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Full text of "Deutsche Rundschau"

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DEUTSCHE 
RUNDSCHAU 





LIBRARY 


UNIVERSITY OF CALIFORNIA. 
Kereited ©e z I! sb 


Acvessions Vo. 3UI/L2R 











Deutſche Rundſchau. 


Herausgegeben 


von 


Julius Rodenberg. 





3and II 
(danuar — Februar — März 1875.) 


— 








Verlag von Gebrüder Paetel. 

Amſterdam ſobenhagen New⸗NYorl Nio de Janeiro _ 
Sehffardi'ſche Buch. Wilh. Prior's Buchh. E. Steiger. €. & H. Laemmert. 
Athen London New⸗Yort Nom 

Karl Wilberg. Zrübner & Gomp. Stechert & Wolff. Loeſcher & Gomp. 
Bern Mailand Paris Rotterdam 
Huber & Gomp. Alrico Hoepli. Sandoz & Fiſchbacher. ban Hengel & Geltjes. 
Brüffel Mostau Petersburg Stodholm 
6. Muquardt's Hofbudhh. Ebmundb Kunth, Garl Rider. Samſon & Wallin, 
Ghriitiania Mosfau Riga Wien 


Albert Gammermeher. Alegander "mo. R. Kymmel. Faeſh & Frichk. 


AYso 
AMaS 
— 


Dnhalts-DVerzeihniß 


zum 


zweiten Bande (Januar — März 1875). 


— — vv 


Wilhelmine von Hillern, Die Geier-Wally. Eine G 

aus den Tiroler Alpen . . are ee 
au Sernays, Die Bebanblung des Römifcen Staats— 

tes bis auf Theodor Mommſen — 64 

II. w. Sörher, Geſchichtliche Darlegung Fr Bebeutung 
der Vorübergänge der Venus vor der Sonnenſcheibe 








ür die Ausmeſſung der Himmeläräume. j 69 
IV. Karl Hillebrand, Franzöſiſche Zuftäne und Snatiide 
Beobachter — — 

men a 

VI. Gladftone im Kampfe mit dem —— — 129 


VII. Karl Srenzel, Berliner Chronik. Die dramati — 
und die Zieht Ss Eee ae re a I 





Louis Ehlert, Muſikaliſches aus Berlin . . . . . . 142 
Eduard Hanslik, Wiener Chronik. Opern und Goncerte . 151 
oliti oc: 5 were IS 





XH. Wilhelmine von Hillern, Die Geier- Waltn. Eine Gejchichte 





aus den Tiroler Alpen. (Schluß. j ’ . 167 
XIII . Heltner, PBetrarca und ——— als Be — 
der italieniſchen Renaifjancebildung. . ._. 228 


XIV. Georg Schweinfurth, Leber die Art des Reijens in Wirifa 245 


XV. Georg Srandes, Ferdinand Laffalle vor der Agitation 276 
inrich Laube, Shafejpeare- Splitter 





XV. Friedrich Kreyſſig, Literariiche Rundihau . . 2 2 2 2 2. 
XVIN. Karl Srenzel, Berliner Chronik. Die Theater. — Ludwig 
Deffoir. — Neue „Buch”- Dramen . 303 


XIX. Eduard Hanslick, Wiener Chronik. Opern und Goncerte . 310 
(Fortjegung umftehend.) 






IV Deutſche Rundſchau. 


u 


XX. JIofef Baper, Das Wiener Burgtheater. Wilbrandt's „Arria 


und Meffalina” . 320 





olitiſche Rundidan 





XXIL Marie von Ölfers, Eigenthum. Rodelle er 333 
XXIL Georg Srandes, Ferdinand zeljatte = Tr Anitation. 





(Fortjegung)  . r s . 3469 

XXIV Mar Müller, Meine —— an Darwin 0-0 

XXV Ludwig Samberger, Zur Geburt de3 u. z 413 

XXVL A. Sick, Ueber Gefhmad und Geruch . . 430 
XVVIL Otto Glagau, Fri Reuter auf der Feſtun Seh ba er 

ungedrudten Briefen des Gefangenen an feinen Vater ... 443 


XXVIL Couis Ehlert, Das Muſiklehrerthum und dag Publicum. 


459 





Theodor Döring's Jubelfeier. — Die Theater. — Zur Erinne⸗ 
rung an Rachel Felir. 
XXXL Otto Gumpredt, Aus dem Berliner sppemil auſe . 480 





Otto Kraun, Geifterftunde 





Die Heier- Wall. 


Gine Geſchichte aus den Tiroler Alpen 
bon 


Wilhelmine von Hillern, geb. Bird). 


Schauſt du verträumt vom Thurme nieder, 
Du hochlandwilde ſcheue Maid 
Im knappgeſchnürten Purpurmieder, 
In keuſcher Herzensherrlichkeit, 
So denk' ich einer Alpenroſe, 
Die einſam auf der Klippe ſteht, 
Unſorgſam, ob bei Stein und Mooſe 
Ein Menſchenauge fie erſpäht.“ 
Scheffel. 


Tief unten durch's Oetz-Thal zog ein fremder Wanderer. Oben in Adlers— 
höhe über ihm am ſchwindelnden Abhang ftand eine Mädchengeftalt, von der Tiefe 
heraufgejehen nicht größer als eine Alpentoje, aber doch ſcharf ſich abzeichnend 
vom lihtblauen Himmel und den leuchtenden Eisipiten der Ferner. Feſt und 
ruhig ftand fie da, wie auch der Höhenwind an ihr riß und zerrte, und ſchaute 
nieder ſchwindellos in die Tiefe, wo die Ache braujend durch die Schlucht jtürzte 
und ein jchräger Sonnenftrahl in ihrem feinen Sprühregen ſchimmernde Prismen 
an die Felswand malte. Auch fie Jah winzig Klein den Wanderer und feinen 
Führer dahinziehen über den ſchmalen Steg, der in Thurmeshöhe über die Ache 
führte und von da Oben einem Strohhalm glid. Sie hörte nicht, wa3 die 
Beiden ſprachen, denn aus diefer Tiefe drang fein Laut herauf, als das donnernde 
Braujen des Waſſers. Sie wurde nicht gewahr, daß der Führer, ein ſchmucker 
Gemsjäger, drohend den Arm erhob, zu ihr hinaufdeutete und zu dem Fremden 
jagte: „Das ift gewiß die Geier-MWally, die dort oben fteht, denn auf den 
Ihmalen Borjprung, jo nah an den Abgrund traut fich fein anderes Mädel; 
ſchauen's, man meint, der Wind müßt’ fie 'runterwehen, aber die thut immer 
's Gegentheil von dem, was jeder vernünftige Chriſtenmenſch thut.“ 

Jetzt traten fie in einen dunfeln, feuchtkalten Fichtenwald ein. Noch einmal 
blieb der Führer ftehen und jchaute hinauf mit Falkenblid, wo dag Mädchen ftand 
und das Dörfchen fich Lieblich hinbreitete auf der ſchmalen Bergplatte im vollen 
Glanz der Morgenjonne, die noch kaum verjtohlen hereinjchielen durfte in die 


enge, grabesdüftre Schludt da unten. „Schau’ nur nit jo troßig 'runter, da 
Deutihe Rundſchau. I, 4. 1 


2 Deutiche Rundichau. 


hinauf giebt’3 auch einen Weg!“ murmelte er und verſchwand mit dem Frem— 
den. Wie zum Hohn auf die Drohung ftieß das Mädchen einen Yuchzer aus, 
fo gellend, von allen Wänden widerhallend, daß ein beflügeltes Echo den Ton 
bis in die tiefe Stille des Fichtenwaldes hineintrug, geifterhaft.verklingend wie 
der herausfordernde Ruf der den Gemsjägern feindlichen Teen des Oetzthals. 

„sa jchrei nur — J will Dir's ſchon austreiben!” drohte er wieder, und 
ſich ftark hintenüber legend, das Genick mit beiden Händen ftemmend, jchmetterte 
er hell und grell wie ein Pofthorn ein Spott- umd Truß-Liedel an der Berg- 
fand empor. 

„Db fie'3 hört?“ 

„Warum nennft Du das Mädchen dort oben die Geier- Wally?“ fragte 
der Fremde unten im dunkeln feuchtraufchenden Wald. 

„Herr, weil fie ala Kind ſchon ein Geierneft ausg’nommen und mit dem 
alten Geier g’hadelt hat,“ jagte der Tiroler. „Sie ift das ſchönſte und ſtärkſte 
Mädel in ganz Zirol und furdhtbar rei, und die Buab’n lafj'n ſich von ihr 
heimjagen, daß es a wahre Schand’ ift. Keiner hat die Schneid’, daß er ihr 
amal den Meifter zeigen thät! Spröd’ jei fie wie a wilde Kat’ und fo ftarf, 
daß die Buben behaupten, 's könn' fie Keiner zwingen — wenn ihr Einer 3’ 
nah kommt, jchlagt j’ ihn nieder. No — wann % emal 'nauf käm', % thät 
fie zwingen, oder J riß mer jelber 'n Gamsbart und d’ Feder vom Hut!“ 

„Warum haft Du nicht Ihon Dein Glüd bei ihr verſucht, wenn fie doch 
jo reich ift und ſchön?“ fragte der Fremde. 

„Ad willen S', J mag jo Mädeln nit — die halbe Buben find. Freilich 
kann ſie nir dafür: der Alte — Stromminger heißt er — ift gar a ſchüecher 
böjer Menſch. Er war vor Zeiten der beite Hadler und Robler im Gebirg 
und da3 geht ihm noch heut nad. Das Madel hat er lafterhaft viel g’ichlagen 
und aufzog’n wien Buab’n; fein’ Mutter hat's nit g’habt, weil’3 fo ein groß’3 
ſtark's Kind war, daß e3 die Frau faum auf d’ Welt bringen könnt hat und 
glei g’ftorben i8. Da is das Madel halt aud) jo wild und g’waltthätig word’n.“ 
— So erzählte der Tiroler unten in der Schlucht dem Fremden, und er hatte 
fi nicht getäufcht. Die Mädchengeftalt, die dort oben über dem Abgrund 
tagte, war die Wallburga Strommingerin, de3 gewaltigen „Höchftbauern” Kind, 
auch Geier-Wally genannt, und er ſprach wahr, fie verdiente diefen Namen. 
Schrankenlos war ihr Muth und ihre Kraft, ala hätte fie Adlersfittige, ſchroff 
und unzugänglich ihr Sinn, wie die jcharflantigen Felsſpitzen, an denen bie 
Geier niften und die Wolfen des Himmels zerreißen. 

Wo e3 was Gefährliches zu vollbringen gab, da war von Kindheit auf 
die Wally dabei geweſen und hatte die Buben beihämt. Schon ala Kind war 
fie wild und ungeftüm wie die jungen Stiere des Vaters, die fie bändigte. 
Als fie kaum vierzehn Jahre alt war, hatte ein Bauer an einer jchroffen Fels— 
wand das Neft eines Lämmergeierd mit einem Jungen entdeckt, aber Keiner im 
Dorf mochte es wagen, das Neſt auszunehmen. Da erklärte der Höchftbauer 
zum Hohn für die mannhafte Jugend des Ortes, er werde es jeine Wallburga 
thun laffen. Und richtig, die Wally war dazu bereit zum Entjeßen der Weiber 
und zum Berdruß der „Buab’n“. „Höchſtbauer, dad heißt Gott verjuchen,“ 


Die Geier-Wally. 3 


lagten die Männer. Aber der Stromminger mußte jeinen Spaß Haben, alle 
Welt mußte e3 erfahren, daß das Stromminger’iche Geſchlecht bis auf Kind 
und Kindestind herab feines Gleichen ſuche. 

„Ihr jollt’3 jehen, daß ein Mädel vom Stromminger mehr ift, ala zehn 
Buben von Euch!” rief er lachend den Bauern zu, die zufammenftrömten, um 
das Unglaubliche mit anzujehen. Viele dauerte das jchöne, ftattliche junge Blut, 
das einer boshaften Prahlerei des Vaters vielleicht zum Opfer fallen würde. 
Aber jehen wollten ſie's doch Alle. Da die Telfenwand faft lothrecht gerade 
war, an der das Neft hing, und fein menſchlicher Fuß fie betreten Tonnte, 
wurde Wally ein Strid um den Leib gebunden. Vier Männer, zuvörderſt ihr 
Bater, hielten ihn zwar, aber den Zufchauern war es doch graufig zu jehen, 
wie das beherzte Kind, nur mit einem Meſſer betvaffnet, bi3 an den Rand des 
Plateau’3 vortrat und jih nun mit einem raſchen Sprung in die Tiefe hinab- 
ließ. Wenn der Knoten des Seiles aufging, wenn der Geier fie zerfleichte, 
oder wenn fie ſich beim Heraufziehen an einem unbemerkten Vorjprung den 
Schädel einſtieß? Es war ein gottjträfliches Beginnen vom Stromminger, To 
das Leben des eigenen Kindes auszuſetzen. Indeſſen durchſchiffte die Wally 
unerichroden das Luftmeer bis zur Mitte des Abgrundes, wo fie mit Jubel 
den Kleinen Geier begrüßte, der dem fremdartigen Bejuch die flaumigen Federn 
entgegenfträubte und piepfend den unförmlichen Schnabel gegen fie aufriß. 
Ohne langes Belinnen padte fie mit der Linken den jungen Vogel, der nun 
ein jämmerliche3 Gejchrei anhob und nahm ihn unter den Arm. Da raujchte 
es durch die Lüfte, und in demjelben Augenblid war e3 dunkel um fie her und 
wie ein Sturm und Hagelwetter jchlug und braufte es ihr um den Kopf. Ihr 
einziger Gedanke war: „die Augen, rette die Augen!” und das Geſicht dicht an 
die Felswand drücdend, Focht fie mit dem Mefjer in ihrer Rechten blindlings 
gegen das wüthende Thier, das mit dem jcharfen Schnabel, mit Klauen und 
Fittigen auf fie eindrang. Indeſſen zogen oben die Männer raſch an. Noch 
eine Weile dauerte während der Auffahrt der Kampf in der Luft — da plöß- 
lich neigte ficd der Geier und Schoß in die Tiefe; Wally's Mefjer mußte ihn 
verivundet haben. Wally aber fam mit dem Kleinen im Arm, da3 fie um 
feinen Preis losgelaſſen hätte, blutend und mit vom Fels zerichundenem Ge— 
fiht oben an. 

„Aber Wally,“ jchrieen ihr die Leute entgegen, „warum haft denn das 
unge nit fahren laſſen, dann wärjt ja den Geier losgeweſen!“ „O,“ ſagte 
fie einfah, „das arm’ Dierl kann ja noch nit fliegen, wenn J's losg'laſſen 
hätt’, wär’3 in den Abgrund g'ſtürzt und hätt’ jich zu Tod g’fallen.“ 

Hier war e3 zum erſt- umd einzigenmal in ihrem ganzen Leben, daß der 
Bater ihr einen Kuß gab; nicht weil ihn das großmüthige Mitleid Wally’s 
mit dem hülfloſen Thier gerührt hätte, jondern weil jie ein Heldenſtück verübt 
hatte, das dem erlauchten Roblergejchleht der Stromminger Ehre machte. 

Das war da3 Mädchen, das da draußen ftand auf dem faum fußbreiten 
Felsvorjprung und träumerifch hinabſah in den Abgrund, über dem fie ſchwebte, 
denn e3 kam manchmal wunderſam über fie bei all ihrem Ungeſtüm, daß es 
ftille in ihr ward und fie wehmiüthig vor ſich hin jchaute, als jähe fie etwas, 

1* 


4 Deutiche Rundichau. 


wonad fie ich jehnte und was fie doch nicht erreichen konnte. Es war ein 
Bild, das fi) immer gleich blieb, fie mochte e3 jehen in grauer Morgendäm- 
merung oder in goldener Mittagsgluth, im Abendroth oder im bleichen Mond— 
lit, und e3 ging mit ihr feit einem Jahr überall, wo fie ging und ftand, 
hinab in's Thal und hinauf auf die Berge, und wenn fie jo allein draußen 
war und ihre großen, wildicheuen Gemjenaugen hinüberjchweiften zu dem weiß— 
leuchtenden Gletjchermeer, oder hinunter in die ſchattige Schlucht, wo die Ache 
donnerte, dann fuchten fie den, weldhem das Bild gli, und wenn dann und 
wann ein Wanderer da unten winzig Elein vorüberglitt, jo dachte fie, das könnte 
er jein, und eine jeltjame Freude fam über fie bei dem Gedanken, daß fie ihn 
gejehen, wenn fie auch nichts erkennen konnte, als eine menschliche Geftalt, 
nicht größer als ein bewegliches Figürchen im Guckkaſten. Und als jetzt die 
beiden Wanderer vorüberzogen, von denen der Fremde fie bejang, der Tiroler 
ihr drohte, da dachte fie wieder, er ſeiss. Da ward ihr’3 jo eng in der Bruft, 
jie öffnete die Lippen, und wie eine befreite Lerche ſchwang fich die Freude in 
einem jchmetternden Sodler daraus empor. Und wie der Jäger unten im ftillen 
Wald ein verichwindendes Echo davon gehört, jo erreichte auch fie ein Wider- 
ball feiner Antwort, und fie laujchte dem verwehten Klang mit trunfenem Ohr 
— es fonnte ja jeine Stimme fein! Und über das wilde, troßige Geficht ver- 
breitete fi der xofige Widerjchein eines warm aufwallenden Gefühl. Sie 
hatte ja nicht gehört, daß das Lied ein Spott- und Trußlied war. Hätte ſie's 
gehört, fie hätte wohl die nervige Fauſt geballt und die Kraft ihres Armes 
geprüft, und über ihr Geficht wären finftere Schatten gezogen, daß es erbleicht 
wäre wie die Gleticher nad) Sonnenuntergang. Und fie fjehte fich nieder auf 
den Stein, der fie trug, und jchaufelte mit den Füßen, die num frei über dem 
Abgrund hingen, ftüßte den jchlanfen Kopf in die Hände und lieg Alles an 
ihrer Seele vorüberziehen, twie das jo wunderbar gewejen, als fie ihn zum 
eriten Mal gejehen. 


I. 
Der Bärenjojeph. 


Es war um Pfingften, gerade vor einem Jahr, da führte fie ihr Vater 
zur Firmelung nad) Sölden; dorthin fam der Bilchof alle zwei Jahre, weil 
bis Sölden ein Fahriveg ging. Sie jhämte ſich ein wenig, weil ſie ſchon 
jechzehn Jahre und jo groß war. Der Vater hatte fie nicht Früher firmeln 
laſſen wollen, er hatte gemeint, dann ginge glei) da3 Liebeln und Braut- 
werben los — und dazu wärs noch lang’ Zeit! Nun Hatte fie Angit, 
die Andern würden fie auslacdhen. Aber Niemand achtete auf fi. Das ganze 
Dorf war in Aufregung, als fie hinfamen, denn e3 hieß, der Joſeph Dagen- 
bad von Sölden habe den Bären erlegt, der ji drüben im Vintſchgau 
gezeigt und dem die Buben aus allen Ortjchaften vergebens nachgeftellt. Da 
jei denn der Joſeph aufgebrochen und hinüber gegangen und lebten Freitag 
habe er ihn jchon gehabt. Der Schnalferbot Hatte früh die Nachricht gebracht 
und der Joſeph werde ihm bald nachkommen. Die Söldener Bauern, die vor der 


Die Geier-Wally. 5 


Kirche warteten, waren gar ſtolz, daß es ein Söldener var, der da3 Wageſtück 
vollbradyt, und ſprachen von nichts Anderem, ala von dem Joſeph, der ganz 
unftreitig der ftärkite und jauberfte Bua im ganzen Gebirg war, und ein Schüß, 
wie's feinen zweiten gab. Die Madeln hörten bewunderungsvoll zu, was für 
Heldenftüde von dem Joſeph erzählt wurden, wie ihm fein Berg zu fteil und 
fein Weg zu weit, feine Kluft zu breit und feine Gefahr zu groß ſei. Und 
al3 eine bleiche, kränklich ausſehende Frau über den Rajen daherjchritt, ftürzten 
Alle auf fie zu und wünſchten ihr Glüd, daß ihr Sohn jo viel Ehre ein- 
gelegt habe. 

„Das ıft Einer, Dein Joſeph,“ jagten die Männer wohlmeinend, „an dem 
fann ſich Jeder a Beijpiel nehmen!” „Wenn das Dei Mann jeliger nod) erlebt 
hätt’, wie hätt’ der fich g’freut!” ſagten die Weiber. 

„Nein, man ſollt's nit glauben,“ rief Einer artig, „man jollt’3 nit glauben, 
daß der Prachtskerl Dein Sohn is — wann ma Di jo anſchaut.“ 

Die Frau lächelte geihmeichelt: „Sa, 3 iS a ftattliher Burſch und a 
braver Sohn, wie's kein'n Beſſern geb’n kann. Aber 58 könnt’3 glauben, J komm' 
Ihon gar aus die Aengjten um den Waghals nit "raus, ’3 iS fein Tag, wo J 
nit dent’, heut bringen fie ihn mir mit zerjchlagene Glieder heim! Des is a 
Kreuz!“ 

Set erichien die Hohe Geiftlichkeit auf dem Platz und machte dem Geſpräch 
ein Ende. Die Leute drängten mit den weißbejchürzten, buntbefränzten Firmel— 
findern in die Kleine Kirche, und die heilige Handlung begann. 

Aber Wally konnte die ganze Zeit an nichts Anderes al3 an den Bären- 
tödter Joſeph denken und an alle Wunderdinge, die er jollte verrichtet haben — 
und wie prächtig da3 jei, wenn Einer jo ftark und beherzt jei und in jo 
großem Anjehen bei allen Leuten ftehe, daß ihm Seiner was anhaben könne. 
— Wenn er nur no Fam, jo lange fie in Sölden war, daß fie ihn doch aud) 
jehen fönnte; fie brannte ordentlich darauf! 

Endlich war die heilige Handlung vorüber und die Kinder empfingen den 
Segen; da eriholl draußen auf dem Plate vor der Kirche wildes Hurrahgeichrei. 
„Er hat ihn, er hat den Bären!” Kaum daß der Geiftliche noch den Segens— 
ipruch beenden konnte, ftürzte Alles hinaus und umringte jubelnd einen jungen 
Gemsjäger, der, geleitet von einer Schaar ſtattlicher Burſche aus dem Schnalfer- 
thal und dem Vintſchgau, über den Rafen Schritt. Aber wie ftattlih auch die 
Schnalſer und Vintſchgauer waren, Keiner kam ihm gleih. Er überragte fie 
alle an Größe und jo jauber war er, jo bildjauber! Es tar faft, als leuchte 
er Ion von Weitem. Er ſah aus wie der Sct. Georg in der Kirche. Ueber 
der Schulter trug er ein Bärenfell, dejjen grimme Taten auf feiner breiten 
Bruft herumbaumelten. Er ging fo ftolz einher twie der Kaiſer, und that immer 
nur einen Schritt, bis die Andern zwei thaten, aber er war ihnen dod) voraus, 
Und fie madten ein Aufhebens mit ihm, al3 wäre er wirklich der Kaifer, der 
fi in einen Gemsjäger verkleidet habe. Der Eine trug ihm die Flinte, der 
Andere den Tichopen und Alle hatten Räufche und jchrien und johlten, nur er 
war nüchtern und ruhig. Er ging gar bejcheiden auf die Geiftlihen zu, die 
aus der Kirche ihm entgegentraten, und zog den befränzten Hut vor ihnen ab. 


6 j Deutſche Rundſchau. 


Der fremde Biſchof machte das Zeichen des Kreuzes über ihn und ſagte: „Der 
Herr war ſtark in Dir, mein Sohn! Du haſt mit Seiner Hülfe vollbracht, 
was Keinem gelungen. Die Menſchen müſſen Dir danken — Du aber danke 
dem Herrn!“ 

Alle Weiber weinten vor Rührung und auch Wally wurden die Augen 
naß; es war, als käme jetzt erſt die Andacht über ſie, die ſie in der Kirche 
verſäumt, als fie den ſtattlichen Jäger das ſtolze Haupt unter der ſegnenden 
Hand des Priefters beugen ſah. Darauf zog fich die Geiftlichkeit zurüd. Joſeph's 
erste Frage war aber num: „Wo ift denn mei Mutter? Is fie nit da?“ 

„Do!“ antiwortete dieje und fiel dem Sohn in die Arme: „Da bin Jſchon!“ 

Joſeph drüdte fie jet an fih und fagte: „Schau, Müaderl, um Dich hätt’ 
mir's leid 'than, wenn ich nimmer wiederlommen wär’, — Du lieb’3 Müaderl, 
Du hätt’ft ja nit g’wußt, was D’ anfangen jollft ohne mich, und J wär’ aud) 
nit gern g’ftorben, ohne daß J Dir noch a Bußel geb'n hätt’!“ 

Ach, das war fo ſchön, wie er das fagte, Wally Hatte ein ganz eigenes 
Gefühl, ein Gefühl, ala beneide fie die Mutter, die jo gut in der liebevollen 
Umarmung des Sohnes ruhte und Fi To zärtlih an die mächtige Geftalt 
ichmiegte. Aller Augen ruhten mit Wohlgefallen auf der Gruppe — Wally 
war es dabei ganz unbeſchreiblich um's Herz! 

„Aber jetzt erzähl’, wie's gangen ift!” drangen die Bauern in ihn. 

„Ja, ja, J will’s erzählen,” lachte er und warf das Bärenfell zur Erde, 
daß Alle es bejehen fonnten. Und fie bildeten einen Kreis um ihn und der 
Wirth ließ ein Faß vom Belten auf den Platz jchleppen und anzapfen, denn 
nad) der Kirche mußte getrunfen werden und bei jo einer Ertra-Gelegenheit erjt 
recht, und die Kleine Wirthsſtube hätte "ja nicht die ungewöhnliche Zahl Mten- 
ichen alle gefaßt. Die Männer und Weiber drängten ji natürlich um den 
Erzähler und die G’firmten ftiegen auf Bänke und Bäume, um über fie hin- 
wegzuſehen. Wally war die Allererfte auf einer Fichte und konnte ihm gerade 
in’3 Geficht jehen, die Andern aber neideten ihr den Platz, und weil fie jih ihn 
nicht nehmen ließ, gab es Streit und Lärm. Da Ichaute der Sanct Georg 
herauf zu ihnen und feine funfelnden Augen trafen gerade Wally's Geſicht und 
blieben eine Weile lächelnd darauf haften. Da war es Wally, ala ftiege ihr 
alles Blut zu Kopf, und fie erichrad jo heftig, daß fie ihr Herz ſchlagen hörte 
bi3 in die Ohren hinein. In ihrem ganzen Leben war fie nicht jo erjchroden, 
und fie wußte nicht einmal warum! Sie hörte nur halb, was Joſeph erzählte, 
es jaufte ihr in den Ohren, jie konnte nichts denken als: „Wenn er wieder 
heraufihaute?!“ Und fie wußte nicht, wünjchte ſie's oder fürchtete fies? Als 
es aber während des Erzählens doch noch einmal geſchah — da blickte fie ſchnell 
weg und jchämte fih, als jei fie auf etwas Unrechtem ertappt worden. War 
es denn ein Unrecht, daß fie ihn fo angejehen hatte? Es mußte wohl jo fein. 
Und fie konnte es doch nicht laſſen, obgleich fie beftändig zitterte, er könnte es 
merken. Aber er merkte es nit, was kümmerte ihn das „Firmelkind“ da 
oben auf dem Baume. Er hatte es ein paarmal angefhaut, wie man auch 
nad einem Eichkätzchen fieht, weiter nichts. Das jagte fie fich ſelbſt und ein 
wunderliches Weh beichlich fie dabei. So, wie heute, war ihr noch nie zu Muthe 


Die Geier:Wally. 7 


geweien, — fie war nur froh, daß fie unterwegs feinen Wein getrumfen, fie 
hätte jonft gemeint, fie jei beraufcht. Sie ſpielte in ihrer Bangigfeit mit ihrem 
Roſenkranz. Es war ein jchöner neuer, von rothen Korallen, mit einem ächt 
filbernen Kreuz don getriebener Arbeit. Sie hatte ihn zur Firmelung von 
ihrem Water befommen. Da plötzlich, wie fie ihn jo drehte und wickelte, zerriß 
die Schnur und wie Blutötropfen riejelten die rothen Perlen vom Baume nieder. 
„Das ift ein Schlechtes Zeichen,“ raunte ihr eine innere Stimme zu; „die Luckard 
bat’3 nit gern, wenn was reißt, während man an was denkt!“ 

„An was dentt!! — Ya, an was dachte fie denn? Sie jann darüber nad) 
— fie konnte es nicht finden. Sie hatte eigentlich an nichts Beftimmtes gedacht. 
Warum that e8 ihr nur jo leid, daß gerade in dem Augenblid die Schnur 
zerriß? Es war ihr, als wäre plößlic die Sonne bleich geworden und ein 
falter Wind ftriche über fie hin. Aber doch regte fich fein Halm, und die eis— 
ftarrende Welt in der Runde glänzte in jtrahlendem Licht. 

Ein Wolkenichatten war vorübergezogen — ob in ihr — außer ihr? Was 
wußte fie? Joſeph hatte indeffen fein Abenteuer mit dem Bären auserzählt 
und den Beutel mit den vierzig Gulden herumgezeigt, die von der tiroler Re- 
gierung als Schußgeld für einen Bären ausbezahlt werden, und e3 war des 
Lobens und Händejchüttelns fein Ende. Nur Wally’3 Vater hielt ſich mürriſch 
fern. Es ärgerte ihn, wenn Einer ein großes Heldenftücd vollbrachte, es Jollte 
Niemand ftark fein in der Welt, als er und feine Tochter. Durch dreißig Jahre 
hatte er unbejtritten für den ftärkiten Dann im Gebirg gegolten, und nun konnte 
er ed nicht ertragen, daß er alt wurde und dem jungen Nachwuchs den Plab 
räumen mußte. Als aber gar Einer in feiner Freude zu Joſeph jagte, es jei 
ja fein Wunder, daß er jo ein G’waltäferl geworden. — er habe das von jeinem 
Bater, der jei auch der befte Schüb und der befte Raufer in der ganzen Gegend 
gewejen, — da hielt ich der Alte nicht mehr und fuhr mit einem donnernden 
„Oho — begrabt’3 Ein’n nur nit Schon, ehvor man todt it!“ dazwiſchen. 

Alle wichen auseinander vor der drohenden Stimme und jagten faſt er- 
Ihroden: „Der Stromminger!” „Sa, der Stromminger ift auch noch da und 
hat nie nix davon g'wußt, daß der Hagenbach der befte Raufer war! Mit 'm 
Maul ja — aber mit jonft nir!” 

Da drehte fi Joſeph um, wie eine angeſchoſſene Wildfate, und jchaute 
Stromminger mit funfelnden Augen an: „Wer jagt, daß mein Vater ein 
Maulheld war?” “ 

„J lag’3, der Höchſtbauer von der Sonneplatten, und % weiß, was 3 
red’, denn J hab’ ihn a maler Zeh’ne hing’legt, wie 'n Sad.“ 

„Das ift nit wahr!“ schrie Joſehh. „J laſſ' mir mein’ Vater nit 
anſchwärzen!“ 

„Joſeph, ſei ſtill, 's ift der Höchſtbauer, mit dem mußt nit anbinden,“ 
flüfterten ihm die Leute zu. 

„Was, Höchſtbauer hin und Höchſtbauer her — und wenn unjer Herrgott 
vom Himmel 'runter käm' und wollt’ mir mein’ Vatern jchledht machen — J 
thät’s nit leiden. J weiß ſchon, der Stromminger und mei Vater hab’n 's 
immer mit einander g’habt, weil mein Vater der Einzige war, der's mit dem 


8 Deutſche Rundſchau. 


Stromminger hat aufnehmen können. Und er hat den Stromminger g'rad ſo 
oft g'worfen, wie der ihn!“ 

„Nit wahr iſt's!“ ſchrie Stromminger. „Dein Vater war ein Tropf gegen 
mid. Wenn Einer von Euch Alten Ehr’ im Leib hat, joll er’3 jagen — und 
wenn Du's naher noch nit glaubft, jo will J Dir’ einbläuen!” Joſeph 
tar bei dem Wort „Tropf“ wie rajend auf Stromminger zugefprungen: „Du, 
nimm das Wort z'rück oder” — 

„Jeſus Maria,“ kreiſchten die Weiber, „laß' ab, Joſeph,“ begütigte die 
Mutter, „'s ift ein alter Mann, an dem darfft Dich nit vergreifen!” 

„Oho!“ ſchrie Stromminger, roth vor Zorn. „Wollt Ihr mich zu’n alten 
Toddel maden? So altersſchwach is der Stromminger noch nit, daß er’3 nit 
noch aufnehmen könnt’ mit jo 'n Gelbjchnabel! Geh’ nur her — J will Dir's 
ichon zeigen, daß % noch Mark in die Knochen hab’, Dich fürcht' J noch 
lang’ nit und wenn D’ noch zehn Bären g’jagt hätt’ft.“ 

Und wie ein wüthender Stier drang der ſtämmige Mann auf den jungen 
Jäger ein, daß diefer unwillkürlich zurückwich unter dem mwuchtigen Anprall. 
Uber nur einen Augenblid währt das Schwanken, denn Joſeph's jchlante Ge- 
ftalt war jo mußsfelzähe, jo elaftiich biegjam — und wenn gebogen — wieder 
auffchnellend wie die hohen Fichten jener Gegend, die wie mit Gijendrähten in 
dem nacten Geftein wurzeln, fi) von den vier Winden zaufen laffen und gegen 
Bergeslaften von Schnee ftemmen müfjen. Stromminger hätte eben jo gut einen 
ſolchen Baum ausreißen, als Yojeph vom Boden aufbringen können. Und nad 
einem kurzen Ringen jchlangen ſich Joſeph's Arme feſt um Stromminger und 
jchnürten fich zu, immer fefter bis zum Erftiden, daß ein lautes Stöhnen aus 
Stromminger’3 gepreßter Bruft drang und er feine Hand mehr frei machen 
fonnte. Und nun begann der junge Riefe an dem alten Dann zu rütteln und zu 
Yüpfen, herüber, hinüber, langjam, mälig, aber gründlich, ihm bald den einen, bald 
den andern Fuß unter dem Leibe wegdrängend, al3 wolle er ihn ruckweiſe lodern. 
Die Umftehenden wagten faum zu athmen ob des jeltenen Schaufpiels, es war 
ihnen faft, als dürften fie nicht hinjehen, wenn ein jo alter Baum zum Sturz 
füme. Jet — jebt hatte Stromminger den Boden unter den Füßen verloren 
— jeßt mußte er ftürzen, — aber nein, — Joſeph hielt ihn auf, ſchleppte ihn 
in feinen ftarken Armen zur nächften Bank und jeßte ihn darauf nieder. Dann 
zog er ruhig jein Tuch und trodnete Stromminger den perlenden Schweiß von 
der Stirn: „Seht, Höchftbauer, 3 hab Euch ’ziwungen, 3 hätt! Euch können 
werfen, aber da jei Gott davor, daß einem alten Dann die Schand’ anthät’! 
Und jet woll’n wir wieder gut Freund fein, — nix für ungut, Stromminger!“ 

Er hielt gutmüthig lachend dem Stromminger die Hand hin — aber diejer 
ſchlug fie mit einem bitterböfen Blick zurüd: „Der Teufel ſoll Dir's eintränfen, 
Du Schandbub’!“ ſchrie er ihn an. „Und Ihr Alle, Ihr Söldener, die eine 
Freud’ d’ran g’habt habt’3, wie der Stromminger zum Kinderjpott word'n ift, 
Ihr ſollt's ſchon noch erfahren, wer der Stromminger ift. Seht wird fein 
G'ſchäft mehr mit Euch g'macht und nir mehr g’jtundet und wenn halb Sölden 
verhungern müßt'!“ Er ging zu dem Baum, auf dem Wally noch wie in einem 
Fiebertraum ja, und riß fie am Kleid: „Komm’ 'runter Du! 's wird nimmer 


Die Geier-Wally. 9 


da Mittag g'macht. Bon mir joll fein Söldener mehr 'n Kreuzer ſehen.“ 
Aber Wally, die mehr vom Baume gefallen, als geftiegen var, ftand da wie 
gebannt und ihre Augen hafteten faft bittend auf Jojeph. Sie meinte, er müſſe 
e3 jpüren, tie leid es ihr that, daß fie fort jolle; ihr war, als müſſe ex ihre 
Hand faſſen und jagen: „bleib’ nur bei mir — Du gehörft ja zu mir und ich 
zu Dir — umd zu Niemand ſonſt!“ Aber er ftand mitten in einem Knäuel 
von Männern, die verblüfft zufammen flüfterten, denn Viele im Dorf waren 
dem Stromminger verjchuldet, deſſen Reihthum in den Lebensadern der ganzen 
Gegend Freijte. — 

„Ro — wird’3?" ftieß Stromminger da3 Mädchen an, und fie mußte wohl 
oder übel folgen, aber ihre Lippen zudten, ihre Bruft arbeitete krampfhaft, ein 
Blitz ohnmädhtigen Zornes traf ihren Vater, Wie ein Kalb trieb er fie dor 
fi) her. So gingen fie ein paar Schritte, da famen Leute ihnen nad, und als 
fie ſich umſahen, da ftand der Joſeph mit noch ein paar Bauern hinter ihnen 
und jagte: „Höchftbauer, jeid’3 doch nit jo grandig! 8 könnt's doch mit mit 
dem Dirnl un’gefjen den weiten Weg auf die Sonneplatten laufen.” 

Und er ftand dicht neben Wally und fein Athem ummehte fie, wie er jo 
ſprach, und jein Auge ruhte auf ihr — feine Hand legte fich mitleidig auf ihre 
Schulter, fie wußte nicht, wie ihr geſchah — er war fo gut, fo lieb, und den- 
noch war ihr zu Muthe wie damals, als ihr beim Ausnehmen des Geierneftes 
plögli die Fyittige des Geier um die Ohren raufchten, daß ihr Hören und 
Sehen verging! So etwas Uebermächtiges lag für das junge Herz in jeiner 
Nähe, jener Berührung. Sie hatte nicht gezittert, als das mächtige Thier 
auf fie niederftieß und ihr mit den breiten Schwingen die Sonne verdunkelte, 
fie hatte fich tapfer und bejonnen gewehrt, aber jetzt zitterte fie am ganzen 
Leibe und ftand verwirrt und verlegen da. 

„Hebt's Euch weg!“ jchrie der Höchſtbauer und ballte die Fauſt gegen 
Sojeph. „J Ichlag’ Dir in's Geficht, wenn D’ mi nit auslaß't, und wann's 
mi mei Xeb’n koſt'.“ 

„No wenn ös nit wollt — To laßt’3 bleib'n — ös jeid’3 .a Narr, Hödjit- 
bauer!“ jagte Joſeph gelafien, drehte fi um und ging mit den Andern wieder 
zurüd. Nun hielt fie Niemand mehr auf, fie jchritten unbehelligt weiter — 
immer weiter von Joſeph weg. Wally jah ſich um, fie jah noch eine Weile 
feinen Kopf über die Andern hervorragen, fie hörte die vielerlei Stimmen und 
das Lachen auf dem Platz vor der Kirche. Sie konnte e3 immer noch nicht 
glauben, daß fie wirklich fort jollte und den Joſeph nicht mehr jehen — viel: 
leicht nie mehr. Jetzt bogen fie um eine Felſenecke und jekt war Alles ver- 
Ihmwunden, der Pla mit den vielen Menfchen und der Joſeph — und Alles, 
Alles vorbei. Und nun plötzlich kam es über fie, wie die Ahnung eines großen 
Glüds, das ihr gewinkt und das ihr nun untviederbringlich verloren fei. Sie 
Ihaute fi) um, wie um Hülfe flehend in ihrer Herzensnoth, in dem neuen, nie 
gefannten Weh. Aber da war Keiner, der ihr geiagt hätte: „Sei ruhig — es 
wird ſchon beiler werden.“ 

Zodt und flarr das Geklüft und Geftein rings umher, todt und ftarr 
ihauten die zyerner fie an; was kümmerte fie, die Welten fommen und ver- 


10 Deutiche Rundichau. 


gehen gejehen, dies arme Kleine zuende Menſchenherz? Ihr Vater ging jo ſtumm 
neben ihr ber, als wäre er ein wandelnder Felsblock. Und er war ja an Allem 
Schuld. Er war ein böjer, harter, erbarmungslofer Mann, fie hatte feinen 
Menſchen auf der Welt, der ſich ihrer annahm. Und während fie jo dachte 
und mit fich jelbft rang, Ichritt fie mechanisch weiter, immer weiter dem Vater 
voraus, bergauf — bergab, ala wollte fie jich ihren Schmerz verlaufen. Die 
Sonne ſtach und brütete auf der kahlen Felswand, ihre Bruft rang nach Athen, 
die Zunge Elebte ihr am Gaumen, alle Adern ſchlugen ihr. Plötzlich vergingen 
ihr die Sinne, fie warf ſich zur Erde und brach in ein lautes Schluchzen aus. 

„Oho, was ftellt denn da3 vor?” jagte Stromminger auf's Höchſte über- 
raſcht, denn er hatte feine Tochter jeit ihrer Kindheit nicht mehr weinen jehen. 
„Bilt närriich ?“ 

Wally antwortete nicht, fie überließ fi) ganz dem wilden Ausbruch ihres 
Herzeleids. 

„Jetzt red'!“ herrfchte Stromminger fie an: „Was joll das Gethu's heißen? 
Thu's Maul auf — oder —!“ Da brad) fie heraus aus dem ungeftiimen pochen- 
den Herzen, wie der Beragftrom aus dem geloderten Geklüft hervorbricht, die 
ganze volle Wahrheit, und überjchüttete den Alten mit dem braufenden Giſcht 
ihres Zornd. Sie jagte Alles, denn fie war immer wahrhaftig geweſen und 
nicht geübt, zu lügen. Sie jagte, daß ihr der Joſeph gefallen und fie ihn Lieb 
gewonnen habe, jo lieb wie feinen Menfchen auf der Welt, und daß fie ſich jo 
darauf gefreut, mit dem Joſeph zu reden, und wenn der Joſeph gehört hätte, 
daß fie fo ein ftarkes Mädel ſei und auch ſchon allerlei Kraftſtückeln verübt 
hätt’, da hätt’ er nachher auch gewiß mit ihr getanzt und dann hätt’ ex fie 
gewiß auch) lieb gewonnen, und um das Alles habe ihr Vater fie nun gebradt, 
da er wie ein Unfinniger über den Joſeph hergefallen jei und jie dann von der 
Firmelung habe mweglaufen müſſen mit Spott und Schand’, daß der Yojeph fie 
fein Lebtag nicht mehr anſchauen werd’! Aber jo fei der Vater immer, bös und 
wild gegen alle Leute, deshalb heiße er auch überall der ſchieche Stromminger, 
und fie müfje da3 nun büßen! 

Da plöglich jchrie Stromminger: „Seht hab’ I's g'nug!“ Es jaufte über 
ihr durd) die Luft und ein Streich jchmetterte von des Vaters Stod auf fie 
nieder, daß fie meinte, der Rückgrat ſei ihr abgebrochen, und fie erbleichend das 
Haupt neigte. Es war Hagel, der auf die kaum erichloffene Blüthe der Seele 
fiel. Einen Augenblid war ihr jo übel, daß fie fich nicht regen konnte. Schwere 
Tropfen quollen aus den geichlojfenen Lidern hervor wie der Saft aus dem 
gebrochenen Zweig, jonft war Alles todt und ftumm in ihr. Stromminger 
jtand leife fluchend neben ihr und wartete, wie der Treiber bei einem Stüd 
Vieh wartet, das unter jeinen Schlägen zufammengefallen ift und nicht weiter kann. 

Ringsumher war Alles jo ftil und einfam. Steine Vogels Stimme, fein 
Raufhen in den Bäumen unterbrach da3 Schweigen. Auf dem jchmalen Fels— 
jteig, der Vater und Tochter trug, grünte fein Baum, niftete fein Vogel. Vor 
YJahrtaufenden mochte es hier getoft haben im furchtbaren Kampf der Elemente, 
und jo weit da3 Auge reichte, jah e3 nur die Riejentriimmer einer wilden Um— 
mwälzung. Aber jet waren die Teuer ausgebrannt, die den Boden geiprenat 


Die Geier-Wally. 11 


hatten, und die Waſſer verlaufen, die im rafenden Schwall die Veſten der Erde 
mit fich fortgeriffen. Da lagen fie übereinander Hingejchleudert, die regungsloſen 
Koloſſe; die Gewalten, die fie zu bewegen vermochten, waren entichlummert, 
Kichhofsruhe niftete dazwiſchen — wie zwiſchen Grabdenfmälern, und keuſch 
und ftarr wie der himmelanftrebende Gedanke ragten die weißen Gletjcherfirnen 
hoch darüber hinaus. Nur der Menſch, der ewig ruhelofe, ſetzte auch hier den 
nie raftenden Kampf fort und ftörte den erhabenen Frieden der Natur mit 
jeiner Qual! 

Endlich ſchlug Wally die Augen auf und ſammelte ihre Kraft, um weiter 
zu gehen. Keine Klage fam mehr über ihre Lippen, fie fchaute den Vater jo 
fremd an, al3 habe fie ihn nie gejehen; ihre Thränen waren verfiegt. 

„Du haft’3 jeßt g’jpürt, wie's Dir geht, wenn Du Dir noch einmal einen 
Gedanken an den Schandbuben beitommen laß’t, der den Stromminger zum 
Kinderipott g'macht hat,“ jagte er und hielt jie am Arm, „denn daß Du’3 nur 
weißt, eher werf' ich Dich von der Sonneplatten 'runter, eh’ Dich der Joſeph 
kriegen ſoll!“ 

„3 ift recht!” jagte Wally mit einem Ausdrud, der ſelbſt den Strom- 
minger ftußen machte, ein jo unbeugjamer Troß lag in dem einen Wort, in 
dem Ton, mit dem fie’3 jagte, in dem Blick unverjöhnlicder Feindſchaft, mit 
dem fie ihren Vater dabei anſah. 

„Du bift ein böjes, böſes Ding Du!“ murmelte er zwijchen den Zähnen. 

„I hab's nit g'ſtohlen!“ erwiderte fie ebenſo. 

„Aber wart nur, Y will Dir's austreiben!“ knirſchte er. 

„Sa, ja!” nidte fie, ala wollte jie jagen „verfuch’3 nur.“ 

Dann ſprachen fie nichts mehr mit einander auf dem ganzen Heimweg. 

Als fie heimfamen und Wally in ihre Kammer ging, um ihren Feiertags— 
ftaat abzulegen, jteckte die alte Luckard, die jchon bei ihrer Mutter und Groß— 
mutter geweſen und Wally an Mutterftatt aufgezogen, den Kopf zur Thüre 
herein und flüfterte: „Wally, haft Du g’weint?* — „Warum?“ fragte das 
Mädchen mit ungewöhnlich herbem Tone. 

„Im die Karten ftehen Dir Thränen! % hab’ Dir heut’ an Dein’'m 
Firmeltag die Karten g’legt: Du biſt zwiſchen zwei Buben g’fallen und der 
Schreden dazu: und jo nah’ war Alles, ala wär's heut’ jchon paſſirt und Alles 
über einen Kleinen Weg.“ 

„So?“ jagte das Mädchen gleichgültig und packte den ſchönen Rod ihrer 
jeligen Mutter in die große Holztruhe. 

„it Dir was, Kind?“ fragte die Ludard, „Du fiehft jo ſchlecht aus und 
bift auch jo früh heimfommen. Haft nit 'tanzt!“ 

„tanzt?” das Mädchen ſchlug eine Lache auf, Hart und gellend, twie wenn 
man mit einem Hammer auf eine Laute geſchlagen hätte, daß die Saiten klirrend 
und Elagend nadhdröhnten. „Mir war's zum Tanzen!” 

„Dir ift was g’ichehen, Kind! Sag's mir — J kann Dir vielleicht helfen.“ 

„Mir kann Niemand helfen!“ jagte Wally und warf den Dedel ihrer 
Truhe zu, als wolle fie Alles, was fie drückte, darunter begraben. Es war, 
als habe fie den Sargdedel über all ihren jugendlichen Hoffnungen gejchlofjen. 


12 Deutiche Rundſchau. 


„Seh jetzt,“ ſagte fie herriſch, wie fie nie zuvor geſprochen, „J will mich ein 
Billel ausruhen!” 

„Jeſus Maria,“ Freifchte die Ludard, „da liegt ja Dein Roſenkranz — 
zerriſſen. Wo haft die M’rallen ?“ 

„DBerloren!“ 

„D Jeſus, Jeſus, das Unglüd, nur das Kreuz'l Haft b’halten und die leere 
" Schnur, — am Firmeltag den Rojenkranz zerriffen und die Thränenkart’ 
dazu! O mein Gott und Bater, was wird da g'ſchehen!“ 

Sp jammernd, halb von Wally hinausgefhoben, ging die Alte und Wally 
ichloß Hinter ihr den Riegel. Sie warf ſich auf ihr Bett und ftarrte regungslos 
zu dem Muttergottesbild auf und dem Grucifir, das darüber an der Wand 
hing. Sollte fie diefen ihr Leid lagen? Nein! Die Muttergottes meinte es 
nicht gut mit ihr, jonft hätte fie ihr nicht gerade den Tyirmelungstag jo ver— 
derben lafjen. Sie wußte ja auch nicht, wie jo ein Liebestweh thue, denn ſie 
hatte ja nur den Schmerz um ihren Sohn gekannt, und das war dod) etwas 
ganz anderes, al3 das Herzeleid, das Wally fühlte. Und der Herr Jeſus 
EHriftus! — Der kiimmerte jich erſt recht nichts um Liebesgeſchichten — dem 
durfte man gar nit mit jo etwas kommen. Der wollte nır, daß man immer 
nad) dem Himmelreich ſtreben jolle. Ach! und ihr ganzes junges hochklopfendes 
Herz jehnte und drängte mit jedem Pulsjchlag nach dem Lieben, herzlieben Dann 
bier unten auf der Exde, und das Himmelreich war jo weit weg und jo fremd, 
wie konnte fie'3 danach verlangen in einem Augenblick, two die allgewaltige 
Natur in ihr zum erftenmal gebieterifch ihr Recht forderte! Mit bitterem Troß 
blickte fie zu den Geftalten der Mutter und de3 Sohnes auf, die mit jo ganz 
anderen Schmerzen zu thun hatten und nur Unmögliches von ihr verlangten. 
Sie günnte ihnen fein gutes Wort mehr, fie grollte ihnen, wie ein Kind den 
Eltern grollt, die ihn ungerechteriveife eine Freude verſagen. — 

Zange lag fie jo, die Augen vorwurfsvoll auf die Heiligen geheftet, aber 
bald war es nur das liebe ſchöne Geſicht Joſephs, was fie noch vor ſich jah, 
und fie griff ſich unwillkürlich mit der Hand nach der Schulter, die er berührt, 
als wolle fie jeine Berührung darauf fefthalten. Und dann war wieder feine 
Mutter da, auf die fie jo eiferfüchtig war und fie lag wieder in feinen Armen 
und Joſeph Liebkofte fie jo jüß, und da ſchob Wally die Mutter weg und legte 
fich ftatt ihrer dem Joſeph an's Herz und er hielt fie umfangen und jie ſchaute 
ihm tief in die Schwarzen flammenden Augen — und fie fuchte fich vorzuftellen, 
was er wohl jagen würde — aber fie wußte nichts Anderes als etwa: „Du 
lieb's Dirnl!“ wie er zur Mutter „Du lieb's Müaderl“ gejagt. Und das war 
jo über Alles g'ſchmach und lieb! Ach, was konnte da3 Himmelreich, in das 
die dort oben fie haben wollten, gegen die Seligkeit fein, die fie nur bei dem 
Gedanken an Joſeph empfand, und wie mußte ext die Wirklichkeit fein? 

Es klopfte an ihr Fenfter, fie fuhr auf, twie aus einem Traume Es war 
der Lämmergeier, den fie vor zwei Jahren aus dem Neft genommen und der 
ihr treu anhing wie ein Hund. Sie konnte ihn frei herumlaufen laffen, er 
that Niemand was und flog ihr mit feinen geftußten Flügeln nad, jo gut es 
ging. Sie öffnete das Kleine Fenſter, ex jchlüpfte herein und ſchaute fie mit 


Die Geier-MWally. 13 


jenen gelben Augen zutraulid an. Sie fraute ihm den Hals und jpielte mit 
feinen jtarfen Schtwingen, fie bald entfaltend, bald zufammtenlegend. Ein kühler 
Luftzug ftrich durch das offene Fenſter. 

Die Sonne ftand ſchon tiefer hinter den Bergen, der enge Fenfterrahmen 
umſchloß das friedliche Bild der in blauen Duft gehüllten Bergeshäupter. 

Auch in ihr wurde es ruhiger. Die Abendluft belebte ihren Muth; jie 
nahm den Vogel auf die Schulter: „Komm, Hansl,“ jagte fie, „wir thun, als 
gäb's feine Arbeit auf der Welt!” 

Das treue Thier hatte eine wunderliche Tröftung über fie gebracht. Sie 
hatte fich’3 geholt, da wo fein Menſch jich hingewagt, vom jchroffen Felſen; fie 
hatte e3 jeiner Mutter auf Leben und Tod abgefämpft und hatte es gezähmt 
und es gehörte ihr nun ganz! „Und er wird mir auch einm ö 
ihr eine innere Stimme, als fie den Vogel an ſich drüch 


I. (UNIVERSITY) 
Ko, Sr 


Unbeugiam. NALTTar Te 


Das war die furze Liebes- und Leidensgeihichte, die jeht er — in 
dem jungen Herzen mit all ihrem Weh aufwachte, als ſie da hinunter ſah, wo 
fie den Joſeph zu erblicen glaubte, der jo oft vorbeiging und nie den Weg 
daherauf fand. Sie wiſchte ſich die Stirn, denn die Sonne fing an zu brennen 
und fie hatte ſchon das ganze Geländ abgemäht, vom Haus her bis zur „Son 
nenplatte“, jo hieß der VBorjprung, auf dem fie ftand, weil es die höchſte Stelle 
tar und immer zuerft von der Sonne bejchienen wurde. Nach ihm führte das 
Dorf jeinen Namen. j 

„Wally, Wally!” rief es jeßt Hinter ihr her. „Du jollft zum Vater fom- 
men, er will Dir was jagen.“ Die alte Ludard fam vom Haus ber. Der 
Bater ließ fie rufen? Was konnte er wollen? Er hatte jeit der Geſchichte in 
Sölden nichts mit ihr geredet, al3 was zum Tagewerk gehörte. Zwilchen Furcht 
und Widerwillen ſchwankend erhob ſie ſich und folgte der Luckard. „Was will 
er denn?“ fragte ſie. 

„Große Neuigkeiten,“ ſagte Luckard. „Da ſchau auf!“ 

Jetzt ſah Wally den Vater vor dem Haus ſtehen und bei ihm einen jungen 
Bauern vom Ort, den Gellner-Vincenz, mit einem großen „Buſchen“ im Knopf— 
loch. Es war ein ſtämmiger, finſterer Burſch, den Wally ſchon von Kindheit 
an als hartnäckig und verſchloſſen kannte. Keinem Menſchen hatte er noch je 
ein freundliches Wort gegönnt als der Wally, die er ſchon von der Schule her 
mit ſeiner Zuneigung verfolgte. Vor ein paar Monaten waren ihm raſch 
hintereinander ſeine Eltern geſtorben. Nun war er ſelbſtändig und nach Strom— 
minger der reichſte Bauer in der Gegend. 

Wally ſtand das Blut in den Adern ſtill, denn fie wußte ſchon, was nun 
fommen würde. 

„Der Bincenz will Dich heirathen,” jagte Stromminger. „Er hat mein Ya 
— und nächſten Monat ift die Hochzeit!” Damit drehte er ſich um und ging 
in's Haus, al3 jei da gar nichts weiter zu reden. 






14 Deutiche Rundichau. 


Einen Augenblid ſchwieg Wally wie vom Donner gerührt. Sie mußte 
fi erſt ſammeln, erft zur Befinnung kommen. Indeſſen trat der Vincenz zu: 
verfichtlih an fie heran und wollte feinen Arm um fie ſchlingen. Da jprang 
fie mit einem Schrei de3 Schreden3 zurüd und jebt wußte fie auch, was jie 
zu thun Hatte, 

„Bincenz,“ ſagte fie, bebend vor Seelenangjt. „J bitt! Dich, geh’ nad 
Haus, % kann niemals Deine rau werden, niemals. Du wirſt nit wollen, 
daß mich der Vater zwingt, J jag’ Dir's zum leßtenmal, J mag Did) nit.“ 

Ueber Vincenz's Geſicht zudte es wie ein Bliß, er biß ſich die Lippen und 
feine ſchwarzen Augen hefteten ſich mit verzehrender Begierde auf Wally. „So — 
Du magft mi nit? Aber J mag Did! Und % je mein Leben dran, daß 
J Di krieg! Und Dein Vater hat mir’ Jawort "geben und das geb’ J 
nimmer z'rück und J dent, Du wirft Dich ſchon noch b’finnen, wenn 's Dein 
Vater will!“ ; 

„Bincenz,“ jagte Wally, „wenn Du g’icheidt wärft, jo hätt’ft jeßt nit jo 
g’jprochen, denn dann mwüßteft, daß J Dich jebt erft recht nit nehm’ — denn 
zwingen laß’ J mich jchon gar nit, daß Du's nur weißt. Und jebt geh’ 
heim, Vincenz, wir haben nir mehr mit einander z'reden.“ 

Und damit wandte fie fi furz von ihm und trat in das Haus. 

„D Du!” rief ihr Vincenz in zornigem Schmerz nad) und ballte die Fauſt. 
Dann faßte er fi) und murmelte zwijchen den Zähnen: „No, % kann warten — 
und J will warten!” 

MWally ging geradenwegs zu ihrem Vater. Der jaß über jeine Rechnungen 
gebückt und wandte ſich langjam um, als fie eintrat. „Was joll’3?“ 

Die Sonne warf ihre vollen Strahlen durch das niedere Tenfter auf Wally, 
daß fie vor ihrem Water ftand wie in eine Glorie gehüllt. Er mußte fich ſelbſt 
wundern über jein Kind, jo ſchön war fie in dem Augenblid. 

„Dater,“ begann fie ruhig, „J wollt’ Euch nur jagen, daß J den Vincenz 
nit heirath'.“ 

„So?“ rief Stromminger aufipringend. „Soll's dahinaus? Du heirathit 
ihn nit?“ 

„Nein, Vater, J mag ihn nit!“ 

„So, — hab’ 3 Di a’fragt, ob D’ ihn magſt oder nit?“ 

„Nein, X ſag's Euch halt ung’fragt.“ 

„Und % jag’ Dir auch ung’fragt, daß Du den PVincenz in vier Wochen 
heirathft, ob D’ ihn magft oder nit. Y hab ihm's Wort ’geben und der Strom- 
minger bricht jein Wort nit. Jetzt jcheer Dich 'naus.“ 

„Nein Vater,“ ſprach Wally, „jo ift das nit abgethan. % bin fein Stüdl 
Vieh, das fich verkaufen oder verjprechen Yaffen muß, wie der Herr will. I 
mein’, J hätt’ auch noch ein Wort mitz’reden, wenn's an's Hetrathen geht!“ 

„Nein, das haft nit, denn das Kind g’hört dem Vater jo gut, wie ein Kalb 
oder ein Rind, und muß thun, was der Vater will.“ 

„Wer jagt das, Vater?“ 

„Wer's jagt? In der Bibel ſteht's!“ und in Stromminger'3 Geſicht ſtieg 
eine bedrohliche Röthe auf. 


Die Geier:-Wally. 15 


„In der Bibel fteht nur, daß wir unfre Eltern ehren und lieben jollen, 
aber nit, daß wir einen Mann heirathen jollen, der uns z'wider ift — blos 
weil’3 der Vater will! Schaut Vater, könnt's Euch was helfen, wenn J den 
Vincenz nähm’, könnt's Euch vom Tod retten oder vom Elend, jo müßt JI's 
freilih thun und wenn mir’3 Herz d’rüber bräch'. Aber Ihr jeid’3 ein reicher 
Dann, der nad) Niemand nir zZ’ fragen hat — und dem’3 ganz eins jein kann, 
wen J heirath — und hr gebt mich dem Vincenz blos aus Bosheit, daß J 
nit den Joſeph nehmen kann, den J Lieb hab’ und der mic g'wiß auch lieb 
hätt’, wenn er mich kennen thät' — und das, Vater, ift ſchlecht von Euch und 
das Steht nit in der Bibel, daß ſich ein Kind das g’fallen laſſen muß!” 

„Du fürwigig’3 Ding Du, J will Dir den Caplan ſchicken, der joll Dich 
lehren, was in der Bibel fteht!“ 

„Das hilft Alles nix, Vater, und wenn Ihr mir zehn Geiftliche ſchickt 
und fie thäten mir alle zehn jagen, daß J Euch da d’rin folgen müßt‘, J 
thät’3 doch nit.“ 

„And J jag’ Dir, Du wirft’3 thun, jo wahr J der Stromminger bin. 
Du wirſt's thun oder J jag’ Di von Haus und Hof und enterb’ Dich.“ 

„Das könnt Ihr, Vater, % bin ftark g'nug, daß % mir mein Brod ver- 
dienen kann. Ya, Vater, gebt Alles dem Vincenz, nur mich nit.“ 

„Dumme G'ſſchwätz,“ ſagte Stromminger betroffen. „Sollen mir die Leut' 
nadjagen, daß der Stromminger nicht einmal fein eigenes Kind meiftern kann? 
Du nimmft den Vincenz und — wenn % Di in die Kirch prügeln müßt.“ 

„Und wenn Jhr mich in die Kirch prügelt, jo ſag J am Altar noch Nein. 
Todtſchlagen könnt Ahr mich — aber das Ya könnt Ihr mir nit ’raus- 
prügeln — und wenn Ihr's könntet — jo jpräng % eher vom Felſen 'nunter, 
eh’ denn J zu Ein'm in’3 Neft ging, den J nit mag.“ 

„Jetzt hör'!“ ſchrie Stromminger, und feine breite Stirn war wie gejpalten 
durch eine blaue Zornader, die darüber hinlief, jein ganzes Gefiht war auf- 
gequollen, jeine Augen blutunterlaufen, „jetzt hör’, mad’ mich nit toll! Du 
haft ſchon g’nug bei mir auf dem Kerbholz — jet gib Ruh — oder 's nimmt 
zwiſchen uns ein jchlechtes End'!“ 

„Ein Schlechtes End’ hat's jchon vor einem Jahr zwiſchen uns g’nommen, 
Vater! Denn wie Ihr mic fo g’ichlagen habt, damal3 an meinem Firmeltag — 
da hab’ I's g’ipürt, daß Alles zwijchen uns aus ift. Und jchaut, Vater, feit- 
dem ift mir Alles einerlei, ob Ahr mir bös jeid oder gut, ob Ihr mir ſchön 
thut oder ob Ihr mich todtichlagt — 's ift mir Alles einerlei, — J hab Fein 
Herz mehr für Euch, Ihr ſeid mir g’rad jo lieb wie der Similaun- oder 
Vernagt- oder Murzoll-Gletjcher!” 

Ein erſtickter Schrei der Wuth drang jetzt aus Stromminger’3 Bruft, nach— 
dem er dem Mädchen halb erjtarrt zugehört. Er ſprang auf fie zu, unfähig 
zu ſprechen, faßte fie um den Leib, ſchwang fie vom Boden auf hoch über jeinen 
Kopf, jIchüttelte fie in der Luft fo lange, bis ihm ſelbſt der Athem ausging, 
dann warf er fie zur Erde und ſetzte dem nägelbejchlagenen Abſatz auf ihre 
Bruft: „Bitt’ ab, was Du da g’jagt haft, oder J zertret’ Dich wie 'n Wurm,” 
feuchte er. 


16 Deutſche Rundſchau. 


„Thut's!“ ſagte das Mädchen und ihre Augen waren ſtarr auf den Vater 
gerichtet. Sie athmete ſchwer, denn des Vaters Fuß laſtete bleiern auf ihr, 
aber ſie regte ſich nicht, ſie zuckte nicht mit der Wimper. 

Jetzt war Stromminger's Macht gebrochen. Er hatte gedroht, was er 
nicht halten fonnte, denn vor dem Gedanken, die ſchöne, unjchuldige Bruft feines 
Kindes zu zertreten, erbleichte jein Zorn und er ward plötzlich nüchtern. Er 
war bejiegt. Er zog fajt taumelnd den Fuß von ihr zurüd. „Nein, im Zucht- 
haus will der Höchftbauer doch nit enden,“ jagte er dumpf und ſank erſchöpft 
in einen Seſſel. 

Wally erhob fi; fie war todtenbleih, ihr Auge war thränenlos, glanzlos, 
wie von Stein. Sie harrte unbeweglich deifen, was nun werden jollte. 

Eine Minute ſchweren Nachdenkens ließ Stromminger verftreihen, dann 
ſprach er mit heiferer Stimme: „J kann Did nit umbringen, aber weil 
Dir der Similaun und der Murzoll doch jo lieb find wie Dein Vater, jo ſollſt 
fünftig auch beim Similaun und beim Murzoll bleiben. Da g’hörft Du hin! 
Unter meinen Tiſch ftredjt Deine Füß' nimmer. Du gehft auf's Hochjoch Vieh 
hüten und bleibjt jo lang oben, bi3 D’ einjehen g’lernt haft, daß es doch beijer 
it im Vincenz feinem warmen Neft, al3 im Murzoll feinen Schneemulden. 
Schnür Dein Bündel, denn % will Did) nimmer jehen. Morgen früh geht 
hinauf. J werd’ den Schnaljern den Pacht künden und ſchick Dir mit 'm 
Handbub nächte Woch' das Vieh nad; nimm Brod und Käs mit, daß Du 
g'nug haft, bis 's Vieh kommt. Der Hlettenmaier jol Did 'nauf führen. Und 
jet heb’ Dich weg, das ift mein letztes Wort und bei dem bleibt's!“ 

„3 iſt Recht, Vater!” ſagte Wally leife, neigte das Haupt und verließ ihres 
Vaters Zimmer. 


III. 
Berftoßen. 


Auf Hohjoh! Das war ein furchtbares Wort. Denn in den unmwirth- 
(ihen Gefilden des Hochjochs, da ift nicht das Fröhliche Leben der Alm, wo die 
weiche, würzige Luft vom Geläut der Gloden und vom Gejodel der Sennen 
und Sennerinnen widerhallt, — hier ift ewiger Winter, Todesruhe. Traurig 
leife, wie wohl eine Mutter die bleihe Stirn de3 todten Kindes küßt, jo küßt 
die Sonne dieje falten Firnen. Spärliche Matten, die legten Rejte zähen orga- 
niſchen Lebens, ziehen ſich noch verloren in die winterliche Wildniß hinein, bis 
endlich der letzte Halm ausgerottet, der lette Tropfen quellenden Saftes erftarrt 
it. Ein langſames Abfterben der Natur. Aber der jparjame Bauer nützt aud) 
diefen fargen Reſt noch aus. Er ſchickt feine Heerden hinauf, um abzugrafen, 
was fie da oben noch finden, und das weidende Schaf, das lüftern einer bis 
hierher verirrten Pflanze milderer Regionen nachftrebt, fällt nicht jelten in eine 
Gisipalte hinab. 

So follte das Kind des ſtolzen Höchftbauern, defjen Befigthum auf Stunden 
in die Meite und hinauf bi3 in die Wolken reichte, feine Blüthezeit in beftän- 
digem Winter zubringen. Während unten auf der Erde die Mailüfte wehten, 


Die Geier:Wally. 17 


der quellende Saft die Knospen jprengte, die Vögel ihre Nefter bauten und 
Alles ſich regte im röhlichen Verein, mußte fie den Hirtenftab zur Hand nehmen 
und auswandern aus den Frühlingsgefilden hinauf in die Einöde des Gletjchers, 
und erft, wenn unten der Herbſtwind jaufte und der Winter ſich anjchickte, zu Thal 
zu gehen, dann durfte auch fie herabfteigen, als wäre jie ihm verkauft mit 
Leib und Leben. 

Kein Bauer der ganzen Gegend jchiekte feine Hirten dahinauf, jondern fie 
hatten die Weiden verpachtet an die Schnalfer jenfeit3 des Joch, denen fie 
näher lagen, und dieje jchiekten ein paar halbwilde wetterharte Gejellen herüber, 
die ſich in Felle Fleideten und auf Stunden von einander entfernt in Steinhütten 
wie die Einfiedler Hauften, und nun verdammte der Höchftbauer, der feine Weiden 
bisher auch immer verpachtet hatte, jein eigenes Kind zu dem Leben der Schnalfer 
Hirten. Aber über Wally's Lippen kam feine Klage. Sie rüftete fi till zu 
der freudlojen Alpfahrt. Gegen Morgen, lange vor Sonnenaufgang, während 
der Vater, die Knechte und Mägde noch jchliefen, zog Wally aus ihres Vaters 
Haufe fort — auf die Berge. Nur die alte Ludard, „die ja Alles aus den 
Karten vorhergevußt” und die Naht bei Wally aufgewejen, ihr das Bündel 
ſchnüren zu helfen, jtecte ihr zum Lebetwohl den Rautenftrauß auf's Hütel und 
ging ein Stüd mit ihr. Die Alte weinte, al3 gäbe jie einer Todten das Geleit. 
Der Klettenmaier fam mit dem Paden hinterdrein. Er war ein alter treuer 
Knecht, der Einzige, der im Dienfte Stromminger’3 ergraut war, weil er taub 
war und es nicht hörte, wenn der Stromminger ſchalt und tobte. Diejen hatte 
er feiner Tochter zum Führer mitgegeben. Die Ludard ging mit bi3 wo der 
Weg fteil anjtieg; dort nahm fie Abjchied und kehrte um, weil fie zum Morgen— 
brod wieder daheim jein mußte. Wally ftieg die Höhe hinan und ſchaute Hin- 
unter auf den Weg, wo die Alte Hinjchritt umd in die Schürze weinte, und e3 
wurde ihr beinahe jelbjt weich um's Herz. Die Ludard war doch immer qut 
mit ihr gewejen, wenn fie auch alt und ſchwach war, jie hatte Wally wenigftens 
lieb gehabt. Da drehte ſich die Alte unten auf dem Wege noch einmal um 
und deutete nach oben. Wally folgte der Richtung ihres Fingerzeigs und ieh, 
da jegelte etwas an der Bergwand Hin durch die Luft, ſchwerfällig, unficher, 
wie ein Bapierdrache, dem der Wind fehlt — immer nur ein Stück weit fliegend, 
dann niederfallend und ſich mühſam wieder aufraffend. Der Geier war ihr 
mit feinen geftußten Flügeln den ganzen Weg jo mühſelig nachgeflattert. Jetzt 
ſchien ihm aber die Kraft auszugehen, er Humpelte nur no, mit den Flügeln 
Ichlagend, weiter. 

„Hansl — o mein Hansl — mie hab’ J Dich vergeffen könne!“ rief 
Wally und jprang wie eine Gemje von Stein zu Stein, den kürzeſten Weg 
zurüc, da3 treue Thier zu holen. Die Lucdard blieb ftehen, bis+Wally den 
Saumpfad wieder gewann, und begrüßte fie noch einmal, wie nad) einer langen 
Trennung. Endlich war Hanzl erreiht, und Wally nahm ihn in ihre Arme 
und drücte ihn an ihr Herz, wie ein Kind. — Seit gejtern Abend hatte fie 
den Vogel in ihren Gedanken mit Joſeph jo veriwoben, daß er ihr falt war 
wie ein ftummer Vermittler zwilchen ihr und ihm, oder wie wenn fi 
Joſeph in den Geier verwandelt habe und fie halte ihn in den Armen, wenn 

Deutſche Rundichau. 7, 4. 


18 Deutihe Rundſchau. 


fie den Vogel halte. Wie ſich der inbrünftige Glaube feine ſichtbaren Sym- 
bole jhafft, um das unerreihbar Ferne fi nahzubringen, das Unfaßbare 
zu faffen, und wie ihm ein hölzerne Kreuz und ein gemaltes Heiligenbild 
wunderthätig wird, jo Schafft ſich auch die inbrünftige Liebe ihre Symbolif, 
an die fie ſich klammert, wenn ihr der Geliebte unerreihbar fern ift, und fo 
ihöpfte Wally aus dem Vogel eine wunderbare Tröftung „Komm Hansl,“ 
fagte fie zärtlih, „Du gehſt mit mir hinauf auf den Ferner. Wir zwei trennen 
un nimmer!“ 

„Aber Kind,“ ſagte die Ludard, „Du kannſt doch den Geier nit mit da 
'nauf nehmen, er müßt’ ja verhungern; Du haft da droben fein Fleiſch, und fo 
ein Viech frißt ja nir anders.“ 

„Du haft Recht,“ jagte Wally betrübt, „aber J kann mid) von dem Thier 
nit trennen, % muß doc) etwas haben da droben in der Einöde. Und % kann 
auch das Thier nit allein z'Haus lafjen, wer thät’ denn d’rauf achten und für 
ihn jorgen, wenn J nit da wär'.“ 

„D, wegen dem jei nur ruhig,“ rief Ludard, „Y will Schon für ihn forgen !“ 

„Sa, aber Dir folgt er nit,“ meinte Wally, „Du wirft nit mit ihm fertig 
werden.“ 

„Ad, J bitt! Dich,“ ſagte die Ludard harmlos, „J hab’ Dich jo Yang’ 
g'hütet — J werd’ auch den Geier hüten können! Gieb ihn nur her, J will 
ihn heimtragen.“ Und jie nahm Wally friſchweg den Geier vom Arm. Aber 
da war’ gefehlt, denn das herrliche Thier jehte fich zur Wehre und hackte jo 
zornig nad) Ludard, daß dieje ihn erichroden fahren ließ. An ein Mitnehmen 
war nicht mehr zu denken. 

„Sieht!“ jubelte Wally, „er geht nit von mir, J muß ihn ſchon behalten, 
werd's wie’3 will! J bin ja nun einmal die Geier-Wally, jo will I's auch 
bleiben. O, mein Hanjel, jo lang’ wir zwei beiſammen find, hat’3 feine Noth! 
Weißt was, Luckard, J laſſ' ihm jet die Flügel wachen, er fliegt mir doch 
nit mehr fort, und dann kann er ſich dort oben jein Futter jelber juchen.“ 

„sn Gottes Namen, jo nimm ihn mit. J ſchick“ Dir dann mit'm Hanb- 
bub noch was Friſches und was G'ſelchtes 'rauf, das kannſt ihm für den 
Anfang geben, bis er weiter fliegen Tan.“ Und jo war e3 denn entjchieden; 
Wally nahm den Vogel unter den Arm wie ein Huhn und trennte fi) von 
Ludard, die auf3 Neue zu weinen anfing. Nun ging e3 ohne Aufenthalt 
wieder den Berg hinan, dem Klettenmaier nad), der indejjen vorausgegangen war. 

Nach zwei Stunden erreichte fie Bent, das letzte Dorf am Eingang in die 
GEiswelt. Sie erftieg die Anhöhe über Vent. Hier begann der Weg auf 
da3 Hochjoch. Sie blieb nod einmal ſtehen und ſchaute, an ihren Bergftod 
gelehnt, hinab auf das ftille, Halb noch traumumfangene Dorf und hinüber 
nad dem Wildfee und den leten Käufern des Debthals, den Rofener Höfen, 
die faft am Fuße des immer vor- und rückwärts jchreitenden Hochvernagtferners 
lagen und troßig zu jagen fchienen: „Zertritt uns!“ wie Wally gejtern zu 
ihrem Water gejagt. Und wie ihr Vater, jo 309 aud der Hochvernagt immer 
wieder feinen mächtigen Fuß zurüd, als könne er es nicht über jich gewinnen, 
die Burg feiner braven Alpenjöhne, der „Klötze von Rofen“, zu zerjtören. Und 


Die Geier:Wally. 19 


wie fie jo daftand und hinabſchaute auf die legten Menjchenwohnungen, bevor 
fie hinaufftieg in die Wildniß über den Wolfen, da Hub e3 drunten auf dem 
Kichthurm von Vent an, zur Frühmette zu läuten. Aus der Thür des Kleinen 
Pfarrhauſes, wo die Knospen der Bergnelfen am Fenſter im Morgenwind 
nidten, trat der Gaplan und ging mit gefaltenen Händen jeiner Amtspflicht 
nah in die Kirche. Da und dort thaten die Holzhütten ihre jchlaftrunfenen 
Augen auf und eine Geftalt nach der andern trat heraus, ftredfte jich und jchritt 
mälig der Kirche zu. 

Sorglih, feinen Ton verlierend, trugen windbeflügelte Engel da3 Fromme 
Geläut durch die Morgendämmerung hinauf auf die Berge, daß es an Wally’s 
Ohr Klang wie eine betende Kinderjtimme. Und wie ein Kind die Mutter auf- 
wert mit feinem ſüßen Lallen, fo ſchien das Geläut von Bent die Sonne geweckt 
zu haben; fie that ihr Weltenauge auf, und die Strahlen ihres erjten Blickes 
ichoffen empor über die Gebirge, ein unermeßliches Flammenbüjchel, das die 
Häupter im Oſten frönte. Das dichte Dämmergrau am Himmel verklärte ji) 
plötzlich durhfichtig blau, immer mächtiger breitete jih’3 aus, das Strahlen- 
ſchießen über alle Himmel, und da ftieg fie endlih empor über die twolfen- 
verhüllien Gipfel in ihrer vollen Pracht und wandte ihr- Flammenangeficht 
liebend der Erde zu. Und die Berge ftreiften die Nebelhüllen ab und badeten 
die nadten Formen in Strömen von Licht. Tief unten in den Schlünden 
wallte und wogte e3 auf und nieder, als hätten fi) alle Wolfen von dem 
reinen Himmel dort hinabgejentt. Oben in den Lüften jaufte e8 wie wilde 
Jubelhymnen, und die Erde weinte Thränen jeligjten Erwachens, wie die Braut 
am Hochzeitsmorgen. Und wie die Thräne an den Wimpern der Braut, To 
zitterte der Frühthau wonnig an Halmen und Büfchen. Freude über allen 
Gefilden, oben auf den Bergen, wo der blendende Strahl fich in dem weit— 
Ihauenden Auge der Gemſe jpiegelte, unten im Thal, wo die Lerdhe ſich zwit— 
ſchernd aus dem Saatfeld aufſchwang! 

Trunken ſchaute Wally in die erwachende Welt hinein, und ihr Auge ver- 
mochte e3 faum in den engen Rahmen zu faſſen, das weite, leuchtende Bild in 
feiner keuſchen Morgenſchöne. Der Geier auf ihrer Schulter Lüftete wie grüßend 
und jehnjüchtig jeine breiten Schwingen der Sonne zu. Unten in Vent wurde 
es indeljen lebendig. Wally konnte in dem grellen Morgenlicht Alles unter- 
ſcheiden. Die Buben küßten am Brunnen die Mädels. Aus den Häufern 
wirbelte weißer Rauch auf, jpurlos verſchwindend in der heitern Frühlingsluft — 
wie jih auch in der glüdlichen Seele ein trüber Gedanke in Nichts auflöft. 
Auf dem Pla vor der Kirche verfammelten jih die Männer in jonntäglich 
zeinen Hemdärmeln, die Pfeifen mit dem Silberbeihläg im Mund. Es war 
Pfingſtmontag, wo Alles feierte und ſich freute. O heiliges Pfingftfeft! Sold) 
ein Tag mußte e3 gewejen jein, da der Geijt des Seren ſich herabſenkte auf 
die Jünger und fie verflärte mit dem göttlichen Lichtftrahl, daß fie Hingingen 
in alle Welt und predigten das Evangelium der Liebe — predigten e3 den 
warmen offenen Frühlingsherzen, und im Frühling der Erde brach auch der 
Menschheit Frühling an — die Religion der Liebe! Nur für das Mädchen da 
droben auf dem Berg gab es feine Pfingjten, feine Offenbarung der Liebe. 


20 Deutſche Rundſchau. 


Kein beredter Mund hatte ihm das Evangelium lebendig gemacht. Ein ftarrer 
Buchftabe war es ihm geblieben, ein blindes Samenkorn, dem der warme Strahl 
gefehlt, der e3 aufgehen ließ in feinem Herzen. Ihm ſenkte ſich feine Friedens— 
taube aus dem tiefblauen Himmel herab — der Raubvogel auf feiner Schulter 
war ihm der einzige Liebesbote! — — 

Endlich raffte ji Wally aus ihrem traumhaften Schauen auf. Noch einen 
Abſchiedsblick jandte fie in die Iuftigen lauten Dörfer hinab — dann wandte 
fie fi) und ftieg den ftillen Schneegefilden des Hochjochs zu — in die Ber- 
bannung! 


IV. 
Das Kind Murzoll’s. 


Fünf Stunden war Wally geftiegen, bald über ganze Felder duftiger Alpen- 
fräuter, bald über fußtiefe Schneefelder und breite Moränen hin. Die durch— 
wachte Nacht lag ihr lähmend in den Gliedern, und faft verzagte fie, das Ziel 
ihrer „Fahrt“ zu erreihen. Hände und Füße zitterten ihr, denn fünf Stunden 
mit ſolch einem tüdijchen Berg um fein Leben fämpfen — ift eine harte Arbeit. 
Schwere Tropfen perlten auf Wally's Stirn, da plößlich wie mit einem Zauber— 
ſchlage ftand fie vor einer Wolkenwand. Sie war um eine Felſenecke gebogen, 
die fi) vor die Sonne geſchoben hatte, und nun umfing fie dichter Nebel und 
ein eifiger Hauch trodnete ihr den Schweiß von der Stirn. Ihre Fühe rutichten 
bei jedem Schritt, jo jpiegelglatt war hier der Boden. Sie ftand auf Eis. Sie 
hatte den Murzoll-Gletſcher betreten, die höchſte Zade des Hochjochkamms. 
Hier wuchs nur noch dürftiges Berggras zwiſchen Geröll und Schnee hervor, 
ringsum bläulich ſchimmerndes Eisgeflüft, reine, die8 Jahr noch von feinem 
Menſchen- oder Thierfuß beſchmutzte Schneeflächen, tiefer Winter. Fröſtelnd 
Ichauderte Wally zuſammen. Dies war der Vorhof zur Eisburg Murzoll's, von 
der im Debthal jo viele Sagen gehen, two die „ſaligen“ (jeligen) Fräulein haufen, 
von denen die Ludard der Kleinen Waly an langen Winterabenden erzählt, 
wenn der Schneefturm um das Haus heulte. Es wehte fie faft geſpenſtiſch an 
aus biejen öden Eismauern, Höhlen und Berliegen, wie alte Schauer der Kind— 
heit, al3 wohne hier wirklich der finftre Gletjchergeift, mit dem die Ludard fie 
jo oft zu Bett geſchreckt, wenn fie widerſpenſtig war. 

Lautlos jchritt fie weiter. Endlich machte der taube Führer Halt bei einer 
niederen Hütte, von Steinen erbaut, mit weitüberhängendem Dad, einer ftarfen 
Thür von rohem Holz und kleinen Lucken, ftatt der Fenſter. Darin waren ein 
paar geihwärzte Steine al3 Herd und eine Lagerftätte aus altem verfaulten 
Stroh. Das war die Hütte des Schnalfer Hirten, der ſonſt hier gehütet hatte, 
und die nun Wally bewohnen ſollte. Wally verzog feine Miene, al3 fie die 
troftloje Behauſung jah; es war eben eine jchlechte Alphütte, wie e& viele gab, 
und fie war ja hart gewöhnt. Solche Dinge waren e3 nicht, die ihren troßigen 
Muth erichütterten. Aber fie war erſchöpft zum Umſinken, fie Hatte feit geftern 
mehr durchgemacht, als jelbft ihre ungewöhnliche Kraft ertragen konnte. Mecha— 
nich half fie dem Tauben, dem Ludard eine Menge Nöthiges und Gutes für 


Die Geier-Wally. 21 


Wally aufgepackt, eine beſſere Lagerſtätte bereiten, ſich in der öden Hütte etwas 
wohnlicher einzurichten. Mechaniſch aß ſie mit ihm von dem, was Luckard ihr 
mitgegeben. Der Mann ſah, daß ſie blaß war, und ſagte mitleidig: „So, jetzt 
wär's 'geſſen, jetzt leg' Dich ein Biſſel nieder und ſchlaf', Du haſt's nöthig. 
J will Dir von da drunten derweil Holz 'rauf tragen für die nächſten Täg'; 
nachher muß J aber wieder umkehren, ſonſt komm' J nimmer bei Tag heim, 
und Dein Vater hat's ſtreng befohlen, daß J heut wieder z'ruck komm'.“ Gr 
ſchüttelte ihr einen guten Strohſack auf, den er mitgeſchleppt, und ſie ſank mit 
halb geſchloſſenen Augen darauf nieder und reichte ihm dankbar die Hand. 

„J will Dich nit wecken,“ ſagte er. „Wenn's D' etwa noch ſchlafen thät'ſt, 
warn J ging, ſag' J Dir jetzt glei Adjes! Bleib g'ſund und fürcht' Dich 
nit. — Du dauerſt mich — da oben jo allein — aber — warum haft Dein'm 
Vater nit g’folgt!” 

Wally hörte die letzten Worte nur no wie im Traum. Der Taube ver: 
ließ die Hütte mitleidig kopfihüttelnd,; das Mädchen jchlief bereits jet. Bang 
und ſchwer hob und jenkte fich ihre Bruft, denn auch im Schlummer drückt 
erfahrenes Leid wie ein Alp. Und fie träumte von ihrem Vater, ex jchleife te 
an den Haaren in die Kirche. Und fie dachte immer, wenn fie nur ein Meſſer 
hätte, daß fie die Haare abjchneiden könnte, dann wäre jie.frei. Da plößlic) 
ftand der Joſeph neben ihr und hieb mit einem Streich die Zöpfe durch, daß 
der Vater jie in der Hand behielt, und Wally lief fort, und während der Joſeph 
mit dem Vater rang, ftieg Wally die Anhöhe der Sonnenplatten hinan, um 
fi in die Ache hinabzuftürzen. Aber ihr graufte doch vor der Untiefe und jie 
beſann fi. Da hörte fie wieder ihren Vater dicht hinter ſich, Verzweiflung 
faßte fie und num that fie den Sprung. Sie fiel und fiel — aber fie fonnte 
nicht zur Tiefe fommen, und plößlic) da war es, ala ſtemme fi ihr von unten 
ein Luftdruck entgegen, der fie nicht hinunter ließe, jondern fie höbe und empor- 
trüge. So jchwebte fie auf, immer kämpfend um da3 Gleichgewicht, das fie 
bejtändig zu verlieren fürchtete, bi3 zu dem Gipfel Murzoll’3. Aber jie konnte 
nicht Fuß fallen auf dem Felſen, wie ein Schiff, das nicht anlegen fann. Ein 
furchtbarer Wirbelwind hatte fie erfaßt, und fie mühte fich vergebens, ſich an 
der nadten Wand anzuklammern. Schwarze Gewitterwolfen ballten ſich um 
fie zufammen, durch die geſpenſtiſch bleich der ſchneeige Scheitel de3 Berges 
hindurd) ragte. Feurige Schlangen durchfuhren die ſchwarze Maſſe um fie her 
und ein Donnerichlag krachte, daß der Berg erdröhnte, und fie wurde wirbelnd 
zwijchen diefen Gewalten hin- und hergejchleudert, und fie hatte nur immer die 
Angſt, daß der Sturm fie umkehre, denn fie fühlte, daß, wenn fie mit dem 
Kopf nad) unten käme, fie in die Tiefe ftürzen müſſe. Und fie bog ſich und 
wand fi wie ein Schifflein auf den jchaufelnden Luftwellen und mühte ſich 
ab, den Kopf oben zu behalten. Aber da hob es ihr die Füße auf und fie 
fühlte, wie die Schwere des Kopfes abwärt3 wuchtete. Sie wollte in den Sturm 
und den Donner und die ſchwarze Wolkennacht hinein um Hülfe jchreien, aber 
fie brachte feinen Ton heraus, das Entſetzen ſchnürte ihr den Hals zu. Da 
plötzlich ward fie gehalten, fie fühlte fejten Grund, fie lag in einer Bergſchlucht, 
wie fie meinte, aber e8 war feine Schludt — es waren riefige fteinerne Arme, 


22 Deutiche Rundſchau. 


die fie umfingen, und fiehe, aus dem gelichteten Gewölk heraus bog fi ein 
mächtige Antlit von Stein über fie. Es war das greife Antlig Murzoll's. 
Seine Haare waren bejchneite Wichten, jeine Augen Eis, fein Bart war Moos 
und die Brauen waren Edelweiß. Auf feiner Stirn ftand als Diadem die 
Mondesſichel und ergoß ihren milden Schein iiber das weiße Angeficht, und 
die großen Augen von Ei3 leuchteten geifterhaft in dem bläulichen Licht. Und 
er Ihaute das Mädchen an mit diefen Falten, durchſichtigen und doch unergründ- 
lichen Augen, und unter diefem Blick gefroren ihr die Tropfen des Angitichweißes 
auf der Stirn und die Thränen auf der Wange und fielen leije klirrend wie 
Kryftallperlen herab. Und er drückte die fteinernen Lippen auf die ihren und 
unter dem langen Kuß wuchſen Alpenrojen um feinen Mund, der warm und 
thaufeucht getworden, und al3 er Wally wieder anſchaute, da rannen Gleticher- 
bäche au3 jeinen eifigen Augen in den Moosbart hinein. Die ſchwarzen Wolken 
hatten fi) verzogen und ein Frühlingswehen ging durch die Naht. Und nun 
regte Murzoll die aufgethauten Lippen und es klang wie das dumpfe Rollen 
in’s Thal ftürzender Lawinen: „Dein Vater hat Dich verſtoßen — ih nehme 
Did auf an Kindesftatt, denn das falte Geftein fühlt eher ein Rühren als ein 
verhärtetes Menſchenherz. Du gefällft mir, Du bift von meiner Art, es ift 
etwas von dem Stoff in Dir, aus dem die Felſen geworden. Willft Du mein 
Kind ſein?“ 

„J will!” ſagte Wally und jchmiegte fi) an das fteinerne Herz des neuen 
Vaters. 


„So bleib’ bei mir und fehre nicht wieder zurück zu den Menfchen, denn 
bei ihnen ift der Kampf — bei mir nur ift Friede!” 

„Aber der Joſeph, den J gern hab'“, jagte Wally, „Toll % ihn niemals 
haben?“ 

„Laſſ' ihn,“ ſagte der Berg, „Du darfſt ihn nicht Lieben, er ift ein Gems— 
jäger, und meine Töchter haben ihm den Untergang geſchworen. Komm’, id) 
bringe Dich zu ihnen, daß fie Dir das Herz abtödten, jonft kannſt Du nicht 
leben in unſerm etwigen Frieden!” Und er trug fie durch weite, weite Hallen 
und endloje Gänge von Eis hindurch, und fie famen in einen großen Saal, der 
war ganz durchſichtig wie von Kryſtall, und die Sonnenftrahlen fielen herein 
und brachen ſich in Millionen farbiger Funken, und durch die Wände ſchimmerten 
bunt in einander verihiwommen und jeltfam verſchoben Himmel und Erbe. 
Da jpielten weiße, jchneegligernde Mädchengeftalten in wallenden Nebelichleiern 
mit einer Heerde Geinfen, und es war luftig anzujehen, wie fie fi) neckten mit 
den jchnellfüßigen Thieren, ſich mit ihnen haſchten und Hujchten hierhin und 
dorthin. Das waren die Töchter Murzoll’3, die „jeligen Fräulein“ des Oetzthals. 
Und ſie ſchaarten fich neugierig um Wally, als Murzoll fie auf den glatten 
Spiegel de3 Bodens niederjegte. Sie waren ſchön wie die Engel, fie hatten 
Gejichter wie Milch und Blut; aber als Wally fie näher betradjtete, Jah jie 
mit leiſem Grauen, daß fie Alle Augen von Ei3 hatten, wie ihr Vater, und das 
Roth, das ihre Wangen und Lippen färbte, war fein Blut — jondern nur 
Alpenroſenſaft, und fie waren kalt wie gefrorener Schnee. 


Die Geier:Wally. 23 


„Wollt Ihr Die behalten?” jagte Murzoll. „ch habe fie lieb, fie ift ſtark 
und feft wie von Stein. Sie joll Eure Schweſter fein.” 

„Sie ift Ihön”, jagten die Fräulein, „fie hat Gemjenaugen. Aber fie hat 
warmes Blut und liebt einen Gemsjäger — wir wiſſen's!“ 

„So legt ihr die Hände auf’3 Herz, daß e3 einfriert mit all’ ihrer Liebe 
und fie jelig jei wie Ihr,“ befahl Murzoll- . 

Da eilten die Fräulein auf fie zu, daß es ſie anmwehte wie ein Schneefturm, 
und ftredten die falten weißen Hände nad) ihrem Herzen aus; fie fühlte ſchon, 
tie jih das zujammenzog und langjamer pochte. Da wehrte fie mit beiden 
Armen die jeligen Fräulein von fi) ab und rief: „Nein, Takt mid — J will 
nit jelig fein, J will den Joſeph!“ 

„Wenn Du wieder unter die Menjchen gehft, jo zerichmettern wir den Jo— 
feph umd werfen Dich mit ihm in den Abgrund,” drohten die jeligen Fräulein, 
„denn Keiner darf unter den Menjchen leben, der uns gejehen.“ 

„Sp werft mic) in den Abgrund, aber laßt mir meine Lieb’ im Herzen — 
Alles, Alles will J erdulden, aber von meiner Lieb’ laſſ' X nit!” Und mit der 
Kraft der Verzweiflung faßte Wally eines der jeligen Fräulein um den Leib 
und rang mit ihr, und fiehe, da zerbradh ihr die zarte Geftalt in den Armen 
und fie behielt nur riefelnden Schnee in der Hand. Das Tageslicht erloſch, plötzlich 
war Alles in graue Dämmerung gehüllt, fie ſtand auf nadtem Fels, ein ſcharfer 
Mind peitichte ihr Eisnadeln in's Geſicht, und ftatt der jeligen Fräulein wir- 
belten weiße Nebel in wilden Tanz um fie her. Hoc über ihr blickte das 
bleiche Gefiht Murzoll's finfter dur die Wolken und er donnerte fie an: „Du 
lehnſt Dich auf wider Menſchen und Götter — Himmel und Erde werden Dir 
Feind jein! — Weh Dir!” Und verihmwunden war Alles — Wally erwadte. 
Kalt pfiff der Abendwind durch die Luden über Wally hin. Sie rieb ſich die 
Augen , noch zitterte ihr das Herz in der Bruſt von dem unheimlihen Traum, 
fie brauchte lang, bis fie wußte, two fie jei, bis fi) das Traumbild und die 
Wirklichkeit von einander jchieden. Ein unerklärliches Grauen war in ihr zu— 
rücfgeblieben und theilte ſich auch der Wirklichkeit mit. Sie ftand von ihrem 
Lager auf und rief unwillkürlich nad dem Knecht. Sie trat vor die Hütte 
hinaus, ihn zu juchen. Es war ein jchöner, heller Abend geworden, die Nebel 
hatten fich zerjtreut, aber die Sonne war im Sinken und jcharf wehte die Luft 
der Höhe. Wally eilte hierhin und dorthin nach) dem Tauben — fie fand nichts 
al3 einen aufgefhichteten Stoß von Fichtenholz, den er für fie zujammen- 
getragen. Da fiel ihr ein, daß er gejagt, ex werde fortgehen, wenn fie noch 
ſchliefe. Es war fo, er hatte ihr Erwachen nicht abgewartet. Es war nicht 
recht von ihm, fie im Schlaf zu verlaffen! So aufwachen und Niemanden mehr 
finden — da3 war doch hart. E3 war jo ftill um fie her — jo öde und leer! 
E3 mochte ſechs Uhr jein und Zeit zum Melken. Jetzt jchauten wohl die ver- 
trauten Thiere zu Haus nad) der Stallthür, ob die Herrin nicht käme und Brod 
und Salz brächte — fie aber legte hier oben die Hände in den Schooß und 
um fie her regte ſich nichts weit und breit. O die Todtenftille und die Un— 
thätigfeit! — Sie wußte nicht, twie ihr zu Muthe war, — fo einfam, ſo ſchrecklich 
einfam! Sie ftieg weiter hinauf auf einen überragenden Vorſprung, um hinab— 


24 Deutiche Rundſchau. 


zufehen auf die weite Welt. Ein nie gejchautes unermeßliches Bild bot fi) 
ihrem Bli im Purpur der untergehenden Sonne. Da lagen fie offen vor ihr 
bi3 an den Saum des Horizontes umhergeftreut, die Gebirge Tirols, in der 
Ferne immer Heiner werdend, in der Nähe erdrückend, überwältigend in ihrer 
ftillen Größe und Erhabenheit. Und zwijchen ihnen ruhend wie Kinder in Vaters 
Armen die blühenden Hochthäler. -Und e3 ergriff fie ein namenlojes Heimweh 
nach den trauten heimathlichen Fluren, die jeßt eben vor ihrem Blick in fried- 
liche Abendichatten verſanken. Die Sonne war hinabgeglitten und lieg am Saum 
de3 Horizontes im violetten Gewölf xoth angelaufene Goldftreifen zurüd. Die 
weiße Mondicheibe begann allmälig zu leuchten und kämpfte mit dem lebten 
verfladernden Tagesſchein um die Herrſchaft. In den Thälern ward e3 Nacht. 
Da und dort war e3, als ſchimmere ein Lichtlein, kaum fichtbar dem freien Auge 
durch die Ferne herauf — ein Exdenftern. Jetzt gingen fie zur Ruh', die flei= 
Bigen Genojfinnen dort unten. Ihnen war wohl, fie hatten Alle ein wirthlich 
Dad über dem Haupt und ruhten ficher geborgen im Schooß eines trauten 
Heimweſens — vielleicht laufchten fie noch ſchlaftrunken Hinter dem bunten Vor— 
hänglein am Eleinen Fenſter auf das Liedel des Herzliebjten — nur fie war 
einfam und ausgeftoßen hier oben, ſchutzlos preisgegeben allen Schreden, und 
ihr Obdach war die unwirthliche Hütte, durch deren Lucken der Wind pfiff. 
„O Vater, Vater, kannſt Du das über’3 Herz bringen?“ rief fie laut hinaus; 
aber aus Nähe und Ferne anttwortete ihr nur das Braufen des Nachtwindes. 
Immer höher ftieg die Mondesſcheibe, die Lichtjtreifen im Welten verloren ihren 
Goldglany und ſchimmerten nur noch gelb wie Meſſing am dunkeln Abendhimmel. 
Die Umriffe der Berge verfchoben und erweiterten fi in dem Zwielicht. 
Drohend, übermächtig ſchaute ihr nächfter Nachbar, der gewaltige Similaun, auf 
fie herab. Alle die Riefenhäupter ringsum ftierten fie feindlih an, weil fie e3 
wagte, ihr nächtlich Weſen zu belaufchen. E3 war, als jeien jie alle erft jeit 
Wally's Ankunft jo ruhig und ftill geworden, — wie eine Gejellichaft, die Ge— 
heimes verhandelt, plößlich verftummt, wenn ein Fremder unter fie tritt. Da 
ftand fie, die hülflofe Menjchengeftalt, jo allein inmitten diejer jtillen, jtarren 
Eiswelt, jo unerreihbar hoch über allem Lebenden — jo fremd in der unheim— 
lichen Gejellihaft von Wolken und Gletſchern, in dem entjeglichen, geheimniß— 
vollen Schweigen! „Nun bift Du ganz allein auf der Welt,“ jchrie es in ihr. 
Eine unnennbare Angft, die Angſt der Verlaffenheit, überfam fie. Ihr war 
plößlich, al3 müfje fie verloren gehen in dem weiten, unabjehbaren Raume, und 
wie hilfefuchend klammerte fie fih an die Felswand und drücdte das bang: 
Elopfende Herz an das falte Geſtein. Ä 

Was mit ihr vorgegangen in jener Stunde, da3 wußte fie jelbjt nicht — 
aber es war, al3 habe der Stein, an den fie das junge, heiße, zagende Herz 
drüdte, eine geheimnißvolle Macht über fie geübt, denn die Stunde hatte jie 
hart und rauh gemacht, ala fei fie in Wahrheit das Kind Murzoll's. 


Die Geier:Wally. 25 


V. 
Die Luckard. 

Als nach etwa acht Tagen der Hirtenbub mit dem Vieh heraufkam, erſchrak 
er faſt vor Wally, ſo verſtört ſah ſie aus; aber als er ihr ſagte: „Der Vater 
laßt Dich fragen, ob Du's jetzt g'nug hätt'ſt da Oben und Dei Schuldigkeit 
thun wollt'ſt?“ da biß ſie die Zähne zuſammen und antwortete: „Sag' dem 
Vater, lieber ließ' J mich da oben ſtückweis vom Geier freſſen, als dem, der 
mich da 'rauf g'jagt, noch was zu Lieb' thun!“ 

Das war vorderhand die letzte Botſchaft, die zwiſchen ihr und ihrem Vater 
ausgetauſcht ward. 

Als Wally ihre kleine Heerde um ſich hatte, die nur aus Schafen und Ziegen 
beitand, denn größeres Vieh fand in diefer Höhe nicht Nahrung genug, da kam 
ihr der alte Muth wieder, und die Bergwildniß verlor ihre Schreden für jie. 
Sie war ja num inmitten ihrer Schüßlinge nicht mehr einſam, fie hatte wieder 
etwas zu arbeiten, für etwas zu jorgen. Denn war ihr auch der Geier ein 
treuer Gefährte geweſen, er konnte doch die Unthätigkeit nicht bannen, die fie 
Fast zur Verzweiflung brachte und alle finfteren Gedanken über ſie Herr werden ließ. 

Sp gewöhnte fie fi) allmälig an die Einjamkeit, und fie wurde ihr lieb 
und traut. Das Leben mit jeinen alltäglichen Kleinen und großen Anforderungen 
beengt und bejchränft jede große Natur; hier oben konnte Wally’3 unbändiger 
Sinn uneingefhräntt auswuchern, hier oben war für fie volle Freiheit, fein 
Menſch war da, ihr zu widerſprechen, fein fremder Wille ftellte ſich ihr ent- 
gegen und als da3 einzige denfende Wejen weit und breit fühlte jie ſich allmälig 
eine Königin auf ihrem einfamen hohen Throne, eine Herrjcherin in dem uner- 
meßlichen ftillen Reich, das ihr Auge überichaute. Und fie blickte endlich mit 
einer mitleidigen Beratung von ihrer Höhe auf das armjelige Gejchlecht herab, 
das da unten im Brodem der Exde Lüftete und gierte, feilſchte und rechnete, 
und ein heimlicher Abjcheu trat an die Stelle des Heimwehes. Dort unten 
war der Kampf und die Qual und die Schuld. Murzoll hatte wahr geiprochen 
in ihrem Traum, — bier oben in dem reinen Element von Eis und Schnee, 
in der reinen Luft, die fein Rauch und fein Peſthauch zerftörten Lebens ver- 
dichtete, war der Friede, die Unſchuld, hier zwiſchen den gewaltigen, ruhigen 
Formen der Gebirge, die jie Anfangs erjchrect hatten, war ihr die Ahnung 
de3 Grhabenen aufgegangen und ihr Sinn hatte ji) daran emporgehoben weit 
über da3 gewöhnlide Maß hinaus. Nur Einer von allen den niedrigen Erden— 
bewohnern dort unten blieb ihr lieb, ſchön und groß nad) wie vor. Es war 
Joſeph der Bärentödter, der Sanct Georg ihres Traumes. Lebte er doch aud) 
wie fie mehr auf den Höhen, al3 in der Tiefe, hatte ex doch alle die hHimmelan- 
tragenden Spiben beftiegen, auf die ſich fein Anderer wagte, holte er doch die 
Gemje vom jteiljten Felſen herab und gab es für ihn weder in der Höhe noch 
in der Tiefe ein Schredniß. Er war der ſtärkſte, der muthigfte Mann, wie fie 
da3 ſtärkſte, das muthigfte Mädel! In ganz Tirol war ihm fein Mädel eben- 
bürtig wie jie — in ganz Tirol war fein Mann ihr ebenbürtig wie er. Sie 
gehörten zu einander, fie twaren zwei Bergriefen — mit dem Kleinen Geſchlecht 
der Tiefe hatten fie nicht3 gemein. 


26 Deutſche Rundſchau. 


So lebte ſie in ihrer Einſamkeit nur für ihn und wartete des Tages, wo 
ſich die Verheißung erfüllen werde. Kommen mußte dieſer Tag — und da 
ſie deſſen gewiß war, verlor ſie die Geduld nicht. 

So ging der Sommer herum und der Winter ſtieg zu Thale und ſie ſollte 
nun bald mit ſeinen wilden Vorboten, dem Sturm und dem Schnee hinabziehen 
in die entfremdete Heimath. — Ihr bangte vor dem Gedanken. Sie hätte ſich 
lieber hier oben in die tiefſte Eisſpalte verkrochen und ihr Daſein gefriſtet wie 
die wilde Bärin, als wieder hinabzuſteigen in den Qualm und das Geplärr 
der niederen Spinnſtube und mit dem grollenden Vater, dem verabſcheuten 
Freier und dem ſchadenfrohen Geſinde eingekeilt zu ſein in die engen Räume des 
Hauſes, gefangen hinter fußhohen Wällen von Schnee, aus denen oft wochenlang 
kein Entkommen möglich war. 

Je näher die Zeit rückte, deſto ſchwerer wurde ihr um's Herz, deſto ver— 
zweiflungsvoller lehnte ſie ſich gegen den Gedanken dieſer Gefangenſchaft auf. 
Aber die Zeit verſtrich, ohne daß Jemand fie zu holen kam. Es ſchien, als habe 
man jie da drunten vergeffen. Immer fälter und winterlicher wurde e3 da oben, 
die Tage immer kürzer, die Nächte immer länger, zwei Schafe kamen im Schnee- 
fturm um, die Thiere fanden bald feine Nahrung mehr und die Zeit, wo das 
Vieh ſonſt heimzieht, war vorüber. „Sie wollen und da oben verhungern 
laſſen“, jagte Wally zu dem Geier, indem fie da3 letzte Stüd Käfe mit ihm 
theilte, und ein heimliches Grauen wandelte fie an; das junge gefunde Leben 
fträubte fi in ihr gegen den jchredlichen Gedanken. Was jollte fie thun? die 
Heerde im Stich laffen und allein den Heimweg ſuchen, daß die unſchuldigen 
Thiere elend zu Grunde gingen? Nein, das that die Wally nicht, die ftand 
und fiel wie ein guter Feldherr mit ihrer Truppe! Oder jollte fie ſich mit 
fammt der Heerde aufmachen und, de3 Weges unfundig, wie fie war, auf dem 
überjchneiten Ferner herumirren, um endlic die Thiere eind nach) dem anderen 
in Eis und Schnee „verlahnen” oder in Felsſpalten ftürzen zu jehen? Auch das 
war unmöglid. Sie fonnte nichts thun ala warten! — 

Da endlich — an einem düftern Herbitmorgen, wo man vor Nebel die 
Hand vor den Augen nicht jah, die Kleine Heerde zitternd vor Froſt ji in ihrem 
Pferch zufammendrängte und Wally ſtarr vor Kälte am Herdfeuer ſaß — da er- 
Ichien der Handbub, der Wally heimholen jollte. Und wie ihr auch gegraut 
hatte bei dem Gedanken, hier oben langjam mit ihren Thieren zu verhungern, 
jo wandelte fie jetzt doch wieder da3 ganze unverhehlte Entfegen vor der Heim- 
fehr an — und fie wußte nicht, welches Nebel das größere ſei: bei ihrem rauhen 
Dater Murzoll zu Grunde zu gehen oder zu ihrem wirklichen Water zurück— 
fehren zu müflen. 

Da unterbrady der Handbub da3 Schweigen: „Der Vater laßt Dir jagen, 
Du dürft’ft ihm nur vor d’ Augen fomme, wannſt D’ thun wollt’ft, was er 
verlangt, wennſt aber noch kei Vernunft annehme wollt’ft, jo müßteft bei die 
Kuhmägd’ bleiben im Stall — in’3 Haus dirfft D’ nit eini, das hab’ er 
g'ſchworen!“ „Um jo beſſer!“ jagte Wally aufathmend, und der Bub ſah fie 
verwundert ar. 

Jetzt ging fie leichten Herzens hinunter, fie war nun des Zuſammenſeins 


Die Geier-Wally. 97 


mit den verhaßten Menjchen überhoben und konnte für fi) in Scheune und Stall 
leben, — was der Bater ihr zur Strafe ausſann, wurde ihr zur MWohlthat. 
Nun konnte fie ganz ungeftört ihren Gedanken nachhängen und, wenn e3 fie nad) 
Zuſpruch verlangte, hatte fie ja die Luckard, die es fo gut mit ihr meinte. Ya, 
fie hatte erjt in der Einjamfeit da oben einjehen gelernt, was ſolch ein treues 
Herz werth war, und das konnte ihr der Vater nicht nehmen. 

Haft heiter ging fie jet an's Werk, um fich zur Heimfahrt zu rüften. Nun 
ihr die Angjt vor dem twidrigen Zufammenleben mit dem Vater genommen war, 
dachte jie mit ftiller Fyreude an den Jubel der Alten, wenn ihr Pflegefind wieder 
zurüdfäme. Es war doch Jemand, der ſich auf fie freute, dort unten, und das 
that ihr wohl. 

„Komm, Hanjel,“ jagte fie, nachdem fie Alles zujammengepadt, zum Geier, 
der mit aufgeblajenen Federn verdroſſen am Herd ſaß — „jetzt geht's abi zur 
Luckard!“ 

„Die Luckard iſt aber nimmer z' Haus,“ ſagte der Handbub. 

„Was, wo iſt fie?” frug Wally faſt erſchrocken. 

„Der Höchſtbauer hat ſ' fortg'jagt.“ 

„Fortg'jagt — die Luckard!“ ſchrie Wally auf: „Was hat's da geb'n?“ 

„Sie hat ſich halt nit vertragen mit 'n Gellner-Vincenz, und der gilt jetzt 
Alles bei'n Höchſtbauern“, berichtete gleichgültig der Bub und huckelte pfeifend 
die Kraxen mit Wally's Sachen auf. Wally war blaß geworden: „Und wo is 
fie jeßt?“ 

„Bei der alten Annemiedel in Winterftall.“ 

„Wann i8 das g'ſchehn?“ 

„D jo vor a Wochener zehne. — Die hat amol g'ſchrauen! Und faft gar 
nit laufen hat j’ könnt, jo iS ihr der Schroden in d’ Knie g’fahren. Der 
Klettenmaier und der Nazzi haben j’ halten g’müßt, daß j’ nit umg’fallen is. 
's ganze Dorf is "rum g’standen und hat zug'ſchaut, wie ſie's 'nausg’führt haben.“ 

Wally hatte regungslos zugehört, das braune Geſicht war fahl getworden 
und ihre Bruft arbeitete heftig. Als der Bub geendet hatte, ri fie den Hirtenftab 
von der Wand, ſchwang fich den Geier auf die Schulter und jchritt hinaus. 

„Dad vorwärts!” herrjchte fie mit rauher Stimme den Buben an, und 
ihnell war die Kleine Heerde gefammelt, da3 Milchgeſchirr aufgepadt und der 
Zug jeßte fi in Bewegung. Wally jprad) fein Wort. Eine furchtbare Span— 
nung war in ihren Zügen: die Lippen zujammengepreßt, eine drohende Fyalte, 
die an ihren Vater erinnerte, zwiſchen den dichten Brauen, jo 309 fie mit mäch— 
tigen Schritten der Heerde voran und ihr feiter Fuß drückte tiefe Spuren in 
den Schnee. Immer ſchneller ging fie, je weiter fie hinabjtiegen, fo daß der 
Bub mit der Heerde kaum nachkam, und wo es zu ſteil war, ftieß fie die eijerne 
Spitze ihres Stabes in’3 Geftein und ſchwang fich mit gewaltigen Sprüngen 
hinab, daß nur der Geier in der Luft ihr über Klüfte und Felsipalten weg 
folgen konnte. Hirt und Heerde verihtwanden oft im Nebel hinter ihr. Dann 
blieb fie ftehen und wartete einen Augenblid, bis fie wieder fihtbar wurden 
und ber Bub ihr die Richtung des Weges angab, und weiter ging’3 ohne Raft 
und Ruhe, als handle ſich's um ein Mtenjchenleben. 


28 Deutſche Rundichau. 


Endlich war die Schneeregion überjhritten und Bent lag zu Wally’3 Füßen 
wie vor ſechs Monden, wo fie heraufgeftiegen, aber diesmal nicht im Glanz der 
Maiſonne, jondern trübe, herbftlich todt und kalt. Der Handbub erklärte, in 
Dent müßte geraftet werden. Wally weigerte fi, aber der Handbub meinte, 
da3 hieße Menjch und Vieh jchinden, wenn man nicht eine halbe Stunde ruhe. 
„Wegen meiner,“ jagte Wally, „jo bleib’ — J geh’ voraus. Jebt kann J ja 
den Weg nimmer fehlen. Wenn fie Dich fragen, wo % jei, wenn D’ heim- 
kommſt, jo jag’ nur, zur Qudard ſei J'gange!“ Und weiter jchritt fie, um— 
rauſcht von den Flügelſchlägen des treuen Hanfel, der jet fliegen konnte, wie 
er wollte, denn Wally beijchnitt ihm die Schwingen nicht mehr. Jetzt war fie 
an der Stelle, wo die alte Luckard ihr bei der „Auffahrt“ Lebwohl gelagt und 
umgefehrt war. „Die alte Luckard!“ Wally jah fie noch ganz deutlich, wie fie 
dahinging und in die Schürze weinte, und jie jah ihre braunen, Enochigen Arme, 
wie fie ihr noch einmal zuwinkten, und jah die filbernen Locken, die ihr immer 
aus der Haube hervorhingen, im Winde flattern. Sie war in Ehren und 
Treuen grau geworden im Stromminger’schen Haus, und nun Schande auf dies 
weiße Haupt! And Wally hatte fich jo leicht von ihr getrennt und ihr ’3 Weinen 
verboten und ſich ungeduldig losgeriſſen, da die Alte fie in ihrem Schmerz nicht 
aus den Armen laſſen wollte, und feine Ahnung Hatte ihr gejagt, welchem 
Schickſal fie die ſchutzloſe Magd entgegenfandte mit dem kargen Abſchiedsgruß, 
und daß Ludard Schimpf und Schmach erleiden würde um ihretwillen! Wally 
lief und lief, als könne jie die Luckard, wie fie vor ſechs Monden hier ging, noch 
einholen, und troß des Herbitfroftes ftand ihr der Schweiß auf der Stirn, der 
Schweiß beflügelter Eile, eine ſchwere Schuld der Dankbarkeit abzutragen. — 
Und eine heiße Thräne perlte ihr im Auge, das immer die Alte mit ihrem 
ftillen Weinen vor ſich herichreiten jah. Sie ging jo langjam, die Ludard, und 
Wally jo ſchnell, und doch blieben fie immer gleich weit aus einander und Wally 
fonnte jie nicht einholen. 

Einen Augenblid mußte Wally Athem ſchöpfen und ausruhen. Sie wiichte 
ih den Schweiß von der Stirn und die Thränen aus den Augen; dann trieb 
es fie wieder umerbittlic) weiter. „Wart’ nur, Luckard — wart’ nur, J komm'!“ 
murmelte jie athemlos vor ſich hin, wie zu ihrer eigenen Beruhigung! 

Endlich) tauchte der Kirhthurm von Heiligkreuz vor ihr auf und von da 
führte ein jchtwindelnder Steg hoch über die Ache nad) einer einfamen Häufer- 
gruppe auf der andern Seite der Schludt. E3 war das Dertchen „Winterftall”, 
wo Ludard zu Haufe war. Hinter den Häujern von Heiligkreuz bog Wally ab 
und überjchritt die leichte Brücke, unter der die wilde Ache braufte und ſchäumte, 
al3 wolle fie ihren zornigen Giſcht hinaufiprißen bis zu dem troßigen Mädchen, 
da3 jo unbekümmert in die jchauerliche Tiefe niederblidte, als gäbe e3 feine 
Gefahr und feinen Schwindel auf der Welt. Die Brüde war überjchritten, 
noch ein fteiles Stüd Weg! aufwärts und da — endlid) war es erreicht, das 
Ziel, nad) dem fie mit pochendem Herzen gejtrebt, fie war in Winterftall — 
. und dort gleich linf3 am Wege lag die Hütte der alten Annemiedel, der Baje 

Luckards, mit Kleinen, unter dem überhangenden Strohdach verjtedten Fenſtern. 
Dahinter jaß die Alte gewiß und jpann, wie fie immer zur Winterszeit that, 


Die Geier-Wally. 29 


und Wally that einen tiefen Athemzug aus erleichtertem Herzen. Sie hatte die 
Hütte erreicht, und ehe fie Hineintrat, ſchaute fie Lächelnd durch das blinde niedere 
Fenſter nach Ludard. Doch es war Niemand in der Stube, es jah öde und 
unmwohnlic) aus und ein abgezogenes Bett ftand unordentlich aufgejchichtet da. 
Ein rauchgeſchwärzter hölzerner Chriftus ſpannte am Kreuz feine Arme darüber 
aus, ein Stückchen Trauerflor und ein verftaubter Rautenkranz hing daran. Es 
war ein unbehaglicher Anblid, und Wally war dabei auf einmal alle Freude 
vergangen. Sie jeßte den Geier auf ein Geländer, Klinfte die Thür auf und 
trat in den engen Flur. An deſſen Ende ftand die Kleine Küche offen, wo ein 
Kleines Neifigfener auf dem Herde qualmte. Es wirthichaftete Jemand in der 
Küche herum. Das war gewiß die Ludard, und Elopfenden Herzens trat 
Wally hinein. 

Die Bas ſtand am Herd und ſchnitt ſich Brod zur Suppe ein; weiter war 
Niemand da. 

„Ad, mein Gott, die Stromminger-Wally“, jchrie die Alte und ließ vor 
Stammen das Mefjer in die Schüffel fallen — „oh mein Gott — wie Schad’!” 

„Wo ift die Luckard?“ frug Wally. 

„Zodt is fie! O mein Gott und Bater, wärft nur drei Tage früher fomme — 
geftern hab'n merſ' begraben!“ 

Wally lehnte fich mit gefchloffenen Augen ftumm an den Thürpfoften, kein 
Laut verrieth, was in ihr vorging. 

„Ah das 138 Schad,” fuhr die Alte redjelig fort, „die Luckard hat g’meint, 
fie könnt’ nit fterben, wenn fie Dich nit noch g’jehn hätt’ — und Du biſt aud) 
in die Karten immer daher g’ftanden, und Tag und Nacht hat's g'horcht, ob 
D’ nit fimmft. Und wie's naher 'n Tod g’jpürt hat, da hat's g’jagt: „Set 
muß J doch fterb’'n und hab’ des Kind nimmer g’jeh'n!” Und da hab’ J ihr 
noch emol ihre Karten geb’n müſſ'n und da hat's noch im ZTodesfampf die 
Karten für Dich leg'n wollen, aber ’3 i8 nimmer ’gange, die Händ’ hab'n ihr 
zittert auf der Bettdeden, über amol ſagt's „N fieh nie mehr” — und ſtreckt 
fih und hat ausg'ſchnauft.“ 

Wally ſchlug die Hände vor’3 Gefiht — aber noch immer fam fein Wort 
über ihre Lippen. „Kumm eini in d’ Stuben,” jagte die Alte gutmüthig. „J 
hab’ gar nimme nein mög'n, feit’3 mer die Luckard 'naus tragen hab’n. J bin 
au immer jo alleinig, und da war J fo froh, wie die Bas fimma is und hat 
g’jagt, fie wollt jet bei mix bleiben. J hab's bald g’merft, daß j’ die Schand’ 
nit lang’ überlebt. Sie hat’3 alleweil auf'm Magen g’habt und faft gar nir 
mehr eſſen könnt und ganze Nächt' hab’ 3 ’3 weine g’hört, — da is fie halt 
immer ſchwächer und kränker wor'n — bis ſ' g’jtorben is.“ 

Die Alte hatte das Zimmer geöffnet, in das Wally vorher geblict, und te 
traten ein. Ein Schwarm herbitmatter Fliegen ſummte verftört auf. In der 
Ecke ftand Luckard's altes Spinnrädchen fteif und ftill, und das leere abgezogene 
Bett jchaute fie jo traurig an. 

Aus einem MWandkäftchen, auf dem die Schwarze Muttergottes von Alten- 
ötting gemalt war, nahm die Bas ein vergriffenes Spiel deutjcher Karten. „Da, 
ichau’, das G'ſpiel hab’ J Dir aufg’poben, hab’ ja g’wußt, daß D' kimmſt, 


30 Deutſche Rundſchau. 


's hat alleweil in die Karten g'ſtanden. Das jan wahre Hexenkarten, und jo 
ein G'ſpiel, wo der Todesſchweiß von an G’ftorbenen d’ran hangt, das i3 doppelt 
gut. J woaß nit, was Dir für a Ung'mach g'ſchicht, aber die Luckard Hat alle- 
weil 'n Kopf g’ihüttelt und gar derjchroden d’reing’ichaut. G'ſagt hat's mir 
nit, was j’ g’jehen hat, aber Gut’3 muß 's nir g’wejen fein.“ 

Sie gab Wally die Karten, diefe nahm fie ſtill und ftedte fie in 
die Taſche. Die Bas wunderte ſich, daß ihr der Tod Ludard’s'fo wenig nahe 
ging, daß fie jo ruhig war und nicht einmal eine Thräne vergoß. „J muß 
'naus. J hab’ mei Bannadelfuppen am Teuer,“ jagte fie, „gelt, Du machſt bei 
mir Mittag?“ 

„sa, ja,” jagte Wally dumpf, „geht nur, Bas, und laßt mi a Bifjel aus— 
ruh'n, J bin gar g’iprunge vom Hochjoch "runter.” 

Die Alte ging kopfihüttelnd hinaus: „Wenn die Ludard des g'wußt hätt’, 
was de3 für a hartherzig’3 Ding is!“ 

Kaum war Wally allein, da verriegelte fie hinter der Bas die Thür und 
ſank vor dem leeren Bett auf die Kniee. Sie zog die Karten aus der Tajche, 
legte fie vor fih hin und faltete die Hände darüber wie über einer heiligen Re- 
liquie. „Ob, ob,” ſchrie fie nun plögli in ausbrechendem Schmerz: „Du haft 
jterben müfjen und J war nit bei Dir! Und Du haft mir mei Lebtag nir als 
Lieb’3 und Gut’3 than — und % — J hab’ Dir's nie g’lohnt. Luckard, alte 
liebe Luckard — Hörft denn nit? Seht bin J ja da — umd jebt is ’3 z’jpät! 
Sie hab’n mi aber au droben g’lafjen, jo lang’ wie mer kein'n Viehbub droben 
laßt — wa3 Bosheit, daß J no recht frieren und mürb' werden jollt’. Und zwei 
Stüdeln Vieh hat’3 mi jchon ’Eoft’ und Dich au derzu, Du arme brave Magd!“ 

Plötzlich jprang fie auf und die rothgeweinten Augen leuchteten fieberhaft; 
fie ballte frampfhaft die braunen Fäufte: „Aber wartet nur, Ihr da drüben — 
Ahr Schinder, wenn J komm’! % will Euch lehren, unjchuldige hülflofe Leut’ 
von Haus und Hof jagen. So wahr Gott lebt, Ludard, Du jollft’3 hören in 
dein Grab 'nein, wie J für Dich einfteh’!” 

Ihr Auge fiel auf den Chriftus über dem Bett der Todten. „Und Du, 
Du laßt auch Alles geh'n, wie's geht — und hilfit Keim, wenn er fich nit 
jelber hilft,“ grollte fie im Ungeftüm ihres Schmerzes zu dem ſtillen geduldigen 
Gott empor, den fie nimmer verjtehen konnte. Sie war furdtbar in ihrem 
gerechten Zorn. Alles, was von der unbeugjamen Natur des Vaters in ihr 
lag, hatte fi) dort oben in der Wildniß feſſellos entfaltet und das edle große 
Herz, das nur die reinjten Impulſe kannte, trieb, ohne es zu ahnen, verderblid) 
fiedendes Blut durch ihre Adern. 

Sie raffte ihre Heiligthümer zuſammen, die Karten, worauf der Finger der 
Sterbenden mit Todesſchweiß die lebte Liebesbotichaft geichrieben, dann trat 
fie hinaus und ging in die Küche zur Bas. 

„s will jet wieder weiter geh'n, Bas,“ Jagte jie gefaßter. „J bitt! Euch 
nur, jagt mir, wie denn Alles ganga i3 mit der Luckard und dem Höchſtbauer,“ — 
fie nannte ihn nicht mehr ‚Vater‘. — 

Die Bas hatte eben die Suppe in eine hölzerne Schüffel angerichtet und 
nöthigte Wally, mitzuefjen. „Weißt,“ jagte jie, während Wally aß, „der Bincenz, 


Die Geier-Wally. 31 


der verſteht's gar gut mit Dei'm Vater und hat 'm völlig 's Neujahr abg'wonnen. 
Der Stromminger hat ſeit dem Sommer 'n offenen Fuß und kann nit laufen. 
Da hockt der Vincenz alle Abend bei ihm und vertreibt ihm die Zeit mit Karten— 
ſpielen und laßt 'n alleweil g'winne — er denkt, er kriegt's doch amol 
wieder, wenn er Dich Friegt! Der Alte kann ſchier gar nimmer leben ohne den 
Vincenz, und jo hat er ihm halt z'nach und z'nach die ganze Aufficht übergeb’n, 
weil er mit jei'm kranken Fuß nimmer jelber nachgeh'n kann. Nett meint der 
Bincenz, der Höchſthof g’hör ihm ſcho halber, und wirthſchaft't d’rauf rum, wie 
er mag. Da jan halt die Händel mit der Ludard an ’gange, denn die Ludard, 
die hat Halt immer nad) 'm Rechten jehen woll’n, wie ſie's g’wohnt war, und 
der Bincenz bat ihr Alles aus die Händ’ g'nomme und fie hat gar nir mehr 
ſag'n dürf'n. Nachher wie er g’jehen hat, dat jich die Ludard gar abhärmt, da 
hat er amol zu ihr g’jagt, er woll’ fie ſchon wirthichaften laſſen, wie wenn fie 
die Bäuerin wär und er woll’ aud ein Aug’ zudrüden, wenn fie fi) auf d’ 
Seit’ brächt', To viel fie möcht’, wenn fie 'm num helfen wollt’, daß er Dich 
frieget, denn er will’ ſchon, daß fie Alles über Dich vermöcht'. — Und da is 
halt die Ludard grob wor'n: Sie hab’ ihr Lebtag nir g’ftohlen, jagt ſ', und 
werd’3 au jet auf ihre alten Täg’ nit anfange — fie woll’ nir, ala was fie 
fi) ehrlich verdienet, und an Mann, der ihr jo was Schlecht's nachſehen thät’, 
den thät’ fie der Wally jchon gar nit recomediren, hat j’ g’jagt. Was thut der 
Ruch? Geht hin zum Stromminger und verklagt die Bas. Er hab’ ſich jetzt 
überzeugt, jagt er, daß ’3 nur die Ludard fei, die Dich gegen ihn und Dein’ 
Batern aufg’stift’t hätt’. Und fie ſei Schuld an Dei'm Ung’horfam, Hat er 
g'ſagt, weil ſie's Heft in der Hand b’halten wollt’. Und ſo is 's halt kimme. 
Und weißt, des hat ihr 's Herz brochen, daß ma jo was von ihr glaubt hat, 
wo doc kei wahr's Wort d’ran war. Des thut ei'm weh, wenn ei'm jo Un— 
recht g'ſchicht. Gelt — fie hat nie was zu Dir g’jagt, Du ſollſt Dei'm Vatern 
nit folgen?“ 

„Rie, nie — im Gegentheil, fie war a demüthige, b’icheidene Magd und 
hat in nir d’rein g’red’t, was fie nir an’gange hat,“ jagte Wally und wieder 
wurden ihr die brennenden Augen feucht. Sie wandte das Geſicht ab und ftand 
auf. „B’hüet Gott, Bas, J kimm ſchon amol wieder!“ Sie nahm ihren Stab 
und Hut, rief ihrem Geier und jchritt rajch der Heimath zu. 


VI 
Ein Tag in der Heimath. 


Als Wally über den Steg zurüdging, ſchwindelte ihr. Jetzt exft fühlte fie, 
wie ihr das Blut im Kopf war. Die mildere Luft hier unten erichien ihr gegen 
die dünne Eisluft auf dem Ferner Schwer und beflemmend, der Vogel, der ſich 
bei der Bewegung des Gehens wadelnd auf ihrer Schulter fejtkrallte, Alles war 
ihr quälend, unleidlid. So fam fie endlich in ihrem heimischen Dorf an. Sie 
mußte es durchſchreiten, um zum lebten Haus, zum Höchſthof, zu gelangen. 
Alle Dörfler, die gerade mit dem Eſſen fertig waren, ftedten die Köpfe zum 
Fenſter hinaus und zeigten mit den Yingern nad) ihr. „Da ſchaut's die Geier- 


32 Deutiche Rundſchau. 


mwally! Haft endli ’runter dürft? Und Dein Geier haft au wieder mitbracht, 
jeid’3 nit mit einander derfroren? Dein Alter hat di ſchön zappeln laſſ'n da 
droben!“ „Zeig’, wie Ihauft aus? No braun und fchüech bift wor'n wie a 
Schnaljer Hirt!” „Etſch, etſch! Gelt jetzt bift zahm wor'n, da droben — ja, 
ja, jo geht’3, wenn mer fein’ Vatern nit folgt!“ 

Sp regnete e3 ſchadenfrohe Redensarten um fie her, daß fie die Augen zu 
Boden jentte, und eine brennende Röthe der Scham und Bitterkeit bededite ihre 
Stirm. Beihimpft, verhöhnt — jo 309 das ftolze Kind des Höchjftbauern wieder 
in die Heimath ein. Und das Alles — warum? Ein unverföhnlider Haß 
wucherte in ihr auf und das war jchlimmer als Zorn, denn der Zorn kann ſich 
beruhigen, aber der ächte, aus verbittertem, mißhandeltem Herzen ertwachjene 
Haß Ichlägt jeine Wurzeln durch das ganze Sein, er ift eine ftille fortgejegte 
That ohnmächtiger Rache. 

Schweigend ſtieg Wally die Anhöhe hinter dem Dorfe hinan, von der ſtolz 
der Höchſthof herniederjah. 

Niemand bemerkte ihre Ankunft, als der taube Klettenmaier, der unter 
dem Holzſchuppen im Hofe Brennholz für den Wintervorrath |paltete; die An- 
dern waren alle auf dem Feld. 

„Grüß di Gott!“ ſagte ev und lüftete vor feinem Herrenkind das Käppchen. 

Sie jeßte ihre Bürde, den ſchweren Hanjel, zur Erde und gab dem Alten 
die Hand. 

„Aber gelt? die Ludard!” fagte er. 

Wally nidte. 

„a, ja,“ fuhr er fort, ohne jedoch mit der Arbeit innezuhalten, „wenn der 
Vincenz 'n Haß auf Eins hat, da ruht ex nit, bis er's nausg'ſchunden hat! 
Mi hätt’ er au gern weg, weil er jcho g’merft hat, daß J zur Ludard g'halten 
hab’ und er meint halt, wann Steiner mehr auf 'm Hof wär’, der Dir Hilft, 
nacher wärſt nit jo troßig. Und weil er mir jonft nix anhab’n Tann, jo laßt 
er mi die härtefte Arbeit thun. Jetzt muaß J alle Tag’ 'n Wagen voll Holz 
Hein machen. J ann jchon bald nimma. Weißt, J bin jechsundfiebenzig Jahr’ 
alt und heut i3 der dritte Tag. Aber das gerad’ möcht’ er, daß er nacher ’n 
Stromminger jagen könnt’, J jei zu nix mehr 3’ brauchen, oder daß J don jelber 
gingt, warn % ’3 nimma aushalten könnt’. Aber two ſoll J no hin in mei’m 
Alter? J muß es aushalten!“ 

Wally hatte der Rede des Alten mit düſterem Blick zugehört. Jetzt ging 
ſie raſch in's Haus, um für den alten Mann Brod und Wein zu holen. Aber 
die Vorrathskammer war verſchloſſen, ebenſo der Keller. Wally ging in die 
Küche. Das Herz that ihr weh — hier war die eigentliche Heimath der Luckard 
geweſen, ſie meinte, die Alte müſſe ihr entgegenkommen und fragen: „Wie iſt 
Dir's 'gange — was möcht'ſt — was kann J Dir z' Lieb thun?“ — aber das 
war vorbei. Eine fremde, robuſte Magd ſaß am Herd und ſchälte Kartoffeln. 

„Wo ſind die Schlüſſel?“ frug Wally. 

„Was für Schlüſſel?“ 

„Zur Speiſ'kammer und zum Keller!“ 

Die Magd ſah Wally frech an: „Hoho, nur ſtaad — wer biſt dann Du?“ 


Die Geier-Wally. 33 


„Das wirft Dir wohl. denken können,“ jagte Wally ſtolz, „J bin die 
Haustochter!“ 

„Haha!“ lachte die Magd — „da mach' nur, daß D' aus der Kuchel kommſt. 
Der Stromminger hat verboten, daß D' ihm's Haus betrittſt. Nüber g’hörft 
in d’ Scheuer, da i3 Dei Kammer, verftehft mi?“ 

Wally wurde bleid wie der Tod. Alſo jo — fo follte es ihr in ihres 
Vater Haufe gehen? Die Wallburga Strommingerin jollte unter die lebte 
Magd ihres eigenen Erbhofs geftellt jein? E3 war nicht nur, um fie aus der 
Nähe des Vaters zu verbannen, es war darauf abgejehen, fie durch entehrende 
Demüthigung zu beugen? Und das der Wally — der Geierwally, von der ihr 
Vater einft ſtolz gefagt hatte, ein Mädel, wie fie, jei mehr werth, ala zehn Buben! — 

„Sieb mir die Schlüffel!” befahl fie mit ftarfer Stimme. 

„Haha — das wär’ noch jchöner. Der Stromminger hat g'ſagt, wir ſoll'n 
Di halten wie a Futtermagd — und von die Schlüffel i3 gar kei Red’, % hab’ 
die Auffiht im Haus und geb’ nir her, ala was der Bauer erlaubt.“ 

„Die Schlüffel!” ſchrie Wally in ausbrechendem Zorn, „A befehl’ Dir's!“ 

„Du haft mir gar nix 3’ befehl'n — weißt? % bin beim Stromminger in 
Dienft und nit bei Dir. Und in der Kuchel bin J Herr, verftebft? So will’s 
der Stromminger! Und wenn der Stromminger jei eignes Kind jchlechter 
haltet al3 und Mägd’ — jo wird er ſchon mifjen, warum!“ 

Wally trat dicht vor die Dirne hin, ihre Augen flammten, um ihren Mund 
zudte es — der Dirne wurde e3 unheimlich. Aber nur einen Augenblick fämpfte 
Wally, dann fiegte ihr Stolz, — mit der elenden Magd hatte fie nichts zu 
ihaffen. — Sie ging hinaus. Ihre Pulfe hHämmerten, e3 flimmerte ihr vor 
den Augen, ihre Bruft hob und jenkte fich Feuchend — es war zu viel, was 
heute über fie hereinbrach. Wie eine Nahtwandlerin jchritt fie über den Hof, 
nahm dem alten Mann, der vor Anftrengung zitterte, das Holzbeil aus der 
Hand und führte ihn zu einer Bank, daß er ſich ausruhe. Der Klettenmaier 
wehrte ſich rechtichaffen, er durfte ja die Arbeit nicht ausjeßen, aber Wally be- 
deutete ihn, jie wolle für ihn arbeiten. 

„So ſegn' Dir's Gott, Du haft a qut’3 Herz!“ ſagte der Mann und jeßte fid) 
müde auf die Bank. Wally trat unter den Schuppen und jpaltete mit wud)- 
tigen Streichen die ſchweren Sceiter. So zornig ſchwang fie das Beil, daß es 
fich bei jedem Streich durch das Holz durch tief in den Hadkloß einhieb. Der 
Klettenmaier jah ihr verwundert zu, wie ihr’3 von Händen ging, beifer ala 
einem Knecht. Und er freute fi) daran, er hatte ja das Kind auch jeit jeiner 
Geburt jo aufwachſen jehen und hatte e8 gern in feiner Art. Da jah Wally 
von Weiten die verhaßte Geftalt des Vincenz fommen und hielt unwillkürlich 
mit der Arbeit inne. Vincenz jah fie nit. Er fam hinter dem Klettenmaier her 
und ftand plößlich dicht vor dem Erichrodenen. Wally beobachtete ihn drin im 
Schuppen. Er padte den Knecht beim Wamms und riß ihn in die Höhe: „Holla!“ 
ihrie er ihm in's Ohr, „is das g’arbeit’t? Du fauler Troddel Du — jo oft J 
fomm’, ſitz'ſt cum und thuft nie — jeßt hab Y 3 g'nug! J will Dir Füeß 
mach'n!“ Und er gab ihm mit dem Knie einen Stoß, daß der zittrige alte 
Mann weithin auf das Steinpflafter des Hofes fiel. 

Deutiche Rundſchau. I, 4. 3 


34 Deutihe Rundichau. 


„D Bauer, helft mir auf,“ bat der Knecht; aber Vincenz hatte einen Prügel 
ergriffen und holte aus: „Wart' nur — Du follft glei jehen, wie ma fauli 
Knecht’ aufhilft!” In diefem Augenblid jpürte Vincenz einen Schlag auf dem 
Kopf, daß er laut aufichrie und zurücdtaumelte. „Jeſus, was ift das?” Lallte 
er und ſank auf die Bank. 

„Daß ift die Geierwally!“ antwortete ihm eine vor Grimm bebende Stimme, 
und Wally ftand vor ihm, das Holzbeil in der Hand, mit bleichen Lippen und 
ftieren Augen, nach Luft ringend, ala erſticke fie der Schlag ihres wildpochenden 
Herzens. „Haft’3 g'ſpürt?“ ftieß fie mit langen Unterbredungen athemlos heraus — 
„haſt's g’ipürt, wie’3 thut, wenn ma Schläg’ kriegt? J will Did) lehren, mein’n 
alten treuen Knecht jchinden. Die Ludard haft mir Schon unter'n Boden "bracht 
und jet willft’3 mit dem armen Klettenmaier auch jo machen? Nein, eh’ J 
jo an Unfug leid’, fted’ J mei eigen’3 Erbgut in Brand und räuchr Dich 'naus, 
tie ma d’ Füchs ausbrennt!“ Sie hatte während deffen dem Klettenmaier auf- 
geholfen und führte ihn zur Scheuer: „Geh' 'nein, Klettenmaier, und erhol’ 
Dich,“ befahl fie ihm. „J will's!“ 

Klettenmaier gehorchte, er fühlte, daß fie in diefem Augenblid Herr war. 
Aber unter der Thür machte er fi) von ihr los und ſagte kopfſchüttelnd: „Geh', 
Wally — das Hättft nit thun joll’n, — geh’, ſchau' nad 'm Vincenz, % mein’, 
Du haſt'n ſchwer 'troffen.“ 

Sie ließ den Alten und trat wieder hinaus. Vincenz war ganz ftill, Sie 
warf einen jcheuen Bli auf ihn. Er hatte das Bewußtſein verloren und lag 
ausgeſtreckt auf der Bank; das Blut tropfte ihm vom Kopf herab in den Sand. 
Raſch entichloffen ging Wally in die Küche und rief der Magd zu: „Komm’ 
raus, bring’ Ejjig und a Tüchel und Hilf mir.“ 

„Halt ſchon wieder was z' kommedir'n?“ lachte die Dirn’ laut auf, ohne 
ih vom Fleck zu rühren. 

„3 it nit für mich,” jagte Wally mit einem unheimlich) böfen Blick und 
nahm jelbjt die Eſſigflaſche vom Sims — „der Vincenz liegt draußen — J hab’ 
ihn g’ichlagen.“ 

„Jeſus Maria!” Freiichte die Magd auf — und ftatt dem Vincenz zu Hülfe 
zu eilen, rannte jie im Haus und Hof herum und jchrie: „Zu Hilf’, die Wally 
hat'n Vincenz derſchlag'n!“ 

Von allen Seiten widerhallte der Schreckensruf und klang weiter bis in's 
Dorf und Alles lief zuſammen. 

Wally hatte ſich indeſſen den Klettenmaier zum Beiſtand geholt und wuſch 
den Ohnmächtigen mit Eſſig und Waſſer. Sie begriff nicht, wie die Wunde ſo 
ſchlimm ſein konnte. Sie hatte nicht mit der Schärfe, nur mit der Rückſeite 
des Beils geichlagen, aber der Strei war mit einer Kraft geführt, von der 
fie jelbft nichts wußte. Der jo lang verhaltene Grimm in ihr hatte fi in 
dem einen Schlag entladen, daß es jchmetterte wie vorher beim Holzipalten. 

„Was ift da g'ſcheh'n?“ dröhnte eine Stimme Wally in’3 Ohr, bei der ihr 
das Blut ſtockte — ihr Vater hatte fih am Krückſtock herausgeichleppt. „Was 
iſt da g'ſcheh'n?“ tönte es aus zwanzig, dreißig Kehlen nad) einander, und der 
Hof füllte ji mit Menjchen. 





Die Geier-Wally. — IIVE IR er T B 
„ri 
Wally ſchwieg. ZW 3% 
Ein dumpfe3 Summen entitand um fie ber, Alles drängte ſich ; 


taftete, bejchaute den Lebloſen. „Is er todt?“ — „muß er jterben?“ 

„Wie is das ganga?“ 

„Hat's die Wally 'than?“ jcholl es herüber und hinüber. 

Sie ftand da, ala höre und jehe fie nicht, und legte dem Verwundeten einen 
Verband an. 

„Kannft nit reden mehr?“ donnerte fie jet ihr Vater an. „Wally, mas 
haft g'macht?“ 

„Ihr jeht’3 ja!“ war die kurze Antwort. 

„Sie g'ſteht's ein!” ſchrieen Alle wild durcheinander: „Jeſus, die Frechheit!“ 

„Du Galgendbrut Du!” jchrie Stromminger. „So fommft von da droben 
"runter in's Vaterhaus?“ 

Wally ſchlug bei dem Wort Vaterhaus eine bittre Lache auf und ſah ihn 
mit einem durchbohrenden Blick an. 

„Lach auch noch!“ ſchrie Stromminger. „J hab' g'meint, Du ſollſt Dich 
beſſern da droben und jetzt biſt kaum eine Viertelſtund' z' Haus, jetzt ſtellſt 
ſchon wieder Unheil an?“ 

„Jetzt regt er ſich,“ rief eines der Weiber, „er lebt noch!“ 

„Tragt ihn in's Haus und legt ihn auf mei Bett!“ befahl Stromminger 
und machte Platz an der Küchenthür, wo er lehnte. Zwei Männer hoben Vin— 
cenz auf und trugen ihn hinein. 

„Wenn wir nur 'n Deetor hätten!“ jammerten die Weiber und folgten 
dem Kranken in die Stube nach. 

„Hätten wir nur die Luckard noch, da brauchten wir kein'n Doctor,“ meinten 
ein paar Männer, „die hat für Alles was g'wußt.“ 

„So ſoll man ſie holen,“ befahl Stromminger — „auf der Stell' ſoll ſie 
kommen 

Wieder ſchlug Wally eine Lache auf: „Ja, die —— gelt, Stromminger, 
jetzt möcht'ſt ſie wieder haben? Jetzt holt fie Euch auf 'm Gott'sacker!“ 

Die Leute ſchauten fie betroffen an — „Is fie todt?“ frug Stromminger. 

„Ja, vor drei Tagen is ſie g'ſtorb'n; das Herzeleid hat ſie umbracht, das 
Ihr ihr an'than habt. Siehſt, Stromminger, das g'ſchieht Dir recht — und 
wenn der da drin ſtirbt, weil Niemand da is, der 'was vom Curiren verſteht, 
ſo g'ſchieht's ihm auch recht — das hat er an der Luckard verdient!“ 

Jetzt erhob ſich ein Tumult — es war zu arg. „Nach jo einer Uebelthat 
auch noch ſo reden und ſagen, 's g'ſchäh' ihm recht, ſtatt daß ſie's reuen ſollt'! 
Da is ja kei Menſch ſeines Lebens mehr ſicher! Und der Stromminger ſteht 
dabei und laßt ſie reden und ſagt kein Wort? Das is a ſchöner Vater!“ So 
ging es hin und her, während Wally mit unterſchlagenen Armen trotzig unter 
der Küchenthür ſtand und auf Stromminger blickte, der von ihrem Vorwurf 
unwillkürlich betroffen war. Jetzt aber kam ihm die Wuth doppelt, und ſich 
auf ſeinem Krückſtock aufrichtend rief er in die Menge: „J will Euch zeigen, 
was J für ein Vater bin. Packt fie und bindet ſie!“ 

3* 


36 Deutiche Rundſchau. 


„a, ja,” jchrieen die Leute durcheinander, „bindet jie, jo Eine g’hört unter 
Schloß und Riegel — aufs G'richt muß fie — die Mörderin!“ 

Wally ftieß einen dumpfen Schrei aus bei dem Wort „Mörderin” und 
wich in die Küche zurüd. 

„Halt!“ ſchrie Stromminger, „auf’3 G’richt laß J mei Tochter nit jchleppen 
— meint hr, J will die Schmad) erleben, daß dem Höchſtbauer jein Kind in's 
Zuchthaus kommt? Kennt Ihr den Stromminger nimmer? Brauch' % einen 
G'richtshof, um ein ung’rathenes Kind zu züchtigen? Der Stromminger ift 
fich jelber Manns g’nug, und auf mei'm Grund und Boden bin J mei eigene 
G'richtsbarkeit! J will Euch jchon zeigen, wer der Stromminger iS, wenn 
% aud) lahm bin. In'n Keller jperr’ ich fie und laß fie nit eher "raus, ala bis 
ihr der Trotz ’brocdhen is und fie mir vor Euch Allen auf die Kniee nachruticht! 
Ihr Habt’3 Alle g’hört, und wenn J nit Wort halt‘, jo fönnt’3 mid) 'n Hunds= 
futt heißen!“ 

„Heiliger Gott, haft denn fein Einjehen mehr?” jchrie Wally auf. „Nein, 
nein, Vater, nit einjperren! Um Gotteswillen nit einperren! — Jagt mich 
fort, ſchickt mic 'nauf aufn Murzoll und laßt mich droben einjchneien! — 
Verhungern will 5%, erfrieren will 3 — aber unter freiem Himmel! — Wenn 
Ihr mich ein}perrt, giebt’3 ein Unglück!“ 

„Aha, möcht’ft wieder 'naus, a Landftreicherin werd'n, das g’fiel Dir befjer? 
Nir da! Ich war bis jetzt mur z' ſchwach gegen Dih! Du bleibjt hinter Schloß 
und Riegel, bis D’ mid) und den Vincenz auf die Kniee um Verzeihung bitt'ſt.“ 

„Vater, das hilft bei mir nie — eh’ J das thät’, eher wollt’ Jim Steller 
vermodern, das könntet's jchon jelber willen. Laßt's mi fort, Vater, oder — 
% ſag's Euch noch einmal, 's giebt ein Unglück!“ 

„Jetzt is 's g’nug g'ſchwätzt — tie fteht Ihr da? Was b'ſinnts Euch? 
Soll J ihr ſelber nachſpringe mit meim lahme Fuaß? Packt fie, — aber feſt, — 
denn was a Strommingerbluat is, das zwingt noch Eurer Zehne! Halt't's Euch dran!” 

Die Burſchen, gereizt durch dieſen Spott, drangen in die Küche ein: „Die 
woll'n wir gleich hab'n!“ höhnten ſie. 

Aber Wally ſprang mit einem Satz an den Herd und riß brennende Scheite 
aus dem Teuer: „Dem Erſten, der mich anrührt, verſeng' J Haut und Haar!” 
ichrie fie und ftand da wie der Erzengel mit dem Flammenſchwert. 

Alle wichen zurüd. 

„Schämt Euch!“ ſchrie Stromminger, „Ihr Alle mit einander werd't doch 
das eine Mädel zwingen. Schlagt's ihr die Bränd' mit Stecken aus der Hand,” 
befahl ex fiebernd vor Zorn, denn jet war es Ehrenſache fir ihn, vor dem 
ganzen Dorf feiner Tochter Herr zu werden. Einige liefen und holten Stöde — 
e3 war eine Jagd wie auf ein reißendes Thier, und zum reigenden Thier war 
auch Wally geworden. Die Augen blutunterlaufen, den Angſtſchweiß auf der 
Stirn, die weißen Zähne zuſammenknirſchend, jo wehrte fie ſich gegen die Meute, 
wehrte ji), ohne zu denken und zu überlegen, wie die Thiere der Wildniß, um 
ihre Freiheit — ihr Lebenselement. Jetzt ſchlugen ſie mit Stöden nad) den 
Bränden in ihrer Hand — ihrer einzigen Waffe — da jchleuderte jie die Brände 
in die Menge hinein, daß dieje jchreiend auseinander wich, und immer neue riß 








Die Geier-Wally. 37 


fie aus dem Herd und warf fie wie feurige Geſchoſſe den Angreifern an den 
Kopf. Der Aufruhr wuchs. 

„Waſſer her!“ ſchrie Stromminger, „holt doch Waſſer, löſcht ihr das Feuer aus!“ 

Das war das Letzte; geihah dies, jo war Wally verloren. Ein Augenblic 
und da3 Waſſer war da — Berzweiflung faßte das Mädchen. Da fam ihr 
ein Gedanke — ein furchtbarer, verzweifelter Gedanke — aber da war feine Zeit 
zum Erwägen, der Gedanke war That, eh’ er ausgedacht — und ein brennendes 
Sceit in der Hand ſchwingend ftürzte fie fich pfeilichnell durch die Meute hin— 
aus auf den Hof und jchleuderte den Brand mit gewaltigem Wurf auf den Heu- 
boden mitten in das Heu und Stroh hinein! 

Gin Schrei des Entſetzens! 

„Jetzt Licht!” ſchrie Wally und flog über den Hof und zum Thor hinaus 
und weiter und weiter, indefjen Alles auf dem Hof heulend und tobend zum 
Löſchen eilte, denn ſchon jchlug die Lohe wirbelnd durch da3 Dad). 

Mit der auffteigenden Rauchſäule hob jich Freifchend ein dunkler Gegenftand 
vom Dad) empor, wie aus dem Teuer geboren, Freifte ein paar mal hoch in der 
Luft darüber hin und flog dann der Richtung zu, die Wally genommen. 

Wally hörte Geräufch hinter fih — ſie glaubte, es ſeien die Verfolger, fie 
lief blindlings weiter. Es war Naht geworden, aber es wollte nicht dunfel 
werden — ein heller Schein zitterte um fie her, daß man fie weithin jehen mußte. 
Sie ftieg eine ſchroffe Felskante hinan, von der fie den Weg überblicken konnte, — 
aber nun jah fie, daß ihr Verfolger durch die Luft kam. — Sie hatte erreicht, 
was jie gewollt, Niemand dachte mehr daran, ihr nachzulaufen; den Hof zu retten, 
war dringendere Arbeit, und alle Hände halfen dabei. Jetzt hatte der Geier fie 
eingeholt und prallte im Schuß an fie an, daß er jie faft vom Felſen ſtieß. 
Sie drückte das Thier an die Bruft und ſank erichöpft zu Boden. Mit ver- 
ſchwommenem Blick jchaute fie in den Feuerſchein, der fern aufleiichtete und von 
den dunfeln Bergeshäuptern ringsum widerftrahlte. Mit gluthrothem, zornigem 
Angefiht ſchaute ihre That fie an, drohend, überwältigend. Bon allen Kirch— 
thürmen aus den Ortihaften Klang dumpfes Sturmgeläut herüber und die 
Gloden jummten ganz deutlid: „Mordbrenner, Mordbrenner!” Aber das furcht— 
bare Lied jang ihr Bewußtfein in Schlaf — eine Ohnmacht breitete wohl- 
thätige Schleier über die gehette Seele aus. 


VI 
Hartes Holz 


Tiefe Naht umgab Wally, al3 fie die Augen wieder aufihlug; exlojchen 
war der Feuerſchein, verftummt das Geläut, in der Schlucht tief unten donnerte 
eintönig die Ache und über ihrem Haupte ftand hoch am Himmel ein Stern. 
Sie blidte zu ihm auf, lange regung3los auf dem Rücken liegend, und ex ſchaute 
auf fie herab wie ein Blick der Verzeihung. Eine wunderbare Tröftung wehte 
durch die Nacht. Ueber die fiebernde Stirn ſtrich Fühlend der Wind und fie 
richtete ji) auf und begann ihre Gedanken zu jammeln. Es konnte nicht jpät 
fein, der Mond war noch nicht aufgegangen. Das Teuer war aljo raſch ge— 


38 Deutihe Rundſchau. 


löſcht. Es mußte ja aud) jo fein, wo Alle dabei waren und augenblidlich helfen 
fonnten, wie hätte da ein Brand um fich greifen können! Sie wußte nicht, 
wie ihr war — Sie prüfte ſich bis auf den Grund ihrer Seele und fie konnte 
fi nicht Schuldig fühlen. Sie hatte es ja nur gethan aus Nothiwehr, um die 
Verfolger von ſich abzuhalten, indem fie ihnen etwas Anderes zu thun gab! 
Sie wußte wohl, daß man fie nun „Mordbrennerin” nennen werde — aber 
war ſie's? Sie erhob den Bli zu dem Stern über ihr. Es war, al3 ſpräche 
ſie ſich jeßt zum erftenmal ganz allein mit dem lieben Gott aus, und was er 
ihr jagte, war Verſöhnung. Friedlich jchaute der reine Nachthimmel auf fie 
nieder, diefem Himmel zu lieb hatte ſie's ja getan. Nur unter diejer hoch— 
gewölbten Sternenkuppel hatte ihre Bruft Raum, zu athmen; gefangen liegen 
im dumpfen Keller ohne Luft, ohne Licht, Wochen, Monate lang, bis jie in das 
Haus des verhaßten Werber3 flüchten würde und zu Spott und Schande vor 
ihrem Vater auf den Knieen öffentlih Buße thun — das war mehr ala der 
Tod, dad war eine Unmöglichkeit! 

Das Mädchen, das ſechs Monate lang mutterjeelenallein in der rauhen 
Herberge der Ferner zu Gafte war, da3 mit den wilden Gejellen, die dort haufen, 
dem Sturm, dem Hagel und Regen, die Nächte durchwacht, deifen Stirn das 
Teuer des Himmels gefüßt, bevor es zur Erde niederzücdte, das hoch in den 
Wolken der Donner in jeiner ganzen Furchtbarkeit umtoft, bevor er jeine Kraft 
in den Lüften zertheilte, das Mädchen, das faſt täglich jein Leben eingejeht, 
wenn e3 über abgrundtiefe Felsſpalten wegſprang, um eine verftiegene Geis zu 
retten, — da3 Mädchen konnte ſich nicht mehr fügen in die Begriffe und bie 
Tyrannei des Kleinen Sinn, konnte ſich nicht knebeln lafjen wie ein Thier, 
mußte ſich wehren auf Leben und Tod. Die Menfchen hatten fein Recht mehr 
an ſie — fie Hatten fie hinausgeftoßen und zur Gefährtin der Elemente gemacht; 
was Wunder, daß fie einen der wilden Gefährten — das Teuer — zu Hülfe 
rief in dem Kampf gegen die Menfchen ? 

Sie konnte ſich das Alles nicht klar machen, fie hatte nicht gelernt, über 
jih jelbft nachzudenken, fie wußte niht warum? aber jie fühlte, daß Gott 
nicht mit ihr rechtete, daß er von jeiner Höhe herab mit einem andern Maß 
meſſe als die Menſchen, war ja aud ihr von ihrem Ferner herab Alles jo Klein 
erihienen, was jie in der Tiefe für groß gehalten — wie mußte es erſt ihm 
jein droben im Himmel?! — Gott allein verjtand fie — mochten fie die da 
unten für eine Verbrecherin halten — Gott ſprach fie frei! 

Da erhob fie ſich und jchüttelte die Laft von der Seele und war wieder bie 
Alte, rüftig und zuverfichtlich, ſtark und frei. 

„seht Hanjel — was fangen wir an?“ fragte fie den Geier, mit dem fie 
fih in Ermangelung jeder Anſprache laut zu reden gewöhnt hatte. Hanjel ftellte 
eben irgend einem nächtlichen Gewürm nad, erwiſchte e3 und verichlang e3. 
„Du haft Recht,“ ſagte Wally, „unfer Brod müſſen wir ſuchen. Du haſt's 
gut, Du find’ft 's überall, aber J?“ Plötzlich wurde Hanjel unruhig, flog auf 
und jpähte nad) etwas in der Ferne. 

Da fiel es Wally ein, daß man fie num, da das Teuer gelöjcht jei, juchen 
fönne und fie weiter müſſe, jo jchnell als möglid. Aber wohin? hr eriter 


Die Geier-Wally. 39 


Gedanke war Sölden! Aber das Blut ftieg ihr in's Gefiht — fonnte da 
nicht der Joſeph denken, fie liefe ihm nah? Und ſollte ex fie in der Schmad 
und Schande jehen, arın, von zu Haus entlaufen, verpönt und verjchrien ala 
„Mordbrennerin“. 

Nein, jo jollte er fie nicht jehen, ex am wenigſten! Lieber laufen, ſoweit 
der Himmel blau! 

Und ohne ſich weiter zu befinnen, nahm fie den Geier auf die Schulter — 
das einzige Hab’ und Gut, das fie beſchwerte — und ging der Richtung zu, 
von der fie am Morgen gefommen — nad) Heiligfreus. 

Zwei Stunden war fie gegangen, ihre Füße waren wund, fie war zum Tod 
erihöpft, da tauchte der Thurm von Heiligkreuz in der Dunfelheit vor ihr auf 
und, wie das Licht in einem Leuchtthurm, ſchimmerte durch die offene Gloden- 
ftube der aufgehende Mond und zeigte der ziellojen Wandererin die Richtung. 

Zaumelnd vor Müdigkeit jchleppte fie ſich durch das jchlafende Dorf der 
Kirche zu. Dann und wann ſchlug ein Hund an, wo fie mit leifem Fuß vor- 
überſchritt. Wer fie jetzt erwilchte, der mußte fie für eine Diebin halten. 
Sie zitterte, als wäre ſie's wirklich. Was war aus der ftolzen Stromminger- 
Wally geworden! 

Hinter der Kirche war das Pfarrhaus. Neben der Thür ftand eine höl- 
zerne Bank und von den Kleinen Fenſtern hing das Geftrüpp abgeblühter Berg- 
nelfen aus dem hölzernen Käftchen darauf nieder. Hier wollte Wally den Tag 
abwarten, der Pfarrer werde jie doch wenigftens vor Mißhandlung ſchützen. 
Sie legte ſich auf die Bank, den Hanfel fette fie auf die Lehne zu ihren Häupten, 
und nad) wenig Augenbliden forderte die Natur ihr Recht, fie jchlief ein. — 

„Herr meines Lebens, was ift mir da für ein Findling beſcheert!“ Klang 
e3 Wally in’s Ohr, und ala fie die Augen aufſchlug, war e3 heller Tag und 
niemand Anderes, ald der Herr Eurator jelbjt, ftand vor ihr. 

„Gelobt ſei Jeſus Chriſtus,“ fammelte Wally verlegen und fuhr mit den 
Beinen von der Bank herunter. 

„In Ewigkeit, Amen! Mein Kind — wie fommft Du hierher, wer bijt 
Du — und was ift das für ein jeltjamer Begleiter, den Du da bei Dir haft, — 
man könnte ſich faft fürchten?” jagte der geiftliche Herr freundlich lächelnd. 

„Hochwürdig Gnaden,“ ſagte Wally einfah, „Jhab' was Schwer'3 aufn 
G'wiſſen und möcht’ Ihne gern beiten! J heiß' Wallburg und g'hör' 'm 
Stromminger vom Höchſthof auf der Sonnenplatten. J bin d’heim davon 
g’laufen. Willen’ — J hab’ Händel g’habt mit 'm Gellner-Vincenz und hab'm 
a Loch in 'n Kopf g’ihlag’'n und dann hab’ J mei'm Vater a Scheuer 
an'zünd't — —!“ 

Der Pfarrer ſchlug die Hände zufammen: „Gott fteh’ uns bei — wa3 für 
Geſchichten. So jung und ſchon jo bös!“ 

„Hochwürden — % bin jonft nit bös, g’wiß nit — J kann feiner Fliegen 
nir 3 Leid thun — aber fie hab'n mir's darnach g’macht!” jagte Wally und 
ſchaute den Gurator mit ihren großen, ehrlichen Augen an, daß er ihr glauben 
mußte, er mochte wollen oder nicht. „Komm' herein”, ſagte er, „und erzähl’ 
mir, aber das Ungethüm lafj’ draußen; er meinte den Geier. Wally ſchwang 


40 Deutſche Rundſchau. 


den Geier in die Luft, daß er auf das Dach flog, und folgte dem Herrn in das 
kleine Haus. Er ließ ſie in die Stube treten. 

Da war es gar ſtill und friedlich. Im Alkoven ſtand eine rohe hölzerne 
Bettſtelle mit zwei gemalten flammenden Herzen, die für den Herrn Curator 
die Herzen unſeres Heilands und der Jungfrau Maria bedeuteten. Ueber dem 
Bett war ein Weihwaſſerkeſſelchen von Porzellan und ein Brett mit Erbauungs— 
bücdern. Im Zimmer waren nod) mehrere Schäfte mit andern Büchern und 
ein altes Schreibpult, eine braune Holzbank hinter einem großen, ſchweren 
Tiſch, einige Holgftühle, ein Betſchemel unter einem großen Grucifir mit einem 
Kranz von Edelweiß und ein paar bunte Lithographien des Papftes und ver- 
Ichiedener Heiligen. Bon der Dede herab hing ein Käfig mit einem Kreuzjchnabel. 
Eine uralte Commode mit melfingenen Löwenköpfen, welche Ringe zum Auf- 
ziehen der jchweren Schubladen im Maule hatten, bildete das Pradtftüd. Auf 
diejer Commode waren allerhand ſchöne Dinge. Ein Heiligenichrein mit einem 
geſchnitzten Heiligen, ein Glaskäftchen mit einem wächſernen Chriftusfind in roth- 
jeidener Wiege, ein gläjernes Spinnrädchen und ein vergilbter fünftliher Blumen- 
ſtrauß der Art, wie fie in den KHlöftern gemacht werden, in einer gelben Vaſe, 
unter einer Glasglode. Ein Schächtelchen mit Kleinen bunten Mujcheln. Ein 
winziges Bergwerk in einer Flaſche und als Mittelftüid ein Krippchen aus Moos 
und funfelnden Glimmerfteinchen mit fein geſchnitzten Thier- und Menſchen— 
figüchen. Auch an einigen ſchönen Taſſen und Kannen fehlte es nicht neben 
den heiligen Gegenftänden und den Schlußftein bildeten rechts und links von 
der Geburt Chriſti zwei Exhftallene Salzfäßchen. Und das Alles jo jauber ge- 
halten, al3 gäbe es feinen Staub auf der Welt. Diefe Commode mit den ver- 
ichiedenen funftreichen Dingen war der kindliche Altar, den der einſame Prieſter 
jechstaujend Fuß hoch über dem Mteere und über der modernen Gultur dem 
Gott der Schönheit errichtet hatte. Hier ftand er wohl manchmal, wenn draußen 
der Schnee wirbelte und der Sturm an dem hölzernen Häuschen rüttelte, und 
blickte finnend in die Eleine niedliche gedrechjelte Welt hinein, ſchüttelte lächelnd 
das Haupt und jagte: „Was doch die Menjchen nicht Alles machen!“ 

Ganz daſſelbe dachte Wally, als ihr Blid im Vorbeigehen ſchüchtern 
über die twunderhaften Sächelchen glitt. Wie reih auch ihr Vater war, 
jolde Dinge hatten fih nie in fein Haus verirrt, was hätten auch die 
plumpen Bauern damit anfangen jolen? In ihrem ganzen Leben hatte jie 
jo etwas nicht gejehen, fie, der jchon ein Spinnrad neben ihren Senfen und 
Heugabeln als der Inbegriff aller Zierlichkeit erſchien! Es war ihr ordentlich 
zu Muthe, ala könne fie fi) in diefem Stübchen nicht regen, ohne etwas zu zer— 
brechen, und ala müſſe fie hier ganz bejonder3 manierlich jein. Sie wollte un- 
willkürlich an der Thür die ſchweren eifenbeichlagenen Bergſchuhe ausziehen, um 
die glatten, mweißgejcheuerten Dielen nicht zu verderben, aber der Herr Gurator 
litt es nicht, und jo trat fie denn jo leiſe auf, als fie nur konnte, und jeßte ſich 
geziemend auf das äußerjte Ende der Banf, die ihr der Herr anbot. Der Geiſt— 
liche ließ jein freundliches klares Auge beobachtend auf ihr ruhen und jah, daß 
fie den erftaunten Blie nicht von den Zierrathen auf der Commode abwenden 
konnte. Der alte Herr war ein Menjchentenner. „Du möchtet Dir wohl erſt 


Die Geier-Wally. 41 


meine hübſchen Sächelchen anjehen? Thu’ es, mein Kind — Du haft jonft feine 
rehte Sammlung für die ernten Dinge, die wir beiprechen wollen.” 

Und er führte Wally zu der geheimnißvollen Commode und erklärte ihr 
Alles und erzählte ihr, wo er es her habe. 

Wally traute fich nicht zu ſprechen und jah und hörte voll Ehrerbietung. 
Als fie bei der Krippe al3 dem Beften und Lebten angekommen waren, fagte 
der Herr Gurator: „Siehft Du, das ift Jeruſalem da hinten, und das find die 
heiligen drei Könige, die zum Chriſtuskind wallfahrten — ſchau, das ift der 
Stern, der fie führt, und da — da liegt das Kindlein in der Krippe und ahnt 
es noch nicht, daß e3 geboren tft, um zu leiden für die Sünden der Welt. Denn 
e3 kann noch nicht denken und hat feine Erinnerung mit herüber genommen aus 
feiner himmlischen Heimath, dieweil der Gottesjohn eben nun ein rechtes Men— 
Ihentind werden mußte, wie jedes andere, — ſonſt hätten ja die Menſchen 
lagen fünnen, das jei feine Kunft, jo gut und geduldig zu fein wie Jeſus 
Chriſtus, wenn man Gottes Sohn jet und göttliche Kraft habe, und einem jolchen 
Vorbild könne man nicht nachahmen, wenn man ein gewöhnlicher Menſch jei. 
Sie jagen das auch leider jeht noch oft genug und fündigen fort darauf hin!“ 
Wally jchaute das nette nadte Kindlein an mit feiner Goldpapier-Glorie, wie 
e3 jo geduldig dadrin lag, und hörte die Worte des Pfarrers, und wie fie ſich 
den ſtrengen finjtern „Herrgott vom Kreuz“ ala armes, hülflofes, zum Leiden 
geborenes Menjchenkind dachte — da erbarmte fie feiner und es that ihr leid, 
daß fie geitern an dem Todtenbett der Luckard „jo grob” mit dem armen Ge- 
freuzigtern gewejen war. „Aber warıım hat er ich auch Alles g’fallen laſſen?“ 
ſagte fie unwillkürlich mehr zu fich jelbft, ala zu dem hochwürdigen Herrn. 

„Weil er den Menjchen zeigen wollte, daß man nicht Böſes mit Böſem 
vergelten und jich nicht rächen joll, denn Gott hat geſprochen: „Mein ift die 
Rache!“ Wally wurde roth und jchlug die Augen nieder. 

„Jetzt komm', mein Kind,“ jagte der kluge Dann, „und leg’ Deine Beichte ab!“ 

„De3 wird kurz beitnand’ jein, Hochwürden,“ jagte Wally. Und ehrlich, 
wie jie ſtets gewejen, erzählte fie ohne jede Beſchönigung, wenn auch mit jchüch- 
tern gedämpfter Stimme, wie Alles gegangen, und bald war dem Beichtiger der 
ganze Zufammenhang klar. Ein getvaltiges Lebensbild hatte fich da, mit groben 
Zügen hingetvorfen, vor ihm entrollt, und ihn jammerte des edeln jungen Bluts, 
das da zwiſchen jchroffen Felsſpitzen und jchroffen Menſchen verwilderte! 

Zange ſaß er jtill und blickte finnend vor ſich hin, als Wally geendet hatte, 
Sein Blick haftete an einem alten verlefenen Bud) auf feinem Bücherſchaft an 
der Wand; ein Fremder, den er gaftlich aufgenommen, hatte es ihm gejchentt. 
Auf dem Einband ftand mit Golddrud: das Nibelungen-Lied. — 

„Herr Pfarrer,“ jagte Wally, die das Nachdenkliche in feinen Zügen für 
den Ausdruc des Vorwurfs hielt, „'s i3 halt au 3’ viel 3’ jamm’tomm’n, % hab’ 
halt g’rad noch den Zorn weg'n der arme Ludard im Leib g'habt und da jchlagt 
der au noch den Klettenmaier! Schauen S’, J hab’ den alten Mann nit ſchlagen 
jehen können, um Alles nit, und wann's no amol jo käm', 3 machet's g’rad 
wieder jo! Und a Mordbrennerin bin J doch nit, wann j’ mi glei jo heißen 
werd’n. Gelten S'? Wann ma a Haus am hellen Tag anzünd't, wo alle 


x 


42 Deutſche Rundihau. 


Leut' derbei find, da Tann ja nit viel verbrenne. J hab’ mir halt nimma 3’ 
helfen g’wußt und da hab’ % denkt, warn ſ' löjchen müſſen, könne j’ mir nit 
nachſpringe! Und wenn des a Sünd’ iS, nacher weiß nit, wie ma’3 mach'n 
joll auf dera Welt, wo die Leut’ jo bös find und ei'm alles Ung'mach anthun.“ 

„Dan joll e8 machen wie Jeſus Chriftus: dulden und tragen!” fagte der 
Geiftliche. 

„Wiſſen's, Hochwürden,“ jagte Wally, „wenn der Herr Jeſus Chriftus 
Alles hat mit ſich machen lafjen, jo hat er g’wuht, warum — der bat die Leut’ 
wa3 lehren wollen! J wüßt' aber nit, für was % ’3 thät’, denn von mir will 
doch Niemand nix lernen im! ganzen Debthal! Und wenn J mi noch jo geduldig 
hätt’ in 'n Keller jperren laſſ'n, 's wär ganz für nir g’wejen, — denn 's hätt’ 
ſich Niemand fein Beifpiel dran g’nommen, aber mid) hätt's vielleicht 3 Reben koſt't!“ 

Einen Augenblid bejann ſich der Pfarrer, dann richtete er feine freundlichen 
überjchauenden Augen auf Wally und jchüttelte den Kopf. „Du unbändig’s 
Kind, Du, möchteſt nit mit mir auch ſchon wieder Streit anfangen? Sie 
haben Did arg verjtört und aufgereizt, daß Du überall Feinde und Wider- 
ſpruch witterft. Komm’ nur zu Athem und merk', wo Du bift — Du bift bei 
einem Diener Gottes und Gott jagt: ich bin die Liebe, das joll Dir fein bloßes 
Wort fein, ich will. Dir zeigen, daß es wahr ift! Ich will Dir jagen, daß, 
wenn auch alle Leute Did haſſen und verdammen, der liebe Gott Si doch 
fieb hat und Dir verzeiht! Was Du bift, das haben die harten Menjchen, die 
rauhen Berge und die wilden Wetter aus Dir gemacht, und da3 weiß der liebe 
Gott recht wohl, denn der fieht Dir in’3 Herz und fieht, daß Dein Herz qut 
und rechtichaffen ift, wie Du auch gefehlt haft. Und er weiß, daß in der Wildniß 
feine Gartenblumen wachſen und daß grobe Aerte fein fein’ Bildwerk ſchnitzen. 
Aber num paf auf! Findet unfer Herr und Meifter jo ein grob Schnigwerf 
von bejonders gutem Holz, das ihm der Mühe werth dünkt, was Beſſeres d’raus 
zu machen, jo nimmt er wohl jelber einmal das Meſſer und jchnigelt das ver- 
pfuſchte Menſchenwerk zurecht, daß noch was Hübjches d’raus wird. Nun mein’ 
ih, Du jollft recht Acht geben, daß Du Dein Gemüth nicht noch mehr verhärteft, 
denn ſchau', wenn unjer Herrgott jo ein paar Schnitt’ gethan hat, und er findet 
das Holz zu hart, jo verdrießt ihn die Mühe, und er wirft die Arbeit weg. 
Hab’ ja Acht, mein Kind, daß Dein Herz weich jei und nachgebe unter Gottes 
bildneriihem Finger. Wenn ein harter Drud Dich unerträglich dünkt, fo jei 
fügfam und denke, Du jpürft die Hand Gottes, die an Dir arbeitet. Und wenn 
ein Schmerz Dir ſcharf in die Seele jchneidet, jo denke nur, es jei Gottes 
Mefler, dad die Unebenheiten herausfchneidet. Verſtehſt Du mich?“ 

Wally nidte etwas unficher mit dem Kopf. 

„Run,“ jagte der alte Herr, „ich will Dir's noch deutlicher machen. Was 
möchteft Du lieber jein, ein roher Stod, mit dem man die Leute todtjchlagen 
kann, und den man, wenn er morjch wird, zerbricht und verbrennt, oder jo ein 
feines Heiligenfigürchen wie jenes dort, das man in ein Bildftöckchen ftellt und 
andachtsvoll verehrt ?“ 

Seht Hatte ihn Wally begriffen und nickte lebhaft: „Ja freili — lieber jo 
a Heiligenfigürl'!“ 


Die Geier-Wally. 48 


„Run fiehft Du! Grobe Fäuſte haben einen rohen Stod aus Dir gezimmert, 
aber Gottes Hand kann jo ein Heiligenbild au3 Dir fchnigen, wenn Du thuft, 
was ich Dir eben ſagte.“ 

Wally jah den Pfarrer mit großen erftaunten Augen an, es war ihr ganz 
eigen zu Muth — vergnügt und doch zum Weinen. Nach langem Schweigen 
jagte fie ſchüchtern: „J weiß nit, wie des is, Jaber bei Ihne is Alles ander 
ala anderswo, Herr Pfarrer! So hat no kei Menſch mit mir g’red't! Der 
Herr Eurat von Sölden hat immer g’iholten und vom Teufel und unſ're 
Sünden g'ſprochen, und % hab’ gar nit g’wußt, wa3 er will, denn % hab’ jel- 
bigerzeit no gar nir Böſes 'than a’habt. Aber Sie reden doch mit Ein’'m, daß 
ma’3 verftehen kann und — J mein’, wenn J bei Ihna bleib’n könnt' — da 
wär's mir am wöhlften! Ich wollt’ g’wiß Tag und Nacht arbeiten, und mei 
Stüfl Brod verdienen —!” 

Der Eurator überlegte lange, dann jchüttelte er traurig den Kopf: „Das 
geht nicht, Du armes Kind. Wenn ich’3 noch jo bedenke, e3 geht nicht. Wenn 
ih Dir im Namen Gottes vergeben kann, vor den Menſchen darf ich's nicht. 
Denn Gott fieht die Abjicht, die Menjchen jehen nur die That. Ein An- 
deres iſt der Geiftliche im Beichtftuhl — ein Anderes in der Gemeinde. Im 
Beihtftuhl ift er der Verkünder der Gnade — in der Gemeinde ift ex der Ver— 
fünder des Geſetzes. Er muß die Menſchen aneifern durch Wort und Bei— 
ipiel, da8 Gefeß zu ehren und zu halten. Denke, was würden die Leute jagen, 
wenn der Pfarrer eine offenkundige Branditifterin bei fih aufnähme? Würden 
fie'3 verftehen, warum ich's thäte? Niemals, fie würden nur daraus jchließen, 
daß ich die Branditifter in Schuß nehme, und darauf hin fündigen. Und wenn 
wir demnächit eine recht boshafte Brandlegung erlebten, jo müßte ic” mix bitter 
vorwerfen, daß ich den Leuten durch meine Nachſicht gegen Dich Muth dazu ge- 
madt hätte! Kannft Du da3 einjehen und es ohne Murren hinnehmen als 
die undermeidlichen Folgen Deiner That?“ 

„Ja!“ ſagte Wally dumpf und ihre Augen rötheten ſich von verhaltenen 
Ihränen. Dann ftand fie raſch auf und jagte ſchroff: „So dank’ J ſchön, Herr 
Pfarrer, und wünſch' Gutenmorgen.“ 

„Heh! Heh!“ rief der Pfarrer, „gleich wieder oben 'naus? Was meint, 
wärs nicht näher durch die Wand, al3 duch die Thür? Ich ging’ an Deiner 
Stelle Tieber gleich durch die Wand!” 

Wally blieb beihämt ftehen und jah zu Boden. Der alte Herr ließ mit 
tomiiher Berwunderung feine Augen auf ihr ruhen: „Was wird das koften, bis 
das raſche Blut gebändigt ift! Läuft man denn gleich jo fort? Sag’ id) denn, 
ih wollte Dich Deinem Schickſal überlaffen, wenn id Dich nicht bei mir im 
Haus behalten will? Zuerſt frühſtückſt Du mit mir, denn effen muß der Menſch, 
und Gott weiß, wie lang’ Du nichts mehr gegefien haft. Dann wollen wir 
weiter reden.“ Er ging an ein Schiebfenfterchen, das nad der Küche führte, 
und rief der alten Magd, das Frühſtück für Drei zu richten. Dann jehte er 
ſich an fein einfaches Schreibpult und jchrieb der Wally ein paar Namen von 
Bauern auf, die er als brave Leute kannte. 

„Schau, da haft Du ein ganzes Verzeihnig von rechtſchaffenen Männern 


44 Deutiche Rundichau. 


und Frauen im Debthal und Gurglerthal,“ jagte er zu Wally; „bei denen ſuch' 
Dir einen Dienft. Hinten in den Bergen weiß man noch nichts von Deinem 
Vergehen, und bi3 man's erfährt, kannt Du Did) ſchon als brave Magd be— 
währt haben, jo daß die Leute ein Auge zudrüden. Auf mich darfſt Du Dich 
nicht berufen, doch Du bift groß und ftark wie ein Mann, fie werden Dich gern 
nehmen. Du kannſt tüchtig arbeiten und Dich nützlich machen, wenn Du willft. 
Aber gehorhen mußt Du lernen, mußt Dich jhiden in Brauch und Ord— 
nung, Jonft geht's nicht! Ich verlange nicht von Dir, daß Du zu Deinem Vater 
zurückkehrſt und Dich in den Keller jperren läfjeft, denn da wäre eine unwür— 
dige Strafe und würde bei Dir mehr verderben als gut machen. Ich verlange 
auch nicht, daß Du den Bincenz aus Gehorjam gegen den Water heiratheft 
und Dich für Dein Leben unglücklich machſt. Aber ich verlange von Dir, daß 
Du Dein wildes Weſen im Dienfte braver Leute, in vernünftiger, geregelter 
Thätigfeit bändigft und wieder ein brauchbares Glied der menſchlichen Geſell— 
Ihaft wirft. Verſprichſt Du mir das?“ 

„J will’3 probir'n!“ jagte Wally in ihrer unerſchütterlichen Ehrlichkeit. 

„Run, das ift Alles, was ic vorderhand von Dir verlange, denn ich weiß 
wohl, daß Du mit gutem Gewiſſen nit mehr verjpredhen kannſt. Aber ver- 
juche e8 mit redlihem Willen und denke immer, daß der liebe Gott zu hartes 
Holz wegwirft! — Ich will heute noch zu Deinem Vater gehen und ihm in’s 
Gewiſſen reden, daß er Dir verzeiht und fi mit Dir ausjöhnt, oder Dich 
wenigſtens nicht weiter verfolgt. Gieb mir bald Bericht, wo Du bift, daß ich 
Dir Schreiben kann, wie die Dinge ftehen.“ 

Die Mariann brachte das Frühſtück, und der Pfarrer ſprach das Morgen— 
gebet. Auch Wally faltete andächtig die Hände und bat aus tieffter Seele den 
lieben Gott, er möge ihr doch Helfen, gut und brav zu werden; es war ihr Jo 
heiliger Ernſt damit, fie wäre ja jo gern gut und brav gewejen, wenn jie nur 
gewußt hätte, wie ſie's machen jollte. 

Als das Gebet zu Ende war, ſetzten ſich alle Drei, jie und der Herr Pfarrer 
und die Mariann, zum Frühftüd. Aber faum hatten fie begonnen, da erhob 
fi) draußen ein Lärm: „Ein Geier! — Schaut’3 da auf'm Dad) den Geier! — 
Schießt's 'n "runter, Bür’n her!” 

„Jeſus, mein Hanſel,“ jchrie Wally, fprang auf und wollte zur Thür hinaus. 

„Halt!” rief der Pfarrer, „was willft Du — Du fannft jet nicht hinaus; 
willſt Du Did unnöthig preisgeben, wo jeden Augenblid die Leute Deines 
Vaters kommen können, Dich zu holen?” 

„Mein’n Geier laſſ' J nit am Stich, werd’3 wie's woll',“ rief Wally, und 
mit einem Sprung war fie zur Thür hinaus. 

Der Pfarrer folgte ihr kopfſchüttelnd. 

„Der Geier ift zahm,“ — ſchrie jie den Leuten zu, „er g’hört mir, laßt'n 
gehen!“ 

„Aber jo a Vieh laßt ma doch nit jo rumfliegen,“ murrten die Leute, 

„Hat er Euch a Schaf g’holt, oder a Kind?” fragte Wally troßig. 

„Rein!“ 

„Ro alſo — laßt mi ung’shoren mit mei'm Vogel!“ jagte das Mädchen 


Die Geier-Mally. 45 


und ftand jo ftolz und herausfordernd da, daß die Leute fie erftaunt anjahen. 
„Wally, Wally,“ warnte leife der Pfarrer, „dent an das harte Holz!” 

„J dent’ ſcho d’ran, Herr Pfarrer,“ und fie winkte mit der Hand dem 
Geier: „Danfel, komm' weiter!” Der Vogel jhoß vom Dad) herab, daß die 
Leute erichroden zurücfuhren. Sie nahm ihn auf die Schulter und jehritt auf 
den Pfarrer zu. „B'hüt Gott, Hochwürden,“ jagte fie leife, „J dan für 
Alles !* 

„Willſt nicht noch hereinfommen und fertig frühſtücken?“ fragte der Herr. 

„Nein, J lab den Vogel nimmer da allein — und fort muß % ja doch — 
auf was joll J warten?” 

„So jei Gott mit Dir und alle Heiligen!” jagte der Pfarrer befiimmert, 
indejfen die alte Mariann ihr heimlich einen Imbiß in die Tajche des faltigen 
Rockes ftopfte. 

Einen Augenblic zögerte ihr Fuß an der ihr lieb gewordenen Schwelle — 
dann aber jchritt ſie ftill weiter durch alle die Leute durch, die ihr erftaunt 
nachgafften. 

„Ber is denn des?“ 

„Des 13 a Hex'!“ hörte fie hinter fich flüftern. 

„Es ift eine Fremde,” erklärte der Pfarrer, „der ich die Beichte abgenom- 
men habe!” 


vl. 
Die Klötze von Nofen. 


Tag um Tag irrte Wally auf den Ortſchaften herum, um einen Dienft 
zu ſuchen, aber Niemand wollte jie mit dem Geier aufnehmen, und von dem 
Geier ließ fie nit. Wenn fie ihn auch preisgegeben hätte, er wäre ihr doch 
immer wieder zugeflogen, und das treue Thier zu tödten, der Gedanke fam ihr 
nicht in den Sinn, mochte e8 mit ihr werden, wie es wollte Nun war fie in 
Mahrheit die Geier-Wally, denn ihr Schickſal war unzertrennlich mit dem Geier 
verfnüpft und er griff in dafjelbe ein, wie ein Menſch. Die alte Baje der Ludard 
wollte ſie gerne behalten, ala fie einen Augenblick bei ihr vorſprach, aber dort 
war fie zu nah von Haus — dort wäre fie ganz in der Gewalt de3 Vaters 
gewefen. Sie mußte weiter — joweit jie die Füße trugen. Die Jahreszeit 
ward immer rauher, e8 begann zu jchneien, und die Nächte, die Wally auf irgend 
einem offenen Heuſchober zubrachte, waren empfindlich kalt. Die Kleider, die 
fie auf dem Leibe trug, wurden ſchlecht und ſchmutzig, fie fing an bettelhaft und 
landftreicheriich auszufehen, und immer härter ward fie abgefertigt, wo fie mit 
ihrem Gefährten an eine Thür Elopfte. So abenteuerlich jah fie aus, daß feine 
qutmüthige Bäuerin fie mehr für ein paar Stunden im Haus arbeiten und 
dann mit am ‚iſch ejfen ließ. Man reichte ihr um der Gottesbarmberzigkeit 
willen ein Stück Brod vor die Thür hinaus. Und Wally, die ſtolze Strom- 
minger-Wally, ſetzte fich auf die Schwelle und aß es! Denn jterben wollte jie 
niht. Das Leben, da3 gequälte, gehette, arme, nadte Leben war doch ſo ſchön, 
jo lange fie hoffen konnte, daß einft doc der Joſeph jte lieb haten werde. Im 


46 Deutſche Rundſchau. 


dieſer Hoffnung willen konnte ſie Alles ertragen, Hunger, Kälte, Schmach! Aber 
ihr ſonſt ſo ſtarker Körper begann zu wanken unter der beſtändigen verzehrenden 
Sorge und Spannung, ihr Blick wurde trübe, die Füße verſagten ihr den Dienſt, 
und ſowie ſie ſich ruhig hinlegte, verwirrten ſich ihr die Gedanken und ſie lag 
in einem fieberhaften Halbſchlaf. Mit erſtickender Angſt überkam ſie das Ge— 
fühl, krank zu werden. Auch das noch! Wenn ſie irgendwo in einer Scheune 
bewußtlos liegen blieb, dann brachte man ſie zu ihrem Vater, dann war ſie 
wieder in ſeiner Gewalt. Sie war drüben im Gurglerthal herumgeirrt, und 
da ſie dort nichts gefunden, wieder den mühſamen Weg in's Oetzthal herüber— 
geſtiegen. Es hatte ſie nach Vent gezogen, das lag im Burgfrieden ihres Vaters 
Murzoll, es war ihr ein Stück Heimath. Aber dort war es ihr noch ſchlimmer 
gegangen. Se rauher die Gegend, deſto rauher waren auch die Menſchen — und 
bis Wally dorthin fam, war ihr auch Thon die Kunde von ihrer That voraus» 
geeilt und Schreden und Abjcheu begegnete ihr, wo fie fich zeigte. Auf den 
Pfarrer von Heiligkreuz berief ſie fich nicht, denn er hatte e3 ihr verboten, und 
jie Jah ein, daß er e8 thun mußte. Deshalb aber juchte fie auch feinen andern 
Pfarrer mehr auf, es durfte ja Keiner ſich ihrer annehmen! 

Das letzte Haus von Bent hatte joeben jeine Thür hinter ihr gejchloffen. 
Vor ihr lag nun nicht? mehr, als die himmelhohen Wände des Platteylogels, 
der Wildſpitze und des Hochvernagtferners, die das Thal abiperrten, und über 
die fein Weg weiter führte. Hier ſchloß fich die Welt von allen Seiten wie 
eine Sadgafje, und fie war am Ende diejer Sackgaſſe. Da ftand fie und ſchaute 
an den jteil aufragenden Wänden ringsum empor. Es war ein grauer Morgen 
und dichter Schnee, der die Nacht gefallen, ließ das ganze Thal nur noch wie 
eine ungeheuere Schneemulde erjcheinen. Jede Spur eines Pfades war verwiſcht. 
Sie jeßte fich nieder und dachte: „Ichlaf’ J ein und erfrier', jo iſt's ein leichter 
Tod“. Aber jo kalt war's noch nicht, der Schnee ſchmolz unter ihr und fie 
ichlotterte bald vor Näſſe. Da jprang fie auf und jchleppte ſich die Anhöhe 
hinan, die hinter Vent auf den Weg zum Hochjoch führt. Hier konnte fie die 
Gegend weithin überſehen. Und da gewahrte fie auch eine Art Furche im Schnee, 
die jich hinter dem Dorfe längſt der Thalleitipit mitten in’3 Herz der Ferner 
hinzog. Das konnte ein Fußpfad jein — aber wo führte der Hin? Sie jtieg 
noch höher, um iweiter zu jehen, und da fiel es ihr wie eine Binde von den 
Augen, — da3 war ja der Weg, der von Vent nad) den Rofener Höfen führte. 
Rofen, der höchſte bewohnte Ort in ganz Tirol, der lebte im Debthal, wo 
Adlern glei; noch Menſchen Haufen, nur zwei Tyamilien, die Klöße und die 
G'ſtreins. Rofen, das ftille verjtedte Rofen am Fuß des furchtbaren Vernagt— 
aletichers, am Ufer des Eisjees, two fein Fuß ſich hinverirrte Jahr aus Yahr 
ein, das eine ehrwürdige Sage in geheimnikvolle Schleier einwob. Das war 
der Ort, wo Wally hingehörte, das war die letzte Zuflucht, wo fie Hülfe fand, 
oder wenigftens ruhig jterben konnte, wie das Thier der Wildniß. Dahin wollte 
fie, zu den Klötzen von Rofen! Sie waren die berühmteften Fremdenführer in 
ganz Tirol, fie waren auf den Bergen daheim, wie Berggeijter, ſie fonnten 
begreifen, daß Wally eher ein Haus anzünden, eher jterben wollte, ehe ſie ſich 
den Athen der Freiheit rauben ließ, und fie konnten Wally beichügen gegen 


Die Geier-Mally. 47 


die ganze Welt, denn die Rofener Höfe hatten das Aſylrecht. Herzog 
Friedrich mit der I. T. hatte es ihnen verliehen zum Danf, weil er einft im 
der Bedrängnig auf Rofen Zuflucht vor feinen Feinden gefunden. Joſeph der 
Zweite hatte e3 ihnen zwar Ende des vorigen Jahrhunderts entzogen, aber der 
Bauer hält feft an feinen Bräuchen und die Oetzthaler ehrten e8 freiwillig noch 
immer fort. Wer auf Rofen Freiftatt fand, der war unantaftbar, denn Die 
Rofener, die „G'ſtreins“ und die „Klöße”, nahmen Keinen auf, der's nicht ver- 
diente, und ftanden in demjelben Anfehen, wie ihre Vorfahren. Ein Angriff auf 
ihr Hausrecht wäre jo viel gewejen, wie Kirchenſchändung. 

Wally hob die Arme zum Himmel in brünftigem Dank, daß Gott ihr 
diejen Weg gezeigt, und jchwindelnd, taumelnd ftrebte fie dem letten Ziele zu, 
das ihre Kraft noch zu erreichen vermochte. Erſt abwärt3 auf den Pfad, der 
von Vent abging, dann wieder fteil aufwärts. 

Eine endloje Stunde war fie auf dem verwehten Pfad geftiegen. Da lagen 
fie vor ihr, wie ſchlafend im Schnee, die ftillen, ehrwürdigen Rofener Höfe, die 
fie oft vom Murzoll herab Elein wie Adlernefter am Felſen hängen gejehen. 
Das Herz ſchlug ihr, daß ſie's hörte, die Knie wankten ihr. Wenn fie auch 
hier abgewiefen würde? Ein neues Schneegeftöber twirbelte lautlos herab und 
hüllte Alles in einen weißen, beweglichen Schleier. Es wirbelte und flimmerte 
vor Wally’3 Augen und der weiße Schleier wallte ihr fühl um's Haupt, aber 
auf ihrer fieberheißen Stirn ſchmolz er und floß ihr als Waller über Geſicht 
und Haare, und dann jchüttelte fie wieder der Froſt. Endlich ftand fie vor der 
Thür des Nicodemus Klo und griff nach dem eijernen Klopfer, aber wie fie 
danach griff, ward es ihr jo ſeltſam licht vor den Augen, fie ſank mit einem 
dumpfen Tall gegen die Thür und glitt daran vollends nieder. — 

Fort und fort wallten die weißen Flocken in das enge Thal herab und 
fchleierten und betteten e8 ein und häuften ſich vor der gut verrammelten Thür 
des Nicodemus Klot über dem jtarren Körper, der da lag, zu einem friedlichen 
weißen Hügel auf. 

Nicodemus Klo ſaß auf der warmen Ofenbant, ſchmauchte jein Pfeifchen 
und jchaute behaglich dem Schneetreiben vor dem Fenſter zu. So zogen ihm 
in guter Ruhe die Viertelftunden vorüber, indeß fein jüngjter Bruder Leander, 
ein ftattlicher Jäger, in ‚einem fließpapierenen Wochenblättchen las. „Das legt 
wieder jchön 'runter,“ jagte Nicodemus rauchend. 

„Ja,“ jagte Leander und jchaute auf, wie's vor dem Eleinen enter wallte 
und wimmelte. Da plößlich Ichlug mitten in dem weißen Wirbel ein dunkler 
Flügel an's Fenſter, e3 flatterte und Frächzte und flog vorbei, dem Dad) zu. 

„Da war was!” jagte Leander und ftand auf. „Was wird's g'weſen jein,“ 
brummte der Aeltere, „kannſt ja nit vor d'Thür 'naus in dem G'ſtöber.“ 

„Ah was!” jagte Leander und nahm den Stuben von der Wand, der Jäger 
rührte fich in ihm bei jedem Flügelſchlag eines vorbeiihwirrenden Vogels. Er 
mußte jehen, wa? das war. Er ging und öffnete behutjam die Thür, um den. 
Vogel durch Fein Geräuſch zu vericheuchen. Da fiel ein Haufen Schnee herein 
und er gewahrte den Hügel, der fi) an der Schwelle aufgeichichtet hatte. Er 


48 Deutiche Rundichau. 


fonnte nicht hinaus, er mußte eine Schippe holen, um den Wall fortzufchaffen. 
Hergerlich ftellte er den Stuben weg und begann zu fchaufeln. 

„Jeſus, was ift das?!” jchrie er plößlich auf, „Nicodem, komm' jchnell, da 
ift was unter dem Schnee, hilf!“ 

Der Bruder eilte herbei, im Nu war der Hügel aufgegraben und ein Arm, 
ein Ichöner runder Arm ragte heraus. Und nun zogen fie unter der leichten 
Schicht einen lebloſen Körper hervor. 

„D lieber Gott, ein Mädel — und was für eins!" flüſterte Leander, ala 
der jchöne Kopf und die wundervoll gewölbte Bruft zum Borjchein kam. 

„Wie mag ji die daher verirrt haben?“ jagte Nicodemus kopfſchüttelnd 
und hob nicht ohne Anftrengung den ſchweren Körper aus dem Schnee. 

„Kit fie todt?“ frug Leander und befühlte fie, indefjen jeine Augen mit 
einer Miſchung von Schred und Wohlgefallen auf dem bräunlich fahlen Geficht 
bafteten. 

„Nur gleich abreiben,“ befahl Nicodemus, „und ’rein in’3 Zimmer!“ 

Und fie trugen den wuchtigen Körper in's Haus und legten ihn auf 
Nicodem’3 Bett. „Die liegt ſchon eine gute halbe Stunde da draußen, jo lang’ 
fann’3 jein, daß mir’3 war, als höret ich'n dumpfen Schlag an der Thür, aber 
ich hab’ g’meint, 's jet ein Schneeflumpen vom Dach g’fallen.” 

Leander holte einen Kübel voll Schnee und wollte dienjteifrig helfen, dem 
Mädchen den Tſchopen auszuziehen. 

„Rir da,“ wehrte der bedächtige ältere Mann, „das jchiet fi nit, — jo 
ein junger Burſch — das Mädel müßt’ ſich ja ſchämen, wenn ſie's wüßt'! Du 
gehſt naus und ſchau'ſt, daß Du drüben von die G'ſtreins Eins auftreibt, die 
Kathrin’ oder Marian’. Geh'!“ 

Der Leander konnte fein Aug’ von der leblojen Geftalt abtvenden. „Eo 
ein ſchön's Madel!“ murmelte er noch im Hinausgehen mitleidig. 

Mit ruhiger Umficht entkleidete nun der erfahrene Mann das Mädchen 
und rieb fie mit Schnee‘ jo hart und jo lange, bis die Haut ſich wieder zu 
beleben und das Blut zu circuliven begann. Dann trodnete er fie gut ab, 
deckte jie jorglich zu und flößte ihr ein paar Tropfen von irgend einer ftarken 
Kräuterefjenz ein. 

Endlich kam fie zu fich, rührte und ftreefte fi) und ſchaute fich einmal im 
Zimmer um. Aber der Blid war verglaft und ausdrudslos, und ein paar 
unverftändliche Worte lallend, jchloß fie die Augen wieder. 

„Sie iſt frank,” jagte Nicodemus zu Leander, der eben wieder eintrat, und 
eine derbe Bauernfrau ſchüttelte fi mur noch vor der Thür den Schnee ab 
und fam ihm nad). 

„Mariann,“ jagte Nicodemus — fie war feine verheirathete Schweſter — 
„da mußt jebt Du helfen, J und der Leander, wir zwei Mannsbilder, können 
doch der Dirn’ nit abwarten. Der Leander macht ch’ ſchon Augen wie ein 
Verzückter an ſie hin.“ 

Er jtreifte mit einem unzufriedenen Blick den Burjchen, der bereit3 wieder 
am Kopfende des Bettes ftand und das Geficht der Kranken mit den Augen zu 
verjchlingen jchien. Jetzt wendete er ſich aber wie ertappt und erröthend ab 


Die Geier-Wally. 49 


Mariann trat an das Bett und ihre erfte Frage war natürlich: „Wer 
mag die ſein?“ 

„a, Gott weiß e3! irgend eine Landjtreicherin,“ meinte Nicodemus,. 

„Warum nit gar,“ brummte Leander — „das fieht man der doch an, daß 
das kei Landftreicherin ift!“ 

„a, ja,“ bemerkte Mariann, „weil fie Schön ift und Dir g’fallt! Weißt, 
's hat ſchon Manche ein ſauber's G’ficht gehabt und eine ſchmutzige Seel’, — 
dadrauf fommt’3 nit an. Eine grdentliche Dirn' ftreicht nit um die Jahr'szeit 
in der Gegend alleinig im Schnee "rum, bis fie 3’ Jamm’fallt. Das hat irgend 
'n Haken, und Gott weiß, was man ſich da für Eine in's Haus zeifelt!“ 

„No, des i3 jeßt einerlei,“ meinte Nicodemus gutmithig, „in Schnee und 
Kälten können wir's nit 'nausjagen, die krank' Perſon, fei fie jet, wer fie will.“ 

„Weg’n meiner,“ ſagte die Bäuerin, „J will ſchon 'rüberkomme und fie 
Euch b’jorgen — aber in’3 Haus nimm J's nit, daß Ihr's wißt!“ | 

„Das ift auch gar nit nöthig — wir b’halten fie ſchon felber!” erwiderte 
Leander gereizt, und da Wally wieder etwas vor fich hinlallte, bog er ſich zärt- 
lich über fie und fragte: „Was willit, was möcht’jt?“ 

Die ältern Geſchwiſter wechjelten Blide. „Du, jagte Nicodemus, „jet 
will J Dir was jag'n. Du bit jet jo gut und laßt d'Hand von der Butten, 
ehvor man nit weiß, wer die Perjon ift. — Da hat def Zimmermann ’3 Loc) 
g'macht, da gehjt außi und kommſt mir nimmer 'rein, wenn's D’ nit willft, 
daß J die Dirn', jo frank wie fie ift, davon jag’! Verſtanden?“ 

„Ro, man wird doch noch a Mädel anichau'n dürfen?” brummte Lean- 
der, „J weiß gar nit, wie D’ mir vorkommſt.“ 

„Mach', daß D’ 'außi fommit, das G'ſpänſel da herin leid’ J nit, jo lang’ 
J Herr im Haus und Dein Vormund bin.“ Damit job ihn Nicodemus am 
Arm hinaus und blieb mit der Schweſter allein bei der Kranken. 

Wally Fam nicht mehr zur Bejinnung, fie lag im Fieber. Der Hals war 
geihtwollen, die Glieder fteif und jchmerzend. Die Geſchwiſter jahen bald, daß 
fi die Fremde furchtbar erfältet umd übermüdet haben müffe, und pflegten fie 
nach beiten Kräften. Indeſſen jtrich Leander unruhevoll und müßig im Haus 
herum. So oft Eines aus dem Kranfenzimmer fam, tvar er um die Wege und 
fragte, wie es ginge. Er war voller Verdruß, — er hätte das hübſche Mädel 
gar zu gern gepflegt! Gegen Abend, als es aufhörte, zu ſchneien, nahm er jeinen 
Stuben und ging hinaus. Doc) kaum war er eine Weile fort, da kam er ſchon 
wieder und rief Nicodemus aus dem Krankenzimmer heraus: „Du,“ jagte er 
aufgeregt, „auf'm Dad) fit ein Geier, ein prachtvoller Lämmergeier, und guckt 
Ein’n ganz ruhig und zutraulich an, al3 wenn er daher g'höret.“ 

„Ab,“ ſagte Nicodemus, „das ift kurios!“ 

„Komm' nur "raus und ſchau'!“ rief Leander und zog den Bruder mit dor 
das Haus. „Da — da fiht er und rührt fich nit. Der Staatskerl — und nit 
Ihieß'n können — ’3 13 zum Teufelholen!” 

„Warum kannſt D’ denn nit Schießen?“ jagte Nicodemus. 

„Ad, 3 kann doch jeht nit knallen, wo das kranke Mädel dadrin Liegt!“ 
fagte Leander mit dem Fuß jtampfend. 


Deutliche Rundſchau. I, 4. 4 


50 Deutiche Rundſchau. 


„Jag' ihn Fort,” rieth Nicodemus, „und ieh’, daß D’ ihm nachgehit und 
ihn weiter weg ſchieß'ſt, wo man's nit jo hört.“ 

„Sich, gih!” machte Leander und warf Schneeballen hinauf, um das Thier 
aufzuicheuchen. Der Geier fträubte die Federn, kreiſchte und ftieg endlich auf. 
Aber er flog nicht fort, er flatterte eine Weile Hoch in der Luft und ließ ſich 
dann wieder ruhig auf das Dach nieder. 

„Ah, das is merkwürdig! Der will nit fort. Der i3, wie wenn er 
zahm wär!“ s 

Noch ein, zwei Mal verfuchten ſie's, ihn „aufzumachen“, — immer diejelbe 
Geſchichte. 

„Der iſt wie verhext!“ meinte Leander und ſchlug das Kreuz gegen den 
Vogel, aber das focht ihn nicht an — er mußte doch wohl nichts mit dem Teufel 
zu ſchaffen haben. 

„Mir ſcheint, der is ang'ſchoſſ'n und kann nimmer fliegen. Jedenfalls thut 
der Niemand nix mehr!“ erklärte Nicodemus. „Laſſ'n ruhig ſitzen, bis er von 
jelber runter fallt, wenn D’ das franfe Mädel nit mitm Knallen derſchrecken 
willſt.“ 

„Ja, der is ſcho halb hin, J mein’, den könnt' man mit der Hand fangen.“ 
Gr holte die Leiter, legte jie an und ftieg behutjam hinauf. Der Vogel ließ 
ihn ruhig heranfommfh. Leander zog jein Schnupftud) aus der Tafche und 
wollte es ihm über den Kopf werfen. Doc da jchlug und hadte der Vogel jo 
gegen ihn, daß Leander jchleunigit den Rückzug antreten mußte. 

Nicodemus lachte: „Gelt, der hat Dir's ’zeigt, wie man Geier mit die 
Händ’ fangt! Das hätt’ J Dir glei jag'n können.“ 

„J weiß nit, was das für ein Vogel ift,“ brummte Leander fopfichüttelnd. 
„Wart’ nur,” drohte er hinauf, „wenn J Did) wo anders treff'!” 

„Morgen fannft'n jag'n, wenn er nit crepirt ift über Naht. Wenn er 
twieder fliegen kann, geht er ſchon weiter, und gar z'weit kommt der doch nimmer.“ 

Es begann zu dunkeln und die Mariann kam heraus und jagte, daß fie 
jegt heim müſſe und ihrem Mann zu Nacht kochen. 

Die Brüder gingen hinein und Nicodem holte nun auch zum Nachteilen 
Brod und Käſe aus der Vorrathskammer. 

Während er draußen war, Elinkte Zeander ganz leije die Thür, die von der 
MWohnftube in Nicodem’3 Schlaffammer führte, auf und jchielte durch den Spalt 
nad) Wally. Die lag jebt ruhig und jchlief feft in Nicodem’3 warmem Bett. 
Sie hatte ja jo lange in feinem Bett mehr gelegen, man jah ordentlich, wie's 
ihr gut that im Schlaf, jo weich, jo hingegoſſen lag fie in die Kiffen gejchmiegt. 
„D, Gott b'hüt Did, Du arm's Ding, Gott b’hüt Dich!“ flüfterte Leander 
zu ihr hinein und jchloß jchnell die Thür twieder, denn er hörte Nicodem kom— 
men. Er jaß auch jchon wieder ganz unſchuldig auf der DOfenbanf, als diejer 
mit dem Eifen hereinfam. „Heut! Nacht macht ſich's gut, weil der Benedikt 
nit da iſt, heut’ Nacht kann J bei Dir drüben in Benedikt feinem Bett jchlafen. 
Aber morgen, wenn der wieder da ift, müſſen wir Drei uns halt in die zivei 
Betten theilen.“ 

„Do, J brauch fei Bett,“ rief Leander eifrig. „Der da drin z'“ieb jchlaf 


Die Geier-Wally. al 


J auf der Dfenbanf oder aufm Heuſchober, '3 iſt mir Alles eins. Soll Einer 
von uns wegen Der Ung'mach haben, jo joll’3 Keiner haben als I!“ 

„Ro, wenn Dich des freut, jo fannft es haben. Aber aufm Heufchober, 
nit auf der Ofenbanf, die ift mir z'nah beim Krankenſtüb'l — veritehft mi?“ 

„sa, ja, J verfteh ſchon,“ ſagte Leander und biß in feinen Käs, wie in 
einen jauern Apfel. — Die Schlaftammer der beiden jüngern Klöße lag der des 
Nicodem gerade gegenüber, und diefer nahm das Bett des Abmwejenden ein. Ein 
paarmal in der Nacht ftand er auf und ging an Wally’3 Thür um zu horchen, 
was fie machte. Sie ſprach und phantafirte viel, und einmal verftand Nico- 
demus ganz deutlich, wie fie etwas von einem Geier jprad). 

„Aha,“ dachte er, „die wird den Geier auch g’jehen haben, wie’3 daher 
fommen ift. Jetzt geht ihr der Schreden im Traum nad.” — 

Am andern Morgen früh, noch vor dem Frühſtück, trieb es den ruheloſen 
Leander jhon wieder hinaus. 

Erft gegen Mittag kam er heim. 

„Ro, wie jteht'3 da drinn?“ frug er, al3 ex eintrat. 

„Es iſt immer gleih. Sie fommt halt nit zur B'ſinnung. Und dabei 
hat fie immer Aengſten vor Leut, die jie fangen wollen.“ 

Leander kratzte ji) Hinter den Ohren: „Da kann J noch alleweil nit 
ſchießen! Jetzt dent’ nur, jebt fit der Geier noch aufm Dach draußen!“ 

„Warum nit gar!“ 

„sa, wie J heut morgen 'rausfomm,- hab ihn nimmer g’jehen. Da 
hab’ J denkt, ex jei fortg’flogen und ftreif ihm nad) drei Stund lang. Wie 
J heimkomme, fit er ganz ruhig wieder auf'm Dad.“ 

„Ra, da könnt's ein’m wirklich) unheimlich werden, wenn man abergläubiich 
wär!“ 

„He ja! Dean könnt’ jchon faſt an die jeligen Fräulein denken, daß mir 
eine 'n Schabernad jpielen wollt.” 

„Grüß Gott!” erſcholl jet eine rauhe, tiefe Stimme, und Benedict, der 
zweitältefte Bruder, der verreift geweſen, trat ein. 

„Ad, grüß Gott, bift wieder da!” riefen ihm die Brüder entgegen. „Was 
bringft Neues mit, was haft ausg'richt?“ 

„D nit viel, fie haben mic) halt wieder vom Pontius zu Pilatus g'ſchickt 
aufm Landgeriht und mich mit halbe Veriprechungen abg’ipeift. J Tag halt 
alle Debthäler, Menſch und Vieh, fünne ſich noch auf drei G'ſchlechter 'naus 
Hals und Bein aufm Weg daher brechen, ehvor wir einmal den Saumpfad 
friegen.” Der Sprecher warf mißmuthig den Ranzen ab und jeßte fi) auf die 
Dfenbanf. „Krieg'n wir bald was z' eſſen?“ 

„Gleich!“ jagte Nicodemus, der jelbjt den Kod machte, und holte die 
Suppe herein. 

Auch ein Schöppchen Milch brachte ev mit und trug es der Kranken hinein. 
Leander's Blicke folgten ihm neidiſch. 

Benedict war hungrig und machte ſich, ohne auf des Bruders Thun zu 
achten, über die Suppe her. Nicodem kam bald zurück und ſtumm, wie der 
Bauer immer die feierliche Handlung des Eſſens begeht, als fürchte er, aus dem 

4* 


59 Teutſche Rundichan. 


Fact zu fommen, wenn er jpräche, löffelten die Drei in abgemefjener rhyth- 
miſcher Bewegung, daß Keiner zu viel oder zu wenig befam, die Suppe aus. 

Als gegeffen war, zündete jid) der müdgewanderte Benedict die Pfeife an 
und ſtreckte ſich behaglich auf die Ofenbank. 

„Was giebt's denn ſonſt Neues in der Welt? Erzähl' doch was!“ bat 
Leander, der des Bruders Sprechfaulheit kannte. 

Der hatte die Pfeife ſchief im Munde und gähnte: „Jweiß nix!“ Nach 
einer Weile ſagte er aber doch: „Dem reichen Stromminger von der Sonne— 
platten ſei' Tochter — weißt die Geier-Wally — die iſt ihrem Vater durch— 
brennt und lauft jetzt freiledig in der Gegend 'rum und bettelt.“ 

„AH! Wie iS denn das gang'n?“ fragten die Brüder erſtaunt. 

„Des muß ein wahrer Ruach von einem Mädel jein!“ fuhr Benedict fort. 
„Ihr Vater Hat fie Schon auf's Hochjoch ſchicken müſſ'n, weil fie nit gut than 
hat — und jetzt fommt fie runter und 's Erſte iS, daß ſie den Gellner halb 
todt ichlagt und ihrem Vater '3 Haus anzünd't.“ 

„Jeſus Maria!” 

„Nachher 13 jie natürlich davon g’laufen und in die Ortichaften "rum g’irrt. 
Gejtern war fie in Vent und hat von Thür zu Thür um 'n Dienft g’fragt — 
aber wer will denn jo Eine im Haus hab'n? Zu allem Neberfluß Tchleppt fie 
auch) noch den großen Geier mit "tum, den fie einmal g’fangen hat und den 
jollen die Leut' auch mit aufnehmen. Natürlich bedankt fidy da Jeder!” 

Nicodemus jah Leander an — und Leander wurde dunfelroth. 

„Ro, J dank!” jagte Nicodem, — „jebt weiß 3, wer da drin liegt! — 
Der Geier, der nit vom Dad weggeht — und fie hat heut Nacht immer von 
an Geier g’fantafirt — das 13 nit übel, — wir hab’n die Geier-Wally im 
Haus!“ 

Benedict ſprang auf: „Was?“ 

„Schrei doch nit jo,“ jagte Leander, „muß denn da3 arme franfe Mädel 
Alles hören?“ 

Nicodem erzählte nun, wie Leander fie draußen halbtodt im Schnee gefun- 
den, und wie man num nicht anders fünne, al3 fie wenigſtens jo lang im Haus 
behalten, bis fie wieder gehen fünne. Aber Benedict war ein rauher Mann 
und meinte, die Krankheit ſei wohl nur Verſtellung, und die Brüder wären zu 
ſchwach gewejen und hätten ſich anführen laſſen. Er wolle jhon mit ihr fertig 
werden. „Für Mordbrenner haben wir feine Freiftatt,“ rief er, und jeine 
ftehenden Augen bligten zornig unter den buſchigen Brauen hervor. 

„Wenn Du das Mädel g’jehen hätt’ft, Du hätt'ſt fie auch aufg’nommen,“ 
fagte Leander, „das müßt fein Menſch jein, der den armen Tropf 'naus jagen 
tyät in Wind und Wetter!“ 

„So? Und auf die Art kriegeten wir z’leßt alle Räuber und Mörder von 
der ganzen Gegend in's Aſyl — daß es hieß, die Rofener Höf feien ein Unter: 
ſchlupf für alles Gefindel! Das wär jo a Treffen für die auf'm Landg’richt! 
Wenn Ihr Euch anjchmieren laßt von einer abg’feimten Bübin, jo muß J 
wenigſtens Brauch und Ordnung auf die Nofener Höf aufrecht halten.“ 

Er näherte ji der Thür. Nicodemus ftellte ji) davor und ſprach ruhig, 


Die Geier-Wally. 53 


aber feft: „Benedict, J bin der Aelteſte und bin Herr auf Rofen jo qut wie 
Du und weiß jo gut wie Du, was wir Rofener uns jchuldig find! geb 
Dir mein Wort, daß % das Mädel jelber fein’ Stund länger im Haus b’halt, 
als Menichen- und Chriftenpflicht will, aber jett ift fie frank und jet duld 
J nit, daß fie mißhandelt wird. So lang J auf Rofen fi’, fol unter dem 
Dad kein'm Menſchen Unrecht g'ſcheh'n.“ 

Da unterbrach ihn Leander: „Du!“ ſagte er zuverſichtlich mit glänzenden 
Augen, „laß ihn nur 'neingehen, wann er ſie g'ſehen hat — ſchickt er ſie 
nimmer fort! —“ 

„Haſt Recht, Du Gelbſchnabel!“ lächelte Nicodem und öffnete leiſe die Thür. 

Benedict trat raſch und geräuſchvoll ein. Diesmal durfte Leander auch 
„mit durch ſchlupfen“ und Nicodem hatte nichts dagegen, daß er ihm half, den 
barſchen Benedict zu bewachen und von einer Rohheit abzuhalten. Die Mariann 
faß am Bett und machte neue Kniehöſeln für die Kranke, weil fie gar jo ab— 
gelumpt war, daß fie nichts gehabt hätte, wenn fie wieder aufftehen durfte. 
Sie machte ein Zeichen, ftille zu jein bei Benedicts lautem Eintreten. Aber 
kaum hatte diejer die Kranke erblidt, da mäßigte ex von jelbit jeinen Schritt 
und trat langjamer auf das Bett zu. Das Mädchen jchlief feſt. Sie lag auf 
dem Rüden und hatte den ſchön gerundeten Arm über dem Kopf gebogen. Die 
vollen dunfeln Haare fielen aufgelöft auf die jchneeweiße Bruft, die unter der 
dichten Bauernjade fein Sonnenftrahl gebräunt hatte und die das weite Leinen- 
hemd jeßt ein wenig freigab. Die Schlafende hatte wie lächelnd den Mund 
halb geöffnet und zwei Reihen glänzender Perlmutterzähnchen blitten zwiſchen 
den gewölbten Lippen hervor — auf der jchlummernden Stirn aber lag mehr, 
ala Worte jagen können, ein ftummberedter Ausdrud von Hoheit und Reinheit. — 
Benedict war ftill geworden — ganz ftill. Er jchaute das berüdende und doch 
jo keuſche Bild lange wie ftaunend an. Sein gebräuntes Gejiht begann ſich 
allmälig höher zu färben, gleich; dem Leander’3, das wie in Gluth getaucht war. 
Dann biß er die Zähne über einander und wandte fih um: „Die ijt freilich 
frank!“ jagte er in einem Ton, al3 wie: „Da iſt nichts zu machen“ — und 
ging auf den Zehen hinaus. 

(Schluß im nächjten Heft.) 


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Die Behandlung des Römiſchen Htaatstechtes 


bis auf Theodor Mommien. 


Don 
Prof. Dr. Jacob Sernays in Bonn. 


Heinrich Heine, dem es jo wenig wie jeinem größeren dichteriichen Ver— 
wandten Byron an geihichtlicher Kenntniß und geſchichtlichem Blicke fehlte, hat 
einmal die Römer der republikaniſchen Zeit Mifchlinge von roher Raubſucht 
und feinem Advofatenjinn, eine cajuiftiiche Soldatesca genannt. 63 liegt in 
diefer kurzen und ungszognen Hhperbel mehr Wahrheit, als in vielen weitläu- 
figen und wohlerzogenen Gejhichtswerfen über Rom zu finden if. Denn im 
der That ift das ineinander von Gericht und Gefeht, die Doppelichneide der 
juriftiichen Logik und des Kriegsichwertes ein twejentlicher Zug des Römerthums ; 
ja man darf jagen, daß er im Verein mit der nicht minder wejentlicden und eben- 
falls juriftiich gefärbten Götterangft das römische Welen erichöpft. Gine volle 
und lebendige Einſicht in die Wechſelwirkung diejer drei Elemente zu gewinnen 
und jo die Grundlagen der die alte Welt umfafjenden, mächtig in die neue 
Zeit hereinragenden, im eigentlichen Sinne des Wortes öcumeniſchen Geſchichte 
Roms aufzudeden, ift ein von bedeutenden Geijtern in unjerm Jahrhundert eifriger 
al3 zu irgend einer frühern Zeit begonnenes Streben. Am weiteften vom Ziele 
entfernt ift bis jeßt diejes Streben geblieben in Bezug auf das, was die Römer 
ihre „göttlichen Dinge” nannten, und wir aud nad) dem Wenigen, was wir 
von diefem trüben Gultus wiſſen, volllommen berechtigt jind, al3 eine der 
bäuriicheften Formen des Polytheismus zu bezeichnen. Wie eine ſolche Super- 
ftition mit juriftiicher Logik, d. h. mit einer die Principien nicht tweiter unter- 
fuchenden Fsolgerichtigfeit, zu einem alle Theile nicht nur des Privat- jondern 
auch des Staatslebens einfangenden Nebe ausgeiponnen wurde, wie in den 
Maſchen diejes Netzes die priefterlichen Politiker jelbft, die e3 gejponnen, lange 
Jahrhunderte hindurch, bevor griechiiche FFreigeifterei die höheren Stände durch— 
drang, in trauriger Redlichkeit verftrictt bleiben konnten, wie im Ginzelnen das 
undermeidliche Abkommen zwijchen den Geboten der politiichen oder militäri- 
ſchen Nothiwendigkeit und den Sabungen der in die Schladht wie in die Volks— 
verjammlung eingreifenden Sacral-Disciplin getroffen wurde — kurz, über alle 
Tragen, welche die fyſtematiſche Ausbildung der römiſchen Religion, ihre Herr— 
Ihaft über die Gemütber, ihre Einwirkung auf die vraktiſche Staatsleitung 


Die Behandlung des Römiſchen Staatärechtes bis auf Theodor Mommſen. 55 
betreffen, jind jeit Niebuhr ebenjotwenig wie vor ihm wahrhaft befriedigende 
Aufihlüffe gewonnen worden. Aber aud) die dur und jeit Niebuhr beträdht- 
lich vermehrten Mittel zur Beleuchtung der rechtlichen Seite des römischen 
Staat3lebens wurden lange Zeit hindurch nicht in Fruchtbarer Weije verivendet, 
und es entitand in unjerm Jahrhundert fein Werk, welches eine Gejammt- 
anſchauung von dem römiſchen Staatsredht und einen Einblid in das Getriebe 
der conjtitutionellen Majchinerie auch nur den Philologen, geſchweige dem wei— 
teren Kreis aller hiſtoriſch Gebildeten vermittelt hätte. Niebuhrs Werk in 
feiner endgiltigen Geftalt war dazu aus vielen jahlichen Gründen und zum Theil 
auch wegen der Ichriftitelleriichen Eigenthümlichfeit des Mannes nicht geeignet. 
Daß es diefem großen Foricher im mündlichen Vortrage nicht an didactiichem 
Talent gefehlt hat, beweiſen einige, in engem Anſchluß an feine Berliner Vor— 
lejungen entftandene Abjchnitte der erjten Ausgabe jeines Werks, und beweijen 
- noch deutlicher die vielen aus nachgeichriebenen Heften veröffentlichten Bonner 
Borlefungen. Aber jobald er die Rüftung des Schriftftellers anlegt, hemmt fie 
das freie Spiel jeiner Kräfte. Er will mit der höchſten Gewifjenhaftigkeit jeden 
einzelnen Punkt ftet3 in allen jeinen Beziehungen zu allen anderen Einzelnheiten 
und zum Ganzen erjcheinen lafjen; allein er vermag dies nicht nad} den unver— 
brüchlichen Geſetzen der chriftjtelleriichen Perſpective auszuführen; ftatt die 
Dinge auseinander zu legen, jchiebt er fie in einander. Auch diejenigen Par- 
tieen jeines Werks, welche Rechtsinftitute und Rechtsfragen im Zujammen- 
hang behandeln wollen, genügen daher dem Zwede klarer und vollftändiger 
Belehrung nicht; fie gewähren fein jtaatsrechtliches Bild, jondern nur einzelne, 
oft recht jeharfe, zuweilen jehr durcheinander laufende Striche zu einem Bilde. 
Sedo, auch wenn Niebuhr die Gabe lihtvoller Darftellung in höherm Grade 
beiefjen hätte und eine Herabführung jeines Werkes bi3 auf die jpäteren, aus 
reichliher fließenden Quellen befannten Epochen ihm vergönnt geweſen wäre, 
bleibt e3 jehr fraglich, ob er, da er es doch auf eine Geſchichte der Ereignifie 
mit abgejehen hatte, und ob überhaupt Jemand im Rahmen eines Geſchichts— 
werkes den Anforderungen der ftaatsrechtlichen Syftematif hätte in vollem Maße 
gerecht werden fünnen. Denn wie weit aud die moderne Hiftoriographie ihr 
Gebiet abzufteden, wie viele Nebendisciplinen fie in fich aufzunehmen berehtigt 
fein und wie gern man ſich eine Vertauſchung der ftreng chronologiſchen Her: 
zählung mit zujammenfaljender Gruppirung gefallen laſſen möge, eine gewiſſe 
Wahrung der zeitlichen Abfolge und eine gewiſſe Einheitlichleit des Erzähler— 
ton3 bleibt unerläßliche Bedingung jedes Geſchichtswerkes. nd eben diejer Be- 
dingung, durd deren Verlegung das Geihichtswerf in einen Kramladen ver- 
wandelt würde, twiderjtrebt bei Behandlung des Staatsrechtes ſowol die Natur 
des Gegenitandes, wie die Beichaffenheit der Quellen. Um das wahre Wejen 
einer jtaatlichen organischen Inſtitution zu begreifen und begreiflich zu machen, 
muß fie in der individuellen Eigenthümlichkeit, welche ich durch alle geſchicht— 
lihen Wandlungen behauptet, erfaßt und in ununterbrocdhener Folge dargeſtellt 
werden; eine zerftücelte, durch das Dazwijchentreten andersartigen Stoffes ab- 
gelenfte Betrachtung wird, wie groß man auch die chronologiichen Intervalle 
wählen mag, den Gejammteindrud empfindlich ftören. Ferner kann es um den 


56 Deutiche Rundichau. 


in der Inſtitution verförperten Rechtsbegriff ganz zu erichöpfen, nicht hinreichen, 
daß man nur diejenigen Fälle feiner Anwendung in Betracht zieht, von denen 
in unferer, durch To Klaffende Lücken zerrijfenen Ueberlieferung deutliche Erwäh— 
nung geichieht. Neben der bezeugten Wirklichkeit wird auch die in dem Be— 
griffe enthaltene rechtliche Möglichkeit, die oft nur wegen der Mangelhaftigfeit 
unferer Mittel die geihichtliche Beglaubigung entbehren mag, zur Verhandlung 
fommen müfjen. Und daraus wiederum fließt ein mit dem geihichtlihen Ton 
unvereinbares Erforderniß der Darftellung. Die cafuiftiiche Debatte ift wie 
bei der Behandlung der praftiihen Moral und des Privatreht3, jo auch bei 
der Behandlung des Staatsrechts umvermeidlih. Die volle Tragweite jeder 
Anftitution Tann nur in ihrem Zufammengehen und Zujammenftoßen mit 
andern Snftitutionen ermeſſen werden, und eine Darlegung des Staatsreht3 
muß jih auch in abmwägender Erörterung des Für und Wider auf die ver- 
nünftiger Weife denkbaren Collifionsfälle einlaifen, für welche unjere lückenhafte 
geſchichtliche Tradition zufällig feinen Beleg darbietet. 

Aus allen diefen Gründen wird dem freilich jetzt jehr ftarf gewordenen 
Auffaugungstrieb der Geihichtsichreibung vor dem römischen Staatsredht im 
Intereſſe der Sade ein Halt geboten werden müſſen. Die Geſchichtsſchreiber 
mögen immerhin die ftetigen Zuftände ebenſo ſorgſam wie die bewegten Er— 
eigniffe und die handelnden Menjchen beachten, auf dem Markt und vor der 
Gerihtsbühne ebenjo gern wie im Kriegslager und auf dem Schladhtfelde ver- 
weilen, fie werden doch nie im Stande jein, über den jtaatsredhtlichen Hinter- 
grund de3 römijchen Leben die zur vollen und ficheren Erkenntniß nöthige 
Helle zu verbreiten; eine gejonderte, ſyſtematiſche Darftelung des römischen 
Staatsrechtes wird zu allen Zeiten eine unentbehrliche Ergänzung der römischen 
Geihichtsichreibung fein. 

Freilich muß wie das Leben jo auch die Wiffenichaft ſich oft Yange Zeit- 
räume hindurch bejcheiden, das Unentbehrliche dennoch zu miſſen. Nachdem 
während faft vier Jahrhunderten ſeit dem Anbrechen der modernen Wifjenichaft 
Rom und alles Römiſche ein Feld der Arbeit und ein Stoff des Nachdenkens 
für Philologen, Juriften und Staatsmänner gewejen ift, beginnt erſt jetzt 
Theodor Mommjen dem Mangel eines ſyſtematiſchen Staatsredht3 abzu— 
helfen. Aber wenn ex auch durch den Erfolg feiner Leiftung allein fteht, jo 
fehlt es ihm doc in der Wahl der Aufgabe nicht gänzlih an Vorgängern. 
Allerdings verdienen diejen Ehrentitel keineswegs die zahllojen Verfertiger von 
mageren DOctavbänden oder ungeihladjten Folianten und Quartanten, welche 
in älterer Zeit neben anderen auch die jogenannten „jtaatlichen Antiquitäten” 
zu Hauf getragen haben. Denn diefem ganzen Geſchlecht pflegt es nicht nur 
an juriftiichen Begriffen, jondern überhaupt an Begriffen zu mangeln; man 
mußte zufrieden fein, wenn die Veranftalter jener Sammlungen nur ihren 
Laftträgerberuf treulich erfüllten und den herbeigeichleppten Stoff, wo nicht in 
einer bequemen Ordnung, jo doc in feiner gar zu troftlofen Verwirrung vor— 
legten, damit ex doch allenfalls als Nomenclatur und zu gelegentlicher Aushilfe 
bei Erläuterung der Klaſſiker brauchbar bleibe. Aber es laſſen fi) doch aus 
den verflofjenen vier Jahrhunderten wenigjtens zwei Männer — ein Italiener 


Die Behandlung des Römifchen Staatsrechtes bis auf Theodor Mommien. 57 


des jechzehnten und ein Franzoſe des achtzehnten Jahrhunderts — nennen, 
welche jich über den Troß der Antiquitätenjchreiber weit erhoben und die Rich— 
tung einschlugen, in welcher Mommſen uns jet zum Ziele führt. Nachdem 
die italienischen Philologen und Antiquare ein Jahrhundert hindurch in begei- 
ftertem Stolze auf ihre Ahnen, der freilich eine unbefangene Kritik erſchwerte, 
die Scherben des römischen Weltreichs aufgelejen und nothdürftig geleimt hatten, 
nachdem die Schriftfteller ans Licht gezogen und fo gut es gehen wollte, zuxecht- 
gemacht, die Inſchriften copirt und auch gefälicht worden, unternahm e3 der 
Modeneje Carolus Sigonius den angefammelten, noch jehr der Sichtung er- 
mangelnden Stoff ftaatsrechtlich zu verarbeiten. Daß er den ftaatsrechtlichen 
Geſichtspunkt fefthalten wollte, zeigt die ganze Anlage und jchon der Titel jeines 
Hauptwerks „Vom alten Recht dev Römischen Bürger.“ An die Spibe tritt eine 
Definition des römischen Vollbürgers al3 eine „Bewohners von Roms Stadt 
oder Feld, der zu einer Tribus gehört und Zutritt zu den Ehrenämtern hat,“ 
und indem die in der Definition eingejchloffenen Begriffe auseinandergelegt wer— 
den, gliedert fich nach den jo entftehenden Einjchnitten das gefammte jtaatsrecht- 
liche Deaterial. Eine große Neberfichtlichkeit, eine Bündigkeit, die mit einer den 
Philologen ungewöhnlichen Strenge der Verlockung zu Excurſen und Epijoden 
widerfteht, und ein ernftes Bejtreben, den vielartigen Stoff unter die Herrichaft 
von Begriffen zu bringen, verdienen die höchſte Anerkennung. Uber einerjeit3 
war Sigonius fein geſchulter Jurift, und er zeigt auch fein juriftiiches Ver— 
ſtändniß, jondern mehr einen im Rubriciren und Gliedern geſchickten, gleichſam 
iholaftiichen Verftand. Andrerjeit3 war er weder praktiſcher Staatsmann, noch 
fand um die Mitte des ſechzehnten Jahrhunderts in Italien ein Profeſſor leicht 
die Mittel, auch nur ſoviel politiſchen Sinn in ſich zu wecken und zu erhalten, 
als für eine lebendige Auffaſſung des alterthümlichen Staatslebens nöthig iſt. 
Man vermißt daher bei Sigonius die Neigung ſich in publiciſtiſche Probleme 
zu vertiefen und die Fähigkeit das politiſche Ineinandergreifen der Inſtitutionen 
zu veranſchaulichen. Trotz ſolcher Mängel bezeichnet ſeine Leiſtung einen Höhe— 
punkt, über den die Wiſſenſchaft während der zwei folgenden Jahrhunderte in 
feinem europäiſchen Lande hinaus gelangte, Die große franzöſiſche Juriſten— 
ſchule, deren Blüthe etwa gleichzeitig mit Sigonius begann, wandte jid mit 
Vorliebe dem Privatrecht zu; Deutjchland war vom Ende des jechzehnten bis 
zur Mitte de3 achtzehnten Jahrhunderts durch das theologiiche Gezänke, welches 
dem dreißigjährigen Kriege voranging, durch das blutige Entjeßen diejer drei 
Jahrzehnte jelbit und durch ihre faft Hundertjährigen Nachwehen für die höhere 
Alterthumsforſchung brady gelegt; den Engländern hat ihre eigenartige heimijche 
Rechtsentwickelung das Intereſſe für die römische Jurisprudenz abgeftumpft und 
in ihrem ftarken politiichen Selbitgefühl haben fie auch nie, wie e3 die conti- 
nentalen Völker jo lange thaten, vor dem römiſchen Staat, als dem Inbegriff 
politiſcher Weisheit, diejenige Ehrfurcht empfunden, welche fie zu der mühevollen 
Ergründung des römischen Staatsrecht3 hätte anjpornen können; die holländijche 
Philologie endlich blieb ſeit Scaliger an die Texte der Schriftjteller angefettet 
und hat faft auf feinem Gebiet an dem ſyſtematiſchen Aufbau der geichichtlichen 
Disciplinen theilgenommen. Um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts jedod), 


58 Deutſche Rundſchau. 


als die europäiſchen Hauptſtaaten eine im Weſentlichen feſte Gliederung erlangt 
zu haben und ihr Gegeneinanderſtreben innerhalb beſtimmter, auch dem Laien 
berechenbarer Grenzen verlaufen zu müſſen ſchien, da verbreitete ſich, unterſtützt 
von dem erleichterten Verkehr und der dadurch zu immer größerer Ausdehnung 
erwachſenden politiſchen Tagesſchriftſtellerei, eine lebhafte Theilnahme zunächſt 
für den Gang der äußeren politiſchen Ereigniſſe weit über die engeren Kreiſe 
der Staatsdiener und Staatsmänner hinaus bis in die Häuſer aller nicht 
in ihrer Ruhe erſtarrten Bürger und in die Studirzimmer aller nicht gänz— 
lich verſtaubten Gelehrten. Gar bald verband ſich mit dieſer zuerſt mehr den 
Schlachtenerfolgen und den Diplomatenkünſten zugekehrten politiſchen Schauluſt 
die tiefere Aufregung, von welcher die Verhandlung über die Grundfragen der 
inneren politiſchen Verfaſſung immer begleitet iſt. Montesquieu hatte durch 
die glänzende und nachdrucksvolle Art, mit welcher er jene Fragen in der da— 
maligen Univerſalſprache der Gebildeten aufwarf und zu löſen verſuchte, gleich— 
ſam das Blut aller Völker des europäiſchen Continents politiſch entzündet. 
Gern hatte er, an die noch überall verbreiteten humaniſtiſchen Kenntniſſe an— 
fnüpfend, den politiichen Grörterungen jeines Hauptwerks eine gelehrte Weihe 
gegeben durch zahlreihe Hinblicke auf die römische Verfaffungsgeichichte, wie er 
ja auch jeine publiciftiiche Thätigkeit eröffnet hatte mit einem unter „Betrad)- 
tungen über die Größe und den Berfall der Römer“ verhüllten aber darum 
nicht minder Wwuchtigen Angriff auf die abjolute Monardie. Wenn nun in 
einer von derartigen Einflüſſen beherrichten Zeit ein heller Kopf ſich ernſtlich 
der Erforichung des römischen Alterthums ergab, jo konnte e8 nicht fehlen, daß 
voriviegend die jtaatsrechtliche Seite deijelben ihn feifelte und er den alten Stoff 
einem von den früheren Behandlern nicht beſeſſenen Maßſtab des Urtheils 
unterwerfen, Antworten auf früher nicht gejtellte Fragen ihm entloden wollte, 
welche jeine politiich erregte Gegenwart ihm auf die Zunge legte. Ein joldher 
heller Kopf war der in Holland anſäſſige Franzoje Louis de Beaufort. 
Sein Andenken ruht jet in Deutichland, und wohl auch in Frankreich, fat nur 
auf jeiner zuerjt 1738 und vor einigen Jahren zum dritten Mal gedrudten Schrift 
„Ueber die Ungewißheit der fünf erſten Jahrhunderte der römischen Gedichte.” 
Die bier vollzogene kritiſche Auflöſung der römischen Legende fichert ihn den 
Ehrenpla unter den Vorgängern Niebuhrs, dem er, nad) defjen eigenem Ge— 
ſtändniß, für einige wichtige Partien, 3. B. für die Geſchichte des Porfenna, 
nichts Wejentlihes zu thun übrig gelaffen hatte. Die negative Kritik feiner 
Jugendzeit ergänzte nun Beaufort fajt dreißig Jahre jpäter in der Vollreife 
feiner Kraft durch eine pofitive, jehr umfänglich angelegte und jchon deshalb 
jeßt wenig verbreitete Darjtellung des römiſchen Staatswejend. Da da3 ge: 
wählte große Quartformat viel Raum für den Titel gewährte, jo hat ihn der 
Verfaſſer faft zu einer Inhaltsangabe ausgedehnt, und beinahe genügt es, den 
unverfürzten Wortlaut deſſelben mitzutheilen, um die jtaatsrechtlichen Gefichts- 
punkte, unter welchen die Arbeit entjtand, und den Einfluß, den die damalige 
politiihe Erregung auf diefelbe geübt hat, deutlich zu bezeichnen. Der Titel *) 
9— La Röpublique Romaine, ou plan general de l’ancien gouvernement de Rome etc. A 
la Haye 1766. 2 Bde. 4. 





x 


Die Behandlung des Römiſchen Staatärechtes bis auf Theodor Mommien. 59 


lautet: „Der römische Frreiftaat oder allgemeiner Abriß der Verfaſſung Roms, 
„worin behandelt werden die verjchiedenen Triebfedern dieſer Verfaſſung und 
„der Einfluß der Religion auf diejelbe; die Souveränität des Volkes 
„und die Art, wie es diejelbe ausübte; die Machtvollkommenheit de3 Senats 
„und der Beamten; die Rechtspflege; die Vorrechte des römischen Bürger? umd 
„die verichiedenen NRechtsftellungen der Unterthanen dieſes weiten Reiches.“ 
Eine auf jelbitftändiger Quellenforihung ruhende Beherrihung des damals zu- 
gänglidhen Hiftoriichen und antiquariichen Stoffes, Aufgewectheit und geſundes 
Urtheil, eine Darjtellung, welche zwiſchen Weitläufigkeit und anſpruchsvoller 
Kürze eine behaglide Mitte einzuhalten weiß, ein gejchieftes Hin- und Her: 
wenden de3 Gegenjtandes, damit alle Seiten deilelben ans Licht fommen, und 
ein Hervorheben der politiihen Momente neben wohlthuender Enthaltiamteit 
von pelitiicher Phraje zeichnen diejes in der franzöfiichen Litteratur nicht über- 
troffene Werk aus. Wenn auch etwas ſpitz ausgedrüct, jo ift doc) in der Sadıe 
das Lob nicht umverdient, welches ein jebiger Franzoſe jeinem Landsmanne 
ipendet, daß Beaufort es verjtanden habe, wichtige Dinge einfach vorzutragen 
und umwälzend zu wirken, ohne ſich als Scidjalsbote zu ſpreizen (faire une 
revolution sans se croire une mission). In der That ift der Abſtand zwiſchen 
Beaufort und allen frühern Behandlern römiſcher Dinge ein überaus großer. 
Gr zuerst hat von dem Ständefampfe und jeinem Einfluß auf den Entwicke— 
lungsgang der Verfaffung eine in den Hauptſachen dem Richtigen zuftrebende 
Vorftellung fich gebildet, die noch Montesquieu gänzlich fehlte; ex darf auch 
bier wenigſtens mit ebenjo großem Rechte wie in Bezug auf die Kritik der 
Legende den Ruhm eines Vorläufers von Niebuhr anſprechen. Ebenſo hat auf 
anderen verdumnfelten und verwirrten Gebieten fein heller Bli Ordnung und 
Licht zu Ichaffen begonnen. Aber freilich iſt jein Blick nur hell, und wenn er 
auch nicht blos die Oberfläche jtreift, jo dringt er doch nicht weit genug unter 
biefelbe. Es fehlt ihm der Tiefblid und die brütende Meditation, welche die 
Vorbedingung jeder reifen wiſſenſchaftlichen Geburt ift. Nur zu oft fehle ihm 
auch) die Ausdauer, welche die richtig eingejchlagene Fährte bis zum Ziele ver- 
folgt. Ein Beilpiel von allgemeinerem nterefle mag diefen Vorwurf in der 
Kürze begründen, 

Ueber die Tragweite der Acergejeße, welche zu allen Zeiten in der römi— 
ichen Republik Aufregung verurfachten und mit welchen die Gracchen die römische 
Revolution eröffnet haben, war jeit dem fünfzehnten Jahrhundert der ſchwere 
Irrthum eingewurzelt, daß e3 dabei ſich um eine communiftiiche Gleichtheilung 
alles Grundbeſitzes gehandelt habe. Philologen, Sigonius an der Spiße, 
wetteiferten in der Verbreitung dieſes Irrthums mit großen PBubliciften, tie 
Montesquieun, großen Nationalöfonomen, wie Adam Smith, und großen Ge- 
ichichtsjchreibern, wie Edward Gibbon. Der gelehrte Schniter drang aus den 
Büchern in die Pamphlete und in das Getümmel der praftifchen Politik; die 
communiftiiche Richtung der franzöſiſchen Schreckenszeit bemächtigte ſich gern 
eines mit dem Nimbu3 Roms umgebenen Schlagwortes; loi agraire ward in 
das Phrajenmagazin der Nednerbiühne aufgenommen und die Grachen nebjt 
ihrer Mutter als eine Familie von gleihmacheriichen Volkserlöſern in den 


60 Deutiche Rundichau. 


revolutionären Olymp verjegt. Die geihichtlichen Berichte über die wirklichen 
Adergejehe hätten an jich zu dem Irrthum feinen Anlaß geben können; bejon- 
der3 in den griechiſch abgefaßten ift es deutlich geſagt, daß die Adergejehe 
nicht jedwedes Grundeigenthum betrafen, jondern nur ein Maximalmaß für die 
leberlaffung der Staatsdomänen feitjegen wollten. Aber in die Legende über 
die Königszeit hatte ſich auch die Erzählung eingejchlichen, daß Romulus bei 
Gründung des Staates jedem Bürger ein gleiches Ackerlos von zwei Juchert 
angewwiejen habe. Es jollte dadurch wohl nur nad üblicher Legendenunfitte 
das Durchſchnittsmaß der römiſchen Landhufe von einem Cinzelvorgang her— 
geleitet werden, der ſodann mit- bequemer Analogie der vielberufenen Boden- 
theilung de3 ſpartaniſchen Geſetzgebers nachgebildet wurde. So lange num die 
Legende fir wahrhafte Geſchichte galt, d. h. bis auf Beaufort, lag die Ver- 
juchung nahe, die Adergejege mit jener Bodenvertheilung des Romulus zu ver- 
fnüpfen und die Gracchen für eben ſolche Wiederherjteller der römiſchen Urver— 
fajjung anzujehen, wie es das romantijche Königspaar Spartas, Agis und 
Kleomenes, für die Iykurgiiche Verfaffung zu werden, den unglüdlichen Ver— 
juch gemacht hat. Beaufort jedoch, der Zerftörer der gefammten Königslegende, 
hätte, jollte man meinen, auch über die Ackergeſetze zu voller Klarheit fommen 
müſſen. Wirklich Hütet er fi), bei ihrer Beiprehung über ihr erftes geichicht- 
lies Erjcheinen, das liciniſche Geſetz, hinauszugehen; deutlicher al3 die früheren 
Behandler erkennt er den Anlaß diejer und der folgenden ähnlichen Maßnahmen 
in der mißbräudhlichen Aneignung dev Staatsdomänen jeitens der Vornehmen ; 
aber wie richtig er auch den Urſprung diefer Gejete erfaßte, jo konnte er doch 
in Betreff ihrer Tragweite ji) nit von dem alten Wahne losmachen; aud) 
er erftreckt fie auf jede Art von Grundeigenthum, und e8 blieb dem Göttinger 
Philologen Heyne und Niebuhr vorbehalten, das Trugbild einer nivellivenden 
loi agraire au3 der römiſchen Geſchichte für immer zu verjcheuchen. 

Das durch dieſes Beijpiel veranſchaulichte, manchmal faft flatterhaft zu 
nennende Abjpringen von dem auf feinem Wege liegenden Richtigen hängt bei 
Beaufort zufammen mit dem Mangel einer genügenden juriftiichen Schulung, 
welche jeiner Unftätigfeit wol einen heilfamen Zügel hätte anlegen müſſen. Es 
theilen mit Beaufort diefen Mangel, ohne immer jo jchlimme Folgen davon zu 
erdulden, die meiften von den vielen Deutichen und wenigen Engländern, welche 
jeit Niebuhr von philologiſchen Studien ausgehend, ſich der Behandlung einzelner 
Theile des römischen Verfaffungsrechtes in den verſchiedenſten jchriftftelleriichen 
Formen zugewandt haben. Ein aufmerfender Lejer jpürt daher nur zu bald, 
daß fie den juriftiichen Elementen der Aufgabe in geſchicktem Ausweichen oder 
ungeſchicktem Rücdendrehen ſich zu entziehen juchen. Die verhältnismäßig wenigen 
Fachjuriſten wiederum, welche auf das ihnen jo nahe liegende Gebiet übertraten, 
jtanden entweder dem philologiſchen Material nicht mit der nöthigen Fritifchen 
Selbjtändigkeit und hermeneutifchen Sicherheit gegenüber; oder two in glängender 
Ausnahme aud) diefe unerläßliche Bedingung des Gelingens hinreichend erfüllt 
ift, hält die geihichtliche Logik der juriftiichen nicht immer das Gleichgetwicht 
und die vorzüglich dem Juriſten drohende Gefahr, daß der Feinfinn fi) aus 
dem Goncreten in das Subtile verliere, wird nicht immer vermieden. Faſt alle 


Die Behandlung des Römiſchen Staatärechtes bis auf Theodor Mommfen. 61 


diefe Arbeiter haben auch nur einzelne Baufteine behauen, höchſtens einzelne 
Pieiler des Gebäudes aufgerichtet; das Gebäude jelbft nach einem umfafjenden 
Plan in allen jeinen Theilen aufzuführen, ift jet Theodor Mommſen be- 
ihäftigt. Von feinem auf drei Bände berechneten „römischen Staatsrecht“ ift die 
Hälfte vollendet, fie beweiſt thatjächlich, was denen, die Mommſens Laufbahn 
verfolgt haben, nicht erſt bewieſen zu werden brauchte, daß in ihm alle für die 
Löſung der Aufgabe erforderlichen Eigenſchaften zu einer fich gegenfeitig ftüßen- 
den und beauffichtigenden Bereinigung zufammentreten, für welche die vierhundert- 
jährige Geſchichte der Alterthumsforſchung bisher fein Beiſpiel aufzumweijen Hatte. 
Seine philologiihe Rüftung ift für alle in Betracht kommenden Theile der 
lateinii den, jchriftlichen und infchriftlichen Literatur eine in vollem Schmude 
auserlejener Gelehrſamkeit jtrahlende und wird von einer ebenſo jcharfen tie 
bejonnenen Kritif vor jedem Flecken der Unflarheit bewahrt; e8 iſt vor ihm nie 
ein Juriſt ein ſolcher Philologe gewejen. Seine juriftiiche Bildung ift bewährt 
durch eine vieljährige Lehrthätigkeit und durch die Herausgabe der bedeutenditen 
rechtlichen Quellenbücher, für deren Texte er die kritiſche Grundlage gelegt oder 
befeftigt Hat; es ift vor ihm nie ein Philologe ein jolcher Juriſt gewejen. Friſch 
erhalten aber und für hohe Ziele ergiebig gemacht wird die ftaunenerregende 
Menge vielartigen Willens durch ein warmes Gefühl und ein in mannigfacdher 
Erfahrung gereiftes Verſtändniß für alles mit dem Staatsweſen Zufammen- 
hängende, dergleichen die deutjchen Gelehrten früherer Zeit, mochten e8 AJuriften 
oder Philologen jein, nur dann bei fich auszubilden im Stande waren, wenn 
fie, wie Niebuhr, fich dauernd dem höhern praktischen Staatsdienft widmeten 
und fi damit die Möglichkeit verichloffen, Werke ſolchen Umfanges, wie wir 
fie Mommjen verdanken, zu vollenden. Die vorliegende Leiftung nun, in welcher 
alle diefe Gaben und Kräfte vielleicht ebenmäßiger und ungehemmter als in 
früheren, weit über Deutjchlands Grenzen hinaus wirkſamen deutichen Schriften 
Mommſens zur Entfaltung fommen, wird zwar wegen der Natur des Stoffes 
und der durch diejelbe bedingten Behandlung nur im reife derjenigen Gebildeten 
Verbreitung finden können, welche einige Kenntniß der lateinischen Sprache und 
einiges Willen von römilchen Dingen befiten, oder bei fi) aufzufrijchen ver- 
mögen. Aber alle, die diefem doch immer noch recht weiten Kreife angehören, 
dürfen getroft zur Lectüre eingeladen twerden; der Zugang ift durch feinen der 
ärgerlihen Schlagbäume erſchwert, welche von jo manchen gelehrten Büchern 
Jeden fernhalten, den nicht die engjten Zunftinterefjen zwingen, das umpferchte 
Gebiet zu betreten. In dem aller Polemik entjagenden Text herricht eine Dar- 
ftellung, welche der juriſtiſchen Genauigkeit zu genügen und dabei gejchmeidig 
zu bleiben verſteht; obwol fie ſich jelbit auf Schritt und Tritt durch die Quellen- 
belege in den Anmerkungen controllixt, jo hat fie doc) ihre innere Selbitändig- 
feit und ein elaſtiſches Schreiten bewahrt; man jpürt hier nichts von dem ge- 
brochenen, gleichjam eine Sträflingskette nachjchleppenden Gang, welcher die 
Bücher, die zur einen Hälfte aus Text, zur anderen aus Anmerkungen beftehen 
müjjen, jo oft zu entjtellen pflegt. in den Anmerkungen werden die Beweis- 
ftellen aus der originalen lateinischen und griechiichen Literatur unverkürzt mit» 
getheilt und dabei ohne viel Aufwand an Worten die neufte handichriftliche 


62 Deutiche Rundſchau. 


Forſchung und die nüßlichen Conjecturen mit dem fichern Tact eines vielerfahmen 
Meiſters benußt; e3 ijt jo eine ftaatsrechtlicde Quellenfammlung entftanden, die 
in ſolcher Reichlichkeit und Reinheit ſonſt nirgends zu finden ift. Hingegen iſt 
darauf verzichtet, das Atomengeftöber der neuern Differtationen, Programme, 
Artikel und wie die gelehrten Nothichriftchen jonft heißen, mit bibliographiicher 
Peinlichkeit zu verzeichnen; jeder Einfichtige wird fidh überzeugen, daß das Aus— 
werfen diejes Ballaftes feinen Schaden verurfadht hat, und wird es Mommien 
danken, daß er ſich und feine Leer auf jo einfache und energiſche Weife von 
einer Behinderung befreit, durch welche eine fruchtbare gelehrte Thätigkeit in 
Deutjchland von Jahr zu Jahr mehr erichiwert und der Kreis der Theilnehmen- 
den in immer bedenflicherer Weiſe verengert wird. 

Sp darf denn das Werk nad) Anlage und Ausführung für ein meifterliches 
erklärt werden und für einen bisher vermißten und nun wol auf längere Zeit 
vorhaltenden Abſchluß der Forſchung über römiſches Staatswejen, weldhe in 
Deutjchland vor jehzig Jahren mit Niebuhr begann. Auf das Hervortreten 
eines Buches von jo ungewöhnlichen Werth auch diejenigen hinzuweiſen, welche 
nicht durch ihren fachmäßigen Beruf zur Kenntnignahme von demſelben ver- 
pflichtet find, umd im Allgemeinen feine Vorzüge und jein Verhältnig zu ähn- 
lihen Berfuchen zu bezeichnen, war der Zwed diejer Zeilen; fie miüjjen, um die 
Grenzen eines Aufſatzes nicht ungebührlich zu überjchreiten, e3 fich verfagen, 
eine vollftändige Durchmufterung auch nur des Hauptinhaltes anzuftellen oder 
gar eine Ginzelprüfung vorzunehmen, bei der dann nothiwendig mande Vor— 
behalte gemacht und abweichende Anfichten geäußert werden müßten, zu deren 
Begründung ftreng fachmäßige, aljo mit der Haltung diefer Blätter unverein= 
bare Mittel unvermeidlid wären. Aber wol erjcheint e3 auc) ohne Anwendung 
ſolcher Mittel ausführbar, einige Probeftücde allgemeinerer Art vorzulegen, die 
vielleicht am paflenditen den einleitenden Abjchnitten des erften Bandes entnommen 
werden. 

