DEUTSCHE
RUNDSCHAU
LIBRARY
UNIVERSITY OF CALIFORNIA.
Kereited ©e z I! sb
Acvessions Vo. 3UI/L2R
Deutſche Rundſchau.
Herausgegeben
von
Julius Rodenberg.
3and II
(danuar — Februar — März 1875.)
—
Verlag von Gebrüder Paetel.
Amſterdam ſobenhagen New⸗NYorl Nio de Janeiro _
Sehffardi'ſche Buch. Wilh. Prior's Buchh. E. Steiger. €. & H. Laemmert.
Athen London New⸗Yort Nom
Karl Wilberg. Zrübner & Gomp. Stechert & Wolff. Loeſcher & Gomp.
Bern Mailand Paris Rotterdam
Huber & Gomp. Alrico Hoepli. Sandoz & Fiſchbacher. ban Hengel & Geltjes.
Brüffel Mostau Petersburg Stodholm
6. Muquardt's Hofbudhh. Ebmundb Kunth, Garl Rider. Samſon & Wallin,
Ghriitiania Mosfau Riga Wien
Albert Gammermeher. Alegander "mo. R. Kymmel. Faeſh & Frichk.
AYso
AMaS
—
Dnhalts-DVerzeihniß
zum
zweiten Bande (Januar — März 1875).
— — vv
Wilhelmine von Hillern, Die Geier-Wally. Eine G
aus den Tiroler Alpen . . are ee
au Sernays, Die Bebanblung des Römifcen Staats—
tes bis auf Theodor Mommſen — 64
II. w. Sörher, Geſchichtliche Darlegung Fr Bebeutung
der Vorübergänge der Venus vor der Sonnenſcheibe
ür die Ausmeſſung der Himmeläräume. j 69
IV. Karl Hillebrand, Franzöſiſche Zuftäne und Snatiide
Beobachter — —
men a
VI. Gladftone im Kampfe mit dem —— — 129
VII. Karl Srenzel, Berliner Chronik. Die dramati —
und die Zieht Ss Eee ae re a I
Louis Ehlert, Muſikaliſches aus Berlin . . . . . . 142
Eduard Hanslik, Wiener Chronik. Opern und Goncerte . 151
oliti oc: 5 were IS
XH. Wilhelmine von Hillern, Die Geier- Waltn. Eine Gejchichte
aus den Tiroler Alpen. (Schluß. j ’ . 167
XIII . Heltner, PBetrarca und ——— als Be —
der italieniſchen Renaifjancebildung. . ._. 228
XIV. Georg Schweinfurth, Leber die Art des Reijens in Wirifa 245
XV. Georg Srandes, Ferdinand Laffalle vor der Agitation 276
inrich Laube, Shafejpeare- Splitter
XV. Friedrich Kreyſſig, Literariiche Rundihau . . 2 2 2 2 2.
XVIN. Karl Srenzel, Berliner Chronik. Die Theater. — Ludwig
Deffoir. — Neue „Buch”- Dramen . 303
XIX. Eduard Hanslick, Wiener Chronik. Opern und Goncerte . 310
(Fortjegung umftehend.)
IV Deutſche Rundſchau.
u
XX. JIofef Baper, Das Wiener Burgtheater. Wilbrandt's „Arria
und Meffalina” . 320
olitiſche Rundidan
XXIL Marie von Ölfers, Eigenthum. Rodelle er 333
XXIL Georg Srandes, Ferdinand zeljatte = Tr Anitation.
(Fortjegung) . r s . 3469
XXIV Mar Müller, Meine —— an Darwin 0-0
XXV Ludwig Samberger, Zur Geburt de3 u. z 413
XXVL A. Sick, Ueber Gefhmad und Geruch . . 430
XVVIL Otto Glagau, Fri Reuter auf der Feſtun Seh ba er
ungedrudten Briefen des Gefangenen an feinen Vater ... 443
XXVIL Couis Ehlert, Das Muſiklehrerthum und dag Publicum.
459
Theodor Döring's Jubelfeier. — Die Theater. — Zur Erinne⸗
rung an Rachel Felir.
XXXL Otto Gumpredt, Aus dem Berliner sppemil auſe . 480
Otto Kraun, Geifterftunde
Die Heier- Wall.
Gine Geſchichte aus den Tiroler Alpen
bon
Wilhelmine von Hillern, geb. Bird).
Schauſt du verträumt vom Thurme nieder,
Du hochlandwilde ſcheue Maid
Im knappgeſchnürten Purpurmieder,
In keuſcher Herzensherrlichkeit,
So denk' ich einer Alpenroſe,
Die einſam auf der Klippe ſteht,
Unſorgſam, ob bei Stein und Mooſe
Ein Menſchenauge fie erſpäht.“
Scheffel.
Tief unten durch's Oetz-Thal zog ein fremder Wanderer. Oben in Adlers—
höhe über ihm am ſchwindelnden Abhang ftand eine Mädchengeftalt, von der Tiefe
heraufgejehen nicht größer als eine Alpentoje, aber doch ſcharf ſich abzeichnend
vom lihtblauen Himmel und den leuchtenden Eisipiten der Ferner. Feſt und
ruhig ftand fie da, wie auch der Höhenwind an ihr riß und zerrte, und ſchaute
nieder ſchwindellos in die Tiefe, wo die Ache braujend durch die Schlucht jtürzte
und ein jchräger Sonnenftrahl in ihrem feinen Sprühregen ſchimmernde Prismen
an die Felswand malte. Auch fie Jah winzig Klein den Wanderer und feinen
Führer dahinziehen über den ſchmalen Steg, der in Thurmeshöhe über die Ache
führte und von da Oben einem Strohhalm glid. Sie hörte nicht, wa3 die
Beiden ſprachen, denn aus diefer Tiefe drang fein Laut herauf, als das donnernde
Braujen des Waſſers. Sie wurde nicht gewahr, daß der Führer, ein ſchmucker
Gemsjäger, drohend den Arm erhob, zu ihr hinaufdeutete und zu dem Fremden
jagte: „Das ift gewiß die Geier-MWally, die dort oben fteht, denn auf den
Ihmalen Borjprung, jo nah an den Abgrund traut fich fein anderes Mädel;
ſchauen's, man meint, der Wind müßt’ fie 'runterwehen, aber die thut immer
's Gegentheil von dem, was jeder vernünftige Chriſtenmenſch thut.“
Jetzt traten fie in einen dunfeln, feuchtkalten Fichtenwald ein. Noch einmal
blieb der Führer ftehen und jchaute hinauf mit Falkenblid, wo dag Mädchen ftand
und das Dörfchen fich Lieblich hinbreitete auf der ſchmalen Bergplatte im vollen
Glanz der Morgenjonne, die noch kaum verjtohlen hereinjchielen durfte in die
enge, grabesdüftre Schludt da unten. „Schau’ nur nit jo troßig 'runter, da
Deutihe Rundſchau. I, 4. 1
2 Deutiche Rundichau.
hinauf giebt’3 auch einen Weg!“ murmelte er und verſchwand mit dem Frem—
den. Wie zum Hohn auf die Drohung ftieß das Mädchen einen Yuchzer aus,
fo gellend, von allen Wänden widerhallend, daß ein beflügeltes Echo den Ton
bis in die tiefe Stille des Fichtenwaldes hineintrug, geifterhaft.verklingend wie
der herausfordernde Ruf der den Gemsjägern feindlichen Teen des Oetzthals.
„sa jchrei nur — J will Dir's ſchon austreiben!” drohte er wieder, und
ſich ftark hintenüber legend, das Genick mit beiden Händen ftemmend, jchmetterte
er hell und grell wie ein Pofthorn ein Spott- umd Truß-Liedel an der Berg-
fand empor.
„Db fie'3 hört?“
„Warum nennft Du das Mädchen dort oben die Geier- Wally?“ fragte
der Fremde unten im dunkeln feuchtraufchenden Wald.
„Herr, weil fie ala Kind ſchon ein Geierneft ausg’nommen und mit dem
alten Geier g’hadelt hat,“ jagte der Tiroler. „Sie ift das ſchönſte und ſtärkſte
Mädel in ganz Zirol und furdhtbar rei, und die Buab’n lafj'n ſich von ihr
heimjagen, daß es a wahre Schand’ ift. Keiner hat die Schneid’, daß er ihr
amal den Meifter zeigen thät! Spröd’ jei fie wie a wilde Kat’ und fo ftarf,
daß die Buben behaupten, 's könn' fie Keiner zwingen — wenn ihr Einer 3’
nah kommt, jchlagt j’ ihn nieder. No — wann % emal 'nauf käm', % thät
fie zwingen, oder J riß mer jelber 'n Gamsbart und d’ Feder vom Hut!“
„Warum haft Du nicht Ihon Dein Glüd bei ihr verſucht, wenn fie doch
jo reich ift und ſchön?“ fragte der Fremde.
„Ad willen S', J mag jo Mädeln nit — die halbe Buben find. Freilich
kann ſie nir dafür: der Alte — Stromminger heißt er — ift gar a ſchüecher
böjer Menſch. Er war vor Zeiten der beite Hadler und Robler im Gebirg
und da3 geht ihm noch heut nad. Das Madel hat er lafterhaft viel g’ichlagen
und aufzog’n wien Buab’n; fein’ Mutter hat's nit g’habt, weil’3 fo ein groß’3
ſtark's Kind war, daß e3 die Frau faum auf d’ Welt bringen könnt hat und
glei g’ftorben i8. Da is das Madel halt aud) jo wild und g’waltthätig word’n.“
— So erzählte der Tiroler unten in der Schlucht dem Fremden, und er hatte
fi nicht getäufcht. Die Mädchengeftalt, die dort oben über dem Abgrund
tagte, war die Wallburga Strommingerin, de3 gewaltigen „Höchftbauern” Kind,
auch Geier-Wally genannt, und er ſprach wahr, fie verdiente diefen Namen.
Schrankenlos war ihr Muth und ihre Kraft, ala hätte fie Adlersfittige, ſchroff
und unzugänglich ihr Sinn, wie die jcharflantigen Felsſpitzen, an denen bie
Geier niften und die Wolfen des Himmels zerreißen.
Wo e3 was Gefährliches zu vollbringen gab, da war von Kindheit auf
die Wally dabei geweſen und hatte die Buben beihämt. Schon ala Kind war
fie wild und ungeftüm wie die jungen Stiere des Vaters, die fie bändigte.
Als fie kaum vierzehn Jahre alt war, hatte ein Bauer an einer jchroffen Fels—
wand das Neft eines Lämmergeierd mit einem Jungen entdeckt, aber Keiner im
Dorf mochte es wagen, das Neſt auszunehmen. Da erklärte der Höchftbauer
zum Hohn für die mannhafte Jugend des Ortes, er werde es jeine Wallburga
thun laffen. Und richtig, die Wally war dazu bereit zum Entjeßen der Weiber
und zum Berdruß der „Buab’n“. „Höchſtbauer, dad heißt Gott verjuchen,“
Die Geier-Wally. 3
lagten die Männer. Aber der Stromminger mußte jeinen Spaß Haben, alle
Welt mußte e3 erfahren, daß das Stromminger’iche Geſchlecht bis auf Kind
und Kindestind herab feines Gleichen ſuche.
„Ihr jollt’3 jehen, daß ein Mädel vom Stromminger mehr ift, ala zehn
Buben von Euch!” rief er lachend den Bauern zu, die zufammenftrömten, um
das Unglaubliche mit anzujehen. Viele dauerte das jchöne, ftattliche junge Blut,
das einer boshaften Prahlerei des Vaters vielleicht zum Opfer fallen würde.
Aber jehen wollten ſie's doch Alle. Da die Telfenwand faft lothrecht gerade
war, an der das Neft hing, und fein menſchlicher Fuß fie betreten Tonnte,
wurde Wally ein Strid um den Leib gebunden. Vier Männer, zuvörderſt ihr
Bater, hielten ihn zwar, aber den Zufchauern war es doch graufig zu jehen,
wie das beherzte Kind, nur mit einem Meſſer betvaffnet, bi3 an den Rand des
Plateau’3 vortrat und jih nun mit einem raſchen Sprung in die Tiefe hinab-
ließ. Wenn der Knoten des Seiles aufging, wenn der Geier fie zerfleichte,
oder wenn fie ſich beim Heraufziehen an einem unbemerkten Vorjprung den
Schädel einſtieß? Es war ein gottjträfliches Beginnen vom Stromminger, To
das Leben des eigenen Kindes auszuſetzen. Indeſſen durchſchiffte die Wally
unerichroden das Luftmeer bis zur Mitte des Abgrundes, wo fie mit Jubel
den Kleinen Geier begrüßte, der dem fremdartigen Bejuch die flaumigen Federn
entgegenfträubte und piepfend den unförmlichen Schnabel gegen fie aufriß.
Ohne langes Belinnen padte fie mit der Linken den jungen Vogel, der nun
ein jämmerliche3 Gejchrei anhob und nahm ihn unter den Arm. Da raujchte
es durch die Lüfte, und in demjelben Augenblid war e3 dunkel um fie her und
wie ein Sturm und Hagelwetter jchlug und braufte es ihr um den Kopf. Ihr
einziger Gedanke war: „die Augen, rette die Augen!” und das Geſicht dicht an
die Felswand drücdend, Focht fie mit dem Mefjer in ihrer Rechten blindlings
gegen das wüthende Thier, das mit dem jcharfen Schnabel, mit Klauen und
Fittigen auf fie eindrang. Indeſſen zogen oben die Männer raſch an. Noch
eine Weile dauerte während der Auffahrt der Kampf in der Luft — da plöß-
lich neigte ficd der Geier und Schoß in die Tiefe; Wally's Mefjer mußte ihn
verivundet haben. Wally aber fam mit dem Kleinen im Arm, da3 fie um
feinen Preis losgelaſſen hätte, blutend und mit vom Fels zerichundenem Ge—
fiht oben an.
„Aber Wally,“ jchrieen ihr die Leute entgegen, „warum haft denn das
unge nit fahren laſſen, dann wärjt ja den Geier losgeweſen!“ „O,“ ſagte
fie einfah, „das arm’ Dierl kann ja noch nit fliegen, wenn J's losg'laſſen
hätt’, wär’3 in den Abgrund g'ſtürzt und hätt’ jich zu Tod g’fallen.“
Hier war e3 zum erſt- umd einzigenmal in ihrem ganzen Leben, daß der
Bater ihr einen Kuß gab; nicht weil ihn das großmüthige Mitleid Wally’s
mit dem hülfloſen Thier gerührt hätte, jondern weil jie ein Heldenſtück verübt
hatte, das dem erlauchten Roblergejchleht der Stromminger Ehre machte.
Das war da3 Mädchen, das da draußen ftand auf dem faum fußbreiten
Felsvorjprung und träumerifch hinabſah in den Abgrund, über dem fie ſchwebte,
denn e3 kam manchmal wunderſam über fie bei all ihrem Ungeſtüm, daß es
ftille in ihr ward und fie wehmiüthig vor ſich hin jchaute, als jähe fie etwas,
1*
4 Deutiche Rundichau.
wonad fie ich jehnte und was fie doch nicht erreichen konnte. Es war ein
Bild, das fi) immer gleich blieb, fie mochte e3 jehen in grauer Morgendäm-
merung oder in goldener Mittagsgluth, im Abendroth oder im bleichen Mond—
lit, und e3 ging mit ihr feit einem Jahr überall, wo fie ging und ftand,
hinab in's Thal und hinauf auf die Berge, und wenn fie jo allein draußen
war und ihre großen, wildicheuen Gemjenaugen hinüberjchweiften zu dem weiß—
leuchtenden Gletjchermeer, oder hinunter in die ſchattige Schlucht, wo die Ache
donnerte, dann fuchten fie den, weldhem das Bild gli, und wenn dann und
wann ein Wanderer da unten winzig Elein vorüberglitt, jo dachte fie, das könnte
er jein, und eine jeltjame Freude fam über fie bei dem Gedanken, daß fie ihn
gejehen, wenn fie auch nichts erkennen konnte, als eine menschliche Geftalt,
nicht größer als ein bewegliches Figürchen im Guckkaſten. Und als jetzt die
beiden Wanderer vorüberzogen, von denen der Fremde fie bejang, der Tiroler
ihr drohte, da dachte fie wieder, er ſeiss. Da ward ihr’3 jo eng in der Bruft,
jie öffnete die Lippen, und wie eine befreite Lerche ſchwang fich die Freude in
einem jchmetternden Sodler daraus empor. Und wie der Jäger unten im ftillen
Wald ein verichwindendes Echo davon gehört, jo erreichte auch fie ein Wider-
ball feiner Antwort, und fie laujchte dem verwehten Klang mit trunfenem Ohr
— es fonnte ja jeine Stimme fein! Und über das wilde, troßige Geficht ver-
breitete fi der xofige Widerjchein eines warm aufwallenden Gefühl. Sie
hatte ja nicht gehört, daß das Lied ein Spott- und Trußlied war. Hätte ſie's
gehört, fie hätte wohl die nervige Fauſt geballt und die Kraft ihres Armes
geprüft, und über ihr Geficht wären finftere Schatten gezogen, daß es erbleicht
wäre wie die Gleticher nad) Sonnenuntergang. Und fie fjehte fich nieder auf
den Stein, der fie trug, und jchaufelte mit den Füßen, die num frei über dem
Abgrund hingen, ftüßte den jchlanfen Kopf in die Hände und lieg Alles an
ihrer Seele vorüberziehen, twie das jo wunderbar gewejen, als fie ihn zum
eriten Mal gejehen.
I.
Der Bärenjojeph.
Es war um Pfingften, gerade vor einem Jahr, da führte fie ihr Vater
zur Firmelung nad) Sölden; dorthin fam der Bilchof alle zwei Jahre, weil
bis Sölden ein Fahriveg ging. Sie jhämte ſich ein wenig, weil ſie ſchon
jechzehn Jahre und jo groß war. Der Vater hatte fie nicht Früher firmeln
laſſen wollen, er hatte gemeint, dann ginge glei) da3 Liebeln und Braut-
werben los — und dazu wärs noch lang’ Zeit! Nun Hatte fie Angit,
die Andern würden fie auslacdhen. Aber Niemand achtete auf fi. Das ganze
Dorf war in Aufregung, als fie hinfamen, denn e3 hieß, der Joſeph Dagen-
bad von Sölden habe den Bären erlegt, der ji drüben im Vintſchgau
gezeigt und dem die Buben aus allen Ortjchaften vergebens nachgeftellt. Da
jei denn der Joſeph aufgebrochen und hinüber gegangen und lebten Freitag
habe er ihn jchon gehabt. Der Schnalferbot Hatte früh die Nachricht gebracht
und der Joſeph werde ihm bald nachkommen. Die Söldener Bauern, die vor der
Die Geier-Wally. 5
Kirche warteten, waren gar ſtolz, daß es ein Söldener var, der da3 Wageſtück
vollbradyt, und ſprachen von nichts Anderem, ala von dem Joſeph, der ganz
unftreitig der ftärkite und jauberfte Bua im ganzen Gebirg war, und ein Schüß,
wie's feinen zweiten gab. Die Madeln hörten bewunderungsvoll zu, was für
Heldenftüde von dem Joſeph erzählt wurden, wie ihm fein Berg zu fteil und
fein Weg zu weit, feine Kluft zu breit und feine Gefahr zu groß ſei. Und
al3 eine bleiche, kränklich ausſehende Frau über den Rajen daherjchritt, ftürzten
Alle auf fie zu und wünſchten ihr Glüd, daß ihr Sohn jo viel Ehre ein-
gelegt habe.
„Das ıft Einer, Dein Joſeph,“ jagten die Männer wohlmeinend, „an dem
fann ſich Jeder a Beijpiel nehmen!” „Wenn das Dei Mann jeliger nod) erlebt
hätt’, wie hätt’ der fich g’freut!” ſagten die Weiber.
„Nein, man ſollt's nit glauben,“ rief Einer artig, „man jollt’3 nit glauben,
daß der Prachtskerl Dein Sohn is — wann ma Di jo anſchaut.“
Die Frau lächelte geihmeichelt: „Sa, 3 iS a ftattliher Burſch und a
braver Sohn, wie's kein'n Beſſern geb’n kann. Aber 58 könnt’3 glauben, J komm'
Ihon gar aus die Aengjten um den Waghals nit "raus, ’3 iS fein Tag, wo J
nit dent’, heut bringen fie ihn mir mit zerjchlagene Glieder heim! Des is a
Kreuz!“
Set erichien die Hohe Geiftlichkeit auf dem Platz und machte dem Geſpräch
ein Ende. Die Leute drängten mit den weißbejchürzten, buntbefränzten Firmel—
findern in die Kleine Kirche, und die heilige Handlung begann.
Aber Wally konnte die ganze Zeit an nichts Anderes al3 an den Bären-
tödter Joſeph denken und an alle Wunderdinge, die er jollte verrichtet haben —
und wie prächtig da3 jei, wenn Einer jo ftark und beherzt jei und in jo
großem Anjehen bei allen Leuten ftehe, daß ihm Seiner was anhaben könne.
— Wenn er nur no Fam, jo lange fie in Sölden war, daß fie ihn doch aud)
jehen fönnte; fie brannte ordentlich darauf!
Endlich war die heilige Handlung vorüber und die Kinder empfingen den
Segen; da eriholl draußen auf dem Plate vor der Kirche wildes Hurrahgeichrei.
„Er hat ihn, er hat den Bären!” Kaum daß der Geiftliche noch den Segens—
ipruch beenden konnte, ftürzte Alles hinaus und umringte jubelnd einen jungen
Gemsjäger, der, geleitet von einer Schaar ſtattlicher Burſche aus dem Schnalfer-
thal und dem Vintſchgau, über den Rafen Schritt. Aber wie ftattlih auch die
Schnalſer und Vintſchgauer waren, Keiner kam ihm gleih. Er überragte fie
alle an Größe und jo jauber war er, jo bildjauber! Es tar faft, als leuchte
er Ion von Weitem. Er ſah aus wie der Sct. Georg in der Kirche. Ueber
der Schulter trug er ein Bärenfell, dejjen grimme Taten auf feiner breiten
Bruft herumbaumelten. Er ging fo ftolz einher twie der Kaiſer, und that immer
nur einen Schritt, bis die Andern zwei thaten, aber er war ihnen dod) voraus,
Und fie madten ein Aufhebens mit ihm, al3 wäre er wirklich der Kaifer, der
fi in einen Gemsjäger verkleidet habe. Der Eine trug ihm die Flinte, der
Andere den Tichopen und Alle hatten Räufche und jchrien und johlten, nur er
war nüchtern und ruhig. Er ging gar bejcheiden auf die Geiftlihen zu, die
aus der Kirche ihm entgegentraten, und zog den befränzten Hut vor ihnen ab.
6 j Deutſche Rundſchau.
Der fremde Biſchof machte das Zeichen des Kreuzes über ihn und ſagte: „Der
Herr war ſtark in Dir, mein Sohn! Du haſt mit Seiner Hülfe vollbracht,
was Keinem gelungen. Die Menſchen müſſen Dir danken — Du aber danke
dem Herrn!“
Alle Weiber weinten vor Rührung und auch Wally wurden die Augen
naß; es war, als käme jetzt erſt die Andacht über ſie, die ſie in der Kirche
verſäumt, als fie den ſtattlichen Jäger das ſtolze Haupt unter der ſegnenden
Hand des Priefters beugen ſah. Darauf zog fich die Geiftlichkeit zurüd. Joſeph's
erste Frage war aber num: „Wo ift denn mei Mutter? Is fie nit da?“
„Do!“ antiwortete dieje und fiel dem Sohn in die Arme: „Da bin Jſchon!“
Joſeph drüdte fie jet an fih und fagte: „Schau, Müaderl, um Dich hätt’
mir's leid 'than, wenn ich nimmer wiederlommen wär’, — Du lieb’3 Müaderl,
Du hätt’ft ja nit g’wußt, was D’ anfangen jollft ohne mich, und J wär’ aud)
nit gern g’ftorben, ohne daß J Dir noch a Bußel geb'n hätt’!“
Ach, das war fo ſchön, wie er das fagte, Wally Hatte ein ganz eigenes
Gefühl, ein Gefühl, ala beneide fie die Mutter, die jo gut in der liebevollen
Umarmung des Sohnes ruhte und Fi To zärtlih an die mächtige Geftalt
ichmiegte. Aller Augen ruhten mit Wohlgefallen auf der Gruppe — Wally
war es dabei ganz unbeſchreiblich um's Herz!
„Aber jetzt erzähl’, wie's gangen ift!” drangen die Bauern in ihn.
„Ja, ja, J will’s erzählen,” lachte er und warf das Bärenfell zur Erde,
daß Alle es bejehen fonnten. Und fie bildeten einen Kreis um ihn und der
Wirth ließ ein Faß vom Belten auf den Platz jchleppen und anzapfen, denn
nad) der Kirche mußte getrunfen werden und bei jo einer Ertra-Gelegenheit erjt
recht, und die Kleine Wirthsſtube hätte "ja nicht die ungewöhnliche Zahl Mten-
ichen alle gefaßt. Die Männer und Weiber drängten ji natürlich um den
Erzähler und die G’firmten ftiegen auf Bänke und Bäume, um über fie hin-
wegzuſehen. Wally war die Allererfte auf einer Fichte und konnte ihm gerade
in’3 Geficht jehen, die Andern aber neideten ihr den Platz, und weil fie jih ihn
nicht nehmen ließ, gab es Streit und Lärm. Da Ichaute der Sanct Georg
herauf zu ihnen und feine funfelnden Augen trafen gerade Wally's Geſicht und
blieben eine Weile lächelnd darauf haften. Da war es Wally, ala ftiege ihr
alles Blut zu Kopf, und fie erichrad jo heftig, daß fie ihr Herz ſchlagen hörte
bi3 in die Ohren hinein. In ihrem ganzen Leben war fie nicht jo erjchroden,
und fie wußte nicht einmal warum! Sie hörte nur halb, was Joſeph erzählte,
es jaufte ihr in den Ohren, jie konnte nichts denken als: „Wenn er wieder
heraufihaute?!“ Und fie wußte nicht, wünjchte ſie's oder fürchtete fies? Als
es aber während des Erzählens doch noch einmal geſchah — da blickte fie ſchnell
weg und jchämte fih, als jei fie auf etwas Unrechtem ertappt worden. War
es denn ein Unrecht, daß fie ihn fo angejehen hatte? Es mußte wohl jo fein.
Und fie konnte es doch nicht laſſen, obgleich fie beftändig zitterte, er könnte es
merken. Aber er merkte es nit, was kümmerte ihn das „Firmelkind“ da
oben auf dem Baume. Er hatte es ein paarmal angefhaut, wie man auch
nad einem Eichkätzchen fieht, weiter nichts. Das jagte fie fich ſelbſt und ein
wunderliches Weh beichlich fie dabei. So, wie heute, war ihr noch nie zu Muthe
Die Geier:Wally. 7
geweien, — fie war nur froh, daß fie unterwegs feinen Wein getrumfen, fie
hätte jonft gemeint, fie jei beraufcht. Sie ſpielte in ihrer Bangigfeit mit ihrem
Roſenkranz. Es war ein jchöner neuer, von rothen Korallen, mit einem ächt
filbernen Kreuz don getriebener Arbeit. Sie hatte ihn zur Firmelung von
ihrem Water befommen. Da plötzlich, wie fie ihn jo drehte und wickelte, zerriß
die Schnur und wie Blutötropfen riejelten die rothen Perlen vom Baume nieder.
„Das ift ein Schlechtes Zeichen,“ raunte ihr eine innere Stimme zu; „die Luckard
bat’3 nit gern, wenn was reißt, während man an was denkt!“
„An was dentt!! — Ya, an was dachte fie denn? Sie jann darüber nad)
— fie konnte es nicht finden. Sie hatte eigentlich an nichts Beftimmtes gedacht.
Warum that e8 ihr nur jo leid, daß gerade in dem Augenblid die Schnur
zerriß? Es war ihr, als wäre plößlic die Sonne bleich geworden und ein
falter Wind ftriche über fie hin. Aber doch regte fich fein Halm, und die eis—
ftarrende Welt in der Runde glänzte in jtrahlendem Licht.
Ein Wolkenichatten war vorübergezogen — ob in ihr — außer ihr? Was
wußte fie? Joſeph hatte indeffen fein Abenteuer mit dem Bären auserzählt
und den Beutel mit den vierzig Gulden herumgezeigt, die von der tiroler Re-
gierung als Schußgeld für einen Bären ausbezahlt werden, und e3 war des
Lobens und Händejchüttelns fein Ende. Nur Wally’3 Vater hielt ſich mürriſch
fern. Es ärgerte ihn, wenn Einer ein großes Heldenftücd vollbrachte, es Jollte
Niemand ftark fein in der Welt, als er und feine Tochter. Durch dreißig Jahre
hatte er unbejtritten für den ftärkiten Dann im Gebirg gegolten, und nun konnte
er ed nicht ertragen, daß er alt wurde und dem jungen Nachwuchs den Plab
räumen mußte. Als aber gar Einer in feiner Freude zu Joſeph jagte, es jei
ja fein Wunder, daß er jo ein G’waltäferl geworden. — er habe das von jeinem
Bater, der jei auch der befte Schüb und der befte Raufer in der ganzen Gegend
gewejen, — da hielt ich der Alte nicht mehr und fuhr mit einem donnernden
„Oho — begrabt’3 Ein’n nur nit Schon, ehvor man todt it!“ dazwiſchen.
Alle wichen auseinander vor der drohenden Stimme und jagten faſt er-
Ihroden: „Der Stromminger!” „Sa, der Stromminger ift auch noch da und
hat nie nix davon g'wußt, daß der Hagenbach der befte Raufer war! Mit 'm
Maul ja — aber mit jonft nir!”
Da drehte fi Joſeph um, wie eine angeſchoſſene Wildfate, und jchaute
Stromminger mit funfelnden Augen an: „Wer jagt, daß mein Vater ein
Maulheld war?” “
„J lag’3, der Höchſtbauer von der Sonneplatten, und % weiß, was 3
red’, denn J hab’ ihn a maler Zeh’ne hing’legt, wie 'n Sad.“
„Das ift nit wahr!“ schrie Joſehh. „J laſſ' mir mein’ Vater nit
anſchwärzen!“
„Joſeph, ſei ſtill, 's ift der Höchſtbauer, mit dem mußt nit anbinden,“
flüfterten ihm die Leute zu.
„Was, Höchſtbauer hin und Höchſtbauer her — und wenn unjer Herrgott
vom Himmel 'runter käm' und wollt’ mir mein’ Vatern jchledht machen — J
thät’s nit leiden. J weiß ſchon, der Stromminger und mei Vater hab’n 's
immer mit einander g’habt, weil mein Vater der Einzige war, der's mit dem
8 Deutſche Rundſchau.
Stromminger hat aufnehmen können. Und er hat den Stromminger g'rad ſo
oft g'worfen, wie der ihn!“
„Nit wahr iſt's!“ ſchrie Stromminger. „Dein Vater war ein Tropf gegen
mid. Wenn Einer von Euch Alten Ehr’ im Leib hat, joll er’3 jagen — und
wenn Du's naher noch nit glaubft, jo will J Dir’ einbläuen!” Joſeph
tar bei dem Wort „Tropf“ wie rajend auf Stromminger zugefprungen: „Du,
nimm das Wort z'rück oder” —
„Jeſus Maria,“ kreiſchten die Weiber, „laß' ab, Joſeph,“ begütigte die
Mutter, „'s ift ein alter Mann, an dem darfft Dich nit vergreifen!”
„Oho!“ ſchrie Stromminger, roth vor Zorn. „Wollt Ihr mich zu’n alten
Toddel maden? So altersſchwach is der Stromminger noch nit, daß er’3 nit
noch aufnehmen könnt’ mit jo 'n Gelbjchnabel! Geh’ nur her — J will Dir's
ichon zeigen, daß % noch Mark in die Knochen hab’, Dich fürcht' J noch
lang’ nit und wenn D’ noch zehn Bären g’jagt hätt’ft.“
Und wie ein wüthender Stier drang der ſtämmige Mann auf den jungen
Jäger ein, daß diefer unwillkürlich zurückwich unter dem mwuchtigen Anprall.
Uber nur einen Augenblid währt das Schwanken, denn Joſeph's jchlante Ge-
ftalt war jo mußsfelzähe, jo elaftiich biegjam — und wenn gebogen — wieder
auffchnellend wie die hohen Fichten jener Gegend, die wie mit Gijendrähten in
dem nacten Geftein wurzeln, fi) von den vier Winden zaufen laffen und gegen
Bergeslaften von Schnee ftemmen müfjen. Stromminger hätte eben jo gut einen
ſolchen Baum ausreißen, als Yojeph vom Boden aufbringen können. Und nad
einem kurzen Ringen jchlangen ſich Joſeph's Arme feſt um Stromminger und
jchnürten fich zu, immer fefter bis zum Erftiden, daß ein lautes Stöhnen aus
Stromminger’3 gepreßter Bruft drang und er feine Hand mehr frei machen
fonnte. Und nun begann der junge Riefe an dem alten Dann zu rütteln und zu
Yüpfen, herüber, hinüber, langjam, mälig, aber gründlich, ihm bald den einen, bald
den andern Fuß unter dem Leibe wegdrängend, al3 wolle er ihn ruckweiſe lodern.
Die Umftehenden wagten faum zu athmen ob des jeltenen Schaufpiels, es war
ihnen faft, als dürften fie nicht hinjehen, wenn ein jo alter Baum zum Sturz
füme. Jet — jebt hatte Stromminger den Boden unter den Füßen verloren
— jeßt mußte er ftürzen, — aber nein, — Joſeph hielt ihn auf, ſchleppte ihn
in feinen ftarken Armen zur nächften Bank und jeßte ihn darauf nieder. Dann
zog er ruhig jein Tuch und trodnete Stromminger den perlenden Schweiß von
der Stirn: „Seht, Höchftbauer, 3 hab Euch ’ziwungen, 3 hätt! Euch können
werfen, aber da jei Gott davor, daß einem alten Dann die Schand’ anthät’!
Und jet woll’n wir wieder gut Freund fein, — nix für ungut, Stromminger!“
Er hielt gutmüthig lachend dem Stromminger die Hand hin — aber diejer
ſchlug fie mit einem bitterböfen Blick zurüd: „Der Teufel ſoll Dir's eintränfen,
Du Schandbub’!“ ſchrie er ihn an. „Und Ihr Alle, Ihr Söldener, die eine
Freud’ d’ran g’habt habt’3, wie der Stromminger zum Kinderjpott word'n ift,
Ihr ſollt's ſchon noch erfahren, wer der Stromminger ift. Seht wird fein
G'ſchäft mehr mit Euch g'macht und nir mehr g’jtundet und wenn halb Sölden
verhungern müßt'!“ Er ging zu dem Baum, auf dem Wally noch wie in einem
Fiebertraum ja, und riß fie am Kleid: „Komm’ 'runter Du! 's wird nimmer
Die Geier-Wally. 9
da Mittag g'macht. Bon mir joll fein Söldener mehr 'n Kreuzer ſehen.“
Aber Wally, die mehr vom Baume gefallen, als geftiegen var, ftand da wie
gebannt und ihre Augen hafteten faft bittend auf Jojeph. Sie meinte, er müſſe
e3 jpüren, tie leid es ihr that, daß fie fort jolle; ihr war, als müſſe ex ihre
Hand faſſen und jagen: „bleib’ nur bei mir — Du gehörft ja zu mir und ich
zu Dir — umd zu Niemand ſonſt!“ Aber er ftand mitten in einem Knäuel
von Männern, die verblüfft zufammen flüfterten, denn Viele im Dorf waren
dem Stromminger verjchuldet, deſſen Reihthum in den Lebensadern der ganzen
Gegend Freijte. —
„Ro — wird’3?" ftieß Stromminger da3 Mädchen an, und fie mußte wohl
oder übel folgen, aber ihre Lippen zudten, ihre Bruft arbeitete krampfhaft, ein
Blitz ohnmädhtigen Zornes traf ihren Vater, Wie ein Kalb trieb er fie dor
fi) her. So gingen fie ein paar Schritte, da famen Leute ihnen nad, und als
fie ſich umſahen, da ftand der Joſeph mit noch ein paar Bauern hinter ihnen
und jagte: „Höchftbauer, jeid’3 doch nit jo grandig! 8 könnt's doch mit mit
dem Dirnl un’gefjen den weiten Weg auf die Sonneplatten laufen.”
Und er ftand dicht neben Wally und fein Athem ummehte fie, wie er jo
ſprach, und jein Auge ruhte auf ihr — feine Hand legte fich mitleidig auf ihre
Schulter, fie wußte nicht, wie ihr geſchah — er war fo gut, fo lieb, und den-
noch war ihr zu Muthe wie damals, als ihr beim Ausnehmen des Geierneftes
plögli die Fyittige des Geier um die Ohren raufchten, daß ihr Hören und
Sehen verging! So etwas Uebermächtiges lag für das junge Herz in jeiner
Nähe, jener Berührung. Sie hatte nicht gezittert, als das mächtige Thier
auf fie niederftieß und ihr mit den breiten Schwingen die Sonne verdunkelte,
fie hatte fich tapfer und bejonnen gewehrt, aber jetzt zitterte fie am ganzen
Leibe und ftand verwirrt und verlegen da.
„Hebt's Euch weg!“ jchrie der Höchſtbauer und ballte die Fauſt gegen
Sojeph. „J Ichlag’ Dir in's Geficht, wenn D’ mi nit auslaß't, und wann's
mi mei Xeb’n koſt'.“
„No wenn ös nit wollt — To laßt’3 bleib'n — ös jeid’3 .a Narr, Hödjit-
bauer!“ jagte Joſeph gelafien, drehte fi um und ging mit den Andern wieder
zurüd. Nun hielt fie Niemand mehr auf, fie jchritten unbehelligt weiter —
immer weiter von Joſeph weg. Wally jah ſich um, fie jah noch eine Weile
feinen Kopf über die Andern hervorragen, fie hörte die vielerlei Stimmen und
das Lachen auf dem Platz vor der Kirche. Sie konnte e3 immer noch nicht
glauben, daß fie wirklich fort jollte und den Joſeph nicht mehr jehen — viel:
leicht nie mehr. Jetzt bogen fie um eine Felſenecke und jekt war Alles ver-
Ihmwunden, der Pla mit den vielen Menfchen und der Joſeph — und Alles,
Alles vorbei. Und nun plötzlich kam es über fie, wie die Ahnung eines großen
Glüds, das ihr gewinkt und das ihr nun untviederbringlich verloren fei. Sie
Ihaute fi) um, wie um Hülfe flehend in ihrer Herzensnoth, in dem neuen, nie
gefannten Weh. Aber da war Keiner, der ihr geiagt hätte: „Sei ruhig — es
wird ſchon beiler werden.“
Zodt und flarr das Geklüft und Geftein rings umher, todt und ftarr
ihauten die zyerner fie an; was kümmerte fie, die Welten fommen und ver-
10 Deutiche Rundichau.
gehen gejehen, dies arme Kleine zuende Menſchenherz? Ihr Vater ging jo ſtumm
neben ihr ber, als wäre er ein wandelnder Felsblock. Und er war ja an Allem
Schuld. Er war ein böjer, harter, erbarmungslofer Mann, fie hatte feinen
Menſchen auf der Welt, der ſich ihrer annahm. Und während fie jo dachte
und mit fich jelbft rang, Ichritt fie mechanisch weiter, immer weiter dem Vater
voraus, bergauf — bergab, ala wollte fie jich ihren Schmerz verlaufen. Die
Sonne ſtach und brütete auf der kahlen Felswand, ihre Bruft rang nach Athen,
die Zunge Elebte ihr am Gaumen, alle Adern ſchlugen ihr. Plötzlich vergingen
ihr die Sinne, fie warf ſich zur Erde und brach in ein lautes Schluchzen aus.
„Oho, was ftellt denn da3 vor?” jagte Stromminger auf's Höchſte über-
raſcht, denn er hatte feine Tochter jeit ihrer Kindheit nicht mehr weinen jehen.
„Bilt närriich ?“
Wally antwortete nicht, fie überließ fi) ganz dem wilden Ausbruch ihres
Herzeleids.
„Jetzt red'!“ herrfchte Stromminger fie an: „Was joll das Gethu's heißen?
Thu's Maul auf — oder —!“ Da brad) fie heraus aus dem ungeftiimen pochen-
den Herzen, wie der Beragftrom aus dem geloderten Geklüft hervorbricht, die
ganze volle Wahrheit, und überjchüttete den Alten mit dem braufenden Giſcht
ihres Zornd. Sie jagte Alles, denn fie war immer wahrhaftig geweſen und
nicht geübt, zu lügen. Sie jagte, daß ihr der Joſeph gefallen und fie ihn Lieb
gewonnen habe, jo lieb wie feinen Menfchen auf der Welt, und daß fie ſich jo
darauf gefreut, mit dem Joſeph zu reden, und wenn der Joſeph gehört hätte,
daß fie fo ein ftarkes Mädel ſei und auch ſchon allerlei Kraftſtückeln verübt
hätt’, da hätt’ er nachher auch gewiß mit ihr getanzt und dann hätt’ ex fie
gewiß auch) lieb gewonnen, und um das Alles habe ihr Vater fie nun gebradt,
da er wie ein Unfinniger über den Joſeph hergefallen jei und jie dann von der
Firmelung habe mweglaufen müſſen mit Spott und Schand’, daß der Yojeph fie
fein Lebtag nicht mehr anſchauen werd’! Aber jo fei der Vater immer, bös und
wild gegen alle Leute, deshalb heiße er auch überall der ſchieche Stromminger,
und fie müfje da3 nun büßen!
Da plöglich jchrie Stromminger: „Seht hab’ I's g'nug!“ Es jaufte über
ihr durd) die Luft und ein Streich jchmetterte von des Vaters Stod auf fie
nieder, daß fie meinte, der Rückgrat ſei ihr abgebrochen, und fie erbleichend das
Haupt neigte. Es war Hagel, der auf die kaum erichloffene Blüthe der Seele
fiel. Einen Augenblid war ihr jo übel, daß fie fich nicht regen konnte. Schwere
Tropfen quollen aus den geichlojfenen Lidern hervor wie der Saft aus dem
gebrochenen Zweig, jonft war Alles todt und ftumm in ihr. Stromminger
jtand leife fluchend neben ihr und wartete, wie der Treiber bei einem Stüd
Vieh wartet, das unter jeinen Schlägen zufammengefallen ift und nicht weiter kann.
Ringsumher war Alles jo ftil und einfam. Steine Vogels Stimme, fein
Raufhen in den Bäumen unterbrach da3 Schweigen. Auf dem jchmalen Fels—
jteig, der Vater und Tochter trug, grünte fein Baum, niftete fein Vogel. Vor
YJahrtaufenden mochte es hier getoft haben im furchtbaren Kampf der Elemente,
und jo weit da3 Auge reichte, jah e3 nur die Riejentriimmer einer wilden Um—
mwälzung. Aber jet waren die Teuer ausgebrannt, die den Boden geiprenat
Die Geier-Wally. 11
hatten, und die Waſſer verlaufen, die im rafenden Schwall die Veſten der Erde
mit fich fortgeriffen. Da lagen fie übereinander Hingejchleudert, die regungsloſen
Koloſſe; die Gewalten, die fie zu bewegen vermochten, waren entichlummert,
Kichhofsruhe niftete dazwiſchen — wie zwiſchen Grabdenfmälern, und keuſch
und ftarr wie der himmelanftrebende Gedanke ragten die weißen Gletjcherfirnen
hoch darüber hinaus. Nur der Menſch, der ewig ruhelofe, ſetzte auch hier den
nie raftenden Kampf fort und ftörte den erhabenen Frieden der Natur mit
jeiner Qual!
Endlich ſchlug Wally die Augen auf und ſammelte ihre Kraft, um weiter
zu gehen. Keine Klage fam mehr über ihre Lippen, fie fchaute den Vater jo
fremd an, al3 habe fie ihn nie gejehen; ihre Thränen waren verfiegt.
„Du haft’3 jeßt g’jpürt, wie's Dir geht, wenn Du Dir noch einmal einen
Gedanken an den Schandbuben beitommen laß’t, der den Stromminger zum
Kinderipott g'macht hat,“ jagte er und hielt jie am Arm, „denn daß Du’3 nur
weißt, eher werf' ich Dich von der Sonneplatten 'runter, eh’ Dich der Joſeph
kriegen ſoll!“
„3 ift recht!” jagte Wally mit einem Ausdrud, der ſelbſt den Strom-
minger ftußen machte, ein jo unbeugjamer Troß lag in dem einen Wort, in
dem Ton, mit dem fie’3 jagte, in dem Blick unverjöhnlicder Feindſchaft, mit
dem fie ihren Vater dabei anſah.
„Du bift ein böjes, böſes Ding Du!“ murmelte er zwijchen den Zähnen.
„I hab's nit g'ſtohlen!“ erwiderte fie ebenſo.
„Aber wart nur, Y will Dir's austreiben!“ knirſchte er.
„Sa, ja!” nidte fie, ala wollte jie jagen „verfuch’3 nur.“
Dann ſprachen fie nichts mehr mit einander auf dem ganzen Heimweg.
Als fie heimfamen und Wally in ihre Kammer ging, um ihren Feiertags—
ftaat abzulegen, jteckte die alte Luckard, die jchon bei ihrer Mutter und Groß—
mutter geweſen und Wally an Mutterftatt aufgezogen, den Kopf zur Thüre
herein und flüfterte: „Wally, haft Du g’weint?* — „Warum?“ fragte das
Mädchen mit ungewöhnlich herbem Tone.
„Im die Karten ftehen Dir Thränen! % hab’ Dir heut’ an Dein’'m
Firmeltag die Karten g’legt: Du biſt zwiſchen zwei Buben g’fallen und der
Schreden dazu: und jo nah’ war Alles, ala wär's heut’ jchon paſſirt und Alles
über einen Kleinen Weg.“
„So?“ jagte das Mädchen gleichgültig und packte den ſchönen Rod ihrer
jeligen Mutter in die große Holztruhe.
„it Dir was, Kind?“ fragte die Ludard, „Du fiehft jo ſchlecht aus und
bift auch jo früh heimfommen. Haft nit 'tanzt!“
„tanzt?” das Mädchen ſchlug eine Lache auf, Hart und gellend, twie wenn
man mit einem Hammer auf eine Laute geſchlagen hätte, daß die Saiten klirrend
und Elagend nadhdröhnten. „Mir war's zum Tanzen!”
„Dir ift was g’ichehen, Kind! Sag's mir — J kann Dir vielleicht helfen.“
„Mir kann Niemand helfen!“ jagte Wally und warf den Dedel ihrer
Truhe zu, als wolle fie Alles, was fie drückte, darunter begraben. Es war,
als habe fie den Sargdedel über all ihren jugendlichen Hoffnungen gejchlofjen.
12 Deutiche Rundſchau.
„Seh jetzt,“ ſagte fie herriſch, wie fie nie zuvor geſprochen, „J will mich ein
Billel ausruhen!”
„Jeſus Maria,“ Freifchte die Ludard, „da liegt ja Dein Roſenkranz —
zerriſſen. Wo haft die M’rallen ?“
„DBerloren!“
„D Jeſus, Jeſus, das Unglüd, nur das Kreuz'l Haft b’halten und die leere
" Schnur, — am Firmeltag den Rojenkranz zerriffen und die Thränenkart’
dazu! O mein Gott und Bater, was wird da g'ſchehen!“
Sp jammernd, halb von Wally hinausgefhoben, ging die Alte und Wally
ichloß Hinter ihr den Riegel. Sie warf ſich auf ihr Bett und ftarrte regungslos
zu dem Muttergottesbild auf und dem Grucifir, das darüber an der Wand
hing. Sollte fie diefen ihr Leid lagen? Nein! Die Muttergottes meinte es
nicht gut mit ihr, jonft hätte fie ihr nicht gerade den Tyirmelungstag jo ver—
derben lafjen. Sie wußte ja auch nicht, wie jo ein Liebestweh thue, denn ſie
hatte ja nur den Schmerz um ihren Sohn gekannt, und das war dod) etwas
ganz anderes, al3 das Herzeleid, das Wally fühlte. Und der Herr Jeſus
EHriftus! — Der kiimmerte jich erſt recht nichts um Liebesgeſchichten — dem
durfte man gar nit mit jo etwas kommen. Der wollte nır, daß man immer
nad) dem Himmelreich ſtreben jolle. Ach! und ihr ganzes junges hochklopfendes
Herz jehnte und drängte mit jedem Pulsjchlag nach dem Lieben, herzlieben Dann
bier unten auf der Exde, und das Himmelreich war jo weit weg und jo fremd,
wie konnte fie'3 danach verlangen in einem Augenblick, two die allgewaltige
Natur in ihr zum erftenmal gebieterifch ihr Recht forderte! Mit bitterem Troß
blickte fie zu den Geftalten der Mutter und de3 Sohnes auf, die mit jo ganz
anderen Schmerzen zu thun hatten und nur Unmögliches von ihr verlangten.
Sie günnte ihnen fein gutes Wort mehr, fie grollte ihnen, wie ein Kind den
Eltern grollt, die ihn ungerechteriveife eine Freude verſagen. —
Zange lag fie jo, die Augen vorwurfsvoll auf die Heiligen geheftet, aber
bald war es nur das liebe ſchöne Geſicht Joſephs, was fie noch vor ſich jah,
und fie griff ſich unwillkürlich mit der Hand nach der Schulter, die er berührt,
als wolle fie jeine Berührung darauf fefthalten. Und dann war wieder feine
Mutter da, auf die fie jo eiferfüchtig war und fie lag wieder in feinen Armen
und Joſeph Liebkofte fie jo jüß, und da ſchob Wally die Mutter weg und legte
fich ftatt ihrer dem Joſeph an's Herz und er hielt fie umfangen und jie ſchaute
ihm tief in die Schwarzen flammenden Augen — und fie fuchte fich vorzuftellen,
was er wohl jagen würde — aber fie wußte nichts Anderes als etwa: „Du
lieb's Dirnl!“ wie er zur Mutter „Du lieb's Müaderl“ gejagt. Und das war
jo über Alles g'ſchmach und lieb! Ach, was konnte da3 Himmelreich, in das
die dort oben fie haben wollten, gegen die Seligkeit fein, die fie nur bei dem
Gedanken an Joſeph empfand, und wie mußte ext die Wirklichkeit fein?
Es klopfte an ihr Fenfter, fie fuhr auf, twie aus einem Traume Es war
der Lämmergeier, den fie vor zwei Jahren aus dem Neft genommen und der
ihr treu anhing wie ein Hund. Sie konnte ihn frei herumlaufen laffen, er
that Niemand was und flog ihr mit feinen geftußten Flügeln nad, jo gut es
ging. Sie öffnete das Kleine Fenſter, ex jchlüpfte herein und ſchaute fie mit
Die Geier-MWally. 13
jenen gelben Augen zutraulid an. Sie fraute ihm den Hals und jpielte mit
feinen jtarfen Schtwingen, fie bald entfaltend, bald zufammtenlegend. Ein kühler
Luftzug ftrich durch das offene Fenſter.
Die Sonne ftand ſchon tiefer hinter den Bergen, der enge Fenfterrahmen
umſchloß das friedliche Bild der in blauen Duft gehüllten Bergeshäupter.
Auch in ihr wurde es ruhiger. Die Abendluft belebte ihren Muth; jie
nahm den Vogel auf die Schulter: „Komm, Hansl,“ jagte fie, „wir thun, als
gäb's feine Arbeit auf der Welt!”
Das treue Thier hatte eine wunderliche Tröftung über fie gebracht. Sie
hatte fich’3 geholt, da wo fein Menſch jich hingewagt, vom jchroffen Felſen; fie
hatte e3 jeiner Mutter auf Leben und Tod abgefämpft und hatte es gezähmt
und es gehörte ihr nun ganz! „Und er wird mir auch einm ö
ihr eine innere Stimme, als fie den Vogel an ſich drüch
I. (UNIVERSITY)
Ko, Sr
Unbeugiam. NALTTar Te
Das war die furze Liebes- und Leidensgeihichte, die jeht er — in
dem jungen Herzen mit all ihrem Weh aufwachte, als ſie da hinunter ſah, wo
fie den Joſeph zu erblicen glaubte, der jo oft vorbeiging und nie den Weg
daherauf fand. Sie wiſchte ſich die Stirn, denn die Sonne fing an zu brennen
und fie hatte ſchon das ganze Geländ abgemäht, vom Haus her bis zur „Son
nenplatte“, jo hieß der VBorjprung, auf dem fie ftand, weil es die höchſte Stelle
tar und immer zuerft von der Sonne bejchienen wurde. Nach ihm führte das
Dorf jeinen Namen. j
„Wally, Wally!” rief es jeßt Hinter ihr her. „Du jollft zum Vater fom-
men, er will Dir was jagen.“ Die alte Ludard fam vom Haus ber. Der
Bater ließ fie rufen? Was konnte er wollen? Er hatte jeit der Geſchichte in
Sölden nichts mit ihr geredet, al3 was zum Tagewerk gehörte. Zwilchen Furcht
und Widerwillen ſchwankend erhob ſie ſich und folgte der Luckard. „Was will
er denn?“ fragte ſie.
„Große Neuigkeiten,“ ſagte Luckard. „Da ſchau auf!“
Jetzt ſah Wally den Vater vor dem Haus ſtehen und bei ihm einen jungen
Bauern vom Ort, den Gellner-Vincenz, mit einem großen „Buſchen“ im Knopf—
loch. Es war ein ſtämmiger, finſterer Burſch, den Wally ſchon von Kindheit
an als hartnäckig und verſchloſſen kannte. Keinem Menſchen hatte er noch je
ein freundliches Wort gegönnt als der Wally, die er ſchon von der Schule her
mit ſeiner Zuneigung verfolgte. Vor ein paar Monaten waren ihm raſch
hintereinander ſeine Eltern geſtorben. Nun war er ſelbſtändig und nach Strom—
minger der reichſte Bauer in der Gegend.
Wally ſtand das Blut in den Adern ſtill, denn fie wußte ſchon, was nun
fommen würde.
„Der Bincenz will Dich heirathen,” jagte Stromminger. „Er hat mein Ya
— und nächſten Monat ift die Hochzeit!” Damit drehte er ſich um und ging
in's Haus, al3 jei da gar nichts weiter zu reden.
14 Deutiche Rundichau.
Einen Augenblid ſchwieg Wally wie vom Donner gerührt. Sie mußte
fi erſt ſammeln, erft zur Befinnung kommen. Indeſſen trat der Vincenz zu:
verfichtlih an fie heran und wollte feinen Arm um fie ſchlingen. Da jprang
fie mit einem Schrei de3 Schreden3 zurüd und jebt wußte fie auch, was jie
zu thun Hatte,
„Bincenz,“ ſagte fie, bebend vor Seelenangjt. „J bitt! Dich, geh’ nad
Haus, % kann niemals Deine rau werden, niemals. Du wirſt nit wollen,
daß mich der Vater zwingt, J jag’ Dir's zum leßtenmal, J mag Did) nit.“
Ueber Vincenz's Geſicht zudte es wie ein Bliß, er biß ſich die Lippen und
feine ſchwarzen Augen hefteten ſich mit verzehrender Begierde auf Wally. „So —
Du magft mi nit? Aber J mag Did! Und % je mein Leben dran, daß
J Di krieg! Und Dein Vater hat mir’ Jawort "geben und das geb’ J
nimmer z'rück und J dent, Du wirft Dich ſchon noch b’finnen, wenn 's Dein
Vater will!“ ;
„Bincenz,“ jagte Wally, „wenn Du g’icheidt wärft, jo hätt’ft jeßt nit jo
g’jprochen, denn dann mwüßteft, daß J Dich jebt erft recht nit nehm’ — denn
zwingen laß’ J mich jchon gar nit, daß Du's nur weißt. Und jebt geh’
heim, Vincenz, wir haben nir mehr mit einander z'reden.“
Und damit wandte fie fi furz von ihm und trat in das Haus.
„D Du!” rief ihr Vincenz in zornigem Schmerz nad) und ballte die Fauſt.
Dann faßte er fi) und murmelte zwijchen den Zähnen: „No, % kann warten —
und J will warten!”
MWally ging geradenwegs zu ihrem Vater. Der jaß über jeine Rechnungen
gebückt und wandte ſich langjam um, als fie eintrat. „Was joll’3?“
Die Sonne warf ihre vollen Strahlen durch das niedere Tenfter auf Wally,
daß fie vor ihrem Water ftand wie in eine Glorie gehüllt. Er mußte fich ſelbſt
wundern über jein Kind, jo ſchön war fie in dem Augenblid.
„Dater,“ begann fie ruhig, „J wollt’ Euch nur jagen, daß J den Vincenz
nit heirath'.“
„So?“ rief Stromminger aufipringend. „Soll's dahinaus? Du heirathit
ihn nit?“
„Nein, Vater, J mag ihn nit!“
„So, — hab’ 3 Di a’fragt, ob D’ ihn magſt oder nit?“
„Nein, X ſag's Euch halt ung’fragt.“
„Und % jag’ Dir auch ung’fragt, daß Du den PVincenz in vier Wochen
heirathft, ob D’ ihn magft oder nit. Y hab ihm's Wort ’geben und der Strom-
minger bricht jein Wort nit. Jetzt jcheer Dich 'naus.“
„Nein Vater,“ ſprach Wally, „jo ift das nit abgethan. % bin fein Stüdl
Vieh, das fich verkaufen oder verjprechen Yaffen muß, wie der Herr will. I
mein’, J hätt’ auch noch ein Wort mitz’reden, wenn's an's Hetrathen geht!“
„Nein, das haft nit, denn das Kind g’hört dem Vater jo gut, wie ein Kalb
oder ein Rind, und muß thun, was der Vater will.“
„Wer jagt das, Vater?“
„Wer's jagt? In der Bibel ſteht's!“ und in Stromminger'3 Geſicht ſtieg
eine bedrohliche Röthe auf.
Die Geier:-Wally. 15
„In der Bibel fteht nur, daß wir unfre Eltern ehren und lieben jollen,
aber nit, daß wir einen Mann heirathen jollen, der uns z'wider ift — blos
weil’3 der Vater will! Schaut Vater, könnt's Euch was helfen, wenn J den
Vincenz nähm’, könnt's Euch vom Tod retten oder vom Elend, jo müßt JI's
freilih thun und wenn mir’3 Herz d’rüber bräch'. Aber Ihr jeid’3 ein reicher
Dann, der nad) Niemand nir zZ’ fragen hat — und dem’3 ganz eins jein kann,
wen J heirath — und hr gebt mich dem Vincenz blos aus Bosheit, daß J
nit den Joſeph nehmen kann, den J Lieb hab’ und der mic g'wiß auch lieb
hätt’, wenn er mich kennen thät' — und das, Vater, ift ſchlecht von Euch und
das Steht nit in der Bibel, daß ſich ein Kind das g’fallen laſſen muß!”
„Du fürwigig’3 Ding Du, J will Dir den Caplan ſchicken, der joll Dich
lehren, was in der Bibel fteht!“
„Das hilft Alles nix, Vater, und wenn Ihr mir zehn Geiftliche ſchickt
und fie thäten mir alle zehn jagen, daß J Euch da d’rin folgen müßt‘, J
thät’3 doch nit.“
„And J jag’ Dir, Du wirft’3 thun, jo wahr J der Stromminger bin.
Du wirſt's thun oder J jag’ Di von Haus und Hof und enterb’ Dich.“
„Das könnt Ihr, Vater, % bin ftark g'nug, daß % mir mein Brod ver-
dienen kann. Ya, Vater, gebt Alles dem Vincenz, nur mich nit.“
„Dumme G'ſſchwätz,“ ſagte Stromminger betroffen. „Sollen mir die Leut'
nadjagen, daß der Stromminger nicht einmal fein eigenes Kind meiftern kann?
Du nimmft den Vincenz und — wenn % Di in die Kirch prügeln müßt.“
„Und wenn Jhr mich in die Kirch prügelt, jo ſag J am Altar noch Nein.
Todtſchlagen könnt Ahr mich — aber das Ya könnt Ihr mir nit ’raus-
prügeln — und wenn Ihr's könntet — jo jpräng % eher vom Felſen 'nunter,
eh’ denn J zu Ein'm in’3 Neft ging, den J nit mag.“
„Jetzt hör'!“ ſchrie Stromminger, und feine breite Stirn war wie gejpalten
durch eine blaue Zornader, die darüber hinlief, jein ganzes Gefiht war auf-
gequollen, jeine Augen blutunterlaufen, „jetzt hör’, mad’ mich nit toll! Du
haft ſchon g’nug bei mir auf dem Kerbholz — jet gib Ruh — oder 's nimmt
zwiſchen uns ein jchlechtes End'!“
„Ein Schlechtes End’ hat's jchon vor einem Jahr zwiſchen uns g’nommen,
Vater! Denn wie Ihr mic fo g’ichlagen habt, damal3 an meinem Firmeltag —
da hab’ I's g’ipürt, daß Alles zwijchen uns aus ift. Und jchaut, Vater, feit-
dem ift mir Alles einerlei, ob Ahr mir bös jeid oder gut, ob Ihr mir ſchön
thut oder ob Ihr mich todtichlagt — 's ift mir Alles einerlei, — J hab Fein
Herz mehr für Euch, Ihr ſeid mir g’rad jo lieb wie der Similaun- oder
Vernagt- oder Murzoll-Gletjcher!”
Ein erſtickter Schrei der Wuth drang jetzt aus Stromminger’3 Bruft, nach—
dem er dem Mädchen halb erjtarrt zugehört. Er ſprang auf fie zu, unfähig
zu ſprechen, faßte fie um den Leib, ſchwang fie vom Boden auf hoch über jeinen
Kopf, jIchüttelte fie in der Luft fo lange, bis ihm ſelbſt der Athem ausging,
dann warf er fie zur Erde und ſetzte dem nägelbejchlagenen Abſatz auf ihre
Bruft: „Bitt’ ab, was Du da g’jagt haft, oder J zertret’ Dich wie 'n Wurm,”
feuchte er.
16 Deutſche Rundſchau.
„Thut's!“ ſagte das Mädchen und ihre Augen waren ſtarr auf den Vater
gerichtet. Sie athmete ſchwer, denn des Vaters Fuß laſtete bleiern auf ihr,
aber ſie regte ſich nicht, ſie zuckte nicht mit der Wimper.
Jetzt war Stromminger's Macht gebrochen. Er hatte gedroht, was er
nicht halten fonnte, denn vor dem Gedanken, die ſchöne, unjchuldige Bruft feines
Kindes zu zertreten, erbleichte jein Zorn und er ward plötzlich nüchtern. Er
war bejiegt. Er zog fajt taumelnd den Fuß von ihr zurüd. „Nein, im Zucht-
haus will der Höchftbauer doch nit enden,“ jagte er dumpf und ſank erſchöpft
in einen Seſſel.
Wally erhob fi; fie war todtenbleih, ihr Auge war thränenlos, glanzlos,
wie von Stein. Sie harrte unbeweglich deifen, was nun werden jollte.
Eine Minute ſchweren Nachdenkens ließ Stromminger verftreihen, dann
ſprach er mit heiferer Stimme: „J kann Did nit umbringen, aber weil
Dir der Similaun und der Murzoll doch jo lieb find wie Dein Vater, jo ſollſt
fünftig auch beim Similaun und beim Murzoll bleiben. Da g’hörft Du hin!
Unter meinen Tiſch ftredjt Deine Füß' nimmer. Du gehft auf's Hochjoch Vieh
hüten und bleibjt jo lang oben, bi3 D’ einjehen g’lernt haft, daß es doch beijer
it im Vincenz feinem warmen Neft, al3 im Murzoll feinen Schneemulden.
Schnür Dein Bündel, denn % will Did) nimmer jehen. Morgen früh geht
hinauf. J werd’ den Schnaljern den Pacht künden und ſchick Dir mit 'm
Handbub nächte Woch' das Vieh nad; nimm Brod und Käs mit, daß Du
g'nug haft, bis 's Vieh kommt. Der Hlettenmaier jol Did 'nauf führen. Und
jet heb’ Dich weg, das ift mein letztes Wort und bei dem bleibt's!“
„3 iſt Recht, Vater!” ſagte Wally leife, neigte das Haupt und verließ ihres
Vaters Zimmer.
III.
Berftoßen.
Auf Hohjoh! Das war ein furchtbares Wort. Denn in den unmwirth-
(ihen Gefilden des Hochjochs, da ift nicht das Fröhliche Leben der Alm, wo die
weiche, würzige Luft vom Geläut der Gloden und vom Gejodel der Sennen
und Sennerinnen widerhallt, — hier ift ewiger Winter, Todesruhe. Traurig
leife, wie wohl eine Mutter die bleihe Stirn de3 todten Kindes küßt, jo küßt
die Sonne dieje falten Firnen. Spärliche Matten, die legten Rejte zähen orga-
niſchen Lebens, ziehen ſich noch verloren in die winterliche Wildniß hinein, bis
endlich der letzte Halm ausgerottet, der lette Tropfen quellenden Saftes erftarrt
it. Ein langſames Abfterben der Natur. Aber der jparjame Bauer nützt aud)
diefen fargen Reſt noch aus. Er ſchickt feine Heerden hinauf, um abzugrafen,
was fie da oben noch finden, und das weidende Schaf, das lüftern einer bis
hierher verirrten Pflanze milderer Regionen nachftrebt, fällt nicht jelten in eine
Gisipalte hinab.
So follte das Kind des ſtolzen Höchftbauern, defjen Befigthum auf Stunden
in die Meite und hinauf bi3 in die Wolken reichte, feine Blüthezeit in beftän-
digem Winter zubringen. Während unten auf der Erde die Mailüfte wehten,
Die Geier:Wally. 17
der quellende Saft die Knospen jprengte, die Vögel ihre Nefter bauten und
Alles ſich regte im röhlichen Verein, mußte fie den Hirtenftab zur Hand nehmen
und auswandern aus den Frühlingsgefilden hinauf in die Einöde des Gletjchers,
und erft, wenn unten der Herbſtwind jaufte und der Winter ſich anjchickte, zu Thal
zu gehen, dann durfte auch fie herabfteigen, als wäre jie ihm verkauft mit
Leib und Leben.
Kein Bauer der ganzen Gegend jchiekte feine Hirten dahinauf, jondern fie
hatten die Weiden verpachtet an die Schnalfer jenfeit3 des Joch, denen fie
näher lagen, und dieje jchiekten ein paar halbwilde wetterharte Gejellen herüber,
die ſich in Felle Fleideten und auf Stunden von einander entfernt in Steinhütten
wie die Einfiedler Hauften, und nun verdammte der Höchftbauer, der feine Weiden
bisher auch immer verpachtet hatte, jein eigenes Kind zu dem Leben der Schnalfer
Hirten. Aber über Wally's Lippen kam feine Klage. Sie rüftete fi till zu
der freudlojen Alpfahrt. Gegen Morgen, lange vor Sonnenaufgang, während
der Vater, die Knechte und Mägde noch jchliefen, zog Wally aus ihres Vaters
Haufe fort — auf die Berge. Nur die alte Ludard, „die ja Alles aus den
Karten vorhergevußt” und die Naht bei Wally aufgewejen, ihr das Bündel
ſchnüren zu helfen, jtecte ihr zum Lebetwohl den Rautenftrauß auf's Hütel und
ging ein Stüd mit ihr. Die Alte weinte, al3 gäbe jie einer Todten das Geleit.
Der Klettenmaier fam mit dem Paden hinterdrein. Er war ein alter treuer
Knecht, der Einzige, der im Dienfte Stromminger’3 ergraut war, weil er taub
war und es nicht hörte, wenn der Stromminger ſchalt und tobte. Diejen hatte
er feiner Tochter zum Führer mitgegeben. Die Ludard ging mit bi3 wo der
Weg fteil anjtieg; dort nahm fie Abjchied und kehrte um, weil fie zum Morgen—
brod wieder daheim jein mußte. Wally ftieg die Höhe hinan und ſchaute Hin-
unter auf den Weg, wo die Alte Hinjchritt umd in die Schürze weinte, und e3
wurde ihr beinahe jelbjt weich um's Herz. Die Ludard war doch immer qut
mit ihr gewejen, wenn fie auch alt und ſchwach war, jie hatte Wally wenigftens
lieb gehabt. Da drehte ſich die Alte unten auf dem Wege noch einmal um
und deutete nach oben. Wally folgte der Richtung ihres Fingerzeigs und ieh,
da jegelte etwas an der Bergwand Hin durch die Luft, ſchwerfällig, unficher,
wie ein Bapierdrache, dem der Wind fehlt — immer nur ein Stück weit fliegend,
dann niederfallend und ſich mühſam wieder aufraffend. Der Geier war ihr
mit feinen geftußten Flügeln den ganzen Weg jo mühſelig nachgeflattert. Jetzt
ſchien ihm aber die Kraft auszugehen, er Humpelte nur no, mit den Flügeln
Ichlagend, weiter.
„Hansl — o mein Hansl — mie hab’ J Dich vergeffen könne!“ rief
Wally und jprang wie eine Gemje von Stein zu Stein, den kürzeſten Weg
zurüc, da3 treue Thier zu holen. Die Lucdard blieb ftehen, bis+Wally den
Saumpfad wieder gewann, und begrüßte fie noch einmal, wie nad) einer langen
Trennung. Endlich war Hanzl erreiht, und Wally nahm ihn in ihre Arme
und drücte ihn an ihr Herz, wie ein Kind. — Seit gejtern Abend hatte fie
den Vogel in ihren Gedanken mit Joſeph jo veriwoben, daß er ihr falt war
wie ein ftummer Vermittler zwilchen ihr und ihm, oder wie wenn fi
Joſeph in den Geier verwandelt habe und fie halte ihn in den Armen, wenn
Deutſche Rundichau. 7, 4.
18 Deutihe Rundſchau.
fie den Vogel halte. Wie ſich der inbrünftige Glaube feine ſichtbaren Sym-
bole jhafft, um das unerreihbar Ferne fi nahzubringen, das Unfaßbare
zu faffen, und wie ihm ein hölzerne Kreuz und ein gemaltes Heiligenbild
wunderthätig wird, jo Schafft ſich auch die inbrünftige Liebe ihre Symbolif,
an die fie ſich klammert, wenn ihr der Geliebte unerreihbar fern ift, und fo
ihöpfte Wally aus dem Vogel eine wunderbare Tröftung „Komm Hansl,“
fagte fie zärtlih, „Du gehſt mit mir hinauf auf den Ferner. Wir zwei trennen
un nimmer!“
„Aber Kind,“ ſagte die Ludard, „Du kannſt doch den Geier nit mit da
'nauf nehmen, er müßt’ ja verhungern; Du haft da droben fein Fleiſch, und fo
ein Viech frißt ja nir anders.“
„Du haft Recht,“ jagte Wally betrübt, „aber J kann mid) von dem Thier
nit trennen, % muß doc) etwas haben da droben in der Einöde. Und % kann
auch das Thier nit allein z'Haus lafjen, wer thät’ denn d’rauf achten und für
ihn jorgen, wenn J nit da wär'.“
„D, wegen dem jei nur ruhig,“ rief Ludard, „Y will Schon für ihn forgen !“
„Sa, aber Dir folgt er nit,“ meinte Wally, „Du wirft nit mit ihm fertig
werden.“
„Ad, J bitt! Dich,“ ſagte die Ludard harmlos, „J hab’ Dich jo Yang’
g'hütet — J werd’ auch den Geier hüten können! Gieb ihn nur her, J will
ihn heimtragen.“ Und jie nahm Wally friſchweg den Geier vom Arm. Aber
da war’ gefehlt, denn das herrliche Thier jehte fich zur Wehre und hackte jo
zornig nad) Ludard, daß dieje ihn erichroden fahren ließ. An ein Mitnehmen
war nicht mehr zu denken.
„Sieht!“ jubelte Wally, „er geht nit von mir, J muß ihn ſchon behalten,
werd's wie’3 will! J bin ja nun einmal die Geier-Wally, jo will I's auch
bleiben. O, mein Hanjel, jo lang’ wir zwei beiſammen find, hat’3 feine Noth!
Weißt was, Luckard, J laſſ' ihm jet die Flügel wachen, er fliegt mir doch
nit mehr fort, und dann kann er ſich dort oben jein Futter jelber juchen.“
„sn Gottes Namen, jo nimm ihn mit. J ſchick“ Dir dann mit'm Hanb-
bub noch was Friſches und was G'ſelchtes 'rauf, das kannſt ihm für den
Anfang geben, bis er weiter fliegen Tan.“ Und jo war e3 denn entjchieden;
Wally nahm den Vogel unter den Arm wie ein Huhn und trennte fi) von
Ludard, die auf3 Neue zu weinen anfing. Nun ging e3 ohne Aufenthalt
wieder den Berg hinan, dem Klettenmaier nad), der indejjen vorausgegangen war.
Nach zwei Stunden erreichte fie Bent, das letzte Dorf am Eingang in die
GEiswelt. Sie erftieg die Anhöhe über Vent. Hier begann der Weg auf
da3 Hochjoch. Sie blieb nod einmal ſtehen und ſchaute, an ihren Bergftod
gelehnt, hinab auf das ftille, Halb noch traumumfangene Dorf und hinüber
nad dem Wildfee und den leten Käufern des Debthals, den Rofener Höfen,
die faft am Fuße des immer vor- und rückwärts jchreitenden Hochvernagtferners
lagen und troßig zu jagen fchienen: „Zertritt uns!“ wie Wally gejtern zu
ihrem Water gejagt. Und wie ihr Vater, jo 309 aud der Hochvernagt immer
wieder feinen mächtigen Fuß zurüd, als könne er es nicht über jich gewinnen,
die Burg feiner braven Alpenjöhne, der „Klötze von Rofen“, zu zerjtören. Und
Die Geier:Wally. 19
wie fie jo daftand und hinabſchaute auf die legten Menjchenwohnungen, bevor
fie hinaufftieg in die Wildniß über den Wolfen, da Hub e3 drunten auf dem
Kichthurm von Vent an, zur Frühmette zu läuten. Aus der Thür des Kleinen
Pfarrhauſes, wo die Knospen der Bergnelfen am Fenſter im Morgenwind
nidten, trat der Gaplan und ging mit gefaltenen Händen jeiner Amtspflicht
nah in die Kirche. Da und dort thaten die Holzhütten ihre jchlaftrunfenen
Augen auf und eine Geftalt nach der andern trat heraus, ftredfte jich und jchritt
mälig der Kirche zu.
Sorglih, feinen Ton verlierend, trugen windbeflügelte Engel da3 Fromme
Geläut durch die Morgendämmerung hinauf auf die Berge, daß es an Wally’s
Ohr Klang wie eine betende Kinderjtimme. Und wie ein Kind die Mutter auf-
wert mit feinem ſüßen Lallen, fo ſchien das Geläut von Bent die Sonne geweckt
zu haben; fie that ihr Weltenauge auf, und die Strahlen ihres erjten Blickes
ichoffen empor über die Gebirge, ein unermeßliches Flammenbüjchel, das die
Häupter im Oſten frönte. Das dichte Dämmergrau am Himmel verklärte ji)
plötzlich durhfichtig blau, immer mächtiger breitete jih’3 aus, das Strahlen-
ſchießen über alle Himmel, und da ftieg fie endlih empor über die twolfen-
verhüllien Gipfel in ihrer vollen Pracht und wandte ihr- Flammenangeficht
liebend der Erde zu. Und die Berge ftreiften die Nebelhüllen ab und badeten
die nadten Formen in Strömen von Licht. Tief unten in den Schlünden
wallte und wogte e3 auf und nieder, als hätten fi) alle Wolfen von dem
reinen Himmel dort hinabgejentt. Oben in den Lüften jaufte e8 wie wilde
Jubelhymnen, und die Erde weinte Thränen jeligjten Erwachens, wie die Braut
am Hochzeitsmorgen. Und wie die Thräne an den Wimpern der Braut, To
zitterte der Frühthau wonnig an Halmen und Büfchen. Freude über allen
Gefilden, oben auf den Bergen, wo der blendende Strahl fich in dem weit—
Ihauenden Auge der Gemſe jpiegelte, unten im Thal, wo die Lerdhe ſich zwit—
ſchernd aus dem Saatfeld aufſchwang!
Trunken ſchaute Wally in die erwachende Welt hinein, und ihr Auge ver-
mochte e3 faum in den engen Rahmen zu faſſen, das weite, leuchtende Bild in
feiner keuſchen Morgenſchöne. Der Geier auf ihrer Schulter Lüftete wie grüßend
und jehnjüchtig jeine breiten Schwingen der Sonne zu. Unten in Vent wurde
es indeljen lebendig. Wally konnte in dem grellen Morgenlicht Alles unter-
ſcheiden. Die Buben küßten am Brunnen die Mädels. Aus den Häufern
wirbelte weißer Rauch auf, jpurlos verſchwindend in der heitern Frühlingsluft —
wie jih auch in der glüdlichen Seele ein trüber Gedanke in Nichts auflöft.
Auf dem Pla vor der Kirche verfammelten jih die Männer in jonntäglich
zeinen Hemdärmeln, die Pfeifen mit dem Silberbeihläg im Mund. Es war
Pfingſtmontag, wo Alles feierte und ſich freute. O heiliges Pfingftfeft! Sold)
ein Tag mußte e3 gewejen jein, da der Geijt des Seren ſich herabſenkte auf
die Jünger und fie verflärte mit dem göttlichen Lichtftrahl, daß fie Hingingen
in alle Welt und predigten das Evangelium der Liebe — predigten e3 den
warmen offenen Frühlingsherzen, und im Frühling der Erde brach auch der
Menschheit Frühling an — die Religion der Liebe! Nur für das Mädchen da
droben auf dem Berg gab es feine Pfingjten, feine Offenbarung der Liebe.
20 Deutſche Rundſchau.
Kein beredter Mund hatte ihm das Evangelium lebendig gemacht. Ein ftarrer
Buchftabe war es ihm geblieben, ein blindes Samenkorn, dem der warme Strahl
gefehlt, der e3 aufgehen ließ in feinem Herzen. Ihm ſenkte ſich feine Friedens—
taube aus dem tiefblauen Himmel herab — der Raubvogel auf feiner Schulter
war ihm der einzige Liebesbote! — —
Endlich raffte ji Wally aus ihrem traumhaften Schauen auf. Noch einen
Abſchiedsblick jandte fie in die Iuftigen lauten Dörfer hinab — dann wandte
fie fi) und ftieg den ftillen Schneegefilden des Hochjochs zu — in die Ber-
bannung!
IV.
Das Kind Murzoll’s.
Fünf Stunden war Wally geftiegen, bald über ganze Felder duftiger Alpen-
fräuter, bald über fußtiefe Schneefelder und breite Moränen hin. Die durch—
wachte Nacht lag ihr lähmend in den Gliedern, und faft verzagte fie, das Ziel
ihrer „Fahrt“ zu erreihen. Hände und Füße zitterten ihr, denn fünf Stunden
mit ſolch einem tüdijchen Berg um fein Leben fämpfen — ift eine harte Arbeit.
Schwere Tropfen perlten auf Wally's Stirn, da plößlich wie mit einem Zauber—
ſchlage ftand fie vor einer Wolkenwand. Sie war um eine Felſenecke gebogen,
die fi) vor die Sonne geſchoben hatte, und nun umfing fie dichter Nebel und
ein eifiger Hauch trodnete ihr den Schweiß von der Stirn. Ihre Fühe rutichten
bei jedem Schritt, jo jpiegelglatt war hier der Boden. Sie ftand auf Eis. Sie
hatte den Murzoll-Gletſcher betreten, die höchſte Zade des Hochjochkamms.
Hier wuchs nur noch dürftiges Berggras zwiſchen Geröll und Schnee hervor,
ringsum bläulich ſchimmerndes Eisgeflüft, reine, die8 Jahr noch von feinem
Menſchen- oder Thierfuß beſchmutzte Schneeflächen, tiefer Winter. Fröſtelnd
Ichauderte Wally zuſammen. Dies war der Vorhof zur Eisburg Murzoll's, von
der im Debthal jo viele Sagen gehen, two die „ſaligen“ (jeligen) Fräulein haufen,
von denen die Ludard der Kleinen Waly an langen Winterabenden erzählt,
wenn der Schneefturm um das Haus heulte. Es wehte fie faft geſpenſtiſch an
aus biejen öden Eismauern, Höhlen und Berliegen, wie alte Schauer der Kind—
heit, al3 wohne hier wirklich der finftre Gletjchergeift, mit dem die Ludard fie
jo oft zu Bett geſchreckt, wenn fie widerſpenſtig war.
Lautlos jchritt fie weiter. Endlich machte der taube Führer Halt bei einer
niederen Hütte, von Steinen erbaut, mit weitüberhängendem Dad, einer ftarfen
Thür von rohem Holz und kleinen Lucken, ftatt der Fenſter. Darin waren ein
paar geihwärzte Steine al3 Herd und eine Lagerftätte aus altem verfaulten
Stroh. Das war die Hütte des Schnalfer Hirten, der ſonſt hier gehütet hatte,
und die nun Wally bewohnen ſollte. Wally verzog feine Miene, al3 fie die
troftloje Behauſung jah; es war eben eine jchlechte Alphütte, wie e& viele gab,
und fie war ja hart gewöhnt. Solche Dinge waren e3 nicht, die ihren troßigen
Muth erichütterten. Aber fie war erſchöpft zum Umſinken, fie Hatte feit geftern
mehr durchgemacht, als jelbft ihre ungewöhnliche Kraft ertragen konnte. Mecha—
nich half fie dem Tauben, dem Ludard eine Menge Nöthiges und Gutes für
Die Geier-Wally. 21
Wally aufgepackt, eine beſſere Lagerſtätte bereiten, ſich in der öden Hütte etwas
wohnlicher einzurichten. Mechaniſch aß ſie mit ihm von dem, was Luckard ihr
mitgegeben. Der Mann ſah, daß ſie blaß war, und ſagte mitleidig: „So, jetzt
wär's 'geſſen, jetzt leg' Dich ein Biſſel nieder und ſchlaf', Du haſt's nöthig.
J will Dir von da drunten derweil Holz 'rauf tragen für die nächſten Täg';
nachher muß J aber wieder umkehren, ſonſt komm' J nimmer bei Tag heim,
und Dein Vater hat's ſtreng befohlen, daß J heut wieder z'ruck komm'.“ Gr
ſchüttelte ihr einen guten Strohſack auf, den er mitgeſchleppt, und ſie ſank mit
halb geſchloſſenen Augen darauf nieder und reichte ihm dankbar die Hand.
„J will Dich nit wecken,“ ſagte er. „Wenn's D' etwa noch ſchlafen thät'ſt,
warn J ging, ſag' J Dir jetzt glei Adjes! Bleib g'ſund und fürcht' Dich
nit. — Du dauerſt mich — da oben jo allein — aber — warum haft Dein'm
Vater nit g’folgt!”
Wally hörte die letzten Worte nur no wie im Traum. Der Taube ver:
ließ die Hütte mitleidig kopfihüttelnd,; das Mädchen jchlief bereits jet. Bang
und ſchwer hob und jenkte fich ihre Bruft, denn auch im Schlummer drückt
erfahrenes Leid wie ein Alp. Und fie träumte von ihrem Vater, ex jchleife te
an den Haaren in die Kirche. Und fie dachte immer, wenn fie nur ein Meſſer
hätte, daß fie die Haare abjchneiden könnte, dann wäre jie.frei. Da plößlic)
ftand der Joſeph neben ihr und hieb mit einem Streich die Zöpfe durch, daß
der Vater jie in der Hand behielt, und Wally lief fort, und während der Joſeph
mit dem Vater rang, ftieg Wally die Anhöhe der Sonnenplatten hinan, um
fi in die Ache hinabzuftürzen. Aber ihr graufte doch vor der Untiefe und jie
beſann fi. Da hörte fie wieder ihren Vater dicht hinter ſich, Verzweiflung
faßte fie und num that fie den Sprung. Sie fiel und fiel — aber fie fonnte
nicht zur Tiefe fommen, und plößlic) da war es, ala ſtemme fi ihr von unten
ein Luftdruck entgegen, der fie nicht hinunter ließe, jondern fie höbe und empor-
trüge. So jchwebte fie auf, immer kämpfend um da3 Gleichgewicht, das fie
bejtändig zu verlieren fürchtete, bi3 zu dem Gipfel Murzoll’3. Aber jie konnte
nicht Fuß fallen auf dem Felſen, wie ein Schiff, das nicht anlegen fann. Ein
furchtbarer Wirbelwind hatte fie erfaßt, und fie mühte fich vergebens, ſich an
der nadten Wand anzuklammern. Schwarze Gewitterwolfen ballten ſich um
fie zufammen, durch die geſpenſtiſch bleich der ſchneeige Scheitel de3 Berges
hindurd) ragte. Feurige Schlangen durchfuhren die ſchwarze Maſſe um fie her
und ein Donnerichlag krachte, daß der Berg erdröhnte, und fie wurde wirbelnd
zwijchen diefen Gewalten hin- und hergejchleudert, und fie hatte nur immer die
Angſt, daß der Sturm fie umkehre, denn fie fühlte, daß, wenn fie mit dem
Kopf nad) unten käme, fie in die Tiefe ftürzen müſſe. Und fie bog ſich und
wand fi wie ein Schifflein auf den jchaufelnden Luftwellen und mühte ſich
ab, den Kopf oben zu behalten. Aber da hob es ihr die Füße auf und fie
fühlte, wie die Schwere des Kopfes abwärt3 wuchtete. Sie wollte in den Sturm
und den Donner und die ſchwarze Wolkennacht hinein um Hülfe jchreien, aber
fie brachte feinen Ton heraus, das Entſetzen ſchnürte ihr den Hals zu. Da
plötzlich ward fie gehalten, fie fühlte fejten Grund, fie lag in einer Bergſchlucht,
wie fie meinte, aber e8 war feine Schludt — es waren riefige fteinerne Arme,
22 Deutiche Rundſchau.
die fie umfingen, und fiehe, aus dem gelichteten Gewölk heraus bog fi ein
mächtige Antlit von Stein über fie. Es war das greife Antlig Murzoll's.
Seine Haare waren bejchneite Wichten, jeine Augen Eis, fein Bart war Moos
und die Brauen waren Edelweiß. Auf feiner Stirn ftand als Diadem die
Mondesſichel und ergoß ihren milden Schein iiber das weiße Angeficht, und
die großen Augen von Ei3 leuchteten geifterhaft in dem bläulichen Licht. Und
er Ihaute das Mädchen an mit diefen Falten, durchſichtigen und doch unergründ-
lichen Augen, und unter diefem Blick gefroren ihr die Tropfen des Angitichweißes
auf der Stirn und die Thränen auf der Wange und fielen leije klirrend wie
Kryftallperlen herab. Und er drückte die fteinernen Lippen auf die ihren und
unter dem langen Kuß wuchſen Alpenrojen um feinen Mund, der warm und
thaufeucht getworden, und al3 er Wally wieder anſchaute, da rannen Gleticher-
bäche au3 jeinen eifigen Augen in den Moosbart hinein. Die ſchwarzen Wolken
hatten fi) verzogen und ein Frühlingswehen ging durch die Naht. Und nun
regte Murzoll die aufgethauten Lippen und es klang wie das dumpfe Rollen
in’s Thal ftürzender Lawinen: „Dein Vater hat Dich verſtoßen — ih nehme
Did auf an Kindesftatt, denn das falte Geftein fühlt eher ein Rühren als ein
verhärtetes Menſchenherz. Du gefällft mir, Du bift von meiner Art, es ift
etwas von dem Stoff in Dir, aus dem die Felſen geworden. Willft Du mein
Kind ſein?“
„J will!” ſagte Wally und jchmiegte fi) an das fteinerne Herz des neuen
Vaters.
„So bleib’ bei mir und fehre nicht wieder zurück zu den Menfchen, denn
bei ihnen ift der Kampf — bei mir nur ift Friede!”
„Aber der Joſeph, den J gern hab'“, jagte Wally, „Toll % ihn niemals
haben?“
„Laſſ' ihn,“ ſagte der Berg, „Du darfſt ihn nicht Lieben, er ift ein Gems—
jäger, und meine Töchter haben ihm den Untergang geſchworen. Komm’, id)
bringe Dich zu ihnen, daß fie Dir das Herz abtödten, jonft kannſt Du nicht
leben in unſerm etwigen Frieden!” Und er trug fie durch weite, weite Hallen
und endloje Gänge von Eis hindurch, und fie famen in einen großen Saal, der
war ganz durchſichtig wie von Kryſtall, und die Sonnenftrahlen fielen herein
und brachen ſich in Millionen farbiger Funken, und durch die Wände ſchimmerten
bunt in einander verihiwommen und jeltfam verſchoben Himmel und Erbe.
Da jpielten weiße, jchneegligernde Mädchengeftalten in wallenden Nebelichleiern
mit einer Heerde Geinfen, und es war luftig anzujehen, wie fie fi) neckten mit
den jchnellfüßigen Thieren, ſich mit ihnen haſchten und Hujchten hierhin und
dorthin. Das waren die Töchter Murzoll’3, die „jeligen Fräulein“ des Oetzthals.
Und ſie ſchaarten fich neugierig um Wally, als Murzoll fie auf den glatten
Spiegel de3 Bodens niederjegte. Sie waren ſchön wie die Engel, fie hatten
Gejichter wie Milch und Blut; aber als Wally fie näher betradjtete, Jah jie
mit leiſem Grauen, daß fie Alle Augen von Ei3 hatten, wie ihr Vater, und das
Roth, das ihre Wangen und Lippen färbte, war fein Blut — jondern nur
Alpenroſenſaft, und fie waren kalt wie gefrorener Schnee.
Die Geier:Wally. 23
„Wollt Ihr Die behalten?” jagte Murzoll. „ch habe fie lieb, fie ift ſtark
und feft wie von Stein. Sie joll Eure Schweſter fein.”
„Sie ift Ihön”, jagten die Fräulein, „fie hat Gemjenaugen. Aber fie hat
warmes Blut und liebt einen Gemsjäger — wir wiſſen's!“
„So legt ihr die Hände auf’3 Herz, daß e3 einfriert mit all’ ihrer Liebe
und fie jelig jei wie Ihr,“ befahl Murzoll- .
Da eilten die Fräulein auf fie zu, daß es ſie anmwehte wie ein Schneefturm,
und ftredten die falten weißen Hände nad) ihrem Herzen aus; fie fühlte ſchon,
tie jih das zujammenzog und langjamer pochte. Da wehrte fie mit beiden
Armen die jeligen Fräulein von fi) ab und rief: „Nein, Takt mid — J will
nit jelig fein, J will den Joſeph!“
„Wenn Du wieder unter die Menjchen gehft, jo zerichmettern wir den Jo—
feph umd werfen Dich mit ihm in den Abgrund,” drohten die jeligen Fräulein,
„denn Keiner darf unter den Menjchen leben, der uns gejehen.“
„Sp werft mic) in den Abgrund, aber laßt mir meine Lieb’ im Herzen —
Alles, Alles will J erdulden, aber von meiner Lieb’ laſſ' X nit!” Und mit der
Kraft der Verzweiflung faßte Wally eines der jeligen Fräulein um den Leib
und rang mit ihr, und fiehe, da zerbradh ihr die zarte Geftalt in den Armen
und fie behielt nur riefelnden Schnee in der Hand. Das Tageslicht erloſch, plötzlich
war Alles in graue Dämmerung gehüllt, fie ſtand auf nadtem Fels, ein ſcharfer
Mind peitichte ihr Eisnadeln in's Geſicht, und ftatt der jeligen Fräulein wir-
belten weiße Nebel in wilden Tanz um fie her. Hoc über ihr blickte das
bleiche Gefiht Murzoll's finfter dur die Wolken und er donnerte fie an: „Du
lehnſt Dich auf wider Menſchen und Götter — Himmel und Erde werden Dir
Feind jein! — Weh Dir!” Und verihmwunden war Alles — Wally erwadte.
Kalt pfiff der Abendwind durch die Luden über Wally hin. Sie rieb ſich die
Augen , noch zitterte ihr das Herz in der Bruſt von dem unheimlihen Traum,
fie brauchte lang, bis fie wußte, two fie jei, bis fi) das Traumbild und die
Wirklichkeit von einander jchieden. Ein unerklärliches Grauen war in ihr zu—
rücfgeblieben und theilte ſich auch der Wirklichkeit mit. Sie ftand von ihrem
Lager auf und rief unwillkürlich nad dem Knecht. Sie trat vor die Hütte
hinaus, ihn zu juchen. Es war ein jchöner, heller Abend geworden, die Nebel
hatten fich zerjtreut, aber die Sonne war im Sinken und jcharf wehte die Luft
der Höhe. Wally eilte hierhin und dorthin nach) dem Tauben — fie fand nichts
al3 einen aufgefhichteten Stoß von Fichtenholz, den er für fie zujammen-
getragen. Da fiel ihr ein, daß er gejagt, ex werde fortgehen, wenn fie noch
ſchliefe. Es war fo, er hatte ihr Erwachen nicht abgewartet. Es war nicht
recht von ihm, fie im Schlaf zu verlaffen! So aufwachen und Niemanden mehr
finden — da3 war doch hart. E3 war jo ftill um fie her — jo öde und leer!
E3 mochte ſechs Uhr jein und Zeit zum Melken. Jetzt jchauten wohl die ver-
trauten Thiere zu Haus nad) der Stallthür, ob die Herrin nicht käme und Brod
und Salz brächte — fie aber legte hier oben die Hände in den Schooß und
um fie her regte ſich nichts weit und breit. O die Todtenftille und die Un—
thätigfeit! — Sie wußte nicht, twie ihr zu Muthe war, — fo einfam, ſo ſchrecklich
einfam! Sie ftieg weiter hinauf auf einen überragenden Vorſprung, um hinab—
24 Deutiche Rundſchau.
zufehen auf die weite Welt. Ein nie gejchautes unermeßliches Bild bot fi)
ihrem Bli im Purpur der untergehenden Sonne. Da lagen fie offen vor ihr
bi3 an den Saum des Horizontes umhergeftreut, die Gebirge Tirols, in der
Ferne immer Heiner werdend, in der Nähe erdrückend, überwältigend in ihrer
ftillen Größe und Erhabenheit. Und zwijchen ihnen ruhend wie Kinder in Vaters
Armen die blühenden Hochthäler. -Und e3 ergriff fie ein namenlojes Heimweh
nach den trauten heimathlichen Fluren, die jeßt eben vor ihrem Blick in fried-
liche Abendichatten verſanken. Die Sonne war hinabgeglitten und lieg am Saum
de3 Horizontes im violetten Gewölf xoth angelaufene Goldftreifen zurüd. Die
weiße Mondicheibe begann allmälig zu leuchten und kämpfte mit dem lebten
verfladernden Tagesſchein um die Herrſchaft. In den Thälern ward e3 Nacht.
Da und dort war e3, als ſchimmere ein Lichtlein, kaum fichtbar dem freien Auge
durch die Ferne herauf — ein Exdenftern. Jetzt gingen fie zur Ruh', die flei=
Bigen Genojfinnen dort unten. Ihnen war wohl, fie hatten Alle ein wirthlich
Dad über dem Haupt und ruhten ficher geborgen im Schooß eines trauten
Heimweſens — vielleicht laufchten fie noch ſchlaftrunken Hinter dem bunten Vor—
hänglein am Eleinen Fenſter auf das Liedel des Herzliebjten — nur fie war
einfam und ausgeftoßen hier oben, ſchutzlos preisgegeben allen Schreden, und
ihr Obdach war die unwirthliche Hütte, durch deren Lucken der Wind pfiff.
„O Vater, Vater, kannſt Du das über’3 Herz bringen?“ rief fie laut hinaus;
aber aus Nähe und Ferne anttwortete ihr nur das Braufen des Nachtwindes.
Immer höher ftieg die Mondesſcheibe, die Lichtjtreifen im Welten verloren ihren
Goldglany und ſchimmerten nur noch gelb wie Meſſing am dunkeln Abendhimmel.
Die Umriffe der Berge verfchoben und erweiterten fi in dem Zwielicht.
Drohend, übermächtig ſchaute ihr nächfter Nachbar, der gewaltige Similaun, auf
fie herab. Alle die Riefenhäupter ringsum ftierten fie feindlih an, weil fie e3
wagte, ihr nächtlich Weſen zu belaufchen. E3 war, als jeien jie alle erft jeit
Wally's Ankunft jo ruhig und ftill geworden, — wie eine Gejellichaft, die Ge—
heimes verhandelt, plößlich verftummt, wenn ein Fremder unter fie tritt. Da
ftand fie, die hülflofe Menjchengeftalt, jo allein inmitten diejer jtillen, jtarren
Eiswelt, jo unerreihbar hoch über allem Lebenden — jo fremd in der unheim—
lichen Gejellihaft von Wolken und Gletſchern, in dem entjeglichen, geheimniß—
vollen Schweigen! „Nun bift Du ganz allein auf der Welt,“ jchrie es in ihr.
Eine unnennbare Angft, die Angſt der Verlaffenheit, überfam fie. Ihr war
plößlich, al3 müfje fie verloren gehen in dem weiten, unabjehbaren Raume, und
wie hilfefuchend klammerte fie fih an die Felswand und drücdte das bang:
Elopfende Herz an das falte Geſtein. Ä
Was mit ihr vorgegangen in jener Stunde, da3 wußte fie jelbjt nicht —
aber es war, al3 habe der Stein, an den fie das junge, heiße, zagende Herz
drüdte, eine geheimnißvolle Macht über fie geübt, denn die Stunde hatte jie
hart und rauh gemacht, ala fei fie in Wahrheit das Kind Murzoll's.
Die Geier:Wally. 25
V.
Die Luckard.
Als nach etwa acht Tagen der Hirtenbub mit dem Vieh heraufkam, erſchrak
er faſt vor Wally, ſo verſtört ſah ſie aus; aber als er ihr ſagte: „Der Vater
laßt Dich fragen, ob Du's jetzt g'nug hätt'ſt da Oben und Dei Schuldigkeit
thun wollt'ſt?“ da biß ſie die Zähne zuſammen und antwortete: „Sag' dem
Vater, lieber ließ' J mich da oben ſtückweis vom Geier freſſen, als dem, der
mich da 'rauf g'jagt, noch was zu Lieb' thun!“
Das war vorderhand die letzte Botſchaft, die zwiſchen ihr und ihrem Vater
ausgetauſcht ward.
Als Wally ihre kleine Heerde um ſich hatte, die nur aus Schafen und Ziegen
beitand, denn größeres Vieh fand in diefer Höhe nicht Nahrung genug, da kam
ihr der alte Muth wieder, und die Bergwildniß verlor ihre Schreden für jie.
Sie war ja num inmitten ihrer Schüßlinge nicht mehr einſam, fie hatte wieder
etwas zu arbeiten, für etwas zu jorgen. Denn war ihr auch der Geier ein
treuer Gefährte geweſen, er konnte doch die Unthätigkeit nicht bannen, die fie
Fast zur Verzweiflung brachte und alle finfteren Gedanken über ſie Herr werden ließ.
Sp gewöhnte fie fi) allmälig an die Einjamkeit, und fie wurde ihr lieb
und traut. Das Leben mit jeinen alltäglichen Kleinen und großen Anforderungen
beengt und bejchränft jede große Natur; hier oben konnte Wally’3 unbändiger
Sinn uneingefhräntt auswuchern, hier oben war für fie volle Freiheit, fein
Menſch war da, ihr zu widerſprechen, fein fremder Wille ftellte ſich ihr ent-
gegen und als da3 einzige denfende Wejen weit und breit fühlte jie ſich allmälig
eine Königin auf ihrem einfamen hohen Throne, eine Herrjcherin in dem uner-
meßlichen ftillen Reich, das ihr Auge überichaute. Und fie blickte endlich mit
einer mitleidigen Beratung von ihrer Höhe auf das armjelige Gejchlecht herab,
das da unten im Brodem der Exde Lüftete und gierte, feilſchte und rechnete,
und ein heimlicher Abjcheu trat an die Stelle des Heimwehes. Dort unten
war der Kampf und die Qual und die Schuld. Murzoll hatte wahr geiprochen
in ihrem Traum, — bier oben in dem reinen Element von Eis und Schnee,
in der reinen Luft, die fein Rauch und fein Peſthauch zerftörten Lebens ver-
dichtete, war der Friede, die Unſchuld, hier zwiſchen den gewaltigen, ruhigen
Formen der Gebirge, die jie Anfangs erjchrect hatten, war ihr die Ahnung
de3 Grhabenen aufgegangen und ihr Sinn hatte ji) daran emporgehoben weit
über da3 gewöhnlide Maß hinaus. Nur Einer von allen den niedrigen Erden—
bewohnern dort unten blieb ihr lieb, ſchön und groß nad) wie vor. Es war
Joſeph der Bärentödter, der Sanct Georg ihres Traumes. Lebte er doch aud)
wie fie mehr auf den Höhen, al3 in der Tiefe, hatte ex doch alle die hHimmelan-
tragenden Spiben beftiegen, auf die ſich fein Anderer wagte, holte er doch die
Gemje vom jteiljten Felſen herab und gab es für ihn weder in der Höhe noch
in der Tiefe ein Schredniß. Er war der ſtärkſte, der muthigfte Mann, wie fie
da3 ſtärkſte, das muthigfte Mädel! In ganz Tirol war ihm fein Mädel eben-
bürtig wie jie — in ganz Tirol war fein Mann ihr ebenbürtig wie er. Sie
gehörten zu einander, fie twaren zwei Bergriefen — mit dem Kleinen Geſchlecht
der Tiefe hatten fie nicht3 gemein.
