163  M.  2l/a  Ferd.  oder 
43%  sämmtlicher  Ausgaben.  Man  sieht  also,  wie  relativ 
genommen  der  eben  behandelte  Complex  in  der  jüngeren 


')  Br.  Ü.-B.  I,  159  (cap.  xlvj). 

*)  Obwohl  also  diese  Vögte  jetzt  de  facto  städtische  waren,  so  wurden 
sic  doch  Doch  — offenbar,  weil  nur  ein  Pfandverhältniss  bestand, — herzog- 
liche genannt.  So  heisst  es  in  einem  Vertrage  von  1354  (1.  Q.  fol.  9 § 2): 
„de  rad  heft  gedhegedinget  mid  den  vogheden  user  hemm  van  Brunswich“  etc. 
— Zur  Verpachtung  der  Vogtei  of.  S.  81. 

*)  Br.  U.-B.  1,  176  (cap,  cxjx)  und  179  (cap.  cxxxj). 

*)  Br.  U.-B.  I,  7,  § 64. 

‘)  cf.  S.  87. 


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76 


Rechnung  eine  weit  bedeutendere  Stellung  einnimmt  als  in  der 
altern.  Der  Grund  dieser  Änderung  wird  uns  bald  klar  vor  die 
Augen  treten. 

Wenig  umfangreich  ist  in  unsern  beiden  Altstädter 
Rechnungen  das  Kapitel  der  Leibrenten.  Es  sind  hier  nämlich 
nicht,  wie  es  später  zu  geschehen  pflegt,  die  Rentenzahlungen 
einzeln  aufgeführt,  sondern  wir  ersehen  nur,  welchen  Betrag  an 
Leibgedingen  im  ganzen  an  jedem  der  üblichen  Zahlungstermine, 
Ostern,  Pfingsten,  Michaelis,  Martini  — 1355  kommt  noch 
Johannis  dazu  — das  Weichbild  entrichten  musste.  Im  Jahre 
1354  wurde  die  geringste  Summe,  2 ,/s  M.,  Pfingsten  verausgabt, 
die  höchste,  1%  Ferd.  über  35  M.,  Michaelis;  1355  die  geringste, 
% M.,  zu  Johannis,  die  höchste,  den  gleichen  Betrag  wie  im 
Vorjahre  erreichend,  wiederum  zu  Michaelis.  In  der  Gesammt- 
summe  der  bezahlten  Leibgedingc  zeigt  sich  für  1355  ein  geringes 
Wachsen  gegen  1354:  denn  in  diesem  Jahre  betrug  sie  71  M. 
1 Ferd.,  in  jenem  75  M.  1 Ferd.  Von  der  Summe  sämmtlicher 
Ausgaben  entfielen  1354  auf  die  Leibrenten  13,2%,  1355  dagegen 
19,6%.  Auch  hier  haben  wir  also  die  Erscheinung,  welche  uns 
schon  beim  ersten  Ausgabekapitel  auffiel.  Beiläufig  mag  darauf 
hingewiesen  werden,  dass  im  Jahre  1398,  aus  dem  zuerst  die 
Leibrentenzahlungen  aller  fünf  Weichbilde  ihrer  Höhe  nach 
bekannt  sind,  die  Altstadt  rund  52  M.,  der  Hagen  46  M.,  die 
Neustadt  30  M.,  die  Altewik  13  M.,  der  Sack  6 M.  dafür  auf- 
wenden musste. ]) 

Das  dritte  und  letzte  Ausgabenkapitel  giebt  vornehmlich 
über  die  Summen  Auskunft,  welche  die  Altstadt  1354  und  1355 
beim  Ankauf  von  Hauszinsen  — wie  es  scheint,  ablöslichen  — 
verbraucht  hat.  Es  handelt  sich  dabei,  wenn  wir  gleich  beide 
Jahre  zusammenfassen,  um  Renten  von  1 bis  3 M.,  um  Kapitalien 
von  12  bis  45  M.;  der  am  häufigsten  vorkommende  Zinsfuss  ist 
6%%,  der  höchste  8%%,  der  niedrigste  6 %%.  Ausser  diesen 
Hauszinserwerbungen  haben  noch  einige  wenige  andre  Posten 
in  un8erm  Kapitel  Platz  gefunden : so  wurden,  wie  schon  erwähnt, 
1354  5 M.  Bierzoll  für  50  M.  gekauft.  Sehr  auffällig  ist  es, 
dass  fast  alle  diese  Geschäfte  — nur  hinsichtlich  weniger  kann 
man  ungewiss  sein  — vom  Altstädter  Rate  mit  Altstädter 
Patriciern  abgeschlossen  sind.  Im  ganzen  verwendete  man  für 
die  genannten  Zwecke  1354  317%  M.,  nahe  an  60%  der 

’)  Zinsbuoh  allor  fünf  Weiohbilde  von  1398. 


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gesammten  Ausgaben,  1355  nur  144  M.  oder  37,4%  sämmtlicher 
Ausgaben.  Für  das  letztere  Jahr  ist  also  hinsichtlich  dieser 
.Rubrik  eine  ganz  bedeutende  Einschränkung  zu  erkennen.  Die- 
selbe hatte  die  nicht  zu  unterschätzende  Folge,  dass,  obwohl  im 
übrigen  die  Ansprüche  an  die  Weichbildskasse,  freilich  nur 
gering,  wuchsen,  doch  die  Gesammtsumme  der  Ausgaben  von 
rund  538  M.  im  Jahre  1354  auf  rund  382  M.  im  nächsten 
Jahre  fiel. 

Mit  den  soeben  geschilderten  Zinsankäufen  steht  im  engsten 
Zusammenhänge  eins  der  drei  Einnahmekapitel.  Schon  äusser- 
lich  findet  dieser  Zusammenhang  den  entschiedensten  Ausdruck: 
in  jeder  der  beiden  Rechnungen  geht  das  betreffende  Kapitel 
dem  Verzeichniss  jener  Erwerbungen  unmittelbar  voraus.  Um 
die  für  letztere  erforderlichen  Summen  in  baarem  Gelde  bereit 
zu  haben,  musste  der  Altstädter  Rat  zu  dem  Mittel  greifen, 
Renten  zu  verkaufen.  Der  so  gewonnene  Erlös  bildet  den 
Hauptinhalt  der  in  Rede  stehenden  Einnahmerubrik.  Gegen- 
stände dieser  Rentenverkäufe  waren  meist  Hauszinse,  wie  wir 
aus  dem  Zusatze  „de  domo“  ersehen  können,  in  einigen  Fällen 
auch  Leibrenten,  was  namentlich  dann  vermutet  werden  darf, 
wenn  jener  Zusatz  fehlt,  und  Personen  geistlichen  Standes  als 
Käufer  genannt  werden.  Weder  bei  den  Hauszins-  noch  bei  den 
Leibgedingsverkäufen  ist  der  Betrag  der  Renten  aufgeführt,  und 
nur  für  einen  der  ersten  kann  man  ihn  anderweitig  erfahren. 
Nur  in  diesem  einen  Falle  ist  man  auch  im  Stande,  den 
Charakter  des  Hauszinses  anzugeben:  er  ist  als  Erbenwortzins 
bezeichnet.  Die  Gesammtsumme  der  beschriebenen  Einnahmen 
betrug  1354  339%  M. , das  sind  51,5%  aller  Jahres- 
aufkünfte,  während  die  einzelnen  Posten  sich  zwischen  den 
Grenzwerten  2 M.  und  70  M.  hielten.  Indem  aber  damals  nur 
für  317%  M.  Renten  gekauft  wurden,  blieb  ein  Überschuss  von 
22  M.,  der  in  der  entsprechenden  Rubrik  von  1355  den  Haupt- 
posten bildet.  Der  kleinste  Posten  in  dieser  erreicht  eine  Höhe 
von  4 M.,  die  Gesammtsumme  eine  solche  von  99  M.  oder  25% 
der  ganzen  Jahreseinnahme.  Da  nun  im  letztgenannten  Jahre  für 
Rentenkäufc  144  M.  aufgewandt  wurden,  so  mussten  zu  solchem 
Zwecke  auch  noch  andre  Einnahmen  herangezogen  werden. 

Doch  was  veranlasste  den  Altstädter  Rat  zu  einer  derartigen 
Finanzoperation,  wie  sie  sich  1354  und  1355  in  den  Kapiteln 
der  Renten  verkaufe  und  Rentenerwerbungen  darstellt?  Erwuchs 
etwa  dem  Gemeinwesen  pecuniärer  Nutzen  daraus?  Doch  wohl 


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kaum;  denn  nichts  spricht  dafür,  dass  die  Kapitalien,  welche  durch 
den  Hauszinsverkauf  frei  wurden,  vorteilhafter  oder  sicherer 
angelegt  worden  wären,  und  geradezu  unerklärlich  erscheint  es, 
wenigstens  auf  den  ersten  Blick,  weshalb  man  sogar  Leibgedinge 
verkaufte,  das  heisst  hoch  zu  verzinsende  Anleihen  machte,  um 
für  die  Kaufsummen  Hypotheken  zu  erwerben.  Dem  Weich- 
bilde war  also  mit  dieser  Operation  schwerlich  gedient  und  doch 
wäre  es  thöricht,  in  ihr  eine  absichtslose  Spielerei  erblicken  zu 
wollen,  zumal  da  sich  uns  ein  wichtiger  Anhalt  zur  bessern 
Erklärung  darbietet.  Wie  wir  oben  betonten,  hatte  der  Rat  die 
neuerworbenen  Hypotheken  fast  ausschliesslich  von  Angehörigen 
der  Geschlechter  gekauft.  *)  Sicherlich  sassen  manche  von  diesen 
selber  in  dem  ein  durchaus  aristokratisches  Gepräge  tragenden 
Rate  der  Altstadt  oder  waren  wenigstens  mit  Mitgliedern  des- 
selben verwandt.  Bedenkt  man  nun,  in  wie  hohem  Masse  sich 
die  Ratsherrn  bei  der  Verwaltung  ihres  Amtes  von  Selbstsucht 
leiten  Hessen  — sehr  starke  Äusserungen  derselben  hatten  wir 
ja  schon  früher  kennen  gelernt’)  — , so  wird  man  es  nicht  für 
unwahrscheinlich  halten,  dass  jene  damals  bei  eignen  oder  ihrer 
Verwandten  Geldverlegenheiten  mit  Benutzung  des  Weichbilds- 
vermögens und  des  Weichbildscredits  entweder  Hypotheken- 
anleihen selber  aufnahmen  oder  solche  gewährten.  Durch  diese 
Auffassung  räumt  man  einerseits  die  oben  zu  Tage  getretenen 
Schwierigkeiten  in  dieser  Angelegenheit  aus  dem  Wege,  andrer- 
seits gewinnt  man  so  einen  neuen  Einblick  in  den  Geist,  der  in 
damaliger  Zeit  die  Altstädter  Finanzverwaltung  durchdrang. 

Als  den  Grundstock  der  Einnahmen  der  Altstadt  wird  man 
ihre  Zinsaufkünfte  anzusehen  haben:  hinsichtlich  der  Höhe  ihrer 
recht  bedeutenden  Erträge  waren  sie  im  allgemeinen  nur  geringen 
Schwankungen  unterworfen  und  so  gut  wie  gar  nicht  vom  Zufall 
abhängig.  Es  gehören  dahin  alle  die  vorerwähnten  Zinse,  welche 
ein  Weichbild  einnehmen  konnte.  Tn  den  Rechnungen  von  1354 
und  1355  ist  ihnen  die  Gesammtbezeichnung  „census  de  tabulis“  — 
nach  den  Tafeln,  auf  denen  sie  von  den  Bezahlenden  niedergelegt 
wurden  — gegeben,  und  ein  gemeinschaftliches  Kapitel  cin- 
geräumt.  Hier  sind  die  Zinse  weder  nach  ihren  Arten  noch 
nach  den  einzelnen  Posten  gesondert,  wir  erfahren  nur,  wie 
grosse  Summen  an  jedem  der  beiden  hierfür  üblichen  Zahlungs- 


>)  cf.  S.  76. 

*)  cf.  S.  70  f. 


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termine,  Ostern  und  Michaelis,  eingekomiuen,  und  daran  schliesst 
sich  noch  die  Angabe  des  jährlichen  Gesammtertrages.  Sowohl 
1354  als  1355  erreicht  die  Michaelissumme  eine  — freilich  nur 
wenig  — grössere  Höhe  als  die  Ostersumme;  was  die  Jahres- 
summe  angeht,  so  beträgt  dieselbe  in  dem  ersten  der  beiden 
Jahre  258  M.  3 Ferd.  % Lot,  39,3 °/0  aller  Einnahmen,  in  dem 
zweiten  262  M.  3 Ferd.  1 Lot,  nicht  weniger  als  69,1%  der 
Gesammtaufkünfte.  Die  veränderte  Stellung,  die  hiernach  die 
Zinseinnahmen  des  Weichbildes  in  der  jüngern  Rechnung  gegen- 
über der  altern  inne  haben,  beruht  vor  allem  auf  der  wesentlichen 
Verringerung  der  Rentenverkäufe : der  grosse  Umfang  der 
letztem  im  Jahre  1354  drängte  die  Erträge  an  census  de  tabulis 
in  ungebührlicher  Weise  in  den  Hintergrund. 

Das  dritte  Einnahmekapitel , welches  sich  in  beiden 
Rechnungen  zu  den  bis  jetzt  besprochenen  gesellt,  schliesst 
1354  mit  einer  Summe  von  60%  M. , 1355  mit  einer  solchen 
von  33  M.  ab.  Diese  Beträge  machen  9,2%,  beziehungsweise 
5,9%  der  Gesammteinkünfte  aus.  Indessen  wird  die  verhältniss- 
mäseige  Geringfügigkeit  dieser  Summen  aufgewogen  durch  die 
Reichhaltigkeit  des  Inhalts  jener  Rubrik : sie  bildet  nämlich  ein 
Seitenstück  zu  dem  umfangreichen  Ausgabekapitel ; wie  sich 
hier  ein  Gemisch  der  verschiedenartigsten  Ausgaben  vorfindet, 
so  sind  dort  sehr  mannigfaltige  Einnahmen  äusserlich  vereinigt. 
Uber  eine  Anzahl  von  ihnen  und  zwar  nicht  die  unbedeutendsten 
ist  leider  nichts  sicheres  zu  ergründen , da  uns  nur  mitgeteilt 
wird,  wer  die  betreffenden  Summen  dem  Weichbilde  gezahlt  hat, 
nicht  aber  auch,  aus  welchem  Grunde.  Die  näher  bekannten 
Posten  unsres  Mischkapitels  können  wir  in  mehrere  Klassen 
zerlegen , von  denen  aber  verschiedene  nur  sehr  schwach  ver- 
treten sind.  Es  genügt  daher,  aus  letztem  das  wichtigste  zu 
erwähnen.  1354  wurde  eine  grössere  Summe,  7 M. , für 
verkauftes  Getreide  vereinnahmt , sowie  ein  Mühlenzins  im 
Betrage  von  1 Pfd.,  während  1355  die  erste  Rate  der  im  Vor- 
jahre erworbenen  Bierzollrente  mit  5 M.  eingetragen  ist.  In 
beiden  Jahren  floss  der  Altstadt  nachträglich  gezahlter  Schoss, 
sogenannter  „Nachschoss“  zu:  1354  beliefen  sich  diese  Nachschoss- 
zahlungen auf  6 M.  % Ferd.,  1355  auf  51/,  M.  Wiederum  haben 
wir  darin  einen  Beleg  für  das  Nichtinnehalten  der  Einigung 
von  1269 : da  dem  gemeinen  Rate  der  Schoss  zugesprochen  war, 
so  musste  folgerichtiger  Weise  er  auch  den  Nachschoss  erhalten, 
der  also  eigentlich  unter  Altstädter  Einnahmen  nicht  Vorkommen 


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«0 


dürfte,  aber  nocli  um  1390  unter  ihnen  aufgeführt  ist.  Erst  die 
grosse  Reform  machte  dem  geschilderten  Missbrauch  ein  Ende.1) 

Ziemlich  viel  Raum  nehmen  in  der  in  Rede  stehenden 
Rubrik  die  Abgaben  ein,  welche  dem  Weichbilde  von  den 
verschiedensten  Handwerkern,  Handel-  und  Gewerbetreibenden 
entrichtet  wurden.  Zumeist  handelte  es  sich  dabei  um  Abgaben 
von  Verkaufs-Ständen  und  Stätten  auf  dem  Altstadtmarkte  oder 
dem  sich  an  diesen  anschliessenden  Martinikirchhofe.  Solche 
Stätten-  und  Ständegelder  zahlten  Leinwandschneider,  Altflicker, 
Bäcker  und  Fischer,  ferner  die  Inhaber  der  Kohlbänke,  die  auf 
dem  Kirchhofe  sitzenden  Kleiderseiler  und  die  Händler,  welche 
gesalzenen  Fisch  gleich  aus  den  Tonnen  verkauften,  schliesslich 
auch  noch  andre  nicht  näher  bezeichnete  Verkäufer.  Die  hieraus 
sich  ergebende  Gesammteinnahme  betrug  sowohl  1354  als  1855 
etwas  über  5 Pfd.  ln  den  spätem  Rechnungen  und  Zinsbüchern 
der  Altstadt  begegnet  uns  für  diese  Erträge  die  zusammenfassende 
Bezeichnung  „Marktpfennige“,3)  indessen  sind  die  Zahlungen  der 
Leinwandschneider  dort  gewöhnlich  in  einem  eiguen  Kapitel 
anzutrelfen.  In  den  übrigon  Wcichbilden  Braunschweigs  lassen 
sich  die  Marktpfennige  nicht  nachweisen. 

Ein  andrer  Charakter  als  der  des  Stättegeldes  ist  wahr- 
scheinlich zwei  Zahlungen  im  Betrage  von  1 M.  minus  14  Pfenn. 
und  2 M.  minus  3 Schill,  eigen , deren  erstre  die  Schuhmacher- 
meister 1354,  deren  letztre  sie  1355  dem  Rate  leisteten.  Von 
jenen  Marktabgaben  sind  sie  äusserlich  streng  getrennt,  und  ferner 
spricht  auch  der  grosse  Unterschied  in  der  Höhe  der  beiden 
Posten  dagegen,  dass  man  es  hier  mit  Stättegeldern  zu  thun  hat. 
Vielleicht  trifft  man  das  richtige,  wenn  inan  jene  für  Gildeabgaben 
erklärt.  So  wissen  wir  aus  einer  Eintragung  im  Altstädter 
Degedingbuche  zum  Jahre  1329,  dass  dem  Rate  ein  Viertel  der 
Gebühren  zustand , die  jeder  Schuhmachermeister  bei  seiner 
Aufnahme  in  die  Gilde  zu  zahlen  hatte.*)  Auch  von  andern 


')  cf.  Chron.  VI,  S.  152  und  153. 

’)  Ob  die  Marktpfennige  ein  Teil  des  Marktzolles  oder  gar  der  ganze 
Marktzoll  sind,  von  dessen  Verpfändung  an  die  gemoine  Stadt  wir  zuerst 
1412  (Chron.  VI,  S.  194  und  195}  hören,  erscheint  sehr  fraglich.  Dürr« 
S.  821  uml  322  nimmt  es  an,  doch  widerspricht  dem  vor  allem,  dass  in 
keinem  der  übrigen  Weichbilde  eine  derartige  Abgabe  wie  in  der  Altstadt 
erhoben  wurde. 

s)  A.  D.  I,  TI'. 


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Gildeabgaben  hören  wir,1)  welche,  obwohl  sie  uns  nicht  gerade 
für  die  Schuhmacher  bezeugt  sind,  doch  auch  von  diesen  wohl 
entrichtet  werden  mussten.  Insofern  scheint  unsre  Annahme  also 
gut  begründet,  doch  ist  sie  deshalb  nicht  ganz  einwandsfrei,  weil 
von  Zahlungen  andrer  Gilden  an  den  Rat  der  Altstadt  in  beiden 
Rechnungen  keine  Spur  gefunden  werden  kann.  Aber  immerhin 
mag  daran  der  Zufall  schuld  sein. 

Eis  war  gelegentlich  der  Besprechung  der  Ausgaben  an  die 
Vögte  schon  auf  die  Verpachtung  der  Vogtei  hingewiesen.  Aus 
unserm  Kapitel  geht  nun  hervor,  dass  in  den  hier  in  Betracht 
kommenden  beiden  Jahren  ein  Teil  der  Pachtsumme  der  Altstadt 
zufloss.  1354  erhielt  sie  von  dem  einen  der  zwei  Vögte,  Heinrich 
von  Polede,  für  die  Vogtei  6 M.  zu  Ostern  und  6 M.  zu  Michaelis, 
höchstwahrscheinlich  den  ganzen  Pachtzins,  welchen  jener  zu 
zahlen  hatte.  Denn,  wie  uns  Notizen  im  1.  Gedenkbuche  lehren, 
nahm  1356  Hans  von  Kissenbruege  ä)  und  1363  Konrad  Backer- 
mann *)  vom  gemeinen  Rate  die  Vogtei  auf  ein  Jahr  für  12  M. 
in  Pacht,  so  dass  also  die  eben  aufgestellte  Vermutung  gewichtiger 
Unterstützung  nicht  entbehrt.  Wollte  man  aber  aus  jener  Angabe 
in  der  Rechnung  von  1354  den  Schluss  ziehen,  in  jener  Zeit  sei 
regelmässig  die  Pachtsumme  des  einen  Vogts  an  die  Altstadt 
gefallen,  habe  letzterer  die  Verfügung  über  die  eine  der  beiden 
Vogteistellen  zugestanden,  — damit  könnte  dann  sehr  gut  in 
Einklang  gebracht  werden,  dass  beide  oben  angezogenen  Ver- 
pachtungen des  gemeinen  Rates  sich  nur  um  eine  Vogteistelle 
drehen  — , so  würde  man  auf  eine  grosse  Schwierigkeit  stossen : 
1355  bekommt  jenes  Weichbild  vom  gesammten  Vogteizins  nur 
4 M. , die  ihm  zu  Ostern  derselbe  Heinrich  von  Polede  zahlt. 
Leider  lässt  sich  nicht  angeben,  welche  Ursache  eine  so  bedeutende 
Verringerung  dieser  Einnahme  im  letztgenannten  Jahre  bewirkte; 
man  muss  sich  damit  begnügen,  die  nackte  Thatsache  der  Ver- 
ringerung zu  constatiren.  Dazu  zwingt  uns  vor  allem  das 
mangelhafte  Material:  denn  die  beiden  Stellen  der  Altstädter 
Rechnungen  von  1354  und  1355  sind  die  einzigen,  welche  von 
Pachtzahlungen  eines  Vogts  an  eine  Weichbildskasse  zeugen. 

Als  letzten  wesentlichen  Bestandteil  der  Mischrubrik  haben 
wir  die  von  der  Altstadt  aufgenommenen  Strafgelder  zu  erwähnen. 


*)  Dürre  S.  331  und  332. 

*)  L G.  11. 

*)  L G.  15. 

Hack,  Finfcnxgeschichte  der  BUdt  Rraunschwoig . (j 


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82 


Unter  den  dahin  gehörigen  Posten  betrifft  nur  einer  aus  dem 
Jahre  1355  eine  Übertretung  der  Hochzeitsordnungen,  wofür 
Johannes  von  Gotingen  damals  1 Pfd.  zahlen  musste;1)  alle 
übrigen  kennzeichnen  sich  als  Busse  solcher  Leute,  die  verbotnem 
Würfelspiel  gehuldigt  hatten.  Nach  den  Dobelspelordnungen  *) 
hatte  von  den  ertappten  Würfelspielern  der  Gewinner  seinen 
Gewinn  abzüglich  5 Schill.  — diese  Bestimmung  lässt  die  Grenze 
zwischen  erlaubtem  und  verbotnem  Würfelspiel  erkennen  — dem 
Rate  zu  geben;  ausserdem  mussten  Gewinner  und  Verlierer 
die  Stadt  auf  gewisse  Zeit  verlassen  und  sich  nach  Ablauf 
derselben  die  Erlaubnis  zur  Rückkehr  für  je  2 Pfd.  erkaufen. 
Mit  diesen  Festsetzungen  können  die  betreffenden  Einnahmen  in 
unsern  Rechnungen  gut  in  Einklang  gebracht  werden : eine 
derselben,  aus  dem  Jahre  1354,  erreicht  die  Höhe  von  3 M.  und 
stellt,  wie  ausdrücklich  hinzugefügt  ist,  einen  Gewinn  nach  Abzug 
von  5 Schill,  dar;  die  übrigen  Posten  betragen  je  2 Pfd.  und 
wurden  wohl  alle  gelegentlich  der  Rückkehr  von  Spielern 
entrichtet,  freilich  ist  dies  nur  zu  einem  besonders  bemerkt. 
Wunderbar  ist  es,  dass  zwei  für  Dobelspel  gezahlte  Bussen  in 
der  Rechnung  von  1354  aus  Anlass  gewisser  Abzüge  von  ihnen 
— einmal  handelt  es  sich  dabei  um  Rückgabe  von  5 Schill.,  das 
andere  Mal  um  den  Vogtanteil  — innerhalb  des  grossen  Ausgabe- 
kapitels erwähnt,  jedoch  unter  den  Einnahmen  dieses  Jahres 
nicht  aufgeführt  sind.  Ob  und  wie  die  hier  zu  Tage  tretende 
Schwierigkeit  beseitigt  werden  kann,  darauf  werden  wir  gleich 
einzugehen  haben. 

Sämmtliche  Posten  des  soeben  behandelten  Einnahmekapitels 
in  der  altern  Rechnung  kommen  nochmals  in  einem  derselben 
Rechnung  eingefügten  Einnahmecomplex  vor.  Ausserdem  treffen 
wir  hier  aber  auch  — und  das  ist  sehr  auffallend  — jene  beiden 
Busszahlungen,  welche  wir  in  dem  Mischkapitel  der  Altstädter 
Aufkünfte,  wo  wir  sie  zu  finden  erwarten  mussten,  vergeblich 
suchten.8)  Endlich  sind  darin  noch  zahlreiche  andre  Posten 

’)  Hochzeitsordnungen  dieser  Zeit  im  Br.  U.-B.  8.  43  und  45.  Unsern 
Posten  könnte  man  höchstens  mit  § lß  auf  S.  45  Zusammenhängen  : „weme 
oc  en  speleman  van  buten  herin  ghesant  wert,  de  scal  eme  nicht  mer  gheuen 
wanne  en  ewart  lot  bi  I taln.u  Freilich  steht  I auf  Rasur. 

*)  Br.  U.-B.  S.  36  und  36. 

*)  Die  beiden  Posten  lauten: 

Item  HI  clipeoB  aureos  a Johanne  de  Gothinge,  quos  etiam  lucratus  fuit 
supra  quinque  sol. 

Item  II  tal  ab  illis  de  Sacco  de  tesseratura. 


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verzeichnet,  die  offenbar  als  Aufkünfte  der  gemeinen  Stadt 
anzusehen  sind  und  später  zur  genauem  Besprechung  gelangen 
werden.  Bemerkenswert  ist,  dass  diese  so  sonderbar  zusammen- 
gesetzte Liste  durchstrichen  vorliegt. 

Wenn  Hänselmann  dieselbe  für  ein  Stück  einer  gemeinen 
Kämmereirechnung  erklärt,1)  so  ist  das  kaum  zutreffend:  bilden 
doch  Altstädter  Einnahmen  einen  wesentlichen  Teil  von  ihr.  Zu 
einer  richtigem  Ansicht  wird  man,  wie  ich  hoffe,  durch  folgende 
Erwägungen  gelangen.  Bei  Aufstellung  der  Altstädter  Rechnung 
von  1354  gesellte  man  in  unserm  Verzeichniss  fälschlicher  Weise 
zu  den  Posten  der  Altstadt  eine  Anzahl  von  Posten  der  gemeinen 
Stadt.  Sobald  man  jedoch  diese  Confundirung  bemerkte,  gab 
man,  wie  das  Fehlen  einer  Summenangabe  beweist,  die  Fertig- 
stellung dieses  Verzeichnisses  auf  und  strich  es  durch,  um  seine 
Ungültigkeit  kenntlich  zu  macheu.  In  ein  neu  angelegtes  Kapitel 
wurden  die  Einnahmen  der  gemeinen  Stadt,  welche  jenes  enthält, 
nicht  aufgenommen.  Dass  eine  solche  Vermischung  Vorkommen 
konnte,  ist  nicht  oder  wenigstens  nicht  allein  darin  begründet, 
dass  ein  und  devselbe  Schreiber  damals  die  Kämmereirechnungen 
der  Altstadt  und  der  gemeinen  Stadt  schrieb.  Die  Hauptursache 
scheint  vielmehr  die  innige  Verbindung  der  Finanzverwaltung 
dieser  mit  der  jener  gewesen  zu  sein,  welche  um  die  Mitte  des 
14.  Jahrhunderts  offenbar  bestand.  Waren  doch  1354  die  beiden 
Kämmerer  der  Altstadt  und  die  beiden  der  gemeinen  Stadt 
dieselben  Personen,  Konrad  Eleres  und  Heinrich  von  Kerkhof, 
beide  Angehörige  altstädtischer  Geschlechter.  Und  wunderbar 
wäre  es,  wenn  diese  Verbindung  sich  nicht  herauRgebildet  hätte. 
Das  Übergewicht  der  Altstadt  in  dem  1269  gegründeten  gemeinen 
Rate  über  die  andern  Weichbilde  war  so  bedeutend,  dass  es  ihr 
nicht  schwer  werden  konnte,  die  gemeine  Finanz  Verwaltung , so 
weit  sie  ine  Leben  trat,  im  wesentlichen  in  ihre  Hand  zu 
bekommen.  Unter  solchen  Umständen  war  eine  gewisse  Ver- 
schmelzung der  Altstädter  Verwaltung  mit  der  gemeinen  nicht 
zu  vermeiden,  zumal  sie  im  Interesse  des  herrschstichtigen, 
eigennützigen  Rates  jenes  Weichbildes  lag.  Und  ohne  Zweifel 
gingen  ihre  Wirkungen  noch  weit  über  die  zeitweilige  Unklarheit 
hinaus,  welche  das  merkwürdige  Verzeichniss  hervorgebracht  hat. 

Eine  Frage  für  sich  ist  es,  warum  die  erwähnten  beiden 
Strafgelderposten  aus  der  durchstrichenen  Liste  in  das  neu 


')  Chron.  VI  8.  277  A.nm.  3. 

6* 


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angelegte  Kapitel  nicht  mit  übergegangen  sind,  da  doch  mehrere 
andere  gleicher  Natur  hier  wie  dort  zu  finden  sind,  und  da 
doch , was  noch  wichtiger , im  Ausgabeteil  auf  eie  Bezug 
genommen  ist.  Dies  beides  scheint  mir  mit  zwingender  Not- 
wendigkeit auf  eine  unbeabsichtigte  Auslassung  des  Schreibers 
hinzuweisen.  Übrigens  ist  dus  Ergebniss,  zu  dem  wir  so  gelangt 
sind,  nicht  unwichtig,  denn  nun  erst  können  wir  mit  Sicherheit 
behaupten,  dass,  wie  oben  schon  angedeutet  wurde,  der  Altstadt 
damals  noch  Erträge  aus  der  Vogtei  im  Sacke  zuflossen.  Der 
eine  der  in  Frage  kommenden  Posten  bezieht  sich  nämlich  auf 
Strafgeld,  das  aus  diesem  Weichbilde  eingekommen.1) 

Um  schliesslich  einen  Blick  auf  die  Bilanzen  zu  werfen,  die 
sich  aus  unsern  Rechnungen  ergeben,  so  steht  1354  einer  Ge- 
sammteinnahme  von  668  3/4  M.  1/J  Lot  eine  Gesammtausgabe  von 
538  M.  1 Ferd.  1 Lot  gegenüber,  während  1355  die  entsprechenden 
Summen  nur  eine  Höhe  von  397  M.  13  Lot  und  381  M.  3%  Ferd. 
erreichen.  Für  jenes  Jahr  stellt  sich  also  ein  Überschuss  von 
rund  120  M.  heraus,  für  dieses  ein  solcher  von  rund  16  M. 
Was  aus  besagten  Überschüssen  geworden,  kann  nur  zum 
Teil  sicher  ergründet  werden.  Von  den  120  M.  sind  in  der 
Rechnung  von  1355  nur  22  M.  wieder  zu  finden : sie  waren 
bei  der  geschilderten  famosen  Operation a)  erübrigt.  Der 
Rest  der  Summe  mag  nach  dem  von  1345  her  bekannten 
Grundsätze,  Überschüsse  von  Gülten  und  Zinsen  der  Weichbilde 
sollten  an  die  gemeine  Kasse  abgeführt  werden,3)  letzterer  zuge- 
wiesen worden  sein,  wenn  er  nicht  schon  vorher  an  den  damals 
gerade  grosse  Pfanderwerbungen  vollziehenden5)  Rat  der  gemeinen 
Stadt  ausgezahlt  war.  Ähnlich  ist  vielleicht  das  Geschick  jener 
16  M.  gewesen,  in  denen  kein  Überschuss  aus  Rentenverkäufen 
steckte.  Ungenauigkeit  der  Rechnungsführung  ist  schuld  daran, 
dass  wir  bezüglich  des  Verbleibes  und  der  Verwendung  dieser 
Summen  gewisseres  nicht  sagen  können. 

6.  Die  Finanzverwaltung  der  Weichbilde  von  1355  bis  1374. 

Über  die  Finanzverwaltung  der  Weichbilde  in  derZeit  von 
1355  bis  1374  sind  wir  ausserordentlich  mangelhaft  unterrichtet, 
wie  vor  1354  fast  lediglich  durch  Eintragungen  von  finanzieller 

')  cf.  S.  34  Anm.  2 und  S.  82  Anm.  3. 

*)  S.  76-78. 

»)  S.  38. 

4)  cf.  S.  90  u.  91. 


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Bedeutung  in  den  Weichbildsbtichern.  Die  Anzahl  derselben  ist 
nicht  gerade  gross  für  diese  achtzehn  Jahre,  sic  verteilen  sich  auf 
Altstadt,  Hagen  und  Sack  so,  dass  die  meisten  auf  das  zu  zweit 
genannte  Weichbild  entfallen.  Ihrem  Inhalt  nach  bieten  sie  neues 
so  gut  wie  gar  nicht.  Wir  hören  von  Erbenzins-  und  Grund- 
stiiekserwerbungen,  sowie  vom  Ankauf  wiederablöslicher  Renten 
zu  frommen  Zwecken  durch  die  Weichbildsräte;  auf  der  andern 
Seite  verkaufen  diese  Erbenzinse,  Grundstücke  und  Leibrenten, 
letztere  fast  nur  der  Hagener  Rat;  ablösliche  Hauszinse  werden 
teils  von  den  Schuldnern  wieder  zurückgekauft , teils  von  den 
Räten  an  andere  Personen  überlassen:  so  erwirbt  im  Jahre  1364 
Hans  von  Evensen  vom  Sacker  Rate  für  90  M.  im  ganzen  6 M. 
rückkäuflicher  Hauszinse.1)  Als  ein  vereinzelt  dastehendes 
Vorkommniss  mag  noch  erwähnt  werden,  dass  im  selben  Jahre 
der  Rat  des  Hagen  sich  60  M.  auf  das  Wagehaus  lieh.*)  Wollte 
man  übrigens  nach  diesen  wenigen  Verträgen  und  Abschlüssen 
beurteilen , ob  in  dem  bezeichneten  Zeitraum  die  Lage  der 
Weichbildsfinanzen  eine  gute  oder  eine  schlechte  gewesen  sei, 
so  würde  das  sehr  gewagt  sein.  So  viel  wird  man  indessen 
sagen  können,  dass  nichts  zu  der  Annahme  berechtigt,  die 
Weichbildsfinanzverhältnisse  hätten  zum  Ausbruch  des  Auf- 
standes von  1374  wesentlich  beigetragen.  Allerdings  spielten 
finanzielle  Angelegenheiten  unter  den  Ursachen  dieses  Aufstandes 
eine  ganz  hervorragende  Rolle,  doch  traten  rücksichtlich  derselben 
die  Weichbilde  gegenüber  der  gemeinen  Stadt  vollständig  in  den 
Hintergrund. 

7.  Die  Finanzverwaltnng  der  gemeinen  Stadt  1354  und  1355. 

Die  Finanzverwaltung  der  gemeinen  Stadt  war  von  uns  bis  zum 
Jahre  1354  besprochen  worden.  Ihre  Lage  und  Entwicklung  in 
den  beiden  Jahrzehnten  vor  dem  Aufstande  zur  Darstellung  zu 
bringen,  diese  Aufgabe  tritt  jetzt  an  uns  heran.  Das  Material 
hierfür  ist  nicht  gerade  dürftig.  Gleich  für  den  Anfang  der 
Epoche  liegen  uns  die  Rechnungen  der  gemeinen  Stadt  von  1354 
und  1355  vor.  Auch  ganz  abgesehen  davon,  dass  die  jüngere 
der  beiden  nicht  vollständig  erhalten  ist,  können  sie  den  Ver- 
gleich mit  den  Altstädter  Rechnungen  aus  denselben  Jahren 
nicht  aushalten.  Denn  Einnahmen  enthalten  sie  ja  gar  nicht, 

')  S.  D.  I,  55. 

•)  H.  D.  I,  118. 


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lassen  uns  also  über  einen  Hauptteil  der  gemeinen  Finanz  Verwaltung 
im  unklaren  und  machen  es  auch  unmöglich,  das  Verhältnis  der 
Ausgaben  zu  den  Einnahmen  festzustellen.  Ausserdem  stehen 
die  Rechnungen  der  gemeinen  Stadt  hinter  den  altstädtischen 
auch  hinsichtlich  der  Anordnung  der  Posten  zurück.  Zwar  sind 
auch  in  jenen  Anfänge  einer  Kapiteleinteilung  zu  bemerken, 
aber  die  dabei  aufgestellten  Grundsätze  sind  keineswegs  streng 
befolgt.  Namentlich  tritt  das  in  der  Rechnung  von  1355  hervor, 
welche  im  Gegensätze  zu  der  von  1354,  wie  früher  bereits  gesagt 
wurde,  ein  besonderes  Kapitel  für  Pferdeschaden  nicht  mehr 
kennt  und  dazu  den  Mangel  einer  abschliessenden  Redaction 
sehr  stark  empfinden  lässt,  weit  stärker  als  ihre  Vorgängerin. 

Völlig  von  den  übrigen  Ausgaben  gesondert  sind  in  beiden 
gemeinen  Rechnungen  nur  die  Leibrenten  und  Weddeschatzzinse, 
welche  zusammen  ein  Kapitel  bilden.  Doch  sind  sie  innerhalb 
desselben  verschieden  behandelt.  Bezüglich  der  Leibgedinge 
erfahren  wir,  wie  in  den  Altstädter  Rechnungen,  nur,  welche 
Summen  an  den  einzelnen  Zahlungsterminen  für  diesen  Zweck 
verausgabt  sind,  während  von  den  Weddeschatzzinsen  jede  Rente, 
ja  jede  Rate  derselben  unter  Hinzufügung  des  Namens  des 
Empfängers  eingetragen  ist.  Im  Jahre  1354  zahlte  der  gemeine 
Rat  zu  Ostern,  Pfingsten,  Johannis  und  Aegidii,  Michaelis, 
Martini  und  Weihnachten  im  ganzen  85 V«  M.  an  Leibrenten, 
an  ablöslichen  Renten  zu  meist  ungenannten  Terminen  56  M., 
an  Leibrenten  und  ablöslichen  Renten  zusammen  also  141  M. 
1 Ferd.,  eine  Summe,  die  mit  7,7%  der  ganzen  Jahresausgabe 
gleichbedeutend  ist.  Der  höchste  Betrag  an  Leibrenten  wurde 
zu  Michaelis  mit  27  M.  % Ferd.  gezahlt,  die  grösste  Wedde- 
schatzrente  in  zwei  Raten  von  je  12%  M.  In  der  Rechnung 
des  Jahres  1355  liegt  das  entsprechende  Kapitel  nicht  vollständig 
vor.  Es  finden  sich  darin  von  den  Leibgedingzahlungen  nur  die 
zu  Aegidii,  Michaelis,  Martini  und  Weihnachten;  von  den 
Weddeschatzrenten  scheinen  nur  die  zweiten  Raten  aufgeführt 
zu  sein.  Die  Gesammtsumme  am  Ende  des  Kapitels  erreicht  in 
Folge  dessen  nur  eine  Höhe  von  74  M.  1%  Ferd.;  die  grössere 
Hälfte  dieses  Betrages,  38  M.  minus  % Ferd. , entfällt  auf  die 
Leibrenten,  die  allein  zu  Michaelis  eine  Ausgabe  von  22  M. 
3%  Ferd,  erforderten.  Unter  den  für  Weddeschatz  aufgewandten 
36%  M.  figuriren  vor  allem  zwei  Posten  von  je  12%  M.,  deren 
einer  sich  als  Rate  jener  schon  zum  Vorjahre  erwähnten  rück- 
käuflichen Rente  zu  erkenuen  giebt.  Insgcsammt  mögen  1355 


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ungefähr  145  M.  für  Leibrenten  und  Weddeschatzzinse  verausgabt 
sein,  nahe  an  6,5%  aller  Ausgaben.  Freilich  kann  diese  Summe 
den  Vorzug  unbedingter  Wahrheit  nicht  in  Anspruch  nehmen; 
letztere  würde  nur  dann  festgestellt  werden  können,  wenn  der 
verlorene  Teil  der  Rechnung  von  1355,  wo  ohne  Zweifel  die 
andre  Hälfte  unsres  Kapitels  zu  suchen  sein  würde , sich 
wiederfände. 

Wenden  wir  uns  nun  den  Ausgaben  zu,  welche  nach  Abzug 
der  Leibgedinge  und  des  Weddeschatzes  noch  übrig  bleiben  und 
ein  mehr  oder  weniger  buntes  Durcheinander  darstellen,  so  fällt 
sehr  auf,  wie  wenige  unter  ihnen  der  innern  Verwaltung  im 
weitesten  Sinne  des  Wortes  gedient  haben.  Zunächst  lässt  sich 
aus  beiden  Rechnungen  zusammen  nur  eine  Verwendung  für 
einen  friedlichen  Zwecken  gewidmeten  Bau  nachweisen:  zur 
Errichtung  eines  Wagehauses  in  der  Altstadt  wurden  1355  der 
gemeinen  Kasse  6%  M.  entnommen.  Dass  nicht  mehr  solcher  Bau- 
ausgaben anzutreffen  sind,  kann  indessen  nicht  Wunder  nehmen, 
lag  doch,  wie  wir  schon  früher  sahen,  die  Bauverwaltung 
innerhalb  der  Stadt  in  ausgedehntestem  Dmfange  den  Weich- 
bilden ob. 

Zahlreicher  sind  die  Aufwendungen,  welche  der  gemeine 
Rat  unsern  Rechnungen  zufolge  für  die  geistlichen  Stifter 
Braunschweigs  machte.  Aus  dem  Fragmente  von  1331  kehren 
1354  die  Zahlungen  an  das  Heiligegeistspital  und  die  Härings- 
spende  für  die  Minderbrüder  zur  Fastenzeit  wieder.  Ferner 
empfingen  im  letztgenannten  Jahre  die  Klöster  der  Stadt  aus 
der  gemeinen  Kasse  10  Pfd.  zur  Almosen  Verteilung,  während 
1331  nahe  an  7 M.  „ad  stipam“  gezahlt  wurden,  was  offenbar 
dasselbe  besagt,  wie  jener  Posten  von  1354.  In  der  Rechnung 
von  1355  begegnen  uns  die  Zahlungen  an  das  erwähnte  Spital 
nur  zum  Teil,  die  Fastenspende  und  die  Zuwendung  an  die 
Klöster  gar  nicht.  Auch  hieran  wird  die  ün Vollständigkeit  der 
genannten  Rechnung  schuld  sein. 

Unter  die  im  Interesse  innerer  Verwaltung  geschehenen 
Ausgaben  des  gemeinen  Rates  sind  schliesslich  noch  die  Be- 
soldungen und  Belohnungen  einer  Anzahl  von  Beamten  und 
Dienern  desselben  zu  rechnen.  An  ihrer  Spitze  muss  der 
Schreiber  genannt  werden,  dessen  Thätigkeit  sich  freilich  nicht 
auf  die  innere  Verwaltung  beschränkte.  Deshalb  gehört  sein 
Gehalt,  das  1354  und  1355  dasselbe  ist  wie  1331,  eigentlich  nur 
zum  Teil  hierher,  ganz  jedoch  die  Belohnung  für  seine  Mitarbeit 


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bei  der  Schosserhebung.  1331  empfing  er  bekanntlich  für  letztere 
1 M.,  1354  kommt  kein  derartiger  Posten  vor,  in  der  Rechnung 
von  1355  dagegen  zwei.  Beide  geben  als  Höhe  der  Vergütung 
1 M.  an  und  sind  weit  von  einander  getrennt.  Wenn  man  nun 
nicht  annehmen  will,  dass  1354  gar  kein  Schoss  erhoben  wurde, 
1355  aber  zwei  Mal  — eine  Annahme,  welche  einfach  deshalb 
unhaltbar  sein  würde,  weil  die  Altstädter  Rechnung  von  1355 
5'/s  M.  Nachschoss  aus  dem  Vorjahre  aufführt  — , so  kann  man 
sich  aus  dieser  Schwierigkeit  wohl  nur  durch  die  Erklärung 
helfen,  der  1354  ausgelassene  Posten  sei  nachträglich  in  die 
Rechnung  des  folgenden  .lahres  aufgenommen.  Ausser  dem 
Stadtschreiber  wird  in  unsern  Rechnungen  auch  verschiedentlich 
der  Vemeschreiber  erwähnt,  der  eine  wichtige  Rolle  bei  Ab- 
haltung des  städtischen  Vemedinges *)  spielte:  er  erhielt  damals 
zu  Ostern  und  zu  Michaelis  je  */4  M.,  in  dem  Fragment  von 
1331  kam  er  nicht  vor.  Zu  diesen  Schreibern  gesellen  sich 
ferner  der  Arzt,  dem  1354  ein  Kleidungsgeld  von  3]/a  Ferd. 
gezahlt  wurde,  der  im  übrigen  aber  von  Fall  zu  Fall  belohnt 
zu  sein  scheint,  der  Henker,  welcher  im  selben  Jahre  eine 
Einnahme  von  7 Lot  hatte,  der  Koch,  welchem  man  1355  seine 
Thätigkeit  mit  1 Pfd.  vergütete,  schliesslich  auch  einige  Diener 
für  untergeordnete  Besorgungen,  an  die  gleichfalls  kleinere  Posten 
verausgabt  wurden. 

Je  geringer  die  durch  die  innere  Verwaltung  dem  gemeinen 
Rate  verursachten  Kosten  waren,  um  so  bedeutendere  Aufwen- 
dungen musste  er  für  die  auswärtigen  Angelegenheiten  machen. 
Diese  Thatsache  findet  schon  darin  ihren  Ausdruck,  dass  allein 
an  Botenlohn  1354  21  Pfd.,  1355  25  Pfd.  ausgegeben  wurden, 
unzweifelhaft  aus  den  kleinsten  Posten  zusammengesetzte  Summen. 
Und  hierzu  kommen  dann  eine  ausserordentlich  grosse  Anzahl 
kleinerer  Beträge , die  gelegentlich  diplomatischer  Sendungen 
des  Schreibers,  anderer  Diener  des  Rates  oder  auch  einzelner 
Ratsherren  verbraucht  wurden,  hierzu  grössere  Summen,  welche 
erfordert  wurden,  wenn  zahlreiche  Vertreter  des  gemeinen  Rates 
an  wichtigen,  auswärts  gehaltenen  Versammlungen  und  Theiduugeu 
teilnahiuen,  oder  ein  Gesandter  desselben  lange  sich  hinziehende 
Unterhandlungen  führte.  Es  wäre  zu  weitläufig,  auf  die  Ein- 
tragungen dieses  Inhalts  näher  einzugehen;  nur  das  soll  nicht 
unerwähnt  bleiben,  dass  einige  bedeutendere  Ausgaben  bis  zu 

■)  Dia  Vemogorichtsordnung  of.  Br.  U.-B.  1,  28  uud  29. 


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einer  Höhe  von  über  38  M.  an  Johannes  von  Winhusen,  die 
mit  anderen  Posten  in  der  Rechnung  von  1354  unter  dem  Titel 
„ausgegeben  zu  Helmstedt-1  vereinigt  sind,  kaum  anders  als 
diplomatische  Unkosten  zu  nennen  sein  werden.  Denn  ver- 
schiedentlich wird  jener  in  beiden  Rechnungen  deutlich  als 
Unterhändler  der  Stadt  bezeichnet.  Mit  den  Zahlungen  an  ihn 
scheinen  mehrere  andre,  ebenfalls  nicht  geringfügige  nahe  verwandt 
zu  sein,  ln  der  grössten  unter  ihnen  den  Betrag  von  19  M. 
erreichend  wurden  sie  einem  gewissen  Johannes  Ebeling  geleistet 
und  demselben  Titel  zugewiesen  wie  jene.  Aller  Wahrschein- 
lichkeit nach  wurden  nicht  nur  die  Posten  Winhusens , sondern 
auch  die  Ebelings  bei  Verhandlungen  in  Helmstedt  verbraucht, 
die  man  sich  dann  als  sehr  umfangreich  und  lange  dauernd  zu 
denken  hätte.  Stoff  für  solche  Verhandlungen  war  ja  in  dieser 
Zeit  der  niedersächsischen  Städtebundebestrebungen, ')  an  denen 
Braunschweig  und  Helmstedt,  meist  gemeinsam  vorgehend,  sich 
eifrig  beteiligten,  in  Menge  vorhanden.  Sehr  fraglich  ist  es 
übrigens,  ob  man  den  Johannes  Ebcliug,  einen  Helmstedter 
Bürger,  in  dasselbe  Verhältniss  zum  Braunschweiger  Rate  setzen 
darf,  wie  den  Johannes  von  Winhusen,  sehr  fraglich  ferner,  ob 
man  auch  die  150  M.,  welche  ihm  der  gemeine  Rat  der  Rechnung 
von  1354  zufolge  schuldet,  und  die  110  M.,  welche  derselbe  ihm 
1355  zahlt,  in  irgendwelche  Beziehungen  zu  Verhandlungen  der 
angedeuteten  Art  zu  bringen  hat.  Die  grosse  Kürze  der  gemeinen 
Rechnungen  hinsichtlich  dieser  wie  mancher  andrer  Ausgaben 
wird  für  uns  zur  Unklarheit. 

Ziemlich  geringe  Aufwendungen  erforderten  1354  und  1355 
die  Bewirtung  und  Beherbergung  von  Gästen.  Ausser  zwei 
kleinen,  gelegentlich  des  Aufenthalts  von  Helmstedter  und 
Goslarer  Ratsherrn  in  Braunschweig  1354  verausgabten  Beträgen 
gehört  nur  eine  Summe  von  12  M.  hierher,  welche  dem  Rate 
im  folgenden  Jahre  ein  Besuch,  wie  es  scheint,  des  Herzogs  von 
Lüneburg  kostete.  Auch  Ehrengeschenke  an  befreundete  Herren 
treten  sehr  in  den  Hintergrund:  mit  Sicherheit  kann  nur  ein 
Posten  in  diesem  Sinne  verstanden  werden;  aus  seinem  Inhalt 
ergiebt  sich,  dass  die  Stadt  dem  Bischof  von  Hildesheim  zu 
Fastnacht  1355  zwei  silberne  Becher  im  Werte  von  6 M.  schenkte. 


')  Über  diese  Verhandlungen  unterrichtet  uns  üäuselmanus  Aufsatz: 
firauuschweigs  Beziehungen  zu  den  Harz-  und  Seegebieten,  in  Werkst.  I,  3 — öl. 


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90 


Zahlreicheren  und  bedeutenderen  Ausgaben  begegnen  wir 
erst  wieder,  wenn  wir  zu  den  Geldopfern  übergehen,  welche  dem 
gemeinen  Kate  Bestimmungen  von  Verträgen  und  Abkommen 
mit  Herren  und  Städten,  vor  allem  mit  den  Herzogen,  auferlegten. 
AU  der  Bischof  von  Hildesheim  1854  der  Bitte  der  Braunschweiger 
entsprach,  Zölle  und  Geleitgeldcr  aufzuheben,  die  seine  Amtleute 
auf  der  Liebenburg ’)  unrechtmässiger  Weise  eintrieben,  that  er 
es  nur  unter  der  Bedingung,  dass  die  Bittsteller  für  ihn  dem 
Rate  von  Goslar  10  M.  zahlten.  *)  Dementsprechend  finden  wir 
diese  Summe  in  der  gemeinen  Rechnung  des  genannten  Jahres 
eingetrugen.  Unbekannt  dagegen  sind  die  Umstände,  die  den 
Braunschweiger  Rat  veranlassten , im  selben  Jahre  dem  Grafen 
von  Regenstein  für  die  Goslarer  eine  Zahlung  von  10  M. , im 
folgenden  eine  solche  von  etwa  15  M.  zu  leisten  und  1355  ferner 
an  die  Herren  von  Honlege  für  die  Magdeburger  eine  Schuld 
von  24  M.  abzutragen.  Unbekannt  ist  auch  der  Grund,  weshalb 
der  Herzog  von  Lüneburg  aus  der  gemeinen  Kasse  im  gleichen 
Jahre  zwei  Mal  100  M.  empfing.  Da  im  letztem  Falle  die 
Summen  zu  gross  sind,  um  in  ihnen  ein  Geschenk  zu  erblicken, 
wird  man  vielleicht  besser  thun,  sie  als  Darlehn  gegen  irgend 
ein  Pfand  anzusehen,  das  leider  nicht  bestimmt  werden  kann. 
Ausführlicher  erweist  sich  die  Rechnung  von  1355  hinsichtlich 
einer  Ausgabe  im  Betrage  von  40  M.  an  Herzog  Ernst  den 
Altern:  wir  erfahren,  was  wir  schon  bei  einer  andern  Gelegenheit 
gesehen,  dass  derselbe  jene  Summe  für  eine  Münzverpfändung 
erhielt;®)  sein  Schreiber  wurde  für  das  Siegeln  der  Urkunde  mit 
'/*  M.  belohnt.  Andre  bedeutendere  Zahlungen  an  gewisse 
Herzoge,  in  der  ersten  der  beiden  Rechnungen  vorkommend, 
stehen  mit  Schlossverpfändungen  im  Zusammenhänge : wir  wollen 
sie  mit  unter  den  Aufwendungen  des  gemeinen  Rates  ftir 
militärische  Zwecke  besprechen , welche  in  seinen  Rechnungen 
dieser  Zeit  den  meisten  Platz  einnehmen  und  einen  überraschend 
grossen  Teil  der  sämmtlichen  Ausgaben  darstellen. 

310  M.  zahlte  die  Stadt  im  Jahre  1354  dem  Herzog  Wilhelm 
von  Lüneburg  dafür,  dass  derselbe  ihr  sein  Schloss  zum  Kampe4) 


')  Barg  bei  Schladen. 

*)  I.  G.  fol  10'  S 3 
s)  cf.  S.  44 

•)  Barg  nordöstlich  von  Braunschweig  an  der  Schunter. 


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91 


verpfändete1)  und  5 M.  kostete  ihr  noch  die  darüber  ausgestellte 
Urkunde.  Zur  gleichen  Zeit  gab  sie  dem  Herzog  Magnus 
200  M.  auf  sein  Schloss  Hessen;*)  weitere  200  M.  scheint  sie 
ihm  1355  geliehen  zu  haben,  denn  damals  verpfändete  ihr  der 
Herzog  das  genannte  Schloss  für  400  M.  *)  Doch  sucht  man 
jene  zweite  Zahlung  in  dem  uns  erhaltenen  Teile  der  Rechnung 
von  1355  vergebens.  Da  die  Gesamrotausgabe  der  gemeinen  Stadt 

1354  rund  1840  M.  betrug,  so  wurden  in  diesem  Jahre  nach 
dem  eben  angeführten  nicht  weniger  als  28°/0  derselben  für 
Pfandschlosserwerbungen  verwendet,  während  der  entsprechende 
Prozentsatz,  wenn  unsre  obige  Vermutung  richtig  ist,  bei  einer 
Gesammtauagabe  von  rund  2225  M.  1355  auf  9%  herabsank. 

Wie  aber  grosse  Summen  dazu  erforderlich  waren,  Schlösser 
in  Pfandbesitz  zu  bekommen,  so  kostete  es  auch  viel,  sich  diesen 
Pfandbesitz  nutzbar  zu  machen.  Darauf  war  in  Kürze  schon 
oben  hingewiesen,  und.  es  tritt  besonders  deutlich  in  unsern  beiden 
Rechnungen  hervor.  Namentlich  erreichten  die  Aufwendungen 
für  Burghut  eine  beträchtliche  Höhe.  Sowohl  1354  als  1355 
erhielten  der  Hüter  der  Hornburg  60  M.,  der  der  Asseburg 
30  M.;  für  die  Schlösser  zum  Kampe  und  Hessen  kommen  erst 

1355  Burghutzahlungen  vor,  für  jenes  eine  im  Betrage  von 
20  M.,  für  dieses  eine  von  50  M.  Was  das  Schloss  Neuhaus4) 
angeht,  welches  die  Stadt  ebenfalls  — fraglich  ist  es,  seit  wann  — 
im  Pfandbesitz  hatte,  so  scheinen  darauf  an  Burghut  jährlich 
20  M.  verwendet  zu  sein.  An  diese  Burgen  reiht  sich  noch  ein 
als  Bergfrid  am  Bruche  bezeichnetes  Kastell,  dessen  Befehlshaber 
vom  gemeinen  Rate  1364  15  M.  und  1355  12  M.  empfing. 

Die  sonstigen , durch  den  Pfandschlossbesitz  veranlassten 
Ausgaben , in  ihrer  Mannigfaltigkeit  früher  bereits  einmal 
geschildert,  sind  zum  grössten  Teil  in  unsern  Rechnungen  in 
besondern  Kapiteln  vereinigt,*)  deren  Titel  die  Namen  der 
betreifenden  Burgen  sind.  Das  der  Hornburg  schliesst  1354 
nach  Abzug  der  Burghut  mit  11  M.  1 1 •/,  Lot,  doch  gesellen 
sich  dazu  noch  eine  Anzahl  in  der  Rechnung  zerstreuter  Posten 

*)  cf.  auch  O.-U.  im  Br.  St.-A.  No.  168  und  Sudendorf  11,  237. 

*)  Burg  südlich  von  Sohöppenstedt. 

*)  Sudendorf  II,  267. 

*)  bei  Vorsfelde. 

■')  cf.  S.  50.  ln  diesen  Kapiteln  kommen,  so  weit  wir  erkennen  können, 
nicht  vor  Zahlungen  an  Zinsen  für  Anleihen,  die  behufs  Aufbringung  der 
Pfandsummen  gemacht  waren,  dagegen  treffen  wir  hier  als  neu  Ausgaben 
für  Bestellung  der  zu  den  Schlössern  gehörigen  Äcker. 


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92 


im  Gerammt  bei  rage  von  ungefähr  5 ’/„  M.  Für  die  entsprechen- 
den Ausgaben  auf  der  Asseburg  wurden  im  gleichen  Jahre  rund 
15  M.,  1355,  wo  die  Hornburg  nur  ganz  geringen  Aufwand 
erforderte,  rund  9 51 . verbraucht.  Bei  Übernahme  des 
Schlosses  zum  Kampe  im  ersten  der  beiden  Jahre  wurden  für 
das  auf  den  Feldern  stehende  Getreide  17  M.  gezahlt,  während 
die  Ausgaben  des  Jahres  1355  für  diese  Burg  eine  Höhe  von 
nicht  ganz  16  M.  erreichten.  Neuhaus  wurde  1354  mit  auffallend 
grossen  Kosten  verproviantirt,  tritt  aber,  wenn  auch  weniger  als 
die  Hornburg,  in  der  Rechnung  von  1355  in  den  Hintergrund. 
Ausserordentlich  gross  sind  im  letztem  Jahre  die  Summen, 
welche  auf  das  damals  erst  übernommene  Hessen  verwendet 
wurden:  zwei  hierfür  in  Betracht  kommende  Kapitel  ergeben  an 
Posten  der  bezeiehneten  Art,  unter  denen  Bauwerk  in  erster 
Reihe  steht,  einen  Gesammtbetrag  von  über  165  M. 

Als  die  zweite  Hauptgruppe  der  Ausgaben  des  Rates 
gemeiner  Stadt  für  militärische  Zwecke  stellt  sich  die  Gcsammt- 
heit  der  mannigfachen  Zahlungen  dar,  die  an  oder  für  die  ver- 
schiedenen Elemente  der  städtischen  Streitmacht  geleistet  werden 
mussten.  Kurzweg  als  Sold  bezeichnet  ist  in  der  Rechnung  des 
Jahres  1354  ein  Posten  von  364  M.  3 Ferd.,  in  der  von  1355 
ein  Posten  von  251  M.  Die  bedeutende  Differenz  der  beiden 
Summen  kann  kaum  darauf  beruhen,  dass  1355  weniger  Söldner 
im  Dienste  des  Rates  als  im  Vorjahr  gestanden  hätten;  zum  Teil 
wenigstens  erklärt  sie  sich  daraus,  dass  man  eine  Anzahl  von 
Beträgen,  welche  in  der  ältern  Rechnung  jener  grossen  Summe 
mit  eingefugt  sind,  in  der  zweiten  selbstständig  gelassen  und  überall 
zerstreut  eingetragen  hat.  Dieses  Sachverhältniss  streng  nach- 
zuweisen, ist  leider  nicht  möglich,  denn  es  wird  einerseits  durch 
die  Unbestimmtheit  so  vieler  Posten,  andrerseits  durch  die 
Unvollständigkeit  der  1355er  Rechnung  verhindert.  Ferner  aber 
sind  auch  1354  nicht  sämmtliche  Soldzahlungen  von  den  364  M. 
mit  umfasst:  wie  in  der  jüngern,  so  kommen  auch  in  der  ältern 
Rechnung  viele  verschieden  hohe  Ausgaben  bis  zu  1Ü  M.  vor, 
deren  Empfänger  teils  in  Kriegsdiensten  des  Rates  stehende 
Edelleute,  teils  gewöhnliche  Schützen  und  sonstige  gewappnete 
Knechte  wraren,  und  die  sicherlich  als  Sold  anzusehen  sind. 
Ausserordentliche  Belohnungen  einzelner  Söldner  für  besonders 
anstrengenden  Dienst  wie  er  beispielsweise  bei  Heerfahrten  und 
auf  den  Pfandschlössern  herrschte,  werden  wohl  alle  für  sich 
eingetragen  sein. 


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93 


Meist  ist  in  den  Sold  die  Beihülfe  zur  Kleidung  sicherlich 
mit  einbegriffen  gewesen,  zumal  da  derselbe  ja  iu  vielen  Fällen 
nur  aus  Kleidung  bestand, ')  doch  begegnen  uns  auch  häufig 
hierauf  bezügliche  besondere  Posten.  1354  wurden  für  die 
Renner  an  Kleidungsgeld  zu  Ostern  11  M.  2 Ferd.  3 Lot  aus- 
gegeben, zu  Michaelis  nicht  ganz  2'/«  M.,  während  derselbe 
Zweck  Michaelis  1355  etwas  über  2 ’/s  M.  erforderte.  Andre 
geringere  Beiträge  seien  übergangen,  und  nur  noch  darauf  hin- 
gewiesen,  dass  Herr  Konrad  von  Lutter,  der  damals  städtischer 
Hauptmann  gewesen  zu  sein  scheint,  im  letztgenannten  Jahre  für 
seine  Kleidung  5 M.  5 I.ot  bekam. 

Mit  der  Verpflichtung  des  Rates,  für  die  Zehrung  seiner 
Söldner,  sei  es  nun  aller  oder  nur  eines  Teils  derselben,  auf- 
zukommen, hängen  die  in  beiden  Rechnungen  sehr  häufig  sich 
findenden  Ausgaben  zusammen,  welche  durch  das  Wort  „pand- 
qnitinge“  gekennzeichnet  sind.  Man  hat  darunter  die  von  Zeit 
zu  Zeit  vom  Rate  vorgenommene  Auslösung  der  Faustpfänder  zu 
verstehen,  welche  seine  Söldner  bei  den  Wirten  für  Herberge 
und  Zehrung  hinterlegten.*)  Die  Höhe  der  für  diesen  Zweck 
verwendeten  Beträge  ist  sehr  verschieden,  indem  sie  zwischen 
wenigen  Schillingen  und  mehreren  Mark  schwankt;  in  der  grossen 
Mehrzahl  der  Fälle  sind  Edelleute  als  diejenigen  genannt,  für 
die  Pandquitinge  vollzogen  wurde.  Im  Anschluss  hieran  ist  zu 
erwähnen,  dass  den  Söldnern,  soweit  sie  beritten  waren  und  selber 
das  Futter  ihrer  Pferde  kauften,  ihnen  auch  die  Futterkosten 
ersetzt  wurden.  Verschiedne,  meist  kleinere  Posten  müssen  so 
gedeutet  werden.  Die  Renner  scheinen  je  zu  Ostern  und  zu 
Michaelis  1 M.  für  Hafer  erhalten  zu  haben,  und  1354  wurden 
an  den  Hauptmann  Konrad  von  Lutter  für  Heu  2 M.  3 Lot  und 
für  Hafer  3 M.  gezahlt,  Summen  die  sich  auf  einen  Zeitraum 
von  3*/t  Monaten  beziehen.  Auch  den  Hufbeschlag  der  den 
Söldnern  gehörenden  Pferde  musste  der  gemeine  Rat  aus  seiner 
Kasse  bestreiten,  nicht  minder  Reparaturen  am  Sattelzeug  und 
den  Waffen.  Häufig  sind  in  unsern  Rechnungen  endlich  Aus 
gaben  für  Neuanschaffung  von  Sattelzeug  und  Waffen,  namentlich 
Armbrüsten,  verzeichnet.  Bei  den  diesbezüglichen  Posten,  welche 
einen-  Meistbetrag  von  1 M.  nie  überschreiten,  gewöhnlich  weit 
darunter  bleiben,  handelt  es  sich  sehr  oft  um  Entschädigungen 


■)  cf.  S.  50  und  Werkstücke,  I,  110. 
s)  cf.  Werkst.  I,  111. 


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94 


für  im  Dienst  der  Stadt  erlittene  Verluste.  Auf  die  weite  Aus- 
dehnung der  Entschädigungspflicht  des  Rats  seinen  Söldnern  und 
den  kriegsdienstleistenden  Bürgern  gegenüber  brauchen  wir  hier 
nicht  noch  einmal  näher  einzugehen.  Doch  sei  erwähnt,  dass  in 
den  gemeinen  Rechnungen  von  1354  und  1355  in  erster  Linie 
der  Ersatz  von  Pferdeschäden  eine  Rolle  spielt.  In  jener  nehmen 
sie  ja  sogar  ein  besonderes  Kapitel  ein,  in  dem  wir  24  Posten 
von  */*  M.  bis  11M.  finden,  wälirend  die  Gesammtsumme  66  M. 
3 Ferd.  beträgt.  1355  fehlt  dieses  Kapitel  nicht  etwa  deshalb, 
weil  die  betreffenden  Aufwendungen  an  Bedeutung  verloren 
hätten;  sie  treten  uns  häufig  genug  bald  hier,  bald  da  in  der 
gewohnten  Höhe  entgegen. 

Neben  diesen  ausserordentlichen  Ausgaben  für  die  im  Kriegs- 
dienst gebrauchten  Pferde  kommen  indessen  auch  die  regel- 
mässigem stark  zur  Geltung.  1354  wird  eine  Summe  von  19  M. 
„pro  caballis  et  minoribus  equis  sustinendis“  verbraucht,  1355 
zahlt  man  aus  der  gemeinen  Kasse  33  M.  „illis,  qui  tenent  equos 
proprios,  cum  quibus  ’)  tarnen  serviendum  est  consulibus,  et  illis, 
qui  prestant  pabula  equis  pertinentibus  döminis  consulibus.“  Zu 
diesen  beiden  Hauptposten  gesellen  sich  noch  zahlreiche  kleinere 
Ausgaben,  meist  geringer  oder  nur  wenig  höher  als  1 M.,  deren 
Veranlassung  durch  die  technischen  Ausdrücke  „pro  cura  equo- 
rum“  oder  „pro  equo  tenendo“  — doch  auch  andre  finden  sich  — 
ersichtlich  ist.  Die  Neuanschaffung  von  Pferden  durch  den  Rat 
tritt  in  unsern  Rechnungen  gänzlich  zurück  und  erfordert  keine 
grossen  Summen. 

Heerfahrten,  wie  deren  bereits  im  Fragment  von  1331  ver- 
schiedne  erwähnt  wurden,  wirkten  auch  1354  und  1365  auf  die 
Finanzverwaltung  der  gemeinen  Stadt  ein.  Mit  ihnen  stehen 
zunächst  sehr  viele  Pandquitinge-  und  Entschädigungszahlungen 
im  Zusammenhänge;  was  letztere  angeht,  so  scheint  namentlich 
eine  Heerfahrt  oder,  wie  es  im  Texte  heisst,  eine  „reysa“  gegen 


')  Dieses  „cum  quibus“  glauben  wir  nicht  so  deuten  zu  dürfen,  als  ob 
die  betreffenden  Empfänger  selber  auf  diesen  Pferden  dem  Rate  gedient 
hätten,  sondern  so,  dass  jene  ihre  Pferde  an  den  Rat  zur  Verwendung  im 
Kriegsdienste  vermieteten  als  sogenannte  „Nachbarpferde“,  die  später  häufiger 
erwähnt  werden.  Das  cum  wird  für  die  erste  Auffassung  kaum  ins  Feld 
geführt  werden  können,  sie  würde  vielmehr  „in  quibus  (iis)  serviendum  est“ 
erfordern.  Ferner  spricht  auch  das  auf  proprios  gehende  tarnen  gegen  die- 
selbe. — Über  die  Nachbarpferde  cf.  Chron.  VI,  146  und  147.  Br.  IT.-B- 
122  § 266. 


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95 


Betzendorf, ')  die  in  beiden  Rechnungen  oft  genannt  wird,  ziemlich 
beträchtliche  Verluste  für  die  städtischen  Truppen  im  Gefolge 
gehabt  zu  haben.  Hinsichtlich  einiger  grösserer  Posten,  von  denen 
es  ganz  allgemein  heisst,  sie  seien  bei  dieser  oder  jener  Heerfahrt 
verbraucht,  kann  man  wohl  annehmen,  dass  durch  sie  ein 
Gemisch  verschiedner  Ausgaben  zusammengefasst  ist.  In  dem- 
selben dürften  freilich  die  Kosten  für  Proviant  die  Hauptrolle 
spielen.  Der  grösste  dieser  Posten,  1354  für  die  Heerfahrt  gegen 
Betzendorf  verausgabt,  erreicht  eine  Höhe  von  7 M.  1 Ferd. 

Schädigungen,  welche  die  städtischen  Kriegsleute  auf  ihren 
Zügen  und  Ritten  im  Lande  anrichteten,  musste  der  gemeine 
Rat  unter  Umständen  ersetzen,  vornehmlich,  wenn  sie  geistliches 
Gut  betrafen.  Diese  Verpflichtung  tritt  ganz  klar  bei  einer 
Zahlung  von  l1/*  Ferd.  hervor,  die  im  Jahre  1354  an  den 
Pfarrer  von  Uhrde*)  geleistet  wurde.  Und  auf  gleiche  Weise 
werden  wir  auch  einige  Ausgaben  des  folgenden  Jahres  zu 
erklären  haben,  deren  bedeutendste  hier  Erwähnung  Anden  möge: 
mit  6 M.  wurde  ein  vom  Kloster  Marienberg  bei  Helmstedt 
erlittener  Schaden  vergütet. 

In  ungefährer,  eher  zu  hoch  als  zu  niedrig  greifender 
Schätzung  können  wir  die  mannigfachen,  1354  und  1355  mittel- 
bar oder  unmittelbar  durch  die  Ansprüche  des  Wehr-  und 
Kriegswesens  hervorgerufenen  Aufwendungen  gleich  50  bis  60°/# 
sämmtlicher  Ausgaben  der  gemeinen  Stadt  setzen.  Eine  genauere 
Angabe  ist  leider  nicht  möglich,  indessen  wird  auch  diese 
ungenaue  genügen,  um  die  Wichtigkeit  des  zuletzt  besprochenen 
Gebietes  gemeiner  Finanzverwaltung  erkennen  zu  lassen. 

Ob  die  gemeine  Stadt  in  den  genannten  beiden  Jahren  mit 
ihren  gewöhnlichen  Einnahmen  auskam,  ja  vielleicht  mehr  als 
auskam,  oder  ob  sie  zur  Deckung  von  Deflcits  Anleihen  machen 
musste,  wiesen  wir  nicht,  da  wohl  die  Gesammtsummen  der 
Ausgaben,  nicht  aber  auch  die  der  Einnahmen  bekannt  sind. 
Es  ist  sehr  beklagenswert,  dass  die  gemeinen  Einnahmerechnungen 
von  1354  und  1355  uns  nicht  vorliegen,  aber  entweder  sind  sie 
verloren  gegangen,  oder  sie  wurden  überhaupt  nicht  aufgestellt. 
Und  letzteres  ist  allerdings  nicht  unwahrscheinlich.  Denn 
wenigstens  die  Rechnung  der  gemeinen  Stadt  von  1354  macht 


’}  Betzendorf,  Dorf  an  der  Jeetzel,  südlich  von  Salzwodel. 
*)  Ührde,  Dorf  bei  Schöppenstedt. 


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9fi 


durchaus  nicht  den  Eindruck,  als  ob  sie  uns  nur  verstümmelt 
überkommen  sei,  und  andrerseits  kann  man  kaum  annehmen, 
die  Einnahmen  des  gemeinen  Rates  seien  von  den  Ausgaben 
streng  geschieden  in  ein  andres  Buch  eingetragen,  da  man  in 
den  behandelten  Rechnungen  der  Altstadt,  die  aus  derselben 
Zeit  stammen  und  in  derselben  Kanzlei,  ja  von  derselben  Hand 
geschrieben  sind,  wie  jene  gemeinen  Ausgaberechnungen,  Elin, 
nähme-  und  Ausgabekapitel  vereinigt  und  nicht  einmal  in  zwei 
besondre  Abteilungen  getrennt  findet. 

Weshalb  man  aber  damals  keine  Verzeichnisse  der  gemeinen 
Einnahmen  anfertigte,  was  nach  dem  gesagten  nicht  völlig  ab- 
gewiesen werden  kann  und  unter  allen  Umständen  als  ein  Zeichen 
sehr  mangelhafter  Finanzverwaltung  angesehen  werden  müsste, 
bleibt  ganz  unklar.  Allenfalls  würde  man  dies  Verfahren  ver- 
ständlich finden,  wenn  jene  schon  wiederholt  betonte  Sitte,  gewisse 
bedeutende  Ausgaben  des  gemeinen  Rates  direkt  aus  Weich- 
bildsmitteln  zu  bestreiten,  auf  sämmtliche  Ausgaben  desselben 
sich  erstreckt  hätte  Aber  in  einer  so  straffen  Abhängigkeit 
befand  sich  die  gemeine  Finanzverwaltung  doch  zu  keiner  Zeit. 
Von  jeher  hatte  sie  Einnahmen  zur  selbstständigen  Verfügung 
und  namentlich  um  die  Mitte  des  14.  Jahrhunderts  können  diese 
keineswegs  unbeträchtlich  gewesen  seiu.  Zunächst  flössen  in  die 
Kasse  der  gemeinen  Stadt  ausser  den  Zins-  und  sonstigen  Erträgen 
des  Grundbesitzes  derselben  die  jährlichen  Überschüsse  aus 
Gülten  und  Zinsen  der  Weichbilde.  Sodann  wurde  in  dieselbe 
Kasse  im  wesentlichen  der  Schoss  abgeführt,  an  dem  um  1854 
wenigstens  die  Weichbilde  einen  grossen  Anteil  nicht  hatten. 
Letzteres  geht  aus  den  Einnahmeverzeichnissen  der  Altstädter 
Rechnungen  von  1354  und  1355  hervor:  ist  doch  in  beiden  nur 
je  ein  Nachschossposten  anzutreffen. i)  Des  weiteren  muss  man 
annehmen,  dass  damals  auch  die  Erträge  aus  den  gemeinsamen 
Erwerbungen,  vor  allem  den  Pfandschaften,  ungeschmälert  dem 
gemeinen  Rat  überwiesen  und  nicht,  wie  es  früher  wohl  geschehen, 
unter  die  beteiligten  Weichbilde  verteilt  wurden.  Auch  das 
lassen  jene  Altstädter  Rechnungen  erkennen,  indem  sie  unter 
den  Einnahmen  solche  aus  gemeinsamem  Pfandbesitz  nicht  auf- 
führen; denn,  was  dort  von  Vogtei-  und  Bierzolleiukünften  ver- 


■)  S.  79. 


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zeichnet  ist,  floss  der  Altstadt  auf  Grund  der  von  ihr  allein 
vollzogenen  Erwerbungen  zu.’)  Dagegen  fiel  in  den  Bereich  der 
gemeinen  Finanzverwaltung  die  Nutzung  des  mannigfaltigen 
Zubehörs  der  Pfandschlösser,  der  in  Acker,  Zollhebungen,  in 
Dorfgerichtsbarkeit  und  ähnlichen  Rechten  bestand ; *)  dazu 
gesellten  sich  die  Einnahmen  der  Stadt  aus  der  Münze’)  und 
spätestens  seit  1364  auch  solche  aus  den  Mühlen;4)  auch  einen 
Teil  der  Vogteierträge,  eben  den  nicht  der  Altstadt  zustehenden, 
erhob  der  gemeine  Rat:  man  darf  kaum  zweifeln,  dass  derselbe 
die  12  M.,  für  welche  er  1356  wie  1363  die  Vogtei  auf  je  ein 
Jahr  verpachtete,  für  Zwecke  der  gemeinen  Stadt  ver- 
wandte. Alle  bisher  genannten  Aufkünfte  dieser  sind  in  der 
durchstrichenen  Einnah ineliste  der  Altstädter  Rechnung,  deren 
merkwürdige  Zusammensetzung  bereits  erörtert  wurde,  nicht 
verzeichnet,  anders  ist  es  mit  dem  Judenzinse  *)  und  dem  Bier- 
zoll, von  denen  jener  1354  schon  seit  längerer  Zeit,  dieser  erst 
ganz  kürzlich  und  nur  vorübergehend  ®)  in  den  Kreis  der  gemeinen 
Finanz  Verwaltung  gezogen  war.  Jener  tritt  in  der  Liste  mit  einem 
Posten  von  30  M.  auf,  dieser  mit  einem  von  17’/*  M.,  welche 
Summe  im  Hagen , und  mit  einem  von  20  M.,  welcher  Betrag 
in  der  Neustadt  eingetrieben  wurde.  An  sonstigen  Einnahmen 
der  gemeinen  Stadt  haben  sich  in  die  Altstädter  Rechnung  von 
1354  verschiedene  grössere,  leider  nicht  näher  mehr  bestimmbare 
Zahlungen  verirrt,  ausserdem  einige  kleinere  Summen,  die  teils 
die  Verpachtung  von  Bergfriden,  teils  der  Verkauf  zum  Kriegs- 
dienst nicht  mehr  brauchbarer  Pferde  eintrug.  Alles  in  allem 
ist  jenes  wunderbare  Verzeichniss  durchaus  nicht  im  Stande,  uns 
eine  vollständige  Einnahmerechnung  gemeiner  Stadt  zu  ersetzen, 
insofern  aber  doch  recht  interessant,  als  es  in  seinen  hierher 
gehörigen  Posten  wenigstens  ein  Fragment  einer  solchen  bildet» 
das  bei  der  Mangelhaftigkeit  unseres  Materials  unzweifelhaft  von 
Wert  ist. 


*)  Über  den  Vogteianteil  der  Altstadt  vgl.  8.  21  und  32,  über  die 
Bierzollcrwerbung  dieses  Weichbildes  S.  41. 

*)  Wir  finden  in  den  Verpfändungsurkunden  reichhaltiges  Material 
darüber. 

»)  S.  41  ff. 

‘)  S.  44. 

•)  S.  46. 

•)  8.  41. 

Muck,  Finnnzgeachichte  der  Stadt  Braunzchweig.  7 


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8.  Oie  Schäden  der  gemeinen  Finanzverwaltung 
im  14.  Jahrhundert  und  die  finanziellen  Ursachen  des 
Aufstandes  von  1374. 

Behufs  der  technischen  Leitung  der  gemeinen  Finanz- 
verwaltung, über  deren  Gebiete  für  die  Mitte  des  14.  Jahrhunderts 
einen  Überblick  zu  geben  im  vorangehenden  versucht  wurde, 
setzte  in  dieser  Periode  der  gemeine  Rat,  wie  es  scheint  alljähr- 
lich, zwei  seiner  Mitglieder  als  Kämmerer l)  ein.  Ihnen  lag  es 
ob,  die  fälligen  Einnahmen  in  Empfang  zu  nehmen  und  zu  ver- 
wahren, die  erwachsenden  Ausgaben  davon  zu  bestreiten  und 
die  Rechnungen  aufzustellen,  auch  wurden  sie  wohl  mit  der 
Ausführung  vom  Rate  beschlossener  Finanzoperationen,  wie  der 
Aufnahme  von  Anleihen  und  ähnlichem,  beauftragt.  Immerhin 
wird  der  Kreis  ihrer  Geschäfte  einen  ziemlichen  Umfang  gehabt 
haben,  und  es  ist  sehr  fraglich,  ob  es  einer  sorgfältigen  Voll- 
ziehung derselben  zu  Gute  kam,  wenn,  was  ja  1354  und  wahr- 
scheinlich noch  öfter,  vielleicht  regelmässig  der  Fall  war,  die 
Kämmerer  der  gemeinen  8tadt  zugleich  dasselbe  Amt  in  der 
Altstadt  versahen,5)  ganz  abgesehen  von  andern  schon  berührten 
Übelständen,  welche  diese  Vereinigung  im  Gefolge  hatte.  Hätte 
letztre  nicht  bestanden,  so  wäre  vor  allem  wohl  eine  klarere  und 
praktischere  Rechnungsführung  schon  damals  zur  Ausbildung 
gekommen,  und  verschiedne  Missbräuche,  deren  wir  weiter  unten 
noch  genauer  zu  gedenken  haben  werden,  zum  mindesten  ein- 
geschränkt worden.  Ein  Hauptmangel  freilich,  das  Fehlen 
jeglichen  Voranschlages  und  das  damit  verbundene  Wirtschaften 
in  den  Tag  hinein  *),  wäre  auch  dann  kaum  zu  vermeiden 
gewesen.  Denn  bei  der  Unstätigkeit  der  politischen  Verhältnisse, 
den  eben  so  mannigfaltigen  als  plötzlich  eintretenden  An- 
forderungen des  „täglichen  Krieges“  war  eine  auch  nur  ungefähre 
Vorausberechnung  der  notwendigen  Ausgaben  und  somit  über- 
haupt die  Aufstellung  eines  Etats  schlechterdings  unmöglich.  — 
Fragen  wir  nun,  wie  es  mit  der  Kontrolle  über  die  Amtsführung 
der  beiden  Kämmerer  bestellt  war,  so  erhalten  wir  auch  in  dieser 


*)  Zwei  werden  in  der  gemeinen  Rechnung  von  135t  genannt. 

>)  of.  S.  83. 

*)  Hänselmann  Chron.  VI,  S.  324,  wo  auch  mit  Recht  darauf  hingewieson 
ist,  dass  bei  den  Weichbildsfinanzverwaltungen  das  Aufstellcn  von  Vor- 
anschlägen viel  eher  möglich  war.  Als  einen  Ansatz  zu  einem  solchen  kann 
man  das  Zinsbuch  der  Neustadt  von  c.  1330  betrachten. 


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Beziehung  eine  wenig  erfreuliche  Antwort.  Rechnungsablage 
mussten  die  Kämmerer  allerdings  leisten,  aber  nur  in  einem  sehr 
engen  Kreise.  Was  wir  darüber  erfahren,  ist  in  einem  Schreiben 
enthalten,  in  dem  sich  bald  nach  dem  Aufstande  die  vertriebenen 
Geschlechter  gegen  die  von  den  siegreichen  Gilden  erhobenen 
Anklagen,  namentlich  auch  gegen  den  Vorwurf  einer  schlechten, 
nachlässigen  .Finanzverwaltung  zu  rechtfertigten  suchten,  das 
also  eher  ein  zu  günstiges  als  ein  zu  ungünstiges  Bild 
der  Verhältnisse  liefert.  Nach  den  hierher  gehörigen  Sätzen 
des  Schreibens  bestand  in  Braunschweig  vor  dem  Auf- 

stande  ein  Ratsausschuss  von  acht  Mitgliedern , deren  vier 
der  Altstadt,  je  zwei  dem  Hagen  und  der  Neustadt  an- 
gehörten. Dieser  Ratsausschuss  „ging“ , wie  es  heisst, 
„zu  der  Rechenschaft  des  Rates“,  erledigte  allein  die  geheimen 
Angelegenheiten  der  Stadt  und  nahm  die  Rechnungsablage  der 
Kämmerer  entgegen.  Das  entsprach  dem  völlig  aristokratischen 
Regimente,  in  dem  die  Altstädter  Geschlechter  alles  bedeuteten. 
Nicht  nur  die  grosse  Masse  der  Bevölkerung,  sondern  auch  die 
Rateherren  aus  Sack  und  Altewik,  welche  beiden  Weichbilde  seit 
1345  auch  in  den  gemeinen  Säckel  steuerten  und  deshalb  Anteil 
am  gemeinen  Rate  erlangt  hatten,  bekamen  bei  solcher  Zusammen- 
setzung jenes  Ausschusses  von  der  finanziellen  Lage  der  Stadt 
keine  Kenntniss,  geschweige  denn,  dass  sie  Einfluss  auf  ihre 
Gestaltung  gehabt  hätten.  *)  Und  da  ferner,  wie  schon  einmal 
bemerkt,  auch  in  Hagen  und  Neustadt  Altstädter  Geschlechter  sich 
eingenistet  hatten  und  hier  eine  angesehene  Stellung  einnahmen,  *) 
war  es  geradezu  unausbleiblich,  dass  die  gemeine  Finanz- 
verwaltung vor  1374  hauptsächlich  ira  Interesse  jener  gehandhabt 
wurde.  So  lange  dies  geschehen  konnte,  ohne  dass  Steuern  und 
Auflagen  eine  drückende  Höhe  erreichten,  mochte  das  alte  System 
sich  behaupten;  sobald  aber,  sei  es  durch  Verschulden  der 
Regierenden,  sei  es  durch  unberechenbares  Unglück,  eine 
ungünstige  Finanzlage  harten  Steuerdruck  erforderte,  musste 
die  grosse  Masse  aufmerksam  werden  und,  des  Einblicks  in  die 
Rechnungen  entbehrend,  ihr  Misstrauen  auf  die  Geschlechter 
werfen,  die  allein  die  Finanz  Verwaltung  leiteten  und  um  alles 

')  Chron.  VI.  S.  823  und  3&9W-:  „desse  achte  pleghen  to  des  Kodes 
rekenscop  to  gande  unde  wirten  des  Rades  hemeliche  Ding,  unde  anders 
nemant  van  den  radlüden  unde  nemen  rekenscop  van  den  kemereren“  etc. 

»)  ib.  8.  323. 

•)  cf.  8.  24. 


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wussten.  Die  Vertriebenen  waren  also  wenig  berechtigt,  in 
ih  rer  Entschuldigung  auf  jenen  Ausschuss  hinzuweisen;  für  eine 
zweckmässige,  sparsame  und  selbstlose  Verwaltung  bot  sein 
Bestehen  keine  Bürgschaft.1) 

Die  bisher  beleuchteten  Missstände  waren  solche,  denen  die 
gemeine  Finanzverwaltung  als  ganzes  unterworfen  war;  man  kann 
sie  als  Grundschäden  bezeichnen.  Aus  ihnen  gingen  mehr  oder 
weniger  unmittelbar  eine  Anzahl  andrer  Missbrauche  und  Miss- 
stände hervor,  die  sich  nur  auf  einzelnen  Gebieten  jener  Finanz- 
verwaltung geltend  machten.  Unsere  Kenntniss  derselben  beruht 
im  wesentlichen  auf  der  heimlichen  Rechenschaft:  hier  ist,  worauf 
früher  schon  hingewiesen,  die  Schilderung  der  Reformen  atu  Ende 
des  Jahrhunderts  immer  auf  der  Schilderung  derjenigen  Mängel 
aufgebaut,  welche  diese  Reformen  den  Männern  der  neuen  Aera 
als  notwendig  erscheinen  Hessen.2) 

Starke  Missbrauche  waren  es  zunächst,  die  der  gemeinen 
Stadt  ihre  Haupteinnahme,  den  Schoss,  schmälerten.  Der  Schoss 
war  eine  direkte  und  ordentliche  d.  h.  alljährlich  gezahlte  Steuer, 
in  zwei  Bestandteile  zerfallend,  den  Vorschoss,  der  sich  als  ein 
Fixum  von  2*)  bis  höchstens  84)  Schill,  darstellt  und  von  allen 
Steuerpflichtigen  gleichmtissig  erhoben  wurde,  und  den  Schoss 
im  engern  Sinne,  dessen  Wesen  darin  beruhte,  dass  man  ebenso 
viel  Pfennige,  wie  der  Vorschuss  Schillinge  betrug,  von  jeder 
Mark  Wert  seiner  Habe  entrichten  musste.5)  Es  setzte  sich  also  der 
Schoss  aus  einer  Personal-  und  einer  Vermögenssteuer  zusammen.*) 
Die  jährliche  Schossquote  wurde  seitens  des  gemeinen  Rates  nach  Be- 
darf bestimmt,  während  die  Höhe  der  steuerbaren  Beträge  auf  dem 
Wege  eidlicher  Selbsteinschätzung  ermittelt  wurde.  Steuerpflichtig 
waren  im  allgemeinen  wohl  sämmtliche  selbstständigen  Einge- 
sessenen der  Stadt,  indessen  konnte  solchen  Leuten,  die  in  Folge 
irgendwelcher  kaufmännischen  Unternehmungen  oder  Renten- 
anlagen kein  baaree  Geld  zur  sofortigen  Verfügung  hatten,  die 


')  Oligarchische  Misswirtschaft  ist  bekanntlich  schon  für  mehrere 
deutsche  Städte  des  Mittelalters  nachgewiesen,  cf.  (thron.  I,  S.  295  f.  und 
Schönberg  a.  a.  0.  S.  27. 

’)  cf.  S.  15. 

*1  Chron.  VI,  S.  177, 

*)  ib.  8.  140. 

s)  ihid.  S.  137,  Note  2.  S.  318. 

*)  of.  Chron.  I,  8.  282  und  Schönberg,  a.  a.  O.  S.  88. 


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Schosszahlung  gegen  Hinterlegung  von  Pfändern  gestundet 
werden.  Wo  nun,  wie  in  Braunschwcig  vor  dem  Aufstande 
einerseits  die  Finanzverwaitung  der  nötigen  Energie  ermangelte, 
andrerseits  in  den  regierenden  Kreisen  Selbstsucht  und  Partei- 
iuteresse  sich  breit  machten,  lag  die  Gefahr  sehr  nahe,  dass 
diese  an  und  für  sich  schon  dem  Gemeinwesen  wenig  erspriess- 
liche  Gewohnheit  eine  missbräuchliche,  unerhörte  Ausdehnung 
finden  werde;  dann  musste  die  Stadt  grosse  Summen,  die  sie 
notwendig  brauchte,  lange  entbehren,  dann  mussten  sich  die 
Pfänder  massenhaft  ansammeln,  um  als  totes  Capital  daliegend 
viele  Zinsen  zu  fressen.  Und  wirklich  ist  es  dahin  gekommen, 
denn  die  heimliche  Rechenschaft  klagt  über  den  grossen  Schaden, 
den  jener  Brauch  der  Stadt  verursacht  habe. ') 

Entrichtet  wurde  der  Schoss  von  den  Steuerzaldern  auf  den 
Weichbildsrathäusern,  um  dann  von  den  Weichbildsräten  an  die 
gemeine  Kasse  abgeführt  zu  werden.  Älit  dieser  Sitte  stand  ein 
weiterer  Missbrauch  im  Zusammenhänge,  wie  gleichfalls  aus  der 
heimlichen  Rechenschaft  hervorgeht.  Dort  wird  uns  berichtet,*) 
im  Jahre  1396  sei  eine  Bestimmung  getroffen,  wonach  die 
Weichbildsräte  Schoss  und  Nachschoss,  sobald  sie  eingekommen 
seien,  in  den  gemeinen  Säckel  zahlen  und  den  Finanzbehörden 
gemeiner  Stadt  Rechenschaft  darüber  ablegen  sollten;  diese 
Einrichtung,  fügt  der  Verfasser  hinzu,  habe  der  Stadt  viel 
genützt,  und  ihr  Weiterbestehen  werde  sehr  förderlich  sein. 
Offenbar  hatten  demnach  in  früherer  Zeit  die  Weichbildsräte 
nicht  nur  die  Auszahlung  des  Schosses  an  den  gemeinen  Rat 
verschleppt,  sondern  auch,  zu  einer  strengen  Rechnungsablage 
nicht  verpflichtet,  mit  den  Erträgen  dieser  Steuer  ungehörig 
und  nachlässig  gewirtschaftet,  indem  sie  dieselben,  wenn  auch 
nur  zum  geringen  Teil,  den  Weichbildskassen  zu  Gute  kommen 
Hessen.  Beweise  dafür  haben  wir  in  den  Altstädter  Rechnungen 
von  1354  und  1355  gefunden. 

Da  der  Schoss  alljährlich  in  der  ersten  Woche  nach  Martini 
zu  zahlen  war , so  hatte  der  Rat  der  gemeinen  Stadt  in  dieser 
Zeit  immer  die  grössten  Baarmittel  zur  Verfügung.  Aber  erst 
spät,  erst  in  der  Periode  der  Reformen,  brachte  er  es  dahin, 
einen  so  günstigen  Umstand  gehörig  auszunutzen , indem  nun 
auch  die  wichtigsten  der  regelmässig  wiederkehrenden  Ausgaben, 


')  cf.  Chron.  VI,  S.  152  und  153:  ,\Vu  de  Rad  dat  sehod  vorderen  achal“. 
’)  ibid  S.  153  und  154:  „Van  dem  schote  to  vorderende“. 


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Leibgedinge  und  Weddeschatz,  in  jene  Zeit  verlegt  wurden. 
Vorher  waren  die  genannten  beiden  Arten  von  Renten  wahr- 
scheinlich stets  an  zwei  Terminen,  zu  Ostern  und  zu  Michaelis, 
ausgezahlt  worden,  *)  ein  Brauch , mit  dem  ein  böser  Missstand 
verknüpft  war.  Bei  der  geringen  Sorge  für  die  Zukunft,  welche 
die  Finanzverwaltung  charakterisirte,  bei  dem  Mangel  jeglichen 
Voranschlages  ist  es  sehr  erklärlich,  dass  die  Schosserträge 
ausserordentlich  rasch  verbraucht  wurden.  Und  so  hatte  man 
denn,  wie  die  heimliche  Rechenschaft  berichtet,  *)  sowohl  Ostern 
als  Michaelis  fast  nie  Geld  genug  flüssig  gehabt,  um  die  Anleihe- 
zinsen zu  bestreiten.  Da  diese  aber,  wollte  man  sich  den 
durchaus  nötigen  Credit  bewahren , so  pünktlich  wie  möglich 
gezahlt  werden  mussten,  so  blieb  nichts  andres  übrig,  als  sich 
das  fehlende  Geld  durch  neue  Anleihen  zu  verschaffen,  die 
ihrerseits  doch  auch  verzinst  sein  wollten.  Man  kann  leicht 
ermessen,  wie  sehr  derartige  kostspielige  Gebahrungen,  die  bei 
weniger  kopfloser  Wirtschaft  leicht  zu  vermeiden  gewesen  wären, 
einer  günstigen  Finanzlage  entgegenwirken  mussten. 

Aber  noch  ist  die  Reihe  der  Missstände,  deren  wir  hier  zu 
gedenken  haben,  nicht  zu  Ende:  ebenso  schlimme  und  folgen- 
schwere, ja  noch  schlimmere  fast  als  bei  der  Verwaltung  der 
Schosseinkünfte  und  der  Regelung  der  Schuldenverhältnisse, 
herrschten  auf  dem  für  die  gemeine  Stadt  so  bedeutungsvollen 
Gebiete  des  Kriegswesens.  Erforderte  die  grosse  Söldnerschaar, 
die  zu  halten  man  für  nötig  erachtete,  schon  an  und  für  sich 
sehr  grossen  Aufwand,  so  wurde  dieser  noch  dadurch  unver- 
hältnissmässig  gesteigert,  dass  man  es  an  strenger  Beaufsichtigung 
der  verwilderten  Bande  fehlen  liess.  Darum  war  es  letzterer 
sehr  leicht,  die  Stadt  an  allen  Ecken  und  Enden  zu  betrügen, 
wozu  ihnen  die  umfassende  Haftpflicht  derselben  die  beste 
Handhabe  bot.  Wer  konnte  es  ihnen  denn  nachweisen,  wenn 
sie  mehr  Entschädigung  forderten,  als  sie  in  Wahrheit  zu 

')  Allerdings  finden  wir  bereits  in  den  meisten  Verträgen  unseres 
Weddesohatzregisters,  die  vor  1374  abgeschlossen  sind,  als  Zahlungstermin 
Martini  festgesetzt.  Da  aber  jenes  Register  erst  l39ti  angelegt  ist  und  zwar 
sicherlich  im  Zusammenhänge  mit  den  Reformen,  die  damals  im  Anleihe- 
wesen der  Stadt  durchgeführt  wurden,  so  ist  es  nicht  unmöglich , dass  erst 
in  dieser  Zeit  der  genannte  Zahlungstermin  für  die  vor  1374  verkauften 
Renten  vereinbart  und  nun  auch  die  betreffenden  Weddeschatzbriefe  dem- 
gemäss abgeändert  wurden. 

*)  Chron.  VI,  S.  154  und  155:  ,Wu  se  den  tyns  to  gevende  brachten  uppe 
eyne  tiid“. 


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beanspruchen  hatten,  wenn  sie  sich  für  Verluste  bezahlen  Hessen, 
von  denen  sie  gar  nicht  betroffen  waren?  Vor  allem  kamen  die 
betrügerischen  Manipulationen  der  Söldner  mit  ihren  Pferden 
dem  gemeinen  Rate  teuer  zu  stehen.  Aus  der  heimlichen 
Rechenschaft  erfahren  wir,1)  dass  ein  Teil  dieser  Gesellen  zwei, 
ja  drei  Pferde  im  Jahre  verbrauchte,  indem  sie  eins  nach  dem 
andern,  um  das  Futtergeld  zu  sparen,  verhungern  Hessen;  andre 
wieder  trieben  es  noch  schlimmer : auf  Kosten  des  Rates  fütterten 
sie  ihre  Pferde  heraus,  verkauften  sic  dann  zu  hohen  Preisen 
und  steckten  den  Erlös  in  die  eignen  Taschen.  Jenen  wie  diesen 
musste  der  gemeine  Rat  die  zur  Anschaffung  neuer  Pferde 
nötigen  Summen  auszahlen  oder  wiedererstatten.  Dass  dieses 
Unwesen  nur  bei  ungesunden  Zuständen  sich  entwickeln  und 
zur  Blüte  gelangen  konnte,  ist  wohl  kaum  zu  bestreiten.  Man 
erkennt  auch  hieraus  mit  Sicherheit  die  Unfähigkeit  und 
Schlaffheit  der  gemeinen  Verwaltung  vor  der  Reform. 

Schwieriger  ist  es,  sich  ein  richtiges  Urteil  über  einen 
andern  mit  dem  städtischen  Kriegswesen  zusammenhängenden 
Übelstand  zu  bilden,  unter  dem  die  öffentlichen  Finanzen  Braun- 
schureigs  arg  zu  leiden  hatten.  Dieser  beruhte  auf  den  gewaltigen 
Verwendungen  für  die  Pfandschlösser.1)  Die  Pfandsummen, 
durch  Ausgaben  für  Bauten  und  von  Zeit  zu  Zeit  auch  durch 
beträchtliche  Nachschüsse  noch  erhöht,  mussten,  zum  grossen 
Teil  wenigstens,  durch  hoch  verzinsliche  Anleihen  herbeigeschafft 
werden,  und  was  die  mit  den  Schlössern  verpfändeten  Acker  und 
ertragsfähigen  Rechte  einbrachten,  wurde  von  den  Aufwendungen 
für  Burghut,  für  mancherlei  Reparaturen,  für  Verproviantirung 
und  Besoldung  der  Besatzung,  so  weit  die  Stadt  für  letztere  auf- 
zukommen hatte,  weit  übertroffen.  Freilich  darf  der  mittelbare 
Nutzen  der  Pfandschlösser,  welcher  daraus  erwuchs,  dass  sie  den 
Bürgergütern  und  dem  Handel  Schutz  gewährten,  nicht  zu 
gering  geachtet  werden ; wenn  man  indessen  die  Entwicklung 
des  Pfandschlosswesens  auch  nur  während  der  Zeit  normaler 
Verhältnisse  verfolgt  d.  h.  bis  gegen  Ende  der  sechziger  Jahre 
des  14.  Jahrhunderts,  so  wird  man  sich  kaum  dem  Eindruck 
entziehen  können,  als  ob  der  Rat,  den  wahren  Vorteil  des 
Gemeinwesens  aus  den  Augen  lassend,  einerseits  allzu  viele 
Burgen  pfandweise  erworben,  andrerseits  auf  einzelne  derselben 


')  Chron.  VI,  S.  148:  „Wu  de  marstello  dichtet  worden“.  Werkst.  I,  112. 
*)  ibid.  S.  144:  „Dat  me  sek  hoede  vor  pandsloten“. 


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unvcrhältnissmässig  grosse  Summen  bewilligt  und  verwendet  habe. 
Zum  Beleg  für  den  zweiten  Punkt  seien  zunächst  die  Verhältnisse 
des  am  frühesten  in  die  Hand  der  Braunschweiger  gelangten 
Pfandschlosses  angegeben,  als  das  wir  die  Asseburg  kennen 
lernten.  1470  M.  betrug  die  Pfandsumme  bereits  bei  der  Ver- 
pfändung von  1345  ;J)  230  M.  kamen  1358  in  Folge  eines 
Darlehns  an  die  Herzoge  Magnus  und  Ludwig  hinzu, ä)  und,  als 
der  erstgenannte  im  November  1367  die  Verpfändung  der 
Asseburg  wieder  um  drei  Jahre  verlängerte,  hatte  die  Stadt 
schon  2500  M.  daran  stehen.8)  Ganz  ähnlich  gestalteten  sich 
die  Angelegenheiten  des  Schlosses  zum  Kampe.  Während  in 
der  Urkunde  über  die  erste  Verpfändung,  die  von  1354,  die 
Pfandsumme  zu  310  M.  angegeben  ist, 4)  erreichte  diese  mit  der 
zweiten  Verpfändung  im  Jahre  1357  schon  eine  Hohe  von 
440  M.8)  und  zwei  Jahre  später  bekannte  sich  Herzog  Wilhelm 
dem  Rate  mit  200  M.  verschuldet,  für  die  unter  gewissen 
Umständen  gleichfalls  jene  Burg  zu  Pfand  gesetzt  werden  sollte.  *) 
Auch  eine  Urkunde  von  1366  mag  hier  erwähnt  werden,  in 
welcher  derselbe  Herzog  dem  Rate  gestattete,  50  M.  am  Hause 
zum  Kampe  zu  verbauen.7)  Noch  schneller  aber  als  die 
Pfandsummen  für  die  Asseburg  und  den  Kamp,  wuchs  diejenige 
für  Hessen.  Bei  der  ersten  Verpfändung,  im  Jahre  1355,  betrug 
sie  400  M.,H)  bei  der  zweiten  dagegen,  nur  drei  Jahre  später, 
nicht  weniger  als  1200. 9)  100  M.,  die  Herzog  Magnus  1359  dem 
Rate  schuldig  zu  sein  bekannte,  sollten,  wenn  sie  nicht  bis  zu 
Weihnachten  des  nächsten  Jahres  zurückgezahlt  wären,  zu  jener 
Summe  geschlagen  werden ;,#)  dieselbe  wurde  auch  dadurch 
vergrössert,  dass  1363  der  gemeine  Rat  ein  Burglehn  auf  Hessen 
für  40  M.  erwarb.  u) 


’)  ef.  S.  46.  cf.  Dürre  S.  348  ff. 
J)  cf.  Sudendorf  III,  41. 
s)  Sudendorf  HI,  226. 

*)  cf.  S.  90. 

*)  O.-D.  im  Br.  St.-A.,  No.  174. 
•)  O.-U.  im  Br.  St.-A.,  No  193. 
’)  O.-U.  im  Br.  St.-A..  No.  218. 
»)  cf.  S.  91. 

•)  Sudendorf  HI,  140. 

,0)  Sudendorf  HI,  56. 

")  O.-U.  im  Br.  St.-A.,  No.  202. 


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105 


Eingelöst  wurde  in  der  Periode  von  1365  bis  1370  von  allen 
Pfandschlössern  Braunschweigs  nur  eines,  die  Hornburg,  wenn 
wenigstens  der  Bischof  von  Halberstadt  seine  beiden  Kündigungen 
von  1364’)  ausführte,  was  einigermassen  zweifelhaft  ist.*)  Da- 
gegen wurden  in  dieser  Zeit  mehrere  Schlösser  dem  gemeinen 
Kate  zum  ersten  Male  verpfändet.  1363  übergab  ihm  Herzog 
Magnus  das  Schloss  Esbeck  und  die  Stadt  Schöningen  gegen 
eine  Pfandsumme  von  804  M.,  *)  gegen  eine  solche  von  600  M. 
1364  Herzog  Wilhelm  von  Lüneburg  das  Haus  Vorsfelde, 4) 
um  diese  Verpfändung  im  nächsten  Jahre  unter  Erhöhung  der 
Summe  auf  700  M.  zu  wiederholen8)  und  den  Bürgern  1367  zu 
gestatten,  60  M.  an  Vorsfelde  zu  verbauen.*)  Ebenfalls  1365 
gelobte  Heinrich  von  Wenden  dem  Rate  von  Braunschweig,  dem 
er  100  M.  schuldete,  dafür  mit  dem  Schlosse  Jerxheim  zu  Dienste 
zu  sitzen, T)  und  1366  bekam  letzterer  vom  Bischof  Gerhard  von 
Hildesheim  die  Liebenburg  für  500  M.  in  Pfandbesitz.  *)  — Zur 
Genüge  kann  man  aus  diesen  Anführungen  ersehen,  wie  grosse 
Capitalien  durch  das  Pfandschlosswesen  der  Verfügung  der 
gemeinen  Finanz  Verwaltung  entzogen  wurden,  und  offenbar 
machte  sich  das  recht  fühlbar.  Musste  sich  doch  die  Stadt 
bereite  damals  entschliessen,  einzelne  der  Pfandschlösser  zeitweilig 
weiter  zu  verpfänden.  Indessen  bedang  sie  sich  dabei  wohl 
immer  aus,  dass  der  neue  Inhaber  das  Schloss  für  sie  jeder  Zeit 
offen  halte  und  ihr  auf  Erfordern  Beistand  gegen  ihre  Feinde 
leiste.  So  kam  um  die  Mitte  der  sechziger  Jahre  Hessen  in  die 
Haud  der  Herren  von  Wenden,*)  und  1367  übertrug  der  Rat 
Stadt  und  Haus  Vorsfelde  auf  drei  Jahre  für  300  M.  den  Herren 
von  Bertensleve, 10)  während  er  1371,  um  dies  gleich  hier  hin- 


’)  I.  G.  fol.  16:  am  28.  Januar  und  am  28.  September. 

’)  1372  finden  wir  den  Rat  schon  wieder  im  Besitz  der  Homburg: 
I,  G.  fol.  28  >. 

*)  Sudcndorf  HI,  14.  Esbeck  liegt  dicht  bei  Schöningen. 

4)  O.  - U.  im  Br.  St.  -A. , No.  206.  Vorsfelde  liegt  nördlich  von 
Braunschweig. 

4)  O.-U.  im  Br.  St.-A.,  No.  211. 

•)  O.-U.  im  Br.  St.-A.,  No.  224. 

>)  O.-U.  im  Br.  8t.-A.,  No.  213. 

•)  O.-U.  im  Br.  St.-A.,  No.  219. 

»)  I G.  fol.  25. 

*")  O.-U.  im  Br.  St.-A.,  No.  223. 


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106 


zuzufügen,  die  Asseburg  auf  drei  Jahre  an  Heinrich  Kerlchof 
gab.1)  Aber  das  waren  nur  halbe  Mussrcgeln,  denn  die 
Schlösser  wurden  ja  längst  nicht  alle  und,  wie  das  Beispiel 
Vorsfeldes  zeigt,  bei  weitem  nicht  um  die  Summen  weiter 
gegeben,  welche  die  Braunschweiger  daran  stehen  hatten.  Von 
Grund  aus  konnte  dem  Übel  nur  dadurch  abgeholfen  werden, 
dass  man  den  Weg  einschlug,  einige  wenige  Pfandschlösser  fest- 
zuhalten, die  übrigen  aber  gegen  Rückerstattung  der  darauf 
verwendeten  und  gezahlten  Summen  ihren  Besitzern  wieder  aus- 
zuliefern. Dahin  kam  es  jedoch  erst  in  der  Zeit  der  Reformen;1) 
die  Ursache,  weshalb  nicht  schon  früher,  nicht  schon  vor  1374 
so  verfahren  wurde,  war  sicher  zum  guten  Teil  der  Geldmangel 
der  Herzoge,  nicht  allein  Hartnäckigkeit  und  Verblendung 
des  Rates. 

Übrigens  wären  alle  die  geschilderten  Missbrauche  und 
Übelstände  in  der  gemeinen  Finauzvervvaltung  für  sich  allein 
kaum  im  Stande  gewesen,  die  Stadt  derartig  in  Schulden  zu 
stürzen,  dass  ein  so  gewaltiger  Aufstand,  wie  es  der  von  1374 
war,  dadurch  hätte  veranlasst  werden  können.  War  doch  am 
Ende  der  sechziger  Jahre  die  gemeine  Stadt  keineswegs  über- 
mässig von  Schuldenlast  gedrückt.  Diese  betrug  damals  nach 
der  heimlichen  Rechenschaft  1587  M.  2 Ferd.,  ein  Capital,  das 
jährlich  mit  148  M.  3 Ferd.  Leibrenten  verzinst  werden  musste.*) 
Ist  auch  diese  Angabe  der  heimlichen  Rechenschaft  sicher  nicht 
ganz  genau,  da  der  Rat,  wie  wir  mit  Gewissheit  aus  detn  unter 
den  Quellen  genannten  Weddeschatzregister  nach  weisen  können, 


*)  O.-U.  im  Br.  St.-A.,  No.  244. 

’)  Chron.  VI,  S.  151  und  152. 

a)  Auf  welchen  Zeitpunkt  diese  Angabe  der  hoimlichen  Rechenschaft 
(Chron.  VI,  8.  135)  geht,  ist  nicht  genau  zu  bestimmen.  Fast  scheint  es, 
dass  das  Jahr  1367  ins  Auge  gefasst  ist,  indem  an  die  Schilderung  der 
Finanzlage  der  Stadt  in  der  heiml.  Rechenschaft  die  Niederlage  Herzogs 
Magnus  (of.  S.  107)  mit  den  Worten  angeknüpft  wird:  „Darna  gevel  sek“  etc. 
Da  aber  andrerseits  eben  dort  die  Sache  so  dargestellt  wird,  als  ob  jene 
Summe  erst  gewachsen  sei  durch  die  Anleihen,  welche  die  Verpfandung  von 
Wolfenbüttel  erforderte  (cf.  Chron.  VI,  S.  136  und  137),  so  fragt  es  sich,  wann 
die  ersten  jener  Anleihen  aufgenommen  wurden.  Die  erste  Verpfändung 
Wolfenbüttels  erfolgte  1370,  aber  vielleicht  erst,  nachdem  Herzog  Magnus 
schon  verschiedentlich  grössere  Summen  von  den  Braunschweigeru  erhalten 
hatte. 


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107 


in  jener  Zeit  auch  Weildeschatzzinse  zu  zahlen  hatte,1)  eo  wird 
man  sich  doch  im  wesentlichen  auf  sie  verlassen  können.  Denn 
in  den  meisten  Fällen,  wo  eine  Kontrolle  der  heimlichen  Rechen- 
schaft durch  ihr  Quellenmaterial  möglich  ist,  erweisen  sich  ihre 
Zahlenangaben  als  durchaus  wahr,  so  dass  man  die  hier  sich 
darbietende  Schwierigkeit  vielleicht  durch  die  Annahme  beseitigen 
darf,  unter  jenen  kurzweg  als  Leibrenten  bezeichneten  148  M. 
3 Ferd.  sei  auch  der  Weddeschatz  mit  einbegriffen.  1354  hatte 
die  Stadt,  wie  früher  mitgeteilt  ward,  zur  Verzinsung  ihrer 
Anleihen  141  M.  1 Ferd.  aufwenden  müssen,  *)  nur  7 */t  M.  mehr 
wurden  also,  wenn  unsre  obige  Vermutung  das  richtige  trifft, 
etwa  anderthalb  Decennien  späterfür  denselben  Zweck  ausgegeben. 
Aber  dieses  langsame,  geringe  Anwachsen  der  Schulden  Braun- 
schweigs  ging  plötzlich  in  ein  rapides  Steigen  über,  dessen 
Hauptgrund  sowohl  fremdes  als  eigenes  politisches  Missgeschick 
war.  Der  erste  grosse  Schlag,  der  die  gemeine  Finanzverwaltung 
traf,  hing  mit  der  Niederlage  Herzogs  Magnus  des  Alteren 
zusammen,  welche  demselben  am  3.  September  1367  der  Bischof 
Gerhard  von  Hildesheim  bei  Farmsen  und  Dinklar  beibrachte.®) 
Eine  der  Folgen  dieses  Ereignisses  war,  dass  der  in  Gefangen- 
schaft geratene  Herzog  für  einen  Teil  der  ihm  auferlegten 
Schatzung,  für  3800  M.,  dem  Bischof  sein  Schloss  Wolfenbüttcl 
zu  Pfände  setzen  musste.  Da  in  der  ausbedungenen  Frist  die 
Zahlung  jener  Summe  nicht  geleistet  wurde,  so  drohte  der  Ver- 
fall des  genannten  Pfandes  an  das  Bistum  Hildesheim.  Doch 
nimmermehr  konnten  die  Braunschweiger  dulden,  dass  dicht  vor 
den  Thoren  der  Stadt  — ein  Teil  derselben,  im  wesentlichen  aus 
den  Weichbilden  Altstadt,  Neustadt  und  Sack  bestehend,  gehörte 


')  Noch  1396  werden  gezahlt:  1.  eine  Weddeschatzrente  von  3 M.,  die 
1361  für  100  M.  verkauft  war;  2.  eine  solche  von  6 M. , die  der  Kat  1366 
für  140  M.  verkauft  hatte.  Diese  beiden  können  wir  mit  Sicherheit  für 
unsre  Behauptung  ins  Feld  führen;  ungewiss  ist  es,  ob  unter  den  1587  M. 
3 Ferd.  auch  mit  eingerechnet  sind:  1.  eine  Jiente  von  16  M.,  die  1367  für 
200  M.  und  2.  eine  von  24  M.,  die  1367  für  300  M.  der  Hut  verkaufte.  Jene 
betrug  später  nur  noch  12  M.,  von  dieser  hatte  1395  der  Rat  8 M.  für 
100  M.  wieder  zurückgekauft.  Beide  Anleihen  waren  vielleicht  bereits  im 
Interesse  Herzogs  Magnus  gemacht.  Wahrscheinlich  musste  übrigens  um 
1367  die  Stadt  auch  noch  einige  der  Woddeschatzrenten  zahlen,  die  in  den 
gemeinen  Rechnungen  von  1354  und  1355  auftreten. 

*)  cf.  S.  86. 

*)  cf.  (Jbron.  VI,  S.  135  und  136.  Beachte  auch  Anm.  4 dort,  denn 
noch  Dürre  S.  157  giebt  fälschlich  an,  Herzog  Magnus  II.  sei  damals  bosiegt. 


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108 


zur  Hildesheimer  Diöccse  ')  - der  mächtige  Bischof  sich  festsetzte; 
es  gelang  ihren  Anstrengungen  auch,  die  drohende  Gefahr  zu 
verhüten,  allein  nur,  indem  sie  dem  Herzoge  das  Geld  Vor- 
schüssen und  Wolfenbüttel  selbst  einnahmen.  Aus  den  Einkünften 
der  gemeinen  Kasse  konnten  indessen  die  3800  M.  nicht  beschafft 
werden,  auch  die  Weichbildskassen  scheinen  ihren  Dienst 
versagt  zu  haben;  nichts  blieb  übrig  als  neue  Anleihen.  Für 
1000  M.  verpfändete  der  Rat  die  Burg  Hessen  dem  Edlen  Kord 
von  Lutter;  den  grossem  Rest,  2800  M.,  brachte  er  durch  den 
Verkauf  von  — wahrscheinlich  achtproeentigen ?)  — Wedde- 
8chatzrenten  an  Bürger  und  Gotteshäuser  der  Stadt  auf.  So 
wurde  dieser  denn  das  Schloss  Wolfenbüttel  zuerst  1370  um 
1200  AI.,8)  dann  1373  um  3781  M.  verpfändet:4)  binnen  kurzer 
Zeit  waren  ihre  zu  verzinsenden  Schulden  — jene  für  Hessen 
erhaltenen  1000  M.  berücksichtigen  wir  hier  also  nicht  — nahezu 
verdreifacht  um  den  Preis  eines  beschwerlichen , kostspieligen 
Pfandes.  *)  Aber  es  sollte  noch  schlimmer  kommeu.  Am 
St.  Martinsabend  1373  wurden  Herzog  Ernst  und  die  Braun- 
schweigcr  vor  dem  Eime  von  den  Magdeburgern  besiegt,  und 


')  cf.  Dürre  S.  369. 

*)  Dieser  Zinsfuss  ist  aus  einigen  im  1.  Wcddeschatzregistcr  noch 
erhaltenen,  offenbar  hierher  gehörigen  Vertrügen  zu  erkennen.  Dauach  nahm 
die  Stadt  187(1  ein  Mal  40t),  ein  Mal  200,  ein  Mal  150,  drei  Mal  100,  1371 
ein  Mal  150,  1372  ein  Mal  50  M.  sämmtlich  zu  3 °/o  auf. 

•)  Sudendorf  IV,  12. 

4)  Sudendorf  IV,  228. 

s)  So  stellt  sich  diese  Angelegenheit  nach  der  heimlichen  Rechenschaft 
im  Verein  mit  den  oben  genannten  Urkunden  dar.  Wie  damit  folgendes, 
bei  Sudendorf  V,  9 gedruckte,  seinem  Charakter  nach  nicht  näher  bestimmte 
Verzeichnis  in  Übereinstimmung  gebracht  werden  muss,  ist  vollständig 
unklar.  Dasselbe  lautet: 

„Nota  super  Wulf  XXI“  marce  et  X Vlllt  inarca  puri. 

Item  pro  expensis.  ln  novo  Castro  ßarsfelde  V“  marce  sine  censu. 

Item  super  Vorsfelde  VII“  marce  UXXVII  marce  sine  censu. 

Item  II“  marce  pro  Lüttere  domino  Luppoldo  de  Steinbeke. 

Census  annualis  huius  XVI  marce. 

Ccnsus  super  XXI“  marcas  et  XVIII1  marenm  supra  seriptas  centum 
marce  cum  LXX  marcis  minus  dymidia  marca. 

Summa  summarum  huius  XXXVII“  marce  puri  et  LXXXI  maree  puri. 
super  hanc  summain  habent  literam  domini  duois  super  wolfclbutle  Burgen- 
sibus  in  Bruusw.  Obligation.  Litere  super  Varsfelde  debent  adhuc  domino 
representari.  Super  hoc  habcut  unam  literam  a domiecllis  nostris  ipsis 
noviter  datam  super  L marcas,  ijuas  dederunt  Borch  de  Steinbeke“. 


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1Ö9 


viele  der  erstem  gerieten  in  Gefangenschaft. ')  Nicht  weniger 
als  4000  M.  Lösegeld  wurden  dem  gemeinen  Rate  abgefordert 
und  zu  600  M.  berechnete  man  den  Schaden  an  verlorener  Habe. 
Schon  jene  3800  M.  für  Wolfenbüttel  aufzubringen,  war  sicherlich 
sehr  schwierig  gewesen,  als  weit  schwieriger  aber  stellte  es  sich 
heraus,  jetzt,  so  bald  nachher,  eine  noch  grössere  Summe  zu 
beschaffen.  Zwar  hatte  der  Rat,  wie  wir  aus  dem  gegen  die 
aufständischen  Gilden  gerichteten  Anklageschreiben  der  Ver- 
triebenen erfahren,  ungefähr  200UÜ  M.  an  den  Pfandschlösseru 
stehen*)  — immer  höher  waren  die  Pfandsummen  gewachsen  — , 
doch  war  ihm  die  Verfügung  über  dieses  Capital  entzogen. 
Denn,  wie  gleichfalls  die  Vertriebenen  behaupten,  durfte®)  man 
einerseits  jene  Burgen  an  andere  Pürsten  und  Herren  nicht 
weiter  verpfänden,  andrerseits  waren  weder  Ritter  noch  Knechte 
im  Lande  zu  finden,  die  über  so  grosse  Mittel  verfügten,  dass 
sie  der  Stadt  Pfandschlösser  hätten  abnehmen  können.  Neue 
Leib-  und  Weddeschatzrenten  zu  verkaufen,  versuchte  der  Rat 
entweder  gar  nicht,  da  er  von  vornherein  diese  Operation  als 
aussichtslos  ansah,  oder,  wenn  er  es  versuchte,  wird  er  bald  die 
Erfahrung  gemacht  haben,  dass  der  Credit  der  gemeinen  Finanz- 
verwaltung völlig  vernichtet  war.  Und  wie  man  auf  diesem 
Wege  jene  4600  M.  nicht  auftreiben  konnte,  so  wollte  man  es 
nicht  durch  eine  Erhöhung  des  Schosses.  Ausdrücklich  wird 
uns  mitgeteilt , hiervon  sei  abgesehen  worden , da  der  Schoss 
bereits  6 Schill.  Vorschoss  und  6 Pfenn.  von  jeder  Mark  betragen 


')  cf.  Chron.  VI,  S.  136  und  137.  Eigene  Beilage  Hänselmanns  hierüber: 
ibid.  S.  302  fl'.  Unrichtig  ist  dort  S.  303  angegeben,  der  betreffende  Herzog 
Ernst  sei  der  Oheim  der  regierenden  Herzoge  von  Braunschweig  (Magnus  II. 
und  seines  Brudors)  gewesen.  Dieser  Ernst,  der  Bruder  Magnus  I.,  war 
schon  1367  gestorben  (cf.  Hopf,  historisch -genealog.  Atlas  I,  8.  187  oder 
Cohn,  Stammtafeln,  Tafel  85),  so  dasB  der  1373  geschlagene  Ernst  nur  der 
Bruder  Magnus  II.  gewesen  sein  kann. 

’)  of.  Chron.  VI,  S.  346leff- 

*)  ibid : . . „darumme,  dat  se  der  vorsten  slot  anderen  nicht  vorpenden 
mochten“.  „Mochten“  ist  hier  sicherlich  mit  durfteu  zu  übersetzen,  (cf.  Schiller- 
Lübben,  mnd.  Wörtcrb.  s.  v.  mögen).  Dieses  durften  kann  man  in  doppelter 
Weise  erklären:  zunächst  durfte  die  Stadt,  wie  aus  den  Verpfandungs- 
Urkunden  sich  ergiebt,  nicht  ohne  die  Zustimmung  der  Herzoge  die  Schlösser 
weiter  verpfänden,  und  diese  mussten  es  natürlich  nach  allen  Kräften  zu 
verhindern  suchen,  dass  ihre  Burgen  in  die  Hand  mächtiger  Kivalen  kämen ; 
andrerseits  musste  auch  die  Stadt  im  e i ge  n en  Interesse  Weiterverpfändungen 
an  starke  Machthaber  vermeiden. 


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110 


habe.  Man  war  sich  wohl  ganz  klar  darüber,  dass  die  grosse 
Masse  eine  weitere  Schosserhöhung  nicht  ruhig  hinnchinen  werde; 
vielleicht  qder  vielmehr  gewiss  klagte  jene  auch  jetzt  schon  über 
Bedrückung  durch  den  Schoss  und  fing  an  der  Finanzverwaltung 
der  Geschlechter  eine  misstrauische  Aufmerksamkeit  zuzuwenden. 
So  musste  denn  der  Rat  an  andre  Auflagen  denken , wagte  es 
aber  nicht  mehr,  aus  alleiniger  Machtvollkommenheit  solche  neu 
einzuflihren.  Vielmehr  wurde  eine  Versammlung  einberufen,  zu 
der  ausser  den  Ratsmitgliedern  auch  die  Gildemeister  zugezogen 
wurden : *)  hier  schilderte  der  Bürgermeister  die  Lage  der 
gemeinen  Finanzen,  hier  setzte  er  die  Vorschläge  des  Rats  zur 
Beschaffung  der  nötigen  Summen  auseinander.*)  Was  die 
Absichten  desselben  waren , darüber  weichen  die  Angaben  der 
Gilden  und  der  Vertriebenen  von  einander  ab.  Die  ersteren 
behaupten,  der  Rat  habe  neue  Abgaben  von  Laken,  Korn, 
Häusern,  Wein,  Bier,  Vieh  und  anderen  Dingen  erheben  wollen, 
indem  sie  namentlich  die  Absicht  auf  Verringerung  der  Wein- 
und  Biergemässe  betonen.8)  Indessen  machen  ihre  Behauptungen 
den  Eindruck  der  Übertreibung.  Möglich  zwar  ist  es,  dass  man 
alle  die  genannten  Auflagen  in  Erwägung  gezogen  hat,  aber 
wohl  nur,  um  unter  ihnen  zu  wählen,  nicht,  um  sie  sämmtlich 
neben  einander  und  gleichzeitig  ins  Leben  zu  rufen  ; denn  darin 
hätte  ja  geradezu  eine  Aufforderung  zum  Aufstande  gelegen. 
Berücksichtigt  man  dies,  so  wird  man  den  Angaben  der  Ver- 
triebenen weit  mehr  vertrauen,  da  sie  nur  von  dem  Vorhaben 
berichten,  von  jedem  braunschweigischen  Scheffel  eingeführten 
Getreides  1 Pfenn.  erheben  zu  lassen,4)  ein  Vorhaben,  das 
allerdings  insofern  wenig  glücklich  war , als  ja  durch  die 
genannte  Auflage  das  Brod  verteuert  worden  wäre.  Jedoch  kam 
es  nicht  zur  Ausführung  auch  nur  dieses  Planes.  Am  Schlüsse 
der  erwähnten  Versammlung  wurden  die  Gildenmeister,  welche 
nach  Aussage  der  Vertriebenen  und  der  heimlichen  Rechenschaft 

')  Chron.  VI,  8.  137  und  S.  34tj « “• 

*)  Chron.  VI,  S.  346  «*■ 

»)  Chron.  VI,  S.  360  «ff- 

*)  Chron.  VI,  S.  346  ” "•  Hänsclmnnn  ibid.  S 329  und  Note  3 spricht 
auch  über  den  Widerspruch  zwischen  der  Aussage  der  Gilden  und  der  der 
Vertriebenen.  Seinen  Worten:  „mau  schwankte,  ob  dieselbe  (sc.  die  neue 
Auflage)  auf  eingeführtes  Kaufmannsgut,  auf  Korn,  Wein,  Bier,  Vieh  oder 
lieberauf  alles  dies  zugleich  zu  legen  sei“,  können  wir  nach  dem  eben  Gesagten 
nicht  beistimmen. 


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111 


gegen  die  Korngülte  keinen  erheblichen  Einwand  vorgebracht 
zu  haben  scheinen,  ’)  beauftragt,  mit  ihren  Gilden  über  die  neue 
Auflage  zu  beraten.  Aber  die  Nachgiebigkeit  des  gemeinen 
Rates  gegen  die  Gilden  war  zu  spät  erwacht;  ehe  die  Be- 
ratungen der  letzteren  stattfinden  konnten,  brach  mit  elementarer 
Wucht  der  grosse  Aufstand  los,*)  der  die  Geschlechterherrschaft 
stürzte  und  in  Hinsicht  der  gemeinen  Finanzverwaltung  so 
heillose  Zustände  schuf,  wie  sie  vor  1374  auch  nicht  annähernd 
bestanden  hatten.  Nur  ein  gutes  hatten  sie:  die  Reform  von 
Grund  aus  machten  sie  zur  unabweislichen  Notwendigkeit  und 
mit  der  Reform  begann  eine  neue  und  zwar  die  glänzendste 
Epoche  in  der  Finanzverwaltung  der  Stadt  Braunschweig. 

«)  Chron.  VI.  8.  137,  347  > *•  *. 

*)  Chron.  VI,  8.  137 : „Dyt  i»  vsn  der  schiebt  to  Brunswig“. 


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E.  Oruh  n 's  Buchdrucker*!,  WarnibruDn. 


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TJ  ntersuohungen 


zur 


Dentscbeii  Staats-  and  Recltsgasclictita 


heraußgegeben 

von 

Dr.  Otto  Gierke, 

Professor  der  Hechte  an  der  Universität  Berlin. 


XXXIII. 

Beiträge  zur  Geschichte  der  Einzelerbfolge 

im  Deutschen  Privatrecht 

von 

Dr.  jur.  G.  Frommhold, 

GeriehtsttMMor. 


Breslan. 

Verlag  von  Wilhelm  Koebner. 
1889. 


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Beiträge 

zur 

Geschichte  der  Einzelerbfolge 

im  Deutschen  Privatrecht. 


Von 

,,*v 

j 

Dr.  jur.  Cjt.  X^roiiimliold,  ; ft  ; 

Ocrichtsassessor. 


Breslau. 

Verlag  von  Wilhelm  Koebner. 
1889. 


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Vö  rbemerku  ng. 


Ziel  und  Zweck  der  vorliegenden  Arbeit  ist  nicht  sowohl, 
eine  unzweifelhaft  vorhandene  Lücke  in  der  Geschichte  des 
deutschen  Erbrechts  auszufullcn,  als  vielmehr  durch  Sammlung 
und  Sichtung  von  mannigfach  verstreuten  Quellenzeugnisscn  zu 
erneuter  Forschung  nach  dem  Entstehen  und  Werden  der 
deutschrechtlichen  Einzelerbfolge  in  den  Grundbesitz  Anlass  zu 
geben.  Ist  doch  dieses  eigenthümliche  und  interessante  Rechts- 
instit nt  gerade  in  der  Gegenwart  in  dem  bäuerlichen  Anerben- 
recht wiederum  zu  praktischer  Bedeutung  gelangt,  und  wird 
doch  seine  gesetzliche  Weihe  in  dem  künftigen  Rechtsbuch  des 
deutschen  Volkes  lebhaft  gewünscht.  Sicherlich  kann  aber  eine 
richtige  Beurtheilung  und  Würdigung  desselben  nur  in  der 
Kenntniss  seiner  Geschichte  wurzeln.  Mit  Recht  sagt  Molina 
gerade  bei  Erörterung  dieser  Frage : vera  namque  rerum  cognitio, 
sccundum  philosoph um,  a causis  prioribus  derivatur,  et  recte 
eam  rem  scimus,  quam  ex  prioribus  causis  cognoscimus.  *) 

Zu  dieser  Kenntniss  einiges  beizutragen,  war  mir  ein  lange 
und  lebhaft  gehegter  Wunsch.  Sollten  sich  neben  dem  gesammelten 
Stoffe  einige  Gedanken  finden,  welche  zur  Aufhellung  des  über 
diese  Frage  schwebenden  Dunkels  brauchbar  befunden  würden, 
so  wäre  dieser  mein  erster  Versuch  rechtsgeschichtlicher  Arbeit 
von  überreichem  Erfolge  gekrönt. 

Breslau,  im  October  1889. 

F. 


*)  de  iiispanuruin  primogeniorum  originc  ac  natura  (Coloniae  1601) 
lib.  1,  cap.  2. 


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Inhalt. 

Seite 

I.  Grundeigentum  und  Erbfolge  in  den  Volksrcchten 1 

II.  Prinzip  der  Gleichberechtigung  und  Geraeinderschaften  ....  11 

III.  Entwicklung  der  Einzelerbfolge 19 

A.  Lehenrecht 20 

B.  Dienst-  und  Hofrecht 27 

Anhang 34 


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I.  Grrundeigenthnm  und  Erbfolge  in  den 
Volksrechten. 


ln  keinem  Gebiet  des  Privatrechts  ist  der  innige  Zusammen- 
hang des  Rechts  mit  den  allgemeinen  Kulturzuständen  so  un- 
mittelbar und  klar  erkennbar  als  im  Erbrecht.  Aus  der 
eigeuthiimlichen  Gestaltung  des  Erbrechts  eines  Volkes  können 
wir  wichtige  Schlüsse  ziehen  nicht  bloss  auf  die  wirtschaftlichen 
Zustände  in  dem  rechtserzeugenden  Zeitraum,  sondern  auch 
namentlich  auf  den  Charakter  und  die  Denkweise  des  Volkes, 
welches  die  Satzungen  geschaffen  hat.  Wenn  wir  in  1.  24 
D.  de  V.  8.  50,16  lesen:  hereditas  nihil  aliud  est,  quam 
successio  in  Universum  jus,  quod  defunctus  habuit  und  in  1.  50 
pr.  D.  de  H.  P.  5,3:  hereditas  etiam  sine  ullo  corpore  juris 
intellectum  habet,  so  schliessen  wir  mit  Recht  aus  dieser 
scharfen,  möglichst  den  Begriff  wiedergebenden  Ausdrucksweise 
auf  eine  hohe  Entwicklungsstufe  der  rechtserzeugenden  Macht. 
Eine  ähnliche  Begriffsbestimmung  des  Erbrechts  findet  sich  in 
den  älteren  germanischen  Rechtsquellen  überhaupt  nicht;  aber 
ziehen  wir  einmal  zur  Vergleichung  einen  Satz  aus  dem  Rechts- 
buche  heran,  welches  dem  deutschen  Volke  dieselben  Dienste 
leisten  sollte,  wie  den  Römern  die  Justinianeische  Kodification, 
nämlich  den  Satz  des  Sachsenspiegels  I,  6 § 1 : mit  swilcheme 
güte  der  man  stirbit,  daz  heizet  allez  erbe,  ’)  so  springt  uns  die 
Verschiedenheit  der  durch  diese  Sätze  gekennzeichneten  Denk- 
operationen beider  Völker  sofort  in  die  Augen.  Dort  das  Suchen 


')  vgl.  öengler,  Lehrbuch  des  d.  Priv.-R.  II,  § 216  S.  1283. 

Frommhold,  Einxelerbfolge.  I 


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2 


nach  dem  Wort,  welches  möglichst  getreu  den  Gedanken  wieder- 
giebt,  die  Darstellung  des  Erbrechtsbegriffs  als  eines  werdenden 
Rechts  (successio),  *)  hier  das  Haften  am  Thatsächlichen , die 
Darstellung  des  Greifbaren,  der  Erbschaftsmasse.  Ja,  wir 

können,  tiefer  cindringend  und  aus  der  Sprache  selbst,  der  für 
die  Erforschung  der  Volksseele  lautersten  Quelle  schöpfend,  in 
den  Worten  sogar,  nach  ihrer  etymologischen  Bedeutung,  jene 
Verschiedenheit  erkennen:  dort  heres,  der  Herr,  dessen  Wille 
das  herrenlose  Vermögen  weiter  beherrschen  soll , hereditas,  die 
Masse,  welche  der  Herrschaft  dieses  Willens  unterworfen  ist, 
und  hier : erbe,  das  erarbeitete  Gut,  das  Gut,  in  dem  die  Arbeit 
eines  Mannes  steckt,8)  und  die  Bezeichnung  des  Nachfolgers 
als  „Erben“  d.  i.  Zugreifers,  Anfassers.8)  Wenn  wir  hiernach 
vermuthen,  dass  im  germanischen  Recht  dasjenige  Gut,  in 
welchem  die  mühevollste  Arbeit  des  Menschen  vergraben  liegt, 
der  Grundbesitz,  eine  weit  bedeutendere  Rolle  gespielt  haben 
müsse,  als  im  Römischen  Recht,  welches  in  demselben  nur  ein 
gleichwerthiges  Stück  der  gesammten  Vermögensmasse  erblickt, 
so  finden  wir  diese  Vermuthung  in  der  That  im  altgermanischen 
Erbrecht  bestätigt.  Abweichend  vom  römischen  Recht,  welches 
beide  Geschlechter  hinsichtlich  der  Erbberechtigung  völlig 
gleichstellt  und  keinen  Unterschied  bezüglich  des  beweglichen 
und  unbeweglichen  Nachlasses  macht,  findet  nach  der  Mehrzahl 
der  altgermanischen  Volksrechte  eine  eigenthümliche  Zurück- 
setzung der  Weiber  bei  der  Erbfolge  in  den  Grundbesitz  statt. 
Nach  den  gründlichen,  von  Opet  über  diese  Frage  besonders 
angestellten  Untersuchungen4)  bezog  sich  der  Ausschluss  der 
Weiber  nur  bei  den  Longobarden  auf  die  gesamrate  Erb- 


')  vgl.  R.  v.  Ihering , der  Kampf  ums  Recht,  8.  16:  „Die  Idee  des 
Rechts  ist  ewiges  Werden.“ 

*)  vgl.  Gierke,  das  Deutsche  Genossenschaftsrecht,  I S.  5t. 

*)  vgl.  v.  Amira,  Erbenfolge  und  Verwandtschaftsgliederung  nach  den 
altniederdeutschen  Rechten,  8.  213;  Heusler,  Institutionen  des  Deutschen 
Privatrechtes  H,  § 178  8.  560. 

•)  vgl.  Gierke’s  Untersuchungen  zur  Deutschen  Staats-  und  Rechts- 
geschichte,  Heft  25,  8.  48  flg.,  81. 


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3 


schuft,  wobei  freilich  zu  erwägen  ist,  dass  t hatsächlich  der 
Grundbesitz,  nach  Abrechnung  von  Heergeräthe  und  Gerade,  in 
welche  besondere  Erbfolge  eröffnet  war,  die  Erbschaft  meist 
erschöpft  haben  wird.  In  den  meisten  übrigen  Yolksrechten 
waren  die  Weiber  von  vornherein  nur  von  der  Erbfolge  in 
Immobilien  ausgeschlossen.  So  enthält  die  lex  Salica  in  ihrer 
ursprünglichen  Fassung  den  Grundsatz:  de  terra  vero  nulla 
in  muliere  hereditas  non  pertinebit,  sed  ad  virilem  sexura, 
qui  fratres  fuerint,  tota  terra  pertineat.')  In  späteren  Texten 
werden  die  Frauen  von  der  terra  Salica  ausgeschlossen.*)  Was 
unter  dieser  terra  Salica  zu  verstehen , darüber  herrscht 
andauernd  lebhafter  Streit:  die  einen  verstehen  darunter  alles 
salfränkische  Land , ohne  Unterscheidung  einer  bestimmten  Art 
von  Grundeigeuthum,  *)  andere  den  Herrensitz  (von  sal,  Herren- 
haus),4) andere  endlich  das  jedem  freien  Salfranken  bei  der 
Londtheilung  zugefallcne  Ackerloos  (sors),  das  Stammland, 
welches  zum  Hofe  gehörte.5)  Die  letztere  Ansicht  scheint  am 
meisten  für  sich  zu  haben.*)  Die  lex  Salica  würde  hiernach 
übereinatimmcn  mit  der  lex  Ripuaria , welche  die  Weiber 
gleichfalls  nur  ausschliesst  von  der  Erbfolge  in  die  hereditas 
aviatica,  womit  unstreitig  das  von  den  Vätern  ererbte  Gut,  das 
Stammgut,  gemeint  ist. 7)  Nach  sächsischem  und  burgundischem 
Recht  sind  die  Weiber  insofern  zurückgesetzt,  als  der  gesammte 


')  1.  Sal.  (Behrend)  tit.  69  § 6. 

*)  vgl.  auch  den  allerdings  verderbten  Text  des  capit.  Langob.  Chi», 
eod.  I.  1 (Pertz  leguffi  I,  S.  191):  de  terra  vero  Saliga  nulla  hereditati» 
mulicris  veniat,  »ed  ad  virilem  sexu  tota  terra  hereditatiB  perveniat. 

*)  »o  unter  anderen  Gierke,  Erbrecht  und  Vioinenrecht  im  Edikt 
Cbilperich«  in  der  Zeitschrift  für  Rechtsgeschichte,  Bd.  XII,  8.  447,  dagegen 
mit  Recht  Opet  a.  a.  O.  S.  94. 

4)  so  Schröder,  Forschungen  zur  Deutschen  Geschichte  XIX  S.  149. 
*)  so  Roth,  Geschichte  des  Benefizialwesena  8.  66;  Waitz,  Das  alte 
Recht  der  salischen  Franken  8.  118;  Saudhaas,  gerrnan.  Abhandl.  8.  171; 
v.  Amira  a.  a.  0.  S.  12,  40.  Heusler  a.  a.  O.  II,  g 183  S.  675  A.  9;  noch 
andere  offenbar  unrichtige  Ansichten  vgl.  bei  Opet  a.  a.  O.  S.  33. 

•)  vgl.  üpet  a.  a.  0.  S.  36. 

*)  1.  Rip.  (Pertz  leg.  V)  tit.  66  § 4. 

1* 


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4 


Grundbesitz  in  erster  Linie  au  die  Söhne,  und  erst  in  deren 
Ermangelung  an  die  Töchter  fiel,1)  während  sie  nach  thüringi- 
schem Recht  neben  Männern  überhaupt,  gleichwie  ira  ältesten 
salischen  Recht,  von  der  Erbfolge  in  den  Grundbesitz  ausge- 
schlossenwaren.4) Wenn  wirvondem  bairischen  und  allemanuischen 
Recht  absehen,  hinsichtlich  deren  die  Meinungen  über  darin  fest- 
gesetzte Gleichstellung  oder  Zurücksetzung  des  Weiberstammes 
getheilt  sind,*)  so  ist  bemerkens werth,  dass  gerade  diejenigen 
Rechte,  welche  sich  vom  Einfluss  römischen  Wesens  und  römischer 
Rechtsanschauung  möglichst  freigehalten  haben,  die  Zurücksetzung 
der  Weiber  am  schärfsten  durchfuhren,  während  die  Völker,  welche 
früher  und  leichter  mit  den  Römern  in  nähere  und  dauernde 
Berührung  kamen,  die  Gleichberechtigung  beider  Geschlechter  an- 
erkennen. Letzteres  ist  insbesondere  im  westgothischen  Recht  der 
Fall,  welches  direkt  ausspricht:  foemina  ad  hereditatem  patris  vel 
matris  . . . aequaliter  cum  fratribus  veniant;  für  diese  Ab- 
weichung von  den  übrigen  deutschen  Rechten  schien  auch  eine 
Begründung  nothwendig:  nam  justum  omnino  est,  ut  quos 
propinquitas  naturae  cousociat,  hcreditariae  successionis  ordo 
non  dividat. 4)  Dass  diese  Abweichung  auf  den  Einfluss  des 
römischen  Rechts  zurückzuführen  ist,  erscheint  zweifellos.4) 

Wenn  wir  nun  nach  dem  Grunde  für  diese  eigenthümliche 
Bevorzugung  des  Mannsstammes  forschen,  so  müssen  wir  uns 
auf  einen  sozial-wirthschaftlichen  Standpunkt  stellen.  Wir  wissen 
aus  der  Kulturgeschichte  und  finden  dies  noch  heute  durch 
tägliche  Erfahrungen  bestätigt,  dass  den  nachhaltigsten  Einfluss 
auf  Leben  und  Charakter  der  Völker  die  Beschaffenheit  des 
Grund  und  Bodens , auf  welchem  sie  leben  und  von  dem  sie 
sich  nähren,  ausübt.  Richtig,  wenn  auch  etwas  pathetisch  ist 


')  vgl.  1.  Saxonum  (Pertz  leg.  V)  tit.  41;  1.  Burgund.  (Pertz  leg.  III) 
tit.  14,1;  Opet  a.  a.  O.  S.  54  flg. 

')  1.  Angl,  et  Wenn.  (Walter  I)  tit.  6,1 ; Opet  S.  60  flg. 

",  vgl.  Opet  a.  a.  O.  8.  66  flg. 

*)  1.  Wiiig.  (Walter  I)  1.  IV  tit.  2 $ 9. 

b)  Oengler,  a.  a.  O.  8.  1320,  1321.  Opet,  a.  a.  O.  8.  65. 


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5 


die  Schilderung  Sommere:  „Nach  der  heiligen  Sage  ist  der 
Mensch  der  Erde  entnommen.  Kann  es  uns  Wunder  nehmen, 
dass  er  sich  erdverwandt  fühlt,  dass  ein  gewisser  magnetischer 
Zug  ihn  zu  der  mütterlichen  Erde  führt,  trotz  des  unsterblishen 
Odems,  den  der  Ewige  dem  Erdenkloss  eingehaucht?  Das  Volk 
ist  eins  mit  dem  Lande,  das  Land  mit  dem  Volke.  Das  Volk 
ist  dem  Boden  dienstbar  geworden,  es  ist  sein  eigen;  der  Boden 
ist  dem  Volke  eigen  geworden,  es  beherrscht  ihn,  und  die 
Geschichte  verbindet  sie.  So  der  Staat , so  die  Einzelnen. 
Diese  haben  immer  das  Streben  der  Allode  sich  zu  verbinden, 
die  sie  beherrschen,  die  ihnen  Namen  giebt,  die  ihnen  zu  einem 
Geschlechte  verhilft;  der  Mensch  ist  so  gern  glaebae  adscriptus ! 
Der  Mensch  verliert  sich  im  Boden , und  der  Boden  erlangt 
Persönlichkeit.“  *) 

Durch  die  Bedeutung,  welche  der  Grundbesitz  für  die 
natürliche  Erhaltung  eines  Volkes  hat,  gewinnt  er  auch  Einfluss 
auf  das  öffentliche  und  Rechtsleben  desselben,  und  bald  hat  in 
einfacher  Zeit  der  Einzelne  nicht  als  solcher  Geltung  und  An- 
sehen im  Volke,  sondern  nur  insofern  er  sich  ein  Stück  des 
Grund  und  Bodens  unterworfen  und  zu  eigen  gemacht  hat.  Je 
schwieriger  aber  die  Herrschaft  über  die  Scholle  zu  erreichen 
ist  und  je  in  bedeutenderem  Masse  dieselbe  dem  Menschen  die 
erforderlichen  Mittel  zum  Unterhalte  gewähren  muss  , desto 
grösser  wird  naturgemäss  die  Abhängigkeit  des  Menschen  vom 
Grund  und  Boden,  und  desto  umfangreicher  der  Einfluss  des 
letzteren  auf  Leben,  Sitte  und  Recht  des  Volkes.*)  So  hat  von 
jeher  das  Grundeigenthum  bei  den  sesshaft  gewordenen  Germanen, 
die  in  ihrem  rauhen,  sumpf-,  wald-  und  bergreichen  Lande ■’)  von 
anderen  Kulturvölkern  fast  abgeschlossen,  neben  Jagd  und 

*)  J.  F.  Sommer,  Darstellung  der  Rechtsverhältnisse  der  Bauerngüter 
im  Herzogthum  Westphalen,  I,  Vorrede  8.  III. 

*)  vgl.  auch  Gierke,  Genoss.-Recht  II,  8.  69  flg. 

*)  Tacitus  Germ.  cap.  2:  Ipsos  Gennanos  indigeuas  crediderim 
minimeque  aliarum  gentium  adventibus  et  hospitiis  mixtos  . . . quis  Italia 
relicta  Germaniam  peteret,  informem  terris  asperam  caelo,  tristem  cultu 
aspectuque,  nisi  si  patria  sit?  und  cap.  5:  terra  etsi  aliquanto  specie  differt, 
in  nniversum  tarnen  aut  silvis  horrida  aut  paludibus  foeda. 


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6 


Viehzucht  auf  die  mühsam  errungenen  Früchte  ihres  Feldes 
angewiesen  waren,  eine  viel  wichtigere  Rolle  gespielt,  als  bei 
den  Römern,  die,  durch  Klima  und  Lage  ihres  Landes  begünstigt, 
früh  mit  anderen  Völkern  in  Beziehungen  traten.  Das  deutsche 
Volk  gab  in  seiner  Rechtsbildung  denn  auch  unbewusst  diesem 
Faktor  nach,  während  die  Römer  früh  die  Herrschaft  über 
denselben  gewannen  und  dies  in  ihrer  Rechtsentwicklung  zum 
Ausdruck  brachten.  Daher  kommt  es  auch,  dass  das  deutsche 
Recht  auf  diesem  Gebiete  in  ganz  hervorragender  Weise  stets 
in  Uebereinstimmung  mit  der  wirtschaftlichen  Entwicklung 
geblieben  ist;  es  ist  ein  mehr  natürlicher,  als  künstlicher  Bau, 
und  darum  wollten  auch  die  römischen  Formen,  in  die  man 
später  diesen  Rechtsstoff  zwängte,  an  allen  Ecken  und  Enden 
nicht  passen. *) 

Die  wirtschaftliche  Bedeutung  des  Grundeigentums  ist 
denn  auch  die  Quelle  jenes  alten  Rechtssatzes,  welcher  den 
Vorzug  der  männlichen  Nachkommenschaft  vor  der  weiblichen 
bei  der  Erbfolge  in  den  Grundbesitz  ausspricht.  Denn  wenn 
der  Besitz  von  Grund  und  Boden  in  jener  Zeit  nicht  allein  die 
Bedingungen  für  die  Existenz  des  Einzelnen,  der  Familie,  des 
Geschlechts  und  schliesslich  des  ganzen  Volkes  gewährte,  sondern 
auch  in  politischer  Beziehung  Macht  und  Ansehen  verlieh,  derart 
dass  die  „Grundeigentümer,  die  boni  viri,  im  Alleinbesitz  der 
wesentlichsten  Freiheitsrechte“ *),  dass  „Stand,  Freiheit  und 
Abhängigkeit,  Ehre  und  Amt,  Waffen-  und  Heeresrecht,  Gerichts- 
stand und  Schöffenfähigkeit,  Theilnahme  an  Recht  und  Ver- 
waltung“®) dadurch  bedingt  waren,  so  musste  nothwendig  das 
Bestreben  der  herrschenden  Grundeigentümer,  gleichviel  ob  es 

')  Heilster  a.  a.  0.  H,  § 203  8.  664. 

*)  vgl.  Lewis,  das  Recht  des  Familienfideikommisses  8.  21;  Walter, 
Deutsche  Rechtsgeschichte,  I.  § 9 8.  1B. 

*)  vgl.  Gierke  a.  a.  0.  II,  8.  89.  Auf  die  einzelnen  Streitfragen, 
z.  B.  ob  Grundbesitz  Voraussetzung  der  Wehrfähigkeit  war,  ist  hier  nicht 
näher  einzugehen,  s.  Beseler,  die  Lehre  von  den  Erbverträgen  II,  8.  265; 
Roth,  Geschichte  de»  Bencfizialwesons  S.  402;  Waitz,  Deutsche  Verfassung*- 
geschichte,  I,  8.  36;  Homcyer,  Ueber  die  Heimath  nach  altdeutschem  Recht, 
insbesondere  das  Hantgemal  8.  61,  62. 


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7 


der  Ausfluss  eigennütziger  oder  höherer  socialpolitischer  Er- 
wägungen war,  darauf  gerichtet  sein,  sich  diese  Vortheile  auch 
rechtlich  durch  Erhaltung  des  sie  gewährenden  Faktors  zu 
schützen.  Zu  diesem  Zwecke  wurde  einmal  die  Verfügungs- 
fähigkeit  über  den  Grundbesitz  eingeschränkt:  aus  diesem 
Grunde  gab  es  im  alten  deutschen  Recht  keine  Testamente,1) 
und  wurde  andrerseits  den  nächsten  Erben  ein  gewisses  Wider- 
spruchsrecht gegen  Veräusserungen  von  Liegenschaften  durch 
den  Erblasser  eingeräumt.  *)  Aus  diesem  Grunde  wurde  der 
Vorzug  des  männlichen  Geschlechts  vor  dem  weiblichen  in  dieser 
Erbfolge  festgesetzt,  weil  die  Frau,  selber  eine  pars  domus  und 
als  solche  vertretungsbedürftig,  nicht  fähig  erschien,  den  Grund- 
besitz gehörig  zu  vertreten  und  die  mit  demselben  verbundenen 
Rechte  auszuüben. a)  „Die  Hufe  ist  dem  auf  die  Ehe  gegründeten 
Hause  unter  dem  Muntherm  der  Familie  zugetheilt“,  und  weil 
die  Herrschaft  über  dieselbe  nur  ein  Mann  ausüben  kann,  darf 
sie  sich  auch  nur  auf  Männer  vererben:  das  ehemals  geltende 
Mutterrecht  flndet  mit  dem  Sesshaftwerden  der  Völker  sein  Ende, 
und  es  tritt  die  agnatische  Verwandtschaft  in  die  Geschichte  ein.  *) 
Gleichzeitig  wirkte  noch  ein  anderes  Moment  mit : die  innige 
Verbindung  der  Mitglieder  in  der  altgermanischen  Familie.  Der 
Zeitabschnitt,  in  den  diese  Untersuchungen  zurückgehen,  zeigt 
uns  die  Deutschen  als  ein  ackerbautreibendes  Volk,  das  zum 
Theil  schon  zu  festen  Wohnsitzen  gelangt  ist.*)  Mit  diesem 


*)  Tacitus  Germ.  cap.  20;  vgl.  v.  Inama-Stemegg , Deutsche  Wirt- 
schaftsgeschichte 8.  101 ; Lassalle,  System  der  erworb.  Hechte,  11,  8.  58U  flg. 

’)  vgl.  Zimmerle , Das  Deutsche  Stammgutssystem  nach  seinem 
Ursprünge  und  seinem  Verlaufe,  S.  91  flg.,  Fipper,  Das  Beispruchsrecht 
nach  altsächsischen  Recht  in  Gierkes  Untersuchungen  zur  deutschen  Staats-  und 
Hechtsgeschichte  Heft  3;  Pappenheim,  Launegild  und  Garethinx  ebenda, 
Heft  14,  S.  69;  Sandhaas,  germ.  Abh.  S.  165  flg. 

’)  vgl.  Inama-Sternegg,  a.  a.  O.,  Waitz,  a.  a.  O.  S.  202;  v.  Amira, 
a.  a.  0.  S.  218;  Zimmerle,  a.  a.  O.  S.  24;  Waitz  d.  R der  sal.  F.  S.  124; 
Walter,  System  des  D.  PK  § 397  S.  463;  Heusler  Instit.  I,  § 25  S.  116; 
U,  § 165  S.  482,  § 174  S.  525. 