Der erjte Band iſt gleihjam der Metaphyſik des Staatsrechtes gewidmet. 
Er will die Grundbegriffe entwideln, welche für die ftaatliche Gewalt, injo= 
fern jie zeitweiligen Inhabern übertragen wird, nad) römiihem Recht gelten. 
Da der überall eingreifende Einfluß der römijchen Religion ji) vornehmlich 
darin äußert, daß eine jolche Uebertragung ftaatlicher Gewalt, ſowie jeder wich— 
tigere Staatsact nur ftattfinden darf, nachdem vorher mittel3 der Aufpicien, d. 
h. Beobadtung von Himmelszeihen, Vögelflug u. dergl. die Billigung der 
Götter eingeholt worden, jo muß an die Spike der Lehre von der Amtsgewalt 
die Lehre von der Jtaatsrehtlihen Bedeutung der Aufpicien treten. Es werden 
die bei den verjchiedenen Anläffen üblichen verichiedenen Formen der Götter- 
befragung erörtert, jo weit die keineswegs reichlichen Nachrichten einen Anhalt 
gewähren; die Hühnerzeihen 3. B., bei denen die Götter durch die gierig frejjen- 
den und dabei Futter aus dem Schnabel fallen lafjenden Hühner ihr Ya aus— 
drüden, ergaben eine raſche Enticheidung und erleichterten ein den Hühnern ohne 
allzu auffälligen Betrug nachhelfendes Eingreifen der Befrager; ſie fommen da= 
her im Sriegslager zur Anwendung, wogegen bei den mehr Zeit laffenden poli- 
tiihen Handlungen, aljo auc) bei der Uebertragung der Amtsgewalt, durch die 


Die Behandlung des Römischen Staatörechtes bi auf Theodor Mommien. 63 


Himmelszeichen des Blibes oder Donner, in den älteren Epochen auch durch 
den Flug und die Stimmen der Vögel Einwilligung oder Verfagung der Götter 
ermittelt twurde. Obwol hier nur die rechtlichen Folgen des ung fremdartigen 
und widerwärtigen Wahnglaubens näher in Betracht zu ziehen waren, jo muß 
do die Darftellung zumeilen auc das juperftitiöfe Unweſen jelbit ftreifen, ohne 
dab e3 gelingt, das Dunkel, welches, wie ſchon im Gingange diejes Aufſatzes 
bemerkt wurde, noch immer und vielleicht für immer auf diefem ganzen Gebiete 
lajtet, einigermaßen aufzuklären. Daß dem jo iſt, weiß gewiß Niemand befjer 
als Mommſen jelbft, und er gab gleih an der Schwelle einen Beweis der 
willenichaftlichen Pflichtitrenge, mit welcher er die von dem Gegenjtand gebotene 
ipitematifche Abfolge innehält, indem ex jein Werk mit demjenigen Abjchnitte 
eröffnete, der am wenigſten unter allen eine volle Befriedigung gewähren fanıt. 
Nachdem er jo, weil es jein mußte, in die Wolfen geftiegen war und den Adlern 
und Spechten Gejellihaft geleiftet hatte, fat er feiten Fuß auf der Erde. 63 
werden die für Bürger und Soldaten verjchiedenen Ucte beiprochen, durch welche 
nah dem Antritt des von der Gottheit zugelaffenen Beamten die römiſche 
Bürgergemeinde oder die Armee ſich ausdrücklich verpflichtete, ihm innerhalb 
der zuftändigen Grenzen jeines Amtes zu gehorchen. Bon Seiten der Bürger- 
gemeinde geichah dies mittels eines Geſetzes, bei deſſen Erlaß nur in der älteften 
Zeit die Bürgerichaft jelbjt zugegen, jpäter durch dreißig Lictoren, welche die 
alte Eintheilung der Gemeinde in dreißig Gurien vorjtellten, vertreten war. 
Die Armee verpflichtete ji zum Gehorſam durch einen Fahneneid, der mit 
großer Beitimmtheit auf die Perfon des Commandirenden geftellt war. Die 
Grenzen aber, innerhalb welcher die übernommene Verpflichtung galt, waren 
während der ganzen Dauer der Republik für die in der Stadt bleibende Ge- 
meinde und für die ausgerücdte Armee auf das tieffte dadurch verichieden, dab 
ftet3 im Bereich der Stadt in voller Kraft blieben und außerhalb der Stadt 
ihre Kraft ganz oder theilweije verloren drei Principien, welche für alle auf die 
regelmäßige Amtsgewalt bezüglichen ftaatsrechtlihen Fragen maßgebend find: 
erſtlich: die Oberherrlichkeit der Bürgergemeinde, fraft welcher ihre Ent: 
iheidung gegen den Spruch des Beamten angerufen werden kann; zweitens: 
die Bejekung jedes regelmäßigen Amtes durch eine Mehrzahl von Perſonen, die 
ſich als Amtsgenoſſen gleich jtehen, von denen Jeder ein Inhaber der Vollgewalt 
des Amtes ift und durch fein Einſchreiten die geichehene Amtshandlung des Ge- 
noffen in ihren Wirkungen hemmen kann; drittens: die gejegliche, meiſtens 
jährliche Friſt des Amtes, welches mit dem fejtgejegten Tage von felbit erliicht. 
Mommſen hat zur terminologischen Bezeichnung diejer drei principiellen Ver— 
hältniffe die Wörter Souveränität der Gemeinde, Gollegialität und Annuität 
der Reamten gewählt. Plan wird dieje oder ähnliche Benennungen zwar aud) 
bei früheren Behandlern gelegentlich antreffen und die durch fie ausgedrückten 
Berhältniffe können Niemanden, der von römiſchen Dingen die mindejte Kunde 
hat, gänzlich unbekannt geblieben fein; aber fie al3 die Wurzelbegriffe erkannt 
und bloßgelegt zu haben, aus welchen eine weitverzweigte Fülle von Einzel— 
beftimmungen fich über den gelammten Umkreis des Aemterweiens verbreitet, in 
diefe Früher mehr oder minder unverbundenen und verwirrten Einzelheiten durch 


64 Deutihe Rundſchau. 


Berfnüpfung derjelben mit jenen drei Principien ftrengen Zufammenhang und 
finnvolle Klarheit gebracht zu haben, ift ein Verdienft Mommſens, deffen Be- 
deutjamfeit man um jo danfbarer würdigen lernt, je mehr fi) die Darftellung 
nad Erläuterung der allgemeinen Grundjäße dem Detail zumwendet. So werden 
3. B. die praktiſchen Folgen dargelegt, welche die Souveränität der Gemeinde 
und ihr daraus entipringendes Begnadigungsrecht für die Griminalgerichtäbar- 
feit der höchften Beamten herbeiführt. Da nämlid in allen Fällen, wo der 
erjte Richter auf Todesstrafe, körperliche Zühtigung oder eine größere Geldbuße 
gegen einen römiſchen Bürger erkannt hatte, die Berufung an die Gemeinde 
(PBrovoeation) ftatthaft war und meiftens aud) jtattfand, jo jchien es mit der 
Würde des oberjten Beamten unvereinbar, daß der von diejem jelbft gefällte 
Sprud der Möglichkeit einer Cafjation ausgeſetzt werde; es traten daher andere, 
minder hohe Beamte zur Wahrnehmung der gewöhnlichen peinlichen Gerichts— 
barfeit in erſter Inſtanz ein, und die mit dem conjulariichen Amt weſentlich 
verfnüpfte richterlide Gewalt über Leben und Tod wird innerhalb der Stadt, 
weil hier Provocation galt, im gewöhnlichen Lauf der Dinge latent, um nur 
in außerordentlihen Beitläuften, wenn die Provocation vorübergehend außer 
Kraft gejegt worden, twieder in voller directer Wirkſamkeit hervorzutreten. 
Außerhalb der Stadt Hingegen, wo nie Provocation giltig war, übt der Feld— 
herr oder Provinzverwalter die Gewalt über Leben und Tod, mit der er rechtlich 
bekleidet ift, auch factifch ftet3 in eigener Perjon aus. — Aehnliche tiefgreifende 
Unterſchiede treten in Betreff der Collegialität und ihrer Folgen hervor. Ein 
Nebeneinanderwirken gleichberechtigter Oberbefehlshaber hat freilich, wie Diommien 
nachweiſt, lange Zeit hindurch auch für das außerftädtiiche kriegeriſche Com— 
mando principiel bejtanden und um dieſer Vielköpfigkeit ihren militärifchen 
MWiderjinn einigermaßen zu benehmen, tward entweder ein Tag um Tag wechjelnder 
Zurnus im Oberbefehl eingeführt, dergleichen ja auch für Athen aus der Ge- 
ſchichte der Schladt von Marathon bekannt ift, oder es wurden nad) einer Ver- 
einbarung der Commandirenden unter Oberaufficht des Senats die militärifchen 
Geſchäfte unter ihnen ein für allemal dergeftalt vertheilt, daß Jedem ein be- 
jonderer Zruppenkörper und ein eigenes Operationsgebiet zufiel. Hingegen hat 
die rechtliche Folge der Eollegialität, die Befugniß jedes Amtsgenoſſen durch fein 
Einjchreiten die bereit3 gejchehene Amtshandlung des anderen in ihren Wirkungen 
zu hemmen, für die außerftädtiiche Amtsführung nie gegolten, begreiflicherweife 
nicht für den Kriegsbefehl und thatſächlich nicht für die Provinzverwaltung, 
während auf den innerjtädtiichen Amtsgebieten jenem collegialiichen Einjchreiten 
der weiteſte Spielraum gelafjen war. Die früheren Behandler hatten diejem 
Punkt nur eine gelegentlihe und dürftige Beſprechung angedeihen laſſen; es 
darf abermal3 als ein jehr wejentliches Verdienſt bezeichnet werden, daß Mommſen 
ihn in den Vordergrund gerückt hat, wo ihm nun eine helle und für die 
modernen politiichen Anfichten manchmal überrafchende Beleuchtung zu Theil 
wird. Der bezügliche Abjchnitt, welcher neben dem collegialiihen Einjchreiten 
aud alle verwandten Berhältniffe umfaßt, trägt die Aufichrift „Magiftratijches 
Verbietungsredht und magiftratiiche Interceffion“. Unter Verbietungsredht wird 
bier die Befugniß verjtanden, einen exft beabſichtigten öffentlichen Act zu 


Die Behandlung des Römifchen Staatärechte3 bi3 auf Theodor Mommien. 65 


unterjagen; jie jteht nur dem höheren Beamten gegenüber dem niederen zu, 
kann freilich bi3 zur Lähmung der gefammten Amtsthätigkeit des niederen aus— 
gedehnt werden, ift jedoch für ihre praftiihe Durchführung faft gänzlich auf 
das Subordinationggefühl defjelben angewiejen; will der niedere Beamte eine 
ihm rechtlich zuftehende Amtshandlung troß der Unterjfagung de3 höheren den- 
noch vollziehen, jo bleibt der Act giltig und der Vollzieher verfällt wenigſtens 
feiner Strafe an Leib und Leben. Unter Interceſſion dagegen wird das Ein- 
Ichreiten gegen eine bereit3 geichehene Amtshandlung verjtanden; es kann ſowol 
von dem Träger höherer Amtsgewalt, wie von dem mit gleicher Gewalt Be- 
fleideten, alſo vornehmlich dem Collegen, ausgehen; durch die Anterceifion wird 
der von ihr betroffene Act vechtlich nichtig, und der Beamte, der ſich ihr nicht 
fügt, jet fi in gewilfen Fällen einer Strafe an Leib und Leben aus. Da in 
der Zeit des ausgebildeten Volkstribunats die Interceſſion vornehmlich von den 
Zribunen ausging, deren eigentliche Amtsthätigkeit ja darin beſtand, daß fie 
auf Anrufung des ſich beſchwert Glaubenden , diefem ihre Hilfe gewährten und 
gegen den magiftratiihen Act einjchritten, jo hatten die neueren Schriftjteller 
ihr Augenmerk faft nur auf die tribuniciiche Interceſſion gerichtet und darüber 
die collegialiiche aus dem Geficht verloren. Mommijen hat die letere aus ihrer 
Vernachläſſigung Hervorgezogen und die jehr weiten Grenzen, in welchen fie 
Anwendung fand, abgeftedt; nad) jeinen Ermittelungen können Collegen gegen- 
einander intercediren auf adminiftrativem Gebiet, im Eivil- und Criminalprozeß, 
während die Interceſſion gegen Senat3bejchlüffe früh, und noch früher die gegen 
Anträge an die Gemeinde ausjchlieglich den Tribunen überlaffen blieb. — Endlich 
begründet aud) da3 lebte der drei oben bezeichneten Principien, die Amtsfrift 
jehr ſcharfe Unterfchiede zwiichen der innerſtädtiſchen und außerftädtiichen Amt3- 
führung. Innerhalb der Stadt erliſcht das Amt mit dem Ablauf der Frift; 
über den vorher beftimmten Tag hinaus ift feinerlei Amtsthätigfeit geftattet; 
und zur Verlängerung der Amtsfrift giebt es fein verfaflungsmäßiges Mittel. 
Der außerftädtiihe Beamte hingegen ift bi3 zum perjönlichen Eintreffen feines 
Nachfolgers zu jeder Amtshandlung befugt; will er vor dem Erſcheinen des— 
ſelben jeinen Amtsbezirk verlaffen, jo ift ex zur Bejtellung eines Vertreters ver- 
pflichtet; die Verlängerung der Amtsfriſt, die innerhalb der Stadt unmöglich 
ift, wird nad) und nad) für das außerftädtifche Gebiet herkömmlich; urſprünglich 
erforderte die Verlängerung einen Volksbeſchluß, ſpäter genügte die Entjcheidung 
des Senat3, daß der Beamte bi3 zu einer neugejeßten Friſt jeine Functionen 
fortführe, die ganz diejelben wie zur urſprünglichen Amtszeit blieben; nur 
der Titel des Beamten erfährt eine leichte Aenderung; der Conſul wird Pro- 
conjul. 

Diefem Verſuch, einige Ergebniffe der Mommſenſchen Erörterungen kurz 
zufammenzufaffen, mag eine Bemerkung angefügt werden, welche vielleicht zum 
Beleg deien dienen kann, was im Eingang dieſes Aufſatzes über den Nuten 
einer von der Geihichtsichreibung gejonderten Behandlung des römiſchen 
Staatsrechtes geſagt wurde. 

Es iſt eine in neuerer Zeit oft ausgeſprochene Wahrheit, daß für das 


römische Weltreich der Uebergang zur Monarchie unvermeidlich ———— weil 
Deutſche Rundſchau. I, 4. 


66 Deutſche Rundichau. 


die Republif es nur zu einer Stadtverfafjung, nicht zu einer Reichaverfaffung 
gebracht Habe. Daß ohne vollftändiges Ergreifen diefer Wahrheit ein tieferes 
Verftändniß der römischen Geihichte unmöglich ift, wird fein Kundiger leugnen ; 
aber e3 darf bezweifelt werden, ob wir bereit3 ein Geſchichtswerk befiten oder 
je zu erhalten hoffen dürfen, in welchem die eng ftädtijche, für ein Reich unge- 
nügende Beichaffenheit der republikaniſchen Gonftitution Roms, jelbft wenn fie 
dem Berfafjer vollkommen deutlich geworden und er jeiner Einficht noch jo Häufig 
wiederholten Ausdrucd giebt, auch für den Leer mit der wünſchenswerthen An- 
Ihaulichkeit hervortrete. Eben weil die Stadt eine das Reich erdrüdende Be- 
deutung hat, fann ein Gejhichtswerf, da es doch die in Rom verlaufenden, von 
Rom ausgehenden und auf Rom zurüdtwirkenden Ereignifje in erjter Reihe dar- 
ftellen muß, den Lejer nicht vollftändig vor der Gefahr ſchützen, daß jein Blick 
von dem Glanz der Macht, der die fieben Hügel umgiebt, allzu feft angezogen 
werde und jich dem Nothitand der draußen liegenden Welt allzu jelten zumende, 
Bei einer ruhigen, durch das ſpannende geſchichtliche Drama nicht geftörten Be- 
trachtung der ftaatsrechtlichen Grundſätze muß hingegen das Verhältniß, welches 
zwijchen der Stadt Rom und dem römiſchen Reich in der Wirklichkeit beftand, 
ſich mit unauslöfchlichen Zügen dem Betrachter einprägen. Erwägt man aud 
nur die eben hervorgehobenen Unterjchiede des innerjtädtiichen und außerftädtiichen 
Amtes, jo erkennt man alsbald, daß die feiteften Bollwerfe der Freiheit, die 
wirkſamſten Schranken der Willfür, Provocation, Interceſſion und Amtzfrift, 
nur in der Stadt und für die Stadt errichtet waren, während die Welt außer: 
halb der Stadtgrenzen ihr Heil oder Unheil faſt allein von den Tugenden oder 
Laftern der Gewalthaber zu erwarten hatte. Ein für allemal muß es dem 
Leſer klar werden, daß hier nicht das Verhältniß einer Hauptftadt in unjerm 
jeßigen Sinne obwaltet; denn eine Hauptitadt, mag jie in noch jo bedenflicher 
Weiſe wachſen und die Lebensſäfte des Staates an fich ziehen, bleibt doc immer 
ein Theil des Staatsorganismus und die wejentlihen Grundjäße der Verfafjung 
gelten für die Glieder wie für das Haupt. Zwijchen der Stadt Rom und dem 
Erdfreis war jedoch das Verhältniß etwa folgendes: Man denke fidh eine Ziving- 
burg, jo gewaltig, daß der lähmende Schreden, den jie verbreitet, unermeßliche 
Länderftreden in ftummer Unterwürfigfeit zu halten vermag; die Beſatzung der 
furchtbaren Gitadelle befteht aus militäriſch geichulten Advocaten, von denen 
jeder weiß, weſſen er ji) von dem Anderen eintretenden Falles zu verjehen hat; 
fie erſinnen ein Syſtem gegenfeitiger Beauffihtigung und wol in einander 
greifender Bürgſchaften gegen gewaltthätige Ausjchreitungen und gerathen dabei 
auf jo energifche Mittel, daß im gewöhnlichen Laufe der Dinge ſchon die drohende 
Möglichkeit ihrer Anwendung genügt, um leidlide Ordnung zu fichern, die 
wirkliche Anwendung nur in jeltenen Fällen nöthig, dann aber auch für den 
Gang der gemeinschaftliden Angelegenheiten höchſt gefährlich werden kann; aller 
jolcher ſtarken Schutmittel dürfen ji” aber nur die Mitglieder der Beſatzung 
unter und gegen einander bedienen; für die Ländermaſſe außerhalb der Gitadelle 
befteht ein rechtlicher oder rechtlojer Zuftand, welcher ſich mit dem jetigen Be— 
lagerungszuftande vergleichen ließe, wenn diefer nicht wejentlich ein ausnahms— 
weiſer wäre; ungefähr das, was jet während eines Belagerungszuftandes als 


Die Behandlung de3 Römischen Staatsrechtes bid auf Theodor Mommien. 67 


zeitweilige Ausnahme gilt, galt aber für die römische Welt außerhalb Roms 
al3 dauernde rechtliche Regel. 

Zum Schluß ſei noch mit kurzen Worten darauf hingedeutet, wie der 
fundamentale Unterjchied zwijhen dem inner- und außerftädtiichen Amt auch 
in den amtlichen Abzeichen einen augenfälligen Ausdrud erhält. Mommſen 
bringt diefen Punkt zur Sprache in einem zugleich auf alles Aehnliche eingehen- 
den Abjchnitte, welcher „Inſignien und Ehrenrechte der Magiftrate” überjchrieben 
ift und ebenfo jehr durch Neuheit der Behandlung feſſeln wie durch Fülle der 
Belehrung zu Dank verpflichten muß. Die Dinge, welche hier in Betradht 
fommen, haben freilich, eben weil fie auf äußerlihem Wege fich erledigen zu 
laffen ſchienen, für die älteren Antiquitätenichreiber von jeher eine bejondere 
Anziehungskraft bejeifen; jene emjigen Sammler verdoppelten ihren Fleiß und 
durchſtöberten die entlegenften Winkel nach der kleinſten Notiz, welche auf Die 
Lictoren, die purpurberbrämte Toga, den elfenbeinernen Amtsftuhl und dergl. 
fi bezog; aber fie brachten e3 meiften3 nicht weiter, ala bi zur Auffpürung 
von Nachrichten, die fie geiftig zu durchdringen nicht im Stande waren und 
mm mit handwerfsmäßiger Trockenheit herleierten oder mit der hohlen Feier— 
lichkeit eine Gerimonienmeifter3 verfündeten. Mommjen hat alle dieje Coſtüms— 
fragen und Uniformsangelegenheiten gleichjam wiffenjchaftlich geadelt, indem er 
überall die ſtaatsrechtliche Symbolik aufdeckt, welche den Außerlichen Abzeichen 
zu Grunde liegt. Der erwähnte Unterjchied nun zwiſchen dem ftädtijchen und 
außerftädtiichen Amt prägt fi) Tymboliih aus in der Beichaffenheit der den 
höheren Beamten bei ihrem öffentlichen Erſcheinen vorangetragenen Faſces, 
d. h. einer nad) dem Range des Beamten wechjelnden Zahl von Ruthenbündeln, 
die mittel3 eines rothen Riemens geknüpft, von dem Träger an einem Griff 
mit der linken Hand gefaßt und auf die linke Schulter genommen wurden. 
Bald befindet fi) in dem Ruthenbündel ein Beil, bald fehlt dafjelbe, was dar- 
auf zurüdgeht, daß in den Faſces als Strafwerkzeugen die Grenzen der dem 
Beamten zuftehenden richterlihen Strafgewalt ausgedrüdt werden jollen. Die 
volle Gewalt über Leben und Tod bezeichnen die mit dem Beil verjehenen 
Faſces, und die wejenhafte Bedeutung des Beils zeigt ih auch darin, daß, 
menn zwei zur Führung von Faces berechtigte Beamte ungleichen Ranges fich 
begegnen, der niedere bei Begrüßung des höheren gehalten ift, die Beile aus 
den Faſces zu nehmen. In dem römiſchen Stadtbezirt nun, wo die Sou- 
veränität der Gemeinde in dem Berufungsrecht verwirklicht war, befanden ſich 
alle, auch die höchſten regelmäßigen Beamten, deren Spruch der Provocation 
unterlag, ftet3 in der Gegenwart jener über ihnen jtehenden jouveränen Macht, 
und ihre Unterordnung unter diejelbe bekundet fih darin, daß jogar die Conſuln 
innerhalb der Stadt Faſces ohne Beile führen. Außerhalb der Stadt jedoch, 
two feine Provocation galt, alfo die Gewalt über Leben und Tod feine Schranfe 
fand, fehlt das Beil in den Faſces nie; der römischen Welt außerhalb der 
Stadt war die eijerne Macht, der fie ſich zu beugen hatte, ftet3 durch das 
ſchreckende Blinken des Todeswerkzeuges verfinnlicht, und Plutarch, wo er jeine 
griechiſchen Landsleute vor jeder nutzloſen Unbotmäßigkeit gegen einen römischen 


68 Deutſche Rundſchau. 


Befehl warnen will, kann ſich begnügen, unter Anwendung einer Dichterzeile, 
daran zu erinnern, über wie viele ſolcher griechiſchen Freiheitsluſtigen ſchon ge— 
kommen ſei 

des kopfabtrennenden Beiles grauſe Zuchtgewalt. 


Doch genug der Einzelproben, die aus einem ſyſtematiſch zuſammenhängen— 
den Werke herausgelöſt werden mußten. Es iſt damit immer eine mißliche 
Sache, die nur zu leicht gemahnt an die in den griechiſchen Kinderbüchern erzählte 
Eulenſpiegelei des Kumaners, der ein Haus verkaufen wollte und einen aus der 
Mauer geſchlagenen Stein als Probe des Hauſes vorwies. Ganz ſo ſchlimm 
mag es freilich mit den hier vorgelegten Proben nicht ſtehen; es iſt wenigſtens 
der Verſuch gemacht worden, fie unter einen einheitlichen Geſichtspunkt zu bringen 
und von dem Hauſe eine Haupttreppe zu zeigen. Möge der Verſuch ſeinen Zweck 
nicht verfehlen und recht Viele veranlaſſen, das von Mommſen aufgeführte Ge— 
bäude in allen ſeinen Theilen kennen und nach ſeiner Stattlichkeit und Nützlich— 
keit würdigen zu lernen. 


Geſchichtliche Daxlegung der Bedeutung 


der 


Sorübergänge der Venus vor der Sonnenjheibe für die Ausmeſſung 
der Himmelsräume. 


Don 
Prof. Dr. W. Förfter in Berlin. 


Die folgenden Darlegungen werden fi) von dem Inhalte fund der Form 
der übrigen Beiträge, deren Geſammtheit die „Anleitung zu wiſſenſchaftlichen 
Beobahtungen auf Reifen“ *) bildet, injofern unterjcheiden, kals die in der 
leberjchrift genannte aſtronomiſche Aufgabe durch Reifen und Aufenthalt in 
fernen Exrdgegenden auf feine andere Weije, als ganz ſyſtematiſch unter fach— 
mäßiger Leitung nad jorgfältigiter Vorbereitung und Ausrüftung gefördert 
werden kann, jo daß es fich bei der vorliegenden Darftellung nit um die 
Orientirung des Reifenden zum Zweck gelegentlicher unmittelbarer Betheiligung 
an der bezüglichen Foricherarbeit, jondern nur um eine Erneuerung des Ver— 
ſtändniſſes der wiſſenſchaftlichen Ziele von Expeditionen obiger Art und um die 
entiprechende Erwedung oder Belebung größtmöglicher Hilfsbereitichaft aller 
derjenigen, an welche fich das genannte Buch überhaupt wendet, für die Zwecke 
jolher Erpeditionen handeln wird. 


*) Obiger Beitrag de3 Directors der Berliner Sternwarte ift beftimmt, eine Sammlung 
von Auffägen einzuleiten, welche unter dem Titel „Anleitung zu wijjenihaftliden 
Beobadtungen auf Reifen“ demnädft (im Verlage von Robert Oppenheim in Berlin) 
ericheinen wird Meber den Zweck dieſes Werkes jpricht der uns vorliegende Proſpect fich dahin 
aus, dab es „den Reilenden, mag er dem Fachgelehrten- oder Laienftande angehören, einführen 
Toll in die richtige Beurtheilung der phyfifaliichen Ericheinungen der Erde, ihres geognoftifchen 
Baues, in die Erfenntnii der fie bededenden Pflanzenwelt, des Thier: und Menfchenlebens in 
feinen wechjelvollen Beziehungen“; es ſoll ihn damit vertraut machen, „wie er die Erfcheinungen 
zu erfaffen und zu beobachten hat, wo die Lücken in den Beobachtungsreihen fich zeigen und wie 
diefelben auszufüllen find*, Die einzelnen Rubriken find don hervorragenden Fachmännern be: 
arbeitet, von denen wir, außer Förfter, A. Baftian, G. Fritih, R. Hartmann, W. 
Koner, G.Neumayer, F. von Richthofen, G. Schweinfurth und U. Tietjen nennen. 

Die Redaction der „Deutichen Rundſchau“. 


70 Deutſche Rundſchau. 


Die Expeditionen, welche zur Beſtimmung der Entfernung der Himmels— 
körper in ferne Gegenden der Erde ausgeſandt werden, erhalten aber ein Recht, 
in vorerwähntem Buch an erſter Stelle behandelt zu werden, ſowol dadurch, 
daß dieſelben ſich in der Vergangenheit höchſt weſentliche Verdienſte auch um 
die geſammte Erforſchung der Erde erworben und ſo zur Förderung aller an— 
deren wiſſenſchaftlichen Aufgaben beigetragen haben, welche in unſerem Sammel- 
wert behandelt werden, al3 aud im Bejonderen dadurch, daß die für December 
1874 ausgerüfteten Erpeditionen — zur Beſtimmung genauerer irdiſcher Maß— 
ausdrücde fir Dimenfionen und Abftände innerhalb unſeres Planetenſyſtems 
mittelft Beobachtung de3 Vorüberganges der Venus vor der Sonnenſcheibe — 
den unmittelbaren Anlaß zur Herausgabe der Anleitung zu wiſſenſchaftlichen 
Beobachtungen auf Reifen geboten haben. 

Das wiſſenſchaftliche Bedürfniß, Verhältniffe der Abjtände der Himmel3- 
körper von der Erde zu den Abftänden verichiedener Punkte der Erde von einan- 
der oder allgemein zu den Dimenfionen des Erdkörpers zu fennen, trat ſchon 
den erften Aftronomen entgegen, welche fich Iyftematiih mit der Deutung und 
Voraudbeftimmung der Bewegung des Mondes am Himmel beihäftigten. 

Nachdem ſchon in alter babyloniſcher Zeit die aufmerkſame und ftetige 
Beobachtung insbejondere der Mondfinfternig-Eriheinungen zu der Vorftellung 
der Kugelgeſtalt der Erde geführt Hatte, konnte es troß der Täujchung des un- 
mittelbaren Augenſcheins, welcher jedem Beobachter eine centrale Stellung inner- 
halb des Firmaments vorjpiegelt, keine näher liegende Folgerung geben, ala daß 
das Centrum der Welt nicht irgend ein Punkt der Erdoberfläche, jondern eben 
der Mittelpunkt der Erdkugel ſelbſt jei. — Durch diefen Punkt mußte auch die 
Drehachſe der Alles umfaffenden Himmelskugel, welche täglih alle Geftirne 
um die Erde herumzuführen jchien, durch diefen Punkt die Drehachſe jeder ein— 
zelnen der gedachten Sphären gehen, welche die jieben Wandeljterne Mond, 
Sonne, Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn innerhalb der Tirftern- 
iphäre tragen und bewegen follten, durch diefen Punkt endlich mußte man ſich 
auch alle die verjchiedenen Ebenen, in denen fi) die Umläufe diefer Wandel— 
fterne zu vollziehen jchienen, gelegt denken. 

In Folge deffen mußten vom Erdmittelpunfte aus alle diefe Bewegungen 
in ihren einfachften, am leichteften duch Meß- und Rechenkunft zu bemeifternden 
Formen erſcheinen. Dagegen mußten von der Erdoberfläche aus gejehen die 
Bewegungen wenigſtens aller derjenigen Himmelskörper, welche der Erde jo 
nahe waren, daß die excentriſche Lage der Beobadhtungsftationen auf der 
Erboberflähe von ihnen aus unter meßbaren Winkeln wahrgenommen werden 
fonnte, nothiwendig gewiſſe von diefen Winkelgrößen abhängende Abweichungen 
von jener einfachften, unmittelbar nur von dem unzugänglichen Centrum der 
Erde aus wahrzunehmenden Form der Eriheinungen zeigen. 

Mit Sicherheit meßbar waren nun den babyloniſchen und den griehiichen 
Altronomen Winkel von etwa einem Dritttheil des Grades. 

Erwägt man zwar, daß der Winkel, unter welchem uns der Durchmefjer 
der Sonne und der des Bollmondes durchſchnittlich erfcheint, etwas mehr als 
einen halben Grad beträgt, und daß ein gutes unbewaffnetes Auge Doppelfterne 


Geichichtliche Darlegung der Bedeutung ber Borübergänge ber Venus u. ſ. w. 71 


deutlich getrennt fieht, deren Winkelabjtand an der Himmelsfugel nur etiwa 
jwei Minuten oder ein Dreifigftel des Grades beträgt, jo jcheinen ſelbſt für 
die älteften Aftronomen obige Annahmen zu weit gegriffen zu jein. Es ift 
jedoch zu bedenten, daß es fich bei der Erkennung von Abweichungen und jchein- 
baren Unregelmäßigkeiten gewiſſen Winfelbetrage® in den Bewegungen der 
Himmelsförper nicht bloß um die Schärfe des Sehens, jondern auch um Die 
Vergleihung und Feſthaltung verjchiedener Bifirrihtungen an den Mepinftru- 
menten, aljo um den Sicherheitägrad der jedesmaligen Orientirung und der 
geometriihen Einrichtung der Inſtrumente, jowie um die Genauigkeit der Zeit- 
mefjung handelt. 

Nimmt man aljo nah den zahlreihen uns vorliegenden Zeugnifjen von 
dem Entwidelungszuftande der aſtronomiſchen Meßkunſt in babyloniichen und 
in griehiichen Zeiten obigen Zahlenwerth für die damalige Grenze ficherer 
Mekbarkeit von Dertern und Ortsveränderungen an der Himmelskugel an, fo 
folgt daraus, dat ein Himmelskörper, bei welddem damals die excentriſche Lage 
einer Beobachtungsſtation auf der Erdoberfläche oder der Abftand derjelben von 
dem Mittelpunkt der Erde und „der Welt“ in Bejonderheiten feiner Wintel- 
betvegung an der jcheinbaren Himmelskugel ficher erkennbar werden jollte, 
höchftens jo weit von der Exde entfernt jein durfte, daß von ihm aus der 
Halbmeſſer der Erdfugel unter einem Winkel von einem Drittel-Grad erſchien, 
d. h. um höchſtens 172 Erdhalbmeſſer. 

Innerhalb diejes Abftandes von der Erde befindet jih von den mit un- 
bewaffnetem Auge fihtbaren Himmelskörpern allein der Mond, deifen mittlere 
Entfernung vom Centrum der Exde bekanntlich nahezu 60 Erdhalbmeffer beträgt. 
Vom Monde aus gejehen muß hiernady der Halbmefjer der Erdfugel unter 
einem Winkel erjcheinen, defjen mittlerer Werth nahezu 57 Minuten beträgt. 
Um eben denjelben Winfel muß natürlid von einem Punkte der Erdoberfläche, 
an weldem eine vom Monde nad der Erde gedachte Gejichtälinie dieje Ober- 
fläche berührt, ohne fie zu jchneiden, aljo von einem Punkte, in welchem ber 
Mond fi gerade im Horizonte befindet, die Richtung nah dem Monde Hin 
oder der Ort defjelben an der Himmelskugel verſchoben erjcheinen gegen den 
Ort, an weldem der Mond im jelbigen Zeitpuntte von dem Mittelpunkte der 
Erde erjcheinen würde. Man nennt bekanntlich derartige Richtungsunterſchiede 
der Gefichtälinien, wie fie eintreten, wenn auf ein und dafjelbe Object von ver- 
fchiedenen Standpunften aus vifirt wird, und dafjelbe hiernach zwiſchen anderen 
entfernteren Objecten, auf deren jcheinbare Lage diejelbe Verſchiedenheit der 
Standpunkte feinen merfliden oder einen geringeren Einfluß hat, verjchiedene 
Stellen einzunehmen jcheint, Parallaxen oder parallaktiiche Ortsveränderungen 
de3 Objectes (nach einem griehijchen Worte, deſſen Sinn ungefähr den Vorgang 
der Verſchiebung der Gefigtälinien ausdrückt). Hiernach heißt der oben definirte 
Winkel, unter welhem vom Monde aus der Halbmefjer der Erdkugel erſcheint, 
oder die entiprechende Verſchiebung, tweldhe der Ort des Mondes am Himmel 
im Horizonte eines Beobadhtungsortes gegen eine vom Grdmittelpunft aus 
gleichzeitig nach dem Monde gerichtete Gefichtslinie und den entiprechenden Ort 
am Himmel erfährt, die Horizontal-Parallare des Mondes. 


72 Deutſche Rundichau. 


Innerhalb der einzelnen wiſſenſchaftlichen Disciplinen gewährt es große 
Erleichterungen, derartige knappe technijche Ausdrüde anzuwenden; den außer- 
halb der Fachwiſſenſchaft Stehenden erſchweren diefelben oftmals das Verftänd- 
niß der einfacdhften Dinge. Die Parallaren haben ſchon mandem Nichtaftro- 
nomen Kopfzerbrechen bereitet, während man ſchon bei jeder Bewegung des 
Kopfes, oder bei abtwechjelndem Schließen der Augen, überhaupt bei jeder Ort3- 
veränderung de3 wahrnehmenden Sinnesorganes parallaktiiche Wirkungen in der 
gegenjeitigen Lage der umgebenden Gegenjtände erfennen Tann. 


Eine Eijenbahnfahrt läßt bekanntlich die Abftufung der Entfernungen der 
Gegenftände, an denen man vorübereilt, deutlich an der verichiedenen Geſchwin— 
digkeit ihrer parallaktiſchen Verſchiebungen bemerken, in denen ſich die Abbilder 
derjenigen Winkelbewegungen darftellen, unter welchen von dem Ort der ein- 
zelnen Gegenftände aus, von den näheren jchneller, von den entfernteren lang- 
jamer, die Bewegung de3 Eijenbahnzuges jelbft erjcheint. 


Jede Dreieds3-Meffung, bei welcher man an den beiden Endpunkten einer 
Standlinie die beiden Winkel, welche die Richtungen nad) einem entfernten 
Gegenftand mit der Richtung der Standlinie bilden, aufnimmt, um dadurch die 
Entfernung diejes Gegenjtandes im Verhältniß zur Länge der Standlinie zu be- 
ftimmen, wobei der dritte Wintel des Dreiecks oder der Winkel an dem ent- 
fernten Gegenftande glei) dem Unterjhiede der beiden an den Endpunkten 
der Standlinie aufgenommenen Richtungen, d. 5. gleih ihrer Abweichung 
vom Parallelismus ift, läßt fi auch ala eine Beitimmung des Parallaren- 
Winkels, unter welchem die Standlinie an dem entfernten Object ericheint, be- 
zeichnen. 


Die Erfenntniß der zutreffenden Aehnlichkeit aller diejer befannten Wahr- 
nehmungen oder geläufigen Mefjungen mit den parallaktiichen Erſcheinungen 
und Aufgaben in der Aftronomie und das Bewußtwerden parallaktiicher Wir- 
fungen überhaupt wird hauptſächlich dadurch verhüllt, daß man bei den fich 
icheinbar in überall gleicher Entfernung auf der Himmelskugel darftellenden 
Erſcheinungen der Himmelsräume zur Beurtheilung und zur directen Beſtim— 
mung der Verichiedenheiten der Entfernungen fein anderes Mittel, als die be- 
wußte und eracte Meffung der parallaktiichen Erſcheinungen befitt, daß dagegen 
auf der Erde bei Beurtheilung der Berjchiedenheit der Entfernungen meiftens 
unbewußt verfahren wird, indem man dabei in erfter Stelle, wenn auch nur 
bei den nicht zu entfernten Gegenftänden, diejenigen parallaktiſchen Wirkungen 
gelten läßt, welche jchon durch die Verbindung der Wahrnehmungen der beiden 
Augen unbewußt hervorgebradpt werden, und deren Wejen (dad jogenannte 
ftereosfopifche Sehen) man erſt bei abwechſelndem Schließen der Augen, in 
einer durch diefe Veränderung des Viſirpunktes bewirkten parallaftiichen Ber- 
ſchiebung der näheren Gegenftände gegen die entfernteren deutlich bemerkt, und 
indem man außer diefem unbewußten Verfahren der Entfernungsſchätzung aud) 
noch in dem Grade der convergirenden Vijir-Stellung der beiden Augen-Achſen, 
jowie endlich in dem Grade der Deutlichkeit, der Färbung und der ſcheinbaren 
Größe der ihren wirklichen Formen, Farben und Dimenfionen nad) meift be- 


Geihichtlicde Darlegung der Bedeutung der Vorübergänge ber Venus u. |. w. 73 


kannten Gegenftände hinreichende Mittel zu einer faſt inftinctiv werdenden 
Schäßung ihrer Entfernungen hat. 

&3 wird daher in der Regel Niemandem, der auf der Eijenbahn fährt, ein- 
fallen, fi) durch die größere oder geringere Schnelle des parallaktiſchen Vor— 
übereilens der Gegenftände ein Urtheil über ihre Entfernungen zu bilden, da 
Jedermann hierfür ungefähre Anhaltspunkte jchon in Fülle hat, twogegen e3 
einem in eracten Meffungen Berwanderten wohl einfallen könnte, mit einer 
Secundenuhr in der Hand auf Grund der Geihtwindigkeit, die der betreffende 
Zug nad) dem Fahrplan durchſchnittlich hat, bei entfernteren Gegenftänden das 
Maß ihrer — durch eine gewiſſe auf der nahezu geradlinigen Bahn zurüd- 
gelegte Strede bedingten — parallaktiichen Wintelbewegung am Horizonte zu 
Ihäten und dadurch beiläufige Entfernungsbeftimmungen zu machen, die den 
aftronomijchen ganz ähnlid find. 

Die Wirkung der Horizontal = Parallare läßt den Mond ftets weiter ent- 
fernt vom Scheitelpunft eines Beobachtungsortes auf der Erdoberfläche er- 
Icheinen, al3 er vom Erdmittelpunkt aus gejehen werden würde, und zwar hat 
diefe Wirkung, twie leicht erfichtlich, im Horizonte ihren größten Betrag, wäh— 
rend fie, wenn der Mond im Scheitelpunft eines Ortes fteht, verjchwindet, 
weil dann der Beobadhtungsort und der Erdmittelpuntt vom Monde aus ge- 
ſehen in derfelben Richtung liegen. (Was nur wegen der Ellipfoid-Geftalt der 
Erde nit völlig genau zutrifft.) 

Die Horizontal-Parallare verzögert nad dem Obigen relativ den Aufgang 
und verfrüht ebenjo den Untergang des Mondes. Diefe Wirkungen konnten 
indejjen von den alten Aftronomen nicht Jofort bemerkt werden, weil ihre Mittel 
der Zeitmeflung noch nicht entwicelt genug waren. Auch wirft die Brechung, 
welche die Kıichtftrahlen beim Uebergang aus dem Weltraum in die nad) der 
Erdoberfläche hin immer dichter werdenden Schichten der Erdatmojphäre erfahren, 
jenem Einfluß gerade in der Nähe des Horizontes fo ftark entgegen, daß dort 
nur die Eleinere Hälfte der Parallaren-Wirkung übrig bleibt. 

Dagegen konnten die alten Ajtronomen bei den Mondfinfterniffen die pa- 
rallaktiſche Wirkung der ercentriichen Lage des auf der Erdoberfläche befind- 
lichen Beobachtungsortes bemerken und zwar folgendermaßen: Die Achſe des 
Scattentegel3 der Erde, in weldem der Mond verfinftert erjcheint, ift eine 
dur den Sonnenmittelpunft und durch den Erdmittelpunft gehende gerade 
Linie. Der Mittelpunkt des Kreifes, in welchem der Schattenfegel die Himmels— 
fläche zu jchneiden jcheint, muß aljo, vom Erdmittelpunkt aus gejehen, der 
Sonne genau gegenüber liegen. Die Umriſſe dieſes Kreiſes laſſen ſich nun 
wenigſtens theiltweife auf der in den Schatten eintretenden Vollmondicheibe jo 
deutlich erfennen, daß man ſchon daraus die Lage des Mittelpunftes diejes 
FKreijes gegen den Mittelpunkt der befanntlic in dem Schattenraum niemals 
ganz verſchwindenden Mondicheibe gut bejtimmen kann. Dieje von der Erd- 
oberflähe aus beftimmte Lage der Mitte des vom Monde durdjlaufenen 
Schnittes der Schattenflähe an der Himmelskugel wird nun von dem genauen 
Gegenpunkt des gleichzeitigen Sonnenortes am Himmel gerade um denjelben 


74 Deutiche Ruudſchau. 


Parallaren-Wintel verſchieden fein, unter welchem der Abftand des Beobachtungs— 
ortes vom Erdmittelpunfte zur Zeit der Beobachtung vom Monde aus ericheint. 

Aus diefem Winkel an der Spitze de3 Dreiecks, welches einerjeit3 durch den 
Mittelpunkt des Schattenjchnittes, andererjeit3 durch den Beobachtungsort und 
den Erbmittelpunft ala Endpunkte der Standlinie oder Baſis beftimmt wird, 
fann mit Hinzunahme desjenigen Winkels, welchen am Beobachtungsort jelbft 
die Richtung zum Mittelpunkte des Scattenjchnittes mit der Richtung von 
dem Erdmittelpuntte nad dem Beobachtungsort macht, das Verhältniß der Ent- 
fernung des Mondes vom Erdmittelpunft zum Halbmefjer der Erde abgeleitet 
werden. 

Der eben erwähnte zweite Winkel aber wird, wenn man die kleine Ab- 
weichung der Erdgeftalt von der Kugelform vernachläſſigt, einfach durch den der- 
zeitigen Winkel-Abftand des Scheitelpunftes des Beobachtungsortes vom Mittel- 
punkt des kreisförmigen Schattenjchnittes gefunden. 

Schwierigkeiten mußte den Alten Hierbei nur die Beſtimmung de3 genauen 
Gegenpunktes zur Sonne bieten. Wurden indejjen unter den zahlreichen Vtond- 
finfterniffen, welche mit allen charakteriftiihen Umftänden Jahrhunderte oder 
vieleicht Jahrtaufende hindurch in Babylon aufgezeichnet worden waren, ſolche 
ausgewählt, bei denen der Mond um die Mitte der Verfinfterung fi in der 
Mittagsebene des Ortes befand, jo ergab fi) hierfür die Lage des Gegenpunftes 
zur Sonne leiht unter Benußung der am vorhergehenden und am folgenden 
Mittag mit der Schattenjäule bejtimmten Mittagshöhe der Sonne, natürlid) 
unter der Vorausſetzung, daß die Sonne ſelbſt durch die ercentrifche Lage des 
Beobachtungsortes feine oder wenigftens eine viel Kleinere PBarallare erfuhr, ala 
der Mond, mit andern Worten, daß fie viel entfernter fei, al3 der Mond. — 
Das der letztere überhaupt näher jei, al3 die Sonne, ergaben ja ſchon die Sonnen- 
finfternifje, in weldyen er nachweisbar vor die Sonne trat, während er zugleich, 
nach jeinem jcheinbaren Durchmeſſer zu jchließen, bei diefen Phänomenen nicht 
wejentlich näher an der Erde war als jonft. 

Daß aber die Entfernung der Sonne jogar um Vieles größer, alfo ihre 
Parallare um Bieles Kleiner jei, al die des Mondes, ergab der bei den Mond— 
finfternifjen beftimmbare Halbmefjer des Schattentegeljchnittes ſelbſt. Derjelbe 
erihien nahezu unter demjelben Winkel, unter welchem vom Monde aus nad) 
den vorläufigen Rejultaten des oben erörterten Verfahrens der Halbmefjer der 
die Schattenumrifje erzeugenden Erdkugel ſelbſt gejehen wurde. Es erfolgte alſo 
bis zum Monde hin keinesfalls eine ftarfe Convergenz des Kernſchatten-Kegels, 
fondern die Wände defjelben jchienen, wie e8 nur bei einer verhältnigmäßig 
jehr entfernten Lichtquelle möglich ift, innerhalb jenes Abftandes faft parallel 
zu verlaufen. 

Aus der Vergleihung dev Winkelgröße des Halbmefjer3 des vom Monde 
paſſirten Schattentegelichnittes mit dem Parallaren-Winkel, unter weldem am 
Monde der Halbmefjer der Erde erſchien, juchte jpäter Ptolemäus um 140 n. Chr. 
das Verhältniß der Entfernung der Sonne zur Entfernung des Mondes von der 
Erde wirklich zahlenmäßig zu beftimmen. 

Ein anderes Verfahren zur Löſung legterer Aufgabe hatte aber jchon vier- 


Gefchichtliche Darlegung der Bedeutung der Vorübergänge der Venus u. ſ. w. 5 


hundert Jahre vor ihm Ariftarh von Samos eingefchlagen, indem er den 
Winkelabftand des Mondes von der Sonne in einem der Zeitpunkte maß, in 
welchen die Mondicheibe genau zur Hälfte erleuchtet erjcheint, in welchen alio 
in dem Dreied: Sonne, Erde, Mond, der Winkel an legterem jehr nahe ein 
rechter ift. Da alsdann in diefem Dreieck zwei Winkel befannt waren, konnte 
auch der Parallaren » Winkel, unter weldem von der Sonne aus der Abftand 
des Mondes von der Erde erichien, und konnten überhaupt die Verhältniffe der 
Seitenlängen zu einander berechnet werden. Ariſtarch fand hieraus, daß die 
Sonne etwa 19 mal weiter entfernt jei, ald der Mond, was jpäter Ptolemäus 
nad der oben erwähnten Methode nahezu bejtätigte. Bekanntlich beträgt aber 
jenes Vielfache in Wirklichkeit nicht 19, jondern etwa 400. Die Wintelgrößen, 
um die es ſich hiernach handelte, waren eben zu Hein, um von den Alten mit 
Sicherheit gemefjen zu werden. — 

Zu ſyſtematiſchen Meifungen hatten übrigens die vorher erwähnten Mtög- 
lichkeiten, da Verhältniß des Abftandes des Mondes zu den Dimenfionen der 
Erde aus den Beobachtungen der Mondfinfternijje abzuleiten, nicht geführt; ſie 
hatten ebenfalls nur dazu gedient, eine ungefähre Vorftellung von dieſem Ver— 
bältnifje zu geben. Dieje Vorftellung wurde erjt in der griehiichen Zeit deut- 
licher und wifjenjchaftlicher, nachdem man aud) von den Dimenfionen des Erd— 
förpers ſelbſt im Verhältniß zu den irdiſchen Maßen durch die Gradmeifung 
des Eratoſthenes eine wiſſenſchaftliche Kenntniß erlangt hatte. Das Verfahren, 
welches endlih Ptolemäus einſchlug, um eine möglichft eracte Beitimmung der 
Mond-Parallare zu erlangen, gehört im Princip jchon ganz zu dem Syſtem von 
parallaftiihen Methoden, welche gegenwärtig zur Beitimmung der Entfernungen 
der Himmelsförper von der Erde angewandt werden, nachdem man durch die 
genauere Kenntniß der Geftalt und der Dimenfionen der Erde und durch die 
jiheren Beftimmungen, welche man von der Lage der Beobachtungsörter auf 
der Erdoberfläche zu einander und zu den Polen und feiten Mteridianen der Erde 
machen fann, in den Stand gejeßt ift, ftatt des Halbmeſſers der Erde jeden 
beliebigen Abſtand auf der Erde als Standlinie für die parallaktiiche Dreiecks— 
meſſung zu benußen. 

Die Methoden zur trigonometriichen oder parallaftiichen Beftimmung der 
Entfernungen der Himmelskörper in Maßen der Erde zerfallen mit Ausſchluß 
der oben erörterten, auf die Beſchattungs- und Beleuchtungs-Erſcheinungen be- 
gründeten, welche wegen des Mangels an Beitimmtheit und Regelmäßigteit 
jener Licht und Schattengrenzen feine für die gegenwärtigen Anforderungen hin= 
reichende Genauigkeit mehr bieten, hauptjädhlich in zwei Gruppen: 

1) Meſſungen der jeheinbaren Ortsveränderungen am Himmelsgemwölbe, 
welde das Object, deifen Entfernung zu beftimmen ift, erfährt durch diejenigen 
Ortsveränderungen des Beobadhters felbjt, welche von der Drehung der 
Erde hervorgebracht werden, jomit nad) Richtung und Größe leicht beftimmbar 
und in den Maßen des Erdkörpers ausdrüdbar find. 

2) Meſſungen der Abftände der verjchiedenen Derter am Himmelsge— 
wölbe, an welchen das Object, deſſen Entfernung zu ermitteln ift, in einem und 
demſelben Zeitpuntte von verichiedenen Beobahtungsftationen aus, deren 


76 Deutſche Rundſchau. 


gegenſeitige Lage nach Richtung und Abſtand beſtimmbar und in den Maßen 
des Erdkörpers ausdrückbar iſt, geſehen wird. 

Beide Methoden fließen bei Beſtimmungen von Entfernungen auf der Erde 
ſelbſt, zumal bei relativ ruhenden Objecten, in eine zuſammen, denn es iſt bei 
einer ſolchen irdiſchen Dreiecksmeſſung im Allgemeinen gleichgültig, ob die Win— 
kel an den beiden Endpunkten der Stand- oder Grundlinie gleichzeitig von zwei 
verſchiedenen Beobachtern oder nach einander von demſelben Beobachter gemeſſen 
werden. 

Bei außerirdiſchen Entfernungsbeſtimmungen indeſſen ſind obige Unter— 
ſcheidungen erheblich, da man es bei ihnen ſtets mit relativ bewegten Objecten 
und mit mehreren Arten von Bewegungen des Standortes, z. B. außer mit 
der täglichen Drehung auch noch mit der jährlichen Bewegung der Erde zu 
thun hat, wobei natürlich eine nahe Gleichzeitigkeit der Beobachtungen an zwei 
möglichſt weit von einander abſtehenden Stationen große Vorzüge bietet, wäh— 
vend andererſeits die Schwierigkeiten der ſicheren Erzielung möglichſt gleicharti— 
ger correſpondirender Meſſungen verſchiedener von einander weit entfernter Be— 
obachter in vielen Fällen für die Benutzung der Drehung der Erde zum be— 
quemſten, billigſten und ſchnellſten Transport eines und deſſelben Beobachters 
von einem Ende einer großen irdiſchen Standlinie zum andern den Ausſchlag 
gegeben haben. 

Letztere Methode hat danach in der That bis zum Ende des 17. Jahrhun— 
derts faſt ausſchließliche Anwendung gefunden. Sie iſt auch dem Princip nach 
die einzige, welche bei der Erweiterung der parallaktiſchen Probleme über die 
irdiſchen Standlinien hinaus, nämlich bei den erſten Ausmeſſungen der Planeten— 
Bahnen und der Firſtern-Entfernungen durch die parallaktiſchen Wirkungen 
unjerer Bewegung um die Sonne (jährliche Parallare), ſowie bei der ferneren 
Ausmeflung der Firftern-Räume dur die parallaktiihen Wirkungen der Bes 
wegung de3 ganzen Sonnenſyſtems (Säcular-PBarallare) zur Anwendung fommt, 
weil und außerhalb der Erde die correipondirenden Beobachter nod) gänzlich 
fehlen. 

In einer eigenthümlichen Form wurde diefe Methode zuerft von Ptole- 
mäus zur Beitimmung der Entfernung des Mondes angewandt. 

Gorrejpondirende aftronomijche Beobachtungen an entfernten Punkten der 
Erde, wie wir fie jet in gewöhnlichen Fällen durch das Zuſammenwirken der 
Aftronomen aller Erdtheile verhältnigmäßig leicht erlangen, wie fie jogar regel- 
mäßig einen Theil des Arbeitsplanes gewiſſer nördlichen und jüdlichen Stern- 
warten bilden, vermodhten die Aftronomen Alerandria’3 eben noch nicht zu be= 
ihaffen. Dafür aber hatte Mlerandria gerade mit Bezug auf die durch den 
Erdmittelpunft gehende Ebene der Mondbahn eine bejonders günftige Lage. 

In den Zeiten nämlid, in welchen diefe Bahnebene ihre ftärkfte Neigung 
gegen die Ebene des Erdäquators hatte, lag Wlerandria bei einer beftimmten 
Phaje der Erddrehung jehr nahe in der Ebene der Mondbahn, während es in 
der gerade entgegengejeßten Phaſe der Erddrehung einen ſenkrechten Abftand von 
der Mondbahnebene hatte, welcher nahezu 4 des Erdhalbmeſſers betrug. Ge— 
lang es, den Mond in diefen beiden entgegengejegten Drehungsphafen der Erde 


Geſchichtliche Darlegung der Bebeutung der Vorübergänge der Venus u. ſ. w. 17 


auch in den entiprechenden einander entgegengejegten Stellen jeiner Bahn zu 
beobadten, jo fand bei der einen Beobadhtung, bei welcher der Dtond dem 
Sceitelpunft von Alerandria jehr nahe fam, faſt gar feine parallaktiiche Wir- 
fung ftatt, während bei der anderen Beobachtung der Mond in Alerandria um 
nahezu desjenigen Winkels, unter welchem alsdann von ihm aus der Exb- 
halbmeſſer gejehen werden mußte, vom Nordpol des Himmels entfernter erſchien, 
als vom Erdmittelpunkte aus gejehen. In Bezug auf leteren, ſowie überhaupt 
von jedem Punkte der Ebene des Erdäquators aus gejehen fand eine völlige 
Symmetrie der beiden äußerjten Mondftellungen nördlich und füdlih vom Him- 
mel3äquator ftatt; von Nlerandria aus war dagegen beim Durchgange die Mit- 
tagsebene der äußerſte jüdliche Abjtand des Mondes vom Himmelsäquator um 
% der Horizontal =-Parallare größer, al3 der größte nördliche Abjtand vom 
Himmelsäquator. 

Hiernad) beftimmte Ptolemäus aus jeinen Mefjungen für Vollmonds- und 
Neumondszeiten die Entfernung de3 Mondes zu 59 Erdhalbmeffern. (Leider 
wurde der Gewinn, den dieje ziemlich genaue Beftimmung der Aftronomie 
brachte, durch gewilje Fehler der Mondstheorie des Ptolemäus vermindert, 
welche die Annahme einer viel größeren Veränderlichkeit diefer Entfernung ent= 
hielten, al3 nad) den verhältnigmäßig Fleinen Veränderungen der jcheinbaren 
Größe des Mondes zuläſſig ericheinen durfte.) 


In dem ganzen oben dargelegten Verfahren bei der PBarallaren = Beftim- 
mung des Mondes wird übrigens gar nicht? dadurch geändert, dat Ptolemäus 
jelbft feine Drehung der Erde, alſo auch feine Bewegung des Beobachtungsortes 
annahm, jondern die Drehung nur der Himmelskugel und dem gefammten von 
ihr umfaßten Himmelsraume zujchrieb. 

Lebtere Drehung um da3 Gentrum der Erde mußte für einen ruhenden, 
aber ercentrijch gelegenen Beobachtungsort diejelben Erſcheinungen hervor— 
bringen, wie bei ruhender Himmelsfugel die Bewegung des Beobadhtungsortes 
durch die Drehung der Erde. 

Nach obiger Mefjungsmethode würde man aud die Barallare der Sonne 
an jedem außerhalb des Erdäquators gelegenen Punkte der Erdoberfläche, 3.8. 
mit völliger Analogie au obigem Verfahren von einem Punkte der Wendekreiſe 
aus, durch die Unſymmetrie ihrer größten nördlichen und jüdlichen Abweichung 
vom Himmelsäquator auf Grund der notoriihen Symmetrie der für den Erd— 
mittelpunft und die Ebene des Erdäquators überhaupt geltenden Phänomene 
derjelben Art beftimmen können ; doch würde diejes Verfahren aus vielen Grün- 
den nicht zweckmäßig fein, zumal da fich jogar nach demjelben Princip günfti- 
gere Bedingungen für die Löſung derjelben Aufgabe erreichen laſſen. 

Aechnliches gilt von entiprechenden PBarallaren - Beftimmungen ſolcher Ob- 
jecte, die, von gewillen Gegenden der Erdoberfläche aus gejehen, nicht unterge- 
hen, jondern in entgegengejegten Phajen der Erddrehung, aljo von den beiden 
Endpunkten de3 Durchmeijers eines Parallelkreifes aus gejehen, eine größte und 
eine Eleinfte Höhe über dem Horizonte in dev Mittagsebene erreichen. 

Eine andere und folgenreichere Anwendung der Drehung der Erde zur Pa— 


78 Deutſche Rundichau. 


rallaren-Beftimmung machte gegen Ende des 15. Jahrhunderts NRegiomontan 
(Johannes Müller aus Königsberg, Franken) zu Nürnberg. 

Er maß die Veränderungen, welche die Derter eines Kometen an der 
Himmelskugel erfuhren, wenn er fie womöglich innerhalb deſſelben Tages jo- 
wohl in der Nähe des weftlichen als des öftlihen Horizontes, alfo von den 
möglichft weit von einander entfernten, äußerften öftlichen und weſtlichen Stand- 
punkten, die man durch die Drehung der Erde erreichen konnte, beftimmte. 
Hierbei mußte er natürlih die in der Zwiſchenzeit erfolgte Winkelbewegung 
am Himmel, welde der Komet — ſowohl durch feine eigene Bewegung im 
Himmelsraume, al3 auch durch die parallaktiiche Wirkung der gleichzeitigen 
Bewegung der Erde in ihrer Bahn um die Sonne — erfuhr, in Rechnung 
bringen. 

Dafür gab es aber eine hinreichende genäherte Beitimmung, wenn man 
den Kometen außer in entgegengejeßten weftlihen und öftlichen Drehungsphafen 
der Erde hinreichend oft zu aufeinanderfolgenden Malen auch in einer und der- 
jelben Drehungsphaje der Erde beobachtete und daraus die Derter deſſelben am 
Himmel für die dazwiſchen liegenden Zeitpunkte der in entgegengejegten Dre— 
hungsphajen ftattfindenden Standorte des Beobachters einjchaltete. Aus der 
Vergleihung der eingejchalteten mit den wirklich beobachteten Dertern des Ko— 
meten ergab ſich alsdann die parallaktiiche Wirkung der in Theilen de3 Erd— 
halbmeſſers auszudrüdenden Ortsveränderung, welche der Beobachter jelbft durch 
die Drehung der Erde erfahren hatte, und daraus das Verhältniß der Entfer- 
nung des Kometen zum Erdhalbmeſſer. 

Nach diejer in der Folge auch von Tycho v. Brahe angewandten Methode 
des Regiomontan, nur in etwas verfeinerter Anordnung mit Hülfe der eben er: 
fundenen Pendeluhr, jollte auch in den Jahren 1672 und 73 von einer bejon- 
deren — auch mit Rückſicht auf die größeren Dimenfionen, welche die Parallel: 
freije in der Nähe des Aequators haben, aljo auf die größeren dort durch die 
Drehung der Erde herzuftellenden Standlinien — nad Cayenne entjandten fran- 
zöſiſchen Expedition die Entfernung des Planeten Mars in einer feiner Erd— 
nähen beftimmt werden, um daraus in einer unten näher zu erörternden Weiſe 
aud die Dimenfionen der Bahnen der übrigen Planeten und die der Erdbahn 
ſelbſt und damit die Sonnen-Parallare abzuleiten. 

Nachdem in diefer Beltimmung der Sonnen - Parallare und einigen ähn- 
lihen Berjuchen, die ihr bi3 zur Mitte des 18. Jahrhunderts folgten, die Me— 
thode der Benußung der Drehung der Erde zur Hervorbringung parallaktiicher 
Wirkungen eine Art von Gipfelpunft erreicht hatte — man hat fie erft viel 
Ipäter, u. A. im Jahre 1862 bei einer ähnlichen Ausnutzung einer bejonderen 
Erdnähe des Planeten Mars wieder aufgenommen —, trat die zweite Methode 
(pag. 75) von der Mitte des 18. Jahrhunderts ab in den Vordergrund. 

Man richtete al3bald, insbejondere zur genaueften Beftimmung der Ent- 
fernung des Mondes, eine forrefpondirende Beobachtungsſtation am Worgebirge 
der guten Hoffnung ein und beobachtete ſodann möglichſt gleichzeitig, d. h. lange 
Zeiträume hindurch, jo oft der Himmel wolkenfrei war, den Abftand des Mon- 
des von den Himmelspolen beim Durchgange durch die Mittagsebene erſt in 


Geichichtliche Darlegung der Bedeutung der Vorübergänge der Venus u. ſ. w. 79 


Berlin, dann in Paris, Greenwich und forreipondirend am MWorgebirge der 
quten Hoffnung. 

Dieje bis in die neuefte Zeit hinein fortgeführten, jeit nunmehr etwa 40 
Jahren duch Errichtung einer feften Sternwarte an dem genannten Vorgebirge 
unterftüßten Meſſungen, bei welden die 3. DB. zwiſchen der Sternwarte zu 
Greenwih und der Sternwarte am Kap gezogene Grundlinie des Dreieds, 
defien Spite der Mond bildete, nahezu das Anderthalbfadhe des Erdhalbmeſſers 
betragen hat, haben uns allmälig das Verhältnig der Entfernungen des Mon- 
de3 von der Erde und überhaupt der "Dimenfionen jeiner Bahn um die Erde 
zu jener Standlinie auf der Erde, ſowie die Gejehe der periodijchen Verände— 
rungen feiner Entfernung mit einer Genauigkeit kennen gelehrt, welche gegen- 
wärtig Nichts zu wünſchen übrig läßt; denn der noch mögliche unbekannte 
Fehler der jeßigen Beſtimmung diejes Verhältniffes wird höchſt wahrſcheinlich 
10407 de3 angenommenen Zahlenwerthes nicht überfteigen, und mir find zur 
Zeit faum im Stande, das Verhältnif der bei dieſer Meffung benußten irdiſchen 
Standlinie zu dem Halbmefjer des Erdäquatord mit einer größeren Genauigkeit 
ala auf „nFsy ſeines Werthes anzugeben, während zugleid in der Beitimmung 
des Verhältniffes des Halbmeſſers des Erdäquators zur Toiſe oder zum Meter 
(d. h. zu der aus der Toiſe abgeleiteten Beſtimmung des leßteren) ebenfalls noch 
Unfjicherheiten von nahezu demjelben WVerhältnigbetrage obwalten. 

Das Syſtem „Erde und Mond“ ift alfo gegenwärtig von den Maßſtäben 
menſchlichen Uriprunges aufwärts bis zu den Dimensionen der Mondbahn mit 
einer zwar bejchräntten, aber nahezu gleichartigen Genauigkeit ausgemeſſen und 
gewifjermaßen in ein zufammenhängendes Ganze dergejtalt vertvandelt, daß man 
zur Ausmefjung noch größerer Entfernungen, 3. B. der der Sonne, unter Um— 
ftänden eine Standlinie von der Erde bis zum Monde ebenjo fiher anwenden 
fönnte, wie eine auf der Erde ſelbſt gemeſſene. — 

Eine ſolche vergrößerte Standlinie könnten wir zur Beftimmung der Parall- 
are der Sonne und der Planeten jehr wohl brauchen; denn da 3. B. die Sonne 
etwa 400 mal weiter von uns abfteht, als der Mond, jo würde eine Standlinie 
von der Erde bis zum Monde, obwohl fie etiva 60 mal länger als der Halb- 
mefjer der Erde und etwa 40mal länger ift als die Standlinie vom Kap der 
guten Hoffnung nad Greenwich, dennoch) bei der Ausmeſſung der Sonnenent- 
fernung vergleichsweije exit den zehnten Theil der Genauigkeit bieten, welche 
die leßtere Standlinie bei der Ausmeſſung der Mtondentfernung zu erreichen 
geftattet hat. 

63 wird nämlich einleuchtend jein, daß gewiſſe, bei derartigen trigono- 
metriihen Winkelmeffungen unvermeidliche Fehler, während fie in ihrem abjo- 
luten Betrage von der Größe der Standlinie felbft im Allgemeinen nur in 
geringem Maße abhängig jein können, die Beftimmung der Parallare oder des 
Winkels, unter weldem die Standlinie an dem entfernten Object erjcheint, mit 
um jo ftärferem Verhältnigbetrage verfälihen, je Kleiner dieſer Winkel, alfo je 
kleiner da3 Verhältniß der Standlinie zur Entfernung des Objectes ift. Ein 
Fehler von einer Secunde in der Beltimmung des Unterjchiedes der beiden, von 
den Endpunkten der Standlinie nah dem Objecte aufgenommenen Richtungen 


80 Deutihe Rundichau. 


verfälicht, wenn dieſer Unterjchied oder die Parallare, wie beim Monde, etwa 
3400 Secunden beträgt, die Beftimmung der bezüglidden Entfernung nur um 
3707 Ihres Werthes, während derjelbe Fehler eine Parallare von nahe 9 Se— 
cunden, twie die der Sonne, um 4 ihres Werthes unrichtig machen würde, 

In der That befien wir ein Mittel, um die Entfernung des Mondes von 
der Erde gewiljermaßen als Standlinie für die Bemeſſung der Sonnen-Entfer- 
nung zu benußen. Wir können zwar feinen correfpondirenden Beobachter nad) 
dem Monde jenden, aber die jowohl im Sinne der Richtung al3 der Intenſität 
ftattfindende Verjchiedenheit der Wirkungen, weldhe Erde und Mond gemäß ihrer 
Entfernung von einander und ihrer jedesmaligen relativen Lage zur Sonne von 
der Anziehungskraft der leteren erfahren, bringt in der Bewegung des Mon- 
des um die Erde außer einigen jehr bedeutenden Ungleihheiten, aus deren auf 
der Exde zu beobadhtenden Winkelwerthen das Entfernungsverhältniß der Sonne 
und des Mondes herausfällt, eine Anomalie geringeren Betrages, die ſogenannte 
parallaktiiche Ungleichheit, hervor, aus welcher wir direct das Verhältniß der 
mittleren Entfernung der Sonne zur mittleren Entfernung des Mondes von 
der Erde und jomit nad) dem Obigen auch das Verhältniß der Entfernung der 
Sonne zu den Dimenfionen de3 Erdkörpers ableiten können, jobald wir durch 
anhaltende genaue Beobadhtungen der Mondbewegung den Betrag jener Un— 
gleichheit Telbft hinreichend genau fejtgeftellt haben. 

Leider ift die theoretijche Ergründung und die fichere Meffung der Bewe— 
gungen de3 Mondes dur; manche Schwierigkeiten, unter Anderm auch durd) 
die Unficherheit über feine wahre Geftalt, von der er uns ſtets nur eine Seite 
zufehrt, und über die Lage ſeines Schwerpunkts, jo verwidelt, daß wir zunächft 
mehr danach ftreben müfjen, die parallaktiiche Ungleichheit der Mondbewegung 
durch eine anderweitige Meflung der Sonnen-Parallare berechenbar zu maden, 
al3 die leßtere aus der Meſſung der Mondbewegungen abzuleiten. 

Da es uns aljo verjagt ift, zur Mefjung der Sonnen = Parallare eine in 
irdiſchen Maßen gleichartig ausgedrücdte Standlinie über die Dimenfionen der 
Erde hinaus zu gewinnen, müfjen wir Mittel und Wege juchen, die rein irdi— 
Ihe Meffung der Sonnen = Parallare — deren verhältnigmäßige Genauigkeit 
nah dem Obigen unter Anwendung derjelben Methode, wie bei der Mond— 
Parallare, nahezu 400 mal geringer jein muß, als bei leßterer — dadurch zu 
fihern, daß wir einerjeit3 die trigonometriihe Winkelmeſſung noch mehr ver- 
ſchärfen, andererjeits, anftatt die Meffung der Sonnen-Entfernung direct auszu— 
führen, una auf die Meffung der Entfernungen folder Himmelskörper verlegen, 
die in größere Erdnähe als die Sonne gelangen können, und deren Entfernungen 
zugleich zur Sonnen-Entfernung in numerijchen Verhältniffen ftehen, welche una 
mit bedeutender Genauigkeit bereit3 anderweitig befannt find. 

Bekanntlich wird die letztere Bedingung durch da3 dritte Kepler'ſche Gejet 
mit großer Annäherung erfüllt, welches die Umlaufszeiten der Planeten zu ihren 
Entfernungen von der Sonne in eine feſte Beziehung jet und dadurch die Ver- 
hältniffe aller Entfernungen im ‘Planeten = Syftem unter einander mit großer 
Schärfe aus Zeitmejfungen zu beftimmen geftattet. 

Bevor wir auf eine nähere Darlegung der hierauf zu begründenden Maß- 


Geſchichtliche Darlegung der Bedeutung der Borübergänge der Venus u. |. w. 81 


regeln zur Beitimmung der Sonnen-Parallare eingehen, dürfte es an der Zeit 
jein, einige häufig auftretende ragen zu beantworten, welche den folgenden 
jubtileren Erörterungen über die bejtmögliche Löjung unferer Aufgabe vielleicht 
entgegentreten könnten. 

Sit es denn, jo hört man oft fragen, wirklich jo wichtig, die Verhältniffe 
der Entfernungen der Sonne und der Planeten von uns zu den Dimenfionen 
des Erdförpers, überhaupt zu den irdiichen Maßen jehr genau zu beftimmen ? 
Genügt es nicht für unjere wiljenichaftliche Neugierde, eine ungefähre dee davon 
zu haben, wie viel Millionen Meilen oder Kilometer der eine und der andere 
Himmelsförper von uns entfernt ijt? 

Eine verhältnigmäßig jehr genaue Entfernungsbeftimmung des Mondes, 
jo jagt man, mag noch wünſchenswerth fein, eben weil er uns jo nahe ijt und 
deshalb jo ſtarke parallaftiiche Verfchiebungen am Himmel erfährt, und teil 
er überhaupt mannigfach mit jeinen Einflüffen in das irdiſche Leben hineinzu— 
treten und zu uns zu gehören jcheint, aber wozu eine jo große Mühe auf die 
äußerft genaue Entfernung3beftimmung der andern Himmelskörper verwenden ? 

Diejen Tragen kann man zunächſt ganz allgemein entgegnen, daß es ein 
bewährtes Princip der wiſſenſchaftlichen Forſchung ift, in der Genauigkeit ihrer 
Maßbeſtimmungen nirgends eine willfürliche Grenze zu machen, Nichts in un- 
genauer Beftimmung liegen zu lafjen, was einer genaueren Beftimmung zu— 
gänglich ift, und überall in möglichſt gleichartiger Weije an die Grenze des zur 
Zeit Erreihbaren zu dringen. 

Bei der Befolgung dieſes Princips kann die Wiſſenſchaft ökonomiſch ver- 
fahren, d. h. Eines nad) dem Andern, das ſchwer Zugängliche nad) dem leichter 
Erreichbaren vornehmen, aber fie wird niemals irgend ein Erkenntnißgebiet, 
auf welchem jie das Thatjächliche noch genauer und vollftändiger zu ermitteln 
vermag, nad) altklugen menſchlichen Geſichtspunkten ganz unbebaut Liegen laffen; 
denn jie weiß zur Genüge, welche Hülfe fie jchon bisher zur Löſung ihrer 
Probleme und gerade der jogenannten „eminent praftiichen” aus der ftrengen 
und folgerihtigen Erforihung von jogenannten Subtilitäten gezogen hat. 

Aber die genaueftmögliche Beftimmung der Entfernung der Sonne und der 
Planeten in irdiihen Maaßen ift für die ganze Aftronomie und jomit für alle 
Aufgaben des Lebens, denen dieje ihre Hülfe widmet, jogar ein höchſt dringliches 
und eminent „praktisches“ Problem. 

Die Unficherheit, welche auf diefem Gebiete noch obwaltet, ift zunächſt und 
zwar in Folge der Schwierigkeiten, welche oben bereits erörtert wurden, viel 
größer, al3 man gemeiniglic” glaubt. Die frühere Annahme über das Ber- 
hältniß des Halbmeflers des Erdäquators zu der Entfernung der Sonne ift 
nämlich möglicherweile um -'; ihres Zahlenwerthes zu Klein. 

Specieller gefaßt befteht aber die große Bedeutung einer genauen Kenntniß 
des Berhältniffes der Nbftände und Dimenfionen im planetariiden Raum zu 
den Abjtänder und Dimenfionen im irdiichen und Mondbahn-Raum hauptſächlich 
in folgenden beiden Erforderniſſen. 

1) Die merklich vericyiedenen Derter an der Himmelsfugel, an denen Die 
Sonne, die Planeten und die Kometen unter den faſt unermeßlich entfernten 

Deutfche Rundſchau. 1, 4. 6 





82 Deutſche Rundicau. 


Firfternen nicht nur von verjchiedenen Punkten der Erdoberfläche, jondern aud 3 
von den verjchiedenen Punkten aus gejehen werden, welche die Erde in ihrer 
monatlichen Bewegung um den gemeinjamen Schwerpunkt des Syſtems Erde- 
Mond einnehmen Tann [diefer Schwerpunft fteht befanntlid um etwa des 
Halbmeſſers des Erdäquator3 vom Erdmittelpunft ab], fünnen hinreichend ficher 
nur dadurch mit einander vergleihbar gemacht werden, daß man die Abftände 
jener Himmel3törper mit entiprechender Genauigkeit in denjelben Maaßen be- 
ftimmt, in denen und die Dimenfionen der Erde und der Mondbahn bekannt 
find. Es ift jomit ſchon das bloße Zuſammenwirken der Aftronomen der ver- 
Ichiedenen Erdtheile, welches eine immer genauere Beftimmung jener Maß— 
verhältnifje fordert. So lange dieje Verhältniffe noch nicht bis auf eine Fehler— 
grenze von etwa yon ihrer Werthe ermittelt worden find, bleibt jede Ver— 
gleihung und Verbindung 3. B. der von den Sternwarten der jüdlichen und 
der nördlichen Halbkugel gemachten Beobachtungen der Sonne, der Planeten 
und der Kometen mit Unficherheiten behaftet, welche die theoretiiche Bearbeitung 
diejer Beobachtungen in Betracht der Hierbei zur Zeit erreichbaren anderweitigen 
Genauigkeit erheblich beeinträchtigen, jotwie überhaupt die Verwerthung eines 
zwedmäßigen Zuſammenwirkens aller Aftronomen der Erde auf dem Gebiete 
diefer Meſſungen erſchweren. 

2) Die Ausdrücke von ſolchen Kräften und Geſchwindigkeiten, welche ent— 
weder in Maßeinheiten der Erde oder in Maßeinheiten des planetariſchen 
Raumes ermittelt worden ſind, können ihren abſoluten Beträgen nach mitein— 
ander nicht hinreichend ſtrenge verglichen werden, und es können die auf der 
Erde ermittelten Wirkungen nicht in den Himmelsraum, die in letzterem er— 
mittelten Wirkungen nicht auf die Erde mit genügender Sicherheit übertragen 
werden, wenn das Verhältniß der Dimenſionen der Erde und der Mondbahn 
zu den Dimenſionen der Planetenbahnen nicht mit größtmöglicher Genauigkeit 
bekannt iſt. Es wird z. B. die Anziehungskraft der Erde ſehr genau mittelſt 
des ſchwingenden Pendels in Pendellängen, überhaupt in irdiſchen Maßen aus— 
gedrückt gefunden; aus dem ſo beſtimmten Maße dieſer Kraft können aber die 
ſehr merklichen Einwirkungen, welche dieſelbe Kraft, kombinirt mit der u. A. 
aus Ebbe- und Flutherſcheinungen zu beſtimmenden Anziehungskraft des Mon— 
des, auch auf die Bewegungen der Sonne, der Planeten und der Kometen 
äußert, nur mit einer verhältnißmäßigen Unſicherheit gefunden werden, deren 
Maß nahezu den dreifachen Werth der Fehlerquote beträgt, die noch in der 
Beſtimmung des Verhältniſſes der Entfernungen dieſer Himmelskörper zu irdiſchen 
Maßen und Dimenſionen verblieben iſt. Ebenſo wird der Anziehungskraft der 
Sonne durch die Meſſung der Umlaufszeit der Erde um die Sonne mit großer 
Genauigkeit gefunden, aber ausgedrückt in einer Maßeinheit, welche der halben 
großen Are der von der Erde um die Sonne beſchriebenen Ellipſe nahezu 'ent— 
ſpricht. Die Wirkung diefer Anziehungsfraft auf das Syftem Exde- Mond in 
Hervorbringung jogenannter Ungleichheiten oder Störungen kann aber nur dann 
zuverläjfig genug ermittelt werden, wenn man das Verhältnig der Halbare der 
Erdbahn zu den Dimenfionen des Syſtems Erd- Mond binreichend genau be- 
ftimmt hat, und zwar beträgt auch hier wieder die relative Unficherheit der 


Gelchichtlihe Darlegung der Bedeutung der VBorübergänge der Venus u. |. w. 83 


lebertragung der Anziehungswirkung aus dem einen Maßſyſtem in das andere 
das Dreifache der relativen Unficherheit unfrer Kenntniß der Verhältniſſe der 
Mabeinheiten beider Syfteme. Auch die VBergleihung der himmliſchen und 
irdiſchen Beftimmung der Geſchwindigkeiten des Lichtes bedarf einer genaueren 
Feſtſehung der in Rede ftehenden Maßverhältniſſe. 

Die unter No. 2 foeben aufgeführten Ermittelungen, weldje zur Zeit noch 
einer möglichft genauen trigonometriijhen Beitimmung des Verhältniſſes der 
irdiſchen Maßeinheit zu den himmlischen Entfernungsmaßen bedürfen, werden 
vorausfichtlich dereinft zu den genaueften Beftimmungen diefer Maßverhält- 
niffe, ähnlich) wie das dritte Kepler’iche Geje für die Entfernungsverhältniffe 
innerhalb de3 Planetenſyſtems, ihrerjeit3 entjcheidende Beiträge liefern, aber 
vorausfichtlich erft nachdem durch mehrhundertjährige genaue Beobachtung der 
Wirkungen aller jener Kräfte ein möglichſt vollftändiges Prüfungsmaterial da— 
für geihaffen fein wird. 

Zur Erfüllung aller jener wichtigen und in gewiſſem Sinne für die Er- 
tenntniß aller Bewegungen, Kräfte und Gejebe in unjerm Planetenſyſtem funda- 
mentalen Forderungen bietet uns nun das oben erwähnte dritte Kepler'ſche 
Geſetz außerordentlidye Erleichterungen, indem es zwilchen den Dimenfionen der 
Erdbahn und den Dimenfionen aller Planeten- und Kometenbahnen, aljo auch 
zwiichen beliebigen Abftänden der Planeten und Kometen von der Erde und 
voneinander Verhältniſſe aufftellt, die jich für die Planeten aus ihren Umlaufs— 
zeiten um die Sonne und für diejenigen Kometen, welche feine für uns meß— 
bare Umlaufszeit haben, aus den Winkelgeihmwindigkeiten ihrer Beivegung am 
Himmel mit großer Strenge ermitteln laſſen. Insbeſondere für die Planeten 
bietet der Ausdruck jenes von Kepler gefundenen Gejeßes, wonach ſich die halben 
großen Aren der von den einzelnen ‘Planeten um die Sonne bejchriebenen 
elliptiihen Bahnen zu einander verhalten, wie die Kubikwurzeln aus den Qua— 
draten der Umlaufszeiten, den großen Vorzug dar, daß dafjelbe vermöge der 
fortwährenden Wiederholung der Umläufe und der dadurch im Verlaufe der 
Zeiten ermöglichten beliebigen Genauigkeit der Kenntniß der einzelnen Umlaufs— 
zeiten die Verhältniffe der Dimenfionen der Bahnen mit einer Sicherheit zu 
beftimmen geftattet, welche durch keinerlei trigonometrijche Wintelmefjung unter 
Anwendung derjelben Mefjungsmittel, mit denen die Wiederkehr der Planeten 
an denjelben Ort des Himmels jedesmal bejtimmt wird, erlangt werden Tann. 
Gilt auch jenes von Kepler gefundene Verhältniß nicht mit abjoluter Strenge, 
jondern nur mit einer Annäherung, welche auf der die Maſſe aller andern 
Körper unſers Syſtems weit überwiegenden relativen Größe der Sonnenmaffe 
beruht, jo laſſen fich doch durch die ſucceſſive Einfügung der Einwirkungen 
der allmälig immer genauer bekannt werdenden Maſſen aller Planeten jene 
Beziehungen zwijchen Umlaufszeiten und Bahndimenfionen mit einer jo großen 
Schärfe ermitteln, dat die Verhältniffe der Entfernungen der verjchiedenen 
Planeten von der Sonne und ihrer Abftände von einander ſchon gegenwärtig 
mit einer Genauigkeit befannt find, welche die Genauigkeit aller trigonometri- 
Er Meſſungen von Entfernungsverhältnifien jelbft auf der Erde weit hinter 

äßt. 


6* 


84 Deutiche Rundicau. 


Wir find ſomit auch noch mit viel größerer Sicherheit, als wir auf ber 
Erde aus den trigonometrifhen Mefjungen von den Endpunkten einer hinreichend 
großen Standlinie das Verhältniß der Entfernung eines Himmelskörpers zu 
den Dimenfionen der Erde zu bejtimmen im Stande find, in der Lage, aus dem 
Refultate einer jolchen einzelnen Meffung des Abftandes irgend eines Planeten 
von der Erde das Gejammtverhältnig zwiſchen den Entfernungsmaßen des 
ganzen Planetentyftems und den Dimenfionen de3 Erdkörpers zu bejtimmen. 

Natürlich werden wir in Folge der oben exrörterten Genauigfeitsverhältniffe 
hierzu die trigonometriichen oder parallaftiichen Beftimmungen des Abjtandes 
desjenigen Planeten, der der Erde am nädjten kommen Tann, nämlid) der 
Venus, und zwar zur Zeit ihrer größten Erdnähe wählen. Die kürzeſt mögliche 
Entfernung der Venus von der Erde beträgt etwa 26 Hundertel oder etwas 
mehr al3 4 der mittleren Entfernung der Sonne von der Erde. Der Winkel, 
unter welchem zur Zeit diefer kürzeſten Entfernung von der Venus aus der 
Halbmefjer des Aequators erjcheint, wird etwa 334 Gecunden und die ent- 
iprechende parallaktiſche Verſchiebung, welche der Ort der Venus am Himmel 
für die Standlinie von Greenwich zum Gap der guten Hoffnung erfährt, wird 
fomit nahezu 50 Secunden betragen, jodaß, wenn e3 gelänge, den Unterjchied 
der Richtungen von Greenwich) und von der Gapftadt nad) der Venus zur Zeit 
ihrer größten Erdnähe mit der Genauigkeit von einem Zehntel der Secunde zu 
beftimmen, das Verhältniß des Abftandes der Venus zu den irdiſchen Maß— 
einheiten etwa bi3 auf „4, genau ermittelt jein würde. Natürlich würden hier- 
durch, da das Verhältnig des beobachteten fürzeften Abjtandes der Venus von 
der Erde zu allen andern Dimenjionen des Planetenſyſtems bis auf verſchwin— 
dend Kleine Fehler richtig beftimmt ift, auch die Sonnenentfernung und alle 
übrigen Entfernungen im Planetenſyſtem mit derjelben verhältnigmäßigen Ge— 
nauigfeit beſtimmt fein. 

Leider ift die Venus zur Zeit diejes kürzeſten Abftandes von der Erde nur jehr 
jelten für die Erde fihtbar, weil fie um dieje Zeit an denjenigen Stellen ihrer 
Bahn ſich befindet, welche zwijchen der Sonne und der Erdbahn liegen, ſodaß 
fie im Allgemeinen bei dem Durchgange durch dieje Erdnähe in Folge der dif- 
fujen Erleuchtung der atmojphäriichen Luft durch die Sonnenjtrahlen und in 
Folge des Umſtandes, daß jie der Erde in diejen Zeiten höchſtens eine ſehr 
ihmale Sichel ihrer von der Sonne beleuchteten Hälfte zumendet, meiftens un- 
fihtbar bleibt. In denjenigen Fällen aber, in denen der Planet fich zur Zeit der 
Erdnähe nicht jcheinbar über oder unter der Sonne, jondern gerade in der Nähe 
der Durchſchnittslinie ſeiner Bahnebene mit der Erdbahnebene befindet, und 
hierbei eine der von der Erde zu irgend welchen Punkten der leuchtenden 
Sonnenſcheibe gezogenen Gelichtslinien paſſirt, wird Venus, während fie 
alsdann uns nur die von der Sonne gar nicht beleuchtete Fläche zumwendet, ala 
dunkle Scheibe vor den entiprechenden Stellen der Sonnenſcheibe ſichtbar. 
Diefe Vorübergänge finden in derartiger Folge ftatt, daß immer zwei in 
8 Jahren aufeinanderfolgen, von denen der eine nördlich, der andre ſüdlich von 
dem Mittelpuntt der Sonnenſcheibe vor fi geht, und daß dieje zufammen- 


Geihichtliche Darlegung der Bedeutung der Vorübergänge der Venus u. |. w. 85 


gehörigen Phänomenpaare fi) aladann in abwechjelnden Intervallen von 1131 
und 1293 Jahren wiederholen, 3. B. in folgender Reihe von Epochen: 

December 1631 

December 1639 

uni 1761 

Juni 1769 

December 1874 

December 1882 

Juni 2004 

Juni 2012. 
Dieſe Seltenheit des wichtigen Phänomens ſcheint daſſelbe eines großen Theiles 
ſeiner Vorzüge für die Löſung der in Rede ſtehenden Aufgabe zu berauben; 
denn es iſt eine wichtige Lehre der Meßwiſſenſchaften, daß durch die öftere 
Wiederholung einer und derſelben Meſſung zu verſchiedenen Zeitpunkten be— 
deutende Verſtärkungen der Sicherheit der Endreſultate gewonnen werden, indem 
durch ſolche unabhängige Wiederholungen die Wahrſcheinlichkeit vermehrt wird, 
daß unter den undermeidlichen Einflüffen der zahlreichen jogenannten zufälligen 
Fehler einander entgegenwirkende auftreten. 

Hiernach würden wir vorziehen müffen, Venus nicht blos in ihrer größten 
Erdnähe, jondern auch in jolchen Punkten ihrer Bahn zu beobachten, in welchen 
fie und immer noch erheblich näher ift, als irgend ein andrer Planet, in welchen 
fie aber zugleich einfachere umd in dfterer Wiederkehr zu erfüllende Bedingungen 
der Sichtbarkeit darbietet. In joldhen Punkten der Venusbahn, in welchen der 
Planet uns noch möglichft nahe ift aber doch hinreichend weit von der Sonne 
abfteht, um ſelbſt für geringe optiſche Hülfsmittel und jelbft neben zahlreichen 
lichtſchwächeren Firfternen ſichtbar zu fein, ift die Entfernung der Venus von 
der Erde nicht Kleiner ala drei Zehntel der Halbare der Erdbahn, während die 
Heinjte Erdnähe, in welche der Planet Mars zu wiederholten Malen während 
eines Jahrhunderts gelangen kann, 38 Hundertel derjelben Maßeinheit beträgt. 
Immer nod würde aljo die Beobachtung der Venus in denjenigen Punkten 
ihrer Bahn, in welchen fie ung näher ift als irgend ein andrer Planet und in 
melden jie doch alljährlid) bequem gejehen und ihrer Lage nad) mit benad)- 
barten Fixſternen verglichen werden kann, das günftigfte Hilfsmittel zur Löſung 
unjrer Aufgabe bilden, wenn nicht der Uebelftand hinzuträte, daß in jolchen 
Fällen Venus fich meiftens ziemlich nahe dem Horizonte befindet, und daß jomit 
bon der unregelmäßigen Wärmemiſchung unſrer atmoſphäriſchen Luft die 
Meſſungen ftärkere Beeinträhhtigungen erfahren, als für die geforderte Genauig— 
feıt diefer Beftimmungen wünjchenswerth ift. Immerhin würden ſich in grö- 
Beren Höhen bei Tage ausgeführte Mefjungen der Lage der Venus zu helleren 
Firfternen, angeftellt an jehr weit voneinander entfernten Punkten der Erd— 
oberfläche, in den uns nächſten Theilen ihrer Bahn vortheilhaft verwenden 
laffen, umſomehr als dann die gleichzeitige Sichtbarkeit der Venus und benach— 
barter Fixſterne, welche leteren von der Verjchiedenheit der Standorte auf der 
Erdoberfläche wegen ihrer enormen Entfernung feinerlei parallaktiicde Einwir- 
kungen mehr erfahren, uns die abjolute parallaktiiche Einwirkung der Verſchie— 


86 Deutihe Rundſchau. 


denheit der Standorte auf den jcheinbaren Ort der Venus erkennbar machen 
würde, während zur Zeit der Vorübergänge der Venus vor der Sonnenfcheibe 
ihr relativer Ort innerhalb der leßteren, von verſchiedenen Standorten aus ge- 
jehen, nicht um die abjolute parallaktiſche Wirkung, fondern nur um die Dif- 
ferenz der parallaftiichen Wirkung auf den Planeten und auf der Sonne ver- 
ſchoben erjcheinen wird. 

Dem ungeachtet ift-der Vorzug, den die jogenannten Durchgänge der Venus 
für die Beftimmung de3 Verhältniffes der irdiſchen und der himmlischen Ent- 
fernunggmaße gewähren, ein ganz außerordentlicher und jo wenig durch Beobach— 
tungen in irgend einer andern Stellung der Venus oder eined andern Planeten 
zu erjeßerygdaß die Aftronomen verpflichtet find, bei der jäcularen Wiederkehr 
diejer Phänomene das Aeußerfte an ihre möglichft vollftändige und forgfältige 
Ausnutzung zu jeßen. 

Zwar werden die Derter der Venus gegen Mittelpunkt und Ränder der 
hellen Sonnenſcheibe, von zwei Punkten der Erdoberfläche aus gejehen, deren 
Abftand gleich dem Halbmeijer des Erdäquators ift, höchftens um 24—25 Se- 
cunden verichieden ericheinen können, während die entiprechenden Ortsverſchieden— 
heiten der Venus gegen benachbarte Firfterne in andern noch hinreichend günftigen 
Punkten ihrer Bahn, in denen fie öfter gejehen werden kann, bis 30 Secunden 
und die des Mars gegen benachbarte irfterne in feiner größten Erdnähe auch 
noch etwa 25 Secunden betragen werden. Aber jener geringere Winfelbetrag 
der relativen parallaktiſchen Verfchiebung der Venus innerhalb der hellen Son- 
nenjcheibe wird dafür durch correfpondirende Mefjungen von möglichft weit 
von einander abjtehenden Standorten auf der Erdoberfläche mit viel größerer 
Sicherheit beftimmbar fein, al3 irgend eine andere Winkelmeſſung folder parallat- 
tiſcher Wirkungen zu erreichen geftattet. Gerade bei correfpondirenden Meſſun— 
gen, die möglichjt gleichzeitig an tweit entlegenen Punkten der Erdoberfläche 
angeftellt werden müfjen, bietet e8 die größten Schwierigkeiten, die Meſſungs— 
inftrumente und ihre Handhabung jo völlig gleich zu machen, daß nicht zu den 
parallaktiſchen Verjchiedenheiten, welche durch die Verfchiedenheit der Standorte 
entftehen, noch höchſt merkliche Verjchiedenheiten Hinzutreten, welde nur aus 
den Bejonderheiten der Ausführung der Meffungen hervorgehen und natürlich 
die Zuverläjfigkeit der parallaftiichen Ermittlungen höchft weſentlich trüben. 

Schon der erfte Aftronom, welcher auf die Vorzüglichkeit der Venusdurch— 
gänge für die Beltimmung der Sonnenentfernung aufmerkſam madte, Edmund 
Halley, hob hervor, daß durch die bloße Beobachtung der Zeitpunfte, in welchen 
die dunkle Venusſcheibe jih mit der hellen Sonnenjcheibe berühre, mit einer Ge— 
nauigfeit, die nur von der Schärfe des beftbewaffneten Sehens, aber von feinem 
andern Meßinftrument und auch von Eleinen Fehlern in den Angaben der zeitme): 
jenden Inſtrumente nur in verhältnigmäßig geringem Grade abhängig ſei, Wintel- 
meljungen an den entlegenften Beobachtungsörtern gewonnen werden könnten, deren 
Genauigkeit durch keinerlei noch jo feine Meſſungen mit eingetheilten Kreijen oder 
mit Mikrometerſchrauben erreicht werden könne. Halley entgingen hierbei allerdings, 
ebenjo wie den meiften Ajtronomen, welche im vorigen Jahrhunderte die Durch— 
gänge der Venus beobachteten, in einer durch die damalige Jugend der feineren 


Gefchichtliche Darlegung der Bedeutung der Borübergänge ber Venus u. |. w. 87 


optiſchen Technik erflärlichen Weiſe, die Bedeutung gewiſſer Eigenthümlichkeiten 
der Fernröhre, durch welche in den Zeitpunkten der Berührung der dunklen 
Benusfcheibe mit der hellen Sonnenjcheibe merkliche Beobachtungsfehler hervor— 
gerufen werden können. 

In der That find die Verjchiedenheiten der Leiftungen der damaligen 
undollfommenen Fernröhre in Verbindung mit der Unficherheit der Beftim- 
mungen der Lage einzelner damals gewählter wichtiger Stationen auf der Erd— 
oberfläche die Urſache geworden, daß die Beobachtungen de3 vorigen Jahr— 
hundert3, wie e3 ſcheint, nur zu einer ziemlich rohen Beltimmung der Sonnen- 
parallare geführt haben. Mit der jhärferen Kritik, mit welcher die gegenwärtige 
Beobachtungskunſt aud) die Leiftungen der beiten Fernröhre unterfudht, werden 
bei dem bevorftehenden Phänomen diejer Art Fehler de3 oben erörterten Cha- 
rakters auf ein verſchwindend Fleines Maß eingefchränkt werden, und zwar 
dadurch, daß alle Fernröhre, die an correfpondirenden Stationen zur Beobach— 
tung der Berührung von Venus und Sonnenjcheibe dienen jollen, vorher jorg- 
fältig miteinander verglichen werden, indem durch bejondere Apparate der 
Vorübergang einer dunklen Scheibe vor einer hellen Scheibe in möglichft den— 
jelben Berhältniffen, wie fie bei dem Venusdurchgang ſelbſt eintreten werden, 
künſtlich dargeftellt, und die abjoluten und relativen Fehler, welche die ein- 
zelnen Fernröhre bei diefer Nahahmung des Phänomens zeigen, Scharf genug 
ermittelt werden, um jpäter bei der wirklichen Beobachtung in Rechnung ge- 
braht erden zu können. Uebrigens wird es bei den Venusdurchgängen des 
gegenwärtigen Jahrhundert3 vorausfichtlic auch gelingen, gewifje mikrometriſche 
Mefjungsmittel, die fogenannten Heliometer, welche gerade auf Phänomene 
ſolcher Art in jehr günftiger Weife anwendbar find, nach den jorgfältigiten vor- 
berigen Vergleihungen mit Vortheil anzuwenden. 

Endlich aber bietet die Bejonderheit der Venusdurchgänge, nämlich die 
Projection des Planeten auf die hellfte natürliche Lichtquelle, welche in den 
Heinjten Zeittheilen ſchon photographiiche Wirkungen ausübt, die günftigft denk— 
baren Verhältniffe für die Anwendung der Photographie zu völlig objectiven, 
von Beobadhtungsfehlern und Fehlern der optiichen Apparate faſt vollftändig 
zu befreienden Feftlegungen der Verſchiedenheiten, in welder fi das Durch— 
gangsphänomen von den entlegenjten Punkten der Erdoberfläche aus darftellen 
wird. Nimmt man nämlid an einer Hinreichenden Zahl von Stationen wäh— 
und der 4 bis 5 Stunden betragenden Dauer de3 Phänomens zahlreiche 
photographiiche Platten auf, jo kann die mit völlig gleihartigen Mefjungs- 
mitteln nachher in Ruhe auszuführende Mefjung der nad) Beobachtungs— 
zeit und Beobachtungsort verichiedenen Lage der Venus innerhalb der Sonnen- 
ſcheibe zu einer ſolchen Beftimmung der Venusparallaxe und jomit der gefammten 
darauf zu begründenden Maßverhältniſſe führen, welche bei jorgfältiger kri— 
tiſcher Unterfuhung und Feftftellung des wahrjcheinlichften Werthes, unabhängig 
von jeder Erregung des Augenblids und jeder Verſchiedenheit des Geſchickes 
und der Umficht der Beobachter vielleicht nicht ihres Gleichen haben kann. 

63 wird 3. B. Venus, von den füdlichften für die Beobachtungen taug- 
lihen Stationen, den Kerguelen- oder den Macdonaldsinfeln aus gejehen, zur 


88 Deutſche Rundſchau. 


Zeit ihres kürzeſten Abſtandes von dem Mittelpunkt der Sonnenſcheibe etwa 
41 Secunden nördlicher erſcheinen, als von den am weiteſten nördlich gelegenen 
noch hinreichend tauglichen Beobachtungsſtationen. Gelingt es nun durch das 
Zuſammenwirken der Beobachtungen der Berührungszeiten von Venusſcheibe 
und Sonnenſcheibe mit mikrometriſchen Meſſungen und mit Vergleichungen 
der von den verſchiedenen Stationen aus aufgenommenen Photographien dieſen 
auf 41 Secunden hypothetiſch berechneten Abſtand ſo genau zu beſtimmen, daß 
der noch mögliche unbekannte Fehler des Endreſultates aller; Beobachtungen 
3 bis 4 Hundertel der Bogenſecunde nicht überfteigt, dann ift das Verhältniß 
der Entfernung der Venus von der Erde zu der irdiſchen Maßeinheit, welche 
der Beftimmung der Abftände der einzelnen Stationen von einander zu Grunde 
gelegt twird, etwa bis auf „un ſeines Werthes befannt und hierdurch beiläufig 
für da3 nächſte Jahrhundert die Grenze erreicht, welche für eine möglichft er- 
ſchöpfende Erledigung zahlreiher andrer Aufgaben in der nächften Zeit dringendft 
gefordert wird, 

Das oben unter No. 2 (©. 75) aufgeführte Verfahren der Parallaren- 
Beltimmung dur) Benutzung der Drehung der Erde zum Transport eines und 
deſſelben Beobadjter3 don einem Ende einer trigonometriſchen Standlinie zum 
andern ift bei einem Phänomen, wie da3 vorliegende, nicht mit Vortheil anwend— 
bar, weil die beſchränkte Zeitdauer de3 Durchganges die Größe der während 
defjelben zurückzulegenden Ortsveränderung des Beobachters einjchräntt. In— 
dejjen werden die auf jeder einzelnen Beobachtungs-Station durch die Ortöver- 
änderung des Beobachters mit der Drehung der Erde eintretenden jcheinbaren 
Bewegungen der Venus auf der Sonnenſcheibe ebenfalls mit in Rechnung 
gezogen werden müſſen und auch ihrerſeits Beiträge zur Löfung der Aufgabe 
liefern. 

Eine bejondere Gunft für die Ajtronomen liegt in dem paarweijen nur 
durh 8 Jahre getrennten Eintreten der ſonſt im Allgemeinen nur in Jahr: 
hunderten twiederfehrenden Venusdurchgänge. Die erfte diefer Ztwillingserjchei- 
nungen giebt der Aftronomie de3 Jahrhunderts die einzige ausreichende Ge- 
legenheit zur vollen Erprobung der jedesmaligen neuen Meffungsmethoden, 
welche ihr von der gefammten wiſſenſchaftlichen Technik des Zeitalterd darge- 
boten werden, und die zweite wird auf Grund aller hierbei gefammelten Er— 
fahrungen die möglichft vollfommene Ausnutzung der wichtigen Conftellation 
erreichen Lafjen. 


Stanzöfifhe Zuflände und Engliſche Deobacter. 
Don 
Profeſſor Karl Hillebrand in Florenz. 


— — 


(E. Bulwer, Lord Lytton: „The Parisians,“ 4 vol. Trois-Etoiles: 


I. 


Lieft man die engliichen Zeitungen und Zeitjchriften mit einiger Negel- 
mäßigfeit, jo kann Ginem die auffallende Thatſache nicht entgehen, daß die 
franzöſiſchen Berhältniffe darin einen weit größeren und hervorcagenderen Pla 
einnehmen, als die des ganzen übrigen Feſtlandes. Dean fragt fi) dann wohl, 
worin diejes lebhaftere Intereſſe an Frankreich feinen Grund hat, da doc das 
ewige Einerlei der franzöſiſchen Geichichte jeit nahezu einem Jahrhundert Fo 
ganz dazu angethan jcheint, die Aufmerkjamkeit der Zufchauer zu ermüden, die 
Engländer aber weder durch Blutsverwandtichaft, noch durch Gemeinſamkeit der 
Intereſſen, noch auch im Grunde durch befonders lebhafte Sympathie mit Cha- 
rafter oder Temperament ihrer Nachbarn jenjeit3 des Ganal3 auf diefe hinge— 
twiefen find. Wie fommt’3, daß „Times“, „Daily News“ und „Pal Mall 
Gazette”, um nur die drei vornehmften Organe der Tagespreffe zu nennen, all- 
morgentlic” lange Spalten mit telegraphiichen Berichten über die Berfailler 
Kammerfibungen, ja, über Parijer Leitartikel bringen, während 3. B. die ge- 
jeßgeberifche Umwandlung Deutjchlands von 1867—1873, vielleicht eine der be- 
deutendften Evolutionen der Weltgejchichte, nirgends eingehend beiprochen, ja 
faum vorübergehend erwähnt worden? Denkt man jedod) einen Augenblic über 
die Sache na), jo wird man bald eine Menge von Erklärungsgründen ent- 
dedfen, deren Einer ſchon hinreichte, und welche zufammengenommen die auf: 
fallende Erſcheinung als eine ganz natürliche Hinftellen. Und da müfjen wir 
denn, um gerecht zu fein, vor Allem die Natur jelber des franzöſiſchen Geiſtes 
und Wejens nennen und mit Julian Schmidt wiederholen: „Es ift wahrlich 
„nicht ſchwer, die Fehler diejer Liebenswürdigen Nation herauszufinden ; ſchwer 
„iſt es aber, fie nicht zu lieben, wenn man ſich etwas ernftlicher mit ihr be- 
„ſchäftigt.“ Auch können die ferneren Formen, mit welchen NRaturanlage den 


90 Deutſche Rundſchau. 


Franzoſen ausgeſtattet und die ein alter Wohlſtand ihm zu pflegen erlaubt hat, 
dem ſo ſtreng auf äußere Sitte haltenden Britten nur wohlthuend ſein, wenn 
fie auch ſeinem undemonſtrativen Sinne manchmal etwas übertrieben, ja ſogar 
ein klein wenig lächerlich vorkommen mögen. Der dramatiſche Charakter der 
franzöſiſchen Zeitgeſchichte, die ſtets nur vierte Aufzüge zu haben ſcheint und, 
gleich gewiſſen modernen Schauſpielen, gerade wenn die Löſung unabwendbar 
ſcheint, den Knoten immer wieder von Neuem ſchürzt, die Kunft der Inſcenirung 
und die ſchöne Diction der Spieler, welche nie fehlen und dem gerade aufge- 
führten Stüde, jo verbraucht auch Gegenftand, Grundgedanke, ja Situationen 
fein mögen, ftet3 neue Anziehungskraft leihen; die verwandte, leichtverftändliche 
Sprache, die geographiihe Nähe — ijt doc) Paris jo nahe ala Edinburg — 
Alles das trägt dazu bei, die Neugierde des englifchen Publicums für franzöft- 
ſche Dinge rege zu halten. 

Dazu kommt aber noch ein Anderes, mächtig Bejtimmendes: England und 
Frankreich find jeit faft einem YJahrtaufend in ununterbrochner Beziehung zu 
einander geblieben. Krieg und Belit führte den Inſelbewohner Jahrhunderte 
lang in das ſchöne Land. Sprade, Literatur, politijches Leben ftanden, 
wenigftens wa3 die Form anlangt, unter vorwiegend franzöſiſchem Einfluß jeit 
ihrem GEntftehen. Auch ſpäter no, nad) dem endlichen Sieg des ſächſiſchen 
Glementes im Inſelreich, dauerte der bald feindlihe, bald freundliche Verkehr 
fort. Die Dynaftien beider Länder im 17. Jahrhundert waren enge ver= 
ſchwägert, und. man weiß, wie tonangebend, tiefgreifend damals das Beilpiel 
der Höfe war. Wiederum wie zu Chaucer’3 Zeiten hatte die franzöfiiche Dicht- 
kunſt einen großen Vorjprung: auch die Männer, welche unter Königin Anna 
die englifche Literatur erneuerten und reinigten, waren von ganz franzöfiicher 
Bildung, überzeugte Bewunderer der franzöſiſchen Mufter. Bon da an ift die 
Wechſelwirkung ununterbrochen. Die englijche und franzöfiiche Aufklärung find 
enge Verbündete; die größten Geifter des Jahrhunderts, Montesquieu, Voltaire, 
wenden ihre Blide, ja ihre Schritte nad; England, ſelbſt Roufjeau verihmäht 
es nicht, dort ein Aſyl zu ſuchen, — freilih in anderer Gefinnung und mit 
weniger Nuten al3 einft Saint-Evremond. Wie Bolingbrofe, Chefterfield, 
Walpole hinwiederum jich zu halben Pariſern machten; wie jo der gejeljichaft- 
liche Verkehr mit dem literarifchen und wiſſenſchaftlichen Hand in Hand ging, 
wie die politiſche Feindſchaft an der Scheide beider Jahrhunderte England gleidh- 
jam dazu zwang, fein unmwillig Auge ftet3 auf Frankreich geheftet zu halten, — 
Alles das ift ja Jedem gegenwärtig; Alles das aber macht jene Gemeinſamkeit 
der Gultur, jenen Vorjprung namentlich der Cultur aus, welche beide Länder 
vor dem Reſte Europa’3 voraus haben; denn was war zu jener Zeit der Zu— 
ftand de3 übrigen Europa, ftaatlich, geſellſchaftlich, Literarijch, im Vergleich mit 
dem der beiden Weftländer wenn nicht eitel Barbarei oder todähnliche Lähmung. 
In andern Worten, während des 18. Jahrhunderts war der Schauplat der Welt- 
geihichte in Frankreich) und England, wie ex einft in Griechenland und Rom, in 
Italien und Deutſchland, in Spanien und den Niederlanden geweſen. Heute 
iſt ex freilich) nicht mehr dort; aber es braucht mehr als Yahrzehnte, um ein ſo 
großes Factum, wie dieſe Scenenveränderung, zu begreifen, in ſich aufzunehmen: 


Franzöſiſche Zuftände und Englifche Beobachter. 9] 


Frankreich Jah noch bi auf Corneille, ja bis auf Moliere, nad) Spanien und 
Stalien hinüber. Unſere ganze europäiſche Cultur von Heute ruht im Grunde 
noch auf der vereinten Arbeit Frankreichs und Englands im vorigen Jahr— 
hunderte, wie die der fommenden Periode wahricheinlih der Hauptſache nad 
auf der Arbeit Deutjchlands von Herder und Kant bis auf Schopenhauer 
ruhen wird. 

Merkwürdig bleibt die Verſchiedenheit der Beurtheilung und Auffaffung 
franzöfiichen Weſens in den verjchiedenen Claſſen der englifchen Gejellichaft, den 
verſchiedenen Parteien, den verjchiedenen Zeiten. Wie natürlich, fteht die ele- 
gante Welt, vor Allem der Hof, beinahe ausnahmsweiſe dem eleganten Frank— 
rei) beiwundernd gegenüber, während die Mkittelclaffen im Allgemeinen den 
leichten Nachbarn bald Mißtrauen und Neid, bald Haß und Verachtung ent- 
gegenbringen. Je nachdem nun bet dem vorwiegend politiich-geftimmten Inſel— 
volfe die höfiſch-vornehmen Kreiſe oder die puritantich- bürgerlichen Elemente 
vorherrſchen, tritt die eine oder die andere Anjchauungsweije in den Vorder— 
grund. Shafejpeare unter der proteftantifchen Elifabeth behandelt die Franzojen 
immer nur al3 große Kinder, mit der jelbftbewußten lleberlegenheit des Mannes ; 
etiva wie der Angelſachſe jpäter vom Irländer oder Hindu redet. Unter dem 
Commonwealth erreicht die nationale Antipathie ihren Höhepunkt: man fieht 
im Franzofen nur nocd den Vertreter de3 Papismus, den abergläubijchen, 
herrſchſüchtigen, gewilfenlojen Jeſuiten; wie man hundertfünfzig Jahre jpäter 
in ihm nur den Sans Gulotte, den „Halbaffen, Halbtiger” Voltaire's jehen 
will. Mit ganz anderen Augen jieht das England der Stuart’3 das Geburt3- 
land Henriettens, der Mutter, da3 Adoptiv-Vaterland Henriettens, der Tochter, 
die Heimath des Chevalier de Grammont an: die franzöfiiche Provenienz allein 
genügt ſchon al3 wirkſamſter Empfehlungsbrief; fie ift der Stempel, der einem 
Menſchen, einem Werke, einem Gedanken, wie dem Kleide, erſt Werth und 
Anerkennung verſchafft. Der Franzoſe wird als Lehrmeifter, als Mufter, als 
deal alles Defjen angejehen, was das Leben lebenswerth macht; diefem deal 
nahe zu kommen als der höchfte Ehrgeiz, während die mittleren Schichten in 
religiög-fittliher Strenge und Kurzfichtigkeit ganz Frankreich für ein Land von 
Roué's und Atheiften hält, das niedre Volt aber bei feinem ſchon gar frühe 
ausgebildeten Typus des jchäbigen, beweglichen, iiberhöflichen , harmlos = eitlen 
franzöſiſchen Haarkräuslers und Tanzmeifters bleibt, der auch allen Verſuchen 
des Demagogen ihn durch den Revolutionshelden in der Blouje zu erjeßen, 
wibderftanden hat. Nicht viel ander? aber war e3 unter der Königin Anna und 
nod unter Georg IV., nicht viel anders ift e8 heute, wo der antifranzöfiichen 
Strömung der vierziger Jahre in der Politik ſchon längft, jeit einem Jahrzehnt 
auch, durch den Hof der Zukunft begünftigt, in der Geſellſchaft, eine entgegengefeßte 
Richtung gefolgt ift. Zugleich hat fi — vielleicht zum erſten Male in fo auf: 
fallender Weile — in den Mittelclaffen eine entjchiedene Reaction zu Gunften 
Frankreichs und der franzöſiſchen Ideen geregt. Das erſte Phänomen ift leichter 
zu erklären, al3 das zweite, Doch find beide im Grunde gleich natürlich. 

Zmei Männer, und zwar — o Ironie de3 Schickſals — der Enfel des 
großen Feindes von Albion, und der lebte Träger der traditionellen antifran- 


092 Deutihe Rundſchau. 


zöfifhen Politik Großbritanniens, bewerkftelligten jenen großen Umſchwung in 
der engliſchen Politik und Gejellihaft. Napoleon IH. und Palmerfton war e3 
vorbehalten, jene entente cordiale zu verwirklichen, welche Guizot jo lange 
vergeblich angeftrebt hatte. Das Bündniß gegen Rußland, der Parijer Frieden, 
der Handelsvertrag von 1860 waren die mächtigen Inſtrumente, die gegenjeitigen 
Bejuche der Souveräne die officielle Aeußerung jenes Umſchwungs. Die dem 
Prinz-Conſorten, mit Recht oder Unrecht, beigemefjene antizengliide Haltung 
während des Krimkrieges trug nicht wenig dazu bei, die hohe Gejellihaft Eng- 
lands den deutſchen Einflüffen ab-, den franzöſiſchen zuzuwenden. Auch auf das 
Bürgerthum verfehlte die, nicht einmal eriwiejene, Thatjache ihren Eindrud nicht; 
doch war hier ebenfall3 da3 Hauptmotiv der Umwandlung ein anderes, wenn 
auch nicht jenes der äußeren Politik entnommene. Recht im Gegentheil waren 
e3 die Streitpunfte der inneren Politik, welche die Sympathien der Mittel- 
claffen mehr nad Frankreich lenkten. Die rationaliftiihe und demokratiſche 
Bewegung, welche jeit etwa fünfzehn bis zwanzig Jahren in England gegen 
Staatsreligion und Ariftofratie anfämpft und, halb unbewußt, das unter- 
brocdhene Werk der Puritaner des 18. Jahrhunderts wieder aufgenommen und 
fortgejegt hat, fand ihre Doctrin am Neinften dargeftellt, am Vollftändigften 
verwirklicht in Frankreich; man ſchloß die Augen vor dem Factum des Trans 
zöſiſchen Katholicsmus, man wollte in der Napoleoniihen Monarchie nur ein 
vorübergehendes Accidens jehen und beftand darauf, den wahren Glauben Frank— 
reichs nur in der demofratiichen und rationaliſtiſchen Doctrin der franzöfiichen 
Republicaner zu jehen, die Givilordnung, die Juftiz, die Verwaltung Frankreichs 
al3 die, wenigſtens annähernde, Verwirklichung des Gleichheits- und Laienſtaats 
der vaterländiichen Ariftofratie und Staatskirche entgegenzuftellen. Die An- 
wejenheit vieler Häupter der republicaniichen Partei in London beftärkte noch 
den Wahn. Die Form, welde der franzöfiiche Radicalismus im 19. Jahr— 
hundert hie und da angenommen — die philojophiiche Doctrine A. Comte's und 
die politiihe E. Laboulaye's — war übrigens ganz dazu angethan, die erniten, 
überzeugten, leichtgläubigen Engländer, welche die Form des franzöfiichen Radi- 
calismu3 im vorigen Jahrhunderte abgejchredt Hatte, mit diefem zu verjühnen. 
Zugleich forderte fie der in Deutjchland immer mehr auf die Spitze getriebene 
Hiltortsmus — man erlaube mir das ungefüge Wort — und die dort nod) 
blühende metaphyfiihe Speculation zu immer entjchiedenerem Widerjpruche 
heraus. Freilich fand auch die deutſche Jdee im englifchen Gelehrtenftand einen 
genialen Vorkämpfer; aber wie vereinzelt fteht doch Garlyle neben einem John 
Stuart Mill, um den ſich eine zahlloje Schaar von Jüngern drängte und dejjen 
Einfluß ſich noch immer in Preſſe und Parlament fühlbar macht! Dazu 
fommt eine nicht unbedeutende Anzahl Solder, die der politiſchen Doctrin ferne 
jtehen, wie 3. B. Dickens, aber durch Lebensgewohnheit im heiteren Frankreich, 
und verführt durch die Liebenswürdigkeit des franzöfiichen Privatmenſchen, auch 
wohl, ohne ſich's zu geftehen, durch die Bequemlichkeit einer für Alle jorgenden 
Staat3ordnung verwöhnt, eine jehr natürliche Vorliebe für die Nation und ihre 
Zuftände gewonnen haben. Die Abnahme des, oft etwas ftrengen und derben, 
aber Fräftigen und gefunden jittlichen Gefühls und Urtheils, welches einſt die 


Hranzöfiiche Zuftände und Engliiche Beobachter. 03 


Nation Eennzeichnete, trat bejonderd auffällig während des Krieges von 1870 
in der weibijchenervöjen Parteinahme für den Unterliegenden hervor, deſſen Un— 
recht man dort mit ungzerftörbarem Wahrheitsfinn zugab. Doch wer mag fid) 
unterfangen zu entjcheiden, welche Tugend die höhere ift, die herbe der Gerech— 
tigkeit oder die milde de3 Mitleidens? 

Nun ift e8 aber nicht felten, daß der Inſulaner noch weiter geht, ‘Partei 
ergreift in den innern Angelegenheiten der Nachbarn, ſich leidenschaftlich 
für oder gegen die Regierung Frankreichs erklärt, und dieje jeine Gefinnung 
im Vaterlande zu verbreiten ſucht. Nirgends, kaum in Frankreich jelber, hat 
Napoleon III. heftigere Feinde und ergebnere Freunde gehabt al3 in England. 
Die Einen ſahen in ihm nicht nur mit echt engliichem Gefühl für Rechtlichkeit 
und Sittlichkeit den Eidbrüchigen und Sittenlofen, fondern vor Allem den Ver- 
treter eines Regierungsiyftens, das eben nicht geeignet war, ihrem demokrati— 
ſchen Ideale — unter dem es doch wiederum allein möglich — Anhänger zu 
erwerben; die Andern rühmten den modernen Menjchen auf dem Throne, den 
Kenner de3 Auslandes, vor Allem Großbritanniens, an der Spite Frankreichs, 
den vorurtheilslofen Stifter de3 weltländiichen Bündniſſes und des Freihandels, 
den überzeugten Freund Englands. Wie wenig die franzöfiichen Republicaner 
an öffentlicher und privater Sittlichkeit der kaiſerlichen Regierung nachgaben, 
ſah der an der Oberfläche haftende Bli der voreingenommenen Gegner des 
Kaiſers nicht, die mit englifcher Naivität und engliihem Wahrheitsglauben die 
ganze fittlihe Phrafeologie der franzöfiihen Republicaner für baare Münze 
nahmen. Wie geringe Widerftandskraft aber die gutmüthig wohlwollende Natur 
des Kaiſers den napoleoniichen Traditionen feiner Umgebung entgegenzufeßen 
hatte, wollten die Bewunderer des Mannes ihrerjeit3 nicht einjehen, weil fie 
noch immer bei ihm einen Reſt jener Energie vorausjeßten, die einft jo Kühnes 
getvagt und vollbracht. 

63 ſteht uns frei, beide Strömungen in der jehönen oder der politiichen 
Literatur zu verfolgen, und wenn wir die Erftere vorziehen, jo ift es nicht 
allein, weil nach Ariftoteles’ viel citirtem Ausspruch die Poefie mehr Wahrheit, 
jedenfalls eine höhere Wahrheit enthält, als die thatſächliche Geſchichte, ſondern 
vor Allem, weil fie die Leidenichaft weniger anregt und herausfordert und ung 
in ruhigere Sphären verjeßt, als diejenigen find, in denen die politiichen Schrift- 
fteller Englands ſich bewegen, welche ſich in den leiten Jahren mit Frankreich 
beihäftigt und meift auf's Heftigſte nicht nur für die Befiegten gegen die Sieger 
von Sedan, jondern auch für die Republik, ja die Commune gegen das Staijer- 
reich Partei ergriffen. Aber auch die engliichen Dichter und Romanſchriftſteller 
haben ſich vielfach mit dem Nachbarlande abgegeben. Am Bejten Tannte, liebte 
und durchſchaute e8 Thaderay; mehr auf der Oberfläche blieb, feiner Gewohn- 
heit gemäß, Charles Didens, deſſen Beobachtung weniger auf den Grund- 
charakter und die Weltanſchauung der Menjchen, als auf ihre Sitten und Eigen- 
heiten (oddities) zu gehen pflegte. Beide reichen aber jchon in frühere Jahre 
zurüd. Unter den jet lebenden Romanjchriftitellern hat der — oder vielmehr 
die — Bielgelefenfte, wenn aud nicht Höchftgeihäßte, vielfah Frankreich zum 
Schauplat, die Franzojen zu Helden ihrer phantaſtiſchen Erzählungen gewählt; 


04 Deutſche Rundſchau. 


doch beruht das Alles eben nur auf Phantaſie, die Beobachtung hat damit gar 
Nichts zu thun. Vielleicht auch hat die ungemeſſene Bewunderung alles Fran— 
zöſiſchen die Augen der fruchtbaren faſhionablen Schriftſtellerin geblendet, aber ihr 
Frankreich hat mit dem wirklichen abſolut Nichts gemein und kann deshalb füglich 
hier unberückſichtigt bleiben. Dagegen liegen vor uns zwei Werke, die, beide 
voll der wärmſten Sympathie für Frankreich und mit der genaueſten Kenntniß 
der Verhältniffe, jene zwei Richtungen der engliſchen Meinung in Bezug auf 
das Nachbarland, Elar veranjichauliden. Eines der drei pofthumen Werke Bul- 
wer’3, „the Parisians“, giebt uns eine Schilderung der politifchen und 
jocialen Zuftände Frankreichs unmittelbar vor Ausbruch des Krieges. Herr 
Trois-Etoiles, — ein Pjeudonym Grenville-Mtoret’3, des geiftreihen Schilderers 
deutſcher und franzöfiicher Dinge in der „Pall Mall Gazette”, — führt una 
in die fünfziger Jahre zurüd. Sein Roman, der im Ton und der anti=im= 
perialiftiihen Parteiftellung Kinglake's Geſchichtswerke ähnelt, jchließt ich alfo 
auch der Zeit nach dem berühmten „Krimfriege“ an. „The Member for Paris‘ 
it das Werk eines äußerft begabten Schriftftellers und eines jchärferen Beob- 
achters, eines Sachkundigeren ala Bulmwer, der hingegen wiederum die höhere 
Bildung, den weiteren Gefichtäfreis, die humanere Gefinnung für fi) hat. Der 
alte Idealiſt führt uns unzählige Typen der Pariſer Gejellihaft vor, die troß 
ihrer idealen Allgemeinheit voller Wahrheit find; der junge Realift ftellt uns, 
mit leichter Namensveränderung, Herrn Billault und Paul de Caſſagnac, Herrn 
Thierd und Arjene Houfjaye, Jules Favre und Villemeſſant, ja jelbft Herrn 
Worth, den Damenjchneider vor und zeichnet Porträts, deren Aehnlichkeit 
Nichts zu wünſchen übrig läßt, wenn aud die Kunft des Malers nit immer 
vollendet zu nennen ıft. Während Bulwer den Strömungen der öffentlichen Mei- 
nung und den Ideen nachgeht und die herrichenden Gefinnungen der verjchie- 
denen Claſſen jhildert, bringt und Trois-Etoiles von dem Polizeilocal in’s Ge- 
fängniß, aus dem Vorzimmer des Minifterd in den Salon des Financiers, aus 
der Heitungsredaction in’3 Palais de Yuftice, aus dem gejeßgebenden Körper 
auf den fajhionabeln Mastenball, von einer Deputirtenwahl zu einem Demon- 
ftrationsbegräbnig — kurz, objchon der Knoten des Romans bei ihm fefter ge— 
ihlungen ift als bei dem profejjionellen Novelliften, beruhen jeine Scilde- 
rungen doch ausschließlicher auf wirklicher Beobachtung als die feines berühmten 
Rivalen. Beide Werke aber, da3 des philofophijchen Dichters und das des 
jatiriichen Photographen, geben zufammengehalten ein recht treues Bild weniger 
Frankreichs unterm zweiten Kaiferreiche, als der Geftalt, welche dieſes Frank— 
reich in den beften Köpfen Englands annahm. Die Engländer haben zwar im 
Allgemeinen die beneidenswerthe Gewohnheit nicht? zu generaliren, jondern das 
Einzelne als Einzelnes zu betrachten und gelten zu laſſen. Hier find aber 
denn doc beinahe alle Figuren als Typen, beinahe alle Verhältniſſe ala die 
normalen anzunehmen, und es lohnt ſich wohl der Mühe, den beiden geiſt— 
reihen Romanſchreibern zu folgen, nicht um ihre Erzählungen zu analyfiren, 
noch weniger jie äſthetiſch zu würdigen, jondern um die dichteriiche Erzählung 
gleihjam in eine Hiftorifche Studie umzufegen. Der gelehrtefte Geſchichts— 
Ichreiber des franzöſiſchen Staates kann etwas von den englifchen Zeugen lernen 


Franzöſiſche Zuftände und Engliſche Beobadht 





\ r 
I. 2 NSALI? 


In wenig Ländern find die Glafjen gejchiedner ala in dem gelöbten Lände 
bemofratiiher Gleichheit; „und jede Clafje ift“, wie Bulwer's Journaliſt meint, 
„nicht nur bereit anzuerkennen, daß alle anderen corrupt find, Jondern auch zu— 
„zugeben, daß in ihr jelber Alles nicht ganz geſund ſein könne, jo lange die an- 
„dern nicht reformirt würden”. Die Ereigniffe aber haben diejer natürlichen 
Trennung noch die unnatürliche Trennung in politifche Parteien hinzugefügt, welche 
freili hin und wieder mit den Glafjen zufammenfallen. Doc würde man fich 
den gröbften Mißgriffen ausjegen, wollte man ohne Weiteres den alten Adel 
als legitimiftiich, die Finanz und Armee al3 bonapartiftiih, den wohlhabenderen 
und angejehneren Theil der Bourgevifie, der Literatur und des Barreaus ala 
orleaniftiich, Kleinbürger und Mehrzahl der ftudirten Leute al3 gemäßigte Repu- 
blifaner, die Arbeiter endlich ala Radicale und Communiften anjehen. Solche 
Goincidenzen der jocialen und politiichen Gruppen der Nation dürfen nur mit 
größter Vorfiht und als eine ganz allgemeine Orientirung im Labyrinthe der 
franzöſiſchen Geſellſchaft feftgehalten werden. 

Die mächtige und einflußreiche, vielbeneidete Stellung des reichen Adels in 
Frankreich ift, jelbft nach achtzig Jahren der Revolution, eine Thatjache, welche 
ber Fremde, der nur in Paris, und da nur in den politifchen, Literariichen 
oder finanziellen Kreijen lebt, leicht überfieht. Nicht jo der intelligente Beobachter, 
dem die Gelegenheit geworden, dem franzöfiichen Leben wirklich näher zu treten. 
Er kennt mehr ald ein Städtchen Hautbourg, da3 die Blide nicht von dem 
Herrenſchloſſe wegwendet, wo der Duc von Hautbourg und Glairefontaine feinen 
Hof hält, und das Füllhorn feines durd) die Mitgift irgend einer Mit Guinea- 
man wiederhergeftellten Reichthumes über die dankbare Gegend ausjchüttet. 
Seine Equipagen, jeine Meute, feine Treib- und Hebjagden, jeine Gäjte und 
feine Dienerihaft find der Lieblingsgegenftand aller Unterhaltungen, und kömmt 
der Wahltag, nun jo vermag der republikaniſche Winfeladvofat und fein Freund, 
der Doctor, nichts, der Unterpräfeet und Maire wenig gegen den Herrn Herzog, 
feine Bettern, Lieferanten und Pfarrer, wenn er ander3 überhaupt fich dazu 
berablafjen will, im gejeßgebenden Körper eines Bonaparte zu fiten, oder gar 
die Unterftüßung des kaiſerlichen Herren Unterpräfeets und des Herrn Maire 
von Hautbourg anzunehmen. 

In Paris freilicy dient manches hötel entre cour et jardin jebt einem 
MWechjelagenten oder einer Feuerverſicherungsgeſellſchaft als Wohnſitz; aber wenn 
der junge verarmte Marquis de Nochebriant auch nur noch als Mtiether einer 
Manfarde in das Palais feiner Bäter ziehen kann, jo braucht er nur feine Blicke 
auf das Hötel de VBandemar gegenüber zu richten, wo das Familienwappen der 
Dandemar no prangt, aus dejjen Thorweg eben feine VBettern auf fehlerlojen 
englifchen VBollblutpferden heraus reiten, in deſſen hoben getäfelten Räumen jein 
Onkel, der alte Graf Vandemar, ihn als Familienglied nicht verleugnen wird. 
Freilich ein Voltairianer ift der alte Graf Bulwer's ebenjo wenig, als feine 
Söhne ſich durdy ein von ihnen commanditirtes Lädchen ihr Tajchengeld ver- 
mehren, oder al3 Trois-Etoiles’ vehtmäßiger Herzog von Hautbourg Republikaner 


96 Deutiche Rundichau. 


und Advokat ift. Bon dem freien Gedanken, der die franzöfiiche Ariftofratie 
de3 vorigen Jahrhunderts ehrte und adelte, ift feine Spur mehr vorhanden; 
und mit der Laterne des Diogenes dürfte man vergebens im ganzen Faubourg Saint 
Germain nad) irreligiöfen Spöttern ſuchen. Auch an’3 Geldmachen denkt nod 
gar mancher hohe Herr, aber er zieht jicherlich eine reihe Heirath mit Herrn 
Poirier’3 Tochter, eine Börjentpeculation oder eine recette generale dem mageren 
Verdienſte eines Lädchens oder der harten Arbeit de3 Forums vor. Und gar 
ein Republifaner von jechzehn Ahnen, mit Schloß und Park, ift eine Erjchei- 
nung, die moraliih durchaus unmöglih ift: man fieht, ſelbſt die beftunter- 
richteten Engländer lafjen fi) von den frühe empfangenen Eindrüden, namentlich 
von den Erinnerungen an da3 Frankreich des 18ten Jahrhunderts irre führen. 

Schöne Tugenden hat fich deshalb der alte franzöfiiche Adel doch bewahrt. 
Neben viel conventioneller Kirchengeherei und Faſterei begegnet man wol aud) 
noch öfter hier al3 in irgend einer andern Glaffe der aufrichtigen, warmen, 
hülfreihen Frömmigkeit eines jungen Raoul de Vandemar; neben dem verlebten 
Spieler und dem calculirenden Rennpferdezüchter des Jockey-Clubs dem ritter- 
lien Ehrgefühl und hohen Sinne eines Enguerrand; neben dem teiten Ge= 
wiſſen des kaiſerlichen Generalpächters der loyalen Bajallentreue Alain's de 
Rochebriant; neben der Nimrodsroheit und Ignoranz der Mehrzahl dem poli— 
tiihen Berftande und den erquifiten Formen eines Vicomte de Mauleon; vor 
allem aber und beinahe ausnahmslos dem Muth und Patriotismus, der in 
der Stunde der Gefahr die Gewohnheiten des Wohlleben3, wie die anerzogenen 
Borurtheile zu vergefien weiß, um nur dem VBaterlande zu dienen: fein Stand 
hat ſich 1870 aufopfernder, heldenmüthiger, parteilojer gezeigt al3 der alte Adel. 
„Ihre Söhne waren die Erſten unter jenen Soldaten, die nie einen Führer 
„verläumdeten, nie vor dem Tyeinde flohen; ihre Frauen waren unter den eifrigften 
„und jorglichften Wärterinnen der Ambulancen, die fie geftiftet hatten und be- 
„dienten; ihre Käufer hatten jich weit geöffnet, den Vertriebenen der Vorſtädte, 
„wie den Kranken und Verwundeten. Die Hülfe, die fie aus ihren, durch die 
„Ereigniffe beſchränkten Mitteln ohne Schau geipendet, al3 der Hunger begann, 
„würde unglaublich jcheinen, wollte man fie berechnen.“ Freilich in Friedens— 
zeiten hält fich derjelbe Adel meift für verpflichtet abjeit3 vom öffentlichen Leben 
der Nation zu ftehen. „So lange Heinrich V. lebt”, jagt Raoul de Vandemar 
zu jeinem Better Alain beim Heimfehren aus dem warmen Boudoir und der 
warmen Gejellichaft einer frommen Freundin und ihres Vertrauten, des treff- 
lichen Abbe de Vertpre, „jo lange Heinrich V. lebt, können wir feine thätigen 
Bürger, müſſen wir trauernde Zufchauer fein.” So ift denn die Enttäuſchung 
und Entjagung des legitimiftiichen Adels nur allzu natürlich. Vielfache Be— 
ziehungen zum bürgerlichen Großgrundbeſitz, der feinerlei politiſche Fahne hat 
eriveden dann wol den Gedanken an die Hoffnungslofigkeit der Partei, und 
lieber, al3 fie fid) mit den verwandten Thronräubern von 1830 verftändigen, 
wenden jie fi) dem Kaifer zu, der einmal im Belite ift und nur das in den 
Koth gefallene Scepter Frankreich aufgerafft, nicht e3 den Händen der legitimen 
Fürſten entwunden bat; ja jelbft jet, wo wiederum die Ausfichten ihres Ober: 
hauptes verſchwinden, ſchließen fie fich in ihrer Rancune gegen den jüngeren Zweig 


Franzöſiſche Zuftände und Engliihe Beobachter. 97 


der Familie und in der, Allen Beſitzenden gemeinfamen, Furcht vor der Republik 
wieder der Faijerlichen Partei an. Die Armee, in deren Officierforps zwanzig 
Jahre lang kein loyaler Name zu lejen war, füllte jich jeit 1860 mit Söhnen 
legitimiftiicher Yamilien. Wie mächtig noch immer der Einfluß diejes Adels, 
beweijen die Wahlen zum Frieden (Februar 1871); aber jo mächtig ift eben kein 
Einfluß, daß er die Revolution ungeſchehen, Heinrich V. möglich machen könnte, 
io lange er ſelbſt fich ala ein „Ufer“ betrachtet, an welches das Wrad Frank— 
wis doch am Ende antreiben müſſe, anftatt wie ein muthiger Schiffer den 
Nahen zu befteigen und zur Rettung der Schiffbrüchigen die Hand zu bieten. 
Was Wunder, wenn jich die Blicke jelbft der Treuften nad) jenen Abenteurern 
wenden, die wenigftens nie — die Hände in den Taſchen behalten? 
Auffallender Weije ſchien und jcheint der reiche napoleonijche Adel viel tveniger 
geneigt das verwegene Schiff der Bonaparte zu bejteigen. Bulwer's Herzogin 
von Tarascon, die trefflic; mit der Finanz, wie mit dem legitimiftiihen Fau— 
bourg ſteht, Trois-Etoile's Fürſt von Arcola, der fi) jogar zum Oppofitiong- 
Sandidaten hergiebt, find ganz aus dem Leben gegriffen. Eher wären ihre Ten- 
denzen orleaniſtiſch; vergefjen fie doch nicht, daß fie unter Ludwig Philipp zu- 
erit wieder angefangen Figur zu machen. Ebenſo zeigten der parlamentarijche 
Abel oder noblesse de robe, und die alt etablirte jolide Finanz, wenn aud) 
feine Fyeindjeligkeit, doch eine würdevolle Zurückhaltung unter dem zweiten Kaijer- 
reich. Diefe Kreife nun ſchildern unſere Engländer durchaus nicht, hauptſächlich 
twol, weil fie dem Romanjchriftiteller wenig Stoff bieten. Les peuples heureux 
nont pas d’histoire, jagt der Franzoſe; man könnte das Wort variiren: ruhige 
Leute haben feine Romane. Doch ift dies eine empfindliche Lücke. Lieſt man 
unſre beiden Gewährsmänner, jo jollte man glauben, e3 gäbe in Frankreich nur 
politifirende Advofaten, jervile Richter, verjimpelte Notare und ſchwindelnde 
Finanzmänner, während im Gegentheil die Mehrzahl in diefen Ständen dem 
Profeſſionsgeſchäft mit unermüdlichem Eifer, gewiſſenhafter Ordnung, vorwurfs— 
fteiefter Redlichkeit obliegt. Langweilig mögen dieje Kreije fein, aber fie machen 
doch immer ein Hauptbeftandtheil der Pariſer Gefellichaft aus, fie repräfentiren 
im Familienleben wie im Berufsleben den unverwüſtlichen, gefunden Kern Frank— 
reichs, um den herum jich immer wieder nad) den furchtbarſten Stürmen und 
Zerſtörungen neues Leben anſetzt. Auch find fie, was die Engländer nicht jehen, 
die treuften Bewahrer der großen literariichen Traditionen ihres Vaterlandes, 
welde die Tages- Literaten nur allzuoft zu vernichten drohen. Freilich haben 
ſich ſchon jeit geraumer Zeit viel unreine Elemente zugedrängt, oft gefinnungs- 
tüchtige Republikaner, wie Bulwer's Banquier Louvier, die Liberalen aus Louis 
Philippe's Zeit, in denen noch der Ha des bürgerlichen Erwerbers adliger National- 
güter Tebt und der demokratiiche Neid des Parvenu mehr als Genußjuht und 
oftentatorifche Eitelkeit die Habgier ſtachelt, meift aber moderne Gründer, von 
denen Mr. Grenville Moret in der Perſon M. Macrobe's ein jo ſprechendes 
Bild gezeichnet, weit ähnlicher jedenfalls als Bulwer’s genialer und matellofer 
imperialiftiicher Speculant M. Dupleffis. 
„M. Macrobe hatte die dee des Credit Paristen in einem glüdlidhen 
„Augenblid empfangen und verwirklicht. Am Tage nach dem Staatsjtreich von 


Teutiche Rundſchau. I, 4. 


98 Deutihe Rundichau. 


„1851 gab es eine zahlreiche und höchſt intereffante Elafje von Leuten, die früher 
„nie einen Gentime bejejlen, nun aber plößlich zu Ehren und einträglichen Wür- 
„den gelangt waren. Dieje Leute, welche eine factiöje Oppofition als Aben- 
„teurer bezeichnete, die aber die unparteiischere Geſchichte einfach Bonapartiften 
„nennt, hatten mehr Ergebenheit als Münze und waren natürli” vom leb- 
„baftejten Wunſche bejeelt, ihre Privatmittel jobald als möglich auf das Niveau 
„ihrer öffentlihen Stellung zu heben. DM. Macrobe erſchien und zeigte den 
„Weg. Da er mit den meiften Würdeträgern auf intimem Fuße jtand — war 
„er doch mit mehr als Einem die Ichattigen Pfade der Boheme gewandelt —, 
„\o fonnte er in der vertrauten Sprache der Freundſchaft andeuten, was für ein 
„überflüſſiges Ding Gapital ift, wenn man ein jo trefflicdes Erjagmittel wie 
„eine Stelle und die befonderen Informationen befißt, zu denen eine Stelle 
„verhilft. Was er jonft noch Hinzufügte, welde lodende Ausſichten er 
„bungrigen Augen vorzauberte, das find Geheimnifje, in welche fein Ingeweihter 
„dringen kann; aber die Folge war, daß eines ſchönen Morgens der Credit 
„Parisien wie ein Stern im Often aufftieg und daß es ihm jofort wohl er- 
„ging. Denn die Gejellichaft faufte Grund und Boden in Paris, und, fiehe 
„da, Dank einem merkwürdigen Zufall, jollte bald nachher ein neues Boule- 
„vard an der Stelle gebaut werden und den Preis des Bodens verfünffachen; 
„Te kaufte Schiffe, und, o Wunder, die neue Padetlinie war faum organijirt, 
„jo erhielt fie auch ſchon von der Regierung den Auftrag, die Poſt zu über- 
„nehmen, Truppen zu transportiren, unterjeeiiche Telegraphentaue zu legen; fie 
„taufte Häufer, und jofort fand die Regierung es nothwendig, jie um den dop— 
„pelten oder dreifachen Preis der Ankaufsjumme zu expropriiren, weil der Plat 
„gut für eine Kaſerne, ein Theater, eine Kirche ſchien. Es mag vielleicht be— 
„merkt twerden, daß dieje Art Geld zu machen eine etwas verdädhtige Familien— 
„ahnlichkeit mit dem veralteten Gewinnmittel falſcher Würfel hat; aber auf ſolche 
„mple Einwürfe genügt es zu antworten, daß der Zufall gar oft ein ſeltſam 
„Ding ift; daß Männer im Amt immer Gegenftand der Verläumdung find, 
„und daß, wenn wirklich ein paar hohe Beamte, die in Verbindung mit dem 
„Credit Parisien jein jollten, in einer überrajchend kurzen Zeit ganz uner- 
„klärlich reich wurden, an diefem Umftande wahrli Nichts ift, das nicht ein 
„Werk des Zufalls fein könnte,“ 

In der That war es das Bündniß jchwindelnder Börjenjpeculanten und 
glücklicher Stellenjäger, welche des Kaiſers Gutmüthigkeit und unbeſchränkte 
moraliiche Toleranz, wie das um feinen Preis zu theuer befriedigte Ruhebe— 
dürfniß der Nation ausbeutete, um fich die Taſchen zu füllen und ſich's qut 
jein zu laffen. Zum großen Theil nun gehörte der officielle Verbündete des 
Gründers dem armen Kleinadel an. Zu jtolz zum „redlichen Gewinn“, oft 
talentvoll, meift nad franzöfiiher Art mit guter Gymnafialbildung ausge: 
ftattet, beinahe immer kühn, ja tollkühn, bald Novellift, bald Feuilletoniſt, 
heute Theaterdirector, morgen Herausgeber einer furzlebigen Zeitjchrift, war er 
gewohnt, ſich nach der Dede zu jtreden, meift aber in jenen Streifen zu ver- 
tehren, wo das Tajchengeld ſich höher zu belaufen pflegt, als Mtiethe und Haus- 
halt; und war nicht untvillig, jein „Bon“ um den firen Gehalt und die hohe 


Frranzöfiiche Zuftände und Engliiche Beobachter. 90 


Würde eines Unterpräfeceten oder gar eines Präfecten anzubieten. Hier haupt- 
ſächlich reerutirte ji im Beginne des neuen Regimes die Verwaltung, wie die 
Staatsanwaltihaft aus den ehrgeizigen Familien des reichgewordenen kleinen 
Bürgerftandes, welcher durch diefe Pforte in den jo angefehenen Richterftand, 
der von jeher die zweithöchſte Stellung in der franzöſiſchen Geſellſchaft einnahm, 
zu dringen hoffte. War der heruntergeflommene Edelmann aus jehr vornehmen 
Haufe oder hatte er jelber fein Vermögen in den höchſten Streifen durchgebracht, 
gebot der juriſtiſche Parvenu über jehr viel Geld, gejellte ſich das nöthige Glüd, 
die hervorragende Begabung, die Energie des Charakters zur Scrupellofigkeit, 
dem Ehrgeize oder der Genußjucht, jo brachte man's auch wol weiter als bis 
zum Präfecten und Oberſtaatsanwalt. Bulwer hat im Worübergehen ein 
ganzes Schock jener Leute gezeichnet, die erjt in Salons, dann in falhionable 
Glub3 zu dringen gewußt, durch Heirath Millionär, durch Madame's Lieb- 
haber Gejandte geworden; oder jolcher, die, einft jocialiftiiche Advocaten, fich 
bei Zeiten befehrten und, al3 officielle Candidaten in den gejeßgebenden Körper 
geſchickt, Hohe Verwaltungsftellen erlangten; und Trois-Etoiles hat in jenem 
M. Gribaud den Typus des geweſenen procureur general, jetzigen faijerlichen 
Minifters , treffend geichildert, dem er als Seitenftüd den Typus der anderen 
Claſſe, wie er fih in Morny am Bollendetjten ausgeprägt, wol hätte gegen= 
überftellern können. 

Eine Abart des franzöfiichen Adels, zu dem auch der müßige Rentier 
bürgerliden Urſprungs, aber ererbten Vermögens gezählt werden muß, ijt der 
beiheiden bemittelte, aber unabhängige angebildete Salonsmann, der, wie Bul- 
wer's Graf Paſſy, ſechsmal jeine politifchen Ueberzeugungen twechjelt, nicht etwa 
aus Geldinterejje, jondern aus Mode und weil er jtets der Strömung folgt, 
vielleicht auch, weil er injtinctiv immer für die bejtehende Regierung Partei 
ergreift, twie jein Gegenftüc, der Vicomte de Breze, mit jeder beftehenden Re— 
gierung unzufrieden jein zu müſſen wähnt: „Sch glaube,“ jo jpottet etwas 
Ihwerfällig der englifche Freund dieſes ewigen Parijer Fyrondeurs, „wenn der 
„Erzengel Gabriel auf Paris herabjteigen und die beite Regierung für Frank— 
„reich bilden diirfte, jo die Weisheit der Seraphim erfinden könnte, es würden 
„feine zwei Jahre, Keine ſechs Monate vergehen, jo würde ſich in diefem Paris, 
„dieſem foyer des idees eine mächtige Partei bilden, darunter Sie jelber und 
„andere hommes de plume, zu Gunften einer Revolution im Intereſſe des 
„guten Herrn Satan und ce cher petit Beelzebub.“ 


III. 


Ein wichtiger Umſtand gab der Pariſer Fronde unter dem Kaiſerreich be— 
ſondre Bedeutung und Gefährlichkeit. Nie war der Bruch zwiſchen der in— 
tellectuellen und politiſchen Welt vollſtändiger geweſen. Kaum ein Name, 
deſſen die franzöſiſche Literatur des Jahrhunderts ſich rühmt, wurde je in den 
glänzenden Empfangsſälen der kaiſerlichen Miniſter gehört — vor 1870, wo 
dann freilich, nicht zum Heile des Kaiſerreichs, die ganze gelehrte Oppoſition 
eindrang und die alten Fehler luſtig von Neuem beging. Ein Merimee, 
ein Sainte-Beuve, die im Senate zu figen geruhten, find Ausnahmen, die nur 


‘ 


100 Deutiche Rundichau. 


die Regel betätigen: denn jelbjt ihr Ruhm, ihre Gelehriamteit, ihr Geift, die 
Unbeftechlichkeit ihres Charakters ſchützte ſie nicht vor rohefter Verleumdung 
Seitens de3 gebildeten Pöbels, nicht vor dem Oftracismus der literarijch-afade- 
miſchen Ariftofratie. Es ift eine große Lüde in Grenville Moret's Schilderung 
Pariſer Zuftände, daß die Kreije der höheren Gelehrſamkeit, wie die no un— 
zufriedneren des in Frankreich jo compact organilirten GYymnafiallehrercorps 
nicht dargeftellt find; die Advofaten- und Fournaliftenoppofition dagegen mehr 
ala billig betont ift. Doc kennt er, und fennzeichnet er ihn wol in wenig 
Worten, diefen Krebsſchaden des zweiten Kaiſerreichs: die Trennung zwiſchen 
geiftigem und politiihem Leben. Auch Bulwer bat jene Seite nur flüchtig, 
aber freilich mit meijterhafter Hand, berührt. Diesmal ift es nicht fein tragi- 
icher Chor, der engliihe Gentleman, der die Gefahren diefer Trennung andeutet, 
ſondern ein deutjcher Graf, den übrigens jein franzöfiicher Freund mit Recht 
fir einen ganz unleidlichen Pedanten erklärt: „Des Katjer3 Lob ift von feinem 
„großen Dichter gefungen worden. Die Berühmtheiten einer früheren Zeit 
„Tehen abfeit3, oder ziehen das Eril einer gezwungenen Unterwerfung vor; ja, 
„befämpfen ihn aus dem Aiyle an fremdem Gejtade mit ftet3 erneuerten Ge- 
„Ihoflen. Seine Regierung ift unfrucdhtbar an neuen Berühmtheiten. Die 
„wenigen, die auftauchen, ftellen fich in die Reihen jeiner Gegner. Sollte er 
„je wagen, der Preſſe und der Gejeßgebung volle Freiheit zu geben, die jo 
„unterdrücte oder jo feindliche Intelligenz würde in gedrängter Maſſe gegen 
„ihn anftürmen. Seine Anhänger find nicht dazu angethan noch geübt, ſolchen 
„Angreifern zu begegnen. Sie werden eben ſo ſchwach ſein, wie fie zmeifels- 
„ohne heftig fein werden. Und das Schlimmfte ift, daß die jo maſſenweiſe 
„gegen ihn aufftehende Intelligenz verkrüppelt und verrenkt jein wird, gleich 
„Sefangenen, die, lange in Ketten gehalten und plößlic frei geworden, ihre 
„Glieder in heftigen Sprüngen ohne bejtimmten Zweck üben. Die Leiter der 
„emancipirten Meinung Zönnen auf dieje Weile furchtbare Feinde für ben 
„Kaiſer werden; aber auch gar jchädliche und unzuverläffige Rathgeber für 
„Frankreich.“ 

Bulwer ſieht überhaupt ſehr klar, trotz ſeiner Vorliebe für Alles, was 
franzöſiſch iſt, den geiſtigen Verfall des begabten Volkes, das ſo lange den Reigen 
der Civiliſation geführt; und er ſieht ihn überall. „Ich beklage nicht ſo ſehr, 
„daß der franzöfiiche Geſchmack weniger wähleriſch iſt als früher, wol aber, 
„daß die franzöfifche Intelligenz heruntergefommen ift. Der Fall von Polyeucte 
„auf Ruy-Blas ift tief, nicht jo jehr in der Poefie der Form, al in dem 
„Werthe des Gedankens; aber der Fall von Ruy-Blas zum beften Drama des 
„Kaiſerreiches bringt uns vollitändig aus aller Poefie hinaus... Die Theater- 
„vorftellungen, denen ich beitwohnte, beweijen nur, daß das franzöfiiche Volt 
„verfümmert (is becoming dwarfed). Die Komödien, die ihm gefallen, find 
„nur amüjante Garricaturen kleiner Mäfel einer corrupten Geſellſchaft. Sie 
„bringen feine großen Typen der menſchlichen Natur mehr; ihr Wit erleuchtet 
„nicht mehr wie mit Blibesklarheit tiefe und allgemeine Wahrheiten; ihre 
„Empfindſamkeit ift nicht rein noch edel — es ift ein kränkliches und Faljches 
„Derkehren des Unreinen und Unedlen in Traveftien des Reinen und Edlen ... 


Franzöſiſche Zuftände und Engliiche Beobachter. 101 


„Alles, was wirklich noch übrig bleibt vom alten franzöfiichen Genius, ift das 
„Baudeville.” In einer jo treffenden Bemerkung wie die lete erfennt man 
ſofort den Elaren, ungetrübten Blick des wirklich Gebildeten, und ſolcher Be- 
merfungen find viele in den „Pariſians“; während die Charakterzeichnung 
Bulwer's leiht etwas Abjtractes an jich hat, das fie unwahr madt. Seine 
Schilderung der Sournaliften, eines alten wohlwollenden Kritifers, eines ſeru— 
pellojen, aber genialen und charaktervollen Ehrgeizigen und eines jungen ehr- 
geizigen Abſynthtrinkers, iſt mwahrheitsgetreu und doch leben die Leute nicht, 
während uns Grenville Moret jofort unter alte Bekannte führt, wenn er uns 
die Zeitungsichreiber der verjchiedeniten, ja feindjeligjten Parteien als gute 
Freunde beim Souper, als heitere Gollegen im jehr erträglichen Gefängniß 
zeigt. Der Feuilletonift Rameau, der „nie etivas gelejen hat, das des Studiums 
„verlohnte und hochmüthig im Verhältniß zu feiner Ignoranz ift“, ift ohne 
Zweifel ein ganz gewöhnlicher Schlag; aber die Roches, Tartines, Delormays, 
Tampons, Kerjous find mehr als ein Schlag — es find die Leute jelbit; und, 
wenn auch unabſichtlich, ift Ichon die Thatſache, fie al3 numerus darzuftellen, 
ein glüdlicher Griff. Es ift ein durchgehender Zug des Parijer Lebens, zugleich 
ein Beweis des tiefen Stepticismus, der den Grundton bildet, aber auch der 
feinen formen, der veredelten Gejelligteit, die der Tranzoje von den Vätern 
ererbt und ala ein jchönes Bedürfnig empfindet, ein Beweis auch der gründ— 
lihen Harmlofigkeit und Gutmüthigfeit, die unter der anjcheinenden Leiden— 
Ichaft ſchlummert, daß die Vertreter aller Parteien in der Preſſe, nachdem fie 
fich den Morgen, die Feder in der Hand, zur höchſten Heftigleit Hinaufgeichraubt, 
fobald das Manuſcript im Drud ift, ihre Feindſchaft vergejlen und wie Bulwer's 
alter Savarin — ein jehr ſchönes und ausdrudsvolles Eremplar des friedlichen, 
bürgerlichen, häuslich-gejelligen Yournaliften aus Louis Philipps Zeit, — und 
fein abjynthverzehrter junger Rameau, eben jo friedlich und freundſchaftlich mit 
einander verfehren, als Grenville- Moret’3 legitimiſtiſche und republikaniſche 
Stournaliften. Nur der rothe Republifaner Aldi — Blanqui? — madt eine 
Ausnahme: da die ganze Politik feiner Partei ja nur auf Haß und Neid fußt, 
fo fann er fie auch nicht wohl im Privatleben ablegen, — ein feiner Zug bei 
dem ſonſt jo parteiiih für die Nepublifaner eingenommenen Verfaſſer des 
„Member for Paris.“ 

Die Elemente, aus denen die Partei zujammengejett, erkennt aber Bulwer 
doc befjer heraus als jein jüngerer Nebenbuhler: der Arzt, der es zu feiner 
Praris bringen kann, der atheiftiiche Schriftfteller, der nichtgelefene Bände über 
Mathematik und Elektrizität geichrieben; der belgifche Jnternationalift, der pol- 
niſche Bagabund, der italieniſche Geheimbündler, der junge, vor der Zeit fittlich 
und körperlich corrumpirte Parijer Teuilletonift und Winkelpoet, vor Allen der 
ehrliche, ritterliche, irregeleitete Arbeiter, dem die jchaal-plaufibeln Ideen des 
politiijhen Rationalismus den Kopf verdreht, Alle zufammengehalten, geführt, 
ausgebeutet von dem „Revolutionsmacher, den alle Demofratien, alte wie neue, 
„tennen und der die Hebel der Voltsleidenichaften um jo jerupellojer in Be— 
„wegung jeßt, als er den Pöbel jouveräner veradhtet”. 


102 Deutſche Rundichau. 


Neben dieje mehr oder minder unreinen Glemente der Revolution num, 
die auch er vorübergehend als die wahren Schuldigen an dem immer wieder— 
fehrenden Despotismus brandmarft, ftellt nun Grenville Moret die honnete 
republifaniiche Partei, die Partei, um Namen zu nennen, der Jules Favre und 
Picard, der Garnier Pages und Cavaignac. Der practifche Engländer läßt fich 
freilich nicht von jeiner Sympathie und Bewunderung der Perjönlichkeiten zur 
Gutheigung ihrer Theorien, oder gar zur Theilung ihrer Allufionen fortreißen. 
Der Mufter-Republifaner, „einer der geachtetften Führer feiner Partei, defjen 
„anſpruchsloſe Redlichkeit und ſchlichte, unbeirrbare Principientreue ihm bei 
„Freund und Feind gleichermaßen den Namen „des ehrlichen Gerold“ einge- 
„tragen hatte”, der Vater des Helden, hat einen politiichen Glauben, deſſen 
Naivetät dem engliichen Realiſten durchaus nicht entgeht. „Die Republik, wie 
„er fie träumte, wäre ein gar jchönes Ding geweſen; leider hatte fie den Nach— 
„theil, daß fie nicht eingerichtet werden konnte, ehe Jedermann die lehte Hefe 
„von Uebel von jich ausgetworfen und in einen aufgetlärten Menjchenfreund 
„verwandelt war. ch glaube, in des würdigen Herrn republifaniichen Ver— 
„Tallungsplänen war von Zuchthäufern gar nicht die Rede, noch Weniger von 
„ſolchen Beamten wie Henker, Gensdarmen und Gefängnißwärter. Er hatte 
„eine Art über Schulen zu jprechen, welche Einem zu verjtehen gab, daß das 
„Verbrechen nur die Folge der Unwiſſenheit jei, und daß, wenn die Menjchen 
„nur erſt einmal leſen, jchreiben und rechnen könnten, auch die Nothwendigfeit 
„fir Zwangsanftalten vermieden würde.” Das Portrait des „ehrlichen Gerold“ 
ift ein Meifterjtiid und die Ironie, mit der der Maler des jo treffenden Por— 
trait3 über die politiiche Befähigung jeines Mannes lächelt, thut der Verehrung, 
die er ihm zollt, feinen Eintrag. Doc jcheint er mir Eines nicht recht ein- 
geſehen und in's Licht geſetzt zu haben, das in Frankreich nie fehlt, und nament— 
li in diejer Partei und bei diejer Art Charaktere nie fehlt, die, oft unbewußte, 
oft auch recht bewußte, theatraliiche Poje. Man jieht, auch bei Bulmwer, der 
leinerjeit3 die ganze Phrajeologie der Legitimiften fir ebenjoviel Gefühle und 
Gedanken nimmt, daß die Engländer im Begriffe find von einem Extrem zum 
andern zu gehen. Früher erichien den ruhigen, würdevollen, jchlichten, ſchweigſamen 
Inſulanern die lebhafte Gefticulation, die oratorische und überfliegende Sprache, die 
erpanfive Zurichauftellung des Enthufiasmus, de3 Gefühls, der Verachtung bei den 
lebhaften Franzoſen als eitel Komödie; heute nehmen fie das Alles für baare Münze, 
und, weit entfernt einen Mangel an Würde in der oftenfiblen Weiſe ihrer 
Nachbarn zu jehen, vermeinen fie, Alles ſei der jpontane Ausdruck des innern 
Menſchen. Nun ift aber in der That weder dad Eine noch das Andere ganz 
wahr: e3 giebt unendlich viele abjichtliche, überlegte Rollenſpieler in Frankreich, 
von denen alle Eingeweihte wiſſen, daß ſie Nollen ſpielen, die aber, da fie 
Conſequenz, Ausdauer und Geihmad in ihrem Spiel zeigen, anerkannt werden: 
und ich Fünnte da, wären die Eigennamen nicht jo unliebjam, eine nicht mehr 
unter den Lebenden weilende, angejehne Perjönlichkeit der legitimiſtiſchen Partei 
und einen noc immer einflußreichen Führer der republifaniichen Partei nennen, 
die ſogleich die Sache veranichaulichen würden. Denn die Programme diefer 
zwei Parteien, im Borübergehen jei’3 gejagt, eignen natürlich ſich am Beften 


Franzöſiſche Zuftände und Engliſche Beobachter. 103 


zur jcenifchen Aufführung und Declamation. Daneben giebt’3 aber noch eine Un— 
zahl ganz vulgärer Komödianten, vor Allem aber eine große Menge jolcher, die, 
ohne e3 zu wollen und zu willen, ſich von der Rhetorif und dem Spiel fort- 
reißen laffen. Der beſte Franzoſe, wenn er fein Steptifer ift, welche ich, als 
die wenigen zugleich Ehrlichen und Einfichtigen, ſtets ausnehme, da fie im Bar- 
terre fißen, nicht auf der Bühne ſich breit machen, — der beſte Franzoſe ift 
bei aller jeiner Aufrichtigkeit immer ein wenig Schaufpieler. Er kann's nicht 
laffen: er muß jedem feiner Gedanken, feiner Gefühle, feiner Handlungen gleich 
ein Publicum verſchaffen und er muß fie diefem Auditorium jofort in jchöner 
Faffung zeigen. Jenes Bedürfnif des Gejehenwerdens und diejer Inſtinct für den 
jchönen Schein machen ja gerade den Reiz de3 Franzoſen aus. Wenn er uns 
„taufendmal feiner Freundſchaft“ verfichert, jo lügt er nicht, wie der unbiegjame 
Engländer vergangener Zeiten, der nur das „Na, ja, nein, nein” gelten ließ, früher 
mol glauben mochte; er jagt aber auch nicht die ganz ungeſchminkte Wahrheit. Es 
ift ein erfreuliches Zeichen der fortgejchrittenen Toleranz und eines unbefangneren 
jittlichen Urtheil® bei den Engländern, daß fie nicht mehr jeden demonjtrativen 
Franzoſen ohne Weiteres für einen Schelm oder Narren erklären; aber man 
ſchießt doch auch über's Ziel, wenn man nur lauteren Enthujiasmus, gediegene 
Gefinnung, tiefgefühlte Requngen hinter jedem freundlichen oder begeifterten Worte 
des Franzoſen jteht. Seine Yebhaftigkeit darf nicht über die Natur feiner Spontanei- 
tät täufchen, welche weit jeltener aus innerſtem, durchwärmendem feuer hervor- 
gebt, al3 aus einer gewiljen Nervenerregbarfeit (impulsiveness, würde der Eng— 
länder jagen) und einer Art Kopffieber, oft auch aus dem äußerft unjchuldigen 
Wunſch zu gefallen, was denn der Fremde Alles leicht für etwas ganz Anderes 
nimmt. Die Principienreiterei num gar, wie in der republilaniichen, zum Theil 
auch in der legitimiftiichen Partei, beruht meift auf etwas nod weniger Be- 
wundernswerthem: Enge und Steifheit der ntelligenz, Furcht vor dem qu’en 
dira-t-on und die Sucht, durch catoniiche Gonjequenz zu imponiren. Dabei 
vergefjen unjere engliichen Beobachter in ihrer Nachſicht gänzlic die praktiſche 
Gefährlichkeit jener Ihönen Illuſionen und „Principien”: die Gerold haben 
nod ftet3 den Weg gebahnt für die Albı. 

In die jeitwärts jtehenden Kreife der Akademie, wie in die bittere und 
permanente, obſchon nur halblaute Oppoſition der „Univerjite“, führen uns, wie 
gejagt, beide Engländer nicht ein, vielleicht, weil fie fie weniger kennen gelernt, 
vielleiht auch, weil fie in ihnen Feine lebendigen Theile Frankreichs jehen, was 
freili fein geringer Srrthum fein würde. Die unterirdiiche Arbeit jchlechtbe- 
zahlter, verfauerter Gymnaſiallehrer, deren gejellihaftliche Stellung und pecu- 
niäre Yage ganz außer allem Berhältniffe zu ihrer geiftigen Bildung fteht, ift 
nod gefährlicher für das zweite Kaiſerreich geweſen, als der elegante Krieg, den 
die vornehmen literarifchen und nichtantaftlichen Kreife auf der Oberflähe und 
wie jpielend mit den Waffen des Witzes, der Anfpielung und der ariftofratiichen 
Geringihäßung gegen es führten. Ueberhaupt jehen unjere beiden britiichen 
Gewährsmänner das Goeiftesleben Frankreichs viel mehr in der Feuilletonlite- 
ratur des „Figaro“ und „Gaulois“, im Roman und Theater, als da, wo es 
wirklich puljirt. In der That fommen wir, bei Bulwer wie bei Trois-Etoiles, 


104 Deutjche Rundichau. 


nır gar zuviel mit dem jeune Paris zuſammen, das durch Baudelaire, P. de Saint 
Victor, Theophile Gauthier bis an die jeune France der dreißiger Jahre hin— 
aufreicht oder fi doch an fie anzufchließen behauptet. Die ganze leichte Lite— 
ratur der improvilirten Schriftiteller, die „Zribus der Abjynthtrinter,“ die im 
Abiturienteneramen durchgefallenen Witbolde, welche die Hauptftadt mit ſkan— 
dalöfen Anecdoten und Kalauern verjorgen, werden vor Allen der Reihe nad 
vorgeführt; und wer wollte leugnen, daß dieſem corrofiven Elemente eine große 
Mitihuld an dem Unglüde Frankreichs beizumefjen ift: daß ein witziger Stadt- 
Ichreiber, ohne alle Schulbildung, vom Eſtaminet und Billard in die „Literari- 
Ihe Prefje, von da in die Politik und endlich gar in den gejeßgebenden Körper 
Frankreichs kommen jollte, ift freilich charakteriſtiſch; aber um es begreiflich zu 
maden, mußten die Geichichtsjchreiber diejes tollen Vorkommniſſes auch Die 
Waffe zeigen, mittelft deren jo Unglaubliche3 möglich ward: der Witz. Hier 
haben wir ſechs Bände über Frankreich, denen ich leicht noch zwanzig andere, 
aus engliichen Federn geflofjfene, beifügen könnte, und von der franzöfiichften 
aller franzöſiſchen Gigenthümlichkeiten, dem Wie, ift auch nicht eine Spur 
wahrzunehmen, — wie e3 dem aufmerkjamften und gejcheidteften franzöfiichen 
Beobachter Englands nie gelingen will, den Humor zu entdeden, geichweige 
denn zu verſtehen und wiederzugeben. Der aller kräftigen und gefunden Speije 
entwöhnte, faſtidiöſe Gaumen des Leſers, dem ein Band, ein Ejjay, ja ein Xeit- 
artikel jchon zu viel und dem nur noch mit kurzathmigen Paragräphlein gedient 
it, die Scandalfudt, die jo gerne Hinter die Couliſſen ſieht, erklären freilich 
viel, do würde man nie die ungeheure Anzahl von literariichen Hofnarren 
und Poſſenreißern, noch weniger ihren Erfolg begreifen, brächte man nicht das 
unbejiegbare Bedürfniß des Parifer Publicums nad Wit und die Virtuojität 
bejagter Clowns in der ‘Production der verlangten Waare mit in Anſchlag. Bon 
diefem, meift platten, Wite findet man nun bei unjern Engländern ebenſowenig 
als an dem raffinixten und geichmadvollen Witze der Geiftesariftofratie. Pan 
jollte glauben, lieft man die britijchen Schilderungen, ganz Frankreich habe 
ziwanzig Jahre lang nur im gröbften Luxus gelebt: das high life mit jeinen 
Mastenbällen und Pferderennen, mit jeinem modijchen Gefallen am bric à 
brae und jeinen ebenjo fajhionablen Tyaftenpredigern war do immer nım ein 
Auswuchs. Daneben und darunter lebte noch die ächte Pariſer Gejellichait, 
mit ihren höheren Intereſſen und ihren feineren Formen. Mehr als ein dritter, 
ja vierter Stod öffnete fi) noch allwöchentlich der Elite Frankreichs; und 
Staatämänner, welche das Land regiert, Akademiker, welche die Willenjchaft 
erneuert, Edelleute, welche mit ihrem Namen und Reihthum auch die ſchönen 
Geihmactraditionen der Väter ererbt, große Künftler, deren Namen leben wer: 
den, wenn die aller gepriefenen Zeitungsjchreiber de3 Tages längft verhallt find, 
ließen ſich's nicht verdrießen, ein paar Hundert Stufen binaufzufteigen, um ein 
paar Worte mit Ebenbürtigen zu wechjeln. a jogar die Beſſeren unter den 
Regierungsfreunden juchten und erhielten Zutritt zu dieſen legten Zufluchtsftätten 
der franzöfiichen Geifter. „Wie kommen Sie hierher?” fragt Horace Gerold 
eine Mme. de Margauld, die zum Kaifer hält, und die er bei Herrn Tire 
trifft — freilich nit in einem vierten Stod, wenn wir anders den Namen 


Franzöſiſche Zuftände und Engliiche Beobachter. 105 


T—h—-i—-e—r—3 bucdftabiren dürfen. — „Ob, ich komme hierher wegen der 
„angenehmen Gejellihaft. Wenn man Leute von wahrem Werth in Kunft, 
„Literatur oder Politik (?) jehen will, muß man fie in den Oppofitionsfalons 
„aufjuchen.“ Das find aber nur flüchtige Andeutungen: dieſe Seite verdiente 
forgfältig ausgeführt zu werden in einem Gefammtbilde der Pariſer Geſellſchaft 
unter Napoleon II. 


IV. 


In der Darftellung der franzöfiichen Zuftände kann man nie zu viel Ge- 
wicht auf den jchon von der „Gejellichaft“ getrennten Mittelftand legen, aus 
welchem Armee, Lehrerftand, niedre Bureaufratie ſich hauptjähhlich ergänzen und 
aus dem, wie überall und immer, der nduftrielle, Gutöbefiter und Groß- 
händler nad) gewiſſen Transformationen hervorgeht. Ich Hob Thon hervor, 
daß der im Stillen jehr einflußreiche Lehrerftand unjeren Britten ganz ent- 
gangen ift. Auch der Beamte (l’employe), eine höchſt achtbare, Freilich durch den 
franzöfifchen Staat3mehanismus ganz zur Maſchine herabgedrüdte und von 
feiner wiſſenſchaftlichen Bildung getragene Elafje, jcheint ihnen unbefannt ge= 
blieben zu fein. Dagegen hat der engliiche Satiriker die militäriichen Gewohn— 
beiten und Attituden der Zeit in jeinem imperialiftiihen Zuavenoffizier äußerft 
lebendig geihildert. Unter der Reſtauration und der Juliregierung hatte jich 
der Typus des bramarbafirenden Galant3 in Epauletten, wie er unterm exiten 
Faijerreich geglänzt, Redouten und Weiberherzen erobert, einigermaßen verloren 
oder war doch in den Hintergrund getreten vor dem gebildeten, fleigigen Offi— 
zier aus wohlhabender und guter Familie, der in den mohlunterrichteten 
und mwohlerzogenen Prinzen des jüngeren Königshaujes jeine Marter Jah. Der 
gewejene Unteroffizier kam aber nad) dem Staatsftreiche wieder auf die Ober- 
fläche, und jelbft der eleve de Saint Cyr nahm den Ton und die Manieren 
der heraufgefommenen Kameraden an: öfter beim Abjynth als beim Studium 
anzutreffen, ftet3 bereit, den Kaifer mit dem Degen in der Hand gegen jeden 
Pékin zu vertheidigen, nöthigenfall3 bejagten Pékin zu provociren, ftet3 von 
jeinen Heldenthaten vor Sebaftopol renommirend, ſtolz auf feinen bürgerlichen 
Nriprung, als Zeichen des Verdienftes, das ihn allein jo weit gebradht, bis in 
„die Elite der Nation“ (*), ift er natürlich feſt überzeugt, feine junge Frau 
£önne ihn anjehen, ohne jich ſterblich in ihn zu verlieben und theilt er jeinen 
Tag zwiſchen dem Kaffeehaus und dem Wohnzimmer feiner Coufine, die unbe- 
greiflicher Weije ihren bourgeois de mari viel intereffanter findet, als den 
jelbftgefälligen Eijenfrejjer, der eine jo bedenkliche Familienähnlichkeit mit dem 
Rolizeidiener hat. 

Wie gejagt, gehört diefer moderne Landsknecht meift den niederen Mtittel- 
klaſſen an, die unjre beiden Gewährsmänner, namentlid) Bulwer, ſonſt etwas 
ftiefmütterlich behandelt haben. Dod) ift der gute Pochemolle im „Member for 


*), ch erinnere mich, einjt den Brief eines Oberlientenants an jeine Schweiter gelefen zu 
haben, in dem er ihr eine Kammerjungfer empfahl, weil fie die Echwefter eines jeiner Kameraden 
fei, der den Krimfeldzug mitgemad)t, „qui a porté si haut la gloire de la France“. 


106 Deutfche Rundichau. 


Paris“ ein jehr treuer Vertreter diefer liebenswürdigen Schichte des franzöſiſchen 
Volkes. Ein andrer Engländer, Dickens, der „Unnachahmliche“, Hat in feinen 
Briefen aus Boulogne einem joldhen trefflichen franzöſiſchen Bourgeois, deſſen 
Landhäuschen, mit Park, Springbrunnen, Teih, Wäldchen, Felſen, Treibhaus, 
Alles in einem halben Morgen, er zwei Sommer über bewohnte, dem immer 
heiteren Beaucourt, einen unvergängliden Denkftein gejegt. In dieje Kreiſe 
hat jih al’ die liebenswürdige Bonhomie geflüchtet, die einft der Grundzug 
des franzöfiichen Charakter? war. Zufrieden mit Wenigem, von unerjchöpf- 
licher Gefälligfeit und mafellojer Ehrlichkeit, überftolz, wenn ein Strahl von der 
Sonne irgend eines berühmten, oder nur genannten, ja nur decorirten Be— 
fannten auf ihn fällt, jelbjtgefällig, wenn er im Municipaltath oder auf der 
Geſchwornenbank jeine Stimme abgegeben, eitel, aber von jener harmloſen 
Eitelkeit, die Andere weder verwundet, noch ihnen jih allzuläftig aufdrängt, 
nicht von jener, in ſich jelbft grübelnden, an ſich jelbft bildenden wie fie der 
deutjche ndividualismus und Ich-Cultus unter und entwidelt hat, nod von 
der concentrirten, verihämten und verbitterten Eitelkeit, welche der politiiche 
und literariihe Mißerfolg jo vieler aus ihrem Gleife gezogenen Mittelmäßig- 
feiten im revolutionären Frankreich) gejät hat, immer heiter zu Scherz und 
Calembour aufgelegt, könnten die Beaucourts und Pochemolles die ficherfte 
Grundlage eines Fräftigen Staatsbaues jein, wie fie die fefte Baſis des fran- 
zöſiſchen Wohlftandes find, wenn fie ſich dazu verjtehen wollten, das Jahr 
über etwas weniger, am Entjcheidungstage etwas mehr Politik zu treiben. 
Wollte Gott, jie wären jo gut conjervativ gefinnt, wie Mr. Grenville-Mtoret 
jeinen Pariſer Handelsmann bdaritellt.e Dem ift aber leider nicht jo. Der 
Pariſer Ladenbefiter (Paul de Kock's boutiquier), der ſich, wie Here Pochemolle, 
am Lebensabend in jein Gartenhäuschen zu Meudon zurüczieht, kann's Politijiren 
nun einmal nicht lafjen; ex lieft jein Journal allmorgentlid, hat jeine Meinung 
über alle Tagesfragen, kurz er ift das deal des modernen demokratiſchen 
Bürgerd voller Gemeinjinn, öffentlichem Intereſſe, nationalem Pflichtgefühl 
und tvie die Modephrajen alle lauten. Nun will er doch auch jeine politifche Weis— 
heit zeigen, der Regierung gute Lehren geben und jofort. So ſchickt er denn 
unfehlbar — und in den größeren Provinzftädten fängt er an, genau dafjelbe 
zu thun — die Herren Jules Favre und Garnot in die Deputirtenfammer, die 
wieder ebenjo unfehlbar Herrn Ledru Rollin und Gambetta und endlich Herrn 
Delescluze und Vermorel nad ich ziehen. Nun wird's unjerm guten Poche— 
molle doc etwas zu heiß: er verkauft Nichts mehr, die Fremden bleiben aus, 
der Arbeiter wird troßig, die Emeute tobt auf der Straße. et jollte er 
jeinen Bürgermuth zeigen, jein Gewehr jchultern und auf den Platz eilen: 
jeine Gegenwart würde genügen, die Ganaille einzuſchrecken; aber jo veriteht 
der brave Patriot der Rue Saint-Denis die Birgerpflicht keineswegs; das iſt 
Sade der Polizei, dieſes verachteten Gejindeld von mouchards, agents 
provocateurs, Tyrannenſchergen und verkauften Shirren, gegen die ex jo oft 
in tugendhaften Freimuth gedonnert: die joll ihm die Straße jäubern: wozu 
wäre fie denn jonft da? Sie reicht aber nicht mehr hin: e3 gehören aud) Cuiraſ— 
fiere und Artilleriften dazu, vor Allem aber Jemand, der fie commandirt, und 


Franzöſiſche Zuftände und Engliſche Beobachter. 107 


eines ſchönen Tages ift „die Aera der Revolutionen geſchloſſen“, die Emeute 
befiegt, freilich auch die Freiheit; und Herr Pochemolle braucht wieder zehn 
Jahre, bis er fich von feinem Schreck erholt, wieder anfängt ſich für's öffent- 
lie Wohl zu interejfiren und — den alten Sreislauf von Neuem beginnt. 
Im alten Frankreich Hatte dieſe Neigung und Gewohnheit nicht viel zu jagen: 
da begnügte fich der witige Bürger bei feiner chanson; heute hat er eine 
Stimme. | 
Bulmwer hat die allgemeine Fahnenflucht der Bourgeoifie am 18. März 
1871 lebendig gemalt; wie ihm denn überhaupt die Schilderung der Ereig- 
niffe und Stimmungen weit beifer geglüct ift, als die der Charaktere. Doc) 
ift ihm ein Portrait, das des ehrlichen, halbgebildeten, fanatifirten Arbeiters 
vortrefflih gelungen. Diejes Chaos von Atheismus und Aberglauben, von 
Ritterlichkeit und Abftraction, von künſtlich hinaufgeſchraubtem Haß gegen die 
Befitenden, während er doc), der jeine 15 Fres. täglich verdient, dem Fabrik— 
arbeiter gegenüber der wahre Befitende ift, der allmälige Uebergang von der 
regelmäßigen Arbeit zur politiihen Bummelei, unter dem Eindrud der plau— 
iibeln Gemeinpläße der Volkslehrer, das Verhältnig zu der abgehärmten illegi- 
timen Lebensgefährtin — Alles das ift meifterhaft entwickelt und es veranſchau— 
licht auf's Lebendigfte jenen ächtfranzöſiſchen, ebenſo beflagenswerthen, ala 
gefährlichen Typus, dem glücklicher Weiſe noch der ebenjo ächtfranzöfiiche Typus 
de3 blind=confervativen Bauern gegenüberfteht, ohne den bei der Zerſtörungs— 
wuth der niederen Stadtbevölferung, der abwechjelnden Aufgeregtheit und Feig— 
heit der Mittelclaffen, der Theorienreiterei oder Wihelei der Gebildeten, dem 
Skepticismus der Redlichen und Einfichtigen Frankreich längft verloren wäre. Hier 
in dieſen bejchränften ruraux, die Nichts kennen als ihre unmittelbarften 
materiellen Intereſſen, deren ganze geiftige Exiſtenz in die Bande des Katholi— 
cismus geſchlagen ift, liegt der Ballaft, der das jteuerlofe Schiff immer wieder 
vom Umſchlagen rettet. Auch diefe Seite haben die beiden Engländer, Die 
freilich nur Paris ſchildern wollten, vernachläſſigt, und es ift nicht die einzige 
Lücke. So entgeht, wenigſtens dem Verfaſſer des „Member for Paris‘ die 
Exiſtenz einer wahren, tiefen, innigen Frömmigkeit in dem frivolen Paris neben 
der Mode- oder Gonventions-Religion, die freilich die Regel ift, und die er jehr 
geiſtreich analyfirt und vergegenwärtigt. Bulwer fieht jchon tiefer hier, Dank 
feinem Dichterauge, und malt mit Liebe und Genauigkeit jene von der eng— 
liſchen Weiſe jo abweichende, milde und weiche, katholiſche Religiofität, die der 
Gntwidlung des Geiftes und der Kräftigung des Willens jchädlicher fein mag 
al3 die proteftantiiche, Herz und Phantafie aber nicht, wie jene, erfältet, jon- 
dern wohlthuend erwärmt. Ein Punct endlih, und zwar ein Hauptpunct, wo 
Beide fih in ihrer Unkenntniß oder ihrem Nichtverftehen Frankreichs begegnen, 
ift das weibliche Element in Staat und Gejellichaft. 

Bulwer hat zwar verjucht aus George Sand und Daniel Stern eine 
femme de lettre en Ranges und hoher Geburt zujammenzujeßen, aber 
weder Baronne Dudevant, noch Comteſſe D’Agoult würden ji in Madame de 
Grantinesnil erkennen wollen. Seine gutmüthige, ſtets Heirathen ftiftende Ma— 
dame Savarin ift Schon mehr aus dem Leben gegriffen; ebenjo ijt die Fromme 


108 Deutiche Rundichau. 


mwohlthätige Dame aus der Rue St. Dominique nicht ohne Vorbild, aber beide 
find nur flüchtigft ſtizzirt. Dagegen find weder feine verliebte Lorette, noch 
feine Financierdtochter, weder Grenville Moret's Georgette, noch deijen Made— 
moijelle Mtacrobe franzöjiiche Frauen; es find jammt und fonders englische 
Mädchen, die nie aus ihrem Eilande herausgefommen. Umfonft juchen wir 
nad) einer wirklichen grande dame, jenem einzigen Producte der franzöſiſchen 
Geihichte und Eultur, einer Miſchung von Grazie und Würde, von Freiheit 
und Sitte, Eleganz und Natürlichkeit, der man wohl noch begegnet und die hier 
ihre Stelle finden mußte, da fie das deal diefer Gejellichaft ift; umſonſt auch 
fehen wir uns nad jenem häufigeren liebenswürdigen Typus der Geſprächs— 
virtuofin um, die gleich gewandt in Erzählung und Erwiederung, Ironie und 
Malice, im sous-entendu und in der prägnanten Schärfe des Ausdruds, 
der franzöfiihen Unterhaltung noch immer ihren eigenthümlichen Reiz giebt. 
Und nun gar die Kokette sans phrase, die banale ſowol, die den Gedanken 
faum erträgt, nicht Allen zu gefallen, vom Fürſten bis zum Schuſter, als auch 
jene andere jchlimmere, die nur Einem rückſichtslos und mit jouveräner Ver— 
achtung allen Anderen nachftellt; die Attituden- Künftlerin, der Blauftrumpf, 
die Modepuppe, die einzig und ausjchlieglih in ihrer Toilette lebt; die sol- 
lieiteuse, die e3 übernimmt ihrem Danne die Schritte zu erfparen und doch 
unabläſſig feinen Ehrgeiz ſtachelt; die einft Vergnügensſüchtige, jet Jntrigante, 
morgen Fromme; die jteiftugendhafte, correcte, aber ſtets elegante Mutter 
wohlerzogener Töchter, das ſchon ganz durchtriebene Penſionatfrüchtchen, das 
von zukünftigen Siegen träumt; die trefflihe Hausfrau, der feiner anjieht, 
wenn jie vor Abend an einfach eleganter Tafel empfängt — von der fie nie 
aufzuftehen braucht, wie die deutſche Schweiter — daß fie den ganzen Morgen 
über in Küche und Keller gewirthichaftet ; der weibliche Buchhalter, Oberfommis, 
und maire de palais des Ladenkönigs; die ſammtgekleidete, ſchmuckbedeckte 
Korette in ihrem Daumont, die vielleicht beim Nachhauſekommen ihren Herzens— 
geliebten, den entlafjenen Sträfling, findet, der fie prügelt und ihr ihr Geld ab- 
nimmt; die muntere Grijette und die verſchmitzte Zofe, — hundert andere Ge- 
ftalten der franzöſiſchen Frauenwelt glänzen durch ihre Abwejenheit, und man 
it verjucht zu denfen, daß unjern beiden Sittenmalern doc ein großes Stüd 
des Volkes, das fie ftudirt, ein Bud, mit fieben Siegeln geblieben, daß weder 
der Seherblid des denfenden Dichters, noch das forjchende Auge des Beobach— 
ter3 weiter gedrungen find, als in's öffentliche Leben. 

Das öffentliche Leben Frankreichs ift wol in der That nie eingehender 
und mit mehr Verſtändniß dargelegt worden, ala von dem engliichen Ariftofraten 
und dem engliichen Republikaner, die uns zu Führern gedient haben auf diejer 
Reife durch Paris. Wer wiſſen will, wie Frankreich regiert wurde unterm 
zweiten Kaiſerreich — wie es im Grunde immer, auch unter Herrn Guizot und 
General Cavaignac, regiert wurde, — der leje Grenville Moret: kein Geidhichts- 
ichreiber wird ihm befjere und zuverläfjigere Auskunft geben können über die 
Weiſe, wie ein napoleoniiher Minifter die Stellen bejeßte, die Polizei ge- 
brauchte, die Wahlen infcenirte, die Prefje beeinflußte, den geießgebenden Körper 
beherrichte, die Finanzen ausbeutete. Wer aber die Gejchichte des „Liberalen 


Franzöſiſche Zuftände und Engliſche Beobadter. 109 


Kaiſerreichs“, die Vor: und Nachgeſchichte des großen Krieges kennen till, der 
erwarte jte nicht von Heren Ollivier's Enthüllungen, ſuche fie nicht in Bene— 
detti'3 und Gramont's Indiscretionen, glaube fie nicht in Jules Favre's und 
Trochu's Apologien zu leſen; der nehme Bulmwer’3 „Parisians“ zur Hand; da 
wird er die jteigende Fluth jehen, die unaufhaltjam vorwärt3 drang jeit den 
1860er Goncefjionen, jeit Meriko, drohender und gebieteriicher ſeit Sadowa; er 
wird fühlen, wie jenes unjagbare Etwas, die Bewegung (l’agitation) fich der 
großen Stadt bemäcdhtigt; das Individuum Nicht? mehr ift, die nationale Leiden— 
ihaft wie losgelöft ericheint vom Einzelwillen; da wird er die Mitichuld der 
ganzen Nation, aller Parteien, aller Claſſen mit Händen greifen, und wer fie 
ihm zeigt, ift nicht verdädtig, er ift ein Freund, ein Bewunderer, ein Kenner 
der Nation, wie's immer nur wenige im Auslande geben Tann. Gerade dieje 
Berwideltheit der Träden, diejes Durcheinanderfliegen der Strömungen war ja 
das Eigenthümlidhe der Situation, macht es noch heute möglich, daß jede Par— 
tei, ohne grobe Unmwahrheit, die andre anklagen kann. Der Dichter aber fteht 
drüber; mit jihrer Hand zaubert er den lebendigen Organismus im Spiegel 
der Runft vor uns herauf, zeigt uns, was Charakter, Geift, Temperament, 
Geſchichte der Nation, was die Einzelnen, was der Zufall gethan, giebt uns 
zu verjtehen, wie und warum das hochbegabte Volk, der Selbftregierung un- 
tähig, doch die beften Regierenden nicht gewähren lafjen kann, wie es die Dupe 
jeines eignen Wibes wird und wie die Schuld der Väter ſich rächt an Kind 
und Kindeskindern. Wird es je ander werben? „Gewiſſe moralifirende Zei- 
tungen jagen uns,“ jo jpricht Bulwer's Frederic Lemercier, ein ächter Stamm- 
gaft der Boulevards, „die Parijer, ernüchtert durch das Unglück, jeien auf dem 
„Punkte, eine neue Eriftenz zu beginnen, fleißig und bedächtig zu werden, Ver— 
„gnügen und Luxus zu vderadhten und wie deutiche Profefjoren zu leben. 
„Glauben Sie fein Wort davon. Meine Meberzeugung ift, daß, was man aud) 
„Uber unjere Frivolität, unferen Leichtjinn u. |. w. unterm Kaiſerreich jagen mag, 
„wir unter jeder anderen Regierungsform diejelben fein werden: — die muthig- 
„ten, feigften, graujamften, gutmüthigſten, vernünftigften, gejcheidteften, wider: 
„ſpruchsvollſten, conjequenteften Wejen, die Jupiter auf den Rath der Venus und 
„der Grazien, de3 Mars und der Furien, je zum Vergnügen und Schreden der 
„Welt ſchuf; in einem Wort, Pariſer.“ 


Dan Sieht, dem politiichen Inſtinct und der politiſchen Einſicht gebildeter 
(Sngländer entgeht, bei aller Sympathie, da3 tieferliegende Uebel nicht, das die 
franzöſiſche Nation nicht dazu kommen läßt, eine gefunde und lebensfähige freie Re- 
gierung aufzurichten. Nichts kann fie darüber täufchen, wenn fie aud) die Schuld der 
Herrſcher noch jo ftreng zu beurtheilen gewillt find. Sie fennen heute ihr Nachbar 
Land bejjer als je, jind gerechter gegen e3 als je, und doch denken im Grunde ihrer 
Herzen die Gerechteften und Unterrichtetiten noch ebenjo über den politifchen Charak— 
ter der Nation, als der Volksinſtinct es vor Jahrhunderten that. Die dee, 
welche unſre beiden ausgezeichneten Gewährsmänner von der politiichen Be— 
tähigung der Franzoſen und von dem MWerthe ihrer ftaatlihen Einrichtungen 
und Anjchauungen geben, it feine jchmeichelhafte. Im Grunde find fie eben, 


110 Deutſche Rundſchau. 


trotz aller Sympathien für Frankreich, doch Engländer, deren politiſcher Men— 
ſchenverſtand ſich durch keine vorgefaßten Theorien beirren läßt, und die ſich, 
ſobald ſie die Sache nur einmal wirklich aus eigner Beobachtung, nicht wie 
Mill's Schüler aus Büchern und von Hörenſagen kennen, durch keinen ſchönen 
Schein täuſchen laſſen. Sie ſind aber auch Engländer im Muth und der Red— 
lichkeit, mit der fie die Wahrheit auszuſprechen wagen, ſelbſt wenn ſie mit 
ihren Neigungen collidirt, ihre Syſteme ftört. 

Auch der franzöfiiche Geift beginnt, wie man jieht, im immer tweiteren 
Kreiſen Englands nach jeinen VBorzügen und Nachtheilen gewürdigt zu werden, 
wenn ſchon das intellectuelle Organ der Engländer weniger Verftändnig für 
da3 geiftige ala für das politiiche Leben andrer Völker mitbringt. Die ganze 
philojophiich-religiöje gejellichaftliche und fittlide Weltanſchauung dagegen ift 
ſelbſt den jchärfiten Augen jenjeit3 des Canals noch unerreichlicd) geblieben. 
Man taftet auf der Oberfläche herum und meint, man berühre die Lebens- 
quelle jelber. Dazu gehört eben noch etwas Anderes als des Gelehrten 
Studien, des Beobachters helle Augen, ja als des Dichters Seherblid; es gehört 
dazu nicht nur in, jondern mit der Nation gelebt zu haben, in ihren Ideen— 
frei eingedrungen, ihre Leidenſchaften mitempfunden, in ihr den Kampf um’s 
Dafein gefochten zu haben, den Jeder auf feine Art ausfechten muß, d. h. mit 
ihr in jteter Berührung der Intereſſen wie in practijcher Mitarbeit, in Liebe 
wie in Haß gelebt zu haben. Nur Einer hat je alle diefe Bedingungen in jich 
vereinigt und nur diefem Einen ift es gelungen, die innere Seele Frankreichs 
zu malen, und ein eben jo ſprechend getreues als vollftändiges, ebenjo lebendiges 
als poetijches Gemälde des gefammten franzöfiichen Volkslebens im 19. Jahr 
hundert zu geben. Diejer Eine war Balzac, denn er war Bulwer und Gren- 
ville Moret, Idealiſt und Realift in einer Perfon; aber er hatte das franzö— 
fiihe Leben nicht nur, twie die beiden Engländer, beobadhtet und belauſcht, er 
hatte es gelebt. 


Zur Smbryologie des Vankgeſeßes. 


Von 
Ludwig Bamberger. 


Almählich, zögernd und vorfichtig gemeſſenen Schrittes beiwerfitelligt das 
Reich deutjcher Nation feinen Webergang aus dem Zuftand des Mittelalters, 
in weldhem das Jahr 1866 es vorfand, zur Ordnung eines feinen großen Auf: 
gaben angepaßten Staatsweſens. Was um Ginzelner wegen bejtand, muB 
derjenigen Ordnung weichen, die um des Ganzen willen in’s Leben zu 
treten verlangt. Ein Theil von den Hoheitörechten der Landesregierungen 
ift in den Verträgen von 1866, 1867 und 1871 übergegangen an die Ge- 
ſammtheit des Reichs. Die erfte und nächte Aufgabe des Tebteren iſt von 
Natur der Aus- und DurKbildung dieſer feſterworbenen Hoheitsrechte gewid- 
met. Ganz von jelbft erwächſt aus ſolcher Arbeit bald da, bald dort ein Streit 
um die Grenzen. Was in das neue Gebiet fallen, was dem alten gehören jol, 
wird dann zum Gegenftand des Proceſſes zwijchen deren, die dem Alten, und 
denen, die dem Neuen hold find. Jede Grenze ift ja eine ideale Linie, welche 
in's Unendliche theilbar ijt. In der Auslegung des Grenzvertrags gilt es den 
Preis davon zu tragen. Da, nad einem nicht oft genug zu wiederholenden 
Ausſpruch, Alles zurücdgeht, was nicht vorichreitet, müßte das neue Reichs— 
gebilde Beſorgniß einflößen, wenn es aus den Grenzirrungen mit feinen Geg- 
nern nicht an jeglider Stelle den bejjeren Theil davon trüge. Damit iſt 
Ihon von jelbit gejagt, daß die Grenzabftedung oft eine Grenzberichtigung und 
die Grenzberihtigung eine Grenzerweiterung zu fein berufen if. So weit die 
Hoheitsrechte ſich mit landichaftlichen Bedürfniffen deden, joll ihr Beſtand ge— 
fihert jein; jo weit fie aber mit nationalen Wohlfahrtsbedingungen zujammen- 
fallen, dürfen fie der Reichszuftändigkeit nicht vorenthalten bleiben. Wo in den 
Srundverträgen des Norddeutichen Bundes und den Verſailler Tractaten hier 
Lücken geblieben jind — und es find deren nicht wenige geblieben —, ift es 
Sade der Gntwidlung, ergänzend wenn nicht einzugreifen, doc einzuwirken. 
Manches vollzieht fich von ſelbſt durch die Wacht der eingeborenen Umstände. 
Wie unſchädlich find die Vorbehalte geworden, welche den Landesregierungen 
das Recht jelbjtändiger diplomatijcher Vertretung im Ausland gelaffen! Wo die 
Eitelkeit eines Hofes darauf hält, ſich noch diefen Yurus zu gönnen, huſchen 


112 Deutiche Rundichau. 


jeine Gejandten als blaſſe Schatten neben denen des deutſchen Reiches einher. 
Doch nicht in jeglihem Stüd macht ſich die Sache jo leicht. Wo das Hoheit3- 
recht jeine Spitze nah Innen fehrt, ift es jchärfer eingebiffen und findet 
ſchwächern Widerftand. Selbft in denjenigen Zweigen der Gejeßgebung, auf 
deren Gebiet daſſelbe rücdhaltlos dem Reichsrecht fich untertworfen, gelang es ihm 
vielfah, Gebiet zurüczuerobern durch die bloßen Einführungsverordnungen., 
denen aus zu zärtlider Schonung gegen frühere Eigenart zu viel Spielraum 
geblieben. Am jchwerften und bedeutungsreichiten geftaltet ſich dieſer Zwei— 
fampf zwiſchen Ahriman und Ormuzd auf dem Felde der Juſtizgeſetze. Hier— 
her concentriren fi alle jchlauen politiihen Berechnungen, welche auf bie 
dynaftiichen und provinzialen Eiferfüchteleien ſpeculiren, um die wichtigfte und 
wirfjamfte aller Gemeinjamkeiten in ihrer Ausbildung zu hemmen. Hier aud) 
wird ihnen das am leichteften. Die Bundesverträge haben ſich da mit Bruch: 
zahlungen begnügt und gegen diejelben Quittung gegeben — dieſer behauptet: 
für immer und Alles, jener behauptet: auf Abſchlag. Daß nur das lettre ge- 
meint jein fonnte, daß materielles Recht und Verfahren, bürrgerliches, peinliches und 
Handels-Recht fich nicht trennen laffen, daß Proceß und Organijation der Gerichte 
ein untheilbare® Ganzes jind, liegt jo jehr auf der Hand — ruhig könnte man 
dem Werk der Zeit überlafien, dieſe Nothiwendigfeiten unmiderftehlich zu beweijen, 
wenn die Zeit nicht ein jo foftbares Ding wäre und bejonders für uns im neuen Reich, 
aus folgenden zwei Gründen. Zum Erſten weil man traten muß die Ernte 
einzubringen, jo lange die Sonne jcheint. Zwar pflegt Bismard halb im 
Scherz, halb im Ernft zu jagen: „Laſſen wir doch unjren Enfeln auch noch was 
zu thun, wir brauchen doch nicht alle Geſetze zu machen.” Allein zur äußerften 
Erntezeit wird Bismard nicht mehr am Ruder fein und jchwerlich ein Kanzler 
jeines gleichen. ch denke, es gilt, bei feinen welthiftoriicehen drei Haaren jenen 
oft genannten Schopf der quten Gelegenheit jo feft und energiich an fich zu 
ziehen, wie nur immer möglid. Ein vorfichtiger Mann jagt fi): wer weiß, 
wa3 nachkommt! und gibt der Zukunft, der loſen Zahlerin, nur den unvermeid- 
lien Gredit. Aber ein Zweites jcheint mir noch wichtiger. Neben den We— 
nigen, die über dem Grreichten das zu Erreichende nicht aus dem Auge ver- 
lieren, wächſt täglich die Zahl der Vielen, die Luft haben, ſich gejättigt zu 
fühlen — weniger aus Gründen der Sade, als aus Trieb der menjchlichen 
Seele. Ganz bejonders auf dem Felde der Rechtögejeßgebung ftellt diejer 
Zug der Gedanken ſich ein, welcher mit tief ernfter, würdiger und Elugerfah- 
vener Geberde den mahnenden Finger erhebt gegen die Lodungen jener blen- 
denden Girce, der leidigen Gentralijation. Zu den jatten Leuten gehören aber 
vor allen andren die Minifter. Ich will ihnen damit nichts Böſes nadjjagen. 
Jedes Geihöpf entwickelt ſich nach der Anlage, welche Natur ihm vorgezeichnet 
bat, und zu dem Mtinifter einer Monarchie jpricht fie: „Du jollft jatt fein; 
denn wonach könnteſt du noch Appetit haben?” Dies ift ein Argument, wel- 
ches ihnen Bismard nicht vorhalten fann, denn er ift ein höfliher Mann, wie 
er mit Recht ſich rühmt. Unſer Glüd ift, daß er eben fein Minifter ift, jondern 
etwas Beſſeres. Es gereicht uns ohne Zweifel jogar zum Bortheil, daß man 
für jeine Stellung den bejonderen und vollklingenden Namen eines Kanzlers 


Zur Embryologie des Banfgejehes. 113 


zur Hand hatte. In Wahrheit ift er jenes jeltne Werkzeug der Geichichte, 
welches in Abweſenheit et gegründeter Monarchien ſich auf den Thron erhebt, 
da aber, wo e3 ſolche vorfindet, weile feinen Stützpunkt juft im die Feſtigung 
der ihm vertrauenden Monarchie verlegt. Ein ſolcher Mann war Richelieu, 
ein folder ift Bismard, in mehr als einem Punkte jenem vergleichbar. Die 
beiten Reichsminiſter werden nicht ein auseinandergelegter Kanzler fein, denn jie 
werden Minifter, d. 5. jatt jein; er aber ift ein Nimmerjatt, wie Richelieu 
einer war. Tritt Nimmerjattigkeit zur Seele eines Monarchen, jo führt fie 
zum Ueberſchlagen wie in Napoleon J.; aber in der Seele eines von feſtem mon= 
archiſchem Stamm zurüdgehaltenen Staatsmannes wirkt fie al3 das belebende 
Glement, vorab in neu begründeten Staatsweſen. Der Ahriman des deutjchen 
Reichs Hat in den Miniftern der Einzelftaaten gefährliche Verbündete, zuerjt in 
den liberalen Miniſtern die gefährlichjten. Da gilt es, jo weile zu vermitteln 
jwiichen oben und unten, altem und neuem, jo viele Opfer zu bringen, um ſich 
jelbft als die verkörperte gute Sache möglich zu erhalten, gegenüber den 
Shwäden und Kabalen der Hofkreife. Sind num gar noch die Minifter, wie 
im Juftizwejen, Männer vom Fach, To find fie von vorn herein mit einer 
Sharfjihigfeit für alle Schwierigkeiten der Uniftcation begabt, welche jeden 
Baum als einen Wald für fi) betrachtet haben will. 

So lange diejer jatte Weisheitstrieb den preußiihen Staat nicht ergriff, 
fonnte man ihm mit dev Ruhe zuiehen, welche erwartete Schaufpiele begleitet. 
Die nationale Partei im Reichstag, der Kanzler und das preußiſche Staat3- 
gewicht vereinigt waren Manns genug, den Kampf aufzunehmen. Anders ge: 
italten fich die Dinge, wenn die preußiichen Miniſter jelbjt ih von Ahriman 
angezogen fühlen, und gefährlich werden fie, wenn in Reviere einjchlagend, 
welche fi) der Eontrole des Fürſten Bismard durch ihre techniſche Beichaffen- 
heit entziehen, wenn das minifterielle Ruhebedürfniß vom fanzleriichen Bewe— 
gungstrieb nichts zu fürchten hat. Dieſe Wendung verfuchen die Dinge in der 
großen Gejeßgebungsfrage einzujchlagen, nachdem der preußiiche Juſtizminiſter 
jelbft im Unificationswert einen reſignirten Standpunkt einzunehmen erklärt 
hat, welcher zu ſolchem Poften bei joldher Aufgabe nicht paßt. Gleichzeitig 
that es ihm der preußiiche Finanzminifter beim Bankgejegentwurf in diefer 
Richtung zuvor. Mean hat jolche Anklagen, wie die hier formulixte, mit be- 
quemen Scherzen abfinden wollen, indem man ironiſch ausrief: nun ſolle ein 
Mann wie Samphaufen gar zum „Reichsfeind“ erklärt werden, weil er nichts 
von einer Reichsbank willen tolle. Gewiß, Herr Camphauſen und Herr Leon— 
hard jind feine Neichsfeinde, eben jo wenig, beinah noch weniger find es die 
bayriihen und würtembergiſchen Miniſter „Nur das Tanzen auf den Märk— 
ten‘ will ein jeglicher Atta Troll von allgemeinen Menjchheits- und Bater- 
landsaufgaben getrennt behandelt wiſſen! Hier fit die bewußte Hartköpfigkeit 
des Reſſorts, über welche Bismard von jeher jo bewegliche Klage führte. 
Merkfwürdig, daß fie ihm nicht von vorn herein ſich kenntlich machte, als der 
Finanzreſſort feine Laufgräben gegen die Reichsbank eröffnete, ihm, der dod) 
jonft ein jo jcharfes Auge für dieje ftörfame Einfeitigkeit befit! 

Manch' ein Parlamentarier oder Journalift, der ſich als bejonders Flug 

Zeutiche Kundſchau. I, 4. 8 


114 Deutſche Rundſchau. 


aufzuſpielen glaubt, hat von oben herab über die Wärme gelächelt, mit welcher 
der Gedanke einer Reichsbank vertreten wurde, indem er zu verſtehen gab: es 
jei hier mit dem bloßen lang und Sang des Wortes „Reich“ ein kindiſches 
Spiel getrieben, theil3 in naiver Begeifterung, theil3 in jchlauer Berechnung. 
Aber dieje wohlfeile Klugheit joll uns nicht irren noch kirren. Es liegt ein 
verdammt ernfter Sinn in diefem kindiſchen Spiel. Wenn das Einheitäwerf 
des Reiches nicht in dem Inneren feines organiichen Baues durch dauernde und 
mwohlthätige Inftitutionen gefeftigt twird, To ift die blos nad Außen gerichtete 
Umwallung auf die Länge weder befriedigend noch jichernd. Und wenn toir 
dem minijteriellen Schlaraffenthum geftatten, den zerjeßenden Beftrebungen des 
Centrums und der äußerften politifchen Flügel in die Hände zu arbeiten, in— 
dem fie die harmonische Durhbildung des innern Geſammtlebens aufhalten, ſo 
lafjen wir der Möglichkeit rüdläufiger Bewegung einen gefährlichen Zugang 
offen. Ganz abgejehen daher von der jadhlihen Wichtigkeit eines centralen 
Bantinftitut3 hat es einen eminent politiichen Werth, daß der Eigenwille des 
minifteriellen ‘Bartifularismus in der Bankfrage gebrochen wurde; und wir 
dürfen dies Erlebniß als ein günftiges Vorzeichen nehmen fiir das, was in der 
noch größeren Frage der Recht3-Organijation zu hoffen ift. Freilich liegen bei 
leßterer die Sachen ſchwieriger. Eine Bankhoheit gibt es wenigjtens im dyna- 
ftiichen Jargon noch nicht, und aus der Münzhoheit haben wir da3 Schädlichite 
bejeitigt. Mit der Juſtizhoheit verfteht man weniger Spaß. Aber haben wir 
nicht die Militärhoheit, die nod) ein ganz andres Ding war, dem Reich erobern 
ſehen? Es wird nur darauf ankommen, daß diejelben Machtfactoren, welche 
diejen Sieg davon getragen, ſich auch fiir die innere Organifation der friedlichen 
Reihsthätigkeit im gleihen Maße zu intereffiren beginnen, wie für die kriege— 
riſchen. In gleihem Maße? — Das wäre wol zu viel gehofft, aber auch 
nur in annähernd gleichem wiirde ſchon genügen. Irre ich nicht, To iſt der 
raſche Erfolg, welchen die jerjte Leſung des Bankgeſetzes in der Sphäre der 
Bundesregierungen erzielt Hat, dem noch rechtzeitigen Erwachen diejes Anterefjes 
am rechten Ort zuzujchreiben, ein Erwachen, um da3 ſich der von allen Seiten 
des Parlament3 andrängende Weckruf verdient gemacht hat, nicht am wenigſten 
der negative der Gentrumspartei und des im Negiren ihr jo oft verbundenen 
Abgeordneten Eugen Richter. 

Bekanntlich Hat eine jpaniihe Nonne den intereffanten Theil ihres 
Lebens bejchrieben, welchen fie während ihres embryonifchen Daſeins im 
Mutterleibe verbrachte. Der Bankgeſetzentwurf könnte fich verdient machen, 
wenn er auf gleiche Weile die Geichichte jeines Werdens bis zum Moment 
der officiellen Entbindung des Neich3fanzleramtes im Bundesrath schreiben 
wollte. Bis das gejhieht, gereicht es vielleicht zu einiger Belehrung, das zur 
erzählen, was emfiger Auscultirung zu beobachten vergönnt gewejen. Allen 
Anzeichen nad) war vom Moment der Gonception bis weit über die erjte Periode 
der Entwidelung hinaus das künftige Geſchöpf gerade jo angelegt, wie es der 
Reichstag erwartete, Erſt im Berlauf der Zeit ift die erfte Abficht der Natur 
gänzlich zu Schanden geworden. Bereit3 im December 1872 hatte das Reichs— 
fanzleramt einen Geſetz-Entwurf ausgearbeitet, welcher in gerader Linie auf die 


Zur Embryologie de3 Bankgeſetzes. 115 


Reichsbank fosging und, wie das nicht anders jein konnte, auf die Umwandlung 
der Preußiichen Bank in die für Geſammtdeutſchland. E3 war in den Motiven 
diejes Entwurf3 der Gedanke vor allen anderen ausgeſprochen: daß die öffent- 
lihe Meinung in Deutſchland einftimmig eine ſolche Inſtitution begehre, und 
anerkannt, daß diejelbe ihre untviderleglichen Gründe dafür habe. Demgemäß 
war der ganze Plan angelegt. Der Entwurf trug bereit3 die Unterjchrift des 
Reichskanzlers; dennoch ift er nie in den Bundesrath gelangt. Wo blieb er 
denn hängen? Offenbar an den Zäunen des preußiichen Finanz Minifteriums! 
Denn dieſes bildete die erſte Inſtanz, die er naturgemäß zu palfiren hatte. 
Damit jtimmt auch ganz da3 Verhalten der betreffenden Perfonen. Sowohl 
der Präfident des Reichsfanzleramtes als jein Mitarbeiter in diefem Fach, 
GR. Michaelis, haben fich ftet3 in dem Sinne geäußert, daß an ihrer Abficht 
auf Errichtung einer Reichsbank nicht zu zweifeln war. Dagegen benußte der 
preußiiche Finanzminiſter die Gelegenheit der Debatte über die Reichskaſſen— 
iheine im Frühling 1874, um das Parlament zu bedeuten, daß er feinen eignen 
perfönlichen Plan für ein Bankgeje habe, alfo offenbar abweichend von dem, 
welcher im Neich3fanzleramt bejtand. Auch machte er fein Hehl daraus, daß 
diefer Plan ſchwerlich den Beifall des Reichstags finden werde; denn, jagt er, 
vorlegen Kann ich Ihnen Schon im nächſten Herbft allerding3 einen Entwurf, aber 
ob Sie ihn annehmen tverden, das ift mir jehr zweifelhaft. Nun, er hat reblic) 
Wort gehalten; denn e3 wäre ſchwer gewejen, etwas Unannehmbareres vorzulegen, 
al3 da3 unter feiner Preſſion ausgearbeitete Project. 

Nachdem der erjte Gedanke des Reichskanzleramtes vom preußiichen Finanz— 
minifterium Zurücweifung erfahren hatte, mußten auch die - einzelnen 
tegierungen abgejchredt werden, diefem Gedanken zur Wiederaufnahme flı ver- 
helfen. Als ich im Reichstag die Behauptung aufjtellte, die bayriichen Mtinifter 
jeien der Reichsbank von vornherein hold geweſen, entledigt ſich in der Gegen- 
rede Herr Camphaujen des Einwurf mit dem inhaltslojen Sarcasmus: ich 
iheine beffer unterrichtet iiber die Dispofitionen der bayrijchen Regierung als 
er; was natürlich ja joviel heißen jollte als: ein jo hHochftehender Mtinifter müſſe 
dergleihen Angelegenheiten doch unendlich genauer kennen, al3 ein jimpler Ab- 
geordneter. Geradezu eine Verneinung des von mir Behaupteten enthielt die 
Gegenrede doch nicht. Wie dem aber jei, der Miniſter Camphauſen mag bie 
Dinge jo oder ander gewußt haben; er mag, wie wahrſcheinlich, jedenfalls für 
beffer gehalten haben, zu verſchweigen, was er wußte, immerhin bleibt e3 that- 
fählih wahr: die bayriſchen Minifter Tebten feit dev Berathung des Münz— 
gejeßes und noch zur Zeit der Berathung über die Reichskaſſenſcheine der feften 
Erwartung, daß die Reichsbank den Mittelpunkt des künftigen Geſetzes bilden 
werde, und fie dachten nicht entfernt daran, fich dem entgegenzuftellen. Es 
braucht wahrlich Keinen Zutritt zu den geheimen Berathungen der Cabinette, 
auch feine Indiscretionen aus denjelben, um jo Etwas in Erfahrung zu bringen. 
Grinnere man fich nur, wie die Dinge lagen, als in dritter Lejung über der 
Berathung des Art. 18 des Münzgeſetzes die Verhandlungen abgebrodhen wer- 
den und — jo ſchwierig und verivorren liefen die Fäden durch einander — 


bis im die lebten Tage der Seſſion vertagt bleiben mußten, damit eine Ver— 
8* 


116 Deutiche Rundſchau. 


ftändigung bereitet werden fonnte. Bayern in exjter Linie und natürlich auch 
Sadjen wollten nicht in die Unterdrüdung des Staatspapiergeldes (unter 
100-Mart-Abichnitten) einwilligen, ohne wegen der künftigen Bankgeſetzgebung 
beruhigt zu fein. Wer im Mittelpunfte der parlamentariichen Verhandlungen 
und der daraus entiprungenen Verlegenheit verkehrte, hatte reichlich Anlaß, aus 
unmittelbarfter Nähe die An- und Abjichten der Betheiligten vom Höchſtge— 
ftellten abwärts fennen zu lernen; und aus eigenen perjönlichen Willen be= 
fräftige ich meine im Reichstag aufgeftellte Behauptung: in den nach Preußen 
am meiften maßgebenden Regierungskreilen, den bayriichen namentlich, war 
man nicht nur bereit, auf den Gedanken der Reichsbank einzugehen, jah man 
ihn nicht blos als den Schlußftein der ganzen Münzgeſetzgebung an, jondern auch 
in der Betheiligung Bayerns an den Vortheilen eines jolchen Inſtituts erblicte 
man die richtige Ausgleihung aller über die Ausgabe von Staats: und Privat 
Noten objchwebenden Differenzen. Wie ift es nun gefommen, daß bei den 
Verhandlungen im Ausſchuß und Plenum des Bundesraths Nichts von diejen 
Erwartungen und Anfichten zum Vorſchein fam? Die Wandlung hat im Lauf 
de3 Sommers jich vollziehen müſſen. Die Naturgefhichte der Staatsgejchäfte 
belehrt uns, daß dieſe umgefehrt zum Dachs und ähnlichen Geſchöpfen ihren 
periodiihen Schlaf in der heißen Jahreszeit abhalten. Während die Politik 
ihren Sommerjchlaf hält, pflegen die Staatsmänner zur Stärkung ihrer Nerven 
ins Gebirge zu wandern. Die zu München angejeffenen — ob nun von fic} jelbit 
oder auch) von Andern Rath nehmend, wie behauptet wird — hatten indefjen 
Zeit auszurechnen, wie hoc fie ihren Verzicht auf die Reichsbank an den Meiſt— 
bietenden verfilbern könnten, und im Spätjahr erſchien Bayern in Berlin 
verſöhnt mit dem Wegfall der Reichsbank und getröftet erſtens durch das 
Angebot einer neuen, jelbjt in den Berjailler Verträgen nicht vorgejehenen 
bayrischen Gebietsabtrennung vom übrigen Reiche, ziweitens mit einer Vermehrung 
jeiner Banfnotenausgabeberedhtigung von 20 auf 40 beziehentlid) auf 70 Mill. 
Mart — im jchlagenden Gegenjah zu allen bisherigen Gebahrungen, welche 
vor Allem die Ausdehnungsmöglichkeit beftehender Notenprivilegien zu unter: 
drücken bezwedt hatten. Um diefen Preis war — mit dürren Worten zu 
jagen — Bayern der Verzicht auf die Reichsbank abgefauft worden. Das an 
ſtößigſte Beiwerk der Verſailler Verträge, die Separatftellung Bayerns, welcher 
vom Neichsfanzler an gerechnet jeder Freund unſerer politischen Wiedergeburt 
nur mit Schmerz al3 etwas zur Zeit Unvermeidlichem ſich gefügt hatte, war 
durch einen neuen, in die tiefgreifendften Verhältniffe ſich einniſtenden Funda— 
mentalartifel ausgedehnt und verſtärkt. Während die gefunde Neichspolitit auf 
dem Gedanken ruhte, daß mit der Zeit die gegenjeitigen wohlverftandenen In— 
terefjen Bayern dazu führen würden, die in Verfailles gezogenen Binnengrenzen 
jelbft zu bejeitigen, wurden nunmehr die Grenzen verjchärft, das abgetrennte 
Gebiet ausgedehnt, das Intereſſe Bayerns darauf hingeleitet, an diejer Ab» 
jperrung dauernd feſt zu halten. Gewiß der ſchlimmſte Neicysfeind hätte ſich 
nicht ſchwerer an Deutjchland verſündigen können, als derjenige, welcher den 
Vorſchlag aufs Tapet brachte, Bayern gegen feine urjprüngliche Abſicht aus 
der Gemeinjchaft des deutichen Bankweſens hinauszudrängen. Sachſen wurden 


Zur Embryologie des Bantgeſetzes. 117 


feine bejonderen Zugeftändniffe gemadt. Dan konnte jedenfalls ſich vergewiſſert 
haben, daß es gegen die Reichsbank ebenſo gut wie gegen jede andere Neuerung 
zu brauchen war, weil feine die ungeheure Ausdehnung feines Notenumlaufs 
gelten laſſen konnte. 

In dem eriten Geſetzentwurf, wie er vom Reichsfanzleramt dem Bundesraths— 
Ausſchuß vorgelegt worden war, hatten die notenbeichräntenden Zahlen — ab- 
geſehen von der bayriichen Separatclaufel — auf'alle deutichen Staaten An— 
wendung gefunden mit Ausnahme von Baden und Würtemberg. Weil die 
betreffenden Landesbanken exit, im Jahr 1870 errichtet] worden, fonnten die 
Jahre 1867—69 nit als Maßſtäbe für den Umlauf der Noten dienen; bei 
der würtembergifchen und badiichen Bank jollten aljo die Jahre 1872 und 1873 
al3 Normaljahre eintreten. Eigenthümlicher Weije ift die genannte Sonderftellung 
im Lauf der Verhandlungen dann auch no Oldenburg und Heffen-Darmftadt 
zugebilligt worden. Bei Oldenburg ift die Maßregel damit zuläffiger Weife 
erflärt, daß jeine Bank erſt 1869 ?gegründet worden. "Dagegen enthält die 
Conceſſion zu Gunften Darmftadts einen Widerſpruch ganz abjonderlicher Art. 
Die Sache ift jo bezeichnend für die Weife, wie das Geſetz durch Feilſchen und 
Bieten mit den einzelnen Stimmabgebern zufammengeflict wurde, daß ſie eine 
nähere Beleuchtung verdient. 

Gin Gele vom Jahr 1870 (vor Ausbrud des Krieges) hatte aus be- 
kannten Gründen die Ausdehnung und Verlängerung oder Neugewährung von 
Notenprivilegien innerhalb des Noxddeutichen Bundes verboten. Na) Beitritt 
der Südftaaten zum Reich wurde das von Jahr zu Jahr erneuerte Verbot auf 
fie angetvandt, doch mit der Maßgabe, daß es erſt vom Januar 1872 an in 
Kraft treten jolle. Um dieje Frift noch zu genießen, beeilte jih die Bank 
für Süddeutichland gerade vor Thorſchluß im Jahre 1871 auf Grund einer 
Statutänderumg ihre Notenausgabe auf 29,000,000 Fl. zu fteigern. Daß die 
Bank kaufmännischer Weile Gebrauh von einem Recht machte, ehe es für 
immer entkräftet wurde, ift ihre nicht übel zu nehmen. Sonderbar aber 
macht es fi, wenn zu Gunften einer jeit dem Jahre 1855 beftehenden Banf 
ein jpäteres als das allgemein geltende Normaljahr zum Mapftab genommen 
wird. Hier ift alfo offenbar nicht der natürliche Geſchäftskreis, jondern die in 
Gile vor Thorſchluß beiwerkftelligte Vergrößerung der Geſchäftsmaſchine zu 
Grunde gelegt. Und noch twunderlicher hebt fich diefe Ausnahme auf dem Ge— 
jammtbilde ab, wenn wir in den Motiven die Bayern bewilligte Ausnahms— 
ftellung damit begründet jehen, es gebühre ihm eine Schadloshaltung dafür, 
da es den Zeitraum von 1871 bis 1872 nicht gleich anderen (Baden, Heflen, 
Würtemberg) zur Vermehrung feiner Notenausgabe benußt, jondern ſich im 
Sinne des Geſetzes von 1870 jeder derartigen Girculationsausdehnung enthalten 
babe. Während aljo Bayern für jeine Enthaltſamkeit belohnt wird, wird 
Heſſen-Darmſtadt dafür belohnt, daß es die vergönnte Friſt ausgenüßt hat, 
um möglichft unenthaltjam zu verfahren. Und die Sonne, tweldhe jo iiber Ge- 
rechte und Ungerechte jcheint, geräth in Verdacht, daß es ihr hauptjächlid) 
darauf ankam, die nöthige Anzahl Stimmen für einen Beichluß ohne Reichs— 
bank zu zeitigen. Seltiam überhaupt figurirt in der finanziellen Gejeßgebungs- 


118 Deutiche Runbichau. 


politif des deutichen Reichs als ein mitbeftimmender Grund die Belohnung der 
Tugend. Schon bei den Reichskaſſenſcheinen hatten wir Bekanntſchaft damit 
gemacht, doch war der Geſichtspunkt damals wenigjtens mit einiger Conſequenz 
feftgehalten, während ex in obigen Fällen von jeiner eigenen Garricatur begleitet 
auftritt. 

Mit weniger Gejchielichkeit und deshalb ohne Erfolg war ein anderer 
Paragraph auf vortheilhafte Bündnifje angelegt. Der fünfzehnte des uriprüng- 
lichen Projectes enthielt die Beftimmung, daß denjenigen Banken, welche die 
den Einzelſtaaten in Form von Reichskaffenicheinen nad dem betreffenden Gejek 
gemachten Vorſchüſſe für ihre Landesregierungen einziehen würden, ein gleicher 
Mehrbetrag von Notenausgabe für die Dauer der bewilligten Vorſchußzeit zu— 
geftanden fein jolle, und als Folge diejes Grundjaßes war ausdrücklich ver- 
langt, daß die Preußiſche Bank wegen der im Jahre 1856 eingelöften fünf: 
zehn Millionen preußiſcher Kaffenjchheine zu einer Mehrausgabe von fünfund- 
vierzig Millionen Mark berechtigt jein jolle. Aber jchon bei der Vertheilung 
des Reichspapiergeldes hatte Preußen die Thatſache jener Einziehung verwerthet, 
um zu begründen, daß ihm über den Betrag feiner umlaufenden Treſorſcheine 
hinaus etwas wie vierundzwanzig Millionen Mark bei der Vertheilung als 
reiner Gewinn in die Taſche fielen. Nachdem alſo im Frühjahr die erwähnte 
Gonvertirung des Staatspapiergeldes in Banknoten dazu hatte dienen müſſen, 
den Gewinn des Preußiſchen Fiscus zu rechtfertigen, ſollte im Herbſt deſſelben 
Jahres diejelbe vor zwei Jahrzehnten vollzogene Maßregel dazu herhalten, nun 
auch die Preußiiche Bank zu bevorzugen. Ein bis in idem in befter Form. 
Zum Ueberfluß Hatten weder die Regierungen noch die Banken der anderen 
Staaten von der ihnen damit eingeräumten Befugniß den geringften Vor— 
theil zu gewärtigen. Den Regierungen konnte es ganz gleichgültig fein, ob 
jie den betreffenden Vorſchuß vom Reich oder von ihrer Landesbank erhielten ; 
und die Banken hatten eher Nachtheil ala Vortheil davon zu erwarten, daß fie 
eine beftimmte Summe zu zahlen übernahmen, gegen die bloße Möglichkeit, den 
gleichen Betrag an Noten im Publicum unterzubringen, was ja auch von diefem 
abhing. Aber die Preußiihe Bank, welche feine Wahl mehr hatte, weil die 
eine Seite der Operation feit achtzehn Jahren eine vollendete Thatjache, weil 
aljo nur no ein Vortheil ohne Gegenleiftung zu erlangen war, fand ihre 
Rechnung bei dem Paragraphen. Hier waren aljo feine Stimmen zu gewinnen 
und hier unterlag das Project ſchon im Bundesrath. Aber charakteriftiich für 
den Geijt, in dem es aufgebaut tworden, ift der Vorgang allerdings. 

Dennoch würde Derjenige irre gehen, welcher ſich unbedingt der Anſicht 
hingäbe, daß ausſchließlich der Vortheil des Preußischen Fiscus die Grunde 
gedanken zu dem Entwurf eingegeben habe. Wäre dies der Fall, fo hätte, wie 
in obigem Beijpiel, überall die zu fteigernde Einnahme der Preußiichen Bank, 
an welcher der Fiscus zur Hälfte betheiligt ift, das Objectiv der Bewegung 
abgeben müſſen. Aber jeltiamer Weile geht durd) den Entwurf auch wieder 
eine Strömung in geradezu jentgegengejegter Richtung. In der That tritt aus 
der über den Gegenftand erwachſenen Literatur, wie aus der parlamentarifchen 
Erörterung mit am lebhafteften der Vorwurf heraus, daß nad) der Anlage des 


Zur Embryologie des Bantgefekes. 119 


Geſetzes der Lebensnerv der Preußiichen Bank auf eine unverantwortliche Weije 
unterbunden werden jolle. Beim erften Blid ruft Jeder beftürzt aus: Wie! 
die große Preußiiche Bank, mit ihrer Weltjtellung neben der Engliihen und 
Franzöſiſchen, wird in denjelben Rahmen gezwängt mit der von Reuf - Greiz 
und Büdeburg! Und während fie ſchon heute auf dem Wege ift, ihre Thätigfeit 
über das nichtpreußiiche Deutichland auszudehnen, ſoll ihr in Zukunft diefe 
Möglichkeit an die Bedingung geknüpft werden, daß der einzelne Bundesitaat 
eine ſolche Ausdehnung förmlich) beantrage, eine Bedingung, welche nicht blos 
unter dem Einfluß der wirthichaftlichen Bedürfniife im betreffenden Lande, ſon— 
dern auch des politifchen Beliebens jeines Hofes ftünde! In der That, je ge— 
nauer man den Entwurf betrachtet, deſto räthjelhafter fieht er Einen an. Man 
denft an jene Vervollkommnung der eleftriichen Telegraphie, welche auf der 
Entdeckung beruht, denjelben Draht gleichzeitig zum Hin- und Herjenden zweier 
erıtgegengejegter Strömungen zu benüßen! Auch die Verpflichtung, die Noten 
ſämmtlicher Territorialbanten in Zahlung zu nehmen, würde in der Praris 
in ungebührlichem Uebermaß der Preußiſchen Bank zur Laft, unter Umftänden 
zu erniter Verlegenheit werden. 

Wenn jolher innerer Widerſpruch zwiichen Vertheidigung des Preußiichen 
Fiscus und Blosftellung der Preußiichen Bank etwas anderes als zufällige 
Durchkreuzung verichiedener allgemeiner Rihtungslinien jein ſollte, jo entzöge 
fih das Verhältniß jedenfalls der näheren Unterfuhung Zum Theil erklärt 
fih die Antinomie aus dem Compromiß, welchen die Hauptmitarbeiter des 
Entwurfs behufs Feititellung eines gemeinfamen Werkes miteinander geichlofjen 
haben. Denn jo bejtimmt e3 als ausgemacht angejehen werden muß, daß das 
Preußiſche Finanzminifterium der Schaffung einer Reichsbank dermalen abhold 
war, jo unzweifelhaft darf von der anderen Seite angenommen werden, daß der 
urſprüngliche Plan de3 Reichskanzleramtes auf jene Gentralinftitution ſich ge— 
richtet hatte. Umgekehrt dagegen fteht es mit dem Syftem der Contingentirung, 
welches im definitiven Entwurf die Oberhand behielt. Minifter Gamphaufen 
hat nie ein Hehl daraus gemacht, da er nichts weniger jei, al3 ein Anhänger 
der Gontingentirung, dagegen ift befannt, daß Dr. Michaelis, welcher den Gegen- 
ftand im Reichskanzleramt in hervorragender Weife zu feiner Specialaufgabe 
gemacht hat, von jeher zu den heißeften VBerehrern der Peel’ichen Methode gehört, 
Ihon vor Jahren im Preußiichen Landtag deren Nebertragung auf die heimiſche 
Bank beantragt hat. Wie Figura zeigt, haben die beiden einander entgegen- 
gejegten Anſchauungen ſich unter einander verjtändigt, daß die Lieblingsidee 
jedes von beiden im Entwurf zur Geltung kam. Der Eine bequemte ſich zum 
Verzicht auf die Reichsbank, wogegen ſich der Andere die Contingentirung ge- 
fallen ließ. Wie zmwijchen den Einzelftaaten, jo auch zwifchen den maßgebenden 
Grundanihauungen ift der Entwurf auf dem Wege zu Stande gekommen, 
welchen die Sprache der engliichen Volkswirthe mit higgling and bargaining be- 
zeichnet. Jedes der beiden Principien war dabei bemüht, durch irgend einen 
Vorbehalt jeine Seele zu jalviren. Der Reichsbank war das gelobte Land von 
der. Höhe des Artikels 19 Ziffer 6 in zehmjähriger Ferne dämmernd gezeigt; 
der Gontingentirung waren die Hörner abgeftumpft durch Verwandlung der 


120 Deutihe Rundichau. 


unbedingten Gontingentirung auf fejten Ziffern in die relative durch die vier- 
procentige Steuerſchranke. Es kann nicht geleugnet werden, daß in diejer in— 
directen Gontingentirung -eine jehr beachtenswerthe Umwandlung der unbeweg— 
lihen Peel'ſchen Maichinerie liegt. Schließlid) werden Groß wie Klein, vor: 
behaltlich der Belehrung durch die praftiiche Erfahrung, das deutiche Syftem 
vorziehen. Aber hier, wie überall, hat die widernatürliche Einzwängung der 
Preußiichen Bank in den für die kleinſte Territorialbank beftimmten Rahmen 
Mißbildung erzeugen müflen. 

Wollte man einmal den Grundgedanten der Peels-Akte adoptiren, jo war 
e3 viel natürlicher, ihn nad) jeinem Vorbild auf die Territorialbanfen anzu= 
wenden. Die engliſche Akte weiß aber bei ihren Territorialban- 
fen gar nichts von dem Unterjchiede zwiſchen gededten und un— 
gededten Noten, der in unjeren Debatten eine jo große Rolle jpielt. Sie 
beſchränkt die Notenausgabe der Privatbanken unbedingt auf die Höhe einer aus 
dem Normaljahre abgeleiteten Ziffer, und läßt ihnen die Sorge fi) zu deden, 
wie ſie es für qut halten. Da alle deutichen Territorialbanten ſtatutariſch be- 
reit3 an genügende Dedungsvorichriften gebunden find und bei Einjegung einer 
Reichsbank zur Beobachtung eines guten Kaffenbejtandes durch deren Ueber— 
wachung genöthigt waren, jo fonnte man fich der ganzen, verwickelten und nicht 
ungefährlichen Methode der indirekten Gontingentirung bei ihnen entjchlagen, 
und ein für allemal das Nebel eines ungleich beichaffenen und ungleichwerthigen 
Bankgeldes auf ein befanntes Marimum beſchränken. Auf der anderen Seite 
gewann man dadurch Freien Standpunkt für die Gentralbant, der Niemand 
vernünftiger Weije anfinnen kann, ſich mit gleihem Maße, tvie die Territorial- 
anftalten meljen zu lafjen. Nur dem unglüdlichen Gedanken der Nivellirung, 
welcher aus der Abneigung gegen die Reichsbant ſich von jelbft ergab, verdan- 
fen wir aud), daß die Gontingentirung, nachdem fie ſich jo tief in die Oekono— 
mie des ganzen Gejeßes eingerammelt hat, auch die Reichsbank nicht ver- 
ſchonen wird. 

Wer weiß, wie die Dinge in der Welt zugehen, twird ſich nicht wundern, 
daß der zwiſchen dem Neichsfanzleramt, Preußen und Baiern vorher in jeinen 
Grundzügen feitgeftellte Entwurf, verjehen mit einem complizirten NRäder-, 
Schrauben- und Zahnwerk, an das man nicht rühren konnte, ohne die ganze 
Maſchine wieder auseinander zu nehmen, bei den um den grünen Tiſch verſam— 
melten Mitgliedern des hohen Bundesrathes jeden iſolirten Widerjtand zer: 
malmte; das Referat ward Elüglicher Weije in bairiſche Hände gelegt, obgleich 
der damit betraute Bevollmädtigte, ein Mann allerdings To ausgezeichnet an 
Geift und Verſtand, wie an Kenntniſſen im höheren Verwaltungsfah, im 
Punkt diefer Aufgabe ſich nicht für befonders berufen halten fonnte und — dafür 
bürgt die Geradheit und Klarheit jeines ganzen Wejens — ſich auch gewiß 
nit für bejonder3 berufen angejehen hat; denn die Materie liegt jeinen bis- 
herigen Beichäftigungen und Studien abjeits. 

Nicht zugegeben fann übrigens werden, daß, wie in der urjprünglichen 
Faſſung der Motive angedeutet tvar, von Seiten der verbündeten Regierungen 
das Verlangen nad der Reichsbank ſich von vornherein zum Schweigen ver: 


Zur Embdryologie des Bankgeſetzes. 121 


dammt habe. Vielmehr ift bereit3 im erjten Stadium der Verhandlungen im 
engern Ausſchuß des Bundesrathes das Anfinnen laut geworden, dag mit der 
Preußiſchen Bank wegen ihres Ueberganges ans Reich in Unterhandlung getre- 
ten werde. Doch zerichellte es ohnmächtig an der Uebermacht des oben geſchil— 
derten fait accompli. Niemand twol lebt in der Jllufion, als wäre der Bun- 
desrath eine Art von Staatörath, in welchem die Aufgaben rein und objektiv 
vom gejeßgeberiichen Standpuntt mit der entiprechenden jachlichen Gompetenz 
von allen Mitgliedern des Gollegiums geprüft werden. Zu den Grundübeln 
der Neihsorganilation gehört eben, daß ein Kollegium von weſentlich Diplo- 
matiihem Charakter, nämlich vorzugsweije beftimmt die politichen Einflüſſe 
der einzelnen Regierungen zu differenziren, zugleich dem Schein nach auch die 
Funktionen eines Staatsraths ausübt. KLebteren würde man natürlich nad) 
ganz anderen Qualifikationen zuſammenſetzen als eine Körperfchaft von politiich- 
föderativer Abſicht. Man würde nad ſachlicher Befähigung die Mitglieder 
wählen, und die Sektionen bildeten alsdann einen Stamm von maßgebenden An- 
fihten, deren Autorität in unjerem, tvie jo manchem anderen Falle nicht genug 
gewünſcht werden kann. 

Zum Drud, welden gegebene Berhältniffe und vollendete Thatjachen bei 
der Berathung im Bundesrath ausübten, gejellte ich ſchließlich noch die Wir- 
tung des Schnellfeuers, von welchem das erſte Ericheinen des Entwurf3 in der 
Preſſe begleitet war. Ich bin meinerfeits feſt überzeugt, daß Herr Michaelis 
an diefem ihm von Freunden und Anhängern geleifteten Liebesdienfte gänzlich 
unihuldig iſt. Ich finde auch ganz begreiflih, daß feine alten Gefährten in 
warmer GErgebenheit für jeine Perfon mit Begeifterung ein Werk auf den 
Schild erhoben, in welchem fie zugleich ihren geliebten Meifter und ihre eigne 
Lieblingsidee verherrlichen konnten. Nur in einem Stüde vermag ih ihnen 
nicht zu folgen. Alle ihre Verkündungen waren, meine ich, von der Behaup- 
tung durchſättigt, daß bejagter Gejeßenttwurf alljeitig mit dem Tebhaftejten 
Beifall aufgenommen, ja mit Enthufiasmus und Bewunderung gepriefen werde. 
Vieleicht übertrugen die Verfaſſer der mit erftaunlicher Präcifion nad) allen 
Windrichtungen getriebenen Artikel naiver Weile ihre eigenen Gefühle auf das 
geſammte deutiche Publicum; jedenfalls mußte der naide Theil dieſes Publi- 
cums ſelbſt fich darüber eingeihüchtert Fühlen gegen jede zweifelnde Anwandlung, 
und die thatſächliche Strategie diejes Furzen Feldzuges hätte nicht anders ein- 
gerichtet jein können, wenn fie es auf Verblüffung umd Ueberrumpelung des 
Publicums abgejehen hätte.. 

Alle GCombinationen und Anftrengungen innerhalb und außerhalb der 
Regierungsfreije, um die Grundlagen des Gejeßes in eine unnatürliche Richtung 
zu Ihieben, haben zum Ende nur die schwer zu beflagende Folge gehabt, daß 
eine fojtbare Zeit verloren wurde Hätte man vor jehs Monaten jich der 
Ginficht nicht verichlofien, zu der man jich heute bequemen muß, jo war das 
Bankgeſetz fertig, als der Reichstag in die Weihnachtsferien ging. Damit war 
für die Beichleunigung unferes Ueberganges in definitive Münzzuftände der 
allerwichtigfte Schritt gethan. Daß dieſer Mebergang nicht raſch genug be- 
werfftelligt werden kann, wollte man in denfelben Quartieren, welche jett den 


122 Deutiche Rundſchau. 


Zeitverluft in der Bankgejeßgebung auf fi genommen haben, überhaupt lange 
nicht einjehen. Man ſprach mit behäbiger Gelafjenheit von einem Jahrzehnt 
oder auch mehreren, welche e3 anftehen könnte, bi3 die Reihsgoldwährung im 
vollen Sinne des Wortes durchgeführt jein möchte, und belächelte ala Heißſporne 
diejenigen, welche vor den umerträglichen Beſchwerden eines lange fortgeipon= 
nenen Interims warnten. Wenn nur einmal nah Mark gerechnet würde, 
glaubte man die Hauptjache geichehen, und die Fiktion, daß ein preußilcher 
Silberthaler drei goldne Mark bedeute, jollte im Weltverfehre gleichbedeutend 
jein mit einer Goldwährung. Man machte fi) weiß, die ftörende Thatſache, 
daß der alte Weg abgegraben ift, während zum neuen kaum die Erde aufge- 
fragt wird, könne vom Weltverfehr mit demjelben Gleihmuth ertragen werden, 
mit welchem der Berliner ein Jahrzehnt lang über feine höderigen Straßen 
ftolpert, bis Fiskus und Magiftrat lange genug ihren Pflafterftreit durchge— 
tochten haben. 

Erfahrung hat jegt in raſchen Schritten denen Necht verichafft, welche auf 
Eile drangen. Wir werden ohne Zweifel die ganze neue Reichsgoldwährung 
viel fchneller unter dem Druc der Umftände verwirklicht jehen, als jeiner Zeit 
in jenen bewußten Regionen angenommen wurde; twir werden auch troß alles 
Sperrens und alles Aufwandes von dialektii hen Begründungen die frähtintel- 
haften Beſtimmungen fallen jehen, welche der Privatprägung fich entgegenjeßten, 
und wir werden ein Bankgeſetz erhalten, welches, wenn nicht jofort allen An- 
forderungen einer gefunden Finanz- und Wirthichaftspolitif entiprechend, doc) 
auf rihtigem Fundament aufgebaut, ſpäter in Einzelheiten die Berbefferungen 
zulaſſen wird, zu welchen Erfahrung, allerdings vielleicht eine toftfpielige Er⸗ 
fahrung hinleiten mag. 


— —— 


„Die Moral von der Geſchicht.“ 


Der Parlamentarismus iſt am Ende doch nicht jenes fünfte Rad am Wagen, 
al3 weldjes eine twohlfeile Kritik ihn zu veripotten beliebt, und der Liberalis- 
mu3 ber nationalen ‘Parteien hat außer der Aufgabe, der Neichsregierung in 
ihren freifinnigen Tendenzen nachdrängende Stüße zu jein, auch noch die beſon— 
dere, in großen und Eleinen Angelegenheiten des öffentlichen Wohles, welche der 
nationalen Form den wahren verdienftlichen Inhalt liefern, die Neichsregierung 
auf den rechten Weg zurückzuweiſen, da wo fie von ihm ablentt. 

Das ift nicht die Oppofition, von welcher der Bierphilifter zu Berlin oder 
Frankfurt verlangt, daß fie ihm die Sterne vom Himmel hole, — Sterne, vor 
denen er zuerjt Reißaus nehmen würde, wenn fie auf die Exde fielen, — jondern 
eine beffere, welche ins lebendige Reich des Gejchehenden eingreifend, ſich jelbit 
zugleih und da3 gemeine Weſen durch friſchen Luftzug und unermüdliche Ar: 
beit zur Entfaltung bringt. 





Literariſche Rundſchan. 


— — 


1. Briefwechſel zwiſchen Varnhagen und Rahel. Herausgegeben 
aus Varnhagen's Nachlaß von Ludmilla Aſſing-Grimelli. (Leipzig. F. U. Brock— 
haus. XIII. 336. 309. Bd. J. 2.) 

Es giebt Namen, an welche die Kritik nicht ohne ein gewiſſes Zögern heran 
tritt. Was thun, wo eine Klippenreihe ſuperlativiſcher fertiger Urtheile das ſchmale 
Fahrwaſſer zwiſchen der nachbetenden Trivialität und der Ketzerei kaum entdecken 
läßt? Und zumal, wenn es dabei wie hier um einen Namen ſich handelt, der ſeinen 
eigenen beiten Ruhm in der ungeſchminkten Aufrichtigkeit und Selbſtändigkeit fand? 
Soll Varnhagen's Wort evangeliiche Autorität behalten: „Von Rahel. it Alles 
und Jedes an und für fich bedeutend und wichtig. Von ihr jollte jede Zeile beachtet 
und bewahrt werden?” Alſo 3. B. auch claffiiche Ausfprüche, wie: „Geh' nicht in 
„der Site Äpazieren, Lieber! Die Sonne fcheint Heute jo ausführlich!" Oder: 
„Denkt an die Scheine der Sonne!“ Aber auf der andern Seite: Welcher 
Nachlebende hat dag Recht, in Bezug auf die Auffaffung einer Frau, die gar nicht 
Schriftftellerin war, Tondern durchaus perjönlich wirkte, dem enthufiaftiichen Lobe 
faſt aller zeitgenöffiichen Berühmtheiten zu wideriprechen? Zumal Angefichts jo vieles 
Menichlichen, Wahren, Treiflichen, was auch diefer Briefwechjel wieder enthält! Am 
meijten, wie es uns jcheint, ift Rahel zu bewundern wegen der Klarheit und Wahr: 
Haftigfeit, welche fie inmitten des mitunter recht dien um fie her angezündeten Weih- 
rauchdampfes in allen Hauptfachen doch zu bewahren wußte. Es Klinge immerhin 
ſtark in den Ohren eines nicht unter lauter berühmten Leuten aufgewachienen Men— 
fchenfindes, was fie 3. B. Bd. I. p. 32 von fich fagt: „Laſſe nicht leicht von mir 
„los. Du verlierft eine Welt an mir. Nie, nie findeft Du vielfältigeres, leichteres 
„Zeben, mit diefer innerften, innigen Treue, mit diefer Sicherheit und diefem Maße 
„zujammen. ch bin jonft in Nichts Etwas; ich weiß e8, wie ein Anderer es nur 
„wiflen kann; aber mein Gutes ift doch einzig, das fühle ich, wie man feine Grijtenz 
„fühlt!“ Wer aber den Peripetien diefeg Briefwechſels folgt und fih an den Ton 
einmal gewöhnt hat, der fommt doch zu dem Gefühl, daß diefe „Aufrichtigkeit“ micht 
ganz unberechtigt iſt. Es ift in der That ein Seelendrama und dabei ein Stüd 
Weltbild voll Hohen Intereſſes, welches Hier dem (geduldigen und ausdauernden) Leer 
fich enthüllt. Varnhagen zählt: 23 Jahre, als er im Frühlinge 1808 Rahel Levin 
int Berlin kennen lernt. Sie iſt eine Berühmtheit von beiläufig 37 Jahren, Er 
Präutigam, oder etwas dergleichen, von einer hübjchen, jungen Hamburger Wittwe; 
(I. p. 11 „Gaben Sie mir eine Antwort, als ich Ihre Braut nannte? Geben Sie 
mir noch, wenn ich Anderes nenne, eine andere, ala fi in meine Arme?“ [sie!)). 
Sie hat ſchon an zwei Ungetreuen bittere Erfahrungen gemacht, an Graf Finfenitein 
und dem ſpaniſchen Diplomaten Urquijo: „das ſpaniſche Fegfeuer“ nennt fie einmal 
das Verhältnik. So giebt e8 denn, troß aller Himmelhoch jauchzenden Seelenhar- 
monie, viel Hangen und Bangen, Mißverſtändniſſe und Erklärungen, die endlich, in Folge 


124 Deutſche Rundichau. 


veripäteter Briefe und gefreuzter Reifer, Umzugs: und Vereinigqungs-Pläne dem arınen 
Varnhagen ein recht ungnädiges Abjageichreiben einbringen, (IT. 25. vom 21. October 
1810): „Du haft mich Geld, Zeit, Quartier, Bequemlichkeiten aller Art verlieren 
„laſſen, jeit ich Dich kenne. — — Ich habe Dir Nichts anzubieten, alſo mußt Du 
„natürlich bei Deinem Oberften bleiben. — — Ich will Dir wol dad Ungemach, 
„das Du mir bereitet haft, verzeihen, aber ich fann nicht.“ Und gar in der Nach— 
ſchrift: „Mit nur mäßiger Oekonomie, mit nur einigermaßen geregelten Ausgaben 
„wäreft Du längst in Berlin oder Hätteft die Mittel dazu!“ Und dabei war der 
arme Varnhagen üfterreichiicher Lieutenant ohne Zuſchuß, und ganz von jeinem 
Oberſten, Grat Bentheim, abhängig, der ſelbſt bankerott war und von der Großmuth 
jeiner Brüder lebte! Seine Antwort, männlich und durchaus vortrefflich, gereicht 
beiden Liebenden zur höchſten Ehre: der gereiften Frau, die jo tete Anhänglichkeit 
einflöhen fonnte; dem jungen, ehrgeizigen und Lebensluftigen Offizier und Schrift 
jteller, der über Hleinliche Empfindlichkeit To hinaus und rein jeeliichen Einflüffen To 
zugänglich ift. Dafür fällt dann freilich in der nächſten, ſchlimmern Krifis (1812) 
das volle Licht auf Nahel’3 Seite. Höchſt bezeichnend Tür das Stimmungsbild der 
Zeit ilt die Stellung Beider, Varnhagen's und Rahel's, zu den großen national- 
politiichen Fragen. Zwiichen 1808 und 1809 wechſelt patriotiicher Schmerz mit 
Anfällen von Napoleons-, ja Franzoſen-Cultus. Rahel plant, nach Paris zu ziehen, 
denn mit dem Geſtirn Friedrich's ſei es doch aus; Barnhagen, da er in Dresden 
ftattlichen Grenadieren und Voltigeuren des Kaiſers begegnet, befommt Luſt, den 
Adlern Napoleon’s zu folgen, „um den Krieg zu lernen“, und ſelbſt jein Eintritt in’s 
öfterreichiiche Heer (Juni 1809) ift mehr die That des ehrgeizigen Abenteurers, als 
die des Patrioten. Aber dann erwärmt, erhöht, Flärt fich zujehends die Stimmung, 
zuerst bei Varnhagen. Das faiferliche Paris ijt ihm 1810 nur ein Gegenjtand des 
Mitleids; es ift ihm ſchaal und dumpf im diefer „geiftigen Dede“; und gleichzeitig 
erwächſt ihm freudige Hoffnung auf Preußen und auf das deutiche Bolt. Wie Er 
und feine Freundin diefe Gefinnungen nachher glänzend bethätigten, ift bekannt, Fällt 
aber leider nicht mehr in die Grenzen des vorliegenden Briefwechiele, der vom 12. 
Mai 1808 bis zum 1. Januar 1813 reicht. Unter der reichen Ausbeute literar-hiftoriichen 
Stoffes find die Mittheilungen über Glemens Brentano, diefen romantischen Super: 
lativus, don draftiichem Intereſſe; ſehr erfreulich ijt überhaupt die Klarheit und 
Sicherheit, mit welcher Rahel, unbeirrt durch alle romantischen Zeit-Nebel, ſtets ihre 
ureigene Empfindung vein ausfpricht: wie denn auch fonft die ihrem befannten Bilde 
bier zuwachienden Züge daflelbe durch einen gelegentlich aufgeſetzten Schatten nur 
intereifanter machen, nicht aber ewnitlich trüben. So hätte dad Gelammturtheil über 
diejen Brieiwechlel denn troß Allem die Form des Danfes anzunehmen, wenn die 
Herausgeberin, Frau Ludmilla Alfing-Grimelli, fih ihre Aufgabe nicht 
gar zu bequem gemacht hätte. Seine biographiiche Ginleitung, feine Sichtung des 
Materials, feine erflärenden Anmerkungen, fein Inhaltsverzeichniß! Und wie jehr 
wäre das Alles im Intereſſe des größern, gebildeten Leſerkreiſes geweſen! „Was Du 
ererbt von Deinen Vätern halt, eviwirb es, um es zu befiten!” Das möge fich auch 
die Inhaberin des, wie es fcheint, unerichöpflichen Varnhagen'ſchen Nachlafles gejagt 
fein laſſen! 


2. Vorträge und Aufſätze zur Geſchichte des geijtigen Lebens in 
Deutihland und Deiterreih. Bon Wilhelm Scherer. Berlin. 
MWeidmann’sche Buchhandlung. 1574. Groß 8. 431. 


Wahrlich, wer heute noch den alten Vorwurf wiederholte, daß unfere Wiflen- 
ſchaft die gute, gefällige Form verichmäht und vornehm vom Leben fich abwendet, 
dem könnte man Bücher wie das vorliegende, (und fie rüden nachgerade in geichlo}- 
jenen Reihen heran) als ein wahres Symbol der veränderten Zeititrömung entgegen 
halten. Scherer ift befanntlich ein hervorragender Schüler Müllenhof's, des Itrengiten 


Literariſche Rundſchau. 125 


Meiſters ſtrengſter Forſchung; er gehört zu den Zierden der neuen Reichs-Hochſchule, 
zu unſern angeſehenſten Germaniſten und Literaturkennern: und alles Das hat ihn 
nicht abgehalten, für eine ganze Reihe wiſſenſchaftlicher Fragen und Gegenſtände mit 
allen Kunſtmitteln des Redners, des eleganten Eſſayiſten, ja des Feuilletonſchreibers 
um die Theilnahme der weitern gebildeten Kreiſe zu werben. Er ſpricht über den 
Urſprung der deutſchen Nationalität, über die Entdeckung Germaniens (nach Mül— 
lenhoj's deuticher Alterthumskunde), über die deutſche Spracheinheit, den Urſprung 
der deutſchen Literatur, das Nibelungenlied; er ſchildert mit dichteriſcher Anſchaulich— 
keit und warmer, aber durchaus nicht blinder Liebe, das geiſtige Leben Oeſterreichs 
im Mittelalter; Abraham a ſancta Clara und Franz Grillparzer werden in ausführ— 
lichen Eſſays behandelt. Der Verfaſſer beglückwünſcht Bauernfeld zu feinem ſieb— 
zigſten Geburtstage, ſich und ſeine öſterreichiſchen Landesleute zu ihrer Errettung von 
tſchechiſcher Vergewaltigung (12. Januar 1872); er feiert Leſſing's Geburtstag, 22. Jan. 
1870, mit tröſtlichen, an den Nathan anknüpfenden Ausführungen über die Oekonomie 
der Natur in allmäliger Herausbildung und Stärkung der humanen Jnitincte; 
giebt, während des Franzoſenkrieges, dem Verdienſte unferer Literatur um Aufrichtung 
des Vollsgeiſtes die Ehre; jagt über Hölderlin, Schleiermacher, Otto Ludivig und 
Shakeſpeare erfreulich anregende Worte, berichtet über Gottfr. Keller's fieben Yegenden, 
harakterifirt die junge, jeit 1848 herangewachjene Generation in Dejterreih und 
führt fich endlich durch eine liebevolle, feine Charakteriftit des braven Ludwig Spach 
bei jeinen gegenwärtigen Eljaffer Mitbürgern ein. Wie man fieht, hat da der Zus 
fall vielerlei Gerichte auf einer Tafel verfammelt; und wie die Themen, jpielt auch 
die Behandlungsweife in vielfachen Tönen. Was das Ganze dennoch zufammenhält, 
den Leſer padt und einen einheitlichen Eindruck vermittelt, das ijt die Perjönlichkeit 
des Verfaffers und die von ihr ausgehende Methode: die Friiche und Entichlofjenheit 
de3 Gedanfens, die warme Anfchaulichkeit, die echt vaterländifche und doch überall 
menschlich gemäßigte Gefinnung. Die wahrhaft künftleriiche Formgebung läßt wol 
MWideripruch, aber niemals Gleichgültigfeit auffommen. Nicht mit gleich unbedingter 
Anerkennung ift von der Solidität aller Ausführungen, von der Vorficht aller Schluß: 
folgerungen zu jprechen, und feineswegs überflüffig ericheint die vorbeugende Bemer- 
fung der Vorrede: Manches iſt mir recht fremd geworden, ohne daß ich immer 
in der Yage war, die betrefienden Probleme ner zu durchdenken. 
Man merkt's wol. Man leje alio mit VBorficht, aber man leſe! Dafür, dat 
man dann auch bis zu Ende liejt, Hat die an vielen Stellen wahrhaft glänzende 
— ſo wie die geiſtige Tüchtigkeit und Friſche des Verfaſſers beſtens 
geſorgt. 


3. Preußiſche Geſchichte von Profeſſor Dr. William Pierſon. Mit 
einer hiſtoriſchen Karte von Profeſſor H. Kiepert. Dritte Auflage. Berlin, 
Gebrüder Paetel. 1875. Bd. 1. IV. 507. Bd. 2. 500. 8. 


Im Jahre 1864 erſchien die erſte Auflage dieſer populären preußiſchen Geſchichte in 
einem Bande; das Jahr 1871 brachte die zweite Auflage in zwei Bänden; nach halb ſo 
langem Zwiſchenraume liegt jetzt dieſe bis auf die Gegenwart, April 1874, fortgeführte 
dritte Auflage vor uns, zur Ehre des Verfaſſers, zur Ehre für den vaterländiſchen 
Sinn und das Bildungsbedürfniß der Yeferfreife, an welche die Arbeit fich wendet. 
In deren Intereſſe it denn auch mit jehr richtigem Tacte der Schwerpunct in die 
Darftellung der neuen und neuejten Zeit gelegt: jo zwar, daß der ganze zweite Band 
ſich mit der Zeit von 1807 bis 1874 beichäftigt, während im erſten Bande die 
brandenburgifche Vorgeichichte bis 1440 auf 28 Seiten abgethan wird, der große 
Kurfürſt aber 58, und Friedrich der Große 157 Seiten erhält. Sehr zwedmäßig 
werden in den Momenten des Zutritt? wichtiger Provinzen kurze Berichte über deren 
Natur und frühere Schidjale eingeflochten, bei denen nur Schlefien mit 4 Seiten 
gegen Brandenburg, Preußen, Jülich auffallend zu furz fommt. Die Behandlung 


126 Deutiche Rundſchau. 
des Stoffes fieht von aller gelehrten Begründung ab (womit bier fein Vorwurf aus- 
geiprochen wird), giebt den großen Zufammenhang der Begebenheiten in lebendiger, 
häufig ſchwungvoller Darftellung, die fih in, wichtigen Momenten nicht felten mit 
Glück bis zu künftleriicher Schilderung hebt und widmet dabei, ein unerläßlihes Er- 
forderniß für den hier vorliegenden Zweck, den inneren Verhältnifien eine ganz bejon- 
dere Sorgfalt. Des Verfaſſers Standpunct ift der eines warmen, aber freimüthigen und 
freifinnigen Patriotismus, der von der richtigen Annahme ausgeht, daß eine Dynaftie 
wie die Hohenzollern und ein Volk wie das preußifche der Schmeichelei nicht bedürfen 
und die Wahrheit, auch die herbe, ertragen können und jollen. Wenn wir für künftige 
Auflagen einen Wunſch äußern dürften, jo würde derjelbe auf vorfichtigere Anwen— 
dung vhetorifcher Mittel und auf jubjtantiellere Genauigkeit mancher Ausführungen 
fih richten. So, um nur ein Beifpiel anzuführen, wäre e8 bei Gegenüberftellung der 
Zuftände vor und nach 1807 jehr nöthig geweien, neben den Gegenfähen auch die 
gleichmäßig fortwirkende Unterftrömung des gefunden und tüchtigen nationalen Geijtes 
hervortreten zu laflen, damit die Aenderung begreiflich wäre und nicht wie ein 
ſtaatsmänniſches Zauberjtüd erichiene. Das Verfahren Napoleons gegen das befiegte 
Preußen wäre durch ein halbes Dubend Zahlen weit anfchaulicher geworden, ala 
durch entrüfteten Tadel. Schlachten muß man entiveder, wenn auch nur an den präg— 
nanten Hauptzügen, technifch genau bejchreiben oder gar nicht. Kraftworte geben fein 
Bild. Es fcheint auch kaum noch Hiftoriicher Styl, wenn 3. B. von Bernadotte ge= 
jagt wird: „Die Monarchen hielten ihn für ein militärifches Genie, während er in 
der That nur ein Prahlhans (!) und dabei ein verrätherifcher Ränkeſchmied war“. 
Wir wollen Bernadotte gegen Bülow wahrlich nicht vertheidigen; aber wenn er nicht 
im preußifchen Sinne handelte, jo war er eben fein Preuße,; der Tadel gebührt 
denen, die 70,000 Preußen unter feinen Oberbefehl jtellten mit derjelben Tactlofig- 
feit, die Moreau in den großen Generaljtab berief. Dergleichen ließe noch Manches 
fi) anführen, wenn der Raum es geftattete; doch treffen diefe Bedenken keineswegs 
die Hauptjache. Pierſon's preußiſche Gefchichte bleibt eine mwadere, gemeinnüßige 
Leiftung, der wir im Intereſſe gejunder vaterländifcher Gefinnung und Bildung recht 
weite Verbreitung wünfchen und welche die Werke ähnlicher Tragweite, die uns be— 
fannt find, durch Yreimüthigkeit und NAufrichtigfeit des Urtheild und zweckmäßigen 
Man überragt, während fie durch ſolide Arbeit und gute, anfprechende Form ent= 
Ichieden in die Neihe unferer beffern populären Geſchichtswerke tritt. 


— — — 


4. Der neue Plutarch. Biographien hervorragender Charaktere der Ge— 
Ihichte, Literatur und Kunſt. Herausgegeben von Rudolph Gottſchall. 
Leipzig, F. A. Brodhaus. Th. I. 1874. Th. II. 1875. 

Wir wollen nicht unterfuchen, in wie weit die Klage der Vorrede über den Ver— 
fall unferer biographiichen Kunſt gerechtfertigt oder nur Gelegenheitswendung ift. 
Den Verehrern von Strauß, Jahn, Hermann Grimm, Treitichle, um nur Einige zu 
nennen, wird ja die Freiheit gelaffen, an die „glänzenden Ausnahmen“ zu denken, 
welche auch Gottichall vorfichtig zugiebt, und Mitarbeiter wie Pauli und Roſenkranz 
rechtfertigen immerhin ein zuverfichtliches Auftreten. Auf jeden Fall hat die Ver: 
lagshandlung das Bedürfniß weiter Leſerkreiſe richtig beurtheiltl.. Das Streben der 
Zeit richtet fich nun einmal auf Belehrung in abgerundeter, leicht faßlicher Yorm 
und in angenehmem Wechfel, und diefe Richtung ift nicht zu tadeln, denn fie wird 
durch die Nothwendigkeit bedingt, die täglich wachſenden Anforderungen allgemeiner 
Bildung mit dem Ernjt der Berufsarbeit und dem Ganzen der menjchlichen Arbeits— 
fraft in Uebereinitimmung zu halten. Wer uns aljo biographiiche Eſſays jchriebe, 
wie Macaulay’3 Clive und Hajtings, oder Biographien wie Strauß’ Voltaire 
und Hutten, hätte ſich um unjere Literatur hoch verdient gemacht und der Willen: 
ſchaft Nichts vergeben: und wo auch diefer ideale Maßſtab zu hoch gegriffen erichiene, 
bliebe Für das Wadere und Tüchtige noch ein weiter Spielraum. Den erften Band 


Literarische Rundſchau. j 1237 


der vorliegenden Sammlung eröffnet num Heinrih Rüdert mit einer geiftvollen 
Abhandlung über Martin Luther (die freilich mit einer Biographie wenig gemeinjam 
hat); dann jchildert Pauli Erommwell, Philippſon Heinrich IV. von Frankreich, 
Rojenfranz Voltaire. Den zweiten Band füllen drei größere Eſſays, von Rus 
dolph Gottjchall über Robespierre, von Adolph Beer über Maria Therefia, 
von Otto Speyer über Camillo Gavour. Die Darftellungen enthalten fich aller 
Schauſtellung des fritiichen Apparat3 und wirken lediglih durch glatt fortlaufende 
Erzählung; fie bürgen fchon durch die Namen der Verfaſſer für gründliche Sad)- 
tenntniß und erfreuen im Ganzen, wenn auch nicht in gleichem Grade, durch anfprechende 
Form. Wir denken, das Unternehmen wird fich Freunde machen und zur Förderung 
hiftorifchen Intereſſes und Hiftorifcher Bildung das Seinige beitragen. 


— — — 


5. Geſammelte Auffſätze. Beiträge zur Literaturgeſchichte der Gegenwart 
von Paul Lindau. — Berlin, Georg Stilke. 1875. 453. 8. 

6. Dramaturgiſche Blätter. Beiträge zur Kenntniß des modernen 
Theaters in Deutſchland und Frankreich. Von Paul Lindau Bd. 1.2. 
Stuttgart, C. F. Simon. 1875. V. 287. 247. 