26 Deutſche Rundſchau.
So lebte ſie in ihrer Einſamkeit nur für ihn und wartete des Tages, wo
ſich die Verheißung erfüllen werde. Kommen mußte dieſer Tag — und da
ſie deſſen gewiß war, verlor ſie die Geduld nicht.
So ging der Sommer herum und der Winter ſtieg zu Thale und ſie ſollte
nun bald mit ſeinen wilden Vorboten, dem Sturm und dem Schnee hinabziehen
in die entfremdete Heimath. — Ihr bangte vor dem Gedanken. Sie hätte ſich
lieber hier oben in die tiefſte Eisſpalte verkrochen und ihr Daſein gefriſtet wie
die wilde Bärin, als wieder hinabzuſteigen in den Qualm und das Geplärr
der niederen Spinnſtube und mit dem grollenden Vater, dem verabſcheuten
Freier und dem ſchadenfrohen Geſinde eingekeilt zu ſein in die engen Räume des
Hauſes, gefangen hinter fußhohen Wällen von Schnee, aus denen oft wochenlang
kein Entkommen möglich war.
Je näher die Zeit rückte, deſto ſchwerer wurde ihr um's Herz, deſto ver—
zweiflungsvoller lehnte ſie ſich gegen den Gedanken dieſer Gefangenſchaft auf.
Aber die Zeit verſtrich, ohne daß Jemand fie zu holen kam. Es ſchien, als habe
man jie da drunten vergeffen. Immer fälter und winterlicher wurde e3 da oben,
die Tage immer kürzer, die Nächte immer länger, zwei Schafe kamen im Schnee-
fturm um, die Thiere fanden bald feine Nahrung mehr und die Zeit, wo das
Vieh ſonſt heimzieht, war vorüber. „Sie wollen und da oben verhungern
laſſen“, jagte Wally zu dem Geier, indem fie da3 letzte Stüd Käfe mit ihm
theilte, und ein heimliches Grauen wandelte fie an; das junge gefunde Leben
fträubte fi in ihr gegen den jchredlichen Gedanken. Was jollte fie thun? die
Heerde im Stich laffen und allein den Heimweg ſuchen, daß die unſchuldigen
Thiere elend zu Grunde gingen? Nein, das that die Wally nicht, die ftand
und fiel wie ein guter Feldherr mit ihrer Truppe! Oder jollte fie ſich mit
fammt der Heerde aufmachen und, de3 Weges unfundig, wie fie war, auf dem
überjchneiten Ferner herumirren, um endlic die Thiere eind nach) dem anderen
in Eis und Schnee „verlahnen” oder in Felsſpalten ftürzen zu jehen? Auch das
war unmöglid. Sie fonnte nichts thun ala warten! —
Da endlich — an einem düftern Herbitmorgen, wo man vor Nebel die
Hand vor den Augen nicht jah, die Kleine Heerde zitternd vor Froſt ji in ihrem
Pferch zufammendrängte und Wally ſtarr vor Kälte am Herdfeuer ſaß — da er-
Ichien der Handbub, der Wally heimholen jollte. Und wie ihr auch gegraut
hatte bei dem Gedanken, hier oben langjam mit ihren Thieren zu verhungern,
jo wandelte fie jetzt doch wieder da3 ganze unverhehlte Entfegen vor der Heim-
fehr an — und fie wußte nicht, welches Nebel das größere ſei: bei ihrem rauhen
Dater Murzoll zu Grunde zu gehen oder zu ihrem wirklichen Water zurück—
fehren zu müflen.
Da unterbrady der Handbub da3 Schweigen: „Der Vater laßt Dir jagen,
Du dürft’ft ihm nur vor d’ Augen fomme, wannſt D’ thun wollt’ft, was er
verlangt, wennſt aber noch kei Vernunft annehme wollt’ft, jo müßteft bei die
Kuhmägd’ bleiben im Stall — in’3 Haus dirfft D’ nit eini, das hab’ er
g'ſchworen!“ „Um jo beſſer!“ jagte Wally aufathmend, und der Bub ſah fie
verwundert ar.
Jetzt ging fie leichten Herzens hinunter, fie war nun des Zuſammenſeins
Die Geier-Wally. 97
mit den verhaßten Menjchen überhoben und konnte für fi) in Scheune und Stall
leben, — was der Bater ihr zur Strafe ausſann, wurde ihr zur MWohlthat.
Nun konnte fie ganz ungeftört ihren Gedanken nachhängen und, wenn e3 fie nad)
Zuſpruch verlangte, hatte fie ja die Luckard, die es fo gut mit ihr meinte. Ya,
fie hatte erjt in der Einjamfeit da oben einjehen gelernt, was ſolch ein treues
Herz werth war, und das konnte ihr der Vater nicht nehmen.
Haft heiter ging fie jet an's Werk, um fich zur Heimfahrt zu rüften. Nun
ihr die Angjt vor dem twidrigen Zufammenleben mit dem Vater genommen war,
dachte jie mit ftiller Fyreude an den Jubel der Alten, wenn ihr Pflegefind wieder
zurüdfäme. Es war doch Jemand, der ſich auf fie freute, dort unten, und das
that ihr wohl.
„Komm, Hanjel,“ jagte fie, nachdem fie Alles zujammengepadt, zum Geier,
der mit aufgeblajenen Federn verdroſſen am Herd ſaß — „jetzt geht's abi zur
Luckard!“
„Die Luckard iſt aber nimmer z' Haus,“ ſagte der Handbub.
„Was, wo iſt fie?” frug Wally faſt erſchrocken.
„Der Höchſtbauer hat ſ' fortg'jagt.“
„Fortg'jagt — die Luckard!“ ſchrie Wally auf: „Was hat's da geb'n?“
„Sie hat ſich halt nit vertragen mit 'n Gellner-Vincenz, und der gilt jetzt
Alles bei'n Höchſtbauern“, berichtete gleichgültig der Bub und huckelte pfeifend
die Kraxen mit Wally's Sachen auf. Wally war blaß geworden: „Und wo is
fie jeßt?“
„Bei der alten Annemiedel in Winterftall.“
„Wann i8 das g'ſchehn?“
„D jo vor a Wochener zehne. — Die hat amol g'ſchrauen! Und faft gar
nit laufen hat j’ könnt, jo iS ihr der Schroden in d’ Knie g’fahren. Der
Klettenmaier und der Nazzi haben j’ halten g’müßt, daß j’ nit umg’fallen is.
's ganze Dorf is "rum g’standen und hat zug'ſchaut, wie ſie's 'nausg’führt haben.“
Wally hatte regungslos zugehört, das braune Geſicht war fahl getworden
und ihre Bruft arbeitete heftig. Als der Bub geendet hatte, ri fie den Hirtenftab
von der Wand, ſchwang fich den Geier auf die Schulter und jchritt hinaus.
„Dad vorwärts!” herrjchte fie mit rauher Stimme den Buben an, und
ihnell war die Kleine Heerde gefammelt, da3 Milchgeſchirr aufgepadt und der
Zug jeßte fi in Bewegung. Wally jprad) fein Wort. Eine furchtbare Span—
nung war in ihren Zügen: die Lippen zujammengepreßt, eine drohende Fyalte,
die an ihren Vater erinnerte, zwiſchen den dichten Brauen, jo 309 fie mit mäch—
tigen Schritten der Heerde voran und ihr feiter Fuß drückte tiefe Spuren in
den Schnee. Immer ſchneller ging fie, je weiter fie hinabjtiegen, fo daß der
Bub mit der Heerde kaum nachkam, und wo es zu ſteil war, ftieß fie die eijerne
Spitze ihres Stabes in’3 Geftein und ſchwang fich mit gewaltigen Sprüngen
hinab, daß nur der Geier in der Luft ihr über Klüfte und Felsipalten weg
folgen konnte. Hirt und Heerde verihtwanden oft im Nebel hinter ihr. Dann
blieb fie ftehen und wartete einen Augenblid, bis fie wieder fihtbar wurden
und ber Bub ihr die Richtung des Weges angab, und weiter ging’3 ohne Raft
und Ruhe, als handle ſich's um ein Mtenjchenleben.
28 Deutſche Rundichau.
Endlich war die Schneeregion überjhritten und Bent lag zu Wally’3 Füßen
wie vor ſechs Monden, wo fie heraufgeftiegen, aber diesmal nicht im Glanz der
Maiſonne, jondern trübe, herbftlich todt und kalt. Der Handbub erklärte, in
Dent müßte geraftet werden. Wally weigerte fi, aber der Handbub meinte,
da3 hieße Menjch und Vieh jchinden, wenn man nicht eine halbe Stunde ruhe.
„Wegen meiner,“ jagte Wally, „jo bleib’ — J geh’ voraus. Jebt kann J ja
den Weg nimmer fehlen. Wenn fie Dich fragen, wo % jei, wenn D’ heim-
kommſt, jo jag’ nur, zur Qudard ſei J'gange!“ Und weiter jchritt fie, um—
rauſcht von den Flügelſchlägen des treuen Hanfel, der jet fliegen konnte, wie
er wollte, denn Wally beijchnitt ihm die Schwingen nicht mehr. Jetzt war fie
an der Stelle, wo die alte Luckard ihr bei der „Auffahrt“ Lebwohl gelagt und
umgefehrt war. „Die alte Luckard!“ Wally jah fie noch ganz deutlich, wie fie
dahinging und in die Schürze weinte, und jie jah ihre braunen, Enochigen Arme,
wie fie ihr noch einmal zuwinkten, und jah die filbernen Locken, die ihr immer
aus der Haube hervorhingen, im Winde flattern. Sie war in Ehren und
Treuen grau geworden im Stromminger’schen Haus, und nun Schande auf dies
weiße Haupt! And Wally hatte fich jo leicht von ihr getrennt und ihr ’3 Weinen
verboten und ſich ungeduldig losgeriſſen, da die Alte fie in ihrem Schmerz nicht
aus den Armen laſſen wollte, und feine Ahnung Hatte ihr gejagt, welchem
Schickſal fie die ſchutzloſe Magd entgegenfandte mit dem kargen Abſchiedsgruß,
und daß Ludard Schimpf und Schmach erleiden würde um ihretwillen! Wally
lief und lief, als könne jie die Luckard, wie fie vor ſechs Monden hier ging, noch
einholen, und troß des Herbitfroftes ftand ihr der Schweiß auf der Stirn, der
Schweiß beflügelter Eile, eine ſchwere Schuld der Dankbarkeit abzutragen. —
Und eine heiße Thräne perlte ihr im Auge, das immer die Alte mit ihrem
ftillen Weinen vor ſich herichreiten jah. Sie ging jo langjam, die Ludard, und
Wally jo ſchnell, und doch blieben fie immer gleich weit aus einander und Wally
fonnte jie nicht einholen.
Einen Augenblid mußte Wally Athem ſchöpfen und ausruhen. Sie wiichte
ih den Schweiß von der Stirn und die Thränen aus den Augen; dann trieb
es fie wieder umerbittlic) weiter. „Wart’ nur, Luckard — wart’ nur, J komm'!“
murmelte jie athemlos vor ſich hin, wie zu ihrer eigenen Beruhigung!
Endlich) tauchte der Kirhthurm von Heiligkreuz vor ihr auf und von da
führte ein jchtwindelnder Steg hoch über die Ache nad) einer einfamen Häufer-
gruppe auf der andern Seite der Schludt. E3 war das Dertchen „Winterftall”,
wo Ludard zu Haufe war. Hinter den Häujern von Heiligkreuz bog Wally ab
und überjchritt die leichte Brücke, unter der die wilde Ache braufte und ſchäumte,
al3 wolle fie ihren zornigen Giſcht hinaufiprißen bis zu dem troßigen Mädchen,
da3 jo unbekümmert in die jchauerliche Tiefe niederblidte, als gäbe e3 feine
Gefahr und feinen Schwindel auf der Welt. Die Brüde war überjchritten,
noch ein fteiles Stüd Weg! aufwärts und da — endlid) war es erreicht, das
Ziel, nad) dem fie mit pochendem Herzen gejtrebt, fie war in Winterftall —
. und dort gleich linf3 am Wege lag die Hütte der alten Annemiedel, der Baje
Luckards, mit Kleinen, unter dem überhangenden Strohdach verjtedten Fenſtern.
Dahinter jaß die Alte gewiß und jpann, wie fie immer zur Winterszeit that,
Die Geier-Wally. 29
und Wally that einen tiefen Athemzug aus erleichtertem Herzen. Sie hatte die
Hütte erreicht, und ehe fie Hineintrat, ſchaute fie Lächelnd durch das blinde niedere
Fenſter nach Ludard. Doch es war Niemand in der Stube, es jah öde und
unmwohnlic) aus und ein abgezogenes Bett ftand unordentlich aufgejchichtet da.
Ein rauchgeſchwärzter hölzerner Chriftus ſpannte am Kreuz feine Arme darüber
aus, ein Stückchen Trauerflor und ein verftaubter Rautenkranz hing daran. Es
war ein unbehaglicher Anblid, und Wally war dabei auf einmal alle Freude
vergangen. Sie jeßte den Geier auf ein Geländer, Klinfte die Thür auf und
trat in den engen Flur. An deſſen Ende ftand die Kleine Küche offen, wo ein
Kleines Neifigfener auf dem Herde qualmte. Es wirthichaftete Jemand in der
Küche herum. Das war gewiß die Ludard, und Elopfenden Herzens trat
Wally hinein.
Die Bas ſtand am Herd und ſchnitt ſich Brod zur Suppe ein; weiter war
Niemand da.
„Ad, mein Gott, die Stromminger-Wally“, jchrie die Alte und ließ vor
Stammen das Mefjer in die Schüffel fallen — „oh mein Gott — wie Schad’!”
„Wo ift die Luckard?“ frug Wally.
„Zodt is fie! O mein Gott und Bater, wärft nur drei Tage früher fomme —
geftern hab'n merſ' begraben!“
Wally lehnte fich mit gefchloffenen Augen ftumm an den Thürpfoften, kein
Laut verrieth, was in ihr vorging.
„Ah das 138 Schad,” fuhr die Alte redjelig fort, „die Luckard hat g’meint,
fie könnt’ nit fterben, wenn fie Dich nit noch g’jehn hätt’ — und Du biſt aud)
in die Karten immer daher g’ftanden, und Tag und Nacht hat's g'horcht, ob
D’ nit fimmft. Und wie's naher 'n Tod g’jpürt hat, da hat's g’jagt: „Set
muß J doch fterb’'n und hab’ des Kind nimmer g’jeh'n!” Und da hab’ J ihr
noch emol ihre Karten geb’n müſſ'n und da hat's noch im ZTodesfampf die
Karten für Dich leg'n wollen, aber ’3 i8 nimmer ’gange, die Händ’ hab'n ihr
zittert auf der Bettdeden, über amol ſagt's „N fieh nie mehr” — und ſtreckt
fih und hat ausg'ſchnauft.“
Wally ſchlug die Hände vor’3 Gefiht — aber noch immer fam fein Wort
über ihre Lippen. „Kumm eini in d’ Stuben,” jagte die Alte gutmüthig. „J
hab’ gar nimme nein mög'n, feit’3 mer die Luckard 'naus tragen hab’n. J bin
au immer jo alleinig, und da war J fo froh, wie die Bas fimma is und hat
g’jagt, fie wollt jet bei mix bleiben. J hab's bald g’merft, daß j’ die Schand’
nit lang’ überlebt. Sie hat’3 alleweil auf'm Magen g’habt und faft gar nir
mehr eſſen könnt und ganze Nächt' hab’ 3 ’3 weine g’hört, — da is fie halt
immer ſchwächer und kränker wor'n — bis ſ' g’jtorben is.“
Die Alte hatte das Zimmer geöffnet, in das Wally vorher geblict, und te
traten ein. Ein Schwarm herbitmatter Fliegen ſummte verftört auf. In der
Ecke ftand Luckard's altes Spinnrädchen fteif und ftill, und das leere abgezogene
Bett jchaute fie jo traurig an.
Aus einem MWandkäftchen, auf dem die Schwarze Muttergottes von Alten-
ötting gemalt war, nahm die Bas ein vergriffenes Spiel deutjcher Karten. „Da,
ichau’, das G'ſpiel hab’ J Dir aufg’poben, hab’ ja g’wußt, daß D' kimmſt,
30 Deutſche Rundſchau.
's hat alleweil in die Karten g'ſtanden. Das jan wahre Hexenkarten, und jo
ein G'ſpiel, wo der Todesſchweiß von an G’ftorbenen d’ran hangt, das i3 doppelt
gut. J woaß nit, was Dir für a Ung'mach g'ſchicht, aber die Luckard Hat alle-
weil 'n Kopf g’ihüttelt und gar derjchroden d’reing’ichaut. G'ſagt hat's mir
nit, was j’ g’jehen hat, aber Gut’3 muß 's nir g’wejen fein.“
Sie gab Wally die Karten, diefe nahm fie ſtill und ftedte fie in
die Taſche. Die Bas wunderte ſich, daß ihr der Tod Ludard’s'fo wenig nahe
ging, daß fie jo ruhig war und nicht einmal eine Thräne vergoß. „J muß
'naus. J hab’ mei Bannadelfuppen am Teuer,“ jagte fie, „gelt, Du machſt bei
mir Mittag?“
„sa, ja,” jagte Wally dumpf, „geht nur, Bas, und laßt mi a Bifjel aus—
ruh'n, J bin gar g’iprunge vom Hochjoch "runter.”
Die Alte ging kopfihüttelnd hinaus: „Wenn die Ludard des g'wußt hätt’,
was de3 für a hartherzig’3 Ding is!“
Kaum war Wally allein, da verriegelte fie hinter der Bas die Thür und
ſank vor dem leeren Bett auf die Kniee. Sie zog die Karten aus der Tajche,
legte fie vor fih hin und faltete die Hände darüber wie über einer heiligen Re-
liquie. „Ob, ob,” ſchrie fie nun plögli in ausbrechendem Schmerz: „Du haft
jterben müfjen und J war nit bei Dir! Und Du haft mir mei Lebtag nir als
Lieb’3 und Gut’3 than — und % — J hab’ Dir's nie g’lohnt. Luckard, alte
liebe Luckard — Hörft denn nit? Seht bin J ja da — umd jebt is ’3 z’jpät!
Sie hab’n mi aber au droben g’lafjen, jo lang’ wie mer kein'n Viehbub droben
laßt — wa3 Bosheit, daß J no recht frieren und mürb' werden jollt’. Und zwei
Stüdeln Vieh hat’3 mi jchon ’Eoft’ und Dich au derzu, Du arme brave Magd!“
Plötzlich jprang fie auf und die rothgeweinten Augen leuchteten fieberhaft;
fie ballte frampfhaft die braunen Fäufte: „Aber wartet nur, Ihr da drüben —
Ahr Schinder, wenn J komm’! % will Euch lehren, unjchuldige hülflofe Leut’
von Haus und Hof jagen. So wahr Gott lebt, Ludard, Du jollft’3 hören in
dein Grab 'nein, wie J für Dich einfteh’!”
Ihr Auge fiel auf den Chriftus über dem Bett der Todten. „Und Du,
Du laßt auch Alles geh'n, wie's geht — und hilfit Keim, wenn er fich nit
jelber hilft,“ grollte fie im Ungeftüm ihres Schmerzes zu dem ſtillen geduldigen
Gott empor, den fie nimmer verjtehen konnte. Sie war furdtbar in ihrem
gerechten Zorn. Alles, was von der unbeugjamen Natur des Vaters in ihr
lag, hatte fi) dort oben in der Wildniß feſſellos entfaltet und das edle große
Herz, das nur die reinjten Impulſe kannte, trieb, ohne es zu ahnen, verderblid)
fiedendes Blut durch ihre Adern.
Sie raffte ihre Heiligthümer zuſammen, die Karten, worauf der Finger der
Sterbenden mit Todesſchweiß die lebte Liebesbotichaft geichrieben, dann trat
fie hinaus und ging in die Küche zur Bas.
„s will jet wieder weiter geh'n, Bas,“ Jagte jie gefaßter. „J bitt! Euch
nur, jagt mir, wie denn Alles ganga i3 mit der Luckard und dem Höchſtbauer,“ —
fie nannte ihn nicht mehr ‚Vater‘. —
Die Bas hatte eben die Suppe in eine hölzerne Schüffel angerichtet und
nöthigte Wally, mitzuefjen. „Weißt,“ jagte jie, während Wally aß, „der Bincenz,
Die Geier-Wally. 31
der verſteht's gar gut mit Dei'm Vater und hat 'm völlig 's Neujahr abg'wonnen.
Der Stromminger hat ſeit dem Sommer 'n offenen Fuß und kann nit laufen.
Da hockt der Vincenz alle Abend bei ihm und vertreibt ihm die Zeit mit Karten—
ſpielen und laßt 'n alleweil g'winne — er denkt, er kriegt's doch amol
wieder, wenn er Dich Friegt! Der Alte kann ſchier gar nimmer leben ohne den
Vincenz, und jo hat er ihm halt z'nach und z'nach die ganze Aufficht übergeb’n,
weil er mit jei'm kranken Fuß nimmer jelber nachgeh'n kann. Nett meint der
Bincenz, der Höchſthof g’hör ihm ſcho halber, und wirthſchaft't d’rauf rum, wie
er mag. Da jan halt die Händel mit der Ludard an ’gange, denn die Ludard,
die hat Halt immer nad) 'm Rechten jehen woll’n, wie ſie's g’wohnt war, und
der Bincenz bat ihr Alles aus die Händ’ g'nomme und fie hat gar nir mehr
ſag'n dürf'n. Nachher wie er g’jehen hat, dat jich die Ludard gar abhärmt, da
hat er amol zu ihr g’jagt, er woll’ fie ſchon wirthichaften laſſen, wie wenn fie
die Bäuerin wär und er woll’ aud ein Aug’ zudrüden, wenn fie fi) auf d’
Seit’ brächt', To viel fie möcht’, wenn fie 'm num helfen wollt’, daß er Dich
frieget, denn er will’ ſchon, daß fie Alles über Dich vermöcht'. — Und da is
halt die Ludard grob wor'n: Sie hab’ ihr Lebtag nir g’ftohlen, jagt ſ', und
werd’3 au jet auf ihre alten Täg’ nit anfange — fie woll’ nir, ala was fie
fi) ehrlich verdienet, und an Mann, der ihr jo was Schlecht's nachſehen thät’,
den thät’ fie der Wally jchon gar nit recomediren, hat j’ g’jagt. Was thut der
Ruch? Geht hin zum Stromminger und verklagt die Bas. Er hab’ ſich jetzt
überzeugt, jagt er, daß ’3 nur die Ludard fei, die Dich gegen ihn und Dein’
Batern aufg’stift’t hätt’. Und fie ſei Schuld an Dei'm Ung’horfam, Hat er
g'ſagt, weil ſie's Heft in der Hand b’halten wollt’. Und ſo is 's halt kimme.
Und weißt, des hat ihr 's Herz brochen, daß ma jo was von ihr glaubt hat,
wo doc kei wahr's Wort d’ran war. Des thut ei'm weh, wenn ei'm jo Un—
recht g'ſchicht. Gelt — fie hat nie was zu Dir g’jagt, Du ſollſt Dei'm Vatern
nit folgen?“
„Rie, nie — im Gegentheil, fie war a demüthige, b’icheidene Magd und
hat in nir d’rein g’red’t, was fie nir an’gange hat,“ jagte Wally und wieder
wurden ihr die brennenden Augen feucht. Sie wandte das Geſicht ab und ftand
auf. „B’hüet Gott, Bas, J kimm ſchon amol wieder!“ Sie nahm ihren Stab
und Hut, rief ihrem Geier und jchritt rajch der Heimath zu.
VI
Ein Tag in der Heimath.
Als Wally über den Steg zurüdging, ſchwindelte ihr. Jetzt exft fühlte fie,
wie ihr das Blut im Kopf war. Die mildere Luft hier unten erichien ihr gegen
die dünne Eisluft auf dem Ferner Schwer und beflemmend, der Vogel, der ſich
bei der Bewegung des Gehens wadelnd auf ihrer Schulter fejtkrallte, Alles war
ihr quälend, unleidlid. So fam fie endlich in ihrem heimischen Dorf an. Sie
mußte es durchſchreiten, um zum lebten Haus, zum Höchſthof, zu gelangen.
Alle Dörfler, die gerade mit dem Eſſen fertig waren, ftedten die Köpfe zum
Fenſter hinaus und zeigten mit den Yingern nad) ihr. „Da ſchaut's die Geier-
32 Deutiche Rundſchau.
mwally! Haft endli ’runter dürft? Und Dein Geier haft au wieder mitbracht,
jeid’3 nit mit einander derfroren? Dein Alter hat di ſchön zappeln laſſ'n da
droben!“ „Zeig’, wie Ihauft aus? No braun und fchüech bift wor'n wie a
Schnaljer Hirt!” „Etſch, etſch! Gelt jetzt bift zahm wor'n, da droben — ja,
ja, jo geht’3, wenn mer fein’ Vatern nit folgt!“
Sp regnete e3 ſchadenfrohe Redensarten um fie her, daß fie die Augen zu
Boden jentte, und eine brennende Röthe der Scham und Bitterkeit bededite ihre
Stirm. Beihimpft, verhöhnt — jo 309 das ftolze Kind des Höchjftbauern wieder
in die Heimath ein. Und das Alles — warum? Ein unverföhnlider Haß
wucherte in ihr auf und das war jchlimmer als Zorn, denn der Zorn kann ſich
beruhigen, aber der ächte, aus verbittertem, mißhandeltem Herzen ertwachjene
Haß Ichlägt jeine Wurzeln durch das ganze Sein, er ift eine ftille fortgejegte
That ohnmächtiger Rache.
Schweigend ſtieg Wally die Anhöhe hinter dem Dorfe hinan, von der ſtolz
der Höchſthof herniederjah.
Niemand bemerkte ihre Ankunft, als der taube Klettenmaier, der unter
dem Holzſchuppen im Hofe Brennholz für den Wintervorrath |paltete; die An-
dern waren alle auf dem Feld.
„Grüß di Gott!“ ſagte ev und lüftete vor feinem Herrenkind das Käppchen.
Sie jeßte ihre Bürde, den ſchweren Hanjel, zur Erde und gab dem Alten
die Hand.
„Aber gelt? die Ludard!” fagte er.
Wally nidte.
„a, ja,“ fuhr er fort, ohne jedoch mit der Arbeit innezuhalten, „wenn der
Vincenz 'n Haß auf Eins hat, da ruht ex nit, bis er's nausg'ſchunden hat!
Mi hätt’ er au gern weg, weil er jcho g’merft hat, daß J zur Ludard g'halten
hab’ und er meint halt, wann Steiner mehr auf 'm Hof wär’, der Dir Hilft,
nacher wärſt nit jo troßig. Und weil er mir jonft nix anhab’n Tann, jo laßt
er mi die härtefte Arbeit thun. Jetzt muaß J alle Tag’ 'n Wagen voll Holz
Hein machen. J ann jchon bald nimma. Weißt, J bin jechsundfiebenzig Jahr’
alt und heut i3 der dritte Tag. Aber das gerad’ möcht’ er, daß er nacher ’n
Stromminger jagen könnt’, J jei zu nix mehr 3’ brauchen, oder daß J don jelber
gingt, warn % ’3 nimma aushalten könnt’. Aber two ſoll J no hin in mei’m
Alter? J muß es aushalten!“
Wally hatte der Rede des Alten mit düſterem Blick zugehört. Jetzt ging
ſie raſch in's Haus, um für den alten Mann Brod und Wein zu holen. Aber
die Vorrathskammer war verſchloſſen, ebenſo der Keller. Wally ging in die
Küche. Das Herz that ihr weh — hier war die eigentliche Heimath der Luckard
geweſen, ſie meinte, die Alte müſſe ihr entgegenkommen und fragen: „Wie iſt
Dir's 'gange — was möcht'ſt — was kann J Dir z' Lieb thun?“ — aber das
war vorbei. Eine fremde, robuſte Magd ſaß am Herd und ſchälte Kartoffeln.
„Wo ſind die Schlüſſel?“ frug Wally.
„Was für Schlüſſel?“
„Zur Speiſ'kammer und zum Keller!“
Die Magd ſah Wally frech an: „Hoho, nur ſtaad — wer biſt dann Du?“
Die Geier-Wally. 33
„Das wirft Dir wohl. denken können,“ jagte Wally ſtolz, „J bin die
Haustochter!“
„Haha!“ lachte die Magd — „da mach' nur, daß D' aus der Kuchel kommſt.
Der Stromminger hat verboten, daß D' ihm's Haus betrittſt. Nüber g’hörft
in d’ Scheuer, da i3 Dei Kammer, verftehft mi?“
Wally wurde bleid wie der Tod. Alſo jo — fo follte es ihr in ihres
Vater Haufe gehen? Die Wallburga Strommingerin jollte unter die lebte
Magd ihres eigenen Erbhofs geftellt jein? E3 war nicht nur, um fie aus der
Nähe des Vaters zu verbannen, es war darauf abgejehen, fie durch entehrende
Demüthigung zu beugen? Und das der Wally — der Geierwally, von der ihr
Vater einft ſtolz gefagt hatte, ein Mädel, wie fie, jei mehr werth, ala zehn Buben! —
„Sieb mir die Schlüffel!” befahl fie mit ftarfer Stimme.
„Haha — das wär’ noch jchöner. Der Stromminger hat g'ſagt, wir ſoll'n
Di halten wie a Futtermagd — und von die Schlüffel i3 gar kei Red’, % hab’
die Auffiht im Haus und geb’ nir her, ala was der Bauer erlaubt.“
„Die Schlüffel!” ſchrie Wally in ausbrechendem Zorn, „A befehl’ Dir's!“
„Du haft mir gar nix 3’ befehl'n — weißt? % bin beim Stromminger in
Dienft und nit bei Dir. Und in der Kuchel bin J Herr, verftebft? So will’s
der Stromminger! Und wenn der Stromminger jei eignes Kind jchlechter
haltet al3 und Mägd’ — jo wird er ſchon mifjen, warum!“
Wally trat dicht vor die Dirne hin, ihre Augen flammten, um ihren Mund
zudte es — der Dirne wurde e3 unheimlich. Aber nur einen Augenblick fämpfte
Wally, dann fiegte ihr Stolz, — mit der elenden Magd hatte fie nichts zu
ihaffen. — Sie ging hinaus. Ihre Pulfe hHämmerten, e3 flimmerte ihr vor
den Augen, ihre Bruft hob und jenkte fich Feuchend — es war zu viel, was
heute über fie hereinbrach. Wie eine Nahtwandlerin jchritt fie über den Hof,
nahm dem alten Mann, der vor Anftrengung zitterte, das Holzbeil aus der
Hand und führte ihn zu einer Bank, daß er ſich ausruhe. Der Klettenmaier
wehrte ſich rechtichaffen, er durfte ja die Arbeit nicht ausjeßen, aber Wally be-
deutete ihn, jie wolle für ihn arbeiten.
„So ſegn' Dir's Gott, Du haft a qut’3 Herz!“ ſagte der Mann und jeßte fid)
müde auf die Bank. Wally trat unter den Schuppen und jpaltete mit wud)-
tigen Streichen die ſchweren Sceiter. So zornig ſchwang fie das Beil, daß es
fich bei jedem Streich durch das Holz durch tief in den Hadkloß einhieb. Der
Klettenmaier jah ihr verwundert zu, wie ihr’3 von Händen ging, beifer ala
einem Knecht. Und er freute fi) daran, er hatte ja das Kind auch jeit jeiner
Geburt jo aufwachſen jehen und hatte e8 gern in feiner Art. Da jah Wally
von Weiten die verhaßte Geftalt des Vincenz fommen und hielt unwillkürlich
mit der Arbeit inne. Vincenz jah fie nit. Er fam hinter dem Klettenmaier her
und ftand plößlich dicht vor dem Erichrodenen. Wally beobachtete ihn drin im
Schuppen. Er padte den Knecht beim Wamms und riß ihn in die Höhe: „Holla!“
ihrie er ihm in's Ohr, „is das g’arbeit’t? Du fauler Troddel Du — jo oft J
fomm’, ſitz'ſt cum und thuft nie — jeßt hab Y 3 g'nug! J will Dir Füeß
mach'n!“ Und er gab ihm mit dem Knie einen Stoß, daß der zittrige alte
Mann weithin auf das Steinpflafter des Hofes fiel.
Deutiche Rundſchau. I, 4. 3
34 Deutihe Rundichau.
„D Bauer, helft mir auf,“ bat der Knecht; aber Vincenz hatte einen Prügel
ergriffen und holte aus: „Wart' nur — Du follft glei jehen, wie ma fauli
Knecht’ aufhilft!” In diefem Augenblid jpürte Vincenz einen Schlag auf dem
Kopf, daß er laut aufichrie und zurücdtaumelte. „Jeſus, was ift das?” Lallte
er und ſank auf die Bank.
„Daß ift die Geierwally!“ antwortete ihm eine vor Grimm bebende Stimme,
und Wally ftand vor ihm, das Holzbeil in der Hand, mit bleichen Lippen und
ftieren Augen, nach Luft ringend, ala erſticke fie der Schlag ihres wildpochenden
Herzens. „Haft’3 g'ſpürt?“ ftieß fie mit langen Unterbredungen athemlos heraus —
„haſt's g’ipürt, wie’3 thut, wenn ma Schläg’ kriegt? J will Did) lehren, mein’n
alten treuen Knecht jchinden. Die Ludard haft mir Schon unter'n Boden "bracht
und jet willft’3 mit dem armen Klettenmaier auch jo machen? Nein, eh’ J
jo an Unfug leid’, fted’ J mei eigen’3 Erbgut in Brand und räuchr Dich 'naus,
tie ma d’ Füchs ausbrennt!“ Sie hatte während deffen dem Klettenmaier auf-
geholfen und führte ihn zur Scheuer: „Geh' 'nein, Klettenmaier, und erhol’
Dich,“ befahl fie ihm. „J will's!“
Klettenmaier gehorchte, er fühlte, daß fie in diefem Augenblid Herr war.
Aber unter der Thür machte er fi) von ihr los und ſagte kopfſchüttelnd: „Geh',
Wally — das Hättft nit thun joll’n, — geh’, ſchau' nad 'm Vincenz, % mein’,
Du haſt'n ſchwer 'troffen.“
Sie ließ den Alten und trat wieder hinaus. Vincenz war ganz ftill, Sie
warf einen jcheuen Bli auf ihn. Er hatte das Bewußtſein verloren und lag
ausgeſtreckt auf der Bank; das Blut tropfte ihm vom Kopf herab in den Sand.
Raſch entichloffen ging Wally in die Küche und rief der Magd zu: „Komm’
raus, bring’ Ejjig und a Tüchel und Hilf mir.“
„Halt ſchon wieder was z' kommedir'n?“ lachte die Dirn’ laut auf, ohne
ih vom Fleck zu rühren.
„3 it nit für mich,” jagte Wally mit einem unheimlich) böfen Blick und
nahm jelbjt die Eſſigflaſche vom Sims — „der Vincenz liegt draußen — J hab’
ihn g’ichlagen.“
„Jeſus Maria!” Freiichte die Magd auf — und ftatt dem Vincenz zu Hülfe
zu eilen, rannte jie im Haus und Hof herum und jchrie: „Zu Hilf’, die Wally
hat'n Vincenz derſchlag'n!“
Von allen Seiten widerhallte der Schreckensruf und klang weiter bis in's
Dorf und Alles lief zuſammen.
Wally hatte ſich indeſſen den Klettenmaier zum Beiſtand geholt und wuſch
den Ohnmächtigen mit Eſſig und Waſſer. Sie begriff nicht, wie die Wunde ſo
ſchlimm ſein konnte. Sie hatte nicht mit der Schärfe, nur mit der Rückſeite
des Beils geichlagen, aber der Strei war mit einer Kraft geführt, von der
fie jelbft nichts wußte. Der jo lang verhaltene Grimm in ihr hatte fi in
dem einen Schlag entladen, daß es jchmetterte wie vorher beim Holzipalten.
„Was ift da g'ſcheh'n?“ dröhnte eine Stimme Wally in’3 Ohr, bei der ihr
das Blut ſtockte — ihr Vater hatte fih am Krückſtock herausgeichleppt. „Was
iſt da g'ſcheh'n?“ tönte es aus zwanzig, dreißig Kehlen nad) einander, und der
Hof füllte ji mit Menjchen.
Die Geier-Wally. — IIVE IR er T B
„ri
Wally ſchwieg. ZW 3%
Ein dumpfe3 Summen entitand um fie ber, Alles drängte ſich ;
taftete, bejchaute den Lebloſen. „Is er todt?“ — „muß er jterben?“
„Wie is das ganga?“
„Hat's die Wally 'than?“ jcholl es herüber und hinüber.
Sie ftand da, ala höre und jehe fie nicht, und legte dem Verwundeten einen
Verband an.
„Kannft nit reden mehr?“ donnerte fie jet ihr Vater an. „Wally, mas
haft g'macht?“
„Ihr jeht’3 ja!“ war die kurze Antwort.
„Sie g'ſteht's ein!” ſchrieen Alle wild durcheinander: „Jeſus, die Frechheit!“
„Du Galgendbrut Du!” jchrie Stromminger. „So fommft von da droben
"runter in's Vaterhaus?“
Wally ſchlug bei dem Wort Vaterhaus eine bittre Lache auf und ſah ihn
mit einem durchbohrenden Blick an.
„Lach auch noch!“ ſchrie Stromminger. „J hab' g'meint, Du ſollſt Dich
beſſern da droben und jetzt biſt kaum eine Viertelſtund' z' Haus, jetzt ſtellſt
ſchon wieder Unheil an?“
„Jetzt regt er ſich,“ rief eines der Weiber, „er lebt noch!“
„Tragt ihn in's Haus und legt ihn auf mei Bett!“ befahl Stromminger
und machte Platz an der Küchenthür, wo er lehnte. Zwei Männer hoben Vin—
cenz auf und trugen ihn hinein.
„Wenn wir nur 'n Deetor hätten!“ jammerten die Weiber und folgten
dem Kranken in die Stube nach.
„Hätten wir nur die Luckard noch, da brauchten wir kein'n Doctor,“ meinten
ein paar Männer, „die hat für Alles was g'wußt.“
„So ſoll man ſie holen,“ befahl Stromminger — „auf der Stell' ſoll ſie
kommen
Wieder ſchlug Wally eine Lache auf: „Ja, die —— gelt, Stromminger,
jetzt möcht'ſt ſie wieder haben? Jetzt holt fie Euch auf 'm Gott'sacker!“
Die Leute ſchauten fie betroffen an — „Is fie todt?“ frug Stromminger.
„Ja, vor drei Tagen is ſie g'ſtorb'n; das Herzeleid hat ſie umbracht, das
Ihr ihr an'than habt. Siehſt, Stromminger, das g'ſchieht Dir recht — und
wenn der da drin ſtirbt, weil Niemand da is, der 'was vom Curiren verſteht,
ſo g'ſchieht's ihm auch recht — das hat er an der Luckard verdient!“
Jetzt erhob ſich ein Tumult — es war zu arg. „Nach jo einer Uebelthat
auch noch ſo reden und ſagen, 's g'ſchäh' ihm recht, ſtatt daß ſie's reuen ſollt'!
Da is ja kei Menſch ſeines Lebens mehr ſicher! Und der Stromminger ſteht
dabei und laßt ſie reden und ſagt kein Wort? Das is a ſchöner Vater!“ So
ging es hin und her, während Wally mit unterſchlagenen Armen trotzig unter
der Küchenthür ſtand und auf Stromminger blickte, der von ihrem Vorwurf
unwillkürlich betroffen war. Jetzt aber kam ihm die Wuth doppelt, und ſich
auf ſeinem Krückſtock aufrichtend rief er in die Menge: „J will Euch zeigen,
was J für ein Vater bin. Packt fie und bindet ſie!“
3*
36 Deutiche Rundſchau.
„a, ja,” jchrieen die Leute durcheinander, „bindet jie, jo Eine g’hört unter
Schloß und Riegel — aufs G'richt muß fie — die Mörderin!“
Wally ftieß einen dumpfen Schrei aus bei dem Wort „Mörderin” und
wich in die Küche zurüd.
„Halt!“ ſchrie Stromminger, „auf’3 G’richt laß J mei Tochter nit jchleppen
— meint hr, J will die Schmad) erleben, daß dem Höchſtbauer jein Kind in's
Zuchthaus kommt? Kennt Ihr den Stromminger nimmer? Brauch' % einen
G'richtshof, um ein ung’rathenes Kind zu züchtigen? Der Stromminger ift
fich jelber Manns g’nug, und auf mei'm Grund und Boden bin J mei eigene
G'richtsbarkeit! J will Euch jchon zeigen, wer der Stromminger iS, wenn
% aud) lahm bin. In'n Keller jperr’ ich fie und laß fie nit eher "raus, ala bis
ihr der Trotz ’brocdhen is und fie mir vor Euch Allen auf die Kniee nachruticht!
Ihr Habt’3 Alle g’hört, und wenn J nit Wort halt‘, jo fönnt’3 mid) 'n Hunds=
futt heißen!“
„Heiliger Gott, haft denn fein Einjehen mehr?” jchrie Wally auf. „Nein,
nein, Vater, nit einjperren! Um Gotteswillen nit einperren! — Jagt mich
fort, ſchickt mic 'nauf aufn Murzoll und laßt mich droben einjchneien! —
Verhungern will 5%, erfrieren will 3 — aber unter freiem Himmel! — Wenn
Ihr mich ein}perrt, giebt’3 ein Unglück!“
„Aha, möcht’ft wieder 'naus, a Landftreicherin werd'n, das g’fiel Dir befjer?
Nir da! Ich war bis jetzt mur z' ſchwach gegen Dih! Du bleibjt hinter Schloß
und Riegel, bis D’ mid) und den Vincenz auf die Kniee um Verzeihung bitt'ſt.“
„Vater, das hilft bei mir nie — eh’ J das thät’, eher wollt’ Jim Steller
vermodern, das könntet's jchon jelber willen. Laßt's mi fort, Vater, oder —
% ſag's Euch noch einmal, 's giebt ein Unglück!“
„Jetzt is 's g’nug g'ſchwätzt — tie fteht Ihr da? Was b'ſinnts Euch?
Soll J ihr ſelber nachſpringe mit meim lahme Fuaß? Packt fie, — aber feſt, —
denn was a Strommingerbluat is, das zwingt noch Eurer Zehne! Halt't's Euch dran!”
Die Burſchen, gereizt durch dieſen Spott, drangen in die Küche ein: „Die
woll'n wir gleich hab'n!“ höhnten ſie.
Aber Wally ſprang mit einem Satz an den Herd und riß brennende Scheite
aus dem Teuer: „Dem Erſten, der mich anrührt, verſeng' J Haut und Haar!”
ichrie fie und ftand da wie der Erzengel mit dem Flammenſchwert.
Alle wichen zurüd.
„Schämt Euch!“ ſchrie Stromminger, „Ihr Alle mit einander werd't doch
das eine Mädel zwingen. Schlagt's ihr die Bränd' mit Stecken aus der Hand,”
befahl ex fiebernd vor Zorn, denn jet war es Ehrenſache fir ihn, vor dem
ganzen Dorf feiner Tochter Herr zu werden. Einige liefen und holten Stöde —
e3 war eine Jagd wie auf ein reißendes Thier, und zum reigenden Thier war
auch Wally geworden. Die Augen blutunterlaufen, den Angſtſchweiß auf der
Stirn, die weißen Zähne zuſammenknirſchend, jo wehrte fie ſich gegen die Meute,
wehrte ji), ohne zu denken und zu überlegen, wie die Thiere der Wildniß, um
ihre Freiheit — ihr Lebenselement. Jetzt ſchlugen ſie mit Stöden nad) den
Bränden in ihrer Hand — ihrer einzigen Waffe — da jchleuderte jie die Brände
in die Menge hinein, daß dieje jchreiend auseinander wich, und immer neue riß
Die Geier-Wally. 37
fie aus dem Herd und warf fie wie feurige Geſchoſſe den Angreifern an den
Kopf. Der Aufruhr wuchs.
„Waſſer her!“ ſchrie Stromminger, „holt doch Waſſer, löſcht ihr das Feuer aus!“
Das war das Letzte; geihah dies, jo war Wally verloren. Ein Augenblic
und da3 Waſſer war da — Berzweiflung faßte das Mädchen. Da fam ihr
ein Gedanke — ein furchtbarer, verzweifelter Gedanke — aber da war feine Zeit
zum Erwägen, der Gedanke war That, eh’ er ausgedacht — und ein brennendes
Sceit in der Hand ſchwingend ftürzte fie fich pfeilichnell durch die Meute hin—
aus auf den Hof und jchleuderte den Brand mit gewaltigem Wurf auf den Heu-
boden mitten in das Heu und Stroh hinein!
Gin Schrei des Entſetzens!
„Jetzt Licht!” ſchrie Wally und flog über den Hof und zum Thor hinaus
und weiter und weiter, indefjen Alles auf dem Hof heulend und tobend zum
Löſchen eilte, denn ſchon jchlug die Lohe wirbelnd durch da3 Dad).
Mit der auffteigenden Rauchſäule hob jich Freifchend ein dunkler Gegenftand
vom Dad) empor, wie aus dem Teuer geboren, Freifte ein paar mal hoch in der
Luft darüber hin und flog dann der Richtung zu, die Wally genommen.
Wally hörte Geräufch hinter fih — ſie glaubte, es ſeien die Verfolger, fie
lief blindlings weiter. Es war Naht geworden, aber es wollte nicht dunfel
werden — ein heller Schein zitterte um fie her, daß man fie weithin jehen mußte.
Sie ftieg eine ſchroffe Felskante hinan, von der fie den Weg überblicken konnte, —
aber nun jah fie, daß ihr Verfolger durch die Luft kam. — Sie hatte erreicht,
was jie gewollt, Niemand dachte mehr daran, ihr nachzulaufen; den Hof zu retten,
war dringendere Arbeit, und alle Hände halfen dabei. Jetzt hatte der Geier fie
eingeholt und prallte im Schuß an fie an, daß er jie faft vom Felſen ſtieß.
Sie drückte das Thier an die Bruft und ſank erichöpft zu Boden. Mit ver-
ſchwommenem Blick jchaute fie in den Feuerſchein, der fern aufleiichtete und von
den dunfeln Bergeshäuptern ringsum widerftrahlte. Mit gluthrothem, zornigem
Angefiht ſchaute ihre That fie an, drohend, überwältigend. Bon allen Kirch—
thürmen aus den Ortihaften Klang dumpfes Sturmgeläut herüber und die
Gloden jummten ganz deutlid: „Mordbrenner, Mordbrenner!” Aber das furcht—
bare Lied jang ihr Bewußtfein in Schlaf — eine Ohnmacht breitete wohl-
thätige Schleier über die gehette Seele aus.
VI
Hartes Holz
Tiefe Naht umgab Wally, al3 fie die Augen wieder aufihlug; exlojchen
war der Feuerſchein, verftummt das Geläut, in der Schlucht tief unten donnerte
eintönig die Ache und über ihrem Haupte ftand hoch am Himmel ein Stern.
Sie blidte zu ihm auf, lange regung3los auf dem Rücken liegend, und ex ſchaute
auf fie herab wie ein Blick der Verzeihung. Eine wunderbare Tröftung wehte
durch die Nacht. Ueber die fiebernde Stirn ſtrich Fühlend der Wind und fie
richtete ji) auf und begann ihre Gedanken zu jammeln. Es konnte nicht jpät
fein, der Mond war noch nicht aufgegangen. Das Teuer war aljo raſch ge—
38 Deutihe Rundſchau.
löſcht. Es mußte ja aud) jo fein, wo Alle dabei waren und augenblidlich helfen
fonnten, wie hätte da ein Brand um fich greifen können! Sie wußte nicht,
wie ihr war — Sie prüfte ſich bis auf den Grund ihrer Seele und fie konnte
fi nicht Schuldig fühlen. Sie hatte es ja nur gethan aus Nothiwehr, um die
Verfolger von ſich abzuhalten, indem fie ihnen etwas Anderes zu thun gab!
Sie wußte wohl, daß man fie nun „Mordbrennerin” nennen werde — aber
war ſie's? Sie erhob den Bli zu dem Stern über ihr. Es war, al3 ſpräche
ſie ſich jeßt zum erftenmal ganz allein mit dem lieben Gott aus, und was er
ihr jagte, war Verſöhnung. Friedlich jchaute der reine Nachthimmel auf fie
nieder, diefem Himmel zu lieb hatte ſie's ja getan. Nur unter diejer hoch—
gewölbten Sternenkuppel hatte ihre Bruft Raum, zu athmen; gefangen liegen
im dumpfen Keller ohne Luft, ohne Licht, Wochen, Monate lang, bis jie in das
Haus des verhaßten Werber3 flüchten würde und zu Spott und Schande vor
ihrem Vater auf den Knieen öffentlih Buße thun — das war mehr ala der
Tod, dad war eine Unmöglichkeit!
Das Mädchen, das ſechs Monate lang mutterjeelenallein in der rauhen
Herberge der Ferner zu Gafte war, da3 mit den wilden Gejellen, die dort haufen,
dem Sturm, dem Hagel und Regen, die Nächte durchwacht, deifen Stirn das
Teuer des Himmels gefüßt, bevor es zur Erde niederzücdte, das hoch in den
Wolken der Donner in jeiner ganzen Furchtbarkeit umtoft, bevor er jeine Kraft
in den Lüften zertheilte, das Mädchen, das faſt täglich jein Leben eingejeht,
wenn e3 über abgrundtiefe Felsſpalten wegſprang, um eine verftiegene Geis zu
retten, — da3 Mädchen konnte ſich nicht mehr fügen in die Begriffe und bie
Tyrannei des Kleinen Sinn, konnte ſich nicht knebeln lafjen wie ein Thier,
mußte ſich wehren auf Leben und Tod. Die Menfchen hatten fein Recht mehr
an ſie — fie Hatten fie hinausgeftoßen und zur Gefährtin der Elemente gemacht;
was Wunder, daß fie einen der wilden Gefährten — das Teuer — zu Hülfe
rief in dem Kampf gegen die Menfchen ?
Sie konnte ſich das Alles nicht klar machen, fie hatte nicht gelernt, über
jih jelbft nachzudenken, fie wußte niht warum? aber jie fühlte, daß Gott
nicht mit ihr rechtete, daß er von jeiner Höhe herab mit einem andern Maß
meſſe als die Menſchen, war ja aud ihr von ihrem Ferner herab Alles jo Klein
erihienen, was jie in der Tiefe für groß gehalten — wie mußte es erſt ihm
jein droben im Himmel?! — Gott allein verjtand fie — mochten fie die da
unten für eine Verbrecherin halten — Gott ſprach fie frei!
Da erhob fie ſich und jchüttelte die Laft von der Seele und war wieder bie
Alte, rüftig und zuverfichtlich, ſtark und frei.
„seht Hanjel — was fangen wir an?“ fragte fie den Geier, mit dem fie
fih in Ermangelung jeder Anſprache laut zu reden gewöhnt hatte. Hanjel ftellte
eben irgend einem nächtlichen Gewürm nad, erwiſchte e3 und verichlang e3.
„Du haft Recht,“ ſagte Wally, „unfer Brod müſſen wir ſuchen. Du haſt's
gut, Du find’ft 's überall, aber J?“ Plötzlich wurde Hanjel unruhig, flog auf
und jpähte nad) etwas in der Ferne.
Da fiel es Wally ein, daß man fie num, da das Teuer gelöjcht jei, juchen
fönne und fie weiter müſſe, jo jchnell als möglid. Aber wohin? hr eriter
Die Geier-Wally. 39
Gedanke war Sölden! Aber das Blut ftieg ihr in's Gefiht — fonnte da
nicht der Joſeph denken, fie liefe ihm nah? Und ſollte ex fie in der Schmad
und Schande jehen, arın, von zu Haus entlaufen, verpönt und verjchrien ala
„Mordbrennerin“.
Nein, jo jollte er fie nicht jehen, ex am wenigſten! Lieber laufen, ſoweit
der Himmel blau!
Und ohne ſich weiter zu befinnen, nahm fie den Geier auf die Schulter —
das einzige Hab’ und Gut, das fie beſchwerte — und ging der Richtung zu,
von der fie am Morgen gefommen — nad) Heiligfreus.
Zwei Stunden war fie gegangen, ihre Füße waren wund, fie war zum Tod
erihöpft, da tauchte der Thurm von Heiligkreuz in der Dunfelheit vor ihr auf
und, wie das Licht in einem Leuchtthurm, ſchimmerte durch die offene Gloden-
ftube der aufgehende Mond und zeigte der ziellojen Wandererin die Richtung.
Zaumelnd vor Müdigkeit jchleppte fie ſich durch das jchlafende Dorf der
Kirche zu. Dann und wann ſchlug ein Hund an, wo fie mit leifem Fuß vor-
überſchritt. Wer fie jetzt erwilchte, der mußte fie für eine Diebin halten.
Sie zitterte, als wäre ſie's wirklich. Was war aus der ftolzen Stromminger-
Wally geworden!
Hinter der Kirche war das Pfarrhaus. Neben der Thür ftand eine höl-
zerne Bank und von den Kleinen Fenſtern hing das Geftrüpp abgeblühter Berg-
nelfen aus dem hölzernen Käftchen darauf nieder. Hier wollte Wally den Tag
abwarten, der Pfarrer werde jie doch wenigftens vor Mißhandlung ſchützen.
Sie legte ſich auf die Bank, den Hanfel fette fie auf die Lehne zu ihren Häupten,
und nad) wenig Augenbliden forderte die Natur ihr Recht, fie jchlief ein. —
„Herr meines Lebens, was ift mir da für ein Findling beſcheert!“ Klang
e3 Wally in’s Ohr, und ala fie die Augen aufſchlug, war e3 heller Tag und
niemand Anderes, ald der Herr Eurator jelbjt, ftand vor ihr.
„Gelobt ſei Jeſus Chriſtus,“ fammelte Wally verlegen und fuhr mit den
Beinen von der Bank herunter.
„In Ewigkeit, Amen! Mein Kind — wie fommft Du hierher, wer bijt
Du — und was ift das für ein jeltjamer Begleiter, den Du da bei Dir haft, —
man könnte ſich faft fürchten?” jagte der geiftliche Herr freundlich lächelnd.
„Hochwürdig Gnaden,“ ſagte Wally einfah, „Jhab' was Schwer'3 aufn
G'wiſſen und möcht’ Ihne gern beiten! J heiß' Wallburg und g'hör' 'm
Stromminger vom Höchſthof auf der Sonnenplatten. J bin d’heim davon
g’laufen. Willen’ — J hab’ Händel g’habt mit 'm Gellner-Vincenz und hab'm
a Loch in 'n Kopf g’ihlag’'n und dann hab’ J mei'm Vater a Scheuer
an'zünd't — —!“
Der Pfarrer ſchlug die Hände zufammen: „Gott fteh’ uns bei — wa3 für
Geſchichten. So jung und ſchon jo bös!“
„Hochwürden — % bin jonft nit bös, g’wiß nit — J kann feiner Fliegen
nir 3 Leid thun — aber fie hab'n mir's darnach g’macht!” jagte Wally und
ſchaute den Gurator mit ihren großen, ehrlichen Augen an, daß er ihr glauben
mußte, er mochte wollen oder nicht. „Komm' herein”, ſagte er, „und erzähl’
mir, aber das Ungethüm lafj’ draußen; er meinte den Geier. Wally ſchwang
40 Deutſche Rundſchau.
den Geier in die Luft, daß er auf das Dach flog, und folgte dem Herrn in das
kleine Haus. Er ließ ſie in die Stube treten.
Da war es gar ſtill und friedlich. Im Alkoven ſtand eine rohe hölzerne
Bettſtelle mit zwei gemalten flammenden Herzen, die für den Herrn Curator
die Herzen unſeres Heilands und der Jungfrau Maria bedeuteten. Ueber dem
Bett war ein Weihwaſſerkeſſelchen von Porzellan und ein Brett mit Erbauungs—
bücdern. Im Zimmer waren nod) mehrere Schäfte mit andern Büchern und
ein altes Schreibpult, eine braune Holzbank hinter einem großen, ſchweren
Tiſch, einige Holgftühle, ein Betſchemel unter einem großen Grucifir mit einem
Kranz von Edelweiß und ein paar bunte Lithographien des Papftes und ver-
Ichiedener Heiligen. Bon der Dede herab hing ein Käfig mit einem Kreuzjchnabel.
Eine uralte Commode mit melfingenen Löwenköpfen, welche Ringe zum Auf-
ziehen der jchweren Schubladen im Maule hatten, bildete das Pradtftüd. Auf
diejer Commode waren allerhand ſchöne Dinge. Ein Heiligenichrein mit einem
geſchnitzten Heiligen, ein Glaskäftchen mit einem wächſernen Chriftusfind in roth-
jeidener Wiege, ein gläjernes Spinnrädchen und ein vergilbter fünftliher Blumen-
ſtrauß der Art, wie fie in den KHlöftern gemacht werden, in einer gelben Vaſe,
unter einer Glasglode. Ein Schächtelchen mit Kleinen bunten Mujcheln. Ein
winziges Bergwerk in einer Flaſche und als Mittelftüid ein Krippchen aus Moos
und funfelnden Glimmerfteinchen mit fein geſchnitzten Thier- und Menſchen—
figüchen. Auch an einigen ſchönen Taſſen und Kannen fehlte es nicht neben
den heiligen Gegenftänden und den Schlußftein bildeten rechts und links von
der Geburt Chriſti zwei Exhftallene Salzfäßchen. Und das Alles jo jauber ge-
halten, al3 gäbe es feinen Staub auf der Welt. Diefe Commode mit den ver-
ichiedenen funftreichen Dingen war der kindliche Altar, den der einſame Prieſter
jechstaujend Fuß hoch über dem Mteere und über der modernen Gultur dem
Gott der Schönheit errichtet hatte. Hier ftand er wohl manchmal, wenn draußen
der Schnee wirbelte und der Sturm an dem hölzernen Häuschen rüttelte, und
blickte finnend in die Eleine niedliche gedrechjelte Welt hinein, ſchüttelte lächelnd
das Haupt und jagte: „Was doch die Menjchen nicht Alles machen!“
Ganz daſſelbe dachte Wally, als ihr Blid im Vorbeigehen ſchüchtern
über die twunderhaften Sächelchen glitt. Wie reih auch ihr Vater war,
jolde Dinge hatten fih nie in fein Haus verirrt, was hätten auch die
plumpen Bauern damit anfangen jolen? In ihrem ganzen Leben hatte jie
jo etwas nicht gejehen, fie, der jchon ein Spinnrad neben ihren Senfen und
Heugabeln als der Inbegriff aller Zierlichkeit erſchien! Es war ihr ordentlich
zu Muthe, ala könne fie fi) in diefem Stübchen nicht regen, ohne etwas zu zer—
brechen, und ala müſſe fie hier ganz bejonder3 manierlich jein. Sie wollte un-
willkürlich an der Thür die ſchweren eifenbeichlagenen Bergſchuhe ausziehen, um
die glatten, mweißgejcheuerten Dielen nicht zu verderben, aber der Herr Gurator
litt es nicht, und jo trat fie denn jo leiſe auf, als fie nur konnte, und jeßte ſich
geziemend auf das äußerjte Ende der Banf, die ihr der Herr anbot. Der Geiſt—
liche ließ jein freundliches klares Auge beobachtend auf ihr ruhen und jah, daß
fie den erftaunten Blie nicht von den Zierrathen auf der Commode abwenden
konnte. Der alte Herr war ein Menjchentenner. „Du möchtet Dir wohl erſt
Die Geier-Wally. 41
meine hübſchen Sächelchen anjehen? Thu’ es, mein Kind — Du haft jonft feine
rehte Sammlung für die ernten Dinge, die wir beiprechen wollen.”
Und er führte Wally zu der geheimnißvollen Commode und erklärte ihr
Alles und erzählte ihr, wo er es her habe.
Wally traute fich nicht zu ſprechen und jah und hörte voll Ehrerbietung.
Als fie bei der Krippe al3 dem Beften und Lebten angekommen waren, fagte
der Herr Gurator: „Siehft Du, das ift Jeruſalem da hinten, und das find die
heiligen drei Könige, die zum Chriſtuskind wallfahrten — ſchau, das ift der
Stern, der fie führt, und da — da liegt das Kindlein in der Krippe und ahnt
es noch nicht, daß e3 geboren tft, um zu leiden für die Sünden der Welt. Denn
e3 kann noch nicht denken und hat feine Erinnerung mit herüber genommen aus
feiner himmlischen Heimath, dieweil der Gottesjohn eben nun ein rechtes Men—
Ihentind werden mußte, wie jedes andere, — ſonſt hätten ja die Menſchen
lagen fünnen, das jei feine Kunft, jo gut und geduldig zu fein wie Jeſus
Chriſtus, wenn man Gottes Sohn jet und göttliche Kraft habe, und einem jolchen
Vorbild könne man nicht nachahmen, wenn man ein gewöhnlicher Menſch jei.
Sie jagen das auch leider jeht noch oft genug und fündigen fort darauf hin!“
Wally jchaute das nette nadte Kindlein an mit feiner Goldpapier-Glorie, wie
e3 jo geduldig dadrin lag, und hörte die Worte des Pfarrers, und wie fie ſich
den ſtrengen finjtern „Herrgott vom Kreuz“ ala armes, hülflofes, zum Leiden
geborenes Menjchenkind dachte — da erbarmte fie feiner und es that ihr leid,
daß fie geitern an dem Todtenbett der Luckard „jo grob” mit dem armen Ge-
freuzigtern gewejen war. „Aber warıım hat er ich auch Alles g’fallen laſſen?“
ſagte fie unwillkürlich mehr zu fich jelbft, ala zu dem hochwürdigen Herrn.
„Weil er den Menjchen zeigen wollte, daß man nicht Böſes mit Böſem
vergelten und jich nicht rächen joll, denn Gott hat geſprochen: „Mein ift die
Rache!“ Wally wurde roth und jchlug die Augen nieder.
„Jetzt komm', mein Kind,“ jagte der kluge Dann, „und leg’ Deine Beichte ab!“
„De3 wird kurz beitnand’ jein, Hochwürden,“ jagte Wally. Und ehrlich,
wie jie ſtets gewejen, erzählte fie ohne jede Beſchönigung, wenn auch mit jchüch-
tern gedämpfter Stimme, wie Alles gegangen, und bald war dem Beichtiger der
ganze Zufammenhang klar. Ein getvaltiges Lebensbild hatte fich da, mit groben
Zügen hingetvorfen, vor ihm entrollt, und ihn jammerte des edeln jungen Bluts,
das da zwiſchen jchroffen Felsſpitzen und jchroffen Menſchen verwilderte!
Zange ſaß er jtill und blickte finnend vor ſich hin, als Wally geendet hatte,
Sein Blick haftete an einem alten verlefenen Bud) auf feinem Bücherſchaft an
der Wand; ein Fremder, den er gaftlich aufgenommen, hatte es ihm gejchentt.
Auf dem Einband ftand mit Golddrud: das Nibelungen-Lied. —
„Herr Pfarrer,“ jagte Wally, die das Nachdenkliche in feinen Zügen für
den Ausdruc des Vorwurfs hielt, „'s i3 halt au 3’ viel 3’ jamm’tomm’n, % hab’
halt g’rad noch den Zorn weg'n der arme Ludard im Leib g'habt und da jchlagt
der au noch den Klettenmaier! Schauen S’, J hab’ den alten Mann nit ſchlagen
jehen können, um Alles nit, und wann's no amol jo käm', 3 machet's g’rad
wieder jo! Und a Mordbrennerin bin J doch nit, wann j’ mi glei jo heißen
werd’n. Gelten S'? Wann ma a Haus am hellen Tag anzünd't, wo alle
x
42 Deutſche Rundihau.
Leut' derbei find, da Tann ja nit viel verbrenne. J hab’ mir halt nimma 3’
helfen g’wußt und da hab’ % denkt, warn ſ' löjchen müſſen, könne j’ mir nit
nachſpringe! Und wenn des a Sünd’ iS, nacher weiß nit, wie ma’3 mach'n
joll auf dera Welt, wo die Leut’ jo bös find und ei'm alles Ung'mach anthun.“
„Dan joll e8 machen wie Jeſus Chriftus: dulden und tragen!” fagte der
Geiftliche.
„Wiſſen's, Hochwürden,“ jagte Wally, „wenn der Herr Jeſus Chriftus
Alles hat mit ſich machen lafjen, jo hat er g’wuht, warum — der bat die Leut’
wa3 lehren wollen! J wüßt' aber nit, für was % ’3 thät’, denn von mir will
doch Niemand nix lernen im! ganzen Debthal! Und wenn J mi noch jo geduldig
hätt’ in 'n Keller jperren laſſ'n, 's wär ganz für nir g’wejen, — denn 's hätt’
ſich Niemand fein Beifpiel dran g’nommen, aber mid) hätt's vielleicht 3 Reben koſt't!“
Einen Augenblid bejann ſich der Pfarrer, dann richtete er feine freundlichen
überjchauenden Augen auf Wally und jchüttelte den Kopf. „Du unbändig’s
Kind, Du, möchteſt nit mit mir auch ſchon wieder Streit anfangen? Sie
haben Did arg verjtört und aufgereizt, daß Du überall Feinde und Wider-
ſpruch witterft. Komm’ nur zu Athem und merk', wo Du bift — Du bift bei
einem Diener Gottes und Gott jagt: ich bin die Liebe, das joll Dir fein bloßes
Wort fein, ich will. Dir zeigen, daß es wahr ift! Ich will Dir jagen, daß,
wenn auch alle Leute Did haſſen und verdammen, der liebe Gott Si doch
fieb hat und Dir verzeiht! Was Du bift, das haben die harten Menjchen, die
rauhen Berge und die wilden Wetter aus Dir gemacht, und da3 weiß der liebe
Gott recht wohl, denn der fieht Dir in’3 Herz und fieht, daß Dein Herz qut
und rechtichaffen ift, wie Du auch gefehlt haft. Und er weiß, daß in der Wildniß
feine Gartenblumen wachſen und daß grobe Aerte fein fein’ Bildwerk ſchnitzen.
Aber num paf auf! Findet unfer Herr und Meifter jo ein grob Schnigwerf
von bejonders gutem Holz, das ihm der Mühe werth dünkt, was Beſſeres d’raus
zu machen, jo nimmt er wohl jelber einmal das Meſſer und jchnigelt das ver-
pfuſchte Menſchenwerk zurecht, daß noch was Hübjches d’raus wird. Nun mein’
ih, Du jollft recht Acht geben, daß Du Dein Gemüth nicht noch mehr verhärteft,
denn ſchau', wenn unjer Herrgott jo ein paar Schnitt’ gethan hat, und er findet
das Holz zu hart, jo verdrießt ihn die Mühe, und er wirft die Arbeit weg.
Hab’ ja Acht, mein Kind, daß Dein Herz weich jei und nachgebe unter Gottes
bildneriihem Finger. Wenn ein harter Drud Dich unerträglich dünkt, fo jei
fügfam und denke, Du jpürft die Hand Gottes, die an Dir arbeitet. Und wenn
ein Schmerz Dir ſcharf in die Seele jchneidet, jo denke nur, es jei Gottes
Mefler, dad die Unebenheiten herausfchneidet. Verſtehſt Du mich?“
Wally nidte etwas unficher mit dem Kopf.
„Run,“ jagte der alte Herr, „ich will Dir's noch deutlicher machen. Was
möchteft Du lieber jein, ein roher Stod, mit dem man die Leute todtjchlagen
kann, und den man, wenn er morjch wird, zerbricht und verbrennt, oder jo ein
feines Heiligenfigürchen wie jenes dort, das man in ein Bildftöckchen ftellt und
andachtsvoll verehrt ?“
Seht Hatte ihn Wally begriffen und nickte lebhaft: „Ja freili — lieber jo
a Heiligenfigürl'!“
Die Geier-Wally. 48
„Run fiehft Du! Grobe Fäuſte haben einen rohen Stod aus Dir gezimmert,
aber Gottes Hand kann jo ein Heiligenbild au3 Dir fchnigen, wenn Du thuft,
was ich Dir eben ſagte.“
Wally jah den Pfarrer mit großen erftaunten Augen an, es war ihr ganz
eigen zu Muth — vergnügt und doch zum Weinen. Nach langem Schweigen
jagte fie ſchüchtern: „J weiß nit, wie des is, Jaber bei Ihne is Alles ander
ala anderswo, Herr Pfarrer! So hat no kei Menſch mit mir g’red't! Der
Herr Eurat von Sölden hat immer g’iholten und vom Teufel und unſ're
Sünden g'ſprochen, und % hab’ gar nit g’wußt, wa3 er will, denn % hab’ jel-
bigerzeit no gar nir Böſes 'than a’habt. Aber Sie reden doch mit Ein’'m, daß
ma’3 verftehen kann und — J mein’, wenn J bei Ihna bleib’n könnt' — da
wär's mir am wöhlften! Ich wollt’ g’wiß Tag und Nacht arbeiten, und mei
Stüfl Brod verdienen —!”
Der Eurator überlegte lange, dann jchüttelte er traurig den Kopf: „Das
geht nicht, Du armes Kind. Wenn ich’3 noch jo bedenke, e3 geht nicht. Wenn
ih Dir im Namen Gottes vergeben kann, vor den Menſchen darf ich's nicht.
Denn Gott fieht die Abjicht, die Menjchen jehen nur die That. Ein An-
deres iſt der Geiftliche im Beichtftuhl — ein Anderes in der Gemeinde. Im
Beihtftuhl ift er der Verkünder der Gnade — in der Gemeinde ift ex der Ver—
fünder des Geſetzes. Er muß die Menſchen aneifern durch Wort und Bei—
ipiel, da8 Gefeß zu ehren und zu halten. Denke, was würden die Leute jagen,
wenn der Pfarrer eine offenkundige Branditifterin bei fih aufnähme? Würden
fie'3 verftehen, warum ich's thäte? Niemals, fie würden nur daraus jchließen,
daß ich die Branditifter in Schuß nehme, und darauf hin fündigen. Und wenn
wir demnächit eine recht boshafte Brandlegung erlebten, jo müßte ic” mix bitter
vorwerfen, daß ich den Leuten durch meine Nachſicht gegen Dich Muth dazu ge-
madt hätte! Kannft Du da3 einjehen und es ohne Murren hinnehmen als
die undermeidlichen Folgen Deiner That?“
„Ja!“ ſagte Wally dumpf und ihre Augen rötheten ſich von verhaltenen
Ihränen. Dann ftand fie raſch auf und jagte ſchroff: „So dank’ J ſchön, Herr
Pfarrer, und wünſch' Gutenmorgen.“
„Heh! Heh!“ rief der Pfarrer, „gleich wieder oben 'naus? Was meint,
wärs nicht näher durch die Wand, al3 duch die Thür? Ich ging’ an Deiner
Stelle Tieber gleich durch die Wand!”
Wally blieb beihämt ftehen und jah zu Boden. Der alte Herr ließ mit
tomiiher Berwunderung feine Augen auf ihr ruhen: „Was wird das koften, bis
das raſche Blut gebändigt ift! Läuft man denn gleich jo fort? Sag’ id) denn,
ih wollte Dich Deinem Schickſal überlaffen, wenn id Dich nicht bei mir im
Haus behalten will? Zuerſt frühſtückſt Du mit mir, denn effen muß der Menſch,
und Gott weiß, wie lang’ Du nichts mehr gegefien haft. Dann wollen wir
weiter reden.“ Er ging an ein Schiebfenfterchen, das nad der Küche führte,
und rief der alten Magd, das Frühſtück für Drei zu richten. Dann jehte er
ſich an fein einfaches Schreibpult und jchrieb der Wally ein paar Namen von
Bauern auf, die er als brave Leute kannte.
„Schau, da haft Du ein ganzes Verzeihnig von rechtſchaffenen Männern
44 Deutiche Rundichau.
und Frauen im Debthal und Gurglerthal,“ jagte er zu Wally; „bei denen ſuch'
Dir einen Dienft. Hinten in den Bergen weiß man noch nichts von Deinem
Vergehen, und bi3 man's erfährt, kannt Du Did) ſchon als brave Magd be—
währt haben, jo daß die Leute ein Auge zudrüden. Auf mich darfſt Du Dich
nicht berufen, doch Du bift groß und ftark wie ein Mann, fie werden Dich gern
nehmen. Du kannſt tüchtig arbeiten und Dich nützlich machen, wenn Du willft.
Aber gehorhen mußt Du lernen, mußt Dich jhiden in Brauch und Ord—
nung, Jonft geht's nicht! Ich verlange nicht von Dir, daß Du zu Deinem Vater
zurückkehrſt und Dich in den Keller jperren läfjeft, denn da wäre eine unwür—
dige Strafe und würde bei Dir mehr verderben als gut machen. Ich verlange
auch nicht, daß Du den Bincenz aus Gehorjam gegen den Water heiratheft
und Dich für Dein Leben unglücklich machſt. Aber ich verlange von Dir, daß
Du Dein wildes Weſen im Dienfte braver Leute, in vernünftiger, geregelter
Thätigfeit bändigft und wieder ein brauchbares Glied der menſchlichen Geſell—
Ihaft wirft. Verſprichſt Du mir das?“
„J will’3 probir'n!“ jagte Wally in ihrer unerſchütterlichen Ehrlichkeit.
„Run, das ift Alles, was ic vorderhand von Dir verlange, denn ich weiß
wohl, daß Du mit gutem Gewiſſen nit mehr verjpredhen kannſt. Aber ver-
juche e8 mit redlihem Willen und denke immer, daß der liebe Gott zu hartes
Holz wegwirft! — Ich will heute noch zu Deinem Vater gehen und ihm in’s
Gewiſſen reden, daß er Dir verzeiht und fi mit Dir ausjöhnt, oder Dich
wenigſtens nicht weiter verfolgt. Gieb mir bald Bericht, wo Du bift, daß ich
Dir Schreiben kann, wie die Dinge ftehen.“
Die Mariann brachte das Frühſtück, und der Pfarrer ſprach das Morgen—
gebet. Auch Wally faltete andächtig die Hände und bat aus tieffter Seele den
lieben Gott, er möge ihr doch Helfen, gut und brav zu werden; es war ihr Jo
heiliger Ernſt damit, fie wäre ja jo gern gut und brav gewejen, wenn jie nur
gewußt hätte, wie ſie's machen jollte.
Als das Gebet zu Ende war, ſetzten ſich alle Drei, jie und der Herr Pfarrer
und die Mariann, zum Frühftüd. Aber faum hatten fie begonnen, da erhob
fi) draußen ein Lärm: „Ein Geier! — Schaut’3 da auf'm Dad) den Geier! —
Schießt's 'n "runter, Bür’n her!”
„Jeſus, mein Hanſel,“ jchrie Wally, fprang auf und wollte zur Thür hinaus.
„Halt!” rief der Pfarrer, „was willft Du — Du fannft jet nicht hinaus;
willſt Du Did unnöthig preisgeben, wo jeden Augenblid die Leute Deines
Vaters kommen können, Dich zu holen?”
„Mein’n Geier laſſ' J nit am Stich, werd’3 wie's woll',“ rief Wally, und
mit einem Sprung war fie zur Thür hinaus.
Der Pfarrer folgte ihr kopfſchüttelnd.
„Der Geier ift zahm,“ — ſchrie jie den Leuten zu, „er g’hört mir, laßt'n
gehen!“
„Aber jo a Vieh laßt ma doch nit jo rumfliegen,“ murrten die Leute,
„Hat er Euch a Schaf g’holt, oder a Kind?” fragte Wally troßig.
„Rein!“
„Ro alſo — laßt mi ung’shoren mit mei'm Vogel!“ jagte das Mädchen
Die Geier-Mally. 45
und ftand jo ftolz und herausfordernd da, daß die Leute fie erftaunt anjahen.
„Wally, Wally,“ warnte leife der Pfarrer, „dent an das harte Holz!”
„J dent’ ſcho d’ran, Herr Pfarrer,“ und fie winkte mit der Hand dem
Geier: „Danfel, komm' weiter!” Der Vogel jhoß vom Dad) herab, daß die
Leute erichroden zurücfuhren. Sie nahm ihn auf die Schulter und jehritt auf
den Pfarrer zu. „B'hüt Gott, Hochwürden,“ jagte fie leife, „J dan für
Alles !*
„Willſt nicht noch hereinfommen und fertig frühſtücken?“ fragte der Herr.
„Nein, J lab den Vogel nimmer da allein — und fort muß % ja doch —
auf was joll J warten?”
„So jei Gott mit Dir und alle Heiligen!” jagte der Pfarrer befiimmert,
indejfen die alte Mariann ihr heimlich einen Imbiß in die Tajche des faltigen
Rockes ftopfte.
Einen Augenblic zögerte ihr Fuß an der ihr lieb gewordenen Schwelle —
dann aber jchritt ſie ftill weiter durch alle die Leute durch, die ihr erftaunt
nachgafften.
„Ber is denn des?“
„Des 13 a Hex'!“ hörte fie hinter fich flüftern.
„Es ift eine Fremde,” erklärte der Pfarrer, „der ich die Beichte abgenom-
men habe!”
vl.
Die Klötze von Nofen.
Tag um Tag irrte Wally auf den Ortſchaften herum, um einen Dienft
zu ſuchen, aber Niemand wollte jie mit dem Geier aufnehmen, und von dem
Geier ließ fie nit. Wenn fie ihn auch preisgegeben hätte, er wäre ihr doch
immer wieder zugeflogen, und das treue Thier zu tödten, der Gedanke fam ihr
nicht in den Sinn, mochte e8 mit ihr werden, wie es wollte Nun war fie in
Mahrheit die Geier-Wally, denn ihr Schickſal war unzertrennlich mit dem Geier
verfnüpft und er griff in dafjelbe ein, wie ein Menſch. Die alte Baje der Ludard
wollte ſie gerne behalten, ala fie einen Augenblick bei ihr vorſprach, aber dort
war fie zu nah von Haus — dort wäre fie ganz in der Gewalt de3 Vaters
gewefen. Sie mußte weiter — joweit jie die Füße trugen. Die Jahreszeit
ward immer rauher, e8 begann zu jchneien, und die Nächte, die Wally auf irgend
einem offenen Heuſchober zubrachte, waren empfindlich kalt. Die Kleider, die
fie auf dem Leibe trug, wurden ſchlecht und ſchmutzig, fie fing an bettelhaft und
landftreicheriich auszufehen, und immer härter ward fie abgefertigt, wo fie mit
ihrem Gefährten an eine Thür Elopfte. So abenteuerlich jah fie aus, daß feine
qutmüthige Bäuerin fie mehr für ein paar Stunden im Haus arbeiten und
dann mit am ‚iſch ejfen ließ. Man reichte ihr um der Gottesbarmberzigkeit
willen ein Stück Brod vor die Thür hinaus. Und Wally, die ſtolze Strom-
minger-Wally, ſetzte fich auf die Schwelle und aß es! Denn jterben wollte jie
niht. Das Leben, da3 gequälte, gehette, arme, nadte Leben war doch ſo ſchön,
jo lange fie hoffen konnte, daß einft doc der Joſeph jte lieb haten werde. Im
46 Deutſche Rundſchau.
dieſer Hoffnung willen konnte ſie Alles ertragen, Hunger, Kälte, Schmach! Aber
ihr ſonſt ſo ſtarker Körper begann zu wanken unter der beſtändigen verzehrenden
Sorge und Spannung, ihr Blick wurde trübe, die Füße verſagten ihr den Dienſt,
und ſowie ſie ſich ruhig hinlegte, verwirrten ſich ihr die Gedanken und ſie lag
in einem fieberhaften Halbſchlaf. Mit erſtickender Angſt überkam ſie das Ge—
fühl, krank zu werden. Auch das noch! Wenn ſie irgendwo in einer Scheune
bewußtlos liegen blieb, dann brachte man ſie zu ihrem Vater, dann war ſie
wieder in ſeiner Gewalt. Sie war drüben im Gurglerthal herumgeirrt, und
da ſie dort nichts gefunden, wieder den mühſamen Weg in's Oetzthal herüber—
geſtiegen. Es hatte ſie nach Vent gezogen, das lag im Burgfrieden ihres Vaters
Murzoll, es war ihr ein Stück Heimath. Aber dort war es ihr noch ſchlimmer
gegangen. Se rauher die Gegend, deſto rauher waren auch die Menſchen — und
bis Wally dorthin fam, war ihr auch Thon die Kunde von ihrer That voraus»
geeilt und Schreden und Abjcheu begegnete ihr, wo fie fich zeigte. Auf den
Pfarrer von Heiligkreuz berief ſie fich nicht, denn er hatte e3 ihr verboten, und
jie Jah ein, daß er e8 thun mußte. Deshalb aber juchte fie auch feinen andern
Pfarrer mehr auf, es durfte ja Keiner ſich ihrer annehmen!
Das letzte Haus von Bent hatte joeben jeine Thür hinter ihr gejchloffen.
Vor ihr lag nun nicht? mehr, als die himmelhohen Wände des Platteylogels,
der Wildſpitze und des Hochvernagtferners, die das Thal abiperrten, und über
die fein Weg weiter führte. Hier ſchloß fich die Welt von allen Seiten wie
eine Sadgafje, und fie war am Ende diejer Sackgaſſe. Da ftand fie und ſchaute
an den jteil aufragenden Wänden ringsum empor. Es war ein grauer Morgen
und dichter Schnee, der die Nacht gefallen, ließ das ganze Thal nur noch wie
eine ungeheuere Schneemulde erjcheinen. Jede Spur eines Pfades war verwiſcht.
Sie jeßte fich nieder und dachte: „Ichlaf’ J ein und erfrier', jo iſt's ein leichter
Tod“. Aber jo kalt war's noch nicht, der Schnee ſchmolz unter ihr und fie
ichlotterte bald vor Näſſe. Da jprang fie auf und jchleppte ſich die Anhöhe
hinan, die hinter Vent auf den Weg zum Hochjoch führt. Hier konnte fie die
Gegend weithin überſehen. Und da gewahrte fie auch eine Art Furche im Schnee,
die jich hinter dem Dorfe längſt der Thalleitipit mitten in’3 Herz der Ferner
hinzog. Das konnte ein Fußpfad jein — aber wo führte der Hin? Sie jtieg
noch höher, um iweiter zu jehen, und da fiel es ihr wie eine Binde von den
Augen, — da3 war ja der Weg, der von Vent nad) den Rofener Höfen führte.
Rofen, der höchſte bewohnte Ort in ganz Tirol, der lebte im Debthal, wo
Adlern glei; noch Menſchen Haufen, nur zwei Tyamilien, die Klöße und die
G'ſtreins. Rofen, das ftille verjtedte Rofen am Fuß des furchtbaren Vernagt—
aletichers, am Ufer des Eisjees, two fein Fuß ſich hinverirrte Jahr aus Yahr
ein, das eine ehrwürdige Sage in geheimnikvolle Schleier einwob. Das war
der Ort, wo Wally hingehörte, das war die letzte Zuflucht, wo fie Hülfe fand,
oder wenigftens ruhig jterben konnte, wie das Thier der Wildniß. Dahin wollte
fie, zu den Klötzen von Rofen! Sie waren die berühmteften Fremdenführer in
ganz Tirol, fie waren auf den Bergen daheim, wie Berggeijter, ſie fonnten
begreifen, daß Wally eher ein Haus anzünden, eher jterben wollte, ehe ſie ſich
den Athen der Freiheit rauben ließ, und fie konnten Wally beichügen gegen
Die Geier-Mally. 47
die ganze Welt, denn die Rofener Höfe hatten das Aſylrecht. Herzog
Friedrich mit der I. T. hatte es ihnen verliehen zum Danf, weil er einft im
der Bedrängnig auf Rofen Zuflucht vor feinen Feinden gefunden. Joſeph der
Zweite hatte e3 ihnen zwar Ende des vorigen Jahrhunderts entzogen, aber der
Bauer hält feft an feinen Bräuchen und die Oetzthaler ehrten e8 freiwillig noch
immer fort. Wer auf Rofen Freiftatt fand, der war unantaftbar, denn Die
Rofener, die „G'ſtreins“ und die „Klöße”, nahmen Keinen auf, der's nicht ver-
diente, und ftanden in demjelben Anfehen, wie ihre Vorfahren. Ein Angriff auf
ihr Hausrecht wäre jo viel gewejen, wie Kirchenſchändung.
Wally hob die Arme zum Himmel in brünftigem Dank, daß Gott ihr
diejen Weg gezeigt, und jchwindelnd, taumelnd ftrebte fie dem letten Ziele zu,
das ihre Kraft noch zu erreichen vermochte. Erſt abwärt3 auf den Pfad, der
von Vent abging, dann wieder fteil aufwärts.
Eine endloje Stunde war fie auf dem verwehten Pfad geftiegen. Da lagen
fie vor ihr, wie ſchlafend im Schnee, die ftillen, ehrwürdigen Rofener Höfe, die
fie oft vom Murzoll herab Elein wie Adlernefter am Felſen hängen gejehen.
Das Herz ſchlug ihr, daß ſie's hörte, die Knie wankten ihr. Wenn fie auch
hier abgewiefen würde? Ein neues Schneegeftöber twirbelte lautlos herab und
hüllte Alles in einen weißen, beweglichen Schleier. Es wirbelte und flimmerte
vor Wally’3 Augen und der weiße Schleier wallte ihr fühl um's Haupt, aber
auf ihrer fieberheißen Stirn ſchmolz er und floß ihr als Waller über Geſicht
und Haare, und dann jchüttelte fie wieder der Froſt. Endlich ftand fie vor der
Thür des Nicodemus Klo und griff nach dem eijernen Klopfer, aber wie fie
danach griff, ward es ihr jo ſeltſam licht vor den Augen, fie ſank mit einem
dumpfen Tall gegen die Thür und glitt daran vollends nieder. —
Fort und fort wallten die weißen Flocken in das enge Thal herab und
fchleierten und betteten e8 ein und häuften ſich vor der gut verrammelten Thür
des Nicodemus Klot über dem jtarren Körper, der da lag, zu einem friedlichen
weißen Hügel auf.
Nicodemus Klo ſaß auf der warmen Ofenbant, ſchmauchte jein Pfeifchen
und jchaute behaglich dem Schneetreiben vor dem Fenſter zu. So zogen ihm
in guter Ruhe die Viertelftunden vorüber, indeß fein jüngjter Bruder Leander,
ein ftattlicher Jäger, in ‚einem fließpapierenen Wochenblättchen las. „Das legt
wieder jchön 'runter,“ jagte Nicodemus rauchend.
„Ja,“ jagte Leander und jchaute auf, wie's vor dem Eleinen enter wallte
und wimmelte. Da plößlich Ichlug mitten in dem weißen Wirbel ein dunkler
Flügel an's Fenſter, e3 flatterte und Frächzte und flog vorbei, dem Dad) zu.
„Da war was!” jagte Leander und ftand auf. „Was wird's g'weſen jein,“
brummte der Aeltere, „kannſt ja nit vor d'Thür 'naus in dem G'ſtöber.“
„Ah was!” jagte Leander und nahm den Stuben von der Wand, der Jäger
rührte fich in ihm bei jedem Flügelſchlag eines vorbeiihwirrenden Vogels. Er
mußte jehen, wa? das war. Er ging und öffnete behutjam die Thür, um den.
Vogel durch Fein Geräuſch zu vericheuchen. Da fiel ein Haufen Schnee herein
und er gewahrte den Hügel, der fi) an der Schwelle aufgeichichtet hatte. Er
48 Deutiche Rundichau.
fonnte nicht hinaus, er mußte eine Schippe holen, um den Wall fortzufchaffen.
Hergerlich ftellte er den Stuben weg und begann zu fchaufeln.
„Jeſus, was ift das?!” jchrie er plößlich auf, „Nicodem, komm' jchnell, da
ift was unter dem Schnee, hilf!“
Der Bruder eilte herbei, im Nu war der Hügel aufgegraben und ein Arm,
ein Ichöner runder Arm ragte heraus. Und nun zogen fie unter der leichten
Schicht einen lebloſen Körper hervor.
„D lieber Gott, ein Mädel — und was für eins!" flüſterte Leander, ala
der jchöne Kopf und die wundervoll gewölbte Bruft zum Borjchein kam.
„Wie mag ji die daher verirrt haben?“ jagte Nicodemus kopfſchüttelnd
und hob nicht ohne Anftrengung den ſchweren Körper aus dem Schnee.
„Kit fie todt?“ frug Leander und befühlte fie, indefjen jeine Augen mit
einer Miſchung von Schred und Wohlgefallen auf dem bräunlich fahlen Geficht
bafteten.
„Nur gleich abreiben,“ befahl Nicodemus, „und ’rein in’3 Zimmer!“
Und fie trugen den wuchtigen Körper in's Haus und legten ihn auf
Nicodem’3 Bett. „Die liegt ſchon eine gute halbe Stunde da draußen, jo lang’
fann’3 jein, daß mir’3 war, als höret ich'n dumpfen Schlag an der Thür, aber
ich hab’ g’meint, 's jet ein Schneeflumpen vom Dach g’fallen.”
Leander holte einen Kübel voll Schnee und wollte dienjteifrig helfen, dem
Mädchen den Tſchopen auszuziehen.
„Rir da,“ wehrte der bedächtige ältere Mann, „das jchiet fi nit, — jo
ein junger Burſch — das Mädel müßt’ ſich ja ſchämen, wenn ſie's wüßt'! Du
gehſt naus und ſchau'ſt, daß Du drüben von die G'ſtreins Eins auftreibt, die
Kathrin’ oder Marian’. Geh'!“
Der Leander konnte fein Aug’ von der leblojen Geftalt abtvenden. „Eo
ein ſchön's Madel!“ murmelte er noch im Hinausgehen mitleidig.
Mit ruhiger Umficht entkleidete nun der erfahrene Mann das Mädchen
und rieb fie mit Schnee‘ jo hart und jo lange, bis die Haut ſich wieder zu
beleben und das Blut zu circuliven begann. Dann trodnete er fie gut ab,
deckte jie jorglich zu und flößte ihr ein paar Tropfen von irgend einer ftarken
Kräuterefjenz ein.
Endlich kam fie zu fich, rührte und ftreefte fi) und ſchaute fich einmal im
Zimmer um. Aber der Blid war verglaft und ausdrudslos, und ein paar
unverftändliche Worte lallend, jchloß fie die Augen wieder.
„Sie iſt frank,” jagte Nicodemus zu Leander, der eben wieder eintrat, und
eine derbe Bauernfrau ſchüttelte fi mur noch vor der Thür den Schnee ab
und fam ihm nad).
„Mariann,“ jagte Nicodemus — fie war feine verheirathete Schweſter —
„da mußt jebt Du helfen, J und der Leander, wir zwei Mannsbilder, können
doch der Dirn’ nit abwarten. Der Leander macht ch’ ſchon Augen wie ein
Verzückter an ſie hin.“
Er jtreifte mit einem unzufriedenen Blick den Burjchen, der bereit3 wieder
am Kopfende des Bettes ftand und das Geficht der Kranken mit den Augen zu
verjchlingen jchien. Jetzt wendete er ſich aber wie ertappt und erröthend ab
Die Geier-Wally. 49
Mariann trat an das Bett und ihre erfte Frage war natürlich: „Wer
mag die ſein?“
„a, Gott weiß e3! irgend eine Landjtreicherin,“ meinte Nicodemus,.
„Warum nit gar,“ brummte Leander — „das fieht man der doch an, daß
das kei Landftreicherin ift!“
„a, ja,“ bemerkte Mariann, „weil fie Schön ift und Dir g’fallt! Weißt,
's hat ſchon Manche ein ſauber's G’ficht gehabt und eine ſchmutzige Seel’, —
dadrauf fommt’3 nit an. Eine grdentliche Dirn' ftreicht nit um die Jahr'szeit
in der Gegend alleinig im Schnee "rum, bis fie 3’ Jamm’fallt. Das hat irgend
'n Haken, und Gott weiß, was man ſich da für Eine in's Haus zeifelt!“
„No, des i3 jeßt einerlei,“ meinte Nicodemus gutmithig, „in Schnee und
Kälten können wir's nit 'nausjagen, die krank' Perſon, fei fie jet, wer fie will.“
„Weg’n meiner,“ ſagte die Bäuerin, „J will ſchon 'rüberkomme und fie
Euch b’jorgen — aber in’3 Haus nimm J's nit, daß Ihr's wißt!“ |
„Das ift auch gar nit nöthig — wir b’halten fie ſchon felber!” erwiderte
Leander gereizt, und da Wally wieder etwas vor fich hinlallte, bog er ſich zärt-
lich über fie und fragte: „Was willit, was möcht’jt?“
Die ältern Geſchwiſter wechjelten Blide. „Du, jagte Nicodemus, „jet
will J Dir was jag'n. Du bit jet jo gut und laßt d'Hand von der Butten,
ehvor man nit weiß, wer die Perjon ift. — Da hat def Zimmermann ’3 Loc)
g'macht, da gehjt außi und kommſt mir nimmer 'rein, wenn's D’ nit willft,
daß J die Dirn', jo frank wie fie ift, davon jag’! Verſtanden?“
„Ro, man wird doch noch a Mädel anichau'n dürfen?” brummte Lean-
der, „J weiß gar nit, wie D’ mir vorkommſt.“
„Mach', daß D’ 'außi fommit, das G'ſpänſel da herin leid’ J nit, jo lang’
J Herr im Haus und Dein Vormund bin.“ Damit job ihn Nicodemus am
Arm hinaus und blieb mit der Schweſter allein bei der Kranken.
Wally Fam nicht mehr zur Bejinnung, fie lag im Fieber. Der Hals war
geihtwollen, die Glieder fteif und jchmerzend. Die Geſchwiſter jahen bald, daß
fi die Fremde furchtbar erfältet umd übermüdet haben müffe, und pflegten fie
nach beiten Kräften. Indeſſen jtrich Leander unruhevoll und müßig im Haus
herum. So oft Eines aus dem Kranfenzimmer fam, tvar er um die Wege und
fragte, wie es ginge. Er war voller Verdruß, — er hätte das hübſche Mädel
gar zu gern gepflegt! Gegen Abend, als es aufhörte, zu ſchneien, nahm er jeinen
Stuben und ging hinaus. Doc) kaum war er eine Weile fort, da kam er ſchon
wieder und rief Nicodemus aus dem Krankenzimmer heraus: „Du,“ jagte er
aufgeregt, „auf'm Dad) fit ein Geier, ein prachtvoller Lämmergeier, und guckt
Ein’n ganz ruhig und zutraulich an, al3 wenn er daher g'höret.“
„Ab,“ ſagte Nicodemus, „das ift kurios!“
„Komm' nur "raus und ſchau'!“ rief Leander und zog den Bruder mit dor
das Haus. „Da — da fiht er und rührt fich nit. Der Staatskerl — und nit
Ihieß'n können — ’3 13 zum Teufelholen!”
„Warum kannſt D’ denn nit Schießen?“ jagte Nicodemus.
„Ad, 3 kann doch jeht nit knallen, wo das kranke Mädel dadrin Liegt!“
fagte Leander mit dem Fuß jtampfend.
Deutliche Rundſchau. I, 4. 4
50 Deutiche Rundſchau.
„Jag' ihn Fort,” rieth Nicodemus, „und ieh’, daß D’ ihm nachgehit und
ihn weiter weg ſchieß'ſt, wo man's nit jo hört.“
„Sich, gih!” machte Leander und warf Schneeballen hinauf, um das Thier
aufzuicheuchen. Der Geier fträubte die Federn, kreiſchte und ftieg endlich auf.
Aber er flog nicht fort, er flatterte eine Weile Hoch in der Luft und ließ ſich
dann wieder ruhig auf das Dach nieder.
„Ah, das is merkwürdig! Der will nit fort. Der i3, wie wenn er
zahm wär!“ s
Noch ein, zwei Mal verfuchten ſie's, ihn „aufzumachen“, — immer diejelbe
Geſchichte.
„Der iſt wie verhext!“ meinte Leander und ſchlug das Kreuz gegen den
Vogel, aber das focht ihn nicht an — er mußte doch wohl nichts mit dem Teufel
zu ſchaffen haben.
„Mir ſcheint, der is ang'ſchoſſ'n und kann nimmer fliegen. Jedenfalls thut
der Niemand nix mehr!“ erklärte Nicodemus. „Laſſ'n ruhig ſitzen, bis er von
jelber runter fallt, wenn D’ das franfe Mädel nit mitm Knallen derſchrecken
willſt.“
„Ja, der is ſcho halb hin, J mein’, den könnt' man mit der Hand fangen.“
Gr holte die Leiter, legte jie an und ftieg behutjam hinauf. Der Vogel ließ
ihn ruhig heranfommfh. Leander zog jein Schnupftud) aus der Tafche und
wollte es ihm über den Kopf werfen. Doc da jchlug und hadte der Vogel jo
gegen ihn, daß Leander jchleunigit den Rückzug antreten mußte.
Nicodemus lachte: „Gelt, der hat Dir's ’zeigt, wie man Geier mit die
Händ’ fangt! Das hätt’ J Dir glei jag'n können.“
„J weiß nit, was das für ein Vogel ift,“ brummte Leander fopfichüttelnd.
„Wart’ nur,” drohte er hinauf, „wenn J Did) wo anders treff'!”
„Morgen fannft'n jag'n, wenn er nit crepirt ift über Naht. Wenn er
twieder fliegen kann, geht er ſchon weiter, und gar z'weit kommt der doch nimmer.“
Es begann zu dunkeln und die Mariann kam heraus und jagte, daß fie
jegt heim müſſe und ihrem Mann zu Nacht kochen.
Die Brüder gingen hinein und Nicodem holte nun auch zum Nachteilen
Brod und Käſe aus der Vorrathskammer.
Während er draußen war, Elinkte Zeander ganz leije die Thür, die von der
MWohnftube in Nicodem’3 Schlaffammer führte, auf und jchielte durch den Spalt
nad) Wally. Die lag jebt ruhig und jchlief feft in Nicodem’3 warmem Bett.
Sie hatte ja jo lange in feinem Bett mehr gelegen, man jah ordentlich, wie's
ihr gut that im Schlaf, jo weich, jo hingegoſſen lag fie in die Kiffen gejchmiegt.
„D, Gott b'hüt Did, Du arm's Ding, Gott b’hüt Dich!“ flüfterte Leander
zu ihr hinein und jchloß jchnell die Thür twieder, denn er hörte Nicodem kom—
men. Er jaß auch jchon wieder ganz unſchuldig auf der DOfenbanf, als diejer
mit dem Eifen hereinfam. „Heut! Nacht macht ſich's gut, weil der Benedikt
nit da iſt, heut’ Nacht kann J bei Dir drüben in Benedikt feinem Bett jchlafen.
Aber morgen, wenn der wieder da ift, müſſen wir Drei uns halt in die zivei
Betten theilen.“
„Do, J brauch fei Bett,“ rief Leander eifrig. „Der da drin z'“ieb jchlaf
Die Geier-Wally. al
J auf der Dfenbanf oder aufm Heuſchober, '3 iſt mir Alles eins. Soll Einer
von uns wegen Der Ung'mach haben, jo joll’3 Keiner haben als I!“
„Ro, wenn Dich des freut, jo fannft es haben. Aber aufm Heufchober,
nit auf der Ofenbanf, die ift mir z'nah beim Krankenſtüb'l — veritehft mi?“
„sa, ja, J verfteh ſchon,“ ſagte Leander und biß in feinen Käs, wie in
einen jauern Apfel. — Die Schlaftammer der beiden jüngern Klöße lag der des
Nicodem gerade gegenüber, und diefer nahm das Bett des Abmwejenden ein. Ein
paarmal in der Nacht ftand er auf und ging an Wally’3 Thür um zu horchen,
was fie machte. Sie ſprach und phantafirte viel, und einmal verftand Nico-
demus ganz deutlich, wie fie etwas von einem Geier jprad).
„Aha,“ dachte er, „die wird den Geier auch g’jehen haben, wie’3 daher
fommen ift. Jetzt geht ihr der Schreden im Traum nad.” —
Am andern Morgen früh, noch vor dem Frühſtück, trieb es den ruheloſen
Leander jhon wieder hinaus.
Erft gegen Mittag kam er heim.
„Ro, wie jteht'3 da drinn?“ frug er, al3 ex eintrat.