‘)  Heusler  a.  a.  O.  II,  § 174  S.  624;  Dargun,  Mutterrecht,  an  ver- 
schiedenen Stellen,  bes.  S.  60. 

*)  Tacitus  Germ.  cap.  16. 


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8 


Zeitpunkt  beginnt  nun  auch  die  Einigung  der  durch  gemeinsame» 
Hausen  und  die  Bande  des  Blutes  einander  nahestehenden 
Personen  zu  einem  eng  geschlossenen  Verbände,  zur  Familie. 
Denn  obzwar  schon  die  ersten  Ansiedlungen  wohl  geschlechter- 
weise erfolgten  und  die  durch  verwandtschaftliche  Beziehungen 
verbundenen  Personen  gewiss  schon  vor  der  ersten  festen  Nieder- 
lassung in  einer  gewissen  Gemeinschaft  handelten,  *)  so  gewann 
doch  erst  mit  dem  Sesshaftwerden  die  Blutsverwandtschaft  einen 
grösseren  Einfluss.  *)  Die  vordem  nur  locker  geschlungenen 
Bande  des  Blutes  verstärkten  sich  und  knüpften  sich  fester  durch 
gemeinsames  Wohnen  und  Arbeiten  auf  derselben  Scholle.  Die 
Hausgenossen,  geeint  und  zusammengehalten  durch  die  Ober- 
herrschaft des  Hausherren  und  Familienhauptes,  schlossen  sich 
unter  diesem  enger  aneinander  und  empfingen  und  übten 
Gerechtsame  nur  kraft  ihrer  Angehörigkeit  zu  diesem  Verbände. 
Wie  nun  der  Grundbesitz  die  Einigung  der  Familie  zu  einer 
festen  Gemeinschaft  förderte,  so  wirkte  diese  wieder  auf  ihn 
zurück.  Besonders  bei  einer  bestimmten  Art  des  Grundeigen- 
thums lassen  sich  diese  Wechselwirkungen  noch  mit  ziemlicher 
Sicherheit  erkennen.  Es  ist  dies  der  ererbte  Grundbesitz,  die 
sors,  das  Ackerstück,  welches  bei  der  Landvertheilung  der  freie 
Volksgenosse  durch  das  Loos  erworben  hatte.  Dieses  Stück 
Land  wurde  als  der  eigentliche  Sitz  und  die  Heimstätte  der 
Familie  angesehen,  als  von  den  Vätern  überkommenes  Gut,  alode, 
terra  aviatica,  bezeichnet,8)  und  war  in  der  That  die  Quelle 
des  ganzen  Haus-  und  Familienvermögens  und  -Wohlstandes. 
Es  galt  aber  zugleich  auch  gewissermassen  als  Volkseigenthum, 
welches  dem  einzelnen  Hausvater  nur  anvertraut  und  zur  Be- 
nützung und  Bewirthschaftung  übergeben  war:  ein  eigentliches 
Sondereigenthum  daran  war  noch  nicht  anerkannt. 4)  Daher 

')  Caesar,  bell,  gall,  VI,  cap.  22;  Tacitus,  Germ.  eap.  7,  21;  v.  Inama- 
Sternegg,  a.  a.  0.  S.  92;  Zimmerle  a.  a.  0.  S,  20  flg. 

*)  Vgl.  Heusler  a.  a.  0.  II,  § 174  S.  524  flg. 

*)  v.  Amira,  a.  a,  O.  S.  13;  Sohroeder,  a.  a.  0.  S.  146  und  Amn.  1; 
Lassallo,  a.  a.  O.  !S.  582  flg. 

‘)  v.  Inama-Sternegg  8.  1)8,  Heusler  S.  626  flg.,  Laasalle  S.  582. 


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9 


zielten  die  ersten  Voikettafzungen  vor  allem  darauf,  dieses  Gut 
der  Familie  zu  erhalten  uud  zu  verhindern,  dass  durch  Ver- 
erbung auf  ein  Weib  die  Möglichkeit  gegeben  würde,  dasselbe 
in  den  Besitz  einer  anderen  Familie,  als  der  es  ursprünglich 
zugetheilt  worden,  gelangen  zu  lassen.  Wenn  es  nun  nicht 
unwahrscheinlich  ist,  dass  der  strengere  Grundsatz,  wonach  die 
weiblichen  Nachkommen  eine  Zurücksetzung  bei  der  Erbfolge  in 
den  Grundbesitz  überhaupt,  ohne  Unterschied  zwischen  ererbten 
und  gewonnenem  Lande,  erfuhren,  ursprünglich  der  allgemein 
geltende  war,1)  so  zeigt  die  Vergleichung  der  einzelnen  Volks- 
rechte, worauf  schon  oben  hingewiesen  worden,  gerade  hier  eine 
gewisse  romanisirende  Tendenz,  beide  Geschlechter  möglichst 
unter  Wahrung  der  allgemeinen  Interessen  gleichzustellen.  Denn 
das  älteste  thüringische,  sächsische  und  alamannische,  sowie 
auch  das  sali  »che  Volksrecht  in  seiner  ältesten  Fassung  unter- 
scheiden diese  Arten  des  Grundbesitzes  bei  der  Erbfolge  nicht, 
während  die  Gesetze  der  Völker,  welche  früher  mit  römischen 
Rechtsanschauungen  bekannt  wurden , die  Erbunfähigkeit  der 
Weiber  nur  bezüglich  der  terra  Salica,  hereditas  aviatica,  terra 
sortis  titulo  acquisita,  aussprechen.  *) 


')  Heusler  8.  574.  Im  altdänischen  Recht  scheinen  ursprünglich  die 
Frauen  sogar  gänzlich  erbunfähig  gewesen  zu  sein ; vgl.  JColderup-Rosenvingc, 
Grundriss  der  dänischen  Rechtsgeschichte,  übersetzt  von  Homeyer  § 22 
8.  .10;  Gengier  S.  1822  Anm.  17,  v.  Amira,  S.  HO. 

’)  die  S.  3 and  4 angeführten  Quellen;  1.  Alam.  tit.  57;  Sandhaas 
germ.  Abh.  8.  200  Anm.  6H;  v.  Amira  S.  216  flg.  Dass  übrigens  eine 
besondere  Behandlung  des  ererbten  Grundeigenthums  nicht  bloss  im 
Erbrecht,  sondern  auch  in  anderen  Beziehungen  stattfand,  ist  für  das 
fränkische  Recht  wohl  ausser  Zweifel.  Ob  freilich  derartige  Beschränkungen 
der  Verfügungsfreiheit,  wie  die  durch  das  sogenannte  Beispruchsrecht 
herbeigeführte,  bezw.  ob  Spuren  des  ätammgutsystems  auch  in  den  übrigen 
V olksrechten  zu  finden  sind,  ist  eine  immor  noch  offene  Frage  (vgl.  Sand- 
baas 8.  165  flg.).  Die  von  Sandhaas  S.  191  aufgestellte  Unterscheidung 
nach  sittlicher  und  rechtlicher  Anerkennung  der  Ansprüche  der  nächsten 
Erben,  trifft  wohl  nicht  das  richtige.  In  den  einfachen  Zuständen  der 
damaligen  Zeit  war  man  sich  eines  solchen  Unterschiedes  noch  nicht 
bewusst:  was  Sitte  war,  war  Recht,  und  umgekehrt.  Die  Volksrechte  ent- 
halten daher  auch  in  der  Hauptsache  nicht  sowohl  „ausgeklügelte  Rechts- 
normen“ twie  Stobbe  V,  § 269  S.  86  treffend  sagt)  als  vielmehr  einfache 
Rechtsbräuche. 


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10 


So  ist  auch  dieser  eigentümliche  Rechtssatz  des  altdeutschen 
Erbrechts  entsprossen  einer  jener  „tiefeingreifenden  Ideen,  welche 
ihren  Gehalt  bald  aus  der  Stärke  der  blutsverwandtschaftlichen 
Einheit,  wie  sie  sich  in  der  Gemeinschaft  des  Grundbesitzes 
versinnlicht,  bald  aus  dem  inneren  Zusammenhänge  der  Schutz- 
pflicht wehrloser  Familienglieder  mit  der  Herrschaft  über  das 
stammväterliche  Erbe  nehmen,“ *)  Die  Erhaltung  des  Grund- 
besitzes ist  der  bedeutendste  Bestandteil  der  Idee,  die  Sandhaas 
dem  deutschen  Recht  überhaupt  zu  Grunde  legt,  nämlich  dass  es 
„Aufgabe  des  Sachenrechts  sei,  nicht  blos  einem  Theil  der 
Staatsangehörigen,  etwa  den  gegenwärtigen  Besitzern,  sondern 
allen  Gliedern  des  Rechtsvereins,  insbesondere  auch  den 
kommenden  Geschlechtern  die  sachlichen  Bedingungen  eines 
vernunftgemässen  Daseins  zu  gewähren.“  *) 


‘)  Gerber,  System  d.  d.  Privatrechts  § 248,  Aum.  2,  S.  687,  688. 
*)  a.  a.  O.  S.  204. 


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II.  Prinzip  der  Gleichberechtigung  und 
Gemeinderschaften. 


Wenn  wir  an  dem  Ergebnis«  des  vorigen  Abschnitts  fest- 
halten,  dass  die  Rechtssätze  über  die  Bevorzugung  des  Manns- 
stainmes  entsprungen  sind  aus  der  Erkenntnis«  der  wirtschaft- 
lichen und  sozialen  Bedeutung  des  Grundeigenthums  für  die 
Staats-  und  Familiengemeinschaft,  so  erscheint  es  auffallend, 
dass  in  den  älteren  Rechtsdenkmälern  eine  weitere  Folgerung,  zu 
welcher  jene  Kenntniss  hindrängen  musste,  keinen  Ausdruck 
gefunden  hat.  Es  wäre  zweifellos  folgerichtig  gewesen,  wenn 
anders  der  Grundbesitz  länger  als  ein  Menschenalter  in  seiner 
ursprünglichen  Gestalt  und  Grösse  zum  Besten  der  Familie 
erhalten  werden  sollte,  allgemein  die  Untheilbarkeit  desselben 
und  die  Einzelerbfolge  (Individualsuccession)  gesetzlich  an- 
zuordnen. *)  Statt  dessen  sehen  wir  aus  den  Quellen,  dass  die 
gleiche  Erbberechtigung  aller  Söhne  des  Erblassers  anerkannt 
und  die  Theilung  des  Grundbesitzes  erlaubt  war.  Die  wichtigsten 
Stellen  seien  hier  angeführt. 

1.  lex  Sal.  tit.  5 § 6:  de  terra  vero  nulla  in  muliere 
hereditas  non  pertinebit,  sed  ad  virilem  sexum,  qui  fratres 
fuerint,  tota  terra  pertineat,  hoc  est  filii  in  ipsa  hereditate 


‘)  vgl.  Pfeiffer,  Moierrecht  S.  227;  praktische  Ausführungen  IV, 
S.  126,  128;  Walter,  System  § 399,  S.  456;  v.  Maurer,  Geschichte  der 
Frohnhöfe  IV,  § 751,  8.  347,  Homeyer,  Über  die  Heimath,  8.  56.  Heute 
freilich  giebt  es  noch  einen  anderen  Weg,  Gleichheit  der  Erbberechtigung 
und  V ererbung  des  Grundbesitzes  auf  Einen  zu  vereinigen , indem  nämlich 
der  Werth  des  Grundstücks  getheilt  und  die  übrigen  Erben  von  dem,  der 
es  in  natura  erhält,  abgefunden  werden.  Dieser  Weg  war  dem  einfachen 
Hecht  jener  Zeit  fremd. 


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12 


suceedunt.  Seil  ubi  inter  nepotes  aut  pronepotes,  post 
longum  tempus,  de  alode  terrae  contentio  suscitatur,  non 
per  stirpes,  sed  per  capita  d i v idantur.  *) 

2.  lex  Alam.  tit.  91 : Si  quis  fratres  post  mortem  patri» 
eorum  aliquanti  fuerint,  di  vi  da  nt  portionein  patris  eorum. 
Dum  hoc  non  fuerit  factum,  nullus  rem  sunro  dissipare 
faciat,  usque  dum  aequaliter  parti  ant. 

3.  lex  Baiuvar.  tit.  I,  cap.  1 : Ut  si  quis  über  persona 
voluerit  et  dederit  res  suas  ad  ecclesiam  pro  redemptione 
animae  suae,  licentiam  habeat  de  portione  sua,  postquam 
cum  filiis  suis  partivit. 

tit.  XV,  cap.  9:  üt  fratres  hereditatem  patris  aequaliter 
dividant,  quamvis  multas  mulieres  habuisset  et  totas 
liberas  fuissent  de  genealogia  sua  aut  quas  non  aequaliter 
divites,  unusquisque  hereditatem  matris  suae  possideat, 
res  autem  patronas  aequaliter  dividant. 

4.  lex  Burgund,  tit  I,  cap.  1 : Quia  nihil  de  pracstita 
patribus  donaudi  licentia  vel  munificentia  dominantium 
legibus  fuerat  constitutum,  praesenti  constitutione  omnium 
uno  voto  et  voluntate  decrevimus,  ut  patri,  etiam  ante- 
quam  dividat,  de  communi  facultate  et  de  labore  suo 
cuilibet  donare  liceat,  absque  terra  sortis  titulo  acquisita, 
de  qua  prioris  legis  ordo  servabitur. 

cap.  2:  aut  si  cum  filiis  diviserit,  et  portionem  suam 
tulerit,  et  postca  de  alia  uxore  filios  habuerit  aut  unum 
aut  plures,  illi  filii,  qui  de  secunda  uxore  sunt,  in  illam, 
quam  pater  accepit,  portionem  succedant:  et  illi,  qui 
cum  patre  dividentes  portiones  suas  fuerant  consecuti,  ab 
eis  penitus  nihil  requirant. 

5.  capit  Karol.  M.  a.  813,  tit.  40:  si  quis  Prancus  homo 
habuerit  filios  duos,  hereditatem  suam  de  silva  et  de 
terra  eis  di  mit  tat,  et  de  mancipiis  et  de  peculio. 


')  vgl.  hierzu  Schulze  a.  a O S.  197  j Waitz,  Das  Recht  der  sal. 
franken,  S.  105,  117;  Deutsche  Verfassungsgeschiehte  1,  S.  41. 


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13 


Auf  diese  Quellenzeugnisse  gestützt,  hat  denn  auch  die 
deutsche  Rechtswissenschaft  stets  und  fast  einstimmig  an  der 
Ansicht  festgehalten,  dass  die  Einzelerbfolge  in  den  Grundbesitz, 
wie  wir  sie  später  im  Thronfolge-,  Lehen-,  Hof-  und  Dienstrecht 
finden,  nicht  im  ältesten  germanischen  Recht  anerkannt,  von 
demselben  vielmehr  ausdrücklich  abgelehnt,  und  lediglich  ein 
künstliches  Erzeugnis»  mittelalterlicher  Anschauungen  sei.  Es 
wird  mit  Entschiedenheit  behauptet,  dasB  es  Zweck  der  alt- 
germanischen Rechtssatzungen  gewesen  sei,  das  Stammgut  der 
Familie  zu  erhalten,  und  dass  aus  diesem  Grunde  der  Vorzug 
des  männlichen  Geschlechts  in  der  Erbfolge  überall  feststehe, 
mit  gleicher  Bestimmtheit  aber  auch  andrerseits  in  Abrede 
gestellt,  dass  im  ältesten  Recht  die  Untheilbarkeit  dieses  Stamm- 
gutes  und  eine  damit  in  ursächlichem  Zusammenhänge  stehende 
Individualsuccession  anerkannt  worden  sei.  Ein  Hauptvertreter 
dieser  Ansicht,  Beseler,  spricht  an  verschiedenen  Stellen  seiner 
Schriften  bündig  aus,  dass  gleich  nahe  Erben  die  Erbschaft 
theilen,  und  dass  eine  Bevorzugung  des  Alters  sich  erst  in  dem 
späteren  Adels-  und  Bauernrechte  findet,1)  dass  die  Untheilbarkeit 
der  Bauergüter  keine  altgermanische  Einrichtung  sei,  da  sich 
ein  selbständiger  Rechtssatz  hierfür  nicht  nachweisen  lasse,  *) 
endlich  dass  das  Anerbenrecht  (die  Individualsuccession  im 
bäuerlichen  Recht),  wenn  auch  nicht  nothwendig,  so  doch  ganz 
besonders  in  der  Untheilbarkeit  seinen  Grund  habe.*)  Gegen- 
über solch  gewichtigen  Stimmen  verhallen  wenig  andere,  die 
sich  für  die  entgegengesetzte  Ansicht  aussprechen,  freilich  ohne 
dieselbe  ausreichend  zu  begründen.4)  Zu  weit  gehend  ist  aber 
andrerseits  die  Behauptung,  welche  Hotneyer5)  und  mit  ihm 

')  System  des  D.  P.-R.,  § 133.  S.  660;  Erbverträge  II,  Abthig.  2 8.  7. 

*)  8y stem,  § 186.  8.  762:  Erbverträge  II,  2 8.  7. 

*)  System,  § 187,  8.  767;  Erbverträge  II,  2 8.  199;  vgl.  noch  Schulze, 
Recht  der  Erstgeburt,  § 31,  S.  198;  Zöpfl,  Deutsche  Rechtsgeschichte  III, 
8.  220,  Pfaff  und  Hofmann,  Zur  Geschichte  der  Fideikommisse  S.  5 u.  a.  mehr. 

*)  Hagemann,  Landwirthachaftsrecht,  § 75,  S.  118;  Meyer,  Knlonats- 
recht  I,  S.  119,  Anm.  7. 

*)  Sachsensp.  II,  2,  § 44,  8.  455. 


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14 


Schulze1)  aufstellt , dass  der  gleiche  Anspruch  gleich  naher 
Erben  tief  in  deutscher  Sitte  begründet  sei.  Jedenfalls  ist  sie 
in  solcher  Allgemeinheit  nicht  richtig.  Derselben  widerspricht 
schon  der  eigenthümliche  Charakter  des  germanischen  Erbrechts 
überhaupt  und  die  Anerkennung  von  Sondererbberechtigungen 
in  gewisse  Theile  der  Erbschaft,  wie  fleergeräth  und  Gerade, 
deren  Spuren  eich  bis  in  die  ältesten  Zeiten  zurück  verfolgen 
lassen.  Bemerkenswerth  ist  auch  die  vielbesprochene  Stelle  in 
Tacitus  Germania  cap.  32.  Die  verschiedensten  Erklärungen 
sind  fiir  den  Satz:  inter  familiam  et  penates  et  jura  suoccssionum 
equi  traduntur:  excipit  filius,  non  ut  cetera,  maximus  natu, 
sed  prout  ferox  bello  et  melier  versucht  worden.  Der  Auslegung 
von  Schulze,  nach  welcher  sich  das  ut  cetera  nicht  auf  das 
gesammte  Vermögen,  sondern  nur  auf  die  übrigen  Theile  des 
Mobiliarnachlasses,  die  mit  dem  Streitross  in  Verbindung  stehen, 
mit  einem  Wort  auf  das  nachmalige  Heergeräthe,  beziehen 
sollen,  *)  vermag  ich  mich  nicht  anzuschlieesen.  Das  ut  cetera  wäre 
eine  ganz  ungenügende  Ausdrucksweise  hierfür,  welche  man 
Tacitus,  der  zwar  kurz,  aber  immer  auch  treffend  und  genau 
schildert,  nicht  wohl  zumuthen  kann.  Auch  würde  nach  dieser 
Erklärung  nicht  ersichtlich  sein,  warum  die  Tenkterer  z.  B.  das 
Schlachtschwert,  welches  doch  auch  zum  Heergeräthe  gehört, 
nicht  gleichfalls  dem  Kriegstüchtigsten,  sondern  dem  Aeltesten 
überlassen  hätten.  Es  lassen  sich  noch  manche  andere  Er- 
klärungen denken.  Die  Worte  ut  cetera  können  auch  adverbial 
gefasst  sein,  im  Sinne  von  „wie  sonst“;  es  ist  möglich,  dass 
Tacitus  damit  hat  sagen  wollen:  wie  man  sonst,  nach  den 
Gebräuchen  der  übrigen  Germanen  hätte  erwarten  können,  und 
dass  er  somit  speziell  auf  eine  Sitte  der  Tenkterer  hat  aufmerk- 
tnerksam  machen  wollen.*)  Dies  wird  noch  unterstützt  durch 
die  Erwägung,  dass  Tacitus  ausdrücklich  in  diesem  Abschnitt 
die  Eigenthümlichkeiten  einzelner  Stämme  schildern  will,  nachdem 

■)  B.  d.  E.,  g 31,  S.  204. 

*)  a.  a.  0.,  § 31,  S.  203. 

*)  v.  Arnira  a,  a.  O.,  S.  219. 


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15 


er  die  Grundzüge  der  germanischen  Volkssitten  überhaupt  dar- 
gelegt hat.1)  Indessen  scheint  es  mir,  — wenn  auch  Schulze 
diese  Auffassung  eine  oberflächliche  nennt,  — doch  am  natür- 
lichsten und  ungezwungensten,  wenn  man  unter  cetera  das 
gesammte  übrige  Vermögen  versteht  und  darnach  annimmt,  dass 
wenigstens  bei  den  Tenkterern  eine  Vererbung  nach  den  Grund- 
sätzen der  Individualsuccession  stattgefunden  habe.  Freilich  ist 
damit  für  die  vorliegende  Frage  nicht  viel  gewonnen,  immerhin 
ist  die  Stelle  doch  nichtsobedeutungslos,  wie  Heus  ler  meint.1) 

Sodann  wird  von  Homeyer  selbst  für  das  Bantgemal,  den 
freien  Herrenhof,  eine  abweichende  Erbfolge,  bedingt  durch  die 
Untheilbarkeit  dieses  Gutes,  in  Anspruch  genommen.*)  Hier 
seien  zwei  Zeugnisse  eingereiht: 

1)  Art.  29  des  Jülichsohen  Landrechts,  § 1:  Item  wanneir 
eyner  van  der  Ritterschafften  imrne  furstendomp  Guylich 
afflyvich  wyrdt  und  kynder  achter  liest , so  nympt  der 
alste  son  den  Ansedel  vur  uyss,  . ..  . und  alsdan 
fortan  deyllen  sy  alle  Erffschaften  und  gueter  gelich 
als  broeder  und  suster. 4) 

2)  eine  Erbtheilungsanordnung  Hermanns  von  Altendorf 
aus  dem  Jahre  1291:  paci  et  concordie  liberorum 
meorum  cupiens  providere,  ...  ne  inter  Wenemarum 
filiuin  meum  primogenitum,  militem  ceterosque 
liberos  meos  de  secunda  uxore  progenitos  post  mortem 
meam  aliqua  super  bonis  meis  diffidentia  seu  litis 
materia  valeat  suscitari  . . . sed  curtis  de  Alden- 
dorpe  sola,  quem  mihi  pro  usufructu  reservavi,  ad 
eundem  Wenemarum  post  obitum  meum  libera  et 
absoluta  plane  devolvatur. 5) 

*)  Germ.,  oap.  27. 

*)  Instit.  II,  § 18t,  S.  569  Anm.  1. 

*)  Über  die  Heimath  pp.  S.  45,  48,  52,  56. 

*)  Laoomblet,  Archiv  für  die  Geschichte  des  Niederrheins,  L Abthlg. 
I.  Band,  S.  136. 

‘)  Kindlinger,  Hörigkeit,  S.  328  No.  48. 


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16 


Immerhin  ist  zuzugeben,  da«?  sich  ein  allgemeiner 
Rechtesatz,  der  den  Vorzug  eines  Erben  vor  den  übrigen 
schlechtweg  aufstellt,  aus  dem  alteren  Recht  nicht  nach  weisen 
lässt.  Neuerdings  hat  nun  Heusler  die  Bedeutung  der  soge- 
nannten Gemeinderschaften  der  gleichberechtigten  Familien- 
mitglieder in  das  rechte  Licht  gestellt.  *)  Damit  ist  auch  der 
Weg  angedeutet,  auf  welchem  das  ältere  Recht  und  die  Volks- 
sitte zu  einer  Versöhnung  der  sich  widersprechenden  Prinzipe, 
der  Erhaltung  des  Grundbesitzes  und  der  Gleichberechtigung 
der  männlichen  Familiengenossen  gelangt  ist.  Es  ist  nämlich 
Heusler  vortrefflich  gelungen  darzulegen,  dass  regelmässig 
mit  dem  Tode  des  Vaters  die  Familienmitglieder,  insbesondere 
die  Söhne  das  Zusammenleben  im  ungetheilten  Haushalte  mit 
einander  so  lange  als  thunlich  fortsetzten.*)  Den  obenerwähnten 
Satz  der  lex  Salica : de  terra  nulla  in  mutiere  hereditas  sed 
ad  virilem  sexum,  qui  fratres  sunt,  pertineat,  übersetzt  er 
daher:  „Die  Hufe  gehört  den  in  Gemeinderschaft  ver- 
brüderten Söhnen.“*)  Die  gleiche  Sitte  setzt  auch  der 
edictus  Rothari  voraus:  si  fratres  post  mortem  patris  in  casa 
commune  remanserint  . . . *)  Zahlreiche  Belege  lassen  sich 
noch  aus  den  verschiedensten  Quellen  hierfür  beibringen. 5) 


')  Instit.  I,  § 51,  8.  240,  241;  H,  § 181,  S.  569;  I,  g 61,  S.  229. 

*)  Instit.  I,  § öl,  S.  229. 

»)  Inst.  H,  g 174,  S.  525. 

4)  edictus  Rothari  167  (Pertz  II.  G.  IV). 

5)  Den  von  Heusler  beigebrachten  seien  noch  hinzugefugt : lex  Liut- 
prandi  (Pertz  1.  IV)  tit.  69:  si  inter  fratres  per  40  annos  possessio  fuerit 
de  rebus  seu  de  casis  vel  de  terris,  quae  indivisae  sunt,  aliae  vero  res, 
quae  divisae  fuerint  inter  fratres  et  nepotes,  wozu  die  Glosse  expositio  § 6 
bemerkt:  si  quis  heredum  vel  aliorum  terram  communiter  habentium 
eam  dividere  voluerit,  juxte  Codicis  ejusdem  libri  capitulum,  quod  est: 
in  communione  vel  societate  nemo  compellitur  invitus  detineri;  Beyer, 
Eltester  und  Goerz,  Urkundenbuch  zur  Geschichte  der  mittelrheinischen 
Territorien,  Bd.  I No.  110  , 341,  640  (quod  Henricus  de  Tris  dictus  cum 
filiis  suis  Cunrado  scilicet  et  Godefrido  alterque  ConraduB  qui  dicitur  filius 
Anselmi,  cum  ceteris  ejusdem  villae  coheredibus  allodium  suum, 
quod  juxta  vinulum  dictum  Luzze  commune  habucrunt,  ad  lacensium 
hospitale  contulerunt) ; Wartmann,  Urkundenbuch  der  Abtei  Sankt  Gallun, 


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17 


Andrerseits  hat  es  den  Anschein,  als  ob  Theilungen  der  Erb- 
schaft nicht  allzu  häufig  gewesen  seien.  In  den  Formel- 
sammlungen findet  sich  nur  e i n Muster  für  eine  solche  Theilung, 
ein  pactum  divisionis  inter  fratres, ')  Hierbei  darf  man  aber 
nicht  ausser  Acht  lassen,  dass  diese  Formelsammlungen  neben 
deutschen  Rechtsideeen  auch  in  hervorragendem  Masse  römische 
Grundsätze  enthalten.  Waren  doch  ihre  Verfasser  nach  römischem 
Recht  lebende  Geistliche  und  ihr  Hauptzweck  Schenkungen  an 
die  Kirche  zu  erleichtern!  Wiederholt  wird  auf  die  lex  Romana 
hingewiesen,  *)  und  die  Bestimmung  des  deutschen  Rechts  Uber 
die  Zurücksetzung  der  Weiber  eine  diuturna,  sed  impia  consue- 
tudo  genannt.')  Auch  in  den  [Jrkundensammlungen  finden  sich, 
soweit  sie  dem  Verfasser  bekannt  geworden  sind,  nicht  eben 
viele  Urkunden,  die  auf  eine  vorhergegangene  Theilung  schliessen 
lassen.4) 

Es  erscheint  auch  so  natürlich,  dass  in  der  ältesten  Zeit 
wenigstens  die  Familienmitglieder,  so  lnnge  es  irgend  anging, 
zusammen  hausten  und  gemeinsam  wirthschafteten.  Die  heimath- 
liche  Scholle  gewährte  ihnen  ungetheilt  und  gemeinsam  bebaut 


Bd.  I No.  3,  49,  195,  436;  Zeuse,  traditiones  posseasionesque  Wizenburgenaes 
No.  24,  38,  65,  66,  77,  78.  86,  126,  127,  151,  199,  205,  224,  230,  231,  235,  252; 
Meichelbeck,  Historiae  Frisingeneee . Bd.  I,  Theil  2,  No.  19:  ego  Tegiri 
nomine  in  loco  quae  dicitur  Holzhuair  ad  eccleaiam  beati  Archangeli 
Mihaelia  rem  propriam,  quam  fundavi,  tradeili  filiii  meia  praesentibua 
atque  per  con9ensum  fratrum  meorum  etc,  Codex  principia  olim 
Laureahamenais  Abbatiae  diplomaticua  Bd.  I,  No.  168,  185,  186,  191.  202, 
170  (donatio  Frumoldi ; aignum  Grimoldi  germani  ejus  teatia  coneentientia 
atque  tradentia);  Lacomblet,  Urkundenbuch  für  die  Geschichte  dea  Nieder- 
rheins, Bd.  I No.  17  (nobia  coheredibus  et  comparticipibua  in  uno  patrimonio) 
No.  16  (noa  coheredcs  et  comparticipea  et  conaanguinei),  No.  45,  50, 104,  243; 
vgl.  noch  Arnold,  Anaiedlungen  und  Wanderungen  deutscher  Stämme  1,  S.  281. 

')  form.  Bignon.  (Walter  tom  3)  No.  18. 

*)  form.  Marc.  (Walter  tom.  3)  II  No.  10 ; form.  Andeg.  No.  45;  form. 
8irmond.  22. 

*)  form.  Marc.  II,  No.  12;  vgl.  app.  Marc.  No.  49,  47. 

‘)  vgl.  Heualer,  Inst.  I,  § 52,  S.  241.  Die  drei  ersten  Urkunden,  auf 
«eiche  sich  v.  Inama-  Sternegg  beruft  (Deutsche  Wirtschaftsgeschichte 
8.  105),  No.  9,  10,  13  in  Zeuss’  trad.  Wizenb. , rühren  übrigens  von  einem 
Brüderpaare  her.  Ks  liegt  somit  nur  eine  Theilung  vor. 

frommhold,  Kin/.olerl)folge.  2 


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18 


weh  leichter  die  Bedingungen  ihres  Daseins.  Etwaige  Unzu- 
trüglichkeiten  werden  gütlich,  häufig  auch  mit  Gewalt  unterdrückt 
worden  sein.  Der  Unterliegende  oder  der  sich  der  Gemeinschaft 
nicht  mehr  Fügende  konnte  bei  dem  damals  noch  herrschenden 
Reichthum  an  Land  sich  ohne  grosse  Schwierigkeiten  eine  neue 
Heimstätte  gründen  oder  iu  den  Gefolgschaften  der  Edlen  und 
Fürsten  eine  Stelle  finden. *) 


')  vgl  Arnold  a.  a.  O S.  2Ö9,  277  flg.,  v.  Amira  8.  212. 


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HI.  Entwicklung  der  Einzelerbfolge. 


Wenn  nun  auch  auf  der  einen  Seite  regelmässig  eine  Ge- 
meinschaft der  £rbcn  thatsächlich  fortbestand  und  eine  Auflösung 
der  Familie  verbunden  mit  einer  Theilung  des  Familiengutes 
nicht  häufig  stattfand,  so  musste  doch  andrerseits  das  Familien- 
haupt in  mehr  als  einer  Beziehung  ersetzt,  seine  Herrschafts- 
gewalt von  einem  Anderen  ausgeübt  werden.  Gleichviel  nun, 
wer  dieser  eine  aus  der  Sippschaft  gewesen  sein  mag,  ob  der 
älteste  Sohn,  wie  dies  im  altfriesischen  Recht  festgesetzt  war,1) 
oder  der  nächste  Schwertmag  als  Muntherr,*)  immer  übernahm 
Einer  die  Vertretung  der  Familie  nach  Aussen,  während  nach 
Innen  die  Gemeinderschaft  gewahrt  und  der  Grundbesitz  unge- 
teilt blieb.  Je  mehr  Verpflichtungen  und  Herrschaftsbefugnisse 
dieser  Vertreter  im  Laufe  der  Zeit  für  die  Familie  übernahm, 
desto  mehr  Rechte  masste  er  sich  auch  gegenüber  den  einzelnen 
Miterben  an.  Mit  der  Umwandlung  des  grössten  Theiles  des 
freien  Grundbesitzes  in  abhängigen  häuften  sich  aber  die  Ver- 
tretungspflichten und  -befugnisse  in  hohem  Grade,  und  zu  gleicher 
Zeit  wird  aus  dem  einfachen  Vertretungsrecht  ein  vom  Gesetze 
anerkanntes  bevorzugtes  Besitz-  und  Erbrecht.  Daher  Anden 
wir  die  ersten  untrüglichen  Spuren  dieses  Sondererbrechts  in  den 
Satzungen  des  Lehen-  und  Hofrechts.  Wir  verzeichnen  und 
verfolgen  dieselben  zunächst  im  Lehenrecht. 


')  v.  Amira  8.  201. 

*)  Heutier  11,  § 165,  8.  486. 

2* 


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20 


A.  Lehenrecht. 

Gegenstand  dieser  Untersuchungen  ist  nicht  eine  Darstellung 
der  Geschichte  des  Lehnwesens.  Die  Entwicklung  desselben 
wird  als  bekannt  vorausgesetzt  und  hier  nur  darauf  hingewiesen, 
dass  grade  in  der  eigenthümlichen  Natur  des  Lehenverhältnisses 
die  innige  Verbindung  persönlicher  und  dinglicher  Herrschaft 
und  Unterthänigkeit  recht  deutlich  zu  Tage  tritt,  und  dass 
ursprünglich  das  persönliche  Band  für  das  dingliche  Verhältniss 
von  massgebendem  Einfluss  war.  ’)  Die  wesentlichen  Beziehungen 
zwischen  Lehnsmann  und  Lehnsherrn  bestanden  in  gewissen 
ritterlichen  Treudiensten  auf  der  einen,  und  in  einer  Schutz- 
herrschaft auf  der  anderen  Seite.  Für  die  Gestaltung  des 
Lehenerbrechts  folgt  aus  der  Verbindung  dieser  persönlichen 
Beziehungen  mit  der  vermögensrechtlichen  Stellung  des  Lehns- 
mannes als  Besitzer  des  Lehngutes,  dass  nur  solche  Personen 
zur  Erbfolge  in  ein  Lehngut  für  fähig  erachtet  werden  konnten, 
welche  die  zur  Leistung  jener  Dienste  erforderlichen  Eigen- 
schaften besassen ; daher  denn  auch  ursprünglich  Frauen  und 
Geistliche,  sowie  mit  körperlichen  Fehlern  Behaftete  von  der 
Lehnsfolge  ausgeschlossen  waren.*)  Es  folgt  aber  weiter  daraus 
die  Untheilbarkeit  des  Lehngutes  und  im  Zusammenhänge 
damit  die  Anerkennung  einer  bevorrechtigten  Erbfolge  eines 
Erben.  Denn  die  Beschaffenheit  der  persönlichen  Dienstleistungen 
verträgt  eine  Theilung  unter  mehrere  nicht,  und  andrerseits  kann 
nur  das  ganze,  ungetheilte  Gut  den  Lehnsmann  zur  Leistung 
der  Dienste  fähig  erhalten. s)  Im  Grunde  sind  es  also  die 
bereits  erwähnten  staats-  und  volkswirtschaftlichen  Gesichts- 
punkte, welche  die  Anregung  zur  Bildung  dieser  Sondererbfolge 
gegeben  haben;  nur  haben  hier  äussere  Verhältnisse,  egoistische 
Sonderinteressen  der  betheiligten  Kreise,  ihr  zu  schnellerer  An- 
erkennung verholten.  Interessant  ist  die  allmähliche 
Entw  icklung. 

■)  Heusler  II,  § 108,  S.  161. 

*)  Heusler  II,  § 190,  S.  613,  Stobbe  V,  § 315,  S.  325;  Homeyer, 
Lehenrecht  II,  2 § 43,  S.  448  Hg. 

*)  Heusler  H,  § 190,  8.  615. 


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21 


Zunächst  ist  das  Vorrecht  eines  Sohnes  nur  ein  rein  that- 
sächliches.  Hinterlässt  der  Lehnsherr  mehrere  Söhne,  so  braucht 
der  Lehnsmann  nur  von  Einem  unter  ihnen  das  Lehen  entgegen- 
zunehmen. Dieser  Eine  wird  duroh  Wahl,  eventuell,  wenn  eine 
Einigung  nicht  erfolgt , von  dem  Oberherrn  bestimmt.  *)  Dieser 
rein  thatsächliche  Vorgang  erscheint  sodann  in  anderen  Quellen 
als  Rechtsgrundsatz.  Nach  schwäbischem  Lehnreehte  soll  der 
Oberherr  den  Lehnsmann  an  den  ältesten  Sohn  weisen. 

schwäb.  Lehenr.  54:  der  oberre  sol  si  also  wisen,  und  eint 
die  bruder  alle  zir  tagen  nut  komen , so  sal  er  si  wisen 
an  den  el testen.*) 

Nach  dem  Görlitzer  Landrechte  35,  § 1 übt  der  älteste 
Sohn  gradezu  die  Lehnsherrschaft  aus: 

of  zwene  man  odir  manigir,  die  brudir  sint  odir  mage, 
erbe  habint  an  eime  eigine  zo  lihene,  unde  sie  selbin 
undir  sizzin,  swelichir  nach  dem  andirn  undir  in  der 
aldiste  si,  daz  er  daz  len  lihe;  of  die  der  daz  len  liet 
nach  sime  tode  einen  sün  hat,  der  sftn  sol  daz  selbe  len 
mit  rechte  lien,  wan  daz  len  von  sinis  vatir  were  an  in 
geerbet  is.  a) 

Hierzu  bemerkt  auch  die  Glossa  latina:  ex  consuetudinc 
senior  frater  nomine  suo  et  aliorum  investituram  facit,4) 

Wie  auf  Seiten  des  Lehnsherren,  so  wurde  auch  bei  Vor- 
handensein mehrerer  Erben  des  Lehnsmannes  der  Vorzug  Eines 
mehr  und  mehr  rechtlich  anerkannt.  Es  tritt  die  Gesammt- 
belehnung  mehrerer  Söhne  gleichzeitig  auf  mit  der  Belehnung 
eines  einzelnen.  Indessen  schon  in  der  Art  und  Weise  der  Be- 
leihung , conjuncta  manu,  collectis  manibus,  erscheinen  die 
Mehreren  als  eine  Person.  Die  Gesammtbelehnten  müssen  auch 


■)  Homeyer,  Sachsensp.  II.  Theil,  Band  II,  $ 41,  S.  443 ; Schulze, 
B.  d.  £.,  § 31,  S.  203. 

’)  Homeyer  und  Schulze  a.  a.  O. 

’)  Homeyer,  8.  190. 

*)  Homeyer,  S.  443 


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22 


binnen  bestimmter  Frist  einen  von  ihnen  bezeichnen,  der  dem 
Herrn  die  Dienste  leiste. ') 

Der  Herr  braucht  aber  nur  einem  Sohne  das  erledigte 
Lehen  zu  geben,  und  wiederum  wird  dieser  binnen  bestimmter 
Frist  von  den  Brüdern  gewählt,  eventuell  von  dem  Herrn  selbst 
erkoren.  So  der  auctor  vetus  de  beneficiis,  I,  78,  79: 

si  filius,  qui  ad  annos  suos  pervenerit,  beneficia 
secundum  jus  petit,  habens  fratres  infra  annos  pueriles, 
dominus  sibi  concedat,  si  prius  fidejussorem  habest,  ne 
fratres  sui  jure  beneficiali  eum  pro  hoc  beneficio  impetant, 
cum  ad  annos  eorum  perveniant.  dominus  eget  habere 
fidejussorem,  quod  puer  infra  puerilem  actatem  se  non 
negligat,  et  dominus  non  respnndeat,  nisi  uni  filio 
pro  patris  beneficio. 

Ebenso  das  Görlitzer  Lehnrecht  cap.  19  i.  f. : 

der  herre  bedarf  burgin  zo  habine,  wände  daz  kint 
binnin  sinin  kintlichin  jarin  sich  nicht  vorsumin  ne  mag, 
unde  der  herre  antwerdit  nicht  dan  eime  sfineumme 
des  vatir  len.’) 

Das  Wahlrecht  des  Herrn  wird  erwähnt  in  einer  Urkunde 
vom  Jahre  1152: 

hoc  autem  semper  indivisum  manebit  et  in  plures 
non  dividatur  heredes,  sed  si  pro  eodem  inter  se 
litigaverint,  illi  integre  dabimus,  cui  potius  cupimus.  *) 

In  der  Regel  wurde  der  Aelteste  gewählt,  dessen  Vorrang 
sich  dann  auch  im  Recht  ausdrücklich  anerkannt  findet.  So 


')  Homeyer,  S.  457,  Hoch  holz,  Aargauer  Weiathümer  S.  24,  Aum.  1, 
vergl.  auch  das  Waldemar -Erich’sche  Recht  § l und  2 bei  Ewers,  des 
Herzogthums  Uhaten  Ritter-  und  Landrechte  S.  47:  sterwet  een  man,  de 
sönes  helft,  een  edder  mehr,  de  eene,  de  tho  sinen  jahren  kamen  is,  sali 
anerfahren  binnen  jahr  und  dagh,  dat  is  sös  wecken  und  eyn  jahr,  dat  syne 
tho  empfangende.  Sin  der  bröder  twee  edder  dree  edder  mehr  in  unge- 
deleden  gude.  de  hebben  cre  saamende  hand  daran  und  eruet  van  einen 
up  den  andern,  dewyle  se  ungedelet  sint. 

*)  Homeyer,  S.  102,  445. 
s)  Homeyer,  a.  a.  O.,  S.  455. 


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23 


wird  eine  solche  zunächst  rein  thateächliche  Belehnung  des 
ältesten  Sohnes  vorausgesetzt  im  livländischen  Bitterrecht,  o.  14: 
alleine  de  here  dem  eldesten  söne  gudt  vorlenet,  doch 
hebben  de  anderen  all  like  gudt  recht  dartho,  dewile 
se  ungedelet  syn, 

und  bei  .Ruprecht  von  Freisingen  II,  § 11: 

enphaecht  der  eltist  das  lehen,  das  sol  den  anderen 
chinden  nicht  schaden,  sie  haben  alliu  diu  recht 
an  dem  lehen,  die  der  elter  prüder  hab. 

Schon  mehr  rechtlich  anerkannt  wird  dieser  Vorzug  im 
schwäbischen  Lehnrechte  c.  49  i.  f. : 

ob  der  kinde  iht  me  ist,  danne  eines,  daz  sie  den  herren 
nut  an  muten,  daz  er  das  lehengut  deheinem  kinde  me 
lihe  wan  dem  eitesten  . . . und  stirbet  daz,  so  lihe  ez 
ie  dem  eitesten  darnach. 

Endlich  als  Rechtssatz  ausgesprochen  ist  er  im  kleinen 
Kaiserrecht  III,  29: 

dy  gemeinen  lehin,  daz  se  dy  eldesten  han  czu 
emphande.  *) 

Hierher  gehört  auch  der  Schiedsspruch  über  die  Gerechtig- 
keit der  Herren  und  der  Vögte  zu  Esleben,  § 4: 

So  sollen  auch  die  obg.  vogtherren  allewege  der  elter 
die  vogtie  zu  lehen  emphohen  von  den  obg.  herren  und 
den  andern  tragen,  als  oft  des  noit  geschieht,  und  da 
von  tun  als  lehensrecht  ist  än  geverde. 8) 

Es  erscheint  somit  stets  ein  Sohn  als  bevorzugter  Lehns- 
träger. Wenn  nun  auch  seine  Eigenschaft  als  bevorzugter 
Lehns  erbe  sich  in  diesen  Stellen  noch  nicht  ausdrücklich  an- 
erkannt findet,  so  folgt  doch  aus  der  Untheilbarkeit  des  Lehens, 
dass  ein  Einzelerbrecht  in  das  Lehngut  dadurch  bereits  that- 
sächlich  anerkannt  war.  Dem  steht  nicht  entgegen,  dass  bei 
der  Erbtheilung  der  älteste  Sohn  sich  das  Lehen  anrechnen 

')  Homeyer  8.  466,  Schulze  8.  204. 

*)  Homeyer  S.  482. 

*)  (irimm,  Weisthümer,  Bd.  VI,  8.  90. 


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24 


lassen  musste. ')  Die  abweichende  Anschauungsweise  von  Lehen 
recht  und  Landrecht  wird  ausdrücklich  betont : 

Sachsensp.  I,  art.  14,  § 1:  al  si  ez  hin  recht,  daz  der 
herre  nicht  en  lihe  mer  einem  sune  sines  vater  lön,  ez 
en  ist  doch  nicht  lantrecht,  daz  erz  alleine  behalde,  her 
en  erstatez  sinen  brüdern  nftch  deme  daz  es  in  geburet 
an  der  teile. 

Für  gewisse  Arten  von  Lehen  finden  wir  überdies  ein 
vorzugsweises  Erbrecht  ausdrücklich  festgesetzt.  So  für  das 

Fürstenleben : 

holl.  Sachs.  66:  kaiserliche  Lehen  erbt  der  vater  auf  den 
ältesten. *) 

Ferner  zeigt  eich  das  Recht  des  Aeltesten  als  wahres  Erb 
recht  oft  bei  Burg-  und  Vogteilehen. 

1.  ein  Ahrer  Burgfrieden,  erneuert  von  den  Grafen  Gerhard 
von  Ahr-Nurburg  und  Lothar  von  Hochstaden  aus  dem 
Jahre  1202  enthält  hierüber  folgendes: 

Mortuo  siquidem  sine  prole  Theoderico  comite  de  Are 
juniore  filio  Lotharii,  cui  castrum  Are  ex  integro 
attinebat,  idem  castrum  Are  ad  duos  dominos  jure 
hereditario  pervenit,  videlicet  ad  comitem  Dlricum  de 
Nurburg  et  ad  comitem  Theodericum  de  Hostade.  Hi 
quidem  in  divisione  hereditatis  sue  durantes  ita 
statuerunt  et  juramento  confirmauerunt,  quod  castrum 
Are  et  omne  predium  Castro  attinens  in  turribus , in 
domibus,  in  castcllanis,  in  ministerialibus  uel  in  quo- 
cunque  Castro  attinente  eisdem  successoribus  suis 
perpetuo  indivisim  permanebit.  Preterea  domos 
suas  in  quibus  habitant  et  hortos  et  stabula  eorutn 
quoque  duo  filii  seniores  et  successores  eorum  in 
Castro  Are  patribus  succedent  . . . filii  quoque 


’)  Schulze,  S.  205,  Stobbe  V,  ij  315,  8.  323. 
'')  Homeyer,  S.  483,  Schulze,  S.  206. 


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25 


castellanorum  seniores  in  feodo,  quod  dicitur 
Burglehn  parentibus  suceedent  . . . *) 

2.  ein  Lehnbrief  König  Wilhelme  von  Oranien  vom  Jahre 
1248 , worin  er  die  Burg  Nymwegen  dem  Grafen  Otto 
von  Geldern  zu  Lehen  giebt  und  dabei  auch  der  älteeten 
Tochter  ein  eventuelles  Vorzugsrecht  einräumt: 

addimus  et  quod  si  dictus  comes  viani  universae  carnis 
sine  filio  ingreditur,  filiae  suae  seniori  castrum 
cum  Omnibus  suis  attinentiis  in  forma  praenotata 
remanet  obtinendum.  *) 

3.  eine  auch  von  Schulze  angeführte  Urkunde: 

Si  senior  iiliorum  suorum,  quem  post  obitum  suum 
reliquerit,  qui  id  ipsum  Burcleyn  jure  possidebit, 
decederet  sine  filiis , tune  cederet  Johanni  filio 
seniori.*) 

4.  eine  Charta  des  Grafen  Heinrich  von  Helfenstein: 

Si  vero  contingeret,  quod  possidens  dictum  castrum 
sine  herede  decedat , bonis  suis  aliis  a predictis 
indivisis  inter  fratres  suos,  si  quos  habuerit  ex  parte 
patris,  antiquior  dictorum  fratrum  succedat  in  dicto 
Castro.8) 

5.  eine  Urkunde  des  Bischofs  Megenerus  von  Trier  vom 
Jahre  1129,  betreffend  das  Kloster  Schiffenberg , worin 
die  Schutzherrschaft  des  Aeltesten  erwähnt  wird: 

praeterea  constituit  prefata  Comitissa  Cleraentia,  ut 
quicunque  heredem  suorum  major  natu  esset,  super 
bona  predicti  loci  advocatiam  haberet. 

Dies  wird  bestätigt  durch  Clementia  selbst  1141: 

noverit  Universitas  fideliura  . . .,  quod  ego  Clementia 
Comitissa  de  Glyzberg,  cum  meis  nepotibus  Ottone 

')  W.  Günther,  Codex  diplomalicus  Rheno-Mosellanus  (Coblenz  1822  flg.) 
Bd.  II,  No.  2,  8.  70  flg. 

*)  J.  Ch.  Lünig,  Codex  Germaniae  diplomatioue  (Frankfurt  und  Leipzig 
1783)  Bd.  II,  S.  1751,  No.  13. 

a)  Wenok,  Heu.  Landesgeschichte  I,  No.  129  , 8.  83;  Sohulze,  8.  206. 
♦)  Hontheim,  hist,  diplom.  Trevir.  II,  S.  37;  Schulze,  S.  206, 


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26 


quam  Wilhelm o,  consensuetdonacione  ipso  rum, 
in  allodio  meo  Schyfenberg  ecclesiam  construi;  . . . 
preterea  ego  Clementia  prefata  constituo,  ut  predicti 
fratres  nullum  advooatum  habeant,  nisi  unum 
majorem  natu  de  mea  progenie.1) 

6.  eine  Aufzeichnung  des  Abts  Berengar  vom  Kloster 
Formbach  aus  dem  Jahre  1094 : 

tradidit  namque  in  primis  dotnina  Himiltrud  venerabilis 
rnatrona  ad  eandem  ecclesiam  cum  manu  advocati  sui 
in  usus  ibidem  Deo  servientium  hec  sue  proprietatis 
loca  ...  accepit  quidem  ea  ipsa  mater  familias 
Thimonem  Comitem  in  advocatum  sibi,  etiara  dicte 
ecclesie,  et  his  omnibus,  qui  vel  que  ad  hanc  pertinent : 
ea  ratione  et  complacitatione : ut  is  post  illum  ejusdem 
advocationis  curam  et  regimen  susciperet,  qui  in 
filiis  ejus  primus  esset  etate:  et  Bic  simili  modo 
de  filiis  in  ülios  sue  posteritatis  hujus  tutele  procuratio 
transiret.  *) 

7.  einer  Schutaherrschaft  des  Aeltesten  wird  ferner  Er- 
wähnung gethan  von  J.  D.  Schoepflin: 

caput  dynastiae  atque  totius  Comitatus  est  Castrum 
Phirreti  . . . primam  et  egregiam  de  Castro  nostro 
mentionem  reperimus  in  Charta  fundationis  Monasterii 
Veldpacensis  ann.  1144,  ubi  Fridericus  Comes  de 
Firretho  statuit,  ut  ille,  qui  ex  posteritate  sua 
profectioris  aetatis  in  Castro  Firretho  suderit, 
Advocatus  ejus  Monasterii  esset.8) 

8.  von  demselben: 

Henricus  hic,  Egishemii  castri  possessor,  a patruo  suo 
Leone  IX.  advocatus  abbatiae  S.  Crucis  in  Woffen- 
heim  ea  lege  constitutus  est,  ut  „postquam  . . . diern 

l)  Val.  F.  de  Uudentia , Codex  diplomaticue  (öottingae  1743)  Bd.  Hl, 
No.  15  und  18,  S.  104ö. 

’)  Monumenta  Boioa,  Bd.  IV,  No.  1,  8.  11. 

s)  Alsatia  illustrata  Germanica,  Gallica,  Bd.  II,  S.  32,  § 47. 


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27 


clauserit  extremum , ipsi  qui  major  est  natu  inter 
possessores  castri  supradicti,  si  plures  extiterint, 
advocatia  debeatur“ ; data  fuit  haec  bulla  an.  1169, 
sed  brevi  post  obiit  Henricus.  *) 

9.  endlich  sei  noch  angeführt  § 39  des  Märzengerichts- 
büchleins  vom  Markt  Offingen  in  Schwaben  vom 
Jahre  1381: 

die  vogtei  daselbsten  ist  auch  aigen  unser  lieben 
frauen  und  des  bistumbe  (Augsburg),  und  die  herschaft 
von  Oettingen  hat  sie  zu  lehen  von  einem  bischof  zu 
Augspurg.  und  wann  ein  fall  geschieht,  es  were  ein 
bischof  oder  ein  herr  von  Oettingen,  der  die  lehen 
empfangen  hat,  und  die  vogtei  also  abgöt,  so  soll 
solche  allweg  der  ältere  herr  von  Oettingen 
empfahen  von  einem  bischof  von  Augspurg  . . . *) 

Diese  Quellenerzeugnisse  mögen  zur  Erläuterung  und  Be- 
kräftigung der  über  den  Ursprung  der  Einzelerbfolge  im  Lehen- 
recht aufgestellten  Vermuthungen  genügen. 

B.  Dienst-  nnd  Hofrecht. 

Dem  Lehenrecht  analog  gebildet  ist  das  Dienst-  und  Hof- 
recht Auch  hier  finden  wir  gewisse  Merkmale  einer  Abhängig- 
keit und  Herrschaft,  die  im  Dienstrecht  mehr  persönlicher,  im 
Hofrecht  mehr  dinglicher  Natur  sind.  Beide  stehen  in  natür- 
lichem Zusammenhang,  da  ursprünglich  wohl  ebenso  regelmässig 
der  Dienstmann  einen  Hof  besass,  wie  der  Hofraann  Dienste 
schuldete,  so  dass  die  Grenze  beider  Rechtsgebiete  in  der  ältesten 
Zeit  kaum  erkennbar  ist.  Wir  können  daher  beide  Gebiete 
hier  gemeinsam  betrachten  und  unbedenklich  Regeln  und  Grund- 
sätze aus  dem  einem  in  das  andere  herübernehmen. 3) 

Die  verschiedenen  Arten  der  bäuerlichen  Leihe  sind  hier 
nicht  näher  zu  erörtern:  sie  beruhen  alle  auf  dem  gleichen 
Grundgedanken  der  leihweisen  Uebertragung  eines  Gutes  gegen 

')  1.  c.  8.  482,  § 43. 

*)  Grimm,  Weitthümer,  Bd.  VI,  8.  209. 

•)  Hensler  I,  § ö S.  27  Anm.  2, 


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28 


gewisse  Dienste  und  Abgaben  an  das  Herrengut.  Im  wesent- 
lichen ist  auch  der  Entwicklungsgang  der  Einzelerbfolge  im 
Hofrecht  derselbe  wie  im  Lehenrecht.  Auch  hier  schritt  man, 
als  ein  Theil  des  Grundbesitzes  in  Abhängigkeit  gerieth, 
zuvörderst  zur  Feststellung,  wer  die  auf  dem  dienenden  Gute 
ruhenden  Verpflichtungen,  Zinsen  und  Dienste  zu  leisten  habe. 
Die  Erwägung,  dass  eine  Theilung  des  dienenden  Gutes  eine 
Minderung  der  Leistungsfähigkeit  desselben  bewirken  musste, 
drängte  auch  hier  zur  Anerkennung  der  Einzelerbfolge.  Der 
allgemeine  wirthschaftliche  Gedanke  der  Erhaltung  des  Grund- 
besitzes erscheint  hier  im  Dienste  der  eigennützigen  Interessen 
der  einzelnen  Gutsherren. 

Wenden  wir  uns  nun  zu  den  Quellen,  so  ist  wohl  das  älteste 
Zeugniss  für  die  gesonderte  Behandlung  des  Hofgutes  bezüglich 
der  Erbfolge  die  Satzung  des  Bischofs  Burchard  von  Worms 
vom  Jahre  1024.  Es  wird  darin  verordnet: 

c.  X:  si  ex  familia  vir  aliquis  et  uxor  ejus  obierint 
et  fllium  cum  filia  reliquerint,  filius  haereditatem 
servilis  terrae  accipiat,  filia  autem  vestimenta  matris 
et  operatam  pecuniam  accipiat,  reliqua,  quae 
remanserint,  in  Omnibus  aequaliter  inter  se 
partiantur.  *) 

Später  fliessen  die  Quellen  reichlicher.  Zunächst  seien  hier 
einige  Stellen  angeführt,  aus  denen  erhellt,  dass  die  Leistung 
der  Dienste,  Zinsen  und  Abgaben  in  der  Regel  dem  ältesten 
Sohne  auferlegt  wurde,  dessen  Stellung  zu  den  übrigen  Ge- 
schwistern dadurch  offenbar  eine  gewichtigere,  ansehnlichere  wurde. 

1.  Das  kölnische  Dienstrecht  aus  dem  12.  Jahrhundert 
bestimmt  in  § 12:  Item  quicunque  Ministerialis  beat 
Petri  filios  habuerit,  mortuo  patre  senior  filius 
obsequium  Patris  recipiet  et  jus  serviendi  in  curia 
Archiepiscopi  in  suo  officio,  ad  quod  natus  est,  obtinebit.  *) 

')  Walter  corp.  jur.  Germ.  III,  S.  776. 

*)  Walter  corp.  j.  Germ.  III,  S.  802;  auch  abgedruckt  bei  Schulze 
ft  d.  E.  S.  209;  Kindlinger  Müustcrischo  Beiträge  Bd.  2 No.  13;  v.  Fürth, 
Oie  Ministerialen  S.  517. 


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2D 

2.  eine  Urkunde  vom  Jahre  1114,  in  welcher  Freie  sich  in 
den  Dienst  des  Grafen  von  Arnsberg  begeben,  enthält 
die  Bestimmung:  censum  vero  ex  cognatione  major 
in  penthecoste  supra  sanctum  altare  persolvat.1) 

3.  ferner  eine  solche  aus  der  Zeit  von  1131—1141: 

sed  ea  mortua  rursus  in  ipsa  familia  maximus  annis 
atque  aetate  et  predictum  censum  et  in  decreto 
tempore  . . . persolvat.  *) 

4.  Das  Recht  der  Wachszinsigen  des  h.  Patroklus  von 
Soest  zwischen  1142  und  1150  verordnet: 

sunt  quippe  in  eadem  familia  plurime  cognationes,  in 
quibus  singulis,  qui  senior  fuerit,  duos  nununos,  vel 
duos  ejusdem  precii  Gere  fundos  annatim  ad  altare 
patroni  nostri  dare  debebit.  Gum  vero  senior  ille 
obierit,  primus  etate  et  consanguinitate  ad 
persolvendum  censum  locum  ejus  obtinebit.*) 

5.  in  einer  Urkunde  des  Erzbischofs  Adelbert  von  Mainz 
von  1127  über  die  Aschaflenburger  Genausten  heisst  es: 

qui  inter  eos  (überos)  majores  masculini  sexus 
fuerint,  eadem  duo  predicta  officia  jure  hercditario 
obtineant;  et  sic  per  singulas  generationes  in  perpetuum 
sibi  in  eandem  conditionem  succedant.  *) 

6.  ebenso  bestimmt  das  Recht  der  Altarhörigen  der  Stifts- 
kirche zu  Triglar  (1101): 

ut  post  obiturn  mulieris,  qui  in  posteris  major  natu 
invcniatur,  eundem  censum  intercipiat  et  tempore 
supradicto  persolvat.*) 

Gleichzeitig  mit  den  Pflichten  wird  auch  wenigstens  that- 
sächlich  das  Hofgut,  an  dessen  Besitz  die  Leistungen  und 
Abgaben  geknüpft  wareD,  auf  den  ältesten  Sohn  oder  Nach- 


')  Kindlinger  a.  a.  O.  Urkunde  No.  16. 

*)  Kindlinger  a.  a.  O.  No.  24. 

*)  Kindlinger  a.  a.  O.  No.  26;  Sommer  Bd.  III,  Beilage  36  8.  123. 
*)  Guden  ood.  diplom.  I,  No.  146  S.  394. 

•)  Kindlinger  No.  6 S.  229. 


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3Ö 


kommen  übergegangen  »ein.  Al»  Rechtsgrundsatz  wird  die» 
jedoch  erst  später  anerkannt.  Noch  im  10.  Jahrhundert  können 
die  homine»  famuli  von  St.  Peter  zu  Pillich  zufolge  den 
Bestimmungen  des  Erzbischofs  Theoderich  von  Trier  ihre  Erb- 
güter fauste  8ucce8soribus  suis  quandoque  relinquere,  und  es 
wird  ihnen  zugebilligt,  dass  sie  liberam  habeant  potestatem  de 
prediotis  inter  se  donandi,  vendendi,  commutandi. l)  Auch  findet 
sich  hier  wie  im  Lehenrecht  vereinzelt  die  Anschauung,  dass 
das  älteste  Kind  ftir  sich  und  gleichsam  als  Vertreter  der 

übrigen  Geschwister  das  Hofgut  empfängt.  So  bestimmt  das 

Recht  des  Gotteshauses  zu  Luzern  § 1: 

vnd  mit  dem  val  vnd  mit  erschatze  hat  das  eitest  kind 
das  erb  empfangen  ze  der  kinder  aller  händen  . . .*) 
und  ebenso  das  Hofrecht  zu  Emmen  § 10: 

Swenne  ouch  ein  mensch  erstirbet,  der  vil  kinde  hinder 
ime  lat,  so  sol  ein  brobst  bi  dem  eisten  kind  die 

anderen  kinden  ir  erbe  sende,  vnd  hant  damit  dü 

kinde  allv  ir  erbe  enphangen.*) 

Andrerseits  findet  sich  sehr  häufig  vom  Beginn  des  12.  Jahr- 
hunderts an  die  Einzelerbfolge  in  den  Hofrechten  festgesetzt. 
Die  wichtigsten  Zeugnisse  sind  folgende : 

1.  Der  Erzbischof  Bruno  von  .Trier  übergiebt  1115  ein  Gut 
dem  Ministerialen  Rudolf  und  seiner  Frau  unter  der 
Bedingung  der  Einzelvererbung: 

ministrante  . . Rudolfo  prius  meo,  modo  autem  sancti 
Petri  mimstro,  et  ejus  uxore,  si  superstes  fuerit,  cui 
in  hereditatem  firmam  prefatum  bonum  concedi,  rogavi, 
hanc  internectens  conditionem,  ut  unum  tantum  ex 
filiis  uel  filiabus  suis,  si  filii  desunt,  in  hoc 
bono  heredem  constituant,  qui  simili  modo  unum 
tantum  ex  filiis  uel  filiabus  suis  heredem 


')  Günther  cod.  dipl.  Kheno-Mos.  I,  No.  22  8.  77. 

*)  Grimm,  Weiathümer  IV,  8.  369. 

*)  Grimm,  Weiathümer  IV,  8.  372;  ebenao  das  Hofrecht  au  Halters 
§ 21  daselbst  8.  378;  zu  Egringen  § 14,  8.  481. 


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31 


relinquat,  ceteris  suorum  cognationem  succedcntibus 
eadetu  lege  firmiter  designata. ') 

Unter  Beachtung  dieser  Vorschrift  wird  denn  auch  dasselbe 
Gut  im  Jahre  1150  weitergegeben,  <• 

ut  unus  tantum  de  heredibus  illorum  hanc  semper 
hereditatem  haberet. ä) 

2.  der  Erzbischof  Heinrich  von  Mainz  bestätigt  1150  die 
Verleihung  eines  Gutes  zur  Emphytouse  unter  der  Be- 
dingung der  Unteilbarkeit  und  Einzelerbfolge: 

Statutum  est  pretcrea  ex  consensu  utriusque  partis, 
ut  nec  vendere,  nec  invadiare,  nec  inter  liberos 
dividerc,  ulla  ratione  queant:  Sed  quod  prim  um 
natu  ex  iis  processerit,  eodem  pactu,  eadem 
conventione  possideat;  nisi  forte  aliquid  in  ea  edifica- 
verint  preter  id,  quod  constructum  et  edificatum 
invenerunt.  *) 

3.  eine  ähnliche  Bestimmung  findet  eich  auch  in  einem 
Vertrage  zwischen  dem  Bischof  Konrad  und  dem  Herzog 
Ludwig  von  Baiern  vom  Jahre  1213: 

ad  haec  Episcopus  et  Dux  hoc  simiüter  inter  se 
statuerunt,  ut  ministeriales  eorum  vicissim  nubant, 
et  pueri  aequaliter  dividantur,  hoc  modo 
distinguentes:  quod  primus  puer,  masculus  vel 
foemina,  patrem  sequatur  sine  divisione,  reliquis 
nihilominus  dividendis  . . . item  si  officialis  episcopi, 
veluti  mareschalcus , dapifer,  camerarius,  vel  alter 
quilibet  uxorem  de  ministerialibus  Ducis  duxerit, 
Senior  filius,  qui  patrem  sequitur,  habeat  patris 
officium,  et  si  solus  sit,  nubat  in  potestatem  domin i, 
cujus  erat  mater;  . . si  vero  solus  non  est,  sed  plures 
sunt  pueri,  ipse  nihilominus  habeat  patris  officium, 


*)  Günther,  cod.  dipl.  Kheno-Mo«.  I,  No.  87  8.  188. 
*)  Günther  eod.  No.  151  8.  381. 

*)  Guden  rod.  dipl.  I,  No.  73  S.  197. 


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32 


cum  reliquig  pueris,  secundum  quod  supra  dictum 
est,  dividendis.  *) 

4.  Die  ßechtgnachfolge  deg  ältesten  Sohneg  wird  verzeichnet 
in  folgender  Urkunde: 

quidam  vir  sanctus  ejusque  uxor  reliquerunt  legitimos 
pueroa  quinque,  videlicet  quatuor  filios  et  unam  filiam. 
Senior  frater  intromisit  ge  de  cultura  unius 
mansi  aancti  pogt  mortem  parentum  et  minigtravit 
ceteria  confratribue  et  aorori  necegaaria  vite  . . .*) 

5.  über  ein  Erbpachtgut  lautet  eine  Urkunde  von  1297 : 

quod  poat  mortem  ipaorum  (conjugum)  in  perpetuum 
senior  hereg  ipeorura  eadem  bona  poseideat 
indiviga,  qui  etiam  heres  auis  coheredibua  aliis,  si 
quos  habuerit,  recompensatn  talera  facere  tenebitur,  ut 
eadem  bona  sine  corurn  praejudiciis  poseideat 
indiviga.*) 

6.  ebenso  eine  andere: 

quod  dictus  Lupfridus  mangionariug  debet  esse  ibidem 
et  dicta  bona  apud  unicutn  heredem  auum 
remanere  debent  indiviga.4) 

7.  ferner  eine  Urkunde  von  1303: 

nec  ipsi  vel  sui  heredes  praescripta  bona  vendere 
poterunt,  nec  alienare,  nec  commutare  . et  quod 
praescripta  bona  omnia  in  solo  hcrede  remanent 
indiviga.*) 

8.  ferner  eine  solche  von  1314: 

hec  bona  post  mortem  predicti  Wernheri  Serrich 
senior  filiue  ejus  possidebit  et  illius  filii  senior 


')  Hund,  Metropolis  Saliaburgensis  tom.  I,  S.  158;  vgl.  auch  Schulze 
B.  d.  K.  S.  208  und  209. 

*)  Kindlinger,  Hörigkeit,  8.  521. 

*)  Mone,  Zeitschrift  für  die  (iesehichte  des  Uberrheins,  V,  S.  57. 

*)  Mone,  a.  a.  U. 

*)  Mone,  a.  a.  O. 


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33 


filius  et  sie  in  infinituni,  ita  ut  aemper  mancant 
indivisa  aput  unum.1) 

9.  dasselbe  besagt  eine  Urkunde  von  1324: 

iidem  agri  et  bona  apud  solara  semper  per- 
sonale remaneant  indivisi.*) 

10.  so  bestimmt  auch  das  Weisthum  von  Bingen  von  1425  §5: 

item  ob  sich  begebe  das  eyn  manwercker  oder  mehe 
abgingen  von  toidts  wegen  vnd  erben  Hessen,  iss  sy 
mans  oder  frauwen  persone,  so  sal  solich  manwerke 
gefallen  vff  den  ältesten  vnd  nehsten  erben 
vnuortheylt.*) 

11.  endlich  sei  noch  erwähnt  das  Dingrecht  zu  Wyler: 

ouch  ist  zü  wissen,  wer  es  erb  als  ein  ander 
erb,  so  erbten  ouch  der  meyger  un,d  ein  kind 
als  das  ander,  des  en  ist  es  nit.  es  ist  man- 
chen ye  des  el  testen  suns,  des  recht  erb  ist  es, 
und  wer  das  an  demselben  abgieng,  so  wcre  es  dar- 
nach des  ehesten  erben.4) 

Während  nun  im  Lehenrecht  die  Einzelerbfolge  nur  eine 
vorübergehende  Anerkennung  gefunden  hat  und  nicht  zur 
dauernden  Bechtsinstitution  geworden  ist,  hat  die  Individual- 
succession  im  Hofrecht  eine  weitere  Ausdehnung  und  festere 
Gestaltung  erfahren.  Ein  grosser  Theil  des  Grundbesitzes,  auch 
eine  Anzahl  freieigner  Güter  ist  später  ihren  Regeln  unterstellt 
worden.  Bald  aber  wird  auch  ihre  Entwicklung  und  Aus- 
gestaltung eine  lokale,  den  einzelnen  Gebieten  besonders  an- 
gepasste und  von  bunter  Mannigfaltigkeit.  Die  Schilderung  der- 
selben überschreitet  die  diesem  Aufsatz  gesteckten  Grenzen  und 
bleibt  einer  späteren  Arbeit  Vorbehalten. 

>)  Mone.  S.  #». 

»)  Mone,  8.  63. 

*)  Grimm,  Weisthiimer  IV,  8.  Ö90. 

*)  Grimm,  Weisthümer  I,  8.  3Ö9. 


FrommJio/rf,  Einselerbfnlff*. 


3 


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Anhang, 


Es  mögen  hier  noch  einige  beinerkenswerthe  Urkunden  ihren 
Platz  finden,  welche  mit  der  erörterten  Frage  nicht  in  unmittel- 
barem Zusammenhang  stehen. 

I.  Die  Assise  des  Grafen  GeofFroi  von  der  Bretagne  vom 
Jahre  1187.  *) 

Cum  in  Britannia  super  tcrris  inter  fratres  dividendis 
detrimentum  terrae  plurimum  soleat  evenire,  ego  Gan- 
fridus  Henrici  regis  filius,  dux  Britanniae,  comes 
Richemondiae,  utilitati  terrae  providere  desiderans, 
petitioni  episcoporutn  et'  omnium  baronum  Britanniae 
satisfaciens , communi  eorum  assensu,  assisiam  feci 
tempore  meo  et  successorum  mcorum  permansuratn, 
et  conccssi. 

§ 1.  Quod  in  baroniis  et  feodis  militum  ulterius  non, 
fierent  divisiones,  sed  major  natu  integro 
obtineret  dominatum  et  junioribus  majores 
providerent  et  invenirent  honorifice  neccssaria 
juxta  posse  suum. 

§ 2.  ea  vero,  quae  tum  juniores  possidebant  in  tcrris 
sive  denariis  quamdiu  viverent,  tencrent;  heredes 
terraa  detinentium  in  perpetuum  illas  possiderent 
heredes  vero  denarios  et  non  terras  habentiura 
minime  post  patres  haberent. 


')  s.  Warnkönig  und  Stein  I.  L'rkundenbuch,  S.  27. 


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35 


§ 3.  Item  si  terra  majoris  devenerit  in  Balliam,  frater 
major  post  eum  Balliam  habebit;  quod  ei  fratrem 
non  habuerit,  ille  de  amicis  Balliam  habeat,  cui 
decedene  cum  assensu  domini  sui  ad  eam  voluerit 
commendare. 

II.  Durch  folgende  Bestimmung  fuhrt  der  Graf  Wilhelm 
von  Katzenellenbogen  am  19.  Juni  1331  unter  seinen 
Söhnen  das  Majorat  ein:  *) 

wir  wollen  auch  me,  das  keiner  dan  Ein  unse  Leyns- 
erbe  ein  Herre  si  der  Herrschaf,  die  wir  na  unsem 
Doide  laizin,  und  das  sal  angaindis  Wilhelm  unse 
Eiste  Sun  syn  ein  Here  de  Herschaft,  und  ob  der 
abegienge  von  Doidis  wegen,  das  Got  nit  inwolle,  so 
soll  iz  Dyther  unse  Sun  sin , und  ob  der  abegienge, 
so  soll  iz  aber  der  Eiste  darna  sin.  Und  das  hant 
uns  auch  unse  Sweger  vorgenant  gelobt,  wanne  das 
Got  ubir  uns  gebudet,  das  si  kein  Leynserben  uns 
Herschaft  sollen  machin  me  dan  Einen,  und  das  sal 
alliz  der  Eiste  sin. 

III.  Bezüglich  der  Untheilbarkeit  der  sogenannten  „Schaff- 
güter“ lässt  sich  ein  Weisthum  von  Mertert  v.  1589 
folgendermassen  aus:2) 

1.  sagen  derhalben  erstlich,  ein  hofsgebrauch  sei,  dasz 
alle  erbungen  bey  inen  hinderfelligen  naturcn  und 
den  negsten  blutsverwandten  zuerkend  werden, 
jedoch  dasz  nach  absterben  des  ehemans,  alsz  des 
rechten  gewesenen  erben  der  schaffgütter,  seinem  ehe- 
weib,  und  hingegen  nach  absterben  des  eheweibs  ihrem 
ehemann  die  leibzucht  Vorbehalten  seie,  auch  sich 
wiederum  in  die  schaffgütter  einbestatten  möge. 


')  H.  B.  W eiick,  hessische  Landesgeschiehte , Urkundenbuch  von 
Katzenelnbogen,  No.  193. 

*)  Hardt,  Luxemburger  Weisthümer,  S.  626. 


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36 


2.  it.  die  gemelte  blutsverwandten  in  gleichen  grate, 
mehr  als  einer,  das  alsdan,  weil  schaffgütter 
vor  untheilbar  gehalten  werden,  den  hern  die 
macht  zustehe  einen  under  allen  indiegütter 
einzusetzen. 

3.  it.  so  viel  die  rniterben  anlangt,  dasz  dieselbige  mit 
sampt  dem  eingesetzten  oder  sonst  von  den  eitern 
einbestattnem  erben,  allen  möbel  (die  schulden  ab- 
gezogen) und  freyerbgütter  in  specie  zugleich 
theilen  mögen,  soviel  aber  das  schaffgut  anlangt, 
dasz  solches  für  ein  gelt  geschetzt,  dergleichen 
auch  frön  und  herrendienst , und  so  viel  dan  das 
schaff  gut  besser,  dasz  indem  der  eingesetzter  erbe 
seine  consorten  mit  gelt  oder  geltswerth,  jeden  nach 
seinem  gebär  befriedigen  und  ablegen  sol. 

IV.  Bezüglich  der  von  einer  Kirche  abhängigen  Güter  be- 
stimmt: 

a)  Die  Oeffhung  zu  Neukirch  v.  1330 :‘) 

es  ist  ouch  wyssend,  das  die  selbigen  güetter  nyemant 
haben  noch  erben  sol,  denn  gotzhus  lütt,  die  yn  den 
dinckhoff  hörend ; were  ouch,  da«  der  güetter  kains  yn 
yngnoss  hand  keme,  der  ...  sol  es  ainetn  herren 
von  Costcutz  verkünden , der  sol  schaffen , das  die 
güetter  widerum  komen  in  der  hand,  die  der  güettera 
genoss  syeund. 

b)  Das  Weisthurn  von  Kirburg  v.  1534:*) 

§ 10.  item  so  wisent  si  dem  apte,  ob  jemand  were  und 
lehngut  hait,  dasselbigt  versetzte,  versplisse 
und  verkeufte,  wisent  si  im  ein  missethat, 
doch  gnad  bei  rechte. 


')  Grimm.  Weisthümer  I,  S 292. 
*)  a.  a.  O.,  S.  6*2,  6+4. 


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37 


§ 12.  item  zu  dem  eilften  mal,  wo  ein  lehnmann  sitzet 
der  da  het  ein  lehen  von  dem  gotzhaus,  und 
dasselbig  verspliss  oder  verdeilt  un  der  sein 
kinder  sunder  wissen  und  willen  des  lccnherren, 
was  der  verbrochen  hab,  sintdicinal  alle  jair 
clerlich  verboden  wirt,  was  dnrumb  recht  si? 


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ß.  Oruhn's  Buchdruckerei,  Wannbrunn. 


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Untersuchungen 

zur 

Deutschen  Staats-  und  Rechtsgeschichte 

herausgegeben 

von 

Dr.  Otto  Gierke, 

Professor  der  Rechte  an  der  Universität  Berlin. 

34.  Heft. 


Das  Yerwandtschaftsbild  des  Sachsenspiegels 

und  sein  Bedeutung  für  die  sächsische  Erbfolgeordnung 

von 


Ulrich  Stutz;, 


Breslau. 

Verlag  von  Wilhelm  Koebner. 
1890. 


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Das 


TeiraitscMisll  des  Sachsenspiegels 

und  seine  Bedeutung 

für  die  sächsische  Erbfolgeordnung 


von 


Ulrich  Ntatz.  / ? 


Breslau. 

Verlag  von  Wilhelm  Koebner. 
1890. 


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Seinem  lieben  Vater 


Herrn  U.  Stutz-Finsler 

Privatdozenten  der  Geologie 
am  eidgenössischen  Polytechnikum  zu  Zürich 

in 

Liebe  und  Dankbarkeit 


gewidmet 


vom 


Verfasser. 


Verzeichnis 

der 

Abkürzungen  in  den  Litteraturzitaten. 


v.  Amira,  E = Erbenfolge  und  Verwandtschaft«  - Gliederung 

nach  den  alt-niederdeutschen  Rechten  von  Dr. 
K.  v.  Amira.  München  1874. 

— Rez = Rezension  der  Schrift  von  Schanz  in  den 

Göttinger  gelehrten  Anzeigen  1884  S.  38—48. 

— Recht  ....  — .Recht“  in  Paula  Grundriss  der  germanischen 

Philologie.  Bd.  II  S.  35  f.  Strassburg  1890. 

Blnntschli  = Zur  Lehre  vom  deutschen  Erbrecht  von  Blunt- 

achli,  krit.  Ueberschau  der  deutschen  Gesetz- 
gebung und  Rechtswissenschaft.  Bd.  I 1853. 

Dsp = Der  Spiegel  deutscher  Leute,  einzige  Ausgabe 

von  Ficker.  Innsbruck  1859. 

G a u p p = Germanistische  Abhandlungen  von  E.  Th.  Gaupp. 

Mannheim  1853. 

Hensler  = Institutionen  des  deutschen  Privatrechts  von 

A.  Heusler.  Bd.  II.  Leipzig  1886. 

Hom.  Par = Die  Stellung  des  Sachsenspiegels  zur  Paren- 

telenordunng  von  Homeyer.  Berlin  1860. 

Lewis,  IX,  XIV,  XVII  — Besprechungen  der  Litteratur  (Iber  die  ger- 


manische Verwandtsclinftsberechnung  und  Er- 
benfolge von  Lewis  in  der  kritischen  Viertel- 
jahrsschrift für  Gesetzgebung  nnd  Rechts- 
wissenschaft Bd.  IX  S.  23  — 67,  Bd.  XIV 
S.  1-44,  Bd.  XVII  S.  400  ff. 

Mansi = Collectio  Sacrorum  Conciliorum  nova  et  am- 

plissima  ed.  Mansi.  1759 — 1798. 

Mejer = lieber  die  sog.  Gregorische  Computation  von 

0.  Mqjer,  Zeitschrift  für  deutsches  Recht  von 
Reyscher  und  WiUla.  Bd.  VII  S.  173  f. 

Migne  . . . = Cursus  patrolugiae  completus.  Series  latina 

accuratite  J.  P.  Migne  Parisiis  1844—1878. 

Rive = Zur  Frage  nach  dem  Prinzip  der  Successions- 

ordnung  im  germanischen  Rechte  von  Rive, 
1863  in  Bekkera  und  Muthera  Jahrbüchern  VI 
8.  197—228. 


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Schanz = Dag  Erbfolgeprinzip  des  Sachsenspiegels  und 

des  Magdeburger  Rechts  von  Fr.  Schanz. 
Tübingen  1883. 

Sch r iide r,  R.  G.  ...  — Lehrbuch  der  deutschen  Reehtsgeschichte  von 

R.  Schröder.  Leipzig  1889. 

Scliwsp Der  Schwabcnspiegel , Ausgabe  von  Frhr.  von 

Lassberg,  1840. 

Seelig = Die  Erbfolgeordnung  des  Schwabenspiegels  von 

Geert  Seelig.  Kieler  Iuaug.-Diss.  1890. 
Siegel,  Erbr = Dag  deutsche  Erbrecht  von  H.  Siegel.  Heidel- 

berg 1853. 

— V.  B = Die  germanische  Verwaudtschaftsberechnung 

mit  besonderer  Beziehung  auf  die  Erbeufolge 
von  H.  Siegel.  Giesgeu  1853. 

— Rez = Rezension  der  ersten  Schrift  Wagsersehlebens 

in  der  österreichischen  Vierteljahrsschrift  für 
Rechte-  und  Staatswisaenschaft  Bd.  VI  Litte- 
raturblatt  S.  21  f. 

— R.  G = Deutsche  Rechtsgeschichte  von  H.  Siegel.  2. 

AnfL  1889. 

Ssp = Der  Sachsenspiegel,  Landrecht,  Bd.  I der 

Homeyerschcn  Ausgabe.  3 Anti.  Berlin  1861. 

Stobbe,  1*.  R = Handbuch  des  deutschen  Privatrechts  von 

0.  Stobbe.  Bd.  V.  2.  Anfl.  Berlin  1885. 

— B = Beitrüge  zur  Geschichte  des  deutschen  Rechts 

von  0.  Stobbe.  Braunschweig  1865. 

v.  Sydow = Darstellung  des  Erbrechts  nach  den  Grund- 

sätzen des  Sachsenspiegels  mit  Rücksicht  auf 
die  verwandten  Quellen  von  v,  Sydow.  Berlin  1828. 

Wass.,  S.  O — Das  Prinzip  der  Successionsordnnng  nach 

deutschem,  insbesondere  sächsischem  Rechte 
von  H.  Wasserschieben.  Gotha  1860. 

— Repl = Die  germanische  Verwandtsohaftsberechnung 

und  das  Prinzip  der  Erbenfolge  nach  deutschem, 
insbesondere  sächsischem  Rechte.  Eine  Replik 
von  H.  Wasserschieben.  Giessen  1864. 

— Pr.  d.  E = Das  Prinzip  der  Erbenfolge  nach  den  ältern 

deutschen  und  verwandten  Rechten  von  H. 
Wasserschlebcn.  Leipzig  1870. 

— Buss = Die  Bauordnungen  der  abendländischen  Kirche 

von  H.  Wasserschieben.  Halle  1851. 


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Einleitung. 


Die  vorliegende  Schrift  entstand  während  des  laufenden 
Semesters.  Veranlasst  wurde  sie  durch  die  Lektüre  der  be- 
treffenden Sachsenspiegelstellen  zu  Anfang  dieses  Sommers  im 
Seminar  für  deutsches  Recht  in  Berlin  und  durch  den  gelegentlich 
derselben  von  dem  Direktor  Herrn  Prof.  Dr.  Otto  Gierke  gemachten 
Hinweis  auf  die  Wünschbarkeit  einer  erneuten  Untersuchung 
über  das  vorliegende  Thema.  Seine  Ergebnisse  stellte  der  Ver- 
fasser in  einer  Arbeit  zusammen,  mit  welcher  er  sich  um  die 
ordentliche  Mitgliedschaft  in  dem  genannten  Seminare  bewarb. 
Die  unerwartet  günstige  Aufnahme,  welche  seine  Untersuchungen 
trotz  ihres  vielfachen  Abweichens  von  der  bisherigen,  auch  der 
parentelistischen  Litteratur  bei  seinem  hochverehrten  Lehrer 
fanden,  sowie  desselben  freundliche  Aufmunterung  veranlassen 
nun  den  Anfänger,  mit  seinem  Erstlingsversuche  an  die  Oeffent- 
lichkeit  zu  treten.  Vor  der  Drucklegung  wurde  die  Arbeit 
einer  Revision  unterzogen.  Für  drei  Punkte  lagen  dazu  schrift- 
liche Bemerkungen  von  Herrn  Prof.  Gierke  vor,  welche  derselbe 
dem  Verfasser  mitzuteilen  die  Güte  hatte,  und  welche  an  dem 
betreffenden  Orte  als  solche  gekennzeichnet  sind.  Im  Uebrigen 
erfolgte  die  Revision  selbstständig.  Einzelne  Partieen  wurden 
nach  Form  und  Inhalt  praegnanter  und  schärfer  gefasst,  da  und 
dort  wurde  auch  dies  oder  jenes,  was  bei  der  ersten  Aus- 
arbeitung nur  angedeutet  werden  konnte,  quellenmässig  zu  be- 
gründen versucht,  soweit  es  die  knapp  bemessene  Zeit  gestattete. 
Ueberhaupt  möge  der  Umstand,  dass  die  Arbeit  innerhalb 
weniger  Wochen  neben  zahlreichen  Vorlesungen,  welche  der 

Stutz,  Verwandtet;!)  aftabi  hl  1 


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2 


Verfasser  zu  hören  hatte,  entstanden  ist,  es  entschuldigen,  wenn 
hie  und  da  der  Darstellung  die  Gleiehmässigkeit  und  Abrundung 
fehlt,  welche  zu  erzielen  nur  bei  konzentrierter,  ruhiger  Arbeit 
möglich  ist. 

Die  Rücksicht  auf  die  Zeit  war  es  auch,  welche  von  vorn- 
herein den  Verfasser  bewog,  die  Untersuchung  auf  den  Sachsen- 
spiegel zu  beschränken  und  von  einer  Hereinziehung  der  ver- 
wandten Rechtsquellen  abzusehen.  Es  braucht  jedoch  kaum 
noch  bemerkt  zu  werden,  dass  diese  Abgrenzung  bei  der  Beschaffen- 
heit der  Quelle  auch  materiell  gerechtfertigt  ist.  In  der  Tat 
haben  fast  alle  Schriftsteller,  Schanz  nicht  ausgenommen,  die 
Untersuchung  für  den  Sachsenspiegel  entweder  ganz  allein,  oder 
doch  getrennt  von  derjenigen  der  übrigen  Rechtsquellen  geführt. 

Konnte  der  Verfasser  in  diesem  Punkte  dem  Vorgehen 
Früherer  folgen,  so  wurde  ihm  schon  bei  der  Lektüre  der  ein- 
schlägigen Litteratur  klar,  dass  dies  in  einer  anderen  Be- 
ziehung nicht  möglich  sei,  nämlich  nicht  in  der  Methode. 

Ueber  die  sächsische  Verwandtschaftsberechnung  und  Erben- 
folge ist  man  zu  einer  mehr  oder  weniger  allgemein  anerkannten 
Ansicht  noch  nicht  gekommen.  Zwar  hatte  früher,  namentlich 
seit  v.  Sydow’s  Schrift  über  das  Erbrecht  des  Sachsenspiegels, 
die  Parentelentheorie  allgemeine  Anerkennung  gefunden.  Wenn 
dieselbe  in  neuster  Zeit,  nachdem  Siegel,  Wasserschieben, 
v.  Amira  und  Andere  sie  lebhaft  bekämpft  und  Homeyer  und  Rive 
sie  nicht  ohne  Anstrengung  aufrecht  erhalten  haben,  auch  für 
den  Sachsenspiegel  an  Boden  wieder  gewinnt,  so  möchte  das 
wohl  mehr  den  Erfolgen  zuzuschreiben  sein,  welche  sie  für 
andere  Rechtsquellen  und  Rechtsgebiete  seither  errungen  hat. 
Dies  scheint  mir  namentlich  auch  aus  den  Ausführungen  Heus- 
lers,  des  neusten  Verteidigers  der  Parentelenordnung  für  den 
Sachsenspiegel,  hervorzugehen,  selbst  wenn  man  berücksichtigt, 
dass  er  sich  natürlich  auch  in  den  die  Erbenfolge  betreffenden 
Abschnitten  eine  weitergehende  Aufgabe  gestellt  hat.  Für 
den  Sachsenspiegel  allein  genommen  ist  die  Parentelenordnung 
vielleicht  am  meisten  wahrscheinlich  gemacht,  aber  durchaus 
nicht,  auch  nur  einigermassen  zwingend,  nachgewiesen.  Woran 
liegt  die  Schuld  an  diesem  wenig  erfreulichen  Resultate?  In 
der  Quelle  wohl  nicht.  Eike  schildert  auch  in  diesem  Punkte 
Rechtsverhältnisse,  mit  denen  er  als  freier  Mann  seiner  Zeit 


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3 


und  vor  Allem  als  Schöffe  von  Grund  ans  vertrant  war.  Der 
Stoff,  welcher  seinen  Berichten  zu  Grunde  liegt,  muss  ihm  voll- 
kommen in  Fleisch  und  Blut  übergegangen  gewesen  sein.  Dass 
ihn  hier  seine  Geschicklichkeit  in  der  Darstellung  ausnahms- 
weise im  Stich  gelassen  habe,  wird  wohl  auch  nicht  ohne  wei- 
teres angenommen  werden  dürfen.  Vielmehr  möchte  der  Grund, 
weshalb  es  bis  jetzt  auch  nicht  annähernd  zu  einer  Einigung  der 
Ansichten  über  die  sächsische  Verwandtschaftsberechnung  und 
Erbenfolge  gekommen  ist,  bei  den  modernen  Erklärern  des  Rechts- 
buches liegen  u.  z.  in  einem  Punkte,  der  ihnen  trotz  aller  Ver- 
schiedenheit gemeinsam  ist,  in  der  Methode.  Sie  alle  benutzten 
nämlich  die  beiden  Hauptstellen  Ssp.  I 3 § 3 und  I 17  § 1 als 
vollkommen  gleichwertig;  sie  kombinieren  deren  Bestandteile 
in  unbeschränkter  Weise;  sie  tragen  Folgerungen  aus  der  einen 
ohne  weiteres  in  die  andere  hinein ; *)  sie  operieren  namentlich 
mit  dem  in  I 3 § 3 gegebenen  Bilde,  besonders  den  „ Hälsen“, 
auch  in  I 17  § 1,  alles  ohne  sich  über  die  Berechtigung  dieser 
Untersuchungsweise  Rechenschaft  zu  geben.  Und  doch  musste 
gerade  im  Hinblick  auf  das  zuletzt  Genannte  die  Tatsache 
auffallen,  dass  von  dem  in  I 3 § 3 gebrauchten  Bilde  des 
menschlichen  Körpers  kein  einziges  Glied  in  I 17  § 1 
erwähnt  wird,  und  dass  umgekehrt  ein  in  I 17  § 1 vor- 
kommender, zur  Verwandtschaftsbezeichnung  ver- 
wendeter Körperteil  in  I 17  § 1 nicht  erscheint. 

In  der  Tat  sind  die  beiden  Stellen  von  ganz  verschiedenem 
Werte.  Während  1 17  § 1,  wie  wir  sehen  werden,  gleich  allen  andern 
Stellen  von  Art.  4 an  mit  der  Regelung  eines  ganz  bestimmten 
Rechtsverhältnisses  sich  beschäftigt,  gehört  umgekehrt  1 3 § 3 
zu  den  drei  ersten,  allgemeinen,  grundlegenden  Artikeln  des 
Ssp.  über  die  höchste  Gewalt,  die  Stände  und  die  Verwandt- 
schaft. Ja  die  Stelle  tritt  geradezu  mit  dem  Anspruch  der 
Allgemeinheit  auf,  denn  sie  will  darstellen  Anfang  und  Ende 
der  Blutsverwandtschaft  als  solcher,  der  Sippe,  welche  nicht 
nur  im  Erbrecht,  sondern  ebenso  gut  im  Vormundschaftsrechte 
und  bei  Empfang  oder  Zahlung  des  Wergeids  in  Betracht 
kommt.  Erst  am  Schlüsse  folgt  eine  Regel  über  die  Anwendung 
des  vorher  allgemein  Entwickelten  auf  das  Erbrecht.  In  Ssp. 


')  Vgl.  z.  B.  Waas.  S.  0.  S.  30-37. 

»• 


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4 


I 3 § 3 also  Allgemeinheit  und  erst  in  zweiter  Linie  Beziehung 
auf  das  Erbrecht,  in  I 17  § 1 konkrete  erbrechtliche  Fragen: 
diese  Verschiedenheit  des  Inhalts  und  der  Aufgabe  muss  auch 
eine  Verschiedenheit  der  Behandlung  und  Erklärung  zur  Folge 
haben.  Dort  wird  man  weite  Interpretation  und  analoge  Aus- 
dehnung als  im  Sinne  der  Stelle  und  ihres  Verfassers  anwenden 
dürfen,  ja  müssen;  hier  wird  man  sich  zehnmal  zu  besinnen 
haben,  bevor  man  eine  über  den  Wortlaut  hinausgehende  Er- 
klärung annimmt.  Erst  wenn  die  Stellen  so  behandelt,  so  auf 
ihre  Tragweite  vorher  geprüft  werden,  wenn  man  sie  erst  nach 
Prüfung  ihrer  Kombinationsfähigkeit  kombiniert,  können  sie  mit 
Hoffnung  auf  Erfolg  verwendet  werden,  erst  dann  sind  auch 
sichere  Resultate  zu  erwarten. 

Nach  diesen  Gesichtspunkten  sollen  nun  im  Folgenden  die 
beiden  Stellen  getrennt  behandelt  werden.  Zuvor  aber  drängt 
es  den  Verfasser,  auch  an  dieser  Stelle  seinem  hochverehrten 
Lehrer,  Herrn  Prof.  Dr.  0.  Gierke,  seinen  wärmsten  Dank  aus- 
zusprechen; seine  Art,  dem  Geiste  des  deutschen  Rechtes  und 
dessen  Quellen  nachzugehen,  hat  vor  Allem  die  Freude  an  dem 
Studium  unsers  nationalen  Rechtes  und  seiner  Geschichte  in  dem 
Schüler  entfacht  und  gemehrt,  ganz  abgesehen  von  der  persön- 
lichen Förderung,  welche  er  diesem  bei  seiner  Arbeit  überall 
in  reichlichem  Masse  freundlichst  zu  Teil  werden  lässt.  Möchte 
die  vorliegende  Schrift  diese  seine  Bemühungen  als  nicht  ganz 
unfruchtbar  erscheinen  lassen,  möchte  sie  als  ein,  wenn  auch 
geringer  Beitrag  zur  endlichen  Lösung  einer  der  brennendsten 
Fragen  unserer  deutschen  Rechtsgeschichte  sich  erweisen. 

Berlin,  den  19.  Juli  1890. 


Der  Verfasser. 


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A.  ''Sachsenspiegel,  Landr.  I.  3 § 3. 

Die  Stelle  lautet: 

Nu  merke  wie  ok,  war  de  sibbe  beginne  unde  war  se 
lende.  In  deme  hovede  is  besceiden  man  unde  wif  to  stände, 
die  elike  unde  echtlike  to  samene  körnen  sin.  In  des  lialses 
lede  die  kindere,  die  ane  tveinge  vader  unde  müder  geboren 
sin.  Is  dar  tveinge  an,  die  ne  mögen  an  eime  lede  nicht  be- 
stan  unde  scricket  an  ein  ander  lct.  Nemet  ok  tvene  brtldere 
tvo  siistere,  unde  de  dridde  brnder  en  vremede  wif,  ire  kindere 
sint  doch  gelike  na,  ire  iewelk  des  anderen  erve  to  nemene,  of 
se  evenburdich  sint.  Ungetveider  brüder  kindere  de  stat  an 
deme  lede,  dar  sciilderen  unde  arm  to  samene  gat;  also  dut 
die  süster  kindere.  Dit  is  de  irste  sibbe  tale,  die  man  to 
magen  rekenet:  bruder  kindere  unde  suster  kindere.  In  dem 
eilenbogen  stat  die  andere.  In  dem  lede  der  hant  de  dridde. 
In  dem  irsten  lede  des  middelsten  vingeres  de  vierde.  In  dem 
anderen  lede  de  vefte.  In  dem  dridden  lede  des  vingeres  de 
seste.  In  dem  seveden  stat  ein  nagel  unde  nicht  ein  let,  dar 
umme  lent  dar  de  sibbe,  unde  hetet  nagel  mage.  — Die 
tvischen  deme  nagele  unde  deme  hovede  sik  to  der  sibbe 
gestoppen  mögen  an  geliker  stat,  de  nemet  dat  erve  gelike. 
De  sik  naer  to  der  sibbe  gestoppen  mach,  de  nimt  dat  erve 
to  voren.  — De  sibbe  lent  in  dem  seveden  erve  to  nemene, 
al  hebbe  de  paves  georlovet  wif  to  nemene  in  der  veften ; wende 
de  paves  ne  mach  nen  recht  setten,  dar  he  unse  lantrecht  oder 
lenrecht  mede  ergere. 

Wie  schon  bemerkt  wurde,  gehört  unsere  Stelle  zum  grund- 
legenden Teile  des  Ssp.  Aus  drei  Quellen  fliesst  für  den  mittel- 
alterlichen Menschen  sein  Kecht , vom  Kaiser  oder  König, 
welcher  der  Urquell  alles  Land-  und  Lehenrechts  ist,  aus  der 
Zugehörigkeit  zu  einem  Stande  und  ans  der  Mitgliedschaft  im 
Verbände  der  Blutsfreunde,  in  der  Sippe.  So  hat  Eike  recht 


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daran  getan,  am  Anfänge  seiner  Gesamtdarstellung  des  säch- 
sischen Rechtes  von  diesen  drei  Grundpfeilern  zu  sprechen. 
Wir  schieben  ihm  aber  wohl  nicht  moderne  Denkweise  und 
Ueberlegung  unter,  wenn  wir  annehmen,  dass  auch  Gründe  der 
Methode  ihn  zu  dieser  Anordnung  bewogen  haben.  Wie  oft 
musste  er  voraussichtlich  in  seiner  Darstellung  des  Rechts  von 
den  Schöffenbaren  oder  von  den  Landsasseu  sprechet!  Wie 
ungeschickt,  wenn  er  jedesmal  wieder  zu  erklären  hatte,  wer 
diese  seien ! Darum  mögen  auch  ihn,  obwohl  er  kein  Lehrbuch, 
sondern  ein  Rechtsbuch  schrieb,  neben  Gründen  des  Inhalts 
Gründe  der  Form  veranlasst  haben,  diese  Verhältnisse  am  An- 
fänge seines  Werkes  ein  für  allemal  darzustellen.  Darauf 
scheint  mir  namentlich  hinzuweisen  die  Behandlung  der  Lehn- 
rechtsstände an  diesem  Orte.  Aus  materiellen  Gründen  hätte 
die  Heerschildlehre  an  die  Spitze  des  Lehnrechts  gehört,  allein 
da  doch  schon  im  Landrecht  hier  und  dort  auf  sie  Bezug  zu 
nehmen  war,  mochte  es  Eike  zweckmässig  erscheinen,  sie  eben- 
falls schon  hier  zu  behandeln. 

Solche  materiellen  und  formellen  Gründe  haben  nun  auch 
die  Ausführungen  von  I 3 § 3 unzweifelhaft  veranlasst.  Noch 
viel  mehr  als  bei  den  Ständen  musste  bei  der  Blutsverwandt- 
schaft eine  vorangehende  allgemeine  Erörterung  am  Platze  sein, 
ist  doch  die  Zugehörigkeit  zu  einem  Geschlechtsverbande,  einer 
Familie  im  heutigen  weitern  Sinne,  noch  jetzt  für  den  Einzel- 
nen im  Rechte  wichtig,  wie  viel  mehr  zur  Zeit  Eikes!  Damals 
waren  noch  mehr  Reste  vorhanden  aus  jener  Zeit,  da  die  Sippe 
die  Trägerin  öffentlichen  und  privaten  Rechtes  war.  Für  Erb- 
recht, Vormundschaftsrecht,  für  das  allerdings  dem  weltlichen 
Rechte  entzogene  Erbrecht,  im  Strafrecht  und  im  Prozesse  war 
die  Blutsfreundschaft  damals  noch  von  grösserer  oder  geringerer 
Bedeutuug.  Grund  genug,  über  die  Blutsverwandtschaft  als 
solche  gleich  am  Anfang  zu  sprechen,  was  Eike  auch  tut.  „Nu 
merke  wie  ok,  war  de  sibbe  beginne  unde  war  se  lende,“  heisst  es 
zu  Anfang  des  § 3.  Es  kann  nicht  genug  betont  werden,  dass 
der  Anfang  und  das  Ende  der  Blutsfreund- 
schaft sowie  ihre  Gliederung  in  erster  Linie 
hier  geschildert  werden  soll.1)  Die  Erbenfolge  wird 


')  Vgl,  Heusler  8.  600. 


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zunächst  ausser  Auge  gelassen.  Nur  in  dem  als  eine  Anmerkung, 
als  Zwischensatz  sich  charakterisierenden:  „Nemet  ok  tvene 
brüdere  u.  s.  f.  ist  vom  Erbe  die  Rede,  und  dort  soll  mit  dem : 
„sint  doch  gelike  na,  ire  iewelk  des  anderen  erve  to  nemene“ 
nicht  sowohl  über  ihr  Erbrecht  Ausknnft  gegeben,  als  an  den 
gleichen  Teilen  gezeigt  werden,  dass  sie  ganz  gleich  nahe  ver- 
wandt sind.1)  Erst  nach  Beendigung  seiner  oben  gestellten 
Aufgabe,  erst  am  Schlüsse  lehrt  uns  dann  Eike,  wie  das  vor- 
her Gesagte  in  seinem  wichtigsten  Anwendungsfalle,  für  die 
Erbenfolge,  verwendet  werden  soll.  Aber  gerade  der  gegen 
das  kirchliche  Recht  gerichtete  Zusatz  zeigt  wieder,  wie  der 
mit  der  Erbberechtigung  im  Verhältnis  zu  einer  Person  sich 
deckende  Umfang  der  Verwandtschaft  hier  überall  wieder  her- 
vordringt. 

Der  Allgemeinheit  des  Inhaltes  entspricht  die  Art  der  Be- 
handlung. Während  sonst  Eike  die  Rechtssätze  im  Allgemeinen 
ohne  weitere  Verarbeitung  und  ohne  Systematik  wiedergibt, 
gerade  so  wie  es  der  Zusammenhang  mit  sich  bringt,  syste- 
matisiert er  im  dritten  Artikel.  Allerdings  entnimmt  er  sein 
System  nicht  dem  Stoffe,  sondern  in  ganz  mittelalterlicher  Weise 
einem  diesem  fremden  Ideenkreise,  den  mystisch  - chiliastischeu 
Vorstellungen  und  Theorien  seiner  Zeit.  Allein  nicht  genug, 
Eike  hat  nach  allgemeiner  Ansicht  *)  überhaupt  die  Gliederung 
der  Stände  nach  Lehenrecht  hier  zum  ersten  Male  dargestellt, 
er  ist  der  Vater  wie  der  Hauptvertreter  der  Heerschildtheorie. 
Es  tritt  also  in  unserem  Artikel  nicht  nur  Bearbeitung  son- 
dern auch  selbstständige  Verarbeitung  zu  Tage. 

Damit  haben  wir  die  allgemeinen  Gesichtspunkte  zum  Ver- 
ständnis unserer  Stelle  gewonnen  und  gehen  nun  zur  näheren 
Untersuchung  und  Erklärung  derselben  über. 


I. 

Zuerst  haben  wir  festzustelleu , was  iu  Ssp.  I 3 § 3 
„sibbe“  bedeutet. 

')  Vgl.  nuten  Abschnitt  II  2 unserer  ersten  Untersuchung. 

*)  Es  genüge  der  Hinweis  auf  Schröder  R.  Q.  S.  384. 


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8 


1)  Siegel  (Erbr.  S.  17  und  18,  52  und  V.  B.  S.  8)  hat 
die  Ansicht  verfochten,  „Sippe“  könne  zwar  Blutsverwandtschaft 
überhaupt  bedeuten,  werde  aber  namentlich  und  auch  in  unse- 
rer Stelle  für  Seitenverwandtschaft  gebraucht.  Eine  Beendigung 
der  Verwandtschaft  in  absteigender  Linie  gebe  es  nicht,  eben- 
sowenig in  aufsteigender,  wenn  daher  irgendwo  von  Beendigung 
der  Verwandschaft  in  einem  bestimmten  Grade  die  Rede  sei, 
so  könne  dabei  nur  die  Seitenverwandtschaft  in  Frage  kommen ; 
und  da  nun  in  diesem  Falle  „Verwandtschaft“  durch  „sibbe“ 
ausgedrückt  sei,  so  ergebe  sich,  dass  „sibbe“  auch  und  nament- 
lich Seitenverwandtschaft  bedeute.  Allein  abgesehen  davon, 
dass,  wie  wir  im  Folgenden  zeigen  werden,  diese  aus  unserer 
Stelle  entnommene  Beweisführung  nicht  durchschlagend  ist, 
weil  eben  auch  bei  anderer  Deutung  von  „sibbe“  von  einer 
Beendigung  der  Verwandtschaft  in  gerader  Linie  nicht  die  Rede 
ist,  abgesehen  hiervon  schliesst  Siegel  selbst  diese  Deutung  für 
unsere  Stelle  au  anderem  Orte  wieder  aus,  wenn  er  (Erbr. 
S.  24  f.  und  60)  sagt,  in  Ssp.  I 3 § 3 sei  von  der  Verwandt- 
schaft überhaupt  die  Rede,  und  wenn  er  (V.  B.  S.  8)  ausführt, 
dass  der  Ausdruck  speziell  für  die  sogenannten  Seiten- 
verwandten gebraucht  werde,  die  allerdings  nach  germanischer 
Anschauung  als  Nachkommen  eines  gemeinschaftlichen  Stamm- 
vaters aufgefasst  werden.  Wenn  eben  für  das  germanische 
Recht  die  sögenannten  Seitenverwandten  nur  unter  dem  Ge- 
sichtspunkt der  Deszendenz  in  Betracht  kamen,  so  passt  halt 
der  Begriff  der  Seitenverwandtschaft  nicht  für  den  Bau  des 
germanischen  Geschlechtes  ebenso  wenig  wie  hier  für  die  Er- 
klärung von  „sibbe.“ 

2)  Wass.  (S.  0.  S.  15  Note  **,  S.  31)  schliesst  sich  zwar 
der  Siegelschen  Auffassung  an,  dass  „sibbe“  Seitenverwandt- 
schaft oft  bedeute,  allein  er  behauptet  diese  Deutung,  nament- 
lich für  unsere  Stelle,  nicht  allgemein;  offenbar  entgeht  ihm 
die  Unmöglichkeit  nicht,  diese  Bedeutung  z.  B.  für  den  Satz 
anzunehmen:  „Nu  merke  wie  ok,  war  de  sibbe  beginne  unde 
war  se  lende.“  Vielmehr  soll  eine  Beziehung  zur  Seitenverwandt- 
schaft regelmässig  nur  da  vorliegen,  wo  von  „sibbetale“  und 
von  „sik  to  der  sibbe  stuppen  oder  ziehen“  die  Rede  sei  (Wass. 
Repl.  S.  12  f.,  Pr.  d.  E.  S.  4).  Darauf  deute  namentlich  un- 
sere Stelle  hin,  wo  die  Seitenverwandten  in  eigentümlicher 


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Weise  lokalisiert  werden  nach  Gelenken  des  Armes  und  der 
Hand,  also  nach  Gliedern,  welche  sich  vom  Rumpfe  seitwärts 
abzweigen.  Dem  Rumpfe  gehören  noch  an  die  Eltern  (im 
Haupte)  nnd  die  vollbürtigcn  Geschwister  (im  Halse);  mit  den 
Kindern  dieser  erst  beginne  die  Magschaft,  die  eigentliche 
Seitenverwandtschaft,  und  in  ihr  die  erste  „sibbe  tale.“  Die- 
selbe werde  sonach  berechnet  vom  Schultergelenke  bis  zum 
Nagel.  Darauf,  dass  der  Ssp.  eine  „sibbe  tale“  nur  in  der 
Seitenlinie  kenne,*)  weise  auch  die  Wald  des  Arms  und  der 
Hand  als  Seitenglieder  des  Rumpfes  hin,  die  Sippezahlen  der 
obigen  Stelle,  die  Bestimmung  von  Anfang  und  Ende  be- 
schränken sich  auf  die  Magen  oder  Seiten  verwandten.  (Repl. 
S.  13).  Wenn  der  Ausdruck  „sik  to  der  sibbe  stuppen“  auch 
auf  die  gerade  Linie  anwendbar  sein  solle,  so  fehle  im  Ssp. 
und  den  übrigen  Rechtsbttchern  jeder  Anhalt  nnd  jede  Andeu- 
tung über  das  Verfahren  hierbei  u.  s.  w.*) 

Dagegen  ist  nun  zu  erwidern: 

a)  „Sibbe“  heisst  Friede,  Friedensbund,  Blutsfreundschaft, 
Verwandtschaft.  An  sich  kann  also  dem  Worte  auch  in 
unserer  Stelle  keine  andere  Bedeutung  beigelegt  werden,  an 
sich  ist  „sibbe*  auch  in  den  Verbindungen  „sibbe  tale“  und  „sik 
to  der  sibbe  stuppen“  nicht  anders  zu  deuten.  Soll  dem  Worte 
eine  abweichende  spezielle  Bedeutung  beigelegt  werden , soll 
dies  namentlich  nicht  im  ganzen  Artikel  sondern  nur  an  ein- 
zelnen Punkten  geschehen,  so  ist  eine  solche  Abweichung  zuerst 
deutlich  zu  erweisen. 

b)  Schon  unter  1)  wurde  bemerkt,  wie  wenig  passend  der 
Ausdruck  Seitenverwandte  auf  die  deutsche  Sippegliederung  an- 
zuwenden ist.  Gerade  in  nnserm  Paragraphen  ist  die  Deszen- 


*)  Ähnlich  Heusler  S.  693.  „mit  Bestimmtheit  fingt  er  die  Generationen 
erst,  zu  zählen  an  mit  den  Geschwisterkindern.  Im  Bild  des  menschlichen 
Körpers  ist  das  so  dargestellt,  dass  die  Geschwister  im  Halse  stehen,  also 
noch  nicht  in  die  Seitenlinie  weichen,  nicht  jedes  von  ihnen  ein  besonderes 
Glied  (jedes  eine  Schulter)  oeenpirt,  sondern  beide  in  dem  einen  Gliede  des 
Halses  vereinigt  sind.  Erst  mit  der  Schulter  beginnt  daher  die 
Sippe*  n.  s.  w. 

*)  Vgl.  dazn  unten  Abschnitt  III  sub  4c.  Gegen  Wass.  vgl.  übrigens: 
Ilom.  Par.  S.  11,  Lewis,  IX  S.  66,  v.  Amira  E.  S.  129,  Schanz  S.  44  und  46. 


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10 


denz  eines  Elternpaares  dargestellt,1)  alle  Teile  derselben  wer- 
den mit  diesem  in  erster  Linie  und  fast  ausschliesslich  iu  Be- 
ziehung gebracht,  auf  das  Verhältnis  der  Einzelnen  zu  den 
Stammeltern,  auf  die  Entfernung  von  diesen  vor  Allem  kommt 
es  an;  eine  Grösse,  zu  welcher  die  Angehörigen  dieser  Nach- 
kommenschaft im  Verhältnis  von  Seitenverwandten,  als  auf  der 
Seite  befindlich  erschienen,  findet  sich  nicht.8) 

c)  Auch  die  Stellung  einzelner  Stufen  dieser  Deszendenz 
iu  Seitengliedern  ist  irrelevant.  Dieselbe  erfolgte  nur,  weil 
eben  der  Rumpf  die  erwünschte  und  nötige  Gliederung  nicht 
bot,3)  um  das  Bild  fortzusetzen.  Oder  will  etwa  Wass.  auch 
der  Wahl  des  Mittelfingers  statt  des  Daumens  (der  eben  ein 
Glied  weniger  hat)  oder  des  kleinen  Fingers  Bedeutung  bei- 
legen? Wass.’s  Benutzung  des  Bildes  hätte  nur  eine  Berechti- 
gung, wenn  er  zeigen  könnte,  dass  im  dritten  Gliede,  unter  den 
Enkeln,  die  einen  im  Rumpfe  weiter  herabsteigen,  die  andern 
im  Seitengliede.  Aber  unsere  Stelle  sagt:  „Ungetveider  brüder 
kindere  de  stat  an  deme  lede,  dar  scülderen  unde  arm  to  sa- 
mene  gat,  also  dut  die  süster  kindere.“  Mithin  steht  diese  ganze 
Generation  an  der  Schulter.  Die  Darstellung  der  Deszendenz 
überhaupt  im  Verhältnis  zu  den  Stammeltern  geht  auf  dieser 
und  den  folgenden  Stufen  weiter,  wie  sie  mit  den  Kindern  be- 
gonnen hat. 

d)  „Sibbe  tale“  kommt  im  ganzen  Ssp.  nur  hier  vor.  Selbst 
wenn  man  mit  Wass.  annimmt,  dass  die  Geschwisterkinder,  bei 
welchen  von  der  „sibbe  tale“  zuerst  gesprochen  wird,  als 
Seitenverwandte  hier  in  Betracht  kommen,  so  tritt  doch  die 
Sippezahl  nicht  mit  dem  Anfang  der  Seitenverwandtschaft  auf, 
deckt  sich,  wenigstens  wie  Wass.  die  Sippe  zählt,  nicht  mit 


l)  Davon  bandeln  wir  nnten  sub  II. 

*)  Siehe  aber  unten  sub  II  2 eine  Einschränkung;  ferner  Ober  die  Be- 
zeichnung Bruder-  und  Schwesterkind  daneben  noch  ebenda  am  Ende. 

*)  Auch  unter  Knie  wird  man  nicht  ein  Stück  eines  Verwandtschafta- 
bildes  zu  verstehen  haben.  Wenigstens  weiss  ich  nicht,  wo  die  übrigen 
Gliederteile  dazu  zu  finden  wären.  Vielmehr  dürfte  Knie  für  die  Biegung 
bei  einer  Generation  gerade  so  gebraucht  sein,  wie  wir  jetzt  bei  einer  Strasse 
von  einem  Knie  reden,  ohne  an  die  übrigen  Glieder  dabei  zu  denken.  lieber 
Buscrn  vgl.  v.  Arnira  E.  S.  128.  jetzt  aber  wieder  derselbe  , Recht“  S.  140; 
Uber  Enkel  Kluges  etymologisches  Wörterbuch  sub  verbo. 


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11 


ihr.  Denn  zur  Seitenverwandtschaft  gehören  doch  eben  auch 
die  Geschwister,  wenn  Wass.  schon  auf  Grund  unserer  Stelle 
ihnen  für  die  Verwandtschaftsberechnung  eine  Ausnahme- 
stellung zuweist.  Freilich  sagt  er  (Repl.  S.  12)  — offenbar  im 
Hinblick  auf  den  Einwand,  wesshalb  denn  die  angeblich  bei 
der  Seitenverwandtschaft  allein  und  überall  vorkommende 
Sippezahl  nicht  schon  bei  den  Geschwistern,  den  Seitenver- 
wandten xat'  efojfjjt'  erwähnt  werde  — die  Sippezahl  finde  sich 
nur  bei  der  eigentlichen  Seitenverwandtschaft,  der  Magschaft. 
Allein  unsere  Stelle  sagt:  „Dit  is  de  irste  sibbe  tale,  die  man 
to  magen  rekenet;  bruder  kindere  unde  suster  kindere,“ 
also  nicht,  das  ist  die  erste  Sippezahl  überhaupt,  sondern 
nur  die  erste,  die  zu  den  Magen  gehört.  Deutlicher  kann  man 
eigentlich  nicht  sagen,  dass  die  Sippezahl  nicht  erst  mit  den 
Geschwisterkindern  beginne,  sondern  anderswo;  deutlicher  kann 
man,  in  diesem  Zusammenhang,  auch  nicht  ausdrücken,  dass  die 
erste  Sippezahl  überhaupt  nach  dem  Ausgangspunkt  der  ganzen 
Darstellung  hin  liege,  also  entweder  bei  den  Kindern  bezw. 
Geschwistern  oder  den  Eltern.  Zum  Ueberfluss  sagt  noch  die 
Quedlinburger  Handschrift  geradezu:  „Diz  ist  die  erste  mage- 
sclioph.“  ‘)  Dass  man  das  nicht  sieht  oder  sehen  will,')  kommt 
wohl  davon,  dass  im  weitem  nach  Magschaften  gezählt  wird; 
allein  selbstverständlich  muss  man  den  Relativsatz  überall  er- 
gänzen, z.  B.  „in  dem  ellenbogen  stat  die  andere,“  nämlich 
„sibbe  tale  die  man  to  magen  rekenet“  u.  s.  w. 

Uebrigens  lässt  sich  noch  direkt  beweisen,  dass  neben  der 
Magschaft  Eike  auch  die  Sippschaft  gezählt  hat,  und  von  wo  an. 

Der  von  Eike  selbst  herrührende  Zusatz  sagt:  „De  sibbe 
lent  in  dem  seveden  erve  to  nemene,  al  hebbe  de  paves 
georlovet  wif  to  nemene  in  der  veften.“  Die  Fassung  „in 
dem  seveden“  und  „in  der  veften“  steht  unzweifelhaft  fest, 
alle  alten  und  guten  Handschriften  geben  sie.  Die  Verschieden- 


>)  Der  Zusatz:  „die  mau  zu  magke  rekenit*  ist  dann  allerdings  über- 
flüssig. 

’)  Bemerkt  haben  es  z.  B.  Qaupp  S.  68,  Stobbe  P.  R.  S.  64,  Hensler 
S.  687  Note  2,  ohne  diese  Beobachtung  weiter  zu  verwerten;  vgl.  auch  Lewis, 
IX  S.  56,  gegen  ihn  Schanz  S.  44  Note  136. 


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12 


heit  in  (lein  Ausdruck  ist  also  ursprünglich.1)  Ist  sie  wohl 
zufällig?  Dass  der  Passus  „De  sibbe  lent  in  dem  seveden  erve 
to  nemene“  bedeutet:  Der  siebente  Grad  ist  (u.  z.  zuerst)  nicht 
mehr  erbberechtigt  , dass  die  Zählung  in  ihm  also  die  gleiche 
ist  wie  vorher  bei : „In  dem  seveden  stat  ein  nagel  unde  nicht 
ein  let,  dar  umme  lent  dar  de  sibbe,  unde  hetet  nagel  mage,“ 
steht  ausser  Zweifel.8)  Wie  steht  es  aber  mit  dem  „in  der 
vefteu“?  Auffällig  ist  schon  die  Form;  die  Ergänzungen3) 
„lede,“  „grade“  sind  schon  durch  das  Geschlecht  ausgeschlossen, 
„linien,“  wie  andere  Handschriften  ergänzen,  deshalb,  weil  das 
Wort  sonst  im  Ssp.  nicht  vorkommt.  Es  bleibt:  „tale“  oder 
jedenfalls  besser:  „sibbe.“4)  Aber  weshalb  sagt  denn  Eike,  in 
der  fünften  Sippe  sei  es  gestattet  zu  heiraten?  Weshalb  drückt 
er  sich  nicht  gleich  wie  im  Vorhergehenden  aus,  also  „in  dem 
veften  ? “ Der  verschiedenen  Form  liegt  eben  ein  verschiedener 
Inhalt,  eine  Verschiedenheit  der  Zählung,  zu  Grunde. 

In  der  hier  angezogenen  Dekretale  Innozenz  III.  vom 
vierten  Lateranischen  Konzil  (cap.  8 X de  consangu.  et  affin. 
4,  14)  verkündet  der  Papst,  dass  prohibitio  qnoque  copulae 
coniugalis  quartum  consanguinitatis  et  afftnitatis  gradum  de 
cetero  non  excedat,  quoniam  in  ulterioribus  gradibns  iavn  non 
potest  absque  gravi  dispendio  huiusmodi  prohibitio  generaliter 
observari.  Quaternarius  vero  numerus  u.  s.  w.  Qunm  ergo 
iam  usque  ad  quartum  gradum  prohibitio  conjugalis  copulae  sit 
restricta  u.  s.  w.  Keinem  Zweifel  unterliegt  es,  dass  die  frän- 
kische Kirche  des  achten  Jahrhunderts,  welche  als  letzten  ver- 
botenen den  dritten,  und  die  des  nennten  Jahrhunderts,  welche 


')  Dass  der  Dsp.  und  die  lateinische  Uebersetznng  diesen  Unterschied 
nicht  beachten,  beweist  natürlich  nichts,  im  Gegenteil  bestärkt  die  im  ersteren 
durch  die  Nichtbeachtung  entstandene  Kontusion  unsere  Ansicht.  S.  Anhang  I. 

5)  Nimmt  man  aber  dies  nicht  an,  deutet  man  die  Stelle  so,  dass  der 
siebente  Grad  der  letzte  erbberechtigte  sei,  dann  kommt  mau  uoch  mehr 
dazu,  diesen  nicht  von  den  Geschwisterkindern  an  zu  rechnen,  denn  nach 
dem  Vorhergehenden  ist  ganz  deutlich  die  sechste  und  nicht  die  siebente 
Magschaft  die  letzte  erbberechtigte. 

*)  Vgl.  dieselben  in  den  Noten  der  Homeyerschcu  Ausgabe  zu  dieser 
Stelle.  Bei  dem  „in  dem  seveden“  ist  übrigens  im  ganzen  Artikel  nichts  zu 
ergänzeu,  namentlich  nicht  „lede“  vgl.  das  Ende  von  Ssp.  I 3 § 2;  cs  ist 
substantiviertes  Neutrum  = die  siebente  Stelle. 

«)  Vgl.  Ssp.  I 19  § 1. 


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13 


als  solchen  den  vierten  Grad  germanisch -kanonischer  Kompu- 
tation kannte,1)  diese  Grade  von  den  Geschwistern  an  zählte, 
schon  weil  dieselben  durch  Umrechnung  aus  dem  sechsten, 
bezw.  siebenten  römischen  Grade  entstanden  waren.  Erst  im 
Anfang  des  elften  Jahrhunderts  taucht  in  einzelnen  kirchlichen 
Rechtsquellen*)  eine  wohl  altnationale  Zählung  auf,  welche 
den  ersten  Grad  den  Geschwisterkindern  gibt.  Die  Haupt- 
steile  darüber  ist  zwar  als  c.  1 C.  XXXV  qu.  5 in  das  decre- 
tum  Gratiani  übergegangen;  die  in  ihr  enthaltene  Zählweise  ist 
aber  in  dem  betreffenden  Beschluss  des  vierten  Laterankonzils 
sicher  nicht  zur  Anwendung  gekommen.  Denn  einmal  hatte 
schon  1056  Alexander  II.  in  § 9 und  10  des  c.  2 C.  XXXV 
qu.  5 sie  als  mit  derjenigen  der  sancti  Patres  und  mit  dem 
antiquus  mos  sanctae  et  universalis  ecclesiae  nicht  vereinbar 
verworfen,  wenn  er  auch  zugab,  dass  sie  nicht  zu  irrigen  Re- 
sultaten führe;  während  man  nämlich  bei  der  alten  Zählweise 
bis  sieben  zähle,  gehe  man  bei  der  neuen  regelmässig  nur  bis 
sechs.  Sodann  hat  Innozenz  HI.  selbst  1212  die  letztere  als 
willkürlich  ganz  abgewiesen  in  c.  7 X.  de  consangu.  et  affin. 
4,  14, ®)  sie  wurde  auch  in  der  Kirche  nicht  angewendet.4) 

’)  Vgl.  statt  anderer  Richter,  Kirchenrecht  8.  Aufl.  S.  1086  und  1087. 

*)  Vgl.  darüber  ausführlich  unten  II 1. 

*)  Diese  Stelle  sagt  nicht  etwa  argumento  a contrario  das  Gegenteil. 
Das  innltum  favoris,  das  die  Ehe  geniesst,  besteht  nicht  darin,  dass  von  den 
als  Zeugen  besonders  gewichtigen  Verwandten  (vgl.  c.  3 X.  qni  matrim.  accus, 
poss.  4, 18)  eine  ganze  Generation  wegfällt,  wenn  es  sich  um  Ehescheidung 
handelt,  indem  dann  nämlich  ausnahmsweise  die  sieben  Grade  weiter  oben, 
bei  den  Geschwistern,  statt  wie  sonst  bei  den  Geschwisterkindern,  zu  zählen 
begonnen  würden.  Das  ist  schon  deswegen  unmöglich,  weil  trotz  der  ver- 
änderten Zählung  kein  Unterschied  in  dem  Zeugenkreise  einträte;  denn, 
wenn  einmal  von  den  Geschwisterkindern  au  gezählt  wurde,  blieb  man  ja 
bei  6 stehen  und  zählte  gar  nicht  auf  7.  Vielmehr  bestand  der  favor  conjugii 
darin,  dass  man  es  strenge  nahm  mit  dem  Verwand tschaftsbeweise,  den  der 
Zeuge  leisten  musste,  um  zum  Zengniss  zu  kommen.  Der  Zeuge  konnte 
nicht  nur,  etwa  unter  Berufung  auf  die  weltliche  und  auch  in  der  Kirche 
nicht  ganz  unbekannte  Zählweise,  dartun,  dass  einer  seiner  Vorfahren  als 
Neffe  eines  Vorfahren  eines  der  Ehegatten  bezeichnet  worden  war,  er  musste 
auch  dessen  Vater,  den  Bruder  des  Vorfahren  der  Ehe,  nennen  können. 
Jedenfalls  hat  Innozenz  nicht  drei  Jahre  später  in  einem  Konzil  die  von  ihm 
hier  als  willkürlich  verworfene  Zählung  selbst  angewendet,  vgl.  c.  9 eodem; 
c.  47  X.  de  testibus  2,  20. 

*)  Oder  dann  als  solche  bezeichnet.  Vgl.  c.  3 in  (ine  X.  de  divortiis  4,  19. 


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14 


Demnach  kann  es  keinem  Zweifel  unterliegen,  dass  in  dem 
Konzilsbeschlusse  als  erster  Grad  die  Kinder  vorausgesetzt 
sind.  Wenn  nun  der  Ssp.  sagt,  der  „paves  liebbe  georlovet 
wif  to  nemene  in  der  veften,“  also  „in  der  vierden“  noch  nicht, 
so  kann  Eike  hier  — falls  seine  Angabe  nicht  geradezu  un- 
richtig ist,  was  aber  nicht  sein  kann,  weil  Kienkok,  der  eben 
diesen  Zusatz  angriff,  sich  nur  gegen  die  Tendenz,  nicht  gegen 
den  positiven  Teil  des  Inhalts  wandte,  wie  denn  auch  die  Re- 
probationsbulle  keineswegs  eine  positive  Unrichtigkeit  dieser 
Stelle  andeutet  — nicht  mit  den  Geschwisterkindern 
zu  zählen  begonnen  haben,  sondern  muss  die  Ge- 
schwister als  erste  Sippe  voraussetzen,  ihnen 
die  erste  Sippezahl  geben.1) 

Dies  Ergebnis,  dass  nämlich  Eike  die  Sippe  von  den  Ge- 
schwistern an  zu  zählen  beginnt,  erhält  seine  willkommene  Be- 
stätigung durch  Ssp.  I 19  § 1,  eine  Stelle,  welche  den  letzten 
Zweifel  beseitigt,  weil  sie  ursprünglich,  kein  späterer,  in  die 
Darstellung  erst  eingeschobener  Zusatz  ist.  Eike  zählt 
dort  die  Abweichungen  des  schwäbischen  Rechts  gegenüber 
dem  sächsischen  auf.  Die  erste  Abweichung  besteht  darin, 
dass  „die  svavee  nimt  wol  herwede  unde  erve  boven  der 
seveden  sibbe,  also  verne  so  he  immer  gereken  kan,  dat  ein 
de  man  von  sverthalven  to  geboren  si,  oder  also  vern  also  he 
getügen  mach,  dat  en  sin  vorvare  jens  vorvaren,  oder  jens  vor- 
vare  sines  vorvaren  herwede  irvorderet  liebbe  vor  gerichte, 
oder  genomen  hebbe.  Daraus  geht  argumento  a contrario  mit 
Sicherheit  hervor,  dass  bei  den  Sachsen  die  letzten  Erbberech- 
tigten „de  sevende  sibbe“  war;  wird  dieselbe  von  den  Ge- 


')  Erst  nachdem  Obiges  geschrieben  war,  sah  ich,  dass  Gaupp  S.  69 
Note  1 bemerkt,  dass  ein  Widerspruch  zwischen  dem  kanonischen  Hechte 
und  den  Angaben  Eikes  entsteht,  wenn  man  das  „in  der  veften“  wie  die  vor- 
hergehenden Zahlen  von  den  Geschwisterkindern  an  berechnet.  Allein  die 
Tragweite  dieser  Beobachtung  bleibt  ihm  verhüllt,  weil  er  den  Unterschied 
in  der  Formulierung  übersieht,  „in  dem  seveden“  und  „in  der  veften“  gleich 
zählen  zu  müssen  glaubt,  und  demnach  im  ersten  oder  zweiten  Teil  der 
Stelle  eine  tatsächliche  Unrichtigkeit  annimmt;  Uber  dieselbe  setzt  er  sich, 
offenbar  weil  die  Stelle  erst  später  hinzugefttgt  ist,  leicht  weg.  Allein  Ssp. 
I 19  § 1 und  das  oben  über  Kienkok  Gesagte  hätte  ihm  zeigen  können,  dass 
weder  im  Haupt-  noch  im  Nebensätze  ein  Fehler  sich  finden  kamt.  Vgl.  auch 
Stobbe  P.  B.  S.  67  Note  13. 


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15 


schwisterkindern  an  berechnet,  so  tritt  die  Angabe  in  Wider- 
spruch zu  Ssp.  I 3 § 3,  wonach  die  sechste,  so  berechnete 
Stufe  die  letzte  zum  Erben  berechtigte  ist.1)  Der  Widerspruch 
löst  sich  leicht  mit  der  Annahme  einer  doppelten  Zählung, 
derjenigen  der  Sippe  und  derjenigen  der  Magen.  Hier  liegt 
schon  nach  der  Formulierung  die  erstere  vor,  welche,  wie  aus 
dieser  Stelle  wiederum  ersichtlich  ist,  mit  den  Geschwistern 
begonnen  haben  muss.  Wir  sehen  also,  gerade  wo  die  Sippe 
allein  gezählt  ist,  wo  die  absolute  Sippezahl,  nicht  die  relative 
(Sippezahl,  die  man  zu  Magen  rechnet)  in  Betracht  kommt, 
wird  nicht  erst  vom  Beginn  der  „eigentlichen  Seitenverwandt- 
schaft“ an  gezählt,  sondern  von  den  Kindern  bezw.  Geschwis- 
tern ans  als  erster  Sippe.8)  Daneben  her  geht  die  Zählung 
von  Sippezahlen,  die  man  zu  Magen  rechnet,  oder  von  Mag- 
schaften. Dieselbe  hat,  wie  wir  gleich  sehen  werden,  bloss 
terminologische  Bedeutung  und  erklärt  sich  aus  dem  uralten 
Gegensatz  von  Haus  und  Sippe  in  diesem  engern  Sinne,  welcher 
sich  in  der  Verwandtschaftsgliederung  in  der  Scheidung  von 
zwei  Verwandtenkreisen  geltend  macht.  Dieselben  unterscheiden 
sich  rein  äusserlich  schon  dadurch,  dass  die  Sprache  für  die 
Angehörigen  des  erstem  einfache,  ursprüngliche  Verwandtschafts- 
namen besitzt,  welche  dieselben  in  allen  ihren  Beziehungen  zu 
einander  bezeichnen.3)  Für  die  Angehörigen  des  letzteren 
Kreises  hat  die  Sprache  keine,  oder  nur  zusammengesetzte  oder, 
wenn  etwa  doch  einfache  Namen,  nur  solche,  welche  eine  einzelne 


')  Es  füllt  also  nicht,  wie  Stobbe  P.  R.  S.  69  Note  19  meint,  eine  Un- 
genanigkeit  dem  Sachsenspiegler  zur  Last. 

*)  Dadurch  dass  so  der  oben  S.  10  a.  E.  von  uns  gegen  Waas,  gemachte  Ein- 
wand in  betreff  des  Nichtzusammenfallens  von  Sippezäblung  nnd  Seitenver- 
wandteu  nicht  für  ihn,  aber  tatsächlich  dahin  fällt,  wird  die  Beziehung 
von  Sippezahl  und  Seitenverwandtschaft  nicht  etwa  richtig  vgl.  unten 
suh  II  2.  Dass  Wass.  Sippschaft  und  Magschaft  f Ur  identisch  gehalten  hat 
(vgL  seine  handschriftliche  Bemerkung  bei  Schanz  Note  26),  war  für  seine 
Theorie  verhängnisvoll. 

Nun  kann  auch  nicht  mehr  der  Unterschied  des  Ssp.  I 3 § 3 und  Schwsp. 
c.  3 so  ausgedrückt  werden,  dass  ersterer  die  Sippezahl  von  den  Geschwister- 
kindern, letzterer  schon  von  den  Geschwistern  an  zähle.  Vielmehr  stimmen 
beide  in  der  Sippezählung  überein,  der  Unterschied  in  der  genannten  Weise 
besteht  nur  für  die  Magenzähluug.  Vgl.  übrigens  unscrn  ersten  Anhang. 

')  Vgl.  auch  v.  Amira,  Recht  S.  137. 


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16 


Beziehung  zwischen  zwei  bestimmten  Personen  ausdrück  en.‘) 
Sie  alle  heissen  Magen;8)  um  die  einzelnen  Gruppen  zu  unter- 
scheiden, zählt  man  sie;  daher  spricht  die  Quelle  von  einer 
ersten,  einer  zweiten  u.  s.  w.  Sippezahl,  die  man  zu  Magen 
rechnet,  d.  h.  von  Magen  erster,  zweiter  u.  s.  w.  Ordnung,  von 
erster,  zweiter  u.  s.  w.  Magschaft. 

e)  Wir  haben  ferner  die  Anwendung  des  Ausdrucks  „sik 
to  der  sibbe  stuppen“  zu  untersuchen,  weil  auch  er  nach  Wass. 
nur  in  der  Seitenverwandtschaft  vorkomrat.  Er  begegnet  im 
Ssp.  zweimal,  I 3 § 3 und  I 17  § 1,  die  letztere  Stelle  lassen 
wir  vorläufig  ausser  Betracht.8) 

Nachdem  Eike  erörtert  hat,  „war  de  sibbe  beginne  unde 
war  se  lende“,  gibt  er  uns  eine  Regel  darüber,  wie  die  Ver- 
waudtschaftsgliederung  in  ihrer  Hauptfunktion,  bei  der  Bestim- 
mung der  Erbenfolge,  anzuwenden  sei.  „Die  tvischen  deme 
nagele  unde  deme  liovede  sik  to  der  sibbe  gestoppen  mögen 
an  geliker  stat,  de  nemet  dat  erve  gelike  De  sik  naer  to  der 
sippe  gestuppen  mach,  de  nimt  dat  erve  to  voren.“  Jeder  Leser  des 
Ssp.,  welcher  mit  Wass.’s  Theorie  nicht  bekannt  ist,  wird  ohne  jeg- 
liches Zögern  oder  Bedenken  die  Regel  auf  das  Vorhergehende  und 
die  dort  gegebene  Verwandtschaftsgliederung  beziehen.  Nun  ist, 
wie  wir  in  unserm  zweiten  Abschnitte  sehen  werden,  im  ersten 
Teil  von  I 3 § 3 die  Deszendenz  eines  Stammeitem paars  und 
nur  diese,  ohne  Rücksicht  auf  ausser  ihr  befindliche  Personen, 
dargestellt.  Wir  werden  sehen,  dass  es  die  erste  Parentel  im 
technischen  Sinne  der  Liuealgradualordnung  ist.  Wass.  dagegen 
sieht  in  dieser  Nachkommenschaft  die  zweite  Parentel  darge- 
stellt. Diesen  ersten  Teil  des  Paragraphen  nun  mit  dem  zweiten 
in  Verbindung  zu  bringen,  kostet  Wass.  die  allergrösste  Mühe, 
zeigt  sie  doch,  dass  die  nach  ihm  bei  den  Geschwisterkindern 
überhaupt  erst  beginnende  Zählung  der  Sippe  wenigstens  auf 


')  Wie  vedderu  in  Ssp.  I 5 § 1,  nichtel  in  Ssp.  120 §7  nnd  anderswo; 
Vgl.  auch  v.  Amira  a.  a.  0.  und  Seelig  S.  39. 

*)  Nicht  bloss  die  Seitenverwandten,  wie  Heusler  S.  587  Note  2 meint. 
Nach  unserer  Stelle  sind  anch  die  Enkel  Hagen  u.  z.  die  ersten  in  der  Nach- 
kommenschaft des  Erblassers.  Vgl.  auch  unten  II  2 und  B II  a.  E. 

• Es  ist  zu  eng,  wenn  Heusler  S.  592  den  Gegensatz  zum  Hause,  das 
nicht  unter  die  Magenzählung  füllt,  in  den  Seitenverwandten  sieht. 

*)  vgl.  über  sie  unten  B II. 


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17 

die  Erbeufolge  keinen  Einfluss  hat;  man  mag  nämlich  in  dem 
Vorhergehenden  die  erste,  zweite  oder  irgend  eine  höhere 
Parentel  sehen,  überall  bleibt  die  Tatsache  bestehen,  dass 
alle,  die  tvischen  deme  nagele  uude  deme  hovede  (nicht  halse) 
sind,  im  Erbrecht  nach  demselben  Prinzipe  behandelt  werden 
Freilich  nimmt  Wass.  zu  folgenden  merkwürdigen  Ausführungen 
seine  Zuflucht.  Nach  der  eigentümlichen  Anschauung  des 
Spieglers  gehören  die  Geschwister  gar  nicht  zur  Seitenlinie1) 
sondern  zum  Stamme,*)  ihre  Stelle  sei  am  Halse,  sie  seien 
keine  Magen  (Wass.  S.  0.  S.  14,  35,  Repl.  S.  17),  die  Sippe- 
zahlen beginnen  bei  ihnen  noch  nicht.  Diese  Singularität 
trete  aber  nur  in  der  Komputation  hervor  (S.  0.  S.  35); 
so  nach  dem  Bilde  in  I 3 § 3.  Dagegen  könne  es  keinem 
Zweifel  unterliegen,  dass  die  ersten  Stufen  der  hohem  Paren- 
telen,  also  Elterngeschwister,  Grosselterngeschwister  etc.  Seiten- 
verwandte, Magen  seien;  also  müssen  sie  Seitenglieder 
innehaben  und  folglich  können  sie  nicht  am  Halse  stehen  (Repl. 
S.  18).  Also  fehle  dem  Bilde  in  den  liöhcrn  Parentelen 
ein  Glied,  der  Hals.  Die  Elternvollgeschwister  u.  s.  w. 
stehen  mithin  in  der  Achsel.  Andererseits  sei  für  die  Erben- 
folge der  Satz  „Die  tvischen  etc.“  nur  auf  die  höheren  Paren- 
telen anwendbar,  nicht  auf  die  (im  Anfang  des  Paragraphen 
nach  Wass.  dargestellte)  zweite;  denn  er  nehme  ja  das  Haupt 
zum  Ausgangspunkte,  in  der  zweiten  Parentel  werden  aber  die 
Magen  nicht  schon  vom  Haupte  an  gezählt.1)  In  den  andern 


')  Natürlich  kommt  Hensler,  welcher  in  dieser  Beziehung  mit  Wass. 
Ilbereinstimmt  (siehe  oben  S.  9 Note  1),  nicht  zu  den  Resultaten  Wass.’s,  weil 
er  den  Gegensatz  von  Seitenlinie  nicht  in  Aszendenz  und  Deszendenz,  sondern 
in  Haus  findet,  vgl.  3.  16  Note  2. 

*)  Soll  wohl  sagen,  dass  sie  den  Aszendenten  und  Deszendenten  beige- 
sellt werden. 

*)  Sehr  einfach  vereint  Seelig  S.  37  die  Sonderstellung  der  Geschwister 
mit  der  Regel.  Diese  ist  nach  ihm  auf  das  Vorhergehende  anzuwenden, 
gagt  aber  nur,  „dass  alle  Verwandten,  die  am  gleichen  Gelenke  stehen, 
zusammen  und  zu  gleichen  Teilen  zum  Erbe  berufen  werden.  Dann  erinnert 
er  sich  daran,  dass  die  Geschwister  wie  die  Eltern  und  der  Busen  nicht  an 
Gelenken  stehen,  und  verleiht  dnreh  diese  Idee  der  Stelle  neue  schwerwiegende 
Bedeutung.  Alle  diese  erben  eben  nach  einer  besondem  Erbfolgeordnung, 
kure  vor  seinen  Blicken  hebt  sich  scharf  der  Erbenkreis  der  Ganervcn  ab, 
und  er  hat  nun  die  Methode,  mit  deren  Hülfe  im  einzelnen  Falle  der  lie- 

St  atz,  Yerw&ndUchaftubild.  2 


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Parentelen  aber,  wo  der  Hals  wegfalle,  sei  die  Regel  ohne 
weiteres  anwendbar.  (Wnss.  Repl.  S.  19  und  20).  Was  nun 
die  Stellung  der  Geschwister  in  der  Erbenfolge  betrifft,  so  fol- 
gert Wass.  aus  Ssp.  I 17  § 1,  dass  sie  den  Deszendenten  und 
Aszendenten  nachgehen.  Sie  erben  in  der  Seitenlinie  des 
Erblassers  (S.  0.  S.  35  al.  1 Satz  2);  aber  sie  gehören  (in 
der  Komputation)  nicht  zur  Seitenlinie.  Diese  Stellung  in  der 
Erbfolge1)  erkläre  die  Ausschliessung  der  Geschwister  von  der 
Magschaft  (also  in  der  Komputation),  sie  sei  ein  Reflex  der- 
selben, eine  Folge;  da  die  Geschwister  vor  den  übrigen  Seiten- 
verwandten geerbt  haben,  habe  man  sie  nicht  zu  denselben 
rechnen,  zählen  können,  sonst  hätten  sie  nach  dem  Grundsatz: 
„alle  de  sik  an  geliker  stat  to  der  sibbe  gestuppen  mögen,“ 
erben  gleich,  mit  Tanten  und  Oheimen  erben  müssen.*)  (S.  0. 
S.  36,  Pr.  d.  E.  S.  5).  Gegen  diese  Ausführungen  Wass.’s  ist 
nun  zu  bemerken:®) 

a)  Es  ist  nicht  einzusehen,  weshalb  die  Mittelstellung, 
welche  die  Geschwister  nach  Wass.  in  der  Erbenfolge  und  in 
der  Verwandtschaftsgliederung  einnehmen,  nämlich  zwischen 

rofene  Erbe  ermittelt  wird“;!)  Ich  kann  nur  in  dem  Satze  „die  tvischeu  deme 
nagele*  etc.  von  Gelenken  nichts  finden,  nicht  einmal  von  Gliedern; 
denn  er  spricht  von  „stat.“  Dass  eine  solche,  ja  dass  sogar  allenfalls  ein 
Glied  der  Hals  nicht  sei,  dürfte  zu  beweisen  schwer  fallen. 

')  Die  übrigens,  wie  wir  unten  sub  B II  sehen  werden,  aus  Ssp.  I 17 
§ 1 nicht  abgeleitet  werden  kann. 

*)  Hier  mischt  sich  noch  die  Wasserschlebensche  Ansicht  ein,  dass  „unter 
den  Magen  alle  diejenigen,  welche  sich  zu  irgend  einem  mit  dem  Erblasser 
gemeinschaftlichen  Stammvater  in  dem  Vcrwandtschaftsbilde  näher  gliedern, 
den  übrigen  Vorgehen,  diejenigen,  welche  am  gleichen  Gliede  stehen,  zugleich 
erben“  (Wass.  S.  0.  S.  36,  Bepl.  S.  36  und  37).  Schon  Schanz  S.  34  hat  da- 
rauf hingewiesen,  dass  dies  unmöglich  ist,  weil  die  Kegel  „die  tvischen“  u. 
s.  w.  nur  auf  eine  Parentel  zugleich  anwendbar  ist  Derselbe  hat  S.  29 
und  30  den  Beleg  aus  dem  Rechtsbuche  nach  Distinktionen,  welchen  Siegel 
V.  B.  S.  31  für  das  Gegenteil  anführte,  als  nicht  stichhaltig  dargetan. 
Nicht  zu  verwechseln  mit  dieser  Wass.’schen  Ansicht  ist  das,  was  v.  Amira 
E.  S.  131  sagt,  vgl.  unten  sub  III. 

*)  Vgl.  gegen  Wass.  auch  Hom.  Par.  S.  15  tmd  16,  Siegel  V.  B.  S.  30, 
31,  37  f.,  Lewis,  IX  S.  57,  Schanz  S.  34  f.,  welcher  aber,  wenn  er  in  der 
Charakteristik  der  Anwendung,  die  Eikes  Verwandtschaftsbild  durch  Wass. 
erfahren  hat,  S.  10  fortfährt:  „Angewandt  auf  die  Erbenfolge  etc.“,  den  Unter- 
schied zu  übersehen  scheint,  den  Wass.  für  die  Stellung  der  Geschwister  bei 
der  Komputation  und  bei  der  Erbfolge  macht. 


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19 


Aszendenten  und  Wass’s  Magen,  für  die  Erbenfolge  durch  eine, 
ich  möchte  sagen,  privilegierte  Stellung  unter  den  Seitenver- 
wandten zu  erklären  sein  soll,1)  in  der  Komputation8)  aber 
durch  Beigescllung  zu  den  Aszendenten.  Man  müsste  sich  doch 
vorstellen,  die  Geschwister  seien  in  beiden  Fällen  als  Annex 
der  Aszendenten  zu  betrachten;  denn  dass  die  Stellung  in  der 
Erbfolgeordnung  darauf  Einfluss  haben  könne,  ob  die  Geschwister 
zu  den  Magen  gerechnet  werden  oder  nicht,  ist  aus  innern 
Gründen  durchaus  undenkbar.  Gerade  bei  den  Germanen  hat  wohl 
die  Verwandtschaftsgliederuug  unabhängig  von  dem  Erbrecht 
der  Sippe,  ja  schon  bevor  sich  ein  solches  entwickelte,  bestanden. 
Auch  nach  der  ganzen  Darstellung  des  Ssp.,  welcher  zuerst  die 
Verwandtschaftsgliederung  schildert  und  dann  unter  deren 
Voraussetzung  die  Erbenfolge  regelt,  müsste  man  sagen:  Weil 
den  Aszendenten,  dem  Stamm,  dem  Rumpfe  beigesellt,  erben 
die  Geschwister  vor  den  übrigen  Seitenverwandten,  und  nicht 
umgekehrt.  Diese  Motivierung  hat  aber  Wass.  überall 
sorgfältig  vermieden  und  musste  sie  vermeiden.  Denn  wie 
lassen  sich  die  drei  Linien  der  Deszendenten,  Aszendenten  und 
Kollateralen  als  Prinzip  der  Erbfolgeordnung  aufrecht  erhalten, 
wenn  es  sich  zeigt,  dass  ein  seinem  inneren  Wesen  nach  zu  der 
dritten  Klasse  gehöriger  Bestandteil,  ja  sogar  deren  eigentlicher 
Haupttypus,  der  zweiten  (allerdings  als  letzte  Stufe)  beigesellt 
wird?  Wir  aber  werden  den  Schritt,  den  Wass.  nicht  getan 
hat,  tun  müssen  und,  der  Quelle  gemäss,  den  Zusammenhang 
zwischen  der  Stellung  der  Geschwister  im  Verwandtschaftsbilde 
und  derjenigen  in  der  Erbfolgeordnung  umgekehrt  formulieren. 
Wenn  darob  die  ganze  Wass.’sche  Theorie  nicht  standhält,  so 
zeigt  sich  nur  wieder  einmal,  wie  gefährlich  es  ist,  in  einen 
Stoff  ein  Element,  das  ihm  ganz  fremd  ist,  hineinzutragen,’) 
wie  in  die  deutsche  Erbfolgeordnung  den  aus  römischen  An- 
schauungen stammenden  Begriff  der  Seitenverwandtschaft. 


')  „ln  der  Seitenlinie  erben  zuerst  die  vollblütigen  Geschwister,“ 
S.  0.  S.  35. 

*)  „Die  Geschwister  werden  nicht  znr  Seitenlinie  gerechnet,  sondern 
zun)  Rumpfe,“  Repl.  S.  17. 

*)  Daran,  und  nicht  etwa  an  der  andern  unrichtigen  Voraussetzung 
Wass's.,  dass  nämlich  in  Ssp.  I 3 § 3 am  Anfang  die  zweite  Parentel  ge- 
schildert sei,  scheitert  die  Theorie;  denn  für  die  erste  Parentel,  in  welcher 

*• 


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20 


ß)  Allein  nicht  nnr  aus  Gründen,  die  in  ihnen  selbst  liegen, 
sondern  auch  an  der  Quelle  scheitern  die  Ausführungen  Wass.’s. 
Es  ist  in  Ssp.  I 3 § 3 nirgeuds  angedeutet,  einerseits  dass  das 
Bild,  dessen  aualoge  Ausdehnung  und  Anwendung  Eike,  wie 
wir  sehen  werden,  allerdings  voranssetzt,  bei  derselben  ein 
Glied,  den  Hals,  verliere,  so  dass  die  Verwandtschaft  und  die 
Erbfähigkeit  in  den  Nachkommenschaften  der  höheren  Aszen- 
denten des  Erblassers  einen  Grad  weniger  weit  reichen  sollte 
als  unter  seinen  und  seines  Vaters  Nachkommen,  und  anderer- 
seits, dass  die  Kegel  auf  die  ira  Vorhergehenden  dargestellte 
Parentel,  sei  es  nun,  welche  es  wolle,  nicht  oder  nur  mit  Modi- 
fikationen anwendbar  sei. 

Vielmehr  ist  sie  offenbar  gerade  auf  das  Vorhergehende 
anwendbar,  gilt  also  auch  für  die  Geschwister,  den  Hals,  welche 
Wasserschieben  nicht  zur  Seitenverwandtschaft  rechnet.  Mithin 
fällt  die  Behauptung,  das  „sich  zur  Sippe  stuppen“  komme  aus- 
schliesslich nur  bei  Seitenverwandten  vor,  wenigstens  im  Sinne 
ihres  Urhebers,  dahin;  eine  spätere  Ausführung  wird  sie  noch 
vollends  widerlegen,  während  wir  hier  vorläufig  uns  mit  dem 
Resultate  begnügen,  dass  uns  nichts  hindert,  in  dem  Ausdruck 
„sich  zur  Sippe  stuppen“  dem  Worte  Sippe  seine  eigentliche 
allgemeine  Bedeutung  zu  lassen. 

Uebrigens  entscheidet  in  ganz  ähnlicher  Weise  der  Satz: 


allein  noch  der  Unterschied  von  Magen-  und  Sippezählung  zu  Tage  tritt,  er- 
gibt sich  ini  Übrigen  dasselbe. 

Wäre  die  Dreilinienordnnng  die  deutsche  Erbfolgeordnung,  so  müsste  sie 
übrigens  im  Schwsp.  rein  dnrchgeführt  sein,  weil  derselbe  nach  c.  3 die 
Hagenzähluug  schon  mit  den  Kindern  bezw.  Geschwistern  beginnt.  Es 
müssten  also  hier  die  Geschwister  mit  den  Elterngeschwistern , Grosseltem- 
geschwistem  u.  s.  w.  zusammen  erben,  was  Wass.  selbst  nicht  aDnimmt. 
(Pr.  d.  E.  S.  14).  Die  Aenderung  der  Magenzählnng  hat  eben  nicht  solche 
einschneidende  Aendernngen  in  der  Erbfolgeordnung  nach  sich  gezogen,  wie 
man  nach  Wass.  erwarten  müsste;  höchstens  verliert,  wie  Lewis,  XIV  S.  3 f. 
und  Seelig  S.  40  annimmt,  jede  Parentel  dadurch  ein  Glied,  wenn  uicht  etwa 
der  Satz:  „alle  diezwischen  dem  houpte  und  dez  nagel“  u.  s.  w.  bloss  durch 
die  sklavische  Uebersctzung  der  Quelle  veranlasst  ist,  und  nach  dem  Schwsp. 
auch  die  siebente  Sippe  der  Nagel,  noch  erbberechtigt  ist.  Darauf  scheint 
mir  der  Zusatz  zu  deuten,  dass  man  von  dem  Haupte  bis  auf  den  Nagel 
zähle,  sowie  der  im  weitem  folgende  Satz,  ein  jeglich  Mann  beerbe  seinen 
Magen  bis  auf  die  siebente  Sippezahl.  Ebenso  Stobbe  P.  R.  S.  68,  vgl.  auch 
Anhang  I. 


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21 


„Die  tvischen  deme  nagele“  u.  s.  w.  auch  gegen  die  Erbfolge- 
ordnungen von  Siegel,  von  v.  Amira  und  von  Schanz.  Allen 
diesen  Autoren  ist  gemeinsam  die  Unterscheidung  zweier  Erben- 
(in  Wahrheit  aber  bloss  Verwandten-)  kreise,  in  welchen  ver- 
schiedene Erbfolgeprinzipien  gelten  sollen.  Nun  erblickt 
Schanz  (S.  31)  iu  der  zu  Anfang  des  Paragraphen  dargestellten 
Nachkommenschaft  die  zweite  Parentel  (S.  31  f.),  ebenso  wohl 
Siegel,1)  und  nach  v.  Amira  ist  das  Verwandtschaftsbild  jeden- 
falls auch  auf  die  absteigende  Linie,  also  die  erste  Parentel, 
anwendbar  (E.  S.  130  a.  E.).  Alle  diese  drei  Autoren  finden 
also  in  der  dargestellten  Nachkommenschaft  Angehörige  beider 
Erbenkreise,  Schanz  und  Siegel:  Geschwister  einerseits  und 
Geschwisterkinder,  Geschwisterenkel  u.  s.  w.  andererseits,  ebenso 
v.  Amira,  wenn  er  das  Bild  auf  die  zweite  Parentel  anwendet, 
wenn  auf  die  erste:  Kinder  einerseits  und  Enkel  (welche  nach 
ihm  nur  durch  positive  Ausnahme  zu  dem  engern  Kreise  gehören), 
Urenkel  (welche  nicht  mehr  dazu  gehören)  u.  s.  w.  andererseits. 
Wenn  nun  aber  der  Satz:  „Die  tvischen“  n.  s.  f.,  wie  aus  der 
Quelle  unwiderleglich  hervorgeht,  und  wie  wir  es  schon  des 
öftern  betont  haben,  unmittelbar  und  in  erster  Linie  auf  das 
Vorangehende  anzuwenden  ist,  so  folgt  daraus,  dass  Glieder 
beider  Erbenkreise  hier  nach  demselben  Erbfolge- 
prinzip in  Betracht  kommen,  dass  Geschwister  vor  den 
Geschwisterkindern  erben,  nicht  weil  sie  dem  engern  Erben- 
kreise angehören,  jene  aber  nicht,  sondern  weil  sie  sich  näher 
zu  der  Sippe  stoppen  können.  Nicht  zwei  Erbfolgeprinzipe 
gelten  für  die  Angehörigen  der  beiden  Kreise,  sondern  offenbar 
ein  und  dasselbe. 