Paul Lindau beſitzt in hohem Maße die erſte Tugend des Geſellſchafters, welche 
auch die zweite des Schriftſtellers iſt: er wird nie langweilig. Man verdankt ihm 
fo viel heitere, glüclich angeregte Stunden, jo viel herzliches Lachen, man bat an 
feinem Tiſche jo pifante, fein gewürzte Sachen genojfen, daß man ein neues Buch 
von ihm mit dem behaglichen Gefühl in die Hand nimmt, mit dem man eine Ein- 
ladung von lieber Hand eröffnet, die fchon durch die Adreſſe einen fröhlichen, oder 
do gewiß angeregten Abend im Ausſicht ſtellt. Und wenn wir Hinzufügen, daß 
diefer Spottvogel und Taufendfafa auch jehr ernjt fein kann, wenn er will und 
es ihm der Mühe werth Tcheint, daß er gelegentlich ebenfjo warm fühlt als ſcharf 
beobachtet, und daß feine franzöfifche Fechtweife in allen Hauptaffairen noch immer 
unferer guten deutichen Sache dient, fo geben wir nur der Wahrheit die Ehre. 
Sollen wir nun, jo vielem ZTrefflichen gegenüber, viele Worte davon machen, daß der 
fatirifche Plauderer die Gefahren jeines Genre nicht immer gleich glücklich vermeidet ? 
Daß man ihm, wo er das Signal zum Lachen giebt, ein Bischen auf die Finger 
fehen muß? Daß er wohl einmal den Schalf Hinter den Ohren hat? Wir denfen 
nicht. Naiven Naturfindern, die jeden Scherz für ein Glaubensbefenntniß halten und 
jeden Superlativ. wörtlich nehmen, würde die Warnung doch nicht Helfen; und wer 
die Welt und das Gejchäft fennt, Hat fie nicht nöthig. Er wird in diefer reichen 
Gallerie zeitgenöffticher Literatur und Lebensbilder die alten Bekannten mit Bes 
hagen wieder jehen, das Neue mit VBorficht, aber mit Theilnahme und Aufmerkſam— 
feit begrüßen, und mit Vergnügen inne werden, wie bei zufammenhängenden Lefen 
Vieles fich gegenfeitig ausgleicht, erläutert, modiftcirt; wie aus allen diefen bunten 
Kundgebungen der Zur und Abneigung, der Laune, der Stimmung und Verſtimmung 
für den Wiflenden und Sehenden ich dennoch eine jehr feſt umriffene Welt- und 
Kunſtanſchauung Herauzjtellt. Die dramaturgifchen Blätter (Th. I. über deutjche, 
Th. II. über franzöfifche Bühnenzuftände) find doppelt dankenswerth, weil fie da 
orientiren, wo alle Literaturgefchichten und im Stiche laffen, nämlich über das 
Bühnen-, nicht Buch - Drama der unmittelbaren Gegenwart. 


— — —— 


7. Till Eulenſpiegel redivivus. Gin Schelmenlied von Julius Wolff. 
Detmold, Meyer'ſche Hofbuchhandlung. 1874. 

Eine erfreuliche Leiſtung voll friſchen Humors, fröhlicher Jugendluſt, der aber 
auch die Weihe innigen Gemüthslebens und am rechten Orte der Ernſt des Gedankens 
nicht Fehlt. Der Dichter erzählt uns von einer mit Till Eulenſpiegel unternommenen 
Rheinfahrt, läßt mit Behagen den bunten Mikrokosmus deutichen Lebens an uns 


128 Teutiche Rundichau. 


vorüberziegen, der da in der fröhlichen Sommerzeit jein Weſen treibt, zeigt ung 
Studenten und Pfaffen, Betbrüder und Zecher, wohlgenährte „diltinguirte” Banquier— 
frauen, Blauſtrümpfe, unbegebene Geheimrathstöchter, Hochzeitsreifende Ehepärchen 
und — Flußgötter und Nymphen, Gegenwart und Mythus, Wirklichkeit und Sommer: 
nachtäträume verſchlingen jich in buntem, Luftigem Reigen, und allerliebjte, Elangvolfe 
Lieder unterbrechen die munteren, jambifchen Reimpaare. 

Ferner erwähnen wir den eben erjchienenen zweiten Theil von R.B. Uſchner's 
„der legte Minnefänger” , erzählendes Gedicht (in Herameteın) aus den deutjchen 
Reichzzeiten; Tannhäujer in Rom dom Verfaffer de neuen Tannhäufer (Wien, 
Rogner); ferner des trefflichen Felix Dahn Tragödie „Roderich“ (Leipzig, Hart- 
fnoch 1875); endlih Ernit Scherenberg’3 gefammelte Gedichte (Leipzig, Keil 
1874) und des unverwüftlichen Wilhelm Buſch nicht galante, aber aufrichtige 
und den Nagel nur zu oft auf den Kopf treifende Kritik des Herzens (Heidel- 
berg, Baffermann). 

Friedrich Kreyſſig. 


Ueber die Aufgabe der Philoſophie in der Gegenwart. Rede, 
gehalten zum Antritt des öffentlichen Lehramts der Philofophie an der Hochichule 
zu Züri, am 31. Oct. 1874 von W. Wundt. Leipzig, Engelmann. 1874, 


63 iſt befannt — und Profeffor Wundt ſpricht e8 an einer Stelle jeiner Inaugu— 
ralrede, die er bei dem Antritt jeines Amtes in Zürich nach der Leberjiedelung von 
Heidelberg hielt, noch einmal aus — daß die Naturwiflenichaften es waren, die ihn, 
„rat ohne fein Wiffen und Wollen“, der Philojophie entgegengeführt haben. Wir 
dürfen aus feinem Munde daher eine richtige Schäßung dieſer „Willenjchaft der 
MWiffenichaften“ erwarten, welche — nachdem fie feit einigen Decennien von der 
eracten Forſchung verdunfelt jchien — gegenwärtig neuen Glanz von derielben zu 
empfangen beginnt. Die Wahrheit ift, daß, was die Philojophie vielleicht an pro= 
teffioneller Geltung verloren Hat, dadurch mehr als erſetzt wird, daß jede Special- 
wiſſenſchaft fi” mit ihren Geifte erfüllt. Die Yachphilofophie, die fich allzumeit 
von der Berührung mit der Wirklichkeit der Dinge verloren, it von ihrem Throne 
herabgeftiegen, nicht, um diefem für immer zu entjagen, fondern nur, um ihn feiter 
zu begründen auf dem Boden der Einzelwifjenfchaften und aus diejen ein reicheres 
Material zu gewinnen, als fie jemals zuvor beſeſſen. Die geiftige Bewegung unferer 
Zeit, welche darauf gerichtet ift, aus dem Dualismus heranszufommen, um auf Grund 
der moniftischen Weltanjchauung das Sein zu begreifen, geht zunächſt von den Einzel» 
wiljenjchaften aus. Durch alle Zweige derjelben fünnen wir den nämlichen Zug 
verfolgen; die willenichaftliche Theologie, die Socialwiſſenſchaften, die Geſchichtsfor— 
ihung, die Philologie, die Naturwiſſenſchaften: fie alle ſuchen aus derfelben Quelle 
der Erfahrung zu jchöpfen und die mannigfachen Formen der Ericheinung auf den= 
jelben einheitlichen Uriprung zurüczuführen. Zwar die bis jet gewonnenen Anfichten 
über die Materie können nur als proviforiiche gelten, obwol fein Naturforfcher mehr 
daran zweifelt, daß in ihnen ein Kern von Wahrheit enthalten ſei, aus welchem einft die 
ganze fich entfalten werde; doch die Gejehe der mechanischen Wärmetheorie, der Un: 
zerftörbarfeit der Kraft und der Entwidlung der organischen Yebenstormen ftehen bereits 
ebenjo unerichütterlich feſt, als fich aus der Phyfiologie der Sinneswerkzeuge die 
nene Wiſſenſchaft der experimentellen Pſychologie entwidelt, welche beſtimmt jcheint, 
unjre Anficht von dem Erfenntnißvermögen, dem Fundament aller Philojophie, und 
in Verbindung mit den Nejultaten der andern Wifjenichatten, jene jelber gänzlich 
umzugeſtalten. Denn die Bhilofophie it die Wiffenichaft, welche die Summe alles 
Wiſſens überhaupt zu ziehen hat; aber es eriftixt heute noch fein philofophiiches 
Syitem, in welchem die neuerworbenen Erkenntniſſe ohne Schwierigkeit ihre Stelle 
'änden, da ſelbſt das neueite, welches unter dem Namen der „Philofophie des Un— 


Literarische Rundſchau. 129 


bewußten“ befannt ijt, ebenio wie dasjenige Schopenhauer’3 noch im Dualismus 
ſteckt. Allein die Wiſſenſchaft, die der öffentlichen Meinung immer voraus ift, weift 
auf eine PHilofophie Hin, die fich aus der Wechjelwirkung unter den einzelnen Wiflen- 
ihaften ergeben, und deren Aufgabe jein wird: „ihnen zu entlehnen, was fie bedarf, 
die Grundlage der Erjahrung, und ihnen mitzutheilen, was fie entbehren, 
den allgemeinen Zuſammenhang der Erfenntnijje“. 


— — — — 


Gladftone im Kampfe mit dem Ultramontanismus. 


1. On Ritualism (in „the Contemporary Review‘‘ for October. 12. edition) ; 
2. The Vatican Decrees in their bearing on civil allegiance: a poli- 
tical expostulation. By the Right Hon. W. E. Gladstone, M. P., 125. thousand. 
London. 1874. 


Als im preußifchen Landtage die „alkgejege‘ und im deutjchen Reichdtage die 
Jeſuitengeſetze“ berathen und angenommen wurden, da fritifirte die engliſche Preſſe 
diefen Schritt der „Bismarck'ſchen Politik“ nicht gerade zum Glimpflichjten, ging jo 
weit, ihn übereilt, unbedacht, um nicht zu jagen ungefchidt zu nennen, und ließ 
durchblicken, daß die Gefahren eingebildete feien, oder daß man jie doch hätte vermeiden 
fönnen, wenn man, wie in Großbritannien, durch Treiheitliche Inſtitutionen einen reli- 
giöfen Conflict einfach unmöglich gemacht. Seitdem iſt ein kleines, winziges Büchelchen 
erichienen, gejchrieben von einem großen, aber gefallenen Minifter, und fiehe da! — 
der Sturm ift auch in England! Die verjchiedenen religiöfen Parteien jtehen gehar- 
nifcht einander gegenüber, Pfeile fliegen hin und her, und die Zeloten des Ultra- 
montanismus, geichlagen auf dem Felde der öffentlichen Meinung, flüchten ſich von 
demjelben auf die Stufen des Altars, um von diefem, wie fie meinen, ficheren Hort 
aus, ihre Donnerfeile und Bannftrahlen zu jchleudern. Am erjten Tage des neuen 
Kırhenjahrs ward in allen Kirchen der Erzdiöceje des erzultramontanen Kämpen 
Dr. Manning, der fich, den engliichen Gejegen zuwider, Erzbiichof von Weftminfter 
nennt, und der die Waffen, mit denen er heute für den Jejuitismus fämpft, im pro= 
teftantiichen Lager ſich jchmiedete, ein Hirtenbrief verlefen, der alle diejenigen ver- 
Hucht, welche fich nicht unbedingt dem Dogma der Unjehlbarfeit des Papjtes und 
defien Gonjequenzen unterwerfen. An demjelben Tage aber erklärte ein anderer nicht 
minder angejehener Würdenträger der römiſch-katholiſchen Kirche, der Biſchof Clifford 
von Clifton (bei Briftol), der Papft habe nicht die geringfte Macht über die bürger- 
liche Unterthanentreue eines Engländers. 

Das fo viel: beiprochene, jo großes Aufjehen erregende Pamphlet über „die 
Vaticanifhen Decrete in ihrem Verhältniß zu Unterthanentreue” enthält für einen 
deutichen Lefer nichts Neues, Nichts, was in Deutichland nicht jchon eben jo gut 
oder befier gejagt worden wäre; aber Gladſtone's Verdienſt bejteht darin, daß 
er die Angelegenheit für feine Landsleute zum erneuten Gegenjtand des Nachdentens 
und der Debatte gemacht und dadurch mehr Klarheit in die gegenwärtige Stellung 
Englands zu derjelben gebracht hat. Gladftone’s Schrift ift eine gebotene Conſequenz 
feiner im Octoberheit der londoner „Contemporary Review“ veröffentlichten Abhand— 
lung „über Ritualismus,“ oder befjer gejagt, eine gebotene Gonjequenz einer Stelle 
in diefer Abhandlung. Die Veröffentlichung derjelben mußte Anhänger wie Gegner 
des Autors einigermaßen überrafchen, nach feinem Auftreten in der legten Parlaments- 
feifton bei den Berathungen über das Geſetz zur Regelung des öffentlichen Gottes- 
dienftes in der englifchen Staatskirche. Dies im Haufe der Lords von Erzbijchöfen 
der Staatäfirche zuerft eingebrachte und in beiden Käufern des Parlaments vom 
Minifterium Dieraeli eifrig unterftüßte Geſetz, war einfach ein Schritt zur Recon- 
ſtruction der anglicanifchen Kirche und Wiederbelebung der „Acte der Gleichiörmig- 
feit,“ indem man dem Felde der gejtatteten Nichtconjormität feſte gejegliche Schranken 

Teutihe Rundſchau. I, 4. 9 


130 Deutiche Rundſchau. 


309. Man fand es unmöglich, noch länger die Lehren gewiffer Ritualiften zu dul- 
den, deren offene Mbficht es ift, römisch-katholifche Dogmen und Riten in eine prote- 
ftantifche Kirche wieder einzuführen. Diefem Gejeh trat Gladftone im vergangenen 
Sommer entgegen, und in feiner langen damals gehaltenen Rede und in feinen be- 
rühmten ſechs Refolutionen fuchte er nachzuweiſen, daß die Alternative zwiſchen 
ftarrer Gleichiörmigkeit und Geftattung äußerfter Licenz liege, der, wie die Erzbiſchöfe 
nachgewiejen, allen Regeln zuwider, gefröhnt werde. 

Kaum waren zwei Monate nach diefem feinem Auftreten im Parlament ver- 
floffen, ala die Welt mit einemmal durch einen Artikel über den von ihm verthei- 
digten Ritualismus überrafcht wurde. Derjelbe enthält eine gelehrte Abhandlung 
über Namen und Weſen des Ritualismus, ohne den Kernpunct zu berühren, um den 
es fich eigentlich handelt. Ihr verdedter Zweck jcheint der Nachweiß zu jein, daR 
die Ritualiften im großen Ganzen für die proteftantifche Kirche kämpften, mit ihrer 
Nahahmung des pomphaften, und die Kunft ind Auge faffenden, römiſch-katholiſchen 
Ritus, durch den fie diejenigen in der anglicanifchen Kirche zu ſeſſeln fuchten, welche 
angezogen von ihm fie ſonſt verlaffen und fich dem Papismus in die Arıne geworfen 
haben würden. „Und wenn es wirklich unter den Ritualiften eine „Handvoll“ 
GSeiftlicher gäbe,“ jo meint Gladftone, „die darauf ausgingen, die Kirche und das 
Bolt Englands zu romanifiren, fo würden ihre Anftrengungen doch gänzlich 
bofinungslos und vifionär fein.“ Und dann fügt er hinzu: „Yu feiner 
Zeit der blutigen Herrſchaft Maria’s iſt fol’ ein Beginnen (scheme) möglich ge- 
weien. Doch wenn es im fiebenzehnten und achtzehnten Jahrhundert möglich geweſen 
wäre, im neunzehnten würde ganz und gar feine Ausficht dazu vorhanden fein, wo 
Rom an die Stelle des semper eadem, auf das es früher jo ftolz war, eine Politik 
der Gewaltthätigleit und der Glaubensneuerungen jeßte; wo es jede alte Waffe, von 
der man fich jchmeichelte, fie jei außer Brauch gefommen, wieder aufpußt und zur 
Schau trägt, wo Niemand fi zu ihm befehren kann, ohne feiner fittlichen und 
geiftigen Freiheit verluftig zu gehen, und feine bürgerliche Loyalität und Pflicht dem 
Belieben (mercy) eines Anderen zu überliefen, und wo es auf gleiche Weile den 
neuen Gedanken und die alte Gejchichte verworfen hat.“ 

Diele, unmittelbar nach der „Belehrung“ Lord Ripon’s, Gladjtone’3 ehe— 
maligen Gollegen, veröffentlichten Worte bilden die wichtigjte und intereffantejte Gtelle 
der ganzen Abhandlung. Sie riefen in der ultramontanen Prefje Englands und Ir— 
lands eine wahre Fluth von Angriffen und Anklagen hervor, welche Gladſtone höchit 
wahrjcheinlich veizten, und welche er ala ehemaliger Wohlthäter der Fatholiichen Kirche 
in Irland nicht gut unbeantwortet laffen konnte. Die der faßbare unmittelbare 
Grund für die Veröffentlichung jeines Pamphlets, den er auch auf der erften Seite 
deflelben angibt. „Mehr als einer meiner Freunde, jo jagt er, „unter denen die 
fich zur römisch-katholifchen Gemeinschaft haben hinüberziehen laſſen, machte dieje 
Stelle zum Gegenftand, mehr oder weniger, der Beichwerde (expostulation).“ Glad— 
itone bleibt jedoch dabei, daß feine Bemerkungen nicht angreifender, jondern ab— 
wehrender Natur waren; ftatt, daß die Mitjchuldigen des Papjtes ein Recht hätten, 
der Welt VBorjtellungen zu machen, habe die Welt dad Recht, vom Papſt und feinen 
Anhängern Rechenschaft zu fordern. „Ich will deshalb,“ To Fährt er fort, „als 
einer vom allgemeinen Publicum, auch meinerjeits expoftuliven. Denjenigen meiner 
vömifchefatholifchen Mitbürger, welche geneigt find, mir Gehör zu ſchenken, will ich 
zu beweifen fuchen, daß nach den eigenthümlichen Schritten, welche die Autoritäten 
ihrer Kirche in diefen legten Jahren zu thun für angemeljen hielten, das englifche 
Volt berechtigt ift, aus rein ftaatlichen Gründen, eine Meinungstundgebung von ihnen 
zu erwarten, als Antwort an jene clericale Partei in ihrer Kirche, welche, in ihrem 
Namen, Principien aufgeftellt haben, die der Reinheit und Vollftändigfeit der Unter: 
thanentreue zuwiderlaufen.‘ 

Wir bemerkten bereits weiter oben, daß Gladjtone jeine Auslaffungen über Rom 
in jeinem Artikel über Ritualismus zur Bafis feines Pamphlet?® gemacht habe. Die 


Literariiche Rundſchau. 131 


erjte und vierte derjelben: nämlich Rom Habe an die Stelle des semper eadem, deijen 
es ich früher jo ſtolz rühmte, eine Politit der Gewalt und der Glaubendneuerungen 
gejeht, und ferner, e3 habe den modernen Gedanken und die alte Gefchichte gleich- 
mäßig verworfen — fertigt er kurz ab, weil beide mehr in das Gebiet der Theologie 
gehören. Auch jcheint er der Anficht zu fein, daß der erjte Sab, fo weit practijche 
Zwede in Betracht kommen, vollftändig bewiejen fei durch die Protejte, welche die 
Unfehlbarfeitserflärung von Seiten aufrichtiger und hervorragender Katholiken ſelbſt 
hervorgerufen habe. Ebenſo bedarf e8 feines befonderen Apparates, um den zweiten 
Sab zu beweilen, daß Rom wirklich alle roftigen Waffen, von denen man jich ge- 
ichmeichelt, fie jeien von ihm beijeite gelegt worden, wieder aufgepußt und von neuem 
geichwungen habe. Die dritte Propofition jedoch, daß Niemand zu Rom übertreten 
fönne, ohne jeiner fittlichen und geiftigen ‘Freiheit verluftig zu gehen und feine bürger- 
liche Treue und Pflicht dem Belieben, oder vielmehr der Gnade eines Anderen zu 
überliefern: dieſe bildet das eigentliche Hauptſtück des Gladftone’schen Pamphlets, 
und ihr Beweis den Hauptinhalt defjelben. Gleich im Eingange feiner Beweisführung 
bemerkt Gladſtone, daß das vaticanifche Goncil die Schaale der Langmuth durch die 
Unfehlbarleiterflärung des Papftes zum Weberfließen brachte. Der berühmtejte und 
gelehrtejte Theologe der römischen Gemeinschaft, Dr. von Döllinger, lange Zeit der 
herborragendjte Vertheidiger jeiner Kirche, verweigerte die Unterwerfung und nahm 
mit ungejtörtem Gleichmuth und umverleßter Freiheit die höchfte und ſchmerzhafteſte 
Strafe der Ercommunication auf fih. „Die ſehr Wenigen, welche anderswo (ich 
ſpreche nicht von der Schweiz) in gleicher Weije litten, verdienen eine im Verhältniß 
zu ihrer geringen Zahl fich fteigernde Bewunderung, Es jcheint, ala ob Deutich- 
Land, von welchem aus Xuther die mächtige Trompete blies, welche noch jeßt durch 
das Yand widerhallt, jeine Weberlegenheit auf dem Gebiete des Gewiſſens behaupte 
und noch immer die centuria praerogativa in der großen Gomitie der Welt vor: 
itelle.“ Gladſtone Hält es für mehr als Umrecht, die Mitglieder der römischen ſtirche 
jammt und jonders für die jüngjten Neuerungen in derjelben verantwortlich zu 
machen. Vielmehr jei es die Pflicht der Beobachter, welche die in diefen Decreten 
enthaltenen Forderungen für anmaßend und falſch anfehen, ihre Sache offen vorzu- 
tragen und vermitteljt einer freundlichen Herausforderung ihre Landsleute zu er- 
ſuchen, fih in die Lage zurückzuverſetzen, welche fie nach der durch die Stimme und 
die That des Parlaments abgegebenen Erklärung diefer Nation vor 45 Jahren inne 
hatten. Bei den Berathungen über die Emancipation der Katholiken im Parla- 
mente wurden vielfache Nachtorichungen angeftellt nach den Forderungen des Papit- 
thums ſowol auf geiftlichem wie weltlichem Gebiete. Bon den höchjten katholischen 
Würdenträgern des Landes und von den höchſten Eatholifchen Behörden lauteten die 
Antworten dahin, daß, jo jtrict auch das römische Syitem in feinem Dogma jei, es 
ſich doch volljtändig mit bürgerlicher Freiheit und den Ginrichtungen eines freien 
Staat3 vertrage, und weiter, daß die Lehren über die weitgehenden Anmaßungen 
der Päpite ganz veraltet und in der That nur ein Popanz jeien. „Doch,“ jo fährt 
Sladjtone fort, „man fühlte unzweifelhaft, daß etwas mehr ala der Verzicht auf 
dieje bejonderen Meinungen zur Sicherung der vollen bürgerlichen Rechte der Katho- 
(ifen nöthig war. Wegen ihrer perföntichen Treue brauchte ein zu edelmüthiger und 
ehrlicher Auslegung geneigter Staat nicht beforgt zu fein. Nur mit Bezug auf An- 
Torderungen, welche möglicher Weife von anderer Seite fommen konnten, durfte man 
Befürchtungen hegen. Von der Vernunft war es deshalb geboten, daß England zu 
wifjen wünſchte, nicht nur was der Papjt für fich jelbft thun wirde, jondern wozu 
die Katholiken nach der Berfaffung ihrer Kirche verbunden wären und in wie weit 
ſolche Anforderungen ihre Bürgerpflicht berühren konnten. Die Lehre, welche jedes 
menſchliche Weſen in geijtlichen und weltlichen Dingen dem Papſt zu Füßen 
legte, war fein Scheinbild, feine bloße Stubentheorie geweſen. Niemals in der poli- 
tiichen Gejchichte der Welt übertroffene Geiftesfrait war jeit Jahrhunderten zu dent 
einzigen Zwecke angewendet worden, dieſe Lehre zur Praris des Chriſtenthums zu 
9* 


132 Deutſche Rundſchau. 


machen; fie Hatte im Weſten einem unmöglichen Problem einen theilweiſen Erfolg 
errungen und hatte im Djten die troßige Unabhängigkeit der Kirche mit jener römt- 
ichen Eroberung Konjtantinopela beftraft, welche thatjächlich den Fall des Oſtreichs 
und die Feitfegung der Türken in Guropa vorbereitete. Worauf e& deshalb in 
Wahrheit anfam, war nicht, ob der päpftliche Stuhl dieſe oder jene einzelne Gewalt, 
jondern ob er eine Gewalt beanfpsuchte, welche fie alle einichloß, und ob diejer An— 
ſpruch von den Autoritäten der römifchen Kirche eine derartige Sanction empfing, 
daß innerhalb ihrer Grenzen abjolut fein Haltbarer Standpunkt ınehr übrig blieb, 
von dem aus diefem Anfpruch der Krieg gemacht werden konnte. Beanfpruchte ber 
Papjt damals Unfehlbarkeit? Oder beanfpruchte er, ohne oder mit Unfehlbarkeit (und 
wenn mit ihr, um jo jchlimmer), einen univerfalen Gehorfam von feiner Heerde? 
Und waren diefe Anjprüche, einer von ihnen oder beide, in feiner Kirche durch eine 
Autorität bekräftigt, die felbjt da3 am wenigjten päpftlich gefinnte Kirchenmitglied 
für fein Gewifjen ala bindend anerkennen mußte? Die beiden erſten diejer Tragen 
wurden durch die dritte gededt. Und wohl, daß fie jo gededt waren; denn eine zu— 
friedenftellende Antwort darauf Eonnte jelbjt damals nicht gegeben werden. Die 
Päpfte hatten mit verhältnigmäßig geringer Unterbrechung jeit faſt taufend Jahren 
ihren Anspruch auf dogmatifche Unfehlbarkeit aufrecht erhalten und hatten in dem— 
jelben Zeitabjchnitte unter vielen oft genug jenen anderen Anſpruch, der theoretiich 
kleiner, practiich aber größer ift, erhoben und niemals fallen laffen: ihren Anſpruch 
auf einen thatjächlich univerjalen Gehorfam Seitens der getauften Mitglieder der 
Kirche. Für die dritte Frage war es glüdlicher Weile thunlicher, eine befriedigende 
Antwort vorzufchreiben. Gar wol war es befannt, daß die große gallicanijche 
Kirche, in den Tagen ihres Ruhms und ihrer geiftigen Macht die päpftliche Unfehl- 
barkeit nicht nur nicht zugelaffen, jondern geleugnet und erklärt hatte, daß die localen 
Geſetze und Gewohnheiten der Kirche durch den Willen des Papftes nicht bejeitigt 
werden fönnten. Ya, noch mehr, man glaubte, daß in der Hauptjache diefe Meinungen 
bis zum Schluß des legten Jahrhunderts die Herrichenden gewejen in den cigalpini= 
ichen Kirchen, die in Gemeinfchaft mit Rom waren. Das Goncil von Konjtanz hatte 
ſowol durch jeine Thaten, wie durch jeine Worte gezeigt, daß das Urtheil des 
Papjtes und der Papjt jelber durch die verfammelten Vertreter der chriftlichen Welt 
gerichtet werden fonnten. Und das Goncil von Trient hatte, troß des Ueberwiegens 
italienischer und römischer Einflüffe, beide Säbe, wenn nicht geleugnet, jo doch auch 
nicht bekräftigt.“ 

Auch in England erklärten fich die Biſchöfe, einzeln für fich und in Synoden 
vereinigt, gegen jede Unfehlbarleit des Papjtes, und außer den manchen Beweilen, 
welche Gladjtone hierfür anführt, machen wir noch auf einen anderen aufmerkſam, 
der in England wol befannt ijt und ihm entjchlüpft zu fein fcheint. In dem von 
Dr. Lingard verfaßten römiſch-katholiſchen Katechismus, der dor ungefähr einem 
Jahrzehnt noch in allen höheren römiſch-katholiſchen Lehranſtalten, namentlich 
aber von dem im engliichen Collegium zu Rom erzogenen Biſchof von Xiver- 
pool, gebraucht ward, heißt es: Die Behauptung, daß die Katholiken glauben, der 
Papit jei unfehlbar, ift eine „proteftantiiche Verleumdung.“ Doch der Batican und 
jeine Satelliten jagen: Das alles haben wir geändert. Denn, wie Gladitone ganz 
pafjend und richtig bemerkt, die vaticanifchen Decrete Haben nicht bloß die päpjtliche 
Unfehlbarkeit bekräftigt, ſondern fie haben noch beträchtlich mehr gethan in einem 
Decrete, welches viel zu viel überjehen wurde, und über das er, nachdem er es wört- 
li angeführt, mit wahrhafter Beredtjamfeit Folgendes jagt: „Selbjt da, wo die 
Urtheile des Papftes nicht die -Beglaubigungen der Unfehlbarfeit darbieten, find fie 
unappellabel und unumftößlich; Niemand darf fich ein Urtheil über fie erlauben, 
und alle Menſchen, Elerifer wie Laien, vereinzelt oder zufammengenommen, find ver: 
bunden, ihnen zu gehorchen, und von diefer Negel darf Niemand abweichen, außer 
auf Gefahr feines ewigen Heils. Sicherlich darf man jagen, dab das dritte Kapitel 
(in der dogmatiichen Gonftitution) über unbejchränkten Gehorſam, ein gewaltiger 


Literariiche Rundichau. 133 


Nebenbuhler des vierten über Unfehlbarkeit ift. In der That fcheint es, für einen 
Beobachter von außen, dem anderen die Würde zu laffen, fich ſelbſt aber die Strenge 
und Wirkſamkeit vorzubehalten. Das vierte Kapitel ift der merovingiſche Monarch, 
das dritte der farolingiiche Hausmaier. Das vierte hat einen Ehrfurcht-gebietenden 
Glanz, das dritte einen eifernen Griff. Wenig fommt darauf an, ob mein Vorge- 
fegter Unfehlbarkeit beanſprucht, jo lang er berechtigt ift, Konformität zu ver: 
langen und zu erzwingen. Diefe Conformität fordert er, wie man leicht erjehen 
fann, auch in Fällen, welche nicht durch feine Unfehlbarfeit gededt find; Fälle des— 
halb, in welchen er die Möglichkeit zugiebt, im Unrecht zu fein, doch unerträglich 
findet, daß man es ihm ſage. Da man ihm nun einmal in allen feinen Urtheilen 
gehorchen muß, jelbit wenn fie nicht ex cathedra find, jo fcheint e8 bedauerlich, daß 
er nicht die tröftliche VBerficherung geben kann, daß fie alle auch beſtimmt recht 
find.“ ’ 

Auf Grund diefer und weiterer Beweife gelangte Gladftone zu folgenden Schlüffen : 

1) Daß der Papft, autorifirt durch fein Goncil für ſich beanfprucht das 
Gebiet, a) des Glaubens, b) der Moral, c) alles deffen, was die Regierung und die 
Disciplin der Kirche anbetrifft. 

2) Daß er in gleicher Weile die Macht beanfprucht, die Grenzen diefer Gebiete 
zu beftimmen. 

3) Daß er fie durch feine anerkannte oder verftändliche Linie von den Gebieten 
der PRürgerpflicht und der Unterthanentreue unterjcheidet. 

4) Daß er deahalb von jedem Gonvertiten und jedem Angehörigen feiner Kirche 
beanſprucht, und vom Juli 1870 an mit voller Autorität beanſprucht, daß dieſer 
feine Loyalität und Bürgerpfliht dem Belieben eines Andern ausliefere, und dieſer 
Andere ift er felber. 

Hierauf legt fich Gladjtone die Trage vor, ob, wenn die fo eben aufgeftellten 
Sätze wahr find, fie auch thatjächliche Bedeutung haben. „Es ſei,“ jo jagt er, „die 
Lieblingsaufgabe jeines Lebens gewejen, nicht Befürchtungen heraufzubeichwören, 
fondern zu beruhigen,” und er behaupte nicht, „daß auswärtige Feinde, noch heimifcher 
Nerrath auf den Befehl des römischen Hofes dieje Triedlichen Ufer beunruhigen können. 
Mögen nun folche Befürchtungen träumerifch fein, jo ift e8 doch noch träumerischer, 
nur fir einen Augenblid anzunehmen, daß die Anfprüche eines Gregor VII., eines 
Innocenz III. und Bonifaciuß VIII. im 19. Jahrhundert wieder ausgegraben worden 
find, wie gräuliche Mumien aus ägyptiichen Sarkophagen, hervorgezogen werden, 
Lediglih im archäologischen Antereffe oder ohne bejtimmten praftiichen Zwed. Als 
vernünftigen Weien muß fi) und die Ueberzeugung aufdrängen, daß dieje erftaun- 
lichen Behauptungen mit einem Far aufgefaßten und vorherbedachten Zwed vor der 
Welt zur Schau getragen wurden. Und welches ift diefer Zwed?“ Die Antwort 
hierauf ift ebenſo intereffant wie jchlagend. „Ein politisches Ziel von jehr greifbarer 
Art muß e8 Sein,“ jo meint Gladftone, „Für welches man wohlüberlegt einen jo 
tühnen Einbruch in die ftaatliche Sphäre gewagt hat. Und wahrlich, es ift ein Fühner 
Einbruc. Denn es ift jonnenflar, daß die einfache Behauptung von Principien, die 
eine Befreiung von der Unterthanentreue aufjtellen oder deren Volljtändigfeit ber 
fchränfen, in vielen anderen Ländern Europa’s weit unmittelbarer als bei uns auf die 
Hervorrufung politifcher Zwiftigfeiten und auf Gefahren von höchſt materieller und 
greifbarer Art hinausgehen. Der jebt in Deutichland vorgehende Kampf Fällt einem 
Tofort als greifbares Beifpiel ein. Ich bin nicht competent, eine Meinung über die 
Ginzelnheiten des Kampfes abzugeben. Die Inftitutionen Deutichlands und die rela— 
tive Schätzung von Staatögewalt und individueller Freiheit find wejentlich verichieden 
von den unferen. Aber jo viel muß ich jagen, daß es eritens Preußen nicht allein 
ift, welches berührt wird; anderswo auch Liegt der Zankapfel bereit, wenn auch der 
Streit darum noch verzögert wird. In anderen Staaten, namentlich in Oejfterreich, 
find neue Gelehe in Kraft getreten, die zu jehr ähnlichen Ergebniffen führen müſſen, wie 
die, zu denen die Falk'ſchen Geſetze geführt Haben. Die römiſche Curie jedoch beſitzt in 


134 Deutihe Rundichau. 


großer Volltommenheit eine Kunft, die Kunft des Abwartend, und hat den weilen 
Grundſatz, immer nur einen Feind zur Zeit zu befämpfen. Zweiten, wenn ich die 
vom Batican promulgirten Ansprüche richtig dargeftellt Habe, jo ift es jchwer zu 
leugnen, daß dieſe Anfprüche und die Macht, welche fie aufgeftellt hat, im erſter 
Linie verantwortlich find Tür alle die Leiden und Gefahren des gegenwärtigen Gonflicts 
zwijchen dem deutjchen und römischen Verfügungen. Und das, was einft von Frank— 
reich richtig gefagt wurde, kann jet von Deutjchland nicht weniger richtig gejagt 
werden: ſobald Deutichland. beunruhigt wird, kann Guropa feine Ruhe haben. 
Diefer Umftand würde mir weniger Sorge machen, hätte der Papit feine ſeit den 
Ereigniffen von 1870 geänderte Lage freimüthig anerkannt und in einer ebenjo Haren, 
wenn nicht ebenjo emphatifchen Sprache, ala die, in welcher er die moderne Givilifation 
verurtheilt hat, Europa die Verficherung gegeben, daß er feine Partei nehmen wolle 
bei der Wiederheritellung der weltlichen Herrichait der Kirche durch Blut und Gewalt- 
that.... Wenn man nun den Ton der römischen Klagen und Beichwerden mit der 
Sprache der autorifirten und begünftigten päpftlichen Preßorgane und der ultramon= 
tanen Partei in ganz Europa (jet die einzig legitime Partei in der lateiniſchen 
Kirche) vergleicht, jo gelangen gar manche zu dem ſchmerzlichen und empörenden 
Schluſſe, daß eine bejtimmte Mbficht bei den geheimen Lenkern der römischen Politik 
befteht, bei irgend einer günjtigen Gelegenheit und auf dem Wege der Gewalt, das 
Lieblingsproject der Wiederaufrichtung des weltlichen Thrones des Papjtthumes 
zu verfolgen, jelbft wenn es nur auf der Aſche der Stadt und den bleichenden Ge— 
beinen des Volkes wieder aufgerichtet werden könnte,“ 

Aus diejer Stelle geht deutlich hervor, daß Gladftone die Staatsgefährlichkeit 
der ultramontanen Politik in ihrem ganzen Umfange erkennt, allein die Mittel, die 
er vorichlägt, um ihr zu begegnen und fie abzuwenden, find durchaus die des eng— 
liſchen Politikers und er überjchreibt fie ausdrüdlich ‚on the home policy of the 
future“. Mehr noch, es find die Mittel, die feiner eigenen, perjönlich bisher 
verfolgten Politik entjprechen. „Wohl kann ich mir denken,“ jagt er, „daß im 
Geiſte Mancher eine Frage entfteht. Meine eigenen Anfichten und Abfichten find 
in der Zukunft von der geringften Bedeutung. (Ganz ficherlich nicht, jo meinen 
wir.) Doch wenn die von mir hier vorgebrachten Argumente e& zu meiner Pflicht 
machen, meine Anfichten und Abfichten zu erflären, jo jage ich kurz, die Zukunft 
wird genau wie die Vergangenheit fein. In dem Wenigen, das von mir abhängt, 
werde ich mich jpäter, ganz wie zuvor, von der Kegel Leiten Laffen, gleiche bürger- 
liche Rechte, ungeachtet religiöſer Differenzen, aufrecht zu erhalten, und allen Ber- 
ſuchen entgegenzutreten, die Mitglieder der römischen Kirche von der Wohlthat diejer 
Regel auszuſchließen. Ich halte dafür,“ Fährt er fort, „daß unfer vorwärts gerich- 
teter und ebener Cours nicht durch Thorheiten verändert werden jollte, deren Con— 
jequenzen zu zügeln, wenn es zum Schlimmjten fommt, dieſes Land zugleich Die 
Macht und, im Falle der Noth, den Willen haben wird.“ 

Mol mag der engliiche Politiker jo jprechen, da für England die Machtfrage 
nur noch ein Hiftorifches Antereffe und der Kampf mit dem Ultramontanismus die 
Bedeutung eines Accidenztalles hat, der auf jeine Sphäre beichränft, den Staat nicht 
berührt. Der deutſche Politiker wird anders urtheilen müflen über einen Kampf, in 
welchem, jo weit Deutichland in Betracht fommt, die Machtirage überhaupt erft zur 
Enticheidung fteht, und über die Mittel, feinen Ausgang zu fichern, von welchem 
Exiſtenz und Zukunft des Staates bedingt werben. 





Berliner Chronik. 


Die dramatiſche Production und die Theater. 


— — 


Berlin, 15. December 1874. 


Auf die fetten Kühe Pharaonis ſind die mageren gefolgt. Keins unſerer Theater 
hat in den letzten Wochen eine irgendwie bedeutende Neuigkeit zur Darſtellung ge— 
bracht. Dies ſcheint mir denn doch trotz des preußiſchen Schiller- und des wiener 
Grillparzer-Preiſes für das beſte Drama eine bedenkliche Ebbe in der dramatiſchen 
Production anzudeuten. Früher, jo lange dad Monopol der Hof- und größeren Stadt— 
theater, allein auf ihren Bühnen Trauer und Schaujpiele aufführen zu dürfen, be- 
itand, hatte der Einwand und die Klage der Dichter, daß fie ihre Stüde nicht „an- 
zubringen“ vermöchten, eine gewiffe Wahrheit und Berechtigung. Mehr als etwa 
zwölf fünfactige neue Stüde wird ein Theater Jchwerlich im Laufe eines Jahres vor— 
führen können und diefe Zahl ift jelbitverftändlich ein verfchwindender Bruchtheil 
gegenüber der Production. Jetzt aber erwarten in Berlin, von der Hofbühne ab- 
gefehen, ſechs Theater jehnjüchtig jede neue Schöpfung, die nur don fern einen 
theatralifchen Erfolg veripriht. Jede Gattung wird hier gefucht, von der Plauderei 
bis zur Zragödie. Gerade das Kühnſte würde das Willkommenſte jein, weil es die 
ſtärlſte Wirkung erzeugt. Dennoch bewegen fich die Dichter meift in den auöge- 
'ahrenen Geleifen. Nach wie vor überwiegt das Buchdrama — jene Art der dra— 
matifchen Dichtung, die von vornherein, jo wunderlich es klingt und fo ſehr die 
Dichter fich gegen diefe Behauptung fträuben werden, nur die Lectüre nicht die jcenifche 
Darftellung in’s Auge faßt. 

An diefem inneren unheilbaren Widerfpruch kranken, Ausnahmen natürlich zus 
gegeben, Die meiſten Hijtoriichen Dramen, die unjere Jugend in Anlehnung an das 
Schiller - Shafeipeare’sche Borbild zu dichten nicht milde wird. Wer fich die Mühe 
nimmt, nur den Ertrag diefes Gebietes in einem Jahre genauer zu: betrachten, der 
erjtaunt und erjchrieft über die große, hier vergeudete Kraft. Bergleiht man bie 
moderne Dramatik, wie fie fich in diejen Dichtungen abjpiegelt, mit der aus ber 
Periode von Sciller’3 Tode bis zu Gutzkow's Auftreten, jo ift nach der Seite der 
Charakteriſtik, im Aufbau der Fabel, in der Kenntniß des Hiftorischen Materials im 
Allgemeinen der Fortſchritt unverkennbar; nicht Fortgefchritten dagegen ift die theatra= 
liche Wache, das Handwerfsmäßige der Bühnendichtung. Eher möchte ich hier einen 
Rüdjchritt bezeichnen. Mir ift fein Trauerjpiel der lebten zwanzig Jahre befannt, » 
da3 eine Ähnliche theatralifche Wirfung gehabt hat oder auch nur in der denkbar 
trefflichften Ausftattung auszuüben vermöchte, wie Grillparzer 3 „Ahnfrau“ oder 
Müllner3 „Schuld“. Nicht einmal der Erfolg don Brachvogel's „Narziß“ reicht 
daran. Das Bedenklichite ift der Mangel der elementarjten Kenntniß der modernen 
Bühne. Ich habe diefen Arbeiten gegenüber die Empfindung, ala wollte einer ohne 
den Euflid zu kennen den Sab vom goldenen Schnitt beweilen. Dramen, doppelt 
jo lang wie „Maria Stuart”, mit beftändigem Wechjel der Decoration, find nichts 


136 Deutſche Rundichau. 


Seltenes. Dabei muß fich Jedem, der ein Theater befucht, der ftörende Eindrud des 
Decorationswechſels — nun gar bei der jeßigen Einrichtung, wo jede Veränderung 
der Scene mit dem Fallen des Vorhangs bezeichnet wird — aufdrängen. Solche 
Berjtöhe find bei den Franzoſen unmöglich, aber unjere Dichter wollen nicht be- 
greifen, welcher Vortheil für die Führung der Handlung, welcher Hebel der Spannung 
in der ftehenden Decoration, wenigjtens für jeden Act, Liegt. Zu diejen äußerlihen 
Mängeln gejellt fi dann die unglüdliche Wahl des Stoffe. Der Genius, jelbit das 
große Talent wifjen auch dem jprödeiten Marmor die vollendete Gejtalt abzuloden, 
für fie gibt e8 im Grunde feine Kritik, dad Maß der Kunſt und ihres Können ruht 
in ihrer eigenen Bruſt. Es Handelt fich aber auch nicht um fie, jondern um Die 
Mehrzahl Leichterer Talente, die im Labyrinth des Hiftorischen Drama's ohne den 
rettenden Faden der Ariadne hin und Her irren, von Nero zu Friedrich Barbarofja, 
von König Roderich zu Francesca von Rimini. Im erflärlicher Poetentäufchung 
jchieben fie ihr Intereſſe an dieſen Geftalten dem unbejchreiblichen, unbegreiflichen 
Ungeheuer unter, das Theater-Bublicum Heißt. Die Dichtung wird zunächſt einigen 
Freunden mitgetheilt, in einem fleinen Kreiſe vorgelejen und findet bier, eben weil 
fie einzig und allein ein Leſedrama ift, gerechte Anerkennung. Dadurch ermuthigt 
geht der Dichter weiter: er jendet fein Drama an einen „gefürchteten“ Theater— 
fritifer — „gefürchtet“, ach! bei den Mufen, zumeift pflegen wir Kritiker uns vor 
jedem neuen Stüd zu fürchten — und erhält eine aufmunternde Antwort. Niemand, 
der ein poetijches Empfinden und Gefühl für die Tragif in der Geichichte Hat, wird 
3- B. die fchönen Dichtungen Hans Herrig’3 „Mlerander” und „Jeruſalem“ ohne 
Ergriffenheit leſen; er fann nicht anders, ald den Reichthum bedeutender Gedanken, 
den Iyrifchen Schwung, den dramatifchen Zug in der Gegenüberjtellung der fich be— 
fämpfenden Parteien loben. Ob dieſer Eindrud bei einer Theatervorjtellung vor- 
hält, ericheint mir mehr ala problematifh. Ja, ich ſelbſt bin meiner eigenen Stim- 
mung nicht ficher; bald ftört mich der Schaufpieler oder die mangelhafte Ausftattung, 
bald — und das iſt die Hauptſache — die Berührung mit, die Anſteckung durch das 
Publicum. Der allgemeine Ausdrud des Unbehagen, der Zangenweile, der Theil- 
nahmlofigkeit in einer Menge zerftreut auch die Aufmerkſamkeit des freundlich Ge- 
finnten. Dem einzelnen gebildeten Lejer genügt der Dichter, die Seele der Maſſe 
weiß er nicht zu rühren. Die hiſtoriſchen Probleme, die er aufftellt, laſſen die Zu- 
ſchauer kalt, theils, weil fie uns zu fern liegen, theild, weil fie an fich gleichgültig 
und überwundene Dinge find. Ich fürchte, die ganze Form unferer gefchichtlichen 
Dramen bat fich überlebt. Die Bühne ift nicht mehr die Stätte, von der das Bolt 
Sprüche politifcher Weisheit und die Lehren Klio’3 vernehmen will. In der Wand- 
lung der Zeiten hat fie aufgehört, Rednertribüne und Lehrkanzel zu fein. Erfolgreich 
hat. fich die politiiche Beredtjamkeit der poetifchen zur Seite geitellt und drängt die- 
jelbe, durch ihr bloßes Dafein, in den Schatten. Biel ftärkere Donner, alö in der 
Dichtung, grollen in parlamentariichen Sigungen. Nur die mächtigiten Dichter ver- 
mögen fich noch dagegen zu behaupten: es find die alten Lieblinge des Volkes. Dem 
jungen Gejchlecht glüdt der tragiiche Wurf, die Löwengeburt nicht mehr, vor Allem 
— was die Dichter nicht hören wollen —, es iſt gar fein Bedürfniß nach Trauer- 
ipielen vorhanden. Mehr als ausreichend dedt das claffiiche Repertoire die Nach- 
frage. Die Franzoſen haben mit ihrem Scharffinn Längjt den hiſtoriſchen Wald ver- 
laſſen, höchſtens daß fie zuweilen in feinen Ausläufen, wo die Hiltorie in das 
Genre übergeht, ſiehe Sardou's „La Patrie“ und „La Haine“, von einer viefigen 
Tanne oder Eiche einen Ajt abbrechen, um ihn dem Publicum jchön aufgepugt mit 
Komödienflittern zu zeigen. Das Buchdrama in unjerem Sinne fennen fie nicht, 
ihre Poeten haben immer und ausjchließlich die reale Bühne und den theatralijchen 
Effect im Auge. Auf die Schilderung der Sitten, der gejellichaftlichen Zujtände 
richtet fi) das größere wie das geringere Talent. Die Wiederholung derjelben 
Fragen und Vorwürfe, die unmittelbare Anſchauung und Beobachtung ded modernen 
Lebens bringen endlich das vollendete Kunſtwerk hervor. Von diejer ftrengen Schulung, 


Berliner Ehronit. 197 


von diefem ernſthaften, unverrüdt nach einem Ziel gewandten Streben ift bei unferen 
Dramatifern, wenn wir fie ala Geſammtheit betrachten, wenig zu jpüren. Jeder gebt 
nicht nur feinen befondern Weg, ſondern jeder verfucht in jedem Stüd etwas Anderes. 
Wir bewundern die Wielfeitigfeit des Poeten, der Heute „Die Journaliſten“ und 
morgen „Die Fabier“ und ſchenkt, aber die Bühne zieht feinen rechten Nuben davon, 
ihr wäre ein neues Luſtſpiel viel willlommener geweſen, als eine römijche Tragödie. 
Denn das Luſtſpiel, die hohe und die niedere Komödie, die fich in der Gejellichaft, 
wie wir alle fie fennen, bewegt, ſich mit modernen Fragen, VBerwidelungen, Zus 
itänden bejchäftigt, ift noch der einzig lebensfräftige Zweig am Baum der dramatijchen 
Kunft, Hier allein fann der Dichter noch Hoffen, originell zu fein. Es wird auf 
Menfchenalter hinaus ein thörichtes Unterfangen bleiben, um den Lorber der Tra- 
gödie mit Shafefpeare und Schiller ringen zu wollen. Auf dem Gebiet der Komödie 
ſchreckt die Poeten fein folcher heroiſcher Schatten, fann fie nicht jchreden, da jedes 
Jahr eine neue Frucht menfchlicher Thorheit zeitigt. Ye Sage hat jeinen „Turcaret“, 
Balzac jeinen „Mercadet“ geichaffen — aber moderne Gründungen, den „großen 
Krach” Haben beide nicht einmal geahnt. Die „gelehrten Frauen” Molière's, die 
Blauftrimpfe, die ab und zu in unferen älteren Komödien ericheinen, ähneln durch- 
aus nicht unferer modernen Mädchenjugend, die „zur Erwerbsfähigkeit“ gedrillt wird, 
und den tapferen Matronen, welche „die wirthichaftliche und wiſſenſchaftliche Eman- 
cipation des Weibes“ jo beredt und fo fomifch vertheidigen. 

Aber für wen jchreibe ich das Alles? Alfred Timpe — Gutzkow hat den an- 
gehenden Dramatiker, der für den Schillerpreis „dichtet und denkt“, jo genannt — 
lächelt vornehm darüber. Was follen ihm die Nathichläge eines mittelalterlichen 
Kritiker? Ueber feinem Haupt jchwebt der Meſſiasſtern, in feiner Bruft ruht ein 
Hönig Wamba oder ein fiebenter Gregor. Ihm wird gelingen, was feinem noch ge- 
lang. Glüdliche Jugend, wie gern ließe ich dich in deinen goldglängenden Wolken— 
reichen, die ach! die Wirklichkeit nur zu bald zerftören wird, wenn du nur beine 
befte Kraft dort nicht nutzlos an Schemen vergeuden wollteft! Du gießeſt Waller 
in's Faß der Danaiden. Die anderen Leſer wollen mir Entichuldigung gewähren : 
e3 galt, einmal den Punkt zu berühren, an dem unfere deutjche dramatijche Pro- 
duction krankt, der fie, wenn man nur das Theater betrachtet und das Buchdrama, 
mit der verhängnißvollen Bemerkung: „den Bühnen gegenüber Manuſcript“, ganz 
außer Acht läßt, von Jahr zu Jahr dürftiger und ärmlicher erjcheinen Läßt. 

In diefer Noth haben fich einige Theater mit Gaftjpielen bekannter Künſtler, 
die Hofbühne mit der Auffrifchung claffiischer Dichtungen zu Helfen gejucht. Am 
Stadt-Theater gaftirt jeit Wochen Herr Emmerich Robert, am Wallner-Theater Herr 
Friedrich Haafe, der jehige Director des Leipziger Theaters, am Reſidenz-Theater 
Frau Eleonore Wahlmann, die Tragddin des Stuttgarter Hoftheaterd. Zu drei 
Dingen ijt die vielgefchmähte Iheaterfreiheit gut: fie macht dem Bolt in allen Claſſen 
den Zutritt zu den Meiſterwerken der dramatifchen Dichtung möglich; fie eröffnet der 
Production ein größeres und auögiebigeres Abſatz- und Verſuchsfeld; fie gibt dem 
begabten Schaufpieler Gelegenheit, fich häufiger einem freinden Publicum zu zeigen, 
Anregungen zu empfangen, die ihm zu Haufe ewig fern geblieben wären, und jeiner- 
ſeits wieder auf einen Kreis von Mitftrebenden, von jüngeren oder unbedeutenderen 
Schaufpielern fördernd und anfeuernd einzuwirken. Gin glänzendes Beifpiel für die 
legte Behauptung bietet Fran Wahlmann. Ihre Spielweije, ihr Rollenfach weijen 
fie auf die Bühne des Schaufpielhaujes, aber man weiß, wie jchwer zugänglich die- 
jelbe fremden Künjtlern ift. Frau Wahlmann war jomit bis vor einigen Jahren 
von den Berliner Bühnen gleichſam ausgeichloffen, dem Publicum durchaus unbe- 
tannt. Seitdem hat fie fich Hier, auf verſchiedenen Theatern erjcheinend, die Aner— 
fennung der Kritik, die Theilnahme der Theaterfreunde gewonnen. Zu einem groß- 
artigen Erfolg ift ihr Talent freilich nicht durchgedrungen. Frau Eleonore Wahlmann 
bat ſich nach dem rhetorifch - afademifchen Mufter gebildet, fie iſt zuerit und zuleßt 
wie Glara Ziegler eine Schönrednerin. Aber e3 fehlt ihr die Gewalt diejer Stimme, 


138 Deutiche Rundſchau. 


fie führt nicht, wie Frl. Ziegler „einen Donnerkeil im Munde“. Sie jpricht und 
betont richtiger, ald die Münchener Schauspielerin; in der Gliederung der Süße, in 
der Klarheit der ruhigen Rede erkennt man den fein abwägenden Berjtand der boch- 
gebildeten Frau: fchade, daß dev Dämon ausgeblieben. Die Medea, die Königin 
Elijabeth der Frau Wahlmann kommen über eine mittlere Höhe nicht hinaus, weder 
in der Auffaffung des Charakters, noch in der Darftellung. Ueberall tritt uns bie 
erfahrene, die wiſſende Schaufpielerin entgegen, wir vermiljen den originellen Zug, 
das Urfprüngliche der Leidenſchaft. Das Ganze bleibt zu jehr und zu ausſchließlich 
im Rahmen der Bühne, wir vergefjen zu jelten, daß wir eine Theaterfönigin, eine 
Theaterzauberin vor und Haben. Zuweilen qudt unter dem nachjchleppenden Ge— 
wande fichtbar der Cothurn hervor, auf dem fich die Schaufpielerin jtattlich bewegt. 
Das vermag und nun nicht in die Illuſion Hineinzuzaubern, und wenn die Künſt— 
lerin gar uns Eſſex' ElifabetH mit dem blühenden Antlig einer dreißigjährigen Dame 
vorführt, jo verwiſcht fich der Charakter der Geftalt, des ganzen Stüds, Alles nimmt 
den fomddienhaften Zug an. Am bejten gelingen der Künftlerin die hochpathetifchen 
Reden; hier fommen der Iyrifche Schwung und die Neigung zum Declamatorijchen, 
die in ihr vorwaltend find, zu ihrem echt, ohne dem Dramatifchen Eintrag zu 
thun. Frau Wahlmann brauchte eine ihr ebenbürtigere Umgebung, als ihr jegt auf 
dem Refidenz- Theater zu Theil wird und werden kann; fie glänzt mehr in einem 
wohlgeichulten, fein abgetönten Enjemble, als in einem virtuofen Allein-Spiel. Unter 
den jüngeren, meift noch unreifen Kräften des Refidenz- Theaters herricht eine ganz 
andere Spielweije, ein ganz anderes Streben vor, fie alle find Naturaliften, Frau 
Wahlmann ift unter ihnen die einzige Sdealiftin; während fie in tragijchen Stellungen 
tragifch declamirt, ſprechen die Anderen ihre Verſe wie die deutfch-franzöfiiche Profa, 
‚an die fie durch die Ueberſetzungen Sardou’3 und Dumas’ gewöhnt find. Dadurch 
fümmt eine unlösbare Diffonanz in die Darftellung. 

Viel glüdlicher Hat e8 Friedrich Haafe in dem Wallner-Theater getroffen. 
An wahrhaft jchaufpieleriihem Genie überragt er nicht nur die Mehrzahl derer, mit 
denen er jebt zujammenfpielt, jondern auch Frau Eleonore Wahlmann. Aber die 
Schaufpieler, auch die mittelmäßigen, finden fich leichter und jchneller im Xuftfpiel, 
ala in der Tragödie zurecht und zufammen. Cine leidliche Aufführung der „beiden 
Klingsberg“ oder des „Fräuleins von Seigliere“ läßt fich mit gutem Willen auf 
jeder größeren Bühne bewerkjtelligen, weder im Burgtheater noch im Berliner Schau: 
ipielhaufe Habe ich jedoch eine Aufführung der „Medea“ gejehen, die in allen Punkten 
billigen Anjprüchen genügt hätte. Bald fehlte es bier, bald Hinkte e8 dort. Neues 
bat Friedrich Haaſe uns nicht geboten: jein „Königslieutenant“, jein „Marquis von 
Seigliere“, jein „Klingsberg“, der Lord Harleigh aus dem abjcheulichen Stüd: „Sie 
it wahnfinnig“, fein „Bonjour“ — es gibt in Deutjchland Fein Theater, auf dem 
fie nicht erfchienen und bejubelt worden wären. Die älteren Theaterfreunde in Berlin 
fennen fie jo zu jagen auswendig. Man braucht feineswegs mit Allem, was der 
Künſtler macht, einverftanden zu fein, und ift doch von der Gejammterfcheinung ge— 
blendet. In ernten, tragifchen Rollen vermag mich Friedrich Haaſe nicht zu feſſeln 
und Hinzureißen, es ift etwas in mir, was ſich weigert, an jeinen Hamlet oder Crom— 
well zu glauben. In diefen Humoriftiihen, bald komiſchen, bald boshaften, Halb 
fentimentalen, Halb ironiſchen Geftalten dagegen, denen allen der Stempel des Genre: 
haften aufgeprägt ift, die zu ihrer Verkörperung der jorglichiten und genaueften Detail- 
malerei bedürfen, gehört er zu den ausgezeichnetiten deutjchen Schaufpielern; Hat der 
Dichter ihnen nun gar den Hautgoüt adeliger Verkommenheit — ich betone das Bei: 
wort abdelig, es ijt der Punkt über dem J in Haaſe's Darjtellung — eine nicht zer— 
legbare Miſchung von vornehmen Formen und Lajterhaitigkeit, von ariftofratiicher 
Frechheit und Gewifjenabiffen gegeben: jo ift Friedrich Haafe ein Schaufpieler, wie 
ed zur Stunde feinen zweiten gibt. Verachtet diefe Klingsberg's, dieſe Frefinau’s — 
aber Hut ab vor dem Künſtler, der fie geichaffen! Von dem hiſtoriſchen Menfchen 
hat Haaſe nichts ala das jeweilige Koftüm, das er trägt, für den Menjchen in der 


Berliner Chronik. 139 


Geſellſchaft beſitzt er das feinfte Gefühl. Selbſt eine quedfilberne, bewegliche, ironijche 
Natur, weiß und empfindet er fich in Wahlverwandtichaft mit den ähnlichen Figuren 
der Dichter. Eine jcharfe Beobachtung des Lebens, die virtuofe Ausbildung feines 
angeborenen jchaufpieleriichen Könnens tragen dann das Ihrige zur Vollendung feiner 
Darftellung bei. Durch eine Fülle von kleinen Zügen überrajcht er den Zufchauer 
und ſetzt zugleich dem Charakter, den er darftellt, immer neue Lichter auf. Er läßt 
die Figur vor ung fich entwideln und entfalten, jtatt gleich mit einem Wurf Alles 
zu geben. Driginell in der Anlage, jauber in der Ausführung, aus der Darftellung 
feiner Vorgänger und Nebenbuhler mit glüdlichem Griff den Einfall, die Geberde 
ergreifend, die er harmoniſch mit feiner Weife verbinden und verjchmelzen kann, hält 
er den Zufchauer beftändig in Staunen, Lachen, Bewunderung feſt. Da fich der 
Künftler bei jeinem diesmaligen Gaftjpiel auf jein eigenftes Gebiet beſchränkte und 
nur längft erprobte Gejtalten vorführte, war er des glänzendſten Erfolges ficher. 
Wer will, fann eine Predigt gegen das Virtuoſenthum daran knüpfen; dem Theater- 
publicum indeflen jcheint e8 ein Bedürfniß zu fein, von Zeit zu Zeit feine Lieblinge 
in den alten Masken und Kleidern wiederzufehen. 

Im Stadt-Theater gaftirt jeit längerer Zeit Emmerich Robert, noch vor 
wenigen Jahren der verzogene tragiiche Yüngling=Held des Hojtheater®, dann am 
Stadttheater zu Wien, unter Laube's Leitung, als erfter Stern glänzend. Erſt all- 
mählich bat er fi) das Bertrauen und den Glauben der Berliner wieder errungen 
und findet jet, nach der Meinung der Kritik, den verdienten Zuſpruch und Beifall. 
Seine bedeutendften Rollen find Hamlet, Sigismund („Das Yeben ein Traum“), 
Uriel Acofta, Moliere („Das Urbild des Tartüffe“). Wenn der Künſtler in Wien 
an „Vortragskunſt“ gewonnen, jo bat er dafür die jchöne Natürlichkeit, die ihn im 
Anfang jeiner Laufbahn augzeichnete, beinahe ganz verloren: eine virtuofe Begabung, 
ein mwohlflingendes Organ, eine gewiſſe Ritterlichfeit in Gang und Haltung werden 
ihm eine hervorragende Stellung in der deutfchen Bühnenwelt, wie fie nım einmal 
ift, fihern. Talent wie Ausbildung weifen ihn auf den rhetorifchen Pad, fein Vor: 
trag überwuchert fein Spiel, unter der wallenden Toga verjhwinden die bejtimmten, 
charafteriftiichen Formen. 

Wie Schon bemerkt, Hat die Hofbühne durch die Neueinftudirung älterer Sachen 
dem Mangel an Neuigkeiten abzuhelfen gefucht. Sie Hat Heinrich's von Kleiſt 
Zuftipil „Der zerbrodhene Krug“ und Schiller's „VBerfhwörung des 
Fiesco“ zur Aufführung gebracht. In feinen Figuren, in feinem Farbenton, in 
der breiten, in alle Einzelheiten fich liebevoll vertiefenden Ausführung ift „Der zer— 
brocdhene Krug“ ein echtes niederländifches Gemälde. Der Einfall, die Begebenheit 
nad) Holland zu verlegen, ift einer der glüdlichften, der noch einem Dichter gelommen 
ift. So Hat die Fabel, jo haben die Geftalten des Dorfrichter® Adam, der Frau 
Marthe Rull, ihrer Tochter Eva einen culturhiftoriichen Hintergrund erhalten; ſogar 
der Krug, auf dem die Abdankung Kaiſer Karl's V. gemalt war, erhebt fih aus 
feiner unhiftorifchen Wichtigkeit zu Werth und Bedeutung. Wir Haben ein Bild in 
der Weile und Farbeugebung Brouwer's, Oſtade's, Tenierd’ vor und. Wie bei ihnen 
bildet eine täppiſche Yiebelei, eine tüchtige Prügelei den Einfchlag der Handlung. 
Mit ihrer Genauigkeit, die jede Falte im Antlitz ihrer Originale nachmalte, ift der 
Doririchter Adam gezeichnet: eins der eigemartigjten Gabinetsftüde der deutjchen 
dramatiichen Kunſt. Man kann diefem alten, durchtriebenen, verliebten, boshaften 
Schelm in feiner vergnüglichen Gelbitgefälligkeit, in all’ feinen wechielnden Humoren, 
von vertranender Sicherheit, frechem Läugnen, ſelbſtbewußtem Trotz zu feiger Kriecherei, 
nicht gram werden, wenn man ihn von Meifter Döring dargejtellt fieht. Die 
ganze Darftellung ging luftig und malerifch ineinander. Um jo weniger befriedigte 
die Aufführung des „Fiesco“. Außer dem Gianettino des Hrn. Berndal und dem 
Muley-Haffan des Hm. Kahle — einer mehr drolligen als gefährlichen Bejtie — 
blieben die Uebrigen weit Hinter Schiller’3 Geftalten zurüd. Die Herren Ludwig 
und Dee, die Damen Erhartt und Stollberg ragten feinem Fiesco und Ver— 


140 Deutiche Rundſchau. 


rina, feiner Leonore und Julia, die Einen bis zur Schulter, die Andern noch nicht 
einmal jo hoch. Die Berliner Hoffchaufpieler haben es verlernt, den jugendlichen 
Schiller zu fpielen. Den Schwung, das Pathetiiche, dad Himmelftürmende juchen 
fie durch einen fogenannten „natürlichen“ Ton zu erſetzen. Es geht Alles jo glatt, 
fo zimperlih, jo akademiſch gemeflen ber, daß man eben nur einem Schattenjpiele 
beizumwohnen mwähnt. Die Begeifterung ijt fort, das Phlegma ift geblieben. Auf 
die Ausftattung hat man wieder viel Mühe verfchtvendet, ohne uns doch einen einzigen 
für Genua charakteriftiichen Projpect zu zeigen: eine hohle leere Pracht. Während 
Schiller für den fünften Act nur eine Decoration angibt, theilt man auf unferer 
Bühne den Act in zwei Scenen mit zwei verjchiedenen Decorationen; dagegen läßt 
man, jo lächerlich es ift, Verrina in Fiesco's eigenem Zimmer dem Bourgognino er= 
flären, daß Fiesco fterben müſſe. Die impojante Eingangsicene des dritten Acts, 
deren Schreden der Dichter durch die Schreden der Natur, in die er fie verliebt, 
„Ffurchtbare Wildniß”, jchreibt er vor, wie es Shakeſpeare im „Macbeth“ und „Lear“ 
gethan, hat man gelafjenen Sinnes fortgejtrichen. 

Außer zwei einactigen, durchaus nichtigen Kleinigkeiten: „Ein gefährlicher 
Freund“ aus dem Franzöfiichen von A. Freſenius und „Nedereien”“ von 
A. von Winterield, die am 20. November aufgeführt wurden, hat die Hofbühne 
als einzige größere Neuigfeit Mofjenthal’s3 „Sirene“, eine Komödie in vier Acten, 
am 12. December zur Daritellung gebracht. Es ift eine Variante auf das uner— 
fchöpfliche Gouvdernanten= und Gejellichafterinnen-Thema, das in einer Zeit der prak— 
tiſchen Frauenemancipation don vornherein auf Theilnahme rechnen darf. Das 
Drollige in all’ diefen Romanen und Komödien ift e8 nur, daß jie gleichmäßig mit 
der Forderung der Selbjtändigleit des Weibes beginnen, irgend eine neue „Erwerbs— 
thätigkeit“ für die Töchter gebildeter Stände aufzufinden fich bemühen und, Ende gut, 
Alles gut, mit einer vornehmen Ehe des herrlichen Mädchens jchließen. Bei Moſen— 
thal gewahre ich ſchon einen demokratischen Fortſchritt. In Bauernfeld’8 „Aus der 
Geſellſchaft“ gewinnt die Gejellfchafterin einen Fürften Lübbenau, Mofenthal’8 „Sirene* 
begnügt ſich mit einem Herrn von Eggenburg, der eine Profeffur in Bofton ange- 
nommen bat. Die Variante in dem auf der Bühne heimischen „intereffanten Mädchen- 
charakter“ ift übrigens gefällig und anmuthig. Moſenthal hat feine Heldin aus dem 
melancholifchen Thal der Thränen, der unglücdlichen Liebe, der unerfüllten Hoffnungen 
gerettet: Elife Jung lacht jich durch das Leben. Aus einer Stellung entlaffen, lacht 
fie fich in eine andere hinein; ich hätte fie lieber Nire als Sirene genannt. Heine 
bat im „Romanzero“ ein Paar hübjche Strophen auf eine Ottilie gedichtet, die auch 
auf Mojenthal’3 Sirene paflen. Ach fee fie her: 


Wie das Perfönchen fein formirt! Die ſüßen 
Meergrünen Augen zwinkern nirenhaft. 

Sie jteht jo feſt auf ihren kleinen Füßen, 
Gin Bild von Zierlichkeit, vereint mit Kraft. 


Der Ton-der Stimme ift jo treu und innig, 
Man glaubt zu ſchaun bis in der Seele Grund; 
Und Alles, was fie jpricht, ift flug und finnig, 
Wie eine Roſenknospe ift der Mund. 

Einem ſolchen Weſen ift Friedrich von Eggenburg, ein Mann über die Dreißig 
hinaus, in der Villa Albani begegnet. Er jteht bewundernd vor einer marmornen 
Sirene in der Billa Albani — die Archäologen werden willen, ob es marmorne 
Sirenen aus dem griechiichen Altertum gibt — als hinter ihm ein filberhelles 
Lachen ertönt. Er blickt ſich um: da jteht die antike Sirene in modernem Fleiſch 
und Blut, Elife Jung, die abenteuerliche Gefellichafterin einer puritaniichen Lady. 
In Deutichland treffen fich beide wieder: Eliſe ift jeßt die Geſellſchafterin einer ver: 
witweten Generalin von Walljee, einer „intimen” Freundin Eggenburg's. Durch 
einen Zufall findet er fich bei einem Stelldichein, das ihm die Generalin gegeben, 


Berliner Chronik. 141 


nicht mit diejer, jondern mit Elifen zuſammen. Die Liebe ift natürlich da, ehe fie 
erflärt wird. In jehr verfänglicher Situation überrafcht die zurüdkehrende Dame 
dad Paar. Entrüftet weiſt fie die „Sirene“ aus dem Haufe. Eggenburg führt die 
Obdahlofe in das Haus jeiner Tante, eines alten Fräuleins. Da er mit der 
Tochter eines väterlichen Freundes, des Präfidenten Waltersdorf, verlobt ijt, könnte 
die ganze Sache ein bängliches Ausjehen annehmen, wenn ihm jeine Braut nicht in aller 
Form Rechten einen Korb gäbe. In feinem Vaterlande behagt es ihm nicht, nach 
des Dichters Meinung ift er ein genialer Mann, dem gar nicht Ehre genug erwiejen 
werden fan. Nun wollen ihn zwar die Demokraten zu ihrem Abgeordneten wählen, 
aber da fie fich im jeine Privatverhältniffe drängen, kehrt er ihnen den Rüden; die 
Generalin verihafft ihm ein Minifterportefeuille, aber er weigert fich, e8 anzunehmen, 
da er es nicht feinem DVerdienfte, jondern nur der Protection verdantt. Wie man 
fieht, it diefer vechtichaffene Mann jchwer zu befriedigen. In Amerika hofft er, ge- 
rechtere Anerkennung zu finden. Inzwiſchen langweilt ſich der Kobold Eliſe höchlich 
bei dem alten Fräulein in ihrem geradlinig eingerichteten Haushalt und wird auch 
von diejer, jo gutmüthig fie ift, mit leifem Kopfſchütteln betrachtet. In diefer Noth 
denkt die Sirene daran, fich auf die Bühne zu lachen und bei einem Jugendfreunde, 
der zum Theaterdirector ſfich emporfchtwingt, ein Engagement anzunehmen. Der 
Puritaner Eggenburg räth mit einer Art Entjegen von diefem Schritt ab und will 
Abichied won ihr nehmen; bei der Erklärung, daß er nach Amerika überfiedeln würde, 
ftürzen der immer lachenden Sirene die hellen Thränen aus den Augen. Entzüdt und 
gerührt jchließt fie Eggenburg in feine Arme: diefe Ihränen find ihm ein Beweis 
ihres liebenden Herzens, ihres tiefen Gemüths. Gott Amor jegne fie Beide, ich für 
mein Theil fürchte mich viel mehr vor den Thränen, ala dem Yachen einer Nire. 
Falſch find beide, aber die Thränen falfcher. — Die Handlung ift gering, die Cha— 
zaltere, mit Ausnahme der Sirene, entbehren der iriichen Originalität, aber das 
Gemälde der modernen, ſpecifiſch wienerifchen Gejellichaft iſt lebendig, anfchaulich 
und in den Grenzen der guten Sitte gehalten. Die fromme, ſtark in der Politik 
arbeitende, einem fragenden Männerblid nicht unzugängliche, vornehme Witwe; der 
demofratiiche Redacteur mit dem ſtark ausgeprägten Selbftgefühl, der von den 
geiftigen Brofamen, die von dem Tiſche befjerer Männer fallen, lebt; der luſtige Ko: 
mödiant: fie find nicht neu aus der Menjchenwoge aufgegriffen, allein wahr und 
intereffant wiedergegeben. Die Sprache fließt leicht und klar; bis auf einige Scherze, 
die mehr in das Vorzimmer und auf den Markt gehören, weht ein Salonduft über 
das Ganze hin. Frau Niemann als Sirene traf nicht ganz die Kindlichkeit und 
den naiven Ton, die, wie mir fcheint, der Dichter vorausjet ; die Künjtlerin hat 
einen leifen Zug von der bewußten Kokette geborgt; Herr Berndal als Eggenburg 
war ein alternder, gelangweilter Xiebhaber. 

Zum Schluß jei mir eine rein perfönliche Bemerkung gejtattet. In meinem 
Bericht über Albert Lindner's Traueripiel „Marino Falieri” habe ich ihm in 
einem Punkt Unvecht gethan. ch bejtritt ihm die Griftenz einer Kirche S. Pietro 
e Raolo in Venedig. Mir wird mitgetheilt, daß ich mich im Irrthum befinde. Eine 
diefen Apojteln gewidmete Kirche gab es wenigſtens zu Falieri's Zeiten, fie ift im 
16. Jahrhundert abgebrochen worden; die Verjchworenen jollen fich dort verſammelt 
haben. Lord Byron’ Local im dritten Act jeines Falieri: „Raum zwiſchen dem 
Ganal und der Kirche S. Giovanni e Paolo. Cine Reiterftatue dor derjelben“ — 
ft ganz phantaftiich, die Kirche ift erft um 1430 vollendet, das Reiterbild — Bar: 


tolommeo Golleone — erit um 1496 gejeßt worden. 
Karl Frenzel, 


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4 d. Y 44 
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Mufikalifches aus SKerlin, 


November — December 1874. 


MWilhelmj’s zweites und letztes Goncert fand vor dem glänzendſten Audito— 
rium ftatt. Der große Virtuofe, welcher den nicht genug zu ſchätzenden Vorzug be 
fit, feinen Concerten durch Vorführung von Novitäten auch ein Literarifches Intereſſe 
zu verleihen, jpielte außer der Giaconne von Bach ein Rubinftein’scheg Goncertftüd 
und die A-dur-Sonate von Raff für Piano und Geige. Das Rubin jtein'iche 
Werk leidet, wie jo viele Arbeiten des talentvollen Mannes, an einem diöparaten 
Weſen, welches mir weniger ein Natur, als ein Redactiongfehler zu jein jcheint. 
Wäre fein fritifches Vermögen ſeinem jchöpferifchen ebenbürtig, jo würden wir jeinen 
Werfen gegenüber nicht jo oft die faleidosfopische Empfindung haben, das Schöne 
mit dem Unjchönen in jo unberechenbarer Weife vermengt zu jehen. Begabung allein 
ichafft feine Kunſtwerke: wer nicht den echten Kunſtverſtand und Kunjtwillen beiikt, 
wird niemals etwas gejtalten, was den höchiten Anforderungen der Kritik genügt. 
Wohin wir in der Kunſt bliden, alles Werthvolle, Bleibende iſt nicht improviſato— 
riſch, ſondern mit Aufbietung der ganzen Kraft fünjtlerifcher Befinnung geichaffen 
worden. Das Rubinjtein’sche Stüd gleicht einer Karte Afrika's: die Küften find be 
wohnt, in der Mitte liegt die Wüſte. — Die Sonate Raff's ift eine der glüdlichiten 
Arbeiten des Componiſten; fie enthält einige geradezu hinreißende Momente, jo das 
zweite Thema im erſten Sat, das des größten Mufifers würdig ift. Wilhelm; ent- 
faltete in beiden Leiftungen, namentlich in der die ungeheuerjten Schwierigkeiten ent: 
haltenden Rubinftein’schen Gompofition, fowie in der Bach’schen Giaconne, dieſem 
von einem Genie geichaffenen Werke, welches fich die Aufgabe geitellt zu Haben jcheint, 
den Genius des Inſtrumentes mit dem untmiderjtehlichen Zauber feiner geheimiten 
Gewalten zu citiren, die vollendetfte Meifterichaft. Die Geheimjchriit Bach'ſcher 
Polyphonie, dieje räthſelhafte Geichäftigkeit der einzelnen Stimmen, ihre gemüthvolle 
Beharrlichkeit, ihr ftolzes Auflehnen wie ihre vertrauliche Auflöjfung, iſt auf Eleinerem 
Raume wol nie verzeichnet worden. Wenn bier die Blumeniprache, welche nur 
Joachim's Geige zu Äprechen verjteht, mitunter vermißt wurde, jo joll Wilhelm! 
daraus fein Vorwurf gemacht werden. eder trägt die Contouren, in denen er ein: 
mal gedacht ift, und es ijt thöricht, vom Morgen den Abend zu verlangen. 

Die Singatademie hat in ihrem zweiten Abonnements:Goncert die Bad ſche 
Gantate „Gottes Zeit ift die allerbejte Zeit“ und die „Missa pro defunctis“ von 
Franz Yachner vorgeführt. Unter den unzähligen SKirchencantaten Bach’s, von 
denen in der Gejammtausgabe feiner Werke bis jet 90 evichienen find (mindeiten® 
ebenfoviel find noch zu erwarten), nimmt die in Rede jtehende, eine ziemlich frübe 
Arbeit, nach meinem Gefühl nicht ganz die Stelle ein, welche ihr Spitta, der aus 
gezeichnete Biograph Bach's, anweiſt. Sie ift ein Bach'ſches Stüd, aljo voll all 
jener Größe der Innerlichkeit, jener Taft myſtiſchen Vertiefung in den Grlöfungs 


Mufitaliiches aus Berkin. 143 


gedanken, aber fie hat noch nicht die Undefangenheit und den freien, oit geradezu 
demonftrativen Ausdrud der jpäteren Arbeiten. Alle darin ift noch latent, ala 
wollte fich fein ungeheurer Geift erft in Demuth reifen, ehe er die ſüße Fülle feiner 
Früchte bot. In der Zurüdhaltung eines jo unfaßbar großen Menſchen — welche Lehre 
für uns Nachgeborene, die wir mit jo unehrerbietiger Haft, mit jo frühreifem Ber- 
trauen und jo frühwelfer Kraft unjere Bahnen wandeln! — Das Lachner'ſche Re- 
auiem ift ein mit großen Geſchick geſchriebenes Chorwerk, in welchen jedoch die ver- 
hängnißvolle Schwebe zwilchen conventioneller Behandlung des Tertes und dem un- 
Leugbaren Triebe, ihn individuell phrafiren zu wollen, zu einem Gompromiß gerührt 
haben, welcher dem Werke etwas Hermaphroditifches gibt. Cherubini’she Wirkung 
bat dem Autor wol vorgejchwebt, aber es fehlt ihm, vom Muſikaliſchen ganz abge- 
ſehen, das fatholifche Pathos, welches jenen jo groß machte. Im „Dies irae“ 
SHerubini’s hört man die praflelnden Flammen des hölliichen Feuers; das Lachner’iche 
ift am Kamin gejchrieben. Seine Pojaunen im ‚Tuba mirum“ Klingen wie Hinder- 
trompeten, und fein „Benedictus“ macht nicht den Eindrud, ala ob es „in nomine 
Domini, jondern im Namen eines Theaterintendanten gerufen würde. Auch muß 
ich bei aller Verehrung vor einem jo bewährten Meifter wie Yachner befennen, daß 
es mir mit feinem Requiem wie mit feinen berühmten Orcheſterſuiten geht: ich weiß 
nämlich nicht, was unter Lachner’icher Mufif zu verftehen ift. Sie ift alles, was 
man will, wohlflingend, geicheidt, oft voller Geift, fie ift tüchtig und correct, aber 
fie ift nicht Lachner’iche, Tondern völlig abjtracte Mufil. Man gebe mir einen Takt 
von Gade, Franz, Wagner, Mendelsjohn, Schumann (ich Fönnte noch Viele nennen), 
und ich will jagen, wer ihn geichrieben hat. Aber Lachner? Wenn es nicht der 
Mtangel eines Gefichts wäre, ich wüßte nicht, woran ich e3 erkennen ſollte. Das 
Wunderbare aber ift, daß ein Mann, der fich ſelbſt nie copirt, doch niemals auf 
"remden Fährten zu finden it. ch denke mir, es gibt irgendwo im Univerſum eine 
große Bowle, in die alle Zeiten und Generationen ihren Moft verjenkt haben. 
Kometenwein und Grüneberger, alles iſt kosmopolitiſch vertraulich darin bei einander. 
Aus diefem Sylvefterpunich der Jahrhunderte ſchöpft Lachner. — Mich von diefem 
trunfenen Bilde zu ernüchtern, kehre ich zur Singafademie zurüd. Die Ausführung 
beider Werke ließ nichts zu wünjchen übrig. Der Chor hat an Blumner einen ganz 
vortrefflichen Dirigenten. Schon die hohe Meile Bach's imponirte mir vor einigen 
Hahren durch das Feuer und die Präcifion feiner Leitung. Die Sinfoniefapelle er- 
fcheint für die Begleitung jolcher Werke recht wenig geeignet. Es iſt in ihr ein fo 
verdrießliches Spielen, eine Art von Samſtags-Muſik, die mir mißfällt. Es mag 
ichwer jein, fich unter des Lebens Mühen auf der Höhe Bach’scher Figquration zu 
Halten. — 

In den Reichshallen gibt man jetzt Liszt’ Fauſt-Sinfonie. Die Zeit ift 
vielleicht gefommen, über die Gompofitionen eines der merfwürdigiten Menjchen ein 
ruhiges Urtheil zu fällen. Das Parteigezänte fängt an fich zu erichöpfen und der 
Berjuch wäre denkbar, zwiſchen Vergötterung und Ablehnung jeht einen meßbaren 
Sefichtspunft zu gewinnen, aus dem fich die Höhenfrage erledigen ließe. Ericheinungen, 
welche in jo hohem Grade die mufifaliiche Welt beichäftigen, müſſen Gigenjchaiten 
befiten, die nicht gewöhnlicher Art find. Als Yiszt nach einem Triumphzug ohne 
Sleichen, den er duch ganz Guropa gehalten, des Virtuoienlorbeers müde, unbe: 
Triedigt und ehrgeizig wie er war, feiner alten Laufbahn Valet jagte, um auf einem 
höheren Gebiete nach der Palme des Sieges zu ringen, da hatte eine jolche Gonver- 
tion für den Unbefangenen zunächſt nur den Verdacht des Abjonderlichen und Weber: 
reisten gegen fih. Aber die Welt ijt der piychologiichen Wunder jo voll, daß man 
der Entwidelung auch einer jo alle Kunfterfahrung gegen fich habenden Transfigu— 
ration ohne Vorurtheil zugejehen hätte, wenn die wüſte Janiticharenmufik einer durch 
alle Mittel geworbenen, oder jagen wir mwenigiten® erworbenen Clique nicht ſchon die 
erjten Trlügelichläge der jungen Mufe mit jolchem Lärm begleitet hätte, daß den 
höheren und veineren Elementen der muſikaliſchen Welt die äußerfte Rejerve geboten 


144 Deutiche Rundichau. 


wurde. Die „Neue Zeitfchrift für Muſik“ unter ihrem damaligen Leiter, Fr. Brendel, 
vedigirte den Ruhm des neuen Apoſtels in einer, wie ich glaube, in der literarifchen 
Melt noch nicht dagewejenen Weile. Unzweifelhaft haben viele jener Köpie in ehr: 
lichfter Ueberzeugung geichrieben, aber man hatte feine Spur von Tact und ging jo 
weit, über Werke, welche fich noch unter der Feder des Componiſten befanden, im 
Ton der Meſſiade zu reden und ihre weltbewegende Kraft zu prophezeien. In Wei- 
mar und Yeipzig wurde Liszt geradezu als der große Geniuß der Zukunft verfün- 
digt, welcher berufen fei, der Erbe Beethoven’scher Kunſt zu jein und der Mufit 
neue, ungeahnte Wege zu bahnen. Den Kern der Berhimmelung bildete die große 
Kundgebung, daß die Mufif, bis dahin nur ein „Spiel tönend bewegter Yormen“, 
duch Verquickung mit der poetifchen dee, welche in das härene Gewand des „Pro- 
gramms“ gehüllt wurde, in ein höheres Stadium treten müſſe. Gin unglüdfeliger 
Anflug von philofophiicher Bildung, welcher der Partei eigenthümlic) war, ver- 
dunftete dad Wenige, was an diefem Gedanken lebensfähig war, zu unbeftimmten 
Atomen, und bildete eine Art Höhenrauch, der fih um Sprache und Empfindungen 
jener Prefle legte. Als es mit den Gründen auf die Neige ging, verfuchte man es 
mit dem Sinterdict. Alles, was dem neuen Idol nicht opfern wollte, wurde in die Acht 
erklärt und mit dem Hohn des allein jelig machenden Dünkels zum Tempel hinaus- 
gejagt. Aber nicht nur der Tod ift, wie Gregorovius einmal jagte, ein großes 
Sieb, welches das Wahre vom Falſchen Jondert, auch die Zeit ift eind. Der einſt 
fo lärmende Anhang ift durch Abfall decimirt, und was heute von ihm noch übrig 
ift, treibt fein melancholiſches Weſen in einigen wenig gelejenen Mufifzeitungen und 
einigen ſchwärmeriſchen Frauenköpfen. Die Apoftelfrage ijt erledigt, aber es ift da— 
mit nicht gejagt, daß ein Mann nichts wäre, weil wir nicht zugeben fönnen, daß er 
nach der Meinung feiner Jünger alles if. Das eine ift jo grundfalich, wie das 
andere. Man jeßt nicht den halben Erdball ala Glavierfpieler in Bewegung, wenn 
man nicht auch zugleich Muſiker ift, und ein Muſiker, der zu folchem Spieler gehört, 
ift feiner von denen, wie fie jede Quadratmeile deutichen Landes Hervorzubringen 
pflegt. 

Wenn das Wort der George Sand wahr ift, daß das Leben viel häufiger dem 
Roman gleiche als der Roman dem Leben, jo trifft dies bei Liszt völlig zu. Was 
er geichrieben, it nur halb der Roman feines Lebens. Der Antheil, den wir an 
jeinen Werken nehmen, hält dem Intereffe, welches uns feine Perfon einflößt, nicht 
Stand. Wie viel des Abipringenden, Unvermittelten und Ungelöften auch in feiner 
Natur jtedt, fie it ein Ganzes, nicht ein Fragment wie feine Werte. Was und in 
jeinen Compofitionen durch Wildheit, Zufammenhangslofigkeit, Kofetterie und Raffi- 
nement abjtößt, gibt jeiner Perfönlichkeit Hundert ſeltſame Reize, und ein Geſpräch 
mit ihm ift wie eine Reife durch fremde, wunderbare Länder. Er ift erſt Poet, dann 
Mufifer, daher auch das Bedürfniß, im Muficiren immer von bejtimmten dichterifchen 
Vorjtellungen auszugehen. Dan bat, wie jchon erwähnt, auf diefes Verfahren früher 
den Hauptaccent gelegt. Nun jcheint mir aber der Werth diefer Verbindung don 
Vorjtellung und Mufit, wenn ich das Vergnügen einer durchaus nebenjächlichen 
Kontrole meine Verſtandes in Abzug bringe, völlig problematifch zu ſein. Ein 
bejtimmter Gedanke läßt fich befanntlich durch Töne nicht ausdriiden. Gibt man 
mir nun einen Zettel in die Sand, auf dem der Gomponijt mir den bejtimmten 
Kreiß vorzeichnet, in dem meine DVorjtellungen fich zu bewegen haben, jo bevor- 
mundet er damit die Freiheit meiner eigenen Auslegung, wenn ich mich zu folcher 
aufgelegt fühle, oder er ftört mich überhaupt in dem ganz eigenen Befinden, welches 
Muſik als eine Kunſt, die ihre eigenen Gedanken in ihrer eigenen Sprache gibt, ın 
mir hervorzurufen pflegt. Es kann aljo Jemand jagen: mich hat der Fauſt zum 
Gomponiren angeregt; jagt er mir aber: hier find drei Sinfoniefäße, von denen der 
eine den Fauſt, der andere Gretchen, der dritte Mephifto vorftellt, jo kann ich das 
Gefühl von zudringlicher Beeinfluffung meiner eigenen Phantafie einerjeits, und dem 


Mufitaliiches aus Berlin. 145 


vergeblichen Verſuch die Grenzen einer Kunft über ihre wahre Natur binauszufpan- 
nen andrerjeits, nicht [o& werden. Ueber das Wetterleuchten, „den vergeblichen Rede- 
verjuch der Natur“, wie Heine e8 einmal nennt, wird die Muſik nicht hinauskom— 
men. Im beim Liszt’schen Fauſt zu bleiben, jo hat fchon die Zerlegung in die drei 
Haupttypen etwas Bilderbogenartiged. Wagner würde jo etwas nicht gemacht haben. 
Soll der erfte Sa „Fauft“ nun heißen, hier habe man es nur mit ihm und feinem 
Berhältniß zu den Bewegungen des Dramas zu thun? Dann wäre er, was man 
einen Monolog nennt. Und auf diefen erſten Monolog folgten nun zwei andere? 
In welchem Drama wäre das erlaubt? Oder foll e8 kein Drama, jondern — wie 
müßte man dad Ding nennen — eine Monologie jein? Eine Sammlung von Mo— 
nologen, das wäre ja jchlimmer als das Filchefjen der englifchen Minifter! 

Was Liszt gewollt Hat, ift wol etwaß andere. Gr Hat drei Gharakterbil- 
der, drei Figuren zeichnen wollen, aber abgejehen davon, daß dies die Mufif gar 
nicht bis zur Evidenz vermag, ift er ſich auch nicht treu geblieben. Was joll, die 
Stelle im „Gretchen“ mit den verjchobenen Achteln anders bedeuten als das „er liebt 
mich, liebt mich nicht“, worauf der folgende Quartfertaccord doch ficherlih Fauſt's 
„Laß diejes Blumenwort dir Götterfprache jein“ ausdrüden foll. Gier haben wir 
aljo jchon die Scene, nicht mehr die Figur ala Abftractum, und es wäre gewiß loh— 
nender gewejen, fich überhaupt nur auf einzelne derjelben einzulafien, wollte man 
durchaus Mufif zu beftimmten Anläffen erfinden. 

Was nun die Mufit als jolche betrifft, jo jpürt man in erjter Reihe das Be— 
dürfniß eines geiftreichen Menjchen, etwas Außerordentliches zu jagen. Namentlich 
im erften Sat ſetzt Liszt, um mich mufitalifch auszudrüden, ein Doppelfreuz vor jeine 
Phantaſie. Alles befindet fich im Zuftande höchjter Alteration. Aber vor lauter 
Präeriftenz fommt der Gedanke zu feiner rechten Geburt. Es ift eine Seelenwanbe- 
rung durch alle Tonarten des Schmerzes, nicht ohne gelegentliche Macht, aber doch 
ohne den hüpfenden- Punkt organifchen Lebens. Kein Menſch, Berlioz auögenommen, 
tann jolche Geipenjterfchriit jchreiben wie Liszt. Oft war mir's, ala wäre ich wieder 
in dem unbeimlichen Kloſtergewölbe Roms, wo Alles, Wände und Geräthichaiten 
aus Menichentnochen gebildet find. „Gretchen“ ijt etwas international behandelt ; 
rein germanifches Blut fließt nicht in ihren Adern. Aber das Stüd ift jehr anmu— 
thig und voll großer Feinheit, namentlich in der obenerwähnten Sternblumenfcene. 
Am beiten iſt „Mephifto” in feinem ironifchen Muſikerthum gerathen. Die Parodie 
auf Fauft’sche Themen ift voll föftlichen Humors; man muß freilich hinzuſetzen, viel 
beduriten jene Themen zur Parodie nicht. 

Das Peinlichite an Liszt'ſchen Compofitionen ift die bejtändige Wiederkehr ge- 
wifjer Manieren. Dahin gehört das ewige Abbrechen und wieder Anfangen. Ein 
obligates Inftrument pflegt in recitativifcher Weile die Vermittelung zu übernehmen. 
Wo eben der Fluß der Gedanken fehlt, muß „ein Wort fich zur rechten Zeit ein- 
ftellen”. Solche Art, die Gedanken wie an einer Schnur aufzuperlen, immer aber 
jo, daß die Schnur ftellenweife zum Vorſchein fommt, ift recht ermüdend. Dann hat 
er beitimmte Harmoniefolgen, namentlich die Wendung nach der oberen Terz, be— 
ftimmte Klang: und Stimmungägegenfäße, die fich in allen Werfen wiederholen. 
Dafür entihädigt er durch Geift und Einfälle, eine zauberhafte Beherrihung der Or— 
cheitermittel und poetifhe Stimmung. Die Ausführung unter Stern’3 Leitung 
war dad Beite, was ich bißher von jeiner Gapelle gehört habe. Das Stüd ijt für 
Mufiter jo überaus amüfant, ftellt der Ausführung jo pifante und lohnende Aufga— 
ben, daß es fein Wunder ift, wenn das Orchefter e8 mit Liebe fpielt. 

Die vierte Quartettfoirde Joachim's brachte eine Novität, ein Quartett Ru— 
binjtein’s (op. 47, Nr. II), deflen Menuett recht friſch umd originell war. Mit 
dem eriten Sabe kann ich mich, wenn ich ein Paar erireuliche Momente in der Mitte 
auönehme, nicht recht befreunden. Er ift mir zu altbaden und nüchtern, etwa al& ob 
man ein altes Manufcript neu aufgepußt hätte. Das Andante mit Variationen iſt 
gewiß ein werthvolles Stüd, aber ich denke mir immer, ein Thema mit Variationen 

Deutiche Rundſchau. 1, 4. 10 


146 Deutſche Rundſchau. 


ſoll wie ein Vater mit ſeinen Kindern, aber nicht wie ein Großvater im Kreiſe ſeiner 
Enkel ſein. Man hat das Gefühl einer Verwandtſchaft in der dritten Linie, jo ver— 
wiſcht find jchon die Züge, aus denen wir die Nehnlichkeit erfennen jollen, jo ge— 
fodert ijt Schon das Gefühl der Zuſammenhörigkeit. Das Finale fängt ungemein 
lebhaft und bedeutſam, genau wie eine Yiguration der eriten Zafte jeine® wunder» 
Ichönen Liedes „Der Asra“ an, aber die jchöne FFürftentochter bleibt leider aus. 
Statt ihrer erjcheint ein unglaublich fomijches zweites Thema, von dem man nicht 
recht weiß, iſt es nur die Bifitenkarte eines Fremden, der fich in der Hausnummer 
geirrt, oder macht der Gomponijt jchon vor zwölf Uhr jchlechte Späße. Was würde 
ein Mann von Rubinjtein’® Talent leiften, wenn er nicht jo jorglos verführe, ſon— 
dern bei jeder Arbeit den ganzen Menſchen voll einjehte. Welche Züge genialjter 
Begabung enthalten nicht viele feiner Werke, 5. B. „Der Ocean“, das vierte Glavier- 
concert; fie zu einem Bilde zu vereinigen jcheint bis jegt aber Kraft und Neigung 
zu fehlen. Wie viel tüchtiger und beffer erichien gegen dieſe Arbeit ein Quartett 
von Ph. Rüfer, welches der junge, einheimijche Gomponijt in feinem Goncert am 
28. November in der Singalademie vorführte. Iſt feine Originalität mit der von 
Rubinftein auch nicht zu vergleichen, jo weiß er mit feinen Gedanken doch beffer 
Haus zu Halten, fällt nicht beftändig aus der Rolle, ala wären in einem Quartett 
vier Gejchäfte zu gleicher Zeit zu verrichten, und führt jeine Entwürfe wader aus. 
Alle Sätze zeugen von großer Beherrfchung des Formellen, von Geſchmack und Nei— 
gung für das Schöne und von großem Reſpect vor dem Schidlihen. Am meijten 
ift auch Hier das Scherzo gelungen, das in feiner intereflanten Rhythmik ein ganz 
eigenartige Gepräge verräth. Aber auch die andern Süße tragen durchweg den 
Stempel einer erniten, künftleriichen Arbeit. Wenn ich über die Rüfer'ſche Sinfonie 
nicht eben jo günjtig berichten fann, jo liegt dreS an ihrer erbarmungslofen Länge und 
der Monotonie ihrer Jnftrumentirung. An Gedanken fehlt es auch hier nicht, na— 
mentlich in den beiden erjten Säben, wol aber an Rüdfiht, an Rüdficht auf die 
Zeit und die Nerven der Hörer. Wenn man in der Mufil einen Gedanken wieder: 
bringt, jo muß die mit einer Art von Erfriſchung geichehen, man muß ihm eine 
Modulation, und wäre e8 auch nur durch die Klangiarbe, zu geben wiſſen. Rüfer 
bat im Weientlichen aber nur eine Farbe, mit der er im Orcheſter malt, und dieſe 
ift ſchreiend. Neben den Mangel aller jeineren Tinten jtellt fi) der noch empfind- 
lichere jeder intereffanten Contrapunktik. An einigen dramatiichen Beihwörungäver- 
luchen fehlt es zwar nicht, fie find aber mehr von dem Temperament als der Phan— 
tafie eingegeben. Das Finale, in welchem man nach der unendlichen Breite des 
langjamen Sabes etwas bewegliche Heiterfeit erwartet hätte, fommt aus einer lamen— 
tablen Würde nicht heraus, jo dak ınan mit der Empfindung nach Haufe geht, die 
Sintonie laborire, mit Ausnahme des Scherzo’s, zu jehr an ſitzender Lebensweiſe. Ueber 
einige Anflänge (jo im eriten Saß an die Rheinische Sinfonie Schumann’s, im Scherzo 
an Allerlei) joll einem Mufiler von feiner Jugend fein Vorwurf gemacht werden. 
Wo fo viel eigenes, friſches Leben ift, kommt e8 auf ein Paar Gitate nicht an; nur 
Wenige find in unferen Tagen jo veich, daß fie alles aus eigenen Mitteln bejtreiten 
fönnen. — In demjelben Concert gelangte ein Glavierconcert von Grädener zur 
Aufführung, welches eine merkwürdige Probe von der Fähigkeit ablegt, im Beetho— 
ven’schen Geijte zu componiren. Ich will damit nicht den geringiten Vorwurf aus— 
iprechen und wiederhole, mir ift ein jolches Talent, in einem bejtimmten, und zwar 
dem höchſten Stile zu jchreiben, noch nicht vorgefommen. Die Tutti® namentlich 
find faft ohne Ausnahme fo gehalten, als rührten fie von Beethoven aus der Zeit 
zwijchen jeinem dritten und vierten Soncert her; dabei iſt bis auf einen Anklang an 
dad G-dur-Goncert von bejtimmten Reminiscenzen nicht zu reden. Nur der Glavier: 
jat ift Ätörriger und wirkungsloſer wie bei Beethoven, das Verhältniß des Glaviers 
aber zum Orcheſter, jein Eingreifen und Abbrechen, jeine Art fich träumerifch zu be- 
theiligen, wo es nichts Welentliches jagen will, ift wieder ganz Beethoven’sch. Ge: 
ipielt wurde das jeltfame Werk von einem Herrn Herz. Beitände die Hauptaufgabe 


Mufitaliiches aus Berlin. 147 


eined Glavierjpielerd wie die des Soldaten nach einer befannten Legende „im fröh- 
lichen Greifen“, jo wäre Herr Herz unzweifelhaft jchon ein jehr bedeutender Künſtler. 
Ich Habe niemals mit jolcher Rüftigkeit jpielen jehen. Daß e8 aber noch eine andere 
Art, die Tafte zu faſſen, gibt als fich mit Stoßvogelhaft auf fie zu ftürzen, und daß 
zwiſchen dem piano und forte auch noch Leute wohnen, und wie ich glaube nicht die 
gröbften, muß Herr Herz noch lernen. 

WoldemarBargiel, welcher nach längerer, ruhmvoller Wirkſamkeit in Holland 
zu und zurücgefehrt ift, bat uns die freude gemacht, einige feiner Gompofitionen 
am 3. Dec. zu Gehör zu bringen. Sein Name ift durch eine Reihe nobler und 
liebenswürdiger Arbeiten überall in Deutichland wol befannt, was doppelt hoch zu 
veranfchlagen ift, da fich die Schlichtheit und Anfpruchslofigkeit feiner Perfon auf 
feine Werfe übertragen hat, und er jo gar nicht der Mann dazu ift, Für fich zu 
propagiren oder — was daflelbe ift — propagiren zu laffen. Er gehört zu den 
alüdlichen Talenten, die nicht Genie jein wollen, jondern mit dem, was fie von der 
Natur empfangen, vernünftig Haus zu halten willen. Er brachte uns jeine Medea— 
Duverture, die C-dur-Sinfonie, ein Adagio für Gello und den XI. Pſalm für 
Frauenchor und Orchefter. Die Ouverture ift ein allgemein acceptirtes Stüd, deſſen 
herrliche Einleitung mir immer wieder den größten Eindruck macht. Ob der furdht- 
bar tragiiche Stoff nicht zu menschlich” mild behandelt ijt, mag dahingeſtellt jein. 
Der Palm ift von einem Reiz des Wohlflangs und der Keufchheit, daß das müdeſte 
Herz davon ergriffen wird. Für das bedeutendite der uns an diefem Abend gebotenen 
Werke halte ich die Sinfonie. Sie ift fernig, voll Teuer im Gedanken, voll Geiſt in 
der Durchführung, mit dem feinjten Klangfinn inftrumentirt, und dabei von einer 
Natürlichkeit und Ungejuchtheit, die beneidenswerth find. Nichts ift zu lang, nichts 
zu kurz, in dem Ganzen jtedt ein VBerwaltungstalent, eine Sicherheit des Aus— 
druds, eine harmonische Beweglichkeit höchjter Art. Wenn ich jagen jollte, was 
Bargiel’3 Geifte fehlt, jo iſt es die Teufeläfralle, der Reiz der Sünde und des Böfen. 
Entweder hat jein inneres Leben feinen Verfuchungen zu widerjtehen gehabt, oder er 
Hat es veritanden, mit fluger Hand alle wilden Zweige an jeinem Stamme abzu- 
Tchneiden. Der Zauberfreis des Schumannismus, der für jo Viele zur lebensläng— 
lichen Haft wurde, ihn gab er frei; feine beftridende Macht erlahmte an einem 
Manne, der weile genug war, den Zeitpunkt feiner Erichöpfung zu erkennen. Nur 
Hätte ihm von der träumerifchen Kraft jener Schule mehr bleiben können. Dan kann 
einem Einfluß, den man nicht mehr für berechtigt oder heillam hält, zum Frommen 
eigenen Geſtaltens entiagen, ohne ihm doch den gaftlichen Einipruch zu verwehren, 
der einem alten Bündniß geziemt. 

Herr &. Scharwenfa, ein ſehr beachtenäwerther Pianift, gab am 4. Der. 
fein jährliches Concert. Die Berliner Schule, aus der er jtammt, ift unverkennbar. 
Ste verleiht ihren Zöglingen große Glätte und Abrundung, aber fie zeritört leicht 
die Individualität. Herr Scharwenfa ſpielt mit einer hoffnungsloſen Yeichtigfeit und 
Sicherheit, die ein unbeichäftigtes Alter befürchten läßt. Mir fällt dabei immer ein, 
wie der felige Taufig einem jungen Wirtuofen einft mit drolligem Ernſt zurief: 
„Schämen Sie ih, in Ihrem Alter jchon jo rein zu vielen“, Die Beicheidenheit 
und Einfachheit, welche Herrn Scharwenka's Vortrag auszeichnen, find unjchäßbare 
Eigenichaften: er hüte fich jedoch fie zu übertreiben, weil fie leicht zur Nüchternbheit 
rühren fünnen. Das ntereffanteite an einem KHünftler bleibt ewig der Menſch; wie 
es Talich ift, ihm zu jehr in den Vordergrumd zu rücken, To ift es auch falich, ihn 
ganz im Hintergrunde verichtwinden zu laffen. Herr Scharwenta iſt ein entichiedenes 
Zalent. Gin ſolches wird durch eine unparteiiiche Kritik nicht veritimmt, Tondern 
angeregt. Er lerne nur fich jelbit geben, dann wird feine wundervolle Technik noch 
ganz andere Wirkungen erzielen. Auf einen £leinen Umftand erlaube ic) mir noch 
ihn aufmerkſam zu machen. Er jpielt jehr oft mit der linken Sand zu ftarf gegen 
die rechte. Selbft in Fällen, wo wie an einigen Punkten der Chopin'ſchen Fantaſie 
die Bäfle marfirt gegeben werden müſſen, dürfen fie doch nie jo laut jein, daß man 

10* 


148 Deutiche Rundichau. 


die Paflagen der rechten Hand nicht volllommen deutlich verfolgen fann. Zum Schluß 
ein Wort über drei kleine Compofitionen des Goncertgeber?: Impromptu, Mazurka 
und Menuett. Das Impromptu war für ein folches zu ausgeiponnen. Ein Im— 
promptu ift da8 Gegentheil von etwas Verabredetem und Weberlegtem, muß aljo den 
Charakter de& Unerwarteten tragen, kurz und pifant fein. Mazurken kann man nicht 
mehr fchreiben. Entweder jchreibt man fie im Stile Chopin's, dann find fie eine 
bloße Nahahmung, welche doch nie die Grazie und den Adel des Originals erreichen 
wird, oder man jchreibt fie nicht im Stile Chopin’s, dann wird der Vergleich mit 
ihm, der dieſes Genre geichaffen, nicht auszuhalten fein. Das Menuett ift ein jehr 
hübfches, naive Stüd voll der vortrefflichiten Glaviereffecte, und wurde vom Gompo= 
niften wahrhaft meifterhaft gejpielt. 

Ernft Ed. Taubert gab im Hotel de Rome eine Matinde, in welcher er 
vierhändige Glavierfachen, Lieder, ein Paar Stüde für Piano und ein begleitendes 
Inſtrument, und ein Glavierquintett don feiner Gompofition vorführte. In allen 
Merten, namentlich in den Liedern und vierhändigen Stüden, ſpricht ſich ein Talent 
für charakteriftiiche Geftaltung aus. Die Lieder insbeſondere, obwol mehr inftru= 
inental ala ftimmlich gedacht, find von wirklich poetifchem Reiz, und verdienten nicht 
unbefannt zu bleiben. Das Quintett ift tüchtig und lebhaft concipirt und gelangt 
auch in feinen beiden legten Säßen zu fünftlerifcher Abrundung. In den beiden erjten 
ftreiten noch zu oft Wille und Vermögen. Wer wird aber von der Jugend Boll- 
fommenbeit verlangen wollen. Es will immer jchon etwas bedeuten, ein Stüd von 
jolhem Umfange zu fchreiben, welches vom erjten bis zum leßten Takt den Mufiler 
intereffirt. 

Unter allen Glavierfpielern, die fich in letzter Zeit hier hören ließen, nimmt 
Oskar Raif, welcher nach längerem Schweigen in der Singafademie am 10. Dec. 
ein Goncert gab, die erſte Stelle ein. Er ift ein Künftler, dem ich die größte Zulunft 
prophezeie. Der Taufig’ihen Schule entiprofjen, vereinigt er fat alle großen Vorzüge 
jenes in feiner Art einzigen Spielerd. Er hat Ruhe, Sicherheit, Klarheit, herrlichen 
Anichlag und poetifchen Vortrag. Sein Ton ift groß, wo er groß jein ſoll; an 
jeinem piano halten die Elfen Wacht. Ich habe jeit Tauſig's Tod nichts wieder 
gehört, was Raif's chromatifcher Fantafie von Bach an die Seite zu ſetzen wäre. 
63 war eine völlig vollendete Leiſtung, welche die vielfeitigen Aufgaben dieſes merk— 
würdigen, alle Freiheit individueller Ungezwungenheit mit der höchiten Kunſt ver- 
einigenden Wertes, mit einer Bieljeitigkeit des Talentes Löfte, die jelbjt den ſchwer 
zu Beiriedigenden zu wahrer Bewunderung binreißen konnte. — In der Anordnung 
des Programms waren zwei Heine Fehler begangen worden. Das zweite Notturno 
des Goncertgeberd war für einen großen Saal zu intim und fein. Dergleichen 
Fineffen darf man nicht dem großen PBublicum bieten. Als Schluß ded Concerts 
hätte man einen jo außerordentlichen Pianiften gern in einem echten, glänzenden 
Virtuoſenſtück gehört, 3. B. in einer ungarischen Rhapjodie Liszt’. Die vierhändigen 
Walzer von feiner eigenen Gompofition, welche Raif am Schluß gab, gehören eben=- 
falls nur in einen vertrauten Kreis. Es find feine, anmuthige VBerfionen diejes von 
Schubert und Brahms erfundenen Genres, aber es ift ein natürlich berechtigtes, wenn 
auch etwas triviale® Bedürfniß, nach jo viel guter, claffiicher Muſik auch etwas den 
Glavieripieler als Birtuofen zur Geltung Bringendes zu hören. Hoffentlich gibt Raif 
noch ein zweites Concert. Spieler von jolcher Bedeutung find überall jelten, am 
jeltenjten aber in Berlin, wo das öde Abrichten und die bodenlofe Arroganz von 
Leuten, die gar nichts können, das Publicum in der traurigiten Weiſe verwirrt. 

Der Eichberg'ſche Gelangverein hat ſich um die Aufführung dev Legende 
der h. Elifabeth von Liszt verdient gemadt. Man mag an dem Werte tadeln, 
was man will, Ungleichheit des Stils, Unruhe und Affection, die poetiiche Grund— 
ftimmung wird man gelten lafjen müffen. Alte Liturgifche Motive find darin mit 
großem Geſchick benußt worden, und in ihrer Benutzung liegt mindejtens eben jo viel 
Geift wie in ihrer Erfindung. Die Wagner’iche Methode, den Hörer durch beftimmte 


Mufikaliiches aus Berlin. 149 


Motive über feine Abfichten zu orientiren, aber auch feine Maßlofigkeit in der An— 
wendung diejes an fich zuläffigen Ausdrudsmittels, iſt unverkennbar copirt. Ein— 
zelne Nummern des Werkes, 3. B. die leider zu weit ausgejponnene Einleitung, der 
Chor der Finder, dad Roſenwunder, der Kreuzfahrermarſch, der Chor der Armen 
und der Kirchenchor am Schluß find bei allen Einwänden, die man im Einzelnen 
auch machen dürfte, doch Eingebungen eines Poeten. Wunderbar ift das fatholijch- 
möftiiche Element behandelt. Wenn „Wein und Brod“ fich zu „Rofen“ wandeln, 
To könnte man vielleicht das Gefühl haben, daß das Unbegreifliche hier gethan wird. 
Aber man weiß nicht, iſt was Hier geboten wird das echte, unverjäljchte Gold 
wirklichen Glaubens an die Kraft des Wunders, oder ijt ed nur das Agio, welches 
ein bis an die Grenzen de Wunders geführtes Emotionsbedürfniß abwirft. Liszt ijt 
eine jener complicirten Naturen, in denen Intuition und Berechnung fich fortwährend 
berühren. Er hat Momente der reinften Natürlichkeit, jo in dem Kinder und 
Kirchenchor, von denen ich ſprach. Aber jchon im nächiten Augenblid kann eine 
babyloniſche Berwirrung aller mufifalifchen Ausdrudsmittel eintreten. Er jchlägt 
wie ein tanzender Faun in die Beden, die Partitur wird zum Bacchanal, Alles tobt, 
Lärmt, wüthet, eine Art geiftiger Epilepfie bemächtigt ſich des Orcheſters. Ich 
möchte von der h. Elifabeth jagen, was fich von den meilten GCompofitionen Liszt's 
Tagen läßt: fie ift da3 Product eines geiftreichen Mannes, welcher mit einem Ueber- 
ſchuß von poetifchen Jdeen und einem Deficit an baaren Mitteln an ein Unter- 
nehmen geht, welches den Charakter einer Speculation nie ganz verläugnen, eben 
deshalb aber auch nie unintereffant fein wird. — Die Ausführung hatte mit erficht- 
Lihen Schwierigkeiten zu kämpfen. Fräulein Breidenftein hat die Rolle der Elifabeth 
recht tüchtig gefungen. Dem fühnen Unternehmer jagen wir unjern Dante. 

Fräulein Minnie Hauf hat den großen Ruf, der ihr aus Wien voranging, 
in ihrem Gaftipiel an der K. Oper vollauf bewährt. Sie fang die „Mignon“, 
„Margarethe“, „Rofine“ und „Zerline“. Stimme und Geſangskunſt find gleich 
vortreiflich, auch das Darftellungstalent nicht gewöhnlicher Art. Es wäre jehr zu 
wünjchen, daß man das veich begabte, junge Mädchen hier engagirte, um einige 
Rollen aus dem Repertoire der Lucca endlich wieder ebenbürtig zu bejegen. Die 
Verhandlungen darüber ſollen noch jchweben. 

Zum Schluß meines Berichtes komme ich auf die wiederholte Aufführung des 
Händel’ichen Herakles durch die K. Hochichule unter Joachim’ Leitung. Chry- 
fander, der geijtvolle und fenntnißreiche Biograph Händel's hat dem Textbuch einige 
Mittheilungen vorangeſchickt, welche in einem Theil der Berliner Prefje viel Staub 
aufgewirbelt haben. Das einzig Anfechtbare in der, ſonſt nur Hijtoriiche Notizen 
enthaltenden, Einleitung ſcheint mir der einem begeifterten Biographen leicht zu 
verzeihende Vorwurf zu fein, daß er in den großen Mann, deflen Leben er bejchrieb, 
Dinge bineingeheimnißt Hat, die vor einer nüchternen Beurtheilung wol jchwerlich 
bejtehen dürften. Die Chöre im „Herakles“ als den veinften Ausdrud des Griechen- 
thums und den Schlußchor im „Saul“ als die geichichtliche Geftaltung des Juden— 
thums zu bezeichnen, beruht natürlich in einer weientlich perjönlichen Entſcheidung. 
Ich habe bei aller Neigung einem jo feinen Kopfe nachzudenken, in den einen nichts 
Sriechiiches, in dem andern nichts Iſraelitiſches auffinden können. Es ift in beiden 
unverfennbar Händel'ſche Muſik, im Charakter aber nicht greifbar verfchieden. Der 
Stoff im „Herakles“ ift troß Sophofles, der ihn in den Trachinierinnen behandelt, 
troß Gervinus, der ihn aus dem Engliichen des Thomas Broughton überfegt, und 
troß Chryſander, der ihn Lobt, doch nur ein bedingt glücdlicher zu nennen. in 
Drama, und ein folches will dev „Herafles“ doch fein, bedarf eines tragiichen Gon- 
fliets, und zwar eines Gonflict3, den wir in feinen Urfachen und feiner Wirkung 
verſtehen. Was unfere zufällige Kenntniß der Sage hiebei jubjtituirt, ift ganz gleich- 
gültig. Vom Dichter verlange ich eine volltommen Elare Sachlage der Dinge. 
In dem Broughton’schen Buch erfahre ich aber weder den Grund der Eiferjucht 
Deianirend — denn daß der fiegreiche Alkide die Tochter des erjchlagenen Königs 


150 Deutiche Rundſchau. 


Eurytos mit fi führt, ift noch fein Grund dazu — noch die Umftände, welche fie 
in den Beſitz des Neſſuskleides gebracht haben, wo dieſe Umftände doch jo charaf- 
teriftiich find. Wir haben e8 alſo mit einer unbegreiflichden Eiferfucht und einem 
noch unbegreiflicheren Mittel, fie zu heilen, zu thun, und wenn daſſelbe fehlichlägt, 
jo fann unfere Ironie dabei wol betheiligt fein, nicht aber unfer Mitleid. Die 
Schlußwendung könnte in feinem Märchen gewaltiamer erfunden fein. Der Priefter 
des Zeus verfündet ala echter Deus ex machina die Rettung des unfterblichen Theile 
des Helden, und legt die Hand Jolens, der Tochter des erichlagenen Fürften, in die 
des Sohnes Herafles’. 

Die Händel’Iche Partitur gehört, wenn man von dem jtarren Formalismus 
abfieht, der all’ jeinen Werfen eigen ift, zu dem Schönften, was im Oratorienftil 
geichrieben. Einige Chöre, 3. B. der Schlußchor des erften Theil „Krönt den Tag 
mit Feſtesglanz“, der Eiferfucht- und der Liebeschor („Holder Gott der Liebesgluth “ ) 
im zweiten, vor Allem aber der Chor im lebten Act „Der Menjchheit Rächer ſank 
dahin“, reihen fich dem GErhabenften an, was Händel'ſche Kunſt gefchaffen. Auch 
den recitativiich gehaltenen Stüden, namentlich der großen Scene der Deianira, wo 
fie die Geftirne anruft ihre Schmac zu deden, ift der volle Schimmer feines Geijtes 
verliehen. 

Die Ausführung in den Händen des jung gebildeten Chors der Hochſchule, 
der Damen Yoahim, Amann, Schulgen:Ajten, der Herren Henſchel, Otto und 
Xiebert, war eine ihres Führers Joachim würdige. ine befondere freude er- 
weckten die Leiftungen des Streichorchefters, welches bejonders in den Heinen inſtru— 
mentalen Intermezzis durch Volumen und Adel des Vortrags imponirte. 


Louis Ehlert. 


Wiener Chronik. 


Spern und Goncerte. 
Wien, Mitte December 1874. 

Don Berlin fommt uns, was derzeit den Mittelpunkt des theatralifchen Inter: 
efſes in Wien bildet: Pauline Lucca. Als Wiener Kind, das feine Anfänge im 
Kärntnerthor » Theater gemacht, übt die jeither fo berühmt gewordene Sängerin eine 
Doppelte Anziehungskraft auf unſer Publicum. Ich bewahre ala Curiofität eine alte 
Freiſchütz-Kritik vom Jahre 1858, welche mit der beicheidenen Interpellation jchließt, 
ob denn die Direction unſeres Hofoperntheaters nicht verjuchen möchte, die jtimm- 
begabte und anmuthige Sängerin des Jungfernkranzes, Frl. Yucca, einmal mit einer 
etwas größeren Partie zu betrauen? Meine Intervellation blieb damals ebenjo uns 
beachtet, wie da3 flehentliche Bitten der jungen Sängerin, deren Stimme dem da= 
maligen Director nicht ſtark genug erichien. rl. Lucca, damals eine Anfängerin in 


arg bedrängten Familienverhältnifjen, wäre für eine Gage von jechshundert Gulden 


am Hofoperntheater geblieben; man wollte fie nicht, und jo nahm fie denn ein En- 
gagement in Olmüß an, um gleich darauf nah Prag zu avanciren. Hier machte 
Pauline Lucca — vor wenigen Monaten noch Brautjungfer im „Freiſchütz“ und 
zweiter Genius in der „Zauberflöte — Furore ald Norma und wurde fofort von 
Hrn. v. Hülfen, der ihretwegen nach Prag gereift war, als Primadonna für die 
Berliner Hofoper gewonnen. Es ift nicht das erſte Talent, welches diefer Intendant 
aus dem Dunkel hervorgezogen und ung weggefiſcht hat; hegt er doch die richtige 
Meberzeugung, daß der Director einer großen Opernbühne ebenfoviel Zeit im Eiſen— 
bahnwaggon ala am Schreibtifch zubringen müſſe. Wie fich die Lucca hierauf, haupt— 
fächlich unter Meyerbeer’s künftlerifcher Anleitung, vervolltommnet und fich das um— 
Tangreichjte Repertoire geichaffen hat, über das heutzutage eine deutiche Sängerin ver= 
fügt, das wiſſen Sie in Berlin am beiten. — Frau Yucca hat hier als Gaft in der 
Komiſchen Oper je zweimal in fünf Opern gejungen und fchließlich zu ihrem 
Benefice noch in einem Potpourri. Ein einziges Licht vermag einen großen, finftern 
Raum hell und freundlich zu machen. So wirkte die Lucca als vereinzelte drama— 
tifche Kraft in der Komiſchen Oper, zog das Publicum ſchaarenweis in dieſe halb— 
veröbeten Räume und hielt es feſt von der erſten bis zur legten Rolle. Am wenigjten 
gefiel die Künjtlerin in den zwei Mozart'ſchen Rollen, Zerline und Gherubin; 
jei es, daß die einjache, getragene Gantilene Mozart's ihrer Geſangsweiſe weniger zu— 
fagt, ſei e&, daß fie und das Wiener Tublicum einander noch gar zu fremd waren. 
Zerline im „Don Juan“ ift eine Gpifodenrolle, mehr auf feines Detail als auf 
ichlagende Wirkung berechnet und darum felten günftig für eine erjte Gaſtrolle. Doc) 
verrieth Frau Lucca ſchon in der erften Scene die geniale, dramatische Künitlerin, 
die, unbefümmert um bloß Gonventionelles, jede Rolle aus ſich herausſchafft. Ein 
fräitiger Realismus beherrichte die ganze Leiftung, welche vom dramatiſchen Gefichtz- 
punkt allerdings bedeutender war, ala vom muſikaliſchen. Die piychologijche Fein— 
beit, mit welcher fie in dem eriten Duett mit Don Juan den Uebergang vom 
Miderftreben zur Bereitwilligkeit, ihm zu folgen, zeichnete, war bewunderungswürdig. 
Man eriwäge nur, wie wenig Zeit Mozart feiner Zerline dazu gönnt! Offenbar im 
Intereſſe dieſes Details nahm Frau Lucca das Tempo ziemlich langiam, wie fie 
denn überhaupt das Zeitmaß und den Rhythmus etwas frei behandelt. Die „Erite 
Brautjungfer“ von ehedem iſt uns in ihrer anmuthigen Perjönlichkeit faſt under: 


152 Deutſche Rundichau. 


ändert erichienen; die Stimme hat zwar den einjtigen jugendlichen Schmelz, aber 
nicht die Kraft und Fülle eingebüßt. Auch: der Page in „Figaro's Hochzeit“ Hatte 
manches geijtreiche Detail, bei confequent durchgeführtem Charakter. Vielleicht war 
es gerade der Verzicht auf manchen äußeren Effect, was diefen Cherubin effectlos er- 
Icheinen ließ. Man mochte von der Lucca bier einen Ausbund don Muthwillen er: 
wartet haben und war überdies durch die landesübliche Eofette Ungezogenheit, mit 
welcher der Page am Hofoperntheater gejpielt wird, beeinflußt. Vom Gherubin an 
ftiegen die Leiftungen der Yucca umd ihr Erfolg ftetig von Rolle zu Rolle. Wer fie 
ala Frau Fluth in den „Luſtigen Weibern von Windfor” gehört, der fennt ihr Ta- 
lent vielleicht von der eigenthümlichiten, anmuthigften Seite. Dieſe Frau Yluth it 
im Grunde recht unbedeutend, dramatifch wie muſikaliſch. Welches Leben ein geniales 
Naturell einer jolchen Rolle einzuftrömen vermag, und durch diefe Rolle dem ganzen 
Stüd, das zeigte und Frau Lucca. Sie hat einen Reichthum von neuen Zügen hin- 
eingelegt oder herauserfunden; Alles kommt aber jo ungejucht und jelbjtverjtändlich, 
als könnte das gar nicht anders gejpielt werden. Das ift der Segen der Urſprüng— 
lichkeit, des erfinderiichen Talentes in einer ftarfen Natur, die ihren ficheren künſt— 
leriichen Inſtinct gewähren laffen darf. In der volllommenen Natürlichkeit der Rede, 
die felbft den Anstrich des Nachläffigen, Hausbadenen nicht jcheut, wo er Hingehört, 
in der ganz eigenartigen Verfcehmelzung von kindlichem und herbem Ausdrud, 
erinnert Frau Yucca an Hedwig Raabe. Aber auch der Gatte diefer unvergeklichen 
Margarethe in den „Hageftolzen“ fam uns in den Sinn, denn nur bei Niemann 
haben wir jenes vollendete Durchdringen von Wort und Ton im Gejange wahrge- 
nommen, dad dem Vortrag der Yucca den ausgeprägt dramatiichen Gharalter ver- 
leiht. Wie offenbarte fich diefe Kunſt in der Betonung, mit welcher fie im 1. Duett 
Falſtaff's Brief vorlieft! Mit dem Aufzählen von Details wirde ich faum fertig 
werden und dem Leſer doch feine deutliche Vorjtellung von dem verichaffen, was, an 
ih unfcheinbar, doch an rechter Stelle jo unvergleichlich trifft. Soll ich erzählen, 
wie drollig Frau Lucca im 2. Act ihre Stiderei handhabt, mit rajchen, rieſenhaften 
Stichen, wie fie nur der Zorn führt? Oder von dem ironifchen Liebesbefenntnik, das 
fie für Falſtaff's Beſuch fich einjtudirt ? Oder endlich von ihrer Meiſterſchaft im Lachen 
und Weinen, das grundverichieden von den üblichen TIheaterlauten mit voller Natur: 
gewalt wirkt? Lauter Eöftliche Einzelheiten, aber auch mehr als bloße Einzelheiten. 
Sie waren organisch zufammengehalten durch den einheitlichen Charakter dieſer rejo- 
luten, bei aller Ehrbarfeit luftigen Frau Fluth. So ſtark auch die Rolle angefaht 
war, mahnte fie doch nirgends an Koketterie oder jelbjtgefällige Naivetät, die hier jo 
nahe liegt. Im Gegentheil hatte die Frau Fluth der Lucca einen Ton von Wahr- 
beit, dejlengleichen man höchſt jelten in der Oper hört. Gemüth kann man in diejer 
Rolle nicht zeigen und deshalb wol hatte die Künjtlerin ein jentimentales® Bäntel- 
Lied von Gumbert (dem Berliner Proc) eingelegt, das troß jeiner Banalität 
nicht vergeblih an die Gemüthlichfeit des Hörers appellirte. Frau Yucca jang es 
mit fo inniger, voll auaftrömender Empfindung, daß kaum Jemand davon unge: 
rührt blieb. Im engeren Kreiſe, am Glavier, wäre diefe Art ein Lied vorzutragen, 
jedenfall viel zu nachdrüdlich, zu dramatijch; aber es ijt ein Unterjchied, wo und in 
welcher Umgebung man ein Stüd vorträgt. Auf der Bühne, in einen, wenn auch 
noch jo Loderen dramatiichen Zufammenhang verlegt, hat diefe Vortragsweiſe nichts 
Anſtößiges; pflegt doch auch das Gzarenlied in Lortzing's Oper u. dgl. mit breiterem, 
fräftigerem Pinſel gemalt zu werden, als ein Strophenlied jonjt verträgt. Mit diejer 
Rolle hatte die Lucca unſer Publicum vollftändig gewonnen. Es folgte Zerline im 
„Fra Diavolo“ unter allgemeinem Beifall. Man war bald inne geworden, daß von 
diefem naturtvüchfigen, echten Talent immer etwas Gigenthümliches zu erwarten jei, 
daß die Yucca es gewiß zum Mindeften „ander® machen“ werde ald Andere; das 
reizt den Antheil jelbjt des blafirten, Opernbefuchers und läßt die Neugierde nicht 
ruhen. Mitunter verleitet die fich bewußte Originalität auch zu irgend einem Wag- 
niß, dad und mehr intereifirt als befriedigt. Dahin gehört die aparte Auffaffung 


Wiener Chronif. 153 


der „ira Diavolo*-Romanze, deren übermüthiges Detail im Vortrag der Yucca den 
Schwerpunkt des Ganzen willkürlich verrüdt. Mit diefer einzigen Ausnahme, welche 
übrigens den Reiz der Neuheit und ein vollitändiges Gelingen für fich hatte, war die 
Zerline in „Fra Diavolo“ mufterhaft, eine Figur von erquidender Friſche und 
Liebenswürdigkeit. Ebenjo wahr und charafteriftiich wie da8 Bauernmädchen aus den 
Abruzzen fpielte die Lucca dad vornehme Edelfräulein im „Schwarzen Domino“. 
Der feine, ruhige Anjtand, mit dem fie anfangs auf dem Hoiball fich bewegt, blidt 
noch aus der Verkleidung im zweiten Act und findet jchließlic in der Maske der 
„alten“ Webtiffin eigentlich nur feine tiefere Dctave. Bei dem Vortrag der Arago- 
naije vermißten wir ungern die Gaftagnetten in den Händen Angela’s; fie verſchönern 
dad Bild und gewähren überdies einen heilfamen rhythmiſchen Zügel. Frau Yucca 
lang das Lied mit großer finnlicher Yebendigfeit, aber etwas zu raſch und ſtellen— 
weife jchleudernd. In der erzählenden Arie des dritten Acts glänzte die Sängerin 
durch überrafchend reich nuancirten Ausdrud bei volllommener Deutlichkeit der Aus— 
iprache. Letztere bietet hier Schwierigkeiten, über welche ſelbſt Sängerinnen von 
achtbarſter Zungenfertigfeit jtraucheln. Wie leicht Lifpelt fi im Original: „Sous 
un sombre portail soudain je me blottis‘ — und wie entjeglich hart im Deutjchen : 
„Mich barg vor der beraufchten Zahl ein finitere® Portal!” Den Vers: „Soudain 
jentends de lourds fusils au loin retentissants, et puis: Qui vive?“ fingt man 
deutich in folgender Nußknackerei: „Wer trabt jo jchwer mit Mordgewehr von fern 
die Straße Her und ruft: Wer da?“ Und das Alles in Jchnellen Achtelnoten und 
Serteniprüngen! — Durch die Lucca ift ohne frage ein neues lebhaftes Intereſſe, 
ein wohlthätiger Impuls in unſer Opernivejen gefommen. Es ift nicht der Zauber- 
Hang einer ungewöhnlich ſüßen Stimme, nicht eine vollendete Geſangsbravour wie 
die der Patti oder Artöt, wodurch Pauline Lucca uns feflelt: ihre Stärke liegt 
in dem großen und urjprünglichen dramatiichen Talent, das jede ihrer Leiſtungen 
leuchtend durchzieht. Sie ift eminent dramatiiche Sängerin, iſt e8 mitunter aud) 
da, wo fie eö nicht jein jollte: im Liedervortrag. Die dramatifche Anfchaulichkeit 
und der leidenschaftliche Nachdrud, womit fie in einem Goncert Mozart’3 „Beilchen“ 
vortrug, bewies das. Wer fie theilweife entichuldigt, ift freilich Mozart jelbit, der 
in jeiner an's Iheatralifche grenzenden Auffaffung des einfachen Gedichtes (des ein- 
jigen Goethe-Tertes, den er componirt hat) der Sängerin den faljchen Weg bahnte. 
Das klingt, al wenn nicht ein Veilchen, jondern die junge Schäferin ſelbſt zertreten 
worden wäre. rau Lucca hat ihr Gaftjpiel in der „Komiſchen Oper“ beendet und 
wird demnächſt drei Rollen im SHofoperntheater fingen (Margarethe, Mignon, die 
Afrikanerin); davon foll Ihnen mein nächjter Brief erzählen. 

Gehen wir zu den Goncerten über. Als hervorragendite Mufilproduction der 
legten Woche ift die Aufführung von Beethoven's „Feſtmeſſe in D“ durch die 
Geiellichaft der Mufikfreunde zu nennen. Ueber diefe gigantifche Schöpfung mit ihren 
erhabenen Schönheiten, tieffinnigen Intentionen und echt Beethoven’schen Gewalt- 
ſamkeiten iſt hinreichend viel gejchrieben. Gin einziges Moment von Wichtigkeit 
haben wir diesmal beizufügen. Der letzte Saß (Dona nobis pacem), wol der ge 
nialfte von allen, ijt jet durch Brahms vielleicht zum erſten Mal ganz richtig 
aufgeführt worden. Im neunundzwanzigiten Tact vom Ende (S. 296 der B. Schott’- 
ſchen Partitur) und weiter ließ man die Pauke conſequent das A ſchlagen, offenbar 
in der irrigen Meinung, die anfangs in B-F jtehenden Paufen müßten in dem D-dur- 
Sa nah D-A umftimmen, und dad B in den leßten neunundzwanzig Tacten der 
Meſſe jei ein Drudfehler für A. Nun jteht am GEingange des Agnus „Tympani in 
B-F*, und diefe Bezeichnung ift im ganzen Berlauf des Stüdes nirgends aufge 
hoben oder verändert; das B auf ©. 296 ff. bedeutet alfo feinen Drudiehler. Iſt 
ed micht wunderlich, wie ein jo erheblicher Irrthum fih Jahrzehnte Hindurch fort— 
ſchleppen und ſelbſt von Muſikern wie Nottebohm und Julius Stern adoptirt werden 
fann, in deren Glavier-Arrangements der D-Meſſe ſich im Baſſe das falſche A. 
findet? Brahms hat nun den Urtert bergeitellt, wenn diefer Ausdrud zuläffig ift, 


154 Deutiche Rundichau. 


wo blos richtig gelefen und geipielt zu werden braucht, was in der Partitur jteht. 
Die Kühnheit, mit welcher das B .der Paufe eintritt und das Fundament der jol- 
genden Accorde bildet, ift von großartiger Wirkung. Brahms Hat fie noch gehoben, 
indem er das B der Paufe durch pizzifirende Gontrabäfle verftärft. Hoffentlich wird 
jein Vorgang fernerhin mujtergültig bleiben. — 

Durch die gelungene Aufführung diefer jchwierigen Tondichtung hat ſich Brahms 
als Dirigent ein neues Verdienft erivorben; mit ihm theilten fich die Sängerinnen und 
Sänger der Soloparthien, Frau Wilt, Frau Gomperz:Bettelheim, die Herren 
Walter und Rokitansky in die Ehren des Tages. Der Singverein und das 
Orcheſter arbeiteten unerjchütterlich; im Chor verdient die Tapferkeit der „jangbaren 
Frauen” (um einen Ausdruck Gottfried Keller’ zu adoptiren) eigens gerühmt zu werben. 

Ein gut bejuchtes Concert gab die von R. Weinmwurm dirigirte „Sing> 
atademie” im Heinen Mufitvereinsfaal. Es wurde mit einer vierftimmigen Hymne 
(D-moll „Gantate Domino“) von W. Friedemann Bach eröffnet, welche bisher 
ungedrudt und im Beſitz der Wiener Hofbibliothef, von Herrn Weinwurm der Ber 
gefienheit entzogen wurde. Friedemann Bach, der ältelte Sohn Sebajtian’s, war 
zugleich derjenige, auf deijen Gompofitionstalent der Vater die größten Hoffnungen 
baute. Bekanntlich find die Keime diejer genialen Begabung in dem Sturm eines 
wüſten, leidenjchaftlich zerwühlten Yebens frühzeitig untergegangen. Nur jehr wenige 
Gompofitionen von Friedemann Bach wurden veröffentlicht, darunter ein Heft Polo» 
naifen für Glavier, deren melodiöfer freier Styl und fühne Modulation und ganz 
modern anmuthet, an manchen Stellen faft wie eine Vorahnung Beethoven's. Das 
fönnen wir von feiner „Hymne“ nicht jagen; fie erreicht weder die jtrenge Größe 
und polyphone Kunjt feines Vaters, noch die reizvolle Lebendigkeit der Neueren. Das 
Stüf klingt eben wie die Arbeit, vielleicht Gelegenheitdarbeit, eine routinirten 
Muſikers. Ein gemifchter Chor von Carl Loewe („Bald wenn die Biene“, aus 
op. 81) beitätigte abermald die leidige Erfahrung, daß diefer geiftvolle, in feiner 
Specialität einzige Balladencomponijt ein jehr alltäglicher Erfinder wird, jobald er 
den Boden der Ballade verläßt. Der Chor ift unbedeutend und aopfig, dabei 
ganz fehlerhaft deflamirt. Ebenjowenig dankbar fünnen wir uns für die Wiederauf- 
mwärmung von Spohr’8 „Vater Unſer“ erweiien. Die ermattende Weichheit und 
Süßigkeit diefer breit ausgedehnten Gompofition findet im Original hin und wieder 
in der Injtrumentirung ein wohlthuendes Gegengewicht; bei Glavierbegleitung iſt 
diejes „Vater Unſer“ — „humanamente parlando“, wie Pius IX. jagt — eine jehr 
langweilige Beicheerung. 

Die „Philharmoniker“ (unter dem Dirigenten Deſſoff) und die „Gejellichafts- 
eoncerte“ (unter 9. Brahms) braten endlich auch etwas Neues zu Gehör. 
„Und immer cireulirt ein neues Frisches Blut!” Unſere Goncert-Dirigenten ſeufzen 
längſt ungläubig, citirt man ihnen das Wort Mephifto’s, das jo gar nicht pafjen 
will auf die mufifalifche Productivität unferer Zeit. Mit welcher, meijt jchlecht ge 
fohnten Mühe die Theater-Directoren nach guten neuen Opern juchen, ift befannt. 
Aber im Concertiaale jtehen die Dinge nicht viel beſſer. Wir werden bald gar feine 
Novitäten mehr haben und lediglich auf das Repertoire de „Bewährten“ angewieſen 
fein — jo hören wir die Leiter unferer großen Orcheſter-Concerte feit Jahren klagen. 
Faft find die wenigen Orchejterfachen von Brahms und Volfmann das einzige 
in diefem Fach Hervorragende aus neueſter Zeit. Brahms iſt jeit zwanzig, Volf- 
mann feit dreißig Jahren thätig — wo bleibt der Nachwuchs? Mo circulirt ein 
neues friſches Blut? Das find trübe, umwölkte Ausfichten, aber fie machen jeden 
unerwartet durchbrechenden Yichtftrahl doppelt willlommen. Mit aufrichtiger Freude 
begrüßen wir jeden Neuen, der mit einer Oxcheiter-Gompofition entjchieden durch- 
dringt und eine fruchtbare Zukunft verjpricht. Dies ift der Fall mit Herm 
Robert Fuchs, ehemaligem Zögling des Wiener Conjervatoriums und Gomponiften 
der im Philharmoniſchen Goncert aufgeführten „Serenade für Streichorcheiter‘. Das 
Werk verräth ein echtes, anmuthiges, muſikaliſch geſundes Talent. Es befteht aus 


Wiener Chronit. 155 


fünf ziemlich knappen, ſchön abgerundeten Säten und bewegt fich auf jenem mittleren 
Niveau zarter, Treundlicher Empfindung, das dem Serenadenftyl entipricht. Bedeu— 
tend, im Sinne eines ungewöhnlichen Gedankengehaltes oder einer imponirenden 
Meifterichaft fann man die Novität nicht nennen; doch ſchätzen wir fie in ihrer maß— 
voll harmonifchen Beichränftung höher als jo viele Erftlingsproducte, die um jeden 
Preis nur „bedeutend“ fein wollen. Weder durch vergiitete Rhythmik, noch durch 
jweiichneidige Harmonie jucht Fuchs ala Geiftreicher zu fofettiren; auch macht er feine 
Miene, Beethoven nachfliegen zu wollen, höchftens Volkmann's reizenden Sere- 
naden. Die Gompofition fließt in Einem Zuge ohne bizarre Seitenjprünge dahin 
und ift intereffant, ohne aus dem Intereſſantſein ein Gejchäft zu machen. Seder der 
fünf Sätze jpriht warm und natürlich aus, was gejagt werden jollte, und jchließt, 
jobald der Componiſt nichts mehr zu jagen hat. Fuchs ahmt feinem andern Com— 
poniſten nach und hat doch offenbar von allen gelernt. Von den einzelnen Sätzen gefiel 
am meiften der erfte, ein jehr melodiöfes, zwiichen Laune und Empfindung jchweben- 
des Andante, dann das Allegro scherzando in B, in feiner Fyröhlichkeit und leichten 
Contrapunktik eine Art modernifirter Haydn. In Verhältniß zu den früheren Sätzen 
icheint mir nur das Finale zu weit außgefponnen. Der Erfolg mochte wol die 
Erwartungen des bejcheidenen Componiften übertreffen, den hervorzurufen das Publi— 
cum nicht müde wurde. Es ift zu wünſchen, daß diejes jchön aufftrebende Talent 
in möglichjt ungehemmter Schaffenaluft erhalten und durch irgend eine geficherte 
Stellung über die gemeine Noth des Lebens gehoben würde. Die übrigen Nummern 
des eriten Philharmoniſchen Goncert3 waren Mendelsſohn's Melufina-Duvertüre, 
Shumann’s Dupvertüre zur „Braut von Meſſina“, endlih Beethoven’s 
B-dur-Symphonie. Gapellmeifter Deſſoff wurde demonjtrativ mit anhaltendem 
Applaus begrüßt; war es doch befannt geworden, daß diefer Goncert-Eyflus leider 
der lebte ift, welchen Herr Defloff vor feinem Abgang nach Karlsruhe Hier dirigirt. 
Mit aufrichtigem, lebhafteſtem Bedauern jehen wir Defloff von Wien fcheiden, wo er 
ala Goncertdirigent, als Opern:Gapellmeifter, ala Lehrer, endlich als Zierde der 
beiten Gejellichaftäfreife jchmerzlich vermißt werden wird. 

Das erite Abonnements:Goncert der Geſellſchaft der Muſikfreunde be- 
gann mit einer Ouvertüre von Rubinftein zu „Dimitri Donskoi“. Die Oper 
jelbft ift uns unbefannt, die Ouvertüre hätte e8 immerhin auch bleiben können. Die 
Einleitung, ein düſter brütendes Adagio, jcheint mit ihren ligirten Achtelfiguren 
etwas Bedeutendes anzukündigen, beinahe etwas ganz bejtimmt Bedeutendes, nämlich 
die „Egmont“-Ouvertüre; allein das mehr an Mendelsjohn erinnernde G-moll-Allegro 
in Sechöviertel-Tact enttäufcht uns, es iſt jehr breit, aber nichts weniger als tief. 
Der Gomponift ftredt und müht fich in jeder Weife, doch will ihm abfolut nichts 
Rechtes einfallen. Viel erfreulicher wirkte eine bejcheidene Novität von 3. Brahms, 
eigentlich ein Iyriiches Kleeblatt: drei Lieder für gemilchten Chor (aus Op. 62). 
Dan kennt die schlichte Herzlichkeit des Ausdrucks, den Elangvollen Vocalfaß, den 
an's Volkslied anklingenden, mitunter etwas alterthümelnden Ton, wodurch die 
Ghorlieder von Brahms fich auszeichnen. Für das jchönfte von den dreien erachten 
wir: „Dein Herzlein mild“ (aus Paul Heyſe's Jungbrunnen); in der „Waldes- 
nacht“ ift der Auffchwung in die Octave bei dem Ausruf: „DO wie ift Dein Rauchen 
ſüß!“ ein fchöner und wahrer Zug. Nicht in gleichem Maße befriedigt das Liebes— 
(id „Spazieren wollt’ ich veiten“, deſſen Refrain „Trab, trab“ fich in jo Hoher 
Sage nicht gut ausnimmt; ein Chor von Sopranftimmen erjchnappt nur jchwer und 
Ipikig das kurz anzufchlagende hohe A in diejer Figur. Nachdem fi) Brahms in 
dem Concert als Dirigent und Tondichter hervorgethan, glänzte er überdies noch ala 
Pianift mit dem Vortrag von Beethoven’8 Es-dur-Goncert. „Glänzen“ ift eigentlich 
nicht das rechte Wort, denn wenn feinem edlen, gediegenen mufifalifchen Vortrag 
Eines abgeht, jo iſt e8 eben der Glanz, jene jelbjtbewußte und jelbitzufriedene 
Kühnheit, mit der wir gerade den Goncertipieler gerne fröhlich dahinſprengen ſehen. 
Brahms' finnige, mehr nach Innen gefehrte Natur meidet Alles, was an blos äußer— 


156 Deutihe Rundſchau. 


lichen Effect, an BirtuojentHum mahnen könnte, und geht in diefer Prunklofigkeit 
meilt etwas zu weit. Ungemein jchön jpielt er das Adagio; in den Allegrofägen 
vermißten wir die kräftige Entjchiedenheit der Bälle und den brillanten Schliff der 
Pafjagen. Brahms will immer nur die Gompofition für fich jprechen laſſen umd 
drängt den Spieler allzu befcheiden zurüd. Den Schluß machte Berlioz' Sym— 
phonie „Childe Harold”, die wir vor einigen Jahren unter Herbed’3 Direction gehört. 
Ueberall und jederzeit hat von den vier Sätzen dieſes Tongemäldes, welches halb 
Symphonie, halb PViola-Concert, Halb Oper ohne Worte ift, nur der „Pilgermarich“ 
lebhaften Anklang gefunden. Eines der geiftreichiten, zugleich klarſten und abge 
rundetiten Stüde von Berlioz, feffelt der Pilgermarjch insbejondere durch ſeine rei: 
zenden Klangeffecte; da läßt man fich auch die jonderbare Rolle der Solo-Bratiche, 
welche die Perſon des Harold daritellen ſoll, gefallen. Dagegen wird eine ganze 
lange Symphonie hindurch dieſes unerjättliche, aufdringlihe Monopolifiren der 
Bratiche überaus läftig, eine wahre mufilaliiche Arroganz. Berlioz erzählt in 
feinen Memoiren, daß der Wunſch Paganini’s, Berliog möchte für ihn ein Viola- 
Goncert componiren, die erfte Anregung gab. Paganini erjchraf aber bei dem Anblid 
der vielen Pauſen in der Violaftimme, er wollte ald Virtuoſe nicht jo lange jchwei- 
gen. So führte denn Berliog, ohne weitere Rüdfiht auf Paganini, feine Symphonie 
aus, deren Titel: „Childe Harold en Italie‘ an das Gedicht Byron's anipielen 
follte, während ihr Inhalt die italienifchen Reife-Cindrüde des Componiſten jelbit 
illuftrirte. Wie in der „Phantajtiichen Symphonie“, jollte auch Hier Ein Haupt: 
thema (die erſte Melodie der Solo-Bratiche) fich durch das Ganze wiederholen, nur 
mit dem Unterfchiede, daß dort die „double id6e fixe” in ganz fremdartigen Scenen 
als unerwarteter Gegenjag auftaucht, während hier der Geſang Harold's fich zwar 
dem Orcheiter überordnet, aber einträchtig mit dielem fortgeht, ohne die Entwidelung 
zu unterbrechen. Ich weiß nicht, wie es Anderen ergeht mit diefer Symphonie, mit 
ericheint fie mit jeder neuen Aufführung düritiger, gefünftelter, unmuſikaliſcher, in 
ihrer melodiſchen Armut geradezu bemitleidenswerthd. Als Berlioz im Jahre 1846 
mit einer langen Reihe glängzender Goncerte fi in Prag und Wien einführte, da 
fam jeine Mufif wie ein feuriges Meteor über und. Sie war etwas jo Ungeahntes, 
Blendendes, von allem Gehörten jo ganz Verichiedenes, daß fie den wehrlos ſtau— 
nenden Hörer geradezu niederzwang; die Einen zu ſchrankenloſer Huldigung, zu 
tödtlihem Haß die Andern. Niemand blieb gleichgiltig, Niemand neutral. Nur 
eine ganz ungewöhnliche Perjönlichkeit fonnte jo wirken. Wuch das leßte Kennzeichen 
einer bedeutenden Kunftericheinung blieb nicht aus: daß fie zu Principienfragen Anlaß 
gibt. Die tiefften Gontroverfen der Zonkunft, die Frage nach Form und Inhalt 
derjelben, nach den Grenzen ihres Neiches, nach ihrem Verhältniß zur Dichtkunft und 
Malerei wurden durch Berlioz aufgewühlt, an Berlioz die ererbten Geſetze der 
Heithetif neu geprüft und gemefjen. 

Wer nun zum erjtenmal diefer Mufit laufchte, naiv oder reflectivend, gevieth in 
gährende Bewegung. Dieſe Gährung hatte jeither Zeit, fich zu flären. Wenn aud 
nicht ganz, jo ijt dach zum großen Theil das Befremdende der Berlioz'ſchen Mut 
zjurüdgetreten. Gine Richtung der Mufik, wejentlich durch Berlioz ſelbſt, wenngleich 
ohne jeinen Wunsch hervorgerufen, gewann Raum und wurde von einer compacten 
Gruppe jüngerer Tondichter mit großer Gonfequenz verfolgt. Es erichienen Wagner, 
Liszt und Die vielen Fleineren XYeute der Weimar’ichen Schule. Die Tendenz der 
Berlioz'ſchen Muſik ift uns jomit durch verwandte Beitrebungen näher gerüdt, wäh 
rend dev Meijter jelbjt mit feiner geiftvollen feſſelnden Perfönlichkeit in objectivere 
Ferne zurüdwich. Robert Shumann, der bekanntlich bei der erſten Bekanntſchaft 
mit Berlioz' Werfen in Enthufiasmus gerieth, ja ihnen in Deutjchland den Boden 
bereitete, er hat in jpäteren Jahren jehr kühl, faſt ablehnend von feinem einftigen 
Liebling geiprochen. Auch das Publicum des erften Geſellſchafts-Concerts nahm die 
Harold-Synphonie, mit Ausnahme des Pilgermarfches, ziemlich gleichgiltig auf. Es 
iſt eine mühjelige Muſik voll frampihaiter Anſtrengung, ein dürftiger muſikaliſcher 


MWiener Chronif. 157 


Kern mit dem glänzenditen oxcheftralen Purpur bekleidet. Der Harold » Symphonie 
iehlen jene Klänge tiefer Wehmuth und füher Zärtlichkeit, welche in anderen Werken 
Berlioz' („Scene aux champs“ in der „Phantaftifchen Symphonie”, Liebesſcene in 
„Romeo und Julie”) jo mächtig ergreifen. Das Finale (Orgie der Räuber) ift ein 
wahres Kirchweihieft des Häßlichen und Rohen, die „Walpurgianacht“ der Symphonie 
fantastique in's Menjchliche überfegt, wenn man folche Unmenfchen, wie die fich auf 
gut Berlioziich freuenden Banditen, noch mit diefem Titel beehren darf. 

Sehr beliebt und befucht find die Goncerte des „Schwedilhen Damen- 
quartett3”. „Zur Zeit des Todes von Karl dem Zwölften — jo lieft man in 
mufifalifchen Geſchichtsbüchern — jollen in ganz Schweden nur zwei Männer gewejen 
fein, welche Noten lefen konnten. Die mufilalifche Cultur in Schweden iſt verhält: 
nigmäßig jungen Datums, und bis heute hat diejes Land durch feine Componijten 
und Virtuofen nur wenig von fich reden gemacht. ZTroßdem fehlte e8 niemals an 
einzelnen Anzeichen, welche auf ein nicht gewöhnliches Talent der Schweden, nament- 
ih für den Gefang, Hindeuteten. Sängerinnen wie Jenny Lind und Griftine 
Nilsſon find erceptionelle Kunftgrößen; was fie jedoch Charafteriftiiches gemeinjam 
haben und mit einigen andern, minder berühmten jchwedifchen Sängerinnen theilen, 
it jo eigenartig, daß es offenbar mit dem Naturgrunde zufammenhängen, als phyfio- 
logische und muſikaliſche Anlage in ihrem Volke jelbft jchlummern muß: die weiche, 
leicht anjprechende Tonbildung, der ruhige, friftallhelle Fluß des Vortrages, vor 
Alem die Feinheit des Gehöres. „Die Deutfchen fingen mit dem Kopfe und mit 
dem Herzen, aber nicht mit dem Ohre“, äußerte einmal Jenny Lind, und wie oft 
mußte ich dieſes Wortes gedenken, wenn ich deutjche Opernfänger mit geiftreichem 
und leidenschaftlich dramatiichem Vortrage — falſch fingen hörte. Auf meine Gegen- 
frage geſtand fie, ihren Landsleuten in diefem Punkte den Vorzug einzuräumen. Eine 
intereffante Beftätigung diejes Urtheiles, ein Beiſpiel von feiniter Empfindlichleit des 
Gehöreg, oder noch genauer: des Sich-Selbfthörens beim Selbitfingen bietet das 
‚Shwedijhe Damen-Luartett”, das gegenwärtig in Wien mit wohlverdientem 
großen Erfolge concertirt. Ganz gleich gekleidet, weiß, mit blaugelben Schärpen (den 
Ihwediichen Nationalfarben), treten die vier blonden Damen auf, jtellen fich dicht 
neben einander in Eine Linie und fingen auswendig ihre vierftimmigen Lieder. Ohne daß 
ein Accord oder auch nur ein Ton auf dem Glavier angeichlagen oder das unfcheinbarjte 
Zeichen zum Anfang gegeben würde, beginnen fie vollfommen gleichzeitig, haarjcharf 
mit der reinften Intonation. Schon nach wenigen Tacten jchwelgt der Hörer in dem 
doppelten Behagen von Wohlklang und Sicherheit und Horcht unermüdlich diejem 
unübertrefflichen, bis in die leifeiten Regungen des Athmend und Ausſprechens har- 
monischen Zuſammenklang. Wundervoll ift das gleichmäßige Anjchwellen und Ab— 
fterben des Tones, wobei man nicht etwa an ein Kofettiren mit diefem Effect denken 
dart. Im Gegentheile haben diefe Productionen gar feinen virtuofenhaften, jondern 
rein fünftleriichen Charakter und machen gerade durch die Anipruchslofigkeit und den 
befcheidenen Ernjt der Sängerinnen einen jo gewinnenden Eindrud. Wie wohlthuend 
it vollends dem vielgequälten modernen Ohr diefes Singen in durchaus reinen 
Intervallen! Es klingt manchmal, als wenn eine reingeftimmte Physharmonifa in 
Ihönem vierftimmigen Accorde anſpräche. Die Schwedinnen üben nur mit Zubilfe- 
nahme der Stimmgabel, und da fie das in praxi öfter übel- ala „wohltemperirte” 
Glavier meiden, erzielen fie, feinhörig wie fie find, ſtets die klare, ſcharfe Süßigfeit 
reiner Intervalle. Mean hat diefe Gefangsproductionen oft mit J. Becker's „Tloren- 
tiner Quartett“ verglichen, und die Analogie liegt nahe. Aber das Ausjtrömen des 
Gefanges aus der Menjchenbruft jteht an Unmittelbarkeit und Innigfeit der Ton— 
gebung doch noch Hoch über dem Inſtrumentenſpiel, und darum übt auch diefer ein- 
beitliche Vortrag don vier Frauenftimmen einen noch ftärkern eigenthümlichern Klang— 
reis, als das beite Streichquartett. Keine der vier Stimmen bejticht für fich durch 
beiondere Schönheit, doch hat der erſte Sopran etwas von der fympathiichen Weich- 
heit, dem „jchwedifchen” Flötentone, der an die Lind erinnert, während der zweite 


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158 Deutſche Rundichau. 


Alt bei etwas vauberer Klangfarbe durch Kraft und fabelhafte Tiefe ercellirt. Indem 
diefe Altjtimme, von der wir das tiefe C und H anjchlagen hörten, faſt die Rolle 
eines Cellos überninmt, vermag das Damenquartett feinen vierftimmigen Sat etwas 
weiter ala gewöhnlich außeinanderzuhalten und ein größeres Feld zu cultiviren. Nach 
der langen Alleinherrichait der Männerquartette, welche das gemifchte Vocalquartett 
leider taft gänzlich verdrängt haben, ijt ein Frauenquartett eine ganz neue, über: 
rafchende Ericheinung: es eriftirt auch feine Literatur dafür. Die Damen Hilda 
MWideberg, Amy Aberg, Maria PBetersjohn und Wilhelmina Göder- 
lund find überhaupt das erjte Frauenquartett, das fich in Europa producirt; fie 
fingen transponirte Männerquartette, theils Volkälieder, theild moderne Compoſitionen 
von Lindblad, Södermann und Anderen, in welchen die Nationalfärbung jtarf vor- 
ichlägt. Dieje Lieder wirken in jo trefflicher Ausführung ſehr anregend durch ihren 
die formale Schönheit jtarf überwiegenden charakteriftiichen Ausdrud. Bei mancher 
Herbigfeit, ja Härte der Melodie und Rhythmik leuchtet doch viel gemüthvolle Zart- 
heit und gejunder Humor aus diejen Gejängen. Das „Hochzeitälied“ insbefondere 
ijt ein Liebling des Publicums geworden und darf in feinem Concert der Schwedinnen 
fehlen. 

Im kleinen Mufifvereinsfaale haben die „Muſikaliſch-artiſtiſchen Weih— 
nachtsvorſtellungen“ der ruffiihen Gomponiftin Fräulen Ella Adaiewstn 
begonnen. Auf einem viel zu niedrigen Podium (dev untere Theil der Bilder ift nur 
für die ganz vorne Sitzenden fichtbar) erhebt fich eine kleine verdedte Bühne. Der 
Vorhang theilt fich von Zeit zu Zeit und läßt nacheinander eine Reihe von Trans— 
parentbildern jehen, ungefähr in der Breite des mittleren Bühnendritttheile. Dazu 
wird Hinter den Gemälden Muſik gemacht. Ueber die äjthetiiche Fehlerhaftigkeit einer 
ſolchen Berfoppelung von Mufit und Gemälden ift faum mehr nöthig zu jprechen, 
es iſt der blanke Dilettantismus. Otto Jahn Hat befanntlich eine Aufführung von 
Beethoven's Paftoral-Symphonie „mit Decorationen und lebenden Bildern“ fchari 
fritifirt und als eine VBerfündigung an Beethoven's Meijterwerf gebrandmarkt. Nun, 
gegenüber der „Weihnachts-Cantate“ von Fräulein Adaiewsky braucht man nicht jo 
wehleidig zu ſein. Es ijt eine Damenarbeit ohne jegliche Kraft und Originalität, 
ingbefondere von einer rhythmiichen Lahmheit, welche alsbald einjchläfernd wirft. Eine 
einzige ganz einfache Nummer in langjamem Dreiviertel-Tact (Chor der Hirtentnaben) 
wirkte durch hübjchen Klang und einen Hauch von Empfindung; wo aber die Auf- 
gabe complicirter wird und mufifalifche Prätenfionen erhebt, wie in dem großen 
Schlußchor, da liegt der Bankerott zu Tage. Ueber den Stunftwerth der vorgeführten 
Bilder (von denen namentlich die der Eifenmenger’schen Schüler: Ambros, Wieſer 
und Schlimarzik gefielen) erlaube ich mir fein Urtheil, höchitens die Bemerkung, daß 
ihr Zujammenhang mit den betreffenden Muſikſtücken ein äußerſt loderer if. Dom 
Standpunkte der Unterhaltung, dem einzig berechtigten bei jolhem Kunſtmiſchmaſch, 
ſcheint es mir, daß für Auge und Ohr doch viel mehr geboten werden könnte. Ich 
erinnere mich einer Aufführung von Mendelsſohn's „Paulus“ in Düffeldorf, wo die 
beiten Künftler, Oswald Achenbac an der Spite, die Decorationen dazu gemalt 
und die „lebenden Bilder“ arrangirt hatten. Da genoß man wenigjten® zu trefflicher 
Muſik eine unvergleichliche Augenweide an der Plaſtik diejer Lebenden Bilder, welche 
die Hauptmomente des Oratoriums prachtvoll verfinnlichten. In den Weihnachts: 
Productionen von Fräulein Adaiewsky vermag ich nicht viel mehr zu jehen, als eine 
Art nobeln Krippenſpiels für erwachiene Dilettanten. Und da geftehe ich unverblümt, 
daß ich in dem gemeinen Krippenfpiel mit feinen ernthaft-drolligen Figuren, mit 
feiner dramatifchen Einfalt und feinem naiven Kleinen Publicum mehr echte Poefie, 
mehr Wahrheit und jeligen KHinderglauben wiederfinde, ala in den vornehmen „ınufts 
kaliſch-artiſtiſchen Weihnachtsvorftellungen“ des Mufikvereins. 


Eduard Handlid. 





Berlin, den 15. December.‘ 

Neigten wir Deutiche zur chauviniftiichen Phrafe, wahrlich, wir hätten jeßt 
vollen Grund, unfere Hauptjtadt für den „Mittelpunft des civilifirten Europa’s“ 
zu betrachten. Unſere Staat3männer, unjer Parlament und unſere politijchen Pro— 
ceſſe — denn nur als jolche betrachtet hat die Arnim- Affaire noch ein größeres 
Intereſſe — beichäftigen die ganze Welt. 

Der Name und die Geftalt des Fürſten Reichskanzlers gingen aus alle 
dem, was fich bei uns abgejpielt, nur mit ftrahlenderer Aureole umgeben, hervor. 
Sein Können und Vollbringen ift es, um das uns die andern Völker zunächſt beneiden, 
und von dem und jenem Monarchen flüftert man fich den jchmerzlich bewegten Aus- 
ruf zu: „Mer jchafft mir einen Bismard für meine Länder?" Was vor Allem diejem 
Staatsmanne das bejondere Gepräge verleiht, iſt fein nüchterner, jtet3 nur auf das 
praktiſch Erreichbare gerichteter Sinn, ijt feine Geijtesireiheit, die ihn alle Borein- 
genommenheiten der Erziehung und der Meberlieferung abjtreifen läßt, und feine un- 
endlich Hochanzufchlagende Gabe, Allen, was er thun oder lafjen mag, injtinctiv die 
intimften Sjnterefien der deutichen Volksſeele zu Grunde zu legen. 

Sein Auftreten den Eljaß = Lothringiichen Anfprüchen im Reichstage gegenüber 
entiprach denn auch volltommen der Wandlung, welche fich im Gemüthe der Nation, 
was das jernere Verhalten des Reichs zu den Reichslanden anbelangt, vollzogen hatte. 
Wir find deshalb im Stande gewejen, jchon in umferer letzten Rundſchau vom 
15. November, vierzehn Tage ehe der Reichskanzler das Wort im Parlamente ergriff, 
jaſt Sa für Sat unſer Verhältniß zu dem wiedererrungenen Gebiete jo zu bezeichnen, 
wie es ſpäter der leitende Staatsmann gethan. Der Grundzug der Bismard’schen 
Rede, welche conjequent und ehern die Reichslande ala das charakterifirte, was fie 
im Grunde find, eine „eroberte Provinz“, lag in dem bezeichnenden VBoranjtellen des 
Reiches und feiner Intereſſen, als der allein leitenden Motoren deutjcher Politik. 
Iſt man erſt bei diefem Gedankengange angelangt, der allerdings mit der nebelnden 
und jchwebelnden „deutichen Bruder- Theorie” gewaltig aufräumt, jo ſchwingt man 
fich vielleicht noch, jo lange e8 Zeit ift, zu der andern dee auf, welche ein eminent 
praktisches Ziel verfolgt und bisher nur auf Grund einer Denkichriit im Eleinerem 
Kreife bekannt war: Nach Annahme des Axioms, daß der Grund und Boden der 
Reichslande durchaus deutich, die Bevölkerung zumeijt verwäljcht jei, möchte es fich 
empfehlen, aus Neichsmitteln oder aus anderen Fonds, den Ankauf aller ſolcher 
Grundſtücke, zunächſt namentlich in und bei Meb, im Großen zu betreiben, deren Be— 
fiber fich ala Franzofen fühlen und welche nur durch die Unmöglichkeit, ſich des Be— 
fies zu gutem Preife zu entäußern, im Lande gehalten werden. Diejen Leuten, 
welche doch nie gute Staatäbürger im deutjchen Sinne zu werden vermögen, wäre 
mithin die Rückkehr nach Frankreich, jelbjt mit Geldopfern von deutjcher Seite, ge— 


160 Deutiche Rundichau. 


bührend zu erleichtern. Nach dem aladann freimerdenden Grundbefig aber hätte man 
den Strom der Auswanderung zu leiten, der fich leider in fo reichem Maße nod 
immer aus Pommern, Preußen, Schlefien und auch aus Baden und Württemberg 
nah Nordamerifa, Brafilien und Auftralien ergießt. Da blieben dem Baterlande 
vortreffliche Kräfte erhalten und wir befämen eine Grenzbevölferung, deren Reichs— 
treue und Zuverläffigkeit nichts zu wünfchen übrig ließe. Natürlic” müßte das in 
Anwendung zu bringende Golonifationsfyften den Weberfiedelnden jolche materielle 
Vorteile bieten, daß fie die verlodenden Ausſichten der überjeeiichen Zukunft 
leiht in den Hintergrund drängen. Mir jcheint in diefer Entwidelung ein frucht— 
barer Gedanke zu jchlummern , der wol eine Prüfung verdiente. 

An die jchlagenden, jo manche Jllufion kräftig zerftörenden Auslafjungen des 
Reichötanzlerd über das Verhältniß zu Eljaß und Lothringen, dem, jo lange es 
widerwillig bleibt, faum eine andere Stelle angewiefen werden mag, als die eines 
„Glacis“ für die beiden Reichöfeftungen Meb und Straßburg, an diefe Bismarckiſchen 
Austührungen jchloffen ſich faſt unmittelbar die unqualificirbaren Angriffe der 
Gentrumspartei gegen die anämwärtige Politit des Reiches, Angriffe, die in jedem 
Patrioten nur die Gefühle „des Abfcheues und der Verachtung“ wachzurufen ver: 
mochten. Der Gynismus, mit welcher die DBertreter von Tauſenden deutjcher 
Männer Beichönigungen für den Meuchelmord in offener Parlamentsfigung aus- 
jufprechen wagten, überjteigt Alles, was ſonſt die Parteileidenichaft erflärlich ericheinen 
läßt. Dem Opfer gegenüber den Mörder gewiffermaßen in Schuß zu nehmen, feine 
Blutthat ald ein Factum zu entjchuldigen, an dem der Bedrohte jelbjt mit Schuld 
getragen, ift ficherlich eine Specialität, um welche die Fraction des Gentrums nicht 
zu beneiden ift. Dagegen verichwindet jelbjt der Eleine Kandesverrath, den der römiſche 
Redner übte, ala er den deutjchen Staatamann beichuldigte, insgeheim einen Krieg 
gegen Frankreich zu planen; dagegen verichwindet auch der nicht minder unpatriotifche 
Verſuch, zwilchen Deutichland und feinem ruffiichen Bundesgenofjen die Drachenjaat 
der Zwietracht auszuftreuen. In einem englifchen Parlamente wäre ein folches Ver 
gehen der Oppofition geradezu unerhört gewejen. Hier hätte der Gegner der Regie 
rung dem leitenden Staatsmanne niemals den Ausdrud des aufrichtigften Bedauerns 
vorenthalten und nie hätte man gewagt, dem Angefchoffenen jelbjt die moraliſche 
Berantwortlichkeit zuzufchieben, wie dies auf bdeutichem Boden gewagt werden 
fonnte. Glüdlicherweife ift Bismard Mannes genug, um folche Unverjchämtheit 
im Angeficht des ganzen Landes gebührend zu brandmarken, und jo gerechtfertigt 
vielleicht, vom parlamentarifchen Standpunkte aus, der Ordnungsruf fein mochte, 
den MPräfident Tordenbef gegen Lasker in Anwendung brachte, als er dem 
giftgefchwollenen Römlinge das Stigma des „Baterlands » Verrathes” entgegen: 
jchleuderte, jo bleibt doch diefer Ausruf des Wolfävertreterd gerade in jenem Momente 
eine patriotifche That, welche die ſonſt für unfer Volfsbewußtjein jo wenig ehrenvolle 
Scene in würdiger und dem großen Manne jchallende Genugthuung bietender Weile 
zum Abſchluß brachte. 

So mächtigen Wiederhall indeß auch die Sigungen des Reichsrathes in Deutich- 
land jelbit, wie im übrigen Europa fanden, jo wurden fie doch in mehr als einer 
Beziehung verdunfelt durch die den Meiften unerwarteten Dimenfionen,, welche der 
Proceß gegen den Grafen Arnim annahm; obwohl auch in diefer Angelegen- 
beit es der Neichäfanzler wiederum war, dem die wohlverdiente Glanzrolle zufiel und 
der mit einem Schlage feinen Verfleinerern gegenüber auf das Ueberraichendite gerecht: 
fertigt daftand. Dennoch darf ein Heines Vorfpiel nicht übergangen werden, welches 
die diplomatischen Enthüllungen diejes Proceſſes im Parlamente ſelbſt einleitete. Ich 
meine die Erwähnung der Meglia’schen Aeußerung: „Der Kirche kann nur noch die Re— 
volution helfen“. Der mwürttembergifche Yegationsrath von Bauer-Breitenfeld, gegen: 
wärtig Gejchäftsträger in Wien, hatte im Jahre 1868 ſeinem damaligen Mintjter: 
präfidenten von Varnbüler diefe Aeußerung des päpftlichen Nuntius ala den Succus 
eine® Geipräches übermittelt, den er jelbit im Uebrigen in feiner Tragweite nicht zu 


Politiſche Rundichan. 161 


erfaflen vermochte. Anders Herr von Varnbüler, welcher jofort jene Mitthei- 
lung für wichtig genug hielt, um fie in einem Rundfchreiben an die da- 
maligen Bertreter Württemberg’3 im Auslande diejen zur Kenntnik 
zu bringen und fie zu ermächtigen, gelegentlich Gebrauch von diejer Aeußerung 
des römischen Diplomaten zu machen. Auf diefjem Wege erfuhr Fürſt Bismardf das 
Geſtändniß Meglia’3, um es zu fo gelegener Stunde zu verwerthen. Es ift wol 
feinem Zweifel unterworfen, daß Herr von Varnbüler, der fich ſeit geraumer Zeit 
der Reichspolitik jo rückhaltlos angefchlofien, zu dem Gebrauch, den er von der in 
amtlicher Stellung erlangten Kenntniß der Meglia’schen Indiscretion gemacht hatte, 
von jeinem Nachfolger im Amte, Herrn von Mittnacht, gebührend ermächtigt 
worden war. 

Hatte man in diefer Revolution» Beihwörung einen der geheimen Motoren 
vor fich, welche den verhängnißvollen deutich-Tranzöfiichen Krieg entfeffeln halfen, jo 
breitete die Affaire Arnim ein ganzes diplomatifches Arjenal vor den Augen des 
eritaunten Europa aus, defien Inhalt fich Lediglich auf die Eonjequenzen jenes un— 
glüdlichen franzöfiichen TFeldzuges bezog. Der Rechtäftreit verichwand faſt ganz vor 
dem erdrüdenden Hijtoriichen Material, welches hierbei zu Tage trat und deſſen Ver— 
öffentlichung gerade wieder nur dazu angethan war, den Ruhmeskranz des deutſchen 
Staatamannes blendender zu geltalten. Alle diefe geheimen und geheimjten Acten- 
ftüde waren ficherlich nicht in der Vorausſicht gefchrieben, einmal publicirt zu werden. 
Man kennt ja hinlänglich die Anficht des Fürften Bismard über den Hocuspocus 
der parlamentarifch-zugeftußten Grün=, Roth, Gelb- und Blaubücher. Und fiehe da, 
gerade der Staatdmann, der bisher am Eiferfüchtigften darüber gewacht, daß ihm 
Unberufene nicht in den diplomatischen Küchenzettel jchauen, den er tagtäglich neu 
entwirft, er gerade hat das Licht der Deffentlichkeit am Allerwenigjten zu ſcheuen 
und alle die Legenden, welche von Bismard’3 geheimen Plänen, macchiavelliftifchen 
Abſichten und wahrhaft teuflifchen GComplotten gegen die Ruhe und Sicherheit an- 
derer Staaten bei den Feinden des deutichen Reiches jo zahlreich im Schwange 
gingen, erwiejen fich ala trügeriiche Seifenblafen, denn von alledem war in dem ziel: 
bewußten Streben des Kanzlers feine Spur zu finden. 

Vielmehr geht aus den veröffentlichten Erlaffen und Berichten zur Genüge für Alle 
hervor, die es nicht ſchon wußten, daß der principielle Gegenfag in der Auffaflung 
franzöfiicher Dinge, bei Bismard in der eminent deutjchenationalen Interefjenpolitit, 
bei Arnim in einer hochtoryftiichen, erclufiv monarchifchen Tendenz feinen Urſprung 
Hatte. Alle Arnim’schen Berichte, welche dad Weberhandnehmen der republifanifchen 
Idee in Frankreich jo grell Hinftellen, find augenscheinlich tet? mit dem Hinterge— 
danken geichrieben, daß diefe Voripiegelung des rothen Geſpenſtes das ficherite Mittel 
fei, um den Souverain gegen die Anficht des leitenden Staatgmannes einzunchmen, 
welcher in einer Einbürgerung republikaniſcher Zuftände in Frankreich zugleich die 
Verurtheilung diefes Landes zur ewigen Bündnißloſigkeit erblidte. Es gab und giebt 
vielleicht noch heut Staatsmänner, die daffelbe negative Refultat, welches Fürſt Bis- 
marck von einer Werurtheilung Frankreichs zur Republif erwartet, von der Wieder: 
aufrichtung eines jeſuitiſch-legitimiſtiſchen Königthums daſelbſt erhoffen. Dieje Poli— 
tifer meinen, daß das verdummende Regiment eines ſolchen „Roy“, von des al Gesüt- 
Gnaden, für frankreich moralisch viel verderblicher werden müſſe, als die republika— 
niſche ernſte Negenerationsarbeit, wie fie unter Thiers angejtrebt wurde. Sie meinen, 
dab ein jefuitifches Regiment in Frankreich dem deutjchen Reiche nicht nur das feite 
Bündniß Italiens, ſondern auch die jtetige moraliiche Unterftügung des geſammten 
liberalen Europa eintragen müſſe. Sie meinen endlich, daß ein Bourbon auf dem 
Throne jeiner Väter, troß feiner monarchiichen Alliance-Fähigkeit, zu einer Action 
unfähiger fein werde als jedes republifaniiche Regiment, weil unter ihm die 
ganze republifaniiche Partei wieder in geichloffenen Reihen als inneres Oppofitiong- 
Glement thätig werden wide. Aber von diefer vorurtheilsfreien Auffaſſung findet 
fih bei Graf Arnim nicht, die leifefte Spur. Er it Lediglich antirepublitaniich in 

Deutiche Rundſchau. T, 4. 11 


162 Deutiche Rundichau. 


Frankreich, weil er auf die ſtrengmonarchiſchen Gejinnungen ſpeculirt, welche ex bei 
jeinem Monarchen vorausjeßt. Daß dieſe Speculation jehlichlagen mußte, wie fie in der 
That jehlichlug, dies vorauszufehen, geitattete die Eitelkeit des Grafen nicht. Dennoch kann 
es ihm nicht an Warnungsrufen gefehlt haben. Iſt es doch ein öffentlich Gehümniß, 
daß der deutjche Kaifer mehrmals feiner tiefen Verſtimmung Ausdruck gegeben, fich 
derart in einem don ihm ſtets mit Auszeichnung behandelten Staatsbeamten getäufcht 
zu jehen. Im Mebrigen ift das Beifpiel der franzöfifchen Republif für Europa zu 
wenig dverlodend, wie dies der Reichskanzler mit jo großer Berechtigung hervorgehoben, 
als daR ihre Exiſtenz jene propagandiftiiche Wirkung hätte haben fönnen, vor welcher 
der Erbotjchafter fich den Anjchein gab, ſich jo überaus zu „grufeln“. Andererjeits 
ift die Gefahr nicht Jo gar groß, daß fortan in Frankreich die monarchifche Strö- 
mung die Oberhand gewinnen fönne, weil Bismard es für das deutſche Intereſſe 
hält, jenfeit3 der Vogeſen die Republik zu begünftigen. Und wenn ſelbſt der Procek 
Arnim wirklich die Errichtung eines Elerifalen Königthums „par dépit“ zur Folge 
hätte, jo könnte man deutſcherſeits wahrjcheinlich in den oben angeführten Gründen, 
welche die Vortheile einer monarchiſchen Reftauration für uns beleuchten, ohne Zweifel 
einen Erfaß für den Verluſt finden, den man uns durch das Aufgeben des föniglofen 
Zuftandes würde bereiten wollen. 

Daß man in Defterreich dem Gange diejer Verhandlungen mit ganz be 
fonderer Aufmerkſamkeit folgt, erklärt fich nicht blo8 aus dem natürlichen und aner- 
fannten Senjationsbedürfniß feiner tonangebenden Preſſe. Hatten doch einige der 
hervorragendften Wiener Organe in nicht mißzudentender Weile Partei ergriffen, 
ehe noch ſelbſt die Anklageichrift in ihren Einzelheiten befannt war. Ein öfter 
veichifches Blatt Hatte zuerjt jenes „Promemoria“ publicirt, das in Berlin ala eine 
öffentliche Herausforderung des Reichskanzlers aufgefaßt werden mußte. Und jo fan 
e8, daß während fih in Wien im Verlauf des Procefjes eine immer jchärfere Reac- 
tion zu Ungunften des eben noch auf das Piedeftal erhobenen Grafen accentuirte, das 
Intereffe an der Affaire ein jo allgemeine und dringende® wurde, daß man ber 
Theilnahme an den heimifchen Angelegenheiten fich Taft gänzlich enthielt. Und dod) 
war auch in Defterreich-Ungarn, diefjeits wie jenſeits der Leitha, die parlamentariſche 
Arbeit im vollften Gange. 

In Eisleithbanien namentlich traten kurz vor der Eröffnung der Budget- 
berathung und noch in deren Verlaufe die üblen Nachwehen der Börjenkrifis des 
Vorjahres, ſofern fie fih auf Handel und Induftrie verfchlagen hatten, drohender 
ala je in den Vordergrund. Namentlich waren e8 die metallurgiichen Induftrien, welche 
einen Häglichen Jammerruf erhoben, und der alte volkswirthichaftliche Schulftreit, ob 
Staatshilfe, ob Selbfthilje ſchien einen Augenblid lang im dfterreichifchen 
Reichsrathe ausgefochten werden zu follen. Allein man fam von beiden Seiten über 
die Anfangsgründe in diefem Principienfampfe nicht hinaus, wenngleich die defini— 
tive Entſcheidung auf diefem Gebiete nicht zu Gunſten der Staatshilfe ausfiel, die 
allerdings auch in ſeltſamſter Weife von den Intereſſenten für ihre Privatzwede an- 
gerufen worden war. Die ganze Art der parlamentarifchen Behandlung diejer jo 
einfchneidenden Frage war im Uebrigen jehr wenig geeignet, bei den gebilde- 
ten Kreifen den Refpect zu erhöhen, in welchem die Bolfävertretung, die ja 
gerade kraft der öſterreichiſchen Verfaffung in ganz beftimmten Sinne eine „In— 
tereffen-Vertretung“ barftellt, bei der Bevölkerung ftehen muß. Es jei hier nur das 
Phänomen an fih conftatirt. Eine Billigung dieſes Gefühls der — nennen wir & 
der: Grmüdung, liegt uns fern. Allerdings war auch der Gang der Budgetdebatte 
faum dazu angethan, die freunde einer wahrhaft parlamentarifchen Regierung zu 
befriedigen. Namentlich fchien die Behandlung des Gultus- und Unterricht3-Mini- 
ſteriums nicht eben der Art, angenehme Empfindungen zu erweden. Bon Seiten der 
Berfaffungspartei traten freilich Rebner genug auf, um dem Minifter das reiche 
Gapitel feiner Begehungs- und Unterlaffungsfünden vorzuhalten, aber es geichah dies 
jaſt in allen Fällen ohne jede nachhaltige Kraft und augenscheinlich von vornherein 


Politiſche Rundſchau. 163 


mit dem Bewußtſein, daß mit all' dieſen Reden doch nichts erreicht werde. Der 
Miniſter mußte ſich nacherzählen laſſen, daß er der Beuſt'ſchen Theorie von der 
Politik der freien Hand und jener Andraſſy's von der Politik der „gebundenen Marſch— 
route“ auf confeffionellem Gebiet noch die Theorie „der gebundenen Hände“ 
hinzugefügt habe, und Herr Dr. Stremayr hielt die Wahrheit diefer Methode jo 
jehr über allem Zweifel erhaben, daß er auch nicht ein Wort der Ableugnung vor— 
zubringen wagte. Während man auf diefem, wie auf dem volfswirthichaftlichen 
Gebiete vergebens auf Staatähilfe wartet, foll fie, wie es den Anjchein hat, dem- 
nächſt auf handelspolitiſchem Felde den Intereffenten nicht vorenthalten bleiben. In 
ganz Defterreih ift in diefem Momente eine weit veräftelte ſchutzzöllneriſche 
Propaganda um jo Lebhafter thätig, je aufrichtiger die Regierung und namentlich der 
Finanzminifter, Baron Depretis, Miene macht, jene freihändlerifchen „Ketzereien“ ab: 
zufhwören, denen er noch beim Abſchluß der jekt zu Ende gehenden Handelsver— 
träge mit den fremden Mächten gehuldigt Hatte. Nachgerade fieht man faſt in allen 
Regionen Oeſterreichs in der Tariferhöhung, im Ausfchluß der fremdländiſchen Con— 
currenz, das geeignetfte Mittel, Handel und Wandel wieder zur Prosperität zu 
bringen; wozu noch die Fabrikantenwelt die inbrünftige Bitte um Erhöhung des 
tatalen Silber-Agio fügt, ohne deſſen Schuß die öfterreichiichen Induftriellen nicht 
mit Gewinn arbeiten zu können behaupten. 

Anders in Ungarn, wo man, da dort bei weitem mehr Induftrieproducte 
confumirt als hervorgebracht werden, naturgemäß freihändleriichen Anfchauungen Hul- 
dig. Nun hängt aber der Abſchluß neuer Handelsverträge Defterreich-Ungarns mit 
fremden Staaten von dem vorgängigen Abjchluß eines Zoll- und Handelsbündniffes 
beider Reichshälften ab, da der bejtehende ebenfalls jeinem Ablaufe entgegengeht. 
Bei der Schroffheit, mit der ſich ſonach dieſſeits und jenfeits der Leitha jchubzöll- 
neriſche Strebungen und freihändleriiche Tendenzen gegenüberftehen, ijt aber die Feſt— 
ſetzung des gemeinfamen Generalzolltarifs feine leichte Sache. Man wird daher wohl- 
tbun, da namentlic” auch Deutjchlands Handelsintereffen mit dem Ausgang diejes 
Principienftreites auf’ Engjte verquidt find, den Peripetien, welche fich vorbereiten, 
wachſamen Auges zu folgen. Daß es im Uebrigen in Ungarn, troß der verzweifelten 
dinanzlage und der ſtark geſchwächten Stenerkraft dem Finanzminifter Ghyczy ge— 
lungen ift, dem Parlament ein Vertrauensvotum abzuringen, wird jeden aufrichtigen 
Freund Ungarns nur freudig berühren. Seltſamer Weiſe zeigt man fich in Peſt 
weniger angenehm berührt von der im öfterreichiichen Reichsrathe angekündigten 
Errichtung einer deutfhen Univerſität im äußerften Oſten der Monarchie, 
in der Hauptjtadt der Bukowina, in Czernowitz. 

Leicht möglich, daß man auch in Rußland nicht umhin können wird, zu dieſer 
neuen deutfchen Hochſchule an der Landesgrenze gebührend Stellung zu nehmen. 
Jedenfalls hat man aber in St. Peteröburg für den Augenblid andere Sorgen. E3 
liegt der kaiſerlich-ruſſiſchen Regierung eingeftandenermaßen unendlich viel an dem 
weiteren Ausbau des auf der Brüffeler internationalen Kriegsrechts-Conferenz ge— 
wonnenen Materiald. In zwei verjchiedenen Rundichreiben, von denen da3 eine 
vom 26. September, das andere vom 28. October datirt, hat die ruffiiche Regierung 
bei den anderen Mächten die Nutzbarmachung des auf dem Brüſſeler Congreſſe ge= 
wonnenen humanitären Material3 urgirt. Cine zweite in St. Petersburg zujammen- 
tretende Conferenz, welche für das kommende Frühjahr in Ausficht genommen wurde, 
Toll durch militärisch und ftaatsrechtlich gebildete Fachmänner jene Punkte, über welche 
ein allgemeines Einvernehmen erzielt wurde, in eine international bindende Form 
gießen. Fürſt Gortſchakow konnte fich bei feiner lebten Anweſenheit in Berlin per: 
Vönlich davon überzeugen, wie jehr die deutſche Neichregierung geneigt ſei, den 
Wünſchen des Kaiſers Alerander entgegenzufommen und Vorſchub zu leijten. Konnte 
do die neue Landfturm-Vorlage für das deutjche Reich mit gutem Fug als eine 
Berückſichtigung der kaiferlich ruffifchen Ideen auf diefem Gebiete angeführt werden, 
wenn auch der Kern dieſes Geſetzes wejentlich aus früherer Zeit datir. Das Ein- 

11* 


164 Deutſche Rundichau. 


vernehmen des Fürſten Gortſchakow mit Fürft Bismarck war in allen jchwebenden 
ragen von einigem Belange ein ausnahmsloſes und jo kam es, daß Angefichts 
diefer eminenten Friedensbürgſchaft der deutiche Kanzler im Reichttage das Berhälts 
niß der Gabinette von Berlin und St. Peteräburg ala „thurmhoch“ über den nie 
drigen Begeiferungen ftehend erklären konnte, welche von ultramontaner Seite ver 
fucht worden waren. 

Don allen übrigen Staaten war Defterreich- Ungarn der erjte, welcher die 
ruffiiche Anfrage in günftigem Sinne beantwortete. Graf Andraffy entwidelte in einer 
längeren Depeiche, daß das öfterreichifch-ungarifche Gouvernement durchaus geneigt fei, 
die lebte Faflung der in Brüffel zu Stande gefommenen Verabredungen als Grund» 
lage für weitere Vereinbarungen zu betrachten. Zwar habe der gemeinfame Kriegs— 
minifter gegen einzelne Punkte Augftellungen erhoben, doch jeien diefelben durchaus 
nicht principieller Natur. Die gemeinfame Regierung hätte inzwifchen Abichriften 
der brüffeler Beſchlüſſe auch an die cisleithanifche, wie an die ungarifche Regierung 
gelangen Laffen und diejelben verfaffungsmäßig zu Rüdäußerungen aufgefordert, denen 
man annoch entgegenjehe. Schließlich habe man fich noch darüber ſchlüſſig zu machen, 
ob das eventuelle Ergebniß der bevorjtehenden Petersburger Gonferenzen als ein Act 
aufzufaffen jei, welcher der Beftätigung durch die reip. Volksvertretungen bedürte, 
oder ob eine Form des einfachen Gonventiong= Austaufches gewählt werden jolle, 
welche die parlamentarische Behandlung unnöthig mache. Jedenfalls aber jei Defter- 
reich-Ungarn gerne bereit, dem Rufe des Peteröburger Cabinets zu folgen. 

Bei weitem weniger twillig, als die beiden großen Gentralmächte Europa’s er- 
wiejen fich der ruffiichen Einladung gegenüber die kleineren Staaten, wie Holland, 
die Schweiz, Dünemarf, Schweden und Norwegen, jelbjt Belgien. Hier juchte man 
die Auskunft, welche von Petersburg erbeten worden war, unter allerhand Vorwänden 
zu verweigern, weil man der Meberzeugung lebte, daß der Nachdruck, welchen der 
ruſſiſche erfte Vorſchlag auf die Beſchränkung des Kampfes in künftigen Kriegen, auf 
die großen jtehenden Heere gelegt hatte, immer zu jehr geeignet fei, die Vertheidigungs- 
Fähigkeit der SHleinftaaten zu vermindern. Indeß wagte doch feines diefer Gabinete 
eine definitiv ablehnende Antwort zu ertheilen, wiewol eine gewiſſe Verlodung hierzu 
in der wenig günftigen Haltung liegen mochte, welche Frankreich und vor Allem 
England dagegen offen zur Schau trug. Schließlich ift an der Fügſamkeit der 
Regierungen vom Haag, von Bern, von Kopenhagen u. ſ. w. kaum zu zweifeln, 
wenn auch ihre fernere Betheiligung an den Berathungen nur aus Deferenz für den 
verfönlihen Wunſch des Kaiſers Alerander hergeleitet werden mag. 

Aber in England ift dies etwa Andere. Die britiichen Staatsmänner 
wollen abfolut feine bindende internationale Verpflichtung, am Allerwenigiten aber 
auf militärifchem Gebiete, übernehmen. Alle Verſuche des Grafen Schuwalow, die 
Theilnahme des Gabinet? von St. James, wenigjten® an dem rein hHumanitairen 
Part des Gonferenz-Material3 zu erreichen, wollten bisher nicht verfangen, wogegen 
beijpieläweije überjeeiiche Staaten, wie die gleichfall® nach Peteröburg geladenen Re: 
gierungen von Walhington, Rio, VBalparaifo, Montevideo u. ſ. w. von einer princi- 
piellen Abneigung bisher noch nichts verlauten ließen. Während man aber in London, 
was diefen einen Punkt anbelangt, fich wenig geneigt zeigte, fich dem oftmächt- 
lihen Concert anzufchließen, gab es eine andere Frage, in der man dort bie 
Iſolirung einigermaßen unbequem empfand, in die man hinein gerathen war. Der 
engliiche Einfluß war in der Türkei lange Jahre hindurch allein maßgebend ge 
weſen und hatte erſt in neuefter Zeit, als das Verhältniß des Divans zum Wiener 
Gabinet und dem ihm eng verbundenen xuffiichen Gouvernement fühler geworden, 
die alte Stellung einigermaßen wieder erlangt. Man hatte daher durch den britifchen 
Botichatter in Konftantinopel den Sultan nur in dem Widerftande bejtärfen Laflen, 
den bdiejer in der rumäniichen Handels-Gonventionsfrage gegenüber der jogenannten 
„identiichen Erklärung“ der drei Oftmächte feſtgehalten. Als aber entgegen den eng: 
liſchen Erwartungen Defterreich - Ungarn fi) um den Einſpruch der Piorte nicht 


Politiſche Rundichau. 165 


kümmerte, jondern flotttweg feine Verhandlungen mit Buchareft einleitete, jah Lord 
Derby, daß es Englands Einfluß nutzlos compromittiren heiße, wenn man weiter 
in diefer abjeit3 fchmollenden Stellung verharre. Das Foreign office erklärte, daß 
es in das europäiſche Vertragswerk von 1856 und 1858 ungern eine Lücke gebrochen 
ſehe und daß es daher all’ feinen Einfluß in Konftantinopel aufbieten wolle, um 
eine rechtliche Ordnung der Controverje herbeizuführen. Dan nahm daher den ans 
fänglich ſchon von Wien aus gemachten Vorſchlag wieder auf, die Pforte jolle durch 
einen Berat oder Ferman, auch ohne vorherige Anfrage aus Buchareft, erklären, 
daß fie im Vollgefühl ihrer Sugzeränetätsrechte der rumänijchen Regierung den 
Abflug von Zoll- und Handels-Abmachungen gejtatte. Die Frage ift nur, ob man 
in Buchareft geneigt fein werde, diejen Ferman anzunehmen, und derjelbe ein Recht 
verleiht, da8 man dort aus eigener Machtvolllommenheit zu befien behauptet. Hier 
dürfte jedenfalla der dämpfende Einfluß der drei verbündeten Oftmächte in Anfpruch 
genommen werden. Immerhin beruht e8 auf Taljcher Information, wenn man diefe 
Schwenkung der britifchen Politik auf eigennügige Mbfichten zurüdführt. England 
fann niht im Sinne haben, in der Folge ebenfalls directe Handels = Conven= 
tionen mit den Donaufürftenthümern abzufchliegen, weil fich der englifche Handels— 
vertrag mit der Pforte nicht blos, wie der öfterreichiiche, auf die türkischen Provinzen, 
iondern auch auf die hriftlichen Vaſallenſtaaten bezieht. 

In Frankreich fucht Herzog Decazes in diefen beiden Fragen bezüglich der 
Petersburger Gonferenz und der orientalifchen Dinge möglichit geſchickt zu laviren, 
immer aber freilich jet mit einer unverfennbaren Neigung, fi) England und nicht 
Rußland verbindlich zu zeigen. Eine natürliche Erjcheinung, nachdem jeine Annä- 
berungsverfuche an letztere Macht in Petersburg auf jo jteinigtes Erdreich gefallen. 
Im Uebrigen hat der Zujfammentritt der Nationalverfammlung und die Botjchaft 
des Präfidenten, die man fich geicheut hat, vom 2. December zu datiren, die Situa- 
tion dieſes Landes in nichts geändert. Einen Moment lang Hatte e& den Anfchein, 
als jollte der vielgefuchte Stein der Weijen, die Fuſion des rechten und linken Cen— 
trums, gefunden werden. Aber diefe Hoffnung verflüchtigte fich jchnell genug wieder, 
als in Folge der Enthüllungen des Arnim-Procefjes die royaliftiiche Strömung, ala 
die von Bismarck mehr perhorrescirte, momentan wieder Oberwaſſer erhielt. Käme 
jene Fufion dennoch zu Stande, jo würde ihr bald genug eine Goalition gegenüber- 
ftehen, bei welcher fich in bunter Reihe Gambetta, Belcajtel, Rouher und Barodet 
die Hände reichen würden; weil ein dev Fufion entiprechendes Gabinet die Hoffnuns 
gen aller vier durch diefe Herren repräfentirten Schattirungen durchkreuzen müßte. 
Das geiftreichite Volk der Welt hat es glücklich dahin gebracht, daß jeine Politik 
die langweiligjte von der Welt getvorden. BVielleiht, daß demnächſt jchon in den 
endlofen Schwall von Verfafjungsfragen, um den ſich Alles in Paris dreht, das im- 
mer drohender auftretende Gejpenjt des Deficits einige heitere Abwechslung bringt. 

Unterdeffen dauern die Kämpfe und Krämpfe in Spanien fort. Im neuefter 
Zeit waren es wieder einmal die Karliften, welche einen Sieg zu verfünden hatten. 
Im Grunde genommen ift man ziemlich blafirt geworden, was die ſpaniſchen Schlach— 
tenbulletins anbelangt. Marfchall Serrano hat übrigens alle Mühe, fich der immer 
ſtärler auftretenden alphonfiftiiden Propaganda zu erwehren. An den Sohn 
Yabellens tlammern fich mehr und mehr die Hoffnungen der fpanifchen Patrioten. 
Wenn man ficher wäre, daß er entgegen jonftigen bourbonifchen Gewohnheiten, zu 
vergeifen vermöchte — wer weiß, er ſäße lange fchon wieder auf dem Throne 
feiner Mutter. 

Die Jtaliener dagegen ergehen fich in freudigen Ergüffen darüber, daß der 
Abberufung des officiöfen englifchen Vertreters beim Heiligen Stuhl fo jchnell die 
gänzlihe Streichung des Poftens eines deutjchen Botfchafters beim Papft, auf Fürft 
Bismarck's Antrag, gefolgt ift. Auch die aus den Arnim’fchen Documenten erficht: 
lich gewordene Gewißheit, daß fie in einem Kriege mit Frankreich immerdar auf die 
Unterftügung Deutſchlands zu rechnen haben wirden, mag ihr patriotifches Hochge— 


4— 


rg 


166 Deutſche Rundſchau. 


fühl zu erhöhen geeignet ſein. Aber immerhin reicht dies nicht aus, um ſie aus der 
zweifelhaften Haltung herauszudrängen, welche die italieniſchen Staatsmänner in 
allen kirchenpolitiſchen Fragen der Kurie gegenüber feſthalten. Und ſelbſt in der 
neueſten, unter Inſpiration des Minifterpräfidenten Minghetti geſchriebenen, Entgeg- 
nungsbroſchüre auf die jüngſten Anklagen des franzöfiſchen Biſchofs von Orleaus 
wagt man bei aller Schärfe gegen den Prälaten nicht den mindeſten Ausflug auf 
das principielle Gebiet. Bezeichnend bleibt es immerhin, daß das Cabinet des Qui— 
rinal, dem Franzoſen, Migr. Dupanloup, nur einen Franzoſen, Herrn Erdan, ehema— 
ligen, Geiſtlichen und gegenwärtig activen Publiciſten, entgegenzuſtellen wußte. 

In den ſüdöſtlich gelegenen Ländern Europas tritt nur das kleine Serbien 
bei unjerer diesmaligen Rundjchau durch den plößlich, aber nicht undorbereitet in Bel- 
grad zu Tage getretenen Minifterwechjel in den Wordergrund. Der Umſchwung ift 
nur erwähnenswerth, weil der Sturz des Minifteriumd® Marinovich nichts ift, als 


„eine gegen den öſterreichiſchen Einfluß gerichtete Kundgebung der Nationalen. Die 


großſerbiſchen Träumer vermiffen die praftiich greifbaren Ergebniffe des guten Ein— 
vernehmens mit Wien, das Marinovih vor Allem im Auge gehabt. Dies Einver- 
nehmen hatte allerdings nicht Hingereicht, um von der Pforte die Räumung der Veſte 
Kleinzcoprnik, einer auf ſerbiſchem Gebiet belegenen türkifchen Enclave von geringer 
ftrategifcher Wichtigkeit, zu erlangen. Das neue Minifterium hat eingeftandenermaßen 
Mitglieder der Omladina in den Rath des Fürften Milan gebracht, jo daß man 
ih, wenn auf nichts Schlimmeres, auf die Erneuerung der großferbifchen Agitation 
innerhalb des ungarischen Grenzgebietes gefaßt machen muß. 

Die neuefte Botſchaft des Präfidenten der Vereinigten Staaten von Nord- 
Amerika, des Generald Grant, drängt diefes Staatsmannes Lieblingzfrage, die 
Kubanifche, auf’3 Neue in den Vordergrund. Dennoch hat man jchwerlich Urfache, 
ernftere Gonfequenzen der ſchlecht verhehlten Annerionsluft des Präfidenten zu er- 
warten. Die gegneriichen Parteien in den Vereinigten Staaten, welche fo große Aus— 
fiht haben, den abermaligen Gieg eines republifanifchen Candidaten für die Präft: 


dentſchaft zu verhindern, theilen jehr wenig die Stimmung des General® Grant in 


Bezug auf Kuba und deffen gewaltfame Pacificirung, beziehungsweije Befreiung vom 
„ſpaniſchen Joche“, wie die geheiligte Formel lautet. Und jo dürfte faum zu er- 
warten fein, daß noch unter Grant’3 Präfidentichaft die Perle der Antillen dem 
Sternenbanner als neuer Stern Hinzugefügt werden könne. 

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—8OI 


Verlag von Gebrüder Paetel in Berlin. Drud der Pierer'ſchen Hofbuchdrucerei in Altenburg. 
Für die Rebaction verantwortlih: Elwin Paetel in Berlin. 
Unberechtigter Nachdruck aus dem Inhalt diefer Zeitfchrift unterfagt. Ueberſetzungsrecht vorbehalten. 


Die Heier-Waly. 


(Schluß.) 
IX. 
In der Einöde. 


Wieder wehten Frühlingslüfte über die Erde. In rauſchenden Bergwaſſern 
floß der ſchmelzende Schnee ab, ſchüchtern, faſt mißtrauiſch lugten die erſten 
Alpenpflanzen nach der Sonne aus, ob's ihr wohl Ernſt ſei mit ihrem Scheinen 
und man ſich weiter heraus wagen dürfe? Hier und da lagen noch einzelne 
Schneeflecke herum wie beim Abbetten vergeſſene Leintücher. In den immer— 
grünen Zirben- und Fichtenhainen lüfteten die Vögel die Flügel, hielten zwit— 
ſchernde Berathungen und ſtimmten die kleinen Kehlen zum allgemeinen Jubel— 
geſang. 

Von den Fernern donnerten die Lawinen in die Thäler nieder und unter 
den furchtbaren beweglich gewordenen Maſſen knirſchte Mauer- und Balkenwerk, 
Baum und Strauch zuſammen. Es war ein Drängen und Ringen, ein Donnern 
und Säuſeln — ein Drohen und Locken, ein Bangen und Hoffen in Höhen 
und Tiefen und der ewig wagende vorwitzige Menſch machte ſich auch auf aus 
der langen Winterruh, ſtreckte die Fühler aus und begann mit dem Alpſtock 
die Berge auszutaſten, wo in den lockern Schnee der Fuß zu ſetzen ſei. 

Nur Rofen lag noch in die Schatten ſeiner engen himmelhohen Wände 
gehüllt wie ein Langjchläfer unter der weißen Dede. Bor der Thür des Rofener- 
6053 ftand Leander und fütterte Hanjel mit einer großen Maus, die er für ihn 
gefangen. Hanjel war Leander's Liebling geworden von der Stund an, wo 
e3 herausfam, daß er Wally gehörte, und e3 ging dem Thier gar qut bei den 
Rofenern. 

Da kam Benedict mit dem Bergftod nad) Haufe. Er hatte den Weg auf 
Murzoll ausgekundichaftet und mehrmals zwilchen Leben und Tod gejchwebt. 
Sein Blid war unftät, jein ganzes Wejen aufgeregt und finfter. 

„Run?“ fragte Leander mit ängftliher Spannung — „wie iſt's?“ 

„Der Weg ift zur Noth gehbar; wenn ich fie führ’, kann ſie's riskiren.“ 

Dentiche Rundſchau. 1, 5. 12 


—— 
168 — N Deutſche Rundſchau. 


„Geh', Benedict, thu' das nit, laſſ' ſie nit da nauf — J bitt Dich drum.“ 

„Was die will — das will ſie!“ ſagte Benedict finſter. 

„Sag' ihr, der Berg ſei nit gehbar, dann laßt fie's von ſelber bleiben.“ 

„Zu was die Lügerei! Sie ändert ihren Sinn doc) nit, wenn fie noch jo 
lang’ hier bleibt, und Du Haft jo nir zu hoffen, jie hat Dir's oft g’nug g’jagt. 
So ein Gelbjchnabel taugt nit für ein Mädel wie die Wally! Nett gieb Di 
z’frieden.“ Er ging in’3 Haus. Leander traten die Thränen in die Augen vor 
Zorn und Schmerz. 

Wally fam mit der Heugabel aus dem Stall Benedict entgegen. 

„Wally,“ jagte der, „wenn's fein muß, jo will J Di 'naufführen, % hab’ 
den Weg ausg’funden, aber g’fährlich iſt's noch immer.“ 

„J dank' ſchön, Benedict,“ Tagte Wally, „jo woll’n wir morgen gehen.“ 
Sie hing die Heugabel auf und ging in die Küche. DBenedict ftampfte mit dem 
Fuß und ftellte den Alpftod in die Ede. Eine Weile befann er fi, dann ließ 
es ihn nicht ruhen — er folgte ihr. 

MWally hatte den Rod aufgeſchürzt und wollte die Küche jcheuern. 

„Wally — laß doch das, J möcht' mit Dir reden.“ 

„J kann nit, Benedict, ſchau, J muß die Kuchel pußen. Wenn J morgen 
fortgeh, muß 's ganze Haus jauber jein. J will kei Schlamperei z’rüclaffen.“ 

„Du haft ja mehr g’arbeit’t bei uns als 'geſſen und 'trunfen. Laß es jeht 
gut fein, 3 Haus i3 doch jauber — und wenn Du fort bit — ift Alles Eins.“ 
Er faute an einem Stüd Holz und ſpuckte dann die abgebifjenen Splitter aus. 
Wally jah die furchtbare Aufregung, in der er war. Sie hielt mit der Arbeit 
inne, um ihn anzuhören. 

„Wally,“ jagte er, „überleg’ Dir's doch noch einmal, ob Du nit Einen von 
uns nehmen willſt. Schau, Du hätt’ft doch nit nöthig, daß D’ jo jtolz bift, 
Du bift jo im Verſchrei, daß ſchon eine große Lieb' dazu g’hört, bis Einer 
Dih nimmt.“ 

Wally nidte vollkommen einverftanden mit dem Kopf. 

„Ro, fiehft, wir Rofener, wir find Leut’, die überall anflopfen dürfen, wo 
jed's Madel froh ift, wenn's jo Ein’ kriegt. Du haft die Wahl zwiſchen zwei 
von und Brüder — und Tchlagft jo ein Glück aus! Schau’ Wally, das Könnt 
Dich doc einmal reuen!“ 

„Benedict, Du meinft’3 gut und % hab’ Did) und den Leander jo gern, 
wie man nur einen Menjchen gern haben kann, aber nit zum SHeirathen. Ind 
J heirath' halt Kein’, den J nit als Mann gern hab'n fünnt, und daß Du’s 
nur weißt, 3 hab einmal Ein’ g’jehn, den bring’ J nit aus'm Kopf und jolang 
% den im Kopf hab’, kann % fein’ Andern nehmen.“ 

Benedict wurde bleich. 

„Schau, J jag’ Dir das, damit D’ endlich Ruh kriegft und Dich nit weiter 
plagft mit dem Gedanken an mid. Glaub’3 nur, Benedict, J weiß, was D’ 
für mid) 'than Haft, Du und Ihr Alle Ihr habt mid) vom Tod errettet, 
habt mi g’ihüßt, wie mid der Bater mit G’walt hat holen lafjen woll’n 
und 's war gar ſchön, wie Du mid und Dein Hausrecht vertheidigt haft. J 
wär’ ja ein glücklichs Madel, warn X Did) lieb hab’n und den Andern ver: 





Die Geier-Wally. 169 


geffen könnt” — J bin Dir g’wiß dankbar und wenn's Dir was helfen könnt’, 
ließ Iis Leben für Did, — aber ſag's jelber, was hätt’ft an einer rau, die 
'n Andern gern hat? Das wär wahrhaftig ein Ichlechter Dank für 'n Dann, 
wie Du bift!“ 

„Ja!“ tagte Benedict heifer und wijchte ſich die Stirn. 

„Gelt, jet fiehft ein, daß J weg muß, daß es jo nit fortgehen kann?“ 

„Ja!“ jagte er wieder und ging aus der Küche. 

Wally jah ihm nad), wie er jo bewegt dahinjchritt, der brave, ftolze Mann, 
der ihr Alles geboten, was — wie er in jeiner ungeſchlachten Art jelbjt gejagt 
— jedes andere Mädel glücklich gemacht hätte. Und fie begriff fich ſelbſt nicht, 
daß fie den Mann, der jo viel für fie gethan, nicht lieber haben konnte als 
den Fremden, der nicht einmal an fie dachte. Aber e8 war nun doch einmal 
jo! Gegen den Joſeph kam eben doc Keiner auf an Kraft und Herrlichkeit, 
und fie fah ihn immer vor fi), wie er das blutige Fell de3 Bären von der 
Schulter warf und erzählte, wie er mit dem Unthier gerungen, und wie fie ihn 
Ale umftanden und bewunderten, ihn den Einzigen, den Schönen, den Gewal- 
tigen. Und wie er ihren Vater bezwungen, den jtarken Mann, der ihr bis 
dahin immer jo unbezwinglich und ſchrecklich erjchienen war. Und wie er dann 
jo qut, jo lieb mit ihm geredet, troß des Vaters Freindfeligfeit. Nein, gegen 
den Joſeph Fam Keiner auf. Sie ging wieder an ihre Arbeit. „Wenn's der 
Joſeph wüßt', was J Alles für ihn hingeb'!“ dachte fie und jchaute zu, wie 
der Benedict draußen vor dem Fyenfter mit einem rothen Kopf in den Leander 
hineinredete und wie Leander meinte. 

Der alte Stromminger hatte anfangs getobt und geflücht gegen ſein auf- 
rührerifches Kind, und jelbft dem guten Gaplan von Heiligkreuz war es nicht 
gelungen, ihn zu bejänftigen. Als es endlich) ruchbar ward, daß fi Wally 
auf Rofen verborgen halte, ſchickte er Leute, fie zu holen. Aber die „Klöße von 
Rofen“ ſchob Keiner jo leicht auf ihrem eigenen Grund und Boden vom Fleck, 
und fie vertheidigten ritterlich den altgeheiligten Burgfrieden der Rofener Höfe. 

Als aber Wally ſah, daß die Brüder eine Leidenichaft für fie faßten, da 
vertraute fie jich dem ruhigen befonnenen Nicodemus, und der ſah ein, was 
hier Noth that. Er ging zum Stromminger, und feiner Eugen Beredtjamkeit 
gelang es, ihn jo weit zu bringen, daß er endlich den Gedanken, Wally ein- 
zujperren, aufgab und fich damit begnügte, fie für immer zu verbannen. Im 
Sommer jollte fie wieder auf Murzoll das Vieh hüten, „weil das doc das 
Einzige fei, wozu man fie brauchen könne.“ Im Winter möge fie ſich einen 
Dienst juchen, wo fie wolle, nur dürfe fie nicht in die Heimath zurück. 

Als Nicodem mit diefem Beſcheid zurückkam, beftand fie darauf, augenblid- 
li zu gehen und auf dem Ferner die Heerde zu erwarten, und nur der Macht: 
ſpruch Nicodem’3 brachte fie dahin, daß fie wenigftens wartete, bis Benedict 
zuvor unterfuchte, ob der Berg jchon gehbar jei. 

So fam die Stunde, wo Wally abermals vor den Frühlingslüften her- 
fliehen mußte auf die Berge, in die Einöde. Es war ein ſchwerer Abjchied, 
den fie von den Brüdern und der guten Mariann nahm. Sie waren ihr lieb 


geworden, die braven Leute, die jo viel an ihr gethan. 
12* 


170 Deutiche Rundichau. 


Benedict ging mit ihr hinauf, das ließ er ſich nicht nehmen. „Du warit 
uns jolang anvertraut — wir tollen Dich wenigftens mit heiler Haut twieder 
abliefern. Was dann mit Dir g’ichieht, das können wir leider Gottes nit 
hindern!“ 

Es war ein Schredensweg, den fie mitten durch die Frühlingsumwälzung 
zu machen hatten, und Benedict, weit und breit als der kühnfte und ſicherſte 
Führer bekannt, jagte ſelbſt, jo ſchlimm jei noch feine Bergfahrt geweſen. Sie 
ſprachen wenig, denn fie waren in einem beftändigen athemlojen Ringen um's 
Leben und konnten nicht rechts noch links ſchauen. Es war eine jchwere Ar: 
beit. Endlid, nachdem fie einen halben Tag mit Schnee und Eis und Geflüft 
gefämpft, waren fie oben. 

Da ftand fie noch, die alte Hütte, etwas zerfallener als vorher, und Laften 
von Schnee lagen auf dem Dad) und rings um fie her. 

„Da willft D’ aljo haufen — da! Lieber al3 bei uns unten im fichern 
Heimweſen ala Rofenbäuerin ein rechtes Leben zu führen und eine ang’jehene 
rau 3’ werden ?!” 

„I fann nit anders, Benedict!“ ſagte Wally leife und blickte ſchwermüthig 
auf die verichneite unmirthliche Hütte hin. „J glaub’, die Berggeifter haben 
mich in Bann 'than, daß immer wieder zu ihnen z'rück muß und im Thal 
nimmer heimijch werden kann!“ 

„Man könnt's faft glauben! ’3 ift was eigen’3 mit Dir. Du bift ganz 
anders als andere Madeln, und man muß Di) auch ganz anders Yieb hab'n, 
viel, viel Lieber, und doch iſt's, als g’hörteft nit zu uns und al3 trieb Dich ein 
böjer Geift um!“ 

Gr warf den Paden mit Lebensmitteln, die er fir Wally mit hatte, bin 
und begann, ihr den Schnee von der Thür zu Ichaffen, daß fie in die Hütte 
fonnte. 

„Benedict,” jagte Wally leiſe, als könnten fie's hören, „glaubft Du an 
die jeligen Fräulein ?” 

Benedict ſchaute nachdenklich vor jih nieder und zucte die Achjeln. „Was 
kann man ba jagen! J hab’ noch feine g’jehn — aber ’3 giebt Leut', die Lafien 
fi) drauf todtſchlagen!“ 

„I hab’ au nie dran ’glaubt — aber wie  vorig’® Jahr da "rauf komme 
bin, da hab’ 3 'n Traum g’habt, jo lebendig, daß ma faft meine könnt’, '3 
wär’ gar fei Traum g'weſen — und jeitdem muß J immer bei allem, was 
mir g’ichieht, an die jeligen Fräulein denken.“ 

„Was war denn das für a Traum?“ 

„Weißt, der, den J gern hab’, ift aud ein Gamsjager und wegen ihm hat 
mic ja der Vater da "rauf g’ihickt vorig’3 Jahr und in der erften Stund‘, 
two % oben war, traumt's mir, die jeligen Fräulein und der Murzoll thäten 
mir drohen, wenn J von dem Burjd nit ließ, jo ftürzten’3 mid) in’n Abgrund!“ 

Und ſie erzählte Benedict ausführlic) den ganzen Traum. Der Tchüttelte den 
Kopf und wurde ganz ſchwermüthig: „Wally, an Deiner Stell’ hätt’ J Anaft!” 

Wally warf den Kopf zuriid: „Ach was, Du ſchießt ja auch Gamien, trof 
die jeligen Fräulein. Ma muß Fih nur nit jchreden laſſen. J bin jeitdem 


Die Geier:Wally. 171 


ihon über viel Abgründ' wegg’iprunge, % hab's wohl g'ſpürt, daß mid was 
nunterreißen will, aber hab’ mich feftgq’halten und bin Mteifter blieben.“ 

Sie hob ihre ftarken braunen Arme herausfordernd empor: „So lang J 
die zwei Arm' hab’, brauch' J mi vor nix z'fürchten!“ 

Dem Benedict gefiel das nit. Er hatte auf jeinen einfamen Wanderungen 
über den furchtbaren Similaun und Wildipiggleticher einen Hang zum Grübeln 
angenommen und dachte Manchem tiefer nad, als andere Menſchen: „Gieb 
Acht, Waly! Wer zu hoc 'naus will, der ftoßt leicht mit 'm Kopf oben an 
und das leiden die da droben nit und ftoßen ihn 'runter!“ 

Sie ſchwieg. 

„3 iſt z'früh, daß Du da 'rauf gehſt —“ begann er wieder, „das haltet 
ja fein Menſch aus!” 

„D, wie J abi bin vorigen Herbſt, war’3 noch ärger,“ meinte Wally. 

Sie traten in die Hütte. 

„Wem nit z’rathen ift, dem ift mit 3’helfen. Aber wenn Div’3 Der amal 
nit lohnt, was Du Alles für ihn durchmachſt, dann verdient er, daß man ihm 
'n Kragen umdreht!“ 

„Wenn er's wüßt', er thät's mir g'wiß lohne!“ ſagte Wally und blickte 
erröthend dor ſich nieder. 

„Er weiß es nit amal?“ fragte Benedict erſtaunt. 

„Rein, ex kennt mi faum!“ 

„No, nachher verzeihb Div’ Gott, daß Du Dei Herz jo an 'n fremden 
Menſchen hängſt — und die, die Dich Lieb haben und Did) g’hegt und "pflegt 
haben, von Dir ftoßt! Weißt, das kann fei’ Lieb’ jein, das ift Eigenſinn!“ 

Wally ſchwieg. Auch Benedict jagte nichts mehr. Er that wie das Jahr 
zuvor der alte Klettenmaier gethan hatte. Er richtete Wally, jo gut e8 ging, 
die Hütte ein und trug ihr Holz im Vorrath. Dann reichte er ihr die Hand 
zum Abichied: „B'hüt' Did Gott da droben! Und wenn J Dir nod) was 
jagen dürft’, jo wär's das: wach’ über Dich und bet’, daß D’ nit böſe Mächt’ 
verfallft I” 

MWally zog e3 das Herz zuſammen, al3 jein Auge jo tief traurig auf ihr 
ruhte. Ihr war wirflid, als fühlte fie die böſen Mächte um ſich herivallen, 
und faft unbewußt hielt fie den Beſchützer, der bisher jo treu über fie gewacht, 
bei der Hand und geleitete ihn ein Stück Weges, als fürchte fie fi), allein zu 
bleiben. 

„Kehr' jegt um! Da wird der Weg ſchlecht; J dank Dir für's G'leit!“ 
jagte Benedict und trennte ſich von ihr. 

„So leb' wohl und fomm’ gut heim!“ rief ihm Wally nad). 

Er ſah ſich nicht mehr um. Sie kehrte nad) der Hütte zurüd und war 
wieder allein mit ihrem Geier und ihren Berggeiftern. — Aber die Geifter 
idienen verſöhnt. Freundlich lächelte Murzoll im Frühlingsfonnenglanz dem 
wiedergefehrten Kind entgegen. Und Wally fand ſich in der hochgewaltigen Um- 
gebung nicht mehr fremd, wie früher. Jede Falte auf der Stirn Murzoll's war 
ihr vertraut. Sie kannte jet jein Lächeln und fein Grollen, e3 jchredte fie 
nicht mehr, wenn düftre Wolken feine Stirn umlagerten, oder wenn er im Zorn 


172 Deutſche Rundſchau. 


Lawinen in die Tiefe hinabwälzte, ſie fühlte ſich geborgen an ſeiner rauhen 
Bruſt und ſein Sturmesathem wehte ihr die Laſt vom Herzen, die ſie wieder 
aus der Tiefe mit herauf gebracht. Denn im Sturm liegt eine heilende Kraft, 
er kühlt das Blut, er trägt die Seele auf ſeinen rauſchenden Schwingen weit 
fort über alle die Steine und Dornen, zwiſchen denen ſie ſich ängſtlich flatternd 
verfangen. Wenn ein Kind ſich weh gethan und weint, ſo blaſen wir ihm die 
ſchlimme Stelle, ſprechen das „Heile, heile“ dazu und das Kind lächelt uns 
wieder an. So blies Vater Murzoll dem wiedergekehrten Kinde den dumpfen 
Schmerz weg, der es bedrückte, und ſie blickte leuchtenden Auges und gehobenen 
Herzens in die weite Welt hinaus und — hoffte und harrte. 

So vergingen wieder Wochen und Monate. Die Juli-Sonne brannte be— 
reits mit ſolcher Kraft, daß der Berg völlig ausgeapert, das heißt der leichtere 
Winterſchnee abgeſchmolzen war bis zu den Grenzen des ewigen Schnee's, wo 
Wally hauſte. Dann und wann kam einer der Rofener Brüder herauf und 
fragte, ob ſie ihren Sinn noch nicht geändert. Doch kam dies nur ſelten vor 
und ſtörte Wally's Einſamkeit nur auf wenige Viertelſtunden. 

Eines Tages ſtachen die Sonnenſtrahlen ſo ungewöhnlich ſcharf herab, daß 
es Wally war, als ginge ſie zwiſchen glühenden Nadeln hin. Wenn die Sonne 
„ſticht“, näht fie Wolken zuſammen und bald, etwa um Mittagszeit, hatte fie 
auch ein dichtes Wolkenzelt um fich her zufammengezogen, hinter dem fie jelbft 
verſchwand, und eine bleierne Dämmerung legte ſich ſchwer über die Erde. Eine 
jeltfjame Unruhe ergriff die Kleine Herde, dann und wann zudte es leuchtend 
auf in dem grauen Luftchaos, wie wenn ein Schlafender mit den Wimpern 
zuckt — und riefige ſchwarze Trauerjchleier umtwallten das Haupt Murzoll’3. 
Hin und wieder zerriffen fie und gaben noch einen ſchwachen Durchblick in die 
Terne frei, aber emfig woben fih an der dünnen Stelle neue Schleier, bis 
Alles zu war, al3 gäbe es zwiſchen Erde und Himmel feinen leeren Raum mehr. 

Waly wußte wohl, was das zu bedeuten habe, ſie hatte ſchon mandes 
ichwere Wetter hier Oben erlebt. Sie trieb die Herde zufammen unter einen 
Felsvorſprung, den ſie jelbjt im Laufe der Zeit ala Nothpferd hergerichtet hatte. 
Aber eine junge Geis hatte ſich zu weit verftiegen, Wally mußte gehen, fie zu 
ſuchen. Noch kein Wetter war mit joldher Schnelligkeit herangetommen. Schon 
begann e3 rund um den Berg dumpf zu murren. Braufend fegte die Winds- 
braut heran und warf einzelne ſchwere Hagelkörner nieder. Jetzt handelte es 
ſich noch um Minuten und das Zidlein war nirgend zu ſehen. Wally löſchte 
ihr Herdfeuer und trat hinaus in den Kampf der Elemente wie eine helden- 
müthige Königin unter die Schaaren ihrer aufrührerifchen Untertanen. Und 
föniglicd) jah fie aus, ohne es zu willen und zu wollen. Sie hatte ein kleines 
fupfernes Milchkeffelchen gegen den Hagel wie einen Helm auf den Kopf geftülpt 
und wie ein Mantel hing eine dicke Pferdedede von ihren Schultern nieder. 
Sp, den Hirtenftab mit dem eifernen Haken ftatt der Lanze in der Hand, warf 
fie fi dem Sturm entgegen und kämpfte ſich durch bis auf eine Felszacke, wo 
fie nad) dem verlorenen Thier ausſchauen konnte. Aber e8 war unmöglid, in 
dem Nebel etwas zu erkennen. Wally ftieg weiter und weiter bis auf den Weg, 
der vom Hochjoch hinüber in's Schnaljerthal führt. Und da tief unten in der 


Die Geier: Wally. Is, " run 7123 m 7 \ 


Schlucht hing das Zidlein am jähen Abhang und zitterte vor Angft und rumutted > —2 
ſich unter den Schlägen der ſchweren Eiskörner. Und das hilfloſe Thier dauerte 
ſie — ſie mußte ſich ſeiner erbarmen. Immer dichter praſſelte der Hagel auf 
ſie herab und peitſchte ihr Sturm und Regen in's Geſicht, immer näher ſchwoll 
es heran, wie das Wogendonnern einer nahenden Sündfluth — aber es focht 
fie nicht an, das ſtumme Hilfeflehen des geängſtigten Thieres übertönte das 
Toſen, und ohne ſich zu beſinnen, klomm ſie hinab in die neblige Tiefe. Mit 
unſäglicher Mühe erreichte ſie auf dem ſchlüpfrigen Pfad das Thier ſoweit, daß 
fie es mit ihrem Krummſtab faſſen und zu ſich heranziehen konnte, dann warf 
ſie es über die Schulter und ſtieg wieder mit Händen und Füßen kletternd 
empor. Da — war es, als ſchöſſe ein Feuerſtrom vom Zenith in die Schlucht 
hernieder, krachend ſplitterte unter ihr in der Tiefe eine Fichte und, als brüllten 
Himmel und Erde zugleich, ein Knattern von Oben, ein Brauſen, ein Donnern 
ſtürzender Bäche und Blöcke von Unten, daß der einſamen Pilgerin, die da an 
dem dröhnenden Felſen hing, war, als drehe ſich die Welt in wilder Auflöſung 
um ſie her. Wie betäubt ſchwang ſie ſich endlich auf den ſichern Rand des 
Saumpfades empor, ſie mußte einen Augenblick Athem ſchöpfen und die Näſſe 
aus den Augen wiſchen, denn fie konnte faſt nichts mehr ſehen und dazu zappelte 
das Zicklein auf ihrer Schulter, daß fie's binden mußte, um es weiter tragen 
zu können. Schlag auf Schlag krachte indefjen über ihr, unter ihr, und als 
jei der Himmel ein ledes Gefäß voll euer, jo troffen die Blife in feurigen 
Güſſen nieder. Da — was war das — eine Menjchenftimme! Ein Hilferuf 
Hang ganz deutlich duch das Braufen und Toſen. Wally, die nicht gezittert 
hatte vor der Wuth des Orkans und des Donner? — jetzt — erbebte fie. Eine 
Menihenftimme — jeßt! — hier Oben bei ihr in dem furchtbaren Aufruhr 
der Natur, im Chaos! Das erjchredte fie mehr als das Toben der Elemente. 
Sie laufchte mit geijpanntem Athem, woher der Ruf komme und ob fie fid 
nit getäuſcht. Da rief es wieder und zwar ganz dicht hinter ihr: „He Du 
dort — Hilf mir doch!" Und aus dem Nebel und Regen tauchte eine Geftalt 
auf, die eine zweite Geftalt zu jchleppen ſchien. Wally ftand wie erftarrt, was 
war das für ein Gefiht? Die brennenden Augen, der ſchwarze Schnurrbart, 
die feingebogene Nafe, fie ſchaute und jchaute und war unfähig, ein Glied zu 
rühren vor jeligem Schred — es war ja der Sct. Georg — der Bärenjojeph. 

Aber aud) er war über Wally erjchroden, als fie ſich umwandte, nım aus 
einem andern Grund, als fie über ihn. „Jeſus Maria, — 's ift ein Mädel?“ 
jagte ex faft ſcheu — umd betrachtete Wally voll Staunen. Als er fie von 
rückwärts gejehen, hatte er wegen ihrer Größe geglaubt, es jei ein Hirt — 
jetzt Hatte er ein Mädchen vor fi. Und wie fie jo vor ihm ftand, den langen 
Mantel in ftarren Falten um fich geworfen, das Haupt kriegeriſch gegen den 
Hagel behelmt, die dunkeln Haare aufgelöft und triefend um das Geficht hängend, 
den Krummftab in der Hand und auf der breiten Schulter das Zidlein, die 
großen Augen flammend auf ihn geheftet, da ward ihm einen Augenblid un- 
heimlich, ala habe er etwas Nebernatürliches vor fih. In jeinem ganzen Leben 
hatte er noch fein jo getwaltiges Frauenbild gejehen, und er brauchte eine Weile, 
bis er jich mit ihr zurecht fand. 


174 Deutſche Rundſchau. 


„Ach,“ ſagte er, endlich begreifend, „Du biſt am End' die Geier-Wally 
vom Stromminger?!“ 

„Ja, die bin %!” erwiderte das Mädchen athemlos. 

„Ah jo! ja, da ſollt' J eigentli nix mit Dir z'ſchaffen hab'n!“ 

„Warum nit?“ frug Wally erbleichend, und ein Blitz zudte gerade auf fie 
nieder, daß ihr Fupferner Helm roth aufleuchtete. 

Joſeph mußte innehalten, jo ſchmetternd war der Schlag, der ihm folgte, 
und mit neuer Wuth prafjelte ein Hagelichauer herab. Joſeph ſchaute verlegen 
auf das Mädchen, fie ftand unbeweglih, indeß die Eisftüde Beulen in das 
leichte Keſſelchen anf ihrem Kopf ſchlugen. Joſeph beugte fich über die Lebloje 
Geftalt, die er trug. 

„Weißt, 3 bin halt jeit der G’ihicht in Sölden mit Dei'm Water im 
Verſchmach, und die Leut' jagen, mit Dir jei’3 auch nit zum Ausfommen. Aber 
da3 arme Madel kann halt nimmer weiter, 's ift a Bli neben ihr eing’jchlagen 
und hat’3 umg’worfen, und fie ift ganz von fich! Geh’, führ’ uns in Dei 
Hütt'n, daß die Din ausruhen kann, bis 's Unwetter vorbei is — naher 
geh’n wir glei’ wieder — und 's joll au g’wiß nimmer vorkommen!“ 

Wally jah ihn auf diefe Rede jeltfam an — halb trogig, halb ſchmerzlich. 
Ihre Lippen zucdten, als wolle fie heftig etwas erwiedern, aber fie bezwang 
fich, und nad) einem kurzen ftilen Kampfe jagte fie nur: „Komm!“ und jchritt 
ihm voran. Nach einer Weile blieb fie ftehen und fragte: „Wer ift die Dirn'?“ 

„3 ift eine arme Magd aus’m Vintſchgau und fommt in’s Lamm nad 
Ziwiejelftein. Mei Mutter iS gftorben, und da hab’ % 'nüber müſſen in's 
Vintſchgau, wo fie 3’Haus war, wegen der Erbichaft, und weil wir g’rad einen 
Weg g'habt haben — hab’ I's Madel mit rüber g’nommen!“ antwortete 
Joſeph ausweichend. 

„Dei Mutter ift g’ftorben? D du armer Joſeph —“ rief Wally theil- 
nehmend. 

„Ja — da3 war ein harter Schlag!" jagte Joſeph tieftraurig: 7,da3 gute 
Miütaterl!" 

Wally jah, daß es ihm weh that, davon zu reden und ſchwieg. Sie ſprachen 
nichts mehr, bis fie die Hütte erreichten. 

„Das ift ein böjes Loch!” jagte Joſeph, als er fi beim Eintreten troß 
des Bückens die Stirn anftieß: „Da g’hört ſchon was dazu, jei’ Kind in fon 
Hundsſtall z'ſtecken! No Du haſt's ihm freilich) darnach g'macht.“ 

„So — weißt Du das?“ fuhr jetzt Wally bitter auf, während ſie ihr 
Zicklein losband und in einer Ede abſetzte. Dann ſchüttelte fie ihr Lager 
zurecht und Half Joſeph die Fremde darauflegen. Ihre Hände zitterten dabei. 

„No,“ fuhr Joſeph harmlos fort: „Das weiß Jeder, daß D’ jo wild bift 
wie Dei’ Vater und da D’ den Gellner-Bincenz beinah todtg’jchlagen hätt'ft 
und Deim Vater d’ Scheuer an’zünd’t im Zorn! J mein halt, wenn's D’ jeht 
ſchon jo anfangft, kannſt's noch weit bringen!“ 

„Weißt Du warum % den Vincenz g'ſchlagen hab’ und d’ Scheuer an- 
zünd't?“ frug Wally mit bebender Stimme: „Weißt, warum J da heroben 
bin in dem Humdaftall, wie Du's g’heißen haft?! Weißt's?“ Und fie zer 


Die Geier-Wally. 175 


brady mit den Händen einen ftarfen Aft über dem Knie, dat das Holz krachend 
jpfitterte, und Joſeph unwillkürlich ihre Kraft bewunderte. 

„Rein,“ jagte er, „woher joll I's willen?“ 

„Ro wenns Du’3 nit weißt, jo red’ auch nit!” grollte fie leife und machte 
Feuer, um für die Kranke Milch zu mwärmen. 

„So jag’3 mir, wenns D’ meinft, % thu’ Dir Unrecht!“ 

Da ſchlug Wally plöglid wieder jene gellende bittere Lache auf, die ihr 
eigen war, wenn ihr heimlich das Herz blutete. „Dir — Dir joll I's jagen?!“ 
tief fie. „La — Du wärft mir g’rad der Rechte, dem I's jaget!” Und jie 
Ipülte mit fieberhaftem Eifer ein Keſſelchen, goß die Milch hinein und hing es 
iiber da3 prafjelnde Teuer. 

Sojeph fühlte nicht den Schmerz heraus, der in diefem Hohn lag — er 
fühlte nur den Hohn und wandte ſich verdroffen von ihr ab: „Mit Dir ift nit 
zreden, da hab’n die Leut’ Schon recht!“ Von nun an beichäftigte er ſich nur 
noch mit der Kranken. 

Auch Waly ſchwieg und blicdte nur dann und wann, während fie herum- 
hantirte, verftohlen auf Joſeph, der übergoffen von dem rothen Feuerſchein auf 
einem Schemel unweit de3 Lagers ſaß. Wie ein paar Kohlen glühten feine 
Augen im Wiederjchein der Flammen, die bald ſchwächer, bald heller aufleudy- 
teten und das jchöne, ftrenge Geficht des Jägers wunderbar wechjelnd verklärten, 
daß es bald düfter, bald freundlich erſchien. 

Da fiel Wally plötzlich ihr Traum der erften Nacht hier oben ein. „Wenn ihn 
die jeligen Fräulein jo jehen könnten, fie müßten an ihm vergehen wie Schnee 
am Teuer!” jo etwas mochte fie wohl denken und ihr war, als könnte jie, wie 
man vom Herzen jagt, auch den Bli nur blutend von ihm losreißen, und es 
fielen ihr wirklid ein paar heiße Tropfen vom Auge, als fie fi) abwandte, 
zwar feine Blutstropfen, aber fie thaten nicht minder weh. 

Die Fremde fam jebt zur Befinnung und frug erftaunt: „Was ift denn?“ 

„Sei nur ruhig, Afra,“ jagte Jojeph, „weißt, der Blitz hat Di faft der- 
ſchlagen, und da hat uns die Stromminger Wally in ihr Hütt'n g’führt.“ 

„Jeſus Maria! bei der Geier-Wally find wir?” ſagte da3 Mädchen er- 
Ichroden. 

„Sei ſtaad,“ tröftete fie Joſeph, „ſobald D’ Dich erholt haft, geh'n wir 
wieder!“ 

„Alfo bis in's Vintſchgau 'nüber haft’ ſchon von mir g’hört? Da trink 
Eins auf den Schreck,“ ſagte Wally ruhig mit einem Anflug gutmüthigen 
Spotte3 und reichte ihr die warme Mil mit etwas Branntiwein gemilcht. 
Joſeph war aufgejtanden, um Wally mit dem Getränf an das Bett zu lafjen. 
Afra verfuchte, ſich aufzujegen, aber e3 ging nicht, und Wally griff raſch zu 
und richtete fie auf, jie hielt fie im Arme wie ein Kind und gab ihe mit der 
andern Hand zu trinten. Ara that einen durftigen Zug aus der Holzjchale, 
aber fie war jo ſchwach, daß ihr Kopf auf Wally's Schulter ſank, nachdem fie 
getrunfen. Wally winkte Yojeph, ihr die Schale abzunehmen und blieb jo ge- 
duldig ſitzen, um die Kranke nicht zu ſtören. 

Joſeph betrachtete fie nachdenklich), wie fie jo auf dem Bettrand ſaß, das 


176 Deutiche Rundichau. 


Mädchen im Arm: „Ein Ihön’s Dirnd'l biſt“ — jagte er ehrlich — „nur ſchad' 
daß D’ jo ſchiech biſt!“ 

Eine leiſe Röthe überflog Wally's Geſicht bei dieſen Worten. 

„Aber Dir ſchlagt amol Dei Herz!“ ſagte Afra, „I ſpür's an Deiner 
Achſel.“ Und ſie hob jetzt etwas kräftiger den Kopf und ſah ihr in das ſchöne, 
luftgebräunte Geſicht und die großen Augen. Wally betrachtete jetzt auch das 
Mädchen aufmerkjamer. Sie jahr, daß fie liebliche Züge, Teelenvolle blaue 
Augen und blondes Haar hatte, wie von Seide geiponnen, und ein eigenthüm- 
lid) banges widerwilliges Gefühl beichlich fie dabei. Sie jah auf Joſeph, ftand 
auf und fing wieder an herumzuhantiren. 

„St denn des auch g’wiß die Geier-Wally?” fragte jet Afra ihren 
Führer, ala könne fie e3 nicht begreifen, daß die verjchriene Geier-Wally jo gut 
jein jollte. 

„Dan jollt’3 nit meinen, aber jie jagt ja jelber, fie ſei's!“ eriwiederte Jo— 
ſeph halblaut. 

„Und J will Dir’ glei beweilen, daß I's bin,“ rief Wally mit auf- 
mwallendem Stolz, öffnete die Thür und rief hinaus: „Hansl — Hansl, wo 
bift?“ Ein greller Schrei antwortete ihr und jogleih fam Hansl vom Dad 
herabgebrauft und zur Thür herein. 

„Jeſus, was ift das?“ jchrie Afra, jich befreuzigend, aber Joſeph ftellte 
ih vor fie, um fie zu ſchützen. 

„Das ift der Geier, den J als Kind aus'm Neſt g’nommen hab’ — drüben 
an der Burgfteinwand. Von dem Hab’ % ja mein’ Namen — die Geier: 
Wally!“ Und ihr Auge hing jo ſtolz an dem Vogel, wie das eines Soldaten 
an der eroberten Fahne: „Da ſchauſt, jo Hab’ J mir'n zähmt, daß J ihn frei 
rumfliegen lafjen kann und ex fliegt mir doch nit fort!" Sie jeßte ihn fi 
auf die Schulter und entfaltete jeine Schwingen, damit Joſeph jähe, daß fie 
nicht bejchnitten waren. 

„Das ift ein Staatskerl,“ jagte Jojeph, und jein Yägerauge hing feindlich 
(üftern an der ftattlichen Beute, die fein Jäger dem andern, geſchweige denn 
einem Mädel gönnt! Es mußte etwas in diefem Blick liegen, das den Geier 
reizte, denn er jtieß ein eigenthümliches Pfeifen aus, bog den Hals vor und 
jträubte die Federn gegen Joſeph. 

MWally fühlte die ungewohnte Bewegung auf ihrer Schulter und juchte den 
Geier mit Streiheln zu beſchwichtigen. „No Hansl, was fallt dir denn ein, 
bift doch ſonſt nit jo!“ 

„Aha, Kerl — gelt, merkt 'n Jaga,“ lachte Jsſeph Herausfordernd und 
griff übermüthig nad dem Wogel, al3 wolle er ihn von Wally's Schulter 
reißen. Da entfaltete das gereizte Thier plößlich feine Kraft, breitete die 
Schwingen aus, raufchte zur Dede auf und ftieß mit feiner ganzen Macht auf 
den Feind nieder. Ein Schrei des Entjegens entrang ſich Wally’3 Lippen, Afra 
flüchtete fi) in eine Edke, die enge Hütte war faft ausgefüllt von dem braujen- 
den Ungethüm, das auf feinen Ruf jeiner Herrin mehr hörte, mit dem furcht— 
baren Schnabel immer wieder auf Jojeph eindrang und ihm die Fänge in die 
Hüfte zu jchlagen verſuchte. Es war nichts mehr als ein Knäuel von fämpfen- 


Die Geier-Wally. 177 


den Fäuſten und Fittigen, daß die Federn ftoben und die Wände roth wurden, 
wo Joſeph's blutige Hände fie berührten. „Mein Mefjer, wenn J nur mein 
Meſſer "rausbringen könnt',“ ſchrie Joſeph. 

Wally riß die Thür auf: „Hinaus, Joſeph, in's Freie — in dem engen 
Loch kannſt ihm ja nit auskommen.“ 

Aber der „Bären-Joſeph“ lief nicht vor einem Geier davon. „Der Teufel 
ſoll mich holen, wenn J vom Fleck geh'!“ ſtöhnte er. Noch einen Augenblick 
ſchwankte der Kampf. Da bekam Joſeph, das Geſicht an die Wand gedrückt, mit den 
eiſernen Fäuſten den Geier bei den Fängen zu packen und zwang nun das 
ſträubende Thier mit Rieſenkraft wie in einer Falle nieder, während es ihm 
mit dem Schnabel Hände und Arme zerhackte. „Jetzt mein Meſſer, zieh' mir's 
Meſſer 'raus — J hab’ ja fein’ Hand frei,“ rief ev Wally zu. 

Aber Wally nübte den Augenblick anders, ſprang bei und warf dem Geier 
ein dickes Tuch über den Kopf. Nun war e3 ihr aud ein Leichtes, ihm mit 
einem Strid die Füße zuſammen zu binden und jo war er unschädlich gemacht. 
Yojeph warf ihn zur Erde. Ohnmächtig zudend zerarbeitete fi) das ftolze 
Thier in dem Tuche am Boden und Joſeph ging hin und lud feine Flinte. 

„Bas machſt D’ da?” frug Wally erftaunt. 

„J lad’ mei Biren,“ jagte er und biß die Zähne zujammen vor Schmerz 
an jeinen zerhadten Händen. Als er geladen, nahm ex den gefefjelten Vogel 
vom Boden auf und warf ihn vor die Hütte, hinaus in’3 Freie, dann ftellte 
ex fih unweit davon auf, legte an und jagte leife, gebieterifch zu Wally: „Jetzt 
bind’ ihn Los.“ 

„Bas joll J?“ fragte Wally, die nicht recht zu hören glaubte. 

„liegen ſollſt D’ 'n lafjen!“ 

„gu was?“ 

„Daß J'n Ichießen kann — Weißt nit, daß a rechter Jaga kein Wild 
anders al3 im Sprung oder im Flug ſchießt?“ 

„sa, um Gotteswillen!” jchrie Wally, „Du wirft mir doc mein’ Hansl 
nit derſchießen woll’n!“ 

Joſeph jah fie num jeinerjeit3 verwundert an: „Soll J den biffigen Ruad) 
etwa leben laſſen?“ 

„Joſeph —“ rief Wally und trat entjchloffen vor ihn Hin: „Lafj’ mix 
mein’ Hansl ung’shoren! J hab’ den Vogel jeine Alten ab'kämpft mit Lebens— 
g’fahr, Hab’n vom Neft auf'zogen, Fein Menſch mag mi’, als des Vieh — 's 
is mei’ Einzig's, was J hab’ auf der Welt — dem Hansl darfft nix thun!“ 

„So,“ ſagte Joſeph ſcharf und bitter, „der Satan hat mir beinah d' Augen 
ausg’hadt und J ſoll'm nir thun?“ 

„Er hat Di’ halt nit kennt! Was kann denn der Vogel derfür, daß er 
nit g’icheidter 18 — Du wirft Di’ doch nit rächen woll’n an jo 'n unvernünf- 
tigen Thier.“ 

Sojeph ftampfte mit dem Fuß. „seht bind’'n auf, daß er flieg'n kann, 
oder J ſchieß'n jo z'ſammen.“ Er legte die Büchſe an. 

Da ftieg Wally das heiße Blut zu Kopf und fie vergaß Alles um ihren 
Schützling. „Des woll’n wir doch jehen,“ rief fie in flammendem Zorn, „ob 


178 | Deutiche Rundichau. 


Du Dich vergreifen wirft an mein’m Eigenthum. Thu’ die Bir'n weg! Der 
Bogel g’hört mir! Hörſt's? Mir g’hört er! Und % laß ihm nix g’ichehen, 
'3 mag kommen, was will. Weg mit der Bir'n — oder Du jollft mich kenne 
lerne!“ Und fie Ichlug ihm mit einem rajchen Griff die Flinte aus der Hand, 
daß der Schuß ſich krachend gegen die Felswand entlud. 

63 lag etwas in ihrer Haltung, wa3 den gewaltigen Burjchen, den Bären- 
jäger, bezwang, daß er jcheinbar ruhig den Stuten aufnahm und mit bitterem 
Hohn jagte: „Meintswegen! J will Dir Dein trummjchnableten Schaf Laffen — 
'3 iſt vielleicht doc) der Einzige, den D’ Eriegft in Deimm Leben —! Du — 
Du bift halt die Geier-Wally!“ 

Und ohne jie weiter eines Blickes zu würdigen, viß er jein Taſchentuch in 
Streifen und verjuchte jich die zerfleiichten Hände damit zu verbinden. Wally 
iprang herbei und wollte ihm helfen, jet exit jah fie, wie ſchlimm die Wunden 
waren und ihr war, al3 blute ihr eigenes Herz bei dem Anblid: „DO Jeſus, 
Bua, was haft für Händ',“ jchrie fie auf, „komm, J will Dir's abwaſchen 
und richten.“ 

Aber Joſeph ſchob fie bei Seite: „Laß —! Die Afra fann’3 machen!“ 

Er trat in die Hütte. Wally überfam eine tödtliche Angft. Sie fühlte 
plötzlich, daß ſie fi ihn zu Feind gemacht, vielleicht für immer, umd ihr war, 
als müſſe fie fterben bei diefem Gedanken. Wie gebrochen ging fie ihm nad 
und ihre Augen verfolgten mit einer Art von eiferfüchtigem Haß die Fremde, 
während jie Joſeph verband. 

„Joſeph,“ jagte Wally mit erjtidter Stimme, „Du mußt nit meinen, J 
machet mir nir aus Deine Wunden, weil J Di den Hansl nit hab’ derichießen 
laſſ'n. Schau, wärn ſ' da dervon heil word'n — jo hätt’jt wegen meiner 'n 
Hanjel und mi derzu derichiegen könne — aber jo hätt’s ja doch nix g’holfen.“ 

„3 18 ſchon gut, Du braucht Di nit 3’ entichuldige,“ jagte Joſeph ab- 
wehrend. „Afra,“ frug er das Mädchen, „kannſt jet weiter?“ 

„ja,“ jagte dieje. 

„So mad’ Di fertig, wir woll’n geh'n!“ 

Wally entfärbte fih. „Joſeph — magft nit noch a wenig ausruhen — 
% hab’ Dir ja noch gar fein Imbiß ’geb’n! J will Dir noch g’ihwind was 
koch'n — oder magit 'n Schlud Milli?“ 

„I dankt Dir für Alles — J will jet mach'n, daß J z'Haus — vor 
Nacht. 's regnet ja nimmer und die Afra kann wieder lauf'n.“ 

Damit half er der Dirn ſich fertig machen, hing die Büchſe über die Shul- 
ter und nahm den Alpftod zur Hand. 

Da hob Wally eine der Federn auf, die Hanfel im Kampfe verloren und 
iteckte jie Jojeph auf den Hut: „Die Feder mußt’ tragen, Joſeph; Du darfft 
fie tragen, denn Du haft ja den Geier zwunge und er wär’ ja Dei Jagdbeut', 
wenn’ D’n mir nit g’ichenkt hätt'ſt.“ 

Aber Jojeph nahm die Feder vom Hut: „Du magſt's qut meine — aber 
die Feder trag IJ nit — J bin nit g’wohnt, mei Beut' mit Mädeln 
ztheilen!“ | . 


Tie Geier:Wally. 179 


„Sp nimm den Geier ganz mit, J ſchenk' ihn Dir, aber J bitt' Dich 
nur, laſſ'n leben!” ſtieß Wally athemlos heraus. 

Joſeph jah fie vertvundert an. „Was fallt Dir denn ein! J werd’ Dir 
mir nehme, wodran Dir Dei Herz jo hangt. Vielleicht fang’ J amal an Ieben- 
digen Bären, den bring J Dir nod) dazu, daß die G'ſellſchaft vollftändig wird! 
Aber bis dahin ſiechſt mi nimmer, 's könnt’ mir doch amal pafjiren, daß J den 
Vogel derſchießet, wann I'n wo treffet — da will I's Revier lieber meiden! 
B'hüat Gott und Dank für's Obdach!“ 

Damit jchritt er ftolz und ruhig aus der Hütte, 

Da bückte ji) Afra und hob die von Joſeph weggeworfene Feder auf. 
„Schenk' mir die Feder,“ jagte fie, „Y will’ in mei Betbüchel legen und jo 
oft I's ſieh, a Vaterunfer für Dich beten!” 

„Wegen meiner!” jagte Wally dumpf, fie hatte faum gehört, was Afra 
ſprach. Es pochte und hämmerte in ihrer Bruft und jaufte in ihren Ohren, 
ala toje noch das Unwetter um fie her. Sie ging den Dahinjchreitenden nad) 
vor die Hütte. Das Unwetter hatte ſich verzogen, die ſchwarzen Wolkenſchleier 
hingen zerfeßt herab und durch die Riſſe ſchimmerte die feucht verſchwommene 
Ferne, Nur dumpf grollte der abziehende Donnergott nad) und verraufchend 
itürzte das Waffer in den Runjen zur Tiefe, jonft aber war Alles ftill und 
ruhig rings umher und ein weißes Leichentud) von Schnee und Eiskörnern 
hatte fich über den Berg gebreitet. 

MWally ftand regungslos, die Hände auf die Bruft gepreßt. „Er kann fich’s 
ja nit denfen, wie arm Eins jein muß, wenn's jet Herz an ſo'n Vogel hängt!“ 
jagte fie zu ſich jelbft. Dann kniete fie nieder und band das halb erftarrte 
Thier los, das ſchwankend auf ihren Arm klomm und fie verftändig anjchaute, 
ala wolle e8 fie um Verzeihung bitten. „a, ſchau mi nur an,” ſchluchzte fie, 
„o Hansl, Hansl — was haft mir 'than!“ 

Sie jeßte fi) auf die Stufen ihrer Hütte, ließ Hansl zur Erde und weinte 
jo recht aus Herzensgrund, bis ſie's jatt befam, ſich ſelbſt jchluchzen zu hören. 
Sie blickte hinauf, wo eine hohe Schneewand ſenkrecht Hinter ihr emporftieg, 
hinunter, wo rechts und links in den überjchneiten Mulden der Tod fein kaltes 
Neft bereitet hatte, hinaus in die graue Ferne, wo lange Regenftreifen vom 
Himmel zur Erde niederhingen, und plößlich fühlte fie e8 wieder, ganz und 
ſchwer, wie am erjten Tag, daß ſie in der Einöde war — und blieb! 


X. 
Die Höchſtbäuerin. 

Wieder war ein Jahr vergangen, ein jchweres Jahr für Wally, denn als 
der einfame Sommer in der Wildniß vorüber war und Stromminger die Heerde 
holen ließ, jtieg Wally auf der andern Seite des Ferners hinab in das Schnaljer- 
thal, two fie ganz fremd war, und juchte jich da einen Dienft. Zu den Rofenern 
wollte jie nicht wieder zurüd, da fie ihr Werben abweiſen mußte. Es wurde 
ihr bier ebenjo ſchwer mit dem Geier ein Unterkommen zu finden, wie drüben 
im Oebthal, und fie verzichtete endlich auf jeden Lohn, nur damit Hanfel mit 


180 Deutihe Rundſchau. 


aufgenommen wurde. Natürli” war ihr Loo3 ein trauriges, fie wurde um 
diefer „Narrheit“ — wie fie'3 nannten — willen herumgeftoßen und verächtlich 
behandelt von den Frauen und mußte ſich oft mit Gewalt gegen die gemeine 
Zudringlichkeit der Männer wehren, die hier wie überall Gefallen an der ſchönen 
Dirn fanden. Dennoch exrtrug fie das Alles ftandhaft, denn fie war zu ftolz, 
um unter einer Laft zu ächzen und zu wehllagen, die fie freiwillig auf fi) 
genommen. 

Aber fie wurde hart und immer härter dabei, gerade das, wovor der gute 
Caplan fie gewarnt. Die Geifter aller gemordeten Freuden ihres jungen Lebens 
gingen in ihr um und jchrien nach Race. In dem kurzen Mai des Lebens 
find drei verlorene Jahre viel. Andere junge Mädchen weinen und Elagen um 
einen verlorenen Tanz! Wally trauerte nicht um all die verfäumten Tänze, 
um all die taufenderlei VBergnügungen ihres Alters, fie trauerte nur um die 
verjäumte Liebe, und das Gemüth, da3 fein Sonnenftrahl des Glücks beichienen, 
wurde herb und hart, wie die Frucht, die nur im Schatten gereift ift. 

So ftieg fie wieder zur Frühjahrszeit auf den Ferner. E3 war ein raubes 
Frühjahr und ein ſtürmiſcher Sommer, wo Regen, Schnee und Hagel mit 
einander abwechjelten, daß Wally’3 Kleider oft Tagelang nicht mehr troden 
wurden und fie ganze Wochen hindurch in einem undurddringliden Chaos 
naſſer Wolfen athmete, in dem es nimmer Licht werden wollte, wie vor dem 
erften Schöpfungstag. 

In Wally's Bruft malte fi) das große Chaos im Kleinen, Grau in Grau. 
Die ganze Welt war nur noch ein trüber, finfterer Traum, wie dies Nebeltreiben 
um fie her — und der Gott fam nicht, der da ſprach „es werde Licht!” 

Eines Tages aber, nad) endlojen Wochen der Finſterniß, ſprach er dennoch 
jein mächtiges Schöpfungswort und der erfte Lichtjtrahl ſchoß wieder durch die 
Wolken und vertheilte fie, und allmälig jchied ſich aus dem Chaos eine jchöne 
geordnete Welt aus, mit Bergen und Thälern, Teldern, Wäldern und Seen, 
und das Alles lag plößlich fertig vor Wally da umd ihr war, ala wäre aud) 
fie exrft neu zum Leben erwedt, wie einft die Stammmutter der Menſchheit, 
daß ſie fich diefer Welt mitfreue, die Gott jo jchön geichaffen, daß er fie fi 
nicht allein gönnte, jondern fi noch Wejen dazu jchuf, fie mitzugenießen! 

Sollte e3 denn wirklich auf diejer ſchönen Welt fein Glück geben? Und 
warum hatte Gott fie, die arme Eva, da herauf gejegt in die Einöde, daß der, 
für den fie geboren war, fie nicht finden mochte? „O Hinunter, hinunter, ’3 ift 
genug hier Oben!” jchrie es plößlich in ihr auf und wild brach mit einemmal 
die Luft zu leben, zu lieben, zu genießen in ihr hervor, daß fie die Arme jehn: 
lüchtig ausbreitete nach der jonnigen lachenden Welt da unten! 

„Wally, Du jollft abi komme, glei) — der Vater is g’ftorben!“ Der 
Hirtenbub jtand vor ihr. 

Wally ftarrte ihn wie träumend an. 

War e8 ein Spud ihres eigenen Herzens, das eben erſt jo aufrühreriſch 
nad Glück geihrien? Sie faßte den Buben bei den Schultern, als wolle fie 
fühlen, ob e3 etwas Wirkliches, kein Trug jei! 





Die Geier-Wally. 181 


Er wiederholte die Botſchaft: „Das Uebel an jeinem Fuß ift immer ſchlim— 
mer worden. Der Brand ift derzufommen und heut Morgen war er todt! 
Seht bift Du Herr auf'm Höchſthof und der Hlettenmaier laßt Did grüßen.“ 

So war es wahr, wirflih! Der Erlöjer, der Friedens- und Freiheits— 
bringer ftand leibhaftig vor ihr! Darum hatte Gott ihr die Welt jo jchön 
gezeigt, al3 wollte er ihr vorherjagen: „ſieh, das ift jeßt Dein! Komm herab 
und nimm, was id) Dir bejcheert!” 

Und fte ging ftill nach ihrer Hütte und ſchloß ji ein. Dort kniete fie 
nieder, dankte und betete — betete jeit langer Zeit zum erjtenmal wieder in- 
brünftig aus tieffter Seele, und heiße Thränen um den Vater, der nun dahin= 
gegangen, ohne daß ſie ihn je Eindlich Lieben gedurft und gekonnt, quollen aus 
dem erxlöften, verjöhnten Herzen hervor! 

Dann flieg fie nieder in die Heimath, die ihr nun endlich wieder Heimath 
war, wo ihr Fuß Wieder auf eigenen Grund und Boden trat. Der Klettenmaier 
ftand vor dem Thor und ſchwenkte jauchzend die Mübe, als jie anfam. Die 
Magd, die vor zwei Jahren jo grob gegen Wally geweſen, brachte ihr heulend 
und unterwürfig die Schlüffel und unter der Zimmerthür empfing fie Vincenz. 

„Wally,” begann er, „Du haft mich gar ſchlecht behandelt, aber —“ 

Wally unterbrah ihn ruhig, aber ftreng: „Vincenz, hab J Dir Unrecht 
'than, jo mag mid Gott dafür ftrafen, wie's ihm g’fallt. J kann's nit bereuen 
und nit gut maden, und J verlang auch nit von Dir, daß Du's mir verzeihft ! 
Jetzt kennſt meine Meinung und jet bitt’ J, laß mi allein!” 

Und ohne ihn weiter eine Blicke zu wirrdigen, ging fie zur Leiche ihres 
Vaters hinein und jchloß die Thür. Thränenlos ftand fie da. Sie hatte weinen 
gekonnt um den verklärten Vater, der die irdiſche Hülle abgeftreift hatte; aber 
vor der irdiſchen Hülle, die mit plumper Fauft fie jelbft und ihr Leben ver- 
pfuſcht, die fie geichlagen und getreten "hatte, vergoß fie feine Thräne, war fie 
wie von Stein! 

Sie betete ruhig ein Vaterunſer, fie kniete nicht dabei nieder. Wie fie vor 
dem lebenden Vater geftanden, regungslos, in ſich zufammengefaßt, jo ftand fie 
auch vor dem todten, nur jet ohne Groll, verfühnt durch den Tod. 

Dann ging fie in die Küche, um Alles für den Imbiß zu rüften, wenn 
„„'Nacht“ die Nachbarn zum Beten umd zur Todtenwaht kommen. Da gab 
e3 alle Hände voll zu thun und als es Mitternadht war, füllte fi) die Stube - 
jo mit Betern, daß Wally kaum genug zu efjen und zu trinken herichaffen 
fonnte; denn je reicher ein Bauer ift, dejto mehr Nachbarn finden jich zum 
Machen und Beten ein. | 

Wally jah das Alles mit ftilem Widerwillen mit an. Da lag ein todter 
Mann — und fie aßen und tranten wie die Fliegen dabei. Da3 dumpfe Sum- 
men und Treiben um fie her war ihr jo ungewohnt auf die erhabene Stille 
ihrer Berge und kam ihr jo Klein und elend vor, daß fie jih unwillkürlich 
wieder hinwegwünjchte auf ihre Höhen. 