„Es iſt immer gleih. Sie fommt halt nit zur B'ſinnung. Und dabei
hat fie immer Aengſten vor Leut, die jie fangen wollen.“
Leander kratzte ji) Hinter den Ohren: „Da kann J noch alleweil nit
ſchießen! Jetzt dent’ nur, jebt fit der Geier noch aufm Dach draußen!“
„Warum nit gar!“
„sa, wie J heut morgen 'rausfomm,- hab ihn nimmer g’jehen. Da
hab’ J denkt, ex jei fortg’flogen und ftreif ihm nad) drei Stund lang. Wie
J heimkomme, fit er ganz ruhig wieder auf'm Dad.“
„Ra, da könnt's ein’m wirklich) unheimlich werden, wenn man abergläubiich
wär!“
„He ja! Dean könnt’ jchon faſt an die jeligen Fräulein denken, daß mir
eine 'n Schabernad jpielen wollt.”
„Grüß Gott!” erſcholl jet eine rauhe, tiefe Stimme, und Benedict, der
zweitältefte Bruder, der verreift geweſen, trat ein.
„Ad, grüß Gott, bift wieder da!” riefen ihm die Brüder entgegen. „Was
bringft Neues mit, was haft ausg'richt?“
„D nit viel, fie haben mic) halt wieder vom Pontius zu Pilatus g'ſchickt
aufm Landgeriht und mich mit halbe Veriprechungen abg’ipeift. J Tag halt
alle Debthäler, Menſch und Vieh, fünne ſich noch auf drei G'ſchlechter 'naus
Hals und Bein aufm Weg daher brechen, ehvor wir einmal den Saumpfad
friegen.” Der Sprecher warf mißmuthig den Ranzen ab und jeßte fi) auf die
Dfenbanf. „Krieg'n wir bald was z' eſſen?“
„Gleich!“ jagte Nicodemus, der jelbjt den Kod machte, und holte die
Suppe herein.
Auch ein Schöppchen Milch brachte ev mit und trug es der Kranken hinein.
Leander's Blicke folgten ihm neidiſch.
Benedict war hungrig und machte ſich, ohne auf des Bruders Thun zu
achten, über die Suppe her. Nicodem kam bald zurück und ſtumm, wie der
Bauer immer die feierliche Handlung des Eſſens begeht, als fürchte er, aus dem
4*
59 Teutſche Rundichan.
Fact zu fommen, wenn er jpräche, löffelten die Drei in abgemefjener rhyth-
miſcher Bewegung, daß Keiner zu viel oder zu wenig befam, die Suppe aus.
Als gegeffen war, zündete jid) der müdgewanderte Benedict die Pfeife an
und ſtreckte ſich behaglich auf die Ofenbank.
„Was giebt's denn ſonſt Neues in der Welt? Erzähl' doch was!“ bat
Leander, der des Bruders Sprechfaulheit kannte.
Der hatte die Pfeife ſchief im Munde und gähnte: „Jweiß nix!“ Nach
einer Weile ſagte er aber doch: „Dem reichen Stromminger von der Sonne—
platten ſei' Tochter — weißt die Geier-Wally — die iſt ihrem Vater durch—
brennt und lauft jetzt freiledig in der Gegend 'rum und bettelt.“
„AH! Wie iS denn das gang'n?“ fragten die Brüder erſtaunt.
„Des muß ein wahrer Ruach von einem Mädel jein!“ fuhr Benedict fort.
„Ihr Vater Hat fie Schon auf's Hochjoch ſchicken müſſ'n, weil fie nit gut than
hat — und jetzt fommt fie runter und 's Erſte iS, daß ſie den Gellner halb
todt ichlagt und ihrem Vater '3 Haus anzünd't.“
„Jeſus Maria!”
„Nachher 13 jie natürlich davon g’laufen und in die Ortichaften "rum g’irrt.
Gejtern war fie in Vent und hat von Thür zu Thür um 'n Dienft g’fragt —
aber wer will denn jo Eine im Haus hab'n? Zu allem Neberfluß Tchleppt fie
auch) noch den großen Geier mit "tum, den fie einmal g’fangen hat und den
jollen die Leut' auch mit aufnehmen. Natürlich bedankt fidy da Jeder!”
Nicodemus jah Leander an — und Leander wurde dunfelroth.
„Ro, J dank!” jagte Nicodem, — „jebt weiß 3, wer da drin liegt! —
Der Geier, der nit vom Dad weggeht — und fie hat heut Nacht immer von
an Geier g’fantafirt — das 13 nit übel, — wir hab’n die Geier-Wally im
Haus!“
Benedict ſprang auf: „Was?“
„Schrei doch nit jo,“ jagte Leander, „muß denn da3 arme franfe Mädel
Alles hören?“
Nicodem erzählte nun, wie Leander fie draußen halbtodt im Schnee gefun-
den, und wie man num nicht anders fünne, al3 fie wenigſtens jo lang im Haus
behalten, bis fie wieder gehen fünne. Aber Benedict war ein rauher Mann
und meinte, die Krankheit ſei wohl nur Verſtellung, und die Brüder wären zu
ſchwach gewejen und hätten ſich anführen laſſen. Er wolle jhon mit ihr fertig
werden. „Für Mordbrenner haben wir feine Freiftatt,“ rief er, und jeine
ftehenden Augen bligten zornig unter den buſchigen Brauen hervor.
„Wenn Du das Mädel g’jehen hätt’ft, Du hätt'ſt fie auch aufg’nommen,“
fagte Leander, „das müßt fein Menſch jein, der den armen Tropf 'naus jagen
tyät in Wind und Wetter!“
„So? Und auf die Art kriegeten wir z’leßt alle Räuber und Mörder von
der ganzen Gegend in's Aſyl — daß es hieß, die Rofener Höf feien ein Unter:
ſchlupf für alles Gefindel! Das wär jo a Treffen für die auf'm Landg’richt!
Wenn Ihr Euch anjchmieren laßt von einer abg’feimten Bübin, jo muß J
wenigſtens Brauch und Ordnung auf die Nofener Höf aufrecht halten.“
Er näherte ji der Thür. Nicodemus ftellte ji) davor und ſprach ruhig,
Die Geier-Wally. 53
aber feft: „Benedict, J bin der Aelteſte und bin Herr auf Rofen jo qut wie
Du und weiß jo gut wie Du, was wir Rofener uns jchuldig find! geb
Dir mein Wort, daß % das Mädel jelber fein’ Stund länger im Haus b’halt,
als Menichen- und Chriftenpflicht will, aber jett ift fie frank und jet duld
J nit, daß fie mißhandelt wird. So lang J auf Rofen fi’, fol unter dem
Dad kein'm Menſchen Unrecht g'ſcheh'n.“
Da unterbrach ihn Leander: „Du!“ ſagte er zuverſichtlich mit glänzenden
Augen, „laß ihn nur 'neingehen, wann er ſie g'ſehen hat — ſchickt er ſie
nimmer fort! —“
„Haſt Recht, Du Gelbſchnabel!“ lächelte Nicodem und öffnete leiſe die Thür.
Benedict trat raſch und geräuſchvoll ein. Diesmal durfte Leander auch
„mit durch ſchlupfen“ und Nicodem hatte nichts dagegen, daß er ihm half, den
barſchen Benedict zu bewachen und von einer Rohheit abzuhalten. Die Mariann
faß am Bett und machte neue Kniehöſeln für die Kranke, weil fie gar jo ab—
gelumpt war, daß fie nichts gehabt hätte, wenn fie wieder aufftehen durfte.
Sie machte ein Zeichen, ftille zu jein bei Benedicts lautem Eintreten. Aber
kaum hatte diejer die Kranke erblidt, da mäßigte ex von jelbit jeinen Schritt
und trat langjamer auf das Bett zu. Das Mädchen jchlief feſt. Sie lag auf
dem Rüden und hatte den ſchön gerundeten Arm über dem Kopf gebogen. Die
vollen dunfeln Haare fielen aufgelöft auf die jchneeweiße Bruft, die unter der
dichten Bauernjade fein Sonnenftrahl gebräunt hatte und die das weite Leinen-
hemd jeßt ein wenig freigab. Die Schlafende hatte wie lächelnd den Mund
halb geöffnet und zwei Reihen glänzender Perlmutterzähnchen blitten zwiſchen
den gewölbten Lippen hervor — auf der jchlummernden Stirn aber lag mehr,
ala Worte jagen können, ein ftummberedter Ausdrud von Hoheit und Reinheit. —
Benedict war ftill geworden — ganz ftill. Er jchaute das berüdende und doch
jo keuſche Bild lange wie ftaunend an. Sein gebräuntes Gejiht begann ſich
allmälig höher zu färben, gleich; dem Leander’3, das wie in Gluth getaucht war.
Dann biß er die Zähne über einander und wandte fih um: „Die ijt freilich
frank!“ jagte er in einem Ton, al3 wie: „Da iſt nichts zu machen“ — und
ging auf den Zehen hinaus.
(Schluß im nächjten Heft.)
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Die Behandlung des Römiſchen Htaatstechtes
bis auf Theodor Mommien.
Don
Prof. Dr. Jacob Sernays in Bonn.
Heinrich Heine, dem es jo wenig wie jeinem größeren dichteriichen Ver—
wandten Byron an geihichtlicher Kenntniß und geſchichtlichem Blicke fehlte, hat
einmal die Römer der republikaniſchen Zeit Mifchlinge von roher Raubſucht
und feinem Advofatenjinn, eine cajuiftiiche Soldatesca genannt. 63 liegt in
diefer kurzen und ungszognen Hhperbel mehr Wahrheit, als in vielen weitläu-
figen und wohlerzogenen Gejhichtswerfen über Rom zu finden if. Denn im
der That ift das ineinander von Gericht und Gefeht, die Doppelichneide der
juriftiichen Logik und des Kriegsichwertes ein twejentlicher Zug des Römerthums ;
ja man darf jagen, daß er im Verein mit der nicht minder wejentlicden und eben-
falls juriftiich gefärbten Götterangft das römische Welen erichöpft. Gine volle
und lebendige Einſicht in die Wechſelwirkung diejer drei Elemente zu gewinnen
und jo die Grundlagen der die alte Welt umfafjenden, mächtig in die neue
Zeit hereinragenden, im eigentlichen Sinne des Wortes öcumeniſchen Geſchichte
Roms aufzudeden, ift ein von bedeutenden Geijtern in unjerm Jahrhundert eifriger
al3 zu irgend einer frühern Zeit begonnenes Streben. Am weiteften vom Ziele
entfernt ift bis jeßt diejes Streben geblieben in Bezug auf das, was die Römer
ihre „göttlichen Dinge” nannten, und wir aud nad) dem Wenigen, was wir
von diefem trüben Gultus wiſſen, volllommen berechtigt jind, al3 eine der
bäuriicheften Formen des Polytheismus zu bezeichnen. Wie eine ſolche Super-
ftition mit juriftiicher Logik, d. h. mit einer die Principien nicht tweiter unter-
fuchenden Fsolgerichtigfeit, zu einem alle Theile nicht nur des Privat- jondern
auch des Staatslebens einfangenden Nebe ausgeiponnen wurde, wie in den
Maſchen diejes Netzes die priefterlichen Politiker jelbft, die e3 gejponnen, lange
Jahrhunderte hindurch, bevor griechiiche FFreigeifterei die höheren Stände durch—
drang, in trauriger Redlichkeit verftrictt bleiben konnten, wie im Ginzelnen das
undermeidliche Abkommen zwijchen den Geboten der politiichen oder militäri-
ſchen Nothiwendigkeit und den Sabungen der in die Schladht wie in die Volks—
verjammlung eingreifenden Sacral-Disciplin getroffen wurde — kurz, über alle
Tragen, welche die fyſtematiſche Ausbildung der römiſchen Religion, ihre Herr—
Ihaft über die Gemütber, ihre Einwirkung auf die vraktiſche Staatsleitung
Die Behandlung des Römiſchen Staatärechtes bis auf Theodor Mommſen. 55
betreffen, jind jeit Niebuhr ebenjotwenig wie vor ihm wahrhaft befriedigende
Aufihlüffe gewonnen worden. Aber aud) die dur und jeit Niebuhr beträdht-
lich vermehrten Mittel zur Beleuchtung der rechtlichen Seite des römischen
Staat3lebens wurden lange Zeit hindurch nicht in Fruchtbarer Weije verivendet,
und es entitand in unjerm Jahrhundert fein Werk, welches eine Gejammt-
anſchauung von dem römiſchen Staatsredht und einen Einblid in das Getriebe
der conjtitutionellen Majchinerie auch nur den Philologen, geſchweige dem wei—
teren Kreis aller hiſtoriſch Gebildeten vermittelt hätte. Niebuhrs Werk in
feiner endgiltigen Geftalt war dazu aus vielen jahlichen Gründen und zum Theil
auch wegen der Ichriftitelleriichen Eigenthümlichfeit des Mannes nicht geeignet.
Daß es diefem großen Foricher im mündlichen Vortrage nicht an didactiichem
Talent gefehlt hat, beweiſen einige, in engem Anſchluß an feine Berliner Vor—
lejungen entftandene Abjchnitte der erjten Ausgabe jeines Werks, und beweijen
- noch deutlicher die vielen aus nachgeichriebenen Heften veröffentlichten Bonner
Borlefungen. Aber jobald er die Rüftung des Schriftftellers anlegt, hemmt fie
das freie Spiel jeiner Kräfte. Er will mit der höchſten Gewifjenhaftigkeit jeden
einzelnen Punkt ftet3 in allen jeinen Beziehungen zu allen anderen Einzelnheiten
und zum Ganzen erjcheinen lafjen; allein er vermag dies nicht nad} den unver—
brüchlichen Geſetzen der chriftjtelleriichen Perſpective auszuführen; ftatt die
Dinge auseinander zu legen, jchiebt er fie in einander. Auch diejenigen Par-
tieen jeines Werks, welche Rechtsinftitute und Rechtsfragen im Zujammen-
hang behandeln wollen, genügen daher dem Zwede klarer und vollftändiger
Belehrung nicht; fie gewähren fein jtaatsrechtliches Bild, jondern nur einzelne,
oft recht jeharfe, zuweilen jehr durcheinander laufende Striche zu einem Bilde.
Sedo, auch wenn Niebuhr die Gabe lihtvoller Darftellung in höherm Grade
beiefjen hätte und eine Herabführung jeines Werkes bi3 auf die jpäteren, aus
reichliher fließenden Quellen befannten Epochen ihm vergönnt geweſen wäre,
bleibt e3 jehr fraglich, ob er, da er es doch auf eine Geſchichte der Ereignifie
mit abgejehen hatte, und ob überhaupt Jemand im Rahmen eines Geſchichts—
werkes den Anforderungen der ftaatsrechtlichen Syftematif hätte in vollem Maße
gerecht werden fünnen. Denn wie weit aud die moderne Hiftoriographie ihr
Gebiet abzufteden, wie viele Nebendisciplinen fie in fich aufzunehmen berehtigt
fein und wie gern man ſich eine Vertauſchung der ftreng chronologiſchen Her:
zählung mit zujammenfaljender Gruppirung gefallen laſſen möge, eine gewiſſe
Wahrung der zeitlichen Abfolge und eine gewiſſe Einheitlichleit des Erzähler—
ton3 bleibt unerläßliche Bedingung jedes Geſchichtswerkes. nd eben diejer Be-
dingung, durd deren Verlegung das Geihichtswerf in einen Kramladen ver-
wandelt würde, twiderjtrebt bei Behandlung des Staatsrechtes ſowol die Natur
des Gegenitandes, wie die Beichaffenheit der Quellen. Um das wahre Wejen
einer jtaatlichen organischen Inſtitution zu begreifen und begreiflich zu machen,
muß fie in der individuellen Eigenthümlichkeit, welche ich durch alle geſchicht—
lihen Wandlungen behauptet, erfaßt und in ununterbrocdhener Folge dargeſtellt
werden; eine zerftücelte, durch das Dazwijchentreten andersartigen Stoffes ab-
gelenfte Betrachtung wird, wie groß man auch die chronologiichen Intervalle
wählen mag, den Gejammteindrud empfindlich ftören. Ferner kann es um den
56 Deutiche Rundichau.
in der Inſtitution verförperten Rechtsbegriff ganz zu erichöpfen, nicht hinreichen,
daß man nur diejenigen Fälle feiner Anwendung in Betracht zieht, von denen
in unferer, durch To Klaffende Lücken zerrijfenen Ueberlieferung deutliche Erwäh—
nung geichieht. Neben der bezeugten Wirklichkeit wird auch die in dem Be—
griffe enthaltene rechtliche Möglichkeit, die oft nur wegen der Mangelhaftigfeit
unferer Mittel die geihichtliche Beglaubigung entbehren mag, zur Verhandlung
fommen müfjen. Und daraus wiederum fließt ein mit dem geihichtlihen Ton
unvereinbares Erforderniß der Darftellung. Die cafuiftiiche Debatte ift wie
bei der Behandlung der praftiihen Moral und des Privatreht3, jo auch bei
der Behandlung des Staatsrechts umvermeidlih. Die volle Tragweite jeder
Anftitution Tann nur in ihrem Zufammengehen und Zujammenftoßen mit
andern Snftitutionen ermeſſen werden, und eine Darlegung des Staatsreht3
muß jih auch in abmwägender Erörterung des Für und Wider auf die ver-
nünftiger Weife denkbaren Collifionsfälle einlaifen, für welche unjere lückenhafte
geſchichtliche Tradition zufällig feinen Beleg darbietet.
Aus allen diefen Gründen wird dem freilich jetzt jehr ftarf gewordenen
Auffaugungstrieb der Geihichtsichreibung vor dem römischen Staatsredht im
Intereſſe der Sade ein Halt geboten werden müſſen. Die Geſchichtsſchreiber
mögen immerhin die ftetigen Zuftände ebenſo ſorgſam wie die bewegten Er—
eigniffe und die handelnden Menjchen beachten, auf dem Markt und vor der
Gerihtsbühne ebenjo gern wie im Kriegslager und auf dem Schladhtfelde ver-
weilen, fie werden doch nie im Stande jein, über den jtaatsredhtlichen Hinter-
grund de3 römijchen Leben die zur vollen und ficheren Erkenntniß nöthige
Helle zu verbreiten; eine gejonderte, ſyſtematiſche Darftelung des römischen
Staatsrechtes wird zu allen Zeiten eine unentbehrliche Ergänzung der römischen
Geihichtsichreibung fein.
Freilich muß wie das Leben jo auch die Wiffenichaft ſich oft Yange Zeit-
räume hindurch bejcheiden, das Unentbehrliche dennoch zu miſſen. Nachdem
während faft vier Jahrhunderten ſeit dem Anbrechen der modernen Wifjenichaft
Rom und alles Römiſche ein Feld der Arbeit und ein Stoff des Nachdenkens
für Philologen, Juriften und Staatsmänner gewejen ift, beginnt erſt jetzt
Theodor Mommjen dem Mangel eines ſyſtematiſchen Staatsredht3 abzu—
helfen. Aber wenn ex auch durch den Erfolg feiner Leiftung allein fteht, jo
fehlt es ihm doc in der Wahl der Aufgabe nicht gänzlih an Vorgängern.
Allerdings verdienen diejen Ehrentitel keineswegs die zahllojen Verfertiger von
mageren DOctavbänden oder ungeihladjten Folianten und Quartanten, welche
in älterer Zeit neben anderen auch die jogenannten „jtaatlichen Antiquitäten”
zu Hauf getragen haben. Denn diefem ganzen Geſchlecht pflegt es nicht nur
an juriftiichen Begriffen, jondern überhaupt an Begriffen zu mangeln; man
mußte zufrieden fein, wenn die Veranftalter jener Sammlungen nur ihren
Laftträgerberuf treulich erfüllten und den herbeigeichleppten Stoff, wo nicht in
einer bequemen Ordnung, jo doc in feiner gar zu troftlofen Verwirrung vor—
legten, damit ex doch allenfalls als Nomenclatur und zu gelegentlicher Aushilfe
bei Erläuterung der Klaſſiker brauchbar bleibe. Aber es laſſen fi) doch aus
den verflofjenen vier Jahrhunderten wenigjtens zwei Männer — ein Italiener
Die Behandlung des Römifchen Staatsrechtes bis auf Theodor Mommien. 57
des jechzehnten und ein Franzoſe des achtzehnten Jahrhunderts — nennen,
welche jich über den Troß der Antiquitätenjchreiber weit erhoben und die Rich—
tung einschlugen, in welcher Mommſen uns jet zum Ziele führt. Nachdem
die italienischen Philologen und Antiquare ein Jahrhundert hindurch in begei-
ftertem Stolze auf ihre Ahnen, der freilich eine unbefangene Kritik erſchwerte,
die Scherben des römischen Weltreichs aufgelejen und nothdürftig geleimt hatten,
nachdem die Schriftfteller ans Licht gezogen und fo gut es gehen wollte, zuxecht-
gemacht, die Inſchriften copirt und auch gefälicht worden, unternahm e3 der
Modeneje Carolus Sigonius den angefammelten, noch jehr der Sichtung er-
mangelnden Stoff ftaatsrechtlich zu verarbeiten. Daß er den ftaatsrechtlichen
Geſichtspunkt fefthalten wollte, zeigt die ganze Anlage und jchon der Titel jeines
Hauptwerks „Vom alten Recht dev Römischen Bürger.“ An die Spibe tritt eine
Definition des römischen Vollbürgers al3 eine „Bewohners von Roms Stadt
oder Feld, der zu einer Tribus gehört und Zutritt zu den Ehrenämtern hat,“
und indem die in der Definition eingejchloffenen Begriffe auseinandergelegt wer—
den, gliedert fich nach den jo entftehenden Einjchnitten das gefammte jtaatsrecht-
liche Deaterial. Eine große Neberfichtlichkeit, eine Bündigkeit, die mit einer den
Philologen ungewöhnlichen Strenge der Verlockung zu Excurſen und Epijoden
widerfteht, und ein ernftes Bejtreben, den vielartigen Stoff unter die Herrichaft
von Begriffen zu bringen, verdienen die höchſte Anerkennung. Uber einerjeit3
war Sigonius fein geſchulter Jurift, und er zeigt auch fein juriftiiches Ver—
ſtändniß, jondern mehr einen im Rubriciren und Gliedern geſchickten, gleichſam
iholaftiichen Verftand. Andrerjeit3 war er weder praktiſcher Staatsmann, noch
fand um die Mitte des ſechzehnten Jahrhunderts in Italien ein Profeſſor leicht
die Mittel, auch nur ſoviel politiſchen Sinn in ſich zu wecken und zu erhalten,
als für eine lebendige Auffaſſung des alterthümlichen Staatslebens nöthig iſt.
Man vermißt daher bei Sigonius die Neigung ſich in publiciſtiſche Probleme
zu vertiefen und die Fähigkeit das politiſche Ineinandergreifen der Inſtitutionen
zu veranſchaulichen. Trotz ſolcher Mängel bezeichnet ſeine Leiſtung einen Höhe—
punkt, über den die Wiſſenſchaft während der zwei folgenden Jahrhunderte in
feinem europäiſchen Lande hinaus gelangte, Die große franzöſiſche Juriſten—
ſchule, deren Blüthe etwa gleichzeitig mit Sigonius begann, wandte jid mit
Vorliebe dem Privatrecht zu; Deutjchland war vom Ende des jechzehnten bis
zur Mitte de3 achtzehnten Jahrhunderts durch das theologiiche Gezänke, welches
dem dreißigjährigen Kriege voranging, durch das blutige Entjeßen diejer drei
Jahrzehnte jelbit und durch ihre faft Hundertjährigen Nachwehen für die höhere
Alterthumsforſchung brady gelegt; den Engländern hat ihre eigenartige heimijche
Rechtsentwickelung das Intereſſe für die römische Jurisprudenz abgeftumpft und
in ihrem ftarken politiichen Selbitgefühl haben fie auch nie, wie e3 die conti-
nentalen Völker jo lange thaten, vor dem römiſchen Staat, als dem Inbegriff
politiſcher Weisheit, diejenige Ehrfurcht empfunden, welche fie zu der mühevollen
Ergründung des römischen Staatsrecht3 hätte anjpornen können; die holländijche
Philologie endlich blieb ſeit Scaliger an die Texte der Schriftjteller angefettet
und hat faft auf feinem Gebiet an dem ſyſtematiſchen Aufbau der geichichtlichen
Disciplinen theilgenommen. Um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts jedod),
58 Deutſche Rundſchau.
als die europäiſchen Hauptſtaaten eine im Weſentlichen feſte Gliederung erlangt
zu haben und ihr Gegeneinanderſtreben innerhalb beſtimmter, auch dem Laien
berechenbarer Grenzen verlaufen zu müſſen ſchien, da verbreitete ſich, unterſtützt
von dem erleichterten Verkehr und der dadurch zu immer größerer Ausdehnung
erwachſenden politiſchen Tagesſchriftſtellerei, eine lebhafte Theilnahme zunächſt
für den Gang der äußeren politiſchen Ereigniſſe weit über die engeren Kreiſe
der Staatsdiener und Staatsmänner hinaus bis in die Häuſer aller nicht
in ihrer Ruhe erſtarrten Bürger und in die Studirzimmer aller nicht gänz—
lich verſtaubten Gelehrten. Gar bald verband ſich mit dieſer zuerſt mehr den
Schlachtenerfolgen und den Diplomatenkünſten zugekehrten politiſchen Schauluſt
die tiefere Aufregung, von welcher die Verhandlung über die Grundfragen der
inneren politiſchen Verfaſſung immer begleitet iſt. Montesquieu hatte durch
die glänzende und nachdrucksvolle Art, mit welcher er jene Fragen in der da—
maligen Univerſalſprache der Gebildeten aufwarf und zu löſen verſuchte, gleich—
ſam das Blut aller Völker des europäiſchen Continents politiſch entzündet.
Gern hatte er, an die noch überall verbreiteten humaniſtiſchen Kenntniſſe an—
fnüpfend, den politiichen Grörterungen jeines Hauptwerks eine gelehrte Weihe
gegeben durch zahlreihe Hinblicke auf die römische Verfaffungsgeichichte, wie er
ja auch jeine publiciftiiche Thätigkeit eröffnet hatte mit einem unter „Betrad)-
tungen über die Größe und den Berfall der Römer“ verhüllten aber darum
nicht minder Wwuchtigen Angriff auf die abjolute Monardie. Wenn nun in
einer von derartigen Einflüſſen beherrichten Zeit ein heller Kopf ſich ernſtlich
der Erforichung des römischen Alterthums ergab, jo konnte e8 nicht fehlen, daß
voriviegend die jtaatsrechtliche Seite deijelben ihn feifelte und er den alten Stoff
einem von den früheren Behandlern nicht beſeſſenen Maßſtab des Urtheils
unterwerfen, Antworten auf früher nicht gejtellte Fragen ihm entloden wollte,
welche jeine politiich erregte Gegenwart ihm auf die Zunge legte. Ein joldher
heller Kopf war der in Holland anſäſſige Franzoje Louis de Beaufort.
Sein Andenken ruht jet in Deutichland, und wohl auch in Frankreich, fat nur
auf jeiner zuerjt 1738 und vor einigen Jahren zum dritten Mal gedrudten Schrift
„Ueber die Ungewißheit der fünf erſten Jahrhunderte der römischen Gedichte.”
Die bier vollzogene kritiſche Auflöſung der römischen Legende fichert ihn den
Ehrenpla unter den Vorgängern Niebuhrs, dem er, nad) defjen eigenem Ge—
ſtändniß, für einige wichtige Partien, 3. B. für die Geſchichte des Porfenna,
nichts Wejentlihes zu thun übrig gelaffen hatte. Die negative Kritik feiner
Jugendzeit ergänzte nun Beaufort fajt dreißig Jahre jpäter in der Vollreife
feiner Kraft durch eine pofitive, jehr umfänglich angelegte und jchon deshalb
jeßt wenig verbreitete Darjtellung des römiſchen Staatswejend. Da da3 ge:
wählte große Quartformat viel Raum für den Titel gewährte, jo hat ihn der
Verfaſſer faft zu einer Inhaltsangabe ausgedehnt, und beinahe genügt es, den
unverfürzten Wortlaut deſſelben mitzutheilen, um die jtaatsrechtlichen Gefichts-
punkte, unter welchen die Arbeit entjtand, und den Einfluß, den die damalige
politiihe Erregung auf diefelbe geübt hat, deutlich zu bezeichnen. Der Titel *)
9— La Röpublique Romaine, ou plan general de l’ancien gouvernement de Rome etc. A
la Haye 1766. 2 Bde. 4.
x
Die Behandlung des Römiſchen Staatärechtes bis auf Theodor Mommien. 59
lautet: „Der römische Frreiftaat oder allgemeiner Abriß der Verfaſſung Roms,
„worin behandelt werden die verjchiedenen Triebfedern dieſer Verfaſſung und
„der Einfluß der Religion auf diejelbe; die Souveränität des Volkes
„und die Art, wie es diejelbe ausübte; die Machtvollkommenheit de3 Senats
„und der Beamten; die Rechtspflege; die Vorrechte des römischen Bürger? umd
„die verichiedenen NRechtsftellungen der Unterthanen dieſes weiten Reiches.“
Eine auf jelbitftändiger Quellenforihung ruhende Beherrihung des damals zu-
gänglidhen Hiftoriichen und antiquariichen Stoffes, Aufgewectheit und geſundes
Urtheil, eine Darjtellung, welche zwiſchen Weitläufigkeit und anſpruchsvoller
Kürze eine behaglide Mitte einzuhalten weiß, ein gejchieftes Hin- und Her:
wenden de3 Gegenjtandes, damit alle Seiten deilelben ans Licht fommen, und
ein Hervorheben der politiihen Momente neben wohlthuender Enthaltiamteit
von pelitiicher Phraje zeichnen diejes in der franzöfiichen Litteratur nicht über-
troffene Werk aus. Wenn auch etwas ſpitz ausgedrüct, jo ift doc) in der Sadıe
das Lob nicht umverdient, welches ein jebiger Franzoſe jeinem Landsmanne
ipendet, daß Beaufort es verjtanden habe, wichtige Dinge einfach vorzutragen
und umwälzend zu wirken, ohne ſich als Scidjalsbote zu ſpreizen (faire une
revolution sans se croire une mission). In der That ift der Abſtand zwiſchen
Beaufort und allen frühern Behandlern römiſcher Dinge ein überaus großer.
Gr zuerst hat von dem Ständefampfe und jeinem Einfluß auf den Entwicke—
lungsgang der Verfaffung eine in den Hauptſachen dem Richtigen zuftrebende
Vorftellung fich gebildet, die noch Montesquieu gänzlich fehlte; ex darf auch
bier wenigſtens mit ebenjo großem Rechte wie in Bezug auf die Kritik der
Legende den Ruhm eines Vorläufers von Niebuhr anſprechen. Ebenſo hat auf
anderen verdumnfelten und verwirrten Gebieten fein heller Bli Ordnung und
Licht zu Ichaffen begonnen. Aber freilich iſt jein Blick nur hell, und wenn er
auch nicht blos die Oberfläche jtreift, jo dringt er doch nicht weit genug unter
biefelbe. Es fehlt ihm der Tiefblid und die brütende Meditation, welche die
Vorbedingung jeder reifen wiſſenſchaftlichen Geburt ift. Nur zu oft fehle ihm
auch) die Ausdauer, welche die richtig eingejchlagene Fährte bis zum Ziele ver-
folgt. Ein Beilpiel von allgemeinerem nterefle mag diefen Vorwurf in der
Kürze begründen,
Ueber die Tragweite der Acergejeße, welche zu allen Zeiten in der römi—
ichen Republik Aufregung verurfachten und mit welchen die Gracchen die römische
Revolution eröffnet haben, war jeit dem fünfzehnten Jahrhundert der ſchwere
Irrthum eingewurzelt, daß e3 dabei ſich um eine communiftiiche Gleichtheilung
alles Grundbeſitzes gehandelt habe. Philologen, Sigonius an der Spiße,
wetteiferten in der Verbreitung dieſes Irrthums mit großen PBubliciften, tie
Montesquieun, großen Nationalöfonomen, wie Adam Smith, und großen Ge-
ichichtsjchreibern, wie Edward Gibbon. Der gelehrte Schniter drang aus den
Büchern in die Pamphlete und in das Getümmel der praftifchen Politik; die
communiftiiche Richtung der franzöſiſchen Schreckenszeit bemächtigte ſich gern
eines mit dem Nimbu3 Roms umgebenen Schlagwortes; loi agraire ward in
das Phrajenmagazin der Nednerbiühne aufgenommen und die Grachen nebjt
ihrer Mutter als eine Familie von gleihmacheriichen Volkserlöſern in den
60 Deutiche Rundichau.
revolutionären Olymp verjegt. Die geihichtlichen Berichte über die wirklichen
Adergejehe hätten an jich zu dem Irrthum feinen Anlaß geben können; bejon-
der3 in den griechiſch abgefaßten ift es deutlich geſagt, daß die Adergejehe
nicht jedwedes Grundeigenthum betrafen, jondern nur ein Maximalmaß für die
leberlaffung der Staatsdomänen feitjegen wollten. Aber in die Legende über
die Königszeit hatte ſich auch die Erzählung eingejchlichen, daß Romulus bei
Gründung des Staates jedem Bürger ein gleiches Ackerlos von zwei Juchert
angewwiejen habe. Es jollte dadurch wohl nur nad üblicher Legendenunfitte
das Durchſchnittsmaß der römiſchen Landhufe von einem Cinzelvorgang her—
geleitet werden, der ſodann mit- bequemer Analogie der vielberufenen Boden-
theilung de3 ſpartaniſchen Geſetzgebers nachgebildet wurde. So lange num die
Legende fir wahrhafte Geſchichte galt, d. h. bis auf Beaufort, lag die Ver-
juchung nahe, die Adergejege mit jener Bodenvertheilung des Romulus zu ver-
fnüpfen und die Gracchen für eben ſolche Wiederherjteller der römiſchen Urver—
fajjung anzujehen, wie es das romantijche Königspaar Spartas, Agis und
Kleomenes, für die Iykurgiiche Verfaffung zu werden, den unglüdlichen Ver—
juch gemacht hat. Beaufort jedoch, der Zerftörer der gefammten Königslegende,
hätte, jollte man meinen, auch über die Ackergeſetze zu voller Klarheit fommen
müſſen. Wirklich Hütet er fi), bei ihrer Beiprehung über ihr erftes geichicht-
lies Erjcheinen, das liciniſche Geſetz, hinauszugehen; deutlicher al3 die früheren
Behandler erkennt er den Anlaß diejer und der folgenden ähnlichen Maßnahmen
in der mißbräudhlichen Aneignung dev Staatsdomänen jeitens der Vornehmen ;
aber wie richtig er auch den Urſprung diefer Gejete erfaßte, jo konnte er doch
in Betreff ihrer Tragweite ji) nit von dem alten Wahne losmachen; aud)
er erftreckt fie auf jede Art von Grundeigenthum, und e8 blieb dem Göttinger
Philologen Heyne und Niebuhr vorbehalten, das Trugbild einer nivellivenden
loi agraire au3 der römiſchen Geſchichte für immer zu verjcheuchen.
Das durch dieſes Beijpiel veranſchaulichte, manchmal faft flatterhaft zu
nennende Abjpringen von dem auf feinem Wege liegenden Richtigen hängt bei
Beaufort zufammen mit dem Mangel einer genügenden juriftiichen Schulung,
welche jeiner Unftätigfeit wol einen heilfamen Zügel hätte anlegen müſſen. Es
theilen mit Beaufort diefen Mangel, ohne immer jo jchlimme Folgen davon zu
erdulden, die meiften von den vielen Deutichen und wenigen Engländern, welche
jeit Niebuhr von philologiſchen Studien ausgehend, ſich der Behandlung einzelner
Theile des römischen Verfaffungsrechtes in den verſchiedenſten jchriftftelleriichen
Formen zugewandt haben. Ein aufmerfender Lejer jpürt daher nur zu bald,
daß fie den juriftiichen Elementen der Aufgabe in geſchicktem Ausweichen oder
ungeſchicktem Rücdendrehen ſich zu entziehen juchen. Die verhältnismäßig wenigen
Fachjuriſten wiederum, welche auf das ihnen jo nahe liegende Gebiet übertraten,
jtanden entweder dem philologiſchen Material nicht mit der nöthigen Fritifchen
Selbjtändigkeit und hermeneutifchen Sicherheit gegenüber; oder two in glängender
Ausnahme aud) diefe unerläßliche Bedingung des Gelingens hinreichend erfüllt
ift, hält die geihichtliche Logik der juriftiichen nicht immer das Gleichgetwicht
und die vorzüglich dem Juriſten drohende Gefahr, daß der Feinfinn fi) aus
dem Goncreten in das Subtile verliere, wird nicht immer vermieden. Faſt alle
Die Behandlung des Römiſchen Staatärechtes bis auf Theodor Mommfen. 61
diefe Arbeiter haben auch nur einzelne Baufteine behauen, höchſtens einzelne
Pieiler des Gebäudes aufgerichtet; das Gebäude jelbft nach einem umfafjenden
Plan in allen jeinen Theilen aufzuführen, ift jet Theodor Mommſen be-
ihäftigt. Von feinem auf drei Bände berechneten „römischen Staatsrecht“ ift die
Hälfte vollendet, fie beweiſt thatjächlich, was denen, die Mommſens Laufbahn
verfolgt haben, nicht erſt bewieſen zu werden brauchte, daß in ihm alle für die
Löſung der Aufgabe erforderlichen Eigenſchaften zu einer fich gegenfeitig ftüßen-
den und beauffichtigenden Bereinigung zufammentreten, für welche die vierhundert-
jährige Geſchichte der Alterthumsforſchung bisher fein Beiſpiel aufzumweijen Hatte.
Seine philologiihe Rüftung ift für alle in Betracht kommenden Theile der
lateinii den, jchriftlichen und infchriftlichen Literatur eine in vollem Schmude
auserlejener Gelehrſamkeit jtrahlende und wird von einer ebenſo jcharfen tie
bejonnenen Kritif vor jedem Flecken der Unflarheit bewahrt; e8 iſt vor ihm nie
ein Juriſt ein ſolcher Philologe gewejen. Seine juriftiiche Bildung ift bewährt
durch eine vieljährige Lehrthätigkeit und durch die Herausgabe der bedeutenditen
rechtlichen Quellenbücher, für deren Texte er die kritiſche Grundlage gelegt oder
befeftigt Hat; es ift vor ihm nie ein Philologe ein jolcher Juriſt gewejen. Friſch
erhalten aber und für hohe Ziele ergiebig gemacht wird die ftaunenerregende
Menge vielartigen Willens durch ein warmes Gefühl und ein in mannigfacdher
Erfahrung gereiftes Verſtändniß für alles mit dem Staatsweſen Zufammen-
hängende, dergleichen die deutjchen Gelehrten früherer Zeit, mochten e8 AJuriften
oder Philologen jein, nur dann bei fich auszubilden im Stande waren, wenn
fie, wie Niebuhr, fich dauernd dem höhern praktischen Staatsdienft widmeten
und fi damit die Möglichkeit verichloffen, Werke ſolchen Umfanges, wie wir
fie Mommjen verdanken, zu vollenden. Die vorliegende Leiftung nun, in welcher
alle diefe Gaben und Kräfte vielleicht ebenmäßiger und ungehemmter als in
früheren, weit über Deutjchlands Grenzen hinaus wirkſamen deutichen Schriften
Mommſens zur Entfaltung fommen, wird zwar wegen der Natur des Stoffes
und der durch diejelbe bedingten Behandlung nur im reife derjenigen Gebildeten
Verbreitung finden können, welche einige Kenntniß der lateinischen Sprache und
einiges Willen von römilchen Dingen befiten, oder bei fi) aufzufrijchen ver-
mögen. Aber alle, die diefem doch immer noch recht weiten Kreife angehören,
dürfen getroft zur Lectüre eingeladen twerden; der Zugang ift durch feinen der
ärgerlihen Schlagbäume erſchwert, welche von jo manchen gelehrten Büchern
Jeden fernhalten, den nicht die engjten Zunftinterefjen zwingen, das umpferchte
Gebiet zu betreten. In dem aller Polemik entjagenden Text herricht eine Dar-
ftellung, welche der juriſtiſchen Genauigkeit zu genügen und dabei gejchmeidig
zu bleiben verſteht; obwol fie ſich jelbit auf Schritt und Tritt durch die Quellen-
belege in den Anmerkungen controllixt, jo hat fie doc) ihre innere Selbitändig-
feit und ein elaſtiſches Schreiten bewahrt; man jpürt hier nichts von dem ge-
brochenen, gleichjam eine Sträflingskette nachjchleppenden Gang, welcher die
Bücher, die zur einen Hälfte aus Text, zur anderen aus Anmerkungen beftehen
müjjen, jo oft zu entjtellen pflegt. in den Anmerkungen werden die Beweis-
ftellen aus der originalen lateinischen und griechiichen Literatur unverkürzt mit»
getheilt und dabei ohne viel Aufwand an Worten die neufte handichriftliche
62 Deutiche Rundſchau.
Forſchung und die nüßlichen Conjecturen mit dem fichern Tact eines vielerfahmen
Meiſters benußt; e3 ijt jo eine ftaatsrechtlicde Quellenfammlung entftanden, die
in ſolcher Reichlichkeit und Reinheit ſonſt nirgends zu finden ift. Hingegen iſt
darauf verzichtet, das Atomengeftöber der neuern Differtationen, Programme,
Artikel und wie die gelehrten Nothichriftchen jonft heißen, mit bibliographiicher
Peinlichkeit zu verzeichnen; jeder Einfichtige wird fidh überzeugen, daß das Aus—
werfen diejes Ballaftes feinen Schaden verurfadht hat, und wird es Mommien
danken, daß er ſich und feine Leer auf jo einfache und energiſche Weife von
einer Behinderung befreit, durch welche eine fruchtbare gelehrte Thätigkeit in
Deutjchland von Jahr zu Jahr mehr erichiwert und der Kreis der Theilnehmen-
den in immer bedenflicherer Weiſe verengert wird.
Sp darf denn das Werk nad) Anlage und Ausführung für ein meifterliches
erklärt werden und für einen bisher vermißten und nun wol auf längere Zeit
vorhaltenden Abſchluß der Forſchung über römiſches Staatswejen, weldhe in
Deutjchland vor jehzig Jahren mit Niebuhr begann. Auf das Hervortreten
eines Buches von jo ungewöhnlichen Werth auch diejenigen hinzuweiſen, welche
nicht durch ihren fachmäßigen Beruf zur Kenntnignahme von demſelben ver-
pflichtet find, umd im Allgemeinen feine Vorzüge und jein Verhältnig zu ähn-
lihen Berfuchen zu bezeichnen, war der Zwed diejer Zeilen; fie miüjjen, um die
Grenzen eines Aufſatzes nicht ungebührlich zu überjchreiten, e3 fich verfagen,
eine vollftändige Durchmufterung auch nur des Hauptinhaltes anzuftellen oder
gar eine Ginzelprüfung vorzunehmen, bei der dann nothiwendig mande Vor—
behalte gemacht und abweichende Anfichten geäußert werden müßten, zu deren
Begründung ftreng fachmäßige, aljo mit der Haltung diefer Blätter unverein=
bare Mittel unvermeidlid wären. Aber wol erjcheint e3 auc) ohne Anwendung
ſolcher Mittel ausführbar, einige Probeftücde allgemeinerer Art vorzulegen, die
vielleicht am paflenditen den einleitenden Abjchnitten des erften Bandes entnommen
werden.
Der erjte Band iſt gleihjam der Metaphyſik des Staatsrechtes gewidmet.
Er will die Grundbegriffe entwideln, welche für die ftaatliche Gewalt, injo=
fern jie zeitweiligen Inhabern übertragen wird, nad) römiihem Recht gelten.
Da der überall eingreifende Einfluß der römijchen Religion ji) vornehmlich
darin äußert, daß eine jolche Uebertragung ftaatlicher Gewalt, ſowie jeder wich—
tigere Staatsact nur ftattfinden darf, nachdem vorher mittel3 der Aufpicien, d.
h. Beobadtung von Himmelszeihen, Vögelflug u. dergl. die Billigung der
Götter eingeholt worden, jo muß an die Spike der Lehre von der Amtsgewalt
die Lehre von der Jtaatsrehtlihen Bedeutung der Aufpicien treten. Es werden
die bei den verjchiedenen Anläffen üblichen verichiedenen Formen der Götter-
befragung erörtert, jo weit die keineswegs reichlichen Nachrichten einen Anhalt
gewähren; die Hühnerzeihen 3. B., bei denen die Götter durch die gierig frejjen-
den und dabei Futter aus dem Schnabel fallen lafjenden Hühner ihr Ya aus—
drüden, ergaben eine raſche Enticheidung und erleichterten ein den Hühnern ohne
allzu auffälligen Betrug nachhelfendes Eingreifen der Befrager; ſie fommen da=
her im Sriegslager zur Anwendung, wogegen bei den mehr Zeit laffenden poli-
tiihen Handlungen, aljo auc) bei der Uebertragung der Amtsgewalt, durch die
Die Behandlung des Römischen Staatörechtes bi auf Theodor Mommien. 63
Himmelszeichen des Blibes oder Donner, in den älteren Epochen auch durch
den Flug und die Stimmen der Vögel Einwilligung oder Verfagung der Götter
ermittelt twurde. Obwol hier nur die rechtlichen Folgen des ung fremdartigen
und widerwärtigen Wahnglaubens näher in Betracht zu ziehen waren, jo muß
do die Darftellung zumeilen auc das juperftitiöfe Unweſen jelbit ftreifen, ohne
dab e3 gelingt, das Dunkel, welches, wie ſchon im Gingange diejes Aufſatzes
bemerkt wurde, noch immer und vielleicht für immer auf diefem ganzen Gebiete
lajtet, einigermaßen aufzuklären. Daß dem jo iſt, weiß gewiß Niemand befjer
als Mommſen jelbft, und er gab gleih an der Schwelle einen Beweis der
willenichaftlichen Pflichtitrenge, mit welcher er die von dem Gegenjtand gebotene
ipitematifche Abfolge innehält, indem ex jein Werk mit demjenigen Abjchnitte
eröffnete, der am wenigſten unter allen eine volle Befriedigung gewähren fanıt.
Nachdem er jo, weil es jein mußte, in die Wolfen geftiegen war und den Adlern
und Spechten Gejellihaft geleiftet hatte, fat er feiten Fuß auf der Erde. 63
werden die für Bürger und Soldaten verjchiedenen Ucte beiprochen, durch welche
nah dem Antritt des von der Gottheit zugelaffenen Beamten die römiſche
Bürgergemeinde oder die Armee ſich ausdrücklich verpflichtete, ihm innerhalb
der zuftändigen Grenzen jeines Amtes zu gehorchen. Bon Seiten der Bürger-
gemeinde geichah dies mittels eines Geſetzes, bei deſſen Erlaß nur in der älteften
Zeit die Bürgerichaft jelbjt zugegen, jpäter durch dreißig Lictoren, welche die
alte Eintheilung der Gemeinde in dreißig Gurien vorjtellten, vertreten war.
Die Armee verpflichtete ji zum Gehorſam durch einen Fahneneid, der mit
großer Beitimmtheit auf die Perfon des Commandirenden geftellt war. Die
Grenzen aber, innerhalb welcher die übernommene Verpflichtung galt, waren
während der ganzen Dauer der Republik für die in der Stadt bleibende Ge-
meinde und für die ausgerücdte Armee auf das tieffte dadurch verichieden, dab
ftet3 im Bereich der Stadt in voller Kraft blieben und außerhalb der Stadt
ihre Kraft ganz oder theilweije verloren drei Principien, welche für alle auf die
regelmäßige Amtsgewalt bezüglichen ftaatsrechtlihen Fragen maßgebend find:
erſtlich: die Oberherrlichkeit der Bürgergemeinde, fraft welcher ihre Ent:
iheidung gegen den Spruch des Beamten angerufen werden kann; zweitens:
die Bejekung jedes regelmäßigen Amtes durch eine Mehrzahl von Perſonen, die
ſich als Amtsgenoſſen gleich jtehen, von denen Jeder ein Inhaber der Vollgewalt
des Amtes ift und durch fein Einſchreiten die geichehene Amtshandlung des Ge-
noffen in ihren Wirkungen hemmen kann; drittens: die gejegliche, meiſtens
jährliche Friſt des Amtes, welches mit dem fejtgejegten Tage von felbit erliicht.
Mommſen hat zur terminologischen Bezeichnung diejer drei principiellen Ver—
hältniffe die Wörter Souveränität der Gemeinde, Gollegialität und Annuität
der Reamten gewählt. Plan wird dieje oder ähnliche Benennungen zwar aud)
bei früheren Behandlern gelegentlich antreffen und die durch fie ausgedrückten
Berhältniffe können Niemanden, der von römiſchen Dingen die mindejte Kunde
hat, gänzlich unbekannt geblieben fein; aber fie al3 die Wurzelbegriffe erkannt
und bloßgelegt zu haben, aus welchen eine weitverzweigte Fülle von Einzel—
beftimmungen fich über den gelammten Umkreis des Aemterweiens verbreitet, in
diefe Früher mehr oder minder unverbundenen und verwirrten Einzelheiten durch
64 Deutihe Rundſchau.
Berfnüpfung derjelben mit jenen drei Principien ftrengen Zufammenhang und
finnvolle Klarheit gebracht zu haben, ift ein Verdienft Mommſens, deffen Be-
deutjamfeit man um jo danfbarer würdigen lernt, je mehr fi) die Darftellung
nad Erläuterung der allgemeinen Grundjäße dem Detail zumwendet. So werden
3. B. die praktiſchen Folgen dargelegt, welche die Souveränität der Gemeinde
und ihr daraus entipringendes Begnadigungsrecht für die Griminalgerichtäbar-
feit der höchften Beamten herbeiführt. Da nämlid in allen Fällen, wo der
erjte Richter auf Todesstrafe, körperliche Zühtigung oder eine größere Geldbuße
gegen einen römiſchen Bürger erkannt hatte, die Berufung an die Gemeinde
(PBrovoeation) ftatthaft war und meiftens aud) jtattfand, jo jchien es mit der
Würde des oberjten Beamten unvereinbar, daß der von diejem jelbft gefällte
Sprud der Möglichkeit einer Cafjation ausgeſetzt werde; es traten daher andere,
minder hohe Beamte zur Wahrnehmung der gewöhnlichen peinlichen Gerichts—
barfeit in erſter Inſtanz ein, und die mit dem conjulariichen Amt weſentlich
verfnüpfte richterlide Gewalt über Leben und Tod wird innerhalb der Stadt,
weil hier Provocation galt, im gewöhnlichen Lauf der Dinge latent, um nur
in außerordentlihen Beitläuften, wenn die Provocation vorübergehend außer
Kraft gejegt worden, twieder in voller directer Wirkſamkeit hervorzutreten.
Außerhalb der Stadt Hingegen, wo nie Provocation giltig war, übt der Feld—
herr oder Provinzverwalter die Gewalt über Leben und Tod, mit der er rechtlich
bekleidet ift, auch factifch ftet3 in eigener Perjon aus. — Aehnliche tiefgreifende
Unterſchiede treten in Betreff der Collegialität und ihrer Folgen hervor. Ein
Nebeneinanderwirken gleichberechtigter Oberbefehlshaber hat freilich, wie Diommien
nachweiſt, lange Zeit hindurch auch für das außerftädtiiche kriegeriſche Com—
mando principiel bejtanden und um dieſer Vielköpfigkeit ihren militärifchen
MWiderjinn einigermaßen zu benehmen, tward entweder ein Tag um Tag wechjelnder
Zurnus im Oberbefehl eingeführt, dergleichen ja auch für Athen aus der Ge-
ſchichte der Schladt von Marathon bekannt ift, oder es wurden nad) einer Ver-
einbarung der Commandirenden unter Oberaufficht des Senats die militärifchen
Geſchäfte unter ihnen ein für allemal dergeftalt vertheilt, daß Jedem ein be-
jonderer Zruppenkörper und ein eigenes Operationsgebiet zufiel. Hingegen hat
die rechtliche Folge der Eollegialität, die Befugniß jedes Amtsgenoſſen durch fein
Einjchreiten die bereit3 gejchehene Amtshandlung des anderen in ihren Wirkungen
zu hemmen, für die außerftädtiiche Amtsführung nie gegolten, begreiflicherweife
nicht für den Kriegsbefehl und thatſächlich nicht für die Provinzverwaltung,
während auf den innerjtädtiichen Amtsgebieten jenem collegialiichen Einjchreiten
der weiteſte Spielraum gelafjen war. Die früheren Behandler hatten diejem
Punkt nur eine gelegentlihe und dürftige Beſprechung angedeihen laſſen; es
darf abermal3 als ein jehr wejentliches Verdienſt bezeichnet werden, daß Mommſen
ihn in den Vordergrund gerückt hat, wo ihm nun eine helle und für die
modernen politiichen Anfichten manchmal überrafchende Beleuchtung zu Theil
wird. Der bezügliche Abjchnitt, welcher neben dem collegialiihen Einjchreiten
aud alle verwandten Berhältniffe umfaßt, trägt die Aufichrift „Magiftratijches
Verbietungsredht und magiftratiiche Interceffion“. Unter Verbietungsredht wird
bier die Befugniß verjtanden, einen exft beabſichtigten öffentlichen Act zu
Die Behandlung des Römifchen Staatärechte3 bi3 auf Theodor Mommien. 65
unterjagen; jie jteht nur dem höheren Beamten gegenüber dem niederen zu,
kann freilich bi3 zur Lähmung der gefammten Amtsthätigkeit des niederen aus—
gedehnt werden, ift jedoch für ihre praftiihe Durchführung faft gänzlich auf
das Subordinationggefühl defjelben angewiejen; will der niedere Beamte eine
ihm rechtlich zuftehende Amtshandlung troß der Unterjfagung de3 höheren den-
noch vollziehen, jo bleibt der Act giltig und der Vollzieher verfällt wenigſtens
feiner Strafe an Leib und Leben. Unter Interceſſion dagegen wird das Ein-
Ichreiten gegen eine bereit3 geichehene Amtshandlung verjtanden; es kann ſowol
von dem Träger höherer Amtsgewalt, wie von dem mit gleicher Gewalt Be-
fleideten, alſo vornehmlich dem Collegen, ausgehen; durch die Anterceifion wird
der von ihr betroffene Act vechtlich nichtig, und der Beamte, der ſich ihr nicht
fügt, jet fi in gewilfen Fällen einer Strafe an Leib und Leben aus. Da in
der Zeit des ausgebildeten Volkstribunats die Interceſſion vornehmlich von den
Zribunen ausging, deren eigentliche Amtsthätigkeit ja darin beſtand, daß fie
auf Anrufung des ſich beſchwert Glaubenden , diefem ihre Hilfe gewährten und
gegen den magiftratiihen Act einjchritten, jo hatten die neueren Schriftjteller
ihr Augenmerk faft nur auf die tribuniciiche Interceſſion gerichtet und darüber
die collegialiiche aus dem Geficht verloren. Mommijen hat die letere aus ihrer
Vernachläſſigung Hervorgezogen und die jehr weiten Grenzen, in welchen fie
Anwendung fand, abgeftedt; nad) jeinen Ermittelungen können Collegen gegen-
einander intercediren auf adminiftrativem Gebiet, im Eivil- und Criminalprozeß,
während die Interceſſion gegen Senat3bejchlüffe früh, und noch früher die gegen
Anträge an die Gemeinde ausjchlieglich den Tribunen überlaffen blieb. — Endlich
begründet aud) da3 lebte der drei oben bezeichneten Principien, die Amtsfrift
jehr ſcharfe Unterfchiede zwiichen der innerſtädtiſchen und außerftädtiichen Amt3-
führung. Innerhalb der Stadt erliſcht das Amt mit dem Ablauf der Frift;
über den vorher beftimmten Tag hinaus ift feinerlei Amtsthätigfeit geftattet;
und zur Verlängerung der Amtsfrift giebt es fein verfaflungsmäßiges Mittel.
Der außerftädtiihe Beamte hingegen ift bi3 zum perjönlichen Eintreffen feines
Nachfolgers zu jeder Amtshandlung befugt; will er vor dem Erſcheinen des—
ſelben jeinen Amtsbezirk verlaffen, jo ift ex zur Bejtellung eines Vertreters ver-
pflichtet; die Verlängerung der Amtsfriſt, die innerhalb der Stadt unmöglich
ift, wird nad) und nad) für das außerftädtifche Gebiet herkömmlich; urſprünglich
erforderte die Verlängerung einen Volksbeſchluß, ſpäter genügte die Entjcheidung
des Senat3, daß der Beamte bi3 zu einer neugejeßten Friſt jeine Functionen
fortführe, die ganz diejelben wie zur urſprünglichen Amtszeit blieben; nur
der Titel des Beamten erfährt eine leichte Aenderung; der Conſul wird Pro-
conjul.
Diefem Verſuch, einige Ergebniffe der Mommſenſchen Erörterungen kurz
zufammenzufaffen, mag eine Bemerkung angefügt werden, welche vielleicht zum
Beleg deien dienen kann, was im Eingang dieſes Aufſatzes über den Nuten
einer von der Geihichtsichreibung gejonderten Behandlung des römiſchen
Staatsrechtes geſagt wurde.
Es iſt eine in neuerer Zeit oft ausgeſprochene Wahrheit, daß für das
römische Weltreich der Uebergang zur Monarchie unvermeidlich ———— weil
Deutſche Rundſchau. I, 4.
66 Deutſche Rundichau.
die Republif es nur zu einer Stadtverfafjung, nicht zu einer Reichaverfaffung
gebracht Habe. Daß ohne vollftändiges Ergreifen diefer Wahrheit ein tieferes
Verftändniß der römischen Geihichte unmöglich ift, wird fein Kundiger leugnen ;
aber e3 darf bezweifelt werden, ob wir bereit3 ein Geſchichtswerk befiten oder
je zu erhalten hoffen dürfen, in welchem die eng ftädtijche, für ein Reich unge-
nügende Beichaffenheit der republikaniſchen Gonftitution Roms, jelbft wenn fie
dem Berfafjer vollkommen deutlich geworden und er jeiner Einficht noch jo Häufig
wiederholten Ausdrucd giebt, auch für den Leer mit der wünſchenswerthen An-
Ihaulichkeit hervortrete. Eben weil die Stadt eine das Reich erdrüdende Be-
deutung hat, fann ein Gejhichtswerf, da es doch die in Rom verlaufenden, von
Rom ausgehenden und auf Rom zurüdtwirkenden Ereignifje in erjter Reihe dar-
ftellen muß, den Lejer nicht vollftändig vor der Gefahr ſchützen, daß jein Blick
von dem Glanz der Macht, der die fieben Hügel umgiebt, allzu feft angezogen
werde und jich dem Nothitand der draußen liegenden Welt allzu jelten zumende,
Bei einer ruhigen, durch das ſpannende geſchichtliche Drama nicht geftörten Be-
trachtung der ftaatsrechtlichen Grundſätze muß hingegen das Verhältniß, welches
zwijchen der Stadt Rom und dem römiſchen Reich in der Wirklichkeit beftand,
ſich mit unauslöfchlichen Zügen dem Betrachter einprägen. Erwägt man aud
nur die eben hervorgehobenen Unterjchiede des innerjtädtiichen und außerftädtiichen
Amtes, jo erkennt man alsbald, daß die feiteften Bollwerfe der Freiheit, die
wirkſamſten Schranken der Willfür, Provocation, Interceſſion und Amtzfrift,
nur in der Stadt und für die Stadt errichtet waren, während die Welt außer:
halb der Stadtgrenzen ihr Heil oder Unheil faſt allein von den Tugenden oder
Laftern der Gewalthaber zu erwarten hatte. Ein für allemal muß es dem
Leſer klar werden, daß hier nicht das Verhältniß einer Hauptftadt in unjerm
jeßigen Sinne obwaltet; denn eine Hauptitadt, mag jie in noch jo bedenflicher
Weiſe wachſen und die Lebensſäfte des Staates an fich ziehen, bleibt doc immer
ein Theil des Staatsorganismus und die wejentlihen Grundjäße der Verfafjung
gelten für die Glieder wie für das Haupt. Zwijchen der Stadt Rom und dem
Erdfreis war jedoch das Verhältniß etwa folgendes: Man denke fidh eine Ziving-
burg, jo gewaltig, daß der lähmende Schreden, den jie verbreitet, unermeßliche
Länderftreden in ftummer Unterwürfigfeit zu halten vermag; die Beſatzung der
furchtbaren Gitadelle befteht aus militäriſch geichulten Advocaten, von denen
jeder weiß, weſſen er ji) von dem Anderen eintretenden Falles zu verjehen hat;
fie erſinnen ein Syſtem gegenfeitiger Beauffihtigung und wol in einander
greifender Bürgſchaften gegen gewaltthätige Ausjchreitungen und gerathen dabei
auf jo energifche Mittel, daß im gewöhnlichen Laufe der Dinge ſchon die drohende
Möglichkeit ihrer Anwendung genügt, um leidlide Ordnung zu fichern, die
wirkliche Anwendung nur in jeltenen Fällen nöthig, dann aber auch für den
Gang der gemeinschaftliden Angelegenheiten höchſt gefährlich werden kann; aller
jolcher ſtarken Schutmittel dürfen ji” aber nur die Mitglieder der Beſatzung
unter und gegen einander bedienen; für die Ländermaſſe außerhalb der Gitadelle
befteht ein rechtlicher oder rechtlojer Zuftand, welcher ſich mit dem jetigen Be—
lagerungszuftande vergleichen ließe, wenn diefer nicht wejentlich ein ausnahms—
weiſer wäre; ungefähr das, was jet während eines Belagerungszuftandes als
Die Behandlung de3 Römischen Staatsrechtes bid auf Theodor Mommien. 67
zeitweilige Ausnahme gilt, galt aber für die römische Welt außerhalb Roms
al3 dauernde rechtliche Regel.
Zum Schluß ſei noch mit kurzen Worten darauf hingedeutet, wie der
fundamentale Unterjchied zwijhen dem inner- und außerftädtiichen Amt auch
in den amtlichen Abzeichen einen augenfälligen Ausdrud erhält. Mommſen
bringt diefen Punkt zur Sprache in einem zugleich auf alles Aehnliche eingehen-
den Abjchnitte, welcher „Inſignien und Ehrenrechte der Magiftrate” überjchrieben
ift und ebenfo jehr durch Neuheit der Behandlung feſſeln wie durch Fülle der
Belehrung zu Dank verpflichten muß. Die Dinge, welche hier in Betradht
fommen, haben freilich, eben weil fie auf äußerlihem Wege fich erledigen zu
laffen ſchienen, für die älteren Antiquitätenichreiber von jeher eine bejondere
Anziehungskraft bejeifen; jene emjigen Sammler verdoppelten ihren Fleiß und
durchſtöberten die entlegenften Winkel nach der kleinſten Notiz, welche auf Die
Lictoren, die purpurberbrämte Toga, den elfenbeinernen Amtsftuhl und dergl.
fi bezog; aber fie brachten e3 meiften3 nicht weiter, ala bi zur Auffpürung
von Nachrichten, die fie geiftig zu durchdringen nicht im Stande waren und
mm mit handwerfsmäßiger Trockenheit herleierten oder mit der hohlen Feier—
lichkeit eine Gerimonienmeifter3 verfündeten. Mommjen hat alle dieje Coſtüms—
fragen und Uniformsangelegenheiten gleichjam wiffenjchaftlich geadelt, indem er
überall die ſtaatsrechtliche Symbolik aufdeckt, welche den Außerlichen Abzeichen
zu Grunde liegt. Der erwähnte Unterjchied nun zwiſchen dem ftädtijchen und
außerftädtiichen Amt prägt fi) Tymboliih aus in der Beichaffenheit der den
höheren Beamten bei ihrem öffentlichen Erſcheinen vorangetragenen Faſces,
d. h. einer nad) dem Range des Beamten wechjelnden Zahl von Ruthenbündeln,
die mittel3 eines rothen Riemens geknüpft, von dem Träger an einem Griff
mit der linken Hand gefaßt und auf die linke Schulter genommen wurden.
Bald befindet fi) in dem Ruthenbündel ein Beil, bald fehlt dafjelbe, was dar-
auf zurüdgeht, daß in den Faſces als Strafwerkzeugen die Grenzen der dem
Beamten zuftehenden richterlihen Strafgewalt ausgedrüdt werden jollen. Die
volle Gewalt über Leben und Tod bezeichnen die mit dem Beil verjehenen
Faſces, und die wejenhafte Bedeutung des Beils zeigt ih auch darin, daß,
menn zwei zur Führung von Faces berechtigte Beamte ungleichen Ranges fich
begegnen, der niedere bei Begrüßung des höheren gehalten ift, die Beile aus
den Faſces zu nehmen. In dem römiſchen Stadtbezirt nun, wo die Sou-
veränität der Gemeinde in dem Berufungsrecht verwirklicht war, befanden ſich
alle, auch die höchſten regelmäßigen Beamten, deren Spruch der Provocation
unterlag, ftet3 in der Gegenwart jener über ihnen jtehenden jouveränen Macht,
und ihre Unterordnung unter diejelbe bekundet fih darin, daß jogar die Conſuln
innerhalb der Stadt Faſces ohne Beile führen. Außerhalb der Stadt jedoch,
two feine Provocation galt, alfo die Gewalt über Leben und Tod feine Schranfe
fand, fehlt das Beil in den Faſces nie; der römischen Welt außerhalb der
Stadt war die eijerne Macht, der fie ſich zu beugen hatte, ftet3 durch das
ſchreckende Blinken des Todeswerkzeuges verfinnlicht, und Plutarch, wo er jeine
griechiſchen Landsleute vor jeder nutzloſen Unbotmäßigkeit gegen einen römischen
68 Deutſche Rundſchau.
Befehl warnen will, kann ſich begnügen, unter Anwendung einer Dichterzeile,
daran zu erinnern, über wie viele ſolcher griechiſchen Freiheitsluſtigen ſchon ge—
kommen ſei
des kopfabtrennenden Beiles grauſe Zuchtgewalt.
Doch genug der Einzelproben, die aus einem ſyſtematiſch zuſammenhängen—
den Werke herausgelöſt werden mußten. Es iſt damit immer eine mißliche
Sache, die nur zu leicht gemahnt an die in den griechiſchen Kinderbüchern erzählte
Eulenſpiegelei des Kumaners, der ein Haus verkaufen wollte und einen aus der
Mauer geſchlagenen Stein als Probe des Hauſes vorwies. Ganz ſo ſchlimm
mag es freilich mit den hier vorgelegten Proben nicht ſtehen; es iſt wenigſtens
der Verſuch gemacht worden, fie unter einen einheitlichen Geſichtspunkt zu bringen
und von dem Hauſe eine Haupttreppe zu zeigen. Möge der Verſuch ſeinen Zweck
nicht verfehlen und recht Viele veranlaſſen, das von Mommſen aufgeführte Ge—
bäude in allen ſeinen Theilen kennen und nach ſeiner Stattlichkeit und Nützlich—
keit würdigen zu lernen.
Geſchichtliche Daxlegung der Bedeutung
der
Sorübergänge der Venus vor der Sonnenjheibe für die Ausmeſſung
der Himmelsräume.
Don
Prof. Dr. W. Förfter in Berlin.
Die folgenden Darlegungen werden fi) von dem Inhalte fund der Form
der übrigen Beiträge, deren Geſammtheit die „Anleitung zu wiſſenſchaftlichen
Beobahtungen auf Reifen“ *) bildet, injofern unterjcheiden, kals die in der
leberjchrift genannte aſtronomiſche Aufgabe durch Reifen und Aufenthalt in
fernen Exrdgegenden auf feine andere Weije, als ganz ſyſtematiſch unter fach—
mäßiger Leitung nad jorgfältigiter Vorbereitung und Ausrüftung gefördert
werden kann, jo daß es fich bei der vorliegenden Darftellung nit um die
Orientirung des Reifenden zum Zweck gelegentlicher unmittelbarer Betheiligung
an der bezüglichen Foricherarbeit, jondern nur um eine Erneuerung des Ver—
ſtändniſſes der wiſſenſchaftlichen Ziele von Expeditionen obiger Art und um die
entiprechende Erwedung oder Belebung größtmöglicher Hilfsbereitichaft aller
derjenigen, an welche fich das genannte Buch überhaupt wendet, für die Zwecke
jolher Erpeditionen handeln wird.
*) Obiger Beitrag de3 Directors der Berliner Sternwarte ift beftimmt, eine Sammlung
von Auffägen einzuleiten, welche unter dem Titel „Anleitung zu wijjenihaftliden
Beobadtungen auf Reifen“ demnädft (im Verlage von Robert Oppenheim in Berlin)
ericheinen wird Meber den Zweck dieſes Werkes jpricht der uns vorliegende Proſpect fich dahin
aus, dab es „den Reilenden, mag er dem Fachgelehrten- oder Laienftande angehören, einführen
Toll in die richtige Beurtheilung der phyfifaliichen Ericheinungen der Erde, ihres geognoftifchen
Baues, in die Erfenntnii der fie bededenden Pflanzenwelt, des Thier: und Menfchenlebens in
feinen wechjelvollen Beziehungen“; es ſoll ihn damit vertraut machen, „wie er die Erfcheinungen
zu erfaffen und zu beobachten hat, wo die Lücken in den Beobachtungsreihen fich zeigen und wie
diefelben auszufüllen find*, Die einzelnen Rubriken find don hervorragenden Fachmännern be:
arbeitet, von denen wir, außer Förfter, A. Baftian, G. Fritih, R. Hartmann, W.
Koner, G.Neumayer, F. von Richthofen, G. Schweinfurth und U. Tietjen nennen.
Die Redaction der „Deutichen Rundſchau“.
70 Deutſche Rundſchau.
Die Expeditionen, welche zur Beſtimmung der Entfernung der Himmels—
körper in ferne Gegenden der Erde ausgeſandt werden, erhalten aber ein Recht,
in vorerwähntem Buch an erſter Stelle behandelt zu werden, ſowol dadurch,
daß dieſelben ſich in der Vergangenheit höchſt weſentliche Verdienſte auch um
die geſammte Erforſchung der Erde erworben und ſo zur Förderung aller an—
deren wiſſenſchaftlichen Aufgaben beigetragen haben, welche in unſerem Sammel-
wert behandelt werden, al3 aud im Bejonderen dadurch, daß die für December
1874 ausgerüfteten Erpeditionen — zur Beſtimmung genauerer irdiſcher Maß—
ausdrücde fir Dimenfionen und Abftände innerhalb unſeres Planetenſyſtems
mittelft Beobachtung de3 Vorüberganges der Venus vor der Sonnenſcheibe —
den unmittelbaren Anlaß zur Herausgabe der Anleitung zu wiſſenſchaftlichen
Beobachtungen auf Reifen geboten haben.
Das wiſſenſchaftliche Bedürfniß, Verhältniffe der Abjtände der Himmel3-
körper von der Erde zu den Abftänden verichiedener Punkte der Erde von einan-
der oder allgemein zu den Dimenfionen des Erdkörpers zu fennen, trat ſchon
den erften Aftronomen entgegen, welche fich Iyftematiih mit der Deutung und
Voraudbeftimmung der Bewegung des Mondes am Himmel beihäftigten.
Nachdem ſchon in alter babyloniſcher Zeit die aufmerkſame und ftetige
Beobachtung insbejondere der Mondfinfternig-Eriheinungen zu der Vorftellung
der Kugelgeſtalt der Erde geführt Hatte, konnte es troß der Täujchung des un-
mittelbaren Augenſcheins, welcher jedem Beobachter eine centrale Stellung inner-
halb des Firmaments vorjpiegelt, keine näher liegende Folgerung geben, ala daß
das Centrum der Welt nicht irgend ein Punkt der Erdoberfläche, jondern eben
der Mittelpunkt der Erdkugel ſelbſt jei. — Durch diefen Punkt mußte auch die
Drehachſe der Alles umfaffenden Himmelskugel, welche täglih alle Geftirne
um die Erde herumzuführen jchien, durch diefen Punkt die Drehachſe jeder ein—
zelnen der gedachten Sphären gehen, welche die jieben Wandeljterne Mond,
Sonne, Merkur, Venus, Mars, Jupiter und Saturn innerhalb der Tirftern-
iphäre tragen und bewegen follten, durch diefen Punkt endlich mußte man ſich
auch alle die verjchiedenen Ebenen, in denen fi) die Umläufe diefer Wandel—
fterne zu vollziehen jchienen, gelegt denken.
In Folge deffen mußten vom Erdmittelpunfte aus alle diefe Bewegungen
in ihren einfachften, am leichteften duch Meß- und Rechenkunft zu bemeifternden
Formen erſcheinen. Dagegen mußten von der Erdoberfläche aus gejehen die
Bewegungen wenigſtens aller derjenigen Himmelskörper, welche der Erde jo
nahe waren, daß die excentriſche Lage der Beobadhtungsftationen auf der
Erboberflähe von ihnen aus unter meßbaren Winkeln wahrgenommen werden
fonnte, nothiwendig gewiſſe von diefen Winkelgrößen abhängende Abweichungen
von jener einfachften, unmittelbar nur von dem unzugänglichen Centrum der
Erde aus wahrzunehmenden Form der Eriheinungen zeigen.
Mit Sicherheit meßbar waren nun den babyloniſchen und den griehiichen
Altronomen Winkel von etwa einem Dritttheil des Grades.
Erwägt man zwar, daß der Winkel, unter welchem uns der Durchmefjer
der Sonne und der des Bollmondes durchſchnittlich erfcheint, etwas mehr als
einen halben Grad beträgt, und daß ein gutes unbewaffnetes Auge Doppelfterne
Geichichtliche Darlegung der Bedeutung ber Borübergänge ber Venus u. ſ. w. 71
deutlich getrennt fieht, deren Winkelabjtand an der Himmelsfugel nur etiwa
jwei Minuten oder ein Dreifigftel des Grades beträgt, jo jcheinen ſelbſt für
die älteften Aftronomen obige Annahmen zu weit gegriffen zu jein. Es ift
jedoch zu bedenten, daß es fich bei der Erkennung von Abweichungen und jchein-
baren Unregelmäßigkeiten gewiſſen Winfelbetrage® in den Bewegungen der
Himmelsförper nicht bloß um die Schärfe des Sehens, jondern auch um Die
Vergleihung und Feſthaltung verjchiedener Bifirrihtungen an den Mepinftru-
menten, aljo um den Sicherheitägrad der jedesmaligen Orientirung und der
geometriihen Einrichtung der Inſtrumente, jowie um die Genauigkeit der Zeit-
mefjung handelt.
Nimmt man aljo nah den zahlreihen uns vorliegenden Zeugnifjen von
dem Entwidelungszuftande der aſtronomiſchen Meßkunſt in babyloniichen und
in griehiichen Zeiten obigen Zahlenwerth für die damalige Grenze ficherer
Mekbarkeit von Dertern und Ortsveränderungen an der Himmelskugel an, fo
folgt daraus, dat ein Himmelskörper, bei welddem damals die excentriſche Lage
einer Beobachtungsſtation auf der Erdoberfläche oder der Abftand derjelben von
dem Mittelpunkt der Erde und „der Welt“ in Bejonderheiten feiner Wintel-
betvegung an der jcheinbaren Himmelskugel ficher erkennbar werden jollte,
höchftens jo weit von der Exde entfernt jein durfte, daß von ihm aus der
Halbmeſſer der Erdfugel unter einem Winkel von einem Drittel-Grad erſchien,
d. h. um höchſtens 172 Erdhalbmeſſer.
Innerhalb diejes Abftandes von der Erde befindet jih von den mit un-
bewaffnetem Auge fihtbaren Himmelskörpern allein der Mond, deifen mittlere
Entfernung vom Centrum der Exde bekanntlich nahezu 60 Erdhalbmeffer beträgt.
Vom Monde aus gejehen muß hiernady der Halbmefjer der Erdfugel unter
einem Winkel erjcheinen, defjen mittlerer Werth nahezu 57 Minuten beträgt.
Um eben denjelben Winfel muß natürlid von einem Punkte der Erdoberfläche,
an weldem eine vom Monde nad der Erde gedachte Gejichtälinie dieje Ober-
fläche berührt, ohne fie zu jchneiden, aljo von einem Punkte, in welchem ber
Mond fi gerade im Horizonte befindet, die Richtung nah dem Monde Hin
oder der Ort defjelben an der Himmelskugel verſchoben erjcheinen gegen den
Ort, an weldem der Mond im jelbigen Zeitpuntte von dem Mittelpunkte der
Erde erjcheinen würde. Man nennt bekanntlich derartige Richtungsunterſchiede
der Gefichtälinien, wie fie eintreten, wenn auf ein und dafjelbe Object von ver-
fchiedenen Standpunften aus vifirt wird, und dafjelbe hiernach zwiſchen anderen
entfernteren Objecten, auf deren jcheinbare Lage diejelbe Verſchiedenheit der
Standpunkte feinen merfliden oder einen geringeren Einfluß hat, verjchiedene
Stellen einzunehmen jcheint, Parallaxen oder parallaktiiche Ortsveränderungen
de3 Objectes (nach einem griehijchen Worte, deſſen Sinn ungefähr den Vorgang
der Verſchiebung der Gefigtälinien ausdrückt). Hiernach heißt der oben definirte
Winkel, unter welhem vom Monde aus der Halbmefjer der Erdkugel erſcheint,
oder die entiprechende Verſchiebung, tweldhe der Ort des Mondes am Himmel
im Horizonte eines Beobadhtungsortes gegen eine vom Grdmittelpunft aus
gleichzeitig nach dem Monde gerichtete Gefichtslinie und den entiprechenden Ort
am Himmel erfährt, die Horizontal-Parallare des Mondes.
72 Deutſche Rundichau.
Innerhalb der einzelnen wiſſenſchaftlichen Disciplinen gewährt es große
Erleichterungen, derartige knappe technijche Ausdrüde anzuwenden; den außer-
halb der Fachwiſſenſchaft Stehenden erſchweren diefelben oftmals das Verftänd-
niß der einfacdhften Dinge. Die Parallaren haben ſchon mandem Nichtaftro-
nomen Kopfzerbrechen bereitet, während man ſchon bei jeder Bewegung des
Kopfes, oder bei abtwechjelndem Schließen der Augen, überhaupt bei jeder Ort3-
veränderung de3 wahrnehmenden Sinnesorganes parallaktiiche Wirkungen in der
gegenjeitigen Lage der umgebenden Gegenjtände erfennen Tann.
Eine Eijenbahnfahrt läßt bekanntlich die Abftufung der Entfernungen der
Gegenftände, an denen man vorübereilt, deutlich an der verichiedenen Geſchwin—
digkeit ihrer parallaktiſchen Verſchiebungen bemerken, in denen ſich die Abbilder
derjenigen Winkelbewegungen darftellen, unter welchen von dem Ort der ein-
zelnen Gegenftände aus, von den näheren jchneller, von den entfernteren lang-
jamer, die Bewegung de3 Eijenbahnzuges jelbft erjcheint.
Jede Dreieds3-Meffung, bei welcher man an den beiden Endpunkten einer
Standlinie die beiden Winkel, welche die Richtungen nad) einem entfernten
Gegenftand mit der Richtung der Standlinie bilden, aufnimmt, um dadurch die
Entfernung diejes Gegenjtandes im Verhältniß zur Länge der Standlinie zu be-
ftimmen, wobei der dritte Wintel des Dreiecks oder der Winkel an dem ent-
fernten Gegenftande glei) dem Unterjhiede der beiden an den Endpunkten
der Standlinie aufgenommenen Richtungen, d. 5. gleih ihrer Abweichung
vom Parallelismus ift, läßt fi auch ala eine Beitimmung des Parallaren-
Winkels, unter welchem die Standlinie an dem entfernten Object ericheint, be-
zeichnen.
Die Erfenntniß der zutreffenden Aehnlichkeit aller diejer befannten Wahr-
nehmungen oder geläufigen Mefjungen mit den parallaktiichen Erſcheinungen
und Aufgaben in der Aftronomie und das Bewußtwerden parallaktiicher Wir-
fungen überhaupt wird hauptſächlich dadurch verhüllt, daß man bei den fich
icheinbar in überall gleicher Entfernung auf der Himmelskugel darftellenden
Erſcheinungen der Himmelsräume zur Beurtheilung und zur directen Beſtim—
mung der Verichiedenheiten der Entfernungen fein anderes Mittel, als die be-
wußte und eracte Meffung der parallaktiichen Erſcheinungen befitt, daß dagegen
auf der Erde bei Beurtheilung der Berjchiedenheit der Entfernungen meiftens
unbewußt verfahren wird, indem man dabei in erfter Stelle, wenn auch nur
bei den nicht zu entfernten Gegenftänden, diejenigen parallaktiſchen Wirkungen
gelten läßt, welche jchon durch die Verbindung der Wahrnehmungen der beiden
Augen unbewußt hervorgebradpt werden, und deren Wejen (dad jogenannte
ftereosfopifche Sehen) man erſt bei abwechſelndem Schließen der Augen, in
einer durch diefe Veränderung des Viſirpunktes bewirkten parallaftiichen Ber-
ſchiebung der näheren Gegenftände gegen die entfernteren deutlich bemerkt, und
indem man außer diefem unbewußten Verfahren der Entfernungsſchätzung aud)
noch in dem Grade der convergirenden Vijir-Stellung der beiden Augen-Achſen,
jowie endlich in dem Grade der Deutlichkeit, der Färbung und der ſcheinbaren
Größe der ihren wirklichen Formen, Farben und Dimenfionen nad) meift be-
Geihichtlicde Darlegung der Bedeutung der Vorübergänge ber Venus u. |. w. 73
kannten Gegenftände hinreichende Mittel zu einer faſt inftinctiv werdenden
Schäßung ihrer Entfernungen hat.
&3 wird daher in der Regel Niemandem, der auf der Eijenbahn fährt, ein-
fallen, fi) durch die größere oder geringere Schnelle des parallaktiſchen Vor—
übereilens der Gegenftände ein Urtheil über ihre Entfernungen zu bilden, da
Jedermann hierfür ungefähre Anhaltspunkte jchon in Fülle hat, twogegen e3
einem in eracten Meffungen Berwanderten wohl einfallen könnte, mit einer
Secundenuhr in der Hand auf Grund der Geihtwindigkeit, die der betreffende
Zug nad) dem Fahrplan durchſchnittlich hat, bei entfernteren Gegenftänden das
Maß ihrer — durch eine gewiſſe auf der nahezu geradlinigen Bahn zurüd-
gelegte Strede bedingten — parallaktiichen Wintelbewegung am Horizonte zu
Ihäten und dadurch beiläufige Entfernungsbeftimmungen zu machen, die den
aftronomijchen ganz ähnlid find.
Die Wirkung der Horizontal = Parallare läßt den Mond ftets weiter ent-
fernt vom Scheitelpunft eines Beobachtungsortes auf der Erdoberfläche er-
Icheinen, al3 er vom Erdmittelpunkt aus gejehen werden würde, und zwar hat
diefe Wirkung, twie leicht erfichtlich, im Horizonte ihren größten Betrag, wäh—
rend fie, wenn der Mond im Scheitelpunft eines Ortes fteht, verjchwindet,
weil dann der Beobadhtungsort und der Erdmittelpuntt vom Monde aus ge-
ſehen in derfelben Richtung liegen. (Was nur wegen der Ellipfoid-Geftalt der
Erde nit völlig genau zutrifft.)
Die Horizontal-Parallare verzögert nad dem Obigen relativ den Aufgang
und verfrüht ebenjo den Untergang des Mondes. Diefe Wirkungen konnten
indejjen von den alten Aftronomen nicht Jofort bemerkt werden, weil ihre Mittel
der Zeitmeflung noch nicht entwicelt genug waren. Auch wirft die Brechung,
welche die Kıichtftrahlen beim Uebergang aus dem Weltraum in die nad) der
Erdoberfläche hin immer dichter werdenden Schichten der Erdatmojphäre erfahren,
jenem Einfluß gerade in der Nähe des Horizontes fo ftark entgegen, daß dort
nur die Eleinere Hälfte der Parallaren-Wirkung übrig bleibt.
Dagegen konnten die alten Ajtronomen bei den Mondfinfterniffen die pa-
rallaktiſche Wirkung der ercentriichen Lage des auf der Erdoberfläche befind-
lichen Beobachtungsortes bemerken und zwar folgendermaßen: Die Achſe des
Scattentegel3 der Erde, in weldem der Mond verfinftert erjcheint, ift eine
dur den Sonnenmittelpunft und durch den Erdmittelpunft gehende gerade
Linie. Der Mittelpunkt des Kreifes, in welchem der Schattenfegel die Himmels—
fläche zu jchneiden jcheint, muß aljo, vom Erdmittelpunkt aus gejehen, der
Sonne genau gegenüber liegen. Die Umriſſe dieſes Kreiſes laſſen ſich nun
wenigſtens theiltweife auf der in den Schatten eintretenden Vollmondicheibe jo
deutlich erfennen, daß man ſchon daraus die Lage des Mittelpunftes diejes
FKreijes gegen den Mittelpunkt der befanntlic in dem Schattenraum niemals
ganz verſchwindenden Mondicheibe gut bejtimmen kann. Dieje von der Erd-
oberflähe aus beftimmte Lage der Mitte des vom Monde durdjlaufenen
Schnittes der Schattenflähe an der Himmelskugel wird nun von dem genauen
Gegenpunkt des gleichzeitigen Sonnenortes am Himmel gerade um denjelben
74 Deutiche Ruudſchau.
Parallaren-Wintel verſchieden fein, unter welchem der Abftand des Beobachtungs—
ortes vom Erdmittelpunfte zur Zeit der Beobachtung vom Monde aus ericheint.
Aus diefem Winkel an der Spitze de3 Dreiecks, welches einerjeit3 durch den
Mittelpunkt des Schattenjchnittes, andererjeit3 durch den Beobachtungsort und
den Erbmittelpunft ala Endpunkte der Standlinie oder Baſis beftimmt wird,
fann mit Hinzunahme desjenigen Winkels, welchen am Beobachtungsort jelbft
die Richtung zum Mittelpunkte des Scattenjchnittes mit der Richtung von
dem Erdmittelpuntte nad dem Beobachtungsort macht, das Verhältniß der Ent-
fernung des Mondes vom Erdmittelpunft zum Halbmefjer der Erde abgeleitet
werden.
Der eben erwähnte zweite Winkel aber wird, wenn man die kleine Ab-
weichung der Erdgeftalt von der Kugelform vernachläſſigt, einfach durch den der-
zeitigen Winkel-Abftand des Scheitelpunftes des Beobachtungsortes vom Mittel-
punkt des kreisförmigen Schattenjchnittes gefunden.
Schwierigkeiten mußte den Alten Hierbei nur die Beſtimmung de3 genauen
Gegenpunktes zur Sonne bieten. Wurden indejjen unter den zahlreichen Vtond-
finfterniffen, welche mit allen charakteriftiihen Umftänden Jahrhunderte oder
vieleicht Jahrtaufende hindurch in Babylon aufgezeichnet worden waren, ſolche
ausgewählt, bei denen der Mond um die Mitte der Verfinfterung fi in der
Mittagsebene des Ortes befand, jo ergab fi) hierfür die Lage des Gegenpunftes
zur Sonne leiht unter Benußung der am vorhergehenden und am folgenden
Mittag mit der Schattenjäule bejtimmten Mittagshöhe der Sonne, natürlid)
unter der Vorausſetzung, daß die Sonne ſelbſt durch die ercentrifche Lage des
Beobachtungsortes feine oder wenigftens eine viel Kleinere PBarallare erfuhr, ala
der Mond, mit andern Worten, daß fie viel entfernter fei, al3 der Mond. —
Das der letztere überhaupt näher jei, al3 die Sonne, ergaben ja ſchon die Sonnen-
finfternifje, in weldyen er nachweisbar vor die Sonne trat, während er zugleich,
nach jeinem jcheinbaren Durchmeſſer zu jchließen, bei diefen Phänomenen nicht
wejentlich näher an der Erde war als jonft.
Daß aber die Entfernung der Sonne jogar um Vieles größer, alfo ihre
Parallare um Bieles Kleiner jei, al die des Mondes, ergab der bei den Mond—
finfternifjen beftimmbare Halbmefjer des Schattentegeljchnittes ſelbſt. Derjelbe
erihien nahezu unter demjelben Winkel, unter welchem vom Monde aus nad)
den vorläufigen Rejultaten des oben erörterten Verfahrens der Halbmefjer der
die Schattenumrifje erzeugenden Erdkugel ſelbſt gejehen wurde. Es erfolgte alſo
bis zum Monde hin keinesfalls eine ftarfe Convergenz des Kernſchatten-Kegels,
fondern die Wände defjelben jchienen, wie e8 nur bei einer verhältnigmäßig
jehr entfernten Lichtquelle möglich ift, innerhalb jenes Abftandes faft parallel
zu verlaufen.
Aus der Vergleihung dev Winkelgröße des Halbmefjer3 des vom Monde
paſſirten Schattentegelichnittes mit dem Parallaren-Winkel, unter weldem am
Monde der Halbmefjer der Erde erſchien, juchte jpäter Ptolemäus um 140 n. Chr.
das Verhältniß der Entfernung der Sonne zur Entfernung des Mondes von der
Erde wirklich zahlenmäßig zu beftimmen.
Ein anderes Verfahren zur Löſung legterer Aufgabe hatte aber jchon vier-
Gefchichtliche Darlegung der Bedeutung der Vorübergänge der Venus u. ſ. w. 5
hundert Jahre vor ihm Ariftarh von Samos eingefchlagen, indem er den
Winkelabftand des Mondes von der Sonne in einem der Zeitpunkte maß, in
welchen die Mondicheibe genau zur Hälfte erleuchtet erjcheint, in welchen alio
in dem Dreied: Sonne, Erde, Mond, der Winkel an legterem jehr nahe ein
rechter ift. Da alsdann in diefem Dreieck zwei Winkel befannt waren, konnte
auch der Parallaren » Winkel, unter weldem von der Sonne aus der Abftand
des Mondes von der Erde erichien, und konnten überhaupt die Verhältniffe der
Seitenlängen zu einander berechnet werden. Ariſtarch fand hieraus, daß die
Sonne etwa 19 mal weiter entfernt jei, ald der Mond, was jpäter Ptolemäus
nad der oben erwähnten Methode nahezu bejtätigte. Bekanntlich beträgt aber
jenes Vielfache in Wirklichkeit nicht 19, jondern etwa 400. Die Wintelgrößen,
um die es ſich hiernach handelte, waren eben zu Hein, um von den Alten mit
Sicherheit gemefjen zu werden. —
Zu ſyſtematiſchen Meifungen hatten übrigens die vorher erwähnten Mtög-
lichkeiten, da Verhältniß des Abftandes des Mondes zu den Dimenfionen der
Erde aus den Beobachtungen der Mondfinfternijje abzuleiten, nicht geführt; ſie
hatten ebenfalls nur dazu gedient, eine ungefähre Vorftellung von dieſem Ver—
bältnifje zu geben. Dieje Vorftellung wurde erjt in der griehiichen Zeit deut-
licher und wifjenjchaftlicher, nachdem man aud) von den Dimenfionen des Erd—
förpers ſelbſt im Verhältniß zu den irdiſchen Maßen durch die Gradmeifung
des Eratoſthenes eine wiſſenſchaftliche Kenntniß erlangt hatte. Das Verfahren,
welches endlih Ptolemäus einſchlug, um eine möglichft eracte Beitimmung der
Mond-Parallare zu erlangen, gehört im Princip jchon ganz zu dem Syſtem von
parallaftiihen Methoden, welche gegenwärtig zur Beitimmung der Entfernungen
der Himmelsförper von der Erde angewandt werden, nachdem man durch die
genauere Kenntniß der Geftalt und der Dimenfionen der Erde und durch die
jiheren Beftimmungen, welche man von der Lage der Beobachtungsörter auf
der Erdoberfläche zu einander und zu den Polen und feiten Mteridianen der Erde
machen fann, in den Stand gejeßt ift, ftatt des Halbmeſſers der Erde jeden
beliebigen Abſtand auf der Erde als Standlinie für die parallaktiiche Dreiecks—
meſſung zu benußen.
Die Methoden zur trigonometriichen oder parallaftiichen Beftimmung der
Entfernungen der Himmelskörper in Maßen der Erde zerfallen mit Ausſchluß
der oben erörterten, auf die Beſchattungs- und Beleuchtungs-Erſcheinungen be-
gründeten, welche wegen des Mangels an Beitimmtheit und Regelmäßigteit
jener Licht und Schattengrenzen feine für die gegenwärtigen Anforderungen hin=
reichende Genauigkeit mehr bieten, hauptjädhlich in zwei Gruppen:
1) Meſſungen der jeheinbaren Ortsveränderungen am Himmelsgemwölbe,
welde das Object, deifen Entfernung zu beftimmen ift, erfährt durch diejenigen
Ortsveränderungen des Beobadhters felbjt, welche von der Drehung der
Erde hervorgebracht werden, jomit nad) Richtung und Größe leicht beftimmbar
und in den Maßen des Erdkörpers ausdrüdbar find.
2) Meſſungen der Abftände der verjchiedenen Derter am Himmelsge—
wölbe, an welchen das Object, deſſen Entfernung zu ermitteln ift, in einem und
demſelben Zeitpuntte von verichiedenen Beobahtungsftationen aus, deren
76 Deutſche Rundſchau.
gegenſeitige Lage nach Richtung und Abſtand beſtimmbar und in den Maßen
des Erdkörpers ausdrückbar iſt, geſehen wird.
Beide Methoden fließen bei Beſtimmungen von Entfernungen auf der Erde
ſelbſt, zumal bei relativ ruhenden Objecten, in eine zuſammen, denn es iſt bei
einer ſolchen irdiſchen Dreiecksmeſſung im Allgemeinen gleichgültig, ob die Win—
kel an den beiden Endpunkten der Stand- oder Grundlinie gleichzeitig von zwei
verſchiedenen Beobachtern oder nach einander von demſelben Beobachter gemeſſen
werden.
Bei außerirdiſchen Entfernungsbeſtimmungen indeſſen ſind obige Unter—
ſcheidungen erheblich, da man es bei ihnen ſtets mit relativ bewegten Objecten
und mit mehreren Arten von Bewegungen des Standortes, z. B. außer mit
der täglichen Drehung auch noch mit der jährlichen Bewegung der Erde zu
thun hat, wobei natürlich eine nahe Gleichzeitigkeit der Beobachtungen an zwei
möglichſt weit von einander abſtehenden Stationen große Vorzüge bietet, wäh—
vend andererſeits die Schwierigkeiten der ſicheren Erzielung möglichſt gleicharti—
ger correſpondirender Meſſungen verſchiedener von einander weit entfernter Be—
obachter in vielen Fällen für die Benutzung der Drehung der Erde zum be—
quemſten, billigſten und ſchnellſten Transport eines und deſſelben Beobachters
von einem Ende einer großen irdiſchen Standlinie zum andern den Ausſchlag
gegeben haben.
Letztere Methode hat danach in der That bis zum Ende des 17. Jahrhun—
derts faſt ausſchließliche Anwendung gefunden. Sie iſt auch dem Princip nach
die einzige, welche bei der Erweiterung der parallaktiſchen Probleme über die
irdiſchen Standlinien hinaus, nämlich bei den erſten Ausmeſſungen der Planeten—
Bahnen und der Firſtern-Entfernungen durch die parallaktiſchen Wirkungen
unjerer Bewegung um die Sonne (jährliche Parallare), ſowie bei der ferneren
Ausmeflung der Firftern-Räume dur die parallaktiihen Wirkungen der Bes
wegung de3 ganzen Sonnenſyſtems (Säcular-PBarallare) zur Anwendung fommt,
weil und außerhalb der Erde die correipondirenden Beobachter nod) gänzlich
fehlen.
In einer eigenthümlichen Form wurde diefe Methode zuerft von Ptole-
mäus zur Beitimmung der Entfernung des Mondes angewandt.
Gorrejpondirende aftronomijche Beobachtungen an entfernten Punkten der
Erde, wie wir fie jet in gewöhnlichen Fällen durch das Zuſammenwirken der
Aftronomen aller Erdtheile verhältnigmäßig leicht erlangen, wie fie jogar regel-
mäßig einen Theil des Arbeitsplanes gewiſſer nördlichen und jüdlichen Stern-
warten bilden, vermodhten die Aftronomen Alerandria’3 eben noch nicht zu be=
ihaffen. Dafür aber hatte Mlerandria gerade mit Bezug auf die durch den
Erdmittelpunft gehende Ebene der Mondbahn eine bejonders günftige Lage.
In den Zeiten nämlid, in welchen diefe Bahnebene ihre ftärkfte Neigung
gegen die Ebene des Erdäquators hatte, lag Wlerandria bei einer beftimmten
Phaje der Erddrehung jehr nahe in der Ebene der Mondbahn, während es in
der gerade entgegengejeßten Phaſe der Erddrehung einen ſenkrechten Abftand von
der Mondbahnebene hatte, welcher nahezu 4 des Erdhalbmeſſers betrug. Ge—
lang es, den Mond in diefen beiden entgegengejegten Drehungsphafen der Erde
Geſchichtliche Darlegung der Bebeutung der Vorübergänge der Venus u. ſ. w. 17
auch in den entiprechenden einander entgegengejegten Stellen jeiner Bahn zu
beobadten, jo fand bei der einen Beobadhtung, bei welcher der Dtond dem
Sceitelpunft von Alerandria jehr nahe fam, faſt gar feine parallaktiiche Wir-
fung ftatt, während bei der anderen Beobachtung der Mond in Alerandria um
nahezu desjenigen Winkels, unter welchem alsdann von ihm aus der Exb-
halbmeſſer gejehen werden mußte, vom Nordpol des Himmels entfernter erſchien,
als vom Erdmittelpunkte aus gejehen. In Bezug auf leteren, ſowie überhaupt
von jedem Punkte der Ebene des Erdäquators aus gejehen fand eine völlige
Symmetrie der beiden äußerjten Mondftellungen nördlich und füdlih vom Him-
mel3äquator ftatt; von Nlerandria aus war dagegen beim Durchgange die Mit-
tagsebene der äußerſte jüdliche Abjtand des Mondes vom Himmelsäquator um
% der Horizontal =-Parallare größer, al3 der größte nördliche Abjtand vom
Himmelsäquator.
Hiernad) beftimmte Ptolemäus aus jeinen Mefjungen für Vollmonds- und
Neumondszeiten die Entfernung de3 Mondes zu 59 Erdhalbmeffern. (Leider
wurde der Gewinn, den dieje ziemlich genaue Beftimmung der Aftronomie
brachte, durch gewilje Fehler der Mondstheorie des Ptolemäus vermindert,
welche die Annahme einer viel größeren Veränderlichkeit diefer Entfernung ent=
hielten, al3 nad) den verhältnigmäßig Fleinen Veränderungen der jcheinbaren
Größe des Mondes zuläſſig ericheinen durfte.)
In dem ganzen oben dargelegten Verfahren bei der PBarallaren = Beftim-
mung des Mondes wird übrigens gar nicht? dadurch geändert, dat Ptolemäus
jelbft feine Drehung der Erde, alſo auch feine Bewegung des Beobachtungsortes
annahm, jondern die Drehung nur der Himmelskugel und dem gefammten von
ihr umfaßten Himmelsraume zujchrieb.
Lebtere Drehung um da3 Gentrum der Erde mußte für einen ruhenden,
aber ercentrijch gelegenen Beobachtungsort diejelben Erſcheinungen hervor—
bringen, wie bei ruhender Himmelsfugel die Bewegung des Beobadhtungsortes
durch die Drehung der Erde.
Nach obiger Mefjungsmethode würde man aud die Barallare der Sonne
an jedem außerhalb des Erdäquators gelegenen Punkte der Erdoberfläche, 3.8.
mit völliger Analogie au obigem Verfahren von einem Punkte der Wendekreiſe
aus, durch die Unſymmetrie ihrer größten nördlichen und jüdlichen Abweichung
vom Himmelsäquator auf Grund der notoriihen Symmetrie der für den Erd—
mittelpunft und die Ebene des Erdäquators überhaupt geltenden Phänomene
derjelben Art beftimmen können ; doch würde diejes Verfahren aus vielen Grün-
den nicht zweckmäßig fein, zumal da fich jogar nach demjelben Princip günfti-
gere Bedingungen für die Löſung derjelben Aufgabe erreichen laſſen.
Aechnliches gilt von entiprechenden PBarallaren - Beftimmungen ſolcher Ob-
jecte, die, von gewillen Gegenden der Erdoberfläche aus gejehen, nicht unterge-
hen, jondern in entgegengejegten Phajen der Erddrehung, aljo von den beiden
Endpunkten de3 Durchmeijers eines Parallelkreifes aus gejehen, eine größte und
eine Eleinfte Höhe über dem Horizonte in dev Mittagsebene erreichen.
Eine andere und folgenreichere Anwendung der Drehung der Erde zur Pa—
78 Deutſche Rundichau.
rallaren-Beftimmung machte gegen Ende des 15. Jahrhunderts NRegiomontan
(Johannes Müller aus Königsberg, Franken) zu Nürnberg.