Dagegen  schliesst  die  unleugbar  bestehende,  dem  Gegensatz 
von  Haus  und  Sippe  entsprechende  Scheidung  in  zwei  Ver- 
wandtenkreise, die  sich  in  gewisser  Hinsicht2)  sogar  im  Erb- 

*)  Er  äussert  sich  nirgends  ganz  direkt;  vgl.  sein  Erbr.  S.  23  Note  81 
(aber  auch  V.  B.  S.  40);  am  deutlichsten  aber  wohl  argnmeuto  a contrario 
aus  Rez.  S.  26,  wo  er  behauptet,  die  Halbgcburt  komme  nur  in  Betracht  bei 
Geschwistern,  Geschwisterkindern,  Geschwisterenkeln  u.  s.  w.,  also  nur  in  der 
zweiten  Parentel,  eine  Behauptung,  welche  sich  wohl  nicht  aus  Ssp.  II  20  § 1 
erklären  lässt,  sondern  nur,  wenn  er  eben  in  den  Stammeltern  des  Ssp.  I 
3 § 3 die  Eltern  des  Erblassers,  in  ihren  Nachkommen  die  zweite  Pa- 
rentel sieht. 

*)  unten  B.  I. 


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22 


recht  Reitend  macht,  die  Parentelcnordnung  nicht  aus.  Mit  der 
nach  Parentelen  gegliederten  Sippe  ist  eine  zweite,  Glieder 
verschiedener  Parentelen  zusammenfassende  Einteilung  nacli 
zwei  Kreisen  natürlich  wohl  vereinbar,  mit  der  Erbfolgeordnung 
hat  dieselbe  ja  nichts  zu  schaffen,  sobald  für  die  beiden  Kreise 
nicht  besondere  Erbfolgeprinzipien  gelten. 

f)  Wir  haben  gesehen,  dass  die  ausschliessliche  Deutung 
von  „sibbe“  als  Seitenverwaudtschaft  an  keinem  Punkte  unseres 
Paragraphen  nötig,  ja  auch  nur  zulässig  ist.  Wollen  wir  das 
Wort  nuancieren,  so  liesse  sich  sagen,  dass  es  neben  Verwandt- 
schaft überhaupt  auch  die  Nachkommenschaft  eines  Stanimeltera- 
paars,  Linie  oder  Parentel  im  untechnischen,  vielleicht  auch  im 
technischen  Sinne  *)  bezeichnen  könne,  ja  dass  es  auch  nur  eine 
Stufe  derselben  bedeutet,  wenn  z.  B.  von  der  vierten  oder  von 
der  siebenten  Sippe  die  Rede  ist.  Jedenfalls  aber  lässt  es  sich 
überall  allgemein  mit  Blutsverwandtschaft  deuten,  und  diese 
allgemeine  Bezeichnung  wollen  wir  beibehalten;  es  scheint  uns, 
dass  die  Sprache  nicht  ohne  Grund  alle  diese  Begriffe  mit  dem- 
selben Worte  bezeichnet.  Durch  eine  Spezialisierung  dürfte 
man  sich  das  Verständnis  gerade  unserer  Stelle  nur  erschweren. 


H. 

„Nu  merke  wie  ok,  war  de  sibbe  beginne  unde  war  se 
lende.“ 

Wir  untersuchen  nun  zuerst,  wie  uns  Eike  denn  die  Sippe, 
ihren  Anfang  und  ihr  Ende  darstellt. 

1)  Zunächst  führt  er  uns  Mann  und  Weib  vor,  welche  eine 
nach  kirchlichem  und  weltlichen  Rechte  (elike  unde  echtlike) 
vollwertige  Ehe  geschlossen  haben.  Sie  bilden  unstreitig  Ur- 
sprung und  Anfang  der  Sippe.®)  Auf  sie  folgen  die  Kinder, 
daun  die  Kinder  vollbürtiger  Geschwister,  die  erste  Magschaft, 
hierauf  deren  Kinder,  die  zweite  Magschaft  u.  s.  w.  bis  zur 


')  Vgl.  nuten  huI  III  3 

’)  Wo  man  ilie  Sippe  zu  zählen  begonnen  habe,  ist  eine  andere  Frage. 


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23 


sechsten  Magschaft;  die  siebente,  die  sog.  Nagelmagschaft,  ist 
nicht  mehr  verwandt.') 

Einer  genauen  Untersuchung  bedarf  Eikes  Augabe  über  die 
Verwandtschaftsgrenze.  Erkennen  wir  nämlich  mit  v.  Amira 
E.  S.  49  in  dem  sechsten  Knie,  über  welches  nach  der  lex  Salica  die 
Berufung  zum  reipus  nicht  schreitet,  eine  Erbrechtsgrenze, 
nehmen  wir  ferner  mit  demselben  Gelehrten  und  Heusler  S.  591 
an,  dass  die  bei  den  Ripuariern  und  den  Thüringern  geltende 
Erbrechtsgrenze  des  fünften  Knies  von  den  Geschwisterkindern 
an  berechnet  sei,  berücksichtigen  wir  ferner,  dass  in  der  Be- 
stimmung des  ed.  Rotharis:  „omnis  parentela  usque  in  septimum 
genieulum  numeretur“  nach  langobardischer  Weise  der  Stamm- 
vater mitgezählt  ist,  so  erhalten  wir  für  die  Zeit  der  Volks- 
rechte und  das  grosse  Gebiet  der  genannten  Rechtsquellen  eine 
übereinstimmende  Verwandtschafts-  und  Erbberechtigungsgrenze 
im  sechsten  Grade  kanonischer  Komputation.  Vergleichen  wir 
damit  die  Angabe  des  Ssp.,  so  ergibt  sich  eine  Ausdehnung 
der  Verwandtschaft  bezw.  der  Erbberechtigung  um  einen  Grad, 
während  die  Zählung  sogar  zwei  Grade  weiter  geht.  Wir 
fragen  uns  sofort,  ob  diese  Veränderung  erst  im  Laufe  der 
Zwischenzeit  erfolgt  sei,  oder  ob  sie  auf  altem  sächsischen 
Stammesrecht  beruhe.  Die  lex  Saxonum  gibt  uns  darüber 
keine  Auskunft.  Man  möchte  aber  im  Hinblick  auf  den  Ssp. 
im  ersten  Augenblick  dies  zu  bejahen  geneigt  sein.  Wie  weit 
derselbe  für  eine  Beantwortung  dieser  Frage  in  Betracht  kommen 
kann,  wollen  wir  nun  untersuchen. 

Es  macht  sich  bei  mehreren  Schriftstellern,  ich  verweise 
hier  nur  auf  Hom.  Par.  S.  9 und  Heusler  S.  593,  die  Ansicht 
geltend,  dass  die  Verbindung  der  Verwandtschafts-  mit  der 
Weltalterlehre  Eike  zu  dieser  oder  jener  Konzession  an  die 
letztere  veranlasse,  seine  Darstellung  der  Sippe  beeinflusse, 
wie  solches  auch  bei  der  mit  derselben  Weltalterlehre  verbun- 
denen Darstellung  der  Heerschilde  der  Fall  sei.  Allein  das 
Verhältnis  der  Lehre  von  den  Weltaltern  zur  erstem  ist  ein 
anderes  als  dasjenige  zur  letzteren.  Diese  hat  Eike,  so  viel 
wir  wissen,  zum  ersten  Male  dargestellt,  also  hat  er  auch  sie 


>)  Anders  Heusler  S.  593  und  600,  aber  wie  wir  in  der  Anmerkung  auf 
3.  694;  ebenso  Stobbe  P.  ß.  3.  69  N.  19,  Seelig  S.  39. 


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24 


zum  ersten  Male  mit  der  Weltaltertheorie  iu  Verbindung  ge- 
bracht, m.  a.  W.  Eike  hat  jedenfalls  nicht  die  Welt- 
altertheorie im  Zusammenhang  mit  den  Heerschilden 
übernommen.  Lässt  sich  ein  Gleiches  wohl  auch  bezüglich 
der  Verwandtschaftsgliederung  sagen?  Eike  wreist  durch  die 
Berufung  auf  Isidor  v.  Sevilla,  dessen  origines  sive  etymologiae 
er  allerdings  mit  dem  Kirchenvater  Origines  verwechselt,  deutlich 
darauf  hin,  dass  nicht  alles,  was  er  uns  in  diesem  Artikel  er- 
zählt, auf  sächsischem  Boden  gewachsen  ist.  Hat  er  nur  die 
Weltalter  übernommen,  oder  hat  er  eine  Quelle  benutzt,  welche 
ihm  schon  zeigte,  wie  man  die  Verwandtschaft  und  ihre  Be- 
grenzung mit  den  Weltaltem  in  Beziehung  setzen  konnte? 
Schon  der  Umstand,  dass  ein  sächsischer  Schufte  und  Ritter 
auf  eine  solche  Idee  verfallen  sein  könnte,  ist  an  sich  unwahr- 
scheinlich, entscheidend  für  das  Gegenteil  möchte  aber  sein  die 
Tatsache,  dass  schon  vier  Jahrhunderte  vor  Eike  unter  Berufung 
auf  denselben  Isidor  in  den  germanischen  Gebieten  eine  solche 
Parallelisierung  von  Weltaltern  und  Geschlechtern  vorkommt, 
dass  ihre  ununterbrochene  Tradition  bis  auf  die  Zeiten  Eikes 
und  auf  den  heutigen  Tag  sich  nachweisen  lässt,  dass  dieselbe 
durch  die  berühmtesten  und  am  meisten  gelesenen  Schriften 
nicht  nur  geistlichen,  sondern  auch  weltlichen  Inhalts  erfolgte, 
dass  wir  ihr  einmal  sogar,  schon  lange  vor  Eikes  Zeit,  in  einem 
Konzilienbeschlusse  begegnen,  und  endlich,  dass  sie  gerade  mit 
der  von  Eike  geschilderten  und  darnach  bei  den  Sachsen  üblichen 
Magenzählung  eine  besonders  enge  Verbindung  eingegangen  ist. 
Ist  dies  richtig,  so  hätte  Eike  die  Weltaltertheorie  zwar  nicht 
mit  der  Verwandtschaftsgliederung  verbunden,  wohl  aber  auf 
die  Heerschilde  ausgedehnt.  Da  aber  des  Zusammenhangs  wegen 
mit  der  im  zweiten  Artikel  begonnenen  Ständelehre  im  dritten 
Artikel  die  Heerschildgliederung  vor  der  Verwandtschaft  dar- 
gestellt werden  musste,  wurde  auch  die  Weltalterlehre  zuerst 
mit  ihr  verbunden,  und  so  hat  es,  namentlich  bei  dem  Ueber- 
gang  von  § 2 zn  § 3:  „alse  de  herschilt  in  me  seveden 
to  stat,  also  to  geit  de  sibbe  an  deme  seveden,“  den  An- 
schein erhalten  können,  als  ob  der  Verbindung  von  Heerschild- 
nml  Weltalterlehre  und  nicht,  was  sich  doch  bei  genauerer 
Ueberlegung  als  einzig  möglich  ergibt,  dem  Zusammenhang  der 
letzteren  mit  der  Verwandtschaftslehre  die  Priorität  gebühre- 


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25 


Gibt  man  (lies  zu,  so  folgt  ferner  daran»,  dass  Eike  wohl 
an  der  Verwandtachaftsgrenze  nichts  geäudert  hat.  Wir  können 
zwar  nicht  behaupten,  dass  er  uns  die  altnationale,  die  sächsische 
Verwandtschaftsgrenze  direkt  dargestellt  hat;  nicht  nur  aus 
der  Praxis  hat  er  diesmal  geschöpft,  sondern  aus  seiner  Ge- 
lehrsamkeit. Allein  falls  die  Verbindung  der  Weltalterlehre 
mit  der  Verwandtschaftsgliederung  eine  Modifikation  an  der 
Verwandtschaftsgrenze  zur  Folge  gehabt  hat,  so  ist  dieselbe 
nicht  von  Eike,  sondern  von  seiner  Quelle  gemacht  worden, 
nach  ihr  haben  wir  uns  umzusehen,  wenn  wir  uns  über  das 
Verhältnis  der  in  Ssp.  I 3 § 3 gegebenen  Verwandtschafts- 
grenze zur  altsächsischen  und  derjenigen  der  oben  genannten 
Volksrechte  Klarheit  zu  verschaffen  versuchen  wollen. 

Isidor  v.  Sevilla  gibt  in  seinen  origines  sive  etymologiae 
1.  IX.  c.  6 die  bekannten  drei  Figuren  der  Verwandtschaft. 
Zur  ersten,  die  arbor  juris  darstellend,  bemerkt  er:  Stemm  ata 
dicuntur  ramusculi,  quos  advocati  faciunt  in  genere,  cum  gradns 
cognationum  partiuntnr,  utputa  Ille  filius,  ille  pater,  Ule  avus, 
iUe  agnatus  et  caeteri,  quornm  flgurae  hae  sunt.  Zur  dritten 
Figur  bemerkt  er:  Stemmata  stirpis  huraanae.  Haec  consan- 
guinitas,  dum  se  paulatim  propaginum  ordinibus  dirimens  usque 
ad  ultimum  gradum  subtraxerit,  et  propinquitas  esse  desierit, 
eam  rursus  lex  haec  matrimonii  vinculo  reperto  (repetit?)  et 
quodam  modo  revocat  fugientem.1)  Ideo  autem  usque  ad  sextum 
generis  gradum  consanguinitas  constituta  est,  ut  sicut  sex  acta- 
tibus  mundi  generatio  et  hominis  Status  finitur,  ita  propinquitas 
generis  tot  gradibus  terminaretur. 

Diese  Stelle  hat  in  der  Folgezeit  eine  ganz  erstaunliche 
Berühmtheit  erlangt  und  besitzt  eine  höchst  interessante  Ge- 
schichte, welche  wir  nun  etwas  näher  zu  verfolgen  haben. 

Zuerst  finde  ich  beide  Stellen  ohne  QueUenangabe  aber  im 
Wesentlichen  unverändert  in  c.  138  der  Excerptiones , welche 
fälschlich  dem  Erzbischof  Egbert  v.  York  (731  — 767)  zuge- 
schrieben werden,*)  welche  aber  nach  Wass.  Buss.  S.  45  wohl 

l)  Augustin  de  civitate  Dei  XV  lfi  § 2. 

’)  Vgl.  Wass.  Buss.  S.  45,  aber  noch  den  Abdruck  bei  Migne,  Tom.  89 
col.  395  und  Mansi,  Tom.  XII  p.  426.  Übrigens  scheint  Mejer  in  seiner 
grundlegenden  Arbeit  Uber  die  Oregurische  Komputation  diese  Stelle  Uber- 
seben zu  haben. 


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26 


später,  vielleicht  im  9.  Jahrhundert,  entstanden  sind.  Anderer- 
seits trifft  man  in  einer,  wahrscheinlich  auf  angelsächischent 
Boden  entstandenen  collectio  antiqua  canonnm  poenitentialium 
c.  29,  welche  dem  Ende  des  achten  oder  dem  neunten  Jahr- 
hundert angehören  dürfte,  und  welche  fränkische  Quellen  stark 
benutzt  hat,1)  die  Stelle  Isidors  in  wesentlich  veränderter  Ge- 
stalt: Dicta  Esydori.  Beatus  Esydorus  de  consanguinitate  sic 
loquitur:  Cujus  series  VII  gradibus  dirimetur  hoc  modo:  I.  filius 
et  fllia,  II.  nepos  et  neptis,  III.  pronepos  et  proneptis,  IV.  abnepos 
et  abneptis,  V.  adnepos  et  adneptis,  VI.  trinepos  et  trineptis, 
VII.  trinepos  filius  et  trineptis  fllia.  Haec  consanguinitas,  dum 
se  paulatim  propaginem  ordinibus  dirimens  usque  ad  ultimum 
gradum  sese  subtraxerat  etc.  wie  bei  Isidor.  Am  Schlüsse:  Huc 
usque  Esydori  procedit  sententia. 

Dieselbe  Stelle  nur  mit  der  Aendernng,  dass  trinepos  filius 
et  trineptis  fllia  durch  trinepotis  filius  et  trinepotis  fllia 
ersetzt  ist,  begegnet  uns  in  der  epistola  in  concilium  Duzi- 
acense  II  (Douci)  vom  Jahre  874.  Sie  ist  an  die  aqui- 
tanischen  Bischöfe  gerichtet  und  hat  die  antiqua  collectio  oder 
eine  verwandte  Quelle  benutzt,  denn  sie  teilt  mit  dieser 
das  : dum  . . . . se  . . . sese  ....  subtraxerit  (allerdings  dem 
Original  mehr  entsprechend  als  das  obige  subtraxerat).*)  Hier 
zeigt  sich  auch  deutlich,  woher  die  im  Widerspruch  zum  zweiten 
Teil  der  Stelle  stehenden  septem  generationes  des  Anfangs  ge- 
kommen sind.  Gleich  nach  dem  terminaretur  fährt  die  Stelle 
nämlich  fort:  et  arbor  juris  legis  Romanae  ecclesiasticis  con- 
cordans  legibus  u.  s.  w.;  es  ist  unter  dem  Einfluss  der  isido- 
rischen  arbor  juris  geschehen,  welche  die  siebente  Generation 
noch  angibt,  sowie  unter  dem  Einfluss  des  römischen  Rechts 
überhaupt,  vor  allem  wohl  von  Paulus  rec.  sent.  IV  11  mit  der 
interpretatio,  einer  Stelle,  welcher  in  der  Geschichte  der  Ehe- 
verbotsgrenze ja  eine  sehr  grosse  Bedeutung  zukommt. 

Derselben  isidorischen  Stelle  begegnen  wir  nun  ca.  150  Jahre 
später  wieder  in  dem  Dekrete  des  Bischofs  Burchard  von 


')  Vgl.  Was».  Bnss.  9.  48  und  den  Abdruck  ebenda  S.  288;  Man«,  Tom. 
XII  p.  503,  schreibt  sie  dem  Beda  venerabili»  zu. 

*)  Vgl.  den  Abdruck  bei  Mansi,  Tom.  XVII  p.  285.  Vgl.  auch  Hefele, 
Konziliengeschichte  2 Aufl.  IV  S.  511. 


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27 

Worms1)  Buch  VII  c.  10.  Auch  hier  findet  sich  das  dum  . . . 
se  . . . sese  ....  subtraxerit,  neben  der  Abänderung  von 
trinepotis  filius  et  trinepotis  filia  in  trinepotis  nepos  und  tri- 
neptis  neptis  aber  noch  eine  weitgehende  Interpolation,  so  dass 
die  Stelle  nun  lautet: 

In  qno  ramusculo  consanguinitatis  legitima  connubia  fieri 
possint. 

c.  10.  Beatus  Isidorus  de  consanguinitate  sic  loquitur: 
Cujus  series  septem  gradibus  dirimitur  hoc  modo:  filius  et  filia, 
quod  estfrater  etsoror,  sit  ipse  truncus.  Illis  seorsum 
sejunctis  ex  radice  illius  trunci  egrediuntur  isti  ramus- 
culi;  nepos  et  neptis,  primus;  pronepos  et  proneptis,  secun- 
dus;  abnepos  et  abneptis,  tertius:  adnepos  et  adneptis,  quar- 
tus;  trinepos  et  trineptis,  quintus;  et  trinepotis  nepos  et 
trineptis  neptis,  sextus.  Haec  consanguinitas  u.  s.  w.  Ideo 
autem  usque  ad  sextum  generis  gradura  u.  s.  w.  bis  terminetur. 

Demnach  hat  Burchard  die  Magenzählung  in  die  Stelle 
hineingetragen.  Man*)  ist  darüber  einig,  dass  dieselbe  alt- 
national, nicht  etwa  von  Burchard  erfunden  ist.  Sie  wurde 
1022  von  dem  unter  Burchards  Einfluss  stehenden  Konzil  von 
Seligenstadt  angewendet,  aber  auch  schon  in  dem  conventus  ad 
Theodonis  villam  von  1003  (bei  Pertz.  Mon.  Germ.  Script.  IV 
p.  663  f.)  Der  Grund  zu  der  Interpolation  ist  wohl  mit  Wass. 
(S.  0.  S.  11  und  12)  in  dem  Bestreben  zu  suchen,  den  Wider- 
spruch zwischen  dem  Septem  am  Anfang  und  dem  Sex  am  Ende 
der  Stelle  zu  heben.  Mit  der  durch  die  Interpolation  an- 
gedeuteten Unterstellung,  dass  Isidor  am  Anfang  zwar  die 
kanonische  Komputation  im  Auge  habe,  nachher  aber  die  sex 
generationes,  welche  den  sex  aetates  entsprechen  müssen,  von 
den  Geschwisterkindern  an  gezählt  wissen  wolle,  war  der 
Widerspruch  mit  dem  Anfang  anscheinend  beseitigt.*) 


*)  Bei  Higne,  Tom.  140  col.  781. 

*)  Namentlich  v.  Amira  E.  S.  47  f.,  Heusler  S.  592. 

*)  An  die  Absicht,  durch  die  Interpolation  die  Zahl  der  verbotenen 
Grade  anszadehnen,  kann  nicht  gedacht  werden,  jedenfalls  nicht  gegenüber 
Rom,  das  schon  seit  mehreren  Jahrhunderten  den  siebenten  kanonischen  Grad, 
also  die  sechste  Magschaft,  als  Grenze  aufgestellt  hatte.  Dagegen  glaubt 
v.  Amira,  E.  S.  48,  die  Interpolation  sei  erfolgt,  um  durch  Vermittlung  der  volks- 
tümlichen Zählweise  die  Ausdehnung  des  Verbots  von  dem  sechsten  kanonischen 


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28 


Aber  die  Beseitigung  war  eben  nur  eine  anscheinende, 
wie  die  weitere  Geschichte  der  Stelle  zeigt.  Leser,  welche  die 
Interpolation  nicht  als  solche  kannten,  sondern  für  ursprünglich 
hielten,  mussten  nun  erst  recht  die  septem  gradus  auf  dieselbe 
Weise  wie  die  sex  zählen.  Von  neuem  trat  nun  die  Frage  anf, 
wie  sich  jene  zu  diesen  verhalten.  Die  erneute  Lösung  der 
Schwierigkeit  ist  in  der  nachburchardischen  Geschichte  der 
Stelle  auf  zwei  Arten  erfolgt. 

a)  Von  den  kirchlichen  Sammlungen,  in  welche  das  c.  10 
Burchards  zunächst  übergieng,  begnügte  sich  das  decretum  Ivonis 
pars  IX.  c.  46')  mit  einer  einfachen  Wiedergabe  der  Stelle; 
dagegen  korrigierte  die  Panormia  VII  c.  76  die  septem  in  sex 
gradus;')  aber  es  ist  wohl  auf  diese  Korrektur  noch  kein  grosser 


Grade,  welcher  im  Frankenreiche  bisher  als  Grenze  gegolten  habe,  auf  den 
siebenten  weniger  auffällig  zu  machen  und  zu  erleichtern.  Im  Konzil  von 
Seligenstadt  sei  diese  Zählung  unter  Berufung  auf  die  antiqui  patres  adop- 
tiert worden;  die  interpolierte  Stelle  sollte  diese  Berufung  rechtfertigen. 
Anch  ich  glaube,  dass  Burchard  in  Seligenstadt  sich  gerade  auf  diese  Stelle 
berufen  hat.  Ich  glaube  ferner,  dass  die  in  ihr  gegebene  Magenzählung  auf 
c.  30  von  Burchards  siebentem  Buch  anzuwenden  ist,  wo  uns  berichtet  wird, 
der  conventus  Confluentiae  von  922  (Pertz.  Mon.  Germ.  leg.  IV  p.  17)  habe 
beschlossen,  ne  ullus  Christianns  infra  sextam  generationem  nuptias  copul are 
praesnmat.  Allein  ich  kann  nicht  annehmen,  dass  die  Interpolation  eine 
solche  Tragweite  gehabt  hat,  dass  sie  grade  gemacht  worden  sei,  um  solche 
Stellen  so  umzninterpretieren.  In  diesem  Falle  hätte  doch  Burchard  in  allen 
in  seinem  siebenten  Buche  angeführten  Stellen  über  die  Verwandtschafts- 
grenze, oder  doch  wenigstens  in  denjenigen  fränkischen  Ursprungs  die  Grenze 
als  auf  dem  sextus  gradus  befindlich  angeben  müssen.  Ausser  in  c.  30  cita- 
tum  und  in  c.  18,  wo  ihm  die  sexta  (übrigens  an  beiden  Orten  direkt  aus 
qninta  gefälschte)  generatio  durch  seine  Quelle  überliefert  zu  sein  scheint, 
statuiert  er  sonst  überall  als  Grenze  die  septima,  vgl.  c.  11,  12,  13,  14,  16. 
Zudem  lagen  direkte  Fälschungen  der  damaligen  Zeit  viel  näher,  und  endlich 
brauchte  Burchard  eine  solche  Anpassnng  der  kirchlichen  Forderungen  an  das 
weltliche  Recht  wohl  nicht  mehr,  nachdem  sogar  der  König  1003  in  Dieden- 
hofen,  wo  Burchard  mit  anwesend  war,  energisch  die  strenge  Beobachtung 
der  Grenze  des  siebenten  Grades  gefordert  hatte  (Mon.  Germ.  Script.  IV 
p.  663).  Vielmehr  scheint  mir  die  Stelle  nur  um  ihrer  selbst  willen  inter- 
poliert worden  zu  sein;  ja  es  braucht  nicht  einmal  die  Absicht  zu  fälschen 
obgewaltet  zu  haben,  bei  der  wenig  historischen  Auffassung  jener  Zeit  er- 
scheint es  nicht  unmöglich,  dass  Burchard  wirklich  der  Meinung  war,  Isidor 
habe  so  gezählt,  und  dies  nur  deutlich  zu  machen  suchte. 

l)  Higne  Tom.  161  col.  667. 

*)  Migne,  Tom.  161  col  1299;  wie  die  collectio  trium  Partium  sie 


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29 


Wert  zu  legen,  da  dieselbe  Panormia  VII  c.  75 ')  das  c.  9 des 
siebenten  Buchs  von  Burchards  Dekret  ausschreibt,  worin  derselbe 
noch  einmal  bemerkt,  dass  die  Zählung  der  sieben  Generationen  auf 
Isidor  zurückgehe.  Wichtig  ist  dagegen,  dass  im  decretum 
Ivonis  wie  in  der  Panormia  auch  die  echte,  unveränderte  Stelle 
des  Isidor,  wie  wir  sie  oben  S.  26  in  den  Excerptiones  gefunden 
haben,  wieder  zum  Vorschein  kommt,  in  jenem  als  c.  64*)  im 
Anschluss  an  eine  der  Figuren  Isidors,  von  denen  Ivo  zwei 
gibt,  in  dieser  als  c.  74*)  ohne  Figur.  Dieses  Auf  tauchen  der 
echten  Stelle  entscheidet  bei  der  Lösung  des  Widerspruchs  des 
burchardschen  c.  10.  wie  sie  nun  von  Petrus  Lombardus  und 
Gratian  versucht  wird. 

Beide  benutzen  das  c.  10  Burchards,  entweder  direkt  oder 
durch  Vermittlung  der  vorgenannten  Sammlungen.  Beide 
helfen  dem  darin  steckenden  Widerspruch  durch  Textkritik  ab, 
indem  sie  offenbar  im  Anschluss  an  die  echte  Stelle  die  septem 
gradus  am  Anfang  in  sex  abändern.*)  Dass  diese  Schriftsteller 
die  Korrektur  bewusst  vorgenommen  haben,  sieht  man  nament- 
lich hübsch  bei  Petrus  Lombardus.  Obschon  die  Stelle  nach 
seiner  Korrektur  von  einer  doppelten  Zählung  nichts  mehr  auf- 
weist, und  von  einer  Sieben,  welche  mit  der  Sechs  einer  andern 
Zählweise  zusammenfällt,  nichts  mehr  zu  sehen  ist,  erörtert  doch 
Petrus  gerade  im  Anschluss  an  die  burehardsche  Stelle  zwei 
solche  Zählarten.  Wie  fremd  und  unbekannt  ihm  aber  die 
Magenzählung  ist,  geht  daraus  hervor,  dass  er  nicht  ihr  Ver- 


wiedergibt,  in  welcher  nach  Theiner,  Dizquiaitt.  critic&e  im  Index,  das 
burchardäche  c.  10  als  III  16  c.  11  vorkommt,  weise  ich  nicht. 

•)  Auch  im  decretum  Ivonis  pars  IX  c.  45;  vgl.  ferner  des  letztem 
Titel  zu  c.  64  der  pars  IX  mit  Burchard  VII  c.  28. 

*)  Mignc,  Tom.  161  coL  678  und  674. 

*)  Migne,  Tom.  161  col.  1300. 

*)  c.  1 C.  XXXV  qu.  6 (vgl.  mit  c.  un.  C.  XXXV.  qu.  4)  Petrus  Lom- 
bardus, Sententianun  C.  IV  d.  40  bei  Migne,  Tom.  192  col.  937,  wonach 
die  sehr  interessante  aber  zu  wenig  beachtete  Stelle  in  unserm  Anhang  II 
abgedruckt  ist.  Aehnlich  wie  ßratian  verfuhrt  Hugo  de  S.  Victore  de  sa- 
cramentis  II  p.  XI  c.  14  (bei  Migne,  Tom.  176  coL  511.)  Kr  bringt  zunächst 
auch  die  echte  isidorisebe  Stelle:  Haec  consanguinitas  u.  s.  w.,  hängt  dann 
aber  nach  dem  Satz  Ideo  autem  usque  ad  sextum  gradum  u.  s.  w.  bis  ter- 
minetur  ohne  weiteres  die  burchardschen  Worte  an:  ttlius  et  filia,  quod  cst 
n.  s.  w.  bis  trinepotis  nepos  et  trineptis  neptis. 


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30 


hältnis  zur  kanonischen  auseinandersetzt,  wie  Mejer  mit  Un- 
recht annimmt,  und  wie  es  Alexander  II.  in  einer  sehr  ähn- 
lichen Stelle  § 9 und  10  des  c.  2 C.  XXXV  qu.  5 tut,  son- 
dern dasjenige  der  altlangobardischen , welche  den  Vater  als 
ersten  Grad  zählt,  und  welche  ihm  aus  seiner  Jugendzeit  her 
noch  bekannt  sein  mochte.  Freilich  ist  dann  seine  Angabe, 
dass  die  Autoritäten,  welche  die  Grenze  auf  den  siebenten 
Grad  setzen,  also  die  Kirche,  den  Vater  als  ersten  rechnen,  so 
wenig  korrekt  wie  die  andere,  dass  Papst  Zacharias  (in  c.  4 
C.  XXXV  qu.  5)  so  gezählt  habe. 

b)  Einen  zweiten  Versuch,  den  Widerspruch  in  Burchards 
c.  10  zu  lösen,  muss  nun  aber  auch  eine  Quelle  gemacht  haben, 
welche  dem  Ssp.  I 3 § 3 zu  Grunde  liegt,  sei  es  unmittelbar, 
oder  was  mir  wahrscheinlicher  ist,  mittelbar.  Vergleichen  wir 
I 3 § 3 mit  dem  genannten  c.  10,  so  finden  wir  materiell  keine 
Aenderung.  Wie  bei  Burchard  erscheint  der  sechste  Grad 
nationaler  Zählung,  die  secliste  Magschaft,  der  siebente  der 
kirchlichen  Komputation,  als  letzter  verwandter  und  erbberech- 
tigter. Dagegen  hat  formell  eine  Veränderung  in  der  Art 
stattgefunden,  dass  Eike  noch  einen,  freilich  nicht  mehr  ver- 
wandten, siebenten  Magen-,  achten  Sippegrad  erwähnt,  und 
parallel  damit  ein  siebentes  aber  ungewisses  Zeitalter.  Diese 
Aenderungen  nun  lassen  sich  m.  E.  gar  nicht  anders  erklären 
als  durch  die  Annahme,  dass  uns  hier  ein  Lösungsversuch  des 
schon  oft  erwähnten  Widerspruchs  vorlicgt  u.  z.  in  folgender 
Weise : 

Schon  bei  Beda  venerabilis  de  temporibus  c.  XVI  f.1) 
findet  sich  ohne  Quellenangabe  die  mit  wenigen  Aenderungen 
aus  Isidors  origines  V.  c.  38,  5 und  6 und  c.  39  entnommene 
Einteilung  der  Weltgeschichte  in  sechs  Weltalter,  von  denen 
bei  Isidor  das  erste  mit  Adam,  das  zweite  mit  Noah,  das  dritte 
mit  Abraham,  das  vierte  mit  David,  das  fünfte  mit  der  baby- 
lonischen Gefangenschaft  und  das  sechste  mit  Christi  Geburt 
beginnt.  In  den  verschiedenen  Zeitaltern  werden  die  Gene- 
rationen und  Reiche  genannt,  die  Summe  ihrer  Dauer  wird  am 
Schlüsse  jedes  Mal  gegeben  und  zum  Vorhergehenden  addiert; 
sie  steigt  aber  durchaus  nicht  von  Zeitalter  zu  Zeitalter 


’)  Migne,  Tom.  90  col.  288  f. 


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31 


genau  oder  auch  nur  annähernd  um  1000  Jahre.  Das  sechste 
Zeitalter  wird  bis  auf  die  Zeit  Isidors  bezw.  Bedas  geführt, 
am  Schlüsse  findet  sich  übereinstimmend  der  Satz:  „Reliquum 
sextae  aetatis  tempus  Deo  soli  cognitum  est  (oder  patet).“ 
Unter  Ludwig  dem  Frommen  wurde  diese  Chronica  de  sex 
aetatibus  mundi  bis  810  weitergeführt  und  erscheint  so  in 
vielen  Handschriften  der  verschiedensten  Länder.1)  Im  neunten, 
zehnten  und  elften  Jahrhundert  wurde  dieselbe  als  Einleitung 
zu  Annalen  benutzt,  so  für  diejenigen  von  Hersfeld,  für  die 
annales  Hildesheimenses  und,  was  ich  namentlich  hervorheben 
möchte,  für  die  Annales  Quedlinburgenses.*)  Auch 
die  letztern  lassen  die  sechs  Zeitalter  mit  Adam,  Noah,  Abra- 
ham, David,  der  babylonischen  Gefangenschaft  und  der  Geburt 
Christi  beginnen.  Auch  hier  beträgt  die  Dauer  der  Zeitalter 
nicht  1000  Jahre. 

Die  zweite  Stelle  aus  Isidor  scheint  nun  mit  der  erstem 
in  burehardscher  Fassung  vereinigt  worden  zu  sein.  Indem 
man  nämlich,  wohl  nicht  ohne  Beeinflussung  durch  andere 
mystisch-chiliastische  Vorstellungen  jener  Zeit,  aus  der  Dauer 
der  Zeitalter  1000  Jahre  als  Durchschnitt  nahm,  und  so  jedes 
Zeitalter  zu  einem  Jahrtausend  ansetzte,  musste  man  im  elften 
und  zwölften  Jahrhundert  beobachten,  dass  die  sex  aetates  ab- 
gelaufen waren.  Und  doch  stand  die  Welt  noch.  Wie  nun? 
Daneben  hatte  man  die  andere  Stelle,  wo  Isidor  sagte,  man 
zähle  sieben  Generationen,  und  dann  fortfuhr,  deswegen  zähle 
man  die  Verwandtschaft  bis  zum  sechsten  Grade,  weil  es  sechs 
Weltalter  gebe.  Hier  der  Widerspruch  einer  Stelle  mit  sieh 
selbst,  dort  derjenige  einer  andern3)  wenigstens  mit  den  Tat- 
sachen: in  beiden  derselbe  Grund  für  den  Widerspruch,  die 
Annahme  von  sechs  Weltaltern.  Viel  Phantasie  brauchte  es 
nicht,  um  den  Ausweg  an  beiden  Orten  so  zu  suchen,  dass 
man  eben  sieben  Weltalter  annahm.  Freilich  passte  es  nicht 
zu  dem  kirchlichen  und  weltlichen  Rechte,  wenn  man  nun  als 


*)  Pcrtz.  Mon.  Germ.  Script.  II  p.  256.  Wattenbach,  Deutschlands  Ge- 
schicbtsqueilen  im  Mittelalter  5.  Auä.  I S.  193. 

’)  Vgl.  Wattenbacli  a.  a.  0.  S.  226,  320,  327.  Pertz.  Mon.  Germ.  Script. 
V.  p.  22  f. 

*)  Dass*  sie  auch  von  Isidor  stammte,  wusste  man  nicht.  Vgl.  S.  32. 


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32 


Parallele  zu  dem  siebenten  Weltalter  eine  siebente  Generation 
aufzählte.  Allein  eine  solche  zählte  ja  schon  Isidor  u.  z.  wie 
man  aus  der  Stelle  entnahm,  offenbar  auch  erst  von  den  Ge- 
schwisterkindern an.  Trotzdem  hatte  das  Recht  bloss  sechs 
Magschaften  als  verwandt  anerkannt,  ganz  natürlich,  da  eben 
das  siebente  Weltalter  auch  von  höchst  zweifelhaftem  Werte 
war.1)  Damit  war  die  Lösung  des  Rätsels  gegeben,  man 
musste  nur  die  sechs  Weltalter  in  der  Umbildung  der  burchard- 
sehen  Stelle  nicht  wie  bisher  bloss  als  sex  aetates  nennen, 
sondern  sie  und  ihre  Grenzen  genauer  angeben,  was  mit  Hülfe 
der  Weltalterchronik  leicht  sich  machen  liess.  Dann  gieng  ans 
der  Stelle  der  Ablauf  der  sechs  Weltalter  mit  dem  Jahre  1000 
nach  Christi  Geburt  schon  von  selbst  hervor,  und  eines  be- 
sonderen Hinweises  darauf,  dass  die  septima  generatio,  von 
welcher  Isidor  sprach,  eben  die  dem  jetzigen  siebenten  Welt- 
alter parallel  laufende,  ebenso  unsichere  und  wertlose  sei,  be- 
durfte es  kaum. 

Wir  können  die  Zeit  dieser  Kombination  der  Stellen  nicht 
genauer  angeben,  sie  muss  zwischen  1022,  in  welchem  Jahre 
spätestens  Burchards  Dekret  vollendet  wurde , und  der  Ab- 
fassung des  Ssp.  (1215 — 1235)  liegen.  Ob  Eike  sie  bald  nach 
ihrer  Entstehung,  oder  ob  er  sie  erst  aus  dritter  oder  vierter 
Hand  erhalten  hat,  wissen  wir  ebensowenig ; aber  dass  er  aus 
einer  Quelle  schöpft,  welche  diese  Kombination  selbst  vollzogen 
hat,  oder  von  einer  andern  abstammt,  in  welcher  die  Kombination 
vollzogen  wnrde,  kann  kaum  einem  Zweifel  unterliegen.  Einmal 
zeigt  die  Nennung  des  Origines,  dass  Eike  wenigstens  noch  eine 
dunkle  Ahnung  hatte,  woher  seine  Mittheilungen  stammten. 
Mit  der  Uebernahme  der  Lehre  von  den  sechs  Weltaltern  allein 
lässt  sich  dies  aber  nicht  erklären.  Denn  so  viel  mir  wenig- 
stens bekannt  ist,  gieng  die  chronica  de  sex  aetatibus  mnndi 
stets  ohne  Nennung  eines  Autors,  wenigstens  ist  Isidor 
in  den  oben  angeführten  annales  Hildesheimenses,  Hersfehlenses 
und  Quedlinburgenses  nicht  genannt.  Das  zeigt  sich  auch 


')  Der  Parallelisnma  versagt  hier  allerdings  etwas.  Denn  die  siebente 
Magschaft  war  nicht  unbestimmt,  sondern  bestimmt  nicht  verwandt.  Im  Ssp. 
konnte  das  uicht  zu  Unsicherheiten  führen,  weil  dort  noch  das  Gliederhild 
dazu  kam,  in  welchem  es  für  die  siebente  Magschaft  kein  Glied  mehr  gab. 


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33 


gerade  aus  unserer  Stelle;  da,  wo  die  Aufzählung  der  Weltalter 
beginnt,1)  lässt  Eike  es  bei  der  Berufung  auf  Origines  nicht 
bewenden,  vielmehr  wird  dort  als  Quelle  die  heil.  Schrift 
ausdrücklich  genannt  u.  z.  diese,  weil  man  die  Weltalter- 
lehre eben  als  direkte  Zusammenstellung  ans  der  Bibel  ansah, 
den  wahren  Autor  nicht  mehr  kannte.  Die  Berufung  auf  Ori- 
gines bezieht  sich  also  auf  die  Zahl  der  Woltalter,  d.  h.  auf 
den  Bestandteil,  welcher  ans  Burchard  kommt,  ver- 
mehrt um  die  bei  der  Kombination  nötliig  gewordene  Abschätzung 
der  Weltalter.  Bei  dieser  isidorischen  Stelle  blieb  aber 
die  Autorschaft  Isidors  in  allen  Quellen,  in  welchen 
wir  ihr  begegnet  sind,  gewahrt.  Und  endlich  beachte 
man  doch  nur  die  Form , in  welcher  die  ganze  Mitteilung  ge- 
macht ist.  Origines  weissagte  zuvor,  dass  sechs  Welten 
sein  sollten,  jede  Welt  zu  1000  Jahren  angenommen,  und  im 
siebenten2)  sollte  sie  zu  Ende  gehen.  Hier  wird  die  Anhängung 
des  siebenten  Weltalters  ganz  deutlich,  dasselbe  wird  hier  so- 
gar nicht  einmal  als  solches  genannt,  erst  weiter  unten  spricht 
Eike  von  „der  seveden  werlde.“  Die  ganze  Formulierung,  die 
Angabe,  Origines  habe  von  sechs  Welten  geweissagt,  und  die 
nachherige  Erwähnung  einer  siebenten  wäre  unerklärlich,  wenn 
die  Stelle  ursprünglich,  wenn  sie  ans  einem  Guss  entstanden 
wäre.  Gewiss  hätte  man  dann  gesagt,  Origines  habe  prophe- 
zeit, es  sollen  sieben  Weltalter  sein,  sechse  zu  1000  Jahren, 
das  siebente  von  unbestimmter  Dauer.  In  der  Tat  ist  dies, 
wie  wir  schon  oben  S.  31  sahen,  auch  die  Darstellungsweise 
der  Weltchronik.  Sechs  Weltalter  gibt  es,  sagt  sie,  „reliquum 
sextae  aetatis  aber  soli  Deo  cognitum  est,“  und  nicht  etwa: 
fünf  Weltalter,  und  im  sechsten  ungewissen  folgt  der  Untergang. 

*)  Ob  die  Aenderung,  welche  sich  gegenüber  der  Weltalterchronik  im 
Ssp.  in  betreff  des  Anfangs  des  vierten  und  fünften  Weltaltcrs  findet,  indem 
das  erstere  im  Ssp.  mit  Moses  statt  mit  David,  das  letztere  mit  David  Htatt 
mit  der  babylonischen  Gefangenschaft  beginnt,  bei  Anlass  der  Kombination 
erfolgt  ist,  vielleicht,  um  die  Jahrtausende  besser  zu  treffen,  oder  ob  sie  da- 
raus zu  erklären  ist,  dass  bei  der  Kombination  eine  in  diesen  Punkten  schon 
abweichende  Version  der  Weltalterchronik  benutzt  wurde,  muss  ich  dahin  ge- 
stellt sein  lassen. 

*)  Vgl.  das  oben  Seite  12  Note  3 Bemerkte ; dass  gerade  hier  auch  nicht 
ein  masknlinisches  werlde  zu  ergänzen  ist,  geht  schon  daraus  hervor,  dass 
Eike  sonst  in  dem  Artikel  werlt  als  fern,  braucht. 

Stutz,  VerwandtschaltabUil.  S 


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34 


Kurz  es  dürfte  auch  daraus  klar  hervorgehen,  dass  Ssp.  I 3 § 1 
und  3 nicht  eine  Weiterbildung  der  Weltalterchronik, 
sondern  vielmehr  eine  mit  deren  Hülfe  erfolgte  Um- 
bildung des  zweiten  Teils  von  Isidor-Burchard  dar- 
stellt, nämlich  eine  mit  Rücksicht  auf  die  septem  gradus  am 
Anfang  bewerkstelligte  Umgestaltung  des  Satzes:  „Ideo  autem 
usque  ad  sextum  generis  gradum  consanguinitas  constituta  est, 
ut  sicut  sex  aetatibus  mundi  generatio  et  hominis  Status  fiuitur, 
äta  propinquitas  generis  tot  gradibus  terminaretur.“ 

Die  Erzählung  von  den  Weltaltern  und  Generationen  hat 
nun  Eike  wohl  von  geistlicher  Seite  erhalten,1)  sei  es  von  dem 
Kompilator  selbst,  sei  es  erst  längere  Zeit  nach  der  Kompila- 
tion durch  Vermittelung.  Er  hat  sie  nicht  nur  zur  Erklärung 
der  Verwandtschaftsgrenze  beibehalten, *)  sondern  auch  seine 
neue  Heerschildlehre  damit  verbunden.  Auch  die  Aufzählung 
der  Verwandten  am  Anfang  der  Stelle  aus  Burchard  fehlt  bei 
Eike  nicht.  Sie  mag  ihm  als  Wegweiser  für  die  Abfassung 
des  dritten  Paragraphen  gedient  haben,  um  so  mehr,  als  die  in 
ihr  statuierte  Zählung  mit  der  sächsischen  übereinstimmte. 
Allein  die  Stellung  des  weiter  gebildeten  c.  10  Burchards  ist 
eine  verschiedene  gegenüber  der  Angabe  über  die  Begrenzung 
der  Verwandtschaft  und  gegenüber  der  Darstellung  des  Innern 
der  Sippe,  gegenüber  ihrer  Gliederung.  Dort  ist  sie,  die  Quelle, 
massgebend;  wir  werden  zwar  sicher  annehmen  dürfen,  dass 
bei  den  Sachsen  die  sechste  Magschaft  die  letzte  verwandte 
und  erbberechtigte  war,  denn  sonst  hätte  Eike  diese  seinem 
Rechte  widersprechende  Erzählung  gewiss  nicht  verwendet; 
allein  die  Anführung  der  siebenten  nicht  verwandten  Magschaft 
ist  wohl  nur  eine  Konzession  an  die  Weltalterlehre,  wahrschein- 
lich nicht  von  Eike,  sondern  eben  schon  früher  u.  z.  nur  in 


‘)  Es  mag  daran  erinnert  werden,  dass  sein  Gönner,  Graf  Hoyer  von 
Falkenstein,  auf  dessen  Betreiben  Eike  den  Ssp.  übersetzte,  Stiftsvogt  von 
Quedlinburg  war. 

*)  Aus  der  Geschichte  dieser  Quelle  erklärt  sich  also  die  Hinzufttgung 
der  siebenten,  nicht  verwandten  Magschaft.  Die  herrschende  Erklärung  als 
Konzession  an  das  siebente  Weltalter  kann  ohne  Hinzuziehung  der  bnrchard- 
schen  Stelle  nicht  befriedigen,  weil  eben  das  siebente  Weltalter  auch  nicht 
ursprünglich  ist,  die  Frage  damit  also  nur  hinansgeschoben,  aber  nicht  be- 
antwortet wird. 


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35 


ihrer  Verbindung  mit  den  septem  gradus  in  c.  10  bei  Burchard 
gemacht.  Ob  die  Quelle  den  Namen  Nagelmagen  schon  gekannt 
hat,  wissen  wir  nicht;  wahrscheinlicher  ist  er  erst  bei  Eike 
dazu  gekommen.1)  Hier  dagegen,  bei  der  Darstellung  der  Ver- 
wandtschaftsgliederung, kommt  der  Quelle,  so  zu  sagen,  kein 
Einfluss  zu.  Nur  weil  sie  eben  mit  dem,  was  Eike  darstellen 
wollte,  übereinstimmte,  weil  sie  nichts  anderes,  sondern  nur 
weniger  enthält,  als  er  sagt,  kann  und  darf  man  von  ihrer 
Benutzung  reden.  Z.  B.  die  Magenzählung  Burchards  darf 
man  gewiss  bei  Eike  wiederfinden,  allein  Eike  stellt  sie  nicht 
dar,  weil  sie  die  Quelle  gibt,  hier  ist  nicht  die  Quelle  das 
Massgebende,  sondern  offenbar  weil  sie  auch  in  seinem  heimat- 
lichen Rechte  galt.  Das  sieht  man  daraus,  dass  er  für  die  so 
gezählten  Glieder  den  jedenfalls  technischen  Namen  „Magen“ 
hat.  Ferner  zeigt  sich  die  Selbstständigkeit  Eikes  hier  in  dem 
Gebrauche  des  Gliederbildes,  das  ihm  die  Quelle  ebenfalls  nicht 
bot.  Somit  gelangen  wir  zu  folgendem  Ergebnisse:  Für  die 
Begrenzung  der  Verwandtschaft  kann  Ssp.  I 3 § 3 nicht  den 
Wert  eines  Originals  beanspruchen.  Wenn  nämlich  auch  nicht 
daran  zu  zweifeln  ist,  dass  zu  Eikes  Zeit  nach  sächsischem 
Rechte  die  Verwandtschaftsgrenze  sich  an  dem  von  ihm  be- 
zeichnten Punkte  befand,  so  hat  er  doch  hier  nicht  das  gel- 
tende Recht  als  solches  unmittelbar  dargestellt,  sondern  in 
Anlehnung  an  eine  Quelle,  die  ihm  schriftlich  oder  mündlich*) 
vermittelt  war.  Diese  Quelle  hinwiederum  ist  aus  der  Kom- 
bination zweier  anderer  hervorgegangen,  und  ihre  Angaben  sind 
nicht  aus  unmittelbarer  Wiedergabe  von  Thatsachen  entstanden, 
sondern  aus  Operationen,  welche  an  einem  Bruchstücke  einer 
Schrift  vorgenommen  sind,  das  in  einer  ganz  andern  Epoche, 
an  einem  ganz  andern  Orte,  unter  ganz  andern  Verhältnissen 
und  unter  einem  ganz  anderen  Rechte  entstanden  ist. 

Als  sicher  kann  also  nur  bezeichnet  werden,  dass  die 
Stelle  zu  Burchards  Zeit  dem  kirchlichen  Rechte  inbetreff  des 
Umfangs  des  Eheverbotes  entsprach. 

Für  die  Beantwortung  der  Frage,  ob  das  sächsische  Volks- 


')  Bekanntlich  wendet  der  Schwsp.  c.  293  diese  Verwandtschaftsbe- 
zeichnung in  anderm  Sinne  an. 

*)  Pies  wohl  eher,  wegen  des  unrichtigen  Zitats:  Origines. 

>• 


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36 


recht  eine  Verwandtschaftsgrenze  gekannt  hat  und  wenn  ja. 
welche,  ist  Ssp.  1 3 § 3 völlig  wertlos.  Alles  ist  an  sich 
möglich.  Es  lässt  sich  denken,  dass  keine  Grenze  bestand, 
und  dass  es  erst  unter  dem  Einfluss  der  Elleverbotsgrenze  zu 
einer  solchen  kam;  es  lässt  sich  denken,  dass  die  siebente 
Sippe,  die  sechste  Magschaft,  die  Verwandtschaftsgrenze  bildete, 
und  die  kirchliche  Gesetzgebung  über  die  Eheverbotsgrenze 
nicht  erst  mit  dem  weltlicheu  Rechte  zu  ringen  hatte;  es  lässt 
sich  endlich  denken,  und  dies  ist  wohl  das  Wahrscheinlichste, 
dass  die  Sachsen  wie  die  Angeln  und  Warnen.  Franken  und  Lango- 
barden die  sechste  Sippschaft  und  die  fünfte  Magschaft  als  Ver- 
wandtschaftsgrenze  kannten,  dass  aber,  wie  früher  die  Eheverbots- 
grenze  in  Anknüpfung  an  die  Verwaudtschaftsgrenze  sich  aus- 
dehnte, so  nun  umgekehrt  die  Grenze  der  Verwandtschaft  und 
Erbberechtigung  sich  unter  dem  Einfluss  der  abweichenden 
Eheverbotsgrenze  um  eine  Generation  verschoben  hat.  Dass 
Eike  am  Schlüsse  des  Artikels  gegen  eine  solche  Beeinflussung 
des  weltlichen  Rechtes  durch  das  geistliche  protestiert,  beweist 
nichts  gegen  eine  solche  Annahme,  da  die  entscheidende  Be- 
wegung sich  mindestens  zwei  Jahrhunderte  vor  seiner  Zeit  voll- 
zogen haben  würde.  Die  isidorische  Stelle  aber,  welche  für  die 
Verwandtschaftsberechnung  als  solche  entstanden  ist,  wenn  auch 
mit  Nebeubeziehung  auf  die  Ehe,  welche  sodann  ausschliesslich 
für  die  Bestimmung  der  Eheverbotsgrenze  benutzt  wurde,  da  sie 
ihre  praktische  Bedeutung  für  das  weltliche  Recht  verloren 
hatte,  welche  aber  endlich  im  Ssp.  wieder  mit  dem  letzteren 
in  Beziehung  gebracht  wurde  und,  wenn  auch  in  ganz  anderer 
Weise  als  bei  ihrer  Entstehung,  zur  Berechnung  der  Verwandt- 
schaft diente,  sie  würde  bei  der  obigen  Annahme  der  Ent- 
wicklung in  trefflicher  Weise  ein  gutes  Stück  Rechtsgeschichte 
darstellen. 

2)  Ein  Stammelternpaar  mit  seiner  Nachkommenschaft  wird 
uns  vorgeführt;  wir  fragen:  Welches  ist  dasselbe,  m.  a.  W., 
welche  Parentel  haben  wir  vor  uns? 

Eike  nennt  die  Starameltern  Mann  und  Weib,  von  der 
ersten  Generation  spricht  er  als  von  Kindern.  Man  glaubt, 
die  erste  Parentel  vor  sich  zu  haben.  Allein  von  Sydow  (Erbr. 
S.  123  Note  374)  belehrt  uns,  dass  hier  von  der  zweiten 
Parentel  die  Rede  sei,  denn  der  Unterschied  von  Voll-  und 


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37 


Halbgeburt  falle  ja  in  der  ersten  Parentel  weg,  da  Deszen- 
denten im  Verhältnis  zu  ihren  Erzeugern  stets  vollblütig,  mit 
Stiefeltern  aber  gar  nicht  verwandt  seien.1)  v.  Sydows  Ar- 
gument wäre  vielleicht  stichhaltig  gegenüber  einem  modernen 
Gesetzgeber  oder  Juristen,  bei  Eike  nicht.  Wollte  derselbe 
wirklich  die  erste  Parentel  n.  z.  als  Typus  für  alle  andern 
darstellen  — und  dies  letztere  müsste  man  ja  jedenfalls  au- 
nelunen  — warum  sollte  er  nicht  beim  ersten  Gliede  derselben 
davon  reden,  wo  in  andern  Parentelen  sich  zuerst  die  Wirkung 
der  Halbgeburt  zeigt?  Wir  würden  es  am  Schlüsse  in  einem 
Nachtrage  tun,  Eike  behandelt  es  schon  hier,  um  gleich  von 
vornherein  eine  unrichtige  Anwendung  des  Folgenden  zu  verhüten. 

Ueberhaupt  ist  zu  beachten,  dass  der  Abschnitt  über  die 
Halbgeburt  und  die  mehrfache  Verwandtschaft  schon  äusserlich 
als  ein  Einschiebsel  in  die  ganze  Darstellung  sich  erweist, 
allerdings  ein  sehr  erklärliches  und  mit  dem  Vorhergehenden 
in  engem  Zusammenhang  stehendes.  Eike  hat  von  den  Kindern, 
der  ersten  Generation,  gesagt,  dass  sie  ohne  Ausnahme  am 
Halse  stehen;  sie  sind  also  alle  gleich  nahe  mit  dem  Erblasser 
verwandt,  aber  auch  unter  sich.  Die  Entfernung  vom 
Stammvater,  das  Glied,  gibt*)  zugleich  die  Verwandschafts- 
nähe der  an  diesem  Punkte  stellenden  Verwandten  unter 
einander  an.8)  Allein  nun  kommt  doch  eine  Ausnahme:  Glieder 
derselben  Generationen  sind  nicht  gleich  nab  unter  einander 
verwandt,  stehen  nicht  alle  au  demselben  Glied,  sobald  Halb- 
gebnrt  in  Betracht  kommt.  Dagegen  gilt  die  vorher  genannte 
Kegel  für  das,  was  wir  mehrfache  Verwandtschaft  nennen,  deuu 
diese  wird  vom  sächsischen  Rechte  nicht  berücksichtigt.  Gerade 
hier  zeigt  sich  wieder,  wie  der  ganze  Passus  nur  den  Wert 

')  Ebenso  wohl  Siegel,  Erbr.  S.  23,  soilanu  Wass.  Repl.  8.  17,  31,  32, 
37,  Rivc  S.  211,  Schanz  S.  3,  31  f. ; nicht  unbedingt  Rom.  Par.  S.  U,  gar 
nicht  Hehler  S.  600,  der  letztere  findet  hier  die  höchste  Parentel,  indem  er 
den  Erblasser  an  die  Fingerspitze  setzt. 

*)  Natürlich  innerhalb  derselben  Parentel,  denn  es  ist  uns  ja  hier  nur 
eine  solche  geschildert. 

*)  Den  Hinweis  darauf,  dass  der  Gedanke  der  Gleichheit  aller,  die  au 
demselben  Gliede  stehen,  nicht  nur  gegenüber  dem  Stammvater,  sondern  auch 
untereinander  den  Übergang  zu  den  llemerkuugeu  über  Halbgcburt  tunl  mehr- 
fache Verwandtschaft  bildet,  verdanke  ich  Herrn  Prof.  Gierke.  Vgl.  anch 
Heualer  S.  688  und  589. 


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38 


einer  Anmerkung  hat.  Eike  steigt  in  seiner  Hauptdarstellung 
an  der  Sippe  Stufe  um  Stufe  in  regelmässigem  Schritte  herunter ; 
hier  bei  der  ersten  Stufe  hemmt  er  nicht  nur  einen  Augenblick 
seinen  Schritt  und  verweilt  etwas  länger,  sondern  er  lässt  sich 
sogar  zu  einem  Uebergriff  auf  die  nächste  Stufe  bewegen,  die 
er  noch  gar  nicht  betreten  hat;  um  nämlich  zu  zeigen,  dass 
die  sog.  mehrfache  Verwandtschaft  gar  keinen  Einfluss  hat, 
spricht  er  schnell  sogar  von  den  Kindern  der  drei  Brüder,  ob- 
schon er  ex  professo  erst  nachher  von  Enkeln  oder  Geschwister- 
kindern handelt. 

Daher  ist  ebenso  wenig  durchschlagend  die  Bezeichnung 
„brüdere  unde  süstere“,  die  Eike  übrigens  nicht  einmal  da  braucht, 
wo  er  von  der  Halbgeburt  spricht,  sondern  erst  in  dem  Satze: 
„Nemet  ok“  u.  s.  w.  Hier  ist  sie  aber  ganz  natürlich,  denn  hier 
fällt  einen  Augenblick  die  Beziehung  zum  Stammvater  ganz 
weg,  das  Verhältnis  unter  den  Angehörigen  der  Generation 
zu  einander  kommt  allein  in  Frage.  Und  endlich : die  Bezeich- 
nung „brüder  kindere  unde  sfister  kindere“  kann  durch  das 
unmittelbar  Vorhergehende  beeinflusst  sein,  ist  aber,  weil  die 
Bezeichnung  „Enkel“  fehlt,1)  bei  der  Magenzählung  wohl  mit 
Vorliebe  verwendet  worden.*)  Darauf,  dass  die  Bezeichnung 
Geschwister  und  Geschwisterkinder  nicht  zu  urgieren  ist,  weist 
wohl  auch  die  versio  vulgata  hin:  in  cubito  esto  secundus 
gradus,  quem  pronepotes  dicimus,  in  sexu  manus  ad  brachium 
sit  tertins,  quem  abnepotibus  concedimus.*) 

Dagegen  beweist  nun  für  die  erste  Parentel  neben  der 
Bezeichnung  der  Stammeltern  als  „man  unde  wif“  (und  nicht 
als  vader  unde  müder,  eldervater  nnde  eldermuder)  sowie  der 
ersten  Generation  als  „kindere“  ganz  zwingend  ein  Argument, 
das  sich  wieder  aus  der  Schlussregel:  „Die  tvischen“  u.  s.  w. 
ergibt.  Das  „sik  an  geliker  stat“  oder  „naer  to  der  sibbe 
stuppen“  heisst  jedenfalls  sich  an  gleicher  Stelle  oder  näher 
in  der  Verwandtschaft  (genauer:  Parentel  im  technischen  Sinne, 

*)  Jetzt  auch  Seelig  S.  25. 

*)  Vgl.  z.  B.  c.  11  conc.  Salegunstad,  von  1022  bei  Wass.  S.  0.  8.  10, 
c.  2 C.  XXXV  qu.  5 namentlich  § 9 und  10,  c.  7 X de  con«.  et  affin.  4,  14. 

*)  Vgl.  Schanz  S.  81  Note  109,  der  Note  108  treffend  ein  weitere«  Ar- 
gument v.  Sydow’s  für  die  zweite  Parentel  widerlegt.  Vgl.  übrigen«  zum 
Ganzen  auch  oben  S.  9 f. 


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39 


oder  auch:  Verwandtschaftsskala)  zu  dem  Stammvater  rechnen.1) 
Es  geht  dies  parallel  der  Zählung  der  Sippe  und  der  Magen 
vom  Stammvater  her  nach  den  weitem  Generationen,  parallel 
der  ganzen  Darstellung,  in  welcher  die  Stammeltern  den  Aus- 
gangspunkt bilden.  Wer  das  gleiche  Glied , wer  denselben 
Verwandtschaftsnamen,  wer  dieselbe  Magenzahl  hat,  steht 
gleich;  wer  zur  ersten  Magschaft  gehört,  ist  näher  als  jemand 
aus  der  zweiten,  wer  Kind  heisst,  ist  näher  als  irgend  ein 
Mage.  Dass  zur  Bestimmung  des  „gelike“  oder  „naer“  das 
letzte  Glied*)  oder  irgend  ein  zwischen  ihm  und  dem  Stamm- 
vater liegendes  massgebend  war , kann  nicht  angenommen 
werden;  wie  hätte  man  dann  das  „gelike“  und  „naer“  bemessen 
sollen?  Nur  der  Stammvater  gewährt  einen  absoluten,  einen 
festen  Punkt.  Allein  wer  ist  der  Erblasser,  von  wem  „nemet 
de  dat  erve  gelike“  oder  „to  voren?“  Der  ganze  Zusammen- 
hang weist  wieder  auf  den  Stammvater;  ohne  diese  Annahme 
ist,  wie  wir  unten  noch  näher  sehen  werden,  die  Regel  über- 
haupt nicht  anwendbar;  vielmehr  setzt  sie  voraus,  dass  der 
Stammvater  Erblasser  ist,*)  es  wird  uns  die  Parentel  des  Erb- 
lassers selbst  hier  dargestellt,  die  erste  Parentel.*) 

Allein  wir  haben  an  diesem  Ergebnisse  sofort  eine  Modi- 
fikation anzubringen.  Man  wird  uns  nämlich  einwenden,  dass 

•)  Ebenso  Hensier  S.  601.  Direkt  sagt  der  SchwBp.  c.  3 „an  dem  flunf- 
ten  lide  von  dem  honpte  her  dan  gozelt.“ 

*)  Dafür  spricht  nicht  etwa  die  Formulierung  der  Regel:  „De  tvischen 
deme  nagele  unde  deme  hovede“  n.  s.  w.  statt  umgekehrt  Es  ist  nämlich 
ganz  natürlich,  dass,  nachdem  Eike  vom  Haupte  an  die  Glieder  bis  zum 
Nagel  herunter  gezählt  hat,  er  bei  der  nun  zusammenfassenden  Bezeichnung 
der  Reihe  an  das  zuletzt  genannte  Glied  anknüpft. 

Uebrigens  hat  der  Dsp.  c.  6,  sowie  der  Schwsp.  L.  c.  3 (aber  nicht  bei 
Wackernagel  c.  6)  die  umgekehrte  Formulierung  gewählt. 

*)  Eine  Erweiterung  wird  sich  unten  S.  48  f.  ergeben.  Uebrigens  ist  es 
bezeichnend,  dass  in  dem  Abschnitte  von  der  mehrfachen  Verwandtschaft, 
wo  die  Beziehung  zum  Stammvater  zurücbtritt,  und  auch  nicht  sein  „erve* 
in  Betracht  kommt,  dies  ausdrücklich  gesagt  ist  (ire  iewelk  des  anderen 
erve),  während  sonst  einfach  von  „erve“  die  Rede  ist,  und  eine  Angabe  darüber, 
von  wem  es  komme,  als  unnötig  weggelassen  wird. 

*)  Wie  schon  bemerkt,  findet  Hensier  hier  die  höchste  Parentel.  Damit 
treten  wir  nun,  trotz  Uebereinstimmung  in  dem  oben  auf  dieser  Seite  Ge- 
sagten sowie  in  dem  Gesamtergebnis,  mit  den  folgenden  Ausführungen  in 
direkten  Gegensatz  zu  seiner  Beweisführung.  Vgl.  unten  S.  63  f. 


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40 


in  dieser  Parentel  nie  so  viele  Grade  Vorkommen,  ein  Ein- 
wand, der  sich  übrigens  auch  gegen  die  Annahme  der  zweiten 
Parentel  erheben  lässt;  „denn  niemand  erlebt  Deszendenten 
seiner  Geschwister  bis  zmn  siebenten  Grade.“  ‘)  Aber  Eike 
führt  hier  eben  die  erste  Parentel  nicht  so  vor,  wie  sie  praktisch 
und  tatsächlich  vorkommt,  sondern  als  Typus  für  alle  andern 
Parentelen,  in  der  weitesten  Ausdehnung,  die  je  bei  einer  Pa- 
rentel Vorkommen  kann.  Er  will  eben  das  Ende  der  Verwandt- 
schaft zeigen.  Darum  kann  man  auch  gegen  die  Annahme  der 
ersten  Parentel  nicht  die  Unbegrenztheit  der  Verwandtschaft 
in  absteigender  Linie  ins  Feld  führen;*)  Eike  will  ja  gar  nicht 
sagen . dass  ein  Erblasser  mit  seinem  Deszendenten  achten 
Grades  nicht  mehr  verwandt  sei;  die  Beschränkung  in  unserer 
Darstellung  auf  sieben  ist  nur  durch  die  Verwendung  der  ersten 
Parentel  als  Typus  bedingt.  Schon  die  dritte  Generation  wird 
selten  genug  als  direkte  Erbin  ihres  Urgrossvaters  in  Betracht 
gekommen  sein,  an  die  Doktortrage  der  Unendlichkeit  der 
Verwandtschaft  in  absteigender  Linie  hat  Eike  wohl  überhaupt 
nicht  gedacht.3)  Die  Ergänzung  der  praktisch  nicht  vorkom- 
menden Glieder  der  ersten  Parentel  bot  aber  weder  Schwierig- 
keiten noch  Bedenken;  wie  alle  andern  Verwandten  ausser 
Vater,  Mutter  und  Kindern  bezw.  Geschwistern  waren  die  Enkel 
und  ihre  Nachkommen  Magen,4)  die  letztem  konnten,  wie  die 
entsprechenden  Glieder  der  zweiten  Parentel,  einfach  mit  der 
Magenzahl  bezeichnet  worden.  Man  mag  das  allenfalls  sogar 
so  formulieren,  Eike  habe  diejenigen  Generationen,  welche  sich 
in  der  ersten  Parentel  nicht  fanden,  aus  der  zweiten  herüber- 
genommen, mau  mag  in  dem  Ausdruck  „brüder  kindere“  und 
„süster  kindere“  eine  Andeutung  dieses  Vorgangs  sehen,  falls 
derselbe  oben  S.  38  noch  nicht  befriedigend  erklärt  sein  sollte. 

*)  v.  Sjrdow,  Erbr.  S.  125.  Dieser  Gedanke  wird  auch  Hensler  veran- 
lasst haben,  die  höchste  Parentel  anzunehmen.  Allein  in  der  im  Text  im 
weitem  befolgten  Weise  liLsst  sich  wohl  diese  richtige  Beobachtung  ver- 
werten, ohne  dass  man,  wie  dies  bei  der  herrschenden  Ansicht  nnd  am  auf- 
fälligsten bei  der  Henslerschen  Erklärung  geschieht,  zu  der  Übrigen  Dar- 
stellung nnd  der  Regel  in  Widerspruch  tritt. 

*)  Siegel.  Erbr.  S.  24,  fiO  f.  Unter  den  im  Folgenden  entwickelten  Ge- 
sichtspunkten vgl.  man  nun  noch  einmal  oben  S.  8. 

’)  Jetzt  auch  Seelig  S.  27. 

4)  Oben  Seite  16  Note  2, 


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Jedenfalls  liabeu  beide  Parentelen  das  gemeinsam,  dass  die 
beiden  ersten  Glieder  znm  engern  Verwandtenkreise  gehören, 
dass  sie  einfache  Yerwandtschaftsnaraen  haben,  dass  dagegen 
solche  vom  zweiten  Gliede  an  mangeln,  dass  bei  diesem  die 
Magschaft  beginnt,  während  in  den  köheru  Pareuteleu  nur 
Magen  sich  finden.  Aber  die  zweite  Parentel  liess  sich  als 
Typus  nicht  verwenden,  weil  el*en  das  Zentrum,  der  Schwer- 
punkt, nämlich  der  Erblasser  nicht  in  ihr,  sondern  ausser  ihr 
liegt.,  und  weil  dementsprechend,  wie  wir  sofort  sehen  werden, 
Bild  und  Erbrechtsregel  gar  nicht  direkt  und  ohne  Modifikation 
anf  sie  anwendbar  waren.  Allo  diese  Hindernisse  fielen  weg 
bei  der  ersten  Parentel,  die  wenigen  Modifikationen,  welche  hier 
bei  der  weitern  Anwendung  nötig  waren,  ergaben  sich  von  selbst 
so  z.  B.  dass  man  in  den  hohem  Parentelen  die  Magschaft 
nicht  etwa  erst  mit  dem  zweiten  Gliede  zu  rechnen  begann, 
dass  vielmehr  auch  Geschwister  des  Grossvaters  Magen  waren. 
In  der  Tat  haben  denn  sogar  die  modernen  Leser  der  Stelle, 
trotz  der  ausserordentlichen  Verschiedenheit  ihrer  Ansichten, 
diese  Modifikation  alle  ohne  Ausnahme1)  als  selbstverständlich 
gemacht.2) 

Berücksichtigen  wir  nuu,  dass  Eike  nach  dem  Anfangs- 
satze: „Nu  merke  wie  ok,  war  de  sibbe  beginne  unde  war  se 
lende“  zu  schliessen,  die  Grenzen  der  Verwandtschaft  überhaupt 
darstellen  wollte,  dass  man  aber  nicht  nur  mit  seiner  Nach- 
kommenschaft verwandt  ist,  berücksichtigen  wir  ferner,  dass 
die  dargestellte  Deszendenz  als  Typus  vorgeführt  ist , so 
kommen  wir  notwendig  zu  dem  Schlüsse , dass  die  Verwandt- 
schaft einer  Person  als  eine  Summe  von  Nachkommenschaften 
sich  darstellen  muss;  dass  deren  Ausgangspunkte  die  Person 

*)  Gewiss  auch  Heusler.  Freilich  stimmt  dai  wieder  nicht  recht  zu  seiner 
Annahme,  dass  der  erste  Teil  von  Ssp.  I 3 § 3 die  höchste  Parentel  darstellt, 
dass  das  Hanpt  der  höchste  Stammvater  des  Erblassers  ist.  Denn  alsdann  würde 
die  Darstellung  doch  zn  dem  unmöglichen  Ergebnis  führen,  dass  der  zweit- 
höchste Stammvater  des  Erblassers  nicht  sein  Mage  hiesse,  der  dritthöchste 
seiner  ersten  Magschaft  angehörte  u.  s.  w.,  was  Heusler  doch  nicht  sagen 
will.  Es  zeigt  sich  eben  auch  hierin,  was  wir  noch  eingehender  zu  be- 
gründen und  auszuführen  haben  werden,  dass  Stammvater,  Haupt  und  Erb- 
lasser znsammenfallen  müssen. 

*)  Uebrigens  scheint  auch  Schanz,  welcher  S.  31 — 33  sich  für  die  zweite 
Parentel  entscheidet,  die  Annahme  der  ersten  nicht  ganz  zu  verwerfen  S.  3. 


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selbst  und  ihre  Vorfahren  sind,1)  kann  kaum  zweifelhaft  sein 
und  wird  sich  auch  weiter  unten  noch  ergeben.  Wie  viele 
solcher  Vorfahren  mit  ihren  Nachkommenschaften  berücksichtigt 
werden,  ist  weder  direkt  noch  indirekt  in  unserer  Stelle  ge- 
sagt,*) aus  gutem  Grunde,  denn  mit  der  untern  Grenze  ist  die 
obere  im  einzelnen  Falle  gegeben.  Handelt  es  sich  darum,  für 
eine  Person  die  entferntesten  Verwandten  und  Erbberechtigten 
zu  finden,  so  sind  prinzipiell  zwar  alle  ihre  Stammväter  jeder 
mit  sieben  Generationen  Nachkommen  verwandt  und  erbberech- 
tigt. Nur  werden  vom  siebenten  oder  achten  Stammvater  an 
keine  Nachkommen  aus  der  ersten  bis  siebenten  Generation 
seiner  Nachkommen  mehr  am  Leben  sein,  während  solche  aus 
entferntem  Generationen  durch  die  untere  Verwandtschafts- 
grenze ausgeschlossen  sind.  Praktisch  wird  es  also  darauf 
hinauskommen , dass  die  Verwandtschaft  bis  zur  siebenten 
Stammvaterschaft,  bis  zur  siebenten  Parentel  reicht,  was  man 
in  der  Regel  als  in  der  Quelle  direkt  gesagt  aunimmt.*) 


in. 

Es  bleibt  uns  nun  noch  eine  Frage  zur  Beantwortung 
übrig,  diejenige,  welche  in  der  ganzen  Kontroverse  die  be- 


')  So  auch  die  Gegner  der  Parentelenordnung  als  Erbfolgeprinzip.  Nur 
Siegel,  V.  B.  S.  8 sagt:  „E.s  gibt  nur  eine  Parentel,  die  gebildet  wird  von 
Personen,  welche  darum  mit  einander  verwandt  sind,  weil  sie  von  einem 
Stammeltempaar  gemeinschaftlich  ihr  Blut  ableiten,  gleichgültig,  ob  alle  zu 
demselben  Stammvater  binaufgehen  müssen,  oder  einzelne  bloss  auf  Ab- 
stammende von  diesem  rekurrieren,  andere  auf  ihn  selbst.“ 

Diese  Darstellung  passt  auf  den  römischen  und  modernen  Stammbaum 
für  die  germanische  Verwandtschaftsberechnung  aber  nicht,  denn  diejenigen, 
welche  bloss  auf  den  Abstammenden  jenes  Stammvaters  zurUckgehen  müssen, 
ignorieren  eben  jenen  höhem  Stammvater  ganz;  für  sie  kommt  er  gar  nicht 
in  Betracht;  selbst  wenn  noch  ein  anderer  da  ist,  welcher  durch  einen  solchen 
hühern  Stammvater  verwandt  ist,  so  kommt  der  erste  nur  als  Nachkomme 
des  niederen  Stammvaters,  nicht  aber  des  höbern  in  Betracht. 

*)  Auch  nicht  durch  das  Bild,  siehe  den  folgenden  Abschnitt  m (sub  4,  c). 
*)  Also  auch  gegen  die  Unbegrenztheit  der  Verwandtschaft  in  auf- 
steigender Linie  verstösst  man  nicht,  wenn  man  auch  Sippe  nicht  als  Seiten- 
verwandtschaft deutet,  vgl.  oben  S.  8. 


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strittenste  aber  auch  wichtigste  ist,  die  Frage:  Wie  gestaltet 
sich  die  Verwendung  des  Bildes  von  den  Glie- 
dern des  menschlichen  Körpers? 

Eike  gibt  uns  nämlich  nicht  nur  die  Gliederung  der  Sippe, 
er  gibt  uns  nicht  nur  die  Namen  der  einzelnen  Generationen 
und  Verwandten  sowie  ihre  Zahl;  sondern  er  stellt  uns  die 
Verwandtschaft  noch  an  einem  Bilde  dar.  Jede  Generation 
wird  veranschaulicht  durch  ein  Glied  am  menschlichen  Körper, 
das  Ehepaar  durch  das  Haupt,  die  Kinder  durch  den  Hals, 
die  Enkel  durch  die  Achsel,  die  Urenkel  durch  den  Ellbogen, 
deren  Kinder  durch  das  Handgelenk,  die  drei  folgenden  noch 
verwandten  Generationen  durch  die  drei  Gelenke  des  Mittel- 
fingers, die  erste  nicht  verwandte  Zeugung  durch  den  Nagel 
desselben  Fingers. 

Ueber  die  Anwendung  dieses  Gliederbildes,  welches  jeden- 
falls nicht  von  Eike  ersonnen  ist,  sondern  dem  lebenden  sächsischen 
Hechte  angehört  hat,  ergeben  sich  aus  unserer  Quelle  folgende 
Grundsätze,  welche  teils  im  ersten  Abschnitte  unsers  Para- 
graphen enthalten  sind,  teils  im  zweiten  oder  vielmehr  in  einer 
Verbindung  beider  liegen. 

Aus  dem  ersten  Teile  ergibt  sich : 

1)  Das  Bild  ist  nur  ein  einseitiges,  d.  h.  es  sind  nur 
die  Glieder  einer  Seite  benutzt.  „In  des  halses  lede“  stehen 
die  Kinder;  „ungetveider  brüdere  kindere  de  stat  an  deme 
lede,  dar  scttlderen  unde  arm  to  samene  gat;  also  dut  die 
stister  kindere“  u.  s.  w.  Soll  also  die  Nähe  der  Verwandt- 
schaft mehrerer,  zunächst  derselben  Parentel  angehörender 
Personen  ermittelt  werden,  wie  das  die  Regel:  „Die  tvischen“ 
n.  s.  w.  veranlasst,  so  wird  das  Bild  nicht  mehrmals  gebraucht, 
die  beiden  Praetendenten  zweiten  Grades  sind  nicht  an  die 
Achseln,1)  sondern  an  die  Achsel  zu  setzen.  Das  erfordert 


*)  Anders  z.  B.  v.  Sydow  in  seiner  Figur ; auch  Hensler  S.  593  und 
Siegel  R.  0.  S.  858.  Dass  der  Dsp.  c.  6 Ton  dem  Gliede  spricht,  „da  die  arme 
zesamene  gent‘,  ist  eine  ungenaue  Uebersetzung  des  Ssp.  und  würde  nur  für 
das  Gegenteil  unserer  Ansicht  beweisen,  wenn  man  dartnen  konnte,  dass 
dem  Deutschenspiegler  die  Anwendung  des  Bildes  ans  dem  Leben  bekannt 
war.  Noch  weniger  beweisen  Schwsp.  e.  3 und  Bertholds  von  Regensburg 
Predigt  von  der  Ehe  (in  Pfeiffers  Ausgabe  der  Predigten  I S.  312),  denn  beide 
haben  den  Dsp.  abgeschrieben  und  zeigen  namentlich  durch  die  Weglassung 


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übrigens  schon  die  Anwendung  im  Leben.  Nicht  mit  Papier 
und  Tinte,  nicht  mit  Zeichnungen  und  Stammbäumen  hat  man 
in  Sachsen  in  der  Gerichtsversammlnng  die  Verwandtschaft 
berechnet,  vielmehr  so,  dass  der  Erbpraetendent  den  Erb- 
lasser mit  dem  Namen  nannte  und  nun  — wir  sprechen  vor- 
läufig immer  noch  von  dem  Falle,  dass  mehrere  Praetendenten 
ans  der  ersten  Parentel  vorhanden  sind  *)  — die  Generationen, 
welche  ihn  mit  jenem  verbanden,  mit  der  rechten  Hand  an 
seiner  linken  Seite  abzählte.  Den  Erblasser  setzte  er  in  sein 
Haupt,- seine  Kinder  an  den  Hals,  sich  selbst  zählte  er,  falls 
er  z.  B.  ein  Enkel  des  Erblassers  war,  an  seiner  linken 
Schulter  ab.  Wir  haben  uns  offenbar  den  ganzen  Vorgang 
etwa  in  der  Art  zu  denken,  Avie  wir  jetzt  noch  bei  der  Auf- 
zählung einer  Reihe  von  Argumenten  dieselben  bisweilen  mit 
dem  Zeigfinger  der  rechten  Hand  an  den  Fingern  der  linken 
abzählen.  Das  Bild  ist  eine  feste  Schablone,  an  der 
sich  die  Einzelnen  abstnppen,  man  könnte  es  eben  so  gut  durch 
einen  Messstab  ersetzen,  an  dessen  Kerben  die  Verwandten  ihre 
Entfernung  von  einem  Stammvater  abmessen.*) 

2)  Haupt  kann  nur  ein  Stammvater  sein,  jemand, 
der  Glieder,  Nachkommen,  hat  oder  wenigstens  haben  könnte. 
Dies  ist  als  selbstverständlich  allgemein  angenommen. 

Aus  der  Verbindung  des  ersten  Teils  mit  der  Regel : 
„Die  tvischen  deme  nagele  unde  deme  hovede  sik  to  der  sibbe 


des  Halses,  dass  sie  mit  dem  Bilde  nur  aus  Büchern  und  nicht  ans  dem 
Lehen  bekannt  geworden  sind.  Vgl.  nnsem  Anhang  I. 

‘)  Bei  hiihem  Parentelen  nannte,  wie  vorläufig  bemerkt  sein  mag,  der 
Praetendent  den  ihm  mit  dem  Erblasser  gemeinschaftlichen  Stammvater  und 
begann  nun  die  zwischen  diesem  nnd  ihm  liegenden  Verwandtengenerationen 
an  seiner  linken  Seite  abznzählen,  indem  er  den  Stammvater  an  sein  Haupt 
setzte;  aber  nur  diese  Verwandten,  nur  die  Vorfahren  des  Erbpractendenten 
wurden  von  demselben  an  seinen  Gliedern  abgezählt,  nicht  die  Vorfahren  des 
Erblassers,  bei  welchen  die  Zählnng  auf  andere  Weise  erfolgte  vgl.  nnteu 
sub  4,  c nnd  S.  57. 

*)  Uebrigens  zeigt  sich  die  Richtigkeit  unserer  Annahme,  dass  nur  ein 
Amt  benutzt  wurde,  auch  daraus,  dass,  sobald  drei  Erbpraetcndcnten  der- 
selben Parentel  auftreten,  diejenigen,  welche  beide  Arme  benutzen,  doch  ge- 
nötigt werden,  mehrere  Verwandte  au  einen  Arm  zu  setzen.  A stirbt  nnd 
Unterlässt  drei  Enkel  B,  C,  D.  Welche  zwei  sollen  nun  an  die  rechte,  nnd 
welcher  an  die  linke  Schalter  gesetzt  werden? 


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gestuppen  mögen  an  geliker  stat,  de  nemet  dat  erve  gelike. 
De  sik  naer  to  der  sibbe  gestuppen  mach,  de  nimt  dat  erve  to 
voreu,“  ergibt  sich  weiter: 

3)  Sämtliche  Glieder  oder  Stufen  au  dem  Bilde 
sind  gleich  weit  von  einander  entfernt  und  gleich  zu 
behandeln.  Dass  die  soeben  angeführte  Regel  wenigstens 
auf  das  unmittelbar  vorher  Dargestellte  anwendbar  ist  u.  z. 
ohne  weitere  Modifikation,  bestreitet,  abgesehen  von  Wass.,1) 
dessen  Ausführungen  wir  oben  S.  18  f.  zu  widerlegen  versucht 
haben,  wohl  niemand.  Wir  haben  ferner  oben  S.  10  gesehen, 
dass  man  der  Stellung  der  Generationen  in  Seitengliedern 
keine  Bedeutung  beilegen  darf,  und  wir  haben  endlich  schon 
S.  17  und  21  gefunden,  dass  die  Regel:  „Die  tvischen“  u.  s.  w. 
alle  Glieder  zwischen  Haupt  und  Nagel  gleich  behandelt.  Von 
einer  privilegierten  Stellung  des  Halses  sehen  wir  in  ihr  nichts. 
Hals  und  Haupt  stehen  für  die  Behandlung  im  Erbrecht  nicht 
näher  bei  einander  als  etwa  Hals  und  Achsel,  oder  Achsel  und 
Ellbogen  u.  s.  w.  Man  nimmt  allgemein  das  Gegenteil  an; 
der  Grund  dieser  Anuahme  liegt  aber  einfach  in  der  eben  so 
allgemeinen  Voraussetzung,  dass  Haupt  und  Hals  zusammen 
ausser  der  Zählung  stehen.*)  Da  wir  aber  nachgewiesen  zu 
haben  hollen,  dass  diese  Voraussetzung  unrichtig  ist,  und  dass 
in  der  Sippezählung,  welche  für  das  Erbrecht  allein  in  Be- 
tracht kommt,  die  erste  Generation  als  erster  Grad,  als  erste 

’)  Siehe  oben  S.  17. 

*)  Vgl.  Stobbe  P.  R.  S.  67  ; Hensler  S.  587  Note  2,  592;  am  deutlich- 
sten bei  v.  Amira,  Rez.  S.  41,  der  wie  Schanz  den  Hals  nicht  als  Glied,  oder 
wenigstens  nnr  als  ein  halbes  rechnen  will  S.  48.  Allein  so  wenig  jemand 
anstchen  wird,  wegen  Ssp.  I 3 § 3 den  Grossoheim  eines  Erblassers  als 
dessen  Mag  zu  bezeichnen,  obschon  derselbe  dem  Urgrossvater  des  Erblassers 
am  Halse  steht,  während  die  Magenbezeichnung  bei  strenger  Anwendung  erst 
mit  der  Schalter  beginnen  würde,  ebenso  wenig  wird  man,  selbst  bei  der 
Annahme,  dass  Geschwister  des  Erblassers,  weil  am  Halse  und  ausser  der 
Zählung  stehend,  mit  ihm  besondere  eng  verbunden  seien,  eine  solche  be- 
sonders nahe  Verwandtschaft  auch  bei  den  Cfrosselterngeschwistern  annehmen. 
Selbst  wenn  also  etwas  derartiges  für  die  in  Ssp.  I 3 § 3 dargestellte  Pa- 
rentel bestimmt  wäre,  so  würde  es  doch  zu  den  Besonderheiten  der  gerade 
d&rgestellten  (in  diesem  Falle,  wo  eben  die  Geschwister  des  Erblassers  darin 
gefunden  würden,  der  zweiten)  Parentel  gehören  and  bei  der  analogen  An- 
wendung des  Bildes  auf  die  übrigen  Parcntelen  nicht  mit  übertragen  werden 
können. 


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46 


Sippe,  gezählt  wurde,  gerade  so  wie  die  folgenden,  so  ist 
vollends  kein  Grand  mehr  vorhanden  zu  der  Annahme,  dass 
Haupt  und  Hals  rechtlich  als  einander  besonders  nahestehend 
gegolten  haben.1) 

4)  Ueberall  und  nur,  wo  die  Erbrechtsregel  an- 
wendbar ist,  kann  das  Bild  angewendet  werden; 
Überall  und  nur,  wo  das  Bild  anwendbar  ist,  kann 
die  Regel  angewandt  werden.  „Diejenigen,  welche  sich 
zwischen  Nagel  und  Haupt  an  gleicher  Stelle  in  der  Sippe  ab- 
zuzählen vermögen,  die  nehmen  das  Erbe  gleich;  wer  sich  in 
der  Sippe  näher  abzuzählen  vermag,  der  nimmt  das  Erbe 
zuvor.“  Nicht  die  geringste  Andeutung  weder  in  der  Form 
noch  im  Zusammenhang  ist  uns  davon  gegeben , dass  man 
irgendwo  das  Gliederbild  anwenden  könnte,  wo  die  Regel  sich 
nicht  anwenden  Hesse  oder  umgekehrt.  Eine  Fassung  der 
Regel  wie  die  vorliegende  wäre  schlechterdings  undenkbar, 
wenn  nicht  die  Anwendungsgebiete  von  Regel  und  Bild  sich 
vollständig  deckten. 

Mit  Hülfe  dieser  Beobachtung  ergeben  sich  nun  über  die 
Anwendung  des  Bildes  weiter  folgende  Sätze: 

a)  Das  Bild  ist  nur  einmal  anwendbar;  nur  eine 
Stammelternschaft  kann  Haupt  sein,  nur  einer  Stammeltern- 
schaft Nachkommen  können  sich  an  der  GUederschablone  ab- 
zählen.*)  Wir  haben  schon  oben  S.  18  Note  2 gesehen,  dass  dies 
von  der  Erbrechtsregel  gilt.  Nur  eines  Stammelternpaares 
Nachkommenschaft  ist  uns  in  I 3 § 3 geschildert;  nur  im  An- 
schluss daran  ist  uns  die  Regel  gegeben ; von  einer  Konkurrenz 
von  Stammeltemsehaften  mit  ihren  Nachkommen  unter  einander 


*)  Es  braucht  kaum  noch  einmal  daran  erinnert  zu  werden,  dass  der 
in  den  beiden  ersten  Parentalen  sich  bemerkbar  machende  Unterschied  der 
ersten  Generation  von  den  übrigen  nur  ein  solcher  der  Bezeichnung  ist, 
Kinder  und  Geschwister  einerseits  stehen  Magen  andererseits  gegenüber. 
Dieser  Unterschied  ist  aber  an  dem  Bilde  nicht  zu  sehen,  Hals,  Schulter  etc. 
in  der  ersten  und  zweiten  Parentel  sind  nicht  anders  als  in  einer  hilhern. 
Darüber,  dass  der  Weglassung  gerade  des  Halses  im  Schwsp.  keine  tiefere 
Bedeutung  zukommt,  vgl.  Anhang  I. 

*)  Stammelternschaft  nicht  Stammvater  oder  Stammeltorn  sage  ich  des- 
halb, weil  beide  Eltern  des  Erblassers  in  der  zweiten,  beide  Grosseiternpaare 
in  der  dritten,  alle  vier  Urgrosselternpaare  in  der  vierten  Parentel  u.  s.  w. 
jeweilen  zusammen  ein  Haupt  bilden. 


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47 


ist  nicht  das  Geringste  angedentet,  die  ganze  Darstellung  setzt 
voraus,  dass  es  sich  immer  nur  um  eine  Stammelternschaft 
handeln  kann,  dass  nur  eine  solche  zum  Erbe  kommt.  Es 
liegt  durchaus  kein  Grund  vor,  mit  Wass.  in  unserer  Quelle 
eine  solche  Abnormität,  wie  es  die  gleichzeitige  Konkurrenz 
der  gleichen  Generationen  der  Nachkommenschaften  aller 
Stammelternschaften  wäre,  ausgesprochen  und  gefordert  zu 
finden.  Gerade  so  wie  mit  der  Kegel  verhält  es  sich  nun  na- 
türlich auch  mit  dem  Bilde,  nur  dass  bei  ihm  die  mehrmalige 
gleichzeitige  Anwendung  schon  durch  seine  Natur  ausgeschlossen 
ist,  denn  es  kann  doch  vernünftiger  Weise  nur  ein  Haupt 
geben.1)  Gewiss  wird  eine  mehrmalige  Anwendung  versucht 
werden ; mehrere  gleichzeitig  auftretende  Erbpraetendenten  ver- 
schiedener Stammelternschaften  werden  das  Bild  jeder  für  seine 
Stammelternschaft  anwenden,  aber  keiner  mit  dem  Gedanken, 
dass  mehrere  Anwendungen  zugleich  möglich  seien,  sondern 
jeder  mit  der  Behauptung,  dass  seine  Anwendung  die  allein 
richtige  sei.  Und  in  der  Tat  wird  vor  dem  Rechte  dann  auch 
nur  eine  bestehen. 

Herrscht  über  die  einmalige  Anwendung  des  Bildes  mehr 
oder  weniger  Uebereinstimmung,  so  kann  dies  nicht  gesagt 
werden  von  einer  andern  Frage,  die  man  übrigens,  wie  mir 
scheint,  sich  noch  nie  mit  erwünschter  Schärfe  und  Klarheit 
formuliert  hat,  sonst  wäre  sie  wohl  auch  schon  bestimmter 
beantwortet.  Es  ist  die  Frage:  Ist  das  Bild  nur  auf  eine 
Parentel,  oder  genauer  gesagt,  nur  auf  die  Angehörigen  einer 
Parentel  anwendbar,  oder  zugleich  auf  Angehörige  verschie- 
dener Parentelen? 

Diese  Frage  fällt  nämlich  mit  der  soeben  erörterten  keines- 
wegs zusammen.  Man  übersieht  das  gewöhnlich  u.  z.  nur 
deshalb,  weil  man  Parentel  und  das,  was  ich  bis  jetzt  die 
Nachkommenschaft  einer  Stammelternschaft  nannte,  als  gleich 
bedeutend  annimmt*)  Allein  es  ist  durchaus  nicht  zutreffend, 

')  Heusler  S.  601. 

*)  So  z.  B.  Schanz,  wenn  er  S.  33  sagt,  aus  Ssp.  I 3 § 3 gehe  hervor, 
dass  die  in  der  Parentel,  speziell  der  zweiten,  das  gleiche  Glied  innehaben- 
den Verwandten  als  Erben  konkurrieren.  Sieht  er  in  dem  Vorhergehenden  die 
Nachkommen  der  Eltern  des  Erblassers,  so  ist  das  eben  mehr  als  die  zweite 
Pareptel.  Genauer  ist  v.  Amira ; allein  der  Beweis,  den  er  (Rez.  3.  41)  für 


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wenn  man,  wie  dies  z.  B.  Blnntschli  (S.  390)  und  Stobbe  (P.  R. 
S.  71  und  72)  tut,  die  Parentel  im  technischen  Sinne,  im  Sinne  der 
Linealgradualordnuug  als  Erbfolgeordnung,  definiert  als  den 
Inbegriff  der  von  gemeinsamen  parentes  abstammenden  Ver- 
wandten. Vielmehr  bezeichnet  Parentel  im  Sinne  der  Pareu- 
telenordnung  den  Inbegriff  der  Nachkommen  einer 
Stammelternschaft  im  Verhältnis  zu  dieser  (erste  Pa- 
rentel) oder  zu  einem  aus  ihnen  selbst  (höhere  Parentelen). 
Nicht  alle  Nachkommen  der  beiden  Grosselternpaare  des  Erblassers 
bildeu  dessen  dritte  Parentel;  vielmehr  müssen  davon  ausge- 
nommen werden  einmal  die  beiden  Eltern  des  Erblassers  mit 
allen  ihren  Nachkommen  und  diese  zerfallen  wiederum  in  zwei 
Teile,  den  Erblasser  selbst  mit  seinen  Nachkommen,  welche  die 
erste  Parentel  bilden,  und  die  Eltern  mit  allen  übrigen  Nach- 
kommen, welche  die  zweite  Parentel  bilden.  Dass  man  diese 
einfache  Tatsache  nur  zu  oft  übersehen  hat,  hat  in  der  Litteratur 
über  die  sächsische  Erbfolgeordnung  sehr  verhängnisvolle 
Spuren  hinterlassen. 

Es  entsteht  also  die  Frage,  ob  das  Bild  auf  alle  Nach- 
kommenschaft ein  und  derselben  Stammelterngruppe  anwendbar 
sei,  die  ich  im  Folgenden  der  Kürze  halber  einfach  als  Nach- 
kommenschaft bezeichnen  will,  oder  nur  auf  einen  Teil  der- 
selben, die  Parentel  im  technischen  Sinne. 

Nun  haben  wir  aber  oben  S.  39  gesehen,  dass  die  Regel 
voraussetzt,  dass  das  Erbe  vom  Stammvater  kommt.  Dies  ist 
zunächst  und  eigentlich  der  Fall,  nur  wenn  der  Stammvater 
der  Erblasser  selbst  ist.  Wir  schlossen  demgemäss  daraus, 
dass  die  Sippe,  welche  uns  der  Anfang  von  I 3 § 3 darstellen 
will,  die  erste  Parentel  sei.  Dies  ist  die  einzige  Parentel, 
welche  alle  Nachkommen  eines  Stammelternpaares  umfasst,  auf 
welche  also  auch  die  ungenaue  Definition  der  Parentel  passt, 
oder  m.  a.  W.:  der  Stammvater  als  Erblasser  ist  der  einzige 
Stammvater,  welcher  lauter  Nachkommen  derselben  Parentel 
hat.  Bei  ihm  fallen  Nachkommenschaft  und  Parentel  zusammen. 

die  gleichzeitige  Anwendung  des  Bildes  auf  Angehörige  verschiedener  Pa- 
rentelen bringen  zu  können  glaubt,  ist  nicht  stichhaltig,  einmal  weil  die 
Interpretation  von  Ssp.  I 17  § 1,  auf  welcher  er  ruht,  wohl  nicht  haltbar 
int,  wie  wir  sehen  werden,  sodann,  weil  er  dae  im  Text  von  uns  Bemerkte 
zu  übersehen  scheint. 


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49 


Eben  darum  können  sich  auch  alle  seine  Nachkommen  an  dem 
Bilde  abstuppen;  aber  aus  demselben  Grunde  darf  man  daraus 
nicht  folgern,  dass  bei  der  weitern  Anwendung  des  Bildes  dies 
eben  so  sei,  dass  das  Bild  ein  Nachkommenschafts-  und  nicht 
ein  Parentelenbild  sei.  Der  erste  Teil  des  Paragraphen  kann 
nns  also  auf  unsere  Frage  keine  Antwort  geben;  wir  haben 
uns  umznsehen,  ob  wir  nicht  anderswoher  eine  solche  erlangen. 

b)  Das  Haupt  muss  stets  der  Erblasser  sein  oder 
wenigstens  für  seine  an  den  Gliedern  sich  abstuppenden  Nach- 
kommen den  Erblasser  vertreten.  Umgekehrt  kann  der 
Erblasser  in  dem  Gliederbilde  nie  eine  andere  Stelle 
einnehmen  als  das  Haupt.  Wir  haben  (s.  39)  gesehen, 
dass  das  Erbe  vom  Haupte  kommen  muss,  und  dass  dies  in 
erster  Linie  der  Fall  ist,  wenn  das  Haupt  mit  dem  Erblasser 
zusanunenfällt.  Allein  wir  dürfen  jener  allgemeinen  Voraus- 
setzung nicht  diese  enge  Formulierung  geben,  sonst  wären 
Begel  und  Bild  nur  auf  die  erste  Parentel  anwendbar,  nur 
diese  hätten  wir  dann  im  ersten  Teil  unseres  Paragraphen  zu 
finden.  Wir  haben  aber  schon  mehrmals  betont,  dass  Eike 
nicht  die  Absicht  haben  kann,  uns  bloss  eine,  bloss  die  erste 
Parentel,  bloss  ihr  Bild,  bloss  Regeln  über  die  Erbfolgeordnung 
unter  ihren  Angehörigen  zu  geben.  Die  dargestellte  Stamm- 
vaterschaft, das  Bild  und  die  Regel  müssen  analog  auch  ander- 
weitig anwendbar  sein.  Für  Bild  und  Regel  ergibt  sich  bei 
dieser  anderweitigen  Anwendung,  dass  nun  das  Haupt  und  der 
Stammvater,  nach  welchem  sich  das  „Gleich“  und  „Näher* 
bemisst,  und  von  welchem  das  Erbe  kommen  muss,  nicht  mehr 
der  Erblasser  selbst  sein  kann,  dass  er  aber  gegenüber 
denjenigen,  welche  nach  der  Regel  erben,  und  welche  sich  an 
den  Gliedern  abstuppen,  als  Erblasser  gelten,  den  Erblasser 
vertreten  muss.  Das  ist  jedoch  nie  möglich  für  den  Stamm- 
vater gegenüber  dem  Erblasser  und  gegenüber  dessen  zwischen 
dem  betreffenden  Stammvater  und  dem  Erblasser  stehenden 
Aszendenten.  Wie  kann  der  Erblasser  als  solcher  von  jemand 
anderem  sich  selbst  gegenüber  vertreten  werden?  Wie  kann  der 
betreffende  Stammvater  gegenüber  dem  Erblasser  und  seinen 
zwischen  den  beiden  liegenden  Vorfahren  als  Erblasser  gelten? 
Für  diese  kommt  ja  gar  kein  Erbe  von  ihm  herunter,  viel- 
mehr kommt  es  durch  sie  zu  ihm  herauf.  In  der  Tat  ist  es 

Stotz,  Yerwaadtachaftubilil  4 


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50 


auch  noch  niemandem  eingefallen,  die  Erbrechtsregel  hier  anzu- 
wenden, bei  der  Anwendung  der  Regel  schliesst  man  diejenigen 
Nachkommen  des  betreffenden  Stammvaters  stets  aus,  welche 
nicht  der  gleichen  Parentel  angehören  wie  dieser  selbst  und  wie 
alle  seine  übrigen  Nachkommen  mit  ihm.  Man  käme  ja  sonst 
zu  dem  absurden  Resultate,  dass  der  Grossvater  des  Erblassers 
dem  Vater  desselben  vorgienge,  weil  er  eben  einem  allen  ge- 
meinsamen Stammvater,  z.  B.  dem  Urgrossvater  des  Erblassers 
näher  steht.  Allein  was  von  der  Regel  gilt,  muss  nach  dem 
unter  4)  aufgestellten  leitenden  Prinzipe  auch  für  das  Bild 
gelten,  d.  h.  beide  sind  unanwendbar  für  diejenigen  Nach- 
kommen des  Stammvaters,  welche  einer  andern  Parentel  ange- 
hören; Regel  und  Bild  sind  also  nicht  anwendbar  auf  die 
Nachkommenschaft  als  solche,  auf  die  Parentel  im  weitern 
Sinne,  sondern  nur  auf  die  eigentliche  Parentel.  Dass  Gegner 
und  Anhänger  der  Parentelenordnung  das  in  gleicher  Weise 
übersehen,*)  wäre  verwunderlich,  wenn  es  nicht  so  leicht  er- 
klärlich wäre.  Hier  rächt  sich  eben  die  unrichtige  Annahme, 
dass  das  Bild  zweiarmig  sei;  offenbar  hat  man  sich  stets  vor- 
gestellt, dass  der  eine  Arm  den  das  Haupt  bildenden  Stamm- 
vater mit  dem  Erblasser  verbinde,  während  der  andere  Arm 
den  übrigen  Nachkommen  des  Stammvaters  zum  „Abstuppen“ 
dienen  sollte.  Wir  haben  schon  oben  gesehen,  dass  der  Ssp. 
nur  einen  Arm  als  Bild  verwendet,  und  diese  Gliederschablone 
ist  nach  dem  Bisherigen  nicht  für  alle  die  Personen  anwendbar, 
welche  die  communis  opinio  an  die  beiden  Arme  zu  setzen 


l)  Dies  gilt  auch  von  Homeyer.  Wenn  derselbe  S.  8 und  10  ansführt, 
das  Bild  sei  nur  auf  eine  Parentel  anwendbar,  so  zeigt  doch  seine  ganze 
Argumentation,  dass  auch  er  Parentel  dabei  mit  Nachkommenschaft  ein  und 
desselben  Stammvaters  identifiziert.  Er  führt  an  seiner  Zeichnung  aus,  dass 
man  nicht  zwei  Bilder,  eines  vom  Grossvater  und  eines  vom  Vater  aus  ver- 
wenden könne,  und  dass  man  ebenso  wenig  an  einem  einzigen,  vom  Gross- 
vater ausgehenden  Bilde  z.  B.  einen  Neffen  des  Erblassers  abzählen  könne. 
Allein  nicht  nur  weiss  er  keinen  Grund  dafür  anzuführen.  sondern  er  denkt 
sich  offenbar  den  Erblasser  und  dessen  Vater  auch  an  den  Gliedern  des 
Bildes  befindlich,  nur,  sobald  nicht  die  erste  Generation  uach  dem  Stamm- 
vater, also  der  Hals,  in  Betracht  kommt,  nicht  an  den  Gliedern  derselben 
Körperseite  wie  die  Seitenverwandten. 

Uebrigens  nimmt  auch  Heasler  S.  600  an,  dass  „Sippe“  die  Gesamtheit 
der  vom  gleichen  Elternpaar  abstammenden  Personen  bezeichnet. 


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pflegt,  sondern  entspricht  nur  demjenigen,  welcher  „die  andern 
Nachkommen“,  welcher  die  Parentel  des  Stammvaters  enthält. 
Somit  gelangen  wir  zu  dem  dritten  Satze: 

c)  Das  Bild  ist  in  seiner  eigentlichsten  Verwen- 
dung nur  anwendbar  auf  die  absteigende  Linie,  niemals 
auf  die  aufsteigende,  und  auf  diejenigen  Verwandten,  welche 
das  römische  und  moderne  Recht  Seitenverwandte  nennt, 
nur  durch  deren  Auffassung  oder  Umstempelung  als  ab- 
steigende Linien  von  Vertretern  der  Ausgangsperson.  Das 
Mass,  mit  welchem  die  sächsische  Verwandtschaft  gemessen 
wird,  und  die  Regel,  wonach  die  Sachsen  erben,  ist  ein  Deszen- 
dentenmass  und  eine  Deszendentenerbrechtsregel. 

Die  Unanwendbarkeit  des  Bildes  auf  Angehörige  verschie- 
dener Parentelen  und  auf  die  Aszendentenlinie  entscheidet  nun 


vor  Allem  gegen  die  Theorieen  von  v.  Amira  und  Schanz,  welche 
von  der  gegenteiligen  Voraussetzung  ausgehen.  Für  sie  erklärt 
die  Anwendung  des  Bildes  auf  alle  Nachkommen  eines  Stamm- 
vaters einmal  die  Abgrenzung  des  engem  Erbenkreises  vom 
weitern,  v.  Amira  argumentiert  (E.  S.  131)  folgendermassen : 
„Des  Erblasser  Bruder  (G)  steht  ebenso 
H - wie  der  Erblasser  (A)  seinem  Vater  (D) 

ß am  Halse,  des  Erblassers  Sohn  (B)  aber 

ihm  selbst  am  Halse,  oder  m.  a,  W.  Bruder 
* J und  Sohn  des  Erblassers  sind  zu  diesem 
B im  ersten  Grade  kanonischer  Komputation 

c verwandt“  •)  u.  s.  w.  „War  demnach  das 

Verwandtschaftsbild  in  Ssp.  I 3 § 3 auf 
alle  möglichen  „Parentelen“  zugleich  anwendbar,  so  lag  für 
Eike  die  Notwendigkeit  vor,  die  Erbenordnung  in  I 17  § 1 in 
der  Art  abzufassen,  dass  er  Kinder,  Eltern  und  Geschwister 
namentlich  aufzählte.  Denn  die  gemeinschaftliche  Succession 
der  an  Hals  und  Haupt  oder  im  ersten  Grade  kanonischer 
Komputation  stehenden  Magen  sollte  ausgeschlossen  sein.“2) 


*)  t.  Amira,  (Recht  8.  137  nml  138)  „Im  engeren  Kreise  standen  jeden- 
falls dem  nämlichen  Mitglied  dessen  Kinder  und  Eltern,  nach  einigen  Hechten 
aber  anch  dessen  Geschwister  gleich  nahe  ....  Sollte  in  diesem  eine  Rang- 
ordnung dnrehgeführt  werden,  so  konnte  es  nur  durch  namentliche  Angabe 
der  einzelnen  Verwandten  in  ihrer  Reihenfolge  geschehen.“ 

*)  Ich  habe  absichtlich  die  Ausführungen  v.  Amira’s  wiirtlich  wieder- 

4“ 


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52 


Nicht  minder  unhaltbar  als  diese  Abgrenzung  der  Erben- 
kreise wird  dadurch,  dass  eben  auf  die  Linie  A — E das  Bild 
unanwendbar  ist,  die  Komputation  von  v.  Amira  und  Schanz 
und  ihre  darauf  sich  bauende  Erbfolgeordnung. 

v.  Amira  komputiert  folgendennassen : *)  Kinder  (B)  und 
Eltern  (D)  des  Erblassers  (A)  (ein  Hals)  sind  dem  Erblasser 
allerdings  näher  verwandt  als  seine  Geschwister  (G)  (zwei 
Hälse);  ferner  die  Enkel  (C)  und  Grosseltern  (E)  (beide  ein 
Hals  und  ein  Glied)  stehen  zwar  den  soeben  genannten  Voll- 
geschwistem  (G)  (zwei  Hälse  und  kein  Glied)  nach,  aber  den 
Kindern  der  Vollgeschwister  (H)  und  den  Eltern  Vollgeschwistern 
(F)  (zwei  Hälse  und  ein  Glied)  gehen  sie  vor. 

Während  diese  Komputation  von  der  Voraussetzung  aus- 
geht, dass  der  Hals  nur  den  Wert  eines  halben  Gliedes  habe, 


gegeben.  Sollte  das  in  freierer  Weise  geschehen,  so  würde  ich  wie  Schanz 
S.  17  dieselben  so  auffassen,  dass  prinzipiell  Kinder,  Eltern  nnd  Geschwister 
des  Erblassers  diesem  gleich  nahe  stehen,  ihm  gleich  nahe  verwandt  sind,  also 
auch  prinzipiell  zusammen  erben.  Der  engere  Erhenkreis  würde  also  aus 
solchen  bestehen,  welche  prinzipiell  zusammen,  und  nur  nach  positiver  Be- 
stimmung nacheinander  erben.  Allein  gegen  eine  solche  Auffassung  hat 
sich  v.  Amira  Rez.  S.  42  verwahrt  unter  Hinweis  auf  E.  S.  133,  woraus  her- 
vorgehe, dass  er  nicht  der  Ansicht  sein  kllnne,  alle  Verwandten  des  ersten 
kanonischen  Grades  seien  gleich  nah  verwandt,  vielmehr  gebe  es  unter  diesen 
Nttanceu.  Jedoch  abgesehen  davon,  dass  ich  den  Unterschied  von  „Gleich 
nahe  stehen“  und  „Gleich  verwandt  sein“  nicht  recht  einsehc,  and  dass  die 
Argumentation  v.  Amira's  eine  solche  Gleichheit  als  Zwischenglied  zu  fordern 
scheint,  so  ist  mir  dieses  Her-  und  Hiniiberspielen  von  der  kanonischen  zur 
nationalen  Komputation  nicht  recht  verständlich.  Entweder  ist,  wie  mir 
scheint,  massgebend  die  kanonische;  dann  entsteht,  weil  sie  wegen  der  Zn- 
sammenziehung  beider  Linien  etwas  stumpfer  ist,  eine  Gleichheit  von  Kindern, 
Eltern  und  Geschwistern  gegenüber  dem  Erblasser,  und  dann  ist  eine  positive 
Regelung  der  Rangordnung  unter  denselben  nötig..  Oder  es  ist  die  v.  Amira 
angenommene  nationale  Gliederkomputation  massgebend;  dann  erscheinen 
eben  nicht  alle,  welche  nach  der  kanonischen  Komputation  gleichverwandt 
sind,  als  solche,  and  die  Erbfolgeordnung,  wenigstens  der  Geschwister,  rich- 
tet sich  nicht  nach  positiver  Bestimmung,  sondern  nach  ihrer  Verwandt- 
schaftsnähe.  Die  prinzipielle  Gleichheit  könnte  also,  immer  voraasgesetzt, 
dass  ich  v.  Amira  nicht  missverstehe,  nicht  das  Kriterium  aller  im  engem 
Erbenkreise  stehenden  Verwandten  des  Erblassers  sein.  Uebrigcns  ist  die 
Frage  für  uns  gleichgültig,  da  immer,  wie  man  sie  auch  entscheidet,  eine 
unmögliche  Anwendung  des  Bildes  vorliegt. 

>)  Rez.  S.  43. 


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gelangt  Schanz  zu  einer  etwas  andern  Komputation, ')  auf  Grund 
der  Voraussetzung,  dass  die  „Hälse“  gar  nicht  zählen,  eine 
Voraussetzung,  welche  allerdings  dem  oben  S.  45  sub  3 
gefundenen  Prinzipe  nicht  weniger  widerspricht  als  diejenige 
von  v.  Amira.  Schanz  ist  also  z.  B.  der  Ansicht,  dass  Voll- 
geschwisterkinder (H;  ein  Glied,  weil  die  Hälse  D A und  D G 
nicht  gerechnet  werden),  die  Eltern vollgeschwister  (F;  ein 
Glied,  denn  die  Hälse  E D nnd  E F fallen  weg)  und  Gross- 
eltern (E;  ein  Glied,  der  Hals  E D wird  nicht  berücksichtigt) 
gleich  nahe  verwandt  sein.*)  Uebrigens  gibt  v.  Amira  (Rez. 
S.  43)  Schanz  zu,  dass  seine  Komputation  die  richtige  sein  könne. 

Nicht  weniger  aber  als  zu  diesen  antiparentelistischen 
Theorieen  treten  wir  mit  den  oben  über  das  Bild  aufgestellten 
Sätzen  in  Gegensatz  zu  den  Ausführungen  Heuslers,  mit  welchen 
wir  in  dem  Gesamtresultate  übereinstimmen.  Freilich  betrifft 
dieser  Gegensatz  nicht  die  Anwendung  der  Regel.  Heusler 
gibt  (S.  594  Note  12)  eine  Tafel  der  Verwandtschaft  nach  unserer 
Stelle.  Er  nennt  den  Erblasser  h,  dessen  Vater  g,  dessen 
Grossvater  f u.  s.  w.  bis  zum  siebenten  Vorfahren  des  Erblassers, 
den  er  mit  a bezeichnet.  Von  den  sieben  Vorfahren  gehen  nun 
sieben  Linien  Nachkommen  ans;  dieselben  enthalten  also  stets  die 
Nachkommenschaft  des  betreffenden  Vorfahren  mit  Ausnahme 
derjenigen  Personen,  welche  von  ihm  abstammen,  aber  auf  der 
geraden  Linie  unterhalb  ihm  nach  dem  Erblasser  hin,  oder  dann 
auf  einer  von  solchen  unterhalb  stehenden  Personen  ausgehenden 
Linie  liegen;  m.  a.  W.  jede  der  Linien  enthält  das,  was  wir 
oben  S.  48  als  Parentel  im  technischen  Sinne  bezeichnet 
haben.  Nur  auf  diese  Linien,  nnr  auf  Angehörige  derselben 
Parentel,  wendet  nun  auch  Heusler  offenbar  die  Regel:  „Die 
tvischen“  u.  s.  w.  an.3)  Nicht  dasselbe  tut  er  bei  dem  Bilde; 
dieses  verwendet  er  auch  für  die  aufsteigende  Linie.  Der 
siebente  Vorfahr  erhält  nach  ihm  das  Haupt,  der  sechste  den 
Hals,  der  fünfte  die  Schulter  u.  s.  w.,  den  Erblasser  setzt  er 
auf  das  dritte  Mittelfingerglied  ;4)  an  den  Gliedern  des  Bildes 

‘)  S.  50  f. 

*)  Vgl.  Schanz  S.  53. 

•)  Vgl.  die  Bemerknngen  Henslers  zn  Note  12  S.  594  nnd  S.  601,  am 
letzten»  Orte  trotz  der  unmittelbar  vorhergehenden  weitern  Definition  von  Sippe. 

4)  So  in  der  Tafel;  S.  600  dagegen  auf  die  Fingerspitze. 


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stehen  in  diesem  Falie  Angehörige  lauter  verschiedener,  ja 
aller  Parentelen.  Zu  dieser  Anwendung  des  Bildes  scheint, 
wenn  ich  recht  sehe,  Heusler  zweierlei  bewogen  zu  haben,  ein- 
mal die  Ausdehnung  der  in  I 3 § 3 dargestellten  Nachkommen- 
schaft, sodann  die  Vorstellung  von  der  Zweiarmigkeit  des  Bildes. 
„Um  den  weitesten  Umfang  der  Verwandtschaft  und  damit  die 
äusserste  Grenze  der  Erbberechtigung  darzustelleu,  musste  Eike 
zu  dem  siebenten  Knie  (Stammvater)  von  dem  Erblasser  auf- 
wärts zurückgehen;  in  der  von  diesem  auslaufenden  Sippe  ist  alle 
Verwandtschaft  eingeschlossen.“1)  Allein  weil  Eike  nur  ein 
einarmiges  Bild  kennt,  kann  er  an  ein  Einschlüssen  nicht  gedacht 
haben,  kann  es  von  ihm  nicht  beabsichtigt  sein,  den  äussersteu 
Rahmen*)  der  Verwandtschaft  in  der  von  Heusler  angenommenen 
Weise  zu  geben.  Vielmehr  bezeichnet  er  nur  die  untere,  nicht 
die  obere  Grenze  der  Verwandtschaft,  weil,  wie  wir  oben  S.  42 
sahen,  mit  jener  diese  gegeben  ist;  eine  Seitengrenze  hat  er 
nicht  zu  bezeichnen,  weil  es  eben  in  der  Verwandtschafts- 
gliederung nur  ein  Oben  und  ein  Unten  gibt.  Die  Annahme 
femer,  dass  die  höchste  Stammvaterschaft  dargestellt  sei,  ist 
unmöglich,  weil  man  sonst  den  Erblasser  an  das  untere  Ende 
derselben  setzen  muss.  Dies  wiederum  ist  eben  unzulässig, 
weil  nicht  nur  die  Darstellung  in  der  ersten  Hälfte  des  Para- 
graphen es  wahrscheinlich  macht,  sondern  auch  die  auf  sie  in 
erster  Linie  zu  beziehende  Regel  es  absolut  fordert,  dass  das 
Erbe  von  oben,  vom  Stammvater  her  kommt.3)  In  der  Tat 
lässt  sich  denn  auch  die  Ausdehnung  der  vorgeführten  Sippe 
in  anderer  Weise  befriedigend  erklären.4)  Es  besteht  also  kein 
Grund,  das  Bild  auch  auf  die  Aszendentenlinien  anzuwenden, 
um  so  weniger,  als,  wie  mir  scheint,  das  Bild  auch  bei  Heusler 
in  diesem  Falle  ganz  ohne  Bedeutung  ist.  Denn  seinen  beiden 
Zwecken,  der  Regelung  der  Erbenfolge  einerseits  und  der  Be- 
rechnung der  Verwandtschaft  andererseits,  kann  es  hier  nicht 
dienen ; im  ersteren  Falle  würde  dies  zu  den  S.  50  angedeuteten 
widersinnigen  Ergebnissen  führen,  aber  auch  das  letztere  schliesst 

»)  S.  600. 

«)  S.  593  Note  12. 

*)  Über  eine  andere  Schwierigkeit,  welche  die  Henslerschc  Annahme 
der  höchsten  Parentel  verursacht,  siehe  S.  41  Note  1. 

4)  oben  S.  40 


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55 


Hensler  (S.  589)  selbst  treffend  aus,  wenn  er  sagt,  ein  Kind 
begründe  seine  Verwandtschaft  mit  dem  Grossvater  nicht  damit, 
dass  beide  von  dem  Urgrossvater  abstammen. 

ln  welcher  Weise  nun  bei  den  Sachsen  die  Verwandtschaft 
berechnet  und  die  Erbenfolge  geregelt  wurde,  dürfte  nach  alle 
dem,  was  wir  über  das  Bild  und  die  Regel  gefunden  haben, 
nicht  mehr  zweifelhaft  sein.  Die  Verwandten  und  die  Erb- 
berechtigten zerfielen  in  Parentelen  oder  Sippen,  welche  dar- 
gestellt wurden  durch  die  Gliederschablonen.  Handelte  es  sich 
dämm,  den  nächsten  Verwandten  oder  die  Erbberechtigten 
überhaupt  zu  ermitteln,  so  wurde  das  Bild  und  die  korrespon- 
dierende Regel  nur  einmal  angewendet,  m.  a.  W.:  Bild  und 
Regel  dienten  nur  dazu,  die  Nähe  und  die  Erbberechtigung 
innerhalb  der  Sippe  oder  Parentel  zu  bestimmen  und  auch  dies 
nur  für  die  Nachkommen  des  Elternpaares,  welches  das  Haupt 
bildet.  Denn  die  Zählung  der  Sippe  beginnt  erst  mit 
der  ersten  Generation  von  Nachkommen,  und  die  Regel 
gilt  nur  für  diejenigen,  welche  zwischen  Haupt  und  Nagel 
stehen,  also  nicht  für  das  Haupt.  Das  Parentelenhaupt 
erbt  also  bei  den  Sachsen  nicht  als  erstes  Parentelen- 
glied. *) 

Fragen  wir  nun,  wie  die  Verwandtschaftsnähe  unter  den 
Aszendenten  berechnet  wurde,  wie  die  Aszendenten  erbten,  und 
in  welcher  Reihenfolge  die  Sippen  oder  Parentelen  auf  einander 
folgten,  so  erhalten  wir  für  die  Beantwortung  dieser  Frage 
nur  einen,  allerdings  hinreichenden  Anhaltspunkt.  Weil  der 
Stammvater  zwar  nicht  in  der  Sippe  gezählt,  aber  doch  in  die 
Sippe  hineingezogen  ist,  weil  auch  er  einen  Teil  des  Bildes 
einnimmt,  so  ist,  da  Sippe  und  Bild  bei  der  Ermittelung  des 
nächsten  Verwandten  bezw.  der  Erben  nur  einmal  zur  Ver- 
wendung kommen,  auch  nur  ein  Stammvater  (bezw.  eine 
Stammelternschaft)  dem  Erblasser  gleich  nahe  verwandt,  d.  h.  es 
können  nicht  alle  Aszendenten  dem  Erblasser  gleich  nahe  stehen, 
es  können  nicht  alle  zugleich  sein  Erbe  erhalten,  sondern  nur 
einer,  nämlich  derjenige,  welcher  in  der  allein  antretenden  Sippe 


*)  Anders  bei  den  Langobarden.  Sie  zählten  den  Stammvater  als  erstes 
Parentelenglied,  and  demgemäss  müsste  nnch  die  Regel  bei  ihnen  gelautet 
haben:  Diejenigen,  welche  vom  Haupte  an  bis  vor  den  Nagel  u.  s.  w. 


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und  in  dem  allein  angewandten  Bilde  Ursprung  und  Haupt  bildet. 
Nur  tut  er  das,  wenigstens  äusserlich,1)  nicht  wie  die  anderen 
Sippegenossen,  nicht  nach  Zahl  und  Entfernung ; vielmehr  wird 
das  Erbe  ihm  übertragen ; wenn  er  lebt,  lässt  er  es  nicht  weiter 
gehen,  es  tritt,  möchte  ich  sagen,  dann  für  die  höhern  Stamm- 
väter und  für  seine  eigenen  Parentelenglieder  gewissennassen 
gar  kein  Erbfall  ein,  es  ist  für  sie  gar  kein  Erblasser  da. 

Kann  es  sich  also  stets  nnr  um  einen  Stammvater  han- 
deln, ist  eine  Konkurrenz  aller  ausgeschlossen,  so  liegt  nun  die 
Entscheidung  über  die  Reihenfolge  unter  den  Aszendenten  und 
damit  unter  den  Parentelen,  sowie  die  Bezeichnung  ihrer  Ent- 
fernung auf  der  Hand;  es  ist  eben  so  selbstverständlich,  dass 
die  Eltern  des  Erblassers  (und  ihre  Parentel)  den  Grosseltern, 
diese  den  Urgrosseltern  u.  s.  w.  Vorgehen,  dass  es  gar  nicht 
gesagt  zu  werden  braucht.  Es  ergibt  sich  also  für  den  Fall, 
dass  ein  Erblasser  ohne  Angehörige  der  ersten  Parentel  zu 
hinterlassen  gestorben  ist,  folgende  Tafel  von  Verwandten  und 
Erbberechtigten : 


A ist  der  Erblasser,  A\ 
A8,  As  sind  seine  Aszenden- 
ten, deren  Nachkommen,  so- 
weit sie  ein  und  dieselbe 
Parentel  oder  Sippe  bilden, 
durch  die  Linien  Al  Hl,  A8 
H8  u.  s.  w.  dargestellt  sind. 
Alle  mit  einer  Sieben  oder 
, mit  H bezeichneten  Personen 

5 c y 

J?  V bilden  die  äussersten  Ver- 

wandten des  A;  der  letzte 
Erbberechtigte  ist  H7.  Al  H1  ist  die  zweite  Parentel;  die 
arabischen  Zahlen  zeigen  in  ihr  die  Sippezahl,  die  römischen 
die  Magenzahl  an.  Ganz  ebenso  würde  die  erste  Parentel  sich 


*)  Dass  seinem  Wesen  nach  das  Erbrecht  des  Stammvaters  dem  der 
Parentelenglieder  nicht  gleich  gewesen  sei,  will  ich  deswegen  gar  nicht  be- 
hanpten.  Diese  Sonderstellung  des  Hauptes  ist  eben  nur  eine  Folge  der 
Zählung  und  der  Formulierung  der  Regel,  also  von  Umständen,  die  eben 
mehr  oder  weniger  Aeusseriichkeiten  sind.  Bei  den  Langobarden  z.  B.,  wo 
der  Stammvater  mitgezählt  wurde,  stellte  sich  jedenfalls  sein  Erbrecht  auch 
äusserlich  als  demjenigen  seiner  Sippegenossen  ganz  gleich  dar. 


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57 


gliedern.  Soll  nun  der  nächst«  Verwandt«  oder  der  Erb- 
berechtigte bestimmt  werden,  so  kann  die  Gliederschablone  an 
sich  auf  jedes  A als  Haupt  gelegt  werden,  auf  alle  die  Linien 
A H wäre  an  sich  das  Gliederbild  anwendbar,  jedes  B könnte 
an  sich  Hals,  jedes  C Schulter  sein  u.  s.  w.  Weil  aber  nur 
einmal  die  Schablone  zur  Anwendung  kommt,  nur  ein  Haupt 
von  dem  Rechte  in  einem  solchen  Falle  anerkannt  wird,  er- 
folgt die  Benutzung  der  Schablone  in  der  Weise,  dass  man 
zuerst  versucht  sie  bei  A anzulegen.  Ein  Haupt  ist  hier  aber 
eben  nicht  mehr  vorhanden,  die  Glieder  fehlen  ebenfalls  bei 
der  oben  gemachten  Voraussetzung,  hier  ist  also  keine  Ver- 
wendung der  Schablone  möglich.  Dieselbe  wird  nun  nach 
A1  gerückt,  lebt  dort  das  Haupt  nicht  mehr,  und  finden  sich 
keine  Glieder,  so  rückt  man  nach  A*  n.  s.  w.  So  nach  der 
Tafel.  Im  Leben  machte  sich  das  wohl  folgendennassen : Starb  ein 
Sachse  und  traten  mehrere  Erbpraetendenten  auf,  so  waren 
zwei  Fälle  möglich.  Entweder  sie  gehörten  derselben  Parentel 
an  und  nannten  als  ihnen  mit  dem  Erblasser  gemeinschaftlich 
entweder  denselben  Stammvater  oder  wenigstens  Stammväter 
derselben  Aszendentenstufe  des  Erblassers,  wobei  sie  den 
Stammvater  mit  Namen  und  unter  Angabe  seines  Verwandt- 
schaftsverhältnisses zum  Erblasser  bezeichnet  haben  werden. 
Danu  gieng  unter  ihnen  das  Abstuppen  los,  jeder  begann  nuu, 
den  Stammvater  in  sein  Haupt  setzend,  sich  an  einer  seiner 
Seiten  abzuzählen.  Wer  am  höheren  Gliede  stand,  erbte  allein, 
diejenigen,  welche  an  demselben  Gliede  standen,  erbten  zu- 
sammen (oben  S.  44).  Nannten  sie  Stammväter  verschiedener 
Aszendentenstufen  des  Erblassers,  gehörten  sie  also  verschie- 
denen Parentelen  an,  so  war  eigentlich  das  Abstuppen  nicht 
notwendig;  es  hatte,  wenn  es  doch  geschah,  nicht  mehr  Wert, 
als  wenn  ein  Beweis,  dessen  Resultatlosigkeit  schon  in  seinem 
Verlaufe  erkannt  wird,  doch  zu  Ende  geführt  wird.  Mass- 
gebend war  in  solchen  Fällen  allein  der  Stammvater;  ob  der- 
selbe der  Vater  oder  Eltervater  war,1)  darauf  kam  es  an. 
Jedenfalls  aber,  und  das  mag  noch  einmal  betont  werden,  er- 

')  Wie  man  sich  bei  den  hohem  Stammvätern,  für  welche  Namen  fehlten, 
geholfen  hat,  mochte  die  noch  nnten  zu  erwähnende  langobardische  Formel 
(bei  LBrsch  und  Schröder,  Urkunden  etc.  2.  Aufl.  N.  96)  zeigen.  Man  sprach 
von  dem  Eltervater  de«  Eltervaters  des  Erblassers  u.  dgL 


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58 


folgte  die  Ermittlung  nicht  in  der  Weise,  wie  man  jetzt  gewöhn- 
lich anzunehmen  scheint,  dass  man  nämlich  sagte,  der  Erblasser 
stehe  dem  gemeinsamen  Stammvater  z.  B.  am  Ellenbogen,  man 
stehe  selbst  am  Handgelenk  oder,  bei  gleicher  Generationen- 
zahl, man  stehe  mit  dem  Erblasser  z.  B.  an  den  Ellenbogen 
des  gemeinsamen  Stammvaters. 

Ob  neben  der  Verwandtschaftsberechnung  mit  Namen  und 
Bild  in  Sachsen  auch  eine  solche  durch  Zahl  üblich  war,  ist 
aus  dem  Ssp.  nicht  ersichtlich,1)  aber  wohl  möglich.  Bei  der 
Berechnung  mit  Zahlen  sind  noch  folgende  Modifikationen  denk- 
bar, welche  zwar  eben  im  Ssp.  nicht  normiert  sein  können, 
die  ich  aber  doch  kurz  erwähnen  möchte,  weil  die  übrigen 
ältern  Rechtsdenkmiller,  welche  in  Zalilen  rechnen,  sie  haben, 
und  es  mir  daran  liegt,  zu  zeigen,  dass  sich  die  Zählung  jener 
wohl  mit  derjenigen  verträgt,  welche  wir  im  Ssp.  finden. 

Ist  die  Zahl  der  Zeugungen  nach  dem  Erblasser  und  nach 
dem  Praetendenten  hin  gleich,  so  genügt  bei  Zahlenberechnung 
eine  einzige  Zahl;  z.  B.  soll  in  unserer  oben  gegebenen  Tafel 
die  Verwandtschaft  von  Ca  mit  A berechnet  werden,  so  braucht 
man  nicht  beide  Linien  anzugeben,  also  zu  sagen  C»  ist  mit 
A verwandt  2 : 2,  wie  man  dies  tut,  wenn  man  bei  der  anderen 
Berechnung  den  Stammvater  in  seinem  Verhältnis  zum  Erb- 
lasser sowie  das  Glied  angibt;  man  kann  vielmehr  einfach 
sagen,  A und  Ca  seien  im  zweiten  Grade  verwandt,  wobei 
man  nun,  statt  Al  und  B8  und  A und  C*  gesondert  auf  den 
beiden  verschiedenen  Linien  zu  zählen,  sie  zusammen  als  Gene- 
ration zählt.  Dies  ist  kanonische  Komputation,  sie  ist  vor 
Allem  eben  da  möglich,  wo  der  verschiedene  Wert  der  beiden 
Linien  nicht  in  Betracht  kommt,  wie  natürlich  bei  der  Frage,  ob 
zwei  Personen  sich  heiraten  dürfen;  hier  ist  die  Entfernung 
allein  massgebend.  Sobald  aber  die  Zahl  der  Zeugungen  nicht 
gleich  ist,  sobald  die  Linien  verschieden  sind,  zeigt  sich  wieder 
deutlich,  dass  beide  Linien  gezählt  werden,  denn  alsdann  gibt 
das  ältere  kanonische  Recht  ebenfalls  zwei  Zahlen.  Darum 
bestimmt  auch  das  cdictum  Rotharis  c.  153,  dass  der  Erb- 


')  Ich  denke  natürlich  nicht  an  den  Fall,  das»  man  filr  das  Glied  die 
Sippe  angibt,  z.  B.  statt  „Schulter“  die  „zweite  Sippe,“  sondern  an  die  reine 
Zahlenberechnung,  wo  auch  die  Aszendentenlinie  in  Zahlen  ausgedrückt  wird. 


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59 


praetendent  die  Namen  nicht  nur  seiner,  sondern  auch  der 
Vorfahren  des  Erblassen)  angeben  müsse.1) 

Nur  eine  weitere  Anwendung  des  oben  Gesagten  ist  es, 
wenn  für  zwei  Erbpraeteudenten,  für  welche  beide  die  Zahl 
der  Zeugungen  von  den  ihnen  mit  dem  Erblasser  gemein- 
schaftlichen Stammvätern  nach  dem  Erblasser  und  nach  ihnen 
hin  gleich  ist,  die  Verwandtschaft  durch  zwei  statt  durch  vier 
Zahlen  angegeben  wird.*) 

Erwähnen  wir  endlich  noch  einmal,  dass  nach  dem  Ssp. 
Halbgeburt,  in  der  Sippe  ein  Glied  zurücksetzt,5)  und  dass 
mehl-fache  Verwandtschaft  nicht  beachtet  wird,4)  so  dürfte 
wohl  der  Inhalt  des  Paragraphen  erschöpft  sein.  Wir  ge- 
langen somit  zu  dem  Schlüsse: 

Unter  allen  von  der  Wissenschaft  aufgestellten 
Erbfolgeordnungen  entspricht  die  Linealgradual- 
oder  Parentelenordnung  allein  dem  Rechtszustande, 
welchen  Ssp.  I 3 § 3 uns  überliefert;  ob  sie  das  Prinzip, 
welches  der  sächsischen  Erbfolgeordnung  zu  Grunde  liegt, 
richtig  trifft,5)  oder  ob  sie  nur  äusserlich,  im  Erfolge,  mit 


')  So  nach  der  richtigen  Interpretation,  welche  das  „unicuique*  nicht 
Ubersieht,  wie  cs  Wass.  getan  hat.  Vgl.  statt  aller  andern  Heusler  S.  590 
N 8,  Schröder  R.  G.  8.  824.  N.  424.  Die  Berücksichtigung  beider  Linien  betont 
namentlich  v.  Amira  £.  8.  49;  sie  findet  im  Ssp.,  der  einzigen  filtern  Quelle, 
welche  die  Verwandtschaft  nicht  mit  Zahlen  berechnet,  ihre  Bestätigung. 

’)  So  in  der  schon  erwähnten  langobardischen  Formel,  vgl.  Anhang  III. 

*)  Nicht  nur  in  der  zweiten  Parentel  wie  Wass.  (8.  O.  S.  61),  Siegel 
(Rez.  8.  26)  annimmt;  dagegen  entscheidet  der  von  Schanz  (S.  52)  angeführte 
Grund. 

*)  Der  Grund  ist  leicht  einzusehen.  Er  liegt  in  der  sächsischen  Ver- 
wandtschaftsbcrcchnung,  welche  mehrfache  Verwandtschaft  nicht  zum  Aus- 
druck bringen  kann.  Stirbt  das  einzige  Kind  eines  der  Brüder,  welche  die 
zwei  Schwestern  geheiratet  haben,  bo  kommt  es  als  Erblasser  in  unserer 
Tafel  an  die  Stelle  von  A zu  stehen.  Bei  C*  stehen  nun  seine  Vettern, 
z.  ß.  einer,  welcher  von  dem  andern  Bruder  abstammt,  der  eine  der  beiden 
Schwestern  geheiratet  hat,  und  ein  Sohn  dessen,  welcher  ein  fremdes  Weib 
nahm.  Die  beiden  unterscheiden  sich  dadurch,  dass  der  letztere  bei  A’  nur 
den  väterlichen  Grossvater,  der  erstere  auch  den  mütterlichen  mit  A gemein- 
sam hat.  Allein  das  nutzt  diesem  nichts,  alle  bei  A’  stehenden  Personen 
bilden  ein  Haupt,  wie  der  bloss  einfach  verwandte  kann  er  sich  nur  ein  mal 
abstuppen. 

»)  Vgl.  Heusler  S.  597. 


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60 


dieser  übereinstinimt,  kann  nach  der  Quelle  kaum  entschieden 
werden,  weil  dem  Verfasser  des  Sachsenspiegels  eben  eine 
wissenschaftliche  Erkenntnis  seines  Rechtes  abgeht,  er  also 
auch  hier  nicht  das  Prinzip,  das  Wesen  der  Erbfolgeordnung, 
sondern  nur  diese  selbst  dar  stellen  kann  und  will.  Für  eine 
innere  Uebereinstimmung  möchte  aber  der  Umstand  sprechen, 
dass  das  Gliederbild,  gewiss  nicht  ein  Produkt  Eikes  sondern 
des  Volksgeistes , genau  der  Parentel  der  modernen  Theorie 
entspricht,  welche  also  schon  von  dem  unbewusst  schaffenden 
Geiste  der  das  Recht  erzeugenden  Faktoren  als  Grundelement 
der  Verwaudtschaftsgliederung  und  Erbfolgeordnung  aufgefasst 
worden  zu  sein  scheint. 


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B.  Sachsenspiegel  Landr.,  1 17  § 1. 

Stirft  die  man  ane  kint,  sin  vader  nimt  sin  erve;  ne 
hevet  he  des  vader  nicht,  it  nimt  sin  rander  mit  mereme  rechte 
dan  sin  bruder.  Vader  unde  müder,  allster  unde  bruder  erve 
nimt  de  sone  unde  nicht  de  dochter ; it  ne  si  dat  dar  nen  sone 
ne  si,  so  nimt  it  de  dochter.  — Sven  aver  en  erve  versüsteret 
unde  verbruderet,  alle  de  sik  gelike  na  to  der  sibbe  gestuppen 
mögen,  de  nemet  gelike  dele  dar  an,  it  si  man  oder  wif; 
disse  betet  de  sassen  gau  erven.  — Doch  nimt  sones  unde 
dochter  kint  erve  vor  vader  unde  vor  müder  unde  vor  bruder 
unde  vor  slister,  durch  dat:  it  ne  geit  nicht  ut  dem  busmen, 
de  wile  de  evenburdige  busme  dar  is.  — Sve  so  dem  anderen 
evenburdig  nicht  ne  is,  de  ne  mach  sin  erve  nicht  nemen. 

Neben  der  allgemeinen  Ausführung  in  Ssp.  I 3 § 3 kommt 
für  die  Erbfolgeordnung  des  Ssp.  wesentlich  nur  noch  unsere 
Stelle  in  Betracht.  Wie  wir  schon  in  der  Einleitung  sahen, 
unterscheiden  sich  die  Artikel  4 u.  f.  von  den  drei  ersten,  in- 
dem sie  den  speziellen  Teil  des  Rechtsbuches  bilden.  Allge- 
meine Erörterungen  sowie  Systematik  findet  sich  hier  nicht 
wie  dort,  die  konkreten  Aeusserungen  der  Rechte  werden  uns 
dargestellt. 

So  auch  hier;  unsere  Stelle  hat  eine  ganz  bestimmte,  spe- 
zielle Aufgabe,  nämlich  darzustellen,  wie  der  Geschlechtsunter- 
schied auf  das  Erbrecht  wirkt.  Dass  dies  teilweise  Zweck  und 
Aufgabe  des  Paragraphen  sei,  wird  allgemein  zugegeben;  dass 
es  nicht  nur  die  Hauptaufgabe,  sondern  die  einzige  sei,  ebenso 
allgemein  verneint.  Homeyer  hat,  nach  der  Titelüberschrift 


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62 


dieses  Paragraphen  in  seiner  Ausgabe  sowie  aus  seiner  Schrift 
über  die  Erbfolgeordnung  des  Ssp.  zu  schliessen,  die  Dar- 
stellung der  Erbenfolge  für  das  eigentliche  Thema  unserer 
Stelle  gerade  so  gut  gehalten  wie  v.  Amira  und  alle  Andern, 
welche  ohne  Weiteres  auf  dieselbe  mehr  oder  weniger  allein 
ihre  Theorieen  aufbauen.  Alle  von  der  Parentelenordnung  ab- 
weichenden, von  Schanz,  v.  Amira,  Wasserschieben  und  Siegel 
aufgestellten  Theorieen  stützen  sich  in  erster  Linie  auf  diese 
Stelle;  so  die  Wasserschlebensche  für  den  Vorzug  der  Deszen- 
denten und  Aszendenten  und  die  Sonderstellung  der  Geschwister, 
so  die  Theorieen  von  den  zwei  Erbenkreisen  mit  verschiedenen 
Erbfolgeprinzipien.  Und  doch  sprechen  dafür,  dass  nicht  die 
Erbfolgeordnung  sondern  nur  die  Wirkung  des  Geschlechts- 
unterschiedes auf  dieselbe  Gegenstand  dieser  Stelle  ist,  schon 
folgende  allgemeine  Gründe: 

1)  Die  Mehrzahl  der  Artikel,  welche  zwischen  I 3 § 3 
und  I 17  § 1 liegen,  beschäftigen  sich  mit  erbrechtlichen  Ver- 
hältnissen,1) setzen  aber  alle  die  Erbfolgeordnung  schon 
voraus,8)  bringen  auch  teilweise  Modifikationen  daran  an.  Na- 
mentlich in  I 16  kehrt  Eike  nach  einer  kleinen  Abschweifung 
wieder  zum  Erbrecht  zurück  und  beginnt  mit  der  Erörterung 
eines  ersten  speziellen  Erfordernisses  des  Erben , der  Eben- 
bürtigkeit, um  sodann  im  Folgenden  auf  ein  zweites,  das 
männliche  Geschlecht  überzugehen,  das  freilich  nicht  in  allen 
Fällen  erforderlich  ist,  und  dessen  Mangel,  auch  wo  es  ver- 
langt wird,  nicht  absolut,  sondern  nur  relativ  ausschliesst. 

2)  I 17  § 2 handelt  unzweifelhaft  nur  von  dem  Einfluss 
des  weiblichen  Geschlechts  auf  das  Erbrecht,  ja  dieser  Ge- 
danke vermittelt  den  Uebergang  zu  I 18;  die  Abweichung  des 
Schwabenrechts  bezüglich  des  Erbrechts  der  Weiber  veranlasst 
die  Darstellung  der  Unterschiede  von  Schwaben-  und  Sachsen- 
recht überhaupt,  und  nachdem  diese  beendet  ist,  kehrt  der 
Spiegler  wieder  zu  seinem  Ausgangspunkte,  dem  Einfluss  des 
weiblichen  Geschlechts  zurück  und  handelt  von  dem  Hechte  der 
Frau  an  der  Morgengabe  u.  s.  w. 

')  Auch  die  nicht  direkt  auf  das  Erbrecht  sielt  beziehenden  Stellen 
scheinen  doch  Fragen  zu  behandeln,  welche  bei  eiuein  Erbfall  besonders 
praktisch  werden  konnten. 

*)  Den  Hinweis  darauf  verdanke  ich  Herrn  Prof.  Qierkc. 


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63 


3)  Es  ist  nicht  einzusehen,  weshalb  Eike,  der  die  Erbfolge- 
ordnung in  I 3 § 3 endgültig  und  allgemein  geregelt  hat,  hier 
noch  einmal  darauf  zurückkommen  soll.  Nimmt  man  aber  an, 
I 3 § 3 gebe  keine  erschöpfende  Eegelung,  weshalb  hat  denn 
Eike  die  Darstellung  der  Erbenfolge  so  zerstückelt,  so  ausein- 
ander gerissen,  und  weshalb  redet  er  hier,  wenn  er  nach  v. 
Amira  und  Schanz  noch  nachträglich  die  Verhältnisse  des 
nähern  Erbenkreises  regeln  will,  noch  einmal  vom  weitern, 
weshalb  findet  sich  endlich  keine  Spur  von  dem  zur  Regelung 
der  Erbenfolge  doch  jedenfalls  unentbehrlichen  Bilde? 

Die  herrschende  Ansicht  wird  aber  vollends  widerlegt 
durch  den  Inhalt  unsers  Paragraphen,  zu  dessen  Untersuchung 
wir  nun  übergehen.  Derselbe  zerfällt  in  drei,  in  unserm 
obigen  Abdruck  angedeutete  Abschnitte,  welche  beginnen  mit 
den  Worten:  Stirft,  Sven  aver,  Doch. 


L 

Das  deutlichste  Zeichen  davon,  dass  von  der  Erbfolge- 
ordnung unter  den  engem  Erben  in  diesem  ersten  Abschnitte 
des  Paragraphen  die  Rede  sei,  und  nicht  die  Lehre  von  dem 
Einfluss  des  weiblichen  Geschlechts  auf  das  Erbrecht  in  erster 
Linie  stehe,  erblickt  v.  Amira  (E.  S.  132)  im  Bau  des  Ab- 
schnittes. Zuerst  werden  die  drei  Klassen  ohne  Rücksicht 
auf  das  Geschlecht  in  ihrer  Reihenfolge  hingestellt.  Sodann 
werde  die  Regel  nachgetragen,  dass  unter  den  Kindern  der 
Sohn  die  Tochter,  unter  den  Geschwistern  der  Bruder  die 
Schwester  ausschliesse.  Allein  schon  Lewis  (XVII  S.  415)  hat 
mit  Recht  bemerkt,  dass  dies  im  Widerspruch  stehe  mit  der 
Stelle,  nach  welcher  die  Geschlechter  abwechselnd  genannt 
werden.  Vielmehr  ist  gerade  der  Bau  des  Abschnittes,  wie 
mir  scheint,  der  beste  Beweis  für  meine  Auffassung. 

Man  überlege  sich  doch  einmal,  wie  Eike,  falls  er  den 
Einfluss  des  Geschlechtsunterschiedes  auf  die  Erbfolgeordnung 
darzustellen  hatte  — und  nebenbei  soll  er  das  ja  in  der  Tat 
tun  — diesen  ausdrücken  konnte.  Er  musste  nämlich  nicht 
nur  den  Vorzug  des  männlichen  Geschlechts  vor  dem  weiblichen 
feststellen,  sondern  auch,  dass  derselbe  nur  relativ,  nur  inner- 


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64 


hall)  derselben  Stufe  wirksam  sei,1)  dass  also  das  weibliche 
Geschlecht  einer  frühem  Stufe  noch  jedem,  auch  dem  männ- 
lichen der  folgenden  vorgehe,  und  nicht  etwa  wie  die  Halbge- 
burt mit  der  folgenden  Stufe  zusammen  erbe.  Nun  betlenke 
man  ferner,  dass  eine  abstrakte  Formulierung  dieses  Rechts- 
satzes bei  Eike  gar  nicht  in  Frage  kommen  konnte,  sondern 
er  einfach  die  Aeusserung  desselben,  die  Tatsache,  dass  Männer 
innerhalb  der  eben  angegebenen  Grenzen  einen  Vorzug  ge- 
messen, zu  konstastieren  hatte,  so  wird  sich  ergeben,  dass  er 
dies  nur  in  der  vorliegenden  Weise  tun  konnte.  Mit  Formeln 
wie  „de  son  nimt  dat  erve  to  voren“  u.  dgl.  war  nichts  ge- 
sagt, weil  so  die  blosse  Relativität  des  Vorzugs  gar  nicht 
ersichtlich  war;  nur  das  eine  war  möglich,  nämlich  für  jede 
der  drei  in  Frage  kommenden  Stufen  zu  sagen : Das  männliche 
Geschlecht  einer  Stufe  erbt  vor  dem  männlichen  (und  natürlich 
auch  weiblichen)  der  folgenden,  das  weibliche  Geschlecht  der 
erstem  Stufe  erbt  nach  dem  männlichen  derselben  Stufe,  wird  durch 
dasselbe  ausgeschlossen,  allein  immerhin  wie  das  männliche  noch 
vor  dem  männlichen  (und  weiblichen)  der  folgenden.  Das  ist,  ganz 
ausführlich  und  breit  dargelegt,  der  Ausdruck,  den  Eike  dem 
obigen  Satze  gegeben  hat,2)  ein  Ausdruck  der  begreiflich,  ja 
natürlich  ist,  wo  man  eine  Regel  noch  nicht  erkennt  oder  zu 
formulieren  weiss.  Das  letztere  wäre  in  dem  vorliegenden 
Falle,  um  so  schwieriger  und  kaum  kürzer  oder  einfacher  ge- 
wesen, da  neben  der  Regel  noch  der  Kreis  hätte  angegeben 
werden  müssen,  innerhalb  dessen  sie  gelten  sollte.  Kurz,  wTas 
man  auf  die  Erbfolgeordnung  bezieht,  ist  gar  nicht  um  seiner 
selbst  willen  gesagt,  ist  nur  Mittel  zum  Zweck,  ist  nur  die 
Form,  um  die  bloss  relative  Wirkung  des  Geschlechtsvorzugs 
darzustellen. 

Mit  dieser  Erklärung  fällt  aber  auch  eine  Frage  weg, 
die  man  sich,  falls  die  Erfolgeordnung  Hauptthema  oder 
überhaupt  Thema  wäre,  doch  aufwerfen  muss.  Weshalb  hat 


•)  VgL  auch  Heusler  S.  677. 

’)  Eike  verkürzt  ihn,  wo  es  zulässig  ist.  Z.  B.  sagt  er  am  Anfang  ein- 
fach: sin  vader  nimmt  sin  erve  (nicht:  vor  dem  bruder),  d.  h.  er  erspart  sich 
hier  im  ersten  Teil  der  Formel,  welche  vom  männlichen  Geschlecht  handelt, 
die  Angabe  der  folgenden  Stufe,  offenbar,  weil  sie  selbstverständlich  ist  und 
beim  weiblichen  Geschlecht  dann  gleich  genannt  wird. 


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65 


denn  Eike  nicht  die  erste l)  Stufe,  die  Kinder,  zuerst  behandelt, 
und  erst  hernach  die  Eltern  und  Geschwister?  Weshalb  hält 
er,  wenn  er  die  Erbfolgeordnung  schildern  will,  dieselbe  gar 
nicht  inne?  Eine  Antwort  dürfte  die  herrschende  Ansicht 
schuldig  bleiben.  Dagegen  erklärt  sich  die  Reihenfolge,  wenn 
die  Rücksicht  auf  die  Erbenfolge  wegfiel,  und  nur  der  Einfluss 
des  Geschlechts  geschildert  werden  sollte;  Eike  begann  in  der 
Einflusssphäre  oben  und  gieng  dann  auf  die  beiden  unteren  Stufen 
über.  Die  Reihenfolge  der  Stufen  ist  eben  gleichgültig.*) 

Aus  dem  ganz  speziellen  und  konkreten  Inhalt  der  Stelle 
folgt  nun: 

a)  „Kint“  darf  nicht  als  gleichbedeutend  mit  Nach- 
kommen überhaupt  gefasst  werden,  wie  Homeyer  und  Wasser- 
schieben tun.3)  Eine  solche  Ausdehnung  wäre  zwar  nicht  gerade 
unrichtig,  wie  v.  Ainira  und  Schanz  annehmen,4)  aber  unbegründet 
und  mit  der  ganzen  Fassung  des  Abschnittes  nicht  vereinbar. 
Es  liegt  kein  Anhaltspunkt  zu  der  Annahme  vor,  dass  Eike 
bei  dem  Satze : „stirft  de  man  ane  kint“  an  mehr  gedacht  hat, 
als  er  nach  dem  strengen  Wortlaute  sagt;  „kint“  ist  ebenso 
wörtlich  zu  fassen  wie  die  Gegensätze  dazu : „vader“,  „müder“, 
„bruder“,  „süster“;  der  Bedingungssatz  soll  einfach  ermöglichen, 
von  der  Erbfolge  des  Vaters  und  der  Mutter  zu  sprechen.5) 
Jedenfalls  aber  kann  schon  aus  dem  letzten  Grunde  die  Er- 
wähnung der  Kinder  auch  nicht  die  urgierte  Bedeutung  haben, 
die  ihr  v.  Amira  und  Schanz  beilegen,  von  denen  der  erstere 
(E.  S.  132)  sagt,  weil  das  Verwandtschaftsbild  in  I 3 § 3 zu- 
gleich auf  alle  Parentelen  anwendbar  gewesen  sei,  habe  Eike 

■)  n.  e.  nach  der  Parentelenordnung  wie  nach  den  Theorieen  von  Siegel, 
Wasaerschleben,  v.  Ainira  nnd  Schanz. 

*)  Natürlich  hat  die  Stolle  einen  ganz  andern  Sinn  erhalten  im  Schwsp. 
(c.  14  mit  Note  14  bei  Lassberg,  c.  15  bei  Wackcniagcl).  Da  derselbe  die 
beiden  Geschlechter  gleichstem,  wurde  der  Artikel  für  ihn  eigentlich  über- 
flüssig und  ist  offenbar  nnr  der  Quelle  wegen  beibchalten  worden.  Im 
Schwsp.  wurde  er  also  erst,  was  er  nach  der  herrschenden  Ansicht  schon  im 
Ssp.  Bein  soll,  eine  speziellere  Wiederholung  von  vorher  allgemeiner  Darge- 
stelltem. Vgl.  auch  Seelig  S.  11. 

s)  Jetzt  auch  Seelig  S.  26;  dass  im  Schwsp.  „kint“  gewöhnlich  Deszen- 
denten überhaupt  bedeutet,  ist  natürlich  für  den  Ssp.  ohne  Beweiskraft. 

*)  Der  letztere  S.  36  und  37. 

s)  Vgl.  auch  Hausier  S.  573. 

Stotz,  VerwandtschaftsbUd.  5 


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66 


hier  Kinder,  Eltern  und  Geschwister  mit  Namen  anflihren 
müssen,  damit  man  nicht  aus  dem  Bilde  schliesse,  sie  erben 
gemeinschaftlich.  Wäre  das  letztere  Überhaupt  denkbar,  und 
hätte  unsere  Stelle  die  genannte  Aufgabe,  so  wäre  es,  worauf 
schon  hingedeutet  wurde,  zum  wenigsten  sehr  auffallend,  dass 
nicht  der  Satz:  „vader  unde  müder,  süster  unde  bruder  erve“ 
u.  s.  w.  an  der  Spitze  steht,  sondern  die  wichtigste  erste  Klasse 
vorläufig  und  nebenbei  mit  dem  Satze:  „stirft  de  man  ane 
kint“  abgetan  wird. 

b)  Geradezu  unmöglich  ist  die  Unterstellung  sämtlicher 
Aszendenten  unter  „ vader  unde  müder“,  wie  sie  Wasserschieben 
(S.  0.  S.  60)  behauptet.  Homeyer  (Par.  S.  11)  und  Lewis 
(IX.  S.  55  f.)  haben  aber  diese  Ansicht  schon  so  überzeugend 
widerlegt,  dass  sie  seither  allgemein  aufgegeben  ist.1) 

Fassen  wir  den  Inhalt  des  ersten  Abschnittes  zusammen, 
so  kommen  wir  zu  Folgendem:  Das  weibliche  Geschlecht  steht 
auf  der  Stufe  der  Kinder,  Eltern  und  Geschwister  des  Erblassers 
hinter  dem  männlichen  zurück,  doch  nicht  so,  dass  es,  etwa 
wie  die  Halbgeburt,  eine  Stufe  zurückgesetzt  wird,  vielmehr 
wirkt  der  Geschlechtsunterschied  nur  innerhalb  einer  Stufe. 