Stumm und kalt jchritt fie zwiſchen den heulenden, effenden und trinfenden 
Leuten hindurch und man fand, fie jähe ihrem todten Vater recht ähnlid. Am 
dritten Tag war das Begräbniß. Von allen Ortichaften nah und fern famen 


182 Deutiche Rundſchau. 


die Leute herbei, theils um dem gefürchteten und angejchenen Höchjftbauern die 
legte Ehre zu erweijen, theils um fich bei der böjen Geier-Wally, die nun dod) 
Herrin der großen Stromminger’ichen Befitungen geworden, „wohl dran zu 
maden“. Denn war fie auch bisher eine „Mordbrennerin” und ein „Ihunit- 
gut“ geweſen — jet war fie die reichſte Bäuerin im Gebirg und das änderte 
Alles! 

Wally fühlte diefen Umſchlag wohl und wußte aud), woher er fam. Als 
nad dem Begräbniß diejelben Leute, die fie vor einem Jahr, da fie hungernd 
und frierend um einen Dienft bat, mit Schimpf und Schande von der Thür 
getwiejen, jet mit krummem Budel und grinjend vor ihr ftanden — da wandte 
jte fi mit Efel ab — und von der Stunde an veradhtete fie die Menſchen! 

Auch der Caplan von Heiligkreuz und die Rofener waren gekommen. Jetzt 
war der Augenblid da, wo te ihnen wenigftens äußerlich vergelten konnte, was 
fie ihr Gutes gethan, da fie arm und verlaſſen gewejen, und fie zeichnete fie 
vor allen Andern aus und hielt fich allein zu ihnen. 

Als der Leichenſchmaus vorüber war und die Leute jich endlich zeritreut 
hatten, da blieb der Caplan von Heiligkreuz nod ein wenig bei ihr und ſprach 
manches gute Wort: „Du bift jebt eine Herrin über vieles Geſind“, ſagte er, 
„aber bedenke, daß, wer ſich nicht jelbit zu beherrichen weiß, auch niemand 
Andern beherrichen wird! Es ift ein uralt Wort: „Wer nicht gehorchen kann, 
der kann nicht befehlen“. Kerne gehorchen, mein Kind, damit Du befehlen 
kannſt!“ 

„Aber, Hochwürdiggnaden, wen ſoll J denn g'horchen, 's ift ja Niemand 
mehr da, der mir was z'ſagen hätt'?“ 

„Gott!“ 

Wally ſchwieg. 

„Da,“ ſagte der Caplan und zog etwas aus der Taſche ſeines weiten Rockes. 
„Schau, das hab’ ich ſchon lang für Dich beſtimmt, ſeit Du damals bei mir 
warit; aber auf Deinen Wanderungen hätteft Du's doch nicht mit Dir nehmen 
fönnen.” Gr nahm aus einer Schadtel ein ſauber geſchnitztes Heiligenfigürden 
mit einem Poftamentchen von Holz. 

„Schau, das ift Deine Schußpatronin, die heilige Walburga. Weißt Du 
no, was ich Dir jagte vom harten und weichen Holz, und vom lieben Gott, 
der aus einem Inorrigen Stod eine Heilige ſchnitzen kann?“ 

„sa, ja,” ſagte Wally. 

„Run fiehft Du, damit Du's nicht vergißeft, hab’ ih Dir von Sölden jo 
ein Figürchen kommen lafjen, das häng über Deinem Bett auf und bete fleißig 
davor, das wird Dir gut thun.“ 

„J dank ſchön, Hochwürden,“ jagte Wally jichtlich erfreut und nahm das 
zerbrechliche Dingelchen behutfam in die harten Hände. „J will g'wiß immer 
dran denfen, wenn 3 anſchau, was Sie ihm für eine finnreihe Auslegung 
'geben hab'n! Alſo fo hat die heilige Walburga ausg’ihaut! — O dag muß 
ein gar lieb's ſchön's Menſch g'weſen jein! Ja, wer jo fromm und brav mär, 
wie Die!“ 

Und al3 der Klettenmaier über den Hof auf fie zufam, hielt fie ihm das 


Die Geier:-Wally. 183 


Figürcchen entgegen und rief: „Schau, Klettenmaier, was J kriegt hab’: die 
heilige Walburga, meine Schußpatronin! Dafür ſchick'n wir aber 'm Seren 
Caplan das erfte jchöne Lammpel, das wir ziehen, zum G'ſchenk.“ 

Der gute Gaplan legte zwar lebhafte Verwahrung ein gegen dieje Art von 
Segengabe, aber Wally ließ es ſich in ihrer Freude nicht nehmen. 

Als der Gaplan fort war, ging Wally in ihre Kammer und nagelte die 
Schniterei zu den Heiligenbildern über ihrem Bett auf und rings darumher 
wie einen Kranz die Kartenblättchen der alten Ludard. — Dann ging fie zu 
jehen, was e3 in Haus und Hof etwa zu thun gäbe. 

„Hanſel,“ rief fie im Vorbeigehen dem Geier zu, der auf dem Holzichuppen 
ſaß, „jet find wir da Meifter!" Und das Gefühl der Herrfchaft durchdrang 
fie nach der langen Knechtung, wie beraujchender Wein, in durftigen Zügen ge- 
trunfen, dem Verſchmachtenden die Adern jchwellt ! 

Auf dem Hof hatte ſich das duch Vincenz gedungene Gejind verfammelt 
und VBincenz jelbft war mitten darunter. Ex war hager und gelblich-blaf ge- 
worden und am Hinterkopf hatte er in dem dichten ſchwarzen Haar eine Fahle 
Stelle wie eine Tonſur. Die funtelnden Augen lagen tief in ihren Höhlen, 
wie Wolfsaugen, die aus einem Felsſpalt heraus auf Beute lauern. 

„as giebt’3?" frug Wally und blieb jtehen. 

Die einft jo grobe Oberdirn näherte jih ihr in jcheuer Unterwürfigteit. 
„Bir hab'n Di nur frag’n woll'n, ob D’ uns jeßt fortſchickſt, — weil wir 
jo bös gegen Did) warn, wie der Stromminger noch g’lebt hat? Weißt, wir 
hab'n halt thun müſſ'n, wie er's g’wollt hat.“ 

„s habts Euer’ Schuldigkeit 'than,“ ſagte Wally ruhig. „Jſchick Kein’ 
fort, ehvor J nit g'funden hab’, daß er unehrlich oder im Dienſt ſchlecht it, 
und wenn Os kein’ jo frummen Buckel vor mir machtet — thätet Os mir 
beffer g’jallen! Geht's an Euer Arbeit, daß J ſiech, was O3 ſchafft's — das 
iſt g’icheidter, als die Faxen!“ 

Die Leute entfernten fih. Vincenz blieb ftehen und jeine Augen hafteten 
glühend an Wally. Sie drehte ſich nah ihm um und ftredte die Hand gegen 
ihn aus — „Nur Ein’n verbann’ von mei'm Grund und Boden, Did Vin- 
cenz!“ jagte fie. 

„Wally!“ ſchrie Vincenz auf, „das — das für Alles, was J für Dein’ 
Vater 'than hab?“ 

„Was Du mei'im Vater als Verwalter g’holfen haft, jo lang ex lahm war, 
ſollſt erſetzt kriegen — J ſchenk' Dir die Matten, die an Dein’n Hof ftoßen 
und Dein Gut rund machen, J denk, damit it Deine Müh und Zeit bezahlt — 
und wenn's nit ift, jo ſag's, J will Div nir jchuldig bleiben — verlang, was 
D' magft — aber geh’ mir aus die Augen!“ 

„J will nix, % mag nir al3 Did, Wally — ohne Di ift mir Alles 
Eins. Du Haft mid) beinah' umbradt, Du haft mid) mißhandelt, jo oft D' 
mich g’jehen haft — und — der Teufel jol’s holen — J kann nit von Dir 
laſſen! Schau, für Dich thät J Alles. Für Did könnt' J'n Mord begehen — 
für Dich verfaufet J meiner Seelen Seligfeit — und Du willft mid) mit a 
paar Matten abjpeijen? Meinſt, Du wirft mich jo los? Biet' mir Alles, was 


Deutiche Rundihau. T, 5. 13 


184 Deutiche Rundſchau. 


D’ Haft, Dei ganzes Eigenthum und da3 ganze Debthal dazu — J ſpuck Dir 
drauf, wenn D’ mir Dich nit gibſt — ſchau mid an: 's zehrt mir's Mark 
aus — J weiß nit, was da3 ift, aber für einen einzigen Kuß von Dir jchent 
J Dir all mei Hab und Gut und will mei Lebtag hungern! Jetzt ſchick mir 
den Rechenmeifter und laß mir noch einmal vorrechnen, mit wieviel Batzen umd 
Graſeln D’ mid abfinden willft!“ Und mit einem Blick wilden bitterjten 
Hohns ließ er die erftaunte Wally ftehen und verließ den Hof. — 

Ihr graute vor ihm. So hatte fie ihn nie gejehen — fie hatte einen Blick 
in die Tiefe einer unberechenbaren Leidenſchaft gethan umd fie ſchwankte zwiſchen 
Abſcheu und Mitleid. 

„a3 hab’ J denn an mir,” dachte Wally, „daß die Buben alle jo närriſch 
mit mir find?" Ach, und nur der Eine fam nicht, der Einzige, den fie haben 
wollte — verfhmähte fie. Und wie — wenn er ſich gar am Ende verheirathete 
unter der Zeit? Der Athem ftodte ihr bei dem Gedanken. Sie dachte wieder 
an jene fremde, die er damals mit über das Hochjoch gebracht. Doch nein — 
da3 war ja eine Magd! 

Aber es mußte bald etwas geichehen! Sie war jeßt rei) und angefehen, 
je durfte ihm jet jchon eher einen Schritt entgegen thun! Dennoch fträubte 
fih ihr jungfräulicher Stolz gegen den Gedanken und „Zuwarten — immer 
Zumarten!“ war Alles, was ihr übrig blieb. — 

Ruhelos trieb e3 fie in Haus und Feld um. Woche um Woche verftrich 
und fie konnte fich nicht eingewöhnen. Es zeigte fi) bald, daß fie für das 
Dorfleben verdorben war. Sie war und blieb das Kind Murzoll's, die wilde 
Wally. Sie verhöhnte unbarmherzig, was ihr Heinlich und albern erſchien, fie 
band fih an feine Tagesordnung, an feinen Braud, fein Herfommen. Sie 
icheute Niemanden. Was Furt jei, das hatte fie verlernt droben auf dem 
Ferner; die eijerne Stirn, die fie dort oben den Schreden der Elemente geboten, 
trug fie auch dem kleinen Leben hier unten entgegen. Gewaltig an Leib umd 
Seele ftand fie da mitten unter den Dörflern, wie eine Geftalt aus einer andern 
Melt. Ein Fremdling geworden in dem bäuerlichen Treiben, wie alles Fremd— 
artige feindjelig angeftaunt von den Bauern, die es aber doch nicht wagten, der 
großen Höchſtbäuerin zu nahe zu treten. Aber das Mädchen fühlte die Feind- 
jeligfeit wohl heraus und auch die Feigheit, die fie hinterrücks anfeindete und 
ihr in's Geficht freundlid that. „J hab’ nah Niemand nir 3’ fragen,“ 
wurde ihr trogiger Wahliprudy und jo that fie, wozu das wilde Herz jie trieb. 
War e3 ihr drum, jo arbeitete fie tagelang wie ein Knecht, um das läfjige Ge- 
find anzufeuern, kam Einer mit etwas nicht zu Streich, jo riß fie es ihm un- 
geduldig aus der Hand und machte es ſelbſt. — Dann träumte fie tagelang 
melancholiſch Hin, oder fie ftreifte in den Bergen umher, daß die Leute meinten, 
es ſei nicht recht geheuer mit ihr. Während deſſen thaten die Knechte und 
Mägde, was fie wollten, und die Bauern raunten fi) ſchon jchadenfroh zu, fie 
werde auf diefe Art das ganze Anweſen zu Grunde gehen lafjen. 

Und während fie jo gegen Brauch und Ordnung verftieß, war fie auf der 
andern Seite ftreng bis zur Härte in Dingen, mit denen es die Bauern gar 
nit jo genau nahmen. Grwijchte fie einen Knecht Auf Unehrlichkeit oder 


Die Geier:Wally. 185 


falſchem Spielen, jo zeigte jie ihn beim Landgeriht an. Mifhandelte Einer ein 
Thier, jo padte fie ihn, außer fi vor Wuth, am Kragen und jchüttelte ihn. 
Kam Einer Abends betrunken nad) Haus, jo ließ fie ihn zu Schimpf und 
Schande vor die Thür jperren und die Nacht: draußen zubringen, e3 mochte 
regnen oder jehneien. Erwiſchte fie eine Dirn auf Liederlichkeit, jo jagte fie fie 
noch in derjelben Stunde aus dem Haus. Denn ihr Sinn war rein und keuſch 
geblieben, wie der Gletjcher, auf dem fie jo lange einſam gehauft. All das 
Geliebel und Geflüfter und Einandernachſchleichen und „Fenſterln“ um fie her 
erfüllte jie mit Abjchen. 

Das Alles brachte fie in den Ruf jchonungslojer Härte und machte fie jo 
gefürchtet, wie e3 einft ihr Vater war. 

Troßdem war’3, als habe gerade ſie's den Buben angethan. Nicht nur 
ihren Reihthum, nein fie, fie jelbft in ihrer ganzen Seltjamfeit begehrten die 
Burſche. Wenn fie jo vor ihnen ftand, jo groß, als ſtünde fie auf einer Er- 
höhung, To Schlank und doch To feſt und ftolz gebaut, daß die hochgemwölbte 
Bruft faft das knappe Mieder zeriprengte, wenn fie den nervigen Arm, jo nervig 
wie der Arm eines Jünglings, drohend gegen jie aufhob und ein Blitz des 
Spotte3 herausfordernd aus den mächtigen jchwarzen Augen flammte, dann 
ergriff die Burſchen eine Liebe3- und Kampfeswuth, daß fie auf Leben und Tod 
mit ihr rangen, um einen einzigen Kuß zu erlangen. Dann aber, weh’ ihnen! 
Denn fie waren nicht ftarf genug, dies Weib zu zwingen, mit Spott und 
Schande zogen fie ab und der mußte erſt fommen, der es mit ihr aufnehmen 
fonnte — ob er je fam? Genug, fie wartete auf ihn! 

„Wer, mir nachſagen kann, daß J ihm a Bußl 'geben hab, den heirath 3, — 
wer aber nit amol fo jtarf i8, daß er mir das Buhl mit G’walt abnimmt, 
für den ift die Höchftbäuerin nit g'wachſen“ — jagte fie eines Tages im lleber- 
muth und bald war da3 Wort in der ganzen Gegend herum und die Burfchen 
von Nah und Fern zogen herbei, ihr Glüd zu verfuhen und jie beim Wort 
zu nehmen. Es wurde förmlich zur Ehrenjache, um die wilde Wally zu werben, 
wie jedes Wageſtück eine Ehrenſache fiir den wehrhaften Dann ift. 

Bald war fein heirathsfähiger Sohn im ganzen Oetz- und Gurgler- und 
Schnaljerthal, der nicht verfucht hätte, Wally zu erobern und ihr den Kuß 
abzuringen, den noch Keiner gewonnen. Und fie freute ſich des wilden Spiels 
und ihrer gewaltigen Kraft, fie wußte, daß von ihr geſprochen wurde weit und 
breit und daß der Joſeph immer von ihr hören wiirde, und jie meinte, nım 
müfje er e3 doch endlich dev Mühe werth finden zu kommen und den Preis 
davon zu tragen, umd wär's auch nur, wie er einft dem Bären nachgegangen, 
um feine Macht zu erproben. Wenn er nur da war, dachte ſie — warum 
jollte ex fie nicht lieb gewinnen, wie alle Andern, wenn fie noch dazu recht 
gut und „g'ſchmach“ mit ihm war? Aber er kam nit. Statt jeiner Fam 
eines Tages der Venter Bot herüber in den „Hirſch“, der dicht: an den Strom- 
minger’ihen Gemüsgarten ſtieß. Wally, die eben darin jätete, hörte Joſeph's 
Namen nennen und horchte hinter dem Zaun auf des Boten Erzählung. 

Der Joſeph Hagenbacher kehre, jeit jeine Mutter geftorben jei, öfters im 
Lamm in Ziwiejelftein ein, berichtete der Bote, und man munfle etwas von 

13* 


186 Deutiche Rundichau. 


einer Liebſchaft mit der hübjchen Afra, der Schenkdirn im Lamm. Geftern jei 
er denn auch wieder dort geweſen und habe mit der Afra allein am Wirtha- 
tijch gejelfen, während die Wirthin in der Küche war. Da ſei plößlich der 
Stier ausgebrochen und wie eine Windsbraut durch's Dorf gerannt. Es habe 
fih ihm eine Horniß in's Ohr geſetzt gehabt. Alles flüchtet in die Häufer und 
Ichließt die Thüren, aud) der Lammwirth will eben zumachen, da fieht er, daß jein 
Jüngſtes, ein fünfjähriges Dirnl, auf der Gaffe liegt. Es kam nicht auf, denn die 
Kinder haben Poft geipielt und das Kleine war an einem ſchweren Schubfarren 
angejpannt, al3 der Schredensjchrei vor dem Stier her ertönt; die andern Kin— 
der laufen fort, aber das Lieſerl kann nicht mit dem ſchweren Karren jo jchnell 
vom led, es fällt und verwidelt fi) in die Stride — fo liegt's mitten auf 
dem Weg und das Unthier ſchnaubt mit gejenkten Hörnern heran. Da ift feine 
Zeit mehr, das Kind loszumachen oder mitjammt dem Karren wegzufchleppen, 
der Stier ift da, — der Lammwirth und die Afra jchreien, daß man's durch's 
ganze Dorf hört — aber da — da ift auch ſchon der Joſeph und ftöht der 
Beftie eine Heugabel in die Seite. Der Stier brüllt auf und wirft fi auf 
den Joſeph — jebt jchreit Alles zu den Fenftern heraus um Hilfe — aber 
Keiner Hilft ihm. Joſeph padt den Stier bei den Hörnern und drängt ihn 
mit Riejenfraft ein, zwei Schritte zurück. Der Stier ringt mit ihm. Indeſſen 
hat der Lammwirth Zeit gehabt, da3 Kind zu holen, aber nun handelt fid's 
um den Joſeph, den Alle im Stich laſſen. Die Afra ringt die Hände und 
ichreit um Hilfe, der Stier drüdt den Yojeph mit den Hörnern zu Boden und 
will ihn zermalmen, aber der ftößt ihm von unten das Meſſer in den Hals, 
daß das Blut über ihn wegſpritzt. Jetzt bäumt ſich das Thier und hebt ihn 
mit auf, denn Joſeph hält mit den Händen die Hörner feſt, der Stier raft eine 
Strede mit ihm fort, ihn halb in der Luft, halb auf dev Exde mitjchleifend. 
Joſeph läßt nicht los, ex will ihn wieder zum Stehen bringen. Der Stier 
blutet aus fünf Wunden, er wird allmälig ſchwächer, Joſeph faßt ein paar 
Mal Fuß, aber immer gewinnt der Stier wieder die Uebermacht und reißt 
ihn in verzweifelten Säßen mit ſich fort. Jetzt Haben ſich auch die Bauern 
ermannt, Joſeph zu helfen und kommen nad, der Lammwirth voran, mit Heu— 
gabeln und Mefjern. Aber wie der Stier den Lärm Hinter fi) hört, jenkt er 
die Hörner wieder und wirft ji mit Joſeph gegen ein geichlojjenes Scheumen- 
thor, daß man meint, Joſeph müſſe zerqueticht fein; das Thor weicht und fpringt 
auf unter dem Stoß, der Stier jtürzt in die Scheune und wühlt ſich in der 
Todesangſt zwijchen Leitern, Wagen und Pflügen ein, daß Alles übereinander: 
fällt. Aber Joſeph hat jih am Gebälk darüber weg in die Höhe geſchwungen 
und jchlägt die Thür zu, damit das wüthende Thier nicht noch einmal hinaus 
fommt, man hört ihn von Innen die Thür verrammeln. Ex ift mit dem Un— 
thier eingejchloffen in dem engen Raum, und die draußen ftehen da und fünnen 
nichts machen. Das ift ein Stampfen und Stürzen, ein Stöhnen und Brüllen 
da drin, daß es den Leuten grauft beim Anhören. Endlich wird’s ftil. Nah 
einer bangen Weile wird die Thür aufgemacht und der Jojeph kommt taumelnd 
heraus, ganz in Blut und Schweiß gebadet. Sie meinen, der Stier ſei todt, 





Die Geier-Walln. 187 


aber der Joſeph meint, es ſei doch ſchad um das ſchöne Thier, die Wunden 
fönnten wieder heilen, ſie gingen nicht in’3 Leben. 

In der Scheuer fieht es wüſt aus, Alles durcheinander, zertreten und zer: 
trümmert, aber der Stier liegt an allen Bieren gefehnürt und gefeffelt am 
Boden. Er liegt regungslos auf der Seite und ſchnauft und lechzt, wie ein 
Kalb auf dem Mebgerivagen. Der Joſeph hatte das Thier lebend gebändigt 
und noch dazu ganz allein! Das machte ihm Keiner nad)! 

Als fie mit Joſeph in’s Lamm zurückkamen, da fiel ihm die Afra vor 
allen Leuten heulend und jchreiend um den Hal3 und die Lammwirthin brachte 
ihm das Liejerl auf dem Arm und fie wollten ihn tractiven mit dem Beften, 
was da3 Haus vermag — aber dem Joſeph war's nicht mehr um's Luftig- 
madhen. Er trank einen Schoppen für den ärgften Durft und ging heim. Das 
ganze Dorf war voll von dem Joſeph und e3 war eine große Sauferei ihm zu 
Ehren bis in die Nacht hinein. 

Sp erzählte der Venter Bot und es war wieder ein Lebens und Aufheben 
von dem Joſeph Hagenbacher und die Leute wunderten ſich, daß er nie auf hier 
fomme. Die Höchjtbäuerin habe doch jo viele Freier, nur.der Joſeph ſchiene 
Nichts von ihr wiſſen zu wollen. — 

Wally verließ den Zaun, die Worte trieben ihr die Schamröthe in die 
Stirn: aljo jogar die Leute ſprachen ſchon davon, daß der Joſeph fie verichmähe ?! 
Und der Afra ging er nah? Das war diejelbe, die er voriges Jahr mit über 
den Ferner gebracht, für die er damals jchon jo bejorgt war! 

Sie ſetzte fih auf einen Stein nieder und verhüllte das Geficht mit beiden 
Händen. Ein Sturm tobte in ihrem Innern. Liebe, Bewunderung, Eiferfucht! 
Ihr Herz war wie zerriffen. Sie liebte ihn, — liebte ihn wie noch nie, als 
habe der rajche Athemzug, mit dem fie die Erzählung feiner That begleitet, den 
glimmenden Brand zur hellen Lohe angefaht. Das, das hatte er wieder voll- 
bracht — aber ſie hatte fein Theil daran — für den Brodheren der Afra 
hatte ex’3 vollbraht — der Afra zu Liebe! War es denn möglih? Mußte 
fie einer Magd weichen, fie die Höchſtbäuerin? War fie nicht die reichte und, 
wie ihr alle Buben jagten, die Ihönfte Din im Land? War Einer weit und 
breit, der's mit ihr an Kraft und Nüftigfeit aufnehmen konnte, war fie nicht 
die Einzige Seinesgleihen — und jie jollten nicht zufammenfommen? Es gab 
nur den Einen Joſeph auf der Welt, und er jollte nicht ihr gehören? An die 
Ara, an jo eine armjelige hergelaufene Dirn jollte er fic) wegwerfen? Nein, 
das konnte nicht jein, das war unmöglih! Warum ſollt' er auch nicht mand)- 
mal im Lamm eintehren, ohne daß e3 um der Afra willen jein mußte? Gr 
ftreifte ja jo viel auf der Jagd herum und das Lamm liegt gerade am Zwieſel— 
ftein, wo alle Wege fich freuzgen! „DO Joſeph, Joſeph — komm!” ftöhnte fie 
laut auf und warf fi) mit dem Geſicht zur Erde, als wolle fie die Gluth in 
den thanigen Krautblättern fühlen. Dann fiel ihr wieder ein, daß der Bot 
gejagt, die Afra jei Joſeph um den Hals gefallen nach feiner Rückkehr. Es 
ihüttelte jie bei dem Gedanken. Und da fam es ihr plößlich in den Sinn, 
wie das wäre, wenn fie jein Weib wäre umd ihn, wenn ex müde, zerichunden 
und blutend von jolc einer That nad) Haus käme, in ihren Armen empfangen 


188 Deutiche Rundichau. 


und erquicken dürfte mit jeder Labung. Wie fie ihm die heiße Stirn waſchen 
und die Wunden verbinden und ihn an ihrem Herzen ausruhen lafjen wollte, 
bi3 er einjchliefe unter ihren Liebfofungen! Nie noch hatte fie jo etwas gedacht, 
aber wie ihr das Alles jetzt jo einfiel, da erbebte fie unter einem niegefannten 
Gefühl, wie die aufgebrochene Blume erzittert, wenn fie die Knospenhülle jprengt. 

In diefem Augenblide war fie zum Weibe gereift, aber wild und ungeftüm, 
wie Alles in ihr war, jo regte das, was fie zum Weibe machte, alle verborgen 
ihlummernden feindlichen Kräfte in ihr zum Kampf gegen ſich auf und es 
erhob fich ein furchtbarer Aufruhr in ihrem Innern. 

Der Abendwind ftrich kalt über fie hin, fie fühlte es nicht, e8 wurde Nacht 
und die ewig ruhigen Sterne ſchauten mit verwunderten Bliden auf die zudende 
Geftalt herab, die da im Nachtthau auf dem Boden lag und ſich das Haar 
zerwühlte. — 

„Die Bäuerin ift heut Nacht wieder amol nit z'Haus g’weit,“ raunte 
am andern Morgen die Oberdirn dem übrigen Gefinde zu. „Was die nur 
treibt in der Naht?" Und fie ſteckten Alle die Köpfe zuſammen und flüfterten 
untereinander. 

Aber wie Spreu im Wind ftieben fie auseinander, denn Wally fam vom 
Gemüfegarten her auf den Hof zu. Sie war blaß und jah jo ſtolz und herriich 
drein, wie noch nie. Und jo blieb es aud. Don dem Tag an war fie wie 
verwandelt, ungerecht, launenhaft, reizbar, daß Keiner fi) mehr mit ihr zu 
reden traute ald der Klettenmaier, der noch immer mehr bei ihr galt, ala die 
Andern. Und dabei ſchlug ihr die Hoffahrt überall zum Dad) hinaus, denn 
ihr drittes Wort war: „die Höchſtbäuerin!“ Für „die Höchſtbäuerin“ war 
nichts gut genug — „die Höchſtbäuerin“ brauchte fi) Das oder Jenes nicht 
gefallen zu laſſen, „die Höchſtbäuerin“ durfte fich erlauben, was fein Anderer 
durfte — und dergleichen Nergernig mehr! 

Alle Tage zog fie fi an, als wär’3 Sonntag, und ließ ſich neue Kleider 
machen, ja jogar ein ganz filbernes „G'ſchnür“ ließ fie fih von Imſt kommen 
mit allerlei Gehäng in Filigranarbeit, jo ſchwer und koſtbar, wie noch feins 
im Debthal gejehen worden. Und an der Frohnleichnamsproceſſion legte fie die 
Trauer um den Vater ab und ftroßte jo von Silber und Sammt und Seide, 
daß die Leute gar nicht beten fonnten, ſondern fie immer anſchauen mußten. 
Es war das erjte Mal, daß fie eine Proceffion mitmachte, denn was ſie eigent— 
li für eine Chriftin jei, wußte überhaupt fein Menſch, und es war Klar, daß 
fie nur mitging, um ihre neuen Kleider und ihr G'ſchnür zu zeigen, weil da 
die meisten Leute von den Ortichaften bis hinauf nad Vent und hinunter nad 
Zwiejelftein zufammen kamen. 

Das rauſchte und Elingelte, wenn fie niederfniete, vor lauter Steifigkeit 
und alten und filbernem Gebimmel und prahlte: „ſeht, das kann nur die 
Höchſtbäuerin!“ 

Da, als das letzte Evangelium geleſen wurde, kam eine kleine Unordnung 
in den Zug und es traf ſich, daß Leute, die hinter ihr geweſen, nun vor ihr 
gingen. Es war die Lammwirthin von Zwieſelſtein und neben ihr die hübſche 
ſchlanke Afra. Sie ſah ſich nad) Wally um und nickte ihr zu. Dann blickte 


Die Geier:Wally. 189 


fie nach Joſeph, der weiter Hinten bei den Mannjen ging, jo jchien e3 wenigſtens 
Wally. Die Afra jah jo lieblich aus in dem Augenblid, daß Wally vor Eifer- 
jucht ganz vergaß, ihren Gruß zu erwidern. Seht hörte fie, wie die Afra zu 
ihrer Nachbarin jagte: „Seht, Lammwirthin, die da Hinter uns, da3 ift die 
Geier-Wally, die den Joſeph von ihrem Geier jo zerfleiichen laſſen Hat. Jetzt 
nimmt die mir nit amal d’ Zeit ab — und J hab’ doch jo viel Vaterunſer 
fir fie bet't!“ 

„Die Müh' hätt’ft Dir ſparen können,” fiel jet Wally in das Geſpräch 
ein, „für mic) braucht Niemand z’beten — des kann J ſchon jelber!“ 

„Aber mir jcheint — Du thuft’3 nit!” gab Afra zurüd. 

„J hab's auch nit jo nöthig, wie andre Leut’! J hab’ mei Sad’ und 
brauch'n lieben Gott nit um jo viel z’bitten wie eine arme Magd, die um 
iden Schuhbändel, den fie braucht, ein Waterunjer beten muß.“ 

Jetzt ftieg auch der Afra die Zornesröthe in’3 Gefiht. „D, ein Schuh- 
bändel, um den man bet’t bat, kann Ei’'m mehr Glüd bringe — als ein 
jilbernes G'ſchnür, das man gottlos tragt!“ 

„Isa, ja,“ mijchte fih die Lammwirthin in's Geſpräch, — „da hat die 
Ara ganz Recht!” 

„Stiht Euch mein ſilbern's G'ſchnür in d'Augen, jo geht’3 hinter mir, 
naher braucht Ihr's nit zu jehen — 's ſchickt fich eh nit, daß die Höchftbäuerin 
hinter einer Magd herlauft.“ 

„3 könnt Dir gar nix ſchaden, wenn Du in der Afra ihre Fußſtapfen 
treten thätft, daß Du’s nur weißt!” warf die Lammwirthin zurüd. 

„Schämt Eud, Lammtirthin, daß Ihr Euch jo g’mein macht mit Eurer 
Magd!“ rief Wally mit blitenden Augen. „Wer nir auf fi halt't — auf 
den halten Andre auch nix!” 

„D, o — a Magd ift doch aud noch a Menſch!“ ſagte Afra, am ganzen 
Leibe zitternd. „Der jeidene Rod wird's wol vorm lieben Gott nit ausmachen, 
der fieht doch, was d’runter ift — ein gut’3 oder ein jchlecht’3 Herz!” 

„Sa, freilich!” vief Wally mit ausbrechendem Haß; „jo ein gut's Herz, 
wie Du, kann nit Jeder hab'n — b’fonders für die Buben. Pfui Teufel!” 

„Wally!“ jchrie Afra auf, und Thränen ftürzten ihr aus den Augen. Aber 
fie mußte ſchweigen, denn in dem Augenblid war die Kirche wieder erreicht, 
der legte Segen wurde ertheilt und der Zug löfte fih auf. Da ſchoß Wally 
an der Afra vorbei wie eine Königin, daß die fih an der Lammwirthin halten 
mußte, fie hätte fie fajt umgerannt, und Alle jahen ihr nad. Die Mannfen 
meinten, ein ſchöneres Menſch geb’3 in Tyrol nicht, aber die Weibjen vergingen 
vor Neid. 

„Die ſchaut jeßt anders aus, als droben aufm Hochjoch, wo fie in einer 
Hundshütten g’hauft hat, nit 'kammbelt und nit ’zöpft wie a Wilde!” ſagte 
der Joſeph, der nicht weit davon ftand, und jah ihr mit großen Augen nad). 
Dann winkte er der Afra Adjes zu und trat aus dem Zug aus; er wollte noch 
vor Mittag wieder heim. 

Die Afra aber eilte Wally nad. Ihre hübjchen blauen Augen jprühten 
unter Thränen, wie wenn man Waller in's Feuer ſchüttet, fie war ganz außer 


190 Deutjche Rundſchau. 


ch und die Lammwirthin mit ihr. Sie erreichten Wally am Wirthshaus. 
Auch Wally war in der furchtbarften Aufregung. Sie hatte den liebevollen 
vertraulichen Gruß gejehen, den Joſeph der Afra zugenict, und ihr — ihr hatte 
er, wie fie glaubte, einen Blic gegönnt — und jet war er fort und alle ihre 
Hoffnungen, die jie auf den heutigen Tag gejeßt, betrogen. Diefe Afra! — 
auf fie hatte fi ihr ganzer Zorn geworfen, fie hätte fie zertreten mögen! Und 
num jtand die Afra vor ihr und hemmte ihren Schritt und redete fie zornig 
herausfordernd an — fie — die niedere Dirn! 

„Höchſtbäuerin,“ ſtieß Afra athemlos heraus, „Du haft da was g’jagt, 
das kann J nit auf mir fien lafjen, denn das geht mir an die Ehr' — mas 
ſoll das heißen von dem guten Herzen für die Buben? Das will J wiſſen, 
was da dahinter fteckt!“ 

„Willſt mit der Höchftbäuerin anbinden?“ rief Wally laut und ihr funfeln- 
der Blick traf das Mädchen jo recht von oben herunter, „Meinft, J laß mi 
mit jo Einer auf Streit ein, wie Du bift?“ 

„Mit jo Einer?“ Tchrie das Mädchen, „was für Eine bin denn? % bin 
ein arm’3 Mädel und hab’ Niemand g’habt, der für mid) g’iorgt hat — aber 
J Hab’ doch noch Niemand nir z'Leid 'than und Niemand fein Haus anzünd' 

% brauc mir von Dir nir g’fallen z'laſſen, weißt!“ 

Wally bäumte fih auf, wie von einer Schlange geftohen. „Eine Dirn 
biſt — eine Ihamloje Dirn, die ſich den Buben vor allen Leuten an'n Hals 
wirft!“ ſchrie fie, ſich und Alles vergeffend, daß die Leute ſich um fie ver- 
jammelten. 

„Was — wen — hätt! J mid an'n Hals g'worfen?“ jtammelte das 
Mädchen erbleichend. 

„Soll J Dir's jagen? Soll 3?“ 

„Ja, ſag's nur, J hab’ mei gut's G'wiſſen und die Lammwirthin kann 
bezeugen, daß's nit wahr is!“ 

„So! Iſt's nit wahr, daß Du Did dem Joſeph vor zwei Jahr, wo D’ 
ihn kaum 'kennt haft, an Hals g’hängt haſt, daß er Dich hat über's Hochjoch 
mitjhleppen und Dich 'n halben Weg hat tragen müßen, weil D’ Dich g’ftellt haft, 
als könnt’ft nit weiter? ts nit wahr, daß D’ jeitdem den Joſeph nimmer 
loslaßt, daß er ſchon gar in's G'ſchrei mit Dir fommen ıft? Iſt's nit wahr, 
daß Du den Joſeph andern Dirne mwillft wegnehmen, die ein beiferes Recht 
auf ihn hätten und beffere Frauen für ihn wären, als jo eine herg’laufene 
Magd? Iſt's nit wahr, daß Du neulich bei der G'ſchicht mit dem Stier dem 
Joſeph vor'm ganzen Dorf um’n Hals g’fallen bift, ala wärſt ſei' verlobte 
Braut? Iſt's etwa nit wahr?“ 

Afra ſchlug die Hände vor’3 Gefiht und weinte laut auf: „DO Joſeph, 
Joſeph, dag J mir das g’fallen Laffen muß!“ 

„Sei ruhig, Afra,“ tröftete fie die gutmüthige Lammwirthin; „fie hat ſich 
jelber verrathen, das ift nur die Wuth, daß der Joſeph ihr nit nachlauft und 
fich nit d'Finger bei ihr verbrennen will, wie alle andern Dtannsleut. O wär 
nur der Joſeph da — der thät’3 ihr anders jagen!“ 

„Sa, das glaub’ J Schon, daß der jein’ Tiebe Schaf nit im Stich ließ“ — 


Die Geier-Wally. 1091 


und Wally lachte auf, jo jchneidend, jo furchtbar grell, daß es von den Bergen 
widerhallte wie Wehgeichrei: „Sp ein Schaf, der ſich Eim' gleich an den Hals 
wirft, ift freilich bequemer, al3 einer, den man fich exit erobern muß und bei 
dem’3 Eim' paffiren fünnt, daß man mit Schand’ und Spott abziehen müßt! 
Mit jo Einer bind’t ſogar der ftolze Bärenjojeph lieber an, ala mit der Geier- 
Wally!“ 

Jetzt trat der Lammwirth heran: „Hör' Du!“ ſagte er; „jetzt hab' J's 
g'nug! Das Mädel da iſt ein braves Mädel, — mei Frau und J wir ſtehen 
für fie ein — umd wir laffen ihr nix g’iheh'n. Du nimmft z'rück, was Du 
g'iagt haft, X befehl’ Dir's, verjtehft mich?“ 

MWieder lachte Wally auf. „Lammwirth — haft Du jchon in Dei'm Leben 
g'hört, daß der Geier fih vom Lamm commandiren laßt?“ 

Alles lachte über das Wortjpiel, denn der Lammwirth war jprihmwörtlid) 
ein „Lamperl“, weil ex ein ſchwacher, gutmüthiger Mann war, der fi) Alles 
gefallen lieh. 

„sa, Du verdienft Dein’ Namen, Du Geier-Wally — Du!“ 

„Platz da,” rief jeßt Wally — „I hab's g’nug mit Euch, das leere Stroh 
jdreihen. Laßt mich nein!“ Und fie wollte Mira unter der Thür zur Seite 
ſchieben. 

Aber die Lammwirthin hielt Afra am Arm. 

„Nein, Du brauchſt der da kein Platz z'machen, geh' Du nur voran, Du 
biſt nit ſchlechter wie Die!“ und ſie wollte ſich mit Afra vor Wally zur Thür 
hineindrängen. 

Da faßte Wally das Mädchen beim Mieder, hob es auf und warf es vor 
die Thür den Nächititehenden in die Arme: „Z’erft fommen die Bäuerinnen, 
naher die Mägd!“ Dann trat jie Allen voran in’3 Zimmer und ſetzte fich zu 
oberft an den Tiſch. 

Alles wieherte und Elatihte in die Hände vor Vergnügen iiber den präd)- 
tigen Spaß. Die Afra weinte und ſchämte fich jo, dat fie nicht mehr hinein- 
wollte und Lammwirths gingen mit ihr nad Haufe. 

„Wart nur Afra — I ſchick ihr den Joſeph, der joll ihr derfür thun!“ 
tröftete jie die Lammwirthin auf dem Heimweg; aber Afra jhüttelte den Kopf 
und meinte, das könne ihr Alles nichts helfen, beihimpft ſei und bleibe fie doch. 

„Ja, warum haft aber auch mit der böjen Strommingerin anbunden, der 
geht ja Jeder aus'm Weg, warın er kann,” jchalt gutmüthig der Lammwirth. 

Indeſſen ſaß Wally drinnen und jchaute duch das Fenſter zu, wie Die 
Ara mit Lammwirths fortging. Das Herz ſchlug ihr jo, daß das filberne 
Behäng an ihrem Bufen leije Elirrte. 

Wally wurde aufgefordert zu eſſen, die Nudelfuppe werde Kalt; aber fie 
fand die Suppe fchlecht und die Hammelsrippen jo zäh wie Leder, warf einen 
Gulden auf den Tiſch, ließ ſich nicht herausgeben und rauſchte an den erftaun- 
ten Bauern vorüber zur Thür hinaus. 

Wie vor fünf Jahren nad der Firmelung riß fie fi, als fie heimkam, 
in ihrer Kammer die jchönen Kleider vom Leibe und warf fie in die Truhe. 
Das filberne G'ſchnür mit der YFiligranarbeit zertrat fie zu einem Klumpen. 


192 Deutiche Rundſchau. 


Was hatte ihr der Staat geholfen?! Dem hatte fie ja doch nicht darin gefallen, 
dem fie gefallen wollte! Dann warf jie fi) wie damals auf ihr Bett und 
haderte mit allen Heiligen. Ein ſchneidendes Weh wühlte wie mit Meflern 
in ihrem Innern. Da fiel ihr Auge auf die gejchnigte Wallburga über ihr 
und da dachte fie, daß der Schmerz, den fie empfand, wohl das Meſſer des 
dieben Gottes jein könne, der nım an ihr herumfjchnige, um die Heilige aus 
ihr zu maden, von der der Caplan gejagt. Aber warum jollte fie denn eine 
Heilige werden? — Sie wäre lieber eine glüdliche Frau geweſen! Und das 
wäre jo leicht gegangen und dazu hätte der liebe Gott auch gar nichts an ihr 
zu ſchnitzeln gebraucht — dazu wäre fie ſchon recht gewejen, wie jie war! 
So grollte fie und bäumte ſich auf gegen das Meſſer Gottes. 


XI. 
Endlich. 


Seit jenem Tage war es gar nicht mehr mit Wally auszuhalten. Ganze 
Nächte trieb ſie ſich im Freien herum. Bei Tage war ſie dann von einer 
Heftigkeit ohne Maß und Grenzen, arbeitete ruhelos von Früh bis Spät und 
verlangte, daß alle Andern e3 ihr nachthaten, was für die Meiften eine Unmög: 
lichkeit war. Der Gellner-Bincenz durfte jeßt öfter einmal vorſprechen, ex wußte 
immer, was es Neues gab im Thal — und Wally war auf einmal jo auf Neuig- 
feiten expicht. Wie das der Wincenz merkte, machte er es ſich förmlich zur Aufgabe, 
landauf- und ab Alles auszukundjichaften, um immer neuen Stoff für Wally 
zu haben. So gewöhnte fie ſich allmälig dran, ihn wieder täglich zu jehen. 
Und der merkte bald, daß ihre Neugier immer mehr nad) Sölden und Ziwiejel- 
jtein zuging, al3 wo anders, und Klug wie er war, begriff er leicht den Zu: 
jammenhang. Ex brachte allerhand Nachrichten von dem fortdauernden Verkehr 
zwiſchen Joſeph und der Afra, die Wally ſichtlich in die furchtbarſte Aufregung 
verjeßten. Aber er that, ala merke er nichts und redete jeßt auch vorfichtiger- 
weije nicht3 mehr von Liebe — das machte fie ficher und zutraulich. Aber ihn 
verzehrte die Eiferfucht auf Joſeph. Diefer Hagenbah war der Fluch jeines 
Lebend. Da war fein Ruhm, den er nicht vorweg nahm, fein Heldenftüd, in 
dem er ihm nicht zuvorkam, fein Preistegeln oder -Schießen, in dem er nidt 
den Prei3 gewann — und num nahm er ihm auch noch das Herz Wally’s weg, 
das ſich feinem hartnädigen Werben doc) vielleicht zugewendet hätte, wenn der 
Joſeph nicht wäre! Warum jchüttet unfer Herrgott Alles auf Einen aus, 
während er Andere jo karg hält? murrte Vincenz und quälte fi) innerlich ab, 
wie die Wally. Hätten Beide ihren Schmerz und Groll zujammen gethan — 
man hätte das ganze Debthal damit verheeren können! — 

Eines Abends, es war Heuernte, half Wally einen großen Heutwagen auf: 
laden. Die Fuhre war fertig und nun follte der große Querbaum hinauf 
gezogen werden, aber das Heu war jo hoch gepadt, daß ihn die Knechte nicht 
hinaufbrachten. Wie fie ihn halb oben hatten, ließen fie ihm wieder rutjchen 
und lachten und machten dummes Zeug. Da riß der Wally die Geduld. „"Nun- 
ter, Ihr Tröpf!“ befahl fie, ftieg auf den Wagen und ftieß die Mnechte rechts 


Die Geier-Wally. 193 


und links zur Seite. Dann zog fie den Strid an, wand den Baum auf, faßte 
ihn mit ihren beiden runden Armen beim Kopf und lüpfte ihn mit einem 
Rud auf den Wagen. Ein Schrei der Verwunderung brach aus Aller Mund. 
Die Mägde lachten die Anechte aus, daß fie nicht gekonnt Hatten, was ein 
Weibsbild konnte, und die Knechte kratzten fich hinter den Ohren und meinten, 
dad gehe doch nicht mit reiten Dingen zu bei der Höchftbäuerin, und da müſſe 
irgendivo der Teufel jeine Hand mit drin haben! 

Wally ftand auf dem Wagen und jchaute in die roth untergehende Sonne. 
Kin ftolz-gejättigter Ausdrud lag in ihren Mienen. Sie ward e3 fich wieder 
in dem Augenblid jo recht bewußt, daß fie ihres Gleichen nicht habe, und im 
Gefühl ihrer Kraft hätte fie die ganze Welt herausfordern mögen. 

Da kam Vincenz und rief ihr zu: „Wally, Du ſchauſt aus wie die Königin 
Potiphar aufm Elephanten. Wenn der Joſeph die Potiphar jo g’jehen hätt, 
wär er g’wiß nit jo ſpröd g'weſen!“ 

Wally wurde dunfelroth bei diefen anzügligen Worten und jprang vom 
Wagen herab: „Sole Späß’ verbitt’ J mir,” fagte fie, als fie unten tar. 

„No, no,“ entichuldigte ſich Vincenz, „'s war nit bös g’meint — Du bift 
jo ſchön da droben g’ftanden, — da ift mir das fo 'rausg'fahren; 's joll aber 
nimmer g'ſcheh'n.“ 

Sie gingen ftill neben einander her. 

„Was giebt’3 Neues in der Welt?“ fragte endlich Wally ihrer Gewohnheit 
gemäß. 

„Nit viel!” jagte Vincenz, „als daß es heißt, der Hagenbacher woll’ am 
Peter und Paul mit der Magd, der Ara, zum Tanz gehen in Sölden. J weiß 
es vom Bot, der hat der Afra a paar neue Schuh aus Imſt bringen müfjen 
und a jeidens Halstüchel und der Joſeph hat's "zahlt!" Wally biß die Lippen 
zuſammen und ſprach fein Wort, aber Vincenz ſah wohl, was in ihr vorging. 

„Weißt was?“ jagte Vincenz. „Bei uns geht'3 ja auch hoch her am ‘Peter 
und Paul und wenn die Höchftbäuerin dazu käm, das gäb a Feſt, daß ma 
weit und breit davon hören jollt — geh amal mit mir zum Tanz.“ 

i Wally warf bitter den Kopf in den Naden: „Mir wär’ g’rad um's 
anzen!“ 

„Geh, Wally,“ drang Bincenz in fie, „thu's doch amal und wär's nur 
wegen die Leut'!“ 

„Nach dene frag’ J viel!” lachte Wally verädtlid. 

Alber bedenk', die Leut’ munfeln“ er ftodte. — Wally blieb ftehen und 
Haute Vincenz durchbohrend an: „Was munteln’3?“ 


Qincenz erſchrak über den Ausdruck in ihrem Geſicht. „J mein’ nur, fie 
munfeln, Du hätt’ft 'n g’heim'n Kummer. Die Oberdirn behauptet, Du wärſt 
ganze Nächt' nit d'heim und gingft "rum wie a kranks Hähndel. Und da meinen 
die Leut', Du Hätt’ft ja, was's Herz begehrt und Freier wie Sand am Meer — 
wenn's D’ aljo noch nit z'frieden wärft, jo müßt's ein Liebestummer jein — 
umd jeit der G'ſchicht bei der Frohnleichnamsproceſſion“ — 

„Ro? Weiter?!“ ſprach Wally tonlos. — 


194 Dentiche Rundſchau. 


„Seit der G'ſchicht reimen ſich's halt die Leut' z'ſammen, daß der Joſeph 
der einzige Bua im Debthal ift, den D’ möchtſt — und der nit anbeiß'n will!“ 

Ein Blit fuhr aus feinen Augen über Wally hin, als er das Wort aus: 
ſprach; Wally war getroffen bis in’3 Mark. Sie mußte jtehen bleiben und 
die Stirn an einen Baumftamm lehnen, jo pochte ihr das Blut in den Scläfen. 
„Wenn das wahr ift, — wenn ma mir das nachſagt —“ ftöhnte fie, aber fie 
vollendete nicht, wie mit Nebelichleiern umwölkte ſich ihr Denten. 

Vincenz ließ ihr Zeit, zu Athem zu fommen; er wußte wohl, was des 
für fie war, denn er kannte ihren Stolz. Nad) einer Weile jagte er: „Schau, 
deswegen mein J halt, Du ſollſt mit mir zum Tanz gehen, das wär's beite 
Mittel, die Leut’ die Mäuler z’ftopfen.“ 

Wally richtete fih auf. „I geh’ mit keim Buaben zum Tanz, den mit 
heirathen will — da3 weißt!“ 

„J mein’ halt, wenn X Du wär, J thät doch lieber den Gellner-Pincenz 
heirathen, als dem Hagenbacher z'Lieb an alte Nungfer werden!” ftachelte 
Vincenz weiter. 

Wally jah ihn mit neu erwachtem MWiderwillen an. „Daß Du’s nit mid 
wirft, wo Du doch weißt, 's hilft Dir nir!“ 

„Wally, J frag’ Dich jetzt zum letztenmal — kannſt Did gar nit an den 
Gedanken gq’wöhne, dat D’ mid) zum Mann nimmft?“ 

„Nie — nie — eher fterben!” jagte Wally. 

Vincenz’ gelbes Gefiht befam weiße Flecken auf den ſcharf hervortretenden 
Backenknochen, er jah falt dem Geier ähnlih, ala er jo feitlings auf Wally 
blickte, wie auf eine wehrloje Beute: „'s thut mix leid, Wally — aber J muß 
Dir was jagen, was J Dir lieber erjpart hätt‘. Du zwingjt mich derzu! J. 
hab’ Dir ein Jahr Zeit g’laifen — jebt muß es fein!” Ex zog ein bejchriebenes 
Blatt aus der Taſche: „ES wird in diefen Tagen ein Jahr, daß Dein Vater 
g’ftorben ift — und wenn Du mich nit heivath’ft, jo ift mit dem Jahr Dein 
Recht aufm Höchſthof abg’laufen.“ 

Wally jah ihn groß an. 

Er entfaltete das Papier. „Da iſt das Teſtament von Dei'm Vater, da- 
drin beftimmt er, daß, wenn Du mich ein Jahr nad feinem Tod nit nimmtt, 
jo g’hört der Höchfthof mit Allem, was drum und dran ift, mein, und Du bift 
aufs Pflichttheil g’jegt. Mit der ftolzen Höchſtbäuerin hat’3 dann ein End‘! 
Bis jebt weiß noch Niemand drum. Du kannſt's Div jet noch einmal über 
legen — und J dent, Du giebjt am End’ doch lieber nad), als daß D’ mid 
aufs Landg’richt gehen und das Teftament vollftreden laßt!“ 

Wally blieb ftehen und maß Pincenz von oben herab mit einem 
einzigen kalten verächtlichen Blid, dann jagte fie volllommen ruhig: „O du 
armjeliger Tropf — alſo in dem Net, haft g’meint, fangjt die Geier-Wally! 
's fieht Euch Schon ähnlich, Dir und 'm Vater, aber Ihr habt mich alle Zwei 
nit Tennt! Was liegt mir an Geld und Gut — das, was möcht, kann J 
mir doch nit dafür Faufen und jo frag J nir danach. Am Montag pad J 
mei Sad) z'ſamm' und geh wieder fort, denn Dein Gaft will J mit jein 
fei Stund. — Wenn mir’s auch weh thut um 'n Höchſthof, wo J auf d’Welt 


Die Geier:Wally. 195 


fommen bin — J war als Höchſtbäuerin auch nit glüdlicher, al3 wo I's Vieh 
ghütet Hab — und fremd war J dod) hier, wie dort. So iſt's das Beſte, J 
yieh fort aus der Gegend, jo weit % kann!“ 

Sie wandte fi ruhig dem Haus zu. Da fahte den Vincenz ein wilder 
Schmerz. Er jtürzte vor ihr nieder und umfchlang ihre Anie: „So hab JI's 
nit g’meint — fortgehen: jollft nit, um Gotteswillen thu mir das nit an, was 
will 3 denn den Höchſthof — J hab’ ja nur g’meint — ad) mein Gott — 
ma probirt halt Alles!“ Gr hielt mit der einen Hand Wally feſt, mit der 
andern führte er das Papier zum Mund und zerriß es mit den Zähnen: „Da, 
da, Schau, da Haft den Wiſch — J will den Höchſthof nit, wenn Du nit drauf 
bleibft — da — da,“ er ftreute die eben in den Wind. „J will nir, gar 
nr — nur thu mir das nit an, daß D’ fortgehſt!“ 

Wally jah ihn erftaunt an.. „Du dauerft mid, Vincenz — aber % kann 
Dir doch nit helfen — jo wenig — wie mir g’holfen wird! B’halt Du den 
Höchſthof und Alles, was dazu g’hört, der Vater hat ihn Dir vermacht — das 
bleibt jo, wenn Du auch's Teftament zerrifien haft — % will von Dir nix 
gihentt! — Mir ift’3 jo jchon verleidet hier — auf was joll J noch warten. 
Die Menichen taugen nit für mid und J nit für die Menſchen. % pad mein 
Hanjel auf und geh wieder auf die Berg — da g'hör J hin. Aber wenn 3 
Dih um was bitten darf — verichweig’3, bis J fort bin, daß der Höchſthof 
nimmer mir g’hört — denn ſchau — nir kann J weniger vertragen, al3 wenn 
ich d’Leut über mich luſtig machen! Das — das macht mich rajend! Denk’ 
an die Schadenfreud’ und das G'ſpött, wenn die ſtolze Stromminger-Wally 
von ihrem Erb und Eigenthum abziehen müßt', wie a Magd — das könnt’ J 
mt überleben. Laß mich wenigjtens noch al3 Höchſtbäuerin fortgehen!“ 

- „Wally,“ jchrie Vincenz, „wenn Du mir das wirklich anthuſt — jo zieh’ 
Jmit! Das fannft mir nit wehren, daß % hingeh, wo Du hingehſt — die 
Yandftraßen find frei — da kann drauf laufen, wer will!“ 

Wally Jah ihn entjeßt an, wie er jo vor ihr ftand und fieberte, und ihr 
graute, ala habe fich ein böſer Geift an ihre Ferien geheitet: „Was joll da 
draus werden?” murmelte fie rathlos vor fidy Hin. 

In dem Augenbli kam der Söldener Bot vom Haus her über die Matten 
gerade auf die Wally zu mit einem großen Buſchen am Hütel und im Sonn- 
tagsrock wie ein Hochzeitbitter. 

„Der lad't Dich zur Hochzeit vom Joſeph und der Afra“ — lachte Vin— 
cenz wild auf. 

Wally's Fuß ſtrauchelte über irgend etwas, fie griff nach Vincenz und der 
jaßte fie raſch um den Leib und hielt fie. 

Indeß kam der Bot heran und ſchwenkte den Hut vor Wally: „Grüß 
Gott, Höchftbäuerin! Der Joſeph Hagenbach ſchickt mich und laßt Dich freund- 
ih zum Tanz aufbieten am Peter- und Paulstag. Wenn's Dir recht wär”, 
wolt’ er um Mittag kommen und Did abholen 'nüber in'n Hirſchen. Du 
jollft mix Antwort jagen!” 

Menn ſich in dem Nugenbli für Wally der Himmel — für Vincenz die 
Hölle aufgethan hätte, — es wäre nicht ander geweſen! 


196 Deutiche Rundſchau. 


Alſo war das Alles mit der Afra nicht wahr, er fam zu Wally — er 
fam nad) fünf Jahren des Leid und der Qual — endlich, endlih! Das Wort 
war geſprochen — die Winde trugen e3 jauchzend weiter, die Lüfte hallten es 
wieder, die weißen Firnen lächelten dazu im Abendſonnenſchein: der Bären-Joſeph 
bot die Geier-Wally zum Tanz auf! — Die Leute auf dem Feld jauchzten, 
die Heuwagen ſchwankten, der Geier auf dem Dach ſchlug mit den Flügeln vor 
Freude — daß endlich zuſammenkam, was zujammen gehörte! 

Freude über alle Menjchen: Das Geſchlecht der Rieſen erftehet wieder in 
dem Einen Paar! 

Und gnadenreich lächelnd wie eine Königin unter der Myrthenkrone neigte 
Wally das ſchöne Haupt und jagte dem Boten faft Ihüchtern, daß fie Joſeph 
erwarte! 

Und Bincenz lehnte jeitab an einem Baum, verzerrt, verblichen, ftumm — 
ein Geſpenſt der Vergangenheit. 

Wally ftreifte ihn mit einem mitleidigen Blick, jegt war er ihr nicht mehr 
furchtbar — ſie war gefeit, Niemand konnte ihr mehr etwas anhaben! Sie 
eilte nad) Haufe und die Leute jchauten ihr verwundert nad), ſo jelig war ihr 
Ausdruck. Aber e3 litt fie nicht zu Haus, fie nahm Geld mit und ging durchs 
Dorf wie eine glücjpendende Tree. Sie trat in jede arme Hütte, fie theilte 
aus mit vollen Händen von dem, was jie mit Fug und Recht als ihr Pflicht: 
theil betrachten konnte, denn den Höchſthof hatte fie unwiderruflich für VBincen 
bejtimmt — jie war dod) noch reich genug, um dem Joſeph und Allem um fie 
her ein herrlich Leben zu bereiten, denn ein Pflichttheil vom Stromminger’ichen 
Erbe war nod immer ein Vermögen. Sie mußte Allen Gutes thun — fie 
fonnte e8 ja nicht allein tragen, das niegefannte unermeßliche Glück. 

Die zwei Tage bis zu Peter und Paul waren ein Märden für das ganze 
Dorf. 
Wer kannte die Geier-Wally wieder, die finjtere, herbe, in der glückverklär— 
ten Jungfrau, die einherging, wie getragen von unfichtbaren Flügeln. Diejes 
Einen Sonnenftrahl3 nur hatte es bedurft, und die Blüthe, die Hagelzerjchlagene, 
froftgetödtete trieb wieder. Es war eine unerjchöpfliche Kraft in dem unter: 
drückten Herzen, — eine Kraft der Liebe, wie des Haſſes, der Freude wie dei 
Schmerzes, der Hingebung wie des Troßes. Ihre ganze Umgebung athmete 
auf, es iwar, als jei ein Bann von ihnen genommen, jeit der finftere grollende 
Geift von Wally gewichen war, der Alle wie eine Wetterwolke bedrückt hatte. 

„Wo ein Menſch jo glücklich ift, wie I's bin, da joll fich Jeder mitfreuen 
können!“ jagte ſie, und es war bald offenkundig, daß die Wally jo verwandelt 
war, weil fie der Joſeph zum Tanz aufzog — was ja jo viel war, wie eine 
Werbung. Warum follte ſie's auch leugnen, da es ja nun doc in wenig Tagen 
jo weit war! Warum jollte fie verleugnen, daß fie ihn liebte, Herzlich, über 
Alles, er verdiente e8 ja und er liebte fie ja wieder, jonft käme er nicht, fe 
zum Tanz zu holen. Es war ihr eine Wohlthat, daß fie zeigen durfte, wie 
ihr zu Muthe war. Und wo ihr ein Kind begegnete, da nahm ſie's auf den 
Arm und erzählte ihm, am Peter und Paul da komme der Bärenjojeph, der 
den großen Bären umgebradt und Lammwirths Lieferl vom wilden Stier er: 


Die Geier:Wally. 197 


rettet habe, und da jollten fie einmal die Augen aufthun, wie jhön und groß 
der wäre — fo einen Menſchen hätten fie noch gar nie gejehen und jo einen 
gäb e8 auch auf der weiten Welt nicht mehr! Und die Kinder waren ganz 
aufgeregt und jpielten Bär- und Bärenjojeph3 den ganzen Tag.‘ Und dann 
Iherzte fie mit Hanjel und drohte ihm: „Daß D’ mir brav bift, wenn der 
Joſeph fommt, das jag’ J Dir, ſonſt giebt’3 was!“ Und der Hlettenmaier 
und die beften vom Gejind befamen neue Feſtanzüge, die Leute wußten wohl 
warım, und Wally litt e8, daß fie drauf herumredeten und wurde nicht böfe. — 

Und dann jaß fie wieder till in ihrer Kammer und that ftundenlang nichts 
al3 darüber nachdenken, wie das nur gefommen fei, daß der Joſeph jo plößlich 
feinen Sinn geändert, und wie fie auch) dachte und dachte, fie konnte e3 nicht 
ausdenfen, da3 unverhoffte Glück, das jo plötzlich, jo rei, jo voll über fie 
gefommen, und fie blickte jeßt nicht mehr feindjelig, jondern freundlich zu ihren 
Heiligen auf und dankte ihnen, daß fie e3 nun doch noch fo gut mit ihr gemacht 
hatten. Und wenn fie die Karten anjah, die über dem Bett aufgenagelt waren, 
dann lachte fie wohl: „No, was jagt ihr denn jet? Gelt, ihr habt Halt doch 
nir g'wußt!“ — umd wie gebannte Geifter, die fein befreiender Zauberſpruch 
mehr an’s Licht zieht, ftarrten die Geheimniffe der Zukunft fie unverſtändlich 
aus den ſtummen Zeichen an. Wäre die Ludard noch da gewejen, die hätte 
jehen können, was die Karten Wally antiworteten — jo aber waren fie ihr ver- 
ſtummt, wie eine Ziffernfpradhe, zu der fie den Schlüfjel verloren. Wenn das 
die Luckard noch erlebt hätte, wie hätte die fich gefreut! Wally hätte ſich hin— 
legen mögen und fortjchlafen bis an Peter und Paul, damit ihr die Zeit nicht 
fo lange wurde. Aber davon war feine Nede, fie konnte weder bei Tag noch 
bei Nacht ein Auge ſchließen vor Ungeduld, fie mußte immer rechnen: „Seht 
noch jo viel Stunden, jet noch) jo viel!” 

Endlich war der Tag da! Nach dem Efjen ging Wally auf ihre Kammer 
zum Anziehen und wujc und kämmte fi ohne Ende. Wieder war fie Weib — 
Mädchen! Wieder ftand fie vor dem Spiegel und ſchmückte fi) und fchaute, 
ob jie Schön ſei, ob fie dem Joſeph gefallen werde. Und wieder hatte fie fich 
ein neues G'ſchnür kommen laffen, noc reicher ala das erfte, und Kopfnadeln 
von Fıligran dazu, und die Schachtel ftand vor ihr auf dem Tiſch und fie nahm 
da3 „G'ſchmuck“ heraus und neftelte ſich's an's Mieder, und das feine Silber 
war jo weiß wie ihre blendend weißen gefältelten Hemdärmel und Elingelte wie 
lauter Hochzeitsglödchen. Und durch die rofenrothen Persvorhängchen fiel ein. 
gedämpfter. rofenrother Schimmer herein und übergoß die prangende Geftalt 
mit einem zarten Hauch bräutlichen Erglühens. Und als fie fertig war, da 
nahm fie aus der Schadhtel eine ſchwer mit Silber beichlagene Meerichaumpfeife, 
wie fein Bauer weit und breit eine hatte — ein wahres Vrachtſtück, aber fie 
wog es lange prüfend in der Hand, ob es wohl qut genug für Joſeph fei. Und 
noch etwas zog fie hervor langjam, faſt ſchüchtern, und Jah nad) der Thür, ob 
fie auch gut verriegelt jei: es war ein Kleines rundes Schächtelchen und darin 
lag — ein Ring! 63 durchſchauerte fie, al3 fie ihn herausnahm und eine 
Ihräne unausſprechlicher Freude und Dankbarkeit trat ihr in's Auge. Sie 
Ihloß den Ring in die gefalteten Hände und zum erſtenmal jeit langer Zeit 


108 Dentiche Runbdichau. 


beugten ſich ihre Knie und es zog fie nieder, über dem Ring zu beten, der den 
geliebten Mann an fie fetten jollte für ewig. Und fie hörte nit mehr das 
ftolze Raujchen des jeidenen Rocks und das Geflingel der filbernen Anhängſel, 
fie betete heiß inbrünftig aufgelöft — fie drängte fi an das Herz Gottes mit 
dem Ungeftüm eines dankbaren Kindes, dem der Vater eben feinen glühendften 
Wunſch erfüllt hat. — 

„Die Bäuerin wird heut nit fertig mit Anpußen,“ jagten draußen die 
Mägde, als Wally gar nit zum Vorſchein kam. 

Schon zogen die Bauern dem Hirihen zu. Was Füße hatte und einen 
Sonntagöfittel, das lief heute mit, denn das ganze Dorf war gejpannt auf das 
große Ereigniß, wenn die Höchftbäuerin mit dem Hagenbacher zum Tanz ging. 
Die Straße wimmelte von Menſchen und der Hirichwirth hatte diesmal was 
drangewendet und Muſikanten von Imſt fommen Laffen. 

Die Großmagd Stand oben am Gaupenfenfter und jchaute aus auf den 
Weg, von wo der Sojeph kommen mußte. 

MWally ftand fertig angethan in der Kammer, das Herz ſchlug ihr wie mit 
Hämmern, ihre Wangen glühten, ihre Hände waren eisfalt, fie preßte das 
weiße Sadtüchel, das fie jäuberlich zujammengelegt in der Hand hielt, auf: 
Herz, es war das Brauttuc ihrer Mutter. 

In der Taſche verborgen hatte fie die Pfeife und den Ring für Joſeph. 
Sp wartete jie regungslos die Minuten ab und dies ftille Warten, bei dem 
ihr faft der Athem ausging vor Ungeduld, war wohl die jchrwerfte Aufgabe 
ihres Lebens. 

„Sie fommen, — fie fommen!“ jchrie jet die Oberdirn herunter; „der 
Joſeph und a Maſſ' andre Buaben, Zwiejelfteiner und Söldener gehen mit 
und der Lammwirth von Zwieſelſtein — '3 iS a ganzer Zug!” 

Alles auf dem Hof lief zufammen, man hörte ſchon den Lärm der Nahen: 
den in Wally's Kammer. et trat Wally hinaus und Alles ftieß ein Ah! der 
Bewunderung aus bei ihrem Anblid. 

In demjelben Moment erſchien der Zug unter dem. Hofthor, Joſeph ar 
der Spitze. 

Sie ging ihm entgegen, fittig und doch mit der ganzen ftrahlenden Hoheit 
einer Braut, die ftolz ift auf ihren Bräutigam — ftolz, von einem jolden 
Mann erwählt zu fein. 

„Joſeph — bift da?!“ jagte fie und ihre Stimme Klang jo weich und lieb: 
ih, wie fie nie geiprocdhen. — nd Joſeph jah fie an mit einem jeltfamen und 
faſt ſcheuen Bli und ſchlug dann die Augen nieder. — 

Wally ftußte — war es Abfiht, oder Zufall? Joſeph hatte den Spiel- 
hahn verkehrt aufgejeßt, wie es die Burſchen machen, wenn jie Händel ſuchen. 
Heute war das aber gewiß nur aus Verſehen geichehen! 

Alles ftand um fie her und beobachtete jie — ihr ward jo beflommen, fit 
konnte nichts mehr jagen — und er ſchwieg auch. Sie ſchaute ihn an mil 
Augen voll feuchter Innigkeit, aber die feinen wichen ihr aus: „er war wohl 
in Derlegenheit, wie fie auch!“ 

„Komm,“ jagte er endlich und bot ihr die Hand. Sie legte die ihre hinein 


Die Geier-Wally. 199 


und fie Schritten ftill dem „Hirfchen” zu. Die Fremden und da3 ganze Gefind 
Ihloffen fi im Zug mit an. 

Wie e3 und, wenn wir in die Sonne geſchaut, oft im vollen Tageslicht 
ganz dunkel vor den Augen wird, jo warb es jet plößlich der Wally mitten 
in allem Glüd ganz dunfel in der Seele — fie wußte gar nicht, was das war, 
fie war verwirrt und kannte fich nicht mehr aus. E3 war Alles jo ganz anders, 
ala fie gedacht. — 

Als fie in den Hirsch eintraten, empfing fie ein jchmetternder Ländler und 
Wally hörte, wo fie mit Joſeph durch die Reihen jchritt, Hinter ſich jagen „kein 
Ihöneres Paar Menfchen gäb’3 auf der ganzen Welt nicht“. 

Sie jah jetzt erft, wie viel Fremde mit Joſeph gefommen waren und alle 
abgewiejenen Freier aus der Gegend waren dabei. Wally verglich fie im Stil- 
len noch einmal mit Joſeph und fie konnte ſich mit Fug und Recht jagen, daß 
aud) nicht Einer darunter war, der fih an Geftalt und Schönheit mit Joſeph 
mefjen durfte — er war ein König unter den Bauern, ein Menjch ganz andern 
Schlag, als die Menjchen natürlicher Größe, die da herumftanden. Und fie 
ließ einen Blick ftillen Entzüdens an der hohen Geftalt niedergleiten von der 
breiten Bruft an bis hinab zu den jchlanfen weißen Knieen und Knöcheln. Wer 
ihn jo jah, mußte doch begreifen, daß fie nur ihn und feinen Andern wollte. 

Als fie aufjhaute, begegnete ihr Blick zwei ftechenden ſchwarzen Augen, 
die wie Dolche auf Joſeph gerichtet waren, e3 war VBincenz, der unter der 
Menge eingefeilt ſtand — und nicht weit davon ein anderes trauriges Geficht, — 
Benedict Klotz, der fie nachdenklich betrachtete. Als fie an ihm vorüberftrich, 
hielt fie Benedict ein wenig am Aermel zurück und flüfterte ihr zu: „Nimm 
Did in Acht, Wally — fie führen was gegen Did im Schild — % weiß nit 
was, aber mir ſchwant nir Gut's!“ 

Wally zuckte leihthin die Achjeln. Wer konnte ihr was anhaben, wenn 
Joſeph bei ihr war! 

Die Reihen ftellten fi zum Tanz auf, Wally und Joſeph jollten vortanzen, 
man twollte fie miteinander tanzen jehen. Kein Paar war noch je mit fo nei= 
diichen Augen betrachtet worden, wie dieje zwei jchmuden auserlejenen Geitalten. 

Da aber ließ Joſeph Wally los und trat faft feierlih vor jie Hin: 
„Wally“ — Hub er ganz laut an umd die Mufik ſchwieg auf einen Wink des 
Lammwirths, der hinter ihnen ftand: „J Hoff do, daß Du mir, ehvor wir 
tanzen, den Kuß geben wirſt, den noch Keiner von Deine Freier erobert hat?!“ 

Wally erröthete und fie jagte leife: „Aber doch nit da, Joſeph, vor alle 
Leut!“ 

„G'rad da vor alle Leut!“ ſagte Joſeph nachdrücklich. — 

Einen Augenblick kämpfte Wally zwiſchen Verlangen und holder Verlegen— 
heit. Einen Mann zu küſſen vor allen Leuten, das war für ihren keuſchgewöhn— 
ten ſpröden Sinn eine ſchwere Ueberwindung. Aber da ſtand er vor ihr, der 
herzliebe Mann, der Augenblick — für den ſie Jahre ihres Lebens, ja ihr Leben 
ſelbſt freudig hingegeben — war da — und ſie ſollte ihn zurückweiſen um der 
paar Zuſchauer willen, die ihr ja nichts anhaben konnten, wenn ſie ihren 
Bräutigam küßte. Sie hob das ſchöne Antlitz zu ihm auf und ſeine Augen 

Deutſche Rundſchau. 1, 5. 14 


200 Deutjche Rundſchau. 


bafteten eine Secunde auf den blühenden jchwellenden Lippen, die fich den feinen 
näherten, dann ſchob er fie mit einer unwillkürlichen Bewegung fanft von ſich 
weg und fagte leije: „Nein, jo nit! 's jchießt kei rechter Jaga a Wild anders 
als im Sprung oder im Flug, das hab’ J Dir ſchon amal g’jagt! Abkämpfen 
will J Dir den Kup, g’ichenkt will Y ihn nit! Und wenn Ja Mädel wär’ 
wie Du — thät J mich auch nit jo wohlfeil ergeben! Wehr Dih, Wally, 
und mac mir's nit leichter, ala Du's die Andern g'macht haft, jonft ift für 
mic kei Ehr’ dabei!“ 

Eine flammende Röthe der Scham hatte ſich über Wally's Geficht ergoſſen. 
Sie hätte in die Erde ſinken mögen! Hatte fie denn jo ganz vergejfen, was 
fie ſich ſchuldig war, daß der Freier fie daran erinnern mußte, e8 wurde ihr 
förmlich xoth vor den Augen — e3 war, al3 jchlüge ihr eine Blutwelle über 
dem Kopf zufammen. Und ſich in ihrer ganzen Größe aufrichtend, maß fie ſich 
mit ihm flammenden Blicks: „'s ift recht,“ rief fie, „Du jollft’3 haben. — Du 
mußt auch willen, wer die Geier-Wally ift. Sieh’ zu, ob Du den Kuß jet 
kriegſt!“ 

Ihr war zum Erſticken. Sie riß ſich das Halstuch ab und ſtand da in 
ihrem ſilbergeneſtelten Sammtmieder und dem weißen Linnenhemd, daß Joſeph's 
Augen mit Staunen auf dem wundervollen entblößten Hals hafteten: „Schön 
bift — fo ſchön, als Du bös bift,“ murmelte er, und jetzt ſprang er auf fie zu 
wie der Jäger auf ein Wild, dem er den G'nickfang geben will und jchlang 
den ftarfen Arm um ihren Naden. Aber er kannte die Geier-Wally nit. Mit 
einem gewaltigen Rud wat fie frei und ein ſchadenfrohes Gelächter von Allen, 
denen e3 einft auch nicht beffer gegangen war, erſcholl, das Joſeph wüthend 
machte. Jetzt packte er da3 Mädchen mit Armen von Eifen um den Leib, aber 
fie gab ihm einen Stoß auf die Herzgrube, daß er aufichrie und zurüdfuhr. 
Neues Gelächter! Mit diefem Stoß, deſſen Wirkung fie fannte, hatte fie ſich 
immer gegen Zudringlichleiten gewehrt, denn diefen Stoß hielt Keiner aus, 
Sojeph aber verbiß den Schmerz und mit verdoppeltem Grimm warf er ich 
nun auf das Mädchen, faßte fie mit beiden Händen bei den Armen und juchte 
fo jeinen Mund dem ihren zu nähern, aber im Nu bog ie ſich ſeitwärts ab 
und nun entjtand ein athemlojes Ringen hin und her, auf und ab, eine ſchwüle 
Stille, nur zuweilen von einem Fluch Joſeph's unterbrochen. Wie eine Schlange 
bog und wand fi) das Mädchen in feinen Armen berüber und hinüber, dag 
er nie den Mund erreichen konnte. Es ſah nicht mehr einem Liebesfampf — 
e3 jah einem Kampf auf Leben und Tod ähnlid. Dreimal hatte er fie zu 
Boden gedrückt, dreimal war fie wieder aufgejchnellt, er hob fie in feinen Armen 
empor, aber fie drehte ficd) immer jo, daß er die Lippen nicht erreichte. Das 
feine Linnenhemd hing in eben herab, das filberne G'ſchnür war in Stücke 
zerriffen. Plötzlich kam fie los und floh dem Ausgang zu, er holte fie ein und 
riß fie wie im Sturm an fih. Es war eine zornglühende Umarmung. Wie 
heißer Dampf umwallte fie jein Athen. Sie lag an feiner Bruft, fie fühlte 
fein Herz gegen das ihre ſchlagen, da verlieh fie ihre Kraft, fie brach in die 
Knie vor ihm und jagte wie vergehend vor Schmerz und Scham und Liebe: 
„Da haft D’ mich!” 


Die Geier-Wally. 201 


„Ah!“ ein Schwerer Seufzer brach aus Joſeph's Bruft. „Ahr habt's Alle 
g'ſehen?“ fragte er laut — bog ſich nieder und drückte feinen Mund auf ihre 
heißen zitternden Lippen. Ein Hurrah erſcholl jet aus Aller Mund. Dann 
bob er fie auf und faft befinnungslos ſank fie ihm an die Bruft. 

„Halt!“ jagte er ftreng und trat einen Schritt zurüd; „mehr braucht'3 
nit, 3 ift g'nug an dem einen Hub. Du haſt's jetzt g’jeh'n, daß J Dich 
zwingen kann — und weiter will % nix!“ 

Wally ftarrte ihn an, al3 begriffe fie ihn nicht — fie wurde ganz exrdfahl: 
„Joſeph“ — ftammelte fie, „warum bift denn kommen?” 

„Haft D’ Dir einbild’t, % ſei fommen, um Di z’freien?“ ſagte er; 
„Du Haft neulich auf der Procejfion vor alle Leut g’jagt, die Afra wär’ mei 
Chat, weil fie jo leicht z'haben wär! — und der Bärenjojeph hätt’ nit’3 
Kuraſch, daß er mit der Geier-Wally anbind’t. Haft D’ wirklich g’meint, daß 
a Kerl, der Ehr’ im Leib’ hat, jo was auf fi) und 'n braven Mädel fiten 
laßt? J hab’ Dir nur zeigen wollen, daß I's fo gut mit Dir aufnehm’ wie 
mit 'm Bären, oder fonft 'm Unthier, und den Kuß, den J Dir abg’nommen 
hab’, den bring J der Afra als Sühnungskuß für das Unrecht, das D’ ihr 
an'than 5 ft! Set merk Dir’ für 'n andersmal, warn Dich der Uebermuth 
twieder jticht! J Hoff, Du laßt Dir’ jet vergehen, arme brave Mädeln öffent» 
lich Spott und Schand’ anz'khun — denn Du haft’3 jet amal ſelber g’jpürt, 
wie’3 thut, wenn ma ausg’ladht wird!” 

Ein jchallendes Gelächter beſchloß von allen Seiten Joſeph's Rede. Der 
aber wehrte migmuthig den Beifall ab: „hr habt’3 g’jehen, daß J Wort 
ghalten Hab und jet will J noch nad) Ziwiejelftein, die Afra beruhigen, denn 
das gute G'ſchöpfl hat g’weint, daß J der Höchſtbäuerin 'n Schabernad anthun 
will! B'hüt Gott mitſammen!“ 

Er ging, aber Alles Tief mit ihm, denn der Spaß war zu Jchön getvefen. 
Der Bärenjofeph, da3 war Einer! Der hatte der ſtolzen Höchftbäuerin einmal 
den Meifter gezeigt! 

„Da3 war ihr g’jund, der Stolzen!“ 

„Das g'ſchieht ihr recht!“ 

„Joſeph, das ift Dein beſt's Stück'l!“ 

„Wenn das 'rum kommt, will ſie Keiner mehr.“ 

So lachten die abgewieſenen Freier im Chor um Joſeph her und Alles 
drängte luſtig plaudernd nach. 

Der Tanzboden war leer — nur Zwei waren bei Wally zurückgeblieben: 
Vincenz und Benedict. Wally ftand noch immer an derjelben Stelle und regte 
fi nit. Es war, al lebe jie nicht. 

Vincenz beobachtete fie mit unterjchlagenen Armen. Benedict trat zu ihr 
hin und faßte fie leije am Arm: „Wally — nimm Div’ nit jo zu Herzen, — 
wir find auch noch da und wollen Dir G’nugthuung verschaffen. Wally! red’ 
doch — was ſoll'n wir thun — wir find ja zu Allem bereit, fag’ nur, was 
D' willſt!“ 

Da regte ſie ſich und ihre großen Augen leuchteten geiſterhaft in dem 
leichenfarbenen Geſicht auf. Sie öffnete und ſchloß ein paarmal die Lippen, 

14* 


202 Deutiche Rundichau. 


ein Wort wollte ſich daraus hervorringen, aber es war, al3 fehle ihr der Athen 
dazu. Endlich, als ftieße fie es aus ihrem tiefften Leben heraus, mehr ein 
Schrei als ein Wort: „Todt will J'n haben!“ 

Benedict fuhr zurüd: „Wally — Gott bewahr Di!“ 

Vincenz aber trat mit funfelnden Augen auf fie zu: „Wally, ift das Dein 
Ernſt?“ 

„Mein blutiger Ernſt!“ Sie hob die Hand zum Schwur auf, die Hand 
war ganz ſtarr und die Nägel bläulich, wie abgeſtorben. „Wer Den ſeiner 
Afra todt vor die Füß' legt — den heirath' %, jo wahr J die Walburga 
Strommingerin bin!“ 


XI. 
In der Nadt. 


Durch da3 ftille Tchlafende Haus des Höchſthofs ging ein jeltiames gleich- 
mäßiges Dröhnen unaufhörlic) die ganze Nacht hindurch. Die Mägde fuhren 
wol zuweilen aus dem Schlaf auf und wußten nicht, was fie hörten, Ychliefen 
aber wieder drüber ein. Die Dielen krachten und die Balken waren in einem 
beftändigen leifen Schwanten. 

63 war Wally, die ohne Unterbredung mit ſchwerem Schritt auf: und 
niederging und mit ji, mit dem Schiefjal, mit der Vorjehung rang im Todes— 
fampf ihres fterbenden Herzens. Zerriſſen — die Kleider um ſie her, zerſchmet— 
tert auf dem Boden die holzgejchnigte heilige Walburga, der Chriftus mit dem 
Kreuz, die Heiligenbilder — Alles in Trümmer zerſchlagen — in ohnmädtiger 
Wuth. 

Sie war halb entkleidet und das aufgelöfte Haar hing ihr zerrauft auf die 
nadten Schultern nieder. 

Sn dem Lichtftod qualmte ein rothleuchtender Spahn und in dem zittern=- 
den Schatten verzerrten fi) die Züge des zerbrochenen Chriftustopf3 am Boden 
und jchienen fich zu beleben. Sie blieb im Vorbeijchreiten bei den Trümmern 
jtehen: „Ja grinſ' nur — Du hältjt mid immer für Narren. Und Keiner von 
Euch! Gößenbilder jeid’3 von Holz und Papier, die Keinem Helfen können! O8 
hört’3 fein Gebet und fein Fluch. Und die, die ihr vorjtellt, ſtecken, Gott weiß 
wo, und lacheten uns aus, wenn fie'3 jehen könnten, wie wir vor einem Stück'l 
Holz Inien!“ Und fie ftieß die Trümmer unter ihr Bett, um nit im Gehen 
gehindert zu jein. 

Da fiel in der Ferne ein Schuß. | 

MWally blieb ftehen und horchte — Mlles war jtil. Sie Hatte ſich mol 
getäufcht. Warum nahın ihr das Geräufh den Athem? Sie konnte doch nicht 
einmal jagen, ob es nur wirklid ein Schuß war? Wie der Blit fuhr es ihr 
durch den Kopf: „Wenn in dem Augenblick der Vincenz den Joſeph erſchoſſen 
hätte!” Doc das war ja Unfinn, der Jojeph war ja ruhig daheim — oder 
vielleicht gar in Zwieſelſtein bei feiner Afra! — 

Sie jhlug den Kopf an die Wand in namenlojer Qual bei dem Gedanten, 
und Bilder jtiegen vor ihrer Seele auf, die fie wahnfinnig madten! O, wär’ 


— > — 
2 — 


Die Geier-Wally. — >” “or r BEN, N 
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er nur todt, todt, daß fie das nicht mehr zu denken 
Fenſter auf, um Luft zu Ichöpfen. 

Hanzl, der auf einem Spalier vor dem Fenſter geichlaferz 
kam Ichlaftrunfen Herbeigeflattert. „OD Du!” rief Wally, ſtreckte ihm die Arme 
entgegen und preßte ihn an die Bruft — er war ja ihr Alles, ihr Lebtes auf 
der Welt. 

Da — ein zweiter Schuß und diesmal deutlicher von der Richtung nad) 
Awiefelftern her. Sie ließ den Geier los und fuhr fi mit der Hand nad) 
dem Herzen, als habe fie der Schuß jelbft getroffen. Warum nur diejes Er- 
ihreden? Der unbedeutende Zufall Hatte ihr plößli die ganze entjetliche 
That, die fie geftern heraufbeſchworen, vor die Seele geführt. Sie mußte immer 
wieder denfen, wie e3 wäre, wenn der Schuß, den fie eben gehört, Joſeph's 
Haupt zerichmettert hätte und eine wilde wahnfinnige Freude überfam fie. Nun 
gehörte er ihr, nun konnte er feine Andere mehr füffen. Und wie fie jo darüber 
nachdachte, da war es ihr, ala wäre es wirklich geichehen, fie jah ihn in feinem 
Blut am Boden, fie kniete bei ihm nieder, fie nahm jein Haupt auf ihren 
Schooß und küßte das bleihe Gefiht — das bleiche ſchöne Gefiht — fie ſah 
es ganz deutlich vor fih! Aber da — ba überkam fie plößlich ein Mitleid 
mit dem armen todten Mann — ein heißes unausſprechliches Mitleid, — fie 
tief ihn an mit allen Namen der Liebe, fie Jchüttelte, fie rieb ihn, — umſonſt, 
er wurde nicht mehr lebendig! Eine unnennbare Angſt erfaßte fie. Nein, 
nein, das durfte nicht geichehen — er durfte nicht fterben — lieber fie jelbft! 

Es war, als habe ein Krampf ihr ganzes Herz zuſammengeſchnürt gehabt, 
daß fein menschlich warmes Blut mehr durch ihre Adern floß und ala habe 
ſich jeßt erft der Krampf gelöft und die warme Welle jtrömte wieder dem Herzen 
zu. Sie mußte hinaus, fie mußte jehen, ob Vincenz zu Haufe jei — fie mußte 
ihn jprechen, nod) vor Tag — fie mußte ihm jagen, daß das Gräßliche nicht 
gejchehen dürfe — fie war wie im Fieber, alle Pulſe jchlugen ihr — fie Hatte 
die That gewollt — begehrt — aber ſchon der Gedanke, daß fie geichehen jei, 
Lichte ihren Zorn — und fie verzieh! 

Sie warf ein Tuch über und eilte hinaus über den Hof, durch die Gärten 
dem Haus des PVincenz zu. Wa3 würde er, was würden die Leute von ihr 
denken? Ach, das war ja ganz einerlei — was lag jebt noch daran! 

Sie erreihhte da3 Haus. In PVincenz’ Kammer zu ebener Erde brannte 
Lit — fie Schlich fich heran, fie konnte durch das verichobene Vorhängchen 
Hineinfhauen — es nahm ihr faft den Athem — die Stube war leer, der Kien— 
fpahn tief heruntergebrannt. Sie ging um's Haus, die Thür war nicht ver- 
Ichlofjen. Sie öffnete leiſe und trat hinein, Alles till — wie ausgeftorben. 
Die Knechte und Mägde jchliefen noch feit, fie ſchlich durch's ganze Haus, nichts 
rührte fih — Vincenz war fort! Eiſeskälte durchriejelte Wally's Glieder. .Sie 
ging in feine Schlaflammer, da3 Bett war verlegen, er mußte darin gelegen 
haben, aber bald wieder aufgeftanden fein, — die Sonntagskleider hingen am 
Kleiderrehen, aber die Werktagskleider fehlten. Auch Fein Hut war da. Gie 
ſuchte in der MWohnftube: der Nagel, wo fonjt die Büchſe hing, war leer. — 

MWally ftand da wie gelähmt. Sie wußte nicht, wie jie wieder zum Haus 


N 





204 Deutiche Rundichan. 


hinaus fam. Bor der Thür mußte fie fih auf eine Bank jeßen, ihre Füße 
trugen fie nicht weiter. Sie verſuchte fi) Troft zuzuſprechen: Er war eben, 
unruhig wie er war, auf irgend ein nächtliches Wild gegangen — wa3 jollte 
er denn dem Joſeph thun, der jchlief ruhig irgendwo — es jchüttelte fie — 
auf einem weichen Pfühl und am Tage, wo Alles auf war, konnte ihm ja 
Niemand was thun. 

Das war das böje Gewiſſen, da3 ihr ſolche Schreden einjagte und ſie be- 
grub das Geficht in den Händen: „Wally, Wally, was ift aus Dir 'worden!“ 
Beſchimpft, verhöhnt, erniedrigt vor den Menſchen — und vor Gott eine Ver- 
brecherin! Wo war Waſſer genug, fie zu reinigen? Da unten, da braufte die 
Ache — bie, ja die konnte Alles abwaſchen — wenn fie fi) in dieſe kalte Fluth 
hinabftürzte, — dann war Alles weggeſpült, — ihr Weh — und ihre Schuld 
— das ganze unfelige Ding, das nur zu Schred und Kampf geichaffen war — 
mit Eins vernichtet — vorbei! a, das war Erlöfung — wozu parte fie ſich 
nod auf? In Stüde da3 unnütze Gehäus, das die Seele gefangen hielt in 
Banden der Schuld und des Schmerzes! Sie jprang auf — aber fie konnte 
nicht weiter, fie ſank wieder auf die Bank zurüd. Hing denn dies zertretene 
geftorbene Herz immer noch mit einem unfichtbaren Faden am Leben? Da — 
Gott jei gelobt — ein Schritt über den Raſen — da fam Bincenz! Jebt 
fonnte jie ja mit ihm reden — jet konnte noch Alles gut werden. 

„Alle Heiligen!“ jchrie Vincenz auf, ala fie ihm entgegentrat, — „da 
bit Du?“ Er ſchaute fie an wie ein Gejpenft. Wally ſah in der Morgen— 
dämmerung, daß er bleich und verftört war; den Stuben hatte er über der 
Schulter. 

„Vincenz,“ ſagte fie leife, „haft was g’ichoffen?“ 

— 

„Was denn?“ ſie ſchaute nach ſeiner Jagdtaſche, ſie war leer. 

„Hochwild!“ flüſterte er. 

Wally erbebte. „Wo haſt's?“ 

„In der Ach' liegt er!“ 

Wally faßte ihn am Arm, ihre Augen ſtierten ihn an wie im Irrſinn. „Wer?“ 

„Fragſt noch?“ 

„Der Joſeph?“ ſchrie Wally auf und ſchlug taumelnd an die Wand. — 

„'s war harte Arbeit!“ ſagte Vincenz und wiſchte ſich die Stirn; „hab' 
ſelber nit g'meint, daß er mir ſo bald vor'n Schuß kommt. Weiß der Deufel, 
was Den jo in der Nacht noch umetrieben hat. Hab’ denkt, J wollt' mich 
früh aufmachen, dag J am Morgen gleich) in Sölden wär’, eh’ er aufſtünd — 
da lauft er mir ſchon beim erjten Schritt in d’ Händ'. Aber ’3 war noch 
z finjter, die erſte Kugel hat'n g’fehlt und die zweit’ hat'n nur g’ftreift. Schwind— 
lich muß's 'm aber dod) wor'n fein, denn auf'm Steg bat er g’ftrauchelt umd 
fih am G’länder g’hoben. Den Augenblid Hab’ % g’nußt, bin von hint' auf'n 
g’iprungen und hab'n über's G’länder 'nunter g'ſtoßen!“ 

Aus Wally's Bruft drang ein Stöhnen wie das Röcheln eines Sterbenden, 
und wie ein Geier, der fi) auf feine Beute ftürzt, warf fie fich plößlic auf 
Vincenz und padte ihn mit beiden Händen am Hals: „Du lügft — Vincenz, 






Die Geier: Mally. 205 


Du lügt — 's ıft nit wahr, '3 kann nit jein — ſag', daß's nit wahr ift — 
oder J bring’ Dich um.“ 

„Bei meiner armen Seel’n, ’3 ift wahr! Haft g’meint, der Vincenz b’finnt 
fi) lang, wenn’3 was für Dich z'thun gibt?“ 

„D Mörder, feiger boshafter Meuchelmörder,* ſchluchzte Wally auf und ihr 
ganzer Körper bebte: „So hinterrücks, jo heimtückiſch, jo niederträchtig hab’ 
Ya nit g’wollt! Am ehrlichen Kampf, hab’ J g’meint, follt’ er jterben. Ver— 
flucht jeift in Zeit und Ewigkeit — verflucht und verworfen diefjeit3 und jen- 
jeits! Was thu' J Dir nur? Mit Nägel und Zähn’ jollt ma Dich zerreißen!“ 

„Alſo das ijt mein Dank,“ Enirjchte Vincenz; „haft Du's mich nit g'heißen?“ 

„Und wenn I's Di jo g'heißen hätt! — jo! — Halt Du’s deswegen 
thun müfjen?” fieberte Wally. „Ma jagt manchmal was im Zorn, was Ein’ 
naher reut, — Hätt’ft nit warten könne, bis J zur Bfinnung fomme wär” nad 
dem furchtbaren Schlag? Joſeph — Joſeph! bös bin J und wild, aber fer’ 
Mörderin bin Ynit. O hätt’ft nur g’wartet, nur a paar Stund! Aber die 
Bozheit hat Dich trieben und Du Haft’? nit derwarten könne, bis D’ fie haft 
auslaffen dürft!“ 

„Sp recht, ſchieb jen nur Alles auf mich!“ grollte Vincenz, „und haſt 
doch Dein Theil Schuld jo gut wie I!“ 

„sa,“ jagte Wally, „Jhab's und J werd’3 mit Dir büßen. Für un? 
zwei gibt’3 kei Erbarmen. Da heißt’3 Blut um Blut“ — knirſchte fie, faßte 
Bincenz am Kragen und ri ihn mit fich fort. 

„Wally — laß ab von mir — was willft denn? Herrgott, ift das mei 
Dank? Erbarmen. Wally, Du erwürgft mid — wohin jchleppft mich denn?“ 

„Bo twir zwei hin g'hören“ — mar die dumpfe Antwort und fort ging 
es, wie wenn ihn ein Sturmwind gefaßt hätte, die Anhöhe hinan bis zum 
Steg, wo's jäh in die Ache hinabgeht — wo bie That geichehen war. „Da 
hinunter,” war da3 einzige furdhtbare Wort, da3 fie ihm in's Ohr donnerte, 
„wir Zwei — mit 'nander!” 

„Jeſus Maria!” jchrie Vincenz entjegt auf; „Du haft mir g'ſchworen, daß 
Du mei Weib wirft, wenn J die That thu’, und jet willft mich umbringen?!” 

Wally ſchlug wieder ihre jchreliche Hohnladde auf: „Du Narr, wenn J 
mid mit Dir da ’runter ſtürz' — find wir zwei dann nit vereint auf ewig? 
Was? MWillft Dich noch wehren um Dei Wolfsleben?” Und mit Riejenkraft 
umklammerte fie ihn und drängte ihn an das niedere Geländer, ihn mit fich 
hinabzureißen in die dämmergraue Untiefe. 

„Hilfe!“ ſchrie Vincenz unwillkürlich auf und — 

„Hilfe!“ tönte es ſchwach — geiſterhaft, wie ein Echo, aus der Tiefe! 

Wally ſtand wie verſteinert und ließ von Vincenz ab. Was war das? 
War es ein Spuk? „Haſt Du das g'hört?“ frug ſie den Vincenz. 

„3 war das Echo!“ ſtammelte der, und die Zähne ſchlugen ihm zuſammen. 

„Stil! Noch einmal!” 

„Hilfe!“ Hang e8 wieder wie ein Hauch aus dem Abgrund herauf! 

„Alle guten Geifter, das ift er — er lebt — er hängt wo — er ruft! 
Ja — J komm’, Joſeph, wart’ Joſeph — J komm'!“ jchmetterte fie mit Po— 


206 Deutſche Rundichau. 


faunenton in die Tiefe hinab und mit Pofaunenftimme jehrie fie die Schläfer 
heraus und flog durch's Dorf und ſchlug an alle Thüren. „Zu Hilf! Zu Hilf! 
— 's ijt Einer verunglüdt, rettet — helft, um Gottes Barmherzigkeit willen — 
’3 geht um Leben und Tod!“ 

Und der Schredensruf jagte die Leute aus den Betten, die Fenſter wurden 
aufgeriffen. „Was ift’3, was ſoll's?“ 

„Der Joſeph — der Hagenbach ift in 'n Abgrund g'ſtürzt“ — ſchrie 
Wally — „Seil! — ſchafft Seil! her — jchnell, nur ſchnell, 's Tann ſchon z’jpät 
fein — vielleicht iſt's z'ſpät, bis wir dort find!” — 

Und wie der Wind flog fie Allen voran nad) Haufe und in die Scheuer 
und raffte zulammen, was da war an Striden und knüpfte die Stüde zuſam— 
men mit zitternden Händen, aber wie fie auch fnüpfte, Schnüre und Stränge 
und Seile, es war ja immer nicht genug, in die Tiefe hinab zu reichen, in der 
er lag — Gott weiß two! 

Indeſſen kamen die Männer gerannt, halb noch ungläubig, halb entjeßt 
ob der jchredlichen Kunde und brachten Stride und Hafen geſchleppt und La- 
ternen, denn es war, als wolle e3 heute nicht Tag werden und es war ein 
Tragen und Rufen, eine Rathlofigkeit, denn ſeit Menjchengedenten war bier 
oben Niemand verunglüdt und fie waren hier auf der breiten Hochebene nicht 
vorgejehen mit Rettungswerkzeugen wie an andern Orten, wo ſchwindelnde Fels— 
pfade und tückiſche Klüfte und Spalten alljährlich ihr Opfer fordern. So kamen 
fie zu der Unglücöftelle und banges Graufen ergriff die Kaltblütigften, als fie 
fi) über das Geländer bogen und Hinabjchauten in die grauverſchwommene 
Tiefe, in der nicht3 zu jehen war als wallende Nebel, die über dem Waſſer 
brauten. Vincenz war verſchwunden, — es war öde und todtenftill weit und 
breit in Höhe und Tiefe. Wally ſchickte einen Juchſchrei hinab, daß die Lüfte 
zitterten — Alles lauſchte mit gefpanntem Athem — feine Antwort. 

„Joſeph — wo bift?“ rief fie nochmals mit einer Stimme, ala habe der 
Angftichrei der ganzen gequälten, verzagenden Menjchheit fich zufammengeballt 
in dem einen Ton, — Alles blieb ftill. 

„Er antiwortet nimmer — er ift todt,” ſchluchzte Wally auf und warf ji 
verzweifelnd zu Boden, „jet ift Alles vorbei!“ 

„Vielleicht ift er num von fich oder fo ſchwach, daß er nimmer rufen kann,“ 
tröftete der alte Slettenmaier und raunte Wally in’3 Ohr: „Bäuerin, — bentt 
an die Leut'!“ 

Sie erhob fih und wiſchte ſich das zerraufte Haar aus der Stirn. „Bin 
det die Strict z’fammen, fteht nit jo unſchlüſſig da — auf was wartet hr 
denn?" Die Männer ſahen ſich zweifelhaft an. „Probirt muß es werden, ob 
er nit z'finden wär',“ jagte Klettenmaier. 

Die Männer begannen kopfſchüttelnd an den Seilen zu nefteln. 

„Wer joll fi an dem Geknüpf 'nunterlaſſen?“ „Wer?“ jagte Wally und 
ihre dunkeln Augen leuchteten geifterhaft aus dem bleichen Geficht; „J merd's 
thun!“ 

„Du, Wally — Du biſt nit g'ſcheidt — das tragt kaum Ein'n, noch weniger 
Zwei.“ — 


Die Geier-Wally. 207 


„Es braudt nur Ein’n z'tragen“ — ſagte Wally dumpf und griff mit zu, 
daß e3 jchneller ging. „'s ift unmöglid, Wally — Du mußt ja Did und ihn 
dran binden, wie jollft denn wieder "rauf fommen?” meinten die Männer und 
ließen rathlos die Arme finfen; „da bleibt nix übrig, al3 man ſchickt in die 
Dörfer und laßt Seil’ Zjammenholen —“ 

„Und derweil ftürzt er vollends in die Tiefe, wenn ihn’3 Bewußtjein ver- 
laßt und 's ift zu ſpät!“ jchrie Wally in Verzweiflung. „J wart’3 nit ab, 
bi3 die fommen — gebt her — widelt das Gefnüpf auf und zeigt, wie lang 
's iſt! Auseinander! Vorwärts —“ Sie jhüttelte das Gewirr von Strängen 
auseinander und prüfte feine Länge und Stärke und unwillkürlich griffen die 
Männer wieder zu, fie wicelten den mächtigen Knäuel auf und die Anjtalten 
fingen an, zwedvoll und planmäßig zu werden. Die Männer traten an, die 
Kette zu bilden. „Langen fönnt’3 am End’ ſchon — aber ’3 tragt feine Zwei!” 
„Wenn's feine Zwei tragt, jo laß J'n allein 'nauf ziehen. Wo er Plab zum 
Liegen hat, hab’ J auch Pla zum Stehen. So wie J feiten Fuß g'faßt hab’, 
bind’ % mir den Strid los und bind’ ihn dran. Dann ziegt Jhr ihn 'nauf 
und J wart’ jo lang unten, bi3 ’3 Seil wieder fommt —“ 

„Das geht nit, allein kann man ihn nit ’raufbringen, denn wenn er ſchwach 
und von ji wär, thät er ja zerichlagen und zerihimden tverden, wenn Nie- 
mand bei ihm ift, der'm hilft und ihn von der Felswand abhaltet!” 

MWally ftand wie vom Donner gerührt — daran hatte fie nicht gedacht. 
So jollte es doch noch Scheitern — fie jollte ihn nicht erreichen, als vielleicht 
dort unten im falten Bett der Ache! Zwei trug das Seil nit, das jah fie 
Telbft ein. „In Gottes Namen,“ ſagte fie endlich und troß des Fiebers, das 
fie jchüttelte, ftand fie jet da, würdevoll gefaßt und gebietend in ihrem feſten 
Entihluß, gürtete ji das Seil um den Leib und nahm den Alpftod in die 
Hand. „So laßt mich 'nunter, daß JI'n wenigftens ſuch!! Wenn Sn find, 
fo bleib’ J jo lang bei ihm und halt ihn, bis Ihr noch Strid z'ſammen bracht 
habt und fie uns "runter laßt. J mwart’3 geduldig ab da drunten und wenn J 
Stunden lang zwiſchen Erd und Himmel hängen müßt, bis das Seil fäm’!“ 

Da ftürzte der alte Klettenmaier vor ihr auf die Knie: „Waly — Wally 
— thu’3 nit, fie jagen ja Alle, daß das Geknüpf nit ficher ift! Wenn's dann 
fein muß, jo laß mi 'nunter, was liegt an mei'm alten Leben — wenn J au 
nir helfen kann, man ſieht wenigſtens, ob die Strid feft find und reißen’3, jo 
bin’3 nur J, der ’nunterftürzt und nit Du!“ 

„sa, Wally, hör’ auf ihn,” jagte ein Anderer, „er hat Recht, thu's una 
nit an! Wart’ no, b’jinn Di noch, bis Hilf von die Ortichaften kommt!“ 

Da hob Wally die Arme auf, daß Alles um fie auseinander wich: „Wie 
J noch a Kind. war, hab’ J mi nit b’fonne, den Geier aus'm Neft z'holen 
über'm Abgrund — und % jollt mi jet b’finne, den Joſeph z'holen? Sag 
mir Keiner mehr was, — J will — J muß zu ihm! Macht — tretet an — 
wickelt ab — haltet fejt!” Und da war ſie über das Geländer gejprungen und 
die Männer, welche die Kette bildeten, mußten ji mit allen Kräften ſtemmen, 
fo jäh war der Rud an dem Seil. 

„Gott fteh’ uns bei!” bekreuzte fich Slettenmaier und rannte fort, als 


208 Deutiche Rundichau. 


wäre ihm bei Wally’3 legten Worten etwas eingefallen. Alles ftarrte mit Ent— 
fegen ihr nad), wie fie langjam tiefer jant in das Wolkenmeer hinein, bis es 
fie verſchlungen hatte und ſich iiber ihr ſchloß, vielleicht auf Nimmerwiederjehen. 
Lautlos wie um ein Grab ftanden die Leute um die Stelle herum, wo fie ver— 
Ihwand. Das ftraff geipannte Seil allein gab no Kunde von den Bewegun— 
gen der todesmuthigen Taucherin in dem Wolfenmeer und alle Augen haf- 
teten auf ihm, ob e8 reißt, ob es fie trägt. Und jo oft wieder einer der raſch 
geſchürzten Knoten abgewicelt ward, jchlug jedes Herz banger: „Wird er halten?“ 

Und auf den Stirnen der die Kette bildenden Männer perlte der Schweiß 
und unwillkürlich prüften die Hände beim Abwickeln noch einmal den Knoten, 
an dem ein Menjchenleben hing. — So ſchlich bleiern ſchwer Minute um Mi— 
nute hin, al3 wäre auch die Zeit an ein Seil gebunden, da3 dunkle Mächte 
nicht 1o3 ließen. — Immer noch zieht und wuchtet das Seil, no immer muß 
ſie hängen, hat noch nicht feiten Fuß gefaßt. 

„Es geht zu End',“ ruft der Lebte von der Kette, „es wird nit langen.“ 

„Jeſus Maria, fteh’ uns bei!” — riefen Alle durcheinander, „'s langt nit!“ 

Nur noch wenige Ellen find übrig und immer noch fein Zeichen von unten, 
daß Wally das Ziel erreiht. Die Männer drängen fi zujammen, jo dicht jie 
fönnen, an den Abgrund, fie laffen nad) von dem Seil, jo viel noch möglich. — 
Wenn's nicht langte, wenn Alles umſonſt wäre und fie müßten die arme Wally 
twieder heraufziehen, um noch einmal den Todesiweg anzutreten! — 

Da — da, läßt das Seil plötzlich nad), es wird ſchlaff, — ein furchtbarer 
Augenblid! ft es geriffen oder hat jeine Laft Boden gefunden ? 

Die Weiber beten laut — die Kinder fchreien. Die Männer fangen an, 
langjam aufzuwideln, aber nur ein paar Hände — da miderfteht das Seil! 
Es ift nicht geriffen, e3 hält, — Wally hat Fuß gefaßt! Und jetzt — horch! 
ein verhallender Ruf aus der Tiefe, — und aus allen Kehlen bricht noch angſt— 
zitternd die Antwort. Wieder wird das Geil ſchlaff, fie wideln nad, das 
wiederholt fi) ein paarmal, e3 jcheint, Wally Himmt an der Felswand empor. 
Mittlerweile ift e8 Tag geworden, aber ein feiner falter Regen riejelt herab 
und immer dichter wird das Nebelgemeng dort unten. Jetzt nimmt das Seil 
plötzlich eine jchräge Richtung, es zerrt ftark nach rechts, die Männer geben ihm 
nad) und ziehen ſich von der linken auf die rechte Seite des Steg, Wally 
Icheint immer höher zu fteigen, fie müſſen immer mehr aufwideln. „Gott jei 
Dank,” jagten Einige, „er muß nit fo tief g’fallen fein — wenn er noch jo 
weit oben liegt, kann er leben!“ „Vielleicht ſucht's 'n nur!” meinten’ Andere. 
Jetzt ein Rud am Seil, dann ein plößliches Nachlaſſen und ein markerſchüttern— 
der Schrei. 

„3 it griffen!” kreiſchen die Leute. 

Nein, es ſpannt ſich wieder an — vielleicht war's ein Freudenſchrei — 
vielleicht hat fie ihn gefunden! Die Weiber liegen auf den Knien, jelbit die 
Männer beten, denn wenn fie auch alle die übermüthige „Höchftbäuerin” gehaßt 
hatten — für die opfermüthige Dirn, die da drunten im Chaos in Todesnoth 
ſchwebt, bangt Jeder, der ein Menfchenherz in der Bruft trägt. Wenn nur 
ein Sonnenftrahl durch den Nebel dringen wollte, nur einen Augenblid! Da 


Die Geier-Wally. 209 


ftehen fie Alle und jchauen, und können nichts entdeden und müſſen e3 der 
Zeit, der langſam jchleihenden, überlaſſen, was ſich enthüllen wird. 

Das Seil fteht, aber fein Ton dringt mehr von unten herauf. ft e8 
geriffen und hängt nur an einer Felszade, während Wally jchon zerichmettert 
in der Ache Liegt? Warum fein Zeichen, fein Juchzer? Und noch Stunden 
fönnen vergehen, ehe Hilfe von den Ortſchaften kommt. 

Niemand wagt ein Wort zu ſprechen — Alles horcht mit gejpanntem 
Athen. Da rennt der Klettenmaier herbei, rufend und mwintend. 

„Da ſchaut's, was % bring!“ er trägt ein vollftändiges Rettungsfeil über 
der Schulter. „Unjerm Here Gott jei Dank! Wie fie von dem Geier g’jprochen 
hat, da ijt mir eing’fallen, daß die Ludard jelig das Seil aufg’hoben hat q’habt, 
wodran damal3 der Stromminger die Wally zum Geier ’nunterg’laßt hat — 
und da — da hab’ I's richtig g’funden aufm Speicher unter allem alten 
G'rümpel raus.“ 

„Das ift a Fund!“ „Slettenmaier, Dich ſchickt unfer Herrgott!” riefen 
die Leute durcheinander. „Gott geb’, daß wir's noch brauchen,“ ſagte der 
Dorfältefte und ſah muthlos auf das Rettungswerkzeug; „fie gibt kein Zeichen 
mehr!“ 

„3 zupft am Seil,“ jchrie der Vorderfte von der Kette und zugleich tönte 
ein Ruf herauf, jo nahe, daß man e3 verftehen konnte, wenn Alles ftill war: 
„Roc kei Seil da?“ 

„Sa, ja!” fchallt es jubelnd aus Aller Mund. Ein eiferner Widerhafen 
wird als Anker an das Tau geknüpft, eine zweite Kette wird gebildet und 
num wird e3 hinabgejenft in die undurchdringlich verichleierte Tiefe. Der Dorf- 
ältefte commandirt, — denn da3 Aufziehen der beiden Seile muß ftreng zuſam— 
men gehen, damit Wally bei dem VBerunglüdten bleiben und ihn unterſtützen 
kann. Nicht halb jo tief, wie Wally zuerft gefunfen war, geht das Seil nieder, 
da wird es jchon von unten gefaßt und angehalten. 

„Nachlaſſen,“ befiehlt der Aeltefte, denn Wally muß ein paar Ellen frei 
haben, dem Joſeph das Seil umzugürten. „Genug!“ ſchallt da3 Commando 
und wie Soldaten auf dem Anftand ftehen die Deannen und harren des Weiteren. 
Wieder ein paar Minuten Paufe, fie muß die Schlinge ficher und bedacht 
machen, damit der vielleicht lebloje Körper nicht jo nah am Ziel wieder in den 
Abgrund ftürzt. 

„Knüpf’z feſt, Wally,“ feucht der Klettenmaier vor fich Hin. 

„sa, Jeſus, wenn fie'n nur gut anbind’t,“ wiederholen die Leute. 

Ein dreimaliger Rud an beiden Seilen zugleih. „Aufziehen!” befiehlt der 
Ueltefte und es ift, ala zittre ihm die Stimme dabei. 

Die Mannen beider Ketten ftemmen die Füße feſt in die Erde, an Schenfeln, 
Armen und Stimmen jchwellen die Adern auf, weit hinübergebogen ziehen die 
nervigen Hände an und das Aufwinden der wuchtigen Laften beginnt — eine 
furhtbare, verantiwortungsvolle Arbeit — ein Nachlaſſen, und Alles ift verloren. 

„Langſam!“ mahnt der Weltefte: „Aufeinander ſchauen!“ 

Es ift ein feierlicher Augenblid. Selbſt die Kinder wagen nicht, ſich zu 


210 Deutſche Rundichau. 


rühren. Man Hört nichts weit und breit, al3 das Stöhnen ber ſchwer arbeiten- 
den Männer. 

Jetzt — jebt kommt es durch den Nebel — deutlicher, immer deutlicher, — 
Wally taucht auf, mit einem Arm den leblojen Körper unterftüßend, der in 
dem Rettungsjeil hängt, mit dem andern Arm den Alpftod Eraftvoll gegen die 
Felswand ftemmend, um fih und ihn vor dem Zerichellen zu ſchützen. So 
gleihjam rudernd fteigt fie aufwärts durch) das Luftmeer. Und jet endlich 
find fie da, nah am Rand — nod) einen Rud, und fie können gefaßt werden. 

„Feſthalten,“ — commandirt der Neltefte — jeder Athem jtodt — der 
letzte Augenblick ift der ſchwerſte, wenn noch in diefem Augenblid das Seil rifje! 

Aber nein, die Vorderften der Kette bücken fi), fie paden fie mit ſicherem 
Griff, die Hintermänner halten feft an den Striden. 

„Auf!“ ſtöhnt's aus dem Munde der Vorderen, fie werden herüber gehoben 
— da find fie — auf feftem Boden — und ein heulendes Freudengeſchrei macht 
den gepreßten Herzen Luft. Wally ift ftumm über dem Ieblojen Körper Joſephs 
zufammengefunfen. Sie hört nicht, fie jieht nicht, wie Alles fich um fie drängt 
und fie lobt und preift, — fie liegt mit dem Angefiht auf jeiner Bruft — 
ihre Kraft ift zu Ende. 


XII 
Zum Bater zurüd. 


In Wally's Kammer auf Wally’3 Bett Liegt Joſeph leblos außgeftredt. 
Es ift ruhig und ftill um ihn her. Wally hat Alles hinausgeſchickt, fie kniet 
vor dem Bett, hat das Gefiht in die gerungenen Hände verftedt und betet: 
„Herr Gott, mein Gott, erbarm’ Did), und laß ihn leben — nimm mir Alles 
— Alles, aber laß ihn leben! J will ja nir mehr von ihm, % will ihn ja 
meiden, J will ihn ja der Afra laſſen — nur fterben joll er nit!" Und dann 
fteht fie wieder auf und macht ihm frifche Umfchläge auf den Kopf, wo das 
Blut aus einer Haffenden Wunde rinnt, und auf die Bruft, die der Feld zer- 
riffen hat, und wirft fich über ihn Hin, ala wolle fie mit ihrem Leib die Pfor- 
ten jchließen, aus denen fein Leben entjtrömt. „DO Du armer Bua — Du 
armer Bua — jo zerſchlagen — zerbrochen — o die Sind, die Sünd! Wally, 
Wally, was haft da g'macht — hätt’ft dir nit lieber ſelber's Meſſer in’3 Herz 
g’ftoßen, — hätt'ſt'n nit Lieber mit der Afra Hochzeit halten jehen, und wärft 
ftill Hing’gangen und g’ftorben, als daß d'n jet daliegen Haft, und mußt'n 
verenden jehen, wie a Vieh, was der Metzger jchlecht 'troffen hat?“ 

So Elagte fie laut hinaus, während fie ihn verband, und wühlte in ihrem 
Innern mit derjelben Härte gegen fich jelbft, mit der fie ſich ſonſt an Andern 
gerät. Hätte fie gekonnt, fie hätte mit ihren eigenen Händen ihr Herz zer 
fleifht in der wilden wahnfinnigen Reue, die fie erfaßte. Da ging Ieije bie 
Thür auf. Wally jah fich erftaunt um, denn fie hatte verboten, daß man fie 
ftöre. Es war der Pfarrer von Heiligkreuz. Wally ftand da wie vor ihrem 
Richter, bleich, bis in's Innerſte erbebend. 

„Gott ſei gelobt!“ rief der alte Herr, — „da iſt er ja!“ Er ging auf 


Die Geier-Wally. 211 


da Bett zu und betrachtete und befühlte Joſehh. „Du armer Tropf! Du 
bift übel zugerichtet!” 

Wally biß die Zähne zufammen bei diefen Worten, um nicht laut auf- 
zuſchreien. 

„Wie habt Ihr ihn wieder herauf gebracht?“ frug der Pfarrer, aber Wally 
fonnte nicht antworten. 

„Run, dem Herrn ſei Dank, daß Er da3 Aergſte verhütete in ſeiner Gnade,“ 
fuhr der alte Herr fort. „Vielleicht kommt er wieder auf und Du haft dann 
wenigftens feinen Mord auf dem Gewiſſen, wenngleich die Abficht vor dem 
ewigen Richter To ſchwer wiegt, wie die That!“ 

Wally wollte jprechen. 

„Ich weiß Alles,“ jagte er ftreng; „der Vincenz war auf feiner Flucht bei 
mir und hat mir Alles geheichtet, von Deiner Lieb und feiner Eiferſucht. Ich 
babe ihm die Abjolution verweigert und ihn in die päpftliche Armee gejchickt, 
dort mag er fich durch gute Dienfte für den heiligen Vater die göttliche Ver— 
zeihung eriwerben, oder jein Verbrechen mit dem Tode büßen. — Was aber — 
jol ih mit Dir anfangen, Wally?“ Er jah fie mit feinen Eugen Augen durch— 
dringend und traurig an. 

Da ſchlug Wally beide Hände vor’3 Geficht und ſchrie laut auf: „O Hoch— 
würden — J bin jo furchtbar g’ftraft, daß mich) fein Menſch mehr ärger ftrafen 
kann. Da liegt, wa3 mir da3 Liebjte war auf der ganzen Welt, und jtirbt — 
und J muß mir jagen, daß  jelber Schuld dran bin! Kann's denn noch ein 
gröhßer's Elend geben? Braucht's noch mehr?“ 

Der Geiſtliche nicte mit dem Kopfe: „So weit haft Du’3 alſo richtig ge- 
bradt — ein rohe Scheit Holz bift geworden, mit dem man die Leute todt- 
ihlägt! — Wie ich Dir's gejagt habe, fo ift e3 gefommen, Du Haft dem Mefjer 
Gottes nicht Macht iiber Did) gelaffen, und nun verwirft Dich der Herr und 
läßt das harte Holz im Tegfeuer der Reue brennen!” 

„Ja, Hochwürden, jo iſt's — aber J weiß a Waller, was das Teuer Löjcht! 
Wenn der Joſeph ftirbt, dann jpring % in die Ach’ 'nunter. Dann iſt Alles 
borbei.” 

„D über die Thörin! Meinft, das ſei ein Brand, den irdiſches Waller 
lichen könne? Meinft wirklid, Du kannt mit dem ixdiichen Leib auch die 
unfterbliche Seele erfäufen?- Die würde in Flammenqual ewiger Neue lodern, 
und wenn alle Meere jich über Dich ergöffen!” 

„Was foll J denn thun?“ ſagte Wally dumpf; „was kann J denn thun, 
ala fterben 1" 

„Leben und leiden, das ift mehr als fterben!“ 

Wally jchüttelte den Kopf, ihre dunklen Augen jtarrten ohne Richtung vor 
fh Hin, „X kann nit, — J ſpür's, — J kann nit leben, die jeligen Fräulein 
flohen mich 'nunter — iſt ja Alles fommen, tie j’ mir's im Traum an’droht 
haben: da Liegt der Joſeph zexichmettert und zerichlagen, und J muß ihm nad), 
das iſt fo b’ichloffen, und das muß fich jo begeben, dagegen kann kein Menſch!“ 

„Wally, Wally!“ rief der Pfarrer und ſchlug entſetzt die Hände zujammen, 
„Was redet Du! Die jeligen Fräulein? Was felige Fräulein! Um’s Himmels 


212 Deutiche Rundſchau. 


Willen, leben wir denn in der grauen Heidenzeit, two die Menſchen noch glaub- 
ten, böſe Geifter trieben ihr Spiel mit ihnen? Ich will Dir jagen, was bie 
jeligen Fräulein find: Deine eigenen Leidenichaften find es! Hätteft Du Deine 
maßloje Wildheit bezähmen lernen, wäre der Joſeph nicht in den Abgrund 
geftürzt worden. Das ift wohlfeil, die eigene Schuld auf den Einfluß feind- 
liher Mächte zu ichieben. Dafür ift der wahre Gott zu und gefommen, um 
und erfennen zu lehren, daß wir das Böſe in uns jelbft tragen und es in ums 
befämpfen müſſen. Bezwingen wir una jelbjt, fo bezwingen wir aud) die ge: 
heimnißvollen Mächte, welche jelbjt die Riejen der Vorzeit zum Untergang trieben, 
weil diefe ihnen bei all ihrer Stärke feine fittliche Kraft entgegenzufeßen hatten. 
— Und mit jammt Deiner Stärke, ‘Deiner Härte und Deinem Trotz bit Du 
doch nur ein armjeliges, ſchwaches Ding, fo lange Du nicht kannſt, was jede 
Ihlichte, einfältige Mtagd des Herrn vollbringt, die in ftrenger Kloſterzucht tag- 
täglich ihres Herzens liebſte Wünſche auf Gottes Altar opfert und fich jelig 
preift! Hätteft Du nur einen Schimmer von foldher Größe in Dir, Du braud- 
teft Dich vor feinem „jeligen Fräulein“ mehr zu fürchten, und nicht Deine 
dummen Träume ſchrieben Dir Dein Schiejal vor, jondern Dein eigner Elarer, 
bewußter Wille! Denf einmal drüber nad, ob das nicht fürnehmer wäre, 
und größer?“ 

Wally lehnte am Bettpfoften, e8 war al3 jei fie gehoben von einer neu= 
erwachenden großen Erkenntniß. „Ja!“ ſprach fie kurz und bejtimmt, und 
freuzte die Arme über der hochwogenden Bruft, — „Ihr habt Recht, Hochwür— 
den — J verfteh’3, wie Ihr's meint, und will's probiren.“ 

„Ich will’3 probiren” — wiederholte der alte Herr, „das haft Du mir jhon 
einmal gejagt, aber nicht gehalten.“ 

„Dasmal halt’ I's, Hochwürden!“ ſagte Wally, und der Geiftliche bewun— 
derte im Stillen den Ausdrud, mit dem fie die wenigen Worte jprad). 

„Welche Bürgichaft gibft Du mir dafür?“ fragte er. 

Da legte Wally die Hand auf Joſeph's wunde Bruft und aus ihren Augen 
quollen zwei große Thränen. — Kein geiprochenes Gelübde konnte mehr Jagen. 
Der weile Priefter ſchwieg jett, er wußte, mehr bedürfte es nicht! — 

Der Verwundete drehte ji) im Bett um und murmelte einige unverftänd- 
liche Worte, 

Wally machte ihm einen friſchen Umfchlag auf den Kopf, er öffnete bie 
Augen halb, ſchloß fie aber gleich wieder und fiel in feinen todesähnliden 
Shlummer zurüd. „Wenn doc nur endlich der Phyſikus käm'!“ jagte Wally 
und jeßte fi auf einen Schemel neben dem Bett. „Wie viel Uhr mag’3 denn 
fein?" Der Pfarrer ſah nad der Uhr: „Wann haft Du denn nad) ihm gejchieft ?" 

„Früh um Fünf.“ 

„Dann fann er noch nicht da jein. Es ift erſt zehn Uhr, und bis Sölden 
find’3 doch drei Stunden.“ 

„Exit zehn Uhr!“ wiederholte Wally leiſe und den Geiftlichen exbarmte &, 
wie fie jo ftil dajaß, die Hände im Schooß gefaltet, während ihr vor Angit 
das Herz ſchlug, daß man es hören konnte. 

Er beugte fi über den Kranken und befühlte ihm Kopf und Hände. „Ich 


Die Geier-Wally. 213 


meine, Du künnteft Dich beruhigen, Wally, der fommt mir nicht dor, wie ein 
Eterbender.“ 

Waly jaß unbeweglih und ftarrte vor fi Hin: „Wenn der Phyfikus 
fommt und jagt, er könn’ am Leben bleiben, dann wünſch' mir auf dera 
Welt nir weiter.“ 

„Das ift gut gedacht, Wally, das hör’ ich gern!” lobte der Pfarrer. „Und 
nun, erzähl’ mir auch, wie es mit Joſephs Rettung gegangen ift — da3 kürzt 
und die Zeit ab, bis der Arzt kommt.“ 

„Da iſt nit viel 3’ erzählen!” erwiderte Wally kurz. 

„Run, es iſt immer eine Jhöne That, die den Männern von der Sonnen- 
platte alle Ehre macht!” meinte der Geiſtliche; „warft Du denn nicht dabei?“ 

„Freilich!“ 

„Nun, ſo ſei doch nicht ſo einſilbig. Ich habe auf dem Herwege mit Nie— 
mandem geſprochen und weiß ja noch gar nichts. Wer hat ihn denn herauf 
geholt ?* 

Pi 

„Gott jei mir gnädig! Du Wally, Du jelbft?“ rief der alte Herr und 
ſchaute Wally ftarr vor Staumen an. 

„Ja — I!“ 

„Aber wie haſt Du das angefangen?“ 

„Sie haben mich am Seil 'nunter g'laßt und da hab' J'n g'funden zwiſchen 
'n Felſen und 'n Zirbenſtamm einklemmt. Wär' das Bäumel nit g'weſen, wär' 
er in die Ach’ 'nunter g'ſtürzt und kei Menſch hätt'n mehr lebendig 'rauf bracht.“ 

„Kind, das iſt ja eine große That!“ rief der alte Herr ganz außer ſich. 

„Ro ja,“ ſagte fie ruhig, faſt hart. „Wenn JI'n hab’ 'nunterſchmeißen 
laffen, muß I'n doc auch wieder 'rauf holen.” 

„Du Haft Recht, da3 ift nicht mehr ala billig,” jagte der Pfarrer, mit 
Mühe feine Bewegung unterdrüdend. „Aber es ift nichts deſtoweniger eine 
That der Sühne, die einen Theil der Schuld von Deiner armen Seele nimmt.“ 

„Das ift Alles nix!“ ſagte Wally kopfſchüttelnd. „Wenn er jtirbt, jo hab’ 
In doch umbracht.“ 

„Das iſt wahr, aber Du haſt Leben für Leben hingegeben — haſt das 
Deine eingeſetzt, um das ſeine zu retten — damit haſt Du gut gemacht, was 
Du verbrochen, ſoweit es in Deinen Kräften ſtand — den Ausgang müſſen 
wir Gott überlaſſen!“ 

Ein tiefer Seufzer drang aus Wally's Bruſt, ſie konnte den Troſt nicht 
empfinden, der in den Worten des Prieſters lag. „Den Ausgang müſſ'n wir 
Gott überlaſſen!“ wiederholte ſie aus gepreßtem Herzen. 

Das Auge des Geiſtlichen ruhte mit Wohlgefallen auf ihr. Dieſe Seele 
konnte Gott nicht verwerfen, trotz ihrer ſchweren Mängel und Fehler. So alt 
er auch geworden — er hatte nicht ihresgleichen gefunden im Guten wie im 
Böſen. Er ſchaute auf den Kranken, der in der Bewußtloſigkeit trotzig die 
Fauſt ballte. Er zürnte ihm faſt, daß er das herrlichſte verſchmähte, was die 
Erde einem Manne bieten kann: ſolch eine Liebe, daß er durch ſeine Sprödigkeit 


214 Deutjche Rundichau. 


ein Herz verhärtete, da3 jo edel gejhaffen, jo großartiger Hingebung fähig var. 
„Du dummer Bauernbub!” brummte er unmuthig zwiſchen den Zähnen. 

Wally jah ihn fragend an, fie hatte ihn nicht verftanden. 

Da klopfte ed an die Thür und zugleich trat auch dev Phyfifus herein. 

Wally zitterte jo, daß fie ſich am Bettpfoften halten mußte. Das war 
der Mann, an deſſen Lippen für fie Erlöfung und VBerdammniß hing. Eine 
Menge Leute drängte fi) mit herein, um zu hören, wa3 ex jagen würde, aber 
er wies fie kurz zurüd. „Hier ift fein Ort für Neugierige, der Kranke muß 
die äußerfte Ruhe haben!“ jagte er ftreng und ſchloß die Thür. Er ſprach 
überhaupt nicht viel. Als er dem Kranken die Kopfbinde abnahm, brummte 
er nur zwijchen den Zähnen: „Da ift wieder ein Verbrechen im Spiel!“ 

Wally ftand dabei bleich und ftarr, wie eine Bildjäule, der Pfarrer jah 
fie abſichtlich nicht an, er fürchtete, fie aus der Faſſung zu bringen. Die Unter- 
ſuchung begann, banges Schweigen herrſchte in dem Heinen Zimmer. Wally 
ftand mit abgewandtem Geſicht am Fenſter, während der Arzt den zerfchundenen 
Körper unterfuchte und die Sonde einführte. Sie hatte etwa3 vom Boden auf: 
gehoben, hielt es zwijchen den Erampfhaft verjchlungenen Händen und brüdte 
wie zum Kuß die Lippen darauf, e3 war da3 dornenumwundene Haupt bes 
Erlöſers, den fie in der Nacht zertrüimmerte. „Verzeih — verzeih,“ betete fie 
in bleicher zitternder Todesangit. „Erbarm' Dich meiner — J verdien's nit — 
aber laß Dein Erbarmen größer fein, al3 meine Schuld!" — 

„Keine der Wunden ift tödtlich,“ ſagte jebt der Arzt in feiner trodenen 
Art; „der Kerl muß Knochen haben wie ein Mammuth.“ 

Seht verlieg Wally ihre Kraft. Die zu lang angejpannte Sehne riß und 
Yaut aufichluchzend ftürzte fie vor dem Bett auf die Knie und begrub da3 Ge- 
fiht in Joſeph's Kiffen. „OD, Gott jei Dank! — Gott jei Dank!“ 

„Was hat denn Die?“ frug der Arzt. Der Pfarrer gab ihm ein Zeichen, 
da3 er verſtand. 

„Nehmt Euch zufammen, Höchftbäuerin, und Helft mir die Verbände an 
legen,“ jagte er. 

Sogleich ſprang Wally auf, wijchte die Thränen aus den Augen und griff 
hilfreich zu. Der Geiftliche beobachtete fie mit heimlicher Freude, wie fie dem 
Arzt an die Hand ging, jo geſchickt und umjichtig, wie eine barmherzige 
Schweſter. Sie zitterte nicht, meinte nicht mehr, es war ein ruhiges, ftilles 
MWalten, ein rechtes Walten der Liebe. Und eine Verklärung lag dabei auf ihrer 
Stirn, eine Verklärung im Schmerz, — daß der Pfarrer fie kaum wieder erkannte. 

„Die wird no — die wird!” jagte er glückſelig zu ich jelbft, wie der 
Gärtner, der eine aufgegebene Lieblingspflanze plöglich neue Schößlinge treiben 
fieht. Als der Verband fertig war und der Arzt alles Weitere angeordnet, ging 
der Pfarrer mit ihm hinaus und Wally blieb allein bei Joſeph. Sie jehte 
fih auf den Schemel neben dem Bett und ftühte die Arme auf die Anie. Er 
athmete jet ruhig und gleichmäßig, jeine Hand lag auf der Dede dicht neben 
ihr, fie hätte fie füffen können, ohne ſich von der Stelle zu rühren. Aber fie 
that es nicht, ihr war, al3 dürfe fie nun feinen Finger mehr von ihm berühren. 
Wäre er fterbend oder todt dagelegen, fie hätte ihn mit Küffen bedeckt wie vor- 


Die Geier-Wally. 215 


bin, wo jie ihn verloren glaubte — der Todte hätte ihr gehört — an ber 
Sebenden aber hatte fie fein Recht! So war er ihr geftorben in dem Augen- 
blik, wo der Arzt jagte, daß ex leben würde, und fie begrub ihn mit Todesweh 
in ihrem Herzen, während fie die Botjchaft feiner Auferftehung empfing twie 
eine Botjchaft der Erlöſung! So jaß fie lange regungslos und ihr Auge haftete 
auf Joſeph's ſchönem, bleihem Antlitz — fie litt, was ein Menjchenherz leiden 
fan, aber fie litt geduldig. Sie feufzte nicht und Hagte nicht, fie ballte nicht, 
vie früher, die Fäuſte im Grimm ihres Schmerzes — fie hatte das Schwerfte 
gelernt in diefer Stunde: fie hatte dulden gelernt. Was hätte fie denn nod) 
für ein Necht gehabt, fie, die Schuldbeladene, ich zu beklagen — was verdiente 
fie denn Beſſeres? Wie hätte fie ihn denn nod für ſich begehren dürfen — 
fie, die faft feine Mörderin geworden wäre — wie hätte fie nod das Auge zu 
ihm erheben gedurft? Nein, fie wollte ſich nicht mehr beklagen: „Lieber Gott, 
laß midh’3 büßen, wie Du magjt, — denn feine Straf’ ift zu groß für jo Eine, 
wie J bin!“ betete fie umd neigte das Antlitz demüthig auf die gerungenen 
Hände nieder. 

Da ward die Thür aufgeriffen und mit dem Schrei: „Joſeph, mein Joſeph!“ 
fürzte ein Mädchen herein, an Wally vorbei und warf fich weinend iiber Jo— 
jeph hin. Es war Afra. Wally war aufgefprungen, ala hätte fie eine Schlange 
berührt - einen Augenblic dauerte der Kampf in ihr — der lebte, ſchwerſte 
Kampf. Sie umfahte fich gleichjam jelbft mit den Armen, als wolle fie ſich 
feithalten, um fich nicht auf das Mädchen zu ftürzen und es von dem Bett — 
von Joſeph wegzureißen. So ftand fie eine Weile, während Afra heftig auf 
Joſeph's Bruft jchluchzte, dann fielen ihr die Arme wie gelähmt herab und 
auf ihrer Stirn perlte kalter Schweiß. Was wollte fie denn? Die Afra war 
ja in ihrem Recht! 

„Afra,“ jagte fie leife, „wenn Du den Joſeph lieb haft, jo jei ſtill und 
ruhig und mad) kei jo G'ſchrei — der Doctor hat g’jagt, der Joſeph müßt’ 
Ruh' haben!“ 

„Wer Tanıı da jtill jein, der a Herz im Leib hat und fieht den Buab’n jo 
daliegen ?” wehklagte Afra. „Du haft qut reden, Du kannſt ſchon ruhig fein, 
Du haſt'n nit jo lieb, wie I'n hab’. Der Joſeph ift mein Alles — wenn mir 
der Joſeph ftirbt, dann bin % ganz allein auf der Welt; o Joſeph, Lieber Jo— 
ſeph — wach' auf, ſchau mi) an — nur einmal — fag’ nur ein Wört'l —“ 
und fie jchüttelte ihn in ihren Armen. 

Aus Joſeph's Mund drang ein leiſes Stöhnen und er lallte ein paar un- 
veritändliche Worte. 

Da trat Wally hinzu und faßte Afra feft, aber ruhig am Arm, in ihrem 
bleihen Geſicht zuckte feine Muskel. 

„Jetzt will J Dir was jagen, Afra! Der Joſeph it da unter meiner 
Obhut und J bin verantwortlich dafür, daß Alles jo a’ichieht, wie'3 der Doctor 
gejagt Hat, und das ift mein Haus, in dem Du da bit, und wenn Du nit 
thuft, was % Dir jag’, und dem Joſeph Ruh laß't, wie's der Doctor will, jo 
brauch J mei Hausrecht und ſchick' Di vor die Thür, bi3 Du ſoweit zur 

Zeutihe Rundihan. J. 5. 15 


216 Deutiche Rundſchau. 


Vernunft kommen bift, daß Du die Pfleg’ bei dem Joſeph übernehmen kannit — 
nader,“ die Stimme zitterte ihr — „nacher laß Y'n Dir!” 

„D Du bös Ding Du —“ rief Afra leidenihaftlih, „zum Haus willft 
mid 'nauswerfen, weil J um den Yojeph wein’? Meinft, ’3 haben alle Leut' 
jo a hart’3 Herz wie Du, und könne bei jo'me Elend daftehen wie a Stod? 
Laß mein’ Arm’ los! J Hab’ a beſſer's Recht an den Joſeph, als Du, und 
wenn Du mic nit jchreien hören magft, jo heb’ J mein Joſeph auf und laſſ' 
mir'n beimtragen zu mir! Da darf % wenigſtens weine, jo viel % mag! J 
bin nur a arme Magd, — aber wenn J mei Lebtag dafiir umjonft diene müßt, 
jo will I'n lieber jelber verpflegen, in mei'm Stübel, als daß J mir von Dir 
die Thür weiſen lag — Du ſtolze Höchſtbäuerin Du!” 

Wally ließ Afra’3 Arm los, fie jtand vor ihr mit dem bleihen Geſicht 
und dem Zug von Todesweh um den jtummen Mund, daß Afra beihämt die 
Augen niederichlug, als ahne fie, daß fie ihr Unrecht gethan. 

„Ara,“ ſagte Wally, „Du brauchſt nit jo g’hällig gegen mich zu jein, J 
verdien’3 nit um Dich, denn für Dich hab J'n aus’n Abgrund geholt — nit 
für mid) — und für Did wird er leben, nit für mid! Schau’ Afra, noch 
vor einer Stund’ hätt’ J Dich eher erwürgt, eh’ J Di an das Bett da ge: 
laffen hätt’ — aber jeßt iſt Alles ’brochen, tva8 hart in mir war — mei Troß 
und mei Stolz und — mei Herz!” hauchte fie vor fid) Hin. „Und jo mad’ J 
Dir freiwillig Pla, denn Did) hat er 'gern und von mir will er nix willen. 
Du braucht den kranken Buaben nit forttragen z'laſſen. Bleib’ Du ruhig mit 
ihm da — J geh’ ſchon eh’! X wär’ doc) gange! Hs könnt's da auf'm Höchſt— 
hof Jein, jo lang ös möcht's — J werd’ das mit Dem, dem er g’hört, feiner 
Zeit ſchon ausmachen. Und % werd’ für Euch jorgen in Allem, denn ös ſeid's 
alle Zwei arm und könnt's nit heirathen, wenn ö3 nix habt's. Vielleicht jegnet 
der Joſeph dann jpäter amal die Geier-Wally.” — 

„Wally, Wally!” rief Afra; „Jeſus, was denkſt nur? % bitt' Did — 
o Joſeph — Joſeph! wenn % nur reden dürft’!“ 

„Laß's gut fein,” wehrte Wally, — „ſei till, dem Joſeph z'Lieb — ſei 
ftill! Laß mich jet ruhig gehen — und plag’ mid) nit. J muß fort — halt! 
mich nit auf! Aber eins bitt! J Dich, für Alles, was J Dir thu': pfleg’ ihn 
gut. Gelt, Du verfprichft mir's, daß J ruhig gehen kann?“ 

„Wally,“ bat Afra, „thu’ mir das nit an, geh’ nit! Jeſus, was twird der 
Joſeph jagen, wenn er erfährt, daß wir Dich aus Dei'm eignen Haus ver: 
trieben hab'n?!“ 

„Spar alle Wort, Afra,“ ſagte Wally jtreng; „wenn % einmal was 
g’jagt hab’, bleibt’3 dabei, da Könnt’ fommen, was wollt!“ 

Sie ging zur Truhe und nahm Kleider und Wäſche heraus, die ſchnürte 
fie zufammen in ein Bündel und warf e3 über die Schulter. Dann nahm fie 
aus einer Schadtel ein Päckchen Linnen: „Schau, Afra,” ſagte fie, „da ift alte 
feine Leinwand, die brauchſt zum Verband, und da ift gröbere, die nimmt zur 
Charpie, die braucht der Doctor heut’ Abend, wenn er wieder fommt. Schau, 
da haft’ die Scheer, da mußt’ jo fingerlange Fleckeln ſchneiden. Mach's pünkt- 
Lich, hörſt? Und alle Viertelſtund' mußt ihm’n frifchen Umschlag auf'n Kopf 


Die Geier-Wally. 217 


machen, daß's d’ Hiten 'rausziegt. Gelt, J kann mich drauf verlafjen, daß 
D' nir verfäumft? Denk', wenn J'n rauf g’holt hätt’ aus’m Abgrund — und 
3 müßt's erleben, daß Du — Du was verjäumt hätt’ft in der Pfleg' — da 
an ſei'm Bett! — Und jhauft, er ſoll alleweil Hoch liegen mit'm Kopf, daß's 
Blut abi lauft — ſchütt'l ihm immer recht die Kiffen auf. — Jetzt wird's wohl 
Alles jein — jet weiß J nie mehr. Ad Gott, Du wirſt'n nit heben und 
nit legen können, wie J — Du haft die Kraft nit! Nimm Dir den Kletten- 
maier zu Hilf — der meint’3 treu. Und jo leg’ Y'n denn in Deine Händ',“ — 
die Stimme verjagte ihr, ihre Knie zitterten,Kfie vermochte faum das Bündel 
zu halten, das fie trug, — einen lebten Blid warf fie nad dem Kranken 
hinüber: „B’hüt Gott!” Dann war fie zur Thür hinaus. 

Draußen ſprach der Pfarrer mit Klettenmaier. 

Wally trat zu ihnen hin. 

„Klettenmaier!“ rief fie dem Knecht in’3 Ohr, „geh hinein und hilf der 
Afra den Joſeph pflegen. Die Afra ift jet da an meiner Statt. Der Jofeph 
bleibt aufm Höchfthof und J geh fort. Os jollt’3 Alle den Joſeph ala Hödhit- 
bauern betrachten und ihm folgen, al3 wenn I's wär’, bis % wieder komm’ 
und weh Euch, wenn er was z'klagen hätt’! Künd's dem G’find’ an!“ 

Der Klettenmaier hatte verjtanden und jchüttelte den Kopf, aber zu fragen 
traute er ſich nit. „Adies Bäuerin,“ jagte er, „kommt bald wieder!“ 

„Nie!“ ſagte Wally Ieije. 

Klettenmaier ging in’3 Haus. Wally ftand vor dem Pfarrer fund hielt 
feinen prüfenden Blid aus. „Jetzt ift nix mehr mein eigen, wodran mir mein 
Herz hängt, al3 der Geier,” ſagte fie erihöpft, — „aber den gieb J nit her, — 
der muß mit mir. Komm Hanjel,” lockte fie den Vogel, der aufgedunjen und 
faul auf dem Spalier jaß. Er kam ſchwerfällig zu ihr herangeflogen. 

„Set mußt wieder fliegen lernen, Hanjel, 's geht wieder fort.“ 

„Wally,“ jagte der Geiftliche befümmert, „wa3 haft Du vor?“ 

„Hohmwürden — J muß fort — die Afra ift drin! Gelt, das ſeht's ein, 
daß J da nit bleiben kann? % will ja Alles thun, J will zeitlebens nackt 
und bloß auf der Landſtraß' wandern und ihm Alles laſſen, Alles, — aber 
nur nit zujehn, wie er die Afra herzt — nur das nit — das fann nit!” 
Sie biß die Zähne zujammen, um die neuaufquellenden Thränen zurüd zu halten. 

„Und Du willſt ihm wirklich Haus und Hof abtreten? Weißt Du aud, 
was Du da thuft, mein Kind?“ 

„Der Höchfthofgg’hört nimmer mir, Hochwürden — jeit gejtern weiß J, 
daß er 'm Vincenz g’hört, wenn er 'n Anſpruch drauf erhebt. Aber mein Ver— 
mögen, was J ſonſt noch hab’ — foll dem Joſeph g’hören. Wenn der Joſeph 
wegen mir lahm wird und fann jei Brod nit mehr verdienen — iſt's mei 
verfluchte Schuldigkeit, daß J fürn ſorg'.“ 

„Iſt's möglich, wie?” rief der Geiftliche, „Dein Vater hatFDih an Haus 
und Hof enterbt?” 

„a3 liegt mir noch an Haus und Hof? Das Haus, in das  g’hör, 
ift immer bereit!” jagte Wally. 

15* 


218 Deutiche Rundſchau. 


= „Kind!” rief der Geiftliche beunruhigt, „ich Hoffe nicht, daß Du Dir ein 
Leides thun wirft?!“ 

„Rein, Hohmwürden — jebt nimmer! J ſieh's jet ein, wie Recht 68 in 
Allen habt's, und daß ſich unfer Herr Gott nir abtrogen laßt. Vielleicht — 
wann er fieht, daß % ehrlich büß’, erbarmt’3 ihn doch und er gönnt meiner 
armen Seel'n Frieden!“ 

„Nun die Stunde jei gefegnet, wie ſchwer fie auch war, die Deinen harten 
Sinn gebrochen hat! Seht, Wally, bift Du wahrhaft groß! Aber, wo gehft 
Du hin, mein Kind? Willft Du in ein barmherziges Stift, ſoll ich Dich zu 
den Garmeliterinnen bringen?” 

„Nein, Hochwürden, das thut’3 der Geier-Wally nit an. J kann’ mid) nit 
in Mauern und Zellen einjperren laſſen — unter Gottes freiem Himmel, wie 
J g’lebt hab’, will 3 fterben. — J thät meinen, durch jo dide Wänd’ Tim’ 
unjer Herrgott nit durch. J will büßen und beten wie in der Kirch', aber 
Felſen und Wolken muß J um mid) bab’n und der Wind muß mir um die 
Ohren ſauſen, jonft halt 3 nit aus! Gelt, das jeht'3 ein?“ 

„sa, Wally, das jeh’ ich ein und es wäre Thorheit, wollte id Dir Zwang 
anthun, aber, wo zieht Du hin?“ 

„J geh’ wieder zu meinem Vater Murzoll z'rück, — da ift doch mei einzige 
Heimath!“ 

„Thu, was Du nicht laſſen kannſt,“ ſagte der Pfarrer. „In Gottes Namen, 
mein Kind! Ich ſehe Dich ruhig ſcheiden, denn wohin Du jetzt auch gehſt, — 
Du gehſt zum Vater zurück!“ 


XIV. 
Gunadenbotſchaft. 


Hoch oben auf dem einſamen Ferner, bei dem ſteinernen Vater, ſitzt wieder 
das ausgeſtoßene, einſame Menſchenkind, als wäre es hierher gebannt, wie ein 
Theil des ſchwindelnden Felſens, von dem es hinabſchaut auf die kleine Welt 
da unten, die keinen Raum hatte für das große fremde, in Wildniß und Glet— 
ſcherſtürmen gereifte Herz. Die Menſchen haben es verjagt und verſtoßen, und 
es hat ſich erfüllt, was der Traum verheißen, daß der Berg es annahm an 
Kindesftatt. — Den Bergen gehört es; Stein und Gis find feine Heimath — 
und dennoch Kann es nicht jelbit verfteinern und das arme heiße Menjchenherz 
verblutet ſich ſchweigend hier Oben zwiſchen Stein und Eis! 

Zweimal hat die glänzende Mondesſcheibe zu- und twieder abgenommen 
jeit dem Tag, da Wally hier die letzte Zuflucht gejucht. Keines Thalbewohners 
Antlitz hat fie gejehen. Nur der Pfarrer hatte den alten gebrechlichen Leib 
einmal zu ihr heraufgeichleppt und ihr berichtet, daß Joſeph in der Geneſung 
ſei. Ferner, daß die Anzeige von Italien gekommen, Vincenz habe ſich bald 
nad) ſeiner Einkleidung erſchoſſen und ihr ſein ganzes Beſitzthum vermacht. Da 
hatte ſie die Hände über dem Knie gefaltet und leiſe geſagt: „Dem iſt wohl, 
der hät's kurz g'macht“ — als beneide ſie ihn. 

„Aber was thuſt Du nun mit dem vielen Geld?“ hatte der Geiſtliche 


Die Geier-Wally. 219 


gefragt, — „wer joll denn Deine unermeßlichen Beſitzthümer verwalten? Zu 
Grunde darfſt Du fie doch nicht gehen laſſen.“ 

„Geld und Gut wie Heu — und was hilft’3 mir — nit ein glückliches 
Stündel kann J mir damit kaufen. — Wenn nod) a Zeit drüber hingange ift, 
daß J wieder an was denken mag, dann geh’ Je'nunter nad Imſt und mach's 
grichtlih, daß mer Sad’ dem Joſeph g’hören joll. % b’halt nur jo viel, daß 
J mir weiter unten am Berg a Elein’s Haus fürn Winter bauen fann, aber 
jet muß J noch Ruh’ haben — jebt kann J für nix jorgen. Verwaltet's mei 
Hab und Gut, Hochwürden, und jorgt’s, daß das G'ſind jet Sach' recht hat — 
und gebt die Armen, was fie brauchen; 's ſoll kei Armer mehr auf der Sonnen- 
platten jein von heut’ an!“ 

Sp hatte fie kurz wie am Rande des Jenſeits ihre zeitlichen Angelegenheiten 
geordnet; es blieb ihr nur noch zu harren, bis ihre Stunde fomme — die 
Stunde der Erlöfung. 

Es war, als habe Gott ihr damals durch den Mund des Pfarrers gejagt: 
„Du darfft nicht zu mir fommen, als bis ich Dich jelbft hole.“ Und nun 
wartete fie, bis ex fie hole, aber wie lange — wie furchtbar lange konnte das 
dauern? Sie blickte auf ihren gewaltigen Körper — der war nicht angelegt 
auf ein frühes Ende und dod) gab es für fie ja feine Hoffnung mehr, als den 
Tod! Sie ſah es ein, daß fie ein Leben nicht gewaltjam enden dürfe, das der 
Buße geweiht jein jollte — aber fie date — helfen dürfe fie doch dem 
lieben Gott, fie aufzulöjen, wann es ihm gefalle — und jo that fie Alles, was 
auch den fefteften Körper zerjtören kann. Das war ja kein Selbjtmord, wenn 
fie nur jo viel Nahrung zu fi nahm, als nöthig, um nicht zu verhungern — 
Faſten gehörte ja zum Büßen — und wenn jie ji) Tage und Nächte lang dem 
Sturm und Regen Preis gab, wo jelbft der Geier fih in eine Felsſpalte ver- 
froh, daß allmälig Näſſe, Froft und Mangel die gefunde Natur unterrvühlten. 
63 war fein Selbjtmord, wenn jie Felſen erflomm, die wohl nie ein menſch— 
licher Fuß beftiegen — nur um dem lieben Gott die Gelegenheit zu geben, daß 
er fie hinabftürzen könne — wenn er wolle! Und fie jah mit einer Art grau- 
jamer Freude nad) und nad) den jchönen Leib zerfallen, fie fühlte ihre Kraft 
erichlaffen — fie ſank oft müde zujammen, wenn fie weit umher geirrt war, 
und wenn fie Eletterte, zitterten ihr die Knie und das Athmen wurde ihr jchwer. 
So ſaß fie eines Tages müde da, auf einer der höchſten Spiten Murzolls. Um 
fie her ragten weiße Zaden und Blöde von Eis übereinander empor, es jah 
aus wie ein Kirchhof im Winter, wo die beichneiten Grabjteine in Reihen neben- 
einander ftehen, von feiner Ranke, feiner Blume mehr verhüllt. Unmittelbar 
ihr zu Füßen das grünſchimmernde Eismeer mit feinen erftarrten Wogen, das 
fi hinabzog bis zum Uebergang über das Joch. Tieffte Kirchhofsruhe lag 
über der regungslos erftarrten Welt hier oben. Traumhaft von mittäglichen 
Dunftichleiern umwoben lag die Ferne mit ihren unermeßlichen Gebirgszügen. 
Similaun, das braune Riejenhorn nebenan, ward umjchmeichelt von einer Kleinen, 
lihten Wolfe, die fich Eojend an ihn jchmiegte, aufftieg, ſich wieder jenke, um 
endlih an den ſcharfen Kanten des furchtbaren Felſens zu zerreißen, zu 


zerfließen. 


220 Deutiche Rundichau. 


MWally lag auf den Ellbogen geftübt und ihr Auge folgte mechaniſch dem 
Treiben der Kleinen Wolke. Die Mittagsjonne ſtach herab auf ihren Sceitel, 
der Geier jaß nicht weit von ihr, putzte fich gelangweilt das Gefieder und dehnte 
faul die Schwingen. Plötzlich ward er unruhig, drehte wie horchend den Kopf, 
machte einen langen Hals und flog Freifchend ein Stüd höher hinauf. 

Wally erhob ſich ein wenig, um zu jehen, was das Thier erichredte. Da, 
mitten über das glatte, riſſige Eismeer kam eine menſchliche Geftalt daher, 
gerade auf den Freljen zu, wo Wally ſaß. — Wally erkannte die dunkeln Augen, 
den Schwarzen Schnurrbart und jah das freundliche Grüßen und Winken und 
hörte den Jodler, den er heraufichiette — wie einjt vor Jahren, da fie ihn von 
der Sonnenplatte herab mit dem Fremden durch die Schlucht ziehen ſah — fie 
felbft noch ein hoffendes unſchuldvolles Kind — noch nicht vom Vater verflucht 
und verftoßen — noch feine Brandftifterin — noch feine Mörderin. Wie eine 
ganze Gegend, von einem Blitz erleuchtet, plötlic) mit Höhen und Tiefen aus 
dem Dunkel tritt — jo ftand wie mit einem Schlage die Kette des Ver— 
hängnifjes vor ihrer Seele und fie überjah mit Schaudern die ganze Tiefe 
ihres Falls. 

Was war fie damal3 — und was war fie jet? Was fuchte, der fie 
damal3 nicht geiucht, was juchte er jeßt bei der Gerichteten — bei der lebendig 
Todten? 

Sie ſtierte hinab mit unausſprechlichem Entſetzen: „Herr Gott — er 
kommt“ — ſchrie ſie ganz laut und klammerte ſich in Todesangſt an den Felſen 
an, als wäre es die Hand ihres ſteinernen Vaters. „Joſeph — bleib unten, — 
nit darauf — um Gottesbarmherzigkeit willen — kehr um — geh fort — J 
kann Dich nit ſehen, J will Dich nit ſehen —“; aber Joſeph hatte im raſchen 
Anlauf den Felſen genommen und ſtieg herauf zu ihr. Wally verbarg ihr Ge— 
ſicht in dem Geſtein und ſtreckte abwehrend die Hände gegen den Andringenden 
aus: „Kann man denn nirgends allein ſein auf dera Welt?" ſchrie fie, am 
ganzen Leibe zitternd. — „Hörft denn nit? Du ſollſt mic) laſſen. Mit mir 
kannſt nix haben — J bin todt — jo gut wie todt! D, kann % denn nit 
amal ruhig fterben?“ 

„Wally — Wally, bift denn vom Verſtand?“ rief Yojeph und riß fie mit 
ftarken Armen vom Felſen los wie ein daran feftgetvachjenes Mood. „Schau 
mi an, Wally — um Gotteswillen, — warum willft mich denn nit jehen? 
% bin’ ja, der Joſeph, dem Du’3 Leben g’rettet haft, — jo was thut ma doch 
nit für 'n Menjchen, den ma nit mag!“ 

Er hielt fie in den Armen, fie war auf ein Knie geſunken, fie konnte weder 
vor noch zurück, fie konnte ſich nicht wehren — fie war nicht mehr die Wally 
von einft, fie war matt und entkräftet. Wie ein Opferthier neigte fie das 
Haupt gebrochenen Blickes, als habe fie der letzte Streich getroffen. 

„Jeſus, Dirnl, wie fiehft aus — ala wollt fterben! ft das noch die 
stolze Höchftbäuerin? Wally, — Wally — redt doch was — b’finn Dich 
doh! — Das kommt davon, wenn ma lebt wie a Wilde. Da Oben könnt 
ma ſcho gar's Neden verlernen. — Du bift ja ganz hinfällig worden, komm, 
ſtütz Dich auf mich, J Führe Dich "runter in Dei Hütt'n. J bin zwar g’rad au 


Die Geier: Wally. : 22] 


nod) fei Held, aber a bißel mehr Kräft' hab’ J doch nody, wie Du. Komm — 
da Oben wird’3 eim’ ja ſchwindlich — und J hab’ gar viel mit Dir z’reden, 
Wally — gar viel!” Wally ließ ſich faſt willenlos Schritt für Schritt von 
ihm herabführen. Ohne zu ſprechen leitete ex ihren unfihern Schritt über das 
Eismeer und hinab der Hütte zu. Dort aber war gerade der Hirt, und jo hielt 
er an und ließ das Mädchen auf eine Matte von Berggras niedergleiten. Sie 
ſaß da mit gefalteten Händen ftill und ergeben. Es war wohl jo Gottes Wille, 
dab er ihr auch diefe Prüfung noch jchickte, und fie betete nur um Stand- 
baftigfeit. 

Joſeph Tagerte ſich neben fie, jtübte das Kinn auf die Hand und ſchaute 
ihr mit den glühenden Augen in das verhärmte Gejiht. „J hab viel an Dir 
gut z'machen, Wally,“ jagte er ernſt — „und J wär jchon lang komme, wenn 
mich der Doctor und der Pfarrer g’lafjen hätt’, aber fie haben g’jagt, 's könnt 
mich’3 Leben Eoften, wenn % 3’ früh auf 'n Berg aufi ftieg umd da hab’ J 
denkt, 's wär doch ſchad — denn — jeßt möcht % g’rad erſt recht leben, 
Wally —” er fahte ihre Hand — „jeit Du mir's Leben g’rettet haft! — denn 
wie % das g'hört hab," da hab J g’wuht, wies um Dich fteht — und fo 
jteht’3 um mi auch, Wally!“ ex ftreichelte ihr janft die Hand. 

Wally riß ihm im jähen Schred die Hand weg, es verjeßte ihr faſt den 
Athem. 

„Joſeph, jet weiß J, wo D''naus willft! Du meinft jett, weil J Dir's 
Leben g’rettet hab’, müßt D’ mich aus Dankbarkeit gern haben und am End 
gar die Afra im Stich laſſen! Joſeph, das laß Dir nit beifommen, denn jo 
wahr Gott im Himmel lebt — elend bin J und jchlecdht — aber jo jchledht 
doh nit, daß Ja Belohnung annehm’, die J nit verdien’ und mir a Herz 
ihenfen ließ, wie a Trinkgeld — a Herz, was J noch derzu einer Andern ftehlen 
müßt. Nein, das thut die Geierwally doch nit — mie viel jie auch ſchon 
than hat! — Gottlob, daß es doch noch was Schlecht’3 giebt, zu dem J nit 
fähig wär'!“ fügte ſie leiſe wie für fich jelbft Hinzu. Und ihre ganze Kraft zu— 
fammen nehmend, jtand fie auf und twollte der Hütte zugehen, wo der Hirt ſaß 
und fich ein Liedel pfiff. Aber Joſeph hielt fie mit beiden Armen feit: „Wally — 
hör’ mich doch erft an!“ 

„Nein, Joſeph“ — jagte fie mit bleichen Lippen, aber ſtolz aufgerichtet, — 
„kei Wort mehr — X dank Dir für Dein’ guten Willen — aber Du haft mid) 
halt doch nit kennt!“ 

„Waly, J ſag Dir, daß D’ mid anhörn mußt — verftehft mih? Du 
mußt!” Er legte ihr die Hand auf die Schulter und fein Blick haftete jo ge— 
bieteriich auf ihr, daß fie wie gebrochen in ſich zuſammenſank. 

„So red't,“ jagte fie erſchöpft und jeßte fich weit von ihm auf einen Stein. 

„So iſt's recht — jebt jeh J, daß Du aud folgen kannſt,“ jagte er qut- 
müthig lächelnd. 

Er ſtreckte die Schönen Glieder auf dem Nafen aus, den Tichopen, den ex 
ausgezogen hatte, legte er ſich unter den Ellbogen und ftüßte fich darauf. Sein 
warmer Athen ftreifte Wally beim Sprechen. Sie ja regungslos mit geſenktem 


299 Teutihe Rundſchau. 


Blick, allmälig trieb der innere Kampf ihr eine dunklere Röthe in das Gefidt, 
aber äußerlich blieb jie ruhig, faſt jtarr. 

„Schau Wally — % will Dir g’rad Alles jagen, wie's ift,“ fuhr Joſeph 
fort: „Jhab Di nie leiden mögn, ob J Dich jchon nit fennt hab. Sie 
haben jo viel von Dir erzählt, wie herb und wild Du jeift, und da hab gar 
a jchlehte Meinung von Dir g’habt und hab nie nix von Dir willen g'möcht. 
Daß D’ a Ihöne g'ſchmache Dim bift, des hab J alleweil g'ſeh'n, aber J hab's 
nit jeh’n wollen! So bin J Dir alleweil aus’m Weg 'gange, bi3 die G'ſchicht 
mit der Afra pafjirt iſt, — aber das konnt’ % Dir nit jo hingehen lafj'n! — 
Schau, wa3 ma der Afra thut, das thut ma mir — und wenn der Afra a 
Leid's g'ſchieht, jo ſchneidt's mir in’s Herz, denn weißt — no — jebt muß es 
halt doch aus, — mei Mutter wird mir's im Grab verzeihen: Die Afra it 
mei Schweiter!“ 

Wally zuete zufammen und ftarrte ihn an wie im Traum. Er ſchwieg 
einen Augenblid und trodnete fi) mit dem Hemdärmel die Stirn: „'s is mit 
reht, daß I's ausplaufh, aber Du mußt's doch wiſſen und Du wirft’3 aud 
nit weiter jag'n. Mei Mutter hat mir’3 im Sterben anvertraut, daß fie, eh 
fie mein’n Vater fennt hat, drüben im Vintihgau das Kind g’habt hat, und J 
hab’3 ihr in d’Hand 'nein verjprochen, daß für das Mädel als Bruder jorgen 
will, deßwegen hab’ I's Drüben g’holt und in's Lamm bradt, damit Ys in 
der Näh’ hab’. Aber wir G'ſchwiſter hab'n uns 's Wort gegeben, daß wir's 
g'heim Halten und unjer Mutter nit noch im Grab verunglimpfen laffen. — 
Gelt, da3 fiehft ein, daß J mei Schwefter nit ung’jtraft hab’ kränken laſſen 
können und für fie eing’ftanden bin, wenn ihr Eins z'nah treten ift?“ 

Wally ſaß da wie eine Bildjäule und rang nad) Athem. hr war, ala 
drehten ſich alle Ferner und die ganze Welt um fie her. Seht ward ihr Alles 
Har — jetzt verftand fie auch, was Afra an Joſeph's Bett geſprochen! Sie 
hielt fi mit beiden Händen den Kopf, als könne jie es nicht fallen. Wenn 
da3 jo war, wie riejengroß wurde dann erjt ihre Schuld! Nicht den herzlojen 
Mann, der fie um einer gemeinen Dirn willen beihimpft — den Bruder hätte 
fie tödten laſſen, der nur jeine Pflicht gegen die Schweiter erfüllte, — einer 
armen Waije hätte ſie die letzte Stübe im Leben genommen, um einer Wallung 
blinder Eiferfucht willen? „Herr Gott, wenn das g’ichehen wär!” jagte fie zu 
fich ſelbſt. Ahr Ichwindelte, — fie begrub das Gefiht in den Händen und 
ein dumpfes Stöhnen drang aus ihrer Bruft. 

Joſeph, der ihre Bewegung nicht beadhtete, fuhr fort: „So is's komme, 
dag % mid im Lamm vor alle Leut’ verſchworen hab’, J woll Dir Dein Hoch— 
muth austreiben und Dir'n Schimpf anthun wie Du der Afra, und da hab’n 
wir den Streich mit anander ausg'heckt, der Afra zum Troß, die 's nit hat 
haben woll’n. Und 's is auch Alles ganz gut 'gangen, aber wie wir mit 
einander g’rungen haben und Du an mein’'m Herzen g’legen haft mit Deiner 
ihönen lieben Bruft und 3 Die) küßt hab’, da war mir's, als hätt! % Teuer 
im Leib, J hab's nit Wort hab’n woll’n, weil J Dir jolang Feind 
war — aber 's ift von Stund zu Stund ärger worden, und in der Nadt 
hab’ J mei Kopfkiſſen im Schlaf an mid) preßt und hab’ g'meint, Du ſeiſt's, 


Die Geier-Wally. 223 


und wie J dann aufg’wacht bin, da Hab’ % laut 'naus g’fchrien nah Dir 
und bin aus’m Bett g’iprunge vor Jaſt und Hit. . 

„Hör auf, Du bringft mid) um,“ wehrte Wally wie in Flammengluth 
getaucht. Aber er fuhr leidenschaftlich fort: „Deffenttwegen hab’ J mich noch 
in der Naht aufg'macht und bin auf d’Sonnenplatten g’wandert. Daß J's 
nur g'rad ſag' — J hab’ Dir noch vor Tag woll'n an dei Fenſterl klopfen — 
und hab' mir's voller Freuden ausdenkt, wie das ſchön wär', wann'ſt Dei ver— 
ſchlafen's G’fichtel zu’n Fenſter außi ſtecken thät'ſt und J thät Dich bei'n Kopf 
nehmen und abbußeln und Dich um Verzeihung bitten tauſend — tauſend mal!— 
Und da — da fahrt mir a Kugel am Kopf vorbei und glei d’rauf eine in 
d'Schulter und wie  ftrauchel, jpringt Einer von hint' auf mich und ftürzt 
mic über’s G’länder. Und J Hab’ ſchon g’meint, jeßt ſei's mit der Lieb und 
mit Allem vorbei. Aber da bift Du komme, Du Engel von a Madel und haft 
Dih meiner erbarmt und mid wieder aufi g’holt und für mich g’jorgt, — 
oWally!” Er warf ſich vor Wally's Füße Hin und legte ihr die gefalteten Hände 
inden Schooß: „Wally, % kann Dir nit jo danken wie J möcht, — aber wenn 
ma alli Lieb von alle Menjchen in der ganzen Welt z'ſamm' nähm’, jo gäb’s 
nod) nit jo viel, als J Dich lieb hab!” 

Gebt brach Wally’3 mühlam behauptete Kraft — mit einem herzzerreißenden 
Schrei ſtieß fie Jojeph von ſich und warf fi in wilder Verzweiflung mit dem 
Angefiht zur Erde: „DO, jo glücklich hätt’ Jwerden können — und jet ift Alles 
hin — Alles, Alles!“ 

„Wally — um Gotteswillen — J glaub wirflid Du bift irr! Was 
joll denn hin jein — wenn Du und J anand gern hab'n, jo iſt ja Alles 
gut!" — 

„DO Joſeph, Joſeph, Du weißt ja nit! — Mit und zwei kann's nie was 
werd’'n, o Du weißt nit, bin verworfen und verurtheilt, J darf nie Dei 
Weib jein — tritt mi, ſchlag mich todt — J war’3 ja, die Dich Hat da 
nunter werfen lajjen!“ 

Jofeph fuhr zurüd vor dem furchtbaren Wort — er wußte noch immer 
nit, ob Wally nit im Irrſinn ſprach. Er war aufgejprungen und blidte 
entiegt auf Wally. 

„Joſeph,“ flüfterte Wally und umfaßte jeine Knie: „J hab’ Dich Lieb 
g’habt, jeit J Dich kenn und weg'n Dir hat mid mein Vater auf’3 Hochjoch 
g'ſchickt, wegen Dir hab’ J ihm’3 Haus anzünd't, wegen Dir hab’ J drei Jahr 
in der Einöd 'rumg'irrt und hab’ g’hungert und g’froren und hab’ lieber fterben 
wollen, als'n andern Mann heirathen. Und mit der Afra bin % blos jo um- 
gange aus Eiferſucht, weil J g’meint hab’, fie jei Dei Schaf und nehm’ Did 
mir weg! Und endlich fommft zu mir nach lange, lange Jahr, die Jauf Did) 
gwart’t hab’, zieht mich zum Tanz auf wie a Bräutigam und J mein’ ſchon 
gar, 's Herz zerfpringt mir vor Freud und laß mich von Dir füffen wie eine 
Braut, aber Du — Du verhöhnft mich vor alle Leut — verhöhnft mid — 
für alle Lieb und Treu, mit der J auf Dich g'hofft Hab’ — für alle Trübjal, 
die für Dich ausg'ſtanden hab’ — da hat ſich's halt in’3 Gegentheil verfehrt 
und % hab’ dem Vincenz g’fagt, er ſoll Dich) umbringe.“ 


224 Deutiche Rundichan. 


Joſeph ſchlug ſich beide Hände vor's Geſicht: „Das iſt gräßlich,“ ſagte 
er leiſe. 

„In der Nacht hab’ J's dann bereut,“ ſprach Wally weiter: „Und bin hin 
gange und hab’3 wollen verhindern — aber da war's ſchon g’icheh'n. Und 
jeßt jag’ft mir, daß D’ mic) lieb g'habt hätteft, und Alles wär gut, wenn J 
mit reinem Gewiffen vor Dix jtehen könnt. Um das Alles hab’ J mich bradt 
mit meiner blinden Wuth und Bosheit! DO, J hab’ g’meint, 's gäb fein größer'3 
Leid, als das, was Du mir an'than hätt’ft, das ift aber Alles nix gegen 
da3, was J mir jelber anthan hab’, aber ’3 g’ichieht mir ganz recht — '3 
g'ſchieht mir ganz recht!“ 

63 war lange ftil. Wally hatte die feuchte Stirn an Joſeph's Knie ge 
drückt, ihr ganzer Körper wand ſich in Todesqual. Eine bange Minute ſchlich 
über fie hin. Da griff ihr eine Hand unter das Kinn und bob ihr janft das 
Gericht in die Höhe, Joſeph's große Augen Ichauten fie mit einem wunderbaren 
Ausdrud an: „Du arme Wally!“ jagte ex leije. 

„Joſeph, Joſeph, jei nit jo qut gegen mich!“ bebte Wally auf, „nimm Dein’ 
Stuten und ſchieß mid) z''ſamm' — J will Dir till halten und nit zucken und 
Dir danken für die Wohlthat!” 

Da hob er fie vom Boden auf in feinen Armen, legte ihren Kopf an jeine 
Bruft, ftreichelte ihr das wirre Haar und küßte fie heiß, inbrünftig. „Und 
J hab Di doc lieb!“ rief er laut hinaus, dab es jubelnd von den dden 
Eiswänden wiederhallte. 

Und Wally ſtand da, ihrer Sinne faum mädtig, till, faſt zujammen- 
brechend unter der Fluth von Glüd, die über fie hinftrömte. 

„Joſeph — ift da3 möglich — kannſt mir verzeihen — kann mir der liebe 
Gott verzeihen?” flüfterte fie athemlos. 

„Wally! Wer das Alles anhören und Dei vergrämt'3 G'ſichtel anſchauen — 
und Dir nod) bös jein könnt — der hätt 'n Stein ftatt 'me Herzen dabrin! 
% bin a harter Kerl, aber X kann's nit!“ 

„O mei Herrgott,“ jagte Wally und Thränen ftürzten ihr aus den Augen: 
„Wenn J dent, daß J das Herz hab’ woll’n ftillftehen mach'n —!“ Sie rang 
verzweiflungsvoll die Hände: „DO Du guter Bua — je beſſer und lieber Du 
mit mir bift), beito furdhtbarer padt mich die Reu! DO, J find nimmer Ruh 
auf Erden und im Himmel. Dei Magd will % fein, nit Dei Weib, — auf 
Deiner Schwell’'n will J ſchlafen, nit an Deiner Seit’, — arbeiten will 5 für 
Did und Dir diene — und Dir thun, was J Dir an die Augen abjeh'n kann. — 
Und wannft D’ mich jchlagit, will J Dir d’Hand füffen, und wannft D’ mid 
trittit, will % Deine Knie umfaffen, — und bitten und betteln bis D’ wieder 
gut biſt! Und wann D’ mir nir gönnft, als’n Hauch von Deim’ Mund und 'n 
Bid und a Wort, jo will J zTrieden fein — jo ift’3 ihon mehr, als J 
verdien'!“ 

„And meinst, da dermit wär' J z'frieden?“ ſagte Joſeph glühend, „meinſt. 
J hätt' g'nug an 'me Hauch und 'me Blick? Meinſt, J hielt's aus, daß Du 
draußen auf dev Schwell'n lägſt — und J drinn? Meinſt, J machet nit’s 


Die Geier: Wally. 225 


Thür'l auf und holet Did rein? Und meinft! etwa — Du bliebft draußen, 
wenn J Dich 'rein rufet?“ 

Wally wollte ſich von ihm losmachen, ſie verbarg das erglühende Geſicht 
in den gerungenen Händen. 

„Sei ruhig, liebe Seel'“ — fuhr Joſeph mit ſeiner ſchönen tiefen Stimme 
fort und zog fie auf jeine Knie: „Sei ruhig, und nimm's freudig hin, wie's 
unſer Herrgott Dir ſchickt — Du darfjt’3, denn Du Haft ehrlich büßt. Plag 
Did nimmer mit Vorwürf', denn, bei Gott, hab’ auch Schwer an Dir g’fehlt 
und Dich furchtbar g’reizt, hab’ Dir Dei lange Lieb und Treu mit Spott und 
Veradtung g’lohnt — da iſt's kei Wunder, daß Dir die Geduld g’riffen ift — 
wa3 fannft denn derfür — Du bift halt die Geierwally! Aber ’3 hat Dich 
ja gleich g’reut und Du haft mich wieder "raufgeholt mit Todesveradhtung, wo 
fer Mann 's Kuraſch derzu a’habt hätt’, und Haft mid) in Dei Stüb’l tragen 
laſſen umd in Dei Bett'l g’legt und haft mich 'pflegt, bis die dumme Afra 
fommen ift und Dich forttrieben hat, weil D’ glaubt Haft, fie jei d' Meinigte. 
Naher bit gange und haft Dei ganz’3 Vermögen uns jchenfen wollen, daß J 
die Afra heirathen könnt, — haft g’meint! Und bift da 'rauf zog'n in die Einöd 
mit Deiim ſchweren Kummer! DO, Du arme Seel’, jeit D’ mich kennſt, haft 
nir al3 Herzeleid g’habt um mid, und % jollt! Dich nit lieb haben und wir 
jollten nit glüdlich jein dürfen? Nein, Wally, und wenn Dir die ganz’ Welt 
bös wär — J fraget nir danach, J nehm’ Did in 'n Arm und kei Menſch 
jol Dir was anhab’n!“ 

„So ift’3 wirklich wahr, Du willft mich aus meiner Noth und Schand an 
Dei Herz nehmen, an Dei gut’3, groß's Herz? Du willft Dich nit jcheuen vor 
der wilden Geierivally, die joviel Unheil ang’richtet hat?“ 

„J mid) jcheuen vor der Geierwally — J der Bärenjojeph? Nein, 
Du liebes Kind, und wann’ft noch viel wilder wärft, ala D’ bift, % fürcht' 
Dich nit, J zwing Di doch, das hab’ J Dir ſchon amal g’jagt — damals 
im Haß — jebt aber ſag 3 in der Lieb! Und warn Y Did auch nit 
jwäng und wann J wüßt, daß D’ mi in die nächiten vierzehn Täg umbrächt'ſt, 
% ließ do nit von Dir — J könnt’ nit von Dir laffen! % bin Hundertmal 
einer Gams nachg'ſtieg'n, wo J g'wußt hab’, daß mi jeder Schritt ’3 Leben 
foften kann — und hab's doch nit g'laſſ'n und Du, Du mwunderherrlihe Dirn, 
jollteft mix nit jo viel werth jein, wie a Gams? Schau, Wally — für a einzige 
Stund, in der Du jo bift, wie heut, und mich jo anjchauft und Dich jo an 
mich Ichmiegft, will J gern fterben!" Er preßte fie an fi, daß ihr der Athem 
verging: „Heut über vierzehn Tag bift Du mei Weib und dann wirft mi 
nimmer umbringe, — Y weiß e3, denn jeßt kenn J Dei Herz!” 

Da jprang Wally auf und erhob die Arme zum Himmel: „DO, Du großer 
grundgütiger Gott, J will Di loben und preijen mei Leben lang, denn das 
ift mehr als a irdiſches Glück, das ift die Gnadenbotichaft, die Du mir 
ſchickſt!“ 

Es war Abend geworden — ein mildes Antlitz ſchaute von da Oben freund— 
lich Fauf fie nieder — der volle Mond ſtand über dem Berg. Auf den Thälern 
lagen die Abendſchatten — heute war es zu irät, noch hinabzufteigen. Sie 


296 Deutihe Rundſchau. 


gingen in die Hütte, zündeten ein euer an und jehten jih an den Herd. 63 
war ein jelige3 Geplauder nad) jahrelangem Schweigen. Auf dem Dad) träumte 
der Geier, er baue fi) ein Net, — der Nachtwind braufte um die Hütte wie 
Harjenklang und durch das Kleine Fenſter herein blinkte ein Stern. 

Am andern Morgen fanden Wally und Joſeph zur Heimkehr jbereit vor 
der Thür der Hütte. 

„Bhüt Gott, Vater Murzoll,“ jagte Wally und der erſte Morgenftrahl 
ließ eine Thräne auf ihrer Wange erglänzen: „Seht komm J nimmer wieder 
zu Dir, da Unten ift jet mei Glüd, aber J dank Dir doch, dat D’ mir fo 
lang a Heimath ’geben haft, wo J heimathlos war, — Und Du alte Hütten, 
Du bleibft jeßt leer ftehen, aber wann J da drunt' bei mei'm berzlieben Mann 
im warmen Stübel ji’, jo will J darauf denken an Di, wie J da Oben 
die einfamen Nächt' unter Dei'm Dad g’froren und g’weint hab und will alle 
Zeit dankbar und demüthig bleiben!“ 

Sie wandte fi und legte ihren Arm in den Joſeph's. „So fomm, Joſeph, 
daß wir noch vor Mittag bei unjerm lieben Pfarrer in Heiligkreuz find.“ 

„sa fomm, % führ Dich heim, mein ſchönes Bräutel! — Da ſchaut's, 
Ahr jeligen Fräulein, — da hab’ % fie, und fie g’hört mir. — Euch und alle 
böjen Geifter zum Trotz!“ 

Und er ſchickte einen Jodler hinaus in die blaue Ferne, der jchmetterte wie 
eine Jubelhymne am Auferjtehungstag. 

„S’ ſtill,“ ſagte Wally und legte ihm erjchroden die Hand auf den Mund: 
„Forder's nit "raus!" Dann aber lächelte fie mit klarem Blick: „Ach nein! 
's giebt ja feine jeligen Fräulein und feine böſen Geifter mehr — 's giebt nur 
Gott!" Sie drehte fi noch einmal um. Die ſchneeigen Gipfel der Tyerner 
erglühten rings im Morgenſchein. „Schön war’3 doch da Oben!” ſagte fie 
zögernden Fußes. 

„Thut's Dir leid, daß D’ mit mir runter mußt?“ Trug Joſeph. 

„Und wenn D’ mit mir abi ftiegft in ’n tiefften Schadht unter der Erden, 
wo fein Tagesihimmer 'neinſchien, jo ging J mit und thät nit fragen, nod 
Klagen!” jagte fie und ihre Stimme lang jo wunderbar weich, daß Joſeph die 
Augen feucht wurden. 

Da raufchte es vom Dad der Hütte herab. „DO, mei Hans'l — Did) hätt! 
J faft vergefjen,“ rief Waly. „Du — ?" fagte fie lächelnd zu Joſeph — „mit 
dem mußt Dich aber vertragen — 58 jeids jetzt Schickſalsbrüder: J dab’ mir 
ja Did vom Felſen g’holt wie ihn!“ 

So ftiegen fie hinab. E3 war ein Kleiner Brautzug, fein Gepräng, als die 
goldenen Brautfronen, die die Strahlen der Morgenfonne um ihr Haupt woben — 
fein Gefolge als der Geier, der hoch in den Lüften über ihnen kreiſte, aber ein 
ſchwer erfauftes, bewußtes, unausſprechliches Glück in der Bruft. 


* * 
* 
Dort Oben auf der Sonnenplatte in ſchwindelnder Höhe, wo einſt „die 


Hochlandwilde Maid verträumt herniederſah“, wo ſie ſich ſpäter in den dämmern— 
den Abgrund hinabließ, um den Geliebten zu retten, da ragt jetzt ein einſames 


Die Geier-Wally. 227 


Kreuz in das Blau des Himmels. Die Gemeinde hat es geftiftet zur Erinnerung 
an die Geiervally und den Bärenjofeph, die Wohlthäter der ganzen Gegend! 

Wally und Joſeph find früh geftorben, aber ihr Name lebt fort und 
wird gepriejen, ſoweit und jo lang die Ache raucht. Der Wanderer, der Abends 
ſpät durch die Schlucht zieht, wenn e3 den Segen läutet und die filberne 
Mondesjichel über den Bergen fteht, ſieht wohl ein greife Paar dort Oben 
fnien. Es ift die Afra und der Benedict Klo, die oft von Rofen herüber fommen, 
bei dem Kreuz zu beten. Wally jelbjt hatte einft ihre Herzen zufammengeführt 
und fie jegnen heut noch am Rande des Grabes ihr Andenten. 

Unten in der Schludt umwallen weiße Nebelgeftalten den Wanderer und 
mahnen ihn an die jeligen Fräulein. Bon dem Kreuze herab weht es ihn an 
wie eine Klage aus längft verflungenen Heldenjagen, daß auch das Gewaltige 
wie das Schwade dahinfintt und vergehen muß, — doc) der Gedanke mag ihn 
tröften: das Gewaltige kann fterben, aber nicht ausfterben. Sei es im Strahlen- 
panzer der Nibelungen oder im groben Bauernkittel eines Bärenjojeph’3 und 
einer Geierwally — immer finden wir e3 wieder! 





Hefrarca und BVoccaccio 
als Begründer der italienifhen Renaiſſancebildung. 


Non 


Reit 4. —— 


Ein zwiefacher Lorbeerkranz unſcinet das Haupt Petrarca's und Boc- 
caccio's. Unfterbliche Dichter, find fie zugleich unfterbliche Männer der Wiſſen— 
ſchaft. 

Sie, die mit Dante den Ruhm theilen, die Begründer und Meiſter der 
neuen, volksthümlich italieniſchen Literatur zu ſein, ſind zugleich die begeiſterten 
Wiedererwecker der lang vergeſſenen Alterthumsſtudien, die Begründer und Bahn- 
brecher jener gewaltigen Geifteswandlung, die, weil fie mit den Schranken des 
Mittelalter? brad) und das Sinnen und Denken der Mtenjchen wieder zu einem 
freieren und reineren Menjchheitsideal zurüdführte, von der Geſchichte mit dem 
Ehrennamen de3 Humanismus bezeichnet und gefeiert wird. 

PBetrarca und Boccaceio Haben nie den Drang gefühlt, fi) über den Grund 
und das Wejen diefer denkwürdigen Doppelftellung Rechenſchaft abzulegen. Als 
fie im Alter mit ihrem wiſſenſchaftlichen Ruhm die Welt erfüllten, jahen fie 
auf ihre Dichtungen vornehm herab wie auf bedauerliche Jugendjünden. Und 
dieſe gewaltjame Scheidung der in Jid) einheitlichen Perjönlichkeit ift bis auf 
den heutigen Tag in Geltung. Die Geihichtsichreiber der Dichtung halten fich 
ausſchließlich an die dichterifche Seite, die Geſchichtsſchreiber der Wiſſenſchaft 
ausichlieglih an die hHumaniftiihe. Auch die Freftreden, welche am 18. Juli 
diejes Jahres, bei der Freier der fünfhundertjährigen Wiederkehr des Todestages 
Petrarca's, in Padua und Avignon gehalten wurden, zerfielen weſentlich in dieſe 
zwei Gruppen; die einen ſangen und ſagten von Petrarca, dem großen Dichter, 
"die anderen von Petrarca, dem großen Humaniften, und, wie e3 die politiichen 
Stimmungen und Zuftände Italiens nahelegten, von Petrarca, dem glühenden 
Batrioten. Selbft die Biographen Petrarca's und Boccaccio’3 begnügen fid mit 
der rein äußerlichen Nebeneinanderjtellung der dichteriichen und wiſſenſchaftlichen 
Thätigkeit, ohne irgend zu fragen, wie beide Seiten miteinander zujammen- 
hängen und inwieweit fie einander bedingen. 

Und dod) kann für Den, der fid) die dichteriiche Eigenart Petrarca’3 und 


Petrarca und Boccaccio ald Begründer ber italienischen Renaifjancebildung. 299 


Boccaccio's zu klarer Einfiht gebracht Hat, fein Zweifel fein, daß jich ihre 
dichterifchen Stimmungen und Ziele zu ihren humaniftiichen Zielen und Beſtre— 
bungen durhaus wie Urſache und Wirkung verhalten, und daß Petrarca und! 
Boccaccio nimmer jene großen Humaniften geworden wären, wären fie nicht 
jene großen Dichter geweſen. 

63 ift wichtig, dieje innere Einheit und Zujammengehörigkeit der jcheinbar 
weit auseinanderliegenden Richtungen jcharf ins Auge zu fallen. Indem wir 
den Uriprung und die innere Entwidlungsnothivendigfeit der Begründer des 
Humanismus belaujchen, belaufchen twir den Urſprung der modernen Bildung, 
belaufchen wir den Uebergang des Mittelalters in die neue Zeit. 

Die erjten Anfänge der beginnenden neuen Zeit vegen ſich ſchon in der! 
zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Nur unter langen und jchweren Ent- 
wicklungskämpfen vollzog ſich der Uebergang vom Mtittelalter in die neue Ge- 
ſchichte. Die höchſte Blüthe des Mittelalters und die Urſachen feines allmäligen 
Abwelkens liegen dicht beieinander. Von einer geſchichtlichen Epoche gilt jo 
wie von dem Ende des 13. und von dem Anfange des 14. Jahrhundert? das 
tiefe Wort Ranke's: „E3 ift zuweilen, al3 träten die Ideen, welche die Dinge 
bewegen, die geheimen Grundlagen des Lebens, einander fihtbar gegenüber.“ 

In Innocenz II. (1198 — 1216) hatte die päpftliche Machtftellung ihren 
höchſten Gipfel erreiht. Die efftatiiche Erregung, welche die Abenteuerlichkeit 
der Kreuzzüge in den Gemüthern zurüdgelaffen hatte, war eine ſchwärmeriſche 
Glaubensinbrunft, wie fie nie zuvor in der Welt gejehen worden. Zu derjelben 
Zeit, da das Ritterthum ſich in jeinem ftrahlendften Glanz entfaltete und das 
weltliche Epos und Minnelied feine köſtlichſten Blüthen trieb, gründeten der heilige 
Franz von Aſſiſi und der heilige Dominicus den Orden der Franciscaner und 
Dominicaner. Auf allen Märkten und Straßen predigten wandernde Bußprediger 
die Rückkehr zu dem deal entjagender Armuth und weltverachtender Askeſe. Es 
erhob ſich die Scholaftif, die ihren Beruf darin juchte, die überkommene Glaubens- 
lehre jich durch denfende Erfenntnig zum eigenften jelbfterrungenen Bejigthum 
zu vertiefen. Neben die Scholaftik ftellte ſich die chriftliche Myſtik, welche 
Goethe treffend die Scholaftif des Herzens genannt hat. Mitten aus diejer 
tiefen religiöſen Begeifterung heraus entftand die tief innerlihe hymniſche 
ranciscaner-Poefie, von welcher das unfterbliche Stabat mater und das gleich 
unfterbliche Dies irae, Dies illa jo herrliches Zeugniß ablegen. Wolfram von 
Eſchenbach dichtete jein Epos vom heiligen Gral. Und immer mächtiger ent- 
faltete jich jener gewaltige Bauftil, der in feinen erften Anfängen ſchon in der 
Mitte des 12. Jahrhunderts in der Abtei von St. Denis hervortrat und jeit- 
dem mit wunderbarfter Raſchheit ſich in alle Länder der Chriftenheit, nament- 
lich dieffeits der Alpen, verbreitete, der Bauftil der Gothik. Das zerknirſchte 
Sehnen aus der Sündhaftigkeit des Fleiſches in die reine KHörperlofigkeit, aus 
dem irdiichen Trübjal in die ungetrübte Seligkeit de3 Jenſeits verkörpert ſich 
in großartigfter Monumentalität in Bauformen, weldhe die ftarre Maſſe der 
Mauer auf das möglichjt geringfte Maß zurücdführen und mit diefer Aufhebung 
umd Durchgeiftigung alles blos Mafjenhaften die entjcheidende Betonung der den 
Blick zwingend nad) oben führenden Höhenrichtung verbinden. Im Innern die 


230 Deutſche Rundſchau. 


ergreifende Poeſie der unüberſchaubar großen Raummaſſen, des pulſirend be— 
lebten Geflechtes der ſteil aufſteigenden Spitzbogenwölbung, der hochragenden, 
myſtiſch durchglühten Fenſter; im kunſtvollen Außenbau das unabläſſige Sich— 
ſteigern des kraftvollen Emporſtrebens in den Strebepfeilern, in den zahllos 
aufwachſenden Spitzgiebeln und Spitzſäulen, in der ſteilen mächtigen Dachbil— 
dung, in den gewaltigen Thurmbauten, die, je weiter die Bewegung nad) oben 
dringt, in ihren Formen und Verhältniſſen nur immer fühner und ſchlanker 
und leichter werden und deren äußerjte Spiße tief eindringlich in da3 Symbol 
des Kreuzes ausklingt. 

Sleihwohl war in Italien bereit eine mächtige Gegenftrömung vorhanden. 
Die Kämpfe zwilchen dem Papft und dem Kaiſer und zwiichen dem Kaiſer und 
den einzelnen Landeshoheiten, die Verfaſſungswirren des republifanifchen Städte- 
weſens, die Verbindlichkeiten und Schutzbedürfniſſe des mächtig emporblühenden 
Handel3 hatten die Anregung zum emfigften Studium de3 alten römijchen 
Rechts gegeben. Auf der Univerfität zu Bologna, welche oft mehr als zehn- 
taujfend Studenten zählte, bildete fi) eine berühmte Juriſtenſchule; und bald 
traten neben die Univerfität von Bologna die Univerfitäten von Padua und 
Neapel. An dem Studium des römiſchen Rechts wuchs und erftarkte das 
Studium der römischen Literatur und Geſchichte, das in Italien jogar in den 
finfterften Zeiten des Mittelalters niemals völlig erftorben war. Schon 
träumte Arnold von Brescia, welcher in begeifterter Sehnſucht nach den Zu— 
ftänden des UrchriftenthHums das weltliche Beſitzthum des Papſtes befämpfte, 
von Herftellung der alten römiſchen Republik in Rom. Man gewann wieder 
Sinn und Liebe für die altrömiſchen Dertlichkeiten und Kunftdentmale Die jo- 
genannten Mirabilia Urbis Romae ſind die erften, noch ganz in dad Traum— 
leben der Sage gehüllten Anfänge römiſcher Topographie und Archäologie. Man 
jammelte Blumenlejen aus römiſchen Dichtern, aus Vergil und Ovid und 
Horaz; ja um Bergil jchlang ſich ſogleich die üppigſte Sagenbildung. Es war 
die Zeit, in welcher, um mit Dante zu reden, die alten Florentiner in ihren 
traulichen Unterhaltungen von Troja und von Fieſole und von Nom fabulirten, 
und in welcher Ricordano Malajpini jeine Florentiner Chronik ſchrieb, deren 
Grundgedante, wenn wir nad) den neuften Angriffen nod an der Echtheit der- 
jelben fefthalten dürfen, darin befteht, den Urſprung der Florentiniſchen Staats- 
einrichtungen und Adelsgeſchlechter unmittelbar aus dem Altertum herzuleiten. 
&3 war die Zeit der antikilirenden Bauten de3 Baptifterrums und der Kirche 
von S. Miniato zu Florenz, der antikifivenden Bildwerke Niccold Pijano’3 an 
der Kanzel des Baptijteriums zu Pila, des antikifirenden Decorationzftils der 
Gosmaten, der antikijirenden, lateinifch gedichteten Tragödien Albertino Mufjato’s. 
Während diejjeit3 der Alpen die Gothit immer mächtiger emporwuchs und 
ihre gewaltigjten Werte errichtete, errang fi) in Italien der romaniſche Stil 
durch jeine finnige Anlehnung an antife Vorbilder eine Reinheit und Feinheit 
der künſtleriſchen Auffaffung und Durchbildung, die man mit Recht al3 Vor— 
renaifjance, d. h. als den VBorfrühling des Wiedererwachens der antifen Formen— 
welt, zu bezeichnen gewohnt ift. 

Lange Zeit gehen beide Richtungen Hand in Hand. Noch immer bleibt 


— 


Petrarca und Boccaccio ala Begründer der italienischen Renaiffancebildung. 231 


die mittelalterliche Kirchlichkeit das Mafgebende. Ja der fromme Eifer der 

Franciscaner und jDominicaner weiß jogar der über die Alpen dringenden ! 
Gothik über die Vorrenatfjance den Steg zu verfchaffen, wenn auch nur unter 

dem Zugeſtändniß bedeutender Umbildungen zu Gunften größerer Ruhe und 

klarerer Faßlichkeit. Nichtsdeftoweniger war die Enge und Ausfchlieglichkeit des 

mittelalterlihen Geiſtes gebrochen. Das Denken und Empfinden der Menjchen 

war ieiter, freier, unmittelbar menſchlicher geworden. 

Das unvdergänglid großartige Denkmal diefer ringenden Zeitiwirren tft 
Dante’3 Göttliche Komödie, deren Entftehung wahrjheinlih in die Jahre 
1300—1318 jällt. Der Grundgedanke ift noch durchaus mittelalterlih. Nicht 
blos die dogmatiiche Gliederung in Hölle und Fegfeuer und Paradies, jondern 
vor Allem auch die ganze Art der Bertheilung und Abwägung der Strafen und 
Büßungen und Belohnungen und das begeifterte Aufgehen in der jcholaftifchen 
Philoſophie de3 gefeierten Thomas von Aquino. Die antifen Dichter und 
Philojophen, jo hoch fie gepriefen werden, verharren im Limbus; und felbft 
Bergil, der dem Dichter in den Wanderungen durch die Hölle und das Fegfeuer 
Lehrer und Führer war, muß bei dem Eintritt in das Paradies die Führung 
an die göttliche Beatrice überlafjen, „weil Der, der nie des Herrn Gejeß er- 
tannte, nicht zu dem Sitz der Seligen gelangen darf“. Und doch erklingen bereits 
überall die ftolzen Klänge einer neuen Denkart, in welcher der Menſch nad) 
langer langer Selbftentfremdung endlich fein eigenes eingeborenes Weſen wieder— 
gefunden hat. Wie die herrlichen Sonette und Ganzonen der Vita nuova von 
der läuternden Gewalt der Liebe fingen mit einer Gluth und Wahrheit tief- 
innerften Erlebnifjes, die der Poeſie der Troubadourd völlig fremd ift, fo ift 
aud) die Göttliche Komödie troß all ihrer theologifirenden Färbung wieder das 
erſte Gedicht, da von den Idealen des echt und rein Menjchlichen, von ber | 
Begeifterung für Liebe und Ruhm und Glüd, für Thatkraft und Leidenschaft, 
für Freiheit und Vaterland igetragen und durchglüht if. Ja die Göttliche 
Komödie ift faſt mehr noch ala ein religiöjes Gedicht ein politifches Gedicht, ! 
da3 über die Parteiführer der jüngjten Vergangenheit mit unerbittlicher Strenge 
Gericht hält und ſehnſuchtsvoll nach dem rettenden Cäſar ausjchaut, der die 
Uebermacht des Papſtthums brechen und da3 verwittwete und jeufzende Italien 
wieder zu Größe und Einheit führen joll. 

Und neben Dante fteht Giotto, der große Maler; nicht abhängig von ihm, 
aber erfüllt von denjelben Stimmungen und Ideen, einer der mächtigften 
Geifter aller Kunftgefhichte. Er ift der Begründer und Ahnherr jener großen 
Monumentalität, die der unterjcheidende Grundzug der italienijchen Maleret ift; 
von einer Macht und Tiefe des Gedankens und von einer feiten Einheitlichkeit 
und Folgerichtigkeit in der Erfindung und Anordnung weitausgedehnter chEli- 
ſcher GCompofition, die von den Malern der nächſtfolgenden Geſchlechter nur 
jelten wiedererreicht und erft von den großen cykliichen GCompofitionen Michel- 
angelo’3 und Rafael's überboten wurde. Und zugleich belebt und verinnerlicht 
er die hoheitsvollen, ftarren Typen der Byzantiner zu einer Naturwahrheit in der 
Geitaltung und Bewegung, zu einer Friiche und Fülle der Motivirung, zu einer 


Poeſie der Seelenmalerei, die um jo ergreifender wirkt, je naiv Er fie iſt 
Deutiche Rundſchau. I, 5. 


232 Deutſche Rundicau. 


und je inniger fie bereits, obgleich ihr noch die volle plaftiiche Körperlichkeit 
und namentlich in der Gefichtäbildung die volle individualijirende Kraft fehlt, 
alle wärmjten Herzenstöne anſchlägt, Fromme Gottergebenheit, ſchalkhaften Froh— 
finn, Weh der Verzweiflung. 

Bald aber traten Ereignilje ein, welche die mittelalterlichen Gewalten und 
Lebensformen von Grund aus in Trümmer jchlugen. 

Die enticheidende Wendung ift der Anfang des 14. Jahrhunderts. 

Seit dem Sturz der Hohenftaufen — Conradin's Haupt fiel 1268 — war! 
die Idee des römiſch-deutſchen Kaiſerthums, die noch das höchſte politijche deal 
Dante's war, immer mehr und mehr entwurzelt. In ganz Italien neue Staaten— 
bildungen. Monarchiſche Gewaltherrſchaften, in denen Herrſcher war, wer durch 
Kraft und Schrecken emporzukommen und ſich zu behaupten wußte; ſtädtiſche 
Republiten, blühend durd ein freies und betriebfames Bürgerthum, aber wechjel- 
voller als je dem wildeften Parteihader und Verfaffungsftreit preisgegeben. Und 
mit der Verlegung de3 päpftlichen Sites nad) Avignon — 1308 unter Ele- 
mens V. — war ein großer Theil der Macht und der geheimnißvollen Weihe 
des Papftthums geſchwunden. Um jo rettungslojer, je jündhafter das Treiben 
am Hofe von Avignon war. Slagelieder und Bußpredigten verfündeten das 
Kommen de3 Antichrift. 

Es war, als jei den Menjchen der Boden unter den Füßen weggezogen. 
Alle Ueberlieferungen, welche bis dahin bindende Kraft gehabt hatten, waren 
erihüttert. Der Menſch fieht ſich lediglich auf ſich ſelbſt geſtellt. Thatkraft 
und Leidenſchaft find entfeſſelt. Alle unergründlichſten Untiefen des menſchlichen 
Herzen3 gewinnen offene Sprache. Es ift eine Zeit ebenjo jehr des höchſten 
idealen Aufftrebens wie der ſchrankenloſeſten Ruchlofigkeit. 

Ein neue3 Gejchleht war in diejer dDrangjalvollen Zeit erftanden; ein neues 
Geſchlecht voll leidenſchaftlicher Kämpfe, voll neuer Hoffnungen, voll neuer Ziele. 

Und hier fehren wir wieder zu Petrarca und Boccaccio zurück. 

Sie find die Vorkämpfer diejes neuen Gejchlechtes, die Dolmetjcher jeiner 
Stimmungen und Empfindungen, die Führer feines raftlos vorftrebenden Bil- 
dungsdranges. 

Noch ſchrieb Dante an feinem großen Gedidht, als Petrarca und Boccaccio 
geboren wurden; Petrarca 1304, Boccaccio 1313. Dennod) ift die Welt Dante's 
und die Welt Petrarca’3 und Boccaccio’3 durch eine unermeßlich weite Kluft 
geſchieden. 

In Petrarca und Boccaccio ſind auch die letzten Nachklänge des Mittel— 
alterlihen verflungen. Das ſtolze Selbſtgefühl von dem Recht und der Macht 
der eigenen freien Perjönlichkeit, das fi in Dante bereit3 jo bedeutjam ange- 
fündigt hatte, hat in Petrarca und Boccaccio feine Erfüllung gefunden. Das 
eigenfte Lebensgeheimniß Petrarca’3 und Boccacciv’3, ihrer perſönlichen Eigen— 
art ſowohl wie ihres Dichtens, das der getreue Spiegel diefer perjönlichen 
Eigenart ift, ift die Beſitznahme des Menjchen von den verborgenen Tiefen 
jeines inneren Seelenlebens, das bisher ganz und gar unter der Obmadht der 
Kirche gejtanden hatte und unter diefer Obmadt nur zu jehr einjeitiger und 
verfümmerter Entfaltung gelangt war, ift das gefteigerte Freiheitsgefühl des 


Petrarca und Boccaccio ala Begründer der italieniihen Renaifjancebildung. 233 


Einzelmenjchen, das freilich unter dem folgenſchweren Mangel leidet, da e3 in 
der Siegeöfreude diejer feiner erjten Erhebung und Selbftbefreiung fich über- 
ſtürzt und in ſelbſtſüchtige Sophiftif entartet. 

63 iſt überrafchend, daß noch von Niemand die denkwürdige lleberein=? 
fiimmung hervorgehoben ift, die die geichichtliche Stellung Petrarca’3 und 
Boccaccio’3 mit jener tiefgreifenden Geiftesrevolution hat, welche um die Mitte 
de3 vorigen Jahrhunderts von Roufjeau ausging und aladann in Deutjchland 
von den Trägern der ſ. g. Sturm- und Drangperiode weitergeführt und zu 
glücklich harmoniſchem Abſchluß gebradht wurde. Hier wie dort derjelbe tief- 
berehtigte Kampf um das Recht der vollen und ganzen Menjchennatur gegen 
die Starrheit althergebradhter überlebter Satzungen, und in dieſem Kampf die- 
jelbe ſich überſtürzende Gefühlsphantaftif, diefelbe maßloje Freigeiſterei der Leiden— 
ſchaft. Und Hier wie dort dafjelbe ernjte Streben, diefe Irrungen zu über— 
winden und durch begeifterte Hingebung an die unverlierbaren Ideale des 
griechiſch-römiſchen Alterthums zu feſter Bildungsharmonie zu klären. 

Ich ſtehe nicht an, Petrarca und Boccaccio als die Sturm- und Drang- | 
periode der italienijchen Literatur zu bezeichnen. Nur von diefem Geſichtspunct 
aus gewinnt Leben und Dichtung Petrarca’3 und Boccaccio's die richtige Be- 
leuchtung; nur von diefem Gefichtspunct aus erjcheinen die jcheinbar jo weit 
auseinanderliegenden Richtungen ihrer dichteriichen und wiſſenſchaftlichen Thätig- 
feit al3 die Ergebniſſe folgerichtiger innerer Entwidelungsnothwendigfeit, als 
in ji durchaus einheitlich und zufammengehörig. 

Petrarca vor Allem ift e8, welcher dem Jahrhundert die Lofung gab. 

Als Dichter ift Petrarca am berühmteften geworden durch die Sonette 
und Ganzonen an Laura. „Er hat jein Herz entdeckt,“ das iſt das Motto, 
da3 ich dieſen Sonetten und Ganzonen am liebjten geben möchte. Unerſchöpf— 
ih ift der Dichter in der Schilderung jeines Liebenden Herzens, das in ber 
Luft und im Weh der Liebe lat und weint und hofft und bangt, das von der 
Liebe nicht laſſen mag, obgleich die Geliebte die Gegenliebe verjagt, und das 
unabläjfig in der Wonne der Erinnerung fortlebt, auch nachdem die Geliebte 
längft dur den Tod allem ixdiihen Sehnen und Hoffen entrüct ift. Es ift 
die warme Herzenziprache Herzgetwinnender Zartheit und Innigkeit, die weihe- 
volle Stimmung erlebten Glüdes und erlebten Schmerzes, tief ergreifendes 
Seelenleben. Und reizvoll geht durch all dies Leben und Weben der Liebe das 
tiefinnige Mitleben der Natur und der umgebenden Landſchaft; von Liebe 
ſprechen Welle und Luft und Blüthenpradt, von Liebe klagt die Nachtigall, zur 
Liebe ruft das geheimnißvolle Flüftern und Kniſtern der ftillen Waldeinfamfeit, 
der feierliche Exrnft der hochragenden Berge. Dazu der unwiderſtehliche Zauber 
de3 ſüßen Wohllaut3 der Sprade und des Reims, wie ihn nie twieder ein 
Ipäterer italienischer Dichter erreicht hat, und die feine Gejchloffenheit der Kunſt— 
form, die jeitdem fefte Norm de3 Sonett3 geworden ift. Aber zu leugnen ift 
trogalledem nicht, gar manche diefer Sonette verfallen in ſchwächliche Empfin= 
delei. Ja, ift nicht der ganze Zuftand eines Menjchen, der mehr als drei- 
hundert Sonette auf eine unertwiderte Liebe dichtet und an dieſe unerwiderte 
Liebe mehr als zwanzig Jahre feines beiten Mannesalters jet, ein unverzeihlich 

16* 


234 Deutſche Rundſchau. 


krankhafter? Es iſt Werther, der ſein Herz wie ein krankes Kind hält und 
ihm jeden Willen geftattet. 

Unter allen Befitungen ift ein eigen Herz die Koftbarfte, und unter Tau- 
ſenden haben fie faum Zwei. Diejes bezeichnende Wort der Sturm- und Drang- 
periode ift auch die Charakteriftif Petrarca’3, feiner Größe und feiner 
Schwäche. Diejelbe überquellende Innerlichkeit und diejelbe kokette Selbft= | 
verhätihelung, die der Grundzug jeiner Sonette an Laura ift, ijt der Grund- 
zug feines ganzen Wejend. Sein Jh ift ihm jein ftetes und angelegentlichftes 
Studium. Nicht blos in vertrauten Freundesbriefen, jondern aud in einer 
ganzen Reihe von Schriften, die an die Deffentlichkeit gerichtet find, ſucht er 
fih und Anderen über feine geheimften Seelenregungen und deren Widerjprüche 
und Räthſelhaftigkeiten Rechenſchaft abzulegen; und in diejer grübelnden Selbft- 
betradtung kommt ex nie über das eitle Gefühl hinaus, daß für joldde uner- 
gründliche Tiefe und Innerlichkeit in ‚der harten Welt kein Raum ſei. Ed 
io son un di quei che il pianger giova. Petrarca, der Ahnherr tieffter Herzen3- 
poeſie, ift zugleich der Ahnherr der modernen Empfindjamteit, des Weltjchmerzes, 
der modernen Zerriffenheit. Er nennt dieſe ziwiejpältige Stimmung dolendi 
voluptas, Wolluft des Schmerzes, oder Acedia, müden Unmuth. 

Und diefe ruheloje ringende Gefühlsinnerlichkeit ift auch der Nerv und die 
treibende Kraft der wiſſenſchaftlichen Thätigkeit Petrarca’3 und beftimmt deren 
Richtung und Ziele. Hier bejonders ift e8, wo uns die Aehnlichkeit mit 
Roufjeau jchlagend entgegentritt. 

Wie Rouffeau aus der Innerlichkeit feines gefühlsfeligen Herzens ſich eine! 
Gefühlsreligion jchafft, die ebenfo gegen die Dürre des Kirchenglaubens wie 
gegen die Freigeifterei Voltaire's und der Encyklopädiften anfämpft, jo hat jich 
auch Petrarca, unter den Einwirkungen des heiligen Auguftinus eine Gefühls- 
religion geidhaffen, die ebenjoweit abjteht von dem herrjchenden Kirchenthum tie 
von dem gottesleugneriichen Materialismus, für welchen auch in der abend- 
Yändiihen Welt der arabiſche Philojoph Averroes viele Anhänger gewonnen 
hatte. Es liegt in Petrarca eine Verinnerlihung des mittelalterlichen Chrijten- 
thums, die hauptſächlich den Anftoß gegeben hat, daß die Denker der nächften 
Zeit auf eine Verſchmelzung der platoniſchen Philojophie und der chriftlichen \ 
Slaubenslehre ausgingen. 

Und wie Rouffeau im Unmuth über das Elend der Gegenwart in die 7 
Träume eines jogenannten Naturzuftandes flüchtete, um aus diejen die Grund- 
lagen eine neuen Staats- und Gejellichaftstwejens zu gewinnen, jo flüchtete 
auch Petrarca aus dem Verderbniß des politijch zerrütteten Waterlandes und 
aus dem Verderbniß der Kirche, die der am Hof zu Avignon Lebende mit 
tiefftem Ingrimme als eine spelunca latronum, als eine Mörder: und Diebeshöhle 
brandmarkt, in eine reinere und freudvollere Vergangenheit; nur daß er diefe 
reinere und freudvollere Vergangenheit nicht in einer phantaftiichen Traumtvelt 
juchte, jondern in der großen Welt des römiſchen Alterthums, ala deſſen Entel 
er fi fühlte. An der alten römiſchen Macht und Größe will er jein gedrüdtes 
Gemüth wieder aufrihten; an den großen Ahnen des Alterthums, „deren 
Gleichen niemals auf Erden war”, will er, wie er ſich vielfach und in den ver- 


Petrarca und Boccaccio al3 Begründer der italienischen Renaiffancebildung. 235 


Ichiedenften Wendungen ausjpricht, Diejenigen vergeffen, mit denen ein ungün- 
ftiger Stern ihm zu leben bejchieden. 

In getvohnter Weife hat Petrarca jelbft in feinem Briefe an die Nach— 
welt, der eine ber wichtigften feiner zahlreichen Selbftbefenntniffe ift, über den 
Anfang und da3 Ziel dieſes vielverichlungenen, aber ficher fortichreitenden Bil- 
dungsganges Auskunft gegeben. „Mein Geift,” jagt er, „liebte e8 vornehmlich, 
fih mit Moralphilofophie und Dichtkunft zu beichäftigen,; doch vernachläſſigte 
ih die Dihtung im Lauf der Zeit und wendete meine Neigung mehr der Theo- 
logie zu, an deren früher verachteten Annehmlichkeit ich immer mehr Geſchmack NR 
fand. Bor Allem aber gab ich mich der Erforichung des Alterthums hin, da“ 
mir die Zeit, in welcher ich Iebte, jo mißfiel, daß, wenn mir die Liebe zu ben 
mir Theuren diefen Wunſch nicht verwehrt hätte, ich oft gewünjcht haben 
würde, in einem anderen Zeitalter geboren zu fein und mein Zeitalter ver- 
gejfen zu dürfen; und da ich dies nicht konnte, jo ftrebte ich wenigſtens dar- 
nad, mid jo oft und jo innig al3 möglich in andere Zeiten zu verjegen.“ | 

Petrarca wurde durch denjelben tief innerlihen Drang nad) innerer Selbft- 
befreiung und Selbftbefriedigung zur begeifterten Erfaffung des Alterthums ge- 
führt, durch welchen auch Goethe und Schiller bei dem Abſchluß ihrer ftürmen? | 
den Yugendwirren zur begeifterten Erfaffung des Alterthums geführt wurden. 

Mitten aus jeinem tief innerjten IEntwidlungsleben heraus iſt Petrarca 
der begeifterte Wiedereriveder der Alterthumsſtudien, der Schöpfer de3 Humanis- 
mu3 geworden. Und jein unvergängliches Verdienſt ift, daß er mit unermüb- 
lichſtem Eifer Jeine ganze Kraft daran ſetzte, die verjunfenen Schäße der alten 
Herrlichkeit wieder an’3 Licht zu fördern. Er ſuchte von der Literatur der 
Alten zu retten, wa3 noch zu retten war. Er durchreifte Frankreich, Deutich- 
land, Spanien, alle Theile Italiens, um in den Klöftern nad) alten Hand- 
ſchriften zu forſchen; er ſpornte durch ausgebreiteten Briefwechjel die Gelehrten 
aller Länder zu gleichem Forſcher- und Sammeleifer. Er erwerte Theilnahme 
für die wiſſenſchaftliche Erkenntniß der alten Dertlichkeiten und Baudenkmale, 
ex wendete feine Aufmerkjamfeit bereit3 auf die alten Münzen und Injchriften.i 

Die Wirkung Petrarca’3 war eine unermeßliche. Schnell entzündeten ſich 
die Gemüther, die unter dem gleichen Drude jeufzten und das gleiche Bedürf- 
niß innerer Erhebung empfanden. Die Donquiroterie Cola da Rienzo’3, welcher 
wie einjt Arnold von Brescia die Größe und Herrlichkeit de3 alten Rom aud) 
ftaatlich wiederherjtellen wollte, um, wie jein eigner Ausdrucd lautet, Handelnd 
auszuführen, was er lejend gelernt Hatte, und die flammende Begeifterung, 
welche diefe Donquiroterie nicht blos in Petrarca, jondern bei allen Beften der 
Zeit fand, ift das lautredende Zeugniß, wie tief und unmittelbar fich dieje ge- 
drüdten und doch jo großen Menjchen als die Enkel ihrer machtvollen Ahnen 
fühlten, und melde ftolzen Ideale und Zufunftshoffnungen in ihnen mwogten 
und ftürmten. 

Stalien feiert mit Vorliebe Petrarca ala glühenden Patrioten. Uns kommt 
es zu, Petrarca al3 einen Befreier der Menfchheit zu feiern, al3 einen jener 
höchſten Genien, deren Spur nicht in Neonen untergeht. 

Boccaccio ift eine durchaus anders geartete Natur ala Petrarca; aber der 


236 Deutiche Rundſchau. 


Bildungsgang Boccaccio’3 ift mit dem Bildungsgang Petrarca's in denkwür— 
digfter Uebereinftimmung. Auch er ift der Dichter jenes gefteigerten Perjönlich- 
feitsgefühl3, das wir als die italieniiche Sturm=- und Drangperiode bezeichnet 
haben; und auch er wird in jeinem jpäteren Alter der Mann der ftrengen 
Wiljenihaft, der die Anregungen feines großen Freundes Petrarca ſelbſtthätig 
fortbildet und in jehr mwejentlichen Dingen ergänzt und erweitert. 

Ueber Boccacciv, den die Meiften jetzt nur vom Hörenſagen oder höchftens 
aus einzelnen jeiner Novellen Eennen, gehen die irrigiten Meinungen. Gr ift 
rein Dichter von weit tieferem Gehalt, als man ihm meift zugefteht, und ex ift ein 
Dichter von vollendeter fünftleriiher Durchbildung. 

Es ijt für die leidenſchaftliche Gefühlswelt, in welcher fi Dante und 
Petrarca und Boccaccio bewegen, überaus bezeichnend, daß alle drei in ihrem 
dichteriſchen Empfinden und Schaffen bedingt und beftimmt werden durch eine 
tiefe Liebe, die ihr Wejen bis in das innerfte Mark durchdringt. Auch für 
Boccaccio war die Liebe lange Zeit ausſchließlichſte Herzensangelegenheit ; frei— 
lich nicht jene erhabene DBegeifterung, mit welcher Dante zu Beatrice, nicht 
jene zarte Innerlichkeit, mit welcher Petrarca zu Laura hinaufſchaut. Einer 
der jchönften Männer feiner Zeit, voll Fröhlichkeit und Sinnengluth, überläßt 
fi) Boccaccio in jeiner” Jugend allen Lockungen und Irrungen, welche ihm die 
herrichende Sittenverwilderung bot und erlaubte. In Neapel, wohin er als 
Süngling gefommen, war er (1341) in ein leidenjchaftliches Verhältniß zu einer 
vornehmen jungen Frau getreten, fie war die natürliche Tochter de3 Königs 
Robert, die Schweiter und Freundin der Königin Johanna, die Gemahlin eines 
Neapolitaniichen Großen. Unter dem bedeutjamen Namen Fiammetta wird fie 
in allen Dichtungen Boccaccio’3 gefeiert. Die wechſelvolle und ſchickſalsreiche 
Liebe zu ihr ift das Grundmotiv all feines Dichtens, ja recht eigentlich der 
Urjprung und die Quelle feiner gefammten Empfindung = und Dentweije. 

Wie die herbe und düftere Lebensauffaffung Dante’3 ergänzt wird durch 
die helle und farbenfrohe Lebensfreudigfeit Giotto’3, fo wird die eintönige Inner— 
lichkeit Petrarca’3 ergänzt durch die lichte und vielgeftaltige Beweglichkeit Boccac- 
civ’3, welcher in feiner finnenfriichen und leicht erregbaren Seele zwar aud) alle 
Nachtjeiten der Leidenſchaft kennt, aber doch immer und immer wieder zu hei— 
terem Lebensgenuß hindrängt, ja diefen heiteren Lebensgenuß mit ſchmeichelnder 
Sophiftit als einziges und höchftes Gut aller Lebenstunft hinftellt. 

Indem die Dichtung Boccaccio’3 aus der Lyrik Petrarca’s in die Breite 
und Thatjächlichkeit der epiichen Welt tritt, entfaltet fi) in ihr das Leben der 
Zeit und ihrer geheimften Stimmungen und Ziele in einer Allfeitigkeit, welcher 
die träumerifhe Melancholie Petrarca’3 jorgfam aus dem Wege geht. Um jo 
denfiwürdiger und überrafchender ift e8, daß auch die Dichtung Boccaccio's, und 
zwar weit mehr noch al3 die Dichtung Petrarca’3, ung genau diejelben Stim- 
mungen und Probleme vorführt, welche fpäter die deutſchen Stürmer und 
Dränger, ohne diefen Urfprung und Zufammenhang zu ahnen und zu willen, 
wieder aufnahmen und in ihrer Weije vertieften, 

Schon die erften Yugenddichtungen Boccaccio's, ſchon der Roman Trilocopo, 
dem die alte ſchöne Gejchichte von los und Blankflos zu Grunde Liegt, 


Petrarca und Boccaccio ald Begründer der italienischen Renaiffancebildung. 237 


und die wohlklingenden Ottaverimen der erzählenden Dichtung Teſeide, die 
nah U. Ebert’3 überzeugender Auseinanderjegung (Yahrb. für roman. und engl. 
Lit. Bd. 4. ©. 97 ff) einem byzantiniſchen Projaroman aus dem Ende des 
5. Jahrh. entlehnt ift, und das Ninfale Finſolano und das Ninfale di Ameto, 
Gedichte jener idylliſchen Gattung, welche die Italiener Paftorale nennen, han- 
deln von dem Kampf und der Wonne und der läuternden Kraft der Liebe. Allein 
die eigenjte Eigenthümlichfeit Boccaccio’3 liegt erft in den jpäteren Dichtungen, 
in Fılojtrato, in der Fiammetta und im Decamerone. 

63 ift unbegreiflich, wie eine jo herrliche Perle ächtefter Poefie wie Boccacciv’3 | 
Filoſtrato vergeſſen ſein kann. Es iſt der laute Jubelruf eines von glüdlichiter 
Liebe erfüllten glückſeligen Herzens. Das wunderliche Wort „Filoſtrato“, zu— 
ſammengeſetzt aus dem griechiſchen Wort 442006, das hier fälſchlich für die Be— 
zeichnung eines Liebenden gebraucht wird, während es doch immer nur einen 
Freund bezeichnet, und aus dem lateiniſchen Wort stratus (geſchlagen), bezeichnet 
ben Helden al3 einen ganz und gar von der Liebe Gefchlagenen, als einen uomo 
vinto ed abbattuto da amore. Als der Dichter dieſes Gedicht dichtete, weilte 
Fiammetta, die Geliebte, auf dem Lande. Der Dichter, fern von ihr, jchwelgt 
in der Wonne liebender Erinnerung und in der Gewißheit unverlierbaren Be— 
fies, ergötzt ſich aber in diefer Gewißheit mit der Furcht quälender Eiferjucht 
fein übermüthiges Spiel zu treiben. Dieſes Glüd und diefe Furcht jchildert 
er in der alten Sage von Troilus und Creſſida, welche ſich nad) den Yabel- 
büchern von Dares und Dictys im Mittelalter ausgebildet, und welche joeben 
in der 1287 verfaßten Historia Trojana des Meſſineſen Guido de Colonna eine 
neue Bearbeitung gefunden hatte. Und mit wunderbarfter Kunft weiß er die 
verblichenen Geftalten der Sage mit feinen eigenften Erlebniſſen zu beleben und 
zu durchglühen und damit dem Epilchen eine weſentlich Iyriiche Haltung zu 
geben. Die erſte Bekanntſchaft, das endliche Gewinnen der Geliebten, der 
glücjelige Rauſch des innigen Ginandergehöreng, der Schmerz des Abjchieds bei 
der vom Geſchick verhängten Trennung, das peinvolle Erwachen der Eiferjucht 
im Herz de3 Liebenden und die Bethörung zur Untreue im Herz der Ge- 
Liebten, die Verzweiflung des DVerrathenen und jein Aufjuchen des Helden- 
todes im Schlachtgewühl, find mit einer Wahrheit und Wärme der Em— 
pfindung, mit einer Kenntniß aller geheimften Herzenstriebe und Herzens— 
irrungen, und zugleich mit einer aus dem Glüdsgefühl des Dichters entſpringen— 
den, fein ironiſchen Schalkhaftigkeit erzählt, und über dem Ganzen liegt ein 
Zauber der bis in das Einzelnfte abgewogenen Gompofition und des unvergleid)- 
lichſten Wohllauts der leicht dahinfließenden Verſe, daß für den, der diejes Ge- 
dicht kennt, fein Zweifel ift, daß Pulci und Arioft in Boccaccio nicht blos 
ihren Vorgänger, jondern auch ihren Meijter haben. Chaucer, der nach Boccaccio 
diefelbe Fabel bearbeitete, hat Boccaccio’3 lyriſche Zartheit verwiſcht; und 
Shafejpeare war in feinem bekannten Drama dur) die Natur der dramatijchen 
Kunft auf durchaus andere Forderungen und Bedingungen gewiejen. 

Yiammetta, ein Roman in der Form von Tagebuchbefenntniffen, hat den= 
jelben lyriſchen Zug; aber e3 ift nicht die Lyrik der glüdlichen Liebe, ſondern 
der tief unglüdlichen, der in verzehrender Verzweiflung wühlenden. Das Ver— 


238 Deutſche Rundſchau. 


hältniß zu Fiammetta war durch die Abreiſe des Dichters von Neapel nach 
Florenz getrennt. Der Roman iſt der Erguß des tiefen Trennungsſchmerzes und 
der nagenden Sehnſucht nach der Wiedererlangung des verlorenen Glücks; aber 
ſo, daß der Dichter die Qual des eigenen Herzens in den Mund der Geliebten 
gelegt hat, in dem feinen Gefühl, daß ſo ungemeſſene Liebesklage in der Seele 
des Weibes eine tiefere Begründung und Rechtfertigung finde als in der Seele 
des Mannes. Es iſt ein Seelengemälde von hinreißender Gluth und Farben- 
pracht. Die Gefahren der erſten Begegnung, das Glück der tief innigen Liebe, 
die unbejchräntbare Allgewalt der Leidenichaft und ihr Kampf gegen alle Stö- 
rungen der feindlichen Außenwelt, die Klage über die plöglihe Trennung, das 
Verlangen nah) dem Entfernten, das Erwachen der Eiferſucht, das peinvolle 
und doc jo ſüße Schwanfen zwijchen der Furcht des Verlierens und der immer 
wieder aufdämmernden Hoffnung de3 Wiedergewinnens, der Auffchrei der Ver— 
zweiflung nad der Gewißheit des Verluftes, das Anwachſen des dumpf brüten- 
den Schmerzed, der um jo ficherer fein Opfer fordert, je williger ſich die 
gebrochene Seele ihm Hingiebt, weil ihr jelbft der Schmerz nod) eine ſüße 
Erinnerung de3 einftigen Glüdes ift, — das Alles ift mit einer pſychologiſchen 
Wahrheit und Tolgeritigfeit und mit einer Zartheit und Innerlichkeit der 
Sprache gejhildert, wie fie nur einem großen Dichter zu Gebot fteht, und wie 
fie in einer eben erſt werdenden Literatur doppelt beivunderungswürdig ift. 
. Keiner wird Boccaccio’3 Fiammetta lejen, ohne unabläſſig an Goethe's Werther 
erinnert zu fein. Sicher ift die Dichtung Goethe's von unendlich tieferem Gehalt 
al die Dichtung Boccaccio’3. Es fehlt dem Roman Boccaccio's jene gewaltige 
Unterlage de3 ununterdrüdbaren Unendlichkeitäftrebens, die die Liebestragödie 
Werther'3 zur Tragödie des an der Härte des MWeltlauf3 zerjchellenden Herzens— 
idealismus macht; der Roman Boccaccio’3 iſt nichts als die Geſchichte einer 
unglüflichen Liebe, der wir Nordländer nicht einmal unjere volle Theilnahme 
zuwenden Zönnen, weil bei unjeren glüclicheriveife jtrengeren Begriffen von der 
Heiligkeit und Unverleglichkeit der Ehe die Sehnſucht einer verheiratheten Frau 
nad) dem fremden Geliebten etwas Abſtoßendes hat. Gleichwohl ift diejer 
Roman einer der geichichtlich denkwürdigjten Mtarkfteine. Jene gefühlsſchwel— 
geriiche Herzensverzärtelung, die bereits in Petrarca’3 Sonetten jo verhängniß- 
voll anklang, Hat hier ihren leidenſchaftlichſten und gejteigertften Ausdrud ge- 
funden; Boccaccio’3 Fiammetta ift ganz und gar ein Kind modernfter Empfind- 
'jamfeit, deren Urjprung wir meift erft in Sterne und Roufjeau und Goethe 
ſuchen. 

Das Decamerone, das berühmteſte Werk Boccaccio's, ja das einzige, das 
den Namen Boccaccio's im Andenken der Nachwelt noch wachhält, ſcheint weit 
abzuliegen von jener überquellenden leidenſchaftlichen Gefühlsinnerlichkeit, in 
welcher die Leiden Fiammetta's ihren eigenſten Reiz und zugleich ihre Schwäche 
haben. Und doch wurzelt auch) das Decamerone in derjelben Grundjtimmung. 
63 ift derjelbe Kampf für das unverbrüchliche Recht der Leidenjchaft und deren 
Ungebundenheit und Schrantenlofigkeit. Nur in anderer Richtung und nad) 
anderen Zielen. Es find Hundert Novellen; ihre Abfafjung fällt in die Jahre 
1349— 1353, aljo in die Zeit des Kräftigften Mannesalters des Dichters. Die 


Petrarca und Boccaccio ald Begründer der italienischen Renaiffancebildung. 239 


Scenerie ift, daß jieben Mädchen und drei junge Männer während der grauen- 
vollen Peft, die im Sommer 1348 in Florenz mehr ala 96,000 Menjchen Hin- 
taffte, fi in einen anmuthigen Landaufenthalt zurücdziehen, um ſich dort durch 
die Erzählung heiterer und ergötzlicher Gejhichten über die Noth der Gegen- 
wart hinwegzufcherzen. An jedem Tag zehn Novellen; daher der Name Deca- 
merone (dere, nutga). Mit Recht wird Boccaccio al3 der erſte Novellift aller 
Zeiten gepriefen. Nicht nur, daß faft jede einzelne Novelle ein höchftes Mufter 
dichterifcher Erzählungskfunft ift; auch die Vertheilung der Erzählungen je nad) 
den verjchiedenen Charakteren der Erzählenden, die wirkungsvolle Gegenüber- 
ftellung de3 unheimlichen allgemeinen Jammerd und der heiteren Genußfreude 
des hier in reizendjter Landſchaft und geiftvolliter Gejelligfeit weilenden Kleinen 
Kreijes, die feinberechnete Umrahmung durch die ergreifende Schilderung der Peſt 
in der Einleitung und durch die tiefrührende Geihichte von der unbeugjamen 
Liebestreue der jchwergeprüften Dulderin Grijeldi3_ am Schluß des Buches, 
zeugen von einem Künftler, der die KHunftmittel, die er jich mit höchfter Genia- 
Lität ſelbſt erſt geichaffen hat, mit klarſter Einfiht und mit vollfter Sicherheit 
beherricht und verwendet. Dennoch ift der innerjte Kern des Buches wurmftichig. ! 
Einzelne Novellen zwar greifen in tieffte Lebensfragen. Bon Boccacciv hat 
Leſſing die herrliche Erzählung Nathans des Weijen von den drei Ringen ent- 
lehnt, und Boccaccio ſelbſt macht jhon die Anwendung diejer Erzählung auf 
die Forderung religiöfer Duldjamkeit. Won Boccaccio werden die unerbitt- 
lichſten Geihelhiebe auf da3 ungeiftliche Leben der Geiftlichkeit, bejonderd der 
Mönche und Nonnen gerichtet; das Concil von Trient wußte, was e3 that, als 
e3 das Decamerone auf den Inder der verbotenen Bücher ftellte. Aber viele, 
ja die meiften diefer Novellen find von einer Ausgelafjenheit und Sinnenüppig- 
feit, die durch die allgemeine Sittenlojigkeit der Zeit und durch die alle böfen 
Beidenichaften entfejjelnden Einwirkungen der graujen Peſt zwar erklärt, aber 
nicht entjchuldigt werden kann; fie wirfen um jo anftöhiger, je mehr der Dichter 
jelbft diefen Erzählungen durch die Darftellung des Siegs Jüberlegener Schlau- 
heit über argloje Einfalt oder jelbitjüchtige Beichränktheit den Reiz behaglichen 
Uebermuth3 und naiver Schalkhaftigkeit zu wahren weiß. Gerade dieſe Seite 
aber ift e3, die das Decamerone für die Charakteriſtik der italienischen Sturm- 
und Drangperiode jo überaus bezeichnend macht. Sieben Mädchen im Alter 
von achtzehn bis zu achtundzwanzig Jahren, und drei junge Männer, deren 
jüngfter fünfundzwanzig Jahre alt ift, ſolche Geſchichten fich erzählend und fich 
höchlich an ihnen ergößend, und zwar Mädchen und Yünglinge von den durch— 
gebildetften Formen feinfter und geiftvollfter Gejelligkeit! Das eigenfte Weſen 
des Decamerone iſt diejfelbe jophiftiiche zügelloje Genußlehre, deren Apoftel in 
der beutjchen Sturm- und Drangperiode vor Allem Wilhelm Heine’s Arding- | 
hello und dann in der Zeit der romantiihen Schule, bis zur Garricatur ver- 
zerrt, Friedrich Schlegel’3 Lucinda war. Das jogenannte junge Deutjchland ſprach 
von der Emancipation de3 Fleiſches. 

Und gleich) Petrarca wurde Boccaccio einer der eingreifendften Begründer 
und Förderer der Humaniftiichen Richtung! 

Auch in ihm war dieje Wandlung nur das Ergebniß tieffter Entwidelungs- 


240 Deutſche Nundichau. 


nothwendigfeit. Wie hätte diefer ungeſtüme weltfrohe Sinn Genüge haben 
fönnen an der Enge mittelalterlicher Chriftlichfeit? Namentlich die Art, mit 
welcher Boccaccio die ftürmende Leidenſchaft Fiammetta's immer und immer wieder 
durch Vorbilder und Gleichniffe der alten Götter- und Heldenjage zu rechtfertigen 
und zu verflären jucht, bezeugt, daß für die tiefften Stimmungen jeiner Seele, 
für jeinen tiefberehtigten, wenn auch noch ungebändigten Drang nad Entfal- 
tung der ganzen und vollen Menjchennatur Boccaccio Antwort und Gegenbild 
nur in der freien und bewegten Menfchlichkeit der alten Griechenwelt fand. 

Als daher Boccaccio in der zweiten Hälfte jeines Lebens mehr und mehr ſich 
den begeiftertften Alterthumsſtudien zumendete, trat er in dieje Welt des Alter- 
thums nicht al3 ein Fremder, jondern als ein tiefinnerlih Verwandter. Und 
durch diefen tiefen Zug innerjter Wahlverwandtichaft brachte er den immer noch 
in ihren exften Anfängen ftehenden Alterthumsſtudien eine Erweiterung und 
Ergänzung, |die für das Wejen der modernen Bildung entjheidend geworden. 
Voigt in jeiner trefflichen Gejchichte des erften Jahrhunderts des Humanismus 
| hat Boccaccio ſehr ungerecht beurtheilt, indem er ihn nur als einen Abfall 
von der genialen Höhe Petrarca’3 in philologiiche Stleinmeifterei betrachtet. 
Boccacciv’3 großes und unentreißbares Verdienft und jein entjcheidender Fort— 
jchritt über Petrarca hinaus ift vielmehr, daß, während Petrarca ſich ganz aus— 
ſchließlich nur auf das römiſche Alterthum beſchränkt hatte, Boccaccio feine Mühe 
und feine Koften jcheute, bis zu den Griechen vorzudringen. Petrarca hatte 
zwar auch) bei einem griechijch vedenden Galabrefen Unterricht genommen 
und verjucht, mit diefem Plato und Homer zu lejen; aber als ihm ein ange- 
jehener Mann aus Gonftantinopel, Nicolaus Sergius, eine vollftändige Abjchrift 
der homeriichen Dichtungen zum Gejchent machte, mußte er doch jich blos mit 
dem freudeerregenden Anblic diefer Handichrift begnügen, teil, wie er jelbjt an 
Sergius jchreibt, fein Ohr für griechiiche Laute noch taub war. Boccaccio machte 
fi die griechiſche Sprache nad Kräften zu eigen und fuchte fie auch Anderen 
zugänglicy zu machen. Nicht ohne Stolz erzählt ex in den letzten Büchern feiner 
Genealogia Deorum, die überhaupt für die Geihichte des beginnenden Humani3- 
mu3 von großer Bedeutung find, wie er um 1360 den griechiſchen Galabrejen 
Leontius Pilatus durch feine injtändigen Bitten von Venedig nad) Florenz zog 
und ihn, den häßlichen mürriſchen unholden Gejellen, jahrelang in feiner dürf- 
tigen Wohnung beherbergte, wie er neue Handſchriften Homer’3 aus Griechen- 
land ſich verſchaffte, fie mit ihm las und ihn zu einer lateiniſchen Ueberſetzung 
veranlaßte, und wie er nicht ruhte und raftete, ala bis er es bei der Florenti— 
niſchen Republik durcchgejegt Hatte, daß für Leontius Pilatus ein öffentlicher 
Lehrftuhl für die griehiiche Sprade und für die Erklärung Homer’s errichtet 
wurde. Die erjte Frucht diefer griehiichen Studien war Boccaccio’3 Handbuch 
der Mythologie, die Genealogia Deorum. Statt vornehm über dieſes Buch zu 
jpötteln, jollte man ſich Klar machen, aus welch dürftigen Quellen Boccaccio 
Ihöpfte und welch unermeßliche Wirkung es auf lange Reihen ftrebjamfter 
Menſchengeſchlechter übte. Noch das berühmte Paftorale Luca Signorelli's, da3 
It eine Zierde der Gemäldegalerie in Berlin ift, ftammt unmittelbar aus 

occaccio. 


Petrarca und Boccaccio ald Begründer ber italienischen Renaiffancebilbung. 241 


Nur allzufehr hat die Nachwelt vergeſſen, was fie Petrarca und Boccaccio 
ſchuldet. 

Mit wunderbarer Raſchheit fanden dieſe Anregungen Verbreitung und 
Fortbildung. Beſonders Florenz, deſſen regſame Bevölkerung und freies Ver— 
faſſungsleben mit den alten Republiken ſo viel Verwandtes hatte, wurde der 
Sitz der neuen Bewegung. Gelehrte Byzantiner kamen nach Florenz, junge 
Florentiner wanderten nach Byzanz. Das 15. Jahrhundert vollendete, was das 
14. Jahrhundert begonnen. Die großen Medicäer, Coſimo und ſein Enkel 
Lorenzo Magnifico, ſetzten ihren Stolz darein, nicht blos Führer des Staat3- 
weſens, jondern auch Führer der Bildung zu fein. Männer wie Niccold Nic- 
coli, Leonardo Bruni, Ambrogio Traverjari, Poggio, Marfiglio Ficino, Lorenzo 
Valla, Polizian wmetteiferten in der MWiederentdedung der alten Schriftiteller 
und in deren Erklärung und Verbreitung. Auch die Philojophie der Alten wurde 
wieder eine lebendige Zeitfrage; in den jogenannten platoniſchen Academich 
ftrebten Lorenzo und deſſen Gelehrtenkreije, die Kirchenlehre möglichft den An— 
ichauungen Plato’3 und der Neuplatonifer zu nähern. Mit Recht fonnte Poggio 
fagen, Athen jei nicht zerftört, jondern nad) Florenz übergefiedelt. Und von 
Florenz aus verbreitete fih die neue Richtung durch ganz Stalien. In den 
Republifen, in Siena, in Venedig, in Genua; ebenjo an den Höfen des Königs 
von Neapel und der Gewaltherricher der Kleinen Fürſtenthümer; ja durch 
Nicolaus V. (Tommaſo Parentucelli) und Pius II. (Aeneas Sylvius Piccolo- 
mini) und jodann duch Julius II. und Leo X. bemädhtigte fie fi) ſogar des 
päpitlichen Stuhles. He einheitliher fi im Mittelalter unter der Obhut der 
Kirche die Bildungszuftände aller Länder geftaltet hatten, um jo jchneller erhob 
fi) die gleiche Bewegung in Frankreich, in England und ganz bejonder3 auch 
in Deutihland. Sogar in Ungarn und Polen finden wir thätige, höchſt an- 
gejehene Humanijten. 

Aus dem friichen Duell des Alterthums jchöpfte ſich die Menjchheit neue 
Kraft, neue Jugend. Bald ftand da3 geſammte Dafein unter der Herrichaft 
der neuen Richtung. Nur die Aufllärungsphilojophen des 18. Jahrhunderts 
haben eine annähernd eingreifende Stellung gehabt. Im Vollgefühl des Sieges 
konnte 2. B. Alberti, einer der gefeiertften und vielfeitigften Männer jener Zeit 
lagen: „Wir Philojophen find die Wiſſenden, durch unjere Schriften haben wir | 
den Menjchen Geſetze gegeben, und fie belehrt, das Leben frei und vernunft- 
gemäß einzurichten. 

Ein neues Zeitalter war gefommen; eine neue Weltanjchauung, eine neue 
Gefittung. Ein anderer Himmel, eine andere Erde. 

Dies ift der Boden, auf welchem die höchſte italieniiche Kunftblüthe er- 
wachſen ijt. 

Jene freiere, aus dem Studium der Alten entjpringende Richtung, welche | 
wir in der Wiſſenſchaft Humanismus nennen, nennen wir in der Kunſt rinas- 
citä, rinascimento, renaissance (de l’antiquit6), Wiedergeburt des Alterthums. 

Filippo Brimellesco, auf die jorgjamften Mefjungen und Aufnahmen der 
alten römischen Baudenkmale geftüht, wird der epochemachende Schöpfer diefer 
neuen antikifirenden Richtung in der Baukunſt; 1420 durch die Erbauung der 


242 Deutiche Rundſchau. 


Kuppel de3 Domes zu Florenz und durch die Erbauung der Kirchen und PBaläfte, 
welche fich diejer erften entjcheidenden That anſchloſſen. Nicht eine todte Nach— 
ahmung der antifen Formen, jondern ihre geniale Fortſetzung und Umbildung 
nad den Aufgaben und Empfindungen der mächtig fortjchreitenden unmittel- 
barften Gegenwart und Wirklichkeit. E3 folgte auf den gleihen Grundlagen 
und mit den gleichen Zielen die große Epoche der florentiniichen Bildnerei in 
ı Donatello, Ghiberti, Berrochio, Luca della Robbia, die große Epoche der floren- 
'tinifhen Malerei in der glänzenden, raftlos fich fteigernden Entwidlung3- 
reihe von Mafaccio bis hin zu Domenico Ghirlandajo und Leonardo da Vinci 
und Michelangelo. Bald ftellte fi) dem großen florentinifchen Kunftleben das 
Kunftleben der anderen italieniichen Städte ebenbürtig zur Seite. Nur in ein— 
zelnen, dem ftillen Klofterleben angehörigen Künftlern, wie vor Allem in iefole, 
erhält jich ein Nachklang jener ausſchließlichen Chriftlicheit, welche in der 
Kunft nichts als gemalte Gebete fieht. 

Es wird nicht immer genügend hervorgehoben, wie innig ſich die Humaniſten 
und die Künftler der Renaifjance ihres gemeinjamen Urjprungs und ihrer tief 
inneren Wejensgleichheit bewußt waren und in wie inniger Wechjelwirkung 
fie zu einander ftanden. Wie die Humaniften von Anfang an auch den alten 
Kunftdenfmalen, joweit diefe zugänglid” waren, die eifrigfte Aufmerkſamkeit 
zugewendet hatten und fie auf’3 emjigite jammelten, jo daß Florenz ſchon 
damals ſich ftattliher Sammlungen antiker Bildwerke rühmen konnte, jo verfolgten 
fie aud) das Schaffen der aufjtrebenden ‚neuen Kunſt, ein Jeder nad) feiner 
Stellung und nad) jeinen Kräften, mit wärmfter und förderndſter Theilnahme. 
Seonardo Bruni unterftüßte Ghiberti bei der Wahl der Darftellungsftoffe an den 
berühmten Erzthüren des Baptifteriums. Niccolo Niccoli war mit Brunellesco, 
mit Donatello, mit Ghiberti, mit Luca della Robbia auf'3 innigfte befreundet. 
Coſimo, der große Mtedicäer, begnügte fich 'niht mit der mächtigen Einwir— 
fung, die er durch jeine großartigen, in der Kunftgefchichte jeit dem Perikleiſchen 
Zeitalter unerhörten Aufträge ausübte, er verkehrte, wie mit den Gelehrten, 
jo au mit den Künſtlern unausgejeßt auf dem Fuß traulichfter Gleichheit. 
Lorenzo Magnifico war der Erſte, welcher eine auf das forgjamjte Studium 
der Antike gerichtete Kunftichule gründete, aus ihr find fo treffliche Künftler 
wie Lorenzo Gredi und Michelangelo hervorgegangen. Und von Seiten der 
Künftler war das gleiche innige Entgegentommen gegen die Humaniften. %. 
B. Alberti mahnt ausdrüdlih die Künftler, den Umgang mit Dichtern und 
| mit Männern der Wiſſenſchaft zu fuchen, eingedent der Thatjache, daß Phidias 
da3 Motiv feines Zeus aus Homer geihöpft habe. Und das Gleiche fordert 
‚ Michelangelo, der als Yüngling auf Polizian's Anregung jein großes Gen- 
taurenrelief jchuf, in einem Brief aus dem Jahre 1504, der in höchſt elegantem 
Latein gejchrieben ift. Die Künftler fürdhteten damals noch nicht, wie e3 wohl 
heut zumeilen die Furcht der Künftler ift, durch ernſtes Bildungsftreben ihre 
Naivetät und Urſprünglichkeit zu beeinträchtigen. Leo Baptifta Alberti und 
ra Giocondo, die großen Baumeifter, waren jelbft gefeierte Humaniften, die 
auch in der Gefchichte der Wiſſenſchaft einen unfterblihen Namen gewannen. 
Und wie jpäter Rafael mit Gaftiglione und Bembo und Sabolet, jo waren 


Petrarca und Boccaccio ald Begründer ber italienischen Renaiffancebildung. 243 


auch jet ſchon die Künftler mit den Gelehrten ihrer Zeit durch engfte Freund— 
ihaft verbunden. Mantegna malt Filelfo; das Bild Benozzo Gozzolis im 
Campoſanto zu Pija, das den Beſuch der Königin Saba bei Salomo darftellt, 
enthält die Bildniffe von Marfilius Ficinus, Argyropulos, Bartolomeo Pla- 
tina; die Darftellungen Domenico’3 Ghirlandajo’3 aus dem Leben Johannis 
des Täufer in der Kapelle Strozzi in S. Maria Novella in Florenz feiern 


| 


in gleicher Weile Marfilius Ficinus, Chriftophorus Laudinus, Demetrios | 


Chalcondylas und Angelo Boliziano. 

Die Kiünftler ftanden auf der Höhe der Zeit; darum wurden fie ihr 
monumentaler Ausdrud. 

Ja bald trat jogar die wunderbare und in der Gejhichte einzig daftehende 
Erſcheinung ein, daß die Wiſſenſchaft und die Dichtung, die doch die Grund: 
lage und der Anſtoß diejes gewaltigen neuen Aufſchwungs der bildenden Kunft 
geweſen waren, von der bildenden Kunft nicht blos an Formenſchönheit, jondern 
auch an Gedankentiefe weit überflügelt wurden. Der tieffte Geift jenes großen | 
Zeitalter8 liegt nicht in den gelehrten Giceronianern, deren Denken und Trachten 
faft ganz und gar in lateiniihen Stilübungen aufgeht, jelbft nicht in Pulci und 
Bojardo und Arioſt, die nur dadurch ſich als ächte Kinder der Renaifjance- 
bildung erweijen, daß fie mit den abgeblaßten Gejtalten der mittelalterlichen 
Sagenwelt ihr nedend ironijches Spiel treiben, aber nirgends den Verſuch 
maden, die tiefen Räthiel und Widerſprüche der bewegten Menſchenbruſt in den 


Bereich der Dichtung zu ziehen. Der tieffte Geift jened großen Zeitalters liegt viel- | 


mehr in den großen bildenden Künftlern, in Brunellesco und Bramante, in Leo— 
nardo, Michelangelo, Rafael, Tizian. Die Wiſſenſchaft und Dichtung verfladhte; 
e3 rächte ſich, daß fie in Ichaler Vermittlungsſucht und in blafirter Gleichgültig- 
feit und Heuchelei nicht den Muth und den unerſchrockenen Erkenntnißdrang 
hatte, den Fragen auf den Grund zu jchauen und den unlösbaren Widerſpruch 
zwiichen den Schranken der überfommenen Glaubenslehre und den zwingenden 
Forderungen der neuen Weltanſchauung in jener durchichneidenden Weije zur 
Entiheidung zu bringen, welche jpäter das unverbrüdjliche Weſen und die trei- 
bende Kraft der auf die Segnungen der Reformation gebauten protejtantijchen 
Wiſſenſchaft und Dichtung wurde. Die bildende Kunft hatte den Bortheil, daß 
fie von diejer hemmenden Zwieſpältigkeit unberührt blieb; aus der Poefie und 
Idealität der erhöhten jchönheitserfüllten Wirklichkeit zog fie ſich jene Poefie 
und Jdealität tieffter Seelenmalerei und jene ftilvolle Hoheit der künſtleriſchen 
Formengebung, welche die Blüthezeit der italienischen Renaiffance ebenbürtig 
neben die höchſte Blüthezeit der griechiſchen Kunft jtellt. 

Nicht ein Mann der Wiljenichaft, nit ein Dichter hat das innerfte 
Lebensgeheimniß und die durchgreifende geichichtliche Bedeutung diejes gewal— 
tigen Zeitalter in großartigfter Monumentalität ausgeſprochen, fondern ein 
bildender Künftler. In der Stanza della Segnatura des Vaticans, in einem 
Prachtgemach des päpftlichen Palaftes jelbit, malte Rafael in der fogenannten 


Disputa die Berherrlihung der hriftlichen Religion und Theologie, in der jo= | 


genannten Schule von Athen die VBerherrlichung der alten Philofophie, in dem ſo— 
genannten Parnaß die Verherrlichung der Poeſie und der muſiſchen Künfte, in der 


244 Deutſche Rundichan. 


‚ Stiftung der römiſchen und canonijchen Rechtsurkunden die Verherrlichung des 
Rechtes und des Staates. Neben der geheiligten Offenbarung fteht völlig eben- 
bürtig und gleichberechtigt die Bildung des Alterthums und deren freies Denken 
und Forſchen, die Weihe der Poeſie und Kunft, die fittliche und Staatliche Ord— 
nung. Nur eine Bildung, die mit der Ausjchließlichkeit des mittelalterlihen 
Kirchenthums gebrochen hatte, fonnte Religion und Philojophie und Kunſt und 

| Recht al3 die vier umerläßlichen und unverbrüchlichen Grundpfeiler des menjch- 
lien Daſeins verherrliden; nur eine Bildung, die mit der Ausſchließlichkeit 
des mittelalterlichen Kirchenthums gebrochen hatte, konnte den Muth haben, 
Plato und Ariftoteles, Homer und Vergil, Apoll und die Mufen auf gleichen 
Boden mit den Apofteln und Kirchenvätern zu ftellen. 





Ueber die Urt des Reiſens in Afrika. 


——ñ De 


Don 
Dr. Georg Schweinfurth. 


— — 


Wir leben in einer Zeit, welche den Kampf gegen die Schranken des 
Raumes begonnen; der Planet, den wir bewohnen, erſcheint uns nur noch als 
das enge „Erdenhaus“, in welchem wir länger keine unbetretenen Stellen dulden 
wollen. Dieſen Ausdruck gebrauchte, ſehr bezeichnend für den Geiſt der Zeit, 
der Begründer der Deutſchen Afrikaniſchen Geſellſchaft, als er mit einem 
öffentlichen Aufrufe zur Vollbringung des großen Werks aufforderte, in welchem 
wir eine der unſerem Volke im Wettkampfe mit den übrigen Nationen Europa's 
zugefallenen Aufgaben erblicken, die Erforſchung Afrika's. 

Im alten Griechenland würde man, — und an Beiſpielen, welche dieſe 
Vermuthung zu beftätigen ſcheinen, hat es nicht gefehlt —, derartige Worte 
mwahricheinli als einen ftrafbaren Inſult gegen die Majeftät der Gaea be- 
trachtet haben. Als der Horizont der geographiſchen Erkenntniß noch im engen 
Rahmen einer vom Okeanos umflojjenen Inſel lag, da genügten aber auch 
allein die bewegenden Kräfte de3 Waſſers und der Luft, um alle Bedürf- 
niſſe de3 Menjchen zu befriedigen, wo feine eigene Kraft nicht ausreichte. 
Tauſende von Jahren bereit3 hatte er mit neptunifchen und mit äolifchen 
Mitteln gearbeitet, al3 er von der relativen Anficht, die fein erleuchteter Geift 
ihm gegeben, da3 pofitive Bild durch eigene Anſchauung in ſich zu verwirklichen 
jtrebte, al3 Columbus kam; fie erwiejen ſich als immer unzureichendere, ala 
dreihundert Jahre jpäter ein zweiter Columbus kam, der die jogenannte neue 
Melt von neuem entdedte. Seht erſt, da auch das Teuer in den Kreis der 
bewegenden Glemente getreten, verjüngen fi) vor unferen Blicken die combi- 
nirten Schranken der Zeit und de3 Naumes, und Hinderniffe, die früher un— 
überwindlich Tchienen, jehen wir immer mehr jich zu bloßen Fragen des Kraft» 
und Zeitaufwandes, der Arbeit und des Geldes gejtalten. Durch die voll- 
tommenjte Erfindung, der nad) menſchlichem Bedürfniß vollendetjten, durch den 
electriihen Telegraphen, jehen wir die entfernteften Räume des Erdballs, — 
um den Vergleich mit dem Haufe weiterzuführen, — zur Enge eines 
Zimmers zufammenfchrumpfen, in welchem man ji) aus einer Ede in die 


246 Deutſche Rundichau. 


andere beliebige Worte der Begrüßung zuzurufen vermag. Ein einigendes 
Band umſchlingt die Geſammtfläche des Globus und mit gewaltigem Puls— 
ſchlag markiren alle Bölferftrömungen ihren jedesmaligen Stand im europäiſchen 
Herzen. Nach immer kürzer werdendem Zeitmaße durchmefjen unjere Dampfer 
die immenjen Flächen des Weltmeers; die Erdoberfläche bedeckt ſich mit Schienen= 
wegen; nur noch in wenigen Ländern Europa’3 find Streden dargeboten, wo man 
Tagereifen zu Fuß zurüdgulegen vermöchte, ohne in die Majchen des großen 
Eijenbahnnetes zu gerathen, — 
„und auf entlegnen Wegen 


tönt, wie ein altes Märchenwort, 
dad Poſthorn uns entgegen.“ 


In der That kann die Zeit nicht mehr fern jein, in welcher Leute, die auf 
der Achſe noch größere Streden in Europa zurücdgelegt haben, unter uns zu 
den größten Seltenheiten zählen werden. Als der Neftor der deutjchen Afrika- 
reijenden, Gottfried Ehrenberg, vor mehr ala einem halben Jahrhundert fih in 
Trieft zu der epohemadenden Reiſe einjchiffte, welche ihn an der Seite de3 
unglüdlihen Hemprich Tängftgefannte Länder des Alterthums von neuem ent- 
deden ließ, da hatte er, um dieſen Platz zu erreichen, von welchem heute noch 
lange nicht der Beginn einer größeren Unternehmung datirt, allein 15 Tage 
per Achſe zurüczulegen gehabt, und erſt 4 Wochen jpäter betrat er die Geftade 
Aegyptens. Heute fährt man 30 Stunden auf Schienenwegen nad) Trieft, 
wenn man aber noch 20 zugiebt, jo kann man an das äußerſte Ende Italiens 
gelangen, und ift drei Tage jpäter an den gaftlichen Ufern des Nils, 

Als man dor 300 Jahren das Inſtitut der Reichspoft ſchuf, galt das mit 
Recht als ein Fortſchritt, der eine neue Epoche bezeichnete, Afrika hat fih an 
demjelben nie betheiligt, und dasjenige Land, welches die ältefte und zugleich 
die neueſte Cultur in diefem Welttheile in ſich jchließt, Aegypten ift mit einem 
Sprunge aus dem Altertfum in die Neuzeit übergegangen*). Dahinter liegt 
da3 echte unveränderte Afrika, dort ift Alles beim Alten geblieben; aber es 
fommt immer etwas Neue3 aus Afrika, es bleibt ung eiwig neu. Kann doch 
der Gegenſatz zu unſerer Zeit nirgends in grellerem Lichte in die Augen 
Ipringen, als in Gegenden, wo wir, um ein heimijches Beijpiel der Reifemanier 
geben zu können, bi3 in die Zeiten zurücdzugreifen haben, in welchen das 
Nibelungenlied jpielt, und wo die Gejdhichte von Gunther Zuge zum Könige 
Etzel uns die DVerhältniffe jchildert, unter welden man nocd inmitten von 
Deutihland Waldwildnijfe und menjchenleere Einöden auf twochenlangem Ritte 
zu durchwandern hatte, 

Der mir zugemefjene Raum würde nicht ausreichen, nad) jeder Richtung 
hin die Art des Reifens in Afrika eingehend vor die Augen zu führen. Afrika 
ift groß, und wenn auch in ungeheuren Räumen von größter Gleichartigkfeit 
feiner phyſikaliſchen Belchaffenheit, jo rufen doch auch hier die Combinationen 
der Localverhältniffe eine bedeutende Mannichfaltigfeit in der Art und Weiſe 


*) Aegypten befit gegenwärtig 1780 Kilometer befahrener Schienenwege und, im Verhältniß 
zur Ginwohnerzahl, mehr Eifenbahnen ala Jtalien oder Oeſterreich-Ungarn. ; 


Ueber die Art des Reiſens in Afrita. 247 


bervor, in welcher der Reifende mit ihnen zu rechnen hat. Bor Allem will ich 
mich daher auf die Art der Ortsbewegung, der Fortſchaffung des Reijenden 
vom Plate beichränfen, wobei ich immer ein zu feinem Interhalte ſowie für 
feine wiſſenſchaftlichen Reiſezwecke unerläßliches Gepäd von vielen Gentnern 
vorausſetze. 

Im Großen und Ganzen kann man Afrika nach der Bodenbeſchaffenheit 
und den meteorologiſchen Verhältniſſen in vier von einander ſehr verſchiedene land— 
ſchaftliche Gruppen eintheilen, die nicht überall einen zuſammenhängenden Anſchluß 
ihrer Theile zu erkennen geben, ſondern auf weite Strecken von einander ge— 
trennt, in ſehr entlegenen Gebieten des Continents ſich wiederholen können. 
Es ſind: erſtlich die Region der Wüſten und Steppen, dann die der Bergländer, 
ferner die von minder ausgedehnten Grasflächen unterbrochene Waldregion, 
welche dem größten Theil des tropiichen Afrika's, 15 Breitengrade ſüdlich und 
faft ebenjoviele nördlih vom Aequator, einen jo gleichartigen Charakter ertheilt, 
daß wir von den Ufern des Senegal bi3 zum Zambefi, vom Congo bi3 an den 
Gazellenftrom die große Mehrzahl aller Thiere und Pflanzen in völlig iden- 
tiſchen Arten antreffen. Dazwiſchen firömen die Flüſſe, welche das beſte 
Gulturland angeſchwemmt und an ihren Ufern eine größere Bevölferungsdichtig- 
feit hervorgerufen haben. 

Diefen vier landihaftlihen Gruppen entiprechend kann man auch die Art, 
wie man in den verjchiedenen Gegenden Afrika's reift, die Art ihrer Be— 
förderungsmittel unter vier Kategorien zujammenftellen. In den Wüften und 
Steppen reift man mit Kameelen, im Berglande mit Pferden, Ejeln und Maul: 
tieren, im Waldgebiete mit Trägern zu Fuß und auf den Flüſſen, welche ſich nur 
zum geringften Theil der Dampfiifffahrt erjchloffen, mit Segelbarten. Ein 
fünftes Beförderungsmittel, das indeß auf das jüdliche Afrika beſchränkt und 
mir aus eigener Anſchauung nicht bekannt ift, das Reifen in großen Wagen 
mit Ochſengeſpann, kam dieſſeits de3 Aequator in Afrifa noch nirgends zur An— 
wendung. In den von mir bereiften Gebieten waren e3 weniger die localen 
Berhältniffe der Natur al3 vielmehr die Jndolenz der Bewohner und der Mangel 
an europäifcher Jnitiative, welche diejes vorzügliche Beförderungsmittel bisher 
noch nicht zum Verſuche gelangen ließen. 