Er maß die Veränderungen, welche die Derter eines Kometen an der
Himmelskugel erfuhren, wenn er fie womöglich innerhalb deſſelben Tages jo-
wohl in der Nähe des weftlichen als des öftlihen Horizontes, alfo von den
möglichft weit von einander entfernten, äußerften öftlichen und weſtlichen Stand-
punkten, die man durch die Drehung der Erde erreichen konnte, beftimmte.
Hierbei mußte er natürlih die in der Zwiſchenzeit erfolgte Winkelbewegung
am Himmel, welde der Komet — ſowohl durch feine eigene Bewegung im
Himmelsraume, al3 auch durch die parallaktiiche Wirkung der gleichzeitigen
Bewegung der Erde in ihrer Bahn um die Sonne — erfuhr, in Rechnung
bringen.
Dafür gab es aber eine hinreichende genäherte Beitimmung, wenn man
den Kometen außer in entgegengejeßten weftlihen und öftlichen Drehungsphafen
der Erde hinreichend oft zu aufeinanderfolgenden Malen auch in einer und der-
jelben Drehungsphaje der Erde beobachtete und daraus die Derter deſſelben am
Himmel für die dazwiſchen liegenden Zeitpunkte der in entgegengejegten Dre—
hungsphajen ftattfindenden Standorte des Beobachters einjchaltete. Aus der
Vergleihung der eingejchalteten mit den wirklich beobachteten Dertern des Ko—
meten ergab ſich alsdann die parallaktiiche Wirkung der in Theilen de3 Erd—
halbmeſſers auszudrüdenden Ortsveränderung, welche der Beobachter jelbft durch
die Drehung der Erde erfahren hatte, und daraus das Verhältniß der Entfer-
nung des Kometen zum Erdhalbmeſſer.
Nach diejer in der Folge auch von Tycho v. Brahe angewandten Methode
des Regiomontan, nur in etwas verfeinerter Anordnung mit Hülfe der eben er:
fundenen Pendeluhr, jollte auch in den Jahren 1672 und 73 von einer bejon-
deren — auch mit Rückſicht auf die größeren Dimenfionen, welche die Parallel:
freije in der Nähe des Aequators haben, aljo auf die größeren dort durch die
Drehung der Erde herzuftellenden Standlinien — nad Cayenne entjandten fran-
zöſiſchen Expedition die Entfernung des Planeten Mars in einer feiner Erd—
nähen beftimmt werden, um daraus in einer unten näher zu erörternden Weiſe
aud die Dimenfionen der Bahnen der übrigen Planeten und die der Erdbahn
ſelbſt und damit die Sonnen-Parallare abzuleiten.
Nachdem in diefer Beltimmung der Sonnen - Parallare und einigen ähn-
lihen Berjuchen, die ihr bi3 zur Mitte des 18. Jahrhunderts folgten, die Me—
thode der Benußung der Drehung der Erde zur Hervorbringung parallaktiicher
Wirkungen eine Art von Gipfelpunft erreicht hatte — man hat fie erft viel
Ipäter, u. A. im Jahre 1862 bei einer ähnlichen Ausnutzung einer bejonderen
Erdnähe des Planeten Mars wieder aufgenommen —, trat die zweite Methode
(pag. 75) von der Mitte des 18. Jahrhunderts ab in den Vordergrund.
Man richtete al3bald, insbejondere zur genaueften Beftimmung der Ent-
fernung des Mondes, eine forrefpondirende Beobachtungsſtation am Worgebirge
der guten Hoffnung ein und beobachtete ſodann möglichſt gleichzeitig, d. h. lange
Zeiträume hindurch, jo oft der Himmel wolkenfrei war, den Abftand des Mon-
des von den Himmelspolen beim Durchgange durch die Mittagsebene erſt in
Geichichtliche Darlegung der Bedeutung der Vorübergänge der Venus u. ſ. w. 79
Berlin, dann in Paris, Greenwich und forreipondirend am MWorgebirge der
quten Hoffnung.
Dieje bis in die neuefte Zeit hinein fortgeführten, jeit nunmehr etwa 40
Jahren duch Errichtung einer feften Sternwarte an dem genannten Vorgebirge
unterftüßten Meſſungen, bei welden die 3. DB. zwiſchen der Sternwarte zu
Greenwih und der Sternwarte am Kap gezogene Grundlinie des Dreieds,
defien Spite der Mond bildete, nahezu das Anderthalbfadhe des Erdhalbmeſſers
betragen hat, haben uns allmälig das Verhältnig der Entfernungen des Mon-
de3 von der Erde und überhaupt der "Dimenfionen jeiner Bahn um die Erde
zu jener Standlinie auf der Erde, ſowie die Gejehe der periodijchen Verände—
rungen feiner Entfernung mit einer Genauigkeit kennen gelehrt, welche gegen-
wärtig Nichts zu wünſchen übrig läßt; denn der noch mögliche unbekannte
Fehler der jeßigen Beſtimmung diejes Verhältniffes wird höchſt wahrſcheinlich
10407 de3 angenommenen Zahlenwerthes nicht überfteigen, und mir find zur
Zeit faum im Stande, das Verhältnif der bei dieſer Meffung benußten irdiſchen
Standlinie zu dem Halbmefjer des Erdäquatord mit einer größeren Genauigkeit
ala auf „nFsy ſeines Werthes anzugeben, während zugleid in der Beitimmung
des Verhältniffes des Halbmeſſers des Erdäquators zur Toiſe oder zum Meter
(d. h. zu der aus der Toiſe abgeleiteten Beſtimmung des leßteren) ebenfalls noch
Unfjicherheiten von nahezu demjelben WVerhältnigbetrage obwalten.
Das Syſtem „Erde und Mond“ ift alfo gegenwärtig von den Maßſtäben
menſchlichen Uriprunges aufwärts bis zu den Dimensionen der Mondbahn mit
einer zwar bejchräntten, aber nahezu gleichartigen Genauigkeit ausgemeſſen und
gewifjermaßen in ein zufammenhängendes Ganze dergejtalt vertvandelt, daß man
zur Ausmefjung noch größerer Entfernungen, 3. B. der der Sonne, unter Um—
ftänden eine Standlinie von der Erde bis zum Monde ebenjo fiher anwenden
fönnte, wie eine auf der Erde ſelbſt gemeſſene. —
Eine ſolche vergrößerte Standlinie könnten wir zur Beftimmung der Parall-
are der Sonne und der Planeten jehr wohl brauchen; denn da 3. B. die Sonne
etwa 400 mal weiter von uns abfteht, als der Mond, jo würde eine Standlinie
von der Erde bis zum Monde, obwohl fie etiva 60 mal länger als der Halb-
mefjer der Erde und etwa 40mal länger ift als die Standlinie vom Kap der
guten Hoffnung nad Greenwich, dennoch) bei der Ausmeſſung der Sonnenent-
fernung vergleichsweije exit den zehnten Theil der Genauigkeit bieten, welche
die leßtere Standlinie bei der Ausmeſſung der Mtondentfernung zu erreichen
geftattet hat.
63 wird nämlich einleuchtend jein, daß gewiſſe, bei derartigen trigono-
metriihen Winkelmeffungen unvermeidliche Fehler, während fie in ihrem abjo-
luten Betrage von der Größe der Standlinie felbft im Allgemeinen nur in
geringem Maße abhängig jein können, die Beftimmung der Parallare oder des
Winkels, unter weldem die Standlinie an dem entfernten Object erjcheint, mit
um jo ftärferem Verhältnigbetrage verfälihen, je Kleiner dieſer Winkel, alfo je
kleiner da3 Verhältniß der Standlinie zur Entfernung des Objectes ift. Ein
Fehler von einer Secunde in der Beltimmung des Unterjchiedes der beiden, von
den Endpunkten der Standlinie nah dem Objecte aufgenommenen Richtungen
80 Deutihe Rundichau.
verfälicht, wenn dieſer Unterjchied oder die Parallare, wie beim Monde, etwa
3400 Secunden beträgt, die Beftimmung der bezüglidden Entfernung nur um
3707 Ihres Werthes, während derjelbe Fehler eine Parallare von nahe 9 Se—
cunden, twie die der Sonne, um 4 ihres Werthes unrichtig machen würde,
In der That befien wir ein Mittel, um die Entfernung des Mondes von
der Erde gewiljermaßen als Standlinie für die Bemeſſung der Sonnen-Entfer-
nung zu benußen. Wir können zwar feinen correfpondirenden Beobachter nad)
dem Monde jenden, aber die jowohl im Sinne der Richtung al3 der Intenſität
ftattfindende Verjchiedenheit der Wirkungen, weldhe Erde und Mond gemäß ihrer
Entfernung von einander und ihrer jedesmaligen relativen Lage zur Sonne von
der Anziehungskraft der leteren erfahren, bringt in der Bewegung des Mon-
des um die Erde außer einigen jehr bedeutenden Ungleihheiten, aus deren auf
der Exde zu beobadhtenden Winkelwerthen das Entfernungsverhältniß der Sonne
und des Mondes herausfällt, eine Anomalie geringeren Betrages, die ſogenannte
parallaktiiche Ungleichheit, hervor, aus welcher wir direct das Verhältniß der
mittleren Entfernung der Sonne zur mittleren Entfernung des Mondes von
der Erde und jomit nad) dem Obigen auch das Verhältniß der Entfernung der
Sonne zu den Dimenfionen de3 Erdkörpers ableiten können, jobald wir durch
anhaltende genaue Beobadhtungen der Mondbewegung den Betrag jener Un—
gleichheit Telbft hinreichend genau fejtgeftellt haben.
Leider ift die theoretijche Ergründung und die fichere Meffung der Bewe—
gungen de3 Mondes dur; manche Schwierigkeiten, unter Anderm auch durd)
die Unficherheit über feine wahre Geftalt, von der er uns ſtets nur eine Seite
zufehrt, und über die Lage ſeines Schwerpunkts, jo verwidelt, daß wir zunächft
mehr danach ftreben müfjen, die parallaktiiche Ungleichheit der Mondbewegung
durch eine anderweitige Meflung der Sonnen-Parallare berechenbar zu maden,
al3 die leßtere aus der Meſſung der Mondbewegungen abzuleiten.
Da es uns aljo verjagt ift, zur Mefjung der Sonnen = Parallare eine in
irdiſchen Maßen gleichartig ausgedrücdte Standlinie über die Dimenfionen der
Erde hinaus zu gewinnen, müfjen wir Mittel und Wege juchen, die rein irdi—
Ihe Meffung der Sonnen = Parallare — deren verhältnigmäßige Genauigkeit
nah dem Obigen unter Anwendung derjelben Methode, wie bei der Mond—
Parallare, nahezu 400 mal geringer jein muß, als bei leßterer — dadurch zu
fihern, daß wir einerjeit3 die trigonometriihe Winkelmeſſung noch mehr ver-
ſchärfen, andererjeits, anftatt die Meffung der Sonnen-Entfernung direct auszu—
führen, una auf die Meffung der Entfernungen folder Himmelskörper verlegen,
die in größere Erdnähe als die Sonne gelangen können, und deren Entfernungen
zugleich zur Sonnen-Entfernung in numerijchen Verhältniffen ftehen, welche una
mit bedeutender Genauigkeit bereit3 anderweitig befannt find.
Bekanntlich wird die letztere Bedingung durch da3 dritte Kepler'ſche Gejet
mit großer Annäherung erfüllt, welches die Umlaufszeiten der Planeten zu ihren
Entfernungen von der Sonne in eine feſte Beziehung jet und dadurch die Ver-
hältniffe aller Entfernungen im ‘Planeten = Syftem unter einander mit großer
Schärfe aus Zeitmejfungen zu beftimmen geftattet.
Bevor wir auf eine nähere Darlegung der hierauf zu begründenden Maß-
Geſchichtliche Darlegung der Bedeutung der Borübergänge der Venus u. |. w. 81
regeln zur Beitimmung der Sonnen-Parallare eingehen, dürfte es an der Zeit
jein, einige häufig auftretende ragen zu beantworten, welche den folgenden
jubtileren Erörterungen über die bejtmögliche Löjung unferer Aufgabe vielleicht
entgegentreten könnten.
Sit es denn, jo hört man oft fragen, wirklich jo wichtig, die Verhältniffe
der Entfernungen der Sonne und der Planeten von uns zu den Dimenfionen
des Erdförpers, überhaupt zu den irdiichen Maßen jehr genau zu beftimmen ?
Genügt es nicht für unjere wiljenichaftliche Neugierde, eine ungefähre dee davon
zu haben, wie viel Millionen Meilen oder Kilometer der eine und der andere
Himmelsförper von uns entfernt ijt?
Eine verhältnigmäßig jehr genaue Entfernungsbeftimmung des Mondes,
jo jagt man, mag noch wünſchenswerth fein, eben weil er uns jo nahe ijt und
deshalb jo ſtarke parallaftiiche Verfchiebungen am Himmel erfährt, und teil
er überhaupt mannigfach mit jeinen Einflüffen in das irdiſche Leben hineinzu—
treten und zu uns zu gehören jcheint, aber wozu eine jo große Mühe auf die
äußerft genaue Entfernung3beftimmung der andern Himmelskörper verwenden ?
Diejen Tragen kann man zunächſt ganz allgemein entgegnen, daß es ein
bewährtes Princip der wiſſenſchaftlichen Forſchung ift, in der Genauigkeit ihrer
Maßbeſtimmungen nirgends eine willfürliche Grenze zu machen, Nichts in un-
genauer Beftimmung liegen zu lafjen, was einer genaueren Beftimmung zu—
gänglich ift, und überall in möglichſt gleichartiger Weije an die Grenze des zur
Zeit Erreihbaren zu dringen.
Bei der Befolgung dieſes Princips kann die Wiſſenſchaft ökonomiſch ver-
fahren, d. h. Eines nad) dem Andern, das ſchwer Zugängliche nad) dem leichter
Erreichbaren vornehmen, aber fie wird niemals irgend ein Erkenntnißgebiet,
auf welchem jie das Thatjächliche noch genauer und vollftändiger zu ermitteln
vermag, nad) altklugen menſchlichen Geſichtspunkten ganz unbebaut Liegen laffen;
denn jie weiß zur Genüge, welche Hülfe fie jchon bisher zur Löſung ihrer
Probleme und gerade der jogenannten „eminent praftiichen” aus der ftrengen
und folgerihtigen Erforihung von jogenannten Subtilitäten gezogen hat.
Aber die genaueftmögliche Beftimmung der Entfernung der Sonne und der
Planeten in irdiihen Maaßen ift für die ganze Aftronomie und jomit für alle
Aufgaben des Lebens, denen dieje ihre Hülfe widmet, jogar ein höchſt dringliches
und eminent „praktisches“ Problem.
Die Unficherheit, welche auf diefem Gebiete noch obwaltet, ift zunächſt und
zwar in Folge der Schwierigkeiten, welche oben bereits erörtert wurden, viel
größer, al3 man gemeiniglic” glaubt. Die frühere Annahme über das Ber-
hältniß des Halbmeflers des Erdäquators zu der Entfernung der Sonne ift
nämlich möglicherweile um -'; ihres Zahlenwerthes zu Klein.
Specieller gefaßt befteht aber die große Bedeutung einer genauen Kenntniß
des Berhältniffes der Nbftände und Dimenfionen im planetariiden Raum zu
den Abjtänder und Dimenfionen im irdiichen und Mondbahn-Raum hauptſächlich
in folgenden beiden Erforderniſſen.
1) Die merklich vericyiedenen Derter an der Himmelsfugel, an denen Die
Sonne, die Planeten und die Kometen unter den faſt unermeßlich entfernten
Deutfche Rundſchau. 1, 4. 6
82 Deutſche Rundicau.
Firfternen nicht nur von verjchiedenen Punkten der Erdoberfläche, jondern aud 3
von den verjchiedenen Punkten aus gejehen werden, welche die Erde in ihrer
monatlichen Bewegung um den gemeinjamen Schwerpunkt des Syſtems Erde-
Mond einnehmen Tann [diefer Schwerpunft fteht befanntlid um etwa des
Halbmeſſers des Erdäquator3 vom Erdmittelpunft ab], fünnen hinreichend ficher
nur dadurch mit einander vergleihbar gemacht werden, daß man die Abftände
jener Himmel3törper mit entiprechender Genauigkeit in denjelben Maaßen be-
ftimmt, in denen und die Dimenfionen der Erde und der Mondbahn bekannt
find. Es ift jomit ſchon das bloße Zuſammenwirken der Aftronomen der ver-
Ichiedenen Erdtheile, welches eine immer genauere Beftimmung jener Maß—
verhältnifje fordert. So lange dieje Verhältniffe noch nicht bis auf eine Fehler—
grenze von etwa yon ihrer Werthe ermittelt worden find, bleibt jede Ver—
gleihung und Verbindung 3. B. der von den Sternwarten der jüdlichen und
der nördlichen Halbkugel gemachten Beobachtungen der Sonne, der Planeten
und der Kometen mit Unficherheiten behaftet, welche die theoretiiche Bearbeitung
diejer Beobachtungen in Betracht der Hierbei zur Zeit erreichbaren anderweitigen
Genauigkeit erheblich beeinträchtigen, jotwie überhaupt die Verwerthung eines
zwedmäßigen Zuſammenwirkens aller Aftronomen der Erde auf dem Gebiete
diefer Meſſungen erſchweren.
2) Die Ausdrücke von ſolchen Kräften und Geſchwindigkeiten, welche ent—
weder in Maßeinheiten der Erde oder in Maßeinheiten des planetariſchen
Raumes ermittelt worden ſind, können ihren abſoluten Beträgen nach mitein—
ander nicht hinreichend ſtrenge verglichen werden, und es können die auf der
Erde ermittelten Wirkungen nicht in den Himmelsraum, die in letzterem er—
mittelten Wirkungen nicht auf die Erde mit genügender Sicherheit übertragen
werden, wenn das Verhältniß der Dimenſionen der Erde und der Mondbahn
zu den Dimenſionen der Planetenbahnen nicht mit größtmöglicher Genauigkeit
bekannt iſt. Es wird z. B. die Anziehungskraft der Erde ſehr genau mittelſt
des ſchwingenden Pendels in Pendellängen, überhaupt in irdiſchen Maßen aus—
gedrückt gefunden; aus dem ſo beſtimmten Maße dieſer Kraft können aber die
ſehr merklichen Einwirkungen, welche dieſelbe Kraft, kombinirt mit der u. A.
aus Ebbe- und Flutherſcheinungen zu beſtimmenden Anziehungskraft des Mon—
des, auch auf die Bewegungen der Sonne, der Planeten und der Kometen
äußert, nur mit einer verhältnißmäßigen Unſicherheit gefunden werden, deren
Maß nahezu den dreifachen Werth der Fehlerquote beträgt, die noch in der
Beſtimmung des Verhältniſſes der Entfernungen dieſer Himmelskörper zu irdiſchen
Maßen und Dimenſionen verblieben iſt. Ebenſo wird der Anziehungskraft der
Sonne durch die Meſſung der Umlaufszeit der Erde um die Sonne mit großer
Genauigkeit gefunden, aber ausgedrückt in einer Maßeinheit, welche der halben
großen Are der von der Erde um die Sonne beſchriebenen Ellipſe nahezu 'ent—
ſpricht. Die Wirkung diefer Anziehungsfraft auf das Syftem Exde- Mond in
Hervorbringung jogenannter Ungleichheiten oder Störungen kann aber nur dann
zuverläjfig genug ermittelt werden, wenn man das Verhältnig der Halbare der
Erdbahn zu den Dimenfionen des Syſtems Erd- Mond binreichend genau be-
ftimmt hat, und zwar beträgt auch hier wieder die relative Unficherheit der
Gelchichtlihe Darlegung der Bedeutung der VBorübergänge der Venus u. |. w. 83
lebertragung der Anziehungswirkung aus dem einen Maßſyſtem in das andere
das Dreifache der relativen Unficherheit unfrer Kenntniß der Verhältniſſe der
Mabeinheiten beider Syfteme. Auch die VBergleihung der himmliſchen und
irdiſchen Beftimmung der Geſchwindigkeiten des Lichtes bedarf einer genaueren
Feſtſehung der in Rede ftehenden Maßverhältniſſe.
Die unter No. 2 foeben aufgeführten Ermittelungen, weldje zur Zeit noch
einer möglichft genauen trigonometriijhen Beitimmung des Verhältniſſes der
irdiſchen Maßeinheit zu den himmlischen Entfernungsmaßen bedürfen, werden
vorausfichtlich dereinft zu den genaueften Beftimmungen diefer Maßverhält-
niffe, ähnlich) wie das dritte Kepler’iche Geje für die Entfernungsverhältniffe
innerhalb de3 Planetenſyſtems, ihrerjeit3 entjcheidende Beiträge liefern, aber
vorausfichtlich erft nachdem durch mehrhundertjährige genaue Beobachtung der
Wirkungen aller jener Kräfte ein möglichſt vollftändiges Prüfungsmaterial da—
für geihaffen fein wird.
Zur Erfüllung aller jener wichtigen und in gewiſſem Sinne für die Er-
tenntniß aller Bewegungen, Kräfte und Gejebe in unjerm Planetenſyſtem funda-
mentalen Forderungen bietet uns nun das oben erwähnte dritte Kepler'ſche
Geſetz außerordentlidye Erleichterungen, indem es zwilchen den Dimenfionen der
Erdbahn und den Dimenfionen aller Planeten- und Kometenbahnen, aljo auch
zwiichen beliebigen Abftänden der Planeten und Kometen von der Erde und
voneinander Verhältniſſe aufftellt, die jich für die Planeten aus ihren Umlaufs—
zeiten um die Sonne und für diejenigen Kometen, welche feine für uns meß—
bare Umlaufszeit haben, aus den Winkelgeihmwindigkeiten ihrer Beivegung am
Himmel mit großer Strenge ermitteln laſſen. Insbeſondere für die Planeten
bietet der Ausdruck jenes von Kepler gefundenen Gejeßes, wonach ſich die halben
großen Aren der von den einzelnen ‘Planeten um die Sonne bejchriebenen
elliptiihen Bahnen zu einander verhalten, wie die Kubikwurzeln aus den Qua—
draten der Umlaufszeiten, den großen Vorzug dar, daß dafjelbe vermöge der
fortwährenden Wiederholung der Umläufe und der dadurch im Verlaufe der
Zeiten ermöglichten beliebigen Genauigkeit der Kenntniß der einzelnen Umlaufs—
zeiten die Verhältniffe der Dimenfionen der Bahnen mit einer Sicherheit zu
beftimmen geftattet, welche durch keinerlei trigonometrijche Wintelmefjung unter
Anwendung derjelben Mefjungsmittel, mit denen die Wiederkehr der Planeten
an denjelben Ort des Himmels jedesmal bejtimmt wird, erlangt werden Tann.
Gilt auch jenes von Kepler gefundene Verhältniß nicht mit abjoluter Strenge,
jondern nur mit einer Annäherung, welche auf der die Maſſe aller andern
Körper unſers Syſtems weit überwiegenden relativen Größe der Sonnenmaffe
beruht, jo laſſen fich doch durch die ſucceſſive Einfügung der Einwirkungen
der allmälig immer genauer bekannt werdenden Maſſen aller Planeten jene
Beziehungen zwijchen Umlaufszeiten und Bahndimenfionen mit einer jo großen
Schärfe ermitteln, dat die Verhältniffe der Entfernungen der verjchiedenen
Planeten von der Sonne und ihrer Abftände von einander ſchon gegenwärtig
mit einer Genauigkeit befannt find, welche die Genauigkeit aller trigonometri-
Er Meſſungen von Entfernungsverhältnifien jelbft auf der Erde weit hinter
äßt.
6*
84 Deutiche Rundicau.
Wir find ſomit auch noch mit viel größerer Sicherheit, als wir auf ber
Erde aus den trigonometrifhen Mefjungen von den Endpunkten einer hinreichend
großen Standlinie das Verhältniß der Entfernung eines Himmelskörpers zu
den Dimenfionen der Erde zu bejtimmen im Stande find, in der Lage, aus dem
Refultate einer jolchen einzelnen Meffung des Abftandes irgend eines Planeten
von der Erde das Gejammtverhältnig zwiſchen den Entfernungsmaßen des
ganzen Planetentyftems und den Dimenfionen de3 Erdkörpers zu bejtimmen.
Natürlich werden wir in Folge der oben exrörterten Genauigfeitsverhältniffe
hierzu die trigonometriichen oder parallaftiichen Beftimmungen des Abjtandes
desjenigen Planeten, der der Erde am nädjten kommen Tann, nämlid) der
Venus, und zwar zur Zeit ihrer größten Erdnähe wählen. Die kürzeſt mögliche
Entfernung der Venus von der Erde beträgt etwa 26 Hundertel oder etwas
mehr al3 4 der mittleren Entfernung der Sonne von der Erde. Der Winkel,
unter welchem zur Zeit diefer kürzeſten Entfernung von der Venus aus der
Halbmefjer des Aequators erjcheint, wird etwa 334 Gecunden und die ent-
iprechende parallaktiſche Verſchiebung, welche der Ort der Venus am Himmel
für die Standlinie von Greenwich zum Gap der guten Hoffnung erfährt, wird
fomit nahezu 50 Secunden betragen, jodaß, wenn e3 gelänge, den Unterjchied
der Richtungen von Greenwich) und von der Gapftadt nad) der Venus zur Zeit
ihrer größten Erdnähe mit der Genauigkeit von einem Zehntel der Secunde zu
beftimmen, das Verhältniß des Abftandes der Venus zu den irdiſchen Maß—
einheiten etwa bi3 auf „4, genau ermittelt jein würde. Natürlich würden hier-
durch, da das Verhältnig des beobachteten fürzeften Abjtandes der Venus von
der Erde zu allen andern Dimenjionen des Planetenſyſtems bis auf verſchwin—
dend Kleine Fehler richtig beftimmt ift, auch die Sonnenentfernung und alle
übrigen Entfernungen im Planetenſyſtem mit derjelben verhältnigmäßigen Ge—
nauigfeit beſtimmt fein.
Leider ift die Venus zur Zeit diejes kürzeſten Abftandes von der Erde nur jehr
jelten für die Erde fihtbar, weil fie um dieje Zeit an denjenigen Stellen ihrer
Bahn ſich befindet, welche zwijchen der Sonne und der Erdbahn liegen, ſodaß
fie im Allgemeinen bei dem Durchgange durch dieje Erdnähe in Folge der dif-
fujen Erleuchtung der atmojphäriichen Luft durch die Sonnenjtrahlen und in
Folge des Umſtandes, daß jie der Erde in diejen Zeiten höchſtens eine ſehr
ihmale Sichel ihrer von der Sonne beleuchteten Hälfte zumendet, meiftens un-
fihtbar bleibt. In denjenigen Fällen aber, in denen der Planet fich zur Zeit der
Erdnähe nicht jcheinbar über oder unter der Sonne, jondern gerade in der Nähe
der Durchſchnittslinie ſeiner Bahnebene mit der Erdbahnebene befindet, und
hierbei eine der von der Erde zu irgend welchen Punkten der leuchtenden
Sonnenſcheibe gezogenen Gelichtslinien paſſirt, wird Venus, während fie
alsdann uns nur die von der Sonne gar nicht beleuchtete Fläche zumwendet, ala
dunkle Scheibe vor den entiprechenden Stellen der Sonnenſcheibe ſichtbar.
Diefe Vorübergänge finden in derartiger Folge ftatt, daß immer zwei in
8 Jahren aufeinanderfolgen, von denen der eine nördlich, der andre ſüdlich von
dem Mittelpuntt der Sonnenſcheibe vor fi geht, und daß dieje zufammen-
Geihichtliche Darlegung der Bedeutung der Vorübergänge der Venus u. |. w. 85
gehörigen Phänomenpaare fi) aladann in abwechjelnden Intervallen von 1131
und 1293 Jahren wiederholen, 3. B. in folgender Reihe von Epochen:
December 1631
December 1639
uni 1761
Juni 1769
December 1874
December 1882
Juni 2004
Juni 2012.
Dieſe Seltenheit des wichtigen Phänomens ſcheint daſſelbe eines großen Theiles
ſeiner Vorzüge für die Löſung der in Rede ſtehenden Aufgabe zu berauben;
denn es iſt eine wichtige Lehre der Meßwiſſenſchaften, daß durch die öftere
Wiederholung einer und derſelben Meſſung zu verſchiedenen Zeitpunkten be—
deutende Verſtärkungen der Sicherheit der Endreſultate gewonnen werden, indem
durch ſolche unabhängige Wiederholungen die Wahrſcheinlichkeit vermehrt wird,
daß unter den undermeidlichen Einflüffen der zahlreichen jogenannten zufälligen
Fehler einander entgegenwirkende auftreten.
Hiernach würden wir vorziehen müffen, Venus nicht blos in ihrer größten
Erdnähe, jondern auch in jolchen Punkten ihrer Bahn zu beobachten, in welchen
fie und immer noch erheblich näher ift, als irgend ein andrer Planet, in welchen
fie aber zugleich einfachere umd in dfterer Wiederkehr zu erfüllende Bedingungen
der Sichtbarkeit darbietet. In joldhen Punkten der Venusbahn, in welchen der
Planet uns noch möglichft nahe ift aber doch hinreichend weit von der Sonne
abfteht, um ſelbſt für geringe optiſche Hülfsmittel und jelbft neben zahlreichen
lichtſchwächeren Firfternen ſichtbar zu fein, ift die Entfernung der Venus von
der Erde nicht Kleiner ala drei Zehntel der Halbare der Erdbahn, während die
Heinjte Erdnähe, in welche der Planet Mars zu wiederholten Malen während
eines Jahrhunderts gelangen kann, 38 Hundertel derjelben Maßeinheit beträgt.
Immer nod würde aljo die Beobachtung der Venus in denjenigen Punkten
ihrer Bahn, in welchen fie ung näher ift als irgend ein andrer Planet und in
melden jie doch alljährlid) bequem gejehen und ihrer Lage nad) mit benad)-
barten Fixſternen verglichen werden kann, das günftigfte Hilfsmittel zur Löſung
unjrer Aufgabe bilden, wenn nicht der Uebelftand hinzuträte, daß in jolchen
Fällen Venus fich meiftens ziemlich nahe dem Horizonte befindet, und daß jomit
bon der unregelmäßigen Wärmemiſchung unſrer atmoſphäriſchen Luft die
Meſſungen ftärkere Beeinträhhtigungen erfahren, als für die geforderte Genauig—
feıt diefer Beftimmungen wünjchenswerth ift. Immerhin würden ſich in grö-
Beren Höhen bei Tage ausgeführte Mefjungen der Lage der Venus zu helleren
Firfternen, angeftellt an jehr weit voneinander entfernten Punkten der Erd—
oberfläche, in den uns nächſten Theilen ihrer Bahn vortheilhaft verwenden
laffen, umſomehr als dann die gleichzeitige Sichtbarkeit der Venus und benach—
barter Fixſterne, welche leteren von der Verjchiedenheit der Standorte auf der
Erdoberfläche wegen ihrer enormen Entfernung feinerlei parallaktiicde Einwir-
kungen mehr erfahren, uns die abjolute parallaktiiche Einwirkung der Verſchie—
86 Deutihe Rundſchau.
denheit der Standorte auf den jcheinbaren Ort der Venus erkennbar machen
würde, während zur Zeit der Vorübergänge der Venus vor der Sonnenfcheibe
ihr relativer Ort innerhalb der leßteren, von verſchiedenen Standorten aus ge-
jehen, nicht um die abjolute parallaktiſche Wirkung, fondern nur um die Dif-
ferenz der parallaftiichen Wirkung auf den Planeten und auf der Sonne ver-
ſchoben erjcheinen wird.
Dem ungeachtet ift-der Vorzug, den die jogenannten Durchgänge der Venus
für die Beftimmung de3 Verhältniffes der irdiſchen und der himmlischen Ent-
fernunggmaße gewähren, ein ganz außerordentlicher und jo wenig durch Beobach—
tungen in irgend einer andern Stellung der Venus oder eined andern Planeten
zu erjeßerygdaß die Aftronomen verpflichtet find, bei der jäcularen Wiederkehr
diejer Phänomene das Aeußerfte an ihre möglichft vollftändige und forgfältige
Ausnutzung zu jeßen.
Zwar werden die Derter der Venus gegen Mittelpunkt und Ränder der
hellen Sonnenſcheibe, von zwei Punkten der Erdoberfläche aus gejehen, deren
Abftand gleich dem Halbmeijer des Erdäquators ift, höchftens um 24—25 Se-
cunden verichieden ericheinen können, während die entiprechenden Ortsverſchieden—
heiten der Venus gegen benachbarte Firfterne in andern noch hinreichend günftigen
Punkten ihrer Bahn, in denen fie öfter gejehen werden kann, bis 30 Secunden
und die des Mars gegen benachbarte irfterne in feiner größten Erdnähe auch
noch etwa 25 Secunden betragen werden. Aber jener geringere Winfelbetrag
der relativen parallaktiſchen Verfchiebung der Venus innerhalb der hellen Son-
nenjcheibe wird dafür durch correfpondirende Mefjungen von möglichft weit
von einander abjtehenden Standorten auf der Erdoberfläche mit viel größerer
Sicherheit beftimmbar fein, al3 irgend eine andere Winkelmeſſung folder parallat-
tiſcher Wirkungen zu erreichen geftattet. Gerade bei correfpondirenden Meſſun—
gen, die möglichjt gleichzeitig an tweit entlegenen Punkten der Erdoberfläche
angeftellt werden müfjen, bietet e8 die größten Schwierigkeiten, die Meſſungs—
inftrumente und ihre Handhabung jo völlig gleich zu machen, daß nicht zu den
parallaktiſchen Verjchiedenheiten, welche durch die Verfchiedenheit der Standorte
entftehen, noch höchſt merkliche Verjchiedenheiten Hinzutreten, welde nur aus
den Bejonderheiten der Ausführung der Meffungen hervorgehen und natürlich
die Zuverläjfigkeit der parallaftiichen Ermittlungen höchft weſentlich trüben.
Schon der erfte Aftronom, welcher auf die Vorzüglichkeit der Venusdurch—
gänge für die Beltimmung der Sonnenentfernung aufmerkſam madte, Edmund
Halley, hob hervor, daß durch die bloße Beobachtung der Zeitpunfte, in welchen
die dunkle Venusſcheibe jih mit der hellen Sonnenjcheibe berühre, mit einer Ge—
nauigfeit, die nur von der Schärfe des beftbewaffneten Sehens, aber von feinem
andern Meßinftrument und auch von Eleinen Fehlern in den Angaben der zeitme):
jenden Inſtrumente nur in verhältnigmäßig geringem Grade abhängig ſei, Wintel-
meljungen an den entlegenften Beobachtungsörtern gewonnen werden könnten, deren
Genauigkeit durch keinerlei noch jo feine Meſſungen mit eingetheilten Kreijen oder
mit Mikrometerſchrauben erreicht werden könne. Halley entgingen hierbei allerdings,
ebenjo wie den meiften Ajtronomen, welche im vorigen Jahrhunderte die Durch—
gänge der Venus beobachteten, in einer durch die damalige Jugend der feineren
Gefchichtliche Darlegung der Bedeutung der Borübergänge ber Venus u. |. w. 87
optiſchen Technik erflärlichen Weiſe, die Bedeutung gewiſſer Eigenthümlichkeiten
der Fernröhre, durch welche in den Zeitpunkten der Berührung der dunklen
Benusfcheibe mit der hellen Sonnenjcheibe merkliche Beobachtungsfehler hervor—
gerufen werden können.
In der That find die Verjchiedenheiten der Leiftungen der damaligen
undollfommenen Fernröhre in Verbindung mit der Unficherheit der Beftim-
mungen der Lage einzelner damals gewählter wichtiger Stationen auf der Erd—
oberfläche die Urſache geworden, daß die Beobachtungen de3 vorigen Jahr—
hundert3, wie e3 ſcheint, nur zu einer ziemlich rohen Beltimmung der Sonnen-
parallare geführt haben. Mit der jhärferen Kritik, mit welcher die gegenwärtige
Beobachtungskunſt aud) die Leiftungen der beiten Fernröhre unterfudht, werden
bei dem bevorftehenden Phänomen diejer Art Fehler de3 oben erörterten Cha-
rakters auf ein verſchwindend Fleines Maß eingefchränkt werden, und zwar
dadurch, daß alle Fernröhre, die an correfpondirenden Stationen zur Beobach—
tung der Berührung von Venus und Sonnenjcheibe dienen jollen, vorher jorg-
fältig miteinander verglichen werden, indem durch bejondere Apparate der
Vorübergang einer dunklen Scheibe vor einer hellen Scheibe in möglichft den—
jelben Berhältniffen, wie fie bei dem Venusdurchgang ſelbſt eintreten werden,
künſtlich dargeftellt, und die abjoluten und relativen Fehler, welche die ein-
zelnen Fernröhre bei diefer Nahahmung des Phänomens zeigen, Scharf genug
ermittelt werden, um jpäter bei der wirklichen Beobachtung in Rechnung ge-
braht erden zu können. Uebrigens wird es bei den Venusdurchgängen des
gegenwärtigen Jahrhundert3 vorausfichtlic auch gelingen, gewifje mikrometriſche
Mefjungsmittel, die fogenannten Heliometer, welche gerade auf Phänomene
ſolcher Art in jehr günftiger Weife anwendbar find, nach den jorgfältigiten vor-
berigen Vergleihungen mit Vortheil anzuwenden.
Endlich aber bietet die Bejonderheit der Venusdurchgänge, nämlich die
Projection des Planeten auf die hellfte natürliche Lichtquelle, welche in den
Heinjten Zeittheilen ſchon photographiiche Wirkungen ausübt, die günftigft denk—
baren Verhältniffe für die Anwendung der Photographie zu völlig objectiven,
von Beobadhtungsfehlern und Fehlern der optiichen Apparate faſt vollftändig
zu befreienden Feftlegungen der Verſchiedenheiten, in welder fi das Durch—
gangsphänomen von den entlegenjten Punkten der Erdoberfläche aus darftellen
wird. Nimmt man nämlid an einer Hinreichenden Zahl von Stationen wäh—
und der 4 bis 5 Stunden betragenden Dauer de3 Phänomens zahlreiche
photographiiche Platten auf, jo kann die mit völlig gleihartigen Mefjungs-
mitteln nachher in Ruhe auszuführende Mefjung der nad) Beobachtungs—
zeit und Beobachtungsort verichiedenen Lage der Venus innerhalb der Sonnen-
ſcheibe zu einer ſolchen Beftimmung der Venusparallaxe und jomit der gefammten
darauf zu begründenden Maßverhältniſſe führen, welche bei jorgfältiger kri—
tiſcher Unterfuhung und Feftftellung des wahrjcheinlichften Werthes, unabhängig
von jeder Erregung des Augenblids und jeder Verſchiedenheit des Geſchickes
und der Umficht der Beobachter vielleicht nicht ihres Gleichen haben kann.
63 wird 3. B. Venus, von den füdlichften für die Beobachtungen taug-
lihen Stationen, den Kerguelen- oder den Macdonaldsinfeln aus gejehen, zur
88 Deutſche Rundſchau.
Zeit ihres kürzeſten Abſtandes von dem Mittelpunkt der Sonnenſcheibe etwa
41 Secunden nördlicher erſcheinen, als von den am weiteſten nördlich gelegenen
noch hinreichend tauglichen Beobachtungsſtationen. Gelingt es nun durch das
Zuſammenwirken der Beobachtungen der Berührungszeiten von Venusſcheibe
und Sonnenſcheibe mit mikrometriſchen Meſſungen und mit Vergleichungen
der von den verſchiedenen Stationen aus aufgenommenen Photographien dieſen
auf 41 Secunden hypothetiſch berechneten Abſtand ſo genau zu beſtimmen, daß
der noch mögliche unbekannte Fehler des Endreſultates aller; Beobachtungen
3 bis 4 Hundertel der Bogenſecunde nicht überfteigt, dann ift das Verhältniß
der Entfernung der Venus von der Erde zu der irdiſchen Maßeinheit, welche
der Beftimmung der Abftände der einzelnen Stationen von einander zu Grunde
gelegt twird, etwa bis auf „un ſeines Werthes befannt und hierdurch beiläufig
für da3 nächſte Jahrhundert die Grenze erreicht, welche für eine möglichft er-
ſchöpfende Erledigung zahlreiher andrer Aufgaben in der nächften Zeit dringendft
gefordert wird,
Das oben unter No. 2 (©. 75) aufgeführte Verfahren der Parallaren-
Beltimmung dur) Benutzung der Drehung der Erde zum Transport eines und
deſſelben Beobadjter3 don einem Ende einer trigonometriſchen Standlinie zum
andern ift bei einem Phänomen, wie da3 vorliegende, nicht mit Vortheil anwend—
bar, weil die beſchränkte Zeitdauer de3 Durchganges die Größe der während
defjelben zurückzulegenden Ortsveränderung des Beobachters einjchräntt. In—
dejjen werden die auf jeder einzelnen Beobachtungs-Station durch die Ortöver-
änderung des Beobachters mit der Drehung der Erde eintretenden jcheinbaren
Bewegungen der Venus auf der Sonnenſcheibe ebenfalls mit in Rechnung
gezogen werden müſſen und auch ihrerſeits Beiträge zur Löfung der Aufgabe
liefern.
Eine bejondere Gunft für die Ajtronomen liegt in dem paarweijen nur
durh 8 Jahre getrennten Eintreten der ſonſt im Allgemeinen nur in Jahr:
hunderten twiederfehrenden Venusdurchgänge. Die erfte diefer Ztwillingserjchei-
nungen giebt der Aftronomie de3 Jahrhunderts die einzige ausreichende Ge-
legenheit zur vollen Erprobung der jedesmaligen neuen Meffungsmethoden,
welche ihr von der gefammten wiſſenſchaftlichen Technik des Zeitalterd darge-
boten werden, und die zweite wird auf Grund aller hierbei gefammelten Er—
fahrungen die möglichft vollfommene Ausnutzung der wichtigen Conftellation
erreichen Lafjen.
Stanzöfifhe Zuflände und Engliſche Deobacter.
Don
Profeſſor Karl Hillebrand in Florenz.
— —
(E. Bulwer, Lord Lytton: „The Parisians,“ 4 vol. Trois-Etoiles:
I.
Lieft man die engliichen Zeitungen und Zeitjchriften mit einiger Negel-
mäßigfeit, jo kann Ginem die auffallende Thatſache nicht entgehen, daß die
franzöſiſchen Berhältniffe darin einen weit größeren und hervorcagenderen Pla
einnehmen, als die des ganzen übrigen Feſtlandes. Dean fragt fi) dann wohl,
worin diejes lebhaftere Intereſſe an Frankreich feinen Grund hat, da doc das
ewige Einerlei der franzöſiſchen Geichichte jeit nahezu einem Jahrhundert Fo
ganz dazu angethan jcheint, die Aufmerkjamkeit der Zufchauer zu ermüden, die
Engländer aber weder durch Blutsverwandtichaft, noch durch Gemeinſamkeit der
Intereſſen, noch auch im Grunde durch befonders lebhafte Sympathie mit Cha-
rafter oder Temperament ihrer Nachbarn jenjeit3 des Ganal3 auf diefe hinge—
twiefen find. Wie fommt’3, daß „Times“, „Daily News“ und „Pal Mall
Gazette”, um nur die drei vornehmften Organe der Tagespreffe zu nennen, all-
morgentlic” lange Spalten mit telegraphiichen Berichten über die Berfailler
Kammerfibungen, ja, über Parijer Leitartikel bringen, während 3. B. die ge-
jeßgeberifche Umwandlung Deutjchlands von 1867—1873, vielleicht eine der be-
deutendften Evolutionen der Weltgejchichte, nirgends eingehend beiprochen, ja
faum vorübergehend erwähnt worden? Denkt man jedod) einen Augenblic über
die Sache na), jo wird man bald eine Menge von Erklärungsgründen ent-
dedfen, deren Einer ſchon hinreichte, und welche zufammengenommen die auf:
fallende Erſcheinung als eine ganz natürliche Hinftellen. Und da müfjen wir
denn, um gerecht zu fein, vor Allem die Natur jelber des franzöſiſchen Geiſtes
und Wejens nennen und mit Julian Schmidt wiederholen: „Es ift wahrlich
„nicht ſchwer, die Fehler diejer Liebenswürdigen Nation herauszufinden ; ſchwer
„iſt es aber, fie nicht zu lieben, wenn man ſich etwas ernftlicher mit ihr be-
„ſchäftigt.“ Auch können die ferneren Formen, mit welchen NRaturanlage den
90 Deutſche Rundſchau.
Franzoſen ausgeſtattet und die ein alter Wohlſtand ihm zu pflegen erlaubt hat,
dem ſo ſtreng auf äußere Sitte haltenden Britten nur wohlthuend ſein, wenn
fie auch ſeinem undemonſtrativen Sinne manchmal etwas übertrieben, ja ſogar
ein klein wenig lächerlich vorkommen mögen. Der dramatiſche Charakter der
franzöſiſchen Zeitgeſchichte, die ſtets nur vierte Aufzüge zu haben ſcheint und,
gleich gewiſſen modernen Schauſpielen, gerade wenn die Löſung unabwendbar
ſcheint, den Knoten immer wieder von Neuem ſchürzt, die Kunft der Inſcenirung
und die ſchöne Diction der Spieler, welche nie fehlen und dem gerade aufge-
führten Stüde, jo verbraucht auch Gegenftand, Grundgedanke, ja Situationen
fein mögen, ftet3 neue Anziehungskraft leihen; die verwandte, leichtverftändliche
Sprache, die geographiihe Nähe — ijt doc) Paris jo nahe ala Edinburg —
Alles das trägt dazu bei, die Neugierde des englifchen Publicums für franzöft-
ſche Dinge rege zu halten.
Dazu kommt aber noch ein Anderes, mächtig Bejtimmendes: England und
Frankreich find jeit faft einem YJahrtaufend in ununterbrochner Beziehung zu
einander geblieben. Krieg und Belit führte den Inſelbewohner Jahrhunderte
lang in das ſchöne Land. Sprade, Literatur, politijches Leben ftanden,
wenigftens wa3 die Form anlangt, unter vorwiegend franzöſiſchem Einfluß jeit
ihrem GEntftehen. Auch ſpäter no, nad) dem endlichen Sieg des ſächſiſchen
Glementes im Inſelreich, dauerte der bald feindlihe, bald freundliche Verkehr
fort. Die Dynaftien beider Länder im 17. Jahrhundert waren enge ver=
ſchwägert, und. man weiß, wie tonangebend, tiefgreifend damals das Beilpiel
der Höfe war. Wiederum wie zu Chaucer’3 Zeiten hatte die franzöfiiche Dicht-
kunſt einen großen Vorjprung: auch die Männer, welche unter Königin Anna
die englifche Literatur erneuerten und reinigten, waren von ganz franzöfiicher
Bildung, überzeugte Bewunderer der franzöſiſchen Mufter. Bon da an ift die
Wechſelwirkung ununterbrochen. Die englijche und franzöfiiche Aufklärung find
enge Verbündete; die größten Geifter des Jahrhunderts, Montesquieu, Voltaire,
wenden ihre Blide, ja ihre Schritte nad; England, ſelbſt Roufjeau verihmäht
es nicht, dort ein Aſyl zu ſuchen, — freilih in anderer Gefinnung und mit
weniger Nuten al3 einft Saint-Evremond. Wie Bolingbrofe, Chefterfield,
Walpole hinwiederum jich zu halben Pariſern machten; wie jo der gejeljichaft-
liche Verkehr mit dem literarifchen und wiſſenſchaftlichen Hand in Hand ging,
wie die politiſche Feindſchaft an der Scheide beider Jahrhunderte England gleidh-
jam dazu zwang, fein unmwillig Auge ftet3 auf Frankreich geheftet zu halten, —
Alles das ift ja Jedem gegenwärtig; Alles das aber macht jene Gemeinſamkeit
der Gultur, jenen Vorjprung namentlich der Cultur aus, welche beide Länder
vor dem Reſte Europa’3 voraus haben; denn was war zu jener Zeit der Zu—
ftand de3 übrigen Europa, ftaatlich, geſellſchaftlich, Literarijch, im Vergleich mit
dem der beiden Weftländer wenn nicht eitel Barbarei oder todähnliche Lähmung.
In andern Worten, während des 18. Jahrhunderts war der Schauplat der Welt-
geihichte in Frankreich) und England, wie ex einft in Griechenland und Rom, in
Italien und Deutſchland, in Spanien und den Niederlanden geweſen. Heute
iſt ex freilich) nicht mehr dort; aber es braucht mehr als Yahrzehnte, um ein ſo
großes Factum, wie dieſe Scenenveränderung, zu begreifen, in ſich aufzunehmen:
Franzöſiſche Zuftände und Englifche Beobachter. 9]
Frankreich Jah noch bi auf Corneille, ja bis auf Moliere, nad) Spanien und
Stalien hinüber. Unſere ganze europäiſche Cultur von Heute ruht im Grunde
noch auf der vereinten Arbeit Frankreichs und Englands im vorigen Jahr—
hunderte, wie die der fommenden Periode wahricheinlih der Hauptſache nad
auf der Arbeit Deutjchlands von Herder und Kant bis auf Schopenhauer
ruhen wird.
Merkwürdig bleibt die Verſchiedenheit der Beurtheilung und Auffaffung
franzöfiichen Weſens in den verjchiedenen Claſſen der englifchen Gejellichaft, den
verſchiedenen Parteien, den verjchiedenen Zeiten. Wie natürlich, fteht die ele-
gante Welt, vor Allem der Hof, beinahe ausnahmsweiſe dem eleganten Frank—
rei) beiwundernd gegenüber, während die Mkittelclaffen im Allgemeinen den
leichten Nachbarn bald Mißtrauen und Neid, bald Haß und Verachtung ent-
gegenbringen. Je nachdem nun bet dem vorwiegend politiich-geftimmten Inſel—
volfe die höfiſch-vornehmen Kreiſe oder die puritantich- bürgerlichen Elemente
vorherrſchen, tritt die eine oder die andere Anjchauungsweije in den Vorder—
grund. Shafejpeare unter der proteftantifchen Elifabeth behandelt die Franzojen
immer nur al3 große Kinder, mit der jelbftbewußten lleberlegenheit des Mannes ;
etiva wie der Angelſachſe jpäter vom Irländer oder Hindu redet. Unter dem
Commonwealth erreicht die nationale Antipathie ihren Höhepunkt: man fieht
im Franzofen nur nocd den Vertreter de3 Papismus, den abergläubijchen,
herrſchſüchtigen, gewilfenlojen Jeſuiten; wie man hundertfünfzig Jahre jpäter
in ihm nur den Sans Gulotte, den „Halbaffen, Halbtiger” Voltaire's jehen
will. Mit ganz anderen Augen jieht das England der Stuart’3 das Geburt3-
land Henriettens, der Mutter, da3 Adoptiv-Vaterland Henriettens, der Tochter,
die Heimath des Chevalier de Grammont an: die franzöfiiche Provenienz allein
genügt ſchon al3 wirkſamſter Empfehlungsbrief; fie ift der Stempel, der einem
Menſchen, einem Werke, einem Gedanken, wie dem Kleide, erſt Werth und
Anerkennung verſchafft. Der Franzoſe wird als Lehrmeifter, als Mufter, als
deal alles Defjen angejehen, was das Leben lebenswerth macht; diefem deal
nahe zu kommen als der höchfte Ehrgeiz, während die mittleren Schichten in
religiög-fittliher Strenge und Kurzfichtigkeit ganz Frankreich für ein Land von
Roué's und Atheiften hält, das niedre Volt aber bei feinem ſchon gar frühe
ausgebildeten Typus des jchäbigen, beweglichen, iiberhöflichen , harmlos = eitlen
franzöſiſchen Haarkräuslers und Tanzmeifters bleibt, der auch allen Verſuchen
des Demagogen ihn durch den Revolutionshelden in der Blouje zu erjeßen,
wibderftanden hat. Nicht viel ander? aber war e3 unter der Königin Anna und
nod unter Georg IV., nicht viel anders ift e8 heute, wo der antifranzöfiichen
Strömung der vierziger Jahre in der Politik ſchon längft, jeit einem Jahrzehnt
auch, durch den Hof der Zukunft begünftigt, in der Geſellſchaft, eine entgegengefeßte
Richtung gefolgt ift. Zugleich hat fi — vielleicht zum erſten Male in fo auf:
fallender Weile — in den Mittelclaffen eine entjchiedene Reaction zu Gunften
Frankreichs und der franzöſiſchen Ideen geregt. Das erſte Phänomen ift leichter
zu erklären, al3 das zweite, Doch find beide im Grunde gleich natürlich.
Zmei Männer, und zwar — o Ironie de3 Schickſals — der Enfel des
großen Feindes von Albion, und der lebte Träger der traditionellen antifran-
092 Deutihe Rundſchau.
zöfifhen Politik Großbritanniens, bewerkftelligten jenen großen Umſchwung in
der engliſchen Politik und Gejellihaft. Napoleon IH. und Palmerfton war e3
vorbehalten, jene entente cordiale zu verwirklichen, welche Guizot jo lange
vergeblich angeftrebt hatte. Das Bündniß gegen Rußland, der Parijer Frieden,
der Handelsvertrag von 1860 waren die mächtigen Inſtrumente, die gegenjeitigen
Bejuche der Souveräne die officielle Aeußerung jenes Umſchwungs. Die dem
Prinz-Conſorten, mit Recht oder Unrecht, beigemefjene antizengliide Haltung
während des Krimkrieges trug nicht wenig dazu bei, die hohe Gejellihaft Eng-
lands den deutſchen Einflüffen ab-, den franzöſiſchen zuzuwenden. Auch auf das
Bürgerthum verfehlte die, nicht einmal eriwiejene, Thatjache ihren Eindrud nicht;
doch war hier ebenfall3 da3 Hauptmotiv der Umwandlung ein anderes, wenn
auch nicht jenes der äußeren Politik entnommene. Recht im Gegentheil waren
e3 die Streitpunfte der inneren Politik, welche die Sympathien der Mittel-
claffen mehr nad Frankreich lenkten. Die rationaliftiihe und demokratiſche
Bewegung, welche jeit etwa fünfzehn bis zwanzig Jahren in England gegen
Staatsreligion und Ariftofratie anfämpft und, halb unbewußt, das unter-
brocdhene Werk der Puritaner des 18. Jahrhunderts wieder aufgenommen und
fortgejegt hat, fand ihre Doctrin am Neinften dargeftellt, am Vollftändigften
verwirklicht in Frankreich; man ſchloß die Augen vor dem Factum des Trans
zöſiſchen Katholicsmus, man wollte in der Napoleoniihen Monarchie nur ein
vorübergehendes Accidens jehen und beftand darauf, den wahren Glauben Frank—
reichs nur in der demofratiichen und rationaliſtiſchen Doctrin der franzöfiichen
Republicaner zu jehen, die Givilordnung, die Juftiz, die Verwaltung Frankreichs
al3 die, wenigſtens annähernde, Verwirklichung des Gleichheits- und Laienſtaats
der vaterländiichen Ariftofratie und Staatskirche entgegenzuftellen. Die An-
wejenheit vieler Häupter der republicaniichen Partei in London beftärkte noch
den Wahn. Die Form, welde der franzöfiiche Radicalismus im 19. Jahr—
hundert hie und da angenommen — die philojophiiche Doctrine A. Comte's und
die politiihe E. Laboulaye's — war übrigens ganz dazu angethan, die erniten,
überzeugten, leichtgläubigen Engländer, welche die Form des franzöfiichen Radi-
calismu3 im vorigen Jahrhunderte abgejchredt Hatte, mit diefem zu verjühnen.
Zugleich forderte fie der in Deutjchland immer mehr auf die Spitze getriebene
Hiltortsmus — man erlaube mir das ungefüge Wort — und die dort nod)
blühende metaphyfiihe Speculation zu immer entjchiedenerem Widerjpruche
heraus. Freilich fand auch die deutſche Jdee im englifchen Gelehrtenftand einen
genialen Vorkämpfer; aber wie vereinzelt fteht doch Garlyle neben einem John
Stuart Mill, um den ſich eine zahlloje Schaar von Jüngern drängte und dejjen
Einfluß ſich noch immer in Preſſe und Parlament fühlbar macht! Dazu
fommt eine nicht unbedeutende Anzahl Solder, die der politiſchen Doctrin ferne
jtehen, wie 3. B. Dickens, aber durch Lebensgewohnheit im heiteren Frankreich,
und verführt durch die Liebenswürdigkeit des franzöfiichen Privatmenſchen, auch
wohl, ohne ſich's zu geftehen, durch die Bequemlichkeit einer für Alle jorgenden
Staat3ordnung verwöhnt, eine jehr natürliche Vorliebe für die Nation und ihre
Zuftände gewonnen haben. Die Abnahme des, oft etwas ftrengen und derben,
aber Fräftigen und gefunden jittlichen Gefühls und Urtheils, welches einſt die
Hranzöfiiche Zuftände und Engliiche Beobachter. 03
Nation Eennzeichnete, trat bejonderd auffällig während des Krieges von 1870
in der weibijchenervöjen Parteinahme für den Unterliegenden hervor, deſſen Un—
recht man dort mit ungzerftörbarem Wahrheitsfinn zugab. Doch wer mag fid)
unterfangen zu entjcheiden, welche Tugend die höhere ift, die herbe der Gerech—
tigkeit oder die milde de3 Mitleidens?
Nun ift e8 aber nicht felten, daß der Inſulaner noch weiter geht, ‘Partei
ergreift in den innern Angelegenheiten der Nachbarn, ſich leidenschaftlich
für oder gegen die Regierung Frankreichs erklärt, und dieje jeine Gefinnung
im Vaterlande zu verbreiten ſucht. Nirgends, kaum in Frankreich jelber, hat
Napoleon III. heftigere Feinde und ergebnere Freunde gehabt al3 in England.
Die Einen ſahen in ihm nicht nur mit echt engliichem Gefühl für Rechtlichkeit
und Sittlichkeit den Eidbrüchigen und Sittenlofen, fondern vor Allem den Ver-
treter eines Regierungsiyftens, das eben nicht geeignet war, ihrem demokrati—
ſchen Ideale — unter dem es doch wiederum allein möglich — Anhänger zu
erwerben; die Andern rühmten den modernen Menjchen auf dem Throne, den
Kenner de3 Auslandes, vor Allem Großbritanniens, an der Spite Frankreichs,
den vorurtheilslofen Stifter de3 weltländiichen Bündniſſes und des Freihandels,
den überzeugten Freund Englands. Wie wenig die franzöfiichen Republicaner
an öffentlicher und privater Sittlichkeit der kaiſerlichen Regierung nachgaben,
ſah der an der Oberfläche haftende Bli der voreingenommenen Gegner des
Kaiſers nicht, die mit englifcher Naivität und engliihem Wahrheitsglauben die
ganze fittlihe Phrafeologie der franzöfiihen Republicaner für baare Münze
nahmen. Wie geringe Widerftandskraft aber die gutmüthig wohlwollende Natur
des Kaiſers den napoleoniichen Traditionen feiner Umgebung entgegenzufeßen
hatte, wollten die Bewunderer des Mannes ihrerjeit3 nicht einjehen, weil fie
noch immer bei ihm einen Reſt jener Energie vorausjeßten, die einft jo Kühnes
getvagt und vollbracht.
63 ſteht uns frei, beide Strömungen in der jehönen oder der politiichen
Literatur zu verfolgen, und wenn wir die Erftere vorziehen, jo ift es nicht
allein, weil nach Ariftoteles’ viel citirtem Ausspruch die Poefie mehr Wahrheit,
jedenfalls eine höhere Wahrheit enthält, als die thatſächliche Geſchichte, ſondern
vor Allem, weil fie die Leidenichaft weniger anregt und herausfordert und ung
in ruhigere Sphären verjeßt, als diejenigen find, in denen die politiichen Schrift-
fteller Englands ſich bewegen, welche ſich in den leiten Jahren mit Frankreich
beihäftigt und meift auf's Heftigſte nicht nur für die Befiegten gegen die Sieger
von Sedan, jondern auch für die Republik, ja die Commune gegen das Staijer-
reich Partei ergriffen. Aber auch die engliichen Dichter und Romanſchriftſteller
haben ſich vielfach mit dem Nachbarlande abgegeben. Am Bejten Tannte, liebte
und durchſchaute e8 Thaderay; mehr auf der Oberfläche blieb, feiner Gewohn-
heit gemäß, Charles Didens, deſſen Beobachtung weniger auf den Grund-
charakter und die Weltanſchauung der Menjchen, als auf ihre Sitten und Eigen-
heiten (oddities) zu gehen pflegte. Beide reichen aber jchon in frühere Jahre
zurüd. Unter den jet lebenden Romanjchriftitellern hat der — oder vielmehr
die — Bielgelefenfte, wenn aud nicht Höchftgeihäßte, vielfah Frankreich zum
Schauplat, die Franzojen zu Helden ihrer phantaſtiſchen Erzählungen gewählt;
04 Deutſche Rundſchau.
doch beruht das Alles eben nur auf Phantaſie, die Beobachtung hat damit gar
Nichts zu thun. Vielleicht auch hat die ungemeſſene Bewunderung alles Fran—
zöſiſchen die Augen der fruchtbaren faſhionablen Schriftſtellerin geblendet, aber ihr
Frankreich hat mit dem wirklichen abſolut Nichts gemein und kann deshalb füglich
hier unberückſichtigt bleiben. Dagegen liegen vor uns zwei Werke, die, beide
voll der wärmſten Sympathie für Frankreich und mit der genaueſten Kenntniß
der Verhältniffe, jene zwei Richtungen der engliſchen Meinung in Bezug auf
das Nachbarland, Elar veranjichauliden. Eines der drei pofthumen Werke Bul-
wer’3, „the Parisians“, giebt uns eine Schilderung der politifchen und
jocialen Zuftände Frankreichs unmittelbar vor Ausbruch des Krieges. Herr
Trois-Etoiles, — ein Pjeudonym Grenville-Mtoret’3, des geiftreihen Schilderers
deutſcher und franzöfiicher Dinge in der „Pall Mall Gazette”, — führt una
in die fünfziger Jahre zurüd. Sein Roman, der im Ton und der anti=im=
perialiftiihen Parteiftellung Kinglake's Geſchichtswerke ähnelt, jchließt ich alfo
auch der Zeit nach dem berühmten „Krimfriege“ an. „The Member for Paris‘
it das Werk eines äußerft begabten Schriftftellers und eines jchärferen Beob-
achters, eines Sachkundigeren ala Bulmwer, der hingegen wiederum die höhere
Bildung, den weiteren Gefichtäfreis, die humanere Gefinnung für fi) hat. Der
alte Idealiſt führt uns unzählige Typen der Pariſer Gejellihaft vor, die troß
ihrer idealen Allgemeinheit voller Wahrheit find; der junge Realift ftellt uns,
mit leichter Namensveränderung, Herrn Billault und Paul de Caſſagnac, Herrn
Thierd und Arjene Houfjaye, Jules Favre und Villemeſſant, ja jelbft Herrn
Worth, den Damenjchneider vor und zeichnet Porträts, deren Aehnlichkeit
Nichts zu wünſchen übrig läßt, wenn aud die Kunft des Malers nit immer
vollendet zu nennen ıft. Während Bulwer den Strömungen der öffentlichen Mei-
nung und den Ideen nachgeht und die herrichenden Gefinnungen der verjchie-
denen Claſſen jhildert, bringt und Trois-Etoiles von dem Polizeilocal in’s Ge-
fängniß, aus dem Vorzimmer des Minifterd in den Salon des Financiers, aus
der Heitungsredaction in’3 Palais de Yuftice, aus dem gejeßgebenden Körper
auf den fajhionabeln Mastenball, von einer Deputirtenwahl zu einem Demon-
ftrationsbegräbnig — kurz, objchon der Knoten des Romans bei ihm fefter ge—
ihlungen ift als bei dem profejjionellen Novelliften, beruhen jeine Scilde-
rungen doch ausschließlicher auf wirklicher Beobachtung als die feines berühmten
Rivalen. Beide Werke aber, da3 des philofophijchen Dichters und das des
jatiriichen Photographen, geben zufammengehalten ein recht treues Bild weniger
Frankreichs unterm zweiten Kaiferreiche, als der Geftalt, welche dieſes Frank—
reich in den beften Köpfen Englands annahm. Die Engländer haben zwar im
Allgemeinen die beneidenswerthe Gewohnheit nicht? zu generaliren, jondern das
Einzelne als Einzelnes zu betrachten und gelten zu laſſen. Hier find aber
denn doc beinahe alle Figuren als Typen, beinahe alle Verhältniſſe ala die
normalen anzunehmen, und es lohnt ſich wohl der Mühe, den beiden geiſt—
reihen Romanſchreibern zu folgen, nicht um ihre Erzählungen zu analyfiren,
noch weniger jie äſthetiſch zu würdigen, jondern um die dichteriiche Erzählung
gleihjam in eine Hiftorifche Studie umzufegen. Der gelehrtefte Geſchichts—
Ichreiber des franzöſiſchen Staates kann etwas von den englifchen Zeugen lernen
Franzöſiſche Zuftände und Engliſche Beobadht
\ r
I. 2 NSALI?
In wenig Ländern find die Glafjen gejchiedner ala in dem gelöbten Lände
bemofratiiher Gleichheit; „und jede Clafje ift“, wie Bulwer's Journaliſt meint,
„nicht nur bereit anzuerkennen, daß alle anderen corrupt find, Jondern auch zu—
„zugeben, daß in ihr jelber Alles nicht ganz geſund ſein könne, jo lange die an-
„dern nicht reformirt würden”. Die Ereigniffe aber haben diejer natürlichen
Trennung noch die unnatürliche Trennung in politifche Parteien hinzugefügt, welche
freili hin und wieder mit den Glafjen zufammenfallen. Doc würde man fich
den gröbften Mißgriffen ausjegen, wollte man ohne Weiteres den alten Adel
als legitimiftiich, die Finanz und Armee al3 bonapartiftiih, den wohlhabenderen
und angejehneren Theil der Bourgevifie, der Literatur und des Barreaus ala
orleaniftiich, Kleinbürger und Mehrzahl der ftudirten Leute al3 gemäßigte Repu-
blifaner, die Arbeiter endlich ala Radicale und Communiften anjehen. Solche
Goincidenzen der jocialen und politiichen Gruppen der Nation dürfen nur mit
größter Vorfiht und als eine ganz allgemeine Orientirung im Labyrinthe der
franzöſiſchen Geſellſchaft feftgehalten werden.
Die mächtige und einflußreiche, vielbeneidete Stellung des reichen Adels in
Frankreich ift, jelbft nach achtzig Jahren der Revolution, eine Thatjache, welche
ber Fremde, der nur in Paris, und da nur in den politifchen, Literariichen
oder finanziellen Kreijen lebt, leicht überfieht. Nicht jo der intelligente Beobachter,
dem die Gelegenheit geworden, dem franzöfiichen Leben wirklich näher zu treten.
Er kennt mehr ald ein Städtchen Hautbourg, da3 die Blide nicht von dem
Herrenſchloſſe wegwendet, wo der Duc von Hautbourg und Glairefontaine feinen
Hof hält, und das Füllhorn feines durd) die Mitgift irgend einer Mit Guinea-
man wiederhergeftellten Reichthumes über die dankbare Gegend ausjchüttet.
Seine Equipagen, jeine Meute, feine Treib- und Hebjagden, jeine Gäjte und
feine Dienerihaft find der Lieblingsgegenftand aller Unterhaltungen, und kömmt
der Wahltag, nun jo vermag der republikaniſche Winfeladvofat und fein Freund,
der Doctor, nichts, der Unterpräfeet und Maire wenig gegen den Herrn Herzog,
feine Bettern, Lieferanten und Pfarrer, wenn er ander3 überhaupt fich dazu
berablafjen will, im gejeßgebenden Körper eines Bonaparte zu fiten, oder gar
die Unterftüßung des kaiſerlichen Herren Unterpräfeets und des Herrn Maire
von Hautbourg anzunehmen.
In Paris freilicy dient manches hötel entre cour et jardin jebt einem
MWechjelagenten oder einer Feuerverſicherungsgeſellſchaft als Wohnſitz; aber wenn
der junge verarmte Marquis de Nochebriant auch nur noch als Mtiether einer
Manfarde in das Palais feiner Bäter ziehen kann, jo braucht er nur feine Blicke
auf das Hötel de VBandemar gegenüber zu richten, wo das Familienwappen der
Dandemar no prangt, aus dejjen Thorweg eben feine VBettern auf fehlerlojen
englifchen VBollblutpferden heraus reiten, in deſſen hoben getäfelten Räumen jein
Onkel, der alte Graf Vandemar, ihn als Familienglied nicht verleugnen wird.
Freilich ein Voltairianer ift der alte Graf Bulwer's ebenjo wenig, als feine
Söhne ſich durdy ein von ihnen commanditirtes Lädchen ihr Tajchengeld ver-
mehren, oder al3 Trois-Etoiles’ vehtmäßiger Herzog von Hautbourg Republikaner
96 Deutiche Rundichau.
und Advokat ift. Bon dem freien Gedanken, der die franzöfiiche Ariftofratie
de3 vorigen Jahrhunderts ehrte und adelte, ift feine Spur mehr vorhanden;
und mit der Laterne des Diogenes dürfte man vergebens im ganzen Faubourg Saint
Germain nad) irreligiöfen Spöttern ſuchen. Auch an’3 Geldmachen denkt nod
gar mancher hohe Herr, aber er zieht jicherlich eine reihe Heirath mit Herrn
Poirier’3 Tochter, eine Börjentpeculation oder eine recette generale dem mageren
Verdienſte eines Lädchens oder der harten Arbeit de3 Forums vor. Und gar
ein Republifaner von jechzehn Ahnen, mit Schloß und Park, ift eine Erjchei-
nung, die moraliih durchaus unmöglih ift: man fieht, ſelbſt die beftunter-
richteten Engländer lafjen fi) von den frühe empfangenen Eindrüden, namentlich
von den Erinnerungen an da3 Frankreich des 18ten Jahrhunderts irre führen.
Schöne Tugenden hat fich deshalb der alte franzöfiiche Adel doch bewahrt.
Neben viel conventioneller Kirchengeherei und Faſterei begegnet man wol aud)
noch öfter hier al3 in irgend einer andern Glaffe der aufrichtigen, warmen,
hülfreihen Frömmigkeit eines jungen Raoul de Vandemar; neben dem verlebten
Spieler und dem calculirenden Rennpferdezüchter des Jockey-Clubs dem ritter-
lien Ehrgefühl und hohen Sinne eines Enguerrand; neben dem teiten Ge=
wiſſen des kaiſerlichen Generalpächters der loyalen Bajallentreue Alain's de
Rochebriant; neben der Nimrodsroheit und Ignoranz der Mehrzahl dem poli—
tiihen Berftande und den erquifiten Formen eines Vicomte de Mauleon; vor
allem aber und beinahe ausnahmslos dem Muth und Patriotismus, der in
der Stunde der Gefahr die Gewohnheiten des Wohlleben3, wie die anerzogenen
Borurtheile zu vergefien weiß, um nur dem VBaterlande zu dienen: fein Stand
hat ſich 1870 aufopfernder, heldenmüthiger, parteilojer gezeigt al3 der alte Adel.
„Ihre Söhne waren die Erſten unter jenen Soldaten, die nie einen Führer
„verläumdeten, nie vor dem Tyeinde flohen; ihre Frauen waren unter den eifrigften
„und jorglichften Wärterinnen der Ambulancen, die fie geftiftet hatten und be-
„dienten; ihre Käufer hatten jich weit geöffnet, den Vertriebenen der Vorſtädte,
„wie den Kranken und Verwundeten. Die Hülfe, die fie aus ihren, durch die
„Ereigniffe beſchränkten Mitteln ohne Schau geipendet, al3 der Hunger begann,
„würde unglaublich jcheinen, wollte man fie berechnen.“ Freilich in Friedens—
zeiten hält fich derjelbe Adel meift für verpflichtet abjeit3 vom öffentlichen Leben
der Nation zu ftehen. „So lange Heinrich V. lebt”, jagt Raoul de Vandemar
zu jeinem Better Alain beim Heimfehren aus dem warmen Boudoir und der
warmen Gejellichaft einer frommen Freundin und ihres Vertrauten, des treff-
lichen Abbe de Vertpre, „jo lange Heinrich V. lebt, können wir feine thätigen
Bürger, müſſen wir trauernde Zufchauer fein.” So ift denn die Enttäuſchung
und Entjagung des legitimiftiichen Adels nur allzu natürlich. Vielfache Be—
ziehungen zum bürgerlichen Großgrundbeſitz, der feinerlei politiſche Fahne hat
eriveden dann wol den Gedanken an die Hoffnungslofigkeit der Partei, und
lieber, al3 fie fid) mit den verwandten Thronräubern von 1830 verftändigen,
wenden jie fi) dem Kaifer zu, der einmal im Belite ift und nur das in den
Koth gefallene Scepter Frankreich aufgerafft, nicht e3 den Händen der legitimen
Fürſten entwunden bat; ja jelbft jet, wo wiederum die Ausfichten ihres Ober:
hauptes verſchwinden, ſchließen fie fich in ihrer Rancune gegen den jüngeren Zweig
Franzöſiſche Zuftände und Engliihe Beobachter. 97
der Familie und in der, Allen Beſitzenden gemeinfamen, Furcht vor der Republik
wieder der Faijerlichen Partei an. Die Armee, in deren Officierforps zwanzig
Jahre lang kein loyaler Name zu lejen war, füllte jich jeit 1860 mit Söhnen
legitimiftiicher Yamilien. Wie mächtig noch immer der Einfluß diejes Adels,
beweijen die Wahlen zum Frieden (Februar 1871); aber jo mächtig ift eben kein
Einfluß, daß er die Revolution ungeſchehen, Heinrich V. möglich machen könnte,
io lange er ſelbſt fich ala ein „Ufer“ betrachtet, an welches das Wrad Frank—
wis doch am Ende antreiben müſſe, anftatt wie ein muthiger Schiffer den
Nahen zu befteigen und zur Rettung der Schiffbrüchigen die Hand zu bieten.
Was Wunder, wenn jich die Blicke jelbft der Treuften nad) jenen Abenteurern
wenden, die wenigftens nie — die Hände in den Taſchen behalten?
Auffallender Weije ſchien und jcheint der reiche napoleonijche Adel viel tveniger
geneigt das verwegene Schiff der Bonaparte zu bejteigen. Bulwer's Herzogin
von Tarascon, die trefflic; mit der Finanz, wie mit dem legitimiftiihen Fau—
bourg ſteht, Trois-Etoile's Fürſt von Arcola, der fi) jogar zum Oppofitiong-
Sandidaten hergiebt, find ganz aus dem Leben gegriffen. Eher wären ihre Ten-
denzen orleaniſtiſch; vergefjen fie doch nicht, daß fie unter Ludwig Philipp zu-
erit wieder angefangen Figur zu machen. Ebenſo zeigten der parlamentarijche
Abel oder noblesse de robe, und die alt etablirte jolide Finanz, wenn aud)
feine Fyeindjeligkeit, doch eine würdevolle Zurückhaltung unter dem zweiten Kaijer-
reich. Diefe Kreife nun ſchildern unſere Engländer durchaus nicht, hauptſächlich
twol, weil fie dem Romanjchriftiteller wenig Stoff bieten. Les peuples heureux
nont pas d’histoire, jagt der Franzoſe; man könnte das Wort variiren: ruhige
Leute haben feine Romane. Doch ift dies eine empfindliche Lücke. Lieſt man
unſre beiden Gewährsmänner, jo jollte man glauben, e3 gäbe in Frankreich nur
politifirende Advofaten, jervile Richter, verjimpelte Notare und ſchwindelnde
Finanzmänner, während im Gegentheil die Mehrzahl in diefen Ständen dem
Profeſſionsgeſchäft mit unermüdlichem Eifer, gewiſſenhafter Ordnung, vorwurfs—
fteiefter Redlichkeit obliegt. Langweilig mögen dieje Kreije fein, aber fie machen
doch immer ein Hauptbeftandtheil der Pariſer Gefellichaft aus, fie repräfentiren
im Familienleben wie im Berufsleben den unverwüſtlichen, gefunden Kern Frank—
reichs, um den herum jich immer wieder nad) den furchtbarſten Stürmen und
Zerſtörungen neues Leben anſetzt. Auch find fie, was die Engländer nicht jehen,
die treuften Bewahrer der großen literariichen Traditionen ihres Vaterlandes,
welde die Tages- Literaten nur allzuoft zu vernichten drohen. Freilich haben
ſich ſchon jeit geraumer Zeit viel unreine Elemente zugedrängt, oft gefinnungs-
tüchtige Republikaner, wie Bulwer's Banquier Louvier, die Liberalen aus Louis
Philippe's Zeit, in denen noch der Ha des bürgerlichen Erwerbers adliger National-
güter Tebt und der demokratiiche Neid des Parvenu mehr als Genußjuht und
oftentatorifche Eitelkeit die Habgier ſtachelt, meift aber moderne Gründer, von
denen Mr. Grenville Moret in der Perſon M. Macrobe's ein jo ſprechendes
Bild gezeichnet, weit ähnlicher jedenfalls als Bulwer’s genialer und matellofer
imperialiftiicher Speculant M. Dupleffis.
„M. Macrobe hatte die dee des Credit Paristen in einem glüdlidhen
„Augenblid empfangen und verwirklicht. Am Tage nach dem Staatsjtreich von
Teutiche Rundſchau. I, 4.
98 Deutihe Rundichau.
„1851 gab es eine zahlreiche und höchſt intereffante Elafje von Leuten, die früher
„nie einen Gentime bejejlen, nun aber plößlich zu Ehren und einträglichen Wür-
„den gelangt waren. Dieje Leute, welche eine factiöje Oppofition als Aben-
„teurer bezeichnete, die aber die unparteiischere Geſchichte einfach Bonapartiften
„nennt, hatten mehr Ergebenheit als Münze und waren natürli” vom leb-
„baftejten Wunſche bejeelt, ihre Privatmittel jobald als möglich auf das Niveau
„ihrer öffentlihen Stellung zu heben. DM. Macrobe erſchien und zeigte den
„Weg. Da er mit den meiften Würdeträgern auf intimem Fuße jtand — war
„er doch mit mehr als Einem die Ichattigen Pfade der Boheme gewandelt —,
„\o fonnte er in der vertrauten Sprache der Freundſchaft andeuten, was für ein
„überflüſſiges Ding Gapital ift, wenn man ein jo trefflicdes Erjagmittel wie
„eine Stelle und die befonderen Informationen befißt, zu denen eine Stelle
„verhilft. Was er jonft noch Hinzufügte, welde lodende Ausſichten er
„bungrigen Augen vorzauberte, das find Geheimnifje, in welche fein Ingeweihter
„dringen kann; aber die Folge war, daß eines ſchönen Morgens der Credit
„Parisien wie ein Stern im Often aufftieg und daß es ihm jofort wohl er-
„ging. Denn die Gejellichaft faufte Grund und Boden in Paris, und, fiehe
„da, Dank einem merkwürdigen Zufall, jollte bald nachher ein neues Boule-
„vard an der Stelle gebaut werden und den Preis des Bodens verfünffachen;
„Te kaufte Schiffe, und, o Wunder, die neue Padetlinie war faum organijirt,
„jo erhielt fie auch ſchon von der Regierung den Auftrag, die Poſt zu über-
„nehmen, Truppen zu transportiren, unterjeeiiche Telegraphentaue zu legen; fie
„taufte Häufer, und jofort fand die Regierung es nothwendig, jie um den dop—
„pelten oder dreifachen Preis der Ankaufsjumme zu expropriiren, weil der Plat
„gut für eine Kaſerne, ein Theater, eine Kirche ſchien. Es mag vielleicht be—
„merkt twerden, daß dieje Art Geld zu machen eine etwas verdädhtige Familien—
„ahnlichkeit mit dem veralteten Gewinnmittel falſcher Würfel hat; aber auf ſolche
„mple Einwürfe genügt es zu antworten, daß der Zufall gar oft ein ſeltſam
„Ding ift; daß Männer im Amt immer Gegenftand der Verläumdung find,
„und daß, wenn wirklich ein paar hohe Beamte, die in Verbindung mit dem
„Credit Parisien jein jollten, in einer überrajchend kurzen Zeit ganz uner-
„klärlich reich wurden, an diefem Umftande wahrli Nichts ift, das nicht ein
„Werk des Zufalls fein könnte,“
In der That war es das Bündniß jchwindelnder Börjenjpeculanten und
glücklicher Stellenjäger, welche des Kaiſers Gutmüthigkeit und unbeſchränkte
moraliiche Toleranz, wie das um feinen Preis zu theuer befriedigte Ruhebe—
dürfniß der Nation ausbeutete, um fich die Taſchen zu füllen und ſich's qut
jein zu laffen. Zum großen Theil nun gehörte der officielle Verbündete des
Gründers dem armen Kleinadel an. Zu jtolz zum „redlichen Gewinn“, oft
talentvoll, meift nad franzöfiiher Art mit guter Gymnafialbildung ausge:
ftattet, beinahe immer kühn, ja tollkühn, bald Novellift, bald Feuilletoniſt,
heute Theaterdirector, morgen Herausgeber einer furzlebigen Zeitjchrift, war er
gewohnt, ſich nach der Dede zu jtreden, meift aber in jenen Streifen zu ver-
tehren, wo das Tajchengeld ſich höher zu belaufen pflegt, als Mtiethe und Haus-
halt; und war nicht untvillig, jein „Bon“ um den firen Gehalt und die hohe
Frranzöfiiche Zuftände und Engliiche Beobachter. 90
Würde eines Unterpräfeceten oder gar eines Präfecten anzubieten. Hier haupt-
ſächlich reerutirte ji im Beginne des neuen Regimes die Verwaltung, wie die
Staatsanwaltihaft aus den ehrgeizigen Familien des reichgewordenen kleinen
Bürgerftandes, welcher durch diefe Pforte in den jo angefehenen Richterftand,
der von jeher die zweithöchſte Stellung in der franzöſiſchen Geſellſchaft einnahm,
zu dringen hoffte. War der heruntergeflommene Edelmann aus jehr vornehmen
Haufe oder hatte er jelber fein Vermögen in den höchſten Streifen durchgebracht,
gebot der juriſtiſche Parvenu über jehr viel Geld, gejellte ſich das nöthige Glüd,
die hervorragende Begabung, die Energie des Charakters zur Scrupellofigkeit,
dem Ehrgeize oder der Genußjucht, jo brachte man's auch wol weiter als bis
zum Präfecten und Oberſtaatsanwalt. Bulwer hat im Worübergehen ein
ganzes Schock jener Leute gezeichnet, die erjt in Salons, dann in falhionable
Glub3 zu dringen gewußt, durch Heirath Millionär, durch Madame's Lieb-
haber Gejandte geworden; oder jolcher, die, einft jocialiftiiche Advocaten, fich
bei Zeiten befehrten und, al3 officielle Candidaten in den gejeßgebenden Körper
geſchickt, Hohe Verwaltungsftellen erlangten; und Trois-Etoiles hat in jenem
M. Gribaud den Typus des geweſenen procureur general, jetzigen faijerlichen
Minifters , treffend geichildert, dem er als Seitenftüd den Typus der anderen
Claſſe, wie er fih in Morny am Bollendetjten ausgeprägt, wol hätte gegen=
überftellern können.
Eine Abart des franzöfiichen Adels, zu dem auch der müßige Rentier
bürgerliden Urſprungs, aber ererbten Vermögens gezählt werden muß, ijt der
beiheiden bemittelte, aber unabhängige angebildete Salonsmann, der, wie Bul-
wer's Graf Paſſy, ſechsmal jeine politifchen Ueberzeugungen twechjelt, nicht etwa
aus Geldinterejje, jondern aus Mode und weil er jtets der Strömung folgt,
vielleicht auch, weil er injtinctiv immer für die bejtehende Regierung Partei
ergreift, twie jein Gegenftüc, der Vicomte de Breze, mit jeder beftehenden Re—
gierung unzufrieden jein zu müſſen wähnt: „Sch glaube,“ jo jpottet etwas
Ihwerfällig der englifche Freund dieſes ewigen Parijer Fyrondeurs, „wenn der
„Erzengel Gabriel auf Paris herabjteigen und die beite Regierung für Frank—
„reich bilden diirfte, jo die Weisheit der Seraphim erfinden könnte, es würden
„feine zwei Jahre, Keine ſechs Monate vergehen, jo würde ſich in diefem Paris,
„dieſem foyer des idees eine mächtige Partei bilden, darunter Sie jelber und
„andere hommes de plume, zu Gunften einer Revolution im Intereſſe des
„guten Herrn Satan und ce cher petit Beelzebub.“
III.
Ein wichtiger Umſtand gab der Pariſer Fronde unter dem Kaiſerreich be—
ſondre Bedeutung und Gefährlichkeit. Nie war der Bruch zwiſchen der in—
tellectuellen und politiſchen Welt vollſtändiger geweſen. Kaum ein Name,
deſſen die franzöſiſche Literatur des Jahrhunderts ſich rühmt, wurde je in den
glänzenden Empfangsſälen der kaiſerlichen Miniſter gehört — vor 1870, wo
dann freilich, nicht zum Heile des Kaiſerreichs, die ganze gelehrte Oppoſition
eindrang und die alten Fehler luſtig von Neuem beging. Ein Merimee,
ein Sainte-Beuve, die im Senate zu figen geruhten, find Ausnahmen, die nur
‘
100 Deutiche Rundichau.
die Regel betätigen: denn jelbjt ihr Ruhm, ihre Gelehriamteit, ihr Geift, die
Unbeftechlichkeit ihres Charakters ſchützte ſie nicht vor rohefter Verleumdung
Seitens de3 gebildeten Pöbels, nicht vor dem Oftracismus der literarijch-afade-
miſchen Ariftofratie. Es ift eine große Lüde in Grenville Moret's Schilderung
Pariſer Zuftände, daß die Kreije der höheren Gelehrſamkeit, wie die no un—
zufriedneren des in Frankreich jo compact organilirten GYymnafiallehrercorps
nicht dargeftellt find; die Advofaten- und Fournaliftenoppofition dagegen mehr
ala billig betont ift. Doc kennt er, und fennzeichnet er ihn wol in wenig
Worten, diefen Krebsſchaden des zweiten Kaiſerreichs: die Trennung zwiſchen
geiftigem und politiihem Leben. Auch Bulwer bat jene Seite nur flüchtig,
aber freilich mit meijterhafter Hand, berührt. Diesmal ift es nicht fein tragi-
icher Chor, der engliihe Gentleman, der die Gefahren diefer Trennung andeutet,
ſondern ein deutjcher Graf, den übrigens jein franzöfiicher Freund mit Recht
fir einen ganz unleidlichen Pedanten erklärt: „Des Katjer3 Lob ift von feinem
„großen Dichter gefungen worden. Die Berühmtheiten einer früheren Zeit
„Tehen abfeit3, oder ziehen das Eril einer gezwungenen Unterwerfung vor; ja,
„befämpfen ihn aus dem Aiyle an fremdem Gejtade mit ftet3 erneuerten Ge-
„Ihoflen. Seine Regierung ift unfrucdhtbar an neuen Berühmtheiten. Die
„wenigen, die auftauchen, ftellen fich in die Reihen jeiner Gegner. Sollte er
„je wagen, der Preſſe und der Gejeßgebung volle Freiheit zu geben, die jo
„unterdrücte oder jo feindliche Intelligenz würde in gedrängter Maſſe gegen
„ihn anftürmen. Seine Anhänger find nicht dazu angethan noch geübt, ſolchen
„Angreifern zu begegnen. Sie werden eben ſo ſchwach ſein, wie fie zmeifels-
„ohne heftig fein werden. Und das Schlimmfte ift, daß die jo maſſenweiſe
„gegen ihn aufftehende Intelligenz verkrüppelt und verrenkt jein wird, gleich
„Sefangenen, die, lange in Ketten gehalten und plößlic frei geworden, ihre
„Glieder in heftigen Sprüngen ohne bejtimmten Zweck üben. Die Leiter der
„emancipirten Meinung Zönnen auf dieje Weile furchtbare Feinde für ben
„Kaiſer werden; aber auch gar jchädliche und unzuverläffige Rathgeber für
„Frankreich.“
Bulwer ſieht überhaupt ſehr klar, trotz ſeiner Vorliebe für Alles, was
franzöſiſch iſt, den geiſtigen Verfall des begabten Volkes, das ſo lange den Reigen
der Civiliſation geführt; und er ſieht ihn überall. „Ich beklage nicht ſo ſehr,
„daß der franzöfiiche Geſchmack weniger wähleriſch iſt als früher, wol aber,
„daß die franzöfifche Intelligenz heruntergefommen ift. Der Fall von Polyeucte
„auf Ruy-Blas ift tief, nicht jo jehr in der Poefie der Form, al in dem
„Werthe des Gedankens; aber der Fall von Ruy-Blas zum beften Drama des
„Kaiſerreiches bringt uns vollitändig aus aller Poefie hinaus... Die Theater-
„vorftellungen, denen ich beitwohnte, beweijen nur, daß das franzöfiiche Volt
„verfümmert (is becoming dwarfed). Die Komödien, die ihm gefallen, find
„nur amüjante Garricaturen kleiner Mäfel einer corrupten Geſellſchaft. Sie
„bringen feine großen Typen der menſchlichen Natur mehr; ihr Wit erleuchtet
„nicht mehr wie mit Blibesklarheit tiefe und allgemeine Wahrheiten; ihre
„Empfindſamkeit ift nicht rein noch edel — es ift ein kränkliches und Faljches
„Derkehren des Unreinen und Unedlen in Traveftien des Reinen und Edlen ...
Franzöſiſche Zuftände und Engliiche Beobachter. 101
„Alles, was wirklich noch übrig bleibt vom alten franzöfiichen Genius, ift das
„Baudeville.” In einer jo treffenden Bemerkung wie die lete erfennt man
ſofort den Elaren, ungetrübten Blick des wirklich Gebildeten, und ſolcher Be-
merfungen find viele in den „Pariſians“; während die Charakterzeichnung
Bulwer's leiht etwas Abjtractes an jich hat, das fie unwahr madt. Seine
Schilderung der Sournaliften, eines alten wohlwollenden Kritifers, eines ſeru—
pellojen, aber genialen und charaktervollen Ehrgeizigen und eines jungen ehr-
geizigen Abſynthtrinkers, iſt mwahrheitsgetreu und doch leben die Leute nicht,
während uns Grenville Moret jofort unter alte Bekannte führt, wenn er uns
die Zeitungsichreiber der verjchiedeniten, ja feindjeligjten Parteien als gute
Freunde beim Souper, als heitere Gollegen im jehr erträglichen Gefängniß
zeigt. Der Feuilletonift Rameau, der „nie etivas gelejen hat, das des Studiums
„verlohnte und hochmüthig im Verhältniß zu feiner Ignoranz ift“, ift ohne
Zweifel ein ganz gewöhnlicher Schlag; aber die Roches, Tartines, Delormays,
Tampons, Kerjous find mehr als ein Schlag — es find die Leute jelbit; und,
wenn auch unabſichtlich, ift Ichon die Thatſache, fie al3 numerus darzuftellen,
ein glüdlicher Griff. Es ift ein durchgehender Zug des Parijer Lebens, zugleich
ein Beweis des tiefen Stepticismus, der den Grundton bildet, aber auch der
feinen formen, der veredelten Gejelligteit, die der Tranzoje von den Vätern
ererbt und ala ein jchönes Bedürfnig empfindet, ein Beweis auch der gründ—
lihen Harmlofigkeit und Gutmüthigfeit, die unter der anjcheinenden Leiden—
Ichaft ſchlummert, daß die Vertreter aller Parteien in der Preſſe, nachdem fie
fich den Morgen, die Feder in der Hand, zur höchſten Heftigleit Hinaufgeichraubt,
fobald das Manuſcript im Drud ift, ihre Feindſchaft vergejlen und wie Bulwer's
alter Savarin — ein jehr ſchönes und ausdrudsvolles Eremplar des friedlichen,
bürgerlichen, häuslich-gejelligen Yournaliften aus Louis Philipps Zeit, — und
fein abjynthverzehrter junger Rameau, eben jo friedlich und freundſchaftlich mit
einander verfehren, als Grenville- Moret’3 legitimiſtiſche und republikaniſche
Stournaliften. Nur der rothe Republifaner Aldi — Blanqui? — madt eine
Ausnahme: da die ganze Politik feiner Partei ja nur auf Haß und Neid fußt,
fo fann er fie auch nicht wohl im Privatleben ablegen, — ein feiner Zug bei
dem ſonſt jo parteiiih für die Nepublifaner eingenommenen Verfaſſer des
„Member for Paris.“
Die Elemente, aus denen die Partei zujammengejett, erkennt aber Bulwer
doc befjer heraus als jein jüngerer Nebenbuhler: der Arzt, der es zu feiner
Praris bringen kann, der atheiftiiche Schriftfteller, der nichtgelefene Bände über
Mathematik und Elektrizität geichrieben; der belgifche Jnternationalift, der pol-
niſche Bagabund, der italieniſche Geheimbündler, der junge, vor der Zeit fittlich
und körperlich corrumpirte Parijer Teuilletonift und Winkelpoet, vor Allen der
ehrliche, ritterliche, irregeleitete Arbeiter, dem die jchaal-plaufibeln Ideen des
politiijhen Rationalismus den Kopf verdreht, Alle zufammengehalten, geführt,
ausgebeutet von dem „Revolutionsmacher, den alle Demofratien, alte wie neue,
„tennen und der die Hebel der Voltsleidenichaften um jo jerupellojer in Be—
„wegung jeßt, als er den Pöbel jouveräner veradhtet”.
102 Deutſche Rundichau.
Neben dieje mehr oder minder unreinen Glemente der Revolution num,
die auch er vorübergehend als die wahren Schuldigen an dem immer wieder—
fehrenden Despotismus brandmarft, ftellt nun Grenville Moret die honnete
republifaniiche Partei, die Partei, um Namen zu nennen, der Jules Favre und
Picard, der Garnier Pages und Cavaignac. Der practifche Engländer läßt fich
freilich nicht von jeiner Sympathie und Bewunderung der Perjönlichkeiten zur
Gutheigung ihrer Theorien, oder gar zur Theilung ihrer Allufionen fortreißen.
Der Mufter-Republifaner, „einer der geachtetften Führer feiner Partei, defjen
„anſpruchsloſe Redlichkeit und ſchlichte, unbeirrbare Principientreue ihm bei
„Freund und Feind gleichermaßen den Namen „des ehrlichen Gerold“ einge-
„tragen hatte”, der Vater des Helden, hat einen politiichen Glauben, deſſen
Naivetät dem engliichen Realiſten durchaus nicht entgeht. „Die Republik, wie
„er fie träumte, wäre ein gar jchönes Ding geweſen; leider hatte fie den Nach—
„theil, daß fie nicht eingerichtet werden konnte, ehe Jedermann die lehte Hefe
„von Uebel von jich ausgetworfen und in einen aufgetlärten Menjchenfreund
„verwandelt war. ch glaube, in des würdigen Herrn republifaniichen Ver—
„Tallungsplänen war von Zuchthäufern gar nicht die Rede, noch Weniger von
„ſolchen Beamten wie Henker, Gensdarmen und Gefängnißwärter. Er hatte
„eine Art über Schulen zu jprechen, welche Einem zu verjtehen gab, daß das
„Verbrechen nur die Folge der Unwiſſenheit jei, und daß, wenn die Menjchen
„nur erſt einmal leſen, jchreiben und rechnen könnten, auch die Nothwendigfeit
„fir Zwangsanftalten vermieden würde.” Das Portrait des „ehrlichen Gerold“
ift ein Meifterjtiid und die Ironie, mit der der Maler des jo treffenden Por—
trait3 über die politiiche Befähigung jeines Mannes lächelt, thut der Verehrung,
die er ihm zollt, feinen Eintrag. Doc jcheint er mir Eines nicht recht ein-
geſehen und in's Licht geſetzt zu haben, das in Frankreich nie fehlt, und nament—
li in diejer Partei und bei diejer Art Charaktere nie fehlt, die, oft unbewußte,
oft auch recht bewußte, theatraliiche Poje. Man jieht, auch bei Bulmwer, der
leinerjeit3 die ganze Phrajeologie der Legitimiften fir ebenjoviel Gefühle und
Gedanken nimmt, daß die Engländer im Begriffe find von einem Extrem zum
andern zu gehen. Früher erichien den ruhigen, würdevollen, jchlichten, ſchweigſamen
Inſulanern die lebhafte Gefticulation, die oratorische und überfliegende Sprache, die
erpanfive Zurichauftellung des Enthufiasmus, de3 Gefühls, der Verachtung bei den
lebhaften Franzoſen als eitel Komödie; heute nehmen fie das Alles für baare Münze,
und, weit entfernt einen Mangel an Würde in der oftenfiblen Weiſe ihrer
Nachbarn zu jehen, vermeinen fie, Alles ſei der jpontane Ausdruck des innern
Menſchen. Nun ift aber in der That weder dad Eine noch das Andere ganz
wahr: e3 giebt unendlich viele abjichtliche, überlegte Rollenſpieler in Frankreich,
von denen alle Eingeweihte wiſſen, daß ſie Nollen ſpielen, die aber, da fie
Conſequenz, Ausdauer und Geihmad in ihrem Spiel zeigen, anerkannt werden:
und ich Fünnte da, wären die Eigennamen nicht jo unliebjam, eine nicht mehr
unter den Lebenden weilende, angejehne Perjönlichkeit der legitimiſtiſchen Partei
und einen noc immer einflußreichen Führer der republifaniichen Partei nennen,
die ſogleich die Sache veranichaulichen würden. Denn die Programme diefer
zwei Parteien, im Borübergehen jei’3 gejagt, eignen natürlich ſich am Beften
Franzöſiſche Zuftände und Engliſche Beobachter. 103
zur jcenifchen Aufführung und Declamation. Daneben giebt’3 aber noch eine Un—
zahl ganz vulgärer Komödianten, vor Allem aber eine große Menge jolcher, die,
ohne e3 zu wollen und zu willen, ſich von der Rhetorif und dem Spiel fort-
reißen laffen. Der beſte Franzoſe, wenn er fein Steptifer ift, welche ich, als
die wenigen zugleich Ehrlichen und Einfichtigen, ſtets ausnehme, da fie im Bar-
terre fißen, nicht auf der Bühne ſich breit machen, — der beſte Franzoſe ift
bei aller jeiner Aufrichtigkeit immer ein wenig Schaufpieler. Er kann's nicht
laffen: er muß jedem feiner Gedanken, feiner Gefühle, feiner Handlungen gleich
ein Publicum verſchaffen und er muß fie diefem Auditorium jofort in jchöner
Faffung zeigen. Jenes Bedürfnif des Gejehenwerdens und diejer Inſtinct für den
jchönen Schein machen ja gerade den Reiz de3 Franzoſen aus. Wenn er uns
„taufendmal feiner Freundſchaft“ verfichert, jo lügt er nicht, wie der unbiegjame
Engländer vergangener Zeiten, der nur das „Na, ja, nein, nein” gelten ließ, früher
mol glauben mochte; er jagt aber auch nicht die ganz ungeſchminkte Wahrheit. Es
ift ein erfreuliches Zeichen der fortgejchrittenen Toleranz und eines unbefangneren
jittlichen Urtheil® bei den Engländern, daß fie nicht mehr jeden demonjtrativen
Franzoſen ohne Weiteres für einen Schelm oder Narren erklären; aber man
ſchießt doch auch über's Ziel, wenn man nur lauteren Enthujiasmus, gediegene
Gefinnung, tiefgefühlte Requngen hinter jedem freundlichen oder begeifterten Worte
des Franzoſen jteht. Seine Yebhaftigkeit darf nicht über die Natur feiner Spontanei-
tät täufchen, welche weit jeltener aus innerſtem, durchwärmendem feuer hervor-
gebt, al3 aus einer gewiljen Nervenerregbarfeit (impulsiveness, würde der Eng—
länder jagen) und einer Art Kopffieber, oft auch aus dem äußerft unjchuldigen
Wunſch zu gefallen, was denn der Fremde Alles leicht für etwas ganz Anderes
nimmt. Die Principienreiterei num gar, wie in der republilaniichen, zum Theil
auch in der legitimiftiichen Partei, beruht meift auf etwas nod weniger Be-
wundernswerthem: Enge und Steifheit der ntelligenz, Furcht vor dem qu’en
dira-t-on und die Sucht, durch catoniiche Gonjequenz zu imponiren. Dabei
vergefjen unjere engliichen Beobachter in ihrer Nachſicht gänzlic die praktiſche
Gefährlichkeit jener Ihönen Illuſionen und „Principien”: die Gerold haben
nod ftet3 den Weg gebahnt für die Albı.