II. 

Auch  dass  in  dem  zweiten,  mit:  „Sven  aver  en  erve  ver- 
süsteret  unde  verbrüderet“  beginnenden  Teile  der  Einfluss  da« 
Geschlechts  eine  Rolle  spielt,  wird  nicht  geleugnet:  nur  sieht 
man  auch  hier  dies  allgemein  als  Nebensache  an,  der  Haupt- 
inhalt soll  sein  die  Regelung  der  Erbenfolge  in  einem  weiteren 
Erbenkreise  als  demjenigen  des  ersten  Teils.  Nach  der  ver- 
schiedenen Auffassung  von  diesem  wird  jener  bestimmt. 

1)  Siegel,  der  annimmt,  im  ersten  Teile  sei  vom  Erbrecht 
der  Deszendenten  (son,  dochter,  kint),  der  Eltern  und  Ge- 
schwister gehandelt,  findet  in  unserm  zweiten  die  Erbfolge 
aller  übrigen  Verwandten  geregelt  u.  z.  nach  seiner  älteren 
Ansicht  in  Klassen  von  Verwandten  gleichen  römischen  Grades 


')  v.  Aiiiira,  E.  S.  128,  Schanz,  S.  45. 


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67 


(Erbr.  S.  60,  61,  26),  nach  seiner  späteren  in  Kategorieen,  deren 
Angehörige  dieselbe  längere  Linie  haben,  gleichgültig  ob  es  die 
Linie  vom  gemeinschaftlichen  Stammvater  nach  dem  Erblasser 
oder  nach  dem  betreffenden  Erbansprecher  sei  (V.  B.  S.  31, 
R.  G.  S.  360,  433). 

2)  Wasserschieben  findet  in  dem  ersten  Satze  eine  besondere 
Erbfolge  in  der  Art  bestimmt,  dass  nach  den  Deszendenten 
(kint)  die  Aszendenten  (vader,  müder),  sodann  die  Geschwister 
erben.  Unser  Abschnitt  regele  also  die  Erbfolge  unter  den 
Seitenverwandten  mit  Ausnahme  der  Geschwister,  also  der  von 
ihm  so  genannten  Magen.  Für  sie  bestimme  der  Satz:  „alle 
de  sik  gelike*  u.  s.  w.,  dass  alle,  welche  sich  zu  irgend  einem 
mit  dem  Erblasser  gemeinschaftlichen  Stammvater  gleich  gliedern, 
gleich  erben  (S.  0.  S.  36,  oben  S.  18  Note  2,  S.  46,  47). 

3)  Diesen  Ansichten  gegenüber  haben  v.  Amira  und  Schanz 
durch  die  enge  Interpretation  von  „kint“  und  „vader“  die 
Verwandten,  deren  Erbfolge  im  ersten  Abschnitt  behandelt  sei, 
auf  Kinder,  Eltern  und  Geschwister  eingeschränkt;  nach  ihnen 
bezieht  sich  demnach  der  Abschnitt:  „Sven  aver“  auf  alle  an- 
dern Verwandten,  also  weitere  Deszendenten,1)  Aszendenten, 
Seltenverwandte.  Dieselben  erben  in  Klassen  bestimmt  nach 
den  Graden  der  Verwandtschaftsnähe.*) 

Wie  sich  Homeyer  die  Aufgabe  dieses  zweiten  Teils  denkt, 
ist  nicht  ganz  klar,  jedenfalls  betont  er  als  Hauptinhalt  die 
Erbfolgeordnung.*)  Doch  scheint  er  in  unserm  Paragraphen 
mehr  eine  praktische  Anwendung,  eine  Erläuterung  von  I 3 
§ 3 zu  sehen.  Dabei  findet  er  darin  den  Vorzug  der  gesamten 
Deszendenz  und  die  Scheidung  in  zwei  Kreise  ausgesprochen, 
in  denen  die  Behandlung  des  weiblichen  Geschlechts  bezüglich 
der  Erbenfolge  eine  verschiedene  sei  (Par.  S.  7). 

In  der  Tat  scheint  es  mir,  falls  man  überhaupt  die  Erben- 
folge Hauptthema  des  zweiten  Teils  unsere  Paragraphen  sein 


')  Enkel  seien  nur  durch  eine  in  dem  dritten  Teile  folgende,  besondere 
Bestimmung  davon  ausgenommen. 

*)  Darüber,  wie  diese  von  v.  Amira  und  von  Schanz  berechnet  werden, 
vgL  oben  S.  62,  68. 

*)  VgL  oben  8.  61  a.  E.,  62.  Ebenso  Heusler,  welcher  S.  600  den  Satz: 
„Die  tvischen“  n.  s.  w.  als  nebensächlich  hinzngefilgt  bezeichnet  und  ihm 
seine  eigentliche  Stelle  in  I 17  § 1 zuweist. 


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68 


lässt,  gar  nicht  anders  möglich,  als  in  demselben  eine  An- 
wendung oder  Wiederholung  des  I 3 § 3 Gesagten  zu  sehen. 
Das:  „alle  de  sik  gelike  na  to  der  sibbe  gestuppen  mögen,  de 
nemet  gelike  dele  dar  an“  klingt  zu  sehr  an  den  Satz:  „Die 
tvischen  deme  nagele“  u.  s.  w.  an,  als  dass  man  nicht  geradezu 
einen  Hinweis  auf  jene  Stelle  darin  sehen  müsste.  Und  zwar 
wird  in  I 3 § 3 die  Regel  allgemeiner  und  im  Zusammenhänge 
mit  dem  Verwandtschaftsbilde  gegeben;  es  ist  dort  auch 
gesagt,  wie  das  „gelike“  zu  berechnen  sei,  und  wie 
mau  es  im  Falle  eines  „ungelike“  zu  halten  habe,  was 
beides  Eike,  hier  übergeht,  wie  er  auch  von  den  Gliedern 
nichts  erwähnt.  Daher  kann  der  Satz  „alle  de  sik  gelike“ 
u.  s.  w.  nie  zur  Herleitung  eines  Erbfolgeprinzipes 
benutzt  werden,  gerade  so  wenig,  als  man  Eike  zumnten 
darf,  er  habe  früher  ex  officio  vollkommener  Gesagtes  noch 
einmal  ex  officio  ungenauer  sagen  wollen.  Vielmehr  muss 
die  Bedeutung  des  erwähnten  und  bloss  gestreiften 
Prinzips  allein  aus  I 3 § 3 ermittelt  werden,  nur  die 
dort  erschlossene  Erklärung  kann  für  die  vorliegende 
ungenauere  Fassung  massgebend  sein.1)  Damit  ist  eigent- 
lich dem  Passus  jede  selbstständige  Bedeutung  für  die  Erben- 
folge genommen,  und  wir  werden  schon  deswegen  das,  was  die 
herrschende  Ansicht  als  Nebeninhalt  betrachtet,  zum  alleinigen 
Inhalt  erheben  müssen. 

Wir  haben  gesehen,  dass  im  ersten  Satze  gesagt  ist,  unter 
Kindern,  Eltern  und  Geschwistern  bestehe  ein  Vorzug  des 
männlichen  Geschlechts.  Hier  in  dem  weiteren  Verwandten- 
kreise soll  das  Geschlecht  als  für  die  Erbenfolge  irrelevant 
dargestellt  werden.  Wie  nun  oben  der  Vorzug  so  ausgedrückt 
ist,  dass  gesagt  wird,  der  männliche  Teil  gehe  den  folgenden 
Stufen  vor,  der  weibliche  komme  erst  in  Ermangelung  eines 


*)  Es  ist  also  z.  B.  unstatthaft,  wenn  Wass.  aus  dem  „alle9  den  Schluss 
zieht,  dass  die  gleichen  Glieder  in  allen  Parentelen  zusammen  erben,  sofern 
sich  dies  nicht  aus  I 3 § 3 ergibt  (was  eben  nicht  der  Fall  ist.  Oben  S.  18 
Note  2,  S.  46, 47).  Ebenso  wenig  kann  auch  daraus,  dass  hier  gar  keine  Andeutung 
Uber  den  Vorzug  derselben  Grade  aber  einer  nähern  Parentel  gemacht  ist, 
ein  Argument  gegen  die  Parenteleuorduung  geholt  werden,  da  eben  Eike 
hier  nicht  „die  Aufgabe  hatte,  die  Parentelenordnung  in  ihren  Hanptztlgen 
zu  charakterisieren.'  Wass.  Bepl.  S.  31,  32. 


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69 


männlichen  zum  Erbe,  aber  noch  vor  denselben  weitern  Stufen, 
so  werden  auch  hier  Männer  und  Weiber  als  Erbausprecher 
gesetzt.  Hier  konnten  nnn,  da  es  sich  um  einen  grossen 
Komplex  von  Verwandten  handelte,  die  folgenden  Stufen  nicht 
mit  Namen  genannt  werden,  es  konnten  beide  Teile  nicht  als 
gleichberechtigt  zusammen  solchen  folgenden  Stufen  gegenüber 
gestellt  werden,  Eike  musste  die  Einflusslosigkeit  des  Geschlechts 
in  diesem  weiten  Kreise  allgemein  regeln.  Deshalb  knüpfte  er 
an  die  Regel:  „Die  tvischen“  n.  s.  w.  an,  u.  z.  konnte  das 
nur  geschehen  in  Bezug  auf  denjenigen  Teil  derselben,  der  von 
gleich  nahen  Gliedern  spricht.  Denn  dass  ein  Weib,  welches 
sich  näher  zu  der  Sippe  ziehen  konnte,  jedem  entferntern  Manne 
ohne  Weiteres  vorgieng,  galt  ja  sogar  unter  den  engem  Ver- 
wandten, war  also  selbstverständlich.  Indem  nun  Eike  mit 
Recht  voraussetzte,  dass  man  die  Tragweite  und  Anwendung  des 
Satzes:  „Die  tvischen“  u.  s.  w.  von  I 3 § 3 her  kenne,  sagte 
er  einfach:  Die  in  I 3 § 3 gegebene  Regel,  dass,  wer  sich 
gleich  nahe  zur  Sippe  stuppen  könne,  gleiche  Teile 
nehme,  also  gleich  naher  Erbe  sei,  gelte  (abgesehen  von 
den  I 17  § 1 im  ersten  Abschnitt  erwähnten  Verwandten) 
auch,  „it  si  man  oder  wif.“  Deutlicher  und  richtiger  konnte 
dies  Eike  in  konkreter  Fassung  wohl  überhaupt  nicht  aus- 
drücken. 

Von  diesen  letzteren  Verwandten,  den  Angehörigen  des 
weitem  Kreises,  fügt  er  hinzu,  dass  sie  die  Sachsen  Ganerben 
nennen,  d.  h.  coheredes,  Miterben,  Gleicherben,  nicht  weil,  wie 
die  herrschende  Ansicht  meint,  hier  verschiedene  Gruppen  gleich 
nahe  stehender  Verwandter  zusammen  erben,  sondern  weil  hier 
die  beiden  Geschlechter  Miterben  sind,  und  nicht  das  weibliche 
bloss  als  Nacherbe  auftritt.1) 


III. 

Der  wahre  Grund,  weshalb  man  unsere  Stelle  hauptsächlich 
auf  die  Erbenfolge  bezieht,  liegt  wohl  im  dritten  Abschnitte; 

*)  Dabei  deckt  sich  der  erbrechtliche  Begriff  Ganerben  genau  mit  den 
Magen  der  Verwandtsckaftsgliederrmg,  oben  S.  16  Note  2. 


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70 


in  ihm  scheint  nämlich  eine  Bezugnahme  auf  das  Geschlecht 
ganz  fern  und  ausser  dem  Bereiche  der  Möglichkeit  zu  liegen. 
In  der  Tat  hat  auch  nur  ein  einziger  Schriftsteller l)  eine  solche 
als  Nebenaufgabe  unsers  Abschnittes  zu  bezeichnen  versucht, 
ohne  indessen  näher  darauf  einzugehen. 

Vielmehr  nehmen  die  Parentelisten  sowie  Siegel  und 
Wasserschieben  an,  dass  hier  von  der  Erbfolge  der  Enkel 
gehandelt  werde,  welche  eigentlich  durch  den  Satz  „Stirft  de 
man  ane  kint“  erledigt  sei,  sowie  von  deren  Vorzug  vor  dem 
Vater  des  Erblassers,  also  ihrem  Urgrossvater,  und  dessen 
Kindern,  des  Erblassers  Geschwistern.  Allein  dem  gegenüber 
haben,  abgesehen  von  der  Unhaltbarkeit  einer  so  weiten  Inter- 
pretation von  „kint“,*)  Boretius,8)  sodann  namentlich  v.  Amira 
(E.  S.  129  und  Rez.  S.  39)  und  Schanz  S.  38,  39,  49 4)  mit  Recht 
auf  das  „Doch“  hingewiesen.  Dasselbe  dente  nämlich  darauf 
hin,  dass  aus  dem  im  zweiten  Teile  erwähnten  Kreise,  in 
welchem  das  Prinzip  der  Gradesnähe  gelte,  ein  Stück  heraus- 
gehoben und  in  den  engem  Kreis  gestellt  werde,  d.  h.  dass  die 
Enkel  Ganerben  (im  Sinne  v.  Amira's,  also  Miterben  = Graderben) 
seien,  aber  durch  ausdrückliche  Bestimmung  dem  engem  Erben- 
kreise beigesellt  werden.  Dass  dies  nur  durch  eine  Ausnahme 
geschehe  und  nicht,  wie  nach  der  Parentelenordnung,  vermöge  des 
allgemeinen  Prinzips,  schliesse  eben  diese  Erbfolgeordnung  aus.8) 

So  richtig  nun  auch  die  Beobachtung  ist,  dass  diese  For- 
mulierung eine  gewisse  Gleichstellung  der  Enkel  mit  den  im 
zweiten  Abschnitt  genannten  Blutsfreunden  voraussetzt,  so  kann 
sie  doch  nicht  in  der  Richtung  liegen,  die  v.  Amira  und  Schanz 
annehmen.  Sofort  entsteht  nämlich  die  Frage,  weshalb  denn 
Eike  die  Enkel  zuletzt  erwähne,  welche,  wenn  auch  nur  kraft 
einer  Ausnahme,  den  im  ersten  Abschnitt  genannten  Verwandten 
sogar  Vorgehen,  also  alles  dort  Gesagte  illusorisch  machen. 
Die  Antwort,  man  müsse  eben  zuerst  die  Regel  („Sven  aver“) 
und  dann  die  Ausnalune  („Doch“)  bringen,  trifft  nicht  zu,  weil 


*)  Lewig  IX  S.  51,  gegen  ihn  Schanz  S.  39. 

*)  Oben  S.  65. 

*)  Bei  Lewis  IX  S.  60. 

*)  Ihnen  schliesst  sich  an  Seelig  S.  23  und  24. 

s)  Dagegen,  aber  ohne  Erfolg  Lewis  IX  8.  50,  XVII  S.  415 ; vgl.  v.  Amira, 
E.  S.  129,  Bez.  S.  39,  Schanz  8.  38. 


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71 


das  Erbrecht  der  Enkel  und  der  weitern  Verwandten  auch  nach 
v.  Amira  und  Schanz  nur  seinem  Wesen  nach,  nur  juristisch 
gleich  wäre,  weil  auch  nach  ihnen  Enkel  Ganerben  nur  eigent- 
lich wären,  Ganerben  nur  einmal  gewesen  sind  und  als  solche 
behandelt  werden  sollten,  v.  Amiras  Deutung  der  Stelle  und 
der  Gedankengang,  den  er  in  I 17  § 1 findet,  würde  also  zu 
der  merkwürdigen  Tatsache  führen,  dass  Eike  hier  eine  wissen- 
schaftliche, eine  juristische  Klassifikation  der  Erbrechte  gäbe 
u.  z.  noch  obendrein  eine  Klassifikation,  die  sich  auf  die 
Geschichte  der  Rechte  aufbaut.  Zuerst  würde  der  engere 
Erbenkreis  mit  seinem  besonderen  Prinzipe,  dann  der  weitere 
mit  dem  seinigen  dargestellt,  und  hierauf  eine  tatsächlich  zu 
jenem,  historisch  und  juristisch  sich  aber  als  mit  diesem 
gleichwertig  erweisende  Gruppe  erwähnt.  Ob  wohl  nicht  Eike 
wie  sonst  die  Rechte  nach  ihrer  äussem  Wirkung  behandelt, 
ob  er  wohl  nicht  das  stärkste  Erbrecht  im  engern  Kreise,  das 
der  Enkel,  einfach  als  erstes  in  diesem  dargestellt  hätte? 
Man  wird  eben  gut  daran  tun,  sich  wieder  in  Erinnerung  zu 
rufen,  dass  in  unserm  Artikel  vom  Einfluss  des  Geschlechts  die 
Rede  ist. 

Im  ersten  Abschnitte  des  Paragraphen  hatte  Eike  gesagt, 
unter  Kindern,  Eltern  und  Geschwistern  gehe  das  männliche 
Geschlecht  vor,  speziell  komme,  so  lange  ein  Sohn  vorhanden 
sei,  die  Tochter  nicht  zum  Erbe.  Im  zweiten  Abschnitte  hatte 
er  weiter  ausgeführt,  dass  alle  andern  Verwandten  ohne  Unter- 
schied des  Geschlechts  gleich  erben,  sofern  sie  gleich  nahe  ver- 
wandt seien ; diese  heissen  in  Sachsen  Ganerben.  Daraus  ergibt 
sich,  dass  die  Enkel  Ganerben  sind,  nicht  bloss  eigentlich 
und  nicht  nur  urspünglich,  sondern  auch  jetzt  noch,  d.  h.  also 
dass  Enkel  männlichen  und  weiblichen  Geschlechts  gleich  erben. 
Allein  nun  entstand  die  Frage,  wie  es  zu  halten  sei,  wenn 
deren  Eltern  verschiedenen  Geschlechts  waren.  Soll 
das  Geschlecht  des  vorverstorbenen  Mittelgliedes  entscheiden 
nach  dem  Satze,  dass  der  Sohn  die  Tochter  ausschliesse , oder 
soll  das  Geschlecht  der  Eltern  gleichgültig  sein.  Diese  Frage 
musste  jeder  aufmerksame  Leser,  wenn  er  die  beiden  voran- 
gehenden Sätze  so  verstanden  hatte,  wie  wir  sie  als  richtig 
annehmen,  sofort  aufwerfen;  sie  trat  ja  auch  bei  den  Ge- 
schwisterkindern auf,  sie  wiederholte  sich,  sobald  Verwandte 


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72 


vom  Vater  oder  von  der  Mutter  her,  Vater-  und  Muttennagen, 
zum  Erbe  kamen,  aber  sie  trat  am  unmittelbarsten  und 
schrofi'sten  bei  den  Enkeln  zu  Tage  und  wird  deshalb  in  Bezug 
auf  sie  geregelt,  sei  es  dass  Eike  au  die  andern  Fälle  gar 
nicht  dachte,  sei  es  dass  er  erwartete,  man  werde  sie  dann 
analog  entscheiden.  Diese  Frage  hat  Eike  in  unserrn  Abschnitte 
beantwortet,  u.  z.  in  einem  mit  „Doch“  eingeleiteten  Satze, 
offenbar  in  dem  Bewusstsein  oder  dem  instinktiven  Gefühle, 
man  könnte  aus  dem  Vorhergehenden  das  Gegenteil  seiner 
Antwort  ableiten.  Es  ist  also  „sones  unde  dochter  kint“ 
zu  betonen  nicht  das  „vor.“  *)  Dass  dies  der  Inhalt  und  der 

')  Herr  l’rof.  Gierke  findet  unsere  Auslegung  des  dritten  Abschnittes 
etwas  gewagt.  Die  beiden  ersten  fasst  er  wie  wir,  findet  aber  den  Gedanken- 
gang  so:  „Bei  der  Berufung  von  Eltern,  Kindern  und  Geschwistern  gilt  Ge- 
schleclitsvorzng.  Werden  weitere  Verwandte  als  Geschwister  berufen,  so 
stehen  die  Geschlechter  einander  gleich  (wobei  es  sieb  von  selbst  versteht, 
dass  nicht  bloss  das  Geschlecht  des  Erben,  sondern  auch  das  Geschlecht  aller 
den  Erben  mit  dem  Erblasser  verbindenden  Zwischenglieder  unerheblich  ist). 
Doch  darf  man  hieraus  nicht  etwa  folgern,  dass  die  Erbenklasse  mit  Ge- 
schlechtsvorzug durchweg  der  Erbeuklasse  ohne  Geschlechtsvorzng  vorgehe, 
wie  das  die  Darstellung  Eikes  nahe  zu  legen  scheinen  mochte.  Eike  will 
daher  den  Schein  zerstören,  als  habe  er  zuvörderst  für  alle  nähern  Erben 
Geschlechtsvorzng  statuiert,  und  demnächst  alle  Erben,  bei  denen  Geschlechts- 
vorzug  nicht  gilt,  als  entferntere  Erben  qualifiziert.  Darum  sagt  er:  Doch 
nehmen  Enkel,  obschou  sie  nicht  nur  ohne  BUcksicht  auf  ihr  eigenes  Ge- 
schlecht, s indem  auch  ohne  Rücksicht  darauf,  ob  sie  Sohnes-  oder  Tochter- 
kinder sind,  gleichzeitig  berufen  werden,  Erbe  vor  Eltern  und  Geschwistern, 
bei  denen  doch  Geschlechtsvorzug  gilt.  Dies  drückt  er  allerdings  in  starker 
Verkürzung  aus.“  Das  hinzugefügte  Motiv  aber  sagte  nur:  deun  sie  gehören 
eben  zmn  allernächsten  Erbeukreise,  ziun  Busen  (gleich  Nachkommen  über- 
haupt) bei  dessen  Vorhandensein  jedo  andere  Erbfolge  ausgeschlossen  ist. 

Leider  kann  ich  mich  dieser  Erklärung  nicht  anschliesseu,  obgleich  ich 
gerne  anerkenne,  dass  sie  mit  dem  Gesamtresultat  gerade  so  gut  übereiu- 
stinuut  wie  die  meinige,  und  dass  durch  sie  die  Erklärung  des  genannten 
Motives  vereinfacht  wird.  Allein  sie  scheint  mir  eine  Mittelansicht  zwischen 
der  herrschenden  Deutung  des  Paragraphen  und  der  meiuigen  darzustellen, 
die  erst  nach  Aufstellung  jener  überhaupt  möglich  geworden  ist.  Nach  dem, 
was  ich  obeu  Uber  die  beiden  ersten  Abschnitte  gesagt  habe,  scheint  mir 
Eike  unmöglich  gefürchtet  haben  zu  können,  man  möchte  seine  Auseinander- 
setzung Uber  den  Geschlechtsvorzng  zu  unrichtigen  Folgerungen  auf  die 
Erbfolgeordnung  benutzen.  Dies  nm  so  mehr,  als  er  die  letztere  in  I 3 § 3 
schon  des  bestimmtesten  geordnet  hatte,  und,  was  wir  immer  bedenken 
müssen,  er  kein  Lehrbuch  sondern  ein  B e c h t s b u c h schrieb.  Seine  Leser 
waren  als  Leute  des  Mittelalters  mit  dem  Rechte  doch  wohl  so  vertraut, 


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73 


Gedankengang  ist , zeigt  namentlich  die  Form  der  Dar- 
stellung.1) 

Der  Vorzug  des  Sohnes  vor  der  Tochter,  welcher  im  ersten 
Abschnitt  in  dem  Satze  ausgedrflckt  ist:  „vader  unde  müder 
süster  unde  bruder  erve  nimt  de  sone  unde  nicht  de  dochter“ 


lässt  sich  nach  Analogie  des  ersten  Satzes  in  demselben  Ab- 
schnitte auch  so  formulieren:  „De  sone  (des  Erblassers)  nimt 
erve  (seines  Vaters,  des  Erblassers)  vor  vader  unde  vor  müder 
unde  vor  bruder  unde  vor  süster  (alle  des  Erblassers);  is  dar 
nen  sone,  de  dochter  nimt  dat  erve  vor  vader  unde  vor*  u.  s.  w. 
oder  „de  dochter  nimt  it  mit  rnereme  rechte  dan  de  vader“  u.  s.w. 
Auch  so  wäre  der  Vorzug  des  männlichen  Geschlechts  vor  dem 
weiblichen  unter  Kindern  ausgedrückt  gewesen,  freilich,  wie  die 
I nebenstehende  Figur  I zeigt,  nicht 

gegenüber  den  nächsten  Verwand- 
r " ten,  Vater,  Mutter,  Bruder  und 
man  | » bruder,  süster  Schwester  der  als  „sone“  und 

* on.  * dochter  „dochter  bezeichneten  Personen, 

sondern  gegenüber  den  übrigen 
nächsten  Verwandten,  Vater,  Mutter,  Bruder  und  Schwester 
des  Erblassers,  also  Grossvater,  Grossmntter  Oheim,  und 
Tante  von  „sone“  und  „dochter.“  Weil  nun  aber  Eike 
das  Verhältnis  der  beiden  Geschlechter  einer  Stufe  zu  der 
ihnen  unmittelbar  folgenden  Stufe  darstellen  wollte,  wählte  er  dio 
in  dem  ersten  Abschnitte  im  zweiten  Satze  benutzte  Formel, 
jj  jjj  welcher  die  Figuren  II 

* und  III  entsprechen, 

müder  K d.  h.  er  gibt  hier  die 


6*WU 

t i i 

i doc 


dochter 


i rarfex»  müder 


» dochter 


bruder, 

süster 


■N 


Uöchtcr  Voraussetzung:  „Stirft 
de  man  ane  kint“  auf, 


dass,  falls  in  Sachsen  die  I’arentelenordnuug  galt,  sie  gar  nicht  auf  deu  Ge- 
danken kommen  konnten,  andere  Verwandte  könnten  hier  der  Nachkommen- 
schaft vorgesogen  sein.  Dagegen  muten  wir  Eike  mit  unserer  Erklärung 
wohl  nicht  eine  Entscheidung  über  die  moderne  Streitfrage  zu,  ob  das  Erb- 
recht der  Enkel  aus  dem  Repraesentationsrecht  entstanden  sei  oder  nicht. 
Vielmehr  konnte  eine  unrichtige  Ansicht  in  dem  angedenteteu  Sinne  aus 
blossem  Anklammern  on  den  Wortlaut  der  vorhergehenden  Abschnitte  entstehen. 

l)  Es  zeugt  von  grossem  Mangel  an  Verständnis,  kann  aber  nicht  etwa 
gegen  uns  in's  Feld  geführt  werden,  wenn  die  lateinische  Uebersetznng 
„sones  unde  dochter  kint“  wiedergibt  durch  „utriusque  scius  nepotos.“ 


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74 


IV 

vader  amuder 

man  | » bruder,  süster 

son  | dochter 

so/icsl  unde  dochter - 
kint 


„vader,  müder“  (Figur  II}  betrachtete  er  in  der  ersten 
Hälfte  des  Satzes,  „bruder,  sttster“  (Figur  III)  in  der 
zweiten  als  Erblasser,  nicht  „de  man.“  Dagegen  liegt  die 
obige  Fassung  unserm  dritten  Abschnitt  zu  Grande,  wie  schon 

die  dazu  gehörende  Figur  IV  mit 
I verglichen  zeigt.*)  Vor  ihm  ist 
wie  vor  dem  „Sven  aver“  des 
zweiten  Abschnitts  zu  ergänzen: 
„Stirft  de  man  ane  kint,“  ein  Satz, 
der  nicht  umsonst  so  ostentativ  an 
die  Spitze  des  Paragraphen  bezw. 
Artikels  gesetzt  ist.  Hätte  nun 
Eike  den  Sohneskindern  einen  Vorzug  vor  den  Tochter- 
kindern geben  wollen,  so  hätte  die  von  nns  oben  rekon- 
struierte Formel  mit  Einsetzung  von  „sones  kint“  und  „doch- 
ter kint“  an  Stelle  von  „sone“  und  „dochter“  so  gelautet: 
„sones  kint  nimt  erve  vor  vader  unde  vor  müder  unde 
vor  bruder  unde  vor  süster“  und,  weil  der  Vorzug  ein  bloss 
relativer,  bloss  auf  derselben  Stufe  wirkender  sein  konnte, 
weiter:  „is  dar  nen  sones  kint,  dochter  kint  nimt  erve  vor 
vader“  u.  s.  w.  oder  „mit  mereme  rechte  dan  de  vader.“  Allein 
Eike  entschied  nicht  für  die  Ungleichheit  von  Sohnes-  und 
Tochterkindern , nicht  nach  der  für  den  engem  Verwandten- 
kreis geltenden  Hegel ,*)  er  erklärte  mithin,  dass  durch  die 
Kindeskinder  das  Geschlecht  ihres  vorverstorbenen  Elternteils 
nicht  repräsentiert  werde.  Deshalb  zog  er  einfach  die  beiden 
soeben  formulierten  Sätze  in  einen  zusammen,  beide,  Sohnes- 


*)  vgl.  die  Zeichnung  bei  Kraut,  Grundriss  § 146  Note  101. 

*)  Wir  finden  den  innem  Grund,  weshalb  bei  den  Enkeln  das  Geschlecht 
der  Eltern  nicht  in  Betracht  kommt,  darin,  dass  ihr  Erbrecht  eben  nicht  aus 
dem  Repraescntationsrecht  hervorgcgangeu  ist  (von  dem  Ssp.  I 5 g 1 handelt). 
Ist  unsere  Interpretation  des  Abschnitts  richtig,  so  dttrfte  er  ein  nicht  zu 
unterschätzendes  Argument  gegen  die  gegenteilige  Ansicht  von  v.  Amira,  E. 
S.  182  f.  und  Schanz  S.  52  (dagegen  Lewis  XVII  S.  414)  abgebeu  und  zu- 
gleich ein  älteres  Quellenzeugnis  über  das  Erbrecht  der  Enkel  bei  Nichtvor- 
handensein von  Kindern  darstellen,  wie  es  Hensler  S.  583  (vgl.  auch  ebenda 
Note  16)  vermisst 

Jedenfalls  ist  auch  das  Erbrecht  der  Kinder  als  unabhängig  vom  Re- 
praesentationsrecht  nicht  auf  die  Kinder  unabgesonderter  Kinder  zu  be- 
schränken. (Ebenso  Lewis  XVII  S.  414,  Schanz  S.  52  Note  141;  anders 
v.  Amira,  E.  S.  130.) 


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75 


und  Tochterkinder,  nehmen  Erbe  vor  Vater,  Mutter,  Bruder, 
Schwester  des  Erblassers,  sie  stehen  sich  völlig  gleich.1) 

Allein  Eike  gibt  für  seine  Aussage  auch  einen  Grund 
an  u.  z.  den  allgemeinen  Rechtssatz:  „it  ne  geit  nicht  us 
dem  busmen,  de  wile  de  evenburdige  busme  dar  ia.“  Dieser 
Satz  möchte  wohl  die  herrschende  Interpretation  des  dritten 
Abschnitts  und  dann  auch  der  beiden  ersten  veranlasst  haben, 
sagt  er  doch  offenbar,  dass  das  Erbe  aus  einem  besonders 
innigen  Verwandtschaftsverhältnis , welches  mit  „busmen“  be- 
zeichnet wird,  nicht  unnötig  herausgehe.  Die  Personen,  auf 
welche  es  herausgienge,  sind  in  nnserm  Falle  schon  Angehörige 
des  oft  genannten  engem  Verwandtenkreises,  „vader,  müder, 
bruder,  süster,“  der  „busmen“  deckt  sich  mithin  nicht  mit 
diesem,  sondern,  da  nach  unserer  Stelle  die  dem  engem  Ver- 
wandtenkreise nicht  angehörigen  Enkel  offenbar  zum  „busmen“ 
gehören,  muss  dieser  vielmehr  alle  Nachkommen  oder  einen  Teil 
derselben  umfassen.  Der  Satz  würde  also  den  Sinn  haben: 
Das  Erbe  geht  nicht  an  andere  Verwandte,  solange  Nachkommen 
oder  wenigstens  gewisse  Grade  von  solchen  vorhanden  sind.  Augen- 
scheinlich, denkt  man,  soll  hier  der  Vorzug  eines  gewissen  Ver- 
wandtenkreises im  Erbrecht  gegenüber  andern  festgestellt  werden. 

Nun  ist  aber  der  Umfang  des  „busmen“  in  technischem 
Sinne  sehr  bestritten.  Neben  dem  Ssp.,  welcher  ihn  lediglich 
an  dieser  Stelle  erwähnt,  kommen  für  die  Bestimmung  des- 
selben wesentlich  nur  die  Magdeburger  Rechtsquellen  in  Be- 
tracht. Nach  diesen  umfasste  aber  der  Busen  ohne  allen 


')  Sehr  auffallend  ist,  dass  die  süddeutschen  Bearbeitungen  unsere  Para- 
graphen, Dsp.  c.  6 und  Schwsp.  c.  14  (Wackemagel  c.  lö)  die  beiden  ersten 
Abschnitte  benutzen , den  dritten  aber  weglassen  (trgl.  Scelig  S.  24),  und  dass 
ebenso  die  Magdeburger  Rechtsquellen  zwar  den  zweiten  haben,  den  dritten 
dagegen  in  gleicher  Weise  fallen  lassen  (Schanz  8.  120  f.).  Den  Grund  kann 
man  darin  linden,  dass  der  am  Ende  des  Abschnitts  verkommende  „busen“ 
jenen  gar  nicht,  diesen  wenigstens  in  anderem  Sinne  bekannt  war.  Mir  will 
aber  fast  scheinen,  als  ob  diese  Uebereinstimmung  in  der  Weglassung  des 
Satzes  mit  „Doch“  aus  einem  andern,  dem  süddeutschen  und  magdeburgischen 
Rechte  gemeinsamen  Punkte  zu  erklären  sei,  aus  der  gänzlichen  Ignorierung 
des  Geschlechtsunterschieds.  Man  sah  vielleicht  an  beiden  Orten  ein,  dass 
in  diesem  Falle  der  Satz  ganz  bedeutungslos  wurde,  während  Anfang  und  Mitte 
durch  Umdeutung  auf  die  Erbfolge  noch  einen  Rest  von  Sinn  behalten  konnten. 


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76 


Zweifel  nur  Eltern  und  Kinder,  nicht  noch  die  Enkel;1)  be- 
züglich der  letztem  wurde  in  Älterer  Zeit  auch  kein  Unter- 
schied gemacht,  ob  das  vorverstorbene  Zwischenglied  abge- 
sondert war  oder  nicht ; *)  erst  später  rechnete  man  die  Kinder 
unabgesonderter  Kinder  zum  Busen  uud  gab  ihnen  einen  ent- 
sprechenden Vorzug  im  Erbrecht,  offenbar  unter  dem  Einflüsse 
des  sächsischen  Landrechts.3)  Bedenkt  man  nun,  dass  der 
„busmen“  wohl  gemeinsächsisch  war,  dass  er  als  blosser  Ver- 
wandtschaftsbegriff an  sich  auch  mit  ganz  verschiedenen  Erb- 
folgeordnungen sich  vereinigen  liess,  und  sieht  man,  mit  welchem 
Eifer  der  bei  Wass.  S.  0.  S.  57  abgedruckte  Spruch  sich  ge- 
rade gegen  unsere  Sachsenspiegelstelle  wendet,  ja  wie  die  bei 
v.  Amira  S.  127  wiedergegebene  Glosse  zu  unserer  Stelle  von 
der  magdeburgischen  Bedeutung  nicht  ablassen  kann,  so  dürfte 
man  wohl  richtig  gehen,  wenn  man  mit  v.  Amira,  E.  S.  128 
annimmt,  der  Busen  habe  auch  im  Rechtsgebiet  des  Ssp. 
ursprünglich  dieselbe  enge  Bedeutung  gehabt  wie  noch  später 
in  Magdeburg.“)  Dann  würde  unsere  Ssp.-Stelle  eine  Aenderung 
und  Erweiterung  enthalten,  gegen  welche  man  in  Magdeburg 
protestierte,  weil  man  in  der  dortigen  Erbenfolge  das  Erbrecht 
mit  dem  Busen  in  Beziehung  brachte,  einen  Vorzug  der  Des- 
zendenz aber  nur  für  die  Kinder  anerkannte,  nicht  auch  für 
weitere  Nachkommen  insbesondere  Enkel,  wie  dies  eine  solche 
Erweiterung  des  „busmen“  nun  mit  sich  gebracht  hätte. 
Fragen  wir  aber  nach  Art  und  Grund  der  Neuerung  des  Ssp., 
so  haben  wir  uns  wieder  an  die  Entstehung  unsere  Abschnittes  zu 
erinnern,  wie  wir  sie  soeben  wahrscheinlich  zu  machen  versuchten. 

')  Vgl.  Wass.  S.  0.  S.  56  und  57,  die  lat.  Glosse  S.  58,  vgl.  auch  S.  87: 
Stobbe  B.  S.  48,  ▼.  Amira  S.  126,  Schanz  8.  39  f. 

*)  Vgl.  Waas.  S.  0.  S.  55—57. 

’)  Vgl.  Wass.  S.  0.  S.  58,  88,  170. 

*)  Deswegen  braucht  aber  durchaus  nicht  wie  der  Busen  auch  das  Des- 
zendeutenerbrecht  so  eingeschränkt  gewesen  zu  sein.  Wenn  die  Magdeburger 
den  Vorzug  der  Kinder  vor  andeni  Verwandten  damit  begründen,  dass  die- 
selben zu  dem  Verwandtenkomplex  des  Busens  gehören,  und  einen  Vorzug 
der  Enkel  ausschliessen  mit  der  Begründung,  dass  dieselben  nicht  zum  Busen 
gehören,  so  ist  doch  damit  nicht  gesagt,  dass  überall  der  Busen  für  das  Erb- 
recht und  nur  für  dasselbe  Bedeutung  gehabt  habe.  Ich  halte  ihn  für  die 
Bezeichnung  eines  engem  Nachkommenkreises,  der  an  sich  für  die  Erben- 
folge gerade  so  wenig  Bedentnng  hat  wie  der  engere  VerwandtenkTeis  in 
der  Sippe  im  weitem  Sinn. 


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77 


Dem  ganzen  Satze  mit  „Doch“  liegt  zu  Grunde  ein  Doppel- 
satz des  Inhalts,  dass  der  Sohn  des  Erblassers  erbe  vor  Vater 
und  Mutter,  Bruder  und  Schwester  desselben,  dass  die  Tochter 
erst  in  Ermanglung  eines  Sohnes  erbe,  aber  ebenfalls  vor  den 
genannten  andern  Verwandten.  Als  Grund  für  die  letztere 
Behauptung  wird  man  angegeben  haben:  Das  Erbe  geht  nicht 
aus  dem  Busen,  solange  ein  ebenbürtiger  Busen  da  ist.  Hier 
passt  der  Satz,  man  mag  nun  in  dem  Busen  sehen,  was  man 
will;  ja  hier  hat  er  wohl  überhaupt  seinen  eigentlichen  Platz. 
Nimmt  man  nämlich  mit  v.  Amira  die  ursprüngliche  Beschrän- 
kung des  Busens  auf  die  Kinder  an,  so  möchte  es  wohl  für 
eine  Erbfolgeordnung  nach  der  Theorie  v.  Amira’s  wie  für  jede 
andere  etwas  trivial  klingen,  wenn  man  das  Erbrecht  der 
Kinder  durch  den  allgemeinen  Satz  begründete,  dass  das  Erbe 
nicht  aus  dem  ebenbürtigen  Busen  gehe.  Um  den  Vorzug  der 
Kinder  vor  allen  übrigen  Verwandten  zu  rechtfertigen,  hat  es 
wohl  nie  eines  anderen  Grundes  bedurft,  als  dass  die  be- 
treffenden Verwandten  zum  Erblasser  im  Kindesverhältnis 
standen.  Ganz  andern  Gehalt  und  Sinn  bekommt  aber  unser 
Motiv,  wenn  es  angeben  soll,  weshalb  die  vom  Sohn  ausge- 
schlossene Tochter  immerhin  noch  vor  und  nicht  mit  Eltern 
und  Geschwistern  erbe.  Dann  sagt  es,  dass  die  Tochter  eben 
immerhin  noch  zum  Busen,  einem  besonders  engen  Verhältnis 
von  Erzeugern  und  Erzeugten1)  gehöre. 

Indem  man  nun  aber  die  gedachten  beiden  Sätze  durch 
Ersetzung  von  „sone“  und  „dochter“  durch  „sones  kint“  und 
„dochter  kint“  erweiterte  und  aus  dem  „Nach“  (Sohn,  dann 
Tochter)  ein  „Und“  (Sohnes-  und  Tochterkind)  machte,  erhielt 
das  Motiv  eine  ganz  veränderte  Stellung  und  Bedeutung.  Es 
war  vorher  Motiv  nur  zu  dem  zweiten  Satze,  jetzt  nach  der 
Zusammcnzieliung  gehörte  es  zu  beiden;  es  hatte  vorher  nur 
den  Vorzug  einer  Person  aus  der  ersten  Deszendentenstufe  be- 
gründet, nach  der  Hineinschiebuug  von  Sohneskind  bezw. 
Tochterkind  bezog  es  sich  mindestens  auch  auf  die  zweite;  es 
hatte  vorher  ein  „Nach,  aber  doch  vor“  begründet,  jetzt  recht- 
fertigte es  ein  „Mit“  oder  „Zusammen  vor.“ 

Diese  Verschiebung  des  Motivs  und  seiner  Bedeutung 

')  Vgl.  die  Erklärung  des  Bugen  bei  v.  Amira,  E.  S.  128,  aber  auch 
„Recht“  S.  140. 


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78 


kann  anf  zwei  Arten  vorgegangen  sein.  Entweder  ist  sie  ein 
Rest  der  Entstehung  des  dritten  Abschnittes,  eine  Eierschale 
desselben.  Verwunderlich  wäre  das  nicht.  Gerade  bei  der 
Entstehung  von  Formeln,  gerade  bei  reiflicher  Ueberlegnng, 
bei  mehrmaligem  Niederschreiben  eines  sorgfältiger  zu  formu- 
lierenden Abschnitts  in  mehreren  Entwürfen  kann  zu  leicht  in 
einem  spätem  Stadium  ein  Rest  aus  einem  frühem  hängen 
bleiben,  wobei  man  zu  bedenken  hat,  dass  Eike  die  Formu- 
lierung seiner  Rechtssätze  wohl  noch  bedeutend  mehr  Mühe 
gekostet  hat  als  manchem  Schriftsteller  oder  Gesetzgeber 
von  heute. 

Allein  Eike  kann  sich  der  Aenderung  auch,  sei  es  von  An- 
fang, sei  es  erst  später,  bewusst  gewesen  sein.  Er  kann  ab- 
sichtlich „busmen“  in  einem  weitem  Sinne')  gebraucht  haben  und 
hier  sagen  wollen:  Sohneskinder  und  Tochterkinder , beide 
erben  (zusammen)  vor  den  weitern  Verwandten;  sie,  auch  die 
Tochterkinder,  gehören  eben  zum  Busen,  aus  welchem  das  Erbe 
nicht  herausgeht,  solange  davon  noch  ein  dem  Erblasser  eben- 
bürtiges Glied  vorhanden  ist.  Das  Erbe  erfasst  alle  im  Busen 
befindlichen,  Sohnes-  wie  Tochterkinder,  bevor  es  den  Busen 
verlässt.*) 


')  Dass  dieser  weitere  Sinn  mir  Kinder  und  Enkel  umfasst  habe,  ist 
nirgends  gesagt.  Unsere  Stelle  zeigt  nur,  dass  der  Busen  nach  dem  Ssp. 
wenigstens  diese  beiden  enthielt,  aber  er  kann  ebenso  gut  schon  hier  die 
ganze  Deszendenz  einbegriffen  haben.  Ebenso  wenig  ergeben  die  Magde- 
burger Quellen,  welche  nur  den  Fall  erörtern,  dass  Enkel  nicht  zum  Busen 
gehören,  argumeuto  a contrario  für  das  sächsische  Recht  eine  Beschränkung 
auf  Kinder  und  Enkel.  Der  nach  Magdeburger  Recht  vollends  undenkbare 
Fall  der  Bevorzugung  der  Urenkel  und  ihrer  Einbeziehung  in  den  „busmen* 
bedurfte  selbstverständlich  nie  einer  besondern  Behandlung  nnd  Abweisung. 
Vgl.  übrigens  die  Quellenstelle  bei  Waas.  S.  O.  S.  58  und  170  und  v.  Amira, 
E.  S.  127,  welche  sogar  eher  für  Basen  = Deszendenz  sprechen. 

*)  Uebrigens  möge  hier  auch  noch  darauf  aufmerksam  gemacht  werden, 
dass  die  Frage,  weshalb  der  Busen  nicht  in  I 8 § 3 vorkomme,  sich  nach 
dem  Obigen  auf  zwei  Arten  beantworten  lässt.  Bei  der  cngern  Bedeutung 
von  Busen  war  der  Begriff  in  I 3 § 3 nicht  verwendbar,  weil  die  dort  vor- 
geführte Nachkommenschaft  eine  Kette  in  einander  gTeifeuder  Busen  ge- 
bildet hätte.  (Vgl.  das  Scböffennrteil  bei  Waas.  S.  0.  S.  57).  Bedeutet  Busen 
aber  die  ganze  Nachkommenschaft  des  Erblassers,  so  erscheint  er  nicht,  weil 
er  die  ganze  dort  vorgef ührte  erste  Parentel  umfasst  und  eine  analoge  An- 
wendung derselben  verhindert  oder  erschwert  hätte. 


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79 


Wie  dem  aber  auch  sei,  dass  dieser  Satz  vom  Busen,  wie 
er  in  unserer  Stelle  steht,  in  ungewöhnlicher,  auffälliger,  inkor- 
rekter Weise  angewendet  war,  zeigen  die  spätem  Bechts- 
quellen  unstreitig,  indem  sie  dagegen  opponieren,  oder  die 
widersprechendsten  Deutungen  von  Busen  geben.1)  Das  möchte 
Grund  genug  sein,  unsere  obige  Erklärung  zu  rechtfertigen,  ja 
als  notwendig  erscheinen  zu  lassen,  die  unter  andern  Um- 
ständen , namentlich  wenn  nicht  der  innere  Bau  der  Stelle  und 
die  übrigen  Quellen  sie  rechtfertigten,  allerdings  zu  kompliziert 
und  wohl  sogar  gewaltsam  erscheinen  möchte. 

Jedenfalls  aber  soll  unser  dritter  Absatz  nicht  etwa  die 
Stellung  der  Enkel  vor  Eltern  und  Geschwistern  als  eine  Aus- 
nahmestellung bezeichnen,  die  ihnen  wie  den  übrigen  Deszen- 
denten eigentlich  nicht  zukäme. 

Dagegen  bestätigt  nun  der  ganze  Paragraph , und  damit 
möchten  wir  unsere  Untersuchung  schliessen,  indirekt,  auch 
ohne  dass  er  ex  professo  von  der  Erbfolgeordnung  handelt, 
die  schon  aus  I 3 § 3 erschlossenen  Ergebnisse.  Er  zeigt  uns, 
dass  zunächst  Deszendenten,  Kinder  uud  Enkel  (Urenkel  sind 
nicht  erwähnt,  weil  sie  in  Betreff  des  Geschlechtsvorzugs  nicht 
in  Frage  kommen)  erben,  dann  die  Eltern,  hierauf  die  Geschwister, 
endlich  die  weitem  Verwandten  nach  der  in  I 3 § 3 gegebenen 
Regel.  Die  Parentelenordnung  findet  sich  indirekt  also  auch 
hier  ausgedrückt;  und  wenn  bei  der  Erklärung  von  I 3 § 3 
ein  Punkt  nicht  zwingend  nachgewiesen  werden  konnte,  nämlich 
dass  in  Ermangelung  von  Nachkommen  des  Erblassers  die 
Stammväter  desselben  mit  ihren  Sippen  in  der  Weise  folgten, 
dass  der  unterste  Stammvater  zuerst  kam,  und  dass  der  Stamm- 
vater allemal,  wenn  er  noch  lebte,  seine  Nachkommen  ausschloss, 
so  findet  sich  auch  dafür  hier  noch  ein  sicherer  Beleg. 

’)  Eltern  nnd  Kinder,  linea  deecendentium,  ja  sogar  die  ganze  gerade  Linie. 


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Anhang  I. 

Unser  Ergebnis,  dass  der  Ssp.  neben  der  Magenzahl  auch 
eine  von  den  Kindern  bezw.  Geschwistern  an  berechnete  Sippe- 
zahl kennt,  nnd  dass  diese  rechtlich  sogar  allein  massgebend 
ist,  während  der  Magenzahl  nur  terminologische  Bedeutung  zu- 
kommt, dürfte  geeignet  sein,  auch  einiges  neues  Licht  anf 
Schwsp.  c.  3 und  c.  377 11  zu  werfen.  Quelle  für  c.  3 war  in 
erster  Linie,  aber  nicht  allein,  Dsp.  c.  6.  Derselbe  zeigt  in 
dieser  Stelle  namentlich  zwei  Abweichungen  vom  Ssp.,  indem 
er  sagt:  „ungezwaiter  prüder  chint.  deu  stant  an  dem  lide  der 
schultern,  da  die  arme  zesame  gent.  also  tünt  die  geswister 
chint.  ditz  ist  deu  erste  sippe  zal.  die  magschaft  get  von  prüder 
chinden.  und  von  swester  chiralen,“  und  indem  er  den  ersten 
Teil  des  Zusatzes  im  Ssp.  folgendermassen  wiedergibt : „ez  erbet 
igleich  man  seinen  magen  untz  an  die  sibenden  sippe  auch  hat 
der  habest  weib  ze  nemen.  in  der  fünften  sippe  daz  ist  auch  recht.“ 

Die  erstere  Angabe  enthält  zum  mindesten  eine  Ungenauig- 
keit; wer  den  Ssp.  nicht  kannte,  mnsste  dieser  Formulierung 
entnehmen,  dass  die  Geschwisterkinder  die  erste  Sippezahl 
überhaupt  liabeu.  Die  zweite  Angabe  ist  geradezu  unrichtig. 
Der  Deutschenspiegler  übersieht  die  Verschiedenheit  des  Aus- 
drucks bei  „in  dem  seveden“  und  „in  der  veften,“  er  übersetzt: 
„an  die  sibenden  sippe“  und  „in  der  fünften  sippe“,  eine 
Flüchtigkeit,  welche  sich  der  Uebergehung  des  Zeitworts  in  dem 
Satz  vom  Papst  würdig  an  die  Seite  stellen  würde,  falls  die 
letztere  nicht  bloss  dem  Schreiber  unserer  Handschrift  zur 
Last  fällt. 


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81 


Aus  dem  Dsp.  schöpften  nun  zwei  Autoren,  der  Prediger 
Berthold  von  Regensburg  für  seine  Predigt  „von  der  e“  (in  der 
Ausgabe  Pfeiffers  I S.  312)  nnd  der  Schwabenspiegler  u.  z. 
der  letztere  so,  dass  er  zugleich  auch  Berthold  benutzte.1) 
Beide  Autoren  waren  Geistliche  und,  wenigstens  der  des 
Schwsp.,  wohl  bewandert  „in  den  buchen  decret  und  decretal“. 
Ihnen  beiden  musste  der  Widerspruch  der  Angabe  ihrer  Quelle 
mit  dem  kirchlichen  Rechte  auffallen.  Denn  sie  sagte,  der 
fünfte  Grad  sei  der  erste  frei  gegebene,  aber  diesen  fünften 
berechnete  sie  nicht  wie  die  Kirche  von  den  Geschwistern, 
sondern  von  den  Geschwisterkindern  an,  kam  also  auf  den 
sechsten  kirchlichen.  Diese  Unrichtigkeit  haben  in  der  Tat 
beide  bemerkt,  beim  Schwabenspiegler  tritt  das  nur  deutlicher 
hervor,  weil  er  die  Erbberechtigungsgrenze  angibt  und  den 
Zusatz  des  Ssp.  reproduziert,  was  beides  für  Berthold  ausser 
Betracht  fiel.  Beide  haben  auch  dem  Mangel  in  gleicher  Weise 
abgeholfen;  da  sie  nämlich  die  Urquelle,  Ssp.  I 3 § 3,  nicht 
kannten,*)  blieben  ihnen  nur  zwei  Wege,  entweder  zu  sagen, 
der  Papst  habe  erlaubt  im  vierten  Grade  zu  heiraten  oder  die 
Zählung  der  Quelle  zu  ändern.  Dass  sie  den  letzteren  wählten, 
ist  natürlich,  einmal,  weil  es  bedenklich  scheinen  musste,  eine 
auch  nur  anscheinend  dem  Kirchenrechte  widersprechende  An- 
gabe zu  machen,  ferner  weil  in  ihrem  Rechte  (wie  eben  auch 
in  dem  richtig  verstandenen  Ssp.)  die  Sippe  von  den  Geschwistern 
an  gezählt  wurde,  wie  ja  auch  die  kirchlichen  Quellen  die 


*)  Darüber  kann  nun  wohl  kein  Zweifel  mehr  sein,  vgl.  Strobl  in  den 
Sitzungsberichten  der  Wiener  Akademie  XCI  von  1878  S.  216  f.;  es  geht 
gerade  in  unserer  Stelle  bei  einer  genauen  Vergleichung  fast  aus  jedem  Satze 
hervor. 

’)  Seelig  behauptet  S.  11  Note  4 im  Widerspruch  zu  der  allgemeinen 
Ansicht,  dem  Verfasser  des  Schwsp.  habe  ausser  dein  Dsp.  auch  der  Ssp. 
Vorgelegen.  Dass  dies  nicht  richtig  ist,  zeigt  die  Art  und  Weise,  wie  sich 
in  dem  im  Text  besprochenen  Punkte  der  Schwsp.  mit  seiner  Quelle  ausein- 
andersetzt. Hätte  er  den  Ssp.  gekannt,  so  wäre  er  unzweifelhaft  einfach 
auf  ihn  zurückgegangen.  Wenn  Seelig  seine  Behauptung  darauf  gründet, 
dass  der  Schwsp.  sich  oft  an  den  Ssp.  mehr  anschliesst  als  an  den  Dsp.,  so 
zeigt  sich  dies  allerdings  auch  in  unserer  Stelle  (vgl.  z.  B.  die  erste  sippezahl, 
die  man  ze  magen  rechent) , es  würde  aber  nur  f Ur  die  Ansicht  Seeligs  be- 
weisen, wenn  gerade  die  uns  erhaltene  Handschrift  des  Dsp.  die  dem  Schwsp. 
zu  Grunde  liegende  sein  müsste. 

Stutz,  Verwandtschaftsblld.  S 


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82 


Zählung  von  den  Geschwisterkindern  an  ausdrücklich  verwarfen. 
Berthold  liess  nun  einfach  die  Erwähnung  des  Anfangs  der 
Magschaft  weg;  dass  er  sich  aber  bewusst  war,  welche  Folgen 
die  Aenderung  für  die  ganze  Stelle  hatte,  dass  nämlich  gegen- 
über dem  Dsp.  nun  ein  Glied  wegfiel,  sieht  man  daraus,  dass 
er  im  Bilde  den  Hals,  das  entbehrlichste  Glied,  wegfallen 
liess.  Nicht  nur  die  erste  Sippezahl  muss  er  den  Kindern  ge- 
geben haben,  sondern,  wenn  er  es  auch,  als  für  seine  Zwecke 
unnötig,  nicht  sagt,  auch  die  erste  Magenzahl.  Ausdrücklich 
dagegen  erwähnt  dies  nun  der  Schwsp.,  welcher  den  Zusatz, 
„die  man  ze  magen  rechent“,  zu  den  Geschwistern  setzt  und 
energisch  gegen  die  ungelehrten  Leute  vorgeht,  welche  anders 
zählen.  Dazu  gehört  offenbar  der  Deutsclienspiegler,  den  der 
Schwabenspiegler  auf  seiner  Flüchtigkeit  ertappt  hat,  in  aller 
erster  Linie,  während  man  nun  die  Polemik  auf  den  Ssp., 
den  ja  der  Schwabenspiegler  nicht  kannte,  wohl  nicht 
mehr  beziehen  darf.  Es  zeigt  übrigens  auch  dieser  Punkt 
wieder,  wie  manche  Abweichungen  des  Schwsp.  nicht  sowohl 
aus  prinzipiellem  Gegensatz  zum  sächsischen  Rechte,  sondern 
einfach  aus  dem  Umstande  zu  erklären  sind,  dass  der  Dsp. 
das  Mittelglied  zwischen  Ssp.  und  Schwsp.  bildet.  Endlich 
dürfte  unsere  Schwsp.  - Stelle  sowie  Bertholds  Predigt  ge- 
eignet sein  darzutun,  dass  die  Verwandtschaftsgrenze  und  das 
Verwandtschaftsbild  in  Süddeutschland  nicht  praktisch  waren, 
sonst  hätte  man  nicht  der  Quelle  zulieb  einfach  eine  Gene- 
ration und  ein  Glied  weggelassen,  hätte  man  auch  nicht  das 
Bild  zweiarmig  sich  gedacht. 


Anhang  II. 

Petrus  Lombardus.  Sententiarum  L.  IV  dist.  40  (nach 
Migne,  Patrologiae  cursus  lat.  Tom.  192  col.  937.)  vergl. 
oben  S.  29  und  30. 

2.  De  computatione  graduum  consanguinitatis. 

Quomodo  autem  gradus  consanguinitatis  computandi  sint, 
Isidorus  ostendit  sic,  libr.  9 Etym.  c.  3.  Series  consanguini- 


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83 


tatis  sex  gradibus  dirimitur,  hoc  modo:  filius  et  fllia,  quod  est 
frater  et  soror,  sit  ipse  truncns.  Illis  seorsnm  sejunctis  ex 
radice  illius  truuci  egrediuntur  isti  ramusculi:  ncpos  et  ueptis, 
primus;  pronepos  et  proneptis,  sccundus;  abnepos  et  abneptis, 
tertins;  aduepos  et  adneptis,  qnartus;  trinepos  et  trineptis, 
quintus;  trinepotis  nepos  et  trineptis  neptis,  sextus.  Attende 
quod  sex  gradus  tantum  pouit  Isidorus,  quia  tnincum  iuter 
gradus  non  computat.  Alii  vero,  qui  septem  gradus  ponunt, 
truncum  iuter  gradus  computant.  Varie  namque  computantur 
gradus  consanguinitatis.  Alii  enim  patrem  in  primo  gradu, 
filios  in  secundo  ponunt:  alii  primum  gradum  filios  appellant, 
negantes  gradum  cognationis  in  patrem  et  filium  esse , cum 
una  caro  sint  pater  et  filins.  Auctoritates  ergo,  quae  consan- 
guinitatis cautelam  usque  in  septimum  gradum  prohibent,  pa- 
trem ponunt  in  primo  gradu.  Illi  vero,  qui  usque  ad  sextum 
gradum  prohibent,  primum  gradum  filios  appellant.  Atqne  ita 
fit,  ut  eaedem  personae  secunduin  hanc  diversitatem  inveni- 
antur  in  sexto  et  septiino  gradu.  Patrem  vero  in  primo  gradu 
ponit,  qui  fratres  dicit  esse  secundum  gradum.  Hoc  modo 
computat  Zacharias  papa,  inquiens  ibidem  (c.  4 C.  XXXV  qu.  5): 
Parentelae  gradus  taliter  computamus : Ego  et  frater  meus  una 
generatio  sumus,  primumque  gradum  efficimus.  Rursus  filius 
meus  et  fratris  mei  filius  secunda  generatio  suut  et  secundum 
gradum  faciunt:  atque  ad  huuc  modum  caeterae  successiones. 
Inter  illos  vero,  qui  sex  computant  gradus,  et  illos,  qui  septem 
computant  gradus.  nnlla  in  sensu  existit  diversitas,  quamvis  in 
nnmero  graduum  varietas  videatur.  Ultima  enim  generatio,  si 
a fratribus  sumat  initinm  numerandi,  septima  invenitur. 


Anhang  III. 


Der  bei  Boretius,  über  Papiensis,  Alon.  Germ.  Leg.  4,  317 
Sp.  2 Z.  24  nnd  bei  Lörsch  und  Schröder,  Urkunden  etc. 
2.  Aufl.  N.  96  S.  73  abgedruckten  Formel  zu  ed.  Roth.  c.  153 
liegt  das  durch  Figur  I veranschaulichte  Verwandtschaftsver- 

»• 


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84 


hältnis  zu  Grunde.  Nach  der  Parentelenordnung  dargestellt 
I 

avtuMarcoardi 

et  proaai  Petri 

Patrrpn/\  P^Mpr^D 
aviP,  T Y FroaoujJjonuruci 

proaousPh  j hMarcoa  rduj  A**  Martini 

aviuP.  o 4 o aousD.avusn  z T^avwiAlart. 

paterP.  I .<  ]/("  \ pater  Mart 

JclntM  i rt  „ O . * A Martinus. 

JßO&tintcus 

gibt  es  Figur  II  und  zeigt,  dass,  wie  im  Texte  S.  59  bemerkt 
wurde,  für  beide  Praetendenten  Parentelcn-  und  Gradzahl 
gleich  war  und  somit  durch  je  eino  statt  zweier  Zahlen  wieder- 
gegeben werden  konnte.  Für  beide  ist  eben  der  jedem  mit 
dem  Erblasser  gemeinschaftliche  Stammvater  von  Erblasser 
und  Praetendent  um  gleich  viele  Zeugungen  entfernt.  Nicht 
dagegen  hätten  beide  Linien  für  jeden  znsammengefasst  werden 
können,  wenn  die  Verwandtschaft  nach  sächsischer  Weise  mit 
Namen  und  Glied  berechnet  worden  wäre.  Alsdann  hätte  sich 
Martinus  am  Ellbogen  eines  mütterlichen  proavus  des  Domini- 
cas abgestuppt,  Petrus  dagegen  am  ersten  Mittelfingerglied 
eines  väterlichen  avns  (Marcoardi)  proavi  Dominici.  Es  wären 
also  beide.  Linien  gezählt  worden,  und  den  Ausschlag  hätte  die 
Parentel,  in  unserm  Falle  die  Linie  von  Dominicas  nach  dem 
nähern  Stammvater,  gegeben.  Dass  auch  bei  der  Zahlenbe- 
rechnung der  Formel  die  Vier  nicht  als  Parentelenzahl , son- 
dern als  Grad-  (Glied-)  zahl  ausschlaggebend  war,  kann  aus 
der  Formel  selbst  so  wenig  bewiesen  werden,  wie  das  Gegen- 
teil, obschon  das  letztere  wahrscheinlicher  ist,  da  die  Nennung 
der  Aszendenten  des  Dominicus  nicht  viel  Sinn  gehabt  hätte, 
wenn  es  nur  auf  die  Linien  von  den  Stammvätern  nach  Petrus 
und  Martinus  hin  angekommen  wäre. 


II 


Duckd  uekerei  Marct/.kc  A MUnkn,  Trebiiity  in  Schlea. 


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JJ  ntersuchungea 

zur 

Deutschen  Staats-  und  Rechtsgeschichte 

herauagegeben 


Dr.  Otto  Gierke, 

Professor  der  Rechte  an  der  Universität  Berlin. 


35.  Heft 


Zur  Entstehungsgeschichte 
der  freien  Erbleihen 

ln  den  Rheingegenden 

und  den  Gebieten  der  nördlichen  deutschen  Colonlsutlon 
des  Mittelalters. 

Eine  rechtsgeschichtliche  Studie 

von 

W ■-  ' ,s/‘  ‘ 

Dr.  Ernst  Freiherrn  von  Schwind.  / - 


Breslau. 

Verlag  von  Wilhelm  Koebner. 
1891. 


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Zur  Entstehungsgeschichte 

der 

freien  Erbleihen 

in  den  Rheingegenden 

und  den 

Gebieten  der  nördlichen  deutschen  Colonisation 
des  Mittelalters. 


Eine  rechtsgeschichtliche  Studie 

von 

Dr.  Ernst  Freilierru  von  Schwind. 


B reslaa. 

Verlag  von  Wilhelm  Koebner. 
1891. 


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Meinem  lieben  Vater 

als 

verspätete  Festgabe 

zu  seinem 

neunzigsten  Greburtstage. 


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Vorwort, 


Die  vorliegende  Studie  verdankt  ihre  Entstehung  der  An- 
regung meines  väterlichen  Freundes,  des  Herrn  Professors  und 
Sectionschefs  von  Inama-Sternegg,  der  es  mir  nahelegte, 
das  für  die  Wirtschaftsgeschichte  des  deutschen  Mittelalters  so 
bedeutsame  Problem  der  Entstehung  und  Entwickelung  freier 
erblicher  Landleihen  vom  rechtsgeschichtlichen  Standpunkte  aus 
einer  Untersuchung  zu  unterziehen,  und  der  auch  im  Verlaufe 
der  Arbeit  mich  mit  seiner  reichen  Erfahrung  und  seinem  werth- 
vollen Rathe  vielfach  und  in  der  freundlichsten  Weise  unterstützte. 

Das  Thema,  das  hier  in  der  angegebenen  Richtung  seine 
\ Behandlung  finden  soll,  gehört  einer  Zeit  an,  die  in  vielfacher 
Beziehung  als  eine  Periode  des  Überganges  und  der  Gährung 
bezeichnet  werden  darf.  Wie  in  politischer  Beziehung  die  alten 
Grundfesten  des  Reiches  erschüttert  und  ins  Wanken  gerathen 
waren,  und  eine  lange  Zeit  verstreichen  musste,  ehe  das  Toben 
und  Treiben  wilder  leidenschaftlicher  Parteien,  die  gewaltigen 
Strömungen  im  Kampfe  zwischen  alt  und  neu  endlich  wieder 
der  längst  ersehnten  Ruhe  und  Ordnung  gewichen  waren,  so 
befand  sich  auch  das  gesammte  sociale,  wirthschaftliche  und 
rechtliche  Leben  in  dem  Zustande  der  Bewegung  und  des 
Werdens,  und  überall  finden  wir  absterbende  Trümmer  einer 
veralteten  und  spriessende  Keime  einer  neu  aufblühenden  Welt.  Die 
alte  hehre  Macht  des  einen  Kaiserthumes  war  untergegangen  vor 
den  aufstrebenden  und  immer  mehr  erstarkenden  Gewalten  einer 
grossen  Zahl  von  Landesfürsten;  diesen  erwuchsen  wieder  ihre 
Rivalen  aus  den  unteren  Kreisen  der  Bevölkerung,  vor  allen  in 
den  kräftig  sich  entfaltenden  Städten,  denen  es  in  immer  weiterem 
Umfange  gelang,  die  ihnen  widrige  Oberherrschaft  von  Fürsten 
und  Bischöfen  von  sich  zu  schütteln  und  eine  unabhängige  und 
freie  Stellung  zu  erreichen.  Und  bis  auf  die  untersten  Schichten 


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YIII 


der  ländlichen  Bevölkerung  lässt  sich  eine  ähnliche  Bewegung 
verfolgen;  überall  geht  der  Zug  der  Zeit  dahin,  die  tiefer  Ge- 
stellten zu  erheben  und  das  Übergewicht  der  Höheren  zu  brechen 
oder  zu  vermindern,  und  Spuren  dieser  Strömung  zeigen  sich 
auf  allen  Gebieten,  auf  dem  politischen  nicht  minder  wie  auf 
dem  socialen,  im  wirtschaftlichen  Leben  ebenso  wie  in  der  Ent- 
wickelung des  Rechtes. 

Das  Ergebnis  dieser  Strömung  speciell  auf  dem  Gebiete  der 
bäuerlichen  und  bürgerlichen  Grundbesitzverhältnisse  war  das  Auf- 
tauchen und  die  immer  häufigere  Anwendung  freierer  Landleihc- 
formen  und  demgegenüber  das  allmähliche,  aber  ebenso  entschiedene 
Zurückweichen  der  älteren  Formen  eines  persönlich  gebundenen 
Leiherechtes.  Dies  bedeutete  für  die  gesammte  Wirthschaftsver- 
fassung  die  wesentlichsten  und  einschneidensten  Veränderungen: 
vielfach  eine  Verselbstständigung  und  Loslösung  der  einzelnen 
bäuerlichen  Betriebe  aus  dem  Organismus  der  grossen  Grund- 
herrschaften, anderwärts  sogar  die  Entstehung  gänzlich  neuer 
Formen  für  die  bäuerlichen  Rechtsverhältnisse.  Völlig  parallel 
mit  dieser  Umwälzung  der  wirthschaftlichen  Verhältnisse  hielt  sich 
die  analoge  Umgestaltung  ihrer  rechtlichen  Grundlagen,  ins- 
besondere des  Güterleiherechtes.  Während  früher  die  leiherecht- 
liche Übernahme  fremden  Grund  uud  Bodens  immer  eine  gewisse 
Rückwirkung  auf  die  persönliche  Freiheit  und  Selbstständigkeit 
des  Empfängers  ausübte,  also  von  einem  statusrechtlichen  Ein- 
flüsse begleitet  war,  kamen  später  rein  vermögensrechtliche 
Landleihen  in  Gebrauch,  welche  auf  die  Persönlichkeit  der  Con- 
trahenten  keinen  Einfluss  übten,  oder  in  welchen  die  Beliehenen 
wenigstens  keinem  anderen  Abhängigkeitsverhältnisse  ihrem 
Leiheherrn  gegenüber  sich  zu  unterwerfen  hatten,  als  cs  durch 
deren  obrigkeitliche  Stellung  von  selbst  geboten  war. 

Die  vorliegende  Studie  befasst  sich  mit  jener  Übergangszeit, 
in  welcher  die  alten  Formen  aus  dem  Leben  noch  nicht 
geschwunden,  und  die  neuen  Principien  noch  nicht  allseits  zum 
Durchbruche  gelangt  waren.  Als  ich  an  die  Untersuchung 
herantrat,  gieng  zunächst  meine  Absicht  dahin,  die  beiden  Typen 
des  gebundenen  uud  freien  Leihercchtes,  deren  Vorhandensein 
aus  den  Quellenzeugnissen  jener  Zeiten  bald  unzweifelhaft  wird, 
nach  ihrem  rechtlichen  Inhalte  und  Character  möglichst  klar 
festzustellen  und  die  markanten  Unterscheidungsmerkmale  zu 
bestimmen,  aus  deren  Vorhandensein  auf  die  rechtliche  Natur 
des  einzelnen  Leihevertrages  zu  schliessen  wäre.  Die  Unmöglich- 


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IX 


keit  der  Durchführung  dieses  Gedankens  für  das  Gebiet  der 
Coloniaationen  musste  bei  einem  näheren  Eingehen  auf  die  be- 
zügliche urkundliche  Überlieferung  bald  zu  vollster  Gewissheit 
werden.  Aber  auch  für  das  in  seiner  späteren  Entwickelung 
rein  private  Leiherecht  der  westlichen,  culturell  vielleicht  am 
meisten  vorgeschrittenen  Gebiete  hat  die  Untersuchung  mit  dem 
Ergebnisse  geendet,  dass  zwischen  den  gebundenen  und  freien 
Leiheformen  eine  grosse  Reihe  verbindender  Zwischenglieder 
nachzuweisen  sind,  welche  die  Bestimmung  einer  Grenzlinie,  die 
beide  Gebiete  scharf  von  einander  trennte,  unmöglich  machen, 
dagegen  die  Annahme  einer  rechtsgeschichtlichen  (Kontinuität  un- 
endlich nahe  legen. 

Die  Methode,  welche  für  den  Gang  und  die  Durchführung  der 
Untersuchung  massgebend  war,  wird,  wie  ich  meine,  hauptsächlich 
nach  einer  Seite  hin  einer  Rechtfertigung  bedürfen.  Denn  dass  jede 
derartige  rechtsgeschichtliche  Studie  eich  vorwiegend  auf  dasjenige 
Quellengebiet  stützen  muss,  welches  über  das  untersuchte  Pro- 
blem die  reichsten  Nachrichten  gibt,  bedarf  wohl  keiner  besonderen 
Begründung,  und  ebenso  scheint  es  mir  unzweifelhaft,  dass  gerade 
für  die  Zeit  der  Entstehung  und  der  Entwickelung  eines  neuen 
Rechtsinstitutes  Urkunden,  die  hier  vornehmlich  herangezogen 
werden  mussten,  gewiss  die  verlässlichste  Quelle  zur  Beurtheilung 
eines  solchen  Werdeprocesses  sind;  wo  nämlich  die  Bewegung 
noch  nicht  in  ausgefahrenen  Geleisen  erfolgt,  muss  in  der  für  den 
einzelnen  Fall  aufgenommenen  Urkunde  der  wesentliche  Inhalt 
des  Geschäftes  und  insbesondere  das  Neue,  also  eben  das  un- 
zweideutig zum  Ausdrucke  kommen,  was  für  den  Entwickelungs- 
gang bestimmend  und  entscheidend  ist.  Die  Bearbeitung  und  Aus- 
beutung dieses  quellenmässig  gebotenen  Materiales  über  ein  gewohn- 
heitsrechtlich entstehendes  Rechtsgebilde  kann  dann  natürlich  nur 
in  der  W eise  erfolgen,  dass  man  aus  den  vorliegenden  Einzelfällen  die 
in  ihnen  enthaltenen  allgemeineren  rechtlichen  Grundgedanken  ab- 
strahiert und  so  die  Regeln  ermittelt,  denen  das  Leben  zu- 
fällig oder  aus  inneren  Gründen,  aber  jedenfalls  unbewusst  und 
ohne  den  Zwang  äusserer  Normen  in  seinen  Einzelerschei- 
nungen gefolgt  ist. 

Aber  auch  bei  einem  solchen  möglichst  objectiven  Vorgehen 
bleiben  wir  doch  nie  ganz  auf  dem  Boden  stehen,  der  der  alten 
Zeit  und  den  alten  Verhältnissen  angehört.  Denn  wenn  wir 
auch  sonst  nichts  in  die  Vergangenheit  hineintragen,  so  ist  doch 
der  Massstab,  mit  dem  wir  messen,  die  rechtlichen  Grundbegriffe, 


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X 


die  wir  bei  jeder  juristischen  Analyse,  und  sei  es  auch  nur  zum 
Zwecke  der  Vergleichung,  nothwendig  heranziehen  müssen,  ge- 
wiss wenigstens  zum  Theile  ein  Product  unseres  Geistes  und 
unserer  Zeit;  und  oft  sind  sie  uns  so  sehr  zu  eigen  geworden, 
dass  wir  nicht  mehr  auseinanderzuhalten  wissen,  was  eine 
historische  Entwickelung  zu  ihrer  positiven  Ausgestaltung  beige- 
tragen (was  also  nur  wir  hineinzulegen  gewohnt  sind)  und  was 
wirklich  in  der  Natur  der  Sache  begründet  ist,  und  darum  unter 
allen  Verhältnissen  seine  Giltigkeit  behaupten  kann.  Nun  fusst 
unsere  moderne  Jurisprudenz  und  unser  heutiges  juristisches 
Denken  auf  zwei  ihrem  Wesen  nach  sehr  verschiedenen  Elementen, 
dem  römischen  und  dem  deutschen  Hechte,  und  wenn  wir  auch 
in  einer  Zeit  leben,  in  welcher  die  wenigstens  auf  dem  Gebiete 
der  gelehrten  Jurisprudenz  zur  Wirklichkeit  gewordene,  von  den 
Vorkämpfern  des  Romanismus  seinerzeit  als  selbstverständlich 
hingenommene  Alleinherrschaft  des  römischen  Rechtes  auf  vielen 
Gebieten  einer  wesentlich  anderen  Auffassung  gewichen  ist,  so 
ist  doch  unser  heutiges  Rechtsleben  und  die  juristische  Doctrin 
vorwiegend  oder  wenigstens  zum  grossen  Theile  von  seinem 
Ideenkroise  durchdrungen. 

Das  bis  weit  in  unser  Jahrhundert  hinein  noch  viel- 
fach beliebte  Verfahren,  alle  Rechtsgebilde  vom  romanistischen 
Standpunkte  erklären,  die  rechtlichen  Bildungen  eines  be- 
liebigen Culturzustandes  mit  der  Gelehrsamkeit  der  römischen 
Juristen  und  mit  den  Entscheidungen  der  byzantinischen 
Kaiser  begründen  und  begreifen  zu  wollen , ist  jetzt 

wenigstens  für  das  Gebiet  germanistischer  Untersuchungen  gänz- 
lich aufgegeben  worden.  Die  Thatsache,  dass  seit  den  Tagen 
der  Reception  eine  ungeheuere  Menge  geistiger  Kraft  in  dem 
Bestreben  verbraucht  wurde,  die  eigenartigen  Formen  des  deutschen 
Rechtslebens  mit  irgend  einer  der  wenigen  Typen  der  römischen 
Begriffswelt  zu  indentificieren , und  dass  diese  Bemühungen  so 
häufig  mit  der  Erkenntnis  enden  mussten,  dem  deutschen  Rechts- 
institute komme  gegenüber  allen  auf  römischem  Boden  zur  Ent- 
stehung gelangten  Rechtsformen  seiue  eigene  Individualität  zu, 
und  keine  der  römischen  Rechtsschablonen  könne  unmittelbar 
übertragen  werden,  all  dies  dient  heutzutage  als  Warnung,  nicht 
neuerlich  die  gleiche  Sisyphusarbeit  zu  beginnen. 

Im  directen  Gegensätze  zu  dieser  älteren  Richtung  löst  sich 
die  moderne  germanistische  Rechtschule  möglichst  los  von  dem 
Banne  der  römischen  Begriffswelt  und  ist  von  der  gewiss  vollauf  be- 


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XI 


gründeten  Absicht  geleitet,  ungetrübt  und  unbeinflusst  von  fremden 
Rechtsgedanken,  den  wahren  Ideeninhalt  des  eigenen  Rechtes 
klarzulegen.  Ihr  ist  es  darum  zu  thun,  den  reichen  Gedanken- 
schatz zu  heben,  den  das  ältere  heimische  Recht  birgt,  an  Stelle 
römischer  Begriffe,  die  trotz  ihrer  durch  Jahrhunderte  währenden 
Giltigkeit  sich  nie  völlig  einbürgern,  nie  zu  den  unseren  werden 
konnten,  auch  auf  dem  Gebiete  der  gelehrten  und  abstrahieren- 
den Jurisprudenz  den  Producten  des  deutschen  Geisteslebens  zu 
ihrem  Rechte  zu  verhelfen. 

Auch  die  vorliegende  Schrift  will  eine  germanistische  Ab- 
handlung in  diesem  Sinne  sein ; auch  ihr  Ziel  ist  dahin  gerichtet, 
die  untersuchten  Rechtsinstitute  in  ihrem  wahren  Wesen  zu  er- 
kennen, sie  aus  ihrem  Geiste,  nicht  dem  der  römischen  Juris- 
prudenz zu  erklären  ; und  die  Ergebnisse,  mit  welchen  sie  ab- 
schliesst,  dürften  wohl  geeignet  sein,  die  Orginalität  der  hier 
behandelten  rechtlichen  Gebilde  und  ihren  Gegensatz  zu  dem 
römischen  Rechte  im  ganzen,  wie  auch  in  Einzelheiten  klarzu- 
legen. Und  doch  entfernt  sich  die  Untersuchung  auf  dem  Wege, 
der  zu  diesem  Endziele  geführt  hat,  in  mancher  Richtung  von 
dem,  was  nach  dem  oben  Gesagten  erwartet  werden  dürfte;  die 
Behandlung  des  Stoffes  mag  nämlich  wenigstens  äusserlich  be- 
trachtet in  mehrfacher  Beziehung  mehr  romanistisch  erscheinen, 
als  man  mit  den  hier  vertretenen  Principien  für  vereinbar  halten 
dürfte.  Dafür  waren  die  folgenden  Überlegungen  bestimmend. 

Man  mag  über  die  Vortheile  und  Nachtheile  der  Reception 
der  fremden  Rechte  denken,  wie  man  will,  die  Thatsache  ist 
nicht  aus  der  Welt  zu  schaffen,  dass  durch  Jahrhunderte  die 
Entwickelung  und  die  fortschreitende  Erkenntnis  des  Rechtes 
unter  dem  Banne  des  Romanismus  gestanden,  unter  seiner  Leitung 
und  in  seinen  Formen  sich  vollzogen  hat.  Und  so  sehr  man 
auch  zugeben  muss,  dass  in  diesem  Entwickelungsgange  unser 
nationales  Recht  vielfach  Schaden  genommen  hat,  und  mancher 
lebensfrische  Keim,  überwuchert  von  den  mächtiger  aufschliessen- 
den  Trieben  einer  fremden  Saat,  erstickt  wurde:  die  Vortheile 
und  Ergebnisse,  zu  welchen  die  Jurisprudenz  in  diesen  Jahr- 
hunderten gelangt  ist,  sind  doch  ein  Gemeingut  für  uns  alle  ge- 
worden. Die  Frage  ist  müssig,  wie  es  um  die  heutige  Juris- 
prudenz stünde,  wenn  das  römische  Recht  von  Bologna  her  nicht 
die  Welt  erobert  hätte;  aber  nachdem  es  durch  fast  ein  halbes 
Jahrtausend  die  Welt  beherrscht  hat,  fusst  doch  unsere  juris- 
tische Erkenntnis,  auch  die  Erkenntnis  unseres  einheimischen 


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Rechtes  zum  grossen  Theile  auf  der  Schulung,  die  uns  und 
unseren  Vorfahren  das  römische  Recht  gegeben  hat,  und  viel- 
fach sind  wir  zur  richtigen  Erfassung  allgemeiner  juristischer 
Gedanken  an  der  Hand  der  strengen  Formen  seiner  individuell 
entwickelten  Rechtsgrundsätze  gelangt. 

In  allen  Fällen  nun , in  welchen  die  Bestimmung  solcher 
allgemeiner  juristischer  Begriffe  oder  Unterscheidungen  dank  der 
positiven  Entwickelungsgeschichte  unserer  Jurisprudenz  auf  dem 
Wege  des  Romanisinus  gewonnen,  auf  dem  Gebiete  des  römischen 
Rechtes  zu  voller  Klarheit  entwickelt  wurde,  schien  mir  die 
Übertragung  derselben  auch  im  römischen  Gewände  auf  unsere 
deutschen  Rechtsverhältnisse  gerechtfertigt , sofern  ihnen  nur 
wirklich  allgemeine  Giltigkeit  oder  wenigstens  Anwendbarkeit 
auf  den  concreten,  eben  in  Frage  stehenden  Fall  zukam;  sie 
schien  mir  begründet,  wo  an  den  technischen  Ausdruck  der 
römischen  Rechtesprache  ein  Begriff  von  grösserer  Klarheit  und 
Fräcision  geknüpft  ist  als  an  das  entsprechende  deutsche 
Wort.  Denn  mag  auch  für  Gesetzgebung  und  Lehre  das  Be- 
streben dahin  gehen,  das  deutsche  Recht  nicht  nur  materiell, 
sondern  auch  formell  und  sprachlich  auf  seinem  Gebiete  zur 
Geltung  zu  bringen,  so  schien  mir  unter  den  heutigen  Ver- 
hältnissen für  die  wissenschaftliche  Discussion  der  Ausdruck  der 
beste,  der  den  gewollten  Begriff  am  unzweideutigsten  und  am 
kürzesten  bezeichnet. 

Aber  nicht  nur  aus  diesen  mehr  äusserlichen  Gründen  hielt 
ich  die  Anlehnung  an  die  römische  Terminologie  und  römisch- 
rechtlichen  Begriffe  für  geboten;  auch  innere  Gründe  waren  mir 
dafür  entscheidend. 

Die  von  der  modernen  germanistischen  Schule  gewonnenen 
juristischen  Abstractionen  sind  naturgemäss  von  jener  Einfachheit 
und  Einheitlichkeit  ziemlich  weit  entfernt,  welche  die  römischen 
Begriffe  auszeichnet.  Der  Grund  dafür  liegt  sicher  nicht  etwa 
in  einer  geringeren  Präcision  der  germanistischen  Jurisprudenz, 
sondern  in  der  grösseren  Vielgestaltigkeit  der  Verhältnisse  selbst, 
die  sich  frei  und  in  reicher  Ausgestaltung  entwickelt  haben,  ohne 
dabei  durch  positive  Können  und  formale  Vorschriften  in  be- 
stimmte Geleise  gelenkt  zu  werden.  Bei  der  so  zur  Enstehung 
gelangten  Mannigfaltigkeit  der  rechtlichen  Verhältnisse  selbst  ist 
es  begreiflich,  dass  selbst  unter  den  Vertretern  der  deutschen 
Rechtswissenschaft  über  manche  ganz  wesentliche  Begriffe  keine 
volle  Einigung  erzielt  wurde ; und  es  ist  nur  natürlich, 


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XIII 


dass  dag,  wag  auf  dem  eigenen  Boden  nicht  völlig  gesichert  ist 
und  manchen  Angriff  erfahren  mues,  ausserhalb  des  eigenen  Ge- 
bietes oft  überhaupt  keine  Anerkennung  findet.  Entfernt  gich 
nun  die  germanistische  Rechtswissenschaft  gänzlich  von  ihrer, 
vielleicht  feindlichen,  Schwester  und  stellt  sich  ausschliesslich 
auf  ihre  eigenen  Beine,  so  liegt  wohl  nichts  näher,  als  dass  auch 
diese  sich  um  sie  nicht  kümmert  und  über  ihre  Ergebnisse  die 
Achsel  zuckt,  weil  sie  häufig  schon  die  Grundlagen  nicht  aner- 
kennt, auf  denen  das  juristische  Gebäude  aufgeführt  wurde.  Und 
es  ist  wohl  nicht  nothwendig,  darauf  zu  verweisen,  dass  dies 
auch  in  unserer  Zeit  nicht  nur  in  vereinzelten  Fällen  geschieht. 
Darum  erschien  mir  eine  Annäherung  an  das  römische  Recht  um 
des  deutschen  Rechtes  willen  nothwendig  und  gerathen,  und  die 
Begründung  manchor  Sätze  in  weiterem  Umfange  geboten,  als 
es  vom  rein  germanistischen  Standpunkt  vielleicht  wünschens- 
werth  erscheinen  mag.  Wenn  wir  vom  römischen  und  modernen 
Rechte  für  die  deutschen  Verhältnisse  soviel  acceptieren , als, 
ohne  diesen  Gewalt  anzuthun,  möglich  ist,  dann  gewinnen  wir 
eine  Operationsbasis,  die  auch  ausserhalb  unseres  Gebietes  An- 
erkennung finden  muss,  und  wenn  wir  auf  dieser  Grundlage  zu 
Ergebnissen  gelangen,  welche  von  dem  abweichen,  was  der 
Roraanismu8  nicht  nur  für  sich  behauptet,  sondern  häufig  als  all- 
gemein giltig,  weil  angeblich  logisch  nothwendig  bezeichnet,  so 
kann  man  daran  auch  im  feindlichen  Lager  nicht  mehr  achtungs- 
los vorübergehen.  So  ist  die  Annäherung,  die  hier  versucht 
wurde,  vielleicht  nicht  mehr  als  ein  Waffenstillstand,  zunächst 
abgeschlossen  mit  der  kriegerischen  Absicht,  die  Mittel  und  Wege 
zu  schaffen,  um  den  Feind  danach  mit  seinen  eigenen  Waffen 
um  so  wirksamer  bekämpfen  zu  können,  bis  später  einmal 
ein  wirklicher  Friede  die  heute  bestehenden  Gegensätze  dauernd 
ausgleicht  und  endgiltig  vereint. 

Freilich  birgt  ein  solches  tactisches  Vorgehen  auch  nicht  geringe 
Gefahren  für  die  eigene  Partei.  Namentlich  die  Frage,  wie  viel 
aus  dem  fremden  Gebiete  herüber  genommen  werden  darf,  ohne 
dem  eigenen  zu  schaden,  in  welchem  Umfange  den  Ergebnissen 
der  romanistischen  Jurisprudenz  wirklich  jene  Allgemeinheit 
innewohnt,  die  vorausgesetzt  werden  muss,  wenn  die  Über- 
tragung auf  deutsche  Rcchtsgebilde  berechtigt  sein  soll,  ist  oft 
schwer  und  nicht  mit  Sicherheit  zu  beantworten,  und  leicht 
können  Vorurtheile  oder  Meinungen,  die  in  unserer  an  dem 


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XIV 


positiven  Rechte  gebildeten  Rechtsauffassang  tief  eingewurzelt 
sind,  für  eine  unrichtige  Beantwortung  bestimmend  werden. 

Dass  die  vorliegende  Untersuchung  diesen  Gefahren  nicht 
ganz  entkommen  ist,  unterliegt  mir  keinem  Zweifel;  ich  wäre 
zufrieden,  wenn  ihr  Inhalt  trotz  aller  vorhandenen  Mängel  im 
allgemeinen  dafür  Zeugnis  ablegen  würde,  dass  sie  durchgeführt 
wurde  in  dem  Bestreben  nach  einer  möglichst  objectiven  und  vor- 
urtheilsfreien  Erkenntnis  von  Inhalt  und  Wesen  der  hier  be- 
sprochenen rechtlichen  Gebilde. 

Zum  Schlüsse  sei  es  mir  gestattet,  allen  denen,  die  durch 
ihre  freundliche  Unterstützung  an  dem  Zustandekommen  und 
der  Vollendung  dieses  Erstlingsversuches  Theil  haben,  meinen 
besten  und  aufrichtigsten  Dank  auszusprechen.  In  ihrem  Ent- 
stehen hat  die  vorliegende  Studie  von  vielen  Seiten  in  der  freund- 
lichsten Weise  Anregung  und  Förderung  erfahren;  möge  die 
gleiche  wohlwollende  Gesinnung  auch  der  fertigen  Schrift  in  dem 
ernsten  Augenblicke  zur  Seite  stehen,  da  sie  den  schweren  Schritt 
in  die  Öffentlichkeit  thut ! 

Wien,  am  21.  October  1890. 


Schwind. 


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Inhaltsübersicht. 


Einleitung. 

(S.  1—81.) 

Die  älteren  Loihefonnen  (1)  u.  zw.  Precarien  (2),  Beneficien  (3)  und 
hofrechtliche  Leihen  (3).  — Die  leiherechtlichen  Bestimmungen  der  Rechts- 
bücher (4)  u.  zw.  des  Sachsenspiegels  (4),  des  Spiegels  deutscher  Leute  und  des 
Schwabenspiegels  (7);  der  Glosse  zum  Sachsenspiegel  (7);  des  Wiener  Weich- 
bildbuches (9):  über  Bergrecht  (9)  über  Burgrecht  (12).  — Allgemeines  Vor- 
kommen analoger  Leibeformen  in  den  Städten  ( 18),  sowie  auch  auf  dem  Lande 
(19).  — Ziel  und  Grenzen  dieser  Arbeit  (20). 

I.  Freie  Landleihe vertrSge  in  den  Rheingegenden. 

(S.  22-192.) 

Das  Auftreten  neuer  Leiheverträge  in  den  rheinischen  Urkunden  des 
12.  und  13.  Jahrhunderts  (22);  ihr  wesentlicher  Inhalt,  Beispiele  (23) ; 
„jus  hereditarium“  als  technische  Bezeichnung  (25).  — Anordnung  der  Dar- 
stellung (26). 


Dogmatlsolier  Thell, 

(8.  26-83.) 

t.  Die  rechtliches  Beziehungen  zum  Leihegute.  (Die  sachearechtüchen  Elemente). 

(8.  26-44.) 

Jus  hereditarium  und  Eigenthum  (26).  Das  Eigenthum  des  Gutsherrn 
(S.  28).  — Der  Umfang  der  leiherechtlichen  Befugnisse  (29):  freies  Verfügungs- 
recht (29);  Erblichkeit  und  deren  Schranken  (30);  Mangel  des  Rechtes  der 
Veräusserung  (32),  der  Verpfändung  (33)  und  ursprünglich  auch  der  Weiter- 
verleihung (34),  die  rechtlichen  Schicksale  der  Besserung  (35).  — Objecte 
der  Leihen  (36),  Subjecte  (37).  — Form  der  Begründung  des  Leiherechtes  (38), 
die  Leiheurkunden  nach  Form  und  Inhalt  (38),  Mitwirkung  des  Gerichtes  ? 
(39).  ■ Besitzweohsel  im  Erbgange  (42).  — 


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XVI 


2.  Die  rechtlichen  Beziehungen  zwilchen  ElgenthOmer  und  Beliehenern. 

(Die  obllgatlonenrechtllchen  Elemente.) 

(8.  45-83.) 

Die  Zinsverpflichtung  (45 — 71):  Form  und  Inhalt  derselben  (45); 
ihre  Tin  Veränderlichkeit  (46);  ihre  juristische  Natur  (47):  Hechtsverlust 
wiederholt  als  letzte  Folge  der  Zinsaäumnis  ausgesprochen  (48),  Ausschluss 
persönlicher  Klagen  wegen  des  Zinses  (51),  die  Erfüllung  der  Zinspflicht 
sonach  Bedingung  für  den  Fortbestand  der  Leihe  (52);  Giltigkeit  des 
gleichen  Recbtsgedankens  auch  für  die  Fülle,  die  ihn  nicht  ausdrücklich  be- 
zeugen (53).  Ergebnis : F'olgen  der  Hora  nur  Rechtsverlust  nicht  Personal- 
execntion  (56);  Angemessenheit  dieser  rechtlichen  Ordnung  für  die  Ver- 
hältnisse ihrer  Zeit  (56);  einzelne  Consequenzen  aus  dem  allgemeinen  Prin- 
cipe (59).  — Kein  gesetzliches  oder  gewohnheitsrechtliches  Pfändungsrecht 
wegen  der  Zinsforderungen  (62).  — Veränderungen  in  der  Zinsverpflichtung 
(64):  Wechsel  in  der  Person  des  Zinsberechtigten  (Gutsherrn)  (64)  und  de« 
Zinspflichtigen  (65)  namentlich  durch  Erbgang  (65);  Rechtsverhältnis  zwischen 
Erblasser  und  Erben  in  Bezug  auf  rückständig  gebliebene  Zinsraten  (66). 
Analogien  aus  dem  späteren  Rechte  (68).  — Garantien  und  Sicherstellungs- 
mittel für  die  Vertragsverbindlichkeiten  (72).  — Secundäre  Verpflich- 
tungen (74):  zu  Bauführungen,  Culturarbeitcn  und  Meliorationen  (74),  Be- 
8itzübertragungs-  und  Einweisungsgebühr  (76);  rechtliche  Behandlung  der- 
selben (77).  Ersatzansprüche  (78),  insbesondere  wegen  der  Besserung  (79). 
— Endergebnis:  Das  Leiherecht  in  allen  Beziehungen  beherrscht  von  dem- 
selben einheitlichen  und  einfachen  Grundgedanken  (80);  Einschränkungen (81). 

Hlatorlschcr  Thcil. 

Das  Verhältnis  zu  den  verwandten  älteren  und  gleichzeitigen  Leihen. 

(8.  83-122.) 

Das  Verhältnis  zu  den  Precarien  des  älteren  Rechtes  (84);  Unmöglich- 
keit einer  rechtsgescbiohtlichen  Continuität  (85).  — Die  Landleihen  im  Kreise 
der  geschlossenen  WirthBchaftsvorbäude  (86);  die  persönlichen  wirthschaft- 
liehen  und  gerichtlichen  Verhältnisse  am  Herrnhofe  (87).  Leihereohtliche 
oder  dem  Leihrechte  analoge  Übertragungen  von  Grund  und  Boden  an 
Angehörige  solcher  Wirthschaftsverbände  (89):  an  Unfreie  (ursprünglich 
rein  factisoher  und  sehr  preoärer  Natur)  (89),  au  Angehörige  des  Mittel- 
standes (91):  trotz  der  persönlichen  Abhängigkeit  doch  selbstständiges  Reoht 
gegenüber  dem  Herrn  (91);  als  Folgen  der  ersteren  neben  der  Zinspflicht 
noch  audere  Abgaben,  wie  Vorheuer,  Kurmede,  Lizenzgebühr  und  wirkliche 
persönliche  Beschränkungen  (92).  Urkundliche  Nachrichten  über  die  per- 
sönliche Stellung  von  solchen  Beliehenen  (94).  Neben  und  trotz  diesen  per- 
sönlichen Momenten  die  vermögensrechtlichen  Bestimmungen  hier  dieselben 
wie  in  den  freien  Leihen  (97),  Die  Vermuthung  eines  rechtsgeschichtlichen 
Zusammenhanges  bestärkt  durch  das  Vorhandensein  von  Übergangsfällen 
(101)  zweifacher  Art:  Anwendung  entschieden  hofrechtlicher  Formen  auf 
gewiss  nicht  abhängige  Personen,  insb.  kirchliche  Institute  (102)  und  Über- 
gangsfälie  im  Kreise  des  wirtschaftlichen  Betriebes  (105).  Demnach  kein 
unvermittelter  Gegensatz  sondern  allmählicher  Übergang  zwischen  hofrecht- 
licher und  freier  Leihe  (112);  Zusammenhang  auch  mit  der  städtischen  Leihe 


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XVH 


(113).  Ergebnis:  die  freien  (städtischen  wie  ländlichen)  Erbleihen  eine  Um. 
bildung  der  hofrechtlichen  Leihe  (118).  Wirthschaftliche  Ursachen  für  die 
Entstehung  der  neuen  Rechtsform  (119);  Einfluss  der  für  kirchliche  Zwecke 
begründeten  Zinsverpflichtungen  auf  diese  Entwickelung  (ISO). 

II.  Die  bäuerlichen  Zinsgttter  der  nördlichen  deutschen 
Colontsatlonsgeblete. 

(8.  123-183.) 

Allgemeines  (133).  Die  Coloniengriindungen  des  Erzbischofs  Friedrich 
von  Hamburg -Bremen  aus  dem  Jahre  1106  (125),  des  Bischofs  Udo  von 
Hildesheim  zwischen  1079  und  1114  (129)  und  ihr  Verhältnis  zur  ersteren  (131). 
Übersicht  über  die  holländische  Colonisation  in  der  Bremer  Landschaft  (133) : 
Die  Colonie  Hartwig  I.  von  Bremen  im  Stedingerlande  1149  (183).  Die 
Machtenstedt’schen  Colonisationsurkunden  (134);  die  Colonie  Hartwig  II. 
von  Bremen  1201  (135).  — Colonien  mit  vorwiegend  einheimischer  Be- 
völkerung (136):  Die  Colonisierung  des  Niederviehlandes  bei  Bremen  von  1143 
durch  Erzbischof  Adalbero  (136)  und  die  Bremer  Colonie  von  1181  des  Erz- 
bischofs Siegfried  (138).  — 

Die  in  den  genannten  Colonisationsprivilegien  zu  Tage  tretende  recht- 
liche Entwickelung:  die  Ordnung  der  öffentlichen  Angelegenheiten  anfäng- 
lich den  Colonisten  frei  überlassen,  später  durch  den  herrschaftlichen  Willen 
geregelt;  immer  engere  Einordnung  in  den  herrschaftlichen  Verband  (141). 
Die  weitere  Entwickelung  des  Colonistenrechtes  vorwiegend  auf  dem  Gebiete 
des  öffentlichen  Reohtes  (142).  Die  Leiter  der  Colonien  ursprünglich  nur 
Anführer  ihrer  Genossen,  zum  Schlüsse  als  Schultbeissen  von  der  Herrschaft 
eingesetzte  und  anerkannte  obrigkeitliche  Functionäre  (143).  — Übergangs- 
falle, urkundlich  nachweisbar  insb.  aus  der  Gegend  um  Magdeburg  (143): 
Die  Dorfprivilegien  des  Erzbischofs  Wichmann  für  Krakau  bei  Magdeburg 
(143),  des  Bischofs  Gerung  v.  Meissen  von  1154  für  Coryn  (144),  des  Abtes 
Arnold  v.  Ballenstedt  von  1159  für  zwei  früher  slavische  Dörfer  (145),  des 
Erzbischofs  Wichmann  für  Pechau  und  Wusterwitz  (146)  und  sein  älteres 
Holländerprivileg  aus  der  Naumburger  Gegend  von  1152  (148).  — 

Überblick  über  die  weitere  deutsche  Colonisation,  zunächst  mit  vor- 
nehmlichcr  Berücksichtigung  ihrer  öffentlichen  Verhältnisse  (149):  Die 
Colonisation  in  d.  Lausitz  und  in  Schlesien  (149),  in  Mähren  und  Böhmen 
(151),  in  Brandenburg  und  Preussen  (152),  in  Mecklenburg  (154)  und  in 
Holstein  und  Lübeok  (157).  — 

Die  vermögensrechtlichen  Seiten  des  Colonistenrechtes  (157) : Die  Zins- 
pflicht  (158)  — Die  dinglichen  Rechte  an  den  Colonistengütern  (168).  Die 
verschiedenen  Ansichten  über  die  Qualität  des  Bauernrechtes  (159);  ihr  Recht 
ein  Eigenthum  nach  Wersebc,  Tzschoppe  und  Stenzei,  Knothe,  Sommer  u.  a. 
(159)  nach  anderen  Erbzins,  Emphytcuse  oder  ein  ähnliches  Recht  (159): 
Schröder  (160),  Borcbgrave  (160);  die  Meinungen  DroyBen’s  und  Knapp’s  (161). 
Die  unmittelbaren  urkundlichen  Nachrichten  über  diese  Rechtsverhältnisse 
(161):  Das  Recht  des  Bauern  (161):  unzweifelhaft  ein  weitreichendes 

Nutzungsrecht  (162),  ob  darum  Eigenthum  in  unserem  Sinne?  (163)  Gründe 
dagegen  (164);  — das  Recht  der  Colonistenführer  (166),  dessen  vorwiegend 
öffentlichrechtlicher  Character  (167);  — das  Recht  des  Landes-  oder  Grund- 
herrn (168),  gleichfalls  vorwiegend  öffentlicher  Natur  (168);  daneben  auch 


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XVIII 


private  Befugnisse:  Zins  (V)  und  die  Rechte,  die  den  Bauern  von  vollem  Eigen- 
thume  fehlen  (169).  Gleichwohl  erscheint  das  landesherrliche  Recht  nicht 
als  Eigenthum  (170).  — Ergebnis : keiner  der  Berechtigten  hat  Eigenthum 
(171).  — Ist  dies  juristisch  möglich?  (171).  — Der  Begriff  des  Eigenthuras: 
priucipielle  Allgewalt  und  Möglichkeit  concreter  Beschränkungen  (172).  Das 
Eigenthum  als  Privatrecht  kein  unbegrenztes  Recht;  jenseits  der  privaten 
Omnipotenz  können  noch  andere  (öffentliche)  Rechte  bestehen  (175).  Die 
im  römisch -modernen  Rechte  an  den  privaten  Rechtskreis  geknüpfte  Ver- 
muthung  der  Allgemeinheit  kann  auch  mit  dem  öffentlichen  Rechtskreise 
verbunden  sein  (176);  in  diesem  Falle  eine  rechtliche  Ordnung  möglich, 
nach  der  niemand  Eigenthiimer  i.  u.  8.  ist  (177).  Die  Verhältnisse  in  den 
Colonisationsgebieten  für  die  Entstehung  einer  solchen  Rechtsordnung  be- 
sonders geeignet  (178).  — Ergebnisse  (179),  Nomenclatur  (180);  die  Über- 
einstimmung der  Forderung  der  juristischen  Construotion  mit  den  oben 
gewonnenen  Resultaten  (181).  — Scblussbemerkung:  Die  enge  Verbindung 
von  öffentlichen  und  privaten  Rechten  als  erklärender  Factor  für  die  spätere 
Entwiokelung  (181). 


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Einleitung. 


Der  Gebrauch,  Grund  und  Boden  zum  Zwecke  seiner 
Bestellung  und  Bebauung  an  Nichtbesitzende  leiherechtlich  zu 
überweisen,  lässt  sich  in  den  deutschen  Landen  fast  ebensoweit 
zurückverfolgen , als  überhaupt  unsere  Kunde  über  deren  ger- 
manische Bevölkerung  zurückreicht  Erzählt  uns  doch  schon 
Tacitus  in  seiner  Germania  von  Unfreien,  denen  wie  den  römischen 
Colonen  gegen  bestimmte  Abgaben  Grundbesitz  sowie  das  Recht, 
einen  selbstständigen  Haushalt  darauf  zu  führen,  eingeräumt 
worden  ist1). 

Die  spätere  Zeit  mit  ihren  wachsenden  und  vielfach  sich 
ändernden  wirtschaftlichen  wie  rechtlichen  Bedürfnissen  hat 
leiherechtliche  Bildungen  in  grosger  Mannigfaltigkeit  erzeugt,  und 
wenn  auch  die  reiche  Ausgestaltung  und  Ausbreitung,  zu  der  das 
Landleiherecht  fernerhin  gelangt  ist,  schliesslich  mit  dem  Auf- 
kommen neuer  Rechtsformen  und  der  Entstehung  eines  beweg- 
licheren Verkehrsrechtes  wieder  bedeutend  in  den  Hintergrund 
gedrängt  wurde,  so  ist  dasselbe  doch  niemals  aus  dem  deutschen 
Rechtsleben  völlig  geschwunden. 

Die  fränkische  und  die  ihr  folgende  Periode  haben  die  für 
die  älteste  Zeit  schon  beglaubigte  leiherechtliche  Überlassung 
von  Grundbesitz  an  Unfreie  und  Leute  mit  geminderter  Freiheit 
beibehalten  und  weiter  gebildet,  daneben  manche  römischrechtliche 


*)  Germ.  c.  Zf).,  vergl.  v.  In  am  a-Sternegg,  Deutsche  Wirthschafts- 
geachichte  I.  11;  Waitz,  Deutsche  Verfassungsgescbiohte  I*.  108. 

v.  Scfciciml,  Erbleihen.  1 


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2 


Form,  wie  insbesondere  in  den  Grenzgebieten  den  Colonat  l)  über- 
nommen, ausserdem  aber  in  der  Precarie  und  dem  Beneficium 
neue  Formen  der  Landleiben  geschaffen,  denen  auch  noch  für 
spätere  Zeit  die  grösste  Bedeutung  zukam.  Ob  und  in  wie  weit 
die  Precarie,  die  ihren  Namen  dem  römischen  Preearium  entlehnt 
und  auch  manche  Bestimmungen  des  römischen  Rechtes  *)  in 
sich  aufgenommen,  bald  aber  wieder  abgestreift  hat,  ganz  auf 
römischen  Ursprung  zurückzuführen  sei,  ist  eine  Frage,  die  sich 
mit  Bestimmtheit  kaum  wird  lösen  lassen  3).  Hier  genügt  wohl 
der  Hinweis,  dass  sie  frühzeitig  bei  gar  mannigfaltiger  Aus- 
gestaltung 4)  im  Einzelnen  und  in  der  Erfüllung  der  verschiedensten 
wirtschaftlichen  Functionen  jede  Beziehung  auf  das  namens- 
gleiche  römische  Rechtsinstitut  verloren  hat.  Mit  der  Ver- 
schiedenheit, dass  den  Beliehenen  in  einzelnen  Fällen  eine  Zins- 
pflicht traf,  in  anderen  jede  solche  Verpflichtung  fehlte,  bestanden 
alle  Precaricn  in  der  Überlassung  eines  zeitlich  beschränkten, 
gewöhnlich  lebenslänglichen  Nutzungs-  und  Gebrauchsrechtes 
an  einem  bestimmten  Stücke  Landes,  das  nach  Ablauf  dieser 
Zeit  an  den  Leiheherrn  zurückfallen  sollte.  Nicht  der  juristischen, 
sondern  der  öconomischen  Bedeutung  nach  unterscheidet  die 
heutige  Jurisprudenz 5)  drei  Haupttypen,  die  precaria  data, 
bei  welchen  der  Leiheherr  gewöhnlich  als  Lohn  für  geleistete 
Dienste  oder  aus  einem  anderen  Anlass  dem  Precaristen  ein 
Gut  in  der  bezeichneten  Weise  überliess,  ihr  Gegenspiel  die 
precaria  oblata,  welche  sich  aus  einer  Schenkung  des 
fraglichen  Gutes  an  den  Leiheherrn  und  einer  Riickiibertragung 
zu  precarischem  Rechte  zusammensetzte,  und  endlich  die  precaria 
remuneratoria,  eine  Verbindung  der  beiden  eben  ge- 
nannten Formen,  in  welcher  die  Gutsschenkung  durch  die 
prccarische  Verleihung  desselben  Gutes  und  weiterer,  dem  Leihe- 
herrn gehöriger  Ländereien  ihre  Erwiderung  fand.  *)  Iu  diesen 


■)  vcrgl.  Waitz,  V.  G.  LP.  1.  241. 

s)  so  z.  B.  die  Nothwendigkeit  der  Erneuerung  nach  ö Jahren,  vergi. 
Waitz  a.  a.  O.,  S.  292. 

s)  vergl.  Waitz,  a.  a.  O.,  S.  291. 

4)  Schröder,  Deutsche  Hechtsgeschichte,  S.  275;  Brunner,  Deutsche 
Kcchtsgeschichte,  I 210. 

6)  zuerst  wenigstens  der  Hauptsache  nach  Albrocht,  Gcwere,  8.  105. 
“)  vergl.  Koth,  Feudalitat  und  Unterthaneuverbaud.  S.  147  ff.; 
Waitz  a.  a.  O.,  S.  203. 


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ä 


Formen  waren  die  Precarienverträge  durch  Jahrhunderte  hindurch 
ein  beliebtes  Mittel  zur  Erlangung  eines  leiherechtlichen  Besitzes, 
welcher  die  persönliche  Freiheit  und  Selbstständigkeit  nicht 
schmälerte  *)  und,  da  meist  die  Kirche  in  der  Rolle  des  Leihe- 
herrn stand,  gewiss  ein  nicht  unbedeutender  Factor,  der  das  An- 
wachsen des  kirchlichen  Besitzthuines  gefordert  hat  Mit  der 
Ausbildung  neuer,  demselben  Zwecke  dienlicher  Rechtsformen 
und  der  Veränderung  der  wirtschaftlichen  Grundlagen  in  den 
letzten  Jahrhunderten  des  Mittelalters  ist  dann  auch  die  precarische 
Leihe  immer  seltener  geworden  und  ausser  Gebrauch  gekommen. 

Das  beneficium,  anfänglich  von  der  precaria  nicht  bestimmt 
zu  unterscheiden  *),  hat  später  durch  die  Beziehung  auf  königliche 
Zuwendungen  zu  einem  technischen  Begriffe  sich  entwickelt  ®), 
und  hat  in  dieser  Form  und  durch  die  Verbindung  mit  der  Vassal- 
lität  4)  die  sachenrechtliche  Grundlage  für  das  die  privaten  und 
öffentlichen  Rechtsverhältnisse  des  deutschen  Volkes  bis  weit 
hinein  in  die  Neuzeit  beherrschende  Lehenrecht  abgegeben. 
Und  war  auch  die  eigentliche  Domäne  desselben  das  militärische 
oder  staatsrechtliche  Lehen,  so  haben  dieselben  Grundsätze  im 
Laufe  der  Zeiten  auch  Anwendung  und  Übertragung  gefunden 
auf  die  kleinen  und  niederen  Rechtskreise  der  bäuerlichen 
Verhältnisse  *). 

Daneben  ist  auch  die  Überlassung  von  Grundstücken  gegen 
Zins  an  Unfreie  und  Liten  als  niedere  Leiheform  dauernd  in 
Gebrauch  geblieben  ®),  und  diese  sogenannten  Zinsgüter  haben 
in  der  wirtschaftlichen  Betriebsform  jener  Zeiten  eine  wesent- 
liche und  bedeutende  Rolle  gespielt 7).  Aus  ihnen  hat  sich 
später,  als  mit  der  Ausbildung  eines  Hofrechtes  die  wenn  auch 
beschränkte  Rechtsfähigkeit  und  Persönlichkeit  der  unfreien  und 


')  vergl.  Waitz,  a.  a.  O.,  8.  301. 

*)  vergl.  Waitz,  a.  a.  0.,  S.  299  und  VL  82  gegen  Roth  a.  a.  O., 
S.  144,  Schröder,  a.  a.  O.,  S.  275,  Brunner,  Deutsche  Rechtsgeschichte 
L 211. 

*)  Roth,  a.  a.  O.,  8.  174  ff.  Schröder  a.  a.  O.,  S.  276. 

*)  Siegel,  Deutsche  Rechtsgesohichte,  S.  188,  Schröder,  S.  152  ff.  etc. 
*)  vergl.  Lamprecht,  Deutsches  Wirtschaftsleben,  I 2,  S.  901  ff., 
der  urkundliche  Belege  für  unzweifelhaft  bäuerliche  Lehen  erst  aus  verhält- 
nismässig später  Zoit  beibringt;  bei  den  älteren  Citaten  scheint  mir  theils 
der  specifisch  lehenrechtliche,  theils  der  bäuerliche  Character  zweifelhaft. 

°)  Brunner,  R.-G.  1 209. 

’)  v.  Inama-Sternegg,  W.-G.  I 121  ff. 

1* 


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4 


abhängigen  Bevölkerungsklassen  in  greifbarer  Weise  Anerkennung 
fand,  die  Zinsleihe  nach  Hofrecht  entwickelt,  über  die  uns 
urkundliche  Überlieferungen  mannigfache  Auskunft  geben,  und 
bezüglich  deren  z.  B.  das  Wormser  Statut  des  Bischofs  Burchard 
namentlich  das  Moment  der  Erblichkeit  hervorhebt  und  als  etwas 
Selbstverständliches  voraussetzt *). 

Die  Zeit  der  fiechtsbücher,  mit  der  sich  die  vorliegende 
Untersuchung  beschäftigt,  kennt  gleichfalls  Landleihen  der  ver- 
schiedensten Art,  Neben  den  grossen  politischen  Landleihen, 
die  in  dem  sorgsam  ausgebikleten  Lehenrechte  ihre  rechtliche 
Regelung  fanden  und  weit  über  das  Gebiet  des  Privatrechtes 
hinaus  sich  zur  Grundlage  des  gesainmten  öffentlichen  Rechtes 
erhoben,  war  die  precarische  Leihe  allmählich  immer  mehr  in 
den  Hintergrund  getreten.  Dagegen  hat  für  das  Gebiet  der 
bäuerlichen  und  bürgerlichen  Rechtsverhältnisse,  die  uns  hier 
besonders  beschäftigen  werden,  die  Leihe  gegen  Zins  mit  bald 
schroffer,  bald  minder  entschiedener  Betonung  einer  persönlichen 
Abhängigkeit  des  Beliehenen,  bald  wieder  ohne  jeden  Hinweis 
auf  solche  persönliche  Beziehungen  in  jener  Zeit  weitverbreitete 
Anwendung  gefunden.  Und  es  lassen  sich  wohl  namentlich  aus 
späterer  Zeit  auch  Spuren  nachweisen,  dass  auch  lehenrechtliche 
Bildungen  auf  das  Leiherecht  dieser  unteren  Volksklassen  über- 
tragen wurden  *). 

Die  Rechtsbücher  selbst,  die  mit  mehr  oder  weniger  Aus- 
führlichkeit über  solche  zinsbare  und  vererbliche  Landleihen  unter 
verschiedenem  Namen  handeln,  lassen  die  Mannigfaltigkeit  der 
Anwendung  und  der  Ausgestaltung  des  Rechtes  der  Zinsgüter 
deutlich  erkennen  und  legen  die  Vermuthung  nahe,  dass  es  sich 
dabei  um  Rechtsinstitute  handle,  die  nicht  zu  vollendeter  Ent- 
wickelung und  Abgeklärtheit  gelangt  waren , sondern  noch  in 
einem  Werde-  und  Gährungsprozesse  sich  befanden. 

So  enthält,  um  nur  das  Prägnanteste  hervorzuheben,  schon 
der  Sachsenspiegel  an  mehreren  Orten  Bestimmungen  über  Zins- 
güter und  ihr  Recht,  und  wenn  auch  die  Einzclangaben  sich 
nicht  zu  einem  vollkommenen  Systeme  zusammenschliesscn , so 


■)  vergl.  z.  B.  c.  2,  3,  4,  6 u.  a. 

*)  vergl.  z.  B Lamprecht,  a.  a.  U.  1.  2,  S.  900  ff. 


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lässt  eich  doch  mit  ziemlicher  Bestimmtheit  erkennen,  dass  er 
zwei  Kategorien,  nämlich  die  gewöhnlichen  Zinsgüter  und  die 
Erbzinsgüter  unterscheidet  *). 

Beiden  Arten  gemeinsam  sind  zunächst  die  Bestimmungen 
des  Art.  54  des  ersten  Buches  -),  der  neben  anderen  zum  Theii 
processualen  Regelungen  a)  die  unter  dem  Namen  Rutscherzins 
bekannte  strenge  Strafe  für  Zinssäumnis  festsetzt,  wonach  der 
nicht  rechtzeitig  bezahlte  Zins  nach  erfolgter  Mahnung  von  Tag 
zu  Tag  sich  verdoppeln  soll  *).  Von  Interesse  ist  auch  das 
privilegirte  Pfandrecht,  welches  dem  Zinsherrn  für  seine  Zins- 
forderung am  Gute  zusteht  *).  Speciell  der  Zeitleihe  gelten  vor- 
nehmlich die  Normen  über  die  Kündigungsfristen  für  Leiheherrn 
und  Beliehenen  ®)  und  die  Regelung  der  Rechte  und  Pflichten 
des  Erben  des  Verpächters,  der  vor  Ablauf  der  Pachtzeit  stirbt7). 
Vorwiegend  hierher  gehört  auch,  wenigstens  der  practischen 
Anwendung  nach,  die  Bestimmung  über  die  Frage,  welche  mit 
dem  Grund  und  Boden  in  Verbindung  gebrachte  Baulichkeiten 


’)  vergl.  I Art.  54  § 5.  Nen  tinsman  ue  raut  ok  atougruvo  noch  lem- 
gruve  graven  anc  sines  herren  orlof  ....  uppe  aime  tinsgude,  it  ne  ei  sin 
•rvc  tinsgut;  II  Art.  59  § 1.  tins  man,  . . . die  to’me  gude  nicht  geboren  ia. 

*)  Die  Gloase  bezieht  es  auf  Zinsleute,  die  zu  den  Gütern  allzeit  gehören. 

*)  3 3.  Beweiaregeln  für  Streitigkeiten  über  die  Zinszahlung. 

•)  § 2.  Sve  einen  tina  to  rechten  tagen  nicht  ne  gift,  tvigelde  aal  he 
in  geven  dea  anderen  dages,  unde  alle  dage  also,  de  wile  he  ine  under  ime 
hevet,  deate  ime  die  herre  mit  rechten  ordelen  volge,  unde  ime  to  sineme 
huae  esche;  wende  man  n’ia  nicht  plichtich  ainen  tina  buten  sin  hus  to  gevene. 

e)  § 4.  Die  Herre  mut  wol  panden  uppe  aine  gute  umme  ein  geld,  dat 
man  ime  von  sime  gude  gelovet  hebbet,  ane  sines  richterea  orlof.  vergl. 
dazu  I,  53,  S 3. 

•)  II,  59  § 1.  Wel  en  herre  wisen  sinen  tinsman  von  aincm  gude  die 
to'me  gude  nicht  geborn  ia,  dat  aal  ho  ime  kündegen  to  lichtmisaen.  Dit 
aelve  aal  die  man  dun,  of  he’t  laud  laten  wel. 

7)  III,  77  § l.  Dut  en  man  ain  lant  beaeiet  ut  to  tinse  oder  to  plege 
to  besceidenen  jaren,  dat  man't  ime  weder  beaeiet  late;  to  svelkor  tiet  he 
binnen  den  jaren  stirft,  man  sal’t  den  erven  beaeiet  weder  laten,  wende  he 
ia  in  nicht  lenger  geweren  ne  moclitei  wen  die  wile  dat  he  levodo.  § 2.  Die 
erven  solen  ok  von  der  sat  aogedanen  tina  oder  plege  geven  jeneme,  an  den 
it  gut  gehöret,  ala  man  jeneme  aolde,  die  it  ut  dede ; wende  it  sines  selves 
pluch  nicht  nc  beging  do  he  starf. 


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und  Pertinenzen  der  scheidende  Zinsmann  mit  sich  von  dem 
Gute  führen  und  welche  er  gegen  Ersatz  des  Werthes  auf  dem 
Gute  lassen  müsse  J). 

Bezüglich  der  Erbzinsgüter  stellt  zunächst  Art.  21  des 
zweiten  Buches  im  allgemeinen  den  Grundsatz  auf,  dass  im 
Erbgang  das  Grundstück  und  die  darauf  errichteten  Gebäude 
gleichmässig  und  ungetheilt  an  die  ’erven  uppe  tinsgude*  gelangen 
sollen*).  Einer  besonderen  Art  von  Erbzinsgütern  gedenkt  end- 
lich noch  der  Art.  79  des  dritten  Buches,  nämlich  der  Bauerngüter 
in  neu  gegründeten  Dörfern.  Solchen  Colonistenbauern  soll  der 
Dorfherr  Erbzinsrecht  gewähren  können , wenn  sie  auch  nicht 
zu  dem  Gute  geboren  sind  8). 

Auch  sonst  enthält  der  Sachsenspiegel  in  beiden  Theilen  4) 
manchen  Hinweis  auf  Zinsgütcr  und  Zinslcute,  und  wenn  wir, 
wie  schon  eingangs  bemerkt,  aus  diesen  einzelnen  abgerissenen 
Bestimmungen  vielleicht  noch  keinen  vollen  Einblick  in  das 


')  II,  63.  Svat  die  man  buvet  uppe  vremedem  gude,  dar  he  tins  af  govet, 
dat  mut  he  wol  afbreken,  of  he  dannen  veret,  unde  sin  erve  na  sime  dode, 
anc  den  tun  vore  uude  hindene  unde  dat  hus  unde  den  mes ; dat  sal  die 
herre  losen  na  der  bure  köre.  Ne  dat  he’s  nicht,  he  vort  dat  eue  mit  dem 
anderen  wech. 

•)  Die  tinsman,  sve  he  si,  die  erft  sin  gebu  uppe  sinen  erven  uppe  tins- 
gude, it  ne  si  en  man  von  ridderes  art,  die't  sime  wive  to  morgen  gave 
hebbe  gegeven.  Die  entgegengesetzte  Erklärung  die  Schilter,  Praxis  juris 
romani  in  foro  germanico  Frankfurt  1733,  Exercitatio  ad  Pandektas  XLV 
§ 35  u.  36  und  mit  ihm  andere  annehmen,  erscheint  mir  mit  Rücksicht  auf 
den  Zusammenhang  mit  den  §§  2,  3 und  4 des  gleichen  Artikels,  in  welchen 
analoge  Fälle  in  der  im  Texte  angegebenen  Weise  behandelt  werden  und  die 
Wortfassung  keinen  Zweifel  aufkommen  lässt,  dass  in  allen  vier  §§  Gleich- 
artiges gesagt  sein  will,  unmöglich.  Die  Bedenken,  die  man  aus  der  Glosse: 
,,tlie  beginnet  er  zu  setzen,  das  das  Gebew  sol  bleiben  bei  der  stadt;  das  sagt  er 
darumb,  das  alle  Dorfgew  erbe  sind.  Darumb  erbet  er’s  auf  seine  erbon,  er 
sey  wer  er  sey,  das  ist,  er  gehör  zu  dem  zinsgut  oder  nicht“  vielleicht  er- 
hoben werden  könnten,  verschwinden  und  finden  ihre  Erklärung  aus  der 
Glosse  zu  II  59,  welche  besagt,  dass  in  der  Hark  die  Bauern,  obwohl  sie 
nicht  zum  Gute  geboren  sind  „Erb  am  Zinsgut“  haben,  „und  mögen 
es  lassen  wem  sic  wollen“.  Dieses  Recht  steht  sonst  nur  den  zum  Ziusgute 
Geborenen  zu. 

s)  § I.  Svar  gebure  cn  nie  dorp  beaettet  von  wilder  wortelen,  den 
mach  des  dorpes  herre  wol  geven  ervclinsrecht  an  domo  gude,  al  ne  sin  sic 
to  deme  gude  nicht  geboren. 

*)  vcrgl.  z.  B.  Landrecbt  III  76  § 3 Leheurecht  Art.  60,  63,  73. 


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Zinsgüterrecht  jener  Zeit  gewinnen  können,  so  können  wir  doch 
aus  all  den  Einzelheiten  entnehmen,  wie  geläufig  ein  solches 
Güterleiherecht  der  damaligen  Zeit  und  speciell  auch  dem  Land- 
rechte gewesen  ist,  wenn  für  den  Verfasser  des  sächsischen 
Rechtsbuches  so  oft  Veranlassung  war,  auf  diese  Fragen  zurück- 
zukommen — des  Hofrechtes  ganz  zu  geschweigen,  dessen  Mannig- 
faltigkeit im  Einzelnen,  wie  Eike  von  Repgow  angibt,  ihn  von 
der  Schilderung  desselben  gänzlich  abhielt  *). 

Die  im  unmittelbaren  Anschluss  an  den  Sachsenspiegel  ent- 
standenen Rechtsbücher,  wie  namentlich  der  Spiegel  deutscher 
Leute1)  und  der  sogenannte  Schwabenspiegel  s),  stehen  in  ihren 
Bestimmungen  über  das  Recht  an  Zinsgütern  fast  völlig  auf  dem 
gleichen  Standpunkte  wie  ihre  Vorlage.  Es  sei  hier  nur  der 
näheren  Ausführung  gedacht,  welche  das  Recht  des  „Rutscher- 
zinses“ schon  im  Spiegel  deutscher  Leute  4)  dahin  gefunden  hat, 
dass  dem  Zinsgläubiger,  sobald  die  Zinsschuld  durch  ihr  straf- 
weise» Anwachsen  den  Wert  des  Zinsgutes  erreicht  hatte,  die 
Befugnis  zugesprochen  wird,  das  Gut  unter  Mitwirkung  des  Ge- 
richtes sich  anzueignen,  sich  desselben  zu  „unterwinden“. 

Mehr  Interesse  bieten  die  Angaben,  welche  der  Glosse  zum 
Sachsenspiegel  über  unsere  Frage  zu  entnehmen  sind,  wenn  auch 
ihre  Ausführungen  für  die  Beurtheilung  des  ursprünglichen 
Characters  der  Rechtsinstitute  insoferne  mit  etwas  Vorsicht 
aufgenommen  werden  müssen,  als  in  ihr  die  jener  Zeit  eigene 


')  Ssp.  Lehenrecht  Art.  63  § 1 Svelk.  gut  deme  manne  ane  mansebap 
gelegen  wert,  dat  ne  hot  nen  recht  len,  also  dat  gut  dat  die  lierrc  sime 
dienst  manne  lietauemanscapto  hoverechte,  dar  sol  he  hoverechtea 
af  plegen  unde  nicht  len  reohtes.  Na  hoverecht  sal  jewelk  dienstmann  ge- 
boren driiszte  sin  oder  schenke  oder  tnarscalk  oder  kemerere.  § 2.  Durch 
die  manuichvalde  tveungc  irs  rechtes  so  no  spreche  ik  von  irme  rechte 
nicht  vorbat,  wen  neder  jewelke  me  bischope  unde  abbede  unde  cbbedischen 
seget  in  die  dienstmanne  sünderlik  recht  to.  Ähnlich  Landrecbt  111  42  § 2. 

*)  vergl.  Landrecht  Art.  75,  122,  123,  158,  174.  345,  Lehenrecht  169,  170, 
171,  175,  263,  264  u.  a. 

*)  vergl.  Art.  83,  84,  149,  150,  155,  187,  217,  u.  a.  (Lassborg). 

4)  Art.  75  Swer  zins  von  gut  sol  geben,  niht  von  fahrendem  gute,  der 
sol  in  geben  auf  den  tag,  als  im  geschaiden  wirt,  so  man  im  das  gut  leihet, 
und  geit  er  im  den  zins  des  Tages  niht.  er  sol  in  geben  zwivaltig  des  anderen 
tages.  uud  alle  tage  als  vil,  die  weil  er  don  Zins  inne  hat;  und  als  des 
Zinses  als  vil  wirt,  als  das  gut  werde  ist,  so  sol  der  herre  sich  des  gutes 
unterwinden  mit  des  richten)  poten  Ebenso  Schwabenspiegel  (Lassberg) 
Art.  84,  (Gengier  69). 


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romanisirende  Tendenz  allüberall  zum  Ausdrucke  gekommen  ist, 
die  in  dem  Bestreben,  die  überkommenen  Rechtsverhältnisse 
in  eine  der  wenigen  römischen  Kategorien  eiuzuzwüngen,  nicht 
selten  eine  Trübung  von  deren  ursprünglichem  Gehalte  bewirkt 
hat.  Speciell  über  die  verschiedenen  Arten  der  Zinsgüter 
finden  sich  in  der  Glosse  mehrere,  nicht  in  allem  völlig  über- 
einstimmende Angaben;  so  erläutert  sie  zu  Art-  76  des  3.  Buches: 
’zinsgut  ist  auch  zweierlei,  das  ist,  es  kömpt  auch  den  leuten 
zweierlei  weise  zu.  Entweder  wird  einem  von  erbe  oder  von 
gab.  Den  es  von  erbe  wird,  die  sollen  darzu  geborn  sein  und 
die  mag  man  von  dem  gut  nicht  geweisen  . . . . *)  zum  andern 
mal,  so  wirt  es  in,  so  man  es  in  mit  zinsrecht  gibt* ’).  Hiezu 
bestimmt  dann  mit  besonderer  Rücksicht  auf  die  märkisch -bäuer- 
lichen Verhältnisse  die  Glosse  zu  Art.  79,  nachdem  sie  den 
Gegensatz  von  Zinsgut,  Eigen,  Erbe  und  Lehen  betont  hat:  ’Nu 
merk  hie  auch  das  zinsgut  ist  zweierley.  Das  ein  ist,  das  man 
nicht  verkauften  mag,  das  haben  die  Lassen,  die  sind  darzu  ge- 
boren . . . Diese  sind  schier  als  vil  als  eigen  . . . Diese  heissen 
pfleghaften.  Die  anderen  die  zinsgut  haben,  das  sind  alle  Gebawer, 
die  erben  das  gut,  das  über  iren  zins  ist,  auf  iren  nechsten 
und  verkeuffen  es  wem  si  wollen,  also  das  si  es  iren  Herren  von 
ersten  zu  kaufte  anbieten.  Das  si  an  dem  gut  haben,  das  heisst 
die  besserung,  davon  sich  das  gut  von  irer  arbeit  gebessert  hat. 
Und  diese  heissen  Landtsesscn,  das  ist  arbeitend  gebaweru  . . .‘ 
Mit  diesen  Festsetzungen  in  Uebereinstimmung  stehen  die  Er- 
klärungen am  Ende  der  Besprechung  des  Art.  59  des  2.  Buches  *). 

Ist  hier  schon  das  persönliche  (Standes-)  Verhältnis  berührt,  so 
gibt  die  Frage,  ob  Rittersleute  Pachtgüter  besitzen  sollen,  — eine 
Möglichkeit,  die  an  einer  Stelle  des  Sachsenspiegels  vorausgesetzt 
wird4),  — dem  Glossator  Veranlassung,  den  statusrechtlichen  Elin- 
fluss der  Beleihung  zu  besprechen  und  auch  mit  Rücksicht  auf  dieses 
Moment  eine  Scheidung  der  Zinsgüter  in  zwei  Arten  anzugeben. 


')  Hinweis  auf  Art.  21  des  2.  Huches  und  romanistische  Belege. 

*)  Hinweis  auf  Art.  7il  des  3.  Buches  und  romanistische  Belege. 

*)  Hie  wisse,  dass  man  zu  dem  gut  nit  geboren  wird,  daran  scheidet 
Sachsen-Recht  und  Harkes-Kecht.  Denn  wer  in  Sachsen-Recht  zu  Zinsgut 
geboren  ist,  der  heisst  ein  Lass,  der  mag  sich  des  gutes  nicht  (on  des  herren 

willen)  verzeihen Mit  uns  aber  (das  ist,  in  der  Mark)  haben  die 

gebawer  Erb  an  Zinsgut  . . . und  mügen  es  lassen,  wem  si  wollen. 

♦)  II.  Art.  21  § 1,  (2). 


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lm  Ganzen  hält  die  Glosse  daran  fest,  dass  die  Uebernahme 
eines  Pachtgutes  mit  der  Ritterbürtigkeit  nicht  vereinbar  sei  *), 
doch  führt  sie  anderwärts1)  aus:  ’zinsgut  ist  zweierley.  Etlich 
gut  hat  auf!  im  zins,  denselben  hat  der  Besitzer  villeicht  zu 
lehen,  den  mögen  die  Ritter  wol  haben  ....  Das  ander  zins- 
gut, da  man  einem  andern  zins  von  gibt,  das  sollen  von  Rocht 
die  Ritter  nicht  haben’.  Es  ist  vielleicht  nicht  unbegründet,  hinter 
diesem  Bestreben  des  Glossators,  einen  Ausweg  gegenüber  dem 
strengen  Rechte  zu  suchen,  und  hinter  seinen  Worten,  die  Ritter 
sollen  von  Rechtswegen  solche  Zinsgüter  nicht  besitzen,  zu  ver- 
muthen,  dass  er  Ausnahmen  von  der  alten  Regel  im  Leben  seiner 
Zeit  thatsüchlich  begegnet  sei  und  dafür  eine  juristische 
Erklärung  habe  finden  und  angeben  wollen. 

Ähnliche,  zum  Theile  freilich  auch  abweichende*)  Bestim- 
mungen, wie  sie  die  Spiegel  enthalten,  finden  sich  mit  mehr  oder 
weniger  Ausführlichkeit  in  allen  Rechtsbüchern  jener  Zeit. 

Vielleicht  der  reichhaltigste  und  detaillierteste  Bericht  über 
erbliche  Zinsleihen,  welcher  in  den  Rechtsbüchern  des  Mittel- 
alters Aufnahme  gefunden,  liegt  uns  aber  in  dem  Wiener  Stadt- 
rechts- oder  Weichbildbuche  vor,  u.  zw.  sind  es  zwei  scharf  aus- 
geprägte Grundtypen,  die  darin  ihre  Regelung  finden,  das  Berg- 
recht (perchtrecht)  als  die  Erbleihe,  welche  an  Weinbergen  ge- 
bräuchlich war  und  im  Anschlüsse  an  die  Weinberg  Verfassung  sich 
entwickelt  hatte,  und  dem  gegenüber  das  Burgrecht  (purkrecht) 
als  die  Erbleihe  des  städtischen  Rechtes. 

Was  zunächst  das  Erstere  anlangt,  so  lassen  die  sorgfältigen 
und  ausführlichen  Bestimmungen  über  die  Pflicht  zur  Bebauung  des 


')  vergl.  Glosse  zu  II.  59.  Wer  auff  gemietem  gut  sitzt,  der  sol  nicht 
sein  von  Ritters  art,  denn  erverleurt  sein  ritterschaft  damit;  denn 
er  nimmt  den  zu  einem  herrn,  der  cs  im  thut.  Und  das  sagt  dieser  artikel 
hie,  da  er  sagt:  Wil  ein  Herr  seinen  Zinsmann  etc.;  als  ob  er  sprech:  der 
die  Zinsgiiter  nimpt,  der  wird  jenes  zinsman,  und  der,  des  das  gut  ist,  der 
wird  sein  herr.  Hie  wisse,  dass  dieser  ist  schnöder,  denn  ob  er  sein  Lehen- 
mann wero.  Denn  umb  Lehen  fürt  er  die  wapen  und  bleibt  bei  Kitterschaft. 
Und  um  Zinsgut  verzeihet  er  sioh  der  Kitterschaft  und  wirt  ein  gebawer. 
*)  zu  Art.  21  des  II.  Buches. 

*)  vergl.  insb.  das  Kaiserrecht,  das  z.  B.  besonders  strenge  Bestimmung 
für  die  mora  bei  Zinszahlungen  und  sonst  verschiedene  Modifikation  enthält, 
vergl. (Ausgabe  von  Endemann)  cap.  99,  101, 111,  112,  113.  Bemerkeuswerth 
ist  auch  die  Scheidung  von  Gütern  in  ,eygen  gut'  und  ,gut  da  man  zu  dinge 
von  gen  muz.‘ 


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Weingartens  '),  sowie  zuin  Besuche  des  Bergtaidings  *)  und  über 
das  Verfahren  auf  demselben  8),  endlich  über  die  Ausschliesslich- 
keit seiner  Competcnz 4)  in  allen  Bergrechtsangelegenheiten  an 
der  streng  genossenschaftlichen  Vereinigung  der  Weinbergbesitzer 
keinen  Zweifel  aufkommen.  Und  ebenso  sprechen  die  stricten 
Festsetzungen  über  die  Zehentleistungen  *),  die  bezüglichen  Ver- 
pflichtungen und  Rechte  der  Weinbauern  einerseits  und  des 
Bergmeisters  und  Zehentners  andererseits,  desgleichen  die  Regelung 
der  Rechte  und  Privilegien  des  Weinhüters  ®)  u.  a.  m.  für  die  Ein- 


*)  Wiener  Stadtreehtsbuch  (Ausgabe  von  Schuster)  Art.  128.  'Werain 
Weingarten  hat,  und  laet  den  liegen  ungepaut  iar  und  tag,  also  das  er  in  nit 
begreifet  mit  messer  noch  mit  hauen,  und  auch  dem  porkmaister  sein  perk- 
recht  als  lang  auch  nicht  gegeben  hat*,  so  sollen  drei  Taidinge  abgewartet 
werden,  'also  das  er  zu  dem  dritten  mal  oder  eetaiding  nicht  für  churabt, 
so  sol  man  denselben  Weingarten  zu  reis  sagen,  und  sol  in  der  pergmeister 

ziechen  in  sein  gewalt  lediglich Wer  also  ein  perkrecht  verderben 

wolt,  des  sol  der  pergmaister  noch  die  perggenossen  nicht  gestatten.  Wer 
aber  von  rechter  armuet  sein  pcrgrecht  lies  liegen,  . . . ungepauen,  da 
gehört  gnad  über,  oder  in  hais  es  der  pergmeister  verkaufen.* 

s)  Art.  111.  Wer  perchtrecht  hat  der  sol  suechen  die  taiding  die  der- 
selb  percht  mit  altem  recht  hat  herpracht,  in  dem  das  recht  leit,  und  schol 
da  geben  sein  vogtphennig  oder  recht  .... 

»)  Art.  112  und  115. 

4)  Art.  112.  Alleu  perchtrecht  habent  das  recht,  daz  man  seu  nindert 
verantwurten  schol,  denn  in  rechtem  perchtaiding.  Wer  darüber  ansprachiges 
perchtrecht  hat,  der  schol  daz  nindert  verantwurten,  denn  in  rechtem  taiding 
als  nu  perchrechtes  recht  ist. 

5)  Art.  114.  Wer  sein  zechent  ze  rechter  Zeit  nicht  geit,  dem  verpeut 
man  sein  pau  wol  mit  recht,  untz  daz  er  aller  ding  abdingt  mit  phenning 
oder  mit  wein.  Es  schol  auch  chain  zcchentner  niemant  höcher  treiwen, 
denu,  waz  er  pei  seinen  treun  geit.  Wil  der  zcchentner  iner,  denn  er  ze 
recht  schol,  so  schol  der  ander  waigern  lür  gericht  und  schol  daz  bewären 
mit  seinen  treun,  ob  er  es  nicht  gelauben  wil,  as  er  all  sein  wein  recht  ver- 
zechet habe  und  sei  damit  ledig  . . , . Peut  man  dor  über  ein  zechentner 
oder  ein  pergmaister  an  alleu  seinen  zechent  oder  perchreeht,  daz  schol  er 
nemen  mit  rechten  mazz,  die  gemercht  ist  mit  dem  marich,  der  ham  vor  sand 
Michel  ....  Ist  awer  daz  ein  zechentner  sein  zechent  let  sten  in  einer 
prezz,  darnach,  und  man  in  ze  rechter  Zeit  anpeut,  es  sei  vor  lazheit  oder 
vor  andern  vergezzunden  dingen,  so  schol  der  perchtgenazze  denselben  zechent 
giezzeu  in  ein  raincs  vas  und  schol  in  schon  dechen  und  lazz  in  dar  inne 
sten,  als  lang  unz  in  der  zcchonter  nem.  Chumt  er  darnach  nicht,  waz  dem 
wein  dann  gesohiecht,  daz  mues  der  zechouter  der  schaden  haben. 

*)  Art.  114.  Wenn  der  Weinhüter  um  seinen  Lohn  klagen  muss  und 
ihn  erst  daraufhin  erlangt,  so  soll  er  den  doppelten  Betrag,  und  der  Richter 
oder  Bsrgmeister  72  Pfennig  Uewetto  erhalten. 


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•> 


heitlichkeit  der  Ordnung,  zu  welcher  die  bergrechtlichen  Ange- 
legenheiten in  der  Zeit  der  Entstehung  des  Stadtrechtsbuckes 
bereits  gelangt  waren. 

Bezüglich  der  eigentlich  leiherechtlichen  Prägen,  die  es  ebenso 
einheitlich  löst,  setzt  das  Stadtrechtsbuch  voraus,  dass  der  Grund 
und  Boden  von  einet»  Bergherrn  ’)  gegen  Zins  an  die  eigent- 
lichen Weinbauern  überlassen  ist,  denen  daran  ein  unzweifelhaft 
vererbliches  Beeilt  zusteht.  Das  Kecht  der  Veräusserung  a)  ist 
abhängig  gemacht  von  des  Bergmeisters  Wissen  und  Mitwirkung, 
indem  jede  auf  andere  Weise  durchgeführte  Veräusserung  oder 
Verpfändung  mit  Ausnahme  der  unentgeltlichen  8)  Zuwendungen 
(zue  steur  oder  sunst  ze  lieb)  an  die  Descendenz  des  Besitzers 
ohne  die  Intervention  des  Bergmeisters  wirkungslos  sein  soll4).  Die 
Zinsung,  die  für  gewöhnlich  als  Naturalabgabe  gedacht  ist,  und 
für  die  gleichfalls  der  Name  perchtrecht  gebraucht  wird,  soll  zu 
rechter  Zeit  als  Most  abgeliefcrt  werden  Ä)  oder,  wenn  dies  ver- 
säumt wird,  zu  St.  Martin  'aus  dem  vazze*.  Bleibt  eie  auch 
hier  aus,  so  soll  sie  der  Bauer  am  nächsten  Taiding  'mit  zwispilt 
geben  und  fürbas  immer  zwispil  von  ainem  perchtaiding 
untz  auf  das  ander,  als  lang,  untz  daz  der  weingart  nicht 
theurer  sei4.  Dann  sollen  vier  Berggenossen  den  Weingarten 
schätzen  und,  wenn  dessen  Werth  durch  die  Zinsschuld 
schon  übertroffeu  wird,  ’so  ziech  (der  Bergmeister)  den  Wein- 
garten in  sein  gewalt,  und  behalt  in  nach  Satzung  untz  auf 
das  nächst  taiding*.  Bis  dahin  mag  er  immer  ’ob  er  welle,  wan 
das  stet  in  seinen  genaden*  dem  säumigen  Zinsmann  den  Wein- 
garten wieder  cinräumcn,  danach  aber  soll  er  lediglich  nach 
seinem  Vortheil  darüber  verfügen  Ein  ähnliches  Verfahren 
sollte  gelten,  wenn  das  „Bergrecht“  in  einen  Geldzins  umge- 
wandelt wurde,  und  zwar  sollte,  wenn  nicht  gelegentlich  dieser  Um- 
wandlung anderes  bestimmt  wurde,  auch  diese  die  Naturalabgabe 

')  Art.  113,  116. 

’)  Art.  116  u.  120,  s.  unten  S.  13,  Anin.  2. 

s)  Art.  116.  Es  mag  auch  ein  vater  oder  ein  muoter  chainem  irem 
chind  einen  Weingarten  versetzen  oder  verckaufen  an  des  pergmaisters  wizzen, 
daz  es  icht  kraft  müg  gehaben,  awer  umb  sunst  ....  mag  ein  vater  oder 
ein  mueter  seinem  chind  gar  wol  geben  purehtrecht  odor  perchtrecht  an 
ir  paider  wizzen  purchtherrcn  und  perehtherren. 

*)  Art.  116.  Wer  sein  perchtrecht  verchanfen  wil,  dor  schol  daz  tuen 
mit  seines  porigmaister  wizzen,  und  auch  mit  seiner  hant,  oder  es  hat  chain 
chraft. 

s)  Art.  113, 


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12 


ersetzende  Geldschuld  von  Tniding  zu  Taiding,  nicht  aber  etwa 
wie  der  Rutscherzins  des  Sachsen-  und  Schwabenspiegels  ')  von 
Tag  zu  Tag  sich  verdoppeln. 

Diesem  regelrechten  Verfahren  gegenüber  wurde  die  her- 
gebrachte Gewohnheit  des  Bergherrn,  den  säumigen  Weinberg- 
besitzer in  der  Bebauung  seines  Grundes  zu  hindern,  als  unrecht 
verworfen.  Und  auch  noch  in  anderer  Beziehung  wurde  das 
Recht  und  Interesse  des  abgabepflichtigen  Weinbauern  sicher 
gestellt:  die  mora  accipiendi  des  Bergherm  sollte  ihm,  wenn  er 
nur  gewisse  Cautelen  beobachtete,  keinen  Nachtheil  bringen  *). 

Nur  nebenbei  sei  hier  bemerkt,  dass  diese  bergrechtliche 
Leihe,  wie  schon  ein  flüchtiger  Blick  auf  das  ältere  österreichische 
Urkundenmaterial  klar  stellt,  schon  mehr  als  ein  Jahrhundert 
vor  der  Entstehung  des  Rechtsbuches  als  ein  gebräuchliches,  wenn 
auch  damals  vielleicht  nicht  so  entwickeltes  Rechtsinstitut  nach- 
weisbar ist  *). 

Ebenso  klar  und  rechtlich  nur  noch  vollkommener  durch- 
gebildet sind  die  Bestimmungen  des  gleichen  Rechtsbuches  über 
die  städtische  Erbleihe,  das  jus  civile  oder  Burgrecht 4),  das  trotz 
seines  auf  das  städtische  Recht  verweisenden  Namens  freilich  auch 
ausserhalb  des  Weichbildes  vielfach  Anwendung  fand  b). 

Daraufhin  weist  schon  die  Definition  des  Art.  119:  (purkrecht) 
sind  heuser,  tischstet,  fleischpenk,  protpenk,  hofstet,  und  was 


‘)  vergl.  oben  S.  5 Anm.  4 und  S.  7 Anm.  4. 

’)  Art  118.  Ist  »wer,  dar.  ein  man  seinem  perchtherren  anpeutet  sein 
pcrchtrecht  zue  rechter  zeit,  und  let  es  der  pergmaister  vor  lazheit  dornach 
do  sten,  als  lang  daz  das  perkrccht  dann  ze  leid  wirt  und  wil  den  percht- 
genazzeu  darnach  nicht  ansprechen  umb  dasselb  perchtrecht,  mag  der  perg- 
genazze  daz  pringen  mit  zwain  erbern  manneu,  daz  er  ins  ze  rechter  zeit  hab 
angepoten,  und  es  darüber  hat  lazzen  sten,  was  dem  perkrecht  dann  geschcchen 
ist,  do  ist  der  pcrchtgeuazz  unschuldig  an,  und  mues  der  pergmaister  den 
schaden  haben. 

’)  vergl.  z.  B.  Zahn,  Steirisches  U.  B.  I c.  1145,  229;  1150,  831;  1165, 
469  ad  montis  iusticiam,  id  cst,  ut  de  singulis  vineis  una  urna  vini  . . . 
annuatim  persolvatur  u.  viele  andere. 

*)  vergl.  darüber  insbee.  Fr.  von  Hess  in  den  Sitzungsberichten  der 
Wiener  k.  Academie  1353,  11.  Bd.,  S.  761  ff.  und  Bruder,  Finanzpolitik 
Herzog  Rudolf  IV.  p.  15  ff. 

s)  vergl.  die  Bestimmungen  über  richterliche  Competenz  in  Art.  1 19, 
die  ausdrücklich  von  dem  ’pnrkreoht  draussen  in  dem  geu‘  sprechen,  ausser- 
dem die  zahlreichen  ländlichen  Burgrechtsurkuuden  z.  B.  in  Hauswirth’s 
Urkundenbuch  der  Bencdictinerabtei  unserer  lieben  Frau  zu  den  Schotten 
(fontes  rerum  Austriacarum  II.  18). 


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13 


darzu  gehört,  darnach  miilen,  pauuigarten  und  werd,  wismad, 
ecker,  krautgarten,  und  mairhof,  und  phenning  gelt,  wo  das  leit 
auf  der  erb  ainem,  wonach  ala  Object  des  Burgrechtes  unzweifel- 
haft neben  städtischen  liegendem  Gut  auch  nicht  städtische 
Grundstücke,  ja  man  darf  wohl  sagen,  jede  Art  von  Immobilien 
mit  Ausnahme  der  dem  Bergrechte  unterworfenen  Weingärten 
aufgezählt  wurden.  Dass  neben  diesen  realen  Objecten  auch 
Zinsungen  genannt  sind,  dürfte  nicht  so  sehr  daher  kommen, 
dass  damals  auch  Rentenrechte  als  Object  weiterer  Verleihungen 
zu  Zinsrecht  dienten,  sondern  vielmehr  darin  seinen  Grund  haben, 
dass  der  Name  purkrecht  für  die  Zinsungen  selbst  ebenso  wie 
für  die  Zinsgüter  üblich  war,  und  ein  ungenauer  Sprachgebrauch 
objective  und  subjective  Bedeutung  nicht  auseinander  hielt. 

Die  wesentlichen  Bestimmungen  über  das  Burgrecht  stimmen 
mit  den  bergrechtlichen  Festsetzungen  völlig  überein.  Auch  hier 
setzt  das  Weichbildbuch  ursprünglich  ein  leiherechtliches  Verhältnis 
voraus,  das  von  dem  als  Burg-  oder  Grundherrn  bezeichneten 
Eigenthümer  des  geliehenen  Gutes  seinen  Ausgang  nimmt.  So 
ist  denn  auch  des  Grundherrn  Vermittelung  und  Mitwirkung  nach 
dem  Rechte  desWeichbildbuches1)  zu  Übertragungen  des  Leihegutes 
noch  nothwendig,  so  zwar,  dass  jede  ohne  solche  Intervention  voll- 
zogene Übereignung  dem  Grundherrn  nach  Jahr  und  Tag  das 
Unterwindungsrecht  gibt").  Die  Competenz  für  Burgrechtsstreitig- 
keiten in  der  Stadt  und  zwischen  Wiener  Bürgern  *)  steht  allerdings 
dem  Stadtrichter  zu,  ist  aber  für  alle  Burgrechtsangelegenheiten 


')  dass  es  bald  anders  wurde,  dazu  vergl.  Freih.  v.  Hormayr  Ge- 
schichte Wien’s  5.  Bd.  Urk  142  vom  2.  August  1360,  Schuster  in  der 
Einl.  p.  29. 

*)  Art.  (116)  120.  Wer  ein  perchtrecht  oder  oin  purchtrecht  chaufet 
der  schol  daz  aufnemen  und  enphachen  von  dem  gruutherm  oder  von  dem 
perchtherrn  ....  Vor  denselben  mag  man  wol  versetzen  oder  verchaufen 
purohtrecht  und  perchtrecht  Swer  darüber  ein  purchtrecht  oder  ein  percht- 
recht chaufet  und  nicht  enphecht  nach  aufnimmt  von  dem,  und  er  ze  recht 
scbol,  inner  jar  und  inner  tag,  der  hat  alles  sein  recht  daran  verlern,  und 
zeucht  sich  der  purclitkerre  oder  der  perchtherre  mit  recht  darzue. 

s)  Art.  119.  Was  purkrechts  gelegen  ist  in  der  stat  und  aussen  umb 
die  stat,  das  man  Verlosung  und  verstreuret  mit  der  stat,  das  sol  man  ver- 
antworten vor  dem  statrichter.  . . . Hat  ein  purger  ein  purkrecht  draussen 
in  dem  geu,  es  sei  auf  ekern,  oder  auf  wismad,  und  das  ein  ander  purger 
von  im  hat,  der  auch  hie  zu  wienn  ist  in  der  stat  gesessen,  versitzt  der 
selb  purger  sein  purkrecht  also,  daz  er  es  zu  dem  rechten  tag  nicht  engeit, 
den  sol  man  auch  clagen  vor  dem  statrichter. 


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14 


auf  dem  Lande  noch  dem  Burgherrn  gewahrt1);  desgleichen 
unbedingt  denjenigen  Burgherren,  die  mit  eigener  Gerichtsbarkeit 
ausgestattet  sind  *). 

Die  Vorschriften  über  die  Zahlung  des  Zinses,  für  welchen 
gleichfalls  die  Worte  gruntrecht,  purkrecht  gebräuchlich  sind, 
und  die  Anordnungen  über  die  Folgen  der  Zinssüumnis  sind  den 
Bestimmungen  über  das  Bergrecht  ganz  analog  gestaltet,  nur 
sind  hier  die  Fristen  für  die  Verdoppelung  der  ursprünglichen 
Schuldigkeit  nicht  wie  nach  Bergrecht  von  Taiding  zu  Taiding 
festgesetzt,  sondern  in  anderer  Weise  geregelt  *).  Der  Burgherr 
soll  den  Säumigen  zuerst  'durch  vier  taiding  nach  der  stat  recht 
klagen*.  Bis  dahin  knnn  dieser  jederzeit  durch  den  Erlag  des 
doppelten  Betrages  seiner  ursprünglichen  Schuld  sich  befreien ; ver- 
streicht auch  der  vierte  Gerichtstag,  so  ’sol  man  darnach  dem  purk- 
herrn  erteilen  zwispild  seines  purkrechtes  zu  vierzehen  tagen*,  und 
soll  der  Burgherr  befugt  sein,  nach  Ablauf  dieser  Frist  sich  vom 
Gerichte  eine  neue  gleich  lange  ertheilen  zu  lassen,  nach  welcher 
die  Schuld  sich  wieder  verdopple,  bis  sie  endlich  den  Werth  des 
Gutes  erreicht.  Das  sodann  eingeleitete  Verfahren,  das  mit  der 
Unterwindung  des  Gutes  endet,  schliesst  sich  den  bezüglichen 
Bestimmungen  über  Bergrechtzinse  vollständig  an. 