Ich beginne das Reifen mit den Ylüffen, denn die Flüſſe, durch welche 
die höchſten Punkte im Inneren eines Continents mit den niedrigften an feiner 
Küfte in direkte Verbindung treten, find nicht nur die ewigen unveräußerlicyen 
Fahrſtraßen des an feiner Weiterbildung unabläjfig fortarbeitenden Erdballs, 
als joldhe dienen fie auch dem Menjchen, welcher fich überall die im großen 
Haushalte der Natur erworbenen Erfahrungen, gleihjam wie unbewußt, zu 
Nuten maht und feine erſte Culturftufe damit zu bezeichnen pflegt, daß er 
demjelben die Modelle feiner Kunft entlehnt. 

Zur Zeit ihrer Kindheit waren Schifffahrt und Handel auf die Küften be= 
ſchränkt, wo fie die Austrittäftellen der natürlichen Arterien des Binnenhandels 
auffuchten. An den Mündungen der großen Flüſſe entftanden die Emporien des 
Welthandels. In keinem Welttheile indeß ift die den Flüffen zugefallene Rolle 
eine geringere geblieben als in Afrifa. Entweder waren die Zugänge zu ihnen 

Deutſche Rundſchau. 1,5. 17 


248 Deutiche Rundſchau. 


in einem Labyrinthe von Mündungsarmen fo verftecte, daß fie von den Seefahrern 
Jahrhunderte lang überjehen werden konnten, oder die vorgeſchobenen Sandbarren 
geftatteten den Eintritt nur Fahrzeugen der Heinften Art, welche den Anforbe- 
rungen der weiten Curſe auf hoher See nicht gewachſen erfchienen. Wo fich 
aber bequeme Zugänge eröffneten, da verichloffen gar bald unüberwindliche 
Stromſchnellen jede weitere Schifffahrt. 

Der Nil ift der einzige afrikaniſche Fluß, welcher bereit3 im Alterthum 
als MWaflerftraße für den Welthandel eine gewiſſe Bedeutung errang, fie reichte 
indeß nur bis an da3 Ende der großen Kornlammer von Aegypten bei den 
erſten Gataracten von Syene, in der Nähe des Wendekreiſes. Dort befanden 
fih die Thore der damals befannten Welt; was darüber hinauslag, davon 
wußte man nur von Hörenfagen zu berichten. Obgleih nun viele Gataracte 
den Lauf des Nilftrom3 auf weite Streden unterbrechen, jo ericheinen fie doch 
nicht als abjolut unüberwindbar. Stromabwärts, bei hohem Waflerftande, 
fahren alljährlich zahlreiche Barken von Chartum bis Cairo hinunter, beladen 
mit den mannichfaltigften Produkten des Sudan. Mit dem nöthigen Aufwande 
von Menjchenkräften können jogar Dampfer durch alle Gataracte ftromaufwärts 
gezogen werben. Der Verſuch ift bereits öfters geglückt und ſchon Haben ihrer vier- 
zehn, darunter Dampfer von über 100 Pferdefräften, alle dieſe Hinderniffe ohne 
Unfall überwunden, jo daß diejelben den Hauptftrom faft in feiner ganzen 
Länge, von der Mündung bis über den 5. Grad nördlicher Breite hinaus, d. h. 
von Alerandria bi3 Chartum und Gondoforro, einer Strede von über 450 deutjchen 
Meilen Stromentwidelung, unaufhaltfam zu. befahren vermochten. Auf den 
Zwifchenftreden, innerhalb der durch die Cataracte geſchaffenen Unterbrechungen, 
herrſcht ein immerhin beträchtlider Barkenverkehr, und oberhalb der Stadt 
Berber, in einer Ausdehnung von nahezu 200 deutjchen Meilen, ftellen ſich der 
Schifffahrt zu Feiner Jahreszeit andere Hinderniffe in den Weg, als die durch 
die außerordentliche Ueppigkeit der Vegetation in den oberen Gewäſſern ge= 
ichaffenen. Die jogenannten ſechſten Gataracte bei Schendi find nämlich der 
Schifffahrt nicht hinderlich. Zwiſchen Berber und Chartum fommen und gehen 
die Barken da3 ganze Jahr hindurch. Mit geringer Mühe find auch die erften 
Gataracte bei Aſſuan, dem alten Syene, zu überwinden, erft mit den zweiten 
Gataracten, denen von Uadi-Halfa beginnt die große Unterbrechung im Verkehr 
ſtromaufwärts jegelnder Barken; diejelbe umfaßt bis zu den fünften Gataracten 
eine Strede von ungefähr 115 deutjchen Meilen der Stromlänge, aber auch 
innerhalb dieſer Grenzen eröffnet ſich ſtreckenweiſe der Schifffahrt immer noch 
ein gewiller Spielraum für die Bedürfnifje des Localverkehrs. 

Die erften Gataracte bezeichnen, wie vor 2000 Jahren, auch heute noch die 
Thore ber civilifirten Welt, bis dahin iſt eine regelmäßige Dampfidifffahrt 
eingerichtet, und fie bilden das gewöhnliche Ziel der alljährlich Aegypten be- 
fuhenden Touriſten. Diefer Theil der Flußichifffahrt bedarf daher feiner 
näheren Beichreibung; man findet dajelbft mit allem Comfort ausgeftattete 
Dampfer, welche einen Vergleich; mit denen des Rheins in feiner Hinſicht zu 
Iheuen haben, während die dur ein Zuſammenwirken der Segel und Ruder 


Ueber die Art des Reiſens in Afrika. 249 


äußerft beiveglihen Dahabien, was Bequemlichkeit der Einrichtung anbelangt, 
ihres Gleichen fuchen unter allen Flußfahrzeugen der Welt. 

Mit Chartum, diefem großen Sammelplage des ganzen Verkehrs im öft- 
lihen Sudan, nimmt nicht nur der Hauptftrom einen durchaus veränderten 
Charakter an, — er wird breiter und waſſervoller, — fondern auch die Schiff- 
fahrt tritt ung auf demjelben in völlig neuem Gewande entgegen. Die Schwierig: 
feit des Transportes durch die Wüften, oder über die Gataracte des mittleren 
Stromlaufs jchließt unjer leichtes und gerades Tannenholz vom dortigen Schiffs- 
bau aus, die vorhandenen Barken find daher plump und jchwerfällig aus 
eilenhartem Acacienholz in ſeltſamer Weiſe zufammengezimmert. Der Reijende 
findet auf denjelben feine jener Bequemlichkeiten wieder, mit welchen ihn die Da— 
habien Aegyptens verwöhnten. Nur nothdürftig ift auf ihnen der dargebotene 
Schuß gegen Wind und Wetter, während die ftet3 erforderliche Mitnahme einer 
zahlreichen Bededung den vorhandenen Raum auf’3 Aeußerſte beichräntt. Se 
nachdem die localen Hinderniffe der Wafjervegetation das Fortkommen beein - 
fluffen, rechnet man von Chartum bis an’3 Ende der Schifffahrt, ſei es auf dem 
ſüdlichen oder auf dem öftlichen der beiden Hauptarme de3 Weißen Nils, dem 
Bachr-el⸗Gebel und dem Bachr-el-Ghaſal, im günftigften Falle immerhin zwischen 
ein und zwei Monate unausgejegter Segelfahrt, bei gutem Nordiwinde. Durch 
die unter dem 9. Grade nördlicher Breite angehäuften Maffen ſchwimmender 
Grasinjeln des „Sſett“, oder der großen Grasbarre, kann ſich die Fahrt indeß 
unter IUmftänden bis um da3 Doppelte und Dreifache des angeführten Zeitmaaßes 
verlängern. Durch die im Jahre 1870 vollendete Unterwerfung des großen 
Negerftammes der Schilluf unter die Botmäßigkeit der ägyptiichen Regierung 
find in leßterer Zeit wenigftens die von Seiten der Uferbewohner dem Reiſen— 
den drohenden Gefahren bejeitigt worden; gegenwärtig find e8 nur noch die 
Launen des Windgottes, der Waflerftand umd die Grasbarre, welche die hin— 
bernden Factoren abgeben, mit denen er zu rechnen hat. 

Ueber mehr ala den dritten Theil des afrikaniſchen Kontinents erftreden 
fich jene einförmigen, vegetationsarmen und mehr oder minder regenlojen Striche, 
welche man MWüfte nennt; theils find es Wüſten im engeren Sinne, — jene 
abichredende Dede, die uns die Vorftellung von der Unendlichkeit naherüdt —, 
theils find e3 mehr oder minder mit Gras- und Krautwuchs bededte Ebenen, 
Gebirge und Thäler, wo die Seltenheit des Regens und die Zerftreutheit der 
Trinkwafjerpläße allen Erſcheinungen des Thier- und Pflanzenlebens einen jo 
charakteriſtiſch gemeinſchaftlichen Stempel aufprägen. 

Die Wüfte mit ihren ungeheuren Entfernungen, mit dem bejtändig drohen 
den Mangel an Speije und Trank, würde jeder freien Bewegung des Menjchen 
ebenjo Hinderlich entgegentreten, twie auf dem Dcean die immenjen Flächen von 
ſalzigem Wafjer, wäre ihm nicht die Dienftbarmahung eines Thieres geglüct, 
welches von der Natur mit allen Mitteln zur Bekämpfung diejer Hindernijje 
ausgerüftet erjcheint und da3 man daher da3 Schiff der Wüſte nennt. 

Dean hat die Domefticirung de3 Hundes als den größten Triumph be= 
zeichnet, welchen der Menſch im Kampfe mit der Thierwelt gefeiert; aber fein 
geringerer Triumph war es, al3 das PO allem Bernünftigen jo abholde 


17* 


250 Deutiche Rundichau. 


Kameel dazu vermocht wurde, dem Ruf des Führers (einem feinen eigenen 
Lauten nadjgebildeten Gurgelton) gehorchend, vor ihm auf die Kniee zu ſinken 
und wehrlos feinen ftarfen Rüden der Bürde preiszugeben. 

Wie und wo, und wann es dem Menſchen gelang dieſes Thier zu zähmen, 
wird vorausfichtlich für immer eins der größten Räthſel in der Geſchichte 
menſchlicher Cultur bleiben, und es muß geradezu unbegreiflich erjcheinen, daß 
jenes Hausthier, welches dem Menjchen das am allerunentbehrlichften gewordene, 
an welches die Eriftenz deffelben ſozuſagen gebunden ericheint, zugleih auch 
dasjenige ift, welches ihm von jeher am meiften entfremdet geblieben. 

„Noch nie”, bemerkt Brehm, der muftergültige Darfteller des Leben3 der 
Thiere, ſehr richtig, „noch nie hat ein Araber e3 verfucht, die geiftigen Eigen- 
Ichaften eine3 Kameel3 zu rühmen *), obgleich Hunderte feines Volkes ohne diejes 
Thier nicht leben können." Seinen ganzen Ruhm verdankt e8 aber allein der 
förperlihen Befähigung, im übrigen ift es das unliebenswürdigfte, dümmſte, 
ftörrifchfte und ungemüthlichfte Geſchöpf, welches man fich denfen kann. Doll 
Gehäffigkeit oder Gleichgültigkeit gegen feinen Wohlthäter folgt e8 ihm nie im 
Guten, nur dur Gewalt wird es zu feiner Pflicht und meift auch nur durch 
Gewalt zu allem Dem angehalten, was ihm jelbft frommt und nütlich tft. 

Ich verteilte abfichtlich bei diefen abftoenden Eigenichaften des Wüſtenſchiffs, 
denn jie find geeignet unſere Betrachtung auf einen Geſichtspunkt zu lenken, welchen 
ic) bei Beſprechung de3 Nubens, den da3 Kameel den Afrifareijenden darbietet, 
in den Vordergrund ftellen möchte. Der Umgang mit diefem Thiere, defjen 
jeltfames Naturell den Reijenden gleihfam dazu zwingt, jeine Geiftesverfaffung 
in Einklang zu jeßen mit der jtarren Natur der Umgebung (— wie er denn 
aud) den Charakter der menjhlichen Wiftenbewohner dem jeinigen jo ähnlich 
gemacht —), diefer Umgang bildet die pafjendfte Vorftudie au den größeren Auf- 
gaben, welche er fich geftellt Hat. Keine Art des Neifens übt ihn beffer in 
Ausdauer und Standhaftigkeit, gewöhnt ihn mehr an Sonnenbrand und Hibe, 
führt ihn leichter ein in die hohe Schule der Geduld — ; Geduld aber ift das 
erfte Erforderniß bei jedem Unternehmen zur Erforichung des unbekannten Afrita. 

Der Europäer in Indien, jagt ein alter Spruch, lernt nody Geduld, oder 
er verliert fie, wenn ex fie bereits bejellen. 

Die Körpergeftalt des Kameels deutet auf das Entjchiedenfte darauf hin, 
daß dieſes Thier für die Ebene geichaffen ſei. Zwar liegen die Hauptreviere 
der Kameelzucht überall in von hohen Bergen umſchloſſenen Thälern; da ſich 
aber die Bergwände innerhalb der Wüften- und Steppenregion nur in der 
Nähe des Meeres mit Pflanzentwuchs befleiden, im Binnenlande dagegen aus— 
nahmslos nadt und öde bleiben, jo ift das Kameel bei feinem Weidegange von 
Haufe aus auf die graserfüllte mit Acacien beftandene Thaljohle angewiejen. 
Immerhin ift das Thier im Stande, fteile Höhen zu erflimmen, wobei es indeß 
eine gewwilje Unbeholfenheit an den Tag legt, namentlich an Stellen, wo der Boden 


*) Einer jchmeichelhaften Erwähnung erfreut fich der Name des Kameels in der bilderreichiten 
Sprache des Oſtens nur bei Leichenbegängniffen, wenn die Wittwe hinter der Bahre des Ge- 
mahls die jtereotypen Worte ausruft: „ja gemmeli“, Du mein Kameel, das mich getragen u. |. w. 


Neber die Art des Reiſens in Afrika. 951 


mit loderem Gerölle bedeckt jeinen Füßen feinen ſicheren Stüßpunft zu ertheilen 
vermag. Beſonders beſchwerlich wird dem Kameel das Bergabjteigen, da es in 
feiner Statur jo überbaut erſcheint. Mit gejpreizten Vorderbeinen jieht man 
alsdann die hohen Geftalten häufig auf ihren breiten Sohlen ins Rutſchen gerathen, 
ein Ausfunitsmittel, welche da3 Kameel bejonders bei der Pafjage von Bächen 
mit tiefeingejchnittenem Bette und jchlüpfrigen Uferwänden zu befolgen pflegt. 
Es verjuht in ſolchem Falle geradezu auf jeinen breiten Sohlen Schlitten zu 
fahren, ein Experiment, welches für das Gepäd des Reijenden jehr verhängniß- 
voll werden kann. Die Kraft, welche das Kameel in feinen dünnen aber zähen 
Ertremitäten entwidelt und die Sicherheit feiner weichen, plaftiich fich jeder 
Unebenheit anſchmiegenden Sohlenballen ift indeß eine jo bedeutende, daß es 
auf furze Streden auch jehr fteile und unmwegjame Gebirgspfade im belajteten 
Zuftande zu begehen vermag. Als Beijpiel dafür diene meine wiederholte Ueber— 
Ichreitung der über 3000 Fuß hohen Bergpäfle im Welten von Suakin, mit 
Ichwerbeladenen Kameelen und auf Wegen, welche jelbft den Pferden und Ejeln 
außerordentliche Beſchwerden zu verurſachen jchienen. Ohne den geringften Un— 
fall und ohne ſonderlichen Zeitaufwand werden diefe fteilen und rauhen Gebirgs- 
pfade von allen Karavanen überwunden. Ich glaube daher zu der Annahme 
berechtigt zu jein, daß der Grund, weswegen das Kameel in eigentlichen Ge— 
birgsländern feine Verwendung findet und feine eigene Gebirgsrafje dejielben 
gezüchtet werben konnte, wie von andern domefticirten Vierfüßlern, nur in dem 
Umftande zu juchen jei, daß e8 in einem feuchten Klima gegen große Tem- 
peraturſchwankungen äußerft empfindlich ift. Dies ift der Fall im abyifinischen 
Hochlande; im Zieflande find dieje Schwankungen jehr unbedeutend, während 
die nördlichen Wüſten, welche allerdings die größten Ertreme in der Luftwärme 
zu erkennen geben, dennoch zu jeder Jahreszeit durch den geringften Feuchtig— 
teitägehalt der Luft ausgezeichnet erſcheinen. In den Steppenländern des Sudan 
‚werden Rafjen gezüchtet, welche fi an die mehrmonatliche Näfje der Regenzeit 
jehr wohl gewöhnt haben, auf der andern Seite jehen wir die Kameele in 
Nordafrika jeden Temperaturwechſel ohne Schaden ertragen. 

Die Berbreitung des Kameels*), fällt faſt genau mit derjenigen der 
arabiihen Sprache zufammen; das einzig arabiſch redende Hirtenvolf in Afrika, 
welches feine Kameele beſitzt, find die im Süden von Kordofan und Dar-Fur weite 
Steppenjtriche innehabenden Baggara ; aber diefe Gegenden liegen bereits jenjeit3 
de3 als faft genaue Südgrenze für die Verbreitung des Kameels in Afrika zu 
bezeichnenden 12. Grades nördlicher Breite. Mit Ausnahme von Abyifinien 
kann man in Afrifa alle Länder bis zum 12. Grade zu Kameel bereifen, und 
am Indiſchen Ocean, die Somali-Küſte entlang, erjtreckt fich diefes Beförderung» 
mittel bis über den Nequator hinaus. Im ganzen Hoclande von Abyffinien 
und den Galla-Gebieten gehört das Kameel zu den unbefannteften Thieren. 
Lebhaft gedenfe ic) nocd des von maßloſem Schred und Staunen zeugenden 
Geſchreis einer Sklavenſchaar, die mir in Gallabat, auf der unterften Terrafje 





”, Es ift immer nur vom einhöderigen die Rede, welchem allein dieſer Name geziemt 
(arabiſch: Gemmel). 


252 Deutiche Rundichau. 


des Hochlandes, eines Tages begegnete, al3 diefelbe ſich plöglich auf engem Wald- 
pfade den häßlichen und jo gejpenftiih einher jchreitenden Thieren meiner 
Karavane gegenüber befand. 

Es iſt Schon fo Vieles und jo Ausführliches über das Reifen mit Kameelen 
zur allgemeinen Kenntniß gelangt, daß wir nicht zu lange bei diejer Reife- 
art verweilen dürfen; ich will daher nur auf einige der wichtigften Wortheile und 
Nachtheile aufmerkſam machen, welche diejelbe darbietet. 

Unter den dargebotenen Vortheilen nimmt die große Tragkraft des Kameels 
den oberjten Rang ein. Für weite Reifen gilt als Marimum eine Belaftung von 
300 Pfunden. Im Nilthale, deſſen Kameele jich zu denen der Wüſtenſtraßen ungefähr 
fo verhalten wie englifche Brauerpferde zu engliſchen Rennern, fteigert fich das Maß 
der Belaftung bis auf mehr denn 1000 Pfund; indeß gilt dies nur für kurze 
Streden und für Laften von am wenigften compendiöfer Geftalt (3. B. Baufteine). 
An jedem Falle kann fich daher auch der Reifende ziemlich umfangreicher Ge— 
päckſtücke*) und der großen Bequemlichkeit bedienen, welche ihm feſte Holzkiften, die 
indeß nicht länger ala drei Fuß fein dürfen, darbieten. Die geringe Sorge 
um die Ernährung und Tränkung der Thiere ift jprihwörtlich befannt. Ein 
wohlgenährtes Kameel kann in jeiner Nahrung für eine ganze Reihe von Mo— 
naten auf das äußerfte Maaß beſchränkt und jomit auch in den pflanzenleerjten 
Gegenden dur Mitnahme von Fräftigem Futter (Korn und Bohnen) vor dem 
Verhungern bewahrt werden. 

Sehr übertrieben pflegen in der Regel die Borftellungen zu fein, welche 
man fi) von jeiner Widerftandsfähigkeit gegen den Durft zu machen beliebt 
Wie jedes andere Geihöpf feinen Bedarf an Trinkwaſſer nad) den Graden der 
Lufttemperatur richtet, jo au das Kameel. In den fühlen Wintermonaten 
der nördlichen Wüſten vermag e3 allerdings einen fiebentägigen Waſſermangel 
ohne Anftand zu ertragen. Während der libyſchen Expedition von Gerhard 
Rohlf3 wurden feine Kameele, es war auf dem Marſche nad) der Daje Siuah, 
im Laufe von 15 Tagen ununterbrochenen Marjches, nur ein einziges Mal, 
und auch da nur in halben Kationen abgetränft**. In den Wüſten Nubiens 
gelten zur heißen Jahreszeit vier Marjchtage ohne Wafler als die größte Lei— 
ftung de3 Kameeld. Zu Statten fommt dabei der Umftand, daß die Kameele 
auch jehr bradiges Waſſer, etwa vom Salzgehalte der Dftjee, das fein Europäer 
über die Lippen zu bringen vermag, ohne Widertwillen zu fi) nehmen. Einen 
mweitern Vortheil eröffnet dem Reifenden die gleichmäßige Gangart des Kameels. 
Die Thiere, einmal beladen und in Gang gebracht, jchreiten majchinenmäßig, 
ohne die geringfte Stodung im Zuge zu bewirken, des Weges einher, meijt un- 
unterbrochen bis der Tagemarjd vollendet ift, der in der Negel 5 deutfche 
Meilen oder 9—10 Stunden Weges beträgt (4 Kilometer die Stunde). Unbelaftete 
Reittameele können bis zu 10 deutichen Meilen in einem Tage zurüdlegen, und 


*) Man hat jchon ganze Segelftangen, zerlegte Dampfmaſchinen u. dal. auf dem Rüden 
ber Kameele durch die Wüfte transportirt. 
**) Ginen Bericht über dieje Erpedition, von bem führer berfelben, Herren Dr. Gerhard 
Rohlis, wird eines der nächften Hefte ber „Deutichen Rundichau* bringen. 
Die Redbaction der „D. R.“ 


Ueber die Art des Reiſens in Afrika. 253 


ohne Schaden dieje Anjtrengung für mehrere Tage fortjegen. Im Fall der 
Noth kann man auch das Laſtkameel zu den äußerften Anftrengungen beivegen. 
Ich bin wiederholt 13 bis 14 Stunden ununterbrohen auf dem Laftfameel 
geritten und erreichte das Marimum eines Tagemarjches auf der Strede von 
Kofjer nad) Kenneh bei 18 Stunden, e8 war im Auguft des Jahres 1864. 

Die Nachtheile, welche das Reifen zu Kameel für den an den Beſitz von 
taujenderlei einzelnen Gegenjtänden gebundenen Europäer zur Folge hat, gipfeln 
zunächſt in der großen Mühe, welche das tägliche Auf- und Abladen der Thiere 
mit fi bringt. Alle Kiften, Ballen und Säde müffen von Striden vielfad) 
umſchnürt und in zwei Theillaften halbirt auf dem Nüden der Laftthiere in 
frei ſchwankender Ballance erhalten werden. Zehn Pfund Stride find allein 
für jede Laft erforderlih. Das unaufhörlihe Auf und Zubinden der während 
der Reiſe gebrauchten Gepäckſtücke bereitet dem Reijenden eine harte Geduld3- 
probe; eine nicht geringere erwächſt demjelben aus der Unbequemlichkeit des 
Ritt. Man muß auf dem Sameele eſſen und trinken, während der Körper 
mit viermaliger Anidung den Schrittbewegungen des Thieres bejtändig zu 
folgen hat. Auch die Scheuigfeit der meisten Kameele verurjacht vielfachen 
Aerger und DVerdruß, namentlich wenn der Reiſende Hunde oder in Käfigen 
Lebende Thiere mit fich führen will; an den Anbli der Pferde hat er die 
Kameele immer wieder von neuem zu gewöhnen. Nicht jelten kann ein am Wege 
liegender fremder Körper die ganze Karavane in die größte Vertvirrung jeßen, 
wenn die jcheu gewordenen Thiere mit ihren balancirenden Laften ji in Trab 
jegen und nad) allen Richtungen durcheinander laufen. Eine ſchlimme Erfah: 
rung der Art ward mir in einem ziemlich dichten Gehölze am Rahad, einem 
Nebenfluffe des Blauen Nil, zu Theil, al3 meine Karavane ſich gezwungen jah, 
den Marjch im nächtlihen Dunkel fortzufegen. Die Enge des Weges Hatte, 
wie das in Sudan meift der Fall ift, meine Laftthiere zum Innehalten einer 
langen Reihe genöthigt. Eins hinter dem anderen jchritten die Kameele im 
finftern Walde einher. Ein gebleichtes Kameelgerippe am Wege, welches aus 
dem Dunkel der Nacht grell hervorſtach, machte das vorderfte der Thiere ftußen, 
e3 ſchlug ſich jeitwärts in die Büjche, und im Moment folgten feinem Beiſpiele die 
übrigen. Da gab es ein Krachen von aneinander ftoßenden Laften, an den 
Baumftämmen prallten fie ab, fielen zu Boden, oder wurden weit in den Wald 
an den hängengebliebenen Striden nachgejchleift; das Röcheln und Gejchnaube 
der geängfteten Thiere, das Geſchrei der Kameeltreiber, da3 Poltern und 
Klappern der berftenden Kaften währte eine halbe Stunde und wir verbrachten 
den Reft der Naht im mühevollen Auflefen der Stüde und dem Wiedereinfangen 
der zerftreuten Kameele. 

Sehr an ein beftimmtes Klima und Futter gebunden, verträgt das Kameel 
feinen Wechſel unter ungewohnten Bedingungen. Aus diefem Grunde kann 
man die Thiere auch nur für einzelne Theile der Reife gebrauchen, man erhält 
fie nie über die Grenzen einer Provinz hinaus auf jehr weite Streden zur 
Miethe. Der Ankauf von Kameelen ift meift ein jchlechtes Geſchäft, da die 
individuellen Gebrechen bei diefem Thiere weit verftecktere zu fein pflegen als bei 
Pferden. Im Verhältniß zu ihren Leiftungen und der Dauerhaftigkeit ihrer Geſund— 


254 Deutſche Rundſchau. 


heit ſtellen ſich die Preiſe meiſt weit höher als bei europäiſchen Pferden. In den 
ſüdlichen Wolgagegenden werden Pferde als Packthiere verwandt, welche man 
bis zu 500 Pfund belaſten kann und trotzdem den gewöhnlichen Preis eines 
vorzüglichen Laſtkameels (80 bis 100 pr. Thaler) nicht erreichen. 

In einem großen Theile der mit Kameelen zu bereiſenden Länder ſind die 
Thiere während der Regenzeit abſolut unbrauchbar. Am unbeholfenſten jedenfalls 
fühlt ji) das Kameel im naſſen Element, es iſt unter allen Vierfüßlern wahr- 
Icheinlich der ungeſchickteſte Schwimmer. Ohne Nahhülfe und Unterftügung des 
Denichen kann fein Kameel von einem Ufer des Nils auf das andere gebradt 
werden. Auf ichlüpfrigem oder jumpfigem Boden verfagt e3 den Dienft. In 
allen von den Sommerregen der Tropen beneßten Steppengebieten de3 Sudan 
ſtockt auch deshalb der Handeläverfehr während diejer Zeit volllommen, nur der 
Eſel bietet aladann einen gewifjen Erſatz. Rinder werden im ägyptiichen Sudan 
nur jelten zum Lafttragen verwandt, obgleich dieſe Thiere auf dem erweichten 
Sumpf: und Lettenboden ſich vorzüglich dazu eignen. Nur in der Landſchaft 
Gedaref am Atbara dienen Rinder allgemein zum Waflertransport von den 
Brunnen zu den Niederlaffungen. 

So oft man den Verſuch gemacht hat , Kameele zum Transport in den oberen 
Nilländern, im Gebiete der Negervölfer zu verwenden, hat man nur für kurze 
Zeit des Vortheils ihrer größeren Tragkraft genofien. Nah Verlauf weniger 
Monate find fie immer dem Klima, der ungewohnten Näffe und Luftfeuchtig- 
feit, der fremden Koft (denn das Kameel ift Hinfichtlich feines Geruchfinns zur 
Unterfcheidung von ſchädlichem und unſchädlichem Futter weit unvolllommener 
organifirt als der Ejel oder das Pferd; es frißt von allem, was grün ausjieht), 
vielleicht auch den Shädlichen Fliegen erlegen, welche diefen Landftrichen eigen 
find, und das Erperiment war in jedem Falle ein jehr koſtſpieliges. 

Im gefammten Nilgebiete bi3 an die Grenzen der heidniichen Negerländer 
ift für den Perſonen- und Localverkehr innerhalb der Culturdiſtrikte der Eſel 
das unentbehrlichſte Hausthier. Pferde find jelten und mit Ausnahme von 
Abyffinien nur im Befite von Wohlhabenden. Die Ejelzudt ift vor allem im 
nubiſchen Nilthale eine jehr ausgedehnte; in unmittelbarer Nähe der noch heutigen 
Tages von der wilden Stammart betvohnten Gebirge entwidelt ſich das Thier vor- 
trefflih und man zahlt in Nubien für auserlejene Eremplare mitunter die 
höchſten Summen, welde für Kameele der edeljten Art in Gebrauch find. 
Gewöhnliche Laft- und Reitejel find dajelbjt überall fiir weit geringere Preiſe 
zu erftehen als in Aegypten (im Durchſchnitt 10 pr. Thle.). Für Jeden, dem das 
Stameelreiten zu bejchwerlic fällt, wird fich daher das Reiſen zu Ejel mit Be- 
gleitung der nöthigen Laſtkameele beſonders empfehlen. Ein bejonderer Vortheil 
erwächft dabei dem reifenden Naturforicher durch die Leichtigkeit des Auf- und 
Abſihens während des Marjches der Garavane. Indeß Tann man ji) dieſe 
Bequemlichkeit nur gönnen, fall3 unterwegs für Waller und Futter gejorgt ift, 
wie in den Steppen und Bergthälern des ſüdlichen Nubiens; im entgegen= 
gejegten Falle ift das für den Ejel erforderliche Waller und Futter eigens auf 
Kameelen mitzunehmen, denn länger ala zwei Tage hält derjelbe zur heißen 
Jahreszeit nicht Stand gegen den Durft, e3 jei denn, dab unterwegs frijcher 


Ueber die Art des Reiſens in Afrika. 255 


Graswuchs als Weide dargeboten wäre, ein Umftand, welcher in diejen Ländern 
allen Bierfüßlern, jelbft dem Rindvieh, das Waſſer für weite Strecken entbehr- 
Ih madt. Die Mitnahme von Pferden erheiſcht noch größeren Aufwand. 
So find 3. B. für jedes Pferd beim Durchzuge durch die große nubijche Wüſte 
zwiichen Korosfo und Abu Hammed, einer Strede von acht angeftrengten 
Zagereijen, zwei mit Wafjer beladene Kameele eigens erforderlich). 

Obgleich nun ein ftarker Ejel bis zu zwei Centnern Gepäd ohne bejondere 
Anftrengung fortzufchaffen vermag, jo fann man fich defjelben doch nicht auf 
entfernte Streden ohne weiteres als Laftthier bedienen, jelbjt dort nicht, wo Waller 
und Futter in Hinreichender Menge zu finden ift, e8 jei denn im äußerjten 
Nothfalle; denn feine Störrigkeit und Unlenkſamkeit erheiſcht eine unabläfjige 
Beauffihtigung, und letztere würde das Dienftperjonal des Reifenden über die 
Gebühr vermehren. Als ih im legten Winter eine Rundtour durch Die 
Große Dafe in der Libyſchen Wüſte unternahm, hatte ih, da Kameele dajelbft 
nicht aufzutreiben twaren, mein geringes Gepäd auf 6 Ejel geladen. Das den 
Thieren eigene Durcheinanderlaufen, ſich gegenjeitig Drängen und Stoßen, das 
plötzliche Stehenbleiben u. ſ. w. zu verhindern, reichten dabei faum die zwei Treiber 
aus, welche ich eigen3 dazu gedungen hatte und die den 6 Gjeln beitändig zur 
Seite gehen mußten. Die mit diefer Reifemanier verbundenen Pladereien waren 
in der That unerträglich, und ich nahm mir vor, unter feinen Umftänden einen 
ähnlichen Verſuch zu wiederholen. 

Aus den angeführten Gründen werden daher auch in Gentral-Afrifa Pad- 
eſel nie einen Erſatz für die Träger zu leiften im Stande fein, ganz abgejehen 
von den großen Schwierigkeiten ihrer Hinihaffung auf den Barken und der 
Unmöglichkeit fie dafelbft zu acclimatifiren. Empfehlenswerth ift die Benußung 
de3 Eſels nur für den Reifenden, welcher jein ganzes Gepäd in einem Schnapp— 
face mit fich führt, den ex über feinen Sattel wirft. Auf dieſe Manier durch— 
ziehen Tauſende kleiner Händler (Gellaba) den mohamedaniihen Sudan in 
feiner ganzen Länge von den Ufern des Senegal bi3 an das Rothe Meer. 

Eine größere Bedeutung für den MWaarentrandport erlangt der Ejel im 
abyifiniihen Hoclande, wo indeß fein Menſch auf demfelben zu reiten pflegt, 
denn der Abyffinier ift ein hochmüthiger Geſelle. Das hauptſächlichſte Laft- 
thier in diefem Lande iſt aber das Maulthier, welches die Zähigkeit und Un— 
veriwüftlichkeit der Eſelnatur mit der bejonnenen Sicherheit des Pferdes ver- 
bindet und deshalb in jo vielen Gebirgsländern zu einem unentbehrlichen Be- 
gleiter des Menſchen wurde. Das abyſſiniſche Maulthier wird bei der großen 
Unwegſamkeit der dortigen Gebirgspfade in der Regel mit höchſtens anderthalb 
Gentnern belaftet, dem halben Betrage einer gewöhnlichen Kameelslaft. Die 
Kiſten oder Ballen dürfen nicht die Länge von denjenigen erreichen, tveldjhe man 
dem Kameele aufbiürdet, daher verurſacht ein Wechjel beider Beförderungsmittel, 
wie er am Fuße des Hodlandes Statt zu finden hat, immer viel Aerger und 
Verdruß. Daß auch das Reifen mit Maulthieren an ähnliche Ehicane geknüpft 
fei, wie wir fie bei Beſprechung der Verwendbarkeit des Ejel3 als Lajtthier 
fennen gelernt, wird aus den zahlreichen Reijebejchreibungen, die über Abyjjinien 
vorliegen, zur Genüge befannt jein. In friſcher Erinnerung find ja noch die 


256 Deutihe Rundſchau. 


Erfahrungen der engliijhen Armee auf ihren denfwürdigen Tyeldzuge gegen 
Theodor, welcher einen jo beijpiellojen Aufwand an Menſchen zur Leitung der 
da3 Gepäd der Soldaten tragenden Maulthiere erforderte. 

Das Pferd findet meines Wiſſens in Abyjfinien feine Verwendung als 
Zaftthier, obgleich die Menge der für den Bedarf der Hirtenvölfer am Weißen 
und Blauen Nil zur Ausfuhr beftimmten ſich alljährlich auf viele Tauſende 
beläuft. Reitpferde finden fi) im Beſitze faft eines jeden Abyjjiniers, aber 
der größte Theil derjelben dient ausjchlieglic zur Maulthierzucht. 

Sp haben wir denn, um in das Innere de3 geheimnißvollen Welttheils 
einzubringen, den geradeften Weg verfolgt, denjelben, welchen die große 
Mehrzahl aller Forſchungsreiſenden einſchlug, um über die Grenzen der hilto- 
riſchen Welt hinaus, auch nad) diefer Richtung Hin den Gefichtsfreis unjeres 
engen Erdenhauſes aufzuhellen. Scrittweije jahen wir die Art, in welcher wir 
‚reiften, immer mehr de3 gewohnten heimijchen Charakters ſich entkleiden, wie 
er in der Erinnerung der Nelteren unter und, die jelbjt noch gewandert und ge— 
ritten, fortlebt. Der vermittelnde Boden Aegyptens mit feiner eigenthümlichen 
Doppelcultur, die breite Waſſerſtraße des Nils, die Wüften und das Wüſten— 
Ichiff liegen Hinter und. Die öden Sand- und Steinflächen, die ſich vor unjeren 
Bliden allmählich mit Vegetation zu bededen begannen, wurden zu Steppen; 
in den Steppen jammelten fi die Bäume und Sträuder und wurden zum 
Buſchwalde. Hier die Berge des tropiichen Oſtafrika zur Seite lafjend ftiegen 
wir, ohne es gewahr zu werden, zu den Höhen des inneren Zafellandes hinan, 
welche man als das eigentliche, echte Afrika bezeichnen kann, und weldes nad) 
jeder Seite Hin von Meeren und Wüften abgegrenzt erjcheint. Im Süden die 
Kalahari, im Norden die Sahara, trennen e3 ab, al3 gehörte es gar nidht mehr 
zum längftgefannten Nachbarwelttheil. Flüſſe gelten als ſchlechte Grenzen für 
Länder und Völker, denn fie dienen ihnen zum Verkehr, auch Meere vermochten 
auf die Dauer fie nicht von einander zu trennen, — und welches unter ihnen 
hat mehr zur Vereinigung der verjchiedenartigiten Volksſtämme beigetragen als 
jenes große binnenländiiche Meer, an deſſen Küften die ältefte Geſchichte bereits 
Keime unjerer heutigen Gefittung entjprießen jah. Nur das Meer des Sande 
und der Steine, mit feinen drei großen Verbündeten, dem Hunger, dem Durfte 
und der Ermattung, diefes Tcheint für immer allen innigeren Wechjelbeziehungen 
des Menſchengeſchlechts eine unüberwindlicde Schranke entgegengejtellt zu haben. 
Sjenjeit dejjelben betreten wir eine neue Welt, das Land der Schwarzen, eine 
Melt, die zwar jeit undenklichen Zeiten gekannt, für fich felbft aber von jedem 
Zeitmaße abftrahirt; fie kennt weder Neuzeit noch Altertfum, da giebt e3 
weder Geſchichte noh Denkmäler menſchlichen Fleißes, jede Erfahrung erliſcht 
mit dem Leben des Individuums, und auch nit um eines Schrittes Weite 
vermochte fie den Gulturbeftrebungen der hiſtoriſchen Welt zu folgen. 

An den Grenzen diejer ſchwarzen Welt angelangt, da wo ſich Heidenthum 
und Yalam, Fetiſchismus und Offenbarungsglaube feindlich gegenüberftehen, hat 
der Fremdling mit allen Traditionen von Reije-Art und Reiſe-Gewohnheit zu 
brechen. Der Zauber einer gänzlich fremden Umgebung, neue Pflanzen und nie 
gejehene Thiere, die nadten ſchwarzen Menjchen, Alles das ftürmt zugleich auf 


Ueber die Art des Reiſens in Afrika. 257 


ihn ein und Fräftigt feinen Geift zu herzhaftem Entſchluſſe. Zum erften Male, 
fönnte man jagen, fteht der Reilende da auf jeinen eigenen Füßen. Vergeblich 
ſpäht fein Blick nad) den gewohnten Bierfüßlern, die fein Hab und Gut, 
die feinen ermübdeten Körper auf ſich Inden; weder Pferde noch Ejel, weder 
Maulthiere noch Kameele wird er gewahr, und wo fie fich finden, treten fie 
ihm gegenüber, Fremdlinge gleich ihm ſelbſt, ſchwach und ſiech am Körper ob 
der ungewohnten Koft, das Blut vergiftet von ſchädlichen Fliegenftichen, durch 
Sumpfluft und Näfje den Keim des Todes in ihrer Bruft: jo erjcheinen fie, 
Bilder de3 äußerſten Elends, gleichſam ſelbſt darum bittend, getragen zu werden. 

Im eigentlichen Gentralafrifa, in diefem großen Haufe der Knechtſchaft, da 
two die Vorrathskammern der Sclaverei, muß ja auch der Menſch herhalten zu 
den niedrigften VBerrichtungen, er wird zum Padthier. Vom Gazellenfluß bis 
an den Congo, vom Niger bi3 zum Zambefi, giebt e3 feine andere Manier zu 
reifen, fein anderes Beförderungsmittel für das Gepäd des Reiſenden, als das— 
jenige, welches ihm dev Wollkopf des Negers darbietet. 

Smmer werde ich e3 al3 einen denkwürdigen Tag in der Geſchichte meiner 

Reifen betrachten, als ih am 25. März 1869 zum erften Dale da3 Wandern. 
mit Laftträgern begann, das fi) 27 Monate lang landeinwärt3 vom Gazellen- 
ftrome durch die Gebiete verjchiedener Negervölker fortjegen jollte, und lebhaft 
gedenke ich noch des Moments, als der Haufen nadter Wilden, um mich abzu= 
holen, fich durch die hohen Papyrus-Dichungeln der Barke näherte, die mid 
an den Endpunkt der Schifffahrt gebracht hatte. Durch ein Dubend ſchwarze 
Köpfe geftüßt, von welchen ein betäubendes Gefchrei, eine Art wilden Kriegs— 
gefanges zu meinen Ohren drang, jaß ich da, thronend auf der Bettjtelle, ver- 
mittelft welcher fie mich, wie im Triumphe, durch die Uferfümpfe ans trodene 
Land Ichafften, um den allgemeinen Sammelplat zum Aufbruch unferer Kara— 
dane zu erreichen. 

Kaum war der erfte Verſuch gemacht, jo erſchien mir auch jchon die Be— 
nußung des Menjchen ala Transportmittel wie ein deal von Bequemlichkeit. 
Ein Haupterfordernig dabei für jeden Reifenden in diefem Theile von Afrika 
iſt freilich, daß er jelbft ftark fei zu Fuß. Er muß ein Fußgänger erften 
Ranges fein und womöglich feine Befähigung dazu auf andauernden Touren in 
den Alpenländern Europa’3, pder als pafjionirter Jäger in den weiten Marjchen 
des Nordens zuvor erft mühfam errungen haben. Nur in Ausnahmafällen, bei 
Bervundung oder Krankheit de3 Neifenden, kann in den oberen Nilländern 
derjelbe auch jeine eigene Perjon auf den Köpfen der Träger fortichaffen Laffen; 
im Uebrigen hat ex fich nad) Landes-Art und Landes-Sitte zu richten, und dieje 
ihließt, jo weit der Islam feinen Einfluß in Afrika geltend macht, das ſich 
Tragenlaffen aus. An der ganzen MWeftküfte von Afrika zivar, two durch den 
Handel alle weichliden Gewohnheiten des indiihen Culturlebens Eingang 
fanden, ift dies die gewöhnliche Manier, in welcher jeder Europäer reift; dem 
Araber dagegen, jo wenig Scrupel ex ſich auch über Sclavenhandel und Scla- 
berei zu machen getwohnt ift, jo hartherzig und habgierig auch jein Vorgehen 
gegen die wehrlofen Negervölfer in der Regel getvejen fein mag, immer erjeint 


258 Deutſche Rundſchau. 


ihm ein derartiges Reiten des Menſchen auf Menſchen als gottesläſterlicher 
Hochmuth, der nie vergeben werden kann. 

Ein erfahrener Reiſender wird ſehr bald der großen Vortheile gewahr, 
welche ihm die Benubung von Laftträgern darbietet. Die Schnelligkeit und 
Präcifion beim Aufbruch, die Leichtigkeit, mit welcher er die Regelung und 
Drdnung des Zuges zu bewirken vermag, der noch gleichmäßigere, nad) Belieben 
zu unterbrechende Fortmarſch, thun wohl nad) der harten, wochenlang geübten 
Geduldsprobe auf dem Rüden der Kameele. Wer die tagtägliche Mijere des 
Auf- und Abladens jtörriicher Packthiere erfahren, begrüßt einen derartigen 
Wechſel mit gehobenem Gefühle, und fröhlich ſein Wanderliedchen trällernd 
macht er ſich auf den Weg, die Schritte dem innerften Afrika zumendend. 

Die größten WVortheile diefer Reifemanier genießt der ſammelnde Natur- 
foricher, der unaufhörli und aller Orten neue Beute aufzuraffen hat und nun 
auch ſtets ängftlid auf die Sicherftellung und Erhaltung des einmal Einge— 
heimften bedadht jein muß. Was dem Laftthiere auf den Rüden gebunden 
wird, ſoll wohl verichloffen fein in Kiften und Kaften, in Säden und Ballen; 
von zahlreichen Striden umwunden bleiben fie während der Wanderung jelbjt 
dem Beliter ftet3 unzugänglid. Das Thier, welches nit darauf achten kann, 
ob die Laft, die e3 trägt, zerbrecdhlicher Natur jei oder nicht, es ſtößt damit 
rückſichtslos an Felſen und Baumftämme, oder e3 drängt fi im Mariche an 
die Laften feiner Weggenojfen und bringt diefe zum Sturze. Dergleichen Un- 
annehmlichteiten fallen von jelbjt weg, jobald der Reifende nicht mehr von den 
Launen feiner Transportkräfte abhängig ericheint. Jederzeit hat man da jeine 
fieben Saden zur Hand, man kann überall da3 Beliebige herausholen. Kaum 
ift e3 nöthig, wenn anders die Witterung es geftattet, auf den ficheren Verſchluß 
der Dedel zu achten; nicht? kann da entwendet werden, was nicht in diejen 
entlegenen Ländern jofort den Dieb verriethe, alles liegt offen da. Der reijende 
Naturforicher kann ſich außerdem nocd einige Extra-Träger zur Verfügung 
halten, denen er während des Mtarjches die gefammelten Pflanzen und Früchte, 
die erlegten Thiere u. j. mw. aufbürdet. So geht es nun fort, jeinen ficheren 
Meg durch Pfüben und Bäche, durch die Sümpfe und die thautriefenden 
Steppen hindurch, gerade wie der Führer e3 will. 

Die Art und Weile, in welcher der Neger feine Laft zu tragen pflegt, 
richtet ji natürlich nad) den Gewohnheiten der verjchiedenen Völker. Im Al- 
gemeinen kann in ganz Afrika als Regel gelten, dat jedes Gepäckſtück, jelbft die 
fehr langen Bündel Kupferftangen (das hauptſächlichſte Werthobject) und die 
gefrümmten Elephantenzähne, auf der Scheitelhöhe des Kopfes, wenig oder gar 
nit von der einen Hand geftüßt, in der Balance erhalten werden. Wo Ab- 
weichungen von diefem Modus Statt haben, ift es meift die Form der üblichen 
Haartracht, welche dabei ala maßgebend zu betrachten ift. Diejenigen Völker 
3. B., — und ihrer find im tropiichen Afrika nicht wenige —, welche ihr 
Haupthaar zu einem mehr oder minder aufrecht in die Höhe ragenden Chignon 
formen, wollen jelbftverftändlich ihre funftvollen und mit jo großem Zeitauf- 
wande hergejtellten Haargebilde nicht der Gefahr des Zerdrücktwerdens Preis 
geben; dieje, wie 3. B. die Monbuttu, die Aſchiva und Iſchogo, tragen ihre 


Ueber die Art des Reiſens in Afrika. 259 


Laſten auf dem Rüden, indem fie fi) dazu genau derjelben Tragkörbe bedienen, 
melde wir in Thüringen und anderen Gegenden Deutichlands in Gebraud 
fehen. Dieje Tragkörbe, Dtaitai von den Ajchiva des weitlichen Aequatorial- 
Afrika genannt, werden vermittelt ziveier Adchjelbinden getragen und durch 
einen um die Stimm des Trägers gejchlungenen Gurt unterftüßt. Unter alle 
Kopflaften wird ein Kleines rundes Polfter gelegt, welches der Träger aus 
Gra3 und Blättern fliht und feinem Scheitelrelief anpaßt. Höchſt jelten, und 
wo e3 geichieht, dient e3 nur zur Erholung und Abwechſelung, jieht man die 
Laften auf der Schulter tragen. Was die Form der Gepädftüce anlangt, jo 
ift die runde, compacte Ballengeftalt die beliebtejte, denn alle harten, unbieg- 
famen Laften find dem Neger unbequem. Die Chartumer Kaufleute verpaden 
daher den größten Theil ihrer Waaren in jene jadartigen, oben weit offenen 
und aus Dattelblättern geflochtenen Körbe, die man in Aegypten „Guffa“ 
nennt. Dieje werden zwar der Länge nad: zugenäht, ſchützen aber den Inhalt 
keineswegs vor Regen. Nichtsdeftoweniger werden in ſolche Guffa's die gegen 
Näſſe empfindlichften Dinge geichüttet, jogar Schiegpulver in Papierdüten und 
die Patronen, Salz und dergl., Alles nur der bequemen Fortſchaffung zu Liebe, 
denn e3 fällt außerordentlich ſchwer den Neger zu einer neuen und ungewohnten 
Form jeiner Laft zu beivegen. Die einmal in einer beftimmten Region üblich 
gewordene Form der Verpackung muß ſchon aus dem Grunde ftet3 beobachtet 
werden, teil jede Neuerung den Träger zu Klagen wegen Ueberlaſtung auffor- 
dern wiirde, mögen fie nun begründete jein oder nicht. 

Ganz im Gegenjage zu meinen Erfahrungen im oberen Nilgebiete jind bet 
den Trägern an der Dftküfte von Afrika lange Collis jehr beliebt , jelbjt die 
Beugballen werden daſelbſt zu diefem Behufe in neue alten gelegt und von 
Rohrftäben außen zufammengehalten, auch mit Striden umjchnürt, zu 6 Fuß 
langen Bündeln umgeftaltet. Da ſich das Gewicht der Laften in jenen Gegenden 
bis auf 70 Pfund pro Dann fteigert, jo ift die lange Form eine erwünjchte, 
um, wa3 bei ſchweren Laſten ſtets erforderlich jcheint, auch ohne Beihülfe eines 
Anderen das aufrecht vor den Mann hin geftellte Stüd auf den Kopf ſchwingen 
zu können. 

Tür den reilenden Europäer bilden troßdem vierfantige Blechkaſten die ſich 
am meiften empfehlende Gepädform. Seit Jahren von engliſchen Retjenden in 
allen Zropenländern der Welt benußt, wurden dieſe Blechkoffer aud) bei dem 
Unternehmen unſerer Afrikaniſchen Gejellihaft eingeführt.‘ Der Vortheil, den 
fie in Folge des abjolut jicheren Schutzes gegen die beiden Hauptfeinde aller 
Afrikareifenden, gegen Näffe und Termitenfraß gewähren, liegt auf der Hand. 

Mir ſelbſt war diefer WVortheil verjagt geblieben und ich mußte mir, jo 
qut e3 eben ging, dur Erjagmittel zu helfen juchen, indem ich Zeuge mit 
friſchem Kautſchukſafte waſſerdicht machte, Collis von Rindshaut verfertigte, 
oder meine Kiſten und Kaften jelbft zimmerte, Wer, wie ic}, auf jtet3 wech— 
jelnde Manier, zuvor über Meere, auf Flüſſen und durch Wüſten zu reifen 
hatte, bi3 er dort angelangt war, wo das eigentliche afrifanijche Reifen exit 
jeinen Anfang nehmen jollte, der konnte die Formen jeines Gepäds nicht für alle 
Falle von vorn herein einrihten. Die Kleinen Blechkoffer hätten beijpielsweile 


260 Deutiche Rundſchau. 


beim Kameeltransport viele Schwierigkeiten verurſacht, man hätte fie in größe- 
ren Kiſten unterbringen müfjen, um fie allen Regeln der Gewichtserſparniß 
zum Trotz, zum Beladen diefer Thiere geeignet zu machen. 

Das Gewicht einer Trägerlaft richtet fi) natürlich nach der Ausdehnung 
der Wanderung und der Körperfraft der zu Gebote ftehenden Negerrafie. In 
den oberen Nilgegenden gelten 50 Pfund (25 Kilos) ala das Normalmak eines 
nicht überbiürdeten Trägers; am Congo fteigt dafjelbe bi3 auf 75 und jelbft auf 
100 Pfunde. Auf weiten Reijen ift ſchon allein aus dem Grunde das niedrigfte 
Maß innezuhalten, weil der Marſch durch Tagereifen weite, menfchenleere 
Wildniffe ein Mitführen des nothwendigjten Mundvorrath3 für den Träger 
erforderlih madt und durch ſolche Zuthat die Laften um bis Y, an Ge- 
wicht zuzunehmen pflegen. Ueberall aber hat man gewilje Elite-Träger zur 
Verfügung für bejonders ſchwere und untheilbare Laften, wie beifpielaweije die 
Elephantenzähne, deren Gewicht nicht jelten bis auf 180 unjerer alten Pfunde 
zu fteigen vermag. An einem für fi) allein Schon nicht leichten Baumaſt be— 
feftigt, muß ein folder Zahn dennoch von zwei Männern getragen werden 
fünnen, da die Natur der afrifaniichen Pfade, wie wir bald jehen werben, eine 
größere Theilung der Kraft unmöglich madt. Ä 

Die Bewaffnung der Träger ift überall die landesübliche, eine Handvoll 
Lanzen oder Pfeil und Bogen ruhen in derjelben Hand, welche ab und zu die 
auf dem Haupte ſchwebende Laft zu ſtützen hat, jobald fie ins Schwanken geräth, 
die andere Hand theilt frei die Luft vor dem Gehenden. 

In der Regel wird alle zwei Stunden eine kurze Raft gemacht, die Dauer 
derjelben beträgt indeß höchſtens 10 Minuten. Auch bei diejer Gelegenheit 
darf die einmal im Zuge getroffene Anordnung nicht gejtört werden, ſondern 
die Träger jammeln ſich gruppenweiſe mit den Anführern ihres heimathlichen 
Diftrikts, welche die Zahl der Köpfe unabläffig zu muftern haben, denn fie 
haften nicht jelten jelbft mit ihrem Kopfe für die Vollzähligkeit der übrigen. 
Was mir in der erften Zeit diefer Wanderungen am meiften auffiel, war bie 
Häufigkeit, mit welcher die Neger ihren Durft zu ftillen für nöthig erachteten, 
während die mich begleitenden Nubier, wie alle Bewohner von Steppen oder 
Wüſten, ftundenlang während der größten Hitze auf jeden Trunk verzichteten. 
Die Kleidung trägt das ihrige zu diefer Verfchiedenheit bei und an mir jelbft 
fonnte ich eine weit geringere Beeinfluffung durch den Durft wahrnehmen, als 
meine nadten Schwarzen zu erkennen gaben. An Trinkwaſſer fehlt e8 zum 
Glück im Gejammtgebiete de3 äquatorialen Afrika’ nirgends und der Reiſende 
fieht fi) in feiner Gegend weniger veranlaßt, durch Mitnahme eines Vorrathes 
feine koſtbaren Tragfräfte zu vermehren. 

Eine Hauptaufgabe für jeden Leiter von Expeditionen im Innern von 
Afrika ift die Ernährung der Träger. Die Wildniffe jowol, wie die bewohnten 
Eulturdiftricte legen beide einer geregelten Verproviantirung die allergrößten 
Schwierigkeiten in den Weg. In der Wildniß ift es die Vermehrung der Laſten 
durch Mitnahme von Lebensmitteln, welche der Anführer zu vermeiden hat, im 
bewohnten Lande find es die ftet3 drohenden Conflicte mit den Eingeborenen. 
Beide Mebelftände können nur gar zu leicht dasjenige zur Folge haben, was 


Ueber die Art des Reiſens in Afrika. 961 


für jeden Afrikareiſenden ala ber Uebel größtes erjcheinen muß: das Davon- 
laufen der Träger. An diejer gefährlichen Klippe ift wol die Mehrzahl aller 
großartig angelegten Expeditionen gejcheitert, fie wird daher dem Reifenden zur 
Nriadhe einer unabläjftgen Angft und Unruhe um das Gelingen des begonnenen 
Werks. Die Gefahr des Davonlaufen3 der Träger, das beftändig drohend über 
dem Haupte des Neifenden ſchwebende Damoklesſchwert, zu bejeitigen gehört 
zu feinen jchtwierigften Aufgaben; fie zu überwinden können nicht alle Reifenden 
derartige Mittel in Anwendung bringen, wie diejenigen waren, "von welchen 
id profitirte, al3 ic) auf der ficheren Grundlage des in Sachen der Moral nicht 
allzu jkrupulöjen „Elfenbeinhandels der Mohamedaner meine geebneten Wege 
einherzog. Solche Mittel der Gewalt vermag nur derjenige auszuüben, welcher 
felbft Herr ift über Leben und Tod der Seinigen, nicht aber Fremdlinge, 
die um Geld und Geldeswerth gedungenen Trägern gegenüber, die bei jeber 
Gelegenheit auf ihre freien Menjchenrechte zu pochen wifjen, ſich von hunderterlei 
Rüdfihten in ihren Maßnahmen gehemmt jehen und ftet3 bedächtige Ueber— 
legung an die Stelle offener Gewalt zu ſetzen haben, wie unjere Sendboten an 
der Loango-Füfte. 

Ich kann es mir an dieſer Stelle nicht verfagen, einer ſchönen Pflicht der 
Gerechtigkeit zu genügen, indem ich da3 deutjche Publicum zur Geduld und zur 
Nachſicht gegen die Leiftungen der Lehtgenannten auffordere. Unſere Reijenden 
fämpfen daſelbſt gegen eine ganze Welt phyfiicher und moraliicher Hinderniffe, 
ich gebe daher zu bedenten, daß die Geduld, in welcher Jene Tag für Tag ſich 
zu üben haben, die ſchweren Enttäuſchungen, denen fie wiederholt ausgeſetzt 
fein werben, bevor Erfolge ihre Bemühungen krönen, daß diefe ganz außer 
jedem Berhältnifje ftehen zu derjenigen Geduld, welche wir, in beredhtigter Er— 
wartung eines Erfolges und in hoffnungsvollem Bertrauen in die Leiftungs- 
fähigfeit der Reijenden, an den Tag zu legen glauben. 

Eine fünfzehnjährige Erfahrung Hatte, al ich jene Gegenden an ber ſüd— 
weftlichen Wafjerfcheide des Nils bereifte, die Chartumer Elfenbeinhändler in 
den Stand gejeßt, den Trägerdienft auf ihren Beſitzungen zu einem wohlorga— 
nifirten Inftitute zu geftalten. Jede Niederlaffung diefer Kaufleute in den 
Binnenländern de3 oberen Nilgebiet3 ſtützt fi auf ein entjprechendes, den- 
jelben völlig botmäßiges Gebiet, deffen Bewohner zum Unterhalte der ftatio- 
nirten Waffenmacht regelmäßige Abgaben an Bodenproducten zu entrichten und 
die zu den weitreichenden Handel3zügen nach den eigentlichen Elfenbeinländern 
erforderliche Trägerzahl, gleihjam ala Frohndienſt, zu ftellen haben. Soll eine 
derartige Unternehmung in? Werk gejeßt werben, jo erhalten die Diftricts- 
Aelteften von den Verwaltern der Chartumer Niederlaffung die erforderlichen 
Befehle. Es wird denjelben einfach gejagt, an dem oder jenem Tage hätte ein 
Seder die von ihm verlangte Zahl kräftiger Männer in die Seriba zu führen. 
Die zu ftellende Zahl pflegt man in Geftalt abgezählter Bündel Strohhalme 
oder Rohrftäbe dem in diefer Beziehung oft jehr jchmwerfälligen Begriffäver- 
mögen der Neger näher zu rüden. Zur feſtgeſetzten Stunde ift aladann der 
ganze, oft auf viele Hunderte ſich belaufende Troß vollzählig verfammelt, und 
nichts fteht dem Beginn der Reife im Wege. 


262 Deutfche Rundſchau. 


Zwar werden die Träger durch eine Art Löhnung für ihre Leiftung ent— 
ſchädigt, diefe allein jedoh würde fie nie dazu vermögen fönnen, aus freien 
Stüden ſich monatelang auf gefahrvollen Wanderzügen von ihren Familien und 
Befigthümern zu trennen. Es muß daher nothwendigerweiſe auf fie ein Zwang 
ausgeübt werben, der indeß in jedem Falle zu ficheren Rejultaten führt. Da, 
wo die Bewohner eine gewiffen Diftrict3 bereit3 feit Jahren in Botmäpigkeit 
verharrten, ift ein MWiderftreben gegen diefe Art Dienftheranziehung unerhört, 
und aus Gewohnheit fügen fich die Leute ohne Murren ins Unvermeidliche. 
Anders, wo es fi um die Nubbarmahung einer erft jeit Eurzer Zeit unter- 
johten Bevölkerung handelt, und wo die Männer erft zum Trägerdienfte heran- 
gezogen werden müſſen, um ihre Kräfte für die Zwecke des Handel richtig 
ausbeuten zu können. 

Bor allen Dingen ift ftrenge Ueberwachung der Träger beim Beginn der 
Wanderung von Nöthen. Befindet ſich einmal die Karavane auf fremdem 
Boden und im Bereiche einer feindlichen Bevölkerung (überall in Central-Afrika 
ftehen ſich die Nachbarvölker feindlich gegenüber), aladann muß jeder Träger 
die Folgen eines Fluchtverſuchs ala das größere Uebel betrachten. Bald ent- 
Ichließt fich derjelbe zum ftandhaften Ausharren, es mag fi) da für ihn er- 
eignen, wa3 da wolle, fein Loos kann nie einem zweifelhafteren Glücksſpiele 
ausgejeßt jein al3 auf der Flucht, ohne Nahrung und duch ein Land, deſſen 
Bewohner nur darauf lauern eines vereinzelten Nachzüglers habhaft zu werden, 
ihn zu überfallen, zu tödten, vielleicht aufzufreffen. So find denn befondere 
Vorſichtsmaßregeln für die erſten Tagereifen geboten, wenn ein Enttommen der 
Träger zu befürchten fteht. Vor allem werden fie Nachts jorgjam übertwacht, 
bei Tage, während des Marjches begleiten fie die Soldaten, das Gewehr in der 
Hand, zu beiden Seiten de3 Weges der Trägercolonne folgend. Berechtigt das 
Verhalten neugetvonnener Träger zu ganz bejonderem Mißtrauen, jo werden wohl 
auch Joche und Feſſeln eigens mitgeführt, um die Unzuverläffigften auf dieſe 
Art feſtzumachen, bis die gefährliche Grenzwildniß, welche allein ihr Entftommen 
begünftigt, im Rüden der Reijenden liegt. 

Halbgetwonnenes Spiel hat jederzeit derjenige Führer, welcher e3 verfteht, 
feine Leute jatt zu machen, oder Wege anzugeben, auf denen nie großer Mangel 
an Speijebedarf eintreten fann. Alles vermag man in diefem alle über die 
Negernatur; fein Unglüd ift groß bei vollem Magen. Wer e3 verjtände Sterne 
in Brod und das Waſſer in Del zu verwandeln, der würde zweifelsohne über 
ganz Gentral-Afrita ala unumfchränkter König bereichen. An der That culmi- 
niren alle Schwierigkeiten dajelbft in der Fütterungsfrage. Ich bin feft davon 
überzeugt, daß beijpielsweije die Träger unter feinen Umftänden dazu Luft ver- 
püren würden ſich aus dem Staube zu machen, jo lange der Reijende noch 
über eine Viehheerde zu verfügen hätte, die er mit ſich forttreiben könnte, um 
täglich davon zu ſchlachten. Soweit das Gebiet reicht, in welddem man aus— 
Ichließli auf den Transport vermittelt Träger angewiejen ift, bieten indeh in 
Gentral-Afrifa nur wenige Gegenden ausreichende Gelegenheit zur Acquifition 
von Viehheerden dar. Auch in diefer Hinficht eröffnen die Länder am oberen 
Nil dem Reijenden eine weit bequemere Bafis zum Vordringen ins tiefere In— 


Ueber die Art bes Reifen in Afrika. 263 


nere, al3 die öſtlichen und weltlichen Gebiete an der großen Barriere von 
Gentral-Afrika. 

Die Jagd, To reich) auch an Wild ſtreckenweiſe und zu gewiſſen Jahreszeiten 
alle Theile diejes immenjen Gebietes jein mögen, bietet im günftigften Falle einen 
nur jehr ſchwachen Erſatz dar für das lebendige, ſich jelbjt von der Stelle be- 
wegende Fleiſch, aus dem einfachen Grunde, weil fie zu zeitraubend ift, um mit 
ihrer Hülfe die Beditrfniffe einer großen Menſchenmenge zu decken. Wild der 
größten Art wird nicht im Handumdrehen bejchafft, kleine Antilopen und Geflügel 
fommen für die Mafje der Träger faum in Betracht. Die Jagd, jelbft wo fie 
durch die Mitnahme eines eignen Jägercorps und durch richtige Wahl des Weges 
eine wohlorganifirte wäre, kann immer nur eine gelegentliche Aushilfe darbieten ; 
ihre Erträgniffe fommen meift nur den Kochtöpfen de3 Reifenden und jeiner 
nächſten Begleitung zu Gute. 

Weit eher empfiehlt es ih Nahrungsmittel von jehr intenfiver Art in 
Maſſe mit jich zu führen, und obenan in diefer Hinficht fteht das auch durch 
feine größere Haltbarkeit ſich auszeichnende gedörrte Fleiſch. Fleiſch-Extract in 
richtiger Weile adminiftrirt, würde eine jehr große Bedeutung für die Fou— 
ragirung der Trägerichaaren erlangen, wenn nicht die Beihaffung einer jubjtan- 
tiellen Grundlage, welche dieje Koft erfordert, eben jo ſchwierig wäre wie der 
Erwerb von Nahrungsmitteln der gewöhnlichften Art. Kornvorräthe, welche 
auf meinen Wanderzügen nt jelten für viele Tagereifen mitgeführt werden 
mußten, wurden jchnell aufgezehrt, da die Laft eines einzelnen Trägers, knapp 
zugemeflen, nur für den Tagesbedarf von zwanzig feiner Genofjen ausreicht, 
während eine Laſt gedörrten Fleiſches *) zur Noth (e3 handelt ſich dabei iiberhaupt 
nur um das äußerte Maß) Hundert Menſchen für einen Tag zu jättigen 
vermag. Das getrodnete Fleiſch wird von den Negern zwiſchen Steinen 
gerieben und dann mit gleichgültigen, nur zur Magenfüllung dienenden, un- 
Ihädlihen Stoffen vermengt und gekocht. Solche Füllſtoffe finden ſich in 
allen afrikaniſchen Wäldern in Menge, fie beftehen aus Wurzeln, Knollen, 
Zwiebeln und Blättern verfchiedener Art. Unter den Lebtgenannten ift e3 da3 
Zaub vieler Malvaceen und Tiliaceen, welches dem erwähnten Zwecke dient, 
auch Kiirbis-Blätter find jehr beliebt. 

Welche Art Koft ein Negermagen im äußerften alle zu verwinden im 
Stande ift, davon fonnte ich mich beim Durchreifen der afrikanischen Wildniffe 
wiederholt überzeugen. Alles, was da auf Erden nur Freut und fleucht, 
Eidechſen, Schlangen, Raupen, Exrdjkorpione, Landkrabben, Fröfche, Ameijen, Enger- 
linge, Alles gilt ihnen als willtommene Beute. Mäufe und Ratten, Raub- und 
Sumpfvögel werden hier jchon zu den felteneren Delicateffen gezählt. Gewöhn— 
lich benußen die Träger ihre Naftzeit, und wäre diejelbe auch nur von halb— 
ftündiger Dauer, zur Veranftaltung einer Treibjagd, deren Ergebniß mit Hülfe 
des Steppenbrandes immer Thiere der verjchiedenften Art in fich zu ſchließen pflegt. 


*) Da Dörrfleiih in Europa ſchwer zu beichaffen ift, hat unfere Afrikanische Gejellichaft die 
Träger der an der Loangoküſte im Gange befindlichen Expedition mit aus Hamburg bezogenem 
Stodfiich verproviantirt. 

Deutiche Rundſchau. I, 5. 18 


264 Deutihe Rundichau. 


Indeß, nicht nur auf lebende Beute ift der wandernde Neger bedacht, auch 
da3 todte Fleiſch, wie es namentlich die häufigen Reſte von Löwenmahlzeiten in 
den Wäldern darbieten, lenkt jeine Aufmerkſamkeit in gleich hohem Grade auf 
ſich. Die Vögel, weldhe man bejtändig über ſolche Stellen in den Lüften kreiſen 
fieht, verrathen ihnen von weitem da3 Verſteck, in dem ſolche Refte Liegen. 
Schnell find dann die Laften am Boden niedergefeßt und Alles enteilt in Die 
Büſche. Bald ift es die gedörrte Haut eines Büffels, welche den Attaquen der 
Vögel wochenlang widerftanden, mit Beigabe einiger Rippen und Wirbel, 
an welden Faſern und Fleiſchreſte hängen, bald ein mumificirter Antilopen- 
fopf; bier liegt noch ein ganzer Fuß, dort das Klauenſtück, aus welchem ſich, 
wohlzerhadt noch etwas Suppe (‚„mähi-mini“ d. h. Fleiſchwaſſer) kochen läßt. 

Weder Haut noch Knochen werden von den hungrigen Negern liegen ge: 
laffen. Das Raubthier verſchmäht joldhe Koft von zähem Leder, der Neger ſengt 
über dem Feuer die Haare ab, röjtet die Haut und kocht die zeritampften 
Krümel oder die in feine Streifen geichnittenen friſchen Stücke derjelben. Das 
Raubthier nagt nur an den weichen, ſchwammigen Gelenkköpfen; der Raub- 
meni dagegen zerftampft diejelben zwiſchen Steinen und kocht fie aus, er 
ipaltet die Röhrenknochen und jchlürft ihr Dark. Gejpaltene Knochen dienen 
daher auf afrikaniſchen Landftraßen noch heute als eben jo jichere Anzeichen von 
der Anmwejenheit des Menſchen, wie fie es bei uns in den Höhlen der Stein- 
zeit zu jein pflegen; two diejelben nur benagt und im übrigen intact erjcheinen, 
verrathen fie die Nähe von wilden Hunden, Hyänen, Löwen und anderen Raub- 
thieren. 

In bejonders günftigem Falle wird von den Trägern wol aud einmal 
eine halbe Antilope mit nocd weichem Fleiſch ausfindig gemacht und jofort, 
gleihviel in welchem Zuftande, zerſtückelt und unter einander vertheilt. Ein 
bedeutend enttvidelter haut-goAt beeinflußt den Appetit des Neger nicht im 
Geringiten. Biele halten jogar das Fleiſch in joldem Zuftande für bejonders 
nahrhaft und Fräftigend, auch verräth fi) bei den eigentlichen Negervöltern, 
die ich kennen zu lernen Gelegenheit hatte, ein weit größerer Widertwille gegen 
den Genuß von rohem Fleiſch, ala gegen den von verweſendem. Rohe Eier 
3. B. jelbft weichgefochte, erregen Efel, während angebrütete und faule, wenn 
fie nur zuvor gekocht wurden, anjtandslos zum Munde geführt zu werden 
pflegen. 

War unterwegs nidht3 von animaliſchen Reiten zu finden, oder ftellten die 
Jagdverhältniſſe keinerlei Beute in Ausfiht, jo machten fi) die Träger bei 
jeder Raftjtelle ans Wurzelgraben. Was zu bitter und unverdaulich erſchien, 
wurde während der nächſten Nacht in den ftet3 mitgeführten Töpfen abgebrüht 
und duch Auslaugen für den Negermagen genießbar gemadht. An eßbaren 
Früchten find die centralafrikaniſchen Wälder arm, und das Wenige, was fie 
in diefer Hinſicht produciren, toird von den wilden Thieren vernaſcht. 

War ich ein täglicher Zeuge ſolcher culinariichen Ungeheuerlichkeiten, To 
bot fih mir auf meinen Wanderungen auch wiederholt die Gelegenheit dar, 
Proben von der ftaunenswerthen Befähigung mancher Negerrafjen im Hunger: 
ertragen zu erfahren. Als ih im Sommer 1870 von meiner Reiſe zu den 


Ueber die Art de3 Reifen? in Afrika. 265 


Niamniam zurückehrend die unbewohnten Striche des Bongo-Landes zu durd)- 
wandern hatte, blieben meine Träger, die jelbft Bongo waren, ſechs Tage lang 
ohne jede andere Koft al3 ſolche, welche ihnen in den wildiwachjenden Wurzeln 
und Knollen des Waldes dargeboten wurde. Ungeachtet dieſes Mangels hatten 
fie die jchwerften Laften zu tragen, mit den in Folge der eingetretenen Regenzeit 
vermehrten Terrainichtwierigfeiten zu kämpfen, tiefe Bäche und reigende Flüſſe 
zu überjthreiten. Als wir nun wieder Culturland betreten hatten, war die 
Gier diejer Leute jo groß, daß fie fich über die herbeigebrachten Kornkörbe 
ftürzten und deren Inhalt ungefoht nad Art der Vögel zu Munde führten, 
bis der erfte Hunger getilgt ſchien. 

Nicht geringere Schwierigkeiten, al3 auf dem Durchzuge durch unbemwohnte 
MWildniffe, bereitet die Ernährungsfrage der Träger in den Gultiregegenden. In 
allen heidnilchen Negerländern, joweit ihre Gultur vom Islam unbeeinflußt blieb, 
fehlt e8 an Städten und Dörfern in unjerem Sinne. Die großen Negerftädte 
de3 mittleren Sudan verdanken ihre Entjtehung allen dem Hanbdelsgeijte arabi- 
firter Völker. Kornſpeicher unſerer Art dürften faum in den Wohnfitzen der 
größten Könige, welche über Millionen von Seelen gebieten, zu erwarten fein; 
two jte jich finden, dienen fie nur zum Unterhalte einer Familie. Gefüllt find 
diejelben nur unmittelbar nad) der Erndte. Selbft der König, welcher Hunderte 
von Weibern zu ernähren hat (indem ſich der gefammte Harem von Vater auf 
Sohn zu vererben pflegt), weift denjelben ein Areal zu, das fie auf ihre eigene 
Hand zu bewirthichaften haben; jeine eigenen Kornfammern werben von der nächften 
Umgebung de3 Königs in Anjprud genommen. Gelangt nun eine größere 
Karavane in bevölferte Gegenden, jo müſſen die erforderlichen Lebensmittel 
mühjam von weit und breit zujammengetragen werden. Daß dies nur unter 
Vorausſetzung Friedlicher Beziehungen zu den Bewohnern möglich ericheint, wird 
Jedem einleuchten, im Falle eines Gonflict3 mit den Letzteren, oder bei un- 
günstiger Wendung dev Herrjcherlaune verfiegen diefe hunderte von winzigen 
Nahrungscanälen jofort, und die Fremden gerathen in die größte Verlegenheit. 
Iſt es nun gar zum offenen Kriege gefommen, veranlaßt duch die Unklugheit 
des Führers, oder im Folge eines verrätheriichen Ueberfalls durch die beuteluftigen 
Eingeborenen, aladann bieten fich den Fremdlingen feine anderen Mittel zum 
Unterhalte dar, al3 diejenigen, welche er mit eigenen Händen zu ergreifen ver- 
mag, und dieje find nur zu bald erihöpft. Dörfer und Weiler, two fich jolche 
finden, oder die über das Aderland zerftreuten Hütten und Gehöfte der nächiten 
Umgegend werden ausgeplündert; weiterhin eröffnet fich eine Wildniß, wie die 
foeben durchwanderte, die Cingeborenen haben das Weite gefucht unter Mit- 
“ nahme aller beweglichen Habe. 

Um den unerläßlichen Frieden zu wahren, iſt zunächſt eine beftändige Be- 
auffihtigung der Träger von Nöthen. Man denke ſich einen Haufen von taujend 
audgehungerten Negern, die joeben auf drei= oder fünftägigem Marſche eine 
Wildniß voll Entbehrung und Anftrengung zurückgelegt haben: jet führt der 
Weg durch einen Garten von Pilang, und die prächtigen Fruchtbündel ſchauen 
verlodend aus dem Dunkel des großen Blattwerks hervor, oder aber die Kara— 
vane durcchichreitet ausgedehnte Mais- und Manioc-Pflanzungen, wo die gold- 

13* 


266 Deutiche Rundſchan. 


gelben Kolben jo appetitlich dem Wanderer entgegenleuchten und wo er mit 
einem Handgriff die armädide Knolle der Gaffave aus dem Boden zu reißen 
vermag. Die Verfuhung kann in der That nicht lebhafter gedacht werden; 
dennoch ift jeder Eingriff fofort und in der Weiſe, daß es die Einwohner jelbft 
noch gewahr werden, an Ort und Stelle zu betrafen. Da erhält mancher 
Träger, ſich jelbft gewiß nichts Unrechtes bewußt, feine gehörige Tracht 
Prügel, und die rauen der Eingeborenen umftehen ſchimpfend und fluchend dieſe 
Scene twiderftrebender Gerechtigkeit. 

Da, wo bei Gelegenheit früherer Durchzüge, jchon wiederholt Krieg und 
Brandſchatzung erfolgte, flieht Alles und verläßt Haus und Hof. Hühner laufen 
jwijchen den Hütten umher, die Küchengärten daneben bieten mancherlei zur 
Schau, wonad) das Herz der Träger gelüftet, aber weiterhinten ftehen die vor- 
jihtigen Bewohner, alles Thun der Fremden mit ängſtlichem Auge übertvachend. 
Da heit e3 wieder Enthaltjamfeit üben, nicht3 anrühren, will man anders 
die Eventualität eines Ueberfalls von der vorliegenden Wegſtrecke fernhalten. 

In der Regel Ichließt der Anführer einer Träger-Karavane mit dem Be— 
herricher des betretenen Landes, dem Diftrittächef, oder mit einem andern Macht— 
haber einen Vertrag zur Lieferung von Lebensmitteln ab, oder einer der Lebteren 
beivegt jeine Untergebenen zu zahlreichem Bejuche des Markts, auf welchem das 
Herbeigejchaffte ſtückweiſe im Tauſchverkehr erftanden werden kann. Nicht jelten 
aber find alle derartigen Arrangements unzulänglich, oder die eingegangenen 
Verpflichtungen werden nicht gehalten. 

Während unjeres dreimöchentlichen Verweilens bei der Refidenz des Mon— 
buttufönigg Munſa machte die Verforgung von nahezu taufend Köpfen mit dem 
nöthigen Lebensbedarf die außerordentlihiten Schwierigkeiten, obgleich da8 Land 
ſehr bevölkert war und Producte der mannigfaltigften Art in demjelben zu 
Gebote ftanden. Wiederholte Dislocationen der Träger-Colonnen, Entjendung 
von Theilen des Troffes nad entfernten Diftricten und dergleichen Manöver 
mehr mußten zur Ausführung gelangen, um unjere VBorräthe zu fompletiren. 

Auch das unnöthige Umherlaufen der Träger in den Gehöften der Ein- 
geborenen hat der Anführer zu verhindern, daraus können nur zu leicht Eonflicte 
erwachſen. Außerdem ift in ſolchen Ländern, deren Bewohner mit den benußten 
Trägern fraternifiren, two fie mit einander auf verwandtſchaftlichem Fuße ftehen, 
eine verdoppelte Wachſamkeit angezeigt, um der Verfuhung zum Treubruche 
und dem Entweichen der lebteren von vornherein vorbeugen zu können. Das 
Beite, wa3 der Neifende bei längerem Aufenthalte in einer Gegend zu thun 
vermag, — und dieje Marime wurde auf meinen Unternehmungen mit größten 
Erfolge in Anwendung gebradt —, ift die Errichtung eined durch eine Art 
Verhau wohl abgejchloffenen Lagers, verbunden mit dem Ausſtellen von Wachen, 
um jeden Berfehr der Schwarzen nur auf das unumgänglich nothmwendig er— 
icheinende Maß zu beichränfen. 

Soweit e8 die VBerhältnifje geftatten, hat man auch dafür Sorge zu tragen, 
daß die Träger von ihren Weibern, welche gleichfall3 zu diefem Dienfte heran- 
gezogen werden fünnen, begleitet jeien. In den von mir bereiften Gebieten war 
leider dieje, jehr viel zur Zufriedenheit der Mannſchaft beitragende, Vergünfti- 


Ueber die Art bed Reiſens in Afrika. 267 


gung eine nur in Ausnahmefällen geftattete, da die meiften Frauen daheim, in 
Abweſenheit aller tauglihen Männer, der Pflege des Aderbaues obzuliegen 
hatten. 

Nachdem ich eine Reihe der am meiften in die Augen jpringenden Uebel— 
ſtände bejprochen, welche beim Reifen mit Trägern unvermeidlich find, will ic 
mic wiederum den Vorzügen und den Annehmlichkeiten zuwenden, welche dieje 
Reilemanier dem Wanderer eröffnet. Der Menſch als Locomobil des Gepäds 
bat vor dem Lajtthier den großen Borzug voraus, daß er auch jelbjt zur Hin- 
wegräumung von Hindernifjen, welche ſich unterwegs entgegenjtellen, jowie zur 
eigenen Bequemlichkeit des Reifenden an den Raſt- und Yagerpläßen beizutragen 
vermag. Der große Trägertroß, wohlbewaffnet mit Yanzen, Bogen und Pfeilen, 
ftellt allein jhon durch jeine Maſſe eine rejpectable Macht vor, welche dem 
Anführer, unterftüht durch die Feuerwaffen jeiner Esforte, die den Muth und 
die Zuverfiht der Erjtgenannten bedeutend erhöhen, im fremden Lande von 
vorneherein eine große Ueberlegenheit zufichert. 

Eine der Hauptaufgaben, weldhe auf dem Marjche den Trägern zufallen, 
bildet da3 Herrichten eines Obdachs für die Naht. Meinem Tagebucdhe von 
1870 entnehme ich nachfolgende Schilderung eines nächtlichen Bivouaks in den 
Mäldern des Niamniam-Landes zur vollen Regenzeit. 

„Des Zeltes bediente ih mich nicht mehr, denn die Grashütten gefielen 
mir weit befjer, jo jehr war ich bereits in der Gewöhnung an die afrifaniichen 
Sitten vorgejhritten, auch war id) e8 müde geworden, die Zeltitange bei nächt— 
lihem Sturm mit meinen Händen zu ftüßen und um Hülfe rufend das halbe 
Lager zu alarmiren. Zum Glüd hatte auch die volle Regenzeit ihre Regeln 
und Gewohnheiten, von denen abzumeichen eine gütige Natur ſich nie erlaubte. 
Sn den frühen Dtorgenftunden bereits entjcheidet fi das Witterungsprogramın 
des Tages, getroft tritt man, jobald der Himmel ſich aufgellärt, den Marſch 
an. Neigt ſich die Sonne, und verkündet fernes Gewitterrollen den herannahen- 
den Guß für die Nacht, jo wird, etwa gegen 5 Uhr Nachmittags, Halt gemacht 
und in der Wildniß für ein paſſend trodenes Logis geforgt. Kaum jind die 
Gepäckſtücke zujammengejtellt und mit den Deden belegt, jo werden auch jchon 
die Beile und Meſſer hervorgeholt, um die „Hausmacher“ zu bewaffnen. Dabei 
berricht folgende Ordnung: „Derbei ihr Diener, ein Jeder an -jeinen Plaß, und 
nun wird aufgepaßt, daß die Träger nicht davonlaufen, um ſich der Arbeit zu 
entziehen. ch brauche vier Dann, um Gras zu holen, zwei jorgen für lange 
Baumäfte, einer genügt, um Baft zu juchen.” Nach Verlauf von kaum zehn Mi— 
nuten jind fie mit dem Gewünjchten zurückgekehrt. Da wird das Geſtell er- 
richtet, die Gabeläfte an den Holzpfählen läßt man an der Spitze ineinandergreifen, 
jo bildet ich ein Korb, der wird mit Rindenbaft umfpannt und nun das Klafter- 
lange Gra3 ringsherum angelehnt, angebunden, und zum Schluß eine riefige 
Garbe zuſammengeſchnürt, um fie tvie eine Mütze über alles auf die Spibe zu 
ftülpen. In weniger als einer halben Stunde ift derart eine jchoberartige Stegel- 
hütte geichaffen, allerdings klein wie ein Neft, aber ausreichend für die Nacht 
und abjolut regendicht. Draußen tobt der Sturm, Fradhen die Blitze, unbe- 
kümmert erfreut ich der miüde Wanderer einer wohlverdienten Ruhe. Beim 


268 Deutiche Rundichan. 


Schimmer einer kleinen Dellampe, die er fich ſelbſt erjonnen und in welcher 
jenes zweifelhafte Fett brennt, defjen Geruch allein ſchon mit Mißtrauen gegen die 
Humanität der Bewohner diefer Gegenden erfüllt, jchreibt er die Erlebniſſe des 
Tages nieder. Die Neger jcharen ſich um die Lagerfeuer und ſchützen die glim— 
menden Kohlen mit ihrer Bruft, während der Rüden von nächtlichem Regen 
gepeiticht wird. Dies war der Zujchnitt unſers Lagerlebens während des ganzen 
Rückzuges aus dem Lande der Niamniam und eine Nacht glich der andern.” 

Unerläßlich ift die Mithülfe einer größeren Menjchenzahl zum Paſſiren der 
Flüſſe während der Regenzeit, fall3 Böte auf denjelben nicht zur Verfügung ftehen. 
63 müſſen Brüden geichlagen werden, duch Fällung großer Bäume an den 
Ufern, oder duch Ausipannen ftarker an Ort und Stelle verfertigter Taue 
aus Rindenbaft und wilden Weinreben, vermittelt welcher man eine Art Hänge- 
brücke über den Fluß herſtellt. Auf einem derartigen Bauwerk gefährlichſter 
Urt überjchritt meine Karavane ohne jeden Unfall den Tondj= Fluß an der 
Nordgrenze des Niamniam-Gebiet3. 

Sind die Flüſſe zu breit oder fehlt e8 an ihren Ufern an großen Bäumen, 
jo werden Flöße aus Schilf und dürrem Graje gebaut, auf welchen man das 
Gepäd in Eleineren Parthien geladen und von dem ſchwimmkundigen Theil der 
Mannſchaft bugjirt auf das andere Ufer ſchafft. In gleicher Weije werden 
aladann auch die Nichtſchwimmer übergeführt. Mit vielem Erfolge haben ſich 
bereit3 mehrere Reifende der vermittelt Blajebälge aufzublajenden Kautſchuck— 
böte bedient. Auch kann man zur Heritellung einer leicht transportablen Fähre 
die im ganzen tropiichen Afrika ehr häufigen Flaſchenkürbiſſe verwenden, welche 
man nur in größerer Zahl zujammenzudinden braudht, um ein Floß von be- 
deutender Tragkraft zu erhalten. 

Wie man einen ſchmalen, aber jehr reigenden Fluß auch ohne Benußung 
von Flößen, ohne Böte und ohne zuvor’eine Brüde von Baumftämmen ges 
ichlagen zu haben, zu überjchreiten vermag, bewies mir das ebenjo ingeniöfe 
als kühne Verfahren, welches die mich begleitenden Nubier, ſämmtlich Schwimmer 
ersten Ranges, bei unjerer Paſſage des Sſueh am 13. Juni 1870 in Anwendung 
brachten. Die Bongoträger, welche eine bewundernswerthe Gejhidlichkeit darin 
bewiejen, aus gewiljen baftreichen Rinden ſtarke Seile zu drehen, indem ihr 
jagd- und filchreiches Land einen großen Bedarf an aller Art Wildgarne und 
Fiſchnetze Hat, mußten zunächſt für das taugliche Tauwerk jorgen. Gemandte 
Schwimmer überjpannten nun den zwar an diejer Stelle jehr verengten, aber 
mit einer Geſchwindigkeit von 200 Fuß in der Minute hinftürzenden Fluß der Art 
mit den erhaltenen Seilen, daß jie zwei Lagen bildeten, eine unter der Ober- 
fläche und eine zweite dicht über der Oberfläche des Waſſers befindliche. Mächtige 
Pflöcke an beiden Ufern in den Boden gerammt, dienten al3 Stützpunkte für 
dieje Seile, welche die Beitimmung hatten, eine aus zehn Mann formirte Fette 
zu tragen, welche ſich die Laften der Träger Stüd für Stüd einander zureichten, 
6i3 dieſelben an’3 andere Ufer gelangt waren. Dieje Leute hatten eine derartige 
Aufftellung genommen, daß fie mit den Füßen auf den unteren Seilen rubten, 
während die obere Lage derjelben ihrer Bruft als Lehne und Stübe diente, jo 
daß die Männer der Kette in halb ſchwebender, halb balancirender Stellung 


Ueber die Art de3 Reiſens in Afrika. 269 


ihräg gegen den Strom ſich ftemmend, der Gewalt des Waljers Widerftand zu 
leiften und ſich dennody dabei ihrer Arme frei zu bedienen vermodten. Man 
wird der Energie meiner Leute das befte Zeugniß nicht vorenthalten dürfen, 
wenn man bedenkt, daß jich in unſerer Karavane Elephantenzähne von 170 Pfund 
Gewicht befanden und daß zwei Drittel aller Träger des Schwimmens völlig 
unfundig erſchienen. 

Sp groß nun auch die Hindernifje find, welche alle Flüſſe zur Regenzeit 
dem Bordringen des Reifenden entgegenftellen, jo ericheinen fie doch geringfügig 
im Vergleich zu der oft vielmal3 im Verlaufe eines einzigen Tagemarjches ſich 
wiederholenden Mijere des Schlammbadens, die der Afrifareifende zu dieſer 
Jahreszeit über ſich ergehen lajfen muß. Kein Laftthier wäre im Stande, die 
großen Sumpfniederungen im beladenen Zuftande zu durchtwaten, welche allen, 
jelbjt den kleinſten, Gewäſſern in dev Nähe der ſüdweſtlichen Wafjericheide des 
Nilgebiet3 einen jo eigenthümlichen Charakter aufprägen. Dur) die legten 
Tagebücher von Livingſtone find ähnliche Terrainverhältniffe im Gebiete des von 
ihm entdedten Lualaba unter ! bi3 5 Grad jüdlicher Breite zur allgemeinen 
Kenntniß gelangt. Meine Erfahrungen betreffen ein Gebiet, welches ji) unter 
denjelben Graden, aber in nördlicher Breite und ungefähr unter demjelben 
Meridiane ausdehnt. Zur Charakterifirung diejer eigenthümlichen Uferſümpfe, 
deren Pafjage in der Negel eine halbftündige Anftrengung erheiichte, möge fol- 
gende meiner Reiſebeſchreibung entlehnte Schilderung dienen, welche ſich auf den 
Mebergang über einen Bad) an der Nordgrenze des Gebiet3 von Uando, eines 
Häuptlings der Niamniam, bezieht. 

„Set erſt begannen die ernftlichern Chicanen afrikaniſcher Fußwanderung, 
denn ſolche Sümpfe mußten durchwatet werden; da wäre fein Wagen, ebenjo 
wenig ein Reiter durchgekommen, auch tragen hätte man fic) nicht laffen können, 
ohne die bejtändige Gefahr einer weit jchlimmern Unbequemlichkeit, nämlich der, 
Kleider und Notizbuch), die man jo jorgjam auf dem Kopfe trug, in den ſchwarzen 
Erdſchlamm gebettet zu jehen. Da lagen modernde Baumjtämme, die auf 
ichlüpferiger Unterlage beim Betreten ſich drehten wie eine Welle, andere waren 
glatt und boten dem Fuß feinen Halt, dann kamen tiefe Löcher von Wajjer 
erfüllt, oder von ſchwimmender Begetation verrätheriſcherweiſe überdedte Fall— 
gruben, da gab e3 ein Springen von Erdflumpen zu Exrdflumpen, mit Balan- 
ciren und Zaften verbunden; vergebens jah ſich die Hand nad) Hülfe um, 
ungaſtlich wieſen die jägeartig berandeten Pandanusblätter jeden Händedrud 
zurück. 

Weithin erſchallten die Einöden einer viele Meilen weit gänzlich unbe— 
wohnten Wildniß von dem gellenden Geſchrei und dem Lärm der durch das 
Waſſer plätſchernden Träger; des Schimpfens und Fluchens der Nubier und des 
Gepolters der Sklavinnen mit ihren Schüſſeln, Kürbisſchalen und Calabaſſen, 
wollte es im dichten Gedränge zwiſchen den ſtacheligen Dſchungels kein Ende 
nehmen. An vielen Stellen übertönte ein luſtiges Halloh aus hundert Kehlen 
den Wirrwarr der Stimmen; das galt dann immer einer Sklavin, die mit 
ihrem ganzen Küchenkram in einer Lache verſchwunden war; und die Kürbis— 
ſchalen trieben über ihr auf der trüben dicken Flut. 


270 Deutiche Rundſchau. 


Mit dem An= und Ausfkleiden und Durchwaten war indeß bei jolder Ge— 
legenheit nicht alles gethan, denn nad) vollbrachtem Werk blieb noch das noth— 
wendige Geichäft einer Reinigung vom ſchwarzen Schlamm und Humusmoder 
übrig, der zähe am Körper haftete. Das tückiſche, jedem Eindringling in jeine 
Geheimnifje jo abgeneigte Gentralafrifa ſchien da eine förmliche Schadenfreude 
zu äußern, den weißen Mann wenigſtens für Kurze Zeit zu einem ebenſo 
ſchwarzen Gebilde umzugeftalten wie die übrigen Menſchenkinder, die e3 groß- 
gezogen; aus Malice wurden ihm da noch verjchiedene ebenſo ſchwarze Blut- 
fauger angehängt. Nadt ftand er da und fröftelnd im Winde, zumal bei 
nebeliger Morgenfühle der Regenzeit, bis Hilfreiche Geifter in irgendeiner nod) 
unberührt gebliebenen Pfütze reines Wafjer zum Abſpülen entdedt hatten. Dann 
wiederum, — eine ſchöne Beſcheerung! — fiel der Blick auf die dicken Blutegel, die 
an den Beinen hingen; zum Pulverhorn mußte man greifen, um fie abfallen 
zu machen, und die Kleider tränkten ji mit unnüß vergoffenem Blute. Alles 
da3 im Getümmel de3 Zugs, bejprikt von den Tritten der Vorüberziehenden, 
fauerte man ängjtlid) auf einem Polſter aufgeftapelter Farrnkräuter, oder auf 
faulenden Baumftämmen ein trodenes Plätzchen juchend.“ 

Ich könnte Bände füllen, wollte ich jeden einzelnen Uebergang über Die 
Bäche und Flüffe diejes Landes mit gleicher Ausführlichkeit behandeln, wie den 
ſoeben geidhilderten. 

Dod wenden wir uns nun twieder zu den Obliegenheiten des Trägers, in- 
jofern fie der Bequemlichfeit de3 Reijenden in dieſen unwirthlichen Waldein- 
öden gewidmet find. Unter die Dienftleiftungen, welche der ermüdete Reijende 
von den Hunderten ihm zur Berfügung ftehenden Händen erivartet, gehört noch 
das Einjammeln von dürrem Holz für die Lagerfeuer der Naht, das Herbei- 
Ihaffen des Trinkwaſſers und auf der Jagd die Hülfe beim Zerlegen und Fort— 
Ihaffen des erlegten Wildes. Wenn fih in der Nähe unjeres Pfades Wild 
zeigte und die localen Verhältniſſe einer Verfolgung günftig waren, jo eröffnete 
ih mit einigen Begleitern die Jagd. War dieje von Erfolg gekrönt, jo durfte - 
deshalb noch nicht der lange Zug der Karavane in's Stocken gerathen. Unter- 
breddungen der Golonne mußte man unter allen Umftänden zu vermeiden 
Juden. Ich ſicherte mir in dieſem Falle meine Beute in der Weile, daß 
ich einige Leute zurückließ, twelde das Wild abzuhäuten und zu zerlegen 
hatten, während ich der Karavane al3 Nachzügler folgte, um vom Lagerplaße 
der fommenden Nacht die zur Abholung des Tzleifches benöthigten Träger zu 
entjenden. 

In ſolchen Nächten kamen die Träger faum zur Ruhe, fie verbrachten 
vielmehr die dem Schlafe abgerungenen Stunden mit dem Dörren des Fleiſches 
über dem Teuer, au) war mir einige Male ihre Dienftfertigfeit, jobald es ſich 
um etwas Eßbares handelte, bejonders bei der Anfertigung von Fleiſchextrakt 
nad der Liebig'ſchen Methode von großem Nuben, indem fie mir die dazu ver- 
wandten Maffen auf den mitgeführten Holgbrettern zerhaden mußten. Ueber— 
haupt war die nächtliche Unruhe meines großen Reijetroffes eine derartig auf- 
regende, daß erſt Wochen vergehen mußten, bevor ich mic) an diejelbe gewöhnt 
hatte. Man vergegenwärtige ſich aber auch das grotesfe Bild, twelches die 


Ueber die Art be3 Reifen in Afrika, 71 


zahlreichen Gruppen der jchmaufenden, tanzenden und jchreienden Neger zur 
Nachtzeit, nad) den Strapazen und Sorgen de3 Tages, dem Wanderer in afrifa- 
niſcher Waldeinjamfeit vor die Augen führten: 

Ein marktartiges Getümmel hat fih im Walde ausgebreitet, wo noch dor 
wenigen Minuten der ſcheue Tritt einer flüchtigen Antilope weilte. Das laute 
Gejumme der Plaudernden, Geftifulivenden, miteinander Streitenden wird ab 
und zu von einem Fräftigen Gommandorufe unterbrochen, hin und wieder lodert 
ein neue3 Lagerfeuer hoc) auf und da3 Dunkel des Waldes erjtrahlt von zahl: 
loſen Lichtern. Jeder einzelne Träger ſchützt ſich, jo gut er kann, gegen den 
falten Thau der Nacht, und die Aſche ift jeine Dede. Rauchwolken umhüllen 
die ganze Lagerjcene, ein brennendes Gefühl in den Augen vericheucht jeden 
Schlaf und fordert zur Bewunderung des herrlichen Sternenhimmels auf. Um- 
floffen vom magiihen Mondihimmer ericheint dem Reijenden alles wie von 
einem großen Theaterjchleier verdecdt, der allmälig ſich lüftend, im Hintergrunde 
die Hölle ſichtbar werden läßt, mit Hunderten ſchwarzer Teufel, die auf ebenjo 
vielen Flammen braten. So beſchaffen war mein tägliches Nachtlager, jo oft 
ic von einer großen Trägerzahl begleitet reifte. 

Zur Charakteriſtik diefer Art Reifen mögen noch einige Angaben über die 
Ordnung des Zuges und die Beichaffenheit der Pfade auf den größtentheils jehr 
ebenen Flächen von Gentralafrifa dienen. ch hatte vorhin erwähnt, daß bie 
Träger, von ihren Dijtrikt3-Borgejeßten angeführt, an dem zum Aufbruch feit- 
gejeßten Tage fih in der Chartumer Niederlaffung zu verfammeln hatten, 
Dieſe Diftriftschef3 begleiten diefelben aucd) gewöhnlich während der ganzen Reiſe 
als ihre Anführer und Aufſeher. Während des Marſches bilden die Träger 
nad) ihrer Herkunft Gruppen, die zur Ordnung des Zuges immer ftrenge inne 
gehalten werden müflen. Die mit Feuerwaffen ausgerüftete Söldnerichaar, 
welcher auch während des Marſches jelbjt die Sicherftellung der ganzen Kara— 
vane gegen feindliche Angriffe obliegt, wird in der Regel in drei Theile getheilt, 
ein jeder mit jeiner Fahne an der Spitze. Die erjte Abtheilung eröffnet den 
Zug, die zweite jchreitet in der Mitte jeiner Längenausdehnung, wo auch den 
rauen ihr Plab angewieſen ift, einher, und die dritte beichließt den Zug. Der 
Fahnenträger der Hinterften Abtheilung ift der legte Dann im Zuge und diefer 
darf feinen Nachzügler mehr in feinem Rüden dulden. 

Bei Alußpafjagen, beim Durchzuge durch dichte Uferwälder und an allen 
Stellen, welche durch die Natur ihrer Localbeſchaffenheit eine exrceptionell erhöhte 
Gefahr vor unerwarteten Ueberfällen darbieten (leßtere richten jelbjtverjtändlic) 
eine Verwirrung ohne Grenzen an, und die Kugeln verfehlen im Waldesdidicht - 
ihre Wirkung), werden wol aud) eigene Streifcorps formirt, welchen die Auf- 
gabe zufällt, alle Büſche zu Seiten des Pfades frei zu halten. 

Die Längenausdehnung der Trägercolonnen iſt in häufigen Fällen eine jo 
beträchtliche, daß auf kurzen Tagemärjchen die Tete bereits Halt gemacht haben 
fann, während die Queue noch kaum den Rauch der im Rücken gelajienen 
Lagerfeuer aus den Augen verloren bat. Diejes eigenthümliche Verhältniß 
findet jeine Erklärung in dem Umpftande, daß nach centralafrikaniſchem Reiſe— 
brauch alle Träger ftet3 in einer Linie, einer hinter dem andern, wie im Gänje- 


272 Deutiche Rundichau. 


marjche, des Weges einherzuziehen haben. Die Entwidelung eines jolhen Zuges 
bietet zur Morgenzeit, beim Aufbruche, ungeachtet aller Bemühungen der Zug— 
ordner, oft ein Bild unbejchreiblicher Verwirrung, namentlich) wenn fi das 
Nachtlager inmitten eines dichten Gehölzes befand. Mindeſtens eine halbe 
Stunde iſt in joldem Falle erforderlih, um die geichloffene Reihe Herzuitellen. 

Nur in wenigen Gegenden nämlich geftattet da3 Terrain im äquatorialen 
Afrika ein Nebeneinhergehen in mehreren Reihen, denn der Graswuchs oder die 
Bäume und das Unterholz treten jo diht an den Pfad heran, dab in den 
meisten Fällen eben nur Raum für eines Mannes Breite frei bleibt. Aus der 
Mitte des Zuges heraus die Téte zu gewinnen, war unter jolden Umftänden 
fir mid, jo oft ich einen Vorſprung bei den fiir mich durch die nothiwendige 
Entkleidung jo zeitraubenden Bach- und Sumpfpaflagen gewinnen wollte, faft 
immer ein Ding der Unmöglichkeit. Alle Pfade in Gentralafrifa find von einer 
derartigen Schmalheit, daß fie ſich während der Regenzeit wie enge Spalte in 
der Prärie ausnehmen; rauſchend theilen ſich vor den Schritten des Wanderer3 
die Wogen des Grasmeeres, und der von ihnen abgeitreifte Thau beneßt ſeine 
Kleider gleich dem dichtejten Regen. 

Selbft nad) erfolgtem Steppenbrande hindern die Stoppeln des ftarren, 
oft rohrartig feſten Grajes jedes Fortlommen zur Seite des Pfades. Diefer 
iſt gewöhnlid) jo tief ausgetreten, daß er einer Rinne gleichfommt, in welcher, 
jo oft e3 geregnet, das angejfammelte Waſſer durch die Raumverdrängung To 
vieler Füße in lebhaften Abflug geräth. Faſt aller Orten bejiten ſolche Pfad- 
rinnen genau die Breite einer menſchlichen Fußlohle, und es fiel mir anfänglich 
ſchwer, meine Gangart, ohne die Füße verftauchen zu machen, mit derjenigen 
der Neger in Einklang zu bringen, welche ihre Fußtapfen gerade vor fich Hin 
in ein und diejelbe Linie fallen zu laffen pflegen. 

Die joeben auseinandergejehte Beichaffenheit der centralafritaniichen Pfade 
schließt auch jede Anwendung von zwei- oder vierrädrigen Karren aus. Stanley, 
der Livingftone- Finder, welcher ein derartiges Gefährt Probe halber mit auf 
die Reife genommen, mußte dafjelbe, wie aus einer Abbildung in jeinem Werte 
hervorgeht, Ichließlich auf dem Kopfe eines Trägers davon tragen lafjen. Aus 
dem angeführten Grunde würde auch das Tragen von Sänften durch vier Men- 
ichen dort zu Lande unmöglich jein, wenn die Träger nit im Stande wären, 
in einer Linie hinter einander zu gehen. Zwei Träger genügen aber nicht für 
die Laſt einer Bahre, welche den Körper eines ſchweren Menſchen trägt. Im 
Nothfalle muß man überihüffige Träger zur Dispofition haben, um einen häufigen 
Wechſel der ſchnell Ermüdeten eintreten laffen zu können. 

Es giebt indeß ein Gefährt, welches in Gentralafrifa jehr wol zur An- 
wendung gelangen und eine große Eriparnig an Trägerfräften zur Folge haben 
fönnte. Jedem Reifenden, der China beſucht hat, wird es wolbekannt jein, 
daß in jenem Lande ein Fahrzeug im Gebrauch ift, welches fid) auf quten, 
feften Wegen außerordentlich zur Fortſchaffung ſchwerer Laften bewährt, obgleich) 
zur Bedienung defjelben die Kraft eines einzigen Menſchen genügt. Es ift der 
jogenannte hinefiiche Karren, welcher auf einem einzigen großen Rade ruhend, 
(das letztere befindet fi) unter dem Schwerpimft der Laft, nicht vor demſelben, 


Ueber die Art des Reiſens in Afrika. 273 


wie bei unjeren Schiebefarren), da3 von einem Geftell zur Aufnahme der 
Laſt überbrüct und überbaut wird und von einem Menjchen, der nur auf die 
Wahrung des Gleichgewichts zu achten, im übrigen aber wenig Kraft zu feiner 
Fortbewegung aufzubieten hat, vorwärts geichoben werden kann. Der chineitjche 
Karren, welcher ſich auch wegen feiner großen Leichtigkeit im leeren Zuftande 
für die Paſſage von Flüſſen und Sümpfen bejonders empfiehlt, dürfte aus— 
nehmend zur Befahrung der jchmalen, wohl jehr feſten und harten, ftet3 aber 
ebenen Pfade von Afrika geeignet erjcheinen. Nach meiner Berechnung würde 
ein Reifender, welcher ſich diejes Fahrzeugs zur Fortichaffung jeines Gepäds 
bedienen wollte, immer noch mit dem fünften Theil feiner gewöhnlichen Träger 
auskommen, jelbjt wenn er zwei Menſchen, d. h. den einen zum Scieben, den 
anderen zum Ziehen des Karrens, einipannen müßte. 

In der That Hat der hinefiiche Karren bereit3 auf dem letzten Feldzuge 
gegen die Aſchanti's Verwendung gefunden, nachdem er mir lange zuvor auf 
allen meinen Wanderftraßen in Afrika beitändig als das deal künftiger Ge— 
pädsbeförderung vorgeſchwebt hatte*). Zwei ſolcher Karren find vor Kurzem 
unferer Afrikaniſchen Gejellichaft jeitens des britiichen Kriegsminifteriums zum 
Geichent gemacht worden und nach der Loangoküſte abgegangen. 

Ich Habe gleid) am Eingange erwähnt, daß das Reifen mit Ochjengeipannen 
und großen ſchweren Wagen, welche eine Laft von über ziwanzig Gentner fort- 
bewegen fönnen, im jüdlichen Afrika im Gebrauch ift. Alle Reifen in's 
innere werden dajelbjt auf jolhen Wagen ausgeführt, welche ungefähr bis zum 
zwanzigiten Grade jüdlicher Breite vorzudringen vermögen. Weiterhin gen 
Norden behauptet die Thetſe-Fliege das Feld gegen jede Art Zugthier und der 
Menſch tritt als Laftträger an ihre Stelle. Meines Erachtens würden ſich 
dem Vordringen diejer Ichwerfälligen, aber überaus dauerhaften Gefährte, inner: 
halb des Gebiets des Gazellenftromes bis zum fünften Grade nördlicher Breite, 
feine Schwierigkeiten in den Weg ftellen. Auch an den nöthigen Zugthieren 
dürfte e3 im jenen Gegenden nicht fehlen, wenn nur Leute vorhanden wären, 
die fie abzurichten verftänden und die Wagen ſelbſt an Ort und Stelle geihafft 
werden fünnten. 

Der Gebraud jeder Art auf Rädern bewegter Vehikel iſt im Gelammt- 
gebiete der Nilländer jüdlich vom eigentlichen Aegypten (man kann jagen, jüd- 
(ih von Cairo) ein zur Zeit noch völlig unbefannter; jelbjt in Aegypten fehlt 
es an Landitraßen, auf welchen Räder rollen, da fein Bedürfniß dazu vor— 
handen ift, jo groß auch die Menge von Wagen aller Art in den beiden Haupt- 
ftädten de3 Landes erjcheinen mag. Als eine bezeichnende Thatſache kann ich 
e3 aufführen, daß zur Zeit meines letztes Beſuchs in Chartum, einer Stadt, 
die 40,000 Einwohner zählt, nur ein einziger zweirädriger Karren exiſtirte, 
deſſen Räder noch dazu verkehrt aufgeſetzt waren. 

Aus den unverrückbar jtabilen Urzuftänden afrikaniſcher Wildniß heraus 
hat jomit da3 Rad, diefer wichtige Hebel in der Gejammtceultur der hifto- 


) Bol. Banb II, Eeite 323 und 324 meines Reifewerl3 „Im Herzen von Afrika“, woſelbſt 
dieſer Gegenftand ausführlicher behandelt worben. 


274 Deutiche Rundſchau. 


riſchen Welt, unfere Betrachtung wieder den im Eingange berührten 
der Neuzeit zugefehrt. 

Legen wir uns alfo zum Schluffe noch die Frage vor: Wodurd) laſen ſich 
die jetzigen primitiven und unzureichenden Transportmittel Centralafrika's er- 
ſetzen, welche den Handel mit den tieferen Binnenländern nur auf die koſtbarſten 
Producte, deren es ſo wenige in dieſem Welttheile giebt, beſchränkte und die 
dem Vordringen der Forſchungsreiſenden jo unüberwindliche Hindermiſſe ſchaffen? 
ſo muß ſich unſere Aufmerkſamkeit zeitgemäßer Weiſe zunächſt auf die Ver— 
wendung der Dampfkraft richten. Sollen die Flüſſe ſchiffbar gemacht, ſollen 
Eiſenbahnen erbaut werden? 

Wie ſchon angedeutet, droht die den Flüſſen von Afrika zugewieſene Stelle 
im Welthandel auch für alle künftigen Zeiten eine geringere zu bleiben, als ſie 
es in irgend einem anderen Welttheile geworden. Die Verhältniſſe in den oberen 
Nilgewäſſern ſtellen in dieſer Hinſicht ein ebenſo ungünſtiges Prognoſtikon, wie 
diejenigen am Niger, welcher letztere bereits ſeit dreißig Jahren auf eine weite 
Strecke ſeines Laufes von Dampfern befahren worden iſt. Ueberall fehlen die 
Sammelpunkte des Handels an den Ufern, die eigentlichen Stapelplätze Liegen 
oft weitab im unzugänglichen Binnenlande, und Europäer wie Araber mußten, 
wo jie dem Handel eine erweiterte Bafis geben wollten, fich jelbjt erſt der- 
artige Stapelpläße ichaffen. | 

Was die vollftändige Erjchliegung des Nils zur ununterbrochenen Waſſer— 
ftraße anlangt, jo würde eine Bejeitigung der ungeheuren Gataracte mehr Koften 
verurjachen al3 die Anlage vielfaher Schienenwege an feinen Ufern. Die Er- 
bauung einer ſolchen befindet ſich allerdings bereit3 im Werke, indem nad) dem 
Plane des Ingenieurs Fowler von Uadi Halfa, am Beginn der zweiten Nil- 
Gataracte, über Dongola und duch die Bejudafteppe eine Eifenbahn nad) Ehar- 
tum im Baue begriffen ift; fie wird eine Länge von Hundert deutjchen Meilen 
haben und die Koften find auf hundert Millionen Franken berechnet tworden. 

Die Bedeutung des Nilthals für den Welthandel ift indeß, vergleichen wir 
damit die übrigen Flußländer Afrika’s, in diefem Welttheile eine jo erceptionelle, 
daß man die VBermuthung ausfprechen kann, die Vollendung de3 großen Baues 
werde gewiß für lange Zeit ohne Nachahmung bleiben. 


In allen Ländern bezeichnen die Eifenbahnen nur einen weiteren Ausbau 
bereit3 vorhandener und zu hoher Stufe der VBolllommenheit gebradhter Commu— 
nicationsmittel und Kunftftraßen; oder, wo dies nicht der Yall war, wurden 
fie doch in Gegenden errichtet, die jich durch die Eröffnung von Schienentwegen 
erft mit Menjchen zu füllen hatten, wenn dieje dazu angethan und willens 
waren, einen großen Eifer für die Erſchließung der natürlichen Reihthümer zu 
befunden. Sole Bedingungen fehlen in Gentralafrifa. Die Fruchtbarkeit 
feines Bodens wird meift überſchätzt. Nie aber wird der Europäer fich in diejen 
Gegenden zu acclimatifiren vermögen, er wird im günftigften Falle energiſche 
Völker des Oftens an die Stelle der paffiven Negerftämme zu ſetzen ſuchen 
müſſen, die eventuellen Bodenſchätze Afrika’ einmal von Chinejen- oder Indier— 
band heben laſſen. 


Ueber die Art bes Reifen in Afrika. 975 


Einige Verbeſſerungen, welche fi) unter den gegenwärtig dargebotenen Ver— 
hältniffen für die Beförderungsmittel im äquatorialen Afrita empfehlen Tießen, 
habe ich bereit3 andeutungsweije berührt; ic) habe des chineſiſchen Karren er— 
mwähnt und darauf hingewiejen, daß der Einführung ſüdafrikaniſcher Ochjen- 
tagen in einem großen Theile dieſes immenjen Gebiets feinerlei ernfte Schwierig- 
feiten im Wege ftänden; daß ſelbſt die Belaftung des Rindviehs in manden 
Striden, wo weder Kameele noch Ejel Stand zu halten vermögen gegen die 
Einflüſſe des Klima's, al3 ein willlommener Fortichritt in diefer Hinficht zu 
begrüßen jein würde, babe ich auch gezeigt. Ich kann nur mit dem Rathe 
ihließen, welchen ich ſchon öfters wiederholt habe und der, von maßgebenderer 
Seite*) ausgehend, vor Kurzem die Runde durch unjere Zeitungen machte, der 
indeß für immer in die Kategorie der „frommen Wünſche“ zu ftellen jein wird, 
to lange noch menschliche Gewinnſucht die Gejchicke der Welt beherriht. Der- 
jelbe lautet: „Bedient Euch zunächft jener Mittel, welche in diefen Ländern die 
Natur Euch jelbft dargeboten, richtet den afrikaniſchen Elephanten ab, wie man 
es vor ztweitaufend Jahren gethan, verzichtet auf den nußlojen Tand des Elfen- 
beins, tretet dem Vernichtungskriege entgegen, welchen der Menſch diefem hod)- 
begabten Geſchöpfe bereitet.“ 


) Dr. U. Petermann: Die deutſche afrikanische Expedition und ihre Beförderungsmittel. 








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Ferdinand Salfalle 
bor der Agitation. 


Bon Georg Brandes. 


Flectere si nequeo Superos, Acheronta movebo. 
Virgil-Lassalle. 


Eins der Ereigniſſe, welche in diefem Jahrhundert Europa am meiften 
überrafcht und verwundert haben,-ein Greigniß, da3 zu verftehen man rings in 
den verichiedenen europäiichen Ländern immer nod) die mißlungenften Verſuche 
macht, ift der Proceß, durch welchen das Deutſchland Hegel’3 fich in das Deutſch— 
land Bismard’3 verwandelt hat. Bald ſpricht man, als ſei das alte Geſchlecht 
urplößlic) ausgeftorben und der neue Stamm wurzellos in die Höhe geichoflen, 
bald, ala habe eine wendiſch-ſlaviſche Pfropfung den Stamm verderbt oder ver- 
edelt. Für Einige ift das neue Deutichland der Mann mit der eijernen Maske. 
Das alte philoſophiſch-poetiſche Gefiht jei das wahre, und darüber habe ſich 
jeßt das Preußenthum gelegt, wie die Maske über jenen unglüdlichen Gefan- 
genen. Andere machen die Entdeckung, daß das alte harmlos romantiſche Geficht 
eben die Maske gewejen jei, hinter welcher ſich die jet hervortretenden wahren 
Züge heuchlerifch verbargen. Die eine diejer Anfichten ift jo unverftändig wie 
die andere, und beide beruhen auf derjelben Unkenntniß vom Entwidlungs- 
gange des modernen Deutſchlands. Wer diefen in der Literatur ftudirt, wird 
Schritt für Schritt verfolgen fünnen, wie die Ideen, die Handlungsweije und 
die Lebensanſchauung der neuen Generation ſich organiich aus denen der früheren 
entwidelt haben. Die Kluft zwiſchen Hegel’3 und Bismarck's Deutjchland Füllt 
ih dann für den Blick allmählich aus, die Phyſiognomien auf diejer und auf 
jener Seite der Kluft zeigen verwandte Züge. Einzelne interefjante und ſcharf 
marfirte Phyfiognomien, welche fich kräftig vom Hintergrund der Geſchichte ab: 
heben, bezeichnen an und für ſich jchon den Uebergang und die Verſchmelzung 
des Geiftesgepräges ziweier Generationen. Unter diefen Phyfiognomien hat 
Deutichland kaum eine intereflantere und jchärfer geichnittene aufzuweiſen, als 
die Ferdinand Lafjalle’3 Gr war geboren den 11. April 1825, und 


Ferdinand Laffalle vor der Agitation. 977 


ftarb an einer Duellwunde den 31. Auguft 1864. Gr war ein hervorragender 
Schüler Hegel’, und man hat ihn feiner Zeit nicht ohne ſcheinbaren Grund 
Bismarck's Lehrer genannt; denn läßt ſich eine directe Einwirkung auch nicht 
nachweiſen, jo haben doc in der inneren wie in der äußeren Politif die Hand- 
lungen des großen Staatsmanns auf entjheidenden Punkten das Programm 
des philofophiichen Agitators genau zur Ausführung gebracht. 


1 


Mer Lafjalle kennen lernen will, muß mit dem Studium feiner Flug— 
ichriften beginnen. Man bleibt nicht Kalt bei der Lectüre diefer Proja: ein 
außerordentliches Wiſſen wird bier von einer durchaus modernen, ſtreng logiſchen 
und ftreng ſachlichen, Beredtſamkeit beherricht, deren verhaltene Begeijterung 
mit Feuerſchrift zwiichen den Zeilen ruht, um dann und wann aufzulodern; 
eine unbeichreiblihe Kühnheit bei allen Angriffen wird von einer unerſchütter— 
lichen, jtahlharten Feſtigkeit bei jeder Vertheidigung unterſtützt; Sprache und 
Stil find ein Typus an ih. Bon Declamation keine Spur. Der Autor weiß 
und vermag zu Viel, als daß er Luft haben follte, zu declamiren. Aber aud) 
feine Spur vom Ballaft der Gelehrſamkeit. E3 ijt ein Schwerbewaffneter, der 
bier jeinen Krieg führt; aber jelten ſah man jchwere Waffen jo leicht ge- 
tragen. Aus gedrudten Quellen erfährt man nur Wenig über die Perſön— 
lichkeit und das Leben diejes Schriftftellers. Wiederholte längere Reifen in 
Deutichland haben mich indeß mit einer nicht geringen Zahl von Perjonen, 
Männern wie Frauen, zufammengeführt, auf deren Urtheil ich Werth lege, und 
die Lafjalle perjönlich gekannt haben. Wie man weiß, haben die öffentlichen 
Stimmen über Lafjalle, jeitdem die Angriffe mit jeinem plößliden Tode ver- 
ftummten, heut zu Tag einen ganz andern Charakter angenommen, als zu der 
Zeit, da er noch am Leben war. Eine offene Anerkennung feiner Bedeutung 
und feiner Gaben ift nicht jelten. Die Mehrzahl der Privaturtheile über ihn 
lautet dagegen relativ ungünftig. Seine Privatbefannten haben jeine Schriften 
meift nur flüchtig gelejen, feine Anfichten jelten oder niemals getheilt. Seine 
Schwächen waren erfihtlih von jolder Art, daß man fein Piycholog zu 
jein brauchte, um ſie zu entdeden, und der größte Theil des gebildeten Publi- 
cums, wie der größte Theil der Privatbefannten öffentlicher Perjönlichkeiten, 
heftet jich leicht an in die Augen fallende Schwächen, bejonder3 wenn eine ver- 
götternde Anhängerjchaar dieje ganz überſieht. Ich erwartete nicht, von dem 
höheren Bürgerſtande liebevolle Urtheile über einen Mann zu hören, der im 
Kampfe mit der ganzen bürgerlichen Gejellichaft jeines Vaterlandes ftarb, und 
der faſt allein kämpfte, während er die gejammte Preſſe zu Gegnern hatte; 
dennoch geitehe ih, daß eine jo allgemeine Entrüftung, eine nad) meiner An- 
ſicht fo unvollfommen begründete und nod) jo lebendige Mißftimmung wider 
den Todten mir überraichend war. Bermuthlich hat man diefer Mikftimmung 
die Schwierigkeit zu verdanken, die es koſtet, jich gegenwärtig eine vollitändige 
Kenntniß von Lafjalle zu verichaffen. Cine gute, oder gar eine Geſammt— 
Ausgabe jeiner Schriften eriftirt nicht; die meiften derjelben fann man nur von 
einem joctaliftiihen Commiſſionär in Leipzig beziehen, deſſen grenzenlofe Unzu— 


278 Deutiche Rundſchau. 


verläffigfeit Einem die Anſchaffung faſt unmöglid macht; und was er 
auf Lager hat, ift nicht nur auf dem erbärmlichften Papier gedrudt, jondern 
obendrein durd) grobe und finnentjtellende Drudfehler verunftaltet*). Seltnere 
Broſchüren findet man nicht einmal auf der königlichen Bibliothek zu Berlin. 
Von biographiichen Aufklärungen und Briefen hat fat Nichts das Licht der 
Deffentlichkeit erblickt **). Deütet nun dies Alles, wie bemerkt, auf eine noch 
nicht erlojchene Mißſtimmung gegen Laflalle, jo ift diefelbe doch weit entfernt 
davon, eine abjolute zu fein. E3 bat mich frappirt, daß man in der Regel mit 
um jo mehr Wohlwollen, Anertennung, Wärme, Bewunderung von dem Ver— 
jtorbenen jprad, je genauer man ihn gefannt hatte. Das Ipriht in hohem 
Grade für Lafjalle; denn wirklich bedeutenden Geiftern ergeht es immer fo. 
Während Die, welche nur durch da3 Preftige des Talents oder de3 Rufes blen- 
den, wie der Papſt in Rom um ſo weniger gelten, je näher man ihnen kommt 
oder fteht, finden bedeutungsvolle Perjünlichkeiten die größte Hingebung bei 
Denen, die fie am beiten fennen. Ich babe nun ein Paar Jahre lang all’ dieſe 
Urtheile und Aeußerungen jih in meiner Seele befämpfen und ausgleichen 
lafjen, während ich aber- und abermals ihren Gegenftand mit demjelben unge- 
ſchwächten Intereſſe gründlich ftudirte, und wenn id) mich jet von Neuem in 
dies Thema vertiefe, Jo bilden all’ jene Anjchauungen im Verein mit all’ meinen 
eigenen früheren und jpäteren Stimmungen und Eindrüden von ihrem Gegen- 
jtande eine wunderbar vielftimmige Symphonie in meinem Innern. ch kenne 
Laſſalle ſo genau, wie man ihn fennen kann, ohne ihn jemals gejehen oder ge= 
hört zu haben; ich hege die zum Verſtändniß erforderliche Sympathie für die 
Lichtſeiten ſeines Weſens, und ſehe ſie von den Schattenſeiten deſſelben begrenzt; 
dazu müßte man in eben ſo hohem Grade, wie er, in der Philologie, Philo- 
jophie, Jurisprudenz und Staatsöfonomie bewandert ſein; aber ich will ver- 
juchen, den pſychologiſchen Grundriß für ein Portrait zu liefern. 

63 ift jehr viel für und nod) ‚mehr gegen die von Lafjalle in jeinen letzten 
Lebensjahren aufgeftellten Theorien gejchrieben tworden. .Mtan hat ihre Richtig- 
feit angefochten und conftatirt. Es ift ein äußerſt hitiger Streit über die 
Zweckmäßigkeit feiner letzten practiſchen Vorſchläge geführt worden. Das Ur— 
theil in dieſem Streite zu fällen, halte ich mich nicht für befähigt, und mich 
an demſelben zu betheiligen, ſpüre ich keine Luſt. Was ich aber gethan wünſchte, 
und was ich, da noch kein Anderer Neigung dazu bewieſen hat, ſelber zu thun 
verſuchen will, das iſt, wie Sainte-Beuve ſagen würde: faire acte de litterature 
in Betreff Lafjalle'3, aufklären, was für eine Natur er war, die urjprüngliche 
Grundlage feines Wejens, jeine tiefften jeeliichen Eigenſchaften und feine vor— 
— Ideen, das Grundgepräge ſeines Geiſtes, die Form ſeines Talentes 


*) Nur zwei Beiſpiele ſeien hier angeführt: „Damit fie durch feinen Reſt einer ſittlichen 
felbftändigen Staatsanwalt beengt*, ftatt „Staatagewalt*, und: „St es Vorbereitung 
zum Hochverrath, wenn ich Jemanden in einen unerlaubten Berein einzutreten auffordere?* 
ftatt „in einen erlaubten”. Hochverrathsproceß 1864, ©. 38 und 43. 

**) Bekanntlich proteftirte vor nicht gar langer Zeit Rodbertus gegen die Herausgabe feiner 
bi Sog mit Yafjalle. 


Ferdinand Lafjalle vor der Agitation. 279 


aufdeden, mit Einem Wort, ihn ala Schriftjteller dharakterifiren, ohne dieje 
Aufgabe mit der jehr davon verjchiedenen zu vermengen, welche Manchem jo 
wunderbar leicht fällt: über eine der ſchwierigſten und brennendften Fragen un: 
jerer Zeit das Endurtheil zu ſprechen. 

Das Leben, welches ich entrollen will, wurde mit einer jo leidenjchaftlichen 
Jutenfität und einer jo ftürmifchen Haft geführt, daß es der Mitwelt gleich- 
jam vorüber flog, ehe fie zur Befinnung darüber gelangen fonnte. Laſſalle's 
ſtreng wiſſenſchaftliche Werke waren feine Lectüre für die gewöhnliche gebildete 
Welt, und jeine Flugſchriften fonnten für Die, welche fie lajen, nur theilweije 
verjtändlich jein. Als kritiicher Denker fteht er unangefochten da. Keiner, den 
jeine Hand getroffen, hat jemals den Schlag verwunden. Es bejagt Wenig, ob 
ein ausgezeichneter Mann der Wiſſenſchaft ſich in diefem oder jenem einzelnen 
Punkte geivrt hat. Die Fluth der Zeit jpült den Irrthum fort, die Menſch— 
heit exbt den Reft. 


2 
— 


Der alte griechiſche Philoſoph Heraklit, welcher ſo lange der Gegenſtand 
von Laſſalle's Studien war, bediente ſich einer Menge verſchiedener ſinnbildlicher 
Ausdrücke, um ſein Princip zu bezeichnen: Feuer, Strom, Gerechtigkeit, Krieg, 
unſichtbare Harmonie, Bogen und Leier; ſie fallen Einem unwillkürlich ein, 
wenn man nach einem Symbol ſucht, welches das Lebensprincip Ferdinand 
Lafjalle’3 bezeichnen könnte. Irgendwo in einem Briefe, der voll Ungeduld 
über die langſame Entwidlung der Ereigniffe ift, gebraucht Laſſalle den Aus— 
drud: „meine glühende Seele”; unter Tauſenden, welche eine Redensart tie 
dieje, die zur Phraſe geworden ift, anwenden möchten, hat er allein jie ohne 
Uebertreibung gebraucht; in jeinem tiefften Innern war wirklich Etwas, das 
dem Teuer glih. Seine glühende Liebe zur Wiſſenſchaft und zur Erweiterung 
feiner Kenntniſſe, fein Durft nach Gerechtigkeit und Wahrheit, jeine Begeifterung, 
fein unbändiges Selbftgefühl, feine tiefe Eitelkeit, fein Muth, jeine Freude an 
der Macht: Alles trug denjelben flammenden und verzehrenden Charakter. Ein 
Lichtbringer war er und ein Flammenbringer; ein Lichtbringer, verwegen und 
trogig wie Lucifer ſelbſt, ein Fackelträger, der gern fich jelber durch den Schein 
der Tadel, mit welcher er Klarheit brachte, in volle Beleuchtung ftellte — 
grand oseur et grand poseur. — In der Welt Heraklit's waren der Bogen und 
die Leier im Verein das herrichende Princip; die Leier ift das Symbol der Har— 
monte, d. 5. der vollendeten Bildung, der Bogen mit jeinem tödtlichen Sonnen- 
pfeil bezeichnet Thätigkeit und Vernichtung. Auch in Laffalle'3 Geifte herrichten 
Bogen und Leier im Verein, die vollendete theoretiihe Bildung und der rajt- 
Ioje practiiche Thätigkeitsdrang. Selten ift in der Weltgeſchichte ein folder 
Verein theoretischer und practiicher Begabung erblictt worden. Aber Der, wel- 
cher Laffalle im Beginn feiner Laufbahn beobachtet hätte, würde, wenn er einen 
zugleich ſympathiſchen und vorwärtsjchauenden Blick beſaß, auf ihn die Worte 
haben anwenden können, die er jelbft von dem alten neuplatoniihen Denker 
Marimos von Tyrus erwähnt: „ch verjtehe den Apollo, Bogenſchütze ift der 

Deutſche Rundſchau. T, 5. 19 


280 Deutſche Rundſchau. 


Gott und der Tonkunſt Gott, und ich liebe ſeine Harmonie, aber ich fürchte 
ſeine Geſchoſſe“ *). 

Laſſalle war in Breslau geboren; ſein Vater war ein nicht hervorragend 
begabter, aber braver und rechtlicher Kaufmann, beide Eltern iſraelitiſch. Der 
Sohn war urjprünglic für den Handeläftand beftimmt,; da er jedod) auf der 
Handelsichule zu Leipzig nur geringe Fortichritte machte, beſchloß man, ihn 
durch Privatunterricht in jeiner Vaterſtadt ji) auf die Univerjität vorbereiten 
zu lajjen. Laſſalle war jein ganzes Leben hindurch der Liebevollfte Sohn, und 
das Verhältniß zwiſchen ihm und feiner Familie nach jüdiſcher Werje ein ehr 
inniges ımd feites. Die Mutter hing während Laſſalle's ganzer Laufbahn mit 
größter Begeifterung an dem Sohne, fand fih in Alles, was er unternahm, 
und fand zulegt Alles qut. In dem Alter, wo alle Knaben najeweis find und 
ſich gern aufjpielen, war Lafjalle ein ungewöhnlich najeweijer und vorlauter 
unge. Was er jelbjt in feinem jpäteren Leben jo oft als jeine „Frechheit“ 
bezeichnete, verrieth jicd) Ihon damals. Wir ftehen hier bei dem Racenmerkmal 
in feinem Gemüthe, der Grundform jeines Temperamentes, bei der Eigenſchaft 
in ihm, deren Keim am treffenditen durch das jüdiſche Wort „Chutzpe“ be: 
zeichnet wird, das zugleich Geiftesgegenwart, Frechheit, Dummbdreiftigfeit, Un— 
verihämtheit und Unerjchrodenheit bezeichnet, und das fich leicht als das Ertrem 
begreifen läßt, in welches die Furchtſamkeit und die erziwungene Nachgiebigkeit 
einer zwei Jahrtaufende lang gequälten und unterdrüdten Race naturgemäß bei 
einbrechender Gultur umſchlägt. Wenn Lajjalle bei einem jeiner Griminalpro- 
cefje in jeiner Vertheidigungsrede, troß der Drohungen des vorjigenden Richters, 
ihm das Wort zu entziehen, den Staatsanwalt verhöhnt, und als ihm das 
Wort wirklich entzogen worden ift, ſich das Recht erzwingt, weiter zu reden, 
indem er jet eine Discufjion darüber eröffnet, in wie weit es zuläſſig jet, ihm 
das Wort zu entziehen, jo ift das „Chutzpe.“ Dieje „Chutzpe“, welche bei ge 
wöhnlichen Individuen diefer Race in der Geftalt von Aufdringlichkeit oder un: 
berechtigter Sucht, ſich hervorzudrängen, mitunter jo widerlih, als Unverblüfft- 
heit und Geiftesgegenwart mitunter jo ergößlich und gejcheit ift, war bei ihm, in 
deilen Seele jo große Gaben ſchlummerten, nur das Element, aus welchem fein 
perjönlicher Thatendrang ſich entwidelte, und dejlen Farbe jein Thätigkeitseifer 
ftets behielt. Sein Drang und feine Fähigkeit, zu handeln, waren nämlich nit 
der reine — angelſächſiſche oder amerikaniſche — Unternehmungsgeift, der nur 
raftlos und practifch Ichaffen und ordnen will. Es war ein Thätigfeitsdrang, 
der Widerftand fuchte, und nur lebte und athmete in der Oppojition. Ein 
deuticher Dichter, der Laſſalle nur ein einziges Mal in einem Concerte gejehen 
hatte, jagte mir: „Er jah aus wie lauter Troß; aber auf feiner Stirn lag eine 
ſolche Thatkraft, daß e3 Einen nicht hätte wundern mögen, wenn er jich einen 
Thron erobert hätte.” — Im innerften Kern alſo eine Thatkraft, die Hinder- 
niſſe aufjuchte und Hindernijje überwand, und die fich alle Mittel zum Siege, 
die in jeinem Gemüth lagen, dienjtbar machte: Kaltblütigleit, Kampfluft, Chr: 


*) Laſſalle: Die Philojophie Heratleitos des Dunkeln von Epheſos. Bd. I, ©. 111. 


Ferdinand Lafjalle vor der Agitation. 281 


geiz, Herrſchſucht, unüberwindliche Sicherheit des Auftretens im entjcheidenden 
Augenblid. 

Schon als Knabe von fünfzehn bis jechzehn Jahren warf Lafjalle fi in 
einer den häuslichen Frieden ftörenden Angelegenheit zum Familienchef auf, trat 
Aelteren und Erwachſenen gebieteriich gegenüber, und oxdnete durch jein ener- 
giſches Benehmen eine ſchwierige Sache. Als dreiundzwanzigjähriger Jüngling 
pflegte er während jeiner erften halbjährlichen Unterſuchungshaft, weit entfernt, 
fi der Gefängnigordnung zu fügen, den Schließern Befehle zu erthetlen, und 
wollten dieje ihn irgendiwie ihre Autorität empfinden laffen, jo führte das zu 
den beftigften Auftritten. Als er erfuhr, daß feine Schwefter ein Gnadengeſuch 
für ihn eingereicht Hatte, richtete er jofort ein Schreiben an den König, um ſich 
gegen jedes Mißverſtändniß zu ſichern. Es war Etwas von einem Gäfar in 
diefem Jüngling, den geängftigte Bürgersleute dereinft für einen Gatilina 
halten jollten. Er war für die Macht geichaffen, er war zum Herricher ge- 
ftempelt, und da er nicht al3 Prinz oder Edelmann, jondern als Kind des 
Mitteljtandes und einer zurückgeſetzten Race geboren war, jo wurde er Denker, 
Demokrat und Ngitator, um auf diefem Wege da3 Element zu erreichen, für 
das er geihaffen ward. Nicht al3 ob Lafjalle ſich deſſen bewußt gewejen wäre, 
Allein Bieles, was dem Bewußtſein ala Ziel vor Augen fteht, ift für die Natur 
blos Mittel, und die Natur in ihm dürftete nad) Macht, Geltung, ja jelbit 
nad dem Glanze und den Jubelrufen, die dem bedeutenden Führer eines Volkes 
oder eines Standes zulommen, und zwar zu derjelben Zeit, wo fie ihn auf der 
äußerften Linken geboren werden ließ und ihm al3 Erbtheil die Unfreiheit und 
das Unrecht von Jahrhunderten zu rächen gab — mußte er ſich da nicht früh: 
zeitig zugleich als Revolutionär und ala Chef fühlen? Dieje Anlagen begegneten 
ih mit dem Einfluffe dev modernen Wiljenichaft, und Laffalle war zum Manne 
der Wiſſenſchaft angelegt; aber die ganze moderne Wiſſenſchaft arbeitet ihrem 
Weſen nad) im Dienste des radicalen Fortichritts, und je tiefer Jemand von 
ihrem Geijte ergriffen ift, deſto ftärfer fühlt er fi) zur Oppofition wider Alles 
getrieben, wa3 nur die Autorität des lleberfommenen befikt. 

Sp früh indeß Lafjalle als Knabe heranreifte, war dieſe frühe Reife doc) 
weit davon entfernt, das Kind in ihm zu verwijchen oder zu tödten. Er gehört 
nicht zu den Männern, welche niemals Kinder gewejen find; er gehört zu denen, 
welche jtet3 etwas Kindliches bewahrten. Man darf fi) nicht durch Spiel- 
hagen’3 rein dichteriiche Schilderung des Helden in „In Reih’ und Glied“ zu 
der Annahme verleiten lafjen, daß Laſſalle der blafje, ſchweigſame, ewig ernſt— 
bafte Knabe wie Leo geweſen jei. Er hatte noch al3 Mann viel Gefühl, viel 
Gemüth, beſaß nur wenig Selbftbeherrfhung im Privatleben, ließ der Erbitte- 
rung und Herrſchſucht freien Lauf, und fügte ji im nächſten Augenblid mit 
vollendeter Liebenstwürdigkeit; er konnte Kind fein und Ninderftreiche verüben, 
jo gut wie Einer. Zu dem Kindlichen, ja Kindiſchen bei ihm gehörte jeine Liebe 
für alles Glänzende und feine Sucht, zu glänzen. Er, der Demokrat, Eleidete 
fi) wie ein Dandy, mit ausgejuchter Gleganz à -quatre Epingles, wenn auch 
mit Geihmad. Gr legte Werth darauf, jeine Zimmer geihmacvoll eingerichtet, 
ja geihmüct zu jehen. Man fand in jeinem Haufe nicht nur Eleganz, jondern 

19 * 


282 Deutſche Rundican. 


einen Anflug von Decoration. Laſſalle unternahm im Anfang der fünfziger 
Jahre zwei Reifen nad) dem Orient und brachte von denjelben Draperien und 
Kumftgegenftände heim, mit denen er jeine Wohnung ausftattete. Er war ein 
bischen Schauspieler, wie Herrichernaturen es nicht jelten find (man dente an 
Napoleon, Byron 2c.). Seine Diner? und Souper3 waren die gewählteften und 
feinften in Berlin, zu derjelben Zeit, wo er der Fürſprecher der Arbeiter war. 
Hierin liegt keineswegs, was man vielleiht darin jehen möchte, ein directer 
Widerſprach, jondern ein Gegenjaß, wie man ihn bei einer reihen und compli- 
cirten Natur, bei einem mit lebhaften Schönheitsfinn ausgeftatteten Jakobiner, 
bei einem mit prächtig verzierten Waffen kämpfenden Revolutionsjoldaten, bei 
einem Manne findet, der noch nicht ganz das Kind abgejchüttelt hat. Es war 
zugleich etwas höchſt Modernes und etwas in hohem Grade Antikes in Laſſalle's 
Geiftesanlage, und dies Antike war wiederum doppelter Art. Er war ein 
Alkibiades an Genußſucht und Fähigkeit, jich in allen Umgebungen zurecht zu 
finden, unter Männern der Wiſſenſchaft wie unter Männern der Revolution, 
im Gefängnifje wie im Balljaale, der „in feiner Jugend mit derjelben Gleich— 
gültigkeit ind Gefängniß ging, wie ein Anderer zum Ball“*), — und er war 
ein antiker Römer an Willensftärke, Thatkraft, politiihdem Scharfblid und Talent, 
zu erobern und zu organifiren. 

Von feiner Begeifterung für die claſſiſche Vorzeit geleitet, begann Laſſalle 
auf den Univerjitäten zu Breslau und Berlin Philologie und in Verbindung 
damit Hegel'ſche Philofophie zu ftudiren, deren dialektiiche Methode er fich mit 
Eifer und Entzüden aneignete. Gleichzeitig jog er die revolutionären Ideen 
des jungen Deutjchlands ein. Als er die Univerjität verlaffen hatte, lebte er 
al3 junger unabhängiger Privatmann am Rhein, und ftudirte zu Düffeldorf 
und während eines Aufenthaltes zu Paris im Jahre 1845 griehiiche Philologie 
und Philoſophie. 

. In Paris lernte der damals zwanzigjährige Laſſalle Heinrich Heine kennen, 
und man befommt einen hohen Begriff von der Genialität des jungen Stu: 
denten, wenn man fieht, in welchem Maße er den Ariftophanes feines Zeitalters, 
der ſich doch wahrlich jo leicht nicht dupiren ließ, für fi) einnimmt und blendet. 
Man befommt ebenfalls einen hohen Begriff von dem pſychologiſchen Scharf: 
blict des Dichters, wenn man fieht, mit welchen Ausdrüden er zu und von 
Demjenigen fpricht, der ihm gegenüber doch an Geift und Jahren noch wie ein 
Kind ericheinen mußte. Laſſalle hat fich erjihtlih mit gewohnter Energie des 
franten und verlaffenen Dichter in jeinem Erbichaftsftreite angenommen, und 
durch fein Fräftiges Auftreten ihm einflußreiche Verbündete in diefer für ihn jo 
wichtigen Angelegenheit verihafft. In den Briefen an Lafjalle**), den Heine 
jtet3 „feinen liebften, theuren Freund“, „jeinen theuerften Waffenbruder“ nennt, 
ſtößt man auf Neußerungen wie folgende: „Heut bejchränfe ich mich darauf, 
Ahnen zu danken; noch nie hat Jemand jo Biel für mich gethan. Auch habe 
ich noch bei Niemand jo viel Paſſion und Verftandesklarheit vereinigt im Handeln 

*) Proceh in Düfleldorf den 27. Juni 1864, am Schluffe. 

**) 9. Heine’3 Briefe, dritter Theil. Briefe vom Februar 1846, 


Ferdinand Lafjalle vor der Agitation. 283 


gefunden. Wohl haben Sie das Recht, Frech zu jein — wir Andern ufurpiren 
blos diejes göttliche Recht, dieſes himmliſche Privilegium. In Bergleichung 
mit Ihnen bin ich doch nur eine bejcheidene Fliege.“ — Und an einer anderen 
Stelle: „Leben Sie wohl und jein Sie überzeugt, daß id) Sie unausſprechlich 
liebe. Wie freut e8 mich, daß ich mich nicht in Ahnen geirrt; aber auch Nie- 
manden habe ich je jo viel getraut, — ich, der ih jo mißtrauiſch durch Er- 
fahrung, nicht durch Natur. Seit ich Briefe von Yhnen erhielt, ſchwillt mir 
der Muth und ich befinde mich beſſer.“ Es wirkt faft rührend, den ſechsund— 
vierzigjährigen Mann, den großen, von jo vielen Leiden gebrochenen Dichter 
Schuß bei diejer jungen Seele von Eiſen fuchen zu jehen, deren Willen zwanzig 
Winter zur Unbeugſamkeit geftählt haben, und der noh Muth für Alle übrig 
hat, die um ihn her Hagen und ich beſchweren. Heine, der bei Laſſalle Hilfe 
juht — die Antilope, die ih unter den Schuß des jungen Löwen ftellt! — 
Eine Andeutung in einem Briefe an Ferdinand's Water beweilt, daß Laſſalle 
Heine gegenüber al3 eifriger Atheift aufgetreten ift. Keine „möchte jein Geficht 
jehen“, wenn ihm zu Ohren fommt, daß er, der todtfranfe Dichter, ih zum 
Deismus befehrt habe. Andere Andeutungen und Necdereien beweiſen, daß 
Laſſalle in Paris weiblichen Herzen nicht ungefährlih war. Glücklicherweiſe ift 
uns in einem Briefe Heine's an Varnhagen von Enſe (vom 3. Januar 1846) 
eine vollftändige Schilderung Ferdinand Laſſalle's aufbewahrt, eine Schilderung, 
die nicht mur als ein treffendes Product der ficherften und feinften Feder, welche 
Deutichland damals beſaß, denkwürdig, jondern doppelt intereffant ift, weil fie 
uns ein Bild von Lafjalle giebt, wie er war, ehe die Deffentlichteit jeine Exiſtenz 
fannte, und ehe er jelbjt in der Literatur aufgetreten war. Wir haben bier 
einen Yafjalle avant la lettre: 

„Dein Freund, Herr Lafjalle, der Ihnen diejen Brief bringt, ift ein junger 
Mann von den ausgezeichnetften Geiftesggben: mit der gründlichiten Gelehr- 
ſamkeit, mit dem weiteften Willen, mit dem größten Scharffinn, der mir je 
vorgekommen, mit der reichjten Begabniß der Darftellung, verbindet er eine 
(Energie des Willens und eine Habilite im Handeln, die mid) in Erftaunen 
jegen, und wenn jeine Sympathie für mich nicht erliſcht, jo erwarte ich von 
ihm den thätigjten Vorſchub. Jedenfalls war diefe Vereinigung von Willen 
und Können, von Talent und Charakter, für mich eine freudige Erſcheinung ... 
Herr Lafjalle iſt nun einmal jo ein ausgeprägter Sohn der neuen Zeit, die 
Nichts von jener Entfagung und Bejcheidenheit wiſſen will, womit wir uns 
mehr oder minder heuchleriich in unſerer Zeit hindurchgelungert und hindurch— 
gefajelt. — Dieſes neue Gejchleht will genießen und ſich geltend machen im 
Sichtbaren; wir, die Alten, beugten uns demüthig vor dem Unfichtbaren, haſchten 
nah Schattenküſſen und blauen Blumengerüchen, entjagten und flennten, und 
waren doch vielleicht glücklicher, al3 jene harten Gladiatoren, die jo ſtolz dem 
Kampftode entgegen gehen.“ 

Was für Worte! in jeder Zeile das auf den Grund jchauende Künftler- 
auge, die Meifterhand und das feine Schaltslädheln, und dann im Schlußſatze 
des Sehers prophetiicher Zukunftsblick! 


284 Deutiche Rundichau. 


Den 11. Auguft 1848 ftand vor dem Aſſiſenhofe zu Düffeldorf, der moralijchen 
Mitihuld an einem Cafjettendiebftahl angeklagt, ein Yüngling von einem ftolzen 
und einnehmenden Aeußern, das in dem gerichtlihen Signalement folgender- 
maßen bezeichnet wird: „Ferdinand Lafjalle, 23 Jahre alt, Privatmann, geboren 
zu Breslau, zulegt wohnhaft zu Berlin, 5 Fuß 6 Zoll groß, mit braunen, 
fraufen Haaren, freier Stirn, braunen Augenbrauen, duntelblauen Augen, pro- 
portionirter Naje und Mund, rundem Kinn, länglidem Geficht und fchlanter 
Statur”. Der jo fignalifirte junge Mann hielt an jenem Tage eine Verthei- 
digungsrede, deren Gleichen das biedere Gejchtworenengericht niemals gehört 
hatte. Gr war angeklagt, vor zwei Jahren zwei andere junge Leute, die aleich 
ihm in dem Hatzfeldt'ſchen Scheidungsprocejje eifrigft für die Gräfin Sophie 
von Habfeldt Partei genommen hatten, dazu verleitet zu haben, der Geliebten 
des Grafen ein Käftchen zu entwenden, in welchem man wichtige Documente ver- 
muthete. Das Gericht verurtheilte ihn, aber die höhere Inſtanz caffirte das 
Urtheil. Laſſalle's Bertheidigung entwicelt, welches Motiv ihn dazu veran- 
laßte, die Sache der Gräfin zu führen: 

„Die Yamilie ſchwieg. Aber es heißt: wo die Menjchen ſchweigen, werden 
Steine reden. Wo alle Menjchenrechte beleidigt werden, two jelbft die Stimme 
de3 Blutes ſchweigt und der hilflofe Menſch verlaffen wird von jeinen geborenen 
Beſchützern — da erhebt fih mit Recht der erjte und lebte Verwandte des 
Menſchen, der Menſch. Sie Alle kennen und haben mit Empörung gelejen die 
entjegliche Gejhichte der unglüdlichen Herzogin von Praslin. Wer von Ihnen 
hätte fich nicht beeilt, ihr in ihrem Todeskampfe beizuftehen? Nun wohl, meine 
Herren, ic) jagte mir: hier ift zehnmal Praslin. Denn was ift der kurze Todes- 
fampf einer Stunde gegen die Qualen eines durch zwanzig Jahre verlängerten 
Todesichmerzes! Was find die Wunden, die ein Mefjer jchlägt, gegen den lang: 
ſamen Meucdelmord, den man mit raffinirter Grauſamkeit an der ganzen ri: 
ftenz eines Weſens begeht, gegen dies ungeheure Weh einer Frau, in der man 
zwanzig Jahre hindurch Tag für Tag jedes Lebensrecht mit Füßen tritt, jedes 
Recht des Menſchen beleidigt, die man, um fie ungeftraft zu mißhandeln, vor- 
her gefliffentlich der Verachtung preiszugeben verſucht hat!“ 

Der junge Mann, twelcher, in einer jo eigenthümlichen Sadje angeklagt, jo 
ritterliche Gefühle an den Tag legte, hatte, neunzehn Jahre alt, zu Berlin die 
damal3 etwa doppelt jo alte, aber jchöne und imponirende Gräfin (geborene 
Fürſtin) von Habfeldt kennen lernen, und gerührt von ihrem Unglück, ftürzte er 
ſich in den Proceß zwiſchen diejer hochftehenden Dame und ihrem Gemahl. Der 
in die „Caſſettengeſchichte“ verwickelte junge Dr. Mendelsſohn führte ihn zuerft 
bei ihr ein, und vielleicht ift die Annahme nicht zu kühn, daß die bedeutende 
Schönheit des blutjungen Mannes, feine elegante Erſcheinung und feine wunder: 
ſchönen dunfelblauen Augen einen jehr günftigen Eindrud machten. Ein Freund 
Laſſalle's hat mir mitgetheilt, daß Derjelbe, kurz nachdem er die Bekanntſchaft 
der Gräfin gemacht, zum Grafen ging und ihn forderte. Als der hochgeborene 
Junker in feiner fürftlihen Stellung nur damit antwortete, den „dummen 


Ferdinand Laflalle vor ber Agitation. 285 


Judenjungen“ auszulachen, beſchloß Laflalle ernftlih, die Sache der Gräfin in 
feine Hand zu nehmen. Gr begleitete fie nad Düffeldorf und widmete fortan 
Jahre feines Lebens hindurch feine ganze Kraft dem Kampfe für ihre Bermögens- 
interefjen und ihre gejellichaftlide Stellung. 

Dan begreift, daß die Eltern im erften Augenblid mit Kummer und Sorge 
Laffalle aus jeiner Bahn getrieben ſahen, um das Recht einer ihnen ganz fremden 
Perjönlichkeit zu verfechten. Er hatte als Philolog frühzeitig die ungewöhn- 
lichften Gaben an den Tag gelegt. Männer wie Boeckh und Alerander von 
Humboldt verhießen dem jungen Gelehrten, dem „Wunderfinde”, wie Humboldt 
ihn nannte, die glänzendſte Zukunft, und die Mutter hätte in dem Sohne gern 
einen Profeſſor gejehen. Sie fand ſich jedoch bald in das Gejchehene, zumal 
man ihr einleuchtend machte, daß Ferdinand ala Jude doc alle Wege zu einer 
Univerfitätscarriöre verjperrt finden würde. Am hHärteften war es gewiß für 
ihn ſelbſt, feinen begonnenen Studien entriffen zu werden. Sein großes Werk 
über Heraflit, das Anfangs 1846 jchon bis auf einen geringen Theil fertig aus— 
gearbeitet war, erblickte durch diefe gewaltfame Ablenkung erſt 1858 das Licht 
der Deffentlichkeit.. Er jagt mit Bezug hierauf in jeiner Vertheidigungsrede: 

„Auch mein Blick, meine Herren, war jeit je vorzugsweiſe auf die allge- 
meinen ragen und Angelegenheiten gerichtet, und ich hätte vielleicht ange— 
ftanden, zur Beſſerung eines blos individuellen Mißgeſchickes meine ganze Fähig- 
feit zu verivenden, meine ganze Laufbahn wenigftens auf Jahre zu unterbrechen, 
obſchon es herzzerreißend ift für einen Menjchen von Herz, einen anderen Menjchen, 
den er für qut und edel hält, hilflos untergehen zu jehen mitten in der Givi- 
ijation der Gewalt gegenüber! Aber ich ſah in diejer Angelegenheit auch all- 
gemeine Standpunkte und Principien verkörpert. Ich ſagte mir, daß die Gräfin 
ein Opfer ihres Standes jet, ich jagte mir, daß man nur in der übermüthigen 
Stellung eines Fürſten und Millionärs jolche Unthaten, jolche Beleidigung der 
Gejellichaft in ihrer fittlichen Tiefe ohne Scheu wage und wagen dürfe... . 
Ich verhehlte mir keineswegs die Schwierigkeit dieſes Unternehmens. Ich ah 
wohl, welche ſchwierige Aufgabe es jet, dies verjährte, hiftoriich gewordene Un- 
recht aufzuklären, wie es, wenn e8 zum Proceß käme, meine ganze Thätigkeit 
ausſchließlich erfordern und jomit eine lange Unterbrechung meiner eigenen Car— 
riere ernöthigen würde, dieje verwickelten Verhältniffe zu Ende zu führen; ich 
wußte recht wohl, wie jchwer es ift, einen falſchen Schein zu beſiegen; ich ver- 
hehlte mir nicht, welche furchtbare Gegner Rang, Einfluß und Reihthum find, 
und daß nur fie ftet3 und ftet3 Alliancen finden in den Reihen der Bureau 
fratie, welche Gefahr jomit ich jelbft dabei laufen fünnte. Ich mwuhte dies, 
ohne daß es mich hindern Eonnte. Ich beihloß, dem falſchen Scheine die 
Wahrheit, dem Range das Recht, der Macht des Geldes die des Geiftes entgegen 
zu jeßen. Die Hindernifje, die Opfer, die Gefahren jchredkten mich nicht; hätte 
ich aber gewußt, welche unmwürdige und infame VBerleumdungen mir entgegen 
treten, wie man die reinjten Motive mir gerade in ihr Gegentheil verdrehen 
und verfehren, und welchen bereittiwilligen Glauben die elendeften Lügen finden 
würden, — nun, ich hoffe, mein Entichlug wäre auch dadurch nicht geändert 
worden, aber es hätte mir einen ſchweren, einen jchmerzlichen Kampf gefoftet.“ 


286 Deutſche Rundicau. 


Durch die Verhältniffe, durch die Anfpielungen der Anklageacte, durch Ge- 
rüchte und Klatjchereien gezwungen, kann Laffalle nicht umhin, der gegen ihn 
gerichteten Beſchuldigung zu gedenken, als ftünde er in einem Liebesverhältnifie 
zu feiner Clientin. Nichts, jagt er, werde allgemeiner geglaubt, ala dieſe Be- 
Ihuldigung. Dagegen zu proteftiren, wäre lächerlich geweſen. Er beruft fich 
auf das, was achtungswerthe Zeugen als ihre Meberzeugung von diefem Ber- 
hältnifje ausgejprochen, auf vorgelegte Briefe von ihm jelbft, aus welchen da3 
Gegentheil hervorgehe. Er erklärt, weshalb er in diefer Sache überall auf Un— 
glauben geftoßen jei: 

„Es ſprachen mir, meine Herren, jehr angejehene Männer diejer Stadt, 
Männer, die mir wohlwollten, Männer, die über meine Verhältniffe Erkundi- 
gungen eingezogen und durch die ehrenvollen Aufichlüffe, die fie erhalten hatten, 
an einen ſchmutzigen Eigennuß nicht glauben konnten, diefe Männer jpracdhen 
mir jelbjt ihre Ueberzeugung aus, daß ich jchlechterdings in einem Liebesverhält- 
niffe zu der Gräfin ftehen müſſe! Und als ich mir zu fragen erlaubte, worauf 
fie die Annahme gründeten, da wurde mir eben jo offen geantwortet: Auf 
Nichts — auf Nichts in der Welt ala darauf, daß ſich jonft eine jo große Auf: 
opferung für eine fremde Sache gar nicht erklären ließe! Dieſe Männer, meine 
Herren, ich gebe es zu, urtheilten als gereifte Weltfenner und Erfahrungs: 
menjchen. Aber fie überfahen Eins. Sie überjahen meine Jugend, und fie über- 
jahen, daß, wie jehr auch unjere Zeit die des Egoismus jein mag, die Jugend 
doch zu allen Zeiten das Alter der Uneigennüßigfeit, der Begeifterung und Auf: 
opferungsfähigfeit geweſen ift und bleiben wird.“ 

Es liegt in diefen Worten ein gewifjer Accent der Ehrlichkeit und Wahr- 
heit, der nicht täufcht. Sn welchem Verhältniſſe Laſſalle auch zur Gräfin ftand, 
er fonnte al3 Mann von Ehre gewiß nicht vor der Deffentlichfeit einräumen, 
daß ein Liebesverhältniß zwiſchen ihnen beftehe. Aber die Art, wie er es in 
Abrede ftellt, beweiſt klar, daß er — unbeſchadet einer perjönlichen Begeifterung 
für die betreffende Dame — jih von Anfang an in dies Mteer practijcher 
Kämpfe ftürzte, ausichlieglich geleitet von einer glühenden Entrüftung und von 
einem rein geijtigen Drange, der alle Bedenklichkeiten überwand, dem Drange, 
da3 nadte Recht der Macht entgegen zu jtellen. 

Lafjalle'3 Verhältniß zur Gräfin in den nächftfolgenden Jahren hat jeinen 
Gegnern zu ftet3 erneuerten Angriffen auf jeine Moralität Anlaß gegeben. Bon 
der wahren Beſchaffenheit defjelben iſt jelbftverjtändlih Nichts befannt, und 
Nichts jcheint auch die Deffentlichkeit weniger anzugehen. In Lafjalle’3 jpäteren 
Lebensjahren war das Verhältniß der Gräfin zu ihm ganz das einer Mutter, und 
fie nannte ihn mündlich wie in ihren Briefen immer nur „Kind“. Die Gräfin 
Hatzfeldt iſt noch am Leben. — Vielleicht wird es für Manchen wie ein rhe- 
torijcher Pfiff ausſehen, wenn Lafjalle behauptet, in diefer individuellen Ange: 
legenheit allgemeine Standpunkte und Principien verkörpert geſehen zu haben. 
Dies Mißtrauen würde ſicherlich grundlos ſein. Es ift das Kennzeichen her- 
vorragender Menjchen, daß fie in dem einzelnen Falle, der ihnen begegnet, und 
der taujend Anderen begegnet ift, ohme für etwas Anderes als für ein einzelnes 
zufälliges Ereigniß gehalten zu werden, ein allgemeines Schickſal gewahren; fie 


Ferdinand Laſſalle vor der Agitation. 287 


ahnen durch eine augenblicliche Eingebung, welch eine Menge von Unglüclichen 
unter einer ähnlichen Qual wie derjenigen jeufzt, deren Zeugen fie geworden 
find; fie forfchen Hinter dem Unrecht nad) der jocialen Urſache des Unrechts und 
rihten ihre Angriffe gegen dieſe Urfache, two Andere nur an Denjenigen denken 
würden, welcher das Unrecht verübt. Deshalb glaube ich, daß Lafjalle meint, 
wa3 er jagt, wenn er die Hoffnung ausſpricht, in jenen Tagen (1848), wo all- 
überall das Syftem des Lugs, der Heuchelei und Unterdrüdung zufammen ſtürzte, 
müffe nım auch endlich „der Tag der Wahrheit hereinbrechen über ein indivi- 
duelles Loos und Leiden, twelches, fo innig e3 ein individueller Fall nur immer 
vermag, gleich einem Mikrokosmus, das allgemeine Leiden, die zu Grabe 
feuchende Mifere und Unterdrüdung in fich abjpiegelt, und jomit auch über ein 
redliches und durch alle Griminal- und andere Verfolgungen unerjchüttertes 
Bemühen, mißhandelten Menjchenrechten zur Anerkennung zu verhelfen“ *). 
Die Rede, aus welcher ich einige Bruchſtücke mitgetheilt, ift das ältefte 
literariſche Erzeugniß, welches von Laſſalle's Hand vorliegt. Das Intereſſe 
deſſelben bejteht in dem Einblick, den e3 in des Mannes urfprünglichen Fond 
al Jüngling gewährt. Ich habe auf die zu Grunde liegende Echtheit des 
Gefühle aufmerkſam gemadt. So Etwas verräth fih im Stil und läßt ſich 
nicht nachmachen. Ein fefter Glaube an den Sieg des Rechtes über die Macht 
liegt zutiefft in feiner Seele ala warmer, jugendlicher Enthufiagmus. Dicht da- 
neben liegt das Selbitgefühl; Lafjalle glaubt weniger an die Macht des Geijtes, 
al3 an die Macht feines eigenen Geiſtes, allen Schwierigkeiten zu troßen und 
fie zu befiegen. Hier ift Nitterlichkeit und Kampfluft, und in der Yorm noch 
Etwas von dem Talent des Advocaten, eine Pofition einzunehmen, eine Situ- 
ation auszubeuten und mit grellen Farben zu malen: Menſchenrechte ꝛc. Und 
doch iſt das beinahe ſchon zu Viel gejagt. Wenn fidh dergleichen hier findet, 
ift es noch jo fein, jo ſchwach, daß es höchftens wie ein ganz flüchtiger Farben— 
ton über der Rede ſchwebt. Was aber hier unzweideutig hervortritt, das iſt 
noch eine Eigenschaft, eine tiefliegende bei Laſſalle: die Rüdfichtslofigkeit. Die 
Rückſichtsloſigkeit ift ein völlig modernes deal. ch entjinne mich, daß Bis- 
mark irgendwo in feinen Briefen auf die Anjchuldigung eines alten Lehrers 
oder Freundes, daß er gar zu rückſichtslos jei, die aufrichtig gemeinten, jehr 
Iehrreichen Worte erwidert: „Ich bin umgekehrt lange nicht rückſichtslos genug, 
eher feige“. Die Rückſichtsloſigkeit (ich brauche den Leſer wol kaum erft zu 
bitten, dies Wort nicht mit Rohheit, Pietätslofigkeit oder dergleichen zu ver: 
wechjeln) ift ein deal der legten Jahrzehnte. Sie war nicht das deal unjerer 
Väter. Wie oft haben fie nicht die Worte aus Hamlet’3 Monolog citirt: 


Der angebornen Farbe der Entſchließung 

Wird des Gedanken: Bläffe angekränkelt; 

Und Unternehmungen voll Mark und Nachdrud, 
Durch diefe Rüdficht aus der Bahn gelentt, 
Derlieren jo der Handlung Namen. 





*) F. Laſſalle: Meine Vertheidigungsrede wider die Anklage der Verleitung zum Gajfetten: 
Diebſtahl, gehalten am 11. Auguft 1848 vor dem tgl. Aſſiſenhofe zu Köln und den Geſchworenen. 
Köln, Wilh. Greven, 1848. — Der Griminalproceh wider mich wegen der Verleitung zum 
Gafjetten-Diebftahl, oder: Die Anklage der moraliichen Mitſchuld. Ein Tendenzproceh. Ebendajelbit. 


988 Deutiche Rundichau. 


Welche Fehler das jet lebende Geſchlecht auch beiten mag, Hamlet’3 Worte 
pafjen nicht mehr auf daffelbe. Was wir beichliegen, das führen wir aus, jo 
weit äußere Verhältniffe es geftatten. Rückſichtslos auf fein Ziel loszugehen, 
ohne reellen äußerlichen Widerftand oder reelle äußerliche Mittel zu ſcheuen, ift 
eine rein moderne Tugend und Sünde Die Sadje, welche Laffalle zum erften 
Mal auf die Anklagebant führte, war von der Art, daß nur eine früh ent- 
wickelte Rücdjichtslofigkeit ihn in diejelbe vertwideln konnte. Den verſuchten 
Raub eines der Gräfin gehörenden Documentes ohne Weiteres als Diebftahl 
zu bezeichnen, wäre eben jo lächerlich wie albern; aber eine in der Wahl ihrer 
Mittel rigoriftiihe Natur würde davor zurüdgefcheut fein. Und bat er ji 
auch nicht direct dabei betheiligt,-jo hat er e8 doch indirect durch die Herrſchaft 
gethan, die er iiber die Betheiligten ausübte. Es charakterifirt den Herrſcher— 
drang jeines Gemüthes, wenn es ausdrüdlich in der Anklageacte heißt, daß er, 
obſchon der jüngfte von den Vertheidigern der Gräfin, blinden Gehorjam bei 
feinen Genojjen fand. 

Seit 1846 aljo führte Laffalle die Procefje der Gräfin. Die Arbeit war 
fo colojjal, die Schwierigkeiten fo enorm, daß er, ein Arbeiter jonder Gleichen, 
ftatt, wie er 1848 meinte, noch ein Paar Jahre darauf verwenden zu miüj- 
jen, faft zehn Jahre jeines Lebens in dieſen Kämpfen verbrachte. Er, wel— 
cher fein Jurift von Fach war, gerieth jolhermaßen auf practiihem Wege in 
eine Wiſſenſchaft hinein, in welcher er theoretiih Epoche machen jollte. Ein 
Mann, welcher lange Zeit faft für den erſten Rechtsanwalt Deutichlands galt, 
hat, nachdem er den Proceß ſtudirt hatte, privatim erklärt, daß fein Fachmann 
ihn befjer hätte leiten fünnen. Bor 36 Gerichten führte Lafjalle die Sache der 
Gräfin. Nur ein Wille wie der jeine konnte einer jo zähen Ausdauer fähig 
fein, wie fie hier erforderlid war, — obendrein während er bald, der Mitſchuld 
an dem erwähnten Diebftahl angeklagt, in Haft, bald im Gefängnifje jaß, weil 
er der Aufforderung, die Verfafiung gegen den Staatsftreid von 1848 mit be- 
waffneter Hand zu ſchützen, jhuldig befunden war. Vom Gefängniß aus führte 
Laſſalle unverdroffen den Proceß; aus der Haft entlaffen, führte er ihn mit 
noch größerer Kraft, während Philojophie, Politik, Volkswirthſchaft, al’ jeine 
Studien, all’ jeine Lebenspläne, immer wieder aufgehoben und vertagt, jeiner 
Befreiung von diefem undankbaren Geihäft harrten. Endlich war jein Gegner, 
der Graf, mürbe und matt. Der „dumme Nudenjunge“ hatte es ihm allzu 
bumt gemadt. Ein Urtheil wurde nicht geiprocdhen, es fam zum Vergleich, und 
Lafjalle gewann, was er erjtrebt hatte, ein fürftliches Vermögen für die Gräfin. 
Sp lange der Proceß währte, hatte er mit ihr die nicht Jehr bedeutende Summe 
getheilt, welche ihm jährlich von Haufe zufloß; denn in all’ diejer Zeit war die 
Gräfin mittellos; zum Erſatz dafür hatte er ſich contractlid) eine jährliche Rente 
ausbedungen, wenn die Sache gewonnen würde. So war er von jebt ab in 
pecuniärer Hinficht außer Sorgen und konnte fich abftract wiſſenſchaftlichen, 
Nichts einbringenden Studien widmen, ohne Tag * Tag auf die leidige Noth 
des Broterwerbs hingewieſen zu ſein. 

(Der zweite Theil des Artikels im mnaqien Heft.) 


Hhakelpeare-Splitter*) 


bon 


Heinrih Laube. 


Der König Lear mit jeinen großen Zügen wird nie verjagen. 

Shafeipeare hat dieſe Züge zu mächtig auf die Scene geworfen, ala daß 
fie wirkungslos bleiben könnten auf irgend ein Publicum. 

Bekanntlich hat Shakeſpeare faft für alle feine Stüde — die römifchen 
ausgenommen — Borlagen gehabt und benützt, großentheila getreu benütt bis 
auf ganze Scenen und Reden. Er hat ausgewählt und ausgeführt. Heutigen 
Tages iſt man Eleinlich ftreng gegen ſolche Producirung neuer Stüde. Vielleicht 
ift man's auch zur Zeit Shafejpeare’3 gewejen, und vielleicht haben deshalb die 
damaligen Kritifer jo wenig Notiz genommen von der poetiichen Kraft Shafe- 
ipeare’3, jo daß nicht blo3 die Puritaner ſchuld find an der länger als ein Jahr- 
hundert dauernden Nichtbeahtung des großen Poeten in England. Nach einem 
Jahrhundert hat man nicht mehr die Hilfsmittel vor Augen gehabt, jondern 
nur das mächtige Rejultat. 

Mie dem auch jei, mir ift es bei der Inſceneſetzung Shakeſpeare's immer 
deutlich geworden, daß ſein Genie ſich neben der Charakteriftit vorzugsweiſe in 
der fräftigen Auswahl der Scenen für einen beftimmten Zweck kundgiebt. Ex 
macht Sprünge und unterläßt Uebergänge. 

Nur einmal, und zwar in feinem wahricheinlich letzten Stücde, im Othello 
entwickelt er jorgfältig alle Nebergänge, als hätte der verftimmte Theaterdichter 
den Zweiflern darthun wollen, daß er auch dies vermöge, two es ihm ange: 
bracht jcheine. 

Eine kräftige Auswahl der Scenen für einen beftimmten Zweck drängt fich 
denn auch dem Inſceneſetzer immer ala Dauptgefichtspunft auf, wenn er eines 
der großen Shafejpeareftüde zur Probe bringt. 

) Aus dem Bude Heinrich Laube's: „Das Wiener Stadttheater”, welches bie Fort: 
jegung bildet zum „Burgtheater und „Norbdeutichen Theater“, und welches in der nächiten 
Zeit ericheinen wird. 


290 Deutiche Rundſchau. 


Wie in den legten Acten des Hamlet, wo der intime Hamlet geradezu mur 
hineingeriffen erſcheint in die jchliegenden Begebenheiten, jo wird man aud) von 
der zweiten Hälfte des Lear angemuthet. 

Mean fühlt ſich überladen von dem Doppelthema Lear und Glofter, und 
jucht nach möglichjter VBereinfahung, eingedenk des Unterjchiedes zwiſchen dem 
jegigen Publicum und dem Publicum Shafejpeare’s, welches einen großen 
Scenenwechjel ohne Verwandlung auf der Bühne hinnehmen mochte, man ſucht 
nad) Scenen, welche entbehrlid find für die Haupthandlung. 

Unter ihnen ift eine, welche mich auf dem Burgtheater immer gepeiniat 
hat, welche ich aber dem alten Herren, Anſchütz, nicht entziehen mochte. Sie ſaß 
ihm durch lange Uebung zu feſt in der Rolle. Sie ſchwächte aber feine außer: 
ordentliche Learfigur. Er jelbft gab das zu, meinte jedoch, ſich auch darum nicht 
zur Weglafjung entichliegen zu dürfen, weil das berühmte Wort „Jeder Zoll 
ein König!” damit verloren ginge. Wir haben den Ausbruch des Wahnfinns 
gejehen, wir haben das Toben deijelben auf der Haide erlebt, und wir haben 
bei der Rückkehr zu Gloſter's Schlojfe noch eine ausführliche Wahnſinnſcene, die 
Gerichtsfcene für Goneril und Regan, durchgemacht. Alle Stadien find durchlaufen, 
und wenn nun der alte König mit Strohkranz und Steden nochmals geiprungen 
fommt, da wird der immer wiederkehrende Wahnfinn peinlich und läſtig. Wie 
oft habe ich aufmerkſam das Stüd angejehen, und jedesmal mußte ich einge: 
jtehen, daß die Scene überjtändig erichien, daß unjer Publicum ermattet war 
und fie nur über fich ergehen ließ. Das geflügelte Wort „Jeder Zoll ein König!“ 
ift ebenjo gut anzubringen bei der Ankunft Lears vor Glofter’3 Schloffe. 

So that ic) denn diesmal, und zu großem Vortheil des Eindruds. Mir 
jehen Lear exit wieder im Zelte bei Cordelia, wo er erwacht und in jo rührender 
Weiſe zu ſich kommt, eine der jchönften Wirkungen des Stücks, ſicherlich dadurch 
erhöht, daß uns der Wahnfinn vorher in jo langen Scenen berechtigt, nicht aber 
durch übermäßige Wiederholung ermüdend vorgekommen iſt. 

Die vorhergehende Blendung Glofter’3 dagegen, eine durchaus abjchredende 
und twiderwärtige Scene für den heutigen Geihmad, bleibt für die Vorftellung 
ein Kreuz, welches nicht zu bejeitigen ift. Der Gang der Doppelhandlung im 
Stüd macht fie unentbehrlid. Auch bei der wärmjten Aufnahme des Drama’s 
wird hier jedesmal das Publicum todtenftill, und fein zuftimmendes Zeichen 
läßt ji) vernehmen, wenn der Vorhang fällt. Wir zahlen da eben einen Tribut 
für die andern Scenen, welche erichüttern, ohne roh und graufam in leibhaftiger 
Marter vor uns binzutreten. 

Solche leibhaftige Grimmigfeit hat wahricheinlich die Engländer vor dritt» 
halb Jahrhunderten nicht verlegt — find fie doch heute noch dankbar fir ähn— 
lih grimmige Dinge auf ihrer Bühne! — und wir nehmen fie ſchweigend hin, 
und machen uns ftarf duch hiſtoriſche Kenntniß, welche belehrend unjern Wider: 
willen niederhält. 

Der lebte Act bedarf eines gewiljen Aufwandes in Scenerie und Statifterie, 
um die ſchlachtmäßige, raſche Erledigung zweiter Perjonen leidlich anziehend zu 
machen. Namentlic) der Zweikampf zwijchen Edgar und Edmund muß blendend 
angeordnet, und eine große Energie muß in alle Wendungen gelegt werden, 


Shafeipeare-Splitter. 291 


damit wir überjehn, wie die Hauptverſon nur noch epifodiich vorüberhufcht und 
exit in der legten Scene wieder nachdrücklich zum Vorſchein fommt. 

Nachdrücklich tragiih, um nit zu jagen gemacht tragiih. Denn in 
Wahrheit bleibt diejer vielbejprochene und vom Publicum lange beftrittene 
Schluß ein nur theoretiiher Schluß. 

Dean mag vielleicht der Theorie zugeben, dat Lear nicht am Leben bleiben 
fann, und daß Gordelia fterben muß, um das endliche Aushauchen Lear’3 her- 
beizuführen. Aber dies letztere, dies Opfern Cordelia’3 wird feinem Publicum 
verftändlich, und wirkt bei der Aufführung ftet3 wie ein Mißton. Warum, jagt 
man beim Fortgehen, warum muß dies ehrliche, Tiebenswirdige Geſchöpf 
fterben? — und die fünftlihe Beweisführung der Dramaturgen überzeugt 
Niemand. 

Ludwig Tieck jelbft war davon betroffen und jagte: man lafje den Wienern 
den mildern Schluß! Er hat dies nicht blo3 gejagt, weil er die eingebürgerte 
mildere Form zur Noth beftehen laffen wollte, jondern weil er jelbjt empfand, 
daß dieſe intriguenhafte, faft mißverftändlihe Tödtung Cordelia's ungünftig 
wirkt. Deshalb wol gab er’3 mit drein, daß für die Wiener auch Lear am 
Leben bleiben fünne. Iſt der gebrochene alte Mann nicht geftraft genug, und 
ift wirklich jein Tod noch eine nothiwendige Genugthuung? 

Ich fand früher auch näher zur theoretiichen Anſchauung des Schluffes, 
alfo zur ſchließlichen Tödtung. Lange Beobachtung des Eindruds im Theater 
aber hat mid; mehr und mehr von ihr entfernt. Und am Ende haben dod) 
Theaterftüce nach der Theaterwirkung zu fragen. 

63 iſt der Unterfuhung werth, ob die bei und eingeführte Theorie der 
Tragik dem Theater genübt oder gejchadet habe. 

Im Weſentlichen ftammt fie doch von unjern Romantikern, die Schlegel 
an der Spibe, und der Aerger über die großen Erfolge Iffland's mit dem 
bürgerliden Schaufpiele hat die Romantifer geftachelt, die griechiſche Tradition 
vom tragiihen Schickſal auch da einzudrängen, wo von feiner Göttermacht die 
Rede jein wollte. Das bürgerliche Schauspiel mit feiner nüchternen Wahrheit 
jollte um jeden Preis heruntergejegt werden. Etwas Bejonderes und Außer- 
ordentliches, da3 Beſondere und Außerordentliche überhaupt war die Parole der 
Romantiker, und man hielt ſich die Augen zu, um nicht zu bemerken, daß dies 
bürgerlide Schaufpiel eigentlid” doc) die nationale Form des Schauſpiels in 
Deutichland wäre. Es ijt nod heute jo troß aller gepredigten Theorie: das 
einfahe Schaufpiel mit einfachen, wahrhaftigen Motiven, welches unter rühren- 
den Scenen zu einem glüclichen Ausgange führt, ift und bleibt die populärfte 
Form in unjerm Theater. 

Jene Theorie der Tragik, getragen vom gelehrten Eifer der abjtracten 
Schriftfteller, hat gefiegt, hat vielleicht übermäßig gefiegt, und unjer nationales 
Bedürfniß faft geächtet. Die jüngere Kritik läuft hinterher auf ererbten Krücken, 
und Schlägt mit ihren Krücken neue Stücke darnieder wie Mohnköpfe. Die ge- 
bildeten Schaufpieler Schröder und Iffland, welchen unter Theater die populäre 
Geftalt verdankt, werden geringichägig bei Seite geſchoben, und ihre allerdings 
viel ſchwächeren Nachfolger werden verhöhnt. 


292 Deutihe Rundſchau. 


Das Theaterpublicum ift nie diefer theoretiihen Meinung gewejen, und 
weil es den einfach deutjchen Stüden immer und immer wieder, auch wenn fie 
viel geringer waren al3 die von Schröder und Iffland, eine große Theil» 
nahme geſchenkt hat, jo wird uns jeit einem halben Jahrhundert von der ge- 
lehrten Kritik verfihert: das deutjche Theater jei untergegangen. — Als ob ein Bolt 
blo3 von Nektar und Ambrofia leben könnte, und als ob es nicht auch jein 
beimathliches tägliches Brod brauchte. 

In der That hat die ertreme Theorie unter unfern dramatiihen Talenten 
Ihweren Schaden angerichtet. Um der Theorie nur ja zu entiprechen, haben, tie 
oft! diefe Talente jprungmäßig und unwahr den tragiichen Ausgang herbeige- 
zerrt, und find deshalb mit ihren Arbeiten gejcheitert. Hätten fie ſich nicht vor 
dem Banne der Ertremen gefürchtet, hätten fie ehrlich organiſch ihre Stücke bis 
zu Ende durchgeführt, und ſich auch nicht vor einem guten Ausgange gejcheut, 
wir hätten ſicherlich mehr dramatiihde Schriftfteller und mehr gute Reper- 
toireſtücke. 

Dem Ausweichen tragiſcher Nothwendigkeit ſoll damit nicht das Wort ge— 
redet werden. Man ſoll ſich nur redlich klar machen, was wirklich tragiſche 
Nothwendigkeit ſei, und was ein dramatiſches Kunſtwerk zu erſtreben Habe. 
Wenn der höhere Gedanke nicht beſtehen kann unter den gegebenen Verhältniſſen 
eines Stückes, dann ſoll er den Verhältniſſen nicht nachgeben, ſondern ſeine 
höhere Eigenſchaft durch den Tod beſiegeln. Der Tod ſolcher Art wird immer 
eine Erhebung mit ſich bringen, und dieſe Erhebung iſt der Zweck des tragiſchen 
Kunſtwerks. 

Eine ſolche Tragödie, und ſie allein iſt die ächte. Und fie leuchtet auch dem 
Publicum ein, jie wird auch populär. 

Wem ſoll es denn aber einleudhten, daß auch Gordelia jterben müfje? 
Niemand als den extremen Romantikern, welde aud für die Schuld Gordelia’s 
fünftlide Gründe zuſammenſuchen. Cordelia hat nur ehrlicd und qut gehandelt. 
Sie hat dem überjpannten Vater die Wahrheit gejagt, und als er fie darob 
ſchmählich verftoßen, hat jie feinen Augenblick aufgehört, ihn zu lieben, und ift 
ihm zu Hilfe geeilt, als er in Noth gerathen. Sind das Gründe, welche den 
Tod für fie erheiſchen? Im Gegentheil: ihr Tod verlegt unjer Gefühl für Ge- 
rechtigkeit, und beeinträdhtigt den tragiihen Schluß des Lear. 

Noch ſchwerer, viel jchwerer ift das Verhältniß der Shakeſpeare'ſchen Luft: 
jpiele zu unferem Theater. Ein Lujtipiel hat eben doch viel unmittelbarer mit 
der herrichenden Sitte des Zeitalter und des Landes zu thun. Große Gefühle 
bleiben jich gleich durch die lange Reihe der Jahrhunderte, und die gejellichaft- 
lihen Verhältniffe ändern daran wenig. Das Luftipiel aber lebt lediglich in 
den geſellſchaftlichen WVerhältniffen, und aus ihnen bildet es jeine Form. Kann 
eine ſolche Form nad Jahrhunderten für eine ganz anders geartete Geſellſchaft 
noch pafjen? — Das Wort „Geichmad‘ tritt bei einem Luſtſpiele in erfte Linie, 
der Geihmad aber wechjelt ja ungemein. 

Daran wird man immer Scharf erinnert, wenn man ein Stücd wie „Viel 
Lärm um Nichts“ auf die Scene bringt. Bei der erſten Probe muthet es an 
wie die grelle Mtanierirtheit eines geiftvollen Mannes. Allmälig wird es ein 


Shateipeare:-Splitter. 293 


curiojes hiſtoriſches Bild, welches man dem heutigen Geſchmacke doch nur in 
einer ausgeſuchten Geſellſchaft Hiftoriicher Kenner bieten dürfe. Endlich gewöhnt 
man fi) an die fünftlichen Reden und an die groben Gontrafte, und erinnert 
ih, daß da3 Publicum dafür erzogen worden jei, die Shafejpeare’schen Komödien 
zu geftatten, und fi) das heute noch Wirkſame herauszuſuchen. Dieſe Bildung 
unſeres Theaterpublicum3 ift gar bemerkenswerth. Wäre ſolch ein Luſtſpiel 
nicht durch den Drud bekannt und durch den Namen des Dichter geweiht, er— 
ſchiene e8 ohne Vorgeſchichte auf der Bühne als ein neues Stück — weld)’ ein 
Schickſal jtände ihm bevor! Ya, aud) als ein altes Stüd von einem minder 
wichtigen Autor, aljo nur des Namens Shakeſpeare entkleidet, würde es einer 
übeln Behandlung nicht entgehn. Was! — würde man rufen — die eigentliche 
Komik diejes Luftipiels ift ja die Komik der Clowns, die wir im Circus finden, 
und der Wit der höheren Perſonen ift ja durchweg forcirt, ift eine redjelige 
MWortjpielerei mit wenigen guten Körnern! Und daneben läuft eine ganz abenteuer- 
liche und ftodernfthafte Handlung, welde ein Mädchen in todesähnliche Ohn- 
macht ftürzt, und welche dahin führt, daß dies Mädchen für wirklich todt aus— 
gegeben wird. Wir haben aljo einen ſchweren Gontraft vor uns, welcher jeden 
behaglichen Uebergang eines Luſtſpiels ausſchließt, und dieſe gröblichen, unver- 
mittelten Beſtandtheile ſollen für ein Luſtſpiel ausgegeben werden? 

Der ſpätere Molière, der Schöpfer der franzöſiſchen comédie, macht kaum 
noch eine Wirkung bei uns, weil der Geſchmack ſeiner Zeit nicht mehr der unfre 
ift, weil wir über ſchlimme Perjonen wie Harpagon nicht lachen können, und 
weil des Dichters ernithafte Abjichten und Perjonen für uns zu feiner harmo— 
niſchen Komödienform verarbeitet find — und dem älteren, noch ferner gelegenen 
Shakeſpeare jollen wir eine Luftipielmadht einräumen? 

Und doch thun wir’3 bis auf einen gewilfen Grad. In diefem Shafefpeare 
pulfirt eben doc ein größerer Geift, eine größere Weltanſchauung, vor allen 
Dingen aber eine immer tiefe Charakteriftil. Die ſtarke Kraft Shafejpeare’3 in 
der Sharakterzeihnung läßt und wol auch bei jeiner veralteten Luftipielform 
mandherlei Genüge finden. ' Nach einiger Zeit, nad öfterer Anſchauung diejer 
Stüde verzeihen wir allenfalla den Clownton, wenn auch adhjjelzudend, und 
interejjiren uns für die herumfliegenden Geiftesfunfen, vor allem aber für die 
mannigfaltigen Charaftere. 

So geht e3 mit „Viel Lärm um Nichts“ in der guten Bearbeitung von 
Holtei. Neu aufgenommen ftößt e3 zuerft immer auf Zurücdhaltung des Publi- 
cums, allmälig aber findet es Theilnahme, nicht leicht aber ein großes Publi- 
cum. Das einfach gebildete Publicum erläßt jedoch ſolchen Shafeipeare-Luft- 
ipielen nie die obigen Ausrufungen, Ausftellungen und Einwände, es drückt feine 
Zuftimmung immer nur mit bejtimmter Rejerve aus. 

Solchen Achtungserfolg fanden auch wir jet mit der erften Vorftellung 
und verdankten ihn hauptjächlich dem launigen Talente Heren Tewele's, welcher 
den Benedikt gut ſprach und lebensvoll jpielte. 

Ohne einen wirklich Humoriftiichen Benedikt und eine wirklich humoriſtiſche 
Beatrice ift die Wirkung des Stüds unerquidlid. So fehlte damals im Burg» 
theater Dawiſon diejer wirklide Humor, und Fräulein Neumann als Beatrice 


294 Deutſche Rundichau. ® 


trug die Koften allein, wie jet hier Herr Tewele. Später fand ich in Fräulein 
Kühle eine treffliche Beatrice, und jo wurde das Stüd im zweiten Jahre ein 
ganz gern gejehenes. 

Am leichteften gelingt die Wirkung eines Shafejpeare-Luftjpielö da, wo die 
Handlung einfah, nit — wie jo oft bei ihm — eine aus mehreren Stoffen 
zufammengejegte if. „Die bezähmte Widerfpenftige” aljo ift das ficherfte 
Shafejpeare-Luftipiel, und auch das populärfte. Es geht auch darin ſcharf her 
für den heutigen Geſchmack, aber natürlich” und geradeaus zu einem Ziele. 

Im zweiten Jahre entwidelte eine ſchöne junge Schaufpielerin, Fräulein 
Schratt, ein überrajchendes Charakterifirungstalent im tomijchen Genre, und mit 
ihr machte die „Widerjpenftige” lebhaftes Glüd. 

„Was ihr wollt“ hatte ich noch vor; das Ende meiner Direction unterbrad) 
aber die Vorbereitungen. Dieſe drei find die einzigen Shafelpeare-Luftipiele — 
wenn man dem „Kaufmann von Venedig“ nicht den Zitel „Luftipiel“ auf- 
prägen will —, welche auf unjrer Bühne Stand halten. Die Verſuche mit der 
„Komödie der Irrungen“ haben ſich nicht bewährt, und die mit „Wie es Eud) 
gefällt“ und „Maß für Maß“ halte ich für ausfichtslos. 


Literarifche Ruudſchau. 





1. Die Ahnen. Roman von Guftav Freytag. Dritte Abtheilung. Die 
Brüder vom dbeutjhen Haufe. Leipzig. ©. Hirzel. 428. 8. 1874. 


Als Guſtav Freytag dor zwei Jahren den erjten Band der „Ahnen“ erjcheinen 
ließ, war die freude und die Aufregung groß in deutjchen Leſerkreiſen. Ein neuer 
Roman vom PVerfafler von „Soll und Haben!“ Und gar ein Roman, der nur als erſte 
Anzahlung fich ankündigt auf eine ganze Reihe jolcher Feſtgeſchenke! Die Geichichte 
einer urdeutichen Familie, fortgeführt vom jagenhaften Wald- und Kriegsleben der 
Vorfahren, bis zur glorreichen Auferftehung des Reiches! Wie mußte da die Kette 
der Zeiten fich zufammenfügen, wie verſprach die Dichtung da ihren hohen Beruf 
auszuüben als rückwärts gewandte Prophetin, ala Beratherin und Führerin der ein= 
beitlichen Volksſeele in den Wechieln des endlojen Bildungslampfes! Zwar, Freytag 
hatte fich alle jolche Zumuthungen in feiner vornehm-zurüdhaltenden Art ausdrüdlich 
verbeten.. Nur Dichtung, durchaus feine „Gulturgeichichte” wolle er geben. Alfo 
etwa Phatafieipiele, oder doch Hiftorische Gejtaltung des rein Menjchlichen ohne Rück— 
ſicht auf geichichtliche Beftimmtheit und Begrenzung? Aber wer das dem Berfaffer 
der „Bilder aus der deutjchen Vergangenheit“ etwa wunderlicher Weile zugetraut 
hätte, den mußte ja jchon ein Blick in den erſten Band eines Beffern belehren. Da 
war nicht etwa nur das äußerliche Zeitcoftim meifterlich eingehalten oder hergeftellt. 
Die innerfte Anlage des Gedichts erwies fich ebenſo großartig geichichtlich, wie poetifch. 
Keine Spur von Tendenz freilich, wenn nicht etwa glühende Liebe zur heimiſchen 
Art Schon diefen Namen verdient. Es war ein durchaus verdienter Erfolg diefer 
ächt menschlichen, und wir dürfen ja wol Hinzufügen, echt deutjchen Behandlungs- 
weile, daß fie noch kürzlich einem namhaften Wortführer franzöfischer Anfchauungen 
und Stimmungen (Alfred Reville) ein Zeugniß zu Gunften des poetifch-literarifchen, 
jeit dem Kriege jo vielfach verlegten Völferrechtes abrang. Form und Geift diefer 
Darftellungen waren fo rein und erntlich auf treuefte Wiedergabe oder Nachichaffung 
unferer Vergangenheit gerichtet, daß es befanntlich nicht an jehr befähigten und 
keineswegs übelmeinenden Bruchtheilen fehlte, welche der Anficht waren: hier ſei am 
Ende doch des Guten zuviel geichehen, namentlich in der Nachahmung, oder jagen 
twir lieber der ftylvollen Symbolifirung einer von heutigen Zujtänden himmelweit 
entfernten Empfindungs- und Sprachweiſe. Es jebte ſcharfe Lectionen über rhyth— 
milche oder gar metrische Profa, über manierirte Wendungen, über auffallende Vor— 
liebe für Zoologifche Vergleiche, Für geſuchte Beiwörter und alterthümelnde Phrafen ; 
der Claſſiker Freytag mußte neben den Ehren feines literariichen Ranges auch 
deſſen Beſchwerden ſich gefallen laſſen, wie ſeine geiſtigen Standesgenoſſen auf andern 
Gebieten. Er wußte es; aber freilich, er konnte es auch mit gelaffenem Herzen. 
Denn, wie nur Angefichts der allergrößeiten Ereigniffe unferer Literargefchichte, ijt 
dad DVerdict der Zeitgenoffen, der engern Gemeinde wie der weitejten, „gebildeten“ 

Deutſche Rundſchau. I., 5. 20 


296 Deutſche Rundſchau. 


Kreiſe auf ſeine Seite getreten. Jeder neue Band der „Ahnen“ wird von der Nation 
wie ein Feſtgeſchenk begrüßt; die Auflagen wetteifern mit engliſchen, franzöſiſchen, 
amerikaniſchen „Erfolgen“ und die literariſche Berichterſtattung, wenn fie nur ein 
paar Wochen jäumen muß, wie wir, fieht fich bereits dem fertigen Urtheile von 
vielen Taufanden eifriger und ſelbſtdenkender Leſer gegenüber. In ſolchen Fällen 
bittet man denn gern um's Wort, jo ficher man auch fein fann, nicht Jedermanns 
Meinung zu treffen. 

Zunächſt eine Bemerkung über das Geſetz, nach welchem Freytag, wenigjtens 
bis jeßt, die zu Jchildernden Epochen zu wählen jcheint. Seine Darftellungen haben 
und Nicht? von Hermann, dem Befreier und feinen Cherusfern erzählt, Nichts vom 
König Ebel und den Burgunden, Nichts vom Dietrich von Bern oder von Chlodwig, 
dem jtolzen Sigambrer. Sie find ebenjo an Karl dem Großen vorübergegangen, an 
Heinrih dem Sachſen und den Ottonen, an den glorreichen übermüthigen Saliern jo 
wie an dem Büßer von Ganoffa, an Barbaroffa und Heinrich dem Löwen. Römer: 
fämpfe, Völferwanderung, Gründung und Blüte des eriten Reichs, Hohenſtaufen 
und Welfen: alle dieje jagenummwobenen Hochgipfel altdeuticher Geichichte, dieſe 
leichenbejäeten Schlachtfelder unaufführbarer moderner Dramen und unlesbarer Ritter: 
romane läßt der Dichter bei Seite, um fich durch das Labyrinth dunkler Uebergangs— 
epochen einfame Piade zu ſuchen. Das vierte, das achte, das eilfte Jahrhundert 
erhielten bisher den Vorzug und an fie jchließt ſich nun ein Rundgemälde, nicht 
aus der Glanzzeit, jondern aus der Abenddämmerung unjerer ritterlich-poetifchen 
Epoche. Statt des weltberühmten Kaiſerfeſtes bei Mainz, ftatt des Wartburgkrieges 
muß und der Mairitt eines jchlichten Edelmannes, muß uns eine gewöhnliche „Artus: 
Runde” beim Ehrentrunt genügen. Nicht die Hochflut, fondern die Schiffstrümmer 
der Kreuzzüge, nicht die blendenden Triumphe, jondern die legten, verhängnißvollen 
Teldzüge der Staufenpolitif beherrfchen die Lage; und ſtatt der vielbefungenen und 
geichilderten Glanz- und Staatsactionen jener merkwürdigen Zeit belaufchen wir den 
frühen Verfall der ganzen SHerrlichkeit, der fich naturgemäß in den Schattenpartieen 
der Zeitgeichichte vollendet. 

Iſt diefe Auswahl nun lediglich als ariftofratiiche Abneigung gegen betretene 
Bahnen zu deuten? als fünftleriiche Scheu vor der Zudringlichkeit Tandläufiger, ab» 
gegriffener Typen? Ohne Zweifel würde auch diefe Rüdficht zu ihren Gunften in 
die Wage fallen. Aber daß auch die Ausgiebigkeit, die Tragweite, das jeffelnde In— 
tereffe der culturhijtorifchen Peripectiven bei diefem Verfahren, das freilich einen 
Meifter erfordert, gewinnen mußten, iſt leicht zu begreifen. Nicht der Glanz; des 
Gewordenen, jondern die leiſe jtille Bewegung des Werden: wie des Vergehens ent 
hüllt dem finnigen Auge am beten die Geheimniffe des Lebende. Da fchärft fich der 
Blick für die Grundgejege der Dinge, da eröffnen fich jene Ausfichten, die den Sänger 
zum Propheten, zum „‚vates‘‘ im alten Sinne machen, da erzeugt fich der ſtimmungs— 
volle Zauber der gemischten, ſanft fich abjtufenden fyarbentöne. Und war das Alles 
ſchon in den früheren Erzählungen von gewaltiger Wirkung, jo macht es hier noch 
weit eindringlicher fich geltend. 

Die Handlung der „Brüder vom deutſchen Haufe“ ijt, bei aller Fülle, fait 
Ueberfülle des Beiwerks, in der Grundanlage dennoch einheitlicher, überfichtlicher 
gruppirt und darum auch wirkungsvoller ala die der „Zaunfönige“. Ivo, der 
Sprößling Ingo’, Ingrams, Immo's, waltete im Jahr 1226, noch ala freier Edler, 
auf jeinem Hofe Ingersleben, zwifchen Erfurt und der und wohlbefannten Mühlburg. 
Unabhängigkeit, ritterliche Ehre, ideale, wenn auch phantaſtiſche Liebe find die Mächte, 
denen er huldigt. Er ift mild gegen Geringe, gerecht und verträglich gegen Gleich— 
geftellte, jtolz, ja ftarr gegen Höhere; ex bricht Lanzen für feine Dame, macht Verie 
mit den fahrenden Schülern, giebt das Letzte her für den freund, für den treuen 
Diener. Aber den Herrendienjt verichmäht er, und das trägt ihm denn auch die 
entiprechenden Erfahrungen ein. Der Kreuzzug, zu dem er fich 1227 auf Herrmann 
von Salza's Andringen entjchließt, zeigte ihm auf der heiligen Erde nur die Orgien 


Literarische Rundſchau. 297 


des Ehrgeizes, der Ueppigfeit, der Habſucht. Das Mefjer eines Hriftlien und 
ritterlihen Meuchelmörders Tieferte ihn für todt in die Hände der Aflaffinen, 
der Glaubenzfeinde, die ihn edelmüthig pflegen und retten. Nach jahrelanger Haft 
wird er zwar durch einen treuen Diener und Kampfgenoſſen befreit: aber es geht 
ihm daheim wie dem Goethe’schen Grafen: „Und als er zuhaufe vom Rößlein ſtieg, 
da fand er fein Schlößlein droben, doch Diener und Habe zerjtoben.“ Wol läßt er 
nun die zudringlichen, vaubjüchtigen Nachbarn feinen Arm und fein Recht fühlen; 
wohl bietet die Dame feiner ritterlichen Jugendträume, des Kaiſers Nichte, als junge, 
reiche Wittwe ihm Sand und Herz, Reichtum und Macht. Alles das kann jein 
Schikjal nicht mehr wenden; denn im harten Lebenskampfe iſt der phantaftifche 
Ritter zum deutjchen Manne gereift; der Seelenadel, die Liebe und Treue einer 
Sugendgeipielin, einer einfachen, freien Bauerntochter, hat in feinem Herzen die 
glänzende, zmweideutige Weltdame verdrängt; ein jäher Anfturm furchtbarer Gefahr 
(es gilt, die Geliebte und ihren Vater aus den Händen der Keberrichter zu retten) 
fommt in der Stunde der Verfuchung dem wanfenden Herzen zu Hülfe; Ivo läht 
die Herzogin ftehen. befreit die Bäuerin, und ift im Begriff, twie fein Ahn Ingo auf 
Idisburg in den Trümmern feiner Burg den Heldentod zu fterben, als — die 
Dazwijchenkunft dev deutichen Brüder ihn befreit. Den Geretteten mit feinem jungen 
MWeibe empfängt dann das ferne Dftieeland ald Begründer eined preußifch-deutichen 
neuen Heldengeichlechts. Der thüringifche Edling wird Burgmann von Thorn. 

So die Hauptgeſtalt, in der die wohlbefannten Züge der Ahnen mit dem des 
neuen Jahrhunderts fich fein und ftimmungsvoll mifchen. Um fie,gruppiren fich in 
reichjter Fülle die Typen der niedergehenden deutichen Geſellſchaft des dreizehnten 
Jahrhunderts: der gewaltthätige Bafallenadel, die harten politifchen Zerritorialherren, 
die freien, aber jchon hart bedrängten Bauern, der fahrende Sänger, der Prälat, der 
Tanatifche Bettelmöndh ; im Hintergrunde der glänzende, aber unberechenbare Staufen- 
faifer, für Deutichland ſchon mehr Symbol und Phantom als reelle Macht. Auch 
das ferne Morgenland mit feinen Kreuzfahrern und Ordensrittern, feinen Abenteurern 
und Lüderlichen Pfaffen, feinen ritterlichen Saracenen und furchtbaren Aflaflinen wird 
meiſterlich, wenn auch vielleicht zu farbenreich geichildert. Ein Prachtſtück der 
Charakteriſtik aber iſt Bernhard, der freie thüringifche Bauer, in deffen kerndeutſchem 
Gemüth fi) Angeficht? der auffommenden Inquifition der erfte Heim des reforma= 
toriichen Gedankens regt; und über alles Lob erhaben wirkt endlich für unjer Gefühl 
die Auffaffung und Einführung der „Bärtigen“, der deutichen Ordensbrüder, nad) 
denen der Roman fich nennt. Wie ein junger kräftiger Eichbaum aus dem Gewirr 
faulender Stämme und wuchernden Geſtrüpps erhebt ji) da das Symbol des 
ftaatenbildenden deutichen Zukunftsgedankens aus dem Chaos des fich Löjenden Reichs. 
Sollen wir noch auf padende Glanzitellen hinweifen? Das gäbe ein langes Regifter; 
aber kurz erwähnen wollen wir doch den Weihnachtsumgang Friedrun’d im Dorfe, 
ihre Begegnung mit ihrer Nebenbuhlerin Hedwig zu Speyer; Ivo's Getreue, Luk 
und Henner, mie fie den verloren geglaubten Herrn erwarten; endlich die ent- 
Tcheidende legte Begegnung Jvo's und Hedwig's. — Die Compofition de8 Romans 
droht anfangs in Schilderungen und Gulturbildern auseinander zu fließen, hebt fich 
Dann, von Ivo's Meairitt an, zu warmem Intereſſe, fommt, beim Gintreten in die 
fremde Welt des Morgenlandes, durch eine Meberfülle an ſich trefflicher Einzelbilder 
ein wenig ind GStoden, bewegt fich dann aber, von Ivo's Heimkehr an, in auf 
fteigender Linie biß zu der wahrhaft großartigen, hinreißenden Wirkung des Schlufjes. 
Sin der Sprade ift von den Abfonderlichkeiten der früheren Abtheilungen nur hie 
und da eine den zeitgenöfliichen Dichtern fein abgelaufchte Naivetät, oder ein charakte— 
riftifches Fremdwort übrig geblieben; ſelten find gezierte Wendungen wie der- 
wiederholte Ausruf> „nun kommt ihr ftolzen Knaben”, mit dem die Bauerburſche 
zum Ballfpiel und Tanz geladen werden. Von höchjter Meifterichait find Färbung 
und Perfpective der Zeitbilder, namentlich des in wirkſamſter Naturſymbolik ver- 
anjchaulichten Ueberganges von heiterer, Leichtfiuniger Luft zu dem nüchternen, trüben 

20 * 


298 Deutſche Rundſchau. 


Ernſt und der düſtern Tragik des beginnenden Verfalls. Die Charalteriſtik iſt im 
Allgemeinen nicht nur fein, ſondern was mehr werth iſt, marlig und wahr. Nur 
über eine Hauptjtelle können wir beim beften Willen nicht hinweg: Ivo erkennt 
nämlich, wie ſchon berührt, in einem der Meuchelmörder, die ihn, den geheiligten 
Gefandten des Kaifer überfallen, jenen Grafen von Meran, des Kaiferd Schwager, 
den Gemahl feiner in ritterlichfter Platonit angebeteten Dame. Er bat, wie wir 
ala Augenzeugen wiflen, vor diefem fcheelfüchtigen, niedrig denkenden Politieus nicht 
die mindefte Achtung, hat ihm kurz zuvor die jchrofffte, ſchneidendſte Oppofition gemacht. 
Was wird er nun tun, da die Ganaille, zu feige zu offenem Kampfe, ihn ſpitzbübiſch 
meucheln will? — Nun, er jenkt die Waffe, ruft „Nimm dein Recht” und läßt fich 
niederftcchen. Das ſoll urgermanifch ideal, erhaben fein; es ift aber leider jchlimmer 
als ſchwach, es iſt theatralifch und unmwahr. Ein fauberes „Recht“ das, und vollends 
nach den Begriffen des dreizehnten Jahrhunderts, welches befanntlih im Punkt 
ritterlichen Frauendienſtes uns viele Punkte vorgeben kann. Natürlich bleibt die 
feltfame Aufopferung im Roman ohne Folgen, aber diefer von den Abfichten der 
handelnden Perjonen unabhängige Zufall kann äfthetifch Nichts beflern. — Soviel 
der Wahrhaftigkeit zu Liebe und damit doch der fnarrende Venus: Pantoffel nicht 
fehlt. Noch an dieje und jene Einzelne mag fich die Kritik vielleicht hängen. 
Der dritte Band der „Ahnen“ ift bei alledem ein Kunſtwerk erſten Ranges. Der 
Gedanke quillt aus dem innerften Herzen der Zeit und des Volkes, die Sprache ift 
ebenſo artijtiich gewaltig, wie edel und rein; die Compofition, obwol nicht von 
gleichmäßig feſtem Gefüge, läßt doch die Theilnahme nie ermatten und erhebt fich 
am Schluffe zu höchſter dramatifcher Wirkung. — Man hat und vom Auslande ber 
oft genug vorgeworfen, daß unfere große nationale Bewegung fich dichteriich nicht 
jo fruchtbar erweije, wie politifch und militärisch. Wenn diefer Tadel von vorne 
herein auf einem willfürlichen und ungerechtfertigten Anfpruche beruht, jo darf man 
ihn jetzt, Angefichts der Freytag’schen „Ahnen“ und des Jordan'ſchen Hildebrand- 
liedes auch geradezu als unmwahr bezeichnen. 


2. Nachgelaſſene Schriften von Frig Reuter. Erſter Theil. Heraus 
gegeben und mit einer Biographie des “Dichter? eingeleitet von Adolf 
Wilbrandt. Wismar, Roftod und Ludwigsluſt. Hinftorff’iche Hofbuch— 
handlung. 1874. IV u. 96— 235. 8. (Der jämmtlichen Werke vierzehnter 
Band.) 

So liegt denn diejer jehnlich erwartete Nachlaß unferes lieben Fri Reuter 
vor und. Der erite, bis jet vollendete Band umfaßt eine Biographie des Dichters 
vom Herausgeber (96 ©.), eine hochdeutſche jatirische Schilderung „Ein gräflicher 
Geburtstag”, Briefe des Herrn Inſpector Bräfig an Fri Reuter (S. 52—98), die 
hochdeutiche Bejchreibung einer Reife nach Braunjchweig, das Fragment der „Ur 
geihichte von Mecklenburg“ und einige plattdeutjche Kriegsgedichte aus dem Jahre 
1870; Berhältnigmäßig ſchwach und wol nur don fubjectivem Intereſſe ift Die, 
Ichon im „medlenburgiichen Volksbuche“ 1846 gedrudte Satire auf den „gräflichen 
Geburtätag”. Sie gilt einer allerdings groteöfen Teitlichteit, welche am 29. und 
30, Mai die „regierende Gräfin” Hahn verherrlichen follte, hat in der Sache gewiß 
nur zu ſehr Recht, erſetzt aber den oft auögehenden Humor durch directe Ironie, 
oft geradezu bittern Hohn und verfümmert fich dadurch die Wirkung. Gewiß trägt 
das ernjthafte hochdeutiche Idiom einen Theil der Echuld; aber auch mit „facit 
indiznatio versum“ iſt es befanntlich eine eigene und nicht ungefährliche Sache. — 
Auf ein ganz anderes, traulicheres Gebiet führt uns das plattdeutfche Bruchjtüd der 
„Urgeihichte von Medlenburg“, freilich) auß dem Jahre 1861, -alfo aus Reuter's 
bejter Zeit. Der Grundgedante ift auch bier erniter, einfchneidender, ala wir ihn bei 
den eigentlichen Meifterjtüden der Reuter'ſchen Muje gewohnt find; er erinnert bie 
und da an die Tragit von „Kein Hüfung”. Aber in welcher vollendeten Form it 


Siterarifche Rundſchau. 299 


der ernſte Segenjtand behandelt, wie mildert ‚der köſtlichſte Humor überall „den 
Ihwarzen Affect“, wie benimmt Wohlwollen und Maaß überall jelbjt der Satire 
die verletzende Schärfe! Nach einer köftlichen Einleitung empfangen wir die Ur— 
geichichte des gejegneten Yandes der Erbweisdeit, von Adam bis auf Japhet, der 
uah der Siündflut in Medlenburg einzieht und dem Lande jein berühmtes Grund— 
gejeh giebt: „Seiht Kinnings“, jo ſpricht er zum Volle, „dit iS nu all ung, bet 
nah Hamborg ’ruppe, dit iS dat gelobte Land Meckelnborg, wat und min jül Bader 
Noah vermaft hatt Un ik bünn von Herrgotts wegen als Herr doräwer jet’t un 
nem von dije Stun'n den Titel „Dorhläuchten” an, dat mark fit ein jeder Schaps— 
fopp, de mit de Zitulaturen noch nicht Bejcheid weit. Un nu — in Gott's 
Namen — gah ein Jeder in’t Geſchirr un nem fil dorvon jo vel, as Hei mit de 
Zühnen dorvon riten fann“. Danach wird denn nun getheilt und wader regiert, 
und Japhet's des Erſten Beiträge zur Löfung der Jocialen und conftitutionellen Trage 
machen dem „durchläuchtigen“ Herrn alle Ehre. — Don ganz befonderem Werthe 
für das Studium des Reuter'ſchen poetiichen Schaffens find ferner die dem „Unter- 
baltungsblatt für Medlenburg und Vorpommern“ (1855 —56) entnommenen „Briefe 
des Herrn Infpector Bräfig“. Wir jehen jo zu jagen die Skizze feines berühmteften 
und urfprünglichften Charakterfopfes Zug für Zug entjtehen, ediger, derber als in dem 
Prachtbilde der „Stromtid“, aber in Haren, fejten Strichen und jchon mit der vollen, 
unwiderſtehlichen Geſammtwirkung. — Die „Reife nad) Braunjchweig“, eine ganz 
originelle Jugendarbeit des zwölfjährigen Fri Reuter, voll jcharfer Beobachtung 
und trodenen Humors, bildet eine jehr willlommene Erläuterung zu der trefflichen, 
bei aller warmen Pietät durchaus mäßig, objectiv freimüthig gehaltene Biographie. 
Die hübfchen, aber nicht gerade hervorragenden plattdeutichen Kriegslieder find ſchon 
aus der Lipperheideihn Sammlung befannt. Der zweite, noch ausftehende Band 
joll eine Anzahl in plattdeutjcher Profa gejchriebener „Läufchen“ und eine Reihe 
ausgewählter Briefe enthalten. (Alſo nicht ein in Drud gegebener Papierkorb 
nah Ludmilla Aſſing's Recept.) Wir jehen ihm mit Verlangen entgegen und jagen 
dein Herausgeber für das bis jet Empfangene unfern Herzlichiten Dank. 


— L LA GL — 


3. Neue Novellen von Paul Heyſe. (Er joll Herr fein. — Eine ungarifche 
Gräfin. — Ein Märtyrer der Phantafie.e — Judith Stern. — Nerina.) 
Der Novellen zehnte Sammlung. Berlin. Wilhelm Hertz. 1875. 


4. Ein neues Novellenbucdh von Adolf Wilbrandt. (Dämonen. — 
Die Bande des Bluts. — Die Königin von Gaftilien. — Unſer Rechts— 
bewußtfein. — Das Märchen vom erjten Menjchen) Dritte Sammlung 
der Novellen. Wien. L. Rogner. 1875. 


Wenn wir Paul Heyfe und AU. Wilbrandt hier zufammenjtellen, jo ge 
Ichieht e8 nicht etwa aus dent ſehr äußerlichen Grunde, daß der Zufall ihre beiden 
neuen Bücher und zugleich in die Hände geführt. Paul Heyfe fteht unbedingt in der 
eriten Reihe unfrer Novelliften; Wilbrandt fcheint bis jet auf diefem Gebiete noch 
nicht jo allgemein durchgedrungen, wie auf dem des Drama’s. Um fo lieber heben 
wir denn an diejer Stelle und nach bejter Ueberzeugung feine eminente Bedeutung 
auch als Erzähler hervor. Wilbrandt Hat mit Heyſe den pfychologischen Scharf: 
blit und die Grazie des Styls gemeinfam: er weiß auch vorzüglich zu erzählen (was 
für einen Deutichen immer noch mehr jagen will als für einen Franzoſen oder Briten) 
und feine Erfindungen find immer jpannend, feine Pointen überrafchend und wahr. 
Daß er im Allgemeinen, ohne dem Tragifchen eben aus dem Wege zu gehen, gleich 
ſeinem Landsmann Fritz Reuter auf geſunden Verhältniſſen und Naturen mit Vor— 
liebe verweilt, wird ihm überdies, allem Schopenhauer- und Hartmann-Cultus zum 
Trotz, bei der großen Mehrzahl unſerer Zeitgenoſſen nicht zum Vorwurfe gereichen. 


300 Deutſche Rundſchau. 


So heißen wir denn beide Sammlungen willkommen, womit freilich nicht geſagt 
ſein ſoll, daß ſie lauter Gaben von gleichem Werthe enthielten. 

Paul Heyſe behandelt in der „Ungariſchen Gräfin“ und im „Märtyrer 
der Phantafie” zwei Varianten de alten deutfchen Träumer- Typus, der, bei— 
läufig bemerkt, uns an fich feineswegs jympathiich iſt. Der träumerifche Liebhaber 
der ungarischen Gräfin könnte beinahe an jpätromantifchen oder jungdeutichen Welt: 
ſchmerz erinnern, wenn der Lichter, in feiner ganz gejunden umd modernen Art, jich 
nicht entjchieden auf die Seite der berechtigten Lebensgewalten gegen das jubjective 
Belieben der ſchönen Geele jtellte. So ift der räthjelhafte, verichloffene, dem einen 
Gefühl rücdjichtslos gehorchende Liebhaber intereffant und bedeutend genug für unjere 
Iheilnahme, ohne daß eine zweideutige Haltung des Erzählers uns den Schwer— 
punkt der Betrachtung und des Urtheils verrüdte. Kühn, echt Heyſiſch ift 
die Peripetie: die reife Weltdame, durchaus fittlich Fühlend und von Herzen tugend» 
haft, Hofft die wahnfinnige Leidenschaft des genialen, ſchwärmeriſchen jungen Muſikers 
zu heilen, indem — fie ſich ihm Hingiebt und ihn dann entfernt. Aber dad Mittel, 
unfehlbar bei einem Don Juan, macht den Spdealijten vollends raſend, und die 
tödtliche Kataſtrophe enthüllt dann das Geheimniß, daß er wirklich geliebt wurde. — 
Der „Märtyrer der Phantafie” zieht weniger an, weil jeine Gejchichte fich in eine 
Reihe von Situationen verzettelt, die für die Novelle zu weit angelegt, für den Roman 
nicht genug ausgeführt find. Man wird faft verjucht, dem Dichter zu glauben, 
daß eine wirkliche Begebenheit zu Grunde liegt. — „Nerina“, die Sage von 
Leopardi's tragiicher Jugendliebe, kennen unjere Lefer aus der zweiten Nummer 
der Deutjchen Rundſchau. — Ganz trefflich, ergreifend, it Judith Stern. Weib- 
(iche Reinheit und Herzensgüte und echte Lebensweisheit des mit fich und der Welt 
einigen, ftarfen und milden Mannes find wol nicht Leicht jchöner zur Darftellung ge— 
kommen, als hier in der Geichichte de Juwelier? Stern und feiner Schönen, vielumtmorbenen 
Gattin Judith. Ein geiftreich-jatanischer Verführer ald „Hausfreund“ und ein ver- 
Ihämter, naivsjentimentaler, aber, im Gegenjate zu dem nervöſen Muſikanten der 
ungariichen Gräfin, Ferngefunder und braver Liebhaber führen die VBerwidelung 
herbei. Die Handlung, ganz Ichliht und einfach angelegt, ermattet doch feinen 
Augenblid und führt den Beweis, daß die äfthetiiche Spannung nicht von finnlichen 
Aufregungen und Ueberrafchungen abhängt. — Auch die reizende Humoreske „Er 
foll dein Herr jein“ bitten wir, nicht ungeleſen zu laſſen. Sie giebt in ein— 
dringlichjter Lebendigkeit und befter Laune ein echtes Stüdchen zeitgendffifchen Lebens: 
Eine hübſche und reiche baieriiche Majorswittiwe, die Salon-flönigin der Garniſons— 
jtadt, amufirt fich damit, mehrere Freier mit graciöfem Uebermuth an ihrem Faden 
tanzen zu laſſen. Da macht plößlich der Kriegsruf der Idylle ein Ende: die ganze 
männliche Märtyrergejellihaft, vom corpulenten Rittmeiſter bis zum leichtfüßigen 
Unterlieutenant, muß jchleunigft aufbrechen, um den Napoleon zu fangen und Paris 
zu nehmen. Rührung verjchiedener Art, heroiſch-lyriſch-dramatiſche Aichiedsicenen. 
Als Alles vorüber, ſpät am Abend, erjcheint aber noch ein Nachzügler. Ein junger 
Bildhauer, der die Spröde ſchon verzweifelnd aufgab, fommt, mit der Einberufungs— 
Ordre in der Tafche, im Städtchen an. Noch einmal will er, wenn nicht die Dame, 
fo doch ihren Garten, den Schauplaß feiner Leiden fehen. Man erfennt ihn, Zeit 
und Gelegenheit thun ihre Wirkung und der leberglüdliche empfängt das ſüßeſte Ver- 
iprechen unter einer einzigen, ganz Kleinen und lieblichen Bedingung: Es wird ja 
mit der Einnahme von Paris jo gefährliche Eile nicht haben; warum follte der 
glüdliche Liebende, deffen Ankunft ja noc Niemand bemerkt hat, nicht exit noch, 
(in allen Ehren, verfteht fich) ein paar Tage feiner holden Gebieterin jchenten ? 
Dan erräth nun die Löfung. Für einen Augenblid läßt fich das deutſche Mannes- 
herz überrumpeln. Aber dann: „DO, wie ruft die Trommel jo laut!” Der Land- 
wehrmann übernimmt jtrads das Commando gegen den Liebhaber und — gegen 
die Dame; er kann nicht zurücbleiben und fich gütlich thun, während die Kameraden 
marjchiren. Natürlich legt ihm der Poet dafür dann auch fein tragifches Opfer 


Literariſche Rundſchau. 301 


auf und der Siegeseinzug bringt Alles beſtens in Ordnung. Das kleine Lebensbild 
iſt ebenſo wahr und warm als launig ausgeführt. 

Auch die Wilbrandt' ſche Novellenſammlung beginnt mit einem Zeitbilde, aber 
mit einem recht trüben, wenn auch nur zu wahren. Die „Dämonen“ verjeßen 
und mitten in die gräulich-krankhaften Erregungen jenes Frühlings, an deſſen 
Himmel das längjt grollende Gewitter des „deutichen Kriegs“ nun endlich herauf- 
zog. Ein Süddeuticher, Heffen-Darmjtädter, mit einer Preußin ſoeben verlobt, faßt 
den patriotiichen Entſchluß — Bismarck zu morden. Unterwegs, in einem Wirths— 
hauſe im Odenwald, bringt ein durchreiſender Unbekannter die Nachricht von Blind's 
Attentat. Den leidenjchaftlichen Drohungen und Berwünjchungen, die man ihn 
hören läßt, jeht der Fremde, in bewußter Manier, fühlen, überlegenen Spott ent= 
gegen. Da zwingt ihn der füddeutiche Schwärmer, auf der Stelle Kugeln mit ihm 
zu wechieln, trifft ihn und — erkennt in dem Sterbenden den Bruder feiner Braut, 
einen richtigen, probemäßigen preußiichen Sandwehroffizier. Die Schlacht bei Laufach 
bringt dann, durch eine preußiiche Kugel, die nothiwendige Löſung. Wenn dieje Dinge 
von einem glüdlichern Gefchlecht einmal verwunden und vergeffen fein werden, mögen 
wißbegierige Nachlommen in jolchen Geichichten nachlefen, wie es uns zu Muthe 
war. Das Bild ift nicht erfreulich, aber nur zu richtig. Mit 1870 haben Die 
Dichter Schon angenehmere Arbeit. 

Weniger innerlich, etwas exotiſch auf den Effect gefärbt, aber fpannend und 
ſehr geſchickt erzählt ijt die tragiiche Geichichte des jchönen Don Beltram de la 
Gueva und der Königin Juana von Caftilien, feiner Geliebten: ein Stüd hoch— 
geipannter Ritter-Romantit aus dem 15. Jahrhundert. — Die Novelle „Unſer 
Rechtsbewußtſein“, eine harmloſe, allerliebfte Humoreste, behandelt ad oculos die 
alte ungalante Frage, ob unsre fchönern Hälften über die Gemüths- und Inſtincts— 
Sphäre hinaus eines wirklichen Rechtsbegriffs fähig find? Das Luftige Gejchichtchen 
lieſt ſich wie ein in's Hochdeutiche übertragene Reuter'ſches „Läuſchen“; es ift eine 
keche Farbenſtizze, vom Sonnenjchein einer rechten Fyerien-Laune bejtrahlt. — Weniger 
glüdlich erfcheint uns die Jdee des „Märchens vom erjten Menſchen“. Man Hat doch 
feine liebe Noth mit dem Phantaftiichen, wenn es fich ungenirt in die baare, nüch- 
terne Wirklichkeit eindrängt und es fih da bequem macht, al® gehörte es zur 
Geſellſchaft. Nur als Guriofität mag allenfalls folch eine Hoffmanniade noch einmal 
mit unterlaufen, zumal wenn die Einfleidung, wie hier, mit dev Tendenz nicht Vers 
fteden fpielt. Weitauß die Perle der Sammlung endlich, und wirklich eine treffliche 
Leiftung, erjcheint uns die piychologiiche Studie „Bande de8 Bluts“. Schon das 
Thema ift jo originell als feinfinnig geftellt: Vaterrechte müſſen fittlich erobert 
werden; die „Bande de& Bluts“ geben dazu nur Aufforderung und Gelegenheit, 
aber fie können die fittliche Leiftung nicht erfegen: Ein reicher älterer Herr, einft 
berühmter Schaufpieler, lernt zufällig die Tochter einer feiner verlafjenen Geliebten 
fennen, der er bisher nur Geld geſchickt Hat, ohne fich jonjt um fie zu kümmern. 
Das Mädchen gefällt ihm, die „Stimme des Bluts“ ſpricht, aber leider nur ein— 
feitig. Die im Innerften erbitterte Tochter weift den Mann kurz ab, der daß Leben 
ihrer Mutter und ihre eigene Jugend vergiftet. Dagegen läßt fich nun im Augen- 
blid Nichts machen. Der Alte zieht fich tief gefränkt zurüd, aber er hält fich be- 
trachtend in der Nähe und muß nun fehen, wie ein glänzender Gavalier (ah, Er 
kannte diefe Rolle nur zu gut) bei feiner Tochter den uneigennüßigen „Freund“ 
ipielte. Die Methode, welche er dann anwendet, um den Don Yuan zu entlarven 
und die Tochter zu retten und zu gewinnen, ijt jo genial erfunden ala meifterhaft 
durchgeführt. Es wird Niemand ohne warme TIheilnahme dieje feine Studie Iefen, 
welche tiefſtes deutſches Gemüth mit jener Darftellungskunft vereinigt, auf die andere 
Nationen fich jo gern ein Vorrecht zuichreiben möchten. — 


—— — 


302 Deutſche Rundſchau. 


5. Zwölf Balladen von Felix Dahn. Leipzig. Breitkopf und Härtel. 
1875. 

Felix Dahn hat auf ſeiner Grenzwacht im fernen Nordoſten (er lebt bekanntlich 
ſeit einem Jahre in Königsberg) Muth und Stimmung nicht verloren: deſſen haben 
wir uns beim Genuß dieſer Balladen wieder recht herzlich gefreut. Dramatiſches 
Leben, feſte Zeichnung, kräftiger, gedrängter und dabei doch auch oft genug muſikaliſch 
wirkſamer Ausdruck, Heben fie unter einer Menge zeitgenöſſiſcher Leiſtungen ihrer 
Gattung Sehr vortheilhaft hervor. In der vorliegenden Sammlung haben uns die 
Streuzfahrerlieder der Deutjch-Herrn-Ritter in Preußen bejonders angeiprochen. Welche 
prächtigen Charakterbilder: der xheinifche Ritter Rolf, den Liebesweh aus dem fonnigen 
Rheingau in's ferne Heidenland verichlug, und ſein Schwertgenoß Guzzo von Gauchen 
aus Baierland, den Kaiſer Rudolph zum Kreuzzuge verdammte, weil er — dem 
Biſchof von Salzburg nicht nur einen Weintrangport raubte, jondern ihn auch aus 
Verſehen dabei todtichlug! Der Rheinländer, auf der Winterwaht, an der ei 
Hrachenden Nogat gedenkt jchwermüthig des verlorenen Glücks in der wonnigen 
Heimath: 

Dein Loos, o Herrin, taujenbfalt 
Sei Leben, Glanz und Heil: 
Mein Loos wird doch im Föhrenwald 
Zuletzt ein Polenpfeil. 

Der biedere Baier findet fich Leichter im Norden zurecht: 
Doch mir taugt der tapfre Orden: 
Gleich im Kampf thut’3 uns der Norben, 
Thut's im Trunk uns noch zuvor! 


Nur feine Alpen kann er in dem flachen Nordland nicht vergefien: 


Aber freilich, ganz vor'm Ende 
Möcht’ ich einmal ſchauen noch 
Glüh'n im Abendgold:Geblende 
Eure ſtolzen Schroffen-MWänbe, 
Thorftein und Karwendel: Joch. 


Können’3 ihm nicht verdenken, obgleich es auch mit dem „flachen Moorlande“ 
fo gefährlich nicht ift. — Ein prächtiges Stüd der Sammlung ift noch die „Mette 
von Marienburg“, die Sage von dem wadern Schwabenritter Stauf, der mit dem 
Opfer feines Lebens den Verrath der Ordensburg verhindert, von dem er durch feine 
polnische Geliebte erfährt. — Gin ſchönes und originellee Motiv führt die Ballade 
„Nauſikaa“ aus: die fchöne Tochter des Alkinoos ftürzt fich freiwillig in's Meer, 
um Odyſſeus zu retten, welchem Aphrodite fichern Untergang verfündigt, wenn nicht 
ein freie Opfer für ihn fi dem Tod meiht. — Die Sammlung wird fi) und 
dem Dichter Freunde machen. Friedrich Kreyſſig. 





Kerliner Chronik. 


—— — ꝰ 


Die Theater. — Ludwig Deſſoir. — Neue „Buch“ Dramen. 





Berlin, 15. Januar 1875. 


In den letzten vier Wochen haben jämmtliche Berliner Theater ein wenig er— 
freuliches - Schaufpiel geboten. Die Weihnachtszeit vom 10. Dezember bis zum 
24., dem „heiligen Abend“ ijt in unferer Stadt dem Theaterbeſuch niemald günjtig 
gewejen ; der häusliche Herd, die Familienbeziehungen üben in diefen Tagen die größere 
Anziehungskraft aus. Erſt mit dem Beginn des neuen Jahres, wenn die zwölfte 
Naht, in der die alten Götter zum letzten Mal in Regenmänteln über die Erde 
wanderten, vorüber ift, pflegt fich auf den Bühnen ein frifcheres Leben zu regen. 
Diesmal aber ift dor wie nach diefem Tage Alles in bderjelben Dede und Lang— 
weiligfeit geblieben. Das Stadttheater und das Refidenztheater haben einige franzö- 
fihe Neuigkeiten: „Helene“ von Belot; „Der Sohn der erjten Frau“ von Gadol; 
„Die Heine Marquiſe“ von Meilhac und Halevy ohne Glück verjucht, deren nichtiger 
und bäßlicher Inhalt ſich der Erwähnung entzieht; die flüchtige Infcenirung, das 
überhaftete Spiel der Darfteller thaten das Ihrige, um diefen traurigen Komödien 
einen fchnellen Fall zu bereiten. In der Noth Hat das Wallner- Theater zu der 
älteren Poffe „Die Mottenburger” von dem verftorbenen David Kalifch gegriffen und 
damit wenigſtens ein Tyeittagspublicum gefunden. Neben den Aufführungen claffischer 
Werke, unter denen die Schiller’schen und Shafefpeare’schen obenan ftehen, wechjeln 
im Repertoire der Hofbühne Brachvogel’3 „Alte Schweden” mit Paul Lindau’s 
„Eriolg“ ab. Der letzteren Komödie hat das Liebenswürdige Spiel der Frau Niemann 
in der Rolle der Eva eine gewiffe Zugkraft verliehen. Dagegen vermag Moſenthal's 
„Sirene“ troß des gefälligen zweiten Acts, den ein poetijcher Hauch durchweht, feine 
rechte Wurzel zu faſſen. 

Am Sylvejterabend des Jahres bejcheerte und die Hofbühne, einer alten 
guten Sitte folgend, eine MWeihnachtsgabe von drei Fleinen, einactigen Gtüden. 
Leider war — wie kann es bei ſo ſchlechten und harten Zeiten auch anders 
fein? — die Gabe eine ſehr geringe. Eins von den Stüden: „Am Fenſter“ 
iſt ein alter Faſchingsſcherz von Stein, bei dem die Decoration und die Turnerei 
die Hauptfoften zahlen. Aus dem Fenſter des zweiten Stods arbeitet fich ein 
derliebter Maler mit der Stridleiter auf den Balcon der Geliebten im erſten Stod 
hinab, reitet auf einem Brett von Balcon zu Balcon, um bei einem Gewitter 
wegen unter den bdedenden Regenſchirm zu kommen, und fpringt endlich waghalfig 
in die Tiefe hinunter. Hr. Dehnide ift der geborene Equilibrift der Hofbühne für 
ſolche Stüdchen, er flößt den Zufchauern von vornherein das Gefühl der Sicherheit 
en: es wird Alles ohne Bein- oder Armbruch enden. Das zweite Luftipiel des 
Abends: „Ihr guter Engel erwartet Sie!“ in defien Befit fich zwei Schrift- 


304 Deutiche Rundſchau. 


jteller theilen: ein Graf Yan Alerander Fredro, dem die Idee, und Louis 
von Sapille, dem die Auaführung angehört, ift eine jener unerquidlihen und 
ichwerjälligen Salonplaudereien, in denen die Tranzöfichen Proverbes deutjch-täppiich 
nachgeahmt werden. Die deutfche Sprache ift viel jchwieriger zu handhaben, vor 
Allem in einer Unterhaltung, die Geijt und Wit in der leichteften und anmuthigſten 
Form freigebig austheilen fol, als die franzöfiiche, die zwei Jahrhunderte in uns 
unterbrochener Arbeit zu dem glänzendften Werkzeug des gejellichaitlichen Verkehrs 
geichliffen haben, das jemals vorhanden war. Es kümmt Hinzu, daß die DVerfafier 
unjerer „Salonſtücke“ keineswegs Herren und Meifter der Sprache find, ſondern ſich 
meift mit ihr in einem bejtändigen Kriege befinden. Selbjt ein glüdlicher Einfall 
tritt nur zu oft linkiſch und bäuerifch auf. Das einzige Stüd des Abends, an deu 
man ein herzliches Gefallen haben konnte, war ein Luftipiel von Frau Hedwig 
Dohm: „Bom Stamm der Afra”, eine Iuftige Satire und Garrifaturftudie 
überijpannter junger Frauen und verliebter Geden. Die Frau eines reichen berliner 
Banquiers jehnt fich, gerade weil fie von ihrem „proſaiſchen“ Gatten auf Händen 
getragen wird, nach einer romantischen Liebe „bis zum Tode“. Natürlich in allen 
Ehren, fie will Alles verweigern, aber fich in dem Gedanken beraufchen, einen Xieb- 
baber vom Stamm jener Afra zu befiten, die nach Heine's Gedicht im „Romanzero“ 
fterben, wenn fie lieben. Sie hat das Glüd, gleich mit zwei Aſra's befannt zu 
werden; einer, der in der Schweiz in den Abgrund fpringt, erjcheint im nächjten 
Jahre vollfommen geheilt, im Begriff, fich mit ihrer Freundin zu verloben, in Baden— 
Baden wieder; der andere will fich vor ihren Augen erichießen, aber die Piltolen 
find nicht geladen. Das kleine Stüd Hat eine lange Vorgeſchichte. Den Pijtolen- 
Ara fand Frau Hedwig Dohm nad ihrer eigenen Angabe in einer jpanijchen 
Komödie von Lara dor, zugleich indeilen findet fich die Figur in einer Scribe’fchen 
Komödie: „Ptre aim& ou mourir“, die unter dem Titel „Geliebt oder todt“ wieder- 
holt auf der deutfchen Bühne erjchienen if. Wem von den Beiden, ob Scribe oder 
‚Zara, die Erjtgeburt gehört, vermag ich nicht zu entjcheiden. Frau Dohm hat dur) 
die Verknüpfung der urfprünglichen Idee mit dem Heine'ſchen Gedicht, durch die 
fatirifche Färbung, die fie dem Ganzen gegeben, die Zabel reicher und bunter ge 
ftaltet. Die Scenen entwideln fich natürlich, die Charaktere find in leichten, aber 
beftimmten Linien gezeichnet, bei der Neigung zur poflenhaften Webertreibung der 
fomifchen Situation bleibt doch überall die Grenze der Anmuth gewahrt. Sehr an— 
zuerkennen ift e8, daß die Dichterin, eine der Leidenschaftlichiten VBorkämpferinnen der 
Frauen-Emancipation, die den Mädchen alle Echulen, alle Alademien und Univerfi 
täten — das Parlamentshaus ift felbitverftändlich — Öffnen will, in ihrer Komödie 
der Wahrheit des Lebens Recht gegeben hat: ihre Helene und ihre Camilla befiten 
jene liebenswürdige Unfähigkeit, Geld zu erwerben, die in meinen Augen eine der jchöniten 
Eigenschaften und das beſte Privilegium der Frauen ift. „Was wäreſt Du ohne 
meine Liebe und mein Geld”, jagt der Banquier lachend zu Helene, die jchwermüthig 
an ihren Abgrunds-Aſra denkt. Wie würden ihr diefe Gedanken vergehen, wenn fie 
ala „Frauenarzt“ jungiren müßte! Welche Häßliche, ſehr nügliche, aber auch fehr 
graue Raupe hätten wir da ftatt des zierlichen Schmetterlings vor uns! 

Die Neuigkeit des Friedrih:Wilhelmftädtiichen Theaters, die Operette: „Girofle= 
Girofla”“, die Dienftag, den 22. December 1874 zum erjten Male aufgeführt wurde, 
wird die richtige Beurtheilung von Seiten des fundigen Mufifreferenten erfahren, 
denn viel ſtärker als in den DOffenbach’ichen Opernpofjen tritt in ihr das dramatijche 
Element vor dem mufitalifchen zurüd. Das Libretto der Herren Albert Banloo 
und Eugene Leterrier ift eine Mifchung von Kinderei und Frivolität; langweilig 
dreht fich durch drei Acte der ganze Scherz um eine Braut, die zwei Männer bat. 
Girofle und Girofla find ein Zwillingsichweiternpaar, einander fo ähnlich, daß die 
Mutter jelbft fie nur durch die verichiedenen Farben ihrer Gewänder unterjcheiden 
fann: an einem Tage follen beide verheirathet werden, die eine mit einen reichen 
Handelöherrn, die andere mit einem maurifchen Häuptling. — Die Gefchichte jpielt 


Berliner Chronik. 305 _ 


nämlich, des Koſtüms wegen, in Spanien, im dunfelften Mittelalter. Am Tage der 
Hochzeit wird Girofla von Korſaren geraubt: Girofle muß fich darein ergeben, zuerjt 
dem Kaufmannsfohn, dann dem Mauren — einem burlesfen Othello — ich an— 
trauen zu laſſen. Zulegt wird die Geraubte wieder in das Schloß ihres Vaters 
heimgebracht und das Ganze endet wie e8 angefangen, kindiſch, aber luſtig. Weit 
tritt diefe Yabel vor der Handlung in „Madeinoifelle Angot“ zurüd, die neben einer 
gefälligen VBerwidelung ein anziehendes Bild des Parifer Straßenlebeng, der jeunesse 
doree, der Ränke und Verichwörungen in den Salons gegen die Regierung des Di- 
rectoriums entfaltete. An „neuen“ Decorationen und Koſtümen war in dem ſpani— 
ihen Schloß des Don Bolero d’Alcarazas kein Mangel, dagegen fehlte viel daran, 
daß dieje mit jehr mäßiger Phantafie entworfenen Koftüme auch nur annähernd die 
Gigenthümlichkeit und die Realität der Koſtüme in „Mademoijelle Angot“ gehabt 
hätten. Ob die Mufif des Herrn Charles Lecocg in „Giroflé-Girofla“ Fort— 
oder Rückſchritte gemacht hat, muß ein Anderer enticheidten Am Allgemeinen wird 
man fich der Erkenntniß nicht verjchließen können, daß auch diefe „Blüthe“ am Baum 
der dramatifchen Kunſt zu welfen beginnt. Die Offenbadhiade, ein Parijer Kind 
aus der Zeit des kaiſerlichen Faſchings, hat ihren Reiz verloren, wie die Berliner 
Pofe. Die Perlen des Genre „Orpheus in der Unterwelt“, „Die jchöne Helena”, 
„Die Großherzogin von Gerolftein“ fiegten, wo fie erfchienen, anfänglich in jehr be— 
Iheidener Ausftattung; ihr Wiß, die Parodie des Erhabenen, die zuweilen darin mit 
dämoniichem Hohn ausgeführt wurde, ala wäre in die luftigen Narren des Carnevals 
etwas von Mephiftopheles gefahren, die phantaftifche Umkehrung der Welt, die fich 
in ihnen vollzog: das erjtaunte, das feſſelte. Scherz und Spott waren ihre bejten 
Waffen und wenn die Grazien entflohen oder ſchamhaft ihr Geficht verhüllten, blieb 
wenigftens ein Dämon auf der Bühne, ein Dämon, der ein ungeheuerliches, Halb 
Rabelais’sches, halb jatanisches Gelächter aufichlug. Die Nachahmer Offenbach's 
haben nur feine Leichtfertigkeit, feine zweideutigen Gefchichten, die äußerliche Mache 
geerbt, der „Spiritus“ ift weg. Die Giftblume Hat fich zu üppig entfaltet und eins 
nach dem andern fallen nun die Blätter ab. Der Aufwand der Ausftattung, die 
Schauftellung weiblicher Schönheiten erheitern eine Weile ein genußfüchtiges Pu— 
blicum, auf die Sauer halten fie nicht vor. 

Mit diefem mageren Bericht über Nichtigfeiten mag ich meine Chronik nicht 
ſchließen. Der Leier geftatte mir, ihn an ein Grab zu führen, das fich vor Kurzem, 
in den Mittagsftunden des 2. Januar, über eine Berühmtheit der deutjchen Schau- 
ipieltunft, über Ludwig Deſſoir geichloffen hat. Im eigentlichjten Sinne des 
MWorts war er „unfer”. Gegenüber den umberziehenden Virtuoſen der Schaufpielkunft 
gehörte Deffoir zu den jehhaften Künſtlern; zehn Jahre lang 1839—1849 it er 
Mitglied der Carlsruher, dreiundzwanzig Jahre 1849 —1872 eine Säule und Zierde 
unferer Bühne geweien. Nur als Jüngling ift er hin und ber gewandert, an— 
länglich mit umberziehenden Schaufpielergefellichaiten, die in den zwanziger Jahren — 
Deffoir ift amt 15. December 1810 in Poſen geboren und hat ald vierzehnjähriger 
Knabe zuerft die Bühne feiner Vaterftadt betreten — noch zahlreicher und für die 
Entwidlung der Schaufpieltunft bedeutjamer waren, als jet, dann in berjchiedenen 
Engagements, in Leipzig, Peſth, auf mancherlei Gaftipielreifen. Vom tragijchen 
Helden trat er, als ihn Herr von Küftner am 1. October 1849 an unfere Bühne in 
die durch Seydelmann's und Hoppe’3 Tod verwaiſte Stellung berief, in das Fach 
des Gharakterfpielerd über. Als Darfteller Richard's III., Othello's, Macduff’s, 
Coriolan's in den Shakeſpeare'ſchen, Geßler's, Talbot's und Buttler's in den Schil— 
ler'ſchen, Marinelli's und des Derwiſch's in den Leſſing'ſchen Dichtungen, als Herzog 
Alba im „Egmont“, Carlos im „Clavigo“, endlich oder vielmehr zuerft als Brach— 
vogel's „Narziß“, als die einzig echte und wahre Verkörperung jenes wunderlichen 
Geichöpfes, halb der Wirklichkeit, Halb der Phantafie, das Diderot den „Neffen Ra— 
meau’3” genannt hat, auf der Bühne, wird Ludwig Deffoir in der Geſchichte der 
deutſchen Schauſpielkunſt fortleben. Sein reiches Repertoire umfaßte mehr ala hun— 


306 Deutſche Rundſchau. 


dert Rollen, die verſchiedenſten Charaktere, doch gehörten nur wenige dem Luſtſpiel 
an, der durchgehende Zug war der tragiſche. Ludwig Deſſoir iſt zuſammen mit ſei— 
nem Kritiker Theodor Rötſcher groß geworden, in beiden war die Analyje der poeti— 
ichen Geftalten, der Scharffinn und Scharfblid des Verſtandes ftärler als die Ein- 
bildungsfraft und die Leidenfchaft. Bon der Natur mit mäßigen Mitteln begabt, 
weder durch eine hervorragende förperliche Erfcheinung noch durch ein wohlflingendes 
Drgan ausgezeichnet, verdankte Deſſoir Alles feinem Geifte. Unmillfürlich beugte ſich 
der Zufchauer, vor Allem der gebildete, der geiftigen Weberlegenheit, die ihm in dem 
Künjtler entgegentrat. Mit einem rafchen und glüdlichen Zuge wußte er den Umriß einer 
Figur zu zeichnen, mit einem Wort, einer Geberde eine Charaktereigenſchaft anzu— 
deuten. Wie wenige Schaufpieler, bejaß er die Gabe, uns an die Xeibhaftigfeit 
feiner Geftalten glauben zu machen. Nie ftieg in uns ein Zweifel an feinen Ty- 
rannen, an feinen Berjchworenen auf; wenn er ala Verrina, als Brutus auftrat, 
wehte uns etwad wie der Schauer vor republifanischer Tugend und Düſterkeit 
an, gleihwie um feinen Galigula in Halm's „echter von Ravenna“ die ganze 
Wolke von Blut und Rauſch, von ungezügelter Genußfucht und imperatoriihem 
Größenwahnfinn zu fchweben jchien, welche die Atmojphäre der römischen Kaiſerzeit 
bildet. Bergleiht man die Schöpfungen Bogumil Dawiſon's mit denen Deſſoir's — 
ihrer Mehrzahl nach gehörten fie demjelben Rollenkreiſe an — So erjcheinen fie jar- 
biger, prächtiger, beweglicher, Deffoir malt Grau in Grau; er ift der Gartonzeichner, 
dem die richtige Linie, die ideale Auffaffung als das Höchite gilt; Dawijon it Der 
Kolorift, der um einen blendenden Tyarbeneindrud zu erzielen bier den Dichter will: 
fürlich außlegt und ändert, dort die Einfachheit der Wahrheit durch fünftliche Lichter 
und Schatten beeinträchtigt. Defjoir’3 Figuren Hatten immer das Maß und den 
Ausdrud, die Form und Haltung, die ihnen die Dichter gegeben: fie lebten wol, 
aber ein dürftiges Leben, wie in dev Dämmerung. Darum war er in der Darftellung 
von Geitalten, die wie Buttler und Herzog Alba, Talbot und Macduff nicht im 
Vordergrund der Dichtung jtehen, jondern troß ihrer Bedeutung im Zuſammenhange 
des Ganzen nur eine und die andere Scene erfüllen, im Grunde glüdlicher, friſcher 
und vollendeter. Die Farben, die er auf feiner Palette hatte, reichten gerade für 
den geringeren Umfang aus. Sein Talent des Zujammendrängene, das Scharfe, 
Edige, Schneidige in ihm, die tiefe Annerlichkeit ſeines Weſens und jeiner Kunſt, 
die ihm dor Andern den Beinamen eines dentenden Schauspielers verichafft haben, 
famen bier zur vollen, zur mächtigjten Geltung. Es trat hier nicht wie bei den 
großen Rollen eine gewifje Pauſe zwiſchen den hervorragenden Stellen ein. Neben 
Richard III. und Dthello, den ſogar die Engländer, bei einem Gaſtſpiel Deſſoir's 
im Jahre 1853 in London, bewundernd der Daritellung ihrer Shalejpeare-Spieler 
dorzogen, iſt Narziß die populärfte Figur des Künſtlers geworden. Das Urtheil des 
Volkes bat Necht; überall font zeigte fich Defjoir ala ein bedeutendes jchaujpiele 
riiches Talent, in Narziß erichien fein Genius. Zwiſchen Narziß Rameau und 
Deffoir gab es eine geheime Wahlverwandtichait; aus diefem zerlumpten, witzſprühen- 
den, weltverachtenden und zugleich den Genuß und die Schönheit Liebenden Bettler, 
der abwechjelnd ein Narr und ein Weiſer, da3 edelmüthigſte und hochfinnigfte Herz 
und ein frecher Meaterialift ift, Iprach etwas, das in des Künſtlers Seele einen 
wunderbaren Widerhall werte. Aus diefer Wahlverwandtichaft ging eine Geitalt 
hervor, in der ſich Natur und Kunſt in jelten glüdlicher Miſchung zu einer harmo— 
nischen Einheit durchdrangen. Jahre lang, bevor am 30. Dezember 1874 in der 
Morgenfrühe ein Herzichlag dem Leben und der Krankheit Deſſoir's ein Ende machte, 
war er der Kunſt geitorben. Don einem jchweren Nervenleiden, das ihn im Jahre 
1867 ergriff, hat er fich nie wieder ganz erholt. Seine Thätigkeit erlitt durch die 
Anfälle des Uebels bedenkliche Unterbrechungen, fein Organ wurde rauher und 
beijerer, feine jonjt jo gedrungene Haltung brach fichtlich zufammen. In der Role 
des Talbot hat er am 10. Juni 1872 von der Bühne, die jo lange die Stätte 
feiner Triumphe gewefen, für immer Abjchied genommen. Damals haben wir den 


Berliner Chronik. 307 


Künftler verloren, für den Menſchen war der friedliche und fchmerzlofe Tod eine 
ſanfte Erlöfung. 

Der geringe Beſuch der Theater, die Theilnahmlofigleit des Publicums gegen- 
über Allem, was mit der Bühne in Verbindung fteht, die Unfruchtbarkeit und Lang- 
weiligfeit diejes ganzen Treibens, das fich fort und fort in immer audgefahreneren Ge— 
leifen bewegt, machen es den Direktoren allmälig zu einer Pflicht der Selbterhal- 
tung, fi mehr als bisher um das wichtigfte Erforderniß für ein Theater zu 
bemühen, um — jo alltäglich e8 Klingt — neue Stüde. Die Bedenken, die fich vom 
praftifchen Standpunkte gegen die Buchdramen-Literatur erheben, habe ich in meinem 
jüngften Berichte erwähnt; die Dichter haben jogar gefunden, daß ich zu ftreng 
gegen fie gewejen bin. Daß in diefen Dichtungen dramatiiches Gold vergraben liegt, 
gefteht Feder gern zu, der einen Blick hineingeworien. Die Commijfion, die den 
preußifchen Schiller-Preiß zu ertheilen bat, pflegt, mit einer gewiſſen Ausſchließlich— 
keit, in diefem vornehmeren Kreife der dramatifchen Literatur allein ihre Wahlen zu 
treffen und das eigentliche, in Eturm und Wetter erprobte Bühnenftüd außer Acht 
zu laffen. Nacheinander bat fie Hebbel's „Nibelungen“, Lindner's „Brutus und 
Collatinus“, Geibel’8 „Sophonisbe“, Kruſe's „Gräfin“ rühmend hervorgehoben : 
Dramen, die über eine mäßige Bühnenwirkfung nicht hinausgefommen find und in 
diefer Beziehung auch nicht entfernt einen Vergleich mit Benedir’ „Zärtlichen Ver— 
wandten“ oder mit Moſer's „Stiftungsfeſt“ aushalten. Man darf mit Recht auf 
die Entjcheidung gefpannt jein, welche die Commiſſion in diefem Jahre treffen wird, 
wahricheinlich wird fich wieder der tiefe Gegenſatz offenbaren, der die Anfichten der 
Aethetifer von der realen Bühne trennt. Im lebtverfloffenen Triennium haben die 
drei Stüde Paul Lindau’s3: „Maria und Magdalena”, „Diana“, „Ein Erfolg“ alle 
deutjchen Bühnen beherriht — aber es ijt ebenjo gewiß, daß fie jtrengeren Kunſt— 
anforderungen nicht genügen, am wenigjten, wenn man fie mit den bisher gefrönten 
Werken in eine Parallele ziehen wollte. Wie Recht hatte Karl Gutzkow, ala er dem 
Schiller-Preife jeden Einfluß auf die Wirklichkeit und Praris der Bühne abſprach! 
Wenn ich jebt aus der Fülle der Fürzlich erfchienenen Buchdramen einige heraus— 
greife, jo geichieht es durchaus nicht in der Abficht, fie zu einer Aufführung zu 
empfehlen — ich fühle viel zu tief, daß einem Werfuch diefer Art erſt eine Bearbei— 
tung und theilweife Umfchmelzung der Dichtung vorangehen müßte — jondern um 
dem Publicum die Gedanken, Gejtalten, Stoffe kurz anzudeuten, in denen fich der 
tragische Nachwuchs Schiller’3 bewegt. 

Bedeutende Namen finden fich darunter. Heinrich Kruje erjcheint mit einer 
fünften Tragödie „Brutus“; von dem bier vorangegangenen find zwei „Die Gräfin“ 
und „Wullenwever”“ auf der Hofbühne aufgeführt worden, die beiden anderen „König 
Erich“ und „Mori von Sachſen“ find bis jetzt Buchdramen geblieben. Mit ſcharfem 
Auge und Lebendiger Empfindung für das Hiftoriiche vereint fich in dem Dichter eine 
friiche, geftaltende Kraft, der dramatifche Zug. Seine Trauerjpiele find weder No— 
vellen in dialogiicher Form noch rhetoriiche Augeinanderjegungen und Zweilämpfe: 
es ijt Leben in ihnen und Realität. Daß eins derjelben einen durchichlagenden Er— 
jolg errungen hat, finde ich einerjeits in der Wahl der Stoffe und dann in der Ab— 
neigung des Iheaterpublicums gegen die Tragödien moderner Dichter. Die alten 
Bäume dverfümmern dem Nachwuchs Licht und Luft. An fich betrachtet ift Kruſe's 
„Brutus“ eine marfige, von Hiftoriichem Geifte erfüllte Dichtung: in fich geichloffen 
ihreitet die Handlung unauihaltfam zum Ziel; im vierten Acte überftürzen fich die 
Greigniffe im bunten Scenenwechſel — auf dem Forum, auf einer Ziberinjel, am 
Ufer des Hellespont fpielen fie fid ab — aber man verliert die Hauptfigur darüber 
doch nicht ganz aus den Augen; die Gharaktere treten plaftiich vor uns Hin, die 
Sprache ift edel und ſchwungvoll, im Antonius gar zu modern gefärbt, was meinem 
Getühl in der hohen Tragödie mwiderjtrebt; im Ganzen ein wohlgelungenes® Wert. 
Aber ich fürchte, den meijten Lejern wird es wie mir ergehen: fie werden die Erin- 
nerung an Shafejpeare'3 „Julius Cäfar“ nicht loswerden. Don einer Nahahmung 


308 Deutiche Rundſchau. 


fann feldjtverftändlich nicht die Rede fein: dem britifchen wie dem deutjchen Dichter 
ftanden diejelben Duellen zur Verfügung. Damit ift indeffen auch der neuen Dichtung 
die Originalitit verloren gegangen. Diefelbe Handlung wie im Gäfar rollt, mit 
kleinen Unterichieden, vorüber, und wenn es Kruſe gegenüber Shafeipeare „nicht geht, 
wie Marcus Antonius, der in Cäſar's Gegenwart feinen Geiſt eingejchüchtert und 
gedrückt fühlte“ — fo ift dies eine Empfindung, die ich begreifen, aber leider nicht 
theilen kann. 

Einen ähnlichen Eindrud habe ich von Arnd's „Kriembild“ empfangen, die 
jüngft in Weimar, wie man berichtet, -die Feuerprobe einer theatraliichen Aufführung 
qut beitanden. Wie Kruſe mit Shatefpeare’3, kämpft Arnd mit Hebbel’8 Schatten. 
Seine Tragödie behandelt den lebten Theil der Hebbel’ichen „Nibelungen“. Sie be 
ginnt, wie die Hebbel’3, mit der Werbung Etzel's um Kriemhild und fchließt mit 
dem Untergang der burgundijchen Helden. Die Dichter vergeffen ganz, daß an ſolchen 
vielfach bearbeiteten Stoffen nur Einzelheiten noch zu ändern find, der getwaltige 
Blod bleibt immer derfelbe. Bei Hebbel wie bei Arnd fchließt der dritte Act mit 
dem Gejang oder dem Geigenfpiel Volker's, die beiden letzten find bei beiden Dichtern 
von den Kämpfen zwilchen Heunen und Nibelungen erfüllt, denen meiner Meinung 
nach jede tragische Erichütterung fehlt, e& find eben epiſche WVölkerfchlachten, wie die 
Gefechte der homeriſchen Helden, wie Kaulbach's Hunnenſchlacht, die Bühne ift mit 
Blut überſchwemmt. Betrachtet man dann die fräftige Anlage und fichere Durch: 
führung diefer Redengeftalten bei Arnd, die ftraffe Führung der Handlung, der fo 
gar, was bei einer Eritlingsarbeit hoch zu ſchätzen ift, ein gewiſſes Talent für theatra- 
liiche Effekte nicht abgeht, die gebildete Sprache, die im freien Rhythmus fich im 
Allgemeinen ficher und eigenthümlich bewegt: jo bedauert man, daß der Dichter einen 
Stoff ergriffen Hat, den feine Kunſt jemald dem modernen Geſchmack und Gefühl 
Iympathifch zu machen vermag. Iſt e8 denn fo jchwer, feiner Zeit zu dienen, fo 
nutzlos und unrühmlich, ihre Gedanken und Stimmungen zu einem harmonijch vollen: 
deten Ausdruck zu bringen ? 

Ein jehr merkwürdige Stüd ift Felir Dahn's „König Roderich“. Der 
Untergang des wejtgothifchen Reiches in Spanien durch den Anfall der Araber bildet 
nur den großartigen Hintergrund, den eigentlichen Inhalt giebt der Streit zwifchen 
weltlicher und geiftlicher Gewalt, zwifchen dem König Roderich und dem Erzbificho! 
Sindred von Toledo, dem Staate und der Kirche ab. In ihrem Gegenſatz gegen 
den König, der Reich und Bolt von dem lebergewicht der priefterlichen Herrſchaft 
befreien will, jchreitet die Kirche, der Primas und feine Bilchöfe, big zum Landes 
verrath tüdifch und verwegen vor. Sindred überliefert dem mauriſchen Abgejandten 
die Pläne aller feſten Städte, die Liſten des Heerbanns; in der entjcheidenden Schladt 
verflucht er den König und Taufende von Kirchenlnechten verlaffen das Lager ihres 
Volkes, um zu dem Feinde überzugehen. Diefen Priejtern ift der Ungläubige will 
fommener, als der ſtarke König, der Islam lieber, ala das Geſetz eines freien Volkes. 
Nun ift Freilich diefer Gegenfag im Gothenreich kein hijtoriicher, jondern ein frei erw 
fundener, aber der Dichter Hat dadurch den epiichen Charakter jeines Stoffes — bie 
Befiegung der Gothen durch die Araber — bis zu einem gewiſſen Grade in einen 
tragifchen umgewandelt. Die Sage von der jchönen Gava, der Tochter des Grafen 
Sulian, für die der König in leidenschaftlicher Liebe entbrannte, die er verführte, 
deren Schmach dann den Vater zum Werrath gegen Fürſten und Vaterland trieb, 
ließ fih in leichter Umdichtung dem durchgehenden Motiv einflechten. Wider den 
Willen des Vaters tritt, in Dahn's Trauerfpiel, Cava, um nicht einem ungeliebten 
Manne die Hand reihen zu müffen, in ein Nonnenklofter: der König entreißt fie, 
auf die Klage des Vater gegen den Erzbiſchof Sindred, gewaltfam dieſem Aiyl. 
Aber indem er jo dem väterlichen Recht der Kirche gegenüber Geltung verichafft, beugt 
er es zu feinen eigenen Gunſten. Trotz Julian's Einſpruch verbindet er fich mit 
Cava und erklärt fie zur Königin der Gothen. In Roderich fucht Dahn, unter der 
Maske des weitgothijchen Helden, den modernen Staatsgedanken zu verkörpern: kühn, 


Berliner Chronik. 309 


verichlagen, gewaltthätig weiß Roderich allen Anjchlägen und Liften der Bifchöfe zu 
begegnen; er überwindet ihre Schlihe und Lügen, er entgeht den Wurfjpießen ihrer 
Mörder, aber der Zorn reißt ihn in diefem Kampfe über die Grenze der Gerechtigkeit 
binweg. Diejer Uebermuth des Königthums, die einjeitige Betonung der ftaatlichen 
Prliht und des jtaatlichen Recht? machen jeine tragiiche Schuld aus. Schade, daß 
der Proceß nicht rein zu Ende geführt wird. Die Ginmifchung der Araber in den 
inneren Streit, das Schlachtgewühl bei Xeres de la Frontera find, wie gejchidt fie 
auch der Dichter mit jeiner Handlung verbunden Hat, epiiche Momente. Das Ganze 
baut fich jtattlich und prächtig auf: Kathedralen, Königspaläfte, weite Plätze, Schlacht: 
felder wechjeln mit einander ab. Der VBerfammlung in der Kirche zu Toledo, welche 
die Königswahl vollzieht, jchließt fich fajt unmittelbar eine Volksverſammlung vor 
den Palafte an. Eine Reihe großartiger Schaufpiele und eigenthümlicher Bilder, in 
denen der Gegenſatz der Ritter und der Biichöfe, der Weltlichkeit und der Geiftlichkeit 
auch zu einem ergreifenden malerischen Ausdrud kommen könnte, entrollt ſich vor uns. 
Unmillfürlich gedenkt man bei der Lektüre der Aufführungen, welche die Meininger 
im Friedrich» Wilhelmftädtifchen Theater von Julius Cäſar, Sixtus V., der Blut— 
hochzeit veranftalteten ; diefe ebenſo reiche wie hiftorifch treue Ausjtattung, die mächtige 
Bewegung der Maffen: all’ dies jchwebte dem Dichter vor. Wie e8 vorliegt, eignet 
fih das Trauerſpiel faum zu einer Bühnendarftellung; nicht nur überfchreitet es die 
Zeitdauer, die eine Theatervorjtellung in Anfpruch nehmen darf, mit feinem häufigen 
und außerordentlich ſchwierigen Decorationgwechjel ftellt e8 auch allzugroße Anfor— 
derungen an die Kräfte einer zweiten, der meilten erften Bühnen. Aber e8 verdiente 
wol wegen jeine® Gehalts, feiner eigenartigen Charaktere, die gerade dem Schau 
jpieler anziehende und „danfbare” Aufgaben bieten, wegen feiner mannigfach be- 
wegten, überrafchenden und feffelnden Scenen, daß ein geſchickter Regiffeur e8 der 
Bühnentvirklichkeit anzunähern verſuchte. In der Lektüre, glaube ich, wird ed auf 
jeden gebildeten Leſer einen nachhaltigen, die Phantafie anregenden Eindrud ausüben. 
Karl Frenzel. 