In die jeitwärts jtehenden Kreife der Akademie, wie in die bittere und
permanente, obſchon nur halblaute Oppoſition der „Univerjite“, führen uns, wie
gejagt, beide Engländer nicht ein, vielleicht, weil fie fie weniger kennen gelernt,
vielleiht auch, weil fie in ihnen Feine lebendigen Theile Frankreichs jehen, was
freili fein geringer Srrthum fein würde. Die unterirdiiche Arbeit jchlechtbe-
zahlter, verfauerter Gymnaſiallehrer, deren gejellihaftliche Stellung und pecu-
niäre Yage ganz außer allem Berhältniffe zu ihrer geiftigen Bildung fteht, ift
nod gefährlicher für das zweite Kaiſerreich geweſen, als der elegante Krieg, den
die vornehmen literarifchen und nichtantaftlichen Kreife auf der Oberflähe und
wie jpielend mit den Waffen des Witzes, der Anfpielung und der ariftofratiichen
Geringihäßung gegen es führten. Ueberhaupt jehen unjere beiden britiichen
Gewährsmänner das Goeiftesleben Frankreichs viel mehr in der Feuilletonlite-
ratur des „Figaro“ und „Gaulois“, im Roman und Theater, als da, wo es
wirklich puljirt. In der That fommen wir, bei Bulwer wie bei Trois-Etoiles,
104 Deutjche Rundichau.
nır gar zuviel mit dem jeune Paris zuſammen, das durch Baudelaire, P. de Saint
Victor, Theophile Gauthier bis an die jeune France der dreißiger Jahre hin—
aufreicht oder fi doch an fie anzufchließen behauptet. Die ganze leichte Lite—
ratur der improvilirten Schriftiteller, die „Zribus der Abjynthtrinter,“ die im
Abiturienteneramen durchgefallenen Witbolde, welche die Hauptftadt mit ſkan—
dalöfen Anecdoten und Kalauern verjorgen, werden vor Allen der Reihe nad
vorgeführt; und wer wollte leugnen, daß dieſem corrofiven Elemente eine große
Mitihuld an dem Unglüde Frankreichs beizumefjen ift: daß ein witziger Stadt-
Ichreiber, ohne alle Schulbildung, vom Eſtaminet und Billard in die „Literari-
Ihe Prefje, von da in die Politik und endlich gar in den gejeßgebenden Körper
Frankreichs kommen jollte, ift freilich charakteriſtiſch; aber um es begreiflich zu
maden, mußten die Geichichtsjchreiber diejes tollen Vorkommniſſes auch Die
Waffe zeigen, mittelft deren jo Unglaubliche3 möglich ward: der Witz. Hier
haben wir ſechs Bände über Frankreich, denen ich leicht noch zwanzig andere,
aus engliichen Federn geflofjfene, beifügen könnte, und von der franzöfiichften
aller franzöſiſchen Gigenthümlichkeiten, dem Wie, ift auch nicht eine Spur
wahrzunehmen, — wie e3 dem aufmerkjamften und gejcheidteften franzöfiichen
Beobachter Englands nie gelingen will, den Humor zu entdeden, geichweige
denn zu verſtehen und wiederzugeben. Der aller kräftigen und gefunden Speije
entwöhnte, faſtidiöſe Gaumen des Leſers, dem ein Band, ein Ejjay, ja ein Xeit-
artikel jchon zu viel und dem nur noch mit kurzathmigen Paragräphlein gedient
it, die Scandalfudt, die jo gerne Hinter die Couliſſen ſieht, erklären freilich
viel, do würde man nie die ungeheure Anzahl von literariichen Hofnarren
und Poſſenreißern, noch weniger ihren Erfolg begreifen, brächte man nicht das
unbejiegbare Bedürfniß des Parifer Publicums nad Wit und die Virtuojität
bejagter Clowns in der ‘Production der verlangten Waare mit in Anſchlag. Bon
diefem, meift platten, Wite findet man nun bei unjern Engländern ebenſowenig
als an dem raffinixten und geichmadvollen Witze der Geiftesariftofratie. Pan
jollte glauben, lieft man die britijchen Schilderungen, ganz Frankreich habe
ziwanzig Jahre lang nur im gröbften Luxus gelebt: das high life mit jeinen
Mastenbällen und Pferderennen, mit jeinem modijchen Gefallen am bric à
brae und jeinen ebenjo fajhionablen Tyaftenpredigern war do immer nım ein
Auswuchs. Daneben und darunter lebte noch die ächte Pariſer Gejellichait,
mit ihren höheren Intereſſen und ihren feineren Formen. Mehr als ein dritter,
ja vierter Stod öffnete fi) noch allwöchentlich der Elite Frankreichs; und
Staatämänner, welche das Land regiert, Akademiker, welche die Willenjchaft
erneuert, Edelleute, welche mit ihrem Namen und Reihthum auch die ſchönen
Geihmactraditionen der Väter ererbt, große Künftler, deren Namen leben wer:
den, wenn die aller gepriefenen Zeitungsjchreiber de3 Tages längft verhallt find,
ließen ſich's nicht verdrießen, ein paar Hundert Stufen binaufzufteigen, um ein
paar Worte mit Ebenbürtigen zu wechjeln. a jogar die Beſſeren unter den
Regierungsfreunden juchten und erhielten Zutritt zu dieſen legten Zufluchtsftätten
der franzöfiichen Geifter. „Wie kommen Sie hierher?” fragt Horace Gerold
eine Mme. de Margauld, die zum Kaifer hält, und die er bei Herrn Tire
trifft — freilich nit in einem vierten Stod, wenn wir anders den Namen
Franzöſiſche Zuftände und Engliiche Beobachter. 105
T—h—-i—-e—r—3 bucdftabiren dürfen. — „Ob, ich komme hierher wegen der
„angenehmen Gejellihaft. Wenn man Leute von wahrem Werth in Kunft,
„Literatur oder Politik (?) jehen will, muß man fie in den Oppofitionsfalons
„aufjuchen.“ Das find aber nur flüchtige Andeutungen: dieſe Seite verdiente
forgfältig ausgeführt zu werden in einem Gefammtbilde der Pariſer Geſellſchaft
unter Napoleon II.
IV.
In der Darftellung der franzöfiichen Zuftände kann man nie zu viel Ge-
wicht auf den jchon von der „Gejellichaft“ getrennten Mittelftand legen, aus
welchem Armee, Lehrerftand, niedre Bureaufratie ſich hauptjähhlich ergänzen und
aus dem, wie überall und immer, der nduftrielle, Gutöbefiter und Groß-
händler nad) gewiſſen Transformationen hervorgeht. Ich Hob Thon hervor,
daß der im Stillen jehr einflußreiche Lehrerftand unjeren Britten ganz ent-
gangen ift. Auch der Beamte (l’employe), eine höchſt achtbare, Freilich durch den
franzöfifchen Staat3mehanismus ganz zur Maſchine herabgedrüdte und von
feiner wiſſenſchaftlichen Bildung getragene Elafje, jcheint ihnen unbefannt ge=
blieben zu fein. Dagegen hat der engliiche Satiriker die militäriichen Gewohn—
beiten und Attituden der Zeit in jeinem imperialiftiihen Zuavenoffizier äußerft
lebendig geihildert. Unter der Reſtauration und der Juliregierung hatte jich
der Typus des bramarbafirenden Galant3 in Epauletten, wie er unterm exiten
Faijerreich geglänzt, Redouten und Weiberherzen erobert, einigermaßen verloren
oder war doch in den Hintergrund getreten vor dem gebildeten, fleigigen Offi—
zier aus wohlhabender und guter Familie, der in den mohlunterrichteten
und mwohlerzogenen Prinzen des jüngeren Königshaujes jeine Marter Jah. Der
gewejene Unteroffizier kam aber nad) dem Staatsftreiche wieder auf die Ober-
fläche, und jelbft der eleve de Saint Cyr nahm den Ton und die Manieren
der heraufgefommenen Kameraden an: öfter beim Abjynth als beim Studium
anzutreffen, ftet3 bereit, den Kaifer mit dem Degen in der Hand gegen jeden
Pékin zu vertheidigen, nöthigenfall3 bejagten Pékin zu provociren, ftet3 von
jeinen Heldenthaten vor Sebaftopol renommirend, ſtolz auf feinen bürgerlichen
Nriprung, als Zeichen des Verdienftes, das ihn allein jo weit gebradht, bis in
„die Elite der Nation“ (*), ift er natürlich feſt überzeugt, feine junge Frau
£önne ihn anjehen, ohne jich ſterblich in ihn zu verlieben und theilt er jeinen
Tag zwiſchen dem Kaffeehaus und dem Wohnzimmer feiner Coufine, die unbe-
greiflicher Weije ihren bourgeois de mari viel intereffanter findet, als den
jelbftgefälligen Eijenfrejjer, der eine jo bedenkliche Familienähnlichkeit mit dem
Rolizeidiener hat.
Wie gejagt, gehört diefer moderne Landsknecht meift den niederen Mtittel-
klaſſen an, die unjre beiden Gewährsmänner, namentlid) Bulwer, ſonſt etwas
ftiefmütterlich behandelt haben. Dod) ift der gute Pochemolle im „Member for
*), ch erinnere mich, einjt den Brief eines Oberlientenants an jeine Schweiter gelefen zu
haben, in dem er ihr eine Kammerjungfer empfahl, weil fie die Echwefter eines jeiner Kameraden
fei, der den Krimfeldzug mitgemad)t, „qui a porté si haut la gloire de la France“.
106 Deutfche Rundichau.
Paris“ ein jehr treuer Vertreter diefer liebenswürdigen Schichte des franzöſiſchen
Volkes. Ein andrer Engländer, Dickens, der „Unnachahmliche“, Hat in feinen
Briefen aus Boulogne einem joldhen trefflichen franzöſiſchen Bourgeois, deſſen
Landhäuschen, mit Park, Springbrunnen, Teih, Wäldchen, Felſen, Treibhaus,
Alles in einem halben Morgen, er zwei Sommer über bewohnte, dem immer
heiteren Beaucourt, einen unvergängliden Denkftein gejegt. In dieje Kreiſe
hat jih al’ die liebenswürdige Bonhomie geflüchtet, die einft der Grundzug
des franzöfiichen Charakter? war. Zufrieden mit Wenigem, von unerjchöpf-
licher Gefälligfeit und mafellojer Ehrlichkeit, überftolz, wenn ein Strahl von der
Sonne irgend eines berühmten, oder nur genannten, ja nur decorirten Be—
fannten auf ihn fällt, jelbjtgefällig, wenn er im Municipaltath oder auf der
Geſchwornenbank jeine Stimme abgegeben, eitel, aber von jener harmloſen
Eitelkeit, die Andere weder verwundet, noch ihnen jih allzuläftig aufdrängt,
nicht von jener, in ſich jelbft grübelnden, an ſich jelbft bildenden wie fie der
deutjche ndividualismus und Ich-Cultus unter und entwidelt hat, nod von
der concentrirten, verihämten und verbitterten Eitelkeit, welche der politiiche
und literariihe Mißerfolg jo vieler aus ihrem Gleife gezogenen Mittelmäßig-
feiten im revolutionären Frankreich) gejät hat, immer heiter zu Scherz und
Calembour aufgelegt, könnten die Beaucourts und Pochemolles die ficherfte
Grundlage eines Fräftigen Staatsbaues jein, wie fie die fefte Baſis des fran-
zöſiſchen Wohlftandes find, wenn fie ſich dazu verjtehen wollten, das Jahr
über etwas weniger, am Entjcheidungstage etwas mehr Politik zu treiben.
Wollte Gott, jie wären jo gut conjervativ gefinnt, wie Mr. Grenville-Mtoret
jeinen Pariſer Handelsmann bdaritellt.e Dem ift aber leider nicht jo. Der
Pariſer Ladenbefiter (Paul de Kock's boutiquier), der ſich, wie Here Pochemolle,
am Lebensabend in jein Gartenhäuschen zu Meudon zurüczieht, kann's Politijiren
nun einmal nicht lafjen; ex lieft jein Journal allmorgentlid, hat jeine Meinung
über alle Tagesfragen, kurz er ift das deal des modernen demokratiſchen
Bürgerd voller Gemeinjinn, öffentlichem Intereſſe, nationalem Pflichtgefühl
und tvie die Modephrajen alle lauten. Nun will er doch auch jeine politifche Weis—
heit zeigen, der Regierung gute Lehren geben und jofort. So ſchickt er denn
unfehlbar — und in den größeren Provinzftädten fängt er an, genau dafjelbe
zu thun — die Herren Jules Favre und Garnot in die Deputirtenfammer, die
wieder ebenjo unfehlbar Herrn Ledru Rollin und Gambetta und endlich Herrn
Delescluze und Vermorel nad ich ziehen. Nun wird's unjerm guten Poche—
molle doc etwas zu heiß: er verkauft Nichts mehr, die Fremden bleiben aus,
der Arbeiter wird troßig, die Emeute tobt auf der Straße. et jollte er
jeinen Bürgermuth zeigen, jein Gewehr jchultern und auf den Platz eilen:
jeine Gegenwart würde genügen, die Ganaille einzuſchrecken; aber jo veriteht
der brave Patriot der Rue Saint-Denis die Birgerpflicht keineswegs; das iſt
Sade der Polizei, dieſes verachteten Gejindeld von mouchards, agents
provocateurs, Tyrannenſchergen und verkauften Shirren, gegen die ex jo oft
in tugendhaften Freimuth gedonnert: die joll ihm die Straße jäubern: wozu
wäre fie denn jonft da? Sie reicht aber nicht mehr hin: e3 gehören aud) Cuiraſ—
fiere und Artilleriften dazu, vor Allem aber Jemand, der fie commandirt, und
Franzöſiſche Zuftände und Engliſche Beobachter. 107
eines ſchönen Tages ift „die Aera der Revolutionen geſchloſſen“, die Emeute
befiegt, freilich auch die Freiheit; und Herr Pochemolle braucht wieder zehn
Jahre, bis er fich von feinem Schreck erholt, wieder anfängt ſich für's öffent-
lie Wohl zu interejfiren und — den alten Sreislauf von Neuem beginnt.
Im alten Frankreich Hatte dieſe Neigung und Gewohnheit nicht viel zu jagen:
da begnügte fich der witige Bürger bei feiner chanson; heute hat er eine
Stimme. |
Bulmwer hat die allgemeine Fahnenflucht der Bourgeoifie am 18. März
1871 lebendig gemalt; wie ihm denn überhaupt die Schilderung der Ereig-
niffe und Stimmungen weit beifer geglüct ift, als die der Charaktere. Doc)
ift ihm ein Portrait, das des ehrlichen, halbgebildeten, fanatifirten Arbeiters
vortrefflih gelungen. Diejes Chaos von Atheismus und Aberglauben, von
Ritterlichkeit und Abftraction, von künſtlich hinaufgeſchraubtem Haß gegen die
Befitenden, während er doc), der jeine 15 Fres. täglich verdient, dem Fabrik—
arbeiter gegenüber der wahre Befitende ift, der allmälige Uebergang von der
regelmäßigen Arbeit zur politiihen Bummelei, unter dem Eindrud der plau—
iibeln Gemeinpläße der Volkslehrer, das Verhältnig zu der abgehärmten illegi-
timen Lebensgefährtin — Alles das ift meifterhaft entwickelt und es veranſchau—
licht auf's Lebendigfte jenen ächtfranzöſiſchen, ebenſo beflagenswerthen, ala
gefährlichen Typus, dem glücklicher Weiſe noch der ebenjo ächtfranzöfiiche Typus
de3 blind=confervativen Bauern gegenüberfteht, ohne den bei der Zerſtörungs—
wuth der niederen Stadtbevölferung, der abwechjelnden Aufgeregtheit und Feig—
heit der Mittelclaffen, der Theorienreiterei oder Wihelei der Gebildeten, dem
Skepticismus der Redlichen und Einfichtigen Frankreich längft verloren wäre. Hier
in dieſen bejchränften ruraux, die Nichts kennen als ihre unmittelbarften
materiellen Intereſſen, deren ganze geiftige Exiſtenz in die Bande des Katholi—
cismus geſchlagen ift, liegt der Ballaft, der das jteuerlofe Schiff immer wieder
vom Umſchlagen rettet. Auch diefe Seite haben die beiden Engländer, Die
freilich nur Paris ſchildern wollten, vernachläſſigt, und es ift nicht die einzige
Lücke. So entgeht, wenigſtens dem Verfaſſer des „Member for Paris‘ die
Exiſtenz einer wahren, tiefen, innigen Frömmigkeit in dem frivolen Paris neben
der Mode- oder Gonventions-Religion, die freilich die Regel ift, und die er jehr
geiſtreich analyfirt und vergegenwärtigt. Bulwer fieht jchon tiefer hier, Dank
feinem Dichterauge, und malt mit Liebe und Genauigkeit jene von der eng—
liſchen Weiſe jo abweichende, milde und weiche, katholiſche Religiofität, die der
Gntwidlung des Geiftes und der Kräftigung des Willens jchädlicher fein mag
al3 die proteftantiiche, Herz und Phantafie aber nicht, wie jene, erfältet, jon-
dern wohlthuend erwärmt. Ein Punct endlih, und zwar ein Hauptpunct, wo
Beide fih in ihrer Unkenntniß oder ihrem Nichtverftehen Frankreichs begegnen,
ift das weibliche Element in Staat und Gejellichaft.
Bulwer hat zwar verjucht aus George Sand und Daniel Stern eine
femme de lettre en Ranges und hoher Geburt zujammenzujeßen, aber
weder Baronne Dudevant, noch Comteſſe D’Agoult würden ji in Madame de
Grantinesnil erkennen wollen. Seine gutmüthige, ſtets Heirathen ftiftende Ma—
dame Savarin ift Schon mehr aus dem Leben gegriffen; ebenjo ijt die Fromme
108 Deutiche Rundichau.
mwohlthätige Dame aus der Rue St. Dominique nicht ohne Vorbild, aber beide
find nur flüchtigft ſtizzirt. Dagegen find weder feine verliebte Lorette, noch
feine Financierdtochter, weder Grenville Moret's Georgette, noch deijen Made—
moijelle Mtacrobe franzöjiiche Frauen; es find jammt und fonders englische
Mädchen, die nie aus ihrem Eilande herausgefommen. Umfonft juchen wir
nad) einer wirklichen grande dame, jenem einzigen Producte der franzöſiſchen
Geihichte und Eultur, einer Miſchung von Grazie und Würde, von Freiheit
und Sitte, Eleganz und Natürlichkeit, der man wohl noch begegnet und die hier
ihre Stelle finden mußte, da fie das deal diefer Gejellichaft ift; umſonſt auch
fehen wir uns nad jenem häufigeren liebenswürdigen Typus der Geſprächs—
virtuofin um, die gleich gewandt in Erzählung und Erwiederung, Ironie und
Malice, im sous-entendu und in der prägnanten Schärfe des Ausdruds,
der franzöfiihen Unterhaltung noch immer ihren eigenthümlichen Reiz giebt.
Und nun gar die Kokette sans phrase, die banale ſowol, die den Gedanken
faum erträgt, nicht Allen zu gefallen, vom Fürſten bis zum Schuſter, als auch
jene andere jchlimmere, die nur Einem rückſichtslos und mit jouveräner Ver—
achtung allen Anderen nachftellt; die Attituden- Künftlerin, der Blauftrumpf,
die Modepuppe, die einzig und ausjchlieglih in ihrer Toilette lebt; die sol-
lieiteuse, die e3 übernimmt ihrem Danne die Schritte zu erfparen und doch
unabläſſig feinen Ehrgeiz ſtachelt; die einft Vergnügensſüchtige, jet Jntrigante,
morgen Fromme; die jteiftugendhafte, correcte, aber ſtets elegante Mutter
wohlerzogener Töchter, das ſchon ganz durchtriebene Penſionatfrüchtchen, das
von zukünftigen Siegen träumt; die trefflihe Hausfrau, der feiner anjieht,
wenn jie vor Abend an einfach eleganter Tafel empfängt — von der fie nie
aufzuftehen braucht, wie die deutſche Schweiter — daß fie den ganzen Morgen
über in Küche und Keller gewirthichaftet ; der weibliche Buchhalter, Oberfommis,
und maire de palais des Ladenkönigs; die ſammtgekleidete, ſchmuckbedeckte
Korette in ihrem Daumont, die vielleicht beim Nachhauſekommen ihren Herzens—
geliebten, den entlafjenen Sträfling, findet, der fie prügelt und ihr ihr Geld ab-
nimmt; die muntere Grijette und die verſchmitzte Zofe, — hundert andere Ge-
ftalten der franzöſiſchen Frauenwelt glänzen durch ihre Abwejenheit, und man
it verjucht zu denfen, daß unjern beiden Sittenmalern doc ein großes Stüd
des Volkes, das fie ftudirt, ein Bud, mit fieben Siegeln geblieben, daß weder
der Seherblid des denfenden Dichters, noch das forjchende Auge des Beobach—
ter3 weiter gedrungen find, als in's öffentliche Leben.
Das öffentliche Leben Frankreichs ift wol in der That nie eingehender
und mit mehr Verſtändniß dargelegt worden, ala von dem engliichen Ariftofraten
und dem engliichen Republikaner, die uns zu Führern gedient haben auf diejer
Reife durch Paris. Wer wiſſen will, wie Frankreich regiert wurde unterm
zweiten Kaiſerreich — wie es im Grunde immer, auch unter Herrn Guizot und
General Cavaignac, regiert wurde, — der leje Grenville Moret: kein Geidhichts-
ichreiber wird ihm befjere und zuverläfjigere Auskunft geben können über die
Weiſe, wie ein napoleoniiher Minifter die Stellen bejeßte, die Polizei ge-
brauchte, die Wahlen infcenirte, die Prefje beeinflußte, den geießgebenden Körper
beherrichte, die Finanzen ausbeutete. Wer aber die Gejchichte des „Liberalen
Franzöſiſche Zuftände und Engliſche Beobadter. 109
Kaiſerreichs“, die Vor: und Nachgeſchichte des großen Krieges kennen till, der
erwarte jte nicht von Heren Ollivier's Enthüllungen, ſuche fie nicht in Bene—
detti'3 und Gramont's Indiscretionen, glaube fie nicht in Jules Favre's und
Trochu's Apologien zu leſen; der nehme Bulmwer’3 „Parisians“ zur Hand; da
wird er die jteigende Fluth jehen, die unaufhaltjam vorwärt3 drang jeit den
1860er Goncefjionen, jeit Meriko, drohender und gebieteriicher ſeit Sadowa; er
wird fühlen, wie jenes unjagbare Etwas, die Bewegung (l’agitation) fich der
großen Stadt bemäcdhtigt; das Individuum Nicht? mehr ift, die nationale Leiden—
ihaft wie losgelöft ericheint vom Einzelwillen; da wird er die Mitichuld der
ganzen Nation, aller Parteien, aller Claſſen mit Händen greifen, und wer fie
ihm zeigt, ift nicht verdädtig, er ift ein Freund, ein Bewunderer, ein Kenner
der Nation, wie's immer nur wenige im Auslande geben Tann. Gerade dieje
Berwideltheit der Träden, diejes Durcheinanderfliegen der Strömungen war ja
das Eigenthümlidhe der Situation, macht es noch heute möglich, daß jede Par—
tei, ohne grobe Unmwahrheit, die andre anklagen kann. Der Dichter aber fteht
drüber; mit jihrer Hand zaubert er den lebendigen Organismus im Spiegel
der Runft vor uns herauf, zeigt uns, was Charakter, Geift, Temperament,
Geſchichte der Nation, was die Einzelnen, was der Zufall gethan, giebt uns
zu verjtehen, wie und warum das hochbegabte Volk, der Selbftregierung un-
tähig, doch die beften Regierenden nicht gewähren lafjen kann, wie es die Dupe
jeines eignen Wibes wird und wie die Schuld der Väter ſich rächt an Kind
und Kindeskindern. Wird es je ander werben? „Gewiſſe moralifirende Zei-
tungen jagen uns,“ jo jpricht Bulwer's Frederic Lemercier, ein ächter Stamm-
gaft der Boulevards, „die Parijer, ernüchtert durch das Unglück, jeien auf dem
„Punkte, eine neue Eriftenz zu beginnen, fleißig und bedächtig zu werden, Ver—
„gnügen und Luxus zu vderadhten und wie deutiche Profefjoren zu leben.
„Glauben Sie fein Wort davon. Meine Meberzeugung ift, daß, was man aud)
„Uber unjere Frivolität, unferen Leichtjinn u. |. w. unterm Kaiſerreich jagen mag,
„wir unter jeder anderen Regierungsform diejelben fein werden: — die muthig-
„ten, feigften, graujamften, gutmüthigſten, vernünftigften, gejcheidteften, wider:
„ſpruchsvollſten, conjequenteften Wejen, die Jupiter auf den Rath der Venus und
„der Grazien, de3 Mars und der Furien, je zum Vergnügen und Schreden der
„Welt ſchuf; in einem Wort, Pariſer.“
Dan Sieht, dem politiichen Inſtinct und der politiſchen Einſicht gebildeter
(Sngländer entgeht, bei aller Sympathie, da3 tieferliegende Uebel nicht, das die
franzöſiſche Nation nicht dazu kommen läßt, eine gefunde und lebensfähige freie Re-
gierung aufzurichten. Nichts kann fie darüber täufchen, wenn fie aud) die Schuld der
Herrſcher noch jo ftreng zu beurtheilen gewillt find. Sie fennen heute ihr Nachbar
Land bejjer als je, jind gerechter gegen e3 als je, und doch denken im Grunde ihrer
Herzen die Gerechteften und Unterrichtetiten noch ebenjo über den politifchen Charak—
ter der Nation, als der Volksinſtinct es vor Jahrhunderten that. Die dee,
welche unſre beiden ausgezeichneten Gewährsmänner von der politiichen Be—
tähigung der Franzoſen und von dem MWerthe ihrer ftaatlihen Einrichtungen
und Anjchauungen geben, it feine jchmeichelhafte. Im Grunde find fie eben,
110 Deutſche Rundſchau.
trotz aller Sympathien für Frankreich, doch Engländer, deren politiſcher Men—
ſchenverſtand ſich durch keine vorgefaßten Theorien beirren läßt, und die ſich,
ſobald ſie die Sache nur einmal wirklich aus eigner Beobachtung, nicht wie
Mill's Schüler aus Büchern und von Hörenſagen kennen, durch keinen ſchönen
Schein täuſchen laſſen. Sie ſind aber auch Engländer im Muth und der Red—
lichkeit, mit der fie die Wahrheit auszuſprechen wagen, ſelbſt wenn ſie mit
ihren Neigungen collidirt, ihre Syſteme ftört.
Auch der franzöfiiche Geift beginnt, wie man jieht, im immer tweiteren
Kreiſen Englands nach jeinen VBorzügen und Nachtheilen gewürdigt zu werden,
wenn ſchon das intellectuelle Organ der Engländer weniger Verftändnig für
da3 geiftige ala für das politiiche Leben andrer Völker mitbringt. Die ganze
philojophiich-religiöje gejellichaftliche und fittlide Weltanſchauung dagegen ift
ſelbſt den jchärfiten Augen jenjeit3 des Canals noch unerreichlicd) geblieben.
Man taftet auf der Oberfläche herum und meint, man berühre die Lebens-
quelle jelber. Dazu gehört eben noch etwas Anderes als des Gelehrten
Studien, des Beobachters helle Augen, ja als des Dichters Seherblid; es gehört
dazu nicht nur in, jondern mit der Nation gelebt zu haben, in ihren Ideen—
frei eingedrungen, ihre Leidenſchaften mitempfunden, in ihr den Kampf um’s
Dafein gefochten zu haben, den Jeder auf feine Art ausfechten muß, d. h. mit
ihr in jteter Berührung der Intereſſen wie in practijcher Mitarbeit, in Liebe
wie in Haß gelebt zu haben. Nur Einer hat je alle diefe Bedingungen in jich
vereinigt und nur diefem Einen ift es gelungen, die innere Seele Frankreichs
zu malen, und ein eben jo ſprechend getreues als vollftändiges, ebenjo lebendiges
als poetijches Gemälde des gefammten franzöfiichen Volkslebens im 19. Jahr
hundert zu geben. Diejer Eine war Balzac, denn er war Bulwer und Gren-
ville Moret, Idealiſt und Realift in einer Perfon; aber er hatte das franzö—
fiihe Leben nicht nur, twie die beiden Engländer, beobadhtet und belauſcht, er
hatte es gelebt.
Zur Smbryologie des Vankgeſeßes.
Von
Ludwig Bamberger.
Almählich, zögernd und vorfichtig gemeſſenen Schrittes beiwerfitelligt das
Reich deutjcher Nation feinen Webergang aus dem Zuftand des Mittelalters,
in weldhem das Jahr 1866 es vorfand, zur Ordnung eines feinen großen Auf:
gaben angepaßten Staatsweſens. Was um Ginzelner wegen bejtand, muB
derjenigen Ordnung weichen, die um des Ganzen willen in’s Leben zu
treten verlangt. Ein Theil von den Hoheitörechten der Landesregierungen
ift in den Verträgen von 1866, 1867 und 1871 übergegangen an die Ge-
ſammtheit des Reichs. Die erfte und nächte Aufgabe des Tebteren iſt von
Natur der Aus- und DurKbildung dieſer feſterworbenen Hoheitsrechte gewid-
met. Ganz von jelbft erwächſt aus ſolcher Arbeit bald da, bald dort ein Streit
um die Grenzen. Was in das neue Gebiet fallen, was dem alten gehören jol,
wird dann zum Gegenftand des Proceſſes zwijchen deren, die dem Alten, und
denen, die dem Neuen hold find. Jede Grenze ift ja eine ideale Linie, welche
in's Unendliche theilbar ijt. In der Auslegung des Grenzvertrags gilt es den
Preis davon zu tragen. Da, nad einem nicht oft genug zu wiederholenden
Ausſpruch, Alles zurücdgeht, was nicht vorichreitet, müßte das neue Reichs—
gebilde Beſorgniß einflößen, wenn es aus den Grenzirrungen mit feinen Geg-
nern nicht an jeglider Stelle den bejjeren Theil davon trüge. Damit iſt
Ihon von jelbit gejagt, daß die Grenzabftedung oft eine Grenzberichtigung und
die Grenzberihtigung eine Grenzerweiterung zu fein berufen if. So weit die
Hoheitsrechte ſich mit landichaftlichen Bedürfniffen deden, joll ihr Beſtand ge—
fihert jein; jo weit fie aber mit nationalen Wohlfahrtsbedingungen zujammen-
fallen, dürfen fie der Reichszuftändigkeit nicht vorenthalten bleiben. Wo in den
Srundverträgen des Norddeutichen Bundes und den Verſailler Tractaten hier
Lücken geblieben jind — und es find deren nicht wenige geblieben —, ift es
Sade der Gntwidlung, ergänzend wenn nicht einzugreifen, doc einzuwirken.
Manches vollzieht fich von ſelbſt durch die Wacht der eingeborenen Umstände.
Wie unſchädlich find die Vorbehalte geworden, welche den Landesregierungen
das Recht jelbjtändiger diplomatijcher Vertretung im Ausland gelaffen! Wo die
Eitelkeit eines Hofes darauf hält, ſich noch diefen Yurus zu gönnen, huſchen
112 Deutiche Rundichau.
jeine Gejandten als blaſſe Schatten neben denen des deutſchen Reiches einher.
Doch nicht in jeglihem Stüd macht ſich die Sache jo leicht. Wo das Hoheit3-
recht jeine Spitze nah Innen fehrt, ift es jchärfer eingebiffen und findet
ſchwächern Widerftand. Selbft in denjenigen Zweigen der Gejeßgebung, auf
deren Gebiet daſſelbe rücdhaltlos dem Reichsrecht fich untertworfen, gelang es ihm
vielfah, Gebiet zurüczuerobern durch die bloßen Einführungsverordnungen.,
denen aus zu zärtlider Schonung gegen frühere Eigenart zu viel Spielraum
geblieben. Am jchwerften und bedeutungsreichiten geftaltet ſich dieſer Zwei—
fampf zwiſchen Ahriman und Ormuzd auf dem Felde der Juſtizgeſetze. Hier—
her concentriren fi alle jchlauen politiihen Berechnungen, welche auf bie
dynaftiichen und provinzialen Eiferfüchteleien ſpeculiren, um die wichtigfte und
wirfjamfte aller Gemeinjamkeiten in ihrer Ausbildung zu hemmen. Hier aud)
wird ihnen das am leichteften. Die Bundesverträge haben ſich da mit Bruch:
zahlungen begnügt und gegen diejelben Quittung gegeben — dieſer behauptet:
für immer und Alles, jener behauptet: auf Abſchlag. Daß nur das lettre ge-
meint jein fonnte, daß materielles Recht und Verfahren, bürrgerliches, peinliches und
Handels-Recht fich nicht trennen laffen, daß Proceß und Organijation der Gerichte
ein untheilbare® Ganzes jind, liegt jo jehr auf der Hand — ruhig könnte man
dem Werk der Zeit überlafien, dieſe Nothiwendigfeiten unmiderftehlich zu beweijen,
wenn die Zeit nicht ein jo foftbares Ding wäre und bejonders für uns im neuen Reich,
aus folgenden zwei Gründen. Zum Erſten weil man traten muß die Ernte
einzubringen, jo lange die Sonne jcheint. Zwar pflegt Bismard halb im
Scherz, halb im Ernft zu jagen: „Laſſen wir doch unjren Enfeln auch noch was
zu thun, wir brauchen doch nicht alle Geſetze zu machen.” Allein zur äußerften
Erntezeit wird Bismard nicht mehr am Ruder fein und jchwerlich ein Kanzler
jeines gleichen. ch denke, es gilt, bei feinen welthiftoriicehen drei Haaren jenen
oft genannten Schopf der quten Gelegenheit jo feft und energiich an fich zu
ziehen, wie nur immer möglid. Ein vorfichtiger Mann jagt fi): wer weiß,
wa3 nachkommt! und gibt der Zukunft, der loſen Zahlerin, nur den unvermeid-
lien Gredit. Aber ein Zweites jcheint mir noch wichtiger. Neben den We—
nigen, die über dem Grreichten das zu Erreichende nicht aus dem Auge ver-
lieren, wächſt täglich die Zahl der Vielen, die Luft haben, ſich gejättigt zu
fühlen — weniger aus Gründen der Sade, als aus Trieb der menjchlichen
Seele. Ganz bejonders auf dem Felde der Rechtögejeßgebung ftellt diejer
Zug der Gedanken ſich ein, welcher mit tief ernfter, würdiger und Elugerfah-
vener Geberde den mahnenden Finger erhebt gegen die Lodungen jener blen-
denden Girce, der leidigen Gentralijation. Zu den jatten Leuten gehören aber
vor allen andren die Minifter. Ich will ihnen damit nichts Böſes nadjjagen.
Jedes Geihöpf entwickelt ſich nach der Anlage, welche Natur ihm vorgezeichnet
bat, und zu dem Mtinifter einer Monarchie jpricht fie: „Du jollft jatt fein;
denn wonach könnteſt du noch Appetit haben?” Dies ift ein Argument, wel-
ches ihnen Bismard nicht vorhalten fann, denn er ift ein höfliher Mann, wie
er mit Recht ſich rühmt. Unſer Glüd ift, daß er eben fein Minifter ift, jondern
etwas Beſſeres. Es gereicht uns ohne Zweifel jogar zum Bortheil, daß man
für jeine Stellung den bejonderen und vollklingenden Namen eines Kanzlers
Zur Embryologie des Banfgejehes. 113
zur Hand hatte. In Wahrheit ift er jenes jeltne Werkzeug der Geichichte,
welches in Abweſenheit et gegründeter Monarchien ſich auf den Thron erhebt,
da aber, wo e3 ſolche vorfindet, weile feinen Stützpunkt juft im die Feſtigung
der ihm vertrauenden Monarchie verlegt. Ein ſolcher Mann war Richelieu,
ein folder ift Bismard, in mehr als einem Punkte jenem vergleichbar. Die
beiten Reichsminiſter werden nicht ein auseinandergelegter Kanzler fein, denn jie
werden Minifter, d. 5. jatt jein; er aber ift ein Nimmerjatt, wie Richelieu
einer war. Tritt Nimmerjattigkeit zur Seele eines Monarchen, jo führt fie
zum Ueberſchlagen wie in Napoleon J.; aber in der Seele eines von feſtem mon=
archiſchem Stamm zurüdgehaltenen Staatsmannes wirkt fie al3 das belebende
Glement, vorab in neu begründeten Staatsweſen. Der Ahriman des deutjchen
Reichs Hat in den Miniftern der Einzelftaaten gefährliche Verbündete, zuerjt in
den liberalen Miniſtern die gefährlichjten. Da gilt es, jo weile zu vermitteln
jwiichen oben und unten, altem und neuem, jo viele Opfer zu bringen, um ſich
jelbft als die verkörperte gute Sache möglich zu erhalten, gegenüber den
Shwäden und Kabalen der Hofkreife. Sind num gar noch die Minifter, wie
im Juftizwejen, Männer vom Fach, To find fie von vorn herein mit einer
Sharfjihigfeit für alle Schwierigkeiten der Uniftcation begabt, welche jeden
Baum als einen Wald für fi) betrachtet haben will.
So lange diejer jatte Weisheitstrieb den preußiihen Staat nicht ergriff,
fonnte man ihm mit dev Ruhe zuiehen, welche erwartete Schaufpiele begleitet.
Die nationale Partei im Reichstag, der Kanzler und das preußiſche Staat3-
gewicht vereinigt waren Manns genug, den Kampf aufzunehmen. Anders ge:
italten fich die Dinge, wenn die preußiichen Miniſter jelbjt ih von Ahriman
angezogen fühlen, und gefährlich werden fie, wenn in Reviere einjchlagend,
welche fi) der Eontrole des Fürſten Bismard durch ihre techniſche Beichaffen-
heit entziehen, wenn das minifterielle Ruhebedürfniß vom fanzleriichen Bewe—
gungstrieb nichts zu fürchten hat. Dieſe Wendung verfuchen die Dinge in der
großen Gejeßgebungsfrage einzujchlagen, nachdem der preußiiche Juſtizminiſter
jelbft im Unificationswert einen reſignirten Standpunkt einzunehmen erklärt
hat, welcher zu ſolchem Poften bei joldher Aufgabe nicht paßt. Gleichzeitig
that es ihm der preußiiche Finanzminifter beim Bankgejegentwurf in diefer
Richtung zuvor. Mean hat jolche Anklagen, wie die hier formulixte, mit be-
quemen Scherzen abfinden wollen, indem man ironiſch ausrief: nun ſolle ein
Mann wie Samphaufen gar zum „Reichsfeind“ erklärt werden, weil er nichts
von einer Reichsbank willen tolle. Gewiß, Herr Camphauſen und Herr Leon—
hard jind feine Neichsfeinde, eben jo wenig, beinah noch weniger find es die
bayriihen und würtembergiſchen Miniſter „Nur das Tanzen auf den Märk—
ten‘ will ein jeglicher Atta Troll von allgemeinen Menjchheits- und Bater-
landsaufgaben getrennt behandelt wiſſen! Hier fit die bewußte Hartköpfigkeit
des Reſſorts, über welche Bismard von jeher jo bewegliche Klage führte.
Merkfwürdig, daß fie ihm nicht von vorn herein ſich kenntlich machte, als der
Finanzreſſort feine Laufgräben gegen die Reichsbank eröffnete, ihm, der dod)
jonft ein jo jcharfes Auge für dieje ftörfame Einfeitigkeit befit!
Manch' ein Parlamentarier oder Journalift, der ſich als bejonders Flug
Zeutiche Kundſchau. I, 4. 8
114 Deutſche Rundſchau.
aufzuſpielen glaubt, hat von oben herab über die Wärme gelächelt, mit welcher
der Gedanke einer Reichsbank vertreten wurde, indem er zu verſtehen gab: es
jei hier mit dem bloßen lang und Sang des Wortes „Reich“ ein kindiſches
Spiel getrieben, theil3 in naiver Begeifterung, theil3 in jchlauer Berechnung.
Aber dieje wohlfeile Klugheit joll uns nicht irren noch kirren. Es liegt ein
verdammt ernfter Sinn in diefem kindiſchen Spiel. Wenn das Einheitäwerf
des Reiches nicht in dem Inneren feines organiichen Baues durch dauernde und
mwohlthätige Inftitutionen gefeftigt twird, To ift die blos nad Außen gerichtete
Umwallung auf die Länge weder befriedigend noch jichernd. Und wenn toir
dem minijteriellen Schlaraffenthum geftatten, den zerjeßenden Beftrebungen des
Centrums und der äußerften politifchen Flügel in die Hände zu arbeiten, in—
dem fie die harmonische Durhbildung des innern Geſammtlebens aufhalten, ſo
lafjen wir der Möglichkeit rüdläufiger Bewegung einen gefährlichen Zugang
offen. Ganz abgejehen daher von der jadhlihen Wichtigkeit eines centralen
Bantinftitut3 hat es einen eminent politiichen Werth, daß der Eigenwille des
minifteriellen ‘Bartifularismus in der Bankfrage gebrochen wurde; und wir
dürfen dies Erlebniß als ein günftiges Vorzeichen nehmen fiir das, was in der
noch größeren Frage der Recht3-Organijation zu hoffen ift. Freilich liegen bei
leßterer die Sachen ſchwieriger. Eine Bankhoheit gibt es wenigjtens im dyna-
ftiichen Jargon noch nicht, und aus der Münzhoheit haben wir da3 Schädlichite
bejeitigt. Mit der Juſtizhoheit verfteht man weniger Spaß. Aber haben wir
nicht die Militärhoheit, die nod) ein ganz andres Ding war, dem Reich erobern
ſehen? Es wird nur darauf ankommen, daß diejelben Machtfactoren, welche
diejen Sieg davon getragen, ſich auch fiir die innere Organifation der friedlichen
Reihsthätigkeit im gleihen Maße zu intereffiren beginnen, wie für die kriege—
riſchen. In gleihem Maße? — Das wäre wol zu viel gehofft, aber auch
nur in annähernd gleichem wiirde ſchon genügen. Irre ich nicht, To iſt der
raſche Erfolg, welchen die jerjte Leſung des Bankgeſetzes in der Sphäre der
Bundesregierungen erzielt Hat, dem noch rechtzeitigen Erwachen diejes Anterefjes
am rechten Ort zuzujchreiben, ein Erwachen, um da3 ſich der von allen Seiten
des Parlament3 andrängende Weckruf verdient gemacht hat, nicht am wenigſten
der negative der Gentrumspartei und des im Negiren ihr jo oft verbundenen
Abgeordneten Eugen Richter.
Bekanntlich Hat eine jpaniihe Nonne den intereffanten Theil ihres
Lebens bejchrieben, welchen fie während ihres embryonifchen Daſeins im
Mutterleibe verbrachte. Der Bankgeſetzentwurf könnte fich verdient machen,
wenn er auf gleiche Weile die Geichichte jeines Werdens bis zum Moment
der officiellen Entbindung des Neich3fanzleramtes im Bundesrath schreiben
wollte. Bis das gejhieht, gereicht es vielleicht zu einiger Belehrung, das zur
erzählen, was emfiger Auscultirung zu beobachten vergönnt gewejen. Allen
Anzeichen nad) war vom Moment der Gonception bis weit über die erjte Periode
der Entwidelung hinaus das künftige Geſchöpf gerade jo angelegt, wie es der
Reichstag erwartete, Erſt im Berlauf der Zeit ift die erfte Abficht der Natur
gänzlich zu Schanden geworden. Bereit3 im December 1872 hatte das Reichs—
fanzleramt einen Geſetz-Entwurf ausgearbeitet, welcher in gerader Linie auf die
Zur Embryologie de3 Bankgeſetzes. 115
Reichsbank fosging und, wie das nicht anders jein konnte, auf die Umwandlung
der Preußiichen Bank in die für Geſammtdeutſchland. E3 war in den Motiven
diejes Entwurf3 der Gedanke vor allen anderen ausgeſprochen: daß die öffent-
lihe Meinung in Deutſchland einftimmig eine ſolche Inſtitution begehre, und
anerkannt, daß diejelbe ihre untviderleglichen Gründe dafür habe. Demgemäß
war der ganze Plan angelegt. Der Entwurf trug bereit3 die Unterjchrift des
Reichskanzlers; dennoch ift er nie in den Bundesrath gelangt. Wo blieb er
denn hängen? Offenbar an den Zäunen des preußiichen Finanz Minifteriums!
Denn dieſes bildete die erſte Inſtanz, die er naturgemäß zu palfiren hatte.
Damit jtimmt auch ganz da3 Verhalten der betreffenden Perfonen. Sowohl
der Präfident des Reichsfanzleramtes als jein Mitarbeiter in diefem Fach,
GR. Michaelis, haben fich ftet3 in dem Sinne geäußert, daß an ihrer Abficht
auf Errichtung einer Reichsbank nicht zu zweifeln war. Dagegen benußte der
preußiiche Finanzminiſter die Gelegenheit der Debatte über die Reichskaſſen—
iheine im Frühling 1874, um das Parlament zu bedeuten, daß er feinen eignen
perfönlichen Plan für ein Bankgeje habe, alfo offenbar abweichend von dem,
welcher im Neich3fanzleramt bejtand. Auch machte er fein Hehl daraus, daß
diefer Plan ſchwerlich den Beifall des Reichstags finden werde; denn, jagt er,
vorlegen Kann ich Ihnen Schon im nächſten Herbft allerding3 einen Entwurf, aber
ob Sie ihn annehmen tverden, das ift mir jehr zweifelhaft. Nun, er hat reblic)
Wort gehalten; denn e3 wäre ſchwer gewejen, etwas Unannehmbareres vorzulegen,
al3 da3 unter feiner Preſſion ausgearbeitete Project.
Nachdem der erjte Gedanke des Reichskanzleramtes vom preußiichen Finanz—
minifterium Zurücweifung erfahren hatte, mußten auch die - einzelnen
tegierungen abgejchredt werden, diefem Gedanken zur Wiederaufnahme flı ver-
helfen. Als ich im Reichstag die Behauptung aufjtellte, die bayriichen Mtinifter
jeien der Reichsbank von vornherein hold geweſen, entledigt ſich in der Gegen-
rede Herr Camphaujen des Einwurf mit dem inhaltslojen Sarcasmus: ich
iheine beffer unterrichtet iiber die Dispofitionen der bayrijchen Regierung als
er; was natürlich ja joviel heißen jollte als: ein jo hHochftehender Mtinifter müſſe
dergleihen Angelegenheiten doch unendlich genauer kennen, al3 ein jimpler Ab-
geordneter. Geradezu eine Verneinung des von mir Behaupteten enthielt die
Gegenrede doch nicht. Wie dem aber jei, der Miniſter Camphauſen mag bie
Dinge jo oder ander gewußt haben; er mag, wie wahrſcheinlich, jedenfalls für
beffer gehalten haben, zu verſchweigen, was er wußte, immerhin bleibt e3 that-
fählih wahr: die bayriſchen Minifter Tebten feit dev Berathung des Münz—
gejeßes und noch zur Zeit der Berathung über die Reichskaſſenſcheine der feften
Erwartung, daß die Reichsbank den Mittelpunkt des künftigen Geſetzes bilden
werde, und fie dachten nicht entfernt daran, fich dem entgegenzuftellen. Es
braucht wahrlich Keinen Zutritt zu den geheimen Berathungen der Cabinette,
auch feine Indiscretionen aus denjelben, um jo Etwas in Erfahrung zu bringen.
Grinnere man fich nur, wie die Dinge lagen, als in dritter Lejung über der
Berathung des Art. 18 des Münzgeſetzes die Verhandlungen abgebrodhen wer-
den und — jo ſchwierig und verivorren liefen die Fäden durch einander —
bis im die lebten Tage der Seſſion vertagt bleiben mußten, damit eine Ver—
8*
116 Deutiche Rundſchau.
ftändigung bereitet werden fonnte. Bayern in exjter Linie und natürlich auch
Sadjen wollten nicht in die Unterdrüdung des Staatspapiergeldes (unter
100-Mart-Abichnitten) einwilligen, ohne wegen der künftigen Bankgeſetzgebung
beruhigt zu fein. Wer im Mittelpunfte der parlamentariichen Verhandlungen
und der daraus entiprungenen Verlegenheit verkehrte, hatte reichlich Anlaß, aus
unmittelbarfter Nähe die An- und Abjichten der Betheiligten vom Höchſtge—
ftellten abwärts fennen zu lernen; und aus eigenen perjönlichen Willen be=
fräftige ich meine im Reichstag aufgeftellte Behauptung: in den nach Preußen
am meiften maßgebenden Regierungskreilen, den bayriichen namentlich, war
man nicht nur bereit, auf den Gedanken der Reichsbank einzugehen, jah man
ihn nicht blos als den Schlußftein der ganzen Münzgeſetzgebung an, jondern auch
in der Betheiligung Bayerns an den Vortheilen eines jolchen Inſtituts erblicte
man die richtige Ausgleihung aller über die Ausgabe von Staats: und Privat
Noten objchwebenden Differenzen. Wie ift es nun gefommen, daß bei den
Verhandlungen im Ausſchuß und Plenum des Bundesraths Nichts von diejen
Erwartungen und Anfichten zum Vorſchein fam? Die Wandlung hat im Lauf
de3 Sommers jich vollziehen müſſen. Die Naturgefhichte der Staatsgejchäfte
belehrt uns, daß dieſe umgefehrt zum Dachs und ähnlichen Geſchöpfen ihren
periodiihen Schlaf in der heißen Jahreszeit abhalten. Während die Politik
ihren Sommerjchlaf hält, pflegen die Staatsmänner zur Stärkung ihrer Nerven
ins Gebirge zu wandern. Die zu München angejeffenen — ob nun von fic} jelbit
oder auch) von Andern Rath nehmend, wie behauptet wird — hatten indefjen
Zeit auszurechnen, wie hoc fie ihren Verzicht auf die Reichsbank an den Meiſt—
bietenden verfilbern könnten, und im Spätjahr erſchien Bayern in Berlin
verſöhnt mit dem Wegfall der Reichsbank und getröftet erſtens durch das
Angebot einer neuen, jelbjt in den Berjailler Verträgen nicht vorgejehenen
bayrischen Gebietsabtrennung vom übrigen Reiche, ziweitens mit einer Vermehrung
jeiner Banfnotenausgabeberedhtigung von 20 auf 40 beziehentlid) auf 70 Mill.
Mart — im jchlagenden Gegenjah zu allen bisherigen Gebahrungen, welche
vor Allem die Ausdehnungsmöglichkeit beftehender Notenprivilegien zu unter:
drücken bezwedt hatten. Um diefen Preis war — mit dürren Worten zu
jagen — Bayern der Verzicht auf die Reichsbank abgefauft worden. Das an
ſtößigſte Beiwerk der Verſailler Verträge, die Separatftellung Bayerns, welcher
vom Neichsfanzler an gerechnet jeder Freund unſerer politischen Wiedergeburt
nur mit Schmerz al3 etwas zur Zeit Unvermeidlichem ſich gefügt hatte, war
durch einen neuen, in die tiefgreifendften Verhältniffe ſich einniſtenden Funda—
mentalartifel ausgedehnt und verſtärkt. Während die gefunde Neichspolitit auf
dem Gedanken ruhte, daß mit der Zeit die gegenjeitigen wohlverftandenen In—
terefjen Bayern dazu führen würden, die in Verfailles gezogenen Binnengrenzen
jelbft zu bejeitigen, wurden nunmehr die Grenzen verjchärft, das abgetrennte
Gebiet ausgedehnt, das Intereſſe Bayerns darauf hingeleitet, an diejer Ab»
jperrung dauernd feſt zu halten. Gewiß der ſchlimmſte Neicysfeind hätte ſich
nicht ſchwerer an Deutjchland verſündigen können, als derjenige, welcher den
Vorſchlag aufs Tapet brachte, Bayern gegen feine urjprüngliche Abſicht aus
der Gemeinjchaft des deutichen Bankweſens hinauszudrängen. Sachſen wurden
Zur Embryologie des Bantgeſetzes. 117
feine bejonderen Zugeftändniffe gemadt. Dan konnte jedenfalls ſich vergewiſſert
haben, daß es gegen die Reichsbank ebenſo gut wie gegen jede andere Neuerung
zu brauchen war, weil feine die ungeheure Ausdehnung feines Notenumlaufs
gelten laſſen konnte.
In dem eriten Geſetzentwurf, wie er vom Reichsfanzleramt dem Bundesraths—
Ausſchuß vorgelegt worden war, hatten die notenbeichräntenden Zahlen — ab-
geſehen von der bayriichen Separatclaufel — auf'alle deutichen Staaten An—
wendung gefunden mit Ausnahme von Baden und Würtemberg. Weil die
betreffenden Landesbanken exit, im Jahr 1870 errichtet] worden, fonnten die
Jahre 1867—69 nit als Maßſtäbe für den Umlauf der Noten dienen; bei
der würtembergifchen und badiichen Bank jollten aljo die Jahre 1872 und 1873
al3 Normaljahre eintreten. Eigenthümlicher Weije ift die genannte Sonderftellung
im Lauf der Verhandlungen dann auch no Oldenburg und Heffen-Darmftadt
zugebilligt worden. Bei Oldenburg ift die Maßregel damit zuläffiger Weife
erflärt, daß jeine Bank erſt 1869 ?gegründet worden. "Dagegen enthält die
Conceſſion zu Gunften Darmftadts einen Widerſpruch ganz abjonderlicher Art.
Die Sache ift jo bezeichnend für die Weife, wie das Geſetz durch Feilſchen und
Bieten mit den einzelnen Stimmabgebern zufammengeflict wurde, daß ſie eine
nähere Beleuchtung verdient.
Gin Gele vom Jahr 1870 (vor Ausbrud des Krieges) hatte aus be-
kannten Gründen die Ausdehnung und Verlängerung oder Neugewährung von
Notenprivilegien innerhalb des Noxddeutichen Bundes verboten. Na) Beitritt
der Südftaaten zum Reich wurde das von Jahr zu Jahr erneuerte Verbot auf
fie angetvandt, doch mit der Maßgabe, daß es erſt vom Januar 1872 an in
Kraft treten jolle. Um dieje Frift noch zu genießen, beeilte jih die Bank
für Süddeutichland gerade vor Thorſchluß im Jahre 1871 auf Grund einer
Statutänderumg ihre Notenausgabe auf 29,000,000 Fl. zu fteigern. Daß die
Bank kaufmännischer Weile Gebrauh von einem Recht machte, ehe es für
immer entkräftet wurde, ift ihre nicht übel zu nehmen. Sonderbar aber
macht es fi, wenn zu Gunften einer jeit dem Jahre 1855 beftehenden Banf
ein jpäteres als das allgemein geltende Normaljahr zum Mapftab genommen
wird. Hier ift alfo offenbar nicht der natürliche Geſchäftskreis, jondern die in
Gile vor Thorſchluß beiwerkftelligte Vergrößerung der Geſchäftsmaſchine zu
Grunde gelegt. Und noch twunderlicher hebt fich diefe Ausnahme auf dem Ge—
jammtbilde ab, wenn wir in den Motiven die Bayern bewilligte Ausnahms—
ftellung damit begründet jehen, es gebühre ihm eine Schadloshaltung dafür,
da es den Zeitraum von 1871 bis 1872 nicht gleich anderen (Baden, Heflen,
Würtemberg) zur Vermehrung feiner Notenausgabe benußt, jondern ſich im
Sinne des Geſetzes von 1870 jeder derartigen Girculationsausdehnung enthalten
babe. Während aljo Bayern für jeine Enthaltſamkeit belohnt wird, wird
Heſſen-Darmſtadt dafür belohnt, daß es die vergönnte Friſt ausgenüßt hat,
um möglichft unenthaltjam zu verfahren. Und die Sonne, tweldhe jo iiber Ge-
rechte und Ungerechte jcheint, geräth in Verdacht, daß es ihr hauptjächlid)
darauf ankam, die nöthige Anzahl Stimmen für einen Beichluß ohne Reichs—
bank zu zeitigen. Seltiam überhaupt figurirt in der finanziellen Gejeßgebungs-
118 Deutiche Runbichau.
politif des deutichen Reichs als ein mitbeftimmender Grund die Belohnung der
Tugend. Schon bei den Reichskaſſenſcheinen hatten wir Bekanntſchaft damit
gemacht, doch war der Geſichtspunkt damals wenigjtens mit einiger Conſequenz
feftgehalten, während ex in obigen Fällen von jeiner eigenen Garricatur begleitet
auftritt.
Mit weniger Gejchielichkeit und deshalb ohne Erfolg war ein anderer
Paragraph auf vortheilhafte Bündnifje angelegt. Der fünfzehnte des uriprüng-
lichen Projectes enthielt die Beftimmung, daß denjenigen Banken, welche die
den Einzelſtaaten in Form von Reichskaffenicheinen nad dem betreffenden Gejek
gemachten Vorſchüſſe für ihre Landesregierungen einziehen würden, ein gleicher
Mehrbetrag von Notenausgabe für die Dauer der bewilligten Vorſchußzeit zu—
geftanden fein jolle, und als Folge diejes Grundjaßes war ausdrücklich ver-
langt, daß die Preußiſche Bank wegen der im Jahre 1856 eingelöften fünf:
zehn Millionen preußiſcher Kaffenjchheine zu einer Mehrausgabe von fünfund-
vierzig Millionen Mark berechtigt jein jolle. Aber jchon bei der Vertheilung
des Reichspapiergeldes hatte Preußen die Thatſache jener Einziehung verwerthet,
um zu begründen, daß ihm über den Betrag feiner umlaufenden Treſorſcheine
hinaus etwas wie vierundzwanzig Millionen Mark bei der Vertheilung als
reiner Gewinn in die Taſche fielen. Nachdem alſo im Frühjahr die erwähnte
Gonvertirung des Staatspapiergeldes in Banknoten dazu hatte dienen müſſen,
den Gewinn des Preußiſchen Fiscus zu rechtfertigen, ſollte im Herbſt deſſelben
Jahres diejelbe vor zwei Jahrzehnten vollzogene Maßregel dazu herhalten, nun
auch die Preußiiche Bank zu bevorzugen. Ein bis in idem in befter Form.
Zum Ueberfluß Hatten weder die Regierungen noch die Banken der anderen
Staaten von der ihnen damit eingeräumten Befugniß den geringften Vor—
theil zu gewärtigen. Den Regierungen konnte es ganz gleichgültig fein, ob
jie den betreffenden Vorſchuß vom Reich oder von ihrer Landesbank erhielten ;
und die Banken hatten eher Nachtheil ala Vortheil davon zu erwarten, daß fie
eine beftimmte Summe zu zahlen übernahmen, gegen die bloße Möglichkeit, den
gleichen Betrag an Noten im Publicum unterzubringen, was ja auch von diefem
abhing. Aber die Preußiihe Bank, welche feine Wahl mehr hatte, weil die
eine Seite der Operation feit achtzehn Jahren eine vollendete Thatjache, weil
aljo nur no ein Vortheil ohne Gegenleiftung zu erlangen war, fand ihre
Rechnung bei dem Paragraphen. Hier waren aljo feine Stimmen zu gewinnen
und hier unterlag das Project ſchon im Bundesrath. Aber charakteriftiich für
den Geijt, in dem es aufgebaut tworden, ift der Vorgang allerdings.
Dennoch würde Derjenige irre gehen, welcher ſich unbedingt der Anſicht
hingäbe, daß ausſchließlich der Vortheil des Preußischen Fiscus die Grunde
gedanken zu dem Entwurf eingegeben habe. Wäre dies der Fall, fo hätte, wie
in obigem Beijpiel, überall die zu fteigernde Einnahme der Preußiichen Bank,
an welcher der Fiscus zur Hälfte betheiligt ift, das Objectiv der Bewegung
abgeben müſſen. Aber jeltiamer Weile geht durd) den Entwurf auch wieder
eine Strömung in geradezu jentgegengejegter Richtung. In der That tritt aus
der über den Gegenftand erwachſenen Literatur, wie aus der parlamentarifchen
Erörterung mit am lebhafteften der Vorwurf heraus, daß nad) der Anlage des
Zur Embryologie des Bantgefekes. 119
Geſetzes der Lebensnerv der Preußiichen Bank auf eine unverantwortliche Weije
unterbunden werden jolle. Beim erften Blid ruft Jeder beftürzt aus: Wie!
die große Preußiiche Bank, mit ihrer Weltjtellung neben der Engliihen und
Franzöſiſchen, wird in denjelben Rahmen gezwängt mit der von Reuf - Greiz
und Büdeburg! Und während fie ſchon heute auf dem Wege ift, ihre Thätigfeit
über das nichtpreußiiche Deutichland auszudehnen, ſoll ihr in Zukunft diefe
Möglichkeit an die Bedingung geknüpft werden, daß der einzelne Bundesitaat
eine ſolche Ausdehnung förmlich) beantrage, eine Bedingung, welche nicht blos
unter dem Einfluß der wirthichaftlichen Bedürfniife im betreffenden Lande, ſon—
dern auch des politifchen Beliebens jeines Hofes ftünde! In der That, je ge—
nauer man den Entwurf betrachtet, deſto räthjelhafter fieht er Einen an. Man
denft an jene Vervollkommnung der eleftriichen Telegraphie, welche auf der
Entdeckung beruht, denjelben Draht gleichzeitig zum Hin- und Herjenden zweier
erıtgegengejegter Strömungen zu benüßen! Auch die Verpflichtung, die Noten
ſämmtlicher Territorialbanten in Zahlung zu nehmen, würde in der Praris
in ungebührlichem Uebermaß der Preußiſchen Bank zur Laft, unter Umftänden
zu erniter Verlegenheit werden.
Wenn jolher innerer Widerſpruch zwiichen Vertheidigung des Preußiichen
Fiscus und Blosftellung der Preußiichen Bank etwas anderes als zufällige
Durchkreuzung verichiedener allgemeiner Rihtungslinien jein ſollte, jo entzöge
fih das Verhältniß jedenfalls der näheren Unterfuhung Zum Theil erklärt
fih die Antinomie aus dem Compromiß, welchen die Hauptmitarbeiter des
Entwurfs behufs Feititellung eines gemeinfamen Werkes miteinander geichlofjen
haben. Denn jo bejtimmt e3 als ausgemacht angejehen werden muß, daß das
Preußiſche Finanzminifterium der Schaffung einer Reichsbank dermalen abhold
war, jo unzweifelhaft darf von der anderen Seite angenommen werden, daß der
urſprüngliche Plan de3 Reichskanzleramtes auf jene Gentralinftitution ſich ge—
richtet hatte. Umgekehrt dagegen fteht es mit dem Syftem der Contingentirung,
welches im definitiven Entwurf die Oberhand behielt. Minifter Gamphaufen
hat nie ein Hehl daraus gemacht, da er nichts weniger jei, al3 ein Anhänger
der Gontingentirung, dagegen ift befannt, daß Dr. Michaelis, welcher den Gegen-
ftand im Reichskanzleramt in hervorragender Weife zu feiner Specialaufgabe
gemacht hat, von jeher zu den heißeften VBerehrern der Peel’ichen Methode gehört,
Ihon vor Jahren im Preußiichen Landtag deren Nebertragung auf die heimiſche
Bank beantragt hat. Wie Figura zeigt, haben die beiden einander entgegen-
gejegten Anſchauungen ſich unter einander verjtändigt, daß die Lieblingsidee
jedes von beiden im Entwurf zur Geltung kam. Der Eine bequemte ſich zum
Verzicht auf die Reichsbank, wogegen ſich der Andere die Contingentirung ge-
fallen ließ. Wie zmwijchen den Einzelftaaten, jo auch zwifchen den maßgebenden
Grundanihauungen ift der Entwurf auf dem Wege zu Stande gekommen,
welchen die Sprache der engliichen Volkswirthe mit higgling and bargaining be-
zeichnet. Jedes der beiden Principien war dabei bemüht, durch irgend einen
Vorbehalt jeine Seele zu jalviren. Der Reichsbank war das gelobte Land von
der. Höhe des Artikels 19 Ziffer 6 in zehmjähriger Ferne dämmernd gezeigt;
der Gontingentirung waren die Hörner abgeftumpft durch Verwandlung der
120 Deutihe Rundichau.
unbedingten Gontingentirung auf fejten Ziffern in die relative durch die vier-
procentige Steuerſchranke. Es kann nicht geleugnet werden, daß in diejer in—
directen Gontingentirung -eine jehr beachtenswerthe Umwandlung der unbeweg—
lihen Peel'ſchen Maichinerie liegt. Schließlid) werden Groß wie Klein, vor:
behaltlich der Belehrung durch die praftiiche Erfahrung, das deutiche Syftem
vorziehen. Aber hier, wie überall, hat die widernatürliche Einzwängung der
Preußiichen Bank in den für die kleinſte Territorialbank beftimmten Rahmen
Mißbildung erzeugen müflen.
Wollte man einmal den Grundgedanten der Peels-Akte adoptiren, jo war
e3 viel natürlicher, ihn nad) jeinem Vorbild auf die Territorialbanfen anzu=
wenden. Die engliſche Akte weiß aber bei ihren Territorialban-
fen gar nichts von dem Unterjchiede zwiſchen gededten und un—
gededten Noten, der in unjeren Debatten eine jo große Rolle jpielt. Sie
beſchränkt die Notenausgabe der Privatbanken unbedingt auf die Höhe einer aus
dem Normaljahre abgeleiteten Ziffer, und läßt ihnen die Sorge fi) zu deden,
wie ſie es für qut halten. Da alle deutichen Territorialbanten ſtatutariſch be-
reit3 an genügende Dedungsvorichriften gebunden find und bei Einjegung einer
Reichsbank zur Beobachtung eines guten Kaffenbejtandes durch deren Ueber—
wachung genöthigt waren, jo fonnte man fich der ganzen, verwickelten und nicht
ungefährlichen Methode der indirekten Gontingentirung bei ihnen entjchlagen,
und ein für allemal das Nebel eines ungleich beichaffenen und ungleichwerthigen
Bankgeldes auf ein befanntes Marimum beſchränken. Auf der anderen Seite
gewann man dadurch Freien Standpunkt für die Gentralbant, der Niemand
vernünftiger Weije anfinnen kann, ſich mit gleihem Maße, tvie die Territorial-
anftalten meljen zu lafjen. Nur dem unglüdlichen Gedanken der Nivellirung,
welcher aus der Abneigung gegen die Reichsbant ſich von jelbft ergab, verdan-
fen wir aud), daß die Gontingentirung, nachdem fie ſich jo tief in die Oekono—
mie des ganzen Gejeßes eingerammelt hat, auch die Reichsbank nicht ver-
ſchonen wird.
Wer weiß, wie die Dinge in der Welt zugehen, twird ſich nicht wundern,
daß der zwiſchen dem Neichsfanzleramt, Preußen und Baiern vorher in jeinen
Grundzügen feitgeftellte Entwurf, verjehen mit einem complizirten NRäder-,
Schrauben- und Zahnwerk, an das man nicht rühren konnte, ohne die ganze
Maſchine wieder auseinander zu nehmen, bei den um den grünen Tiſch verſam—
melten Mitgliedern des hohen Bundesrathes jeden iſolirten Widerjtand zer:
malmte; das Referat ward Elüglicher Weije in bairiſche Hände gelegt, obgleich
der damit betraute Bevollmädtigte, ein Mann allerdings To ausgezeichnet an
Geift und Verſtand, wie an Kenntniſſen im höheren Verwaltungsfah, im
Punkt diefer Aufgabe ſich nicht für befonders berufen halten fonnte und — dafür
bürgt die Geradheit und Klarheit jeines ganzen Wejens — ſich auch gewiß
nit für bejonder3 berufen angejehen hat; denn die Materie liegt jeinen bis-
herigen Beichäftigungen und Studien abjeits.
Nicht zugegeben fann übrigens werden, daß, wie in der urjprünglichen
Faſſung der Motive angedeutet tvar, von Seiten der verbündeten Regierungen
das Verlangen nad der Reichsbank ſich von vornherein zum Schweigen ver:
Zur Embdryologie des Bankgeſetzes. 121
dammt habe. Vielmehr ift bereit3 im erjten Stadium der Verhandlungen im
engern Ausſchuß des Bundesrathes das Anfinnen laut geworden, dag mit der
Preußiſchen Bank wegen ihres Ueberganges ans Reich in Unterhandlung getre-
ten werde. Doch zerichellte es ohnmächtig an der Uebermacht des oben geſchil—
derten fait accompli. Niemand twol lebt in der Jllufion, als wäre der Bun-
desrath eine Art von Staatörath, in welchem die Aufgaben rein und objektiv
vom gejeßgeberiichen Standpuntt mit der entiprechenden jachlichen Gompetenz
von allen Mitgliedern des Gollegiums geprüft werden. Zu den Grundübeln
der Neihsorganilation gehört eben, daß ein Kollegium von weſentlich Diplo-
matiihem Charakter, nämlich vorzugsweije beftimmt die politichen Einflüſſe
der einzelnen Regierungen zu differenziren, zugleich dem Schein nach auch die
Funktionen eines Staatsraths ausübt. KLebteren würde man natürlich nad)
ganz anderen Qualifikationen zuſammenſetzen als eine Körperfchaft von politiich-
föderativer Abſicht. Man würde nad ſachlicher Befähigung die Mitglieder
wählen, und die Sektionen bildeten alsdann einen Stamm von maßgebenden An-
fihten, deren Autorität in unjerem, tvie jo manchem anderen Falle nicht genug
gewünſcht werden kann.
Zum Drud, welden gegebene Berhältniffe und vollendete Thatjachen bei
der Berathung im Bundesrath ausübten, gejellte ich ſchließlich noch die Wir-
tung des Schnellfeuers, von welchem das erſte Ericheinen des Entwurf3 in der
Preſſe begleitet war. Ich bin meinerfeits feſt überzeugt, daß Herr Michaelis
an diefem ihm von Freunden und Anhängern geleifteten Liebesdienfte gänzlich
unihuldig iſt. Ich finde auch ganz begreiflih, daß feine alten Gefährten in
warmer GErgebenheit für jeine Perfon mit Begeifterung ein Werk auf den
Schild erhoben, in welchem fie zugleich ihren geliebten Meifter und ihre eigne
Lieblingsidee verherrlichen konnten. Nur in einem Stüde vermag ih ihnen
nicht zu folgen. Alle ihre Verkündungen waren, meine ich, von der Behaup-
tung durchſättigt, daß bejagter Gejeßenttwurf alljeitig mit dem Tebhaftejten
Beifall aufgenommen, ja mit Enthufiasmus und Bewunderung gepriefen werde.
Vieleicht übertrugen die Verfaſſer der mit erftaunlicher Präcifion nad) allen
Windrichtungen getriebenen Artikel naiver Weile ihre eigenen Gefühle auf das
geſammte deutiche Publicum; jedenfalls mußte der naide Theil dieſes Publi-
cums ſelbſt fich darüber eingeihüchtert Fühlen gegen jede zweifelnde Anwandlung,
und die thatſächliche Strategie diejes Furzen Feldzuges hätte nicht anders ein-
gerichtet jein können, wenn fie es auf Verblüffung umd Ueberrumpelung des
Publicums abgejehen hätte..
Alle GCombinationen und Anftrengungen innerhalb und außerhalb der
Regierungsfreije, um die Grundlagen des Gejeßes in eine unnatürliche Richtung
zu Ihieben, haben zum Ende nur die schwer zu beflagende Folge gehabt, daß
eine fojtbare Zeit verloren wurde Hätte man vor jehs Monaten jich der
Ginficht nicht verichlofien, zu der man jich heute bequemen muß, jo war das
Bankgeſetz fertig, als der Reichstag in die Weihnachtsferien ging. Damit war
für die Beichleunigung unferes Ueberganges in definitive Münzzuftände der
allerwichtigfte Schritt gethan. Daß dieſer Mebergang nicht raſch genug be-
werfftelligt werden kann, wollte man in denfelben Quartieren, welche jett den
122 Deutiche Rundſchau.
Zeitverluft in der Bankgejeßgebung auf fi genommen haben, überhaupt lange
nicht einjehen. Man ſprach mit behäbiger Gelafjenheit von einem Jahrzehnt
oder auch mehreren, welche e3 anftehen könnte, bi3 die Reihsgoldwährung im
vollen Sinne des Wortes durchgeführt jein möchte, und belächelte ala Heißſporne
diejenigen, welche vor den umerträglichen Beſchwerden eines lange fortgeipon=
nenen Interims warnten. Wenn nur einmal nah Mark gerechnet würde,
glaubte man die Hauptjache geichehen, und die Fiktion, daß ein preußilcher
Silberthaler drei goldne Mark bedeute, jollte im Weltverfehre gleichbedeutend
jein mit einer Goldwährung. Man machte fi) weiß, die ftörende Thatſache,
daß der alte Weg abgegraben ift, während zum neuen kaum die Erde aufge-
fragt wird, könne vom Weltverfehr mit demjelben Gleihmuth ertragen werden,
mit welchem der Berliner ein Jahrzehnt lang über feine höderigen Straßen
ftolpert, bis Fiskus und Magiftrat lange genug ihren Pflafterftreit durchge—
tochten haben.
Erfahrung hat jegt in raſchen Schritten denen Necht verichafft, welche auf
Eile drangen. Wir werden ohne Zweifel die ganze neue Reichsgoldwährung
viel fchneller unter dem Druc der Umftände verwirklicht jehen, als jeiner Zeit
in jenen bewußten Regionen angenommen wurde; twir werden auch troß alles
Sperrens und alles Aufwandes von dialektii hen Begründungen die frähtintel-
haften Beſtimmungen fallen jehen, welche der Privatprägung fich entgegenjeßten,
und wir werden ein Bankgeſetz erhalten, welches, wenn nicht jofort allen An-
forderungen einer gefunden Finanz- und Wirthichaftspolitif entiprechend, doc)
auf rihtigem Fundament aufgebaut, ſpäter in Einzelheiten die Berbefferungen
zulaſſen wird, zu welchen Erfahrung, allerdings vielleicht eine toftfpielige Er⸗
fahrung hinleiten mag.
— ——
„Die Moral von der Geſchicht.“
Der Parlamentarismus iſt am Ende doch nicht jenes fünfte Rad am Wagen,
al3 weldjes eine twohlfeile Kritik ihn zu veripotten beliebt, und der Liberalis-
mu3 ber nationalen ‘Parteien hat außer der Aufgabe, der Neichsregierung in
ihren freifinnigen Tendenzen nachdrängende Stüße zu jein, auch noch die beſon—
dere, in großen und Eleinen Angelegenheiten des öffentlichen Wohles, welche der
nationalen Form den wahren verdienftlichen Inhalt liefern, die Neichsregierung
auf den rechten Weg zurückzuweiſen, da wo fie von ihm ablentt.
Das ift nicht die Oppofition, von welcher der Bierphilifter zu Berlin oder
Frankfurt verlangt, daß fie ihm die Sterne vom Himmel hole, — Sterne, vor
denen er zuerjt Reißaus nehmen würde, wenn fie auf die Exde fielen, — jondern
eine beffere, welche ins lebendige Reich des Gejchehenden eingreifend, ſich jelbit
zugleih und da3 gemeine Weſen durch friſchen Luftzug und unermüdliche Ar:
beit zur Entfaltung bringt.
Literariſche Rundſchan.
— —
1. Briefwechſel zwiſchen Varnhagen und Rahel. Herausgegeben
aus Varnhagen's Nachlaß von Ludmilla Aſſing-Grimelli. (Leipzig. F. U. Brock—
haus. XIII. 336. 309. Bd. J. 2.)
Es giebt Namen, an welche die Kritik nicht ohne ein gewiſſes Zögern heran
tritt. Was thun, wo eine Klippenreihe ſuperlativiſcher fertiger Urtheile das ſchmale
Fahrwaſſer zwiſchen der nachbetenden Trivialität und der Ketzerei kaum entdecken
läßt? Und zumal, wenn es dabei wie hier um einen Namen ſich handelt, der ſeinen
eigenen beiten Ruhm in der ungeſchminkten Aufrichtigkeit und Selbſtändigkeit fand?
Soll Varnhagen's Wort evangeliiche Autorität behalten: „Von Rahel. it Alles
und Jedes an und für fich bedeutend und wichtig. Von ihr jollte jede Zeile beachtet
und bewahrt werden?” Alſo 3. B. auch claffiiche Ausfprüche, wie: „Geh' nicht in
„der Site Äpazieren, Lieber! Die Sonne fcheint Heute jo ausführlich!" Oder:
„Denkt an die Scheine der Sonne!“ Aber auf der andern Seite: Welcher
Nachlebende hat dag Recht, in Bezug auf die Auffaffung einer Frau, die gar nicht
Schriftftellerin war, Tondern durchaus perjönlich wirkte, dem enthufiaftiichen Lobe
faſt aller zeitgenöffiichen Berühmtheiten zu wideriprechen? Zumal Angefichts jo vieles
Menichlichen, Wahren, Treiflichen, was auch diefer Briefwechjel wieder enthält! Am
meijten, wie es uns jcheint, ift Rahel zu bewundern wegen der Klarheit und Wahr:
Haftigfeit, welche fie inmitten des mitunter recht dien um fie her angezündeten Weih-
rauchdampfes in allen Hauptfachen doch zu bewahren wußte. Es Klinge immerhin
ſtark in den Ohren eines nicht unter lauter berühmten Leuten aufgewachienen Men—
fchenfindes, was fie 3. B. Bd. I. p. 32 von fich fagt: „Laſſe nicht leicht von mir
„los. Du verlierft eine Welt an mir. Nie, nie findeft Du vielfältigeres, leichteres
„Zeben, mit diefer innerften, innigen Treue, mit diefer Sicherheit und diefem Maße
„zujammen. ch bin jonft in Nichts Etwas; ich weiß e8, wie ein Anderer es nur
„wiflen kann; aber mein Gutes ift doch einzig, das fühle ich, wie man feine Grijtenz
„fühlt!“ Wer aber den Peripetien diefeg Briefwechſels folgt und fih an den Ton
einmal gewöhnt hat, der fommt doch zu dem Gefühl, daß diefe „Aufrichtigkeit“ micht
ganz unberechtigt iſt. Es ift in der That ein Seelendrama und dabei ein Stüd
Weltbild voll Hohen Intereſſes, welches Hier dem (geduldigen und ausdauernden) Leer
fich enthüllt. Varnhagen zählt: 23 Jahre, als er im Frühlinge 1808 Rahel Levin
int Berlin kennen lernt. Sie iſt eine Berühmtheit von beiläufig 37 Jahren, Er
Präutigam, oder etwas dergleichen, von einer hübjchen, jungen Hamburger Wittwe;
(I. p. 11 „Gaben Sie mir eine Antwort, als ich Ihre Braut nannte? Geben Sie
mir noch, wenn ich Anderes nenne, eine andere, ala fi in meine Arme?“ [sie!)).
Sie hat ſchon an zwei Ungetreuen bittere Erfahrungen gemacht, an Graf Finfenitein
und dem ſpaniſchen Diplomaten Urquijo: „das ſpaniſche Fegfeuer“ nennt fie einmal
das Verhältnik. So giebt e8 denn, troß aller Himmelhoch jauchzenden Seelenhar-
monie, viel Hangen und Bangen, Mißverſtändniſſe und Erklärungen, die endlich, in Folge
124 Deutſche Rundichau.
veripäteter Briefe und gefreuzter Reifer, Umzugs: und Vereinigqungs-Pläne dem arınen
Varnhagen ein recht ungnädiges Abjageichreiben einbringen, (IT. 25. vom 21. October
1810): „Du haft mich Geld, Zeit, Quartier, Bequemlichkeiten aller Art verlieren
„laſſen, jeit ich Dich kenne. — — Ich habe Dir Nichts anzubieten, alſo mußt Du
„natürlich bei Deinem Oberften bleiben. — — Ich will Dir wol dad Ungemach,
„das Du mir bereitet haft, verzeihen, aber ich fann nicht.“ Und gar in der Nach—
ſchrift: „Mit nur mäßiger Oekonomie, mit nur einigermaßen geregelten Ausgaben
„wäreft Du längst in Berlin oder Hätteft die Mittel dazu!“ Und dabei war der
arme Varnhagen üfterreichiicher Lieutenant ohne Zuſchuß, und ganz von jeinem
Oberſten, Grat Bentheim, abhängig, der ſelbſt bankerott war und von der Großmuth
jeiner Brüder lebte! Seine Antwort, männlich und durchaus vortrefflich, gereicht
beiden Liebenden zur höchſten Ehre: der gereiften Frau, die jo tete Anhänglichkeit
einflöhen fonnte; dem jungen, ehrgeizigen und Lebensluftigen Offizier und Schrift
jteller, der über Hleinliche Empfindlichkeit To hinaus und rein jeeliichen Einflüffen To
zugänglich ift. Dafür fällt dann freilich in der nächſten, ſchlimmern Krifis (1812)
das volle Licht auf Nahel’3 Seite. Höchſt bezeichnend Tür das Stimmungsbild der
Zeit ilt die Stellung Beider, Varnhagen's und Rahel's, zu den großen national-
politiichen Fragen. Zwiichen 1808 und 1809 wechſelt patriotiicher Schmerz mit
Anfällen von Napoleons-, ja Franzoſen-Cultus. Rahel plant, nach Paris zu ziehen,
denn mit dem Geſtirn Friedrich's ſei es doch aus; Barnhagen, da er in Dresden
ftattlichen Grenadieren und Voltigeuren des Kaiſers begegnet, befommt Luſt, den
Adlern Napoleon’s zu folgen, „um den Krieg zu lernen“, und ſelbſt jein Eintritt in’s
öfterreichiiche Heer (Juni 1809) ift mehr die That des ehrgeizigen Abenteurers, als
die des Patrioten. Aber dann erwärmt, erhöht, Flärt fich zujehends die Stimmung,
zuerst bei Varnhagen. Das faiferliche Paris ijt ihm 1810 nur ein Gegenjtand des
Mitleids; es ift ihm ſchaal und dumpf im diefer „geiftigen Dede“; und gleichzeitig
erwächſt ihm freudige Hoffnung auf Preußen und auf das deutiche Bolt. Wie Er
und feine Freundin diefe Gefinnungen nachher glänzend bethätigten, ift bekannt, Fällt
aber leider nicht mehr in die Grenzen des vorliegenden Briefwechiele, der vom 12.
Mai 1808 bis zum 1. Januar 1813 reicht. Unter der reichen Ausbeute literar-hiftoriichen
Stoffes find die Mittheilungen über Glemens Brentano, diefen romantischen Super:
lativus, don draftiichem Intereſſe; ſehr erfreulich ijt überhaupt die Klarheit und
Sicherheit, mit welcher Rahel, unbeirrt durch alle romantischen Zeit-Nebel, ſtets ihre
ureigene Empfindung vein ausfpricht: wie denn auch fonft die ihrem befannten Bilde
bier zuwachienden Züge daflelbe durch einen gelegentlich aufgeſetzten Schatten nur
intereifanter machen, nicht aber ewnitlich trüben. So hätte dad Gelammturtheil über
diejen Brieiwechlel denn troß Allem die Form des Danfes anzunehmen, wenn die
Herausgeberin, Frau Ludmilla Alfing-Grimelli, fih ihre Aufgabe nicht
gar zu bequem gemacht hätte. Seine biographiiche Ginleitung, feine Sichtung des
Materials, feine erflärenden Anmerkungen, fein Inhaltsverzeichniß! Und wie jehr
wäre das Alles im Intereſſe des größern, gebildeten Leſerkreiſes geweſen! „Was Du
ererbt von Deinen Vätern halt, eviwirb es, um es zu befiten!” Das möge fich auch
die Inhaberin des, wie es fcheint, unerichöpflichen Varnhagen'ſchen Nachlafles gejagt
fein laſſen!
2. Vorträge und Aufſätze zur Geſchichte des geijtigen Lebens in
Deutihland und Deiterreih. Bon Wilhelm Scherer. Berlin.
MWeidmann’sche Buchhandlung. 1574. Groß 8. 431.
Wahrlich, wer heute noch den alten Vorwurf wiederholte, daß unfere Wiflen-
ſchaft die gute, gefällige Form verichmäht und vornehm vom Leben fich abwendet,
dem könnte man Bücher wie das vorliegende, (und fie rüden nachgerade in geichlo}-
jenen Reihen heran) als ein wahres Symbol der veränderten Zeititrömung entgegen
halten. Scherer ift befanntlich ein hervorragender Schüler Müllenhof's, des Itrengiten
Literariſche Rundſchau. 125
Meiſters ſtrengſter Forſchung; er gehört zu den Zierden der neuen Reichs-Hochſchule,
zu unſern angeſehenſten Germaniſten und Literaturkennern: und alles Das hat ihn
nicht abgehalten, für eine ganze Reihe wiſſenſchaftlicher Fragen und Gegenſtände mit
allen Kunſtmitteln des Redners, des eleganten Eſſayiſten, ja des Feuilletonſchreibers
um die Theilnahme der weitern gebildeten Kreiſe zu werben. Er ſpricht über den
Urſprung der deutſchen Nationalität, über die Entdeckung Germaniens (nach Mül—
lenhoj's deuticher Alterthumskunde), über die deutſche Spracheinheit, den Urſprung
der deutſchen Literatur, das Nibelungenlied; er ſchildert mit dichteriſcher Anſchaulich—
keit und warmer, aber durchaus nicht blinder Liebe, das geiſtige Leben Oeſterreichs
im Mittelalter; Abraham a ſancta Clara und Franz Grillparzer werden in ausführ—
lichen Eſſays behandelt. Der Verfaſſer beglückwünſcht Bauernfeld zu feinem ſieb—
zigſten Geburtstage, ſich und ſeine öſterreichiſchen Landesleute zu ihrer Errettung von
tſchechiſcher Vergewaltigung (12. Januar 1872); er feiert Leſſing's Geburtstag, 22. Jan.
1870, mit tröſtlichen, an den Nathan anknüpfenden Ausführungen über die Oekonomie
der Natur in allmäliger Herausbildung und Stärkung der humanen Jnitincte;
giebt, während des Franzoſenkrieges, dem Verdienſte unferer Literatur um Aufrichtung
des Vollsgeiſtes die Ehre; jagt über Hölderlin, Schleiermacher, Otto Ludivig und
Shakeſpeare erfreulich anregende Worte, berichtet über Gottfr. Keller's fieben Yegenden,
harakterifirt die junge, jeit 1848 herangewachjene Generation in Dejterreih und
führt fich endlich durch eine liebevolle, feine Charakteriftit des braven Ludwig Spach
bei jeinen gegenwärtigen Eljaffer Mitbürgern ein. Wie man fieht, hat da der Zus
fall vielerlei Gerichte auf einer Tafel verfammelt; und wie die Themen, jpielt auch
die Behandlungsweife in vielfachen Tönen. Was das Ganze dennoch zufammenhält,
den Leſer padt und einen einheitlichen Eindruck vermittelt, das ijt die Perjönlichkeit
des Verfaffers und die von ihr ausgehende Methode: die Friiche und Entichlofjenheit
de3 Gedanfens, die warme Anfchaulichkeit, die echt vaterländifche und doch überall
menschlich gemäßigte Gefinnung. Die wahrhaft künftleriiche Formgebung läßt wol
MWideripruch, aber niemals Gleichgültigfeit auffommen. Nicht mit gleich unbedingter
Anerkennung ift von der Solidität aller Ausführungen, von der Vorficht aller Schluß:
folgerungen zu jprechen, und feineswegs überflüffig ericheint die vorbeugende Bemer-
fung der Vorrede: Manches iſt mir recht fremd geworden, ohne daß ich immer
in der Yage war, die betrefienden Probleme ner zu durchdenken.
Man merkt's wol. Man leje alio mit VBorficht, aber man leſe! Dafür, dat
man dann auch bis zu Ende liejt, Hat die an vielen Stellen wahrhaft glänzende
— ſo wie die geiſtige Tüchtigkeit und Friſche des Verfaſſers beſtens
geſorgt.
3. Preußiſche Geſchichte von Profeſſor Dr. William Pierſon. Mit
einer hiſtoriſchen Karte von Profeſſor H. Kiepert. Dritte Auflage. Berlin,
Gebrüder Paetel. 1875. Bd. 1. IV. 507. Bd. 2. 500. 8.
Im Jahre 1864 erſchien die erſte Auflage dieſer populären preußiſchen Geſchichte in
einem Bande; das Jahr 1871 brachte die zweite Auflage in zwei Bänden; nach halb ſo
langem Zwiſchenraume liegt jetzt dieſe bis auf die Gegenwart, April 1874, fortgeführte
dritte Auflage vor uns, zur Ehre des Verfaſſers, zur Ehre für den vaterländiſchen
Sinn und das Bildungsbedürfniß der Yeferfreife, an welche die Arbeit fich wendet.
In deren Intereſſe it denn auch mit jehr richtigem Tacte der Schwerpunct in die
Darftellung der neuen und neuejten Zeit gelegt: jo zwar, daß der ganze zweite Band
ſich mit der Zeit von 1807 bis 1874 beichäftigt, während im erſten Bande die
brandenburgifche Vorgeichichte bis 1440 auf 28 Seiten abgethan wird, der große
Kurfürſt aber 58, und Friedrich der Große 157 Seiten erhält. Sehr zwedmäßig
werden in den Momenten des Zutritt? wichtiger Provinzen kurze Berichte über deren
Natur und frühere Schidjale eingeflochten, bei denen nur Schlefien mit 4 Seiten
gegen Brandenburg, Preußen, Jülich auffallend zu furz fommt. Die Behandlung
126 Deutiche Rundſchau.
des Stoffes fieht von aller gelehrten Begründung ab (womit bier fein Vorwurf aus-
geiprochen wird), giebt den großen Zufammenhang der Begebenheiten in lebendiger,
häufig ſchwungvoller Darftellung, die fih in, wichtigen Momenten nicht felten mit
Glück bis zu künftleriicher Schilderung hebt und widmet dabei, ein unerläßlihes Er-
forderniß für den hier vorliegenden Zweck, den inneren Verhältnifien eine ganz bejon-
dere Sorgfalt. Des Verfaſſers Standpunct ift der eines warmen, aber freimüthigen und
freifinnigen Patriotismus, der von der richtigen Annahme ausgeht, daß eine Dynaftie
wie die Hohenzollern und ein Volk wie das preußifche der Schmeichelei nicht bedürfen
und die Wahrheit, auch die herbe, ertragen können und jollen. Wenn wir für künftige
Auflagen einen Wunſch äußern dürften, jo würde derjelbe auf vorfichtigere Anwen—
dung vhetorifcher Mittel und auf jubjtantiellere Genauigkeit mancher Ausführungen
fih richten. So, um nur ein Beifpiel anzuführen, wäre e8 bei Gegenüberftellung der
Zuftände vor und nach 1807 jehr nöthig geweien, neben den Gegenfähen auch die
gleichmäßig fortwirkende Unterftrömung des gefunden und tüchtigen nationalen Geijtes
hervortreten zu laflen, damit die Aenderung begreiflich wäre und nicht wie ein
ſtaatsmänniſches Zauberjtüd erichiene. Das Verfahren Napoleons gegen das befiegte
Preußen wäre durch ein halbes Dubend Zahlen weit anfchaulicher geworden, ala
durch entrüfteten Tadel. Schlachten muß man entiveder, wenn auch nur an den präg—
nanten Hauptzügen, technifch genau bejchreiben oder gar nicht. Kraftworte geben fein
Bild. Es fcheint auch kaum noch Hiftoriicher Styl, wenn 3. B. von Bernadotte ge=
jagt wird: „Die Monarchen hielten ihn für ein militärifches Genie, während er in
der That nur ein Prahlhans (!) und dabei ein verrätherifcher Ränkeſchmied war“.
Wir wollen Bernadotte gegen Bülow wahrlich nicht vertheidigen; aber wenn er nicht
im preußifchen Sinne handelte, jo war er eben fein Preuße,; der Tadel gebührt
denen, die 70,000 Preußen unter feinen Oberbefehl jtellten mit derjelben Tactlofig-
feit, die Moreau in den großen Generaljtab berief. Dergleichen ließe noch Manches
fi) anführen, wenn der Raum es geftattete; doch treffen diefe Bedenken keineswegs
die Hauptjache. Pierſon's preußiſche Gefchichte bleibt eine mwadere, gemeinnüßige
Leiftung, der wir im Intereſſe gejunder vaterländifcher Gefinnung und Bildung recht
weite Verbreitung wünfchen und welche die Werke ähnlicher Tragweite, die uns be—
fannt find, durch Yreimüthigkeit und NAufrichtigfeit des Urtheild und zweckmäßigen
Man überragt, während fie durch ſolide Arbeit und gute, anfprechende Form ent=
Ichieden in die Neihe unferer beffern populären Geſchichtswerke tritt.
— — —
4. Der neue Plutarch. Biographien hervorragender Charaktere der Ge—
Ihichte, Literatur und Kunſt. Herausgegeben von Rudolph Gottſchall.
Leipzig, F. A. Brodhaus. Th. I. 1874. Th. II. 1875.
Wir wollen nicht unterfuchen, in wie weit die Klage der Vorrede über den Ver—
fall unferer biographiichen Kunſt gerechtfertigt oder nur Gelegenheitswendung ift.
Den Verehrern von Strauß, Jahn, Hermann Grimm, Treitichle, um nur Einige zu
nennen, wird ja die Freiheit gelaffen, an die „glänzenden Ausnahmen“ zu denken,
welche auch Gottichall vorfichtig zugiebt, und Mitarbeiter wie Pauli und Roſenkranz
rechtfertigen immerhin ein zuverfichtliches Auftreten. Auf jeden Fall hat die Ver:
lagshandlung das Bedürfniß weiter Leſerkreiſe richtig beurtheiltl.. Das Streben der
Zeit richtet fich nun einmal auf Belehrung in abgerundeter, leicht faßlicher Yorm
und in angenehmem Wechfel, und diefe Richtung ift nicht zu tadeln, denn fie wird
durch die Nothwendigkeit bedingt, die täglich wachſenden Anforderungen allgemeiner
Bildung mit dem Ernjt der Berufsarbeit und dem Ganzen der menjchlichen Arbeits—
fraft in Uebereinitimmung zu halten. Wer uns aljo biographiiche Eſſays jchriebe,
wie Macaulay’3 Clive und Hajtings, oder Biographien wie Strauß’ Voltaire
und Hutten, hätte ſich um unjere Literatur hoch verdient gemacht und der Willen:
ſchaft Nichts vergeben: und wo auch diefer ideale Maßſtab zu hoch gegriffen erichiene,
bliebe Für das Wadere und Tüchtige noch ein weiter Spielraum. Den erften Band
Literarische Rundſchau. j 1237
der vorliegenden Sammlung eröffnet num Heinrih Rüdert mit einer geiftvollen
Abhandlung über Martin Luther (die freilich mit einer Biographie wenig gemeinjam
hat); dann jchildert Pauli Erommwell, Philippſon Heinrich IV. von Frankreich,
Rojenfranz Voltaire. Den zweiten Band füllen drei größere Eſſays, von Rus
dolph Gottjchall über Robespierre, von Adolph Beer über Maria Therefia,
von Otto Speyer über Camillo Gavour. Die Darftellungen enthalten fich aller
Schauſtellung des fritiichen Apparat3 und wirken lediglih durch glatt fortlaufende
Erzählung; fie bürgen fchon durch die Namen der Verfaſſer für gründliche Sad)-
tenntniß und erfreuen im Ganzen, wenn auch nicht in gleichem Grade, durch anfprechende
Form. Wir denken, das Unternehmen wird fich Freunde machen und zur Förderung
hiftorifchen Intereſſes und Hiftorifcher Bildung das Seinige beitragen.
— — —
5. Geſammelte Auffſätze. Beiträge zur Literaturgeſchichte der Gegenwart
von Paul Lindau. — Berlin, Georg Stilke. 1875. 453. 8.
6. Dramaturgiſche Blätter. Beiträge zur Kenntniß des modernen
Theaters in Deutſchland und Frankreich. Von Paul Lindau Bd. 1.2.
Stuttgart, C. F. Simon. 1875. V. 287. 247.
Paul Lindau beſitzt in hohem Maße die erſte Tugend des Geſellſchafters, welche
auch die zweite des Schriftſtellers iſt: er wird nie langweilig. Man verdankt ihm
fo viel heitere, glüclich angeregte Stunden, jo viel herzliches Lachen, man bat an
feinem Tiſche jo pifante, fein gewürzte Sachen genojfen, daß man ein neues Buch
von ihm mit dem behaglichen Gefühl in die Hand nimmt, mit dem man eine Ein-
ladung von lieber Hand eröffnet, die fchon durch die Adreſſe einen fröhlichen, oder
do gewiß angeregten Abend im Ausſicht ſtellt. Und wenn wir Hinzufügen, daß
diefer Spottvogel und Taufendfafa auch jehr ernjt fein kann, wenn er will und
es ihm der Mühe werth Tcheint, daß er gelegentlich ebenfjo warm fühlt als ſcharf
beobachtet, und daß feine franzöfifche Fechtweife in allen Hauptaffairen noch immer
unferer guten deutichen Sache dient, fo geben wir nur der Wahrheit die Ehre.
Sollen wir nun, jo vielem ZTrefflichen gegenüber, viele Worte davon machen, daß der
fatirifche Plauderer die Gefahren jeines Genre nicht immer gleich glücklich vermeidet ?
Daß man ihm, wo er das Signal zum Lachen giebt, ein Bischen auf die Finger
fehen muß? Daß er wohl einmal den Schalf Hinter den Ohren hat? Wir denfen
nicht. Naiven Naturfindern, die jeden Scherz für ein Glaubensbefenntniß halten und
jeden Superlativ. wörtlich nehmen, würde die Warnung doch nicht Helfen; und wer
die Welt und das Gejchäft fennt, Hat fie nicht nöthig. Er wird in diefer reichen
Gallerie zeitgenöffticher Literatur und Lebensbilder die alten Bekannten mit Bes
hagen wieder jehen, das Neue mit VBorficht, aber mit Theilnahme und Aufmerkſam—
feit begrüßen, und mit Vergnügen inne werden, wie bei zufammenhängenden Lefen
Vieles fich gegenfeitig ausgleicht, erläutert, modiftcirt; wie aus allen diefen bunten
Kundgebungen der Zur und Abneigung, der Laune, der Stimmung und Verſtimmung
für den Wiflenden und Sehenden ich dennoch eine jehr feſt umriffene Welt- und
Kunſtanſchauung Herauzjtellt. Die dramaturgifchen Blätter (Th. I. über deutjche,
Th. II. über franzöfifche Bühnenzuftände) find doppelt dankenswerth, weil fie da
orientiren, wo alle Literaturgefchichten und im Stiche laffen, nämlich über das
Bühnen-, nicht Buch - Drama der unmittelbaren Gegenwart.
— — ——
7. Till Eulenſpiegel redivivus. Gin Schelmenlied von Julius Wolff.
Detmold, Meyer'ſche Hofbuchhandlung. 1874.
Eine erfreuliche Leiſtung voll friſchen Humors, fröhlicher Jugendluſt, der aber
auch die Weihe innigen Gemüthslebens und am rechten Orte der Ernſt des Gedankens
nicht Fehlt. Der Dichter erzählt uns von einer mit Till Eulenſpiegel unternommenen
Rheinfahrt, läßt mit Behagen den bunten Mikrokosmus deutichen Lebens an uns
128 Teutiche Rundichau.
vorüberziegen, der da in der fröhlichen Sommerzeit jein Weſen treibt, zeigt ung
Studenten und Pfaffen, Betbrüder und Zecher, wohlgenährte „diltinguirte” Banquier—
frauen, Blauſtrümpfe, unbegebene Geheimrathstöchter, Hochzeitsreifende Ehepärchen
und — Flußgötter und Nymphen, Gegenwart und Mythus, Wirklichkeit und Sommer:
nachtäträume verſchlingen jich in buntem, Luftigem Reigen, und allerliebjte, Elangvolfe
Lieder unterbrechen die munteren, jambifchen Reimpaare.
Ferner erwähnen wir den eben erjchienenen zweiten Theil von R.B. Uſchner's
„der legte Minnefänger” , erzählendes Gedicht (in Herameteın) aus den deutjchen
Reichzzeiten; Tannhäujer in Rom dom Verfaffer de neuen Tannhäufer (Wien,
Rogner); ferner des trefflichen Felix Dahn Tragödie „Roderich“ (Leipzig, Hart-
fnoch 1875); endlih Ernit Scherenberg’3 gefammelte Gedichte (Leipzig, Keil
1874) und des unverwüftlichen Wilhelm Buſch nicht galante, aber aufrichtige
und den Nagel nur zu oft auf den Kopf treifende Kritik des Herzens (Heidel-
berg, Baffermann).
Friedrich Kreyſſig.