Desgleichen  ist  die  Regelung  über  die  Folgen  der  mora 
accipiendi  für  Burgrecht  sowie  Bergrecht  ziemlich  gleichartig, 
nur  geht  hier  das  Bestreben , den  Zinspflichtigen  vor  Willkürs- 
acten seines  Herrn  zu  schützen,  besonders  weit.  Es  ist  ncmlich 
die  Zulässigkeit  eines  gerichtlichen  Erlages  mit  voller  Rechts- 
wirkung ausdrücklich  ausgesprochen;  ja  cs  sollen  sogar  in  einem 
solchen  Falle,  wenn  der  Burgherr  wegen  derlei  Streitigkeiten 
seine  Mitwirkung  bei  Veräusserungsgeschäften  verweigern  wollte, 


*)  Art.  119.  Was  in  dem  |?eu  gelegen  ist,  als  eker,  wismad.  mairhöf 
das  sol  man  verantworten  vor  dem  purkherron,  dem  das  purkrecht  dint  . . 
Ist  . . das  ain  paur  seinem  herreu  sein  purkrccht  nicht  endint.  als  er  zu 
rocht  sol,  den  phendet  der  herre  wol  oder  sein  amhtmann  mit  recht  auf 
zwispild  also  lang  zu  virzchen  tagen,  untz  das  das  purkrecht  nicht  teurer  ist, 
oder  untz  das  der  gepaur  des  herrn  huld  gewinnet. 

*)  Art.  126. 

*)  Art.  121,  vcrgl.  auch  für  das,  wie  es  scheint,  einfache  Verfahren  vor 
dem  Burgherrn  die  oben  Anm.  1 abgedruckten  Bestimmungon  des  Art.  119. 


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15 


die  Bürger  an  seiner  Stelle  die  Übertragung  rechtskräftig  voll- 
ziehen können  1). 

Wichtiger  indess  als  diese  Details  und  auch  ungleich  be- 
deutender als  die  processualen  Bestimmungen  für  Rechtastreitig- 
keiten  über  die  Höhe  der  Zinsen  *),  den  Ausschluss  von  Pitznige 
und  Ebenteure  3)  u.  dergl.  sind  jene  Festsetzungen , welche  uns 
das  Burgrecht  als  Rentenrecht  und  Afterleiherecht  erkennen 
lassen;  und  zwar  zeugt  uns  speciell  die  sorgfältige  Regelung, 
welche  dem  „Überzins“  zu  Theil  ward4),  von  der  reichen  An- 
wendung, die  das  Burgrecht  in  diesem  Sinne  gefunden  hat. 

Überall  dort,  wo  eine  Mehrheit  von  Zinsungen  auf  dasselbe 
Gut  gelegt  war,  stellt  der  im  allgemeinen  durchgeführte  Sprach- 
gebrauch des  Rechtsbuches  den  ersten,  also  den  eigentlichen 
Leihezins  den  anderen  nachfolgenden  Zinsen  als  ’gruntrecht*  im 
Gegensätze  zu  ’pnrkrecht'  gegenüber,  wie  auch  der  erste  Verleiher 
als  Eigenthümer  des  Grundes  den  Namen  ’gruntherrn*  im  Gegen- 
sätze zu  den  späteren  als ’purkherrn*  bezeichnten  Zinsberechtigten 
fuhrt,  — eine  Sprechweise , die  auch  in  den  gleichzeitigen 
Urkunden  sich  widerspiegelt. 

Bezüglich  beider  Gattungen  von  Zinsen  sollen  nach  altem 
Herkommen  die  gleichen  Grundsätze  gelten  und  namentlich 
sollen  auch  für  den  Überzins,  Burgrecht  bez.  Kaufrecht  dieselben 
Säumnisfolgen,  wie  sie  oben  angegeben  wurden,  ein  treten  *). 


’)  Art.  123.  Ist  das  der  purkherr  darüber  sein  purkrecht  widert,  als 
man  in  das  anpeutet,  so  sol  es  der  richter  versigeln  und  also  lang  behalten, 
und  es  der  purkherr  gar  gern  neme.  ü uschi  echt  dem  man  di  weil  des  purk- 
rechtz  dürft  r.e  versetzen  oder  zu  verkaufen,  und  daz  in  der  purkherr  des 
irren  wil,  so  sullen  die  burger  nemen  ahlaite  und  anlaite,  und  sullen  das 
legon  versigelt  zu  dem  vordem  purkreuht,  und  sullen  aufnemen  von  dem 
hingeber,  und  dem  chaufcr  aufgeben,  und  auch  schermen  seinen  chauf  mit 
der  stat  insigel. 

*)  Art.  124. 

*)  Art.  122  vergl.  die  gegentheiligen  Bestimmungen  in  Art.  112. 

4)  Art.  125.  Bemerkt  sei,  dass  dieser  Art.  sowohl  Afterverpfändung 
wie  Rentenbegründung  i.  t.  S.  kennt  und  auseinanderhält:  Was  man  . . 
gelts  darnach  (nach  dem  (irundziuso)  darauf  setzet  ....(=»  Kenten- 
begründung); Ist  das  ein  man  sein  purkrecht  hie  geit,  es  sei  ein  haus  oder 
anderlai  an  phenning  zu  ainem  wemden  dinst  ....  (—  Afterleihe). 

‘)  Art.  125.  Es  wellent  aber  die  purger,  was  ein  man  auf  seinem 
purkreoht  gelts  verkaufe,  oder  unter  sich  stifte  zu  kaufrecht,  das  haisset 
purkrecht,  und  ist  auch  als  lang  herkommen  mit  altem  rechten,  das  si  das 
nu  wehertet  habend,  und  wellent,  daz,  wer  denselben  überzins  versitze,  das 
man  den  pesser  mit  zwispild,  als  purkrechts  recht  ist. 


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16 


Besonderes  Interesse  bieten  dabei  die  ausführlichen  Bestimmungen '), 
welche  eine  Collision  der  beiden  Hechte  für  den  Fall  der  Unter- 
windung zu  beseitigen  streben.  Bleibt  nämlich  der  Grundzins 
oder  der  Uberzins  so  lange  aus,  dass  das  oben  geschilderte 
Zwispildverfahren  eingeleitet  werden  kann , so  steht  dessen 
Durchführung  nichts  im  Wege.  Nur  soll  gegebenen  Falles 
keiner  der  Zinsberechtigten  die  Zinsforderung  durch  Ver- 
doppelung allzu  hoch  anwachsen  lassen,  sondern  es  soll  bei  der 
Abschätzung  des  Gutes  auf  die  übrigen  darauf  lastenden 
Zinse  Rücksicht  genommen  und  zur  Unterwindung  schon  in 
einem  Zeitpunkte  geschritten  werden,  in  welchem  der  Werth 
des  Gutes  die  angewachsene  Zinsschuld  noch  um  soviel  übersteigt, 
dass  durch  diese  ’Uberteuerung“  der  Zins  des  anderen  Berechtigten 
gedeckt  erscheint,  und  der,  der  das  Gut  an  sich  zieht,  es  ohne 
Schaden  mit  dieser  Zinslast  übernehmen  kann.  Soweit  diese 
Bestimmung  die  Rechtsverhältnisse  des  'purkherrn*  betrifft,  ent- 
hält sie  nichts  Auffallendes,  muss  vielmehr  als  ganz  entsprechend 
bezeichnet  werden ; denn  es  ist  nur  natürlich,  dass  der  jüngere 
Zinsberechtigte  die  Rechte  des  Grundherrn  berücksichtigen  muss 
und  nicht  bei  Seite  schieben  kann.  Dass  auch  das  Umgekehrte 
gilt,  und  dass  auch  der  Grundherr  die  Rechte  seines  Nachmannes 
anerkennen  und  schonen  müsse,  möchte  um  so  mehr  Befremden 
erregen,  als  er  bei  der  Stiftung  des  Uberzinses  nicht  mitzuwirken 
braucht  und  nicht  gefragt  wird,  „weil  er  damit  an  seinem  Rechte 
nichts  verliert“.  Die  Anordnung  in  diesem  Sinne  zeigt  nur,  wie 

')  Art»  l.’ö.  Versitzt  ein  man  gTuntrecht  als  lang,  da*  dem  gruntherrn 
sein  zwispild  darauf  ertailt  wirt.  und  des  selben  zwispiides  wirt  also  vil  . . 
so  das  das  haus  nicht  teurer  ist.  so  sol  der  gruntherr  vil  recht  achten,  zu 
welcher  zeit  er  sich  desselben  erbs  unterwinden  sülle,  so  das  dem  purk- 
herrn  sein  überzias  nicht  abgee,  der  nach  dem  gruntherrn  auf  demselben 

erib  verchaufet  uud  gestiftet  ist  ...  . Ist das  dem  gruntherrn  sein 

gruntrecht  also  lang  versessen  wirt,  das  im  das  haus  mit  zwispild  vor 
rechtem  gericht  ertailt  wirt,  so  sol  er  im  poten  haissen  geben  auf  dasselb 
erbe,  die  das  schetzen,  und  sol  das  pei  zeit  tuen,  das  des  zwispiides  icht  zu 
vil  auf  dem  erb  werd,  so  das  er  dannoch  als  vil  überteuerung  darauf  bab. 
ob  im  das  erb  beleih,  das  er  dem  purkherrn  von  derseben  Überteuerung  alle 
jar  sein  ....  purkrecht  müg  gedienen  ....  Ist  aber,  das  dem  purkherrn 
sein  ....  pnrkrecht  versessen  wirt,  der  sol  mit  seinem  zwispild  auch  nicht 
zu  verre  jagen,  also  beschaidenlich,  oh  im  das  haus  ertailt  werd  mit  recht 
in  sein  gewalt,  das  er  dannoch  als  vil  hab  an  demseben  hause , das  er  das 
gruntrecht  wol  davon  verdienen  mug.  So  verleuset  ir  ietweder  seines 
rechtens  nicht,  wenn  das  under  in  baiden  versessen  wirt,  es  sei  der  grunt- 
herr, oder  der  purkherr 


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17 


sehr  das  Grund-  und  das  Burgrecht  von  dem  Character  eines 
.Leiherechtes  sich  entfernt  hatte  und  vorwiegend  als  Rentenrecht 
aufgefasst  wurde,  und  wie  sehr  das  Zwiepild verfahren  zunächst 
als  Executionsmittel  uiit  dein  Zwecke  der  Befriedigung  des 
Rentengläubigers  galt,  das  dem  Zweckgedanken  gemäss  nur  in  so 
weit  zur  Anwendung  und  zur  Durchführung  gelangen  sollte,  als 
es  das  Recht  des  einen  erforderte,  und  als  nicht  unnöthig  Rechte 
und  Interessen  anderer  geschädigt  wurden.  Dass  man  die  Ver- 
letzung solcher  Rechte  dort  nicht  scheute,  wo  es  zur  Wahrung 
der  an  erster  Stelle  zu  berücksichtigenden  Rechte  erforderlich 
war,  zeigt  die  Bestimmung,  dass  bei  dem  Untergänge  des  auf 
dem  Leihegrunde  Erbauten  unter  Umständen  aller  Überzins  ver- 
loren gehen  könne  *). 

Und  ebenso  wurde  die  Reihenfolge  der  Zinsberechtigungen 
dort  genau  gewürdigt,  wo  das  Leihegut  durch  die  Mehrzahl  der 
daraufgelegten  Zinsungen  überbürdet  erschien.  Zwar  enthält 
hierüber  das  Stadtrechtsbuch  selbst  keine  Bestimmung;  doch  sei 
es  gestattet  um  der  Ergänzung  des  bisher  Gesagten  willen  und 
wegen  des  besonderen  Interesses,  welches  der  Frage  zukommt, 
ausnahmsweise  das  unmittelbare  Gebiet  der  Rechtsbücher  zu 
verlassen  und  auf  die  schon  von  Hess  berufene  Urkunde  zu 
verweisen,  welche  uns  über  das  richterliche  Verfahren  in  solchen 
Fällen  Kenntnis  verschafft*).  Nach  dieser  wird  zunächst  den 


■)  Art.  125.  Wann,  so  die  Stiftung  abging,  von  feur,  oder  von  andern 
sachen.  so  daB  der  grünt  1er  bestund  und  ungezimert,  so  züg  sich  der 
gruntherr  mit  recht  zu  seinem  grünt,  und  wer  der  uberzins  aller 
verloren  .... 

2)  v.  Mess,  a.  a.  0.  8.  773 u.  792  ff.;  Rauch,  rerum  austriacarum  scrip- 
tores  III  p.  79  Urk.  1356,  No.  15.  Bruder  Ott,  der  Vertreter  des  St.  Jacobs- 
kloster zu  Wien  erklärt  vor  Gericht,  dass  sein  Frauenstift  auf  einem 
Wiener  Mause  7 <55.  Wiener  Pfennige  Burgrechts  besessen  hatte.  Danach 
batte  ein  gewisser  Perichtold  und  seine  Gesohwister  und  auch  eine  Anna, 
die  Wittwe  eines  Friedrichs  von  Tirnach,  sowie  deren  Geschwister  weitere 
Burgrechtszinse  auf  demselben  Hause.  Nun  war  'daz  Maus  alz  tewr  nicht, 
daz  es  daz  Purchrecht  alles  das  dar  auf  leg,  nicht  getragen  möcht*  und  Ott 
frug  vor  Gericht,  was  Rechtens  sei  und  erfuhr : ’Ez  sol  Perichtolten  . . . und 
sein  Ueswistreiden  und  frowen  Annen  Friedrichs  witib  von  Tirnach  mit 
Irn  Geswistreiden  mit  (Meinem)  vronboten  auf  das  nast  taidiug  ze  wissen 
tun,  ob  si  Sich  dos  Maus  uuterwinden  weiten.  Und  reichten  die  Geistleiohen 
vrowen,  datz  sanct  Jacob  ir  Purkrecht  von  ze  rechten  tegen.  W ölten 
aber  si  des  nicht  tun,  Swaz  si  dann  Purchrechts  auf  dem 
Haus  hieten,  Datz  soltensigenczleichen  verloren  haben1, — ein 
Ergebnis,  zu  dem  es  auch  endlich  kam. 

i.  .Schwind,  Erbleiheu.  2 


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18 


letzten  Zinsberec.htigten  aufgetragen,  sich  bis  zum  nächsten  Tai- 
ding  zu  erklären,  ob  sie  sich  des  Gutes  unter  Uebemahme  der 
älteren  Zinsverpflichtungen  unterwinden  wollten.  Wollten  oder 
konnten  sie  darauf  nicht  eingelien,  so  giengen  sie  ihres  Zinsrechtes 
gänzlich  verlustig,  und  den  Erstberechtigten  stand  dann  natur- 
gemäss  das  Dnterwindungsrecht  (und  zwar  ohne  Berücksichtigung 
der  nachfolgenden  Zinsen)  zu.  — 

So  tritt  uns  das  „Burgrecht“,  wie  es  das  Wiener  Weich- 
bildbuch schildert,  als  ein  durohgebildetes  und  voll  entwickeltes 
Leihe-  und  Rentenrecht  entgegen,  das  sich  schon  weit  entfernt 
von  dem  unentwickelten  Character  des  Zinsleiherechtes,  wie  es 
aus  den  kaum  hundert  Jahre  älteren  Spiegeln  nach  den  obigen 
Ausführungen  zu  erschliessen  ist.  Die  Urkunden,  die  aus  der 
Zeit  des  Weichbild  buches  auf  uns  überkommen  sind,  geben  uns 
ein  deutliches  Zeugnis  von  der  reichen  und  vielfachen  Anwendung, 
welche  unser  Rechtsinstitut  damals  im  städtischen  und  auch  im 
ländlichen  Güterverkehre  gefunden  hat. 

Die  rechtliche  Bildung  aber,  über  welche  uns  nach 
dem  eben  Gesagten  Weichbildbuch  und  Urkunden  für  Wien 
und  seine  Umgebung  in  so  umfassender  Weise  berichten, 
war  indes  nicht  etwa  auf  dieses  enge  Gebiet  beschränkt. 
Nicht  nur,  dass  der  Name  Burgrecht  für  städtisches  Leihe- 
recht  in  Rechtsaufzeichnungen  und  Urkunden,  auch  für  andere 
Orte , namentlich  Süddeutschlands  vielfach  nachzuweisen  ist. 
findet  sich  das  gleiche  Rechtsinstitut,  wenn  auch  unter 
wechselndem  Namen,  und  nicht  überall  in  gleich  typisch 
entwickelten  Formen,  man  darf  wohl  sagen,  in  allen  deutschen 
Städten  jener  der  Entwickelung  des  städtischen  Lebens  so 
günstigen  Zeit.  Die  schönen  und  gründlichen  der  Entstehung  des 
Rentenrechtes  gewidmeten  Untersuchungen,  die  durch  Arnold1) 
eingeleitet  und  angeregt  wurden,  und  die  er  selbst  zunächst  für 
Basel,  die  Rosenthal*)  für  Würzburg  und  Gobbers  ®)  für  Köln 
durchgeführt  haben,  und  auch  schon  die  ältere,  den  lübischen 
Wikboldsrenten  gewidmete  Studie  von  Pauli  *)  führen  alle  auf 


*)  Zur  Geschichte  des  Eigenthums  in  den  deutschen  Städten,  1861. 

*)  Zur  Geschichte  des  Eigenthums  in  der  Stadt  Wirzburg,  1878. 

*)  'Die  Erbleihe  und  ihr  Verhältnis  zum  Rentenkaufe  im  mittelalterlichen 
Köln  des  XII.— XIV.  Jahrhunderts’  in  der  Zeitschrift  der  Savignystiftung  für 
Rechtsgeschichte  IV.,  germ.  Abtb.  S.  130  ff. 

*)  Abhandlungen  aus  dem  Lübischen  4.  Theil  die  s.  g.  Wicbohlsrenten 
oder  die  Rentenkäufe  des  Lübischen  Rechts. 


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19 


ein  in  diesen  Städten  gebräuchliches  Erbleiherecht  zurück,  das 
in  der  dauernden  und  erblichen  ßodcnverleihung  durch  die 
Grundherrn  zur  Entstehung  kan»  und  so  den  Beliehenen  gegen 
die  Übernahme  einer  bestimmten  Zinspflicht  die  Möglichkeit  zur 
Gründung  eines  eigenen  Heimes  in  der  Stadt  verschaffte. 

So  finden  wir  in  den  Städten  in  derjenigen  wirthschafUichen 
Periode,  welche  der  Blüthe  des  Rentenkaufrechtes  vorangieng, 
aber  auch  noch  darüber  hinaus  ein  Erbleiherecht  in  ziemlich 
allgemeinem  Gebrauche,  das  mit  den  eingangs  gekennzeichneten 
älteren  leiherechtlichen  Formen  nichts  oder  nicht  viel  gemein 
hat  und  das  sich  durch  den  Mangel  eines  die  Persönlichkeit  des 
Beliehenen  umstrickenden  Bandes  von  den  lehen-  und  hofrecht- 
lichen  Leihen  der  früheren  und  der  gleichen  Periode  ebenso 
unterschied,  wie  durch  die  Betonung  des  Erblichkeitsmomentes 
und  wohl  auch  durch  die  Zinspflicht  von  den  früher  so  allge- 
mein gebrauchten  Precarien. 

Aber  auch  dem  ländlichen  Rechte  späterer  Zeit  sind  ähn- 
liche Erbleihen  nicht  fremd.  Um  auch  hier,  statt  auf  alle  die 
complicirten  Fragen  der  späteren  bäuerlichen  Rechtsverhältnisse 
einzugehen,  nur  eines  Beispieles  zu  gedenken,  zeigt  uns  schon 
ein  Blick  auf  die  Landrechte,  wie  sie  z.  B.  v.  d.  N ahmer  in 
seinem  Handbuche  des  rheinischen  Particularrechtes  zusammen- 
gestellt  hat  *),  auch  ländliche  Güter  einem  Erbleiherechtc  unter- 

')  vergl.  z.  B.  von  der  Nähmet-,  p.  10  ff.  da*  Solmser  Land  Hecht  von 
1571.  Sechster  Theil : 'von  der  Erbleihe1,  worin  sieh  genaue  Bestimmungen 
finden  für  den  Fall  ,,Wann  dann  jemand  eim  andern  eyn  leygend  Gut,  es 
seye  Stadt,  Dorf  oder  Feldt  zu  rechtem  Erb,  das  ist  jhme  und  seynen  nach- 
kommenden Leibs-Erben  umb  einen  nahmhaften  järlichen  Zins  oder  Ffacht . . 
verleyhan  wolte“.  Davon  sei  hervorgehoben:  „Zum  dritten  so  hatt  die 
Erbleyhe  diese  Art,  dass  sie  sich  nicht  alleyn  auf  die  Bestende  re,  sondern 
auch  derselben  ehelich  Leibserben,  und  furtahn  auch  derselben  ehelich 
Leibserben  für  und  für  erstreckt,  und  derwegen  denselben,  so  lang  sie  die 
Lehengüter  in  rechtem  Wesen  und  Bawe  halten,  und  die  Zins  oder  Pflicht 
der  Gebür  nach  davor  ausrichten,  unnd  lieffern,  solche  vererbte  Güter  nicht 
mögen  entzogen  werden. 

Zum  vierdten  Soll  der  Bestender  oder  dessen  Erben  alle  jarc  die 
Erbzins  oder  pfacht  dem  Eigenthumbsherrn  gütlich  ausrichten,  Theten 
sie  solches  nicht , und  Hessen  aufs  wenigst  drey  Jar  (römischracht- 
licher  Einfluss)  'zusammen  wachsen  und  verttiessen,  ohn  dass  sie  die  Zins 
oder  Pflicht  ausrichten,  (ob  sie  gleich  von  dem  Zins  oder  Pfaclitherrn 
darumb  nicht  angemahnet  würden),  so  soll  derselbig  Lebnherr  nach  ab- 
lauffung  solcher  zeyt,  macht  haben,  solche  Güter,  als  verwirkt  und  jhme 
verfallen,  widerutnb  zu  sich  (doch  vermittelst  Recht  und  Rechtlicher  er- 
käuntuuss,  zuerfordern,  zu  nemen  unnd  den  PfachtmanD  davon  zustossen. 

2* 


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worfen,  das  einfach  auf  vertragsrechtliche  Vereinbarung  zu- 
rückzufiihren  ist,  und  das  in  ziemlich  weitverbreiteter  Anwendung 
gestanden  zu  sein  scheint. 

Diese  wenigen  bruchstückweise  an  einander  gereihten  An- 
gaben, bei  denen  ein  Eingehen  auf  die  einzelnen  sich  ergebenden 
Streitfragen  absichtlich  vermieden  wurde,  wie  auch  der  Anspruch 
auf  Vollständigkeit  durchaus  nicht  erhoben  wird,  werden 
ausreichen  zur  Feststellung  der  Thatsache , dass  das  endende 
Mittelalter  jedenfalls  seit  der  Zeit  der  Hechtsbücher  erbliche, 
mit  einer  Zinsverpflichtung  belastete  Landleilieverhäitnisse  — 
etwa  zu  vergleichen  mit  der  römischen  Emphyteuse  — in  weitem 
Umfange  und  der  mannigfaltigsten  Ausgestaltung  gekannt  und 
entwickelt  hat,  — Landleihen,  die  bald  mit  entscheidendem  Elin- 
flusse auf  die  persönlichen  Verhältnisse  der  Beliehenen  sich 
äusserten,  bald  alle  persönlichen  Beziehungen  unberührt  Hessen 
oder  nur  wenig  alterierten. 

Die  Entwickelung,  zu  welcher  diese  mehr  oder  weniger 
freien  Landleihen  in  späterer  Zeit  gelangte,  ist  in  ziemlich  zahl- 
reichen Untersuchungen  bereits  besprochen  worden 

Die  vorliegende  Studie  will  es  versuchen,  die  Enstehung 
dieses  Erbleiherechts  aufzusuchen  und  zu  zeigen,  aus  welchen 
Keimen  das  später  im  Leben  so  mächtige  und  bedeutende  Hechts 
institut  geworden.  Dagegen  liegt  ihr  die  Absicht  ferne,  ihm  auf 
dem  späteren  Entwickelungsgange  weiter  nachzugehen.  Schon  die 
Mannigfaltigkeit,  mit  der  es  frühzeitig  auftritt,  und  die  unleug- 
baren sachlichen  und  territorialen  Verschiedenheiten  schliessen  eine 
Darstellung  aus,  welche  alle  Fälle  des  Erbleiherechtes  in  ein 
einziges  System  zusamtnenfassen  wollte 1 ) , gebieten  vielmehr 
eine  Scheidung  nach  den  genannten,  in  den  Verhältnissen  selbst 


Zum  iunfTteu,  Ist  der  Lebuherr,  (denn  ulso  pflegt  man  den  Verleiher 
und  Eigenthumbsherru  abusive  iu  dieser  Landart  auch  zu  nennen,)  in  solchem, 
auch  allen  dergleichen  Fällen,  da  das  Lehen  oder  die  Erbleyhe  verwirkt 
wird,  nicht  schuldig,  dem  Bestender  oder  Ffachtmann  eynige  erstattung 
oder  besserung  zu  thun,  dann  durch  die  Verwirkung  wird  der  Ffachtmann 
nicht  alleiu  des  Lehengutes  sonder  auch  der  besserung  verlustig.“  Dora  Leihe- 
tierru  steht  kein  Kiindiguugsrecht  zu,  der  Beliehene  hat  das  Gut  in  gutem 
Stande  zu  erhalten  etc.  S.  auch  a.  a.  0.  S.  Iü5  cap.  VII.  der  Nassau -Catzen- 
elnbogischen  Landordnung:  von  den  Erhheständuisseu  u.  S.  420  ö.  Titel 
des  ’Churfür8tlieh  Pfalz  bei  Kheiu  erneu  ert  und  verbessert  Landrecht’ : Von 
Erbverleihung  oder  Erbbeständniss  ligender  Güter  u.  a.  m. 

')  Vergl.  Stobbe,  Deutsches  Privatrecht  II’  S.  509  Anm.  1. 


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21 


begründeten  Gesichtspunkten  Jedenfalls  würde  eine  auf  das 
gesammteErbleiherecht  ausgedehnte  rechtsgcschichtliche  Forschung 
die  Zugrundelegung  des  gesammten  aus  jener  Zeit  nicht  mehr  gar 
spärlich  überlieferten  urkundlichen  Materiales  zur  ersten  Voraus- 
setzung haben. 

Aus  der  kaum  zu  umfassenden  Menge  erbrechtlicher  Bildungen 
sollen  im  folgenden  zunächst  nur  zwei  territorial  und  sachlich 
strenge  geschiedene  Gebiete  einer  Untersuchung  in  der  oben  an- 
gegebenen Richtung  unterzogen  werden:  Die  freien  Erbleihe- 

verhältnisse in  den  Rheinlanden  und  die  bäuerlichen  Besitz- 
verhältnisse in  den  Colonisationsgebieten  der  deutsch  - slavischen 
Grenzdistrikte. 

So  wie  durch  die  örtliche  Lage  des  Schauplatzes,  auf  dem 
sie  zur  Entstehung  gelangt  sind,  so  stehen  sie  durch  ihre  innere 
Ausgestaltung  und  Ausbildung  in  einem  gewissen  Gegensätze : 
Das  Landleihrecht  am  Rheine  das  Ergebnis  einer  freien,  dem 
individuellen  Bedürfnisse  entspringenden  und  ihm  sich  unpassenden 
Entwickelung  — die  bäuerlichen  Besitzverhältnisse  in  den  Colonien 
stets  im  engsten  Zusammenhänge  mit  dem  Schicksale  der  ge- 
sammten Ansiedlung,  nicht  individualistisch  sondern  für  alle  Ge- 
nossen einheitlich,  genossenschaftlich  geregelt. 

So  mag  die  Zusammenstellung  dieser  beiden  Entwickelungs- 
gebiete, die  wenig  Gemeinsames  enthalten,  gerade  um  des  eben 
gekennzeichneten  Gegensatzes  willen  gerechtfertigt  erscheinen, 
indem  die  so  zur  Sprache  kommenden  Leiheformen  als  juristische 
Grenzfälle  im  Sinne  der  freiheitlichsten  bez.  gebundensten  Art 
leiherechtlicher  Bildungen  betrachtet  werden  können , zwischen 
denen  andere  Erbleihen  als  Zwischenstufen  sich  einschieben. 


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Freie  Landleihe  vertrage  in  den  Rheingegenden 


In  dem  reichen  Urkunden  vorrath,  der  in  mannigfaltiger 
Überlieferung  aus  den  Rheinlanden  des  12.  und  13.  Jahrhunderte 
auf  uns  gekommen  ist,  treten  anfange  spärlich,  dann  immer 
häufiger  und  vielgestaltiger  neue  Formen  für  Übertragungen  von 
Grundbesitz  zu  Tage,  Formen,  die  eich  aus  den  Urkunden  früherer 
Jahrhunderte  gar  nicht  oder  höchstens  vereinzelt  nachweieen  lassen. 

Das,  was  früher  zur  Erreichung  des  gleichen  oder  eines 
ähnlichen  wirthschaftlichen  Zweckes  eich  in  jenen  Gegenden  im 
Gebrauche  findet,  sind,  wie  schon  in  der  Einleitung  angegeben 
wurde,  vornehmlich  die  zwei  Formen  des  Beneficiume  und  der 
Precarie,  welche  in  vielseitiger  individueller  Ausgestaltung  dann 
überall  zur  Anwendung  kamen , wenn  bei  Übertragungen  von 
Grund  und  Boden  irgend  welche  Rücksichten  die  Begründung 
eines  unbedingten  und  unbeschränkten  Rechtes,  die  Gewährung 
des  vollen  Eigenthumes  nicht  wünschenswert!»  erscheinen  Hessen. 
Dass  neben  diesen  dem  Land-  und  Lehenrechte  ungehörigen 
Formen  auch  innerhalb  der  geschlossenen  Kreise  der  grösseren 
Wirthschaftsbetriebe  die  leihweise  Überlassung  von  Grundstücken 
an  Hofgenossen,  wie  anderwärts,  so  auch  liier  frühzeitig  gebräuchlich 
war,  ist  wohl  mit  aller  Bestimmtheit  anzunehmen , wenn  auch 
ein  urkundlicher  Nachweis  in  frühe  Zeiten  zurück  schon  aus 
dem  Grunde  schwer  durchzuführen  ist,  weil  bei  der  embryonalen 
Gestaltung  des  „Hofrechtes“  und  bei  dem  Übergewichte  des 
herrschaftlichen  Willens  und  herrschaftlicher  Willkür  es  in  den 
seltensten  Fällen  zu  Aufzeichnungen  derartiger  „Rechte“  ge- 
kommen sein  mag. 


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23 


Der  characteristische  Rechtsinhalt  der  neuen  Leiheformen 
gegenüber  den»  älteren  Rechte  liegt  bei  aller  Mannigfaltigkeit 
der  Einzelheiten  in  der  Abmachung,  dass  ein  Eigenthümer  von 
Grund  und  Boden  ein  Stück  Landes  an  einen  Einzelnen  dauernd 
und  zu  erblichem  Nutzungsrechte  überliess,  wofür  dieser  die  Ver- 
pflichtung zur  regelmässigen  Bezahlung  eines  für  alle  Zeiten  fix 
bestimmten  jährlichen  Natural-  oder  Geldzinses  oft  unter  ge- 
wissen Strafandrohungen  übernahm,  ohne  dass  dabei  eine  persön- 
liche Unterordnung  unter  den  Leiheherrn  begründet  worden  ■wäre. 

So  übertrug,  um  einige  Beispiele  aus  älterer  Zeit  anzuführen, 
nach  einer  Urkunde  *)  des  Jahres  1092  der  Probst  des  Simeon- 
stiftes  in  Trier  Poppo,  der  Anregung  seines  Vorgängers  folgend, 
Theile  des  Saallandes  zur  Anlegung  von  Weinbergen  'ea  . . . 
conditione,  ut  post  primos  octo  annos  medietas  ibidem  crescentis 
vini  in  tempus  reliquum  ad  fratres  rediret.  Item  alia  . . . . 
octo  iugera  . . . . , ut  singulis  annis  octo  solidi  inde  solverentur 
fratribus;  reliquum  etiam  omnem  domini  calemterram  . . . 

singulis  annis  pro  UI  albis  et  II  solidis Die  später 

als  Begründung  für  die  Beurkundung  folgenden  Worte  ’ut  stabi- 
liter  permaneret  a generatione  in  generationem1  lassen  über  die 
beabsichtigte  Dauer  des  Verhältnisses  keinen  Zweifel  aufkoinmeu. 

Zwischen  1081  und  1105’)  entliess  der  Probst  von  Werden 
eine  Hörige  zur  Vermählung  an  einen  freien  Mann.  Dieser  gab 
dafür  einem  ,,St.  Liudger“  Altar  der  Kirche  zunächst  oin  Grund- 
stück, dann  aber,  um  dieses  wieder  zurück  zu  erhalten,  eine  andere 
Magd.  Der  Probst  geht  auf  diesen  Handel  in  der  Weise  ein, 
dass  er  ipsum  predium  pro  duobus  per  siugulos  annos  denariis 
ad  idem  altare  Sancti  Liudgeri  persolvendis  quasi  hereditario 
iure  concederet  possidendum. 

Erzbischof  Adalbert  von  Mainz  gibt  gewisse  Gärten  dem 
Cantor  des  Conventes,  ’ita  ut  salva  ortulanorum  lege  cum  omni 
fructuario  usu  de  cetero  ad  ipsius  Cantoris  potestatem  et  utilitatem 
respiciant.  Ea  videlicct  conditione,  ut  quicumque  Cantor  predicte 
ecclesie  existat  de  reditibus  supra  dictorum  ortorum  decem  solidos 
annuatim  fratribus  persolvat*  *). 

Der  Abt  der  S.  Eucharius-Kirche  bei  Trier  überlässt  ’salicam 
terram  ....  duobus  rusticis  de  familia  nostra  B.  et  R.  heredi- 

')  Beyer,  Hittelrhcinisches  U.  B.  1.  386. 

*)  Lacoinblet,  Siederrheinisches  U.  ß.  L Ü66. 

*}  Urk.  von  1133  ans  txudenus,  Codex  diplomaticus  I.  S.  108. 


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24 


tario  jure  . . ea  conditione,  ut  vineas  in  ea  plantent  et  colant  . . 
dimidietatem  quoque  fructua  ecclesie  fideliter  representent  et  de 
reliqua  parte  decimas  peraoivant“.  Wenn  sich  bei  der  Inspicierung 
der  Güter  bei  einem  Colonen  etwas  nicht  in  Ordnung  fände,  ’aut 
emendationem  faciat  aut  hereditate  sua  privabitur* l). 

Der  Abt  von  Eberbach  beurkundet,  dass  ein  gewisser 
'Wichardus  thelonearius  ....  vineam  ...  ab  ecclesia  hereditario 
iure  possidendam  suscepit  sub  censu  duorum  aolidorum  . . . . 
hoc  condicto,  ut  quicunique  censum  . . . tardavcrit  in  penam  negli- 
gentie  in  spatio  VIII  dierum  sequentium  censum  duplicabit.  Si 
vero  et  hoc  tempus  pretergressus  fuerit,  sine  ulla  litis  contesta- 
tione  usus  vinee  ecclesie  s.  Symeonis  cedet  et  heredes  suo  iure 
privabuntur*  *). 

Einem  gewissen  Johannes,  der  dem  Kloster  S.  Eucharii  bei 
Trier  ein  Haus  und  Weingarten  geschenkt  hatte,  wird  seine 
Bitte  gewährt,  die  dahin  gieng,  dass  die  (die  Urkunde  ausstellenden) 
Conventualen  seinem  Neffen  Everardo  beides  'hereditario  iure  a 
nobis  tenendem  cencedere  vellemus,  ita  videlicet  ut  singulis  annis 
de  domo  VI  denarios  persolveret,  vineam  autem  coleret  et 
dimidietatem  ecclesie  presentaret* 3). 

Schon  die  wenigen  hier  aufgeführten  Beispiele  geben  ein 
Bild  von  der  Mannigfaltigkeit  der  Ausgestaltung  dieser  Land- 
leibcverträge  im  Einzelnen,  wie  von  der  Verschiedenartigkeit  der 
wirthschaftlichen  und  rechtlichen  Functionen,  welche  sie  zu  er- 
füllen hatten.  Der  Hinweis  auf  die  dem  einzelnen  Falle  zu  Grunde 
liegenden  thatsächlichen  Verhältnisse  und  die  rechtliche  Regelung 
einzelner  Details,  wie  vor  allen  die  Bestimmung  der  Grösse,  der 
Art  und  der  Termine  der  Zinsleistungen,  Festsetzung  besonderer 
dabei  übernommener  Verpflichtungen  oder  der  rechtlichen  Folgen 
säumigen  Verhaltens  und  manches  andere  mehr  gibt  jedem  solchen 
Vertrage  sein  characteristisches  Gepräge;  demgegenüber  liegt  das 
Gemeinsame,  bei  allerVerschiedenheit  des  Einzelnen  überall  Wieder- 
kehrende, wie  oben  bereits  gesagt,  in  der  Gewährung  eines  dauernden 
und  erblichen  Nutzungs-  und  Verfügungsrechtes  auf  der  einen  Seite 
und  der  Übernahme  der  Verpflichtung  zur  Leistung  eines  ebenso 
dauernden  Entgeltes  in  Form  der  Zinspflicht  auf  der  anderen  Seite. 


>)  1168  Mittelrh.  ÜB.  L 652. 
*)  1186  MH.  UB.  IL  71. 

*)  1164-89  MH.  UB.  II.  100. 


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25 

Es  wird  wohl  nicht  erforderlich  und  wohl  auch  kaum  thunlich 
sein,  schon  an  dieser  Stelle  den  Gegensatz  und  die  Unterschiede 
dieser  neuen  Leiheform  gegenüber  den  anderen  oben  erwähnten 
näher  auszuführen.  Wae  über  das  Wesen  des  Beneficiums  und 
der  Precarie  allgemein  bekannt  ist,  dürfte  die  wichtigsten  Ver- 
schiedenheiten leicht  erkennen  lassen,  und  der  Mangel  eines  Hin- 
weises auf  persönliche  Abhängigkeit  und  Pflichten  unterscheidet, 
soweit  die  hofrechtlichen  Aufzeichnungen  aus  der  gleichen  Zeit  er- 
schliessen  lassen,  unsere  Landleihen  von  den  analogen  Güter- 
übertragungen im  gebundenen  hofrechtlichen  Kreise , nur  dass 
der  Mangel  eines  solchen  Hinweises  nicht  immer  auch  ein  Fehlen 
eines  solchen  hofrechtlichen  Nexus  erweist. 

Hervorzuheben  ist  nur  noch,  dass  die  schon  in  den  wenigen 
hier  angeführten  urkundlichen  Beispielen  mehrmals  vorkommenden 
Ausdrücke,  wie  'jure  hcreditario  concedere“  und  andere  verwandten 
Sinnes,  die  in  den  späteren  Urkunden  mit  grösserer  Regelmässig- 
keit wiederkehren,  ziemlich  bald,  man  darf  wohl  sagen,  zu  einer 
technischen  Bezeichnung  für  das  in  Frage  stehende  Rechtsinstitut 
sich  eingebürgert  haben,  so  dass  diese  leiherechtlichen  Bildungen  in 
der  Urkundensprache  jener  Zeiten  auch  durch  einen  gemeinsamen 
Namen  zu  einer  gewissen  Einheit  zusammengefasst  erscheinen. 
Was  der  bisher  gegebene  allgemeine  Überblick  bereits  ange- 
deutet hat,  wird  bei  näherem  Eingehen  freilich  nur  aufs  Neue 
bekräftigt  werden,  dass  dieser  äusseren  Einheit  durchaus  nicht 
immer  auch  eine  innere  Gleichartigkeit  entspricht. 

Die  folgende  Darstellung  beabsichtigt  zunächst,  aus  den  vor- 
handenen, uns  überlieferten  I^eihe vertragen  dieser  Art  dogmatisch 
Art  und  Umfang  der  dabei  in  Betracht  kommenden  rechtlichen 
Grundsätze  im  allgemeinen,  w ie  in  ihrer  Ausgestaltung  im  Einzelnen 
zu  ermitteln.  Dabei  ist  bei  einem  Rechte,  welches,  wie  aus  dem 
Vorhergehenden  entnommen  werden  konnte,  sachenrechtliche  Herr- 
schafte- und  persönliche  Verpflichtungsverhältnisse  in  sich  schliesst, 
in  der  Darstellung  eine  äussere  Scheidung  nach  diesen  Gesichts- 
punkten naheliegend  und  geboten.  Der  dogmatischen  Darstellung 
des  positiven  Rechtsinhaltes  soll  die  rechtsgeschichtliche  Stellung 
unseres  Rechteinstitutes  in  seinem  Verhältnisse  zu  anderen  ver- 
wandten Rechtsbildungen  der  gleichen  und  der  vorangegangenen 
Zeit  unter  besonderer  Berücksichtigung  des  eventuellen  rechts- 
geschichtlichen Zusammenhanges  mit  dem  früheren  in  einem 
weiteren  Abschnitte  folgen. 


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26 


Dogmatischer  Theil. 

1.  Die  rechtlichen  Beziehungen  znm  Leihegute. 

(Die  sachenrechtlichen  Elemente.) 

Schon  die  wenigen  bisher  gegebenen  Andeutungen  lassen 
darüber  keinen  Zweifel,  dass  das  bei  Landübertragungen  „zu 
Erbrecht“  auf  Seiten  des  Erwerbers  begründete  dauernde  und 
vererbliche  Nutzungs-  und  Verfügungsrecht  von  ungemein  weit- 
reichendem Inhalt  war  und  sich  wenigstens  seinem  äusseren  Er- 
scheinen nach  von  wirklichem  Eigenthume  nicht  viel  unterschied. 

Auch  die  Form,  welche  zur  Beurkundung  derartiger  Rechts- 
geschäfte gewählt  wurde  '),  war  häufig  die  gleiche,  wie  sie  immer 
für  Übereignung  im  vollen  Sinne  des  Wortes  gebraucht  werden 
mochte.  Und  ebenso  sind  die  Wendungen,  in  denen  der  recht- 
liche Übertragungswille  zum  Ausdrucke  gelangte,  wie  etwa  die 
Worte  ’concederc  in  perpetuum  iure  hereditario  possidendum1  und 
ähnliche  häufig  derart,  dass  sie  bei  völligen  Eigenthumsüber- 
tragungen ebenso  gut  am  Platze  wären.  Auch  in  der  Art,  wie 
der  zu  erblichem  Rechte  eingesetzte  Besitzer  über  sein  Besitz- 
thum verfügte,  wie  er  auf  seinem  Gute  wirthschaftete,  wird  sich 
der  Regel  nach  ein  wesentlicher  Unterschied  gegenüber  einem 
Eigenthümer  äusserlich  nicht  erkennen  lassen.  Und  selbst  die 
Zinspflicht,  in  der  man  wohl  zunächst  geneigt  wäre,  das  Kenn- 
zeichen für  den  Mangel  des  Eigenthumes  auf  seiner  Seite  zu 
erblicken,  wird  nicht  mehr  als  ein  dafür  so  entscheidendes  Merk- 
mal angeführt  werden  können,  wenn  man  erwögt,  dass  sich  aus 
ziemlich  derselben  Zeit  Übertragungen  zu  vollem  Eigenthume 
unter  gleichzeitiger  Statuirung  einer  Zinsenverbindlichkeit  nach- 
weisen  lassen  *). 

Aber  trotz  dieser  vielfach  zu  Tage  tretenden  Ähnlichkeiten 
unterschied  schon  die  damalige  Zeit  auf  das  strengste  unsere 
Übertragungen  zu  erblichem  Leiherechte  von  Eigenthumsüber- 
tragungen im  vollen  Sinne  des  Wortes.  Bei  der  Bedeutung, 
welche  damals  dem  Grundeigenthume  in  so  vielen  Rücksichten 
zukam,  und  den  Beschränkungen,  welchen  volle  Übereignungen 
oft  unterlagen,  ist  diese  scharfe  Scheidung  wohl  zur  Genüge 
begreiflich. 

')  vergl.  i.  B.  die  sehr  oft  genannte  Zustimmung  dos  Capitels  und 
ähnliches,  über  die  Verschiedenheiten  s.  unten  S.  39  ff. 

*)  vergl.  z.  B.  Buueu-Kckert/.,  Quellen  zur  Geschichte  der  Stadt 
Köln,  1.  1180,  93 ; III.  1278,  171  u.  a.  vergl.  unten  am  Schlüsse  de«  hist.  Theiles. 


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27 


Sie  äussert  sich  auch  wiederholt  in  dem  sprachlichen  Aus- 
drucke, dessen  sich  die  Urkunden  bedienten:  ab  ecclesia  iure 
hereditario  possidendum  suscipere ’);  ut  B.  et  heredes  sui  iure 
hereditario  vinee  prefate  possessores  existerent  *);  in  perpctuam 
emphy teosim  concessimus  possidendum 3) ; locavimus  seu  concessi- 
mus  iure  hereditario4);  titulo  locationis  perpetue  et  hereditarie 
....  recepimus  habendam,  edificandam,  possidendam  et  diverten- 
dam*);  servato  nostro  allodio  omnique  iure  ecclesie  in  domo 
nostra  hereditariam  mansionem  concessimus*)  und  viele  ähnliche 
verwandte  Redewendungen  werden  für  den  Akt  der  Verleihung 
gebraucht,  wogegen  die  Überlassung  zu  vollem  Eigenthume,  sei 
es  mit  oder  ohne  Constituirung  eines  Zinses  unter  Hinweis  auf 
dessen  weiten  Umfang  als  plenum  ius  hereditarium ")  oder  in 
der  Weise  gekennzeichnet  wird,  dass  von  einem  coneedere  iure 
proprietatis  perpetue  possidendum8)  oder  einfacher  von  einem 
coneedere  pleno  iure  possidendum*),  einem  dare  et  tradere  iure 
perpetuo10)  oder  wieder  ausführlicher  von  einem  coneedere  ita  . . . 
ut  . . . tamquam  libera  proprietate  pro  libera  utantur  voluntate, 
sicut  usui  et  voluntati  sue  per  omnia  decreverint  fructuosius 
expedire”)  die  Rede  ist1*). 

Die  Belastung  eines  so  zu  Eigenthum  übertragenen  Gutes 
mit  einem  Zinse  findet  dann  naturgemäss  ihre  besondere  Er- 

')  1185  MH.  UH.  11.  71. 

*)  1189  MR.  ÜB.  II.  98. 

»)  1242  MR.  ÜB.  Hl.  743. 

*)  1267  Ennen  H.  496. 

*)  1294  Ennen  III.  897. 

•)  1177  Ennen  I.  89. 

’)  1287  Lac.  H.  827. 

")  1251  Lac.  II.  372. 

•)  1269  Lac.  U.  477. 

'”)  1297  Lac.  H.  976. 

»)  1217  MR.  ÜB.  IH.  71. 

■’)  Auch  in  einer  Urkumlo  Ut  oft  der  Gegensatz  scharf  gekennzeichnet; 
eo  in  der  oben  citierten  Urk.  1177  Ennen-Eckcrtz  1.  89,  oder  Urk.  1299  Ennen 
HI.  489.  Wohl  auch  Böhmer,  Frankfurter  UB.  1286  p.  224.  Wie  «ehr 
sich  der  Ausdruck  „iure  hereditario“  als  technisch  für  den  Begriff  des  Leihe- 
verhältnisses eingebürgert  hatte,  zeigen  namentlich  die  Fälle,  in  denen  er 
gebraucht  wird,  obwohl  von  einer  Erblichkeit  des  Reohtes,  die  doch  dem 
Ganzen  den  Namen  gegeben  hatte,  überhaupt  nicht  die  Rede  ist,  vergl.  z.  B. 
1152  MR.  UB.  I.  568.  Hermannus  . . . vineam  ....  hereditario  iure 
quamdiu  ipso  viveret  . . . colendam  suscepit. 


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28 


wähnung;  so  Urk.  1180  (Ennen  I.  93)  . . . proprietatem  loci 
libere  in  manus  nostras  resignaverunt,  nur  mit  der  Bedingung, 

dass  die  fratres  cenobii  aureum  nummum ecclesie  b- 

Gerconis  . . . persolvant  '). 

Schon  diese  scharfe  Scheidung  zwischen  den  Übertragungen 
zu  Eigenthum  und  zu  Erbrecht,  welche  in  dem  sprachlichen  Aus- 
druck jener  Zeit  wiederholt  zu  Tage  tritt,  macht  die  Annahme 
unmöglich,  dass  in  der  Verleihung  zu  Erbrecht  etwa  der  Regel 
nach  eine  Überlassung  zu  Eigenthum  unter  gleichzeitiger  Be- 
gründung einer  Zinspflicht  gelegen  sei.  Eine  nähere  Betrachtung 
der  in  Frage  stehenden  Fälle  zeigt  uns  auch  sehr  bald,  dass 
das  Eigenthumsrecht  des  Verleihers  auch  während  der  Dauer  des 
Erbleiheverhältnisses  fortbesteht,  (wohl  zunächst  nur  schlummernd, 
etwa  wie  die  nuda  proprietas  gegenüber  dem  römischen  usus- 
fructus  oder  der  Emphyteuse),  dass  es  aber  eine  Reihe  von 
Fällen  gibt,  in  welchen  es  wieder  zu  voller  Machtentfaltung 
gelangen  konnte. 

Das  Leihegut  unterlag  sonach  einer  zweifachen  Herrschaft: 
der  umittelbaren  Macht  des  ßeliehenen,  der  das  Gut  rechtlich 
und  thatsächlich  beherrschte,  und  dem  durch  dieses  Leiherecht 
zunächst  fast  in  jeder  Lebensäusserung  beengten,  nahezu  völlig 
brach  gelegten  Eigenthume  des  Gutsherrn.  So  gestalten  sich 
denn  auch  die  sachenrechtlichen  Verhältnisse  an  dem  Leihegute 
unendlich  einfach.  Ein  Nutzungsrecht  mit  weiten,  aber  fest  ge- 
gezogenen  rechtlichen  und  in  gewissem  Sinne  auch  zeitlichen 
Schranken  und  das  Eigenthum,  das  überall  zum  Durchbruche 
und  zur  Geltung  zu  gelangen  bemüht  ist,  wo  ihm  nur  neben 
jenem  Nutzungsrecht  ein  Raum  zur  Bethätigung  geboten  wird. 

Eine  Menge  von  Fällen  und  Combinationen,  in  welchen  das 
Recht  des  Beliehenen  erlosch  oder  ins  Wanken  kam  und  damit 
das  Eigenthum  sich  Geltung  verschaffen  konnte,  sind  nicht  auf 
sachenrechtliche  sondern  auf  anderwärtige  Ursachen  zurück- 
zuführen; und  während  die  Ausführung  von  all  den  einzelnen 
Eventualitäten,  welche  ein  solches  Aufleben  des  Eigenthumes 
verursachen  konnten,  einem  anderen  Orte  Vorbehalten  bleiben 
muss,  werden  hier  einige  schwache  Hinweise  genügen:  Es  ist 
nichts  anderes  als  ein  Wiedererwachen  des  schlummernden  Eigen- 
thumes, wenn,  wie  unten  ausgeführt  wTerden  wird,  der  Leiheherr 
bei  unpünktlicher  Zahlung  des  Zinses  oder  mitunter  bei  Ver- 

’)  Achnlich  1278  Ennen  III.  171. 


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29 


schlechterung  oder  auch  nur  ungenügender  Pflege  des  Gutes 
den  Erbpächter  entsetzen  kann ; wenn  im  Falle  erblosen  Todes 
des  Beliehenen  das  Recht  am  Gute  sich  in  des  Leiheherrn 
Händen  consolidiert,  und  wenn  eventuelle  Veräusserungen  des 
Leihreehtes , sofern  dieselben  Überhaupt  zulässig  sind,  an  die 
Mitwirkung  des  Leiheherrn  gebunden  sind,  und  manches 
andere  mehr. 

An  dieser  Stelle  sei  auch  gleich  hervorgehoben  — die 
nähere  Ausführung  bleibt  wieder  einem  späteren  Orte  überlassen 
— dass  dieses  Eigenthumsrecht  das  Gut  nicht  nur  in  der  Form 
erfasste , wie  es  ursprünglich  übergeben  worden  war,  sondern 
dass  cs  sich  naturgemäss  auch  auf  alle  mit  dem  Gute  vorge- 
kommenen und  damit  verbundenen  Besserungen  erstreckte,  also 
in  diesem  Sinne  auch  während  des  Bestandes  des  Leiheverhält- 
nisses eine  und  zwar  oft  ganz  wesentliche  Erweiterung  erfahren 
konnte.  All  dies  macht  es  gewiss  begreiflich,  dass  der  Besitz 
dieses  zunächst  freilich  nicht  actuellcn  Rechtes,  auch  abgesehen 
von  den  sonst  an  den  Grundbesitz  geknüpften  rechtlichen  Präro- 
gativen auch  auf  rein  privatrechtlichem  Gebiete  mächtig  empfunden 
wurde  und  sonach  auch  seinen  Ausdruck  Anden  musste. 

Näher  einzugehen  ist  hier  nur  noch  auf  die  Grenzen,  welche 
für  Beginn  und  Ende  der  Bcthätigung  des  Eigenthumsrcchtes 
aus  unmittelbaren  sachenrechtlichen  Ursachen  gesetzt  sind,  oder 
was  dasselbe  ist,  auf  den  Umfang  und  Inhalt  der  leihcrcchtlichen 
Befugnisse,  deren  Besprechung  sich  indes  gleichfalls  mit  wenigen 
Worten  erledigen  lässt. 

Wir  finden  den  Beliehenen  im  Genüsse  und  der  Ausübung 
eines  weitreichenden  Verfügungsrechtes.  Abgesehen  von  ganz 
singulären  Bestimmungen  fehlt  es  an  Festsetzungen,  die  den  Be- 
sitzer an  irgend  welchen  Dispositionen  hinderten,  welche  die  ge- 
wöhnliche Benützung  des  Gutes  mit  sich  bringt  oder  erfordert. 
Wo  nicht  ein  engerer  Verband  mit  dem  herrschaftlichen  Wirth- 
schaftsorganismus  anderes  verlangte  oder  sonst  vertragsmässig 
Specialculturen  vorgeschrieben  waren,  standen  auch  Veränderungen 
der  Cultur,  Meliorationen  jeder  Art  ')  und  jede  Vorkehrung,  die 
nicht  zur  Verschlechterung  des  Gutes  fuhrt,  in  der  rechtlichen 
Macht  des  Beliehenen.  Und  selbst  für  Depravationeu  sind  nur 
selten  rechtliche  Nachtheile  angedroht  *). 

')  Ausnahmen:  z.  ß Art.  1 206—  1 1 Eimen  II.  38,  wo  Bauführungen  au 
die  Zustimmung  des  Leiheherrn  gebunden  sind. 

*)  z.  B.  1233  MB.  ÜB  III.  481. 


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30 


Ale  Nutzniesser  und  Besitzer  stand  er  natürlich  in  der  Ge- 
were  und  erfreute  sich  all  der  Vortheile,  welche  diese  mit 
sich  bringt. 

Dieses  weitgehende  Recht,  dessen  Genuss  dem  Erbpächter 
eingeräumt  ist,  ist  überdies  nicht  gebunden  an  eine  bestimmte 
Zeit;  es  ist  auch  nicht  geknüpft  an  das  Leben  einer  einzelnen 
Person  *).  Im  Gegentheile  tritt  gerade  das  Moment  der  Erblich- 
keit des  Rechtes  so  sehr  in  den  Vordergrund,  das  nach  ihm  allein 
das  ganze  Rechtsinstitut  seinen  Namen  erhielt,  und  es  fehlt  nicht 
an  besonderen  Verbürgungen  für  die  Dauer  und  Unverbrüchlich- 
keit des  Verhältnisses  für  alle  Zeiten  *). 

Nach  den  gewöhnlichen  Bestimmungen  der  Leiheverträge 
wird  das  Gut  dem  zunächst  Beliehencn,  seinen  Kindern  und 
deren  Nachkommen  überlassen.  Also  die  Descendenz  des  Be- 
liehenen  ist  im  allgemeinen  zur  Nachfolge  in  das  Leiherecht  be- 
rufen. Dabei  finden  sich  dann  im  Einzelnen  Erweiterungen  und 
Beschränkungen  verschiedenster  Art.  Bald  sind  auch  andere 
Verwandte  des  ersten  Erwerbers  als  Rechtsnachfolger  zu- 
gelassen *)  oder  es  sind  die  Ascendenten  im  Falle  des  Abgangs 
einer  Descendenz  zur  Nachfolge  berechtigt 4).  Bald  ist  wieder 
ausdrücklich  das  ausschliessliche  Recht  der  Descendenteu  5)  oder 
auch  nur  der  ehelichen  Nachkommenschaft  des  ersten  Be- 
rechtigten ®)  normiert. 

Häufiger  indes  und  wichtiger  als  diese  mehr  zufälligen, 
nicht  nothwendig  einem  inneren  Grunde  entsprungenen  Erb- 
einschränkungen, ist  eine  andere  Art  derselben,  nämlich  die 


')  freilich  finden  sich  vereinzelt  auch  solche  Fälle,  doch  sind  dies 
natürlich  nicht  Erbleihen.  Zcitleihen  z.  B.  MH.  UB.  I.  c.  1160,  613;  III. 
1249,  1015  Vitalleihen  z.  B MR.  UB.  I.  1122,  449;  III.  1221,  173  u.  a.;  auf 
das  Leben  zweier  Ehegatten  z.  B.  Hoeniger,  Kölner  Schreinsurkunden 
I.  Mart.  10.  III.  1.  Eine  vollständige  Zusammenstellung  hei  Lamprccht 
D.  W.  L.  I.  2.  936  Aum.  3. 

")  z.  B.  1115  MR.  UB.  I,  432,  1136,  484;  1295  Lac.  II.  957  ähnlich 
auch  1140  MR.  UB.  II.  Nachtrag  zu  I.  No.  40. 

“)  z.  ß.  1135  MR.  UB.  I.  481. 

«)  z.  B.  1234  MR.  UB.  III.  514. 

»)  z.  B.  1200  MR  UB.  II.  182. 

•)  z.  B.  1184  Ennen  I.  98. 


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31 


Beschränkung  auf  einen ')  oder  wenige  ’)  Leibeeerben  - eine  Ver- 
fügung, welche  der  „Sorge  für  die  Erhaltung  der  Bauerngüter“, 
oder  vielleicht  richtiger  gesagt  *),  der  Besorgnis  vor  einer  die 
grundherrlichen  Einkünfte  schädigenden  Zersplitterung  der  zins- 
pflichtigen  Hufen  ihre  Entstehung  verdankte.  Dieses  Prädomi- 
niren  des  leiheherrlichen  Interesses  findet  seine  besonders  deut- 
lichen Ausdrücke  in  den  Abmachungen,  in  welchen  das  recht- 
liche Schicksal  des  Gutes  nicht  weiter  beeinflusst  wurde,  sondern 
nur  dieUntheilbarkeit  der  Zinslast  im  Vertrage  bedungen  wurde4). — 

Mögen  nun  diese  Beschränkungen  und  Regelungen  über  die 
Art  der  Vererbung  wie  immer  gestaltet  gewesen  sein,  immer 
verschaffte  die  Verleihung  zu  Erbrecht  dem  Besitzer  die  Gewähr, 
dass  das  ihm  überlassene  Land  bei  seiner  Familie  dauernd  ver- 
bleiben, dass,  wenn  er  zur  Besserung  des  Grundes  etwas  beitrug, 
die  Früchte  seiner  Arbeit  ihm  und  den  Seinen  zum  Vortheile  ge- 
reichen sollten,  dass  kein  Willkürsnct  der  Gutsherrschaft  ihm 
das  entreissen  konnte,  was  er  mit  seinem  Schweisse  erarbeitet  hat. 

So  gross  nun  auch  nach  dem  Gesagten  die  Bedeutung  war, 
welche  die  Erblichkeit  des  Rechtes  für  den  Berechtigten  hatte, 
und  so  sorgfältig  die  Pflege  war,  ivelche  in  Folge  dessen  gerade 
den  Bestimmungen  über  die  Vererbung  zu  Theil  wurde,  so  dürfte 
doch  darin  allein  noch  nicht  der  Grund  dafür  gelegen  gewesen 
sein,  dass  das  ganze  Rechtsinstitut  seit  früher  Zeit  und  später 
immer  allgemeiner  gerade  nach  dem  Momente  der  Erblichkeit 
und  nur  nach  dieser  seinen  Namen  erhielt.  Denn  alle  Kreise 
des  damaligen  Rechtslebens,  das  Landrecht  nicht  minder  wie 
Lehen  und  Dienstrechte  kannten  zur  Genüge  vererbliche  Rechte 
an  Grund  und  Boden,  und  speciell  das  Lehen  und  Hofrecht  hatte 
damals  schon  vererbliche  Nutzungsrechte  an  fremdem  Lande  ge- 
zeitigt, und  auch  dem  Landrechte  kann  solches  nicht  ganz  fremd 
geblieben  sein  *). 


•)  z.  B.  MR.  UB.  I.  1115,  431;  c.  1132,  474;  11.  1200,  182;  1204,  221; 
1206,  225;  III.  1232,  460;  1233.  481;  1234.  514;  Lac.  II.  1264.  548;  1286. 
821;  Banen  III.  1281,  211;  Quix  ood.  dipl.  Aquensia  1206,  70. 

!)  zwei  Brben  z.  B.  1187  MR.  ÜB.  II.  90. 

3)  die«  hebt  schon  hervor  L.  F.  Gabkens,  Grundsätze  des  Dorf-  und 
BauernrechteB,  Halle  1780  § 126. 

*)  so  bestimmt  z.  B.  Urk.  1233  MR.  UB.  III.  489  nur,  dass  immer 
der  älteste  unter  den  Brben  zur  Zahlung  des  Zinses  verpflichtet  sein  soll. 
Vergl.  auch  Quix  1206,  70. 

5)  vergl.  dafür  u.  a.  die  Zinsleute  in  den  Spiegeln,  die  wenn  auch  be- 
schränkt so  doch  mitunter  vererblichen  Precarien  u.  a.  m. 


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32 


Die  Erblichkeit  scheint  hier  nur  auch  noch  im  negativen 
Sinne  von  Bedeutung  gewesen  zu  sein,  indem  die  Verleihung 
an  einen  bestimmten  Besitzer  und  seine  Erben  indirect  zugleich 
auch  den  Ausschluss  aller  etwaigen  anderen  Erwerber,  den  Aus- 
schluss der  Veräusserungsbefugniss,  auszusprechen  scheint. 

Das  Nutzungsrecht  war  der  Regel  nach  bestimmt  für  eine 
Familie,  nämlich  für  die  Familie  des  zuerst  Beliehenen ; es  war 
aber  nicht  bestimmt  für  den  freien  Güterverkehr;  es  konnte  sich 
nicht  loslösen  von  dem  einen  Hause,  weil  es  nur  in  Verbindung 
mit  ihm  rechtlich  existierte  *). 

Entscheidend  in  dieser  Beziehung  ist  zunächst  die  Fassung 
der  Urkunden,  welche  die  Vererblichkeit  des  Rechtes,  den  Rechts- 
übergang auf  die  Descendenz  des  Beliehenen  entweder  nur  im 
allgemeinen  festsetzen  oder  auch,  und  zwar  in  nicht  seltenen  Füllen, 
mit  sorgfältiger  Berücksichtigung  von  Einzelheiten  ausführlich  be- 
sprechen *),  eines  Vcräusserungsrechtes  aber  meist  nicht  mit  einem 
Worte  gedenken  *).  Denn  es  ist  doch  entschieden  nicht  anzu- 
nehmen, dass  die  Leiheurkunden,  welche  die  rechtlich  relevanten 
Momente  des  Leihevertrags  oft  so  detailliert  enthalten,  uns  eine  so 
wichtige  Befugnis  verschwiegen  hätten;  es  erschiene  eine  solche 
Annahme  um  so  weniger  gerechtfertigt,  als  auch  die  Regelung, 
welche  das  gleiche  Rechtsverhältnis  in  späteren  Jahrhunderten 
erfahren  hat,  mit  dem  Inhalte  der  älteren  Urkunden  völlig 
Ubereinstimmt  *). 

In  einzelnen  Urkunden  jener  Zeit  findet  sich  die  Frage  auch 
positiv  geregelt.  Gewiss  nicht  die  Minderzahl  unter  ihnen  er- 
wähnen aber  die  Veräusserungsbefugnis  nur,  um  sie  mit  desto 


')  der  gleichen  Ansicht  auch  äobbers,  a.  a.  0.  S.  152.  ln  späterer 
Zeit  ist  dies  freilich  anders  geworden. 

*)  vergl.  oben  S.  30. 

*)  vergl.  z.  B.  MR.  Uß.  I.  1092,  386;  1115,  432;  o.  1132,  474;  1134,  477; 
1135,  481;  Lac.  I.  1158,  396;  Knnen  I.  1177,  89;  1179,  92;  1184,  98;  II. 
1200,  2;  1217,  56;  1225,  89;  1243,  229;  Gudcn  I.  1189,  105,  MR  ÜB.  II. 
1200,  182;  1208.  239;  und  sehr  viele  andere.  Bezeichnend  in  dieser  Rück- 
sicht sind  gewiss  auch  die  Urkk.,  wie  1155  Lac  I.  385  und  1253  (luden  V. 
p.  24.,  welche  bei  der  Statuierung  einer  (iebertragungsgebühr  als  einzigen 
h'allfB  des  Rechtsüberganges  nur  des  Krbganges  gedenken. 

*)  vergl.  die  oben  S.  19  Anm.  1 abgedruckten  und  citiertcu  Stellen 
aus  dem  Solmser  Landrecht  VI.  Theil,  wo  die  Rechte  der  Berechtigten  aus- 
führlich genaunt,  eine  Verkaufsbefugnis  gleichfalls  nicht  erwähnt  ist;  aus 
der  Nassau  - Catzenelebog’schen  Landordnung  VII.  3 (Nahmer  p.  166)  . . . 


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33 


grösserem  Nachdrucke  auszuschliessen1).  Daneben  finden  sich 
dann  freilich  auch  noch  andere,  die  dem  Erbpächter  den  Ver- 
kauf seines  Rechtes  zwar  gestatten,  dies  aber  entweder  an  des 
Leiheherru  Zustimmung  knüpfen  *)  — also  eigentlich  mehr  eine 
rechtliche  Möglichkeit  ins  Auge  fassen,  ohne  dafür  ein  wirk- 
liches Recht  zu  gewähren  — oder  wenigstens  durch  die  Statuierung 
eines  Vorkaufsrechtes s)  dem  Eigenthümer  die  Macht  ver- 
leihen, jeden  Unliebsamen  vom  Erwerbe  auszuschliessen.  Bemerkt 
sei  nur,  dass  das  spätere,  namentlich  das  städtische  Recht  von 
dieser  Gebundenheit  vielfach  abgegangen  ist4).  Für  das  ländliche 
Recht  blieb  aber  dieser  conservative  Character  lange  gewahrt, 
und  wo  ja  einmal  die  Uebertragung  des  Leiherechtes  von  einem 
Hause  auf  das  andere  wirthschaftiches  Bedürfnis  war,  half  die 
auch  später  noch  gerne  beliebte  Form,  dass  der  Besitzer  auf 
sein  Recht  verzichtete  und  der  Leiheherr  den  von  jenem  Vor- 
geschlagenen neu  und  unmittelbar  erblich  belieh  &). 

Dieselbe  anfängliche  Beschränkung  des  freien  Verkehres 
äusserte  sich  auch  dort,  wo  es  sich  um  partielle  Veräusserung 
des  Leiherechtes,  namentlich  in  Form  der  Verpfändung  und 


auch  ohne  Verwilligung  seine*  Leihe-  oder  Erb-Gutsherrns  nicht  zu  vertheilen 
viel  weniger  etwas  daraus  zu  veräussern  noch  mit  Zinsen  ...  zu  beschweren. 
Das  churpfälzische  (1611  zuerst)  erneuerte  Landrecht  enthält,  wenigstens  in 
der  bei  v.  d.  Nahmer  p.  401  ff.  gedruckten  Neupublicatiou  von  1698,  V.  7 
p 422  die  Veräusscrungsliefugnis  dem  Rechte  des  römischen  Emphyteuten 
analog  geregelt,  was  jedoch  wahrscheinlich  auf  römischen  Einfluss  zurück- 
zuführen ist. 

')  z.  B.  MR.  IJB.  II  1189,  98;  1206,  225;  III  1215,  32;  1227,  324; 
1242,  760;  1245,  814;  (Juix  1206,  70;  Lac.  II  1264,  548;  1286,  821. 

*)  z.  ß.  1206  Ennen  II  34;  1246,  250;  1247  MR.  ÜB.  HI  899,  sowie  als 
Zeugnis  für  eine  auf  Grund  solcher  Genehmigung  erfolgten  Rechts- 
übertragung 1299  Ennen  III  488. 

•)  z.  B.  MR.  DB.  I 1168.  652;  II  1204,  221;  III  1239—1240,  646; 
1242,  743;  ähnlich  auch  1284  Ennen  III  245. 

4)  z.  B.  schon  1181  Lac,  I 477;  Ennen  II  1254,  380;  1257,  874;  wohl 
anch  III  1294,  397  u.  402;  dann  die  bei  Ennen  Gesell,  der  Stadt  Köln  I 
S.  421  Anm.  1 genannte  Urk.  Ferner  als  Beispiele  von  Uebertragungs-Dr- 
kunden,  die  einer  leiheherrlichen  Bestätigung  nicht  Erwähnung  thun,  Lac.  II 
1260,  362;  1295,  957;  die  ganze  Entwickelung  eingehend  dargestellt  bei 
Arnold.  Rosenthal,  Gobbers  a.  a.  O. 

»)  z.  B.  Ennen  II  1265.  485;  III  1286,  259;  1306,  536. 

v.  Schuind,  Krbleibsn.  3 


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34 


Weiterverleihuug  (Afterleihe)  handelte  *).  Nur  das»  aus  den  bei 
Arnold*)  angedeuteten  Gründen  die  ^Fortbildung  des  Leihe- 
rechtes  dort,  wo  das  Bedürfnis  nach  einem  freieren  Verkehrs- 
rechte besonders  lebhaft  empfunden  wurde,  also  vornehmlich  in 
den  Städten,  sich  für  diese  Fälle  verhältnismässig  leichter  voll- 
ziehen konnte.  Da  nämlich  das  Recht  des  Leiheherrn  völlig 
unverändert  aufrecht  blieb  und  durch  das  Hinzutreten  solcher 
neu  Berechtigter  sich  nur  der  Kreis  derer  erweiterte,  die  an  dem 
ordnungsgemässen  Bestände  des  Leiheverhältnisses  ein  rechtliches 
Interesse  hatten,  da  also  durch  derartige  Rechtsgeschäfte  un- 
zweifelhaft nur  eine  Verstärkung  der  leiheherrlichen  Position 
geschallen  wurde,  so  fehlte  es  an  einem  Grunde  für  ein  die 
Verkehrsbedürfnisse  beschränkendes  Eingreifen  des  Leiheherrn. 
Doch  kam  dem  auf  dem  Gebiete  des  ländlichen  Rechtes  natur- 
gemäss  keine  sonderliche  Bedeutung  zu. 

Hier  blieb  es  vielmehr  der  Regel  nach  schlechthin  bei  dem 
eben  gekennzeichneten  zweifachen  Rechte,  dem  in  jeder  Land- 
leihe das  Leihegut  unterworfen  war.  Dem  Eigenthume  des 
Leiheherru  stand  das  „Erbrecht“  des  Beliehenen  gegenüber,  ein 
Recht,  welches  für  die  Dauer  seines  Bestandes  die  principielle 
Omnipotenz  des  Eigenthümers  nahezu  zu  völliger  Machtlosigkeit 
brachlegte.  Erst  wenn  durch  Aussterben  der  beliehenen  Familie, 
oder  schon  früher  in  abnormaler  Weise  — z.  B.  durch  strafweise 
Besitzentsetzung  oder  durch  die  gewiss  zulässige  Dereliction  *) 


')  Verpfändung  verboten  u.  a MR.  UB.  II  1 1 H9,  9H;  1206.  226;  Lac.  II 
1264,  548;  1286.  821 ; Quix  1206,  70  — dagegen  Recht  zur  Weitervermiethuug 
eingeräumt  1235  MR.  UB.  III  543  (städtisch.)—  Über  Afterverleihung  vergl. 
die  bei  Lamprecht,  deutsches  Wirthschaftsleben.  I.  S 942,  Anm.  3 
cit.  Quellenstellen,  welche  die  Afterverleihung  ausschliessen.  Die  älteste 
unter  ihnen  1165  MR.  UB.  II  Nachtrag  zu  I No.  43  scheint  richtiger  nicht 
als  Afterverleihung  zu  deuten  zu  sein,  indem  die  Worte  sine  legitimi  tra- 
ditoris  dono  nicht  auf  den  Mangel  einer  Zustimmung  zur  Aftervcrleihung 
sondern  auf  den  Mangel  eines  Erwerbstitels  überhaupt  zu  beziehen  sein 
dürften,  ohne  den  der  fragliche  uolonus  Theile  von  dem  Colonats  Gute  mit 
dem  benachbarten  zu  besserem  Rechte  besessenem  Gute  verbinden  wollte. 
— vergl.  ausserdem  Eunen  II  1235.  155  u.  1237,  IBS,  wo  dasselbe  Gut,  das 
zuerst  als  Erbgut  einem  Herzog  v.  Brabant  geliehen  wurde,  vou  diesem  als 
Lehen  weiter  begeben  wurde.  Gobbers  S.  163  f.  fasst  es  als  Afterleihe. 

*)  Gesch.  d.  Eigenthumes  8.  110. 

*)  Sachenrechtlich  gewiss  zulässig;  über  die  Wirkung  auf  die  Zins- 
pflicht s u.  S.  60. 


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35 


des  Leihegutes  von  Seiten  des  Beliehenen  — das  Erbrecht  sein 
Ende  erreichte  und  erlosch,  lebte  das  Eigenthum  in  vollem  Um- 
fange wieder  auf. 

Dabei  tritt,  was  noch  hervorzuheben  ist,  deutlich  zu  Tage, 
dass  die  beiden  dinglichen  Rechte  das  Leihegut,  wie  oben  schon 
angedeutet  wurde,  in  seiner  Totalität  erfassten.  Von  einer  ver- 
schiedenen Behandlung  des  Gutes  und  der  Besserung,  wie  Arnold 
sie  für  Basel  annimmt  *),  findet  sich  keine  Spur,  ganz  abgesehen 
davon,  dass  eine  solche  Trennung,  die  im  städtischen  Rechte 
noch  denkbar  wäre,  bei  Landgütern,  deren  Besserung  haupt- 
sächlich in  Grund  und  Boden  liegt,  in  der  Mehrzahl  der  Fälle 
real  überhaupt  nicht  durchführbar  gewesen  wäre.  Grund  und 
Boden  und  die  darauf  gelegten  Meliorationen  waren  dem  gleichen 
rechtlichen  Schicksale  unterworfen,  an  ihren  Vortheilen  erfreute 
sich  während  der  Dauer  des  Leiherechtes  die  Familie  des  Be- 
liehenen, und  wenn  das  Leiherecht  schliesslich  selbst  sein  Ende 
erreichte,  so  gelangte  das  gebesserte  Gut  in  die  Hände  des  Leihe- 
herrn zu  weiterer  Verfügung  zurück  *).  Ueberall  ist  das  Gut 
nur  als  eine  Einheit  genannt,  das  Gut,  wie  es  sich  eben  befindet, 
als  Rechtsobject  in  den  Händen  des  Eigenthümers  wie  des  Be- 
sitzers; von  der  Besserung  wird  überhaupt  nicht  gesprochen.  Die 
späteren  Ausführungen  über  den  Zins  und  dessen  Sicherungs- 
inittel  werden  zeigen , dass  in  vielen  Fällen  auch  nur  diese 
Ordnung  der  Dinge  den  Ansprüchen  und  dem  Interesse  des 
Leiheherrn  zu  genügen  vermochte  *). 

Demnach  erscheint  das  ganze  Verhältniss  durchaus  einheitlich 
gestaltet,  und  unsere  Landleihe  ist  frei  von  all  den  Complicationen, 
zu  denen  die  Arnold’sche  Ansicht  führte. 

Zum  Schlüsse  dieser  sachenrechtlichen  Betrachtung  der 
Leiheverhältnisse  soll  noch  die  Form  der  Begründung  derselben 
unter  Hinweis  auf  die  Rechtsgebiete,  in  denen  sie  sich  finden, 
einer  kurzen  Erörterung  unterzogen  werden. 

Der  Grund  für  diese  systematische  Anordnung  mag  darin 
erblickt  werden,  dass  alle  eventuellen  Formvorschriften,  welche 
für  die  Begründung  der  Leihen  in  Betracht  kommen  können, 


’)  Zur  Geschichte  des  Eigenthums  iu  den  deutschen  Stödten. 
S.  172  ff.,  vergl.  auch  S.  150  ff.  und  Gobbers  a.  a.  0.  S.  158. 

*)  Ausdrücklich  ausgesprochen  z.B.  1257  Lac.  II 446;  1194  En  ne  n III 397. 
*)  vergl.  unten. 

3* 


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36 


eich  nur  auf  die  Begründung  dee  in  ihr  gelegenen  dinglichen 
Rechtes,  nicht  auf  die  damit  verknüpften  obligatorischen  Yer- 
pflichtuugsverhältnisse  beziehen  können.  Denn  dass  bei  der  Er- 
richtung von  Leiheverträgen  sich  keine  Spur  eines  solennen 
Schuldversprechens  findet,  wird  schon  bei  der  oberflächlichsten 
Betrachtung  der  Urkunden  zur  vollsten  Gewissheit. 

Der  eigentlichen  Besprechung  des  formellen  Theiles  soll 
aus  Gründen,  die  sich  bald  darthun  werden,  ein  kurzer  Hinweis 
auf  die  Rcchtsgebiete  (in  persönlicher  und  sachlicher  Beziehung) 
vorausgehen,  welchen  unsere  Leihe  vertrage  angehören;  sind  doch 
in  jenen  Zeiten  persönliche  und  sachliche  Beziehungen  für  Form 
und  Inhalt  der  Rechtsverhältnisse  oft  von  wesentlichem  Einflüsse. 

Dass  nur  unbewegliche  Güter  Object  von  Landleihen  sein 
konnten,  bedarf  wohl  keiner  besonderen  Erwähnung,  und  es  wird 
in  dieser  Richtung  wohl  alles  Nöthige  gesagt  sein  mit  dem  Hin- 
weise, dass  auf  dem  Lande  neben  Grundstücken,  die  entweder 
schlechthin  oder  mit  der  Widmung  für  eine  bestimmte,  in  vielen 
Fällen  auch  erst  zu  schaffende  Cultur  übergeben  wurden,  auch 
Mühlen  *)  und  selbst  Zehentrechte  *),  und  dass  in  der  Stadt  neben 
Bauplätzen  auch  fertige  Häuser  oder  Theile  derselben  wiederholt 
zu  Erbrecht  ausgeliehen  wurden. 

Wichtiger  ist  die  Frage  nach  den  am  Leiheverhältnisse  be- 
theiligten Rechtssubjecten. 

Abgesehen  von  manchen  in  den  wirthschaftlichen  wie  recht- 
lichen Verhältnissen  jener  Zeit  gelegenen  Momenten,  welche 
vielfach  dafür  bestimmend  waren,  dass  gerade  geistliche 
Anstalten  oft  geneigt  sein  mussten,  ihre  Güter  leiherechtlich  zu 
vergeben,  liegt  wohl  in  der  Art  der  Ueberlieferung  und  der  Er- 
haltung des  urkundlichen  Materials  der  vornehmlichstc  Grund 
dafür,  dass  in  den  auf  uns  überkommenen  Urkunden  fast  aus- 
nahmslos der  todten  Hand  die  Icihehcrrlichcu  Rechte  zukommen. 
Gewöhnlich  sind  es  Klöster,  Kirchen,  Stifter  und  andere  kirch- 
lichen Institute,  die  uns  als  Leihehcrru  in  den  Urkunden  ent- 
gegentreten. 


')  1156  Lac  1 385;  1162  No.  13  der  von  Merlo  in  den  Ann.  des 
hist.  Vereins  f.  d Niederrhein  abgodruckten  Urkk  ; 1196  Quix  cod.  dipl. 
Aquensis  88.  Vcrfrl.  auch  die  Zusammenstellunj?  bei  Lamprecht  I).  W.  L.  I.  2. 
S.  931  Anra  6;  Krhreehtsverleihun^  eines  Hades  1240  Quix  100. 

»)  z.  B.  1161  MR  UB.  I 630,  1256  Böhmer  Frankf.  1TB  p.  99;  1274 
p.  170;  s.  d.  Zusammenstellung  bei  Lamprecht  D.  \V.  L.  I.  2,  S.  932  Anm.  1. 


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37 


Wie  es  überhaupt  mit  der  Erhaltung  weltlicher  Privat- 
urkunden aus  früheren  Zeiten  sehr  schlimm  bestellt  ist,  so  sind 
auch  von  Leihebriefen  weltlicher  Personen  nur  sehr  wenige  auf 
uns  gekommen,  und  die  Phantasie  hat  ziemlich  freien  Spielraum, 
will  sie  die  Zahl  der  Verlorenen  hoch  oder  niedrig  anschlagen. 
Die  wenigen  erhaltenen  Urkunden,  in  denen  die  Leiheherren 
weltliche  Personen  waren,  werden  später  noch  in  einem  andern 
Zusammenhänge  kurze  Erwähnung  finden 

Bunter  und  abwechslungsreicher  ist  das  Bild,  welches  uns 
die  Schar  der  Beliebenen  gibt.  Hier  finden  sich  wohl  Leute 
aus  allen  Ständen,  wenn  auch  nicht  alle  in  völlig  gleicher  Art. 
In  einer  Urkunde  des  kölnischen  Klosters  Weiher  ist  der  Herzog 
von  Brabant  mit  einem  Hause  belieben1);  nicht  selten  stehen 
Abte*)  und  Canoniker*),  Vögte4)  und  Rittersleute5)  oder  Bürger*) 
als  passive  Glieder  in  Erbleiheverträgen.  Auch  Kirchen  und 
geistliche  Anstalten  sind  häufig  in  erbrechtlichen  Besitz  von 
Grundstücken  gesetzt  worden;  sei  es,  dass  andere  kirchliche 
Institute  sie  in  dieser  Weise  dotierten,  oder  dass  Private  ihre 
frommen  Zuwendungen  in  diese  Formen  gekleidet  haben.  Es 
hängt  unzweifelhaft  wieder  mit  der  Überlieferung  älterer  Urkunden 
zusammen,  dass  fast  alle  uns  vorliegenden  Leihebriefe  weltlicher 
Herren  Zuwendungen  an  Kirchen  zum  Gegenstände  haben. 

Sehr  oft  gibt  uns  die  Urkunde  überhaupt  keine  Auskunft 
über  Stand  und  persönliches  Recht  der  Beliebenen;  aber  man 
wird  wohl  bei  dem  Umstande,  dass  ein  höherer  Stand  in  Ur- 
kunden meistens  doch  zum  Ausdrucke  gelangt  ist,  in  vielen 
solchen  Fällen  nicht  irre  gehen,  wenn  man  solche  Beliehene, 
namentlich  auf  dem  Lande,  in  den  Kreisen  der  Bevölkerung  mit 
geminderter  Freiheit,  also  unter  der  ländlichen  Bauernbevölkerung 
oder  unter  anderen  Hofangehörigen  sucht,  aus  deren  Mitte  ja 
immer,  wo  es  galt,  unmittelbar  landwirtschaftliche  Zwecke  zu 
erreichen,  die  meisten  Kräfte  scheinen  herangezogen  worden 
zu  sein. 

Dabei  ist  noch  auf  eine  Verschiedenheit  hinzuweisen,  welcher 


')  1235  Knnen  II  165. 

«)  z B 1181  MR.  UB.  II  45. 

>)  z.  B.  1187  MR  OB.  II  87;  1230  MR  UB.  EU  410. 

4)  *.  B.  1221  Lac  II  97. 

>)  z.  B.  1189  MR.  UB.  II  98;  1204,  221;  1256  Lac.  II  425. 
*)  z.  B.  1251  MR.  UB.  III  1092  n.  a. 


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38 


nicht  nur  äusserliche  Bedeutung  zukommt.  In  vielen  Fällen  ist 
einem  Einzelnen  oder  einigen  wenigen  bestimmt  bezeichnten 
Personen  der  leiherechtliche  Besitz  eingeräumt.  Dabei  bietet 
sich  wenig  Besonderheit.  Aber  schon  in  einigen  der  zuletzt 
genannten  Fälle,  allgemeiner  überhaupt  dort,  wo  gleichzeitig 
eine  Mehrheit,  namentlich  abhängiger  Leute  in  ein  Leihever« 
hältnis  eintraten1),  äusserte  sich  nicht  selten  die  Tendenz  einer 
grösseren  Annäherung  an  analoge  hofrechtliche  Institutionen  mit 
deren  genossenschaftlichen  Einrichtungen,  so  dass  die  Scheidung 
zwischen  beiden  im  einzelnen  oft  auf  Schwierigkeiten  stösst. 

Wenden  wir  uns  nun  nach  dieser  vorbereitenden  Besprechung 
der  eigentlichen  Hauptfrage  nach  der  Form  der  Begründung 
unserer  Leiheverträge  zu,  so  ist  wohl  zunächst  mit  wenigen 
Worten  die  Fassung  unserer  Urkunden  selbst  zu  berühren. 
Cartae  im  technischen  Sinne,  also  Constitutivurkunden  sind 
dieselben  wenigstens  in  der  grossen  Mehrzahl  gewiss  nicht.  Eis 
sind  vielmehr  Noticien  im  Sinne  Brunner’s,  Urkunden,  aufge- 
nommen zu  Beweiszwecken  und  als  Beweismittel  für  spätere 
Zeiten.  Oft  und  oft  ist  dies  in  dem  Schriftstücke  selbst  bezeugt, 
und  in  andern  Fällen , in  denen  es  nicht  besonders  zum  Aus- 
drucke kommt,  lässt  der  ganze  Inhalt  der  Urkunde  darüber 
keinen  Zweifel  entstehen. 

Verbrieft  ist  darin,  ’ut  firmum  et  inconvulsum  permanent*,  der 
Inhalt  des  Erbleihevertrages,  die  Thatsache  der  Überlassung  des 
Gutes  gegen  Zins  und  die  näheren  Bedingungen,  die  dabei  ver- 
abredet wurden ; also,  wenn  man  die  Terminologie,  welche  für 
Eigenthumsübertragungen  namentlich  in  älterer  Zeit  festzuhalten 
ist,  zur  Analogie  heranziehen  will,  etwa  das,  was  der  Sale  im  Sinne 
Sohm's5)  entspricht;  von  der  traditio  hingegen  ist  dabei  nicht  die 
Bede.  Nun  stehen  unsere  Leihverträge  allerdings  in  einer  Zeit, 
in  welcher  dieser  Gegensatz  auch  für  den  Eigenthumsübergang 
seine  Bedeutung  verloren  hat*),  und  da  die  Begründung  des 
Leiherechts  wenigstens  auf  städtischem  Boden  nachweisbar  bald 
in  gerichtlicher  Form  sich  vollzog  und  in  der  Anschreinung  in 


*)  Bemerkt  sei,  dass  solche  Beleihungsurkundcn  unter  den  erhaltenen 
Leihebriefen  der  Zahl  nach  bei  weitem  in  der  Minorität  sind. 

*)  In  der  Festgabe  für  Th  öl.  Zur  (ieschichte  der  Auflassung,  S.  96 
(16)  f. 

*)  vergl.  Heusler,  Institutionen  d.  deutschen  Privatrechts  II  80. 


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39 


den  Gerichtsbüchern  ihren  Ausdruck  fand,  so  tritt  bei  Beurtheilung 
des  formalen  Begriindungsactes  zunächst  die  Frage  in  den  Vor- 
dergrund, ob  für  die  Erbleihen  in  der  Stadt  und  namentlich  auch 
auf  dem  Lande  gerichtliche  oder  aussergerichtliche  Bestellung 
gebräuchlich  war,  beziehungsweise  gar  die  gerichtliche  Bestellung 
für  nothwendig  galt. 

Wie  Heusler')  hervorhebt,  stehen  der  liösung  dieses  Pro- 
blemes  deshalb  besondere  Schwierigkeiten  im  Wege,  weil  uns 
aus  dem  Kreise  landrechtlicher  Leihen  nur  solche  Beispiele  vor- 
liegen, welche  Güter  geistlicher  Anstalten  betreffen,  also  Güter, 
die  nicht  dem  Grafengerichte  unterstanden.  Für  Güter,  „die  von 
der  landrichterlichen  Gewalt  befreit  waren,  ohne  deshalb  in  'einen 
grundherrlichen  Hof  zu  gehören,  fiel  die  Nothwendigkeit  gericht- 
licher Verleihung  weg,  und  darum  finden  wir  in  der  That  die 
Leihe  regelmässig  durch  Ausstellung  des  Leihebriefes  begründet“. 

Tn  der  Hauptsache,  namentlich  in  der  zuerst  genannten  Be- 
ziehung wird  man  H c usler’s  allgemein  ausgesprochener  Ansicht 
auch  für  unsere  Gegenden  unbedingt  beitreten  müssen.  Was 
oben  über  die  Personen  unserer  Leiheverträge  gesagt  wurde, 
lässt  darüber  keinen  Zweifel  aufkommen.  Sind  in  der  Mehrzahl 
der  uns  vorliegenden  Fälle  die  Leiheherrn  kirchliche  Institute, 
und  können  die  von  ihnen  gebrauchten  Rechtsformcn  wegen  der 
exemten  Stellung  der  Kirche  nicht  als  entscheidende  Anhalts- 
punkte für  die  Beurtheilung  des  allgemeinen  Landrechtsbrauches 
herangezogen  werden,  so  enthalten  die  wenigen  von  weltlichen 
Herrn  erhaltenen  Leihebriefe  fast  ausnahmslos  Zuwendungen  an 
die  Kirche,  die  als  solche  gleichfalls  von  kirchlichen  Rechts- 
sätzen nicht  unbeeinflusst  sein  dürften. 

Dem  letzten  Punkte,  der  oben  angegebenen  Heusler’schen 
Ausführungen,  dass  die  Leihe  regelmässig  durch  Ausstellung  des 
Leihebriefes  begründet  worden  sei,  wird  man  nach  dem  oben 
über  die  Form  der  uns  vorliegenden  Leiheurkunden  Gesagten 
speciell  für  die  Rheingegenden  sich  nicht  unbedingt  anschliessen 
können;  dieselben  werden  vielmehr  nach  den  dort  gegebenen 
Begründungen  als  schriftliche  Zeugnisse  über  den  in  ihnen  ge- 
nannten Vertragsinhalt  aufgefasst  werden  müssen. 

Als  solche  bezeugen  sie  die  Thatsache  der  Verleihung  und 


')  a.  a.  O.  II  179. 


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40 


erwähnen  dabei  häufig,  dass  der  Vertrag,  der  meist  von  dem  Vorstande 
einer  geistlichen  Anstalt  ausgieng,  mit  Zustimmung  oder  Rath  der 
Mitglieder’)  derselben  und  oft  auch  noch  unter  der  Zeugen- 
schaft *)  von  Personen  abgeschlossen  wurde,  die  auf  dem  Briefe 
verzeichnet  wurden.  Oft  wird  die  von  einer  weniger  mächtigen 
geistlichen  Körperschaft  vorgenommene  Verleihung  vom  kirch- 
lichen Obern,  namentlich  dem  Bischöfe,  bestätigt 8). 

Eine  ausdrückliche  Betonung,  dass  das  geistliche  Gericht 
bez,  der  Herr  des  kirchlichen  Gutes  als  Gerichtsherr  die  Be- 
stellung des  Leiherechtes  vornahm,  lässt  sich  durchaus  nicht 
nach  weisen;  die  Urkunden  sprechen  vielmehr  gewöhnlich,  wie 
oben  schon  ausgeführt  wurde,  davon,  dass  der  zur  rechtlichen 
Verfügung  über  das  Gut  Berechtigte  dasselbe  zu  erblichem  Rechte 
an  diesen  oder  jenen  ausgethan  habe,  und  dass  zur  Bekräftigung 
dieses  Rechtsaktes,  der  nach  allem  auch  ohne  diese  Bestätigung 
perfect  erscheint4),  der  Leihebrief  unter  Hinweis  auf  die  an- 
wesenden Zeugen  ausgestellt,  eventuell  auch  besiegelt  wurde. 
Dabei  haben  denn  auch  die  Zeugen  viel  mehr  die  Rolle  von 
Beurkundungs-  als  von  Gerichtszeugen,  wofür  auch  der  Umstand 
zu  sprechen  scheint,  dass  man  nicht  selten  ihrer  gar  nicht  ge- 
dachte und  es  sich  mit  der  Verbriefung  und  Besiegelung  allein 
genügen  Hess  •), 

Freilich  findet  inan  daneben  vereinzelt  auch  die  Erwähnung 
von  eigentlichen  Gerichtszeugen,  den  Schöffen  ®)  namentlich  im 
Gebiete  des  städtischen  Rechtes,  in  welchem  die  gerichtliche 


*)  1180  MR.  Uß.  II  39;  1181,  45. 

*)  1235  J1R.  Uß.  III  541. 

*)  Der  Grund  hierzu  kann  ebenso  in  der  Gerichtsbarkeit  des  ßischotes 
wie  darin  gelegen  sein , dass  bei  Einräumung  eiues  so  weit  reichenden 
Hechtes  an  einem  kirchlichen  Gute  die  Zustimmung  des  ßischofs  erforder- 
lich schien.  (Kirchliches  Veräusserungsverbot.'i 

4)  z.  B.  Ut  autem  possessio  hec  prescripto  pacto  eis  stantibus  in  con- 
vulsa  permaneat,  nomina  . . . prelatorum  quam  ceterorum  canonicorum, 
qui  huic  facto  interfuerunt  annotari  dignum  duximus.  1100  MR.  Uß.  1618- 
*)  vergl.  z.  ß.  MR  Uß.  II  1206,  226.  III  1218,  86;  1230,  409;  1233, 

481;  1233,  489;  1237,  608;  1246,  882;  Lac.  II  1221,  97  u.  a.  m. 

«)  vergl.  z.  B.  1216  Ennen  II  53  MR.  IJB.  III  1223,  218;  1228—1229, 

340  oder  die  ausdrückliche  Beurkundung  einer  Erbleihcbestellung  durch 

Mainzer  Richter  1181  MR.  Uß.  II  49.  Vergl.  auch  die  ßchreinsnoten; 
dieselben  begnügen  sich  zwar  in  der  Regel  mit  dem  Hinweise  inde  testi- 


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41 


Bestellung  sieh  insbesondere  in  späterer  Zeit  zur  allgemeinen 
Regel  herausgebildct  hat’).  Doch  scheint  in  den  älteren  Leihe- 
briefen auch  hier  die  Heranziehung  der  Schöffen  mehr  die  Be- 
deutung einer  möglichst  öffentlichen  Beglaubigung  des  bereits 
perfecten  Geschäftes  gehabt  zu  haben,  als  die  einer  Mitwirkung 
des  Gerichtes  zum  Zwecke  der  Begründung  und  Constituierung 
des  Leihe  Verhältnisses,  wofür  man  in  dem  nicht  selten  beliebten 
Wortlaute  der  Urkunden  eine  Stütze  finden  kann,  die  ausführen, 
dass  der  Vertrag  mit  diesem  oder  jenem  Inhalte  abgeschlossen 
worden  sei,  und  dann  etwa  weiter  fortfahren:  in  huius  rei  testi- 
monium,  also  zum  Zwecke  der  Bezeugung  des  abgeschlossenen 
Vertrages,  praesentem  cedulam  ....  sigillis  nominibusque  pre- 
fatorum  ecclesie  nostre  et  canonicorum  nec  non  et  scabinorum 
Treverensium  fecimus  communiri  -). 

Überall  hier  handelt  es  sich  um  Rechtsgeschäfte  kirchlicher 
Anstalten,  und  wenn  auch  nach  dem  Gesagten  das  hier  Übliche 
einen  Schluss  auf  eine  analoge  Ausgestaltung  in  dem  Rechtsver- 
kehre von  Privaten  nicht  schlechthin  zulässt,  so  darf  man  doch 
gewiss  für  einzelne  Punkte  in  dem  für  geistliche  Institute  ange- 
wendeten Rechte  den  Ausdruck  allgemeiner  Rechtsgedanken 
erblicken.  So  ist  es  doch  sicher  auffallend,  wenn  in  einer  und  der- 
selben Urkunde,  die  von  einem  complicierteren  Rechtsgeschäfte  be- 
richtet, gelegentlich  der  Bestellung  gewisser  dinglicher  Rechte,  wie 
des  Eigenthums  und  Pfandrechtes,  die  Mitwirkung  der  Schöffen  aus- 
drücklich hervorgehoben  wird,  während  unmittelbar  darauf,  wo  über 
die  Begründung  eines  Erbleiherechtes  an  demselben  Gute  und  unter 
denselben  Personen  gesprochen  wird,  jeder  analoge  Hinweis  fehlt8). 

moninm  civibus  ut  iuetum  ent  dedisso  und  Ähnlichem  z.  B.  Hoeniger  I, 
Mart.  2 II  33;  43;  2 IV  22;  34;  3 II  29;  dagegen  ausführlich:  Ut  hoc 
voro  factum  a nullo  mutari  vel  infringi  possit  sub  testimonio  (I.  et  D.  qui 
tune  magistri  civium  craut  notari  fecimus  etc.  i.aur.  1 VI  I,  ähnlich  Laur. 
1 VII  8;  die  Notiz  factum  coram  iudicc  et  magistris  . . . z.  B.  a.  a.  O Mart, 
5.  III.  2 (Zeitpacht). 

*)  s.  Oobbers,  Erbleihe  und  Rentenkauf,  S.  171  fl'. 

*)  1278  MR.  UB.  III  340. 

*)  vergl.  Urk.  1228 — 29  MR.  UB.  111  340,  wo  von  der  Erbreehtbemellung 
ohne  weiteren  Zusatz  berichtet,  dagegen  bei  der  gleichzeitigen  Begründung 
des  Pfandrechtes  zur  Sicherstellung  der  Zinsleistuug  die  Mitwirkung  der 
Schöffen  hervorgehoben  wird;  dann  Urk.  1286  Lac.  II  821,  wo  bei  der  Eigen- 
thumsiibertragung  an  das  Kloster  (freilich  ist  der  Verüusserer  eine  weltliche 
Person)  die  Mitwirkung  der  Schöffen  ausführlich  erwähnt  wird,  während 
bezüglich  der  gleich  darauf  beurkundeten  Rückverleihung  zu  Erbrecht  nichts 
davon  gesagt  ist. 


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42 


Da  dürfte  denn  doch  die  Annahme  naheliegen,  dass  derselbe 
Rechtsgebrauch,  der  in  dem  älteren  Rechte  nach  ziemlich  all- 
gemein herrschender  Ansicht l)  für  die  Übertragung  zu  leihe- 
rechtlichem Besitze  weniger  solenne  Investitursförmlichkeiten 
als  für  Eigcnthumeübertragungen  verlangt  hat,  auch  in  der  späteren 
Zeit  noch  zur  Geltung  kam. 

Zum  Schlüsse  sei  hier  noch  darauf  verwiesen,  dass  auch  die 
ganz  singulär  erhaltenen  Leihebriefe,  welche  über  Rechtsgeschäfte 
unter  Weltlichen  aufgezeichnet  wurden,  nicht  gegen  diese  Ver- 
muthung  sprechen  *). 

Nach  all  dem  scheint  die  Annahme  gerechtfertigt,  dass  die 
Begründung  des  Erbleiherechtes  weniger  strengen  Rechtsformen 
unterlag,  als  für  Eigenthumsübertragungen  vorgeschrieben 
waren,  und  dass  die  Mitwirkung  des  Gerichtes  im  allgemeinen  — 
wenigstens  für  das  flache  Land  — nicht  als  Erfordernis  gegolten  hat*). 

Es  erübrigt  noch,  mit  wenigen  Worten  auf  die  Modalitäten 
einzugehen,  unter  welchen  sich  der  Rechtsübergang  von  einem 
Besitzer  auf  den  Nachfolger  vollzog.  Nach  den  obigen  Aus- 
führungen spielt  dabei  die  Übertragung  des  Leiherechtes  inter 
vivos  für  die  älteren  Zciteu  und  namentlich  auf  dem  Lande 
sicherlich  keine  bedeutende  Rolle.  Man  wird  hier  im  allgemeinen 
mit  der  Annahme  nicht  irre  gehen,  dass  der  Regel  nach  jede 


')  vergl.  Keusler,  Die  (lewere,  S.  53;  Beseler,  Erbverträge  I § 4. 

J)  vergl.  1263  Lac.  II  539  . . . ego  Willielmus  vir  nobilis  de  Hunen- 
brueke  una  cum  uxoro  mea  ...  et  filio  meo  . . . bona  de  ßunterbruck,  que 
conventus  de  Same  comparavit  a Godeswino  mitite  et  suis  beredibus,  ad 
nos  pertinontia  couventui  iamdicto  iu  Same  iure  contulimua  hereditario, 
eu  videlicet  conditione  ut  m.  conventus  nobis  et  noatris  beredibus  anno  quo- 
libet  feato  Martini  ...  V sol.  den  . . . exhibeat  sine  omni  molestia  vadio- 
rum  et  sic  ab  omni  inquietudine  exemte  permaneant.  nec  atiquid  de  eiadem 
bonis  Dobis  ex  accidenti  provenire  poterit.  Ut  autem  hoc  factum  in  con- 
vulsum  et  staldle  permaneat,  hanc  ccdulam  nostri  sigilli  appensione  dignura 
duximua  roborari.  Actum  et  datum  . . . Testes  . . . 

’)  Dass  die  Erbleihen  in  der  Stadt,  spcoiell  in  Köln  häufig,  vielleicht 
regelmässig  in  die  Schreinskarten  eingetragen  wurden,  ist  aus  denselben 
zu  entnehmen;  vergl.  Hoeniger,  Kölner  Sehreinsnrkunden,  z.  B.  Mart. 
2 11  33;  43;  2 III  15;  2 IV  22;  34;  3 I 14;  42;  45;  3 II  29;  3 IV  12;  17; 
4 II  7;  4 III  9;  4 V 8;  9 I 13;  9 IV  13;  13  1 15;  Laur.  1 VI  1 ; 1 VII 
8;  3 III  2;  4 11  18;  4 IV  7;  5 UI  9;  Brig.  1 II  1;  5;  7;  2 I 16;  21;  2 II 
22;  23;  2 III  28;  3 III  7;  3X1;  Col.  2 VIII  12  u.  a.  m. 


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43 


solche  Übertragung  unter  Lebenden  in  irgend  einer  Weise  die 
Mitwirkung  des  Leiheherrn  zur  Voraussetzung  hatte,  und  dass 
die  dabei  beobachteten  Formen  sieh  oft  von  dem  nicht  unter- 
schieden haben  mögen,  was  bei  Neubegründungen  von  Leihe- 
rechten gebräuchlich  war  — kam  ja  doch  vielfach  die  Über- 
tragung dadurch  zustande,  dass  das  Recht  in  der  Person  des 
Erwerbers  neu  ins  Leben  gerufen  wurde — ; gewiss  aber  sind  die 
hiebei  geforderten  Formen  namentlich  in  Beziehung  auf  eine 
eventuelle  Mitwirkung  des  Gerichtes  nie  strenger  als  bei  der 
Begründung  gewesen. 

Wichtiger  ist  die  Frage  nach  dem  Rechtserwerbe  im  Erb- 
gange. Trat  der  Erbe  unmittelbar  in  das  Recht  und  den  Be- 
sitz seines  Erblassers  ein,  oder  war  hiezu  eine  Einweisung  oder 
Bestätigung  oder  überhaupt  eine  Mitwirkung  des  Leiheherrn,  etwa 
wie  im  Lehenrechte,  erforderlich? 

Für  die  Stadt  Köln  neigt  BichGobbers  einer  Entscheidung 
der  Frage  im  Sinne  der  zweiten  hier  gestellten  Alternative  zu 
und  zwar  auf  Grund  mehrerer  Urkunden,  in  welchen  einer  solchen 
leiheherrlichen  Bestätigung  als  einer  landesüblichen  Sitte,  eines 
Gewohnheitsrechtes  gedacht  wird.  Indessen  spricht  die  älteste 
der  von  ihm  genannten  Urkunden  *)  überhaupt  nicht  von  einer 
leiheherrlichen  Investition,  sondern  bestimmt  nur:  cum  veroaliquem 
ipsorum  decedere  contigerit,  sicut  mos  est  civitatis  ibidem 
quod  quantum  solvcre  annuatim  tenentur  tantum  ecclesie  nostre 
assignabunt,  — eine  Festsetzung,  die  höchstens  den  Schluss 
rechtfertigen  könnte,  dass  eine  solche  Todfallsabgabe  landesüblich 
gewesen  sei.  Wahrscheinlich  aber  beziehen  sich  die  Worte  ’sicut 
mos  est  civitatis*  zunächst  auf  die  Höhe  dieser  Abgabe,  die  dem 
jährlichen  Zinse  glcichkommen  soll.  In  diesem  Sinne  sind  ganz 
unzweifelhaft  die  entsprechenden  Worte  in  der  zweiten  vonGobbers 
angeführte  Belegstelle  *)  zu  deuten,  in  der  freilich  von  einer 

')  a.  1233.  ilitgetheilt  von  Cardauns  in  den  Annalen  des  hist. 
Vereins  für  den  Niederrhein,  Heft  33  S.  13  (recte  17)  als  No.  20. 

’)  1245  Eunen  II.  244.  Statuimus  etiam , ut  quandocumque  vcl  quo 
cienscumque  institutio  heredum  in  dicta  bona  fuerit  innovanda,  ipsorum 
bonorum  requiBitio  ab  herede  ad  illum  tieri  debet,  qui  prefuerit  officio 
luminat  ium.  Et  idem  . . . heredem  ad  ipBa  bona  recipere  tenebitur,  illo  dum- 
taxat  iure  contentus  pro  receptione,  quod  sibi  deberi  certum  est  ex 
tribus  solid is  an  tedictis  (=jährlicherZins)secundum  consuetudinem 
adiacentiuin  arearum,  quod  etiara  intelligi  volumus  de  quolibet  . . . . 
successore. 


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44 


durch  den  Vorsteher  des  officium  luminarium  des  St.  Gereons- 
stiftes vorzunehmenden  Erneuerung  und  Einweisung  in  die  Leihe 
gesprochen  ist.  Nur  die  dritte  als  Argument  bezogene  Urkunde  •) 
von  1268,  die  demselben  St.  Gereonsstifte  angehört,  spricht  von 
der  Investierung,  sicut  moris  est  et  consuetudinis,  und  bezeichnet 
dieselbe  als  zugehörig  zu  dem  auch  oben  genannten  officium 
quod  dicitur  luminarium. 

Ueberlegt  man  demgegenüber,  dass  in  der  weitaus  über- 
wiegenden Mehrzahl  der  Leihebriefe  und  Leihereverse,  die  auf 
uns  gekommen  sind,  von  ähnlichen  Bestimmungen  und  Hinweisen 
auf  leiheherrliche  Bestätigungen  sich  im  allgemeinen  nicht  eine 
Spur  findet,  so  wird  man  wohl  berechtigt  sein,  die  von  Gobbers 
alsStützen  für  seine  Ansicht  hcrangezogenen  urkundlichen  Beispiele 
eher  als  Singularitäten  *)  zu  betrachten,  statt  in  ihnen  den  Aus- 
fluss einer  allgemeinen  Regel  zu  erblicken.  Es  fällt  doch  gewiss 
schwer,  anzunehmen,  dass  von  der  Nothwendigkeit  einer  Rechts- 
bekräftigung durch  den  Leiheherrn,  wenn  sie  wirklich  in 
grösserer  Allgemeinheit  bestanden  hätte,  nur  so  ausnahmsweise 
Erwähnung  geschehen  wäre,  zumal  in  solchen  Fällen,  in  welchen 
z.  B.  die  ausdrückliche  Befreiung  von  jeder  Ubertragungsgebühr 
es  wohl  nahe  genug  gelegt  hätte,  demgegenüber  dieses  Er- 
fordernisses der  Bestätigung  zu  gedenken. 

Hier  sei  nur  aus  der  späteren  Darstellung  s)  vorgegriffen,  dass 
in  den  meisten  Leihen  auch  keine  Übertragungsgebühr  im  Erbgange 
verlangt  wurde,  und  nicht  wenige  eine  solche  besonders  aus- 
schliessen.  So  dürfte  es  wohl  berechtigt  sein,  in  dem  Mangel 
einer  solchen  für  den  Erbgang  zu  zahlenden  Gebühr  bez.  der 
ausdrücklich  stipulierten  Befreiung  davon  einen  Hinweis  auf  die 
Formlosigkeit  des  Rechtsüberganges  von  Todeswegen  und  darin 
weiter  vielleicht  mit  eine  Ursache  zu  erblicken  für  die  aus  der 
späteren  Geschichte  des  Institutes  bekannte  immer  weiter  fort- 
schreitende Verflüchtigung  des  alten  leiheherrlichen  Eigeuthums- 
rechtes. 


*)  Ennen  II.  503. 

*)  Als  solche  darf  wohl  die  auch  sonst  abnormale  Urk.  von  1162  gelten,  mit- 
getheilt  von  ilerlo  in  den  Ann.  des  hist.  Vereins  f.  d.  Niederrhein  Bd.  23 
No.  13:  XII  den  . . . pro  nova  in  ipsa  molendini  susceptione  dare  deberent; 
ebenso  1206  Quix  70. — Andere  analoge  Fälle,  die  freilich  meist  nicht  völlig 
freien  (Iharacter  tragen,  s.  unten  S.  76. 

•)  vergl.  des  näheren  S.  76  f. 


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45 


2.  Die  reehtlicheu  Bezieh ungen  zwischen  Elgenthiimer 
und  Beliehenern. 

(Die  obligationenrechtlichen  Elemente.) 

Die  einzige  wesentliche  und  in  allen  Leiheabmachungen 
wiederkehrende  Vertragsbestimmung,  welche  gegenseitige  Rechte 
und  Verbindlichkeiten  zwischen  Leiheherrn  und  Beliehenern  fest- 
setzte, war  die  Bestimmung  über  die  Zinspflicht,  die  dem  Letzteren  als 
Gegenleistung  für  die  gewährte  Nutzung  oblag.  So  war  auch 
die  Bezahlung  des  Zinses  die  erste  Pflicht  des  Besitzers  des 
Leihegutes,  gewissennassen  die  Bedingung  fiir  den  Fortbestand 
seines  Rechtes,  und  umgekehrt  das  Zinsbezugsrecht  die  wichtigste 
oft  einzige  actuelle  Befugnis  des  Leiheherrn. 

■Seinem  Inhalte  nach  konnte  der  Zins  ein  sehr  verschiedener 
sein.  Wir  finden  oft  Geldzinse  und  wenigstens  in  den  einfacheren 
Verhältnissen  daneben  ebenso  Naturaizinse,  diese  wieder  bald 
quotativ,  bald  quantitativ  festgesetzt,  oft  wieder  Geld-  und  Na- 
turalleistungen mit  einander  verbunden  und  unter  den  letzteren 
selbst  wieder  nach  Art  und  Zahl  die  grösste  Mannigfaltigkeit. 
Nur  in  einem  Punkte  stimmen  alle  Uberein.  Einheitlich  und 
der  Idee  nach  unabänderlich  für  alle  Zeiten  wurde  der  Zins 
allüberall  schon  bei  Eingehung  des  Vertrages  defiuitiv  normiert ') ; 
eine  Veränderlichkeit  seiner  Art  und  Grösse  bei  etwaiger  spä- 
terer Veränderung  der  Gutsterhältuisse  log  nicht  in  den 
Intentionen  der  vertragschliessenden  Theile,  und  nicht  selten  ist 
die  Un Veränderlichkeit  des  Zinses  trotz  aller  Wandlungen,  welche 
dem  Gute  begegnen  mögen,  für  alle  Zeiten  ausdrücklich  garantiert*). 
Aber  auch  in  den  anderen  Fällen,  in  welchen  ein  besonderer 


')  Dem  steht  Dicht  entgegen,  dass  zuweilen  für  bestimmte  Jahre,  z.  B. 
fiir  die  Zeit  der  Rodung,  besondere  Ziusbestimmuugen  sich  finden,  wie  z.  B. 
1204  MR.  UB.  II.  221,  oder  dass  dem  zuerst  Beliehenen  gegenüber  seinen  Nach- 
folgern ein  geringerer  Zins  auferlegt  wurde,  wie  1168  t^uix  65. 

*)  z.  B.  rata  et  indissulobili  conventione  fruantur  1115  MR.  UB.  I 432; 
Erhöhung  ausgeschlossen  z.  B.  Lac.  I 1181.  477;  II  1210,  33;  ähnlich  1263, 
589;  1233  MR.  UB.  III  48! I;  trotz  Beschädigung  des  Gutes  keine  Herab- 
minderung des  Zinses  z.  B.  1236  MR.  UB.  III  577  und  sehr  häufig  im 
städtischen  Rechte;  trotz  Sterilität  oder  anderen  Uuglücksfällen  auf  länd- 
lichem Boden  Unveränderlichkeit  des  Zinses,  z.  B.  1206  Quix  70:  Propter 
sterilitatem  vel  quecumque  alia  infortunia  peusio  . . . non  est  inminuenda, 
mit  der  Motivierung:  Utiliores  enim  auni  cum  minus  utilibus  crunt  com- 
pensandi. 


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46 


Hinweis  dieser  Art  fehlt,  lassen  die  Leiheurkunden  über  die  be- 
absichtigte Constanz  des  Zinses  einen  Zweifel  nicht  aufkommen. 
Ganz  abgesehen  davon,  dass,  wenn  eine  Veränderung  des  Zinses 
in  Aussicht  genommen  wurde,  dies  seine  genaue  Normierung  fand, 
spricht  doch  der  überall  als  wesentlich  wiederkehrende  Vertrags- 
inhalt ’concessimus  iure  hereditario  in  perpetuum  possidendum  . . . 
ea  ratione  ut  singulis  annis  V sol  od.  dimidietatim  vini,  tot  maldra 
silignis  solvat*  mit  Entschiedenheit  für  die  obige  Ansicht,  so  dass 
man  wohl  befugt  sein  dürfte,  in  der  einzelnen  Verträgen  beige- 
fiigten  Clausel,  welche  diese  Unabänderlichkeit  expreasis  verbis 
hervorhebt,  eher  einen  Protest  gegen  eine  als  ungebührlich 
empfundene  Anmassung  Einzelner,  als  eine  Ausnahme  gegenüber 
einer  gegentheiligen  Regel  zu  erblicken  *). 

Auch  in  dem  namentlich  später  oft  zu  Tage  tretenden  sorg- 
samen Bemühen,  die  Zinsleistung  gegen  Veränderung  durch  den 
Wechsel  der  Messeinheiten  und  des  Geldfusses  zu  schützen  *), 
kann  man  einen  Hinweis  in  der  gleichen  Richtung  erblicken. 
Denn  wozu  all  diese  Cautelen  und  Vorsichtsnahmen,  wenn  man 
in  dem  Zinse  eine  veränderliche,  etwa  nach  den  jeweiligen  Zeit- 
verhältnissen zu  bestimmende  Grösse  gesehen  hätte! 

So  kann  man  diese  principielle  Gonstanz  des  Leihezinses 
geradezu  als  wesentliches  Moment  des  Erbleiheverhältnisses  be- 
zeichnen, und  es  wird  die  Behauptung  wohl  keinem  Widerstande 
begegnen,  dass  dieser  Umstand  nicht  minder  zur  Verbreitung 
und  Einbürgerung  des  Rechtsinstitutes  in  die  weitesten  Ge- 
sellschaftskreise beigetragen  hat,  wie  die  Erblichkeit  und  die 
Freiheit  von  hofhörigen,  persönlichen  Lasten.  Nichts  hätte  auch 
den  Eifer  des  Landmannes  zur  Ueberwindung  aller  Mühen  einer 
schweren  Rodungsarbeit  und  zu  stetigen  Verbesserungsbestrebungen 


')  Auch  in  anderen  Fragen  lässt  sich  hier  verfolgen,  wie  manches  zu- 
nächst als  selbstverständlich  Verschwiegene  später,  um  Zweifel  auszu- 
schliessen,  eigens  stipuliert  wird. 

*)  z.  B.  neben  dem  Geldfusse  Angabe  des  Gewichtes : Ä)  so!. ■=  1 marca  argeuti 
1160  HR.  Uli.  1 618;  oder  Hinweis  auf  das  jeweils  um  Zahlungsorte  gang- 
bare (leid:  Ennen  111  1281),  331  pro  tempore  solutionis  currentis;  ähnlich 
1294,  397;  1306,  535;  Guden  II  1292,  S.  273;  oder  noch  ängstlichere  Be- 
stimmungen, wie  die  Deponierung  einer  Hustermünze  in  einen  Schöffenschrein 
1301  Lac.  HI  11. 


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47 


mehr  anfachen  können,  als  die  Aussicht,  dass  das  Ergebnis 
seiner  Bemühungen,  die  Frucht  seines  Fleisses  ausschliesslich  ’) 
seinem  Hause  zu  Gute  kommen  sollte!  — 

Ueber  die  juristische  Natur  der  an  Zinse  gelegenen  Zahlungs- 
verbindlichkeit sagen  uns  die  Quellen  unmittelbar  natürlich  gar 
nichts.  Ausdrücke  wie  concessimus  illi  ea  conditione  * ••)) , ea 
ratione*),  hoc  ordine4),  eo  pacto5),  sub  tali  forma"),  ita7),  ut 
persolvat,  sind  die  gewöhnlichen  Worte,  in  welche  die  Statuierung 
der  Zinspflicht  in  den  Urkundeu  gekleidet  wurde.  Daneben 
finden  sich  Wendungen,  wie  in  hac  forma  contraximus,  oder  unde 
(=  von  dem  geliehenen  Gute)  quolibet  anno  . . persolvere  tenetur  *) 
oder  noch  kürzer  sub  pensione  annua®),  oder  censu10)  dare,  susci- 
pere,  concedere  pro  tot  maldris  solvendis  ")  und  viele  andere  mehr. 

Ueberall  kommt  zum  Ausdrucke,  dass  der  jeweilige  Besitzer 
zur  Zahlung  des  vereinbarten  Zinses  verpflichtet  sei,  und  dass 
an  den  Besitz  des  Gutes  als  Äquivalent  für  die  dauernd  über- 
lassene Nutzung  eiue  dauernde  Zinspflicht  gebunden  sei. 

Bei  dem  völlig  stabilen  Charakter,  den  damals  das  Erbleihe- 
verhältnis trug,  kamen  eine  Beihc  vou  Fragen,  die  später  actuell 
wurden,  als  das  Leiherecht  viel  von  seiner  conservativen  Natur 
verloren  und  sich  zu  einem  beweglichen  Objecte  des  Güterver- 
kehres umgewandelt  hatte,  überhaupt  gar  nicht  zur  Entstehung. 
Das  Eine  war  sicher:  Wer  durch  Beleihung  oder  durch  Erbgang 


•)  Dies  trifft  freilich  nur  bei  fixem  Geld  oder  fixem  Naturalzinse  ganz 
zu.  Bei  quotativ  bestimmtem  Zinse  nimmt  der  Leiheherr  verhältnismässig 
Antheil,  und  da  der  Zins  dann  der  Regel  nach  vom  Brutto-Ertrage  berechnet 
wurde,  so  konnte  der  Leiheherr,  der  für  die  Arbeitskosten  nicht  zu  sorgen 
hatte,  besser  daran  sein  als  der  Beliebene. 

>)  z.B.  MR.  UB.  I 1160,  618;  II  1164—1189,  100;  1198-1210,  272;  III 
1214,  28;  1220,  147;  Enneu  II  1230,  120;  1210,  206  ; 209;  1100  Quix  78. 

*)  z.  B.  MR.  ÜB.  II  1181,  45. 

*)  z.  B.  MR.  UB.  n 1194,  137. 

»)  z.  B.  1189,  (lud.  I p.  291.  MR.  UB.  II  1208,  239;  III  1218,  86; 
1248  Annalen  dos  hist.  Verein  f.  d.  Niederrhein  38,  p.  18.  No.  21. 

*)  z.  B.  MR.  UB.  II  1197,  170;  1200,  182. 

’)  z.B.MR  UB.  II  1181,  49;  1189,  100;  1200,  186;  Ennen  II  1238,  179. 
•)  z.  B.  MR.  UB.  II  1187,  90;  ähnlich  JII  1223,  218. 

•)  z.  B.  MR.  UB  UI  1215,  32. 

••)  z.  B.  MR.  UB  II  1185,  71;  1212,  286. 

”)  z.  B.  Quix  1196,  68. 


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48 


in  den  Besitz  des  Gutes  gelangte,  war  zur  Zahlung  des  Zinses 
verpflichtet,  und  den  Säumigen  trafen  alle  die  Kechtsnachtheile, 
die  als  Folgen  der  Saunisai  durch  besoudere  Vertragsbestimmung 
in  concreto  stipuliert  oder  auf  Grund  eines  allgemeinen  Her- 
kommens gebräuchlich  waren. 

Neben  Verabredungen,  welche  die  Sicherheit  des  Zinses 
garantieren  sollten,  wie  namentlich  Pfandbestellungen,  finden  sich 
zunächst  nicht  selten  Conventionalstrafcn,  die  den  Zweck  hatten, 
die  pünktliche  Zahlung  des  Zinses  zu  verbürgen. 

Dabei  begegnet  man  im  Einzelnen  vielfachen  Verschieden- 
heiten. Manchmal  treffen  wir  sehr  strenge  Bestimmungen,  wie 
z.  B.  Verdoppeln  ng  des  Zinses  ')  oder  eine  stetige  Vergrösserung 
der  Zinsschuld,  je  länger  die  Säumnis  währt  *).  ln  anderen  Fällen 
war  es  dem  säumigen  Leihemann  wieder  gestattet,  noch  eine 
gewisse  Zeit  nach  dein  Fälligkeitstermine  durch  Zahlung  von 
Zins  und  einer  einheitlich  festgestellten  Conventionalstrafe  sein 
Vergehen  zu  sühnen  ®). 

Genügten  aber  die  so  angedrohten  Strafen  zur  Erreichung 
ihres  Zweckes  nicht,  und  blieb  die  Zahlung  über  die  in  den 
einzelnen  Verträgen  vereinbarten  letzten  Termine  aus,  dann  wurde 
fast  in  allen 4)  Leiheabmachungen,  welche  Conventionaistrafen 
festsetzten,  als  Folge  weiterer  Säumnis  der  Verlust  und  Unter- 
gang des  Leiherechtes  ausgesprochen. 

Die  gleiche  Rechtsfolge  wurde  häufig  unmittelbar  für  jede 
inora  in  Aussicht  gestellt,  ohne  daBs  zuvor  Conventionaistrafen 
eingetreten  wären.  Vielfach  ist  dafür  eine  Frist 5)  nach  dem 

')  1185  MR.  UB.  11  71  in  spatio  octo  dierum  ccnsum  duplicabit. 

*)  Ohne  zeitliche  Beschränkung  1187  MR.  UB.  II  90  si  vero  in  pre- 
fata  die  non  persolverit  summa  XX  den  levis  monete  ezeessus  sui  negli- 
gentiam  emendet,  et  si  ad  XV  dies  in  eadem  temeritate  perstiteyt  totidem 
persolvat,  et  sic  deinceps  quoadusque  satisfactionem  plenariam  de  debito 
obtulerit;  oder  durch  ein  Jahr  hindurch  für  jedes  Monat  8 sol.  z.  B.  1257 
Lac.  II.  416;  ein  Monat  unbestraft,  im  zweiten  und  dritten  je  4 sol,  1261 
Ennen  II.  420;  zweimal  für  je  4 Wochen  6 sol  1248,  No.  15  der  von  Merlo 
in  den  Annalen  des  hist.  Verein  f.  d.  Niederrhein  Heft  23  veröffentlichten 
Urkunden. 

*)  z.  B.  1215  MR.  UB.  HI  32. 

*)  Ausnahmen  ausser  der  oben  Anm.  2 abgedruckten  Urk.  1187  MR 
UB.  II  90  etwa  Hilgard,  Urkunden  zur  Beschichte  der  Stadt  Speyer 
1241,  63;  1253,  78. 

s)  14  Tage:  t B.  1177  Ennen  I 89;  1198—1210  MR.  UB.  II  272;  drei. 
Wochen:  1235  MR.  UB.  III  543;  vier  Wochen:  Ennen  II 1252, 309;  III  1289, 331 ; 
1298,  464;  1248  No.  21  der  von  Cardauus  in  den  Ann.  d.  hist.  Vereins  f.  d. 
Niederrhein  Heft  38  mitgetheilten  Urkk. ; ein  Monat : Urk.  1290  No.  14  ebendas. 


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49 


eigentlichen  Fälligkeitstermine  gewährt,  oder  ein  grösserer  Zeit- 
abschnitt '),  nicht  ein  einzelner  Tag  als  Zahlungszeit  anberaumt. 
Nach  den  Festsetzungen  anderer  Urkunden  tritt  der  Rechts- 
Verlust  ein,  sobald  die  Zahlung  an  dem  Fälligkeitstage  *)  nicht 
erfolgt  ist,  während  wieder  andere  Urkunden  sich  weniger  be- 
stimmt ausdrücken  und  nur  im  allgemeinen  den  Verlust  des 
Leiherechtes  als  Saumseligkeitsstrafe  hinstellen  *). 

Die  Wendungen,  deren  sich  die  Urkunden  dabei  bedienen, 
sind  etwa  folgende: 

Urk.  1115  MR.  Uß.  I 423.  Nach  der  Festsetzung  der  Zins- 
leistungen die  Bestimmung:  si  vero  suo  tempore  omnis  hec  non 
servabitur  conventio,  libera  ecclesie  restituatur  supradicta  possessio. 

Urk.  1162*)  si  ipsa  die  non  persolverit,  emendationi  et 
dampno  subiacebit  et  si  temerarius  effectus  fuerit,  ipsius  molen- 
dini  possessione  carebit. 

Urk.  1184  Ennen  I 98  si  vero  post  aliquos  annos  vel  ipse 
vel  heredes  sui  predictum  censum  solvere  noluerint,  predicta  area 
cum  suppositis  edificiis  ad  potestatem  canonicorum  s.  Petri 
redeat,  ut  quomodo  velint  inde  disponant. 

Urk.  1185  MR.  UB.  II  71  hoc  condicto,  ut  quicuraque 
censum  . . . solvere  tardaverit,  in  penam  negligentie  in  spatio 
VIII  dierum  sequentium  censum  duplicabit.  Si  vero  et  hoc  tempus 
pretergressus  fuerit,  sine  ulla  litiscontestatione,  usus  vinee  ecclesie 
s.  Simeonis  cedet  et  heredes  suo  iure  privabuntur. 

Urk.  1198—1210  MR.  UB.  II  272.  Si  vero  . . censum 
. . quacumque  accedente  Casus  occasione  infra  terminum  diffinitum 
minime  persolverint,  ab  hereditario  iure  prorsus  decidant,  et 
ecclesia  nostra  agros  . . ut  proprium  fundum  libere  possideat. 

Urk.  1221  Lac.  II  97.  Qui  autem  aliqua  temeritate  debitam 
pensionCm  infra  tempus  predictum  solvere  neglexerit,  in  optione 
prepositi  erit  tune  existentis,  agros  illius  pro  utilitate  ecclesie  et 
sua,  prout  melius  potuerit  et  ubi  voluerit,  collocare. 

Urk.  1248  5)  ea  tarnen  conditione , quod  si  iufra  quatuor 

■)  z.  B.  1181  JiR.  ÜB.  II  49;  1221  Lac.  II  97  (Eudtermin). 

'■)  z.  B.  aus  den  von  Merlo  mitgetheilten  Urkk.  in  den  Annalen  des 
hist.  Vereins  f.  d.  Niedorrhein,  Heft  19  No.  4,  a.  1290.  Hoeniger  Kölner 
Schreinsurkk.  I.  Mart.  9 VI  12  (Vitalleihe). 

*)  z.  B.  1184  Ennen  I 98. 

4)  mitgetheilt  von  Merlo  a.  a.  O.  Heft  23  No.  13. 

5)  mitgetheilt  von  Cardauns  a.  a.  O.  floft  38  No.  21. 

t.  Stäici'M,  ErMeihen.  4 


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60 


hebdomadas  post  dictos  terrainos  proximo  futuras  eundera  censum 
solvere  neglexerint,  domus  curn  area  ad  ecclesiam  nostram  omni 
iure  redeat  libere  et  absolute. 

Urk.  1261  Ennen  II  420  ita  quod  si  in  fine  quarti 
mensis  cum  penis  predictis  integraliter  solutus  census  non 
fuerit  memoratus,  sine  qualibet  contradictione  dicte  domus  ad 
nostram  ecclcsiam  libere  revertentur  et  disponere  poterimus  de 
eisdem,  que  viderimus  expedire  etc. 

In  diesen  und  allen  ähnlichen  Fällen  *),  in  welchen  durch 
den  Leihevertrag  die  Folgen  vertragswidrigen  Vorgehens  auf 
Seiten  des  Zinspflichtigen,  wie  die  dem  Leiheherm  erwachsenden 
Rechte  formuliert  wurden,  kann  man  sich  ein  ziemlich  klares  Bild 
entwerfen,  von  der  Art,  wie  der  Leiheherr  den  widerspenstigen 
Schuldner  zur  Zahlung  des  geschuldeten  Zinses  zu  bestimmen 
vermochte  oder  sich  sonst  zu  seinem  Rechte  verhalf.  Wo  die 
angedrohten  Rechtsnachtheile  als  Drohungen  nicht  zu  dem  ge- 
wünschten Ziele  führten,  schritt  der  Leiheherr  zur  Rechteent- 
setzung als  dem  letzten  ihm  gewährten  Executionsmittel,  das  freilich, 
wenn  nicht  ausdrückliche  Vertragsabmachungen  ein  anderers 
festsetzten  *),  zu  seiner  Durchführung  gerichtliche  Intervention 
und  Urtheilsspruch  erfordert  zu  haben  scheint4). 


’)  Ausser  den  bereits  citierten  u-  a.:  MR.  UB.  I lllö,  431 ; c 1132,  474; 
1186  . 484;  1168,  652;  II  1189,  98;  1308,  239;  IH  1223,  218;  1229,  375; 
Hilgard  1226,  37;  1231,  46;  1272,  120;  Quiz  1229,  151;  besonders  häufig  im 
späteren  städtischen  Rechte  z.  B.  Euneu  II  1217,  56;  1243,  229;  1255,  361; 
III  1294,  402;  1299,  488;  1310,  575  etc.  — Hoeniger,  Kölner  Schreins- 
urkunden I Mart.  10  II  18,  (ca.  1182—1184),  die  allerdings  von  dem  Kaufe 
einer  bereits  auf  einem  Hause  liegenden  Rente  handelt,  bestimmt:  quod  si 
infra  15  dies  post  predictos  terminos  census  ille  solutus  non  fuerit,  dimidia 
pars  cellarii  sub  eadem  domo  positi . . . propria  sit  G1  et  heredum  suorum. 
(der  Zinsberechtigten)  Brig.  1 II  5;  7;  3 HI  7;  3 IV  12  (Rente);  3X1. 

*)  z.  B.  1289  Ennen  IH  331;  1310,  576. 

*)  vergl.  dafür  zunächst  die  Fälle,  in  denen  uns  eine  solche  gericht- 
liche Rechtsabspreohung  wegen  Ausbleibens  deB  Zinsleistung  urkundlich  er- 
halten ist,  wie  z.  B.  1289  Ennen  IH  321.  Auch  die  allgemein  mit  jedem 
Besitz  gegebene  Position , nicht  durch  private  Gewalt,  sondern  nur  auf 
richterlichen  Befehl  von  dem  Besitze  lassen  zu  müssen,  spricht  dafür.  Vergl. 
auch  für  Köln  Gobbers  a.  a.  O.  § 12.  Die  Nothweudigkeit  eines  Gerichts- 
Urtheils  (iudicium  parium)  ausdrücklich  ausgesprochen:  1136  MR.  UB.  I 
484  u.  Kölner  Schreinsurkk.  Brig.  3 X 1.  1295  Ennen  III  420  spricht  ein- 
fach von  der  Thatsache  des  Rückfalles. 


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51 


ln  dieser  Befugnis,  den  säumigen  Erbpächter,  wenn  er  zur 
Zahluug  in  keiner  Weise  zu  bestimmen  war,  von  dem  Gute  zu 
vertreiben,  also  ihm  gegenüber  das  schlummernde  Eigenthum 
wieder  zu  actueller  Bedeutung  zu  erwecken,  lag  gewiss  das  vor- 
züglichste, in  vielen  Fällen  vielleicht  das  einzige  wirkliche  Zwangs- 
mittel, das  geeignet  war,  dem  Leiheherrn  zur  Realisierung  seiner 
Ansprüche  zu  verhelfen. 

Freilich,  wo  Pfandbestellung  oder  Bürgschaft  die  Erfüllung 
der  Vertragsverbindlichkeiten  im  Ganzen  oder  wenigstens  der 
einzelnen  Zinsleistungen  garantierten,  konnte  der  Zinsherr  durch 
Rückgriff  auf  das  Pfand,  durch  Execution  gegen  den  Bürgen 
sich  zu  dem  Rechte  verhelfen,  das  der  Schuldner  ihm  nicht  ge- 
währte. 

Sieht  man  aber  von  solchen  besonderen  Vereinbarungen  ab, 
so  wird  man  sich  der  einen  Thatsache  nicht  verschliessen  können, 
dass  diese  Leihebriefe,  welche  den  Rechtsverlust  als  einfache 
Folge  der  Zinsvernachlässigung  hinstellen,  nur  in  diesem  Ent- 
setzungsrechte des  Leiheherrn  eines  Mittels  gedenken,  welches 
geeignet  war,  ihm  die  effective  Befriedigung  seiner  Ansprüche  zu 
verschaffen.  Es  fehlt  nämlich  in  den  erhaltenen  Urkunden  jeder 
Hinweis,  dass  dem  Zinsherrn  eine  persönliche  Klage  gegen  den 
Erbpächter  zugestanden  hätte,  dass  es  ihm  möglich  gewesen 
wäre,  die  Zinsforderung  etwa  wie  eine  Darlehnsschuld  hereinzu- 
bringen. Fasst  man  z.  B.  eine  Urkunde  ins  Auge,  die  mit  mög- 
lichster Ausführlichkeit  über  Säumnisfolgen  spricht,  wie  etwa  die 
oben  schon  angeführte  Urkunde  von  1185  (MR.  UB.  H 71),  so 
finden  wir  als  erste  Folge  der  Unpünktlichkeit  in  der  Zahlung 
die  Bestimmung:  in  pena  negligentie  censutn  duplicabit  — zu- 
nächst eine  Strafsanction  durch  Androhung  einer  Erweiterung 
der  Verpflichtung,  aber  kein  Zwangsmittel  für  ihre  Erfüllung  und 
Realisierung.  Eis  bleibt  vielmehr  die  Zinsforderung  — vergrössert  um 
die  Strafsumme  — immer  noch  als  Forderung  aufrecht  bestehen, 
die  sich  in  ihrem  W erthe  für  den  Gläubiger  erst  dann  bewährt, 
wenn  sie  erfüllt  wird.  E’ür  den  anderen  Fall  aber,  dass  der 
Schuldner  zur  Erfüllung  dieser  erweiterterten  Verpflichtung  sich 
nicht  bestimmt  fühlt,  setzt  die  Urkunde  die  weiteren  Rechtsfolgen 
fest  mit  den  Worten:  sine  ulla  litis  contestatione  usus  vinee 
ecclesie  s.  Simeonis  cedet  et  heredes  suo  iure  privabuntur  — eine 
Bestimmung,  die  so  unzweideutig  gefasst  ist,  dass  sie  wohl  keine 
weitere  Erklärung  verlangt. 

4* 


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52 

Diese  Zusprechung  des  Leiheobjektes,  welche  bei  dauernder 
Zinssäumnis  eintritt  (hier  ipso  jure,  in  anderen  Fällen  erst  durch 
gerichtliche  Abjudication),  gab  dem  Leiheherrn  unmittelbar  einen 
Vermöge  ns  werth  in  die  Hand,  der  zur  Deckung  seiner  Ansprüche 
unter  allen  Umständen  vollkommen  liingereicht,  den  Werth  der 
Zineforderung  wohl  stets  bei  weitem  überragt  hat.  Wenn  nun  die 
oben  citierten  Worte  dieser  einen  Urkunde  und  die  analogen 
nicht  minder  deutlich  sprechenden  Wendungen  vieler  anderer  ge- 
rade wegen  der  Bestimmtheit  ihrer  Fassung  die  Annahme  aus- 
zuschliessen  scheinen,  dass  daneben  noch  andere  Executions- 
massregeln  bestanden  hätten,  so  ist  wohl  zu  überlegen,  ob  ein 
persönliches  Klagerecht,  das  wir  etwa  unter  den  heutigen  Rechts- 
verhältnissen vermissen  würden,  für  den  Leiheherrn  damals  über- 
haupt nothwendig  war,  wo  ihm  mit  dem  Rechte,  das  Leihever- 
hältnis schlechthin  aufzulösen  , das  einfachste  und  zugleich 
mächtigste  Executionsmittel  zu  Gebote  stand.  Wenn  wir  nach 
den  obigen  Ausführungen  berechtigt  sind  anzunehmen,  dass  in 
diesen  Leiheverträgen  die  Leistung  des  Zinses  einfach  als  Be- 
dingung ')  für  das  Fortbestehen  des  Leiherechtes  hingestellt 
wurde,  deren  Ausbleiben  in  Gemässheit  der  oben  besprochenen 
Vertragsklausel  die  völlige  Lösung  des  Leihe  Vertrages  und  aller 
damit  in  Zusammenhang  stehenden  Rechtsfragen  bewirkte,  dann 
entfällt  die  Nothwendigkeit  eines  kunstvollen  Ausbaues  des  im 
Leihevertrage  liegenden  obligationenrechtlichen  Verhältnisses, 
es  entfallen  die  Schwierigkeiten  der  rechtlichen  Construction,  auf 
die  wir  bei  unseren  Reallasten  stossen : die  Zinspflicht  war  an  den 
Besitz  als  Bedingung  für  dessen  Fortbestand  gebunden,  und  die 
lex  commissoria,  die  auch  sonst  im  deutschen  Vertragsrechte  eine 
grosse  Rolle  spielte,  löste  in  der  einfachsten  Weise  alle  die  Fragen, 


')  Gleichwohl  geht  Haan,  Untersuchungen  Uber  den  Begriff  der  Real- 
1 asten,  entschieden  zu  weit,  wenn  er  in  der  Erfüllung  der  Reallastverbindlichkeit 
nicht  die  Erfüllung  einer  Obligation,  sondern  nur  die  Erfüllung  einer  Be- 
dingung sehen  will.  Denn,  mag  immerhin  die  Einsleistung  Bedingung  für 
den  Bestand  dos  Leiherechtes  sein,  und  für  die  Erfüllung  derselben  manches 
abweichend  von  den  gewöhnlichen  obligationenrechtlichen  Bestimmungen 
geregelt  sein,  so  ist  doch  primär  der  Vertragswille  auf  die  Begründung 
einer  dauernden  Ei  na  Verpflichtung  gerichtet,  an  deren  obligationenrecht- 
lichen Character  die  angegebenen  singulären  Festsetzungen  nichts  zu  ändern 
vermögen.  — Das  Gleiche  gilt  gegen  Friedlieb,  Rechtstheorie  der  Real- 
lasten, S.  4 und  Uff) ; vergl.  auch  S.  207  und  unten  S.  71  Anm,  3. 


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53 


die  aus  der  Ausserachtlassung  dieser  Verpflichtung  entstehen 
konnten.  Bei  dieser  Deutung,  welche,  wie  uns  scheinen  will,  die 
in  Betracht  zu  ziehenden  Leiheurkunden  nahe  legen,  gewinnt 
überdies  das  ganze  in  ihnen  geschilderte  Rechtsverhältniss  so 
viel  an  Einfachheit  und  Klarheit,  dass  man  wohl  auch  darin 
eine  Stütze  für  ihre  Richtigkeit  erblicken  mag  '). 

Wie  stand  es  aber  in  den  anderen  zahlreichen  Fällen,  in 
denen  keine  besondere  Festsetzung,  für  den  Fall  der  Zinssäumnis 
urkundlich  verbrieft  wurde?  Für  diese  Frage  ist  zunächst  zu 
bemerken,  dass  eine  einheitliche,  alle  Fälle  ausnahmslos  umfassende 
Rechtsnorm  sich  kaum  auffinden  lassen  dürfte,  weil  sie  auch  im 
Leben  nicht  bestanden  haben  mag.  Die  Fälle,  in  welchen  solche 
Leiheverträge  zur  Anwendung  kamen,  waren  im  einzelnen  zu  ver- 
schiedenartig, als  dass  sie  immer  einer  und  derselben  Schablone 
hätten  folgen  können.  Aber  im  allgemeinen  und  für  die  grosse  Mehr- 
zahl der  Fälle  scheint  sich  doch  eine  gewisse  Regel  für  ein 
ziemlich  weites  Anwendungsgebiet  herausgebildet  zu  haben. 
In  dieser  Richtung  lässt  sich  nämlich  zuvörderst  feststellen,  dass 
die  sprachlichen  Wendungen,  welche  die  Begründung  der  Zins- 
pflicht enthalten,  hier  wie  in  den  oben  besprochenen  Leihever- 
trägen völlig  die  Gleichen  sind.  Da  nun  die  wirtschaftlichen 
Verhältnisse,  aus  denen  beide  Gruppen  von  Verträgen  entsprungen 
sind,  in  nichts  von  einander  abweichen,  so  legen  die  Ausdrücke 
wie  ea  ratione,  ea  conditione  concessimus  u.  dergl.  die  Ver- 
mutung nahe,  dass  auch  hier  die  Zinspflicht  als  Bedingung  für 
den  Bestand  des  Leiheverhältnisses  angesehen  wurde  — eine 
Vermutung,  die  auch  darin  eine  nicht  unwesentliche  Verstärkung 
erfährt,  dass  gleichzeitige  Urkunden  dieser  Art,  obwohl  sie  die 
Folge  des  Rechtsverlustes  nicht  ausdrücklich  aussprechen,  sie 
doch  in  dem  eben  angegebenen  Sinne  als  selbstverständlich 
annehmen  *). 

')  vergl.  hiezu  und  gegen  die  Auffassung  der  Zinspflicht  als  einer 
anderen  Verpflichtungen  persönlicher  Art  gleichstehenden  Verbindlichkeit 
die  Quellenstellen  bei  Dunker  Reallastcn  S.  71  ff.,  der  freilich  in  seinem 
Bestreben,  die  (Grundstücke  selbst  als  verpflichtete  Subjecte  darzustellen,  über 
die  (Grenzen  des  Möglichen  hinausgeht.  Vergl.  ferner  für  das  Rentenrecht 
S tob  be  in  der  Zeitschrift  für  deutsches  Recht  XIX.  201,  202. 

*)  vergl.  z.  B.  1205  Ennen  II.  18,  eine  Leiheurkunde,  die  eingangs 
schlechthin  besagt : susceperunt  iure  hercditario  hao  conditione,  ut  . . sol- 
vent, und  doch  im  Schlusssätze  unser  Ergebnis  voraussetzt,  indem  sie  be- 
stimmt, ut  sua  quiete  gaudeant  possessione,  nisi  forte  prefatam  sol- 
vere  pensionem  supersedentes  a iure  suo  cadant. 


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54 


Im  übrigen  wird  man  eich  auch  nicht  verhehlen  dürfen,  dass 
bei  jedem  solchen  Erbleihe  vertrage  den  einzelnen  Zinsleistungen 
fac tisch  als  Gegenleistung  die  Überlassung  des  Nutzungsrechtes 
für  die  entsprechende  Zinsperiode  gegen  Uberstand,  und  dass  dem- 
nach in  der  Zeit,  da  das  Eigenthum  des  Leiheherrn  noch  in 
voller  Kraft  stand  und  sich  nicht  in  dem  Rechte  auf  den  Zins- 
bezug erschöpfte,  nichts  natürlicher  war,  als  den  Fortbestand  der 
Leihe  von  der  Erfüllung  der  daran  geknüpften  Verpflichtungen 
abhängig  zu  machen ').  Kann  ja  doch  bei  dem  ganzen  Character 
der  damaligen  Rechtsauflässung  niemand  auf  den  Gedanken 
kommen,  dass  man  die  Einheitlichkeit  des  eingeräumten  ding- 
lichen Rechtes  so  sehr  in  den  Vordergrund  gestellt  hätte,  um 
alle  Beziehung  zu  den  damit  zusammenhängenden  Leistungs- 
pflichten gänzlich  aus  dem  Auge  zu  verlieren. 

Wenn  man  hierzu  überlegt,  dass  die  in  den  Leihebriefen  ge- 
wählten Ausdrücke  der  oben  angegebenen  Deutung  keineswegs 
entgegenstehen,  sie  vielmehr  in  vielen  Fällen  auf  das  kräftigste 
unterstützen  — waren  sie  doch  geeignet  L.  M a n n in  der  Ansicht 
zu  bestärken,  dass  die  Leistung  des  Zinses  überhaupt  nicht  als 
Erfüllung  einer  Obligation  sondern  lediglich  als  Erfüllung  der 
Bedingungen  anzusehen  sei,  an  welche  der  Bestand  des  Leihe- 
rechtes geknüpft  ist,  — und  wenn  man  weiter  in  Erwägung 
zieht,  dass  Dank  des  correlativen  Verhältnisses  von  Leistung  und 
Gegenleistung  speciell  auf  dem  Gebiete  der  precarischen  und 
hofrechtlichen  Landleihen  und  ebenso  auf  dem  Gebiete  des  Lehen- 
rechtes frühzeitig*)  der  Grundsatz  galt,  dass  das  Ausbleiben  der 
bedungenen  Gegenleistungen  den  Verlust  des  Leiherechtes  im 
Gefolge  habe,  so  wird  man  wohl  mit  Fug  und  Recht  sich  der 
Ansicht  zuneigen  dürfen,  dass  man  das,  was  oben  für  die  eine 


')  Bezeichnend  in  dieser  Richtung  drückt  Bich  eine  Urk.  des  Kölner 
St.  Ursulastiftes  von  1261  aus  Johanni  opilioni  et  Irmentrudi  et  heredibus 

eorum  . . . pro  pensione  concessimus  annuali quam  diu  dictam  per- 

sionem  de  supra  dictis  agris  siugulis  annis  in  festo  b.  Kemigii  dandis  sol- 
verint  expedite. 

*)  vergl.  Cap.  von  846  o.  63  M.  G.  LL.  1 392:  Der  Satz:  qui  negligit 
censum  perdat  agrum  wird  als  legale  et  antiquum  dictum  bezeichnet.  Für  die 
spätere  Zeit  vergl.  die  bei  Heusler  Gewere  S.  133  cit.  Weisthümer  Grimm 
I 1344  pag.  330  Abs.  4;  1397  pag.  339  Abs.  1;  1417  pag.  375  Abs.  1;  1477 
pag.  392  Abs.  3;  1320  pag.  672;  1320,  pag.  674  Abs.  2;  1320  pag.  699;  ? 
720  Ab».  2;  V.  1413  pag.  78  § 12  etc.  — Für  die  precarischen  Zinsleihen 
vergl.  Schröder  R.  G.  S.  275. 


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_66_ 

Kategorie  von  erbrechtlichen  Leihen  als  letzte  Folgen  des  Aus- 
bleibens der  Zinszahlung  erwiesen  wurde,  als  wenn  auch  nicht 
ausnahmslose  Regel  auch  für  die  anderen  Fälle  der  freien  Erb- 
leihen wird  annehmen  müssen  ‘). 

Besteht  aber  in  diesem  einen  Funkte  Harmonie  und  Über- 
einstimmung zwischen  den  Verleihungen  zu  Erbrecht,  mag  in 
dem  Leihebriefe  Rechtsverlust  als  Folge  ungehöriger  Erfüllung 
der  Zinspflicht  ausdrücklich  stipuliert  sein  oder  nicht,  so  fehlt  es 
wohl  an  jedem  Grunde,  in  anderen  Beziehungen,  in  denen  eine 
solche  Discrepanz  des  urkundlichen  Inhaltes  nicht  besteht,  eine 
Verschiedenheit  bezüglich  des  rechtlichen  Inhaltes  und  der  recht- 
lichen Behandlung  anzunehmen. 

Dies  gilt  namentlich  auch  für  die  oben  berührte  Frage  nach 
dem  Vorhandensein  persönlicher  Klagen  und  Rechtsmittel  für  die 
Erzwingung  der  einzelnen  Zinsleistung.  Denn  auch  hier  fehlt  es 
in  den  betreffenden  Urkunden  an  jedem  Hinweis  auf  ein  persön- 
liches Zwangsmittel  für  die  Geltendmachung  des  obligatorischen 
Anspruches,  an  jedem  Hinweise  darauf,  dass  dem  Leiheherrn 
das  Recht  einer  persönlichen  ExecutionsfUhrung  wegen  verfallener 
Zinsen  zugestanden  habe*).  Die  Ausfüllung  dieser  durch  den 
Mangel  unmittelbarer  Quellenzeugnisse  entstandenen  Lücke  kann 


*)  Je  mehr  in  der  späteren  Entwickelung  des  Leihereohtes  »ich  das 
Eigenthumsrecht  des  Leiheherrn  verflüchtigte  und  der  Rentencharacter  »ich 
ausbildete,  desto  mehr  konnte  auch  diese  rechtliche  Regelung  eventuell 
durch  andere  Bestimmungen  in  den  Hintergrund  gedrängt  werden.  Dass  sie 
gleichwohl  auch  unter  ganz  veränderten  Verhältnissen  noch  vielfach  be- 
stehen blieb,  darüber  vergl.  unten  S.  08  £f.  Auf  der  anderen  Seite  war  auch 
dort,  wo  der  primäre  Zweck  des  Rechtsgeechäftes  die  Constituierung  eines 
Zinses,  insbesondere  für  kirchliohe  Zwecke  war,  vielleicht  vielfach  Veran- 
lassung zu  einer  anderen  rechtlichen  Behandlung  geboten.  S.  unten  am  Schlüsse 
des  historischen  Theiles.  — Vergl.  auch  1206  Quix  70,  wo  die  neuen  Erwerber, 
die  investiert  werden,  fidel  i täte m ecclesiis  facient  et  de  termino  solvende 
pensionis  observando  et  de  aliis  que  in  hoc  privilegio  conscripta  sunt 
observandis  iuramentum  prestabunt,  und  dem  entsprehend  auch  im  weiteren 
Verlaufe  eine  besonders  strenge  Haftpflicht  eintritt.  In  einem  Urtheil 
vom  17.  Sept.  1341  werden  die  säumigen  Zinsschuldner  zur  unverweilten 
Abtragung  des  gesammten  Rückstandes,  also  (wenigstens  zunächst)  nicht 
zu  Rechtsverlust  verurtheilt.  Hilgard  1287,  160  Anm. 

*)  Wenigstens  dem  äusseren  Erfolge  nach  kommt  es  dabei  ziemlich 
auf  dasselbe  hinaus,  wenn  das  durchzuführende  gerichtliche  Verfahren  sich 
in  einzelnen  Fällen  in  die  Form  der  Pfändung  und  Fröhnung  gekleidet  hat, 
die  ihrem  Wesen  nach  doch  wieder  nur  Unterwindung  des  zinspflichtigen 
Hutes  war. 


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aber  nach  dem  eben  Gesagten  wohl  nur  im  Sinne  dieser  einen, 
nicht  aber  im  Sinne  der  anderen  gegentheiligen  Auffassung  vor- 
genommen werden,  wenn  diese  auch  heutzutage  bei  der  völlig 
veränderten  Gestaltung  des  wirthschaftlichen  und  rechtlichen 
Lebens  leichter  mit  unseren  Rechtsideen  vereinbar  erscheint. 

Sonach  gelangen  wir  bezüglich  des  rechtlichen  Inhaltes 
der  Verpflichtung  zur  Zinszahlung  zunächst  zu  folgendem  Er- 
gebnisse: Bei  allen  Landleihen  zu  erblichem  Rechte  (jure  heredi- 
tario)  bestand  für  den  Nutzniesser  des  Gutes,  der  durch  den 
Leihevertrag  oder  kraft  „Erbrechtes“  im  Besitze  des  Gutes  sich 
befand,  die  Verpflichtung  zur  Bezahlung  des  bedungenen  Zinses 
an  den  Eigenthümer  des  Leiheobjectes  — eine  Verpflichtung,  die 
jedoch  in  der  Regel  nicht  nach  Art  anderer  Schuldverhältnisse 
durch  Personalexecution  sondern  lediglich  durch  Absprechung  des 
gewährten  Nutzungsrechtes,  durch  Rechtsentsetzung  erzwingbar 
und  realisierbar  war.  Oder  anders  ausgedrückt:  die  Nichterfüllung 
der  aus  dem  Leihevertrage  dem  Nutzniesser  erwachsende  Zins- 
verpflichtung  hatte  im  allgemeinen  für  den  Beliehenen  lediglich 
den  Verlust  seines  Leiherechtes,  also  namentlich  nicht  Personal- 
execution zur  Folge  *). 

Es  ist  nicht  schwer  zu  zeigen,  dass  dieses  Ergebnis,  zu  dem 
uns  die  Untersuchung  des  Quellenmateriales  geführt  hat,  den 
Anforderungen  vollkommen  genügt,  welche  die  wirthschaftlichen 
Bedürfnisse  jener  Zeit  stelleu  mochten,  und  dass  demnach  ein 
Rechtsinstitut  dieses  Inhaltes  ausreichte  für  den  Zweck,  den  es  zu 
erfüllen  berufen  war. 

Da  Ackerbau  und  Grundbesitz  in  Stadt  und  Land  allgemein 
von  der  grössten  Bedeutung  waren,  so  gewährte  unzweifelhaft 
jede  solche  erbliche  Leihe  für  den  Beliehenen  selbst  dann  unbe- 
dingt einen  Vortheil,  wenn  ausnahmsweise  ein  verhältnismässig 
hoher  Zins  gefordert  wurde.  Sieht  man  auch  ganz  ab  von  den 


*)  Vergl.  hiezu  die  freilich  einem  ferneliegenden  Uebiete  und  such 
nicht  den  völlig  gleichen  Rechtsverhältnissen  ungehörige  Stelle  des  Brünner 
Schöffenbuches  c.  120,  die  denselben  Rcchtsgedanken  zum  Ausdrucke 
bringt : sententiatum  fuit  in  consilio,  quod  tantum  in  molendino  (deren  Zins 
nicht  gezahlt  wurde)  et  in  bonis  ad  molcndinum  spectantibus  ....  impig- 
norare  sccundum  justiciam  teneretur,  non  est  enim  justum,  si  homo  plures 
habens  hereditates  distinctas  de  una  earum  tantum  censuat,  quod  pro  censu 
huiusmodi  non  soluto  in  aliis,  quas  cetisuales  non  fecit,  impignorationes  ali- 
quanter patiatur. 