Wiener Chronik. 


Opern und Goncerte. 
Wien, Mitte Januar 1875. 

Mufitalifchen Gefprächaftoff bietet derzeit das Hofoperntheater durch das Gaſt— 
ipiel von Pauline Lucca und die Aufführung des „Manfred“ ; fodann in kleinerem 
Genre dad Garltheater durch Lecocq's Singipiel „Girofl&-Girofla“, endlich die 
Komifche Oper durch allerlei neue VBerfuche, ihr Leben zu friften. Bon alledem dürfte 
wol Einiges auch für einen entfernteren Leſerkreis von Intereſſe jein. 

Pauline Lucca it von der Komijchen Oper nunmehr als Gaft in dad Hof-— 
operntheater überfiedelt. Sie hat dajelbjt die Margaretha von Gounod und die 
Afritanerin von Meyerbeer gejungen, zwei bedeutende Leiſtungen, groß angelegt, 
geiftreich ausgeführt, Alles bis in den Eleinften Zug durchdacht und vortrefflich ge= 
madt. Manchmal jchien mir das Durchdachte und Gemachte fogar allzuſtark vor— 
zufchlagen. Ich kann nicht leugnen, daß mich Frau Lucca in dem Eleinern Rahınen 
der Komiſchen Oper noch volljtändiger befriedigte, in Heiteren Rollen herzlicher erfreute. 
Noch unbekannt mit ihren tragischen Parthien, ſprach ich bei Gelegenheit der „Luftigen 
Meiber” im vorigen Heft der „Deutichen "undichau” die VBermuthung aus, Frau 
Fluth repräfentire allem Anfcheine nach die frifchefte und eigenthümlichite Seite des 
Talentes von Frau Lucca. Ihre Zerline und Angela leuchteten ala Strahlenbrechun— 
gen dejjelben Lichtes. Im tragifchen Fach entfaltete Pauline Lucca mehr ihre Kunſt, 
im heitern mehr ihre Natur. Letztere begegnet in der Großen Oper doch einigen 
Heinen Hemmungen. Ganz abgejehen von ihrer nur mittelgroßen Geftalt, welche 
eine Zerline getreuer repräfentirt ald eine Selica, hat dad Drgan der Lucca in 
Rollen wie diefe, einen großen Kraftaufwand zu beftreiten. Die Stimme dringt 
zwar überall kräftig durch, mit ihr aber zugleich ein Zug von Anftrengung, welcher 
die hohen Töne von G aufwärts? im Forte häufig jchrill erjcheinen läßt. In der 
Komiſchen Oper theilten fich das Heine Haus und die heitere Gattung in das Verdienit, 
ſolche Anjtrengung nicht zu veranlaffen. Ferner findet die Neigung der Frau Lucca 
zu breiter, nachdrüdlicher Behandlung der Phraje und häufiger Verzögerung des Zeit- 
maßes ein weites Feld gerade in den Aufgaben der jeriöfen Oper. Dadurch geräth 
manche Stelle ins Schleppende und Forcirt-Pathetiſche. Ich erinnere an ihre auf- 
fallend langjamen Tempi in dem Duett mit Fauſt, in den jentimentalen Melodien 
der Selica, namentlich im fünften Act. Die Auffaffung der Celica durch Frau 
Lucca gilt freilich für eine Art authentijcher Interpretation, da fie die Parthie mit 
Meyerbeer jelbit ſtudirte; troßdem darf und muß die Kritik auf den Urtert zurüd- 
gehen. Intereſſant und anregend wirken alle Scenen diejer geiftvollen Künftlerin in 
der „Airifanerin” wie im „Fauft“. Jedes Detail ift bis zur Beugung des fleinen 
Fingers durchdacht, ftudirt, unabänderlich Teftgeftellt; etwas von dieſer abfoluten 
Sicherheit gäbe man mitunter gerne Hin für eine kleine Injpiration des Zufalle, für 


Wiener Ehronif. 311 


den Reiz des Unbewußten. Ob ihre Selica, ob ihr Gretchen den Vorzug verdienen ? 
Die Meinungen dürften getheilt fein. Gretchen wirkt infofern ftärfer und gefälliger, 
ala die Rolle jeclenvoller, überzeugender, muſikaliſch reiner ift, als die Afrikanerin. 
Die Gretchen-Rolle ift jo dankbar, daß fie e8 in höherem Sinne bereits zu fein aufs 
hört; es befitt nämlich jede Stadt und jedes Städtchen feine Lieblings- Margarethe, 
welche dort für unübertrefflich gilt. Kommt nun eine fremde berühmte Künjtlerin, 
jo findet fie gerade als Margarethe die größte Schwierigkeit, den einheimijchen Lieb- 
ling zu verdunfeln. Auch auf mich Hat Frau Ehnn mit ihrer üppigen, warmen 
' Stimme und ihrer leidenfchaftlicden Innigkeit in den Liebesfcenen des dritten Actes 
tieferen Eindrud hervorgebracht, ala die Lucca, deren Vortrag hier, bei aller Kunft, 
durch eine gewiſſe Kühle und Weberlegenheit befremdete. Hingegen intonirt Frau 
Lucca, zur bejonderen Freude des Muſikers, immer rein und richtig, was man be= 
fanntlih von Frau Ehnn nicht behaupten kann. Unübertrefflih wahr und einfach 
gibt die Lucca die erite Begegnung mit Fauſt, die jo häufig zu gezierten Minauderien 
mit endlojem Sitenbleiben auf „ungeleitet“ u. j. w. mißbraucht wird. Ebenfo jchlicht 
und ſchön Elingt aus ihrem Munde das Lied vom König von Thule. Den Glanz- 
punkt dramatifcher Wirkung erreicht die Lucca in der Domfcene; die folternde Seelen- 
qual des betenden Gretchen kann nicht ergreifender gemalt werden. Nur den jchnei- 
denden Aufichrei, mit dem die Lucca plößlich niederftürzt, hätte ich Lieber weggewünſcht. 
Er ift allerdings in der Rolle vorgejchrieben (nicht bei Goethe, aber bei Gounod) 
und joll wol das Anbrechen des Wahnfinns bezeichnen; der Eindrud bleibt troßdem 
nur der eines grellen Theater-Effectes. Meijterhaft jpielt fie die Wahnfinnsjcene im 
Kerker. Die dramatijchen Funken und Blite der Selica können gar nicht aufgezählt 
werden; häufig gab es auch ein Leuchten ohne innere Wärme. Am hervorragendjten 
war das Spiel der Yucca mit Nelusco im Kerker und mit Vasco im vierten Act. 
Zu Anfang des fünften Actes hat Frau Lucca die ſchöne Gantilene in C-dur: „Du 
Zempel, reich und Herrlich”, wieder rejtituirt, welche hier in der Regel weggelafien 
wird. — 

Ein theatralijches Greigniß ſeltenſter Art erlebten wir an der vollftändigen 
fcenifchen Aufführung von Byron’3 „Manfred“ im Hofoperntheater. Lange 
Zeit hindurch war die „Manfred“: Mufit, in welcher Schumann’s bejte Jugendkraft 
noch einmal, an der Neige feines Wirkens, groß und geläutert aufflammt, nur in 
Goncerten gegeben worden, bis man in Weimar (1852), dann in Yeipzig (1863), 
endlich in München (1873) den Verfuch einer theatralifchen Darftellung des Drama’a 
wagte. In München geitaltete fich die Wirkung wenigftens theilweije befriedigend, 
an den beiden andern Bühnen verjagte fie dergeftalt, daß die Leipziger Mufikzeitung 
jeinerzeit von einem „Taft peinlichen Eindruck“ berichten fonnte. Eine vollendete Re— 
production diejes Werkes jtellt ganz ungewöhnliche Anjprüche an die declamatorifche, 
mufifaliiche und fcenifche Kunft. Nur bei einem Zuſammenwirken jo vieler ausge— 
zeichneter Kräfte, wie fie das Wiener Hofoperntheater zu diefem Zwecke vereinigte, 
vermag „Manfred“ einen reinen und tiefen Eindrud zu machen; dann aber macht 
er ihn ohne Frage. Vom Größten bis zum Kleinjten wurde hier Alles mit rühmens— 
werther Sorgialt und Hingebung geleijtet; die erjten Mitglieder des Hojoperntheaterg: 
Ehnn, Duſtmann, Materna, Wilt, Dillner, Gindele, dann Bed, 
Walter, Rokitansky, Bignio, Mayerhofer und Andere, begnügten ſich 
mit Rollen von wenigen Tacten oder Worten. Das größte Lob werden fie wol Alle 
dem Director Herbed gönnen, dem trefflichen muſikaliſchen und dramatırgifchen 

Seiter des Ganzen. Sein Tactſtab elektrifirte das Orcheſter, welches namentlich die 
Ouvertüre, eine der jchwierigiten Inftrumental-Aufgaben, in bisher unerreichter Voll 
endung ausführte. Auf der Bühne überragte der Hoffchaufpieler Lewinsky als 
Manfred alles Uebrige. Manfred ift nicht nur weitaus die größte, er ift geradezu 
die einzige Rolle in diejem jeltfamen Drama; Lewinsky, dafür wie präbeftinirt, fpielt 
und jpricht fie bewunderungswiürdig. Seine unvergleichliche Kunjt in klarer Aus— 
einanderjegung der Rede, jein xhetorifcher Schwung, der fich niemals zu vrahleriſcher 
Dentſche Rundſchau. I, 5. 21 


313 Dentiche Rundichau. 


Declamation aufbläht, Tondern ftet3 von Herzenswärme durchftrömt, von geiftiger 
Kraft getragen ift; fein echtes, von Verzerrung wie von eitler Ziererei gleich unbe: 
rührtes Gefühl, feine ganze Perjönlichkeit — Alles wirkte zufammen, um und Man- 
fred, diefen unglüdlichen Virtuoſen der Gelbjtquälerei, nicht nur begreiflich, ſondern 
ſympathiſch und Liebenswerth zu machen. Schon um diejer Einen Leiftung willen 
follte man den „Manfred“ wenigſtens alljährlih Einmal aufführen. Ohne Schu: 
mann's Tondichtung dürfte das Drama, troß all feines Gedankenſchatzes, wahrichein- 
lich fcheitern; aber diefe Muſik verſchmilzt jo innig mit der Grundftimmung defjelben, 
breitet über die bedenklichjten Stellen Hier einen jo berüdenden Glanz, dort ein fo 
verflärendes Mondlicht, daß der Eindrud zu den ergreifenditen wird, die wir im 
Theater erlebten. Und doch iſt Byron's Gedicht ala Bühnenjtüd fehlerhaft, wunder 
lich, abſtrus; kaum daß die Kritik weiß, wo fie mit ihrem gewöhnlichen Rüftzeug 
anfangen, wo aufhören joll. Das ganze Drama bildet Einen langen Monolog Man: 
fred' 8, den nur zeitweilig ein kurzes Echo bejtätigend oder äffend unterbricht. Blos 
in wenigen furzen Sätzen des Anfangs und des Schluffes find es menfchliche Laute, 
welche dies Echo jpenden: der Alpenjäger, der Abt, der alte Diener. Im Uebrigen 
lauter Geifter abenteuerlichjter Art, mit denen Manfred verkehrt, fie rufend und 
meijternd, Halb Menſch, Halb einer der Ihrigen. Ein edler, von räthjelhafter Schuld 
bedrüdter, mit Zauberfünjten bewehrter Sterblicher, der jterben will und nicht fterben 
fann. Ein Zwillingsbruder Fauſt's, wie ſchon Goethe ſelbſt ihn genannt und aner— 
fannt — aber ein Fauft ohne Gretchen, ohne Valentin und Mephifto, ein Fauft ohne 
Dfter-Spaziergang, ohne Auerbadh’3 Keller, ohne Frau Martha’ Gärtchen! Nur 
eine Walpurgisnacht in noch graufigerer Höllifcher Umgeftaltung finden wir in dieſem 
Byron’schen Fauft-:Drama wieder. Von den „zwei Seelen“, die in Fauſt's Bruft 
wohnen, hat Manfred nur die eine, die unbefriedigt grübelnde, metaphyfiiche; nichts 
von der andern, die in derber Liebesluft die Welt umfaßt mit Elammernden Organen. 
Manfred handelt nicht, er wird und wächft nicht vor unjern Augen, faum daß über: 
haupt etwas mit ihm vorgeht. Und das foll ein Bühnendrama fein? Gewiß fein 
Mufter eines folchen. Aber ein wunderbares Gedicht, das auch von der Bühne herab 
dad Gemüth widerftandslos gefangen nimmt, ein Abgrund von Gedanken und Ge- 
fühlen, befremdend, abftoßend und doch zugleich dämonifch anziehend und fefjelnd. 
Zwei Elemente, die in Byron’ Drama verwirrend und verjtörend wirken, finden 
in Schumann's Mufil ein wunderthätig Rettungsmittel. Einmal der große myſtiſche 
Apparat von Geiltern und Erjcheinungen, welche Byron mitten in die reale Welt 
ftellt, fodann die niederdrüdende Troftlofigkeit der Stimmung. Ohne Hilfe der Muſik, 
welche jenen Geifterjput, wo er erjcheint, jofort auf ihren Fittig nimmt und uns 
glaubwürdig macht, müßte dies wirre Gejpenfterwejen ung von der Bühne faft wie 
eine Maskerade anftarren. Wie nothwendig diefe Muſik dem Drama und wie noth- 
wendig wieder das Drama der Schumann’schen Muſik jei, das Haben wir vollftändig 
erft aus ber lebendigen Aufführung erkannt. Im Concerte bleiben jämmtliche Ge- 
Tangaftüde der „Manfred“-Compofition tief unter dem Eindrude der Orchefternummern. 
Aber auf der Bühne! Man Höre da den Geifter-Bannfluch der vier Baßſtimmen! 
Welch Ichauriger Eindrud, wenn dieje vier ſchwarzverhüllten Geftalten auf der Fels— 
wand Hinter Manfred auftauchen! Die Erfcheinung der filberglänzenden Alpenfee ver- 
finnlicht auf das reizendfte das glikernde Tonbild Schumann’s; fie gibt ihm und 
empfängt von ihm erft das volle Leben. Auch der Höllendhor vor Ahriman's Thron, 
als jelbjtitändiges Concertſtück äußerlich und gezwungen, wirft wie eine grelle Theater: 
Decoration vollftändig auf der Bühne Was jenen düſtern Fanatismus der Ver— 
zweiflung betrifft, der dad Gedicht Byron's durchwühlt, jo würde er den Hörer er- 
barmungslos niederdrüden, legte fich nicht Schumann’3 Muſik wie lindernder Balfam 
auf die Wunde. Welcher Zauber ruht in der verflärenden Kraft der Mufif! Ein 
zweites Pygmaliong-Wunder, das düftere Marmorftatuen leben und lächeln macht. 
Etwas Tröftenderes, Friedlicheres ala die idyllifche Zwiſchenmuſik in F-dur fenne ic) 
nicht; die kleinern Orxchefterfäße im erften und im dritten Acte tönen mitten durch 


Miener Chronik. 313 


die Trauer in verwandter Weife, beglüdend, jegnend. Und über dem Allen die Be- 
Ihwörung der Aſtarte! Hier jchlägt Schumann Töne an, wie fie feiner vor ihm oder 
nach ihm erdacht; Töne von jo tieffchmerzlicher und dabei doch eigenthümlich feliger 
Trauer, daß fie uns fanft das Herz zufammenpreßt und die Thränen ins Auge drängt. 
Das Graufige, Schreckhafte der Erſcheinung ift Hier zur jtillen, blaſſen Schönheit 
verflärt, der Verweiungsmoder wie von Rofenduft durchzogen. In der Schlußjcene, 
beim Sonnenuntergang und dem Tode Manfred's, übt die Mufit anfpruchslos, faſt 
unfcheinbar diejelbe Miflion des Tröftens und Verföhnene. Mit Ausnahme der Ouver- 
türe, welche das Bild Manfred’3 in feiner ganzen düſtern Größe wiederfpiegelt, wirkt 
Schumann’: Muſik, troß aller Schärfe der Charakteriftif, das ganze Drama Hindurch 
mildernd und verflärend. Der Fluch) der Melancholie ift e8, der Byron’s Helden 
frampfhaft jchüttelt; au8 Schumann’s Muſik blidt uns das Lichtbild derjelben Empfin- 
dung an: der Segen der Melancholie Es mag vielleicht unpafjend fcheinen, bei diefen 
Tönen an ein anderes Gedicht ala das Byron’sche zu denken; aber der janfte, faſt 
friedliche Schmerz, der die kleinen Injtrumentaljtüde der „Manfred“ Mufit durchweht, 
verbindet fi mir jtet3 ummillfürlich mit der Erinnerung an ein wenig befanntes 
Gedicht Gottfried Keller’, „An die Melancholie“ : 


Sei mir gegrükt, Melancholie, 

Die mit dem leifen Feenſchritt 

Im Garten meiner Phantafie 

Zu rechter Zeit an's Herz mir tritt! 

Die mir den Muth, wie eine junge Weibe, 
Tief an den Rand des Lebens biegt, 

Doch dann in meinem bittern Leibe 

Doll Treue mir zur Seite liegt ! 


Die Manfred-BVorftellung fand zum Belten des Penfionsfonds des Hofopern- 
theaters ftatt, dem in der Weihnachtswoche und in der Charwoche je zwei aufeinander- 
folgende theaterfreie Abende gewidmet find. Die „Zweite Akademie” im Hof- 
operntheater zum Bejten des Penfiongfonds war das gerade MWiderjpiel der eriten. 
Während am 22. December ein bisher nur in Goncertform gegebenes Drama, „Mans 
fred“, zum erftenmale auf feinen rechtmäßigen Plaß, die Bühne, gelangte und damit 
zu der vom Dichter beabfichtigten vollen Wirkung, wurden am 23. verjchiedene Frag— 
mente aus Opern durch concertmäßige Vorführung entjtellt und entkräftet. Ebenſo 
angelegentlich, wie wir Herm Director Herbed um eine Wiederholung des „Dianfred“ 
erjuchten, wünjchen wir, daß er Opern- Abtödtungen wie die in der zweiten Weib: 
nachts = Afademie nicht wieder veranlaffe. Im Goncertfaal mag es fich mitunter 
empfehlen, irgend ein muſikaliſches Prachtjtüd aus einer verfchollenen Oper nad 
Dratorienweife abzufingen, um Kunftfreunden wenigſtens deſſen rein mufikalifchen 
Gehalt, abgezogen von der Bühnenwirkung, darzubringen. Im Theater aber find 
wir nicht blos Hörer, ſondern auch Zufchauer, wir wollen und können da nicht auf 
Bühnenwirkung verzichten. Der Genius loei ift auch in der Muſik eine Macht, die 
nicht mit ſich ſpaßen läßt. Eine wohlbefannte Oper wie „Spohrs Jeſſonda“, 
die in unferm Geifte durchweg auf’3 innigjte mit der Darftellung, den Coſtümen und 
Decorationen verwachhen ift, läßt man ung auf dev Bühne des Hofoperntheaters 
wie ein Oratorium aus Noten vorfingen; Nadori und Dandau im Frad, Jeſſonda 
und Amazili in Balltoilette; jeder fteif aus feinem Seſſel ſich aufrichtend, wenn die 
Reihe an ihn fommt, und wieder ruhig niederfitend, jobald eine andere Nummer 
anhebt — dahinter auf langen Bänken die Herren und Damen vom Chor regungs— 
[03 nebeneinandergereiht, mit den Notenheiten in der Hand. „Ja, warum fingen 
denn all’ diefe Künftler, die wir jo oft in der „Jeſſonda“ jpielen gejehen, nicht im 
Coſtüm?“ To börten wir ringsum fragen. Wozu ladet man uns denn ind Opern- 
haus, wenn eine Oper nicht opernmäßig dargeftellt werden ſoll? Ehemals konnte 
man fich mit kirchlichen Belleitäten entjchuldigen, welche an gewifjen „Normatagen“ 


21* 


314 Deutiche Ruudſchau. 


feine fcenifche Aufführung erlaubten. Das bat aufgehört, und an demjelben Abende, 
wo der erjte Act der Jefjonda, Scenen aus „Titus“ und dem „Blitz“ unter die Luft- 
pumpe ber Oratorienform gezwängt wurden, fpielte man fchließlich — gleichſam um 
ung das Willfürliche des ganzen Vorgangs recht deutlich zu machen — ben vierten 
Act aus der „Favorite” im Goftüm, wie e8 fich gehört. Die Lucca entjefjelte ala 
Leonore eine hinreißende dramatifche Lebendigkeit und fand in den Herren Rofi- 
tansky und Adams vortreffliche Partner. Da athmete denn Jedermann wie nad 
langer Gefängnißhaft auf, und die gute Hälfte des Publicums verließ das Haus mit 
der Ueberzeugung, Donizetti’3 „Favorite“ jei eine viel befjere Oper als „Jeſſonda“, 
„Zitus“ u. ſ. w. Das iſt der unter der Langweile tiefer liegende Nachtheil jolcher 
Berunftaltungen, daß fie dem Hörer eine ganz jaljche, verläumbderische Vorftellung 
von den aljo gehörten Opern einniften. „Diefe Jeſſonda muß ja eine jchredlich 
langweilige Oper jein“ , flüfterten fich die Leute zu. Was nüßt e8, fie des Gegen- 
theils zu verfichern ; fie find durch die farb- und lebloſe Goncert-Production abgejchredt 
und bleiben ficherlich fern, wenn „Jeſſonda“ (was wir fo lange wünfchen) wieder 
einmal ald Oper in's Repertoire eintritt. Aber auch wir Anderen hören die uns 
wohlbefannten Opernjragmente nicht blos refignirt, mufifgeduldig, etwa blos mit 
dem GEindrud de Ungenügenden, jondern mit wirklichem Verdruß, ärgerlich darüber, 
daß wir hier um einen Genuß gebracht werden, auf den und das Hofoperntheater 
vollen Anjpruch gewährt. Wenn eine Muſik von der edlen, milden Sentimentalität 
der „Jeſſonda“ Losgelöft wird zu dem dramatifchen Knochengerüft, das ihr Kraft und 
Miderhalt verleiht, dann muß fie freilich unendlich monoton erjcheinen. Geradezu 
unverftändlich werden aber Scenen wie das große Finale aus Mozart's „Titus“, 
dieſes dramatifche Haupt» und Glanzitüd der im Uebrigen veralteten und faum mehr 
lebengfähigen Oper. Wenn wir da nicht das aufgeregte Volk über die Bühne ftürzen 
fehen und da8 brennende Gapitol im Hintergrund, To begreifen wir platterdings nicht, 
was eigentlich all’ die fittiamen Herren und Damen jo ruhig aus ihren Notenblättern 
abfingen? So hat man der gegenwärtigen Theater» Generation wahrjcheinlich nur 
die Meinung beigebracht, daß auch an diefem berühmten Finale „nichts ift“. Der 
Bühne entbehren können allenfalls Opernfragmente, in welchen bei jtilljtehender 
Handlung fich die Empfindung des Einzelnen lyriſch auäbreitet, aljo Arien und 
Romanzen. Darum erzielte auch die von Herrn Walter jehr zart vorgetragene, an 
fih unbedeutende Romanze aus Haleévy's „Blitz“ mehr Beifall, ala alle übrigen 
Dpernjcenen zufammen, an welche unsre erjten Kräfte gewiß die redlichite Mühe ge 
wendet hatten. Die Sopran Arie mit Chor aus Mendelsſohn's unvollendeter 
Dper „Loreley“ bildet bekanntlich ein Lieblingsftüdk aller Goncert-Repertoires. Im 
Hofoperntheater hätte man dieſe Opernfcene nicht anders als im Goftüm aufführen 
jollen; wir würden damit einen neuen jchönen Eindrud gewonnen haben, und Her: 
bed im Kleinen ein ähnliches Verdienſt, wie durch feine dramatijche Wiederheritellung 
des „ Manfred”. Der einzige Einwand, welchen die Direction gegen unſere Anſchauung 
bervorbringen kann, betrifft den Zeitaufwand und die Mühe des Auswendiglernend 
bon Opernfragmenten, welche nicht auf dem Repertoire ftehen. Nun wol, jo führe 
man in den Akademien des Hofoperntheaterd Acte oder Scenen aus bereit3 einſtu— 
dirten Opern auf, in paflender Auswahl und mit glänzender Beſetzung. Das giebt 
allerdings auch nur ein Flickwerk, aber die concertmäßige Ausfchrotung von Opern 
iſt etwas noch Schlimmeres, fie ijt eine Barbarei. 

Sn der Komiſchen Oper, die jeht abwechjelnd Opern und Schaufpiele giebt, 
hat jeit meinem legten Bericht nichts muſikaliſch Bedeutendes fich ereignet. Die an- 
ziehendfle Vorſtellung, mit welcher neueſtens das MRepertoire bereichert wurde, find 
„die beiden Schüßen“ von Lortzing. Wie um ein trautes Kaminfeuer ſaßen 
wir da dor der Bühne und wärmten uns an dem bejcheidenen gejunden Humor ber 
Handlung, an dem gemüthlichen Frohſinn der Mufil. Das ift jo recht das Genre, 
das für unſere Komifche Oper paßt und mit ihren Kräften befriedigend gegeben werden 
kann. Die Sänger (Erl, Hermany, Fiſcher, Fride) waren vortrefflich, über die 


Miener Chronik. 315 


Schwächen des jchwachen Gefchlechts jah man nachſichtig hinweg und Alles unterhielt 
fich bei dem alten Eingipiele, das im Großen Opernhaufe wahrjcheinlich ala eine 
beleidigende Kinderei aufgenommen und todtgegähnt worden wäre. Neben Lorking’s 
„Waffenſchmied“ und „Czar und Zimmermann“ (Hinderman aus München 
gaftirt eben wieder darin) haben „die beiden Schüßen“ jet noch das getreuejte 
Publicum in dem Theater am Schottenring. Bei diefen Aufführungen Lorking’scher 
Opern muß ich unmillfürlich an einen bezeichnenden Ausspruch von Lewes, dem 
engliichen Goethe-Biographen, denken. Lewes macht nämlich aus Anlaß des Goethe’- 
fchen Luſtſpieles „Der Triumph der Empfindfamleit“ folgende Bemerkung: „Was den 
Deutichen außerordentlich komiſch ericheint, darin findet der Yranzoje oder Engländer 
faft immer nur einen äußerft Troftigen Spaß. An den eigentlichen Wit, der mit 
Feinheit gehandhabt jein will, wagen fich die Deutichen höchſtens mit Handjchuhen. 
Die JIronie ift ihnen nicht ein leichter Stoßdegen, ſondern ein mächtiged Schwert; 
fie zerhauen das Opfer, wo ein geichidter Stich genügt hätte. Es ijt eine beachtens— 
werthe Thatjache, daß fie unter allen Schäßen ihrer Xiteratur nichts eigentlich Ko— 
mijches im höheren Sinne befiten.“ Dieje Bemerkung zielt zwar nur auf das Luft- 
fpiel, trifft aber auch zugleich unfere komiſche Oper und erklärt, gerade ala Urtheil 
eine3 Ausländers, theilweife die ſeltſame Thatfache, daß die vornehmiten Vertreter 
der ſpecifiſch deutſchen Opernkomik, Dittersdorf und Lortzing, gar feine Auf- 
nahme auf fremdem Boden gefunden Haben. Ein italienischer oder franzöſiſcher 
Dperncomponift von dem mufilalifchen Rang diefer Beiden wäre alsbald über die 
Grenzen jeines Vaterlandes gedrungen. Es muß weſentlich an dem eng deutfchen 
Charakter ihrer Komik liegen. Ditterdorf war feinerzeit, Lortzing ift biß heute der 
talentvollfte, beliebtefte Repräjentant unſeres komiſchen Singfpiels; wir ſchätzen den 
Erſten und lieben den Zweiten, aber der Ausſpruch von Lewes bleibt wahr, auch für 
fie. Der philiftröfe Spaß, die Hein=bürgerliche Komik, die burjchitofen Reden in 
diefen Opern heimeln das deutjche Publicum, insbefondere der Kleinen und mittleren 
Städte, umvergleichlich an; aber der Franzoſe, Italiener, Engländer kann über der- 
gleichen nicht Lachen, und jo jpielen gegen die fosmopolitijche Verbreitung aller 
befjern italienischen und Franzöfiichen komiſchen Opern die deutichen eine jehr be= 
Icheidene, auf die eigne Nation bejchränkte Rolle. Seit Mozart’3 „Entführung“ und 
„Zanberflöte”, die doch nicht gänzlich ignorirt werden konnten, übrigens auch einem 
ganz anderen Stoffgebiet angehören, find eigentlich von deutichen komiſchen Opern 
nur die Flotow' ſchen in’3 Ausland gedrungen, vermuthlich, weil fie im Grunde 
ebenſowenig deutich ala komisch find. Lortzing Hingegen, ein Muſiker friſch und 
liebenswürdig, dabei bühnenfundig wie wenige jeiner Gollegen, lebt nur „jo weit 
die deutiche Zunge klingt“. Da ift er um fo herzlicher willtommen. Allerdings hat 
der graufame Zeitverlauf auch Lorking’8 Repertoire ſtark reducirt; e& erfreuen ſich 
außer dem „Czar und Zimmermann“ nur noch drei feiner Opern ziemlicher Pflege 
und Beliebtheit, „Der Wildſchütz“, „Der Waffenſchmied“ und „Die beiden Schüben“. 
Wo Für die komiſche Oper ein eigenes Theater eriftirt, wie jebt in Wien, dürfte 
einiges Andere von Lorking mit Erfolg aufgefriicht werden, 3. B. der in Wien 
niemals aufgeführte „Caſanova“. Diefe Oper ijt (gleich den „beiden Schüben“) 
nach einem franzöfiichen Luſtſpiel bearbeitet („Die beiden Grenadiere“, „Caſonova 
im Fort St. Andre“), deren intereffanten Stoff der Tondichter wol zu Jchäßen ver- 
ftand. Lortzing's „Hans Sachs” iſt troß mancher Vorzüge nicht mehr möglich jeit 
den „Meifterfingern.“ Die Handlung verläuft zwar bei R. Wagner ganz anders, 
aber die Hauptfigur (auch manche Nebenrolle, wie der Lehrjunge) ift die gleiche, und 
deutfche wie franzöſiſche Theater-Anjchauung duldet nicht gleichzeitig zwei mufifalifche 
Rivalen an demfelben Stoff. Den talienern verichlägt es nichts, daffelbe Libretto 
bon zehn verjchiedenen Gomponiften bearbeitet zu hören — eine alte Gewohnheit, die 
übrigend auch vor dem Hauch moderner Anfchauungen täglich mehr ſchwindet. In 
Deutichland wie in frankreich entbrennt aber in ſolchem Fall jofort der Kampf um's 
Dafein, und der Stärfere (dev nicht immer der Tugendhaftere zu jein braucht) ver— 


316 Deutſche Rundichau. 


nichtet den Schwächern. Sowie Gounod's „Fauft” den Spohr'ſchen, Berdi’a 
„Maskenball“ und Donizetti’3 „Liebestrant“ die gleichnamigen Opern von 
Auber, Gounod’3 „Romeo“ den Bellini’jchen verdrängt haben, jo muß die 
bejcheidene Mittelgröße von Lortzing's „Hand Sachs“ vor der Rieſengeſtalt einer 
Wagner’ihen Hauptfigur das Feld räumen. Auch die „Undine“ möchten wir für 
Wien nicht empfehlen, fie hat gleich Lortzing's „Großadmiral“ jelbjt unter des Com— 
poniften perfönlicher Leitung hier feinen Anklang gefunden. Heute würde alles Un- 
genügende und Veraltete noch empfindlicher an diefer „Undine” auffallen, denn die 
innerfte Natur Lorking’3 reagirte eigentlich gegen den dujtigen Zauber der Märchen- 
welt. Wo in der „Undine” von Snappen, Kellermeiftern, Jägern tüchtig getrunfen, 
geſpaßt und geprügelt wird, da ftellt unfer Lorking prächtig feinen Mann; Hingegen 
benehmen fich feine Elfen und Undinen als ganz alltägliche, jentimentale Frauen— 
zimmer, welche vor dem Publicum von Blumenduft und Mondſchein leben, heimlich 
aber ganz gewiß Kaffee trinten. — 

Im Garltheater ift am 2. Januar — genau Ein Jahr nach der erften Vor: 
ftellung von Lecocq's „Madame Angot“ — die neuejte Operette dieſes Gomponijten 
„Girofl&-Girofla“* mit großem Beifall gegeben worden und wird jeither all- 
abendlich wiederholt. 

Girofle und Girofla find die Namen zweier einander zum Verwechſeln ähnlicher 
Zwillingsfchweftern, und ihre wirkliche Verwechjelung ein ganzes Stüd hindurch bildet 
den Stoff von Lecocq's neuejter fomifcher Oper. Es giebt viele Luftipiele, die auf 
der täufchenden Aehnlichkeit zweier Perjonen beruhen. Der Ahnherr diejes Gejchlechtes 
iſt wol der „Amphitryo“ von Plautuß; da nimmt der Göttervater Zeus auf einer 
feiner galanten Wanderungen die Gejtalt des thebanifchen Helden an, um deffen 
Rolle als Ehemann zu fpielen. Wenn die Aehnlichkeit der Kniff eines Gottes ijt, 
dann freilich Haben die Verwechjelungen nicht den Vorwurf der Unwahrfcheinlichkeit 
zu fürchten. Plautus ſelbſt in feinen „Menächmen”, Chafejpeare in der „Komödie 
der Irrungen“ begründeten die Aehnlichkeit, das Triebrad ihrer poſſenhaften Ver— 
wechjelungen, durch Zwillingsbruderjchaft. In neuerer Zeit verwerthet man diejes 
Motiv faſt nur noch für die Virtuoſität eine Schaufpielerd. Es war eine der be— 
rühmteften Leiftungen unfereg Ficht ner, in Holbein’3 „Doppelgänger” die Doppel: 
rolle eines luſtigen und eine jentimentalen Officiers zu jpielen; noch weiter ging der 
Stuttgarter Hofſchauſpieler Moritz, der auf feinen Gaftjpielen regelmäßig „Drillinge“ 
darjtellte. Eine jolche Aufgabe für die Bravour individualifirender Kunft bildet das 
Lecocg’ihe Ziwillingsichweiternpaar keineswegs. Mit Ausnahme einer ganz kurzen 
Scene der Girofla zu Anfang ift es immer nur Giroflé allein, welche das Stüd hin— 
durch fpielt und bald für die eine, bald für die andere Schweiter ausgegeben wird. 
Der Dichter verräth zwar anfangs die Abficht, die beiden einander leiblich jo ähnlichen 
Schwejtern durch entgegengejegte Temperamente auseinanderzuhalten; er läßt wenigſtens 
erzählen, daß die eine lebhaft und Iuftig, die andere jchüchterner Natur ſei. Seltfamerweije 
unterläßt der Componift den Verjuch einer muſikaliſchen Charakteriftif ſelbſt an der 
einzigen, dafür günftigen Stelle. Die ernfthafte Schwejter präjentirt fi) nämlich 
mit dem Gouplet: „Pere adore, c'est Girofle“, worauf die andere, die Luflige, mit 
dem zweiten Gouplet folgt: „Petit papa, c'est Girofla‘“, Der Componijt hat für die 
gleiche Wtelodie diefer zweiten Schwejter nicht einmal eine höhere Tonſtufe oder ein 
rajcheres Tempo zur charakteriftiichen Unterjcheidung gewählt. Wir müflen es für 
das DVerdienft von Fräulein Meyerhoff Halten, daß fie troßdem den beiden gleich- 
lautenden Strophen eine jehr verjchiedene Färbung verleiht. Bon da an verſchwindet 
Girofla, von Piraten geraubt, aus dem Stüde, und Giroflö, die Zurüdgebliebene, 
muß bald die Frau des ſanften Kaufmannes Marasquin, bald jene des wüthenben 
Mauernhäuptlingg Murzuf fpielen, ein Spaß, der fich doch zu bald erfchöpit. Das 
ganze Stüd ift ein Tanz auf dem geipannten Seile der Unwahrjcheinlichkeit; um 
unſer Intereſſe zu erhalten, müßte der Gang der Begebenheiten jo raſch fein, daß 
man nirgends zur Befinnung käme, Dafür fehlt aber diefer Operette die übermüthige 


Wiener Chronif. 317 


Laune, das unmwiderftehliche Temperament. Auf der poſſenhaften Vorausſetzung baut 
fi) alles Folgende mit einer gewiffen Schwere und Ernithaftigfeit auf; die Eltern, 
die Braut, der junge Ehemann kommen nicht aus den ängjtlichen Empfindungen 
heraus, ja zum Schluffe droht förmlich die Tragödie Hereinzubrechen, indem Murzuk 
in wahnfinniger Eiferfucht Girofl& ermorden will. Da verkündet ein Trompetenftoß 
(ganz „Fidelio“!) die Ankunft des fiegreichen Admiral mit der geretteten Girofla, 
und nun Hat endlich jeder der beiden Neuvermählten feine eigne Frau für fih. Die 
Beichaffenheit des Tertbuches begründet jchon die entjchiedene Inferiorität der „Giroflé““ 
unter „Madame Angot“ defjelben Componiſten. Letztere ift ein gelungenes Zeit- und 
Sittenbild, in welchem eine gutverfchlungene Doppel-Intrigue durch den hiſtoriſchen 
Hintergrund Bedeutſamkeit erhält; dazu die Gontrafte zwiichen Salon- und Straßen- 
(eben, herzhafte Volksgeſtalten, an denen wir menjchliches Intereffe nehmen, eine ge- 
ſchickt angelegte, fich wirkfam fteigernde Handlung. Der Inhalt von „Giroflé“ ift, 
kurz gefagt, Unfinn, und die handelnden Perfonen find Garricaturen. Muſikaliſch 
bewähet auch „Girofle“ in mehr ala einer Nummer das gewandte, anmuthige Talent 
Lecocq's; allein die Erfindung fließt viel fpärlicher und gemijchter ala in der „Ans 
got". Die geringere anregende Kraft des Tertbuches auf den Gomponiften mußte fich 
bier wol geltend machen. Das muſikaliſch Befte in feiner neuen Operette findet 
fih in den Heinen Enappen Formen. Die eriten Couplets des Vaters, der Girofle, 
des Marasquin find bei aller Anfpruchslofigkeit jehr gelungen und ganz das, was 
fie an diefer Stelle fein ſollen. Im 2. Akt hat fich Lecocq, der ſonſt den beflern 
Eigenschaften Offenbach's mit Glück nachfolgt, fich leider auf deffen ſchlimmſte Cancan— 
jeite gejchlagen. Die Chöre der Hochzeitägäfte, die Enjembles, das Trinklied u. ſ. w. 
das Alles jchlendert in abgegriffenen Polka- und Quadrille-Melodieen recht Liederlich 
einher. Im 3. Alt befchränkt fich die mufifalifche Ausbeute auf zwei hübſche Duette 
Murzuk's mit Giroflé, von melodiöfem Reiz und diftinguirter Haltung. Director 
Jauner hat die Vorftellung der „Girofle“ zu einem Prachtftüd an Zuſammenſpiel 
und Auaftattung gemacht; fie ſetzt alle Vorzüge diefer Novität in Helles Licht und 
derdeeft für manchen Hörer die Thatſache, daß „Giroflé“ künſtleriſch keinen Vergleich 
aushält mit „La fille de Madame Angot“. Es mag grauſam erjcheinen, einen Com— 
poniften durch Hinweiſung auf fein gelungenftes erſtes Werk für die geringeren Qua— 
litäten eines keineswegs mißrathenen zweiten zu trafen. Aber das Glüd eines fo 
unermehlichen Erfolgs, wie der von Lecocq's „Angot“ bleibt jelten ganz ohne gefähr- 
lie Folgen. Succös oblige, — 

Ich gehe von den Theater-Ereigniffen zu den bemerkenswertheften Concert auf— 
führungen der leften vier Wochen über. Das vierte Philharmoniſche Concert 
begann mit einer Novität von Leo Grill. Sie nennt fi „Concert-Ouvertüre“ 
und hat weder Titel noch Motto. Durch beides würde fie nicht beifer, aber wenig— 
ſtens verftändlicher geworden fein. Man fragt fich unwillfürlich, was dieje langge= 
firedte düftere Ginleitung vorftelle, was der Leidenfchaitliche Kampf und all die 
dramatifchen Zudungen im Allegro? Wir fühlen, es müſſe dieſes Tongemälde noch) 
etwas außer der Mufit bedeuten wollen, um überhaupt etwas zu bedeuten. Wie fie 
vorliegt, ift Grill’8 Concert-Quvertüre eine Gompofition von beträchtlichen Anjprüchen 
und Anläufen, denen das Ziel und die Erfüllung fehlen. Kein origineller Gedanke, 
fein auß dem Herzen quellender Gefang, feine Nothwendigkeit, nur Geſchicklichkeit. 
Ihr Schikjal: ein durchfallverwandter „Achtungserfolg“. — Die renommirte Pianiftin 
dräulein Anna Mehlig aus Stuttgart fpielte Rubinftein’3 viertes Concert. Wir 
waren ihr dankbar für die Wahl diejes geift- und effeftreihen Virtuojenjtüdes, mag 
es an fünftlerifcher Vollendung noch jo weit von dem Halbdußend claffischer Glavier- 
Concerte abftehen, deren Reiz durch maßloſe Abnützung jchon jo bedauerlich abge- 
ſchwächt erfcheint. Nicht in gleichem Grade war dieſes Goncert eine gute Wahl für 
die Künftlerin ſelbſt, deren überaus nettes, reines und ausgeglichenes Spiel der dafür 
nötbigen Kraft entbehrt. Man braucht das Stüd nicht einmal von Rubinftein jelbft 
gehört zu haben, um dieſe zarte Weiblichkeit hiev ungenügend zu finden. In dem 


318 Deutiche Rundſchau. 


leichten Aether der Solo-Paffagen flog fie zierlich und behend wie ein Vogel; gegen 
den Anjturm des Orchefterd vermochte fie fich jedoch nirgends zu behaupten. Die 
Leiſtung Fräulein Mehlig’3 fand die jchmeichelhaftejte Anerkennung; fie war von 
tadellojer Glätte und Gorrectheit, nur nach allen Dimenfionen zu klein. — Einem 
Guriofum wunderlicher Art begegneten wir in’ Abert’3 Orchefter-Begleitung zweier 
Stüde von Sebaftian Bach. Zuerſt Hören wir das Cis-moll-Präludium aus dem 
„wohltemperirten Glavier“ (nach D-moll transponirt) in feiner, effectvoller Inſtrumen— 
tirung. Hierauf fommt urplößli, wie ein in den Goncertfaal verirrtes Begräbniß, 
ein Choral von Abert angeblafen, blog Trompeten, Hörmer und Pojaunen. An dieje 
unerwartete „Aufforderung zum Tode“ ſchließt ſich ebenſo unerwartet Bach's Orgel—⸗ 
fugk in G- moll, in deren ungejtörten Verlauf ſtückweiſe jener Choral hineinjchmettert. 
Gounod’3 artiger Einfall, zu Bach’3 C-dur-Präludium eine gejangvolle Biolinjtimme 
zu jchreiben, jcheint ſchlimme Nacheiferung zu weden. Schon hat ein deutjcher Gom- 
ponift den Gramer’schen Etüden jolche Melodienmüben aufgeftülpt, und nun kommt 
unfer geichäßter Freund Abert gar auf die abjonderliche Jdee, der Bach'ſchen G-moll- 
Fuge (nad) Art einer jubceutanen Injection) einen fremden Choral einzufprigen. 
Abert beſitzt vollftändig die gründliche Bildung, die feine fichere Hand, die für eine 
jo fchwierige Mufil-Operation nothwendig ift; gegen die Art diefer Operationen 
müffen wir und troßdem entichieden aussprechen. — Den Beichluß des Goncertes 
machte Beethoven’3 achte Symphonie, welche unter Deſſoff's Leitung vortrefflich 
ausgeführt und mit allgemeinem GEntzüden gehört wurde. — 


Das zweite Geſellſchafts-Concert, am 10. Januar, erfreute fich eines 
ganz ungewöhnlichen Schmudes durch die Mitwirkung von Joſeph und Amalie 
Joachim aus Berlin. Die frohe Botſchaft: „Joachim ift da!” wurde uns von allen 
Geiten wie ein Gruß zugeflüftert, und als er ſelbſt vortrat, die Geige in der Hand, 
da wollte der Jubel kein Ende nehmen. Sieben Jahre find verfloffen, feit Joachim 
zuleßt in Wien gefpielt, und Mancher mochte ihn nicht gleich erfannt haben wegen 
des mächtigen Vollbartes, der das ehedem glatte Geficht jet ummwuchert. Aber er 
führt den erjten Bogenftrih, und Niemand kann ihn mehr verfennen — jo jpielt 
nur Joachim! Und was er heute fpielt, iſt gleichfalls unverfennbarer Joachim, das 
„Ungarifche Concert” nämlich, eine prachtvolle Compofition, die nicht blos nach ihrer 
Ausdehnung zu den größten Violin-Goncerten gehört. Mit jeder Wiederholung wird 
fie dem Publicum vertrauter und lieber, freilich will fie auch mit der ganzen Energie 
und Nobleffe, mit der unfehlbaren und durchgeiftigten Bravour Joachim's vorge 
tragen fein. Diefe durch Empfindung und vornehmfte Auffaffung geadelte VBirtuofität 
bewunderten wir auch in Joachim’ Vortrag einer Phantafie mit Orchefter von 
Robert Schumann, ohne uns für die Gompofition lebhafter erwärmen zu können, 
als vor fieben Jahren. Die für Joachim gejchriebene Phantafie (das mir vorliegende 
Autograph Schumann’s trägt das Datum: Düfleldorf, 7. September 1853) ijt eines 
der jpätejten Werke de8 Meifter® und vereinigt auch alle inneren Merkmale jeiner 
einem traurigen Ausgang zufteuernden dritten Periode. 


Ein neues, bedeutendes und ganz eigenthümliches Werk von Brahms: „Rhap- 
jodie für Altfolo, Männerchor und Orxchefter“ (Op. 53), konnte unmöglich günftiger 
eingeführt werden, ala durch Frau Amalie Joachim, welche mit unvergleichlichem 
Wohllaut der Stimme und ausdrudvollfter Declamation dieje jchwierige Aufgabe Löfte. 
Der düjtere Ernjt der Gompofition und das mufifalisch jpröde, ohne Commentar faum 
verständliche Goethe’sche Gedicht (ed beginnt fragend mit den fragwürdigen Worten: 
„ber abjeits wer iſt's?“) erichweren die Aufnahme diefes Werkes im großen Publicum. 
Brahms, der auch in der Wahl feiner Terte fich „abſeits'' von der breiten Iyriichen 
Heerjtraße hält, hat aus Goethe's Harzreiſe im Winter“ jenes Fragment herausge. 
riſſen, das nach Goethe's Erklärung ſelbſt eine eigene „ſentimental-romanhafte Gejchichte” 
bat. Die Brahms’sche „Rhapſodie“ wirkt durch die überaus düjtere Stimmung anfangs 
befremdend; recht mufitaliich wird dag Gedicht eigentlich erſt mit der Schlußſtrophe, 


Wiener Chronif. 319 


welche Troſt und Verſöhnung bringt. Der Eintritt des Männerchors, durch den fich 
die Frauenſtimme wie ein weißes Band leuchtend durchichlingt, ift von ergreifender 
Schönheit. Der eigenthümlich ethifche Charakter, welcher der Brahms'ſchen Muſik im 
Großen und Ganzen aufgeprägt ift und fie in jo nahe Verwandtichaft mit Beethoven 
bringt, tritt in der „Rhapfodie‘ mit faſt tendenziöfer Stärke auf und Läßt fie als ein 
Seitenftüd zu jeinem „Schickſalslied“ ericheinen. An all dem Vielen und Guten dieſes 
Goncertes (auch Mendelsſohn's liebenswürdige Duvertüre zur „Hochzeit des Camacho“ 
wurde geipielt) trug jchließlih das Auditorium etwas ſchwer und folgte nur mit 
Anftrengung der Bach'ſchen Pfingftcantate „O ewiges Feuer!’ Die fchwierigen 
Figurationen der Chöre famen nicht mit voller Deutlichkeit heraus, und jo machte 
nur die von Frau A. Joachim meijterhaft vorgetragene A-dur-Arie Eindrud. 

Joachim veranftaltet noch ein eigenes Concert und wird außerdem im nächſten 
„Bhilharmonifchen‘ mitwirken. Die beiten Kreiſe Wiens wetteifern in dem Bemühen, 
das liebendwürdige Künftlerpaar zu feiern. — 

Eduard Handlid. 


Das Wiener Burgtheater. 





Wilbrandt'3 „Arria und Meſſalina“. 


Mien, 15. Januar 1875. 


Die dramatifche Novität, die feit den erften Aufführungen um die Mitte des 
December mit ungefchwächten Eindrud das Repertoire des Burgtheater beherrjcht 
und in demfelben wol eine geficherte Stellung behaupten wird — iſt Wilbrandt’3 
Tragödie: „Arria und Meflalina”. Ein Trauerfpiel — noch obendrein ein Römer: 
ſtück mit ducchfchlagender Theaterwirkung: gewiß ein feltener Fall. 

Der Dichter hatte die Annalen des Tacitus, dann die Briefe des jüngeren 
Plinius vor fich aufgefchlagen — nebenher auch für einige ergänzende Züge den 
Div Caſſius. Zwei außgeprägte Frauentypen traten ihm da entgegen: in Mefjalina 
der wilde Taumel der Sinnlichkeit, in Arria die zum Qugenderempel präparirte 
moralijche Größe; dort das völlig diffolute weibliche Wefen, hier der biß zur Starr 
heit zufammengefaßte Heroismusß der Frau. Außer der normalen Weiblichkeit ftehen 
beide: die freche Mänade auf dem Gäfarenthron, die mit unerhörtem Raffinement 
die ganze Scala des Sinnengelüftes außfoftet, und ebenfo der Blauftrumpf des ab- 
ftracten Tugendprincips, die temperamentsloje Stoiferin, die in einer akademiſchen 
Stellung zum Tode fich rüftend, ihrem zögernden Gemahl den Dolch Hinreicht. Nur 
eine Zeit, die aus allen Schranken getreten war, konnte jolche Extreme in ber 
Ichwwelgenden Orgie des Lafterd wie im Pathos der überfpannten Tugend erzeugen. 
Für den Dichter hatte nun der Gedanke etwas Beitechendes, jene beiden Frauen— 
gejtalten einander gegenüberzuftellen: es paßt dies auch in die Intentionen des mo- 
dernen Drama's, das gern direct auf die jcharfen Gontrafte losgeht. Dieſer Gedante 
war nım freilich feine poetifche Eingebung, vielmehr ein Anreiz der Reflerion — 
ein erjter kluger Einfall, der weitere kluge Einfälle in dem fünftlerifchen Aufbau der 
dramatiichen Handlung zeugte. Wielleicht ging der Dichter von folgender Erwägung 
aus: da hätte ich zwei Heldinnen, wie gemacht für den wirkſamſten Gegenjaß, die 
ebenjo zwei contraftirende Hälften der Action bedingen. Nur in diefem Doppelweien, 
in der Gegenüberjtellung find fie überhaupt für ein Stüd brauchbar. Weder Arria, 
noch Mefjalina allein ließe fih in den Mittelpunkt einer Tragödie ftellen: jene ift 
nur die Heldin einer Anekdote mit einer einzigen tragifchen Attitude, diefe gehört in 
die Satyre, wo ihr auch Juvenal einen unfterblichen Pranger anwies, weit mehr 
als in die Tragödie. Was der Einen an dramatifchem Leben fehlt, geht der Anderen 
auch in größerem Maße an tragifcher Würde ab. Aber im Gontraft, im Herüber- 
Ihillern der Farben compenfiren fich diefe Mängel, und der theatralifche Effect ge 
winnt wol jogar bei diefer Rechnung auf Theilung, wenn auch die dramatifche Wir 
fung im großen, vollen Sinne ausbleiben mag. 

So componirte alſo Wilbrandt ein Doppeldrama; die eine Hälfte deflelben 
nimmt aus den dunklen Kerkerräumen ihren Ausgang, in denen der kranke Pätus 


Das Wiener Burgtheater. 321 


wegen feines Antheil3 an der Verſchwörung des Scribonianus fein Schikfal erwartet. 
— Die andere jpielt inmitten des blendenden Jrrlichterglanges in den Gemächern 
und Luftgärten Meſſalina's. Mit den Perjonen und der Localität ändert fich zu— 
gleich der Styl; ſobald wir uns bei Pätus und in ‚dem Hausweſen des biederen 
Senator? Barea Soranus befinden, da ftehen wir ganz auf dem Boden des Römer: 
jtüds nach älterer Mode, in welchem die Toga ala das rechte Staatäfleid der fteifen, 
nüchternen Charaftergröße galt; jobald aber der Sclave „die faiferliche Majejtät“ 
verfündigt, dann geht es ganz modern, ich möchte jagen — römifch-franzöfifch her, 
wie etwa Gerome den Sinnenreiz der Antike auffaßt, und Farben von üppiger Glut 
brennen uns ind Auge. Zwiſchendurch fommt noch in den Nebenfiguren, wenn auch 
etwas gedämpft, der echt Wilbrandt’sche Luftfpielton Hinzu: er joll wol die Gegenjäte 
behaglich vermitteln und uns über die pathetijche Monotonie der Tugendbpartei durch 
einige belebende Lichter Hinüberhelfen. 

Wie ift nun das tragische Motiv in das Stüd Hineingetragen? Jedenfalls 
mußte der Charaktergegenjaß der beiden Frauen zur acuten Höhe des Conflict? ge- 
fteigert werden — ſonſt war er im dramatifchen Sinn nicht brauchbar. Da ftellte 
der Dichter eine Figur feiner Erfindung — Marcus, den Sohn der Arria — mitten 
hinein, al® das nothiwendig Dritte in feiner dramatifchen Regeldetri- Rechnung. 
Diejen Jüngling, der nach der ftrengen, altrömischen Pädagogik des Elternhaufes 
zum „Sohn der Ehre und der Pflicht” erzogen ift, läht der Dichter in die Schlingen 
der kaiſerlichen Buhlerin gerathen, ohne daß er fie kennt oder von ihr gekannt wird. 
Im bleichen Mondjchein, umweht von den lauen Lüften der Sommernadht, trafen 
die Beiden zufammen; Feuer fiel vom Himmel in fein Blut, er wußte nicht wie. 
AL er es erfährt, wie feine Göttin fich nennt, vermag der Wille nichts mehr gegen 
feine Leidenſchaft; Meffalinens heiter Athem hat einmal diefen Tugendipiegel ange: 
haucht — fie darf mit aller Zuverficht jagen: „Du Sohn der Arria, was Hilft’s 
Dir — Du bift mein!” Und Pätus wird für's erſte begnadigt, weil er der Vater 
des geliebten Marcus ift, und er wie feine ftrenggefinnte Gattin Arria, die eben erſt mit 
zornvollem Blick aus einer Audienz bei der Kaiferin entlajfen worden ift, empfangen 
verwundert das Räthſel der Gnade aus Mefjalina’8 Händen. 

Aber für und giebt e& noch der Räthjel mehr; fie Liegen zunächſt in dem leiden- 
Ichaftlichen Verhältniß, welches fich jo raſch zwiſchen Marcus und Mefjalina ent- 
widelt. Der frivole Gedanke fommt uns da leicht bei: der junge Herr jcheint zu 
Haufe ohne Rüdjicht auf die erwachenden Regungen der Jugend, mit zu ftrenger 
Gaftität erzogen worden zu fein. ine andere Deutung läßt fich dem nächtlichen 
Abenteuer des Marcus kaum geben. Das Weitere ergiebt fih von ſelbſt. Es 
ift nicht die Poefie der Liebe, nur der Taumel der aufgeregten Sinnlichkeit, der ihn 
zu Meſſaling hinzieht: ein Raufch, auf den ganz ficher der Habenjammer folgen muß. 
Bon der eifigen Höhe der Grundjäße taucht er hinab in den brodelnden Qualm der 
Leidenſchaft; wieder der greifbare Gegenfaß, der Hier wie überall in der Dichkung 
Milbrandt’3 eintritt. „Jh rühr Di ja nur an, fo zitterft Du und jehnit Dich 
her zu mir“ — fo jagt Mefjalina, die Virtuofin der fjeruellen Sünde, und weiß 
genau, was fie da jagt. Zum Meberfluß beleuchtet fie im zweiten Act (dev Die 
Schwelgerei im finnlichiten Genuß uns fcenifch mehr verdeutlicht, als eben nöthig 
und fchielich ift) ihr Boudoir und die Gärten des Palafteg mit einem twogenden 
Zauberihimmer von Flämmchen — flüjternd weiche Töne, „gliederlöjende“ Muſik von 
Flöten Eingt lodend herein — und endlich zeigt jich Hinter den gelüfteten Vorhängen, 
auf dem Lotterbette plaſtiſch-ſchön Hingeftredt, die Göttin jelbjt, die Venus vulgivaga 
des Gäfarenpalaftes mit ihrem bejtridenditen Lächeln. Zuviel für den zum erften 
Male, aber gleich jo wirkungsvoll verführten Jüngling! Daß ihm die Sinne ver: 
gehen, wäre aljo eigentlich fein Räthſel — mehr dies, daß die größte Buhlerin 
Roms, die in jedem Genuß fich nach neuer Begierde jehnte, hier mit einer vollen 
Stätigfeit der Liebe ihren lüfternen Blid zu einer jchönen Jünglingsſtirn erhoben, 
mit ungetheilter Leidenſchaft für einen Marcus empfunden, jeinetwegen den Siliuß ab- 


322 Deutiche Rundichau. 


gedankt haben joll. Wir können ihr dies unmöglich auf ihr Geficht Hin glauben, 
in deſſen Züge wir, durch die Dämmerung langer Yahrhunderte zurüd, Dank der 
Portraitkunſt eine Tacitus und Juvenal, ganz deutlich und ſcharf ſchauen ... Ein 
verführter Marcus wäre für Meffalina nie mehr gewejen ala eine flüchtige Epifode, 
und Siliuß hätte einen ſolchen launenhaften Trieb eben jo wenig zu fürchten gebraucht, 
wie wenn ein andermal ein Gladiator, ein Zwerg oder ein Tänzer ihr gefallen mochte. 
Für das verbuhlte Weib paßte zu längerem Verkehr nur der routinirte Mann mit 
pifanten Gigenjchaften, gerade wie Silius e8 war — nicht ſolch' „affenjunges“ Blut 
aus langweiligeguter Familie. Um jo mehr muß es und wundern, daß Meſſalina 
diefem "Jungen gegenüber zur Liebesfchwärmerin wird, daß fie auf den Knieen ala 
ihren Herrn und Kaiſer ihn begrüßt, daß jene Leidenfchaft, mit der ihr irrer Blid 
ihn noch jpäter im Schattenreiche aufjucht, fich bei ihr zuleßt zur vollen Höhe des 
tragischen Wahnſinns ſteigert . . . Das iſt nicht die richtige Meffalina mehr! Dies 
drängt unwillfürlich bei der Entwidlung des Charakters in der Tragödie ſich uns 
auf, jo jehr wir auch das glänzende und geiftvolle Detail des für die Zwede ber 
Dichtung modificirten Charakterbildes bewundern mögen. 

Der zweite Act aljo führt uns in die petite maison der Meflalina, in den 
Venustempel des finnverwirrenden Laſters — aber vorher noch in die richtigjte Be 
hauſung der Tugend, zu Barea Soranus, dem Gaftfreund des Pätus. Der Dichter 
hatte mit dem leßteren jeine Noth, um ihn zu einem Anjchein von dramatijcher 
Geltung emporzubeben; iſt er doch im Leben wie im Tod nur „der Mann jeiner 
Frau“, die geradezu im Haufe das ftoilche Tugendregiment führt. Krank läßt ihn 
der Dichter auftreten und als Patient durch das ganze Stüd hinwanken, denn in 
diejer phyfifchen Gebrechlichkeit braucht er ihn für die Führung der Sterbejcene im 
fünften Act, Damit er aber jonjt dramatifch etwas vorjtelle, muß das Volk bei 
jeinem Austritt aus dem Kerker für ihn Partei nehmen; durch die Straßen jchallt 
allerort3 der Ruf: „Pätus werde Gäfar! Nieder mit Claudius und Mefjalina!“ 
Schon träumt er fi) als den künftigen Befreier Roms; im dritten Act finden wir 
ihn am Schreibtifche jtatt im Bett, jehr eifrig mit Staatdcorrefpondenz beichäftigt. 
Gin Patient als politischer Projectenmacher ift eine klägliche Erfcheinung auf der Bühne; 
zudem macht er durchaus nicht den Eindrud geiftiger Bedeutjamteit. 

In den zweiten Aufzug nun, der mit einer Familienſcene zwilchen Pätus und 
Arria jehr friedlich beginnt, Fällt bereits die erfte enticheidende Peripetie des Drama’. 
Aus dem Kaijerpalaft befommt Arria einen anonymen Brief: „Dein einziger Sohn 
it Mefjalina’s Liebfter — und d’rum verzeihbt man Dir und Deinem Pätus.“ Der 
weitere Inhalt des Billets ladet fie ein, fich noch diefe Nacht in Mefjalina’8 Gärten 
perjönlich davon zu überzeugen. Der Brief fam von Narciß, dem vielgewaltigen 
Treigelaffenen, dem Leiter jeder Palaftintrigue auf dem Palatin — der jelbjt das 
verliebte Stelldichein der Kaiferin mit frecher Störung zu unterbrechen wagt. Draußen 
erhepe fich der Aufftand für den neuen Volkskaiſer Pätus, indeß Meflalina Hier mit 
feinem Sohne fofe! Von allen Römern wehrt ihr Narciß feinen, als nur Den! 
Der grimmigjte Zornesblid Meflalina’3 drängt ihn hinaus, indeß Marcus ala dummer 
unge dabei jteht, und höchſtens „o Jupiter“ oder „Du wagſt es“ ausruft. Nar— 
ciſſus aber geht ftehenden Fußes nach Oſtia zu dem Kaiſer, den er völlig beherricht, 
um dort die Sataftrophe Meflalina’3 vorzubereiten. Nun folgt der theatralifche 
Schlußeffect des Actes. Eben wirft ſich Meffalina vor ihrem Xiebling hin — ba 
hört man hinter der Scene den Aufichrei „Marcus!* und vor dem erleuchteten 
Hintergrunde des Gartens ericheint Arria’3 dunkle Geftalt. Ein Iheatereffect im 
Dperngeihmad. 

Der dritte Act ift entichieden der jchwächfte des Stüde. Wenn fi) Marcus im 
zweiten Act fo ftark echauffirt hat, daß „fein Blut, in Wellen fiedend, ihm an bie 
Rippen ſchlägt“, To joll jeht eine ganze Sturzflut moralifcher Abkühlung darauf 
folgen. Er zieht den Vorhang feines Lagers zurüd, — da fit Arria auf feinem 
Bett und fieht ihn, ohne fich zu rühren, mit furchtbarem Ausdrud an. Das ijt ihr 


* 


Das Wiener Burgtheater. 323 


zweiter Effect. Wie ihn die Blitze aus Meſſalina's feuchten Venusauge verſengten, 
fo durchbohrt ihn nun der jtrafende Tugendblid der Mutter, und foltert ihn moralifch 
in den Tod hinein. Marcus entreißt ihr zulegt den Ring, den fie einft für den 
legten jchlimmen Fall mit Gift gefüllt hatte, und ruft noch im ZTodesfampf: „So 
jterbend bin ich wieder des Pätus und der Arria Sohn!” Dergejtalt endet im 
dritten Act bereitö dad ZTrauerjpiel von Marcus. Der Dichter jagt ihn gewaltjam 
in den Tod, denn er braucht feine Leiche für die große Hauptjcene zwiſchen Arria 
und Meſſalina, in welche nach jener erſten Kataſtrophe die zweite Peripetie des Stüds, 
die Vorbereitung der Haupt» und Schluffataftrophe fällt. — Todt ift Marcus für 
die dramatiiche Wirkung noch weit mehr werth als lebend. Im Uebrigen ift er 
eine Figur ohne individuell belebende Züge, eine bloße Hirngeburt der Reflerion. Er 
ift weder Held, noch richtiger Liebhaber, nur das geborene dramatijche Opfer, über 
das die weitere Führung des Gonflictes ihren Weg nimmt. 


Bu einer jehr bedeutenden Höhe fteigert fih nun der 4. Act, in welchem die 
ftärfften Pulſe der Tragödie fchlagen. Die grandiofe Begegnung der beiden rauen 
an der Bahre des Marcus gehört zu den wirkſamſten Scenen der modernen Dra= 
matif überhaupt und ift nach der meijterhaften Erpofition der zweite hellleuchtende 
Glanzpunkt des Drama’d. Ganz verloren in ihren Schmerz tritt Mefjalina an den 
theuren Todten und zieht die Hille von. feinem fchönen, falten Antlig hinweg. „Du 
Follft nicht todt fein — ruft fie ſchwärmend — „ih, die Kaiferin, will's nicht! 
Wach' auf — und wedt dich meine Stimme nicht, jo ruf’ ich mit dieſem letzten 
Kuß dich noch zurüd!” Und Arria, fich dazwiſchen werfend, fchleudert ihr das Wort 
entgegen: „Eh' will ich fterben, eh’ dein Mund ihn füßt, der noch im Tod ihn mir 
entehrt! Mir gab er fich im Tode, und nur die Mutter darf noch um ihn weinen!‘ 


Der Uebergang in den 5. Act Hinein ift dem Dichter wieder nicht jonderlich 
geglüdt; bier war er ſogar genöthigt, am meilten zu Fünfteln. Im dem gejchicht- 
lichen Hergang fand er die beiden KHataftrophen vor, in die er mit feiner Handlung 
Hineinfteuern mußte: den Doppeltod de Pätus und der Arria und das Ende der 
Meflalina, wie e8 Tacitus im 11. Buche der Annalen erzählt. Zwilchen den vorans 
gehenden vier Acten, in denen die Erfindung des Dichters frei waltet, und dem 
tragiichen Ausgang, wie ihn die Gefchichte fertig vorgedichtet Hatte, galt es nun einen 
BZulammenhang herzuſtellen; es fam darauf an, die fingirte Verwidlung in die 
Hijtoriich gegebene Kataftrophe gleichjam richtig einzuhängen — aber da eben ilt die 
Stelle, wo die Hafen nicht recht pafjen und zufammenjchließen wollen. Sehen 
wir jelbit. 

Da wäre zuerjt die fünftliche Motivirung des Bacchanals und der Frechen Hoch- 
zeitäfarce mit Silius. Was nach der Gefchichte nur der Ausbruch eines zügellos 
mwüjten Naturell3, die letzte Beſiegelung der Vernichtung aller Sitte war, erhält bei 
Wilbrandt eine merkwürdig raffinirte Deutung. Der Schmerz um Marcus bringt 
Meſſalina dem Wahnfinn nahe. Sie fit und nagt die Unterlippe, daß das Blut 
in ihren Buſen rinnt. Dann fpringt fie auf und ruft mit frampfigem Lachen: „den 
Silius, den Lebendigen, ruft mir her! Was ift mir Marcus, daß ich, die Meflalina, 
um ihn weinen jollte® Wenn er mir zu den Schatten hinab entfloh, jo lach’ ich 
fein, jo ruf’ ich Bacchus! Evo&! her ihr Lebendigen, und hinab ihr Todten!“ Und 
fie läbt den Haruſpex fommen, und veicht dem früher abgedankten Buhlen Silius 
die Hand als das ihm anvermählte Weib, indeß der Trauergejang um Marcus am 
Fuß des Palatin’s, über die Gärten des Gäfarenpalajtes hinüberjchallend, die Mufik 
zu ihrer Hochzeit macht. Es ift der äußerſte Parorismus verzweifelten Schmerzeg, 
der ſich bei Wilbrandt’3 Meifalina in tollen, geheuchelten Lebensübermuth verkehrt; 
jo gebärdet fich nur, wer felbjt reif zum Tode ift. Diefe ganze Motivirung ijt geift- 
voll, wie jo Vieles in dem Stüd, aber wir geben es Jedem zu überlegen, ob dieje 
fünftlich geſtellte pſychologiſche Majchinerie in einen Charakter von jo antiker Deut» 
lichkeit, von fo typischen Umriffen wie der der Mefjalina wirklich hineinpaßt. 


324 Deutſche Rundſchau. 


Noch bedenklicher iſt die andere Künſtelei, die die Schulanecdote von dem Tode 
der Arria und des Pätus in den dramatiſchen Zuſammenhang hereinzieht. Von der 
Bahre des Marcus, von welcher Arria die jammernde Kaiſerin zurückwies, ſchied 
diefe mit den drohenden Worten: „Ich Tag’ dir — ftolze Mutter diefeg Todten — 
der ſchöne, troßige, kalte Jüngling ift noch nicht der letzte Schmerz, den ich dir ſchuf. 
Küß' meine Küffe ihm hinweg! Die Schande, daß ich ihn liebte, waſch' mit deinen 
Thränen von jeinem Angefiht — bald wirft du noch andern Kummer füllen und 
beweinen!“ Pätus ift da gemeint; des Volkes rebellifche Zurufe geben einen ge- 
nügenden Vorwand zu feiner BVerurtheilung. Gar willlommen ift Meflalina die 
Botſchaft, daß Pätus durch den Schmerz um den Sohn jo völlig gebrochen ſei — 
„ein umgeworjenes Bild des früheren Mannes, nur eine Toga, doch fein Römer 
drin‘. In diefer Verfaffung jcheint er völlig geeignet zu fein für einen unwürdigen 
Tod. „Er falle noch heut“ — ſo ſpricht Meffalina ihr Urtheil — „hier vor 
meinem Antlig falle er! ch will ihn fterben jehen! Begnadigt ift er, nach eigener 
Mahl, von eigener Hand zu jterben. Sch will jehen, und fie, fein Weib, mit 
mir — wie dieſer Schatten, ihr zerbrochner Gott, unmännlich und mit Schande 
ftirbt. Sie foll dann für ihn erröthen und in Schmach verfinfen, wie ich vor ihr 
verſank!“ Wie gefucht und graujam zugleich, was für eine außgerechnete, jpib- 
findige Sophiftif der Nahe! Das Gejchraubte und Gedrehte des Motivs zeigt 
fih ſchon darin, daß es einer jo umftändlichen Erklärung bedarf. Die Menjchen 
MWilbrandt’3 brauchen meiftens viel Worte, um und deutlich zu machen, wie und 
weshalb fie gerade jo denken und wollen. Und nun geht die wohlbefannte Anechote 
vor und in Scene; die Abficht Mefjalinens wird zu Schanden, indem Arria ihrem 
lebensmatten, aber doch nicht jterbemuthigen Gatten das berühmte, heroiſche Vor— 
bild im Tode giebt und ihm jo die Kraft einflößt, ala Held ihr nachzujterben. Jene 
Anecdote jelbft wirkt nur durch ihre Kürze; das oft citirte Wort „Paete, non dolet“ 
ift fnapp und jcharf, wie die Spite des Hingereichten Dolches ſelbſt — Hier werden 
zwei ausführliche Scenen (der 4. und 5. Auftritt des letzten Actes) voll breiter 
Rhetorik daraus. Sterbend triumphirt auch Arria über Meſſalina — mit brechen- 
dem Blick richtet fie an fie dad Wort: „Ich bin auch jeht noch glüdlicher ala Du!“ 
Gleich darauf erſcheint Narciſſus an der Spitze einer Schaar von Prätorianern, um 
auch mit Mefjalina ein Ende zu machen. Die Schande des feigen Sterben, die fie 
Anderen bereiten wollte, trifft fie nun felbit. 

Mie wir aus diejer eingehenden fritiichen Analyfe entnehmen können, iſt das 
Stück Wilbrandt's in Anlage und Durchführung voll wolberechneter Abfichten, voll 
feinen und complicirten Calcüls. Allerdings gehört die „Abficht“ im höhern Sinn, 
wie auch Leſſing in feiner Dramaturgie (34. Stüd) ausdrüdlich betont, zu den erften 
Erforderniffen eine dramatijchen Kunſtwerks — aber fie muß in der Teleologie der 
Dichtung wie der geheime Zwed im Schöpfungsplan gleichjam verborgen liegen, und 
fi mehr der vollen Empfindung, ala dem nachwuchernden Berjtande ankündigen. 
In Wilbrandt’3 dramatiichen Gonceptionen — namentlich aber in diefer Tragödie — 
begegnet man der Abficht, und zwar der deutlichen und bejtimmten, auf Schritt und 
Tritt. Die Zettelfäden des reichen, jchillernden Gewebes rühren unverkennbar von 
der Reflerion ber, nur der Einfchlag von der dichtenden Einbildungskraft. Wilbrandt 
befißt manche von den Qualitäten, die den Dichter machen — die lebhaft angeregte 
Empfindung, den Kennerblid für den fruchtbaren Stoff, den jtarfen Drang des Pro— 
ducirend. ber oft fommt es mir vor, ala ob er das Gejchäft des Dichtens jeden 
Augenblid von der Anſchauung und Phantafie auf andere vicarirende Geelenträfte, 
als auf den Ejprit, den Berftand, jogar den anempfindenden Geſchmack übertragen 
fönnte. Bei ihm darf man faft — jo parador e8 klingt — von einem productiven 
Zug in feiner Bildung fprechen, und ich weiß es faum zu unterfcheiden, wie weit 
fie dem echten Dichtertalente Hilft oder e8 wol gar erſetzt. Er hat die Entite- 
hungsart, den jchöpferiichen Hergang bedeutender Dichtungen forgfam und feinfinnig 
ftudirt, wie wir aus jo manchen feiner Literarifchen Efjay’3 entnehmen — und jo 


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Das Wiener Burgtheater. 325 


verfuchte er es jeit jeher und mit einem gewillen Glüd, an der Handhabe diefer 
Studien ſelbſt auch zu produciven. Dazu hat er, ohne jcharfe Eigenthümlichkeit der 
eigenen poetijchen Ausdrudsweife, ein ungemein feine® Ohr für die Echolaute der 
ſtark entwidelten Dichterfprache, die er in finnreichen Nüancen bald da bald dort 
nachhallen läßt; in ſolchen Dingen ift er ein ganz fubtiler Hörer und Merker. Go 
ftreift er in „Arria und Meſſalina“ am häufigiten an den eigenfinnigepoetijchen Aus— 
drud Heinrich dv. Kleiſt's heran, mit dem er fich gar eingehend beichäftigt hat, bie 
und da flingen auch Leſſing'ſche Töne von fern an, nämlich an jenen Stellen, wo 
der moraliſche Standpunkt und die Gefinnung vor allem ein Wort braucht — an 
anderen Worten wird auch ein Klein wenig jhafejpearifirt. Aber gleichviel — da 
wir der Talente von rein abgeſchloſſener Eigenthümlichkeit in unferer modernften 
Literatur jo wenige haben, jo können wir immer an einer jo noblen, ernft jtreben- 
den Begabung, wie die Wilbrandt’3 ung erfreuen, und haben jogar die VBerpflich- 
tung, fie nach Gebühr anzuerkennen. Er Hilft uns über die unproductivfte Epoche 
unferer Dramatif mit großem, unläugbarem Verdienft hinaus — ja noch mehr ala 
dieß, er legt auch das volle Gewicht eines bedeutenden Inhalt in feinen beſten Pro— 
ductionen, wie in Gracchus, der Arria ac. ſehr nachdrüdlich in die Wagjchale. 

Die Burgtheater» Vorftellung der Wilbrandt'ſchen Tragödie ift eine ganz glän- 
zende. Da wirkt Alles zu einem harmoniſchen und bedeutenden Eindrud zuſam— 
men: die geſchmackvolle Pracht der Infcenirung und der Goftüme bei jo viel archäo- 
Iogifcher Treue, als fie die richtig ertvogene Bühnenconvenienz verträgt, eine künft- 
lerifch gewiflenhafte Behandlung jeder einzelnen Rolle, vor allem aber die außeror- 
dentliche Leiftung des Fräulein Wolter als Meffalina, die diefe Geftalt aus der 
Wurzel ihres jchaufpielerifchen Talentes herausgeftaltet, und Wirkungen ihr abgewinnt, 
die vielleicht den Dichter jelbft mit überrafchen mochten. 

Joſef Bayer. 


Politifhe Rundſchan. 


—ñ——— 


Berlin, den 15. Januar. 


Noch kurz vor der Jahreswende, die im Uebrigen einen ſo wohlthuenden Rück— 
blick auf die Entwickelung und Befeſtigung der deutſchen Verhältniſſe geſtattete, 
tauchte urplötzlich aus dem ſonſt wenig bedenklichen Fahrwaſſer unſeres politifch-par- 
lamentariſchen Lebens eine Klippe auf, an der man einen Moment lang Gefahr lief, 
anzuprallen. Die unerwartet während der Seifion verfügte, aber immerhin auf Grund 
eines rechtskräftigen Urtheild erfolgte Verhaftung des Abgeordneten Majunfe, war 
von der Mehrheit des Reichstages für einen Eingriff wenn nicht in die Rechte, jo 
doch in die Sicherheit des Haufes gehalten worden. „Verletztes Rechtägefühl“, wie 
die Einen, „unzeitgemäße Sentimentalität“, wie die Anderen behaupteten, hatten die 
reichstreue Majorität bewogen, die Sache des ultramontanen Führers zu der ihrigen 
zu machen. Dies mußte für die Regierung, namentlich aber für den leitenden 
Staatömann um fo peinlicher fein, als diefer Vorgang anjcheinend das ihm jonjt jo 
ergebene Parlament in Gegenfag mit ihm jelbjt zu ftellen jchien und als, was ſchlim— 
mer war, die ultramontane Partei den jcheinbaren Bruch zwijchen Bismard und den 
nationalen Patrioten in ihrem Sinne auszubeuten, nur zu jehr in der Lage war. 
In der Wilhelmsſtraße, wo man fich auf die Volfäfeele verjteht, war man feinen 
Augenblid darüber in Zweifel, welch” mächtiger Agitationshebel den Gegnern 
der KReichspolitif durch eine Gegenfählichkeit geboten wurde, in die, wie man dort 
wenigſtens meinte, fich die National-Liberalen, durch die ſchlaue Ausnützung der preu— 
Biichen GConflicts-Reminiscenzen Seitens des intriguengewandten Windthorft, gewiffer- 
maßen „babe Hineinjegen“ Laffen. Im nationalen und liberalen Lager war man indeß 
weit entjernt, die Sache jo tragifch zu nehmen. Man wollte die Gerechtjame des Parla- 
mentes wahren, man jah fich einer „Lücke“ der Hausordnung gegenüber und wenn auch 
in der Gonjtatirung einer „Lücke“ eine bedenkliche Erinnerung an vergangene Tage 
liegen mochte, jo dachte doch Niemand unter denen, welche für eine Ergänzung des 
$. 31 jtimmten, daran, durch ihr Votum einen Act der Oppofition gegen den Reiche- 
fanzler oder gar eine abfichtliche Unterjtüßung der ultramontanen reichgfeindlichen 
Strebungen zu vollziehen. 

Der Reichskanzler freilich, welcher fich ftetS der ungeheuren Verantwortlichkeit 
bewußt bleibt, die auf ihm Laftet, hatte ein Recht, die Angelegenheit politijcher oder, 
wenn man jo jagen darf, perjönlicher aufzufaſſen. Wer gerecht jein will, muß aner- 
fennen, daß jeit dem Jahr 1866 exit in Preußen und dann im deutjchen Reich ver— 
hältnißmäßig von Seiten des Kanzlers jehr viel geichah, um die Stellung und Würde 
der Bolfsvertretung zu erhöhen. Herr don Bismarck erjah im Parlamente jein 
vornehmſtes instrumentum regni und er wußte ſehr wohl, was Beide fich gegenjeitig 
zu danfen hatten. Gerade aber weil ex fi) bewuht war, der Würde des Hauſes 
jtets nach Kräften Vorſchub geleiftet zu haben, durfte ev e8 als einen Mangel ftaats- 


u 


Politische Rundichau. 327 


männiſchen Einblides in die wahre Natur umferer politifchen Berhältniffe bitter 
empfinden, in jo unerwarteter Weile fich von demjelben Elemente im Stich gelafjen 
zu jehen, auf das er fich bisher vorzugsweiſe geftüßt. Und fo reifte in jeiner Seele, 
welche eine bedingte Parteigenofjenfchait nicht anerkennen mag, der Gedanke eines 
RNüdtritts. Jedermann kennt den glüdlichen Verlauf der Krifis, zu deren jchneller 
Beendigung derjelbe Windthorjt, allerdings umwiffentlich, die Handhabe bot, ala er 
noch jeines legten Gieges voll, am anderen Tage die „geheimen Fonds“ des aus— 
wärtigen Amtes zu beanjtanden vorichlug. „Qui trop embrasse, mal étreint.“ Windt- 
horſt Hatte dies in feiner Triumphatorlaune zu wenig bedacht und jo ward er der 
Promotor eines glänzenden Vertrauensvotums Seitens des Reichstages für den Kanzler, 
welchem wiederum die Heftigfeit der Reaction innerhalb der Majorität ein vollgül- 
tiger Beweis Tür ihre Aufrichtigkeit fein mußte. Dies fcheint mir der pfychologifche 
Hergang eines Zwijchenfalls, zu deſſen Erläuterung man wahrlich nicht der famoſen 
und nunmehr fajt in's Fabelreich gehörigen Hofintriguen, de Ausgangs des Arnim 
Prozeſſes und aller jener Klatichgeichichten bedurfte, welche man von verfchiedenen 
Seiten bei diejem Anlaß eine höchit geheimnißvolle und einflußreiche Rolle jpielen 
ließ. Für gewöhnlich ift Jchlechterdings die einfache Wahrheit uns zu fchlicht, ala 
daß der arbeitenden Phantafie nicht allerhand kühn combinirte Gabalen- Märchen will- 
fommen jein jollten. 

Leider hat auch hier übertriebener Dienjteifer infpirirter Federn des Guten nicht 
jelten gar zu viel gethan. Und wer Fürſt Bismard nur einigermaßen kennt, der 
muß auch wiffen, daß die brutale Verkeßerung namentlich des Abgeordneten Lasker, 
welche fich mehrfach an diefen Vorfall ſchloß, kaum feiner augenblidlichen Erregung, 
geichweige denn feinen innerjten Intentionen zu entiprechen vermochte. Für jolche 
und ähnliche Vorkommniſſe jollte die officiöje Preſſe ftets des Pfeffel'ſchen Fabelwortes 
eingedenf bleiben: „Blinder Eifer ſchadet nur!“ 

Wenige Tage nach den patriotifchen Bellemmungen, welche diefer Vorfall jedem 
Vaterlandsfreunde abpreßte, — war doch jogar einen Moment lang die Auflöjung 
des Reichdtages mit allen ihren aufregenden Conſequenzen allen Ernftes in Frage 
gewejen — brachte das Urtheil des Berliner Stadtgericht? die leidige Arnim 
Affaire wenigitend zu vorläufigem Abjchluß. Ganz abgefehen von perjönlichen 
Rechtsanihauungen, muß conftatirt werden, daß dies Verdict in allen außerdeutichen 
Landen dem preußiichen NRichterftande zur höchſten Ehre angerechnet wurde. Und 
nach diefer Richtung wirkte die Urtheilsverfündigung für den deutjchen Namen wie 
eine Eluge, patriotifche und zugleich politifche That. Denn e8 war den Gegnern 
Deutichlands jo wohl gelungen, die Unabhängigkeit des preußiichen Richterftandes 
allüberall dergeftalt zu verdächtigen, daß der männliche Freimuth des Richterſpruchs 
abermal® das gejammte Ausland zu dem Rufe zwang: „I y a des juges A 
Berlin !** 

Bor allen Dingen aber hat der Arnim-Prozeß noch die eine Folge gehabt, auch 
den nicht in die diplomatijchen Geheimniffe Eingeweihten einen Begriff von dem Un— 
terfchiede zu geben, welcher zwifchen der mikroskopiſchen Beobachtung de Ge— 
jandten in fremden WRegierungscentren und jener teleskopiſchen Beobachtung 
beiteht, welche der Leiter der auswärtigen Politit im Mittelpunfte des heimifchen 
politiichen Lebens durchzuführen Hat. Diefer Unterfchied allein berechtigt denn auch 
den Minifter, jeine Auffaſſung zur Richtſchnur für den Untergebenen zu machen und 
erklärt gar manches font unverftändlich bleibende Factum. Die Veröffentlichung der 
Papftwahl-Depeiche des deutſchen Reichskanzlers d. d. 14. Mai 1872 ftand befannt- 
lich mit diefen Vorgängen in engjtem Zufammenhange. Dem Politiker von Fach war diefe 
Publication jchlechterdings Feine Enthüllung ; höchſtens, daß die Energie des Ausdruckes 
im Bismarck'ſchen Uctenjtüde dem Laien imponiren konnte, Eine bejtimmte Verabredung 
Seitens der Gabinete hat übrigens dieſes merkwürdige Actenftüd nicht zur Folge 
gehabt. Einzelne der kleineren Regierungen, wie beiſpielsweiſe die Schweiz, reagir- 
ten gar nicht auf das Document, jo jehr fie auch jonjt der Kirchenpolitif = deutfchen 

Deutliche Rundſchau. I, 5. 


328 Deutiche Rundichau. 


Reiches beipflichten mochten. Gerade die Eidgenoſſenſchaft meinte, daß ſie ſich von 
der Behandlung diefer Frage abjeit3 zu halten habe, weil von den zwei Fünitheilen 
ihrer Einwohnerſchaft, welche fich zu dem römijch-fatholiihen Kultus befennen, mehr 
als die Hälfte fih ultramontanen Ginflüfterungen als ganz unzugänglich erwiejen 
habe. Bon den Großmäcdhten war e8 vor Allem Dejterreich, das fich nicht ohne 
Meiteres auf den Standpunkt zu ftellen vermochte, die künftige Papſtwahl, ob ihrer 
Gültigkeit, vorerjt zu prüfen und danach die Anerkennung oder deren Verweigerung 
auszufprechen. Graf Andraffy Hatte j. 3. jchon den Delegationen in diefer Beziehung 
erklärt, daß er dem Kaiſer Franz Joſeph niemals den Rath ertheilen werde, auf 
eines der ihm zujtehenden Rechte zu verzichten, und zu diejen Rechten gehört auch 
dagjenige der Erclufide im Gonclave, welches befanntlih vom römifchedeutichen 
Kaiſer auf den Kaifer von Dejterreich übergegangen ift. 

Anzwilchen ging im Reichstag die parlamentarische Arbeit fort und die An- 
nahme des Landſturmgeſetzes, wie die Beratung der Givilehe:-Borlage 
zeigten, wie ernſt es dieje KHörperichaft mit ihren Pflichten und Aufgaben nimmt. 

Daß das Landſturmgeſetz Eeinerlei Provocation des Auslandes bedeuten könne, 
war Sedermann, der jehen wollte, klar, wenngleich nicht geleugnet werden joll, daß 
diefe Reform der alten Landjturmverfaflung Preußens und deren UWebertragung auf 
das Reich — in ihrer Art ein Ähnlich bedeutiames Werk, wie die Mtilitär-Reorgani: 
lation der 60er Jahre, — zunächit hervorgerufen worden war, duch die Art und 
Weiſe, in welcher Gambetta, vermöge der levde en masse, Armeen aus der Erde zu 
ſtampfen gewußt Hatte. 

Der Tod des „lebten Kurfürſten“ und die fich daran fnüpfende Ausjöh- 
nung der kurheſſiſchen Agnaten mit der preußiichen Krone hat fich ohne jenes jen- 
jationelle Beiwerk vollzogen, auf welches von gewiller Seite für diefen Fall gerechnet 
worden war. Der alte Fürft war mit allen feinen Fehlern immer ein ccht heifticher 
Charakterkopf und die grollende Würde, mit welcher er fein Unglüd zu tragen ver: 
ſtand, hat mehr als einen feiner Gegner mit dem „Menſchen“ verföhnt. In der 
That waren auch die jprichwörtlich gewordene Mäßigkeit, Nüchternheit und Selbit- 
abhärtung, die er an fich fo ehern beobachtete, wie er jie von Anderen verlangte, 
Eigenjchaften, welche ihn nicht nur von manchen feiner Vorfahren vortheilhait aus- 
zeichneten. Er bat den Glauben an jeine Wiedereinjegung bis zum letzten Athem- 
juge bewahrt, war er doch jchon einmal in jeinen YJugendjahren Zeuge ähnlicher 
Neftauration geweſen. Dennoch hielt er von KXoyalitäts-Verficherungen, namentlich 
wenn fie aufdringlih an ihn herantraten, nicht eben viel und darin zeigte ex einen 
Hareren Blick als die meilten feiner depofjedirten Echidjalägenofjen. Kein Freund 
deutjcher Einheit wird fein Gejchik bedauern, Niemand aber auch wird ihm den Zoll 
der Achtung verjagen, den jeine Faſſung im Unglüd heiſcht. 

Die Beihiehung einer mecklenburgiſchen Brigg an der cantabrijchen Küſte 
durch carliftifche Strandräuber hat auch im letzten Monat wieder die deutiche aus: 
wärtige Politit in den Vordergrund geitellt. Ein folcher Unfall gehört zu jenen 
Dingen, welche fich nicht wohl vorherjehen laſſen. Deshalb find auch alle jene Vor— 
würfe jchwerlich begründet, welche daß deutiche Marineamt trafen, ob der vorzeitigen 
Abberufung der beiden im biscayiſchen Meere jtationirten Kanonenboote. Man hat 
fich jchleunigjt bemüht, die entjernten Schiffe zurücdzjubeordern und es hat ganz den 
Anfchein, als jei eine größere Erpedition dazu auserjehen, den ‚Garlijten für künftig 
dad Bombardement von Fahrzeugen unter deutjcher Flagge zu verleiden. 

Der an diefer Stelle jchon in der lebten Rımdichau angedeutete Wechjel der 
Dinge in Spanien hat fich inzwiſchen auf unblutige und doch auf die landesüblich 
militärische Weije volljogen. Der jugendliche König Alphons XII. ift in Madrid 
eingezogen. Seine Perfon bot noch die einzige Yöjung, welche in dem zerflüfteten 
und der ewigen inneren Nuhelofigfeit müden Yande einige Ausficht auf Erfolg bejaß. 
Don Alphons, ein modern=gebildeter Bourbon, betritt den mit bejten Vorſätzen ge— 
pflajterten KHönigsweg. Mit demjelben glatten Material ift freilich auch der Weg 


Politische Rundſchau. 329 


nach weniger glüdfeligen Endzielen gedielt. Es ift ein Glück, daß die Mutter des 
jungen Monarchen fich wenigjtens vorläufig jernhält. In der Günftlingswirthichaft, 
von welcher die vielgefhmähte Frau fich niemals Hat ganz trennen können, ijt die 
größte Gefahr für ihren Sohn zu erbliden. Nicht ohne Humor erjcheint die Yage 
des heiligen Vaters gegenüber den beiden jpanifchen Legitimitäten; hat er doch erſt 
diejenige de Don Garlos und neuerdings diejenige Alphonjo’3 mit jeinem Segen be— 
dacht. Für welche joll er fich entjcheiden, da beide legitim doch find? Die Sym- 
pathien der päpftlichen Gamarilla, des Jeſuitismus, find freilich entjchieden auf car- 
tiftifcher Seite. Dies dürfte wol jchließlich den Ausſchlag geben. 

Die Stellung der Mächte ift dem jungen Souverän möglichſt günftig. Die 
deutiche Reicharegierung Hat ſich alsbald diplomatifch mit den Gabinetten von 
Wien und St. Peteräburg ind Einvernehmen gejegt und beide find geneigt, gemein- 
ichaftlich die Anerkennung des neuen Regime’3 in Spanien auszufprechen, jobald 
daflelbe erit im Stande jein wird, eine regelmäßig geordnete Regierung zur Vor: 
Htellung zu bringen. Begreiflicherweije ift man in St. Petersburg einigermaßen 
ftolz darauf, daß man „Vorausſicht“ genug bejeilen, die Erecutivgewalt Serrano’3 
gar nicht anzuerkennen. Indeß in Berlin, wie in Wien lebt man der lleber- 
zeugung, daß man mit der Anerkennung Serrano’3 gewilfermaßen erit der monarchi— 
ichen Reftauration, die man jebt freudig begrüßt, den Weg geebnet Habe. Nament- 
ih in Defterreich fieht man den jchnellen Triumph Alphonſo's faſt wie einen 
eigenen Sieg an, denn in Wien war es ja, wo ber junge Königsſproß feine eigent- 
lihe Erziehung erhielt. Er wird nun zu zeigen haben, ob er den Wiener Jugend- 
bildnern Ehre maht. Den in Defterreich gleichfalls zahlreich vertretenen Freunden 
des Carlismus ift diefer gelungene Alphonfijtiiche Staatzftreich überaus empfindlich. 
Haben doch ſofort die höchſten Fürjtlichen Gönner, welche die Sache des Don Carlos 
bisher jo reichlich und freigebig unterjtüßt, von der Wiederheritellung der Monarchie 
in Spanien Anlaß genommen, ihre Sand vom Prätendenten des „Throne und des 
Altars“ abzuziehen. Sie erklärten, daß ihre Beihülfe lediglich dem Kampfe gegen 
die Republik gegolten habe und daß fie jet, nachdem das Königthum wieder herriche, 
feinen Grund mehr Hätten, dem Garlismus materielle Opfer zu bringen. Die bisher 
dem Moloch der Legitimität aus Dejterreich allein anheimgefallenen Gaben laſſen fich 
auf etwa 10 Millionen Franken beziffern. 

Graf Andraſſy für feine Perfon hat freilich von den fchlechten Ausfichten, die 
fh feinen feudalen MWiderfachern eröffneten, noch wenig Nuten zu ziehen vermodht. 
Die Angriffe gegen ihn wurden mit verdoppelter Wucht Tortgejegt und namentlich 
die ungarische Brochure Asboth's, die feine Thätigkeit ald ungarischer Minifterpräfi- 
dent einer bösartigen Kritik unterzieht, muß ihn jchmerzlich berührt haben, denn in 
Ungarn find die jtarfen Wurzeln feiner Kraft. Allen diefen Kabalen ſetzt der Graf 
freilich eine unzerſtörbare „sérénité“ entgegen, die auf dem Gefühl feines redlichen 
Strebens und feiner — Unentbehrlichkeit bafitt. Doch werden ihm mitunter auch 
harte Opfer zugemuthet ! 

Inzwiſchen ift aber in ganz Cisleithanien und weit darüber hinaus die 
Aufmerkfamkeit der öffentlichen Meinung lediglich auf den Rieſenproceß concentrirt, 
welcher jich vor den Wiener Gefchworenen gegen den Ritter Ofenheim von Ponte 
euzin, den ehemaligen Generaldirector der Lemberg⸗Czernowitzer Bahn, abjpielt. Der An— 
geflagte verdient nicht nur als Einzelweſen, jondern auch bejonders ala Typus der 
Diener Finanz und Gründerwelt hervorragendes Intereffe. Für ihn und jeines 
Gleichen ift Alles erlaubt, was nicht im Strafcoder ausdrücklich verboten ift und die 
Bereicherung auf Koften der Andern („la bourse c'est l’argent des autres“) wird 
mit einer Gonfequenz, Kühnheit und Wifjenfchaftlichkeit ala Lebensaufgabe betrieben, 
die manchem befjeren Felde menjchlichen Strebens zu wünfchen wäre. Dazu kommt, 
daß Dfenheim perfönlich durchaus nicht der erſte Beſte, jondern ein fcharfer Kopf und 
von jchlagfertiger Beredtjamleit ift. Und jo entrollt er in feinem Cynismus ein er- 
Ihredendes Bild von der jocialen Fäulniß der Wiener Geldariftofratie, welche die 

22% 


330 Deutjche Rundichau. 


höchſten Regierungskreiſe und jelbjt das Parlament in einzelnen jeiner Vertreter bereits 
in Mitleidenjchaft gezogen hat. Unter diefen Umftänden und bei dem etvigen Refrain der 
Verhandlungen: „‚cosi fan tutti‘ ift es kaum zu verwundern, daß fich wie im Handumdrehen 
die Sympathien der öjterreichiichen Bevölkerung in der großen Maſſe dem Angeklagten 
zugewendet haben, der denn in der That eine dialectifche Gewandtheit, ein ſtaunens— 
werthes Gedächtniß und eine überlegene allgemeine Bildung mit einer jchaufpieleri- 
chen Fertigkeit verbindet, welche auch einem minder naiven Publicum imponiren 
müßte. Dennoch ift an feine Freiſprechung kaum zu denken. Er ift für die öfter 
reichiiche Finanzwelt, was Bazaine für die franzöfiichen Heerführer des letzten Krieges 
gewejen. Gr muß die ganze Welt von Sünden auf fich nehmen, an welcher Jeder 
fein Theil Hat, für die aber nur Einer zu büßen berufen ift. 

Der Proceß gegen den ehemaligen Generaldirecfor der Lemberg-Czernowitzer 
Eifenbahn hatte namentlih in England einen mächtigen Widerhall, weil es vorzugs— 
weile englifche Gapitaliften gewejen, welche die Schienenwege nach dem jchwarzen 
Meere durch ihre materielle Beihülte mit zu Stande gebracht. Sonſt war es in 
jenem Inſellande politifch ziemlich ftill; wenn man nicht die Klagen über die zu— 
nehmenden Dejertionen aus der britifchen Armee zu einer Frage erjiten Ranges 
hinaufichrauben will. Freilich macht fi in wirthichaftlicher Beziehung ein beachtens- 
werthes Phänomen bemerkbar: die conjequent in faſt allen Zweigen der englichen 
Induſtrie durch die Arbeitgeber herbeigeführte Herabjegung der Löhne für die Arbeit: 
nehmer. An diefer Stelle genügt es, das Gintreten diefer unaußbleiblichen Reaction 
gegen die fortwährend fich fteigernden Anſprüche der Arbeiter zu conjtatiren. Der 
engliiche Vorgang dürfte auch Für den Gontinent nicht ohne rückwirkende Kraft bleiben. 
Schon ſetzte fich eine ähnliche Bewegung in den belgifchen Bergwerksdijtricten in 
Scene. Die belgiichen Arbeiter, die ſich ohne Weiteres dem ehernen ökonomiſchen 
Geſetze, welches gegen fie zur Anwendung gebracht wurde, nicht fügen wollten, hatten dir 
taft rührende Naivetät, von König Leopold II. Hülfe und Schub gegen die Abfichten 
der Arbeitgeber zu erbitten; ein Vertrauen in feinen Einfluß, dem der conftitutionelle 
Monarch jchlechterdings nicht gerecht werden konnte. 

Inzwiſchen bot Frankreich, in feinem innerpolitiichen Verfall, ein betrübendes 
Schaufpiel dar. Der Präfident dieſes monarchiſch vegierten und republicaniich 
repräjentirten Staates hatte feinen Herzenswunſch, die verfafjungsmäßige Organifation 
des Geptennat3, durch die Verjailler National-Berfammlung noch immer nicht be: 
rüdfichtigt geliehen. Ihm und feinen perjönlichen Freunden — welche in diejem Mo: 
ment faft ausichließlich im orleanijtifchen Lager zu juchen find — fam e3 vor Allen 
darauf an, eine zweite Kammer, einen Senat, in’® Leben zu rufen, mit deſſen Hülfe 
man das gegenwärtig tagende Parlament endlich auflöjen Fönne und der auch, was 
die event. Lebertragung der Gewalten, nach Ablauf des Septennat3, anbetrifft, als 
dann über die zukünftige Staatsform ein enticheidendes Wort mitzufprechen habe. 
Dies hieß mit anderen Morten, dem „allgemeinen Stimmrecht“ die Enticheidung 
über die Gefchide des Landes edcamotiren und man begreift, daß wenn ein jolcher 
Tan auch den Intereſſen der Orleans entſprach, er weder dem Gefchmad der Re: 
publicaner noch demjenigen der Bonapartiften zufagen konnte. Was aber die Legitt- 
miften betrifft, jo waren fie natürlich jeder Ordnung der Dinge feindlich gefinnt, 
welche irgend ein geſetzliches Hinderniß für die fofortige Rüdfehr und Reftauration 
Heinrichs V. — heute, morgen, übermorgen — organifch in's Leben rief. Es ge 
hörte viel Muth dazu, diefe Lage zu verfennen. Allein Marichall Mac Mahon 
wappnete fi mit der dazu nöthigen Kühnheit, nachdem er noch die Worficht ge: 
habt, fich im längeren, eingehenden Conferenzen mit den NRepräfentanten der drei 
Hauptfractionen der Nationalverfammlung die für jeine Rolle unumgänglichen Miß— 
verftändniffe zu eigen zu machen. Dies gelang ihm denn auch über Erwarten. Er 
ignorirte vollftändig, daß die Republicaner, unter Gambetta, miemals einer 
andern Gonjtituirung feiner Gewalten ihre Stimme geben würden, als derjenigen, 
durch welche, auch für das Ablaufen der Septennatäfrift, die republicanijche Staats 


Bolitiiche Rundichau. 331 


form als einzig gejegmäßiger Zuftand des Landes ein für alle Mal jeftgejegt werden 
fonnte. Er jchien nicht zu ahnen, daß die Gruppe der Bonapartiften, unter 
Rouher, niemal3 ein Verfaſſungsgeſetz votiren mochten, welches darauf ausging, 
den Schwerpunkt nicht in den Appell an das Bolt, jondern in einen von der Re— 
gierung ernannten Senat und in ein durch beeinflußte Wahlen zu Stande gefommenes 
Abgeordnetenhaus zu legen. Der Marichall jah nicht oder wollte nicht jehen, daß 
heute die Legitimiften, unter Belcaftel, weil er jein Septennat ernſt nimmt, 
gegen ihn und feine Gonfolidirung feindfeliger gejtimmt find, als fie e8 jemals gegen 
Thiers geweien, deffen Sturz fie doch mitherbeigeführt und er bemerkte jchlieklich 
nicht, daß dad linke Gentrum, unter Thiers, alles Andere eher wünfchen durfte, 
als durch jeine Zuftimmung zu dem Senatägejeß die Kaftanien für die Glieder der 
Familie Orleand aus dem Feuer zu holen. Als nun der Marjchall-Präfident auf 
diefe Art, in Folge der abgehaltenen Konferenzen, die wahre Situation gründlich er= 
fannıt hatte, trat er mit einer Botjchaft vor dad Haus, deren Ton jo ziemlich einem 
militärifchen ZTagesbefehl abgelaufcht war. Allein hier rächte fich die Verblendung 
des Präfidenten und jeiner Ratbgeber. Die Majorität, allerding® aus der ungejunden 
Goalition Gambetta-Rouher-Belcajtel-Thiers hervorgegangen, verwarf den 
minifteriellen Antrag, das Senatsgeſetz auf die Tagesordnung zu ſetzen und Thiers 
befaß endlich, wonach er jo lange gelechzt, jeine Revanche für die Coalition vom 
24. Mai 1873, die ihn zu alle gebracht. Die Niederlage des Gabinets hatte 
natürlich eine Minifterkrifis zur Folge, die natürlich nicht, d. h. in Frankreich von 
heute natürlich nicht, zum Vortheil einer der fiegenden Fractionen dieſer Gelegenheits- 
Majorität enden Eonnte. Im Gegentheil, Marihall Mac Mahon jchloß fich fefter 
ala je an feinen orleaniftiichen Rathgeber, den Herzog von Broglie, an und diefer, 
icheint e8, ſoll auch berufen fein, an der Spitze des neuzubildenden Gabinets, die alte 
parlamentarische Majorität von jenem 24. Mai, allerdings mit Berleugnung des 
jüngften Mac Mahon’schen Verfaffungsprogrammes, abermals zufammenzujchweißen. 


Schlimm ift nur, daß bei all diefem Pro und Contra der Einfluß des Herzogs 
Decazes einigermaßen gelitten hat, weil man ihm die Schuld für die Mißverſtänd— 
niffe beimißt, welche den Marjchall-Bräfidenten in eine jo jchiefe Lage gebracht. In 
der That hatte der Herzog auch die Verhandlungen mit dem linken Gentrum zu 
leiten gehabt und das geringe Glück, welches ihm dabei beichieden gewelen, wird von 
feinen Widerjachern im orleaniftifchen Lager, die in ihn nur einen Halben, und jeden- 
falls umficheren Bundesgenofjen erbliden, weil fie ihn republicanifcher Anwandlungen 
bezichtigen, stark gegen ihn ausgebeutet. Der neuen Minijtercombination wird er 
ficherlich noch angehören, aber an feinem Prejtige Hat er bedeutend eingebüßt. 

So ift denn die augenblikliche Lage Frankreichs eine überaus precaire, deren 
Gefahren nicht durch den Umſtand vermindert werden, daß den Bonapartiften durch 
den geglüdten Staatsjtreih zu Gunften Don Alphonjo’3 in Spanien der Kamm gerade 
in dem Moment wieder ſtark gejchwollen ift, in welchem Prinz Louis, der Sohn 
Napoleons III., die Militairfchule von Woolwich abjolvirt. 

Faſt Elanglos fuhr in den Orkus Hinab, gerade während diefer aufregungsvollen 
Zeit, der alte, freilich zahnlos gewordene Tribun, Ledru-Rollin, vor defien 
Wort einjt das Julikönigthum erbebte, vor deffen Zorn auch der dritte Napoleon in 
feinen Tuilerien zitterte. Der einst jo machtvolle Agitator, dem republicaniſche Pietät 
in der Nationalverfammlung ein Mandat vejervirt hatte, war nicht mehr im Stande 
gewejen, in dieſer neuen Zeit eine Rolle zu fpielen. Sein font jo zündendes Wort 
fand fein Echo mehr und die Popularität jüngerer Gefinnungsgenofjen raubte ihm 
den Plaß, den er einjt im Herzen der franzöfichen Demokratie bejefien. Er Hatte, 
jelbjt für feinen Ruhm innerhalb der Parthei, viel zu lange gelebt. 

Das italienijche Minifterium, welches jo hoffnungsfreudig in die neue Par- 
laments-Seffion eingetreten war, fängt an, die Flügel hängen zu laſſen. Seine 
Stellung erfcheint ſchwer gefährdet und, wie man jagt, wäre eine Bluttransfufion in 


332 Deutiche Rundſchau. 


naher Ausficht, durch welche auch Lanza und Sella wieder in das Gabinet gelangten. 
Sedenfalls hindert die den Minifter des Auswärtigen, Herr Bisconti-Benofta nicht, 
jein Augenmerk den ernſten handelapolitiichen Fragen zuzuwenden. Italien befigt 
wirkliche Handeläverträge mit Defterreich-Ingarn, Frankreich und der Schweiz. Die 
anderen Mächte erfreuen fich nur der KHlaufel der meiſtbegünſtigten Nation. Nun ift 
man neuerdings auf der apenninifchen Halbinjel von den freihändlerifchen Principien 
einigermaßen zurüdgefommen, zu denen fich Gavour aus politifchen Rüdfichten für 
Frankreich und England befannt und die auch nach feinem Tode maßgebend geblieben 
waren. Der Vertrag mit Oeſterreich muß bis zum 30. Juni diejes Jahres gekündigt 
oder verlängert fein. Das Verhältniß zu Frankreich erfordert gleichiall® baldige 
Neu-Regelung. Man ift deshalb zu dem Entjchluffe gelangt, ſowol mit Wien, als 
auch mit Parid und Bern in Unterhandlungen zu treten, um eine Revifion der be 
ftehenden Tarife gleichzeitig durchzufeßen, damit dann auch die andern „meiftbegün- 
ftigten“ Staaten ebenfo gezwungen würden, die alfo jchußzöllnerifch zu modificirenden 
Derträge für fich gelten zu lafien. Bis jet ift jchlechterdings wenig Augficht vor- 
handen, dieje Projecte von Erfolg gekrönt zu jehen, allein Bisconti-Benofta ift nicht 
der Mann, fich durch einen ernjten Mißerfolg beirren zu Laffen. 

Die Situation Garibaldi’3 und feiner Weigerung, die Nationalbelohnung ans 
“ zunehmen, welche Parlament und Regierung für ihn in Ausfiht genommen, ift 
ebenfalls eine Verlegenheit für da8 Gouvernement. Der alte Streiter hat fich be 
wogen gefühlt, neuerdings mitzutheilen, daß er im Jahre 1872 nicht gegen Deutſch— 
land, fondern nur für die Demokratie die Waffen ergriffen. Den tapfern bei 
Dijon und Beaune gegen jeine Schaaren gefallenen Deutichen wird dies zweifelsohne 
auch noch nad) dem Tode ein erhebendes Bewußtfein werden. Mir Icheint, die De 
mofratie hat feine ſchlimmeren Widerfacher, ala jolche Parthei⸗ Fetiſche wie Garibaldi, 
Ledru⸗Rollin, Victor Hugo, deren unbedingte Verehrung ſich in ihren Reihen von 
Generation zu Generation als Dogma vererbt. 

Sn den Vereinigten Staaten von Nordamerika find die neuejten Vorgänge 
in Zouifiana ein erneuter Beweis für die bereit? an diejer Stelle ausgeiprochene An— 
fiht, daß der große Bürgerkrieg der jechziger Jahre die fociale Frage, um die es 
fi dort, zwifchen Nord und Süd und Weiß und Schwarz handelt, keineswegs ge 
löſt hat. Auf beiden Seiten wird dort gefündigt, wenn auch diesmal das ſchwerere 
Unrecht auf der Seite der reichſstreuen Unionsmänner zu finden iſt. Freilich in dieſen 
Dingen darf man nicht doctrinair nach Recht und Unrecht fragen, wo das höchſte Gut 
der Nation, die Einheit, in vorderſter Reihe in Frage fteht. General Grant hinter 
läßt jeinem Nachfolger in der Präfidentichaft ficherlich in diefem Punkte eine jchwer 
zu ordnnende Erbichait. 


Berlag von Gebrüder Paetel in Berlin. Drud der 5538 Hofbuchdrucerei in Altenburg. 
Für die Rebaction verantwortlid: in Baetel in Berlin. 
Unberechtigter Rahdrud aus dem Inhalt diefer Zeitichrift unterfagt. Ueberfebungsrecht vorbehalten. 






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sgigenthbum. 


Novelle 
von 
Marie von Olfers. 


Eines ſchickt ſich nicht für Alle! 
Sehe Jeder, wie er's treibe, 
Sehe Jeder, wo er bleibe, 
Und wer ſteht, daß er nicht falle. 
Gocthe. 
I. 


Adam an Yambert. 


„Lieber Freund! Seit gejtern bin ich Hier in meinem Heimathsort! — 
Wie hat ſich Alles verändert! — Nicht ala ob's mich erftaunte, daß des Schelmen 
Bungert Naſe in höherer Potenz glüht, oder daß aus dem rundivangigen Gun- 
delchen eine nette Jungfer geworden, das ift Alles naturgemäß und mußte jo 
fommen — nein! ich ftaune, wie Menſchenhand — was find zehn Jahre, Lam 
bert? — aus tieffter Waldeinjamfeit dies Weltgeipühl geſchaffen. Vertauſcht ift 
der Ort! — verwandelt, um ihn nie wieder herauszufinden — herauszufinden, 
was er mir war, Lambert. 

63 hing ein Stüdchen meiner Eriftenz daran! Von Hier aus ftredte ich 
ala Kind die Wurzeln meines Daſeins weit — weit — jog mid) feft, an ber 
bolden Mutter Erde. — Bon hier aus! 

Du würdeſt lächeln, wenn Du jählt, wie ich hier auf einem abgerißnen 
Stückchen Haidegrund fie, um das in Mahnung alter Zeit vergeßne Blumen 
dangen — fite und traue, wie die Juden einft auf den Trümmern Jeru— 
ſalem's. 

Trümmer! würdeſt Du rufen — Du träumſt! — Trümmer hier, wo 
Alles vor Neuheit blitzt, wo ſelbſt die Natur als proper aufgeräumte Kammer 
erſcheint! 

Du haſt Recht — ich träume — und träumen iſt hier wahrhaftig nicht 
an der Zeit. Raftloje Sägemühlen arbeiten ſich kreiſchend ab — Schlot an 
Schlot übergualmt die Gegend, Duntel füllt die Luft — ekler un Wolken, 


Deutſche Rundſchau. 1, 6. 


334 Deutihe Rundichan. 


die nicht vom Himmel ftammen. Hat er nicht genug in Bereitihaft für uns ? 
Müffen wir uns noch das bischen freien Aether unjrer nordiſchen Natur jo 
ſchmählich verräucdhern laſſen? Wahrhaftig! es zieht ein höchſt widerwärtiger, 
unharmoniſcher Ton durch dieſe Gegend — unharmoniſch ſelbſt für weniger 
empfindliche Nerven, als es die meinigen find. Mir greift er ſie bis auf das 
Aeußerſte an. — Sollen alle Naturſtimmen überſchrieen werden? Soll dieſe 
Teufelsmaſchinerie das letzte Wort behalten, dann macht auch andre Menſchen, 
als wir es ſind. — O Lambert! mir iſt wie Einem, den man um ſein Theuerſtes 
gebracht hat! — Mein Kinderparadies war's — mir gehörte, was hier zerftört 
worden, denn mit meiner Seele, mit allen Gedanken hatte ich Beſitz genommen 
von dieſer wonnigen Umgebung. Barbaren der Neuzeit! giebt es nicht genug 
garftige Flecke auf Erden, wo ihr eure alten Knochen-, Papier-, Lumpen- und 
andre Mühlen, eure Brauereien, Brennereien, Färbereien hinbauen könnt? Mit 
denen ift die Gegend verpeftet und vergiftet! Mußtet ihr diefen heiligften Tempel 
der Natur wählen? diefe hehren Buchenhallen, dieje janften Abhänge, gekränzt 
mit Grün, zwiſchen dem, wie jpielende Kinder, luftige Bäche dahinliefen? 


Alles, was Geift heit — nimm das Wort, für wa3 Du willft — Alles, was 
ich gute Geifter nennen würde, hat diefen verwünjchten Ort verlaffen — er iſt 
eingereiht in das Rechenexempel de3 Lebens, bei dem die Null jet eine jo große 
Rolle jpielt. Vetter Lorenz trägt ſtolz jeinen dien Bauch herum — der Schöpfer 
einer Welt könnte nicht ftolger jein, als er auf jeine Fabrit. Wa3 würde er jagen, 
wenn er wüßte, daß ich hier von Entbehrung jpreche, hier, wo alles nach Geld 
riecht, nach Geld ſchmeckt, nach Geld geſchätzt wird in jtroßendem Reichthum; 
hier von Zerftörung, wo feine handfejten Schornfteine wie Fingerzeige der Ord— 
nung gen Himmel zeugen. Für ihn bin ich der Troglodyte, der Barbar. — 
Seine Eultur und meine Cultur liegen fich beftändig in den Haaren. Meine 
hat eine wahre Anbetung vor dem alten Baum; feine jchaudert, wenn 
das Nutzholz darin überjtändig wird. Meine ſchwärmt für den blumigen Wiejen- 
rain, den verftreuten Blüthenbuſch — feine reißt Alles aus, wäs nicht directen 
Nuten bringt. Jedes Eckchen wird eingepfercht, ausgepreht, bis auch der be- 
Icheidenfte Spa fein freies Körnchen findet. Es ift unglaublich, two man alles 
nicht gehn, nicht ftehn darf; könnten ſie's, es würden gewiß Sonne, Mond, 
Sterne, ja das Stüdchen Himmel, unter dem wir athmen, für Geld verpadhtet. 


Dennoch kann ic) mic) eines gewiffen Reſpects dor diejer neuen Aera nicht 
ertvehren — Rejpect vor diejer großen eijernen Fauſt, welche ein ſolches Reich 
zuwege gebracht und zufammen hält. — Nur mein Neid) ift es nicht. — Wenn 
ich unſre Hände nebeneinander jehe, Lambert — es ift zum Lachen! — wirklich 
naturhiftoriich merkwürdig. — Zwei ganz verjchiedene Species, und die jollen 
zujammen kommen? | 

Armes Gundelchen! was haft du verbrodhen, daß du auf diefe Weiſe ver- 
handelt worden bift? 

Jene paar Thaler, die mein Vater dem ihrigen vorſchoß, künnten ihr 
theuer zu jtehn fommen. — Hätte das gute Kind nım den geringiten Wider: 
tillen gegen mich, ich könnt’ es ihr nicht anthun. Der Mutter halber geſchieht's. 


Eigenthum. 335 


Meine arme Mutter, die jo viel um mich ertragen, joll, wenn ich es verhüten 
fann, nie wieder Mangel leiden. 

Sch Handle in diefer Sache ganz nach meinem Herzen, und doch iſt's mir 
mandhmal, als regte ſich das thörichte, um andre Auskunft zu geben. Leben, 
wie ich’3 verftehe, werd’ ich hier nie! Es mag mir gejund fein — bis jeßt 
fühl’ ich mich aber frank, Frank nad) meinem alten Kreis, nach den gleich- 
gejinnten Gefährten. — Eines Wegs zogen wir, glüdlih, unbekümmert, eine 
Sprache ſprechend, demjelben gelobten Lande zu. — Weh' mir! daß ich mit 
engverwandten Seelen bi3 jett leben durfte! Es ift die größte Verwöhnung, die 
dem Menjchen widerfahren kann.“ 


Rambert an Adam. 


„Alter Freund, ich habe Deine Jeremiade erwartet. — Du bift nicht un- 
geftraft unter Palmen gewandelt! Aber jobald Du Di nur ein wenig akklima— 
tifirt haft, fannft Du ja Deine Hiefigen Haine, in denen dann nur etivas beſſer 
gegeſſen wird, wieder aufrichten. Ich habe die Dichtkunſt von jeher für ein 
ſchlechtes Metier gehalten und e8 Dir nie verſchwiegen, troß deffen find wir uns 
qut geblieben von Kindesbeinen an. Weshalb jollte es mit Vetter Lorenz nicht 
eben jo gehn? hr Sonntagsfinder der Menjchen braucht in euren lichten 
Sommerröden ein derbes Unterfutter, wie wir e8 find. Doc abgejehen davon — 
giebt es etwas Poetifcheres, al3 wenn Einen das Glüd aus joldhen freundlichen 
Mädchenaugen anlacht? — Heirathe das gute Kind, dad Dich liebt, ſchon weil 
es gewohnt ift, Dich den ihr Beitimmten nennen zu hören — Gewohnheit ijt 
eine mächtige Alliirte. — Du verachteſt das Geld — gut, verachte es, aber 
Künstler müſſen e3 erit haben, um e3 zu verachten. — Glaube mir, Geld iſt 
ein recht poetijcher Gegenstand, fage nur Gold. — Welcher Mann liebte e3 nicht, 
nur unter verjchiedenen Namen: Macht, Ehre, Anfehn, genug, all’ die Dinge, 
die wünſchenswerth exicheinen auf diefer Promenade im Staub, die man Leben 
nennt. — Der Hund jogar jieht, ob man’3 hat, und zerrt den Bettler Fläffend 
am Yumpen. Wir haben e3 ja miteinander durchgemacht: ein zerriffener Rod, 
ein verfuuffter Hut, und die Manneswürde ift jo gut wie dahin. 

O ich wollte, ich könnte e3 mit vollen Händen ausjtreuen — wie ic) es ver- 
achten wollte! Warum mix diefer feine Sinn für einen gebildeten Luxus, für 
raffinirten Genuß des Lebens, der jo viel Neichen abgeht? 

Du bift beneidenswerth, Adam! — Noch kürzlich), hier in der Stadt, Jah 
ich Dein Goldfiichchen mit ihren großen, immer erftaunt ausjehenden Augen — 
blaue Augen voll himmliſcher Dummheit. — Einfalt ift etwas Selt'nes in 
dieſer Nera juperkluger Frauenzimmer, die den Mann nie zur wohlverdienten 
Geijtesruhe in Schlafrod und Pantoffeln gelangen laffen. — Was zögerit Du? 
Mag der Quell Deiner Lieder vom Parnaß fommen, Goldkörner führt ex nicht 
nit fi. — Wer hat jet Zeit und Luft, Verfe zu lefen — Du müßteft denn 
den Gouräzettel in Reime bringen. 

Mit Scheuflappen geht ihr, mein Lieber, da, Du erſt jet bemerkit, daß man 
aus dem Kinderparadies heran muß. — Erft das Nothivendige, dann kommt 
auch das Plaijir wieder.” 


23* 


336 Deutiche Rundſchau. 


Adam an Yambert, 


„Du haft Recht! Erſt das Nothiwendige — für die Mutter muß gejorgt 
werden. Nur im Fall meiner Heirath kann fie hier bleiben — hier, wo fie 
Alles hat, was ihr elender Zuftand fordert. Mir graut, wenn ih an die 
Tage denke, in denen fie wirklich Mangel litt; Du haft e8 nur halb mit mir 
durchlebt, denn e3 giebt Miferen, die jagt man Niemand. 

ch jchrieb mir die Finger wund. Ich wollte ja gern meine Kunſt herab: 
ftimmen, erniedrigen, um fie in gangbare Münze zu verwandeln — ebenjogut 
fönnte man fi) eine andre Naſe machen. Nie traf id, was diejer Zeit, deren 
Kind ich doch bin, paßte und mundreht war. Mit all’ meiner Arbeit, mit 
all’ den durchwachten Nächten, mit der Kraft, mit der Gewalt, mit dem Reid) 
thum, den id) in mir jpürte, gelang es mir nicht, dies eine arınjelige Leben 
behaglich auszuſchmücken. 

Das war bittre Zeit für mich, Lambert! Verachtung meiner Kunſt gewann 
mich. — Plötzlich ſchien in Nebel zu verrinnen meine Welt, in der ich lebte — 
eine Welt, die mir ſo wirklich ſchien, ſo berechtigt als euch die Eure. — Der 
Boden unter meinen Füßen begann zu ſchwanken; ſcheel, voll Neid ſah ich auf 
das Treiben der Menjchen, deren Hände fi oft durch einen Federſtrich mit 
Gold füllten. — Geld! ſchrie ih auch, wie ich e8 um mich hörte — Geld iſt 
die Hauptjahe — das Kriterium aller Dinge — Zeit und Zweck des Lebens — 
es packte mich wie ein Gehirnfieber. 

Da kam Vetter Lorenz und rettete mid — fein Glüd war im Auffteigen. 
Er nahm meine Mutter zu ſich und die endliche Löſung follte die Heirath mit 
Gundelchen jein. Mir war Alles recht, ich fühlte damals nichts — nichts, als 
daß ich für den Nugenblid frei war. — Frei! — Noch bejinne ih mich auf 
den Tag. In frifcher Jugend ftand die Natur. Ach wanderte vor das Thor, 
legte mid) in das Gras, über mir den blauen Himmel, zu dem ic) wieder auflah, 
mit freiem Aug’. 

Wie fröhlich wir dann die Welt durchzogen, al3 gehöre fie uns! Cage, 
Lambert, hat uns im Ernſt je etwas gemangelt? Wenn man jung und gejund 
ift, Lebt ſich's ſo leicht! — Warum konnte es nicht jo bleiben? Warum tritt 
das Leben immer mit Fragen an und heran, die uns das Herz zerreißen umd 
die wir nicht zu beanttworten wiſſen? 

Ich Ichiebe die Entjcheidung von Tag zu Tag auf. Wetter Lorenz ift die 
Güte jelbft — er behandelt mic) wie einen Kranken, bei dem der Gefunde nicht 
begreift, daß ihm die gute Koft widerjteht. Er liebt mich ganz und voll, mit 
aller Kraft jeines rehtichaffenen Herzend. ch aber, Lambert, bin wie Einer, 
der heimlich noch einen Schaf bei Seite bringt. In meiner Seele ift eine Fund: 
grube, die ih ihm nicht öffnen kann — nit kann — ihm nicht und Gundula 
nicht, jo viel ich auch daran arbeite — und in diefer verjchloffenen Kammer 
ruht meine befte Kraft. Werde ich nicht zum Betrüger an ihnen, Lambert? 
nehme Echtes und gebe Falſches dafür? 

Ich frage den Vetter oft: ‚vertrauft du mir auch dein Mind nicht leidht- 
jinnig an? Werd’ ich es glücklich machen?‘ Er lacht dann mit feiner dröhnenden 


Eigenthum. 337 


Stimme und antwortet: ‚Lieber Junge, was willſt du denn ſonſt mit ihr 
machen? ein braver Sohn giebt immer einen guten Mann. Ich Hab’ dich 
erpreß ausgejucht fir mein Gundelchen, denn wo Honig ift, kommen viele Fliegen. 
Das Kind ift wahrhaftig nicht bösartig; da müßte der Teufel die Hand im 
Spiel haben, jollte das nicht gehn. Du haft doch Fein andres Herzensinterefje ?‘ 
‚seines als die Kunft,‘ entgegne ih. ‚Auf die Mufe,‘ meint er, ‚find wir 
nicht eiferfüchtig, tweder Gundel noch ich. Schreib’ diefer apokryphen Perſon fo 
viel Liebeöbriefe, als du willft. — Ich kann die Wichtigkeit deiner Tintenklererei 
nicht einjehn, du nicht die meiner Mafchinen — in Einem treffen wir wieder zu— 
jammen, in der Achtung vor einander, wie wir num einmal find.‘ Er hat Recht, 
Lambert, ich achte dieje tüchtige Natur von Grund meiner Seele.“ 


Nambert an Adam. 


„Better Lorenz ift der Ichlauefte von Euch) beiden! — Leben und leben 
laſſen. — Wie bequem er Dir’3 macht, wie vorſichtig er ſich dabei jein Terrain 
rejervirt. Wirklich erft miteinander bildet ihr den vollftändigen Menjchen. Du 
braudft mit Deinem feinen Geihmad Einen, der Dir die Trüffeln aufgräbt, 
defto bejjer, wenn es mit diefer Grazie und jo con amore geſchieht. — O id 
würde joldhen Schwiegervater zu ſchätzen willen! — Schaf Dir eine Eriftenz, 
wie fie jeßt bei großen Künftlern Mode wird. Mit welch’ liebenswürdiger 
Leichtigkeit und Anmuth trägt die Kunft heut zu Tage Lurus und Reichthum. 
Bereite Deiner Mufe ein commodes Abjteigequartier auf Erden; zu mehr reicht 
es doch nicht, denn es giebt zu viel Unannehmlichkeiten in der Welt, welchen 
auf feine Weile beizufommen ift. Weh’ den Idealen, die uns das tägliche Brod 
verihaffen jollen; jie laufen fi) die Füße wund und richten nicht? aus. Es 
ift Häglich, rote fie herumziehn mit ihren gedachten Schäßen, jedem Windftoß 
der Kritik, jedem Winkelzug der Mode ausgeſetzt. Was heut’ unſchätzbar jchien, 
gilt morgen nicht3 mehr — man lebt jet raſch. Nette Dich und preife Dich 
glüdlich, aus den Sorgen herauszulommen, neben Dir ein treues, einfaches Kind, 
tie Dein Gundelden.” 


Adam an Lambert. 


„Einfach! — was iſt einfach jetzt in der Welt, Lambert? Mir ſcheint 
Gundula ſehr complicirt — unter ſieben Malen verſtehn wir uns kaum ein 
Mal! 

Du nennſt fie einfach! — Mein Himmel, ihr gegenüber könnte ich eher jo 
Heißen. Schon ihr Anzug, ihr Haarpug, Alles Räthjel! — ein wunderwür— 
diger Bau, bei dem ich die Wirklichkeit ihrer Heinen Perjon kaum herausfinde — 
nie herausfinde, was Kunft und wa3 Natur ift. — Vol ihr Köpfchen von all’ 
der Weltmweisheit, die Du an mir vermißt. Du weißt wol nicht, daß fie in 
der Penfion war? was lernen da die Mädchen nicht Alles! — Wenn ihre 
Freundinnen aus der Stadt zum Kaffeefränzchen bei ihr verfammelt find, Du 
follteft da8 Gezwitjcher hören, wie ein Neft junger Vögel. Eine Eule könnte 
nicht ſcheuer und mißmuthiger dazwiſchen fiben, als ich c3 thue. Aus dem 
ganzen Kram meiner Gedanken wußt' ich Fein paſſendes Wörtchen einzufügen. 


338 Deutiche Rundichau. 


Bin ic allein mit ihr, verftummt fie au) — und wir zwei, die fi jo wenig 
zu jagen wiſſen, follen die große Lebensfrage miteinander löſen? 

Better Lorenz jagt: ‚Freu' di, wenn deine Frau dir gegenüber den Mund 
halten kann; ich wollt’, meine hätte das auch verftanden.‘ — Mir aber, Lambert, 
ift das Todte, dad Stumme verhaft, mit mir muß Alles reden, jelbft Buſch 
und Wald. — Eine Uhr, die fteht, ein Vogel, der nicht fingt, ein Menſch, der 
nicht mit mir fpricht, machen mid; melancholiſch. Bin ich auf rechtem Weg? — 
Bin ih ein Schlafwandelnder, den man ab und zu beim Namen ruft und der, 
aus dem Traum gejchredt, jih am Abgrund fieht? 

MWeshalb demüthigt mich mein kleiner WVerdienft, den ich wie einen Tropfen 
neben diejem dicken Stromgewinn ſich verlieren ſehe? Weshalb ſchäme ich mich 
deſſen? — it meine Arbeit nicht die ihre werth? ft nicht jeder Dann an 
feiner Stelle, der fühlt, daß er die Schulter anfeßt, um die gemeinjame Laſt 
de3 Lebens leichter zu machen? — Thue ic das nit? — Schafft nicht ein 
Wort, das wie ein befruchtender Keim in die Seele fällt, oft mehr, ala all’ 
dies gewichtige Wirken? — Und dennoch verwirrt’3 mir den Blid — lenkt ihn 
hinab von der Höh’ auf die Erde. — Wie faßbar, wie greifbar diefer Nuben. — 
Hab’ ich im Irrthum gelebt? Liegt der Schwerpunkt unferer Eriftenz doch nur 
in diefem körperlichen Schaffen, in diefer zwingenden Wirklichkeit?“ 


Rambert an Adam. 


„Laß' ihn doch liegen, wo er will — Jeder nimmt ihn an, wie es ihm 
grad’ paßt. — Es wundert mid) nicht, jollte etwa Fräulein Gundula verftummen 
vor jolden Fragen. Wie kannſt Du ein Echo verlangen, wenn’ Du gar nidt 
in ihre Gegend hineinrufſt. Uebrigens Haft Du immer gejagt: Dichter er- 
warten ihre Antwort von der Welt. Wenn ihr mit flammenden Zungen redet, 
wer joll das Zeug im gewöhnlichen Leben verftehn? Galimatias bleibt’3 für 
noch ganz andre Leute al3 dies harmloſe Kind. Vetter Lorenz hat wieder Redt, 
im täglichen Verkehr ift’3 ganz qut, wenn nicht jo viel geſprochen wird. 

Willft Du durchaus nicht vernünftig glüclih werden? Was follen all 
dieje Scrupel? — Nimm doch an, Du lebteft im Land Deiner Träume, ohne 
Sorge, ohne Arbeit. Anderes wird ja nicht von Dir gefordert. Konnteft Du 
do ſonſt tagelang an grünenden Abhängen liegen und nichts thun, es war 
fogar eine Stärke von Dir. Woher plößlich dies Verlangen nach einer Laft? — 
Genieße Dein Leben, das ift auch eine Kunft.“ 


Adam an Lambert. 


« „Genießen! — was ſoll ich Hier genießen? die verwüftete Gegend? — dieje 
projaische Gewerbsthätigkeit, in der die Menſchheit fich abhett, abjagt, abarbeitet, 
bis fie nicht mehr ift als Mafchine oder Thier? Mein Land der Träume it 
nicht inmitten diefes glänzenden Elends, wo neben dem Ueberfluß Mangel und 
Entwürdigung aus Hungrigen, neidifchen Augen auf den Bevorzugten jehn. 

Ich entfinne mich eines Tags. — Wir waren unferer drei in einer halb: 
verjunfnen, epheuumrankten Stadt. — Durch heiße Gluth waren wir gewan⸗ 


Eigenthum. 339 


dert, doppelt labte da3 üppige, feuchtüberglängte Grün. Entzückt lagerten wir 
und — hie und da leuchtete Waſſer erquidlih auf. Blüthen, Blätter, Alles 
jo materiell jatt von Sonnenſchein und befruchtender Feuchtigkeit. Genuß 
juchend, die zitternde Gluth mit ſchimmerndem Flügel durchfächelnd, ſchwirrten 
unzählige Leben um und her — Alles in volliter Seligkeit unſchuldigſter 
Griftenz. Da — inmitten der Wonne aller Creatur fam etwas von diejem 
pflihtlofen paradiefiihen Glüd über mich. Jedes Geſchöpf reich, jedes verjorgt, 
und ich jchlief ein wie ein Kind, nahe der Erde und zugleich nahe Gott. — 
Hier beim Vetter könnt’ ich nicht ruhn, nicht unthätig jein. — Fremd bin ic, 
Freund! unnüß hier, unbrauchbar! 

In jene verjunfne Stadt gehör' ih; auf diefem Fleck ift eine neue ent- 
ftanden, in der ich, fürcht' ich, nie Bürger werden kann.“ 


ll. 


Das Stübchen der Mutter Adam’3 lag jo weit ab vom Weltgetriebe wie 
möglid. Eins aber war doch mit hinein geichlüpft: der Egoismus. — 
Krankheit, wenn nicht durchleuchtet vom Unirdiſchen, ift eine rechte Stätte dafür. 
Dben an fteht das Eörperliche Wohlbefinden, deſſen der Kranke überhaupt noch 
fähig ift. Wer will damit reiten? Leiden kann man nicht meſſen. Glücklich 
Tcheint von dort aus jeder Gejunde. Warum zögerte der Sohn, das Haus des 
Vetter zum eigenen zu machen? Ihr erſchien der Preis, den er dafür zahlte, 
die Heirat mit dem hübjchen reichen Kinde, wahrhaftig nicht hoch. Auch 
Better Lorenz konnte nicht beffer die Schuld abtragen, die er damal3, durd)- 
aus nicht mit ihrem Willen, gegen ihren Mann eingegangen war. Sie hatte 
Adam's Vater geliebt, aber nie gebilligt — der Sohn gli ihm auf ein Haar. 
Beide hielt fie für Schwärmer, denen man ben rechten Weg in der Welt zeigen 
müſſe. Ihre Arbeit — der rollende Stein des Siſyphus. Geld zerrann in joldyer 
Hand, wie dem Kinde Sand durch die Finger. Niemandem konnten fie etwas 
abichlagen; darum, al3 Better Lorenz, ein blutjunger armer Burſch, fam, um 
ein Darlehn zu bitten, gab der Bater Adam’3, was er gerade hatte. Bei ihm wär’ 
es verflogen wie Spreu, hier fiel e8 auf guten Boden. Aus Kleinem Keim ent— 
fteht der große Baum, aus Heinem Anfang oft ein großes Vermögen. 

Adam vergötterte diefen Vater — ihm dünkte er der Inbegriff alles Herr- 
lichen; wäre plößlich ein goldner Schein um fein Haupt exichienen, das Kind 
würde es nicht vertwundert haben. Er nahm ihn mit jich, auf weiten Gängen 
durch Wald und Feld, zeigte ihm die taufend Wunder der Natur in poetiichem 
Licht — oder mid’ gelaufen, jeßten jie fi) in die tiefgrüne Einſamkeit, und das 
Kind laujchte andächtig, wenn der Vater mit beredter Kippe Verſe alter Meifter 
jagte, deren Klang ihm höhere Muſik dünkte, indem, ohne daß er es verftand, 
unbewußt ihre hehre Schönheit jeine Seele berührte und entfaltete wie das 
Licht des Himmels die Knospe. — Aus der Dürftigkeit ihrer engen Wohnung 
traten fie in dieje grünen Hallen, als wär's ein Palaft. Hatte er mandmal 
verlangend nad) dem Spielzeug begüterter Kinder gejehn, Hier glaubte er ſich 
reicher ala fie alle. An andern Abenden las der Vater vor, umdrängt von 


340 Deutiche Rundſchau. » 


Zuhörern. Eines Abends bejonders entfarın ex fi) — über ihnen volle Lindenkronen, 
in deren duftftreuenden Blüthenbüjcheln traumtrunfene Bienen furrten. Flam— 
mend verjant die Sonne hinter dem Wald, aber ihm mar, als jäh’ er nod) 
lang’ ihr Licht leuchten auf des Vaters Antlit. Wie er ihn liebte! ihm zu- 
jauchzte, al3 die Stimme des Beifalla ihn umklang. — Ein König ſchien er 
dem Finde. — Solch' ein Zauberreih wollte er fi) auch einmal erobern; 
alles Andre kam ihm nichtig, unwichtig, untoirklich dagegen vor — und nun 
jollte er endigen in Vetter Lorenz’ Fabrik! 

Verworren lagen feine Pflichten vor ihm. — Welche war die größte? — 
Konnte er der Mutter die Hülfe verfagen, die fie von ihm verlangte? 

Ihre ftete Rede war auch Heut’: „Wie weit bift Du mit Gundula? Du 
thuft, als hätte ich noch viel Zeit, um auf dieje letzte Freude zu warten.“ 

Er küßte ihre welfe Hand. — „Könnte ich fie Dir allein bereiten, Du hätteft 
fie längſt!“ 

„An dem SKinde liegt es nicht,” jagte jie bitter, „da3 wartet nur darauf.“ 

„Das Kind,“ wiederholte er, „weiß nicht, was es thut. ch weiß es und 
glaube, ihrer nicht werth zu ein.“ 

„Ad was,” entgegnete fie, „bald dünkſt Du Dich höher als die ganze Welt, 
und num nicht qut genug für ſolch' Kleine Dirne. Das find wieder Deine 
Träume, Hirngeipinnfte, Adam!“ 

„Träume der Seele fommen oft vom Himmel, Mutter!” 

„Sind aber für die Erde nicht ftichhaltig, mein Sohn. Scaffe mir end: 
lih das Recht, hier zu liegen; es ift wahrhaftig nicht meine kleinſte Prüfung, 
al3 kranker Gaft aus Barmherzigkeit verpflegt zu werden. AM die Tangen 
Jahre hab’ ih auf Erlöfung gewartet. — Soll ich auch elend umkommen, wie 
Dein armer Vater?“ 

Vor Adam’3 Seele tauchte der Todestag des PBerlorenen auf. Freilich 
rings umher Armuth, doch in ſolchem Moment verſchwimmt der reichfte Hinter- 
grund zu elender Nichtigkeit. Er ſah den Sterbenden vor fidh Liegen, in der 
ganzen Majeftät eines edlen Dahinſcheidens. Konnte man leuchtender enden — 
wie ein Stern verliiht im Himmelsblau. — Lang’ war ihm der Glanz in 
der Seele geblieben. 

„Sch wollte, ich könnte leben und fterben wie er,“ jagte der Yüngling, 
„brauchte nicht die Hand wie ein Bettler nad) Reichthum auszuftreden, von 
dem ich glaube, daß er mir nicht gebührt.“ 

„Immer die alte Geſchichte,“ entgegnete die Mutter, „und ih muß unter 
Euren überfpannten Ideen zu Grunde gehn.“ 

„Nein!“ rief er, „ich will thun, was Du verlangft, mein innerftes Sein 
aufopfern und in Deinem Glüd, in Deiner Befriedigung die meine juchen.“ 


IH. 
Adam an Yambert. 
„Es ift vorüber — ich Habe mein Wort gegeben. — Das gute, herzen: 
gute Kind! — Ymmer werd’ ih in ihrer Schuld bleiben, denn womit bezahlt 
man Liebe, wenn nicht mit Liebe? Sollte der Menſch aber jo wenig über jeine 


* Eigenthum. 341 


Seele vermögen, daß ihr nicht ein Gefühl abzuringen wäre, welches man haben 
will, haben muß? 

Wie gejagt, das würde wunderbar zugehn, wenn Zwei, die nicht bös find 
und fich lieben wollen, es nicht fertig brächten. 

Anders freilic) hatte ih mir den Tag geträumt, Lambert, eine Vermäh— 
lung der Seelen — ihr Kranz ein Sternenkranz. Wir, fürcht' ich, bringen nur 
künſtliche Blumen auf. 

Sonderbar, was jo Glüd heißt in der Welt! — Mitten im tiefften Schmerz 
hatt’ ich manchmal einen Schimmer davon, und nun? 

D, das Undankbarſte am Menſchen ift doch das Herz! Wenn e8 nicht Alles 
g’rad’ jo befommt, wie e3 ſich's geträumt, wendet ſich's troßig ab und mag 
nichts — jollte es darüber verſchmachten, nicht von Jedem Tann es das Wafler 
des Lebens, genannt Liebe, annehmen. 

Die Sache ging vor im Gärten — denn jie haben hier Gärten, Lam— 
bert! Gärtchen, ala hätte fie nicht der liebe Gott, jondern der Zuderbäder 
gemadt. Alle jo prächtig auf ihre Manier, nad) meiner jo dürftig! Gol- 
dene Zäune, mageres Grün; das Hauptftüd große jilberne Kugeln, in denen 
die Welt zu unterft, zu oberſt erſcheint. 

Scattige Bäume find verbannt, Alles Fahl wie ein gejchorener Pudel, 
Bäume find ja weit bejjer am Pla in der Sägemühle — Der Schlange gleich, 
die nad) Waſſer lechzt, wich ich der brennenden Sonnengluth aus. Eine Art 
Bude, nenn’3 Tempel, wenn e3 die Götter nicht beleidigt, nahm uns auf. 

Wir jagen darin, wie in einem Vogelbauer. — Das nennen die Leute hier 
frifhe Luft! — Uns gegenüber die blißende Kugel, nad) der die’Sonne feurige 
Pfeile ſchoß — vor uns der gelbe Kies, über den eine große Schnede zögernd 
309. — — Welchem Schickſal ging fie entgegen? welchem ih — wer wußte e3 
beſſer! — Ich hing ihr meine philojophiichen Betrachtungen auf und dachte: 
ift fie an jener Blume, oder an jenem Gras, jo ſprech' ich. — Sie machte aber 
plöglidy mitten drin Kehrt. — Trotz dieſes böjen Omens faßte ich ein Herz 
und jagte Gundula Alles, jo klar und wahr ich konnte. 

Sie hatte eine bunte Stickerei vor, einen Goldfajan, der fommt mir immer 
in den Sinn, wenn ic an den Augenblid denke. Ruhig ließ fie mich aus— 
reden, dann blickte fie auf und lachte mir in das Gefiht. — Du weißt, das 
fteht ihr jo gut, fie lacht wie ein Kind — aber zum Lachen findet ſich nicht 
immer Gelegenheit im Leben; recht kenn' ich den Menſchen exit, wenn ich ihn 
habe weinen jehn. — 

‚Gut auswendig gelernt!‘ jagte jie und lachte wieder. Ich fühlte mich ge- 
troffen — — denn es war Alles vorher bedacht und zurecht gelegt. 

‚Hätteft Du's noch wenigftens in Verſen gemacht,‘ fuhr fie luftig fort, ‚aber 
freilich, zum Andichten paff’ ich nicht. — Warum wollen wir uns derlei Faxen 
vormahen? Wir heirathen uns, wie gute Kinder, die thun, was die Eltern 
jagen, die jchlechtefte Manier ift es noch nicht — Du nimmft mid) der Mutter 
wegen und ich — — fie ſtockte, das Blut ftieg ihr in das Gefiht — ‚weil ich 
Dir gut bin, Adam.‘ 

Darauf küßten wir uns. — Als ich aufblickte, Du wirst lachen, Lambert, 


342 Deutiche Rundſchau. 


aber mich verftimmte e3, jah ich unſer Bild verzerrt in der Kugel — es iſt 
eben etwas fchief an der Sache. 

Dem Gemith nach paffen wir wol zuſammen. Wenn fie mich mit ihren 
guten Eindiichen blauen Augen jo Lieb anfieht, ftrömt ein Gefühl wonniger 
Wärme über in mein troßiges Herz. Könnt’ ich fie mit mix nehmen, heraus 
aus diefem Barbaren-Lurus, aus dieſer Bildung, die doch feine ift. — Könnten 
wir miteinander in einem ftillen Eckchen Ieben, nah’ der Natur; meinethalb 
einen Krautgarten bau'n. Was und am meiften trennt, ift die Wucht diejes 
Befies, der mir nur als Laſt erjcheint, dev mit dem lauten Getöje feiner 
Betrieb3arbeit alle holden Geifter verſcheucht, denen ich dienen möchte.“ 


Lambert an Adam. 


„Jh wünjche Dir Glüd zu dem Unglüd, ein reizendes Mädchen zu hei- 
rathen, und hoffe, die Laft de3 Reichthums wird immer die jchwerfte fein, die 
Du tragen mußt. 

Bergieb, wenn etwas von dem in diefem Brief auf die Oberfläche kommt, 
da3 bitter wie Galle an meinem Herzen frißt. 

Du ſprichſt vom Geld, wie der Satte vom Eſſen; ich aber bin ein Hung— 
iger! Du wirft nicht die Beleidigung hinzufügen, dies für einen Bettelbrief 
zu halten. Selten xejpectirt die Gefühle der Armuth, wer den Mangel nicht 
am eignen Herd fiten hat. — Alter Freund, von meinem Standpunkt jehen 
Deine Leiden wie Kindereien aus. Sie find ein Luxus, den fih Deine Seele 
geftatten darf. Als ob man nicht mit Geld der Poefie ebenjo gut wie allem 
Andern unter die Arme greifen könnte, jedes Verhältniß, jelbft das der Liebe 
verſchönen. Proſaiſch ift der Mangel — barbariſch die Noth; ein Elend, das 
jammervolle, menjchenunwürdige Miſere wird. — Wenn Du mich jählt! 
Manches ift zum Lachen, wenn e3 nicht für den, den es trifft, zum Schreien 
wäre — wie ic) mic) winde, um meiner ſchäbigen Eriftenz noch eine anftändige 
Seite abzugewinnen. — Mit Fäuften möcht’ ich dreinichlagen, mir mein 
Menſchenrecht in diefer civilifirten Welt zu wahren, welche nur nad) Geld 
rechnet. 

Bis jebt hab’ ich es nur zu moraliſchen Keulenjchlägen gebracht, aber fie 
treffen ihren Mann und können ihn Dir ebenfo vernichten. Dies ift das Beit- 
alter der Schonungslofigkeit, des geiftigen Fauſtkampfs, Jeder ſchafft fi mit 
jeinen Ellbogen Pla. Warum joll ich's nicht au thun? Die Macht, zu 
ichaden, ift die einzige, die mir zu Gebot fteht; ſoll ich fie ungenußt Lafjen ? 

Genug, ic pfujche Dir in das Handwerk, obgleich, was ich jchreibe, wol 
Niemand Poeſie nennen wird. Ich habe Ion den Vortheil dabei, etwas von 
dem Gift los zu werden, das ſich bei ſolchem KHundedafein in der Seele an- 
jammelt.“ 


Adam an Yambert. 


„Wir find und bleiben Egoiften! Eh’ wir e8 ung verjehn, ftehn wir uns 
wieder jelbft gegenüber, verſunken, allein beſchäftigt mit dem eignen Geſchick. 
Armer Freund! Was ich Dir anbieten werde, kann Dich in feinerlei Art 


Eigenthum. 343 


verlegen. Wir brauchen Dich ebenfo jehr, als Du uns. In Allem, worin Du 
Dich verfucht, bift Du gejchickt gewejen. Von dem Fabrikweſen gingſt Du ja 
eigentlich aus, und nur unglücdliche Verhältniffe drängten Di von diefen Weg 
immer wieder ab. — Hier iſt eine Stelle offen. Komm! Hilf uns! — Bon 
bier aus wirft Du Dich leicht wieder emporarbeiten. Du thuft uns damit 
einen großen Dienft, denn Leute mit jo anjchlägigem Kopf, ala der Deine, find 
jelten, das weißt Du ſelbſt. Noch kurze Zeit, dann feiere ich Hochzeit, und ic) 
wüßte mir feinen lieberen Gaft dazu als Did.“ 


° IV. 

Im ftattlichen Fabrikhaus wurden überall Anftalten zur Hochzeit getroffen. 
Geſchäftsfreunde famen von verjchiedenen Seiten herzugereift. Verwandte gab 
es außer Adam und feiner Mutter nicht. 

Better Lorenz, von fernher al3 junger Burſch eingewwandert, fünf Thaler 
in der Tajche, wußte faum noch von ihnen. Losgelöſt — der Familie ent- 
fremdet, als hätte ex nie eine gehabt. Keine zarte Erinnerung an Vater und 
Mutter bejuchte ihn je. — Bon früh an auf fich jelbft geftellt, fühlte ex nur 
den eignen Werth, errungen in jchwerem Kampf mit äußeren Dingen. Seine 
Freunde Menſchen vom ſelben Kaliber, voll wuchtigen Gefühls der Kraft, die 
in ihnen war. Mit ihnen beſprach er, worüber ex jonjt ſchwieg. Adam lernte 
ganz neue Seiten an ihm fennen, eine Herzendwärme, die er ihm nie zugetrant. 
Sie bildeten mit einander eine Phalanx, die er nicht durchbrechen fonnte; immer 
ftand er draußen, mochte er machen, was er wollte. — Er, ein Weſen ganz 
andrer Art, unter andrer Sonne gediehen — verichieden wie Weiße und Neger. — 
Keine Brüde, welche die Seelen zueinander führte — fein Verkehr. — Ihre 
Geſpräche verftand er nicht, mit ihren Zahlen rechnete er nit. — — Auch 
Gundula wurde ihm mehr und mehr entrüdt — die Töchter, Freundinnen aus 
der Penfion, wedten die ganze Wonne dev Mädchenfreundichaft. — Geheimniß- 
thuerei, Geflüfter, Gelächter ohne Ende. — Adam jah aud fie fich erſchließen 
in ganz andrer Fülle als vor ihm. Es war ein luftiges Leben friiher Wirk— 
lichkeit in diejen jungen Gemüthern, ein kindiſches Treiben, dem er umjonft 
jucdhte nahe zu fommen. Zum erften Mal erichien er fi alt. Eine Art Seelen- 
müdigfeit überfam ihn, eine Art Abjpannung der Lachmuskeln. — E3 ging ihm 
wie dem Tauben, der den Scherz nicht faſſen kann, über den alle Andern vor 
Heiterkeit beriten wollen. Er jchrieb dem Freund: | 

„Mit mir geht eine Wendung vor — ich möchte jein, wie hier Alle find, 
und ſuche mich ihnen anzupafjen, two ich kann. Meine Meinung ift hier’ feine 
Meinung; taujchten wir unfre Ideen, es gäbe ein neues Babylon. Man muß 
fi aber nad) dem Klima des Landes, in dem man exiftiven will, richten. Sie 
jehen auf mich herab, weil im Leben der, welcher es praktiſch anfaßt, für den 
Augenblid immer die Oberhand behält, er behält jogar Recht für eine Weile, — 
nur fragt ſich's, wie lange. — 

Bald hier, bald da mad’ ich einen Verſtoß — Gundula lacht mid) aus. 
Mag ſie's immerhin, es greift mir nicht an meine Würde, die ſuch' ich in an— 


— 


344 Deutiche Rundſchau. 


dern Dingen, aber die Uebrigen jollen es nicht thun. Unbehaglichkeit legt ſich 
wie ein grauer Himmel über Alles — Eins kann ich nicht ertragen: Seelen: 
Einſamkeit, dieſen Zwielpalt, in dem ich lebe. ch brauche die volle Sym- 
pathie Derer, die um mich find — wär's auch nur ein Hund, ich Könnte 
nicht eriftiren ohne einen gewiffen Rapport mit ihm. Ich mill die Mauer 
durchbrechen, die mich umgiebt, warum follte ich nicht auch auf ihre Art glück— 
lich werden können? Glücklich aber will ich fein. Täglich arbeite ich mit dem 
alten Bungert in der Fabrik, lerne Rechnungsweien, Buchführung. Ach will 
wach tverden, denn wirklich, e3 jcheint, ich habe geträumt.“ 


Nambert an Adam. 


„Run jeh ih, Du brauchſt im Ernſt meine Hülfe -- id komme Du 
verloren für die Kunſt! — lächerlich! Am heiligen Teuer Deiner Seele läßt ich 
nicht die geringfte Suppe im ordinären Leben kochen. Ueberlaß das Andern, 
mein Lieber. Du könnteſt wohl einen paſſablen Dichter, aber einen höchſt 
elenden Geſchäftsmann abgeben. 

Sei nicht jo hochmüthig, zu denken, daß alle Garrieren Dir offen ftehn. 
Seder hat jeinen Weg, und aus den vielen Verirrungen entiteht da3 meiſte Un— 
glüd. — Heirathe doch nur erft Fräulein Gundula, alle® Andre wird ſich 
finden, geh’ doch mit ihr jofort auf Reifen in Dein gelobtes Land. Better 
Lorenz umd ich werden Ion Haus halten. Der Menſch ift doch ein geborner 
Rebell, das Schickſal mag noch jo gütig gegen ihn jein, ex bringt e3 fertig, ihm 
das Spiel zu verderben.“ 

% 

Der Tag der Hochzeit var vor der Thür. — Gundula hatte unter dem 
fröhlichen Zuruf ihrer Gejpielen eine Herrlichkeit nad) der andern probirt. 
Ganz verjunten in al’ den jeidenen und andern Fähnchen, die wie ein lockender 
Vorhang vor ihrer Zukunft hingen, blieb fie jo zu jagen in der Ausftattung 
hängen und fam erſt mit ihren Gedanken zu ihrem Verlobten zurüd, als fie 
merkte, daß Adam g’rad’ jo wenig, al3 fie zu viel, an dieje äußeren Dinge 
dachte. Für ihn brauchte es ganz andrer Vorbereitungen zu dem Feſt. 

Sie nahm ihn dor. — „Mer Adam, Du Haft ja Niht3 — gar Nichts, 
worin Du getraut werden Fannft.” 

„Nichts?“ wiederholte ex erftaunt, — „ich habe ja eine Menge Sachen.“ 

„Nichts Neues,” ergänzte fie, „Alles uralt, verregnet, aus der Mode. Zu 
jolhem Tag muß man einen neuen Menjchen anziehn.“ 

„Ich wußte nicht, daß der im Frack beſtehe.“ — 

„Freilich,“ entgegnete fie hitzig, „Für Did rechnet das Aeußere nie mit. 
Jemand, der mit einem Hemd und einer Bürfte in der Taſche durch die Welt 
reift, hat kein Gefühl dafür! Aber von uns erwarten ſich die Leute etwas und 
haben auch ein Recht darauf. — Mein Brautkleid ift die jchwerfte Seide und 
eine halbe Elle länger als der Lieſe ihres aus der Zuckerfabrik; es ftände zur 
Noth ganz allein am Altar.“ 


Eigenthum. 345 


„Nun, das fannft Du aber doch nicht beides von meinem rad ver- 
langen!..“ — 

„Wir verftehn uns wieder nicht,” jagte fie empört. „Wenn ih Spaß 
made, joll ich ernſt jein, und bin ich ernft, machſt Du Spaß.“ 

Darauf brachte fie es doc zu einer Einigung in diejer wichtigen Angelegen- 
beit und tröftete ihn. 

„Du wirft den Anftand ſchon gewohnt werden, laß uns nur erft in unfrer 
Villa ſitzen mit den Prachtmöbeln. Ich Hatte auch vor der Penfion einen 
Zug, lieber in der Küche aus dem Topf, ala im Salon aus Kryftall zu trinken; 
aber das verliert ſich.“ | 

Das Haus war feftlih anzujehn, von den Arbeitern über und über mit 
grünen Guirlanden behangen. Inwendig lange Tafeln gedeckt, nichts geſpart. 
Auf dem Anger große Tiihe für die Leute. Wetter Lorenz hatte ein liberales 
Herz ; Ichmedte es ihm, wünſchte er Andern das Gleiche und juchte das auch, 
jo weit an ihm mar, möglich zu machen. — Für Adam ging er weit in den 
freigebigften Einrichtungen; nur eine Bedingung knüpfte er an Alles: nie 
durfte die Fabrik verkauft werden! Als ein Wahrzeichen jeiner Kraft jollte fie 
von Kind auf Kindeskinder gehn. Kein Mtajoratäftifter konnte die Sache feier- 
licher nehmen. Ueber al’ die Bedenken und Klaufeln, um e3 unauflöslich zu 
machen, rückte der Hochzeitstag heran, eh’ das Actenftüc fertig war. Die 
ünftlerifchen Baupläne Adam’3 betrachtete der Vetter mit mitleidigem Lächeln. 
„Meinethalb,” rief er, „baut euch ſolchen verzierten Affentaften, wie's jet an der 
Mode iſt. Mich befommt ihr in dies heidniiche Gebäude nicht hinein, ich paſſe 
für den alten, ehrenfeften, vierſchrötigen Bau, zum Nuten hergerichtet ohne alle 
Kinkerlitzchen.“ 

Lambert ſollte heut' als am Vorabend kommen. — Adam war ihm bis 
zum wilden Haideplatz entgegen gegangen. Das Fleckchen lag vergeſſen am 
Waldrand. — Schäumende Waſſer ſtürzten darüber hinweg und riſſen zer— 
ſtörungsluſtig ein Stück Grund nach dem andern mit ſich fort — erſt ſchien 
es zu verſinken mit all' ſeinen Blüthen, dann aber ſtemmte ſich die friſche Natur 
dagegen, aus der verſchwemmten Erde Inſeln bildend, auf denen in gewaltigem 
Trotz mächtige Kräuter, die Wurzeln zum Schutz ineinander geſchlungen, re— 
belliſch emporſchoſſen. Selbſt die zerklüftete Weide ſchickte, Zeugen inneren 
Lebens, maigrüne Schößlinge empor. Begierig reckten ſie ſich aufwärts, tranken 
Licht und Luft, Alles keimend und wachſend, unnütz, üppig, aber in der ganzen 
Pracht göttlicher Verſchwendung. — Auch hier ſchon dröhnte ab und zu der 
Boden, und an den hohen Kieferſtämmen vorüber zog die vielgliedrige ſchwarze 
Schlange durch das Paradies der Wildniß. 

Adam lag tief im Haidekraut, den Blick hinaufgewandt wie damals zum 
klaren blauen Himmel — frei nicht mehr. — Morgen war der Tag. — Er 
hatte ihn faſt unbewußt heranſchleichen laſſen, wie ein Träumer, der er war, 
und nun fiel ein Strahl in ſeine Seele, der ihn erſchrecken ließ. Zurück konnte 
ex nicht mehr. — Er lag ſtumpf und dumpf da mit dem Gefühl einer Schuld, 
die er nicht von ſich abwälzen fonnte. Am liebſten wäre er todt geweſen. 

Währenddeſſen nahte ſich durch die ſengende Mittagsgluth, ſein Päckchen in 


346 Deutiche Rundſchau. 


der Hand, Lambert, ftaubbedect, müde, verftimmt. Der Fußgänger jpielt in 
Hitze und Staub feine erhebende Nolle auf der Landſtraße. Mißmuthig meinte 
er: „Wär' ich reich, hieße man mich ganz anders willlommen, darauf fommt 
doc Alles an.“ Mit neidiichen Augen überfah er die üppige Fabrikgegend, 
eine der bedeutenditen Niederlaffungen die de3 angelehenen Better Lorenz, hod)- 
gelegen, gleichſam eine Burg der Neuzeit. 

In langen Reihen ftanden die Häufer der Arbeiter, ohne die geringite 
Charakteriftit, ob Hinz oder Kunz darin wohne. Es gab der Gegend den lang- 
weiligen Ausdrud, den Adam haßte. 

„Ich wollt’, ih wär’ an jeiner Stelle,“ jeufzte — wie oft! — Lambert; 
„ih würde jchon verftehn, mir hier Annehmlichkeiten zu verichaffen, neben dieſem 
großen Nuten. Solche Arbeit lob’ ic) mir, trägt ihren Lohn jofort, wie der 
Halm die Aehre, und um Lohn, das joll mir Keiner ausreden, wird jede Arbeit 
gethan, auch die idealfte. Wenn nur das Gold jo dick fommt, daß man eine 
Aureole daraus mahen kann. Nun,” jagte ex, jein Päckchen neben den Freund, 
dem er jich unbemerkt genähert hatte, in da3 Gras werfend, — „hier ijt der 
arme Schluder, um demüthig fein Almofen aus Deiner Tülle zu empfangen, 
die Brojamen von des Neichen Tiſch.“ 

„Laß una doch endlich da3 leidige Geld vergefjen, Lambert,“ rief Adam, ihn 
herzlich begrüßend. -— „Zwiſchen das reinste Gefühl drängt es ſich wie ein 
Dämon. Körperliche Hülfe ift doch mehr, und die wird fich Keiner fcheuen, an- 
zunehmen, wenn er ftrauchelt. — Uebrigens ift hier der Vortheil auf unjrer 
Seite, wir brauden Dich.“ 

„Deſto beſſer,“ antivortete Lambert, „ich will ſchon jorgen, daß auch für 
Di) mehr herausfommt. Du greifft die Sache immer noch nicht beim rechten 
Zipfel an.“ 

„Für mid) hat fie überhaupt feinen,” entgegnete Adam, „am Beften, id 
ließe die Hand ganz davon. Wozu mir Geld? — ich brauche keins.“ 

Lambert lachte laut. — 

„Nimm mir’ nicht übel, aber das ift barbariſch. Dieje jouveräne Ver— 
achtung kann nur ein Urmenſch im Urwald haben. Deine Güter liegen wol 
auch im Mond?” 

„Richt gerade,“ entgegnete Adam nun auch lächelnd, „aber wahrhaftig in 
anderem Glanz als die Euren. Ich haſſe nun einmal allen Luxus, alle Ele- 
ganz mit ihren vergoldeten Unbequemlichkeiten — Plüjchmeubles — Damen- 
ichleppen, weiße Kravatten und was jo zur Mode gehört, mir Alles ein Greuel. — 
Die Seele verhungert dabei — joll fie immer leer ausgehn? was fällt ihr.von 
dem Allen zu? Sie it eben jo wirklich, als der Körper, für fie verlang’ ich 
Leben und Reihthum. Aber laß uns gehn, Better Lorenz erwartet Dich.” — 

Auf der Landitraße kam, in wilder Haft, ein Neitender dahergejagt. Erft 
als er nah war, erfannte Adam durch die aufgewirbelten Staubwolfen einen 
Knecht aus der Fabrik. — Erihroden rief er ihn an. — Athemlos berichtete 
der Mann, e3 jei ein Unglück gejchehen, ein Keffel geſprungen an einer der Ma— 
Ihinen. Er reite zum Arzt — es gäbe viel Verwundete, wie viel wäre nod) 


Gigenthum. 347 


gar nicht abzuſehn; zum Glück ſei g’rad’ die Mittagsftunde angegangen und 
ihon Mancher hinaus geweſen. Haftig eilten Adam und Lambert der Fabrik zu. 

rauen und Kinder ftanden in Haufen vor den Käufern in ihrer Lauten, 
finnlofen Art‘ klagend und fchreiend. 

Geheul erfüllte die Luft. — Die Verwirrung, doppelt jehredllich, doppelt 
troftlos unter diefem Elaren, ftillen Sonnenhimmel, in diejer jonft jo geordneten 
Umgebung. 

Dichtgedrängt, eine ſchwarze Maffe, belagerten die Männer den Eingang 
der Fabrik — drohend — jeder neue Vertuundete wurde mit Grimm empfangen. 
„Auf unjfer Eins fommt’3 nit an,” hieß es. — „Einer mehr — Einer weniger. 
Aber werden wir Krüppel, wollen wir fie jchon zwingen, uns zu ernähren, 
denn unfre gefunden Glieder find unſer einziger Beſitz. — Sie jollen ihn theuer 
bezahlen! — Bei ſolchen Proben fünnten doch wenigſtens die Herren anweſend 
ein“ — umd fie jahen mißwollend Adam und Lambert fi hindurchdrängen. 
Den Beiden war e3 unglaublid, daß Better Lorenz nicht dabei geweſen jein 
jollte.e Auf ihre wiederholten Fragen befamen fie feine Antwort. Plötzlich 
verftummte die murrende Menge. — Eine Bewegung erjchitterte die troßige 
Maſſe — ehrerbietig wurde Pla gemacht. Die Majeftät des Unglüds erfennt 
Jeder an. — Better Lorenz war auf feinem Poſten geweſen. Sie brachten ihn 
verbrannt, verftümmelt heraus wie die Andern — noch am Leben, aber ein 
Krüppel. „Freilich,“ ſagte Einer gleich neben ihm, — „er ift rei, er hat es 
doch beijer, wie unjer Eins —“ aber e3 jagte Niemand Ya dazu. — 

Bewußtlos lag der mächtige Mann da, wie ein im vollen Laub gefällter 
Eichſtamm. Der Arzt gab Hoffnung, ihn zu erhalten, doch nur als Schatten 
jeiner jelbit. 

em erjcheint das Leben nicht, wenn es entfliehn will, ala das höchite 
Gut? Erſt unter jchweren Schmerzen erfährt man, daß e3 anders fein und daß 
ſelbſt diefer edeljte Befit fich verwandeln kann in der armen, ſchwachen Menſchen— 
hand zu Jammer und Noth, zum Schlimmiten, zur Lat. — 

v1. 

Adam durchfuhr eine Bewegung der Freude beim Ausſpruch des Arztes. 
Sambert übernahm auf jeine Bitte jofort unter Beihülfe der Freunde das 
Kommando in der Fabrik. Wie ein Teldherr griff er ein, nie jchonend, aber 
gereht. Die Leute, erihüttert und bejänftigt, da ihr Herr das Scidjal der 
Unglücklichen theilte, folgten ſchweigend. 

Adam Schnitt e3 durch das Herz, wie er ein junges Dafein nad) dem an- 
dern, ſchlimmer als todt, an ſich vorübertragen jah. Auf dem Schlachtfeld 
hatte er doch eine andere Empfindung gehabt. | 

Sie trugen Vetter Lorenz auf einer Bahre nah) Haus. Gundelchen ftand 
zitternd vor der Thür, jie ging nicht mit hinein, fie floh, ihr wurde ganz übel 
und weh, wenn fie nur an die jchredlichen Wunden dachte. Auch ihre Ge- 
Iptelinnen waren verftummt, hiezu wußte feine ein Wort zu jagen. So bald 
al3 möglich verließen die Gäfte das Haus. Leder ſchien nöthig daheim. Bon 
bloßem Rath hielten diefe Männer der That nicht viel. Wer kann überhaupt 


348 Deutſche Rundichau. 


helfen im Augenblid, wo das Unglück vernichtend auf uns niederfährt glei 
dem Blitz? Halb befinnungslos, ala jei jein Kleines Geſchick ein Weltunter- 
gang, erleidet e8 der Getroffene, fein Andrer mißt jeinen Berluft nad) dem 
Maßſtab, den er anlegt, und jo bleibt ihm nichts, als allein zu leiden, bis 
ex fich wieder einreiht in die Allgemeinheit und fieht, daß er — nicht die 
Melt war. 

Bald wurde da3 vorher überlaute Haus ftill wie das Grab. Zerrifien 
flatterten die halbfertigen Kränze darum her, die ſonſt pedantifch gehaltene Ord— 
nung ein verjtörtes Chaos, beherrſcht vom Tyrannen Krankheit. 

Gundula, verfhüchtert, bedrüdt, jaß zwiſchen al’ ihren Ausſtattungs— 
ihäßen — eine Verarmte. 

„Es ift g’rad’, als ob’3 nichts mehr werth jei!” jeufzte fie, „und hat doch 
Unjummen gefoftet. Alles wird unmodern, wer weiß, wo Einem der Puff 
fiten muß, wenn id) nun zum Heirathen fomme.“ 

Ihre ganze Erjcheinung änderte ſich in der verdüfterten Atmoſphäre des 
Haufes. Der künſtliche Lodenbau verſchwand, die Haare hingen ihre jchlaff 
und wirr um dad Geficht, ein nachläſſiges Sichgehnlaffen trat an die Stelle 
der früheren Steifheit. 

Adam ergriff grade bei diefem Anbli ein Mitleid, nah der Liebe — er 
zog fie zu ſich heran, er fing an ſich nad) ihr zu bangen, wenn fie nicht da 
war und lodte fie oft an das Bett des Vaters, welches er nur jelten verlieh. 

Der Aufenthalt in der dunklen Kammer blieb ihr ein Grauen. Wie ein 
ertappter Vogel in der Gefangenſchaft, jaß ſie an der einzigen Lichtſpalte der 
Vorhänge und wartete jehnjüchtig auf den Augenblid der Erlöfung, in dem fie 
mit Anftand das Zimmer verlafjen konnte. 

Oft bat jie ihn inftändigft — „Komm doc mit mir hinaus in das freie, 
hier fann man ja nicht athmen! Draußen blüht und duftet Alles. — Der 
Vater merkt’3 nicht einmal und kann es Dir nicht danken, daß Du Dich jeinet: 
halb einfperrft. — Auf die Art hat Keiner etwas vom Leben.“ — 

Er blieb aber in der dunklen Stube und fie ging allein hinaus. Im Gärt- 
hen ftand ſie, ſchwatzte mit Diefem und Jenem, ab und zu gab’3 doch wieder 
ein Wörtchen zum Lachen, befonders wenn Lambert herüber fam aus der Fabrik, 
fie war das Betrübtjein todtmüde. 

VII. 

Es vergingen Wochen und Monate. — Die Fabrik arbeitete fort, als ſei 
nichts gejchehen, und gewann Tauſende und wieder Tauſende. Ihre armen 
Opfer litten und ftarben, wurden vergefjen, krochen jo fort wie halbtodte Flie— 
gen, und dennoch drängte man fi, ihren Pla einzunehmen. 

Adam lebte nur in der Sorge um den Vetter. Davor ſchwieg der ſchwere 
Kampf der letten Wochen in jeiner Seele. Jeder eigenfühtige Wunjd er 
ftarb. — Seine Kunft zurüdgedrängt, in Nebel zerronnen — ein Traum vor 
ſolch' jammervoller Wirklichkeit — unbezweifelt ihre Herrichaft, die Herrſchaft 
des Körpers — Elend jein Purpur — Leiden jeine Krone. 

Lange war der Sinn des Kranken umwölkt. Der Arzt fürchtete bleibende 


Eigenthum. 349 


Schwäche für das Gehirn, aber jetzt fing Vetter Lorenz doch wieder an, Ge— 
danken in Worte zuſammenzufügen. Alle galten der Fabrik. Adam beruhigte 
ihn mit Lamberts Anweſenheit. — Fortwährend drang er darauf, ihn zu ſehn, 
mißtrauiſch empfing er ihn, wollte alles ſelbſt anordnen. Als aber Lambert 
mit Büchern und Rechnungen vor ihm erſchien, verwirrte ſich ſein armer Kopf 
von Neuem und ein Ausbruch maßloſer Heftigkeit, der wieder für ſein Leben 
fürchten ließ, machte der Sache ein Ende. „Er ſei Herr der Fabrik, ſein Wille 
der einzig geltende,“ ſchrie er ohne Aufhören. Man beruhigte ihn, ſo gut es 
ging, und Lambert führte die Geſchäfte weiter, die unter ſeiner Hand ſich immer 
günſtiger entfalteten. Endlich kam aber die Zeit, in der Vetter Lorenz anfing 
auf Krücken zu gehn — der Körper geſundete, doch über den Geiſt wollte keine 
vollftändige Klarheit kommen. Es blieb ein Gemiſch von Bewußtſein und Ver— 
wirrung, aus dem nicht herauszufinden war. Nie konnte man ſicher ſein, wo 
Eins aufhörte und das Andre begann. Wilde Heftigkeit, zur Wuth geſteigert, 
beherrſchte ihn — wäre er nicht körperlich unfähig geweſen, man hätte ihn 
fürchten müſſen. Jeder ſchonte ihn, wich ihm aus. Mit Herzklopfen hörte 
Gundel ſeinen lahmen Schritt ſich ihr nähernd auf dem Gang. Schnell ſchob 
ſie den Riegel der Kammerthür vor, ſie hatte nicht die Langmuth der Liebe, 
ihn zu ertragen. 

Am Schlimmſten war's, als er anfing, ſich in die Fabrik hinüber zu 
ſchleppen. Ein jammervoller Anblick, wenn ex dort drohte, anordnete, wider— 
rief, ſich verwickelte in ſeinen eignen Plänen. Zuletzt immer der Schluß: . 
„Noch ſei er Herr und däs wolle er zeigen, ſo lang' noch ein Athem in ihm 
wär.” — 

Auch Lambert hatte keine Geduld mit ihm. 

„Blödſinniger alter Greis,“ murmelte er oft hinter ihm her, „du all— 
mächtiger Herr! Der Beſitz fällt dir ja aus der Hand, wie dem Kinde das zu 
ſchwere Spielzeug.“ 

Adam ſuchte ihn zu beſänftigen, aber er wollte nichts hören. 

„Iſt er von Sinnen,“ antwortete er, „ſo erklärt ihn auch dafür! Sollen 
ſich die Vernünftigen nach den Launen eines Unzurechnungsfähigen richten? — 
Wer iſt hier Herr? er doch ſicher nicht mehr — Du biſt es. — Heirathe und 
mache dieſem unerträglichen Zwiſchenzuſtand ein Ende.“ 

„Meine Heirath ändert darin Nichts. — Nie würd' ich mich, wie die Sachen 
jetzt ſtehen, als Herr hier fühlen.“ 

„Narren pflegt man unter Curatel zu ſtellen,“ brummte Lambert in ſich 
hinein, „aber hier iſt leider mehr als Einer. Das allerliebſte Gundelchen iſt 
die einzig Vernünftige, mit der iſt doch noch etwas anzufangen; ich werde 
mich an ſie wenden und ihr den Kummer, der bei ihr eigentlich Langeweile iſt, 
vertreiben.” 

63 gelang über Erwarten. Lächelnd, rothwangig fing fie mit ihren Freun— 
dinnen die unterbrochnen Kaffeefränzchen wieder an. Adam freute ich, wie man 
fich freut, wenn eine Blume, die zu vergehn jcheint, das Haupt erfriicht auf: 
richtet; aber nicht von ihm war der Strahl ausgegangen, der ihr neues Leben 
bradte. 


Deutiche Runbidan. I, 6. 24 


350 Deutſche Rımdichau. 


Ein fremdes, wehmüthiges Gefühl beſchlich ihn deshalb — er war ihr von 
Herzen gut geworden, nicht umjonft war er ein Stüd Wegs im Leben mit ihr 
gegangen. Nun ftand er wieder allein und alle unruhigen Geifter erwachten 
in feiner Bruft. Raſtlos wanderte er weite Streden, um jein Gemüth ftille 
zu befommen, aber es ſchwieg nit. — Wie vor dem Sturm unbeilverfündend 
ein Seufzen durch die Natur geht, regten fich jeine Gedanken Elagend in jeiner 
Seele. Zeit zum Schreiben hätte er gehabt, jie half ihm nichts — ihm war 
wie Einem in heißer Wüfte, dem die Zunge am Gaumen flebt und der nicht 
reden kann. 

Eines Nachmittags drang er durch den Wald bi3 an das Meer. — Dort 
entftand, halb Fiſcherdorf, halb Villenjtadt, halb wild naturwüchſig, halb ele- 
gant, je nachdem die Zugvögel waren, die jich niederließen, ein Heiner Badeort. 

Eichwaldungen Fränzten die Ufer, ab. und zu guckte nadt die gelbe Düne 
hervor mit blauen Stadheldifteln und verweht zerriffenen Halmen. Er juchte 
die dürrſte, einfamfte Stelle und legte fi) in den von der Sonne durchglühten 
Sand. Das Meer, noch bewegt, aufgerührt vom vergangenen Sturm, braufte 
donnernd. — Hocgehende Wellen, bald verdunfelt durch Wolkenſchatten, bald 
opalleuchtend im Licht, jchütteten ihre Brillanttropfen vor ihm aus. 

Es that feiner durftigen Seele wohl. — Ganz nah ließ er fie herankriechen 
und jah ihnen jehnjüchtig nad), wenn fie zurüctollten, den Strand ſchimmernd 
verlaffend. Wie jchön war das Alles — mie reih! — Warum kam ihm arm 
dagegen vor, was Andre doc ala Reichtum ſchätzen würden — jein Loos — 
der Bejiß, der ihn erwartete ? 

Er lag dort, bis aus klarem Blau ſich Stern an Stern hervorarbeitete, 
klein erſt — kaum gejehn, dann ftrahlend, funkelnd in unerreihbarer Pradt. 

Ueber dem ſchwarzen Wald ftieg eine jchlanfe Mondfichel empor. Warum 
fam ihm vor, als jei ex fremd geworden diejer herrlichen Natur, al gehöre 
ihm nichts von diefem Naften, Ruben und Träumen, als lebe er jet heraus- 
getrieben aus der Märchenwelt in herber, nadter Wirklichkeit? — Plötzlich, als 
hätte die zaubriiche Nacht eine Stimme befommen, erhob ſich der Ton einer 
Geige, bald jauchzend, bald Elagend, aus reinem Aether kam der lang und doch 
wieder ſchien er nah, als Klänge er dicht vor jedem Ohr und jedem Herzen — 
gejund, Friich für diefe Welt und doch nicht von diefer Welt. 

Adam Horte hoch auf; - ihm rief dieje Stimme; das war feine Sprache, 
die Sprache, die er verjtand, nach der er ſich gejehnt hatte, wie man ſich jehnt 
nad dem Heimathslaut im fremden Land. — Berfunfen, verlöſcht vor ihr all’ 
die verwirrenden Laute, die ihn in leßter Zeit bald hierhin, bald dorthin ge- 
zogen. — Bolle Harmonie umgab und erquidte feine Seele. — Er folgte dem 
Klang, als jei eö der Ruf einer lang’ verlornen, lang’ entbehrten Geliebten. 

Auf der Veranda des Gafthaujes fand er den Spieler, einen ärmlichen, 
alten Mann, neben ihm ein Mädchen von etwa dreizehn Jahren, dürftig, küm— 
merlich wie er. Sein jpärliches weißes Haar flatterte im Winde, die Lichter 
warfen zitternde Scheine über die Beiden und bildeten im Dunkel eine Glorie 
um jie her, während der magische Ton feiner Geige zu dem Sternhimmel auf- 


Eigenthum. 351 


ſchwebte; ala der letzte verklang, brach ein Beifallsjubel los, braujend, gewaltig, 
wie das Meer. 

Adam ftand im dichteſten Knäuel, jo nah als möglich. Nach langer Zeit 
ging ihm da3 Herz wieder auf. Die duftenden Wliederbüfche, die flimmernden 
Sterne, der Jubel umher, Alles beraufchte ihn. — Er hätte jchreien mögen: 
„Ich gehöre zu euch! was geht mich die andre Seite der Welt an!“ 

„Es wird wol fein Schwanengejang fein,“ jagte Einer neben ihm, „alt, 
blind, wie er ift, und die rechte Hand ſchon einmal gelähmt; jolche Leute können 
das Zigeunerleben nicht vergeffen. Zu einer anderen Zeit hätte er Gold aus 
jeinem Talent münzen fönnen.“ 

Adam jah ſich empört um — neben ihm ftand Lambert, erhitt, aufgeregt, 
einen xothen Fleck wie von einem Schlag auf der Wange. 

„sh ſuchte Dich,“ ſagte er, „man wies mich hieher. Wach’ auf! — derlei 
ift jet nichts für Did. — Du wirft Did) am Ende jebt doch um Deine Sachen 
Telbjt kümmern müfjen. Dein Vetter hat mich behandelt wie einen Hund, aber 
ich liebe die Hand nicht, die mich ſchlägt; es ift wirklich für Did ein Unglüd, 
daß er das bischen Verſtand nicht auch verloren hat. Entſchließe Did! nimm 
die Zügel und ich diene Dir weiter. Willſt Du aber nicht Herr fein, jo geh’ 
ih — Mißhandlungen der Art können nicht mit jchönen Redensarten bezahlt 
werden. Sch habe jetzt wieder genug Geld, um nicht vor jo Einem zu kriechen.“ 

Adam jehte ſich mit ihm abjeit3 in eine Laube von Flieder, deſſen duftige 
Büſchel wie eine Erinnerung ihn ummehten. Den Geigenjpieler bewirtheten 
Freunde und Bewundrer an fejtlih geichmückter Tafel; ab und zu — fern 
Hangen begeijterte Zurufe von dort herüber. 

„Faſſe einen Entſchluß, verkaufe die Fabrik,“ jagte Lambert. 

„Wie fann ich verkaufen, was mir nicht gehört?“ 

„Sobald Du heiratheft, ift fie Dein. — Ein Kind kann jehn, daß der 
Alte unzurehnungsfähig und Du nit im Stand, ſolchen großartigen Betrieb 
zu leiten.“ 

„Ich gab mein Wort, fie nie zu verkaufen,“ antwortete Adam. 

„Solche Berjprechen gelten nicht3 vor Gericht und pafjen gewöhnlich nur 
am Tag, wo fie geiprochen find. Mean kommt über Manches jet fort, als 
wär's nie gejagt worden, wird mit Gewiſſen und Anficht umgekehrt wie ein 
Handſchuh, übergefahren von diejer Jaggernaut, genannt Neuzeit.“ 

„Mögt Ihr Euch diefem Göben beugen,” rief Adam, „ih jtehe feft und 
rühre mid nicht.“ 

„Als ob man das könnte! — Fortgeriſſen wirft Du — wenn nicht durch 
Dein eignes Geſchick, durch das Derer, die Div angehören.“ 

„Du haft Recht,“ jeufzte Adam — „Nichts ift mehr ficher in diejer ver- 
worrenen Welt, die jeden Boden unterwühlt. Keiner fann mit Gewißheit jagen, 
dies thue ich, dies thue ich nicht. Wenn Du uns verläßt, muß ich, jo gut ich 
kann, dem Better beiftehn, die Fabrik zu halten. Mic) wenigftens zwilchen ihn 
und den Schurken Bungert ftellen, denn der jaugt den unglüdlichen Arbeitern 
alles Lebensmark aus. Genug, ih muß mein Schidjal auf mich nehmen.“ 

„Da3 hat ſchon Mancher gejagt und ift daran zu Grunde gegangen — e3 


24* 


352 Deutiche Rundichau. 


weht jcharfe Luft in diejen Arbeiterfragen. Lege Dih nicht auf den Welt: 
verbeijerer. Das ift einer der unausführbarften Poetenträume Man muß die 
Sache nehmen, wie fie ift, und Vortheil ziehn von der Stelle, an der man 
fteht. — Wage Dich nicht mit der Fahne der Ydealität in das Gedränge der 
MWeltkinder, in diefen Kampf um die Eriftenz — der Eine frißt dort den Andern 
ebenjo gut wie der Fiich den Wurm, e3 kommt nur darauf an, weilen Maul 
da3 größere ift. Halte Dich fern davon, Adam, fie würden Div andre Güter 
abverlangen, al3 die geiftigen, die Du bieteft, und Dir eine Rechnung machen, 
die zulegt nur mit Blut zu zahlen wäre.“ 

Sie trennten fi) fühl, Jeder blieb bei jeiner Anficht. 

„Morgen in der Früh',“ jagte Lambert, „Ichüttle ih mir den Staub von 
den Füßen und beneide Euch nit um Eure Situation. Das Elendeite ift, wenn 
man Geld bat und es nicht zu brauchen weiß.“ 


IX. 


Adam konnte fich nicht entjchließgen, jofort nah Haus zu gehn. Er nahte 
fich dem Tiſch, an dem der Geigenjpieler jaß; die Tafel ſchien faſt aufgehoben, 
da die meisten Gäfte der nahen großen Stadt gehörten und die Eijenbahn ihrer 
Begeifterung feinen weiteren Raum geftattete. 

Nach langer Zeit betrat der alte Künftler jeine- Geburtsftätte, hatte im 
fernen Süden feine Frau begraben und war mit diefem zarten Töchterchen, 
welches ausjah, al3 ob es wärmerer Lüfte bedürfte, wieder heimgefehrt. 

Sonft hatte er immer behauptet, er jei überall zu Haus, wo er jeine Geige 
babe; aber wie mit Geifterhänden nahmen die langbefannten Gegenden der 
Kinderzeit im Alter Bejit von feiner Seele — zogen ihn zurücd mit lodenden 
Bildern der Erinnerung, bis die Vergangenheit wirklicher für ihn wurde, als 
die Gegenwart. 

Adam erkannte in dem Alten den liebften Freund jeines Vaters, einen aus 
jeiner ihm heiligen Tafelrunde. 

‚Die herrlichen Abende ftiegen wieder vor ihm auf — er noch Kind, Laufchend 
im Eckchen, halb jchlaf-, halb wonnetrunfen. 

Der Blinde fuhr auf bei feiner Stimme, nannte ihn mit des Vaters Namen 
und ein friiher Glanz ging über fein Geſicht. 

„Es ift der Sohn,” wurde ihm gejagt. 

„Sein echter Sohn,“ meinte ex befriedigt, während jeine Hände liebkoſend 
über die wohlbefannten Züge glitten, „er muß ihm ähnlich fein.“ 

Adam war, als träte er in der Liebe des Verehrten eine reiche Erbſchaft 
an, die wie verborgner Schaf dort geruht und die er nun im Namen des Vaters 
erhoben. 

„Dichter ift er auch,” ſagte Einer, „von der unfichtbaren Gemeinde, die die 
blaue Blume jucht.“ 

„Ein Abtrünniger,” rief lachend der Zweite, „ein Götbendiener, heirathet 
diejer Tage des reihen Fabrikanten Lorenz Tochter und verkauft feine Seele 
dem Mammon.“ 


Eigenthum. 353 


„Als ob Geld etwas jchadete,” entgegnete ein Andrer, — „uns muß Alles 
unterthan werden. — Man ift großer Herr nebenbei — dieſe Kunſt verftehn 
die Künftler auch. Sie verträgt fi ganz gut mit der andern. Kunſt, Wiljen- 
ſchaft regiert die Welt, heute und morgen und in Ewigfeit — der Geiſt. 
Left doch Geſchichte. Was find ihre Helden? Alles Künftler! freilich Einige 
jo zu jagen Bildhauer, die der Zeit die Phyfiognomie zurechthaun. — Der 
Geijt joll leben! VBermodern muß, was ohne diefen Götterathem auszukommen 
denkt!” 

Alles fiel jubelnd ein, und dann blieb Adam allein zurücd bei dem alten 
Mann und dem Kind, | 

„Sie haben die Wahrheit gejagt,“ fing ex betrübt an, „ich breche aus der 
Bahn und übernehme die Fabrik. Ich kann nicht anders. Ein ehrlicher, recht- 
Ihaffner Menſch, denk’ ich, ift immer an jeiner Stelle.” Und er erzählte dem 
alten Freund jeine Jchwierige Lage. „O, ich möchte diefem trägen Körper der 
Arbeit Flügel machen,” ſchloß er, „damit auch fie, grade niedre Arbeit, ihr Ideal 
fände, befreit vom Drud, den der Materialismus auf fie ausübt, um feine 
elenden Zwecke zu verfolgen.” 

„Ich fürchte, Du bift nit der Mann dazu, Adam, “ antwortete der 
Geigenjpieler. „Den Künftlern ift e8 leicht, mit der Phantafie eine Brücke zu 
ichlagen zwiſchen Himmel und Erde, aus wirklichen Backſteinen ift es noch 
Keinem gelungen.“ 

Das Töchterhen hatte ji diht an den Water gedrängt und ſchloß ihm 
den Roc wegen der Abendluft. 

„Wie ſich Alles umdreht im Leben,“ * er. „Noch vor Kurzem ſorgt' 
ic) für fie, jet forgt fie für mid. Nur wenn Einer auf den Andern angewiejen 
it, weiß man, was es heißt, fi) angehören. — Erde und Pflanze könnten nicht 
enger verbunden jein — wer giebt? wer nimmt? wir rechnen nicht! Nicht wahr, 
Greicentia ?“ 

Das Mädchen umſchlang ihn ſtürmiſch. 

„Wenn ich rechnen wollte, wie es jetzt Sitte in der Welt, würde mich auch 
der Geldteufel in ſeine Gewalt bekommen haben,“ fuhr er fort; „Jeder hat eine 
ſchwache Seite, bef der er ihn packen kann. Sorge um das Kind war die meine. 
Dermögen konnt' ic” meiner Grejcentia nicht ohne Erniedrigung erringen. — 
Manchem ift es num einmal nicht beftimmt, aber etwas Beſſeres hinterlaffe ich 
ihr, Adam: einen Namen, um den fich Viele jchaaren, Alle, die ich mit meiner 
Kunft gewann. Ihre Familie wird das fein!... Man ſpricht fo viel vom 
Ruhm der Kunft: die Liebe, die fie uns ertvirbt, gibt taujfendmal mehr — ob 
auch arm jonft, daran bin ich e3 nie geweſen. Grejcentia wird in der Hinficht 
eine reihe Erbſchaft haben.“ 

„Wenn ic) Dich verliere,“ rief das Mädchen leidenschaftlich, „habe ich nichts 
mehr. Jetzt bin ich reich.“ 

„Armes Kind!” jagte er, fie ſtreichelnd. 

„Arm — wir arm!” wiederholte fie — „was fehlt uns? Sagſt Du nicht 
felbft, ich habe Gold in der Kehle?“ 


354 Deutſche Rundichau. 


Damit murmelte fie eine melodiihe Strophe, daß es war, als erwache die 
Nachtigall in den Büſchen. 

Der Künſtler nidte entzüct, nahm die Geige, begleitete, und num entitand 
ein zaubriicher Wechjelgefang auf der jchweigfamen Düne, der zum Dreiflang 
wurde duch das rhythmiſche Anſchlagen der Wellen. 

Adam war in höheren Sphären, allen irdiichen Sorgen entrüdt; erſt als 
der lebte Ton verflang, kam er auf die Erde zurüd. 

Das Mädchen führte den Vater hinein, der zärtlid) vom Sohn des Freundes 
Abſchied nahm. Sie reichte Adam die Hand, ihr Auge ftrahlte ordentlich in 
dem blaſſen Gejicht. 

„Wer darf uns arm und unglücklich nennen?“ jagte jie ftolz. 

Er ſaß noch lang’ am Meer — für ihn war e8 der Gefang der Sirenen 
gewwejen. — Ob er wirklich die Fabrik verkaufen könne? mit Gundula all’ dem 
Treiben entfliehn ? 

ern von dort würde jie eher die Myfterien jeines Seelenleben3 verftehn; 
ganz allein miteinander, würde die Liebe, die wie ein zarter Keim in ihnen 
Beiden lag, ſchnell großwachſen. Herrlich malte er es fih aus. — Warum 
follte ex die Widerwärtigfeiten eines verfehlten Daſeins auf ſich nehmen, wenn 
er nad) Lambert das Recht hätte, jich eins zu jchaffen, das beneidenswerth ſein 
mußte? Durfte er glücklich ſein? — 


Xx. 


Unruhig ging er hin und her am Strand; die Wellen rauſchten in geheim— 
nißvollem Dunkel; nirgends Klarheit; die Schiffe ſelbſt ſahen im Nebel wie 
Geſpenſterſchiffe aus; nur droben die Sterne, die änderten ſich nicht. 

Oft übernachtete er in einer alten Burgruine, an deren edlem Bau ſich eine 
kleine Gaſtwirthſchaft, wie ein Schwalbenneſt am gigantiſchen Fels, angeheftet 
hatte. — Hoch oben lag's und in grünen Abhängen neigte ſich der Hügel bis 
zum Meer. — Als er hinaufſteigen wollte, ſah er wie einen grauen Geiſt auf 
umgeſtürztem Boot einen alten Mann ſitzen, in welchem er den Wirth von 
droben erkannte. — 

„Was macht Ihr hier, Joſias, im Nebel, in der Nacht?“ redete Adam ihn 
erftaunt an. 

„Ich warte auf den Tod,” antwortete der Greiß und jah ihn mit blöden 
Augen an, 

„Der fommt jchon früh genug ungerufen, und Jhr erwartet ihn weit befler 
droben in Eurer netten Kammer.“ 

„Meine Kammer,“ wiederholte ev — „in der wohnt jeßt der Sohn mit 
Frau und Kindern. Dort ift fein Pla für mid.“ 

„Sie jollten ſich Ihämen, Euch herausgeftoßen zu haben!” 

„Nu, nu,” jagte der Alte, ihn wieder etwas verwirrt anfehend, „io war's 
nicht, e3 ift ganz in der Ordnung und ging ganz ſachte. Arbeiten kann id 
nicht mehr, bin zu nichts nuß, fie müſſen mid) grad’ durchfüttern und thun das 
auch mit guter Manier; aber jeht, ic) merke doch, daß das Unterholz wachſen 
möchte und Plat haben, deshalb — warte ich auf den Tod.“ 


Gigenthum. 355 


Adam führte den Alten hinauf. 

Eine junge Frau öffnete, hinter ihr Jchreiend, fie gebieteriſch am Rockzipfel 
zerrend, ihr Bübchen, offenbar dem Bett entlaufen. 

Sceltend ließ fie den alten Mann an. 

„Run, Bater, kommt Ihr wieder, da Alles aufgegeilen ift? Für Euch möchte 
man immer allein ſerviren.“ 

Damit job jie ihn Hinein. 

„Shämt Euch, Bärbchen,“ jagte Adam, der fie von Kind auf kannte; „hr 
tolltet mehr Achtung vor dem Alter haben.“ 

„Was wollt Ihr?“ anttwortete jie erröthend — „er ift gar zu unbequem, 
überall im Weg. — Wir Jungen haben jet die Wirthihaft — er hat lang’ 
genug gewettert und commandirt — Jeder hat jeine Zeit — man muß dod) 
jehn, daß man die nicht verpaßt — jpäter verdrängt uns wieder der da" — 
damit deutete fie auf den borftigen Kleinen Kerl an ihrer Schürze, „das ift nun 
einmal Lauf der Welt.“ 

„Das Nüblichkeitsprincip ift doch ein barbarifches,” dachte Adam, ala er 
fich auf fein Lager legte; „nach ihm thäte man befjer, die alten Leute todt zu 
Ichlagen. — Ich verkaufe nicht die Fabrik.“ 

Morgens ging er am Abhang entlang. — Die Sonne blitte und funfelte 
im Waſſer; übermüthig, jauchzend tummelte fich die Bubenfchaar der Umgegend 
in den Wellen. 

Vor ihnen jaß ftumpf und blöde der alte Joſias, Keiner kümmerte ſich um 
ihn, Keiner redete ihn an. „Ueber ein Kurzes ift dieje frifche Jugend auch jo 
weit,” dachte Adam, „und wird dann mol eine andre Anſicht von Alt und 
Jung haben.” 

Das Meer lag heut’ regungslos da — Klar, blau, ſcharf, ohne all’ die 
geheimnißvollen Schleier von geſtern. — Sein Weg lag ebenjo vor ihm. Er 
Tand Gundula auf der Bank im Gärtchen. 

„Gundula,“ jagte er, „ich möchte ernfthaft mit Dir reden.“ 

„Ad, fang’ Du doc nicht auch noch jo an,“ rief fie verzweifelt, „es ift ja 
Ihon Alles ſchwarz wie em Ofenloch. Nun geht auch noch gar der Lambert, 
das war noch das einzige Plaijir.“ 

„Wenn e3 Dir recht ift, wollen wir verjuchen, wieder fröhlich zu werden, 
und ein Feſt feiern, nämlich Hochzeit machen.“ 

„Ah ja!” rief fie, ihn umfchlingend, „laß uns eilen, daß wir endlich aus 
all’ den Wirren heraustommen. Erlöſe mich aus dieſer Hölle, in der ich jet 
lebe — rechts die ewig flagende Mutter, links der zankende Vater — tragen 
kann ich's länger nit — wir wollen fort, uns die Welt anſehn — jung ift 
man nur einmal — die Alten find ja gut verforgt — jpäter, wenn wir 
frank und verdrießlich werden, ınag man uns auch fißen lafjen.“ 

„Rein, Gundula, jo war e3 nicht gemeint; wenn ich heirathe, muß ich hier 
bleiben und nad) der Fabrik ſehn. Du weißt, der Vater kann es nicht, der 
Schurke Bungert joll es nicht, und verkaufen ift unmöglich.” — 

Sie ließ den Kopf hängen. — „Lambert hat Recht, Du wirft nie in diefem 
Punkt vernünftig werden.“ 


356 Deutfche Rundichau. 


„Nein,“ jagte ex, „wie Ihr e3 meint, nie.“ 

Er juchte jeine ganze Energie auf die neue Thätigfeit zu richten, aber wo 
nicht der Zug der Seele hingeht, ift ihrer Kraft die Spibe abgebrochen. Seine 
Natur arbeitete immer gegen ihn. — Jeder Baum, der fiel, erbarmte ihn, jede 
romantijche Stelle, welche verſchwand. Die Fabrik fraß wie ein großes Unge— 
heuer die Wälder der Nähe und Ferne. Er konnte den Klang der fallenden 
Bäume, der kreifchenden Säge faum ertragen — der Geruch der Knochenmühlen 
machte ihn förmlich krank. Bungert jtand ihm von Anfang wie ein Feind 
gegenüber. Für alle Mißhandlungen des Vetters Lorenz hatte er einen unter- 
thänigen Katenbudel in Bereitihaft, den er fich natürlich theuer bezahlen ließ. 
Dei übergroßem ‚Reihthum giebt e3 viel Schmarogerpflanzen. Es jagte einmal 
Jemand von dergleichen: Ich bin ſchon zufrieden, wenn nicht er, jondern ich 
das größte Stück erwiſche. Hier wurde e3 bald umgekehrt. Adam griff in das 
Wespenneft — aber um e3 zu vernichten, war ex zu barmherziger Natur; denn 
jelbft böje Beltien thaten ihm unter Umftänden leid, wenn er fie mit eigner 
Hand erwürgen jollte. 

Das MWohlleben des Haufes verſchwand. Die eigentlichen Beſitzer litten 
den Mangel, der ſolcher Wirthichaft eigen ift, während Bungert und Familie 
alle Vorzüge des Ueberfluſſes an fi zogen. MUebrigens ftand Bungert nicht 
allein mit dem Begehr, ſich die Taſchen auf Koften des Herrn zu füllen. Ein 
heimlich unterwühlender Kampf begann. Die Arbeiter murrten. Mit fernem 
Donner bereitete fi ein ſchweres Gewitter vor. 

Nicht lange, und Alle ftellten die Arbeit ein, durchzogen jchreiend umd 
lärmend die Gegend, zerichlugen die Majchinen, richteten taujenderlei Unheil an. 

Adam wwiderftand es, den harten Felſen zu fpielen, an dem dieſe aufge: 
rührten Schlammimogen braden. 

Bungert ließ Hilfe aus der Stadt fommen. Nach wenig Tagen evjeßte 
eine fremde Arbeiterichaar die Einheimiſchen. Diefe jahen es mit dumpfem 
Grimm. Grenzenlojes Elend begann Plat zu gewinnen. Krankheit kam dayı. 
Meutereien zwijchen den Parteien tauchten auf. — Es wurde immer jchwerer, 
Recht zu Tprechen, denn das Unrecht war auf beiden Seiten. 

Adam fühlte, die Saite der Gewinnjuht war zu hoch geipannt, fie mußte 
endlich mit jchneidender Diffonanz Ipringen. „Wer kann jein Glück,“ dachte 
er, „in einem Beſitz finden, den er mit joldhen Mitteln vertheidigen muß? 
Dagegen jcheinen Fauftlämpfe edel — roh wie jene ift diefe Zeit, nur daß 
Gewalt jet Geld heißt, Geld! — und ift es nicht zuleßt auch in ihren Händen 
ein Schatten, verſchwindet, verjinkt vor ihren gierigen Blicken, jobald das Ber: 
trauen fehlt?“ 


XI. 


Manchmal Abends, wenn Alles ſtill und dunkel war, ging er nach ſeiner 
Lieblingsſtelle am Waldrand. Heut’ ſchien der Mond hell. Die Leuchtwürmchen 
Ihwärmten in der warmen Sommernadt, Rehe kamen furdhtlos trinfen aus 
dem Klaren Duell. Die Ruhe that ihm wohl. — Als er fich eben erhob, er- 
friſcht, geftärkt, Enifterte e8 neben ihm in den Büſchen und eins der verworfenften 


Eigenthunn. 357 


Subjecte, angetrunfen wie faft immer, kroch zu ihm hindurch, einer Kröte gleich, 
die iiber eine Blüthenftelle Frieht. Adam war ihm aus Mitleid doch dann und 
wann freundlich gewejen, er hatte ein Herz für allen Jammer, jogar für den 
bäufigften, den felbjtverjchuldeten. 

„Was treibit Du Schlimmes, Kilian?” rief er ihn an. „Laß Dich nicht 
im Wald treffen — bit wieder im Wirthshaus geweſen, während Weib und 
Kind verhungern?” 

„Die Frau ift todt,“ antwortete er grinjend, „das Kind wird bald nach— 
folgen — e3 ift auch befjer — wir müffen ja, wenn's nad) gewiſſen Leuten geht, 
alle wie Ungeziefer verenden. — Ya, wenn wir nur nicht jchlauer wären! — 
Werdet jchon jehn, was dabei herausfommt. Es iſt eine ganze Portion von ung 
im Wald .... Alles Leute von Ihrer Partei, Herr Adam!“ 

„Ich weiß von feiner Partei,“ entgegnete er angewider. „Mit Eures: 
gleichen hält e3 fein ehrlicher Mann.“ 

„Das verlangen wir auch nicht — thut nur hochmüthig, Vorgeſetzte müſſen 
die Finger rein behalten; aber unjer eins muß doch das Unfaubre anfaſſen, 
wenn’3 fort ſoll.“ 

„sh verſteh' Dich nicht,“ ſagte Adam, ſich abwendend. „Noch einmal, 
nehmt Euch in Acht; ich trete für Keinen mehr ein.“ 

ALS er zurückkam, fand er Alles im Aufruhr, feine Mutter fterbend. Der 
Dorgang im Wald erlojch davor und die Begegnung mit dem Gefährlichen kam 
ihm au3 den Gedanken. — 

Am nächſten Tag aber ging wie ein Lauffeuer die Kunde durch das Dorf, 
Bungert läge mit zerichlagenem Schädel, ermordet in der Haibde. 

Dom Bett der Sterbenden mußte Adam an die Unterfuhung gehn, ex ver- 
ſchwieg nicht Kilian’s Ericheinen im Wald. Ihn war, als habe er jelbjt Blut 
an den Händen. Elende Gejellihaft war zuſammengehetzt — Schuldige und 
Unſchuldige, ein jammervoller Anblid, ein Wirrfal von Noth und Berbrechen. 

Better Lorenz wurde durch den Schreden von einem neuen Anfall betroffen 
und lag bewußtlos. Der Arzt ging von Einem zum Andern. Adam’3 Mutter 
quälte fi) noch ein paar Tage und ftarb. Er war bei ihrem Tode nicht zu- 
gegen, ſie hatte auch nicht nach) ihm verlangt. Als er fremd und ſcheu an die 
Leiche Herantrat, fiel e3 ihm wie ein Schleier von den Augen. Wie nah hatten 
fie fi) geftanden, al3 er in der engen Kammer fie hin- und hergetragen, gepflegt, 
mit höchjter Anftrengung ihr dieje, jene Stärkung verſchafft — und nun? — 
Kalt, thränenlos jtand er an ihrem Bett. 

„Arme Mutter, vergieb!” rief er; „ich glaubte Alles für Dich zu thun und 
babe Nichts gethan — nicht reich — arm hab’ ih Dich und mich gemadt. — 
Die bitterfte Noth, der herbſte Schmerz ift, mit ſolcher ftarren Kälte an Deinem 
Zobdbette ftehn, das mir meine Freiheit wieder giebt. Nein, nicht wieder giebt! 
denn mit taufend Fäden bin ich verwidelt in ein Verhängniß, aus dem id) 
nicht heraus kann. — Ob mid) Gundula liebt, ih weiß es nidht, aber mein 
liebedurftiges Herz hat ſich ihr genähert in den ſchweren Zeiten, die wir mit- 
einander durchlebt. E3 war ja das Einzige, woran ich noch fühlte, daß ich 
lebte.“ 


358 Deutſche Rundicau. 


Eben jhlih das Mädchen ſcheu an der Thür vorüber — er zog die Wider: 
ftrebende herein. 

„Es graut mid,” fagte fie; „was hab’ ich mit der Leiche zu thun? Giebt 
es denn Nichts mehr, als Schreden für mic auf der Welt?“ 

Aber ex ließ fie nicht. 

„Angefichts des Todes, Gundula, wollen wir Ear werden. — Sprid die 
Wahrheit — nichts Andres. Liebft Du mich?“ 

Sie zitterte wie Espenlaub und jchwieg. 

Bor ihnen lag das erftarete Antlit, welches jetzt hinter das große Geheim- 
niß des Lebens und Sterbens gefommen war und Schein von Wirklichkeit zu 
trennen wußte. 

Schluchzend juchte das Mädchen Adam’3 Hand. 

„Wie follte man Did) nicht Lieb haben?” jagte fie. „Jeder, der Dich ficht, 
ift Dir ja gut. — — Ad, warum haft Du mich nicht ſchon lang’ zu Dir ge: 
nommen — damals, ala id) jo einſam, jo elend, jo troftbebürftig war, mein 
Herz wie Wachs in der Hand deffen, der e3 nehmen wollte; warum haft Du 
ed Andern überlafjen?“ 

Er verftand fie. „Was ift zwifchen Div und Lambert vorgefallen?“ frug 
er herb. 

Da zog fie aus der Taſche ein Bündelchen oft geleſ'ner Briefe hervor, löfte 
mit zitterndem Finger das bunte Band, welches die Blätter umfchlang, und 
gab fie ihm. 

Er jah nur in das eine hinein, dann reichte ex ihr das Päckchen ftumm 
zurück, warf fib am Lager der Todten nieder und verbarg das Geficht in den 
Händen. 

Bebend ftand fie dabei. „Veracht' mich nicht!“ fing fie an, „Du haft fein 
Recht dazu. — Lang’ hab’ ich Dir meine Liebe nachgetragen, aber es war Dir 
nicht der Mühe twerth, die Hand danach auszuftreden. — Was das Vermögen 
anbetrifft, jo wird ſich Lambert gewiß mit Dir abfinden.“ 

„Geh',“ jagte er, fie fortwintend; „laß mid) allein. Ich will nichts von 
Euch, ic) weiß am beften, daß ich fein Recht darauf habe und dag Nichts in 
diefem Haufe mehr mein ift.“ 


XI. 


Noch am jelben Tag jchrieb Adam an Lambert: 

„Der Weg ift frei, fomm. Bungert todt — Better Lorenz bewuhtlos im 
Krankenzimmer. Du kannſt ungehindert Deine Zwecke weiter verfolgen; id 
werde Dir fein Hinderniß jein.“ 

In der nächſten Woche kam Lambert, erſt etwas gedrücdt, beſchämt, aber 
nicht lange. 

„Du bift ganz allein Schuld,” jagte ex dem Freund; „ich nahm mir, was 
nicht mehr Dein war, warım jollte ich den fojtbaren Stein, der verachtet am 
Weg’ lag, nicht einſtecken? Nebrigens, Du hätteft nie verftanden, hier das Glüd 
nah Deinem Geſchmack zuzujchneiden.“ 

Mit dem ihm eignen Organifationstalent brad)te er die Fabrik wieder in 


Eigenthum. 350 


Gang, löfte den verworrenen Knäuel der Anjprüche und Forderungen, der 
Pflihten und Rechte. Freilich hieb er hie und da durch, aber mit jo fichrer 
Hand, daß Keiner zum Weberlegen kam, ob e3 hätte anders fein fünnen. 

Noch einmal fing eine Art Glück an aufzublühn in Vetter Lorenz’ Nähe. — 
Er konnte ſchon wieder im Gärtchen ſitzen. Als er Lambert twiederjah, überzog 
dunkle Röthe jein Gefiht, ihm mochte wol etwas von jener ſchlimmen Scene 
auftauchen, die jie getrennt Hatte — erſchreckt reichte ex ihm die Hand, wie ein 
Kind, das ſich verjühnen möchte; jeine Heftigkeit durch die übergroße Schwäche 
gedämpft. Man juchte ihm begreiflicd zu machen, daß Lambert jein Sohn 
werden wolle, und er und Gundula Schmeichelten dem Alten, bis er mit Allem 
zufrieden war, bejonder3 weil durch diefen Bund da3 Wohlergehn der Fabrik 
gefichert jchien — die Fabrik, das Einzige, wofür er noch Intereſſe und eine 
Art Verſtändniß Hatte. 

Gundula lebte Hchtlih auf, juchte ihre buntejten Kleider hervor, hielt ihre 
Iuftigften Kaffeekränzchen, in denen bei den Klängen eines verftimmten Spinet3 
getanzt wurde. Lambert war die Seele von Allem. Er verjtand vortrefflich, ſich 
Gundelchens Wejen anzupaffen, behandelte fie wie ein Kind, das fie war umd 
immer bleiben würde, jelbjt al3 Matrone, eins von den Weſen, die nie er- 
wachſen, wie es Knospen giebt, die ji) nie entfalten. Lange findet man es 
reizend, endlich merkt man dod), daß etwas mangelt und e3 nicht das. Rechte war. 

Ihre Gefpielinnen jagten ihr taufend Mal, ſie begriffen nicht, wie fie je 
Adam den Vorzug hätte geben können, und zulet begriff fie es jelbjt nicht mehr. 

Zu Glüd und Frieden hoffte fie Adam zurüczulaffen, als er eines Morgens, 
wie damals der Freund, das Bündel in der Hand, auf der Landſtraße jtand. 
Den Hochzeitstag wollte er nicht abwarten, wenngleich er an der Ruhe jeines 
Gemüths merkte, daß auch jeine Zuneigung nichts werth gewejen war — Alles 
Schein. — Verdorrend hatte dieje Zeit jeine Seele geftreift, fein Blättchen war 
daran ergrünt, feine Knospe geweckt für die Zukunft. — Arm und dürftig, mit 
einer elenden Empfindung, ala hätt’ er dort weder Echtes empfangen, noch ge= 
geben, ftand ex an diefem Grenzitein jeines Lebens. „Wofür,“ jagte er ſich, „ift 
man oft drauf und dran, jeiner Seele innerjtes Leben zu verpfänden? Dann ringt 
uns da3 Scidjal den Lohn aus der Hand und jpriht: Armer Tropf, du 
machteft die Rechnung ohne den Wirth!“ 

Ein liter Septembertag hatte ſich den Nebeln entrungen. 

Al er auf dem Hügel ftand, verließ ihn zuerft das dumpfe, gedrücte Ge— 
fühl, welches ihn beherrichte. 

Neben ihm, über ihm lagen auf Büſchen und Bäumen gleihlam unermeß- 
liche Schäte funkelnder Thaubrillanten ausgebreitet und zwiſchen goldenen Sonnen— 
ftrahlen blißten die filbernen Bäche. 

„Willkommen,“ vief er entzüct, „ihr glißernden Zeugen meines Reihthums ! 
Fortan gedenk' ich wieder auf Wolken zu wandeln und auf dem Regenbogen in 
den Himmel zu jpazieren. Wenn auch Yambert meint, man könne nicht von 
der Luft leben, friſche Luft ift eine Hauptnahrung mitunter! Wer weiß, wie 
nah meine Zeit, eine ideale Zeit, die den ganzen materiellen Plunder Jener über 
den Haufen wirft. So etwas fommt oft mit einem Schlag, wie der Frühling. 


360 Deutiche Rundichau. 


Ich bin doch froh, daß mir die Flügel nicht gejtußt find und ich fie noch hab’, 
um ihr entgegen zu fliegen.“ 

Muthig ging er der Stadt zu, die jet mit ihren Thürmen zu flimmern 
und funfeln begann, wie ein Gold» -Galifornien. 

„Poeten,“ ſagte er fi, „müſſen im dichteſten Gewühl, oder in der tiefſten 
Einſamkeit ſein. Ich denke, ich probire Beides.“ 


XIII. 


Sechs volle Jahre hörten die Freunde nichts von einander. Adam benutzte 
die wiedergewonnene Freiheit, um wie ein Zugvogel immer dahin zu gehn, wo 
ihm ein Frühling blühte. Für die Anſprüche, die er machte, genügte ſeine Ein— 
nahme. Er kam ſich öfter reich, als arm vor. Seit einiger Zeit war er wieder 
auf deutſchem Boden. Er ſchrieb an Lambert: 

„Da bin ich und will mir nun auch von Euch ein Stückchen Sonnenſchein 
holen. Es iſt mir übrigens ſehr gut gelungen, mich mit den Schätzen, die mir 
zur Verfügung ſtehn, auf dieſer reizenden Erde einzurichten. ch bedarf gar 
feiner Weisheit dazu. Von den Dingen, die mich erfreun, hat man die meiften 
umjonft, oder vielmehr, man kann fie nicht faufen. Dieje Luftbarkeiten fommen 
direct aus Gottes Hand. Entzieht er fie mir eine Weile, jo lieg’ ich auf dem 
Trocknen, wie die Seemujchel bei der Ebbe, und freue mich doppelt, wenn die 
Fluth zurückkehrt. Von Hier au hab’ ich ein Buch in die Welt geichiekt, für 
da3 ich, nach Deiner Art zu rechnen, gute Beweije habe, daß man es Lieft. Ach 
lache mir in's Fäuftchen, denn ich habe da manches zündende Wort eingeſchwärzt, 
das allerlei heilige Flammen ſpeiſen jolk, von denen die Menjchheit glaubte, fie 
babe jie endlich exftickt mit dem nafjen Lappen des BVerftandes. Iſt es Dir 
begegnet? Was haltet Ihr davon?" — 


Nambert an Adam. 


„Was ich von Deinem Bud dente? Daß Du viel Glüd gehabt, weil Dein 
in die Trompete Stoßen mit günftigen Umftänden zuſammen traf, jonft wäre 
Dir ftatt der Glorie, die Dich jet umftrahlt, leicht ein Dornenkranz zugefallen. 
Aber der Erfolg ftempelt die Sade. Nun bift Du der Held des Tages und 
man fann ſtolz auf Dich jein. — Auch ich halte etwas von der Kunft, nur auf 
meine Art, die freilich nicht die Deine ift. ch Habe mir immer die Pofition 
eines- Mäcens gewünſcht. Wie weit es mir gelungen, wirft Du jehn, wenn Du 
kömmſt. — Gundelchen bittet Did) mit mir, fie hat Dir auch etwas zu zeigen, 
nämlich unfern prächtigen Jungen. — Mag der meinethalb Dichter werden, er 
wird genug Geld haben, um fich den Spaß zu maden, und wenn er es jo qui 
trifft, wie Du, ift es auch feine jchlechte Stellung. Glück muß man zu Allem 
haben. Komm, wir erwarten Did) mit Ungeduld.“ 


AV, 


Ueber einige Zeit wanderte Adam auf dem Waldweg, der Fabrik zu. 
Sie ftand noch ftolz, die Gegend beherrichend, dafjelbe Treiben um fie her — 


Eigenthum. 361 


grad’ als ſei er geſtern fort gegangen. Die alten Bäume waren freilich nun 
alle gefallen, ein junger Aufſchlag wuchs dürftig an ihrer Stelle. Die kleinen 
Tannen mit ihren duftenden Schößlingen ſchienen aber jo hoffnungsgrün, neuen 
prächtigen Wald verheißend, daß Adam ein Wohlgefühl überſchlich. 

„Deine Schönheit ift ungerftörbar, Liebe Erde,“ jagte er, ſich auf das Haide— 
kraut niederlaffend, in dem e3 auch ſchon wieder wucherte und blühte; „wir find 
rechte Kinder, die meinen, wenn man ihnen an einer Stelle da3 Gärtchen zer— 
ftört, e8 jet aus mit aller Herrlichkeit.“ Als er die Höhe überjchritten hatte, 
blieb ex ftaunend ftehn — von Neuem vertaufcht war der Dt. 

Das hüglige Land, geichickt benußt, bildete grüne Terraffen, welche in treppen= 
förmigen Abſätzen zu einer mächtigen Villa führten, die wie ein über Nacht 
entftandner Märchenpalaft dor jeinen Augen in einem Lichtmeer ruhte. Mar: 
morne Säulen mit klaſſiſchem Gapitäl trugen Hallen, Balcone, ein tiefgrüner 
Park gab den Hintergrund. Das luſtige, jprudelnde Waſſer lag hier ala See, 
dort raufchte es auf im gewaltigen Fontainen, an andrer Stelle jchlüpfte 
es flüfternd und riejelnd zwiſchen lieblihen Blumen. Ausländiſche Pflanzen 
breiteten ihre großen, üppigen Blätter und Blüthen aus zu Seiten der mäd)- 
tigen Freitreppe, die in dag Haus führte. Es war ein mwundervoller Anblid, 
wol gemacht, einen Sinn, wie den Adam’3, zu entzüden. Er ftand, die Arme 
verichräntt, und juchte umſonſt, das alte Bild hervorzuloden und zu faſſen, wie 
das Alles in jo kurzer Zeit entftanden fein konnte — da jchlug ihm Einer auf 
die Schulter, e3 war Lambert. 

„Willkommen!“ jagte er, „nun, gefällt es Dir bei uns? Siehft Du, da3 
it Alles mit Geld gemadt; man muß nur verftehn, e3 anzumenden. Sollte 
man nicht denten, ich twäre ein Künftler? Mögen e3 Andre für mich fein, wenn 
ih nur den Genuß davon habe.“ 

„Der höchſte Genuß,“ antwortete Adam, „ift das Schaffen; aber trotzdem 
bit Du ein glüdlicher Menſch, hier wohnen zu fönnen, inmitten al’ diejer 
Schönheit, bei der man nicht weiß, ob Kunſt oder Natur da3 Beſte gethan.“ 

„Sieh nur erſt meine Galerie, hör! meine Mufiker,“ fuhr Lambert ftolz 
fort, „Alles erſten Ranges, Alles mein, denn ich kann e3 bezahlen; Du dachteſt 
wol, ich follte ein plebejifches Arbeitspferd werden? Nein, eine Hunt verfteh’ 
ih, und die angenehmfte, nämlich zu genießen. Schade, daß nur zuleßt fein 
Magen, weder der geiftige noch der leibliche, Alles verdauen kann, wa3 Einem 
geboten wird, wenn man reich ift. Einen Kummer hab’ ih — ich werde 
did.” — . 

Adam lachte. „Wenn das Dein größter ijt!” 

„Und krank,” jehte Lambert Hinzu. 

Set exft bemerkte Adam feine aufgedunfene, verſchwommene Gejtalt, nicht 
die markige Fülle des Fräftigen Arbeiters Vetter Lorenz, eine bleiche, krank— 
hafte Maſſe. 

„Du mußt etwas für Dich thun!“ ſagte er. 

„sh thue nur zu viel,“ ſeufzte Lambert, „man ſchickt mich immer von 
einem Bad in das andere.” 

Sie gingen durch den Park. — Der Gärtner zeigte ihnen jeine koſtbarſten 


362 Deutiche Rundſchau. 


Lieblinge in den Treibhäufern, erzählte, daß er fie heraufgezogen mit Sorg' und 
Müh' wie die Kinder. 

„Er thut grad’, ala ob's feine wären, der hochmüthige Menſch,“ jagte Lam: 
bert unzufrieden, al3 fie heraustraten. 

„Durch Pflege nimmt die Seele Beſitz,“ antwortete Adam. „Uebrigens, ift 
eg nicht einerlei, wen dieje himmlischen Roſen gehören? Seh’ ich ſie doch wie 
Du, athme ihren Eöftlihen Duft.“ 

„Es ift ärgerlich genug,“ meinte Lambert, „daß man fein Eigenthum nicht 
mehr für fi allein haben kann.“ 

Sie ftiegen die Marmortreppen im Haufe hinan. Edle griehijche Götter: 
bilder, für Adam alte Bekannte, ftanden zu beiden Seiten und grüßten ihn ver- 
traut, erzählend von hohen Lorbeerhainen, oder Marmorjälen, wo er ſie zum 
erften Mal mit entzücter Seele gejehn. 

„Und er glaubt, er beſitzt euch!” rief er innerlich, „euch, die er weder 
achtet, noch fennt, nicht verjteht, kaum anblidt — deren Schönheit ihm ver- 
hüllt ift, ala wärt ihr nicht da. Arme Verbannte, was wollt ihr hier? Es 
giebt Güter, die nicht Yeder fallen und halten kann; in ſolcher Hand wird ihr 
Gold zu Staub.“ 

Wo ihn auch Lambert zwijchen feinen idealen Schäßen herumführte, Galerie, 
Bibliothek, Adam blieb der Eindrud: und ob er es mit Gold aufwog, ihm ge 
hört nicht ein Atom davon. Die hehren Götterbilder, ald der Sommenftrahl 
fie traf, ſchienen dafjelbe zu meinen und über die Armuth, in der fie fich be 
fanden, zu lächeln. 

„Komme, wie Du willft, zu Tiſch,“ jagte Lambert; „Dichter find, was 
Toilette anbetrifft, meift Barbaren, man muß ein Auge zudrüden. Wir haben 
einige Gäſte. Meine Frau ift jchon jeit einer Stunde bei der Toilette, das ift 
eine wahre Arbeit in jeiger Zeit.“ 

Adam ftand beftaubt von der Reife, ungemüthlic im fremden, raffinirt 
eleganten Zimmer. Er trat an das Fenſter, wo eben ein herrlicher Sonnen 
untergang feine Feier vorbereitete, mit Gluthwolken und grüngoldnen Büſchen. 

„D heilige Natur,“ dachte er, „zu deinen hehren Feſten ift das zerlumptefte 
Kind gepußt genug; aber wenn die Menjchen die ihren feiern, welch' ein Auf- 
wand von Zuthaten!“ 

Auf dem grünen Plan ja eine Wärterin mit einem Kinde. Das Lleine 
Ding rollte fi), uneingedenk des geſtickten Röckchens, übermüthig zwiſchen Blumen 
und Gras herum. Sein goldnes Gelod ſchmückte es weit mehr ala der koſt— 
bare Anzug. Oft ftürzte es ſich voll ſtürmiſcher Zärtlichkeit auf die häß— 
liche Alte. 

Mit eigenthümlihem Gefühl erkannte Adam in dem Knaben Gundula’s 
Kind — Better Lorenz’ Enkel, dem er glich in jeiner kräftigen Schönheit. 

Gundula trat jeßt herzuz es gab einen Kampf, eh fie des Kleinen mächtig 
wurde, welcher nicht von der Wärterin laffen wollte. Nur auf Zureden der 
Letzteren trug fie ihn endlich al3 Beute davon. 

Bald darauf Elopfte es leis an Adam’s Thür. Er öffnete und Gundula 
ſtand davor, ihren goldgelodten Jungen auf dem Arm. Sie war in vollem, 


Gigenthum, 363 


etwas gewagtem Pub, den fie offenbar trug, als gehöre ex nicht zu ihr. Be- 
ſonders die endloſe Schleppe wollte fich Feiner ihrer Bewegungen mit Grazie 
anjchließen. Dunkle Gluth überzog ihr Geficht, als fie zum erften Mal Adam 
wieder gegenüber ftand. Ihm war fie fremd geworden. 

„sh wollte Dir doch meinen Jungen zeigen,“ jagte fie; „nachher, wenn 
die Gäfte fommen, geht e3 nicht — meinen goldenen Schaf” — und fie füßte 
das Kind zärtlich), welches ſich nım mit MWiderftreben dieſe Liebkoſung gefallen 
ließ. „Beſäß' ih ihn nur mehr,“ fuhr fie fort; „die Kinderftube liegt jo weit 
ab, ganz auf dem andern Flügel, Lambert kann feinen Kinderjpectafel vertragen — 
die Wärterin hat ihn weit mehr als ih, eigentlich immer, wenn ich ihn mir 
nicht ftehle.“ — Damit hieß fie ihn als große Vergünftigung für Adam ein 
Patihhändchen geben. 

„Es ift das Beſte, was ich unter allem Schönen hier gejehn habe,“ 
jagte er. 

„Richt wahr, es iſt ſchön hier!“ rief jie. „Haben wir nicht alles Mögliche 
aus dem alten Gerümpel gemaht? Bon weit fommen die Leute, e3 zu jehn, 
und doch fonnte es dem Vater nicht gefallen, nicht leiden mochte er den Anblid 
diefer herrlichen Hallen, diejer jchattigen LYaubgänge, ihm war Alles ein Dorn 
im Auge.“ 

„Alte Bäume verjegt man ſchwer, Gundula — Du wirft ihn nicht fort- 
bringen von der Fabrik.“ 

„Weißt Du nicht, daß er todt iſt?“ antwortete jie tieferröthend. 

„Zodt!" rief Adam — „jeit wann? warum jchrieb, warum jagte es Lam— 
bert nicht?“ 

„Deich wundert, daß er es nicht erwähnte,” meinte fie zögernd; „in dieſen 
Tagen wird's vier Wochen. Er ftarb ganz plößlid — Mir hatten ihm bier 
Alles jo ſchön eingerichtet, fürſtlich, Zimmer, wie für einen Prinzen, aber er 
blieb nicht. Niemand konnte ihn halten, jelbjt dev Wärter nicht, den wir ihm 
geben mußten. Jeden wußte er zu überliften, jchli heimlich zu dem be- 
fannten Platz, wol zwanzig Mal am Tag. Das alte Haus wurde abge- 
TURN 00 — 

„Abgeriſſen! Gundula!“ 

„Die Fabrik war verkauft,“ ſagte fie, dem kleinen Burſchen wehrend, der 
mit ſiegreichem Jauchzen ein Zerſtörungswerk an ihrer Friſur vornahm. „Wir 
hofften, durch das Einreißen der alten Wohnung ihn am Beſten von den 
früheren Verhältniſſen zu löſen; — als wir aber ſahn, wie er ſich's zu Herzen 
nahm, hielten wir ein.“ 

„Wie konnte Lambert die Fabrik verkaufen!“ 

„Das find Geihäftsjachen,” antwortete fie ausweichend, „davon verſteh' ich 
nichts. Lambert hat viel leiden müſſen unter dem Vater, mehr als wol zu 
ertragen var, bis fie den Unglüdlichen unter Guratel ftellen mußten. Gott weiß, 
ich wollte, es wäre anders gelommen. Ich habe Feine Freude jeitdem an all’ 
diefer Pradt. Schon des Jungen wegen wollt’ ich, wir könnten es ungejhehn 
machen. Man wird klüger, wenn man Mutter ift, und wol auch ettwas befjer,“ 
fuhr fie fort, des Mleinen dicke Händchen küſſend, „verfteht die Eltern mehr — 


364 Deutiche Rundſchau. 


mehr worauf e3 ankommt zum Glüd. — Sie verfihern zwar Alle, der Vater 
wäre nicht bei Sinnen geweſen, al3 wir die Fabrik verkauften, aber dennoch — 
ic kann die jchlimmen Gedanken nicht los werden.“ 

„Armer Better!” rief Adam, „du glaubtejt die Fabrik feſt gegründet in 
deiner Familie, und num verichtwindet fie ſchon in der erften Generation!... 
Vielleiht, Gundula, war Dein Bübchen geichaffen, den Pla einzunehmen, der 
ihm beftimmt war; dem Großvater ift er aus den Augen geichnitten. Das 
habt Ihr nun verjcherzt. Nehmt Euch in Acht! Wer weiß, es rächt fi an ihm, 
daß Ihr die Fabrik verfauft habt.“ 

„Sprich nicht jo,“ rief fie erfchredt. — „Manchmal fürcht' ih es auch. 
Oft ift mir, als jäh’ er mich vorwurf3voll grad’ mit des Vaters Augen ar. 
O, ich wollte, ex lebte noch.“ 

Wagen auf Wagen xollte vor — haftig ftand Gundula auf. „Die Gäfte 
fommen,“ jagte fie, „auf Wiederfehn bei Tiſch.“ 

„Laß mich bier,“ antwortete Adam, „ich kann jet keine fremden Leute 
jehn, ich muß zu viel an den Tod des Vetter denken.” 

„Mir ift die Geſellſchaft, ſchon nach vier Wochen, auch nicht recht,“ ſagte 
fie entjchuldigend ; „aber Lambert verträgt feine Einſamkeit.“ 

Damit gab fie das Kind der Wärterin und verſchwand mit ihren rauſchen— 
den Gewändern in den erleuchteten Sälen. 

Adam blieb verftimmt zurüd. Es war ihm unheimlich dort. Fröhlicher 
Lärm ſcholl zu ihm empor. 

„Erit vier Wochen todt,” dachte er, „und dies wirkliche, für die Erde ge 
ihaffne Dafein, verwiſcht, verlöjcht in feiner Eigenthümlichkeit, dat faum Einer 
die Spur findet... . Seine Wohlthaten vergeſſen; wenn ihrer gedacht wird, 
nur noch im Vorwurf. AM jeine Arbeit, all’ jeine Enthaltjamfeit, fein Fleiß, 
um dieje giftige Blüthe des Genuffes zu treiben, in der troß aller Schönheit 
etwas Verweſendes liegt, das Körper und Seele tödtet.“ 

Sein Entihluß wurde feft, fortzugehn. Er jchrieb diefen Zettel an 
Lambert: 

„Berzeih, wenn ich mich fortſchleiche — vermiffen werdet ihr mich nicht 
lang’. Es ift beifer, wir jehen uns grade jeßt nicht wieder. Ich war dem 
armen Better viel Dank ſchuldig. Wie weit Du an ihm gefehlt, ich weiß es 
nicht, will mich auch nicht zu Deinem Richter aufiwerfen. Für alle Schäße 
der Welt wäre mir diejer Preis zu hoch geweſen.“ 

XV, 

As das Thor fi hinter ihm Schloß, ftiegen weiße Nebel zwiſchen den 
Büſchen auf, das goldne Licht auf Blüth’ und Blatt verfant — Grau in Grau, 
geipenftiih, im Dämmerlicht, lag die Fabrik und warf einen dunklen Schatten 
über die Gegend. Das alte Haus des Vetter, halb zerftört, umweht von 
Tapetenfetzen wie von Geifterfahnen, lag ruinenhaft vor ihm, geftreift vom Nacht: 
geflügel. Eine Ede daran mit Stroh gedeckt, al3 habe nothdürftig dort Jemand 
Unterkunft gefucht. AM die Niedlichkeiten des Gartens zerbrochen, zeriprungen 
die jilbernen Kugeln am Boden, Häglich zerfallen, wie Spielwert, das feine 


Eu 


Eigenthum. 365 


Zeit gehabt. Vor der Thür des Vetters alter Hund. Mühſelig ermannte er 
ih zu winſelndem Gebell, al3 Adam näher fam. Er wies die Zähne und 
fnurrte, obgleich ex ihn erkannte, denn er traute jelbft Freunden nicht mehr. 
Hinter ihm erſchien eine andre Geftalt aus jenen Tagen, ein invalider Diener 
des Vetters, dem man bier das Gnadenbrod gab. 


„Sie ſind's, junger Herr!” rief der alte Mann; „wie oft haben wir an Sie 
gedacht! Manches wäre anders gefommen, wenn Sie hätten bleiben fünnen. Es 
ift hiex nicht zum Miedererfennen; ein alter Gehirnfaften durfte darüber wol 
in Berwirrung geraten. Freilih für jolde Pracht konnte man jchon die 
Fabrik, und was drum und dran hing, hingeben.“ 

„Wer ift jet der Beſitzer?“ frug Adam. 

„Sie ift ſchon im dritter Hand,“ berichtete der Alte, „'s ift fein Glück 
und Stern dabei, Einer betrügt immer den Andern und vergißt, daß zuleßt 
Ale betrogen find. Nur der Herr Lambert — der verfteht’3, fie über das Ohr 
zu haun, der hat jein Schäfchen im Trocknen — was thut’s, wenn Andre darüber 
zu Schaden fommen! Mein armer, alter Herr! ch er durch die Krankheit jo 
heftig wurde, war’3 doc) ein quter Herr. Seht, ſein Ende hätte einen Stein 
erweichen können. Dan jagt droben, er verjtand nicht, was geſchah. Manches 
verstand er doch noch recht gut; ein Kind verſteht's, wenn man ihm jein Lieb- 
Iingsftüd mit Gewalt aus der Hand reißt. — Ich war die lette Zeit um ihn 
und weiß am Belten, wie es ftand. Es litt unſern Herren nicht dort unter 
ihren Spiegeln und Plüfhmöbeln; er war ein einfacher Mann, und das Kleid, 
daß fie ihm anzwängen wollten, für ihn nicht commoder als eine Zwangsjade. 
Gr bat, er drohte, er weinte gar — es war jammervoll anzuſehn. Nach Haus 
wollte ex, endlich einmal wieder nah Haus. Wenn er fonnte, machte er fid) 
fort, trieb ſich zerriſſen, beiymußt in der Gegend herum — 's war unangenehm fir 
den reichen Herrn, den Schwiegerpapa vagabondiren zu lafjen. Man ſchloß ihn ein, 
aber es machte das Nebel noch ärger. Ein Tobſüchtiger ift erſt gar nicht zu ver: 
bergen. Sie ließen ihn frei und begannen das Haus einzureißen, weldes ihm 
immer in Gedanken jtand, in jeinem Herzen war's aber eingemauert. Die 
Stelle hätt’ er geiucht, und die konnten ſie dod) nicht vom Erdboden vertilgen. — 
Sie ftellten aljo das Einreißen ein, machten ihm ein Zimmer zurecht, für uns 
Beide nothdürftig Quartier. Stundenlang jaß er Elagend in dem alten Gebäu, 
bejah die zerriffenen Tapeten, fügte zuſammen, jprach, als ſäh' ex noch wie ehe- 
dem Alles um fi), und wäre Herr der Fabrik; auc mit Ihnen ſprach er, Herr 
Adam; das Herz wendete fid) Einem vor Mitleid im Yeibe um. Manchmal 
fam die Wärterin mit dem Bübchen, dem Eleinen Lorenz, aus dem Schloß, um 
ihn zu zerftreuen. Ex liebte das Kind, drüdte e3 an fich, und jprad), indem er 
auf die Trümmer wies, ftolz: ‚Alles dein, ich hab's erworben für did.‘ Ein 
Mal aber wollte er den Kleinen nicht wieder aus den Armen laſſen, nur mit 
Gewalt rifjen fie ihn fort umd brachten ihn nicht wieder. — Von da ab war 
unjer Herr verloren — fommen Sie, wollen Sie die Stelle ſehn?“ 

Adam folgte ſchweigend. Der Alte ging mit unficher fladernder Leuchte 
voran. Geſpenſtiſch jchien ſich Alles zu bewegen, und doc) war es nur der 

Deutſche Rundſchau. I, v. 23 


366 Deutiche Rundichau. 


Schein des Lichts, — Im altbefannten Zimmer des Wetter Lorenz blieb 
er ſtehn. 

„Hier jaß der arme Herr zum legten Dial,“ jagte er, „ich Hatte ihm jelbft 
binaufgeholfen. Dann mußt’ ich ihn allein laſſen, er vertrug feines Menſchen 
Nähe mehr. — Man hielt es auch für ungefährlid. Wer hätte dieſem 
zerftörten Körper jo viel Kraft zugetraut! Die Verzweiflung gab fie ihm.“ 

Der Diener öffnete die Thür, das roftige Schloß widerftand erſt. Adam 
bliette hinab — two ſonſt eine Stiege geweſen, jah man jet in ſchwindelnde 
Tiefe. Widrig rauſchte und fluthete unheimlich düftres Waller. Schaurig 
Hagend ſchlug es an die jtehengebliebenen Pfoften. 

„Möglich,“ jagte der Alte, „daß unjer Herr die wohlbefannte Treppe ge: 
ſucht. Möglih! Im Schloß werden fie wol dergleichen wo nicht glauben, dod) 
erzählen — genug, bier fand er, oder machte er feiner Noth ein Ende, und 
Jeder kann fi) das Seine darüber denken . . .“ 

Erihüttert wendete Adam dem Haus des Vetter Lorenz den Rüden. 
Der alte Hund heulte hinter ihm ber, und die Käuzchen riefen ſich im 
Mondjcein. 

In der Burgruine fand er ein Obdach. Das Meer brachte ihm den erjten 
friſchen Athemzug. 

„Es geht Jeder jeinen Weg,“ dachte er, „aber die Wenigften erreichen aud 
nur annähernd das Ziel, das fie fich geftedt haben. Verjchlagen vom Hafen 
oft, Angeficht3 des Landes, weicht dann Alles wie Schatten vor uns zurüd, 
wir jelbft wenig mehr als ein Schatten.“ 

XVL 

Der Morgen gab ihn fich jelbft wieder — er frug die junge Frau nad 
Manchem, als fie ihm das Frühſtück brachte, auch nach dem Künſtler, der ja 
ein Kind des Orts war. 

Sie antwortete darauf, wie Gundula. „Willen Sie nicht, daß er todt ift? 
das weiß ja die halbe Welt!“ 

„JH war ſechs Jahre fort,” antwortete Adam, „und das ift lang’ für die 
Menjchen.“ 

„Beſonders wenn fie alt find,“ fuhr fie fort — „ihn aber hielt man für 
ewig jung — e3 war etwas Friſches, wie Immergrün, in feiner Natur. Sehn 
Sie, den hätte Jeder noch gern behalten — als ber ftarb, war's, al3 ginge ein 
großer Baum ein, unter deifen Schatten ſich's Viele wohl fein ließen. — € 
ift eben ein Unterjchied zwijchen Alt und Alt. Wer unnüß ift, jteht auch jung 
Jedermann im Weg. Auf diefer Stelle ftarb er, den Blid hinaus auf das 
Meer, janft, wie ein Kind einchläft. Für das Mädchen aber war's hart — 
fie glaubte nit, daß es ein End’ haben fünnte Wir befamen fie gar nidt 
vom Boden auf — abjolut wollte fie auch fort — auch fterben — nun, man 
kann Jemand doch nicht lebendig mit in das Grab legen, und jo mußte fie fih 
ermannen und mit dem, was ihr geblieben war, abrechnen. Gefehlt hat e 
ihr leiblih an Nichts, dazu hatte er zu viel Freunde. Sie wird zum Gejang 
ausgebildet werden, man läßt ihr nur noch ein wenig Zeit, um fich im das 





I na rrr 
— 
neue Leben zu finden. Meiſtens ift fie im Wald mit m east Hr Se) 
und die liebe Natur thun das Beite in joldem Fall. . R 

Adam bog bald darauf in den Waldweg ein. Meiſen, 7 
luſtigen Gejellen,- hüpften plaudernd vor ihm her, als wollten ſie ihm den Weg 
zeigen; hie und da glänzte, ein ſchimmerndes Geheimniß, blaufunkelnd das Meer 
durch die zierlichen Zweige. Plötzlich öffnete ſich der Wald und vor ihm lag, 
gleich erſtarrten Wellen, ein andres Meer, welches das Leben verſchlingt. Hügel 
an Hügel reihte ſich — ſchattige Buchen, tiefdunkle Tannen umftanden tie 
Hüter den Platz. Dazwiſchen ſpielte neckiſches Sonnenlicht und jagte ſich 
ordentlich durch die rauſchenden Blätter. An den vielen Kränzen und Roſen, 
die es bedeckten, erkannte er von fern das Grab des Lieblings der Menſchen. 
Schaaren bunter und weißer Schmetterlinge flatterten wie befreite Seelen auf 
und ab — goldne Strahlen woben ſchimmernde Verbindung zwiſchen Himmel 
und Erde. 

Auf dem ſonnendurchwärmten Gras jaß Grescentia, hatte den Kopf in die 
Hand gelegt und jummte die Strophe, die Adam von ihr und dem Vater gehört, 
am Meer — e3 Flang wie eine frage, aber die Antwort fehlte darauf, war 
verftummt für immer. Neben ihr taumelte fi im Uebermuth, zwiſchen den 
hochaufgeſchoſſenen Blumen und Kräutern, da3 wilde Bürſchchen. Sie wehrte 
ihm nicht — lächelte aber auch nicht, jo viel es ſchmeichelte und fie mit feiner 
tindifchen Luft zu verloden juchte. Ihr Ausjehn fein und dürftig tie damals, 
fie jelbft faft noch ein Kind. 

Als Adam herankam, ſchreckte fie auf — erkannte ihn, juchte zu fliehen — 
bejann fi) aber, trat jcheu auf ihn zu, gab ihm die Hand und frug: 

„Weißt Du no, was ich damals jagte? Jetzt bin ic) arm dagegen, arm, 
weil ich viel hatte. — Mag man bier noch jo reich jein — ein Augenblid — 
die Hand ift leer und man wird zum Bettler. — Gehört uns denn Nichts — 
gar Nichts in diefer Welt, haben wir an Nichts Eigenthumsreht? Vor unjern 
dürftenden Lippen verwandelt ſich plößli der Trunf in Gift. — Um uns 
Sonnenjhein, wir aber, mit der Nacht in den Augen, können ihn nicht jehn. 
Sag’ mir nichts von Troft — Troſt widert mid an — verſuche nicht, den 
Schmerz zu tödten, Schmerz ift ja das Einzige, worin ih ihn noch behal- 
ten fann.“ 

Damit ſetzte fie jich nieder in das Gras, verbarg das Geſicht, kümmerte 
fich weder um Adam, noch um den Kleinen, und jchlucdhzte, als jollte ihr das 
Herz breden. Starr hörte das Kind auf zu ſpielen — es war jonft nicht ihre 
Art — erichredt durch die Gewalt ihres Kummers; der Gedanke, es jei Unrecht, 
ſchlich durch fein Kleines Gewiſſen. 

„Du ſei ſtill,“ flüſterte es ihr zu, fie küſſend — „der hört es, da 
drunten.“ 

Sie aber weinte fort troſtlos, um ſie her Alles wunderbar froh und er— 
quickend, dicht neben ihr die volle Luſt der Natur, und doch für ſie uner— 
reichbar. 

Stumm ſetzte ſich Adam, den Kleinen an ſich lockend, auf einen Baum— 
ftamm. Das Kind kroch dicht heran, wurde zutraulich, flüſterte mit ihm, zeigte 

25* 


Eigenthum. 






368 Deutiche Rundichau. 


ihm allerlei Spiele, die e8 von dem Dahingegangenen gelernt, dem Kinderfreund, 
erzählte von ihm, Adam antwortete, Grescentia hatte den Kopf erhoben und 
laute. Da begann er die jchöne Zeit Hervorzurufen, in der ihr Vater dem 
jeinen nah gejtanden. Sie erwiderte mit den jeligen Tagen ihrer Kindheit, 
bi3 zuleßt aus taufend Kleinen Zügen des Verlorenen liebenswürbige Geftalt 
zwiſchen ihnen emporſtieg — wirklich, lebendig, als wär’ er in irdiſcher Gegen: 
wart zu ihnen getreten. 

Das Mädchen hörte auf zu weinen, ja dann und wann jtridh bei der 
Grinnerung wonniger Zeiten ein ſcheues Lächeln über ihre Züge — die Gedanken 
an ihn weckten den ſonnigen Schein, den er immer, wo er auch war, über das 
Leben gebreitet hatte. 

„Crescentia,“ ſagte Adam, „fühlſt Du, daß er uns jetzt näher iſt, als im 
Schmerz?“ 

„sh fühl's,“ antwortete fie. 

Und das Kind jauchzte, ſie wieder freundlich zu ſehn. 

„Wo Macht und Reichthum ſonſt ein Ende hat,“ fuhr Adam fort, „hat 
ſein Geiſt noch Fülle und Kraft, zu beglücken . . . Wer mit ihm gelebt, kann 
ihn nie verlieren.“ 

„Sch verſteh',“ jagte fie, den Kopf jenkend und das Bübchen an fich ziehend; 
„aber e3 ift doc nur ein Schatten von dem, was mein var.” 

„Selbft ſolch ein Schatten,” rief er, „it oft wirklicher, näher, beglücender, 
al3 manches Dafein, welches in vollem Leben neben uns hergeht, Hohl und 
ftumm wie ein Schemen. Das Grab ift es nicht, wo ic) ihn ſuche — mit uns, 
in jedem Herzichlag, in jedem Gedanken, da will ich ihn finden. Ihm nad 
wollen wir, Grescentia, auf dem jelben Weg zujammentreffen, — jcheinbar arm — 
wirklich reich — — los vom Beſitz — los vom Irdiſchen, und doch feſtgewurzelt 
auch ſchon auf Erden in dem, was ewigen Werth hat — mit heißem Begehr 
das Gold juchend, twelches in der Seele geprägt wird, jei es durch Luft oder 
duch Schmerz, aber echt in Beiden.“ 

Das Mädchen nickte, duch Thränen lächelnd, und reichte ihm die Hand. 

Lang’ jah er fie noch ftehn, wenn er fi) umwandte, beglänzt von der 
Sonne, das Knäbchen im Arm, — eine lichte Verheißung der Zufunft! 





Zerdinand Salfalle 


bor der Agitation. 


— nu 


Bon Georg Brandes. 


4. 


Zuerft und vor Allem kehrte Lafjalle jeßt zu ſeinem „Heraklit“ zurüd. 
ie das Buch gedruckt vorliegt, ift e3 für den aufmerffamen Lejer nicht ſchwer, 
gleihjam zwei Hände darin zu jpüren. Der reife Mann hat redigirt und her- 
ausgegeben, was der Jüngling erforſcht und gefunden hatte. Unverkennbar hat 
eine geichichtlichere Auffaffung im Laufe der Jahre die frühere ftreng metaphy— 
ſiſche und rein hegelianijche abgelöft. Nichtsdeftoweniger giebt das Buch ein 
verhältnigmähig getreues Bild von Laſſalle's wiſſenſchaftlichem Leben in jeinen 
jüngeren Jahren. „Die Philojophie Herakleitos des Dunkeln“ ift eine Studie 
in Hegel’ihem Geifte, eine Studie zur Geſchichte der Philojophie. In Laſſalle's 
Drganifation war Etwas, das ihn mächtig zu der in feiner erften Jugend ab- 
ſolut fiegreihen Hegel’ihen Philoſophie hinziehen mußte: die dialektiſche Anlage 
feiner Natur und fein Drang, in den Beſitz eines Schlüffels oder Dietrichs zu ge- 
langen, mittel3 defjen ex fi) den Weg zu jenem Verſtändniß und Willen ver- 
Ichaffen könne, welches Macht iſt. Was verhieß nicht die Hegel'ſche Philofophie 
ihren Pflegern! Daß Laſſalle ein bejonderes Intereſſe für Heraflit empfand, . 
war, wie fich ſchließen läßt, zunächſt in dem Leidenichaftlichen Hange jeines 
Geiftes begründet, ſich mit Schwierigkeiten abzugeben, die jeden Anderen zurüd- 
Tchreden würden — jeit dem grauen Alterthum führte Heraklit ja den Beinamen 
des Dunklen, und was von ihm erhalten war, beftand nur aus wenigen zer: 
ftreuten Fragmenten und erforderte gründlichfte Kenntniß der ganzen clafftichen 
Literatur, um ergänzt und verjtanden zu werden; — jodann jpürte unver— 
fennbar der begeifterte Hegelianer Luft, einen Geift zu ſchildern, der ihm als 
ein früher Vorläufer Hegel's jelbft und als ein ſolcher erichten, der eben wegen 
feiner Verwandtichaft mit dem modernen Meifter unverftanden geblieben war; — 
endlich fühlte der junge ſtürmiſche Apoftel der Gegenwart fich hingezogen zu 


370 Deutihe Rundſchau. 


einer Größe des Altertdums, melde nach mandem uns aufbewahrten Charafter- 
zuge mit Eigenſchaften und Eigenthümlichkeiten ausgeftattet war, die er in 
jeiner eigenen Seele gähren fühlte. Auch von Heraklit hieß es ja, „er habe alle 
Ruhe und Stillftand aus der Welt verbannt, die ihm nur abjolute Bewegung 
geweſen“, und mit welcher Genugthuung ruft Laſſalle einmal aus: „Dan fiebt, 
daß Heratlit weit entfernt war von jener Apathie, welche den ethijch-politifchen 
Raifonnementz der jpäteren Stoiker eine jo tiefe Langweiligkeit einflößt. Cs 
war Sturm in diefer Natur!” *) 

Wie fait alle Schriften Lafjalle'3 einen Proteft wider den Irrthum ent- 
halten, eine einzelne Dizciplin oder eine einzelne Wiſſenſchaft in geiftlofer Iſo— 
lirtheit betrachten zu wollen — ein Zug, in welchem ſich fein angeborener Blid 
für das Ganze und Große offenbart —, jo beginnt auch dies Werk mit der 
Betonung des Sabes, daß „jebt, wo die Geſchichte der Philojophie aufgehört 
habe, für eine Sammlung von Curiofi3 zu gelten, wo aud der Gedanke als 
ein Hiftorifches Product und die Gejchichte der Philofophie als die Darftellung 
feiner continuirlichen Selbftentwiclung begriffen werde, die Zeit kommen müfle, 
two die Geichichte der Philojophie eben jo wenig, wie diejenige der Religion, 
der Kunſt, des Staats oder der Lebensformen. der bürgerlichen Gejellichaft, als 
eine iſolirte Disciplin werde aufgefaßt und dargeftellt werden”. tan darf fi 
indeß durch den Nachdruck, der hier auf eine hiftorifche Entwidlung gelegt 
wird, nicht verleiten lafjen, Laſſalle's Standpunkt in diefem Werke für minder 
hegelianiſch und mehr modern zu halten, als derjelbe in Wirklichkeit if. Das 
Vorwort, welches dies Hiftoriiche jo ſcharf accentuirt, gehört ja unzweifelhaft 
zu den allerlegten Partien des Werkes. Im Uebrigen ift der Standpunkt rein 
metaphyſiſch. Wird der wiſſenſchaftliche Gedanke hier auch ein Hiftorifches Pro- 
duct genannt, jo werden die Kategorien des Gedankens doch als ewige meta- 
phyſiſche Welenheiten betrachtet, deren Selbftbewegung und „Umſchlag“ die Ge: 
ichichte erzeugen. Die Philojophen werden nicht nad) ihrer totalen pfychologifchen 
Entwidlungsftufe, jondern nad dem Plate geordnet, den die Kategorie, als 
deren Repräjentanten fie aufgefaßt werden, im Syftem einnimmt. ‚Heraklit ent- 
Ipriht dem Werden, Parmenides dem Sein; folglich wiſſen wir a priori, daß 
Parmenides, wie hoch er auch al3 Geift über Heraflit ftehe, vor und unter ihn 
gejtellt wird **). 

Hiemit joll jedoch nicht im entjernteften angedeutet werden, daß Laffalle 
Heraflit nicht verftanden habe. Im Gegentheil. Gerade die hegeliſch-meta— 
phyſiſche Methode ſchlug vortrefflih an, wo e3 das Verſtändniß eines Denkers 
galt, deifen Stärke und Originalität in einer bis zur Grenze der Sophiſtik ent: 
wicelten Dialektik lag. Ich mochte mid in diefem Punkte nicht auf mein 
eigenes Urtheil allein verlafjen; ich habe daher einen Mann, welcher auf diefem 
Gebiet eine Autorität iſt — einen Profefjor der Philologie an der Berliner 
Univerfität — gefragt, wie weit Laſſalle nad) jeiner Anficht Heraklit verftanden 


*) Lafjalle: Herakleitos, Bb. I, ©. 51, und Bd. II, ©. 43. — 
*) Laſſalle: Herafleitos, Bd. I, ©. 35. Bal. Lazarus er Steinthal: Zeitichrift für Voller: 
piychologie und Spracdtunde, Bd. II, ©. 332. 


Ferdinand Lafjalle vor der Agitation. 371 


habe, und ich erhielt die charakteriftiiche Antwort: „Gewiß hat er ihn ver- 
fanden. Ein normal angelegter Philolog wird Heraklit nicht verftehen, ja darf 
ihn gar nicht verftehen. Aber man fann nicht leugnen, daß Laſſalle ihn ver- 
ftanden hat, und daß fein Buch ein ausgezeichnet tüchtiges Werk ijt“. 

In der Auffaffung und Wiedergabe von Heraklit's Metaphyſik ſpürt man 
den Tchulgerehten Hegelianer: „Der Begriff des Werdens, die Identität des 
großen Gegenjabes von Sein und Nichtſein ift das göttliche Geſetz. Die Natur 
jelbft ift nur die verkörperte Verkündigung diejes ihre innere Seele bildenden 
Geſetzes von der dentität des Gegenjaßes. Der Tag ift nur diefe Bewegung: 
ich zur Nacht zu machen, die Naht nur dies: zum Tag zu werden, der Sonnen— 
aufgang ift nur ein ununterbrochener Niedergang x. Das AL ift nur die jicht- 
bare Verwirklichung diefer Harmonie des ſich Entgegengejegten, die durch alles 
Seiende hindurchgreift und es regiert” .... „Diejer verſöhnte Widerſpruch, das 
daſeiende Nichtjein, ift der Kern und die ganze Tiefe (sie!) jeiner Philojophie. 
Dan fanrı vorläufig jagen, daß dieje in dem einzigen Satze befteht: Nur das 
Nichtſein tft.“ *) 

Sit alſo die Methode, welche Laſſalle bei jeiner hiftoriich - philojophiichen 
Forihung anwendet, rein hegelianifch, jo erhellt andererjeit3 eben jo deutlich, 
dat das Hauptintereffe an dem Gegenftande jeiner Forſchung für ihn darin lag, 
jeinen großen Meifter hier vorgebildet zu jehen. Wäre Hegel gegen den Schluß 
des jechiten Jahrhunderts vor unjerer Zeitrehnung im aſiatiſchen Griechenland 
geboren, jo wäre er Heraklit geworden. Bon Heraklit hatte man ja ſchon im 
Alterthume bemerkt, dab er, welcher die Gegenſätze als Urprincip jege, mit dem 
Sabe des Widerſpruchs nicht einverftanden ſei (Bd. I., ©. 119). Heraklit hatte 
ja jhon mit einer an Spinoza's Pantheismus erinnernden Wendung erklärt, 
dag „dem Gotte Alles ſchön und gerecht ei, die Menjchen aber das Eine ala 
ungerecht, das Andere als gerecht angenommen haben“ (Bd. I, ©. 92). Und 
bei Heraklit ſchon fand ſich die philoſophiſche Neigung, welche zur Blüthezeit 
des Hegelianismus jo vorherrichend war, bei jeder Gelegenheit dem gefunden 
Menichenverjtande unangenehme Wahrheiten zu jagen. Lafjalle bemerkt ſelbſt 
(Bd. IL, ©. 276): „Wenn eine moderne Philojophie ſich darin gefiel, wieder: 
holt hervorzuheben, daß gerade das ſcheinbar Befanntefte und Alltäglichite, was 
Jedermann ganz von jelbft zu wiſſen glaube, dennocd vielmehr gerade am 
wenigften gewußt werde und von einer dem reflectirenden Verſtande ſchlechthin 
unfaßbaren Natur jei, jo ift es Heraklit geweſen, der, al3 erfter Verfünder einer 
wahrhaft Ipeculativen und ſich als ſolche erfaßt habenden dee, auch zuerſt diejen 

*) Laſſalle: Heratleitos, Bd. I, ©. 24 und 35. — Ganz hat Lafjalle den Hegel’ichen Jargon 
nie überwunden. In feiner Tragödie „Franz von Sickingen“ ſpricht Karl V. von feinen Zwecken, 
und fagt dann rein hegelianifch: 

Wenn Ihr die meinen 
Zu Eures Wollens Inhalt machen könnt — 
Dann, Franz, dann jollt Ihr fteigen. 
Rod in feiner legten größeren Schrift: „Capital und Arbeit“ „Ichlagen die Begriffe um“. Vgl. 
au im „Spftem der erworbenen Rechte‘, Bd. II, S. 9, die Ausführung von der „bialektiichen 
Ihätigfeit des Begriffs“. 