Ueber die Aufgabe der Philoſophie in der Gegenwart. Rede,
gehalten zum Antritt des öffentlichen Lehramts der Philofophie an der Hochichule
zu Züri, am 31. Oct. 1874 von W. Wundt. Leipzig, Engelmann. 1874,
63 iſt befannt — und Profeffor Wundt ſpricht e8 an einer Stelle jeiner Inaugu—
ralrede, die er bei dem Antritt jeines Amtes in Zürich nach der Leberjiedelung von
Heidelberg hielt, noch einmal aus — daß die Naturwiflenichaften es waren, die ihn,
„rat ohne fein Wiffen und Wollen“, der Philojophie entgegengeführt haben. Wir
dürfen aus feinem Munde daher eine richtige Schäßung dieſer „Willenjchaft der
MWiffenichaften“ erwarten, welche — nachdem fie feit einigen Decennien von der
eracten Forſchung verdunfelt jchien — gegenwärtig neuen Glanz von derielben zu
empfangen beginnt. Die Wahrheit ift, daß, was die Philojophie vielleicht an pro=
teffioneller Geltung verloren Hat, dadurch mehr als erſetzt wird, daß jede Special-
wiſſenſchaft fi” mit ihren Geifte erfüllt. Die Yachphilofophie, die fich allzumeit
von der Berührung mit der Wirklichkeit der Dinge verloren, it von ihrem Throne
herabgeftiegen, nicht, um diefem für immer zu entjagen, fondern nur, um ihn feiter
zu begründen auf dem Boden der Einzelwifjenfchaften und aus diejen ein reicheres
Material zu gewinnen, als fie jemals zuvor beſeſſen. Die geiftige Bewegung unferer
Zeit, welche darauf gerichtet ift, aus dem Dualismus heranszufommen, um auf Grund
der moniftischen Weltanjchauung das Sein zu begreifen, geht zunächſt von den Einzel»
wiljenjchaften aus. Durch alle Zweige derjelben fünnen wir den nämlichen Zug
verfolgen; die willenichaftliche Theologie, die Socialwiſſenſchaften, die Geſchichtsfor—
ihung, die Philologie, die Naturwiſſenſchaften: fie alle ſuchen aus derfelben Quelle
der Erfahrung zu jchöpfen und die mannigfachen Formen der Ericheinung auf den=
jelben einheitlichen Uriprung zurüczuführen. Zwar die bis jet gewonnenen Anfichten
über die Materie können nur als proviforiiche gelten, obwol fein Naturforfcher mehr
daran zweifelt, daß in ihnen ein Kern von Wahrheit enthalten ſei, aus welchem einft die
ganze fich entfalten werde; doch die Gejehe der mechanischen Wärmetheorie, der Un:
zerftörbarfeit der Kraft und der Entwidlung der organischen Yebenstormen ftehen bereits
ebenjo unerichütterlich feſt, als fich aus der Phyfiologie der Sinneswerkzeuge die
nene Wiſſenſchaft der experimentellen Pſychologie entwidelt, welche beſtimmt jcheint,
unjre Anficht von dem Erfenntnißvermögen, dem Fundament aller Philojophie, und
in Verbindung mit den Nejultaten der andern Wifjenichatten, jene jelber gänzlich
umzugeſtalten. Denn die Bhilofophie it die Wiffenichaft, welche die Summe alles
Wiſſens überhaupt zu ziehen hat; aber es eriftixt heute noch fein philofophiiches
Syitem, in welchem die neuerworbenen Erkenntniſſe ohne Schwierigkeit ihre Stelle
'änden, da ſelbſt das neueite, welches unter dem Namen der „Philofophie des Un—
Literarische Rundſchau. 129
bewußten“ befannt ijt, ebenio wie dasjenige Schopenhauer’3 noch im Dualismus
ſteckt. Allein die Wiſſenſchaft, die der öffentlichen Meinung immer voraus ift, weift
auf eine PHilofophie Hin, die fich aus der Wechjelwirkung unter den einzelnen Wiflen-
ihaften ergeben, und deren Aufgabe jein wird: „ihnen zu entlehnen, was fie bedarf,
die Grundlage der Erjahrung, und ihnen mitzutheilen, was fie entbehren,
den allgemeinen Zuſammenhang der Erfenntnijje“.
— — — —
Gladftone im Kampfe mit dem Ultramontanismus.
1. On Ritualism (in „the Contemporary Review‘‘ for October. 12. edition) ;
2. The Vatican Decrees in their bearing on civil allegiance: a poli-
tical expostulation. By the Right Hon. W. E. Gladstone, M. P., 125. thousand.
London. 1874.
Als im preußifchen Landtage die „alkgejege‘ und im deutjchen Reichdtage die
Jeſuitengeſetze“ berathen und angenommen wurden, da fritifirte die engliſche Preſſe
diefen Schritt der „Bismarck'ſchen Politik“ nicht gerade zum Glimpflichjten, ging jo
weit, ihn übereilt, unbedacht, um nicht zu jagen ungefchidt zu nennen, und ließ
durchblicken, daß die Gefahren eingebildete feien, oder daß man jie doch hätte vermeiden
fönnen, wenn man, wie in Großbritannien, durch Treiheitliche Inſtitutionen einen reli-
giöfen Conflict einfach unmöglich gemacht. Seitdem iſt ein kleines, winziges Büchelchen
erichienen, gejchrieben von einem großen, aber gefallenen Minifter, und fiehe da! —
der Sturm ift auch in England! Die verjchiedenen religiöfen Parteien jtehen gehar-
nifcht einander gegenüber, Pfeile fliegen hin und her, und die Zeloten des Ultra-
montanismus, geichlagen auf dem Felde der öffentlichen Meinung, flüchten ſich von
demjelben auf die Stufen des Altars, um von diefem, wie fie meinen, ficheren Hort
aus, ihre Donnerfeile und Bannftrahlen zu jchleudern. Am erjten Tage des neuen
Kırhenjahrs ward in allen Kirchen der Erzdiöceje des erzultramontanen Kämpen
Dr. Manning, der fich, den engliichen Gejegen zuwider, Erzbiichof von Weftminfter
nennt, und der die Waffen, mit denen er heute für den Jejuitismus fämpft, im pro=
teftantiichen Lager ſich jchmiedete, ein Hirtenbrief verlefen, der alle diejenigen ver-
Hucht, welche fich nicht unbedingt dem Dogma der Unjehlbarfeit des Papjtes und
defien Gonjequenzen unterwerfen. An demjelben Tage aber erklärte ein anderer nicht
minder angejehener Würdenträger der römiſch-katholiſchen Kirche, der Biſchof Clifford
von Clifton (bei Briftol), der Papft habe nicht die geringfte Macht über die bürger-
liche Unterthanentreue eines Engländers.
Das fo viel: beiprochene, jo großes Aufjehen erregende Pamphlet über „die
Vaticanifhen Decrete in ihrem Verhältniß zu Unterthanentreue” enthält für einen
deutichen Lefer nichts Neues, Nichts, was in Deutichland nicht jchon eben jo gut
oder befier gejagt worden wäre; aber Gladſtone's Verdienſt bejteht darin, daß
er die Angelegenheit für feine Landsleute zum erneuten Gegenjtand des Nachdentens
und der Debatte gemacht und dadurch mehr Klarheit in die gegenwärtige Stellung
Englands zu derjelben gebracht hat. Gladftone’s Schrift ift eine gebotene Conſequenz
feiner im Octoberheit der londoner „Contemporary Review“ veröffentlichten Abhand—
lung „über Ritualismus,“ oder befjer gejagt, eine gebotene Gonjequenz einer Stelle
in diefer Abhandlung. Die Veröffentlichung derjelben mußte Anhänger wie Gegner
des Autors einigermaßen überrafchen, nach feinem Auftreten in der legten Parlaments-
feifton bei den Berathungen über das Geſetz zur Regelung des öffentlichen Gottes-
dienftes in der englifchen Staatskirche. Dies im Haufe der Lords von Erzbijchöfen
der Staatäfirche zuerft eingebrachte und in beiden Käufern des Parlaments vom
Minifterium Dieraeli eifrig unterftüßte Geſetz, war einfach ein Schritt zur Recon-
ſtruction der anglicanifchen Kirche und Wiederbelebung der „Acte der Gleichiörmig-
feit,“ indem man dem Felde der gejtatteten Nichtconjormität feſte gejegliche Schranken
Teutihe Rundſchau. I, 4. 9
130 Deutiche Rundſchau.
309. Man fand es unmöglich, noch länger die Lehren gewiffer Ritualiften zu dul-
den, deren offene Mbficht es ift, römisch-katholifche Dogmen und Riten in eine prote-
ftantifche Kirche wieder einzuführen. Diefem Gejeh trat Gladftone im vergangenen
Sommer entgegen, und in feiner langen damals gehaltenen Rede und in feinen be-
rühmten ſechs Refolutionen fuchte er nachzuweiſen, daß die Alternative zwiſchen
ftarrer Gleichiörmigkeit und Geftattung äußerfter Licenz liege, der, wie die Erzbiſchöfe
nachgewiejen, allen Regeln zuwider, gefröhnt werde.
Kaum waren zwei Monate nach diefem feinem Auftreten im Parlament ver-
floffen, ala die Welt mit einemmal durch einen Artikel über den von ihm verthei-
digten Ritualismus überrafcht wurde. Derjelbe enthält eine gelehrte Abhandlung
über Namen und Weſen des Ritualismus, ohne den Kernpunct zu berühren, um den
es fich eigentlich handelt. Ihr verdedter Zweck jcheint der Nachweiß zu jein, daR
die Ritualiften im großen Ganzen für die proteftantifche Kirche kämpften, mit ihrer
Nahahmung des pomphaften, und die Kunft ind Auge faffenden, römiſch-katholiſchen
Ritus, durch den fie diejenigen in der anglicanifchen Kirche zu ſeſſeln fuchten, welche
angezogen von ihm fie ſonſt verlaffen und fich dem Papismus in die Arıne geworfen
haben würden. „Und wenn es wirklich unter den Ritualiften eine „Handvoll“
GSeiftlicher gäbe,“ jo meint Gladftone, „die darauf ausgingen, die Kirche und das
Bolt Englands zu romanifiren, fo würden ihre Anftrengungen doch gänzlich
bofinungslos und vifionär fein.“ Und dann fügt er hinzu: „Yu feiner
Zeit der blutigen Herrſchaft Maria’s iſt fol’ ein Beginnen (scheme) möglich ge-
weien. Doch wenn es im fiebenzehnten und achtzehnten Jahrhundert möglich geweſen
wäre, im neunzehnten würde ganz und gar feine Ausficht dazu vorhanden fein, wo
Rom an die Stelle des semper eadem, auf das es früher jo ftolz war, eine Politik
der Gewaltthätigleit und der Glaubensneuerungen jeßte; wo es jede alte Waffe, von
der man fich jchmeichelte, fie jei außer Brauch gefommen, wieder aufpußt und zur
Schau trägt, wo Niemand fi zu ihm befehren kann, ohne feiner fittlichen und
geiftigen Freiheit verluftig zu gehen, und feine bürgerliche Loyalität und Pflicht dem
Belieben (mercy) eines Anderen zu überliefen, und wo es auf gleiche Weile den
neuen Gedanken und die alte Gejchichte verworfen hat.“
Diele, unmittelbar nach der „Belehrung“ Lord Ripon’s, Gladjtone’3 ehe—
maligen Gollegen, veröffentlichten Worte bilden die wichtigjte und intereffantejte Gtelle
der ganzen Abhandlung. Sie riefen in der ultramontanen Prefje Englands und Ir—
lands eine wahre Fluth von Angriffen und Anklagen hervor, welche Gladſtone höchit
wahrjcheinlich veizten, und welche er ala ehemaliger Wohlthäter der Fatholiichen Kirche
in Irland nicht gut unbeantwortet laffen konnte. Die der faßbare unmittelbare
Grund für die Veröffentlichung jeines Pamphlets, den er auch auf der erften Seite
deflelben angibt. „Mehr als einer meiner Freunde, jo jagt er, „unter denen die
fich zur römisch-katholifchen Gemeinschaft haben hinüberziehen laſſen, machte dieje
Stelle zum Gegenftand, mehr oder weniger, der Beichwerde (expostulation).“ Glad—
itone bleibt jedoch dabei, daß feine Bemerkungen nicht angreifender, jondern ab—
wehrender Natur waren; ftatt, daß die Mitjchuldigen des Papjtes ein Recht hätten,
der Welt VBorjtellungen zu machen, habe die Welt dad Recht, vom Papſt und feinen
Anhängern Rechenschaft zu fordern. „Ich will deshalb,“ To Fährt er fort, „als
einer vom allgemeinen Publicum, auch meinerjeits expoftuliven. Denjenigen meiner
vömifchefatholifchen Mitbürger, welche geneigt find, mir Gehör zu ſchenken, will ich
zu beweifen fuchen, daß nach den eigenthümlichen Schritten, welche die Autoritäten
ihrer Kirche in diefen legten Jahren zu thun für angemeljen hielten, das englifche
Volt berechtigt ift, aus rein ftaatlichen Gründen, eine Meinungstundgebung von ihnen
zu erwarten, als Antwort an jene clericale Partei in ihrer Kirche, welche, in ihrem
Namen, Principien aufgeftellt haben, die der Reinheit und Vollftändigfeit der Unter:
thanentreue zuwiderlaufen.‘
Wir bemerkten bereits weiter oben, daß Gladjtone jeine Auslaffungen über Rom
in jeinem Artikel über Ritualismus zur Bafis feines Pamphlet?® gemacht habe. Die
Literariiche Rundſchau. 131
erjte und vierte derjelben: nämlich Rom Habe an die Stelle des semper eadem, deijen
es ich früher jo ſtolz rühmte, eine Politit der Gewalt und der Glaubendneuerungen
gejeht, und ferner, e3 habe den modernen Gedanken und die alte Gefchichte gleich-
mäßig verworfen — fertigt er kurz ab, weil beide mehr in das Gebiet der Theologie
gehören. Auch jcheint er der Anficht zu fein, daß der erjte Sab, fo weit practijche
Zwede in Betracht kommen, vollftändig bewiejen fei durch die Protejte, welche die
Unfehlbarfeitserflärung von Seiten aufrichtiger und hervorragender Katholiken ſelbſt
hervorgerufen habe. Ebenſo bedarf e8 feines befonderen Apparates, um den zweiten
Sab zu beweilen, daß Rom wirklich alle roftigen Waffen, von denen man jich ge-
ichmeichelt, fie jeien von ihm beijeite gelegt worden, wieder aufgepußt und von neuem
geichwungen habe. Die dritte Propofition jedoch, daß Niemand zu Rom übertreten
fönne, ohne jeiner fittlichen und geiftigen ‘Freiheit verluftig zu gehen und feine bürger-
liche Treue und Pflicht dem Belieben, oder vielmehr der Gnade eines Anderen zu
überliefern: dieſe bildet das eigentliche Hauptſtück des Gladftone’schen Pamphlets,
und ihr Beweis den Hauptinhalt defjelben. Gleich im Eingange feiner Beweisführung
bemerkt Gladſtone, daß das vaticanifche Goncil die Schaale der Langmuth durch die
Unfehlbarleiterflärung des Papftes zum Weberfließen brachte. Der berühmtejte und
gelehrtejte Theologe der römischen Gemeinschaft, Dr. von Döllinger, lange Zeit der
herborragendjte Vertheidiger jeiner Kirche, verweigerte die Unterwerfung und nahm
mit ungejtörtem Gleichmuth und umverleßter Freiheit die höchfte und ſchmerzhafteſte
Strafe der Ercommunication auf fih. „Die ſehr Wenigen, welche anderswo (ich
ſpreche nicht von der Schweiz) in gleicher Weije litten, verdienen eine im Verhältniß
zu ihrer geringen Zahl fich fteigernde Bewunderung, Es jcheint, ala ob Deutich-
Land, von welchem aus Xuther die mächtige Trompete blies, welche noch jeßt durch
das Yand widerhallt, jeine Weberlegenheit auf dem Gebiete des Gewiſſens behaupte
und noch immer die centuria praerogativa in der großen Gomitie der Welt vor:
itelle.“ Gladſtone Hält es für mehr als Umrecht, die Mitglieder der römischen ſtirche
jammt und jonders für die jüngjten Neuerungen in derjelben verantwortlich zu
machen. Vielmehr jei es die Pflicht der Beobachter, welche die in diefen Decreten
enthaltenen Forderungen für anmaßend und falſch anfehen, ihre Sache offen vorzu-
tragen und vermitteljt einer freundlichen Herausforderung ihre Landsleute zu er-
ſuchen, fih in die Lage zurückzuverſetzen, welche fie nach der durch die Stimme und
die That des Parlaments abgegebenen Erklärung diefer Nation vor 45 Jahren inne
hatten. Bei den Berathungen über die Emancipation der Katholiken im Parla-
mente wurden vielfache Nachtorichungen angeftellt nach den Forderungen des Papit-
thums ſowol auf geiftlichem wie weltlichem Gebiete. Bon den höchjten katholischen
Würdenträgern des Landes und von den höchſten Eatholifchen Behörden lauteten die
Antworten dahin, daß, jo jtrict auch das römische Syitem in feinem Dogma jei, es
ſich doch volljtändig mit bürgerlicher Freiheit und den Ginrichtungen eines freien
Staat3 vertrage, und weiter, daß die Lehren über die weitgehenden Anmaßungen
der Päpite ganz veraltet und in der That nur ein Popanz jeien. „Doch,“ jo fährt
Sladjtone fort, „man fühlte unzweifelhaft, daß etwas mehr ala der Verzicht auf
dieje bejonderen Meinungen zur Sicherung der vollen bürgerlichen Rechte der Katho-
(ifen nöthig war. Wegen ihrer perföntichen Treue brauchte ein zu edelmüthiger und
ehrlicher Auslegung geneigter Staat nicht beforgt zu fein. Nur mit Bezug auf An-
Torderungen, welche möglicher Weife von anderer Seite fommen konnten, durfte man
Befürchtungen hegen. Von der Vernunft war es deshalb geboten, daß England zu
wifjen wünſchte, nicht nur was der Papjt für fich jelbft thun wirde, jondern wozu
die Katholiken nach der Berfaffung ihrer Kirche verbunden wären und in wie weit
ſolche Anforderungen ihre Bürgerpflicht berühren konnten. Die Lehre, welche jedes
menſchliche Weſen in geijtlichen und weltlichen Dingen dem Papſt zu Füßen
legte, war fein Scheinbild, feine bloße Stubentheorie geweſen. Niemals in der poli-
tiichen Gejchichte der Welt übertroffene Geiftesfrait war jeit Jahrhunderten zu dent
einzigen Zwecke angewendet worden, dieſe Lehre zur Praris des Chriſtenthums zu
9*
132 Deutſche Rundſchau.
machen; fie Hatte im Weſten einem unmöglichen Problem einen theilweiſen Erfolg
errungen und hatte im Djten die troßige Unabhängigkeit der Kirche mit jener römt-
ichen Eroberung Konjtantinopela beftraft, welche thatjächlich den Fall des Oſtreichs
und die Feitfegung der Türken in Guropa vorbereitete. Worauf e& deshalb in
Wahrheit anfam, war nicht, ob der päpftliche Stuhl dieſe oder jene einzelne Gewalt,
jondern ob er eine Gewalt beanfpsuchte, welche fie alle einichloß, und ob diejer An—
ſpruch von den Autoritäten der römifchen Kirche eine derartige Sanction empfing,
daß innerhalb ihrer Grenzen abjolut fein Haltbarer Standpunkt ınehr übrig blieb,
von dem aus diefem Anfpruch der Krieg gemacht werden konnte. Beanfpruchte ber
Papjt damals Unfehlbarkeit? Oder beanfpruchte er, ohne oder mit Unfehlbarkeit (und
wenn mit ihr, um jo jchlimmer), einen univerfalen Gehorfam von feiner Heerde?
Und waren diefe Anjprüche, einer von ihnen oder beide, in feiner Kirche durch eine
Autorität bekräftigt, die felbjt da3 am wenigjten päpftlich gefinnte Kirchenmitglied
für fein Gewifjen ala bindend anerkennen mußte? Die beiden erſten diejer Tragen
wurden durch die dritte gededt. Und wohl, daß fie jo gededt waren; denn eine zu—
friedenftellende Antwort darauf Eonnte jelbjt damals nicht gegeben werden. Die
Päpfte hatten mit verhältnigmäßig geringer Unterbrechung jeit faſt taufend Jahren
ihren Anspruch auf dogmatifche Unfehlbarkeit aufrecht erhalten und hatten in dem—
jelben Zeitabjchnitte unter vielen oft genug jenen anderen Anſpruch, der theoretiich
kleiner, practiich aber größer ift, erhoben und niemals fallen laffen: ihren Anſpruch
auf einen thatjächlich univerjalen Gehorfam Seitens der getauften Mitglieder der
Kirche. Für die dritte Frage war es glüdlicher Weile thunlicher, eine befriedigende
Antwort vorzufchreiben. Gar wol war es befannt, daß die große gallicanijche
Kirche, in den Tagen ihres Ruhms und ihrer geiftigen Macht die päpftliche Unfehl-
barkeit nicht nur nicht zugelaffen, jondern geleugnet und erklärt hatte, daß die localen
Geſetze und Gewohnheiten der Kirche durch den Willen des Papftes nicht bejeitigt
werden fönnten. Ya, noch mehr, man glaubte, daß in der Hauptjache diefe Meinungen
bis zum Schluß des legten Jahrhunderts die Herrichenden gewejen in den cigalpini=
ichen Kirchen, die in Gemeinfchaft mit Rom waren. Das Goncil von Konjtanz hatte
ſowol durch jeine Thaten, wie durch jeine Worte gezeigt, daß das Urtheil des
Papjtes und der Papjt jelber durch die verfammelten Vertreter der chriftlichen Welt
gerichtet werden fonnten. Und das Goncil von Trient hatte, troß des Ueberwiegens
italienischer und römischer Einflüffe, beide Säbe, wenn nicht geleugnet, jo doch auch
nicht bekräftigt.“
Auch in England erklärten fich die Biſchöfe, einzeln für fich und in Synoden
vereinigt, gegen jede Unfehlbarleit des Papjtes, und außer den manchen Beweilen,
welche Gladjtone hierfür anführt, machen wir noch auf einen anderen aufmerkſam,
der in England wol befannt ijt und ihm entjchlüpft zu fein fcheint. In dem von
Dr. Lingard verfaßten römiſch-katholiſchen Katechismus, der dor ungefähr einem
Jahrzehnt noch in allen höheren römiſch-katholiſchen Lehranſtalten, namentlich
aber von dem im engliichen Collegium zu Rom erzogenen Biſchof von Xiver-
pool, gebraucht ward, heißt es: Die Behauptung, daß die Katholiken glauben, der
Papit jei unfehlbar, ift eine „proteftantiiche Verleumdung.“ Doch der Batican und
jeine Satelliten jagen: Das alles haben wir geändert. Denn, wie Gladitone ganz
pafjend und richtig bemerkt, die vaticanifchen Decrete Haben nicht bloß die päpjtliche
Unfehlbarkeit bekräftigt, ſondern fie haben noch beträchtlich mehr gethan in einem
Decrete, welches viel zu viel überjehen wurde, und über das er, nachdem er es wört-
li angeführt, mit wahrhafter Beredtjamfeit Folgendes jagt: „Selbjt da, wo die
Urtheile des Papftes nicht die -Beglaubigungen der Unfehlbarfeit darbieten, find fie
unappellabel und unumftößlich; Niemand darf fich ein Urtheil über fie erlauben,
und alle Menſchen, Elerifer wie Laien, vereinzelt oder zufammengenommen, find ver:
bunden, ihnen zu gehorchen, und von diefer Negel darf Niemand abweichen, außer
auf Gefahr feines ewigen Heils. Sicherlich darf man jagen, dab das dritte Kapitel
(in der dogmatiichen Gonftitution) über unbejchränkten Gehorſam, ein gewaltiger
Literariiche Rundichau. 133
Nebenbuhler des vierten über Unfehlbarkeit ift. In der That fcheint es, für einen
Beobachter von außen, dem anderen die Würde zu laffen, fich ſelbſt aber die Strenge
und Wirkſamkeit vorzubehalten. Das vierte Kapitel ift der merovingiſche Monarch,
das dritte der farolingiiche Hausmaier. Das vierte hat einen Ehrfurcht-gebietenden
Glanz, das dritte einen eifernen Griff. Wenig fommt darauf an, ob mein Vorge-
fegter Unfehlbarkeit beanſprucht, jo lang er berechtigt ift, Konformität zu ver:
langen und zu erzwingen. Diefe Conformität fordert er, wie man leicht erjehen
fann, auch in Fällen, welche nicht durch feine Unfehlbarfeit gededt find; Fälle des—
halb, in welchen er die Möglichkeit zugiebt, im Unrecht zu fein, doch unerträglich
findet, daß man es ihm ſage. Da man ihm nun einmal in allen feinen Urtheilen
gehorchen muß, jelbit wenn fie nicht ex cathedra find, jo fcheint e8 bedauerlich, daß
er nicht die tröftliche VBerficherung geben kann, daß fie alle auch beſtimmt recht
find.“ ’
Auf Grund diefer und weiterer Beweife gelangte Gladftone zu folgenden Schlüffen :
1) Daß der Papft, autorifirt durch fein Goncil für ſich beanfprucht das
Gebiet, a) des Glaubens, b) der Moral, c) alles deffen, was die Regierung und die
Disciplin der Kirche anbetrifft.
2) Daß er in gleicher Weile die Macht beanfprucht, die Grenzen diefer Gebiete
zu beftimmen.
3) Daß er fie durch feine anerkannte oder verftändliche Linie von den Gebieten
der PRürgerpflicht und der Unterthanentreue unterjcheidet.
4) Daß er deahalb von jedem Gonvertiten und jedem Angehörigen feiner Kirche
beanſprucht, und vom Juli 1870 an mit voller Autorität beanſprucht, daß dieſer
feine Loyalität und Bürgerpfliht dem Belieben eines Andern ausliefere, und dieſer
Andere ift er felber.
Hierauf legt fich Gladjtone die Trage vor, ob, wenn die fo eben aufgeftellten
Sätze wahr find, fie auch thatjächliche Bedeutung haben. „Es ſei,“ jo jagt er, „die
Lieblingsaufgabe jeines Lebens gewejen, nicht Befürchtungen heraufzubeichwören,
fondern zu beruhigen,” und er behaupte nicht, „daß auswärtige Feinde, noch heimifcher
Nerrath auf den Befehl des römischen Hofes dieje Triedlichen Ufer beunruhigen können.
Mögen nun folche Befürchtungen träumerifch fein, jo ift e8 doch noch träumerischer,
nur fir einen Augenblid anzunehmen, daß die Anfprüche eines Gregor VII., eines
Innocenz III. und Bonifaciuß VIII. im 19. Jahrhundert wieder ausgegraben worden
find, wie gräuliche Mumien aus ägyptiichen Sarkophagen, hervorgezogen werden,
Lediglih im archäologischen Antereffe oder ohne bejtimmten praftiichen Zwed. Als
vernünftigen Weien muß fi) und die Ueberzeugung aufdrängen, daß dieje erftaun-
lichen Behauptungen mit einem Far aufgefaßten und vorherbedachten Zwed vor der
Welt zur Schau getragen wurden. Und welches ift diefer Zwed?“ Die Antwort
hierauf ift ebenſo intereffant wie jchlagend. „Ein politisches Ziel von jehr greifbarer
Art muß e8 Sein,“ jo meint Gladftone, „Für welches man wohlüberlegt einen jo
tühnen Einbruch in die ftaatliche Sphäre gewagt hat. Und wahrlich, es ift ein Fühner
Einbruc. Denn es ift jonnenflar, daß die einfache Behauptung von Principien, die
eine Befreiung von der Unterthanentreue aufjtellen oder deren Volljtändigfeit ber
fchränfen, in vielen anderen Ländern Europa’s weit unmittelbarer als bei uns auf die
Hervorrufung politifcher Zwiftigfeiten und auf Gefahren von höchſt materieller und
greifbarer Art hinausgehen. Der jebt in Deutichland vorgehende Kampf Fällt einem
Tofort als greifbares Beifpiel ein. Ich bin nicht competent, eine Meinung über die
Ginzelnheiten des Kampfes abzugeben. Die Inftitutionen Deutichlands und die rela—
tive Schätzung von Staatögewalt und individueller Freiheit find wejentlich verichieden
von den unferen. Aber jo viel muß ich jagen, daß es eritens Preußen nicht allein
ift, welches berührt wird; anderswo auch Liegt der Zankapfel bereit, wenn auch der
Streit darum noch verzögert wird. In anderen Staaten, namentlich in Oejfterreich,
find neue Gelehe in Kraft getreten, die zu jehr ähnlichen Ergebniffen führen müſſen, wie
die, zu denen die Falk'ſchen Geſetze geführt Haben. Die römiſche Curie jedoch beſitzt in
134 Deutihe Rundichau.
großer Volltommenheit eine Kunft, die Kunft des Abwartend, und hat den weilen
Grundſatz, immer nur einen Feind zur Zeit zu befämpfen. Zweiten, wenn ich die
vom Batican promulgirten Ansprüche richtig dargeftellt Habe, jo ift es jchwer zu
leugnen, daß dieſe Anfprüche und die Macht, welche fie aufgeftellt hat, im erſter
Linie verantwortlich find Tür alle die Leiden und Gefahren des gegenwärtigen Gonflicts
zwijchen dem deutjchen und römischen Verfügungen. Und das, was einft von Frank—
reich richtig gefagt wurde, kann jet von Deutjchland nicht weniger richtig gejagt
werden: ſobald Deutichland. beunruhigt wird, kann Guropa feine Ruhe haben.
Diefer Umftand würde mir weniger Sorge machen, hätte der Papit feine ſeit den
Ereigniffen von 1870 geänderte Lage freimüthig anerkannt und in einer ebenjo Haren,
wenn nicht ebenjo emphatifchen Sprache, ala die, in welcher er die moderne Givilifation
verurtheilt hat, Europa die Verficherung gegeben, daß er feine Partei nehmen wolle
bei der Wiederheritellung der weltlichen Herrichait der Kirche durch Blut und Gewalt-
that.... Wenn man nun den Ton der römischen Klagen und Beichwerden mit der
Sprache der autorifirten und begünftigten päpftlichen Preßorgane und der ultramon=
tanen Partei in ganz Europa (jet die einzig legitime Partei in der lateiniſchen
Kirche) vergleicht, jo gelangen gar manche zu dem ſchmerzlichen und empörenden
Schluſſe, daß eine bejtimmte Mbficht bei den geheimen Lenkern der römischen Politik
befteht, bei irgend einer günjtigen Gelegenheit und auf dem Wege der Gewalt, das
Lieblingsproject der Wiederaufrichtung des weltlichen Thrones des Papjtthumes
zu verfolgen, jelbft wenn es nur auf der Aſche der Stadt und den bleichenden Ge—
beinen des Volkes wieder aufgerichtet werden könnte,“
Aus diejer Stelle geht deutlich hervor, daß Gladftone die Staatsgefährlichkeit
der ultramontanen Politik in ihrem ganzen Umfange erkennt, allein die Mittel, die
er vorichlägt, um ihr zu begegnen und fie abzuwenden, find durchaus die des eng—
liſchen Politikers und er überjchreibt fie ausdrüdlich ‚on the home policy of the
future“. Mehr noch, es find die Mittel, die feiner eigenen, perjönlich bisher
verfolgten Politik entjprechen. „Wohl kann ich mir denken,“ jagt er, „daß im
Geiſte Mancher eine Frage entfteht. Meine eigenen Anfichten und Abfichten find
in der Zukunft von der geringften Bedeutung. (Ganz ficherlich nicht, jo meinen
wir.) Doch wenn die von mir hier vorgebrachten Argumente e& zu meiner Pflicht
machen, meine Anfichten und Abfichten zu erflären, jo jage ich kurz, die Zukunft
wird genau wie die Vergangenheit fein. In dem Wenigen, das von mir abhängt,
werde ich mich jpäter, ganz wie zuvor, von der Kegel Leiten Laffen, gleiche bürger-
liche Rechte, ungeachtet religiöſer Differenzen, aufrecht zu erhalten, und allen Ber-
ſuchen entgegenzutreten, die Mitglieder der römischen Kirche von der Wohlthat diejer
Regel auszuſchließen. Ich halte dafür,“ Fährt er fort, „daß unfer vorwärts gerich-
teter und ebener Cours nicht durch Thorheiten verändert werden jollte, deren Con—
jequenzen zu zügeln, wenn es zum Schlimmjten fommt, dieſes Land zugleich Die
Macht und, im Falle der Noth, den Willen haben wird.“
Mol mag der engliiche Politiker jo jprechen, da für England die Machtfrage
nur noch ein Hiftorifches Antereffe und der Kampf mit dem Ultramontanismus die
Bedeutung eines Accidenztalles hat, der auf jeine Sphäre beichränft, den Staat nicht
berührt. Der deutſche Politiker wird anders urtheilen müflen über einen Kampf, in
welchem, jo weit Deutichland in Betracht fommt, die Machtirage überhaupt erft zur
Enticheidung fteht, und über die Mittel, feinen Ausgang zu fichern, von welchem
Exiſtenz und Zukunft des Staates bedingt werben.
Berliner Chronik.
Die dramatiſche Production und die Theater.
— —
Berlin, 15. December 1874.
Auf die fetten Kühe Pharaonis ſind die mageren gefolgt. Keins unſerer Theater
hat in den letzten Wochen eine irgendwie bedeutende Neuigkeit zur Darſtellung ge—
bracht. Dies ſcheint mir denn doch trotz des preußiſchen Schiller- und des wiener
Grillparzer-Preiſes für das beſte Drama eine bedenkliche Ebbe in der dramatiſchen
Production anzudeuten. Früher, jo lange dad Monopol der Hof- und größeren Stadt—
theater, allein auf ihren Bühnen Trauer und Schaujpiele aufführen zu dürfen, be-
itand, hatte der Einwand und die Klage der Dichter, daß fie ihre Stüde nicht „an-
zubringen“ vermöchten, eine gewiffe Wahrheit und Berechtigung. Mehr als etwa
zwölf fünfactige neue Stüde wird ein Theater Jchwerlich im Laufe eines Jahres vor—
führen können und diefe Zahl ift jelbitverftändlich ein verfchwindender Bruchtheil
gegenüber der Production. Jetzt aber erwarten in Berlin, von der Hofbühne ab-
gefehen, ſechs Theater jehnjüchtig jede neue Schöpfung, die nur don fern einen
theatralifchen Erfolg veripriht. Jede Gattung wird hier gefucht, von der Plauderei
bis zur Zragödie. Gerade das Kühnſte würde das Willkommenſte jein, weil es die
ſtärlſte Wirkung erzeugt. Dennoch bewegen fich die Dichter meift in den auöge-
'ahrenen Geleifen. Nach wie vor überwiegt das Buchdrama — jene Art der dra—
matifchen Dichtung, die von vornherein, jo wunderlich es klingt und fo ſehr die
Dichter fich gegen diefe Behauptung fträuben werden, nur die Lectüre nicht die jcenifche
Darftellung in’s Auge faßt.
An diefem inneren unheilbaren Widerfpruch kranken, Ausnahmen natürlich zus
gegeben, Die meiſten Hijtoriichen Dramen, die unjere Jugend in Anlehnung an das
Schiller - Shafeipeare’sche Borbild zu dichten nicht milde wird. Wer fich die Mühe
nimmt, nur den Ertrag diefes Gebietes in einem Jahre genauer zu: betrachten, der
erjtaunt und erjchrieft über die große, hier vergeudete Kraft. Bergleiht man bie
moderne Dramatik, wie fie fich in diejen Dichtungen abjpiegelt, mit der aus ber
Periode von Sciller’3 Tode bis zu Gutzkow's Auftreten, jo ift nach der Seite der
Charakteriſtik, im Aufbau der Fabel, in der Kenntniß des Hiftorischen Materials im
Allgemeinen der Fortſchritt unverkennbar; nicht Fortgefchritten dagegen ift die theatra=
liche Wache, das Handwerfsmäßige der Bühnendichtung. Eher möchte ich hier einen
Rüdjchritt bezeichnen. Mir ift fein Trauerjpiel der lebten zwanzig Jahre befannt, »
da3 eine Ähnliche theatralifche Wirfung gehabt hat oder auch nur in der denkbar
trefflichften Ausftattung auszuüben vermöchte, wie Grillparzer 3 „Ahnfrau“ oder
Müllner3 „Schuld“. Nicht einmal der Erfolg don Brachvogel's „Narziß“ reicht
daran. Das Bedenklichite ift der Mangel der elementarjten Kenntniß der modernen
Bühne. Ich habe diefen Arbeiten gegenüber die Empfindung, ala wollte einer ohne
den Euflid zu kennen den Sab vom goldenen Schnitt beweilen. Dramen, doppelt
jo lang wie „Maria Stuart”, mit beftändigem Wechjel der Decoration, find nichts
136 Deutſche Rundichau.
Seltenes. Dabei muß fich Jedem, der ein Theater befucht, der ftörende Eindrud des
Decorationswechſels — nun gar bei der jeßigen Einrichtung, wo jede Veränderung
der Scene mit dem Fallen des Vorhangs bezeichnet wird — aufdrängen. Solche
Berjtöhe find bei den Franzoſen unmöglich, aber unjere Dichter wollen nicht be-
greifen, welcher Vortheil für die Führung der Handlung, welcher Hebel der Spannung
in der ftehenden Decoration, wenigjtens für jeden Act, Liegt. Zu diejen äußerlihen
Mängeln gejellt fi dann die unglüdliche Wahl des Stoffe. Der Genius, jelbit das
große Talent wifjen auch dem jprödeiten Marmor die vollendete Gejtalt abzuloden,
für fie gibt e8 im Grunde feine Kritik, dad Maß der Kunſt und ihres Können ruht
in ihrer eigenen Bruſt. Es Handelt fich aber auch nicht um fie, jondern um Die
Mehrzahl Leichterer Talente, die im Labyrinth des Hiftorischen Drama's ohne den
rettenden Faden der Ariadne hin und Her irren, von Nero zu Friedrich Barbarofja,
von König Roderich zu Francesca von Rimini. Im erflärlicher Poetentäufchung
jchieben fie ihr Intereſſe an dieſen Geftalten dem unbejchreiblichen, unbegreiflichen
Ungeheuer unter, das Theater-Bublicum Heißt. Die Dichtung wird zunächſt einigen
Freunden mitgetheilt, in einem fleinen Kreiſe vorgelejen und findet bier, eben weil
fie einzig und allein ein Leſedrama ift, gerechte Anerkennung. Dadurch ermuthigt
geht der Dichter weiter: er jendet fein Drama an einen „gefürchteten“ Theater—
fritifer — „gefürchtet“, ach! bei den Mufen, zumeift pflegen wir Kritiker uns vor
jedem neuen Stüd zu fürchten — und erhält eine aufmunternde Antwort. Niemand,
der ein poetijches Empfinden und Gefühl für die Tragif in der Geichichte Hat, wird
3- B. die fchönen Dichtungen Hans Herrig’3 „Mlerander” und „Jeruſalem“ ohne
Ergriffenheit leſen; er fann nicht anders, ald den Reichthum bedeutender Gedanken,
den Iyrifchen Schwung, den dramatifchen Zug in der Gegenüberjtellung der fich be—
fämpfenden Parteien loben. Ob dieſer Eindrud bei einer Theatervorjtellung vor-
hält, ericheint mir mehr ala problematifh. Ja, ich ſelbſt bin meiner eigenen Stim-
mung nicht ficher; bald ftört mich der Schaufpieler oder die mangelhafte Ausftattung,
bald — und das iſt die Hauptſache — die Berührung mit, die Anſteckung durch das
Publicum. Der allgemeine Ausdrud des Unbehagen, der Zangenweile, der Theil-
nahmlofigkeit in einer Menge zerftreut auch die Aufmerkſamkeit des freundlich Ge-
finnten. Dem einzelnen gebildeten Lejer genügt der Dichter, die Seele der Maſſe
weiß er nicht zu rühren. Die hiſtoriſchen Probleme, die er aufftellt, laſſen die Zu-
ſchauer kalt, theils, weil fie uns zu fern liegen, theild, weil fie an fich gleichgültig
und überwundene Dinge find. Ich fürchte, die ganze Form unferer gefchichtlichen
Dramen bat fich überlebt. Die Bühne ift nicht mehr die Stätte, von der das Bolt
Sprüche politifcher Weisheit und die Lehren Klio’3 vernehmen will. In der Wand-
lung der Zeiten hat fie aufgehört, Rednertribüne und Lehrkanzel zu fein. Erfolgreich
hat. fich die politiiche Beredtjamkeit der poetifchen zur Seite geitellt und drängt die-
jelbe, durch ihr bloßes Dafein, in den Schatten. Biel ftärkere Donner, alö in der
Dichtung, grollen in parlamentariichen Sigungen. Nur die mächtigiten Dichter ver-
mögen fich noch dagegen zu behaupten: es find die alten Lieblinge des Volkes. Dem
jungen Gejchlecht glüdt der tragiiche Wurf, die Löwengeburt nicht mehr, vor Allem
— was die Dichter nicht hören wollen —, es iſt gar fein Bedürfniß nach Trauer-
ipielen vorhanden. Mehr als ausreichend dedt das claffiiche Repertoire die Nach-
frage. Die Franzoſen haben mit ihrem Scharffinn Längjt den hiſtoriſchen Wald ver-
laſſen, höchſtens daß fie zuweilen in feinen Ausläufen, wo die Hiltorie in das
Genre übergeht, ſiehe Sardou's „La Patrie“ und „La Haine“, von einer viefigen
Tanne oder Eiche einen Ajt abbrechen, um ihn dem Publicum jchön aufgepugt mit
Komödienflittern zu zeigen. Das Buchdrama in unjerem Sinne fennen fie nicht,
ihre Poeten haben immer und ausjchließlich die reale Bühne und den theatralijchen
Effect im Auge. Auf die Schilderung der Sitten, der gejellichaftlichen Zujtände
richtet fi) das größere wie das geringere Talent. Die Wiederholung derjelben
Fragen und Vorwürfe, die unmittelbare Anſchauung und Beobachtung ded modernen
Lebens bringen endlich das vollendete Kunſtwerk hervor. Von diejer ftrengen Schulung,
Berliner Ehronit. 197
von diefem ernſthaften, unverrüdt nach einem Ziel gewandten Streben ift bei unferen
Dramatifern, wenn wir fie ala Geſammtheit betrachten, wenig zu jpüren. Jeder gebt
nicht nur feinen befondern Weg, ſondern jeder verfucht in jedem Stüd etwas Anderes.
Wir bewundern die Wielfeitigfeit des Poeten, der Heute „Die Journaliſten“ und
morgen „Die Fabier“ und ſchenkt, aber die Bühne zieht feinen rechten Nuben davon,
ihr wäre ein neues Luſtſpiel viel willlommener geweſen, als eine römijche Tragödie.
Denn das Luſtſpiel, die hohe und die niedere Komödie, die fich in der Gejellichaft,
wie wir alle fie fennen, bewegt, ſich mit modernen Fragen, VBerwidelungen, Zus
itänden bejchäftigt, ift noch der einzig lebensfräftige Zweig am Baum der dramatijchen
Kunft, Hier allein fann der Dichter noch Hoffen, originell zu fein. Es wird auf
Menfchenalter hinaus ein thörichtes Unterfangen bleiben, um den Lorber der Tra-
gödie mit Shafefpeare und Schiller ringen zu wollen. Auf dem Gebiet der Komödie
ſchreckt die Poeten fein folcher heroiſcher Schatten, fann fie nicht jchreden, da jedes
Jahr eine neue Frucht menfchlicher Thorheit zeitigt. Ye Sage hat jeinen „Turcaret“,
Balzac jeinen „Mercadet“ geichaffen — aber moderne Gründungen, den „großen
Krach” Haben beide nicht einmal geahnt. Die „gelehrten Frauen” Molière's, die
Blauftrimpfe, die ab und zu in unferen älteren Komödien ericheinen, ähneln durch-
aus nicht unferer modernen Mädchenjugend, die „zur Erwerbsfähigkeit“ gedrillt wird,
und den tapferen Matronen, welche „die wirthichaftliche und wiſſenſchaftliche Eman-
cipation des Weibes“ jo beredt und fo fomifch vertheidigen.
Aber für wen jchreibe ich das Alles? Alfred Timpe — Gutzkow hat den an-
gehenden Dramatiker, der für den Schillerpreis „dichtet und denkt“, jo genannt —
lächelt vornehm darüber. Was follen ihm die Nathichläge eines mittelalterlichen
Kritiker? Ueber feinem Haupt jchwebt der Meſſiasſtern, in feiner Bruft ruht ein
Hönig Wamba oder ein fiebenter Gregor. Ihm wird gelingen, was feinem noch ge-
lang. Glüdliche Jugend, wie gern ließe ich dich in deinen goldglängenden Wolken—
reichen, die ach! die Wirklichkeit nur zu bald zerftören wird, wenn du nur beine
befte Kraft dort nicht nutzlos an Schemen vergeuden wollteft! Du gießeſt Waller
in's Faß der Danaiden. Die anderen Leſer wollen mir Entichuldigung gewähren :
e3 galt, einmal den Punkt zu berühren, an dem unfere deutjche dramatijche Pro-
duction krankt, der fie, wenn man nur das Theater betrachtet und das Buchdrama,
mit der verhängnißvollen Bemerkung: „den Bühnen gegenüber Manuſcript“, ganz
außer Acht läßt, von Jahr zu Jahr dürftiger und ärmlicher erjcheinen Läßt.
In diefer Noth haben fich einige Theater mit Gaftjpielen bekannter Künſtler,
die Hofbühne mit der Auffrifchung claffiischer Dichtungen zu Helfen gejucht. Am
Stadt-Theater gaftirt jeit Wochen Herr Emmerich Robert, am Wallner-Theater Herr
Friedrich Haafe, der jehige Director des Leipziger Theaters, am Reſidenz-Theater
Frau Eleonore Wahlmann, die Tragddin des Stuttgarter Hoftheaterd. Zu drei
Dingen ijt die vielgefchmähte Iheaterfreiheit gut: fie macht dem Bolt in allen Claſſen
den Zutritt zu den Meiſterwerken der dramatifchen Dichtung möglich; fie eröffnet der
Production ein größeres und auögiebigeres Abſatz- und Verſuchsfeld; fie gibt dem
begabten Schaufpieler Gelegenheit, fich häufiger einem freinden Publicum zu zeigen,
Anregungen zu empfangen, die ihm zu Haufe ewig fern geblieben wären, und jeiner-
ſeits wieder auf einen Kreis von Mitftrebenden, von jüngeren oder unbedeutenderen
Schaufpielern fördernd und anfeuernd einzuwirken. Gin glänzendes Beifpiel für die
legte Behauptung bietet Fran Wahlmann. Ihre Spielweije, ihr Rollenfach weijen
fie auf die Bühne des Schaufpielhaujes, aber man weiß, wie jchwer zugänglich die-
jelbe fremden Künjtlern ift. Frau Wahlmann war jomit bis vor einigen Jahren
von den Berliner Bühnen gleichſam ausgeichloffen, dem Publicum durchaus unbe-
tannt. Seitdem hat fie fich Hier, auf verſchiedenen Theatern erjcheinend, die Aner—
fennung der Kritik, die Theilnahme der Theaterfreunde gewonnen. Zu einem groß-
artigen Erfolg ift ihr Talent freilich nicht durchgedrungen. Frau Eleonore Wahlmann
bat ſich nach dem rhetorifch - afademifchen Mufter gebildet, fie iſt zuerit und zuleßt
wie Glara Ziegler eine Schönrednerin. Aber e3 fehlt ihr die Gewalt diejer Stimme,
138 Deutiche Rundſchau.
fie führt nicht, wie Frl. Ziegler „einen Donnerkeil im Munde“. Sie jpricht und
betont richtiger, ald die Münchener Schauspielerin; in der Gliederung der Süße, in
der Klarheit der ruhigen Rede erkennt man den fein abwägenden Berjtand der boch-
gebildeten Frau: fchade, daß dev Dämon ausgeblieben. Die Medea, die Königin
Elijabeth der Frau Wahlmann kommen über eine mittlere Höhe nicht hinaus, weder
in der Auffaffung des Charakters, noch in der Darftellung. Ueberall tritt uns bie
erfahrene, die wiſſende Schaufpielerin entgegen, wir vermiljen den originellen Zug,
das Urfprüngliche der Leidenſchaft. Das Ganze bleibt zu jehr und zu ausſchließlich
im Rahmen der Bühne, wir vergefjen zu jelten, daß wir eine Theaterfönigin, eine
Theaterzauberin vor und Haben. Zuweilen qudt unter dem nachjchleppenden Ge—
wande fichtbar der Cothurn hervor, auf dem fich die Schaufpielerin jtattlich bewegt.
Das vermag und nun nicht in die Illuſion Hineinzuzaubern, und wenn die Künſt—
lerin gar uns Eſſex' ElifabetH mit dem blühenden Antlig einer dreißigjährigen Dame
vorführt, jo verwiſcht fich der Charakter der Geftalt, des ganzen Stüds, Alles nimmt
den fomddienhaften Zug an. Am bejten gelingen der Künftlerin die hochpathetifchen
Reden; hier fommen der Iyrifche Schwung und die Neigung zum Declamatorijchen,
die in ihr vorwaltend find, zu ihrem echt, ohne dem Dramatifchen Eintrag zu
thun. Frau Wahlmann brauchte eine ihr ebenbürtigere Umgebung, als ihr jegt auf
dem Refidenz- Theater zu Theil wird und werden kann; fie glänzt mehr in einem
wohlgeichulten, fein abgetönten Enjemble, als in einem virtuofen Allein-Spiel. Unter
den jüngeren, meift noch unreifen Kräften des Refidenz- Theaters herricht eine ganz
andere Spielweije, ein ganz anderes Streben vor, fie alle find Naturaliften, Frau
Wahlmann ift unter ihnen die einzige Sdealiftin; während fie in tragijchen Stellungen
tragifch declamirt, ſprechen die Anderen ihre Verſe wie die deutfch-franzöfiiche Profa,
‚an die fie durch die Ueberſetzungen Sardou’3 und Dumas’ gewöhnt find. Dadurch
fümmt eine unlösbare Diffonanz in die Darftellung.
Viel glüdlicher Hat e8 Friedrich Haafe in dem Wallner-Theater getroffen.
An wahrhaft jchaufpieleriihem Genie überragt er nicht nur die Mehrzahl derer, mit
denen er jebt zujammenfpielt, jondern auch Frau Eleonore Wahlmann. Aber die
Schaufpieler, auch die mittelmäßigen, finden fich leichter und jchneller im Xuftfpiel,
ala in der Tragödie zurecht und zufammen. Cine leidliche Aufführung der „beiden
Klingsberg“ oder des „Fräuleins von Seigliere“ läßt fich mit gutem Willen auf
jeder größeren Bühne bewerkjtelligen, weder im Burgtheater noch im Berliner Schau:
ipielhaufe Habe ich jedoch eine Aufführung der „Medea“ gejehen, die in allen Punkten
billigen Anjprüchen genügt hätte. Bald fehlte es bier, bald Hinkte e8 dort. Neues
bat Friedrich Haaſe uns nicht geboten: jein „Königslieutenant“, jein „Marquis von
Seigliere“, jein „Klingsberg“, der Lord Harleigh aus dem abjcheulichen Stüd: „Sie
it wahnfinnig“, fein „Bonjour“ — es gibt in Deutjchland Fein Theater, auf dem
fie nicht erfchienen und bejubelt worden wären. Die älteren Theaterfreunde in Berlin
fennen fie jo zu jagen auswendig. Man braucht feineswegs mit Allem, was der
Künſtler macht, einverftanden zu fein, und ift doch von der Gejammterfcheinung ge—
blendet. In ernten, tragifchen Rollen vermag mich Friedrich Haaſe nicht zu feſſeln
und Hinzureißen, es ift etwas in mir, was ſich weigert, an jeinen Hamlet oder Crom—
well zu glauben. In diefen Humoriftiihen, bald komiſchen, bald boshaften, Halb
fentimentalen, Halb ironiſchen Geftalten dagegen, denen allen der Stempel des Genre:
haften aufgeprägt ift, die zu ihrer Verkörperung der jorglichiten und genaueften Detail-
malerei bedürfen, gehört er zu den ausgezeichnetiten deutjchen Schaufpielern; Hat der
Dichter ihnen nun gar den Hautgoüt adeliger Verkommenheit — ich betone das Bei:
wort abdelig, es ijt der Punkt über dem J in Haaſe's Darjtellung — eine nicht zer—
legbare Miſchung von vornehmen Formen und Lajterhaitigkeit, von ariftofratiicher
Frechheit und Gewifjenabiffen gegeben: jo ift Friedrich Haafe ein Schaufpieler, wie
ed zur Stunde feinen zweiten gibt. Verachtet diefe Klingsberg's, dieſe Frefinau’s —
aber Hut ab vor dem Künſtler, der fie geichaffen! Von dem hiſtoriſchen Menfchen
hat Haaſe nichts ala das jeweilige Koftüm, das er trägt, für den Menjchen in der
Berliner Chronik. 139
Geſellſchaft beſitzt er das feinfte Gefühl. Selbſt eine quedfilberne, bewegliche, ironijche
Natur, weiß und empfindet er fich in Wahlverwandtichaft mit den ähnlichen Figuren
der Dichter. Eine jcharfe Beobachtung des Lebens, die virtuofe Ausbildung feines
angeborenen jchaufpieleriichen Könnens tragen dann das Ihrige zur Vollendung feiner
Darftellung bei. Durch eine Fülle von kleinen Zügen überrajcht er den Zufchauer
und ſetzt zugleich dem Charakter, den er darftellt, immer neue Lichter auf. Er läßt
die Figur vor ung fich entwideln und entfalten, jtatt gleich mit einem Wurf Alles
zu geben. Driginell in der Anlage, jauber in der Ausführung, aus der Darftellung
feiner Vorgänger und Nebenbuhler mit glüdlichem Griff den Einfall, die Geberde
ergreifend, die er harmoniſch mit feiner Weife verbinden und verjchmelzen kann, hält
er den Zufchauer beftändig in Staunen, Lachen, Bewunderung feſt. Da fich der
Künftler bei jeinem diesmaligen Gaftjpiel auf jein eigenftes Gebiet beſchränkte und
nur längft erprobte Gejtalten vorführte, war er des glänzendſten Erfolges ficher.
Wer will, fann eine Predigt gegen das Virtuoſenthum daran knüpfen; dem Theater-
publicum indeflen jcheint e8 ein Bedürfniß zu fein, von Zeit zu Zeit feine Lieblinge
in den alten Masken und Kleidern wiederzufehen.
Im Stadt-Theater gaftirt jeit längerer Zeit Emmerich Robert, noch vor
wenigen Jahren der verzogene tragiiche Yüngling=Held des Hojtheater®, dann am
Stadttheater zu Wien, unter Laube's Leitung, als erfter Stern glänzend. Erſt all-
mählich bat er fi) das Bertrauen und den Glauben der Berliner wieder errungen
und findet jet, nach der Meinung der Kritik, den verdienten Zuſpruch und Beifall.
Seine bedeutendften Rollen find Hamlet, Sigismund („Das Yeben ein Traum“),
Uriel Acofta, Moliere („Das Urbild des Tartüffe“). Wenn der Künſtler in Wien
an „Vortragskunſt“ gewonnen, jo bat er dafür die jchöne Natürlichkeit, die ihn im
Anfang jeiner Laufbahn augzeichnete, beinahe ganz verloren: eine virtuofe Begabung,
ein mwohlflingendes Organ, eine gewiſſe Ritterlichfeit in Gang und Haltung werden
ihm eine hervorragende Stellung in der deutfchen Bühnenwelt, wie fie nım einmal
ift, fihern. Talent wie Ausbildung weifen ihn auf den rhetorifchen Pad, fein Vor:
trag überwuchert fein Spiel, unter der wallenden Toga verjhwinden die bejtimmten,
charafteriftiichen Formen.
Wie Schon bemerkt, Hat die Hofbühne durch die Neueinftudirung älterer Sachen
dem Mangel an Neuigkeiten abzuhelfen gefucht. Sie Hat Heinrich's von Kleiſt
Zuftipil „Der zerbrodhene Krug“ und Schiller's „VBerfhwörung des
Fiesco“ zur Aufführung gebracht. In feinen Figuren, in feinem Farbenton, in
der breiten, in alle Einzelheiten fich liebevoll vertiefenden Ausführung ift „Der zer—
brocdhene Krug“ ein echtes niederländifches Gemälde. Der Einfall, die Begebenheit
nad) Holland zu verlegen, ift einer der glüdlichften, der noch einem Dichter gelommen
ift. So Hat die Fabel, jo haben die Geftalten des Dorfrichter® Adam, der Frau
Marthe Rull, ihrer Tochter Eva einen culturhiftoriichen Hintergrund erhalten; ſogar
der Krug, auf dem die Abdankung Kaiſer Karl's V. gemalt war, erhebt fih aus
feiner unhiftorifchen Wichtigkeit zu Werth und Bedeutung. Wir Haben ein Bild in
der Weile und Farbeugebung Brouwer's, Oſtade's, Tenierd’ vor und. Wie bei ihnen
bildet eine täppiſche Yiebelei, eine tüchtige Prügelei den Einfchlag der Handlung.
Mit ihrer Genauigkeit, die jede Falte im Antlitz ihrer Originale nachmalte, ift der
Doririchter Adam gezeichnet: eins der eigemartigjten Gabinetsftüde der deutjchen
dramatiichen Kunſt. Man kann diefem alten, durchtriebenen, verliebten, boshaften
Schelm in feiner vergnüglichen Gelbitgefälligkeit, in all’ feinen wechielnden Humoren,
von vertranender Sicherheit, frechem Läugnen, ſelbſtbewußtem Trotz zu feiger Kriecherei,
nicht gram werden, wenn man ihn von Meifter Döring dargejtellt fieht. Die
ganze Darftellung ging luftig und malerifch ineinander. Um jo weniger befriedigte
die Aufführung des „Fiesco“. Außer dem Gianettino des Hrn. Berndal und dem
Muley-Haffan des Hm. Kahle — einer mehr drolligen als gefährlichen Bejtie —
blieben die Uebrigen weit Hinter Schiller’3 Geftalten zurüd. Die Herren Ludwig
und Dee, die Damen Erhartt und Stollberg ragten feinem Fiesco und Ver—
140 Deutiche Rundſchau.
rina, feiner Leonore und Julia, die Einen bis zur Schulter, die Andern noch nicht
einmal jo hoch. Die Berliner Hoffchaufpieler haben es verlernt, den jugendlichen
Schiller zu fpielen. Den Schwung, das Pathetiiche, dad Himmelftürmende juchen
fie durch einen fogenannten „natürlichen“ Ton zu erſetzen. Es geht Alles jo glatt,
fo zimperlih, jo akademiſch gemeflen ber, daß man eben nur einem Schattenjpiele
beizumwohnen mwähnt. Die Begeifterung ijt fort, das Phlegma ift geblieben. Auf
die Ausftattung hat man wieder viel Mühe verfchtvendet, ohne uns doch einen einzigen
für Genua charakteriftiichen Projpect zu zeigen: eine hohle leere Pracht. Während
Schiller für den fünften Act nur eine Decoration angibt, theilt man auf unferer
Bühne den Act in zwei Scenen mit zwei verjchiedenen Decorationen; dagegen läßt
man, jo lächerlich es ift, Verrina in Fiesco's eigenem Zimmer dem Bourgognino er=
flären, daß Fiesco fterben müſſe. Die impojante Eingangsicene des dritten Acts,
deren Schreden der Dichter durch die Schreden der Natur, in die er fie verliebt,
„Ffurchtbare Wildniß”, jchreibt er vor, wie es Shakeſpeare im „Macbeth“ und „Lear“
gethan, hat man gelafjenen Sinnes fortgejtrichen.
Außer zwei einactigen, durchaus nichtigen Kleinigkeiten: „Ein gefährlicher
Freund“ aus dem Franzöfiichen von A. Freſenius und „Nedereien”“ von
A. von Winterield, die am 20. November aufgeführt wurden, hat die Hofbühne
als einzige größere Neuigfeit Mofjenthal’s3 „Sirene“, eine Komödie in vier Acten,
am 12. December zur Daritellung gebracht. Es ift eine Variante auf das uner—
fchöpfliche Gouvdernanten= und Gejellichafterinnen-Thema, das in einer Zeit der prak—
tiſchen Frauenemancipation don vornherein auf Theilnahme rechnen darf. Das
Drollige in all’ diefen Romanen und Komödien ift e8 nur, daß jie gleichmäßig mit
der Forderung der Selbjtändigleit des Weibes beginnen, irgend eine neue „Erwerbs—
thätigkeit“ für die Töchter gebildeter Stände aufzufinden fich bemühen und, Ende gut,
Alles gut, mit einer vornehmen Ehe des herrlichen Mädchens jchließen. Bei Moſen—
thal gewahre ich ſchon einen demokratischen Fortſchritt. In Bauernfeld’8 „Aus der
Geſellſchaft“ gewinnt die Gejellfchafterin einen Fürften Lübbenau, Mofenthal’8 „Sirene*
begnügt ſich mit einem Herrn von Eggenburg, der eine Profeffur in Bofton ange-
nommen bat. Die Variante in dem auf der Bühne heimischen „intereffanten Mädchen-
charakter“ ift übrigens gefällig und anmuthig. Moſenthal hat feine Heldin aus dem
melancholifchen Thal der Thränen, der unglücdlichen Liebe, der unerfüllten Hoffnungen
gerettet: Elife Jung lacht jich durch das Leben. Aus einer Stellung entlaffen, lacht
fie fich in eine andere hinein; ich hätte fie lieber Nire als Sirene genannt. Heine
bat im „Romanzero“ ein Paar hübjche Strophen auf eine Ottilie gedichtet, die auch
auf Mojenthal’3 Sirene paflen. Ach fee fie her:
Wie das Perfönchen fein formirt! Die ſüßen
Meergrünen Augen zwinkern nirenhaft.
Sie jteht jo feſt auf ihren kleinen Füßen,
Gin Bild von Zierlichkeit, vereint mit Kraft.
Der Ton-der Stimme ift jo treu und innig,
Man glaubt zu ſchaun bis in der Seele Grund;
Und Alles, was fie jpricht, ift flug und finnig,
Wie eine Roſenknospe ift der Mund.
Einem ſolchen Weſen ift Friedrich von Eggenburg, ein Mann über die Dreißig
hinaus, in der Villa Albani begegnet. Er jteht bewundernd vor einer marmornen
Sirene in der Billa Albani — die Archäologen werden willen, ob es marmorne
Sirenen aus dem griechiichen Altertum gibt — als hinter ihm ein filberhelles
Lachen ertönt. Er blickt ſich um: da jteht die antike Sirene in modernem Fleiſch
und Blut, Elife Jung, die abenteuerliche Gefellichafterin einer puritaniichen Lady.
In Deutichland treffen fich beide wieder: Eliſe ift jeßt die Geſellſchafterin einer ver:
witweten Generalin von Walljee, einer „intimen” Freundin Eggenburg's. Durch
einen Zufall findet er fich bei einem Stelldichein, das ihm die Generalin gegeben,
Berliner Chronik. 141
nicht mit diejer, jondern mit Elifen zuſammen. Die Liebe ift natürlich da, ehe fie
erflärt wird. In jehr verfänglicher Situation überrafcht die zurüdkehrende Dame
dad Paar. Entrüftet weiſt fie die „Sirene“ aus dem Haufe. Eggenburg führt die
Obdahlofe in das Haus jeiner Tante, eines alten Fräuleins. Da er mit der
Tochter eines väterlichen Freundes, des Präfidenten Waltersdorf, verlobt ijt, könnte
die ganze Sache ein bängliches Ausjehen annehmen, wenn ihm jeine Braut nicht in aller
Form Rechten einen Korb gäbe. In feinem Vaterlande behagt es ihm nicht, nach
des Dichters Meinung ift er ein genialer Mann, dem gar nicht Ehre genug erwiejen
werden fan. Nun wollen ihn zwar die Demokraten zu ihrem Abgeordneten wählen,
aber da fie fich im jeine Privatverhältniffe drängen, kehrt er ihnen den Rüden; die
Generalin verihafft ihm ein Minifterportefeuille, aber er weigert fich, e8 anzunehmen,
da er es nicht feinem DVerdienfte, jondern nur der Protection verdantt. Wie man
fieht, it diefer vechtichaffene Mann jchwer zu befriedigen. In Amerika hofft er, ge-
rechtere Anerkennung zu finden. Inzwiſchen langweilt ſich der Kobold Eliſe höchlich
bei dem alten Fräulein in ihrem geradlinig eingerichteten Haushalt und wird auch
von diejer, jo gutmüthig fie ift, mit leifem Kopfſchütteln betrachtet. In diefer Noth
denkt die Sirene daran, fich auf die Bühne zu lachen und bei einem Jugendfreunde,
der zum Theaterdirector ſfich emporfchtwingt, ein Engagement anzunehmen. Der
Puritaner Eggenburg räth mit einer Art Entjegen von diefem Schritt ab und will
Abichied won ihr nehmen; bei der Erklärung, daß er nach Amerika überfiedeln würde,
ftürzen der immer lachenden Sirene die hellen Thränen aus den Augen. Entzüdt und
gerührt jchließt fie Eggenburg in feine Arme: diefe Ihränen find ihm ein Beweis
ihres liebenden Herzens, ihres tiefen Gemüths. Gott Amor jegne fie Beide, ich für
mein Theil fürchte mich viel mehr vor den Thränen, ala dem Yachen einer Nire.
Falſch find beide, aber die Thränen falfcher. — Die Handlung ift gering, die Cha—
zaltere, mit Ausnahme der Sirene, entbehren der iriichen Originalität, aber das
Gemälde der modernen, ſpecifiſch wienerifchen Gejellichaft iſt lebendig, anfchaulich
und in den Grenzen der guten Sitte gehalten. Die fromme, ſtark in der Politik
arbeitende, einem fragenden Männerblid nicht unzugängliche, vornehme Witwe; der
demofratiiche Redacteur mit dem ſtark ausgeprägten Selbftgefühl, der von den
geiftigen Brofamen, die von dem Tiſche befjerer Männer fallen, lebt; der luſtige Ko:
mödiant: fie find nicht neu aus der Menjchenwoge aufgegriffen, allein wahr und
intereffant wiedergegeben. Die Sprache fließt leicht und klar; bis auf einige Scherze,
die mehr in das Vorzimmer und auf den Markt gehören, weht ein Salonduft über
das Ganze hin. Frau Niemann als Sirene traf nicht ganz die Kindlichkeit und
den naiven Ton, die, wie mir fcheint, der Dichter vorausjet ; die Künjtlerin hat
einen leifen Zug von der bewußten Kokette geborgt; Herr Berndal als Eggenburg
war ein alternder, gelangweilter Xiebhaber.
Zum Schluß jei mir eine rein perfönliche Bemerkung gejtattet. In meinem
Bericht über Albert Lindner's Traueripiel „Marino Falieri” habe ich ihm in
einem Punkt Unvecht gethan. ch bejtritt ihm die Griftenz einer Kirche S. Pietro
e Raolo in Venedig. Mir wird mitgetheilt, daß ich mich im Irrthum befinde. Eine
diefen Apojteln gewidmete Kirche gab es wenigſtens zu Falieri's Zeiten, fie ift im
16. Jahrhundert abgebrochen worden; die Verjchworenen jollen fich dort verſammelt
haben. Lord Byron’ Local im dritten Act jeines Falieri: „Raum zwiſchen dem
Ganal und der Kirche S. Giovanni e Paolo. Cine Reiterftatue dor derjelben“ —
ft ganz phantaftiich, die Kirche ift erft um 1430 vollendet, das Reiterbild — Bar:
tolommeo Golleone — erit um 1496 gejeßt worden.
Karl Frenzel,
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4 d. Y 44
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Mufikalifches aus SKerlin,
November — December 1874.
MWilhelmj’s zweites und letztes Goncert fand vor dem glänzendſten Audito—
rium ftatt. Der große Virtuofe, welcher den nicht genug zu ſchätzenden Vorzug be
fit, feinen Concerten durch Vorführung von Novitäten auch ein Literarifches Intereſſe
zu verleihen, jpielte außer der Giaconne von Bach ein Rubinftein’scheg Goncertftüd
und die A-dur-Sonate von Raff für Piano und Geige. Das Rubin jtein'iche
Werk leidet, wie jo viele Arbeiten des talentvollen Mannes, an einem diöparaten
Weſen, welches mir weniger ein Natur, als ein Redactiongfehler zu jein jcheint.
Wäre fein fritifches Vermögen ſeinem jchöpferifchen ebenbürtig, jo würden wir jeinen
Werfen gegenüber nicht jo oft die faleidosfopische Empfindung haben, das Schöne
mit dem Unjchönen in jo unberechenbarer Weife vermengt zu jehen. Begabung allein
ichafft feine Kunſtwerke: wer nicht den echten Kunſtverſtand und Kunjtwillen beiikt,
wird niemals etwas gejtalten, was den höchiten Anforderungen der Kritik genügt.
Wohin wir in der Kunſt bliden, alles Werthvolle, Bleibende iſt nicht improviſato—
riſch, ſondern mit Aufbietung der ganzen Kraft fünjtlerifcher Befinnung geichaffen
worden. Das Rubinjtein’sche Stüd gleicht einer Karte Afrika's: die Küften find be
wohnt, in der Mitte liegt die Wüſte. — Die Sonate Raff's ift eine der glüdlichiten
Arbeiten des Componiſten; fie enthält einige geradezu hinreißende Momente, jo das
zweite Thema im erſten Sat, das des größten Mufifers würdig ift. Wilhelm; ent-
faltete in beiden Leiftungen, namentlich in der die ungeheuerjten Schwierigkeiten ent:
haltenden Rubinftein’schen Gompofition, fowie in der Bach’schen Giaconne, dieſem
von einem Genie geichaffenen Werke, welches fich die Aufgabe geitellt zu Haben jcheint,
den Genius des Inſtrumentes mit dem untmiderjtehlichen Zauber feiner geheimiten
Gewalten zu citiren, die vollendetfte Meifterichaft. Die Geheimjchriit Bach'ſcher
Polyphonie, dieje räthſelhafte Geichäftigkeit der einzelnen Stimmen, ihre gemüthvolle
Beharrlichkeit, ihr ftolzes Auflehnen wie ihre vertrauliche Auflöjfung, iſt auf Eleinerem
Raume wol nie verzeichnet worden. Wenn bier die Blumeniprache, welche nur
Joachim's Geige zu Äprechen verjteht, mitunter vermißt wurde, jo joll Wilhelm!
daraus fein Vorwurf gemacht werden. eder trägt die Contouren, in denen er ein:
mal gedacht ift, und es ijt thöricht, vom Morgen den Abend zu verlangen.
Die Singatademie hat in ihrem zweiten Abonnements:Goncert die Bad ſche
Gantate „Gottes Zeit ift die allerbejte Zeit“ und die „Missa pro defunctis“ von
Franz Yachner vorgeführt. Unter den unzähligen SKirchencantaten Bach’s, von
denen in der Gejammtausgabe feiner Werke bis jet 90 evichienen find (mindeiten®
ebenfoviel find noch zu erwarten), nimmt die in Rede jtehende, eine ziemlich frübe
Arbeit, nach meinem Gefühl nicht ganz die Stelle ein, welche ihr Spitta, der aus
gezeichnete Biograph Bach's, anweiſt. Sie ift ein Bach'ſches Stüd, aljo voll all
jener Größe der Innerlichkeit, jener Taft myſtiſchen Vertiefung in den Grlöfungs
Mufitaliiches aus Berkin. 143
gedanken, aber fie hat noch nicht die Undefangenheit und den freien, oit geradezu
demonftrativen Ausdrud der jpäteren Arbeiten. Alle darin ift noch latent, ala
wollte fich fein ungeheurer Geift erft in Demuth reifen, ehe er die ſüße Fülle feiner
Früchte bot. In der Zurüdhaltung eines jo unfaßbar großen Menſchen — welche Lehre
für uns Nachgeborene, die wir mit jo unehrerbietiger Haft, mit jo frühreifem Ber-
trauen und jo frühwelfer Kraft unjere Bahnen wandeln! — Das Lachner'ſche Re-
auiem ift ein mit großen Geſchick geſchriebenes Chorwerk, in welchen jedoch die ver-
hängnißvolle Schwebe zwilchen conventioneller Behandlung des Tertes und dem un-
Leugbaren Triebe, ihn individuell phrafiren zu wollen, zu einem Gompromiß gerührt
haben, welcher dem Werke etwas Hermaphroditifches gibt. Cherubini’she Wirkung
bat dem Autor wol vorgejchwebt, aber es fehlt ihm, vom Muſikaliſchen ganz abge-
ſehen, das fatholifche Pathos, welches jenen jo groß machte. Im „Dies irae“
SHerubini’s hört man die praflelnden Flammen des hölliichen Feuers; das Lachner’iche
ift am Kamin gejchrieben. Seine Pojaunen im ‚Tuba mirum“ Klingen wie Hinder-
trompeten, und fein „Benedictus“ macht nicht den Eindrud, ala ob es „in nomine
Domini, jondern im Namen eines Theaterintendanten gerufen würde. Auch muß
ich bei aller Verehrung vor einem jo bewährten Meifter wie Yachner befennen, daß
es mir mit feinem Requiem wie mit feinen berühmten Orcheſterſuiten geht: ich weiß
nämlich nicht, was unter Lachner’icher Mufif zu verftehen ift. Sie ift alles, was
man will, wohlflingend, geicheidt, oft voller Geift, fie ift tüchtig und correct, aber
fie ift nicht Lachner’iche, Tondern völlig abjtracte Mufil. Man gebe mir einen Takt
von Gade, Franz, Wagner, Mendelsjohn, Schumann (ich Fönnte noch Viele nennen),
und ich will jagen, wer ihn geichrieben hat. Aber Lachner? Wenn es nicht der
Mtangel eines Gefichts wäre, ich wüßte nicht, woran ich e3 erkennen ſollte. Das
Wunderbare aber ift, daß ein Mann, der fich ſelbſt nie copirt, doch niemals auf
"remden Fährten zu finden it. ch denke mir, es gibt irgendwo im Univerſum eine
große Bowle, in die alle Zeiten und Generationen ihren Moft verjenkt haben.
Kometenwein und Grüneberger, alles iſt kosmopolitiſch vertraulich darin bei einander.
Aus diefem Sylvefterpunich der Jahrhunderte ſchöpft Lachner. — Mich von diefem
trunfenen Bilde zu ernüchtern, kehre ich zur Singafademie zurüd. Die Ausführung
beider Werke ließ nichts zu wünjchen übrig. Der Chor hat an Blumner einen ganz
vortrefflichen Dirigenten. Schon die hohe Meile Bach's imponirte mir vor einigen
Hahren durch das Feuer und die Präcifion feiner Leitung. Die Sinfoniefapelle er-
fcheint für die Begleitung jolcher Werke recht wenig geeignet. Es iſt in ihr ein fo
verdrießliches Spielen, eine Art von Samſtags-Muſik, die mir mißfällt. Es mag
ichwer jein, fich unter des Lebens Mühen auf der Höhe Bach’scher Figquration zu
Halten. —
In den Reichshallen gibt man jetzt Liszt’ Fauſt-Sinfonie. Die Zeit ift
vielleicht gefommen, über die Gompofitionen eines der merfwürdigiten Menjchen ein
ruhiges Urtheil zu fällen. Das Parteigezänte fängt an fich zu erichöpfen und der
Berjuch wäre denkbar, zwiſchen Vergötterung und Ablehnung jeht einen meßbaren
Sefichtspunft zu gewinnen, aus dem fich die Höhenfrage erledigen ließe. Ericheinungen,
welche in jo hohem Grade die mufifaliiche Welt beichäftigen, müſſen Gigenjchaiten
befiten, die nicht gewöhnlicher Art find. Als Yiszt nach einem Triumphzug ohne
Sleichen, den er duch ganz Guropa gehalten, des Virtuoienlorbeers müde, unbe:
Triedigt und ehrgeizig wie er war, feiner alten Laufbahn Valet jagte, um auf einem
höheren Gebiete nach der Palme des Sieges zu ringen, da hatte eine jolche Gonver-
tion für den Unbefangenen zunächſt nur den Verdacht des Abjonderlichen und Weber:
reisten gegen fih. Aber die Welt ijt der piychologiichen Wunder jo voll, daß man
der Entwidelung auch einer jo alle Kunfterfahrung gegen fich habenden Transfigu—
ration ohne Vorurtheil zugejehen hätte, wenn die wüſte Janiticharenmufik einer durch
alle Mittel geworbenen, oder jagen wir mwenigiten® erworbenen Clique nicht ſchon die
erjten Trlügelichläge der jungen Mufe mit jolchem Lärm begleitet hätte, daß den
höheren und veineren Elementen der muſikaliſchen Welt die äußerfte Rejerve geboten
144 Deutiche Rundichau.
wurde. Die „Neue Zeitfchrift für Muſik“ unter ihrem damaligen Leiter, Fr. Brendel,
vedigirte den Ruhm des neuen Apoſtels in einer, wie ich glaube, in der literarifchen
Melt noch nicht dagewejenen Weile. Unzweifelhaft haben viele jener Köpie in ehr:
lichfter Ueberzeugung geichrieben, aber man hatte feine Spur von Tact und ging jo
weit, über Werke, welche fich noch unter der Feder des Componiſten befanden, im
Ton der Meſſiade zu reden und ihre weltbewegende Kraft zu prophezeien. In Wei-
mar und Yeipzig wurde Liszt geradezu als der große Geniuß der Zukunft verfün-
digt, welcher berufen fei, der Erbe Beethoven’scher Kunſt zu jein und der Mufit
neue, ungeahnte Wege zu bahnen. Den Kern der Berhimmelung bildete die große
Kundgebung, daß die Mufif, bis dahin nur ein „Spiel tönend bewegter Yormen“,
duch Verquickung mit der poetifchen dee, welche in das härene Gewand des „Pro-
gramms“ gehüllt wurde, in ein höheres Stadium treten müſſe. Gin unglüdfeliger
Anflug von philofophiicher Bildung, welcher der Partei eigenthümlic) war, ver-
dunftete dad Wenige, was an diefem Gedanken lebensfähig war, zu unbeftimmten
Atomen, und bildete eine Art Höhenrauch, der fih um Sprache und Empfindungen
jener Prefle legte. Als es mit den Gründen auf die Neige ging, verfuchte man es
mit dem Sinterdict. Alles, was dem neuen Idol nicht opfern wollte, wurde in die Acht
erklärt und mit dem Hohn des allein jelig machenden Dünkels zum Tempel hinaus-
gejagt. Aber nicht nur der Tod ift, wie Gregorovius einmal jagte, ein großes
Sieb, welches das Wahre vom Falſchen Jondert, auch die Zeit ift eind. Der einſt
fo lärmende Anhang ift durch Abfall decimirt, und was heute von ihm noch übrig
ift, treibt fein melancholiſches Weſen in einigen wenig gelejenen Mufifzeitungen und
einigen ſchwärmeriſchen Frauenköpfen. Die Apoftelfrage ijt erledigt, aber es ift da—
mit nicht gejagt, daß ein Mann nichts wäre, weil wir nicht zugeben fönnen, daß er
nach der Meinung feiner Jünger alles if. Das eine ift jo grundfalich, wie das
andere. Man jeßt nicht den halben Erdball ala Glavierfpieler in Bewegung, wenn
man nicht auch zugleich Muſiker ift, und ein Muſiker, der zu folchem Spieler gehört,
ift feiner von denen, wie fie jede Quadratmeile deutichen Landes Hervorzubringen
pflegt.
Wenn das Wort der George Sand wahr ift, daß das Leben viel häufiger dem
Roman gleiche als der Roman dem Leben, jo trifft dies bei Liszt völlig zu. Was
er geichrieben, it nur halb der Roman feines Lebens. Der Antheil, den wir an
jeinen Werken nehmen, hält dem Intereffe, welches uns feine Perfon einflößt, nicht
Stand. Wie viel des Abipringenden, Unvermittelten und Ungelöften auch in feiner
Natur jtedt, fie it ein Ganzes, nicht ein Fragment wie feine Werte. Was und in
jeinen Compofitionen durch Wildheit, Zufammenhangslofigkeit, Kofetterie und Raffi-
nement abjtößt, gibt jeiner Perfönlichkeit Hundert ſeltſame Reize, und ein Geſpräch
mit ihm ift wie eine Reife durch fremde, wunderbare Länder. Er ift erſt Poet, dann
Mufifer, daher auch das Bedürfniß, im Muficiren immer von bejtimmten dichterifchen
Vorjtellungen auszugehen. Dan bat, wie jchon erwähnt, auf diefes Verfahren früher
den Hauptaccent gelegt. Nun jcheint mir aber der Werth diefer Verbindung don
Vorjtellung und Mufit, wenn ich das Vergnügen einer durchaus nebenjächlichen
Kontrole meine Verſtandes in Abzug bringe, völlig problematifch zu ſein. Ein
bejtimmter Gedanke läßt fich befanntlich durch Töne nicht ausdriiden. Gibt man
mir nun einen Zettel in die Sand, auf dem der Gomponijt mir den bejtimmten
Kreiß vorzeichnet, in dem meine DVorjtellungen fich zu bewegen haben, jo bevor-
mundet er damit die Freiheit meiner eigenen Auslegung, wenn ich mich zu folcher
aufgelegt fühle, oder er ftört mich überhaupt in dem ganz eigenen Befinden, welches
Muſik als eine Kunſt, die ihre eigenen Gedanken in ihrer eigenen Sprache gibt, ın
mir hervorzurufen pflegt. Es kann aljo Jemand jagen: mich hat der Fauſt zum
Gomponiren angeregt; jagt er mir aber: hier find drei Sinfoniefäße, von denen der
eine den Fauſt, der andere Gretchen, der dritte Mephifto vorftellt, jo kann ich das
Gefühl von zudringlicher Beeinfluffung meiner eigenen Phantafie einerjeits, und dem
Mufitaliiches aus Berlin. 145
vergeblichen Verſuch die Grenzen einer Kunft über ihre wahre Natur binauszufpan-
nen andrerjeits, nicht [o& werden. Ueber das Wetterleuchten, „den vergeblichen Rede-
verjuch der Natur“, wie Heine e8 einmal nennt, wird die Muſik nicht hinauskom—
men. Im beim Liszt’schen Fauſt zu bleiben, jo hat fchon die Zerlegung in die drei
Haupttypen etwas Bilderbogenartiged. Wagner würde jo etwas nicht gemacht haben.
Soll der erfte Sa „Fauft“ nun heißen, hier habe man es nur mit ihm und feinem
Berhältniß zu den Bewegungen des Dramas zu thun? Dann wäre er, was man
einen Monolog nennt. Und auf diefen erſten Monolog folgten nun zwei andere?
In welchem Drama wäre das erlaubt? Oder foll e8 kein Drama, jondern — wie
müßte man dad Ding nennen — eine Monologie jein? Eine Sammlung von Mo—
nologen, das wäre ja jchlimmer als das Filchefjen der englifchen Minifter!
Was Liszt gewollt Hat, ift wol etwaß andere. Gr Hat drei Gharakterbil-
der, drei Figuren zeichnen wollen, aber abgejehen davon, daß dies die Mufif gar
nicht bis zur Evidenz vermag, ift er ſich auch nicht treu geblieben. Was joll, die
Stelle im „Gretchen“ mit den verjchobenen Achteln anders bedeuten als das „er liebt
mich, liebt mich nicht“, worauf der folgende Quartfertaccord doch ficherlih Fauſt's
„Laß diejes Blumenwort dir Götterfprache jein“ ausdrüden foll. Gier haben wir
aljo jchon die Scene, nicht mehr die Figur ala Abftractum, und es wäre gewiß loh—
nender gewejen, fich überhaupt nur auf einzelne derjelben einzulafien, wollte man
durchaus Mufif zu beftimmten Anläffen erfinden.
Was nun die Mufit als jolche betrifft, jo jpürt man in erjter Reihe das Be—
dürfniß eines geiftreichen Menjchen, etwas Außerordentliches zu jagen. Namentlich
im erften Sat ſetzt Liszt, um mich mufitalifch auszudrüden, ein Doppelfreuz vor jeine
Phantaſie. Alles befindet fich im Zuftande höchjter Alteration. Aber vor lauter
Präeriftenz fommt der Gedanke zu feiner rechten Geburt. Es ift eine Seelenwanbe-
rung durch alle Tonarten des Schmerzes, nicht ohne gelegentliche Macht, aber doch
ohne den hüpfenden- Punkt organifchen Lebens. Kein Menſch, Berlioz auögenommen,
tann jolche Geipenjterfchriit jchreiben wie Liszt. Oft war mir's, ala wäre ich wieder
in dem unbeimlichen Kloſtergewölbe Roms, wo Alles, Wände und Geräthichaiten
aus Menichentnochen gebildet find. „Gretchen“ ijt etwas international behandelt ;
rein germanifches Blut fließt nicht in ihren Adern. Aber das Stüd ift jehr anmu—
thig und voll großer Feinheit, namentlich in der obenerwähnten Sternblumenfcene.
Am beiten iſt „Mephifto” in feinem ironifchen Muſikerthum gerathen. Die Parodie
auf Fauft’sche Themen ift voll föftlichen Humors; man muß freilich hinzuſetzen, viel
beduriten jene Themen zur Parodie nicht.
Das Peinlichite an Liszt'ſchen Compofitionen ift die bejtändige Wiederkehr ge-
wifjer Manieren. Dahin gehört das ewige Abbrechen und wieder Anfangen. Ein
obligates Inftrument pflegt in recitativifcher Weile die Vermittelung zu übernehmen.
Wo eben der Fluß der Gedanken fehlt, muß „ein Wort fich zur rechten Zeit ein-
ftellen”. Solche Art, die Gedanken wie an einer Schnur aufzuperlen, immer aber
jo, daß die Schnur ftellenweife zum Vorſchein fommt, ift recht ermüdend. Dann hat
er beitimmte Harmoniefolgen, namentlich die Wendung nach der oberen Terz, be—
ftimmte Klang: und Stimmungägegenfäße, die fich in allen Werfen wiederholen.
Dafür entihädigt er durch Geift und Einfälle, eine zauberhafte Beherrihung der Or—
cheitermittel und poetifhe Stimmung. Die Ausführung unter Stern’3 Leitung
war dad Beite, was ich bißher von jeiner Gapelle gehört habe. Das Stüd ijt für
Mufiter jo überaus amüfant, ftellt der Ausführung jo pifante und lohnende Aufga—
ben, daß es fein Wunder ift, wenn das Orchefter e8 mit Liebe fpielt.
Die vierte Quartettfoirde Joachim's brachte eine Novität, ein Quartett Ru—
binjtein’s (op. 47, Nr. II), deflen Menuett recht friſch umd originell war. Mit
dem eriten Sabe kann ich mich, wenn ich ein Paar erireuliche Momente in der Mitte
auönehme, nicht recht befreunden. Er ift mir zu altbaden und nüchtern, etwa al& ob
man ein altes Manufcript neu aufgepußt hätte. Das Andante mit Variationen iſt
gewiß ein werthvolles Stüd, aber ich denke mir immer, ein Thema mit Variationen
Deutiche Rundſchau. 1, 4. 10
146 Deutſche Rundſchau.
ſoll wie ein Vater mit ſeinen Kindern, aber nicht wie ein Großvater im Kreiſe ſeiner
Enkel ſein. Man hat das Gefühl einer Verwandtſchaft in der dritten Linie, jo ver—
wiſcht find jchon die Züge, aus denen wir die Nehnlichkeit erfennen jollen, jo ge—
fodert ijt Schon das Gefühl der Zuſammenhörigkeit. Das Finale fängt ungemein
lebhaft und bedeutſam, genau wie eine Yiguration der eriten Zafte jeine® wunder»
Ichönen Liedes „Der Asra“ an, aber die jchöne FFürftentochter bleibt leider aus.
Statt ihrer erjcheint ein unglaublich fomijches zweites Thema, von dem man nicht
recht weiß, iſt es nur die Bifitenkarte eines Fremden, der fich in der Hausnummer
geirrt, oder macht der Gomponijt jchon vor zwölf Uhr jchlechte Späße. Was würde
ein Mann von Rubinjtein’® Talent leiften, wenn er nicht jo jorglos verführe, ſon—
dern bei jeder Arbeit den ganzen Menſchen voll einjehte. Welche Züge genialjter
Begabung enthalten nicht viele feiner Werke, 5. B. „Der Ocean“, das vierte Glavier-
concert; fie zu einem Bilde zu vereinigen jcheint bis jegt aber Kraft und Neigung
zu fehlen. Wie viel tüchtiger und beffer erichien gegen dieſe Arbeit ein Quartett
von Ph. Rüfer, welches der junge, einheimijche Gomponijt in feinem Goncert am
28. November in der Singalademie vorführte. Iſt feine Originalität mit der von
Rubinftein auch nicht zu vergleichen, jo weiß er mit feinen Gedanken doch beffer
Haus zu Halten, fällt nicht beftändig aus der Rolle, ala wären in einem Quartett
vier Gejchäfte zu gleicher Zeit zu verrichten, und führt jeine Entwürfe wader aus.
Alle Sätze zeugen von großer Beherrfchung des Formellen, von Geſchmack und Nei—
gung für das Schöne und von großem Reſpect vor dem Schidlihen. Am meijten
ift auch Hier das Scherzo gelungen, das in feiner intereflanten Rhythmik ein ganz
eigenartige Gepräge verräth. Aber auch die andern Süße tragen durchweg den
Stempel einer erniten, künftleriichen Arbeit. Wenn ich über die Rüfer'ſche Sinfonie
nicht eben jo günjtig berichten fann, jo liegt dreS an ihrer erbarmungslofen Länge und
der Monotonie ihrer Jnftrumentirung. An Gedanken fehlt es auch hier nicht, na—
mentlich in den beiden erjten Säben, wol aber an Rüdfiht, an Rüdficht auf die
Zeit und die Nerven der Hörer. Wenn man in der Mufil einen Gedanken wieder:
bringt, jo muß die mit einer Art von Erfriſchung geichehen, man muß ihm eine
Modulation, und wäre e8 auch nur durch die Klangiarbe, zu geben wiſſen. Rüfer
bat im Weientlichen aber nur eine Farbe, mit der er im Orcheſter malt, und dieſe
ift ſchreiend. Neben den Mangel aller jeineren Tinten jtellt fi) der noch empfind-
lichere jeder intereffanten Contrapunktik. An einigen dramatiichen Beihwörungäver-
luchen fehlt es zwar nicht, fie find aber mehr von dem Temperament als der Phan—
tafie eingegeben. Das Finale, in welchem man nach der unendlichen Breite des
langjamen Sabes etwas bewegliche Heiterfeit erwartet hätte, fommt aus einer lamen—
tablen Würde nicht heraus, jo dak ınan mit der Empfindung nach Haufe geht, die
Sintonie laborire, mit Ausnahme des Scherzo’s, zu jehr an ſitzender Lebensweiſe. Ueber
einige Anflänge (jo im eriten Saß an die Rheinische Sinfonie Schumann’s, im Scherzo
an Allerlei) joll einem Mufiler von feiner Jugend fein Vorwurf gemacht werden.
Wo fo viel eigenes, friſches Leben ift, kommt e8 auf ein Paar Gitate nicht an; nur
Wenige find in unferen Tagen jo veich, daß fie alles aus eigenen Mitteln bejtreiten
fönnen. — In demjelben Concert gelangte ein Glavierconcert von Grädener zur
Aufführung, welches eine merkwürdige Probe von der Fähigkeit ablegt, im Beetho—
ven’schen Geijte zu componiren. Ich will damit nicht den geringiten Vorwurf aus—
iprechen und wiederhole, mir ift ein jolches Talent, in einem bejtimmten, und zwar
dem höchſten Stile zu jchreiben, noch nicht vorgefommen. Die Tutti® namentlich
find faft ohne Ausnahme fo gehalten, als rührten fie von Beethoven aus der Zeit
zwijchen jeinem dritten und vierten Soncert her; dabei iſt bis auf einen Anklang an
dad G-dur-Goncert von bejtimmten Reminiscenzen nicht zu reden. Nur der Glavier:
jat ift Ätörriger und wirkungsloſer wie bei Beethoven, das Verhältniß des Glaviers
aber zum Orcheſter, jein Eingreifen und Abbrechen, jeine Art fich träumerifch zu be-
theiligen, wo es nichts Welentliches jagen will, ift wieder ganz Beethoven’sch. Ge:
ipielt wurde das jeltfame Werk von einem Herrn Herz. Beitände die Hauptaufgabe
Mufitaliiches aus Berlin. 147
eined Glavierjpielerd wie die des Soldaten nach einer befannten Legende „im fröh-
lichen Greifen“, jo wäre Herr Herz unzweifelhaft jchon ein jehr bedeutender Künſtler.
Ich Habe niemals mit jolcher Rüftigkeit jpielen jehen. Daß e8 aber noch eine andere
Art, die Tafte zu faſſen, gibt als fich mit Stoßvogelhaft auf fie zu ftürzen, und daß
zwiſchen dem piano und forte auch noch Leute wohnen, und wie ich glaube nicht die
gröbften, muß Herr Herz noch lernen.
WoldemarBargiel, welcher nach längerer, ruhmvoller Wirkſamkeit in Holland
zu und zurücgefehrt ift, bat uns die freude gemacht, einige feiner Gompofitionen
am 3. Dec. zu Gehör zu bringen. Sein Name ift durch eine Reihe nobler und
liebenswürdiger Arbeiten überall in Deutichland wol befannt, was doppelt hoch zu
veranfchlagen ift, da fich die Schlichtheit und Anfpruchslofigkeit feiner Perfon auf
feine Werfe übertragen hat, und er jo gar nicht der Mann dazu ift, Für fich zu
propagiren oder — was daflelbe ift — propagiren zu laffen. Er gehört zu den
alüdlichen Talenten, die nicht Genie jein wollen, jondern mit dem, was fie von der
Natur empfangen, vernünftig Haus zu halten willen. Er brachte uns jeine Medea—
Duverture, die C-dur-Sinfonie, ein Adagio für Gello und den XI. Pſalm für
Frauenchor und Orchefter. Die Ouverture ift ein allgemein acceptirtes Stüd, deſſen
herrliche Einleitung mir immer wieder den größten Eindruck macht. Ob der furdht-
bar tragiiche Stoff nicht zu menschlich” mild behandelt ijt, mag dahingeſtellt jein.
Der Palm ift von einem Reiz des Wohlflangs und der Keufchheit, daß das müdeſte
Herz davon ergriffen wird. Für das bedeutendite der uns an diefem Abend gebotenen
Werke halte ich die Sinfonie. Sie ift fernig, voll Teuer im Gedanken, voll Geiſt in
der Durchführung, mit dem feinjten Klangfinn inftrumentirt, und dabei von einer
Natürlichkeit und Ungejuchtheit, die beneidenswerth find. Nichts ift zu lang, nichts
zu kurz, in dem Ganzen jtedt ein VBerwaltungstalent, eine Sicherheit des Aus—
druds, eine harmonische Beweglichkeit höchjter Art. Wenn ich jagen jollte, was
Bargiel’3 Geifte fehlt, jo iſt es die Teufeläfralle, der Reiz der Sünde und des Böfen.
Entweder hat jein inneres Leben feinen Verfuchungen zu widerjtehen gehabt, oder er
Hat es veritanden, mit fluger Hand alle wilden Zweige an jeinem Stamme abzu-
Tchneiden. Der Zauberfreis des Schumannismus, der für jo Viele zur lebensläng—
lichen Haft wurde, ihn gab er frei; feine beftridende Macht erlahmte an einem
Manne, der weile genug war, den Zeitpunkt feiner Erichöpfung zu erkennen. Nur
Hätte ihm von der träumerifchen Kraft jener Schule mehr bleiben können. Dan kann
einem Einfluß, den man nicht mehr für berechtigt oder heillam hält, zum Frommen
eigenen Geſtaltens entiagen, ohne ihm doch den gaftlichen Einipruch zu verwehren,
der einem alten Bündniß geziemt.
Herr &. Scharwenfa, ein ſehr beachtenäwerther Pianift, gab am 4. Der.
fein jährliches Concert. Die Berliner Schule, aus der er jtammt, ift unverkennbar.
Ste verleiht ihren Zöglingen große Glätte und Abrundung, aber fie zeritört leicht
die Individualität. Herr Scharwenfa ſpielt mit einer hoffnungsloſen Yeichtigfeit und
Sicherheit, die ein unbeichäftigtes Alter befürchten läßt. Mir fällt dabei immer ein,
wie der felige Taufig einem jungen Wirtuofen einft mit drolligem Ernſt zurief:
„Schämen Sie ih, in Ihrem Alter jchon jo rein zu vielen“, Die Beicheidenheit
und Einfachheit, welche Herrn Scharwenka's Vortrag auszeichnen, find unjchäßbare
Eigenichaften: er hüte fich jedoch fie zu übertreiben, weil fie leicht zur Nüchternbheit
rühren fünnen. Das ntereffanteite an einem KHünftler bleibt ewig der Menſch; wie
es Talich ift, ihm zu jehr in den Vordergrumd zu rücken, To ift es auch falich, ihn
ganz im Hintergrunde verichtwinden zu laffen. Herr Scharwenta iſt ein entichiedenes
Zalent. Gin ſolches wird durch eine unparteiiiche Kritik nicht veritimmt, Tondern
angeregt. Er lerne nur fich jelbit geben, dann wird feine wundervolle Technik noch
ganz andere Wirkungen erzielen. Auf einen £leinen Umftand erlaube ic) mir noch
ihn aufmerkſam zu machen. Er jpielt jehr oft mit der linken Sand zu ftarf gegen
die rechte. Selbft in Fällen, wo wie an einigen Punkten der Chopin'ſchen Fantaſie
die Bäfle marfirt gegeben werden müſſen, dürfen fie doch nie jo laut jein, daß man
10*
148 Deutiche Rundichau.
die Paflagen der rechten Hand nicht volllommen deutlich verfolgen fann. Zum Schluß
ein Wort über drei kleine Compofitionen des Goncertgeber?: Impromptu, Mazurka
und Menuett. Das Impromptu war für ein folches zu ausgeiponnen. Ein Im—
promptu ift da8 Gegentheil von etwas Verabredetem und Weberlegtem, muß aljo den
Charakter de& Unerwarteten tragen, kurz und pifant fein. Mazurken kann man nicht
mehr fchreiben. Entweder jchreibt man fie im Stile Chopin's, dann find fie eine
bloße Nahahmung, welche doch nie die Grazie und den Adel des Originals erreichen
wird, oder man jchreibt fie nicht im Stile Chopin’s, dann wird der Vergleich mit
ihm, der dieſes Genre geichaffen, nicht auszuhalten fein. Das Menuett ift ein jehr
hübfches, naive Stüd voll der vortrefflichiten Glaviereffecte, und wurde vom Gompo=
niften wahrhaft meifterhaft gejpielt.
Ernft Ed. Taubert gab im Hotel de Rome eine Matinde, in welcher er
vierhändige Glavierfachen, Lieder, ein Paar Stüde für Piano und ein begleitendes
Inſtrument, und ein Glavierquintett don feiner Gompofition vorführte. In allen
Merten, namentlich in den Liedern und vierhändigen Stüden, ſpricht ſich ein Talent
für charakteriftiiche Geftaltung aus. Die Lieder insbeſondere, obwol mehr inftru=
inental ala ftimmlich gedacht, find von wirklich poetifchem Reiz, und verdienten nicht
unbefannt zu bleiben. Das Quintett ift tüchtig und lebhaft concipirt und gelangt
auch in feinen beiden legten Säßen zu fünftlerifcher Abrundung. In den beiden erjten
ftreiten noch zu oft Wille und Vermögen. Wer wird aber von der Jugend Boll-
fommenbeit verlangen wollen. Es will immer jchon etwas bedeuten, ein Stüd von
jolhem Umfange zu fchreiben, welches vom erjten bis zum leßten Takt den Mufiler
intereffirt.
Unter allen Glavierfpielern, die fich in letzter Zeit hier hören ließen, nimmt
Oskar Raif, welcher nach längerem Schweigen in der Singafademie am 10. Dec.
ein Goncert gab, die erſte Stelle ein. Er ift ein Künftler, dem ich die größte Zulunft
prophezeie. Der Taufig’ihen Schule entiprofjen, vereinigt er fat alle großen Vorzüge
jenes in feiner Art einzigen Spielerd. Er hat Ruhe, Sicherheit, Klarheit, herrlichen
Anichlag und poetifchen Vortrag. Sein Ton ift groß, wo er groß jein ſoll; an
jeinem piano halten die Elfen Wacht. Ich habe jeit Tauſig's Tod nichts wieder
gehört, was Raif's chromatifcher Fantafie von Bach an die Seite zu ſetzen wäre.
63 war eine völlig vollendete Leiſtung, welche die vielfeitigen Aufgaben dieſes merk—
würdigen, alle Freiheit individueller Ungezwungenheit mit der höchiten Kunſt ver-
einigenden Wertes, mit einer Bieljeitigkeit des Talentes Löfte, die jelbjt den ſchwer
zu Beiriedigenden zu wahrer Bewunderung binreißen konnte. — In der Anordnung
des Programms waren zwei Heine Fehler begangen worden. Das zweite Notturno
des Goncertgeberd war für einen großen Saal zu intim und fein. Dergleichen
Fineffen darf man nicht dem großen PBublicum bieten. Als Schluß ded Concerts
hätte man einen jo außerordentlichen Pianiften gern in einem echten, glänzenden
Virtuoſenſtück gehört, 3. B. in einer ungarischen Rhapjodie Liszt’. Die vierhändigen
Walzer von feiner eigenen Gompofition, welche Raif am Schluß gab, gehören eben=-
falls nur in einen vertrauten Kreis. Es find feine, anmuthige VBerfionen diejes von
Schubert und Brahms erfundenen Genres, aber es ift ein natürlich berechtigtes, wenn
auch etwas triviale® Bedürfniß, nach jo viel guter, claffiicher Muſik auch etwas den
Glavieripieler als Birtuofen zur Geltung Bringendes zu hören. Hoffentlich gibt Raif
noch ein zweites Concert. Spieler von jolcher Bedeutung find überall jelten, am
jeltenjten aber in Berlin, wo das öde Abrichten und die bodenlofe Arroganz von
Leuten, die gar nichts können, das Publicum in der traurigiten Weiſe verwirrt.