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57 


nicht  seltenen  Fällon , wo  Gutsuntertbänige  durch  diese  Art 
Beleihung  zu  einer  selbstständigen,  von  den  Schranken . der 
Hofhörigkeit  nicht  beengten  Stellung  gelangten,  bo  war,  da 
eine  Capitalszahlung  für  die  Besitzüberiassung  nicht  geleistet 
wurde,  all  das,  was  nach  Abzug  des  Zinses  vom  Erträgnisse 
des  Gutes  übrig  blieb,  für  den  Besitzer  reiner  Gewinn,  und 
da  der  Zins  constant  blieb,  mochte  auch  durch  Meliorationen, 
der  Werth  des  Grundstückes  und  dessen  Erträgnis  beliebig 
steigen,  so  war  das  Interesse  des  Beliehenen  im  höchsten 
Masse  an  den  Gutsbesitz  gefesselt.  Die  Unkündbarkeit  des 
Verhältnisses  durch  den  Leiheherrn  und  die  dadurch  begründete 
Uneutziehbarkeit  des  „Erbrechtes“  bot  nun  für  den  Beliehenen 
die  nöthige  Sicherheit,  um  sich  auf  dem  geliehenen  Grunde 
heimisch  zu  fühlen  und  wie  auf  einem  eigenen  Grunde  alles 
vorzukehren,  was  zur  Erhöhung  des  Erträgnisses  des  Leihe- 
gutes und  zu  seiner  grösseren  Verwerthbarkeit  erforderlich  war. 
Und  wenn  dieser  Rechtsgenuss  abhängig  gemacht  war  von  der 
pünktlichen  Erfüllung  der  Zinsverbiudlichkeit,  so  musste  der 
Nutzniesser  die  Bezahlung  seiner  Schuld  als  seine  wichtigste 
Obliegenheit,  als  eine  Angelegenheit  des  eigensten  Interesses 
betrachten. 

War  so  die  als  Folge  der  Zinssäumnis  in  Aussicht  gestellte 
Rechtsentsetzung  für  den  Zinspflichtigen  das  mächtigste  Compelle 
zur  Erfüllung  seiner  Schuldigkeiten,  so  bot  sie  auch  auf  der 
anderen  Seite  dem  Gutsherrn  die  vollste  reale  Sicherheit,  dass 
er  durch  Nachlässigkeit  des  Zinsmannes  nicht  zu  Schaden 
kommen  konnte.  Denn,  sobald  die  aus  dem  Leihevertrage  ge- 
schuldete Zinsleistung  nicht  pünktlich  an  den  Hof  des  Leiheherrn 
gebracht  wurde , konnte  dieser  in  der  Regel  sofort  — die 
Wartefrist  wurde,  wenn  überhaupt,  so  meist  nur  auf  ganz  kurze 
Zeit  festgesetzt  *),  — zur  Ejection  des  Besitzers  schreiten1)  und 
erhielt  in  dem  Gute  selbst,  das  mit  allen  Pertinenzen  und  Me- 
liorationen an  ihn  zurückfiel,  einen  Vermögenswerth  in  die  Hände, 
welcher  nicht  bloss  die  einzelne  Zinsrate  bedeutend  überragte, 


>)  s.  o.  S.  48  f. 

*)  Dabei  ist  gewiss  zuzugeben,  dass  das  practische  Leben  vielfach 
milder  war,  als  es  der  Strenge  des  Rechtes  entsprochen  hätte,  und  dass  oft 
auch  nach  der  Verfallszeit  in  L'ebereinstiramung  mit  den  allgemeinen  Prin- 
oipien  des  processualen  Verfahrens,  noch  durch  Zahlung  die  Ejection  ver- 
mieden wurde.  Vergl.  z.  B auch  Friedlieb,  a.  a.  0.  S.  274. 


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58 


sondern  auch  dem  Capitalswerthe  der  Verzinsung  zum  mindesten 
gleichkam,  ihn  jedoch  meistens  bei  weitem  übertraf.  Für  sehr 
viele  Fälle,  vielleicht  für  die  grosse  Mehrzahl  der  Ver- 
leihungen zu  Erbrecht  ist  kaum  zu  zweifeln,  dass  während 
der  Dauer  des  Leihe  Verhältnisses  das  Leiheobject  an  Werth  ge- 
stiegen ist,  sei  es  dass  auf  dem  Lande  schlecht  oder  gar  nicht 
cultivierter  Boden  einem  besseren  Zustande  entgegengeführt  wurde, 
sei  es  dass  städtischer  Grund  durch  Häuserbau  erst  recht  ver- 
werthet  wurde;  denn  überall  drängte  zu  solchen  Meliorationen 
des  Beliehenen  eigenes  Interesse  mächtig  hin,  und  zwar  in  um 
so  höherem  Masse,  je  grösser  der  aufgelegte  Zins  war.  Und 
wenn  ja  einmal  die  besonderen  Verhältnisse  des  einzelnen 
Falles  die  Möglichkeit  einer  Gefahr  für  den  Leiheherrn  be- 
gründeten, dann  wurden  gewiss  durch  besondere  Cautionen 
Garantien  geschaffen,  welche  seine  vollste  Sicherheit  ver- 
bürgten l). 

Im  allgemeinen  war  aber  das  dingliche  Moment,  das  in 
der  Leihe  lag,  allein  für  alle  Anforderungen  ausreichend,  die 
vom  wirthschaftlichen  Standpunkte  aus  bestanden. 

Da  das  dingliche  Recht  des  Beliehenen  als  eine  unent- 
ziehbare  Macht  desselben  über  den  Grund  und  Boden  ihm  alle 
für  den  Grundbesitz  wünschenswerthe  Sicherheit  und  Ruhe  ge- 
währleistete, soferne  er  nur  die  Erfüllung  seiner  Pflichten  nicht 
versäumte,  und  da  andererseits  auch  der  Leiheherr  in  dem  leben- 
digen Fortbestehen  seines  dinglichen  Rechtes  (des  Eigenthumes) 
die  vollste  und  sicherste  Garantie  für  die  Befriedigung  seiner 
rechtlichen  Interessen  besass,  so  fehlte  es  auch  vom  wirthschaft- 
lichen Gesichtspunkte  aus,  wie  dies  oben  in  juristischer  Be- 
ziehung gezeigt  wurde,  an  einem  Grunde,  neben  der  Ausgestaltung 
dieses  sachenrechtlichen  Elementes  im  Leiherechte  noch  das 
obligationenrechtliche  Band  zwischen  Leiheherrn  und  Beliehenern 
besonders  enge  und  fest  zu  knüpfen  *).  — 

Das  hier  für  die  Anfänge  des  Leiherechtes  gewonnene  Re- 
sultat über  die  rechtliche  Ausgestaltung  der  Zinspflicht  entfernt 


•)  vergl.  unten  S.  72  ff. 

')  vergleiche  hiezu  und  zu  dem  folgenden:  Dunker,  die  Lehre  von  den 
Reallasten  S.  74  ff. 


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59 


sich  freilich  nicht  unwesentlich  von  dem,  was  unsere  heutige 
Rechtsanschauung  für  ähnliche  Fälle  anzunehmen  geneigt  wäre, 
und  wird  auch  für  die  damalige  Zeit  nicht  allgemein  angenommen. 
Namentlich  Gobbers,  der  sich  mit  den  rheinländischen  (speciell 
kölnischen)  Urkunden  ausschliesslich  und  eingehend  beschäftigt  *), 
ist  auch  für  die  ältere  Zeit  zu  einem  anderen  Ergebnisse  ge- 
langt, zu  einer  Annahme,  die  sich  gewiss  in  grösserer  Ueber- 
einstimmung  mit  unseren  Ansichten  über  die  aus  Reallasten 
entspringenden  Verpflichtungen  befindet,  indem  sie  sich  für  eine 
grössere  Selbstständigkeit  und  weitere  Ausbildung  des  obligationen- 
rechtlichen Momentes  im  geraden  Gegensätze  zu  den  obigen 
Ausführungen  für  das  städtische  Recht  ganz  allgemein  ent- 
scheidet. Gerade  wegen  dieser  eben  hervorgehobenen  Ueber- 
einstimmung  mit  den  modernen  Rechtsanschauungen  fehlte  ihm 
jeder  Anlass  für  eine  allgemeine  weiter  ausholende  Begründung 
seines  principiellen  Standpunktes.  Dem  entsprechend  entfällt  auch 
hier  die  Nothwendigkeit  und  Möglichkeit  einer  allgemeinen  Ent- 
gegnung, die  zu  den  obigen  Ausführungen  hinzutreten  könnte, 
vielmehr  wird  es  genügen,  bei  der  im  folgenden  sich  ergebenden 
Besprechung  der  Einzelheiten  die  Anschauungen  Gobbers  mit 
zu  berücksichtigen. 

Die  Richtigkeit  des  hier  vertretenen  allgemeinen  Grundge- 
dankens angenommen,  ergeben  sich  nämlich,  um  die  oben  S.  56 
unterbrochene  dogmatische  Darstellung  wieder  aufzunehmen,  für 
uns  die  folgenden  Consequenzen : 

Mit  unserer  Behauptung,  dass  in  der  Befugnis  der  Rechts- 
entsetzung das  einzige  dem  Zinsberechtigten  zustehende  Mittel, 
die  Befriedigung  zu  erzwingen,  gelegen  gewesen  sei,  ist  zunächst 
implicite  schon  gesagt,  dass  mit  der  Vertreibung  des  zinspflich- 
tigen Besitzers  die  Verpflichtung  zur  Bezahlung  bereits  früher 
verfallener  Zinsen  und  etwaiger  Conventionaistrafen  erlöschen 
musste,  dass  Rechtsvcrlust  und  Zinsschuld  nicht  cumulativ  zu 
einander  hinzu  traten,  sondern  die  Nichterfüllung  der  obliga- 
torischen Verpflichtungen  die  Bedingung  für  den  Untergang  des 
dinglichen  Leiherechtes,  und  dass  sohin  die  Ejection  ihrer  Wirkung 
nach  primär  nicht  schlechthin  Strafe,  sondern  Strafe  und  Be- 
friedigungsmittel war. 


')  Die  Drbleihe  und  ihr  Verhältnis  zum  Kentenkauf  im  mittelalterlichen 
Köln  des  XU.— XIV.  Jahrhunderts.  Savigny-Zeitschrift  IV.  fid.  S.  130  ff. 


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60 


Nach  der  anderen  Seite  ist  damit  die  Noth Wendigkeit  ge- 
geben, die  Frage,  ob  die  Dereliction  *)  des  Leihegutes  den  Erb- 
pächter von  der  Haftung  für  verfallene  und  neu  entstehende 
Zinsschulden  befreie,  für  die  Regel  der  Fälle  unbedingt  zu  be- 
jahen und  die  Annahme  einer  über  das  Leihegut  hinausreichende, 
etwa  das  ganze  Vermögen  des  Beliehenen  erfassenden  persönlichen 
Verpflichtung  zur  Zinszahlung  ebenso  unbedingt  von  der  Hand 
zu  weisen  *). 

In  allen  diesen  Punkten  ist  Gobbers*)  auf  Grund  seiner 
Auffassung  consequent  zu  den  entgegengesetzten  Ergebnissen 
gelangt.  Ihm  „erlosch  durch  Anfall  oder  Dereliction  die  ver- 
fallene Zinsschuld  keiueswegs,  denn  der  Rückfall  des  Leihe- 
objectes an  den  Leiheherrn  war  ja  nur  eine  Strafe,  die  den  Be- 
liehenen traf,  nicht  Befriedigungsmittel.  Die  Zinsschuld  blieb 
ungetilgt ; ihre  Realisierung  erforderte  ebenso  wie  die  jeder  anderen 
Obligation,  im  Falle  der  Schuldner  in  Verzug  war,  gerichtliche 
Durchführung  des  klägerischen  Anspruches  und  eventuell  eine 
auf  diese  sich  stützende  Pfändung.“ 

Demgegenüber  lässt  sich  gewiss  nicht  in  Abrede  stellen, 
dass  namentlich  bei  einer  späteren  Entwickelung  ein  solches 
Verfahren  nicht  selten  vertragsmässig  vereinbart  wurde,  vielfach 
sogar  gewohnheitsrechtlich  sich  einbürgerte4).  Aber  es  ist  auch  auf 
der  anderen  Seite  nicht  zu  übersehen,  dass  die  wenigen  Quellen- 
stellen, die  Gobbers  zur  Begründung  seiner  allgemein  hingestellten 
Behauptung  heranzieht,  und  zwar  sowohl  die  für  das  Fortbestehen 
der  Zinspflicht  trotz  eingetretenen  Rechtsverlustes  angeführte 
Erkunde  von  1375  Ennen  V 92  s),  als  auch  die  Urkunden  von 


’)  b.  o.  S.  34  Anm.  3. 

*)  vergl.  hiezu  auch  die  oben  S.  56  Anm.  1 abgedruekte  Stelle. 

*)  a.  a.  0.  S.  150  und  § 12. 

*)  vergl.  über  eine  der  Unterwindung  vorhergehende  Pfändung 
Dunkcr  a.  a.  O.  S.  72  f;  s.  auch  unten  S.  62. 

5)  Ein  Leihevertrag  über  ein  Haus,  in  welchem  neben  der  gewöhnlichen 
Zinspflicht  die  Verpflichtung  zur  sorgsamsten  Erhaltung  und  zu  Ballführungen 
mit  bestimmtem  Aufwande,  ferner  die  Bestimmung,  dass  leves  personae  nicht  in 
das  Haus  aufzunehmen  sind , verabredet  und  für  jede  Abweichung  vom  Vertrage  in 
der  strengsten  Form  Rechtsnachtheile  stipuliert  wurden,  (ex  tuno  statim  et  in 
continenti  dicta  domus  cum  Omnibus  suis  pertinentiis  et  melioratione  prout 
tune  fuerit  situata  ....  libere  revertetur  et  soluto)  und  in  diesem  Zusammen- 
hang festgesetzt  ist,  dass  ausserdem  noch  die  Zinspflicht  anfrecht  erhalten 


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61 


1376  Ennen  IV  474  ')  und  1227  Ennen  II  106  '),  welche  gegen 
die  Befreiung  von  der  Zinspflieht  durch  Dereliction  des  Leihe- 
gutes sprechen  sollen,  erst  dem  späteren  städtischen  Rechte 
angehören  und  überdies,  wie  in  der  Anmerkung  dargelegt  ist,  in 
vielen  Punkten  einen  völlig  singulären  Charakter  tragen.  Dem- 
nach sind  sie  gewiss  nicht  geeignet,  als  entscheidender  Gegen- 
beweis gegen  die  obigen  Ausführungen  zu  gelten  und  die 
dabei  gewonnenen  Ergebnisse  als  unhaltbar  hinzustellen.  Es 
spricht  vielmehr  der  Wortlaut  der  früher  besprochenen  Urkunden, 
die  meist  nur  die  Beendigung  des  Leiherechtes  als  Rechtsfolgen 
der  Säumnis  nennen,  so  deutlich,  dass  man  aus  solchen  ver- 
einzelt vorkomnienden  Fällen,  wie  die  von  Gobbers  citierten,  keinen 
Schluss  auf  die  allgemeine  Regel  ziehen  darf.  Und  dies  ist  um  so 
weniger  gestattet,  wenn  man  berücksichtigt,  dass  die  Fassung  gerade 
derjenigen  Leiheurkunden,  die  sich  besondere  ausführlich  mit 
den  Folgen  der  mora  beschäftigen,  indem  sie  Säumnisstrafen 


werde  (et  nihilominus  nos  conjuges  ...  et  nnstri  heredes  ad  solutionem 
ce. n mus  erimuB  penitus  adstricti)  — also  unzweifelhaft  eine  besonders  strenge 
Uebereinkunft.  Vergl.  auch  die  folgende  Anmerkung. 

')  In  diesem  Leihevertrag,  der  gleichfalls  über  ein  Haus,  nioht 
schlechthin  über  Grund  und  Bodeu  abgeschlossen  wurde,  findet  sich  ausführlich 
bestimmt,  dass  die  Beliehenen  ausser  zur  Zinszahlung  auch  zur  Instande- 
haltung  des  Hauses,  ja  sogar  zum  Wiederaufbau  im  Falle  der  Zerstörung 
desselben  verpflichtet  sein  sollten,  und  dass  auch  für  die  Zeit  der  Bau- 
fiihrung  der  Zins  unverändert  fort  zu  bezahleu  sei.  Hierauf  folgten  dann 
die  Worte:  . . . si  . . . non  reedificaverint  et  nobis  censum  non  peraol- 
verint  requisiti,  elegoruut  ipso  G.  et  H.  (Die  Erbpächter)  j>ro  se  et  suis 
heredihus,  quod  bona  eorum  mobilia  et  immobile,  et  res  quascumque,  que 
et  quas  habent  et  invenire  poterimus,  tenere  et  capere  et  de  ipsis  nos 
intromittere  poterimus  in  recuperationem  iuris  nostri.  — Es  scheint  un- 
zweifelhaft, dass  die  Haftbarkeit  mit  dem  ganzen  Vermögen,  die  hier  ein- 
trat, eben  die  Folge  der  besonders  stipulierten  Verpfändung  war;  und  auch 
der  Grund  für  diese  Verpfändung  liegt  offen  zu  Tage:  für  die  von  den 
Beliehenen  übernommenen  weitgehenden  Verpflichtungen  reichte  eben  die 
gewöhnliche  reale  Sicherheit  nicht  aus.  — In  ähnlichem  Sinne  spricht  allge- 
mein Arnold  z.  Gesell,  d.  Eigenthums  S.  125. 

’)  Ganz  ähnlich  wie  die  vorletzte  Anm.  Weil  für  die  Verpflichtung  zu 
Wiederaufbau  im  Falle  der  Zerstörung  der  geliehenen  Gaddemen  und  für  die 
auch  dann  noch  fortbestchende  Zinspflicht  das  gewöhnliche  Sicherheitsmittel, 
das  in  der  Einziehung  des  Leihegutes  lag,  nicht  genügte,  uud  vielleicht 
daneben  auch  noch  aus  anderen  Gründen,  wurde  überdies  die  Excommuni- 
cation  als  Strafe  des  Vertragsbruches  angedroht. 


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62 


und  Ähnliches  festsetzen,  mit  der  hier  vertretenen  Ansicht  sich 
in  Uebereinstimmung  befindet  '). 

Zum  Schlüsse  ist  noch  ein  weiteres,  freilich  zunächst  nega- 
tives Ergebnis  zu  verzeichen,  zu  dem  die  Betrachtung  unserer 
Leiheurkunden  führt.  Die  Rechtsbücher  und  Statuten,  namentlich 
aus  dem  13.  und  14.  Jahrhunderte  *)  gedenken  nämlich  ziemlich 
allgemein  eines  Pfändungsrechtes  um  Zins-  und  Gültenforderungen, 
welches  dem  Zinsberechtigten  die  Befugnis  gibt,  wegen  ver- 
sessener Zinsen  Fahrhabe  des  Schuldners  oder  solche  bewegliche 
Güter,  die  sich  auf  dem  zinspflichtigen  Grundstücke  befinden, 
zur  Deckung  der  Zinsschuld,  in  vielen  Fällen  sogar  ohne  Mit- 
wirkung des  Gerichtes,  zu  pfändeu.  In  Uebereinstimmung 
damit  nimmt  die  herrschende  Lehre  ganz  allgemein  die 
Existenz  eines  solchen  Pfandrechtes  für  Zinsforderungen  an  *), 
das  bis  ins  16.  Jahrhundert,  zum  Theile  auch  noch  darüber 
hinaus  als  gemeines  Recht  gegolten  hat,  das  auf  dem  Lande 
länger  in  Gebrauch  blieb  als  in  den  Städten,  wo  es  verhältnis- 
mässig frühzeitig  verschwand,  und  dessen  Ursprung  mau, 
wenn  man  auch  zu  völliger  Klarheit  nicht  gelangen  konnte,  im 
allgemeinen  in  ziemlich  frühe  Zeiten  zurückzuverlegen  geneigt  ist. 
Insbesondere  betont  Wilda4),  dem  hierin  andere  folgen,  an  der 
Hand  von  Urkunden  vorwiegend  des  14.  Jahrhundertes,  dass 
dieselben  einen  Beleg  dafür  enthalten,  „wie  wenig  bis  in  die 
spätere  Zeit  durch  das  in  Verträgen  hervorgehobene  Pfändungs- 
recht dem  Gläubiger  ein  wirkliches  Recht  eingeräumt  wurde, 
das  er  nicht  schon  ohnehin  besass.“ 

*)  Auch  Urkk.,  wie  1253  ((Juden  V.  p.  26),  welche  eine  Verpfändung 
des  ganzen  Vermögens  enthält,  dürfte  kaum  als  Gegenargument  gegen  die 
hier  als  allgemeine  Kegel  bezeichneten  Ergebnisse  angeführt  werden 
können;  sie  enthält  nicht  nur  hierin,  sondern  auch  in  der  Bestellung  von 
Bürgen  eine  Besonderheit. 

*)  vergl.  die  Zusammenstellung  bei  Stobbe  Handb.  des  deutschen 
Privatrechtes  1"  8.  596  Anm.  2ö  und  insb.  Wilda,  das  Pfändungsrecht, 
Halle  1839  (aus  der  Zeitschr.  f.  deutsches  Recht)  8.  46  ff  Hie  älteste  derartige 
Bestimmung  (vergl.  Wilda  a.  a.  O.  S.  58)  ist  wohl  Sachsenspiegel  II  Art. 
54  § 1 (oben  8.  5 Anm.  5),  wonach  dem  Gutsherrn  dieses  Pfändungsrecht 
zusteht.  Walter  R.  G.  § 537,  Anm.  1 u.  2;  § 538  Anm.  10,  13  u.  14; 
§ 516  Anm.  13;  § 525  Anm.  6. 

*)  vergl.  Stobbe  a.  a.  0.  § 70  III,  v.  Meibom  Pfandrecht,  8.  204  ff., 
Wilda  a.  a.  0.  S.  45-62.  Walter  R.  G.  §§  537,  538,  525. 

*)  a.  a.  O.  S.  49  f.  vergl.  auch  v.  Meibom  Pfandrecht  8.  206. 


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63 


All  dem  gegenüber  ist  es  gewiss  bezeichnend,  dass  die  hier 
zur  Sprache  gekommenen  Leihebriefe  (also  namentlich  auch  die 
der  ältesten  Zeit  und  Entwickelungsstufe  angehörigen)  von  einem 
solchen  Pfändungsrechte  nicht  mit  einer  Silbe  Erwähnung  thun, 
und  zwar  auch  dann  nicht,  wenn  sie  ausführlich  der  Rechtsfolgen 
jeder  Zinsaäumnis  gedenken,  also  unter  Umständen,  welche  die 
Annahme  auszuschliessen  scheinen,  dass  eine  derartige  Befugnis 
als  etwas  Selbstverständliches  verschwiegen  worden  sei1).  Es  mahnt 
dies  zum  mindesten  zur  Vorsicht  gegenüber  allzuweit  reichenden 
Schlussfolgerungen  im  Sinne  der  eben  angegebenen  Wilda’schen 
Deductionen  und  legt  die  Präge  nahe,  ob  dieses  später  sicher 
nachweisbare  Pfandrecht  nicht  zum  Theile  als  eine  Abschwächung 
der  in  dem  Unterwindungsrechte  enthaltenen  strengeren  Rechts- 
norm ins  Leben  getreten  sei,  ein  Entwickelungsgang,  der  dann 
neben  den  im  allgemeinen*)  angeführten  Entstehungsursachen  für 
die  Ausbildung  dieses  Rechtsinstitutes  massgebend  gewesen  wäre1). 

Jedenfalls  geben  die  auf  uns  überkommenen  Leiheurkunden 
der  Rheingegenden  auch  in  diesem  Punkte  keinen  Anlass,  ein  Ab- 
weichen von  den  für  andere  Beziehungen  oben  als  giltig 
dargethanen  Grundsätzen  anzunehmen.  Man  ist  vielmehr  auf 
Grund  der  urkundlich  überlieferten  Quellenzeugnissen  jener 
Zeit,  wie  uns  scheinen  will,  berechtigt,  allgemein  zu  be- 
haupten, dass  das  damalige  Leiherecht,  zunächst  wenigstens  der 


*)  Las  gleiche  Ergebnis  für  Köln:  Gobbers  a.  a.  O.  S.  150. 

*)  vergl.  Wilda  a.  a.  0.  S.  53  ff.,  v.  Meibom  a.  a.  O.  8.  206. 

’)  Ab  Üborgangsfalle  dieser  Art,  Abschwächungen  des  strengeren 
Rechtes,  sind  bezeichnend  die  Urkk.  wie  Kölner  Schreinsurkk.  Mart.  10  1 
18  (s.  o.  S.  60  Anm.  1),  in  welcher  nur  ein  Theil  des  zinspflichtigen  Gutes 
der  ITeberwindung  unterstehen  soll,  dann  z.  B.  die  bei  Dunk  er  a.  a.  O.  S. 
72  ff.  genannten  Urkk.,  nach  denen  der  ultima  ratio  eine  vergebliche  Pfän- 
dung der  Fahrnis  vorangehen  soll.  — Berücksichtigt  man,  die  oben  S.  56 
dargelegte  Ausschliesslichkeit  der  realen  Haftung  des  Gutes  für  die  Zins- 
schuld, welche  von  allen  persönlichen  Momenten  abstrahiert  und  die  unleug- 
bar in  vielen  Dingen  zu  Tage  tretende  enge  rechtliche  Verbindung  von 
Grundstücken  und  darauf  liegender  Fahrhabe  — vergl.  Heusler,  Gewcre 
S.  279;  Albrecht,  Gewere  8.  21  geht  freilich  zu  weit  — , bo  gibt  die  im 
Texte  vertretene  Ansicht  vielleicht  auch  einen  Anhaltspunkt  zur  Erklärung 
dafür,  dass  oft  nur  die  auf  dem  Gute  befindliche  Fahrnis,  diese  aber  wieder- 
holt auch  unabhängig  von  der  Frage,  in  wessen  Eigenthum  sie  stehe,  der 
Pfändung  ausgesetzt  war.  — Vergl.  i.  A.  Wach,  Arrestprocess  1 S.  31, 
H e u s 1 e r a.  a.  O.  8.  212  ff. 


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Rheinlande,  vorwiegend  dinglich  ')  Ausgestaltet  war,  nämlich 
in  dem  Sinne,  dass  der  Regel  und  dem  Grundgedanken  unseres 
Rechtsinstitutes  nach  nicht  die  Person  des  jeweiligen  Besitzers 
und  auch  nicht  dessen  Vermögen,  sondern  lediglich  das  ziaabe- 
lastete  Grundstück  für  die  Erfüllung  der  Zinspflicht  aufzukommen 
hatte.  In  diesem  Zusammenhang  ist  der  erneute  Hinweis  auf 
Rechtsdenkmäler  jener  Zeit,  die  einen  ähnlichen  Rechtsgedanken 
zum  Ausdrucke  bringen,  gewiss  nicht  ohne  Interesse,  mögen 
dieselben  auch  nicht  gerade  dem  hier  in  Frage  stehenden 
örtlichen  Gebiete  angehören.  Sie  sind  in  ihrer  Uebereinstimmung 
mit  den  hier  gewonnenen  Ergebnissen  doch  immer  ein  Beweis 
dafür,  dass  diese  mit  den  unmittelbar  überlieferten  und  beglau- 
bigten Rechtsgedanken  ihrer  Zeit  nicht  in  Widerspruch  stehen. 
Vor  allem  sei  hier  der  schon  mehrmals  erwähnten  Stelle  des 
Brunner  Schöffenbuches  *)  gedacht,  die  ausdrücklich  jede  über 
das  Zinsgut  selbst  hinausreichende  Haftung  als  etwas  Ungerecht- 
fertigtes verwirft.  Und  was  könnte  weiters  in  der  gleichen 
Richtung  deutlicher  sprechen  als  die  Regelung  über  die  Be- 
handlung versessener  Zinse,  welche  der  Spiegel  deutscher  Leute 
und  die  sich  ihm  anschliessenden  Rechtsbücher  s)  statuieren,  indem 
sie  zunächst  die  Zinsschuld  durch  fortwährend  eich  erneuende 
Säumnisstrafen  (Rutscherzins)  bis  zum  Wert  he  des  zinspflichtigen 
Grundstückes  Anwachsen  lassen,  um  dann  schlechthin  dieses  selbst 
dem  Zinsberechtigten  zuzuweisen.  — 

Bei  dieser  sachenrechtlichen  Behandlung  der  Zinsverpflichtung 
war  naturgeraäss  eine  enge  Verbindung  von  Eigenthum  und 
Zinsbezugsrecht  nahe  gelegen,  ja  sogar  nothwendig.  Es  erscheint 
eine  Trennung  der  Gläubigerrolle  von  dem  Eigenthume  an  dem 
Gute,  eine  Überlassung  des  einen  Rechtes  ohne  gleichzeitige 
Übertragung  des  anderen  anfänglich  undenkbar.  Man  findet 
auch  in  der  That  erst  in  späterer  Zeit,  als  das  Leiherecht  in 


’)  Dies  ist  nicht  etwa  in  dem  Sinne  zu  verstehen,  dass  die  Verpflichtung 
zur  Zinszahlung  (Keallaat)  als  ein  Recht  dinglicher  Natur  im  Sinne  der 
älteren  Reallasttheorien  gedeutet  würde;  vergl.  darüber  insb. Stobbe,  ‘Zur 
Geschichte  und  Theorie  des  Rcntenkaufes'  in  der  Zeitschrift  f.  d.  R.  XIX,  S.200. 
*)  cap.  120,  abgedruckt  oben  S.  66  Aum.  1. 

*)  vergl.  die  Ausführungen  oben  S.  7,  Spiegel  deutscher  Leute  c.  76 
Schwabenspiegel  c.  84  (Lassberg);  s.  auch  Wiener  Stadtrechtsbuch  Art. 
118,  121  und  126  (oben  S.  11  und  14),  insbes.  die  Bestimmungen  für  den  Fall 
der  Concurrenz  von  versessenen  Grundrechts-  und  Burgrechtszinsen  (oben  S.  16) 


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66 


seinen  Grundzügen  wesentliche  Veränderungen  durchgemacht  und 
viel  von  seinem  ursprünglichen  Character  eingebüsst  hatte,  eine 
vom  Schicksale  des  Eigentumsrechtes  unabhängige  Übertragung 
des  Zinsbezugsrechtes,  während  für  die  erste  Zeit  der  enge  Zu- 
sammenhang zwischen  beiden  in  allen  erhaltenen  Übertragungs- 
urkunden zu  Tage  tritt  und  auch  von  allen  die  Frage  behan- 
delnden Schriftstellern  anerkannt  und  hervorgehoben  wird  '). 

In  diesem  Hinweise  auf  die  Möglichkeit  der  Übertragung 
der  leiheherrlichen  Rechte  durch  den  Wechsel  in  der  Person 
des  Eigentümers  des  zinspflichtigen  Gutes  ist  bereits  einer 
Veränderung  gedacht,  von  welcher  das  Leiheverhältnis  während 
seines  Bestandes  betroffen  werden  kann,  und  zugleich  die  Art 
und  Weise  angegeben,  in  welcher  diese  Veränderung  die  Zins- 
pflicht berührt.  Es  sei  hier  nur  nebenbei  bemerkt,  dass  ebenso 
wie  die  durch  Vertrag  gewillkürte  Veränderung  in  der  Person 
des  zinsberechtigten  Eigentümers  auch  der  Wechsel  durch  Erbgang 
fiir  den  Zins  eben  nicht  mehr  bedeutete,  als  eine  Veränderung 
in  der  Gläubiger-Rolle,  in  dem  berechtigten  Subjecte,  die  für 
Bestand,  Inhalt  und  Umfang  der  Obligation  ohne  Einfluss  war. 

Fragen  wir  nach  den  anderen  Veränderungen  und  Umge- 
staltungen, welche  innerhalb  des  Erbleiheverhältnisses  normaler 
Weise  sich  ereignen  mochten  und  geeignet  waren,  eine  Rück- 
wirkung auf  das  in  der  Zinspflicht  zu  Tage  tretende  obligationen- 
rechtliche Moment  zu  üben,  so  weist  uns  schon  der  Name  jus 
hereditarium  zunächst  auf  die  durch  Erbgang  geschaffenen  Ver- 
änderungen hin.  Wenn  Besitz  und  Nutzungsrecht  jure  hereditario 
von  dem  jeweils  Berechtigten  auf  dessen  Erben  übergiengen,  so 
war  damit  rücksichtlich  der  Zinspflicht  ein  Wechsel  in  der 
Schuldner-Rolle  gegeben,  der  für  die  Verpflichtungen  in  concreto 
von  mehrfachem  Einflüsse  sein  konnte.  Zunächst  konnte,  wenn 
nicht  — wie  dies  häufig  vorkam  — besondere  Vertragsklauseln 
die  Einheitlichkeit  und  Untheilbarkeit  des  Gutes  garantierten 
und  den  Rechtsübergang  auf  mehrere  Erben  von  vorneherein  aus- 
schlossen, an  Stelle  des  einen  zur  Nutzung  Berechtigten  und 
zur  Zinszahlung  Verpflichteten  eine  Mehrheit  solcher  treten, 
wobei  dann  fraglich  erscheinen  kann , in  welche  Beziehung  die 
einzelnen  Schuldner  zu  ihrer  Schuld  und  zu  einander  traten. 
Ganz  vereinzelt  ist  diese  Frage  freilich  dadurch  abgeschnitten, 

')  Arnold  a.  a.  O.  S.  HO.  Rosenthal  a.  a.  O.  S.  6ö.  Gobbera 
a.  a.  O.  S.  105. 

v.  Sehtnnd.  Krblaibw.  Ö 


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66 


dass  im  Leihevertrag  gleich  für  alle  Zeiten  ein  Bestimmter, 
z.  B.  der  Älteste1)  dem  Leiheherrn  gegenüber  für  verpflichtet 
erklärt,  und  auf  diese  Weise  künstlich  die  Einheit  der  Ver- 
pflichtung fortgesetzt  wurde.  Aber  auch  für  alle  anderen  Fälle 
lässt  die  Fassung  der  Urkunden  eine  Entscheidung  nur  im  Sinne  der 
solideren  Haftung  aller  Erben  zu,  indem  nirgends  von  einer  ge- 
sonderten Behandlung  der  Einzelnen  die  Rede  ist,  vielmehr  immer 
alle  wie  eine  Einheit  genannt  werden,  und  namentlich  der  Ein- 
tritt der  angedrohten  Folge  einer  mora  objectiv  an  die  Th&tsache 
des  Ausbleibens  der  fällig  gewordenen  Leistung  allgemein  und 
ohne  Einschränkung  geknüpft  erscheint. 

Diese  Gestaltung  lag  unzweifelhaft  im  Interesse  und  in  den 
gewöhnlichen  Intentionen  *)  des  Leiheherrn,  der  durch  eine  Zer- 
splitterung seines  Zinsrechtes  den  empfindlichsten  Schaden  hätte 
leiden  können,  und  es  darf  wohl  nicht  erst  hervorgehoben  werden, 
dass  unter  der  Voraussetzung  der  Richtigkeit  unserer  Annahme 
über  die  principielle  Frage  des  Verpflichtungsverhältnisses  nur 
die  solidarische  Haftung  aller  für  den  ganzen  Zins  im  Geiste 
des  Institutes  gelegen,  und  dass  nur  diese  rechtlich  consequent 
überhaupt  denkbar  war8).  Eine  scheinbare  Ausnahme  dem  Ge- 
sagten gegenüber  findet  sich  nur  in  einzelnen  Fällen  von  Villi- 
cationsverträgen,  in  denen  die  Beleihung  mit  einem  ganzen  Güter- 
complexe  dem  Anscheine  nach  einheitlich  an  mehrere  Ansiedler 
erfolgte , dann  aber  die  einzelnen  an  jeden  „heres“  kommenden 
Antheile  doch  ein  völlig  selbstständiges  Schicksal  erlitten. 

Neben  den  Rechtsverhältnissen,  die  zwischen  einer  Mehrzahl 
von  Erben  zur  Entstehung  kamen,  sind  für  den  Erbgang  noch 
die  Beziehungen  zwischen  Erblasser  und  Erben  von  Belang,  also 
namentlich  die  Frage,  in  wie  weit  der  letztere  in  die  Rechte 
und  Pflichten  des  Verstorbenen  eintrat.  Hier  speciell  ist  noch 
darauf  einzugeben,  in  welcher  Weise  der  Nachfolger  im  Leihe- 
verhältnisse den  bereits  unter  dem  Vorgänger  fällig  gewordenen 
Zinsleistungcn  gegenüber  sich  zu  verhalten  hatte.  Mehr  noch  als 


')  z.  B.  1173—1188  MK.  ÜB.  II  101;  123:»  MR.  UB.  III  489;  1249 
Booi,  'Wormser  UB.  I 223. 

*)  Zeuge  dessen  die  oftmalige  ausdrückliche  EinschrSnkuug  auf  eineu 
oder  wenige  Krben  s.  o.  8.  31  Anm.  1. 

*)  vergl.  i.  a.  auch  die  Ausführungen  bei  Ennen,  Gosch,  d.  Stadt 
Köln  I 8.  418  u.  Gobbers  a.  a.  O.  S.  166  ff. 

m 


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67 


die  Thatsaehe,  da?»  die  Succession  nach  Erbrecht  erfolgte,  wobei 
doch  immer  die  crblasserischen  Schulden  als  eine  auf  dem 
Nachlasse,  zunächst  der  Fahrhabe,  ruhende  Last  den  Nachfolger 
in  gewissem  Umfange  trafen  *),  nöthigt  uns  die  vorwiegend  ding- 
liche und  objectivc,  von  der  Person  des  jeweils  Besitzenden  fast 
gänzlich  abstrahierende  Formulierung  der  Vertragsverpflichtungen 
zu  der  Annahme,  dass  der  Erbe  mit  dem  Gute  und  mit  der  Zins- 
pflicht pro  futuro  auch  die  Verpflichtung  zur  Zahlung  bereits 
ehedem  fällig  gewordener  Zinsraten  übernehmen  musste.  Nirgends 
findet  sich  in  den  Urkunden  ein  Hinweis,  auf  eine  getrennte 
rechtliche  Behandlung  des  Beliehenen  und  seiner  Erben;  es 
werden  vielmehr  alle  zum  Rechte  aus  der  Leihe  Berufenen  gleich- 
massig  und  zusammen  als  Träger  des  Rechtes  genannt,  sie  er- 
scheinen gleichmässig  auch  als  Träger  der  leiherechtlichen  Ver- 
pflichtungen, und,  was  das  Wichtigste  ist,  ohne  Beziehung  auf  einen 
Einzelnen  werden  allen  gegenüber  die  Rechtsfolgen  genannt, 
welche  die  Thatsaehe  der  Zinssäumnis  für  sie  im  Gefolge  haben 
sollte.  Blieb  eine  Zinszahlung  aus,  so  fragte  der  Leiheherr  sicher 
nicht,  ob  dieser  oder  jener  daran  Schuld  trug,  er  konnte  die 
stipulierten  oder  selbstverständlichen  Consequenzen  eintreten  lassen 
oder  mit  ihnen  drohen,  und  in  seinem  eigenen  Interesse,  um  sich 
den  Besitz  zu  erhalten,  musste  der  Erbe  die  Versäumnis  nach- 
holen , die  vielleicht  nicht  ihm,  sondern  seinem  Vorgänger  zur 
Last  zu  schreiben  war. 

Hiermit  dürften  die  wichtigsten  und  hauptsächlichsten  den 
Zins  betreffenden  Fragen  erledigt  sein , die  im  Bestände  des 
Leiheverhältnisses  in  der  ältesten  Form  seiner  Ausgestaltung  von 
Belang  sein  mochten  und  aus  dem  erhaltenen  Urkundenvorrathe 
ihre  Beantwortung  finden  können.  Man  braucht  sich  nur  der 
Schranken  zu  erinnern,  die  nach  den  eingangs  gegebenen  Aus- 
führungen dem  Leiherecht  ursprünglich  gesetzt  waren,  und  man 
darf  namentlich  nur  des  Umstandes  gedenken,  dass  das  Leihe- 
recht den  Angehörigen  einer  Familie  allerdings  in  perpetuum, 
aber  als  ein  wenigstens  gedankenmässig  unveräusserliches  Recht 
verliehen  wurde,  um  sofort  darüber  im  Klaren  zu  sein,  dass  eine 
Reihe  von  Rechtsfragen  zunächst  gar  nicht  zur  Entstehung  ge- 


')  Dieses  Argument  wäre  dann  von  mehr  Belang,  wenn  im  Sinne  der 
hier  bekämpften  Ansicht  die  Zinsschuld  mit  den  gewöhnlichen  persönlichen 
Obligationen  auf  gleiche  Stufe  zu  stellen  wäre. 

ö* 


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langen  konnten,  die  später  practisch  wurden,  als  die  Leihe  zu  einem 
beweglichen  Verkehrsohjecte  geworden  war.  Alle  die  Contpli- 
cationen , die  dadurch  entstanden , dass  das  jus  hereditarium 
aus  seiner  ursprünglichen  Gebundenheit  gelöst,  wie  andere  Rechte 
durch  Vertrags willkür  von  dem  einen  auf  den  andern  über- 
tragen oder  selbst  wieder  als  Object  neuer  Leiherechte  weiter 
verliehen  und  belastet  werden  durfte,  konnte  nicht  auftauchen 
in  einer  Zeit,  in  der  das  Leiherecht  fest  an  eine  Familie,  eiuen 
von  vomeherein  genau  begrenzten  Kreis,  gebunden  war  und 
überhaupt  nicht  an  aussen  stehende  Personen  gelangen  noch 
auch  partiell  ihrer  Machtsphäre  unterworfen  werden  konnte. 

Wie  es  nun  nach  dem  in  der  Einleitung  Gesagten  nicht  im 
Plane  und  in  der  Absicht  der  vorliegenden  Untersuchung  gelegen 
ist,  des  näheren  auf  die  spätere  Entwickelung  des  Institutes  ein- 
zugehen, so  kann  es  auch  nicht  unsere  Aufgabe  sein,  die  Reflex- 
wirkungen näher  zu  verfolgen,  welche  die  Umgestaltung  des 
Leiherechtes  in  toto  auf  die  einzelnen  rechtlichen  Elemente  des- 
selben ausgcübt  hat.  Nur  auf  ein  dem  Leihe-  bez.  Rentenrechte 
der  späteren  Zeit  characteristisches  Moment  soll  noch  mit  einigen 
Worten  hingewiesen  werden. 

Das  Unterwindungsrecht , welches  im  Erbleiherechte  dem 
Zinsgläubiger  gegenüber  jedem  säumigen  Schuldner  zustand,  findet 
sich  nämlich  auch  im  völlig  ausgebildeten  Rentenrechte  vielfach 
wieder,  also  selbst  unter  Umständen,  in  welchen  seine  ursprüng- 
liche Grundlage,  das  Eigenthum  des  Zinsberechtigten  an  dem 
Gute,  längst  weggefallen  war1).  Demgemäss  waren  in  einer 
Zeit,  da  die  leiheherrlichen  Befugnisse  auf  ein  Minimum  zurück- 
gedrängt  waren,  dieselben  characteristischen  Rechtsfolgen  an  die 
Zinssäumnis  geknüpft,  welche  von  Alters  her  bei  dem  Ausbleiben 
der  Zinszahlung  für  den  Zinspflichtigen  eintraten:  zunächst  oft 
die  Verpflichtung  zur  Zahlung  von  Conventionaistrafen  und  dann 
Verlust  dos  Leiherechtes  an  den  Rentenberechtigten,  in  der  Form, 


')  vergl.  ausser  den  Genannten  Hausier,  Bildung  des  Coneursprocesses 
nach  schweizerischem  Rechte  in  der  Zeitschrift  für  schweizerisches  Recht, 
Bd.  7 S.  117  ff.  und  insb.  Gobbers  a.  a.  O.  S.  197  und  die  dort  genannten 
Quellenbelege  vom  Ende  des  14.  Jahrhundertes,  ebenso  S.  211,  wo  für  die 
Urhleihen  der  dritten  (letzten)  Entwicklungsstufe  die  Signatur  dahin  ange- 
geben wird,  dass  das  leiheherrliche  Recht,  das  Obereigenthura  sich  ooncentriert 
in  dem  Rechte  auf  Zinsbezug  und  in  dem  aus  diesem  Rechte  bei  Nicht- 
befriedigung erwachsenden  Anspruch  auf  Anwältigung  des  verliehenen  Gutes. 


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dass  dieser  in  dieselbe  rechtliche  Stellung  zur  Sache  einrückte, 
die  der  Verpflichtete  bis  dahin  inne  hatte. 

R s fällt  nicht  schwer,  zu  zeigen,  zu  welchen  Consequenzen 
diese  principielle  Auflassung,  die  auch  noch  das  spätere  Recht 
beherrschte,  bezüglich  der  eben  berührten  Fragen  im  allgemeinen 
führen  musste,  die  mit  der  grösseren  Beweglichkeit  des  Leihe- 
und  Zinsrechtes  zur  Entstehung  kamen.  Als  nämlich  die  oben 
ausgeführte  Regel  der  Einschränkung  des  Leiherechtes  auf  den  Kreis 
bestimmter  Personen  und  die  dadurch  bedingte  Regierung  jedes 
Veräusserungsrechtes  namentlich  auf  städtischem  Gebiete  ver- 
hältnissmässig  früh  geschwunden  war,  und  Rechtsübertragungen 
nicht  mehr  wie  ursprünglich  nur  durch  den  Willen  des  Leihe- 
herrn möglich  waren,  sondern  ohne  Rücksicht  auf  diesen  durch 
freie  Vertragseinigung  zu  Stande  kamen,  tauchten  naturgemäss 
analoge  Fragen  auf,  wie  sie  bei  dem  Rechtsübergang  im  Wege 
Erbrechtes  zu  lösen  waren.  Sowohl  über  die  Behandlung  vom 
Vorgänger  rückständig  gebliebener  Zinsen  als  auch  über  die  freilich 
selten  actuelle  Frage  nach  dem  Schicksale  des  Zinses  im  Falle 
der  Theilung  des  Gutes  muss  wohl  hier  wie  dort  in  gleicher 
Weise  entschieden  werden,  da  ja  die  principielle  Grundlage  des 
Rentenrechtes  dieselbe  ist,  die  bei  den  obigen  Ausführungen  für 
das  ältere  Leiherecht  angenommen  wurde. 

Denn  auch  für  das  spätere  Leihe-  und  Rentenrecht,  solange 
die  Möglichkeit  der  Unterwindung  überhaupt  bestand,  muss  es  in 
der  Macht  des  Zinsberechtigten  gelegen  gewesen  sein,  wegen  des 
Ausbleibens  einer  Zinsrate,  bezüglich  deren  er  vielleicht  gar 
nicht  wusste,  wem  die  Zahlung  ursprünglich  oblag,  mit  der  Rechts- 
entsetzuug  zu  drohen  und  so  indirect  die  gegenwärtigen  Besitzer 
zur  Zahlung  einer  Summe  zu  zwingen,  die  vielleicht  primär  dem 
Rechtsvorgänger  oblegen  wäre. 

Von  ganz  besonderem  Interesse  ist  aber  die  rechtliche  Aus- 
gestaltung, zu  welcher  die  consequente  Anwendung  des  einen 
Grundgedankens  auf  einem  gleichfalls  einer  viel  vorgeschritteneren 
Rechtsentwickeluug  angehörigen  Gebiete,  nämlich  in  den  Fällen 
der  Afterverleihung  und  der  üumulierung  mehrerer  Zinspflichtig- 
keiten  auf  demselben  Objecte  gefunden  hat. 

Wenn  es  nämlich  im  späteren  Rentenrechte  vorkam,  dass 
auf  einem  und  demselben  Gute  verschiedene  Zinse  an  ver- 
schiedene Personen  lasteten,  dann  liegt  wegen  der  sonst  unver- 
meidlichen Concurrenz  ihrer  Rechte  die  Vermuthung  nahe,  dass 
dies  doch  nicht  mehr  nach  der  für  das  Leiherecht  behaupteten 


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Kegel  behandelt  werden  konnte,  weil  nicht  leicht  einzusehen  ist, 
wie  das  Unterwindungsrecht  einer  Mehrheit  von  Berechtigten 
konnte  zugestanden  haben.  Indessen  ist  auch  hier  das  dingliche 
Element,  das  Leihezins-  und  Rentenforderung  sonst  allgemein  be- 
gleitete, vollständig  zu  seinem  Rechte  gekommen.  Denn  that- 
sächlich  stand  auch  in  diesen  E'ällen  mancherorts  jedem  Rent- 
gläubiger  das  Recht  zu,  wenn  seine  Rente  nicht  bezahlt  wurde, 
sich  in  den  Besitz  des  Zinsgutes  zu  setzen,  nur  musste  er  stete 
die  seiner  Rente  vorangehenden  älteren  Zinse  mit  dem  Gute 
übernehmen.  Diese  Rechtslage  ist  wohl  auch  von  Arnold1)  vor- 
ausgesetzt, wenn  er  für  den  Fall,  dass  „die  belastete  Sache  sich 
unfähig  erwies,  sämmtliche  Zinse  zu  tragen“,  die  practische  Aus- 
tragung in  der  Weise  skizziert,  dass  er  meint  „es  musste  der 
Jüngste,  um  sein  Capital  nicht  ganz  zu  verlieren,  sich  der  Bache 
unterwinden;  wo  nicht,  so  that  es  ein  früherer,  der  dann  aber 
nur  die  vorhergehenden,  nicht  die  jüngeren  Renten  übernehmen 
musste.  . . .“  In  gleicher  Weise  kennzeichnet  Heusler  das 
Zugverfahren  im  schweizerischen  Rechte  *).  Eine  Erklärung  für 
diese  rechtliche  Ausgestaltung  kann  nie  im  Rentenrechte  selbst, 
sondern  nur  durch  den  rechtsgeschichtlichen  Zusammenhang  mit 
dem  Rechte  der  Afterleihen  gefunden  werden.  Wie  nämlich  bei 
dem  einfachen  Leihevertrage  das  Zinsforderungsrecht  begleitet  und 
gedeckt  war  durch  das  Eigenthum  an  der  Sache,  so  gieng  Hand 
in  Hand  mit  einem  zweiten  und  dritten  Zins  als  dessen  rechtliche 
Bchutzwehr  das  in  der  Leihe  oder  Afterleihe  gelegene  dingliche 
Recht,  dessen  Geltendmachung  hier  wie  dort  als  Zwangs-  und 
Executionsmittel  die  Zahlung  verbürgte;  und  als  später  jedes 
dingliche  Recht  des  Zinsgläubigers  sich  gänzlich  verflüchtigt 
hatte,  blieb  das  Unterwindungsrecht  genau  in  den  alten  Formen 
bestehen. 

Die  Lösung,  welche  die  eben  berührten  Fragen  in  späterer 
Zeit  gefunden  haben , ist  auch  nicht  ohne  Belang  für  die  Beur- 
theilung  des  älteren  uns  zunächst  interessierenden  Problems. 
Denn  es  ist  gewiss  nicht  Zufall,  das  derselbe  Rechtsgedanken, 
dem  wir  als  Grundzug  des  Leiherechtes  in  seiner  Entstehung 
begegneten,  trotz  all  den  späteren  einschneidenden  Veränderungen 
sich  unverändert  erhalten  hat,  um  noch  am  Schlüsse  der  Ent- 
wickelung, nachdem  das  Rechtsinstitut  sich  fast  bis  zur  Unkennt- 


’)  Z.  Ge  sch.  d.  Kigenthums  S.  123. 

Heusler  a.  a.  O.  S.  119  ff.;  vergl.  auch  oben  S.  17. 


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lichkeit  verändert  hatte,  als  rother  Faden  wieder  an  den  Tag  zu 
treten.  In  dieser  Übereinstimmung  zwischen  den  Ergebnissen, 
welche  für  die  spätere  Zeit  ohne  Berücksichtigung  der  hier  an- 
genommenen historischen  Grundlage  von  anderen  gewonnen  wurden, 
und  dem,  was  nach  der  hier  vertretenen  Ansicht  sich  als  noth- 
wendige  Consequenz  ergibt,  kann  man  sicherlich  einen  Anhalts- 
punkt für  deren  Richtigkeit  erblicken;  sie  zeigt,  wie  tief  die  oben 
angegebene  Grundauffassung  im  alten  Rechte  eingewurzelt  gewesen 
sein  muss,  dass  sie,  trotz  aller  Veränderungen,  die  das  Rechts- 
institnt  erfuhr,  bis  an  das  Ende  seiner  Entwickelung  erhalten  blieb. 

Nach  all  dem  erscheint  die  Zinspflicht,  wie  schon  die  da- 
malige Zeit  sich  gerne  ausdrückte,  als  eine  auf  dem  Leihegute 
liegende  Last '),  deren  Erfüllung  jedem  Gutsbesitzer  unter  An- 
drohung schwerer  Rechtsnachtheile  oblag.  Dabei  war  die  Ver- 
bindung mit  dem  Gute  noch  weit  enger,  als  es  nach  unseren 
heutigen  Begriffen  bei  Reallasten  anzunehmen  wäre.  Denn  so 
wie  einerseits  angenommen  werden  muss,  dass  sich  die  Verpflich- 
tung des  jeweiligen  Besitzers  nicht  nur  auf  die  während  der 
Zeit  seines  Besitzes  fällig  werdenden  Zinsraten,  sondern  ebenso  auch 
auf  die  von  einem  Besitzvorgänger  rückständig  gebliebenen  Be- 
träge ganz  gleichmässig  erstreckte,  ist  andererseits  eine  über  das 
Leiheobject  hinausreichende,  das  übrige  Vermögen  des  Beliehenen 
in  irgend  einer  Weise  erfassende  persönliche  Verpflichtung  des- 
selben als  Regel  gewiss  nicht  zu  behaupten,  so  zwar,  dass  weder 
der  gegenwärtige  Besitzer  wegen  Zinsrückständen  mit  seinem 
anderweitigen  Vermögen  herangezogen  *),  noch  — Ausnahmen  ab- 
gerechnet — ein  früherer  Besitzer  wegen  versessener  Zinsen 
nachträglich  haftbar  gemacht  werden  konnte.*)  — 

’)  vergl.  z.  B.  1181  Lac.  I 477  cuilibet  aree  onu»  pensionis  II  soli- 
dorum  . . . annuatim  solvendorum  imposuit  oder  1227  Ennen  II  106  o u m 
tali  onere  memorata  cubiculu  ....  sunt  concessa. 

*)  Dem  steht  nicht  entgegen , wenn  in  einzelnen  z.  B.  in  den  von 
Dunkcr  a.  a.  O.  S.  72  1'.  berufenen  Fällen  vor  der  Unterwindung  des  Gutes, 
als  dem  grossen  Übe),  zunächst  die  Pfändung  in  die  Mobilien  versucht  wurde. 

*)  Diese  Ergebnisse  zeigen  zugleich,  wie  gefährlich  die  „aus  der  Natur“ 
eines  Rechtsverhältnisses  auf  dessen  äussere  Behandlung  gezogenen  Schlüsse 
sind.  So  gibt,  um  nur  ein  Beispiel  anzuführen,  Unger  (System  des  öst. 
Privatrechts  I 560)  eine  Reallastdeünition,  die  unzweifelhaft  mit  dem  gleichen 
Rechte,  mit  welchem  sie  für  die  modernen  Reallasten  Giltigkeit  beanspruchen 
kann,  auch  auf  die  uns  vorliegenden  Fälle  (trotz  S.  554)  angewendet  werden 
darf:  das  Recht  auf  die  Reallasten  erscheint  „an  sich  und  im  Ganzen  als 
ein  unmittelbar  an  und  auf  dem  Grundstücke  haftendes  Recht,  dessen  In- 
halt darin  besteht,  dass  der  Berechtigte  von  dem  jeweiligen  Besitzer  des 


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72 


Wegen  des  engen  Zusammenhanges  mit  dem  Zinsreohte 
als  der  principalsten  Pflicht  des  Beliehenen,  seien  hier  noch  die 
zur  Garantie  der  Zinsleistungen  vielfach  stipulierten  Cautionen 
kurz  besprochen,  wenn  auch  der  Umstand,  dass  dieselben  gleich- 
massig  auch  andere  Vertragsverpflichtungen  sicherzustellen  be- 
rufen waren,  von  streng  systematischem  Gesichtspunkte  aus  ihre 
Besprechung  an  einem  späteren  Orte  erheischte. 

Derartige  Verstärkungen  der  Garantien  für  die  aus  den  Ver- 
trägen erwachsenden  Verbindlichkeiten,  also  eine  Ausdehnung 
der  Haftbarkeit  über  das  Leihegut  hinaus  auf  andere  Theile  des 
Vermögens  des  Verpflichteten,  Anden  wir  vornehmlich  in  Leihe- 
verträgen über  solche  Güter,  die  selbst  dafür  nicht  genügende 
Deckung  gewährten.  Oft  repräsentierte  nämlich  das  Object  der 
Leihe  zunächst  wohl  einen  Werth,  der  eine  hinreichende  Sicher- 
heit gegeben  hätte,  war  aber  selbst  in  seinem  intacten  Bestände 
mancherlei  Zufälligkeiten  ausgesetzt,  die  der  Leiheherr  oft  aus 
gutem  Grunde  von  sich  auf  die  Schultern  des  Besitzers  abwälzen 
wollte.  So  namentlich  auf  dem  Gebiete  des  städtischen  Rechtes, 
insbesondere  wenn  nicht  Bauplätze,  sondern  fertige  Häuser  zu 
Erbrecht  verliehen  wurden,  und  der  Eigenthümer  für  seinen  Zins 
ungeachtet  etwaiger  Elementarschäden  dauernd  gesichert  sein 
wollte,  oder  wenn  er  in  einzelnen  Pallen  gar  ein  Mittel  in  der  Hand 


Grundstückes  als  solchem  einzelne  positive  Leistungen  fordert;  in  diesen 
einzelnen  Leistungen  geht  das  Hecht  in  ein  rein  persönliches  auf  und  er- 
scheint sonach  in  seinen  einzelnen  Ausflüssen  als  ein  wahres  Forde- 
rungsrecht. . . . “.  „Aus  dieser  Natur  der  Keallasten 
ergeben  sich  folgende  Grundsätze  : ....  6)  die  einzelnen  fälligen 
Leistungen  sind  persöuliche  Verbindlichkeiten  des  Besitzers,  unter  welchem 
sie  fällig  wurden,  er  kann  sich  daher  diesen  Rückständen  durch  die  Dere- 
liction  des  Grundstückes  nicht  mehr  entziehen;  7)  daher  haftet  aber  auch 
der  Nachfolger  im  Besitz  nicht  für  die  Rückstände  seines  Vorgängers,  ausser 
wenn  er  als  (Jniversalsuccessor  in  dessen  Obligation  eintritt,  oder  wenn  die 
Rückstände  ausnahmsweise  mit  einer  Hypothek  bedeckt  sind.“  Hag  man 
die  Richtigkeit  dieser  Annahmen  für  das  moderne  Recht  zugeben,  bo  haben 
die  Ausführungen  im  Texte,  die  den  obligationenrcchtlichen  Character  der 
Zinsverbindlichkeit  gewiss  in  vollem  Masse  anerkannten  und  zur  Grundlage 
nahmen,  wenigstens  die  Möglichkeit  einer  anderen  Regelung  dargethan,  und 
damit  allein  ist  die  logische  Schlüssigkeit  obiger  Dcductioneu  widerlegt. 
Es  ist  eben  kein  Naturgesetz  und  auch  logisch  nicht  nothwendig.  dass  eiu 
Recbtsiustitut,  welches  der  Regel  nach  eine  gewisse  äussere  Behandlung 
erfährt,  unter  allen  Umständen  und  ausnahmslos  die  gleichen  rechtlicher 
Schicksale  erfahren  müsse. 


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haben  wollte,  den  Besitzer  zur  Ausführung  der  etwa  über- 
nommenen Pflicht  zum  Wiederaufbau  wirksam  zu  zwingen1). 

War  hier  die  Besorgnis  vor  einer  Deteriorierung  des  an  sich 
werthvollen  Jjeiheobjectes  der  bestimmende  Grund  für  Schaffung 
besonderer  Garantien,  so  war  es  in  anderen  Fällen,  wo  der  Zins 
mit  Rücksicht  auf  erst  vorzunehmende  Meliorationen  ziemlich 
hoch  bemessen  war,  der  geringe  Werth  des  geliehenen  Gutes, 
der,  allein  ungenügend,  noch  die  Heranziehung  anderer  Cautionen 
für  die  Vertragspflichten  wünschenswerth  erscheinen  liees*). 
Einen  Fall  dieser  Art  enthält  z.  B.  eine  ürk.  von  1250 s),  nach 
welcher  zur  Sicherstellung  eines  Leihezinses  ein  Joch  Landes  zu 
Pfand  gegeben  wurde,  donec  sic  bona  nostra  edificaverit,  quod 
perpetuo  certi  simus  de  nostro  censu.  Das  Beispiel  ist  darum 
besonders  lehrreich,  weil  hier  ausdrücklich  gesagt  ist,  dass  die 
ausserhalb  des  Leiheobjectes  gebotene  Garantie  nur  in  so  lange 
in  Anspruch  genommen  werden  sollte,  als  das  Leihegut  selbst 
hiefür  nicht  ausreichte,  und  weil  man  darin  immerhin  einen 
quellenmässigen  Beleg  dafür  erblicken  kann,  dass  — wenigstens 
in  concreto  — die  Zulänglichkeit  oder  Unzulänglichkeit  der  in 
dem  Leiheobjecte  gelegenen  Deckung  für  die  Stipulierung  be- 
sonderer Cautionen  entscheidend  war. 

Als  Mittel  für  eine  solche  Sicherstellung  wurde  häutig  die 
Verpfändung  eines  Grundstückes  gewählt  — eine  gewiss  recht 
naheliegende  und  zweckmässige  Form  4).  Daneben  aber  fand  sich 
vielleicht  noch  häufiger  eine  andere,  wohl  dem  älteren  Precarien- 
rechte  entlehnte  Modalität  zur  Begründung  einer  solchen  über 
das  eigentliche  Leihegut  hinausreichenden  realen  Haftung.  Es 
wurde  aus  dem  Vermögen  des  Beliehenen  ein  Gut  bestimmt, 
welches  das  rechtliche  Schicksal  des  Leiheobjectes  theilen,  also  im 
Falle  des  Vertragsbruches  mit  diesem  an  den  Leiheherrn  ge- 
langen sollte  *).  Die  Verbindung  der  beiden  Grundstücke  war 
dann  in  den  einzelnen  Fällen  eine  verschiedene;  bald  wurden 

*)  vergl.  dazu  oben  8.  60  Anm.  5 ff. 

’)  z.  B.  1249  Enncn  II  290. 

*)  MB.  UB.  UI  1076.  Ähnlich  1261,  1092. 

*)  z.  B.  MB.  UB.  UI  1216,  55;  1228-1229,  340;  1285,  541;  1260,  1092, 
1290  Wormser  UB.  I 446.  Aus  Frankfurt,  wo  überhaupt  frühzeitig  eine 
weitere  Ausgestaltung  des  Leiherechtes  eingetreton  zu  sein  scheint:  1290 
Böhmer,  Frankf.  UB.  p.  252.  — Verpfändung  eines  Zinsreobtes  1274 
Wormser  UB.  I 368. 

s)  z.  B.  c.  1150  MB.  UB.  I 556;  1217,  Ennen  II  56;  1223,  MB.  UB. 
UI  218;  1232,  460;  1249  Ennen  II  290;  1252,  309:  1264  Lao.  II  548. 


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beide  wirklich  zu  einem  einzigen  Gute  vereinigt1),  so  dass  eine 
getrennteBehandlung  überhaupt  ausgeschlossen  war;  bald  begnügte 
man  sich  schon  mit  der  einen  Festsetzung,  dass  beide  für  den 
Fall  der  Zinssäumnis  dem  Leiheherrn  verfallen  sein  sollten; 
aber  unter  allen  Umständen  war  in  der  denkbar  einfachsten 
Weise,  und  ohne  in  den  Leihevertrag  Fremdartiges  hineinzu- 
tragen, das  Eine  erreicht,  dass  das  dingliche  Substrat  für  das 
Zinsrecht  seinem  Werthe  nach  jene  Erweiterung  erfuhr,  die 
nothwendig  war,  um  den  im  Leihevertrag  zur  Entstehung  ge- 
langenden obligatorischen  Verpflichtungen  wie  sonst  die  genügende 
sachenrechtliche  Deckung  zu  geben. 

Der  ganzen  Natur  des  Leihezinsrechtes  entsprechend  mussten 
das  Pfandrecht  und  die  in  der  zuletzt  angegebenen  Weise  be- 
wirkte Sicherung  der  Vertragsverpflichtungen  die  wichtigsten 
für  die  Hegel  allein  brauchbaren  (Kautionen  erscheinen  — ist 
ja  doch  für  eine  der  Idee  nach  ewige  Verpflichtung  nur  ein 
dingliches,  gedankenmässig  gleichfalls  ewiges  Recht  eine  wirk- 
liche Gewähr.  Dem  gegenüber  können  die  ganz  vereinzelt  vor- 
kommenden  anderwärtigen  Gautionen,  wie  z.  B.  der  oben  be- 
rührte Fall  mit  Bürgen bestcllung  und  Verpfandung  des  ge- 
summten Vermögens  des  Beliebenen  *),  als  Singularitäten,  die 
durch  die  Verhältnisse  des  Einzelfalles  geboten  und  für  die  all- 
gemeine Betrachtung  ohne  Bedeutung  sind,  wohl  füglich  über- 
gangen werden.  — 


Von  den  anderweitigen  Verpflichtungsverhältnissen,  die  neben 
der  Zinspflicht  aus  dem  Leihecontracte  zu  Entstehung  kommen 
konnten , sind  einzelne  gelegentlich  der  Schilderung  der  ver- 
schiedenen Vertragsgarantien  schon  erwähnt  worden.  So  zu- 
nächst die  manchmal  in  den  Leihevertrag  aufgenommene  Ver- 
pflichtung zur  Vornahme  von  Meliorationen  und  Herstellungen, 


')  So  wahrscheinlich  1150  HK.  U£.  I 556;  1264  Lac.  II  548;  nach 
Gobbers  a.  a.  O.  S.  151  auch  1217  Ennen  II  56. 

*)  Hierher  gehört  auch  die  oben  besprochene  Urk.  1227  Ennen 
II  106,  in  welcher  als  Sanction  für  die  Pflicht  zur  Zinszahlung  und  Recon- 
struction  neben  der  nicht  volle  Sicherheit  gewährleistenden  Androhung  des 
Rechtsverlustes  die  Excommunication  als  weiteres  Zwangsmittel  in  Aus- 
sicht genommen  wurde;  vergl.  auch  1206  Quix  70;  1253  Hilgard  78  etc. 


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die  öconomisch  gewiss  zu  den  wichtigsten  Bestimmungen  des 
Leiherechtes  gehörte.  Der  Verschiedenheit  der  Verhältnisse  ent 
sprechend  war  auch  diese  Pflicht,  wo  sie  überhaupt  bestand,  im 
einzelnen  sehr  mannigfachen  Inhaltes.  Ira  Kreise  des  städtischen 
Rechtes  erstreckte  sie  sich  oft  auf  die  BaufUhrung,  den  völligen 
Aufbau  eines  Hauses  auf  der  geliehenen  Bauarea  *) ; oft  be- 
schränkte sie  sich  auf  die  Verpflichtung  zu  Verbesserungen  *) 
und  zur  Instandhaltung  *)  des  zu  Erbrecht  gegebenen  Hauses, 
und  umfasste  dabei  manchmal  auch  die  Pflicht  zur  Wieder- 
herstellung und  Reconstruction  für  den  Fall  einer  partiellen 
oder  gänzlichen  Zerstörung  durch  elementare  Mächte  4),  also 
namentlich  durch  Brände,  denen  damals  so  oft  ganze  Stadttheile 
zum  Opfer  fielen.  Die  analoge  Verpflichtung,  die  Leihevertäge 
über  ländliche  Grundstücke  vielfach  enthalten,  ist  die  Pflicht 
zur  sorgfältigen  Cultur  des  geliehenen  Bodens5),  die  sich  dann 
häufig  auch  als  Pflicht  zur  Schaffung  einer  neuen  Cultur  auf 
bisher  ungerodetem  Lande,  oder  oiuer  Specialcultur  auf  einem 
bisher  noch  nicht  so  sehr  gepflegten  Boden  Uuesern  konnte. 
Die  Anlegung  von  Weinbergen  spielt  dabei  die  hervorragendste 
Rolle.  Waren  Mühlen  das  Object  der  Leihe,  so  näherten  sich 
die  Vertragsbestimmungen  über  die  Conservationspflicht  natur- 
gemäss  mehr  den  Abmachungen  im  städtischen  Rechte  *),  das 
überhaupt  der  eigentliche  Boden  für  Bestimmungen  dieser  Art 
war,  während  auf  dem  Lande,  wo  eine  Stabilität  des  ganzen 
Verhältnisses  vorauszusehen  war,  sich  in  der  Regel  wenig  Anlass 
bot,  in  dieser  Richtung  in  der  Vertragsurkunde  eigens  Vorsorge 
zu  treffen. 


‘)  1262  Ennen  LL  309;  in  gewissem  Sinne  auch  1260  MR.  UB.  III  1092. 

*)  Dabei  war  oft  die  Somme  bestimmt,  die  auf  das  Out  zn  verwanden 
war,  z.  B.  1240  MR.  DB.  I1J  676;  1261  Ennen  II  420;  1294,  397. 

*)  z.  B.  1227  Ennen  II  106. 

*)».  B.  1234  Ennen  II  143;  1236  MR.  DB.  Hi  577;  1266  Wormser 
UB.  I 323;  in  anderer  Eorm  1263  Ennen  II  466,  wo  der  Beliehene  sieb 
binnen  Monatsfrist  erklären  muss,  ob  er  das  Haus  wieder  aufbauen  will, 
oder  auf  das  Erbrecht  verzichtet. 

5)  z.  B.  MR.  UB.  I 1055  recte  1236,  342;  1136,  484;  1152,  568;  1168, 
662;  II  1180,  39;  1200,  182;  1208,  239;  III  1218,  86;  1 267;  123;-!,  481;  1239, 
6Ö7;  1247,  930;  1256,  1291  u.  a. 

*)  z.  B.  1211  MR.  UB.  II  274. 


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Eine  andere  Verpflichtung,  die  im  Gegensätze  zur  eben  be- 
sprochenen mit  den  wirthschaftiichen  Verhältnissen  in  gar  keinem 
Zusammenhänge  steht,  wurde  nach  einzelnen  Leihebriefen  für 
den  Fall  des  Besitz  Wechsels  auf  das  Gut  gelegt,  in  der  Weise, 
dass  jeder  neue  Besitzer  zur  Zahlung  einer  Gebühr  verpflichtet 
war,  die  sich  unter  verschiedenen  Namen  wie  Vorhure  *,)  Gewerf  *), 
oder  auch  allgemein  vinicopium 3)  findet  und  am  ehesten  mit 
der  Lehnware  des  Lehenrechtes  oder  dem  laudemium  der  rö- 
mischen Emphyteuse  vergleichen  lässt.  Manchmal  traf  diese 
Abgabenpflicht  bei  jedem  Besitze  schlechthin  ein  4),  in  anderen 
Fällen  ist  dabei  nur  des  ErLganges  gedacht  *),  während  wieder 
andere  Male  nur  der  Rechtsübergang  durch  Vertrag  Er- 
wähnung findet  *),  oder  der  Erbe  einem  fremden  Erwerber  gegen 
Uber  nur  einer  geringeren  Abgabenpflicht  unterlag  ’).  Dass  eine 
solche  Gebühr  allgemein  gewesen  wäre,  ist  gewiss  nicht  zu  be- 
haupten *) ; nur  wird  man  annehmen  dürfen,  dass  die  Leihever- 
träge, je  näher  sie  den  analogen  Bildungen  des  Hof-  und  Lehen- 
rechtes stehen,  desto  häufiger  eine  derartige  Abmachung  enthalten, 
da  ja  diese  Gebühr  gerade  in  diesen  Rechtsgebieten  ursprünglich 
ihre  Heimat  hatte.  Und  namentlich  in  solchen  Fällen  *)  war  der 
neue  Erwerber  häufig  zur  Zahlung  einer  derartigen  Uebertraguugs 


')  t B.  1197  Knnen  1 111  (™Lac.  1 55«);  1220  Lac.  U 91. 

*)  t.  B.  1269  Lac.  II  692;  1299  Birnen  JU  48a 
*)  z.  B.  1181  Lac.  I 477;  1239  MH.  UB.  III  646. 

*)  z.  B.  1181  Lac.  I 477  mit  der  besonderen  Bestimmung,  dass  diese 
Gebühr  die  privilegirte  Stellung  des  Leibegutes  ausdrücke:  areas  privi- 
legiatas  et  acommnni  lege  reliquarum  domorum  agros  videlioet  non  haben- 
tium  penitus  exemtas;  1239  MH.  UB.  III  646;  1257  Knnen  II  374. 

«)  *.  B 1155  Lac.  I 386;  1239  Guden  II  p.  77;  V.  1253  p.  25;  1215 
MR  UB.  ID  32. 

*)  z.  B.  1295  Lao.  H 967. 

’)  z.  B.  1205  Knnen  II  18:  im  Krbgang  12  den.,  bei  Verkäufen  2 toi. 
*)  Urkk.,  in  denen  des  Verkauftrechtes  wenigstens  als  einer  Möglich- 
keit gedacht  wird,  und  die  gleichwohl  keine  Gebühr  erwähnen,  s.  B.  1168 
MR.  ÜB.  I 652;  II  1204,  221;  1238  Lac.  II  234.  — Urkk.,  in  denen 
die  Uebertragungsgebühr  besonders  ausgeschlossen  ist,  z.  B.  1187  MR  UB 
II  90.  Decrevimnt  etiam,  quod  absque  omni  mercedis  inpentione  feodum 
suum  snscipere  deberent;  1214  MR  UB.  UI  28;  1246,  847;  1258  Lac.  II  458 
*)  z.  B.  ? MR.  UB.  III  156  ; 1206  Quix  70.  — Trotz  der  vorgeschriebenen 
Investierung  von  keiner  Gebühr  die  Rede  1252  Knnen  U 309. 


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gebühr  verbunden,  in  denen  eine  besondere  Einweisung  durch 
den  Leiheherrn  fiir  den  Rechtserwerb  erforderlich  war.  ■) 

Im  allgemeinen  geht  diesbezüglich  im  ländlichen  Rechte  die  Ent- 
wickelung wohl  dahin,  dass,  je  mehr  der  Inhalt  der  Leihe  vertrage  von 
dem  gewöhnlichen  Rechtsinhalte  der  hofrechtlichen  Leihe  sich  ent- 
fernt, mit  anderen,  der  Letzteren  angehörigen  Belastungen  auch 
die  für  den  Erbgang  r.u  zahlende  Gebühr  verschwindet.  Da- 
gegen darf  man  für  die  Uebertragungsgebühr,  soferne  sie  bei 
einem  Besitz  Wechsel  auf  Grund  eines  Veräusserungsgeschäftea 
▼erlangt  wurde,  namentlich  für  das  städtische  Recht  im  allge- 
meinen annehmen,  dass  sie  in  dem  Masse  in  den  Vordergrund 
trat,  als  das  leiheherrliche  Eigenthumsrecht  und  speciell  der  leihe- 
herrliche Einfluss  bei  solchen  Uebertragungen  an  Inhalt  verlor, 
und  in  dem  durch  diese  Gebühr  erlangten  Einkommen  ein  Er- 
satz gesehen  und  gesucht  wurde  für  die  ehemals  lebenskräftige 
jetzt  verschwundene  Verfügungsgewalt.  ’) 

Vom  dogmatischen  Standpunkte  ist  zu  constatieren,  dass  auch 
bezüglich  all  dieser  neben  dem  Zinse  zu  nennenden  Verpflichtung 
des  Beliehenen,  wohl  die  gleiche  Art  der  Haftung  und  der  Er- 
zwingbarkeit  anzunehmen  ist,  wie  für  die  Hauptverbindlichkeit, 
den  Zins  selbst.  Die  Verpflichtung  zu  Kulturarbeiten  und  Bau- 
fUhrungen  zunächst  wird  in  den  Urkunden  fast  immer  unver- 
mittelt neben  der  Zinspflicht  genannt,  so  dass  man  wohl  ge- 
zwungen ist,  das  dort  Gütige  auch  hier  als  Regel  anzunehmen. 
Und  die  obigen  Ausführungen  über  die  Cautionen  haben  gezeigt, 
wie  sehr  man  auch  in  den  Füllen,  welche  besondere  Sicherheiten 
forderten,  bemüht  war,  auch  für  diese  weitergehenden  Ver- 
pflichtungen jenen  sachenrechtlichen  Hintergrund  zu  schaffen, 
der  dem  ganzen  Leiherechte  jener  Zeit  seinen  eigenthümlichen 
Character  gab. 

Was  ferner  die  Besitzeinweisungagebühr  anlangt,  die  der 
neue  Erwerber  an  den  Leiheherrn  zahlen  sollte,  also  die 
Leistung,  die  dafür  verlangt  wurde,  dass  ein  bisher  noch  nicht 
Besitzender  in  das  Nutzungsrecht  eingewiesen  werde,  dürfte, 
wenigstens  solange  das  leiheherrliche  Eigenthum  noch  lebens- 
kräftig bestand  und  nicht  zu  einem  Schatten  herabgesunken 
war,  ein  Zweifel  darüber  überhaupt  nicht  aufkommen  können, 

')  z.  B.  1216  HK.  UB.  III  32;  ? 156;  1239,  646;  1247,  930;  1245  Eonen 
II  244;  1252,  809;  1263,  Lac.  II  397. 

*)  vergl.  (Jobbers  a.  a.  O.  § 26. 


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dass  die  Verweigerung  einer  solchen  ausbedungenen  Leistung 
naturgemäss  in  der  Verweigerung  der  Besitzeinweisung  oder  in 
der  Entsetzung  aus  einem  ungehörig  erworbenen  Besitze  ihre 
Erwiderung  und  Sühne  finden  musste. 

Andere  ganz  vereinzelt  ausbedungene  Leistungen,  wie  z.  B. 
die  Gewährung  von  Proc.urationen  an  den  zum  Zinsempfang  oder 
zur  Inspicierung  des  Gutes  abgesendeten  leiheherrlichen  Boten, 
oder  die  Verpflichtung,  dem  Eigenthümer  im  Falle  der  Noth 
unentgeltliche  Unterkunft  zu  gewähren,  und  ähnliche  Detail- 
verabredungen, die  ab  und  zu  sich  finden,  können  hier  wegen 
ihrer  völlig  untergeordneten  Bedeutung  ausser  Acht  gelassen 
werden.  Dagegen  sollen  noch  mit  wenigen  Worten  diejenigen 
obligationenrechtlichen  Verhältnisse  berührt  werden,  die  nicht 
unmittelbar  aus  dem  Vertrags  willen  entsprungen,  sondern  als 
Reflexwirkungen  der  saehenrechtliohen  Befugnisse , als  Begleit- 
erscheinungen des  dinglichen  Rechtes  zu  bezeichnen  sind.  Freilich 
sind  auch  sie  von  äusserst  geringer  Bedeutung  und  dürften 
kaum  eine  nennenswerthe  Rolle  gespielt  haben.  Denn  es  ist 
nach  dem  vorstehend  über  die  Grundzüge  des  ganzen  Leihe- 
rechtes Gesagten  klar,  dass  die  hier  in  Betracht  zu  ziehende 
Frage  nach  Ersatzansprüchen,  die  für  den  Leiheherrn  etwa  wegen 
Verschlechterung  des  Leihegutes,  für  den  Beliehenen  wegen  dafür 
ausgelegten  und  verwendeten  Aufwandes  zur  Entstehung  kommen 
konnten,  auch  ganz  abgesehen  von  der  primitiven  Entwickelungs- 
stufe, auf  welcher  damals  das  Schadensersatzrecht  sich  befand, 
nur  in  den  seltensten  Fällen  actuell  werden  konnte.  Für  Guts- 
verschlechterung ist  in  der  Mehrzahl  der  Fälle  überhaupt  nicht 
vorgesehen  '),  sei  es,  dass  der  Leiheherr  ihrer  gar  nicht  gedachte, 
weil  ihm  mit  der  Erfüllung  der  Zinspflicht  Genüge  geschah,  sei 
es,  dass  eine  Deteriorierung  des  Gutes  nach  dessen  ursprünglichem 
jeder  Cultur  entbehrenden  Zustande  oder  bub  dem  Grunde  nicht 
zu  besorgen  war,  weil  des  Beliehenen  lebendigstes  Interesse  ihn 
zur  Pflege  und  zur  Verbesserung  des  geliehenen  Grundstückes 
hindrängte.  Wo  unter  den  Verhältnissen  des  einzelnen  Falles 
gleichwohl  eine  Gofahr  in  dieser  Richtung  zu  besorgen  war, 
wurde  dem  entweder  in  der  Begründung  der  Pflicht  zu  ge- 
höriger Cultivierung  oder  durch  Einführung  besonderer  Sicher- 
stellungsmittel  Rechnung  getragen.  Eine  allgemeine,  in  dem 
gewöhnlichen  Leihevertrage  als  solchem  — ohne  Rücksicht  auf 

')  vergl.  oben  S.  2ö. 


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specielle  Verabredungen  — gelegene  Ereatzpflicht  läset  eich  aue 
dem  vorliegenden  Urkundcntnateriale  nicht  erechlieseen. 

Noch  einfacher  wo  möglich  erledigt  sich  die  andere  Frage 
nach  Ersatzansprüchen  dee  Nutzungsberechtigten  oder  der  Seinigen 
für  Aufwände,  die  auf  das  Leihegut  verwendet  worden  sind  und 
ihm  zum  Vortheile  gereicht  haben.  Denn  bei  normalem  Verlaufe 
des  Leihe  Verhältnisses  kam  diese  Frage  der  Regel  nach  über- 
haupt gar  nicht  zur  Entstehung.  Das  Grundstück  und  die  darauf 
gelegte  Besserung  theilten,  wie  oben  ’)  schon  ausgeführt  wurde, 
das  gleiche  rechtliche  Schicksal.  Mit  dem  Erlöschen  des  Leihe- 
rechtes kam  das  Gut  mit  der  Besserung  in  des  Leiheherrn  un- 
beschränkte Verfügungsgewalt;  dass  dieser  eine  Entschädigung, 
eine  Ablösung  für  die  Meliorationen  zu  zahlen  hätte,  davon  ist 
wohl  nirgends  mit  einem  Worte  die  Rede.  Und  bei  der  Sach- 
lage, bei  der  es  zu  einer  solchen  Beendigung  des  Leihever- 
hältnisses  kam,  lag  dafür  auch  keine  Veranlassung  vor. 

Wenn  das  Leihegut  nach  dem  Aussterben  der  beliehenen 
Familie  an  den  Leiheherrn  zurückfiel,  dann  mochte  es  nämlich  in  der 
Regel  überhaupt  an  einem  Subjecte  fehlen,  welches  Ersatzan- 
sprüche erheben  konnte.  Zudem  lag  in  der  Gewährung  des 
Erbrechtes  in  der  Regel  eine  so  bedeutende  Begünstigung  für 
das  Haus  des  Beliehenen,  dass  es  nur  billig  erscheinen  musste, 
wenn  endlich  nach  dem  Aussterben  der  berechtigten  Personen 
der  Leiheherr  in  dem  Empfange  der  Besserung  auch  etwas  an 
dem  durch  seine  Gunst  ermöglichten  Vortheile  participierte.  Eine 
gleiche  rechtliche  Regelung  für  die  Fälle  des  strafweisen  Rechts- 
verlustes war  aber  gewiss  noch  weit  mehr  in  dem  Willen  und 
den  Intentionen  des  Cnntrahenten  gelegen,  gewährten  doch  in  vielen 
Fällen  gerade  die  Meliorationen  erst  die  genügende  Sicherheit 
für  den  Vertrag. 

Auch  die  Rechtsbücher  geben  einen  gewissen  Anhaltspunkt 
in  dieser  Richtung,  indem  namentlich  die  Bestimmungen  des 
Sachsenspiegels  *)  über  das  rechtliche  Schicksal  der  auf  Zins 
und  Lehengüter  errichteten  Baulichkeiten  wohl  für  beide  Rechts- 
gebiete in  gleicher  Weise  die  Annahmen  zu  rechtfertigen  scheinen, 
dass  bei  dem  Heimfall  die  Besserung  nicht  vergütet  wurde.  Die 
Festsetzungen  des  Sachsenspiegels  *),  welche  ausdrücklich  eine 
Verpflichtung  des  Herrn  zur  Ablösung  gewisser  Meliorationen, 

*)  «.  8.  36. 

*)  II  Art.  21  § 1 und  2,  vergl.  auch  oben  S.  6 insb.  Amn.  2. 

•)  II  Art.  53  s.  o.  8.  6. 


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80 


die  der  abziehende  Zinsmann  geschaffen  hatte,  statuierten,  gelten 
aber,  so  weit  sie  sich  überhaupt  auch  auf  Erbleihen  beziehen, 
unzweifelhaft  nur  von  dem  letzten  noch  möglichen  Falle  der 
Beendigung  eines  Leiheverhältnisses,  nämlich  dem  der  freien 
Vereinbarung  des  Leihcherrn  und  Beliehenen.  Hier  musste 
wohl  der  freie  Vertragswille,  der  das  Leiheverhältnis  auflöste, 
auch  die  auftauchenden  Ersatzfragen  erledigen,  ohne  dass  es 
dabei  zur  Ausbildung  einer  allgemeinen  Regel  gekommen  wäre. 
Darauf  finden  wir  auch  noch  in  den  späteren  rheinischen  Land- 
rechten einen  ziemlich  deutlichen  Hinweis  ,). 


Indem  hiermit  der  Kreis  der  bei  dem  Leiheverhältnisse  in 
Betracht  kommenden  Verpflichtungs Verhältnisse  ziemlich  erschöpft 
ist,  dürfte  deutlich  zu  Tage  getreten  sein,  dass  die  neben 
der  Zinspflicht  vorkommenden , secundären  Vertragsverbindlich- 
keiten dem  gleichen  rechtlichen  Grundgedanken  folgen,  wie 
er  oben  für  die  im  Zinse  liegende  Hauptverbindlichkeit  darge- 
stellt wurde.  Die  rechtliche  Ausgestaltung,  welche  die  einzelnen 
Verträge  bei  aller  Verschiedenheit  in  den  Details  erfahren 
haben,  erscheint,  die  Richtigkeit  der  obigen  Ausführungen  vor- 
ausgesetzt, möglichst  einfach  und  einheitlich.  Der  Bestand  des 
Leiheverhältnisses  war  schlechthin  an  die  gehörige  Erfüllung  der 
Vertrags  Verpflichtung  geknüpft  und  das  dem  Leiheherrn  ver- 
bleibende Eigenthum,  beziehungsweise  die  Möglichkeit  einer  Be- 
freiung desselben  von  den  es  eindämmenden  Schranken,  gab 
diesem  die  Mittel  für  die  Erzwingbarkeit  und  zugleich  für  die 
Realisierbarkeit  seiner  Ansprüche  gegenüber  jedem  in  die  Hand, 
der  als  Besitzer  des  Leihegutes  in  der  Erfüllung  seiner  Ver- 
pflichtungen säumig  war.  Dabei  bedurfte  es  keiner  complicierten 
juristischen  (Jonstruetion  dee  persönlichen  Verpflichtungs  Verhält- 
nisses in  dem  die  Gewährung  des  Nutzungsrechtes  von  den  verlangten 
Gegenleistungen  nicht  isoliert  wurde,  sondern  die  Erfüllung  der 
Zinspflicht  und  der  anderen  Vertragsverbindlichkeiten  dem  ge- 
währten Gebrauchsrechte  wirthschaftlich  als  Äquivalent,  zugleich 
aber  rechtlich  als  Bedingung  für  dessen  weitere  Dauer  gegen- 
überstand. Und  wenn  in  diesen  Punkten  die  vorwiegend  sachen- 
rechtliche Behandlung  des  Leiheverhältnisses  dem  Eigenthümer 
eine  Macht  in  die  Hände  spielte,  die  viel  einfacher  und  off 

')  vergl.  v.  d.  Nahm  er  a.  a.  O.  I S.  12,  422. 


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81 


wirksamer  als  irgend  welche  bei  gewöhnlichen  Verpflichtungen 
eingeräumte  Zwangsmittel  die  Befriedigung  seiner  Ansprüche 
sicherstellte,  so  galt  in  dem  Ausschlüsse  einer  Uber  die  in  den 
Leihevertrag  einbezogenen  Güter  hinausreichenden  Haftbarkeit 
das  gleiche  Princip  auch  dort,  wo  es  dem  Leiheherru  nicht  zum 
Vortheil  gereichte. 

So  ist  das  Erbleiherecht  auf  dieser  Stufe  seiner  Entwickelung 
nach  allen  wichtigen  Beziehungen  von  demselben  Rechtsgedanken 
beherrscht.  Es  ist  das  Eigenthum  des  Leiheherrn,  welches  seinen 
Ansprüchen  Erzwingbarkeit  verlieh  und  ihre  Durchsetzung  ver- 
bürgte, zugleich  aber  auch  die  Grenzen  für  die  leiheherrliche  Macht 
fixierte,  wie  überhaupt  jede  Ingerenz,  welche  dem  Leiheherrn  bei 
normalem  und  abnormalem  Verlaufe  des  Leiheverhältnisses  zu- 
stand,  in  letzter  Linie  auf  das  Eigenthun)  zurückzuführen  ist. 
Dieser  Grundgedanke  übte  sogar,  wie  bei  der  Besprechung  der 
Cautioncn  sich  zeigte,  über  den  ihm  eigentlich  unterworfenen  Rechts- 
kreis hinaus  einen  Einfluss  aus  auf  die  Art  der  Behandlung 
anderer  Rechtsverhältnisse  '). 

Es  bedarf  keines  besonderen  Hinweises  darauf,  das  diese 
einheitliche  und  einfache  Ausgestaltung  des  Rechtsinstitutes,  die 
wir  als  Ergebnis  unserer  Untersuchung  bezeichnen  können,  für 
die  Verhältnisse  der  damaligen  Zeit  völlig  angemessen  erscheint. 
Gerade  der  Vergleich  mit  dem,  was  eine  spätere,  reichere  Ent- 
wickelung (namentlich  auf  städtischem  Bodein)  aus  den  ursprüng- 
lich einfachen  Rechtsbildungen  gemacht,  der  Vergleich  mit  einer 
Form  rechtlicher  Ausgestaltung,  in  der  vieles  so  anders  geworden 
war,  dass  wir  den  ursprünglichen  Keim  und  damit  den  Schlüssel 
zur  Erklärung  mancher  Eigent  hümlichkeit  kaum  zu  finden  ver- 
mögen, und  in  der  wir  weder  Einfachheit  noch  Einheitlichkeit 
wieder  erkennen,  weist  mit  voller  Bestimmtheit  darauf  hin,  dass 
für  die  Zeiten,  die  wir  im  Auge  hatten,  das  Leiherecht  nicht 
über  eine  anfängliche  Stufe  seiner  Entwickelung  hinausgekommen 
war,  wie  sic  wohl  höchstens  auf  dem  Gebiete  des  conservativen 
ländlichen  Rechtes  von  Dauer  bleiben  konnte. 

Indessen  geben  gerade  diese  zuletzt  hervorgehobenen  Mo- 
mente, der  Hinweis  auf  die  einfache  und  einheitliche  rechtliche 
Ausgestaltung  und  auf  die  primitive  Entwickelungsstufe  unseres 


')  s.  o.  S.  7H  f. 

t>.  Srhirind,  Krbleilien.  ß 


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Leiherechtes  Anlass  zu  einigen  ergänzenden  und  einschränkenden 
Bemerkungen,  welche  naheliegende  Misversländnisse  nusschliessen 
sollen. 

Zunächst  wäre  es  irrig,  wollte  man  wegen  der  hier  dar- 
gelegten und  hervorgehobenen  Einheit  des  dem  Leiherechte  zu 
Grunde  liegenden  rechtlichen  Gedankens  eine  volle  Uniformität 
unter  den  einzelnen  Leihe  Verträgen  annehmen,  wollte  man  die 
Einheitlichkeit  des  Principes  im  Sinne  einer  Gleichheit  der  Einzel- 
abmachungen deuten.  Nichts  könnte  weniger  der  Wirklichkeit 
entsprechen.  Sind  ja  doch  die  Leiheverträge  ohne  die  äussere 
Directive  irgend  welcher  gesetzlicher  Normierungen  unmittelbar 
aus  dem  Leben  entstanden,  so  dass  sich  in  ihnen  die  ganze 
Mannigfaltigkeit  wiederspiegelt,  welche  das  Leben  und  seine  Be- 
dürfnisse auszeichnet,  weil  jeder  einzelne  Vertrag,  angepasst  den 
Verhältnissen,  aus  denen  er  entsprungen,  seine  eigene  individuelle 
rechtliche  Ausbildung  erhielt '). 

So  wird  das  als  Grundlage  des  Leiherechtes  behauptete  ein- 
heitliche Princip  in  seinem  Bestände  nicht  in  Frage  gestellt, 
wenn  in  einzelnen  solchen  Abmachungen  manches  anders  fest- 
gesetzt wurde,  als  es  nach  den  obigen  Ausführungen  im  allge- 
meinen gebräuchlich  war,  und  man  wird  auch  darin  keinen 
Widerspruch  erblicken , wenn  im  einzelnen  sich  Abweichungen 
von  den  Conscquenzen  finden,  die  aus  dem  allgemeinen  Grund- 
gedanken zu  folgern  wären.  Denn  fertig  und  unwandelbar  fest- 
stehende Rechtsgrundsätze,  wie  sie  sich  in  einem  legislativ  aus- 
gebildeten Rechtssysteme  finden  können,  Rechtsprincipien,  die 
mit  zwingender  Kraft  die  Lebensverhältnisse  in  ihren  rechtlichen 
Beziehungen  sich  unterwerfen  und  jede  Ausnahme,  jedes  Ab- 
weichen von  der  Regel  unmöglich  machen  können,  sind 
dem  auf  der  Grundlage  freier  Willensdispositioncn  sich  bil- 
denden Gewohnheitsrechte  in  seinem  Werdeprocesse  überhaupt 
vollkommen  fremd.  Und  wenn  das  Ergebnis  unserer  Unter- 
suchung dahin  führte,  festzustellen,  dass  die  grosse  Mehrzahl 
der  Leiheverträge  auf  Grund  desselben  Rechtsgedankens  ihre 
rechtliche  Ausgestaltung  gewonnen  haben,  obwohl  kein  zwin- 
gendes Gesetz,  keine  Vorschrift  materiellen  oder  formellen  In- 
haltes eine  solche  Gleichmässigkeit  verursacht  haben,  dann  sind 


*)  Dabei  ist  freilich  zuzugeben,  dass  das  Vorhandensein  von  mehr  oder 
weniger  allgemein  gebräuchlichen  Vertragsformularen  manches  von  dieser 
Ursprünglichkeit  verdrängen  konnte. 


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wir  wohl  berechtigt,  diesem  Grundgedanken,  ungeachtet  ein- 
zelner Ausnahmen,  principielle  Bedeutung  zuzuerkennen. 

Wichtiger  indes  als  das  eben  Gesagte  sind  die  Ueber- 
legungen  historischer  Art,  zu  welchen  die  obigen  Andeutungen 
über  den  eine  anfängliche  Entwickelungsstufe  kennzeichnenden 
Character  unserer  Leiheverträge  Anlass  geben.  Denn  so  sicher 
es  fest  steht,  dass  die  freie  Erbleihe,  wie  sie  eben  geschildert 
wurde,  eine  vorwiegend  erst  dem  12.  Jahrhunderte  angehörige  neue 
Rechtsbildung  ist,  die  sich  früher  so  nicht  findet,  so  gewiss  ist 
es  demgegenüber,  wie  schon  in  der  Einleitung  hervorgehoben 
wurde,  dass  sich  .Landleihen  auf  deutschem  Boden  bis  auf  die 
ältesten  Zeiten  zurück  nachweisen  lassen,  und  so  irrig  wäre  es, 
wollte  man  annehmen , dass  die  dem  neuen  Leiherechte  zu 
Grunde  liegenden  ßechtsgedanken  dem  älteren  deutschen  Rechte 
völlig  unbekannt  gewesen  wären.  Einer  solchen  Vermuthung 
Hesse  sich  sogar  der  Satz  entgegenstcllen,  dass  kein  Bestandtheil 
des  positiven  Rcchtsinhaltes  der  neuen  Leiheform  genannt  werden 
könnte,  der  in  den  verschiedenen  Formen  der  älteren  Leihe 
sich  nicht  gleichfalls  fände,  oder  nicht  wenigstens  sein  Vorbild 
und  die  Wurzel  für  seine  Entstehung  im  älteren  Rechte  zu 
suchen  hätte.  Wenn  nun  auf  diese  Art  der  characteristische 
Inhalt  für  die  hier  besprochene  Leiheform  darin  bestehen  muss, 
dass  gerade  die  oben  ausgeführten  rechtlichen  Momente  sich  bei- 
sammen finden,  und  dass  in  ihnen  der  rechtliche  Gehalt  der  Leihe- 
verträge sich  erschöpft,  so  ist  damit  schon  zur  Genüge  begründet, 
dass  ein  volles  Verständnis  des  neuen  Erbleiherechtes  ohne  Be- 
rücksichtigung des  historischen  Hintergrundes  und  die  Art  seiner 
Entstehung  überhaupt  nicht  zu  erreichen  ist.  Diese  historische 
Untersuchung  soll  im  folgenden  Abschnitte  versucht  werden. 


Historischer  Theil. 

Das  Verhältnis  zu  den  verwandten  älteren  und 
gleichzeitigen  Laudleihen. 

Die  bisherigen  Ausführungen  haben  sich  darauf  beschränkt, 
den  rechtlichen  Inhalt  der  untersuchten  Landleiheform  in  vor- 
wiegend dogmatischer  Weise  festzustellen.  Es  galt  zunächst 
zur  Gewinnung  einer  festen  Grundlage  für  weitere  vergleichende 

6* 


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und  ergänzende  Untersuchungen,  klarzulegen,  welche  rechtlichen 
Momente  nach  den  uns  über  das  fragliche  Institut  unmittelbar 
erhaltenen  Verbriefungen  als  dessen  wesentlichen  und  typischen 
Merkmale  anzusehcn  seien.  Historische  Abschweifungen,  eine 
Rundschau  auf  die  gleichzeitigen  analogen  Rcchtsbildungen 
wurden  im  allgemeinen  vermieden,  um  eine  Trübung  der  Ergeb- 
nisse durch  vielleicht  unberechtigte  Übertragungen  anderwärts 
geltender  Grundsätze  nach  Thunlichkeit  hintanzuhalten.  Liegt  in 
dieser  engen  Begrenzung  des  der  Untersuchung  zu  Grunde  gelegten 
Materiales  die  gewiss  nicht  abzuleugnende  Gefahr  einer  möglichen 
Einseitigkeit  und  Un  Vollständigkeit  der  gewonnenen  Resultate,  so  ist 
doch  auf  der  anderen  Seite  nicht  zu  übersehen,  dass  selbst  in  Zeiten, 
in  denen  die  Beurkundungen  sich  nicht  durch  übergrosse  Genauig- 
keit auszeichneten,  die  wesentlichen  und  characteristischen  Ver- 
tragsbestimmungen in  den  Vertragsaufzeichnungen  zum  Ausdrucke 
gelangt  sein  dürften,  und  dass  demnach  — mögen  andere  Details 
des  Vertragsinhaltes  als  selbstverständlich  oder  aus  Übersehen 
vernachlässigt  worden  sein  — aus  einer  grösseren  Anzahl  von 
Urkunden  die  prägnanten  Momente  immerhin  zu  gewinnen  sein 
dürften. 

Wenn  nun  im  folgenden  der  Versuch  unternommen  werden 
soll,  das  bisher  Gewonnene  aus  seiner  isolierten  Stellung  in  die 
ihm  gebührende  historische  Umrahmung  zu  bringen,  so  dass 
daun  das  Einzelne  nicht  mehr  als  losgerissenes  Glied,  sondern 
als  Theil  eines  einheitlichen  Ganzen  erscheinen  kann,  so  lasst 
sich  aus  einer  solchen  rechtsgeschichtlichen  Untersuchung  in 
zweifacher  Richtung  ein  Gewinn  erhoffen:  Zunächst  in  dogma- 
tischer Beziehung,  indem  möglicherweise  der  Inhalt  unseres  Rechts- 
institutes durch  Vergleichung  mit  verwandten  Rechtsgebilden 
manche  Ergänzung,  in  der  Gegenüberstellung  mit  anders  gearteten 
dort  und  da  eine  schärfere  Abgrenzung  erfahren  kann;  dann  in 
Rücksicht  auf  die  rechtsgeschichtliche  Continuität,  insoferne  das 
geschichtlich  Vorangehende  und  parallel  Laufende  einen  inneren 
Zusammenhang  mit  dem  Neuentstaudenen  aufweisen  knnu. 


Für  eine  solche  rcchtsgeschichtlichc  Vergleichung  möchte 
man  zunächst  vielleicht  geneigt  sein,  das  ulte  freie  Leihe- 
verhältnis,  das  als  Precarie  in  den  verschiedensten  Formen 
zur  Anwendung  kam,  als  möglichen  Vorläufer  der  späteren 


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85 


Leihen  in  den  Kreis  des  Betrachtung  zu  ziehen.  Denn  unter 
den  mannigfaltigen  Ausgestaltungen,  zu  denen  die  Precarien  in 
den  weiten  deutschen  Landen  kamen '),  stehen  manche  ihrem 
Rechtsinhalte  nach  den  hier  besprochenen  Landleihen  ziemlich 
nahe.  Gleichwohl  lässt  sich  leicht  und  mit  aller  Bestimmtheit 
nachweisen,  dass  für  die  hier  besprochenen  Gegenden  am  Rheine 
jede  Möglichkeit  fehlt,  einen  inneren  oder  äusseren  Zusammenhang 
zwischen  beiden  Leiheformen  aufzufinden  *). 

Es  ist  in  dieser  Beziehung  noch  weniger  entscheidend,  dass 
zeitlich  eine  rechte  Continuität  zwischen  den  späteren  sog.  freien 
und  den  älteren  precarischen  Leihen  fehlt,  indem  das  erhaltene 
Urkundenmaterial  die  Annahme  aussehliesst,  dass  beide  .Formen 
durch  eine  Periode,  die  sich  als  Übergangszeit  kennzeichnen 
würde,  neben  einander  bestanden  hätten,  vielmehr  die  Precarei- 
verträge  schon  zu  einer  Zeit  selten  werden  und  aussterben,  in 
der  das  neue  Rechtsintitut  noch  kaum  in  den  ersten  Anfängen 
zu  erweisen  ist. 

Mächtiger  fällt  der  weitere  Umstand  in  die  Wage,  dass  dem 
rechtlichen  Inhalte  der  Prec.areiverträge,  wie  er  seit  den  Anfängen 
des  10.  Jahrhunderts  mit  grosser  innerer  Constanz  gebräuchlich 
wurde,  jede  Beziehung  zu  den  Elementen  des  späteren  Leihe- 
rechtes fehlt.  Denn  fast  ausnahmslos  finden  sich  dort  Precarien, 
die  als  characteristische  und  ungetrübte  Fälle  der  precaria  remu- 
neratoria im  Sinne  der  heutigen  Rechtssprache  sich  darstellen. 
Eis  waren  in  der  Regel  einzelne  freie  Leute  und  Besitzer  von 
Grundstücken,  nicht  selten  geistliche  Würdenträger,  die  sich 
an  ein  Stift  oder  Kloster  oder  sonst  eine  geistliche  Corporation 
mit  der  Bitte  wendeten,  einen  Precareivertrag  eingehen  zu  dürfen. 
Sie  überliessen  sodann  mit  allem  für  die  Investitur  vorge- 
schriebenen Ceremoniell  einen  Thcil  oder  all  ihre  liegenden 
Güter  dem  geistlichen  Hause , das  seinerseits  dem  Precaristen 
gewisse  Grundstücke  an  wies,  ea  scilicet  ratione,  wie  sich 
z.  B.  eine  solche  Urkunde8)  ausdrückt,  ut  usque  ad  terminum 
vite  mee  et  quod  dedi  et  quod  accepi  sccundum  precarium  ins 
absque  ullius  contradictione  possideam,  post  obitum  vero  meum 
utraque  cum  omni  integritate  ad  predictum  coenobium  redeant. 


*)  vergl.  oben  Einleitung  S.  2. 

*)  vergl.  auch  Lampreoht,  D.  W.  L.  1 2 S.  891  ff. 
*)  975  MK.  UB.  I 215. 


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Der  Regel  nach  waren  hier  diese  Precarien  auf  Lebens- 
dauer des  Beliehenen ')  und  nur  ausnahmsweise  auch  für  eine 
nachfolgende  Generation’)  abgeschlossen;  wirkliche  Erblichkeit 
scheint  dagegen  den  rheinländischen  Precarien  fremd  geblieben 
zu  sein.  Ebenso  ist  gewöhnlich  von  einem  Zinse  keine  Rede, 
und  unter  den  wenigen  Fällen,  die  einen  solchen  erwähnen,  wird 
er  meist  als  eine  Zahlung  genannt,  die  der  Precarist  in  Er- 
weiterung der  von  dem  Grundherrn  gewährten  Concessionen  erhält*), 
erscheint  somit  als  ein  Zins  recht,  nicht  eine  Zinspflicht  des 
Beliehenen.  Man  wird  daher  nicht  Unrecht  thun  zu  behaupten, 
dass  gerade  die  beiden  das  Erbleiherecht  beherrschenden  charac- 
teristischen  Bestimmungen,  Erblichkeit  des  Rechtes  und  Zins- 
pflicht des  Besitzers,  in  den  hier  in  Betracht  kommenden  Pre- 
carienverträgen  vollends  fehlen.  Berücksichtigt  man  hiezu,  was 
Lamprecht4)  hervorhebt , dass  der  Kreis  der  Personen *), 
welche  Precarien  eingiengen,  den  höherstehenden  Volksschichten 
angehörte,  Volksschichten,  die  sich  des  Besitzes  grösserer  Güter 
zu  erfreuen  hatten,  während  die  Leiheverträge,  wie  oben  an- 
gedeutet, meist  den  ärmeren  Klassen  zu  Gute  kamen,  und  dass 
die  wirtschaftliche  Function  der  beiden  Leihen  eine  völlig  ver- 
schiedene war,  so  dürfte  bei  der  Verschiedenheit  der  Zeit,  in 
der  sie  nachweisbar  sind,  ihres  rechtlichen  Inhaltes,  sowie  ihres 
Anwendungsgebietes  und  öconomischen  Zweckes  die  Annahme 
eines  inneren  Zusammenhanges  zwischen  beiden  wohl  jeder 
Begründung  entbehren. 

Anders  steht  es  mit  denjenigen  Leiheformen,  die  im  Kreise 
des  Wirthsehaftsbetriebes  namentlich  der  grösseren  Grundbesitzer 
zur  Entstehung  gelangten  und  bald  nuch  den  gewöhnlichen 
Grundsätzen  des  Hofrechtes,  bald  in  Anlehnung  an  lehenrechtliche 
Gebräuche  ihre  Regelung  fanden.  Hier  überall,  wie  bei  den  oben 
geschilderten  freien  Erbleihcverhältnissen,  galt  es  die  Lösung  des 
gleichen  wirtschaftlichen  Problemcs  der  indirecten  Verwertung 


>)  z.  B.  MR.  UB.  1 948—950,  190  ; 964,  219;  967,  228  ; 971,  235;  975, 
245;  996,  273;  1041,  315;  ?,  324. 

»)  z.  B.  MR  UB.  I 1062,  338;  wobl  auch  c.  948,  186. 

*)  MR.  UB,  I 996,  273;  1041,  315;  ?,  324. 

*)  D.W.L.  I,  2.  S.  898  f. 

s)  z.  B.  MR  UB.  1 948—950,  190  vir  iugenuus;  967,  228  Chorbischof; 
975,  245  Archidiakon;  996,  273  domna  Bertha;  324  ein  Graf  etc. 


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eines  herrschaftlichen  Grundstückes,  das  nicht  in  unmittelbarer 
Benutzung  und  Bewirtschaftung  des  Herrnhofes  stand,  dessen 
Bebauung  und  Nutzung  vielmehr  irgend  welchen  Angehörigen 
der  Gutsherrschaft  überlassen  wurde. 

Es  ist  bekannt,  dass  innerhalb  des  weiten  Kreises  der  Hof- 
verbände, wie  solche  bei  dem  grossen  Grundbesitze  der  geist- 
lichen und  weltlichen  Herrn  zur  Ausgestaltung  kamen,  sich  Ele- 
mente aus  den  verschiedensten  Stauden  und  socialen  Schichten 
zusammenfandeu.  Neben  Unfreien,  die  in  dem  Verhältnisse  der 
strengsten  Abhängigkeit  zu  jedem  Dienste  bereit  sein  mussten, 
den  ihnen  des  Herrn  Befehl  und  Laune  zuwies,  wieder  andere, 
deren  LeistungspHicht  auf  ein  bestimmtes  Mass  beschränkt  war, 
und  denen  oft  sogar  ein  mehr  oder  minder  weit  reichendes  Be- 
sitz- und  Nutzungsrecht  an  einem  Stücke  Grund  und  Bodens, 
jenem  wichtigsten  Erwerbsquell  der  damaligen  Zeit,  einge- 
räumt war.  Unter  ihnen  werden  oft  mit  besonderem  Rechte 
genannt  Ministerialen  und  andere,  die  durch  die  Gunst  des  Herrn 
zu  einer  Sonderstellung  gegenüber  den  Genossen  gelangt  waren; 
daneben  wieder  einstmals  Freie,  die  unter  gewissen  Bedingungen 
eich  der  Freiheit  entäussert  und  sich  nur  Besitz  und  Nutzung  an 
der  ehemals  eigenen  Hufe  in  dieser  oder  jener  Form  für  sich 
oder  auch  für  die  Nachkommenschaft  Vorbehalten  hatten,  als 
sie  in  das  Gewaltverhältnis  eingetreten  waren;  dann  wieder 
Freigelassene . die  — ursprünglich  vielleicht  in  grösserer 
Abhängigkeit  — mit  der  Freiheit  ein  Mehr-  oder  Mindermass 
von  Rechten  für  ihre  Person  wie  für  ihr  Vermögen  erlangt  hatten; 
endlich  wirklich  Freie,  die  nur  in  ein  Schutzverhältnis  zu  dem 
Herrn  getreten  waren,  ihm  ihr  Gut  gegen  Rückverleihung  unter 
mannigfachen  Bedingungen  aufgetragen  hatten,  und  dann  im 
weiteren  Verlaufe  der  Zeiten  bei  dem  Übergang  von  einer  Ge- 
neration zur  anderen  bald  mehr  bald  weniger  von  den  alten 
Freiheiten  und  Rechten  an  die  grosse  Grundherrschaft  verloren 
oder  für  sich  erhalten  haben. 

Dieses  gewiss  schon  hinreichend  bunte  Bild  erfuhr  noch 
weitere  Nuancierungen  und  Abstufungen  durch  die  Verschieden- 
heiten, welche  die  wirtschaftlichen  wie  die  rechtlichen  Beziehungen 
des  Einzelnen  zu  seinem  Herrnhofe  und  dessen  Verwaltungs- 
organen mit  sich  brachte.  Wie  die  grundherrschaftliche  Gutsver- 
waltung  die  wirthschaftlichen  Kräfte  der  ihr  ungehörigen  Glieder 
sich  zu  Nutzen  machte  und  ihrem  Organismus  einfügte  oder  unter- 
stellte, ob  der  Einzelne  in  unmittelbare  Beziehung  zum  Salhofe 


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und  dessen  centralen  Verwaltungsorganen  gebracht,  oder  ob  er 
einem  nahen  oder  entfernten  Meierhofe  und  Meieramte  zugewiesen 
wurde,  oder  ob  andererseits  der  einzelnen  Individualität  ihre 
volle  wirtschaftliche  Selbstständigkeit  belassen  wurde,  all  die« 
sind  Fragen,  die,  ihrer  Natur  nach  zunächst  öconomischer  Art,  in 
ihren  Wirkungen  auch  auf  dem  Gebiete  des  Rechtes  für  den 
Betroffenen  von  grosser,  oft  von  der  einschneidensten  Bedeutung 
sein  konnten. 

Unmittelbar  die  rechtliche  Stellung  betraf  wieder  die  Be- 
ziehung zu  den  verschiedenen  innerhalb  der  Herrschaft  ausge- 
bildeten Gerichten  und  gerichtlichen  Gewalten,  die  im  Laufe 
der  Jahrhunderte  sich  entwickelt  hatten.  Ursprünglich  entstanden 
aus  der  Disciplinargewalt  über  die  Unfreien  hatte  das  Hofgericht 
in  seinen  verschiedenen  Anwendungen  einen  immer  grösser 
werdenden  Competenzkreis  in  sachlicher  und  persönlicher  Be- 
ziehung sich  errungen.  Das  rechtliche  und  wirtschaftliche 
Abhängigkeitsverhältnis , in  dem  die  verschiedenen  Glieder 
des  Gutsverbandes  standen,  war  natürlich  auch  ausschlag- 
gebend für  die  Art  der  concreten  Entwickelung.  Die  ent- 
scheidensten  und  vielleicht  am  tiefsten  empfundenen  Fragen 
giengen  darauf  hinaus,  ob  der  Hofnngehörige  der  vogtei- 
lichen  Gerichtsbarkeit  am  einzelnen  Meierhofe  oder  unmittelbar 
der  herrschaftlichen  Gerichtsbarkeit  des  Gutsherrn  unterstand, 
(ob  er  bei  dem  einen  oder  dem  anderen  dingpflichtig  war),  oder 
ob  ihm  gar  jede  Beziehung  zu  dem  herrschaftlichen  Gerichte  fehlte, 
und  das  Landgericht  des  Grafen  für  ihn  das  ausschliesslich  com- 
petente  Gericht  blieb.  Wollte  man  ausserdem  noch  all  der 
Specialgerichte  gedenken,  die  innerhalb  der  Gutsherrschaften  zur 
Entstehung  kommen  konnten,  und  noch  betonen,  dass  auch  lehen- 
rechtliche Elemente  unter  Umständen  hier  zu  Einfluss  gelangt 
sind,  so  würde  darin  der  Hinweis  auf  weitere  mögliche  Compli- 
cationen  enthalten  sein. 

Indes  wird  auch  schon  das  bisher  Gesagte  geeignet  sein,  eine 
Vorstellung  zu  geben  von  der  unerschöpflichen  Mannigfaltigkeit 
der  rechtlichen  und  factischcn  Verhältnisse,  die  in  einer  solchen 
Gutsherrschaft  sich  beisammen  finden  konnten,  zumal  wenn  man 
bedenkt,  dass  die  Verschiedenheiten  persönlicher,  wirtschaft- 
licher und  gerichtlicher  Art,  die  hier  nach  dem  Scheidungs- 
grunde gesondert  aufgeführt  wurden , im  Leben  sich  gegen- 
seitig durchdrungen  haben,  und  dass  die  einzelnen  hier 
genannten  Momente  doch  nur  die  wichtigsten  Abstufungen 


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aus  einer  grösseren  Reihe  bedeuten , innerhalb  deren  die  in- 
dividuelle Willkür  und  zufällige  Beeinflussungen  von  Gau  zu 
Gau  und  von  Hof  zu  Hof  den  Grund  für  eine  weitere  Viel- 
gestaltigkeit abgeben  konnte. 

Es  liegt  völlig  abseits  von  dem  Zwecke  und  der  Absicht 
der  vorliegenden  Untersuchung,  den  Einzelheiten  nachzugehen, 
die  innerhalb  eines  aus  so  vielerlei  Elementen  gebildeten,  von 
Verschiedenheiten  so  vielfacher  Art  durchdrungenen  Organismus 
entstanden  und  oft  bis  zu  einer  kaum  mehr  entwirrbaren 
chaotischen  Gestaltung  gelangt  sind. 

Der  Grund,  warum  hier  auf  diese  Verhältnisse  hingewiesen, 
und  warum  des  Vorhandenseins  dieser  Oomplicationen  überhaupt 
gedacht  wurde,  liegt  vielmehr  ausschliesslich  darin,  dass  in  dem 
so  gestalteten  Wirthschaftssysteme  eine  reiche  Fülle  von  Land- 
leihcn  ins  Leben  traten,  die  mit  den  früher  besprochenen  in 
vieler  Beziehung  verwandt  sind  und  übereinstimmen,  und  die 
ihrerseits  durch  die  oben  geschilderten  persönlichen  und  recht- 
lichen Verhältnisse  des  Wirthschaftsverbandes  um  so  wesentlicher 
mit  bestimmt  wurden,  als  die  uns  heutzutage  geläufige  Scheidung  von 
persönlichem  und  Vermögensrecht,  von  öffentlichrechtlicher  und 
privatrechtlicher  Gewalt  der  damaligen  Zeit  vielfach  nicht 
zum  Bewusstsein  gekommen  war,  und  allüberall  Elemente 
der  genannten  verschiedenen  Rechtsgebiete  sich  beisammen 
gefunden  und  durchdningen  haben. 

Die  unterste  und  am  schlechtesten  gestellte  Klasse  der 
Hörigen,  die  als  Dienerschaft  für  den  täglichen  Dienst  im 
Herrenhause  zu  sorgen  hatten  oder  als  Tagewerker  auf  dem 
Felde  verwendet  wurden,  konnten  sich  freilich  eines  Grundbesitzes 
nicht  erfreuen.  Aber  es  lag  in  den  Verhältnissen  einer  fast  aus- 
schliesslich der  Landwirtschaft  zugewendeten  volkswirtschaft- 
lichen Periode,  dass  eine  möglichst  grosse  Zahl  der  einem  Herren- 
hofe unterstehenden  Leute  in  diesem  Productionsgebiete  ihre  Ver- 
wendung finden  mussten.  Frühzeitig  war  die  Form  dafür,  soferne 
nicht  der  unmittelbar  herrschaftliche  Betrieb  im  Sallande  anderes 
verlangte,  die  Überlassung  eines  Grundstückes  an  Eigenleute  zu 
mehr  oder  weniger  selbstständiger  Pflege  desselben.  Dieses 
ursprünglich  vielleicht  rein  factische  Verhältnis,  das  wenigstens 
äusserlich  als  Leihe  erschien,  kam  später  häufig  zu  einer 
Art  rechtlicher  Bedeutung.  Die  Besitzeinräumung,  anfänglich 
höchst  preeärer  Natur  und  in  Dauer  und  Umfang  abhängig  von 
dem  Belieben  des  Herrn,  wurde  dem  Beliehenen  bald  bleibend,  auf 


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Lebensdauer  oder  auch  darüber  hinaus,  zugesichert,  und 
das  Maas  der  Gegenleistungen  und  Verpflichtungen,  welche 
dieser  dem  Herrn  schuldete,  wurde  von  früherer  Unbe- 
schränkthcit  in  gewisse  feststehende  Grenzen  eingedämmt,  die 
einzuhalten  der  Herr  freilich  durch  keine  äussere  zwingende 
Macht,  wohl  aber  durch  sein  inneres  Rechtlichkeitsgefühl  und 
vielfach  auch  durch  die  Gebote  bestimmt  wurde,  welche  ihm  die 
Wahrung  seiner  eigenen  Interessen  auferlegte. 

In  den  Verhältnissen  dieser  Art  überwiegt  unzweifelhaft 
gemäss  der  rechtlichen  Stellung  des  Herrn  zu  seinen  Hörigen 
in  allem  und  jedem  das  herrschaftliche  Gewalt  Verhältnis ; dem 
entspricht  es  auch,  dass  die  Besitzer  solcher  Hufen  im  Verhält- 
nisse zu  anderen  Zinspflichtigen  oft  mit  besonders  weit  reichenden 
persönlichen  Pflichten  belastet  erscheinen ').  Die  den  Hörigen 
gemachten  Concessioncn  sind  vielfach  mehr  factiecher  als 
streng  rechtlicher  Art;  zum  mindesten  liegt  in  ihnen  mehr 
eine  Selbstbeschränkung,  die  sich  der  Herr  selbst  auferlegt  hat, 
als  eine  gegenseitige  Abmachung  nach  Art  eines  Vertrages. 
Aber  trotz  dieses  Übergewichtes  der  herrschaftlichen  Rechte 
lässt  sich  uicht  selten  eine  relativ  günstige  Lage  für  solche  Hö- 
rige urkundlich  nachweisen,  so  selten  auch  in  jenen  Zeiten  ein 
Anlass  zur  Aufzeichnung  dieser  Rechtsverhältnisse  vorhanden 
gewesen  sein  mag.  Eine  Urkunde  des  Mainzer  Erzbischöfe* 
von  1074  lässt  z.  B.  schliessen,  dass  eine  ganze  Gruppe  unter 
seinen  Hörigen , die  er  als  die  bcstgestellte  bezeichnet,  die 
Güter  auf  die  im  Hofverbande  bleibenden  Söhne  vererben 
konnte*).  Zahlreiche  Urkunden*)  namentlich  aus  dem  Wetz- 

')  vgl.  ■>..  B.  in  dem  Güterverzeichnisse  des  Stiftes  zu  Carden  J1R  ÜB. 
1 4m)  die  Gegenüberstellung  von  mansus  centum  residentes  and  mansus 
servitiales,  qui  multiplici  iure  curti  subserviunt,  oder  Urk.  1176 
Lao.  I 457,  wo  ursprünglich  zwei  Dritttheile  des  Frucbtertrages  für  die  Guts- 
herrschaft in  Anspruch  geuomuien  wurden,  u.  a. 

*)  MR.  UB.  I 374  . . . id  ius  in  serviendo  ccinecssum  est,  quod  Opti- 
mum ecclesiae  nostrae  servieutes  habent.  Bonaautem  eorum  illis  morien- 
tibus  ad  filios  suos,  qui  nostre  ecclesie  sunt,  pertineant. 

*)  z.  B.  1192 — 1210  ME.  UB.  II  208  nt  inhabitarent  in  domo  illa 
quam  diu  viverent,  uon  sicut  heredes,  sed  sicut  coloni  (dabei  ist  in 
concreto  von  Freien  die  Rede);  1238  Gudenus  V pag.  5;  1252  MR  UB.  III 
1138,  wo  die  Neuverleihung  an  die  Erben  sogar  in  Aussicht  gestellt  ist. 
Der  Beliehenc  ist  als  Färber  bezeichnet,  gehört  also  kaum  der  untersten 
socialen  Schichte  an;  1253  Gud.  V p.  26  etc.  etc.;  vergl.  auch  aus  älterer 
Zeit  die  Triersche  Urkunde  1097  MH.  UB.  I 393,  die  von  einem  erblichen 
Rechte  der  mcrcennarii  (nach  Lamprecht  mansionarii)  am  Sallandu  spricht 


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larer  Gebiete  zeigen  die  dortigen  Colonen  in  einem  wenigstens  auf 
Lebenszeit  gesichertem  Besitze,  und  vereinzelt  finden  sich  sogar 
Bestimmungen,  welche  den  Hofgenossen  wenigstens  innerhalb 
des  herrschaftlichen  Machtkreises  eine  nahezu  unbeschränkte 
Dispositionsgewalt  einräumen '). 

Von  grösserem  Interesse  speciell  für  unsere  Fragen  sind  in- 
des die  Landleilien,  in  denen  als  Beliehene  Angehörige  jenes 
grossen  in  sich  die  verschiedensten  Elemente  umfassenden  und 
nach  aussen  vielleicht  nicht  ganz  strenge  abzugrenzenden  Mittel- 
standes auftreten,  jenes  Standes,  in  welchem  geminderte  Freiheit 
und  erleichterte  Unfreiheit  sich  zusammcnfanden  und  vermischten, 
und  der  immer  noch  durch  Freilassung  schlechter  Gestellter  und 
Ergebungen  ursprünglich  Freier  seine  stete  Erweiterung  erfuhr. 
Manche  Bevorzugungen,  die  zunächst  nur  Freien  zu  theil  wurden, 
fanden  Anwendung  auf  die  zu  besserem  Hechte  gelangten  Unfreien 
und  trugen  bei  zur  Hebung  und  Verbesserung  ihrer  Lage,  und 
umgekehrt  wurden  Grundsätze,  die  zunächst  in  Anwendung  auf 
Hörige  ihre  Berechtigung  hatten,  auf  ursprünglich  freie  Leute 
übertragen.  So  entwickelte  sich  häufig  auch  über  diese  aus  dem 
einstigen  Munt-  oder  Vogtei  Verhältnisse  eine  gewisse  herrschaft- 
liche Gewalt  und  Machtbefugnis,  die  im  einzelnen  sehr  verschiedenen 
Inhalt  und  Umfang  haben  konnte,  aber  doch  nicht  bis  zur  völligen 
Unterdrückung  der  rechtlichen  Persönlichkeit  der  Censualen 
reichte.  Hierfür  mag  mit  bestimmend  gewesen  sein,  dass  so  viele 
Glieder  dieses  Standes  bei  ihrem  Eintritte  freie  Volksgenossen 
gewesen  sind,  die  als  solche  befähigt  waren,  durch  vertrags- 
mässige  Vereinbarung  ihr  und  ihrer  Nachkommen  rechtliches 
Schicksal  festzustellen,  und  die  sich  vertragsmäseig  ein  gewisses 
Maas  von  Rechten  und  einen  Rest  der  im  übrigen  geopferten 
Freiheit  Vorbehalten  konnten. 

Diese  Mischung  von  persönlicher  Abhängigkeit  und  selbst- 
ständigem Rechte  gegenüber  der  Herrschaft  drückt  sich  vielleicht 
nirgends  deutlicher  aus  als  in  den  Urkunden  über  solche  im 


')  z.  ß.  in  der  freilich  viel  älteren  Urkunde  MR.  L'ß.  I 230  von  lJ6ö-  975, 
welche  den  hominibus  scilicet  famulis  e.  Petri  den  Güterbesitz  bestätigt  und 

bestimmt  ...  ut sine  interdictu  omnium  successorum  nostrorum 

feliciter  teneant,  fortuna  volente  jiossideant  fauste  succossoribus  suis 
quandoque  relinquaut  et  liberam  habeant  po  testet  cm  de  pracdictis 
praediis  inter  se  donandi  veudendi  commutandi. 


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Herrschaft 8 verbände  der  grossen  Grundbesitzer  abgeschlossene 
Leiheverträge.  Auf  der  einen  Seite  die  Einräumung  eines 
dauernden  weitgehenden  Rechtes  an  dein  geliehenen  Gute,  das 
wie  unten  des  näheren  ausgeführt  werden  soll,  oft  fast  mit  den- 
selben Rechten  und  Pflichten,  wie  sie  im  freien  Leiherechte  üb- 
lich waren,  den  Angehörigen  der  Grundhorrschaft  überlassen 
wurden;  und  demgegenüber  neben  der  Zinspflicht  als  einer  An- 
gabe rein  vermögensreclitlicher  Natur  die  Verpflichtung  zu  ver- 
schiedenen anderen  Gebühren  und  Leistungen,  die  oft  einen  un- 
freien Character  trugen  oder  wenigstens  ein  bestehendes  persön- 
liches Abhängigkeitsverhältnis  zum  Ausdruck  brachten,  sowie 
endlich  die  Statuierung  von  persönlichen  Einschränkungen,  die 
mit  wirklicher  Freiheit  nicht  wohl  verträglich  waren. 

Wenden  wir  uns  zunächst  im  Anschluss  an  das  eben  Aus- 
geführte der  Besprechung  der  in  solchen  Leihen  zur  Geltung 
kommenden  persönlichen  Momente  zu,  so  finden  wir  eine  ziemliche 
Mannigfaltigkeit  der  vorkommenden  Bestimmungen,  die  hier  zu 
erschöpfen  nicht  unsere  Absicht  ist,  bezüglich  deren  vielmehr  ein 
Hinweis  auf  die  wichtigsten  gebräuchlichen  Kategorien  genügen 
dürfte. 

Neben  der  Verpflichtung  zur  Zinszahlung,  die  keine  Be- 
sonderheit bietet,  findet  sich  in  solchen  hofrechtlichen  und  ministe- 
rialischen  Leihen  zunächst  z.  B.  nicht  selten  die  Verpflichtung 
zu  bestimmten  im  Leihebriefe  näher  präcisierten  oder  auch  durch 
die  am  Hofe  allgemein  geltenden  Gewohnheiten  festgesetzten 
persönlichen  Dienstleistungen ').  Dann  die  gewöhnlich  mit  dem 
Namen  Vorhure  bczeichnete  Gebühr  für  den  Rechtsübergang  an 
einen  neuen  Besitzer,  in  welcher  der  Hinweis  auf  eine  bestehende 
oder  wenigstens  ehedem  einmal  actuell  gewesene  Verpflichtung 
des  Nachfolgers  gelegen  ist,  eine  neue  Verleihung  des  Gutes  bei 
dem  Herrn  anzusuchen.  Nicht  selten  findet  sich  auch  diese  Ver- 
pflichtung selbst  ausdrücklich  in  den  Urkunden  genannt*),  und 


')  z.  B.  MR.  UB.  I 332  ....  venuas  reticere,  croadas  facere,  ad  opera 
Castelli  venire,  nniversa  secundum  antiquas  institutioues  iussum  laudatumque 
cst,  adimplere  . .;  oder  1237  Lac.  II  223  . . . tarn  in  prestandis  decimis  et 
pensionibus  annuis  quam  in  aliis  iuribus  et  consuetudinibus  fideliter  con- 
servent  et  persolvent,  sicut  ccteri  homines  de  familia  dicte  curtis  ratione 
suorum  bonorum  faciunt  et  facere  tenentur,  prout  ipsa  familia  dixerit  faci- 
endum  et  ordinandum 

»)  z.  B.  1247  MR.  UB.  UI  930;  1249  Gud.  II  p.  948  f.;  V 1253  p.  23 
und  26  u.  a. 


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ihr  kam  begreiflicher  Weise  namentlich  dann  grössere  Bedeutung 
zu,  wenn  die  Erblichkeit  des  Leiherechte6  mehr  factisch  als  recht- 
lich bestand. 

Als  ein  Rest  ursprünglich  höriger  Verhältnisse  erscheint  die 
häufig  genannte  Abgabe  pro  curinede,  das  Besthauptsrecht  des 
herrschaftlichen  Hofes,  dem  wir  in  verschiedenen  Modificationen 
ziemlich  häufig  begegnen,  und  das,  gegenüber  den  früheren 
analogen  Abgaben  zwar  eine  wesentliche  Erleichterung *),  gleich- 
wohl den  Beigeschmack  der  Unfreiheit  in  der  Mehrzahl  der  Fälle 
auch  späterhin  beibehalten  hat. 

Ein  unmittelbarer  Einfluss  auf  die  Persönlichkeit  des  Censu- 
alen  äussert  sich  endlich  in  all  den  einschränkenden  Bestimmungen, 
welche  die  Freizügigkeit  desselben  ausschlossen  und  seinen 
familienrechtliehen  Angelegenheiten  gewiss  häufig  hart  empfundene 
Schranken  auferlegte.  Hieher  gehört  die  als  licentia5)  genannte 
Abgabe,  die  im  Falle  der  Verehelichung  dem  Herrn  zu  zahlen 
war.  In  späterer  Zeit  oft  nichts  mehr  als  eine  Gebühr,  war  sie 
ursprünglich  eine  Gabe  für  den  vom  Herrn  ertheilten  Eheconsens, 
also  der  greifbare  Ausdruck  dafür,  dass  diesem  ein  mächtiger, 
oft  entscheidender  Einfluss  auf  die  Eheschliessuugen  seiner  Leute 
zukam.  In  dem  nicht  selten  stipulierten  Versprochen,  Ehen  nur 
mit  Personen,  die  derselben  Herrschaft  unterstanden,  cinzugehen  4) 
und  endlich  in  der  Zusicherung,  dass  die  ganze  Descendenz 
derer,  die  das  bezügliche  Verhältnis  eingiengen,  dem  Herrn 
dauernd  zugehören  sollte5),  findet  dieses  persönliche  Abhängig- 
keitsverhältnis  seinen  deutlichsten  Ausdruck. 

Genauere  Auskünfte  über  die  persönliche  Stellung,  welche 
solche  Angehörige  des  herrschaftlichen  Verbandes,  die  mit  Grund- 
besitz beliehen  wurden,  zur  grundherrschaftlichen  Verwaltung  in 

*)  neben  vielen  anderen  z.  B 1163  I.ac.  1 378;  1176  Ennen  I 88;  1231 
Lac.  II  179;  Gudenua  V 1238,  p.  5 12Ö3  p.  23;  26;  1266  MR.  OB.  III  1294; 
1269  Lac  II  592  u.  a.  m 

*)  vergl.  z.  B.  1166  Lac.  I 416,  wonach  die  Gräfin  Hadewig  von 
Meer  ihren  Anspruch  auf  2 Drittel  bez.  1 Drittel  des  Nachlasses  von  hö- 
rigen Leuten  auf  das  Besthauptrecht  herabmiudert. 

■)  z.  B.  1153  Lac.  I 378. 

4)  Erhard,  Cod.  dipl.  Westfaliae  11276 in  beneficium  . . secundum 

ius  ministerialium  a nobis  susceperuut,  insuper  et  fidem  in  manus  nostras 
sacramento  firmantes  dederunt,  quod  filii  et  filie  eorum  ecolesie 
uostre  filiis  conubio  iungereutur,  ne  possessiones  ipsorum  ab 
ccclesia  alienarentur  u.  a. 

'•)  1282  Eunen  111  227  crimus  homines  ipsius  curtis. 


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rechtlicher,  wie  in  wirtschaftlicher  Beziehung  einnahmen,  geben 
uns  die  für  Einzelfälle  erhaltenen  Leiheurkunden  der  Regel  nach 
nicht,  sie  enthalten  nur  ab  und  zu  gewisse  Anhaltspunkte,  die 
eine  mehr  oder  weniger  bestimmte  Deutung  zulassen.  Ein 
Hinweis  auf  diese  specifisch  herrschaftlichen  Verhältnisse  war 
ja  auch  nur  in  den  Fällen  geboten,  in  welchen  das  bisher  Be- 
stehende aus  Anlass  oder  durch  den  Eintritt  in  die  Leihe  in 
besonderer  Art  geändert  werden  sollte.  Für  alle  anderen  Fälle 
war  mit  der  Aufzeichnung  der  mit  dem  Grundbesitze  übernommenen 
Pflichten,  mit  der  Festsetzung  der  von  dem  Beliehenen  an  die 
Gutsherrschaft  zu  leistenden  Dienste  und  Abgaben  alles  Wesent- 
liche verzeichnet,  indem  das  persönliche  Verhältnis  des  Be- 
liehenen,  seine  Stellung  zum  Gutsherrn  und  dessen  Organen  ent- 
weder unverändert  weiter  bestand,  oder  sich  den  gegebenen  Ortes 
allgemein  gütigen  Grundsätzen  einzupassen  hatte1). 

Mehr  Anlass,  auch  diese  Uber  das  Vermögensrecht  hinaus- 
reichenden , zwischen  der  Herrschaft  und  ihren  Leuten 
bestehenden  Wechselbeziehungen  in  den  Leiheurkunden  zu 
berühren,  bot  sich  in  jenen  Fällen,  wo  ein  grösserer  Gütercomplex 
an  eine  Mehrheit  von  Leuten  zur  Bebauung  gleichzeitig  ausge- 
than  oder  schon  bestehende  Ansiedelungen  dieser  Art  einer  neuen 
Regelung  unterzogen  wurden*).  Denn  hier  handelte  es  sich 
nicht  mehr  um  so  geringfügige  Momente,  wofür  die  rechtliche 
Lage  einer  Einzelindividualität  gehalten  werden  mochte,  sondern 
um  eine  grössere  Gemeinschaft,  deren  Recht  nicht  schlechthin 
nach  dem  der  einzelnen  Genossen  bestimmt  oder  bestimm- 
bar war,  sondern  — an  sich  gar  mannigfacher  Gestaltung 
fähig  — einer  Regelung  in  concreto  bedurfte,  und  auch  wohl 
meistens  eine  solche  erfuhr.  Die  hierfür  vorliegenden  Urkunden 


')  vergl.  1245  MR.UB.  111  814  ....  iure  horeditario  concessiraua  ex- 
colend&s.  Ea  videlicet  conditione,  ut  ipsi  iura  curtis  nostre  in  Neve  more 
aliorum  censualium  ad  eaudem  curtem  pertinentium  plenariter  exequantur. 

*)  vergl.  z.  ß.  die  ziemlich  ausführlichen  Angaben  in  der  Urk.  des  Mainzer 
Erzbischöfe» Ruthardus (1100), abgedruckt  in  Joannis  rerum  Moguntiacarum 
tom.  U p.  738.  Concessimus  eciam  familie  ad  predictum  locum  pertinenti 
in  perpetuum  ....  ut  nullum  Advocatum  habest,  niai  me  et  successores 
meoe.  ut  ad  nullius  Advocati  pl  ft  ei  tum  conveniat,  nulla  advocacionis  iura 
persolvat;  eura  obierit  vir  sive  mulier,  Optimum  pecus  vel  vestimeutum, 

quod  reliquerit,  ad  altare  S.  Justini deferutur,  et  ut  nullus  Uhorepis- 

copus  aliquant  potestatem  habest  vel  exerccat,  niai  ab  Abbate  fuerit  vocatus. 
tune  quinque  solidi  in  eius  sumptus  dentur  etc. 


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gehen  freilich  auch  nicht  gar  weit  ins  Detail,  sprechen  aber 
immerhin  Uber  die  entscheidenden  Fragen  mit  genügender  Deut- 
lichkeit. 

So  enthält  z.  B.  die  Urkunde  '),  mit  welcher  Abt  Geldolf 
von  Brauweiler  die  von  dem  Abte  Bertolf  augeordnetc  Vertheilung 
des  zum  Hofe  Kaiffcnhaim  gehörigen  Sallandes  an  die  dortigen 
Hofhörigen  bestätigte,  neben  der  Festsetzung  der  Zinssummen 
die  ausdrückliche  Befreiung  der  Colonen  von  der  Herrschaft  und 
dem  Rechte  des  Meiers,  die  Befreiung  von  der  Theilnahme  an 
dem  Bauding  und  demgegenüber  die  Bestimmung,  dass  sie  sich 
nur  an  den  drei  Echtedingen  des  Vogtes  betheiligen  und  un- 
mittelbar dem  Abte  als  Herrn  des  Gerichtes  und  der  Gefälle, 
sowie  seinem  Stellvertreter  unterstehen  sollten. 

Eine  ähnlich  gefreite  Stellung  auf  städtischem  Boden  verlieh 
Erzbischof  Bruno  von  Köln  *)  an  17  seinem  Hofe  zugehörigen 
Familien,  denen  er  ebenso  viele  Hofstätten  zu  censualem  Rechte 
überwies,  mit  der  Zusicherung,  dass  sie  von  keiner  weiteren 
finanziellen  oder  Vogteilast  betroffen  werden,  vielmehr  „soluta 
pensione  predicta  sub  nostra  protectione  publicum  ius  civile  in 
causis  civilibus“  gemessen  sollten,  und  dass  alle  eventuellen 
Streitigkeiten , welche  die  Hofstellen  und  die  darauf  gebauten 
Häuser  beträfen , „non  nisi  coram  nobis  vel  etiam  cui  nos  hoc 
commiserimus“  würden  verhandelt  werden. 

Anders  wieder  in  strenger  Einordnung  in  die  gewöhnliche 
grundherrliche  Ordnung  bestimmt  eine  Urkunde  Theodorichs  von 
Isenburg  *)  die  Abgabenpflicht  der  einzelnen  an  Hofgenossen  ver- 
gabten  Grundstücke,  und  unterstellt  gleichzeitig  diese  Leute  der 
Dingpflicht,  wonach  es  ihnen  oblag,  dreimal  jährlich  an  den 
zugehörigen  Hof  zur  Gerichtspflege  zu  kommen. 

Ganz  ähnlichen  Bestimmungen  begegnen  wir  dort,  wo  solche 
ländliche  Ansiedelungsverhältnisse  ihre  Regelung  unter  lehen- 
rechtlichen Einflüssen  fanden,  also  in  den  Fällen,  wo  die  lehenrecht- 
liche Form  aus  ihrer  eigentlichen  höheren  Sphäre  des  militärischen 
oder  politischen  Lehens  herab  auch  auf  das  bäuerliche  Recht 
übertragen  wurde  4). 

*)  1149  Lac.  I 967,  ähnlich  wie  die  eben  abgedruokte  Mainzer  Urkunde. 

»)  1306—1208  Knnen  II  29 

>)  1247  MR.  UB.  UI  980. 

•)  *.  B.  1236  Lac.  II  211;  1260,  491;  1264  MH.  UB.  III  1265;  1271 
Lamprecht  UW.li.  III  No.  47  u.  a.  m. ; vergl.  auch  a.  a.  O.  I 2 
S.  901  ff. 


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96 


Diese  lehenrechtlich  ausgestalteten  Landleihcn,  die  freilich 
erst  im  13.  Jh.  nachweisbar  werden,  gewähren  noch  dag  eine 
besondere  Interesse,  dass  hier  die  persönlichen  Beziehungen 
analog  den  sonst  im  Lehenreehtc  geltenden  Grundsätzen  geregelt 
und  auf  ein  Treueverhältnis  gegründet  werden.  Dies  findet  auch 
in  dem  Wortlaute  der  Urkunden,  die  oft  des*juramcntum  fide- 
litatis  gedenken  oder  des  hommagiura  Erwähnung  thun  ’),  seinen 
deutlichen  Ausdruck. 

Liegt  in  allen  diesen  zuletzt  besprochenen  Fällen  das  per- 
sönliche Verhältnis  des  Hofgenossen  zu  seiner  Herrschaft 
wenigstens  insofern  klar,  als  der  Bestand  einer  herrschaftlichen 
Gerichtsbarkeit  über  den  Beliehenen , dessen  Dingpflicht , sowie 
seine  Stellung  zu  Vogt  und  Meier  oder  unmittelbar  zu  seinem 
Herrn  in  dein  Leihebriefe  mit  mehr  oder  weniger  Deutlich- 
keit bezeichnet  wurde,  so  sind  wir  in  anderen  Fällen,  wo 
derlei  ausdrückliche  Angaben  fehlen,  auf  das  Gebiet  der 
Vcrmuthung  gewiesen.  Für  diese  geben  dann  allerdings,  wie 
schou  oben  angedeutet,  einzelne  nicht  ausdrücklich  der  Haupt- 
frage  gewidmete  Bestimmungen,  wie  namentlich  der  Hinweis 
auf  gewisse  Arten  von  Abgaben  und  Beschränkungen,  Anhalts- 
punkte von  nicht  zu  unterschätzendem  Werthe,  deren  Ausbeutung 
im  einzelnen  unter  Berücksichtigung  des  anderwärts  Bekannten 
vielleicht  zu  ziemlich  sicheren  Ergebnissen  führen  könnte. 

Für  unsere  Untersuchung  ist  indes  die  Beantwortung  dieser 
Detailfragen  von  secundärer  Bedeutung.  Es  genügt  vielmehr 
festzustellen,  dass  im  Kreise  der  grundherrschaftlichen  Ver- 
waltungsorganismen in  vielseitiger  Anwendung  Landleihever- 
hältnisse  gebräuchlich  waren,  bei  welchen  abgesehen  von  den 
rein  vermögensrechtlichen  Beziehungen  zwischen  Eigenthümer 
und  Besitzer  auch  noch  andere  die  Persönlichkeit  des  Beliehenen 
mit  mehr  oder  weniger  Macht  erfassende  rechtliche  Bande  be- 
standen, also  personenrechtliche  Momente,  wie  solche  sich  na- 
mentlich in  den  ausgebildeten  eben  wegen  dieses  Gegensatzes  als 
frei  bezeichneten  Leihen  nicht  auffinden  lassen. 

')  Aus  dem  Kreise  bäuerlicher  Leihen  z.  B Lac.  II  1227,  14s  jura- 
vit  fidelitatcui;  1200,  491  fidelitatis  hommagium;  1319  Lamprecht  D. 
W.  L.  III  No.  96  iure  feodi  ligii  cum  onore  iuramentis  tidelitate.  Zu 
übersehen  ist  jedoch  nicht,  dass  der  Sprachgebrauch  wie  Lehen  oder  bene- 
ticium  etc.  allein  nicht  immer  ein  sicherer  Anhaltspunkt  für  die  Annahme 
eines  gerade  lehenrechtlichen  Characters  des  Leiheverhältnisses  ist,  da  diese 
Ausdrücke  wiederholt  für  Leihe  überhaupt  gebraucht  werden.  Vergl.  die 
oben  S.  20  Anm.  abgedruckte  Stelle  des  Solmser  Landrechtes. 


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Es  erübrigt  noch  nach  dieser  kurzen  Skizzierung  der  bei 
den  verschiedenen  Leihen  gutsherrschaftlichen  Characters  rele- 
vanten persönlichen  Verhältnisse  den  schlechthin  vermögensrecht- 
lichen Inhalt  derselben  etwas  näher  zu  bestimmen  und  dabei 
die  sich  ergebenden  Ähnlichkeiten  und  Verschiedenheiten  gegen- 
über den  freien  Leihen  zu  ermitteln.  Die  Beziehungen  zu  den 
freien  Erbleihen,  welche  bei  den  ganzen  Ausführungen  ihrem 
Zwecke  nach  im  Auge  behalten  werden  musste,  wird  es  recht- 
fertigen,  dass  auch  hier  bei  den  censualen  Leihen  vornehmlich 
nur  erbliche  Verhältnisse  berücksichtigt  werden. 

Wenn  man  zunächst  den  Wortlaut  der  hier  in  Betracht 
kommenden  Leiheurkunden,  soferne  sie  sich  in  eine  nähere  Prä- 
cisierung  des  Falles  einlassen  und  sich  nicht  auf  allgemeine  An- 
gaben, wie  etwa  sub  jure  censuali  und  Ähnliches  beschränken,  ins 
Auge  fasst,  so  liegt  schon  in  ihm  eine  weitgehende  Ueberein- 
stimmung  mit  den  analogen  Vereinbarungen  in  freien  Verträgen, 
oft  bis  auf  den  einzelnen  sprachlichen  Ausdruck. 

So  klingt  es  z.  B.  unmittelbar  an  das  bei  freien  Leihen  Ge- 
läufige an,  wenn  eine  Urkunde  *)  von  1153  bestimmt;  . . . ea 
conditione  concessit,  quatenus  omni  anno  in  feste  S.  Remigii 
X modios  tritici  inde  persolvant,  oder  eine  Urkunde*)  von 
1176:  . . . Cunradus  mansum  ...  ab  ecclesia  sub  iure  censuali 

recepit  ita  videlicet,  utquolibet  anno X sol.  ecclesie  sol  vat. 

Ähnlich  eine  Urkunde*)  von  1205 — 1208  . . cessisse  hominibus  . . . 
iure  censuali,  ita  ut  annuatim  . . . quilibet  eorum  piperis  duarum 
lnarcarunt  ....  et  tantundem  cymeti  ....  nobis  persolvat. 

Andere  gebräuchliche  Ausdrücke,  die  freilich  von  den  vorigen 
etwas  abweichen,  finden  sich  noch  etwa  in  den  folgenden  Bei- 
spielen : 

Urk.  *)  1269  ....  quod  de  curti  in  Kerbusch  ego  meique 
successores,  quicumque  dictam  curtem  possederint,  ecclesie  . . . ., 
cuius  ipsa  curtis  cst  allodium,  sex  solidos  . . . nomine  annui 
census  tenemur  persolvere  annuatim , wobei  die  Beurkundung 
durch  den  Beliehenen  und  die  besonders  deutlich  ausgesprochene 
Verbindung  der  Zinspflicht  mit  dem  Gute  auffalien,  während  wieder 


•)  Lac.  1 378. 

*)  Ennen  I 88. 
*)  Ennen  II  29. 
*)  Lac.  II  592. 

v.  Schwind,  Erbleihen. 


7 


die  etwa  200  Jahre  ältere  Urkunde  ’)  von  St.  Maximin,  welche 
anlässlich  einer  den  Colonen  gewährten  Verbesserung  ihrer 
Lage  aufgezeichnet  wurde,  in  ihrer  Fassung:  decretum  est,  ut 
quanticumque  predictoruni  curtiliuni  possessores  fuerint,  singulis 

annis  a singulis  curtilibus  III  solidos  denariorum per- 

solvant,  das  Übergewicht  der  herrschaftlichen  Macht  zum  Aus- 
drucke bringt. 

In  all  diesen  Beispielen,  deren  Zahl  sich  beliebig  vermehren 
liesse,  bezeugt  die  erhaltene  Urkunde  den  Bestand  eines  Leihe- 
verhältnisses, welches  in  den  hauptsächlichsten  Punkten  mit  dem 
Rechte  der  freien  Leihen  übereinstimmt.  Hier  wie  dort  das 
Recht  auf  dauernden  Genuss  und  Nutzung  des  geliehenen  Grund- 
stückes, und  hier  wie  dort  dem  gegenüber  als  Gegenleistung  be- 
stimmte, oft  dauernd  und  einheitlich  festgesetzte  Abgaben. 

Aber  auch  in  den  Einzelheiten  des  rechtlichen  Verhältnisses 
lässt  sich  vielfach  eine  analoge  Ausgestaltung  tiachweisen. 

Dass  unter  den  dem  Hofverbande  eingeordneten  Leihen 
Naturalzinse  vielleicht  relativ  häufiger  sich  finden  mögen  als 
bei  freien  Verträgen,  ist  juristisch  wohl  ohne  Belang ; vermag 
doch  die  Zahl,  die  der  einen  oder  der  anderen  Anwendungsform 
entspricht,  in  rechtlicher  Beziehung  nichts  mehr  zu  besagen,  so 
bald  einmal  festgestellt  ist,  dass  in  beiden  Gruppen  beide  Zins- 
formen sich  finden.  Und  wirthschaftlich  ist  es  ja  begreiflich,  dass 
in  jener  Zeit  einer  ausgehildeten  Naturalwirthschaft,  je  enger 
der  Verband  mit  der  herrschaftlichen  Wirthschaftsverwaltung 
vorhanden  war,  desto  häufiger  Naturalzinse  zur  Anwendung 
kommen  mussten. 

Dagegen  ist  es  für  die  rechtliche  Betrachtung  von  grösserer 
Bedeutung,  wenn  sich  zeigt,  dass  auch  die  Art  und  Weise  der 
Haftung  für  den  Zins  und  die  vorhandenen  rechtlichen  Zwangs- 
mittel für  die  Erfüllung  dieser  Verbindlichkeiten,  wie  sie  das 
freie  Leiherecht  beherrschten,  auf  dem  Boden  des  censnalen 
Rechtes  gleichfalls  aufzufinden  sind. 

So  lassen  sich,  um  nur  das  \V  ichtigste  hervorzuheben,  dafür, 
dass  dauernde  Vernachlässigung  der  Zinspflicht  endlich  mit  dem 
Verluste  des  Zinsgutes  bestraft  wurde,  dass  also  die  Möglichkeit 
der  Rechtsentsetzung  als  Mittel  zur  Verbürgung  und  Sicher- 
stellung des  Zinses,  wie  als  Zwangsmittel  für  dessen  Herein- 
bringung dienlich  war,  zunächst  der  oben  angegebene  Wortlaut  der 


•)  MR.  UB.  I 332. 


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99 


Leiheurkunden  und  die  schon  früher ')  erwähnten  Bestimmungen  des 
älteren  Rechtes  als  gewiss  nicht  belanglose  Argumente  anfiihren. 

Will  man  aber  dieser  Begründung,  die  ja  allerdings  nicht 
zu  unbedingt  sicheren  Resultaten  führt,  noch  nicht  recht  ver- 
trauen, so  lässt  sich  da«  Vorkommen  dieses  an  sich  sehr  nahe 
liegenden  rechtlichen  Gedankens  im  Kreise  des  grundherrschaft- 
lichen Rechtes,  u.  a.  durch  den  Hinweis  auf  eine  Verordnung  Kaiser 
Heinrich  V.  vom  Jahre  1112,  in  welcher  die  Verhältnisse  der 
Vögte  und  Bauern  in  St.  Maximin  geregelt  werden,  unmittelbar 
quellenmässig  bezeugen  *).  ln  ihr  erscheint  die  Einziehung  des 
Zinsgutes  wegen  Saumseligkeit  in  der  Zahlung  als  eine  fast  selbst- 
verständliche Thatsache,  die  bei  der  Regelung  des  Weiteren 
vorausgesetzt  wird.  Allerdings  liegt  in  diesem  Rechte,  wie  schon 
dieselbe  Urkunde  angibt,  nicht  oder  wenigstens  nicht  immer 
das  einzige  Machtmittel,  welches  der  Herrschaft  zu  Gebote  stand. 
Eis  wirken  eben  die  oben  berührten  persönlichen  Verhältnisse 
auch  auf  diese  zunächst  vermögensrechtlichen  Fragen  zurück. 
Ist  es  doch  in  der  Natur  der  Sache  begründet,  dass  das  Vor- 
handensein eines  Herrschaftsverhältnisses  dem  Herrn  für  alle 
seine  Ansprüche  eine  Menge  von  Zwangsmitteln  rechtlich  oder 
auch  bloss  factisch  in  die  Hände  gebeu  musste , die  auf  der 
Grundlage  eines  freien  Vertragsrechtes  nicht  zur  Entstehung 
kommen  konnten,  und  die  um  so  bedeutender  sein  mussten,  je 
mächtiger  die  Bande  waren,  mit  welcher  die  Herrschaft  ihre 
Leute  an  sich  schloss  ®).  Um  von  Vielem  nur  des  einen  Mo- 
mentes zu  gedenken,  wie  wesentlich  wurde  nicht  speciell  auch 

■)  S.  51  Anm.  2. 

*)  MR  Uß.  I 423  Si  propter  census  negligeutiam  vel  ob  quam- 

libet  aliam  culpam  mansus  aut  possessio  alieuius  hominis  in  placitis  abbatia 
publicata  sive  dominicata  f'uerit,  omnia  abbatia  eruut,  nisi  bonis  eisdem 
quilibet  rei  poatea  si  intromiserint.  Bonorum  autem  que  in  placitis  advo- 
catorum  publicata  fuerint,  duas  partes  abbas  tertiam  advocatus  babebit  ex- 
ceptis  frugibus  . . etc 

Si  villani  debitum  cenaum  abbati  voluerint  denegare,  primuni  per  alioa 
iudices,  deinde  in  ipso  loco  Trcvcris  per  illos  iudicos  ac  ministros  qui  scare- 
manni  dicuntnr  ad  viam  si  possunt  reducautur;  sin  autem  per  cartam  vel 
advocatum,  ad  ultimum  vero  per  manifestum  iudicium,  in  quo  si  convioti 
fuerint,  Omnibus  bonis  suis  carebunt  et  nu  llum  ius  nisi  quod  abbas 
eis  postea  concesserit  habebuut. 

*)  vergl.  ausser  den  zuletzt  genannten  Worten  der  Verordnung  Heinrich  V. 
(Anm.  2)  die  Urk.  1145  Ennen  I 54 , wo  als  Folge  für  unpünktliche 
Zahlung  verfügt  ist,  non  solura  quod  teneut  in  eadem  sitva,  (das  Leihegut) 
sed  quidquid  de  iure  beati  Martini  habere  videntur,  amittant. 