372 Deutihe Rundichau. 


jelben Ausſpruch über die Ohnmacht des unjpeculativen Denkens und des jub- 
jectiven Verſtandes gethan hat“. 

Heraklit’3 Ethik, jagt Lafjalle (Bd. IL, ©. 431), faßt fi) in den Einen 
Gedanken zujammen, der zugleich der ewige Grundbegriff des Sittlichen felbft 
ift: „Hingabe an das Allgemeine“. Das ift zugleich griehifch und modern; 
aber Laſſalle kann fich das Vergnügen nicht verjagen, in der ſpeciellen Aus- 
führung dieſes Gedankens bei dem alten Griechen die Nebereinftimmung mit 
Hegel's Staat3philojophie nachzuweiſen (Bd. II, ©. 439): „Wie in der Hegel’ 
ihen Philoſophie die Geſetze gleichfalls aufgefaßt werden als die Realijation 
des allgemeinen jubjtantiellen Willens, ohne daß bei diefer Beſtimmung im 
geringiten an den formellen Willen der Subjecte und deren Zählung gedacht 
wird, jo iſt auch das Allgemeine Heraklit's gleich jehr von der Kategorie der 
empiriichen Allheit entfernt“. 

Do nicht nur wegen der Analogie mit Hegel, jondern wegen der: Leber: 
einftimmung mit Zafjalle's innigfter politifcher Neberzeugumg hebt er dies Mo— 
ment hervor. Seit jeiner früheften Jugend hatte ja auch er im Staatsgedanken 
Moral und Recht und Vernunft incarnixt gefehen. Die Begeifterung für dieje Idee, 
der Glaube an die Miffton des Staates nicht nur als Beſchützer, jondern als 
Förderer von Recht und Gultur, geht durch alle feine Schriften. Man jpürt 
jte ın feinen gelehrten wifjenjchaftlichen Arbeiten, wie hier in „Heraklit“; fie 
offenbart ſich ftärker, wierwohl nur ftellenweife aufbligend, in jeinem großen 
juriftiichen Werte („Syitem der ertvorbenen Rechte“, Bd. IL, ©. 47; Bd. II, 
©. 603 ff.), bis fie endlih in jeinen politiichen und öfonomijchen Agitations- 
broſchüren mit leidenschaftlicher Polemik wider die Manchefter-Theorie und mit 
all’ jener Wärme der Ueberzeugung verkündet wird, die ihn als Redner umd 
Schriftfteller jo geliebt und gefürchtet machte. 

Der Gegenjat zwiſchen Heraklit und Lafjalle ift auf diefem Punkte nur der, 
daß man aus der Staatötheorie des griechischen Denkers ſehr wohl begreift, wie 
er, troß jeines Reſpects für das Allgemeine, in den Ihärfften Gegenjat zu der 
Mafjenherrichaft in feiner Vaterſtadt Epheſus treten mußte, daß man aber weit 
ſchwieriger einfieht, wie Lafjalle aus feinem analogen Grundbegriffe vom Staate 
zu practiichen Gonfequenzen gelangen fonnte, die eher von Roufjeau als von 
Hegel jtammen. Hier fand jedoch bei diejer intereffanten Individualität eine 
_ innere Spaltung von der Art ftatt, wie fie uns bei hervorragenden Geiftern jo 
häufig begegnet. Aus Inſtinct und kraft feiner Grundprincipien war Lafjalle 
ein Vergötterer der ntelligenz, der objectiven Vernunft und daher ein leiden- 
ihaftlicher Gegner und Verächter der öffentlichen Meinung und der Zahl. Aus 
leberzeugung dagegen und kraft feiner politifchen und practiſchen Principien 
war Lafjalle bekanntlich ausgeprägter Demokrat, conjequenter und fiegreicher 
Dertheidiger des allgemeinen Stimmrechts, Vorkämpfer für eine Art von 
Maſſenherrſchaft, die die Geſchichte zuvor nicht gejehen hat. Geiftesariftofrat 
und Socialdemofrat! größere Gegenjäße, als diefe, kann ein Menjchenherz um— 
faffen, aber man hegt fie nicht ungeftraft in feinem Gemüth. Was mir 
bier berühren, ift in der Welt der Principien derjelbe Gontraft, ber rein 
äußerlich zu Tage trat, wenn Lafjalle mit feiner ausgefucht eleganten Mleidung, 


Ferdinand Laffalle vor der Agitation. 373 


jeinev ausgejucht feinen Wäſche und feinen Ladftiefeln in und zu einem Kreiſe 
von SFabrilarbeitern mit rußiger Haut und jehwieligen Händen jprad). 

Aber beftand nun auch im diefer Hinficht ein gewilfer Contraſt zwifchen 
Laſſalle und dem von ihm beiwunderten Griechen, jo fühlt man doc die Aehn— 
lichkeit, jo bald man die Schilderumg von Heraklit's Perjönlichkeit mit feinem 
unglaublichen Selbftgefühl und feiner Menjchenveradhtung lieſt. Welche Vor: 
ftellung von feinem Werthe muß ein Mann gehabt haben, der, wie Heraflit, 
mehr al3 einmal (Bd. II., S. 269 u. 281) äußerte, „daß die Menjchen jchlecht- 
hin undernünftig feien, und daß er allein wilje, während alle Anderen wie im 
Schlafe handeln“, oder der von feinen Mitbürgern nit nur im Allgemeinen 
jagte, „fie verdienten, gehenft zu werden, da die Maſſe ſich doch nur mäfte wie 
das Vieh”, ſondern der bei einem beftimmten einzelnen Anlafje, der Vertreibung 
jeines Freundes Hermodoros, bemerkte (Bd. II. ©. 442): „Den Ephefiern ge- 
bührt, wie fie erwachſen find, Allen, erwürgt zu werden, und den Unmündigen, 
die Stadt zu verlaflen, da fie den Hermodoros, den Trefflichiten von ihnen, 
vertrieben haben, jagend: Bei und joll Keiner der Trefflichite fein; ift aber 
Einer ein Solcher, jo jei er e3 anderätwo und bei Andern”. Wer maq daran 
zweifeln, daß diefe Worte oftmals Laſſalle in den Sinn gefommen find, als er 
ein Jahr vor feinem Tode ſich überall gehaßt und verleumdet jah, jahrelange 
Ginterferung ala Perjpective vor Augen Hatte, und von Obrigkeit und Preffe 
verfolgt, auf Lauheit bei dem größten Theil Derjenigen ftieß, denen ex helfen 
wollte und denen er jeine Ruhe opferte. Man dürfte kaum eine treffendere 
Parallele zu jenen verzweiflungsvoll- jelbjtbewuhten Neuerungen Heraklit's 
finden, die von einer wahrhaft timonijchen Bitterkeit und Menſchenverachtung 
zeugen, als Lafjalle’3, übrigens glänzend gejchriebene, „melandyoliiche Meditation“ 
am Schluſſe feiner Schrift „Capital und Arbeit“: 

„Und diefe abjolute Berfimpelung des Bürgertfums — in dem Lande 
Leſſing's und Kant's, Schiller'3 und Goethe's, Fichte's, Schelling’3 und Hegel's! 
Sind dieje geiftigen Heroen wirklich nur wie ein Zug von Kranichen über unfern 
Häuptern dahin geraufcht? Fit von der immenjen geiftigen Arbeit, von der in- 
nerlihen Weltwende, die jie vollbracht, Nichts, Nichts, gar Nichts auf die 
Nation gekommen, und befteht der deutſche Geift wirklih nur in einer 
Reihe einjamer Individuen, welche, jeder das Erbtheil feiner Vorgänger 
treu übernehmend, ihre einfame und für die Nation fruchtloje Arbeit in bit- 
terer VBeradtung ihrer Mitwelt fortjeen? Welcher Fluch Hat das 
Bürgerthum enterbt, daß von all’ den gewaltigen Gulturarbeiten, die in jeiner 
Mitte geſchahen, daß aus diejer ganzen Atmojphäre von Bildung fein ein- 
ziger Tropfen befruchtenden Thaues in jein immer mehr vertrodnendes Gehirn 
gefallen? .... Der Bürger feiert unſern Denkern Feſte — Mmeil er niemals 
ihre Werke gelefen! Er würde fie verbrennen, wenn er fie gelejen hätte... 
Er ihwärmt für unfere Dichter, weil er einige Verſe von ihnen citiren kann 
oder dies und jenes Stüd von ihnen gejehen und gelefen, aber fih niemals 
in ihre Weltanſchauung hineingedadht hat!“ 

Noch eine Mebereinftimmung, die letzte zwischen Heraklit und Lafjalle, bildet 
der troß des Selbftgefühlse und des Stolzes jo leidenihaftliche Drang nad) 


374 Deutiche Rundſchau. 


Ruhm und Ehre, nad) der Bewunderung und dem Lobe Anderer. Heraklit hat 
das oft citirte Wort geſprochen (Bd. IL, ©. 434): „Die größeren Schidfale 
erlangen das größere Loos“. Und er hat gejagt, was das rechte Licht auf diefen 
Sak wirft (Bd. II, ©. 436), „daß die Menge und die ſich weile Dünkenden 
den Sängern der Völker folgen und die Geſetze um Rath fragen, nicht wiſſend, 
daß die Mtenge jchlecht, Wenige nur gut, die Beften aber dem Ruhme nad)- 
folgen. Denn“, fügt er hinzu, „es wählen die Beften Eins ftatt Allem, den 
immermwährenden Ruhm der Sterblichen“. Ruhm war für Heraklit alfo gerade 
jenes größte Loos, welches das größere Schickſal erlangen kann; fein Trachten 
nad) Ehre war nicht nur das unmittelbare, welches im Blute liegt, jondern 
ein durch Reflerion und Philojophie begründetes. „Der Ruhm“, jagt Lafjalle, 
„it in der That das Entgegengejegte von Allem, das Entgegengejeßte gegen die 
Kategorie de3 unmittelbaren realen Seins überhaupt und jeiner einzelnen Zwecke. 
Er ift Sein der Menichen in ihrem Nichtjein, reine Fortdauer im Untergang 
der ſinnlichen Eriftenz ſelbſt, er ift darum erreichte und wirklich gewordene Un: 
endlichkeit des Menſchen“, und mit Wärme fügt er hinzu: „Wie dies der Grund 
ift, weshalb der Ruhm ſeit je die großen Seelen jo mächtig ergriffen und über 
alle Kleinen und beſchränkten Zwecke hinausgehoben hat, wie dies der Grund ift, 
weshalb Platen von ihm fingt, daß er erft annahen kann „Hand in Hand mit 
dem prüfenden Zodesengel“, jo ift e8 auch der Grund, weshalb Heraklit in ihm 
die ethijche Realifirung jeines jpeculativen Princips erblickt“. 

Mag diefe Schäßung von Ehre und Ruhm nun aud; noch jo jehr mit 
Heraklit's metaphyſiſchem Syſtem übereinftimmen, jo fteht doch feſt, daß es 
ein ſtarker logiſcher Widerſpruch iſt, dies Trachten nach Anderer Bewunderung 
mit jener tiefen Verachtung des Urtheils der Anderen zu verbinden. Aber was 
ſich logiſch nicht vereinigen läßt, das läßt ſich, wie die geringſte Weltkenntniß 
lehrt, pſychologiſch ganz trefflich verſöhnen, und deshalb können wir auch 
bei Laſſalle einen Stolz, der nie das Spiel verloren giebt, noch ſich beugt, eng 
gepaart finden mit einem unwiderſtehlichen Drange, Lob und Complimente zu 
ernten und fremde Bewunderungs- oder Beifallsäußerungen einzuſtreichen. Miß— 
verſtehe man mich nicht! Nichts iſt natürlicher, Nichts menſchlicher, als ſich 
über den Beifall und das Lob der Beiten zu freuen. Wer für dergleichen völlig 
gleihgültig wäre, der würde nicht leicht Schriftfteller werden, nicht leicht in 
irgend einer Richtung Hervortreten. Ya, man kann weiter gehen und fagen: 
für den Schriftfteller und für den Redner ift ein gewiſſes Maß von Aner- 
fennung geradezu eine Nothwendigkeit, ift die Bedingung, ohne welche er als 
jolher nit Athem holen kann. Er kann ſich jedoch, wenn die Strömung 
twider ihn geht, wie es bei Laſſalle der Fall war, mit Privatbemweijen der Aner- 
fennung begnügen, und er müßte ſich jehr ungern und faum einmal unter der 
ihlimmften Verkennung auf ſolche Privathuldigungen berufen. Allein diefer 
Verſuchung konnte Lajjalle nicht widerjtehen, dazu reichte jein Stolz nicht aus; 
er beruft ſich am unrechten Orte und ohne wahres Taktgefühl auf Privatanerten- 
nungen jeines Strebens. Es ift mehr al3 ein oratorischer Fechtergriff bei ihm, e3 
ift eine Sade, die ihm ganz natürlich fällt: Ich meine hier nicht den Umftand, 
daß er dann und wann mit aufbraufendem Selbftgefühl ausipricht, was die 


Ferdinand Lafjalle vor der Agitation. 375 


reine Wahrheit ift und was er all’ den Lügen und Entftellungen gegenüber, die 
wider ihn vorgebracht wurden, mit Fug und Recht jagen durfte, daß er fein 
Dilettant, jondern ein Mann der Wiſſenſchaft, und ein bedeutender, ein über- 
legener Dann der Wiſſenſchaft jei, welcher dauernde Werke, ja ein epodhe- 
machendes Hauptwerk gejchaffen habe. ch meine vielmehr feine unjelige Vor— 
liebe für den Lärm und Trommelſchall der Ehre, für ihre Pauken und Trom— 
peten, die ex jelbft bei geringen Anläſſen forderte oder fich zuſprach. Was joll 
man dazu jagen, daß er fi Arbeitern gegenüber rühmt *), in einer literarijchen 
Satire einen befannten Journaliſten und Literarhiftorifer angegriffen zu haben 
„unter dem rauichenden Beifall der größten Gelehrten und Denker Deutihlands, 
die mir dafür mündlich und brieflich die Hand jchüttelten“. Die Herausgabe 
des erwähnten wißigen und übermüthigen, aber durchaus formlojen Pamphlets 
verivandelt ji für ihn in eine geiftige Großthat. Und wie tief diejer Charak— 
terzug bei Laſſalle liegt, fühlt man erſt recht, wenn man denjelben auch dort, 
wo er frei dichtet, bei jeinem Lieblingshelden Ulrich von Hutten in dem Drama 
„Franz von Sickingen“ hervortreten ſieht. Mit einem Pathos, das tief aus 
Laſſalle's Innerſtem kommt, ſchildert Mxich, wie ihm zu Muthe ward, als „die 
finftre Glaubenstyrannei” wieder ihr Haupt in Deutichland erhob, als die feit- 
geichlofjene Phalanz der Dunkelmänner wider die neu erwachte Wiſſenſchaft auf: 
ftand, und Köln, „die deutiche Reſidenz der Priejtertüce”, Reuchlin und feine 
Schriften verfegerte. Der Anlauf ift vorzüglich, jelbjt das Lärmende und Pol- 
ternde der Diction ift an jeinem Plate, bis wir endlich wieder auf das unjelige 
Appellicen an den Applaus ftoßen: 

Sch wußte jetzt, wozu ich ward geboren, 

Wozu jo hart gehämmert in des Unglüds Efje! 

Wie fih in's Meer die Woge tojend jtürzt, 

Wie Brandung von dem Ufer widerichlägt, 

So ftürzte ich mich flammenfprühnden Auges, 

Zitternd vor Leidenschaft, vor Wolluft rafend, 

Kopfüber in den ungeheuren Streit. 

Des Zornes Art, des Spottes Stachelfeule 

Schwang ich zermalmend auf der Gegner Haupt, 

Unter Europas lautem Beifallklatſchen 

Und feines ſchallenden Gelädhters Wudt 

Ihr Jammerdafein auf der Parodie 

Schaubühne an den offnen Pranger ſchlagend. 

Doch eine Welt von Haß erzeugt’ ich mir, 

Die mit mir ringt, der ich entgegen ringe 

Auf Tod und Leben, Bruft an Bruft gedrängt! 


Nach der hier gegebenen Darftellung wird es vielleicht minder überrajchend 
ericheinen, als man auf den erften Blick finden möchte, daß Laſſalle einen jo 
großen Theil feiner Jugend auf das Studium eines Geiftes verwandt hat, der 
uns an Zeit und Gultur jo fern liegt. Man wird bemerkt haben, daß jener 
Denker nit nur in feiner logiſchen Anlage und feiner dialeftiichen Tendenz, 
ſondern au in jeiner Ethik mit ihrem Anpreifen des Staates und der Auf- 


*) Die Feſte, die Prejie und der Frankfurter Abgeordnetentag. 


370 Deutiche Rundſchau. 


opferung für das Allgemeine, ja jelbft in jeinen perſönlichen Eigenichaften, 
Tugenden ſowohl wie Laftern, ganz auffällig mit dem jungen Betwunderer über: 
einftimmte, deifen Eroberung er ein Paar taujend Jahre nad) feinem Tode 
machte, kraft deſſelben Geſetzes, welches Sofrates einen Jo leidenichaftlichen Ber: 
ehrer in Sören Kierkegaard erihuf*). 


’ 


> 


Ach habe ſchon erwähnt, daß der Zeitraum von Laſſalle's Leben, welcher 
durch das Studium Heraklit’3 und durch die Proceije der Gräfin Habfeldt in 
Anſpruch genommen ward, auch jein erftes politifches Auftreten und deſſen 
Folgen umfaßt. 

Wenige Monate nah dem Kölner Procefje finden wir Lafjalle wieder auf 
der Anklagebank, diesmal zu Düffeldorf, und nach jeinem eigenen Ausdrude „jo 
geſpickt mit Griminalverfolgungen, wie der Panzer eines Kriegers mit Pfeilen”. 
Die große jocial-politiiche Bewegung des Jahres 1848 Hatte ihn mit Gewalt 
einem Privatfampfe entriſſen. Troß jeiner Jugend war er eins der einfluß- 
reichiten und thätigften Mitglieder der damals in Deutichland jo zahlreichen 
republikaniſchen Partei; troß jeiner Jugend war er ein Führer. Er hielt poli- 
tiſche Verfammlungen und ſprach dort, er ließ Placate an den Straßeneden an« 
ichlagen, in denen ex zu bewaffnetem Widerftande aufforderte, als die preußiſche 
Regierung im November 1848 durch einen Verfaſſungsbruch die Nationalver: 
jammlung für aufgelöft erklärte. Verhaßt durch die Hatzfeldt'ſche Affaire, ge: 
fürdhtet wegen ſeines entſchloſſenen und unerſchrockenen Auftretens, ward er, jo: 
bald die Contrerevolution ſich im Beſitze der Uebermacht fühlte, in's Gefängniß 
getvorfen, und durch jede erdenkliche Chifane ließ man die Unterſuchungshaft 
und die Vorunterſuchung jich über ein halbes Jahr hinaus erjtreden. 

Die Rede, welche Lafjalle jetzt vor feinen Richtern hielt, ift nach meiner 
Anſicht eins der beivunderungstwürdigften Zeugnifie von Mannesmuth und 
Beredtſamkeit bei einem Yüngling, welche die Weltgeihichte aufweift. Wüßte 
man es nicht, jo würde fein Menſch glauben, daß ein junger Mann von drei: 
undzwanzig Jahren dieje Rede gehalten. Hier ift Laſſalle ſchön. Hier fteht er 
bejeelt und von innen her beleuchtet von dem edeljten, reinften Pathos, das ein 
Menjchenherz erfüllen kann, ohne daß man eine einzige Secunde an der Echt— 
heit und Tiefe des Gefühls zweifelt. Hier führt er die Klinge des Wortes mit 
einer Kraft und Kunft, einer Eleganz und Wucht, die jich überhaupt nicht über: 
treffen läßt, und zwar ohne einen Augenblid mit jeiner Gewandtheit zu prunten. 
Hier ftebt er zum erſten Mal licht und jchön auf der Höhe feines Wejens. 
Diefe Rede hat den ganzen friſchen Farbenſchmelz der erjten Jugend, ohne an 
einer einzigen Stelle jugendlich blümerant oder Ihmwülftig zu fein. Orla Leb: 
mann's Beredtjamfeit ſcheint, mit diejer verglichen, um ein halbes Jahrhundert 
zurück zu liegen. Aber wie joll man eine politiiche Rede jchildern, deren Kennt: 
*) Neber diejen geiftvollen Denker findet man Näheres in N. Strodtmann's Buche: Das 


geiftige Zeben in Dänemarl, ©. 95 fi. 
Die Rebaction der „Deutichen Rundichau“. 


Ferdinand Laſſalle vor der Agitation. 377 


niß man nit bei Jedem vorausjegen kann, und deren Stärke jo gleihmäßig 
über alle Punkte vertheilt ift, daß man fie ganz kennen muß, um fie richtig zu 
würdigen? Dean kann und muß einige Gitate herausheben — natürlich, aber 
das Gitat giebt nur eine ſchwache Vorftellung von dem bewegten Leben der 
Rede, ein Eimer Waſſer ift feine Welle mehr. 

Höchſt harakteriftiic beginnt die Rede mit der Erklärung, jie wolle jich 
nicht mit der Vertheidigung al3 ſolcher befaſſen, welche der Defenjor geführt 
habe, jondern mit der Anklage, — der Anklage, welche der Redner dem gegen 
ihn gerichteten Verbrechen entgegen jchleudern wolle, deſſen Corpus delicti der 
Anklageact bilde. Nocd) charakteriftiicher beginnt Laſſalle mit den Worten, er 
werde jtet3 mit Freuden bekennen, daß ex jeiner inneren Ueberzeugung nach auf 
durchaus revolutionärem Standpunkt ftehe, daß er „ein Nevolutionär aus 
Prineip“ jei. Doc will ex jeine Verteidigung nicht von diefem Standpuntte 
herab führen, da die Regierung denjelben naturgemäß nicht anerfenne. Dan 
kann, jagt er, feinen Gegner ernfthaft treffen und verwunden, wenn man auf 
weſentlich verjchiedenem Standpunkte mit ihm jteht. Die Waffen erreichen jid) 
dann nicht und Jeder ficht in’s Leere. Man kann einen Gegner von diametral 
verfhiedenem Standpunkt aus wohl widerlegen, indem man die Unwahrheit 
feiner Grundprincipien aufzeigt; aber man fann ihn dann nit beihämen, 
ihm keine Inconſequenz, keinen Verrath an den Principien nachweijen, zu denen 
er fich jelbft befennt oder jcheinbar doch bekennen muß. „Im Intereſſe des 
Angriffs alſo und jeiner jchneidenden Schärfe will ich mich herbeilaffen, auf den 
Standpuntt herabzufteigen, auf weldhem jelbjt zu ftehen der Staatsprocurator 
als Behörde in einem conftitutionellen Staate mindeſtens äußerlich behaupten 
muß, auf den ftreng conftitutionellen Standpunkt, und meine Vertheidigung rein 
von diefem Boden zu führen“. 

Verweilen wir zunächſt bei dieſem Ausdrude „Revolutionär aus Princip“, 
der jo oft bei Lafjalle vorfommt, der, jo häufig von ihm erklärt, dennoch ftets 
wieder mißverjtanden worden ift, und der in gewiljer Art den Stern jeiner 
ganzen politiichen und jocialen Lebensanſchauung bezeichnet*). So oft man ihn 
Revolutionär nennt, antwortet er, daß er die thatſächliche Wahrheit dieſes 
Vorwurf3 in der Wahrheit jeines Wejens Hundertmal zugegeben habe, wo immer 
auch er ihm gemacht worden jei, dor der Deffentlichkeit, in jeinen Werken, 
jeinen Reden, ja zu wiederholteften Malen ſelbſt vor den Gerichten. Es fragt 
ih alfo nur, was er darunter verjteht. In feiner „Aſſiſenrede“ macht er nach— 
drüclichft geltend, daß die Negierung ſelbſt „die moriche, lahme Krücke des 
Rechtsbodens“ verloren habe, und er jagt: „Es ift im Völkerleben der Rechts— 
boden ein jchlechter Standpunkt, denn das Geſetz ift nur der Ausdrud und ge- 
ihriebene Wille der Gejelihaft, nie ihr Meifter. Hat fich der gejellichaftliche 
Wille und das Bedürfniß geändert, jo gehört der alte Codex in das Muſeum 
der Geſchichte, an feine Stelle tritt da3 neue Abbild, das neue Konterfei der 


) Man vergl. in Betreff dieſes Ausdruds: Affifenrede, ©. 32 und 49. Arbeiterprogramm, 
ſ. 7. An die Arbeiter Berlin's, S. 13. Hochverrathsproceß, ©. 12. Die Wiſſenſchaft und 
die Arbeiter, S. 41, 


378 Deutiche Rundichau. 


Gegenwart“. Deshalb ruft er jeinen Richtern an einer anderen Stelle der Rede 
zu: „Mögen die rheinifchen Gerichtshöfe fih offen als Revolutiontri- 
bunale proclamiren, — und ich bin bereit, fie anzuerkennen und ihnen Rede 
zu ftehen. Revolutionär von Princip, weiß ich, welche Art von Berechtigung 
eine fiegreihe Macht, wenn fie offen und unvertappt auftritt, beanſpruchen darf. 
Aber ich werde nie ohne Widerfpruch dulden können, daß man die janglantefte 
Gewalt in der jcheinheiligen Form Rechtens verübe, daß man unter der Aegide 
des Gejeßes jelbft das Gejet zum Verbrechen und das Verbrechen zum Geſetz 
jtempele”. 

Wie jehr indeß diefe Worte auf eine Vorliebe für die Anwendung gewalt- 
ſamer Mittel deuten, hat Laſſalle doch jein ganzes Leben hindurch die rein wiſſen— 
ihaftlicde Bedeutung des Wortes „Revolution“, wie er dafjelbe anwendet, be: 
tont. Seine Reden wimmeln von jpöttiichen Gloſſen über Die, welche das Wort 
Revolution nicht lejen oder hören können, ohne „geſchwungene Heugabeln“ vor 
ihren Augen zu jehen. „Revolution heißt Umwälzung, und eine Revolution ift 
jomit ftet3 dann eingetreten, wenn, gleichviel ob mit oder ohne Gewalt — auf 
die Mittel fommt e3 dabei nicht an, — ein ganz neues Princip an die Stelle 
des bejtehenden Zuftandes gejet wird. Reform dagegen tritt dann ein, wenn 
das Princip des beftehenden Zuftandes beibehalten und nur zu milderen oder 
conjequenteren und gerechteren yorderungen entiwidelt wird. Auf die Mittel 
fommt e3 wiederum dabei nidht an. Eine Reform kann ſich durch Inſurrection 
und Blutvergießen durchjegen, und eine Revolution im tiefften Frieden“. Die 
ſchrecklichen Bauernkriege, welche Lafjalle auch immer als eine durchaus nit 
revolutionäre Bewegung bezeichnet hat, waren der Verſuch einer durch Waffen— 
gewalt zu erziwingenden Reform. Die Erfindung der Baumwollenſpinnmaſchine 
von 1775 und überhaupt die friedliche Entwidlung der modernen Induſtrie hat 
Laffalle immer al3 eine gigantiſche Revolution charakterifirt. E3 handelt ſich 
aljo hier, wie bei jo mander anderen Gelegenheit, zuerft und vor Allem um 
das richtige Verſtändniß. Kein denkender Lejer kann daran zweifeln, daß Lafjalle 
tief empfunden hat, wa3 er einmal ausruft*): „Wie? Es hat fih Jemand in 
einem fauftiichen Trieb mit der zäheften, ernfteften Mühe durchgearbeitet von 
der Philojophie der Griechen und dem römischen Rechte durch die verichiedenften 
Fächer hiftoriicher Willenjchaft bis zur modernen Nationalöfonomie und Sta: 
tiftit, und Sie könnten im Ernſte glauben, er wolle dieſe ganze lange Bildung 
damit ſchließen, dem Proletarier eine Brandfadelin die Hand zu 
drüden? Wie? bat man jo wenig Kenntnig und Einficht in die fittigende, 
civilifirende Macht der Wiſſenſchaft, daß man dies auch nur für möglich halten 
kann?“ Da die Möglichkeit, Lafjalle'3 Vorliebe für die Gewaltmittel dadurd 
zu erklären, daß er diefe Perjpective vor Augen gehabt habe, jomit ganz aus: 
geichloffen ift, müffen wir, um diejelbe recht zu verftehen, tiefer in jeinen Ge— 
dankenkreis eindringen, als wir es bis jetzt gethan haben. 

Wenn man die Frage an mich richtete: Was war der Grundgedante in 
Lafjalle'3 Jdeengang? Um welches Problem drehte ſich jein Geift? jo würde ich 





— 


*) Die indirecte Steuer, S. 117. 


Ferdinand Lafialle vor der Agitation. 379 


antworten: Macht und Recht waren die zwei Pole, um welche diefer Stern 
freifte. Die Grundthätigfeit feines Geiftes war unzweifelhaft die Erwägung, 
wie Reht und Macht fich zu einander verhielten. Das gewöhnlide Mißver— 
jtändniß ift das, als habe er überhaupt die Macht an die Stelle des Rechtes 
gejeßt. Wie weit dies von der Wahrheit entfernt ift, und was Anlaß zu dem 
Mißverſtändniſſe gegeben hat, wird ſich bald zeigen. In feiner einzigen dich— 
teriſchen Arbeit, die als dramatijches Kunſtwerk ziemlich werthlos, aber als Aus- 
druck des reihen Gedanken und Gefühlslebens ihres Verfaſſers höchſt intereffant 
it, hat Laffalle ein Wechſelgeſpräch geichrieben, das bejondere Aufmerkſamkeit 
verdient (Franz von Sidingen, ©. 85): 
Decolampadius. Glaubt Ihr, das Heilige, 
Das Licht der Wahrheit und Vernunft, das uns 
Iſt aufgegangen, könnte jemals in 
Dem Zeitenlauf der Unvernunft erliegen, 
Und würde nicht fich durch fich jelbft verbreiten? 
Hutten. Ehrwürd'ger Herr! Schlecht kennt Ihr die Gejchichte. 
Ihr habt ganz Recht, es ift Vernunft ihr Inhalt, 
Doch ihre Form bleibt ewig — die Gewalt! 
Decolampadius. Bedenkt, Herr Ritter! Unfre Liebeslehre 
Wollt Ihr durch's Schwert, das blutige, entweih'n? 
Hutten. Ehrwürd'ger Herr! Denkt befjer von dem Schwert! 
Ein Schwert, geihwungen für die Freiheit, ift 
Das fleichgeword’ne Wort, von dem Ihr predigt, 
Der Gott, der in die Wirflichfeit geboren. 
Das Chriſtenthum, e8 ward durch's Schwert verbreitet, 
Durch's Schwert hat Deutichland jener Karl getauft, 
Den wir noch heut den Großen jtaunend nennen! 
65 ward durch's Schwert das Heidenthum gejtürzt, 
Durch's Schwert befreit des Welterlöjers Grab! 
Durch's Schwert aus Rom Tarquinius vertrieben, 
Durch's Schwert von Hellas Xerres heimgepeiticht, 
Und Wiſſenſchaft und Künſte uns geboren. 
Durch's Schwert jchlug David, Simjon, Gideon! 
So vor- wie jeitdem ward durch's Schwert vollendet 
Das Herrliche, das die Geichichte jah, 
Und alles Große, was fich jemals wird vollbringen, 
Dem Schwert zuleht verdankt es jein Gelingen! 

In diefer Replit zeigt fi und zum erften Male der aus voller Bruft 
fundgegebene Reſpect Lafjalle'3 vor der Macht und Gewalt, welcher jeinem 
Geifte ein jo eigenthümliches und jo modernes Gepräge verleiht. An den ver- 
ihiedenften Stellen des Stüdes und im Munde verjchiedenartigfter Perſonen 
ftoßen wir auf Aeußerungen, welche diejelbe Freude an der Macht als der Stüße 
de3 Recht3 ausdrüden. So erzählt Balthafar (S. 2) von Franz von Sidingen: 

Und wie nun jein Verwenden Worms verlachte, 
Sich mir zu Rechtens nicht erbieten wollte, 
Nahm er jo ein zehntaufend gute Gründe, — 
Ich meine Pidelhbauben, Fräulein, — zog 
Damit vor Worms, und gab fih Euch jetzt an 
Ein Demonftriren und ein Diftinguiven, — 
%a, Fräulein, Der verſteht's! 


380 Deutiche Rundichau. 


Und Alrich von Hutten jagt in feierlicherem Stile (©. 92): 
68 ijt die Macht das höchjte Gut des Himmels, 
Wenn man fie nüßt für einen großen Zwed; 
Ein elend Spielzeug, wenn zum Flitterſtaate 
Sie nur die Hand bejchwert, in der fie ruht. 

Es kommt nicht jelten vor, daß ein Lieblingswort eines Schriftftellerd oder 
ein Lieblingsgleihniß den Charakter jeines Ideals andeutet. Laſſalle's Lieblings» 
wort ift das Wort „Eijen“, „ehern“. Lange Jahre zuvor, ehe „Eijen und 
Blut“ eine politifhe Lojung ward, hat Laflalle die „ehernen Looſe“ ange- 
rufen. Kein Bild ift häufiger bei ihm. Das Eijen erjcheint jeiner VBorftellung 
al3 die wohlthuende Macht, als der Hieb, welcher den Weg reinigt, der Schnitt, 
welcher den Schaden entfernt, der Kaiferjchnitt, welcher die jchmerzlichen Wehen 
der Zeit abkürzt und die jchwierige Geburt des Ideales einer neuen Epodje be- 
fördert (©. 62 und 140). Das Eijen preift Franz von Sidingen (S. 207) als 
den „Gott des Mannes“, als die „Zauberruthe, die feine Wünjche in Erfüllung 
ihlägt“, als „letzten Hort, der in Verzweiflungsnacht ihm ftrahlt“, als „feiner 
Freiheit höchſtes Pfand“. Und noch bezeichnender, noch Tafjalleanijcher weift 
Franz auf die Gewaltenticheidung hin, als der Herold des Kaiſers im Auftrage 
jeine Herrn ihm die Wahl geftellt hat, ſich zu unterwerfen und volles Recht 
vom Reichsgerichte zu erwarten, oder in die Reichsacht erklärt zu werden. jedes 
Wort it hier bedeutungsvoll (S. 151): 


Herold, zieh’ hin und fünde Deinem Herrn: 

Vorüber ift die Zeit der Worte jebt, 

Und inhaltsſchwer klopft der Enticheidung Stunde 
Mit eh'rnem Finger an das Thor der Zeit! 

In Zudungen liegt diefes Reich am Boden, 

Nicht durch Gefekesflosfeln mehr wird abgethan 

Der Streit, der e8 bewegt! — Schau’ dorthin, Herold! 
Siehft Du die Donnerbüchen, die Karthaunen fteh'n ? 
Aus ihren Mündungen jchöpft dieje Zeit 

Ihr ungeftümes Recht — ich führe jelbjt 

Das Reichsgericht in meinem Lager mit, 

Will eine neue Ordnung machtvoll gründen 

Und eines Thuens mich erfrechen, defjen 

Kein röm’scher Kaiſer je ich unterfing ! 


Schon als Yüngling Hatte ex in jeinen erjten Procefjen betont, dat er das 
Recht gegenüber der Gewalt vertrete, und, jeltjam genug, häufig mit Ausdrüden, 
welde, dort in herabwürdigendem Sinne gebraudt, hier zu Lob und Preis 
angewandt werden. So heißt es ſpöttiſch in jeiner „Aſſiſenrede“ (S. 16): 
„Warum, da man doch entichlojfen war, das Recht einzig und allein aus 
den Kanonenmündungen zu Jjhöpfen, warum löfte man die Bürgerwehr 
nicht einfach) ohne Angabe jedes weiteren Grundes auf?" Und mit Ausdrüden, 
deren Balthajar ji in dem Stücde bedient, um Bewunderung auszufprechen, 
die aber in Laſſalle's Munde der bitterjten Entrüftung das Wort lieben, jagte 
er damals (©. 26): „Hatte man fein Recht, jo hatte man Befjeres, ala das. 
Man hatte in Berlin den Belagerungszuftand, Wrangel, 60,000 Mann Soldaten 


Ferdinand Lafjalle vor der Agitation. 381 


und ſo und ſo viel hundert Kanonen. Man hatte in Breslau, Magdeburg, 
Köln, Düſſeldorf jo und jo viel Soldaten, jo und jo viel Kanonen. Das find 
Gründe, eindringliche, die Jeder begreift!" Mit der Beredtjamkeit der Leiden- 
ſchaft hatte Lafjalle in dieſer friſchen und ſtolzen Rede den Standpuntt des 
Gejees gegenüber demjenigen der Gewalt betont (S. 25): ©, Gleichwohl Löfte 
man die VBerfammlung auf, ja, ftatt eine neue auf Grund deſſelben Wahlgeſetzes 
zujammen treten zu laffen, octroyirte man eine Verfaffung, d. 5. man. caffirte 
den ganzen öffentlichen Rechtszuftand mit Einem Strid, man mar e3 milde, 
den Necht3organismus des Landes langjam zu rädern, indem man ihm ein 
Glied nad) dem anderen, Geſetz für Gejeß in Stüde brach. Mit Einem Griff 
warf man ihn in die Rumpellammer und jebte offen an jeine Stelle das sic 
volo, sie jubeo und die Beredtjamfeit der Bajonette.“ Und in welchem abjon- 
derlihen Widerſpruche jcheint es endlich” mit feiner Verherrlichung des Eiſens 
und des Schwertes zu jtehen, wenn er damal3 ausrief (S. 48): „Der Säbel ift 
zwar der Säbel, aber er ift nie da3 Recht. In Richtern, welche ſich dazu her- 
beilaſſen würden, Bürger deshalb, weil fie die Gejege vertheidigen wollten, auf 
Grund eben der Geſetze, deren Schuß fie ſich weihten, zu verfolgen; in Richtern, 
welde einer Nation den Schuß ihrer Gejege zum Verbrechen anrechnen, werde 
ih nicht mehr Richter, jondern — und mit mir vielleicht die Nation — nur 
noh Seiden der Gewalt erbliden können. . . ch werde in meinem Kerker 
Alles erdulden, wa3 der Säbel, die Formen des Rechts entweihend, iiber mid) 
verhängt; ich werde Lieber dulden, daß mein Proceß die nachtheiligite Geftalt 
für mic annehme, al3 durch Ertheilung von Antworten und jonftige Bollziehung 
irgend einer Procedurförmlichfeit meinerjeit3 eine Rolle in dem Rechtsgaukel— 
ſpiel übernehmen, welches der Gewalt aufzuführen beliebt.“ 

Ale dieje und zahlreiche verwandte Aeußerungen deuten auf ein lebhaftes 
Rechtsbewußtſein und einen eben jo lebhaften Haß der brutalen Gewalt ala 
Stellvertreterin des Rechts. 

Allein in der Seele des früh gereiften und frühzeitig practiſchen jungen 
Redners fand fic zugleich ein eben jo lebhaftes Gefühl von der Machtloſigkeit 
des ideellen Rechts, wenn dafjelbe nicht von practijchen Geiftern, von kräftigen 
Willen geltend gemacht wird, welche die rechten Mittel und Maßregeln zu jeiner 
Verwirklichung einzujchlagen verjtehen. Und wie hätte ein junges Genie, deſſen 
tiefftes Charaktermerkmal und innerfter Beruf practiſch waren, dies bei der ge— 
iheiterten, und jo kläglich gejcheiterten, deutichen Revolution von 1848 nicht 
fühlen und erkennen jollen! Wie hätte jene Stirn, in welcher jo viel Thatkraft 
ausgeprägt lag, nicht ihr Theil denken jollen, wenn fie da3 Recht jo jammer- 
voll unterliegen ſah aus idealiftiicher Scheu vor jeder anderen Waffe al3 der des 
Wortes, aus angeerbter Furcht vor der bewaffneten Autorität, aus perjönlicher 
Feigheit bei dem Einen, perjönlicher Unjchlüjfigkeit bei dem Andern, aus theo= 
retiſchem Gefajel und Hamlet’Ihem Zaudern. Wer in Karl Marx' „Neuer 
Rheinifcher Zeitung” vom Jahre 1850 den Aufjab von Friedrich Engel3 über 
„Die deutiche Reichsverfaſſungs-Campagne“ geleſen hat, der begreift, daß auf 
dies planloje und undisciplinirte Gejchleht eine Generation folgen mußte, die 

ftets darauf bedacht wäre, ihren Idealen einen tüchtigen Harniſch und ein Fräftiges 
Deutſche Rundſchau. I, 6. 26 


382 Deutihe Rundichau. 


Schwert zu geben, und der das edle Metall des Rechts nur dann als eine 
gangbare Münze erſchiene, wenn e3 durch den Kupferzufa der Macht verſtärkt 
wäre. Zuletzt ſchmolz das edle und das unedle Metall faft zuſammen für den 
Blick dieſes Geſchlechtes; es jah ein, daß die ehernen Würfel die härteſten und 
beiten jeien, und wie Brennus warf es fein Schwert in die Wagichale. 

Man lefe in jener Rede die Klage Lafjalle'3 darüber, daß die National: 
berfammlung nicht rechtzeitig eine wirkliche Bürgertwehr zum Schuß der Ber: 
fafjung ſchuf. Dean leſe feinen blutigen Spott über die Aufforderung der 
Nativnalverfammlung zu „paljivem Widerftande“ gegen die Uebergriffe der Re: 
gierung (©. 33 ff.): „Der paffive Widerftand, meine Herren, dag müſſen wir 
felbft unjerem Feinde zugeben, der paſſive Widerftand der Nativnalverjamm: 
lung, er war jedenfall3 ein Verbredden. Bon zwei Sachen Eine! Entweder 
die Krone war bei jenen Makregeln in ihrem Rechte — und dann war die 
Nationalverfammlung, indem fie ſich dem gejeglichen Rechte der Krone wider— 
jeßte und die Ziwietradht in's Land warf, allerdings eine Rotte von Auftwieglern 
und Empörern, oder aber jene Maßregeln der Krone waren unrechtmäßige Ge 
walt, — dann mußte die Tyreiheit des Volkes activ mit Leib und Leben 
geihüßgt werden, dann mußte die Nationalverfammlung das Land Laut zu den 
Waffen rufen! Dann war jene jeltfame Erfindung des paſſiven Widerftandes 
ein feiger Verrath an dem Volke, an der Pflicht der Verſammlung, die Rechte 
des Volkes zu ſchützen . . . Der Einzelne, meine Herren, wenn ihm von einem 
Staat, von einer Maſſe Gewalt geichieht, ich, wenn ich von Ahnen verurtheilt 
würde, fann mit Ehren pafjiven Widerſtand leiften, ic) kann mich in mein 
Recht einwideln und proteftiren, da ich die Macht nicht habe, e8 zur Geltung 
zu bringen.... Ein Volk kann unterliegen der Gewalt, wie Polen 
unterlag, — aber e3 erlag nicht, ehe das Schlachtfeld das Blut feiner edelften 
Söhne getrunfen hatte, bi3 jeine lebte Kraft danieder gemäht war!... Dann, 
wenn alle Kraft gebrochen, dann kann ein ſolcher Völkerleichnam fich begnügen 
mit dem pafjiven Widerjtand, d. 5. mit dem Rechtöproteft, mit Dulden und 
Tragen, mit dem Groll in der Bruft, mit dem tief verjchlofjenen ſtillen Haß, 
der mit gefreuzten Armen wartet, bis ein rettender Augenblid die Erlöfung 
bringt. Diejer pajfive Widerftand Hinterher, nachdem alle Mittel des activen 
Widerftandes gebrochen find, das ift der höchſte Grad des ausharrenden Herois— 
mus! Aber der palfive Widerftand von vorne herein, ohne auch nur einen 
Schwertjtreich zu wagen, ohne einen einzigen Augenblid an die frijche Kraft zu 
appelliven, das ift das Schmählichite, der höchfte Unverftand und die größte 
Teigheit, die man je einem Wolfe zugemuthet hat. Der paffive Widerftand, 
meine Herren, Das ift der Widerjpruch in fich jelber, e3 ift der duldende Wider: 
ftand, der nicht widerftehende Widerftand, der Widerftand, der kein Widerftand 
it. Der paſſive Widerftand, Das ift wie Lichtenberg’3 Meſſer ohne Stiel, dem 
die Klinge fehlt; Das ift wie der Pelz, den man waſchen foll, ohne ihn nah 
zu machen. Der pajjive Widerftand, Das ift der bloße innere Wille ohne 
äußere That.... Der paſſive MWiderftand ift das Product von folgenden 
Factoren: Die Har erkannte Schuldigkeit, pflichtmäßig widerftehen zu müſſen, 
und die perjönliche Tyeigheit, nicht widerftehen zu tollen, dieje beiden Potenzen 


Ferdinand Laffalle vor der Agitation.' "383 


erzeugten in efelerregender Umarmung in der Naht vom 10. November da3 
ſchwindſüchtige Kind, die hektiſche Geburt des pajfiven Widerftandes.“ 

Kann e8 nun Wunder nehmen, daß Der, weldher ala dreiundziwanzigjähriger 
Süngling jo nachdrücklich wider Thatſchwäche und Machtabftumpfung geredet 
hatte, zehn Jahre jpäter das Eijen alö den Gott des Mannes preift? 

Und das Verhältniß zwiſchen Macht und Recht fährt fort, Laflalle zu be- 
ihäftigen. Tiefer und tiefer dringt; er in das Wechſelwirkungsverhältniß 
zwiſchen ihnen ein, und ftudirtfimmer gründlicher ihre Bedingtheit durch ein- 
ander. 

1862 hält ex inmitten der preußiichen Verfaſſungskämpfe zu Berlin einen 
Portrag „über Verfaſſungsweſen“. Er ſucht hier (S. 9) die Idee einer Ver— 
faffung oder eine Grundgejeßes zu erörtern und feftzuftellen. Dur Analyje 
de3 Namens „Grundgejeg“ findet er: 1) Ein ſolches Geſetz muß tiefer Liegen, 
al3 eine gewöhnliche Gejetesbeftimmung; dies zeigt der Name Grund; 2) es 
muß, dba e3 den Grund der anderen Gejeße bilden joll, in ihnen fortzeugend und 
fortwirkend thätig fein; 3) e8 muß eben jo jein, wie es ift; denn in der Vor— 
ftellung de8 Grundes liegt der Gedanke einer thätigen Nothwendig- 
feit, einer wirkenden Kraft. 

Wenn alfo die Berfaffung das Grundgejeß eines Landes bildet, jo wäre fie 
„eine thätige Kraft, welche alle anderen Gejete und rechtlichen Einrichtungen 
des Landes mit Nothwendigfeit zudem madt, was jie eben find“; 
und Laſſalle fragt weiter: Giebt es denn aber wirklich ſolch eine beftimmende 
thätige Kraft? „Ei freilich,“ Tautet die Antwort, — „die thatjählidhen 
Mahtverhältnifje, die in einer gegebenen Gejellihaft beftehen. Die that- 
ſächlichen Machtverhältnifje find die lebendige Kraft, welche alle Gejehe und 
tehtlihen Einrichtungen dieſer Gejellichaft jo beftimmt, daß fie im MWefentlichen 
gar nicht anders jein können, als fie eben find.” 

Um jeine Meinung ganz Elar zu machen, bedient Lafjalle ſich eines erläu- 
ternden Beiſpiels. Sehen wir den all, jagt er, daß eine große Teuersbrunft 
alles geichriebene Gejeg in Preußen vernichtete, das Land alfo durch diejes Un— 
glük um alle feine Geſetze gekommen wäre, jo bliebe ihm gar Nichts übrig, als 
fh neue Gefete zu madhen. „Glauben Sie nun,” fährt er fort, „daß man 
in diefem all ganz beliebig zu Werke gehen, ganz beliebige neue Gejege machen 
könnte, wie Einem da3 eben convenixt? Wir wollen jehen. — Ich ſetze alſo 
den Fall, Sie fagten: Die Geſetze find untergegangen, wir machen jeßt neue 
Gejete, und wir wollen hiebei dem Königthum nicht mehr diejenige Stellung 
gönnen, die e8 bisher einnahm, oder jogar: wir wollen ihm gar feine Stellung 
mehr gönnen. Da würde der König einfach Jagen: Die Gejehe mögen unter- 
gegangen fein; aber thatſächlich gehorht mir die Armee und marſchirt auf 
meinen Befehl, thatſäch lich geben auf meine Ordre die Gommandanten der Zeug 
häufer und Kafernen die Kanonen heraus und die Artillerie rückt damit in bie 
Straße, und auf diefe thatjächliche Macht geftübt leide ich nicht, daß ihr mir 
eine andere Stellung madt, ala ich will.” Und Lafjalle ſchließt: „Sie jehen, 
meine Herren, ein König, dem da3 Heer gehorht und die Kanonen, — das ift 
ein Stüd Verfaſſung!“ — Dann folgt mit ähnlicher Motivirung: „Ein Abel, 

26 * 


384 Deutſche Rundicau. 


der Einfluß bei Hof und König hat, — das ift ein Stüd Verfaſſung!“ — Oder 
geiegt, König und Adel einigten ſich unter fi), die mittelalterliche Zunftver— 
faffung wieder einführen zu wollen, jo daß 3. B. der Hattundruder keine Färber 
beihäftigen und fein Meifter in irgend einem Gewerbszweige mehr als eine 
beftimmte Anzahl von Arbeitern halten dürfte, daß mit anderen Worten die 
große Production unmöglid würde. Was dann? In ſolchem Fall würden die 
großen Fabrikanten, die Herren Borfig, Egells ꝛc. ihre Fabriken jchließen, jo: 
gar die Eifenbahn-Directionen würden ihre Arbeiter entlaffen, und dieje ganze 
Volksmaſſe würde, nah Brot und Arbeit rufend, durch die Straßen wogen, 
angefeuert durch die große Bourgeoifie, und e3 würde ein Kampf entjtehen, in 
welchem feinesweges der Sieg dem Heere verbleiben könnte. „Sie jehen alfo, 
meine Herren, die Herren Borfig und Egells, die großen Anduftriellen über- 
haupt, — die find ein Stück Verfaffung.“ Wermöge des Bedürfnifjfes der Re 
gierung nad) großen Geldmitteln find die großen Banquiers, die Börje über- 
haupt, gleichfalls ein Stüd Verfaſſung. Geſetzt wiederum den Tall, die Regie: 
rung wollte 3. B. ein Strafgejeß erlaſſen, welches, wie es deren in China giebt, 
wenn Einer einen Diebjtahl begeht, feinen Vater dafür beftraft, — jo entdedt 
man, daß in gewifjen Grenzen auch das allgemeine Bewußtfein, die all: 
gemeine Bildung ein Stück Verfaſſung iſt. Oder endlich, geſetzt den Wall, die 
Regierung wollte dem Kleinbürger und Arbeiter nicht nur jeine politiſche, ſon— 
dern auch jeine perjönliche Freiheit entziehen, ihn für leibeigen oder hörig er: 
klären, — jo entdedt man, daß in gewifjen alleräußerften Fällen der ge 
meine Mann, auch ohne die großen nduftriellen Hinter ſich zu Haben, ein 
Stück Verfaſſung ift. | 
Haben wir ſolchermaßen gejehen, wa3 die Verfaſſung eines Landes ift, näm— 
lich die thatſächlichen Mactverhältniffe, und fragen wir nun, wie e8 fid 
denn mit der rechtlichen Berfaffung verhalte, jo jehen wir jet jofort, wie 
diejelbe entfteht: „Dieje thatſächlichen Machtverhältnifje jchreibt man auf ein 
Blatt Papier nieder, giebt ihnen jchriftlihen Ausdrud, und wenn fie mın 
niedergejhhrieben worden find, jo find fie nicht nur thatſächliche Macht— 
verhältniffe mehr, jondern ſie find jet auch zum Recht geworden, zu recht— 
lihen Einrichtungen, und wer dagegen angeht, wird beftraft.” — Die Dar: 
ftellung jchließt mit dem Nachweiſe, wie eine Veränderung in den wirklichen 
Macdtverhältniffen (in der Adelsmacht, — im Anwachſen und Aufblühen der 
Städte, in dem Verhältniſſe zwiichen der Einwohnerzahl der Hauptftadt umd 
der Größe des Heeres) ſtets von einer entjprechenden Aenderung in der Ber: 
faſſung begleitet ift. Findet ein allzu großes Mißverhältniß zwiſchen der ge: 
ichriebenen und der reellen Berfaffung ftatt, und wird dies Mißverhältniß 
drüdend, jo tritt wirklich jene Feuersbrunſt ein, welche als Exempel fingirt 
wurde, 3. DB. in Geftalt der Märzrevolution 1848; und — hier fommt Laſſalle 
auf jeine alte Klage in der Affifenrede von 1849 zurück — da geſchah es, daß 
da3 fiegreiche Volk, ftatt eine Fräftige Bürgeriwehr aus Kleinbürgern und Pro: 
letariern zu jchaffen und ſolchergeſtalt die wirkliche Verfaſſung zu ändern, 
thörichterweife eine neue und machtloſe zu ſchrei ben begann, welche daher nidht 
den mindeften Werth hatte. „Wenn Sie, meine Herren, in Ihrem Garten einen 


Ferdinand Lafjalle vor der Agitation. 385 


Apfelbaum haben, und hängen nun an denjelben einen Zettel, auf den Sie 
ſchreiben: Dies ift ein Feigenbaum, ift denn dadurch der Baum zum Tyeigen- 
baum geworden? Nein, und wenn Sie Ihr ganze Hausgefinde, ja alle Ein: 
wohner de Landes herum verjammelten und laut und feierlich beſchwören 
ließen: Dies ift ein eigenbaum — der Baum bleibt, was er war, und im 
nächſten Jahre da wird ſich's zeigen, da wird er Wepfel tragen und feine 
Feigen.“ 

„Verfaſſungsfragen“, ſchließt Laſſalle, „find alſo urſprünglich nicht Recht s— 
fragen, ſondern Machtfragen; die wirkliche Verfafſung eines Landes exiſtirt 
nur in den reellen thatſächlichen Machtverhältnifjen, die in einem Lande be= 
ftehen; gejchriebene Verfaffungen find nur dann von Werth und Dauer, wenn 
fie der genaue Ausdrud der wirklichen, in der Gejellichaft beftehenden Macht— 
verhältnifje find.“ 

Sollte man’3 glauben! dieje Entwidlung wurde gleich von den Blättern 
der liberalen Partei als eine Theorie, wonach Macht vor Recht gehen jolle, 
haracterifirt; ja, Graf Schwerin erklärte mit Rückſicht hierauf unter dem Jubel 
der Kammer, daß im preußiichen Staate Neht vor Macht gehe. Ein 
Blatt nah dem andern verweigerte Lafjalle die Aufnahme eines furzen, ganz 
fahlich gehaltenen Artikels „Macht und Recht“, in welchem er das Mißverſtänd— 
niß aufflärt, und er jah ſich genöthigt, denjelben ala Flugſchrift zu veröffent- 
lichen. Er jagt hier treffend und nahdrudsvoll: „Wenn ich die Welt gejchaffen 
hätte, jo ift es höchſt wahrſcheinlich, daß ich fie ausnahmsweiſe in diefer Hin- 
ft nach den Wünjchen der „Volkszeitung“ und des Grafen Schwerin und 
alſo jo eingerichtet hätte, daß Recht vor Macht geht. Denn e3 entjpricht 
died ganz meinem eigenen ethiſchen Standpunkt und meinen Wünſchen. 
Leider aber bin ich nicht in der Lage geweſen, die Welt zu jchaffen, und muß 
jede Verantwortlichkeit, jo Lob wie Tadel, für ihre wirkliche Einrichtung ab- 
lehnen.“ Er erklärt dann, daß er nicht Habe entwideln wollen, was fein jollte, 
jondern was wirklich ift, daß nicht eine ethifche Abhandlung, fondern 
eine hiſto riſche Unterſuchung feine Abſicht geweſen fei. Und fo zeigt ſich's, 
daß, während ganz gewiß Recht vor Macht gehen jollte, in der Wirk— 
lichkeit do immer Macht vor Recht geht, bis das Recht num auch jeinerjeits 
eine hinreichende Macht hinter ich gefammelt hat, um die Macht des Unrechts 
zu zerjchmettern. Er entwidelt, wie die preußiſche Verfaſſungsgeſchichte ſeit 
1848 aus einer Reihe von Rehtsbrüchen beftehe, und jagt: „Was bedeutet aljo 
der Fromme Jubel, mit welchem die Kammer die Erklärung de3 Grafen don 
Schwerin aufnahm, daß im preußifchen Staate „Recht vor Macht” gehe? 
Fromme Kinderwünſche und weiter Nichts! Denn eine feierlichere Bedeutung 
würde er nur bei Männern haben, die entjchloffen wären, auch die Macht Hinter 
das Recht zu ſetzen. Es Hat kein Menjch im preußiichen Staate das Recht, 
vom „Recht“ zu ſprechen, ala die Demokratie, die alte und wahre Demokratie. 
Denn fie allein ift es, die ftet3 am Recht feftgehalten und fich zu feinem Com— 
promiß mit der Macht erniedrigt hat.“ — 

Die Frage nach dem Verhältniß zwiſchen Macht und Recht war aljo bei 
Laſſalle eine Frage nad) dem Thatſächlichen, nach der Wirklichkeit. Was er 


386 Deutiche Rundſchau. 


hierüber bemerkt hat, ift treffend wahr und wird von Niemand erjchüttert wer- 
den. In welchen Fällen das Recht Macht hat, und in welden Fällen nidt, 
warn die Macht zum Recht und warın fie zum Unrecht wird, hat er verftanden 
und begriffen, wie fein Anderer. 

Und nicht nur in Betreff des Thatjählichen, ſondern noch tiefer in Betreff 
des Rechtlichen hat er das Wechjelverhältnig zwiſchen der Macht des alten 
Rechts, welche die Konfervativen vertheidigen, und dem Rechte der neuen Geiftes- 
macht, welches die radicalen Parteien geltend machen, unterſucht und begriffen. 
Das alte Recht ift das erworbene Recht. Die neue Macht ift das neue Rechts— 
betwußtjein. Wie verhält fich das neue Rechtsbewußtſein zum erworbenen Redhte? 
Das neue Rechtsbewußtſein will Rechte ertheilen und Rechte entziehen, aber 
tie weit darf es in diefer Hinficht gehen? Welche Rechte find wohlerworben, 
unantaftbar erworben? Sind alle alten Rechte das, jo find wir bei der Stag- 
nation angelangt, jo tödtet die Vergangenheit da3 Leben der Gegenwart. Kann 
umgefehrt Niemand auf ein feft erworbenes Recht bauen, jo ſchlägt die Gegen- 
wart die Vergangenheit todt. Hier ftehen wir aljo vor dem Begriff des „er 
worbenen Rechtes“, von welchem Lafjalle’3 großes Hauptwerk handelt. 

(Der Schluß des Artikels folgt.) 


Meine Antwort an Hern Darwin. 


ww * 


Von 
Profeſſor Mar Müller in Orford.*) 


Während des verfloffenen Jahres war meine ganze Mußezeit jo jehr durch 
die Beendigung meiner Ausgabe des Rig-Veda mit jeinem alten Sanskrit— 
Kommentar in Anſpruch genommen, daß ich nothgedrungen meine Augen faft 
gegen Alles, was in der willenjchaftlichen Welt vorging, verſchließen mußte. 
Fünf und zwanzig Jahre hatte ich an diefem Werke gearbeitet, und die Stim— 
men der Ungeduld unter meinen Studiengenofjfen wurden in den lebten Jahren 
jo laut, daß ich mich entſchloß, vor allen andern Arbeiten, dieje meine Lebens 
aufgabe zum Abſchluß zu bringen. Wenn ich bier erwähne, daß ich, troß 
mancher Unterbredjungen, die das Leben eines Jeden mit ſich bringt, während 
diejer fünf und zwanzig Jahre jedes Jahr von diefer Editio princeps des 
älteften Werkes der Sanskrit-Literatur, gegen 35 Bogen drudfertig gemacht 
habe, jo werden es meine Freunde und Collegen wol begreifen, daß ich mid) 
namentlich in der jüngften Vergangenheit von andern wiſſenſchaftlichen Verhand— 
lungen, jo jehr fie mic intereifirten, entfernt halten mußte. Jetzt erſt fange 
ich an, wieder freier zu athmen, und genieße meine Muße, indem ich eines nad) 
dem andern von den Büchern zur Hand nehme, die ich bisher nothgedrungen 
bei Seite legen mußte. Vieles ift mix während meiner wifjenichaftlichen Faſten— 
zeit namentlich von der journaliftiichen Koft in den lebten Jahren verloren 
gegangen, und jo traf e3 ſich, daß ich nie gehört, daß meine Kritik der Darwin- 
ihen Spradphilofophie, wie ich jie im Jahre 1873 in meinen Vorlefungen an 
der Royal Institution in kurzer Ueberſicht vorgetragen, eine Antikritif von com— 
petentefter Seite hervorgerufen hatte. Als ich eben im Begriff war, dieje Vor- 
lefungen Leber die Sprade, al3 die wahre Grenze zwiſchen Thier 
und Menſch, vollſtändig auszuarbeiten, erfuhr ic von einem Freunde, daf 
eine Entgegnung von Darwin erihienen jei, vom Sohne geſchrieben, aber vom 





*) Dieſer Aufſatz, der in der Januar-Nummer der „Contemporary Review“ in England 
erſchienen, iſt hier vom Verfaſſer für das deutſche Publicum überſetzt und umgearbeitet. 


388 Deutiche Rundſchau. 


Vater injpirirt, und daß ich diejelbe unmöglich unbeadhtet laſſen könne, Es 
war wol zu entjchuldigen, daß mir diefelbe entgangen war, denn wie hätte id 
unter dem Zitel: „Professor Whitney on the Origin of Language: by G. 
H. Darwin“, die Antwort auf meine Vorlefungen über Darwin's Sprachphilo— 
jophie errathen Können? Am liebften hätte ich allerdings meine Rückantwort 
bis zur Veröffentlihung meiner VBorlefungen aufgejhoben; da aber eine Erwibde- 
rung erwartet wird, — nun gut, hier ift fie. 

Die nächſte Veranlafjung zu der Darwin'ſchen Schrift ſcheint ein Aufiak 
in der legten Nummer der „Quarterly Review“ gewejen zu jein. An diejem 
Aufſatz bin ich jo unfchuldig, ‚daß ich jelbft von feiner Eriftenz nichts wußte, 
bis ic) Darwin’3 Entgegnung in der Contemporary Review vom leßten No- 
vember zu Geficht befam. In dem Aufjaß der Quarterly Review heißt es 
nun unter Anderm: 

„Wenige Erſcheinungen auf dem Gebiete der Wiſſenſchaft find in jüngjter 
Zeit überrafchender gewejen, ala die Unwiſſenheit, welche die hervorragendften 
Vertheidiger der moniftiihen Hypotheje in Bezug auf die einfachſten, aber wich— 
tigiten Principien der Sprachwiſſenſchaft bewiejen haben. Herr Darwin 3. 2. 
zeigt auch nicht die geringite Spur davon, daß er fie nur begriffen hat.“ 

Wenn Herr Darwin meine Vorlefungen, oder irgend Etwas, was ich ge 
Ichrieben, gelefen hat, jo konnte ex leicht willen, daß dies nicht der Ton ift, in 
welchem ich jchreibe, am wenigften, wo ich von Männern jpreche, die fich jo 
ausgezeichnetes Verdienft in der Wiljenjchaft erworben haben, ala der berühmte 
Reijende und Naturforfher. Im Gegentheil, mir waren die wenigen Seiten, 
welde Herr Darwin der Betradhtung des Problems der Sprache gewidmet 
bat, vom größten Intereſſe, da fie deutlich zeigten, zu welchen Schlüffen in Bezug 
auf das Weſen und den Urſprung der Sprache die philoſophiſche Schule, 
welche er jo ruhmreich vertritt, nothwendig hingetrieben wird. Ueberſetzt man 
aber, wa3 oben gejagt ift, in angemefjenere Worte, jo glaube ich nicht, daß «3 
irgendiwie anftößig fein würde, zu jagen, daß Herr Darwin die Rejultate der 
Sprachwiſſenſchaft nur aus zweiter Hand kennt, und daß die Anfichten, die er 
über Sprachliches vorträgt, jo interefjant fie find, weil fie eben von ihm kom— 
men, dennoch in feiner Weije eine unabhängige Autorität beanſpruchen können. 
63 iſt ein großer Uebelftand, daß Männer, welche fi) das Recht erworben 
haben, über einen oder den andern Gegenftand mit Autorität ihr Urtheil ab: 
zugeben, oft im Gange ihrer Unterſuchungen auch über Dinge abſprechen müſſen, 
mit denen fie nur wenig vertraut find. So wenig fie es jelbft beabfichtigen, 
jo iſt e8 doch gar nicht zu vermeiden, daß dergleichen Urtheile von andern 
Leuten, namentlich von ſolchen, die ein Intereſſe dabei Haben, mit einer Autorität 
befleidet werden, auf welche fie nicht den geringften Anſpruch haben. Es ift ein 
Uebelftand, der nicht zu vermeiden ift; aber deshalb follte auch weder der Papft, 
wenn er ein Urtheil über aftronomijche Fragen abgegeben, noch jelbft der große 
Reichsfanzler, wenn er über ein Kunſtwerk den Stab gebrochen, ſich wundern, 
wenn die andern Sterblichen nicht nur das Urtheil, ſondern auch die Gründe 
dafür zu wiſſen verlangen. Kein Philolog, der fi in feinen Mußeftunden mit 
Orchideen beihäftigt und zu Anfichten über ihre Befruchtung gelangt, die von 


Meine Antwort an Herrn Darwin. 389 


den Darwin’schen abweichen, würde fich beklagen, wenn man ihm jagte, daß 
feine Anfichten zwar Talent, aber durchaus nicht die Sicherheit und vollkom— 
mene Beherrſchung des Gegenftandes bethätigen, welche nur der erwirbt, welcher 
jem ganzes Leben diejen Studien widmet. Läge e3 dem Philologen nur an 
einem zeitweiligen Triumph vor den Augen der Welt, jo wäre gewiß nichts 
leiter für ihn, al3 unter den vielen Gegnern Darwin’s einen zu finden, der 
mit ihm übereinftimmte, diejen ald einen Mann von Bedeutung hinzuftellen, 
um dann mit Befriedigung darauf hinzuweiſen, wie er, ein bloßer Laie in der 
Botanik, durch bedeutende Gelehrte vom Fach in feinen Anfichten unterftüßt 
werde. Aber wozu nüben ſolche Künſte? Wird die wahre Willenichaft dadurd) 
um einen Schritt vorwärts gebraht? Was beweiſt e3 3. B. für die Wahrheit 
der Darwin’schen Anfichten über den Urjprung der Sprade, wenn der Sohn 
mit folgenden Worten einen fremden Schild feinem Vater vorhält: „Herr Pro- 
feffor Whitney,“ jagt er, „iſt der erfte Philolog von Bedeutung, der es ſich 
ausgejprochener Weile zur Aufgabe gemacht hat, gegen die Anjihten Mar 
Miüller’3 zu kämpfen; und da die Anfichten des leßteren mit vollem Recht die 
mweitefte Anerkennung in England gefunden haben, jo glauben wir englifchen 
Lefern einen guten Dienft zu erweiſen, wenn wir ihre Aufmerkjamfeit auf diejen 
kräftigen Angriff, und, wie wir meinen, erfolgreiche Widerlegung der etwas 
dogmatischen Anfichten unſeres Orxforder Linguiften lenken.“ 

Zunächſt, was kann einen umrichtigern Eindrud hervorrufen, al3 zu behaup- 
ten, Herr Profeſſor Whitney jei der erjte Philolog von Bedeutung, der meine 
Anfihten über den Urjprung der Spradhe bekämpft habe? Im Lager der 
Sprachphiloſophen fieht es jo wenig friedlich) aus, al3 im Lager der Naturphilo- 
jophen. Mit Profejjor Pott anfangend, könnte ich eine lange Reihe der berühm- 
teften Philologen in Deutſchland, Frankreich, Ytalien, und ich dächte doch auch 
in England anführen, die meine ſprachwiſſenſchaftlichen Anfichten weit gründ- 
licher geprüft haben, al3 der Herr Profeffor Whitney in Amerika. Wäre e8 nun 
aber auch wirklich; die Wahrheit, wäre Herr Profefjor Whitney wirklich der 
einzige Philolog von Bedeutung, -der meine Anfichten über jprachliche Probleme 
befämpft und die Anfichten de3 Herrn Darivin vertheidigt hätte, wie würde 
das im Entfernteften die Haltbarkeit der Darwin'ſchen Anfichten beweijen? Wie 
leicht könnte ich daffelbe Spiel jpielen, und mich 3. B. auf die Autorität des 
berühmten DBerfafler der „Principes de la Nature“, des Herausgebers der 
Critique Philosophique, M. Renouvier, berufen, der meine Kritif der ganzen 
Darwin’ichen Philojophie nicht als eine bloße Polemik darftellt, jondern ihr 
den vollftändigen Charakter eines „redressement“ zuerfennt. Würde Herr Darwin 
fi dadurch beunruhigt fühlen? Würde er fi) vor bloßer Autorität beugen? 

Ich muß nun geftehen, daß ich die VBorlefungen des Heren Profeſſor Whitney 
über Sprachwiſſenſchaft, die im Jahre 1867 in Amerika erichienen, obgleich ich 
viel von ihnen in den Zeitungen gehört, nie gelejen hatte, und ich bin Heren 
Darwin zu bejonderm Dante verpflichtet, daß er mich gezivungen hat, e3 jeßt 
zu thun. Ich habe felten ein Bud, mit größerer Spannung, ja id) kann wol 
jagen, mit größerm Vergnügen gelefen. Es war mir bei der Lectüre zu Muthe, 
als erginge ic mic) in alten heimathlichen Wegen, al3 hörte ich Melodien, die 


390 Deutiche Rundſchau. 


mir von Alterd her befannt waren, ohne daß ich mir jagen fonnte, wo id) fie 
ihon einmal gehört; bis endlich hie und da die ipsissima verba meiner eigenen 
Vorleſungen mi aufrüttelten, meine Aufmerkſamkeit feffelten, aber dann twieder 
Alles, wie das Thema in einer umgekehrten Fuge, plötzlich in das Gegentheil 
umſchlug. Diejelben Werke und Abhandlungen, die ich durchgearbeitet, waren 
jorgjam benutzt; faſt auf jeder Seite traten mir diejelben Zweifel und Schwie- 
rigfeiten entgegen, die mir don der Ausarbeitung meiner eigenen Vorleſungen 
ber noch in der Erinnerung waren. Die Einkleidung, die Reihenfolge der deen, 
die Einwürfe, die Erwiderungen, Alles Hang wie ein Märchen aus alten Zeiten. 
Ich will damit Herren Profeffor Whitney nicht etwa einen Vorwurf maden. 
im Gegentheil, ic bin ihm dankbar, daß er mir nad Jahren diejen Spiegel 
vorgehalten, worin ich meine eigenen Schwächen und Fehler beffer ala je vorher 
erkannt. Auch glaube man nicht, daß jeine Vorlefungen nicht ihren eigenen 
und jehr eigenthümlichen Charakter haben. Sie waren für große Verſamm— 
lungen in Walhington und andern Städten Amerika's berechnet. Sie jollten 
populär jein, und es wäre äußerft ungeredht, von einem Schriftfteller etwas 
Anderes zu verlangen als eben das, was er jelbft geben will. Die Behandlung 
des Gegenjtandes ift natürlich weder wiſſenſchaftlich methodiſch noch erichöpfend, 
aber fie veriweilt defto länger bei den Tragen, die für ein großes Publicum 
von wahrem Intereſſe find, und wenn fie zuweilen nach unjerem Geſchmack 
zu ausführlich werden, wenn fie, wie man etwas najeweis gejagt, zu viel Wat: 
tirung enthalten, jo bedenfe man eben, zu welchem Zweck fie geichrieben waren. 
Auh in Bezug auf die erwähnten Reminiscenzen aus meinen VBorlejungen 
hat Herr Profefjor Whitney volllommen Recht, wenn er jagt, daß die haupt- 
ſächlichſten Facta, auf denen jeine Anfichten begründet find, jchon lange zu 
den Gemeinpläßen der vergleichenden Philologie gehörten und feineswegs ein 
perjönliches Anerkenntniß verlangten; ja, es verdiente alle Anerkennung, daß er 
in jehr ehrenwerther Weije eine Ausnahme zu meinen Gunften macht und zu: 
gibt, „einige Jluftrationen” aus meinen Vorleſungen entlehnt zu haben. 
Was nun meine eigenen Anſichten über Sprachwiſſenſchaft betrifft, jo freue 
ih mid), auch hier conftatiren zu können, daß er bei allen wahrhaft wejentlichen 
Punkten viel häufiger meine Anficht billigt, ja fie durch neue Beweiſe und 
Erläuterungen unterftüßt, ald daß er fie angreift oder gar widerlegt. Wo er 
eine Widerlegung anftrebt, geichieht es meift jo, daß, wo ich das Tür umd 
Wider unparteiiſch darzuftellen ftrebte, er mit fühnem Muthe jein Schwert in 
die eine Schale wirft, und denen, die an der Schtwere dieſes Galliſchen Gewichtes 
zweifeln, gar harte Worte entgegen ruft. In Bezug auf ſolche harte, ja, man 
kann wol jagen beleidigende Worte ift man in Amerika jehr nachfichtig, 
und e3 ift für den Sprachforſcher intereffant und belehrend zu beobachten, wie 
Ausdrüde, die in England entjchieden ala offenſive gelten, in Amerika durch häu- 
figen Gebraud) abgejchliffen find und Zulaß in den achtbarſten Zeitjchriften finden. Es 
ift dies ein jehr interefjanter Beweis für die jogenannte „dialektiiche Entwickelung“ 
und verdient jedenfalls die Aufmerkſamkeit der Sprachforfcher in hohen Maße. 
Nehmen wir zum Beweis des im Vorigen Gejagten die Behandlung, melde 
die in jüngfter Zeit jo oft beiprochene Frage, ob man der Sprache „natürliche 


Meine Antwort an Herrn Darwin. 391 


Entwidelung“ oder „hiſtoriſchen Wechſel“ zujchreiben dire, in meinen und in 
Herrn Profeffor Whitney’3 Borlefungen erfahren hat. Nach den einleitenden 
Gedanken der erften Vorlefung, die im Weſentlichen mit denen meiner erften 
Vorleſung parallel laufen, widmet er jeine zweite Vorlejung, ebenjo wie ich, 
der Trage, ob die Sprachwiſſenſchaft zu den Hiftoriichen oder zu den Natur- 
wilfenichaften gehöre. Die Gründe für und wider find, wenn ich mich nicht 
jehr täufche, genau diejelben, die ich in meiner zweiten Vorleſung vorgebradht. 
Nachdem ich aber Alles angeführt, was man etwa geltend machen kann, um 
den Namen „Gejchichte” auf die allmälige Entwidelung der Sprache auszudehnen, 
jo verfuchte ich darzuthun, daß die Anwendung diejes Namens denn doch nicht 
ganz präcis jein würde. „Die Art und Weije,“ hatte ich gefagt, „wie die Sprache 
ſich jeht und wieder zerjeßt, vereinigt die zwei entgegengejeßten Factoren der 
Nothwendigkeit und der Freiheit. Obgleich es den Anjchein Hat, als fei ber 
Einzelne der Hauptfactor in der Hervorbringung neuer Worte und neuer gram— 
matifcher Formen, jo iſt er es doch nur, indem jeine einzelne Thätigkeit in der 
vereinten Thätigkeit der Familie, des Stammes, des Volkes aufgeht. Für fi 
ſelbſt allein vermag er nichts, und obgleich natürlich der erfte Anftoß zu jeder 
neuen Geftaltung in der Sprade von dem Einzelnen gegeben werden muß, jo 
geichieht doch auch jelbft dies meift ohne Vorbedadht, ja man fünnte jagen, in 
unbewußter Weile. Der Einzelne, al3 jolcher, ift machtlos, und ſelbſt die Wir- 
fungen, die er anjcheinend fich jelbft zuſchreiben könnte, hängen von Geſetzen ab, 
die mächtiger find als er, und von der Mitwirkung Derer, die zujammen eine 
Glafie, einen Körper, ein organiſches Ganzes bilden.“ 

Nachdem ich Alles, was man für die eine und die andere Anficht geltend 
maden kann, jo vollftändig als möglich in Betracht gezogen, ſchloß ich mit 
folgenden Worten ab: 

„Dan kann gar nicht ſorgſam genug im Gebrauch der Worte jein. Genau 
genommen paßt weder „Geſchichte“ noch „Entwidelung“ auf die wechſelnden 
Beränderungen in der Oberfläche der Erde, wie fie die Geologie nachweift und 
erklärt. Geſchichte gilt zunähft nur von den Handlungen freier Individuen, 
Entwidelung von dem natürlichen Entfalten organiſcher Weſen. Wir miljen 
jedod in der Geologie, was wir jagen wollen, wenn wir von der Gejchichte 
der Erdoberfläche ſprechen; und e3 ift in einer ſolchen Bedeutung, aber durchaus 
nicht al3 wenn wir von der Entwidelung und dem Wadhsthum eine? Baumes 
ſprechen, daß man diefe Ausdrücke füglich auch auf die Sprache ausdehnen kann.“ 

Was finden wir nun in Herrn Profeffor Whitney’3 zweiter Borlefung ? 
Er erklärt fi) in limine dagegen, das Wachsthum der Sprade mit dem 
Wachsthum eines Baumes zu vergleichen, „es jei denn, daß wir uns diejer Me— 
tapher der Kürze und der Lebendigkeit des Ausdrucks wegen bedienen.“ (p. 35.) 

Was hatte ich gejagt ? 

„Seit den Tagen de3 alten Horaz hat man ſich daran gewöhnt, die Ver— 
änderungen der Spradhe mit dem Wachsthum eines Baumes zu vergleichen. 
Aber Vergleiche find verrätheriiche Dinge, und obwol wir nicht umhin können, 
bier und da uns in Metaphern auszudrücken, jo jollten wir doch dabei ſtets jehr 
auf unferer Hut fein, ꝛc.“ 


392 Deutiche Rundſchau. 


Sp weit gehn wir zufammen in boldjeliger Eintracht. Plötzlich aber erhebt 
fi ein Gewitter. Man muß doch dem amerikaniſchen Publicum zeigen, daß 
man auch jeine eigenen Anfichten haben fann. Was thut man aljo? Man 
reißt einen Faden aus dem jorgjamen Gewebe heraus, und wo ich nachzuimeijen 
fuche, in welchem Sinne e3 falſch wäre, dem Einzelnen einen directen Einfluß 
auf die Sprache zuzumefjen, dreht man den Spieß gegen mid) und ruft trium— 
phirend aus, daß ich offenbar den Einfluß, den der Einzelne auf die Entwicke— 
fung der Sprache ausübt, entweder verfannt oder verleugnet hätte. Ich Hatte 
im Verlaufe der Discuffion Folgendes gejagt: 

„Es ift nit in der Macht des Menfchen, eine Veränderung in der Sprade 
zu bewirken oder zu verhindern. Man könnte eben jo gut verjuchen, die Gejeße, 
welche den Kreislauf unjeres Blutes beftimmen, abzuändern, oder unjerer Größe 
einen Zoll zuzujeßen, als die Gejege der Sprache zu ändern, oder neue Worte 
nah unjerm Belieben zu erfinden.“ 

Der Nahdrud lag, wie Jeder fieht, auf nah unjerm Belieben, umd 
um dies noch klarer zu machen, berief ih mich auf die befannten Anekdoten 
vom Kaijer Tiberius und vom Kaiſer Sigismund, erwähnte aber zu gleicher 
Zeit auch, die puriftiichen Beitrebungen des Protagoras und anderer Sprad)- 
verbejlerer als ebenjo lächerlih. Hier bricht der Zorn des amerifanijchen Re- 
publifanerd au. Er erklärt mir zunächſt, daß, was ich wirklich jagen wollte, 
eigentlich Folgendes jet: 

„Wenn eine jo hohe und mächtige Perjünlichkeit als ein Kaiſer nicht eine 
jo kleine Sache durchſetzen konnte, als das Geſchlecht oder die Endung eines 
einzigen Wortes zu verändern, um wie viel weniger können gewöhnliche Sterb- 
liche eine ſolche Aenderung herbeizuführen hoffen!“ 

Dann ruft er aus: 

„Die gründliche Lächerlichkeit, eine ſolche Anfiht von einem ſolchen Paar 
von Vorfällen herzuleiten, ja von taufend ſolchen Vorfällen, ift wirklich zu 
bandgreiflid, ala daß es fich der Mühe verlohnte, fie nachzuweiſen .... Hoher 
politifher Rang gibt wahrlich nicht das Recht, Sprache zu ſchaffen oder zu 
vernichten.“ 

jeder Lejer, wenn er auch nur diefe aus dem Zujammenhang herausgeril- 
fenen Säße gejehen hat, wird bemerft haben, wie hier die ganze Richtung meiner 
Schlußfolgerung, ich will nicht jagen abfihtlih, aber denn doc in jehr auf: 
fallender Weiſe überjehen ift. Ich legte den Nahdrud auf „nah unjerm 
Belieben“ und führte alfo zunächft ſolche Fälle auf, two Perfonen, die in 
andern Dingen da3 Recht haben zu jagen: car tel est mon plaisir, in Bezug 
auf Sprache jo machtlos find, wie die Bettler auf der Straße. Die Erzählun- 
gen vom Tiberius und Sigismund haben außerdem noch ein eigenthümliches 
Intereſſe für den Sprachforſcher, indem fie zeigen, in wie früher Zeit ſich das 
Bewußtſein entwicelt Hatte, daß die Sprache über alle willkürlichen Eingriffe 
erhaben jei. Ich Hätte natürlich noch manches andere Hierhergehörige beifügen 
fönnen, namentlich die Anekdote über carrosse; ic) überließ e3 aber meinen 
Gegnern, wenn fie Luft hätten, diefe Fälle gegen mich geltend zu machen. Ueber 
den Einfluß, den ein lebendiger, und jelbft ein todter Häuptling auf die Sprade 


Meine Antwort an Herrn Darin. 393 


jeineg Stammes ausüben kann, habe ich an anderer Stelle geſprochen. Doch 
beihränkte ich mich, wie gefagt, durchaus nicht auf gefrönte Häupter, ſondern 
führte Protagorad und andere ungefrönte Puriften an, und zwar alles dies 
ganz einfach, um zu zeigen, daß fein Einzelner, jei ex Kaijer oder Bettelmann, 
einen willfürlichen Einfluß auf die Spradhe ausüben könne. Würde irgend ein 
Kritiker, e8 jei denn, daß ex eben gar feine andere verwundbare Stelle finden 
könnte, feine Pfeile auf ein jo harmlojes Glied in meiner Beweisführung ge- 
richtet haben? 

Dazu kommt, daß Profefjor Whitney in der Sache jelbft ganz meine Mtei- 
nung theilt, daß nämlic der Einzelne gegen die Sprache machtlos ift. Ja troß 
de3 lauten Betonens ſeines Widerſpruchs gebraucht er hier und da jogar die- 
jelben Worte, welche ich gebraucht. ch hatte gefagt: „Selbft wenn der erfte 
Anftoß zu einer neuen Bildung in der Sprade von einem Einzelnen gegeben 
ift, jo geihieht dies meift, wenn nicht immer, ohne Vorbedadt, ja unbe- 
wußt. (p. 45.) Mein Gegner jagt: „Was der Einzelne thut, geſchieht un- 
vorbedähtlid, oder gleihjam unbewußt.“ Während ich gejagt hatte, 
daß wir jo wenig unjere Sprache selon notre plaisir, verändern können, ala 
unjerer Größe einen Zoll zufügen, bedient fich Herr Profefjor Whitney eines 
andern Vergleichs und jagt: „Die facta der Sprache find faft ebenjotwenig das 
Merk des Menſchen, als die Form jeines Schädels.“ (p. 52.) Wo ift denn 
num der große Abftand zwiichen ihm umd mir, den er dem amerifanijchen 
Publicum mit jolcher Beredtjamkeit darzulegen ſucht? 

Und man glaube nur nicht, daß der amerifanijche Lecturer von dem Wachs— 
thum oder ber natürlichen Entwidelung der Sprache weniger häufig ſpricht, ala 
ich jelbft. Es finden ſich Stellen, in denen er diefe Worte mit jo wenig Rüd- 
halt und Vorſicht gebraucht, daß ich, der ih die Sprachwiſſenſchaft eher zu 
den Naturwiſſenſchaften, al3 zu den Hiftorischen Wiffenjchaften zu rechnen wünjche, 
mi hüten würde, Ddiejelben ohne manche Beihränfungen zu unterjchreiben. 
So heißt e3 p. 46: „In diefem Sinne ift die Spradje ein Wachsthum“; p. 46: 
„eine Sprade ift, ebenjo wie ein organiicher Körper, nicht nur ein Aggregat 
von ähnlichen Theilen; fie ift ein Gompler von verwandten und gegenjeitig be= 
hülflichen Theilen“; p. 50: „Sprache wird jehr paffend mit einem organijchen 
Körper verglichen“; p. 51: „im Bergleih mit ſolchen Dingen ift Sprade ein 
wirkliches Gewächs“ zc. ac. ıc. 

An Allem, was Herr Profeffor Whitney über diefe quaestio vexata vor— 
bringt, ift nicht ein einziger neuer Standpunkt geivonnen, und der wahre Unter: 
ſchied zwiſchen feinen und meinen Borlefungen ift der, daß er, indem ex alle 
Zugeftändniffe machen muß, die ich verlangt hatte, ſchließlich jeine Vorliebe aus— 
ipricht, der Sprachwiſſenſchaft eine Stelle unter den hiftoriichen, ftatt unter den 
Naturwiſſenſchaften zu reſerviren. Wer wird ihm dies verwehren wollen? Je— 
der, der ſich mit ſolchen Dingen beichäftigt, tweiß, daß e3 fich hierbei vor Allem 
um Terminologie und Eare Definitionen handelt. Was die Hauptſache ift, daß 
nämlich die Methode der Sprachwiſſenſchaft diejelbe ift und fein muß, als die 
der Naturwiflenichaften, leugnet ſelbſt Here Profeſſor Whitney nicht (p. 52); 
alles Uebrige ift Sache der techniichen Definition. Mache den Kaften der Natur— 


394 Deutſche Rundichau. 


wiſſenſchaft groß, und die Sprachwiſſenſchaft geht hinein; mache ihn Elein, und 
fie fann nur mit Mühe oder gar nicht Hineingequetiht werden. Mache den 
Kaften der Hiftorifchen Wiſſenſchaften groß, und die Spradhmwifjenichaft aeht 
hinein; made ihn klein, und fie fann nur mit Mühe oder gar nicht hinein- 
gequeticht werden. Das find alte befannte Dinge, die wirklid) unter Freunden 
fih von jelbjt verftehn. Mir lag vor Allem daran, recht Elar hervorzuheben, 
dat die Sprachwiſſenſchaft etwas Anderes jei, ala bloße Philologie; daß fie die 
Sprade nicht ſowohl als Vehikel der Literatur, fondern an fi, in ihrer natür- 
lichen Entftehung und Entwidelung betrachte, und daß fie fich in ihrer Methode 
gar nicht fireng genug auf inductivem Wege halten könne. Viele Dinge, die, 
als ich meinen erſten Curſus von Vorleſungen hielt, noch heftigen Widerſpruch 
erfuhren, find jet ganz allgemein angenommen, und ich kann wol begreifen, 
daß jüngere Lejer ſich über die Ausführlichkeit wundern, mit der ich 3. B. noch 
zu beweijen hatte, daß die Sprachwiſſenſchaft mit gutem Recht zu den Natur: 
wiſſenſchaften gezählt werden könne. Man leſe aber nur Bücher aus derfelben 
Zeit, und man wird leicht jehen, wie ernft ſich die beften Denker damals mit 
diejen Fragen beſchäftigten. ch jchrieb in England und zunächſt für engliſche 
Leſer, und hielt es daher für angemefjen, mich, jo viel ich konnte, in die geiftige 
Atmojphäre meines Publicums hinein zu verjegen. In Bezug auf die Elaffification 
ber Wifjenichaften Ichloß ich mich daher zunächſt an Dr. Whewell an. Er war 
der Erſte, der der Sprachwiſſenſchaft, ala ſolcher, eine unabhängige Stelle zu: 
erkannt hatte; und zwar jeßte er fie als eine der jogenannten palätiologiichen 
MWillenihaften an. Er macht jedoch noch einen Unterſchied zwiſchen palätiolo- 
giichen Wiſſenſchaften, welche ſich mit rein materiellen Dingen bejchäftigen, wie 
die Geologie, und andern, die ſich mit den Erzeugnifjen beſchäftigen, welche aus 
der Einbildungskfraft oder den jocialen Begabungen der Menſchen entipringen. 
Die Sprachwiſſenſchaft rechnet er zu den letztern, fügt aber, während er diejelbe 
nod von den Naturwillenichaften ausſchließt, folgende Bemerkungen bei: 

„Wir haben gejehn, wie die Biologie uns zur Piychologie hinüberführt, 
wenn wir diefem Wege folgen wollen; und jo bat ſich der Uebergang vom 
Materiellen zum Jmmateriellen auf einem Punkte ſchon offenbart. Wir jehen 
aud ein, daß große Gebiete der Forſchung, welche fi) auf Gegenftände der im: 
materiellen Natur des Menſchen beziehen, von denſelben Geſetzen beherrſcht 
werden, als wirkliche Naturwiljenichaften. Wir wollen jet nicht bei den wei— 
tern Fernſichten verweilen, welche unjere Philofophie unjerer Betrachtung er- 
öffnet, aber, auf diejer letzten Stufe unfrer Pilgerfahrt durch die Grundlagen 
der Naturwilfenichaften, dürfen wir uns wenigftens durch den Lichtftrahl er- 
quiden und ermuthigen lafjen, der uns, wenn auch nur leife, aus einer höhern 
und jchönern Welt entgegenftrahlt.” 

Die Naturwiſſenſchaften haben in den lebten Decennien jo viel neue Namen 
und neue Ideen hervorgebradht, daß wir uns faum noch der hohen Stellung 
bewußt find, welche Dr. Whewell zu feiner Zeit zwijchen den philojophiichen und 
theologischen Parteien in England behauptete. Merkwürdig aber ift es, daß 
jeine Hoffnung auf einen möglichen Uebergang vom Materiellen zum Imma— 
teriellen und jein Verſuch, der Sprachwiſſenſchaft, wenn auch noch unter vielen 


Meine Antwort an Herrn Darwin. 395 


DVerwahrungen, einen Pla unter den palätiologiihen Wiſſenſchaften einzu- 
räumen, noch jet den Zorn der Orthodorie erregen kann. Anknüpfend an Dr. 
Whewell ſuchte ich nachzuweiſen, daß die Sprachwiſſenſchaft noch mit weit 
größerem Recht, ala er geglaubt, ihren wahren Plat unter den Naturwiſſenſchaften 
findet, und dachte damal3 wol faum, daß, wa3 ein Doctor der Theologie in 
Cambridge und ein deutſcher Profefjor in Oxford ungeftraft ausſprechen konnten, 
nad) Fahren die Rechtgläubigfeit eines amerikaniſchen Profejjors in Feuer und 
Ylammen jeßen würde. 

Und doc, jo geſchah's. Zu Anfang läßt Herr Whitney den Gelehrten 
ſprechen und macht die Zugeftändniffe, die ein Menſch machen muß, der, wie 
er, auf einer deutichen Univerfität geweſen; dann aber bricht die lange zurüd- 
gehaltene orthodore Galle dur), und ich erhalte die folgende Standpredigt: 

„Es gibt eine Schule moderner Philojophen, die fich bemühen, alle Wiljen- 
Ihaft zu materialifiren, den Unterjchied zwijchen der Natur, dem Geift und der 
Moral wegzuichaffen, die Freiheit des menjchlichen Willens für Nichts zu er— 
flären, und die ganze Gefchichte der Schickſale der Menjchheit in eine Reihe von 
rein materiellen Wirkungen aufzulöfen, welche durch nachweisbare phyſiſche Ur- 
ſachen hervorgebracht, durch Antecedentien erflärbar, und für die Zukunft vorher 
beftimmbar find durch eine genaue Kenntniß der Urfachen, und durch eine An— 
nahme der Action compulforifcher Motive auf die paſſiviſch folgjame Natur des 
Menſchen. Mit ſolchen Menſchen wird natürlich) auch die Sprade mit allem 
Uebrigen zu einem Naturproduct und die Sprachwiſſenſchaft zu einer Natur- 
wiſſenſchaft. Mit ſolchen Leuten kann man in diefem Punkte nicht rechten, jo 
jehr wir auch von ihrer allgemeinen Glaffification abweichen. Aber von denen, 
die noch die großartige Unterſcheidung fefthalten, u. j. w., u. ſ. w.“ 

Dies iſt gut gebrüllt; aber was ift denn nun das Ende vom Liede? Nach— 
dem Alles gejagt ift, bleibt die ganze Frage eben in statu quo. Die Sprad)- 
wiſſenſchaft ijt eine Naturwiflenichaft, wenn wir die Bedeutung des Wortes 
Natur jo weit ausdehnen, daß fie die menjchliche Natur wenigftens in gewiljen 
Sphären ihres Wirkens einjchließt, nämlich da, wo der einzelne Menſch nicht 
mit voller Freiheit handelt, fondern ſich bedingt fühlt durch die nothiwendige 
Mitwirkung der Gejammtheit. Die Sprachwiſſenſchaft ift eine hiſtoriſche 
Wiſſenſchaft, oder, wenn Herr Profeffor Whitney e3 vorzieht, eine moralijche 
Wiſſenſchaft, wenn wir die Bedeutung des Wortes Geſchichte ſoweit ausdehnen, 
dab aud Handlungen, welche der Einzelne „unvorbedächtlich oder gleichjam un— 
bewußt” vollbringt, und die ſich demnach allem moraliichen Urtheil entziehen, 
mit inbegriffen werden. 

&3 hat leider viel Zeit gefoftet, wenigſtens an einem Beiſpiel darzuthun, 
was denn der Antagonismus zwiſchen Heren Profeffor Whitney und mir 
eigentlich bedeutet. Die Sade an fi mag unbedeutend jcheinen, aber bei 
der großen Verehrung, die ich für Herrn Darwin hege, lag mir daran, ehe 
ich die von ihm und feinem Sohne gemachten Einwürfe beantworte, ihm 
zu zeigen, weß Geiftes Kind Herr Profeffor Whitney jei, und aus welchem 
Arjenal er feine Waffen geborgt. Heren Profeſſor Whitney's Artikel habe 
ich nicht zu Geficht befommen, und Tann aljo nur die Einwürfe beantworten, 


396 Deutihe Rundichau. 


weldhe Herr Darwin zu den feinigen gemadt. Ohne Darwin’3 Signatur 
hätte ich diejelben mit demjelben Schweigen vorüberfaujen laſſen, wie jo Man— 
ches, was Herr Profeflor Whitney über den atlantiichen Ocean herübergedon- 
nert. Ich will nicht ungerecht gegen diefen amerikaniſchen Gelehrten fein. In 
jeinen Vorlefungen zeigt er fi als einen fleißigen und jcharflinnigen Dann. 
Es find Abſchnitte in denjelben, 3. B. wo er über jemitijche und über amerita- 
niſche Sprachen handelt, die meine vollfte Anerkennung verdienen. Ginige jeiner 
jogenannten Jluftrationen find jehr gut gewählt und von einem gewifjen 
poetijchen Feuer durchdrungen. In gewiſſen Abjchnitten, two er ji) mehr auf 
der Oberfläche hält, hat er feinen Gegenjtand entjchieden anziehender und popu— 
lärer gemacht, ala ich es zu thun verftanden. Dan vergejje aber nicht, daß dieſe 
populäre Behandlung ihre großen Schwierigkeiten und Gefahren hat. Wer es 
je verfucht hat, einen wiljenjchaftlichen Gegenftand auf das Niveau der allge 
meinen Intelligenz zu erheben, der weiß, ob es leichter ift, fich feinen Fach— 
genojjen, oder der ganzen Welt verftändlich zu machen. Nicht jorglojere, jon- 
dern jorgfältigere Behandlung, nicht oberflächliches, jondern wahrhaft gründ- 
liches und ſicheres Willen wird dazu verlangt. Und wer glaubt, in einem po- 
pulären Vortrag Dinge jagen zu können, die er fich vor jeinen Fachgenoſſen zu 
jagen jcheute, der Mann hat feine wiſſenſchaftliche, feine moraliſche Ehre im 
Leibe. Ich wundere mich deshalb, in Heren Profeſſor Whitney’3 Borlefungen 
Behauptungen zu finden, wie, daß die Inſchrift der Columna Rostrata aus dem 
Jahre 263 ftamme (p. 219). Hier mußten die von Ritihl und Mommſen ge: 
fennzeichneten künftlichen Achaismen berüdjichtigt oder widerlegt werden. Den 
Namen Ahura- Mazda dur) „Mächtigen Geift“ zu überjeßen (p. 222), iſt, nad) 
Benfey’3 Unterfuhungen, mehr als fühn. Den terminus technicus für Pro— 
nomen, im Sanskrit sarvanäman, dur) „Wort für Alles“, „allgemeine Bezeid): 
nung“ wiederzugeben, war, nad) dem, was wir von indijchen Gelehrten darüber 
willen, und nad) dem, was deutjche Gelehrte, wie Böhtlingk und Roth, darüber 
gejagt, nicht ganz zu rechtfertigen. Wern man bedenkt, daß Rougé's Aufſatz wol 
über 15 Jahre erſchienen ift, jo wundert man fi), das phönizijche Alphabet nod 
immer al3 den Urquell aller Alphabete bezeichnet zu jehen. Solche Fehler jedod), 
jo zahlreich fie auch find, können in ſpäteren Ausgaben corrigirt werden; aber was 
nie corrigirt werden kann, ift der beflagenswerthe Ton, welchen Herr Profeffor 
Whitney in feinen Schriften angejchhlagen hat. Mean glaubt wirklich), es jei 
jein Hauptziwed bei Allem, was er fchreibt, jeinen Landsleuten zu beweijen, 
daß er Männern wie Bopp, Renan, Schleicher, Steinthal, Bleek, Haug, ganz 
ebenbürtig ift, ja, daß er weit höher fteht ala fie. Wenn er ihre Anfichten 
auseinanderjeßt, wenn er ihre Schwächen darlegt, wenn er ihre Beweggründe 
herauszufinden jucht, jo ift er ein wahrer Ritter sans peur, und verläßt fid 
auf nichts jo jehr, als auf das alte Sprüchwort, semper aliquid haeret. Ich 
habe mich oft gefragt, woran liegt da3? Es ift nicht amerikanisch. Amerika 
hat ausgezeichnete Sprachforſcher beſeſſen, befitt fie noch jebt, und diefe Männer 
fennen ihren Werth und ihre Stellung, ohne immer zeigen zu wollen, daß fie 
jo gut jind wie Englijche oder Deutjche Gelehrte. Die Vorlefungen von 
Mr. Marſh über engliihe Sprache find in England als claſſiſch anerkannt. 


Meine Antwort an Herren Darwin. 397 


Ueber Heren Profeflor March, den Verfaſſer der angeljähfiihen Grammatik, 
Ipricht ſich Jedermann mit vollfter Anerkennung aus. ch könnte noch manche 
andere amerikaniſche Gelehrte nennen, die, was wirklich originelle Arbeit 
betrifft, wahrhaftig nicht gegen Herrn Profeſſor Whitney zurücitehen. Aber 
nirgenda finden wir bei ihnen diefe Verkleinerungsjucht in Bezug auf Andere, 
diefe VBergrößerungsfucht in Bezug auf fich jelbft. Wo Herr Profeffor Whitney 
unabhängig gearbeitet hat, wie 3. B. in feinem Prätisäkhya, da ift er erträg- 
licher; aber je weniger er wirkli mit einer Sade vertraut ift, defto Yauter 
Ipriht er, und da es dann natürlich an wirklichen Beweisgründen fehlt, jo 
bricht die Fluth der Epitheta ornantia, wie werthlos, einfältig, abſurd, lächer— 
lich, oberflächlich, ungeheuer, anmaßend, unehrlich, falſch u. ſ. w. in vollen Strömen 
aus. Ich glaube, es ift feine unter allen diefen Schaumünzen, die er nicht auch 
mir zu wiederholten Malen überreiht hat; ja, er ift jo weit gegangen, daß er 
logar das foftbare Del feines Lobes iiber mein armes Haupt auögegoffen. Quand 
on se permet tout, on peut faire quelque chose. ber was ift das Refultat? 
63 gilt jet ala Ehre, zur „edlen Schaar jeiner Märtyrer” zu gehören; wäh— 
rend, wer von ihm gelobt wird, mit Phocion murmelt: ov dr zuov To uaxov 
Alyow Euavrov Ahr da. 


Dies find traurige Erfahrungen in der Wiſſenſchaft, und wenn die, welche 
jo überfallen werden, nicht den Muth haben, jchweigend weiter zu gehen, im 
Vertrauen auf fich jelbft und auf das richtige Urtheil der Leer, jo erleben wir 
dann Scenen, wie fie fürzlich zwijchen diefem amerifanifchen Gelehrten und 
Herrn Profeſſor Steinthal in Berlin vorgefallen. In feinen früheren Schriften 
hatte Herr Profeffor Whitney Heren Profefjor Steinthal als einen eminenten 
Meifter in der Sprachwiſſenſchaft hingeftellt und anerkannt, daß er aus deſſen 
Schriften die größte Belehrung und innere Erleuchtung geihöpft. Diefe Com- 
plimente fcheinen unerwidert geblieben zu fein, und mit der Zeit wurden die 
freundlichen Beziehungen zrviichen dem Harwarder und dem Berliner Profefjor 
immer gefpannter, bis endlich Herr Profeffor Steinthal fich jo entrüftet fühlte 
über die VBerfälihung der Thatjadhen und den anmaßenden Ton de3 amerika— 
niſchen Linguiften, daß er in einem Augenbli der Aufregung ſich hinreißen 
ließ, mit denjelben Geſchoſſen, die der Amerikaner gebraucht, zurückzuſchießen. 
Mas das für prähiftoriiche Gejchoffe find, mag man aus folgenden Beijpielen 
erjehen*): „Der Eitle will genannt und gerühmt ſein;“ „Er jchilt wie eine 
teifende, beleidigte Coquette;“ „Der Eniffige Advocat;“ „Der Tolpatſch;“ „Der 
Geck;“ „Der Jeſuit;“ „Ueberall bei ihm gähnt mich hohle Leere an, überall 
grinft mid) hohmüthige Eitelkeit an,“ „Herr Whitney lügt.“ Worte fünnen 
wahrlich nicht weiter gehen, jet kann nur noch ein Kampf auf Tomahawf und 
Krupp’iche Kanonen folgen. 


Wa3 bleibt nun den Gelehrten übrig, die ein begründetes Borurtheil gegen 
den Gebrauch jolder Waffen, jei es zum Angriff oder zur Abwehr, haben? Sie 
tönnen nichts thun, als was ich ſeit Jahren gethan habe, jtill ſchweigen, das 








) Antikritit. Wie Einer den Nagel auf den Kopf trifft. Berlin 1874. 
Deutſche Rundſchau. 1, 6. 27 


398 Deutſche Rundſchau— 


Gute, was ſich etwa in Herrn Profeſſor Whitney's Schriften findet, dankbar 
annehmen, das Uebrige zu vergeſſen ſuchen. 

Sollten aber nicht gerade Sprachforſcher, die doch wiſſen, aus welchem 
Stoff Worte gemacht find, und wie billig es iſt, ein ganzes Lexicon von Schimpf- 
mwörtern zu faufen, eine gewiſſe Scheu vor ſolchem Mißbrauch fühlen? Wer 
Willen befißt und beweijen kann, bedient ſich ſolcher Mittel nicht, die nichts 
beweiſen al3 den Groll des Herzens und das Fehlen wahrer Kenntniß. Wahre 
Willen, wahre Liebe zur Wahrheit, wahre Sympathie mit unjern Berufs- 
genofjen, die zeigen ji) in ganz anderer Weile. Es gab alte Philojophen in 
Griechenland, die meinten, daß die Sprache nicht Menſchenwerk jein könne, weil 
Worte, als Flüche angewandt, jo fürchterliches Unglück verurfachten. Herr Pro- 
feſſor Whitney meint, die Sprache ſei eine menſchliche Einrichtung, fie eriftire 
HEoeı, nit pioeı; und doch hat er denjelben Aberglauben in Bezug auf die 
Tolgen der Worte. Er beklagt jich bitterlich, daß die, welche er ausgeſchimpft, 
ihn nicht wieder ſchimpfen. Er ift ganz verwundert, daß Niemand ihn wider- 
legt, und e3 wird nicht lange mehr dauern, jo glaubt er, daß er unwiderleg— 
bar, ja unfehlbar if. Was Herr Darwin jun. von einem ſolchen Bundes: 
genofjen denkt, weiß ich nicht; dies aber weiß ich, daß Herr Darwin jen. ganz 
andern Geiftes iſt, und daß er, wenn er nur ein paar Seiten des amerikaniſchen 
Gelehrten gelejen, ausrufen würde: Non tali auxilio, 

Was find denn nun die Haupteinwürfe, welche Herr Darwin als wirt: 
lich haltbar au dem Aufſatz des Herrn Profefjors Whitney hervorgeholt? Ich 
werde fie seriatim durchnehmen, jei es nun, daß Herr Whitney, oder Herr 
Darwin, oder beide dafür verantwortlich find. 

Die Sade fängt an mit dem gewöhnlichen Exordium, das ſchon mander 
junge Advocat jeit Gicero’3 Zeiten benußt hat, um, ohne auf Einzelnheiten ein- 
zugehen, dem Gegner im Allgemeinen jedivede Competenz abzufpredhen. 

„Es ift nie ganz leicht,“ bemerkt Herr Profeffor Whitney, „eine Discuffion, 
wie jie Mar Müller führt, in ein Skelett von logiſcher Darftellung zu verwan— 
deln, denn er kümmert ji nicht um logiſche Folge und Verkettung. Er liebt 
eö, fi) über feinen Gegenftand auszujchütten in einem Strom gemüthlicher Be- 
hauptungen und interejjanter Illuſtrationen.“ 

Wo ijt denn die Widerftandskraft eines ſolchen Sabe3? Haben wir hier 
etwas Anderes al3 ein bloßes Ausihütten von Behauptungen, nur ohne inter- 
eſſante Illuſtrationen, und auch nicht gerade jehr gemüthlich? Das Einzige, was 
im Sabe jtedt, ift, daß Herr Profefjor Whitney es nicht leicht findet, meine 
Abhandlung in ein logiſches Skelett zu verwandeln. Ob dies num aber meine 
Schuld oder feine ift, das ift eben die Frage. Es gibt Abhandlungen, die ein 
ſehr kräftiges Rückgrat befißen, ohne daß die logiſchen Rippen überall durch das 
Fleiſch hervorſtechen; es gibt andere, die mit Logik übertüncht find, „inwendig 
aber voller Todtenbeine”. 

63 gilt 3. B. al3 einer der erften Grundjäße der Logik, daß man von 
demjelben Gegenftand nicht etwas und zugleich das Gegentheil von diefem Etwas 
ausſagen dürfe. E3 iſt das bekannte Principium exclusi medii inter dua con- 
tradietoria. Bei der Lectüre von Herrn Profeſſor Whitney’3 Vorleſungen 


Meine Antwort an Herren Darivin. 399 


über Sprachwiſſenſchaft fam es mir vor, ala ob er oft recht nahe auf dieſe 
Klippe Iosgejegelt. Nichts wäre leichter, wenn man fid) diefelbe Freiheit im 
Dlumenlejen erlaubte, die der amerifaniiche Kritiker, wie wir oben Jahen, für 
erlaubt hält, al3 eine Reihe von einfachen Widerfprüchen zufammen zu jtellen. 
Zu Anfang lejen wir oft, daß „es ſinnlos und thöricht jein würde, Die Ver— 
Ichiedenheit der Sprachen und ſprachliches Wachsthum direct auf phyjiiche Ur— 
ſachen zurüdführen zu wollen“ (p. 152). Kommen wir aber jpäter zu der merf- 
würdigen Mannigfaltigkeit der amerikanischen Sprachen, da lejen wir, „daß ihre 
Differenzirung durch den Einfluß der VBerichiedenheit des Klima's und der Lebens— 
art begünftigt worden iſt“. Auf Seite 40 lernen wir, daß „ein großer Genius 
hier und da ein neues Wort prägen kann“. Auf Seite 123 werden wir belehrt, 
daß „es nit wahr fei, daß ein Genius der Sprache eine wahrnehmbare 
Wirkung aufprägen könne”. Auf Seite 177 werde ich und Renan ausgejcholten, 
weil wir den jehr ernitlichen Fehler begangen haben, „die Dialekte als die 
frühern Zuflüffe nationaler oder claſſiſcher Sprachen gelten zu laſſen“. „Es ijt 
faum der Mühe werth,“ heißt es dort, „jeine Zeit an die Widerlegung einer 
ſolchen Anficht zu verjchiwenden.“ Auf Seite 187 leſen wir: „Ein gewiſſer 
Grad von dialektiicher Verjchiedenheit ift vom Weſen jeder Sprade untrennbar.” 

Dies ift nicht meine Art, ein Buch zu zerrupfen und zu zerzaufen. Ich 
gebe nur dieje paar Beijpiele, um zu zeigen, wie leicht e8 wäre, nad) Art des 
Heren Profeffors Whitney nachzuweiſen, daß feine Vorlefungen fi nicht ganz 
leicht in ein logiſches Skelett verwandeln laſſen. 

Jetzt Scheint Herr Darwin jun. ein Wort hinzuzufügen. 

„Indem Mar Müller zu den Waffen greift, ift es ganz klar, daß er von einer 
übermannenden Furcht getrieben ift, daß der Menſch jeine ftolze Stellung in 
der Schöpfung verlieren möchte, wenn feine thieriiche Abftammung bewieſen 
würde.“ 

Was ſoll man zu ſolchen Bejhuldigungen jagen? Ich würde mid) gar 
nit Ihämen, wenn ich wirklich eine jolche Befürchtung gehegt; ob mich aber 
die Furcht übermannt hat, darüber mögen meine Leſer urtheilen. Ich will nur 
eine Stelle aus meinen Borlejungen zu meiner Vertheidigung anführen: 

„Db der Glaube monftrös jei, daß thieriiche Welen, die jo weit von einan— 
der abftehen, wie der Menich, der Affe, der Elephant, der Paradiesvogel, die 
Schlange, der Froſch und der Fiſch, von denjelben Aeltern entſproſſen find, wie 
man gejagt hat, das geht ung gar nichts an. Die Frage ift einfach, ift es 
wahr oder nicht? Wenn es wahr ift, jo werden wir es bald verdauen lernen. 
Es ift ebenjo ungehörig, an den Stolz al3 an die Demuth de3 Menjchen zu 
appelliren, von wiſſenſchaftlichem Muth oder von religiöjer Frömmigkeit zu 
ſchwatzen.“ 

Wenn dieſe Ausſprüche von „übermannender Furcht“ inſpirirt ſind, dann 
hat Talleyrand Recht, daß die Sprache geſchaffen wurde, um unſere Gedanken 
zu verbergen. Und, ich darf wol hinzufügen, wenn ſolche Beſchuldigungen, wie 
die obige, gemacht werden können, ſo werden wir bald Alle mit einem noch 
berühmteren Diplomaten jagen müſſen: Was iſt Wahrheit! Solche tollkühne 
Ueberfälle mögen heroiſch ausſehen, aber es gilt von ihnen, was einſt von der 


27* 


400 Deutiche Rundſchau. 


Charge von Balaklava gejagt wurde: C'est magnifique, sans doute, mais ce 
n'est par la guerre. 

Die nächſte Anklage gegen mich, ich weiß nicht, ob von Heren Profeſſor 
Whitney oder don Herrn Darwin, oder von Beiden ausgehend, ift, daß ich den 
merkwürdigen Sat aufgejtellt, daß, wenn e3 eine „unmerfbare Gradation zwiſchen 
Affen und Menſch gäbe, ihr Geift identiich jein müßte”. 

Was ich wirklich gejagt, kann ich Hier nicht wiederholen, es betrifft die 
ganze dee einer „unmerkbaren Gradation“, eine vage “dee, die jegt von vielen 
Philoſophen ausgebeutet wird, ohne daß fie fich der Widerſprüche bewußt wer— 
den, welche fie enthält. Jedenfalls hätte doch aber Herr Darwin erklären jollen, 
was er unter Geiſt und wa3 er unter identifch verfteht. Hält Herr Darwin 
den Geijt für eine Subftanz, für einen Agenten, der mit den duch die Sinne 
empfangenen Eindrüden wie ein Maurer mit Backſteinen verfährtt? Nun, in 
dem alle würde jein Bater jagen, daß der eine Baumeifter eine Hütte bauen 
mag, der andere einen Dom, aber, kraft ihres Urjprungs, find beide fubftantiell 
identifh. Oder verjteht Herr Darwin unter Geift die Art und Weije, in der 
die Sinnegeindrüde fommen und ſich jeen, was man etwa das Gejeb ihrer 
Gravitation nennen könnte? Auch in diefem alle würde ihm jein Vater jagen, 
daß das Geſetz dafjelbe jei für Menſch und Thier. Und diefe Folgerung iſt 
nicht etwa gegen jeines Vaters Wunſch und Willen aus deſſen Prämifjen her— 
geleitet. Im Gegentheil, er vertheidigt fie ausdrüdlih. Er hat. die inter- 
efjanteften Beobachtungen nit nur über die erften Triebe der Sprache, jondern 
über die Keime äfthetifcher und moralijcher Gefühle unter den Thieren gefammelt. 
Ya e3 jcheint mir, daß, wenn Herr Darwin jun. anderd hierüber denkt, wenn 
er meint, daß der Geift des Menjchen jubjtantiell nicht identiſch mit dem Geift 
des Thiers jei, daß e3 irgendiwo in der Stufenleiter vom Protogenes bis zum 
erften Menjchen einen Bruch gäbe, wir dann zu der Anficht zurückkehren müßten, 
welche die alten Weiſen in ihrer Sprache jo ausdrüdten: „Und Gott der Herr 
machte den Menjchen aus einem Erdenkloß, und er blies ihm ein den lebendigen 
Ddem in feine Naſe. Und aljo ward der Menſch eine lebendige Seele.” 

Iſt dies die Anficht des Herin Darwin? 

Die nächſte Charge ift, daß meine Beweisführung auch den Unterjchied 
zwiſchen Schwarz und Weiß, Heiß und Kalt, einem hohen und niedrigen Ton, 
wegleugnen würde. Dies klingt natürlich ſehr ſchlimm, es Hat faft das Anjehn eines 
logiſchen Steletts. Aber nur feine Furt vor Worten, jondern immer gerade auf 
die Sache los. Schwarz und Wei find allerdings jo verjdhieden, ala zwei 
Dinge nur fein können; ſchon weniger Heiß und Kalt, oder ein hoher und ein 
tiefer Ton. Aber was ift denn nun der wirkliche Unterjchied zwiſchen dem 
höchſten und dem tiefften Ton? Ganz einfach die größere oder Kleinere Anzahl 
von Schwingungen in einer beftimmten Zeit. Man kann diefe Schwingungen 
zählen, und es ift bekannt, daß mit der zunehmenden Schnelligkeit der Schwin- 
gungen unjer Gehörjinn von Zeit zu Zeit einen neuen Ton vernimmt. Wir 
haben es aljo bier mit Unterſchieden zu thun, die man in der alten Logik Grad» 
unterjchiede nannte, um fie den Artunterjchieden entgegen zu jtellen. Was von 
den hohen und niedrigen Tönen gilt, gilt au) von Hite und Kälte, und von 


Meine Antwort an Herrn Darwin. 401 


den verſchiedenen Arten des Lichts, die wir Farben nennen. Bei allen diefen 
Unterjchieden bleibt, was die Logifer die Subſtanz nannten, diefelbe, ganz in 
derjelben Weile wie, nach der Anficht der Evolutionäre, die Subftanz im 
Menſchen und Thiere ein und diefelbe if. Wenn demnach der Menſch vom 
Affen nicht anders verjchieden ift, als eine hohe von einer niedrigen Note, oder 
auch, vice versa, wenn eine hohe von einer niederen Note nicht anders ver- 
fhieden ift, al3 der Menſch vom Affen, jo würde meine Beweisführung denn 
doch ganz feſt auf ihren zwei oder vier Beinen ftehen, troß aller Worte, bie 
man darüber „ausgeſchüttet“. 

Was num mich jelbjt betrifft, jo will ih nur, um nichts unklar zu Laffen, 
noch bemerken, daß meine Hinweifung auf die Gradunterſchiede der Töne und 
der Tyarben einen ganz anderen Ziwed im Auge Hatte. Ach wollte die Auf- 
merkſamkeit auf jene merkwürdigen Grenzlinien hinlenken, weldje die Natur 
jelbft gezogen, jei e8 im Subject oder im Object, und die es und möglich 
machen, troß der jogenannten unmerflichen Reihenfolge, breite Stufen der Töne 
wahrzunehmen, welche wir Noten nennen; breite Stufen des Lichts, welche wir 
Farben nennen; breite Stufen der Hitze und Kälte, für welche unjere gewöhn— 
lihe Sprade nur jehr unvolllommene Bezeichnungen beſitzt. Dieje Grenzlinien 
ſowie die höhern Grenzlinien zwiſchen Ton, Licht und Wärme, haben 
bi3 jeßt aller Erklärung widerftanden. Warum wir 3. B. von einer gewiffen 
Anzahl Schwingungen den angenehmen Eindrud von C haben, und dann 
beim Wachjen der Schnelligkeit verworrene Tonempfindungen, bis wir zu Cis 
fommen, dies ift ein reines Myſterium, das auch in feiner einfachen mathe- 
matiſchen Form vollflommen unerklärlich bleibt. Für Evolutionäre jchien mir 
dies ein Problem, das ihre volle Aufmerkfamkeit verdient, da es andeutet, wie 
die Natur, oder wie wir jonft jagen wollen, denn doch durch das Chaos der 
unmerflichen Reihenfolge hindurch hier und da ſehr ſcharfe und fefte und merkliche 
Grenzlinien gezogen hat. 

Nun kommt eine neue Behauptung, die in ihrer vagen Faſſung halb wahr, 
halb falſch it. Ich ſoll die unbezweifelte Thatfache überjehen haben, daß in 
der Natur die Arten, die Species, ji verändern. Wenn man Worte wie 
Specie3 aus der alten Rumpellammer der jcholaftiichen Philojophie borgt, jo 
muß man jie mit logiſcher Schärfe definiren, und namentlich jebt, two Alles 
darauf ankommt, was man unter Species verfteht, das Wort nicht fo leichthin 
al3 Flingende Münze gebrauchen. Wenn wir die alte jcholaftiihe Sprache 
Iprechen, jo wiſſen wir wohl, daß fi Individuen verändern, nie aber zu an— 
deren Individuen werden. Individuen find uns gegeben, Species machen wir 
felbft, und was wir früher unter Species verftanden, war eine Gejammtheit 
bon Individuen, deren Wejen es war, daß fie ſich nicht zu einer anderen Spe- 
cie8 verändern fonnten. Das mag natürlid” Alles nur jaljcher antiquixter 
Scholaſticismus fein, aber jo lange wir jcholaftiiche Ausdrücke gebrauchen, müffen 
wir fie mit jcholaftiicher Präcifion gebraudden. In einem gewiffen Sinne hat 
man jehr richtig bemerkt, daß Darwin’3 Werk „On the Origin of Species“ den 
Zweck hat, den Begriff Species aus unjerem philofophifchen Lexicon zu ftreichen, 
oder ihm eine Bedeutung zu geben, die er früher nicht hatte. Niemand hat 


402 Deutiche Rundichau. 


das Verdienst, welches fih Darwin durch eine neue Prüfung diejes alten und 
etwas verrofteten Denk-Werkzeugs ertvorben, freudiger anerkannt, als id 
jelbft, in meinen Borlefungen über Sprachwiſſenſchaft“*); aber wir müſſen deshalb 
nur um jo vorfichtiger im Gebrauch diejes Wortes fein, und nicht meinen, da 
wir e3 in beiden Bedeutungen, in der Tcholaftiichen und in der evolutionären, 
zugleich gebrauchen können. 

Die Staubwolken werden immer dider und dicker. Man hält mir vor, „daR 
meine Beweisführung beweifen würde, daß die Natur eines Mannes und eines 
Kindes identifch jei, weil dad Kind durch alle Grade paffire, indem es von der 
einen zu der anderen Statur gelange. „Niemand könne jo etwas behaupten,“ 
heißt es, „der die Lehre der Continuität und des Calculus differentialis be 
griffen habe.” ch glaube, man kann diefen Schlag pariren, auch ohne den 
Caleulus differentialis zum Secundanten zu haben. Es find wieder die böjen, 
böjen Worte, die, wenn man fie nicht ſcharf im Zügel hält, jo gern mit und 
durchgehen. Das Kind ift dad Subject, Statur fieht aus, wie ein Subject, ift 
aber nur ein etwas verhillltes Prädicat. Alfo, auf einfach Deutſch, wenn ein 
Kind durch unmerklide Grade oder Wahsthum zur Statur eines Mannes 
fommt, jo bleibt das Subject dafjelbe, nur feine Prädicate wechjeln. Seine 
Statur ift verändert, möglicherweije auch fein Gewicht, die Farbe feines Haars 
u. ſ. w.; aber was die alten Scholaftifer jeine Subſtanz nannten, oder was 
wir jeine Individualität, feine Perfon, kurz, was wir den Mtenfchen jelbft 
nennen, das iſt und bleibt in allem Wechjel. 

Und nun nad) all’ diefen Abſchweifungen zurüd zur Sache! Wenn die 
Evolutionäre wirklich behaupten, daß der Unterſchied zwiſchen Menſch uud 
Thier von derfelben Art jei, al3 der zwiſchen einem erwachſenen Manne und 
einem Finde, dann ift Alles, was ich wollte, zugegeben, und zwar in einer 
Vollftändigkeit, die ich faum erwartet hatte. Die Frage ift nur: Wird Herr 
Darwin jen. die Zugeftändniffe von Herrn Darwin jun. unterzeichnen ? 

Nun weiter! Man jagt mir, meine wahre Abficht jei geweſen, „in der 
Sprade eine Begabung nachzuweiſen, die feine Analogien, keine Vorbereitungen, 
felbft nicht bei den Wejen habe, welche dem Menſchen am nädjften ftehen, die 
alfo durch feinen Proceß der Entwidelung erklärt werden könne.“ 

Nun, das ift im Ganzen richtig, nur daß ich mich etwas vorjichtiger aus» 
gedrückt. Es ift nämlich befannt, daß gerade die Weſen, welche dem Menſchen 
am nächſten ftehen, jehr unvollfommene Sprachwerkzeuge befiten, und es wäre 
alfo nicht pafjend, gerade auf dieje Wejen hinzuweiſen. Nun erwartete ich aber 
zur Antwort einen Nachweis, daß ich mich überhaupt in diefer Anficht voll: 
fommen geirrt habe; ich hoffte auf einige neue Thatjachen, oder wenigftens auf 
eine neue Erklärung alter Thatſachen. Bon alle dem feine Spur, fondern nur 
die Verficherung, „daß ic) meine Sache nit mit Mäßigung noch mit Scharf 
finn verfochten, nicht auf ftreng wiſſenſchaftlichem Boden, nicht nad) ftreng wiſſen— 
Ihaftlichen Methoden ꝛc.“ Das mag ja nun Alles wahr fein. Niemand fühlt 
mehr als ih, wie unerreihbar mir die ftreng wiſſenſchaftliche Methode 





*) Borlefungen über die Wiflenichaft der Sprache (Leipzig, Engelmann.) Bd. II, ©. 339. 


Meine Antwort an Herrn Darwin. 403 


ift. Aber wenn nicht für mich, jo wäre es doch des europäilchen Publicums 
wegen wünfchenswerth, einmal zu zeigen, was für grobe Denkfehler ich begangen 
habe. Nun, man höre! Mein Unrecht ift, die Sprache ala die ſpecifiſche Diffe- 
renz zwiſchen Menſch und Thier hingeftellt zu haben, während Andere andere 
Dinge als ſpecifiſche Differenzen betrachten. Wenn es mehr fpecifiiche Diffe- 
renzen gibt, deſto befjer für mid. Aber wie zeigt e8 Mangel an Mäßigung, 
daß ih, als Sprachforſcher, mi auf die Sprache beſchränke? Wie zeigt e3 
Mangel an Scharffinn, daß ich es Anderen überlaffe, das zu behandeln, was 
fie viel bejjer verftehen, ala ih? Sehen wir uns nun aber einmal die bunt 
zujammengewürfelten ſogenannten ſpecifiſchen Unterfchiede an, die ich alle hätte 
behandeln jollen, wenn ih eine Spur von wiſſenſchaftlicher Methode und 
Scharfſinn beſäße. Man wird leicht jehen, wie fie in zwei Glaffen zerfallen; 
ſolche, die duch Sprache bedingt find, und folche, die Darwin jelbft in feinen 
Werken als unbaltbar bewieſen hatte: 
1) Der Menich allein, heit es, ift einer fort: Dies ift theild durch Darwin widerlegt, theil: 
Ichreitenden Entwidelung fähig. weis ift e3 aber durch die Sprache allein, 
daß jede neue Generation der‘ Menjchheit auf 
ben Grrungenichaften der früheren Genera: 
tionen fortbauen fann. 
2) Der Menſch allein benubt Werkzeuge und Das Erfte widerlegt durch Darwin, dad Zweite 


Teuer, richtig. 
3) Der Menſch allein zähmt andre Thiere. Widerlegt durch Darwin, 3. B. bei den Ametjen. 
4) Er allein befikt Eigenthum. Widerlegt durch jeden Hund, der einen Knochen 
hat und ihn vertheidigen fann. 
5) Er allein gebraucht Sprache. . Richtig. 
6) Kein anderes Thier ift jelbitbewußt. Richtig oder falſch, je nad) der Definition des 


Wortes, und auch dann nicht direct beweisbar. 
7) Er allein hat die Gabe der Abſtraction. Richtig, durch Sprache bedingt. 


8 Er allein befikt allgemeine Begriffe. Richtig, durch Sprache bedingt. 
9) Er allein hat Sinn für Schönheit. Don Darwin dur Geſchlechtswahl widerlegt, 
oder unwahrſcheinlich gemadht. 
10) Er allein hat Gaprice. Durd jedes Pferd, jeden Ochſen, jeden Maul— 
ejel wiberlegt. 
11) Er allein ift dankbar. Miderlegt durch den Hund. 
12) Er allein hat das Gefühl des Myſteriöſen. Cela me passe. 
13) Er allein glaubt an einen Gott. Richtig. 
14) Er allein hat ein Gewiffen. Don Darwin geleugnet. 


Hiermit ift die Lifte fertig. Und num frage ih, war es denn jo thöricht, 
daß ich mich auf die Sprache, und zwar im weiteften Sinne des Wortes, be- 
ſchränkte, und dieſe al3 den greifbaren und unleugbaren jpecifiichen Unterjchied 
zwiſchen Menſch und Thier Hinzuftellen ſuchte? Man ſehnt ſich ordentlich nach 
einem Gegner, der einmal tüchtig zuſchlagen kann, nicht mit Worten, ſondern 
mit Beweiſen; aber in dieſem ſchwächlichen Tone geht es fort und fort, von 
Seite zu Seite. 

Ich hatte geſagt, daß, wenn es irgendwo eine terra incognita gäbe, die 
alles poſitive Wiſſen ausſchließt, es der ſogenannte Thiergeiſt ſei. Da kommt 
denn natürlich die Frage, woher mein Wiſſen von unſerem Nichtwiſſen, und 
woher der Beweis, daß die Thiere durch die Sinne wahrnehmen und keine Spur 


404 Deutiche Rundſchau. 


eine Vermögens zu abftrahiren und allgemeine Begriffe zu bilden befiten? Ich 
erinnere mich noch der Zeit, wo ich in Leipzig bei Drobiſch, Lotze, Weihe phi- 
loſophiſche Vorlejungen hörte, und wo, wenn Jemand gewagt hätte, ſich auch 
nur beiſpielsweiſe auf da3 zu beziehen, was im Geifte der Thiere vorgeht, man 
ihm bedeutet hätte, daß die transcendente Wilddieberei jei. Ich habe mich in 
meinen Borlefungen, jo viel ich konnte, von dieſem Gebiet entfernt gehalten. 
„Rad den ftrengen Regeln der pofitiven Philojophie,“ ſagte ich (p. 46), „haben 
wir fein Recht, irgend etwas in Bezug auf den jogenannten Thiergeift zu be 
jahen oder zu verneinen.“ Wenn ic) nun troßdem mein Nichtwiffen jo weit 
vergeſſen, daß ich gejagt, die Thiere nehmen durd die Sinne wahr, ſo geſchah 
e3 in einer ſchwachen Minute, two ich glaubte, daß, wenn ich einem Hund die 
Augen zubielt, er nicht jehen könne. Und nod ein anderes Mal bin ic in 
meinem Nichttwiffen von meinem Nichtwiffen jo weit gegangen, zu bemerken, daß, 
da der Menſch durch die Sprache allein zur Vernunft komme und allgemeine 
Begriffe bilden könne, kein Thier aber bis jeßt gefunden jei, das Sprache befike, 
die Thiere feine allgemeinen Begriffe befäßen. Dies, ich geftehe es, war ein Ber- 
gehen gegen den ftrengen Agnoſticismus. ch ſprach als ein Menſch, und das 
war unrecht. &3 wäre eben jo faljch, als wenn ich jagen wollte, die Menſchen 
befäßen nur fünf Sinne ch befige nur fünf Sinne, das ift richtig; aber eben 
deshalb, weil ih nur fünf Sinne befite, wie kann ich willen, daß andere 
Menſchen nicht jehs Sinne haben? Wie gejagt, ic bin ganz mit diejen con: 
ftitutionellen Beſchränkungen einverftanden; aber was wird dann aus all’ den 
Ihönen Anekdoten von der Vernunft der Thiere, was aus den Frorjchungen 
über die Thierjeele, wenn die philojophiiche Polizei diefe Thüre endlich wieder 
zumanert! 

Die Darwinianer jelbft werden damit jehr unzufrieden fein, und jo führt 
denn auch Herr Darwin jogleic) den Eintwurf des Herren Profeſſors Whitney an: 
Menn die Thierjeele eine terra incognita ift, ift e8 dann nicht auch die Menjchen- 
jeele? Jeder, der ſich mit Piychologie beichäftigt hat, wird dies Herrn Profefior 
Whitney jehr gern zugeben. Wenn er fich jelbft etwas mit Piychologie be- 
Ihäftigen wollte, jo würde er auch jehen, wie man über diejen rein fubjectiven 
Standpunkt hinwegkommt, ja Herr Darwin jelbft gibt ihm einen Kleinen Finger: 
zeig, indem er feinem Mitkämpfer in’3 Ohr flüftert, daß beim Menſchen die 
Sprache ein Mittel zur Erkenntniß fei, welches die Thiere nicht beſitzen. Gibt 
Herr Darwin dies zu, jo gebe ih ihm gern alles Andere in den Kauf, und 
beftreite nicht im Geringften, daß das Pferd einen anderen Eindrud vom Grün 
haben mag, ja daß jelbft ex einen anderen Eindrud vom Grün haben mag als 
ich, und was ſonſt noch Alles in alten Handbüchern über Daltonismus, Tyarben: 
blindheit u. j. w. zu leſen ift*). 

Nach diefen gegenjeitigen Zugeftändniffen wird e3 denn aud nicht mehr 
nöthig fein, alle die amüfanten Anekdoten, die beweiſen jollen, daß Thiere be- 
griffliches Wiffen beſitzen, in wiſſenſchaftliche Phrafeologie zu überſetzen. Für 
wiſſenſchaftliche Zwecke ift über fie feit lange der Stab gebrochen. Ich Tann 


*) Fiske, Outlines of Cosmic Philosophy, vol. I. p. 17. 


Meine Antwort an Heren Darwin. 405 


aber Herrn Darwin verjichern, daß, wenn ihn jein Weg einmal nad) Oxford 
führt, ih ihm in meinem eigenen Hunde Waldmann viel überrafchendere Proben 
von Scharfjinn zeigen will, ala alle, die er erwähnt hat. Ich fürchte nur, fein 
Agnofticismus wird dann wieder in Anthropomorphismus umjchlagen. 

Jetzt Folgt ein neuer Aufruf ad populum. Ich hatte gejagt, daß heutzutage, 
to Einem jo viele alte philojophiiche Gerichte als die neueften Refultate der 
Wiſſenſchaft vorgejeßt werden, Nichts den jungen und aud) den ältern Philojophen 
mehr zu empfehlen jei, al3 ein fleißiges Studium der Geſchichte der Philoſophie. 
63 gibt eine Kontinuität, nicht nur in der Natur, fondern aud) im Fortſchritt 
de3 menjchlichen Geiftes, und diefe Continuität zu ignoriren und immer wieder 
mit Thales und Democritus anzufangen, ift für den Philoſophen ebenjo an- 
greifend und ermiüdend, al3 eine neue tägliche Schöpfung für den Naturforicher 
jein würde. Evolutionäre jcheinen zu glauben, e8 gebe Evolution überall, nur 
nicht für die Evolutionsphilofophie. Was würden Naturforicher jagen, wenn 
jeder junge Chemiker immer wieder mit der phlogiftiichen Theorie anrückte, 
jeder Geolog mit dem Vulkanismus, jeder Aftronom mit dem Ptolemäifchen 
Syitem? ch verlangte übrigens gar nicht viel, ih bat nur um ein wenig 
Rückſicht für die Geiftesarbeit, welche ſolche Rieſen wie Lode, Hume, Berkeley 
und Kant für uns vollbradt. Ich ſprach die Hoffnung aus, daß gewiſſe Tragen 
entweder al3 abgeichlofjen betrachtet werden möchten, oder, wenn nicht, daß man 
die Gontroverje wenigftens an dem Punkte wieder aufnähme, wo ſie in ber 
legten hiſtoriſchen Debatte ftehen blieb. Aber Hier geht e3 mir jchledt. Das 
fei nur ein Verſuch, heißt es, meine Gegner todtzumachen, und mich dabei auf 
Kant, Hume, Berkeley und Lode zu berufen. Der junge Volkstribun wird immer 
lebendiger und jchließt mit folgender Dithyrambe: „Glücklicherweiſe leben wir 
in einem Zeitalter, das fi (mit Ausnahme weniger Rücfälle) gar wenig um 
die frommen Gründer von Syftemen kümmert, jondern verjucht, jelbjt zu urteilen.“ 

Ich Tage gern Bravo zu ſolchen braven Gefinnungen, erlaube mir nur zu 
bemerken, daß ich bisher, wenn ich Jemand todtichlagen wollte, dies gewöhnlich 
auf eigene Hand, ohne Helferähelfer, gethan. Herr Darwin mag aud immer 
Recht haben, dat Kant, Hume, Berkeley, Lode längft antiquirt find; ich möchte 
nur bemerken, daß e3 nüßlich fein würde, fie erjt wenigftens zu lejen, ehe wir 
fo jehr ficher erklären, daß wir fie übertvunden haben. In Bezug hierauf kann 
ih mir die Genugthuung nicht verjagen, einige jehr wahre und jehr zu beherzi- 
gende Worte von Huxley zu citiren: 

„Es ift ſchwer, dies zu beantivorten, wenn man mit feinen Zeitgenoſſen 
auf gutem Fuße leben will, aber ich muß doch jagen, daß die Yortjchritte der 
Naturwifjenihaften in letter Zeit jo fabelhaft jchnell gewejen find, daß die, 
welche mit den Beften Schritt halten wollen, nur ſchwer die Vergangenheit be- 
rückſichtigen können, ja fih daran gewöhnen, fie zu verachten. So natürlid) 
aber dies auch jein mag, jo ift es doch ſehr bedauerlih. Der Geift leidet 
darunter, denn e3 gibt in der That feine wirkſamere Methode, unfere eigenen 
been in Bezug auf irgend einen Gegenftand aufzuklären, als ihn gleidh- 
ſam mit Männern von wahrer Geiftesfraft und Wiſſenſchaft zu beiprecdhen, 
die denjelben früher von einem andern Standpunkt aus behandelt haben. Die 


406 Deutiche Rundichau. 


zeitlihe Parallaxe hilft uns ebenjo die wahre Stelle einer dee zu finden, als 
die örtliche Parallare die wahre Stelle eines Stern3. Aber nicht nur der Geift, 
fondern auch der moraliſche Charakter leidet darunter. Es ift uns Allen gut, 
uns zuweilen von dem aufgeregten Treiben der Gegenwart wegzuwenden und 
mit Dankbarkeit und Ehrfurdt uns der Verdienfte jener mächtigen Männer, 
die vor und Waren, zu erinnern, Männer, die mit ihren Kriegswaffen in die 
Gruft hinabgeftiegen, die aber in ihrem Leben die herrlichften Siege über die 
Unwiſſenheit errungen haben.“ 

Vielleicht wird Herr Darwin diefe Worte, da jie von Huxley fommen, meht 
beherzigen, al3 was ich jagen könnte. Auf Herrn Profeſſor Whitney erden 
fie ſchwerlich viel Eindruck machen. Ich hatte einige von Lode’3 Beweisführungen 
in Bezug auf den Unterſchied zwijchen dem Menjchen- und Thiergeift einfad) 
recapitulirt. Dafür wird mir bedeutet, daß Lode jehr wenig von diefen Dingen ver- 
jtanden habe, während im Gegentheil das bis auf den legten Faden abgenukte 
Argument vom Geifte der Taubjtummen von Neuem aufgebürftet wird. Ich 
fann bier nur wiederholen, was ich jchon früher gejagt, daß, wenn man nidt 
irgendwelche neue Beobachtungen über das geiftige Leben der Taubſtummen zu 
Tage fördert, ih in Bezug auf diefen Gegenftand taub und ſtumm bleiben 
muß. 

Nun kommt endlich der lebte und entjcheidende Angriff. Ach hatte gejagt, 
daß, wenn die Sprachwiſſenſchaft irgend etwas bewieſen habe, es dies jei, daß 
begriffliches oder discurſives Denken nur vermittelt Worte möglid 
ſei. Auch hier hatte ich eine Reihe tüchtiger Autoritäten angeführt, nicht um 
die freie Forſchung todtzufchlagen, ich bin gar nicht jo blutdürftig, ſondern ganz 
einfach um die Unterfuchung in das richtige Hiftorifche Geleiſe zu bringen. Ich 
hatte mich auf Lode, auf Schelling, Hegel, W. von Humboldt, Schopenhauer, 
in England auf Manjel berufen, ich hatte Philofophen gewählt, die in andern 
Dingen fih wie Tag und Nacht ehtgegenftehen, die aber alle darin über 
einftimmen, daß begriffliches Denken ohne Sprache, im weiteften Sinne dei 
Wortes, unmöglich jei. ch hätte noch manche andere Philojophen und Dichter 
anführen können. Profejjor Huxley hat den Unterſchied zwiſchen Gedantentetten 
und Gefühlsfetten vollkommen begriffen, indem er fagte: „Obgleich Thiere in 
Ermangelung der Sprache feine Gedankenketten haben können, jo haben fie doch 
Gefühlsfetten, und haben jomit ein Bewußtfein, welches mehr oder weniger 
dem unſrigen entſpricht.“ Poetiſch, und doch mit voller Schärfe und Klarheit, 
ſagt Yean Paul: 

„Mich dünkt, der Menſch würde fich, jo wie das ſprachloſe Thier, das in 
der äußern Welt wie in einem dunklen, betäubenden Wellenmeere ſchwimmt, 
ebenfalls in dem vollgeftirnten Himmel der äußern Anſchauung dumpf verlieren, 
wenn er das verivorrene Leuchten nicht durch Sprache in Sternbilder abtheilte, 
und jich durch diefe das Ganze in Theile für das Bewußtſein auflöfte.“ 

Diefen Gegenftand habe ich jo volljtändig in meinen Vorlefungen behandelt, 
daß ich mic Hier begnügen muß, die Einwände zu beanttvorten, welche Her 
Darwin gemacht hat. Es thut mir leid, ihm jagen zu müfjen, daß die meiften 
derjelben den Kern der Sache gar nicht berühren, und es ift wunderbar, daB, 


Meine Antwort an Herrn Darwin. 407 


wenn Gelehrte, wie Herr Darwin und Herr Profeffjor Whitney, Männern wie 
Rode, Hegel, Humboldt die Einderleichteften Einwürfe machen, ſie ſich nicht jelbft 
lagen, daß dieje Einwürfe doch wol jchon von jenen nicht ganz mit Blindheit 
geichlagenen Forſchern in's Auge gefaßt worden find. Was würden wir jagen, 
wenn man uns ſolche Blindheit zutraute, und find wir denn fo viel bejjer ala 
unfere Väter? Es bleibt aber nichts übrig, als die Einmwürfe nad) der Reihe 
durchzunehmen, und da manche etwas unglaublich Klingen, wird e8 am Sicherſten 
fein, fie wörtlich mitzutheilen. Herr Darwin entgegnet mir: 

1) „Begriffe können gebildet werden, ohne daß fie vor das Bewußtſein de3 
Begreifers geftellt werden, jo daß er realifirt, was er thut.“ 

Soll dies heißen, daß der Begreifer Begriffe bildet, ohne fie zu begreifen? 
Dann frage ich, wen gehören dieſe Begriffe? Wo find fie? Und wie werden 
fie Schließlich realifirt, das heißt doch wol, zum Bewußtſein gebracht? Iſt Be— 
greifen ein active oder paſſives Verbum? Darf ich vielleiht Kant citiren, 
jelbft auf die Gefahr hin, wieder des Todſchlags der freien Forſchung bezichtigt 
zu werden? Kant jagt: „Begriffe begründen ſich auf der Spontaneität des 
Denkens, wie finnlihe Anſchauungen auf der Receptivität der Eindrücke.“ 

2) ‚Verwickelte Gedanken find wol allerdings nit ohne Symbole möglich, 
ebenfo wenig als die höhern Zweige der Mathematik.“ 

So, find etiva die tiefern Zweige der Mathematik ohne Zahliymbole mög- 
ih? Wie kann man nur jolde Dinge Ichreiben? Und mit Bezug auf verwickelte 
Gedanken, wo ijt denn die Zauberlinie, welche einfache von vermwidelten Ge— 
danken jcheidet? So manche Leute haben jchon von diejer Linie gefabelt, als 
ob Jedermann wüßte, was und wo fie wäre. Alles hängt von einer jolchen 
Linie ab. Sie würde auf einmal die Fehler zu Tage bringen, die fih Humboldt 
und Andere haben zu Schulden fommen laſſen. E3 würde möglicherweile die langge— 
ſuchte Linie jein, welche den Menſchengeiſt zu dem macht, was er ift, und vom 
Thiergeift jcheidet. Und diefe Linie, auf die Alles ankommt, wird jo nebenhin 
erwähnt, ohne alle Präcifion, al3 ob Jedermann wüßte, wo fie zu finden jet. 
So treibt man feine Philojopbie, und bis Jemand diefe magijche Linie von 
Anfang bis zu Ende genau bejchreibt und definirt, ift fie für mid, ala ob fie 
nicht wäre. 

3) „Wir wiſſen, daß Hunde zweifeln und unſchlüſſig find und fich endlich 
zu handeln entſchließen, ohne irgend welche äußere beftimmende Einflüffe.” 

Wenn nicht äußere, warum nicht innere? Hat Jemand dem Hund Ge- 
dächtniß abgeiprodhen? Was ein Hund, ja was ein Menſch ohne irgend welches 
begriffliches Denken leiften fan, das möge Herr Darwin in Hurley’3 lettem 
Aufſatz: „Die Hypotheje, daß Thiere Automaten find,“ nachlejen. Taufendmal 
ihon habe ih, wenn ich mich Abends ankleide, meine Uhr zum zweiten Mal 
aufgezogen, oder plößlich eingehalten, wenn ich meine weiße Halsbinde jah. 
Hält Herr Darwin ſolche Geiftesproceße für begriffliches Denken? 

4) „Herr Profeſſor Whitney erläutert die Unabhängigkeit des Gedankens 
von der Sprade jehr ingeniös, indem er unjern Geifteszuftand in Betracht 
nimmt, to mir oft in der offenjten Weiſe nach neuen Ausdrüden, nach neuen 
Formen der Kenntniß juchen, oder Unterjchiede machen, oder Schlüffe vorbe- 


408 Deutiche Rundſchau. 


reiten, die dann durch Worte gededit werden, die entiveder erweitert oder ver- 
engert worden find.“ 

Glaubt denn Herr Darwin wirklih, daß Humboldt und Andere dieje un« 
ausſprechlichen Dinge nicht in Betracht gezogen? Seine Vorftellung von Sprade 
ift offenbar von jeiner eigenen Sprache gebildet. Unſere jetzige Sprache aber 
ift etwas rein Traditionelles, und das Problem, welches Humboldt beichäftigt, 
fängt da an, wo die Sprache aufhört traditionell zu jein, d. h. wo fie entfteht. 
Wie oft lernen wir Worte lange ehe wir ihre Bedeutung kennen. War dad 
möglich in Zeiten, wo diefe Worte zum erften Mal gebildet werden murRten? 
Bemerkt Herr Darwin denn gar nicht, da wir von ganz verichiedenen Dingen 
Iprechen, er von der Geologie der Sprade, und zwar von der letten Schicht 
der tertiären Periode, ich von der Chemie der Sprache, wenn ich mid) jo aus— 
drüden darf, um einem Naturforjcher verftändlich zu werden? Aber nehmen 
wir ſelbſt die Schwierigkeit jo, twie fie fich ihm darftellt.e Zeigt nicht ſchon die 
Form feiner Frage, was die Antwort fein muß? Wenn wir neue Bezeichnungen, 
neue Formen der Kenntniß brauchen, jagen wir damit nicht offen aus, daß 
wir alte Formen, alte Bezeichnungen, nur etwa unvolltommene, haben? Was 
geihieht in unjern modernen Spradhen? Entweder, die alten Worte werden 
langjam erweitert, indem unfere Kenntniß ſich erweitert, oder, wenn fie fid 
nicht weiter ziehen lafjen, wenn fie ſpringen, jo werfen wir die alten Worte 
weg und borgen ung ein neues, entiweder von umjerer eigenen oder jelbft von 
einer fremden Sprade. 

Herr Darwin jagt: „Es ift der befte Beweis, daß mir die dee der 
Tertur und Natur eines muſikaliſchen Tones begriffen hatten, noch che wir ein 
Wort dafür Tannten, denn twir hatten das franzöfiihe Wort timbre zu 
borgen.“ 

Aber wie begriff denn Herr Darwin dieſe Idee? Hatte er keine alten 
Worte dafür? Begriff er die Idee nicht unter „Eigenſchaft“, oder, wie er ſelbſt 
ſagt, „Textur,“ „Natur?“ Wußte er nicht, daß ſie das Reſultat vom Vor— 
handenſein oder Fehlen gewiſſer harmoniſcher Nebentöne war? Sind das feine 
Begriffe? keine Worte? Was thaten wir denn im Deutſchen? Wir zogen und 
dehnten ein altes Wort, das Wort „Farbe“, fo lange, bis es, als Tonfarbe, Alles 
begriff, was es begreifen jollte. Im Engliſchen borgten wirtimbre vom Fran— 
zöſiſchen, ebenjo wie wir ftatt eines Pfundes vingt cing franes jagen fönnten. Aber 
die Franzoſen jelbft dehnten ihr altes Wort tympanum, und fanden, daß 
auch diejes Alles dedte, was es deden follte. 

5) „Wenn man Mar Müller ein ganz neues Thier vorführte, und er dann 
feine Augen jchlöffe, würde er finden, daß er jehr leicht das Bild des Thieres her- 
borrufen könnte, ohne irgend welchen begleitenden Namen ?“ 

Menn doch die Herren einmal auf das wirkflide Schlachtfeld kommen 
wollten. Dies Alles Liegt meilenweit davon entfernt. Nun ja, es tft ganz 
richtig, wenn ich in die Sonne jehe und dann die Augen jchließe, jo bleibt das 
Bild der Sonne eine Zeit lang fichtbar; ich ſehe e8, ohne zuerft zu willen, was 
es ift, und woher es fommt. Weiter, es ift ganz richtig, daß ich durch Ein- 
bildungskraft ſinnliche Eindrüde zurückrufen kann; ja, in einem Anfall von 








Meine Antwort an Heren Darwin. 409 


Fieber, haben fich ſolche finnliche Eindrüde oft ohne meinen Willen eingeftellt. 
Aber wie hängt dies Alles mit begrifflihem Denken zufammen? So bald ala 
ich willen will, wa3 für ein Thier ich heraufbeſchwöre oder durch meine Ein- 
bildungsfraft mir vorftelle, jo brauche ich dazu entiweder, der Kürze wegen, jeinen 
tehniihen Namen, oder aber ich muß des Thieres durch diefen oder jenen 
Begriff Habhaft werden, durch feine Farbe, ſeine Ohren, feine Beine, 
feinen Schwanz, immer aber durch etwas, was ich nennen und begrifflich 
denken kann. 

Hiermit ift die ganze Lifte fertig, alle Anklagen, kommen fie nun vom 
Herren Darwin oder Herrn Profeflor Whitney, beanttwortet. Es ift zwar eine 
alte Stlugheitäregel: Ne Hercules contra duos, aber wa3 war unter den Um— 
Händen zu thun? Schon au3 Rejpect vor feinem Namen, anderer Rüdjichten zu 
geſchweigen, fonnte ih Herrn Darwin nicht unbeadhtet laſſen, und wie fonnte 
ih ihm antworten, ohne zugleih, wenn auch jehr gegen meinen Willen, mit 
Heren Profefjor Whitney hHandgemein zu werden? Wenn ich jage, ich Habe Alles 
beantwortet, wa3 Herr Darwin contrafignirt Hat, jo meine ih damit nicht, 
da ich auch auf jede amerifanijche Patrone mit einer leeren Patrone geant— 
mwortet habe. Dazu war weder Pla noch Zeit. Wenn 3. B. Herr Profefjor 
Whitney, wie ed aus Heren Darwin's Artikel hervorzugehen jcheint, gejagt Hat, 

daß ich „die Theorie der Antecedenz der dee vor dem Worte” nie begriffen 

babe, jo fann ich da3 wol unbeantwortet laſſen. Es ift ja eben die Theorie, 
die Jeder hat, der jeine Anfiht vom Urfprung der Sprade ganz einfach) aus 
jeiner eigenen Erfahrung bildet, der alle Probleme der Sprachwiſſenſchaft ge- 
löft zu haben meint, wenn er fid) erklärt hat, wie wir unjere eigene, vom Vater 
dem Sohn überlieferte Sprache lernen und fpäter uns jogar, bis auf einen 
gewiſſen Grad, eine fremde Spradhe aneignen. Das wahre Problem der 
Sprachwiſſenſchaft ift aber nicht, wie Sprachen, wenn jie einmal da find, gelernt 
werden, jondern wie Sprache fi) urjprünglich entwidelt. Alle wahre Sprachwiſſen— 
ichaft fängt da’an, wo die des Herrn Whitney aufhört. Wollten wir unjere 
Ideen vom UÜrjprung der Sprache aus unſerer Kinderftube lernen, jo könnten 
wir unjere Ideen vom Urjprung des Alphabet3 aus der ABC-Schule holen, und 
dann ungläubig lächeln, wenn ein Mann wie De Rougsé es uns klar macht, 
daß, wenn wir 3. B. F jchreiben, wir in den beiden obern Linien die leßten 
Ueberbleibjel der Hörner de3 Geraftes, und in dem Verbindungsſtrich des H 
die letzten Weberbleibjel der das Sieb durchkreuzenden Linien zeichnen. Man 
betrachte den Cartouche des Königsnamens Chufu oder Cheops, und man wird 
darin die erften Anſätze unſeres H und F erkennen. 

Philojophie will ftudirt werden, ebenjo wie Philologie, und mit allem 
Reipect vor dem gemeinen Mtenjchenverftand, da wo er am Plate ift, ift die 
Philoſophie ihrer Natur nad) oft das gerade Gegentheil defjelben. Hier ijt ein 
Thema für ein Presto furioso in irgend einer amerikanischen Zeitjchrift! Um 
jedoch Herrn Darwin zu zeigen, was wahre Bhilojophen in Deutjchland von 
Herren Profeſſor Whitney's Sprachphilojophie denken, jo will ich nicht Profefjor 
Steinthal citiren, jondern einen unferer gelehrteften und berühmteften Philoſophen, 
den Profeffior Moriz Carriere in Münden, einen Freund des Herrn Profeflor 


410 Deutiche Rundſchau. 


Whitney, oder wenigſtens einen Freund feiner Freunde. Mit aller Anerkennung, 
die jeinen Vorlejungen über Sprachwiſſenſchaft gebührt, bemerkt Profejlor 
Garriere: „Philojophiiche Ziefe und Schärfe der piychologiichen Analyje find 
feine Sade nit. Wer ſich mit der deutichen Sprachwiſſenſchaft vertraut 
gemacht, erfährt kaum etwas Neues.“ „Die Sprade ift etwas mehr ala 
eine Einrihtung, um für fich fertige Gedanken auch Andern mitzutheilen; fie 
ift das Mittel der Gedankenbildung jelbjt, und jo ift der Gedanke durch fie 
erft in unferem Gelbjtbewußtjein, wie in der Aeußerung für Andere wirklich ... 
Die Prägung des Wortes ift die Urphilofophie und Urpoefie der Menjchheit; 
was die Intelligenz von den Dingen wie vom Geifte erkennt, da3 drückt die 
Phantaſie in articulirten Lauten aus.” „Begehren, fühlen, anſchauen können 
wir ohne Sprade, denken nicht.“ „Der Menſch jpricht, weil er denkt, aber er 
denkt in Worten. Das hat Whitney nicht recht eingefehn; er ift da etwas 
trivial geblieben und meint jelbft: man werde feine Anficht eine niedrige nennen, 
aber e3 ſchade nichts, wenn man, niedrig zielend, die Scheibe trifft. Er nennt 
die Sprache recht platt eine menſchliche Einrichtung,” u. ſ. w. 

Gegen die Anficht des Heren Profejfor Whitney, daß die Spradhe etwas 
MWillkürliches und Conventionelles, ebenjo wie gegen die entgegengefeßte, oben 
aud von mir verworfene Anſicht, daß fie inftinctmäßig fei, citirt Profeffor 
Garriere den glüdlichen Ausdruck Renan’s: „La liaison du sens et du mot 
n’est jamais necessaire, jamais arbitraire, toujours elle est motivee.“ Hier 
ift der Nagel auf den Kopf getroffen. Profefjor Garriere hat feine eigene 
Sprachphiloſophie, er jchreibt durchaus nit ala ein Vertheidiger meiner 
Anfichten; aber er hielt es für feine Pflicht, Proteft gegen ein gewiſſes jour— 
naliftiiches Treiben einzulegen, das auch ſchon an andern Orten in Deutjchland 
Aufmerkſamkeit erregt hatte. 

Zum Schluß muß ic noch Herren Darwin jun. und fen. bemerken, daß, 
wenn Herr Profeſſor Whitney jeit der Abfaſſung feiner Vorlefungen nit einen 
merkwürdigen Tag von Damascus erlebt hat, ex ſchwerlich ein zuverläffiger Bundes- 
genofje und eifriger Vertreter der Darwin’schen Anficht über Urſprung umd 
Weſen der Sprade jein wird. Zu Ende feines Aufſatzes bemerkt ſchon Herr 
Darwin, daß nicht Alles geheuer ift. „Herr Profeffjor Whitney,“ jchreibt er, 
„mache ein jehr gefährliches Zugeftändniß, wenn er jagt, daß wir nie etwas von 
den Mebergangsformen wiſſen können, durch welche die Sprache hindurch gegangen, 
und er giebt feinem Freunde und Bundesgenofjen den guten Rath, ein vor Kurzem in 
England erſchienenes Bud) von Count G. A. de Goddesard Liancourt u. G. Pincolt, 
„Primitive and Universal Law of Language“ zu leſen, wo er viel Licht und 
Belehrung über den wahren Urjprung der Wurzeln finden werde.“ Wie Jemand, 
dem es an Wahrheit liegt, jagen kann, daß ein Zugeftändnig gefährlich jei, 
begreife ich nicht. Der Papſt mag jo etwas jagen, oder ein Advocat ; ein wahrer 
Freund der Wahrheit Eennt keine Gefahr. Jedenfalls ift aber in dem guten 
Rath, den Herr Darivin dem Herrn Profeſſor Whitney giebt, eine abjichtsloje 
Ironie, die wol der amerifaniiche Gelehrte ſchweigend beherzigen wird. 

In jeinen Vorlefungen, wie gejagt, proteftirte Herr Profeffor Whitney jehr 
laut gegen Darwin'ſchen Materialismus; doc das mag jekt anders jein. Er 


Meine Antwort an Heren Darwin. 411 


befennt ſchon jelbft, daß er jich jebt Halb zur Bau-bau= und Pah-pah- Theorie 
befehrt habe, und zeigt dadurch, wie unwiſſend ic) war, wenn ich meinte, daß 
diefe Theorien unter den vergleichenden Philologen des 19. Jahrhunderts feine 
Anhänger mehr hätten. Er ſcheint jetzt jogar geneigt, etwas jchonender von 
den Bertheidigern des Dingdongismus (Bimbammelei) zu jprechen, da er fid) end- 
lich überzeugt hat, daß ich nicht daran glaube. Wer weiß aljo, ob er, nachdem 
er meine Vorlefungen über „die Sprache al3 die wahre Grenze zwiſchen Menſch 
und Thier“ gelefen, er fih nicht noch ſchließlich von Bleek und Haedel, „den 
tollen Darwinianer“, wie er ihn nennt, taufen lafjen wird. 

Neben der komiſchen Seite hat jedoch diejes Getreibe, jo viel ich jehen kann, 
auch einen jehr ernſten Charakter. Warum denn all dies Hin- und Herftreiten, 
ob der Menſch von einem niederen Thier abſtammt oder nit? Es iſt eine 
Frage der Wiſſenſchaft und jollte im Geifte der Wiſſenſchaft ohne alle Neben- 
gedanken behandelt werden. Weshalb erdenft man fich künſtliche Grenzlinien, 
wenn feine wirklien da find? Weshalb verjuht man die wirklichen wegzu— 
leugnen, wenn fie num einmal da find? Gejchehe, was wolle, wir bleiben doch 
genau, was wir find. Die Trage iſt einfach genug, und nur indem man fie 
in die graue Vorzeit zurückweiſt, tritt fie au dem Focus de Klaren Denkens 
heraus und wird dunkel und verwirrt. Doc haben Raum und Zeit nur wenig mit 
der wahren Löjung des Problems zu jchaffen. Bleiben twir bei der Gegenwart, 
jo jagen uns die Darwinianer, und namentlih die Erforſcher der tiefjten 
Tiefen der Menjchheit, daß es Wilde giebt, deren Sprache nicht beſſer ift, ala 
das Glucjen der Hühner und das Zwitjchern der Vögel, und die in vielen 
Punkten tiefer jtehen, al3 die höhern Thiere. Nun gut, angenommen es ſei jo, 
jo jteht nichtsdeftoiweniger feit, daß, wenn man ein neugeborenes Kind diejen glud- 
jenden und zwitjchernden Eltern wegnimmt und es mit Kindern der höchſtgebildeten 
Nationen auferzieht, dasjelbe deutich, franzöſiſch, engliſch ſprechen lernt wie ein deut- 
ſches, franzöſiſches oder englijches Kind. Man mache denjelben Verſuch mit dem Baby 
eines der höchſt gebildeten Thiere, zweifüßig oder vierfüßig, und er wird mißlingen. 
Die Dispofition, eine Sprache, fie jei welche fie wolle, zu lernen, fan in unjerem 
Falle nicht duch „fejtgewordene Newvenftructur, die ſich congenitalifch fort- 
pflanzt,“ bedingt fein, denn nach dem Zeugniß der Agriologen gludien ja Vater 
und Mutter wie Hühner. Hier iſt ein Factum, das entweder dur Ex— 
perimente widerlegt, oder von den Darwinianern erklärt werden muß. 

Rehmen wir nun an, daß vor Myriaden Jahren au den Miyriaden von 
lebenden Wejen eins und nur eins den erſten Schritt that, der ſchließlich zur 
Sprache führte, während die ganze übrige Schöpfung ftumm blieb; was hätte 
das zu bedeuten? Dies eine Wejen müßte damal3, jcheint mir, wie das Kind 
des glucjenden Wilden heutzutage, Etwas bejejfen haben, man nenne e3, wie 
man wolle, einen Keim, eine Gabe, eine Anlage, jedenfalls ein Etwas, das 
für ihn und für alle jeine Sprößlinge eine Arteigenheit bildet. Ob wir jagen, 
daß dieſes Etwas von jelbjt kam, oder das Refultat der Umgebung war, oder 
die Gabe eines Welens, in dem wir leben und weben, macht in der Sache ſelbſt 
wenig Unterſchied. Alles dies find, vom menſchlichen Standpunkte aus, nur 
verſchiedene Ausdrüde für das Unbekannte. Wenn diejer Keim des Logos wirt: 


412 Deutiche Rundichau. 


lich exft durch taufend Formen vom Protogenes zum Adam hindurch zu gehen 
hatte, ehe er fich erfüllen konnte, was ift das für uns? Beflagen wir uns über 
unjere Zuftände vor unferer Geburt? Fühlen wir uns durch unjere Zuftände 
nad dem Tode herabgejegt? Der Logos war da vom Anfang an, im Keime, 
potentia, oder wie wir e3 jonft nennen tollen; und weil er da war, deshalb 
äußert er fih, da wo er war, im Menſchen, aber nie, da wo er nicht war, 
im Thier, welches Thier war und Thier blieb, vom Anfang bis zu Ende, oder 
wenigſtens bis jeßt. 

Wahrlich, wenn auch alle Schulphilofophie jet abgejchafft werden muß, 
wenn der wahre Philojoph fich jet nur dadurch bethätigen Tann, daß er zuerft mit 
allem Wiffen der Vergangenheit tabula rasa madt, jo werden doch wol ein 
paar Leuchtthürme von der Sündfluth verichont bleiben. Dürfen wir uns nit 
mehr auf „Ex nihilo nihil fit“ berufen, ohne in den Verdacht zu gerathen, die 
freie Forſchung durch Autoritäten todtjchlagen zu wollen? Nun, Sprade ift 
Etwas, fie ſetzt Etwas voraus, und eben da3, was fie vorausjeßt, das, woraus 
fie entjprang, wie e8 nun auch in feinem vorhiftorijchen, vorweltlichen Zuftand 
gewejen fein mag, muß von dem verjchieden geweſen fein, woraus fie nicht ent- 
fprang. Da fragen dann die Leute jehr bejorgt, aber war diejer Keim von 
jelbft entwickelt, oder von der Gottheit eingepflanzt? Dies werden Lojungsworte 
der Parteien, man theilt fih in zwei feindliche Lager, man lärmt und ftürmt 
und tobt, während, wenn man feine Gedanken und Worte feſt anpaden wollte, 
man leicht jehen würde, daß beide Ausdrücke nur dialektiſch verjchieden find. 

Daß es im Menſchen eine thieriſche, eine beftialiiche Natur gibt, ift 
nicht zu leugnen. Leugnet man es, jo nimmt man die Grundpfeiler aller 
Piyhologie und Moral hinweg, Wir jollten nie vergeflen, daß wir das Ma- 
terial all’ unjeres Wiſſens mit den Thieren gemein haben; daß wir, tie fie, 
mit finnlichen Eindrüden beginnen, und dann, wie wir jelbft und nur wie wir 
felbft, fortfchreiten zur Kenntniß des Allgemeinen, des Ueberfinnlichen, des Ide— 
alen. Wir follten nie vergefien, daß wir in vielen Dingen wie das Thier find, 
aber daß wir, wie wir und nur wie wir jelbft, und über unjer thierijches Selbft 
erheben und nach dem, was nicht jelbftiich ift, nach dem Guten, dem Göttlichen 
ringen können. Weiſe Männer der Vorzeit nannten den' Flügel, der uns über 
das finnliche Wiſſen erhebt, den Logos; den Flügel, der uns über die finnlice 
Begierde erhebt, das Daimonion. Sorgen wir, namentlich wenn wir im Tempel 
der Wiſſenſchaft ftehen, daß wir nicht durch Mißbrauch der Sprache oder durch 
Verachtung der Stimme des Gewiffens dieſe beiden Flügel der Seele knicken, 
und durch unfere eigene Schuld noch tiefer ſinken, als die Gorillas, die wir als 
unfere Ahnen jo ängftlich perhorresciren. 


Zur Geburt des Wankgefekes. 


Bon 
Ludwig Bamberger. *) 


— — — 


Die Vorgeſchichte eines neuen Geſchöpfes bis zum Momente ſeiner Geburt zu 
erzählen, möchte für weit ſchwieriger gelten, als deſſen Entwickelung zu ver— 
folgen vom Tage an, da es das Licht der Welt erblickte. Mit unſerm Bank— 
geſetz jedoch verhält ſich die Sache umgekehrt. So lange die Seele der Reichsbank 
noch zukunftsungewiß im Teiche der ungeborenen Kinder ſchwebte, ſtritten ſich 
blos zweierlei Geiſter um ſie. Schließlich beſiegte der unwiderſtehliche Zauber, 
der in dem Begriffe „Reich“ liegt, die großen und kleinen Hexenmeiſter, welche 
das Kindlein in der Geburt zu erſticken gedacht hatten, und als es einmal laut 
und kräftig die vier Wände beſchrien hatte, ſuchte Jeder, gute Miene zum böſen 
Spiel zu machen. Schlaue Leute wollten ſogar wiſſen, die preußiſche Finanz— 
politik habe von der erſten Stunde an nur deshalb Hinderniſſe in den Weg 
geſchoben, um deren Beſeitigung recht theuer zu verkaufen. Man muß an— 
erkennen, daß ſie, wenn ſolches ihre Abſicht geweſen, ſich wenigſtens nichts 
darauf zu Gute thut, ſie durchgeſetzt zu haben. Im Gegentheil, der Finanz— 
miniſter ließ es ſich ganz gerne gefallen, daß man zum Eingang der zweiten 
Leſung ihm nachſagte, er ſei es, welcher den Grundriß zur Reichsbank in den 
urſprünglichen Entwurf aufgenommen, welcher Alles ſo eingerichtet habe, daß 
nur „eine Wand von dünnem Fachwerk“ wegzuräumen geweſen wäre, um die 
Preußiſche zur Reichs-Bank zu erweitern. Ob er die Huldigung eincaſſirte, 
weil Eincaſſiren, wie er mit Recht behauptet, ſeines Amtes iſt, oder weil 
er für räthlich hielt, lächelnd die goldene Brücke zu betreten, die man einem 
auf dem Rückzug befindlichen Gegner baut — von Gold war ſie jedenfalls, 
die Brücke; denn, bei Lichte beſehen, ließ ſich Preußen dafür, daß es ſeinen 
fond de boutique an's Deutſche Reich abtrat, vergüten, was folgt: fünf 
Millionen Thaler baar, fünf weitere Millionen in Geſtalt der zwanzig Tauſend 
an die alten Antheilseigner zu hundert Procent überlaſſenen Antheilsſcheine, die 
einen Minimalwerth von hundertfünfundzwanzig Procent beſitzen; macht zu— 


*) Siehe im 4. Heft vom 1. Januar d. J. den Aufſatz: „Zur Embryologie des Bankgeſetzes“. 
Deutſche Rundfchan. I, 6. 98 


414 Deutſche Rundſchau. 


ſammen zehn Millionen; dazu eine fünfzigjährige Annuität von 621,000 Thalern, 
die zu 41, Procent capitalifirt einen heutigen Werth von 12,232,000 Thalern 
repräfentirt: Summa Summarum einen Kaufpreis von mehr al3 zweiund— 
zwanzig Millionen Thalern für die Zubringung eines Geſchäfts, das ohne Zu- 
ftimmung de3 Reichstags nicht einen Tag über den 1. Januar 1876 hinaus 
fortgejeßt werden durfte, und nach Gapitalöverdoppelung, Gontingentirung und 
veränderter Gemwinnvertheilung an Einträglichkeit viel weniger Ausficht bietet, 
al3 das frühere der Preußiſchen Bank, welches bei dem Verlauf als Maßſtab 
angenommen wurde. Die Mitglieder des Reichstages aber jagten ſich, beziehungs— 
weile die der Commiſſion, daß nun an fie die Reihe gelommen jei, zum böjen 
Spiel gute Miene zu machen, und daß es vor Allem gelte, topp! zu jagen. 
Sin der That traten dieſe Zifferfragen, wie groß immer, ald Nebendinge zurück 
hinter die mannigfaltigen und verwidelten Aufgaben, deren Löſung in kürzeſter 
Zeit zu bewältigen war. Es galt nicht nur, die gefammten Berhältnifje des 
Zettelbankweſens von Grund aus auf neue Unterlagen und nad) neuen Gefidhts- 
punkten aufzubauen, jondern innerhalb des Reformplanes auch noch die Gegen- 
feitigfeit3 = Verhältniffe zwiſchen dem Reich und feiner künftigen Gentralbant, 
zwiſchen diefer und den beftehenden Privatbanken, möglichft rationell zu ordnen. 

Um zu ermefjen, wie viele und wie bunte Fäden hier durcheinander liefen, 
ftelle man fich gegenüber diejer thatjädhlichen Aufgabe eine parlamentarijche Ver— 
fammlung vor (einerlei ob Reichstag oder deſſen Spiegelbild: die Commiſſion 
der Einundzwanzig), deren Elemente von den allerverichiedenften Standpunften 
aus an die Löſung herantraten. 

Da waren zunächſt die Mitglieder der Gentrumspartei, von Haufe aus 
politiich der Schaffung einer Reich3-Anftalt und namentlich einer von jo hervor— 
ragender Bedeutung durchaus widerſtrebend; daher natürlid; darauf bedacht, 
was ihnen im Großen und Ganzen aus der Hand gewunden war, im Kleinen 
und Einzelnen wieder an ſich zu reißen, und — da einmal Bayern den Grund- 
ftock des Centrums liefert — bejonders ängſtlich darüber wachend, daß bayrifche 
Verhältniffe möglichft wenig von den bevorftehenden Neuerungen berührt werden 
möchten. 

Neben diefer — in der Hauptjache reformmwidrigen — Strömung des Centrums 
lief, weniger breit vertreten, aber nicht weniger energiſch, die der jogenannten 
Agrarier her. it das centrale Element wejentlich bayriſch gefärbt, jo trägt das 
agrare ein vorwiegend altpreußiiches Golorit. Manchmal tritt es mit der 
gottesfürchtigen Miene auf, welche überhaupt in der Entwidelung von Handel 
und Induſtrie nur wachſendes Teufelswerk fieht; gemeinhin beichräntt es ſich 
auf das offenherzige Gejtändnig, daß es den Gewinn, welchen Handel und 
Induſtrie erzielen, al3 einen Raub am Aderbau betrachtet. Mit den franzöfiichen 
Phyſiokraten haben die betreffenden Pommerſchen und Märkifchen Junker den 
Standpunkt allerdings gemein, daß fie den Ertrag des Bodens für die alleinige 
Duelle der Production anjehen, und daß fie — ihrem wohlverftandenen nterefje 
zu Liebe — auch Freihändler find für ſolche Dinge, die fie brauchen, Dagegen 
möchten fie Alles, was den Geſchäftsumſatz im Innern des Landes befördert, 
hemmen und belaften bis zum Brechen. Möglichft wenig oder gar feine Steuer 


Zur Geburt des Bankgeſehzes. 415 


auf den Grundbeſitz und möglichft viel auf die beweglichen Güter und nament— 
lich auf die Bewegung der Güter. Ueber das, was aus den Geſchäften gewonnen 
wird, herrſcht in diefen Kreifen jo ungefähr die VBorftellung, welche ein altes 
Witzwort bezeichnete mit dem Sprüchlein: „les affaires c'est l’argent des 
autres.“ Was der Kaufmann mehr einnimmt al3 ausgibt, ijt eigentlich nur 
einer künftlichen Preiserhöhung zu verdanken, oder kurz gejagt: erlaubter Dieb- 
ftahl. Mit welchen Augen dieje Welt die der Finanzen und gar die der Börje 
anfieht, mag Jeder von ſolchen Vorausſetzungen aus fich jelbjt ableiten. Dean 
will willen, es ftede in diefem Mißgefühl ein guter Theil Aerger über die 
äußeren Vortheile, welche eine Legion von Emporkömmlingen davongetragen, 
während ein ahnenftolzer Landadel im Nacheifer um erhöhten Glanz und Genuß 
de3 Lebens feinen väterlihen Befig mit Schulden belaftet habe. Mit -jolchen 
Anklagen joll man vorfichtig fein, fie werfen zu leicht den Gerechten mit dem 
Ungerechten zujammen; aber entjchuldigt werden fie, wenn man in einem Theil 
der agrariihen Preffe auf den ordinärften Gapuzinerton ftößt, welcher feinen 
noch jo niedrigen Angriff auf die Kreife des Geldgejchäftes verſchmäht. Das 
Wunderlichſte an der Signatur dieſer agrariſchen Gejellichaft ift, daß fie ſich 
einbildet, fie würde billigeres Geld erhalten, wenn anderen Leuten da3 Geld 
vertheuert würde. Wie fie fich ausrechnen, daß man ihnen billigere Hypotheken 
machen würde, wenn der Zinsfuß am Kapitalmarkt höher wäre, das ift ihr Geheim- 
niß. Thatſache ift, daß fie Allem, was auf Flottmachung der Gapitalfräfte eines 
Landes hinarbeitet, ihren intimjten Haß widmen. Auf Wechjel, auf Actien, 
auf Prioritäten, auf Börjenumjäße vollends himmelhohe Steuern zu wälzen, 
ift ihre deal. Denn, wenn Niemand in der Stadt Geld oder Credit befommen 
kann, werden, jo bilden fie fich ein, alle Reichthümer zu ihnen auf ihren Landfit 
wallfahrten, wobei nicht ausgejchloffen fein joll, daß mit einem großen Mangel 
an Umjagmitteln dennod) hoher Preis für die Bodenproducte Hand in Hand gehe. 

Für diefen Geihmad ift eine Bank überhaupt fein Lederbiffen, und bejon- 
der3 nicht eine Zettelbant, welche bekanntlich, allen guten Grundſätzen nad), 
vorab nit auf Hypothefen leihen darf. Iſt aber einmal eine Bank unvermeids 
lich, fo muß fie jedenfall3 vor dem Unglüd bewahrt werden, die Welt des 
beweglichen Capitals und der finanziellen Geſchicklichkeit zu bereichern. 

Das Centrum hatte es auf die Reichsbank abgejehen, die agrariiche Nechte 
auf die Banken insgefammt. Aber da viel mehr freie Hand war, die erft zur 
Ichaffende Reichsbank zu faſſen als die beftehenden Zerritorialbanten, jo jollte 
jene zunächft die Zeche bezahlen. Dergeftalt war es beiden bis jet gejchilderten 
Elementen vergönnt, manche Strede Hand in Hand zu wandern. Die Mgrarier 
hätten für's Leben gerne das Privatvermögen von der Betheiligung am Grund- 
capital der Bank ausgejchloffen. Aller Gewinn, den ihre erzürnte Phantajie 
fih in wilden Zügen auf das blanke Feld der fommenden Zeiten hinmalt, ſoll 
in da3 Staatsjädel fließen, den Steuerzahler erleichtern, der Speculation für 
immer entzogen fein. Gelingt es nicht, die Reichsbank zu einem reinen Staats- 
unternehmen zu machen, jo joll auf jede denkbare Weife verhindert werden, daß 
die Privatbetheiligung einen Gewinn ziehe, der als ungebührlich angejehen wird. 
Daher joll nicht blos der Gewinn der Antheileigner auf eine verſchwindend 

28 + 


416 Dentiche Rundichau. 


Heine Möglichkeit jenjeit3 mäßiger Zinjen bejchränkt werden, jondern auch an 
Steuern aufgelegt, was aufzulegen ift. 

Aber jo weit mitzuthun, hatte wiederum das Gentrum feine Luft. Zwar 
die Reichsbank auf möglichſt ſchmale Koft zu jegen, wäre ihm jchon recht 
gewejen; aber dem Reich directe Einnahmen aus einer Steuer zufließen laſſen, 
welche ebenfoviel der unbequemen Matricularumlagen entbehrlich macht, das 
Budget des Reichs von dem der Einzelregierungen loslöſt, das paßt nicht in 
diefe Rechnung. Um die Auflage von Ein Procent auf alle ungededten Noten 
durchzuſetzen, mußten alfo die Agrarier fi) an andere Bundesgenoffen wenden. 

Und fie fanden fie, wenn auch die vereinten Anſtrengungen ſchließlich nicht 
zum Siege führten. Sie fanden auf der Linken al3 theilweijen Erſatz für die 
Alliirten, die fie im Mittelpunkt verloren, diejenigen Nationalliberalen , welche 
entweder im Notenmwejen überhaupt oder nur, ſoweit e3 ſich um die Reichsbank 
handelte, zum Grundjaß ftrenger Enthaltjamkeit in Sachen künſtlicher Zahlungs- 
mittel ich befennen. Bedentt man, daß in dieſen Reihen jich Solche befinden, 
welchen eine nicht mit vollem Metall gededte Note an jich ein Gräuel ift, 
und, von diefen fich ftufenweije abjchattirend, eine anjehnliche und einflußreiche 
Schaar, welche den Wegen der Geſchäftswelt mit unmwilligen und mißtrauiichen 
Blicken folgt, jo ift man darauf vorbereitet, daß jede Lebenserſchwerung, welche 
der Bank bereitet werden follte, hier Stüßpunkte zu finden hoffen durfte. Am 
Ichärfften trat die Gonftellation aller aus den verſchiedenſten Himmelsgegenden 
zuſammenſtrömenden Influenzen hervor, al3 e3 ſich darum handelte, die Mitgift 
der Reichsbank an ungededten Noten zu begrenzen. Alles, was aus irgend 
einem Grunde der Reichsbank übel wollte, war natürlich dabei, die Grenze 
möglichit eng zu ziehen; dazu kam an Reichöfreunden Alles, was feine Noten 
mag, Alles, was, wie die Agrarier, der Gejchäftswelt abhold if. Das ganze 
Heer gruppixte ſich Hinter die Linie derjenigen Gombattanten, welche mit der 
Neichsregierung die vorgejchlagene Ziffer von 250 Millionen Mark aus rein ſach— 
lichen oder theoretifchen Gründen für die richtige hielten. Der beträchtliche Nachtrab 
erkannte wohl den Vortheil, damit alle jeine heterogenen Beftandtheile unter 
die Fahne der Tugend und Enthaltjamkeit zu ſchaaren. Diejenigen dagegen, 
welche, aus mindeſtens ebenjo objectiven Gründen wie die Unbefangenften ihrer 
Gegner, etwas mehr Lebensluft für die Reichsbank verlangten, erichienen in 
zweideutigem Lichte lüfterner Begehrlichkeit nad) ungerechtem Gewinn. 

Die geringe Frage eine Mehr oder Weniger von fünfzig Millionen 
Mark ungededter Reichsbanknoten verdiente durchaus nicht die Ehre, zu einem 
Principienftreit erhoben zu werden; und in der That jtanden Vorkämpfer des 
ganzen Geſetzes beinahe in allen Stüden engverbunden zufammen, die im 
diefem Punkt jich vorübergehend trennten. Aber gerade das war das Charaf- 
teriftiihe an dem bejonderen Kal, daß über jeiner Grörterung etwas von 
der Ungunſt laut wurde, welche der deutſche Parlamentarismus nicht zwar dem 
Handel, aber der Handeläwelt entgegenträgt. Man muß jich hüten, das Eigen- 
thümliche dieſer Erjcheinung in's Schwarze zu malen, und man ift jchuldig, das, 
was berechtigt an ihr ift, auch zu verjtehen. Gleichwohl iſt zu befennen: die 
Angelegenheiten des Kaufmannsftandes finden auf unjerem parlamentariichen 


Zur Geburt des Bankgejehes. fr —— | a7 N 


Boden nicht die freie und gleiche Beurtheilung, wie auf Bem/anderer Natior ef. J 
Es hängt dies ohne Zweifel zufammen mit dem ganzen Entwiekkuigägtung per Bent > 
ſchen Nation. Die große Zeit unjerer Handelsblüthe, der tauıfmäimtfihene. beamer. 
von Nürnberg und Augsburg im Süden, der politiih mächtigen Hanſa im 
Norden war längft dahin, ala im jiebzehnten und adtzehnten Jahrhundert 
Holländer, Engländer und Franzoſen den Weg ihrer commerziellen Exoberungen 
betraten. Damit zujammenhängend blieb im Ganzen, auch gejelichaftlidy, der 
Handelsjtand in geringerer Lage als anderwärts. Adel, Dfficiere, Beamte und 
Gelehrte blickten und blicken zum Theil noch heute auf ihn herab. 

Ein Umftand, der vielleicht dazu beiträgt, unfere jungen Kaufleute geſchäfts— 
tauglier zu machen, al3 ihre Genofjen fremden Uriprungs, trägt dazu bei, 
ihnen gefellichaftlih zu ſchaden, nämlich ihre realiſtiſche Vorbildung. Das 
Syftem der Realjchulen ift nirgends jo verbreitet und ausgebildet al3 in Deutſch— 
land; die claſſiſche Schulbildung für die Erziehung der zum Kaufmannzftande 
Beitimmten iſt bei uns die Ausnahme, in Frankreich und England die Regel. 
Ob das gut oder Schlecht Sei, ift eine Frage fr ſich. Aber e3 wirkt, wie 
eö bei uns liegt, nicht günftig für die Nusrottung des Hochmuths, mit dem die 
ftudirten Leute auf die unftudirten herabſchauen. Der deutihe Kaufmann ift 
im Auslande mehr geachtet als zu Haufe. Vor Yahresfrift ging durch die eng— 
liſchen Blätter und namentlih dur die Spalten der Times monatelang ein 
ftehender Artikel iiber die Gefahr, in allen überjeeiihen Ländern vom deutjchen 
Großhandel überflügelt zu werden. In allen Weltpläßen behaupten deutjche 
Häufer den erften Rang. Die jociale nferiorität, die dem Stande, wie wenig 
immer, daheim anhaftet, ijt nicht gemacht, ihn zurüdzuloden. Naturgemäß ift 
der Stand jelbjt mitihuldig. Die lächerlide Gewohnheit, um die Raths-Titel 
zu werben, mitteljt derer reihe Kaufleute in den büreaukratiſchen Tſchin ein- 
gereiht werden, als höchſte Belohnung, und welche die höfiſche Sitte ihnen frei- 
gebig Ipendet, eben um fie einzurangiren, hat bei andern Nationen nichts 
Analoges aufzuweilen. Freilich gehen ihnen unjere Univerfitätsprofefforen in 
ihrem tichinefiihen Bedürfnit nad) dem Hof- und Geheimen Hofrath3-Titel mit 
gutem Beijpiel voran; doc liegt diejen al3 Beamten und auch aus ſonſtigen 
Gründen die Verführung näher. War es jonft nur ein Mehr oder Weniger 
von äußerer Ehre, um welde der Kaufmannsſtand zu kurz kam, jo brachte 
das Börſenweſen aud) im Punkte des jittlihen Inhalts beträchtlichen Schaden. 
Es konnte nit ausbleiben, daß die Gejammtheit Titt unter den Vor— 
mwürfen, denen die Einzelnen in großer Zahl ſich ausjeßten; und, was nod) 
viel ſchlimmer iſt, aber der Unparteilichleit zu Ehren offen gejagt werden 
muß: aud) die guten und foliden Kaufleute haben voriibergehend bei ung ver- 
geilen, an den Lehren der Nüchternheit und Enthaltſamkeit feft zu halten, denen 
fie ihre Auffommen verdanken. Der kritiſche Geift der Berliner Börfenwelt, 
der zu ſprüchwörtlicher Anerkennung gelangt war, hielt dem Sturm der Gründer- 
periode gegenüber nicht Stich. Es giebt jolche Zeiten, in denen unberechtigte 
Mächte dermaßen an Gewalt zunehmen, daß fie auch den Beſten an feinem 
Glauben irre machen. Rechnet man dazu, welche Gefühle im unbetheiligten 
Publicum das Schaujpiel finanzieller Feuerwerkskünſte weckt, wie natürlich es 


418 Deutihe Rundſchau. 


ift, daß man ſich für beifer hält ala den Nädhften, der dem Mammon mit Er- 
folg räuchert — nimmt man das Alles zufammen, fügt man noch den Bei- 
geſchmack Hinzu, welchen breite ſocialiſtiſche Propaganda dem öffentlichen Urtheil 
zuſetzt, jo wundert man ſich jchließlich nicht mehr, wenn man e3 auch bedauert, 
daß oft commercielle Wünſche nur mit einer Art verlegenen Stammelns vor 
die Geſetzgebung Hinzutreten wagen. Die Zahlen jelbft der parlamentarijchen 
Bertretung jprechen laut davon, wie geringfügiger Antheil an ihr dem Kauf: 
mannzftande eingeräumt ift. Alles zuſammen gerechnet, ehemalige und jeige 
Kaufleute, Ynduftrielle, Landwirthe, die nebenher ein Agriculturgewerbe betreiben, 
Verleger, Gaftwirthe u. dgl. mehr inbegriffen, weiſt das VBerzeichnig der Reichs— 
tagabgeordneten jechsundvierzig Perjonen auf, welche zu diefer Kategorie ge— 
zählt werden können: aljo nicht den achten Theil der Gejammtheit. Erwägt 
man, daß über ein Drittheil davon auf’3 Centrum kommt, dejjen Mitglieder 
itet3 nach einheitlicher Direction und kirchlich politifchen Motiven ſtimmen, jo 
gelangt man zu dem merkwürdigen NRejultat, daß die Vertheidigung der In— 
duftrie- und Handelswelt, joweit fie Sachverſtändigen und Fachgenoſſen anver- 
traut ift, auf etwa zwei Dutzend Köpfen ruht. Und faht man diejenigen in's 
Auge, welche in der Debatte mit der Sprache herausrüden, jo find es jolche, 
die vormal3 ftudirt haben, urjprünglich einem andern Stande angehörten und 
erft in jpäteren Lebensjahren den Gejchäften fih zumandten. Dentt man an 
die Zeit zurüd, in welcher die Hanjemann, Camphauſen, Bederrath ihren Plat 
im politifchen Leben des deutjchen Volkes neben den MWelder, Gagern und 
Dahlmann einnahmen, jo fühlt man fich verfucht, zu fragen: hat der Geift des 
Handelsjtandes, der Geift der deutjchen Politik oder da3 Gegenfeitigkeitsverhältnig 
zwiſchen dem Volk und den Männern de3 faufmänniichen Berufs dieje Wand— 
(ung herbeigeführt? Wie dem immer jei: die Ehre wie das Intereſſe der Ge— 
ihäftswelt muß aus ſolchen Betrachtungen die dringende Aufforderung jchöpfen, 
fih nicht von den Rechtsgelehrten, Fachpolitikern, Gutsbefigern und Beamten 
aus der großen Politik und der großen Volksvertretung abdrängen zu laſſen; 
und wenn die Beten des Standes ihren Sinn darauf richten wollten, die ver- 
lorenen Bahnen der höchften öffentlichen Ehren wieder zu finden, jo würden fie 
damit aud einen Compaß gewinnen, deſſen Zeiger ihre Barke davor bewahrt, 
in die Stromjchnellen jchtwindelhafter Bewegungen zu gerathen. Die Art, wie 
jeßt in unferem Parlamente von ihnen gejprochen twird, kann ihnen unmöglich 
gleichgültig fein, und die einzige gute Art, fich zu rächen, befteht in der männ— 
lichen Wiedereroberung des verlorenen Poſtens. Denn übel geriug fommen fie weg. 
Zwar jehlt e8 nicht an Lippenbefenntnifjen abftracter Huldigung bei Jedem, der 
fie angreift; aber alle dieje eingefchalteten Chrenerflärungen verhallen wirkungs— 
los gegenüber dem wegtwerfenden Gejammtton, der nicht blos von einzelnen 
Rigoriften, jondern vom Durchſchnitt der Redner, ja gar nicht jelten von den 
Miniftern und ihren Alfiitenten angejchlagen wird. Wie oft wurde in der 
Bankdebatte ausgejprochen: die Kaufleute dürfe man natürlich nicht hören, denn 
dieſe möchten das Gejeß jo zurecht jchneiden, daß ihnen die fetten Broden davon 
auf Kojten aller Klugheit und Vorficht zufielen! Wenn Männer wie Camp— 
haufen, Michaelis, E. Richter und v. Unruh (Magdeburg) dergleichen als jelbft- 


Zur Geburt des Bantgejehes. 419 


verftändlich Hinwerfen , jo kann man doch nicht jagen: das find asketiſche Per— 
tönlichkeiten, die dem praftiichen Leben fern ftehen. Und doch enthalten dieſe 
Ausiprüche, jo beiläufig eingeflochten, eigentlich die härtefte Verurtheilung nicht 
blos gegen die Moralität, jondern auc gegen die Einfiht des Kaufmanns— 
ftandes. Denn tar will behaupten, das wahre und bleibende Intereſſe des— 
jelben jei verträglich mit einem gebrechlichen, ja verderblihen Bankſyſteme? — 
Wer will leugnen, daß ein jolider und verftändiger Kaufmannzftand mehr ala 
jeder andere an der Erhaltung zuverläjfiger Zahlungsmittel und fefter Werth: 
ſätze betheiligt jei? Nur wer die ganze Geſchäftswelt als eine Gejellichaft von 
Sobbern und Wechslern anfieht, kann ihr Intereſſe an ſchwankender Valuta zu— 
trauen; und Sentenzen, wie die von obigen Rednern gefällten, lafjen feine andere 
Wahl, als die Mehrheit der commerziellen Bevölkerung für liederlich oder ver: 
blendet, wenn nicht für beides zugleich, zu halten. — Wer doch ließe jonft ſich 
beikommen, wenn die Angelegenheiten eines bejondern Berufs unterfucht werden, 
die Angehörigen defjelben auszuichliegen, ihren Gutachten entgegen zu halten: 
fie feien nur von thörichtem Gigennuß eingegeben? Hieß man die Prefje Schweigen, 
al3 von der Abſchaffung des Zeitungsftempels die Rede war? Und doc), wozu hat 
all’ das damal3 verjprüzte Pathos genüßt, als die Tajchen der Zeitungsverleger zu 
füllen, welche dem Publicum nichts von ihrem Mehrgewinn, auch nur an bejjerem 
Papier oder Drud, zufließen lafien? Gewiß, man joll nicht die unmittelbar 
Betheiligten allein hören, und gewiß, fie laſſen e8 an einfeitigen und über- 
triebenen Borftellungen nicht fehlen (man denke nur an den furor saxonicus - 
in Allem, was Papiergeld berührt); aber für diejenige Kritik, welche gegen un— 
berechtigten Einfluß nöthig ift, bleibt auch no) Raum genug, wenn in öffent- 
lichen Verhandlungen von dem deutſchen Handelsftande, einem der erſten der 
Welt, mit größerer Achtung als bisher gejprochen wird. ft diejer jelbjt ſich 
ſchuldig, die Schwächen abzuftreifen, welche ihn in dieje üble Stellung zu bringen 
beitrugen, jo haben auch grade die Männer des öffentlichen Wirkens, welche ihn 
zu heben wünjchen, die Pflicht, ihn nicht mit Antipathie und Verbitterung zu 
erfüllen. Sonft möchte fich eines jener ſchlimmen WVerhältniffe daraus ent= 
wideln, die auf gegenjeitiger Verachtung beruhen. 

Gejunder dealismus, der im Leben fteht und dem Leben dient, wächſt 
nicht in der Emöde der Wurzeln und Kräuter, von denen der Eremit lebt. 
Sittenprediger, welche mit Geringihäßung auf den Erwerb herunter jchauen, 
erweden in den Kindern der Welt nur den Gedanken, daß jie die Welt nicht 
fennen und treiben, als falſche KRepräjentanten des deals, zur böjen Schluß: 
folgerung hin, daß für die wahre dealität in der wirklichen Welt fein Raum 
jei. Der cynijche Realismus, welder die höchſten fittlichen und geiftigen Güter 
verlacht, ift die unausbleiblie Antwort auf den diogeniſchen Armuthsſtolz. 
Der „heilige Durft nach Gold“ bewegt die Welt, indem er der Menjchen 
Kräfte in Bewequng fetzt; und es jündigt wider dies Urreglement des Lebens 
nicht nur der, welcher ſich zur Garicatur macht, indem er es leugnet, fondern 
aucd wer ihm die Wege vorzeichnen will aus einer Empfindung heraus, die 
fih zur Ehre rechnet, daß ihre Wege nicht jeine Wege find, 

Die einprocentige Steuer war bejeitigt. 63 war ein Glüd für die fünftige 


420 Deutſche Rundichan. 


Reichsbank, daß in diefem Kapitel es nicht gut anging, fie anders zu behandeln 
al3 die Privatbanfen. Hätte fie diejem Steuergelüfte gegenüber allein in der 
Melt geftanden, jchwerlid wäre fie ihm entronnen. Denn Alle vereint, die 
enttveder das Reich oder die Noten oder da3 Monopol oder daS Gapital oder 
die Börje oder die Matricularumlagen nicht mögen, Alle Bereint hätten ſich 
ſchwerlich des Vergnügens beraubt, um noch einen Aderlaß anzubringen, fi 
denjenigen anzuſchließen, welche den einzigen vertretbaren Geſichtspunkt verthei- 
digten: daß ein Notenprivilegium mit einer Abgabe bezahlt werden müfle. Ihre 
Rettung verdankte die Reichsbank dem Umstand, daß man fie nicht erreichen 
fonnte, ohne die lieben Kleinen, die Territorialbanfen, mit zu treffen, für welche in 
den Reihen der meiften Fyractionen doch jo manches twarme Herz ſchlug. Darum 
wendete ſich auch das Blatt, jobald die Enticheidung wegen der Gommunal- 
fteuern zu treffen war. Der Gejeßentwurf der Regierungen hatte hier weislich 
und belegt mit triftigen Gründen die Ziweiganftalten eines zum allgemeinen 
Nuten eingefegten Inſtituts frei gelaffen, welches als Gegenleiftung gegen jein 
Privileg dem Reiche die Hälfte, beziehungsweife drei Viertheile jeines Gewinns 
überläßt. Aber die Commune, welche umbergeht, quaerens quem devoret, hatte 
hier leichtes Spiel. Die Beitimmung wegen der Befreiung von Communal- 
feuern ftand einzig und allein im Titel, der von der Reichsbank handelt; die 
Freunde der Privatbanfen hatten aljo hier nichts zu fürchten und nichts zu 
hoffen. Die, welche dem Reich feine Einnahmen gönnen, waren gleichfalls un- 
betheiligt. Es ſchien geradezu thöricht, nicht zugreifen zu wollen, und unter 
alljeitigem Hallali ward das Wild erlegt. Dem erfinderiichen Geift der Stadt- 
väter ift e3 für die Zukunft anheimgegeben, wie viel Blut fie dem Einfommen 
des Reichs und der Antheilseigner glauben abzapfen zu können, vhne die 
Bank aus ihrem MWeichbild zu verſcheuchen. Hat man ihr das Leben gegönnt, 
jo Hat man's ihr jedenfall3 möglichft theuer verkauft. | 

Endlich), als der die Strih in der Berathung überjehritten wurde, welcher 
den Titel der Privatbanten von dem der Reichsſsbank trennt, da konnte man 
jehen, twie „neue Triebe, neue Schmerzen“ aufleimten. Nichts merkfwürdiger für 
den Piychologen des öffentlichen Lebens, als zu beobadhten, wie bier die Dur- 
tonart catonijcher Strenge plötzlich in ſanftes Moll überging. Ob es gelingen 
kann, dem nicht mit allen Einzelheiten diefer Materie vertraute Leſer das Ver— 
Händni für den menſchlich jo intereffanten Vorgang zu erſchließen? Leider 
muß man, um den Ariftophanes oder Homer mit vollem Genuß zu lejen, auch 
die feinſten Regeln der griechiſchen Grammatik und Syntar in ſich aufgenommen 
haben; und jo fteht zu fürchten: wer nicht unfere jüngſte Gejeßgebungsarbeit 
in allen ihren Windungen verfolgt hat, wird Mühe haben, aus der Blumenlefe 
der Erſcheinung, die ſich Hier bieten läßt, den Honig der Menſchenkenntniß zu 
Ichlürfen. Doc) ſei die Bitte an ihn gerichtet, nicht von vornherein zu verzweifeln. 

Der vierundvierzigfte Paragraph) ift im Bankgeſetz Dasjenige, was im erften 
Buch Moſe das Cap. 2, Vers 18. Er handelt von den Bäunien de3 Gartens, 
von deren Früchten einer Bank zu eſſen erlaubt ift, wenn ſie am Leben bleiben 
will. Unter allen Bäumen aber, deren Genuß nad göttlichen und menjdh- 
lien Rechten ſeit hundert Jahren den Zettelbanfen verboten gemwelen, war 


Zur Geburt des Bankgeiehes. 421 


feiner jo ftrenge verpönt, als der, anf welchem die gewagteften oder ſchwerbeweg— 
lichten Geſchäftsarten wachen. Die laute und berechtigte Klage, welche 
gegen eine Reihe deutjcher Zettelbanfen umlief, der Hauptanftoß, der zur Re— 
form drängte, lag eben darin, daß folche Inſtitute, welche ihre Zettel wie 
baares Geld im Lande curjiren ließen, ihre Activa zu Dingen verwendeten, 
deren Schickſal Jahr aus Jahr ein entweder den wildeften Wogen des Geſchäfts— 
getriebe3 anvertraut oder umgekehrt an jchiverbeivegliche Güter gefeilelt war, 
an jolche, welche der Verkehr nur langſam in ihren Werth umfeßt. Von indu- 
ftriellen Unternehmungen, von hypothekariſchen Anlagen — fo gilt es allgemein — 
follen Banken fern bleiben, die jeden Moment ihrem Zettelgläubiger mit baarem 
Gelde Rede zu ftehen haben. Ein Kind begreift’3; Adam Smith hat’3 ſchon vor 
hundert Jahren gepredigt; und da er der Vater der Mancheſtermänner ift, fo 
wird man ihn nicht für einen übertriebenen NRigoriften halten. Gleichwohl 
wurde der Verſuch gemacht, und wäre beinahe gelungen, eine ſolche Ketzerei in 
das Geſetz einzuführen. Hätte das ein angeblicher Latitudinarier glei) unfer 
Einem unternommen, jo wäre eg minder befremdlich geweſen. Allein das Eigen- 
thümliche der Ericheinung lag eben darin, daß Einige von der ftrengften Rich— 
tung die Schaaren befehligten, welche die heiligiten Grundjäße des Bankweſens 
von oben nad) unten zu fehren verlangten. Waren fie blos ihrer eignen Ein- 
gebung gefolgt, indem fie vorangingen? Hatten Andre befunden, daß e3 nüß- 
Lich fei, ftrenge Puritaner an die Spike der Kinder Baal3 zu ftellen? Hier 
beginnt das Reich der bloßen Vermuthungen, dem möglichft fern ‘zu bleiben 
immer das Befte iſt. Um einigermaßen den Zuſammenhang der Dinge zu ver- 
ftehen, muß man aber willen, was in der Commiſſion vorgegangen war. 

Der Paragraph 44 des urjprünglichen Gejegentwurfs hatte denjenigen 
Banken, welche ihre Notenausgabe Hinfüro auf ihr Grundcapital bejchränken zu 
wollen erklärten, die Licenz gelaffen, daß fie alle erdenklichen anſtößigen Ge— 
Tchäfte machen durften, welche bei der Reichsbank auf's Strengfte verpönt fein 
Tollten. Als diefe Beltimmung in der Commijjionsberathung an die Reihe kam, 
erhob fi) vor Allem dagegen der Abgeordnete Laster und verlangte, dieje Be— 
ftimmung geftrichen zu jehen. Andre Stimmen pflichteten ihm bei, und die 
Gegentede des Regierungscommiſſärs richtete ich viel mehr darauf, zu erklären, 
warum urjprünglich eine jolche Beſtimmung in’s Geſetz gekommen, al3 zu be- 
haupten, daß fie jet noch ftehen bleiben müſſe. 

Damals, als noch Feine Reichsbank geichaffen war, der man überlaffen 
konnte, Zucht und Ordnung bei den Stleinen zu erhalten, mußte ein Köder ge- 
ichaffen werden, welcher eine Zahl von Banken, die ein Privileg zur uneinge- 
ſchränkten Notenausgabe hatten, verloden konnte, auf dies Privilegtum zu ver- 
zichten. Man räumte ihnen Dispenz ein von Beobachtung derjenigen Regeln 
der ESolidität in der Geihäftsbehandlung, welche ſowohl vor der Wiſſenſchaft, 
twie dor der Praris feitjtehen, auch für die Neichsbant, wie für die übrigen 
Privatbanten in Zukunft gelten jollen. Als Gegenleiftung für dieſen Dispens 
Tollten die gedachten wenigen Banken ihre Notenausgabe Künftig nit über die 
Höhe ihres Grundeapitals ausdehnen können. Daß dieje Grenze in der Ziffer 
des Gapitals gefunden wurde, ift viel mehr aus der Nothwendigkeit zu erklären, 


422 Deutiche Rundſchau. 


irgend eine Grenze zu finden, ald aus dem logiſchen Zujammenhang zwi- 
ihen Capital und Notenausgabe. Jedenfalls war diejer Zujammenhang nie= 
mal3 weniger von Bedeutung, als in dem Augenblid, da man den betreffenden 
Banken einen Freibrief ausftellte, ihr Capital nad) Herzenäluft in die allerun= 
jolideften Gejchäfte zu jteden. Die Motive des urjprünglichen Entwurfs be- 
mühten ji), für diefe ganze Kombination ein rationell jein jollendes Syſtem 
aufzubauen, defjen Ausführung (Seite 16 in Nr. 27 der Drudiachen des Reichs— 
tags) man nur zu leſen braucht, um auf den erften Blick das Gefünftelte und 
Gezwungene der Sache zu erfennen. Es gehörte aber zu den Kennzeichen des 
uriprünglichen Entwurfs, daß er, um das natürliche Erforderniß einer Reichs— 
bank fich herumdrücdend, auf Auswege verfallen mußte, die fi) nur mit jchola= 
ftiichen Spielereien begründen"ließen, wie der angebliche Zufammenhang zwiſchen 
den Grenzen einer Notenausgabe und den Grenzen eines, jeder Controle ent= 
zogenen Gapital3, oder die faum veritändliche Unterjcheidung zwiſchen Local— 
banfen und Landesbanken, oder endlich gar die lediglich in's Reich der Fiction 
fallende Schöpfungstheorie für die Banken von Gotha, Gera und Büdeburg, 
welchen nad) Ausfage des Tertes „von der zuftändigen Landesgewalt im öffent- 

lichen Intereſſe (!) die Sorge für die Regelung des Zahlmittelbedarf3 im 

Lande, namentlicd für einen, dem jeweiligen reellen Bedarf ji anſchließen— 

den Umfang des Zahlungsmittel-Imlaufs und für Verhütung von Aus— 

ichreitungen der Speculation durch Borenthaltung oder VBertheuerung des in 

Noten zu gewährenden Gredits, und mit diejer Sorge die discretionäre Be- 

fugniß übertragen worden, nad den Geſichtspunkten der Verkehrspolizei 

die für den reellen Bedarf erforderlichen künſtlichen Zahlungsmittel jeweilig 
zu Ichaffen und auszugeben!“ 

Es konnte nicht ausbleiben, daß, nachdem in vielleicht gehn Sitzungen durch 
vierzig Paragraphen hindurch die Commiſſion fi die Köpfe zerbroden, wie 
nur auf jede möglihe Weile das Bankſyſtem auf Grund der allerftrengjten 
Solidität aufgebaut, mit allen erdenklichen Riegeln und Schlöffern gegen Aus— 
ichreitungen verjehen werden jollte, es konnte nicht ausbleiben, daß, am Schluß 
de3 dieje Aufgaben nod einmal reſumirenden umftändlichen Paragraphen an— 
langend, die Commiſſion mit Schreden und Erjtaunen gewahrte, was hier geſchehen 
war. Nämlidy ganz am äußerften Ende des Syſtems war eine Breſche gelegt, durch 
welche zunächſt die bewußten fünf Banken (außer den drei genannten nod die 
jächfiiche und die Leipziger — die jechite, die preußiiche, war von jelbjt weggefallen) 
wieder ganz bequem in's Freie zu entjpringen eingeladen wurden, und, was noch 
viel ſchlimmer, außer diejen fünf noch jede andere, welche, ohne von Haufe aus 
zu umbegrenzter Notenausgabe privilegirt zu fein, doch für qut befinden mochte, 
ih auf die Ziffer ihres Capitals zu beichränfen, um damit Carte blanche für 
ihre Geſchäfte zu erhalten. Dieſe Gefahr lag um jo näher, als die Luft, über 
eine gewiſſe Ziffer hinaus zu gehen, durch die fünfprocentige Steuer ihnen in 
der Hauptſache genommen war, und dieſe Grenze faft bei allen dieſſeits der 
Gapitalgrenze liegt. 

Als daher in der Commiſſion der Abgeordnete Laster mit dem Anfinnen 
hervortrat, den im Schluß des Paragraph 44 enthaltenen Freibrief zurückzu— 


Zur Geburt des Bantgejehes. 423 


ziehen, ftieß er num auf vereinzelten Widerftand. In Wahrheit mochte beim erften 
Auftauchen der Frage Vielen die Wichtigkeit der wie in einem Winkel und unter 
Einſchaltung einer ganz beicheidenen Ziffer (1) verſteckten Clauſel entgangen jein. 
Lasker jedoch, obgleich fein Sachverftändiger von Profeifion, hatte mit der ihm 
eigenthümlichen Fähigkeit, die Eſſenz einer Sache herauszugreifen, jofort die ganze 
Tragweite des unfcheinbaren Nachjates erkannt. Er beantragte, daß der Sat 
geftrichen werde, welcher die jih auf Gapitalshöhe bei der Notenausgabe be- 
Ihräntenden Banken von den Vorfichtsregeln der Anlage befreite. Der Re— 
gierungscommiffär bemühte fich viel mehr, zu zeigen, warum er zur Zeit, ala 
noch feine Reichsbank geichaffen werden jollte, zu jenem Nothbehelf feine Zu- 
Flucht hatte nehmen müſſen, ala Widerftand gegen den Streihjungsantrag zu er— 
heben; ja jogar, er erklärte ausdrücklich, dat dem Antrag Lasker's fein Bedenken 
entgegenftehe. Darauf ward derjelbe gegen die Oppofition nur einer einzigen 
Stimme in erfter Lefung angenommen! In zweiter Leſung unter ganz paſſivem 
Verhalten der Regierung bejahte eine ſtarke Mehrheit diejelbe Entſcheidung, troß- 
dem bereit3 derjenige Widerftand diesmal auftrat, der bis zu den Berathungen des 
Plenums jo gewaltig anjchwellen jollte. 

Zwiſchen dem Abſchluß nämlich der Kommilfionsverhandlungen und dem 
Anfang der zweiten Berathung im Reichstag hatte das Mutterauge der Privat» 
banten jehr wohl erkannt, welches die unabjehbare Tragweite des Freibriefes 
jei, den die Aufrechthaltung der unjcheinbaren Ziffer 1 im Schlußſatze des Para- 
graphen 44 ihnen aushändigte. Während nun ein Sturmlaufen auf alle maß- 
gebenden Kreife begann, anjehnliche Perjonagen, die an der Spike von Banken 
ftehen, auf dem Plate erſchienen, um ihre Sache zu vertheidigen, verbreitete 
fid — ganz leije, leije, fromme Weife — unter den Abgeordneten die An— 
Ihauung, daß mit der Befeitigung der Nummer 1 an der betreffenden Stelle 
eigentlich ahnungalos von der Commiſſion ein großes Verjehen begangen worden 
jei, jelbftverftändlich dieNtummer in’3 Geſetz zurücdgeführt werden müffe. Unter 
diefem Eindruck trat die Sache an’3 Haus heran und gab zu dem hitigen Gefechte 
Anlaß, welches, aller Erwartung zuwider, dem Freibrief, den man jchon geborgen 
wähnte, nur die Hälfte der Stimmen plus oder minus 1 verjchaffte, je nachdem 
man die Stimme eines aus Irrthum in eine faljche Thür gerathenen Ab— 
geordneten zur einen oder zur anderen Geite zählen will — ein Grgebniß, 
welches glücklicher Weiſe zu einer für das Geſetz ehrenrettenden Transaction führte. 

Aus dieſem Kleinen Vorfall ift eine dreifältige Ausbeute für die parla= 
mentarifche Anthropologie zu gewinnen. Grftens, daß bier neben dem Abge- 
ordneten Lasker, welcher überall die ftrengen Grundjäße vertrat, und in eifrig- 
ften Anftrengungen mit ihm verbündet, ſolche Abgeordnete auftraten, twelche bei 
der Reichsbank eine höhere Gontingentirungsziffer verlangt hatten und darob 
al3 Latitudinarier geicholten worden waren, während auf der Gegenjeite eine 
Anzahl Mäpigkeitsapoftel ftanden, die fich beim betreffenden Paragraphen (9) 
nicht wenig auf ihre enthaltiamen Gefühle zu Gute gethan hatten. Schade war 
es, daß der preußilche Finanzminifter nicht mehr zugegen war, al3 der Para— 
graph 44 zur Berathung jtand. Er hatte vielleicht für jeine Anweſenheit fein Bedürf- 
niß mehr gefühlt, nachdem die dem Reichsfiscus zugejchnittene größere Gewinn- 


424 | Deutiche Rundichau. 


portion an der Reichsbank unter feinem ermuthigenden Zuruf in Sicherheit ge- 
bracht worden war. Vielleicht ahnte auch er nicht, daß ein Theil derjelben Stimmen, 
welche feinen Abftinenzpredigten bei der Gontingentirungsziffer der Reichs— 
bant mit dem Bruftton der Meberzeugumg zugejubelt hatten, nun bei dem Zitel 
der Privatbanken für höchfte Licenz eintreten würden. Logijch genommen, konnte 
er es gar nicht ahnen: denn um die bloße Möglichkeit einer Dtehrausgabe von 
fünfzig Millionen ungedeckter Noten bei einer unter Reich3aufjicht jtehenden 
Bank fi erhiten, dagegen aber der Privatverwaltung freien Spielraum zu 
beliebigen Geſchäftsgebahrungen lafjen, das heißt für Jeden, der eine Ahnung 
von Zettelbantwejen hat, Mücden feigen und Elephanten verjchluden. 

Das zweite der interefjanten Phänomene war, daß der im Saale geblie= 
bene Regierungsredner im Gegenſatz zu zweimaligem Verhalten in der Com— 
miſſion nun eifrig für die Recht3erweiterung der Provinzialbanken Partei er- 
griff, und zwar mit Argumenten, die an diefer Stelle nagelneu waren. Drei- 
mal hatte die Reichsregierung Gelegenheit gehabt, ihre Anficht zu diejem Punkt 
zu motiviren. Dreimal hatte fie e3 nicht anders gethan als auf Grund des 
Bedürfniffes, ein Gegengewicht gegen die Möglichkeit unbegrenzter Notenausgabe 
zu ſchaffen. Niemals war ihr in den Sinn gefommen, ſich auf das Inter— 
eſſe Derer zu berufen, welche in der fraglichen Beftimmung nur die Erlaubnig 
fahen, eine Reihe von Geſchäften weiter zu treiben, die nach dem grundlegenden 
Sinne der neuen Gejeggebung ihnen verjagt jein jollten. Hatte der „Drud von 
Außen“, welcher jo mächtige Proportionen in wenigen Tagen annahm, aud) die 
Regierungskreife eingeſchüchtert? Angeſichts der verwirrenden Gegenjäße, die hier 
auf einander ftoßen, ijt die Frage erlaubt, wenn auch die Antwort nicht zu 
beſchaffen. 

Die merkwürdigſte von allen Curioſitäten war aber als dritte darin 
zu beobachten, daß die Vorkämpfer der Licenz in dieſem ihrem Act ſelbſt ſich 
die Miene gaben, auch hier noch als die Advocaten Gottes gegen die Advocaten 
des Teufels zu plädiren. Sie behaupteten, daß es ihnen nur gelte, das Un— 
glück zu verhüten, welches bevorſtehe, wenn die fünf mehrbeſagten Banken nicht 
auf ihr unbegrenztes Notenrecht verzichteten, und gingen darin ſo weit, ihre 
Gegner zu beſchuldigen, dieſelben handelten im Ernſt für unbegrenzte Noten— 
ausgabe. Sie vergaßen dabei nur drei Dinge: 

Erſtens, daß ihre Gegner entweder aus ſtrengen Contingentirern beſtanden, 
wie Unruh und Lasker, oder aus Anhängern der Reichsbank, welche für die 
Privatbanten Eeinerlei Gunft übrig hatten, am wenigften für die von Bücke— 
burg und Sonderöhaufen. Sie vergaßen zweitens, daß man die Leute in 
Fleisch und Bein hatte herumlaufen jehen, welche weder dem Syſtem der Ge- 
feßgebung noch dem abjtracten Gemeingeift zu Liebe die Reife nady Berlin un— 
ternommen hatten. Sie vergaßen aber drittens und haupfſächlich, daß fie jelbft 
in den gedructen Motiven ihres Antrags (Siemens) in der größten Naivität 
geftanden, ſchwarz auf weiß beurfundet hatten, worum e3 ihnen zu thun ar, 
nämlih darum, daß eine Anzahl Banken, an die der Gejeßgeber bei Ab— 
fafjung feines Tertes nicht im Traume gedadht hatte, den bewuhßten Freibrief 
erhielten. 


Zur Geburt des Bantgefeßes. 425 


Und das ift eben die „Moral von der Geſchicht'“; denn auch diefe, wie die 
von der Embryologie, hat ihre Moral und eine picantere als jene. Fürſt Bis— 
mard hat einmal im Reichstag von der Nothwendigkeit der politifchen Heuchelei 
geſprochen. Mancher Biedermann nahm daran ehrliden Anftoß, aber am 
lebhafteften proteftirten gewiß Die, welche, in dunkler Ahnung ihres inneren 
Untergrundes, die Aufrichtigfeit nicht jo weit getrieben haben wollen, daß man 
auch die Nothwendigkeit des Heuchelns eingeftehe. Freilich darf nur ein Menſch 
von Bismard’3 heroiſcher Gewalt ſich den Luxus eines ſolchen Geftändniffes er- 
lauben. Stleine Leute würde man moraliſch todtichlagen, wollten fie ein jolches 
Wagniß unternehmen. Und nit bloß würden fie einen leichtfinnigen politi= 
ſchen Selbſtmord durch Hebung ſolcher Offenherzigkeit begehen, fondern e3 rächt 
fich Schon allemal im Kreis des öffentlichen Lebens der Grad von mittelbarer 
Aufrichtigkeit, welcher verſchmäht, in ausdrüdlichen Betheuerungen den großen 
und nothiwendigen Grundjäßen zu huldigen, welche die Theile zum Ganzen zu— 
fammenhalten. Denn der Menſch, welcher angeblich fich durch dad Lachen vom 
Thier unterjcheidet, verliert diefen Vorzug und wird zur „ernften Beſtie“, jobald 
er aus der Vereinzelung und VBergänglichkeit feines Individuums heraus tritt 
und mit der Gejammtheit ſich zu verftändigen hat. Das bedeutet der viel ver- 
ipottete „Cant“ der Engländer, welche nit umſonſt unſre Zehrmeifter in poli= 
tiſchen Dingen geworden find. Auc wir, wie alle Völker, haben unjren par= 
lamentarijden Gant, und wer deifen Ton nicht anjchlagen kann, wird ſtets 
Ginbuße an Wirkſamkeit dafür zu leiden haben. Am glüdlichiten arbeitet der 
in der Deffentlichkeit, welchem Natur zu Berftandes- und Charaktergaben den 
unerihütterliden Glauben an fih und fein Verhältnig zur Welt mit auf den 
Meg gegeben. Doch aud) die, welche nur aus dem Inſtinct der Selbiterhal- 
tung heraus fi) angetrieben fühlen, bei allem Thun und Lafjen die Hand auf 
die Bruſt zu legen, haben für den Erfolg ein großes Stüd voraus. In alles 
dem waltet weile Ordnung der Welt. 


„Du, mein Sohn, bit fromm und Elug, 
Gottesfürchtig, jtark genug, 

Und e8 wird dir wohl gelingen, 

Jenen Joab umzubringen.“ 


Als ich beobachtete, mit welcher Andacht zugehört wurde, während einige 
ſtrenge Contingentirer in feierlichem Ton ihre lockeren Grundſätze in Sachen der 
Privat-Zettelbanken vortrugen, fiel mir, zu meinem Unglück, wieder eine alte 
Geſchichte ein von einem Gascogner und einem Normannen. Der Normanne 
trug eine gewaltige Aufſchneiderei vor. „Ach,“ ſeufzte der Gascogner, „ſind Sie 
glücklich, mein Herr! Ich, mit meinem Accent, könnte niemals wagen, der— 
gleichen zu erzählen.“ 

Hatte die Zeit zwiſchen dem Abſchluß der Commiſſionsberathung und der 
zweiten Leſung dem Einfluß der beſonderen Intereſſen, dem Druck von Außen 
gehört, ſo gewann nach der lebhaften Debatte im ganzen Hauſe wieder das 
Bewußtſein und das Gewiſſen des großen Ganzen die Oberhand, und das Gefühl 
drängte ſich auf, daß man im Begriff geweſen war, etwas recht Unverantwort— 


426 Deutjche Rundichan. 


bares zu thun. Daraus auch allein ift zu erklären, daß der Bundesrath, gegen 
feine Gewohnheit und gegen alle Regeln der Klugheit, ſich dazu bergab, den 
Fehler ſich aufhaljfen zu laffen, zu welchem fein Redner die eine Hälfte des 
Hauſes mit hatte verleiten helfen. Die Breſche ward nicht vollendet, melche 
der Antrag Siemens in’3 Bankgeje zu legen gemeint hatte. Statt ihrer 
ward nur eine Hinterthür angebracht, zu welcher der Schlüfjfel dem Bundesrath 
anvertraut iſt. Wird diejer jein Pförtneramt gewiflenhaft verwalten? Wenn es 
ihm gelingt, jo verdient er, daß man ihm ein Compliment made. Denn wir 
haben e3 ja eben exlebt, daß e3 nichts Kleines ift, dem Andrang der compacten 
Privatintereffen Widerftand zu leiften. Nicht etwa, weil ntegrität dazu ge- 
hört! Denn wer wollte glauben, daß, wie in parlamentariichen jo auch in gou— 
vernementalen Gebieten, die Privatintereffen bei uns anders wirken al3 duch 
atmoſphäriſchen Drud auf die Empfindung und Vorjtellung der von ihnen Be- 
lagerten? Aber gerade diefem Drud zu mwiderftehen, möchte der Reichsregierung 
um jo ſchwerer fallen, weil jeden Augenblid die Verſuchung twiederfehren wird, 
durch ein finanzwirthichaftliches Zugeftändnig an einen Kleinftaat irgend eine 
politiſche Conceſſion von demjelben zu erfaufen. 

Man Hat e3 vielfah mit Anerkennung conftatiren hören, daß in der 
Bankfrage die politiichen Gegenfäße ſich vollftändig durcheinandergewürfelt fan— 
den, und man hat daraus fchließen zu müſſen geglaubt, daß die rein fachliche 
Beurtheilung die Haltung des Einzelnen beftimmt habe. Zur Illuſtration der 
Schattirungen, unter deren Vorbehalt diefe Auffaſſung gelten darf, diene ein 
perjönliches Erlebniß. In der Vorhalle des Situngsfaales erging ſich ein be- 
ſonders heißſporniges Mitglied des Centrums mit mir im Gejpräd über die 
Tagesfrage der Verhandlung und malte mir noch einmal privatim feinen Ab— 
ſcheu vor Allem, was Banknote fei, in den blutigften Farben. — „Aber mein 
Beiter,” frug ich ihn, „wenn Sie jo ftrenge Grundfäße haben, wie konnten Sie 
dann für den Antrag Siemens ftimmen?” — „Ad, College,“ — erwiderte er — 
„willen Sie, wenn doc) einmal ſolche Papieren gemacht werden jollen, jo mögen 
doch auch die guten Leute auf dem Lande etwas davon haben, die Hypotheken 
auf ihre Güter brauchen.” — 


— — — 


Das Bankgeſetz, trotz der Ausſtellungen, welche von dieſer oder von jener 
Seite im Einzelnen an ihm gemacht werden mögen, bezeichnet einen der größten 
Fortſchritte in dem Geſammtleben der deutſchen Nation. Der Vorwurf, daß es 
zu raſch gefördert worden wäre, kann als ganz unbegründet zur Seite geſchoben 
werden. Seit dem Ende des Jahres 1871, welches uns das Geſetz über die 
Einführung der Goldwährung brachte, bis zum Ende des Jahres 1874, volle 
drei Jahre hindurch, hat das Problem dieſer Löſung unabläſſig dem Nachfinnen 
aller dazu Berufenen vorgeſchwebt als die nothwendige Form des Abſchluſſes 
für die ganze Ordnung des deutſchen Verkehrsſyſtems. Während der letzten 
ſechs Monate hat daſſelbe Problem unaufhörlich die Kräfte aller Betheiligten 
in Spannung gehalten. Zwei Monate lang unterlag es der parlamentariſchen 
Behandlung. Daß ein ſo vorbereiteter Stoff nur gewinnen kann, wenn der 


Zur Geburt des Bantgejehes. 427 


legte Guß ſchließlich in eifriger Anftrengung mit größter Schnelligkeit vollzogen 
wird, mag nur dem entgehen, der nicht weiß, wie nad) Langer, vorjichtiger Be- 
reitung eine Materie defto beffer in die Form gelangt, je mehr die Mafje in 
Fluß gebracht und das Fliegende, jo lange es noch glüht, feſt geftaltet wird. Alles, 
was auch die längfte Zögerung hätte herbeiführen können, ift in die Erwägun— 
gen aufgenommen, und wer da meint, langjam leiften ſei viel leiften, zeigt 
wenig Vertrautheit mit den bejonderen Kräften, die zur fruchtbaren geiftigen 
Arbeit vertvandt werden. 

Mit dem Bankgeſetz ift der dreifache Kreis gejchloffen, in dem das Geld- 
ſyſtem des deutjchen Reichs ruhen und fich entwideln jol. 3 vollendete im 
Januar 1875, was die Goldwährung und die Münzeinheit durch die Geſetze vom 
4. December 1871 und vom 23. Juni 1873 begonnen und fortgejeßt hatten. 

Allerdings fehlt zu diefem Bau noch das MWichtigfte, der Theil der Aus— 
führung, welcher erſt durch Verkündung der vollen Goldwährung in’3 Leben 
tritt und feinen Ausdruc findet in dem erften Abjat de3 Artikel 9 des Münz— 
geſetzes, Tautend: 


„Niemand ift verpflichtet, Reichsfilbermüngen im Betrag von mehr 
al3 zwanzig Mark und Nidel- und Kupfermünzen im Betrag von 
mehr ala einer Mark in Zahlung zu nehmen.“ 


So lange diefe Beftimmung nicht in volle Kraft gejeßt, ftehen unjer Münz- 
wie unfer Banfgejeß, ihrer Wejenheit nach, nur auf dem Papier. 

Die Reichsregierung Hat die Aufgabe, diefen Zeitpunkt zu bejtimmen, trägt 
die VBerantwortlichkeit für die Wahl dieſes Augenblicks. 

Hat fie bis jet darin mit dem richtigen Blick geurtheilt und gehandelt? 
Der Finanzminifter von Preußen, welcher offenbar das größte Gewicht in die 
Wagſchale zu werfen hat, glaubte im Beginn der jüngften Debatte der von ihm 
nicht allzuihonjam behandelten Gefäftswelt den Vorwurf machen zu jollen, 
fie jei „leichten Herzens” in die Goldwährung hineingegangen. Im Laufe der- 
jelben Debatte ift es ihm jedoch geichehen, daß ihn die Gewohnheit, ſich 
ſelbſt zu citiven, auch zur WVorlefung einer Rede verführte, in der er jelbft am 
8. Mai 1873 von der „Ipielenden Leichtigkeit“ geiprocdhen, mit welcher Die 
Münzreform in manden Beziehungen (und hier konnte doch nur die Goldan- 
Ihaffung gemeint jein) auszuführen jet. Ob nicht auch ihm das Herz nad 
und nach ein wenig ſchwer geworden? Ob der Moment der „Ipielenden Leich— 
tigkeit“ von ihm wahrgenommen und mit der richtigen Thatkraft ausgenützt 
worden? — Das muß man ihm einräumen, daß er Einen Gedanken jtets 
feftgehalten: 

Der preußiſche Finanzminifter ift nämlich, jeitdem ex dem großen Werke 
der Münz- und Bankreform von Ende 1871 an vorfteht, offenbar von der An 
nahme ausgegangen, daß, um dem auszumünzenden Golde Pla zu maden, 
nur das umlaufende ‘Papier zu vermindern fei, kaum aber, wenn überhaupt, 
da3 Silber. Doch auch hier hat er wieder eine Ausnahme eingejchaltet zu 
Gunften des Staatöpapiergeldes. Seine Mäßigkeitsgrundjäte haben diejes ver- 
Ihont und ihr ftrenges Antli nur den Banken: zugelehrt. Er hat ji) dem 


498 Deutſche Rundſchau. 


Glauben überlaſſen, daß unſer Vorrath an Silber nicht zu groß ſei, um künftig 
nad Inkrafttretung des Art. 9 des Münzgejeßes als Scheidemünze im Lande 
zu bleiben. 

Damit verbunden war natürlich die für ihn lodende Ausfiht, wenig 
Silber an’3 Ausland verfaufen, wenig Verluft gegen das nominale Verhältniß 
von 15°/, zu 1 im Umtaufch gegen Gold erleiden zu müſſen. Gonjequenter 
Weiſe wurde daher auch verſchmäht, anfehnlihe Partien Silber zu verkaufen, 
al8 deifen Preis noch bedeutend höher ftand, wie jebt; wol auch hing mit dem 
Glauben an dies fortdauernde große Bedürfnig nad) Silber zufammen die An- 
fiht, daß man fich wegen der zu beihaffenden Goldvorräthe nicht allzuſehr an- 
zuftrengen brauche. Der Schnitt in die Bapiercirculation der Banken, die 
Begrenzung ihrer Noten auf den Minimalbetrag von Hundert Mark und die 
fünfprocentige Contingentirung follten im Wejentliden die Unfoften der Münz— 
reform beftreiten. 

Es muß fich jeßt zeigen, ob die Rechnung richtig war. Die Banknoten 
find befeitigt, und nad) dem Syitem, welches beliebt worden, ift fein Grund 
mehr vorhanden, die Inkraftſetzung des Art. 9 des Münzgeſetzes noch lange zu 
verzögern. 

Diefe Vollendung der Dinge ift um jo ficherer herbeizurufen, als, auch 
für den Fall, daß die zu Grunde gelegte Rechnung nicht ſtimmen möchte, die 
ftärkjten Motive dazu drängen, aus dem verhängnißvollen Proviſorium heraus- 
zukommen, deſſen unbeftimmte Dauer nur wachſende Mißſtände und Verwirrung 
der Dinge heraufbeſchwören kann. 

Stimmt die Rechnung des preußiichen Finanzminifters, jo ift Anfang 1876 
der Moment gefommen, ihr Reſultat zu ziehen; ftimmt fie nicht, jo kann nur 
die Probe auf die Wirklichkeit der lebendigen Verhältniffe ihn und uns eines 
Anderen belehren und zu denjenigen Maßregeln hinführen, welche der Reichätag 
im Auge hatte, al3 ex behufs Durchführung dev Münzreform einen — unbe- 
nüßt gebliebenen — Credit von fünfzig Millionen Thalern eröffnete, weil er, 
abweichend von dem preußiichen Finanzminiſterium, zu der Anficht neigte: 
die Zahl der umlaufenden Papiere auf das richtige Maß zurüdzuführen, werde 
es nur eines Geſetzes bedürfen; zur richtigen Reduction des Silber? und An- 
Ihaffung des Goldes aber bedürfe es großartiger und entichlojfener Operationen, 
bei denen mit dem Sparſyſtem allein nit auszukommen jei. 

Die wahre Probe auf das Vertrauen, daß wir nicht zu viel Silber befigen, 
ift zu liefern dadurch, daß man den Artikel 9 des Münzgeſetzes in volle Wirk— 
ſamkeit bringt, deſſen zweiter Abjah, in Ergänzung des bereits erwähnten er- 
ften, lautet: 

„Bon den Reichs- und Kandescaffen werden Silbermünzen in jedem 
Betrage in Zahlung genommen. Der Bundesrath wird diejenigen 
Kaſſen bezeichnen, welche Reihsgoldmünzen gegen Einzah— 
lung von Reichsſilbermünzen in Beträgen von minde- 
ftens 200 Mark oder von Nidel: und Kupfermünzen ın 
Beträgen von mindeſtens 50 Mark auf Verlangen ver- 


Zur Geburt des Bantgejehes. 429 


abfolgen. Derjelbe wird zugleich die näheren Bedingungen des 
Umtauſches feitjegen.“ 

Lebt die im Reiche maßgebende Autorität des Glaubens, daß nicht, auf 
Grund der durch obige Beftimmung gegebenen Möglichkeit, überſchüſfige Silber- 
münzen zu einer über die Vorräthe hinausgehenden Einwechſelung ſich heran- 
drängen und damit die Reichskaſſe in VBerlegenheit bringen können, jo muß jie 
e3 beweijen, indem fie den Artikel 9 des Münzgejehes feinem ganzen Umfang 
nad für den 1. Januar 1876 publiciven d. 5. das Münz- und Banfgejeß bis 
dahin zur vollen Wahrheit werden läßt. Mit Gewißheit vorauszufagen, ob 
fie im Wahren oder im Irrthum jei, tft nicht möglich, wird auch von ihr jelbft 
nicht beanſprucht. Einiges Wagniß wird ftet3 mit einfließen müfjen. Aber 
da3 Gelingen ift jo jehr zu wünjchen, daß man nicht ſich joll beikommen laffen, 
ihm mit Zweifeln den Weg zu vertreten. 


Deutſche Runbihau. 1, 4. 29 


— ah u. 


Aeber Geſchmack und Gerd, 


Bon A. Fik, 
Profeffor der Phyfiologie in Würzburg. 


—ñN 


Wenn der Phyſiolog ſich die ſchwierige Aufgabe ſtellt, ein Thema ſeiner 
Wiſſenſchaft vor einem größeren Kreiſe Gebildeter gemeinfaßlich zu behandeln, 
ſo bieten ſich ihm wohl kaum paſſendere Gegenſtände dar, als ſolche aus der 
Phyſiologie der Sinne. Er hat hier einmal den Vortheil, an allgemein be— 
kannte Erſcheinungen anknüpfen zu können, dann aber findet er in anderen Ge— 
bieten der Phyſiologie ſchwerlich einen Gegenſtand von jo allgemeinem Intereſſe 
als jene bewundernswürdigen Werkzeuge, welche jeder beſtändig mit vollem Be— 
wußtſein gebraucht, um mit ihrer Hülfe die Welt der Erſcheinungen aufzu— 
bauen. Die Leſer dieſer Zeitſchrift haben daher Alle gewiß ſchon reichlich Ge— 
legenheit gehabt, in allgemein verbreiteten Schriften oder in öffentlichen Vor— 
trägen manches über den Geſichts-, Gehörs- und Taſtſinn zu erfahren. Weniger 
vielleicht über Geruch und Geſchmack und ich möchte mir daher erlauben, ihre 
Aufmerkſamkeit gerade einmal auf diefe wenig beachteten Stieffinder der Dar- 
ftellung zu richten. 

Zwar können ſich dieje beiden Sinne mit ihren drei Geſchwiſtern nicht 
mefjen an Wichtigkeit für die Erfenntniß, aber ihre Betrachtung bietet doc) da- 
durch Intereſſe, daß fi) an ihnen manche allgemeine Sätze der Sinneslehre be- 
ſonders gut anſchaulich machen Lafjen. 

Wenn wir uns vor Allem die Frage vorlegen, was überhaupt unter einem 
Sinne und einem Sinneswerkzeug zu verſtehen ſei, ſo ſtellen wir uns am zweck— 
mäßigſten auf den Standpunct der unbefangenen Selbſtbeobachtung. Sie ergiebt 
uns als fundamentalſte Thatſache den Wechſel der Empfindungen. So bezeichnen 
wir bekanntlich Zuſtände unſeres Bewußtſeins, die ſich in Worten nicht näher 
definiren laſſen, die aber auch keiner Definition bedürfen, da ſie uns aus innerer 
Anſchauung vollſtändiger bekannt ſind, als irgend etwas Anderes. 

Unter den Empfindungen ſind nun einige dadurch ausgezeichnet, daß mit 
ihnen der Verſtand ſofort die Vorſtellung von einem äußeren Objecte verknüpft, 
deſſen Gegenwart als Urſache der Empfindung geſetzt wird. 


Bu 


Ueber Geijhmad und Gerud). 431 


Diefe befondere Art von Empfindungen nennen wir Sinnesempfindungen. 
Um dies deutlicher zu machen, brauche ich nur beiſpielsweiſe zu erinnern an 
den Unterjchied zwiichen der Empfindung des Hunger? und einer Lichtempfin- 
dung. Jene faßt der Verſtand nicht auf als Wirkung eines äußeren Objecteg, 
twol aber dieje; daher die Lichtempfindung unter den Begriff der Sinnegempfin- 
dungen fällt, jene, die Empfindung de3 Hungers, nicht. 


63 bedarf feiner eingehenden phyſiologiſchen Studien, es genügt vielmehr 
ſchon oberflächliche Beobachtung, um einzufehen, daß Sinnesempfindungen alle- 
mal entjtehen, wenn in den Nerven ganz beftimmter Organe etwas vorgeht, 
was man gerade nicht genauer zu erörtern braucht, das man aber unbedenklich 
al3 Reizung, Erregung oder ſchlechtweg Thätigkeit bezeichnen kann, denn es ift 
unzweifelhaft irgend ein Bewegungszuſtand der Hleinften Theilchen, der nur aus 
bejonderen Beranlafjungen eintritt. So tritt 3. B. eine Lichtempfindung auf, 
wenn die Nervenelemente der Netzhaut des Auges in Thätigkeit verjeßt wer— 
den, eine Schallempfindung, wenn die Nerven des Ohres in Erregung kommen. 
Diefe bejonderen Nerven, deren Erregung zu den Sinnesempfindungen führt, 
nennt man deshalb die Sinnesnerven. Ihre peripheriichen Enden find mit be- 
fonderen Apparaten verknüpft, welche verjchieden eingerichtet find, jo daß zu 
jedem Sinneönerven in der Regel nur ein bejonderes äußeres Agens Zutritt 
finden kann, welches man als den adäquaten Reiz de3 Sinnes bezeichnet. So 
find 3. B. die Enden der Sehnerven befanntlih im Augenhintergrunde aus- 
gebreitet und davor liegen die durchſichtigen Körper dieſes Organes, jo daß 
regelmäßig nur die jogenannten Lichtftrahlen, welche jene durchfichtigen Körper 
faft ungeſchwächt durchdringen, die Enden der Sehnerven reizen können. 
Die Enden der Gehörnerven find im Inneren de3 Ohres fo gelagert, daß 
fie in der Regel nur von den jogenannten Schallſchwingungen wirkſam können 
getroffen twerden. Es iſt aljo für den Gefichtäfinn der Lichtftrahl, für den Ge- 
hörfinn die Schallwelle der adäquate Reiz, fir andere Sinne werden wir fie 
noch genauer kennen lernen, 


Die naide Auffaffung wird geneigt jein,- anzunehmen, daß hierauf die 
qualitative Verichiedenheit der Sinnesempfindungen beruhe, daß das erregte 
Auge Licht, das erregte Ohr Klänge empfinde, weil jenes von Strahlen leuch— 
tender Körper, diejes von Schwingungen der Luft erregt werde. Dies ift aber 
eine grobe Täufhung. In der That, was hat der Empfindungszuftand, den wir 
Klang nennen, gemein mit der Vorjtellung de3 Erzitterns der Luft, oder die 
Empfindung des Hellen, Rothen u. }. w. mit jenen Bewegungen eines feinen, 
überall verbreiteten Mediums, welche die Phyfif uns unter dem Namen des 
Lichtes kennen lehrt. 


Wer übrigens in diefen Abftractionen Schwierigkeit finden jollte, kann ſich 
durch alltägliche Beobachtungen an fich jelbjt überzeugen, daß die Beichaffenheit 
des Empfindens gar nichts zu thun hat mit der Art, wie der betreffende Sinn 
gereizt werde. Bekanntlich) fommt 3. B. die Empfindung des Hellen geradejo 
gut zu Stande durch einen Stoß auf das Auge, wie dur) die Strahlen eines 


29* 


432 | Deutiche Rundichau. 


leuchtenden Körpers. Sie fommt eben allemal zu Stande, wenn der Sehnerv 
gereizt wurde, ganz gleichgiltig, durch welches Mittel er gereizt wird. 


Die Endapparate der Sinnesnerven Haben noch eine merkwürdige Eigen- 
thümlichkeit. Sie find nämlich durch ganz außerordentlich leife Anftöße er— 
regbar. Wir müſſen daher annehmen, daß fie aus anderen Stoffen gebildet 
find, als die eigentlichen Nervenfajern, denn dieſe brauchen verhältnißmäßig 
ſchon einen tüchtigen Puff, um gereizt zu werden. Die Stoffe, aus denen die 
Endapparate der Sinnesnerven gebildet find, müſſen etwa den explodivenden 
Körpern ähnliche Eigenjchaften bejiten. Es müſſen nämlih in ihnen durch 
ganz minime Anſtöße befonderer Art verhältnigmäßig beträchtliche Kräfte ausge- 
Löft werden, die dann erjt als Reize auf die damit zujammenhängenden Ner— 
venfajern einwirken. Mir werden davon im weiteren Berlaufe Beilpiele 
fennen lernen. 


Mit diefen allgemeinen Grundbegriffen ausgerüftet, können wir an die Be— 
trachtung des Gejchmades und Geruches herantreten. Die Nervenfajern, deren 
Erregung Gejhmadsempfindungen zur Folge hat, endigen in einem Theile der 
Zungen= und Gaumenjchleimhaut. Ihre legten Enden find eigenthümliche, nur 
mit dem Mikroſkope fichtbare Gebilde, welche an der freien Oberfläche der 
Schleimhaut zu Tage liegen und daher in der Mundflüſſigkeit gebadet find. 
Die ſpecifiſche Eigenthümlichkeit diefer Gebilde befteht nun in folgendem: 
Mechaniſche Anfulten, Stoß, Drud, Erhitung, Abkühlung, Lichtſchein der 
heftigften Art läßt jie in Ruhe, ſowie aber die kleinfte Menge gewiſſer, in der 
Mundflüfjigkeit gelöfter Stoffe chemiſch auf fie einwirkt, jo gerathen fie in .jene 
(uns freilich ihrem Wejen nad) unbefannte) innere Bewegung, welche ſich da— 
durch zu erkennen giebt, daß die mit ihnen verknüpften Geichmadsnervenfajern 
in Erregung kommen, daß eben eine Gejhmadsempfindung entjteht. 


Ich Tagte joeben, daß nur auf einem Theile der Zungen- und Gaumen- 
ichleimhaut die Geſchmacksnervenenden beſchränkt find. Es wird qut fein, das 
Gebiet genauer zu umgrenzen, da gemeiniglid;) Zunge und Gaumen im Ganzen 
für Site des Gejchmades gehalten werden. In Wahrheit ift e8 nur die Zun- 
genwurzel, dann ein jchmaler Streif am Rande der Zunge beiderjeit3 bis zur 
Spike und endlich ein ſchmaler Streif an der Oberfläche der von der Zungen- 
twurzel zum Gaumen auffteigenden Schleimhautfalten der fogenannten Zungen 
gaumenbögen. Es erfordert indefjen einige Uebung in der Beherrſchung der 
eigenen Muskeln und in der Selbſtbeobachtung, ſich davon zu überzeugen, daß 
man mit dem mittleren Theile des Zungenrückens und mit dem größten Theile 
de3 Gaumen nicht ſchmeckt. Man muß nämlich zur Prüfung die veridjiede- 
nen Stellen der Mundſchleimhaut mit entjchieden ſchmeckbaren Körpern, 3. B. 
mit Zucerlöjung, betupfen und die Zunge vollftändig ftill halten, jo daß feine 
Ausbreitung des ſchmeckbaren Stoffes ftattfindet, was bei der befannten 
Ziügellofigfeit diejes Kleinen Dinges nicht leicht ift. Gebraucht man aber dieje 
Vorſicht, jo wird man ſich überzeugen, daß beim Betupfen der Mitte des 
Zungenrückens oder des harten Gaumens mit ſchmeckbaren Stoffen eine Ge— 
ihmad3empfindung ebenſowenig zu Stande kommt, al3 wenn man dieje Stoffe 


Neber Geſchmack und Gerud). 433 


mit der Lippen- oder Wangenjchleimhaut oder mit irgend einem andern jonft 
empfindlichen Körpertheil in Berührung bringt. 

Zu den Stoffen, deren Berührung die Gejchmadönervenenden erregen und 
die man darum ſchmeckbare Stoffe nennt, gehören unter Anderem der Ejfig, das 
Kochſalz, Zuder, Chinin. Jedermann weiß, daß die beijpieläweije genannten 
Körper zu Gejchmadsempfindungen von ganz verjchiedener Qualität führen. 
Eſſig ſchmeckt jauer, Kochſalz ſchmeckt jalzig, Zuder ſüß, Chinin ſchmeckt bitter. 
Es wird vielleicht Mancher ſogleich bei der Hand ſein mit der Erklärung: 
Eſſig ſchmeckt ſauer, weil er eben ſauer iſt, und Zucker ſüß, weil er ſüß iſt. 
Dieſer naiven Auffaſſung iſt indeſſen die vorhin ſchon geltend gemachte Er— 
wägung entgegen zu halten: was hat die Beſchaffenheit eines Zuſtandes unſeres 
Bewußtſeins, denn eine ſolche iſt doch die beſtimmte Geſchmacksempfindung 
„ſauer“ für Aehnlichkeit oder wie iſt ſie nur überhaupt vergleichbar mit der 
chemiſchen Zuſammenſetzung eines beſtimmten Stoffes, des Eſſigs? Ueberdies 
iſt bekannt, daß die Geſchmacksempfindung „ſauer“ auch auf ganz anderem 
Wege zu Stande kommen fann, 3. B. wenn man einen eleftriihen Strom 
durch die Zunge leitet. 

Nach dem vorhin ſchon angedeuteten Principe hat die Phyfiologie nur eine 
mögliche Erklärung für die qualitative DVerjchiedenheit der Gejhmadsempfin- 
dungen. Es muß unter den zahlreichen Gejchmadsnervenfafern verſchiedene 
Gattungen geben, die eine Gattung muß — wie aud) immer — erregt, ſei 
e5 durch Eſſig, jei e8 durch den elektriſchen Strom, die Empfindung des Sauren 
hervorbringen, die andere die Empfindung des Süßen, eine dritte die Empfin= 
dung des Bittern und vielleicht eine vierte die Empfindung des jalzigen Ge— 
ihmades. 63 müfjen aber auch die Endapparate dieſer verjchiedenen Faſer— 
gattungen von einander verjchieden jein, jo daß die einen vorzugsweile durch 
diefe, die andern vorzugsweiſe durch jene Stoffe erregt werden. So muß 3.2. 
der Eſſig nur die Enden der fauer ſchmeckenden Faſern erregen, während er die 
Enden der ſüß jchmedenden Fajern in Ruhe läßt, denn fonjt würde er jauer 
und Tüß zugleich ſchmecken. 

Es ift übrigens gut zu bemerken, daß es zahlreiche Stoffe giebt, die wirt: 
lich zwei oder vielleicht aud) mehrere Gefhmadsempfindungen zugleich erregen. 
So finde ich 3. B. ganz entjchieden, daß Schwefeljäure in gewiljen Verdün— 
nungsgraden zugleich ſüß und ſauer ſchmeckt. Ganz befannt ift auch, daß das 
unter dem Namen des Bitterjalzes befannte Salz zugleich bitter und ſalzig ſchmeckt. 
Dies find dem Phyfiologen jehr willftommene Beijpiele von Körpern, die nad) 
unſerer Auffafjungsweife ſowohl auf die eine als die andere Art der Endap- 
parate einwirken fünnen. Und in der That wäre e3 geradezu erſtaunlich, wenn 
jeder Körper gerade nur auf eine Art der Gejchmadsnervenenden ganz aus— 
ſchließlich wirken jollte. 

Die vier zunächſt blos als Beiſpiele aufgeführten Qualitäten des Ge— 
ſchmackes, jauer, jalzig, ſüß und bitter erſchöpfen höchſt wahrſcheinlich voll 
ftändig die ganze Mannigfaltigkeit auf dem Gebiete unſeres Sinnes, jo un- 
erichöpflich diefelbe auch erjcheint, wenn man an die unglaubliche Fähigkeit 
mancher Feinſchmecker denkt, unzählige Stoffe durch die Eindrüde zu unter: 


434 Deutiche Rundſchau. 


ſcheiden, twelche fie beim Verſchlucken hervorbringen. Vermag doh Mander an 
einem Schluck Wein zu erfennen, wo und wann derjelbe gewachſen ift. Um 
diefe Thatjache mit der Behauptung in Einklang zu bringen, daß der Geſchmack 
nur die vier namhaft gemachten Grundqualitäten befißt, muß man Folgendes 
bedenfen: Erſtens läßt fi aus diejen vier Grundqualitäten eine umendliche 
Mannigfaltigkeit gemijchter Empfindungen zufammenjegen. So kann fi 3. B. 
der ſüße Geſchmack mit dem bitteren verbinden und je nachdem bald der jühe, 
bald der bittere mehr vorherrſcht, ergeben ih ſchon unzählige Schattirungen 
de3 bitterfühen Geſchmackes. 


Zweitens aber gejellen fi den Geſchmacksempfindungen faft regelmäßig 
nod andere Sinnesempfindungen bei, indem die ſchmeckbaren Stoffe nicht blos 
die Gejhmadsnervenenden, jondern auch benachbarte Enden anderer Sinnes- 
nerven mit erregen. Diejen Sa muß ich noch etwas näher erläutern. Zwilchen 
den Gejchmadsnervenenden find auf der Zungenoberflädhe noch zahlreiche Enden 
von Zaftnerven vertheilt. Ihre Erregung bedingt Gefühle von derjelben Art 
wie die Erregung der überall in der Hautoberfläche endigenden Nerven, und 
man weiß ja, daß eben darum die Zunge aucd ein jehr empfindliches Taftorgan 
bildet, ähnlich wie die Fingerſpitzen. Da die Enden der Taftnerven der Zunge 
aber nicht von einer trodenen verhornten Zellenſchicht überzogen find, jo find 
fie auch den chemiſchen Angriffen in der Mundflüffigkeit gelöfter Stoffe aus- 
gejeßt. Sie verhalten fich in diefer Beziehung ähnlich wie die Taftnervenenden, 
an einer Hautftelle, welche durch ein Blajenpflafter ihrer Oberhaut beraubt ift. 
E3 kann daher nicht auffallen, wenn mande Stoffe, welche einerjeits die Ge— 
ſchmacksnerven reizen, zugleih auch die Taftnerven der Zunge erregen. Die jo 
erzeugten Taftgefühle werden aber im Bemwußtjein unauflöslich verfnüpft mit 
den gleichzeitig vorhandenen Geihmadsempfindungen und der Gompler wird 
in der Sprache de3 gemeinen Lebens al3 der Geihmad des betreffenden Stoffes 
bezeichnet. So jpriht man wol von dem zufammenziehend bittern Ge- 
ſchmacke der Metallfalze, 3. B. des Kupfervitriold, von dem ftehend fauren 
Geihmade der Schwefeljäure ꝛc. Die brennende Empfindung, welche manche 
Stoffe auf der Zunge erregen, wie 3.8. der gemeine und bejonders der joge- 
nannte jpanijche Pfeffer, find jogar reine Taftenpfindungen und doch bezeichnet 
fie der gemeine Sprachgebrauch als Geſchmack. Man ſieht, daß diefe Ber- 
fnüpfung von Zajtgefühlen mit Gejhmadsempfindungen unjere Fähigkeit 
erheblich fteigern muß, verichiedene Körper zu unterjcheiden nad) den Eindrücken, 
welche fie auf der Zunge hervorbringen. 

In noch weit höherem Maße aber gejhieht dies durch die weitere Ver— 
fnüpfung dee Geſchmacks mit Gerudhsempfindungen. Der Sprad- 
gebrauch jagt von unzähligen Stoffen man ſchmecke fie, die man in Wahrheit 
rieht. Manche Dialekte der deutſchen Sprache, 3. B. der ſchweizeriſche, kennen 
daher das Wort „riechen“ gar nicht, jondern reden überall nur von ſchmecken. 
Da heißt e8: die Roje ſchmeckt prächtig oder es ſchmeckt nah Gas u. ſ. f. 


Zur Beltätigung meiner Behauptung kann ich die allgemein bekannte Er- 
fahrung anführen, daß man beim Schnupfen, wie man zu jagen pflegt, nicht 


Ueber Geſchmack und Geruch. 435 


fein „ihmedt“. Dean jollte beſſer jagen, man riecht nicht fein; denn die 
eigentlihen Geſchmacksempfindungen jauer, jalzig, ſüß, bitter, werden troß des 
Schnupfen3 ebenjo wahrgenommen wie jonft; aber e3 entgeht einem der Duft 
des Bratenz, da3 Arom der Gemüfe und die Blume des Weines. 

Wer durch diefe Erfahrung noch nicht überzeugt fein ſollte, dem empfehle 
ih, folgenden, ihn vielleicht überrafchenden Verſuch anzuftellen. Er laſſe ſich bei 
zugehaltener Naje und gejchlofjenen Augen von einem Andern auf die Zunge 
bringen 3. DB. einen Tropfen Zwiebeljaft oder einen Tropfen Banilleabfud oder 
von jonft einer jogenannten aromatiſchen Flüſſigkeit. Trotz alles Prüfens wird 
er Ichiverlich erkennen, was er im Munde hat. Sowie er aber die Nafe öffnet, 
wird jeder Zweifel ſchwinden, weil nun die Geruchgempfindung ſich der Ge- 
Ihmadsempfindung zugejellt. 


Sp zeigt fi) al3 unzertrennlicher Zwillingsbruder des Geſchmacksſinnes 
der Gerud, dem wir nunmehr unjere Aufmerkſamkeit zuwenden wollen. Der 
Nerv, deijen Erregung die Geruchsempfindungen bedingt, geht, wie jedermann 
befannt, in die Najenichleimhaut, jedoch ift jeine Ausbreitung auf ein Kleines 
Stüd derjelben im oberjten Theil der Najenhöhle beichräntt. 

Die Endapparate der Geruchsnervenfafern find feine, Härchenartige Gebilde, 
welche über die Oberfläche der Schleimhaut in den Luftraum der Najenhöhle 
hervorzuragen jcheinen. Sie haben ähnliche, nur noch jeltfamere Eigenjchaften, 
als die Apparate an den Enden der Gejhmadsnerven. Wie dieje jcheinen fie 
durch mechanijche und viele andere Einwirkungen nicht in jenes innere Erziltern 
verjegt werden zu können, das ſich auf die damit verknüpften Nervenfafern als 
Erregung fortpflanzt. Wenigftens hat man bis jet noch nicht mit Sicherheit 
beobachtet, daß durch mechaniſche oder eleftriiche Einwirkungen oder durch An- 
wendung von Wärme und Kälte auf die Nafenjchleimhaut Geruchsempfindungen 
zu Stande gebracht werden könnten. 

Auch chemiſche Einwirkungen Lafjen die Geruchsnervenenden ungereizt, wenn 
fie ausgeübt werden von Stoffen im flüjfigen Aggregatzuftande. Um dies zu 
beweijen, hat man die Nafjenhöhle gefüllt mit Wafjer, in welchem jonjt ent— 
ichieden wirkſame Stoffe gelöft waren. Nicht die mindefte Geruchsempfindung 
fand in ſolchen VBerfuhen Statt. Sowie aber gewilje gasfürmige Stoffe in der 
die Najenhöhle ducchftreichenden Einathmungsluft enthalten, mit den Gerud)3- 
nervenenden in Berührung fommen, gerathen diejelben in die heftigfte Erregung, 
die, den Nerven mitgetheilt, lebhafte Geruchsempfindung bedingt. 

Gegen manche Körper zeigen die Geruchönervenenden eine wirklich mär- 
henhafte Empfindlichkeit. Obenan fteht in dieſer Beziehung der Moſchus. 
Es ift allgemein befannt, twie geringe Mengen diejes Stoffes ein ganzes Haus 
mit jenem Geruche erfüllen können. Wie Klein eine Moſchusmenge fein müſſe, 
damit fie durch den Geruch unmwahrnehmbar werde, hat man durch Verſuche 
gar nicht ermitteln Können; denn die feinfte chemiſche Wage zeigt nicht den Ge- 
wichtöverluft, den eine Moſchusmenge erleidet, wenn fie ein ganzes Zimmer 
mit ihrem Duft erfüllt. Jedesfalls ift ein Milliontel Milligramm Moſchus 
mehr al3 ausreichend, um ein gefundes Geruchsorgan merklih zu afficiren. 


436 Deutſche Rundſchau. 


Es giebt kaum eine andere Erſcheinung, durch welche ſich der vorhin aus— 
geſprochene Satz jo anſchaulich beweiſen läßt, daß die Endapparate der Sinnes— 
nerven durch ganz außerordentlich leiſe Anſtöße beſonderer Art in den ihnen 
eigenthümlichen Beregungszuſtand verſetzen laſſen, der zur Erregung der Sinnes— 
nerven führt. 


Wir könnten noch zahlreiche andere Stoffe nennen, die ebenfalls ſchon !tı 
außerordentlich Kleinen Mengen den Geruchsfinn erregen, wenn auch feine nit 
dem Moſchus zu wetteifern vermag. So genügt von Rofenöldampf ein zwarzig— 
taufjendftel Milligramm, um gerochen zu werden, von Schwefelwafjerftof ein 
dreitaufendftel u. f. f. 