Der Eichberg'ſche Gelangverein hat ſich um die Aufführung dev Legende
der h. Elifabeth von Liszt verdient gemadt. Man mag an dem Werte tadeln,
was man will, Ungleichheit des Stils, Unruhe und Affection, die poetiiche Grund—
ftimmung wird man gelten lafjen müffen. Alte Liturgifche Motive find darin mit
großem Geſchick benußt worden, und in ihrer Benutzung liegt mindejtens eben jo viel
Geift wie in ihrer Erfindung. Die Wagner’iche Methode, den Hörer durch beftimmte
Mufikaliiches aus Berlin. 149
Motive über feine Abfichten zu orientiren, aber auch feine Maßlofigkeit in der An—
wendung diejes an fich zuläffigen Ausdrudsmittels, iſt unverkennbar copirt. Ein—
zelne Nummern des Werkes, 3. B. die leider zu weit ausgejponnene Einleitung, der
Chor der Finder, dad Roſenwunder, der Kreuzfahrermarſch, der Chor der Armen
und der Kirchenchor am Schluß find bei allen Einwänden, die man im Einzelnen
auch machen dürfte, doch Eingebungen eines Poeten. Wunderbar ift das fatholijch-
möftiiche Element behandelt. Wenn „Wein und Brod“ fich zu „Rofen“ wandeln,
To könnte man vielleicht das Gefühl haben, daß das Unbegreifliche hier gethan wird.
Aber man weiß nicht, iſt was Hier geboten wird das echte, unverjäljchte Gold
wirklichen Glaubens an die Kraft des Wunders, oder ijt ed nur das Agio, welches
ein bis an die Grenzen de Wunders geführtes Emotionsbedürfniß abwirft. Liszt ijt
eine jener complicirten Naturen, in denen Intuition und Berechnung fich fortwährend
berühren. Er hat Momente der reinften Natürlichkeit, jo in dem Kinder und
Kirchenchor, von denen ich ſprach. Aber jchon im nächiten Augenblid kann eine
babyloniſche Berwirrung aller mufifalifchen Ausdrudsmittel eintreten. Er jchlägt
wie ein tanzender Faun in die Beden, die Partitur wird zum Bacchanal, Alles tobt,
Lärmt, wüthet, eine Art geiftiger Epilepfie bemächtigt ſich des Orcheſters. Ich
möchte von der h. Elifabeth jagen, was fich von den meilten GCompofitionen Liszt's
Tagen läßt: fie ift da3 Product eines geiftreichen Mannes, welcher mit einem Ueber-
ſchuß von poetifchen Jdeen und einem Deficit an baaren Mitteln an ein Unter-
nehmen geht, welches den Charakter einer Speculation nie ganz verläugnen, eben
deshalb aber auch nie unintereffant fein wird. — Die Ausführung hatte mit erficht-
Lihen Schwierigkeiten zu kämpfen. Fräulein Breidenftein hat die Rolle der Elifabeth
recht tüchtig gefungen. Dem fühnen Unternehmer jagen wir unjern Dante.
Fräulein Minnie Hauf hat den großen Ruf, der ihr aus Wien voranging,
in ihrem Gaftipiel an der K. Oper vollauf bewährt. Sie fang die „Mignon“,
„Margarethe“, „Rofine“ und „Zerline“. Stimme und Geſangskunſt find gleich
vortreiflich, auch das Darftellungstalent nicht gewöhnlicher Art. Es wäre jehr zu
wünjchen, daß man das veich begabte, junge Mädchen hier engagirte, um einige
Rollen aus dem Repertoire der Lucca endlich wieder ebenbürtig zu bejegen. Die
Verhandlungen darüber ſollen noch jchweben.
Zum Schluß meines Berichtes komme ich auf die wiederholte Aufführung des
Händel’ichen Herakles durch die K. Hochichule unter Joachim’ Leitung. Chry-
fander, der geijtvolle und fenntnißreiche Biograph Händel's hat dem Textbuch einige
Mittheilungen vorangeſchickt, welche in einem Theil der Berliner Prefje viel Staub
aufgewirbelt haben. Das einzig Anfechtbare in der, ſonſt nur Hijtoriiche Notizen
enthaltenden, Einleitung ſcheint mir der einem begeifterten Biographen leicht zu
verzeihende Vorwurf zu fein, daß er in den großen Mann, deflen Leben er bejchrieb,
Dinge bineingeheimnißt Hat, die vor einer nüchternen Beurtheilung wol jchwerlich
bejtehen dürften. Die Chöre im „Herakles“ als den veinften Ausdrud des Griechen-
thums und den Schlußchor im „Saul“ als die geichichtliche Geftaltung des Juden—
thums zu bezeichnen, beruht natürlich in einer weientlich perjönlichen Entſcheidung.
Ich habe bei aller Neigung einem jo feinen Kopfe nachzudenken, in den einen nichts
Sriechiiches, in dem andern nichts Iſraelitiſches auffinden können. Es ift in beiden
unverfennbar Händel'ſche Muſik, im Charakter aber nicht greifbar verfchieden. Der
Stoff im „Herakles“ ift troß Sophofles, der ihn in den Trachinierinnen behandelt,
troß Gervinus, der ihn aus dem Engliichen des Thomas Broughton überfegt, und
troß Chryſander, der ihn Lobt, doch nur ein bedingt glücdlicher zu nennen. in
Drama, und ein folches will dev „Herafles“ doch fein, bedarf eines tragiichen Gon-
fliets, und zwar eines Gonflict3, den wir in feinen Urfachen und feiner Wirkung
verſtehen. Was unfere zufällige Kenntniß der Sage hiebei jubjtituirt, ift ganz gleich-
gültig. Vom Dichter verlange ich eine volltommen Elare Sachlage der Dinge.
In dem Broughton’schen Buch erfahre ich aber weder den Grund der Eiferjucht
Deianirend — denn daß der fiegreiche Alkide die Tochter des erjchlagenen Königs
150 Deutiche Rundſchau.
Eurytos mit fi führt, ift noch fein Grund dazu — noch die Umftände, welche fie
in den Beſitz des Neſſuskleides gebracht haben, wo dieſe Umftände doch jo charaf-
teriftiich find. Wir haben e8 alſo mit einer unbegreiflichden Eiferfucht und einem
noch unbegreiflicheren Mittel, fie zu heilen, zu thun, und wenn daſſelbe fehlichlägt,
jo fann unfere Ironie dabei wol betheiligt fein, nicht aber unfer Mitleid. Die
Schlußwendung könnte in feinem Märchen gewaltiamer erfunden fein. Der Priefter
des Zeus verfündet ala echter Deus ex machina die Rettung des unfterblichen Theile
des Helden, und legt die Hand Jolens, der Tochter des erichlagenen Fürften, in die
des Sohnes Herafles’.
Die Händel’Iche Partitur gehört, wenn man von dem jtarren Formalismus
abfieht, der all’ jeinen Werfen eigen ift, zu dem Schönften, was im Oratorienftil
geichrieben. Einige Chöre, 3. B. der Schlußchor des erften Theil „Krönt den Tag
mit Feſtesglanz“, der Eiferfucht- und der Liebeschor („Holder Gott der Liebesgluth “ )
im zweiten, vor Allem aber der Chor im lebten Act „Der Menjchheit Rächer ſank
dahin“, reihen fich dem GErhabenften an, was Händel'ſche Kunſt gefchaffen. Auch
den recitativiich gehaltenen Stüden, namentlich der großen Scene der Deianira, wo
fie die Geftirne anruft ihre Schmac zu deden, ift der volle Schimmer feines Geijtes
verliehen.
Die Ausführung in den Händen des jung gebildeten Chors der Hochſchule,
der Damen Yoahim, Amann, Schulgen:Ajten, der Herren Henſchel, Otto und
Xiebert, war eine ihres Führers Joachim würdige. ine befondere freude er-
weckten die Leiftungen des Streichorchefters, welches bejonders in den Heinen inſtru—
mentalen Intermezzis durch Volumen und Adel des Vortrags imponirte.
Louis Ehlert.
Wiener Chronik.
Spern und Goncerte.
Wien, Mitte December 1874.
Don Berlin fommt uns, was derzeit den Mittelpunkt des theatralifchen Inter:
efſes in Wien bildet: Pauline Lucca. Als Wiener Kind, das feine Anfänge im
Kärntnerthor » Theater gemacht, übt die jeither fo berühmt gewordene Sängerin eine
Doppelte Anziehungskraft auf unſer Publicum. Ich bewahre ala Curiofität eine alte
Freiſchütz-Kritik vom Jahre 1858, welche mit der beicheidenen Interpellation jchließt,
ob denn die Direction unſeres Hofoperntheaters nicht verjuchen möchte, die jtimm-
begabte und anmuthige Sängerin des Jungfernkranzes, Frl. Yucca, einmal mit einer
etwas größeren Partie zu betrauen? Meine Intervellation blieb damals ebenjo uns
beachtet, wie da3 flehentliche Bitten der jungen Sängerin, deren Stimme dem da=
maligen Director nicht ſtark genug erichien. rl. Lucca, damals eine Anfängerin in
arg bedrängten Familienverhältnifjen, wäre für eine Gage von jechshundert Gulden
am Hofoperntheater geblieben; man wollte fie nicht, und jo nahm fie denn ein En-
gagement in Olmüß an, um gleich darauf nah Prag zu avanciren. Hier machte
Pauline Lucca — vor wenigen Monaten noch Brautjungfer im „Freiſchütz“ und
zweiter Genius in der „Zauberflöte — Furore ald Norma und wurde fofort von
Hrn. v. Hülfen, der ihretwegen nach Prag gereift war, als Primadonna für die
Berliner Hofoper gewonnen. Es ift nicht das erſte Talent, welches diefer Intendant
aus dem Dunkel hervorgezogen und ung weggefiſcht hat; hegt er doch die richtige
Meberzeugung, daß der Director einer großen Opernbühne ebenfoviel Zeit im Eiſen—
bahnwaggon ala am Schreibtifch zubringen müſſe. Wie fich die Lucca hierauf, haupt—
fächlich unter Meyerbeer’s künftlerifcher Anleitung, vervolltommnet und fich das um—
Tangreichjte Repertoire geichaffen hat, über das heutzutage eine deutiche Sängerin ver=
fügt, das wiſſen Sie in Berlin am beiten. — Frau Yucca hat hier als Gaft in der
Komiſchen Oper je zweimal in fünf Opern gejungen und fchließlich zu ihrem
Benefice noch in einem Potpourri. Ein einziges Licht vermag einen großen, finftern
Raum hell und freundlich zu machen. So wirkte die Lucca als vereinzelte drama—
tifche Kraft in der Komiſchen Oper, zog das Publicum ſchaarenweis in dieſe halb—
veröbeten Räume und hielt es feſt von der erſten bis zur legten Rolle. Am wenigjten
gefiel die Künjtlerin in den zwei Mozart'ſchen Rollen, Zerline und Gherubin;
jei es, daß die einjache, getragene Gantilene Mozart's ihrer Geſangsweiſe weniger zu—
fagt, ſei e&, daß fie und das Wiener Tublicum einander noch gar zu fremd waren.
Zerline im „Don Juan“ ift eine Gpifodenrolle, mehr auf feines Detail als auf
ichlagende Wirkung berechnet und darum felten günftig für eine erjte Gaſtrolle. Doc)
verrieth Frau Lucca ſchon in der erften Scene die geniale, dramatische Künitlerin,
die, unbefümmert um bloß Gonventionelles, jede Rolle aus ſich herausſchafft. Ein
fräitiger Realismus beherrichte die ganze Leiftung, welche vom dramatiſchen Gefichtz-
punkt allerdings bedeutender war, ala vom muſikaliſchen. Die piychologijche Fein—
beit, mit welcher fie in dem eriten Duett mit Don Juan den Uebergang vom
Miderftreben zur Bereitwilligkeit, ihm zu folgen, zeichnete, war bewunderungswürdig.
Man eriwäge nur, wie wenig Zeit Mozart feiner Zerline dazu gönnt! Offenbar im
Intereſſe dieſes Details nahm Frau Lucca das Tempo ziemlich langiam, wie fie
denn überhaupt das Zeitmaß und den Rhythmus etwas frei behandelt. Die „Erite
Brautjungfer“ von ehedem iſt uns in ihrer anmuthigen Perjönlichkeit faſt under:
152 Deutſche Rundichau.
ändert erichienen; die Stimme hat zwar den einjtigen jugendlichen Schmelz, aber
nicht die Kraft und Fülle eingebüßt. Auch: der Page in „Figaro's Hochzeit“ Hatte
manches geijtreiche Detail, bei confequent durchgeführtem Charakter. Vielleicht war
es gerade der Verzicht auf manchen äußeren Effect, was diefen Cherubin effectlos er-
Icheinen ließ. Man mochte von der Lucca bier einen Ausbund don Muthwillen er:
wartet haben und war überdies durch die landesübliche Eofette Ungezogenheit, mit
welcher der Page am Hofoperntheater gejpielt wird, beeinflußt. Vom Gherubin an
ftiegen die Leiftungen der Yucca umd ihr Erfolg ftetig von Rolle zu Rolle. Wer fie
ala Frau Fluth in den „Luſtigen Weibern von Windfor” gehört, der fennt ihr Ta-
lent vielleicht von der eigenthümlichiten, anmuthigften Seite. Dieſe Frau Yluth it
im Grunde recht unbedeutend, dramatifch wie muſikaliſch. Welches Leben ein geniales
Naturell einer jolchen Rolle einzuftrömen vermag, und durch diefe Rolle dem ganzen
Stüd, das zeigte und Frau Lucca. Sie hat einen Reichthum von neuen Zügen hin-
eingelegt oder herauserfunden; Alles kommt aber jo ungejucht und jelbjtverjtändlich,
als könnte das gar nicht anders gejpielt werden. Das ift der Segen der Urſprüng—
lichkeit, des erfinderiichen Talentes in einer ftarfen Natur, die ihren ficheren künſt—
leriichen Inſtinct gewähren laffen darf. In der volllommenen Natürlichkeit der Rede,
die felbft den Anstrich des Nachläffigen, Hausbadenen nicht jcheut, wo er Hingehört,
in der ganz eigenartigen Verfcehmelzung von kindlichem und herbem Ausdrud,
erinnert Frau Yucca an Hedwig Raabe. Aber auch der Gatte diefer unvergeklichen
Margarethe in den „Hageftolzen“ fam uns in den Sinn, denn nur bei Niemann
haben wir jenes vollendete Durchdringen von Wort und Ton im Gejange wahrge-
nommen, dad dem Vortrag der Yucca den ausgeprägt dramatiichen Gharalter ver-
leiht. Wie offenbarte fich diefe Kunſt in der Betonung, mit welcher fie im 1. Duett
Falſtaff's Brief vorlieft! Mit dem Aufzählen von Details wirde ich faum fertig
werden und dem Leſer doch feine deutliche Vorjtellung von dem verichaffen, was, an
ih unfcheinbar, doch an rechter Stelle jo unvergleichlich trifft. Soll ich erzählen,
wie drollig Frau Lucca im 2. Act ihre Stiderei handhabt, mit rajchen, rieſenhaften
Stichen, wie fie nur der Zorn führt? Oder von dem ironifchen Liebesbefenntnik, das
fie für Falſtaff's Beſuch fich einjtudirt ? Oder endlich von ihrer Meiſterſchaft im Lachen
und Weinen, das grundverichieden von den üblichen TIheaterlauten mit voller Natur:
gewalt wirkt? Lauter Eöftliche Einzelheiten, aber auch mehr als bloße Einzelheiten.
Sie waren organisch zufammengehalten durch den einheitlichen Charakter dieſer rejo-
luten, bei aller Ehrbarfeit luftigen Frau Fluth. So ſtark auch die Rolle angefaht
war, mahnte fie doch nirgends an Koketterie oder jelbjtgefällige Naivetät, die hier jo
nahe liegt. Im Gegentheil hatte die Frau Fluth der Lucca einen Ton von Wahr-
beit, dejlengleichen man höchſt jelten in der Oper hört. Gemüth kann man in diejer
Rolle nicht zeigen und deshalb wol hatte die Künjtlerin ein jentimentales® Bäntel-
Lied von Gumbert (dem Berliner Proc) eingelegt, das troß jeiner Banalität
nicht vergeblih an die Gemüthlichfeit des Hörers appellirte. Frau Yucca jang es
mit fo inniger, voll auaftrömender Empfindung, daß kaum Jemand davon unge:
rührt blieb. Im engeren Kreiſe, am Glavier, wäre diefe Art ein Lied vorzutragen,
jedenfall viel zu nachdrüdlich, zu dramatijch; aber es ijt ein Unterjchied, wo und in
welcher Umgebung man ein Stüd vorträgt. Auf der Bühne, in einen, wenn auch
noch jo Loderen dramatiichen Zufammenhang verlegt, hat diefe Vortragsweiſe nichts
Anſtößiges; pflegt doch auch das Gzarenlied in Lortzing's Oper u. dgl. mit breiterem,
fräftigerem Pinſel gemalt zu werden, als ein Strophenlied jonjt verträgt. Mit diejer
Rolle hatte die Lucca unſer Publicum vollftändig gewonnen. Es folgte Zerline im
„Fra Diavolo“ unter allgemeinem Beifall. Man war bald inne geworden, daß von
diefem naturtvüchfigen, echten Talent immer etwas Gigenthümliches zu erwarten jei,
daß die Yucca es gewiß zum Mindeften „ander® machen“ werde ald Andere; das
reizt den Antheil jelbjt des blafirten, Opernbefuchers und läßt die Neugierde nicht
ruhen. Mitunter verleitet die fich bewußte Originalität auch zu irgend einem Wag-
niß, dad und mehr intereifirt als befriedigt. Dahin gehört die aparte Auffaffung
Wiener Chronif. 153
der „ira Diavolo*-Romanze, deren übermüthiges Detail im Vortrag der Yucca den
Schwerpunkt des Ganzen willkürlich verrüdt. Mit diefer einzigen Ausnahme, welche
übrigens den Reiz der Neuheit und ein vollitändiges Gelingen für fich hatte, war die
Zerline in „Fra Diavolo“ mufterhaft, eine Figur von erquidender Friſche und
Liebenswürdigkeit. Ebenjo wahr und charafteriftiich wie da8 Bauernmädchen aus den
Abruzzen fpielte die Lucca dad vornehme Edelfräulein im „Schwarzen Domino“.
Der feine, ruhige Anjtand, mit dem fie anfangs auf dem Hoiball fich bewegt, blidt
noch aus der Verkleidung im zweiten Act und findet jchließlic in der Maske der
„alten“ Webtiffin eigentlich nur feine tiefere Dctave. Bei dem Vortrag der Arago-
naije vermißten wir ungern die Gaftagnetten in den Händen Angela’s; fie verſchönern
dad Bild und gewähren überdies einen heilfamen rhythmiſchen Zügel. Frau Yucca
lang das Lied mit großer finnlicher Yebendigfeit, aber etwas zu raſch und ſtellen—
weife jchleudernd. In der erzählenden Arie des dritten Acts glänzte die Sängerin
durch überrafchend reich nuancirten Ausdrud bei volllommener Deutlichkeit der Aus—
iprache. Letztere bietet hier Schwierigkeiten, über welche ſelbſt Sängerinnen von
achtbarſter Zungenfertigfeit jtraucheln. Wie leicht Lifpelt fi im Original: „Sous
un sombre portail soudain je me blottis‘ — und wie entjeglich hart im Deutjchen :
„Mich barg vor der beraufchten Zahl ein finitere® Portal!” Den Vers: „Soudain
jentends de lourds fusils au loin retentissants, et puis: Qui vive?“ fingt man
deutich in folgender Nußknackerei: „Wer trabt jo jchwer mit Mordgewehr von fern
die Straße Her und ruft: Wer da?“ Und das Alles in Jchnellen Achtelnoten und
Serteniprüngen! — Durch die Lucca ift ohne frage ein neues lebhaftes Intereſſe,
ein wohlthätiger Impuls in unſer Opernivejen gefommen. Es ift nicht der Zauber-
Hang einer ungewöhnlich ſüßen Stimme, nicht eine vollendete Geſangsbravour wie
die der Patti oder Artöt, wodurch Pauline Lucca uns feflelt: ihre Stärke liegt
in dem großen und urjprünglichen dramatiichen Talent, das jede ihrer Leiſtungen
leuchtend durchzieht. Sie ift eminent dramatiiche Sängerin, iſt e8 mitunter aud)
da, wo fie eö nicht jein jollte: im Liedervortrag. Die dramatifche Anfchaulichkeit
und der leidenschaftliche Nachdrud, womit fie in einem Goncert Mozart’3 „Beilchen“
vortrug, bewies das. Wer fie theilweife entichuldigt, ift freilich Mozart jelbit, der
in jeiner an's Iheatralifche grenzenden Auffaffung des einfachen Gedichtes (des ein-
jigen Goethe-Tertes, den er componirt hat) der Sängerin den faljchen Weg bahnte.
Das klingt, al wenn nicht ein Veilchen, jondern die junge Schäferin ſelbſt zertreten
worden wäre. rau Lucca hat ihr Gaftjpiel in der „Komiſchen Oper“ beendet und
wird demnächſt drei Rollen im SHofoperntheater fingen (Margarethe, Mignon, die
Afrikanerin); davon foll Ihnen mein nächjter Brief erzählen.
Gehen wir zu den Goncerten über. Als hervorragendite Mufilproduction der
legten Woche ift die Aufführung von Beethoven's „Feſtmeſſe in D“ durch die
Geiellichaft der Mufikfreunde zu nennen. Ueber diefe gigantifche Schöpfung mit ihren
erhabenen Schönheiten, tieffinnigen Intentionen und echt Beethoven’schen Gewalt-
ſamkeiten iſt hinreichend viel gejchrieben. Gin einziges Moment von Wichtigkeit
haben wir diesmal beizufügen. Der letzte Saß (Dona nobis pacem), wol der ge
nialfte von allen, ijt jet durch Brahms vielleicht zum erſten Mal ganz richtig
aufgeführt worden. Im neunundzwanzigiten Tact vom Ende (S. 296 der B. Schott’-
ſchen Partitur) und weiter ließ man die Pauke conſequent das A ſchlagen, offenbar
in der irrigen Meinung, die anfangs in B-F jtehenden Paufen müßten in dem D-dur-
Sa nah D-A umftimmen, und dad B in den leßten neunundzwanzig Tacten der
Meſſe jei ein Drudfehler für A. Nun jteht am GEingange des Agnus „Tympani in
B-F*, und diefe Bezeichnung ift im ganzen Berlauf des Stüdes nirgends aufge
hoben oder verändert; das B auf ©. 296 ff. bedeutet alfo feinen Drudiehler. Iſt
ed micht wunderlich, wie ein jo erheblicher Irrthum fih Jahrzehnte Hindurch fort—
ſchleppen und ſelbſt von Muſikern wie Nottebohm und Julius Stern adoptirt werden
fann, in deren Glavier-Arrangements der D-Meſſe ſich im Baſſe das falſche A.
findet? Brahms hat nun den Urtert bergeitellt, wenn diefer Ausdrud zuläffig ift,
154 Deutiche Rundichau.
wo blos richtig gelefen und geipielt zu werden braucht, was in der Partitur jteht.
Die Kühnheit, mit welcher das B .der Paufe eintritt und das Fundament der jol-
genden Accorde bildet, ift von großartiger Wirkung. Brahms Hat fie noch gehoben,
indem er das B der Paufe durch pizzifirende Gontrabäfle verftärft. Hoffentlich wird
jein Vorgang fernerhin mujtergültig bleiben. —
Durch die gelungene Aufführung diefer jchwierigen Tondichtung hat ſich Brahms
als Dirigent ein neues Verdienft erivorben; mit ihm theilten fich die Sängerinnen und
Sänger der Soloparthien, Frau Wilt, Frau Gomperz:Bettelheim, die Herren
Walter und Rokitansky in die Ehren des Tages. Der Singverein und das
Orcheſter arbeiteten unerjchütterlich; im Chor verdient die Tapferkeit der „jangbaren
Frauen” (um einen Ausdruck Gottfried Keller’ zu adoptiren) eigens gerühmt zu werben.
Ein gut bejuchtes Concert gab die von R. Weinmwurm dirigirte „Sing>
atademie” im Heinen Mufitvereinsfaal. Es wurde mit einer vierftimmigen Hymne
(D-moll „Gantate Domino“) von W. Friedemann Bach eröffnet, welche bisher
ungedrudt und im Beſitz der Wiener Hofbibliothef, von Herrn Weinwurm der Ber
gefienheit entzogen wurde. Friedemann Bach, der ältelte Sohn Sebajtian’s, war
zugleich derjenige, auf deijen Gompofitionstalent der Vater die größten Hoffnungen
baute. Bekanntlich find die Keime diejer genialen Begabung in dem Sturm eines
wüſten, leidenjchaftlich zerwühlten Yebens frühzeitig untergegangen. Nur jehr wenige
Gompofitionen von Friedemann Bach wurden veröffentlicht, darunter ein Heft Polo»
naifen für Glavier, deren melodiöfer freier Styl und fühne Modulation und ganz
modern anmuthet, an manchen Stellen faft wie eine Vorahnung Beethoven's. Das
fönnen wir von feiner „Hymne“ nicht jagen; fie erreicht weder die jtrenge Größe
und polyphone Kunjt feines Vaters, noch die reizvolle Lebendigkeit der Neueren. Das
Stüf klingt eben wie die Arbeit, vielleicht Gelegenheitdarbeit, eine routinirten
Muſikers. Ein gemifchter Chor von Carl Loewe („Bald wenn die Biene“, aus
op. 81) beitätigte abermald die leidige Erfahrung, daß diefer geiftvolle, in feiner
Specialität einzige Balladencomponijt ein jehr alltäglicher Erfinder wird, jobald er
den Boden der Ballade verläßt. Der Chor ift unbedeutend und aopfig, dabei
ganz fehlerhaft deflamirt. Ebenjowenig dankbar fünnen wir uns für die Wiederauf-
mwärmung von Spohr’8 „Vater Unſer“ erweiien. Die ermattende Weichheit und
Süßigkeit diefer breit ausgedehnten Gompofition findet im Original hin und wieder
in der Injtrumentirung ein wohlthuendes Gegengewicht; bei Glavierbegleitung iſt
diejes „Vater Unſer“ — „humanamente parlando“, wie Pius IX. jagt — eine jehr
langweilige Beicheerung.
Die „Philharmoniker“ (unter dem Dirigenten Deſſoff) und die „Gejellichafts-
eoncerte“ (unter 9. Brahms) braten endlich auch etwas Neues zu Gehör.
„Und immer cireulirt ein neues Frisches Blut!” Unſere Goncert-Dirigenten ſeufzen
längſt ungläubig, citirt man ihnen das Wort Mephifto’s, das jo gar nicht pafjen
will auf die mufifalifche Productivität unferer Zeit. Mit welcher, meijt jchlecht ge
fohnten Mühe die Theater-Directoren nach guten neuen Opern juchen, ift befannt.
Aber im Concertiaale jtehen die Dinge nicht viel beſſer. Wir werden bald gar feine
Novitäten mehr haben und lediglich auf das Repertoire de „Bewährten“ angewieſen
fein — jo hören wir die Leiter unferer großen Orcheſter-Concerte feit Jahren klagen.
Faft find die wenigen Orchejterfachen von Brahms und Volfmann das einzige
in diefem Fach Hervorragende aus neueſter Zeit. Brahms iſt jeit zwanzig, Volf-
mann feit dreißig Jahren thätig — wo bleibt der Nachwuchs? Mo circulirt ein
neues friſches Blut? Das find trübe, umwölkte Ausfichten, aber fie machen jeden
unerwartet durchbrechenden Yichtftrahl doppelt willlommen. Mit aufrichtiger Freude
begrüßen wir jeden Neuen, der mit einer Oxcheiter-Gompofition entjchieden durch-
dringt und eine fruchtbare Zukunft verjpricht. Dies ift der Fall mit Herm
Robert Fuchs, ehemaligem Zögling des Wiener Conjervatoriums und Gomponiften
der im Philharmoniſchen Goncert aufgeführten „Serenade für Streichorcheiter‘. Das
Werk verräth ein echtes, anmuthiges, muſikaliſch geſundes Talent. Es befteht aus
Wiener Chronit. 155
fünf ziemlich knappen, ſchön abgerundeten Säten und bewegt fich auf jenem mittleren
Niveau zarter, Treundlicher Empfindung, das dem Serenadenftyl entipricht. Bedeu—
tend, im Sinne eines ungewöhnlichen Gedankengehaltes oder einer imponirenden
Meifterichaft fann man die Novität nicht nennen; doch ſchätzen wir fie in ihrer maß—
voll harmonifchen Beichränftung höher als jo viele Erftlingsproducte, die um jeden
Preis nur „bedeutend“ fein wollen. Weder durch vergiitete Rhythmik, noch durch
jweiichneidige Harmonie jucht Fuchs ala Geiftreicher zu fofettiren; auch macht er feine
Miene, Beethoven nachfliegen zu wollen, höchftens Volkmann's reizenden Sere-
naden. Die Gompofition fließt in Einem Zuge ohne bizarre Seitenjprünge dahin
und ift intereffant, ohne aus dem Intereſſantſein ein Gejchäft zu machen. Seder der
fünf Sätze jpriht warm und natürlich aus, was gejagt werden jollte, und jchließt,
jobald der Componiſt nichts mehr zu jagen hat. Fuchs ahmt feinem andern Com—
poniſten nach und hat doch offenbar von allen gelernt. Von den einzelnen Sätzen gefiel
am meiften der erfte, ein jehr melodiöfes, zwiichen Laune und Empfindung jchweben-
des Andante, dann das Allegro scherzando in B, in feiner Fyröhlichkeit und leichten
Contrapunktik eine Art modernifirter Haydn. In Verhältniß zu den früheren Sätzen
icheint mir nur das Finale zu weit außgefponnen. Der Erfolg mochte wol die
Erwartungen des bejcheidenen Componiften übertreffen, den hervorzurufen das Publi—
cum nicht müde wurde. Es ift zu wünſchen, daß diejes jchön aufftrebende Talent
in möglichjt ungehemmter Schaffenaluft erhalten und durch irgend eine geficherte
Stellung über die gemeine Noth des Lebens gehoben würde. Die übrigen Nummern
des eriten Philharmoniſchen Goncert3 waren Mendelsſohn's Melufina-Duvertüre,
Shumann’s Dupvertüre zur „Braut von Meſſina“, endlih Beethoven’s
B-dur-Symphonie. Gapellmeifter Deſſoff wurde demonjtrativ mit anhaltendem
Applaus begrüßt; war es doch befannt geworden, daß diefer Goncert-Eyflus leider
der lebte ift, welchen Herr Defloff vor feinem Abgang nach Karlsruhe Hier dirigirt.
Mit aufrichtigem, lebhafteſtem Bedauern jehen wir Defloff von Wien fcheiden, wo er
ala Goncertdirigent, als Opern:Gapellmeifter, ala Lehrer, endlich als Zierde der
beiten Gejellichaftäfreife jchmerzlich vermißt werden wird.
Das erite Abonnements:Goncert der Geſellſchaft der Muſikfreunde be-
gann mit einer Ouvertüre von Rubinftein zu „Dimitri Donskoi“. Die Oper
jelbft ift uns unbefannt, die Ouvertüre hätte e8 immerhin auch bleiben können. Die
Einleitung, ein düſter brütendes Adagio, jcheint mit ihren ligirten Achtelfiguren
etwas Bedeutendes anzukündigen, beinahe etwas ganz bejtimmt Bedeutendes, nämlich
die „Egmont“-Ouvertüre; allein das mehr an Mendelsjohn erinnernde G-moll-Allegro
in Sechöviertel-Tact enttäufcht uns, es iſt jehr breit, aber nichts weniger als tief.
Der Gomponift ftredt und müht fich in jeder Weife, doch will ihm abfolut nichts
Rechtes einfallen. Viel erfreulicher wirkte eine bejcheidene Novität von 3. Brahms,
eigentlich ein Iyriiches Kleeblatt: drei Lieder für gemilchten Chor (aus Op. 62).
Dan kennt die schlichte Herzlichkeit des Ausdrucks, den Elangvollen Vocalfaß, den
an's Volkslied anklingenden, mitunter etwas alterthümelnden Ton, wodurch die
Ghorlieder von Brahms fich auszeichnen. Für das jchönfte von den dreien erachten
wir: „Dein Herzlein mild“ (aus Paul Heyſe's Jungbrunnen); in der „Waldes-
nacht“ ift der Auffchwung in die Octave bei dem Ausruf: „DO wie ift Dein Rauchen
ſüß!“ ein fchöner und wahrer Zug. Nicht in gleichem Maße befriedigt das Liebes—
(id „Spazieren wollt’ ich veiten“, deſſen Refrain „Trab, trab“ fich in jo Hoher
Sage nicht gut ausnimmt; ein Chor von Sopranftimmen erjchnappt nur jchwer und
Ipikig das kurz anzufchlagende hohe A in diejer Figur. Nachdem fi) Brahms in
dem Concert als Dirigent und Tondichter hervorgethan, glänzte er überdies noch ala
Pianift mit dem Vortrag von Beethoven’8 Es-dur-Goncert. „Glänzen“ ift eigentlich
nicht das rechte Wort, denn wenn feinem edlen, gediegenen mufifalifchen Vortrag
Eines abgeht, jo iſt e8 eben der Glanz, jene jelbjtbewußte und jelbitzufriedene
Kühnheit, mit der wir gerade den Goncertipieler gerne fröhlich dahinſprengen ſehen.
Brahms' finnige, mehr nach Innen gefehrte Natur meidet Alles, was an blos äußer—
156 Deutihe Rundſchau.
lichen Effect, an BirtuojentHum mahnen könnte, und geht in diefer Prunklofigkeit
meilt etwas zu weit. Ungemein jchön jpielt er das Adagio; in den Allegrofägen
vermißten wir die kräftige Entjchiedenheit der Bälle und den brillanten Schliff der
Pafjagen. Brahms will immer nur die Gompofition für fich jprechen laſſen umd
drängt den Spieler allzu befcheiden zurüd. Den Schluß machte Berlioz' Sym—
phonie „Childe Harold”, die wir vor einigen Jahren unter Herbed’3 Direction gehört.
Ueberall und jederzeit hat von den vier Sätzen dieſes Tongemäldes, welches halb
Symphonie, halb PViola-Concert, Halb Oper ohne Worte ift, nur der „Pilgermarich“
lebhaften Anklang gefunden. Eines der geiftreichiten, zugleich klarſten und abge
rundetiten Stüde von Berlioz, feffelt der Pilgermarjch insbejondere durch ſeine rei:
zenden Klangeffecte; da läßt man fich auch die jonderbare Rolle der Solo-Bratiche,
welche die Perſon des Harold daritellen ſoll, gefallen. Dagegen wird eine ganze
lange Symphonie hindurch dieſes unerjättliche, aufdringlihe Monopolifiren der
Bratiche überaus läftig, eine wahre mufilaliiche Arroganz. Berlioz erzählt in
feinen Memoiren, daß der Wunſch Paganini’s, Berliog möchte für ihn ein Viola-
Goncert componiren, die erfte Anregung gab. Paganini erjchraf aber bei dem Anblid
der vielen Pauſen in der Violaftimme, er wollte ald Virtuoſe nicht jo lange jchwei-
gen. So führte denn Berliog, ohne weitere Rüdfiht auf Paganini, feine Symphonie
aus, deren Titel: „Childe Harold en Italie‘ an das Gedicht Byron's anipielen
follte, während ihr Inhalt die italienifchen Reife-Cindrüde des Componiſten jelbit
illuftrirte. Wie in der „Phantajtiichen Symphonie“, jollte auch Hier Ein Haupt:
thema (die erſte Melodie der Solo-Bratiche) fich durch das Ganze wiederholen, nur
mit dem Unterfchiede, daß dort die „double id6e fixe” in ganz fremdartigen Scenen
als unerwarteter Gegenjag auftaucht, während hier der Geſang Harold's fich zwar
dem Orcheiter überordnet, aber einträchtig mit dielem fortgeht, ohne die Entwidelung
zu unterbrechen. Ich weiß nicht, wie es Anderen ergeht mit diefer Symphonie, mit
ericheint fie mit jeder neuen Aufführung düritiger, gefünftelter, unmuſikaliſcher, in
ihrer melodiſchen Armut geradezu bemitleidenswerthd. Als Berlioz im Jahre 1846
mit einer langen Reihe glängzender Goncerte fi in Prag und Wien einführte, da
fam jeine Mufif wie ein feuriges Meteor über und. Sie war etwas jo Ungeahntes,
Blendendes, von allem Gehörten jo ganz Verichiedenes, daß fie den wehrlos ſtau—
nenden Hörer geradezu niederzwang; die Einen zu ſchrankenloſer Huldigung, zu
tödtlihem Haß die Andern. Niemand blieb gleichgiltig, Niemand neutral. Nur
eine ganz ungewöhnliche Perjönlichkeit fonnte jo wirken. Wuch das leßte Kennzeichen
einer bedeutenden Kunftericheinung blieb nicht aus: daß fie zu Principienfragen Anlaß
gibt. Die tiefften Gontroverfen der Zonkunft, die Frage nach Form und Inhalt
derjelben, nach den Grenzen ihres Neiches, nach ihrem Verhältniß zur Dichtkunft und
Malerei wurden durch Berlioz aufgewühlt, an Berlioz die ererbten Geſetze der
Heithetif neu geprüft und gemefjen.
Wer nun zum erjtenmal diefer Mufit laufchte, naiv oder reflectivend, gevieth in
gährende Bewegung. Dieſe Gährung hatte jeither Zeit, fich zu flären. Wenn aud
nicht ganz, jo ijt dach zum großen Theil das Befremdende der Berlioz'ſchen Mut
zjurüdgetreten. Gine Richtung der Mufik, wejentlich durch Berlioz ſelbſt, wenngleich
ohne jeinen Wunsch hervorgerufen, gewann Raum und wurde von einer compacten
Gruppe jüngerer Tondichter mit großer Gonfequenz verfolgt. Es erichienen Wagner,
Liszt und Die vielen Fleineren XYeute der Weimar’ichen Schule. Die Tendenz der
Berlioz'ſchen Muſik ift uns jomit durch verwandte Beitrebungen näher gerüdt, wäh
rend dev Meijter jelbjt mit feiner geiftvollen feſſelnden Perfönlichkeit in objectivere
Ferne zurüdwich. Robert Shumann, der bekanntlich bei der erſten Bekanntſchaft
mit Berlioz' Werfen in Enthufiasmus gerieth, ja ihnen in Deutjchland den Boden
bereitete, er hat in jpäteren Jahren jehr kühl, faſt ablehnend von feinem einftigen
Liebling geiprochen. Auch das Publicum des erften Geſellſchafts-Concerts nahm die
Harold-Synphonie, mit Ausnahme des Pilgermarfches, ziemlich gleichgiltig auf. Es
iſt eine mühjelige Muſik voll frampihaiter Anſtrengung, ein dürftiger muſikaliſcher
MWiener Chronif. 157
Kern mit dem glänzenditen oxcheftralen Purpur bekleidet. Der Harold » Symphonie
iehlen jene Klänge tiefer Wehmuth und füher Zärtlichkeit, welche in anderen Werken
Berlioz' („Scene aux champs“ in der „Phantaftifchen Symphonie”, Liebesſcene in
„Romeo und Julie”) jo mächtig ergreifen. Das Finale (Orgie der Räuber) ift ein
wahres Kirchweihieft des Häßlichen und Rohen, die „Walpurgianacht“ der Symphonie
fantastique in's Menjchliche überfegt, wenn man folche Unmenfchen, wie die fich auf
gut Berlioziich freuenden Banditen, noch mit diefem Titel beehren darf.
Sehr beliebt und befucht find die Goncerte des „Schwedilhen Damen-
quartett3”. „Zur Zeit des Todes von Karl dem Zwölften — jo lieft man in
mufifalifchen Geſchichtsbüchern — jollen in ganz Schweden nur zwei Männer gewejen
fein, welche Noten lefen konnten. Die mufilalifche Cultur in Schweden iſt verhält:
nigmäßig jungen Datums, und bis heute hat diejes Land durch feine Componijten
und Virtuofen nur wenig von fich reden gemacht. ZTroßdem fehlte e8 niemals an
einzelnen Anzeichen, welche auf ein nicht gewöhnliches Talent der Schweden, nament-
ih für den Gefang, Hindeuteten. Sängerinnen wie Jenny Lind und Griftine
Nilsſon find erceptionelle Kunftgrößen; was fie jedoch Charafteriftiiches gemeinjam
haben und mit einigen andern, minder berühmten jchwedifchen Sängerinnen theilen,
it jo eigenartig, daß es offenbar mit dem Naturgrunde zufammenhängen, als phyfio-
logische und muſikaliſche Anlage in ihrem Volke jelbft jchlummern muß: die weiche,
leicht anjprechende Tonbildung, der ruhige, friftallhelle Fluß des Vortrages, vor
Alem die Feinheit des Gehöres. „Die Deutfchen fingen mit dem Kopfe und mit
dem Herzen, aber nicht mit dem Ohre“, äußerte einmal Jenny Lind, und wie oft
mußte ich dieſes Wortes gedenken, wenn ich deutjche Opernfänger mit geiftreichem
und leidenschaftlich dramatiichem Vortrage — falſch fingen hörte. Auf meine Gegen-
frage geſtand fie, ihren Landsleuten in diefem Punkte den Vorzug einzuräumen. Eine
intereffante Beftätigung diejes Urtheiles, ein Beiſpiel von feiniter Empfindlichleit des
Gehöreg, oder noch genauer: des Sich-Selbfthörens beim Selbitfingen bietet das
‚Shwedijhe Damen-Luartett”, das gegenwärtig in Wien mit wohlverdientem
großen Erfolge concertirt. Ganz gleich gekleidet, weiß, mit blaugelben Schärpen (den
Ihwediichen Nationalfarben), treten die vier blonden Damen auf, jtellen fich dicht
neben einander in Eine Linie und fingen auswendig ihre vierftimmigen Lieder. Ohne daß
ein Accord oder auch nur ein Ton auf dem Glavier angeichlagen oder das unfcheinbarjte
Zeichen zum Anfang gegeben würde, beginnen fie vollfommen gleichzeitig, haarjcharf
mit der reinften Intonation. Schon nach wenigen Tacten jchwelgt der Hörer in dem
doppelten Behagen von Wohlklang und Sicherheit und Horcht unermüdlich diejem
unübertrefflichen, bis in die leifeiten Regungen des Athmend und Ausſprechens har-
monischen Zuſammenklang. Wundervoll ift das gleichmäßige Anjchwellen und Ab—
fterben des Tones, wobei man nicht etwa an ein Kofettiren mit diefem Effect denken
dart. Im Gegentheile haben diefe Productionen gar feinen virtuofenhaften, jondern
rein fünftleriichen Charakter und machen gerade durch die Anipruchslofigkeit und den
befcheidenen Ernjt der Sängerinnen einen jo gewinnenden Eindrud. Wie wohlthuend
it vollends dem vielgequälten modernen Ohr diefes Singen in durchaus reinen
Intervallen! Es klingt manchmal, als wenn eine reingeftimmte Physharmonifa in
Ihönem vierftimmigen Accorde anſpräche. Die Schwedinnen üben nur mit Zubilfe-
nahme der Stimmgabel, und da fie das in praxi öfter übel- ala „wohltemperirte”
Glavier meiden, erzielen fie, feinhörig wie fie find, ſtets die klare, ſcharfe Süßigfeit
reiner Intervalle. Mean hat diefe Gefangsproductionen oft mit J. Becker's „Tloren-
tiner Quartett“ verglichen, und die Analogie liegt nahe. Aber das Ausjtrömen des
Gefanges aus der Menjchenbruft jteht an Unmittelbarkeit und Innigfeit der Ton—
gebung doch noch Hoch über dem Inſtrumentenſpiel, und darum übt auch diefer ein-
beitliche Vortrag don vier Frauenftimmen einen noch ftärkern eigenthümlichern Klang—
reis, als das beite Streichquartett. Keine der vier Stimmen bejticht für fich durch
beiondere Schönheit, doch hat der erſte Sopran etwas von der fympathiichen Weich-
heit, dem „jchwedifchen” Flötentone, der an die Lind erinnert, während der zweite
— —
u Ze
⸗ y
158 Deutſche Rundichau.
Alt bei etwas vauberer Klangfarbe durch Kraft und fabelhafte Tiefe ercellirt. Indem
diefe Altjtimme, von der wir das tiefe C und H anjchlagen hörten, faſt die Rolle
eines Cellos überninmt, vermag das Damenquartett feinen vierftimmigen Sat etwas
weiter ala gewöhnlich außeinanderzuhalten und ein größeres Feld zu cultiviren. Nach
der langen Alleinherrichait der Männerquartette, welche das gemifchte Vocalquartett
leider taft gänzlich verdrängt haben, ijt ein Frauenquartett eine ganz neue, über:
rafchende Ericheinung: es eriftirt auch feine Literatur dafür. Die Damen Hilda
MWideberg, Amy Aberg, Maria PBetersjohn und Wilhelmina Göder-
lund find überhaupt das erjte Frauenquartett, das fich in Europa producirt; fie
fingen transponirte Männerquartette, theils Volkälieder, theild moderne Compoſitionen
von Lindblad, Södermann und Anderen, in welchen die Nationalfärbung jtarf vor-
ichlägt. Dieje Lieder wirken in jo trefflicher Ausführung ſehr anregend durch ihren
die formale Schönheit jtarf überwiegenden charakteriftiichen Ausdrud. Bei mancher
Herbigfeit, ja Härte der Melodie und Rhythmik leuchtet doch viel gemüthvolle Zart-
heit und gejunder Humor aus diejen Gejängen. Das „Hochzeitälied“ insbefondere
ijt ein Liebling des Publicums geworden und darf in feinem Concert der Schwedinnen
fehlen.
Im kleinen Mufifvereinsfaale haben die „Muſikaliſch-artiſtiſchen Weih—
nachtsvorſtellungen“ der ruffiihen Gomponiftin Fräulen Ella Adaiewstn
begonnen. Auf einem viel zu niedrigen Podium (dev untere Theil der Bilder ift nur
für die ganz vorne Sitzenden fichtbar) erhebt fich eine kleine verdedte Bühne. Der
Vorhang theilt fich von Zeit zu Zeit und läßt nacheinander eine Reihe von Trans—
parentbildern jehen, ungefähr in der Breite des mittleren Bühnendritttheile. Dazu
wird Hinter den Gemälden Muſik gemacht. Ueber die äjthetiiche Fehlerhaftigkeit einer
ſolchen Berfoppelung von Mufit und Gemälden ift faum mehr nöthig zu jprechen,
es iſt der blanke Dilettantismus. Otto Jahn Hat befanntlich eine Aufführung von
Beethoven's Paftoral-Symphonie „mit Decorationen und lebenden Bildern“ fchari
fritifirt und als eine VBerfündigung an Beethoven's Meijterwerf gebrandmarkt. Nun,
gegenüber der „Weihnachts-Cantate“ von Fräulein Adaiewsky braucht man nicht jo
wehleidig zu ſein. Es ijt eine Damenarbeit ohne jegliche Kraft und Originalität,
ingbefondere von einer rhythmiichen Lahmheit, welche alsbald einjchläfernd wirft. Eine
einzige ganz einfache Nummer in langjamem Dreiviertel-Tact (Chor der Hirtentnaben)
wirkte durch hübjchen Klang und einen Hauch von Empfindung; wo aber die Auf-
gabe complicirter wird und mufifalifche Prätenfionen erhebt, wie in dem großen
Schlußchor, da liegt der Bankerott zu Tage. Ueber den Stunftwerth der vorgeführten
Bilder (von denen namentlich die der Eifenmenger’schen Schüler: Ambros, Wieſer
und Schlimarzik gefielen) erlaube ich mir fein Urtheil, höchitens die Bemerkung, daß
ihr Zujammenhang mit den betreffenden Muſikſtücken ein äußerſt loderer if. Dom
Standpunkte der Unterhaltung, dem einzig berechtigten bei jolhem Kunſtmiſchmaſch,
ſcheint es mir, daß für Auge und Ohr doch viel mehr geboten werden könnte. Ich
erinnere mich einer Aufführung von Mendelsſohn's „Paulus“ in Düffeldorf, wo die
beiten Künftler, Oswald Achenbac an der Spite, die Decorationen dazu gemalt
und die „lebenden Bilder“ arrangirt hatten. Da genoß man wenigjten® zu trefflicher
Muſik eine unvergleichliche Augenweide an der Plaſtik diejer Lebenden Bilder, welche
die Hauptmomente des Oratoriums prachtvoll verfinnlichten. In den Weihnachts:
Productionen von Fräulein Adaiewsky vermag ich nicht viel mehr zu jehen, als eine
Art nobeln Krippenſpiels für erwachiene Dilettanten. Und da geftehe ich unverblümt,
daß ich in dem gemeinen Krippenfpiel mit feinen ernthaft-drolligen Figuren, mit
feiner dramatifchen Einfalt und feinem naiven Kleinen Publicum mehr echte Poefie,
mehr Wahrheit und jeligen KHinderglauben wiederfinde, ala in den vornehmen „ınufts
kaliſch-artiſtiſchen Weihnachtsvorftellungen“ des Mufikvereins.
Eduard Handlid.
Berlin, den 15. December.‘
Neigten wir Deutiche zur chauviniftiichen Phrafe, wahrlich, wir hätten jeßt
vollen Grund, unfere Hauptjtadt für den „Mittelpunft des civilifirten Europa’s“
zu betrachten. Unſere Staat3männer, unjer Parlament und unſere politijchen Pro—
ceſſe — denn nur als jolche betrachtet hat die Arnim- Affaire noch ein größeres
Intereſſe — beichäftigen die ganze Welt.
Der Name und die Geftalt des Fürſten Reichskanzlers gingen aus alle
dem, was fich bei uns abgejpielt, nur mit ftrahlenderer Aureole umgeben, hervor.
Sein Können und Vollbringen ift es, um das uns die andern Völker zunächſt beneiden,
und von dem und jenem Monarchen flüftert man fich den jchmerzlich bewegten Aus-
ruf zu: „Mer jchafft mir einen Bismard für meine Länder?" Was vor Allem diejem
Staatsmanne das bejondere Gepräge verleiht, iſt fein nüchterner, jtet3 nur auf das
praktiſch Erreichbare gerichteter Sinn, ijt feine Geijtesireiheit, die ihn alle Borein-
genommenheiten der Erziehung und der Meberlieferung abjtreifen läßt, und feine un-
endlich Hochanzufchlagende Gabe, Allen, was er thun oder lafjen mag, injtinctiv die
intimften Sjnterefien der deutichen Volksſeele zu Grunde zu legen.
Sein Auftreten den Eljaß = Lothringiichen Anfprüchen im Reichstage gegenüber
entiprach denn auch volltommen der Wandlung, welche fich im Gemüthe der Nation,
was das jernere Verhalten des Reichs zu den Reichslanden anbelangt, vollzogen hatte.
Wir find deshalb im Stande gewejen, jchon in umferer letzten Rundſchau vom
15. November, vierzehn Tage ehe der Reichskanzler das Wort im Parlamente ergriff,
jaſt Sa für Sat unſer Verhältniß zu dem wiedererrungenen Gebiete jo zu bezeichnen,
wie es ſpäter der leitende Staatsmann gethan. Der Grundzug der Bismard’schen
Rede, welche conjequent und ehern die Reichslande ala das charakterifirte, was fie
im Grunde find, eine „eroberte Provinz“, lag in dem bezeichnenden VBoranjtellen des
Reiches und feiner Intereſſen, als der allein leitenden Motoren deutjcher Politik.
Iſt man erſt bei diefem Gedankengange angelangt, der allerdings mit der nebelnden
und jchwebelnden „deutichen Bruder- Theorie” gewaltig aufräumt, jo ſchwingt man
fich vielleicht noch, jo lange e8 Zeit ift, zu der andern dee auf, welche ein eminent
praktisches Ziel verfolgt und bisher nur auf Grund einer Denkichriit im Eleinerem
Kreife bekannt war: Nach Annahme des Axioms, daß der Grund und Boden der
Reichslande durchaus deutich, die Bevölkerung zumeijt verwäljcht jei, möchte es fich
empfehlen, aus Neichsmitteln oder aus anderen Fonds, den Ankauf aller ſolcher
Grundſtücke, zunächſt namentlich in und bei Meb, im Großen zu betreiben, deren Be—
fiber fich ala Franzofen fühlen und welche nur durch die Unmöglichkeit, ſich des Be—
fies zu gutem Preife zu entäußern, im Lande gehalten werden. Diejen Leuten,
welche doch nie gute Staatäbürger im deutjchen Sinne zu werden vermögen, wäre
mithin die Rückkehr nach Frankreich, jelbjt mit Geldopfern von deutjcher Seite, ge—
160 Deutiche Rundichau.
bührend zu erleichtern. Nach dem aladann freimerdenden Grundbefig aber hätte man
den Strom der Auswanderung zu leiten, der fich leider in fo reichem Maße nod
immer aus Pommern, Preußen, Schlefien und auch aus Baden und Württemberg
nah Nordamerifa, Brafilien und Auftralien ergießt. Da blieben dem Baterlande
vortreffliche Kräfte erhalten und wir befämen eine Grenzbevölferung, deren Reichs—
treue und Zuverläffigkeit nichts zu wünfchen übrig ließe. Natürlic” müßte das in
Anwendung zu bringende Golonifationsfyften den Weberfiedelnden jolche materielle
Vorteile bieten, daß fie die verlodenden Ausſichten der überjeeiichen Zukunft
leiht in den Hintergrund drängen. Mir jcheint in diefer Entwidelung ein frucht—
barer Gedanke zu jchlummern , der wol eine Prüfung verdiente.
An die jchlagenden, jo manche Jllufion kräftig zerftörenden Auslafjungen des
Reichötanzlerd über das Verhältniß zu Eljaß und Lothringen, dem, jo lange es
widerwillig bleibt, faum eine andere Stelle angewiefen werden mag, als die eines
„Glacis“ für die beiden Reichöfeftungen Meb und Straßburg, an diefe Bismarckiſchen
Austührungen jchloffen ſich faſt unmittelbar die unqualificirbaren Angriffe der
Gentrumspartei gegen die anämwärtige Politit des Reiches, Angriffe, die in jedem
Patrioten nur die Gefühle „des Abfcheues und der Verachtung“ wachzurufen ver:
mochten. Der Gynismus, mit welcher die DBertreter von Tauſenden deutjcher
Männer Beichönigungen für den Meuchelmord in offener Parlamentsfigung aus-
jufprechen wagten, überjteigt Alles, was ſonſt die Parteileidenichaft erflärlich ericheinen
läßt. Dem Opfer gegenüber den Mörder gewiffermaßen in Schuß zu nehmen, feine
Blutthat ald ein Factum zu entjchuldigen, an dem der Bedrohte jelbjt mit Schuld
getragen, ift ficherlich eine Specialität, um welche die Fraction des Gentrums nicht
zu beneiden ift. Dagegen verichwindet jelbjt der Eleine Kandesverrath, den der römiſche
Redner übte, ala er den deutjchen Staatamann beichuldigte, insgeheim einen Krieg
gegen Frankreich zu planen; dagegen verichwindet auch der nicht minder unpatriotifche
Verſuch, zwilchen Deutichland und feinem ruffiichen Bundesgenofjen die Drachenjaat
der Zwietracht auszuftreuen. In einem englifchen Parlamente wäre ein folches Ver
gehen der Oppofition geradezu unerhört gewejen. Hier hätte der Gegner der Regie
rung dem leitenden Staatsmanne niemals den Ausdrud des aufrichtigften Bedauerns
vorenthalten und nie hätte man gewagt, dem Angefchoffenen jelbjt die moraliſche
Berantwortlichkeit zuzufchieben, wie dies auf bdeutichem Boden gewagt werden
fonnte. Glüdlicherweife ift Bismard Mannes genug, um folche Unverjchämtheit
im Angeficht des ganzen Landes gebührend zu brandmarken, und jo gerechtfertigt
vielleicht, vom parlamentarifchen Standpunkte aus, der Ordnungsruf fein mochte,
den MPräfident Tordenbef gegen Lasker in Anwendung brachte, als er dem
giftgefchwollenen Römlinge das Stigma des „Baterlands » Verrathes” entgegen:
jchleuderte, jo bleibt doch diefer Ausruf des Wolfävertreterd gerade in jenem Momente
eine patriotifche That, welche die ſonſt für unfer Volfsbewußtjein jo wenig ehrenvolle
Scene in würdiger und dem großen Manne jchallende Genugthuung bietender Weile
zum Abſchluß brachte.
So mächtigen Wiederhall indeß auch die Sigungen des Reichsrathes in Deutich-
land jelbit, wie im übrigen Europa fanden, jo wurden fie doch in mehr als einer
Beziehung verdunfelt durch die den Meiften unerwarteten Dimenfionen,, welche der
Proceß gegen den Grafen Arnim annahm; obwohl auch in diefer Angelegen-
beit es der Neichäfanzler wiederum war, dem die wohlverdiente Glanzrolle zufiel und
der mit einem Schlage feinen Verfleinerern gegenüber auf das Ueberraichendite gerecht:
fertigt daftand. Dennoch darf ein Heines Vorfpiel nicht übergangen werden, welches
die diplomatischen Enthüllungen diejes Proceſſes im Parlamente ſelbſt einleitete. Ich
meine die Erwähnung der Meglia’schen Aeußerung: „Der Kirche kann nur noch die Re—
volution helfen“. Der mwürttembergifche Yegationsrath von Bauer-Breitenfeld, gegen:
wärtig Gejchäftsträger in Wien, hatte im Jahre 1868 ſeinem damaligen Mintjter:
präfidenten von Varnbüler diefe Aeußerung des päpftlichen Nuntius ala den Succus
eine® Geipräches übermittelt, den er jelbit im Uebrigen in feiner Tragweite nicht zu
Politiſche Rundichan. 161
erfaflen vermochte. Anders Herr von Varnbüler, welcher jofort jene Mitthei-
lung für wichtig genug hielt, um fie in einem Rundfchreiben an die da-
maligen Bertreter Württemberg’3 im Auslande diejen zur Kenntnik
zu bringen und fie zu ermächtigen, gelegentlich Gebrauch von diejer Aeußerung
des römischen Diplomaten zu machen. Auf diefjem Wege erfuhr Fürſt Bismardf das
Geſtändniß Meglia’3, um es zu fo gelegener Stunde zu verwerthen. Es ift wol
feinem Zweifel unterworfen, daß Herr von Varnbüler, der fich ſeit geraumer Zeit
der Reichspolitik jo rückhaltlos angefchlofien, zu dem Gebrauch, den er von der in
amtlicher Stellung erlangten Kenntniß der Meglia’schen Indiscretion gemacht hatte,
von jeinem Nachfolger im Amte, Herrn von Mittnacht, gebührend ermächtigt
worden war.
Hatte man in diefer Revolution» Beihwörung einen der geheimen Motoren
vor fich, welche den verhängnißvollen deutich-Tranzöfiichen Krieg entfeffeln halfen, jo
breitete die Affaire Arnim ein ganzes diplomatifches Arjenal vor den Augen des
eritaunten Europa aus, defien Inhalt fich Lediglich auf die Eonjequenzen jenes un—
glüdlichen franzöfiichen TFeldzuges bezog. Der Rechtäftreit verichwand faſt ganz vor
dem erdrüdenden Hijtoriichen Material, welches hierbei zu Tage trat und deſſen Ver—
öffentlichung gerade wieder nur dazu angethan war, den Ruhmeskranz des deutſchen
Staatamannes blendender zu geltalten. Alle diefe geheimen und geheimjten Acten-
ftüde waren ficherlich nicht in der Vorausſicht gefchrieben, einmal publicirt zu werden.
Man kennt ja hinlänglich die Anficht des Fürften Bismard über den Hocuspocus
der parlamentarifch-zugeftußten Grün=, Roth, Gelb- und Blaubücher. Und fiehe da,
gerade der Staatdmann, der bisher am Eiferfüchtigften darüber gewacht, daß ihm
Unberufene nicht in den diplomatischen Küchenzettel jchauen, den er tagtäglich neu
entwirft, er gerade hat das Licht der Deffentlichkeit am Allerwenigjten zu ſcheuen
und alle die Legenden, welche von Bismard’3 geheimen Plänen, macchiavelliftifchen
Abſichten und wahrhaft teuflifchen GComplotten gegen die Ruhe und Sicherheit an-
derer Staaten bei den Feinden des deutichen Reiches jo zahlreich im Schwange
gingen, erwiejen fich ala trügeriiche Seifenblafen, denn von alledem war in dem ziel:
bewußten Streben des Kanzlers feine Spur zu finden.
Vielmehr geht aus den veröffentlichten Erlaffen und Berichten zur Genüge für Alle
hervor, die es nicht ſchon wußten, daß der principielle Gegenfag in der Auffaflung
franzöfiicher Dinge, bei Bismard in der eminent deutjchenationalen Interefjenpolitit,
bei Arnim in einer hochtoryftiichen, erclufiv monarchifchen Tendenz feinen Urſprung
Hatte. Alle Arnim’schen Berichte, welche dad Weberhandnehmen der republifanifchen
Idee in Frankreich jo grell Hinftellen, find augenscheinlich tet? mit dem Hinterge—
danken geichrieben, daß diefe Voripiegelung des rothen Geſpenſtes das ficherite Mittel
fei, um den Souverain gegen die Anficht des leitenden Staatgmannes einzunchmen,
welcher in einer Einbürgerung republikaniſcher Zuftände in Frankreich zugleich die
Verurtheilung diefes Landes zur ewigen Bündnißloſigkeit erblidte. Es gab und giebt
vielleicht noch heut Staatsmänner, die daffelbe negative Refultat, welches Fürſt Bis-
marck von einer Werurtheilung Frankreichs zur Republif erwartet, von der Wieder:
aufrichtung eines jeſuitiſch-legitimiſtiſchen Königthums daſelbſt erhoffen. Dieje Poli—
tifer meinen, daß das verdummende Regiment eines ſolchen „Roy“, von des al Gesüt-
Gnaden, für frankreich moralisch viel verderblicher werden müſſe, als die republika—
niſche ernſte Negenerationsarbeit, wie fie unter Thiers angejtrebt wurde. Sie meinen,
dab ein jefuitifches Regiment in Frankreich dem deutjchen Reiche nicht nur das feite
Bündniß Italiens, ſondern auch die jtetige moraliiche Unterftügung des geſammten
liberalen Europa eintragen müſſe. Sie meinen endlich, daß ein Bourbon auf dem
Throne jeiner Väter, troß feiner monarchiichen Alliance-Fähigkeit, zu einer Action
unfähiger fein werde als jedes republifaniiche Regiment, weil unter ihm die
ganze republifaniiche Partei wieder in geichloffenen Reihen als inneres Oppofitiong-
Glement thätig werden wide. Aber von diefer vorurtheilsfreien Auffaſſung findet
fih bei Graf Arnim nicht, die leifefte Spur. Er it Lediglich antirepublitaniich in
Deutiche Rundſchau. T, 4. 11
162 Deutiche Rundichau.
Frankreich, weil er auf die ſtrengmonarchiſchen Gejinnungen ſpeculirt, welche ex bei
jeinem Monarchen vorausjeßt. Daß dieſe Speculation jehlichlagen mußte, wie fie in der
That jehlichlug, dies vorauszufehen, geitattete die Eitelkeit des Grafen nicht. Dennoch kann
es ihm nicht an Warnungsrufen gefehlt haben. Iſt es doch ein öffentlich Gehümniß,
daß der deutjche Kaifer mehrmals feiner tiefen Verſtimmung Ausdruck gegeben, fich
derart in einem don ihm ſtets mit Auszeichnung behandelten Staatsbeamten getäufcht
zu jehen. Im Mebrigen ift das Beifpiel der franzöfifchen Republif für Europa zu
wenig dverlodend, wie dies der Reichskanzler mit jo großer Berechtigung hervorgehoben,
als daR ihre Exiſtenz jene propagandiftiiche Wirkung hätte haben fönnen, vor welcher
der Erbotjchafter fich den Anjchein gab, ſich jo überaus zu „grufeln“. Andererjeits
ift die Gefahr nicht Jo gar groß, daß fortan in Frankreich die monarchifche Strö-
mung die Oberhand gewinnen fönne, weil Bismard es für das deutſche Intereſſe
hält, jenfeit3 der Vogeſen die Republik zu begünftigen. Und wenn ſelbſt der Procek
Arnim wirklich die Errichtung eines Elerifalen Königthums „par dépit“ zur Folge
hätte, jo könnte man deutſcherſeits wahrjcheinlich in den oben angeführten Gründen,
welche die Vortheile einer monarchiſchen Reftauration für uns beleuchten, ohne Zweifel
einen Erfaß für den Verluſt finden, den man uns durch das Aufgeben des föniglofen
Zuftandes würde bereiten wollen.
Daß man in Defterreich dem Gange diejer Verhandlungen mit ganz be
fonderer Aufmerkſamkeit folgt, erklärt fich nicht blo8 aus dem natürlichen und aner-
fannten Senjationsbedürfniß feiner tonangebenden Preſſe. Hatten doch einige der
hervorragendften Wiener Organe in nicht mißzudentender Weile Partei ergriffen,
ehe noch ſelbſt die Anklageichrift in ihren Einzelheiten befannt war. Ein öfter
veichifches Blatt Hatte zuerjt jenes „Promemoria“ publicirt, das in Berlin ala eine
öffentliche Herausforderung des Reichskanzlers aufgefaßt werden mußte. Und jo fan
e8, daß während fih in Wien im Verlauf des Procefjes eine immer jchärfere Reac-
tion zu Ungunften des eben noch auf das Piedeftal erhobenen Grafen accentuirte, das
Intereffe an der Affaire ein jo allgemeine und dringende® wurde, daß man ber
Theilnahme an den heimifchen Angelegenheiten fich Taft gänzlich enthielt. Und dod)
war auch in Defterreich-Ungarn, diefjeits wie jenſeits der Leitha, die parlamentariſche
Arbeit im vollften Gange.
In Eisleithbanien namentlich traten kurz vor der Eröffnung der Budget-
berathung und noch in deren Verlaufe die üblen Nachwehen der Börjenkrifis des
Vorjahres, ſofern fie fih auf Handel und Induftrie verfchlagen hatten, drohender
ala je in den Vordergrund. Namentlich waren e8 die metallurgiichen Induftrien, welche
einen Häglichen Jammerruf erhoben, und der alte volkswirthichaftliche Schulftreit, ob
Staatshilfe, ob Selbfthilje ſchien einen Augenblid lang im dfterreichifchen
Reichsrathe ausgefochten werden zu follen. Allein man fam von beiden Seiten über
die Anfangsgründe in diefem Principienfampfe nicht hinaus, wenngleich die defini—
tive Entſcheidung auf diefem Gebiete nicht zu Gunſten der Staatshilfe ausfiel, die
allerdings auch in ſeltſamſter Weife von den Intereſſenten für ihre Privatzwede an-
gerufen worden war. Die ganze Art der parlamentarifchen Behandlung diejer jo
einfchneidenden Frage war im Uebrigen jehr wenig geeignet, bei den gebilde-
ten Kreifen den Refpect zu erhöhen, in welchem die Bolfävertretung, die ja
gerade kraft der öſterreichiſchen Verfaffung in ganz beftimmten Sinne eine „In—
tereffen-Vertretung“ barftellt, bei der Bevölkerung ftehen muß. Es jei hier nur das
Phänomen an fih conftatirt. Eine Billigung dieſes Gefühls der — nennen wir &
der: Grmüdung, liegt uns fern. Allerdings war auch der Gang der Budgetdebatte
faum dazu angethan, die freunde einer wahrhaft parlamentarifchen Regierung zu
befriedigen. Namentlich fchien die Behandlung des Gultus- und Unterricht3-Mini-
ſteriums nicht eben der Art, angenehme Empfindungen zu erweden. Bon Seiten der
Berfaffungspartei traten freilich Rebner genug auf, um dem Minifter das reiche
Gapitel feiner Begehungs- und Unterlaffungsfünden vorzuhalten, aber es geichah dies
jaſt in allen Fällen ohne jede nachhaltige Kraft und augenscheinlich von vornherein
Politiſche Rundſchau. 163
mit dem Bewußtſein, daß mit all' dieſen Reden doch nichts erreicht werde. Der
Miniſter mußte ſich nacherzählen laſſen, daß er der Beuſt'ſchen Theorie von der
Politik der freien Hand und jener Andraſſy's von der Politik der „gebundenen Marſch—
route“ auf confeffionellem Gebiet noch die Theorie „der gebundenen Hände“
hinzugefügt habe, und Herr Dr. Stremayr hielt die Wahrheit diefer Methode jo
jehr über allem Zweifel erhaben, daß er auch nicht ein Wort der Ableugnung vor—
zubringen wagte. Während man auf diefem, wie auf dem volfswirthichaftlichen
Gebiete vergebens auf Staatähilfe wartet, foll fie, wie es den Anjchein hat, dem-
nächſt auf handelspolitiſchem Felde den Intereffenten nicht vorenthalten bleiben. In
ganz Defterreih ift in diefem Momente eine weit veräftelte ſchutzzöllneriſche
Propaganda um jo Lebhafter thätig, je aufrichtiger die Regierung und namentlich der
Finanzminifter, Baron Depretis, Miene macht, jene freihändlerifchen „Ketzereien“ ab:
zufhwören, denen er noch beim Abſchluß der jekt zu Ende gehenden Handelsver—
träge mit den fremden Mächten gehuldigt Hatte. Nachgerade fieht man faſt in allen
Regionen Oeſterreichs in der Tariferhöhung, im Ausfchluß der fremdländiſchen Con—
currenz, das geeignetfte Mittel, Handel und Wandel wieder zur Prosperität zu
bringen; wozu noch die Fabrikantenwelt die inbrünftige Bitte um Erhöhung des
tatalen Silber-Agio fügt, ohne deſſen Schuß die öfterreichiichen Induftriellen nicht
mit Gewinn arbeiten zu können behaupten.
Anders in Ungarn, wo man, da dort bei weitem mehr Induftrieproducte
confumirt als hervorgebracht werden, naturgemäß freihändleriichen Anfchauungen Hul-
dig. Nun hängt aber der Abſchluß neuer Handelsverträge Defterreich-Ungarns mit
fremden Staaten von dem vorgängigen Abjchluß eines Zoll- und Handelsbündniffes
beider Reichshälften ab, da der bejtehende ebenfalls jeinem Ablaufe entgegengeht.
Bei der Schroffheit, mit der ſich ſonach dieſſeits und jenfeits der Leitha jchubzöll-
neriſche Strebungen und freihändleriiche Tendenzen gegenüberftehen, ijt aber die Feſt—
ſetzung des gemeinfamen Generalzolltarifs feine leichte Sache. Man wird daher wohl-
tbun, da namentlic” auch Deutjchlands Handelsintereffen mit dem Ausgang diejes
Principienftreites auf’ Engjte verquidt find, den Peripetien, welche fich vorbereiten,
wachſamen Auges zu folgen. Daß es im Uebrigen in Ungarn, troß der verzweifelten
dinanzlage und der ſtark geſchwächten Stenerkraft dem Finanzminifter Ghyczy ge—
lungen ift, dem Parlament ein Vertrauensvotum abzuringen, wird jeden aufrichtigen
Freund Ungarns nur freudig berühren. Seltſamer Weiſe zeigt man fich in Peſt
weniger angenehm berührt von der im öfterreichiichen Reichsrathe angekündigten
Errichtung einer deutfhen Univerſität im äußerften Oſten der Monarchie,
in der Hauptjtadt der Bukowina, in Czernowitz.
Leicht möglich, daß man auch in Rußland nicht umhin können wird, zu dieſer
neuen deutfchen Hochſchule an der Landesgrenze gebührend Stellung zu nehmen.
Jedenfalls hat man aber in St. Peteröburg für den Augenblid andere Sorgen. E3
liegt der kaiſerlich-ruſſiſchen Regierung eingeftandenermaßen unendlich viel an dem
weiteren Ausbau des auf der Brüffeler internationalen Kriegsrechts-Conferenz ge—
wonnenen Materiald. In zwei verjchiedenen Rundichreiben, von denen da3 eine
vom 26. September, das andere vom 28. October datirt, hat die ruffiiche Regierung
bei den anderen Mächten die Nutzbarmachung des auf dem Brüſſeler Congreſſe ge=
wonnenen humanitären Material3 urgirt. Cine zweite in St. Petersburg zujammen-
tretende Conferenz, welche für das kommende Frühjahr in Ausficht genommen wurde,
Toll durch militärisch und ftaatsrechtlich gebildete Fachmänner jene Punkte, über welche
ein allgemeines Einvernehmen erzielt wurde, in eine international bindende Form
gießen. Fürſt Gortſchakow konnte fich bei feiner lebten Anweſenheit in Berlin per:
Vönlich davon überzeugen, wie jehr die deutſche Neichregierung geneigt ſei, den
Wünſchen des Kaiſers Alerander entgegenzufommen und Vorſchub zu leijten. Konnte
do die neue Landfturm-Vorlage für das deutjche Reich mit gutem Fug als eine
Berückſichtigung der kaiferlich ruffifchen Ideen auf diefem Gebiete angeführt werden,
wenn auch der Kern dieſes Geſetzes wejentlich aus früherer Zeit datir. Das Ein-
11*
164 Deutſche Rundichau.
vernehmen des Fürſten Gortſchakow mit Fürft Bismarck war in allen jchwebenden
ragen von einigem Belange ein ausnahmsloſes und jo kam es, daß Angefichts
diefer eminenten Friedensbürgſchaft der deutiche Kanzler im Reichttage das Berhälts
niß der Gabinette von Berlin und St. Peteräburg ala „thurmhoch“ über den nie
drigen Begeiferungen ftehend erklären konnte, welche von ultramontaner Seite ver
fucht worden waren.
Don allen übrigen Staaten war Defterreich- Ungarn der erjte, welcher die
ruffiiche Anfrage in günftigem Sinne beantwortete. Graf Andraffy entwidelte in einer
längeren Depeiche, daß das öfterreichifch-ungarifche Gouvernement durchaus geneigt fei,
die lebte Faflung der in Brüffel zu Stande gefommenen Verabredungen als Grund»
lage für weitere Vereinbarungen zu betrachten. Zwar habe der gemeinfame Kriegs—
minifter gegen einzelne Punkte Augftellungen erhoben, doch jeien diefelben durchaus
nicht principieller Natur. Die gemeinfame Regierung hätte inzwifchen Abichriften
der brüffeler Beſchlüſſe auch an die cisleithanifche, wie an die ungarifche Regierung
gelangen Laffen und diejelben verfaffungsmäßig zu Rüdäußerungen aufgefordert, denen
man annoch entgegenjehe. Schließlich habe man fich noch darüber ſchlüſſig zu machen,
ob das eventuelle Ergebniß der bevorjtehenden Petersburger Gonferenzen als ein Act
aufzufaffen jei, welcher der Beftätigung durch die reip. Volksvertretungen bedürte,
oder ob eine Form des einfachen Gonventiong= Austaufches gewählt werden jolle,
welche die parlamentarische Behandlung unnöthig mache. Jedenfalls aber jei Defter-
reich-Ungarn gerne bereit, dem Rufe des Peteröburger Cabinets zu folgen.
Bei weitem weniger twillig, als die beiden großen Gentralmächte Europa’s er-
wiejen fich der ruffiichen Einladung gegenüber die kleineren Staaten, wie Holland,
die Schweiz, Dünemarf, Schweden und Norwegen, jelbjt Belgien. Hier juchte man
die Auskunft, welche von Petersburg erbeten worden war, unter allerhand Vorwänden
zu verweigern, weil man der Meberzeugung lebte, daß der Nachdruck, welchen der
ruſſiſche erfte Vorſchlag auf die Beſchränkung des Kampfes in künftigen Kriegen, auf
die großen jtehenden Heere gelegt hatte, immer zu jehr geeignet fei, die Vertheidigungs-
Fähigkeit der SHleinftaaten zu vermindern. Indeß wagte doch feines diefer Gabinete
eine definitiv ablehnende Antwort zu ertheilen, wiewol eine gewiſſe Verlodung hierzu
in der wenig günftigen Haltung liegen mochte, welche Frankreich und vor Allem
England dagegen offen zur Schau trug. Schließlich ift an der Fügſamkeit der
Regierungen vom Haag, von Bern, von Kopenhagen u. ſ. w. kaum zu zweifeln,
wenn auch ihre fernere Betheiligung an den Berathungen nur aus Deferenz für den
verfönlihen Wunſch des Kaiſers Alerander hergeleitet werden mag.
Aber in England ift dies etwa Andere. Die britiichen Staatsmänner
wollen abfolut feine bindende internationale Verpflichtung, am Allerwenigiten aber
auf militärifchem Gebiete, übernehmen. Alle Verſuche des Grafen Schuwalow, die
Theilnahme des Gabinet? von St. James, wenigjten® an dem rein hHumanitairen
Part des Gonferenz-Material3 zu erreichen, wollten bisher nicht verfangen, wogegen
beijpieläweije überjeeiiche Staaten, wie die gleichfall® nach Peteröburg geladenen Re:
gierungen von Walhington, Rio, VBalparaifo, Montevideo u. ſ. w. von einer princi-
piellen Abneigung bisher noch nichts verlauten ließen. Während man aber in London,
was diefen einen Punkt anbelangt, fich wenig geneigt zeigte, fich dem oftmächt-
lihen Concert anzufchließen, gab es eine andere Frage, in der man dort bie
Iſolirung einigermaßen unbequem empfand, in die man hinein gerathen war. Der
engliiche Einfluß war in der Türkei lange Jahre hindurch allein maßgebend ge
weſen und hatte erſt in neuefter Zeit, als das Verhältniß des Divans zum Wiener
Gabinet und dem ihm eng verbundenen xuffiichen Gouvernement fühler geworden,
die alte Stellung einigermaßen wieder erlangt. Man hatte daher durch den britifchen
Botichatter in Konftantinopel den Sultan nur in dem Widerftande bejtärfen Laflen,
den bdiejer in der rumäniichen Handels-Gonventionsfrage gegenüber der jogenannten
„identiichen Erklärung“ der drei Oftmächte feſtgehalten. Als aber entgegen den eng:
liſchen Erwartungen Defterreich - Ungarn fi) um den Einſpruch der Piorte nicht
Politiſche Rundichau. 165
kümmerte, jondern flotttweg feine Verhandlungen mit Buchareft einleitete, jah Lord
Derby, daß es Englands Einfluß nutzlos compromittiren heiße, wenn man weiter
in diefer abjeit3 fchmollenden Stellung verharre. Das Foreign office erklärte, daß
es in das europäiſche Vertragswerk von 1856 und 1858 ungern eine Lücke gebrochen
ſehe und daß es daher all’ feinen Einfluß in Konftantinopel aufbieten wolle, um
eine rechtliche Ordnung der Controverje herbeizuführen. Dan nahm daher den ans
fänglich ſchon von Wien aus gemachten Vorſchlag wieder auf, die Pforte jolle durch
einen Berat oder Ferman, auch ohne vorherige Anfrage aus Buchareft, erklären,
daß fie im Vollgefühl ihrer Sugzeränetätsrechte der rumänijchen Regierung den
Abflug von Zoll- und Handels-Abmachungen gejtatte. Die Frage ift nur, ob man
in Buchareft geneigt fein werde, diejen Ferman anzunehmen, und derjelbe ein Recht
verleiht, da8 man dort aus eigener Machtvolllommenheit zu befien behauptet. Hier
dürfte jedenfalla der dämpfende Einfluß der drei verbündeten Oftmächte in Anfpruch
genommen werden. Immerhin beruht e8 auf Taljcher Information, wenn man diefe
Schwenkung der britifchen Politik auf eigennügige Mbfichten zurüdführt. England
fann niht im Sinne haben, in der Folge ebenfalls directe Handels = Conven=
tionen mit den Donaufürftenthümern abzufchliegen, weil fich der englifche Handels—
vertrag mit der Pforte nicht blos, wie der öfterreichiiche, auf die türkischen Provinzen,
iondern auch auf die hriftlichen Vaſallenſtaaten bezieht.
In Frankreich fucht Herzog Decazes in diefen beiden Fragen bezüglich der
Petersburger Gonferenz und der orientalifchen Dinge möglichit geſchickt zu laviren,
immer aber freilich jet mit einer unverfennbaren Neigung, fi) England und nicht
Rußland verbindlich zu zeigen. Eine natürliche Erjcheinung, nachdem jeine Annä-
berungsverfuche an letztere Macht in Petersburg auf jo jteinigtes Erdreich gefallen.
Im Uebrigen hat der Zujfammentritt der Nationalverfammlung und die Botjchaft
des Präfidenten, die man fich geicheut hat, vom 2. December zu datiren, die Situa-
tion dieſes Landes in nichts geändert. Einen Moment lang Hatte e& den Anfchein,
als jollte der vielgefuchte Stein der Weijen, die Fuſion des rechten und linken Cen—
trums, gefunden werden. Aber diefe Hoffnung verflüchtigte fich jchnell genug wieder,
als in Folge der Enthüllungen des Arnim-Procefjes die royaliftiiche Strömung, ala
die von Bismarck mehr perhorrescirte, momentan wieder Oberwaſſer erhielt. Käme
jene Fufion dennoch zu Stande, jo würde ihr bald genug eine Goalition gegenüber-
ftehen, bei welcher fich in bunter Reihe Gambetta, Belcajtel, Rouher und Barodet
die Hände reichen würden; weil ein dev Fufion entiprechendes Gabinet die Hoffnuns
gen aller vier durch diefe Herren repräfentirten Schattirungen durchkreuzen müßte.
Das geiftreichite Volk der Welt hat es glücklich dahin gebracht, daß jeine Politik
die langweiligjte von der Welt getvorden. BVielleiht, daß demnächſt jchon in den
endlofen Schwall von Verfafjungsfragen, um den ſich Alles in Paris dreht, das im-
mer drohender auftretende Gejpenjt des Deficits einige heitere Abwechslung bringt.
Unterdeffen dauern die Kämpfe und Krämpfe in Spanien fort. Im neuefter
Zeit waren es wieder einmal die Karliften, welche einen Sieg zu verfünden hatten.
Im Grunde genommen ift man ziemlich blafirt geworden, was die ſpaniſchen Schlach—
tenbulletins anbelangt. Marfchall Serrano hat übrigens alle Mühe, fich der immer
ſtärler auftretenden alphonfiftiiden Propaganda zu erwehren. An den Sohn
Yabellens tlammern fich mehr und mehr die Hoffnungen der fpanifchen Patrioten.
Wenn man ficher wäre, daß er entgegen jonftigen bourbonifchen Gewohnheiten, zu
vergeifen vermöchte — wer weiß, er ſäße lange fchon wieder auf dem Throne
feiner Mutter.
Die Jtaliener dagegen ergehen fich in freudigen Ergüffen darüber, daß der
Abberufung des officiöfen englifchen Vertreters beim Heiligen Stuhl fo jchnell die
gänzlihe Streichung des Poftens eines deutjchen Botfchafters beim Papft, auf Fürft
Bismarck's Antrag, gefolgt ift. Auch die aus den Arnim’fchen Documenten erficht:
lich gewordene Gewißheit, daß fie in einem Kriege mit Frankreich immerdar auf die
Unterftügung Deutſchlands zu rechnen haben wirden, mag ihr patriotifches Hochge—
4—
rg
166 Deutſche Rundſchau.
fühl zu erhöhen geeignet ſein. Aber immerhin reicht dies nicht aus, um ſie aus der
zweifelhaften Haltung herauszudrängen, welche die italieniſchen Staatsmänner in
allen kirchenpolitiſchen Fragen der Kurie gegenüber feſthalten. Und ſelbſt in der
neueſten, unter Inſpiration des Minifterpräfidenten Minghetti geſchriebenen, Entgeg-
nungsbroſchüre auf die jüngſten Anklagen des franzöfiſchen Biſchofs von Orleaus
wagt man bei aller Schärfe gegen den Prälaten nicht den mindeſten Ausflug auf
das principielle Gebiet. Bezeichnend bleibt es immerhin, daß das Cabinet des Qui—
rinal, dem Franzoſen, Migr. Dupanloup, nur einen Franzoſen, Herrn Erdan, ehema—
ligen, Geiſtlichen und gegenwärtig activen Publiciſten, entgegenzuſtellen wußte.
In den ſüdöſtlich gelegenen Ländern Europas tritt nur das kleine Serbien
bei unjerer diesmaligen Rundjchau durch den plößlich, aber nicht undorbereitet in Bel-
grad zu Tage getretenen Minifterwechjel in den Wordergrund. Der Umſchwung ift
nur erwähnenswerth, weil der Sturz des Minifteriumd® Marinovich nichts ift, als
„eine gegen den öſterreichiſchen Einfluß gerichtete Kundgebung der Nationalen. Die
großſerbiſchen Träumer vermiffen die praftiich greifbaren Ergebniffe des guten Ein—
vernehmens mit Wien, das Marinovih vor Allem im Auge gehabt. Dies Einver-
nehmen hatte allerdings nicht Hingereicht, um von der Pforte die Räumung der Veſte
Kleinzcoprnik, einer auf ſerbiſchem Gebiet belegenen türkifchen Enclave von geringer
ftrategifcher Wichtigkeit, zu erlangen. Das neue Minifterium hat eingeftandenermaßen
Mitglieder der Omladina in den Rath des Fürften Milan gebracht, jo daß man
ih, wenn auf nichts Schlimmeres, auf die Erneuerung der großferbifchen Agitation
innerhalb des ungarischen Grenzgebietes gefaßt machen muß.
Die neuefte Botſchaft des Präfidenten der Vereinigten Staaten von Nord-
Amerika, des Generald Grant, drängt diefes Staatsmannes Lieblingzfrage, die
Kubanifche, auf’3 Neue in den Vordergrund. Dennoch hat man jchwerlich Urfache,
ernftere Gonfequenzen der ſchlecht verhehlten Annerionsluft des Präfidenten zu er-
warten. Die gegneriichen Parteien in den Vereinigten Staaten, welche fo große Aus—
fiht haben, den abermaligen Gieg eines republifanifchen Candidaten für die Präft:
dentſchaft zu verhindern, theilen jehr wenig die Stimmung des General® Grant in
Bezug auf Kuba und deffen gewaltfame Pacificirung, beziehungsweije Befreiung vom
„ſpaniſchen Joche“, wie die geheiligte Formel lautet. Und jo dürfte faum zu er-
warten fein, daß noch unter Grant’3 Präfidentichaft die Perle der Antillen dem
Sternenbanner als neuer Stern Hinzugefügt werden könne.
vr
—8OI
Verlag von Gebrüder Paetel in Berlin. Drud der Pierer'ſchen Hofbuchdrucerei in Altenburg.
Für die Rebaction verantwortlih: Elwin Paetel in Berlin.
Unberechtigter Nachdruck aus dem Inhalt diefer Zeitfchrift unterfagt. Ueberſetzungsrecht vorbehalten.
Die Heier-Waly.
(Schluß.)
IX.
In der Einöde.
Wieder wehten Frühlingslüfte über die Erde. In rauſchenden Bergwaſſern
floß der ſchmelzende Schnee ab, ſchüchtern, faſt mißtrauiſch lugten die erſten
Alpenpflanzen nach der Sonne aus, ob's ihr wohl Ernſt ſei mit ihrem Scheinen
und man ſich weiter heraus wagen dürfe? Hier und da lagen noch einzelne
Schneeflecke herum wie beim Abbetten vergeſſene Leintücher. In den immer—
grünen Zirben- und Fichtenhainen lüfteten die Vögel die Flügel, hielten zwit—
ſchernde Berathungen und ſtimmten die kleinen Kehlen zum allgemeinen Jubel—
geſang.
Von den Fernern donnerten die Lawinen in die Thäler nieder und unter
den furchtbaren beweglich gewordenen Maſſen knirſchte Mauer- und Balkenwerk,
Baum und Strauch zuſammen. Es war ein Drängen und Ringen, ein Donnern
und Säuſeln — ein Drohen und Locken, ein Bangen und Hoffen in Höhen
und Tiefen und der ewig wagende vorwitzige Menſch machte ſich auch auf aus
der langen Winterruh, ſtreckte die Fühler aus und begann mit dem Alpſtock
die Berge auszutaſten, wo in den lockern Schnee der Fuß zu ſetzen ſei.
Nur Rofen lag noch in die Schatten ſeiner engen himmelhohen Wände
gehüllt wie ein Langjchläfer unter der weißen Dede. Bor der Thür des Rofener-
6053 ftand Leander und fütterte Hanjel mit einer großen Maus, die er für ihn
gefangen. Hanjel war Leander's Liebling geworden von der Stund an, wo
e3 herausfam, daß er Wally gehörte, und e3 ging dem Thier gar qut bei den
Rofenern.
Da kam Benedict mit dem Bergftod nad) Haufe. Er hatte den Weg auf
Murzoll ausgekundichaftet und mehrmals zwilchen Leben und Tod gejchwebt.
Sein Blid war unftät, jein ganzes Wejen aufgeregt und finfter.
„Run?“ fragte Leander mit ängftliher Spannung — „wie iſt's?“
„Der Weg ift zur Noth gehbar; wenn ich fie führ’, kann ſie's riskiren.“
Dentiche Rundſchau. 1, 5. 12
——
168 — N Deutſche Rundſchau.
„Geh', Benedict, thu' das nit, laſſ' ſie nit da nauf — J bitt Dich drum.“
„Was die will — das will ſie!“ ſagte Benedict finſter.
„Sag' ihr, der Berg ſei nit gehbar, dann laßt fie's von ſelber bleiben.“
„Zu was die Lügerei! Sie ändert ihren Sinn doc) nit, wenn fie noch jo
lang’ hier bleibt, und Du Haft jo nir zu hoffen, jie hat Dir's oft g’nug g’jagt.
So ein Gelbjchnabel taugt nit für ein Mädel wie die Wally! Nett gieb Di
z’frieden.“ Er ging in’3 Haus. Leander traten die Thränen in die Augen vor
Zorn und Schmerz.
Wally fam mit der Heugabel aus dem Stall Benedict entgegen.
„Wally,“ jagte der, „wenn's fein muß, jo will J Di 'naufführen, % hab’
den Weg ausg’funden, aber g’fährlich iſt's noch immer.“
„J dank' ſchön, Benedict,“ Tagte Wally, „jo woll’n wir morgen gehen.“
Sie hing die Heugabel auf und ging in die Küche. DBenedict ftampfte mit dem
Fuß und ftellte den Alpftod in die Ede. Eine Weile befann er fi, dann ließ
es ihn nicht ruhen — er folgte ihr.
MWally hatte den Rod aufgeſchürzt und wollte die Küche jcheuern.
„Wally — laß doch das, J möcht' mit Dir reden.“
„J kann nit, Benedict, ſchau, J muß die Kuchel pußen. Wenn J morgen
fortgeh, muß 's ganze Haus jauber jein. J will kei Schlamperei z’rüclaffen.“
„Du haft ja mehr g’arbeit’t bei uns als 'geſſen und 'trunfen. Laß es jeht
gut fein, 3 Haus i3 doch jauber — und wenn Du fort bit — ift Alles Eins.“
Er faute an einem Stüd Holz und ſpuckte dann die abgebifjenen Splitter aus.
Wally jah die furchtbare Aufregung, in der er war. Sie hielt mit der Arbeit
inne, um ihn anzuhören.
„Wally,“ jagte er, „überleg’ Dir's doch noch einmal, ob Du nit Einen von
uns nehmen willſt. Schau, Du hätt’ft doch nit nöthig, daß D’ jo jtolz bift,
Du bift jo im Verſchrei, daß ſchon eine große Lieb' dazu g’hört, bis Einer
Dih nimmt.“
Wally nidte vollkommen einverftanden mit dem Kopf.
„Ro, fiehft, wir Rofener, wir find Leut’, die überall anflopfen dürfen, wo
jed's Madel froh ift, wenn's jo Ein’ kriegt. Du haft die Wahl zwiſchen zwei
von und Brüder — und Tchlagft jo ein Glück aus! Schau’ Wally, das Könnt
Dich doc einmal reuen!“
„Benedict, Du meinft’3 gut und % hab’ Did) und den Leander jo gern,
wie man nur einen Menjchen gern haben kann, aber nit zum SHeirathen. Ind
J heirath' halt Kein’, den J nit als Mann gern hab'n fünnt, und daß Du’s
nur weißt, 3 hab einmal Ein’ g’jehn, den bring’ J nit aus'm Kopf und jolang
% den im Kopf hab’, kann % fein’ Andern nehmen.“
Benedict wurde bleich.
„Schau, J jag’ Dir das, damit D’ endlich Ruh kriegft und Dich nit weiter
plagft mit dem Gedanken an mid. Glaub’3 nur, Benedict, J weiß, was D’
für mid) 'than Haft, Du und Ihr Alle Ihr habt mid) vom Tod errettet,
habt mi g’ihüßt, wie mid der Bater mit G’walt hat holen lafjen woll’n
und 's war gar ſchön, wie Du mid und Dein Hausrecht vertheidigt haft. J
wär’ ja ein glücklichs Madel, warn X Did) lieb hab’n und den Andern ver:
Die Geier-Wally. 169
geffen könnt” — J bin Dir g’wiß dankbar und wenn's Dir was helfen könnt’,
ließ Iis Leben für Did, — aber ſag's jelber, was hätt’ft an einer rau, die
'n Andern gern hat? Das wär wahrhaftig ein Ichlechter Dank für 'n Dann,
wie Du bift!“
„Ja!“ tagte Benedict heifer und wijchte ſich die Stirn.
„Gelt, jet fiehft ein, daß J weg muß, daß es jo nit fortgehen kann?“
„Ja!“ jagte er wieder und ging aus der Küche.
Wally jah ihm nad), wie er jo bewegt dahinjchritt, der brave, ftolze Mann,
der ihr Alles geboten, was — wie er in jeiner ungeſchlachten Art jelbjt gejagt
— jedes andere Mädel glücklich gemacht hätte. Und fie begriff fich ſelbſt nicht,
daß fie den Mann, der jo viel für fie gethan, nicht lieber haben konnte als
den Fremden, der nicht einmal an fie dachte. Aber e8 war nun doch einmal
jo! Gegen den Joſeph kam eben doc Keiner auf an Kraft und Herrlichkeit,
und fie fah ihn immer vor fi), wie er das blutige Fell de3 Bären von der
Schulter warf und erzählte, wie er mit dem Unthier gerungen, und wie fie ihn
Ale umftanden und bewunderten, ihn den Einzigen, den Schönen, den Gewal-
tigen. Und wie er ihren Vater bezwungen, den jtarken Mann, der ihr bis
dahin immer jo unbezwinglich und ſchrecklich erjchienen war. Und wie er dann
jo qut, jo lieb mit ihm geredet, troß des Vaters Freindfeligfeit. Nein, gegen
den Joſeph Fam Keiner auf. Sie ging wieder an ihre Arbeit. „Wenn's der
Joſeph wüßt', was J Alles für ihn hingeb'!“ dachte fie und jchaute zu, wie
der Benedict draußen vor dem Fyenfter mit einem rothen Kopf in den Leander
hineinredete und wie Leander meinte.
Der alte Stromminger hatte anfangs getobt und geflücht gegen ſein auf-
rührerifches Kind, und jelbft dem guten Gaplan von Heiligkreuz war es nicht
gelungen, ihn zu bejänftigen. Als es endlich) ruchbar ward, daß fi Wally
auf Rofen verborgen halte, ſchickte er Leute, fie zu holen. Aber die „Klöße von
Rofen“ ſchob Keiner jo leicht auf ihrem eigenen Grund und Boden vom Fleck,
und fie vertheidigten ritterlich den altgeheiligten Burgfrieden der Rofener Höfe.
Als aber Wally ſah, daß die Brüder eine Leidenichaft für fie faßten, da
vertraute fie jich dem ruhigen befonnenen Nicodemus, und der ſah ein, was
hier Noth that. Er ging zum Stromminger, und feiner Eugen Beredtjamkeit
gelang es, ihn jo weit zu bringen, daß er endlich den Gedanken, Wally ein-
zujperren, aufgab und fich damit begnügte, fie für immer zu verbannen. Im
Sommer jollte fie wieder auf Murzoll das Vieh hüten, „weil das doc das
Einzige fei, wozu man fie brauchen könne.“ Im Winter möge fie ſich einen
Dienst juchen, wo fie wolle, nur dürfe fie nicht in die Heimath zurück.
Als Nicodem mit diefem Beſcheid zurückkam, beftand fie darauf, augenblid-
li zu gehen und auf dem Ferner die Heerde zu erwarten, und nur der Macht:
ſpruch Nicodem’3 brachte fie dahin, daß fie wenigftens wartete, bis Benedict
zuvor unterfuchte, ob der Berg jchon gehbar jei.
So fam die Stunde, wo Wally abermals vor den Frühlingslüften her-
fliehen mußte auf die Berge, in die Einöde. Es war ein ſchwerer Abjchied,
den fie von den Brüdern und der guten Mariann nahm. Sie waren ihr lieb
geworden, die braven Leute, die jo viel an ihr gethan.
12*
170 Deutiche Rundichau.
Benedict ging mit ihr hinauf, das ließ er ſich nicht nehmen. „Du warit
uns jolang anvertraut — wir tollen Dich wenigftens mit heiler Haut twieder
abliefern. Was dann mit Dir g’ichieht, das können wir leider Gottes nit
hindern!“
Es war ein Schredensweg, den fie mitten durch die Frühlingsumwälzung
zu machen hatten, und Benedict, weit und breit als der kühnfte und ſicherſte
Führer bekannt, jagte ſelbſt, jo ſchlimm jei noch feine Bergfahrt geweſen. Sie
ſprachen wenig, denn fie waren in einem beftändigen athemlojen Ringen um's
Leben und konnten nicht rechts noch links ſchauen. Es war eine jchwere Ar:
beit. Endlid, nachdem fie einen halben Tag mit Schnee und Eis und Geflüft
gefämpft, waren fie oben.
Da ftand fie noch, die alte Hütte, etwas zerfallener als vorher, und Laften
von Schnee lagen auf dem Dad) und rings um fie her.
„Da willft D’ aljo haufen — da! Lieber al3 bei uns unten im fichern
Heimweſen ala Rofenbäuerin ein rechtes Leben zu führen und eine ang’jehene
rau 3’ werden ?!”
„I fann nit anders, Benedict!“ ſagte Wally leife und blickte ſchwermüthig
auf die verichneite unmirthliche Hütte hin. „J glaub’, die Berggeifter haben
mich in Bann 'than, daß immer wieder zu ihnen z'rück muß und im Thal
nimmer heimijch werden kann!“
„Man könnt's faft glauben! ’3 ift was eigen’3 mit Dir. Du bift ganz
anders als andere Madeln, und man muß Di) auch ganz anders Yieb hab'n,
viel, viel Lieber, und doch iſt's, als g’hörteft nit zu uns und al3 trieb Dich ein
böjer Geift um!“
Gr warf den Paden mit Lebensmitteln, die er fir Wally mit hatte, bin
und begann, ihr den Schnee von der Thür zu Ichaffen, daß fie in die Hütte
fonnte.
„Benedict,” jagte Wally leiſe, als könnten fie's hören, „glaubft Du an
die jeligen Fräulein ?”
Benedict ſchaute nachdenklich vor jih nieder und zucte die Achjeln. „Was
kann man ba jagen! J hab’ noch feine g’jehn — aber ’3 giebt Leut', die Lafien
fi) drauf todtſchlagen!“
„I hab’ au nie dran ’glaubt — aber wie vorig’® Jahr da "rauf komme
bin, da hab’ 3 'n Traum g’habt, jo lebendig, daß ma faft meine könnt’, '3
wär’ gar fei Traum g'weſen — und jeitdem muß J immer bei allem, was
mir g’ichieht, an die jeligen Fräulein denken.“
„Was war denn das für a Traum?“
„Weißt, der, den J gern hab’, ift aud ein Gamsjager und wegen ihm hat
mic ja der Vater da "rauf g’ihickt vorig’3 Jahr und in der erften Stund‘,
two % oben war, traumt's mir, die jeligen Fräulein und der Murzoll thäten
mir drohen, wenn J von dem Burjd nit ließ, jo ftürzten’3 mid) in’n Abgrund!“
Und ſie erzählte Benedict ausführlic) den ganzen Traum. Der Tchüttelte den
Kopf und wurde ganz ſchwermüthig: „Wally, an Deiner Stell’ hätt’ J Anaft!”