7* 


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100 


für  unsere  rein  vermögensrechtliche  Frage  die  Stellung  de» 
Einzelnen  verändert,  je  nachdem  ihm  da«  Recht  der  Freizügig- 
keit zuatand  oder  versagt  war?  Welch  üble  Folgen  musste  der 
säumige  Zinsmann,  der  in  seiner  weiteren  rechtlichen 

Existenz  noch  immer  von  der  Herrschaft  abhängig  blieb, 
lediglich  aus  diesem  Grunde  über  sich  ergehen  lassen,  denen 
der  freigestellte  und  freizügige  Mann  ungehindert  sich  entziehen 
konnte.  In  diesem  Sinne  spricht,  wie  es  scheint,  die  oben  citierte 
Urkunde  Heinrich  V,  wenn  sie  als  Folge  fortgesetzter  Zinsver- 
weigerung neben  dem  Eintritte  des  Rechtsverlustes  noch  her- 
vorhebt, dass  die  Zinssäumigen  für  die  Zukunft  sich  mit  dem 
Masse  von  Rechten  begnügen  müssen,  das  die  Gnade  des  Herrn 
ihnen  nach  freiem  Ermessen  gewährt. 

Wie  weit  dann  im  einzelnen  die  Macht  und  das  Recht  des 
Herrn  in  dieser  Richtung  gereicht  hat.  war  verschieden  nach  der 
Art  der  individuellen  Beziehung  zwischen  den  Beliehenen  und 
der  Grundherrschaft,  und  es  dürften  sich  hiefur  die  möglichen 
Grenzen  kaum  allgemein  angeben  lassen.  Fraglich  mag  immerhin 
erscheinen,  ob  auch  für  solche  Leihezinse  je  das  strenge  Recht 
gegolten  haben  kann,  welches  für  den  persönlichen  Zins  ver- 
einzelt nachweisbar  ist,  jenes  harte  Recht,  das  dem  Herrn  ge- 
stattete, nach  einem  gewissen  geregelten  Verfahren  an  den 
säumigen  Zinsmann  sogar  Hand  anzulegcn  und  so  persönliche  Exe- 
cution  gegen  ihn  zu  fuhren1).  Der  von  Anfang  an  empfundene 
und  im  Laufe  der  Geschichte  immer  mehr  ausgeprägte  Unter- 
schied zwischen  rein  persönlichen  Pflichten  und  auf  den  Grund 
und  Boden  gelegten  Lasten  macht  eine  solche  Annahme  wenig 
wahrscheinlich,  und  bei  dem  Mangel  eines  jeglichen  bestimmten 
urkundlichen  Hinweises  könnte  eine  derartige  Vermuthung  gewiss 
nicht  gerechtfertigt  erscheinen. 

Für  alle  Fälle,  mögen  sie  dann  im  einzelnen  wie  immer  ge- 
ordnet gewesen  sein,  ist  aber  daran  festzuhalten,  dass  es  doch 


')  vergl.  z. B.  die  bei  L am  pr  echt  D.W.L.  1 2S.  1229  abgedruckte  Urkunde 
aus  dem  Anfänge  des  14.  Jb.:  ...  Bi  uon  satisfacerent  de  ceusu  predirto  . . . 
tune  sine  eraenda  posaunt  aatisfaerre  bis  zuin  nächsten  Ding;  dann  Strafe 
von  20  d.,  die  sich  bis  zum  2.  Ding  verdoppelt  und  bis  zum  dritten  ver- 
dreifacht, et  extunc  si  non  satisfecerit  nec  gratiam  . . prepositi  ohtinere 
meruerit,  tune  scultetus  , . prepositi  ponet  eum  in  penam  que  dicitur  ge- 
vronit  et  extune  poterit  prepositus  et  officiatus  suus  manus  apponerc  ad 
Corpus  et  res. 


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101 


stets  nur  eine  Riick  Wirkung  der  bestehenden  persönlichen 
Rechtsbeziehungen  war,  welche  in  diesen  Besonderheiten  zum 
Ausdrucke  kam  und  den  Leihen  eine  individuelle  Färbung  und 
Nuancierung  verlieh,  und  dass  abgesehen  von  diesen  Reflex- 
wirkungen der  feststehende  und  bei  all  diesen  Verschieden- 
heiten immer  wiederkehrende  rein  vermögensrechtliche  Grund- 
stock den  oben  geschilderten  rechtlichen  Inhalt  aufweist,  den- 
selben Inhalt,  der  freilich  in  anderer  Umrahmung  den  Kern  und 
die  Grundlage  für  die  Entwickelung  des  freien  Leiherechtes 
abgnb. 

Nun  ist  allerdings  dieser  rechtliche  Gedanke,  welcher  nach 
den  obigen  Ausführungen  den  gebundenen  und  freien  Leihen 
gemeinsam  ist  — die  dauernde  Ueberlassung  von  Grundbesitz 
unter  der  Bedingung  der  Zahlung  eines  jährlichen  Zinsenent- 
geltes — ein  so  einfacher,  dass  er  leicht  auch  ohne  Zusammen- 
hang mit  ähnlichen  früheren  Bildungen  selbstständig  immer 
wieder  entstehen  und  in  neuen  Anwendungsformen  zur  Ver- 
wirklichung gelangen  konnte,  wo  immer  nur  analoge  Verhältnisse 
analoge  Bedürfnisse  erzeugten.  Es  wäre  demnach  voreilig  aus 
einer  derartigen  Übereinstimmung  allein  auf  das  Vorhandensein 
eines  inneren  rechtsgeschichtlichen  Zusammenhanges  zu  schliessen. 
Wenn  man  aber  berücksichtigt,  dass  diese  nach  der  einen 
Beziehung  gleichartig  ausgestaltetcn  Rechtsinstitutc  auf  dem- 
selben Boden  gewachsen,  ähnlichen  wirthschaftliclien  Verhältnissen 
entsprungen  und  eine  gewisse  Zcitperiode  hindurch  mit  nicht 
immer  scharf  gezeichneten  Grenzen  neben  einander  einhergegangen 
sind,  so  ist  doch  die  Vermuthung  begründet,  dass  diese  innere 
Harmonie  auf  eine  historische  Verwandtschaft  zurückzuführen 
sei,  mag  der  Gegensatz  zwischen  persönlicher  Abhängigkeit  und 
Freiheit  ein  noch  so  bedeutender  sein '). 

Eine  solche  Annahme  findet  zunächst  eine  äussere  Be- 
kräftigung in  dem  Umstande,  dass  gerade  in  der  Uebergangszeit 
sich  Leiheurkunden  finden,  welche  nach  freier  Art  das  Rechts- 
verhältnis in  der  oben  angegebenen  Art  normieren  und  daneben 
die  Befreiung  von  allen  weiteren  Abgaben  und  Verpflichtungen 


')  Diesen  Gegensatz  betont  besonders  Gobbers  a.  a.  O.  S.  140,  der 
um  Beinetwillen  die  Möglichkeit  einer  geschichtlichen  Continuität,  der  Ent- 
stehung des  einen  aus  dem  anderen  für  ausgeschlossen  hält;  s.  darüber 
unten  S.  113  ff. 


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102 


besonder»  hervorheben  *),  als  wollten  »ie  damit  zum  Ausdrucke 
bringen,  das»  sie  nur  die  genannten  Bestimmungen  von  den 
anderen  Leihen  heriibernehmen  und  gegen  die  Anwendung 
weiterer  dort  gebräuchlicher  Grundsätze  Protest  erheben. 

Aber  auch  wenn  man  die  vorliegenden  Leihebriefe  ihrem 
inneren  Gehalte  nach  unter  diesem  Gesichtspunkte  prüft,  zeigt 
sich  gar  bald,  dass  jene  Kluft  zwischen  freiem  und  unfreiem 
Leiherechte  in  der  That  nicht  so  unüberbrückbar  ist,  als  sie 
Gobbers  erscheinen  mochte,  wenn  er  die  fertig  entwickelte 
städtische  Leihe  in  unvermittelten  Gegensatz  zu  den  Leihe- 
formen des  Hofrechtes  stellte.  Vielmehr  ist  eine  Annäherung  der 
beiden  Extreme  an  der  Hand  der  Urkunden  in  zweifacher  Richtung 
nachweisbar. 

Zunächst  findet  sich  Dämlich  diejenige  Leiheform,  die  sich 
ganz  an  die  hofrechtlichen  Leihen  anschloss,  in  welcher  neben 
dem  Zinse  noch  die  für  die  Unfreiheit  characteristische  Kurmede 
von  dem  herrschaftlichen  Hofe  verlangt  wurde,  im  Laufe  der 
Entwickelung  auch  in  solchen  Fällen  in  Anwendung,  in  welchen 
von  persönlicher  Abhängigkeit  keine  Rede  sein  konnte. 

Sodann  lässt  sich  eine  noch  weit  grössere  Reihe  von  Leihe- 
urkunden nennen,  die  ihrem  wesentlichen  Inhalte  nach  ganz  mit 
den  ausgesprochen  freien  Leihen  übereinstimmen , von  allen 
auf  für  Hofangehörigkeit  characteristischen  Zusätzen  nichts  ent- 
halten und  doch  durch  ihre  Beziehung  auf  den  wirthschaftlichen 
Betrieb  und  durch  einen  mehr  oder  weniger  engen  Zusammen- 
hang mit  der  grundherrschaftlichen  Gutsverwaltung  den  Bestand 


')  vergl.  z.  B.  1112  MK.  UB.  I 424  . . . iure  tradidit  hereditario  ca 

scilicet  conditione,  quatenus  singulis  annis  X solidorum  tributuni  solventes, 
deinueps  prorsus  ab  omni  alia  iuris  coactionc  existant  immunes.  — 1210 

Lac.  II  33 concessit  perpetuo  possideiulam,  hac  pactionis  forma  inter- 

posita  quatiuus  . . . ccclesie  XV  sol. ...  et  villico  eorundem  IV  sol.  persolvat 
et  ita  ab  omni  vexatione  et  omni  iure,  ad  quod  silra  pretaxata  tenebatur, 
über  existat;  ähnlich  1233  MK.  UB.  111  480;  1246  Lac.  II  309  (allerdings 
eine  Schenkung  mit  Zilisauflage);  129ö  Lac.  11  9Ö7;  endlich  für  ein  bc- 
liehcnes  Kloster  mit  ganz  besonderer  Deutlichkeit,  1200  Enuen  II  2 . . . 
hereditario  iure  tradiderunt,  hac  videlicet  couditiones  forma  interposita,  ut 
. . . . persolvat,  sieque  ab  omni  iure  quod  vulgo  dicitur  dinc- 
suoche  et  cormede,  ab  omni  quoque  onero,  quod  de  huiusmodi 
bouis  emergere  solet,  über  permanens  iam  dictum  bonum  perpetua 
pace  possideat  u.  a.  m. 


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103 


eines  persönlichen  Abhängigkeitsverhältnisses  in  vielen  Fällen 
ziemlich  wahrscheinlich  machen,  also  auf  diese  Art  eine  Ver- 
bindung zwischen  den  Gegensätzen  herzustcllcn  scheinen. 

In  der  ersteren  Beziehung  waren  es  vornehmlich  Leihen 
an  kirchliche  Institute,  welche  eine  Umänderung  und  eine  Ent- 
wickelung in  der  obeu  bezeichnten  Richtung  fast  nothwendig 
mit  sich  brachten.  Namentlich  dann,  wenn  einzelne  Güter,  die 
früher  an  Hofangehörige  verliehen  waren,  an  Kirchen  und  Stifter 
zu  Leiherecht  gegeben  wurden,  und  der  Grundherr  an  den  früheren 
Nutzungen  nichts  einbüssen,  durch  die  Veränderung  in  der  Person 
des  Beliehenen  seine  nutzbaren  Rechte  nicht  berührt  sehen  wollte, 
lag  ja  nichts  näher,  als  alle  Zinsungen  und  persönlichen  Abgaben 
unverändert  fortbestehen  zu  lassen,  wenn  auch  die  Herrschafts- 
verhältnisse, unter  deren  Bann  die  Leihe  ursprünglich  zur  Ent- 
stehung gelangt  war,  gegenüber  dem  neuen  Beliehenen  unmöglich 
in  der  alten  Weise  fortbestehen  konnten.  Was  bei  der  alten 
hofrechtlichen  Leihe  Ausfluss  des  persönlichen  Herrschaftsver- 
hältnisses war,  musste  dann  natürlich  seinen  herrschaftlichen 
Character  abstreifen,  und  schlechthin  zu  einer  vermögensrechtlichen 
Abgabe  werden. 

Für  die  regelmässig  wiederkehrenden  jährlichen  Zinsen,  die 
nach  den  obigen  Ausrührungen  in  freien  und  gebundenen  Leihen 
ziemlich  gleich  behandelt  wurden,  bedurfte  es  dabei  keiner  be- 
sonderen Festsetzungen;  so  wie  früher  ein  Angehöriger  des  Gutes, 
oder  wer  sonst  sich  des  Leiherechtes  zu  erfreuen  hatte,  zu  diesen 
Zahlungen  verpflichtet  war,  so  trat  jetzt  die  beliehenc  geistliche 
Anstalt  in  den  Kreis  dieser  Verpflichtungen  ein.  Für  die  un- 
mittelbaren Dienstleistungen  und  die  an  keinen  feststehenden 
Fälligkeitstermin  gebundenen  Abgaben,  wie  Kurmede  und  Vor- 
hure, welche  den  Tod  des  Besitzers  oder  überhaupt  einen  Be- 
sitzwechsel zur  Voraussetzung  hatteu,  war  der  Kirche  als  einer 
juristischen  und  unsterblichen  Persönlichkeit  gegenüber  eine  be- 
sondere Regelung  erforderlich,  wenn  die  aus  solchen  Leistungen 
entspringenden  Vortheile  dem  Leiheherrn  nicht  entzogen  werden 
sollten.  Eine  solche  erfolgte  in  verschiedener  Weise.  Oft  — und 
hierin  liegt  wohl  das  zäheste  Festhalten  an  Form  und  Inhalt 
des  früheren  hofrechtlichen  Leihesystems  — wurde  das  neu  be- 
liehene  Kloster  verpflichtet,  irgend  welche  nicht  dem  geistlichen 
Stande  angehörigen  Leute  auf  das  Gut  zu  setzen,  welche  ferner- 
hin für  alle  jene  Leistungen  dem  Gutsherrn  aufzukommen  hatten, 
die  er  zuvor  von  dem  Besitzer  jenes  Gutes  zu  verlangen  ge- 


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wohnt  war1).  Wenn  Besthauptrecht  und  Übertragungsgebühren 
dazu  gehörten,  so  sind  die  dafür  entscheidenden  Momente  wohl 
nach  dem  Leben  dieser  Laien  beurtheilt  worden. 

Lässt  sich  hier  der  Fortbestand  eines  herrschaftlichen  Ver- 
hältnisses, dem  zwar  nicht  die  bcliehene  Abtei,  sondern  die  von 
ihr  aufgestellten  Strohmänner  unterstanden  hätten,  noch  wenigstens 
als  möglich  denken,  (in  einzelnen  ähnlichen  Fällen  *)  ist  dies  sogar 
direct  ausgesprochen),  so  entfällt  auch  diese  Möglichkeit,  wenn 
wieder  anderemale  die  Pflicht,  eine  Abgabe  pro  Kurmede  zu 
zahlen,  an  den  Tod  des  Kirchen-  oder  Klostervorstandes  oder 
desjenigen  Mitgliedes  der  geistlichen  Corporation  geknüpft  ward, 
welches  (mitunter  eigens  zu  diesem  Zwecke)  als  Besitzer  des 
Leihegutes  designiert  wurde. 

In  vielen  Fällen  endlich,  vielleicht  in  der  Mehrzahl,  wurde 
dieser  Bestimmungen  überhaupt  nicht  gedacht,  und  damit  wurde 
vollends  das  Ergebnis  erzielt,  dass  solche  Leihen  auch  der 
äusseren  Form  nach  jede  Spur  von  Gebundenheit  verloren,  ihrem 
inneren  Wesen  nach  sich  als  ein  auf  freier  Willenseinigung 
beruhender  Vertrag  darstellten,  und  alle  diejenigen  Momente  in 
sich  vereinigten,  in  denen  der  rechtliche  Inhalt  der  freien  Leihen 
gelegen  war  und  sich  erschöpfte.  Dabei  ist  freilich  nicht  zu  über- 
sehen, dass  eine  solche  dem  unbedingt  freien  Vertragsrech tc  an; 
gehörige  Vereinbarung  unter  geistlichen  Anstalten,  die  in  der 
Kegel  ja  doch  selbstständig  einander  gegenüberstanden,  weniger 
Besonderes  an  sich  trägt,  als  zwischen  einer  mächtigen  Gute- 
herrschaft und  den  wenigstens  materiell  abhängigen  Bauersleuten, 
dass  vielmehr  hier  nur  solche  Verträge,  in  welchen  von  einem 
herrschaftlichen  Momente  keine  Spur  sich  findet,  dem  rechtlichen 
Verhältnisse  des  Contrahenten  entsprochen  haben.  So  oft  eine 


■)  1234  Lac.  II  198. 

*)  1237  Lac.  II  223:  der  Johanniter  Ordensmeister  Iteinard  und  der 
Ordensbruder  Heinrich  von  Steinford  , Meister  des  Ordeushauses  zu  Deutz 
nehmen  von  dem  Kunibertstifte  zu  Köln  4 Maasen  iu  Erbpacht,  ea  videlicet 
rationc,  quod  iidem  fratres  duos  viros  yduneos  de  suis  fratribus  constituent, 
qui  fidelitatem  predicti  ecclesie  et  curti  de  Mouwiuheim  prestabunt  et  de 
eisdem  bonis  omnia  placita,  que  vulgariter  Dine  et  Rinc  appellantur,  obser- 
vabuut,  et  omnia  iura  ecclesie  nominale  et  curtis  predictc  tarn  in  prestandis 
decimis  et  pensionibus  annuis  quam  in  aliis  iuribus  et  consuctudinibus 
tideliter  conservenl  et  persolvant,  sicut  ceteri  hoinines  de  lämilia  dictc 
curtis  ratione  suorum  bonorum  faciunt  et  facere  tenentur,  prout  ipsn  familia 
dixerit  faciendum  et  ohservandum 


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unbedingte  und  vorbchaltslose  Eigenthumsübertragung  nicht  in  den 
Intentionen  des  reicheren  Stiftes  lag,  sich  dieses  vielmehr  eine 
fortdauernde  Nutzung  Vorbehalten  wollte,  war  ja  eine  durch 
freien  Vertrag  begründete  Leihe  unzweifelhaft  das  einfachste 
und  nächstliegende  Mittel  zur  Erreichung  des  angestrebten 
Zweckes.  Und  doch  — oder  vielleicht  gerade  darum  in  er- 
höhtem Masse  — dürfte  es  von  Interesse  sein,  dass  auch  solche 
Leiheverträge  sich  an  die  älteren  Formen  der  gebundenen  Leihen 
in  einzelnen  Fällen  nachweisbar  angelehnt  haben. 

Diese  hier  besprochene  Annäherung  erfolgte  freilich  ausser- 
halb desjenigen  Gebietes,  auf  welchem  die  gebundenen  Landleihen 
heimisch  waren,  und  auf  dem  auch  eine  grosse  Zahl  der  freien 
Leihen  eingegangen  wurden;  sie  erfolgte  unabhängig  von  den 
Zwecken  und  Bedürfnissen  des  wirtschaftlichen  Betriebes  und 
ausserhalb  des  grundherrschaftlichen  Verbandes.  Mit  der  Über- 
tragung des  leiherechtlichen  Gedankens  auf  einen  anderen  Per- 
sonenkreis, dem  gegenüber  Herrschaftsverhältnisse  unanwendbar 
waren,  musste,  wie  oben  schon  gesagt,  die  Leihe  alle  Elemente 
persönlicher  Art  verlieren  und  einen  lediglich  vermögensrecht- 
lichen  Character  gewinnen,  wie  er  dem  freien  Leiherechte  eigen 
war.  Aber  auch  innerhalb  des  herrschaftlichen  Wirth  schafts  ver- 
bandes,  innerhalb  des  Kreises  von  Personen  und  Objekten,  in 
welchem  die  hofrechtlichen  Leihen  gediehen  waren,  lassen  sich 
in  grosser  Zahl  Übergangsfälle  naclnveisen,  die  eine  Mittelstufe 
zwischen  Freiheit  und  Gebundenheit  einuehmen,  und  im  ein- 
zelnen bald  mit  den  hofrcchtlich  abhängigen,  bald  mit  den 
unbedingt  freien  Leihen  näher  verwandt  sind. 

Die  Fälle,  die  hier  in  Betracht  kommen,  steheu  insgesammt 
in  enger  Beziehung  zu  dem  Ausbau  des  Landes;  Rodung  des 
Waldes,  Anlegung  und  Hebung  von  Specialculturcn,  namentlich 
des  Weinbaues,  siud  der  wirtschaftliche  Zweck,  dem  diese  Leihe- 
verträge ihre  Entstehung  verdanken.  Die  Verpflichtung,  das 
erblich  überlassene  Grundstück  zu  cultivieren  und  zu  pflegen,  und 
von  dem  Ertrage  einen  festbestimmten  Zins  jährlich  an  den 
Leiheherrn  abzuführen,  ist  der  auch  hier  regelmässig  wieder- 
kehrende Vcrtragsinbalt,  der  überhaupt  in  freien  und  unfreien 
Leihen  so  häufig  sich  findet. 

Die  für  unsere  Frage  speciell  belangreichen  Momente,  die 
Art  und  der  Inhalt  der  zwischen  Leiheherrn  und  Beliehenen 
bestehenden  persönlichen  Beziehungen,  lassen  sich  wohl  nur 
an  Einzelfällen  genauer  feststellen , weshalb  zunächst  eine 


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Reihe  von  Beispielen,  die  für  den  Übergang  characteristisch  sind, 
zur  Veranschaulichung  des  oben  in  allgemeinen  Umrissen  ge- 
kennzeichneten Verhältnisses  herangezogen  werden  soll. 

Wenn  man  von  einer  dem  Jahre  952  angeliörigen,  in  der 
Urkundensanmilung  von  Lörsch  und  Schröder  als  Erbpacht, 
beziehungsweise  als  Erbzins  bezeichncten  Leiheurkunde  l)  absieht, 
die  ausser  ihrer  zeitlichen  Isolierung  auch  durch  manche  inhaltliche 
Eigentümlichkeiten  sich  von  den  späteren  Leiheurkunden  entfernt, 
so  dürfte  der  Leihebrief*)  des  Probates  Poppo  des  St.  Simonstiftes  in 
Trier  aus  dem  Jahre  1092  wohl  eine  der  ältesten  der  hier  in  Betracht 
zu  ziehenden  Urkunden  sein.  Ihr  Inhalt  ist  etwa  der  folgende: 
Schon  Burchard,  der  Vorgänger  des  damaligen  Probstes,  hatte 
einen  Thcil  des  „in  curte  Hoinga“  gelegenen,  dem  Stifte  ge- 
hörigen Sallandcs  zum  Zwecke  der  Anlage  von  Weinbergen 
gegen  Ablieferung  des  halben  Ertrages  zu  erblichem  Leiherechte 
ausgethan.  Seinem  Beispiele  folgt  Poppo,  indem  er  auch  den 
Rest  des  dort  gelegenen  Salgutcs,  das  bis  dahin  wenig  Nutzen 
gewährt  hatte,  gegen  bestimmte  Zinssätze  verlieh  und  die  Ver- 
leihung in  feierlicher  Versammlung  bekräftigte,  nachdem  er  die 
ganze  Angelegenheit  zuvor  mit  dem  dortigen  Vogte  und  den 
prudentioribus  et  fidelioribius  eiusdem  familie  viris  besprochen 
hatte.  Nähere  Angaben  fehlen  in  der  Urkunde.  Sic  sagt  uns 
namentlich  nichts  darüber,  wer  in  den  Besitz  dieser  Güter  ge- 
langte3), noch  weniger  über  der  Beliehenen  persönliche  Be- 
ziehungen zu  dem  abtcilichen  Hofe  und  zu  dem  Leiheherrn, 
dem  Stifte  selbst.  Jedoch  machen  die  Nennung  des  Vogtes 
und,  was  über  die  Form  der  Bestellung  gesagt  ist,  das  Vor- 
handensein eines  persönlichen  Abhängigkeitsverhätnisses  der 
Beliehenen  ziemlich  wahrscheinlich  und  eine  solche  Annahme 
findet  wohl  darin  ihre  weitere  Bestätigung,  dass  der  ganze 
Leihebrief,  der  schon  nach  seinen  Eingangsworten  die  Aufgabe 
hat  zu  zeigen,  zu  welchem  Nutzen  der  Probst  das  früher  unbenützte 
Stück  Landes  gebracht  hat,  nur  der  dem  Stifte  zukommenden 
Vortheile  gedenkt  und  der  Beliehenen  und  ihres  Rechtes  erst 


*)  Lörsch  und  Schröder  1.  Aufl.  No.  56,  2.  Aufl.  No.  76;  Mit.  UB. 
1 193;  vergl.  dazu  Lamprecht  D.  W.  L.  I,  2,  S.  908  Aura.  2. 

*)  MR.  UB.  I 386. 

‘)  Nur  bezüglich  einer  curtis  stabularia  sind  EDgelbertus  et  Hetzel  als 
Empfänger  genannt. 


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in  der  Corroboratio  mit  den  Worten : „ut  stabiliter  permaneret 
a generatione  in  generationein“  eine  dürftige  Erwähnung  thut. 
Wenn  nun  auch  in  allen  Leiheurkunden  dem  Leiheherrn,  schon 
als  beurkundender  Person,  im  Verhältnisse  zu  dem  Beliehenen  eine 
übergeordnete  Stellung  zukoimnt,  so  reicht  dieselbe  hier  doch  weit 
über  das  gewöhnliche  Mass,  und  das  eben  besprochene  Oocument 
kann  bei  dieser  Form  nur  als  der  Ausdruck  einer  herrschaft- 
lichen Gunstbczeuguug  und  Concession  aber  gewiss  nicht  als 
Beurkundung  eines  Vertrages  gedeutet  werden.  Das  Prädominieren 
des  Leiheherrn  in  seiner  herrschaftlichen  Stellung  macht  es  be- 
greiflich, dass  über  die  persönlichen  Beziehungen  der  Abhängigen 
keine  weiteren  Worte  verloren  wurden;  sie  blieben  eben  ver- 
muthlich  in  der  Stellung,  die  sie  vordem  einnahmen,  und  an 
der  zu  rütteln  niemand  einen  Anlass  fand.  Hervorzuheben  ist 
nur  noch,  dass  die  in  der  Urkunde  ausdrücklich  aufgenommenen 
rechtlichen  Festsetzungen  sich  völlig  mit  dem  Inhalte  der  freien 
Leiheverträge  decken  und  deren  gewöhnlichen  und  nothwendigen 
Bestimmungen  gegenüber  weder  ein  Mehr  noch  ein  Weniger 
enthalten. 

Ziemlich  analoge  Verhältnisse  dürften  geschaffen  worden 
sein  bei  der  Gründung  jener  Waldcolonie,  die  nach  der  im 
Diplomatar  des  Marienstiftes  bei  Trier  uns  erhaltenen  Urkunde*) 
der  Abt  dieses  Klosters  dadurch  ins  Leben  rief,  dass  er  den 
Bewohnern  eines  benachbarten  Dorfes  (habitantibus  in  vico  T. 
homnibus)  ein  Stück  nutzlosen  Waldes  gegen  einen  in  Wein  be- 
stimmten, eventuell  in  Geld  ablösbaren  Zins  zur  .Rodung  über- 
liess.  Die  Qualität  des  zur  Zinszahlung  abgelieferten  Weines, 
der  von  den  Bauern  an  den  nächstgelegenen  herrschaftlichen 


■)  1115  MK.  UB.  I 432  ....  silvam  . . . habitantibus  . . in  vico 
Tembleti  hominibus  excidendam  concessi,  non  tarnen  sine  jure  annuali  et 
utilitate  conditionali.  Kst  autem  hec  con  di  tio,  quatenus  in  ipsa  b.  Martini 
festivitatis  die  tres  anias  vini  mihi  raeoque  inposterum  successori  persolvant, 
et  easdem  die  eadem  in  Velrecbo  quocunque  modo  del'erant;  quod  si 
ibidem  cunveniente  familia  mea  vinum  aceeptabile  probabitur,  rata  et  indis- 
solubili  conventione  iruantur;  si  vero  aliqua  iuter  utramque  partem  contro- 
versia  oritur,  et  detractionis  causa  vinum  fortassis  inreprobabile  reprobabitur 
duos  superioris  proxime  et  totidom  inferioris  ville  viros  iudices  sibi  consti- 
tuant,  et  eorum  super  hec  re  deliberationem  ratam  teneant  ....  Si  vero 
suo  tempore  omnis  hec  non  servabitur  conventio,  libera  ecclesie  restituatur 
supradicta  possessio. 


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Hof  zu  führen  war,  wurde  zunächst  unter  eine  gewisse  Controle 
dieses  Hofes,  in  zweiter  Instanz  unter  eine  Art  Schiedsgericht 
gestellt,  und  für  den  Fall  gehöriger  Erfüllung  aller  Verbindlich- 
keiten die  Dauer  des  Vertrages,  für  den  anderen  Fall  die  Auf- 
lösung desselben  in  Aussicht  genommen.  Weist  hier  die  Be- 
zeichnung der  Abmachung  als  Vertrag  (conveutio)  und  die 
grössere  Anlehnung  an  die  sonst  bei  freien  Leihen  übliche  Form 
auf  eine  freiheitliche  Bildung  hin , so  liegt  in  der  wenigstens 
partiellen  Unterstellung  der  Weinbauern  unter  einen  herrschaft- 
lichen Hof  vielleicht  ein  Hinweis  auf  das  Vorhandensein  einer 
gleichwohl  noch  bestehenden  persönlichen  Unterordnung  unter 
die  Herrschaft,  die  ihren  Einfluss  möglicherweise  auch  noch  in 
anderer  Richtung  geltend  machen  konnte. 

Annähernd  gleichen  Inhalt  hat  die  Urkunde1)  des  Abtes 
Wilhelm  von  St.  Martin,  der  den  Leuten  eines  bestimmten 
Hofes  ein  Stück  Waldes  gegen  jährliche  Zinsleistungen  über- 
liess.  Die  in  den  Leihebrief  aufgenommene  Bestimmung, 
dass  die  zur  Zahlung  verpflichteten  Bauern  durch  Nachlässigkeit 
in  der  Erfüllung  ihrer  Obliegenheiten  nicht  nur  ihres 
Antheiles  am  Walde,  sondern  alles  Rechtes,  das  ihnen  die 
Herrschaft  gewährt  hatte,  verlustig  gehen  sollten,  begründet  wohl 
die  Annahme,  dass  sie,  die  fortwährend  als  homincs  villae  be- 
zeichnet werden,  zu  dem  Marienstiftc  schon  vordem  in  einem 
Abhängigkeitsverhältnissc  gestanden  seien,  an  dem  freilich  durch 
die  neue  Begünstigung  zunächst  nichts  geändert  werden  sollte. 

Ob  aber  die  Verleihung  von  solchem  Rodelande,  wenn  damit 
eine  grössere  Zahl  von  Angehörigen  eines  Hofes  begünstigt 
wurde,  diesen  nicht  — zunächst  vielleicht  bloss  factisch,  dann  auch 
rechtlich  — zu  einer  grösseren  Selbstständigkeit  und  Unabhängig- 
keit verhalf,  ist  eine  Vermuthung,  die  ebensowohl  in  gewissen, 
den  bezüglichen  Leihebriefen  augehörigen  Wendungen4),  wie  in 


')  1145  Ennen  I 54. 

*)  Als  solche  könnten  etwa  bezeichnet  werden  die  Ausdrücke,  welche 
diu  Abmachung  als  Vertrag  bezeichnen,  die  Constituierung  eines  Schieds- 
gerichtes, wie  in  1115  MH.  U'B.  I 432  oder  sonst  die  Designierung  eines 
bestimmten  Gerichtes  für  Streitigkeiten  zwischen  Lciheherrn  uud  Beliehenen, 
vielleicht  auch  unter  Umständen  die  Zahlung  eines  Kaufpreises  bei  Ein- 
gehung des  Verhältnisses,  die  besondere  Motivierung  des  Geschäftsabschlusses 
im  Eingang  der  Leiheurkunde  u.  a.  m. 


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der  durch  spatere  Weisthümer  zu  erweisenden1)  thatsächlich 
privilegierten  Stellung  solcher  Colonien,  besonders  der  Weinberg- 
genossenschaften  eine  Stütze  finden  kann. 

Bestimmter  und  mit  noch  mehr  Grund  wird  man  aber  eine 
solche  Entwickelung  im  freiheitlichen  Sinne  für  alle  Fälle  be- 
haupten können,  in  welchen  nicht  eine  ganze  Gruppe  von  Hof- 
genossen eine  geschlossene  Corporation,  sondern  nur  Einzelne 
mit  solch  geliehenem  Grundbesitze  ausgestattet  wurden.  Kamen 
dort  die  Vortheile  oft  nur  der  Gesammtheit  oder  ihrem  Vorstande 
(villicus)  zu  Gute,  während  der  Einzelne  eben  an  diese  Gesammt- 
heit  und  ihre  Organe  nach  wie  vor  durch  die  gleichen  rechtlichen 
Bande  geknüpft  war,  so  fielen  hier  die  gewährten  Begünstigungen 
dem  Einzelnen  unmittelbar  und  ungeschmälert  zu. 

In  dem  Leihebrief*)  des  Domcapitels  in  Trier,  wodurch  ein 
durch  Precarienvertrag  erworbenes  Stück  Landes,  dessen  Bewirt- 
schaftung im  Eigen  betriebe  für  das  Capitel  wegen  derer  entfernten 
Lage  unbequem  erschien,  einem  gewissen  Woluechinus  und  dessen 
Sohne  Lambertus  erblich  und  für  alle  Zeiten  zu  sorgsamer  Cultur 
gegen  Zinsabgaben  überlassen  wurde,  gibt  noch  die  Beziehung 
auf  die  in  der  Nachbarschaft  üblichen  Zinse  und  die  Unter- 
stellung unter  einen  herrschaftlichen  Boten  einige  Anhaltspunkte 
für  die  Art  der  Einordnung  in  den  herrschaftlichen  Verband, 
wenn  man  auch  nach  dem  Inhalte  der  Urkunde  eine  sehr  inten- 
sive Betätigung  eines  etwaigen  Herrschaftsrechtes  nicht  gerade 
für  wahrscheinlich  halten  mag. 

Ihrem  Inhalte  nach  nicht  viel  verschieden  ist  die  vom  Probate 
Gottfried  von  Trier  vollzogene  und  beurkundete  *)  erbrecht- 
liche Übertragung  eines  schlecht  gepflegten  zum  kirchlichen  Sal- 
lande  gehörigen  Weingartens,  der  zur  besseren  Pflege  cuidain 
homini  eiusdem  curie  Rezelino  und  seinen  Erben  gegen  Ablieferung 
des  halben  Ertrages  überlassen  wurde.  Die  weitere  Bestimmung, 
dass  die  Besitzer  nur  dann,  wenn  sie  das  Grundstück  veröden 
Hessen  oder  betrügerisch  vorgiengen,  desselben  durch  ein  Urtheil 
von  Genossen  entsetzt  werden  dürfen,  wurde  gewiss  mehr  zum 


*)  vergl.  Lamprecht  D.W.L.  I 6.  Absohnitt,  3. 
*)  o.  1182  11R.  ÜB.  I 474. 

*)  1133  MR.  UB.  I 484,  ähnlich  1168,  652. 


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Vortheile  als  zu  Ungunsten  derselben  in  den  Leihebrief  aufge- 
nommen.  Man  darf  hier  wohl  mit  Grund  eine  relativ  selbstständige 
Stellung  des  Beliehenen  annehinen,  und  die  Fassung  der  Urkunde, 
die  von  einer  Einordnung  in  den  Herrschaftsverband  nichts  mehr 
spricht,  macht  es  wahrscheinlich,  dass  der  lioino  curie  im  Leben 
wenig  von  seiner  Abhängigkeit  verspürt  haben  dürfte. 

Urkunden  eines  derartigen  Inhaltes  stehen  nicht  vereinzelt  da. 
Gemeinsam  ist  ihnen  das  negative  Moment,  dass  sie  über  ein  per- 
sönliches Abhängigkeitsverhältnis  des  Beliehenen,  seine  Unter- 
ordnung unter  die  herrschaftliche  Wirtschaftsordnung  unmittelbar 
keinen  Aufschluss  geben.  Und  wenn  ja  gewisse  schwache  Hin- 
weise dazu  berechtigen,  das  Vorhandensein  von  derlei  rechtlichen 
und  wirtschaftlichen  Beziehungen  zu  vermuten,  so  enthält  das, 
was  in  den  bezüglichen  Urkunden  Aufnahme  fand,  doch  wesent- 
lich denselben  rechtlichen  Inhalt,  der  hei  analogen  Leiheverträgen 
mit  freien,  der  Gutsherrschaft  nicht  unterworfenen  Personen  zur 
Anwendung  kommen  konnte  und  zur  Anwendung  kam,  weil 
eben  alle  Momente,  die  eine  Einfügung  in  den  grundherrschaft- 
lichen WirthschaftsorgunismuB  zum  Ausdruck  brachten,  wie  die 
Regelung  der  Beziehungen  des  Erbpächters  zu  dem  Meier,  Vogte 
oder  Gutsherrn  selbst,  dem  Vertragsinhalte  ferne  geblieben  sind. 

Als  Beispiele  hiefiir  könnten  etwa  noch  der  Leihevertrag  des 
Stiftes  Münstermaifeld  mit  Heinrich  agnoraento  iaculatori  über 
einen  Weingarten  im  Orte  Lehmen1),  sowie  der  des  üomcapitels 
Trier  mit  dem  dortigen  Bürger  Elmenricus  über  ein  erst  zu  einem 


>)  1200  Mft  ÜB.  II  182  ....  quod  cum  Henrico  agnomento  iaculatore 
super  quadam  vinea  ...  in  medio  ville  que  dicitur  limine  iu  hac  forma  cos- 
traxi  mus,  quod  Henricus  predictam  vineam  fideliter  et  diligentcr  excoleret. 
et  tempore  vindeiniarum  provisorem  uostrum  ...  in  victu  sicut  expediret 
procuraret,  ac  dimidietatem  vini  inde  provenientis  suis  expensis  nobis  ibidem 
fideliter  absque  diminutione  presentaret.  Eodem  quoque  tempore  cellerario 
nostro  quartale  vini,  sumbrinum  avone,  octo  nummos  levis  monete  ad  expen- 
sam  persolvet.  Preterea  in  domo  ecclesie  nostre  torcular  et  dolia  sufficien- 
tia  tarn  ad  nostram  quam  ad  suam  vini  portionem  recipiendam  procurabit 
et  peracto  vindemiarum  tempore,  claves  domus  cellerario  nostro  restituet 
Si  vero  vel  ipse  H aut  uxor  eius  hadewich  decesscrit,  qui  snperstes  fuerit, 
predicto  gaudeat  iure.  Similiter  si  prolem  babuerint,  unus  tarnen  filiorum 
integraliter  et  indivisam  excolet  vineam,  et  pretaxato  gaudebit  iure.  Si 
autem  sine  prole  decesserint,  nullus  heredum  in  his  bonis  obtineudis  se 
aliquo  iure  tueri  poterit. 


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Weingarten  umzugestaltendes  Rodeland ')  u.  a.  *)  angeführt 
werden.  Ihr  wesentlicher  Inhalt  ist  die  erbliche  Überlassung  des 
Grundstückes  zur  Cultur  gegen  das  Versprechen  gehöriger  Zins- 
leistung. Dies  wird  ergänzt  durch  eine  nähere  Regelung  der 
erbrechtlichen  Bestimmungen,  die  Einschränkung  auf  nur  einen 
Erben,  und  durch  andere  weniger  belangreiche  Momente.  Die 
Verbindlichkeit,  das  Leihegut  zu  cultivieren  und  zu  pflegen,  und 
bei  der  erstgenannten  Urkunde  die  detaillierten  Bestimmungen 
über  die  Ablieferung  des  Weines  an  den  herrschaftlichen  Keller 
und  die  dabei  zu  erfüllenden  Leistungen  weisen  allein  noch  auf 
einen  Zusammenhang  mit  dem  Wirthschaftsbetriebe  des  Herrn- 
gutes  hin. 

Auch  dieser  letzte  Hinweis  fehlt  endlich . in  älterer  Zeit 
freilich  nicht  all  zu  häufig,  später  aber  in  grösserer  Allgemein- 
heit, in  dem  Inhalte  solcher  Leiheverträge,  und  damit  ist  jene 
Form  erreicht,  die  geeignet  war,  gleichtnässig  auf  dein  flachen 
Lande  und  auf  detn  städtischen  Boden  und  mit  freien,  selbst 
edeln  Herrn®),  ebenso  wie  mit  abhängigen  Leuten  vielseitig  An- 
wendung zu  finden,  jene  Form,  über  deren  rechtlichen  Inhalt 
schon  früher  ausführlich  gesprochen  worden  ist. 

Schon  die  hier  angeführten  Beispiele  dürften  genügen,  den 
Eindruck  hervorzurufen,  den  ein  Ueberblick  über  das  ganze  er- 
haltene Urkundcnmatcrial  in  erhöhtem  Masse  gewährt,  dass 


')  1204  Mft.  Uß.  II  221  . . . quod  . . . elmenrieo  civi  treverensi  quan- 
dam  terram  incultam  in  ruselingrove  ...  ad  vineam  plantandam  et  exeo- 
lendam,  et  suis  post  eum  heredibas  iure  bereditario  habendam  sub  annuali 
ceusu  concessimus.  Hane  autem  inter  ecclesiam  nostram  et  prefatum  civem 
seu  suum  hcredem  ordinationem  observandam  statuimus,  quod  annuatim  us- 
que  ad  quatuor  annos  ...  V solidos  in  festn  b.  martini  super  memorata 
terra  refeotorii  nostri  administratori  reddere  tenetur.  In  quinto  vero  anno 
et  deinceps  a prefato  cive  sive  suo  berede  ama  una  vini  cum  claustrali 
mensura  super  eadem  terra  prenotato  ammiuistratori  annuatim  reddetur,  aut 
si  vinum  defecerit  X solidi  pro  ama  vini  in  festo  b.  martini  solventur.  Hoc 
etiam  adnectere  curavimus,  quod  pretaxata  hereditas  nou  in  plures  berodes 
dividetur  sed  integra  a sola  persona  memoratus  census  persolvetur.  In- 
super si  sepedictus  elmenricus  sive  suus  heres  prenotatam  hereditatem  sibi 
alicnarc  et  vendere  volet,  hoc  primum  ecclesie  nostre  evidenter  denuntiabit, 
et  si  nec  ad  opus  ecclesie  nostre  nec  ad  opus  cuiusquam  fratrum  nostrorum 
inter  fratres  capituli  noBtri  emptorem  invenerit,  cuicumque  alii  volet  vendendi 
liberain  potestatem  habebit. 

»)  z.  B.  MR.  ÜB.  II  1202,  239;  III  1215,  32  u.  a. 

*)  s.  oben  S.  37. 


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nämlich  eine  Reihe  continuierlich  sich  an  einander  schließender 
Übergangpfiille  zwischen  den  alten,  dem  Hofrechte  angehörigen 
Landleihen  und  den  freien,  ungebundenen  Leihen,  wie  sie  im  12. 
und  13.  Jahrhunderte  häufig  wurden,  eine  Verbindung  hersteilen 
und  die  Annahme  einer  historischen  Entwickelung  ungemein 
nahe  legen. 

Man  sieht  in  bunter  Mischung  leiherechtliche  Abmachungen 
der  verschiedensten  Art  für  die  verschiedensten  wirthschaftlichen 
Bedürfnisse  in  Anwendung,  Landleihen,  die  bald  die  Merkmale 
streng  hofrechtlicher  Gebundenheit,  bald  den  Character  völlig 
freier,  von  personenrechtlichen,  herrschaftlichen  Elementen  unbe- 
einflusster Verträge  an  sich  tragen , oder  dazwischen  liegende 
Mittelstufen  einnehmen,  ohne  dass  die  auf  uns  überkommenen 
Nachrichten  stets  die  nöthigen  Anhaltspunkte  gewähren  würden, 
um  den  einzelnen  Pall  mit  Sicherheit  der  einen  oder  anderen 
Gruppe  zuzuweisen  und  an  den  Übergängen  scharfe  Grenzlinien 
ziehen  zu  können. 

Der  ländlichen  Leihe  freilich  blieb  selbst  in  der  freiesten 
Ausgestaltung,  zu  der  sie  gelangt  ist,  immer  noch  ein  gewisser 
Zusammenhang  mit  dem  wirthschaftlichen  Grossbetriebe  gewahrt. 
Wenn  es  auch  in  vielen  Fällen  für  den  Leiheherrn  factisch 
darauf  hinauskam,  dass  er  für  den  aufgegebenen  Besitz  einen 
fixen  Geldzins  erhielt,  so  erschöpfte  sich  hierin  gewiss  nicht  der 
bei  Abschluss  des  Leihecontractes  intendierte  Zweck.  Die  Absicht, 
das  Grundstück  der  Oultur  zuzufdhren  oder  in  einem  guten 
Culturzustande  zu  erhalten,  blieb  wenigstens  neben  dem  Gedanken, 
aus  dem  dabei  zu  gewinnenden  jährlichen  Zinsenerträgnisse 
ein  mühelos  zu  erwerbendes  und  sicheres  Einkommen  zu  erlangen, 
immer  das  entscheidende  Motiv  für  die  Begründung  solcher 
Erbleihen.  Zu  einem  reinen  Geldgeschäfte  ist  die  ländliche 
Erbleihe  nie  geworden;  und  noch  mehr.  Der  Zins  hat  freilich 
von  dem  ihm  früher  eigenen,  an  Unfreiheit  oder  Abhängigkeit 
erinnernden  Beigeschmäcke  viel  oder  alles  verloren  und  sich  seine 
Bedeutung  nur  in  seinem  pecuniären  Werthe  erhalten.  Aber  in 
gleicher  Weise,  wie  in  wirthschaftlichen  Beziehungen  ein  Zu- 
sammenhang mit  dem  Herrngute  gewahrt  blieb,  mochte  sich 
für  den  beliehenen  Bauer  eine  persönliche,  wenn  auch  wenig 
bedeutsame,  Unterordnung  unter  die  Herrschaft  und  ihr  (später 
patrimoriales)  Gericht  oft  dauernd  erhalten  haben. 

Wenn  man  nun  bei  dieser  Sachlage  auch  für  die  freien 
Leihen  des  ländlichen  Güterrechtes  eine  vollständige  Befreiung 


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von  allen  herrschaftlichen  Einflüssen,  die  durchgreifende  Trennung 
aller  persönlichen  und  vermögensrechtlichen  Elemente  nicht 
anzunchmen  hat,  ist  der  Gegensatz  zwischen  dem  alten,  hof- 
rcchtlich  gebundenen  und  dem  neuen  Leiherecht  ein  sehr  be- 
deutender, und  zwischen  beiden  liegt  ein  mächtiger  Fortschritt 
im  Sinne  einer  freiheitlichen  Entwickelung,  ein  Fortschritt,  der 
auch  in  den  Zeiten  des  Ueberganges,  da  beide  Formen  neben 
einander  vorkamen,  als  ein  wesentlicher  allgemein  empfunden 
wurde. 

Zeugen  dessen  sind  uns  die  freilich  nicht  all  zu  zahlreich 
erhaltenen  Urkunden,  in  welchen  gelegentlich  der  Begründung 
neuer  Leiheverträge  die  Befreiung  von  den  Lasten  der  älteren 
gebundener  Leiheformen,  die  durch  das  bessere  Recht  verdrängt 
wurden,  Erwähnung  thun  ’).  Hier  kommt  der  Gegensatz  klar  zum 
Ausdrucke.  Was  bei  Betrachtung  des  historischen  Werdepro- 
zesses als  Anfang  und  Endpunkt  einer  continuierlichen,  allmähligen 
Entwickelung  erschien,  äussert  sich  bei  solch’  unvermitteltem 
Übergange  als  ein  Sprung  von  dem  einen  Extreme  in  das  andere. 

Noch  ein  gutes  Stück  gewaltiger  ist  der  Contrast,  wenn 
man  den  alten,  gebundenen  Landleihen,  welche  das  Hofrecht  in 
den  verschiedensten  Formen  gezeitigt  hat,  das  städtische  1-ieihe- 
rccht  und  die  Entwickelung,  die  es  späterhin  genommen  hat, 
gegenüberstellt.  Während  auf  ländlichem  Boden  die  Fortdauer  eines 
wenn  auch  sehr  beschränkten  herrschaftlichen  Momentes  im 
Leiherechte  vielleicht  als  Regel  auch  für  die  spätere  Zeit  noch 
wird  angenommen  werden  müssen,  findet  sich  davon  bei  den 
gewöhnlichen  städtischen  Erbleihen  sicher  nicht  mehr  die  ge- 
ringste Spur*).  Und  was  eben  für  die  ländlichen  Leihen  mit 
Entschiedenheit  in  Abrede  gestellt  werden  konnte,  die  Um- 
wandlung der  Leihe  zu  einem  Geschäfte  lediglich  pecuniären 
Characters,  die  Anwendung  ihrer  Form  für  geldgeschäftliche 
Speculation,  das  hat  sich  innerhalb  der  Mauern  der  Städte  that- 
snchlich  vollzogen3). 

Wenn  man  dieses  städtische  Leiherecht  mit  einem  Hinblicke 
auf  die  eben  angedeutete  spätere  Entwickelung  in  Betracht  zieht 


')  vergl.  oben  S.  101  f. 

*)  vergl.  Heusler,  (lewere  S.  142,  Verfassuugsgeschichte  der  Stadt 
Basel  S.  172. 

s)  vergl.  Arnold  und  (Jobbers  a.  a.  O. 
v.  .SrAwimf,  Krbleibeu.  8 


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und  ihm  die  Leiheverhältnisse  de«  alten,  strengen  und  noch  nicht 
gemilderten  Hofrechtes  gegenüberhält,  dann  erscheint  der  Unter- 
schied allerdings  so  bedeutend,  wie  ihn  Gobbers  in  seiner  oft 
genannten  Untersuchung  über  Erbleihe  und  ßentenkauf  des 
mittelalterlichen  Kölns  kennzeichnet  ').  Dann  stehen  sich  in  der 
That  „Häuserleihc  und  Hofrecht  stracks  gegenüber:  dort  Freiheit, 
hier  Unfreiheit,  dort  dingliches  Recht,  hier  gar  keines,  höchstens 
ein  von  dem  Belieben  des  Grundherrn  abhängiges,  wenn  auch 
nicht  von  ihm  nach  Willkür  gehandhabtes  Recht“.  Dann  ist 
es  allerdings  „nicht  ersichtlich,  wie  aus  dem  einen  Rechtsinstitut 
das  andere  sich  entwickelt  haben  soll“  *)  und  man  mag  sich 
gerne  der  Auffassung  zuneigen,  dass  hier  ein  neues  zeitgemässeres 
Rechteinstitut  die  unbrauchbaren  alten  Formen  verdrängt  habe, 
nicht  aus  ihnen  herausgewachsen  sei. 

Und  doch  fällt  die  weitreichende  Conformität  der  städtischen 
und  ländlichen  Erbleihcn  in  den  verschiedenen  Formen  ihres 
ersten  Auftretens  unwillkürlich  in  die  Augen. 

Auch  auf  städtischem  Boden  finden  wir  hofrechtliche  Leihen  — 
eine  Thatsache,  die  wohl  von  keiner  Seite  bestritten  wird*).  Selbst 
Urkunden  aus  späterer  Zeit,  die  auch  ihrem  Inhalte  nach  einer 
späteren  Entwickelung  angehören , wie  z.  B die  zahlreichen 
Kölnischen  Leihebriefe,  die  einen  „Hofzins“  erwähnen,  bringen 
unzweideutig  den  Bestand  von  solchen  älteren  Verhältnissen  zum 
Ausdrucke4).  Auch  hier  finden  wir  Leiheverträge,  die  in 

*)  8.  140,  § 6. 

*)  Die  von  Arnold,  Gesch.  des  Eigentbums  8.36  vertretene  Ansicht. 

*)  Selbst  nicht  in  der  Abhandlung  v.  Be  low 's  „zur  Entstehung  der 
deutschen  Stadtverfassung  1 Hist.  Zeitschrift  58.  Bd.  p.  203  f.  u.  243  f. 
vergl. ausserdem  Heus ler,  Verfassungsgeschichte  v. Basel S.  170, Institutionen 
§ 95  u.  111,  Gobbers  a.a.0.  8.177  Ennen,  Gesch.  der  Stadt  Köln  1 113. 

*)  z.  B.  Ennen  II  1205,  18;  1214,  44;  1217,  66;  1232,  128;  1238,  179; 
1242,  223;  1243,  229;  1249,  290;  291;  1256,  361;  1261,  420;  1364,  466;  III 
1283,  233;  1287,  283;  vergl.  auch  1.  eod.  1285,253;  Hoeniger  Schreinsurkk. 
I Laur.  1 VI  1.  — Da  das  jus  hereditarium  in  Köln  rechtlich  ziemlich 
auf  gleicher  Stufe  steht  mit  dem  jus  civile  anderer  Städte,  so  muss  man  die 
genannten  Urkk.  als  Leihen  nach  Stadtrecht  deuten,  bei  welchen  sich  gleich- 
wohl eine  Abgabe  findet,  que  hovecius  dicitur;  will  man  andererseits  den 
stadtrechtlichen  Character  dieser  Leihen  nicht  zugebeu,  und  ihnen  wegen 
des  Hofzinses  hofrechtliche  Natur  vindicieren,  daun  muss  mau  hervorhebeo, 
dass  einzelne  von  ihnen  die  Verpflichtung  zur  Traguug  von  stadtrecht- 
liclien  Lasten  ausdrücklich  aussprechen  (z.  li.  Eunen  II  1217  56:  ausser  dem 
Erbzins:  insuper  et  censum  que  Curie  dicitur  nec  non  ct  omne  jus  civile 
qualecumque  fieri  contigerit  . . . omne  admiuistrabuut  und  1255,  361:  insuper 


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dem  Ausschlüsse  der  bei  hofrechtlich  gebundenen  Formen  ge- 
botenen persönlichen  Beschränkungen  oder  in  der  Statuierung 
einzelner  derselben  auf  den  Gegensatz  und  die  Verwandt- 
schaft der  beiden  Leiheformen  Hinweisen.  Wie  gleichartig 

endlich  die  entwickelten  freien  Leihen  in  Stadt  und  Land 
ihrem  Inhalte  nach  gestaltet  waren,  hat  schon  die  obige  dog- 
matische Darstellung  erwiesen,  indem  alle  dort  dargelegten  Grund- 
sätze gleichmässig  in  Beispielen  des  städtischen  und  ländlichen 
Rechtes  ihre  Stütze  fanden.  Einige  speciell  hieher  gehörige  Ur- 
kunden sollen  dies  noch  besonders  in  Erinnerung  bringen. 

So  gab  z.  B.  der  Domprobst  von  Köln ')  einem  gewissen  Eiko  von 
Halle  einen  Baugrund  zu  erblichem  Rechte,  so  zwar,  dass  derselbe 
nach  des  Beliehenen  Tode  an  dessen  eheliche  Nachkommenschaft 
unter  Aufrechterhnltung  dieser  „Schenkung“  gelange,  dafür  aber 
ein  jährlicher  Zins  von  7 sol.  an  die  Angehörigen  der  Kölner  St. 
Peterskirche  zu  bestimmten  Termine  zu  bezahlen  sei.  Sollten 
die  Besitzer  den  Zins  nicht  zu  zahlen  gewillt  sein,  so  solle  die 
Hofstättc  sammt  dem  darauf  Erbauten  an  die  Canonicer  von 
St.  Peter  zurückfallen.  Die  weitere  Bestimmung,  dass  ausser 
dem  Zinse  auch  alle  civiles  exactiones  an  die  Bürger  zu  bezahlen 
seien,  ist  zwar  durch  diu  Besonderheiten  des  städtischen  Rechtes 
verursacht;  ihr  Hinzutreten  zu  den  eigentlich  leiherechtlichen 
Festsetzungen  ändert  aber  nichts  an  deren  Character  und  deren 
Uebereinstimmung  mit  dem  Inhalte  analoger  Landleiheverträge. 

Enthält  eine  ziemlich  verwandte  Urkunde  des  Mainzer  Erz- 


censnm  qui  hovezins  dicentur  collectas  et  omne  ius  civile  persolvent).  Über- 
legt man  hiezu,  dass  auch  bei  unzweifelhaft  städtischen  Leihen  Abgaben 
hofrechtlicher  Art  wie  z.  B.  die  V'orheucr  sioh  finden,  (vergl.  Arnold 
a.  a.  0.  S.  35  u.  70,  Rose  n tbal  a,  a.  0.  S.  76),  so  wird  man  den  Ausführungen 
v.  Below’sa  a.  O.  S.  203  f,  z.  B.  dem  Satze : „der  Grundbesitz  zu  Rof- 
recht  ist  von  den  städtischen  Lasten  frei,  der  Grundbesitz  zu  Stadtrecht 
von  den  hofrechtlichen“  gewiss  nicht  beipflichteu  können. 

')  1184  Birnen  1 98  ...  . tradidi  Bikoni  de  halle  arearn  quandain 
. . . . hereditario  iure,  ut  videlicet  post  eius  obitum  ad  legitimos  ipsius 
heredes  sub  eiusdem  donationis  obtentu  devolvatur,  hoc  pacto,  ut  singulis 
annis  in  anniversario  Herimanni  solvat  omni  cxcuBatione  remota  fratribus 
s.  Petri  eoloniensis  monete  VII  solidos  et  praeterea  civibus  omnes  civiles 
exactiones  sine  nostro  dampno  et  uostri  ceusus  diminutione.  Si  vero  post 
aliquot  anuos  vel  ipse  vel  heredes  Bui  predictum  censum  solvere  noluerint, 
predicta  area  cum  suppositis  edificiis  ad  potestatem  canonicorum  s.  Petri 
redeat. 

8* 


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bischofes  Conrad1),  welcher  die  erbliche  Verleihung  eines  Mainzer 
Bauplatzes  an  den  Wagenbauer  Hartrad  verbriefte,  die  Besonder- 
heit eines  in  Wachs  zu  entrichtenden  Zinses  und  damit  viel- 
leicht einen  Hinweis  auf  Wachszinsigkeit,  so  bewegt  sich,  um 
noch  ein  weiteres  Beispiel  zu  nennen,  ein  Leihebrief  des  Abtes 
von  St.  Martin  in  Köln  *)  und  viele  andere  solche  städtische 
Leihen  wieder  ganz  in  den  Formen  des  Leiherechtes  überhaupt. 
Der  Abt  überlässt  einem  gewissen  Tirricus  summt  Frau  und 
Erben  ein  kleines  Haus  zu  Erbrecht  mit  der  Verabredung,  dass 
davon  ein  jährlicher  Zins  und  überdies  der  sogenannte  Hofzins, 
sowie  die  bürgerlichen  Abgaben  von  den  jeweiligen  Besitzern 
ohne  Beeinträchtigung  des  Leihezinses  zu  bezahlen  seien. 

Abgesehen  von  dem  Hofzinse,  indem  man  wohl  einen  Best 
ehemals  hofrechtlicher  Zinspflicht  erblicken  muss®)  und  der 
demnach  vielleicht  eine  Besonderheit  enthält,  schliesst  sich  auch 
dieses  Übereinkommen  den  ländlichen  Leihen  vollkommen  an. 
So  findet  sich  in  diesen  und  in  allen  anderen  Fällen 4)  von 
städtischer  Erbleihe,  so  lange  sie  noch  nicht  in  ihrem  weiteren 
Fortschreiten  neue  Formen  gewonnen  hat,  im  wesentlichen 
völlig  die  gleichen  Bestimmungen,  die  in  freien  Leihen  auf  dem 
Lande  gebräuchlich  sind.  Und  wenn  man  will,  lässt  sich 
auch  in  manchem  untergeordneten,  an  sich  belanglosen  Detail 
eine  analoge  Ausgestaltung  der  leiherechtlichen  Bildungen  inner- 
halb und  ausserhalb  der  Stadtmauern  verfolgen.  So  entsprechen 
doch  die  im  städtischen  Rechte  häufig  wiederkehrenden  Be- 
stimmungen über  die  Pflicht  zum  Bau  und  zur  Erhaltung 


')  1189  Guden.  1 p.  291  ....  quod  Aream  quandam  ...  in  Buperiore  parte 
Moguntine  civitatis  Muro  adiacentem  inter  t'ossatum  fidcli  nostro  Hartrado 
carpentario  et  uxori  eius  Gertrudi  eorumque  liberis  et  ipsorum  heredibua 
perpetuo  contulimua  . . . .,  eo  pacto  ut  annuatim  . . . duas  libras  cere  ad 
concinanda  noatra  lumina,  in  Genau  ad  nostram  Cameran  persolvant. 

*)  1217  Ennen  II  56  ...  . quod  nos  domunculam  . . . cuidam  Tirrico 
et  uxori  eius  Hildegundi  ac  corum  heredibus  in  perpetuum  iure  heredi- 
tario  possidendam  donavimus talis  pactio,  ut  nobia  exinde  . . . 

II  aol.  annuatim  persolvant,  insuper  et  cenaum  qui  curie  dicitur  et  omue 
iua  civile,  qualccumque  fieri  contigerit,  ipsiua  aree  puasessores  absque  dimi- 
nutione  noatri  cenaua  aimuiuiatrabunt. 

*)  vergl.  Ennen,  Geach.  der  Stadt  Köln  1414,  sowie  Enuen,  Quellen 

III  1285,  253. 

*)  vergl.  z B.  MH.  UB  II  1212,  286;  UI  1282,  460;  1235,  543  u.  v.  a. 


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von  Häusern  *)  völlig  den  Anordnungen  über  die  ländliche 
Rodung  und  Cultur.  Ebenso  sind  hier  wie  dort  die  gleichen 
Cautioncn  und  Sicherstellungen3);  und  analog  ist  auch  das  Ver- 
halten zu  den  älteren,  gebundenen  Leiheformen  und  die  besondere 
Betonung  des  besseren  Rechtes3). 

Behält  man  diesen  unverkennbaren  Parallelismus  der  Er- 
scheinungen des  städtischen  und  ländlichen  Rechtes  im  Auge 
und  berücksicht  mau , dass  es  im  wesentlichen  dieselben 
geistlichen  Anstalten  und  grossen  Grundbesitzer  waren,  die  inner- 
halb und  ausserhalb  des  städtischen  Weichbildes  ihren  Grund 
und  Boden  in  der  gleichen  Weise  durch  Überlassung  zu  Erb- 
recht sich  nutzbar  machten,  dann  mag  man  immerhin  zugeben, 
dass  specifisch  städtische,  wirtschaftliche  wie  rechtliche,  Momente 
in  dem  Entwickelungsgange  des  städtischen  Leiherechtes  manche 
Modifieation  bewirkten,  aber  es  ist  doch  wohl  nicht  mehr  möglich, 
den  Zusammenhang  mit  dem  Rechte  des  flachen  Landes  schlecht- 
hin in  Abrede  zu  stellen  und  zu  behaupten,  dass  beide  unab- 
hängig  von  einander  sich  entwickelt  hätten,  und  die  städtische 
Leihe  selbstständig  und  originär  entstanden  sei 4).  Die  Thatsache 
allein,  dass  man  auf  städtischem  Boden,  wo  der  Übergang  viel- 
leicht ein  rascherer  war,  die  einzelnen  Bindeglieder  nicht  so 
deutlich  verfolgen  kann,  ist  wohl  nicht  geeignet  eine  derartige 
Vermuthung  zu  begründen. 

Es  drängt  vielmehr  alles  zu  der  Annahme  hin,  dass  die 
beiden  Formen  der  freien  Erbleihe,  welchen  wir  in  den  Rhein- 
ländern jener  Zeit  in  Stadt  und  Land  begegnen,  einer  und  der- 
selben gemeinsamen  Quelle  entsprungen  sind,  und  dass  sie 
anfänglich  in  gemeinsamem  Entwickelungsgange  und  sich  gegen- 
seitig beeinflussend  zu  ihrer  individuellen  Ausgestaltung  gelangt 


>)  Ennen  II  1226,  89;  1252,  309;  1261,  420;  III  1294,  397;  MH.  ÜB. 
III  1236,  543;  1236,  577;  1240,  676. 

*)  vergl.  z.  JB.  Ennen  Q 1217,  56;  1252,  309  a.  a. 

*)  z.  B.  1181  Lac.  I 477.  Anklänge  an  frühere,  wahrscheinlich  un- 
freie Leiheverhältnisse  vielleicht  in  1292  Und.  II  p.  273;  1299  Ennen  III 
488  u.  a. 

4)  vergl.  in  dieser  Beziehung  auch  Liesegang  in  der  Zeitschrift  der 
Savigny- Stiftung  XI  S.  26.  — Die  im  Texte  ausgeführten  Überlegungen, 
namentlich  die  Annahme  einer  inneren  rechtsgeschichtlichen  Continuität 
zwischen  den  Leihen  nach  Hofrecht  und  den  späteren  städtischen  Leihen, 
wird  selbst  dann  nicht  alteriert  oder  in  Frage  gestellt,  wenn  man  der  Ansicht 
v.  B el  o w ' s (Hist.  Zeitschrift  58  S.  203  u.  241  ff.)  beipfliehten  und  die  völlige 


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eind.  Die  zunächst  geringen  Verschiedenheiten  sind  später  mächtiger 
geworden  und  mit  dem  Aufschwünge  der  Städte  konnte  die 
Erbleihe  dort  eine  Entwickelung  nehmen,  die  naturgemäß  in 
den  conservativen  Verhältnissen  des  ländlichen  Grundbesitz  sich 
nicht  entfalten  konnte.  Während  ursprünglich  bei  geringeren 
Differenzen  eine  wechselseitige  Beeinflussung  noch  möglich  war, 
musste  später,  sobald  die  Gegensätze  grösser  wurden,  vollständige 
Trennung  erfolgen.  — 

So  würde  die  hier  durchgeführte  rechtsgeschichtliche  Unter- 
suchung zu  dem  Ergebnisse  führen,  dass  die  freie  Erbleihe,  wie 
sie  in  den  Verträgen  über  städtischen  und  ländlichen  Gutsbesitz 
der  Rheingegenden  des  12.  und  der  folgenden  Jahrhunderte  vielfach 
wiederkehrt,  auf  eine  zeitgemässc  Umbildung  der  älteren  Leihe- 
formen , namentlich  des  Hofrechtes  zurückzuführen  ist ,).  Die 
alten  precarischen  Leihen  haben  bei  diesem  Entwickelungs- 
gange keinen  Antheil  gehabt;  dagegen  mögen  immerhin 
lehenrechtliche  Formen,  die  freilich  vornehmlich  anderen 
Rechtsgebieten  angehört  haben,  auch  auf  diese  kleinen  Leihen 
manchen  Einfluss  geübt  haben.  Die  eigentliche  Fortbildung, 
die  aus  dem  Hofrechte  und  seinen  Leiheformen  sich  vollzog, 
gieng  in  der  Art  vor  sich,  dass  auf  der  einen  Seite  das 
ursprünglich  ganz  preeäre  Leiheverhältnis  im  Laufe  der  Zeiten 
immer  mehr  zu  einem  dinglichen  Rechte  erstarkt  ist,  und  auf  der 
anderen  Seite  die  anfangs  vielleicht  allein  ausschlaggebenden 


und  durchgreifende  Verschiedenheit  und  frühzeitige  Trennung  von  Hof-Gericht 
und  Stadt  - Gericht  annehmen  wollte,  weil  die  innerliche  materiell- 
rechtliche Entwickelung  durch  Schranken,  welche  etwa  die  verschiedenen 
Rechtsgebiet«  trennen,  nicht  aufgehalten  wird  oder  wenigstens  nicht  notb- 
wendig  und  nicht  unbedingt  aufgelmltcn  werden  muss.  Freilich  ist  nicht 
in  Abrede  zu  stellen,  dass  durch  die  hier  gegebenen  Ausführungen  v.ilclow’s 
Hypothese  namentlich  für  die  älteste  Zeit  nicht  gerade  an  Wahrscheinlich- 
keit gewinnt. 

')  Hält  man  an  diesem  Zusammenhänge  fest,  und  berücksichtigt  man 
dass  die  freie  Erbleihe  entstanden  ist  zu  einer  Zeit,  in  welcher  die  Erb- 
lichkeit auf  hofrechtlichem  und  lehenrechtlichem  Gebiete  schon  ziemlich 
eingebürgert  war,  und  dass  die  ganze  wirthschaftliche  Lage  in  vielen  Fällen 
nur  eine  erbliche  Verleihung  möglich  machte,  so  wird  man  vielleicht  die 
von  Lamprecht  a.  a.  O.  S.  i)38  f.  vertretene  Auffassung,  dass  der  Erb- 
leihe eine  Zeitleihe  in  der  Entwickelung  vorausgegangen  sei,  nicht  als 
nothwendig  annehmen  müssen,  wenn  auch  gewiss  zuzugehen  ist,  dass  die 
Ausbildung  zeitlich  beschränkter  leihen  auch  für  eine  freiheitliche  Ent- 
wickelung der  Erbleihcn  nur  förderlich  sein  konnte. 


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119 


herrschaftlichen  Momente  im  Leiherechte  sich  immer  mehr  ver- 
flüchtigt haben.  Dabei  war  die  Entwickelung  freilich  nicht  derart, 
dass  diese  neue,  freiheitlich  ausgestaltete  Rechteform  die  ältere 
in  ihrer  Totalität  verdrängt  und  sich  allgemein  an  ihre  Stelle 
gesetzt  hätte,  und  dass  man  in  streng  geschlossener  zeitlicher 
Aufeinanderfolge  die  Entwickelung  und  den  Übergang  von  der 
ulten  zur  neuen  Form  verfolgen  könnte.  Der  Erfolg  war  vielmehr 
nur  ein  partieller;  nur  in  einzelnen  Gebieten  des  wirthschaftlichen 
Lebens,  die  eine  freiere  Gestaltung  bedurften,  kam  das  neue  Recht 
zum  Durchbruche  und  trat  dann  zu  den  daneben  noch  fort- 
bestehenden älteren  Formen  in  um  so  grelleren  Gegensatz. 

Fragt  man  nach  den  Ursachen  dieser  freiheitlichen  Entwicke- 
lung, so  sind  es  wohl  im  allgemeinen  dieselben , die  auch  auf 
anderen  Gebieten  und  in  anderen  Formen  in  jener  Zeit  einem 
neuen,  freien  Geiste  zum  Durchbruche  verhelfen. 

Der  Mangel  an  hinreichenden  Arbeitskräften  auf  dem  Lande, 
der  um  so  empfindlicher  wurde,  je  mehr  die  grösseren  Gutsherr- 
schaften genöthigt  wraren,  zu  weiterem , mühsamen  Ausbau  des 
Landes  zu  schreiten,  und  die  in  der  Zeit  der  Colonisation  des 
Ostens  und  des  Aufblühens  der  Städte  der  ländlichen  Bevölkerung 
gegebene  Möglichkeit  durch  völligen  Austritt  aus  den  bisherigen, 
vielleicht  beengenden  Verhältnissen  zu  besserer  und  unabhängiger 
Stellung  zu  gelangen,  und  viele  andere  Umstände,  die  für  uns 
hier  weniger  Interesse  bieten,  versetzten  die  grossen  Gutsherrn 
oft  in  die  Zwangslage,  im  eigenen  Interesse,  zur  Erhaltung  der 
für  sie  nothwendigen  bäuerlichen  Bevölkerung,  von  der  Strenge 
des  alten  Rechtes  nachzulassen  und  freiere  Grundsätze  zur  An- 
wendung zu  bringen. 

Unmittelbare  Veranlassung  boten  dann,  wie  schon  eingangs 
erw’ähnt,  meist  die  Fälle,  wo  die  Verwerthung  des  Gruud  und 
Bodens,  die  von  der  Herrschaft  angestrebt  wurde,  erst  durch  eine 
mühsame,  kostspielige  Arbeit  erreicht  werden  konnte.  Rodung 
von  Wäldern,  Anlage  von  Wiesen  und  Weinculturen,  Erbauung 
und  Erhaltung  von  Mühlen  und  Ähnliches  auf  dem  Lande  und 
der  Häuserbau  in  den  Städten,  all  dies  erforderte  einen  den  ge- 
wöhnlichen Durchschnitt  übersteigenden  Einsatz  von  wirthschaft- 
lichen Kräften  und  gab  deshalb  vielfach  Anlass  zur  Anwendung 
eines  günstigeren,  privilegierten  Rechtes.  Die  Bedürfnisse  eines 
regeren  Güterverkchres  in  den  Städten  förderten  dort  eine 
weitere  Entwickelung. 


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120 


Näher  einzugehen  auf  all  die  Pactoren  des  wirtschaftlichen 
und  socialen  Lebens,  welche  die  neuen  Rechtsbildungen  erzeugt 
und  eingebürgert  und  dann  ihre  Eigenart  gepflegt  und  zur  Ent- 
faltung gebracht  haben,  erscheint  bei  dem  hier  verfolgten  Zwecke 
nicht  geboten;  es  kann  umsomehr  übergangen  werden,  als  über 
diese  vorwiegend  wirthschaftsgeschichtlichen  Prägen  von  berufener 
Seite  schon  ausführlich  gehandelt  wurde1). 

Hier  sei,  der  Vollständigkeit  halber,  nur  noch  eines  juristischen 
Momentes  gedacht,  das  in  dem  eben  geschilderten  Entwickelungs- 
gange zu  einer  immer  freiheitlicheren  Behandlung  der  Leihever- 
träge zum  mindesten  als  forderndes  Element  mitgewirkt  hat, 
wenn  ihm  nicht  eine  noch  weiter  reichende  Bedeutung  zukommt. 

Es  ist  schon  an  früherer  Stelle1)  des  Einflusses  Erwähnung 
geschehen,  welchen  der  rechtliche  Verkehr  unter  geistlichen  An- 
stalten in  einer  Beziehung  auf  den  hier  verfolgten  Umwandlungs- 
und Werdeprocess  geübt  hat.  Hier  kommt  noch  eine  andere 
Einwirkung  in  Betracht.  Wenn  auf  irgend  einem  Gebiete  des 
damaligen  Verkehrsleben  das  Bedürfnis  nach  einem  gedanken- 
niässig  ewig  währenden  Einkommen,  einem  nie  erlöschenden 
Nutzungsrechte  ein  reges  und  lebhaftes  war,  so  muss  in  erster 
Linie  das  kirchliche  Vermögensrecht  dazu  Anlass  gegeben  haben. 
All  die  frommen  Stiftungen,  welche  die  Verehrung  Gottes  oder 
eines  Heiligen  dauernd  sichern,  oder  die  fromme  Erinnerung  an 
einen  Verstorbenen  durch  Gebete  und  Todtenfeiern  für  immer 
wach  erhalten  sollten,  mussten  ewig  sein,  wie  die  Kirche,  an  die 
sie  gelangten,  und  wie  die  Leistungen,  die  angestrebt  wurden. 
Das  geeignetste  Mittel  zur  Begründung  eines  solchen  dauernden 
und  Jahr  für  Jahr  wiederkehrenden  Einkommens  lag  unzweifel- 
haft in  der  Zuwendung  von  Grund  und  Boden  oder  davon 
kommenden  Einkünften.  Die  Übertragung  von  Eigenthum  war 
die  einfachste,  aber  nicht  die  einzige  Perm;  in  der  Zuweisung 
des  Erträgnisses  oder  der  Abgaben  eines  zinspfliehtigen  Gutes 
mit  oder  ohne  eine  gleichzeitige  Übertragung  des  Eigentums- 
rechtes, lag  ein  anderes  Auskunftsmittel,  das  überdies  den 
Vortheil  hatte,  dass  dabei  durch  die  jährliche  Zahlung  an 
einem  festgesetzten  Tage  die  Widmung  für  den  bestimmten  Zweck 
(z.  B.  für  Abhaltung  einer  Memorienfeier)  besser  zu  Tage  treten 
konnte.  Was  uns  dabei  interessiert,  ist,  dass  auch  Leihe- 


')  vergl.  Lamprecht  a.  a.  0.  I,  VI.  Theil. 
*)  S.  103  f. 


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121 


Verhältnisse  zu  diesem  Zwecke  in  mannigfacher  Art  ins  Leben 
gerufen  wurden.  Nicht  selten  wollte  nämlich  der  Gründer  einer 
solchen  Stiftung  bei  der  Übertragung  des  Grundstückes  für  sich 
selbst  und  seine  Leute  doch  noch  etwas  zurückbehalten;  dann 
liess  er  sich  für  sich  und  seine  Descendenz  entweder  direct  eiuen 
ewigen  Zinsbezug  zusichern,  oder  er  liess  sich  das  Gut  zu  erb- 
lichem oder  lebenslänglichem  Rechte  (jure  hereditario)  zurück- 
verleihen, wofür  er  seinerseits  sich  zu  einem  Zinsentgelte  ver- 
pflichtete. In  anderen  Fällen  lag  es  dem  Schenker  eines  Gutes 
wieder  daran,  einen  bestimmten  Zinsmanu  auf  demselben  zu  be- 
lassen und  die  eigentliche  Zuwendung  an  die  Kirche  bestand 
dann  in  dem  Zinsbezugsrechte,  als  der  einzigen  actuellen  Äusserung 
des  überlassenen  Eigenthumsrechtes.  Für  eine  solche  Verfügung 
war  vielleicht  mitunter  massgebend,  dass  der  bisherige  Herr 
und  Eigcnthümer  eines  Grundstückes  für  einen  bestimmten  seiner 
Leute  besonderes  Vertrauen  hegte  und  ihm  darum  neben  dem 
Grundbesitze  auch  die  Fürsorge  für  die  gehörige  Verwendung  des 
der  Kirche  zugedachten  Einkommens,  etwa  für  Abhaltung  von 
Gedächtnisfeiern,  Beleuchtung  der  Grabstätte  oder  eines  Altares 
u.  a.  m.  überweisen  wollte So  gab  der  hier  gekennzeichnete 
religiöse  Zweck  vielfach  Veranlassung  zur  Begründung  von  neuen 
oder  zur  Beurkundung  von  schon  bestehenden  Leihen,  die  dann 
nach  den  Verhältnissen  des  einzelnen  Falles  einen  mehr  oder 
weniger  freien  Character  trugen*). 

So  mannigfaltig  diese  Bildungen  im  einzelnen  gewesen  sein 
mögen,  so  ist  ihnen  doch  das  eine  gemeinsam,  dass  sie  nicht  aus 
wirthschaftlichen  sondern  aus  kirchlichen  Bedürfnissen  heraus- 
gewachsen sind,  und  dass  ihr  Zweck  vornehmlich  in  der  intendierten 
Zinszahlung  bez.  in  der  Verwendung  des  Zinses  gelegen  ist.  Ent- 
fernen sie  sich  so  von  dem  Gebiete  des  eigentlich  wirthschaft- 
lichen Lebens,  so  liegt  in  der  Erhebung  der  Zinsleistung  zu  dem 
das  Rechtsverhältnis  zunächst  bestimmenden  Factor,  eine  wesent- 
liche Verschiedenheit  gegenüber  den  anderen  Leihen.  Und  gewiss 
lag  in  dem  Umstande,  dass  auf  diesem  einen  Gebiete  eine  solche 


")  Etwa  wie  in  Urk.  1222  Böhmer,  Frankf.  UB.  p.  34. 

*)  z.  B.  lllö  MR.  UB.  I 431;  1150,  556;  1258  Böhmer,  Frankf.  UB. 
p.  121  u.  a.  Schenkungen  mit  Begründung  einer  Zinspflicht  für  einen  Jahr- 
tag 1101  MR.  UB.  1 402;  ähnlich  1133  Ouden  I p.  108;  1253  Böhmer, 
Frankf.  UB.  p.  87;  1258  p.  120  und  desgleichen  in  den  Kölner  Schreinsui  k. 
Ho eniger  I z. B.  Schreinskarte  der  Martinspfarre  2 IV  22  (c.1142 — 1156). 


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122 


Umwandlung  zum  Durchbruche  gelangt  ist,  eine  wesentliche 
Förderung  des  lcihcrechtlichen  Entwicklungsganges,  der  ja  gerade 
damals  sich  in  dieser  Richtung  bewegte1). 

Die  wirthscbaftliche,  sociale  und  rechtliche  Bedeutung  aber 
die  einer  solchen  Entwickelung  zukam,  die  wird  gewiss  niemand 
gering  anschlagen  wollen.  Sieht  man  auch  ganz  ab  von  den  Vor- 
theilen, welche  die  ferner  Ausbildung  des  Leiherechtes  in  den 
Städten  für  den  geldgeschäftlichen  Verkehr  im  Gefolge  hatte,  so 
ist  auch  auf  dem  Gebiete  des  ländlichen  Rechtes  die  Anbahnung 
und  das  Durchdringen  freierer  Leiheformen,  welche  die  Persön- 
lichkeit des  Bauern  nicht  mehr  in  so  enge  Schranken  schlossen, 
sowie  die  Ausbildung  beweglicher  Formen  für  den  bäuerlichen 
Immobiliargüterverkehr  überhaupt  ein  Fortschritt  von  ganz  hervor- 
ragendem Werthe. 


')  vergl.  in  dieser  Beziehung  auch  die  Ausführungen  bei  Arnold, 
Geschichte  des  Eigenthums  S.  94  ff. 


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II. 

Die  bänerlichen  Zinsgüter  der  nördlichen  deutschen 
Colonisationsgebiete. 


Ungefähr  zur  gleichen  Zeit,  in  welcher  in  den  Rheinlanden 
der  Ausbau  von  uncultiviertem  Lande  namentlich  durch  die  An- 
lage von  Weinbergen  und  anderen  Specialculturen  auf  früher 
ungeordnetem  Boden,  sowie  das  Aufblühen  der  Städte  in  mancher 
Beziehung  eine  Umwälzung  der  wirtschaftlichen  Verfassung 
und  die  oben  geschilderte  Entwickelung  des  neuen,  freiheitlichen 
Landleiherechtes  hervorgerufen  hat,  wurde  in  den  nördlichen 
und  östlichen  Grenzgebieten  der  damaligen  deutschen  Cultur,  in 
den  Niederungen  und  Sümpfen  längs  der  Meeresküste  und  in 
den  der  slavischen  Nachbarschaft  abgerungenen  Ländereien,  die 
Bebauung  und  Besiedelung  völlig  unwirtlicher  und  unbewohnter 
Landstriche  durch  die  Heranziehung  einer  zahlreichen  Colonisten- 
bevölkerung  in  der  umfassendsten  Weise  ins  Werk  gesetzt.  Es 
liegt  auf  der  Hand,  dass  die  Erreichung  des  angestrebten  Zweckes, 
das  Gedeihen  dieses  Colonisationsunternchmens,  dessen  Bedeutung 
die  Grossen  jener  Gebiete,  wenigstens  insoweit  ihr  Nutzen  in 
Betracht  kam,  klar  erkannten,  nur  dadurch  möglich  war,  dass 
den  neuen  Ansiedlern  weitreichende  Vortheile  und  besondere 
Privilegien  gewährt  wurden.  Denn  materiell  war  die  Lage,  welche 
die  Colonisten  wenigstens  für  die  erste  Zeit  zu  erwarten  hatten, 
nichts  weniger  als  günstig.  Musste  doch  der  Grund  und  Boden, 
der  in  Hinkunft  die  neue  Heimstätte  für  den  Colonisten  sein 
sollte,  durch  Kunst  und  mühevolle  Arbeit  den  feindlichen  Ele- 
menten oft  erst  abgerungen  werden.  Die  Überlassung  der  dem 
einzelnen  zugewiesenen  Hufe  zu  erblichem  und  dauerndem  Be- 


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124 


sitzrechte  gegen  eine  geringe  Zinsabgabe  und  die  Gewährung 
und  Sicherung  der  persönlichen  Freiheit  waren  im  allgemeinen 
die  Zugeständnisse,  die  sich  geeignet  erwiesen,  Colonisten  aus 
weiter  Ferne  zu  der  beschwerlichen  und  oft  gewagten  Cultur- 
arbeit  zu  gewinnen. 

Welch  grosse  Bedeutung  in  wirthschaftlicher,  rechtlicher 
und  politischer  Beziehung  diesem  Colonisationswerke  zukam,  das 
aus  kleinen  Anfängen  zu  weiter  Ausdehnung  gelangte,  ist  aus 
den  dieser  Frage  speziell  gewidmeten  Untersuchungen  *)  wie 
allgemeinen  geschichtlichen  "Werken  zur  Genüge  bekannt.  Und 
ebenso  ist  die  Geschichte  der  Ausbreitung  dieser  colonisatorischen 
Bewegung  in  älteren  Abhandlungen  und  durch  neuere  Forschungen, 
die  das  wirtschaftlich  so  merkwürdige  Ereignis  bald  auf  dem 
ganzen  Gebiete,  auf  dem  es  sich  vollzog,  bald  wieder  mit  vor- 
nehmlicher  Berücksichtigung  der  einzelnen  davon  betroffenen 
Territioricn  behandelt  haben,  so  oft  und  so  gründlich  besprochen 
worden,  dass  eine  neuerliche  Erörterung  des  geschichtlichen 
Problemes  fast  als  überflüssig  erscheinen  möchte. 

Darum  liegt  es  auch  nicht  in  der  Absicht  der  vorliegenden 
Studie  auf  diese  Frage  von  neuem  einzugehen.  Hier  handelt 
es  sich  weder  um  eine  Würdigung  der  culturgeschichtlichen  Be- 
deutung, noch  auch  um  die  Darstellung  des  Fortschreitens  und 
der  Verbreitung  dieser  die  Germanisierung  der  Grenzgebiete  be- 
gründenden Colonisation ; es  sollen  vielmehr  lediglich  die  recht- 
lichen Formen,  in  welchen  diese  Ansiedelungen  ins  Leben  ge- 
rufen wurden,  namentlich  die  Beziehungen  der  Colonisten  in 
ihrer  rechtlichen  Stellung  zum  Grund  und  Boden  einer  beson- 
deren Untersuchung  unterzogen  werden. 

Naturgemäss  folgt  dabei  die  rechtsgeschichtliche  Darstellung 
am  besten  dem  Entwickelungsgange,  den  die  Colonisation  selbst 
eingeschlagen  hat.  An  die  Besprechung  der  rechtlichen  Ge- 
staltung, welche  bei  den  ersten  Coloniengründungen  ins  Leben 
gerufen,  und  die  auch  später  im  allgemeinen  beibehalten  wurde, 
wird  sich  füglich  der  Hinweis  auf  die  Veränderungen  anschliessen, 
welche  die  einmal  gewonnene  und  im  Principe  unveränderte  recht- 
liche Form  in  ihrer  Anwendung  und  Übertragung  auf  andere  ver- 
wandte Unternehmungen  im  weiteren  Verlaufe  erfahren  hat.  Da- 
bei mag  der  enge  Zusammenhang  von  öffentlichrechtlichen  und 

*)  vergl.  die  Zusammenstellung  der  einschlägigen  Literatur  z.  ö.  bei 
Schröder  D.R.G.  S.  375  Anm.  15  und  S.  407  Anm.  1. 


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125 


privatrechtlichen  Elementen,  der  schon  bei  einem  flüchtigen 
Blicke  auf  die  belangreichen  Urkunden  zu  Tage  tritt,  es  recht- 
fertigen,  wenn  neben  den  privatrechtlichen  Besitzverhältnissen 
auch  die  öffentliche,  namentlich  die  gerichtliche  Organisation  der 
Colonien  in  ziemlich  weitem  Umfange  in  den  Kreis  der  Be- 
sprechung gezogen  wird. 

Der  Ausgangspunkt  für  alle  unserem  Gegenstände  gewid- 
meten Untersuchungen  ist  wohl  von  jeher  der  Vertrag  gewesen, 
durch  welchen  der  grosse  Erzbischof  Friedrich  von  Hamburg- 
Bremen  mehreren  holländischen  Unternehmern  die  Trockenlegung 
von  unwirklichen  Sumpfländereien  zum  Zwecke  der  Gründung 
neuer  und  ausgedehnter  Ansiedelungen  gestattet  und  rechtlich 
wie  factisch  ermöglicht  hat*).  Und  gewiss  mit  vollem  Grunde 
wird  gerade  diese  Abmachung  zur  Grundlage  für  alle  modernen 
Darstellungen  der  Colonisationsgeschichte  gewählt.  Dieselbe  ist 
freilich  nicht  die  älteste  auf  uns  gekommene  Aufzeichnung *) 
über  eine  Ansicdlung  einer  grösseren  Zahl  von  Colonisten; 
und  es  fehlt  auch  nicht  an  Anzeichen,  dass,  noch  ehe  Erzbischof 
Friedrich  diese  holländische  Oolonie  ins  Leben  gerufen  hat, 
auch  schon  andere  fremdländische  Ansiedler  sich  in  jenen 
Gegenden  niedergelassen  haben*).  Aber  der  hier  genannte 
Vertrag'*)  ist  grundlegend  für  unsere  Kenntnis  über  die 
Rechtsverhältnisse  der  holländischen  Colonien  und  ein  Ver- 
gleich mit  späteren  analogen  Abmachungen  zeigt,  dass  die  in 
ihm  enthaltenen  Rechtsgedanken  weiterhin  wohl  ergänzt  und  in 
Einzelheiten  modificiert  wurden,  im  wesentlichen  aber  auf  lange 
Zeit  hin  massgebend  blieben.  Mit  diesen,  freilich  erst  im  wei- 
teren Verlaufe  der  Darstellung  zu  erhärtenden  Behauptungen 
dürfte  ein  genaues  Eingehen  auf  seinen  Inhalt  vorläufig  gerecht- 
fertigt erscheinen*). 

')  1106,  Elimck  und  v.  bippen,  Bremer  UB.  No.  27,  8 unten  Anm.  ö. 

’)  b.  unten  S.  129. 

s)  vergl.  Eduard  Otto  Schulze,  Niederländische  Siedelungen,  Hannover 
1889  8.  24. 

4)  Über  Art  und  Glaubwürdigkeit  der  Überlieferung  s.  ausser  dem 
bremer  Ub.  und  Cappenberg,  Hamburger  UB.  (bei  No.  129.)  insbes. 
Werse  be,  Über  die  niederländischen  Colonien  (Hannover  1815 — 16)  I 27  fl'. 

*)  Sein  Wortlaut  nach  der  Ausgabe  im  Bremer  Urkundeubuche  No.  27: 

J.  n.  s.  e.  i.  t.  Friedericus  dei  gratis  Hammenburgensis  ecclesie  an- 
tistes  universis  fldelibus  in  Christo  preBeutibus  et  futuris,  perpetuam  bene- 
dictionem.  Pactionem  quandam,  quam  quidam  cis  Rhenum  «imma- 
nentes, qui  dicuntur  Hollandi,  nobiscuin  pepigerunt,  omnibus  notara 


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120 


Schon  seiner  äusseren  Form  nach  trägt  er  den  Character 
des  Besonderen,  indem  er  nicht  als  eine  Enuntiation  des  herr- 
schaftlichen Willens,  nicht  als  ein  Privilegium  des  mächtigen 
Kirchenfürsten  auftritt,  sondern  als  eine  schlichte  Vereinbarung, 
welche  der  Erzbischof  und  sechs  Holländer,  als  die  Leiter  des 
Colonisationsunternehmens  und  Anführer  ihrer  Genossen,  wie 
gleichberechtigte  Parteien  unter  sich  ausgehandelt  haben. 


volumus  haberi.  Prefati  igitur  viri  maiestatem  (?)  nostram  couvenerunt 
obnixe  rogantes,  quatenus  terram  i n epi  seopalu  nostro  si  t n m,  acten  u s 
incultam  paludosamque  , nostris  indigenis  superfluam  eis  ad 
excolendamconcederemus.  Nos  itaque  tali  petitione  nostrorum  usi  con- 
silio  fideliurn,  perpendentes  remnobisnostrisqucsuccessnribusprofu- 
turani,  non  abnuente  petitioni  eorum  assensum  tribuimus.  Hui  ub 
autem  petitionis  talis  fiebat  pactio,  ut  de  prefateterre  singulis 
mansis  singnlos  denarios  singulis  annis  nobis  darent.  Mansi 
vero  mensionem,  ne  discordia  in  postcrum  in  populo  habere  tu  r.  que  menaio 
in  longitntine  septingentas  et  viginti,  in  latitudine  vero  XXX  habet  regales 
virgas,  cum  rivulis  terram  interfluentibus,  quos  eis  simili  modo  concedimus 
hic  inscribi  neeessarium  duximus.  Condixerunt  denique  secundum  decrotum 
nostrum  dccimam  se  daturos,  ita  videlicet,  ut  de  frugibus  terre  un  deci  mu  m 
manipulum,  de  agnis  X , de  porcis  similiter,  de  capris  similiter,  de  anseri- 
bus  similiter  nec  non  et  decimam  mensuram  mellis  et  de  lino  simili  modo 
darent;  pulium  equinum  educatum  usque  ad  festivitatem  sancti  Martini  solo 
denario,  vitulum  obulo  redimerent.  Ad  si  nodale  in  iusticiam  secun- 
dum sanctorum  decreta  patrum  et  canonicam  justiciam  et  iDstitu- 
tionera  Trajectensis  ecclesie  nobis  so  per  omnia  obtemperaturos  pro- 
miserunt.  ludiciaet  placita  secularis  legis,  ne  ab  extraneia 
preiudicium  paterentur,  ipsi  ut  omnes  rerura  dissentiones 
inter  se  diffinirentur,  de  singulis  centum  mansis  II  msreas  singulis 
annis  se  persolvere  asseruerunt.  Majorum  placita  sive  iudicia  reruin, 
si  ipsi  inter  se  diffinire  nequirerent,  adepisoopiaudientiani  referrent, 
uumque  secum  ad  causam  diffiniendam  ducentes,  inibi  quamdiu  moraretur, 
de  suo  ipsimet  procurarent:  eo  tenore,  ut  de  placitali  questu  duas 
partes  haberent,  tertium  vero  episcopo  preberent.  Ecclesias  in 
prefata  terra,  ubi  eis  eongruum  videretur,  constitui  conceasimus.  Quihua 
ecclesiis  decimam  decimarum  nostrarum  parroebiarum  ecclesiarum  earnndera 
distincte  in  usus  sacerdotis  iuibi  deo  servituri  prebuimus.  Parrocbiani 
vero  uiohilominus  singularuni  ecclesiis  inansum  unum  in  dotom  ad  predictus 
usus  sacerdotis  se  daturos  confirmant.  Nomina  virorum,  qui  nos  ob  hanc 
pactionem  faciendam  conlirmnndamque  convenerunt,  hec  sunt:  Heynrirus 
aacerdos.  cui  prefatas  ecclesias  in  vita  sua  conccssimus,  ceterique  laioi : Uc- 
likinus,  Arnoldus.  Hiko,  Eordolt,  Heferic;  quibus  iam  sepedictam 
terram  secundum  seculi  lege«  et  prel'atam  conventionem 
concedimus  et  ipsorum  heredibus  post  ipsos.  Datum,  Siegel. 
Si  quis  ista  contradixerit,  anathema  sit. 


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127 


Nach  diesem  Übereinkommen  überliess  Erzbischof  Friedrich 
den  holländischen  Colonisten  einen  allem  Anscheine  nach 
ziemlich  ausgedehnten,  aber  sumpfigen,  bisher  völlig  unbebauten 
und  unbenutzten  Landstrich  '),  den  diese  sich  zur  Cultivierung 
erbeten  hatten.  Der  ganze  District  sollte  vermessen  und  in 
Hufen  von  bestimmter  Form  und  Grösse  gethcilt  werden,  und 
zwar  reichte  deren  Umfang  weit  über  das  gewöhnliche  Ausmass 
hinaus.  Gleichwohl  wurde  neben  der  Zehentabgabe,  die  sich  nach 
dem  holländischen  Gebrauche  richtete  '),  von  jeder  Hufe  nur  der 
minimale  Zins  von  einem  Denare  verlangt.  Bezüglich  der  Gerichts- 
barkeit wurde  für  geistliche  Angelegenheiten  das  allgemeine 
canonische  Recht  und  der  Gerichtsgebrauch  von  Utrecht,  als  der 
Diöcese,  aus  welcher  die  Colonisten  kamen,  für  massgebend  erklärt, 
die  niederen  weltlichen  Gerichte  aber  gegen  eine  jährliche 
Abgabe,  die  für  je  100  Hufen  mit  zwei  Mark  bestimmt  wurde, 
den  Colonisten  zur  freien,  selbstständigen  Regelung  überlassen; 
damit  war  ihnen  gleichzeitig  die  Anwendung  des  heimischen 
Rechtes  zugestanden  und  gewährleistet.  Nur  die  höhere  Gerichts- 
barkeit behielt  sich  der  Bischof  vor,  jedoch  findet  sich  auch 
hier  eine  ausserordentlich  weit  reichende  Concession,  indem 
die  Colonisten  nicht  gezwungen  wurden,  an  den  Sitz  des  bischöf- 
lichen Hofes  zu  ziehen,  sondern  berechtigt  waren,  gegen  Leistung 
der  nothwendigen  Procurationen  den  Bischof  für  solche  Fälle  in  ihr 
Land  zu  rufen,  der  dann  ein  Drittel  der  Gerichtsgefälle  für  sich  in 
Anspruch  nehmen  konnte.  Hierin  liegt  bei  der  Organisation 
des  damaligen  Gerichtswesens  naturgemäss  eine  neue  Gewähr 
für  die  Anwendung  des  heimischen  Rechtes.  Auch  in  kirch- 
licher Beziehung  wurde  ihnen  viel  Freiheit  gewährt.  Sie  konnten 
Kirchen  bauen,  wo  und  wie  sie  wollten , nur  musste  jede  mit 
einem  Mansus  dotiert  werden.  Zu  Gunsten  des  an  ihnen  fungierenden 
Geistlichen  verzichtete  der  Erzbischof  auf  den  zehnten  Theil 


')  Über  die  geographische  Lage  der  Colonie  vergl.  insbes.  W ersehe 
a.  a.  O.  S.  33,  dann  mit  gegenteiliger  Ansicht  Langenthal,  Gosch,  d. 
deutschen  Landwirtschaft  1847  ff.  II  8.76  ff.;  aus  neuerer  Zeit  Schröder, 
die  niederl.  Kolonien  in  Norddeutschland,  in  Virchov  und  Holtxendorüs 
Sammlung  v.  Vorträgen  XV.  Serie,  Heft  347  8.  8 (360)  und  Schulze 
a.  a.  O.  S.  12  ff. 

*)  undecimum  manipulum,  also  die  II.  nicht  schon  die  10.  Garbe 
vergl.  dazu  Gustav  Heinrich  Schmidt,  zur  Agrargesch.  Lübeks  und  Ost- 
holsteins 8.  18,  auch  Schulze  a.  a.  O.  8.  33. 


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128 


seines  Zehentertrage.«,  Zum  Schlüsse  wird  noch  die  Dauer  des 
Vertrages,  seine  Giltigkeit  auch  über  das  Leben  der  Contrahenten 
hinaus,  für  deren  Erben  zugesichert. 

Es  unterliegt  gewiss  keinem  Zweifel,  dass  unter  der  Vor- 
aussetzung des  Gedeihens  der  Colonie,  soferne  also  die  erste 
Culturarbeit  zu  dem  gewünschten  Ziele  führte,  die  Vortheile, 
welche  aus  einem  solchen  Vertrage  den  Colonisten  zufielen,  sehr 
bedeutende  werden  mussten:  neben  dem  sicheren  Genüsse  der  vollsten 
persönlichen  Freiheit,  des  eigenen  Rechtes  und  des  eigenen  Ge- 
richtes die  dauernde  Überlassung  der  zugewiesenen  Hufen  init 
all  den  Vortheilen,  die  aus  ihnen  zu  gewinnen  waren.  Und  dem 
gegenüber  ist  die  Gegenleistung,  welche  der  Grundherr  für  sich 
in  Anspruch  nahm,  gewiss  verschwindend  klein.  Nur  der  Um- 
stand, dass  der  überlassene  Boden  vor  dem  gar  kein  Erträgnis 
abwarf,  also  schon  das  Mindeste  für  den  Grundherrn  reiner  Ge- 
winn war,  und  dass  andererseits  sehr  günstige  Bedingungen  noth- 
wendig  waren,  um  Colonisten  zu  werben  und  durch  sie  wenigstens 
diese  geringen  pecuniären  Vortheile  zu  gewinnen,  macht  die 
Abschliessung  des  Vertrages  mit  diesem  Inhalte  begreiflich.  Zu 
beachten  ist  übrigens,  dass  auch  von  den  wenigen  Abgaben,  die 
der  Bischof  für  sich  forderte,  nur  ein  Theil  unmittelbar  auf  den 
Schultern  der  angesiedelten  Bauern  ruhte,  nämlich  nur  Zehent 
und  Zins,  während  die  Gerichtsabgaben  in  beiden  Formen 
zunächst  nur  die  Träger  der  dortigen  Gerichtsbarkeit  trafen. 

Wer  dieselben  waren  und  wie  sich  ihr  Verhältnis  zu  den 
eigentlichen  Bewohnern  der  Colonie  gestaltete,  darüber  gibt 
uns  der  vorliegende  Vertrag  keine  Auskunft.  Sein  Zweck  ist 
nur  die  Regelung  des  Verhältnisses  zwischen  der  erzbischöflichen 
Curie  und  der  Colonie  als  einer  Einheit,  oder  vielleicht  richtiger 
gesagt,  des  Rechtsverhältnisses  zwischen  Erzbischof  und  den 
sechs  genannten  Unternehmern,  den  Begründern  der  Holländer- 
niederlassung. So  blieb  auch  die  Ordnung  der  inneren  Ange- 
legenheiten den  Colonisten  selbst  überlassen;  wie  dieselbe  er- 
folgte, darüber  können  wir  uns  nur  Vermuthungen  hingeben, 
Vermuthungen,  für  welche  die  Analogie  späterer  ähnlicher  Nieder- 
lassungen gewisse  Anhaltspunkte  gewährt. 

Es  ist  wahrscheinlich,  dass  die  Führer,  die  im  Namen  und 
als  Stellvertreter  ihrer  Genossen  die  Verhandlung  mit  dem  Erz- 
bischof durchgefuhrt  und  zum  Abschlüsse  gebracht  haben,  auch 
fernerhin  in  dem  Colouistendorfe  eine  leitende  Stellung  dürften 
eingenommen  haben  Vielleicht  kam  in  ihre  Häude  durch  den 


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129 


Willen  ihrer  Genossen  die  Leitung  der  Dorfgerichte,  auf  welche 
der  Bischof  für  seine  Person  verzichtet  hatte;  vielleicht  konnten 
sie  auch  diese  und  manche  andere  Vortheile  sich  erzwingen,  da 
der  Wortlaut  des  Vertrages  eben  sie,  die  sechs  Führer,  als  die 
erblich  berechtigten  Besitzer  jenes  Landstriches  bezeichnete  und 
eines  Rechtes  ihrer  Genossen  dabei  keine  Erwähnung  geschah. 
Auch  ist  es  nicht  ausgeschlossen,  dass  die  Unternehmer  ihrer- 
seits bei  der  Ansiedelung  der  einzelnen  Holländer  Bauern  eich 
vielleicht  einen  Kaufpreis  ausbedungen,  oder  die  von  dem  Erz- 
bischöfe auf  die  Hufen  gelegten  Abgaben  zu  ihren  Gunsten  er- 
weitert haben. 

In  der  Gewährung  eines  eigenen  Gerichtes  und  der  darin 
verbürgten  Zusicherung  des  Fortbestandes  ihres  eigenen, 
heimathlichen  Rechtes,  das  auch  in  der  Ferne  giltig  und  in  An- 
wendung bleiben  sollte,  sowie  endlich  in  der  freiheitlichen, 
keiner  Grundherrschaft  unterstellten  Organisation  des  neuen 
Dorfes  lagen  aber  jedenfalls  so  bedeutende  Vortheile,  dass  ihnen 
gegenüber  solche  von  der  Dorfobrigkeit  vielleicht  verfügte  Be- 
lastungen noch  immer  leicht  erträglich  erscheinen  mochten. 

Um  des  Gegensatzes  willen,  der  gerade  bezüglich  der  per- 
sönlichen Freiheiten  der  Colonistcn  besteht,  sei  an  dieser  Stelle 
einer  anderen  der  gleichen  Zeit  entstammenden  Vertragsabmachung 
gedacht ') , die  auch  die  Gründung  einer  Holländercolonie 
zum  Gegenstände  hatte,  aber  nicht  die  gleichen,  freiheitlichen 
Principien  zur  Anwendung  brachte.  Zwischen  1079  und  1114,  wahr- 
scheinlich noch  vor  dem  Entstehen  der  ersten  Bremischen  Hol- 
länderansiedelung, hat  nämlich  Bischof  Udo  von  Hildesheim 
gleichfalls  eine  holländische  Niederlassung,  aber  unter  anderen 
Bedingungen  ins  Leben  gerufen.  Über  die  dabei  getroffenen  Be- 
stimmungen erhalten  wir  Kunde  aus  einer  Bestätigungsurkunde  *) 

')  Die  gleiche  Gegenüberstellung  findet  sich  schon  bei  Schröder, 
nieder!  Kolonien  S.  6 (348). 

*)  Böhmer,  Acta  imperii  solecta  Nr.  1129  ....  Decretum  est  . . . 
et  epiechopo  et  eodem  advena  populo  assensum  in  idem  praestante:  — Si 
qnis  vir  obierit,  nt  vel  ex  animalibus  eius  Optimum  quodeumque  fuerit,  vel 
si  pocius  epischopo  videbitur  unum,  quod  ex  vestimentis  eius  preciosum  magis 
iudicabitur  in  usnm  transeat  epischopi.  Porro  uxor  mortui  nubat  in  domino, 
nullius  potentia  seu  timore  coercita,  tantum  ut  maritus  Bubsequens  epischo- 
pali  debito  secundum  institutionera  non  contradicat.  — In  excolendis  quo- 
que  agris  hanc  conventionis  legem  acceperunt:  Quantumcunque  aliquis  ar- 
borum  silvestrium  deiecerit  et  eradicatis  vepribus  seu  aliis  incommodis  in 
usum  redactis.  quamdiu  solo  rastro  colitur,  nec  tributo  nec  decime 
subiaoeat.  Quam  cito  autem  vomere  prosciflsus  ager  uberiorem  fruc- 
0.  Srhicirul,  Krbtethen.  9 


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130 


des  Bischofs  Bernhard  von  Hildeshehn  aus  der  Zeit  zwischen 
1133  und  1137.  Wir  entnehmen  derselben,  dass  der  Zweck  dee 

tum  attulerit,  septem  annis  tributum  neseiat:  sed  in  ipso  septimo 
duos  denarioa  reddat,  in  octavo  quatuor,  in  nono  octo,  in  decimo  soli- 
dum  et  por  singulos  aunos  deinceps  hanc  summam  non  excedat.  — In 
causis  etiam  secularibus  discutiendis  advocatum  accipiant,  quem  discretio 
episcopi  ex  gratia  utpote  exulibus  providerit,  et  ter  in  anno  concionandi 
causa  conveniant,  responsuri  sine  banno  regia  et  comitis ; et  si  alio  con- 
querente  rous  aliquis  couvictus  fuerit.  advocato  tres  solidos  et  coni)Uerenti 
duos  vadiet,  gratiam  tarnen  in  hiis  acceplurus.  Es  folgen  weitere  processuale 
Bestimmungen,  dann:  Qui  prccium  possessionis  sue  comperare  voluerit,  villico 
episcopi  sex  denarios  offerat,  quod  appellant  licentiam;  eo  tarnen  iure 
emptor  tenendum  non  ambigat,  quo  venditor  ante  possidebat.  Quod  si  malicia 
villici  ad  amplius  venditorem  coegerit,  sub  civium  suorum  testimonio  sex 
iterum  denarios  ei  oßerat.  Quod  si  accepturum  se  pertinaciter  negaverit, 
suspendat  cos  iufra  parietes  domus  sue  et  rocedat.  Quem  si  violentia  villici 
persequens  ccperit,  assumpto  eoruudcm  civium  testimonio  probet,  se  et  ante« 
obtulisse  etprecium,  ubi  iusticia  poscebat,  suspendisse;  et  cum  hac  excusa- 
tione  securuB  abccdat.  Porro  si  aut  negligentia  incautus  aut  arrogantia  pro- 
tervus  huius  instituti  decretum  non  egerit  et  rebus  suis  venditis  abire  vo- 
luerit, captus  privetur  Omnibus,  que  secum  detulit,  nec  plagatus  aut  alicuius 

membri  imminutione  mutilatus — Si  querne  glandis  ubertas  adve- 

nerit  et  homo  ecclesie  iu  pasturam  porcos  adraiserit,  duplicet  numerum  homo 
ecclesic,  scilicet  si  sex  inponat  homo  ecclesie,  tres  adbiheat  advena;  si  ille 

quatuor,  iste  duos ln  aquarum  discursibus  piscari,  per  ambitus  sil- 

varum  venari  non  prohibetur,  nisi  in  foresto  episcopi,  in  quo  si  quis  depre- 
hensus  fuerit,  quinque  solidorum  amissione  delictum  corrigat,  — Si  quis 
iter  faciens  in  domo  alicuius  bospitandi  gratis  intraverit  vel  etiam  mansi- 
onem  in  eadem  diutius  fecerit,  si  ibi  obicrit,  uxori  ac  filiis  eius  remaneat 
cius  substancia;  si  vero  heredem  in  presenti  non  habest,  sint  in  custodia 
hospitis  reliquie  illius  annum  et  diem.  Si  infra  prelinitum  tempns  quisqunm 
venerit  et  eo  modo,  quo  iusticia  exigit,  hereditarium  ius  ad  se  pertinere  do- 
cuerit,  reddantur  illi;  si  nullus  venerit  infra  anni  circulum,  transeant  eidem 
reliquie  in  usurn  episcopi.  — Si  penuria  cogentc  aut  subita  inimici  atroci- 
tate  aliquis  non  habita  liceutia  discesscrit,  maneat  inconvulsa  annum  et  dieiu 
eius  substantia.  Si  redierit  et  pro  indisciplina  satisfecerit,  contradictionem 
bonorum  suorum  non  patiatur.  Si  non  redierit,  alicui  suorum  eadem  bona 
familiarius  et  levius  per  gratiam  villici  non  negentur.  Quicquid  in  areis,  in 
agris  sive  quihuscumque  commodis  villicus  alicui  contulcrit,  irritum  fiere 
non  potest.  Et  si  assumpto  civium  testimonio  aliquis  a curia  se  suscepiase 
quiequam  ostenderit,  inconvulsum  existat.  — In  nostre  iustitutionis  exordio 
confirmatum  est,  epischopum  nec  advoentum  licere  aut  debere  aliquem  ex 
uostris  suorum  testimonio  conviucere,  sed  eorum,  qui  nostre  legis  decretum 
acceperunt 

Primam  autem  pretaxate  legis  institutionem  susceperunt  Benzo,  Menzo, 
Immo,  Egezo,  Udone  episcopo;  contirmationem  eiusdem  denuo  acceperunt 
Bernardo  episcopo  cum  sigilli  annol  atione  sub  anatliemate  isti : nun  folgeu 
eine  Reihe  von  Namen  geistlicher  und  weltlicher  Leute. 


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131 


Unternehmens  wieder  die  Cultivierung  eines  unfruchtbaren  Land- 
striches war,  und  finden  dabei  die  besondere  Begünstigung  einer 
vollkommenen  Freiheit  von  Zins  und  Abgaben  für  die  Zeit  bis 
einschliesslich  des  sechsten  Jahres  nach  vollendeter  Rodung. 
Der  Zins  für  die  folgenden  Jahre  wurde  mit  2,  4,  bez.  8 Denaren 
und  vom  10.  Jnhre  an  mit  einem  Solidus  von  jeder  Hufe  fest- 
gestellt. Daneben  bestand  natürlich  die  Zehentpflicht.  Ab- 
gesehen von  der  Grösse  des  Zinses,  welcher  nach  dem  Gesagten 
den  der  Bremer  Colonisten  um  ein  sehr  Bedeutendes  überragt, 
(hier  ein  Solidus,  dort  ein  Denar),  stimmt  in  allen  bisher  be- 
sprochenen Punkten  der  rechtliche  Inhalt  der  beiden  Verträge 
im  Ganzen  noch  überein. 

Die  Abweichungen  zeigen  sich,  wie  schon  oben  angedeutet, 
erst  in  den  Bestimmungen  über  die  persönlichen  und  gericht- 
lichen Verhältnisse  der  Colonisten.  Todfallsabgabe  und  gewisse 
eherechtliche  Beschränkungen  weisen  ziemlich  deutlich  auf  das 
Vorhandensein  einer  herrschaftlichen  Gewalt,  welche  der  Bischof 
über  die  Colonie  in  Anspruch  nahm,  und  vollends  zeigt  die 
Unterordnung  unter  einen  vom  Bischof  zu  bestellenden  Vogt  un- 
zweifelhaft die  Einordnung  in  den  Herrschaftsverband  des  bischöf- 
lichen Hofes  an.  Die  Detailbestimmungen,  in  welchen  diese  Be 
Ziehungen  und  die  Rechte  der  Colonisten  ihre  Regelung  fanden, 
gewährten  ihnen  dann  allerdings  Begünstigungen,  welche  vielleicht 
nicht  allen  Hofangehörigen  zugestanden  haben,  wie  z.  B.  das 
Recht  der  Freizügigkeit  und  die  Befugnis,  das  Grundstück  gegen 
eine  dem  Vogt  zu  bezahlende  Licenzgebühr  zu  verkaufen  — 
eine  Befugnis,  deren  Ausübung  sogar  gegen  den  Willen  des 
Vogtes  unter  Beobachtung  bestimmter  Form  Vorschriften  ertrotzt 
werden  konnte.  Und  doch  liegt  gerade  darin,  dass  für  den  Ver- 
kauf der  Hufe  und  für  das  Verlassen  des  Dorfes  dem  Vogte  eine 
Abgabe  zu  gewähren  war,  gegenüber  dem  Rechte  der  Bremer 
Colonisten  eine  persönliche  Einschränkung,  die  dort  nicht  bestand. 

Im  Verhältnis  zum  gewöhnlichen  Hofrechte  dürften  wieder 
als  Begünstigungen  erschienen  sein  die  Zugeständnisse  freier  Jagd 
und  Fischerei  und  nochmehr  gewisse  processualc  Erleichterungen, 
die  offenbar  darin  ihren  Grund  hatten,  dass  die  Abgeschieden- 
heit von  dem  eigentlichen  Heimathlande  den  Colonisten  die  Be- 
weisführung, namentlich  die  Aufbringung  von  Eideshelfern  in  der 
Zahl  und  Art,  wie  es  das  gewöhnliche  Processrecht  verlangte, 
unter  allen  Umständen  erschwert,  oft  unmöglich  gemacht  hätte. 
Gegenüber  diesen  Bevorzugungen  fehlt  es  indes  auch  nicht  an 

9* 


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einzelnen,  freilich  weniger  bedeutenden  Momenten,  in  welchen 
die  Colonisten  ungünstiger  als  die  homines  ecclesiae  gestellt 
waren. 

Der  Grund,  warum  diese  holländischen  Ansiedler  sich  mit 
einem  Mindermass  von  Freiheiten  zufrieden  geben  und  sich  die 
mehr  oder  weniger  vollständige  Einordnung  in  den  herrschaft- 
lichen Verband  gefallen  lassen  mussten,  lag,  soweit  die  in  der 
Urkunde  gelegenen  Andeutungen  vermuthen  lassen,  aller  Wahr- 
scheinlichkeit nach  darin,  dass  sie  landflüchtige  Leute  waren, 
die  unfreiwillig  den  heimathlichen  Boden  verlassen  hatten, 
für  die  demnach  die  Erlangung  neuen  Grundbesitzes  selbst  unter 
minder  günstigen  Bedingungen  eine  Existenzfrage  war,  die  auch 
ein  Preisgeben  eines  Theiles  der  persönlichen  Freiheit  und  Selbst- 
ständigkeit begreiflich  machte,  während  ihre  rechtlich  und  wirt- 
schaftlich selbstständigen  Landsleute,  die  Erzbischof  Friedrich  nach 
Bremen  rief,  in  freie  Unterhandlungen  mit  diesem  treten  konnten 
und  sich  nur  denjenigen  Bedingungen  zu  unterwerfen  brauchten, 
die  ihnen  hinreichend  vortheilhaft  und  günstig  erschienen. 

Die  beiden  bisher  besprochenen  Colonisationsprivilegien 
können  vielleicht,  was  die  persönlichen  Rechtsverhältnisse  der 
Colonisten  betrifft,  als  die  Extreme  genannt  werden,  zwischen 
denen  die  bezügliche  Entwickelung  sich  im  einzelnen  bewegte. 
In  der  Holländercolonie  des  Erzbischofes  Friedrich  von  Ham- 
burg-Bremen fehlt  nnhezu  jedes  Eingreifen  der  bischöflichen 
Autorität  in  die  inneren  Rechtsangelegenheiten  der  Dorfschaften. 
Wie  sich  kein  Hinweis  findet,  der  sich  als  eine  durch  die  bischöf- 
liche Herrschaft  veranlasste  Einschränkung  der  persönlichen 
Freiheit  des  Individuums  deuten  Hesse,  so  blieb  auch  die  recht- 
liche Organisation  der  Gesammtheit  fast  ausschliesslich  den  An- 
siedlern selbst  überlassen.  In  beiden  Beziehungen  steht  das 
Gründungsdiplom  des  Hildesheimer  Bischofs  Udo  auf  dem  völlig 
entgegengesetzten  Standpunkte.  Die  Freiheit  der  einzelnen  Colo- 
nisten ist  geschmälert  durch  eine  Reihe  persönlicher  Ein- 
schränkungen und  Lasten,  und  die  Gesammtheit  ist  eingefügt  in 
die  grundherrschaftliche  Organisation,  einem  herrschaftlichen 
Vogte  unterstellt  und  in  ihrem  inneren  Leben  beeinflusst  und 
geleitet  durch  den  herrschaftlichen  Willen.  Hier  also  ein  strenges 
Festhalten  an  den  alten,  hergebrachten  Formen  des  Hofrechtes, 
dort  eine  weitreichende  Loslösung  von  dem  Herkömmlichen,  eine 
freie  Ausgestaltung  ohne  Verbindung  mit  dem  Alten. 


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133 


Die  weitere  Colonisierung  in  (1er  Bremer  Gegend,  zu  deren 
Besprechung  nunmehr  zurückzukehren  ist,  blieb  nicht  bei  der  völlig 
unveränderten  Anwendung  der  von  Erzbischof  Friedrich  ge- 
wählten Rechtsform  für  die  Dauer  stehen,  wenn  freilich  der 
Grundgedanke  sich  nicht  veränderte.  Als  typisch  wiederholt 
sich  zunächst  immer  wieder  die  Gewährung  von  eigenem,  freiem 
Rechte  und  Gerichte  und  die  Überlassung  eines  zu  cultivierenden 
Stückes  Grund  und  Bodens  an  die  einzelnen  Bauern  gegen 
Zehentleistung  und  eine  geringe  Zinslast.  Dabei  ist  nur  die 
eine , zwischen  den  beiden  oben  gekennzeichneten  Extremen 
vermittelnde,  Entwickelung  zu  bemerken , dass  den  öffentlich- 
rechtlichen,  internen  Verhältnissen  der  Oolonistengemeinden 
und  ihrer  Beziehungen  zu  den  oft  ausdrücklich  zu  Begründern 
und  Leitern  der  neuen  Colonie  erhobenen  Mittelsmännern,  ein 
etwas  grösseres  Maas  von  Aufmerksamkeit  zugewendet  wurde, 
und  so  das  Verhältnis  zu  den  alten  Herrschaftsbereichen  die 
nothwendige  Regelung  fand. 

Dies  gilt  zunächst  schon  von  der  Colonisationsurkunde  des 
Erzbischofs  Hartwig  von  Bremen  aus  dem  Jahre  1149'),  welche 
uns  die  Modalitäten  der  Coloniengründung  im  Stedinger  Lande 
in  Oldenburg  berichtet  und  nach  dem  Vertrage  des  Erzbischofs 
Friedrich  wohl  als  das  älsteste  Ansiedelungsprivileg  für  aus- 
ländische Colonisten  zu  bezeichnen  ist,  das  uns  aus  jener  Gegend 
erhalten  ist.  Freilich  können  wir  demselben  entnehmen,  dass  in 
der  Landschaft  bei  Stade  inzwischen  eine  ähnliche  Colonisation 
ins  Leben  gerufen  wurde,  deren  Gründungsurkunden  nicht  auf 
uns  gekommen  sind,  und  es  ist  wohl  leicht  möglich,  dass  auch 
noch  andere  Colouiengründungen  dieser  Art  inzwischen  liegen.  Nach 
dem  Berichte  der  Urkunde  *)  wurde  eine  Sumpflandschaft  die  aus- 

')  Über  die  Urk.  1142,  v.  Hoi  ne  mann,  Anhalter  UB.  292,  s.  unten  S.  136  ff. 

*)  Hamburger  UB.  189  ....  Hartwicus  . . . Bremenais  seu  Hammen- 
burgensia  archiepiscopus,  . . . paludem  quandara,  partim  preposito  et  fratribua 
majoris  ecclesie  Bremenaia,  partim  vero  mihi  et  miniatcralibus  admodum 
paucis  pertinentem,  duobus  viria,  Johanni  videlicet  et  Symoni,  vendendam 
et  excolendam,  fratrum  omnium  atque  corum,  qui  participea  erant  ministeri- 
alium,  deliberato  aaaensu  tradidi,  et  iusticiam  quam  affectabant,  acilicet 
qualemHollandcnsia  populus  cireaStadium  habere  oonsuevit,  conceasi.  Hierauf 
folgen  Grenzbestimmungen  (Stedingerland),  dann  die  Zuweisung  des  Ze- 
hentes vom  Kodelande  wegen  des  Bestandes  besonderer  Rechtsverhältnisse 
an  Probst  und  Conventualen.  Do  decima  vero  frugum  hoc  ex  gratia  con- 
cedimus,  ut  undecimum  acervum,  quem  Hollandenses  lingua  sua  vimmen 
vocant,  persolvant,  de  animalibus  autem  veluti  poledris  denarium,  de  vitnlis 


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gebaut  werden  sollte,  mit  Zustimmung  der  früheren  Eigenthümer 
zwei  Unternehmern,  Johannes  und  Simon,  zum  Verkaufe  an  die 
Colonisten  Ubergeben  und  dem  einen  derselben,  Johannes,  zu  be- 
neficialeni  Rechte  überlassen.  Den  Colonisten  gewährte  Hartwig, 
sowie  früher  den  Ansiedlern  in  der  Gegend  von  Stade  dasselbe 
Hass  ven  Rechten  und  Pflichten,  das  Erzbischof  Eriedrich  einst 
seiner  Colonic  gegeben  hatte.  Sowohl  die  Zinspflicht  von  einem 
Denare  für  die  Hufe  als  auch  die  Zehentabgabc  mit  der  Besonderheit 
der  elften  Garbe  und  den  weiteren  detaillierten  Festsetzungen 
stimmen  mit  den  Anordnungen  des  Erzbischof  Friedrich  nahezu 
völlig  überein.  Bezüglich  der  Gerichtsbarkeit  findet  sich  die 
Bestimmung,  dass  Streitigkeiten,  die  sieh  ergäben,  auf  den  drei- 
mal jährlich  abzuhaltenden  ordentlichen  Gerichtstagen  nach  ihrem 
heimathlicheu  Rechte  Entscheidung  finden  sollten. 

Fast  unter  den  gleichen  Bedingungen  versuchte  Abt  Friedrich 
von  Machtenstedt  die  Besiedlung  der  Sumpfländereien  in  der 
nächsten  Nähe  seiner  Abtei.  Um  seinen  Ansiedlern  die  nöthigen 
Freiheiten  sicherzustcllen , erwirkte  er,  gleichsam  als  Unter- 
nehmer, von  den  über  ihm  stehenden  geistlichen  und  weltlichen 
Herrn  die  Genehmigung  für  seine  Coloniengründung,  sowie  die 
landesherrlichen  Privilegien  für  die  Colonisten.  So  erfahren  wir 
von  deren  Umfange  aus  einer  Urkunde  Herzog  Heinrich 
des  Löwen ')  und  aus  einem  Documente  des  Bremer  Erzbischofs 
Siegfried  *),  welche  die  Erlaubnis  zur  Begründung  dieser  freien 
Ansiedelung  ertheilten.  Dass  aber  auch  das  Reichsoberhaupt 
selbst  den  neuen  Ansiedelungen  seine  Beachtung  schenkte  und 
dem  neuen  Unternehmen  seinen  Schutz  und  Schirm  lieh,  bezeugt 
uns  ein  Diplom  Kaiser  Friedrich  I.  für  dieselbe  Colonie*),  die 
nach  dem  ursprünglichen  Plane  schon  viel  früher  durch  die 
Vermittlung  eines  gewissen  Bovo  hätte  ins  Leben  treten  sollen. 


obolum,  de  reliquis  quoque  justam  decimationem  amministrent,  et  quolibet 
anno  denarios  singulos  pro  singulis  nmuaia  reddant.  Placita  quoque  tribus 
anni  vicibus  celebrent,  et  qui  incusatj  in  hia  non  aatisfocerint.  ad  alia  post- 
modum  vocati  sua  lege  respoudeant.  Districtum  autem  Johanni  croptori. 
quem  supra  recitavi,  iure  beneficiali  concessi,  ea  videlicet  ratione. 
ut  suo  eodem  jure  lieeat  relinquere  successori. 

')  1170  Hamb.  ÜB.  238. 

*)  1181—83  Hamb.  ÜB.  260. 

•)  1158  Hamb.  UB.  209. 


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135 


Die  Colonisationsurk linden  enthalten  wieder  die  für  Hol- 
länderansicdlungen  einmal  gewählten  und  üblichen  Detailbe- 
atimmungen über  den  Zehent  und  die  Belastung  jeder  Hufe 
mit  einem  Jahreszins  von  einem  Denare;  und  auch  das  ange- 
borene Recht  scheint  den  Colonisten  wenigstens  einigermassen 
gewährt  worden  zu  sein,  indem  nach  den  Bestimmungen  der 
Urkunden  der  Abt  unter  des  Herzogs  und  des  Erzbischofs 
Autorität  die  einzelnen  Hufen  „zu  Holländer -Recht  verkaufen“ 
sollte.  Aber  die  Gerichtsbarkeit  wurde  den  Bewohnern  des  neu 
besiedelten  Landes  nicht  mehr  völlig  frei  überlassen.  In  ziem- 
lich weitgehender  Art  lassen  sich  die  Protectoren  der  Colonie 
in  die  Ordnung  und  Regelung  ihrer  Ausübung  ein.  Schon  das 
Kaiserprivilegium  von  1158  anerkennt  den  damals  in  Aussicht 
genommenen  Käufer  des  Ganzen,  den  Unternehmer  Bovo,  auch 
als  habitatorum  ipsius  (paludis)  iudicein,  und  die  processualen 
Bestimmungen,  die  Herzog  Heinrich  und  fast  wörtlich  gleich- 
lautend später  Erzbischof  Siegfried  erliess,  enthalten  immerhin 
eine  Privilegierung  der  dortigen  Gerichte  und  der  gerichtlichen 
Stellung  der  Colonisten ; aber  eben  darin,  dass  eine  so  eingehende 
Regelung  erfolgte , äusserte  sich  zugleich  eine  Ingerenz  der 
Gerichtsherren  auf  die  inneren  Angelegenheiten  der  Colonie  und 
zugleich  die  Tendenz,  Beziehungen  und  Verbindungen  zwischen 
den  alten  und  den  Colonial-Gerichten  herzustellen. 

Dasselbe  gilt  schliesslich  von  der  Colonisationsurkunde  *)  des 
Erzbischofs  Hartwig  II,  durch  welche  die  Colonisierung  der  Gegend 
bei  Hamburg  und  Bremen  ihren  Abschluss  fand.  Neben  den 
stets  gleich  bleibenden  Bestimmungen  über  Zehent  und  Zins 
und  der  Gewährung  des  Holländerrechtes  an  die  Bewohner  und 
neben  der  Regelung  der  niederen  Gerichtsbarkeit  in  voller 
Übereinstimmung  mit  dem  zuletzt  besprochenen  Machtenstedt’schen 
Privilegium  finden  wir  für  die  höhere  Gerichtsbarkeit  aus- 
drücklich die  Giltigkeit  der  leges  terrae  ausgesprochen  und  die 
bevorzugte  Stellung,  welche  den  Gründern  der  Colonie,  Heinrich 
und  Hermann,  innerhalb  derselben  gewahrt  blieb,  gelangt  am 
deutlichsten  dadurch  zum  Ausdrucke,  dass  der  erzbischöfliche 
Hof  zu  ihren  Gunsten  auf  den  Zehent  jeder  zehnten  Hufe  Ver- 
zicht geleistet  hat.  Die  Überlassung  dieses  auf  öfifentlichrecht- 
lichcr  Grundlage  fussenden  Einkommens  ist  gewiss  bezeichnend 
und  kann  vielleicht  als  eine  Anerkennung  der  öffentlichrecht- 

')  1201  Hamburger  UH.  332. 


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136 


liehen  Stellung  gedeutet  werden,  die  etwa  dem  Schultheis&en- 
amte  der  späteren  Dorfgründungen  namentlich  in  Schlesien 
analog  gewesen  sein  mochte. 

Es  erübrigt  noch,  auf  zwei  uns  erhaltene  Colonisations- 
urkunden  aus  derselben  Gegend  hinzuweisen,  die  den  zuletzt 
besprochenen  gegenüber  in  manchen  Beziehungen  eine  singuläre 
Stellung  einnehmen,  indem  sie  in  einem  viel  engeren  Zusammen- 
hänge mit  den  alten  hofrechtlichen  Formen  stehen. 

Der  Grund  dieser  Besonderheit  dürfte  wohl  darin  gelegen 
sein,  dass  es  sich  in  beiden  Fällen,  wie  es  scheint,  nicht  um 
Niederlassungen  holländischer  oder  überhaupt  fremdländischer 
Colonisten  gehandelt  hat,  vielmehr  die  neuen  Ansiedlungcn  vor- 
wiegend aus  den  Reihen  der  einheimischen  Bevölkerung  dürften 
gegründet  worden  sein. 

Diese  Annahme  scheint  zunächst  berechtigt  für  das  Diplom 
des  Erzbischofs  Adalbero '),  durch  welches  die  Colonisierung  des 


')  1142,  Anhalter  UB.  I 292 notum  sit  . . . qualiter  et 

nos  (Erzb.  Adalbero)  et  domina  ducissa  Gertrudis  et  filius  suus  Heinricus 
puer,  dux  Saxonurn,  ....  paludum  australem,  scilicet  villis  istis : Santou. 
Strabiliughehusen,  Ochtmunde,  Hasbergen  conterminam,  equa  inter  nos  por- 
cione  divisimus,  et  ab  omni  tarn  nobilium  quam  ministerialium  seu  ruri- 
colarum  appellatione  liberam  factam  babitatoribus  excolendam  deditnus, 
melius  et  utilius  estimantes  colonos  inibi  locari  et  ex  eoruin  nobis 
labore  fructum  proveuire  quam  incultam  et  peue  inutilem  eam 
permanere.  Erat  autem  nobis  hec  cum  colonis  illis  conventio  ut  quotquot 
ibi  mansi  habeantur,  totidem  nobis  a possessoribus  eorum  de- 
narii  quolibet  anno  persolvantur,  quo  predium  non  suum  sed 
ecclesiae  et  nostrum  esse  pro  fiteautur,  et  decimam  frugum  et 
anserum,  ovium,  et  caprarum  atque  apum  examinum  secundum  usum  terre 
nos  t re  dare  non  negligant,  sed  et  poledrum  denario  et  vitulum  dimidio 
redimant.  (Folgen  Bestimmungen  Uber  Kircheubau  und  geistliche  Angelegen- 
heiten.) In  p laci t i s ve ro  secularibus  eum,  quem  sibi  prefecimus, 
audiant  et  defunctis  patribus  tarn  flliae  quam  filii  eorum  allodia  pari  divi- 
sione  suscipiant.  Tribus  etiam  annuatira  diebus  ad  placita  sui  advocati  ex 
condicto  veniant  et  bannum  pro  quolibet  suo  commisso  tantum  quatuor 
solidis  redimant.  Si  quis  ad  nos  über  intraverit  et  se,  sicut  est,  liberum 
professus  fuerit,  libertate  sua,  si  velit,  utatur ; sin  autem  nisi  prius  relictis 
bonis,  nequaquam  alias  quam  ecclesiae  proprius  fieri  permittitur.  Si  vero 
alius  se  servum  fecerit,  predio  suo  carcat  ot  ad  usum  archiepiscopi 
illud  absque  contradictione  prnveniat.  Similiter  qui  venerit  et  sc  servum 
esse  non  negaverit,  heres  oius  in  suscienpicndo  inatrimonio  illi  sucoedere 
poterit;  qui  si  defuerit,  dominus  eius  ab  suscipienda  bereditatc  sua  omnino 
exclusus  sit,  sed  archiepiscopus  illam  accipit.  Wenn  einer  Freiheit  vorgibt 
und  unfrei  ist  und  zu  seinem  Herrn  zurückkehren  muss,  so  verliert  er  ohne 


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137 


Niederviehlandes  bei  Bremen  beurkundet  wurde.  Auch  die 
dortigen  Ansiedler  erhielten  das  in  Parzellen  aufgetheilte  Land 
zur  Cultur  und  freier  Nutzung  zu  erblichem  und  veräusserlichem 
Rechte.  Aber  der , freilich  sehr  geringe , Zins  wird  hier 
ausdrücklich  verlangt,  quo  prcdium  non  suum  sed  ecclesiae  et 
nostrum  (des  Erzbischöfe«)  esse  profiteantur,  und  der  bischöfliche 
Hof  behielt  sich  ein  Vorkaufsrecht  für  jeden  Fall  einer  Hufen- 
veränsserung  vor.  Die  Zehentpflicht  schloss  sich,  wie  besonders 
hervorgehoben  wurde,  dem  in  der  Bremer  Diöcese  Gebräuch- 
lichen an,  und  es  findet  sich  weder  bei  den  diesbezüglichen  De- 
tailbestimrnungen  ein  Hinweis  auf  das  holländische  undecimum 
manipulum,  noch  sonst  eine  Erwähnung  des  Holländer  Rechtes 
und  Gerichtes,  wie  sie  sich  mit  grösserer  oder  geringerer  Deut- 
lichkeit in  allen  bisher  besprochenen  Bremer  Urkunden  doch 
immer  noch  fand. 

Dagegen  wurden  die  Colonialen  (wenigstens  für  geringere 
Angelegenheiten)  einem  vom  Erzbischöfe  ernannten  Vogte  unter- 
stellt, und  es  schien  noth wendig,  in  detaillierter  Weise  zu  regeln, 
welche  rechtliche  Folgen  in  Bezug  auf  den  Hufenbesitz  die 
Statusverhältnisse,  namentlich  die  Hörigkeit  und  Abhängigkeit 
von  dem  Bischof,  oder  von  einem  fremden  Herrn  ausüben 
sollten  — gewiss  allein  schon  ein  deutliches  Zeichen  dafür,  dass 
eine  einheimische  Bevölkerung  in  die  Colonie  eintreten  sollte. 
Berücksichtigt  man  zu  all  dem  noch  weiters,  dass  der  Erz- 
bischof ohne  Dazwischenkunft  einer  Mittelsperson  selbstständig 
die  Colonie  ins  Leben  gerufen  und  die  Normen  für  ihre  innere 
und  äussere  Gestaltung  in  weitreichender  Anlehnung  an  die  ge- 
wöhnlichen grundherrschaftlichen  Verhältnisse  einseitig  festgesetzt 
hat,  ohne  dass  irgend  welcher  Vorunterhandlungen  gedacht  würde, 
so  dürfte  bei  dem  Fehlen  jedes  Hinweises  auf  einen  fremd- 
ländischen Character  die  Annahme  wohl  unabweisbar  sein,  dass 
ausschliesslich  oder  wenigstens  vorwiegend  bereite  im  Lande  An- 
sässige zu  der  neuen  Dorfgründung  herangezogen  wurden. 
Denn  diese  durch  den  Inhalt  der  Urkunde  in  jeder  Richtung 
begründete  Vermuthung  macht  nicht  nur  deren  Verschiedenheiten 

Erbgeld  sein  Gut.  Daun  folgen  Bestimmungen  über  den  Rückfall  des 
Gates  bei  Vermählungen  mit  Unfreien  fremder  Herrn.  Preterea  si  aliquem 
predia  sna,  nt  sepe  necessitatis  causa  fit,  vendere  veile  contigerit,  primum 
archiepiscopo  sc,  sicut  si  alias  compararc  velit,  exbibeat ; quod  si  noluerit 
archicpiscopus,  alii  cuilibet  emere  licebit,  attamen  et  quod  is  qui  vendidit 
annuatim  debitus  fuit  et  bunc  solvere  postmodum  oportebit  .... 


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138 


gegenüber  den  gewöhnlichen  Colonisutions  vertrügen  und  die 
nähere  Beziehung  zu  den  hofrechtlichen  Institutionen  begreiflich, 
sondern  erklärt  es  auch,  dass  ein  solches  Mindermass  von 
Rechten  und  Begünstigungen  sich  doch  für  das  Zustandekommen 
der  Colonie  hinreichend  erwies.  Für  die  einheimische  Bevölkerung, 
namentlich  den  unfreien  Thcil  derselben,  mussten  auch  solche 
weniger  weit  reichende  Vortheile  noch  begehrens werth  erscheinen, 
die  vielleicht  nicht  genügt  hätten,  fremde  und  freie  Leute  aus 
der  Ferne  zu  gewinnen. 

Auch  die  durch  Erzbischof  Sigfried  von  Bremon  durch- 
geführte Coloniengründung,  durch  welche  nach  ziemlich  allge- 
mein herrschender  Ansicht  der  bei  der  Colonisation  des  Erz- 
bischofs Friedrichs  frei  gebliebene  Theil  des  Hollerlandes  bei 
Bremen  besiedelt  wurde,  dürfte  vorwiegend  von  einheimischen 
Colonisten  bewerkstelligt  worden  sein.  Zwar  wird  bis  in  die 
neueste  Zeit  immer  die  Ansicht  vertreten,  dass  das  betreffende 
bischöfliche  Diplom ')  an  eine  Holländerniederlassung  im  wahren 


’)  1181  Bremer  UB.  No.  56  ...  . Noverit . . .,  qualiter  ego  Siffridus  dei 
clementia  archiepiscopus  Bremensis,  inito  consilio  cum  fratribus  meis  cano- 
nici», viris  mei»  et  ministerialibus  veudidi  quoddam  desertum,  quod  Over- 
nigelaut  dicitur,  Kocwinkil,  Osterholtet  Vurholt,  quod  emptum  est  emtione 
libera.  Eiusdem  autem  loci  incolas  tarn  moderuos  quam  futuros  ad  unam 
statuimua  pertinere  parrochiam.  Ter  in  anuo  synodo  intererunt.  Decima 
talis  est : decima  v i m a,  decimus  agnus  . . .,  idem  de  ansere  et  porcello ; pro 
poledro  nummum  unum  dabunt  in  die  »aneti  Martini,  pro  vitulo  obulum; 
de  pulliB  nulla  contingit  decima.  Mansu»  annuatim  solvit  nummum 
pro  ccnsu  in  die  sancti  Martini.  Post  sex  hebdomada»  placito  intererunt, 
ita  dioo,  »i  tribus  diebus  ante  indictum  fuorit  Post  merediem  apud  eos  in 
nullius  collum  nee  hereditatem  agetur.  Qui  tardus  ad  placitum  venerit, 
octo  nummos  vadiabit;  pro  banno  quatuor  solidoe;  qui  litigaverit  sive 
qui  alii  iniurias  intulerit  et  convictus  fuerit,  sexaginta  solidos  persolvet. 
item  si  quis  pro  debito  accusatus  fuerit  in  placito  et  si  confessus  fuerit,  quod 
hoc  debeat,  nihil  inde  solvet  iudici:  si  autem  iudex  praeceperits  debitori, 
quod  debitum  reddat  et  debitor  hoc  neglexerit,  in  proximo  placito  quatuor 
solidos  vadiabit.  Qui  apud  eos  de  herediate  conqueritur,  ei  non  licet  festes 
adducere  nisi  eos,  qui  propriam  hereditatem  possident,  ita  ut  tideles  sint,  de 
eadem  parrochia.  Contra  mortuum  testari  non  licet.  Post  mortem  partris 
vel  matris  soror  et  frater  omnia  equaliter  parcientur.  Item  si  unus  corum 
alteri  nnpserit  et  alter  sine  herede  morte  prevontus  fuerit,  possessio  de- 
functi  redibit  ad  proximos.  Item  si  moritur  intcr  eos  sliquis  et  si  iufra 
annum  nullus  venerit,  qui  se  defuncti  oognatum  fuiesse  probot,  possessio 
mortui  ad  regiam  man  um  transibit.  Licet  ctiam  eis  hereditatem  suam 
vendere,  ingredi,  egredi,  quod  nichil  spectat  ad  iudicem  Nullus  eorum 
aeieno  stabit  iudicio,  sed  tantum  ibi,  ubi  ipse  habet  iudicem.  In  meo  epis. 


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139 


Sinne  des  Wortes  dächte,  dass  die,  wie  man  insgemein  annimmt, 
nicht  genannten  Käufer1),  Holländer  gewesen  sein  müssen,  und 
Schulze’),  der  auch  die  rechtlichen  Verhältnisse  der  Colonie  ge- 
nauer bespricht,  kommt  zu  dem  Ergebnisse,  dass  „die  Stellung 
der  Ansiedler  in  wirthschaftlicher  Beziehung  ebenso  günstig,  in 
rechtlicher  ebenso  selbstständig  war,  wie  die  der  Holländer 
von  1106;  nur  dass  man  sich  veranlasst  gesehen,  einzelne  Punkte 
genauer  zu  fixieren“.  Mag  man  nun  immerhin  den  weiteren 
Ausführungen  Schulze’s  beitreten  und  wegen  des  holländischen 
Wortes  vima  für  Garbe  und  des  Berichtes  des  Stader  Copiar's, 
welcher  Holländer  als  Bewohner  jener  Gegenden  nennt,  sich  der 
Annahme  zuneigen,  dass  Holländer  in  jene  Colonie  gelangt  sind, 
so  wird  man  doch  die  von  ihm  behauptete  Gleichstellung 
mit  den  Rechten  der  Colouisten  von  1106  gewiss  nicht  zugeben 
können.  Denn  wenn  dort  den  (Kolonisten  ihr  eigenes  Recht  und 
die  freieste  Ordnung  ihrer  gerichtlichen  Angelegenheiten  unter 
völligem  Ausschlüsse  jeder  bischöflichen  Ingerenz  zugesichert 
wurde,  und  hier  statt  dessen  die  eingehendste  Regelung  der 
Gerichtspflicht  und  des  gerichtlichen  Bussenwesen  nebst  Bestim- 
mungen über  erbrechtliche  Fragen  sich  finden,  so  liegt  darin 
doch  gewiss  mehr  als  lediglich  eine  genauere  Bestimmung  über 
einzelne  Punkte.  Und  wenn  man  weiter  überlegt,  dass  ausser 
in  dem  Wörtchen  vima  nicht  der  geringste  Hinweis  auf  hollän- 
disches Recht  und  holländische  Gebräuche  in  unserer  Urkunde 
enthalten  ist,  dagegen  die  positiven  Bestimmungen  mit  dem  hei- 
mischen Rechte  in  vollem  Einklänge  stehen,  dass  namentlich  per- 
sönliche Dienste,  wie  sie  das  Wapenrecht  erfordert,  von  den 
allen , freien  wie  unfreien , Ständen  ungehörigen  Colonistcn 
verlangt  wurden,  und  dass  auch  hier  Mittelpersonen,  durch  deren 
Intervention  die  Regelung  der  Angelegenheiten  erfolgt  wäre, 
nicht  genannt  sind,  so  liegt  wohl  die  Vermuthung  nahe,  es 
müsse  diese  Colonie  ziemlich  auf  gleicher  Stufe  mit  der  zuletzt 


copatu  nullum  dabunt  thelonium.  Item  si  wapenroebt  contigit,  qui  ad 
boc  supersederit,  si  liber  1‘ucrit  decem  solidos  vadiabit,  m iniater  ia  1 is 
totidum ; si  proprius  fuerit  crines  et  pellem  vel  quinque  solidos  persolvet. 
Herestratc  regia  erit,  ubi  ipsi  communiter  eam  esse  decreverint  et  iudex 
preceperit.  Weteringe  autem  deducentur  quo  eis,  qui  sworenen  diountur, 
placuerit  et  iudici. 

')  Bremer  UB.  No.  56  S.  64  Anm.  2,  Schulze  a.  a.  0.  S.  18. 

»)  a,  a.  O.  S.  20. 


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140 


besprochenen  stehen,  und  bei  der  Formulierung  der  Ansiedlungs- 
bedingnissc  sei  zunächst  an  einheimische  Landbebauer  gedacht 
worden,  neben  denen  dann  Hollunder  sich  immerhin  mit  einge- 
funden haben  mögen. 

Ja  man  kann  wohl  auch  in  den  Eingangsworten : „qualiter 
ego  ....  inito  consilio  cum  fratribus  meis  canonicis  viris 
meis  et  ministerialibus  vendidi  quoddam  desertunr*  eine  Be- 
stätigung für  die  hier  vertretene  Ansicht  erblicken , da  das  ge- 
wöhnliche Formular  ähnlicher  Urkunden  der  Erzbischöfe  von 
Bremen  der  Deutung  nicht  im  Wege  steht,  dass  mit  den  viris 
meis  et  ministerialibus  nicht  Berather  des  Bischofes,  sondern 
(indem  die  Worte  als  Object  zu  vendidi  zu  ziehen  wären)  die 
Käufer,  deren  Nennung  in  der  Urkunde  stets  vermisst  wurde, 
gemeint  gewesen  seien  ’). 

Gemeinsam  ist  den  beiden  zuletzt  besprochenen  Colonisations- 
privilegien  jedenfalls,  dass  in  ihnen  des  specifischen  Holländer- 
rechtes keine  Erwähnung  geschieht,  und  dass  die  ausführliche 
Regelung  der  processualen  Angelegenheiten  eine  freie  und  selbst- 
ständige Ordnung  dieser  Dinge  unmöglich  gemacht,  dafür  aber 
die  ganze  gerichtliche  Organisation  den  hof-  und  grundherrlichen 
Gerichten  näher  gerückt  oder  gleichgestellt  hat.  — 

Bei  einem  schliesslichen  Rückblicke  über  das  hier  be- 
sprochene, der  Gegend  von  Hamburg  und  Bremen  ungehörigen  Ur- 
kundenmaterial tritt  uns  die  eingangs  schon  erwähnte  eine 
Thatsache  als  unbestreitbar  entgegen,  dass  die  Erzbischöfe,  oder 
wer  sonst  die  Privilegien  der  Colonien  ausfertigte,  in  ihrer  öffent- 
lichrechtlichen Stellung,  nicht  schlechthin  als  private  vertrag- 
schliessendc  Parteien  den  Colonisten  gegenüberstanden,  was  schon 
darin  seinen  äusseren  Ausdruck  fand,  dass  die  Colonisationsurkunden 
öffentlichrechtliche  Angelegenheiten  vielfach  in  weiterem  Umfange 
und  mit  grösserer  Sorgfalt  ordneten,  als  die  gleichzeitig  zu  regelnden 
privatrechtlichen  Fragen. 

Auch  wurde  schon  aus  den  bisherigen  Ausführungen  klar, 
dass  die  Art  und  Weise,  in  welcher  dieser  öffentlichrechtliche 


')  vergl.  auch  die  bei  Wersebe  a.  a.  O.  S.  35  Amu.  19  citierten  Worte 
von  Renners  Chronik  zum  J.  1181  (fol  m.  175  p.  2).  Anno  1181  verkoffte 
Bischop  Sifridus  dat  Holderland  der  Stadt  Bremen  mit  Willen  des  Dohm. 
Capitels.  Auel)  hier  ist  nur  die  Zustimmung  des  Domcapitels  erwähnt. 
Dass  die  Stadt  Bremen  nicht  die  Käuferin  gewesen  sein  kann,  dafür  vergl. 
Bremer  UB.  S.  64  Anra.  2. 


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141 


Einfluss  zur  Geltung  kam,  bei  den  einzelnen  Coloniengründungen 
eine  verschiedene  war. 

Das  älteste  Diplom  des  Erzbischofs  Friedrichs  vom  Jahre  1106 
ist  in  diesen  öffentlichrechtlichen  Bestimmungen  zum  grossen 
Theile  negativ,  indem  es  die  grundherrlichen  Rechte  des  Bis- 
thums in  enge  Schranken  eindämmte  und  in  vielen  Beziehungen 
gänzlich  ausschloss,  und  so  der  neuen  Niederlassung  volle  Freiheit 
zu  eigener,  selbstständiger  und  eigenartiger  Entwickelung  gewährte. 
Es  mussten  völlig  neue  Grundsätze,  frei  von  den  Banden  des 
alten  Hofrechtes,  zur  Anwendung  kommen,  wenn  das  gewagte 
und  kühne  Unternehmen  Aussicht  auf  Gedeihen  haben  sollte. 
Und  darum  begnügte  man  sich  auch,  neben  den  nothwendigsten 
Festsetzungen,  durch  die  das  herrschaftliche  Interesse  gewahrt 
werden  sollte,  nur  noch  wenige  allgemeine  Sätze  über  die  höhere 
Gerichtsbarkeit  zu  vereinbaren,  während  man  alles  andere  völlig 
freigab  und  jede  Ordnung  den  Colonisten  selbst  überliess '). 

So  war  allerdings  den  Colonisten  die  nöthige  Freiheit  und 
Selbstständigkeit  gewährt,  der  nothwendige  Bruch  gegenüber 
dem  Alten  vollzogen  und  eine  freie  Entwickelung  für  die  Colonie 
gesichert;  aber  hei  diesen  zunächst  rein  negativen  Bestimmun- 
gen fehlte  eben  fast  jeder  Zusammenhang  mit  dem  Früheren, 
namentlich  mit  der  herrschaftlichen  Ordnung,  die  doch  die  neuen 
Ansiedelungen  ine  Leben  gerufen  hatte.  Diese  völlige  Isolierung 
blieb  auf  die  Dauer  nicht  erhalten.  Schon  bei  der  Gründung 
der  Colonie  im  Stedingerlaude  *)  voh  1149  wurde  der  Zusammen- 
hang wenigstens  äusserlich  wieder  hergestellt,  indem  der  eine 
der  Unternehmer  den  ganzen  District  erblich  zu  beneficialem 
Rechte  zugewiesen  erhielt,  und  auch  anderwärts  fiel  den  Unter- 
nehmern eine  leiteude  obrigkeitliche  Stellung  in  der  Colonie  und 
damit  die  Vermittlerrolle  zwischen  ihr  und  der  Grundherrschaft 
zu.  So  ist  Bovo  nach  dem  oben*)  genannten  Diplom  Kaiser 
Friedrichs  für  die  damals  geplante  Colonie  bei  Machtenstedt  als 
judex  der  Colonisten  in  Aussicht  genommen,  und  auch  in  den 
späteren,  hier  erwähnten  Colonisationsurkunden  tritt  die  öffentlich- 
rechtliche  Function  dieser  Mittelsmänner  unverkennbar  zu  Tage, 
die,  wie  später  noch  zu  zeigen  sein  wird,  schliesslich  die  Stellung 
von  Schultheissen  erlangt  haben.  Die  Regelung  der  gerichtlichen 

')  vergl.  auch  H.  A.  Sch  umacher,  Die  Stadin^er,  Bremen,  1865,  S.  46. 

«)  a.  o.  S.  133. 

»)  s.  S.  134. 


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142 


und  processualen  Angelegenheiten,  bei  welcher  der  Geist  der  im 
Colonisationsgebiete  heimische  Rechtsanschauungen  in  grösserem 
oder  geringerem  Masse  zum  Durchbruche  kam,  fügten  der 
äusseren  Verbindung  auch  eine  innere  Annäherung  hiuzu, 
und  es  braucht  wohl  nicht  erst  hervorgehoben  zu  werden,  dass 
gerade  für  diese  Entwickelung  das  Entstehen  analoger  Colonien 
von  einheimischen  Leuten  sehr  wesentlich  fördernd  einwirken 
musste. 

Die  weitere  Entwickelung,  welche  das  Colonistenrecht  nahm, 
bewegt  sich  denn  auch  vornehmlich  auf  diesem  Gebiete  des 
genossenschaftlichen,  öffentlichen  Rechtes. 

Sehen  wir  vorläufig  von  der  Besprechung  der  durch  die 
Coloniengründungen  ins  Leben  gerufenen  privaten  Rechtsver- 
hältnisse ab,  und  wenden  wir  zunächst,  uni  den  Fortgang  der 
colonisatorischen  Bewegung  zu  übersehen,  unseren  Blick  den 
anderen  Gebieten  des  deutschen  Nordens  und  Ostens  zu,  in 
welchen  sich  Spuren  einer  Colonisation  mit  mehr  oder  weniger 
Deutlichkeit  verfolgen  lassen,  so  werden  wir  zunächst  der  äusseren 
Thatsache  gewahr,  dass  an  die  specifisch  holländische  Besiedelung 
sich  bald  eine  flämische  und  eine  allgemein  deutsche  anschloss, 
die  im  allgemeinen  von  ähnlichen  Grundsätzen  beherrscht  war. 
Freilich  lässt  sich  dies  nicht  überall  in  gleicher  Weise  verfolgen, 
dann  lange  nicht  aus  allen  Gegenden,  für  welche  sich  eine  solche 
holländische  oder  deutsche  Colonisation  nachweisen  lässt,  ist  uns 
auch  das  urkundliche  Materiäl  erhalten,  welches  uns  einen  un- 
mittelbaren Aufschluss  über  die  Art  der  Coloniengründungen 
und  über  das  Colonistenrecht  zu  geben  vermöchte. 

Für  die  Gegenden  aber,  aus  welchen  uns,  wenn  auch  nur 
dürftige,  urkundliche  Behelfe  über  die  Ansiedelung  selbst  vorliegen, 
ist  der  Zusammenhang  mit  den  ersten  Coloniengründungen  ausser 
allem  Zweifel,  aber  wir  erkennen  auch  sogleich,  dass  die  Ent- 
wickelung, die  wir  in  dem  Bremerlande  verfolgen  konnten,  ander- 
wärts nur  noch  entschiedener  zuin  Durchbruche  kam.  Konnten 
wir  dort  erfahren,  dass  die  öffentlichrechtliche  Ausgestaltung 
des  Rechtes  der  Colonien  zu  immer  grösserem  Umfange  gelangte, 
und  immer  mehr  verdeckte,  was  an  privatrechtlichen  Institutionen 
damit  Hand  in  Hand  gieng,  'so  finden  hier  in  den  Diplomen 
über  neue  Gründungen  neben  der  Sorge  für  die  öffentlichen  An- 
gelegenheiten privatrechtliche  Fragen  zur  Regelung  nur  mehr 
wenig  Raum;  und  war  es  bei  den  Colonien  im  Bremerlande, 
namentlich  den  ältesten,  vielleicht  noch  möglich  daran  zu  denken. 