Welche chemiſche Eigenjchaften ein Stoff haben müſſe, damit er die Ge- 
ruchönervenenden afficire — mit andern Worten riehbar fei: das iſt leider 
noch gänzlich unbekannt. Sedesfalls find nicht bejonders energifche Verwandt— 
ihaftsfräfte für andere befannte Körper erforderlih. Das Roſenöl und der 
Moſchus beijpielsweife ſcheinen ſonſt chemiſch ſehr imdifferente Körper zu fein. 
Da3 Ammoniak dagegen, das bekanntlich auf viele Stoffe jehr energiſch einwirkt, 
fteht an Wirkung auf den Geruchsſinn Hinter ihnen bedeutend zurüd. Es ift 
ſchon in 33,000facher Verdünnung mit Luft nicht mehr riechbar. 


Ein Schimmer” von” Ausſicht auf eine zukünftige Erfenntniß der Eigen 
ſchaften, welche einen Stoff zum riehbaren maden,Zdämmert vielleiht aus 
folgender Betrachtung. Ich habe vorhin ſchon erwähnt, daß die riechbaren Stoffe im 
allgemeinen nur dann die Geruchsnervenenden afficiven , wenn fie in der Einath- 
mungsluft enthalten find. Ich kann noch hinzufügen, daß vorzugsweiſe die Theile 
der Einathmungsluft den Geruchsſinn erregen, welche durch die Spiben der Naſen— 
löcdher aufgenommen werden. Verſchließt man dieje Spitzen und athmet allein 
durch Die hinteren Theile der Najenlöcher ein, jo kommt gar feine oder doch nur 
eine ſchwache Geruchgempfindung zu Stande, jelbjt wenn riehbare Gaje reichlich 
vorhanden find. Auch kann man fich leicht überzeugen, daß man durch bejondere 
Muskeln die Spiten der Najenlödher recht weit öffnet, jedesmal dann, wenn 
man expreß zum Zwecke des Riechens einathnet, eine Bewegung, die man Spüren 
oder Schnüffeln nennt. Dieſe Erſcheinung ift leicht zu erklären aus der bejon- 
deren Geftaltung der Najenhöhlenwände, welche dahin wirkt, daß die durch die 
hinteren Theile der Najenlöcher eingehende Luft vorzugsweile die unteren Par- 
thieen der Nafenhöhle durchzieht, wo feine Geruchönerven vorhanden find. 
Ebenſo bringt es die Geftaltung diefer Wände mit fi, daß der Ausath- 
mungsluftftrom gar nicht mit dem eigentlihen Site des Geruchsſinnes in Be- 
rührung fommt. Daher rührt die allgemein bekannte Erſcheinung, daß beim Aus— 
athmen nicht? gerochen wird, jelbft wenn die Ausathmungsluft riehbare Stoffe 
in Menge enthält. Die beſchriebenen Erſcheinungen ftehen in engem Zuſammenhange 
mit einer anderen, ebenjo merkwürdigen als alltäglichen, die aber gleichwohl, wie mir 
jcheint, bei den Phyfiologen noch nicht die gebührende Beachtung gefunden hat. 
Ich meine die jedem Lejer gewiß befannte Thatjache, daß die Geruchsempfindung 
nur dauert, fo lange der Einathmungsluftitrom in Bewegung ift. Somie er 


Ueber Geſchmack und Geruch. 437 


ſtille ſteht, hört die Empfindung auf oder finkt wenigſtens auf ein Minimum 
der Stärke herab, die uns umgebende Luft mag mit noch ſo großen Mengen der 
ſtärkſt riechenden Stoffe beladen ſein. Man ſollte doch meinen, die in der 
Naſenhöhle in Ruhe zurückbleibende Luft müßte von den riechbaren Stoffen noch 
einen hinlänglichen Vorrath führen, um die Erregung der Geruchsnervenenden zu 
unterhalten. Dean könnte nun etwa daran denken, das Aufhören der Geruchs— 
empfindung rühre von der Ermüdung des riechenden Nervenapparates her. 
Dies erweiſt fih aber als unzuläjlig dadurch, daß man diefen Apparat 
beim Beginne des neuen Athemzuges jofort wieder bereit findet, ſeine Funk— 
tion zu verrichten. Er ift aljo feineswegs ermüdet. Folgende Hypotheſe ift 
vielleicht geeignet, eine Erklärung der Sache anzubahnen. Wir wollen anneh- 
men, die Riechbarkeit eines Stoffes beruht darauf, daß derjelbe von den Riech— 
nervenenden begierig abjorbirt wird, in ähnlicher Weije etwa, wie da3 Am— 
moniaf vom Waſſer begierig aufgefogen wird. Wir müſſen dann zweitens ans 
nehmen, daß der Akt der Abjorption jelbft den eigentlichen Reiz für das Nerven- 
ende bildet und daß ein Theilchen irgend eines riechbaren Stoffes nicht mehr 
reizend wirkt, ſowie feine Abjorption vollendet ift. Dieje Ietere Annahme 
wiirde Schon mehr al3 eine bloße Hypotheſe jein, denn es iſt, wie ich ſchon 
anzuführen Gelegenheit hatte, durch Verſuche erwieſen, daß riechbare Körper, 
jowie fie einmal in wäflerigen Flüffigkeiten gelöft find, Teine reizende Wirkung 
mehr ausüben. Daß dieje beiden Annahmen verbunden, die in Rede ftehende Er- 
ſcheinung erklären, ift jet leicht zu jehen. Der Luftraum, welchen die eigentlich 
tiechenden Theile der Naſenſchleimhaut begrenzen, ift nämlich ein ſchmaler jpaltför- 
miger Raum beiderjeit3 zwijchen der Najenicheidetvand und der Seitenwand der 
Najenhöhle. Dadurch wird die Berührung der Luft mit den Wänden jehr ausgiebig 
und man begreift, daß die in dieſem Raum enthaltene Luft, wenn jie ruht, 
durch die hypothetiicy angenommene lebhafte Abjorption der Nervenendapparate 
an Riechftoffen raſch erichöpft fein muß, und dann alſo die Geruchsempfindung 
aufhört. Wenigftens werden die an die Schleimhaut angrenzenden Schichten 
ſehr bald erſchöpft fein, und wenn die Luft ruht, findet feine Miſchung derjelben 
mit andern Schichten ftatt, welche noch Niechftoff enthalten. So lange aber 
der Einathmungsſtrom im Gange ift, jo lange werden immer neue und wieder 
neue, mit Riechftoff noch reichlich beladene Luftmengen mit der Schleimhaut in 
Berührung gebracht — und jo lange wird alſo fortwährend der Abjorptionsaft 
und damit der Anreiz zur Geruchgempfindung erneuert werden. Unſere An— 
nahmen würden aljo die räthjelhafte Ericheinung erflärlic machen, daß mit dem 
Stilleftehen des Einathmungsftromes die Geruchsempfindung aufhört, mit einer 
neuen Ginathmung aber jofort wieder beginnt. Wir können auch umgekehrt 
jagen, dieſe Erſcheinung hat uns zu einer Annahme geführt, welche ung geftattet, 
einftweilen freilid) blos verjuchsiweile, eine Eigenſchaft Hinzuftellen, die allen 
riehbaren Stoffen gemeinjam jein müßte, die Eigenichaft nämlich: begierig ab- 
jorbirt zu werden von den Stoffen, aus welchen die Endapparate des Geruchs— 
nerven gebildet find. 

Außer dem Einathmen giebt es noch einen Akt, bei welchem Geruchsempfin- 
dungen zu Stande fommen fünnen — e3 ift der Schlingakt. Es ift allgemein 


438 Deutſche Rundſchau. 


bekannt, daß wir den Geruch mancher Körper, z. B. des Weines, vieler Gewürze 
und anderer aromatiſcher Nahrungsmittel, beſonders in dem Augenblicke wahr— 
nehmen, wo wir fie verjchluden. Es ift dies auch unter ſolchen Umftänden der 
Tall, wo gar nicht daran gedacht werden kann, daß dieſe Körper nod) gasfür- 
mige Ausftrömungen dur) die Nafenlöcher zur Riechſchleimhaut jenden. Wir 
müſſen daher nothiwendig annehmen, daß, vermöge eines anatomiſch noch nicht 
ganz aufgeklärten Mechanismus, die riehbaren Dünfte des Speiſebiſſens beim 
Schlingalt von hinten her aus dem jogenannten Rachenraum in die oberen 
Theile der Nafenhöhle getrieben werden. 

Die dunkelſte Erjcheinung auf dem Gebiete des Geruchsfinnes ift die Ent- 
ftehung der verjchiedenen Geruchsqualitäten. Man wird auch hier an eine 
urfprüngliche Verjchiedenheit von Faſergattungen im Bereiche des Geruchsnerven 
denken müſſen, aber mit vier verfchiedenen Faſergattungen — wie auf dem Ge- 
biete des Geſchmacksſinnes — würden wir ſchwerlich ausreichen. Der Geruchs— 
ſinn ift nämlich an wejentlich verfchiedenen Qualitäten unendlich viel reicher als 
der Geihmadzfinn. Wie viele man allermindeftens annehmen müßte, um die 
wirklich erjtaunliche Mannigfaltigkeit der Gerüche zu erklären, läßt ſich nicht 
angeben. 

Als Hauptergebniß dieſes freilich ganz flüchtigen Ueberblickes über einige 
Haupterjcheinungen des Geſchmacks- und Geruchsſinnes können wir den Saß 
binftellen, daß die Eindrücde, welche die Körper auf dieje beiden Sinne maden, 
abhängig find von der ftofflichen — oder, um den Kunftausdrud zu gebrauchen, 
von der chemiſchen Beſchaffenheit der Körper. Damit ftellen jich dieſe beiden 
Sinne in einen bemerfenstwerthen Gegenjaß gegen die drei andern. Der Taft- 
ſinn zunächft belehrt uns über die mechaniſche Beichaffenheit der mit der äußeren 
Haut in Berührung gebraten Körper — dann darüber, ob fie kalt oder warm 
find, und endlich befißt er in hohem Grade die Fähigkeit, die räumlichen Be— 
ziehungen verjchiedener gleichzeitig gegenwärtiger Körper zu einander und zum 
eigenen Leibe zu beurteilen, er ijt ein geometriſcher Sinn. 

In diefer Thätigkeit ift dem Taſtſinne befanntlic) noch weit überlegen der 
Gejihtsjinn; mit feiner Hilfe find wir im Stande, nicht nur von ganz 
nahen, jondern auc von weit entfernten Körpern, jofern fie nur Lichtftrahlen 
ausjenden, die gegenfeitigen räumlichen Beziehungen zu beurtheilen. Mit Hilfe 
diejer beiden geometriichen Sinne bauen wir daher unjere Vorftelung von der 
uns umgebenden Erjcheinungswelt im Raume auf. 

Eine verhältnigmäßig einjeitige Fähigkeit befitt der Gehörjinn. Er 
belehrt uns befanntlich nır darüber, ob die und umgebende Luft jene eigenthüm- 
lien Kleinen Schwingungen ausführt, welche wir Schallidwingungen nennen. 
Da ſolche Schwingungen regelmäßig von bewegten Körpern ausgehen, ijt der 
Gehörfinn den damit begabten Thieren von Nutzen als Warner vor heranna- 
henden Feinden. Zu unjerer theoretiichen Kenntnig von den uns umgebenden 
Körpern und zur Regelung unjerer Bewegungen unter denjelben fann er wenig 
beitragen. Er könnte 3. B. bei einem Blinden den Taſtſinn nicht erfeßen. Seine 
unberechenbare Bedeutung für den Menjchen gewinnt der Gehörfinn erft dadurch, 
daß er das Medium der geiftigen Mittheilung von Perfon zu Perjon bildet. 


Ueber Geſchmack und Gerud). 439 


Taftfinn, Gefihtsfinn und Gehörfinn bilden hiernach die Grundpfeiler der 
theoretiichen Erkenntniß und des geiftigen Lebens überhaupt. Dazu liefern der 
Geruchs- und Geſchmacksſinn nur verhältnigmäßig geringe Beiträge. Ihre Wid;- 
tigkeit Tiegt auf dem Gebiete des leiblichen Lebens. Schon ihre anatomische 
Lage giebt ihren Zweck zu erkennen, 


An die Eingangspforten der Wege, auf welchen fremde Stoffe in den Körper 
eingehen, find fie als Wächter geftellt, die nichts Hineinlafjen jollen, was ihm 
ihädlich ift. Zu diefem Dienfte befähigt die beiden Sinne eine allgemein befannte 
Eigenſchaft, daß nämlich ihre Empfindungen durchweg mit den Zuftänden ent- 
weder des Wohlgefallens oder des Abjcheues verknüpft find. Es giebt faum 
eine Geſchmacks- oder Gerudhsempfindung, die uns ganz gleichgültig wäre, was 
bei den Empfindungen der drei übrigen Sinne eigentlich die Regel iſt. Iſt daher 
ein Körper im Begriffe, durch Mund oder Naje in unjern Körper einzudringen 
und erregt er den Geihmads- oder Geruchsſinn, jo finden wir uns entweder 
durch das Wohlgefallen an der Empfindung veranlaßt, fein Eindringen zu be= 
fördern, oder wir finden uns durch den Abſcheu veranlaßt, den Körper zurück— 
zuweijen. Wir meiden Orte, wo widrig riechende Gaje vorhanden find. Nebel 
ſchmeckende Stoffe jpeien wir aus, angenehm jchmedende verichluden mir. 


Sind aber — jo müſſen wir jet fragen — unfere Thürhüter auch wirklich 
treu? Können wir uns auf ihre Ausfage verlaffen? it, was fie gut finden, 
wirklich dem Leben förderlich, was fie ſchlecht finden, nachtheilig? Der gemeine 
Ptann beantwortet dieje Frage unbedingt mit ja; ex meint, was gut ſchmeckt, 
muß auch gejund jein. Er hat im Allgemeinen unzweifelhaft vet. In der 
That hat ſich ja das Menjchengejchleht, wie alle anderen mit Geruchs- und 
Geihmadsfinn begabten Thiergejchlechter, jeit jo vielen Jahrtaujenden von diejen 
beiden Sinnen bei der Auswahl der Nahrung und der Luft zum Athmen leiten 
laffen und fie find qut dabei gefahren, aljo müjjen die Führer doc wohl im 
Allgemeinen den rechten Weg gezeigt haben. 


Noch vor wenigen Jahren mußte man in diefer Fähigkeit des Geruches 
und Geihmades, das Paſſende auszuwählen, etwas Geheimnißvolles jehen. Seit 
uns aber Darwin die Binde von den Augen genommen hat, ift dieje Fähigkeit 
etwas Selbitverftändliches. Wie es heute noch einzelne Individuen von verfehrter 
Geſchmacksrichtung giebt, jo mag es deren immer gegeben haben, 3. B. folche, denen 
der bittere Geſchmack der Alkaloide lieblich dünkte. Im Naturzuftande werden dieje 
mit Vorliebe Schierling, Bilfenkraut und andere Giftpflanzen genoffen haben, twelche 
folche bitter ſchmeckende Stoffe reichlidy enthalten. Ihrem Leben wurde dann 
frühzeitig eine Grenze gejeßt und die verkehrte Geihmadsrichtung hatte wenig 
Ausſicht ſich auf eine reichliche Nachlommenjchaft zu vererben. Das Umgekehrte 
gilt natürlich von Individuen, welche mit einer den phyfiologischen Bedürfniſſen 
entiprechenden Geihmadsrihtung ausgerüstet waren. Mit einem Worte: es 
mußte jih im Laufe der unzähligen aufeinander folgenden Generationen der 
Geruchs- und Geihmadsjinn durch natürliche Zuchtwahl jo entwideln, daß die 
gefunden Nahrungsmittel einen angenehmen, die ungefunden und gefährlichen 
Körper einen unangenehmen Eindruck auf jene Sinne maden. 


440 Deutihe Rundichau. 


Es ſei mir geftattet, einige Beiſpiele des Wohlgefallens und Widerwillens 
no etwas näher zu erörtern, die mit dem aufgeftellten allgemeinen Safe nicht 
zufammen zu ftinmen ſcheinen. Befanntlid machen Ammoniaf, Schtvefelwaffer: 
jtoff und einige andere gasartige Waflerftoffverbindungen einen bejonders widrigen 
Eindruck auf die Geruchsorgane aller normal begabten Menjchen. Dieje Gafe 
find allerdings ſämmtlich in größeren Mengen eingeathmet giftig; aber e3 kann 
unmöglih angenommen werden, daß auf diefer Eigenſchaft die Heranzüchtung 
des MWiderwillens gegen diefe Gasarten beruhte. Die Natur bietet fie dem 
Menſchen nämlid faum jemals in ſolcher Concentration dar, daß häufig In— 
dividuen durch fie hätten vergiftet werden können, weil fie fein Widerwille 
vor ihnen warnte. Es ift hier offenbar ein ganz anderer Umftand maßgebend. 
Die genannten Gasarten fteigen regelmäßig auf von faulenden Körpern. Solde 
aber find für den menjchlichen Organismus eine Shädliche Nahrung und die von 
ihnen auffteigenden Dünfte enthalten neben den, im verdünnten Zuftande ziemlid 
harmlojen Gasarten, jene unfichtbar Heinen organijchen Keime der fogenannten 
Bakterien, zu denen die Anſteckungsſtoffe vieler gefährlicher Krankheiten ge 
hören. Individuen, welche gegen den Geruch von Ammoniak, Schwefelwaſſerſtoff 
und dergleichen keinen Widertvillen hatten, waren alſo ftets der Vergiftung durd 
faulende Nahrungsmittel und der Infektion mit Sumpffieber und anderen Krank— 
heiten mehr ausgefeßt und jo konnte und mußte jener Widerwille herangezüchtet 
werden. Die Zeit, in welcher dies geſchah, Liegt vielleiht noch nicht jo unge: 
heuer weit hinter uns. Wenigſtens jcheinen die Bewohner der berühmten bel- 
giſchen Höhlen noch feinen jehr intenfiven Widerwillen gegen die Ausdünftungen 
faulender Körper gehabt zu haben. In einem Berichte über den internationalen 
Gongreß der Anthropologen zu Brüſſel fand ich folgende in diefer Beziehung 
merkwürdige Stelle: „Die abgegefjenen, bisweilen angebrannten Knochen und 
lämmtliche andere Speifeabfälle blieben in der Höhle liegen, und geſetzt aud, 
daß deren Verweſung bei der herrfchenden niedrigen Temperatur die Geruchs— 
nerven weniger afficirt, jo mußten fie doch die Luft hinreichend verpeften, um 
den Aufenthalt für ung unerträglich zu maden.“ Die Folgen diefes Mangel? 
an Efel ſcheinen übrigens auch damals nicht ausgeblieben zu fein. Der eben 
eitirte Bericht fährt nämlich fort: „Daß die Höhlenwohnungen ſowohl aus 
diefem Grunde, ald wegen der Feuchtigkeit höchſt ungefund geweſen, bezeugen 
die gefundenen menſchlichen Ueberreſte, die theils Spuren krankhafter Affectionen, 
theil3 eine große Sterblichkeit unter den Kindern und erwachſenen Perſonen 
jüngeren Alter anzeigen.” Da hätten wir denn gleich ein Hiftoriiches Zeugniß 
von der Heranzüchtung des Widerwillend gegen die Ausdünſtungen faulender 
Körper vor Augen. 

Höchſt räthielhaft vom Standpunkte der Zweckmäßigkeit oder befjer vom 
Standpunkte der natürlichen Zuchtwahl muß der allgemein verbreitete Wohl- 
gefallen am Dufte vieler Blumen und anderer jogenannter aromatijcher Körper 
ericheinen. Es ift nämlich nicht abzufehen, wozu uns das Ginathmen folder 
Düfte nüglich fein follte und wie mithin die Luft an ſolchen Düften dem In— 
dividuum eine Waffe im Kampfe um’3 Dafein wäre. 


Neber Geſchmack und Gerud. 441 


Ich bin weit entfernt, behaupten zu wollen, daß ich das hier vorliegende 
Räthſel vollftändig löſen Könnte; aber eine Vermuthung auszujprechen kann ich 
mir nicht verfagen. Bor Allem muß ich daran erinnern, daß vererbliche Eigen- 
ſchaften unſeres Körpers nicht in Jahrhunderten, jondern in Taufenden von 
Generationen erworben und ebenjo auch jehr langſam wieder verloren werden. 
Eine Eigenihaft braucht aljo gegenwärtig nicht Waffe im Kampfe des Lebens 
zu jein und Tann doch als jolde in einem früheren Zuftande des Dtenfchen- 
geichleht3 durch natürliche Zuchtwahl erworben fein. 

Die Wiege des Menjchengeichlehts hat nun ohne Zweifel nicht unter unfern 
nordilchen Tannen, ſondern unter den Palmen der Tropenwelt, oder wenigftens 
eines tropiihen Klima’3, geftanden. Unfere dort lebenden Vorfahren waren 
höchſt wahrjcheinlich vorzugsweije auf Früchte als Nahrung angewiejen. Dieje 
Früchte — man denke nur an Orangen, Ananas und dergleichen — haben aber 
großentheil3 einen aromatichen Duft und das Wohlgefallen daran war aller- 
dings für den Urmenſchen eine Waffe im Kampfe um’3 Dajein. Uns ift als 
bloßes Erbſtück dies Wohlgefallen geblieben, und wir haben in unjerem Klima 
weniger Gelegenheit es an Früchten zu üben al3 an Veildden, Rojen und anderen 
Blumen, deren Düfte mit. jenen Fruchtaromen Aehnlichkeit haben. 

Wenn wirklich, wie ich behaupte, der Widerwille und das Wohlgefallen an 
Geruchs- und Gejhmadsempfindungen durch natürlihe Zuhtwahl im Kampfe 
um’3 Dafein erivorben ift, dann läßt ſich noch folgende bemerfenswerthe Fol— 
gerung ziehen: Der Sat, daß Wohlichmedendes und Wohlriechendes gejund, 
Uebelſchmeckendes und Uebelriechendes ungefund fei, gilt mit Gewißheit nur von 
denjenigen Körpern, welche fi dem Menjchen im Naturzuftande reichlich dar- 
boten. Selten vorfommende Körper oder gar Kunftprodufte konnten auf die 
Zuchtwahl feinen Einfluß haben. Ob über die Nüblichkeit und Schädlichkeit 
ſolcher Körper der Geruh und Geſchmack richtige Ausfagen macht, muß nad 
unferem Princip reiner Zufall fein. Sollten aber etwa auch) für joldhe Körper 
die Ausjagen des finnlichen Wohl- und Mißfallens erfahrungsmäßig ausnahmslos 
richtig jein, dann müßten wir unſer Princip Lieber fallen lafjen und zur An— 
nahme einer myſtiſchen Zulammenftimmung zurücdgreifen. 

Glücklicherweiſe liegt in den Thatſachen feinerlei Nöthigung dazu. Unter 
den dem Naturmenjchen unbekannten Kunftproduften find übelſchmeckende theils 
ihädlich, theil3 harmlos, und wohlſchmeckende ebenfo. Zwei Beilpiele werden 
genügen, dies zur erläutern. Auf das Wohlgefallen am Geihmad des Kochſalzes 
fonnte diefer Sinn im Naturzuftande unmöglich gezüchtet werden, denn die 
Natur bot dem Menſchen wenigftens im Binnenlande fein Nahrungsmittel dar, 
das hinlängliche Mengen von Kochjalz enthält, um ihn jeinen Geſchmack kennen 
zu lehren. Erſt im Gulturzuftande konnte er fich dieſen Stoff reichlicher ver- 
ihaffen. Sein Geſchmack jcheint jogleih der Mehrzahl jehr behagt zu haben, 
denn er wurde von Alters her als Gewürz jehr hoch geihäßt. Die Phyjiologie 
zeigt nun, daß dieſer Liebling der Zunge auch ein nüßlicher Zufa zu unferer 
Nahrung ift. 

Daß wir e8 aber hier eben nur mit einem rein zufälligen Zufammentreffen 
zu thun haben, lehrt ein zweites Beijpiel, ein Stoff, gleichfalls dem Natur- 


442 Deutiche Rundſchau. 


menjchen unbefannt, der aber, fobald er bekannt wurde, den Meiften gar lieblich 
dünkte, und der doch eine der furchtbarſten Geißeln unſeres Gejchlechtes ift — 
ich meine den Alkohol. Er ijt bejonders geeignet, das hier in Rede ftehende 
Princip Har zu machen. Obgleich ein Beweis durch Erfahrung unmöglich ift, läßt 
ſich doch mit ftreng mathematischer Sicherheit folgender Sat behaupten. Wenn fid) 
unferen Voreltern im Naturzuftande alkoholiſche Getränte, Wein, Bier oder derglei= 
chen in demjelben Maße dargeboten hätten, wie Waſſer, dann wiirde und der Gerud) 
und Geſchmack diejer Flüſſigkeiten mwidrig und efelhaft fein. Alle Individuen 
nämlich, die an den alkoholifchen Getränken Luft hatten, wären unfehlbar als— 
bald den Säuferfrankheiten zum Opfer gefallen und nur folche, die zufällig einen 
Miderwillen gegen den Alkohol hatten, konnten überleben und Nachkommenſchaft 
hinterlajfen. Da aber Geihmadsridhtungen, wie andere Körpereigenichaften im 
Allgemeinen vererblich find, jo ift einige Wahrjcheinlichkeit, daß auch dieſe Nach— 
fommen mit jenem nützlichen Widerwillen begabt gewejen wären. Natürlich 
würde fich der all oft genug ereignet haben, daß einzelne Nachkommen aus 
der Art jchlugen. Dieje waren aber dann wieder den Gefahren der Vergiftung 
ausgejeßt und wurden, ohne Nachkommen zu hinterlafjen, ausgerottet. So hätte 
fi) der Widerwillen immer mehr und mehr feitgejeßt und gefteigert und jebt 
würden die Liebhaber alkoholiſcher Getränke eben jo jelten Franfhafte Ausnahmen 
fein, wie e8 etwa in Wirklichkeit die unter Geiſteskranken auch vorlommenden 
Trinker von Miftjauche find. 

63 fünnte jcheinen, als hätte der joeben nur fingirte Vorgang auch im 
Gulturzuftande wirklich ftattfinden müſſen; hiergegen läßt ſich indefjen allerlei 
einwenden. Erſtens ift die Cultur überhaupt und die reichliche Erzeugung alko— 
holiicher Getränfe noch nicht jo alt, daß fich während ihrer Dauer Körpereigen- 
Ichaften de3 Menichen dur Zuchtwahl wejentlich hätten ändern können. 
Zweitens bieten fich die alkoholiſchen Getränke den Meiften doch nit in dem 
Maße dar, wie wir es vorhin vorausgejeht haben. Drittens endlich wählt im 
Gulturzuftande der Menſch jeine Nahrung nicht ausjchliegli unter Leitung des 
Geruchs- und Geſchmacksſinnes. Er meidet da3 Uebermaß ſolcher Speifen und 
Getränke, von denen er nachtheilige Wirkungen erfennt, wenn fie ihm auch noch 
jo angenehm jchmeden. 

Diefe Thatjache legt uns noch eine Betradhtung nahe über die Zukunft, 
welcher die beiden Sinne, von denen ich Ipreche, möglicherweije entgegen geben. 
Da wir eben heutzutage unjere Nahrungsmittel nicht mehr im Walde juchen, 
londern auf dem Markte faufen, wo eine gute Polizei unjerer Naje die Mühe 
part das Schädliche fern zu halten, jo ift Schärfe des Geruches und Geſchmackes 
feine Waffe mehr im Kampfe um's Daſein. Was eine ſolche nicht iſt, das kann 
fi) aber am organischen Leibe wahrjcheinlich auf die Dauer nicht halten. Wenn 
daher nicht neue Verhältniſſe auftreten, welcde dem Geruch und Geſchmack wieder 
mehr Werth verleihen, jo ift es wohl denkbar, daß wir, wofern das Mtenjchen- 
geichleht und die Cultur noch einige Jahrtaufende dauern jollten, dem Geruch 
und Geihmad den Abjchied geben müßten. . 


Fritz Reuter auf der Feſtung. 


Nebſt bisher ungedruckten Briefen des Gefangenen an ſeinen Vater. 
Von 
Otto Glagan. 


ws 


In meinem, Herbft 1865 erjchienenen Buche „Fri Reuter und feine 
Dichtungen“ habe ich einen kurzen Abriß von dem Leben des Dichter gegeben, 
wobei id in der Hauptjadhe jeine eigenen Aufzeichnungen benußte In allen 
Schriften Reuter’3 finden fich perjönliche Erinnerungen und Rückblicke, Anfpie- 
ungen auf feine Schickſale verjtreut; denn er jtedt nah Humoriftenart häufig 
den eigenen Kopf vor, und er miſcht ſich gern unter feine Helden. Außerdem 
hat er in einem zu der Sammlung „Schurr-Murr” gehörigen Aufſatze „Meine 
Vaterftadt Stavenhagen“ die Geſchichte feiner Kindheit ziemlich ausführlich 
erzählt; und in dem Buche „Ut mine Feſtungstid“ Yiefert er eine Reihe theils 
föftlich launiger theils erſchütternd ernster Bilder aus feiner ftebenjährigen Ge- 
fangenſchaft. Doc find diefe Erzählungen von der Feſtung nicht immer buch— 
ftäblich zu nehmen, jondern in ihnen verichlingen ſich Dichtung und Wahrheit, 
wirkliche Erlebnifje mit mandherlei Erfindungen und poetifchen Arabesken, nament- 
lich was die heitern, luftigen Partien betrifft; und der Dichter hat dies in der 
Zueignung an feinen „biedern Freund und treuen Leidensgenofjen Hermann 
Grashof“ ausdrüdlic angedeutet. Im Großen und Ganzen aber entjprechen 
auch diefe Schilderungen den hiſtoriſchen Thatſachen, was ich ſchon damals 
controliren konnte, denn Fritz Reuter machte mir unterm 15. März 1865 ein- 
gehende biographiſche Mitteilungen und bejchloß diejelben mit den Morten: 
„sh bitte Sie jedoch, wenn Sie von dieſen Notizen Gebrauch machen, nicht 
ausdrücklich zu erwähnen, daß das Material von mir jelbjt geliefert iſt; es hat 
dies Schreiben in eigener Angelegenheit für mid) ftet3 etwas Empfindliches, 
Widerſtrebendes.“ Selbftverftändlich bin ich diefem Verlangen nachgekommen. 
Auch Hatte ich damals noch andere Rücfichten zu nehmen. Manches, was mir 
von dritten, durchaus eingeweihten und zuverläſſigen Perſonen berichtet worden ; 
Manches, was wie ein offenes Geheimniß in Aller Munde war, habe ich doc) 
verſchwiegen oder nur zart angedeutet, weil der Dichter noch unter uns lebte. 


444 Deutiche Rundſchau. 


Jetzt, nach jeinem Tode, fallen diefe Rückſichten fort, zumal die Publicationen 
über ihn ſich drängen, und merfwürdigerweije von mehr oder weniger ununter: 
richteter Seite; jet gehört Fri Reuter der Literaturgefhichte an, und darum 
ift die reine, volle Wahrheit geboten. 

Inzwiſchen haben fich mir, durch Nachforſchungen an den Orten, wo 
der Dichter gelebt und aufgewachſen, neue Quellen erſchloſſen; hat ſich mir ein 
großes, bisher völlig unbenutztes Material geboten. Es ift dies der Brief— 
wechſel zwiſchen Fritz Reuter und feinem Vater, der von 1824 bis 
1845 reiht, von da ab, wo der 14jährige Knabe da3 elterlicdhe Haus verlieh 
und das Gymnafium zu Friedland in Medlenburg-Strelit bezog, bis zum Tode 
des Daterd. Während dieſes Zljährigen Zeitraums bat der Bürgermeifter 
Reuter, ein äußerft penibler, ordnungsliebender Mann, jeden Brief, jedes Schrift: 
ftüc von, an und über jeinen Sohn gejammelt; und diefer Papierftoß befindet 
fi) in den Händen der einzig noch lebenden Schwejter des Dichterd, der ver- 
wittweten Frau Sophie Reuter geb. Reuter in Stavenhagen, woſelbſt 
ih ihm eingefehen habe. Auch ift mir duch die Güte der Dame eine Reihe 
von Briefen zur Benubung überlaffen worden, Briefe Frib Reuter's aus jeiner 
Schul-, Univerfität3- umd Feſtungszeit. Es find kürzlich, nachdem die neue 
völlig umgearbeitete Auflage meines Buchs angekündigt worden, "zwei Biogra— 
phien de3 Dichters erjchienen: die eine von einem Herrn Ebert in Güftrom, und 
die andere, im Auftrage des Werleger3 der Reuter’ichen Schriften, von Adolf 
MWilbrandt, womit diejer die Herausgabe von Fri Reuter’3 „Nachlaß“ einleitet. 
Aber beiden Biographen ift jener ganze Briefwecjjel fremd geblieben; Beide 
bringen nur Einen Brief Fri Reuter’3 d. d. Silberberg den 31. October 1836, 
der auch mir zufam bei meiner Anmwejenheit in Neu-Brandenburg, dem frühen 
Wohnort des Dichters, wo er in Abjchrift umlief. 

Auf Grund der von mir gefammelten Dtaterialien habe ich jenen biogra- 
phiichen Abriß aus der erften Auflage meines Buchs zu einem ausführlichen 
Lebenzbilde erweitert, und will nun bier den Gelbitbericht des Dichterd „U 
mine Feltungstid“ ergänzen und illuftriren, kurz zufammenftellen, was in 
Betreff der jiebenjährigen Haft de3 „Demagogen“ bisher noch nicht befannt ge: 
worden it. 

Michaeli 1831 bezog Fritz Reuter, 21 Jahre alt, die Landesuniverfität 
Roftod, um nad dem Willen de3 Vater die Rechte zu ſtudiren; was er jedod 
nur dem Namen nad that. Dftern 1832 ging er nad) Jena, das ſchon lange 
Ziel feiner Sehnſucht geweſen, und blieb hier ein knappes Jahr. Er warf jetzt 
das Jus völlig bei Seite und führte ein ziemlich wildes Leben. Fechtübungen, 
Duelle und Trinkgelage füllten die Zeit aus, und er trieb’3 nad dem alten 
Sprücdjlein: „Gelder muß der Vater haben, wenn der Sohn ftubiren joll!" 
Jahre lang, nachdem er Jena verlafjen, liefen von hier bei dem Water noch 
immer Schuldfcheine und Rechnungen ein, und der Bürgermeifter hat fie alle 
ſorgſam geheftet und alle bis auf den legten Heller bezahlt. Daneben beichäftigten 
den flotten Studenten die Angelegenheiten der Burſchenſchaft. Er trat in die 
Verbindung „Germania“, die in erfter Neihe eine politiiche Tendenz verfolgte, 
die „Herbeiführung eines freien und einigen Lebens in Deutjchland”. Arnold 


Fritz Reuter auf der Feſtung. 445 


Ruge, ber damal3 als junger Doctor in Jena privatifirte, ftellt der „Ger- 
mania“ ein jehr ungünftiges Zeugniß aus.*) Cr jehildert fie als eine Gefell- 
ſchaft von „Raufbolden” und „Iyrannen”, die „wahrhaft ruffiiche Gedanken“ 
begten und die „alte Rohheit der Landsmannſchaften“ wieder aufleben ließen, 
indem fie ihre körperliche Weberlegenheit gegen Schwächere und Anderögefinnte 
„Ihändlic mißbraudten.“ Die „Germania“ entwidelte unter dem Drange der 
Beitereigniffe eine ſtürmiſche Thätigkeit. Man beſchickte das Hambacher Feſt 
(27. Mai 1832), feierte die Gedächtnißtage der franzöfiſchen Juli-Revolution 
und des polniſchen Aufſtandes; vor Allem lieferte man den „Arminen“, deren 
„Halbheit“ man nicht tief genug verachten konnte und die man als „Schwanen— 
ritter” verhöhnte, förmliche Schladten. In Folge diefer und anderer Exceſſe 
rüdte am 23. Januar 1833 ein Militair- Commando in Jena ein, und e8 ge- 
Ihahen zahlreiche Verhaftungen und Ausweijungen. Auch Fri Reuter erhielt 
von der akademiſchen Behörde das Confilium. Mitte Yebruar mußte er Jena 
verlaffen, während jeine Sachen Schulden halber zurüdblieben, und ging nad) 
dem nahen Städten Camburg im Meiningifhen, ohne davon nad) Haufe bie 
geringfteT Nachricht zu geben. Er hatte lange Zeit überhaupt nicht? von fich 
hören lafjen, er war immer ein träger Briefſchreiber, und der bejorgte Vater 
erließ nun einen öffentlihen Aufruf, worin der Studiojus F— R— aus 
Mecklenburg dringend zur Heimkehr aufgefordert wurde. Endlich, da ihm ber 
Credit ausgegangen war, meldete fi) Fritz Reuter; er bat um Geld und erklärte, 
nad München gehen zu wollen, um dort fein Studium fortzujegen. Der Vater 
hieß ihn nad) Haufe kehren, und er mußte gehorchen. Er verbrachte den Sommer 
theils in Stavenhagen, theil3 auf einem Kirchdorfe, bei jeinem Obeim, dem 
Paftor Reuter in Jabel. 

Inzwiſchen ereignete fi) das unfelige Frankfurter Attentat. Am 2. April 
1833 rotteten fi in Frankfurt a. M. eine Anzahl Jünglinge zufammen, ftürmten 
die Hauptivadhe, um einige politiiche Gefangene zu befreien, und gedachten jogar 
den Bundestag aufzuheben. Unter den jungen Brauſeköpfen, deren man bald 
Herr wurde, befanden fi) auch Jenenſer „Germanen“. Diejer knabenhafte 
Kratvall verjeßte die deutjchen Regierungen in Furcht und Rachſucht, ließ die 
„Partei der Ordnung” eine neue große Demagogenhaß veranftalten. Neben der 
Gentralbehörde zu Frankfurt a. M. bildeten fich in den verfchiedenen Staaten 
noch Special- Unterfugungscommilfionen, und die Verhaftungen erfolgten aller 
Orten mafjenhaft, vorzugsweiſe aus der Zahl der ehemaligen Burjchenichafter. 

An Fri Reuter jhien Niemand zu denken, und dadurch ficher gemacht, 
ließ er ſich's einfallen, Medlenburg zu verlafjen. Im October 1833 fam er 
nad Leipzig und ſuchte bei der Univerfität die Immatriculation nad), wurde 
aber als „verdächtig“ abgewiefen. Wieder rief ihn der Vater nach Haufe, und 
er trat die Rückreiſe an, wieder ohne Koffer, der troß des kurzen Aufenthaltes 
in Verſatz blieb. Er ging über Berlin und verweilte hier mehrere Tage, troß 
der Warnungen, die ihm von verjchiedener Seite zugingen. Da ereilte ihn fein 
Schickſal. 


*) Arnold Ruge, Aus früherer Zeit, Bd. 8, S. 326 ff. 
Deutſche Runbſchau. I, 6. 30 


446 Deutiche Rundicai. 


Herr Ebert weiß hiervon in jeinem Buche „ri Reuter. Sein Leben und 
feine Werke“ (S. 143) eine ganz romantiſche Geichichte zu erzählen. Er läßt 
den Süngling wie ein gehebtes Wild Hin und her irren, „fich bald bei diejem, 
bald bei jenem Freunde bergend“;, er läßt ihn endlich arretirt werden „in einer 
Droſchke, welde ihn dem Bahnhof zuführen jollte*. Man denke: 
nad Herrn Ebert gab es im Herbſt 1833 bereit3 einen Bahnhof in Berlin, 
und noch dazu einen joldden, von wo aus man nah Medlenburg fahren 
fonnte! 


In Wahrheit verhielt jich die Sache weit projaifher. Damals weilte in 
Berlin ein Better Fritz Reuter’3, der mit ihm zuſammen erzogen war, und der 
auch jpäter feine jüngere Schwefter Sophie heirathete — der Apotheker Ernit 
Reuter. Diefer berichtet in zwei mir vorliegenden Briefen an den Bürger: 
meifter Reuter über die Verhaftung, und darnach ergiebt fich Folgendes: Erſt 
al3 unter feinen Augen frühere Kameraden ergriffen wurden, entichloß fich Frik 
Reuter zum Aufbruch; erft als der Vater in Ahnung der Gefahr die Abreiie 
beeilen hieß, wurde diefe von den beiden Vettern feftgejegt. Mit dem Omnibus, 
der damals zwijchen Berlin und Strelitz curfirte, jollte Fri Reuter die Fahrt 
machen, und jchon befand fich in den Händen des Fuhrmanns fein Tornifter. 
Der Better Ernft jelber hatte dieſen hingefhafft, und auch dem Bürgermeiſter 
bereit3 die Ankunft des Sohnes gemeldet. Um am Thor nicht etwa auf ein 
Hinderniß zu ftoßen, gedachten die beiden Yünglinge die Stadt zu Fuß zu vers 
laſſen, jollte ri Reuter den Omnibus erſt eine Strede hinter Berlin befteigen. 
Ernft Reuter ſaß in feinem Zimmer und wartete auf den Vetter, bi3 ihm ein 
Polizift einen offenen Zettel von SJenem überbrachte. Zuerft meinte er, die Ver- 
haftung wäre „wegen Streitigkeiten“ gejchehen, und in diefem Glauben beftärkte 
ihn auch noch der Viertels-Commiſſarius; ſehr allmälig erfuhr ex die eigent: 
liche Urſache. 


Fri Reuter ward am 31. October 1833 früh in feinem Quartier ergriffen 
und in die „Stadtvoigtei“ gebradt, two man ihn im jein Loch zu allerhand 
Gejindel warf, bis er durch Vermittelung jeines Vetters eine eigene Zelle, aud) 
Bücher und Schreibmaterialien erhielt. Er jaß bier zwei Monate und kam 
Neujahr 1834 in die „Hausvoigtei“, in das Gefängniß für die „Privilegirten“, 
zu denen hauptſächlich Juden, ſpitzbübiſche Beamte und „Hochverräther“ gehörten. 
Man nahm ihm jet Bücher und Schreibzeug, und die Haft ward eine harte. 
Die Unterfuhung führte der jeitdem jo berüchtigt getvordene Criminalrath 
Dambach, der die Jünglinge wie eine Citrone auspreßte, fie durch Drohungen 
und Verheigungen, Weberredung und Schmeichelei zu Ausjagen zu bewegen wußte, 
wie er jie gerade brauchte. „Sie find ein philofophijcher Kopf,“ ſprach er zu 
dem Einen, „Sie können das Object der Unterfuchung in feiner ganzen Totali— 
tät umfaſſen und überjehen.“ Das wirkte, wie Fritz Reuter bemerkt. Er nennt 
den Betreffenden Schr... und wirft ihm vor, den „Denuncianten‘ gemadt 
und jeine ehemaligen Gouleurbrüder {verrathen zu Haben. Er traf mit dem 
„Denuncianten‘ noch einmal auf der Feſtung Graudenz zufammen, und entwirft 
von feinem Wejen und Charakter eine höchſt unvortheilhafte Schilderung. — — 


Fritz Reuter anf der Feſtung. 447 


Hier unterbreche ich die Zufammenftellung, um eine Eleine Geſchichte ein- 
zufchalten: 

Als damals, vor neun Jahren, ſich mein Buch noch unter der Preſſe befand, 
veröffentlichten die mit der „Gartenlaube“ verbundenen „Deutichen Blätter‘ 
nad) den Aushängebogen ein Stüd unter dem Titel „Aus Fri Reuter’3 Feſtungs— 
zeit”. Diejen Auszug las der „Denunciant“, der ala Baftor an einer deutfchen 
Kirche in New-York lebte. Erſt durch diefen Auszug erfuhr er wieder von Fritz 
Reuter, deijen Bücher und deſſen Garriere al3 Schriftfteller ihm völlig unbe- 
fannt geblieben waren. Er richtete nun an den Dichter einen Brief, den er 
durch Bermittelung der Redaction der „Gartenlaube“ mir in Abjchrift mittheilte, 
und worin er fi) zu entſchuldigen und zu rechtfertigen fucht. Er jagt u. A.: 
„Du weißt jo gut wie ich, daß Alle, Alle (und Viele bei ganz guter Gefundheit) 
ausgejagt haben, was fie irgend wußten, und Viele aud) das, was fie nicht 
wußten — im Gedränge jenes abjcheulichen Verfahrens.” — „Wer von uns 
fannte 3. B. auch nur den Tenor des Verbindungszwecks, geichtveige den joge- 
nannten Grläuterungsparagraphen?" — „Das Alles hat Einer aus feinem 
enormen, von Dambad) flattirten Gedächtniß und Combinationsvermögen wörtlich 
ad acta dictirt, und Alles, was er wußte, bis etwa in's Jahr 1827 zurück; und 
wir mußten uns zu Allem befennen, denn wir waren eben körperlich und geiftig 
zuinirt.” — Schr... verlangt gewwiffermaßen eine Ehrenerflärung von Fritz 
Reuter und ſchließt mit den Worten: „Ich habe ein Recht, wenigſtens das von 
Dir zu fordern, und ich Hoffe zu Gott, Dir noch einmal in diefem Leben Auge 
in Auge zu ſchauen.“ — Wirklich fam Schr... ein Jahr oder ein paar Jahre 
jpäter nah) Europa. Er fam nad Eifenah und verlangte Fri Reuter zu 
Iprechen. Der aber lag krank, und die Frau empfing ihn. Sie erklärte, daß 
ihr Gatte bei dem, was er gejchrieben, verbleibe, daß er nicht3 zurücknehmen 
fönne und nöthigenfalla das Zeugniß verjchiedener noch lebender Leidenzgefähr- 
ten anrufen wolle. Schr... widerjprad und ging mit der Ankündigung, daß 
er twiederfommen twerde, hat aber nicht weiter von fich hören laſſen. So 
erzählte mir im September v. %. die Wittiwe des Dichters. 

Fritz Reuter fand Herr Dambach weniger gefügig, und als er an ihm 
feine Künſte verſchwendet Hatte, geriet er in Zorn. Es dauerte lange, bis der 
Gefangene einen feiner Angehörigen ſah. Die Schweiter Sophie durfte ihn 
endlich bejuchen, aber die Unterredung fand in Gegenwart de3 Herrn Dambad 
ftatt. „Ihr Bruder ift der verftoctefte Menjch, der mir vorgekommen,“ rief er 
dem jungen Mädchen zu; „Sagen Sie da3 Ihrem Vater!“ Fri Reuter 
erwiderte raſch: „Mit Ihrer Erlaubniß, Herr Criminaltath, wird meine 
Schweſter unjerm Vater jagen, daß ich Niemanden verrathe!” So etwas konnte 
„Onkel“ Dambah, wie ihn die Exftudenten nannten, nicht vertragen; ex 
peinigte den Widerjpenftigen auf's Neußerjte, und er ließ ihn noch nad) Jahren, 
als Fri Reuter, auf dem Transport von Magdeburg nad) Graudenz, Berlin 
paflirte, jeine gemeine Rache empfinden. Die „Hausvoigtei“ wurde dent Ge- 
fangenen zur Hölle, und um „Onkel“ Dambad)’3 willen war jein ganzes Wünſchen 
und Sehnen nur auf einen anderen Kerker gerichtet. 

Juſtiz-Commiſſionsrath Kunowsky war der Vertheidiger Fritz Reuters, 

30* 


448 Deutſche Rundſchau. 


den man ihm von Gerichts wegen beſtellt hatte, und er machte ſeinem Clienten 
zuerſt die beſten Hoffnungen. „Laſſen Sie ſich nicht bange werden, Sie müſſen 
ausgeliefert werden!“ tröſtete er ihn wiederholt. Und im Schlußverhör ſchlug 
er das preußiſche Landrecht auf und zeigte dem Inquirenten die betreffende 
Stelle. Herr Dambach meinte: es wäre eine neuere Verordnung erlaſſen. Und 
als Kunowsky entgegnete: ein ſpäter herausgekommenes Geſetz könne niemals rüd- 
wirkende Kraft haben, erklärte „Onkel“ Dambach: er wolle das ihm, dem Ver— 
theidiger, ſchon noch auseinanderſetzen. Dieſe „neuere Verordnung“ war die 
Frucht der „Wiener Conferenzen.“ Im Herbſte 1834 hatte man in Wien be— 
ſchloſſen, daß jeder Staat die in ſeinen Grenzen aufgefangenen „Hochverräther“ 
behalten und aburtheilen ſolle — ein Beſchluß, der als rückwirkend nie geſetz— 
liche Sanction erhalten hat und nur die gröbſten Inconſequenzen herbeiführte. 
Während Mecklenburg ſeine Gefangenen mit ſechs Monaten, andere Staaten 
die Angeklagten gar nicht beſtraften, wurde in Preußen auf lebenslaͤngliches 
Gefängniß, auf Beil und auf Rad erkannt! 


Nach einjähriger Unterſuchungshaft kam Fritz Reuter am 15. November 
1834 mit einer Anzahl Kameraden nach dem Silberberg in Oberſchleſien. Das 
Erkenntniß erfolgte erſt zwei Jahre, die Entſcheidungsgründe erſt drei Jahre 
ſpäter, nach faſt vierjähriger Haft. Auf dem Silberberg hatte es Fritz 
Reuter nicht zu ſchlecht, viel beſſer als in der Berliner „Hausvoigtei“. Seine 
Lage wurde mannigfach verbeſſert durch den Platzmajor, der ein geborener Meck— 
lenburger war, und mit dem der Bürgermeijter Reuter einen Briefwechſel an- 
fnüpfte. Doch erkrankte der Gefangene in Folge der ungewohnten Lebensweiſe, 
und al3 in den niedrigen, düftern Kajematten jeine Augen litten, beantragte er 
jeine Verſetzung, worauf er im Februar 1837 nad Glogau und dann nad) 
Magdeburg transportirt wurde. 

Kurz dor jeinem Abgang von Silberberg wurde ihm das Erkenntniß pu— 
blicirt, da3 er auf heimlichem Wege ſchon ein halbes Jahr früher erfahren hatte. 
Das Berliner Ausnahmegeriht, an deſſen Spite Herr von Kleiſt ftand — 
ri Reuter nennt ihn den „Blutigen“ — verdammte von 204 Angeklagten 
39 zum Tode, und zwar 35 zum Beile und 4 zum Rade! Die Lehteren wur— 
den zu lebenswierigem, die erfteren, darunter Fri Reuter, zu dreißigjährigem 
Gefängniß „begnadigt“. 

In Glogau, wo er zu feinem Leidwejen und zu feinem Unheil nur ſechs 
Wochen blieb, fand er einen Gönner und Beihüber in dem zweiten Comman— 
danten der Feltung, Major von Wichert. Diejer edle, wahrhaft humane 
Mann, den Tri Reuter in feinen Erinnerungen Oberft B. nennt, erwies ihm 
eine Reihe, von Liebesdienften, und feine junge ſchöne Tochter lieh dem Gefan- 
genen, der fie nur einmal, bei einem Spaziergange auf dem Walle erblidte, 
aber fie nie wieder vergeifen hat, aus ihrer Kleinen Bibliothek Goethe's Fauſt, 
Egmont und Wilhelm Meifter. 

Vor der Abreife nah Magdeburg fchrieb Fritz Reuter folgenden Brief, der 
bier zum erften Male veröffentlicht wird: 


Fritz Reuter auf der Feſtung. 449 


Glogau d. 11ten März 1837.*) 
Mein lieber guter Vater. 

Wenn ich je an Deiner Liebe und Deinen für mich fo beruhigenden und für 
Dich mit fo vielen Unbequemfichkeiten verknüpften Bemühungen gezweifelt hätte, fo 
würden Deine jüngften Briefe nicht allein durch ihre Zahl als auch durch ihren 
Anhalt mir das Gegentheil vor mein Gewiſſen rüden. Um nun diefe Bemühungen, 
jo viel an mir liegt nicht fruchtlos zu machen, werde ich darnach trachten Deine 
Briefe, die ich jet alle erhalten Habe, einen nach) dem andern zu beantworten und 
mich über die wichtigsten Punkte, die darin berührt find, außfprechen. Für's erſte 
muß ich Dich Über die Ermahnungen, mich nicht der Verjweiflung zu überlaflen, 
beruhigen. Dieje Grife ift längjt vorüber und gut oder übel überjtanden, nicht allein 
um meinetwillen ijt fie eingetreten, ſondern hauptjächlich weil ich den böfen Eindrud 
auf Dich und die Deinigen fürchtete; ich wußte mein Urtheil jchon unter der Hand 
um Michaelis und ſann nur darauf Deine um diefe Zeit jo ſehr erhöhten Hoffnun— 
gen zu mäßigen, da kam der unglüdliche Brief aus Berlin**), der abfichtlich des— 
halb gefchrieben zu fein fcheint, damit die Täufchung dejto bitterer auf Dein Herz 
einwirken möchte, lie ihn noch einmal aufmerkſam durch, er ift vom 25ſten Novem— 
ber und mein Urtheil, das dem Schreiber jchon befannt fein mußte, ift vom 4ten 
Auguft, die Begnadigung auf 30 Jahre jedoch erſt vom Alten December. Ich kann 
Dich verfichern, daß ich jet, da Du das Schlimmfte weißt, ziemlich ruhig bin und 
alles anwende um es noch mehr zu werden, Nun werde ich verfuchen noch einmal 
über mein mehr oder weniger Inculpirtfein Dih aufzuklären: In dem Briefe aus 
Berlin heißt es: der junge Reuter gehört zu den weniger Gravirten; das ift das 
einzige Wahre in dem Briefe, doch das läßt fich auch nicht verbergen, da es durch 
die Acten feſtſteht. Man hat bei diefer Unterfuchung folgende Kathegorien gebildet 
und darnach verurtheilt. Man hat eingetheilt in: nicht gravirte Verbindungen und 
in gravirte Verbindungen. Zu den erfteren gehören alle Burjchenichaiten vor dem 
Jahre 32 und e& find die Mitglieder derfelben mit 6 Jahren verurtheilt, wie es 
denn auch im Frühlinge vorigen Jahres veröffentlicht wurde; dieje find begnadigt 
entweder ganz oder zu Strafen bis zu einem Jahre. Darauf folgen die Breslauer, 
deren Tendenz nicht jo jchroff ausgeſprochen war, ala die auf andern Univerfitäten; 
fie erhalten: 6—8— 10, und die Gravirten in ihrer Verbindung haben erhalten 12 
bis 16 Jahre. Zu den gravirten Verbindungen gehören alle Burfchenichaften mit 
Ausnahme der Breslauer, die im Jahre 32 und 33 eriftirten zu Heidelberg, Bonn, 
Jena, Tübingen, Erlangen, Würzburg, Greifswald, Halle und Kiel. Diejenigen, die 
nicht in den Verbindungen aufgenommen waren jondern GCommentburfchen genannt 
wurden erhielten 6 Jahre Feitungsarreft, der jedoch durch die Gnade Sr. Majeftät 
auf 6 Monate gemildert wurde. Zu den nicht***) gravirten wirklichen Mitgliedern 
diejer gradirten Verbindungen gehöre ich mit allen Medlenburgern, mit Ausnahme 
von Frank, Schmidt aus Wismar und Nauwerk, welche man, den erfteren gewiß, 
vielleicht zu den gravirten gerechnet haben dürfte; und diefe Gathegorie ift durch die 
Bank zu dem Beile verurtheilt worden und zu 30 Jahren begnadigt worden. Die 
Sravirten diefer Verbindungen find zu dem Rade verurtheilt und zu lebenslänglicher 
Feſtungsſtrafe begnadigt worden, wie das Urtheil eines gewilfen Otto zu Stettin be- 
zeugt. Bei meiner Unterjuchung habe ich mich bejchränft die Wahrheit von That- 
ſachen einzugeftehen, die jchon eingeftanden waren und jo umftändlich eingeftanden 
waren, daß ich mit dem beiten Willen nichts neues anzuführen wußte, ja von einigen 


— 





) Die Briefe find nad Orthographie, Interpunction, und auch mit den grammatifalis 
ſchen Schnikern, genau wiedergegeben. 

**) Diefer Brief ift von dem damaligen Preubiichen Juftiz:Minifter, dem als Demagogen: 
Verfolger gleichfalls jo übel berüchtigten Herrn von Kamptz, bekanntlich einem geborenen Med: 
lenburger, an einen Gönner und Freund des Bürgermeifter Reuter gerichtet. 

*) Soll wol heißen, weniger gravirten. 


450 Deutihe Rundſchau. 


Sachen durchaus feine Kenntniß hatte, welches daher kam, daß ich nicht zu dem 
Gingeweihten gehörte. Won dem Frankfurter Attentat konnte ich feine Kenntniß 
haben, da ich fchon am 18. Februar Jena verließ und feit Mitte de8 Januar frei— 
willig au& der Berbindung ausgetreten war. Thörichte Redensarten habe ich auch 
nicht ausgeſtoßen, weil mir nicht folche Fragen, wie Du deren anführft, vorgelegt 
find. Der ganze traurige Unterfchied in der Beitrafung der Medlenburger mit 1 
Jahre und meiner mit 30 Jahren liegt in der Verſchiedenheit der Gefege und in 
der Gonfequenz des preußifchen Gerichtähofes; betrachtet man mich ala Preußen oder 
ala einen, der gegen den preußiichen Staat gefündigt hat, jo habe ich mich nicht 
über Härte der Strafe zu bejchweren, da alle daflelbe erhalten haben, die dafjelbe 
gewollt haben, denn gethan haben wir nichts. Nun zu der Anwendung des eben 
Gefagten: Du fiehit, wir find alle nach gewiſſen Grundſätzen in Claſſen getheilt und 
darnach verurtheilt; diefem gemäß werden auch die Gründe für das Erfenntniß ab- 
gefaßt werden, und man wird dabei daffelbe Verfahren beobachten, welches man im 
Frühlinge v. 9. bei den zu 6 Jahren Verurtheilten beobachtete, nämlich” man wird 
fie uns nicht allein nicht vorenthalten, fondern fie jogar dem Publico veröffentlichen; 
wie lange fich dies noch Hinzieht, ift ungewiß. Dann erſt könnte das Rechtsmittel 
der weiteren DVertheidigung eingelegt werden, wenn ich es überhaupt thäte; aber ich 
bin anderer Meinung als die medlenburgiichen Juriſten. Höre meine Gründe: 
fürs erfte, geht mit diefer Vertheidigung wieder ein Jahr und drüber Hin, unb das 
Rejultat derjelben kann nur höchjt zweifelhaft ausfallen. Bei diefem Prozeſſe ijt 
mit dem Urtheil fogleich die Begnadigung erjchienen, eine Anomalie, bei deren Ab» 
faſſung gewiß die Möglichkeit der Refultate der weitern Vertheidigung berüdfichtigt 
ift, und zwar jo, daß man uns durch die Gnade Seiner Majeftät daB hat gewährt, 
was wir vielleicht auf dem Wege der weiteren Vertheidigung erreicht Hätten. Wer 
fih unmittelbar an die Gnade Sr. Majejtät wendet, kann doch wohl mit Gewißheit 
darauf rechnen, daß jein Vertrauen nicht getäufcht wird und daß er wenigſtens die— 
jelbe Milderung der Strafe erhält, welche diejenigen erhalten, die fich weiter verthei— 
digen laſſen; ja die Erfahrung hat dies fchon Hinlänglich beftätigt; dv. Sprewit wird 
fich weiter vertheidigt haben und hat 7 Yahre gejeffen, dahingegen Schliemann aus 
Gnoien nur 5 Jahre in Haft geweſen ift. Alle meine Freunde in Gilberberg find 
diefer Meinung und ich glaube auch diejenigen in Magdeburg die ich bald darüber 
iprechen werde, indem ich morgen dahin abreife, weshalb ich heute noch diefen Brief 
beendige, damit Du Deine Briefe an die dortige Hochlöbliche Commandantur jendeft. 

Die KHleidungsftüde und Bictualien habe ich erhalten und bin nicht jo jehr in 
Betreff der erjteren in Verlegenheit, wie Du es glaubjt. Einen Theil des Geldes 
werde ich auf der Reife zur Verpflegung gebrauchen, welches mir ſehr noth thut, da 
ich jonft in Gefängniffen Nachtquartier machen müßte und mit 5 Sgr. leben müßte. 
An Magdeburg werde ich es jchlecht haben, wie wir es von allen Seiten in Silber- 
berg erfahren haben, doch denfe ich wird es wohl gehen. Hier in Glogau Hätte ih 
e3 mit der Zeit gewiß recht gut gehabt, da der zweite Commandant der Herr Major 
von Wichert jowie aud) der Herr Plat- Major Kurz fich meiner beitgütigjt angenome 
men haben, erjterer hat mich während meines Hierſeins mit Lectüre, worunter auch 
landwirthſchaftliche Werke fich befinden verfehen. Bon Glogau jelbft habe ich gar 
nicht3 zu jehen befommen, fo wie ich auch eine hiejelbjt befindliche Runfel- Rüben- 
Zuder » Fabrit nicht in Augenschein nehmen konnte, was ich freilich gern gethan 
hätte.*) Mus Frankenſtein ift noch nichts, nicht einmal eine Antwort oder ein Auf- 
ihluß Hier angelommen wogegen ich die von Dir nach Silberberg gejendeten zwei 
Briefe erhalten habe auch alle drei fpäteren mit 40 rth. im Ganzen. Sch wüßte 
jet nicht®, was ich noch zu beantworten Hätte, denn über die Zweckmäßigkeit der 





*) Für folche Fabriken, die damals in Aufnahme famen, intereffirte fich jehr ber Bürger: 
meifter Reuter, ein intelligenter, vielfeitiger Mann, der auch mancherlei Induſtriezweige culti: 
virte und ſich dadurch um Medlenburg verdient gemacht hat. 


Fritz Reuter auf der Feitung. 451 


Schritte, die Du zu meiner Auslieferung gethan halt, babe ich nur eine jehr unbe- 
deutende Meinung, da ich es zu wenig beurtheilen kann, ob überhaupt ein Rejultat 
erfolgen wird; aber mache es jo wie Du im lebten Briefe angiebjt, warte erjt die 
Entſcheidung der Preußiichen Regierung in Betreff der Requifition ab und wenn dies 
gethan ijt und feine Erfolge fich zeigen, jo wende Dich an Serenissimum, ob der 
etwas für mich thun will. Wenn ich nur erſt in Dömig*) wäre! Ob wie verän- 
dern fich die Wünjche der Menjchen, hätte ich dies vor 4 Jahren in Deiner Gegen 
wart gewünjcht, gelt Du Hätteft mich auf den Sachſenberg““) zu Schwerin geichidt; 
und das ſchlimmſte bei diefer unglüdlichen Sache bleibt immer der ungeheuere Ver— 
luft der Zeit, der Zeit in der ein junger Mann feines Glüdes Schmidt ijt. At fugit 
interea, fugit irreparabile tempus. Vier Jahre will ich noch ruhig ausharren und 
werde fie noch ertragen, ift dann noch fein Ziel, dann lebe wohl Hoffnung auf Er- 
denglüd, dann werde ich grenzenlos unglücklich werden. Heute ift ein jchöner Tag, 
wenn meine Reife jo begünftigt wird, To glaube ich wird fie mir, wenn fie anders 
auf bderjelben Art wie von Silberberg Hierher vollführt wird ***), viel Vergnügen 
machen. Was unjere Familie betrifft, jo wechjelt dort ja Freude und Trauer auf 
eine für mich jehr ergreifende Art. Großmutter und die Tante in Jabel, beide dem 
Tode nahe, beide ein paar ausgezeichnete Frauen, die eritere erzog meine Mutter, 
mit welchen Mitteln und wie! — Die andere, ja da muß ich mit Schiller antwor- 
ten: nicht dem Guten gehöret die Erde, er ift ein Fremdling und wandert aus und 
Tuchet ein unvergänglich Haus. Karl und Mtariet), nun dieje beiden werden gewiß 
glüdlich werden; beide haben unendlich viel Gemüth, und darauf beruht wenigjtens 
die Zufriedenheit und das Glüd der innern Bruft, für das äußere, da jorge Gott 


und jo viel an Dir liegt — — — tr) Was ich hierüber fchreibe, Lieber Vater, ſage 
es feinem, auch) Lifetten fr) und — — — tF) nicht; ich will nicht Umruhe erzeugen und 
nicht Unrecht thun; und deßhalb mache dieſe leiten Zeilen gleich, nachdem Du fie 
gelejen, unlejerid — — — P). 


Wie ich eben höre, veife ich morgen noch nicht, jchreibe jedoch nur den nächſten 
Brief nah Magdeburg und ſorge nicht zu viel um mich, es greift Dich zu jehr an; 
in der Stimmung, worin ich jebt bin, jchlage ich mich fchon durch (ich habe fie 
arößten Theils dem Herrn Major von Wichert zu danken), jorge lieber aud) für den 
alten treuen Emjt.*7) Nun lebe wohl und denke ruhiger an 

Deinen 
Sohn %. Reuter. 

Fri Reuter's Aufzeichnungen „Ut mine Teftungstid“ beginnen erſt mit 
Glogau, im Februar 1837, nachdem er jchon über drei Jahre gejejfen, und 
ziehen ji) dann bis zu jeiner Entlajjung im October 1840, In Magdeburg, 
wo er im April 1837 bei graufigem Schneetreiben eintraf, fand er die böjen 
Gerüchte, die ihm zu Ohren gefommen waren, vollauf bewahrheitet. Wiewol 
auf Feftungshaft erkannt war, wurden die politiichen Gefangenen doc) in das 
Inquiſitoriat geſteckt, ein höchſt ungeſundes Zellengefängniß, in welchem jie 





*) Kleine Feſtung in Mecklenburg, wohin endlich Fritz Reuter in der That ausgeliefert 
wurbe. 

**) Hier befindet fich die Irrenanſtalt. 

+++) Nämlich in kurzen Tagereiſen, wie es auf Anordnung des Major Wichert auch dies: 
mal geichah. Vgl. „Ut mine Feſtungstid“ ©. 35. 

7) Couſin und Goufine von Frik Reuter, die im Begriff ftanden, einander zu heirathen. 

rt) Drei verſchiedene Stellen find unlejerlich gemacht. 

rrr) Liſette, die ältere, jetzt auch jchon verftorbene Schwefter Fritz Reuter's. 

*5) Der jchon erwähnte Neffe und Pilegefohn des Bürgermeifterd, ipäter deſſen Schwie— 
gerjohn. 


452 Deutſche Rundſchau. 


faſt alle erkrankten und dahinſiechten. Der erſte Commandant, Graf Haak, 
war wie „Onkel“ Dambach eine gemeine Seele und verübte gleich dieſem an 
den armen Jünglingen die elendeſten Quälereien. Fritz Reuter berichtet dar— 
über eingehend in Capitel 7 bis 11 ſeines Buches. In Magdeburg erhielten 
die Gefangenen auch endlich die Entſcheidungsgründe. Wie dieſelben beſchaffen 
waren, erhellt aus dem nachſtehenden Briefe: 


Lieber Vater, 

Dielen Dank für Deinen Brief, worin Du mir den Erfolg der Verwendung 
unſeres Hofes meldeft, oder vielmehr unferer Regierung. Es ift wahr, die Sadıe 
ift nicht beffer und nicht fchlimmer dadurch geworden und das Rejultat dürfte am 
Ende doch nur eine abjchlägige Antwort fein. Mir ift vor einigen Tagen das Ur 
theil mit den Entjcheidungsgründen vorgelefen worden, wodurch ich jedoch um michts 
flüger geworden bin, e8 war eine Gefchichtsergählung, die zum Schluffe mit einigen 
Bemerkungen verjehen war, in denen es unter Andern hieß: Jch wäre geftändig ge 
wefen, das Lied „Fürften zum Land hinaus“ gefungen zu haben, läugnete aber den 
Ders über Sr. Majeftät den König zu kennen, da mir die nicht zu glauben jei, jo 
würde ich doch der Majejtätsbeleidigung jchuldig erkannt; ich läugnete ferner im der 
Verfammlung zugegen gewefen zu jein, in welcher die revolutionaire Tendenz ausge— 
prochen wäre; das wäre mir auch nicht zu glauben u. ſ. w. Es war nur alle 
pro forma und ich erwartete auch nichts anderes und nahm meine Appellatio zurüd. 
Ich Habe nun ein Begnadigungs-Gejuch aufgejeht und jende Dir die Abjchriit des— 
jelben zu. Das Deine habe ich gelefen und bitte es jo zu lafjen und nur noch hin: 
zuzufügen, daß Du gehört habeft, wie ſchon Wiek aus Schleswig und Kleekamp aus 
Kiel, die eben jo betheiligt wären wie ich, im Sommer 1834 nad Holftein ausge 
liefert worden wären; ich glaube dies anzuführen paßt fich befler für Dich als 
für mid, 

Hier folgt mein Geſuch: 

s.T 


So ſchrecklich fich auch in der gejeglichen Beurtheilung dad Wejen meiner Ver: 

gehung entfaltet Hat, indem ich durch Erkenntniß des Königl. Kammergerichts 
„wegen Theilnahme an der hochverrätheriichen Berbindung der Bur— 
ichenschaft zu Jena zur Todesjtrafe, welche durch die Allerhöchite Gabi: 

net3-Ordre in SOjährige Feltungsftrafe verwandelt worden ift,* 
verurtheilt worden bin, jo drängt mich doch mein eigenes Bewußtjein zu dem Trofte, 
daß nie in meinem Leben ein wirkliches Verbrechen das Ziel meiner Beftrebungen war. 
Leichtfinnige Erfaffung des Augenblids, Mangel an ernftlicher Erwägung der Dinge 
und ihrer Folgen und jugendliche flüchtige Begeifterung für alles Gute konnten wohl 
manches jaljche Ideal für eine Zeit lang vor meinen Bliden feffeln, aber niemals 
bin ich mir bewußt gewejen den verbrecheriichen Unternehmungen, wie fie mir zur 
Laſt gelegt werden, mein Herz oder meine Hand zu leihen. Von diefem tröftlichen 
Gedanken ermuthigt, wage ich es, von der Gnade Ew. Majeftät eine Milderung der 
ſchweren, von dem Geſetze mir zuerfannten, Strafe zu Hoffen, und flehend darum 
mich dor Allerhöchft dero erhabenen Throne niederzuwerfen. Schon feit fat 4 Jahren 
büße ich die leichtfinnigen Verirrungen meiner Jugend in einer ftrengen Gefangen- 
Ihaft, und es war mir vergönnt den Ernſt zu jammeln, der dem jumgen Manne zur 
Befeftigung von richtigen Grundfäßen und zur Erfüllung feiner Lebensaufgabe nöthig 
ift. Ich Habe um fo jchmerzlicher diefe Strafe empfunden, als ich fie fern von mei— 
nem Vaterlande ertragen mußte, und e8 mir nicht unbekannt ift, daß in demjelben 
die Beurtheilung unferer Vergehungen viel gelinder, und die darüber verhängte 
Strafe bei weitem derjenigen nicht gleich fommt, welche ich bereits erbulbet habe. 
Dürfte e8 mir erlaubt jein zu bemerken, daß ich, ein Medlenburger von Geburt, mie 
in den Königlichen Staaten Ew. Majeftät, zu ftudiren das Glüd gehabt, und id 


Fri Reuter auf der Feftung. 453 


mid — nur durchreifend in denjelben verhaftet — um jo weniger der unmittelbaren 
Schuld einer Verletzung diegjeitiger Gejege theilhaftig jehe, jo kann ich mich nur 
ſchwer auch diejer Stüße meiner Hoffnung berauben, daß es Em. Königlichen Maje- 
ftät Gnade und Huld gefallen wolle, meine bereit? überftandene Strafe allergnädigjt 
anzujehen, und mich um jo eher meinem geliebten Waterlande und den Armen mei- 
ner trauernden Familie wieder zu ſchenken. Ich bin durchdrungen von dem fejten 
Bertrauen, daß auch der Ausländer vor dem väterlichen Throne Eines Allverehrten, 
Allergnädigften Königs nicht verftoßen werde, wenn er demüthigſt in den Reihen 
Gnade flehender Unterthanen erſcheint und ich wage es mit nicht minderer Aufrich— 
tigkeit in den Geſinnungen der tiefſten Ehrfurcht und Ergebenheit zu — 
Magdeburg. E. 
—— 


Dieſe Bitte werde ich von hier aus ſo bald wie möglich — damit ſie 
noch dor dem 3ten Auguft*) zur Sprache kommt, denn indem ich fie nicht direct an 
Sr. Majeftät jenden kann, fondern an die Minifterial-Gommiffion, jo kann leicht eine 
ziemliche Zeit damit vergehen. 

Daß ich die 25 th. von M. und 10 erhalten habe, habe ich Dir gemeldet, 
auch find die 30 rth. richtig angelangt, doch von dem bewußten Rod hat fich noch 
nicht verlauten laſſen. Ich bin gefund und wohl und jchide und drüde mich, fo 
gut, wie’3 gehen will. Wenn Du nun noch den fetten Verſuch machſt, indem Du 
Dih an Serenissimum wendeſt wenn er im Auguft nach Blerlin) geht, jo glaube ich 
hat man Alles gethan, was fich thun läßt und man fann dann alles dem Himmel 
anheim jtellen. Du verlangjt die Namen der Herren, die hier meine Vorgeſetzten 
find, zu wiffen. Der erſte Gommandant ift der Herr General-Lieutenant Graf von 
Haal, der zweite Gommandant der Herr Major Bol, und der Plah- Major Herr 
Hauptmann Singer. Ich glaube, daß ich in diefen Angelegenheiten auch öfter ala 
zweimal jchreiben darf und werde ich, wenn es nöthig fein jollte, den Herrn Pla» 
Major darum bitten. Binnen 8 bis 10 Tagen ift mein Geſuch abgegangen und da 
wäre es wohl gut, weun Dein auch einginge. Bleibe gejund und — an 

einen 
Sohn F. Reuter. 
Magdeburg d. 30ften May 1837. 


Niemand wird das Gnadengeſuch des einft jo freiheitäbegeifterten, nun 
aber durch die lange Haft gebeugten und mürbe gemadten Jünglings ohne 
Rührung leſen; allein es hatte ebenjo wenig Erfolg wie dasjenige, welches der 
Vater abjandte, und dem diefer im Laufe der Zeit noch verfchiedene folgen ließ. 
Der zweite Commandant, defjen Fritz Reuter im obigen Brief erwähnt, Major 
Bock — in jeinem Buche nennt er ihn Oberft von B. — war im Gegenjahe 
zum Grafen Haak ein gutwilliger Dann, aber aus Furcht vor feinen Vorgeſetzten 
that er für die Gefangenen auch nichts. Erſt auf dem Sterbebette — er folgte 
den Grafen jchnell in das Grab — beſchwor er den Plakmajor, dafür zu 
jorgen, daß die jungen Leute verſetzt würden, weil fie jonft ſämmtlich „vor die 
Hunde gehen müßten“. Hauptmann Singer, der Plakmajor, endlich bewies 
den „Demagogen“ ſoviel Nahficht und Erleichterung, als die Umftände geftatteten, 
und verkehrte mit ihnen, wie aus Fri Reuter’3 Schilderungen hervorgeht, in 
faft freundichaftliher Weile. Die Correfpondenz der Gefangenen ging jelbft- 
verftändlich durch die Hände des Commandanten. Mancher Brief wurde ihnen 


*) Bekanntlich der Geburtätag Friedrich Wilhelm's III. 


454 Deutſche Rundſchau. 


vorenthalten oder ſie erfuhren den Inhalt nur mündlich. Sie ſelber durften 
nicht zu oft ſchreiben, nur etliche Mal im Jahr; es ſei denn, daß es ſich um 
dringende Fälle und wichtige Angelegenheiten handelte. Briefe, die man bean— 
ſtandete, wurden ihnen zerſchnitten zurück gegeben. Trotzdem fanden ſie Mittel 
und Wege, heimlich zu correſpondiren. Verſchiedene Briefe Fritz Reuter's ſind 
in zerſchnittenem Zuſtande an ſeinen Vater gelangt, exiſtiren noch heute, und ich 
habe fie bei der Schweſter des Dichters eingeſehen. 


Meder Mauern noch Schlöſſer, weder Wachen noch Aufſeher konnten den Ver- 
kehr der Gefangenen unter einander und mit der Außenwelt verhindern. Sie waren 
auf den verſchiedenſten Feſtungen vertheilt, aber Jeder hatte von den Andern, 
namentlich von ſeinen nähern Bekannten, fortlaufend Kunde, genaue Nachrichten 
von ihren Leiden und Freuden, Hoffnungen und Ausſichten. Sie hielten alle 
wie leibliche Brüder zuſammen; wer da plauderte oder ſich ausholen lieh, 
war geächtet, war fortan allein; Niemand ſprach mit ihm, Niemand ſah ihn 
mehr an. Faſt von jeder Feſtung entflohen Etliche, ſo namentlich von Silber— 
berg, Glogau, Kolberg, Magdeburg ꝛc.; die Zurückbleibenden waren ſtets im 
Complot oder ſie wußten doch darum, aber alles Inquiriren half nichts, man 
leugnete einfach oder man blieb ſtumm. Während Fritz Reuter in Magdeburg 
ſaß, entflohen von hier zwei junge Mediciner, Namens Wagner und Rein— 
hard. Unter dem Beiſtande eines früheren Kameraden Br., der erſt vor einem 
Vierteljahr frei gefommen, jet dieje Freiheit wieder auf's Spiel ſetzte, ent- 
famen fie glüdlih nad England. Mit ihnen verließ der edle Br. Vater und 
Vaterland. Frit Neuter läßt ihn ſpäter al3 einen der beliebteften Schriftiteller 
in Wien leben. Mir jedoch hat man jet mitgetheilt, daß der Betreffende — 
fein eigentlicher Name ift-Braun geweſen — 1840 in Folge der Amneftie, 
welche Friedrich) Wilhelm IV. erließ, zurückkehrte und das Gut jeines Vaters 
bei Schievelbein in Hinter» Pommern übernahm, wo er dor einigen Jahren 
geftorben ift. Wagner und Reinhard meldeten dem Grafen Haak ihre glückliche 
Ankunft auf Helgoland in einem jpöttiichen Briefe, und ſchon am nächften Tage 
eireulirte eine Abjchrift diejes Briefes unter den Gefangenen. Auch Fri Reuter 
dachte mehrmal3 an Entfliehen, aber der Bürrgermeifter wollte davon nichts 
hören. Bon diefer heimlichen Correjpondenz zwiſchen Vater und Sohn bekam 
da3 „gottgefegnete” Preußiſche Minifterium Wind und ließ, um den Vermittler 
zu entdeden, auf einen gewiljen Brief fahnden. Da erzählt nun ri Reuter 
voll Freude und Anerkennung, wie fein „Krätending von lütt Swefter”, jeine 
jüngere Schwefter Sophie, durch ihre Geiftesgegenwart „einen braven Dann“ 
vor großem Schaden bemwahrte.*) 


Don jeinen Kameraden in Magdeburg nennt Fri Reuter noch: Gr. . . 
das iſt Hermann Grashof zu Lohe in Weftphalen, dem er „it mine 
Teftungstid‘ gewidmet hat; ferner W...., das ift Wahsmuth, jpäter 
Kreisgerichtsrath zu Groffen, und M...., der ſchon katholiſcher Priefter und 
im Beſitz der drei erften Weihen geweſen, das ift der nachher jo bekannt gewor- 


*) „Ut mine Feſtungstid“, ©. 97 u. 98, 


Fritz Reuter auf der Feſtung. 455 


dene Jeſuitenpater Haslacher. Zwei Andere, mit ihren Spitnamen „der 
Kapitän’ und „der Franzoſe“ geheißen, kommen jpäter in Betracht. 

Fritz Reuter war eine jo elaftijche Natur, ein jolch leichtblütiges Menſchenkind, 
daß er auch im Kerker nicht die Luft und Freude am Leben verlor, und daß er unter 
der langen Haft überhaupt, körperlich wie geiftig, weit weniger litt al3 die meiften 
jeiner Kameraden. Nach der Berliner Hausvoigtei war das Magdeburger 
Inquifitoriat3-Gefängniß der jchredlichfte Aufenthaltsort, aber der Yüngling 
gewann auch hier bald jeine frohe Laune twieder, zumal als ihm auf Anordnung 
des Plakmajors jein Zeichengeräth twieder zugejtellt wurde. 

Zum Herbjt 1837 geriethen die Gefangenen in Bewegung; man fing an, 
die Tage zu zählen, und jah jedem neuen Tage mit großer Spannung und 
außerordentliher Erwartung entgegen, bis dann völlige Enttäufhung und 
tiefe Niedergejchlagenheit Pla griff. Das Nähere ergiebt der folgende Brief: 


Lieber Bater, 


Du wirſt vielleicht jchon einen Brief von mir erwartet haben, doch hatte mein 
Stillfchweigen eimen guten Grund; ich ſage guten, injofern nämlich die bloße Hoff: 
nung gut ift und das ift fie doch wohl, jelbjt wenn fie getäufcht werden follte. Es 
verbreitete fich nämlich ein Gerücht, welches jelbjt in unſerm Kerker wiederhallte, daß 
Sr. Majeftät 40jähriges Regierungs-Fubiläum (am 16. d. M.) den politifchen Ge- 
fangenen eine günftige Veränderung bringen würde, ja man jprach don einer gänz- 
lichen Amneftie, und da dachte ich denn bei mir, warum ſollſt du dieſes glücliche 
Greigniß nicht abwarten und dich dann ftatt des Briefes auf die Post ſchicken; doch 
wie jehr auch die Hoffnungen von Tage zu Tage wuchſen, wie jehr auch die Pläne 
zur Reife berathen wurden, die Amneſtie blieb aus, und fo dachte ich, es fei wohl 
beffer, wenigftens einen gejchriebenen Boten in die Heimath zu jenden. Eine Hoff: 
nung haben wir alle noch, nämlich wenigftens auf die Gitadelle zu fommen, da näm— 
ih ſchon hier eine Commiffion zur Unterfuchung der Gefängniffe gewejen ift, um zu 
bejtimmen, ob diejelben gefund find, und da ift denn berichtet worden, — doch was 
berichtet worden ift weiß ich nicht und wenn ich es wüßte dürfte ich e8 doch nicht 
jchreiben, aljo warten wir die Enticheidung, die, da jchon 7 Wochen vergangen find, 
wohl bald eintreffen wird, ab und beruhigen wir uns bis dahin. Mit meiner Ge- 
jundheit ſteht es gut und durch die Güte des Heren — *) wird auch für meinen Unter: 
halt geiorgt, jchade, daß ich den Herrn micht jprechen darf. Die Cholera ift ung 
gnädig dorbeigegangen und Hat überhaupt hier nicht jo böſe gehauft, wie fie in 
Berlin gehauft haben joll; aber dennoch find leider viele von uns jehr kränklich. 

Meine Beichäftigungen find die alten, nur mit dem Unterjchiede des weiter 
Vorgerücktſeins; denn beim Zeichnen bin ich fo fühn geweſen mich an die Pajtell- 
zeichnerei zu machen und porträtire alles, was fich von mir porträtiren laſſen will 
und alle, die mit mir Umgang haben können; ich glaube faft ich könnte, bei einiger 
größerer Hebung jchon ala Maler fungiven; aber halt nun fällt mir ein, daß ich 
Dir zum Trofte doc) fchreiben muß, daß ich deßhalb doch nicht die Deconomie ver- 
geſſen habe, doch kann ich wirklich, beim bejten Willen nicht alles verjtehen, den Koppe 
weiß ich auswendig und wenn ich die Encyelopädie, die beiläufig gejagt ftärfer ift 
als das Gonverfationstericon auch nicht auswendig weiß, jo ift mix doch jo ziemlich, 
mit Ausnahme der Kaninchen- und Ziegenzucht u. dgl. auch dort dag meijte befannt ; 
aber wie joll ich hier die Eintheilung der verjchiedenen Aderklaffen kennen lernen, 
wie joll ich beurtheilen können ob jeßt Zeit ift zu wenden oder ob ed noch zu naß 
u, ſ. w., da ich nicht? anderes Feld jehe ald den Sand im Spudfaften und fein 


*) Der Name ift unleferlich gemadht. 


456 Deutiche Rundſchau. 


anderes Pierdegefchirr ald wenn zum Gaudium unferer Najen die Düngergruben aus- 
geiahren werden. In der Hoffnung, daß Du wohl von der Hochzeit*) zurüdgelehrt 
bift, und überhaupt vergnügt bift, fchließe ich heute, um der guten Lifette auch noch 
ein paar Worte zu jchreiben. Lebe wohl 

Dein 


Sohn F. Reuter. 
Magdeburg d. 29ſten November 1837. 


Zeichnen und Malen trieb Fri Reuter von Kindesbeinen an. Mande 
feiner Porträts, die fich noch vorfinden, wurden mir als gelungen bezeichnet; 
manche jollen von unzweifelhafter Aehnlichkeit fein. In Stavenhagen jah id 
eine Kreidezeihnung von Fri Reuter, das Bildniß feines Vaters, ein unſchönes 
griesgrämiges Geficht, das die Schwefter des Dichters nicht recht gelten lafien 
wollte. Das Talent des Jünglings verſchaffte ihm manchen Freund und 
Gönner, auch unter Kerkermeiftern und vorgejegten Officieren, und der Gedanke, 
fih der Kunft zu widmen, drängte fi ihm wieder ftärker auf. Der Vater 
aber mahnte und trieb, das Brodftudium nicht Tiegen zu laffen, fleißig im 
Corpus juris, in Höpfner’3 Jnftitutionen und Thibaut's Pandekten zu leſen. 
Er wollte aus dem Sohne durchaus einen Juriften machen, ihn womöglid als 
Nachfolger in feinem Amte ſehen. Fritz Reuter machte auch von Zeit zu Zeit 
gewaltjame Verſuche und Anftrengungen, um dem Wunſche des Vater nachzu— 
fommen. So jchreibt er ihm einmal von Graudenz: „Die Yurispruden 
treibe ich des Morgens fleißig und werde fie noch mehr treiben als bisher, da 
ih geftern mir einen Wedapparat eingerichtet habe, der jet in Wirkjamteit 
getreten ift, und wodurch ich den Abend, die Zeit der Erholung, abkürze, den 
Morgen, die Zeit der Arbeit, verlängere.” Das find indeifen jchöne Worte ge- 
blieben. E3 fehlte ihm nie an gutem Willen, wohl aber an Geduld und Stetig- 
feit. In der Skizze „Eine heitere Epifode aus einer traurigen Zeit‘, die Frih 
Reuter in dem von ihm Oftern 1855 bis dahin 1856 herausgegebenen „Unter: 
haltung3blatt für beide Medlenburg und Pommern“ veröffentlichte, und welche 
die Vorarbeit ift zu feinem nachherigen Buche „Ut mine Feſtungstid“ läßt er 
ſich über feine juriftiichen Studien auf der Feſtung jo vernehmen: „Ih wart 
mich auf's Bett und las in Höpfner's Commentar. — — Ich hatte gerade 
eine halbe Drachme Fauftpfand eingenommen und ſchaute, die Wirkung ſchon 
halb verjpürend, auf die löfchpapiernen Blätter meines Exemplars, wie man 
an Herbftabenden in den grauen Nebel zu ſchauen pflegt unter dem halb fröfteln- 
den, halb wohlthuenden Gefühle, daß man jo wunderfhön im Trodenen ſiht.“ 
— Er befennt, daß er Höpfner’3 Kommentar regelmäßig als Schlaftrunt ge 
braucht Habe, und erzählt, wie ihm der alte Göttinger Profeffor im Traume 
erihienen jei, um ihn zu höhnen und zu martern. 

Außer der Jurisprudenz, die der Vater verlangte, und der Malerei, die 
der Wunſch des Sohnes war, gab es num noch ein Drittes, welches die beiden 
Parteien gewiſſermaßen vereinigte — die Landwirthſchaft. Der Water mußte 
fürchten, daß der Sohn, wegen der langen unabjehbaren Haft, zum Juriften 
doch zu alt werden könne und Fritz Reuter wieder mochte an feinen Ber 


*) Hochzeit einer Goufine in Jabel. 





Fri Reuter auf ber Feſtung. 457 


zum Maler nicht zu feft glauben. Wenn es aljo mit der Malerei nicht ginge, 
wollte er’3 mit der Landwirthſchaft verſuchen. Zwar ftellte der Bürgermeifter 
den jtudirten Beamten hoch über den Landwirth; zwar bezweifelte er ſtets, daß 
der Sohn zu diefem Stande fi eigne — und die Folgezeit hat ihm nur zu 
jehr Recht gegeben: aber er fügte fich jcheinbar. Es kam ihm darauf an, den Sohn 
nicht jo unthätig zu wiſſen, ihn etwas ernfthafter beichäftigt zu jehen, und 
darum ließ er die ökonomiſchen Studien geichehen. Wie unfruchtbar fie aber 
gewejen, und daß fie in der Gefängnißzelle einen faſt lächerlichen Anftrich 
hatten, bezeugt ri Reuter in dem leßten Briefe jelber. Er trieb aljo nichts 
von Bedeutung: ein wenig Jurifterei und ein wenig Landwirthſchaft, bald ab- 
wechſelnd, bald gleichzeitig, und jeine eigentliche Beichäftigung während der 
ganzen fiebenjährigen Gefangenihaft bildeten Zeichnen, Malen und allerhand 
Spielereien. Merkwürdiger Weiſe Tcheint es auch zu poetiſchen Ergüffen nur 
jelten gefommen zu fein, und wa3 davon befannt geworden, ift herzlich unbe- 
deutend. Dichtkunft und SchriftitellertHum lagen ihm auf der Feſtung noch jehr 
ferne. Daß aber die Liebhaberei für Stift und Pinjel ihm fpäter, als er end- 
lich jeinen wahren Beruf einſchlug, von dem allergrößten Nuten geweſen, fteht 
wol außer Trage. Die realiftiihe Darftellung, die ſcharfe Charakteriftif, die 
friichen, gejättigten und oft brennenden Farben, welche wir in den Werfen des 
Dichters bewundern, find zurüdzuführen auf den Maler-Dilettanten. 

Die Unterfuhungs-Commijfion, deren Fri Reuter im letzten Briefe gedenkt, 
berichtete von dem Inquiſitoriats-Gefängniß die allerichlimmiten Dinge, Graf 
Haak ſtarb plößli, und der neue Kommandant, wenngleich ein Pietift, bezeigte 
den „Demagogen” etwas mehr Fürſorge und jogar ein wenig Mitleid. Trotz— 
dem benußte Fri Reuter eine Gelegenheit, die fi ihm darbot, und ließ ſich 
verjegen. Nach etwa zehnmonatlidem Aufenthalt jchied er von Magdeburg 
und wurde Februar 1838 nad) Graudenz geſchafft. Sein Begleiter war „der 
Capitän“, dejjen wahrer Name Schulte ift, damals Gerichtsauscultator, heute 
Juſtizrath in Mejerit. Bei jchneidender Kälte ging die Reife über Berlin, wo 
man in der Haudvoigtei Station machte. Wiederum waren die beiden Jüng— 
linge der väterlichen Obhut von „Onkel“ Dambach übertviejen, und er ließ fie 
vier Nächte, vier bitterfalte Nächte in der ungeheizten Zelle auf dem bloßen 
Fußboden liegen. Dazu kam eine große Angft. Sie kannten nicht das Ziel 
ihrer Reife, und der Gedanke, daß fie wol gar bei „Onkel“ Dambad) bleiben 
jollten, brachte fie der Verzweiflung nahe. Fritz Reuter jchildert dieſe Scenen 
in dem Gapitel „Berlin un de Husvagtei (Ni taum irften, ne! taum annern 
Mal)“, das mit das ergreifendfte des Buches ift. 

Gommandant von Graudenz war Generalmajor von Zoll, ein alter 
braver Weftphale, der ſchon unter Napoleon als Oberft in Spanien und 
in Rußland gedient Hatte. Er nahm die Ankömmlinge gut auf und gewann 
jofort ihr Vertrauen. Bald trafen noch mehrere Kameraden ein, darunter 
„Kopernitus”, jonft Bogler geheißen und jeines Zeichens ein Referendar, ſo— 
wie „der Franzoſe“. Diefer, deffen eigentlider Name Guitienne lautete, ein 
großer ftattliher Jüngling, kam von der Berliner Charite. Seit der Verkün- 
digung des Todezurtheils hatte fein Geift gelitten; nun war er genejen, und man 


458 Deutſche Rundſchau. 


ſetzte ihn wieder auf die Feſtung. Dieſe Vier: „der Franzoſe“ und „Koper- 
nikus“, „der Capitän“ und „Charles douze*“ — das iſt Fritz Reuter ſelber — 
hielten eng zuſammen und führten in den alten, düſtern Kaſematten ein fun: 
weiliges, fideles Leben. Wiewol Fri Reuter nicht länger al3 fünf Vierteljahr 
in Graubdenz blieb, ift doc die Hälfte ſeines Buchs diejer Feſtung gewidmet; 
und dem greijen Gommandanten jeßte er in dankbarer Erinnerung nod ein 
bejondere3 Denkmal in der köſtlichen Geſchichte „Ut de Franzoſentid“, wo der 
franzöjiihe Colonel, der fein geborner Weſtphale ift, auf dem Rückzuge aus 
Rußland nad) Stavenhagen kommt und hier zunächſt viel Verwirrung und 
Schrecken anrichtet. 

Inzwiſchen Hatte der Bürgermeifter Reuter wegen des Sohnes Himmel und 
Erde aufgeboten. Immer wieder ſetzte er die medlenburgiiche Regierung in 
Bewegung, die dreimal von Preußen die Auslieferung des Landeskindes ver- 
langte. Ja, die Großherzogin Alerandrine jelber verwandte fich für Fritz Reuter 
bei ihrem Vater, aber gleihfall3 umjonft. Endlich gab der König von Preuken 
den Bitten jeines Schtwiegerjohnes nad, und der Gefangene ward dem Groß— 
herzog Paul Friedrich ausgeanttwortet, der num wider feinen Willen den Kerker- 
meifter machen mußte. 

Im Juni 1839 kam Fri Reuter auf die medlenburgifche Grenzveite 
Dömitz, und hier geftaltete ſich fein Loos jo günftig, wie er jelber nur wünſchen 
fonnte. Er durfte in Feftung und Stadt frei umhergehen, er konnte jeht ſon— 
der Aufficht correfpondiren mit wen er wollte, und bald empfing er den Be 
ſuch des Vaters. Der Commandant, Oberftlieutenant von Büllom, ein origi- 
neller Herr von achtzig Jahren, zog ihn in feine Familie, die aus der Gattın, 
einer guten freundlichen Dame, und aus einem „ganzen Neft voll Töchter, eine 
immer jchöner ala die andere”, beftand. E3 erging ihm jo gut, daß er nach— 
gerade die Gejellichaft des Commandanten, imit dem er fajt Abend für Abend 
Schach jpielen mußte, etwas Yäftig fand und fich mit dem alten Herrn über: 
warf. Er bejuchte lieber die Wirthichaften in der Stadt und gab hier zu 
mancherlei Beſchwerden Anlaß. In Dömitz war er ein Gefangener nur noch 
dem Namen nad), und vier Monate nach dem Tode Friedrich Wilhelms II. jhlug 
ihm endli die Stunde völliger Freiheit. 

Auf Fritz Reuter’3 Feſtungszeit folgen "feine 3,,Strom-“ oder Wanderjahre 
— Wanderjahre im buchſtäblichen Sinne. Die nähern Schilderungen derjelben 
nebft den Belegen enthält mein allernächitens erjcheinendes Buch. 


das Mufiklehrerihum und das Vublicum. 


— — — 


Ein Wort an den Cultusminiſter. 


— —— 


Es hat in jüngſter Zeit nicht an den mannigfachſten Verſuchen gefehlt, das 
muſikaliſche Urtheil des Publicums in die rechte Bahn zu lenken, und Dr. 
W. Langhans hat ſchon vor zwei Jahren zu dieſem Zweck den Vorſchlag ge— 
macht, den Muſikunterricht, auch den theoretiſchen, obligatoriſch in die Schulen 
einzuführen*). Der Verfaſſer ging von der irrigen Vorſtellung aus, jeder Menſch 
beſäße ein Minimum von muſikaliſcher Anlage. Jeder, der ſich mit der muſi— 
kaliſchen Theorie lehrend beſchäftigt hat, weiß nun aber, daß ſich bald nach 
den erſten Anfängen ein wenn auch noch ſo geringer Grad muſikaliſchen Vor— 
ſtellungsvermögens als Vorausſetzung unabweislich herausſtellt. Dieſer geringſte 
Grad muſikaliſcher Phantaſie iſt aber durchaus nicht allgemein. Es gibt nicht 
nur Individuen, ſondern ganze Familien, denen dieſe Kunſtanlage abſolut fehlt. 
Die obligatoriſche Einführung des Muſikunterrichts in die Schule, ſowie der— 
ſelbe über das übliche Chorſingen hinausgeht (und auch hier wird bekanntlich 
zu Dispenjationen geſchritten), würde alſo nur das unendliche Volumen der 
Bildungselemente um ein neues vermehren, ohne irgendwie ins Gewicht fallende 
Reſultate zu erzielen. Die Maſſe des in den Schulen zu bewältigenden wiſſen— 
ſchaftlichen Materials iſt ſchon ſo verwirrend groß, daß es geradezu leichtſinnig 
wäre, fie noch um eine Disciplin zu vermehren, welche jo fragwürdig iſt und 
jo gar nicht autochthon. Wer Muſik treiben will, dem ftehen nur zwei Wege 
offen, die Kunſtſchule, wenn er fich zum Künftler, der Privatunterricht, wenn er 
fih zum Dilettanten ausbilden will. Wer die Muſik berufsmäßig treiben will, 
findet wohl Mittel und Wege ſich zu orientiren; für den Dilettanten hat die 
Wahl eines Lehrers aber ihre großen Schwierigkeiten. Keine Kunft vielleicht 
wird von einer jo underhältnigmäßig großen Maſſe Unberufener gelehrt wie die 
Tonkunſt. Alle durch irgend einen Bankerott, ein Mißgeſchick oder einen Na- 
turſchaden aus ihrer Bahn gelenkten Exiſtenzen ftürzen ſich mit verziweiflungs- 
vollem Sprung in die jeder Kontrolle entbehrende Garriere de3 Mufiklehrer- 
thums. Durchgefallene Candidaten, Nenegaten und Verkommene aller Art 


) „Das mufifalifche Urtheil und feine Ausbildung durch die Erziehung.” 





460 Deutiche Rundſchau. 


bilden eine unheimliche Quote de3 gefammten Mufiflehrerthums großer Städte. 
Zu ihnen ftößt ala gefährlichftes Element der verpfujchte Mufiter ſelbſt. Er 
bläft vielleicht die Flöte in einem Kleinen Orcheſter, unterrichtet aber nebenbei 
im Gefange oder Glavierjpiel. Es ift nicht feine Schuld, daß es jo wenig 
Flöten gibt, aber ift es die unfre? 

Das Publicum ift übel daran. Hat Jemand einen Prozeß zu führen, jo 
geht er gewiß in den jeltenjten Fällen zu einem Winfeladvocaten; er wendet 
ih an Männer, denen der Staat die Advocatur übertragen hat, wie man nicht 
zum Quadjalber, jondern zum promovirten Arzt geht, wenn man frank ift. In 
allen Kreifen des Lebens giebt es Garantien gegen völlige Jgnoranz und Un— 
fähigkeit, in der Kunft allein nit. Wer in dieſer nicht zufällig orientirt ift, 
hat fein Mittel in Händen, den Künftler vom Charlatan zu untericheiden. Das 
Nebel, welches durch jolche Rathlofigkeit erzeugt wird, ift namenlos. Jeder 
Mann von Fach weiß, daß ſchlechter muſikaliſcher Elementarunterricht faft un— 
ausrottbar ift. Es bleiben jchlehte Gewohnheiten, Oberflächlichkeiten und Ge— 
Ihmadslofigkeiten zurüd, die der geſchickteſte Meifter oft nicht mehr zerftören 
kann. Es muß aljo eine Sicherheit gegen da3 unberufene Haufiren mit Kunſt 
geihaffen werden, und diefe Sicherheit kann nur der Staat geben. Gehört die 
Muſik einmal zum Refjort des Eultus, jo muß fie auch denjenigen gejeßlichen 
Schutz genießen, den jedes allgemeine Gulturelement beanſpruchen Tann. Die 
Form dafür wäre unjchwer zu finden. Eine Commiſſion der ausgezeichnetften 
Zonkünftler aller Fächer verfammelte fi) ein oder zwei Mal im Jahre zum 
Zweck einer Gramination. Jeder Muſiker von allgemeiner Bildung hätte das 
Recht fi von ihr in der Muſikwiſſenſchaft, alfo in Harmonielehre, Contra- 
punft, Formen- und Inftrumentationglehre, in der Geſchichte feiner Kunft, vor— 
zugsweiſe aber in dem Fach prüfen zu lafjen, welches er ala Unterrichtäztveig 
erwählt. Dem die Staatsprüfung Bejtehenden würde ein „Grad“ verliehen, 
über deifen Ausdruf man fich leicht verftändigen könnte. Wielleiht wäre 
„Doctor der Muſik“ hier das Natürlichfte. Alle näheren Erwägungen müßte 
die Commiſſion bei ihrer Conftituirung ins Auge faſſen. Hier jollen nur 
einige Andeutungen gegeben werden. Will Jemand fich ala Lehrer des Ge- 
ſanges oder eines bejtimmten Ynftrumentes habilitiren, jo wäre eine compoſi— 
toriſche Anforderung an ihn nicht zu ftellen. Nur feine Bekanntſchaft mit den 
Compofitionsmitteln, nicht aber den bejonderen Beruf für ihre Anwendung 
hätte er nachzuweiſen. Umgekehrt würde derjenige gerade Proben feine? Com— 
pofitionsgejchicles beizubringen haben, welcher das theoretifche Fach zu feiner 
Hauptthätigkeit erwählt, denn e3 wird Niemand die Geheimnifje einer Kunſt 
lebendig zu lehren verftehen, der fie nicht auch praktiſch und mit einigem Er— 
folg an ſich jelber erprobt hat. Dagegen wäre bei ihm auf einen hohen Grab 
techniſchen Gejchices in der Behandlung eines Anftrumentes zu verzichten. Man 
fann ein jehr großer Componift fein, ohne doc) auf irgend einem Anftrumente 
eine erhebliche Tyertigkeit zu befigen, wie dies durch Cherubini, Berliog und 
Wagner bewieſen wird. — Alles Detail der inneren Einrihtung eines ſolchen 
Prüfungsconjeils, der Modus der Abftimmung ſowie die mandherlei techniſchen 
ragen, die dabei zur Sprache kommen, müßte, wie gejagt, einer Vereinbarung 


Tas Muſiklehrerthum und dad Publicum. 461 


der Commiſſionsmitglieder anheim gejtellt werden. Als natürlichites Vor— 
bild empfähle jich Hier die Verfaſſung einer wiſſenſchaftlichen Sraminationg- 
commilfion. 

Als unmittelbare Wirkung einer ſolchen Einrichtung würden ſich folgende 
Erjcheinungen einftellen. Alle jüngeren Kräfte, welche jih dem Mtufiklehrer- 
thum zu widmen gejonnen wären, würden halb aus Ehrgeiz, halb aus Noth- 
wendigfeit gezivungen werden, die Staatsprüfung zu beſtehen. Mit ihrer Ab- 
folution würden jie eine gewilje Würde ihrer äußeren Stellung dem Publicum 
gegenüber gewinnen und dieſes bei der Gewähr einer bejtimmten künſtleriſchen 
Bildung, welche die Verleihung des „Grades“ beurkundete, des ſchlimmſten 
Theil jeiner Rathlofigkeit überhoben jein. Sehr bald würde der gefammte 
Meufitunterriht nur noch in den Händen jachfundiger Männer jein und alle 
diejenigen Elemente, welche jebt ihr unerfanntes Verderben in die Familien 
tragen, über kurz oder lang genöthigt jein, auf andere Erwerbsmittel zu finnen 
und ihren heillojen Beruf mit einem gejünderen zu vertaufchen. Wie viele unter 
denen, welche jet durch Handiwerfsmäßige und unberufene Arbeit im Fache der 
Kunfterziehung nur Verderben ftiften, würden auf einem Bureau oder in irgend 
einer anderen praktiſchen Thätigfeit ganz an ihrem Plaße fein. Man wende 
nicht ein, daß eine Reform wie die hier geplante, indem ſie einer Reihe von 
ſchiefen und trügeriichen Lebensftellungen den Garaus machte, auch mand) ein 
Interregnum der bitterften Noth hervorrufen könnte. Wo es fih um eine 
Maßregel von allgemeinem Nuten, um eine Sicherftellung der Gejellichaft in 
einer für fie immerhin wichtigen Frage handelt, Tann das zeitlid) gejchädigte 
Intereſſe eines Einzelnen nicht in Betracht fommen. Die Gultur hat mit dem 
Kriege die Rüdjichtslofigkeit gemein; wo fie neue Gebiete erftreitet, verbindet 
fie leicht mit der Gonfolidirung ihrer Macht die politifche Grauſamkeit der 
Annerion. Nicht einmal läßt je ji wie die janfte Eroberungsmoral unferer 
Tage auf den bedenklicden Ausgleihungsverjud der Option ein. Es gilt vor— 
wärt3 oder unter die Räder zu fommen. 

Nun wird man mit einigem Recht fragen, wie es fi) denn mit den Titeln 
und Auszeichnungen verhält, welche jeit einiger Zeit jo reihlih an Tonkünſtler 
geipendet werden, und ob diejelben nicht ſchon die Signatur bildeten, nad) der 
hier exft gefucht werden ſoll? Ich kann mir nicht denken, daß es unter den 
jo Ausgezeichneten einen jo befangenen Mann geben jollte, der das Zufällige 
und oft Willkürliche in der Vertheilung diefer Ehrenbezeugungen nicht zugeben 
würde. Schon das Halbdunfel der Bewerbungsprocedur, welches doch den 
meijten unter ihnen vorangeht, giebt ihnen etwas Schemenhaftes, das fie von 
der einfahen Würde eines wiſſenſchaftlichen Diploms jehr unvortheilhaft unter- 
icheidet. In feinem Fall wird die Höhenfarte künftleriicher Intelligenz auch 
nur annähernd treu durch fie ſchraffirt. Auch wird es immer Männer geben, 
denen das halb heimliche Werben um einen Titel nicht zujagt, während fie fich 
ſehr gern einer fachgemäßen Prüfung unterwerfen würden, die ihnen eine 
Diftinction verliche, welche unter Freunden und Feinden den gleichen Cours 
genöfle. 

Was fich gegen die Staatzeinmiihung anführen ließe, wäre im Weſent— 

Deutſche Rundſchau. J, 6. 31 


402 Deutihe Rundſchau. 


lichen Folgendes. Die Kunft Jol frei jein; jede Approbation könnte ala ein 
Widerſpruch gegen ihre innerfte Natur aufgefaßt werden. Man könnte von 
Entheiligung ihres göttlichen Urjprungs, von Maßregelung ihrer Freizügigfeit 
ſprechen. Es könnte endlih die Unmöglichkeit der Differenzirung jo heikler 
Qualitäten betont und dergleichen Halbreifeg mehr eingewendet werden. Was 
heißt denn ein Eramen ablegen? Heißt es etwas anderes al3 eine beftimmte 
Summe von Kenntniffen nachweiſen? Der Genius eines Menjchen läßt fid 
freilich nicht eraminiren, jo wenig wie der Reiz, den eine künſtleriſche Perſön— 
lichkeit ausübt. Heine behält alfo volltommen Recht, wenn er jagt: 
„Mein Freund, man fann ein tragischer Dichter, 
Und doc) ein dummer Teufel jein.‘ 

Der „dumme Teufel“ mag bejtehn, wenn in diefem Fall nur der „tragilde 
Dichter” nachgetwiefen wird. Mir jeheint, alle diefe Erwägungen haben nichts 
mit dem Vorſchlage gemein, eine grobe, Allen erkennbare Grenzlinie zwiſchen 
der Ignoranz und dem Willen zu ziehen und demgemäß eine Garantie gegen 
das künſtleriſche Zigeunertfum zu ſchaffen. Wäre der Einzelne in feiner Wahl 
denn dadurd irgend beſchränkt, hätte er ein Recht von Bevormundungsſyſtem 
zu jprechen, wo es doch ganz in feine Hand gegeben wäre, den Schäfer dem 
Arzte vorzuziehn? Solche Leute Hat es zu allen Zeiten gegeben; für fie it 
nicht auszuſorgen, denn unter allen Formen der Dummheit ift die des Aber: 
glaubens die dauerhaftefte und unzugänglichite. 

Eine andere jet vielfach ventilirte Frage, die Frage nach der Gleichberech— 
tigung der Frauen, wird hier aber ernjtlich zu berücfichtigen fein. Daß viele 
unter ihnen für die ausübende Tonkunft unzweifelhaften Beruf haben, beweift 
der flüchtigfte Bid in die Kunſtgeſchichte. Es Hat zu allen Zeiten nicht nur 
vortrefflihe Sängerinnen und Spielerinnen, jondern auch Lehrerinnen gegeben. 
Ich erinnere hier nır an Namen wie die der Biardot, der Shumann, der 
Ungher-Sabatin. Wenn fih nun aud im Allgemeinen nicht verhehlen 
läßt, daß der Mann auf diefem Felde wie auf allen übrigen den Vorzug grö— 
Berer Productivität und univerjellerer Bildung haben wird, jo kann der durd): 
Ichnittlich geringere Grad des weiblichen Intellects doch reichlich durch mora- 
liſche Activa erjegt werden, welche die Bilanz in anderer Weife ausgleichen. 
Zum Lehren gehören zwei Eigenjchaften, die ihrer Natur nad) mehr weiblid 
al3 männlich find, Geduld und Liebe. Sie fpielen, namentlich bei der &- 
ziehung von Kindern, eine jehr wichtige Rolle. Nichts könnte alſo thörichter 
und ungerechter zugleich fein, al Frauen von einem Beruf auszuſchließen, dem 
fie außer ihrer fünftlerifchen Befähigung noch die bejonderen Vortheile ihrer 
geſchlechtlichen Eigenthümlichkeit entgegenbräcdhten. Nicht ohne Grund wird bei 
dem Elementarunterricht daher oft die Lehrerin dem Lehrer vorgezogen. Nun 
denke ich, ließe fich ein modificirtes Eramen auch für Frauen leicht einrichten. 
Auszufhliegen wären von ihm Contrapunkt und Inſtrumentationslehre, weil 
beide Materien zu jehr dem Gebiete des höheren Tonkünſtlerthums angehören. 
Unerläßlich jedoch blieben Kenntniffe in der Harmonie-, Formenlehre und der 
Geſchichte der Mufil. Eine Lehrerin, welche dieſe Gebiete nicht beherriäite, 
würde nur einjeitig wirken können. Die Form des Prädicat3 wäre zu über: 


Das Mufiklehrerthum und das Publicum. 463 


legen; „geprüfte Murfiklehrerin” würde genügen, Elingt aber etwas nüchtern. 
Bielleiht Tieße fih ein artiger, nicht affectirter Titel finden. Die Wirkung 
würde unzweifelhaft auch Hier fein, daß man eben jo wenig ungeprüfte Muſik— 
lehrerinnen engagiren würde, wie man wiflenichaftliche Lehrerinnen und Gou— 
vernanten nimmt, wenn fie nicht ihr Lehrerinneneramen beftanden haben. 

Und nun erlaube man mir zum Schluß ein Wort, welches vielleicht über- 
flüſſig ift, ein Wort über die Wichtigkeit, welche die Tonkunſt im Leben der 
meiften Menſchen hat. Sie iſt die Befinnung auf uns jelbft, auf das Reinfte 
und Befte, was wir in uns tragen. Gie ijt die geheimnißvolle Macht, welche 
unjeren Schmerz mildert und unfere Freude heiligt. Ihr unverlierbarer Troft 
ftärft die Seele faft mit der Kraft der Religion, und ich weiß nicht, ob die 
Gewalt, mit der fie uns über ung ſelbſt erhebt, im Reich der Zauber ihres 
gleichen hat. Alles, was wir im Leben jonjt ala Glück erkennen, trägt den 
Eilberftempel eines beftimmten Werthes. Mit ihm verknüpft fich ein eben jo 
beftimmtes Eigenthumsgefühl. Die Kunft, und vor Allem die Tonkunft in 
ihrer weltabgewandten Höhe, weiß nicht3 mehr von dem begrenzten Erwerb der 
einzelnen Seele. Nur was uns allen gehört oder gebricht, drückt fie in der 
„wunderſamen Melodei” ihrer Spradhe aus, von der wir nicht wiſſen, von 
wannen fie fommt. Mit ihren Blüthenkränzen umfchlingt fie unfere Feft- und 
Trauertage, an allem theilnehmend, was unjer Dafein Beglüdendes und Be— 
trübendes birgt. Sie ift vielleicht die fittlichjte unter allen Künften, weil fie 
das Unfittliche eigentlich nicht ausdrüden fann. Wohl kann fie gemißbraucht 
werben, da3 Gemeine zu ſchmücken, fie jelbjt aber bleibt rein, wie das Kind 
rein bleibt, da3 eine unlautere Hand führt. — Das ift die Kunft, deren Lehre 
hier zu ſchützen verſucht werden ſollte. Kein reines Evangelium ohne reine 
Jünger! Kein Willen ohne Wiffende! Auch die Kunftgeihichte ift das Kunſt— 
gericht, und — vergeſſen wir e3 nit — die Geſchichte einer Kunft macht nicht 
der Künftler allein, jondern Welt und Zeit mit ihm. Der Scaffende bedarf 
des Empfangenden jo nothivendig, daß er ohne ihn nur ala ſchöner Wahnfinn 
zu denfen wäre. Daher überall, wo wahre Kunft zu Haufe ift, in ihrer Um: 
gebung aud wahres Verſtändniß und wahre Pflege. Beides ihr zu bereiten, 
ift die forgenvolle, kluge Pfliht der Erziehung. Bleiben wir ihr ſolchen Tribut 


nicht ſchuldig. Louis Ehlert.*) 


*) Mir wollen an biefer Stelle bemerfen, daß Herr Ehlert zwar, wegen Verlegung feines 
Wohnſihes aus Berlin nah dem Süden, die regelmäßige Berichterftattung für die „Deutiche 
Rundihau* Hat aufgeben müffen; daß er aber nicht aufhören wird, auch in der Ferne für die— 
felbe thätig zu fein, und daß wir hoffen, manchen weitern Beitrag aus feiner Feder unſern 
Zejern mittheilen zu können. 







edaction der „Deutichen Rundſchau“. 


—— & 
EBEN 
J ” 


31* 


£iterarif che Rundſchau. 


— — 


1. Geſchichte der europäiſchen Staaten. Herausgegeben von A. 9.8 
Heeren, F. A. Ukert und W. v. Gieſebrecht. — SechBunddreiigfte 
Lieferung. Geſchichte Polens v. Dr. 3. Caro, Band 4; Geſchichte 
Schwedens von Friedrih Ferdinand Garlfon, Band 5. Gotha, 
Friedr. Andre. Perthes. 1875. 

Mehr ala ein halbes Jahrhundert ift verfloffen, jeit Friedrich Perthes den 
Plan der „Staatengefchichte” erfann, in jenem großartigen, ächt nationalen und ächt 
wiſſenſchaftlichen Sinne, der das ganze Wirken diejes jeltenen Mannes Tennzeichnet. 
Die Zeit ſchien ihm gekommen, unjerer Gejchichtjchreibung über die Bedürfniffe der 
eigentlichen TFachgelehrten hinaus ernſte Aufgaben Für die ftaatsbürgerliche Erziehung 
des Volkes zu ftellen. Umbeirrt durch den augenbliklichen Niedergang des öffent- 
lichen Lebens (e8 war im Jahre 1822, drei Jahre nach. den Carlsbader Beichlüffen), 
verſprach er fi) von den ungeheuren Greignifien der vergangenen Jahrzehnte eine 
ernftliche Vertiefung und VBerallgemeinerung des geichichtlichen Sinne. Es ſchien 
ihm unzweifelhaft, „daß die großen Erfahrungen, die Keinem erſpart geblieben waren, 
„Allen einen weitern Blid, einen höhern Standpunkt für die Betrachtung der Böl- 
„tergeichichte gegeben hätten.” Auf Geſchäftsmänner jeden Ranges, zu jelbjländigem 
Eingreifen in die Gejchichte berufen, glaubte er rechnen zu dürfen, indem ex feinen 
fühnen und weitausjehenden Plan Hiftorifcher Belehrung entwarf, und den abmah- 
nenden Freunden (Rift und Prel) jehte er ein freudiges Vertrauen auf die Nation 
entgegen, „die beiler jei als ihre Schriftiteller.” So gewann er fich zuerſt den ge— 
feierten Namen und den unjchäßbaren Beirat) des alten Heeren, des Neſtors unserer 
eulturhiftorisch-philofophiichen Gefchichtichreibung, dann die rüftige Arbeitskraft und 
Gelehrſamkeit Ukert's, und 1827 konnte dann die Ankündigung, 1828 die Aufior- 
derung zur Subjeription, 1829 die erjte Lieferung ericheinen. Sie umfaßte den eriten 
Band von Pfiſter's Gefchichte von Deutjchland und die beiden erften Bände von 
Heinrich Leo's Geſchichte der italienischen Staaten. 

Das war der Anfang diejes in feiner Art einzigen Unternehmens, dem die Be 
gründer eine Arbeitserfordernig von S—10 Jahren, einen Umfang von höchſtens 40 
Bänden in Ausficht ftellten. Jetzt Liegen, die neueſte Lieferung eingerechnet, 73 
Bände vor, nach 47jähriger Arbeit; Heeren hat uns 1842, Friedrih Perthes 
1843, %. U. Ukert 1857 verlafien, und dem Charakter, der innen Beichaftenheit 
des von ihnen in Angriff genommenen Monumtentalbaues deuticher, gediegener Bil- 
dung iſt es nicht anders ergangen, als den Zeit und Größenverhältnifien der eriten 
Anlage: ex ift längjt aus dem urjprünglichen Rahmen heraus gewachjen und bezeugt 
vielfältig die Abhängigkeit menjchlicher Pläne von der Zeit und den Dingen. Aus 
den überfichtlichen, populären Darjtellungen des eriten Entwurfs ift eine ftattliche 
Reihe grümdlicher, zum Theil glänzend gejchriebener, aber in Ton und Behandlungs- 
weije keineswegs übereinjtimmender Specialgejchichten geworden. Nur zum Theil 


Literarische Rundichau. 465 


haben die VBerfafjer, im Sinne des Perthes’ichen Planes, „das Hauptaugenmerk von 
den Herrichern auf die Beherrfchten gewendet;“ nicht überall gleichmäßig „iſt die Frie— 
dend= und Kriegshiftorie, die Haupt: und Staatsaction zurüd getreten gegen das, 
wodurch Staat und Nation erft Staat und Nation find, gegen die Gejchichte der 
Sitten, der Arbeit, des Nechts, der fortjchreitenden Gultur.“ Auch hat die Reihe 
der Mitarbeiter natürlich häufig Erja befommen, wie ein Regiment vor dem Feinde. 
Planmäßig vollendet liegen vor uns nur Pfifter’3 Deutichland (bi8 1800, fortge- 
ſetzt von Bülau bis 1830), Stenzel's Preußen, Böttiger’d, von Flathe 
ſchon in zweiter Auflage bearbeitete und erweiterte Geſchichte von Sachſen, v. Kam-— 
pen's Niederlande, die ruffiiche Geſchichte von Strahl (Band 1—2) und Herr— 
mann (Band 3—7), die öjterreichiiche von Mailath (5 Bände), die portugiefiiche 
von Schäfer (5 Bände), die franzöfiihe von Schmidt und Wachsmuth (je 
4 Bände), die türkifche von Zinkeifen (7 Bände). Dagegen harren Stalien (Leo), 
Spanien (lembfe und Schäfer), Schweden (Geijer und Garljon), England 
(Xappenberg und Pauli), Dänemart Dahlmann), Polen (Röpell und 
Garo) noch der Vollendung, die, wie man jieht, in mehreren Fällen dem erjten Un— 
ternehmer durch das Schidjal verjagt wurde; und die Schweiz, Griechenland, Baiern, 
Würtemberg ſtehen, überhaupt erjt in Ausficht. So Hat die Umberechenbarfeit menſch— 
licher Dinge denn auch bier ihre Geltung bewährt; was aber unter allen Wechjeln 
feine recht erfreuliche Beftätigung gefunden hat, das ift des trefflichen Perthes’ Ver— 
trauen auf den hiſtoriſchen und willenjchaftlichen Sinn der deutichen Lejewelt. Die 
über alle Berechnung gewachlene Ausdehnung der Staatengeihichte Hat eine bejtändig 
zunehmende Theilnahme des Publicums nicht verhindert; ſchon längft fehlt „Heeren 
und Ukert“ jo leicht in feiner öffentlichen deutichen Bibliothek, bis auf bejcheidene 
Schulbibliothefen herab, und jede neue Fortſetzung wird von Taujenden wie ein lange 
erwarteter lieber Gajt begrüßt. Steht da nicht mit Grund zu erwarten, daß die 
gegenwärtige Yluthwelle unſers nationalen Geiftesleben® auch diejes jtolze Orlogſchiff 
deutscher Wiſſenſchaft endgültig heben und dem Hafen der Bollendung zuführen 
wird? Ein bewährter Steuermann ift in dem neuen Herausgeber gefunden, und wenn 
auch der Arbeit noch recht viel übrig bleibt, jo darf doch an einem glüdlichen und der 
Sache würdigen Abjchluffe wol nicht mehr gezweitelt werden. Möge es dem um 
unfere ältere Gejchichte jo Hoch verdienten v. Giefebrecht vergönnt fein, die Geſammt— 
arbeit jo vieler Wadern unter Dach zu bringen; zu dem mächtig und fichtlich wach: 
jenden Bildungsbedürfniffe unferer bejjern Stände verjehen wir uns der Hoffnung, 
daß bald auch wohlhabende Privatleute in einer größeren Zahl es fich zu bejonderer 
Ehre machen werden, jolche Hauptjtüde unferer nationalen Geiftesrüftung in ihrer 
Bibliothek zu befiten. 


— — —— 


2. Culturgeſchichte in ihrer natürlichen Entwickelung bis zur Gegenwart. Von 
Friedrich von Hellwald. Augsburg, Lampart u. Comp. 1874. 


„Aufgabe der Wiſſenſchaft iſt es, alle Ideale zu zerſtören und zu zeigen, daß 
„Gottesglaube und Religion Trug, daß Sittlichkeit, Gleichheit, Liebe, Freiheit und 
„Menſchenrecht Lüge ſind, und gleichzeitig die Nothwendigkeit der Ideale, des Got— 
„tesglaubens, der Religion, Sittlichkeit zc., kurz all’ dieſer Irrthümer für die Cul— 
„turentwickelung zu behaupten. Die Wiſſenſchaft beweiſt jedoch mit gleicher Kraft 
„(allerdings!) die Nothwendigkeit aller jener Erſcheinungen, welche gewöhnlich als 
„Culturhemmniſſe betrachtet werden, 3. B. der Sclaverei, Knechtſchaft, Despotie, 
„Tyrannei, des Geiftesjoches der Kirche u. ſ. w, denn die einen wie die andern find 
„Erfindungen des Menjchen zum Zwed der Selbijterhaltung, nämlich 
„Waffen im Kampf um's Dajein“ (p. 569). Aeußerungen ähnlicher Art finden fich 
an berichiedenen Stellen des Werkes und laſſen erkennen, wie der Verf. dienatür- 
Lie Entwidelung der Gulturgefchichte verjtanden haben will. Er zieht die jchroff- 


466 Deutiche Rundſchau. 


jten Yolgerungen der rein materialiftifchen Weltanfchauung („moniftifch“ zu jagen, 
wäre bier jchon Schönfärberei), faßt das organifche Leben lediglich ala eine compli- 
cirte Bewegungsjorm der Materie, den Menjchen als das beanlagtefte Raubthier, 
läßt alle „jogenannten“ moralifchen Borftellungen aus den thieriichen Bedürfnijjen 
und Anlagen fi ohne Sprünge entwideln und verurtheilt mit fchneidendem Hohn 
vom Standpunkte dieſer „wiſſenſchaftlichen“ Betrachtung alles Gerede von Sittlich— 
keit, Recht, Freiheit, Liebe, kurz alles Ideale. Den entjcheidenden Schlag gegen die 
ideale Lebensauffaſſung führt diefe Philofophie mit dem Hinweis darauf, daß aud 
dad Menjchengeichlecht einmal ein Ende nehmen werde, wie e8 ja einen Anfang ge 
nommen, „Einſt wird die Erde, ihrer Atmojphäre und Lebewelt beraubt, in mond- 
gleicher Verödung um die Sonne freifen wie zuvor, dad Menjchengefchlecht aber, 
jeine Gultur, fein Ringen und Streben, feine Schöpfungen und Ideale find ge- 
wejen. Wozu?” So ſchließt das Werk, und die Moral bemerkt: „Nur wer eine 
furze, unzweideutige, peremptoriiche Antwort auf diefe Fundamentalfrage zu ertheilen 
vermag, wird die Grundanjchauung meines Werkes anfechten können.“ Nun, twir 
wollen diefe Antwort verfuchen. Unferer Anficht nach ift daS Leben dazu da, daß 
ein Jeder feine Schuldigfeit thue, d. H., daß er an jeinem Theile und nach jeiner 
Einfiht und Kraft die allgemeine Vernunft in feiner Perfon undsjeinem Leben zum 
Ausdrud bringe: wobei denn auch die Liebe fich nicht als eine Lüge und ein Fall 
ftrid, jondern „ala des Geſetzes Erfüllung“ erweilt. In jeder redlichen Forjchung, 
in jeder freien, fittlichen That, in jeder Geftaltung des Schönen wird der Weltzwed 
endgültig erreicht, und ob auf der gegebenen Stelle des Weltalls fich nachher in alle 
Ewigkeit Aehnliches vollzieht oder das organijche Leben auf diefem Pünktchen des 
unendlichen Raumes einmal auf eine Weile, auf ein oder ein Paar Weltenjahre aui- 
hört, das kann an dem einmal Gejchehenen Nichts ändern. Wer fich dabei nidt 
beruhigen will und das MWeltgericht in der Weltgefchichte nicht fieht, der mag die 
Sterne fragen und mit den andern — Forichern auf Antwort warten. — Das find 
nun, wie Sedermann fieht, altmodiſche Borftellungen; aber H. giebt ja ſelbſt zu 
(p. 799), daß e& ftet? Ideale, d. h. nothivendige Irrthümer geben wird und muß, 
jo lange Menschen auf Erden wandeln. Ex wird aljo hoffentlich mit unjerer Schwach— 
heit Mitleid haben und unfern angeerbten Irrthum verzeihen. Beſonders wenn wir 
hinzufügen, daß wir E. Haedel, dem diefe Culturgeichichte gewidmet ift, aufrichtig 
verehren, daß D. %. Strauß, der in der Vorrede Gefeierte, jtetd ein Gegenjtand un 
jerer warmen Zuneigung und aufrichtigen Bewunderung war, und — daß wir an 
der Hellwald’schen Eulturgejchichte, troß principiellen und ſcharfen Widerſpruchs, den 
Muth der Meinung, die jelbjtändige Verarbeitung des Stoffes und eine gewifie 
Ichlagfertige, anregende Friſche der Darjtellung gern anerkennen. 


———— 


3. Die deutſche Nationalliteratur im 18. und 19. Jahrhundert. 
Hiſtoriſch und äſthetiſch-kritiſch dargeftellt von Joſeph Hillebrant. 
Band 1—3. Dritte Auflage, durchgejehen und vervollftändigt von Karl 
Hillebrand. Gotha, Fr. Andre. Perthes. 1875. 

63 giebt zwei gleich berechtigte Methoden, Literaturgefchichte zu jchreiben. Die 
eine verſetzt uns mitten in die Entwidelung und läßt aus deren Gingelheiten den 
zufammenfaffenden Gedanken fich erheben. Die andere ſchwebt jo zu jagen im der 
Dogelihau über dem Stoffe, erfpäht feine Verhältniffe und beleuchtet ihn mit ihrem 
äfthetifch-kritifchen Urtheile. Auf dem einen Wege belaufchen wir das jchafjende 
Leben, betheiligen uns im Herzen an feinen Kämpfen, Fehlgriffen und Siegen, und 
mit der Erfenntniß der zum Schönen führenden Wege regt fich in uns die Luft, dieſe 
Wege zu gehen, jelbft zu jchauen, was aus dem Spiegel der Seele des Berichterftat: 
terd una anmuthend lodte. Die andere Form der Darftellung dagegen wirkt weniger 
anregend, ala Elärend, orbnend, vertiefend;; fie jeßt die Anfchauungen voraus, veranlaßt 
aber, fie auf ihren Werth und ihre Bedeutung zu prüfen, und zeigt diefer Prüfung 


Literarifche Rundſchau. 467 


die einzufchlagende Richtung. Sie wendet ſich mehr an den Verſtand, als an Phan- 
tafie und Gemüth, und muß fich daher mit langfamerer und weniger lebhafter Wir- 
tung begnügen; wenn fie aber auf der Höhe ihrer Aufgabe fteht, fo mag die Dauer 
und Nachhaltigkeit des Erfolges immerhin für jenen Mangel entfchädigen. Was 
nm Joſeph Hillebrand angeht, fo ift e8 feinen zahlreichen Schülern und Leſern 
wehlbefannt, daß er ftet3 diefe zweite Methode befolgte; fie willen aber auch und 
danken es ihm, mit welcher Wahrhaftigkeit, Gediegenheit und ehrlichen Objectivität 
er jeine Aufgabe erfaßte, und der Umſtand, dak ihre Theilnahme diefe neue, dritte 
Auflage nöthig gemacht hat, mag uns die Fortdauer guter Ueberlieferungen be= 
jeugen, deren Untergang im modernen Realismus und Senfationsbedürfniß oit 
voreilig beflagt wird. Die neue Auflage Hat den urfprünglichen Charakter des Wertes 
wie billig unverändert gelaflen, nur Ginzelnes berichtigt und die bibliographijchen 
Anmerkungen zwedmäßig erweitert. Wer aljo feiner Zeit, dor jebt beinahe 30 
Jahren, an Hillebrand’3 ächt proteftantifcher Denkweile, an feinem Cultus des freien 
Gedankens, an feinem gemäßigten, gewiflenhaften Urtheil und an feiner, wenn nicht 
genialen, jo doch durchaus geſunden äfthetifchen Auffafjung fich erfreut hat, der wird 
bier dem alten Freunde mit Vergnügen wieder begegnen. — Wenn die Zufäße des 
Herausgebers nicht in dem gleichen Maße der Gegenwart gerecht werden, wie bie 
älteren Theile des Werkes es der claffiichen ımd romantischen Epoche geworden find, 
wenn manche Leer wol hie und da einen Liebling vermiffen oder ein Urtheil zu 
hart und abfällig finden dürften, jo mögen fie eben bedenken, daß die Methode des 
Werks an ſich nur auf abgefchloffene Zeiträume mit Bortheil anwendbar jcheinen 
möchte und daß es für den Mitlebenden immer eine mißliche Sache bleibt, dem 
Siebe der Zeit vorzugreifen. Damit joll übrigens vielen Urtheilen die Schärfe und 
Gründlichkeit, und der Gefammthaltung auch diefes Abjchnittes das Streben nad) 
Dbjectivität keineswegs abgefprochen werden. Das ganze Werk jei auch in der neuen 
Geitalt dentenden und mit dem Stoffe vertrauten Literaturfreunden als ge= 
diegene Anregung zu Ordnung und Prüfung ihrer Urtheile empfohlen. 


— — —— 


4. J. J. Honegger. Kritiſche Geſchichte der franzöſiſchen Cultureinflüfſe in 
den letzten Jahrhunderten. Berlin, R. Oppenheim. 1875. 

„Alſo der Styl! Das Urtheil über den Punkt iſt Geſchmacksſache; ich befinde 
„mich ganz gut bei meiner Weiſe und werde fie nicht ändern; jedenfalls ift dafür 
„gejorgt, daß mein Styl nicht current wird.” So der Verf. auf p. X der Vorrede. 
Wir theilen mit ihm die zuleßt ausgejprochene Hoffnung von ganzem Herzen: aber 
follte es wirklich bei Hochdeutfchen Schriftftellern je Sitte werden können, 3. B. 
„darauf abzustellen, daß ihr Urtheil ein felbftftändiges ſei?“ Sollten gebildete 
Deutiche je unempfindlich werden gegen eine Logik des Styls wie diefe: „In der vor— 
„liegenden Schrift handelt fich’8 durchaus nicht um die Vorführung neuer Thatjachen, 
„die etiva durch archivalifche Forichung gefunden wären; beides (?) liegt dem Zweck 
„und der Darftellungsweife des Verf. gleich fern.“ Das find jo ein Paar gleich im 
Anfange fich darbietende Beifpiele. „Der Verf. befindet fich jehr gut bei diefer Weije,“ 
die mitunter, oder vielmehr recht oit, im weiteren Inhalt feiner Schrift eine ver- 
zweifelte Nehnlichkeit mit der Form von Auszügen und hingeworfenen Bemerkungen 
annimmt, wie man fie wol beim Xejen oder Nachdenken flüchtig aufzeichnet, nicht in 
der Abficht, fie druden zu laffen, jondern fie zu einem Buche zu verarbeiten. Wir 
gönnen ihm jenes Wohlbefinden von Herzen, glauben aber, daß feine Lefer fich beffer 
befinden würden, wenn er dem fo eifrig ftudirten franzöſiſchen Einfluffe in Bezug auf 
Formgebung weniger hartnädig twiderftanden hätte. Doch wie dem fei: auf alle 
Fälle find diefe Auszüge und culturhiftoriichen Materialien mit Fleiß, jelbftftändigem 
Denken und in tüchtiger, geſunder deutjcher Gefinnung zufammengeftellt; und wer 
fich nicht ſcheut, diefe und jene nicht eben tieffinnige Stelle zweimal zu lejen, um 
auf des Verf. Meinung zu kommen, der wird ihm für vielfache Anregung, für manchen 


468 Deutiche Rundſchau. 


guten Fingerzeig, Tür viel brauchbares Material zu Dank verpflichtet werden. Auf 
originale und bahnbrechende Auffafiungen möge man allerdings nicht rechnen. Heißt 
es 3.8. Tranzöfiiches Weſen erklären, wenn man jcheinbare oder wirkliche, weltbetannte 
Gegenfäbe einfach aufzählt? „Unveränderlichkeit ſeit Jahrtaufenden, daneben die 
„außerjte Beweglichkeit und ewig ruhelofer Wechjel; das Hängen an Herd und Gr 
„wohnheit und das Hinausfchweifen über alle Gränzen; Freiheit und Knechtichatt, 
„Gehorſam und Widerfpruchägeift, Fügſamkeit und Empörung wunderlich fich miſchend; 
„Zalent, Begabung und Heldenmuth aufbietend und doch nur im Kriege unbeitritten 
„groß (??!), nah Schein und Phantafiegebilden jagend und nur in coloffalen Ent- 
„wären lebend.“ (S.400.) Abgejehen von dem weniger ala problematifchen Werbe 
der Behauptungen (wir find 3. B. der Anficht, und glauben fie beiveilen zu können, 
daß die wirkliche, unbeftreitbare Meberlegenheit der Franzofen über die germaniſche 
Art auch entfernt nicht in etwaiger größerer Kriegstüchtigfeit liegt, fondern Lediglich 
in der celtiich-romanifchen Begabung für gute, gefällige Form), was denkt ſich denn 
eigentlich der Verf, wenn er nun fortfährt: „Darin liegt der Schlüfjel zur räthiel- 
und wideripruchsvollen Gefchichte diefer Nation.“ Alſo, die Franzoſen haben wider: 
ipruchsvoll gehandelt, weil fie wideripruchgvoll find! Unferes Erachtens kam es viel- 
mehr darauf an, das Geſetz diefer jcheinbaren Widerfprüche zu ſuchen, wobei fich denn 
die treibenden Kräfte diefer ganzen, jehr Logifchen und ſehr veritändigen Entwidelung 
in richtiger Grwägung des römischen, maßgebenden Einfluffe® auf den celtiichen 
a und die germanifche Beimiſchung der Nation jehr Leicht herausgeitellt 
ätten. 


5. Erlebnijje und Studien in der Gegenwart. Bon Yudwig 
Robert. Leipzig, Breitlopt u. Härtel. 1875. 


Das Büchlein enthält Auffäge und Aphorismen aus der Feder eines mol 
orientirten, gut deutich gefinnten, an Maß und gute, bequeme Form gemwöhnten 
Weltmannes. Den Schwerpunkt möchten wir in den pifanten „Federzeichnungen aus 
Frankfurt a. M.“ fuchen. Diefelben jchildern, zu gutem Theil offenbar aus eigener 
Anſchauung und durchweg mit Sach- und Ortskenntniß, das ſtille Wachjen und 
Wirken des Bismarck'ſchen Geiftes inmitten der bundestäglichen Diplomatenwelt in 
den Sahren 1851—59; nächſtdem den freundlichen Carnevalsſcherz des Fürſten— 
congreſſes von 1863, endlich die jchijalsfchweren Junitage von 1866. Das eigent- 
lich ftädtifche, einheimifche Leben Frankfurts wird nur in feinen Spitzen berührt, wo 
e3 mit der Diplomatie fich verquidte; auf die letztere aber und die ihr nahe flehenden 
Kreiſe fallen vielfach höchſt überrafchende Schlaglichter. Neu und bezeichnend war 
ung folgender, für den Mann und die Lage gleich charakteriftiicher Zug: Bei Gelegenheit 
eines erzherzoglichen Beſuchs befand fich v. Bismard, mit feinen Orden gejchmüdt, 
in jeiner befannten Güraffieruniform auf der Parade. Der Erzherzog ſprengt au 
ihn zu mit der „verbindlichen und gutmüthigen“ Frage: „Berzeihen’s, Ercellenz, haben’s 
alle dieſe Decorationen vor dem Feinde erhalten?" — „Jawol, Kaiferliche Hoheit!" 
lautete die blifchnelle Antwort; „alle vor dem Feinde, alle hier in Frantfunt!” 
Wenn der Verf. übrigens, Angefichts der Frankfurter Opferwilligkeit und Wohlthätigfeit 
in den Jahren 1870—71, mit dem vertrauensvollen Worte ſchließt: „Wir glauben, 
Frankfurt ift num unfer geworden,” jo hat er diefes „unſer“ hoffentlich nur für 
„deutſch“ geichrieben. Andern Falles wäre die Auffaſſung ftart optimiftisch, wenngleich 
es mit der Kernbildung auch einer ehrlich preußifchen Partei in der alten Reichsſtadt 
jeine Richtigkeit hat. — Sehr anziehend und belehrend ift fodann auch der „Streit 
zug nach Dänemark“, eine gedrängte, aber lebendige und warme Schilderung der 
Sandichait, der Geſellſchaft, des Geifteslebens jenfeits der Belte. Daß dabei der 
dänischen Betriebfamkeit, Leichtlebigkeit, Gaftlichkeit und glühenden Vaterlandsliebe 
volle Gerechtigkeit widerfährt, ift nur in der Ordnung. Den Nationalhaß gegen uns 
glaubt der Verf. neuerdings abnehmen zu jehen: möge er Necht behalten! Gebr 


Literariihe Rundſchau 469 


hübſch find die Mittheilungen über die Perfon und die yamilienverhältniffe des 
jebigen Königs, des glüdlichen Vaters ummwiderftehlicher Töchter. Zum „Schwieger- 
vater Rußlands und Englands“ haben fie ihn ſchon gemacht; wer weiß, für wen 
die dritte dieſer jchönen „dänischen Roſen“ noch blühen mag? 


— — — 


6. Veröffentlichungen des „Allgemeinen Vereins für deutſche Lite— 
ratur“ Berlin, A. Hofmann u. Comp. 1874—75. 


Unter dem Protectorat des Großherzog: von Sahjen- Weimar und des 
Prinzen Georg von Preußen hat fih im vorigen Jahre befanntlich ein Verein 
gebildet, der fih Anregung jchriftjtellerifchen, einer allgemeinen höheın Geiftesbildung 
dienenden Schaffens und Beförderung des Eines für edlere, geiftige Unterhaltung zur 
Aufgabe macht. Die Mitglieder zahlen jährlich 30 Reichsmark Beitrag und erhalten 
dafür je eine Jahresferie von fieben Werfen, im Umfange von je 20—23 Bogen, 
die, beiläufig, im freien Buchhandel nur zu bedeutend höheren Preifen abgegeben 
werden. Die Auswahl der Schriftjteller und reſp. der Themen liegt in der Hand 
eine Guratoriums von 5 Mitgliedern, gewilfermaßen mit der Redaction eine® perio- 
diſchen Organs zu vergleichen, defjen Effays den Umfang von Bänden annähmen und 
dejlen Programm feine Beichränfung nad Stoff und Tendenz duldete, jondern nur 
einerjeits die Fachgelehrſamkeit, andererfeit3 das Unbedeutende und Oberflächliche aus— 
ichlöffe. Daß ein folches Unternehmen, unter dem Patronate erlauchter und populärer 
Namen, eine große, geiftige Macht werden Tann, liegt am Tage, fo wie, daß die 
Bürgichaft für eine jegensreiche Wirkfamfeit diefer Macht Lediglich in den Leitenden 
Perfonen und in der Gonjequenz der bereit$ vorliegenden Leijtungen zu fuchen fein 
wird. Nach beiden Richtungen bin dürfte nun im vorliegenden Falle auch der 
Borfichtigite nur Grund zum Bertrauen finden. Das Guratorium ſetzt fih aus 
den Profefjoren Gneift und Werder, aus Graf Uſedom, dem Schloßhaupt- 
mann dv. Dahröden und dem Gtadtrath A. Hagen in Berlin zufammen; 
die erfte Jahresjerie brachte von Bodenftedt „Aus dem Nachlaffe Mirza Schaffy's“, 
von dv. Sybel „Vorträge und Aufſäte“, von Adolf Schmidt „Epochen 
und Satajtrophen“ (Perikles, der Nika= Aufruhr unter Juftinian, Philipp und 
Don Carlos), von v. Löher „Der Kampf um Paderborn“, von Hanslid 
„Die moderne Oper“ (ganz vortrefflih!), von Reitlinger „freie Blide“ 
(meift naturwifjenfchaftliche Auffäge), von Ed. Ofenbrüggen „Die Schweizer 
Daheim und in der Fremde“. Kür die zweite Serie werden Arbeiten von Berthold 
Auerbach, E. Gutzkow (Rüdblide auf mein Leben), Garus Sterne (Zur Ger 
Ihichte der Schöpfung), H. M. Richter (Aus dem Zeitalter der Aufklärung), 
paul Heyje Giuſeppe Giufti), F. Bodenftedt (Shakejpeare’3 Frauengeitalten), 
Paul Lindau (Beaumardhais) in Ausficht geſtellt; demnächſt Werke von 9. No 
(Yebensbilder aus Jtaliens Infelwelt), Mar Lehmann (Scharnhorft), R. Gofche 
(Sonathan Swift), Julius Rodenberg Elſäſſiſche Gejchichtsbilder), Louis 
Büchner (Aus dem Geiftegleben der Thiere), 3. C. Bluntſchli (Kirche und 
Staatsmänner jeit der Reformation), J. Yippert (Böhmische Dörfer). Dieje Mit- 
theilungen dürften vor der Hand genügen, um jeden Gebildeten, der in Literarifchen 
Dingen nicht ganz fremd ift, über Geift und Richtung des Unternehmens zurechtzu— 
weilen, namentlich über die beiden wefentlichiten Punkte: Fernhaltung excluſiver 
Parteitendenzen und gewiſſenhafte Sorgfalt in Auswahl wirklich bewährter Kräite. 
Auf einzelne Werke der Sammlung einzugehen, behalten wir uns nach Gelegenheit 
vor; daß das Ganze einjt in der Gejchichte der zeitgenöffifchen Bildungsfthiömung 
einen bedeutjamen Pla einnehmen twird, Tteht ſchon jet außer Frage. 


470 Deutiche Rundichau. 


7. Allgemeine deutijhe Biographie Auf Beranlafjung und Unter- 
ftüßung ©. M. des Königs von Bayern Marimilian II. heraußgegeben durch 
die hiſtoriſche Commiſſion bei der K. Akademie der Wiſſenſchaften. — Leipzig, 
Dunder und Humblot. 1875. Xief. 1. 

„Den nationalen Sinn der deutjchen Mit- und Nachwelt zu befriedigen durch 

„die Freiheit eines leichten Verkehr mit der Fülle bedeutender Geftalten unjerer Vor— 
„welt, die nun auch insgeſammt hereintreten wollen in die geiftige Gemeinfchaft, 
„weiche die lebendigen Glieder unſeres Volkes verbindet.” So bezeichnet die An— 
fündigung den Zwed diefes nicht nur für die Gelehrten, fondern ganz augdrüdlich auch 
für alle Gebildeten unſeres Volkes beftimmten Sammelwerks. Es wird befonders 
betont, daß die Allgem. dt. B., bei ftrengfter Wiffenfchaftlichkeit, auch als Duelle Lite: 
rariſchen Genufles und menfchlicher, fittlicher und patriotifcher Erhebung dienen ſoll; 
fie foll aller verjtorbenen Deutjchen gedenken, welche in Staat und Kirche, in 
Wiſſenſchaft und Kunſt, in Handwerk und Gewerbe, in irgend einer Richtung des 
Leben? Nachwirkendes geleiftet haben; auch wird die Arbeit fich nicht auf die 
jehigen politifchen Grenzen des Reiches beſchränken, jondern fich auf die ganze große 
deutjche Familie erftreden, die, von den Vogeſen und den Alpen bis zu den Kar— 
pathen zur Dftfee und Newa, im deutjchen Reiche ihren geiftigen Mittelpunkt hat. Mit 
wie aufrichtiger Freude wir diefe neue und glänzende Bethätigung de nationalen 
Zeitgedanfen® begrüßen, bedarf nicht der Ausführung. Für den Geift des Unter— 
nehmens bürgen die Namen der Anreger, Leopold dv. Ranke in Berlin und 
v. Döllinger in Münden, fo wie die der Herauägeber, vd. Liliencron in 
Münden und Wegele in Würzburg. Er wird der der Gründlichkeit, de8 um— 
fihtigen Maßhaltens, der gerechten Objectivität nach allen Richtungen fein. Was die 
in Ausficht geftellte Wärme und Lebendigkeit der Darftellungen anbetrifft, jo wird 
man bei einem Sammelwerfe, das folche Mafjen vereinigt, zufrieden fein müfler, 
wenn die kurz gedrängten chronologifchen, bibliographifchen und ſonſtigen Notizen nur 
bie und da durch ein wirkliches, künftlerifch angelegtes Lebenzbild unterbrochen werden, 
und Für ſolche Unterbrechungen jcheinen eben in der Mitarbeiterlifte Namen wie 
Guſtav Freytag, Riehl, GCarriere, Felir Dahn, v. Giejebredt, Hett— 
ner, Mar Müller, Wilhelm Scherer, Ludwig Spad, dv. Sybel ꝛc. 
reichlich Bürgichaft zu leiften. Zu wünjchen bleibt nur, daß der in Ausſicht ſtehende 
jehr große Umfang des Werkes (20 Bände à 50 Bogen, im Gejammtpreife von 
240 Reichsmark, in zehn Jahren zu liefern) der Theilnahme unferes großen gebildeten 
Publicums nicht zuviel zumuthet. Unter den Biographien der erjten, vorliegenden 
Lieferung (Aa— Ahlefeldt) heben fih, neben andern, die von Thomas Abbt 
(Prefiel), von Abelen (Wieſe) und Adelung (W. Scherer) vortheilhaft durch 
zweckmäßige und anziehende Behandlung hervor; doch liegt es in der Natur der 
Sache, daß ein ausreichender Maßſtab für diefe Seite der Leiftung erft ſpäter an 
den Biographien von Männern erften Ranges zu gewinnen fein wird. Unter allen 
Umftänden verdient das Unternehmen, neben der ihm geiftig verwandten Fortſetzung 
der Heeren-Ukert'ſchen Sammlung, den warmen Dank jedes gebildeten Deutichen. 


— — — 


8. Das literariſche Centralblatt für Deutſchland, herausgegeben 
von Dr. Fr. Zarncke (Leipzig, Avenarius), hat im Januar d. J. feinen ſechsund— 
swangzigften Jahrgang eröffnet. Wer das Hinter uns liegende Bierteljahrhumdert mit 
Bewußtſein durchlebt Hat, fi) der Zuftände von 1850 und der ungeheuren ſeitdem 
aufeinander gefolgten Wandlungen erinnert, der wird leicht ermeſſen, was es bedeutet, 
ein rein wiſſenſchaftlich kritiſches Organ charaktertreu, mit fefter Hand durch ſolche 
Wogen geiteuert zu haben. Als der Plan zum Gentralblatte von Georg Wigand 
gejagt wurde, waren unfere berühmten, großen Literaturzeitungen an der Ungunft 
der Berhältniffe zu Grumde gegangen, die wiflenjchaftliche Kritit war in Fachblättern 
zerjplittert oder in der Tagesjournalijtit der literariſchen Betriebſamkeit preisgegeben ; 


Literarifhe Rundſchau. 471 


nur allmälig jammelte fich das verfchüchterte und zeriahrene öffentliche Bewußtfein 
nach den Aufregungen und Enttäufchungen der tollen Jahre und die Ausſicht auf 
mübjames Ringen mit ungewifjem Ausgange war noch das Beſte, was don unfern 
Hoffnungen übrig blieb. Unter ſolchen Umftänden mußte ein neues Organ unpar= 
teiifcher, ſtreng wifjenjchaftlicher, Enapper, präcifer Kritik an jeine Mitarbeiter Anz 
jprüche jehr ernfter Selbjtverleugnung, jehr uneigennüßiger Liebe zur Sache ftellen 
und fich von vorne herein mit dem Gedanken an mühfame und zweijelhafte Erfolge 
vertraut machen. Wie dann in der einen Richtung das Vertrauen auf die ungebrochene 
Subſtanz des deutjchen Weſens fich bewährte, in der andern die Zeit mehr leijtete, 
al3 fie zu verfprechen jchien, das wird uns zu unſrer innigen Genugthuung durch die 
Mittheilungen des Herausgebers betätigt. Die in der Jubiläumsnummer mitgetheilte 
Lifte der (befanntlich meift anonym fchreibenden) Mitarbeiter umfaßt eine ſtolze Reihe 
von eriten und hier wirklich einmal uneigennüßig thätigen Größen der deutjchen 
Wiſſenſchaft. Und auch das Publicum, über die ftreng fachmänniſchen Kreiſe hinaus, 
hat fich für die jchlichte, fnappe Sprache der Sachkenntniß und der Wahrheitäliebe 
nicht unempfänglich gezeigt. Das Literariſche Gentralblatt ijt ein integriven- 
der Theil jedes anftändigen Lejeinjtituts, jeder Bibliothet geworden, ein Sprechjaal 
für ernfte geiftige Intereſſen aus der ganzen Weite der nationalen Bildung, und 
dem unermüdlichen Herausgeber ift der Dank jedes geijtig mitarbeitenden Deutjchen 
gefihert. Wir begleiten die Eröffnung des zweiten Vierteljahrhunderts mit unjern 
berzlichjten Wünſchen. 
8. Kreyſſig. 


Berliner Chronik. 


ey we 


Theodor Döring's Jubelfeier. — Die Thenter. — Zur Erinnerung an 
Nadıel Felir. 


— — — 


Berlin, 15. Februar 1875. 


Das theatraliſche Ereigniß der letzten Wochen, welches die gebildete Geſellſchaft 
der Stadt mehr als jedes neue Stück anregte und in Spannung hielt, war das fünf— 
zigjährige Künftlerjubiläum Theodor Döring’3 am 25. Januar. An dieſem 
Tage war er im Jahre 1825 zum erjten Male in Bromberg auf die Bühne getreten, 
in einer unglüdlichen Kleinen Liebhaberrolle im „Armen Poeten“, und ausgelacht 
worden. Welch’ ein Weg von jener Niederlage bis zu dem jegigen Triumph! Mit 
welch’ gerechtem Stolz kann der Künftler in feinem hohen Lebensalter — er ift am 
9. Januar 1803 in Warihau, das damald zu dem preußiichen Antheil aus der 
lebten Theilung Polens gehörte, geboren worden, der Sohn eines preußiichen Salz- 
infpectord Namens Häring — mit welcher Freude auf die durchmeſſene Bahn zurüd- 
bliden! Sie hat ihn zu dem Ziele des Nuhmes geführt, wo die Muje den Kranz 
auf feine Stirne drüdt und die Mitftrebenden neidlo8 dor dem Sieger zurüditehen. 
Theodor Döring ift weit über die Grenzen unferer Stadt hinaus gekannt, geliebt 
und verehrt, eine Zierde der deutichen Schäufpielfunft; unter uns aber ijt er im 
beiten Sinne des Worts eine populäre Perjönlichkeit. Nicht umſonſt pflegt er in der 
altberühmten Weinftube, wo Ludwig Devrient und der Gejpenjter-Hoffmann, wenn 
nicht in glüdlicheren, doch in gemüthlicheren Zeiten ihren phantaſtiſchen Spuf trieben, 
mit guten Freunden Morgeniprache zu Halten; nicht umſonſt ift fein Leben mit dem 
unferer Stadt taufendfädig verknüpft. Nach Hendrichs' Tode, nach Deſſoir's Scheiden 
von der Bühne jteht Döring als der lebte Nepräjentant unjerd alten,, ruhmvollen 
Theaterlebens da, er vermittelt in fich Gegenwart und Vergangenheit; zwiſchen der 
alten, wejentlich declamatorifchen, einzig auf die Wahrheit und Genauigkeit der Zeich- 
nung gerichteten Schule und der neuen, die in der Natürlichkeit des Vortrags und 
in der charakteriſtiſchen Farbengebung das deal jucht, hält er die Mitte; den älteren 
Zuſchauern im gefüllten Theaterfaal erneut er die Erinnerung an die lebhafteiten 
Gindrüde, die fie in der Jugend von der Bühne her empfingen, den jüngeren im— 
ponirt die Sicherheit feines Auftretens, die Unverwüftlichkeit feiner Kraft und die 
Munterkeit feines Spiele. Soll ich hier, wo es fich mehr um einen Weitbericht, als 
um eine Kritik handelt, dennoch ein perfönliches Urtheil wagen? Bei aller Bewun- 
derung der proteusartigen VBerwandlungstähigkeit Döring’s fühle ich mich doch inniger 
zu feinen humoriftiichen, drolligen und grotesfen Figuren Hingezogen, als zu feinen 
tragischen. Sein Falftaff ift mir immer leibhaftiger und wahrer erichienen, als fein 
„ago; feſter glaube ich an das verliebte Abenteuer feines Dorfrichters Adam, als 
an das feurige Element, in dem fich fein Mephifto bewegt. Aber wer wollte ſolche 


Berliner Chronif. | 473 


feine Unterjchiede, Tolch” ein Abwägen des Guten gegen da3 Beſſere an dem Ehren— 
tage des Künſtlers anftellen! Da drängt fich nur der Reichthum feiner Schöpfungen, 
die quellende Gedanfenfülle, die feiner lebendigen Phantafte, feiner jcharfen Beobach— 
tung, feinem jchaufpieleriichen Genius entiprangen — fo leicht und mühelos dem 
Scheine nach, wie Strauß um Strauß aus dem unerfchöpflichen Zauberhut fliegen — 
dem Betrachter auf. 

In diefer Stimmung befand fich das Publicum, das, Kopf an Kopf gedrängt, 
bis auf den lebten Plab, den Saal des föniglichen Schaufpielhaufes am 24. Januar, 
ſchon im Voraus beifallsfreudig, einnahm. Das altmodijche, aber immer noch gern 
geſehene Töpfer'ſche Lujtipiel: „Rojenmüller und Finke,“ mit feiner etwas 
hausbadenen Gegenüberjtellung des Soldaten- und des Kaufmannsſtandes, bot dem 
Yubilar eine günftige Gelegenheit, in der Rolle de3 reichen Kaufherrn Timotheus 
Bloom jeinen fauftifchen Humor, das Schillernde feiner Laune in allen Farben und 
Tönen jpielen zu laffen. Bon der Stimmung des Publicums getragen, von dem 
Genius de3 Tages angeregt, ging die Darftellung munter und frifch vorwärtd. In 
dem Beifall, in der Spende von Blumenfträußen und Zorbeerfrängen, die fie Theodor 
Döring unaufhörlich darbrachte, gab ſich die Verſammlung gleichſam jelbjt ein Feſt. 
Am nächſten Tage, in den Mittagsſtunden des 25. Januar, wurde im „engeren 
Kreiſe“ die eigentliche Jubelfeier begangen. Eine durch den General-Intendanten 
von Hülſen eingeladene Geſellſchaft, aus Schriftſtellern, Künſtlern, Gelehrten, Theater— 
freunden beſtehend, bildete im Parquet und in den Logen des erſten Ranges die 
auserwählte Corona für das Schauſpiel, das ſich auf der Bühne vollzog. In einem 
prächtigen, reich mit Blattpflanzen geſchmückten, verſchwenderiſch erleuchteten Saal 
hatten ſich das geſammte Perſonal der königlichen Theater und eine große Zahl De— 
putationen eingefunden, um dem verehrten Künſtler ihre Huldigungen darzubringen. 
Der deutſche Kaiſer, der Kaiſer von Oeſterreich, die Könige von Bayern und Württem— 
berg, der Großherzog von Sachſen-Weimar, die Herzöge von Sachſen-Meiningen 
und Sachſen-Gotha ehrten ihn durch die Verleihung ihrer Orden. Im Uebrigen 
möchte ich ſagen, daß es in dieſer Stunde Lorbeern geregnet. Aus der Nähe und 
aus der Ferne waren goldene und grüne Kränze gekommen, Geſchenke aller Art, 
Adreſſen, Albums erdrückten die Tiſche. Wol an hundert deutſche Theater hatten 
ſich mehr oder minder, alle in derſelben Gefinnung der Liebe und Verehrung, ſo 
daß es diesmal in der Sphäre der Kunſt „kein Oben oder Unten“ gab, an der 
Feier betheiligt. Wie der General-Intendant von Hülſen, der zuerſt das Wort 
nahm, drückten alle andern Redner und Rednerinnen, denn es waren auch Daphne's 
da, „aus Lorbeerbüjchen lauſchend“, dem Yubilar ihre Bewunderung und den aus 
Aller Herzen kommenden Wunſch aus, ihn noch lange der Kunſt erhalten zu jehen. 
Wie bereitwillig fann der Schaufpieler, der jo voll und ganz wie der Jünger feiner 
andern Kunft der Gegenwart genießt, die Kränze verfchmerzen, welche — vielleicht, 
vielleicht auch nicht — die Nachwelt feinem Namen fvendet ! 

Gin anderes Greigniß, das ich auch eine Art AJubelfeier, eine Wiedergeburt 
nennen möchte, jchließt fich diefem KHünftlerfejte würdig und in fich noch bedeutungs— 
voller an. In einer Bearbeitung von Rudolph Genée — gedrudt ift fie jchon 
1871 in Berlin, bei Franz Lipperheide, erichienen — hat Heinrich von Kleiſt's 
dvaterländiiches Drama „Die Herrmannsſchlacht“ auf der Bühne des Schau- 
ipielhaufes einen auferordentlichen Erfolg errungen. Am 19. Januar zum erſten 
Male aufgeführt, hat das Stück in häufigen Wiederholungen feine Zugkraft immer 
aufs Neue bewiejen und, um einmal in der Theaterjprache zu reden, „außverkaufte 
Häufer“ gemadt. Oefters ift der Verfuch einer Aufführung des Drama's gewagt 
worden, zuleßt, wenn ich nicht irre, in Dresden mit einer Bearbeitung der Dichtung 
durch Feodor Wehl: ſtets ohne nachhaltigen Erfolg, mehr Beiremden ala Theilnahme 
erregend. ch gehöre nicht zu Denen, welche den geſchickten Einrichter und Bearbeiter 
einer dramatiichen Dichtung mit dem Dichter jelbjt verwechjeln und ihm das Lob 
jpenden, das jenem gebührt; aber auf der andern Seite joll dies Verdienſt nicht 


474 Deutſche Rundichau. 


gering geichägt und Hochmüthig befvittelt werden. Daß Kleiſt's Drama, wie es vor: 
liegt, fi) der fcenifchen Darftellung entzieht, Liegt jedem Kundigen klar. Außer 
manchem übertreibenden, ja rohen Zuge ift die Scene, in der Thusnelda, im Schmerz 
bitterſter Kränkung, mit der Wuth eines barbariichen Weibes, den jungen Ventidius 
von einer hungrigen Bärin zerreißen läßt, auf der Bühne undenkbar, und die ganze 
Dertheilung des Stoff? in die einzelnen Acte leidet an einem jchweren organifchen 
Fehler, der eine beſſernde Hand nothwendig macht. Kleiſt hat drei fnappe, für fich 
betrachtet vortreffliche erjte Acte, ohne Wandel der Decoration ein jeder, in fich ab» 
geichlofjen, mit bedeutjamem Ausklang. Dafür find die beiden letzten Acte um fo 
voller; der vierte hat 3, der fünfte Act gar 5 Scenenwandlungen, an Umfang über- 
treffen fie die erften drei Aufzüge. Genée's Bearbeitung bat den großen Vorzug, 
daß fie den Stoff gleichmäßiger ordnet, das Auftreten des Barus mit dem Römer 
heer jchon in den zweiten Act verlegt, auß dem vierten Act bei Kleiſt ben 
dritten macht und den fünften im zwei faft gleiche Hälften theilt. Dadurch 
wird eine Steigerung der Theilnahme bei den AZufchauern gewonnen; immer 
mächtiger und ſtrenger fchreitet der Kothurnfchritt der Tragödie vorwärts, immer 
großartiger entwidelt fich der Held des Ganzen. Mit den Milderungen des Bear- 
beiterd, mit feinen Strichen bin ich wenigſtens, bis auf geringe Abweichungen, 
durchaus einverjtanden und Halte fie, von dem theatraliichen Standpunkt aus, für 
eben jo zwedmäßig wie feinfühlig. Die gräßliche Rache, die Thusnelda an Ventidius 
nimmt, wird uns nur erzählt; die Scene Herrmann’3 mit Septimius iſt ganz ge 
ftrichen, wie fein Geſpräch mit Thusnelda, in dem er fie beinahe zur Verführung 
des Ventidius auffordert. Bedenklicher erfcheint mir die Ummwandlung, die Gence mit 
dem Untergang des Varus vorgenommen hat. Genée bringt Kleiſt gegenüber die 
römische Sage wieder zu Ehren, fein Varus fchlägt fi in das Gebüfch, um fich 
römifcheconventionell in fein Schwert zu ftürzen. Um wie viel charakteriftifcher ift 
Kleijt! Rings wie den gejagten Hirfch Haben die deutfchen Häuptlinge Barus um- 
jtellt; er fann ihnen nicht entfliehen. Alle geizen nad) der Ehre, ihn, den Stellver- 
treter des Imperators, die Verkörperung der römischen Weltmacht und Majeftät, 
niederzuftreden. Herrmann will auf ihn eindringen, da wirft fih ihm Fuft, der Fürft 
der Gimbern, der bisher ein Bundesgenoffe der Römer geweſen und erſt während der 
Schlacht im Teutoburger Walde von ihnen abgefallen ift, entgegen. „Varus,“ xuft 
er wüthend, „hat in Schmacd und Schande mich geftürzt, an Deutichland, meinem 
Daterlande, der Mordknecht, zum Verräther mich gemacht: den Schandfled waſch' ich 
ab in feinem Blute, das hab’ ich heut, das mußt Du willen, geftredt am Boden, 
beulend, mir gelobt!” Das zerbrochene Schwert in der Hand muß Varus dem 
Kampf der beiden Deutjchen um den Ruhm, ihm den Todesftoß zu geben, mit anfehen; 
Herrmann wird am Arm verwundet. „Sch will's zufrieden fein,“ jagt er zu Fuſt; 
„Dein Schwert fällt gut. Da nimm ihn Hin; man kann ihn Dir vertrau’n.* Trium- 
phirend ftürzt fich Fuft auf Varus und tödtet ihn nach kurzem Gefecht. Gewiß, 
diefe Scene iſt barbariſch, und die griehiiche Mufe der Tragödie — 
ne pueros coram populo Medea trucidet, 
aut humana palam coquat exta nefarius Atreus — 

würde ihr Haupt davor verhüllen, aber welch’ befjere, jprechendere Vignette könnte 
man für das Trauerjpiel des Nationalhaffes finden? 

Denn nichts mehr und nichts weniger will Kleiſt's Dichtung, ala den unverföhn- 
lichen Krieg gegen den Erbieind predigen, als den unfterblichen Haß verberrlichen, der 
die deutiche Volksſeele gegen das weliche Weſen erfüllt. Da Hilft feine Großmuth, 
feine Tugend, feine Tapferkeit; der edeljte Römer it Herrmann der verhaßteite, weil 
er ihm das Gefühl verwirrt, weil er auf einen Augenblid einen Streit zwifchen Abſcheu 
und Bewunderung in feinem Herzen erregt. Der Sturz Preußen? am Tage von Jena, 
die Unterdrüdung und Plünderung Deutichlands durch Napoleon’3 Marſchälle und 
Soldaten, der jchmähliche Abfall der ſüddeutſchen Fürften zum Landesfeind, der 
böhnifche Uebermuth der Sieger: das Alles hat den patriotifchen Zorn, den Schmerz 


Berliner Ehronif. 475 


und die Verzweiflung des Dichter? aufgewühlt; wie auß dem empörten Vulkan jtürzt 
die glühende Lava hervor. Trüb ift die Gegenwart, dunkel die Zukunft — aber 
in dem Bilde, das er aus der Urzeit feines Volkes heraufbeſchwört, fieht er wie in 
einer Bifion den endlichen Sieg der Deutfchen auch über die Franzojen. Indem er 
die Adler des Varus niederwirft, ftürzt er die Adler Napoleon’3. Unter der römifchen 
Maske jchildert er die Franzoſen; feine Häudtlinge der Ubier, Sicambrier, Brutterer, 
was jind fie anders ald die Fürjten des NRheinbundes? In dem troßigen, jtolzen 
Ariftan vermuthe ich den damaligen König von Württemberg, den innigjten Bewun— 
derer Napoleon’3. Der Zwilt zwilchen Herrmann und Marbod um die Hegemonie 
über die deutichen Stämme ift das Sinnbild der Eiferfucht Oeſterreichs und Preußens; 
der „Staatenbund”, von dem Marbod redet, erinnert halb an die alte VBerjafjung 
des deutjchen Reichs, Halb an den Fürftenbund, den zu errichten Friedrich II. fich 
bemühte. Zuleßt wird, unter Marbod’3 Namen und Gejtalt, Preußen gefeiert: es 
erringt den höchiten und edelften Sieg über fich ſelbſt. Obgleih Marbod der mäch— 
tigfte Herr unter den Deutjchen ift ‚und die ftärkjten Legionen des Römerheeres ver- 
nichtet hat, beugt er dennoch jein Knie vor Herrmann: „Heil, ruf’ ih, Herrmann, 
Dir, dem Retter von Germanien! Und weil die Krone jonft, zur Zeit der grauen 
Väter, bei deinem Stamme rühmlich war: auf deinen Scheitel falle fie zurück!“ Die 
Verſöhnung Preußens mit Defterreich verjagt die eingedrungenen Feinde und ſtellt in 
Herrlichkeit und Würde das alte Reich wieder her. Es find die Gedanken, welche in 
den Jahren 1808—1815 die deutjchen Patrioten bewegten. 

Der Haß ift die bewegende, dämoniſche Gewalt der Dichtung. Dadurch erhält 
der im Grunde rein epifche Stoff eine ftarfe Iyrifche Ergriffenheit und in der Figur 
Herrmann’3 einen Träger der Handlung und Empfindung. Nicht an ihm, ſondern 
an den Römern erfüllt fich ein tragifches Geſchick. Sie find, nach der Anficht des 
Dichters, ohne Noth, von den Deutichen nicht gefränkt und verlegt, aus Herrichbegier 
und „Dämonenftolz“ in Germanien eingefallen und erleiden die gerechte Strafe für 
ihren Uebermuth. Ich geftehe, daß mir diefer römiſche Hochmuth, die Gewaltthätig- 
feit der Proconfuln, die Knechtung der Barbaren in Grabbe’3 „Herrmannsjchlacht”, 
troß der wunderlichen, oft burlesfen und an die Puppenlomödie erinnernden Form, 
lebendiger, jaßlicher entgegentritt, als in Kleiſt's Dichtung. Hier fehlt das Bolt 
ganz, nur die Fürſten reden, verhandeln, jchlagen. Bon den Gräueln der Römer 
wird wol berichtet, aber außer dem Frevel an Theuthold's Tochter jehen wir nichts, 
weder „bon der erjten“ noch von der letzten „Plage, mit Hohn auf uns herabgejchidt“ 
— ja, wir find nicht ficher, daß Herrmann den größeren Theil der Schandthaten 
abfichtlich herbeigeführt hat, um die Cherusfer gegen die Römer aufzuhegen. Aber 
Lug und Betrug, der ganze „Wi eine Wilden“, wie der fterbende Varus die 
Handlungsmweije Herrmann's mit tragifcher Ironie nennt, al’ diefe Hinterlift kön— 
nen für uns Herrmann’3 große Seele nicht verdunfeln. Weit über das Menjch- 
liche hebt ihn der Haß gegen das Römerthum, die Liebe für fein Vaterland hinaus. 
Er will nichts für ſich; was er thut, vollendet er ded Ganzen wegen, zur 
Befreiung Germaniend. Da gilt ihm fein Mittel zu niedrig oder zu abfcheulich, 
. er ift wie Roftopfchin, der mit überlegter Abficht Moskau in Brand ftedt. „Ganz 
Teutoburg ſiehſt du in Schutt und Aſche,“ ſagt ihm klagend Eginhardt. „Mag 
fein,“ antwortet er ihm gelaffen, „wir bauen uns ein jchön’res auf.“ Der Held in 
ihm ift eben in der entjcheidenden Stunde größer und gewaltiger, als der liftige 
Barbar, jeine Begeifterung ergreift und und reißt und mit fich fort in die Römer: 
ſchlacht. Schwerer findet man fich in den Charakter Thusnelda’s. Kleiſt denkt fie 
fih im Anfang als eine norbdeutjche Edeldame, jchön, gutmüthig, ein wenig beichräntt, 
die raſch, wie er ed nur zu oft erfahren haben mochte, von den Leidenfchaitlichen 
Liebesbetheuerungen eines jungen franzöfifchen Officiers bethört wird; fie nimmt diefe 
Art Huldigung, die für ihn eine Kurzweil und eine Ausfüllung müßiger Stunden im 
Standquartier ift, ernſthaft. Im dieſer Herzensirrung liegt der Anfah zu einem 
tragiſchen Conflict. Daß nun aber diefe gute, blonde, übernaive Thusnelda — 


476 Deutſche Rundſchau. 


Herrmann nennt ſie bezeichnend „Thuschen“ — ſich plötzlich, weil Ventidius die ihr 
geraubte Locke als „Probe ihrer Haare“ der Kaiſerin Livia nach Rom ſchickt, in 
eine gräßliche Furie verwandelt, die den verliebten Jüngling von einer Bärin zerreißen 
läßt, iſt mehr eine Umdichtung als eine Entwickelung des Charakters. Die naive 
Schöne war nur eine Maske, aus der Verhüllung tritt uns die heroiſche Barbarin 
mebufengleich entgegen. 

Ueber die Erwartungen der Freunde der Dichtung hinaus — und wer bewunderte 
nicht ihren lyriſchen Schwung, die emergifche Kraft in der Zeichnung der Haupt: 
figuren, die Tiefe und Gewalt einzelner Scenen, die über den geringen dramatifchen 
Gehalt des Ganzen den Leſer wie den Zufchauer hinwegtragen? — war der Eindrud 
der erſten Borftellung ein überwältigender. Seit dem Abend, wo Brachvogel’s 
„Narziß“ zum erſten Male auf unjerer Bühne erichien, entfinne ich mich feines 
Trauerfpiel®, das eine ähnliche Wirkung hervorgebracht hätte. Mit den Haupt: 
darftellern konnte man, nach dem Make ihrer Kraft, nach ihrer Perfönlichkeit, wol 
zufrieden fein. Herr Berndal gab feinem Marbod in der Scene mit Herrmann’s 
Kindern eine Würde, eine WVäterlichkeit, eine jo glüdlihde Miſchung von Weberlegung 
und Vertraulichkeit und darauf, als er den Verrath der Römer erfährt, in dem Aus: 
bruch des Zorns eine Schredlichkeit, wie fie beffer und natürlicher der Dichter jelbit 
von feinem Schaufpieler hätte fordern fünnen, eine ebenfo lebenswahre wie wirkung: 
volle Leiftung. Herrn Ludwig fehlt es als Herrmann zu jehr an der überragenden 
Größe und Stattlichkeit der Erfcheinung, hier und dort trat die naive Schlauheit, der 
Wit des Barbaren und die Freude darüber, jo Eluge Gegner wie die Römer zu über: 
lijten, vor der bewußten Staatsklugheit zu jehr zurüd, dafür Jchlug in andern Momenten 
die heroiſche Empfindung mächtig duch. Den erjten Scenen mit Thusnelda wußte 
der Darfteller den Schein des Scherzhaften und Spielenden mit vielem Gefchid, ohne 
Üebertreibung und Verlegung, zu bewahren. Mit vortrefflichem Spiel fam ihm hier 
Fr. Erhartt zu Hülfe, der die Thusnelda noch überzeugender und gleichlam wirk— 
licher anftehen würde, wäre ihr Goftüm wmalerifcher und barbarifch prächtiger geweien, 
hätte eine doppelt und dreifach jo üppige Fluth vothgoldenen Haares die Fürſtin von 
Cheruska umfloffen. Im Ausdrud de Zornes und der Wuth jucht Fr. Erhartt 
jet ihres Gleichen auf der deutjchen tragiichen Bühne, und jo gelingt ihr denn der 
Ausruf und die Geberde des namenlofen Erjchredens und der unterdrüdten Empörung, 
als fie den Verrath und die Schuld des Ventidius aus feinem Briefe an die Kaiferin 
gelefen, in ergreifender Weife. Herr Kahle zeichnete feinen Varus zu jehr in die 
Defioiriche Schablone des Talbot hinein, eine Figur voll Anftand, aber ohne tielere 
Eigenart. Im Enfemble famen die Scene zwiſchen der Alraune und dem römiſchen 
Feldherrn, der Bardengejang, die Ermordung des deutjchen Mädchens, troß des Bei— 
falls, den fie fanden — fie tragen eben etwas Unverwüſtliches in fi”) — nach meinem 
Gefühl nicht zur vollen Leibhaftigkeit; dem erſten Aufritt gebrach es an Schauer, den 
beiden andern an tragiicher Größe. Sie waren von einem komödiantenhaften 
Zuge angefränktelt. Die „jühen Alten“, die jo gemüthlich wie nur je ein Opernchor, 
von Fadeln beleuchtet, zufammenfigen und ihren Gejang anheben, würden, ohne Kleiſt's 
herrliche Worte, ftatt unferer Bewunderung unfer Gelächter herausfordern. Für die 
Ausftattung war nach Möglichkeit geforgt; drei neue Decorationen find ein ungewöhn— 
licher Yurus für ein „Eaffiiches“ Dranıa. Eine gewiſſe Wahrheit läßt fich der ganzen 
Einrichtung nicht abjprechen, wir empfangen wenigitens eine ungefähre, nur im Ein— 
zelnen nicht forgiam und künſtleriſch genug durchgebildete Vorftellung von Land und 
Wohnung, Sitte und Tracht unferer Ahnen. Gegenüber der früheren Nachläffigteit 
in diefen Dingen, der Geringichägung der Aeuherlichkeiten, die fich noch dazu in bie 
Bruft warf und für „ideale Hunftanjchauung” ausgab, ift ein großer Fortichritt zum 
Beſſeren geichehen. Unverfennbar wirkt der Einfluß der Meininger nad). 

Die übrigen Theater haben fich wieder mit den Gaben aus der fremde begnügt. 
Für den Betrachter in ermüdendet Eintönigkeit wechielt im Friedrih-Wilhelm: 
jtädtifchen Theater „GirofléGirofla“ mit der „Fledermaus“ und „Mamjell Angot“ 


Berliner Chronif. 477 


ab, und als ſei es an Einer Bühne für die Opernpojje noch nicht genug, gr jetzt 
auch) das Wallner- Theater, Abend für Abend, eine Offenbadiade: „Schön: 
röshen”, auf. Das ganze Stüd ſcheint einzig einer Ausfleideicene wegen da zu ſein, 
die nach den erjten Aufführungen indeilen feine Gnade vor der Sittenwächterin, der 
Polizei, fand und jeßt leidlich unjchuldig und harmlos verläuft. Ich bedauere, daß dieie 
Stätte unferer Localpoſſe nun auch von der franzöfischen Cancan-Muſe erobert worden iſt. 
Seit Moſer's „Ultimo“, das im März des vergangenen Jahres einen jo wohlverdienten 
Erfolg gewann, hat die Leitung des Wallner-Theater Hin und her getajtet, ohne eine 
Neuigfeit zu finden, welche den alten Traditionen des deutjchen Luſtſpiels, der Ber— 
liner Poſſe getreu, mäßigen Ansprüchen des guten Gejchmads genügte und das 
Publicum dauernd zu fefleln vermöchte. Das Stadttheater hat Sardou’3 
„Onkel Sam“, eine Satire der nordamerifanifchen Zujtände, das Rejidenz- 
theater Dctave Feuillet's „Dalila“ aufgeführt. Sardou’s Stüd läßt den 
geiftvollen Berfafler der „Fernande“ kaum wiedererfennen; eine Reihe von Scenen, 
die loſe und unwahrſcheinlich verknüpft find, jchildert übertreibend die politifchen und 
gejellichaitlichen Sitten und Gewohnheiten der Yankee's, mit der fichtbaren Abficht, 
die franzöfiiche Ritterlichkeit und Treue ihnen gegenüber in das jchönfte Licht zu 
ſetzen. „Onkel Sam“ wie „Rabagas“ gehören zu den jatirifchen Komödien; der 
ariftofratifche Dichter verhöhnt die Demokratie in jeglicher Gejtalt; zuweilen denkt 
man dabei an Nriftophanes. Leider ift das Gewebe der Fabel gar zu dünn, der 
Aufbau des Ganzen zu loder. Feuillet's Dramen: Dalila, Montjoye, Redemption, 
Le Sphinr, machen auf mich den Eindrud von Novellen, die ein eigenfinniger Künſtler 
in die dramatifche Form gezwängt hat. Ueberall treten Brüche in dem Verlauf der 
Handlung, Charalterummwandlungen hervor, deren genauere Erklärung der Dichter 
dem gerälligen Zuichauer überläßt. Zwiſchen dem vorleßten und dem lebten Act 
liegt dann ein Zeitraum, den fich Jeder nach feinem Temperament länger oder fürzer 
vorftellen fanı, um die Verwandlung des „eijernen Mannes“ Montjoye in den jentimen- 
talen petit papa, des jtrebenden, lebensluftigen Künſtlers Roswein in den fiechen und 
blafirten „Garnichts“ ich vollziehen zu laſſen. Für mic) beruht der eigenjte Reiz 
der FFeuillet’schen Schöpfungen in der Harmonie, der Glätte und Feinheit ihrer 
Sprache; an dramatifcher Kraft und Kühnheit halten fie feinen Vergleich mit den 
Werken des jüngeren Dumas, Augier's und Sardou's aus. Es iſt Orangenblüthen- 
wafjer, fein Blut in ihnen. Die jchöne Dame, die durch ihre „Liebe“ in „Dalila“ 
einen jungen Künftler zu Grunde richtet, hat von den großen Berführerinnen nur die 
Worte geborgt — eine junge kokette vornehme Frau, die heute diejen, morgen jenen 
Xiebhaber nimmt und eben flug genug ift, immer nur weibijche Männer, niemals 
einen Mann zu wählen. Trifft fie nun auf folchen blöden Thoren, wie diefen Ros— 
wein, jo braucht fie feine befonderen Dalila-Künſte, um diefen Miniatur-Simjon feiner 
Soden zu berauben. Mir geht e8 mit diefem Drama, wie mit Paul Heyſe's Novelle 
von der „ungariichen Gräfin“ ; ich begreife die vielummworbenen jchönen und lebens» 
gewandten Frauen nicht, die an jo unbedeutende, nicht einmal hübjche und gefällige 
Burichen Zeit und Huld verichwenden. Der Ausgang ift dann in jedem alle, ob 
der Yüngling oder die Frau nach der Meinung des Dichters „vernichtet“ wird — 
in der Wirklichkeit pflegen Beide nach jolchen Abenteuern gelafjen weiter zu leben — 
für den Zufchauer kläglich und langweilig zugleih. In der Erzählung wird der 
unbehagliche Eindrud durch die eingehende feine pſychologiſche Entwidelung gemildert, 
durch die Alivesco: Dtalerei des Drama’s wird er verſtärkt bis zur Unerträglichkeit. 
Intereſſanter als diefe Aufführungen war der Verſuch, den das Reſidenz— 
theater mit der Darftellung einer Komödie, Bulwer Yytton’S „Geld“, am 
30. Januar gemacht hat. Gin gutes Mtenjchenalter hat das Luſtſpiel hinter ſich, 
aber die frage, die e& behandelt, veraltet nie. Immer wieder, in den verjchiedenjten 
Formen, bricht fie durch; wie die alte regiert fie die neue Welt. Sein Philoſoph 
wird den Inhalt, den der Begriff „Geld“ in fe: x Alljeitigfeit und Unvergänglich- 
feit umfaßt, ergründen, fein Dichter das Chamäleontiſche des „Geldes“ jchildern 


Teutſche Rundſchau. 1,0. 32 


478 Deutiche Rundſchau. 


fönnen. Es ift zugleich die ewig rubende Sphinr, die dem Menſchen das Räthiel 
des Leben? ftellt, und die ftetö bewegliche Chimäre, die und mit all’ unfern Hoff— 
nungen und Wünfchen auf ihrem Rüden dahinträgt. Der Mangel der Bulwer'ſchen 
Komödie liegt vor Allem darin, daß die Fabel nicht tief genug gegriffen iſt. Ein 
armer, begabter junger Mann, Alfred Evelyn, der fich bisher im Haufe eines 
reicheren Verwandten gleihfam „herumgeftoßen“ hat, wird unerwartet durch das 
Teſtament eines PVetterd zu einem der reichiten Männer Englands. Leute, die ihn 
früher nie beachtet, vergöttern ihn nun; wie der Honig die Fliegen, zieht fein 
Reichthum die Menjchen an. Aber zu einer ergreifenden und hinreißenden Schilderung 
der dämonifchen Macht des Geldes, wie fie uns in Gealäfield’3 „Morton“ entgegen- 
tritt, fommt es nicht; Bulwer hat fich mit einer Yiebesintrigue begnügt. Gin armes 
Mädchen, Clara Douglas, Hat Alfred's Bewerbung, troß ihrer Neigung für ihn, 
zurüdgewieien: fie glaubt nicht an eine glüdliche Ehe inmitten der Armuth und Noth; 
halb aus Verzweiflung, Halb von dem Schein des Edelmuths und der Uneigennütig: 
feit getäufcht, verlobt ſich Alfred mit einem andern Mädchen. Dieje Verbindung 
zu löſen und die beiden Liebenden aus Jrrung und Mißverſtändniß wieder zu einander 
zu führen, ift der Inhalt der Komödie. Nicht die erfte, nur die zweite Rolle jvielt 
das „Geld“ in diefer Fabel. Beſſer find dem Dichter einzelne Vorgänge, jo die 
Teftamentseröffnung im erjten, die Elubfcenen Im vierten Akte, mit charakteriitiichen 
Nebenfiguren voll Humor, gelungen. 63 iſt ein launiges, friſches Yebensbild aus 
der vornehmen englischen Gejellichaft, wie Bulwer fie zu malen liebt, nicht ohne 
farkaftiiche Züge, im Ganzen wahr und fein beobachtet, in den Frauengeſtalten voll 
Anmuth und Zartheit. Leider blieb die Darftellung hinter meinen Erwartungen zu: 
rück; Sr. Keppler machte aus Alfred Evelyn ein Mittelding zwiichen Hamlet und 
Timon, nad) der Haaſe'ſchen Schablone für ſolche Rollen; die Andern ſpielten die 
Bulmwer’ichen Ladie8 und Gentlemen doch gar zu jehr in die norddeutiche Spieh- 
bürgerlichkeit hinunter. 

Stelle ich die Geduld des Leſers vielleicht auf eine zu harte Probe, wenn ich 
in dieſer Berliner Chronik von einer Schauſpielerin plaudere, die im Grunde nur in 
eine Pariſer Chronik gehört, von Dingen, die überdies vergeſſen ſind? Denn wohin 
iſt der Ruhm der Rachel Felix, der einſt ſo laut die Welt erfüllte; wohin ſind ihre 
Phädra's, Hermione's, Camilla's, Roxane's! Mais oü sont les neiges d’antan? Es 
gilt jedoch, eine franzöſiſche Berühmtheit gegen einen Franzoſen zu vertheidigen, die 
ihren ſtolzeſten Tag in unſerer Nähe, im Garten des Neuen Palais zu Potsdam, er— 
lebte, als der damalige Herrſcher der Welt, Nicolaus von Rußland, ihr vor dem ganzen 
Hofe die Hand küßte. Neulich veröffentlichte dev „Temps“ einen lehrreichen, mannigfach 
anregenden Vortrag des Akademikers Ernejte Legouvé über „Samjon und feine 
Schüler“. Samfon war ein mittelmäßiger, jehr brauchbarer und in zweiten Rollen 
gewandter Schaujpieler des theätre frangais, dagegen ein unübertrefflicher Lehrer und 
„Bortragsmeifter”, um das Laube’sche Wort zu gebrauchen. Jedermann weiß, daß 
Rachel Felix feine größte Schülerin geweien, eine dankbare Schülerin, die nie ange 
ftanden hat, die Hälfte ihres Ruhms ihm zuzuſchreiben. Legouvé erörtert num in 
feinem Vortrage unter Anderm auch die frage, ob die Rachel nur ein unvergleichlic) 
großartiges virtuojes Talent, ob fie ein fchöpferifches Genie geweien? „Daß fie die 
Königin der Virtuoſen geweien,“ Fährt er fort, „Niemand beftreitet es. Aber war 
fie, wie Lekain“ — der, nebenbei bemerkt, in Ericheinung und Spielweiſe unjerem 
Deffoir geglichen haben muß — „eins jener nachdenklichen und begeifterungserfüllten 
Genies, die fih, nachdem fie einmal die Regeln ihrer Kunſt erlernt haben, von ihrem 
Lehrer trennen und allein ihren Weg gehen? Oder hat im Gegentheil ihre Snfpiration, 
fo mächtig fie war, immer eines (Führers bedurft?“ Legouvé entjcheidet fich für die 
letztere Anficht. Nah ihm war Rachel Felix nichts ohne Samjon. Es bedarf nicht 
des Hinweijes, daß er als Akademiker feine Behauptung in fo zierliche Redewendungen 
einkleidet, daß ein Pariſer faum einen Anjtoß daran nehmen kann. Mich fünmern 
aber feine vortrefflich ftilifirten Ginjchräntungen nicht, ſondern nur der Kern jeiner 


Berliner Chronif. 479 


Meinung. Die meine ift der jeinen durchaus entgegengejeßt.: Rachel Felix war ein 
geborenes, ein urjprüngliches tragiiches Talent, das größte, das ich jemals auf der 
Bühne gefehen. In Samfon’® Schule hat ihr Genius vielleicht diefe und jene 
Wendung gelernt, die anders ausgefallen wäre, wenn jtatt Samfon etwa Talma ihr 
Lehrer gewejen. Aber ihr Weſen wurde von den guten Lehren des Schulmeijters 
nicht berührt. Zur Stüße jeiner Behauptung führt Legouve folgende Anekdote an. 
Eines Tages kömmt ein Freund zur Rachel: er findet die Künſtlerin aufgelöft in 
Thränen. Sie Hat fi) mit Samſon entzweit, fie will das Theater verlaffen. Der 
Freund verjucht, fie zu beruhigen und erinnert fie an ihr Genie. „Ach was, mein 
Genie!” Ich jehe fie vor mir, wie fie diefe Worte mit einer unnachahmlichen Ge- 
berde der Verachtung gerufen haben mag. „Sch bin nichts ohne Samfon. Ich finde 
wol einzelne Effecte, Naturlaute der Leidenichaft, den Ausdruck der Wahrheit, aber 
dad Ganze.einer Rolle erjchredt mi. Samſon mit jeinem Scharffinn führte mich, 
ohne mich je dabei zu hindern. Er gab mir Gedanken, die andere Gedanken erzeugten; 
Telbft entfernt von ihm, arbeitete ich noch mit ihm. Unaufhörlich wiederholte ich 
mir, was er mir gejagt hatte; und des Abends, auf der Bühne, fielen mir feine 
Betonungen ein, und ich brachte fie in meiner Weile und wie durch Eingebung her- 
dor.” Und dies Geftändniß, in dem ich nichts als die Lauterkeit eines dankbaren 
Herzens erkennen kann, wird gegen den Genius der Rachel in’s Gefecht geführt. 
Rachel Felir etwa. auf dem Standpunkt der Charlotte Wolter! Birtuofin in ein- 
zelnen Augenbliden, unfähig, eine Rolle zu beherrfchen und durchzuführen! Man kann 
nicht Schiefer urtheilen. Signora Riftori war die PVirtuofin, die Rachel war der 
Genius; die erite eine Nachtigall im Fliedergebüſch, die andere ein Adler, der zur 
Sonne fliegt. Niemald Hat die Riftori jene tragifche Erhabenheit zu verfinnlichen 
vermocht, troß der wunderbaren Plaſtik ihrer Bewegungen und ihrer melodifchen 
Sprache, wie die Rachel; wie weit jtand ihre Phädra Hinter der ihrer großen Neben 
bublerin zurüd! Sch Habe es jchon einmal an einem . andern Orte gejagt, daß wir 
Deutiche den Genius der Rachel viel richtiger erfaßt und viel verftändnikinniger ge— 
würdigt haben, als die Franzofen. Freilich, wenn man Theodor Rötſcher's Recenfionen 
über die Darftellungen der Rachel mit denen Jules Janin’s über fie vergleicht — 
wie grau und dürftig nimmt fi) in Hinficht auf die vollendete, künſtleriſch abge- 
rundete, blühende und tönende Rede der deutjche Bericht neben dem Franzöfifchen aus: 
eine Domenhede gegen einen Roſenſtrauch! Wägt man aber die Gedanken, wie unbe- 
deutend erjcheint da das „geiltveiche” Geplauder des Königs der Tyeuilletoniften ! 
Rötjcher num gehörte wahrlich nicht zu Denen, die der finnliche Eindrud, die Virtuofität 
einer jchaufpielerifchen Leiſtung blendet und hinreißt; aber derjelbe Zauber, der mich 
bezwang und nach faſt fünfundzwanzig Jahren noch in der Erinnerung unter feinem 
Banne feithält, rührte den trodenen, ein wenig pedantifchen Hegelianer. Nein, die 
Rachel war nicht das Echo Samſon's; fie hatte von ihm gelernt, wie Rafael vom 
Perugino, fie hatte einzelne jeiner Töne, jeiner Farbengebungen, gewiſſe Anfchauungen, 
weil fie ihrem Wejen verwandt waren, von ihm angenommen und mit ihrem Selbit 
derichmolgen, fie mochte den geübten Praftifer oft und gern um Rath fragen, weil 
fie, hitzig und jtürmifch, ihrem Urtheil mißtraute — aber was fie auf der Bühne den 
entzüdten, den eritarrten Zuſchauern zu jehen und zu hören gab, das war nicht 
Samjon’3, das war ihr Eigentum, das war der Gott, der in ihr waltete, fein 
Papagei, den, wie Legouve uns weismachen will, ein „Vortragsmeiſter“ Corneille 
und Racine jprechen gelehrt. 
Karl Frenzel, 


32* 


Aus dem Berliner Öpernhaufe, 


w — — 


Berlin, Mitte Februar 1875. 


Das Repertoire der königlichen Bühne meint es dieſen Winter gut mit der ein— 
heimiſchen Production. Dem Taubert'ſchen „Ceſario“ iſt als zweite Novität der 
Saiſon Richard Wüerſt's dreiactige komiſche Oper „A-ing-fo-hi“ gefolgt, 
ebenfalls das Werk eines in unſerer Mitte lebenden Componiſten, deſſen nun ſchon 
durch dreißig Jahre fortgeſetzte emſige Thätigkeit über alle Gattungen der Kunſt ſich 
erſtreckt. Von ſeinen dramatiſchen Arbeiten ſtehen der „Stern von Turan“, in wel— 
chem einſt Pauline Lucca geglänzt, und der „Faublas“, der im Friedrich-Wilhelm— 
ſtädtiſchen Theater eine ganze Reihe von Wiederholungen erlebte, beim Berliner 
Publicum in freundlichem Andenken. Nichts fällt einem deutſchen Muſiker ſeltener 
in die Hand, als ein brauchbares Libretto. Die neue Wüerſt'ſche Oper kann ſich 
eines ſolchen Glücksfanges rühmen. Das Textbuch — Ernſt Wichert, der Autor 
von „Ein Schritt vom Wege“, iſt der Verfaſſer — trägt durchweg den Stempel 
bühnengewandter Sicherheit und Schlagfertigkeit. Franzöſiſchen Muſtern, namentlich 
Scribe’3 erfindungsreicher Muſe, der unermüdlichen Arbeitsgenoſſin Auber's, hat es 
manche Vortheile abgeſehen: das ſorgloſe Scherzando der Handlung, die nachgiebige 
Biegſamkeit der Charaktere, die flotten Wechſel der Situationen. Einer italieniſchen 
Novelle von Barrili iſt der Stoff entlehnt. Die erſte Scene zeigt uns ein geräuſch— 
volles Gelage, bei dem auch das ſchöne Gejchlecht nicht fehlt. Die Gäſte rüften fich 
eben zum Aufbruch; fie Haben fich offenbar weit befjer unterhalten, ala ihr Wirth, 
der reiche genuefiiche Advocat Fenoglio, ein bereit3 etwas blafirter Yunggejelle in 
mittleren Jahren. Er trägt die Maske eines Mandarinen. Bedächtig öffnen fich 
feine müden Lippen zu jenen chinefiichen Lauten, die der Oper den Namen gegeben. 
Als fcherzhafte Parole machen fie ſpäter die Runde unter jämmtlichen Perjonen. 
Endlich iſt der Urheber des Feſtes allein mit feiner Zangenweile. Gähnend wiederholt 
er fich die Lehren, die er als Summe aller Lebensweisheit eben aus dem Munde 
feines jungen Freundes Felir vernommen. Er joll unbelümmert die Gunft des Zus 
falls walten laffen, mit ihm Blindekuh jpielen. Kaum hat er die Augen geſchloſſen, 
als ihn ein plößlicher Lärm aufichredt. Sich gegenüber exblidt er eine Unbefannte 
und an der Thür zwei Polizeidiener. Sene, Felir’ jchöne Goufine Laura, hat unter 
dem Schuke der Nacht ihre Freundin Grminia, die Tochter eine nach London ge= 
flohenen Mazziniſten, befuchen wollen und, von den Beamten der Öffentlichen Sicher: 
heit verfolgt, fich in das erfte bejte Haus geflüchtet, das fie noch offen gefunden. Eie 
gleicht auf ein Haar der Angela im jchwarzen Domino, die ein ganz Ähnliches 
Abenteuer beiteht. Wenoglio, raſch in's Einverjtändniß gezogen, ftellt den unerwar- 
teten Gaft ala jeine ihm eben vermählte junge Frau vor. Die Häfcher kehren un— 
verrichteter Sache heim, und in dem Schlußduett des eriten Actes knüpft fich ſchnell 


Aus dem Berliner Opernhauie. 481 


ein Band zwijchen dem Herzen des durch die Laune des Zufalls zufammengeführten 
Paares. Der Advocat begehrt den Namen feiner anmuthigen Glientin zu willen, fie 
entzieht fich ihm jedoch mit der Verheißung, der Zufall werde jchon Alles in's Klare 
bringen. Im zweiten Act wiederholt jich dafjelbe Spiel mit Erminia. Der Polizei— 
director Gallefi und Felix find diesmal die Getäufchten; von jenem, der, durch jeine 
Leute don der nächtlichen Scene unterrichtet, die jungen Eheleute begrüßen will, em- 
pfängt Laura’3 Freundin Glüdwunfh und Strauß. In einer Gonfultation mit 
Fenoglio überrafcht, weiß fie kein andere Mittel, um allen läſtigen Nachforichungen 
zu begegnen. Felix hat aber in ihr die Geliebte feiner Jugend wiedergefunden und 
glaubt fich jchnöde verrathen. Der letzte Act löft, wie es feine Schuldigfeit ift, alle 
Irrungen und Mißverjtändniffe. Noch einmal Freuzen fi Laura’ und Angela’s 
Wege. Als Dienerin verkleidet, erjcheint die erftere auf einem von ihr veranftalteten 
Gartenfeit, zu dem auch Fenoglio geladen worden. Er läßt fich nicht abhalten, ihr 
Hand und Herz zu bieten, und erndtet den verdienten Lohn für feine Treue und Un— 
eigennüßigfeit. Felix jchließt die gerechtfertigte Erminia in feine Arme. 

Dbwol der Genius unjeres Volkes fich die Welt der Töne fo völlig zu eigen 
gewonnen, wie der feines anderen, find doch jeit jeher die Blüthen ſehr jpärlich ge- 
wejen, welche die komiſche Oper auf deutſchem Boden getrieben. Was fie ihm inner- 
halb diejes Jahrhunderts verdantt, ft mit den drei Namen Lortzing, Flotow und 
Nikolai zufammengefaßt. Die Gottesgabe des Humors, blieb fie etwa unferen 
Mufikern verfagt? Wahrlih nein, ihre Werke bezeugen das Gegentheil. Warum 
find wir denn aber jo reich an heiteren Zongebilden jeder Art und doch jo arın an 
fomifchen Opern, daß wir uns die leßteren beinahe immer aus Jtalien oder Paris 
holen mußten? Genau aus demfelben Grunde, der unfere Theater genöthigt, fait 
ihren gefammten Luftfpielbedarf der Tranzöfifchen Bühne zu entlehnen. Aber auch 
jenjeit3 der Alpen und der Vogejen ift es immer ftiller geworden. Hier wie dort 
bat die Heitere Muſik ihr Antlitz verhüllt, Donizetti und der langlebige Auber find 
die legten gewejen, deren Haupt fie mit ihren bunten Kränzen gejhmüdt. Ye Lauter 
und augjchließlicher die Oper in unſeren Tagen vom Kampfgetümmel der Leiden 
Ichaften widerhallt, um jo mehr muß man es willftommen beißen, wenn fie einmal 
ihre Stirn entrungelt und zu Klängen der Luft und freude die Lippen dffnet. 

Ein raſch und mühelos geftaltendes Talent hat der Wüerſt'ſchen Partitur jeinen 
Stempel aufgedrüdt. Zwar einen ausgeprägten Charakterkopf zeigt ung der Com— 
ponift nicht. Der Erfindung fehlt bei aller Rührigfeit jede prägnantere Eigenart. 
Die Formen, in denen fte fich bewegt, find knapp und eng, der Weiſe des Singſpiels 
jugewandt. Seiner der drei Acte hat ein im größeren Stil auögeführtes Finale. 
Sehr leicht getvogen find zumeiſt die Motive, welche den einzelnen, durch gejprochenen 
Dialog getrennten Mufilftüden zu Grunde liegen. Weit mehr Situationsmalerin ala 
Ceelenfünderin, umſpielt die Tonfprache die Oberfläche der Handlung, ohne irgendwo 
den Verſuch zu machen, in die Tiefe zu dringen. Sie hat indefjen ein gutes Gewiſſen 
und ein ehrliches Geficht, Liebkoft nicht die niedrigen Neigungen der Maſſen und will 
ebenjowenig durch gezierte Vornehmheit, durch künſtlich aufgebaufchtes und gejpreiztes 
Weſen uns imponiren. Nirgends verleugnet fie ihre zwanglofe Natürlichkeit. Zu 
Ioben ift vor Allem die Führung des Orchefterd, daB mit klugem Berftändniß den 
Vorgängen auf der Bühne fic) anjchmiegt, fie mit feinen Yäden umſpinnt, feine Ge— 
legenheit zu allerlei jchalfhaften Deutungen und Illuſtrationen ungenußt läßt. Nur 
auf glatten, freundlichen Wegen wandeln die Stimmen, ihr Element ift die gegliederte 
Gejangsmelodie. Am reichſten ausgeftattet ift der zweite Act, drei Treffer find auf 
ihn gefallen, nämlich die Iuftige Arie des Dieners Filippo, der fleine muntere Zwie— 
gefang zwifchen ihm und feinem Herrn und ein fpäter zum Terzett fich erweiterndes 
Duett. Die — Galanterie, redſelige Biederkeit und geſpreizte Würde des 
Polizeidirectors, der dabei die Hauptrolle ſpielt, find auf's Artigſte perſiflirt. Der 
erfte Act muß fich mit einem Färglich bemefjenen muſikaliſchen Pflichttheil begnügen, 
der dritte bejcheert uns einen zierlichen Walzer und ein anmuthiges, Mendelsſohn 


482 Deutiche Rundſchau. 


zugeeignetes Frauenduett. Um die Ausführung machten fich namentlich die Herren 
Salomon, Bet und Krolop, die Danıen Lehmann und Kupfer-Berger verdient. Das 
Publicum nahm die neue Gabe mwohlwollend entgegn. Am Schluß rief e8 den 
Somponijten und die Hauptbdarfteller. Auf jeder Eleineren Bühne würde das harm- 
loſe Werk noch eine viel beffere Figur gemacht haben, ala in unferem Opernhauſe. 
Zu kämpfen hatte e8 hier nicht allein mit der Mißgunſt der akuftifchen Verhältnifie, 
die 3. B. den gefprochenen Dialog geradezu erdrüdte, jondern überhaupt mit dem 
ihm und feinesgleichen unfreundlichen genius loci. Wie heimathlos erſchien es in 
dem großen, anfpruchsvollen Rahmen. 

Verdi's „Aida“ Hat fi im Repertoire einen geficherten Pla gewonnen. 
Ueberwiegend günftig war der Eindrud gewefen, den mir die erſte Bekanntſchaft mit 
dem Werk Hinterlaflen, und das wiederholte Hören hat ihn nicht Lügen geftrait. 
Schon durch ihren Tert unterfcheidet fich die „Aida“ vortheilhaft von den älteren Ge- 
ſchwiſtern. Die an den Zujchnitt der alten Opera seria erinnernde Handlung ver 
läuft jchlicht und natürlich. Nur mufilalifch geartete Situationen bot fie dem Ton— 
jeßer dar. Wol geht ihr der Reiz ſpannender Gegenfäße ab, allein fie verzichtet dafür 
auch auf jene Romantik des Häßlichen, die uns in den Geftalten des Trovatore, 
Rigoletto, der Traviata angrinft. Die Perjonen, mit denen wir es zu thun haben, 
find geiftig und phyfiich von geradem, gefundem Wuchſe. Es fehlt ihmen jeder 
pathologifche Zuſatz, weder durch die fcharfe Würze des Verbrechens, noch durch das 
Grauenhafte der äußeren Ericheinung, oder die in Folge körperlichen Siechthums der 
Seele angelräntelten Züge des Leidens werben fie um unjere Theilnahme. Reinere 
Luft weht auch in den Tönen, fie befleifigen fich einer vornehmeren, gemefleneren 
Haltung. Der an der Schwelle des Greifenalters ftehende Componiſt bat es nicht 
verichmäht, feine Phantafie in eine ftrengere Zucht zu nehmen, ihr die rohen Triebe 
und Fahrläffigeren Gewohnheiten zu wehren. Es find Stimmen laut geworden, welde 
diefe Belehrung zum Stichblatt ihres Spottes gemacht. Mich dinft fie in hohem 
Grade rühmlih, ſowol in Nüdficht auf diefelben Charaktereigenſchaften, die fie vor— 
ausſetzt, wie auf die werthvollen Früchte, die fie gezeitigt. Verdi hat übrigens bier 
feineswegs jein fünftlerifches Glaubensbefenntniß gewechjelt. Die muſikaliſche Subftanz 
blieb diejelbe, wie in den früheren Arbeiten, Lediglich die Zubereitung ift Torgfältiger 
und ftilvoller. Die Etimmen und Inftrumente befleißigen fich milderer Sitten, gehen 
gegenüber dem Sinn der Worte achtjamer und feinfühliger zu Werke. Bor Allem 
gewahrt man einen erheblichen Fortjchritt in dem Aufbau der großen Enjemblejäte, 
in der Gruppirung des jo weitichichtigen mufifalifch-dramatifchen Apparat3 zum im- 
pofanten Gefammtgefüge. Aus der Verbindung national-italienifcher und franzöſiſcher 
DOpernelemente ift der Verdi’jche Stil hervorgegangen. Auch die „Aida“ trägt durchaus 
dies Gepräge. Zwar entlehnt fie dem Lohengrin ein paar melodifche Wendungen 
und die Vorliebe für die Leitmotive, aber bei jolchen rein äußerlichen Beziehungen 
hat e3 fein Bewenden. Um fo inniger ift ihr Verhältniß zu Meyerbeer und in- 
ſonderheit zur Afrikanerin, deren Einfluß fich auf Schritt und Tritt bemerflich macht. 
Die erite Hälfte des Werkes jcheint mir bei Weitem bevorzugt. Sie enthält faum 
eine einzige, gänzlich werthlofe Nummer. In fajt ununterbrochener Reihe folgen 
einander gefällig anmuthende oder dramatijch-bedeutiame Tongebilde. Allenthalben 
iprudeln friſche Quellen des Wohllauts, jo in Aida’s weich bingegoffener Arie, 10 
weiterhin in dem kräftig einjchlagenden Sat: „Zu des Niles heiligen Ufern“, endlich 
in der den eriten Act krönenden Schlußfcene. Die reichite Fülle von Farben und 
Geftalten, zum harmonischen, jtimmungsvollen Gefammtbild verfchmolzen, breitet 
diefes Finale vor und aus. Sein erotifcher Anhauch erhöht den Reiz. Ein paar 
Anklänge an alt-ägyptifche Weilen jollen hier, wie im Beginn des dritten Actes, em 
geflochten jein.. Von glüdlichjter Wirkung ift der Wechfel zwifchen Moll und Dur, 
Chor⸗ und Sologefang, Frauen und Männerftimmen. Weder an Mannigjaltigteit 
des Inhalts und des Ausdruds noch an Sicherheit und Feitigkeit der Formen fteht 
das zweite Finale Hinter dem eriten zurück. Auch in ihm zieht das bewegtefte Leben, 


Aus dem Berliner Opernhauſe. 483 


zu einem. gewaltigen Strom zufammengefaßt, an uns borüber. Nie hat die Hand 
des Componiſten lieblichere Klänge gewedt, ald in dem melodijchen Wechfelgefang 
zwischen der Pringzeffin und ihren Sclavinnen. Die legten beiden Acte bekennen fich 
mehr zur älteren Weiſe Verdi's. Auch in ihnen jehlt e8 nicht an Zügen der Charak— 
terijtit, wie fie nur einem Tondichter von herborragenditer. dramatiicher Begabung 
ſich darbieten, aber dazwiſchen Liegen breite, unmwirthbare Streden. In den Vorder: 
grumd geftellt ift das Bravourbedürfniß der Stimmen, ihnen immer von Neuem zum 
lautejten Trompetengeſchmetter des Ausdruds das Signal gegeben. Dem äußeren 
Glanz der Klangwirkung, auf den Hier allenthalben gezählt worden, bleibt die Aus— 
führung bei uns Manches ſchuldig. Für die Wiedergabe der Titelrolle befikt der 
zartbejaitete Sopran der Frau Mallinger zwar alle nur wünjchenswerthe Weichheit, 
Anmuth und Süßigfeit, aber feineswegs die erforderliche Macht und Fülle. Nament- 
Lich der Tiefe fehlt jede Kräftigere Rejonanz. Nur bleiche, ſchwankende Tonjchatten 
find ed, welche der Künjtlerin in der unteren Hälfte der eingeftrichenen Octave zu 
Gebote ftehen. Der Radames des Herrin Niemann muß aber vor der hohen Lage 
feiner Partie die Waffen ftreden. Lediglich die erjten beiden Acte kommen deshalb 
auf unferer Bühne zu ihrer vollen Geltung, während die lette Hälfte de Werks 
nach allen Seiten hin Einbußen erleidet. 

Eine anachroniftiiche Laune des Repertoires war der Berfuch, Verdi’ „Ernani“ 
wieder zurückzurufen unter die Yebendigen. Als das Werk vor einunddreißig Jahren 
in die Deffentlichkeit trat, machte es in Deutichland ein gewiſſes Aufjehen. Deutlich 
fund that fich in ihm ein ungewöhnliches Talent für den padenden Theatereffect, das 
jreilich noch aller mufitaliichen Zucht und Sitte unbelümmert in’3 Angeficht jchlug, 
in dem rohſten Kraftſtil, den wildejten Grimafjen des Ausdruds fich tummelte. Mit 
finfter gerungelter Stirn erichien die Muſe des Cumponiften, ſelbſt ihre Schmeicheleien 
hatten einen äßenden Beigeſchmack. Wie lauter Wehrufe, Verwünſchungen, Flüche 
klang die Sprache, die fie redete. „Was ſie ſinnt, iſt Schrecken, und was ſie blickt, 
it Wuth,“ konnte man von ihr behaupten. Sie war das leibhaftige Kind jenes 
Italiens, das unter dem Drud der Fremdherrſchaft zu lächeln verlernt, gab Zeugniß 
von dem Stimmungscharatter einer Periode voll gährender Unzufriedenheit, heimlicher 
Verſchwörungen und revolutionärer Gewalttaten. In den fpäteren Arbeiten Verdi's 
ift nicht allein feine Technik ungleich gelenker, auch die Erfindung jtrömt voller und 
weicher. Freche Marche und Tanzrhytmen, tobjüchtiges Unifono der Stimmen, 
dröhnendes Blechgejchmetter oder armjeliges Guitarrengeflimper der Begleitung und 
ähnliche Ohrenplagen find im „Ernani“ bis zur Unerträglichkeit gehäuft. Allenthalben 
begegnet man melodiſchen Zwangsanleihen bei der „Lucia“ und „Lucrezia“. Schwerer 
als die ganze Partitur wiegt das eine Quartett im „Rigoletto“ oder das Miferere 
im „Zrovatore“. Hält man den jugendlichen Wildling und die „Aida“ gegeneinander, 
jo jtaunen wir über den glänzenden Sieg, welchen zäher Fleiß und eiferne Willens— 
fraft einer von Haus aus jo jpröden, unbändigen Künftlernatur abgerungen. 

Bereitö zweimal war das Werk im Laufe der Jahre auf unferer königlichen 
Bühne erjchienen, um nach wenigen Abenden wieder zu verichwinden. Bei feiner 
erneuerten Darbietung hatte man die vier Acte in drei zufammengezogen und die 
blutige Schlußkatajtrophe bejeitigt. Das jchtvergeprüfte Paar wurde nicht mehr durch 
den rachlüchtigen Silva aus der Seligkeit der Flitterwochen aufgejchredt, es durite 
einer langen, gelegneten Ehe entgegen jehen. Nichts konnte dem Charakter der Hand— 
lung und Muſik mehr widerjprechen, ala eine folche Löſung, welche den von jenen 
in Bewegung geliebten tragiichen Gewalten die ihnen verfallenen Opfer unterjchlug. 
Wenig Dank gewann fich Herr Niemann in der Titelrolle, welche feiner Meifterichaft 
in den Künſten des declamatoriichen Gejanges jeden Spielraum verfagte. Schwer 
trug er an der Bürde einer Aufgabe, die jeine beiten Vorzüge veritedte, dagegen die 
Unbotmäßigfeit des hohen Regiſters wie manches andere Deficit erbarmungslos blos- 
jtellte, Herr Betz häufte auf die Partie des Königs Carl alle Kraft und Fülle feines 
begnadigten Barytond. Das Publicum Hatte mit feiner Iheilnahme die Aufführung 


484 Deutſche Rundſchau. 


des „Ernani“ gänzlich im Stich gelaſſen. Von einem Jahr zum anderen geräth unſer 
Dpernrepertoire immer mehr in die Enge. Bei der dürftigfidernden Production der 
Gegenwart reicht der Zuwachs an Neuem lange nicht Hin, den durch Abnutzung des 
Alten verurſachten Ausfall zu deden. Groß iſt die Verlegenheit, eine Bühne zu ver- 
forgen, die zehn Monate hindurch faſt Tag für Tag bejchäftigt werden muß. Philo— 
ſophiſche Gleichgültigkeit gegen leere Zuhörerräume wird ihr gewiß Niemand zumuthen. 
Daß fie aber nicht bei jeder Gabe auf volle Häufer rechnen darf, Liegt auf der Hand. 
Da ihr doch viel mehr Abende zur Verfügung ftehen, ala zugfräftige Werke, jollte fie 
es fich nicht nehmen lafjen, an jolchen Partituren Großmuth zu üben, welche durch 
den inneren Werth die ihnen erwiejene Gunft verdienen. Das Bewußtjein der guten 
That, die Mehrung des fünftlerifchen Anjehens würden dann wenigſtens für den 
bejcheidenen äußeren Erfolg einigen Grjaß gewähren. Spontini und Marjchner fehlen 
3. B. ſchon längſt in unferer Tagesordnung. Wäre es nicht recht und billig, ihnen 
einmal wieder dad Stichwort zu geben? 

Auf's Ueppigfte wuchern in unferer Zeit der Eifenbahnen und Telegraphen die 
Gaſtſpiele. Für eine Menge von kleinen Theatern find fie im täglichen Kampf um's 
Daſein das einzige Rettungsmittel. Sie liefern den Directoren die Kaflenmagnete, 
welche ihnen den ganzen, zur Herſtellung eine® wohlgeordneten Gefammtorganismus 
erforderlichen Aufwand an Sachkunde, Mühe und Koften abnehmen. Aber auch Tür 
die größeren Bühnen find Gaftjpiele eine Nothwendigkeit, nur haben fie hier einen 
anderen Zwed, es pflegt fich bei ihnen zumeiſt um die Prüfung neuer Kräfte zu 
handeln, bevor fie endgültig dem Perſonalbeſtand eingereiht werden; je zahlreicher 
der leßtere it, um ſo häufiger bedarf er der Ausbeſſerung und Ergänzung. Diejer 
ununterbrochene Stoffwechjel macht der Verwaltung viel zu fchaffen, nöthigt fie, aller- 
wärt3 die Augen und Obren zu haben, immer von Neuem ihre Nebe nad) leiſtungs— 
fähigen Stimmen auszuwerfen und den eingefangenen Gelegenheit zu geben, fich dem 
Publicum vorzuftellen. Seit Diener’3 Abgang ift Niemann unfer einziger Helden— 
tenor. Der Umfang des ihm zugewiejenen Fachs heifcht dringend eine Arbeitstheilung. 
In der Perfon des Herrn Ernſt präjentirte fi ein Bewerber, dem von Leipzig aus 
ein guter Ruf voranging. Er wies in der That eine Reihe vecht ſchätzenswerther 
Eigenichaften auf. Seine Stimme hat jenen barytonähnlichen Klang, wie er noth- 
wendig zur glaubwürdigen Vertretung aller Tenorpartien gehört, deren Attribut nicht 
allein die Xeyer, jondern zugleich dad Schwert iſt. Dazu kommt eine fichere Jntonation, 
Reinheit und Deutlichkeit der Ausſprache, Fleiß und Sauberkeit der muſikaliſchen 
Gejtaltung. Das Organ ift indeflen nicht verſchwenderiſch mit finnlihem Reiz aus— 
geitattet. Als Baryton hatte es feine Theatercarriere begonnen und wurde erſt nach— 
träglich in die Tenorlage hinaufgerückt. Wie ftets in ſolchem Fall ift der Ton etwas 
zu ſtumpf, dunkel und gededt. Er vermag weder, durch fernhin jtrahlenden Glanz 
dem Obre zu imponiren, noch ihm durch ſüßen Wohllaut zu jchmeicheln. Die Stimme 
muß ihre Kraft vorfichtig zu Rathe halten, gegenüber den erbarmungslojen Dimen- 
fionen unſeres Opernhaufes hat fie einen ſchlimmen Stand. Leicht fommt fie in 
Gefahr, don dem vereinigten Klanggewoge des Orcheſters und Chors überfluthet zu 
werden. Ihr höchſtes Regiſter it fein Gnadengeichent der Natur, jondern ein be- 
hutjam zu veriwendender Erwerb der Bildung. Alle diefe Dinge feileln dem Vortrag 
gerade bei den enticheidenden Höhepunften der Handlung einigermaßen die Schwingen. 
Unfer, an Niemann's eminent dramatiichen Stil gewöhntes Publicum fand die Ge- 
ftalten, in welchen der Gaft vor ihm erjchien (e8 waren der Adolar in der Euryanthe, 
Walter von Stolgingen in den Meifterfingern und Manrico im Trovatore), zu matt 
und unanjehnlih. Dennoch hat die Intendanz Herrn Emft in das Perfonal der 
königlichen Bühne aufgenommen und, wie ich glaube, wohl daran gethan. 

Auch das Gajtipiel des Fräulein Minnie Hauf (fie erichien als Mignon, 
Mozart'ſche Zerline, Rofina und Gretchen vor dem Berliner Publicum) ift fein frucht- 
loſes geweſen. Die Intendanz ließ die reich begabte Sängerin nicht ziehen, ohne 
ſich ihrer fir die nächjte Saifon verfichert zu haben. Manche, feit dem Abgang der 


Aus dem Berliner Opernhauſe. 485 


Lucca verwaifte Oper wird durch die neue Primadonna dem Repertoire zurüdgewonnen 
werden. Die Stimme ift namentlich in der oberen Hälfte von großem Weiz, dem 
leidigen Tremoliren gänzlich abhold und in Sachen der Intonation äußerjt genau. 
Man könnte die Behandlung des Tons mufterhaft nennen, wenn er nicht in der 
Tiefe bisweilen aus der Art jchlüge, fich gelegentlich darin gefiele, feinen natürlichen, 
keineswegs unkräftigen Wuchs durch ein Fünftliches Embonpoint zu entjtellen, ihm 
gleichfam eine bauſchige Grinoline umzuhängen. Dieje Ueberkreibung des Bruftregifters, 
unter unjeren Sängerinnen Heut zu Tage Jo verbreitet, it das Seitenftüd zu dem 
füßlichen Faljettiren der Tenore und Bäſſe. In dem einen Wall macht fich die 
weibliche Stimme zur Garricatur der männlichen, im andeven gejchieht das Umgefehrte. 
Hier wie dort ijt e8 die gleiche Umnatur, gegen welche der feinfühligere äſthetiſche 
Sinn Widerfpruch erhebt. Minnie Hauf verfügt über eine jehr anfehnliche Virtuo- 
fität. Sie hat das Piano, Crescendo, Decrescendo, Legato auf's Emfigfte gepflegt 
und nicht minder die Coloratur. Die lettere ift bei ihr fein müßiges Spielzeug einer 
geläufigen Kehle, Tondern ſtets charakteriftiich gefärbt. Die Künftlerin nimmt e& 
mit ihren dramatifchen Obliegenheiten jehr jorgfältig und gewiſſenhaft. Voll Geift 
und Leben find immer ihre Geftalten, wenn auch der wägende und wählende Ver— 
ftand mehr Theil an ihnen Haben mag, als die ummittelbare Empfindung, und 
auf die realiftifche Handgreiflichleit des Ausdruds Hin und wieder ein zu großes Ge- 


wicht gelegt wird. 
Dtto Gumpredt. 


Politifhe Rundſchau. 


— — 


Berlin, den 15. Februar. 


Der deutſche Reichstag hat jeine Arbeiten geſchloſſen. Das Bankgeſetz, die 
Givilehevorlage und das Landſturmgeſetz find die Zeugen der nie ermattenden Arbeit= 
ſamkeit unferer Volksvertretung. Was namentlich das Bankgejeß betrifft, jo iſt ihm 
bereit3 an anderer Stelle dieſes Heites gebührende Würdigung geworden. 

Inzwiſchen fand die Eröffnung des preußiichen Landtags unter den denkbar 
günftigften Aufpicien jtatt. Die Thronrede, in all’ ihrer Nüchternheit, war eine vollitän- 
dige Muſterkarte conftitutionelleerfreulicher Ankündigungen. Bor Allem erichien das Fi— 
nanzerpoje des Vicepräfidenten des Minijterraths, Gamphaufen, als ein nmerjchöpfliches 
Füllhorn. Das gegenwärtig politifch thätige Gefchlecht Preußens iſt unter der wirth- 
Ichaftlich-Tpartanifchen Zucht jener Tage heran gereift, in welchen das Land noch die 
Laſten einer militärifchen Rüſtung zu -tragen hatte, deren Ausdehnung für den Schuß 
des ganzen deutſchen Vaterlandes berechnet war. Man lebte Inapp und jparfam in 
allen Dingen, welche nicht mit der Wehrhaftigkeit der Nation in directem Zuſammen— 
bange jtanden. Heute beginnt man den Lohn für die jahrelange Entjagung einzu» 
heimſen. Die preußifchen Finanzen find nicht nur im geordnetiten, jondern auch im 
blühendſten Zuftande; fie geftatten nicht mehr blos eine Berüdfichtigung des unbedingt 
Erforderlichen, fondern auch die Gewährung des Angenehmen, des „„Superflu‘‘, welches 
dem ftaatlichen Leben gewiffermaßen erſt eine fünftleriiche Weihe verleiht. Freilich, 
jollten abermals Tage fommen, von denen es heißt, fie gefallen ung nicht — und 
welche Nation ift dagegen gejichert? — jo würde die Entwöhnung von der holden 
Hülle, deren man jett genießt, gewiß manche traurige Reminiscenz hervorrufen — 
aber die Verwendung jener Mittel, iiber welche man gegenwärtig verfügt, ijt eine 
Bürgſchaft dafür, daß auch in diefem Falle die Widerſtandskraft Preußens, wie die 
Reichthümer feines Bodens, feiner Bevölkerung und jeiner Staatswirthichaft überhaupt 
fich entiprechend bewähren würden. 

Dazu trägt natürlich auch ihr vollgemefjenes Theil jene Reihe von Gejegentwürfen 
bei, welde ala Verwaltungsreform im edelften Sinne die Grundlagen der großen 
Stein'ſchen Gejehgebung aus den Jahren der tiefften Erniedrigung gegenwärtig zum 
vollen Ausbau bringen. Auf die neue Kreisordnung folgt jebt die Provinzial» 
Ordnung als fihtbare Krönung des Selbjt-Regierungs-Gebäudes, welches in Preußen 
nunmehr zur ftattlichjten Aufrichtung gelangen ſoll. Kein jchöneres Zeugniß für Die 
politiiche Reife de3 Volkes, ala dieje neue Stufe der Selbftverwaltung, die an den 
Gemeinfinn und die Aufopferungsfähigkeit der Bürger jo hohe Anforderungen ftellt. 
Die Ausdehnung diefer wichtigen Reform auf alle Theile der Monarchie, praktiſch 
vielleicht nicht ohne Bedenken, entipricht doch zu jehr den Forderungen der Billigfeit, 
als daß man nicht über einzelne bureaufratiiche Einwürfe hinweggehen ſollte. Wenn 
diefe neue Verwaltungs = Einrichtung volles Leben gewonnen haben wird, dann darf 
dem preußiichen Volke das glänzendite Zeugniß nicht verjagt werden. In Frankreich, 
mag nun die herrichende Staatsform republifaniich oder monarchiich fein, wäre eine 


Politiſche Rundſchau. 487 


ſolche Theilung der Regierungsgewalt, wie ſie hier zwiſchen der Executive und dem 
Bürgerthum ſtattfinden wird, abſolut undurchführbar, wie es denn auf dem europäiſchen 
Continent keine andere Großmacht giebt, die ein ſolches Experiment ungeſtraft für 
ihre ſtaatliche Cohäſion wagen dürfte. 

In den auswärtigen Angelegenheiten Hatte auch in der jüngft ver— 
floffenen Perivde die deutjche Politik ihr Wort in die Wagichaale zu legen. Zwar 
ertvied fich die Depejche von der Landung deutjcher Marinetruppen in Zarauz, um 
an den KHarliften für die Guftan- Affaire Vergeltung zu üben, al3 irrig; aber es ift 
nicht recht erfichtlich, welche Gründe, abgejehen von der geringen Zahl der damals 
an der cantabrifchen Küfte überhaupt verfügbaren militärifchen Kräfte, Deutfchland 
hätten abhalten follen, fich jelbjt jene Genugthuung zu verichaffen, welche die Madrider 
Regierung jedenfalls zu jchwach war, dem auf Tpanifchem Territorium Beleidigten 
fofort zur Verfügung zu ftellen. Es jcheint nicht, daß alle maritimen Mächte 
diefe Angelegenheit in jo unverfänglicher Art aufgefaht hätten. Man ſoll im Gegen- 
theil von diefer und jener Seite die deutſche „Interventionsluſt“ ziemlich deutlich 
„perhorregcirt” haben. Daß an feine Feitfeßung der deutichen Macht an irgend 
einem jpaniichen Punkte zu denken jei, wie dies etwa englifcherfeits gerade in Spanien 
auf Gibraltar oder neuerdings erft noch bei Aden geſchehen, durfte doch billig nicht 
überjehen werden. Glüdlicherweije zeigten fich alle die freundichaftlichen Beſorgniſſe, 
welche bei diefem Anlaß zum Borjchein kamen, als gegenſtandslos. Die Regierung 
des Königs Alphons XII. beeilte ſich, noch vor ihrer Anerkennung, allen jenen 
Forderungen Erfüllung zu veriprechen, welche man füglich an fie jtellen konnte. 

Die Anerkennung Don Alphonſo's ſelbſt gab den diplomatijchen Kanzleien 
mancherlei zu jchaffen. Die Führerrolle war diesmal dem Wiener Kabinette 
zugefallen. Allein jo günftig auch in Berlin die Dispofitionen für den Sohn Iſabellens 
gewejen jein mochten, jo hatten doch die erſten Acte feiner Regierung, welche als 
eine Beeinträchtigung der den Protejtanten gemwährleijteten Gewiſſensfreiheit angejehen 
werden mußten, einigermaßen erfältend gewirkt. Auch eine gewiſſe Langſamkeit in der 
Bereiterflärung zur Regelung der Guftav-Affaire ließ in der Wilhelmsſtraße frojtigere 
Gefühle auffommen, als man fie in Wien am Ballhausplat hegte. So fam es, daß 
mehrere Borfchläge von hüben und drüben fich kreuzten, ehe man zu dem erwiünjchten 
Einvernehmen gelangte, dem fih dann auch Rußland anſchloß. So iſt jeit dem 
1. Februar Alphons XI. als von den drei nordiſchen Großmächten amtlich anerfannt 
zu betrachten. 

Was Rußland jpeciell anbetrifit, jo hatte man am Peteröburger Hofe gewiſſe 
Strömungen conftatiren wollen, welche die für jebt abgethane Richtung der Panjla- 
wijten durch die etwas veränderte Tendenz der Slawophilen erſetzen wollte. 
Dieje Slawophilen ftrebten namentlih eine Ausjöhnung des Ruſſenthums mit dem 
Polonismus an, und die Verfuche des neuen Generalgouverneurs in Warſchau, des 
Herrn don Kobebue, fich in feinem Wirkungsfreife beliebt zu machen, wurden ent- 
Iprechend ausgebeutet. Dieje jlawophile Strömung ging in Peterdburg Hand in Hand 
mit den Anhängern der franzöfiich-ruffiichen Allianz, die wol einfahen, daß fie für fich 
zu ſchwach feien, die enge Freundſchaft ernftlich zu exfchüttern, welche Deutjchland 
mit Rußland verbindet. Dean ließ es nicht an allerlei Ausftreuungen fehlen. Und 
als die Ablehnung des englifchen Minifters, fich an der neuen Kriegsrechtsconferenz 
in St. Peteräburg zu betheiligen, in der befannten jchroffen Form erfolgte, als fich 
die Bermittlungs-Verjuche, welche Fürft Bismarck zwiſchen der englischen Anfchauung 
und dem ruffiichen Standpunkte in Scene gejeßt, ala nicht erfolgreich erwiefen 
hatten, konnte es nicht nur gefchehen, daß man dem bdeutfchen Kanzler weder in 
London noch in St. Petersburg Dank für feine Bemühungen wußte (dergleichen pflegt 
Dermittlern nicht jelten zu geichehen!), ſondern es fam ſelbſt dahin, daß man in der 
wuffiichen Hauptftadt das Streben des Fürjten Bismarck überhaupt zu verdächtigen 
fi angelegen jein ließ, wobei fich jlamwophile und franzofenfreundliche Einflüffe in 
diefer unterirdiichen Arbeit gegenfeitig unterjtüßten. Die Sendung des Herrn von 


488 Deutiche Rundichau. 


Nadowik nad St. Petersburg, eines Diplomaten, der unter den jüngeren verwend— 
baren Kräften des deutichen auswärtigen Amtes eines bejonderen Rufes genießt, 
mußte jelbjtveritändlich genügen, um fchnell all’ diejes Fünjtlich zufammengeballte 
Gewölk zu zeritreuen. Allein, daß diefe Miffton, die fich ſchließlich vielleicht zu einer 
permanenten Sendung auswächſt, während der Krankheit des deutichen Botſchafters 
nothwendig erichien, ift ein bedeutfames Anzeichen für die Tortgejeßte Minirthätigfeit 
der MWiderjacher Deutichlande. 

Dennoch hatte ſich das gute Ginvernehmen der drei Höfe von Petersburg, 
Wien und Berlin noch ganz neuerdings in orientaliichen Dingen zu bewähren 
gehabt. Freilich war in dieſen Fragen das deutiche Gabinet in zweiter Reihe ge= 
blieben. + Der öſterreichiſch-ungariſchen Regierung Hatte man auch der 
Piorte wie Spanien gegenüber, im Berein mit Rußland, den Vortritt gelaffen. Die 
Todgorita-Affaire drohte einen Moment lang das Zündhölzchen zu werden, mit 
welcher der Orient in Brand gejtedt werden fonnte, und, die Wahrheit zu jagen, 
ſelbſt nach einer vierwöchentlichen Arbeit der europäiichen Löſchmannſchaften ijt dieſe 
Gefahr noch immer nicht ganz vorüber. Denn es handelt fi im Grunde viel 
weniger um die Mebeleien von Podgorika und die Beitrafung der in diefelbe mit 
verwidelten Montenegriner und Türken auf montenegriniichem oder türkiichem Gebiet, 
fondern vielmehr um die völferrechtlic” noch immer in einige® Dunkel gehüllte 
Stellung des Fürſtenthums der jchwarzen Berge zur ottomanischen Pforte. In Kon— 
ftantinopel gedachte man, getreu dem einzigen in der lebten Zeit vom Sultan be= 
barrlich Tejtgehaltenen Principe, die Oberherrlichleit des Großherrn über Montenegro 
ganz in derjelben Weile auszudehnen, wie über die immerhin doch als Vaſallen— 
ftaaten unzweifelhaft anerfannten Länder an der unteren Donau, Montenegriner 
hatten Türken getödtet, folglich waren fie zu verurtheilen; da der Todtichlag auf 
türkiſchem Territorium erfolgt war, hatte die gerichtliche Verhandlung, nach der Auf— 
fafjung des Divans, vor türkifchen Richtern und auf türkiſchem Boden zu erfolgen. 
Fürſt Nikita von Montenegro feinerjeits verlangte zunächſt die Beſtrafung jener 
Türken, welche das Blutbad angerichtet, und als die Urtheile gefällt waren, aber 
das jemitifche „Aug’ um Auge, Zahn um Zahn‘ vermiffen ließen, forderte er die 
Umwandlung der verhängten Freiheitäftrafen in Todesurtheile. Er jeinerjeits erklärte 
fi) bereit, jeine compromittirten Landsleute auch dor ein montenegrinifches Gericht 
zu ftellen; jelbft, wenn es fein müßte, in Gegenwart türfifcher Beiſitzer gegen 
fie zu verhandeln. Aber die PVollftredung der ZTodesjtrafe an den verurtheilten 
Zürfen habe von Seiten der Prorte das Verfahren einzuleiten. Deilen aber weigerte 
fi die Pforte, weil ihr wohlbefannt war, daß Fürft Nikita nicht im Stande jei, 
in entiprechender Art gegen die zu verurtheilenden Montenegriner vorzugehen; denn 
in der Landsgenoſſenſchaft der ſchwarzen Berge eriftirt gejetlich die Todesſtrafe nicht. 
Und jo ftand man nach mühjeligen Verhandlungen, Interventionen und VBermittelungen 
Ichließlih genau da, von wo man ausgegangen. Dejterreich-Ungarn hatte fich 
namentlich angelegen jein laffen, mäßigend in Gettinje und am goldenen Horn zu 
wirken. Es war darin oftenfibel von Rußland, rüdhaltlo8 vom deutjchen Reich 
unterftüßt worden. Graf Andrafiy hatte feinerlei Intereſſe daran, an der Dftgrenze 
der Monarchie einen Zwilt ſich entipinnen zu Sehen, deflen Lofalifirung nicht für 
alle Zeit möglich jchien. Selbſt die Kojten und Mühſale der Aufftellung eines 
event. Beobachtungscorps blieben befler vermieden. Dennoch wuchs zuſehends die 
Gährung und übertrug fich von Montenegro auf das ſtammverwandte Serbien, wo 
eben das Minifterium Marianovicd feinen friedlichen Strebungen und ſeinem Ente 
gegenfommen für das benachbarte Defterreich-Ungarn zum Opfer gefallen war. In— 
deſſen wirkſamer noch, man muß es geftehen,* als der gütliche Zufpruch der Mächte 
in Montenegro und die ernjten Borftellungen derjelben in Sonjtantinopel, wirkte 
mäßigend der ungemein jtrenge Winter, welcher ſelbſt den aufgeregteiten Söhnen 
der Ichwarzen Berge die Luſt zu einer Wintercampagne vergällen mußte. So blieb, 
cahin-caha, wie der Franzoſe jagt, der Friede wenn nicht gefichert, jo doch ungeftört. 


Politiſche Rundſchau. 489 


Schlechterdings fühlte ſich die Pforte ſchwer verletzt durch die etwas cavaliöre Weiſe, 
in der man mit ihr umſprang, und der leiſe Anhalt, den die türkiſchen Staatsmänner 
bei England fanden, welches in dem gemeinſamen Vorgehen der drei Nordmächte, zu 
Gunſten der relativen Unabhängigkeit Montenegros, jene Scheu vor der Antaſtung der 
Verträge vermißte, welche es namentlich in orientaliſchen Dingen ſtreng beobachtet 
zu ſehen wünſchte, erhielt den Sultan in ſeiner Verſtimmung. 

Allein es ſtellte ſich bei dieſer Gelegenheit heraus, was dem größeren Publicum 
bis dahin unbekannt geblieben, daß die Drei-Kaiſer-Zuſammenkunft doch 
ganz beſtimmte Vereinbarungen gerade in Bezug auf die orientaliſche Frage gezeitigt 
hatte. Man war in Wien wie auch in St. Petersburg darüber im Klaren, daß 
ein freundſchaftliches Zuſammengehen der beiderſeitigen Politik nur im Orient auf 
Schwierigkeiten ſtoßen konnte. Es galt alſo, da man ſich in Friedensliebe zufammen- 
gefunden, ein Programm auszuklügeln, welches alle orientaliſch-möglichen Steine des 
Anſtoßes, wenigjtend für die Dauer des gegenjeitigen Friedensbedürfniſſes, vorfichtig 
aus dem Wege räumte. Zu diefem Behuf fand man es zmwedmäßig, alles das 
einer gemeinfamen Durcchfiht und Gommentirung zu unterziehen, was von dem 
Pariſer Friedensvertrage von 1856 noch allgemein al3 gültig anerfannt wurde. So 
ward eine Reihe von Sätzen aufgeftellt, welche den drei Mächten, denn Deutjchland 
gehörte natürlich mit zum Concert, in allen die Türkei betreffenden Fragen als 
Richtſchnur dienen jollten. Diefes Syſtem culminirte durchaus nicht in der Erhal— 
tung des Status quo, wie ihn England vertrat, jondern beftand vielmehr darin, 
allen Lebenstähigen Unterftügung angedeihen zu laffen, alles Abjterbende aber mit- 
leidlos bei Seite zu ſchieben. So war wenigjteng eine vorläufige „Entente“ hergeftellt, 

Sie hatte fih dann auch, außer in Montenegro, noch in Serbien zu be- 
währen, wo gambettijtiicher Einfluß nicht nur die nationalsfriegeriihe Stimmung 
zu ſchüren Juchte, ſondern auch Gelegenheit fand, gewiffe Trümpfe gegen das deutjche 
Reich direct auszuſpielen. Die Angelegenheit des bdeutichen General: Gonjuls 
Dr. Rofen ift männiglich befannt. Es bedurfte nicht blo8 einer demonftrativen Ab— 
reife des deutjchen Vertreterd, um die jerbiiche Negierung zur Umkehr zu zwingen — 
denn der don einzelnen Staaten ertheilte und feitgehaltene Titel” „Diplomatifcher 
Agent“, gegen deijen Vorrang Dr. Rojen reagirt Hatte, jchmeichelte den Belgrader 
Unabhängigfeit3- Träumen zu jehr, als daß man jo leichten Kaufs darauf ver: 
zichtet hätte — ſondern es war auch ganz entfchieden Einwirkung von Wien und 
St. Petersburg nothwendig, um Remedur eintreten zu lafjen, was dem Fürjten Milan 
durch einen theiltweifen Minifterwechjel einigermaßen erleichtert wurde. 

Graf Andrajfy war übrigens ſchon ſeit einiger Zeit von der unausgeſetzten 
Verfolgung jeiner orientalifchen Pläne durch die fich überftürzenden parlamentarifchen 
Ereigniſſe in feiner engeren Heimath, in Ungarn, abgezogen worden. Dort Hatte fich 
eine rein finanzielle Steuer: und Budgetbedeckungsfrage in eine parlamentarifche Kriſe 
erften Ranges verwandelt. Die Vorſchläge des deafiftifchen Minifteriums Bitto 
waren im Abgeordnetenhaufe zu Peſt auf die wol nur zufällig combinirten, aber 
darum nicht minder erjchütternden Angriffe eines ſeltſamen Trios geftoßen. Zuerit 
hatte der ehemalige Tavernifus von Ungarn, Baron Sennyey, ein Dealift „du 
lendemain“, zum Sturm geblafen, indem er namentlich feine oft angezweifelte Ver: 
taffungstrene betonte. Dann hatte der Führer des linken Gentrums, Koloman Tisza, 
Breiche geſchoſſen und jich gewiffermaßen der Fahne der Deakpartei bemächtigt, indem 
er jeine ſtaatsrechtliche Oppofition gegen den Ausgleih von 1867, als unter den 
obwaltenden Umjtänden unzeitgemäß, mit Eclat aufgab und jo mit einem Male 
regierungsfähig wurde. Und jchließlih war Graf Melchior Lonyay, das böje 
Finanzgenie Ungarns, mit detaillirten Rettungsplänen Hervorgetreten, denen jelbjt 
jeine Gegner eine gewilfe Berechtigung nicht abjprechen fonnten. Damit war das 
Minifterium Bitto in jeinen Grundveiten erſchüttert, und es blieb demjelben nichts 
übrig, als abzutreten, was ihm fogar mit allen Kriegschren gelang; denn man gab 
ihm noch eine Art von Vertrauensvotum mit auf den Weg, indem man das von 


490 Deutſche Rundſchau. 


ihm vorgelegte Budget mit ungeheurer Majorität als Grundlage für den Eintritt in 
die Specialberatdung annahm. So mußte — ein Unicum in der parlamentari- 
ſchen Gejchichte — ein jchließlich fiegreiches Gabinet feine Entlafijung geben, um einer 
neuen Gombination Plab zu machen, von welcher Jedermann, man weiß jelbjt nicht 
auf Grund welcher Vorausjehungen, die ungeheuerjten Dinge erwartet. Die Projecte 
zu diefer neuen GCombination wechjelten in Peſt während jeden Tages, den die Kriſis 
währte, wol vier und zwanzig Mal. Graf Andrafiy, der jelbjt einjt zum Sturze 
Lonyay's die Hand geboten, wollte nicht jelbft dazu beitragen, dem ihm innerlich noch 
Srollenden wieder zu Macht und Anſehen zu verhelfen, die derjelbe dann vielleicht 
gegen ihn jelbjt angewendet Hätte. Noch unlieber jähe er Baron Sennyey, der jeit 
Jahren fein principieller und perjönlicher Gegner gewejen, in die ungariſche Regierung 
eintreten. Nur mit Tisza vermochte er fich einigermaßen zu befreunden, da diejer 
geiftig der am wenigſten Bedeutende der drei Streber war, und da die Möglichkeit 
blieb, ihn in einem Knäuel deakiſtiſcher Cabinets-Collegen ebenjo unjchädlich zu 
machen, wie die mit Ghyczy der all geweien war, der ja auch aus einem aus— 
gleichfeindlichen Saulus jchließlich ein ganz zuverläffigegouvernementaler Paulus ge- 
worden. Wugenblidlich liegt die Enticheidung bei dem Monarchen. 

Dieſe eigenthümlichen ungarischen Vorgänge, verbunden mit den aufregenden 
Peripetien des bereits an dieſer Stelle gefennzeichneten, riefigen Ofenheim-Pro— 
cejjes, in welchem gewejene und gegenwärtige Minifter Dejterreichd eine feines» 
wegs beneidenswerthe Rolle jpielten, Hatten in Gisleithanien eine jeltfjame, nervöſe 
Aufregung hervorgerufen. Man jah in Ungarn fich Elemente zur Macht drängen, 
welche nicht im Rufe ° - ıden, der diefjeitö der Leitha herrjchenden Berfafiungspartei 
freundlich gefient zu ‚ın. Dan erlebte es, daß im Gerichtsjaale ein Minifter vor 
der Drohung eines jungen gewandten Advocaten verjtummte, man las es gebrudt, 
wie diejes jelbe Mitglied des Gabinettes Aueräperg jeine Ehre in den „Eingejandts” 
der Zeitungen zu vertheidigen hatte. — Alles das machte die Gemüther vebelliich. 
Das Gabinet Hatte fich überdies in eine mehr und mehr conjervative Haltung hin— 
einbrängen lafjen, während der Reichsrath, fich bewußt, daß er feine zweite Garnitur 
regierungsfähiger Männer in den Reihen der Verfafjungspartei befite, feinem Aerger 
über die eigene Ohnmacht in einer Reihe von „Nabdelftichen“ Luft machte, welche er 
dem Minijterium applicirte. 

Und in die Tohuvabohu von Wünjchen, Beichwerden, Kabalen, halben Aus— 
jöhnungen und ganzen Verhetzungen jchlug die Brojchüre des jugendlichen 
Erzherzogs Johann Salvator von Toscana, die für eine ganze Reihe 
altöfterreichiich-patriotifcher Gemüther geradezu befreiend wirkte. Die antideutjche 
Gefinnung, welche die interefiante Flugſchrift neben allerlei fachmänniſch jehr belebten 
artilleriftiichen Aperçu's entwidelte, war nicht nur manchent hochgeitellten Dtanne 
„aus der Seele geſprochen.“ Die Maffe des Volkes freilich will eben jo wenig von 
den Plusfolgerungen des Erzherzogs etwas willen, als die gegenwärtig regierenden 
Regionen; aber dazwiichen liegen große und einflußreiche Schichten, welche noch 
heut von der deutjchen Miſſion Defterreichd träumen oder doch zum mindejten anti- 
preußifchen Tendenzen ganz rüdhaltlos Huldigen. Bon ihnen droht einzig und allein 
unter Umjtänden dem guten Verhältniß Gefahr, welches Graf Andraſſy und Fürft 
Bismard herzujtellen gewußt, und ihr offenes und heimliches Wirken, dem der Erz— 
herzog Sprache geliehen, will weder hüben noch drüben unterjchäßt fein. 

Den intimen Beziehungen der drei nordiichen Mächte gegenüber hatte in jüng- 
jter Zeit eine fühlbare Entfremdung diefer Cabinette zur engliſchen Politik 
nahezu ergänzend gegenübergejtanden. England fühlte fich jchon verlegt durch das 
sans gene, mit welchem DOejterreich die befannte rumänische Handelsconventions-Auge— 
legenheit, jelbit gegen den Einſpruch der Türkei, verfolgte Die Möglichkeit einer 
maritimen Intervention Deutjchlandg in Spanien hatte in London gegen die Berliner 
Regierung verjtimmend gewirkt. Die Fortſchritte Rußlands in Mittelaften waren ein 
fortgejegter Gegenjtand britiicher Beſorgniſſe. Das Vorgehen der drei Mächte endlich 


J 


Politische Rundſchau. 491 


in der Podgorita-Affaire gab den engliichen Staatdmännern erwünjchte Gelegenheit, 
ihre Mißbilligung ziemlich nachdrüdlich zu betonen... Und jo war man denn im 
Gabinet von St. James erfreut, eine Gelegenheit zu Haben, auch jeinerjeit3 dieſen 
Mächten, namentlich; Rußland, Anlaß zum Mißvergnügen zu gewähren. Die ruffi- 
iche Einladung zu der nach St. Petersburg einzuberufenden Fortſetzung der interna= 
tionalen Kriegärechts:Gonferenz lieferte den gediegenjten Vorwand. Lord Derby be- 
nüßte ihn ohne Zögern. Die Thronvede, mit welcher das Parlament eröffnet wurde, 
jowie eine Note des foreign office vom 20. Januar 1875, in welcher die ruffische 
Einladung mit brusfer Motivirung zurüdgewiejen wurde (fiehe oben), ließ über die 
Dispofitionen der britifchen Regierung feinen Zweifel. Der Continent wird fi nun 
feine Kiegsnormen auch ohne Englands Betheiligung ſchaffeu müſſen, und die dazu 
erforderliche Form dürfte in St. Peteräburg jchließlich doch gefunden werben. 

Daß im Uebrigen das Tory-Cabinet mit feiner Ablehnung ganz im Geijte der 
Öffentlicden Meinung Großbritaniens gehandelt, joll Hier nicht in Abrede geftellt 
» werden. Auch die Whigs würden jchwerlich anderd aufgetreten fein. Wie denn 
überhaupt der alte Parteiunterfchied mehr und mehr geſchwunden und die frühere 
Spaltung allmählig ihre „raison d’ötre“ verliert. Aehnlichen Erwägungen muß fich 
auch Gladjtone Hingegeben haben, als er fich entichloß, in jener fprunghaften Weife, 
die ihm eigen, auf die Führerſchaft der Whigs urplößlich zu verzichten. Eine zwin— 
gende äußere Nöthigung zu diefem überrajchenden Schritte lag nicht vor, und die 
Beftürzung feiner Parteigenofien war feine geringe. Ein eigentlicher, die Partei 
geijtig beherrfchender und überragender Whig ift nicht vorhanden, denn Bright paßt 
doch nicht ganz in die alte Parteijchablone, und die Wahl Marquis of Hartington 
zum parlamentarichen Führer der Oppofition im Unterhau,. bemweiit die große Ver— 
legenheit, in welche Gladſtone's „depit“ jeine bisherigen Parteifreunde geflürzt. 
Natürlich haben die Torieg alle Veranlaffung zu jubiliren, und Disraëli war wol 
berechtigt, eim ſchadenfrohes Bedauern auszuſprechen, als er feinen gejährlichiten 
Gegner aus den Kampfreihen fich zurüdziehen jah. 

Frankreich gab unterdeflen der Welt ein ſeltſames Schaufpiel der Ein und 
Umkehr. Der jo lange vergeblich gejuchte politifche Stein der Weiſen, die Fuſion 
der Gentren, wurde gefunden, wenn auch nur für einen Moment. Was feine patrio- 
tiiche Erwägung vollzogen, die Furcht vor der überhandnehmenden Propaganda des 
Bonapartismus, dem fich alle confervativen Gemüther mehr und mehr anzujchließen be= 
gannen, brachte dieſes Wunder zu Stande. Aber in Frankreich darf man weniger ala anders» 
wo den Tag vor dem Abend loben. Man nahın ein Verfaffungsgejeg an, welches die 
Regierung zunächſt als republifanifch organifirte, welches aber auch das Insleben— 
treten dieſer Gonftitution erjt don der vorgängigen Annahme eine® Senatsgeſetzes 
abhängig machte. Für die jonjtigen Bedenken jener Orleaniften vom rechten Gentrum, 
welche jih nur mit jchwerem Herzen diejes Zugejtändniß an die Nepublif abgerungen, 
war durch die reservatio einer Revifionsfähigfeit der neuen Verfaſſung ausdrüdlich 
gejorgt, jo daß, wenn etwa einjt nad) Mac Mahon der Herzog von Aumale, al® von 
beiden Kammern gewählter Gandidat den Präfidentenftuhl befteigen jollte, alle Hinter— 
thüren geöffnet blieben, um mit Hülfe diefer Revifionskflaujel die orleaniftiiche Mo— 
narchie wieder einzuichmuggeln. Allein die Freude der Patrioten auf der Linken und 
der Intriguanten vom rechten Centrum jollte nur furz fein. Die Eriftenz der 
Republit war an das Vorhandenfein eine® Senatögefehes ausdrücklich gebunden. 
Als man nun zu deflen Berathung fchritt, glaubten die Republifaner, noch umnebelt 
vom Giegesmuth, auf die Bedenken feine Rüdficht nehmen zu dürfen, welche das 
rechte Gentrum gegen die Wahl der Senatoren durch das allgemeine Stimmrecht 
geltend machte. Denn die Orleans verfahen ſich für ihre Separatpläne des Guten 
wenig von einem Senat, deſſen Mitglieder das suffrage universel ernenne. War ihnen 
doch dieſer Wahlmodus, der jich ftet3 nur für die ertremen Gegenfäte, faſt niemals 
aber für die abgeblaßten Mittelparteien ausfpricht, jederzeit nur in geringem Grade 
dienjtwillig geweſen. Hier jegten nun die Bonapartiften, die fich jchon einem Staats- 


492 Deutiche Rundſchau. 


jtreiche näher geglaubt, al3 man im Allgemeinen annimmt, und die um alle ihre 
Hoffnungen betrogenen Legitimijten den Hebel ein. Erſt jtimmten fie mit der Linken 
und verhalfen jo jenen Amendements zur Mehrheit, welche fich auch in diefem Falle 
für das allgemeine Stimmrecht ausſprachen; dann aber, als es fih um Annahme 
oder Verwerfung des Senatögejeges in feiner Gefammtheit handelte, warfen fie fich 
auf die Seite des rechten Gentrums, und jo ward die Vorlage überhaupt zurückge— 
wiefen. Nun fehlte das Senatögejeß, und mit ihm war das auf fein VBorhandenjein 
bafirte republifanifche Verfaſſungsgeſetz mindeſtens wieder in Trage gejtellt. „Tout 
est à recommencer!“ 

Die auswärtigen Beziehungen Frankreichs waren troftreicher, ala dieſe inneren 
Vorgänge. Auch die Beziehungen zum deutjchen Reiche gejtalteten fich angenehmer, 
wozu die maßvolle Politit des Herzogs Decazed im Orient fowol, namentlich in 
Belgrad, ala auch das Entgegentommen beigetragen haben mag, welches man der 
neuen ſpaniſchen Regierung bethätigte. Denn jede Unterjtügung,, die es gelang dem 
Karliamus abwendig zu machen, enthielt einen jühlbaren Stich für die Jeſuiten und 
Abfolutiften im Vatikan. 

Sclechterding® war der jugendliche jpanifche König wenig im Stande, die 
mancherlei ftrategifchen Hoffnungen zu verwirklichen, die man auf ihn gejeßt. Seinem 
Feldzug gegen die Karliften gebot eine Schlappe, welche der jpanifchen Nordarmee 
zugefügt wurde, ein jchnelles Halt. Auch ſonſt war Alfons XII. nicht immer wohl» 
berathen, und daß er feinen Vertreter am Wiener Hofe mit der Ueberreichung jeiner 
Notificationsjchreiben in München und Stuttgart betraute, war ein nicht wegzu— 
leugnender ZTactjehler, Tür den man freilich feine Wiener, unter den Auſpicien des 
alten Großdeutichen Schmerling vollzogene, Erziehung verantwortlich machen darf. 

Garibaldi’3 Anmwejenheit in Rom ift gar bald aller der Schreden entkleidet 
worden, mit der vorahnende Gerüchte fie umgaben. Der General giebt fich praftifcher, 
als feine radicalen Freunde wünſchen mögen, und feine Ameliorationg-Beftrebungen 
der Campagna Romana verdienen die Tebhaftefte Unterftüßung aller italienifchen 
Parteien. 

In der Türkei fchließlih fand man troß aller Podgorita =» Häfeleien dennoch 
Zeit, eine Frage von eminenter Bedeutung für den Orient auf's Tapet zu bringen. 
Die Pforte war den Beichlüffen der internationalen Poftconferenz von Bern beige- 
treten, und fie nahm nun folgerichtig das Privilegium für fih in Anſpruch, fortan 
auf ihrem Gebiet nur ein einziges Poftinftitut, das kaiſerlich türkifche, Tortbeftehen zu 
laſſen. Damit hätten alle jene ftaatlichen Separat-Pojtbeförderungen in Wegfall zu 
fommen, welche die europäischen Mächte, kraft der alten Gapitulationen, noch heute 
im ottomanifchen Reiche unterhalten. Im Principe war dagegen nichts einzuwenden, 
aber thatfächlich jah es doch um die Ordnung und Negelmäßigkeit eines türkifchen 
Poſtdienſtes jehr jchlimm aus. Es ftehen nun mit dem Divan — und gleichzeitig 
auch mit dem Khedive von Egypten, welcher Für fich diefelbe Forderung angemeldet — 
Verhandlungen in Ausfiht, und man jcheint geneigt, ohne auf das Vorrecht der 
Gapitulationen ganz zu verzichten, die probeweiſe Initallation einer ausſchließlich 
türkiſchen Pot, die ihre Zulänglichkeit in mehrjähriger Verjuchzzeit zu bewähren 
hätte, dem Sultan zuzugeftehen. Unter diefen Umftänden brauchte fich ein moderner 
„beiliger Stephan“ in jenen Gegenden nicht mehr vor Steinigung zu fürchten! 


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Geiſterſtunde. 


Die Mitternacht ift längſt vorbei, 
Zur Neige brennt mein Licht; 

Ob aud) e3 Zeit zum Schlafen jei, 
Kommt mir der Schlummer nit. 


Don Naht und Dede rings umftarrt, 
Bin ich allein noch wach, 

Doch fühl ich "was wie Gegenwart 
Von Geiftern im Gemad). 


Die Fenſterſcheiben peitieht der Sturm 
Und heult durch Haus und Flur, 

Es jchrillt und knarrt die Fahn' am Thurm, 
Eintönig pickt die Uhr. 


Was im Verborg'nen webt und Ichafft, 
Wagt jih an's Licht hervor, 

Die Diele kracht, geipenfterhaft 
Schwankt der Gardine Flor. 


Mein eig’ner Schatten an der Wand 
Treibt, ſcheint's, mit mir fein Spiel, 
Vergebens zwingt die ftarre Hand 
Zum Dienft den flücht'gen Kiel. 


Zu laut der Geifter Ruf eriholl, 
In's Leere ſchweift mein Blick, 

Und in den Stuhl gedankenvoll 
Sintt mir da3 Haupt zurüd. 


Das ift die Zeit, wo fi) der Bruft 
Geheimftes Dir enthüllt, 

Mo Did des Tages Schmerz und Luft 
Noch einmal ganz erfüllt; 

Wo Du Dein felber inne toirft, 
Den Lug vom Herzen ftreifit, 

Und wie Du wandelft, wie Du irrſt, 
Dich prüfend, erſt begreifit. 





Dtto Braun. 


Deutiche Rundſchau. I, 6. 33 





Berlag von Gebrüder Paetel in Berlin. Drud der Pierer'ſchen Hofbuchbruderei in Altenburg. 
Für die Rebaction verantwortlih: Elwin Paetel in Berlin. 
Unberechtigter Nachdruck aus dem Inhalt biefer Zeitfchrift unterfagt. Ueberſetzungsrecht vorbehalten. 





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