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143 


der  Bischof  hätte  bei  der  Coloniengriindung  neben  und  in  den 
öffentlichrechtlichen  Frageu  auch  noch  private  Zwecke  ange- 
strebt, so  begegnen  wir  hier  der  Sorge  des  Fundators  für  ein 
gutes  Gedeihen  des  Dorfes,  und  zwar  des  Dorfes  als  einer  dem 
gesummten  Verwaltungsorganismus  eingeordneten  öffentlichrecht- 
lichen Gemeinde  mit  dem  für  ihre  Verwaltung  nothwendigen 
Organe.  Denn  die  Leiter  der  Colonie  und  Anführer  der  Colo- 
nisten,  deren  Macht  ursprünglich  vielleicht  nicht  selten  bloss 
factisch  bestand  aber  nicht  rechtlich  gewollt  war  und  nach 
unseren  Urkunden  meist  nur  zu  vermuthen  und  nicht  zu  beweisen 
ist,  treten  uns  hier  im  Kleide  von  Schultheissen  unverkennbar 
als  eingesetzte  Obrigkeiten  entgegen. 

Den  Übergang  zwischen  diesen  freieren  und  den  späteren 
dorfrechtlich  geschlossenen  Formen,  die  namentlich  in  der 
Lausitz,  Schlesien  und  Böhmen  besonders  zahlreich  nachweisbar 
sind,  bilden  unverkennbar  Coloniengründungen  von  der  Art,  wie 
wir  solche  iu  der  Gegend  von  Magdeburg  und  Meissen  urkund- 
lich beglaubigt  vorfinden. 

Mit  den  eigentlichen  Holländercolonien  in  der  Form  ihrer 
Gründung  am  nächsten  verwandt  ist  die  Besiedelung  des  Dorfes 
Krakau  bei  Magdeburg.  Nach  der  auf  uns  überkommenen  Über- 
lieferung ')  beurkundet  nämlich  Erzbischof  Wichmann,  dass  der 


')  Mühlvers  teilt  Kegesta  Archiepiaeopatua  Magdeburgensis  I No.  1461 
a.  1161  ? nach  einer  dem  15.  Jahrhundert  Angehörigen  Copie  mit  unrichtiger 
Datierung.  Oedruckt  bei  H offmann,  Geschichte  Magdeburgs,  1847,  II. 
S.  408  f . . . . Wichmannus  . . Archiepiscopus.  Noverit  ....  qualiter 
Oerhardus  maioris  ecclcsie  prepositus  in  Magdeburg  villam  quandam  contra 
civitatem  super  albie  ripam  sitam  krakoe  nominatam  cum  Omnibus  ad  eam 

pertinentibus Burebardo  cuidam  et  Simoni  sub  assignacione  cuius- 

dam  certo  pccunie  ad  excolendam  contradidit  assensu  nostro  et  canouicorum 
maioris  ecclesie  et  Sifridi  schulteti  cuius  cadem  villa  beneficium  ante  fuerat 
ca  videlicet  co  nvcncione  interposita  ut  quoscunque  agrorum  cultores  preno- 
minati  viri  ibidem  locaverint  quantoscunque  agros  pecunia  sua  ernennt 
eosdem  iure  hereditario  possideaut  suisque  heredibus  possidendos  relinquant. 
Addidit  eis  praeterea  ut  eiusdem  noveile  plantacionis  inhabitatores  in  Om- 
nibus causis  ac  negotiis  sive  placitis  suis  iusticiam  et  consuetudinem  seu 
plebiscita  hollandensium  habeant  hoc  nimirum  eis  indulgens  ut  ab  omni 
angaricione  et  peticione  et  vara  et  expeditione  Bint  liberi  ut  tantummodo 
fossatiB  ad  restringendam  aquam  vacent  et  jure  hollandiensium  annuatim  per- 
solvant  XII  nummos  de  quolibet  manso  cum  decimacione  omnium  fructuum 
suorum  et  omnium  decimandorum  tocius  quoque  decimacionis  tres  Bant 
particiones  quarum  uua  in  usus  prebendales  canonicorum  majoris  ecclesie 


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144 


Magdeburger  Domprobst  Gerhard  die  Dorfschaft  Krakau  an  der 
Elbe  mit  allem  Zugehör  zwei  Leuten,  Burchard  und  Simon,  unter 
Anweisung  eines  bestimmten  Geldbetrages  mit  Zustimmung  der 
Canoniker  und  de»  früheren  Dorfschultheissen  Sifridus  zum  Aus- 
bau übergeben  habe.  Die  beiden  sollten  dort  möglichst  viele 
Bebauer  des  Landes  ansetzen,  die  eine  beliebige  Anzahl  von  Ackern 
sich  ankaufen  und  dann  zu  erblichem  Rechte  fiir  sich  und 
ihre  Nachkommen  besitzen  sollten.  Den  Colonisten  wurde  der  Ge- 
brauch des  holländischen  Rechtes  in  allen  ihren  Rechtshändeln, 
sowie  die  Freiheit  von  persönlichen  Diensten  zugesichert  und  nur 
die  Verpflichtung  zur  Besorgung  gewisser  Wasscrarbeiten  und 
„nach  Holländerrecht“  zur  Zahlung  von  12  11.  für  jede  Hufe 
und  zur  Zehentleistung  auferlegt.  Sowohl  in  den  positiven  Be- 
stimmungen über  die  Abgabenpflicht,  wie  in  der  wenig  präcisen 
Formulierung  der  rechtlichen  Stellung  der  Dorfgründer  zu  den 
Dorfangehörigen  steht  dieses  Diplom  des  Erzbischofs  Wichmann 
mit  den  eingangs  besprochenen  Colonisationsurkunden  ziemlich 
auf  gleicher  Stufe. 

Demgegenüber  erscheint  schon  in  den  folgenden  Urkunden 
aus  der  gleichen  Gegend  die  obrigkeitliche  Stellung  der  Dorfvor- 
steher durch  den  Bischof  gewissermassen  officiell  anerkannt,  was 
u.  a.  in  der  Verleihung  eines  gefreiten  Grundbesitzes  an  die  Dorf- 
obrigkeit ihren  greifbaren  Ausdruck  erhielt.  Die  älteste  unter 
den  hierher  gehörigen  Urkunden  ist  ein  Diplom  des  Bischofs  Ge- 
rung von  Meissen1),  welches  uns  berichtet,  dass  dieser  tüchtigen 


proveniat  Secundam  ecclcsia  eiusdem  ville  et  sacerdoa  qui  ibidem  fuerit  in 
perpetuum  posaideat  Tertia  vero  ei  quieuuque  dominus  vel  posaeaaor  eiusdem 
ville  oxtiterit  remaneat.  Kt  hec  quidem  tradicio  aeu  vendicio  quemadinoduru 
aupra  dicta  eat,  facta  eat 

')  1154  Cod.  dipl.  Saxoniae  II  1 No.  50  ...  . notum  eaBe  volumua 
qualiter  ego  ....  atrenuos  viros  ex  Flandrenai  provincia  adventantes  in 
quodam  loco  inculto  et  pene  habitatoribua  vacuo  collouaverim  et  in  stabilem 
aeternainque  et  liereditariain  pussesaionem  tarn  ipsis,  quam  omni  eorurn 
posteritate  villam  eandem  quae  Coryn  (Kühren  bei  Wurzen,  dicitur  cum 
subscripto  iure  tradiderim.  Praefatis  etenim  Klandrenaibus  in  memoriam 
et  signum  emptae  posseasionia  quatuor  talcnta  et  eandem  villam  . . . tradidi. 
Ex  quibu8  videlicet  (XVIII)  manais  unum  eccleaiae  cum  omni  deciina  eiua- 
dem  mansi  conceaai ; duos  autem  eorundem  incolarum  magiatro,  quem  scul- 
tetum  appellant,  absque  decima  permisi.  Keliqui  mansi  numero  XV  singulis 
annis  XXX  sol.,  et  pro  iuaticia,  que  zip  vocatur,  XXX  nummoa  persoluunt 
Omnium  rerum  auarum  decimam  praeter,  apuin  et  lini,  praefati  bominia  dant 
et  ter  in  anno  advocato  in  placitia,  quae  cum  ipsia  et  apud  ipsoa  cum  paucis 


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145 


Männern  au»  Plaudern  das  nahezu  unbewohnte  Dorf  Coryn  mit 
allem  Zubehöre  zu  dauerndem  und  erblichem  Besitze  zur  Besiede- 
lung überliess.  Von  den  18  Hufen,  welche  das  Dorf  enthielt, 
widmete  er  eine  der  Dorfkirche,  zwei  andere  zins-  und  zehent- 
frei  dem  incolarum  mngistro,  quem  scultetum  appellant,  während 
die  übrigen  neben  dem  vollen  Zehent  einen  (ixen  Zins  zu  leisten 
hatten.  Zur  Ausübung  der  Gerichtspflege  wurden  jährlich  drei 
Gerichtstage,  die  unter  der  Leitung  des  bischöflichen  advocatus 
in  dem  Dorfe  selbst  abgehalten  werden  sollten,  angeordnet;  dabei 
nahm  der  Bischof  von  den  Gerichtsgefällen  zwei  Dritttheile  für 
sich  in  Anspruch,  wahrend  er  das  dritte  dem  Schultheissen  über- 
wies. Endlich  wurde  den  Ansiedlern  volle  Freiheit  von  allen 
weiteren  bischöflichen,  vogteilichen  und  Schultheissensteuern 
zugesichert. 

Ähnlich  sind,  wie  wir  aus  der  im  Dessauer  Archive  erliegen- 
den Originalurkunde1)  des  Abtes  Arnold  von  Ballenstedt  vom 
Jahre  1159  erfahren,  die  Bedingungen,  unter  welchen  dieser 
zwei  bisher  von  Slaven  bewohnte  Dörfer  (Nauzedele  et  Nimiz) 


hahiturus  est,  sumptuB  adminiatrant.  Duae  partes,  quae  in  placitis  advocati 
vel  sculteti  aeccaserint,  episoopo,  tertia  sculteto  datur.  Tbcolonio  in  locis 
nostris  sint  liheri  nisi  qui  fuerint  puhlicis  negotiatoribua  maucipati.  Panea 
et  cereviaiam  et  carnes  inter  se  ipsos  licite  vendant,  non  tarnen  in  villa  sua 
publico  mcrcatu  insistant.  Ceterum  ab  omni  exactione  epiacopi,  advocati, 
villici  seu  hominum  roliquorum  liberoa  eos  reddimua  . . . Zu  nennen  iat 
vielleicht  auch  noch  Urk.  1185  1.  eod.  No.  59,  die  freilich  vielfach  anderen 
Character  trägt. 

')  v.  Heinemann,  Anhalter  Urkundenbach  I 1159,  454  N.  . . s.  . . . 
qualiter  ego  Arnoldus.  ....  Ballenatadenaia  cenobii  minister,  et  fratres  nostri 
pari  conaensu  . . . duaa  villulaa  nostras  trana  Mildam  sitas,  Nauzedele  vide- 
licet  et  Nimiz,  hactenua  a Slavis  poasesaas,  Flamiggia  petentibus  iure 
auo  poaaidendaa  vendidimus.  Quaa  villas  in  unnm  redactas  in  XXIV 
mansoa  partieutes.  duobus  cum  omni  utilitate  eia,  qui  ßurmeatere  vocan- 
tur,  inbeneficiatis,  unum  cum  aui  iuris  quantitate  eccleaie  contulimus,  quam 
liberam  ab  omni  infensione  noatra  et  advocati  auctoi  itate  atatuimus,  ceteria 
in  censu8  noatros  redactia  hoc  pacto.  Annuatim  ad  integrum  auo  posaidenti 
decima  de  omnibua  cultis  aolvatur,  adinncto  annuali  Genau,  acilicet 
duobus  modiia  silignis  et  duobus  tritici  et  duobus  sue  monete  aolidia  in 
feato  ».Martini.  Super  eosdem  vero  incolas  nulluni  dominari  diacer- 
nimua  preter  solum  marchionem  seu  eiua  heredem,  cuiua  aucto- 
ritate  generale  placitum  ter  in  anno  fieri  volumua.  t^uia  vero 
reapectu  divine  remunerationis  hec  bona  n marchione  suorumque  avorura 
largitate  eccleaia  noatra  suacepit,  seoundum  iura  Flamiggorum,  qui 
in  eiadem  partibus  ipsiua  aubiecti  sunt  dicioni  et  nostris,  vivendum 
censemua. 

t.  Virilst,  Erbleihcn.  10 


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146 


an  Flamländer  verkauft  hat.  Die  beiden  Dörfer  sollten  zu  einer 
Einheit  verbunden  und  dann  in  24  Hufen  aufgetheilt  werden, 
von  denen  zwei  mit  allem  Zubehöre  den  Dorfvorstehem  und 
eine  dev  Kirche  völlig  frei  überlassen,  die  anderen  aber  für 
zins-  und  zehentpflichtig  erklärt  wurden.  Gleichzeitig  wurde 
die  Freiheit  der  Bewohner  von  jeder  Herrschaft  ausser  der 
des  Markgrafen  anerkannt,  und  bestimmt,  dass  sie  unter  seinem 
Banne  dreimal  jährlich  einen  allgemeinen  Gerichtstag  abhalten 
und  nach  ihrem  eigenen  Rechte  leben  sollten 

Liegt  hier  hauptsächlich  in  der  Verleihung  eines  privilegierten 
Besitzstandes  an  die  Leiter  der  Dorfschaft  ein  Kennzeichen  der 
späteren  Entwickelung,  so  tragen  schon  die  Dorfprivilegien  des 
Erzbischofes  Wichmann  für  Pechau  und  Wusterwitz,  die  von 
Heinemann  in  seiner  Darstellung  des  Lebens  Albrecht  des 
Bären  unmittelbar  nach  der  eben  besprochenen  Urkunde  zum 
Abdrucke  brachte,  vollends  den  oben  angedeuteten  Oharacter  der 
späteren  Zeit  *). 


')  Der  wesentlichste  Inhalt  dieser  Urkk.  ist  nach  dem  Drucke  in  von 
Hei  ne  man  n,  Albrecht  der  Bär,  Darmstadt  1864  S.  468  ff.: 

Urk.  1159  (No.  40)  N . s . . . q . ego  Wicmannus  ....  Magdebur- 
gensis  ecclesic  archiepiseopus  villam  quandam,  que  Pechoe  dicitur,  cum 
Omnibus  ad  eam  pcrtinentibus  agris  pratis  silvis  et  stagnis  ad  excolen- 
dum  et  fructificandum  tradidi  cuidam  Heriberto,  tali 
inter  me  et  ipaum  facta  conventione.  Incolis,  quos  ipse  locaret  in  eisdem 
bonis,  cam  iustiuiain,  quam  ius  burgenso  vocant  in  Omnibus  suis  et  ne- 
gotiis  s t a b i 1 i v i , ipsi  quoque  Heriberto  sex  mansos  ibidem 
in  beneficium  concessi , unura  mansum  ecclesie  ad  usum  sacerd oti 
in  dotem  dedi.  Similiter  statui,  ut  neque  comes  neque  advooatus  aliquis 
quidquam  iuris  ibi  habest,  sed  idem  Heribertus  et  post  ipsum 
heres  suus  de  Omnibus,  que  inter  ipsos  tractanda  fuerint,  ordine  iudi- 
oiario  iudicet,  meo  tarnen  villioo  presente,  et  quid- 
quid  questus  inde  provenerit,  II  portiones  mihi  . . . tertia  vero  in  usus  . . . 
Heriberti  sive  sui  heredis  cedat.  Die  Hufen  sollen  nicht  an  andere  ver- 
liehen werden.  Auf  10  Jahre  Freiheit  von  der  „Burgwere“.  Si  vero  con- 
tingat,  euudem  Heribertum  aut  suum  beredem  cum  eisdem  incolis  adiacen- 
tium  villarum  aliquas  emere,  eam,  que  supra  dictaest,  iustitiam  in  Omnibus 
habeant  ac  debitum  annuatim  persolvendum  secuuduiu 
ius  burgense  mihi  sive  meo  successori  imperpetuum  p e r s o 1 v a n t. 

Urk.  o.  D.  (ca.  1159)  No.  41  N . . . q . ego  IVychmannus  . . . villam 
quaudam,  que  Wosterwize  dicitur.  silam  prope  Havelam  contradidi  cuidam 
Heinrico  aliisque,  qui  per  ipsum  et  cum  ipso  ad  me  veneriut, 
Flamingis  . . . . ita  videlicet,  ut  per  omuia  et  in  oinuibus  eam  habeant  ius- 
titiam, que  Scartocnsis  appellatur.  Eidern  quoque  Heurico  IV  mansos  et 


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147 

Die  Urkunde  für  Pechau  sugt  nichts  über  die  Lamlesange- 
hörigkeit  der  Colonisten ; sie  spricht  nur  schlechthin  von  Ansied- 
lern, welche  das  Land  zum  Ausbau  und  zur  Culti vierung  über- 
nehmen. In  dem  Diplome  für  Wusterwitz  sind  wieder  ausdrück- 
lich Flaminger  als  Colonisten  genannt;  auch  findet  hier  die  Zins- 
pflicht (2  sol.  von  der  Hufe)  und  der  Zehent  wieder  besondere 
Erwähnung,  während  die  Pechauer  Urkunde  solche  Verpflich- 
tungen nicht  statuiert.  Gemeinsam  ist  beiden  die  Übertragung 
des  Dorfes  an  einen  Einzelnen,  der  vielleicht  am  besten  als 
Schultheiss  zu  bezeichnen  wäre,  die  erbliche  Belehnung  desselben 
mit  einigen  gefreiten  Hufen,  sowie  endlich  dessen  Bestellung  zum 
Leiter  der  Gerichte,  deren  Erträgnisse  zu  zwei  Dritttheilen  dem 
Erzbischöfe,  zu  einem  Dritttheile  dem  Schulzen  zugewiesen  wurden. 
Ausserdem  enthalten  die  Privilegien  noch  manche  andere  für 
das  öffentliche  Recht  der  Dörfer  bedeutende  Garantien,  wie  die 
Befreiung  von  dem  Burgwerk , Zollfreiheiten,  Verleihung  von 
städtischem  Rechte  u.  a.  m.  Die  Zusicherung  des  ferneren  Ge- 
brauches des  flämischen  Rechtes  fehlt  in  beiden  Documenten, 
obwohl  wenigstens  das  eine  derselben  die  flämische  Nationalität 
der  Colonisten  ausdrücklich  hervorhebt. 

Im  ganzen  ist  aber  hier  unzweifelhaft  jene  Form  erreicht, 
die  für  Dorfgründungen  nach  holländischem  oder  deutschem  Rechte 
in  den  früher  slavischen  Grenzländern  insbesondere  in  Schlesien 
und  den  angrenzenden  Gebieten  ganz  allgemein  gebräuchlich 

unum  talentum  ac  suo  heredi  ibidem  in  beneficium  concessi,  anum  vero 
mansuin  ecclesie  tune  ibi  divino  adiutorio  construende  quasi  in  dotem  dedi 
et  pretcr  hos  quinque,  ne  quis  ibi  m&nsus  vel  a me  vel  ab  aliquo  meorum 
auccessorum  cuiquam  inbeneficietur  aut  quovismodo  ab  usu  archiepiscopi 
sequestretur,  omni  qua  oportuit  stabilitate  firmavi.  Dedi  quoque  eiusdem 
ville  inhabitatoribus,  ut  sint  immunes  et  liberi  ab  eo  ministerio,  quod  burg- 
wore  vulgo  vocatur,  nisi  ad  mummen  et  securitatem  semetipsos  circumvallare 
et  contra  paganos  adiacentes  eis  precipiatur.  Bst  etiam  boc  firmatum, 
ut  preter  eundem  Henricum  neque  oomitem  super  se  habeant, 
neque  advocatum.  Von  den  Gerichtsgefällen  2 Tbeile  dem  Ersb.  ein 
Theil  dem  Judex.  Cultores  etiam  agrorum  pro  quolibet  manso  annuatim 
solvant  II  sol.  in  festo  b.  Martini  et  preterea  omnium  rerum  decimandarum 
plenam  decimationem.  Jahrmarkt  mit  dem  Rechte,  wie  es  Magdeburg  hat 
und  ausschliesslicher  Gerichtsbarkeit  Heinrichs  u.  s.  Erben.  Bür  5 Jahre 
Zollfreiheit  und  für  die  gleiche  Zeit,  qui  cives  ac  domestici  eiusdem  fori  fuerint, 
nullum  pro  areis  suis  solvant  tributum.  Danach  hospites  ot  transeuntes  de- 
bitum  persolvent  theloneum.  C.ivis  quoque  unusquisque  pro  area  quolibet 
anno  solvat  sex  nummos  ab  inde  usque  in  sempiternum  ....  Über  das 
Burgwerk  s.  z.  B.  Riedel,  Mark  Brandenburg  II  227  ff. 

10* 


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148 


wurde.  Sowohl  die  Verfassung  des  Dorfes,  die  Leitung  desselben 
durch  einen  mit  gefreitem  Besitze  ausgestatteten  Schulzen,  der 
zugleich  Träger  der  niederen  Gerichtsbarkeit  und  Polizeigewalt 
war,  als  auch  die  Regelung  der  privaten  Besitzverhältnisse  der 
Bauernschaft  und  ihres  Vorstehers  kehren  in  allen  deutschen 
Colonistendörfern  jener  Zeit  regelmässig  in  der  gleichen  Weise 
wieder. 

Hier  sei  zum  Schlüsse  um  des  localen  Zusammenhanges 
willen  noch  ein  weiteres  Holländerprivileg1)  des  Bischofes  Wich- 
mann  aus  dem  Jahre  1152,  also  noch  aus  der  Zeit  seines  Nnuni- 
burger  Episcopates  erwähnt.  Dasselbe  nennt,  in  gewissem  Gegen- 
sätze zu  der  über  Holländercolonien  allgemein  herrschenden 
Meinung*),  neben  freien  Colonisten  auch  unfreie  Ansiedler,  für 
die  alle  gleichtnässig  die  Bestimmungen  des  Statutes  massgebend 
sein  sollen,  und  bespricht,  was  anderwärts  meist  fehlt,  auch  das 
rechtliche  Schicksal,  dem  die  Grundstücke  verfallen,  wenn  der 
letzte  Besitzer  ohne  Erben  stirbt.  Das  erblose  Gut  fällt  dann 
zu  zwei  Dritttheilen  an  den  Bischof,  der  Rest  an  die  Pfarrkirche ; 


')  Cod.  dipl.  Sax.  1 2.  24t)  N.  b.  q.  ego  Wiclimannua  . . Nuemburgensis 
ep.  cuidam  populo  de  terra,  que  H oll  anth  nominatur,  a predecessore  men 
Udone  in  eundem  episcopatum  coadunato  hoc  privilegium  contuli,  in  quo,  nt 
Omnibus  exponerem,  qua  lege  ustricti  tencantur  vel  qua  libertate  iruantur, 
utile  ....  cstirnavi.  Data  est  igitur  eis  a me  libera  potestas  infra  episco- 
patum vendendi  et  emendi  siue  omui  genere  exactionis  vel  tbeloDei  et.  si 
alicuiuB  eorum  possessio  reualis  expouitur,  compatriote  suo  tantum  et  non 
extero  ill&m  emere  liceat.  Causa  etiam  correctionis  ter  in  anno  cum  eis 
Colloquium  babeat,  quicumque  fuerit  episcopus,  in  quo,  si  quis  eorum  aliquo 
excessu  iniuste  exorbitaverit,  111  sol.  compositionem  inveniat.  Scnlthetum 
quoque,  quemeumque  sibi  prelecerint,  sine  contradictione  babeant,  in  cuius 
colloquiis  IV  den.  compositionem  faciaut  et,  si  quis  eorum  iuramento  se 
expurgare  voluirit,  uulla  occasione  impediatur,  nullis  verborum  insidiis  ca- 
piatur  ....  De  cetero,  quod  ipsi  spontanea  voluntate  optulerunt,  ...  de 
quolibet  mauso  solidum  uuum  sing,  anuis  fratribus  ad  usum  maioris  ecclesie 
persolvant,  et,  quicumque  successores  eorum  fueriut  et  eadein  boua  obtiuue- 
riut,  sive  liberi,  sive  servi,  sub  quueumque  lege  vel  moribus  vivant 
idem  statutuni  et  obsurvent  et  faciant.  Hoc  quoque  statutum  est,  ut,  si  quis 
eorum  sine  berede  moriatur,  possessio  eius  integra  sine  distractione  in  custo- 
dia per  cireulum  auui  et  diem  teneatur,  ut,  si  legitimus  heres  interim  adve- 
nerit  sine  contradictione  locum  prioris  possideat.  Sin  autem  episcopus  duas 
partes  accipiat,  terciam  vero  ad  usum  ecclesie  relinquat.  Vergl.  auch  in 
Beziehung  auf  diu  gerichtlichen  Bestimmungen  1 eod.  1188,  523;  118611  I , öü 
*)  vergl.  z.  B.  Schröder,  1t.  U.  417. 


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149 


nur  soll  zuvor  die  Frist  von  Jahr  und  Tag  abgewartet  werden, 
um  etwa  abwesenden  Anwärtern  Gelegenheit  zur  Geltendmachung 
ihrer  Hechte  zu  geben. 

Das  reichste  urkundliche  Material  über  anderweitige  coloni- 
satorische  Dorfgründungen  ist  uns  unzweifelhaft  aus  der  Lausitz 
und  aus  Schlesien  erhalten,  wie  denn  auch  das  Colonisations- 
recht  dieser  Gegenden  vielleicht  die  umfassendste  Bearbeitung 
erfahren  hat  *).  Hier  wiederholen  sich  ungezählte  Male  Dorf- 
gründungen und  Bewidmungen  mit  deutschem  Rechte*),  das  im 
Gegensätze  zu  dem  polnischen  Rechte3)  als  gefreit  und  privilegiert 
allseits  angestrebt  wurde.  Regelmässig  steht  ein  locator,  ein 
Schultheiss,  an  der  Spitze  der  neuen  deutschen  Ansiedelung; 
er  übernimmt  es,  Colonisten  in  das  Dorf  zu  rufen  und  den 
Grund  und  Boden  an  Bauern  zur  Culturarbeit  zu  übertragen, 
und  behält  dann  auch  nach  Errichtung  der  neuen  Colonie 
das  Schulzenamt  mit  der  niederen  Gerichtsbarkeit  zu  erblichem 
Rechte.  Für  diese  Mühewaltung  — pro  expensis  et  laboribus 
in  fundacione  et  regimine  loci,  wie  eine  Urkunde  sagt  — 
empfängt  er  einige  Freihufen  , bald  in  fest  bestimmter  Zahl, 
bald  im  Verhältnisse  zur  Zahl  der  cultivierten  Hufen4),  etwa  jede 
zehnte  oder  sechste,  mit  voller  Freiheit  von  jeder  Zehent-  und 
Zinslast  und  zu  unbeschränktem,  vererblichem  und  veräusserlichem 
Rechte.  Ausserdem  wurde  ihm  mit  der  Gerichtsbarkeit  ein  An- 
theil  an  deren  Erträgnissen  und  überdies  noch  andere  Einnahms- 


')  vergl.  insb.  von  Urk.  - Büchern : Tzschoppe  und  Stenzei,  Ur- 
kuudensammlung  zur  Geschichte  des  Ursprungs  der  Städte  und  der  Ein- 
führung und  Verbreitung  deutscher  Kolonisten  und  Rechte  in  Schlesien 
und  der  Oberlausitz,  Hamburg  183:1;  Cod.  dipl.  Silesiae,  insbes.  d.  4.  Bd.; 
uud  von  Bearbeitungen:  die  Einleitung  zu  dem  UB.  von  Tzschoppe  und 
Stenzei  bes.  Cap.  2 u.  3,  dann  für  die  Lausitz:  K not  he  „Zur  Gescta.  der 
üormanisatiou  in  der  Oberlausitz“,  in  Webers  Archiv  für  sächs.  Gesch. 
N.  Folge  2 Bd.,  und  „Die  Stellung  der  Gutsunterthanen  in  der  Oberlausitz 
zu  ihren  Gutsherrschaften“  im  Lausitz  sehen  Magazin  Bd.  fit  ; für  Schlesien: 
Mcitzen,  Einleitung  zum  4.  Bd  des  Cod.  dipl.  Sil.  und  Wo  hl  brück, 
Geschichte  des  ehemaligen  Bistum  Lcbus  182t)  I 201  f.  Anm. 

’)  Über  die  Bedeutung  von  deutschem  und  fränkischem  Rechte  s.  u.  a 
Tzschoppo  und  Stenzei,  Einleitung  S.  97  fl'.  Mei t zen,  Cod.  dipl.  Sil.  IV 
Einleitung  S.  97,  Schulze,  Nicderläml.  Siedelungcu  S.  147  ff.  Altere  An- 
sichten z.  B.  Anton,  Geschichte  der  deutschen  Landwirtschaft,  Görlitz 
1799  1802  II  S.  19  f. 

*)  Neben  einer  erweiterten  Abgabenpflicht  wurde  der  Mangel  eines 
gesicherten,  uuentzichbaren  Besitzrechtes  schwer  empfunden. 

*)  vergl.  desnäheren  bei  Tzschoppe  undStenz  elEinl.S.  151Anm.3u.4. 


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150 


quellen,  wie  Mühlen,  Schankrechte,  Brot-  und  Fleischbänke  u.  a. 
EUgewiesen '). 

Von  dem  Hechte  der  Bauern,  der  eigentlichen  Dorfbesiedler, 
handeln  die  Urkunden  mit  weniger  Ausführlichkeit  und  Sorgfalt. 
In  der  Hegel  erfahren  wir  nicht  mehr,  als  dass  auf  den  einzelnen 
Bauernhufen  neben  dem  Zehent  die  Verpflichtung  zur  Abgabe 
eines  jährlichen  Zinses  oder  auch  zu  persönlichen  Leistungen 
ruhte.  Das  Recht  der  Bauern  an  der  Hufe  war,  wie  man  wohl 
bestimmt  annehmen  kann,  ein  vererbliches*)  und  veräusserliches *), 
und  nur  in  einzelnen  Ausnahmsfällen  haftete  daran  für  den,  der 
das  Gut  verlassen  wollte,  die  Verpflichtung,  einen  tauglichen 
Nachfolger  zu  stellen4). 

Die  technische  Bezeichnung  für  dieses  Bauernrecht  ist  jus 
teutonicum,  ein  Ausdruck,  der  freilich  nicht  nur  auf  das  Grund- 
besitzrecht sondern  auf  die  ganze  dorfrechtliche  Organisation  an- 
gewendet wurde;  daneben  findet  sieh  namentlich  in  etwas  späterer 
Zeit  die  einer  fernen  Analogie  des  römischen  Rechtes  entlehnte 
Wendung  jus  emphyteuticutn  *).  Vereinzelt  erfährt  die  herrschaft- 
liche Stellung  des  Fundators,  als  Trägers  einer  herrschaftlichen  Ge- 
walt über  die  Güter  *),  wie  über  die  Dorfbewohner 7),  eine  besondere 
Betonung. 

')  vergl.  auch  Wo  hl  brück  a.  a.  O.  I 203  f.  und  die  das.  S.  208  f.  be- 
sprochene ausführliche  Urkunde  von  1389,  Anders,  Schlesien,  wie  cs  war 
1810  II  S.  324  ff.,  welche  über  die  Umwandlung  eines  polnischen  Dorfes  iu 
ein  deutsches  Dorf  handelt  und  neben  dem  Hinweise,  dass  der  Dorfherr 
aus  dieser  Veränderung  für  sich  ein  erhöhtes  Einkommen  erhofft,  mit  be- 
sonderer Ausführlichkeit  der  Pflicht  des  Schulzen  gedenkt,  für  die  Besiede- 
lung und  Bebauung  des  Dorfes  durch  Bauern  Sorge  zu  tragen. 

■)  vergl.  z.  B.  1309  Cod.  dipl.  Siles.  I 23. 

*)  Die  Veräusserung  mitunter  an  die  Zustimmung  des  Grundherrn  ge- 
bunden, vergl.  Tzschoppe  und  Stenzei,  Einleitung  S.  löö. 

*)  z.  B.  1206  Tzschoppe  und  Stenzei  UB.  No.  2. 

*)  z.  B.  13öüCod.  dipl.  Siles.  IV  psg.  10;  1361,  pag.  27;  1337,  pag.  145.  f. 

•)  vergl.  1336 1 eod.  I 34,  wo  der  Zins,  der  von  jedem  laneus  zu  zahlen 
ist,  bezeichnet  wird  als  jure  dominii  et  ducali. 

’)  1334,  1.  c.  IV  pag.  144  in  den  Worten  dantes  . . . potestatem  plena- 
riam  exponendi,  herditandi,  locandi  et  vendendi  dictos  mansos  agrorum  rusticis 
incolis  et  agricolisiurehercditarioperpetuis  teinporibuspossideudos  ethabeudos 
pro  annuo  ...  et  perpetuo  ccusu,  sub  hoc  modo  ut  rustici  incole  sive  agricolc 
ac  universi  et  singuli  possessorcs  dictorum  agrorum  ad  nos  et  ad  nostros 
successores  tamquam  ad  veros  dominos  suos  respectum  habere  debeant  ac 
nobis  nostrisque  successoribus  ...  de  quolibet  manso  sing,  annis  . . . mediam 
marcam  ...  et  uuum  maldratain  duplicis  grani  . . . cum  eorum  periculis, 
laboribus  et  expensis  in  civitate  Wratislavicnsi  presentetur  . . . 


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151 


Über  die  Zinspflicht  und  deren  Charaetcr,  die  Folgen  der 
Zinffäumnis  und  Ähnliche»  melir  fehlt  in  den  Fundationsurkunden 
jede  Bestimmung.  Ihr  hauptsächlicher  und  wesentlicher  Inhalt 
bewegt  sich  vielmehr,  wie  eben  angedeutet  wurde,  auf  dem  Gebiete 
der  öffentlichen  Angelegenheiten,  die  oft  eine  detaillierte  .Regelung 
erfuhren J). 

In  Rechtsformen,  die  nicht  wesentlich  verschieden  waren  von 
den  eben  gekennzeichneten,  vollzog  sich  die  Colonisation  durch 
deutsche  Ansiedler  auch  auf  mährischem  und  böhmischem 
Gebiete  *).  Auch  hier  steht  ein  Schulze  an  der  Spitze  des 

')  Vergl.  als  Beispiel  für  eine  sulche  Loeationsurkunde : 1223  Tzschoppe 
und  Stenzei  UB.  No.  7 . . . Laurencius  . . .Wratislaviensis  ep.  notum  facimns  . . . 
quod  . . . cum  communi  consensu  capituli  . . . damus  et  concedimus  et  pre- 
senti  pagina  confirnmmus  Walthero,  advocato  nostro  in  Nyza,  locare  Theuto- 
nicos  in  territorio  saneti  Johannis  in  Vyasd  pro  sexto  manso,  ita  videlicet, 
quod  de  quolibet  manso  solvatur  decima  annuatim  in  campo,  mense  episcopali, 
et  dimidius  ferto  argenti  in  ponderc  Theutonicali,  similiter  annuatim,  in 
censu,  excepto  penitus  sexto  manso,  cuius  decimam  et  censum  idem  W.  cum 
suis  heredibus  in  perpetuum  libere  recipiet  et  quiete  pro  expensis  suis  et 
luboribus  in  fundauione  et  regimine  loci  iam  dicti,  addito,  quod  ad  araturam 
nostram  sex  mansos  excipimus  in  divisione  mansorum  per  sortem,  more 
Theutonico,  recipiendos,  quorum  omnem  utilitatem  nobis  et  nostris  succes- 
soribus  perpetuo  reservamus,  eidem  W.  cum  heredibus  snis  IV  mansos  cum 
eorum  utilitate,  ad  suam  araturam  in  perpetuum  concedentes,  de  reliqnis 
vero  mansis  Omnibus  quinque  partes,  cuiuslibet  utilitatis,  nobis  et  nostris 
successoribus  reservamus,  sextam  partem  tantum  eiusdem  utilitatis  prefato 
\V.  cum  suis  heredibus  conferentes.  Kt  quoniam  tarn  in  judiciis,  quam  eciam 
in  aliis  procuracionibua  eundem  W.  c.  s.  h.  in  prefato  loco  teuere  volnmus 
et  habere  proenratorem,  et  solum  in  jure  Theutonico  advocatum,  ter- 
tiam  partem  iudiciorum  eidem  c.  s.  h„  nomine  advocati,  et  quartam  partem 
nomine  sculteti,  concedimus  et  confirmamus.  Omnem  eciam;  utilitatem  et 
proventum , quem  in  loci  eiusdem  aquis  et  silvis  idem  poterit  procurare 
sibi  et  h.  s.  damus  et  confirmamus,  exceptis  duobus  stagnis  nostris,  et  quod 
anuonam,  nobis  et  nostris  successoribus  necessariam,  in  molendinis,  ab  eodem 
fundandis,  moli  statuimus  statim  cum  ad  molendinum  mittetur.  Quia  vero 
tarn  locum  forensem,  quam  villas  ibidem  fundandas  eodem  iure,  quo  ntitur 
Novum  Forum  ducis  Henrici,  quod  Srzoda  dicitur,  volumus  ab  eodem  et  per 
eundem  locari,  sextam  curiam  in  loco  forenBi  et  sextum  mansum  in  villia, 
prenominato  W.  c.  s.  h.  damus  et  concedimus,  locum  curie  nobis  et  nostris 
successoribus  necessarie,  in  loco,  nobis  congruo  reservantes  ....  Ähnliche 
Urkk.  ausser  den  zahlreichen  in  Tzschoppe  u.  Stenzei  und  in  Cod.  diph 
Silesiae  IV  noch  r.  B.  Cod.  dipl.  Silesiae  I 1274,  !);  (19);  (21);  1809,  28; 
II  1.  1284,  7;  1279,  17;  1281,  18;  VI  Urk.-Beilage  12&4  No.  I u.  a.  m. 

’)  Vergl.  Palaoky,  Geschichte  von  Böhmen  II  159  II'.,  Tomaschek, 
liecht  und  Verfassung  der  Markgrafschaft  Mähren,  Einleitung;  vergl.  auch 
Majestas  Carolina  c.  82,  74.  (Ausg.  von  fl.  Jirecek). 


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152 


Dorfes,  dem  wie  anderwärts  gewisse  Freiheiten  eingeräumt  wurden, 
und  auch  hier  begegnen  wir  der  Zinspflicht '),  die  fest  und  ein- 
heitlich bestimmt  war  und  dadurch  in  einen  Gegensatz  trat  zu  den 
mannigfaltigen  und  oft  ungemessenen  Lasten  der  slavischen  Bauern. 
Dieser  Gegensatz  musste  natürlich  in  den  Fällen  am  schärfsten 
zu  Tage  treten,  wo  „deutsches  Recht“  ohne  eigentliche  Colonisa- 
tion  an  schon  bestehende  slavische  Dörfer  verliehen  wurde. 

Nur  darin  besteht  eine  gewisse  Verschiedenheit  anderen  Ge- 
bieten gegenüber,  dass  hier  das  Burgrecht,  also  die  städtische 
Leihe,  auf  die  Art  der  ländlichen  Besiedelung  mannigfach  Ein- 
fluss nahm,  was  schon  im  Namen  vielfach  seinen  Ausdruck  fand 
und  oft  zur  Entstehung  von  privaten,  vom  Dorfrechte  unab- 
hängigen Landleihen  führte  *). 

Auch  für  Brandenburg  und  Preussen,  wo  freilich  die 
deutsche  Besiedelung  nicht  auf  friedlichem  Wege  sonderu  durch 
gewaltsame  Bezwingung  der  früher  ansässigen  slavischen  Be- 
völkerung erfolgte,  fehlt  es  trotz  mancher  Verschiedenheiten  im 
einzelnen  nicht  an  Anzeichen , die  darauf  schliessen  lassen , dass 
auch  dort  die  für  deutsche  Colonisation  im  allgemeinen  üblichen 
Rechtsformen  Anwendung  und  Fortbildung  erfahren  haben*); 
nur  scheint  die  Colonisation  in  der  Regel  durch  Ritter, 
und  nicht  durch  bäuerliche  Schulzen  bewerkstelligt  worden 

‘)  vergl.  z.  ß.  ßoezek,  Cod.  dipl.  Moraviae  II  1228,  189;  IV,  1270, 
35;  1273,  72;  Emler,  Regest»  Bohemiae  et  Moraviae  II  1254,  11  u.  a. 

’)  vergl.  z.  B.  Boczek  IV  1276,  121,  122,  136;  Emler  a.  a.  O.  1254, 
39;  1256,  91,  96,  117  etc.  Diesen  Einfluss  des  städtischen  Rechtes  hebt  be- 
sonders hervor  Tomaschck  a.  a.  0.  S.  7 ff.  Die  JCntstehung  des  Burg- 
rechtes  und  die  Wechselbeziehungen  zwischen  diesem  städtisohen  und  dem 
ländlichen  Leiherecht  der  deutschen  Dörfer  /.u  verfolgen,  müsste  Gegenstand 
einer  besonderen  Untersuchung  sein. 

3)  vergl.  hiezu  die  Specialdarstellungon  bei  Meitzen,  der  Boden  und 
die  landwirtschaftlichen  Verhältnisse  des  preussischeu  Staates,  Berlin  1868 
I Bd.,  Abschnitt  X u.  XI,  L.  Korn,  Geschichte  der  bäuerlichen  Rechts- 
verhältnisse in  der  Mark  Brandenburg  in  der  Zeitschrift  für  Rechtsgeschichte 
11.  Band  1873  und  darauf  fussend  G.  K.  Knapp,  die  Bauernbefreiung  und 
der  Ursprung  der  Landarbeiter  in  den  älteren  Theilen  Preusscns,  Leipzig  1887 
I Bd.  Einleitung;  von  Alteren:  Riedel  die  Mnrk  Brandenburg  im  Jahre  1250, 
Berlin  1810,  Wohlbrück  Geschichte  des  Bisthum  Lebus  I,  insbes.  S.  209  ff. 
A.  Lette  u.  L.  v.  Rönne  Landesculturgesetzgebung  dos  preussischeu 
Staates,  Berlin  1853,  Einleitung;  Sattler  „das  Ordensland  Preussen  und  die 
Hansa  bis  zum  Jahr  1370“  i.  d.  Preuss.  Jahrb.  41.  Bd.  S.  327  ff.  Einleitung; 
Wersche  a a.  O.  S.  441  fl. 


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153 


zu  sein.  So  stehen  z.  ß.  die  Bestimmungen,  unter  welchen 
der  Landmeister  Hermann  ßalk  dem  edeln  Dietrich  von  Tiefenau 
1236  die  Burg  Klein  Quedin  mit  einem  der  Cultur  zuzuführenden 
Gebiete  von  300  flämischen  Hufen  überwies,  in  einem  gewiss 
nicht  verkennbareu  Zusammenhänge  mit  dem  Inhalte  der  bisher 
besprochenen  Colonisationsurkunden;  aber  der  vorwiegend  mili- 
tärische Charactcr,  welcher  das  colonisatorische  Unternehmen 
beherrscht,  gelangt  dabei  nicht  minder  deutlich  zum  Ausdrucke  *). 
Ähnliche  Beziehungen  enthalten  auch  manche  andere  Urkunden*) 
namentlich  aus  der  Gegend  von  Kulm  3) , durch  dessen  Grün- 
dung und  Befriedung  mit  deutschem  Rechte  ein  Bollwerk  gegen 


')  Voigt  Codex  diplomatieus  Prussicus  T.  1236,  46.  Not  um  esse  cupi- 
mus  . . . quod  de  consensu  capituli  uoatri  Nobili  viro  domino  Theoderico  de 
Dypeuow  contulimus  Castrum  quod  dicitur  parvum  Quedin  ndiaeentes  qnoque 
ae  inculte  que  possunt  culta  tieri  CCC  mansos  flamingieos,  quorum  ipsc  mime- 

rum  mensurabit Item  liberam  piscationem  in  lacubus  insule Item 

decimas  de  uncis  trium  villarum  ....  Hec  predicta  contulimus  eidem  et 
suis  beredibus  utriusque  sexus  iure  perpetuo  hereditarie  possidenda.  Dabit 
autcm  ipse  et  sui  suecessores  domui  nostre  pro  annuali  censu  talentum  cere 
id  est  poDdus  . . . marcum  et  coloniensem  denarium,  pro  decima  vero  de 
singulis  aratris  Theutonicalibus  unam  mensuram  que  schepil  dicitur  silignis 
et  aliam  tritici  annuatim  et  quia  nobilitati  eius  deferre  decernimua  ipsi  et 
heredibus  suis  nullum  describimus  obscqui  quantitatem,  hoc  autem  addicimus 
ut  si  ipse  vel  heredes  suorum  voluerint  ea  vendere  vendat  libere  cui  vult 
preterquam  Polono  seu  Pomerano.  Knitor  autem  tenebitur  cum  suis  suc- 
cessoribus  non  solum  ad  censum  predictum  sed  ctiam  in  duabus  militaribus 
personis  et  uno  armigero  perfectis  ut  armari  solent  milites,  armaturia 
contra  omnes  qui  dotnum  nostram  inquictaverint  deservire.  Necpretercundum 
ut  omnes  cultores  mansorum  quos  diximus  ad  defeusionem  et  firma- 
mentum  terre  sicud  alii  tenebuntur  . . . Vergl.  übrigens  auch  Wohlbriick 
a.  a.  0.  S.  210  ff. 

*)  z ß.  Cod.  dipl.  pruss.  I 1242,  54,  Riedel  Cod.  dipl.  Brandenbur- 
gensis  1 1,  1293  p.  124  u.  a 

*)  vergl.  z.  B.  Cod.  dipl.  pruss.  I.  1285, 170  KrneutesGründungspriv.d  Stadt 
Rheden  im  Kulmerlande.  Vergl.  auch  die  Privilegierung  des  Dorfes  Stendal 
(Abgedruckt  aus  Buch  holz,  Geschichte  Brandenburgs  bei  W ersehe 
S.  476).  die  neben  der  Befreiung  von  Zöllen  die  Verleihung  des  Magde- 
burger Rechtes  und  die  Bestimmung  enthielt:  Areas  suprauominatae  villae 
hereditario  et  libcro  eis  iure  concessimus  quateuus  vendendi  et  pro  arbitrio 
disponondi  liberam  habeant  faeultatem,  eo  tarnen  modo,  ut  censum  earum 
arearum  quatuor  videlicet  nummos  annuatim  inde  persolvant.  Iudicialis  po- 
testas  prefeeturae  iudicialis  prefatae  villae  Stendale  homini  inco  Ottoni  ex 
meo  benehciato  iure  obveuit,  ubi  duac  partes  mihi,  tertia  vero  praefato 
Ottoni  aut  heredi  eius  iure  debetur. 


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154 


die  heranstürmenden  Slaven  und  eine  Pflanzstätte  der  deutschen 
Cultur  und  des  deutschen  Rechtes  im  fernen  Osten  geschaffen 
worden  war. 

Unmittelbare  Quellen  Zeugnisse  über  solche  Dorfgründungen 
sind  uns  indes  aus  der  älteren,  eigentlichen  Colonisationsperiode 
in  sehr  geringer  Zahl  erhalten.  Nur  aus  späteren  Nachrichten 
und  den  Bestimmungen  des  Sachsenspiegels,  wie  insbesondere 
seiner  Glosse1)  erfahren  wir,  dass  das  Recht  der  Bauern  etwas 
besser  als  das  der  Erbzinsleute  gestaltet  war,  und  dass  sie  gegen 
Zins  und  andere  Dienstleistungen  eich  eines  gesicherten  Besitzes  zu 
erfreuen  hatten.  Auch  hier  erfolgte  die  Ansiedelung  durch  Unter- 
nehmer (locatores,  emtores),  die  hier  wie  anderwärts  einen  ge- 
freiten Besitz  und  obrigkeitliche  Functionen  im  Dorfe  zugewiesen 
erhielten;  und  wenn  man  abeieht  von  den  Einzelheiten  der 
überall  sehr  verwickelten  Zinsverhältnisse,  so  mag  man  vielleicht 
in  der  hier  mehr  als  anderswo  betonten  Verpflichtung  der 
Bauern  zu  militärischen  Dienstleistungen  (Burgdienst  und  fleer- 
dienst)  eine  in  den  Verhältnissen  wohl  begründete  Besonderheit 
des  märkischen  Bauernrechtes  erblicken.  Im  übrigen  zeigen  so- 
wohl die  urkundlichen  Überlieferungen,  die  uns  vorliegen,  wie  die 
darauf  fussenden  speciell  diesen  Fragen  gewidmeten  überaus  gründ- 
lichen Untersuchungen  aus  älterer  und  neuerer  Zeit,  dass  auch  hier 
die  fernere  Entwickelung  des  Colonisationsrechtes  sich  hauptsäch- 
lich auf  dem  Gebiete  des  Dorfrechtes  weiter  vollzogen  hat,  und 
damit  zwar  ein  für  den  ganzen  Stand  der  bäuerlichen  Dorfbe- 
völkerung massgebendes,  durch  die  Dorfverfassung  bestimmtes 
Grundbesitzrecht  geschaffen  und  weiter  gebildet  wurde,  das  aber 
nicht  in  der  Ausgestaltung  eines  für  den  Güterverkehr  geeigneten 
privaten  Landleiherechtes  seinen  Abschluss  fand. 

Auch  Mecklenburg  und  die  anstossenden  Gebiete  sind  von 
der  deutschen  Colonisation  nicht  unberührt  geblieben.  Ja  es  ist 
dort  kaum  ein  Landstrich  zu  nennen,  in  welchem  sich  nicht 
Spuren  derselben  nachweisen  Hessen  *).  Aber  es  fehlt  nahezu 
völlig  an  Urkunden,  die  unmittelbar  über  Dorfansetzungen  berichten 


l)  a.  oben  S.  7 ff 

*)  Vergl.  im  allg.  F.  Boll,  Mecklenburgs  deutsche  Colonisation  im 
12.  u.  13.  Jahrh.  in  den  Jahrb.  des  Vereins  für  Meoklenburg'sche  (ieschichte 
und  Alterthumskunde  XIII  (1818)  S.  57  ff.  Wersebe  a.  a.  0.  S.  407, 
ii.  Ernst,  Die  Colonisation  Mecklenburgs  im  12.  und  13.  Jahrhundert  in 


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155 


würden ').  Nur  iudirect  und  aus  späteren  Nachrichten  müssen  wir 
alles  erschlossen.  Nach  diesen  und  den  darauf  basierten  Aus- 
führungen namentlich  von  Ernst  erfolgte  die  Dorfgründung  bald 
unmittelbar  durch  den  Bischof  oder  Landesherrn,  bald  durch  Ver- 
mittelung von  locatores,  die  zum  Thcile  dem  Ritterstande,  theils 
dem  Bauernstände  angehörten.  Dass  solche  Dorfschulzen  in  ähn- 
licher Weise,  wie  in  der  Gegend  um  Magdeburg  und  auch  in 
Schlesien,  — mag  dort  auch  sonst  die  Art  der  Colonisation  ziemlich 
verschieden  gewesen  sein,  — mit  gefreitem  Grundbesitze  (Schulzen- 
lehen, Settinge)  ausgestattet  wurden,  lässt  sich  nicht  nur  durch 
das  wiederholte  Vorkommen  von  solchen  Schulzengütern,  sondern 
auch  aus  einzelnen  direct  sprechenden  Urkunden3)  mit  voller 
Bestimmtheit  ersehen.  In  ihren  Händen  finden  wir  auch 
bald  in  weiterem,  bald  in  geringerem  Umfange  eine  Antheils- 
nähme  an  der  Gerichtsbarkeit,  und  auch  ein  Theil  der  Gerichts- 
gefälle ist  ihnen  wiederholt  zugewiesen. 

Über  die  Stellung  der  Bauern  herrschen  die  verschiedensten 
Meinungen*).  Doch  liegen  mannigfache  Anhaltspunkte  vor,  welche 
die  Annahme  einer  ziemlich  weitreichenden  Selbstständigkeit  und 
persönlicher  Freiheit  begründet  erscheinen  lassen.  Wenig  Be- 
stimmtes erfahren  wir  auch  über  ihr  Recht  an  der  von  ihnen 
bebauten  Hufe.  Ernst  nimmt  in  seiner  Schrift  über  die  Coloni- 
sation Mecklenburgs  im  allgemeinen  an,  das  Pachtverhältnis,  auf 
Grund  dessen  die  Bauern  ihre  Grundstücke  inne  hatten,  „be- 
stand, wie  grossentheils  noch  heute  in  einer  Zeitpacht  auf 
unbestimmte  Jahre,  deren  Contract  nie  erneuert  wurde,  die 
aber  jederzeit  vom  Verleiher  kündbar  war,  falls  nicht  das 
Verhältnis  in  Erbpacht  geändert  wurde,  was  zu  Ende  des  (13.) 
Jahrhunderts  bei  Einführung  der  Bede  häufig  der  Fall  war.“ 
Aus  seiner  Darstellung  ist  nicht  zu  entnehmen,  ob  die  Ana- 


Scbirmachers  Beiträgen  zur  Geschichte  Mecklenburgs.  2.  B<i.  1875; 
Bühlau  Mecklenburg'sches  Lamlrcckt  1.  Bit.  Eiuleitung.  — Dänische  Colo- 
uisten  nur  genannt  in  der  Bewidmungsurkunde  für  Dargun,  1179  Mecklenb. 
U.  B.  1 114. 

')  Eine  solohe  für  Holzhagen  unweit  Pölitz  von  1262  D reger,  Codex 
Pumeraniae  diplomaticus  No.  349. 

’)  vergl.  z.  B.  1221  Meklenburger  CB  278.  1222  , 284  u.  a.  m. 

*)  vergl.  u.  a.  Hubert  v.  Bilgucr’a  Inaugur.il  - Dissertation  „Über 
die  Entwickelung  der  ländlichen  Besitzverhältnisse  und  die  Vertheilung  von 
Grund  und  Boden  in  Mecklenburg-Schwerin“  und  die  daselbst  insbes.  S.  28  ff. 
cit.  Literatur. 


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logie  des  heutigen  Rechte?,  auf  die  er  verweist,  oder  das  Fehlen 
eines  die  Erblichkeit  des  Rechtes  bestimmt  ausdriickenden  Zu- 
satzes in  den  meisten  Urkunden,  oder  was  sonst  für  Gründe  für 
seine  Ansicht  bestimmend  waren.  Gewiss  ist  nicht  zu  leugnen, 
dass  das  Mecklenburg’sche  Bauernrecht  Zeitleihen  mit  beliebiger 
Kündbarkeit,  so  wieErns  t sie  als  die  gewöhnliche  Form  hinstellt  *), 
kennt;  aber  daneben  finden  sich  auch  unzweideutig  als  erblich 
bezeichnete  Besitzrechte  an  bäuerlichen  Grundstücken  *).  Be- 
rücksichtigt man  hiezu,  dass  die  von  Ernst  als  Zeitleihen  an- 
geführten Urkunden*)  zum  grossen  Theile  keinen  Anhaltspunkt 
in  sich  enthalten,  aus  welchem  auf  die  zeitliche  Beschränkung  des 
bäuerlichen  Rechtes  ein  zwingender  Schluss  gezogen  werden  könnte, 
und  überlegt  man,  dass  die  Urkunden,  welche  an  einzelne 
Stifter  oder  geistliche  Anstalten  das  Recht  verliehen,  Colonien  ins 
Leben  zu  rufen,  ihrem  Inhalte  nach  sich  von  anderweitigen  ana- 
logen Privilegien  nicht  unterscheiden,  so  wird  man  gewiss  ge- 
neigt sein  anzunehmen,  dass  auch  den  Mecklenburg'schen  Colo- 
nisten  in  den  ersten  Zeiten  ein  Recht  von  nicht  so  preeärem  Gehalte 
eingeräumt  worden  sei,  als  es  den  Ausführungen  Ernst’s  ent- 
sprechen würde. 

Genaues  wird  sich  übrigens  hier  kaum  feststellen  lassen; 
denn  das  ganze  urkundliche  Material,  insbesondere  die  Urkunden, 
die  über  Colonisationen  unmittelbar  berichten,  lassen  sich  auch  hier 
fast  ausnahmslos  in  eine  Ordnung  der  privatrechtlichen  Fragen 4) 

')  a.  a.  0.  S.  124,  vergl.  die  dort  zu  Anm.  4 cit.  Urk.  1286  Mecklenb. 
UB  1816. 

2)  vergl.  z.  B.  die  von  Ernst  a.  a.  0.  S.  124  Anm.  5 cit.  Urkk.  Dreger 
1256.  280;  M.V.  Bll  1267,  1110;  1286,  1150;  1271,  1235;  UI,  1283,  1677; 
1284,  1758;  1295,  2361;  1296,  2398.  Hiezu  sei  bemerkt,  dass  von  diesen 
Urkunden,  die  nach  Ernst  die  Umwandlung  der  von  ihm  als  normal  an- 
genommenen kündbaren  Zoitpacht  in  Erbpacht  zum  Aufdrucke  bringen,  keine 
des  früheren  Bestandes  einer  Zeitleihe  ausdrücklich  Erwähnung  thut,  und 
wenn  auch  einzelne  derselben  vielleicht  eine  solche  Deutung  nahelegen,  so 
handeln  andere,  wie  No.  1235,  1677  und  1758,  dem  Anscheine  nach  haupt- 
sächlich von  der  Zusicherung,  keine  Nachmessungen  mehr  vorzunehmen, 
oder  sind  sonst  Rechtsaufzeiclinungen,  bei  denen  gewiss  nicht  nothwendig 
an  eine  Änderung  des  Leiherechtes  gedacht  werden  muBs.  Urk.  1284,  1758 
spricht  von  gar  keinem  Zinse,  aber  einem  um  so  weiter  reicheuden  Hechte 
der  Erwerber. 

s)  wie  z.  B.  allo  8.  127  als  Zeitleihen  genannten  l'rkk.  M.  U.  B.  1 
1243  , 546  ; 547;  H 1271,  1236;  1279,  I486;  III  1285,  1787. 

*)  ln  dieser  Beziehung  ist  nooh  am  ausführlichsten  von  allen  1262 
Dreger  No.  349. 


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157 


überhaupt  nicht  ein , sondern  unterwerfen , wie  die  meisten 
Colonisationsurkunden , nur  die  offen tlichreehtlichen  Angelegen- 
heiten des  Dorfes  einer  Regelung '). 

Ziemlich  ähnlich  stehen  in  dieser  Beziehung  die  Ver- 
hältnisse in  Holstein  und  Lübeck,  aus  welchen  Gegenden  die 
wenigen  erhalteneu  Urkunden  über  die  uns  besonders  interessieren- 
den Verhältnisse  gleichfalls  wenig  Nachricht  geben®). 

So  gewinnen  wir  für  das  ganze  Gebiet , auf  welchem  die 
deutsche  Colouisation  sich  bethätigt  hat,  die  Überzeugung,  dass 
die  weitere  Fortentwickelung  des  den  Colouiengründungen  ent- 
sprossenen Rechtes  die  Bahnen  einschlug,  welche  oben  namentlich 
für  Schlesien  und  Brandenburg  gekennzeichnet  wurden.  Denn  all- 
überall enthalten  die  Colonisntionsurkunden  primär,  ja  fast  aus- 
schliesslich eine  Regelung  der  Dorfverfassung,  eine  Ordnung  der 
obrigkeitlichen  Ämter,  Rechte  und  Befugnisse,  und  wenn  sie  dabei 
die  mit  dem  Dorfrechte  zur  Entstehung  gelangenden,  den  Grund- 
besitz betreffenden  privatrechtlichen  Fragen  nebenher  berühren,  so  ist 
auch  dabei  zunächst  nur  des  herrschaftlichen  Zinsbezugsrechtes, 
nicht  des  bäuerlichen  Besitzrechtes  gedacht.  Ein  Blick  auf  die 
Entwickelung,  welche  das  bäuerliche  Recht  jener  Gegenden  in 
späterer  Zeit  genommen  hat,  zeigt  auch  zur  Genüge,  dass  nicht 
die  privatrechtlichen  Befugnisse  der  Dorfbewohner,  sondern  die 
herrschaftlichen  Rechte  der  Schulzen  das  kräftigere  und  be- 
deutendere , das  lebens-  und  cntwickelungsfähige  Element  im 
Dorfrechte  waren , und  dass  nicht  jenen , sondern  diesen  die  Zu- 
kunft gehörte.  Endigte  doch  die  Geschichte  der  Dörfer  des 
deutschen  Ostens,  bevor  unter  völlig  neuen  Umständen  auch 
wieder  eine  neue  Bewegung  eintrat,  mit  dem  Untergange  der 
anfangs  so  hoch  geschätzten  persönlichen  Freiheit  des  deutschen 
Rechtes  und  der  vollen  Ausbildung  einer  Grundherrschaft,  ähn- 
lich wie  sie  anderwärts  aus  anderen  Ursprüngen  entstand. 


Die  weitere  Verfolgung  dieser  Entwickelung  liegt  ausser- 
halb des  Rahmens  unserer  Untersuchung;  hier  erübrigt  nur  auf 

•)  vergl.  z.  B.  Mecklonb.  ÜB.  I 1225,  312;  1226,  330;  1223,  373;  1241, 
523;  1243,  562;  II  1262,  945;  1268,  1146.  Dreger  1241,  134  etc. 

*)  vergl.  das  Lübeck’sche  Urk.-B.  und  Gustav  Heinrich  Schmidt  zur 
Agrargeschichte  Lübeck’»  und  Ostholstoin’s  1887  insb.  S.  30  u.  die  urkuudl. 
Beilagen. 


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158 


Grund  der  oben  angebenen,  freilich  spärlichen  Daten  die  an  den 
Colonistengütern  selbst  bestehenden  Rechtsverhältnisse  einer 
Prüfung  zu  unterziehen. 

Dabei  sei  zunächst  mit  wenigen  Worten  die  Frage  der  Zins- 
pflicht berührt.  Die  im  ersten  Theile  der  vorliegenden  Unter- 
suchung besprochenen  Urkunden  über  die  freien  Leiheverträge 
der  Rheingegenden  enthalten  in  dieser  Beziehung  sehr  zahlreiche, 
oft  recht  detaillierte  Angaben  und  aus  den  Bestimmungen  über 
die  Folgen  der  Zinssäumnis,  über  Cautionen  und  dergl.  liess  sich 
ein  ziemlich  klares  Bild  über  die  Zinsverhältnisse  entwerfen, 
ln  unseren  Dorfurkunden  fehlt  fast  jeder  Anhaltspunkt , und 
wüssten  wir  nicht  aus  den  Rechtsbüchern  jener  Zeit  die  all 
gemeinen  Grundzüge , so  könnten  wir  uns  kaum  irgend  welche 
Vorstellung  über  das  Zinsrecht  der  üolonisationsgebiete  machen. 
Der  Grund  dafür,  dass  die  Colonisationsurkunden  über  diese 
Fragen  so  wenig  Aufschluss  geben,  liegt  offenbar  in  der  Uni- 
formität der  Verhältnisse  und  in  der  genossenschaftlichen  Aus- 
bildung des  Dorfrechtes.  Wo  die  Zinszahlung  wenigstens  ihrer 
Form  nach  von  einer  Besteuerung  sich  nicht  wesentlich  unter- 
schied, wo  der  Schultheiss,  der  gewiss  in  der  Regel  mit  der 
Einhebung  des  Zinses  betraut  war,  zugleich  als  obrigkeitliche 
Behörde  und  Richter  fungierte,  und  wo  die  Zinsverpflichtung  ganz 
allgemein  statuiert  war,  bedurfte  es  keiner  besonderen  Regelung 
für  den  einzelnen  Fall.  Zudem  mochte  es  dem  Grundherrn,  der 
sich  meist  nur  an  den  Schulzen  hielt,  gleichgiltig  sein,  wie  dieser 
zu  seinem  Gelde  gelangte,  und  sonach  für  ihn  jede  Veranlassung 
fehlen,  Bestimmungen  über  diese  Frage  in  die  Dorfprivilegien 
aufzunehmen. 

Wenden  wir  uns  nunmehr  der  eigentlichen  Hauptfrage  nach  den 
an  den  Colonistengütern  bestehenden  unmittelbaren  (dinglichen) 
Rechten  zu,  so  formulieren  wir  dieselbe  nach  den  uns  geläufigen 
romanisti8ch-modernen  Rechtsbegriffen  zunächst  dahin,  in  wessen 
Eigenthume  dieselben  gestanden  sind,  oder  anders  ausgedrückt, 
ob  den  Bauern  an  ihren  Hufen  das  Eigenthumsrecht  oder  nur  ein 
beschränktes  dingliches  Recht  zugestanden  ist;  denn  diese  Frage 
erscheint  uns  für  die  richtige  Beurtheilung  aller  Sachenrechte 
grundlegend  und  entscheidend. 

Ihre  Beantwortung  begegnet  freilich  in  dem  vorliegenden 
Falle  zunächst  der  äusseren  Schwierigkeit,  dass  die  Colonisations- 
privilegien  uns  nur  sehr  dürftige  Kunde  gerade  über  diese  Rechts- 
verhältnisse geben.  Da  sie,  wie  mehrmals  erwähnt,  meist  nur 


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159 

die  öffentlichen  Angelegenheiten  der  Colonien  behandeln,  erzählen 
sie  uns  gewöhnlich  nichts  über  die  Art  und  Weise,  wie  die  Über- 
tragung der  einzelnen  Hufen  an  die  Bauern  erfolgte;  und  über- 
haupt scheinen  die  Quellenzcugnisse  der  damaligen  Zeit  an  der  uns 
so  wichtig  erscheinenden  Rechtsfrage  mit  auffallender  Gleich- 
giltigkeit vorübergegangen  zu  sein. 

Unter  diesen  Umständen  ist  es  wohl  begreiflich,  wenn  in 
der  älteren  und  neueren  juristischen  Literatur  die  manigfachsten 
Meinungen  über  die  rechtliche  Qualität  des  Bauernrechtes  aus- 
gesprochen worden  sind. 

Wcrsebe*)  spricht  den  Colonisten  volles  Eigenthum  zu, 
das  ihnen  mit  der  Verpflichtung  zu  bestimmten  Zinsleistungen 
eingeräumt  wurde;  die  Colonistengüter  sind  ihm,  wie  er  weiter 
ausfUhrt,  weder  Lehen-,  noch  Meier-,  noch  cmphyteutische  Güter, 
sondern  frei  vererbliche  Zinsgüter,  — eine  Ansicht,  die  in 
der  späteren  Literatur  über  die  Colonisation  des  deutschen 
Nordens  und  Ostens  ziemlich  weite  Verbreitung  fand,  indem  sie 
ungeändert  oder  mit  geringen  Modiflcationen  in  Specialunter- 
suchungen  wiederholt  übernommen  wurde;  so  namentlich  von 
Tzschoppe  und  Stenzei  *)  in  der  Einleitung  zu  ihrem  ür- 
kundenbuche,  Knothe*)  in  seinen  Untersuchungen  über  die 
Lausitz  u.  a.  *). 

Stellen  die  Genannten  das  Erbziusrccht  mit  dem  Eigenthuine 
schlechthin  auf  eiue  Stufe,  so  setzen  es  andere  dazu  in  einen 
Gegensatz  und  erklären  es  für  ein  jus  in  re  aliena  von  sehr 
weitem  Umfange.  Die  älteren  Juristen  folgten  dabei  der  Tendenz 
ihrer  Zeit,  alle  Rechtsgebilde  in  irgend  eine  Kategorie  des 
römischen  Rechtes  unterzubringen,  und  kennzeichneten  es  als 
Emphyteuse  *)  oder  ein  damit  verwandtes  Rechtsinstitut,  während 


•)  a.  a.  O.  zunächst  8.  141. 

5)  8.  166:  Die  Colonisten  erhielten  „die  zum  Dorfe  gehörigen  Äcker 
erb-  und  eigenthümlich  als  Erbzinsgüter“. 

*)  a.  a.  O.  8.  167  in  Verbindung  mit  199. 

*)  Hieher  zu  zählen  ist  wohl  auch  Sommer  (Geschichtliche  und 
dogmatische  Entwickelung  der  bäuerlichen  Rechtsverhältnisse  in  Deutsch- 
land I § 631  der  mit  Runde  das  Recht  der  Bauern  als  ein  dominium  utile, 
germanicum,  eine  Art  Eigenthum  bezeichnet. 

*)  vergl.  die  Zusammenstellung  der  verschiedenen  Meinungen  nament- 
lich die  Eelking’s  undfioche’s  bei  Borchgrave  Histoire  des  Colonies 
Beiges,  Bruxelles  1866  S.  172  ff.  — Stenzei.  Geschichte  Schlesiens  I. 
•S.  213  behauptet  für  die  Colonisten  der  älteren  Zeit  geradezu  als  Regel 


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160 


Neuere  auf  die  Unzulänglichkeit  dieser  römischen  Begriffe  für 
die  vorliegenden  deutschen  .Rechtsformen  hinweisen. 

Schröder1)  bezeichnet  das  Recht  der  Colonisten  als  ein 
„Erbzinsrecht  nach  Art  der  städtischen  Hausleihe,  ohne  die  Be- 
gründung einer  privaten  Unterthänigkeit  wie  bei  Vogtleuten  und 
Pfleghaften.“  „Das  Eigenthum  erlangten  sie  nicht,  vielmehr  be- 
hielt der  Herr  das  Obereigenthum,  das  er  auch  auf  andere  über- 
tragen konnte.“  Der  Zins  hatte,  wie  er  weiter  ausfuhrt,  häufig 
„überhaupt  keinen  materiellen  Werth,  sondern  nur  die  Bedeutung 
eines  Anerkennungszinses.“  Für  alle  Fälle  aber  erscheint  er  als 
privatrechtliche,  nicht  als  öffentlichrechtliche  Last,  was  nament- 
lich bei  dein  Vergleiche  mit  dem  Grafenschatze  zu  berück- 
sichtigen sei *). 

Borchgrave8)  hebt  mit  besonderem  Nachdrucke  hervor,  um 
wie  viel  das  Recht  der  holländischen  Colonisten  hinnusreichte  über 
das  der  römischen  Emphyteuten,  indem  sich  keine  Spur  eines  Rück- 
falles an  den  Grundherrn  oder  eines  Vorkaufsrechtes  desselben,  kein 
Hinweis  auf  die  Verpflichtung  zu  einer  Laudemialgebühr  und  ähn- 
lichen Abgaben  der  Colonisten  findet.  Nur  durch  die  Zinspflicht,  die 
auf  den  Hufen  lastete,  unterscheidet  sich  ihm  das  Recht  derselben 
von  vollem  Eigenthume:  „Le  droit  de  propriete  qu’obtinrent  nos 
colons,  sans  ötre  un  dominium  plenum,  dans  le  sens  que  l’on  atiache 
gönöralement  a ce  mot,  en  avait  tous  les  attributs  ...  La  seule 
chargc  qui  pesait  sur  le  colon  etait  lu  redcvance  foneiere  .... 
sauf  cette  redevance  nos  colons,  s’ils  ne  jouissaient  pas  d’un 
dominium  plenissimum,  avaient  neanmoins  des  droits  plus  etendus 
qu’un  emphyteote  ordinaire;  c’etaient,  ii  peu  de  chose  pres,  des 
proprietaires  dans  le  sens  strict  du  mot;  plus  encore  que  les 
emphyteotes,  ils  avaient  un  jus  dominio  proximum“  — eine 


„freies,  erbliches,  theilbares  Eigenthum,  über  welches  sie  durch  Verkauf, 
Schenkung  und  Vergabung  frei  verfügen  konnten.  Zwar  wurden  schon  im 
13.  Jahrhunderte  einzelne  (Grundstücke  zuweilen  gegen  erblichen  Zins  aus- 
gethan,  bei  welchem  sich  der  (Grundherr  bei  Verkäufen  das  Vorkaufsrecht 
vorbehielt;  allein  erst  seit  dem  Anfänge  des  14.  Jahrhundertes  finden 
wir  ganze  Dörfer,  deren  Hufen  als  Erbzinsgüter  emphyteutisch  ausgethau 
wurden , wobei  der  Grundherr  sich  das  Obereigenthum  vorbehielt,  was 
früher  nicht  der  Kall  war.“ 

’)  Niederländische  Kolonien  S.  39.  (383'. 

Deutsche  Rechtsgeschichte  S.  43ä. 

•)  a.  a.  O.  8.  Ui  u.  173. 


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161 


Ausführung,  die  freilich  mehr  eine  äusserliche  Beschreibung  uls 
eine  juristisch  präcise  und  verwerthbare  Begriffsbestimmung 
enthält. 

Genauer  drückte  sich  Droysen  aus,  von  dessen  Ansicht 
über  das  Recht  der  märkischen  Colonisten  Borchgrave  in  nichts 
Wesentlichem  abweicht.  Er  zeigt1),  dass  die  Colonisten  freie 
Bauerngemeinden  bildeten  mit  vollem  Erb-  und  Eigen  thumsrechte, 
soweit  ein  solches  überhaupt  nach  dem  Wescu  der 
Markverfassung  möglich  war,  wozu  er  später  ergänzend 
ausführte,  „das  alte  ächte  Eigenthum  im  altgermanischcn  Sinne 
hatten  sie  nicht,  das  hatte  in  den  Marken  niemand*1,  nur  war 
ihr  Recht  doch  weit  besser  als  das  der  Erbzinsleute. 

Die  schärfste  juristische  Formulierung  dieses  Gedankens  findet 
sich  unstreitig  bei  Knapp*),  auf  dessen  Auffassung  unten  des 
nähern  einzugehen  ist*).  — 

Will  man  zur  Prüfung  dieser  vielfach  widerstreitenden  An- 
sichten die  uns  überlieferten  urkundlichen  Nachrichten  heran- 
ziehen , so  muss  man  vor  allem  die  eine  Thatsache  sich  vor 
Augen  halten,  dass  in  den  Fällen  von  Dorfschaftsgründungen, 
in  welchen  Mittelsmänner  irgend  welcher  Art  zwischen  dem 
Colonisator  und  den  Colonisten  standen,  nicht  nur  zwei,  sondern 
möglicher  Weise  drei  Personen  in  eine  rechtliche  Beziehung 
zu  den  Grundstücken  treten  konnten,  und  dass  demgemäss  zur 
Lösung  unseres  Problemen  die  rechtlichen  Befugnisse  dieser 
drei  Personenkreise  in  Betracht  zu  ziehen  sind. 

Für  die  Beurtheilung  des  Rechtes  der  Bauern,  worüber 
zunächst  gehandelt  werden  soll , geben  uns  freilich , wie  oben 
allerorts  hervorgehoben  wurde,  die  Urkunden  unmittelbar  wenig 
bestimmte  Auskunft,  und  wir  stosseu  hier  noch  auf  die  besondere 
Schwierigkeit,  dass  namentlich  in  den  älteren  Urkunden  das 
Bauernrecht  oft  nur  in  der  engsten  Verbindung  mit  dem  Rechte 
ihrer  Anführer  Erwähnung  findet,  und  so  die  beiden  Rechts- 
gebiete nicht  scharf  zu  trennen  sind. 

Die  erste  Holländerurkundc  des  Erzbischofes  Friedrich  ent- 
hält über  die  Rechte  der  angesiedelten  Bauern  überhaupt  gar 


’)  (ieacliiihtu  der  preussischen  Politik  I.  S 61  f.  und  64. 

’)  Die  Bauernbefreiung  und  der  Ursprung  der  Landarbeiter  in  den 
älteren  Theilen  Preussens  1887  1 S.  36  f. 

*)  s.  S.  171. 

ü.  Schwind,  Erbleiheo.  11 


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162 


keine  Bestimmung1).  Die  Urkunde  Hartwig  I gibt  den  ganzen 
District  dem  einen  Unternehmer  „iure  bcneficiali  . . . ea  videlieet 
ratione,  ut  suo  eodem  iure  liceat  relinquere  succcssori“,  eine  Fest- 
setzung, die  in  den  unmittelbar  vorhergehenden  Worten  „paludem 
. . . . vendendam  et  excolendam  . . . tradidi“  ihre  Ergänzung 
erfährt,  aber  auch  so  noch  nicht  völlige  Klarheit  über  die  end- 
giltige  rechtliche  Regelung  zu  geben  vermag’).  Die  Privilegien 
für  die  Colonie  in  Machtenstedt*)  heben  gleichfalls  die  kaufweise 
Weiterübertragung  hervor  (quicumque  a Bovone  ....  posaes- 
sionem  . . . mercatus  fuerit)  und  gebrauchen  — man  darf  wohl 
sagen  — einen  technischen  Ausdruck,  wenn  sie  dem  Unternehmer 
zugestehen,  ut  . . . venderet  quibuslibet  emtoribus  sibi  et  suis 
heredibuB  iure  Hollandrico  possidendam,  eine  Formu- 
lierung, die  in  dem  Diplom  des  Erzbischofs  Hartwig  II.  von  1201  4) 
ihre  Ausführung  und  Erweiterung  fand,  indem  dieser  beurkundete : 
paludem  ...  ad  vendendum  H°  et  H°  sub  certa  huius  dis- 
positionis  forma  tradidimus.  Emtoribus  paludis  predicte  con- 
cedimus  terram  hanc  iure  hollandrico  libere  entere  et  suis 
heredibus  perpetuo  possidendam  libere  vendere  aut 
relinquere.  In  anderen  Urkunden  finden  sich  Wendungen, 
wie  ad  excolendum  contradidi  *)  oder  Flamingis  petentibus  iure 
suo  possidendas  vendidimus  *),  ad  excolendum  et  fructificandunt 
tradidi  7)  u.  a.  m.  Schlesische  Dorfprivilegien  gebrauchen  gewöhn- 
lich die  Worte  concedere  jure  teutonico  collocandum  *)  oder  locan- 
dum®),  was  vereinzelt  dahin  ergänzt  wird,  quam  hereditatis  bcuI- 
tetiam  vel  dominus  M.  vel  D.  ipsorumque  posteri  cum  agricolis 
ibidem  residentibus  ....  iure  hereditario  perpetuo  possidebunt; 
von  diesem  Charakter  weichen  auch  die  Bestimmungen  in  den 
übrigen  Colonisationsgebieten  nicht  wesentlich  ab. 


')  s.  oben  S.  126  f. 

*)  8.  oben  S.  133  Anm.  2. 

*)  s.  oben  S.  134  f. 

*)  s.  oben  S.  135. 

•)  Urkunde  für  Krakau  8.  o.  8.  143  Anm.  1. 

°)  1169  Anhalter  UB.  464  b.  o.  8.  146  Anm.  1. 

’)  1159  v.  Heinemann,  Albrecht  der  Bär  No  40  8.  o.  S.  140  Anm  1. 
’)  z.  B.  cod.  dipl.  Silea.  I 1274,  No.  9. 

’)  z.  B.  1.  cod.  1288,  18;  1290,  21 ; II  1203,  4 p.  ti  u.  viele  andere. 

,0)  wie  1309  1.  eod.  I.  23. 


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163 


Nach  all  dem  ist  es  wohl  nicht  zu  bezweifeln,  dass  den  Co- 
lonistenbauern  eine  sehr  weit  reichende  rechtliche  Macht  über  ihre 
Hufen  zustand.  Die  Tendenz,  ihnen  eine  solche  zu  gewähren, 
tritt  allüberall  deutlich  zu  Tage,  und  gewiss  konnte  jeder  solche 
Bauer  ziemlich  unbeschrankt  auf  seinem  Gute  schalten  und 
walten.  Wenn  man  hiezu  in  Betracht  zieht,  dass  dieses  weit- 
reichende Verfiigungsrecht,  das  ihm  zukam,  wenigstens  der  Regel 
nach  auch  noch  vererblich  und  veräusserlich  war,  so  wird  man 
wohl  zugeben  müssen,  dass  die  practisch  wichtigsten  Befugnisse 
eines  Eigentümers  von  Grund  und  Boden  auch  in  den  Händen 
der  bäuerlichen  Colonistcn  sich  beisammen  fanden.  Darin  liegt 
denn  auch  unzweifelhaft  der  entscheidende  Grund,  der  vielfach 
zur  Annahme  wirklichen  Eigenthumes  bestimmte. 

Gleichwohl  kann  einer  solchen  juristischen  Erklärung,  die 
nur  auf  den  hier  angeführten  Momenten  fusst,  volle  Zuverlässig- 
keit nicht  zugesprochen  werden.  Denn  es  ist  nicht  zu  übersehen, 
dass  wenigstens  unser  heute  gütiges  Recht  ‘)  im  Anschlüsse  an 
die  scharf  ausgebildete  romanistische  Doctrin  nicht  das  Ausmass 
und  den  Umfang  der  jeweils  actuellen  rechtlichen  Befugnisse, 


')  Der  Grund,  warum  hier  und  in  den  folgenden  Ausführungen  mehr, 
als  cs  vielleicht  sachlich  begründet  erscheinen  mag,  auf  die  romanistisch- 
modernen  Begriffe  zurückgegriffen  wird,  liegt  vornehmlich  in  dem  Mangel 
einer  einheitlichen,  allgemein  eingebürgerten  Terminologie  für  die  das  mittel- 
alterliche Sachenrecht  beherrschenden  Rechtsbegriffe.  Speciell  für  das  sog. 
doutschreehtliche  Eigenthum  gibt  es  keinen  einheitlichen,  allgemein  aner- 
kannten Begriff,  der  als  solcher  geeignet  wäre,  als  feststehende  Grundlage 
für  juristische  Dcductionen  zu  dienen.  Wird  er  doch  ausserhalb  der  ger- 
manistischen RechtsBchule  in  seiner  Existenzberechtigung  vielfach  überhaupt 
nicht  anerkannt.  Demgegenüber  ist  nicht  zu  leugnen,  dass,  mag  auch  für 
den  romanistischen  Eigenthumsbegriff  vielfach  absolute  Giltigkeit  in  An- 
spruch genommen  werden,  es  immer  mislich,  vielleicht  auch  gefährlich  ist, 
mit  einem  so  specifisch  entwickelten  Rechtshegriffe  an  rechtliche  Verhält- 
nisse heranzutreten,  die  auf  einem  ganz  anderen  Boden  und  unter  Umständen 
entstanden  sind,  die  mit  den  rechtserzeugenden  Kactoren  des  römischen 
Rechtes  nichts  gemein  haben.  — Hält  man  sieb  aber  im  Laute  der  Unter- 
teilung stets  vor  Augen,  dass  die  unmittelbare  Anwendbarkeit  dos  Begriffes 
auf  die  untersuchten  Rechtsverhältnisse  nicht  bewiesen  ist,  und  übernimmt 
man  nur  so  viel,  als  durch  sachliche  Gründe  gerechtfertigt  erscheint,  so 
kann  man  den  Gefahren,  welche  mit  dem  hier  gewählten  Vorgehen  verbunden 
sind,  aus  dem  Wege  gehen  und  entkommen,  und  man  gewinnt  dabei  den 
Vortheil  einer  fixen,  allseitig  gesicherten  Uperationshasis,  welche  auch  geeignet 
ist,  für  allenfalls  zu  bestimmende  neue  Reehtsbegriffe  die  nötbigen  Anhalts- 
und Vergleichspunkte  zu  gewähren. 

11* 


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164 


sondern  die  hievon  unabhängige  Tendenz  des  Rechtes  nach  Univer. 
salität  und  Schrankenlosigkeit  als  die  wesentlichen  Elemente  des 
EigenthumsbegrifFes  betrachtet,  und  dass  demnach  selbst  bei  dem 
unbestrittenen  Zusammentreffen  noch  so  weit  reichender  sachen- 
rechtlicher Befugnisse  der  Schluss  auf  dos  Vorhandensein  wirk- 
lichen Eigenthumes  immer  noch  einer  besonderen  Begründung 
bedarf. 

Für  eine  solche  Schlussfolgerung  aber  gewähren  uns  die  auf 
die  Gegenwart  überkommenen  urkundlichen  Zeugnisse  des  Mittel- 
alters ihrem  positiven  Inhalte  nach  sicherlich  nicht  die  geringste 
Stütze;  ja  gar  manche  Momente,  wie  die  oft  unverkennbar  aus- 
gesprochene Zweckbestimmung  der  Güter,  der  nicht  selten  zu 
Tage  tretende  Einfluss  der  Grundherrschaft,  die  Zinspflicht,  die 
so  häufig  die  Anerkennung  einer  Herrschaft  zum  Ausdrucke 
brachte,  und  ähnliche  in  den  Gründungsurkunden  enthaltene 
Bestimmungen  sprechen  wenigstens  äusserlich  genommen  dagegen ; 
und  wenn  auch  für  die  juristische  Construction  vielleicht  die 
Möglichkeit  besteht,  in  all  dem  nur  Beschränkungen  eines  prin- 
cipiell  allgemeinen  Rechtes  zu  erblicken,  so  mahnen  sie  zum  min- 
desten zur  Vorsicht,  aus  dem  weiten  Umfange  des  Rechtes,  der 
nicht  zu  bezweifeln  ist,  nicht  zu  früh  und  nicht  zu  leicht  noch 
Weiteres  folgern  zu  wollen.  Und  in  gleicher  Richtung  spricht 
auch  die  im  Mittelalter  vielfach  zu  beobachtende  Abneigung  der 
Grundherrn  gegen  definitive  Veräusserungen  des  Grund  und  Bodens, 
zu  der  sich  speciell  für  kirchliche  Grundstücke  noch  die  kirch- 
lichen Veräusserungsverbote  gesellen,  welche  in  der  Regel  die 
Übertragung  des  Eigenthumes  ausschlossen,  die  Begründung  von 
Erbleihen  aber  gestatteten  1). 

Auch  aus  dem  Inhalte  der  hier  besprochenen  Urkunden, 
also  unmittelbar  aus  quellenraässigen  Zeugnissen  lässt  sich  in  der 
gleichen  Richtung  die  häufige  Parallelstellung  von  jus  teutonicum 
und  jus  emphyteuticum  anführen,  die  uns  namentlich  in  den  süd- 


*)  vergl.  z.  ß.  die  unzweifelhaft  hielter  zu  beziehende  Stelle  e.  7 X de 
rebus  ecclesiae  alienandis  vel  non  III  13,  wo  sich  in  unmittelbarem  Anschlüsse 
an  Veräusserungsverbote  die  Worte  Alexander  III  finden:  Ilias  terras,  quae 
de  silvis  exstirpatae  sunt  arubiles  factae,  eia  hereditario  iure  poteris  concedere 
sub  annuo  censu  tenendas.  a quibus  ipsas  suo  vel  parentum  suorum  labere 
constiterit  fuisse  exstirpatas;  uisi  forte  tune  aliis  possint  ad  majorem  ecclesiae 
utilitatem  cum  eodem  labore  et  onere  conferri. 


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165 


Höheren  Colonisationsgebieten  wiederholt  begegnet1);  so  wenig  zu- 
treffend auch  sonst  dieser  in  den  Urkunden  gebräuchliche  Hinweis 
sein  mag,  das  eine  bringt  er  doch  mit  Bestimmtheit  zum  Aus- 
drucke, dass  der  damaligen  Zeit  das  beschränkte  Recht  des 
römischen  Emphyteuten  und  nicht  das  Eigenthum  dem  bäuer- 
lichen Rechte  verwandt  und  analog  erschien. 

Noch  deutlicher  sprechen  die  Rechtsbücher  selbst.  So  stellt 
z.  fi.  der  Sachsenspiegel  und  namentlich  die  Glosse  Eigen  und 
Zinsgut  in  directen  Gegensatz5)  und  aus  der  letzteren  erfahren 
wir  auf  das  bestimmteste,  dass  die  bäuerlichen  Güter  der  Coloni- 
sationsgcbiete  als  Erbzinsgüter  in  die  letztere  Kategorie  gehörten. 
Von  ihnen  sagt  die  Glosse3)  sogar  ausdrücklich,  wie  es  deutlicher 
nicht  mehr  ausgesprochen  werden  kann : „Zinsgut  ist  weder  eigen, 
erbe,  noch  lehen  ....  Ziusgut  ist  aber  darumb  kein  Eigen,  das 
der  Herr  darauff  einen  zins  hat  ....  denn  eigen  hat  man  on 
allen  zins.  Es  ist  auch  darumb  kein  erbe,  das  es  der  richter 
nicht  aufgeben  mag.  Es  ist  auch  kein  Lehen,  das  man  davon 
zins  gibt  . . . .”  Die  Motivierung,  welche  den  einzelnen  Sätzen 
beigeftigt  ist,  kann  vielleicht  im  einzelnen  manches  Bedenken 
wachrufen;  aber  dass  zu  jener  Zeit  das  Bauernrecht  nicht  als 
Eigenthum  galt,  ist  solchen  Erklärungen  gegenüber  nicht  mehr 
hinwegzuleugnen,  und  damit  ist  es  wohl  auch  für  uns  geboten, 
wenigstens  vorläufig  au  dem  beschränkten  rechtlichen  Character 
des  bäuerlichen  Rechtes,  so  wie  er  positiv  in  den  Urkunden  be- 
glaubigt ist,  festzuhalten  und  ihm  die  Universalitätstendenz  des 
romanistisch-modernen  Eigenthumsbegriffes  nicht  zuzusprechen, 
wenn  auch  vereinzelte  Dorfgründungsurkunden  den  Bauern  ein 
Recht  einräumten,  das  noch  über  das  hier  geschilderte,  gewöhn- 
liche Mass  hinausgereicht  hat4). 


')  vergl.  namentlich  M e 1 1 z e n C’od.  dipl.  Siles.  IV  insb.  Einleitung 
S 108  f.,  wo  das  Wort  jus  emphyteuticum  gewiss  mit  Recht  als  Übersetzung 
von  Erbzinsrecht  gedeutet  wird. 

*)  vergl.  oben  S.  5 ff. 

*)  zn  Art.  79  des  2.  Buches  des  Landrechtes. 

4)  vergl.  z.  B die  oben  S.  153  Anm.  4 abgedruckte  Urk.  für  Stendal: 
Areas  snpranominatae  villae  hereditario  et  libero  eis  iure  concessimus,  qua- 
tenus  vendendi  et  pro  arbitrio  disponendi  liberam  habeant  facultatem,  eo 
tarnen  modo,  ut  censum  . . . inde  persolvant;  oder  1256  Dreger  Cod.  dipl. 
Pomeraniae  280 ; dabei  kann  die  Frage,  ob  solche  Fälle  als  Ausnahmen  von 
der  Regel  zu  deuten  sind,  oder  ob  auch  dieses  erweiterte  Recht  sich  noch 
von  dem  Eigenthume  unterscheidet,  füglich  unerörtert  bleiben. 


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166 


Nur  Gründe  juristisch  technischer  Art  könnten  eventuell  be- 
stimmend sein,  von  diesem  hier  gewonnenen  Ergebnisse  abzugelien1). 

Dem  Rechte  der  Bauern,  als  der  Besitzer  der  einzelnen  Hufen, 
steht  die  rechtliche  Macht  der  Dorfschulzen  oder  Anführer  der  ein- 
einzelnen Niederlassungen  und  die  der  Grundherrn,  als  der  Gründer 
der  Colonien,  gegenüber.  Der  kritischen  ßeurtheiluug  ihrer  recht- 
lichen Stellung  in  Beziehung  auf  das  neu  besiedelte  Land  stellt 
sich  abgesehen  von  den  früher  angeführten  Momenten  vor  allem 
noch  die  Schwierigkeit  entgegen,  dass  in  ihren  Händen  öffentliche 
Herrechaftsbefugnisse  und  private  Rechte  so  enge  verbunden 
wareu,  dass  wir  im  einzelnen  Falle  nicht  zu  unterscheiden  ver- 
mögen, was  als  ßethätigung  des  einen  oder  des  anderen  Rechts- 
kreises zu  gelten  habe.  Auch  geben  die  urkundlichen  Quellen 
uns  wenig  Anhaltspunkte  über  die  Qualität  ihres  Rechtes. 

Um  zunächst  von  den  Colonis  t e na  n füh  rern  zu  handeln, 
finden  wir  ihre  Macht  bei  den  ersten  Holländercolonien  aus  der 
Gegend  um  Bremen  nach  dem  Wortlaute  der  Gründungsurkunden 
allerdings  in  sehr  weitem  Umfange  gewährleistet’),  und  ebenso 
wurde  namentlich  in  den  märkischen  Gebieten,  wenn  die  Dorf 
gründung  durch  Ritter  bewerkstelligt  wurde,  bezüglich  des  ganzen 
Dorfdistrictes  ein  sehr  weitreichendes  Recht  in  ihre  Hand  gelegt*); 
doch  ist  dabei  zu  berücksichtigen , dass  diese  Urkunden  meist 
nur  die  zunächst  geschaffene  rechtliche  Lage  im  Auge  haben 
und  vielfach  nicht  an  den  endlichen  Zustand  denken,  der  dann 
eintrat,  wenn  das  Land  vermessen  und  an  die  Bauernbevölkerung 
vertheilt  war.  Für  die  späteren  Holländercolonien  aus  der  Umgebung 
von  Bremen,  bei  denen  das  Recht  der  Anführer  des  Unternehmens 
nur  mehr  als  ein  beneficialisches4)  bezeichnet,  oder  in  denen  gar 
über  ihre  Köpfe  hinweg  unmittelbar  das  Recht  der  Käufer  ge- 
währleistet wurde8),  ist  nicht  daran  zu  denken,  dass  den  Leitern 
der  Colonie  etwa  eine  eigenthumsähuliche  Macht  über  sämmtliche 
Colonistenhufen  wäre  eingeräumt  worden.  Und  ebenso  fehlt 


')  vergl.  unten  S.  171  ff. 

*)  vergl.  oben  S.  125  ff. 

’)  vergl.  z.  B.  oben  S.  153  Anm.  2 oder  1242  Cod.  dipl  prussicus  1 54. 

4)  1149  Hamburger  UB.  lf->9  Districtum  . . . Johanni  . . . jure  bene- 
ficiali  coucessi. 

8)  1201  Hamburger  UB.  332  Emturibus  paludis  eoncedimus  terrum  hanc 
iure  hollandrico  libere  emero  et  suis  heredibus  possidendam  libero  vundere 
et  relinquere. 


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167 


jeder  Grund  und  jeder  Anhaltspunkt  für  eine  ähnliche  Annahme 
betreffs  all  der  Dorfgi  ünduugen,  in  welchen  Dorfschulzen  an  der 
Spitze  der  Unternehmung  standen.  Ihr  Recht  erstreckte  sich 
über  die  ihnen  überlassenen  Freihufen,  die  sie  nebst  anderen 
Vortheilen  als  frei  vererbliches  und  veräusserliches  Schulzengut 
zugewiesen  erhielten;  bezüglich  der  anderen  Grundstücke,  der 
eigentlichen  Bauernhufen,  hatten  sie  ihre  bestimmte  Mission,  vor- 
wiegend eine  polizeiliche  und  gerichtliche  Gewalt,  sowie  das 
Recht  und  die  Aufgabe,  die  Güter  dem  Zwecke  der  Colonien- 
gründung  gemäss  mit  Colonisten  zu  besetzen.  Dies  letztere  konnte 
möglicherweise  auch  während  des  Bestandes  des  Dorfes  wieder 
zu  Bedeutung  kommen,  wenn  einzelne  Hufen  von  den  Bauern 
verlassen  wurden,  und  wurde  auch  später  vielfach  in  der  Weise 
zur  Bereicherung  des  Schulzengutes  ausgebeutet,  dass  solche  ver- 
waiste Bauernstellen  nicht  neu  vergeben,  sondern  schlechthin  ein- 
gezogen wurden.  Das  Vorhandensein  einer  rechtlichen  Herr- 
schaft des  Leiters  der  Dorfschaft  über  deren  Gebiet  ist  bei  dieser 
Sachlage  nicht  zu  bestreiten,  und  es  liegt  nach  der  uns  geläufigen 
Rechtsauffassung  unzweifelhaft  am  nächsten,  dieses  dem  Schulzen 
zustehende  Herrschaftsrecht  einfach  dem  öffentlichen  Rechts- 
gebiete zu  vindicieren,  und  in  allen  einzelnen  Befugnissen  nur 
die  Bcthätigung  seiner  üffentlichrechtlichen  Stellung  zu  erblicken1). 
Die  gleiche  Auffassung  wird  auch  vom  Standpunkte  des  mittel- 
alterlichen Rechtes  im  allgemeinen  gerechtfertigt  sein.  Denn  wenn 
dort  auch  die  Scheidung  dieser  beiden  Rechtsgebiete  nicht  so 
durchschlagend  war  und  empfunden  wurde,  so  bleibt  doch  immer 
wahr,  dass  der  den  Leitern  solcher  Dorfcolonien  zustehende 
rechtliche  Einfluss  an  den  Bauerngütern  mehr  eine  Herrschaft 
über  die  darauf  befindlichen  Personen  als  eine  unmittelbar  sachen- 
rechtliche Befugnis  gewesen  ist.  Nur  für  die  Fälle,  in  denen 
entweder  von  Anfang  an  eine  engere  Beziehung  zu  dem  ganzen 
Colonisationsgebiete  festgestellt  wurde’),  oder  wo  im  Laufe  der 


')  Die  gleiche  Auflassung  z.  B.  bei  Sommer,  Geschichtliche  und  dog- 
matische Entwickelung  der  bäuerlichen  Rechtsverhältnisse  in  Deutschland 
I ij  77  bezüglich  der  Entmeierung:  Die  Entmeierung  ist  nicht  Heimfall  des 
Gutes  an  den  Gutsherrn,  sondern  dieser  übt  für  die  Staatsgesellschaft  das 
Wiederbesetzungsrecht  aus;  er  muss  den  Hof  mit  einem  . . . Colonen  besetzen 
und  darf  dabei  die  Abgabe  nicht  erhöhen. 

*)  vergl.  oben  S.  166  Anm.  8 u.  4. 


168 


späteren  geschichtlichen  Entwickelung ')  den  Schulzen  ein 
grösserer  unmittelbarer  Einfluss  auf  die  einzelnen  Bauernhufen 
zufiel,  wird  man  die  Möglichkeit  zugeben  müssen,  dass  in  und 
neben  den  öffentlichen  Befugnissen  derselben  auch  eine  sachen- 
rechtliche Macht  vorhanden  gewesen  sei,  ohne  dass  man  jedoch 
bei  der  engen  Verbindung  und  gleichförmigen  Behandlung,  welche 
alle  mit  Grund  und  Boden  zusammenhängenden  Rechte  im 
Mittelalter  erfuhren,  die  nach  unserer  heutigen  Anschauung  für 
disparat  erscheinenden  beiden  Rechtskreise  in  dem  einen 
Schulzenrechte  genau  zu  scheiden,  oder  gar  mit  Sicherheit  den 
Umfang  der  privatrechtlichen,  speciell  sachenrechtlichen  Befug- 
nisse festzustellen  vermöchte. 

Den  gleichen  Schwierigkeiten  der  juristischen  Construction 
begegnen  wir  bei  der  dritten  Gruppe  von  Rechten,  die  an  den 
Colonistengütern  bestehen  konnten,  den  Rechten  der  Laodes- 
oder  Grundherrn,  also  derjenigen,  die  durch  die  Verleihung 
des  für  die  Colonisationszwecke  gewidmeten  Bodens,  oft  auch 
durch  die  Gewährung  ihres  Schutzes  und  von  Privilegien  das 
Zustandekommen  der  neuen  Ansiedelungen  ermöglicht  haben. 

Auch  für  sie  unterliegt  es  keinem  Zweifel,  dass  das  Schwer- 
gewicht ihrer  rechtlichen  Macht  dem  öffentlichen  Rechte  an- 
gehörte. Die  herrschaftliche,  beziehungsweise  landesherrliche 
Stellung,  die  sie  vor  der  Coloniengründung  über  das  uncultivierte 
oder  nur  von  den  für  rechtlos  gehaltenen  Slaven  bebaute  Terri- 
torium ausgeübt  hatten,  blieb  ihnen  meist  auch  über  die  neue 
Niederlassung  dauernd  gewahrt,  wenigstens  insoweit,  als  nicht 
die  der  Colonie  und  ihren  Organen  gewährten  Zugeständnisse 
eine  ßethätigung  derselben  ausschlossen.  Als  Ausfluss  dieser 
obrigkeitlichen  oder  herrschaftlichen  Machtbefugnis  über  das 
Colonisationsgebiet  erscheint  dann  vor  allem  die  Gerichtshoheit, 
die  sich  iui  einzelnen  in  mannigfaltigen  Formen  äusserte ; bald 
blieb  dem  Grundherrn  die  höhere  Gerichtsbarkeit,  bald  die  Be- 
aufsichtigung des  unteren  Richters  Vorbehalten,  während  in 
anderen  Fällen  durch  seine  Machtvollkommenheit  alle  auf  das 
Gericht  sich  beziehenden  Angelegenheiten  einer  sorgfältigen 
Regelung  unterzogen  wurden;  fast  ausnahmslos  aber  bedeutete 
die  Gerichtshoheit  für  die  Herrschaft  den  Anspruch  auf  einen 


')  Eine  solche  Veränderung  vollzog  sich  gewöhnlich  dadurch,  dass 
Rechte,  die  ursprünglich  dem  Grundherrn  zustanden,  an  manchen  Orten  in 
immer  weiterem  Umfange  an  die  mächtigen  Schulzengeschlechter  Übergiengen 


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169 


bestimmten  Theil  der  bei  der  Ausübung  der  Gerichtsbarkeit  sich 
ergebenden  Gefälle.  Unzweifelhaft  öffentlichen  Character  trägt 
auch  das  Hecht  auf  den  Zehent,  zu  dessen  Leistung  wenigstens 
geistliche  Fundatoren  in  Übereinstimmung  mit  der  in  kirchlichen 
Kreisen  damals  allgemeinen  Anschauung  bei  der  Neuanlage  von 
Colonistendörfern  die  einzelnen  Hufen  regelmässig  verpflichtet 
haben. 

Dagegen  lässt  sich  von  dem  Ansprüche  auf  den  Zins,  welchen 
dieGrundherrscbaft  auf  jeder  Bauernhufe  sich  vorbehielt,  wenigstens 
gewiss  nicht  als  nothwetidig  behaupten,  dass  er  auf  deren  herr- 
schaftliche , obrigkeitliche  Stellung  zurückzuführen  sei.  Viel- 
mehr wird  mit  gutem  Grunde  geradezu  der  privatrechtliche 
Character  desselben  vielfach  angenommen ’);  und  die  in  einzelnen 
Urkunden  enthaltenen  Wendungen,  wie  z.  B.,  dass  er  pro  recogni- 
tione  terrae*)  oder  jure  dominii  et  ducali s)  und  dergl.  bezahlt 
werde,  in  Verbindung  mit  dem  Umstande,  dass  von  Grund  und 
Boden  vorbehaltenen  Zinsen  damals  so  häufig  die  Bedeutung  von 
Anerkennungszinsen  zukam,  und  auch  alle  anderen  Momente,  die 
oben 4)  gegen  die  Annahme  eines  bäuerlichen  Eigenthumsrechtes 
angeführt  wurden,  sind  in  ihrer  Gesammtheit  wohl  geeignet,  die 
Vermuthung  zu  rechtfertigen,  dass  auch  hier  der  Zins  berufen 
gewesen  sei,  den  Bestand  eines  der  Grundherrschaft  auch  nach 
der  Colonisation  verbliebenen  Hechtes  an  den  Bauerngütern  zum 
Ausdrucke  zu  bringen5). 

Das  Vorhandensein  einer  solchen  unmittelbaren  (sachen- 
rechtlichen) Macht,  die  namentlich  dann  zu  actueller  Bedeutung 
kommen  mochte , wenn  z.  B.  das  Aussterben  einer  Coionisten- 
fnmilie  oder  die  Nachlässigkeit  der  mit  der  Sorge  über  die 
einzelnen  Hufen  und  die  Dorfschaft  Betrauten  ein  unmittel- 
bares Eingreifen  der  Grundherrn  erforderten,  wird  eich  auch  in 
der  That  kaum  bestreiten  lassen ; und  wenn  wir  oben  eine  Reihe 
von  Gründen  anfuhrten,  welche  gegen  die  Annahme  eines  un- 
beschränkten Rechtes  auf  Seite  der  bäuerlichen  Golonisten  sprachen 
und  so  zu  dem  Ergebnisse  führten,  dass  diesen  ein  gewisses  Mass 
von  Rechten  von  wirklicher  Machtvollkommenheit  abgieng,  so 


’)  vorgl.  z.  B.  Schröder,  Deutsche  Rechtsgevohich te  S.  435. 

’)  1201  Hamburger  UB.  332. 

*)  1336  Cod.  dipl.  Sileaiae  I 83. 

*)  vergl.  S.  164  insb.  Anm.  I. 

*)  vergl.  z.  B.  Schröder,  niederländische  Kolonien  S.  39  (381). 


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170 


fordert  es  schon  die  Consequenz  der  juristischen  Logik  mit  Noth- 
wendigkcit,  dass  der  dort  fehlende  Theil  rechtlicher  Gewalt  der 
Machtsphäre  eines  anderen  Berechtigten  zugestanden  habe,  ln 
den  meisten  Fällen  konnte  es  gewiss  nur  der  Grund-  oder  Landes- 
herr, nicht  der  Schulze  gewesen  sein , dem  eine  derartige  Be- 
rechtigung zukam.  Wie  viel  daun  von  dieser  unmittelbaren 
(sachenrechtlichen)  Macht,  die  in  den  Händen  des  Grundherrn 
sich  finden  konnte,  privaten  Character  trug,  wie  viel  ab  Ausfluss 
seiner  herrschaftlichen  (öffentlichen)  Stellung  zu  gelten  habe,  lässt 
sich  freilich  mit  Bestimmtheit  nicht  feststellen;  vielleicht  ist  alles 
diesem  letzteren  Einflüsse  zuzuschreiben.  Jedenfalls  macht  die 
enge  Verbindung  beider  Gruppen  von  Befugnissen,  die  Uusser- 
lich  völlig  gleichartige  Behandlung  aller  irgendwie  territorial 
fundierten  Hechte  und  die  jenen  Zeiten  vielfach  mangelnde 
Empfindung  für  eine  derartige  rechtliche  Unterscheidung  eine 
genaue  Grenzbestimmung  unmöglich  und  wohl  auch  überflüssig. 
So  lässt  sich  auch  aus  den  ^tatsächlichen  Verhältnissen  mit  Be- 
stimmtheit nicht  deducicren,  ob  diese  sachenrechtliche  Gewalt 
als  eine  Beschränkung  des  bäuerlichen  Rechtes  zu  gelten  habe, 
das  vielleicht  mit  der  Universalitätstendenz  ausgestattet  war,  oder 
ob  sie  etwa  analog  der  römischen  nuda  proprietas  gegenüber 
dem  cmphyteutischen  Rechte  die  Seele  eines  durch  fremde 
Rechte  auf  ein  Minimum  actucller  Befugnisse  eingeschränkten 
Eigenthums  enthielt1).  Die  oben  angeführten  Grunde  sprechen 
unzweideutig  gegen  die  Entscheidung  im  Sinne  der  ersten 
Alternative,  aber  zunächst  wenigstens  und  ohne  zwingende  Gründe 
dürfte  man  auch  kaum  geneigt  sein , die  zweite  Alternative  zu 
wählen.  Eis  fällt  uns  schwer  anzunehmen,  dass  die  geringen 
Ansätze  privater  Befugnisse,  deren  Existenz  vielleicht  vielfach 


')  Bemerkt  sei,  dass  man  hier  für  die  Frage,  wer  unter  den  mehreren 
Berechtigten  Eigentbümer  sei,  auch  durch  die  Untersuchung,  in  wessen 
Händeu  dusKccht  bei  dem  Wegfallen  des  gegrntbeiligen  Hechtes  sich  consolidiere, 
also  durch  das  Mittel,  welches  für  unsere  heutigen  Verhältnisse  am  sichersten 
zum  Ziele  führt,  nichts  gewinnen  kann.  Auf  der  einen  Seite  stösst  mau 
nämlich  auf  die  Schwierigkeit,  dass  man  ein  Untergehen  der  dem  bäuer- 
lichen Hechte  gegeuüberstehendeu  rechtlichen  Befugnisse  überhaupt  nicht 
oder  wenigstens  nicht  obue  völlige  Zerstörung  der  Keohtsgrundlagen  denken 
kann,  auf  welchen  das  ganze  Verhältnis  aufgebaut  ist;  es  ist  nicht  mehr 
Bauernrccht,  wenn  die  Gewalt  des  Schulzen  und  des  Grund-  oder  Landes- 
herrn  hinwegfällt;  die  Verhältnisse  die  man  einander  gegenüberstellen  würde, 
sind  nicht  mehr  vergleichbar,  und  deshalb  kann  man  aus  der  rechtlichen 
Lage,  die  nach  dieser  Veränderung  bestünden,  keinen  Rückschluss  thun  auf 


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171 


überhaupt  bestritten  werden  kann,  die  Keime  eines  privaten 
Eigenthumsrechtes  enthalten  sollten.  Nur  das  eine  kann  man 
sicher  behaupten , dass  die  Gcsamnitheit  der  dem  Grundherrn 
zustehenden  Gewalten  privater  und  öffentlichrechtlicher  Natur 
den  Inhalt  desjenigen  Rechtes  abgab,  das  die  spätere  Jurisprudenz 
mit  dem  Namen  eines  Obereigenthumes  bezeichnete. 

Für  die  Eigenthumsfrage  an  den  Colonistengütern  kommen 
wir  nach  all  dem  zunächst  zu  einem  lediglich  negativen 
Ergebnisse,  ähnlich  wie  es  Knapp  für  die  märkischen  Dorf- 
ausiedelungen  ausgesprochen  hat1).  Wir  können  von  keinem 
der  drei  Personen,  die  an  einem  Colonistengute  möglicherweise 
dinglich  berechtigt  sein  können,  behaupten,  dass  sie  Eigenthümer 
in  unserem  Sinne  des  Wortes  seien,  um  wenn  auch  für  die 
juristische  Construction  vielleicht  die  Möglichkeit  besteht,  das 
eine  oder  andere  Recht  in  diesem  Sinne  zu  deuten,  die  that- 
sächlichen  Verhältnisse  zwingen  uns  gewiss  nicht  dazu,  sprechen 
vielmehr  in  mannigfacher  Beziehung  dagegen. 

Bei  dieser  Sachlage  könnte  aber  ein  derartiger  juristisch- 
constructiver  Versuch  nur  dann  gerechtfertigt  erscheinen,  wenn 
die  Forderungen  der  juristischen  Consequenz  und  Logik,  also 
juristisch  technische  Gründe  ein  solches  immerhin  etwas  gewalt- 
eten rechtlichen  Bestand  vor  dieser  Metamorphose.  — Auf  der  anderen 
Seite  sehen  wir  wirklich  ein  Aufleben  gewisser  rechtlicher  Befugnisse  bei 
dem  Schulzen  oder  I.andesherrn,  wenn  das  Kecht  des  Bauern  erlischt.  Aber 
wenn  da  das  Grundstück  in  die  freie  Verfügungsgewalt  des  Landesherrn 
zurückfallt,  oder  wenn  der  ächultheiss  seiner  Stellung  als  Colonisator  gemäss 
es  einem  neuen  Besitzer  zuweist  — auch  wenn  der  Dorfherr  der  späteren 
Zeit  cs  für  sich  selbst  zurückbehält,  und  in  anderen  ähnlichen  Fällen : liegt 
darin  ein  Aufleben  eines  bisher  schlummernden  Eigenthuines  oder  schlecht- 
hin die  Bethätigung  ihrer  öfl’entlichrechtlichen  Gewalt? 

')  Die  Bauernbefreiung  und  der  Ursprung  der  Landarbeiter  in  den 
älteren  Theilen  Preussens  1887  I S.  36.  Nach  seiner  Auffassung  ist  die 
Frage,  wer  Eigentümer  sei,  gar  nicht  aufztiwerfen,  daher  auch  nicht  zu  be- 
antworten: „Der  Markgraf  war  so  weuig  Eigenthümer  des  ganzen  Landes, 
wie  es  heute  ein  Landesherr  ist:  er  hatte  ein  Herrschaftsverhältnis,  aber 
Dicht  das  im  Eigenthume  liegende,  zum  Lande.  Die  Grossen  trugen  das 
Land  zu  Lehen,  was  auch  wieder  nicht  Eigenthum  ist.  Der  Bauer  war 
seinerseits  meistens  nur  belohnt,  es  genügte  ihm,  dass  die  Nutzung  aufseine 
Nachkommen  übergieng,  und  der  Grundherr  dachte  nur  an  deu  Einfluss, 

den  ihm  das  Recht  der  Überwachung  dieser  Erbfolge  sicherte Für 

die  grosse  Masse  des  Bodens  . . .,  worauf  Bauern  sassen,  die  einen  Grund- 
herrn über  sich  hatten,  war  der  Begriff  des  Eigenthums  nicht  vorhanden; 
wie  es  ja  eine  bekannte  Erscheinung  ist,  das  Grundstücke  nicht  immer  und 
nicht  überall  gerade  in  der  Form  des  Eigenthums  besessen  werden.“ 


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172 


eamoH  Vorgehen  mit  absoluter  und  unabweisbarer  Nothwendig- 
keit  verlangten,  oder  concret  gesprochen,  wenn  jede  Sache,  die 
in  der  Gesammtheit  ihrer  rechtlichen  Beziehungen  einer  recht- 
lichen Beherrschung  unterstellt  sein  soll,  nothwendig  in  irgend 
jemandes  Eigenthume  stehen  muss. 

Mag  nun  die  Richtigkeit  dieses  letzeren  Satzes  unseren 
romanistisch-modemen  Rechtsanschauungen1) geläufig  und  plausibel 
erscheinen , so  ist  es  doch  gewiss  begründet  und  nothwendig, 
die  Grundlagen  desselben  und  seine  eigentliche  Bedeutung  zu 
prüfen,  und  zwar  um  so  mehr,  als  die  Betrachtung  der  uns 
vorliegenden  Fälle  uns  trotz  des  eben  gekennzeichneten  negativen 
Ergebnisses  keine  Lücke  in  der  Beherrschung  erscheinen  Hess, 
und  als  andererseits  die  Giltigkeit  und  Richtigkeit  dieses  Satzes 
ganz  allgemein  und  mit  specicller  Beziehung  auf  die  hier  in 
Rede  stehenden  Verhältnisse  von  Einzelnen  auf  das  bestimmteste 
in  Abrede  gestellt  wird1). 

Dabei  handelt  es  sich  zunächst  natnrgcmäss  um  den  Begriff 
des  Eigenthumcs  selbst,  welches  die  moderne  Jurisprudenz  im 
Anschlüsse  an  die  roraanistische  Lehre  als  die  principielle  All- 
hcrrschaft  über  eine  Sache  zu  kennzeichnen  gewohnt  ist,  die 
zwar  Beschränkungen  durch  fremde  Rechte  oder  durch  allgemeine 
staatliche  Bestimmungen  mit  ihrem  Wesen  ganz  wohl  verträgt, 
bei  aller  Beschränkung  im  einzelnen  aber  immer  die  Kraft  und 
das  Bestreben  in  sich  besitzt,  mit  dem  Fallen  oder  Zurückweichen 
solcher  Schranken  wieder  zu  möglichster  Unumschränktheit  und 
Allseitigkeit  sich  zu  erweitern  und  auszubreiten*). 

’)  vergl.  zunächst  die  oben  S.  161  und  171  Anm.  1 abgedruckten  Aus- 
führungen von  Droysen  und  Knapp. 

•)  vergl.  z.  B.  J hering,  Der  Zweck  im  Rechte  I S.  519. 

3)  In  diesem  Sinne  detiniren:  Windscheid  Pandekten  6.  Auflage 
I 5ö9  fl'. : Dass  jemandem  eine  Sache  dem  Rechte  nach  eigen  ist,  will  sagen, 
dass  sein  Wille  für  sie  entscheidend  ist  in  der  Gesammtheit  ihrer  Be- 
ziehungen . . . Aber  man  darf  nicht  sagen,  dass  das  Eigenthum  aus  einer 
Summe  einzelner  Befugnisse  bestehe,  dass  es  eine  Verbindung  einzelner  Be- 
fugnisse sei.  Das  Eigenthum  ist  die  Fülle  des  Rechtes  an  der  Sache,  and 
die  einzelnen  in  ihm  za  unterscheidenden  Befugnisse  sind  nur  Äusserungen 
und  Manifestationen  dieser  Fülle.  Das  Eigenthnm  ist  schrankenlos 
(es  ist  die  Negation  der  Beschränkung);  aber  es  verträgt  Be- 
schränkungen ....  Die  Eigcnthnmsbeschränknngen  sind  doppelter  Art: 
Entweder  beruhen  sie  auf  einer  allgemeinen  Rechtsregel  oder  auf  dem  er- 
worbenen Rechte  eines  Dritten.  — 

Arndts,  Pandekten  12.  Auflage  § 130.  Das  Eigenthum  ist  seinem 
Grundbegriffe  nach  das  einem  Subjecte  zustehende  Recht  vollkommener 


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173 


So  nimmt  die  Definition  des  Eigenthumsbegriffes  zwei  wesent- 
liche und  einander  ergänzende  Momente  in  sich  auf: 

Zunächst  die  Tendenz  des  Rechtes  nach  möglichster  All- 
gemeinheit, die  principielle  Unbeschränktheit  desselben,  die  ihren 
Ausdruck  findet  in  der  Annahme , dass  dem  Eigenthümer 
jedwede  rechtliche  und  factische  Verfügungsgewalt  zusteht,  so- 
weit nicht  besondere  Umstände  es  in  concreto  verhindern. 

Auf  der  anderen  Seite  den  Hinweis  auf  die  Möglichkeit 
von  gewissen  Beschränkungen , die  wiederum  von  zweierlei  Art 
sein  können.  Die  eine  Gruppe  hat  ihren  Grund  in  bestimmten 
dinglichen  Rechten,  welche  dritten  Personen  an  der  fremden 
Sache  zustehen  und  die,  in  so  weit  sie  diesen  eine  rechtliche 
Ingerenz  einräumen,  dem  Eigenthümer  gewisse  Schranken  auf- 
erlegen. Die  andere  (Truppe  *)  ist  unmittelbar  auf  gesetzliche 
Bestimmungen  zurückzuführen,  indem  diese  gewisse  Kategorien 
rechtlicher  Befugnisse  dem  Kreise  der  privatrechtlichen  Dis- 


Herrschaft  über  eine  körperliche  Sache , vermöge  dessen  man  sagen  kann, 
dass  die  Sache  im  Ganzen  dieser  Person  gehöre,  ihrem  Willen  schlechthin  und 
total  unterworfen  Bei“  — ein  Hecht,  das  seinem  Begriffe  nach  eine  Beschränkung 
durch  Rechte  anderer  oder  allgemeine  Rechtsvorschriften  nicht  ausschliesst, 
das  aber  „sowie  und  soweit  solche  das  Kigenthum  beschränkende  Rechte 
anderer  wieder  aufhöreu  ....  vou  selbst  wieder  in  seiner  Unbegrenztheit 
und  Ausschliesslichkeit  hervortritt.“ 

Gerber,  Deutsches  Privatrecht  15.  Auflage  § 78  kennzeichnet  das 
Eigentbum  als  „das  Recht  der  principiell  totalen  Verfügungsgewalt  über 
Sachen.“ 

Stobbe,  Handbuch  des  deutschen  Privatrechts  2.  Auflage  II  § 78 
„Das  Eigenthum  ist  die  oberste  rechtliche  Herrschaft  über  eine  Sache,  aus 
welcher  andere  Rechte  an  ihr  abgeleitet  sind“,  wozu  dann  bemerkt  wird, 
dass  „es  seinem  Wesen  nicht  widerspricht,  dass  über  dieselbe  Sache  auch 
anderen  Personen  als  dem  Eigenthümer  Rechte  zustehen.“ 

Entgegen  namentlich  Windscheid,  der  das  Moment  der  Schranken- 
losigkeit entschieden  utriert,  definiert  Hartmann  (Rechte  an  eigener  Sache, 
Untersuchungen  zur  Lehre  vom  Eigenthum  in  den  Jahrb.  für  Dogmatik  XVII 
S.  129)  : „Begriffswesentlich  ist  das  Eigenthum  . . die  an  sich  meist- um- 
fassende, oberste  privatrechtliche  Macht  und  Herrschaft,  welche  das 
Recht  . . überhaupt  anerkannte,  ...  sie  ist  jedoch  keineswegs  eine  unbe- 
grenzte Macht.“  Endlich 

Randa,  Das  Eigenthumsrecht  I § 1:  Das  Eigentbum  ist  die  durch  das 
objective  Recht  gewährte  und  durch  dasselbe  begrenzte  rechtliche  Möglich- 
keit relativ  vollster,  unmittelbarer  Herrschaft  über  eine  körperliche  Sache. 

')  vergl  hiezu  Jhering,  Geist  des  röm.  Rechtes  IIS.  141  Anm.  165 
(2.  Auflage). 


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174 


poaition  entziehen ; namentlich  das  Immobiliargüterrecht  musste 
Beschränkungen  dieser  Art  reichlich  erzeugen ')  Dabei  werden 
in  der  Regel  nur  diejenigen  Rechte  genannt  , die  insoferne  an 
der  Grenze  zwischen  öffentlichen  und  privatreehtlichen  Befugnissen 
stehen,  als  sie  ihrer  Natur  nach  beiden  Rcchtsgebieten  angehören 
könnten,  und  nur  in  concreto  wegen  gewisser  Interessen  derGesammt- 
heit  der  privaten  Verfügungsgewalt  des  Einzelnen  entzogen  sind  *). 
Von  denjenigen  Befugnissen,  die  unzweifelhaft  öffentlichrechtlichen 
Characters  sind,  wird  dabei  gewöhnlich  nicht  erst  gesprochen, 
denn  es  bedarf  bei  der  uns  geläufigen  Scheidung  der  beiden  Ge- 
biete wohl  keiner  besonderen  Betonung,  dass  das  Eigenthum  als 
ein  Institut  des  Privatrechtes  keine  Befugnisse  öffentlicher  Natur 
in  sich  schliesst  *). 

Wenn  wir  für  unsere  Zwecke  unser  Augenmerk  gerade  auf 
diese  im  Eigenthume  nicht  enthaltenen  öffentlichrechtlichen  Be- 
fugnisse legen,  so  drängt  sich  zunächst  die  Frage  auf,  ob  unter 
ihnen  sich  auch  solche  finden,  die  man  als  dingliche  Rechte  im 
technischen  Sinne  bezeichnen  darf. 

Denkt  man  hiebei  nur  an  die  staatlichen  Rechte,  wie  Gerichts- 
oder Finanzhoheit,  und  üherhaupt  nur  an  diejenigen  Staatshoheits- 
rechte, die  sich  mehr  als  eine  Herrschaft  über  die  auf  dem  staat- 
lichen Territorium  wohnenden  Menschen,  und  nicht  als  eine 
Herrschaft  über  das  letztere  selbst  charactrisieren,  so  wird  man 
diese  Frage  entschieden  zu  verneinen  geneigt  sein.  Und  auch 
das  viel  umstrittene  Rechtsverhältnis  des  Staates  zu  seinem  Ge- 
biete wird  in  seiner  Allgemeinheit  vielleicht  noch  keine  Hand- 
habe für  die  Beantwortung  der  Frage  im  entgegengesetzten 
Sinne  geben,  wenn  auch  einzelne  der  darüber  verfochtenen  An- 
sichten dem  nicht  mehr  so  unbedingt  entgegenstehen a). 

Aber  unter  allen  Umständen  wird  zuzugeben  sein,  dass  dem 
Staate  als  solchem  über  den  seinem  Eigenthume  unterworfenen 
Grund  und  Boden  eine  Reihe  rechtlicher  Befugnisse  zustehen, 
die  sich  ihrem  Wesen  nach  von  privatrechtlichen  Befugnissen 


')  J bering,  Jahrb.  f.  Dogmatik  VI  S.  83  ff. 

*)  Die  Definition  Hartmann’s  (vcrgl.  S.  173  Anm.)  hebt  auch  dieses 
Moment  besonders  hervor. 

*)  vergl.  Labaud.  Das  Staatsrecht  des  deutschen  Reiches  I § 20  S.  181 
„Die  Staatsgewalt  ist  ein  (iewaltverhältuis  gegenüber  den  Unterthanen,  ein 
staatsrechtliches  Sachenrecht  gegenüber  dem  Territorium1-,  s.  auch  die  zu- 
gebötige  Anm.  3. 


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175 


in  nichts  unterscheiden,  gleichwohl  aber  dem  Einzelnen  verwehrt 
sind.  Man  denke  nur  z.  B.  au  den  Bau  von  Festungen  und 
Burgen,  Wasserwerken,  Strassen  und  Eisenbahnen  u.  a.  m.,  was 
alles,  rein  sachlich  genommen,  sich  von  Häuserbau  und  ähnlichen 
privaten  Anlagen  doch  nur  dadurch  unterscheidet,  dass  es  mit 
Rücksicht  auf  die  Gesammtheit  der  Machtsphäre  des  Einzelnen 
entzogen  und  der  des  Staates  überwiesen  ist.  Ja  es  lassen  sich 
auch  Fälle  denken,  in  welchen  die  Gebietsabtretung  oder  die 
Gewährung  eines  Nutzungsrechtes  an  einen  fremden  Staat,  mögen 
damit  noch  so  viele  öffentliche  Rechte  concnrrieren,  als  die  Be- 
gründung eines  dinglichen  Rechtes  aufgefasst  werden  können,  zu 
welcher  aus  öffentlichen  Rücksichten  wohl  der  Staat,  nicht  aber 
der  Einzelne  befugt  ist’). 

Es  mag  hier  unerörtert  bleiben,  in  wie  ferne  für  das  Mittel- 
alter  auch  Staatshoheitsrechte,  die  als  Ausfluss  des  Rechtes  an 
dem  Gebiete  erschienen,  unter  einem  ähnlichen  Gesichtspunkte 
gezogen  werden  können  , und  nur  flüchtig  sei  hiezu  bemerkt, 
dass  auch  die  Scheidung  von  Rechten  über  Personen  und  über 
Sachen,  welche  heutzutage  alle  die  bezüglichen  Fragen  sicher 
entscheidet , nicht  unbedingt  auf  mittelalterliche  Verhältnisse 
übertragen  werden  darf,  wo  die  Persönlichkeit  im  juristischen 
Sinne  weiten  Klassen  der  Bevölkerung  in  grösserem  oder  geringerem 
Umfange  fehlte,  und  gewisse  Schichten  derselben  geradezu  als 
Pertinenz  des  Grund  und  Bodens  betrachtet  und  rechtlich  be- 
handelt wurden  *). 

Unabhängig  von  der  Entscheidung  dieser  Frage  ist  aber 
immer  daran  fcstzuhalten,  dass  das  Privateigenthum  trotz  der  in 
ihm  begrifflich  hervorgehobenen  principiellen  Omnipotenz  wenigstens 
in  Beziehung  auf  den  Grund  und  Boden  doch  nicht  ein  wirklich 
unbegrenztes  und  unendliches  Recht  ist8);  vielmehr  kommen 
wir  zu  dem  speciell  für  unsere  Zwecke  wichtigen  Ergebnisse, 


’)  z.  B.  die  Einräumung-  des  Rechtes  der  Benutzung  einer  Baulichkeit 
für  militärische  Zwecke  an  einen  Nachbarstaat. 

*)  vergl.  Heus  ler  Instit.  I § 68. 

*)  vergl.  hiezu  J he  ring,  Geist  des  röm.  Rechtes  II  S.  111  Anm.  165 
(2.  Aufl.);  Zweck  im  Recht  I S.  518  -532;  Hartmann,  a.  a.  0.  S.  130  f. ; 
Rauda,  Eigeuthumsrecht  g 1.  „Das  Eigenthum  ist  so  wenig  als  irgend  ein 
Privatrecht  einejederRücksichtentbundene,  absolute,  schrankenlose  Herrschalt. 


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176 


dass  auch  noch  jenseits  der  im  Eigenthume  gelegenen  (privat- 
rechtlichen) Allgewalt  an  dem  beherrschten  Gute  noch  andere 
dingliche  Rechte  bestehen  können  und  thatsächlich  bestehen,  die 
man  beute  vielleicht  kurzweg  als  öffentliche  bezeichnen  darf. 

So  findet  man,  wenn  man  die  Gesaramthcit  der  rechtlichen 
Beziehungen , welche  an  Grund  und  Boden  bestehen , ins  Auge 
fasst  und  nicht  einseitig  nur  die  daran  bestehendenPrivatrechte 
berücksichtigt,  zwei  einander  ergänzende  und  begrenzende  Rechts- 
kreise, den  Kreis  des  öffentlichen  und  privaten  Rechtes,  unter 
deren  Bann  das  Gut  einer  wirklich  allseitigen  rechtlichen 
Herrschaft  unterworfen  ist,  die  nirgends  eine  Lücke  lässt. 

In  einem  Rechtssysteme,  in  welchem  das  Recht  des  Indi- 
viduums und  seine  privatrechtliche  Macht  in  den  Vordergrund 
gestellt  ist,  und  wo  dem  entsprechend  das  private  Recht  an  dem 
Grund  und  Boden  mit  möglichst  weitem  Umfange  ausgestattet 
ist,  wie  vor  allen  anderen  im  römischen  Rechte,  ist  die  Ver- 
muthung  der  Allseitigkeit  an  den  privaten  Rechtskreis  ge- 
knüpft, und  in  der  Sphäre  des  öffentlichen  Rechtes  sind  nur 
diejenigen  Befugnisse  gelegen , die  nach  dessen  allgemeinen 
Principien  oder  nach  besonderen  gesetzlichen  Bestimmungen  ihr 
zugewiesen  sind.  Im  Zweifel  steht  dann  eine  einzelne  Befugnis 
dem  Träger  des  obersten  Privatrechtes  zu,  und  nur,  was  durch 
besonderen  Rechtsgrund  für  öffentlich  erklärt  ist,  fehlt  diesem 
an  seiner  rechtlichen  Allgewalt;  mithin  tragen  alle  öffentlich- 
rechtlichen  Befugnisse,  da  sie  gleichsam  von  der  Macht  des  Eigen- 
thümers  ausgeschieden  sind,  den  Character  einer  Beschränkung 
des  privaten  Eigenthums  durch  positive,  gesetzliche  Bestimmung. 

Dem  gegenüber  aber  ist  zu  erinnern,  dass  an  der  Universalität 
der  rechtlichen  Beherrschung  eines  Gutes  nichts  geändert  wird, 
wenn  in  einer  nicht  so  individualistisch  ausgestalteten  Rechts- 
ordnung das  Verhältnis  in  der  umgekehrten  Weise  geordnet  ist, 
d.  h.  wenn  die  Vermuthuug  der  Allgemeinheit  nicht  mit  dem 
privaten,  sondern  mit  dem  öffentlichen  Rechtskreise  verbunden 
wird.  Dann  stehen  gedankenmässig  alle  Einzelrechte  bei  dem 
Träger  der  öffentlichrechtlichen  Gewalt,  und  ihm  fehlen  nur 
diejenigen,  die  durch  besondere  Verfügung  an  andere,  z.  B.  an 
Privatberechtigte  übertragen  sind.  Mögen  dann  alle  diese  öffent- 
lichen und  privaten  Rechte  im  einzelnen  Falle  in  der  Hand  eines 
Einzigen  liegen,  oder  unter  eine  Mehrheit  von  Berechtigten  ver- 
theilt seien:  immer  erfassen  sie  das  Gut  mit  einer  Totalität,  die 
der  des  römischen  Eigentumes  in  nichts  nachsteht,  ja  über 


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177 


dieses  weit  hinausreicht  ’),  weil  sie  eben  neben  allen  privaten 
auch  alle  öffentlichrechllichen  Befugnisse  in  sich  schliesst. 

Liegt  dann  in  irgend  einer  Weise  eine  Theilung  der  Ge- 
walten vor,  so  müssen  aber  selbst  dem  etwaigen  Besitzer  der 
obersten  privatrechtlichen  Macht  nicht  alle  privatrechtlichen 
Befugnisse  zustehen , vielmehr  wird  in  sehr  vielen  Fällen  *)  sein 
Recht  ein  wesentlich  beschränktes  sein , dem  das  Bestreben, 
über  diese  Schranken  hinaus  zu  dringen , völlig  mangelt  — 
ein  Recht,  das  gewiss  nicht  Eigenthum  im  modernen  Sinne 
des  Wortes  ist  *).  Aber  auch  der  Träger  der  öffentlichen  Be- 
fugnisse kann  nicht  als  Eigenthümer  in  unserem  Sinne  gelten, 
weil  nach  den  unserer  Rechtssprache  geläufigen  Begriffen  nur 
das  mit  der  Universalitätstendenz  ausgestattete  private  ding- 
liche Recht  als  Eigenthum  bezeichnet  wird.  Und  wenn  auch 
die  Möglichkeit  vorhanden  ist,  dass  in  der  weiteren,  private  wie 
öffentliche  Befugnisse  umfassenden  Rechtseinheit,  die  jenem  zu- 
kommt, die  Elemente  des  Privateigenthumes  sämmtlich  zur  Be- 
thätigung  gelangen  können,  so  müssen  sie  doch  nicht  nothwendig 
als  selbstständige,  vielleicht  untergeordnete  Rechtseinheit  in  dem 
weiteren  Begriffe  enthalten  sein ; sie  können  vielmohr  unter  Um- 
ständen ebenso  gut  unverbunden  und  nur  als  Elemente  darin  ge- 
legen sein,  und  dies  muss  immer  dann  der  Fall  sein,  wenn  in 
der  positiven  Entwickelung  des  Rechtes  die  Voraussetzungen 
und  Bedingungen  nicht  erfüllt  wurden , welche  die  Zusammen- 
fassung gerade  dieser  Gruppe  von  Befugnissen  zu  einer  im  positiven 
Rechte  anerkannten  Rechtseinheit  nothwendig  gemacht  oder  nahe 
gelegt  hätten. 

Berücksichtigt  man  zu  all  dem,  dass  die  hier  aus  unserem 
gegenwärtigen  Rechte  schlechthin  übernommene  und  nicht  näher 
begründete  oder  geprüfte  Scheidung  von  privaten  und  öffent- 
lichen Rechten  gewiss  keine  absolut  und  unbedingt  gütige  ist. 


’)  vergl.  Gierke,  Genossenschaftsrecht  II  141. 

*)  Auch  bei  dieser  rechtlichen  Grundlage  ist  natürlich  die  Möglichkeit 
nicht  ausgeschlossen,  dass  aus  dem  weiteren  Kreise  dieser  herrschaftlichen 
Gewalt  heraus  an  einen  Einzelnen  der  Inbegriff  aller  privatrechtlichen  Be- 
fugnisse positiv  übertragen  und  dadurch  Eigenthum  begründet  wurde. 

*)  Darin,  dass  auch  dieses  Kecht  die  Tendenz  hat,  besonderen  Be- 
schränkungen gegenüber  sich  auf  den  ursprünglichen  Umfang  zu  erweitern, 
kann  man  keinen  Grand  für  die  Qualification  als  Eigenthnm  erblicken,  denn 
Elasticität  in  diesem  Sinne  besitzt  jedes  dingliche,  ja  überhaupt  jedes  Kecht; 
vergl.  auch  Hartmann  a.  a.  O.  S.  84  und  130. 

v.  Schwind,  Krblpihen.  12 


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178 


dass  sie  vielmehr  nach  den  Verhältnissen  und  Anschauungen 
der  verschiedenen  Zeiten  vielfach  geschwankt  hat,  und  die  Ab- 
grenzung der  verschiedenen  Rechtskreise  auch  unter  anderen 
Gesichtspunkten  erfolgte  und  erfolgen  kann '),  so  ist  theoretisch 
die  Möglichkeit  gewiss  nicht  zu  bestreiten,  dass  Grund  und 
Boden  durch  eine  Mehrheit  von  Berechtigten  in  der  Totalität 
seiner  Beziehungen  beherrscht  werden  kann,  ohne  dass  irgend 
einem  derselben  Eigenthum  in  unserem  Sinne  zustehe. 

Wo  aber  sollte  zu  einer  solchen,  die  publicistischen  Elemente 
in  den  Vordergrund  stellenden  Auffassung,  wie  sie  bei  diesen 
theoretischen  Erwägungen  vorausgesetzt  wurde,  mehr  Anlass  ge- 
wesen sein,  als  in  den  deutschen  Colonisationsgebieten  zur  Zeit 
ihrer  Besiedelung  mit  holländischen  und  deutschen  Bauern. 

Passen  wir  zunächst  die  Verhältnisse  ins  Auge,  wie  sie  in 
den  Colonisationsgebieten  vor  ihrer  holländisch -deutschen  Be- 
siedelung bestanden  haben.  Zum  Theile  waren  es  wüste  und  un- 
cultiviert  daliegende,  unbewohnbare  Landstriche,  an  denen  niemand 
ein  Recht  in  Anspruch  nahm,  und  über  die  der  Bischof  oder 
Landesherr  (Markgraf,  Herzog  etc.)  wenigstens  factisch  unbe- 
stritten in  jeder  Weise  verfugen  konnte,  bezüglich  deren  er 
sich  auch  kraft  seiner  staatlichen  oder  kirchlichen  Stellung 
unbedingt  für  berechtigt  hielt,  völlig  frei  und  nach  Gutdünken 
zu  disponieren.  Zum  anderen  Theile  waren  es  Districte , die 
von  einer  wenig  zahlreichen  und  nahezu  für  rechtlos  geltenden 
slavischen  Bevölkerung  bewohnt  wurden.  Auch  hier  zweifelte 
man  nicht  an  der  rechtlichen  Allgewalt  des  Gebietsherrn,  der 
vielfach  in  der  Vertreibung  der  Slaven  ein  durch  die  politischen 
Verhältnisse  gebotenes,  auch  gottgefälliges  Werk  sah,  und  dem 
es  dann  naturgemäss  zukam,  bei  der  neuen  Ordnung  der  Dinge 
alles  nach  seinem  Gutdünken  einzurichten  und  zu  regeln,  wie 
es  seine  Machtstellung  und  die  concreten  Verhältnisse  des  einzelnen 
Palles  erforderten  oder  wünschenswerth  machten. 

So  lagen  in  den  Händen  des  Gebietsherrn  alle  denkbaren 
territorialen  Rechte  vereinigt;  er  konnte  in  der  Regel  ebenso 
gut  privatrechtlich  und  staatsrechtlich  über  den  Grund  und 
Boden  verfügen,  wie  ihm  die  Gerichtsbarkeit  und  alle  Staats- 
hoheit über  die  Bevölkerung  und  das  Gebiet  zustand. 


')  vergl.  insbesondere  Heusler,  Institntionen  1,  1.  Buch  2.  Capital. 


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179 


Auf  dieser  rechtlichen  und  factischen  Grundlage  sind  die 
Dorfcolonien  ins  Leben  gerufen  worden.  Dabei  erfahren  wir, 
wie  oben  an  der  Hand  der  Colonisationsprivilegien  gezeigt  wurde, 
dass  der  Grundherr  bei  dem  Besiedelungsacte  aus  der  Fülle 
seiner  Machtbefugnisse  heraus  dem  Schultheissen  ein  bestimmtes 
festgesetztes  Muss  von  persönlichen  (obrigkeitlichen)  und  ding- 
lichen Befugnissen , und  mittelbar  oder  unmittelbar  den  Bauern 
das  Nutzungsrecht  und  die  Verfügungsgewalt  an  ihren  Hufen 
zuwies,  und  allen  dafür  bestimmte  Verpflichtungen  auferlegte.  Und 
wie  nun  in  dem  obersten  herrschaftlichen  Rechte  des  Grund- 
herrn private  und  öffentliche  Befugnisse  sich  ungesondert  neben 
einander  fanden  und  sich  vielfach  durchkreuzten,  so  konnten 
auch  in  den  davon  ausgeschiedenen  und  abgeleiteten  Rechten, 
(namentlich  in  dem  Rechte  des  Schulzen,)  verschiedenartige  Be- 
fugnisse in  enger  Verbindung  beisammen  sein.  Auch  fehlte  es 
an  einem  Anlasse  besonders  hervorzuheben,  dass  der  vielleicht 
sehr  geringe  Rest  an  persönlichen  und  sachlichen  Befugnissen, 
der  bei  dieser  Vertheilung  der  Gewalten  weder  an  den  Dorf- 
schultheiss  noch  an  die  Bauern  übertragen  wurde,  bei  dem 
Grundherrn  verblieb , und  dass  dessen  herrschaftliches  Recht  in 
allen  eventuellen  Lücken  zu  Tage  treten  und  sich  Geltung  ver- 
schaffen konnte,  die  zwischen  oder  neben  den  Rechten  der  beiden 
anderen  Berechtigten  freiblieben  oder  entstanden.  Brachte  doch 
schon  die  prädominierende  Stellung  der  Grundherrn  allein  es  mit 
sich,  dass  alle  etwa  auftauchenden  zweifelhaften  Fragen  zu  ihren 
Gunsten  entschieden  werden  mussten,  und  sonach  überall  ihr 
Einfluss  nothwendig  zur  Geltung  kam. 

Sicher  aber  fehlt  es  an  jedem  Grunde  für  die  Annahme, 
dass  irgend  einem  der  auf  diese  Weise  mit  bestimmten  Grenzen 
ins  Leben  gerufeneu  Rechte  die  Tendenz  nach  Erweiterung  über 
diese  Grenzen  hinaus  innegewohnt  hätte1);  vielmehr  hatten  all 
diese  Rechte  genau  den  Umfang,  wie  er  ihnen  bei  ihrer  Begrün- 
dung zugemessen  wurde,  und  nur  innerhalb  desselben  kam, 
wie  überhaupt  jedem,  so  auch  diesen  Rechten  die  Fähigkeit 
zu,  mit  dem  Fallen  irgend  welcher  das  Recht  vorübergehend 
einengender,  besonderer  Beschränkungen  wieder  bis  zu  dem  ur- 
sprünglichen Ausmasse  sich  zu  erweitern.  Eine  Veränderung  in 


')  Damit  soll  nicht  gesagt  sein , dass  nicht  im  Leben  thatsäcblich  das 
Bestreben  Einzelner  dahin  gieng,  (eventuell  auch  auf  Kosten  anderer)  das 
eigene  Recht  zu  erweitern. 

12» 


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180 


dieser  so  festgesetzten  Vertheilung  der  privaten  und  öffentlichen 
Befugnisse  trat  nur  dann  ein , wenn  etwa  durch  den  völligen 
Untergang  des  Rechtes  des  einen  oder  des  anderen  Theiles  das 
Recht  des  bezüglichen  Autors,  in  diesem  Punkte  von  seiner  Be- 
schränkung befreit , wieder  in  weiterem  Umfange  zur  Be- 
thätigung  kam.  So  mochte  bei  Erledigung  einer  Bauernstelle, 
wenn  nichts  anderes  verfügt  war,  der  Schultheiss  oder  auch  un- 
mittelbar der  Grundherr  zu  rechtlichen  Verfügungen  über  die- 
selben in  dieser  oder  jener  Art  berufen  sein  ’). 

Unter  allen  Umständen  aber  dürfte  die  Behauptung  gerecht- 
fertigt erscheinen,  dass  bei  dieser  Ordnung  der  Dinge  und  Ver- 
theilung der  rechtlichen  Gewalten  die  Voraussetzungen  vollends 
fehlten,  welche  die  Zusammenfassung  gerade  aller  privatrecht- 
lichen Befugnisse  zu  einer  rechtlichen  Einheit,  also  die  Entstehung 
eines  Rechtsbegriffes  nach  Art  unseres  Eigcnthumsbegriffes  nahe- 
gelegt oder  auch  nur  begreiHich  gemacht  hätten. 

Die  Frage  endlich,  ob  man  das  Recht  der  Bauern  an  ihren 
Hufen,  als  dasjenige  unter  den  actuellen  Rechten,  welches  vor- 
wiegend privaten  Inhalt  hat  und  so  anderen  Grundbesitzrechten 
am  nächsten  verwandt  ist,  mit  dem  Namen  eines  dominium  utile 
oder  germanicum,  eines  „deutschrechtlichen  Eigenthumes“  be- 
zeichnen, oder  ob  man  bei  dem  älteren,  freilich  auch  wieder  viel- 
deutigen Ausdrucke  Erbzinsrechte  bleiben  solle,  und  ebenso  die 
Frage,  ob  man  das  oberste  Recht  über  die  Güter,  das  Recht  des 
Grundherrn  ein  dominium  directum  oder  ein  Obereigenthum 
taufen  solle,  ist  zum  grössten  Theile  Sache  des  individuellen  Ge- 
schmackes. Berücksichtigt  man  für  die  erste  Frage,  dass  die 
mittelalterlichen  Grundbesitzverhältuisse  in  Deutschland  überall 
von  den  Rechten  der  Gemeinde  oder  der  Gcsammtheit  mit  be- 
stimmt wurden,  und  dass  in  Folge  dessen  selbst  dasjenige  Recht 
an  Grund  und  Boden,  das  man  unbedenklich  als  Eigenthum  be- 
zeichnen kann,  auf  deutschem  Boden  in  der  Regel  nicht  zu  jener 
extremen  Ausgestaltung  gelangte,  die  für  das  römische  Eigen- 
thum characteristisch  ist,  vielmehr  mit  verschiedenem  Inhalte 
und  mit  mannigfaltigen  Beschränkungen  bestehen  konnte,  so 

')  Vergl.  in  dieser  Beziehung  die  Ausführungen  Wohlbrück’s 
a.  a.  O.  S.  370  ff.  über  das  rechtliche  Schicksal  derjenigen  Erb-  und  Lchen- 
schultiseien,  die  von  dem  Landesherrn  als  Lehen  an  Vasallen  übergeben 
worden  waren,  und  die  dann  sobald  die  zuuächst  berechtigten  Erbschulzen 
ausstarben,  häufig  von  den  darüber  gestellten  Leheusträgern  eingezogen 
w urden. 


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möchte  man  vielleicht  geneigt  sein , auch  hier  den  Träger  des  um- 
fassendsten Privatrechtes  als  einen  „Eigenthümer  im  deutschrecht- 
lichen Sinne"  zu  bezeichnen.  Ob  diese  Einschränkungen  iu  concreto 
noch  etwas  weiter  reichten  als  sonst,  das  könnte  ja  nicht  mehr  von  so 
wesentlichem  Belange  sein.  Demgegenüber  ist  aber  zu  bedenken, 
dass  trotz  der  durch  die  allgemeinen  Interessen  oft  bedingten 
Beschränkungen  das,  was  der  damaligen  Zeit  als  Eigen  erschien, 
doch  weit  selbstständiger  und  unabhängiger  war  als  das  Recht 
unserer  bäuerlichen  Colonistcn,  und  wenn  man  schon  damals 
sich  veranlasst  sali,  Eigen  und  Zinsgut  einander  gegenüber- 
zuatellen,  so  fehlt  doch  für  die  heutige  Zeit  um  so  mehr  jeder 
Grund,  in  der  sprachlichen  Bezeichnung  die  rechtlichen  Ver- 
schiedenheiten zu  verwischen  und  eine  Nomenclatur  zu  wählen, 
die  zur  Klärung  der  juristischen  Begriffe  gewiss  nicht  beitragen 
kann.  Ohne  Gefahr  mag  man  dagegen  das  Recht  der  Grundherrn 
als  ein  Obereigenthum  bezeichnen;  denn  dass  dieser  Ausdruck 
die  verschiedenartigsten,  herrschaftlichen  und  privatrechtlichen 
Verhältnisse  umfasst,  ist  zu  sehr  bekannt,  als  dass  man  aus  dem 
gewählten  Worte  eine  bestimmte,  irreführende  Deutung  abzu- 
leiten geneigt  sein  könnte.  Immer  aber  muss  es  für  die  juristische 
Kritik  feststehen,  dass,  wie  oben  ausgeführt  wurde,  weder  das 
Recht  des  Grundherrn  noch  das  der  Bauern  in  unserem  Sinne 
Eigenthum  ist,  weil  beiden  die  Merkmale  fehlen,  welche  nach 
dem  heute  allgemeinen  juristischen  Sprachgebrauchc  dem  Eigcn- 
thumsbegriffe  wesentlich  sind. 

Damit  sind  wir  bei  demselben  Ergebnisse  wieder  augelangt, 
zu  dem  wir  oben  aus  der  unmittelbaren  Betrachtung  der  Ver- 
hältnisse gekommen  waren.  Auch  die  Forderungen  der  juris- 
tischen Construction  sind  mit  den  dort  gewonnenen  Resultaten 
in  Einklang  und  verlangen  nicht  eine  gewaltsame  Umdeutung 
und  Umformung  der  im  Leben  erzeugten  rechtlichen  Gebilde. 
Zugleich  aber  dürfte  die  Bezeichnung  des  bäuerlichen  Rechtes 
als  einer  Form  der  Erbleihen  aus  sachlichen  Gründen,  wie  aus 
dem  Sprachgebrauch  der  damaligen  Zeit  gerechtfertigt  erscheinen. 

Zum  Schlüsse  sei  noch  bemerkt,  dass  die  eben  betonte  enge  Ver- 
bindung von  privaten  und  öffentlichen  Befugnissen  zu  einem  einheit- 
lichen Rechtsganzen  auch  in  gewissem  Sinne  zur  Erklärung  mancher 
Eigentümlichkeiten  des  späteren  rechtlichen  Entwickelungsganges 
beizutragen  geeignet  ist.  Enthielt  nämlich  der  eine  Herrschafts  begriff 
politische  und  private  Rechtsverhältnisse  ungesondert  beisammen,  so 
ist  es  auch  begreiflich,  dass  im  ferneren  Verlaufe  die  Kräftigung  oder 


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Schwächung  des  einen  oder  anderen  Berechtigten  in  politischer 
Beziehung  leicht  auch  eine  Vermehrung  oder  Verminderung  seiner 
privaten  Befugnisse  zur  Folge  haben  konnte  — leichter 
zum  mindesten,  als  wenn  die  beiden  Gebiete  des  öffentlichen  und 
privaten  Rechtes  wie  in  unseren  Zeiten  als  toto  genere  verschieden 
strenge  aus  einander  gehalten  gewesen  wären.  Die  Zukunft  auf 
politischem  Gebiete  gehörte  damals  von  allen  drei  betheiligten 
Parteien  gewiss  am  wenigsten  dem  Bauernstände.  Die  Landes- 
herrn und  vielleicht  noch  mehr  die  Herrn  der  einzelnen  Dörfer, 
die  namentlich  dann  mächtigen  Einfluss  gewannen,  wenn  die 
Schulthcissenrechte  und  die  Leitung  (Herrschaft)  über  die  Dörfer 
auf  Rittergeschlechter  übergieng,  die  durch  bedeutenden  Grund- 
besitz besonders  mächtig  waren,  gewannen  in  der  Folgezeit  ein 
immer  grösseres  Mass  von  Ansehen,  Einfluss  und  herrschaftlichem 
Rechte,  und  dem  entsprach  auf  der  anderen  Seite  ein  immer 
beträchtlicheres  Zurücktreten  der  persönlichen  und  freiheitlichen, 
aber  auch  der  privatrechtlichen  Maehtsphäre  der  Bauernschaft '). 
Der  ganze  Werdeprocess  findet  seinen  Abschluss  in  der  Aus- 
bildung einer  kräftigen,  mächtig  entfalteten  Guts-  und  Grund- 
herrschaft mit  patrimonialer  Gerichtsbarkeit  und  so  weit  reichenden 
Hoheits-  und  Herrschaftsrechten,  dass  man  von  dem  ursprüng- 
lich freien  Bauernrechte  nicht  die  Spur  mehr  ausfindig  machen 
kann  ’). 

Überblickt  man  die  ganze  Entwickelung,  die  von  der  vollsten 
Freiheit  einer  auf  Grund  frei  vereinbarter  Verträge  geschaffenen 
Rechtsordnung  ihren  Ausgang  nahm,  um  mit  dem  geraden  Wider- 
spiele von  all  dem  zu  schliesscn,  so  wird  mau  ein  gewisses  Be- 
fremden nicht  unterdrücken  können.  Gar  mannigfach  und  ge- 


')  Dies  zeigt  sich  deutlich  namentlich  zur  Zeit  der  Reception  des 
römischen  Rechtes,  welche  bei  dem  Bemühen,  die  bäuerlichen  Rechtsver- 
hältnisse in  römische  Formen  zu  bringen,  vielfach  das  bäuerliche  Recht 
schmälerte  und  Vermuthungen  zu  Ungunsteu  der  Bauern  schuf. 

*)  vergl.  dazu  inBb.  L,  Korn,  Geschichte  der  bäuerlichen  Rechtsver- 
hältnisse in  der  Mark  Brandenburg,  Zeitschrift  für  Rcchtsgeschichte  11.  Bd. 
(1873)  insb.  S.  10  ff.;  Boruhak,  Entstehung  des  Rittergutsbesitzes  in  den 
Ländern  östlich  der  Elbe,  in  den  Forschungen  zur  Deutschen  Geschichte, 
20.  Bd.  (1886)  S.  12ö  f. ; lleitzen;  der  Boden  des  preussischen  Staates  1 
S.  366  ff.,  Cod.  dipl.  Sil.1V  Einl.  S.  lili  ff. ; Kitzseh.  der  holsteinische  Adel 
im  XII.  Jahrh.  in  der  allg.  Monatsschrift  für  Wissenschaft  und  Litteratur, 
Braunschweig  1851  S.  366  ff.;  Christian  Meyer,  zur  Gesoh.  d.  d.  Bauern- 
standes, Freuss.  Jahrbücher  42.  Bd.  u.  a. 


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waltig  mussten  die  Zeitverhältnisse  und  Zeitströmungen  sein,  die  es 
ermöglichten,  dass  der  einstige  Hort  der  Freiheit,  das  deutsche 
Colonistenrecht,  durch  einen  allmählichen  Entwickelungsgang  alle 
freiheitlichen  Momente  von  sich  abstreifte  und  in  einer  auf  ge- 
minderter Freiheit  und  geminderter  Freizügigkeit  aufgebauten 
Ordnung  des  bäuerlichen  Hechtes  seinen  Abschluss  fand,  wie  es 
aus  den  strengsten  hofrechtlichen  Abhängigkeitsformen  nicht 
strenger  hätte  erwachsen  können. 

Und  doch,  wenn  wir  genauer  Zusehen,  lag  schon  in  den 
ersten  Ansätzen  ein  schwacher  Keim  für  die  spätere  Entwicke- 
lung. Zwar  bildeten  die  privatrechtlichen  Bestimmungen  der 
Colonistcnverträge  einen  nicht  unwesentlichen  Theil  ihres  Inhaltes. 
Aber  das  Schwergewicht  des  ganzen  Unternehmens  lag  schon 
in  dem  ersten  Vertrage  des  Erzbischofes  Friedrich  und  noch  aus- 
gesprochener bei  den  unmittelbar  folgenden  Coloniengründungen 
auf  den  herrschaftlichen  Verhältnissen,  die  ihre  Ordnung  und 
Regelung  erheischten  und  auch  bald  in  der  umfassendsten  Weise 
gefunden  haben.  Und  so  erwiesen  auch  sie  und  nicht  die  Privat- 
rechtsverhältnisse sich  fernerhin  als  lebenskräftig  und  zu  einer 
weiteren,  inneren  wie  äusseren  Machtentfaltung  geeignet,  und  die 
Entwickelung,  zu  der  sie  gelangten,  brachte  mit  der  Ausbildung 
des  die  Dorfverfassung  bestimmenden  herrschaftlichen  Rechtes 
auch  eine  Erweiterung  und  Erstarkung  der  herrschaftlichen  Rechts- 
Sphäre  mit  sich  — natürlich  nur  auf  Kosten  der  bäuerlichen 
Freiheit. 


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E.  Gruhn's  Bucbdruckerei,  Warmhruon. 


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VNJYr‘-  OF  - -ITC]  f, 

JAN  25  1939 


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