Wally warf den Kopf zuriid: „Ach was, Du ſchießt ja auch Gamien, trof
die jeligen Fräulein. Ma muß Fih nur nit jchreden laſſen. J bin jeitdem
Die Geier:Wally. 171
ihon über viel Abgründ' wegg’iprunge, % hab's wohl g'ſpürt, daß mid was
nunterreißen will, aber hab’ mich feftgq’halten und bin Mteifter blieben.“
Sie hob ihre ftarken braunen Arme herausfordernd empor: „So lang J
die zwei Arm' hab’, brauch' J mi vor nix z'fürchten!“
Dem Benedict gefiel das nit. Er hatte auf jeinen einfamen Wanderungen
über den furchtbaren Similaun und Wildipiggleticher einen Hang zum Grübeln
angenommen und dachte Manchem tiefer nad, als andere Menſchen: „Gieb
Acht, Waly! Wer zu hoc 'naus will, der ftoßt leicht mit 'm Kopf oben an
und das leiden die da droben nit und ftoßen ihn 'runter!“
Sie ſchwieg.
„3 iſt z'früh, daß Du da 'rauf gehſt —“ begann er wieder, „das haltet
ja fein Menſch aus!”
„D, wie J abi bin vorigen Herbſt, war’3 noch ärger,“ meinte Wally.
Sie traten in die Hütte.
„Wem nit z’rathen ift, dem ift mit 3’helfen. Aber wenn Div’3 Der amal
nit lohnt, was Du Alles für ihn durchmachſt, dann verdient er, daß man ihm
'n Kragen umdreht!“
„Wenn er's wüßt', er thät's mir g'wiß lohne!“ ſagte Wally und blickte
erröthend dor ſich nieder.
„Er weiß es nit amal?“ fragte Benedict erſtaunt.
„Rein, ex kennt mi faum!“
„No, nachher verzeihb Div’ Gott, daß Du Dei Herz jo an 'n fremden
Menſchen hängſt — und die, die Dich Lieb haben und Did) g’hegt und "pflegt
haben, von Dir ftoßt! Weißt, das kann fei’ Lieb’ jein, das ift Eigenſinn!“
Wally ſchwieg. Auch Benedict jagte nichts mehr. Er that wie das Jahr
zuvor der alte Klettenmaier gethan hatte. Er richtete Wally, jo gut e8 ging,
die Hütte ein und trug ihr Holz im Vorrath. Dann reichte er ihr die Hand
zum Abichied: „B'hüt' Did Gott da droben! Und wenn J Dir nod) was
jagen dürft’, jo wär's das: wach’ über Dich und bet’, daß D’ nit böſe Mächt’
verfallft I”
MWally zog e3 das Herz zuſammen, al3 jein Auge jo tief traurig auf ihr
ruhte. Ihr war wirflid, als fühlte fie die böſen Mächte um ſich herivallen,
und faft unbewußt hielt fie den Beſchützer, der bisher jo treu über fie gewacht,
bei der Hand und geleitete ihn ein Stück Weges, als fürchte fie fi), allein zu
bleiben.
„Kehr' jegt um! Da wird der Weg ſchlecht; J dank Dir für's G'leit!“
jagte Benedict und trennte ſich von ihr.
„So leb' wohl und fomm’ gut heim!“ rief ihm Wally nad).
Er ſah ſich nicht mehr um. Sie kehrte nad) der Hütte zurüd und war
wieder allein mit ihrem Geier und ihren Berggeiftern. — Aber die Geifter
idienen verſöhnt. Freundlich lächelte Murzoll im Frühlingsfonnenglanz dem
wiedergefehrten Kind entgegen. Und Wally fand ſich in der hochgewaltigen Um-
gebung nicht mehr fremd, wie früher. Jede Falte auf der Stirn Murzoll's war
ihr vertraut. Sie kannte jet jein Lächeln und fein Grollen, e3 jchredte fie
nicht mehr, wenn düftre Wolken feine Stirn umlagerten, oder wenn er im Zorn
172 Deutſche Rundſchau.
Lawinen in die Tiefe hinabwälzte, ſie fühlte ſich geborgen an ſeiner rauhen
Bruſt und ſein Sturmesathem wehte ihr die Laſt vom Herzen, die ſie wieder
aus der Tiefe mit herauf gebracht. Denn im Sturm liegt eine heilende Kraft,
er kühlt das Blut, er trägt die Seele auf ſeinen rauſchenden Schwingen weit
fort über alle die Steine und Dornen, zwiſchen denen ſie ſich ängſtlich flatternd
verfangen. Wenn ein Kind ſich weh gethan und weint, ſo blaſen wir ihm die
ſchlimme Stelle, ſprechen das „Heile, heile“ dazu und das Kind lächelt uns
wieder an. So blies Vater Murzoll dem wiedergekehrten Kinde den dumpfen
Schmerz weg, der es bedrückte, und ſie blickte leuchtenden Auges und gehobenen
Herzens in die weite Welt hinaus und — hoffte und harrte.
So vergingen wieder Wochen und Monate. Die Juli-Sonne brannte be—
reits mit ſolcher Kraft, daß der Berg völlig ausgeapert, das heißt der leichtere
Winterſchnee abgeſchmolzen war bis zu den Grenzen des ewigen Schnee's, wo
Wally hauſte. Dann und wann kam einer der Rofener Brüder herauf und
fragte, ob ſie ihren Sinn noch nicht geändert. Doch kam dies nur ſelten vor
und ſtörte Wally's Einſamkeit nur auf wenige Viertelſtunden.
Eines Tages ſtachen die Sonnenſtrahlen ſo ungewöhnlich ſcharf herab, daß
es Wally war, als ginge ſie zwiſchen glühenden Nadeln hin. Wenn die Sonne
„ſticht“, näht fie Wolken zuſammen und bald, etwa um Mittagszeit, hatte fie
auch ein dichtes Wolkenzelt um fich her zufammengezogen, hinter dem fie jelbft
verſchwand, und eine bleierne Dämmerung legte ſich ſchwer über die Erde. Eine
jeltfjame Unruhe ergriff die Kleine Herde, dann und wann zudte es leuchtend
auf in dem grauen Luftchaos, wie wenn ein Schlafender mit den Wimpern
zuckt — und riefige ſchwarze Trauerjchleier umtwallten das Haupt Murzoll’3.
Hin und wieder zerriffen fie und gaben noch einen ſchwachen Durchblick in die
Terne frei, aber emfig woben fih an der dünnen Stelle neue Schleier, bis
Alles zu war, al3 gäbe es zwiſchen Erde und Himmel feinen leeren Raum mehr.
Waly wußte wohl, was das zu bedeuten habe, ſie hatte ſchon mandes
ichwere Wetter hier Oben erlebt. Sie trieb die Herde zufammen unter einen
Felsvorſprung, den ſie jelbjt im Laufe der Zeit ala Nothpferd hergerichtet hatte.
Aber eine junge Geis hatte ſich zu weit verftiegen, Wally mußte gehen, fie zu
ſuchen. Noch kein Wetter war mit joldher Schnelligkeit herangetommen. Schon
begann e3 rund um den Berg dumpf zu murren. Braufend fegte die Winds-
braut heran und warf einzelne ſchwere Hagelkörner nieder. Jetzt handelte es
ſich noch um Minuten und das Zidlein war nirgend zu ſehen. Wally löſchte
ihr Herdfeuer und trat hinaus in den Kampf der Elemente wie eine helden-
müthige Königin unter die Schaaren ihrer aufrührerifchen Untertanen. Und
föniglicd) jah fie aus, ohne es zu willen und zu wollen. Sie hatte ein kleines
fupfernes Milchkeffelchen gegen den Hagel wie einen Helm auf den Kopf geftülpt
und wie ein Mantel hing eine dicke Pferdedede von ihren Schultern nieder.
Sp, den Hirtenftab mit dem eifernen Haken ftatt der Lanze in der Hand, warf
fie fi dem Sturm entgegen und kämpfte ſich durch bis auf eine Felszacke, wo
fie nad) dem verlorenen Thier ausſchauen konnte. Aber e8 war unmöglid, in
dem Nebel etwas zu erkennen. Wally ftieg weiter und weiter bis auf den Weg,
der vom Hochjoch hinüber in's Schnaljerthal führt. Und da tief unten in der
Die Geier: Wally. Is, " run 7123 m 7 \
Schlucht hing das Zidlein am jähen Abhang und zitterte vor Angft und rumutted > —2
ſich unter den Schlägen der ſchweren Eiskörner. Und das hilfloſe Thier dauerte
ſie — ſie mußte ſich ſeiner erbarmen. Immer dichter praſſelte der Hagel auf
ſie herab und peitſchte ihr Sturm und Regen in's Geſicht, immer näher ſchwoll
es heran, wie das Wogendonnern einer nahenden Sündfluth — aber es focht
fie nicht an, das ſtumme Hilfeflehen des geängſtigten Thieres übertönte das
Toſen, und ohne ſich zu beſinnen, klomm ſie hinab in die neblige Tiefe. Mit
unſäglicher Mühe erreichte ſie auf dem ſchlüpfrigen Pfad das Thier ſoweit, daß
fie es mit ihrem Krummſtab faſſen und zu ſich heranziehen konnte, dann warf
ſie es über die Schulter und ſtieg wieder mit Händen und Füßen kletternd
empor. Da — war es, als ſchöſſe ein Feuerſtrom vom Zenith in die Schlucht
hernieder, krachend ſplitterte unter ihr in der Tiefe eine Fichte und, als brüllten
Himmel und Erde zugleich, ein Knattern von Oben, ein Brauſen, ein Donnern
ſtürzender Bäche und Blöcke von Unten, daß der einſamen Pilgerin, die da an
dem dröhnenden Felſen hing, war, als drehe ſich die Welt in wilder Auflöſung
um ſie her. Wie betäubt ſchwang ſie ſich endlich auf den ſichern Rand des
Saumpfades empor, ſie mußte einen Augenblick Athem ſchöpfen und die Näſſe
aus den Augen wiſchen, denn fie konnte faſt nichts mehr ſehen und dazu zappelte
das Zicklein auf ihrer Schulter, daß fie's binden mußte, um es weiter tragen
zu können. Schlag auf Schlag krachte indefjen über ihr, unter ihr, und als
jei der Himmel ein ledes Gefäß voll euer, jo troffen die Blife in feurigen
Güſſen nieder. Da — was war das — eine Menjchenftimme! Ein Hilferuf
Hang ganz deutlich duch das Braufen und Toſen. Wally, die nicht gezittert
hatte vor der Wuth des Orkans und des Donner? — jetzt — erbebte fie. Eine
Menihenftimme — jeßt! — hier Oben bei ihr in dem furchtbaren Aufruhr
der Natur, im Chaos! Das erjchredte fie mehr als das Toben der Elemente.
Sie laufchte mit geijpanntem Athem, woher der Ruf komme und ob fie fid
nit getäuſcht. Da rief es wieder und zwar ganz dicht hinter ihr: „He Du
dort — Hilf mir doch!" Und aus dem Nebel und Regen tauchte eine Geftalt
auf, die eine zweite Geftalt zu jchleppen ſchien. Wally ftand wie erftarrt, was
war das für ein Gefiht? Die brennenden Augen, der ſchwarze Schnurrbart,
die feingebogene Nafe, fie ſchaute und jchaute und war unfähig, ein Glied zu
rühren vor jeligem Schred — es war ja der Sct. Georg — der Bärenjojeph.
Aber aud) er war über Wally erjchroden, als fie ſich umwandte, nım aus
einem andern Grund, als fie über ihn. „Jeſus Maria, — 's ift ein Mädel?“
jagte ex faft ſcheu — umd betrachtete Wally voll Staunen. Als er fie von
rückwärts gejehen, hatte er wegen ihrer Größe geglaubt, es jei ein Hirt —
jetzt Hatte er ein Mädchen vor fi. Und wie fie jo vor ihm ftand, den langen
Mantel in ftarren Falten um fich geworfen, das Haupt kriegeriſch gegen den
Hagel behelmt, die dunkeln Haare aufgelöft und triefend um das Geficht hängend,
den Krummftab in der Hand und auf der breiten Schulter das Zidlein, die
großen Augen flammend auf ihn geheftet, da ward ihm einen Augenblid un-
heimlich, ala habe er etwas Nebernatürliches vor fih. In jeinem ganzen Leben
hatte er noch fein jo getwaltiges Frauenbild gejehen, und er brauchte eine Weile,
bis er jich mit ihr zurecht fand.
174 Deutſche Rundſchau.
„Ach,“ ſagte er, endlich begreifend, „Du biſt am End' die Geier-Wally
vom Stromminger?!“
„Ja, die bin %!” erwiderte das Mädchen athemlos.
„Ah jo! ja, da ſollt' J eigentli nix mit Dir z'ſchaffen hab'n!“
„Warum nit?“ frug Wally erbleichend, und ein Blitz zudte gerade auf fie
nieder, daß ihr Fupferner Helm roth aufleuchtete.
Joſeph mußte innehalten, jo ſchmetternd war der Schlag, der ihm folgte,
und mit neuer Wuth prafjelte ein Hagelichauer herab. Joſeph ſchaute verlegen
auf das Mädchen, fie ftand unbeweglih, indeß die Eisftüde Beulen in das
leichte Keſſelchen anf ihrem Kopf ſchlugen. Joſeph beugte fich über die Lebloje
Geftalt, die er trug.
„Weißt, 3 bin halt jeit der G’ihicht in Sölden mit Dei'm Water im
Verſchmach, und die Leut' jagen, mit Dir jei’3 auch nit zum Ausfommen. Aber
da3 arme Madel kann halt nimmer weiter, 's ift a Bli neben ihr eing’jchlagen
und hat’3 umg’worfen, und fie ift ganz von fich! Geh’, führ’ uns in Dei
Hütt'n, daß die Din ausruhen kann, bis 's Unwetter vorbei is — naher
geh’n wir glei’ wieder — und 's joll au g’wiß nimmer vorkommen!“
Wally jah ihn auf diefe Rede jeltfam an — halb trogig, halb ſchmerzlich.
Ihre Lippen zucdten, als wolle fie heftig etwas erwiedern, aber fie bezwang
fich, und nad) einem kurzen ftilen Kampfe jagte fie nur: „Komm!“ und jchritt
ihm voran. Nach einer Weile blieb fie ftehen und fragte: „Wer ift die Dirn'?“
„3 ift eine arme Magd aus’m Vintſchgau und fommt in’s Lamm nad
Ziwiejelftein. Mei Mutter iS gftorben, und da hab’ % 'nüber müſſen in's
Vintſchgau, wo fie 3’Haus war, wegen der Erbichaft, und weil wir g’rad einen
Weg g'habt haben — hab’ I's Madel mit rüber g’nommen!“ antwortete
Joſeph ausweichend.
„Dei Mutter ift g’ftorben? D du armer Joſeph —“ rief Wally theil-
nehmend.
„Ja — da3 war ein harter Schlag!" jagte Joſeph tieftraurig: 7,da3 gute
Miütaterl!"
Wally jah, daß es ihm weh that, davon zu reden und ſchwieg. Sie ſprachen
nichts mehr, bis fie die Hütte erreichten.
„Das ift ein böjes Loch!” jagte Joſeph, als er fi beim Eintreten troß
des Bückens die Stirn anftieß: „Da g’hört ſchon was dazu, jei’ Kind in fon
Hundsſtall z'ſtecken! No Du haſt's ihm freilich) darnach g'macht.“
„So — weißt Du das?“ fuhr jetzt Wally bitter auf, während ſie ihr
Zicklein losband und in einer Ede abſetzte. Dann ſchüttelte fie ihr Lager
zurecht und Half Joſeph die Fremde darauflegen. Ihre Hände zitterten dabei.
„No,“ fuhr Joſeph harmlos fort: „Das weiß Jeder, daß D’ jo wild bift
wie Dei’ Vater und da D’ den Gellner-Bincenz beinah todtg’jchlagen hätt'ft
und Deim Vater d’ Scheuer an’zünd’t im Zorn! J mein halt, wenn's D’ jeht
ſchon jo anfangft, kannſt's noch weit bringen!“
„Weißt Du warum % den Vincenz g'ſchlagen hab’ und d’ Scheuer an-
zünd't?“ frug Wally mit bebender Stimme: „Weißt, warum J da heroben
bin in dem Humdaftall, wie Du's g’heißen haft?! Weißt's?“ Und fie zer
Die Geier-Wally. 175
brady mit den Händen einen ftarfen Aft über dem Knie, dat das Holz krachend
jpfitterte, und Joſeph unwillkürlich ihre Kraft bewunderte.
„Rein,“ jagte er, „woher joll I's willen?“
„Ro wenns Du’3 nit weißt, jo red’ auch nit!” grollte fie leife und machte
Feuer, um für die Kranke Milch zu mwärmen.
„So jag’3 mir, wenns D’ meinft, % thu’ Dir Unrecht!“
Da ſchlug Wally plöglid wieder jene gellende bittere Lache auf, die ihr
eigen war, wenn ihr heimlich das Herz blutete. „Dir — Dir joll I's jagen?!“
tief fie. „La — Du wärft mir g’rad der Rechte, dem I's jaget!” Und jie
Ipülte mit fieberhaftem Eifer ein Keſſelchen, goß die Milch hinein und hing es
iiber da3 prafjelnde Teuer.
Sojeph fühlte nicht den Schmerz heraus, der in diefem Hohn lag — er
fühlte nur den Hohn und wandte ſich verdroffen von ihr ab: „Mit Dir ift nit
zreden, da hab’n die Leut’ Schon recht!“ Von nun an beichäftigte er ſich nur
noch mit der Kranken.
Auch Waly ſchwieg und blicdte nur dann und wann, während fie herum-
hantirte, verftohlen auf Joſeph, der übergoffen von dem rothen Feuerſchein auf
einem Schemel unweit de3 Lagers ſaß. Wie ein paar Kohlen glühten feine
Augen im Wiederjchein der Flammen, die bald ſchwächer, bald heller aufleudy-
teten und das jchöne, ftrenge Geficht des Jägers wunderbar wechjelnd verklärten,
daß es bald düfter, bald freundlich erſchien.
Da fiel Wally plötzlich ihr Traum der erften Nacht hier oben ein. „Wenn ihn
die jeligen Fräulein jo jehen könnten, fie müßten an ihm vergehen wie Schnee
am Teuer!” jo etwas mochte fie wohl denken und ihr war, als könnte jie, wie
man vom Herzen jagt, auch den Bli nur blutend von ihm losreißen, und es
fielen ihr wirklid ein paar heiße Tropfen vom Auge, als fie fi) abwandte,
zwar feine Blutstropfen, aber fie thaten nicht minder weh.
Die Fremde fam jebt zur Befinnung und frug erftaunt: „Was ift denn?“
„Sei nur ruhig, Afra,“ jagte Jojeph, „weißt, der Blitz hat Di faft der-
ſchlagen, und da hat uns die Stromminger Wally in ihr Hütt'n g’führt.“
„Jeſus Maria! bei der Geier-Wally find wir?” ſagte da3 Mädchen er-
Ichroden.
„Sei ſtaad,“ tröftete fie Joſeph, „ſobald D’ Dich erholt haft, geh'n wir
wieder!“
„Alfo bis in's Vintſchgau 'nüber haft’ ſchon von mir g’hört? Da trink
Eins auf den Schreck,“ ſagte Wally ruhig mit einem Anflug gutmüthigen
Spotte3 und reichte ihr die warme Mil mit etwas Branntiwein gemilcht.
Joſeph war aufgejtanden, um Wally mit dem Getränf an das Bett zu lafjen.
Afra verfuchte, ſich aufzujegen, aber e3 ging nicht, und Wally griff raſch zu
und richtete fie auf, jie hielt fie im Arme wie ein Kind und gab ihe mit der
andern Hand zu trinten. Ara that einen durftigen Zug aus der Holzjchale,
aber fie war jo ſchwach, daß ihr Kopf auf Wally's Schulter ſank, nachdem fie
getrunfen. Wally winkte Yojeph, ihr die Schale abzunehmen und blieb jo ge-
duldig ſitzen, um die Kranke nicht zu ſtören.
Joſeph betrachtete fie nachdenklich), wie fie jo auf dem Bettrand ſaß, das
176 Deutiche Rundichau.
Mädchen im Arm: „Ein Ihön’s Dirnd'l biſt“ — jagte er ehrlich — „nur ſchad'
daß D’ jo ſchiech biſt!“
Eine leiſe Röthe überflog Wally's Geſicht bei dieſen Worten.
„Aber Dir ſchlagt amol Dei Herz!“ ſagte Afra, „I ſpür's an Deiner
Achſel.“ Und ſie hob jetzt etwas kräftiger den Kopf und ſah ihr in das ſchöne,
luftgebräunte Geſicht und die großen Augen. Wally betrachtete jetzt auch das
Mädchen aufmerkjamer. Sie jahr, daß fie liebliche Züge, Teelenvolle blaue
Augen und blondes Haar hatte, wie von Seide geiponnen, und ein eigenthüm-
lid) banges widerwilliges Gefühl beichlich fie dabei. Sie jah auf Joſeph, ftand
auf und fing wieder an herumzuhantiren.
„St denn des auch g’wiß die Geier-Wally?” fragte jet Afra ihren
Führer, ala könne fie e3 nicht begreifen, daß die verjchriene Geier-Wally jo gut
jein jollte.
„Dan jollt’3 nit meinen, aber jie jagt ja jelber, fie ſei's!“ eriwiederte Jo—
ſeph halblaut.
„Und J will Dir’ glei beweilen, daß I's bin,“ rief Wally mit auf-
mwallendem Stolz, öffnete die Thür und rief hinaus: „Hansl — Hansl, wo
bift?“ Ein greller Schrei antwortete ihr und jogleih fam Hansl vom Dad
herabgebrauft und zur Thür herein.
„Jeſus, was ift das?“ jchrie Afra, jich befreuzigend, aber Joſeph ftellte
ih vor fie, um fie zu ſchützen.
„Das ift der Geier, den J als Kind aus'm Neſt g’nommen hab’ — drüben
an der Burgfteinwand. Von dem Hab’ % ja mein’ Namen — die Geier:
Wally!“ Und ihr Auge hing jo ſtolz an dem Vogel, wie das eines Soldaten
an der eroberten Fahne: „Da ſchauſt, jo Hab’ J mir'n zähmt, daß J ihn frei
rumfliegen lafjen kann und ex fliegt mir doch nit fort!" Sie jeßte ihn fi
auf die Schulter und entfaltete jeine Schwingen, damit Joſeph jähe, daß fie
nicht bejchnitten waren.
„Das ift ein Staatskerl,“ jagte Jojeph, und jein Yägerauge hing feindlich
(üftern an der ftattlichen Beute, die fein Jäger dem andern, geſchweige denn
einem Mädel gönnt! Es mußte etwas in diefem Blick liegen, das den Geier
reizte, denn er jtieß ein eigenthümliches Pfeifen aus, bog den Hals vor und
jträubte die Federn gegen Joſeph.
MWally fühlte die ungewohnte Bewegung auf ihrer Schulter und juchte den
Geier mit Streiheln zu beſchwichtigen. „No Hansl, was fallt dir denn ein,
bift doch ſonſt nit jo!“
„Aha, Kerl — gelt, merkt 'n Jaga,“ lachte Jsſeph Herausfordernd und
griff übermüthig nad dem Wogel, al3 wolle er ihn von Wally's Schulter
reißen. Da entfaltete das gereizte Thier plößlich feine Kraft, breitete die
Schwingen aus, raufchte zur Dede auf und ftieß mit feiner ganzen Macht auf
den Feind nieder. Ein Schrei des Entjegens entrang ſich Wally’3 Lippen, Afra
flüchtete fi) in eine Edke, die enge Hütte war faft ausgefüllt von dem braujen-
den Ungethüm, das auf feinen Ruf jeiner Herrin mehr hörte, mit dem furcht—
baren Schnabel immer wieder auf Jojeph eindrang und ihm die Fänge in die
Hüfte zu jchlagen verſuchte. Es war nichts mehr als ein Knäuel von fämpfen-
Die Geier-Wally. 177
den Fäuſten und Fittigen, daß die Federn ftoben und die Wände roth wurden,
wo Joſeph's blutige Hände fie berührten. „Mein Mefjer, wenn J nur mein
Meſſer "rausbringen könnt',“ ſchrie Joſeph.
Wally riß die Thür auf: „Hinaus, Joſeph, in's Freie — in dem engen
Loch kannſt ihm ja nit auskommen.“
Aber der „Bären-Joſeph“ lief nicht vor einem Geier davon. „Der Teufel
ſoll mich holen, wenn J vom Fleck geh'!“ ſtöhnte er. Noch einen Augenblick
ſchwankte der Kampf. Da bekam Joſeph, das Geſicht an die Wand gedrückt, mit den
eiſernen Fäuſten den Geier bei den Fängen zu packen und zwang nun das
ſträubende Thier mit Rieſenkraft wie in einer Falle nieder, während es ihm
mit dem Schnabel Hände und Arme zerhackte. „Jetzt mein Meſſer, zieh' mir's
Meſſer 'raus — J hab’ ja fein’ Hand frei,“ rief ev Wally zu.
Aber Wally nübte den Augenblick anders, ſprang bei und warf dem Geier
ein dickes Tuch über den Kopf. Nun war e3 ihr aud ein Leichtes, ihm mit
einem Strid die Füße zuſammen zu binden und jo war er unschädlich gemacht.
Yojeph warf ihn zur Erde. Ohnmächtig zudend zerarbeitete fi) das ftolze
Thier in dem Tuche am Boden und Joſeph ging hin und lud feine Flinte.
„Bas machſt D’ da?” frug Wally erftaunt.
„J lad’ mei Biren,“ jagte er und biß die Zähne zujammen vor Schmerz
an jeinen zerhadten Händen. Als er geladen, nahm ex den gefefjelten Vogel
vom Boden auf und warf ihn vor die Hütte, hinaus in’3 Freie, dann ftellte
ex fih unweit davon auf, legte an und jagte leife, gebieterifch zu Wally: „Jetzt
bind’ ihn Los.“
„Bas joll J?“ fragte Wally, die nicht recht zu hören glaubte.
„liegen ſollſt D’ 'n lafjen!“
„gu was?“
„Daß J'n Ichießen kann — Weißt nit, daß a rechter Jaga kein Wild
anders al3 im Sprung oder im Flug ſchießt?“
„sa, um Gotteswillen!” jchrie Wally, „Du wirft mir doc mein’ Hansl
nit derſchießen woll’n!“
Joſeph jah fie num jeinerjeit3 verwundert an: „Soll J den biffigen Ruad)
etwa leben laſſen?“
„Joſeph —“ rief Wally und trat entjchloffen vor ihn Hin: „Lafj’ mix
mein’ Hansl ung’shoren! J hab’ den Vogel jeine Alten ab'kämpft mit Lebens—
g’fahr, Hab’n vom Neft auf'zogen, Fein Menſch mag mi’, als des Vieh — 's
is mei’ Einzig's, was J hab’ auf der Welt — dem Hansl darfft nix thun!“
„So,“ ſagte Joſeph ſcharf und bitter, „der Satan hat mir beinah d' Augen
ausg’hadt und J ſoll'm nir thun?“
„Er hat Di’ halt nit kennt! Was kann denn der Vogel derfür, daß er
nit g’icheidter 18 — Du wirft Di’ doch nit rächen woll’n an jo 'n unvernünf-
tigen Thier.“
Sojeph ftampfte mit dem Fuß. „seht bind’'n auf, daß er flieg'n kann,
oder J ſchieß'n jo z'ſammen.“ Er legte die Büchſe an.
Da ftieg Wally das heiße Blut zu Kopf und fie vergaß Alles um ihren
Schützling. „Des woll’n wir doch jehen,“ rief fie in flammendem Zorn, „ob
178 | Deutiche Rundichau.
Du Dich vergreifen wirft an mein’m Eigenthum. Thu’ die Bir'n weg! Der
Bogel g’hört mir! Hörſt's? Mir g’hört er! Und % laß ihm nix g’ichehen,
'3 mag kommen, was will. Weg mit der Bir'n — oder Du jollft mich kenne
lerne!“ Und fie Ichlug ihm mit einem rajchen Griff die Flinte aus der Hand,
daß der Schuß ſich krachend gegen die Felswand entlud.
63 lag etwas in ihrer Haltung, wa3 den gewaltigen Burjchen, den Bären-
jäger, bezwang, daß er jcheinbar ruhig den Stuten aufnahm und mit bitterem
Hohn jagte: „Meintswegen! J will Dir Dein trummjchnableten Schaf Laffen —
'3 iſt vielleicht doc) der Einzige, den D’ Eriegft in Deimm Leben —! Du —
Du bift halt die Geier-Wally!“
Und ohne jie weiter eines Blickes zu würdigen, viß er jein Taſchentuch in
Streifen und verjuchte jich die zerfleiichten Hände damit zu verbinden. Wally
iprang herbei und wollte ihm helfen, jet exit jah fie, wie ſchlimm die Wunden
waren und ihr war, al3 blute ihr eigenes Herz bei dem Anblid: „DO Jeſus,
Bua, was haft für Händ',“ jchrie fie auf, „komm, J will Dir's abwaſchen
und richten.“
Aber Joſeph ſchob fie bei Seite: „Laß —! Die Afra fann’3 machen!“
Er trat in die Hütte. Wally überfam eine tödtliche Angft. Sie fühlte
plötzlich, daß ſie fi ihn zu Feind gemacht, vielleicht für immer, umd ihr war,
als müſſe fie fterben bei diefem Gedanken. Wie gebrochen ging fie ihm nad
und ihre Augen verfolgten mit einer Art von eiferfüchtigem Haß die Fremde,
während jie Joſeph verband.
„Joſeph,“ jagte Wally mit erjtidter Stimme, „Du mußt nit meinen, J
machet mir nir aus Deine Wunden, weil J Di den Hansl nit hab’ derichießen
laſſ'n. Schau, wärn ſ' da dervon heil word'n — jo hätt’jt wegen meiner 'n
Hanjel und mi derzu derichiegen könne — aber jo hätt’s ja doch nix g’holfen.“
„3 18 ſchon gut, Du braucht Di nit 3’ entichuldige,“ jagte Joſeph ab-
wehrend. „Afra,“ frug er das Mädchen, „kannſt jet weiter?“
„ja,“ jagte dieje.
„So mad’ Di fertig, wir woll’n geh'n!“
Wally entfärbte fih. „Joſeph — magft nit noch a wenig ausruhen —
% hab’ Dir ja noch gar fein Imbiß ’geb’n! J will Dir noch g’ihwind was
koch'n — oder magit 'n Schlud Milli?“
„I dankt Dir für Alles — J will jet mach'n, daß J z'Haus — vor
Nacht. 's regnet ja nimmer und die Afra kann wieder lauf'n.“
Damit half er der Dirn ſich fertig machen, hing die Büchſe über die Shul-
ter und nahm den Alpftod zur Hand.
Da hob Wally eine der Federn auf, die Hanfel im Kampfe verloren und
iteckte jie Jojeph auf den Hut: „Die Feder mußt’ tragen, Joſeph; Du darfft
fie tragen, denn Du haft ja den Geier zwunge und er wär’ ja Dei Jagdbeut',
wenn’ D’n mir nit g’ichenkt hätt'ſt.“
Aber Jojeph nahm die Feder vom Hut: „Du magſt's qut meine — aber
die Feder trag IJ nit — J bin nit g’wohnt, mei Beut' mit Mädeln
ztheilen!“ | .
Tie Geier:Wally. 179
„Sp nimm den Geier ganz mit, J ſchenk' ihn Dir, aber J bitt' Dich
nur, laſſ'n leben!” ſtieß Wally athemlos heraus.
Joſeph jah fie vertvundert an. „Was fallt Dir denn ein! J werd’ Dir
mir nehme, wodran Dir Dei Herz jo hangt. Vielleicht fang’ J amal an Ieben-
digen Bären, den bring J Dir nod) dazu, daß die G'ſellſchaft vollftändig wird!
Aber bis dahin ſiechſt mi nimmer, 's könnt’ mir doch amal pafjiren, daß J den
Vogel derſchießet, wann I'n wo treffet — da will I's Revier lieber meiden!
B'hüat Gott und Dank für's Obdach!“
Damit jchritt er ftolz und ruhig aus der Hütte,
Da bückte ji) Afra und hob die von Joſeph weggeworfene Feder auf.
„Schenk' mir die Feder,“ jagte fie, „Y will’ in mei Betbüchel legen und jo
oft I's ſieh, a Vaterunfer für Dich beten!”
„Wegen meiner!” jagte Wally dumpf, fie hatte faum gehört, was Afra
ſprach. Es pochte und hämmerte in ihrer Bruft und jaufte in ihren Ohren,
ala toje noch das Unwetter um fie her. Sie ging den Dahinjchreitenden nad)
vor die Hütte. Das Unwetter hatte ſich verzogen, die ſchwarzen Wolkenſchleier
hingen zerfeßt herab und durch die Riſſe ſchimmerte die feucht verſchwommene
Ferne, Nur dumpf grollte der abziehende Donnergott nad) und verraufchend
itürzte das Waffer in den Runjen zur Tiefe, jonft aber war Alles ftill und
ruhig rings umher und ein weißes Leichentud) von Schnee und Eiskörnern
hatte fich über den Berg gebreitet.
MWally ftand regungslos, die Hände auf die Bruft gepreßt. „Er kann fich’s
ja nit denfen, wie arm Eins jein muß, wenn's jet Herz an ſo'n Vogel hängt!“
jagte fie zu ſich jelbft. Dann kniete fie nieder und band das halb erftarrte
Thier los, das ſchwankend auf ihren Arm klomm und fie verftändig anjchaute,
ala wolle e8 fie um Verzeihung bitten. „a, ſchau mi nur an,” ſchluchzte fie,
„o Hansl, Hansl — was haft mir 'than!“
Sie jeßte fi) auf die Stufen ihrer Hütte, ließ Hansl zur Erde und weinte
jo recht aus Herzensgrund, bis ſie's jatt befam, ſich ſelbſt jchluchzen zu hören.
Sie blickte hinauf, wo eine hohe Schneewand ſenkrecht Hinter ihr emporftieg,
hinunter, wo rechts und links in den überjchneiten Mulden der Tod fein kaltes
Neft bereitet hatte, hinaus in die graue Ferne, wo lange Regenftreifen vom
Himmel zur Erde niederhingen, und plößlich fühlte fie e8 wieder, ganz und
ſchwer, wie am erjten Tag, daß ſie in der Einöde war — und blieb!
X.
Die Höchſtbäuerin.
Wieder war ein Jahr vergangen, ein jchweres Jahr für Wally, denn als
der einfame Sommer in der Wildniß vorüber war und Stromminger die Heerde
holen ließ, jtieg Wally auf der andern Seite des Ferners hinab in das Schnaljer-
thal, two fie ganz fremd war, und juchte jich da einen Dienft. Zu den Rofenern
wollte jie nicht wieder zurüd, da fie ihr Werben abweiſen mußte. Es wurde
ihr bier ebenjo ſchwer mit dem Geier ein Unterkommen zu finden, wie drüben
im Oebthal, und fie verzichtete endlich auf jeden Lohn, nur damit Hanfel mit
180 Deutihe Rundſchau.
aufgenommen wurde. Natürli” war ihr Loo3 ein trauriges, fie wurde um
diefer „Narrheit“ — wie fie'3 nannten — willen herumgeftoßen und verächtlich
behandelt von den Frauen und mußte ſich oft mit Gewalt gegen die gemeine
Zudringlichkeit der Männer wehren, die hier wie überall Gefallen an der ſchönen
Dirn fanden. Dennoch exrtrug fie das Alles ftandhaft, denn fie war zu ftolz,
um unter einer Laft zu ächzen und zu wehllagen, die fie freiwillig auf fi)
genommen.
Aber fie wurde hart und immer härter dabei, gerade das, wovor der gute
Caplan fie gewarnt. Die Geifter aller gemordeten Freuden ihres jungen Lebens
gingen in ihr um und jchrien nach Race. In dem kurzen Mai des Lebens
find drei verlorene Jahre viel. Andere junge Mädchen weinen und Elagen um
einen verlorenen Tanz! Wally trauerte nicht um all die verfäumten Tänze,
um all die taufenderlei VBergnügungen ihres Alters, fie trauerte nur um die
verjäumte Liebe, und das Gemüth, da3 fein Sonnenftrahl des Glücks beichienen,
wurde herb und hart, wie die Frucht, die nur im Schatten gereift ift.
So ftieg fie wieder zur Frühjahrszeit auf den Ferner. E3 war ein raubes
Frühjahr und ein ſtürmiſcher Sommer, wo Regen, Schnee und Hagel mit
einander abwechjelten, daß Wally’3 Kleider oft Tagelang nicht mehr troden
wurden und fie ganze Wochen hindurch in einem undurddringliden Chaos
naſſer Wolfen athmete, in dem es nimmer Licht werden wollte, wie vor dem
erften Schöpfungstag.
In Wally's Bruft malte fi) das große Chaos im Kleinen, Grau in Grau.
Die ganze Welt war nur noch ein trüber, finfterer Traum, wie dies Nebeltreiben
um fie her — und der Gott fam nicht, der da ſprach „es werde Licht!”
Eines Tages aber, nad) endlojen Wochen der Finſterniß, ſprach er dennoch
jein mächtiges Schöpfungswort und der erfte Lichtjtrahl ſchoß wieder durch die
Wolken und vertheilte fie, und allmälig jchied ſich aus dem Chaos eine jchöne
geordnete Welt aus, mit Bergen und Thälern, Teldern, Wäldern und Seen,
und das Alles lag plößlich fertig vor Wally da umd ihr war, ala wäre aud)
fie exrft neu zum Leben erwedt, wie einft die Stammmutter der Menſchheit,
daß ſie fich diefer Welt mitfreue, die Gott jo jchön geichaffen, daß er fie fi
nicht allein gönnte, jondern fi noch Wejen dazu jchuf, fie mitzugenießen!
Sollte e3 denn wirklich auf diejer ſchönen Welt fein Glück geben? Und
warum hatte Gott fie, die arme Eva, da herauf gejegt in die Einöde, daß der,
für den fie geboren war, fie nicht finden mochte? „O Hinunter, hinunter, ’3 ift
genug hier Oben!” jchrie es plößlich in ihr auf und wild brach mit einemmal
die Luft zu leben, zu lieben, zu genießen in ihr hervor, daß fie die Arme jehn:
lüchtig ausbreitete nach der jonnigen lachenden Welt da unten!
„Wally, Du jollft abi komme, glei) — der Vater is g’ftorben!“ Der
Hirtenbub jtand vor ihr.
Wally ftarrte ihn wie träumend an.
War e8 ein Spud ihres eigenen Herzens, das eben erſt jo aufrühreriſch
nad Glück geihrien? Sie faßte den Buben bei den Schultern, als wolle fie
fühlen, ob e3 etwas Wirkliches, kein Trug jei!
Die Geier-Wally. 181
Er wiederholte die Botſchaft: „Das Uebel an jeinem Fuß ift immer ſchlim—
mer worden. Der Brand ift derzufommen und heut Morgen war er todt!
Seht bift Du Herr auf'm Höchſthof und der Hlettenmaier laßt Did grüßen.“
So war es wahr, wirflih! Der Erlöjer, der Friedens- und Freiheits—
bringer ftand leibhaftig vor ihr! Darum hatte Gott ihr die Welt jo jchön
gezeigt, al3 wollte er ihr vorherjagen: „ſieh, das ift jeßt Dein! Komm herab
und nimm, was id) Dir bejcheert!”
Und fte ging ftill nach ihrer Hütte und ſchloß ji ein. Dort kniete fie
nieder, dankte und betete — betete jeit langer Zeit zum erjtenmal wieder in-
brünftig aus tieffter Seele, und heiße Thränen um den Vater, der nun dahin=
gegangen, ohne daß ſie ihn je Eindlich Lieben gedurft und gekonnt, quollen aus
dem erxlöften, verjöhnten Herzen hervor!
Dann flieg fie nieder in die Heimath, die ihr nun endlich wieder Heimath
war, wo ihr Fuß Wieder auf eigenen Grund und Boden trat. Der Klettenmaier
ftand vor dem Thor und ſchwenkte jauchzend die Mübe, als jie anfam. Die
Magd, die vor zwei Jahren jo grob gegen Wally geweſen, brachte ihr heulend
und unterwürfig die Schlüffel und unter der Zimmerthür empfing fie Vincenz.
„Wally,” begann er, „Du haft mich gar ſchlecht behandelt, aber —“
Wally unterbrah ihn ruhig, aber ftreng: „Vincenz, hab J Dir Unrecht
'than, jo mag mid Gott dafür ftrafen, wie's ihm g’fallt. J kann's nit bereuen
und nit gut maden, und J verlang auch nit von Dir, daß Du's mir verzeihft !
Jetzt kennſt meine Meinung und jet bitt’ J, laß mi allein!”
Und ohne ihn weiter eine Blicke zu wirrdigen, ging fie zur Leiche ihres
Vaters hinein und jchloß die Thür. Thränenlos ftand fie da. Sie hatte weinen
gekonnt um den verklärten Vater, der die irdiſche Hülle abgeftreift hatte; aber
vor der irdiſchen Hülle, die mit plumper Fauft fie jelbft und ihr Leben ver-
pfuſcht, die fie geichlagen und getreten "hatte, vergoß fie feine Thräne, war fie
wie von Stein!
Sie betete ruhig ein Vaterunſer, fie kniete nicht dabei nieder. Wie fie vor
dem lebenden Vater geftanden, regungslos, in ſich zufammengefaßt, jo ftand fie
auch vor dem todten, nur jet ohne Groll, verfühnt durch den Tod.
Dann ging fie in die Küche, um Alles für den Imbiß zu rüften, wenn
„„'Nacht“ die Nachbarn zum Beten umd zur Todtenwaht kommen. Da gab
e3 alle Hände voll zu thun und als es Mitternadht war, füllte fi) die Stube -
jo mit Betern, daß Wally kaum genug zu efjen und zu trinken herichaffen
fonnte; denn je reicher ein Bauer ift, dejto mehr Nachbarn finden jich zum
Machen und Beten ein. |
Wally jah das Alles mit ftilem Widerwillen mit an. Da lag ein todter
Mann — und fie aßen und tranten wie die Fliegen dabei. Da3 dumpfe Sum-
men und Treiben um fie her war ihr jo ungewohnt auf die erhabene Stille
ihrer Berge und kam ihr jo Klein und elend vor, daß fie jih unwillkürlich
wieder hinwegwünjchte auf ihre Höhen.
Stumm und kalt jchritt fie zwiſchen den heulenden, effenden und trinfenden
Leuten hindurch und man fand, fie jähe ihrem todten Vater recht ähnlid. Am
dritten Tag war das Begräbniß. Von allen Ortichaften nah und fern famen
182 Deutiche Rundſchau.
die Leute herbei, theils um dem gefürchteten und angejchenen Höchjftbauern die
legte Ehre zu erweijen, theils um fich bei der böjen Geier-Wally, die nun dod)
Herrin der großen Stromminger’ichen Befitungen geworden, „wohl dran zu
maden“. Denn war fie auch bisher eine „Mordbrennerin” und ein „Ihunit-
gut“ geweſen — jet war fie die reichſte Bäuerin im Gebirg und das änderte
Alles!
Wally fühlte diefen Umſchlag wohl und wußte aud), woher er fam. Als
nad dem Begräbniß diejelben Leute, die fie vor einem Jahr, da fie hungernd
und frierend um einen Dienft bat, mit Schimpf und Schande von der Thür
getwiejen, jet mit krummem Budel und grinjend vor ihr ftanden — da wandte
jte fi mit Efel ab — und von der Stunde an veradhtete fie die Menſchen!
Auch der Caplan von Heiligkreuz und die Rofener waren gekommen. Jetzt
war der Augenblid da, wo te ihnen wenigftens äußerlich vergelten konnte, was
fie ihr Gutes gethan, da fie arm und verlaſſen gewejen, und fie zeichnete fie
vor allen Andern aus und hielt fich allein zu ihnen.
Als der Leichenſchmaus vorüber war und die Leute jich endlich zeritreut
hatten, da blieb der Caplan von Heiligkreuz nod ein wenig bei ihr und ſprach
manches gute Wort: „Du bift jebt eine Herrin über vieles Geſind“, ſagte er,
„aber bedenke, daß, wer ſich nicht jelbit zu beherrichen weiß, auch niemand
Andern beherrichen wird! Es ift ein uralt Wort: „Wer nicht gehorchen kann,
der kann nicht befehlen“. Kerne gehorchen, mein Kind, damit Du befehlen
kannſt!“
„Aber, Hochwürdiggnaden, wen ſoll J denn g'horchen, 's ift ja Niemand
mehr da, der mir was z'ſagen hätt'?“
„Gott!“
Wally ſchwieg.
„Da,“ ſagte der Caplan und zog etwas aus der Taſche ſeines weiten Rockes.
„Schau, das hab’ ich ſchon lang für Dich beſtimmt, ſeit Du damals bei mir
warit; aber auf Deinen Wanderungen hätteft Du's doch nicht mit Dir nehmen
fönnen.” Gr nahm aus einer Schadtel ein ſauber geſchnitztes Heiligenfigürden
mit einem Poftamentchen von Holz.
„Schau, das ift Deine Schußpatronin, die heilige Walburga. Weißt Du
no, was ich Dir jagte vom harten und weichen Holz, und vom lieben Gott,
der aus einem Inorrigen Stod eine Heilige ſchnitzen kann?“
„sa, ja,” ſagte Wally.
„Run fiehft Du, damit Du's nicht vergißeft, hab’ ih Dir von Sölden jo
ein Figürchen kommen lafjen, das häng über Deinem Bett auf und bete fleißig
davor, das wird Dir gut thun.“
„J dank ſchön, Hochwürden,“ jagte Wally jichtlich erfreut und nahm das
zerbrechliche Dingelchen behutfam in die harten Hände. „J will g'wiß immer
dran denfen, wenn 3 anſchau, was Sie ihm für eine finnreihe Auslegung
'geben hab'n! Alſo fo hat die heilige Walburga ausg’ihaut! — O dag muß
ein gar lieb's ſchön's Menſch g'weſen jein! Ja, wer jo fromm und brav mär,
wie Die!“
Und al3 der Klettenmaier über den Hof auf fie zufam, hielt fie ihm das
Die Geier:-Wally. 183
Figürcchen entgegen und rief: „Schau, Klettenmaier, was J kriegt hab’: die
heilige Walburga, meine Schußpatronin! Dafür ſchick'n wir aber 'm Seren
Caplan das erfte jchöne Lammpel, das wir ziehen, zum G'ſchenk.“
Der gute Gaplan legte zwar lebhafte Verwahrung ein gegen dieje Art von
Segengabe, aber Wally ließ es ſich in ihrer Freude nicht nehmen.
Als der Gaplan fort war, ging Wally in ihre Kammer und nagelte die
Schniterei zu den Heiligenbildern über ihrem Bett auf und rings darumher
wie einen Kranz die Kartenblättchen der alten Ludard. — Dann ging fie zu
jehen, was e3 in Haus und Hof etwa zu thun gäbe.
„Hanſel,“ rief fie im Vorbeigehen dem Geier zu, der auf dem Holzichuppen
ſaß, „jet find wir da Meifter!" Und das Gefühl der Herrfchaft durchdrang
fie nach der langen Knechtung, wie beraujchender Wein, in durftigen Zügen ge-
trunfen, dem Verſchmachtenden die Adern jchwellt !
Auf dem Hof hatte ſich das duch Vincenz gedungene Gejind verfammelt
und VBincenz jelbft war mitten darunter. Ex war hager und gelblich-blaf ge-
worden und am Hinterkopf hatte er in dem dichten ſchwarzen Haar eine Fahle
Stelle wie eine Tonſur. Die funtelnden Augen lagen tief in ihren Höhlen,
wie Wolfsaugen, die aus einem Felsſpalt heraus auf Beute lauern.
„as giebt’3?" frug Wally und blieb jtehen.
Die einft jo grobe Oberdirn näherte jih ihr in jcheuer Unterwürfigteit.
„Bir hab'n Di nur frag’n woll'n, ob D’ uns jeßt fortſchickſt, — weil wir
jo bös gegen Did) warn, wie der Stromminger noch g’lebt hat? Weißt, wir
hab'n halt thun müſſ'n, wie er's g’wollt hat.“
„s habts Euer’ Schuldigkeit 'than,“ ſagte Wally ruhig. „Jſchick Kein’
fort, ehvor J nit g'funden hab’, daß er unehrlich oder im Dienſt ſchlecht it,
und wenn Os kein’ jo frummen Buckel vor mir machtet — thätet Os mir
beffer g’jallen! Geht's an Euer Arbeit, daß J ſiech, was O3 ſchafft's — das
iſt g’icheidter, als die Faxen!“
Die Leute entfernten fih. Vincenz blieb ftehen und jeine Augen hafteten
glühend an Wally. Sie drehte ſich nah ihm um und ftredte die Hand gegen
ihn aus — „Nur Ein’n verbann’ von mei'm Grund und Boden, Did Vin-
cenz!“ jagte fie.
„Wally!“ ſchrie Vincenz auf, „das — das für Alles, was J für Dein’
Vater 'than hab?“
„Was Du mei'im Vater als Verwalter g’holfen haft, jo lang ex lahm war,
ſollſt erſetzt kriegen — J ſchenk' Dir die Matten, die an Dein’n Hof ftoßen
und Dein Gut rund machen, J denk, damit it Deine Müh und Zeit bezahlt —
und wenn's nit ift, jo ſag's, J will Div nir jchuldig bleiben — verlang, was
D' magft — aber geh’ mir aus die Augen!“
„J will nix, % mag nir al3 Did, Wally — ohne Di ift mir Alles
Eins. Du Haft mid) beinah' umbradt, Du haft mid) mißhandelt, jo oft D'
mich g’jehen haft — und — der Teufel jol’s holen — J kann nit von Dir
laſſen! Schau, für Dich thät J Alles. Für Did könnt' J'n Mord begehen —
für Dich verfaufet J meiner Seelen Seligfeit — und Du willft mid) mit a
paar Matten abjpeijen? Meinſt, Du wirft mich jo los? Biet' mir Alles, was
Deutiche Rundihau. T, 5. 13
184 Deutiche Rundſchau.
D’ Haft, Dei ganzes Eigenthum und da3 ganze Debthal dazu — J ſpuck Dir
drauf, wenn D’ mir Dich nit gibſt — ſchau mid an: 's zehrt mir's Mark
aus — J weiß nit, was da3 ift, aber für einen einzigen Kuß von Dir jchent
J Dir all mei Hab und Gut und will mei Lebtag hungern! Jetzt ſchick mir
den Rechenmeifter und laß mir noch einmal vorrechnen, mit wieviel Batzen umd
Graſeln D’ mid abfinden willft!“ Und mit einem Blick wilden bitterjten
Hohns ließ er die erftaunte Wally ftehen und verließ den Hof. —
Ihr graute vor ihm. So hatte fie ihn nie gejehen — fie hatte einen Blick
in die Tiefe einer unberechenbaren Leidenſchaft gethan umd fie ſchwankte zwiſchen
Abſcheu und Mitleid.
„a3 hab’ J denn an mir,” dachte Wally, „daß die Buben alle jo närriſch
mit mir find?" Ach, und nur der Eine fam nicht, der Einzige, den fie haben
wollte — verfhmähte fie. Und wie — wenn er ſich gar am Ende verheirathete
unter der Zeit? Der Athem ftodte ihr bei dem Gedanken. Sie dachte wieder
an jene fremde, die er damals mit über das Hochjoch gebracht. Doch nein —
da3 war ja eine Magd!
Aber es mußte bald etwas geichehen! Sie war jeßt rei) und angefehen,
je durfte ihm jet jchon eher einen Schritt entgegen thun! Dennoch fträubte
fih ihr jungfräulicher Stolz gegen den Gedanken und „Zuwarten — immer
Zumarten!“ war Alles, was ihr übrig blieb. —
Ruhelos trieb e3 fie in Haus und Feld um. Woche um Woche verftrich
und fie konnte fich nicht eingewöhnen. Es zeigte fi) bald, daß fie für das
Dorfleben verdorben war. Sie war und blieb das Kind Murzoll's, die wilde
Wally. Sie verhöhnte unbarmherzig, was ihr Heinlich und albern erſchien, fie
band fih an feine Tagesordnung, an feinen Braud, fein Herfommen. Sie
icheute Niemanden. Was Furt jei, das hatte fie verlernt droben auf dem
Ferner; die eijerne Stirn, die fie dort oben den Schreden der Elemente geboten,
trug fie auch dem kleinen Leben hier unten entgegen. Gewaltig an Leib umd
Seele ftand fie da mitten unter den Dörflern, wie eine Geftalt aus einer andern
Melt. Ein Fremdling geworden in dem bäuerlichen Treiben, wie alles Fremd—
artige feindjelig angeftaunt von den Bauern, die es aber doch nicht wagten, der
großen Höchſtbäuerin zu nahe zu treten. Aber das Mädchen fühlte die Feind-
jeligfeit wohl heraus und auch die Feigheit, die fie hinterrücks anfeindete und
ihr in's Geficht freundlid that. „J hab’ nah Niemand nir 3’ fragen,“
wurde ihr trogiger Wahliprudy und jo that fie, wozu das wilde Herz jie trieb.
War e3 ihr drum, jo arbeitete fie tagelang wie ein Knecht, um das läfjige Ge-
find anzufeuern, kam Einer mit etwas nicht zu Streich, jo riß fie es ihm un-
geduldig aus der Hand und machte es ſelbſt. — Dann träumte fie tagelang
melancholiſch Hin, oder fie ftreifte in den Bergen umher, daß die Leute meinten,
es ſei nicht recht geheuer mit ihr. Während deſſen thaten die Knechte und
Mägde, was fie wollten, und die Bauern raunten fi) ſchon jchadenfroh zu, fie
werde auf diefe Art das ganze Anweſen zu Grunde gehen lafjen.
Und während fie jo gegen Brauch und Ordnung verftieß, war fie auf der
andern Seite ftreng bis zur Härte in Dingen, mit denen es die Bauern gar
nit jo genau nahmen. Grwijchte fie einen Knecht Auf Unehrlichkeit oder
Die Geier:Wally. 185
falſchem Spielen, jo zeigte jie ihn beim Landgeriht an. Mifhandelte Einer ein
Thier, jo padte fie ihn, außer fi vor Wuth, am Kragen und jchüttelte ihn.
Kam Einer Abends betrunken nad) Haus, jo ließ fie ihn zu Schimpf und
Schande vor die Thür jperren und die Nacht: draußen zubringen, e3 mochte
regnen oder jehneien. Erwiſchte fie eine Dirn auf Liederlichkeit, jo jagte fie fie
noch in derjelben Stunde aus dem Haus. Denn ihr Sinn war rein und keuſch
geblieben, wie der Gletjcher, auf dem fie jo lange einſam gehauft. All das
Geliebel und Geflüfter und Einandernachſchleichen und „Fenſterln“ um fie her
erfüllte jie mit Abjchen.
Das Alles brachte fie in den Ruf jchonungslojer Härte und machte fie jo
gefürchtet, wie e3 einft ihr Vater war.
Troßdem war’3, als habe gerade ſie's den Buben angethan. Nicht nur
ihren Reihthum, nein fie, fie jelbft in ihrer ganzen Seltjamfeit begehrten die
Burſche. Wenn fie jo vor ihnen ftand, jo groß, als ſtünde fie auf einer Er-
höhung, To Schlank und doch To feſt und ftolz gebaut, daß die hochgemwölbte
Bruft faft das knappe Mieder zeriprengte, wenn fie den nervigen Arm, jo nervig
wie der Arm eines Jünglings, drohend gegen jie aufhob und ein Blitz des
Spotte3 herausfordernd aus den mächtigen jchwarzen Augen flammte, dann
ergriff die Burſchen eine Liebe3- und Kampfeswuth, daß fie auf Leben und Tod
mit ihr rangen, um einen einzigen Kuß zu erlangen. Dann aber, weh’ ihnen!
Denn fie waren nicht ftarf genug, dies Weib zu zwingen, mit Spott und
Schande zogen fie ab und der mußte erſt fommen, der es mit ihr aufnehmen
fonnte — ob er je fam? Genug, fie wartete auf ihn!
„Wer, mir nachſagen kann, daß J ihm a Bußl 'geben hab, den heirath 3, —
wer aber nit amol fo jtarf i8, daß er mir das Buhl mit G’walt abnimmt,
für den ift die Höchftbäuerin nit g'wachſen“ — jagte fie eines Tages im lleber-
muth und bald war da3 Wort in der ganzen Gegend herum und die Burfchen
von Nah und Fern zogen herbei, ihr Glüd zu verfuhen und jie beim Wort
zu nehmen. Es wurde förmlich zur Ehrenjache, um die wilde Wally zu werben,
wie jedes Wageſtück eine Ehrenſache fiir den wehrhaften Dann ift.
Bald war fein heirathsfähiger Sohn im ganzen Oetz- und Gurgler- und
Schnaljerthal, der nicht verfucht hätte, Wally zu erobern und ihr den Kuß
abzuringen, den noch Keiner gewonnen. Und fie freute ſich des wilden Spiels
und ihrer gewaltigen Kraft, fie wußte, daß von ihr geſprochen wurde weit und
breit und daß der Joſeph immer von ihr hören wiirde, und jie meinte, nım
müfje er e3 doch endlich dev Mühe werth finden zu kommen und den Preis
davon zu tragen, umd wär's auch nur, wie er einft dem Bären nachgegangen,
um feine Macht zu erproben. Wenn er nur da war, dachte ſie — warum
jollte ex fie nicht lieb gewinnen, wie alle Andern, wenn fie noch dazu recht
gut und „g'ſchmach“ mit ihm war? Aber er kam nit. Statt jeiner Fam
eines Tages der Venter Bot herüber in den „Hirſch“, der dicht: an den Strom-
minger’ihen Gemüsgarten ſtieß. Wally, die eben darin jätete, hörte Joſeph's
Namen nennen und horchte hinter dem Zaun auf des Boten Erzählung.
Der Joſeph Hagenbacher kehre, jeit jeine Mutter geftorben jei, öfters im
Lamm in Ziwiejelftein ein, berichtete der Bote, und man munfle etwas von
13*
186 Deutiche Rundichau.
einer Liebſchaft mit der hübjchen Afra, der Schenkdirn im Lamm. Geftern jei
er denn auch wieder dort geweſen und habe mit der Afra allein am Wirtha-
tijch gejelfen, während die Wirthin in der Küche war. Da ſei plößlich der
Stier ausgebrochen und wie eine Windsbraut durch's Dorf gerannt. Es habe
fih ihm eine Horniß in's Ohr geſetzt gehabt. Alles flüchtet in die Häufer und
Ichließt die Thüren, aud) der Lammwirth will eben zumachen, da fieht er, daß jein
Jüngſtes, ein fünfjähriges Dirnl, auf der Gaffe liegt. Es kam nicht auf, denn die
Kinder haben Poft geipielt und das Kleine war an einem ſchweren Schubfarren
angejpannt, al3 der Schredensjchrei vor dem Stier her ertönt; die andern Kin—
der laufen fort, aber das Lieſerl kann nicht mit dem ſchweren Karren jo jchnell
vom led, es fällt und verwidelt fi) in die Stride — fo liegt's mitten auf
dem Weg und das Unthier ſchnaubt mit gejenkten Hörnern heran. Da ift feine
Zeit mehr, das Kind loszumachen oder mitjammt dem Karren wegzufchleppen,
der Stier ift da, — der Lammwirth und die Afra jchreien, daß man's durch's
ganze Dorf hört — aber da — da ift auch ſchon der Joſeph und ftöht der
Beftie eine Heugabel in die Seite. Der Stier brüllt auf und wirft fi auf
den Joſeph — jebt jchreit Alles zu den Fenftern heraus um Hilfe — aber
Keiner Hilft ihm. Joſeph padt den Stier bei den Hörnern und drängt ihn
mit Riejenfraft ein, zwei Schritte zurück. Der Stier ringt mit ihm. Indeſſen
hat der Lammwirth Zeit gehabt, da3 Kind zu holen, aber nun handelt fid's
um den Joſeph, den Alle im Stich laſſen. Die Afra ringt die Hände und
ichreit um Hilfe, der Stier drüdt den Yojeph mit den Hörnern zu Boden und
will ihn zermalmen, aber der ftößt ihm von unten das Meſſer in den Hals,
daß das Blut über ihn wegſpritzt. Jetzt bäumt ſich das Thier und hebt ihn
mit auf, denn Joſeph hält mit den Händen die Hörner feſt, der Stier raft eine
Strede mit ihm fort, ihn halb in der Luft, halb auf dev Exde mitjchleifend.
Joſeph läßt nicht los, ex will ihn wieder zum Stehen bringen. Der Stier
blutet aus fünf Wunden, er wird allmälig ſchwächer, Joſeph faßt ein paar
Mal Fuß, aber immer gewinnt der Stier wieder die Uebermacht und reißt
ihn in verzweifelten Säßen mit ſich fort. Jetzt Haben ſich auch die Bauern
ermannt, Joſeph zu helfen und kommen nad, der Lammwirth voran, mit Heu—
gabeln und Mefjern. Aber wie der Stier den Lärm Hinter fi) hört, jenkt er
die Hörner wieder und wirft ji mit Joſeph gegen ein geichlojjenes Scheumen-
thor, daß man meint, Joſeph müſſe zerqueticht fein; das Thor weicht und fpringt
auf unter dem Stoß, der Stier jtürzt in die Scheune und wühlt ſich in der
Todesangſt zwijchen Leitern, Wagen und Pflügen ein, daß Alles übereinander:
fällt. Aber Joſeph hat jih am Gebälk darüber weg in die Höhe geſchwungen
und jchlägt die Thür zu, damit das wüthende Thier nicht noch einmal hinaus
fommt, man hört ihn von Innen die Thür verrammeln. Ex ift mit dem Un—
thier eingejchloffen in dem engen Raum, und die draußen ftehen da und fünnen
nichts machen. Das ift ein Stampfen und Stürzen, ein Stöhnen und Brüllen
da drin, daß es den Leuten grauft beim Anhören. Endlich wird’s ftil. Nah
einer bangen Weile wird die Thür aufgemacht und der Jojeph kommt taumelnd
heraus, ganz in Blut und Schweiß gebadet. Sie meinen, der Stier ſei todt,
Die Geier-Walln. 187
aber der Joſeph meint, es ſei doch ſchad um das ſchöne Thier, die Wunden
fönnten wieder heilen, ſie gingen nicht in’3 Leben.
In der Scheuer fieht es wüſt aus, Alles durcheinander, zertreten und zer:
trümmert, aber der Stier liegt an allen Bieren gefehnürt und gefeffelt am
Boden. Er liegt regungslos auf der Seite und ſchnauft und lechzt, wie ein
Kalb auf dem Mebgerivagen. Der Joſeph hatte das Thier lebend gebändigt
und noch dazu ganz allein! Das machte ihm Keiner nad)!
Als fie mit Joſeph in’s Lamm zurückkamen, da fiel ihm die Afra vor
allen Leuten heulend und jchreiend um den Hal3 und die Lammwirthin brachte
ihm das Liejerl auf dem Arm und fie wollten ihn tractiven mit dem Beften,
was da3 Haus vermag — aber dem Joſeph war's nicht mehr um's Luftig-
madhen. Er trank einen Schoppen für den ärgften Durft und ging heim. Das
ganze Dorf war voll von dem Joſeph und e3 war eine große Sauferei ihm zu
Ehren bis in die Nacht hinein.
Sp erzählte der Venter Bot und es war wieder ein Lebens und Aufheben
von dem Joſeph Hagenbacher und die Leute wunderten ſich, daß er nie auf hier
fomme. Die Höchjtbäuerin habe doch jo viele Freier, nur.der Joſeph ſchiene
Nichts von ihr wiſſen zu wollen. —
Wally verließ den Zaun, die Worte trieben ihr die Schamröthe in die
Stirn: aljo jogar die Leute ſprachen ſchon davon, daß der Joſeph fie verichmähe ?!
Und der Afra ging er nah? Das war diejelbe, die er voriges Jahr mit über
den Ferner gebracht, für die er damals jchon jo bejorgt war!
Sie ſetzte fih auf einen Stein nieder und verhüllte das Geficht mit beiden
Händen. Ein Sturm tobte in ihrem Innern. Liebe, Bewunderung, Eiferfucht!
Ihr Herz war wie zerriffen. Sie liebte ihn, — liebte ihn wie noch nie, als
habe der rajche Athemzug, mit dem fie die Erzählung feiner That begleitet, den
glimmenden Brand zur hellen Lohe angefaht. Das, das hatte er wieder voll-
bracht — aber ſie hatte fein Theil daran — für den Brodheren der Afra
hatte ex’3 vollbraht — der Afra zu Liebe! War es denn möglih? Mußte
fie einer Magd weichen, fie die Höchſtbäuerin? War fie nicht die reichte und,
wie ihr alle Buben jagten, die Ihönfte Din im Land? War Einer weit und
breit, der's mit ihr an Kraft und Nüftigfeit aufnehmen konnte, war fie nicht
die Einzige Seinesgleihen — und jie jollten nicht zufammenfommen? Es gab
nur den Einen Joſeph auf der Welt, und er jollte nicht ihr gehören? An die
Ara, an jo eine armjelige hergelaufene Dirn jollte er fic) wegwerfen? Nein,
das konnte nicht jein, das war unmöglih! Warum ſollt' er auch nicht mand)-
mal im Lamm eintehren, ohne daß e3 um der Afra willen jein mußte? Gr
ftreifte ja jo viel auf der Jagd herum und das Lamm liegt gerade am Zwieſel—
ftein, wo alle Wege fich freuzgen! „DO Joſeph, Joſeph — komm!” ftöhnte fie
laut auf und warf fi) mit dem Geſicht zur Erde, als wolle fie die Gluth in
den thanigen Krautblättern fühlen. Dann fiel ihr wieder ein, daß der Bot
gejagt, die Afra jei Joſeph um den Hals gefallen nach feiner Rückkehr. Es
ihüttelte jie bei dem Gedanken. Und da fam es ihr plößlich in den Sinn,
wie das wäre, wenn fie jein Weib wäre umd ihn, wenn ex müde, zerichunden
und blutend von jolc einer That nad) Haus käme, in ihren Armen empfangen
188 Deutiche Rundichau.
und erquicken dürfte mit jeder Labung. Wie fie ihm die heiße Stirn waſchen
und die Wunden verbinden und ihn an ihrem Herzen ausruhen lafjen wollte,
bi3 er einjchliefe unter ihren Liebfofungen! Nie noch hatte fie jo etwas gedacht,
aber wie ihr das Alles jetzt jo einfiel, da erbebte fie unter einem niegefannten
Gefühl, wie die aufgebrochene Blume erzittert, wenn fie die Knospenhülle jprengt.
In diefem Augenblide war fie zum Weibe gereift, aber wild und ungeftüm,
wie Alles in ihr war, jo regte das, was fie zum Weibe machte, alle verborgen
ihlummernden feindlichen Kräfte in ihr zum Kampf gegen ſich auf und es
erhob fich ein furchtbarer Aufruhr in ihrem Innern.
Der Abendwind ftrich kalt über fie hin, fie fühlte es nicht, e8 wurde Nacht
und die ewig ruhigen Sterne ſchauten mit verwunderten Bliden auf die zudende
Geftalt herab, die da im Nachtthau auf dem Boden lag und ſich das Haar
zerwühlte. —
„Die Bäuerin ift heut Nacht wieder amol nit z'Haus g’weit,“ raunte
am andern Morgen die Oberdirn dem übrigen Gefinde zu. „Was die nur
treibt in der Naht?" Und fie ſteckten Alle die Köpfe zuſammen und flüfterten
untereinander.
Aber wie Spreu im Wind ftieben fie auseinander, denn Wally fam vom
Gemüfegarten her auf den Hof zu. Sie war blaß und jah jo ſtolz und herriich
drein, wie noch nie. Und jo blieb es aud. Don dem Tag an war fie wie
verwandelt, ungerecht, launenhaft, reizbar, daß Keiner fi) mehr mit ihr zu
reden traute ald der Klettenmaier, der noch immer mehr bei ihr galt, ala die
Andern. Und dabei ſchlug ihr die Hoffahrt überall zum Dad) hinaus, denn
ihr drittes Wort war: „die Höchſtbäuerin!“ Für „die Höchſtbäuerin“ war
nichts gut genug — „die Höchſtbäuerin“ brauchte fi) Das oder Jenes nicht
gefallen zu laſſen, „die Höchſtbäuerin“ durfte fich erlauben, was fein Anderer
durfte — und dergleichen Nergernig mehr!
Alle Tage zog fie fi an, als wär’3 Sonntag, und ließ ſich neue Kleider
machen, ja jogar ein ganz filbernes „G'ſchnür“ ließ fie fih von Imſt kommen
mit allerlei Gehäng in Filigranarbeit, jo ſchwer und koſtbar, wie noch feins
im Debthal gejehen worden. Und an der Frohnleichnamsproceſſion legte fie die
Trauer um den Vater ab und ftroßte jo von Silber und Sammt und Seide,
daß die Leute gar nicht beten fonnten, ſondern fie immer anſchauen mußten.
Es war das erjte Mal, daß fie eine Proceffion mitmachte, denn was ſie eigent—
li für eine Chriftin jei, wußte überhaupt fein Menſch, und es war Klar, daß
fie nur mitging, um ihre neuen Kleider und ihr G'ſchnür zu zeigen, weil da
die meisten Leute von den Ortichaften bis hinauf nad Vent und hinunter nad
Zwiejelftein zufammen kamen.
Das rauſchte und Elingelte, wenn fie niederfniete, vor lauter Steifigkeit
und alten und filbernem Gebimmel und prahlte: „ſeht, das kann nur die
Höchſtbäuerin!“
Da, als das letzte Evangelium geleſen wurde, kam eine kleine Unordnung
in den Zug und es traf ſich, daß Leute, die hinter ihr geweſen, nun vor ihr
gingen. Es war die Lammwirthin von Zwieſelſtein und neben ihr die hübſche
ſchlanke Afra. Sie ſah ſich nad) Wally um und nickte ihr zu. Dann blickte
Die Geier:Wally. 189
fie nach Joſeph, der weiter Hinten bei den Mannjen ging, jo jchien e3 wenigſtens
Wally. Die Afra jah jo lieblich aus in dem Augenblid, daß Wally vor Eifer-
jucht ganz vergaß, ihren Gruß zu erwidern. Seht hörte fie, wie die Afra zu
ihrer Nachbarin jagte: „Seht, Lammwirthin, die da Hinter uns, da3 ift die
Geier-Wally, die den Joſeph von ihrem Geier jo zerfleiichen laſſen Hat. Jetzt
nimmt die mir nit amal d’ Zeit ab — und J hab’ doch jo viel Vaterunſer
fir fie bet't!“
„Die Müh' hätt’ft Dir ſparen können,” fiel jet Wally in das Geſpräch
ein, „für mic) braucht Niemand z’beten — des kann J ſchon jelber!“
„Aber mir jcheint — Du thuft’3 nit!” gab Afra zurüd.
„J hab's auch nit jo nöthig, wie andre Leut’! J hab’ mei Sad’ und
brauch'n lieben Gott nit um jo viel z’bitten wie eine arme Magd, die um
iden Schuhbändel, den fie braucht, ein Waterunjer beten muß.“
Jetzt ftieg auch der Afra die Zornesröthe in’3 Gefiht. „D, ein Schuh-
bändel, um den man bet’t bat, kann Ei’'m mehr Glüd bringe — als ein
jilbernes G'ſchnür, das man gottlos tragt!“
„Isa, ja,“ mijchte fih die Lammwirthin in's Geſpräch, — „da hat die
Ara ganz Recht!”
„Stiht Euch mein ſilbern's G'ſchnür in d'Augen, jo geht’3 hinter mir,
naher braucht Ihr's nit zu jehen — 's ſchickt fich eh nit, daß die Höchftbäuerin
hinter einer Magd herlauft.“
„3 könnt Dir gar nix ſchaden, wenn Du in der Afra ihre Fußſtapfen
treten thätft, daß Du’s nur weißt!” warf die Lammwirthin zurüd.
„Schämt Eud, Lammtirthin, daß Ihr Euch jo g’mein macht mit Eurer
Magd!“ rief Wally mit blitenden Augen. „Wer nir auf fi halt't — auf
den halten Andre auch nix!”
„D, o — a Magd ift doch aud noch a Menſch!“ ſagte Afra, am ganzen
Leibe zitternd. „Der jeidene Rod wird's wol vorm lieben Gott nit ausmachen,
der fieht doch, was d’runter ift — ein gut’3 oder ein jchlecht’3 Herz!”
„Sa, freilich!” vief Wally mit ausbrechendem Haß; „jo ein gut's Herz,
wie Du, kann nit Jeder hab'n — b’fonders für die Buben. Pfui Teufel!”
„Wally!“ jchrie Afra auf, und Thränen ftürzten ihr aus den Augen. Aber
fie mußte ſchweigen, denn in dem Augenblid war die Kirche wieder erreicht,
der legte Segen wurde ertheilt und der Zug löfte fih auf. Da ſchoß Wally
an der Afra vorbei wie eine Königin, daß die fih an der Lammwirthin halten
mußte, fie hätte fie fajt umgerannt, und Alle jahen ihr nad. Die Mannfen
meinten, ein ſchöneres Menſch geb’3 in Tyrol nicht, aber die Weibjen vergingen
vor Neid.
„Die ſchaut jeßt anders aus, als droben aufm Hochjoch, wo fie in einer
Hundshütten g’hauft hat, nit 'kammbelt und nit ’zöpft wie a Wilde!” ſagte
der Joſeph, der nicht weit davon ftand, und jah ihr mit großen Augen nad).
Dann winkte er der Afra Adjes zu und trat aus dem Zug aus; er wollte noch
vor Mittag wieder heim.
Die Afra aber eilte Wally nad. Ihre hübjchen blauen Augen jprühten
unter Thränen, wie wenn man Waller in's Feuer ſchüttet, fie war ganz außer
190 Deutjche Rundſchau.
ch und die Lammwirthin mit ihr. Sie erreichten Wally am Wirthshaus.
Auch Wally war in der furchtbarften Aufregung. Sie hatte den liebevollen
vertraulichen Gruß gejehen, den Joſeph der Afra zugenict, und ihr — ihr hatte
er, wie fie glaubte, einen Blic gegönnt — und jet war er fort und alle ihre
Hoffnungen, die jie auf den heutigen Tag gejeßt, betrogen. Diefe Afra! —
auf fie hatte fi ihr ganzer Zorn geworfen, fie hätte fie zertreten mögen! Und
num jtand die Afra vor ihr und hemmte ihren Schritt und redete fie zornig
herausfordernd an — fie — die niedere Dirn!
„Höchſtbäuerin,“ ſtieß Afra athemlos heraus, „Du haft da was g’jagt,
das kann J nit auf mir fien lafjen, denn das geht mir an die Ehr' — mas
ſoll das heißen von dem guten Herzen für die Buben? Das will J wiſſen,
was da dahinter fteckt!“
„Willſt mit der Höchftbäuerin anbinden?“ rief Wally laut und ihr funfeln-
der Blick traf das Mädchen jo recht von oben herunter, „Meinft, J laß mi
mit jo Einer auf Streit ein, wie Du bift?“
„Mit jo Einer?“ Tchrie das Mädchen, „was für Eine bin denn? % bin
ein arm’3 Mädel und hab’ Niemand g’habt, der für mid) g’iorgt hat — aber
J Hab’ doch noch Niemand nir z'Leid 'than und Niemand fein Haus anzünd'
% brauc mir von Dir nir g’fallen z'laſſen, weißt!“
Wally bäumte fih auf, wie von einer Schlange geftohen. „Eine Dirn
biſt — eine Ihamloje Dirn, die ſich den Buben vor allen Leuten an'n Hals
wirft!“ ſchrie fie, ſich und Alles vergeffend, daß die Leute ſich um fie ver-
jammelten.
„Was — wen — hätt! J mid an'n Hals g'worfen?“ jtammelte das
Mädchen erbleichend.
„Soll J Dir's jagen? Soll 3?“
„Ja, ſag's nur, J hab’ mei gut's G'wiſſen und die Lammwirthin kann
bezeugen, daß's nit wahr is!“
„So! Iſt's nit wahr, daß Du Did dem Joſeph vor zwei Jahr, wo D’
ihn kaum 'kennt haft, an Hals g’hängt haſt, daß er Dich hat über's Hochjoch
mitjhleppen und Dich 'n halben Weg hat tragen müßen, weil D’ Dich g’ftellt haft,
als könnt’ft nit weiter? ts nit wahr, daß D’ jeitdem den Joſeph nimmer
loslaßt, daß er ſchon gar in's G'ſchrei mit Dir fommen ıft? Iſt's nit wahr,
daß Du den Joſeph andern Dirne mwillft wegnehmen, die ein beiferes Recht
auf ihn hätten und beffere Frauen für ihn wären, als jo eine herg’laufene
Magd? Iſt's nit wahr, daß Du neulich bei der G'ſchicht mit dem Stier dem
Joſeph vor'm ganzen Dorf um’n Hals g’fallen bift, ala wärſt ſei' verlobte
Braut? Iſt's etwa nit wahr?“
Afra ſchlug die Hände vor’3 Gefiht und weinte laut auf: „DO Joſeph,
Joſeph, dag J mir das g’fallen Laffen muß!“
„Sei ruhig, Afra,“ tröftete fie die gutmüthige Lammwirthin; „fie hat ſich
jelber verrathen, das ift nur die Wuth, daß der Joſeph ihr nit nachlauft und
fich nit d'Finger bei ihr verbrennen will, wie alle andern Dtannsleut. O wär
nur der Joſeph da — der thät’3 ihr anders jagen!“
„Sa, das glaub’ J Schon, daß der jein’ Tiebe Schaf nit im Stich ließ“ —
Die Geier-Wally. 1091
und Wally lachte auf, jo jchneidend, jo furchtbar grell, daß es von den Bergen
widerhallte wie Wehgeichrei: „Sp ein Schaf, der ſich Eim' gleich an den Hals
wirft, ift freilich bequemer, al3 einer, den man fich exit erobern muß und bei
dem’3 Eim' paffiren fünnt, daß man mit Schand’ und Spott abziehen müßt!
Mit jo Einer bind’t ſogar der ftolze Bärenjojeph lieber an, ala mit der Geier-
Wally!“
Jetzt trat der Lammwirth heran: „Hör' Du!“ ſagte er; „jetzt hab' J's
g'nug! Das Mädel da iſt ein braves Mädel, — mei Frau und J wir ſtehen
für fie ein — umd wir laffen ihr nix g’iheh'n. Du nimmft z'rück, was Du
g'iagt haft, X befehl’ Dir's, verjtehft mich?“
MWieder lachte Wally auf. „Lammwirth — haft Du jchon in Dei'm Leben
g'hört, daß der Geier fih vom Lamm commandiren laßt?“
Alles lachte über das Wortjpiel, denn der Lammwirth war jprihmwörtlid)
ein „Lamperl“, weil ex ein ſchwacher, gutmüthiger Mann war, der fi) Alles
gefallen lieh.
„sa, Du verdienft Dein’ Namen, Du Geier-Wally — Du!“
„Platz da,” rief jeßt Wally — „I hab's g’nug mit Euch, das leere Stroh
jdreihen. Laßt mich nein!“ Und fie wollte Mira unter der Thür zur Seite
ſchieben.
Aber die Lammwirthin hielt Afra am Arm.
„Nein, Du brauchſt der da kein Platz z'machen, geh' Du nur voran, Du
biſt nit ſchlechter wie Die!“ und ſie wollte ſich mit Afra vor Wally zur Thür
hineindrängen.
Da faßte Wally das Mädchen beim Mieder, hob es auf und warf es vor
die Thür den Nächititehenden in die Arme: „Z’erft fommen die Bäuerinnen,
naher die Mägd!“ Dann trat jie Allen voran in’3 Zimmer und ſetzte fich zu
oberft an den Tiſch.
Alles wieherte und Elatihte in die Hände vor Vergnügen iiber den präd)-
tigen Spaß. Die Afra weinte und ſchämte fich jo, dat fie nicht mehr hinein-
wollte und Lammwirths gingen mit ihr nad Haufe.
„Wart nur Afra — I ſchick ihr den Joſeph, der joll ihr derfür thun!“
tröftete jie die Lammwirthin auf dem Heimweg; aber Afra jhüttelte den Kopf
und meinte, das könne ihr Alles nichts helfen, beihimpft ſei und bleibe fie doch.
„Ja, warum haft aber auch mit der böjen Strommingerin anbunden, der
geht ja Jeder aus'm Weg, warın er kann,” jchalt gutmüthig der Lammwirth.
Indeſſen ſaß Wally drinnen und jchaute duch das Fenſter zu, wie Die
Ara mit Lammwirths fortging. Das Herz ſchlug ihr jo, daß das filberne
Behäng an ihrem Bufen leije Elirrte.
Wally wurde aufgefordert zu eſſen, die Nudelfuppe werde Kalt; aber fie
fand die Suppe fchlecht und die Hammelsrippen jo zäh wie Leder, warf einen
Gulden auf den Tiſch, ließ ſich nicht herausgeben und rauſchte an den erftaun-
ten Bauern vorüber zur Thür hinaus.
Wie vor fünf Jahren nad der Firmelung riß fie fi, als fie heimkam,
in ihrer Kammer die jchönen Kleider vom Leibe und warf fie in die Truhe.
Das filberne G'ſchnür mit der YFiligranarbeit zertrat fie zu einem Klumpen.
192 Deutiche Rundſchau.
Was hatte ihr der Staat geholfen?! Dem hatte fie ja doch nicht darin gefallen,
dem fie gefallen wollte! Dann warf jie fi) wie damals auf ihr Bett und
haderte mit allen Heiligen. Ein ſchneidendes Weh wühlte wie mit Meflern
in ihrem Innern. Da fiel ihr Auge auf die gejchnigte Wallburga über ihr
und da dachte fie, daß der Schmerz, den fie empfand, wohl das Meſſer des
dieben Gottes jein könne, der nım an ihr herumfjchnige, um die Heilige aus
ihr zu maden, von der der Caplan gejagt. Aber warum jollte fie denn eine
Heilige werden? — Sie wäre lieber eine glüdliche Frau geweſen! Und das
wäre jo leicht gegangen und dazu hätte der liebe Gott auch gar nichts an ihr
zu ſchnitzeln gebraucht — dazu wäre fie ſchon recht gewejen, wie jie war!
So grollte fie und bäumte ſich auf gegen das Meſſer Gottes.
XI.
Endlich.
Seit jenem Tage war es gar nicht mehr mit Wally auszuhalten. Ganze
Nächte trieb ſie ſich im Freien herum. Bei Tage war ſie dann von einer
Heftigkeit ohne Maß und Grenzen, arbeitete ruhelos von Früh bis Spät und
verlangte, daß alle Andern e3 ihr nachthaten, was für die Meiften eine Unmög:
lichkeit war. Der Gellner-Bincenz durfte jeßt öfter einmal vorſprechen, ex wußte
immer, was es Neues gab im Thal — und Wally war auf einmal jo auf Neuig-
feiten expicht. Wie das der Wincenz merkte, machte er es ſich förmlich zur Aufgabe,
landauf- und ab Alles auszukundjichaften, um immer neuen Stoff für Wally
zu haben. So gewöhnte fie ſich allmälig dran, ihn wieder täglich zu jehen.
Und der merkte bald, daß ihre Neugier immer mehr nad) Sölden und Ziwiejel-
jtein zuging, al3 wo anders, und Klug wie er war, begriff er leicht den Zu:
jammenhang. Ex brachte allerhand Nachrichten von dem fortdauernden Verkehr
zwiſchen Joſeph und der Afra, die Wally ſichtlich in die furchtbarſte Aufregung
verjeßten. Aber er that, ala merke er nichts und redete jeßt auch vorfichtiger-
weije nicht3 mehr von Liebe — das machte fie ficher und zutraulich. Aber ihn
verzehrte die Eiferfucht auf Joſeph. Diefer Hagenbah war der Fluch jeines
Lebend. Da war fein Ruhm, den er nicht vorweg nahm, fein Heldenftüd, in
dem er ihm nicht zuvorkam, fein Preistegeln oder -Schießen, in dem er nidt
den Prei3 gewann — und num nahm er ihm auch noch das Herz Wally’s weg,
das ſich feinem hartnädigen Werben doc) vielleicht zugewendet hätte, wenn der
Joſeph nicht wäre! Warum jchüttet unfer Herrgott Alles auf Einen aus,
während er Andere jo karg hält? murrte Vincenz und quälte fi) innerlich ab,
wie die Wally. Hätten Beide ihren Schmerz und Groll zujammen gethan —
man hätte das ganze Debthal damit verheeren können! —
Eines Abends, es war Heuernte, half Wally einen großen Heutwagen auf:
laden. Die Fuhre war fertig und nun follte der große Querbaum hinauf
gezogen werden, aber das Heu war jo hoch gepadt, daß ihn die Knechte nicht
hinaufbrachten. Wie fie ihn halb oben hatten, ließen fie ihm wieder rutjchen
und lachten und machten dummes Zeug. Da riß der Wally die Geduld. „"Nun-
ter, Ihr Tröpf!“ befahl fie, ftieg auf den Wagen und ftieß die Mnechte rechts
Die Geier-Wally. 193
und links zur Seite. Dann zog fie den Strid an, wand den Baum auf, faßte
ihn mit ihren beiden runden Armen beim Kopf und lüpfte ihn mit einem
Rud auf den Wagen. Ein Schrei der Verwunderung brach aus Aller Mund.
Die Mägde lachten die Anechte aus, daß fie nicht gekonnt Hatten, was ein
Weibsbild konnte, und die Knechte kratzten fich hinter den Ohren und meinten,
dad gehe doch nicht mit reiten Dingen zu bei der Höchftbäuerin, und da müſſe
irgendivo der Teufel jeine Hand mit drin haben!
Wally ftand auf dem Wagen und jchaute in die roth untergehende Sonne.
Kin ftolz-gejättigter Ausdrud lag in ihren Mienen. Sie ward e3 fich wieder
in dem Augenblid jo recht bewußt, daß fie ihres Gleichen nicht habe, und im
Gefühl ihrer Kraft hätte fie die ganze Welt herausfordern mögen.
Da kam Vincenz und rief ihr zu: „Wally, Du ſchauſt aus wie die Königin
Potiphar aufm Elephanten. Wenn der Joſeph die Potiphar jo g’jehen hätt,
wär er g’wiß nit jo ſpröd g'weſen!“
Wally wurde dunfelroth bei diefen anzügligen Worten und jprang vom
Wagen herab: „Sole Späß’ verbitt’ J mir,” fagte fie, als fie unten tar.
„No, no,“ entichuldigte ſich Vincenz, „'s war nit bös g’meint — Du bift
jo ſchön da droben g’ftanden, — da ift mir das fo 'rausg'fahren; 's joll aber
nimmer g'ſcheh'n.“
Sie gingen ftill neben einander her.
„Was giebt’3 Neues in der Welt?“ fragte endlich Wally ihrer Gewohnheit
gemäß.
„Nit viel!” jagte Vincenz, „als daß es heißt, der Hagenbacher woll’ am
Peter und Paul mit der Magd, der Ara, zum Tanz gehen in Sölden. J weiß
es vom Bot, der hat der Afra a paar neue Schuh aus Imſt bringen müfjen
und a jeidens Halstüchel und der Joſeph hat's "zahlt!" Wally biß die Lippen
zuſammen und ſprach fein Wort, aber Vincenz ſah wohl, was in ihr vorging.
„Weißt was?“ jagte Vincenz. „Bei uns geht'3 ja auch hoch her am ‘Peter
und Paul und wenn die Höchftbäuerin dazu käm, das gäb a Feſt, daß ma
weit und breit davon hören jollt — geh amal mit mir zum Tanz.“
i Wally warf bitter den Kopf in den Naden: „Mir wär’ g’rad um's
anzen!“
„Geh, Wally,“ drang Bincenz in fie, „thu's doch amal und wär's nur
wegen die Leut'!“
„Nach dene frag’ J viel!” lachte Wally verädtlid.
Alber bedenk', die Leut’ munfeln“ er ftodte. — Wally blieb ftehen und
Haute Vincenz durchbohrend an: „Was munteln’3?“
Qincenz erſchrak über den Ausdruck in ihrem Geſicht. „J mein’ nur, fie
munfeln, Du hätt’ft 'n g’heim'n Kummer. Die Oberdirn behauptet, Du wärſt
ganze Nächt' nit d'heim und gingft "rum wie a kranks Hähndel. Und da meinen
die Leut', Du Hätt’ft ja, was's Herz begehrt und Freier wie Sand am Meer —
wenn's D’ aljo noch nit z'frieden wärft, jo müßt's ein Liebestummer jein —
umd jeit der G'ſchicht bei der Frohnleichnamsproceſſion“ —
„Ro? Weiter?!“ ſprach Wally tonlos. —
194 Dentiche Rundſchau.
„Seit der G'ſchicht reimen ſich's halt die Leut' z'ſammen, daß der Joſeph
der einzige Bua im Debthal ift, den D’ möchtſt — und der nit anbeiß'n will!“
Ein Blit fuhr aus feinen Augen über Wally hin, als er das Wort aus:
ſprach; Wally war getroffen bis in’3 Mark. Sie mußte jtehen bleiben und
die Stirn an einen Baumftamm lehnen, jo pochte ihr das Blut in den Scläfen.
„Wenn das wahr ift, — wenn ma mir das nachſagt —“ ftöhnte fie, aber fie
vollendete nicht, wie mit Nebelichleiern umwölkte ſich ihr Denten.
Vincenz ließ ihr Zeit, zu Athem zu fommen; er wußte wohl, was des
für fie war, denn er kannte ihren Stolz. Nad) einer Weile jagte er: „Schau,
deswegen mein J halt, Du ſollſt mit mir zum Tanz gehen, das wär's beite
Mittel, die Leut’ die Mäuler z’ftopfen.“
Wally richtete fih auf. „I geh’ mit keim Buaben zum Tanz, den mit
heirathen will — da3 weißt!“
„J mein’ halt, wenn X Du wär, J thät doch lieber den Gellner-Pincenz
heirathen, als dem Hagenbacher z'Lieb an alte Nungfer werden!” ftachelte
Vincenz weiter.
Wally jah ihn mit neu erwachtem MWiderwillen an. „Daß Du’s nit mid
wirft, wo Du doch weißt, 's hilft Dir nir!“
„Wally, J frag’ Dich jetzt zum letztenmal — kannſt Did gar nit an den
Gedanken gq’wöhne, dat D’ mid) zum Mann nimmft?“
„Nie — nie — eher fterben!” jagte Wally.
Vincenz’ gelbes Gefiht befam weiße Flecken auf den ſcharf hervortretenden
Backenknochen, er jah falt dem Geier ähnlih, ala er jo feitlings auf Wally
blickte, wie auf eine wehrloje Beute: „'s thut mix leid, Wally — aber J muß
Dir was jagen, was J Dir lieber erjpart hätt‘. Du zwingjt mich derzu! J.
hab’ Dir ein Jahr Zeit g’laifen — jebt muß es fein!” Ex zog ein bejchriebenes
Blatt aus der Taſche: „ES wird in diefen Tagen ein Jahr, daß Dein Vater
g’ftorben ift — und wenn Du mich nit heivath’ft, jo ift mit dem Jahr Dein
Recht aufm Höchſthof abg’laufen.“
Wally jah ihn groß an.
Er entfaltete das Papier. „Da iſt das Teſtament von Dei'm Vater, da-
drin beftimmt er, daß, wenn Du mich ein Jahr nad feinem Tod nit nimmtt,
jo g’hört der Höchfthof mit Allem, was drum und dran ift, mein, und Du bift
aufs Pflichttheil g’jegt. Mit der ftolzen Höchſtbäuerin hat’3 dann ein End‘!
Bis jebt weiß noch Niemand drum. Du kannſt's Div jet noch einmal über
legen — und J dent, Du giebjt am End’ doch lieber nad), als daß D’ mid
aufs Landg’richt gehen und das Teftament vollftreden laßt!“
Wally blieb ftehen und maß Pincenz von oben herab mit einem
einzigen kalten verächtlichen Blid, dann jagte fie volllommen ruhig: „O du
armjeliger Tropf — alſo in dem Net, haft g’meint, fangjt die Geier-Wally!
's fieht Euch Schon ähnlich, Dir und 'm Vater, aber Ihr habt mich alle Zwei
nit Tennt! Was liegt mir an Geld und Gut — das, was möcht, kann J
mir doch nit dafür Faufen und jo frag J nir danach. Am Montag pad J
mei Sad) z'ſamm' und geh wieder fort, denn Dein Gaft will J mit jein
fei Stund. — Wenn mir’s auch weh thut um 'n Höchſthof, wo J auf d’Welt
Die Geier:Wally. 195
fommen bin — J war als Höchſtbäuerin auch nit glüdlicher, al3 wo I's Vieh
ghütet Hab — und fremd war J dod) hier, wie dort. So iſt's das Beſte, J
yieh fort aus der Gegend, jo weit % kann!“
Sie wandte fi ruhig dem Haus zu. Da fahte den Vincenz ein wilder
Schmerz. Er jtürzte vor ihr nieder und umfchlang ihre Anie: „So hab JI's
nit g’meint — fortgehen: jollft nit, um Gotteswillen thu mir das nit an, was
will 3 denn den Höchſthof — J hab’ ja nur g’meint — ad) mein Gott —
ma probirt halt Alles!“ Gr hielt mit der einen Hand Wally feſt, mit der
andern führte er das Papier zum Mund und zerriß es mit den Zähnen: „Da,
da, Schau, da Haft den Wiſch — J will den Höchſthof nit, wenn Du nit drauf
bleibft — da — da,“ er ftreute die eben in den Wind. „J will nir, gar
nr — nur thu mir das nit an, daß D’ fortgehſt!“
Wally jah ihn erftaunt an.. „Du dauerft mid, Vincenz — aber % kann
Dir doch nit helfen — jo wenig — wie mir g’holfen wird! B’halt Du den
Höchſthof und Alles, was dazu g’hört, der Vater hat ihn Dir vermacht — das
bleibt jo, wenn Du auch's Teftament zerrifien haft — % will von Dir nix
gihentt! — Mir ift’3 jo jchon verleidet hier — auf was joll J noch warten.
Die Menichen taugen nit für mid und J nit für die Menſchen. % pad mein
Hanjel auf und geh wieder auf die Berg — da g'hör J hin. Aber wenn 3
Dih um was bitten darf — verichweig’3, bis J fort bin, daß der Höchſthof
nimmer mir g’hört — denn ſchau — nir kann J weniger vertragen, al3 wenn
ich d’Leut über mich luſtig machen! Das — das macht mich rajend! Denk’
an die Schadenfreud’ und das G'ſpött, wenn die ſtolze Stromminger-Wally
von ihrem Erb und Eigenthum abziehen müßt', wie a Magd — das könnt’ J
mt überleben. Laß mich wenigjtens noch al3 Höchſtbäuerin fortgehen!“
- „Wally,“ jchrie Vincenz, „wenn Du mir das wirklich anthuſt — jo zieh’
Jmit! Das fannft mir nit wehren, daß % hingeh, wo Du hingehſt — die
Yandftraßen find frei — da kann drauf laufen, wer will!“
Wally Jah ihn entjeßt an, wie er jo vor ihr ftand und fieberte, und ihr
graute, ala habe fich ein böſer Geift an ihre Ferien geheitet: „Was joll da
draus werden?” murmelte fie rathlos vor fidy Hin.
In dem Augenbli kam der Söldener Bot vom Haus her über die Matten
gerade auf die Wally zu mit einem großen Buſchen am Hütel und im Sonn-
tagsrock wie ein Hochzeitbitter.
„Der lad't Dich zur Hochzeit vom Joſeph und der Afra“ — lachte Vin—
cenz wild auf.
Wally's Fuß ſtrauchelte über irgend etwas, fie griff nach Vincenz und der
jaßte fie raſch um den Leib und hielt fie.
Indeß kam der Bot heran und ſchwenkte den Hut vor Wally: „Grüß
Gott, Höchftbäuerin! Der Joſeph Hagenbach ſchickt mich und laßt Dich freund-
ih zum Tanz aufbieten am Peter- und Paulstag. Wenn's Dir recht wär”,
wolt’ er um Mittag kommen und Did abholen 'nüber in'n Hirſchen. Du
jollft mix Antwort jagen!”
Menn ſich in dem Nugenbli für Wally der Himmel — für Vincenz die
Hölle aufgethan hätte, — es wäre nicht ander geweſen!
196 Deutiche Rundſchau.
Alſo war das Alles mit der Afra nicht wahr, er fam zu Wally — er
fam nad) fünf Jahren des Leid und der Qual — endlich, endlih! Das Wort
war geſprochen — die Winde trugen e3 jauchzend weiter, die Lüfte hallten es
wieder, die weißen Firnen lächelten dazu im Abendſonnenſchein: der Bären-Joſeph
bot die Geier-Wally zum Tanz auf! — Die Leute auf dem Feld jauchzten,
die Heuwagen ſchwankten, der Geier auf dem Dach ſchlug mit den Flügeln vor
Freude — daß endlich zuſammenkam, was zujammen gehörte!
Freude über alle Menjchen: Das Geſchlecht der Rieſen erftehet wieder in
dem Einen Paar!
Und gnadenreich lächelnd wie eine Königin unter der Myrthenkrone neigte
Wally das ſchöne Haupt und jagte dem Boten faft Ihüchtern, daß fie Joſeph
erwarte!
Und Bincenz lehnte jeitab an einem Baum, verzerrt, verblichen, ftumm —
ein Geſpenſt der Vergangenheit.
Wally ftreifte ihn mit einem mitleidigen Blick, jegt war er ihr nicht mehr
furchtbar — ſie war gefeit, Niemand konnte ihr mehr etwas anhaben! Sie
eilte nad) Haufe und die Leute jchauten ihr verwundert nad), ſo jelig war ihr
Ausdruck. Aber e3 litt fie nicht zu Haus, fie nahm Geld mit und ging durchs
Dorf wie eine glücjpendende Tree. Sie trat in jede arme Hütte, fie theilte
aus mit vollen Händen von dem, was jie mit Fug und Recht als ihr Pflicht:
theil betrachten konnte, denn den Höchſthof hatte fie unwiderruflich für VBincen
bejtimmt — jie war dod) noch reich genug, um dem Joſeph und Allem um fie
her ein herrlich Leben zu bereiten, denn ein Pflichttheil vom Stromminger’ichen
Erbe war nod immer ein Vermögen. Sie mußte Allen Gutes thun — fie
fonnte e8 ja nicht allein tragen, das niegefannte unermeßliche Glück.
Die zwei Tage bis zu Peter und Paul waren ein Märden für das ganze
Dorf.
Wer kannte die Geier-Wally wieder, die finjtere, herbe, in der glückverklär—
ten Jungfrau, die einherging, wie getragen von unfichtbaren Flügeln. Diejes
Einen Sonnenftrahl3 nur hatte es bedurft, und die Blüthe, die Hagelzerjchlagene,
froftgetödtete trieb wieder. Es war eine unerjchöpfliche Kraft in dem unter:
drückten Herzen, — eine Kraft der Liebe, wie des Haſſes, der Freude wie dei
Schmerzes, der Hingebung wie des Troßes. Ihre ganze Umgebung athmete
auf, es iwar, als jei ein Bann von ihnen genommen, jeit der finftere grollende
Geift von Wally gewichen war, der Alle wie eine Wetterwolke bedrückt hatte.
„Wo ein Menſch jo glücklich ift, wie I's bin, da joll fich Jeder mitfreuen
können!“ jagte ſie, und es war bald offenkundig, daß die Wally jo verwandelt
war, weil fie der Joſeph zum Tanz aufzog — was ja jo viel war, wie eine
Werbung. Warum follte ſie's auch leugnen, da es ja nun doc in wenig Tagen
jo weit war! Warum jollte fie verleugnen, daß fie ihn liebte, Herzlich, über
Alles, er verdiente e8 ja und er liebte fie ja wieder, jonft käme er nicht, fe
zum Tanz zu holen. Es war ihr eine Wohlthat, daß fie zeigen durfte, wie
ihr zu Muthe war. Und wo ihr ein Kind begegnete, da nahm ſie's auf den
Arm und erzählte ihm, am Peter und Paul da komme der Bärenjojeph, der
den großen Bären umgebradt und Lammwirths Lieferl vom wilden Stier er:
Die Geier:Wally. 197
rettet habe, und da jollten fie einmal die Augen aufthun, wie jhön und groß
der wäre — fo einen Menſchen hätten fie noch gar nie gejehen und jo einen
gäb e8 auch auf der weiten Welt nicht mehr! Und die Kinder waren ganz
aufgeregt und jpielten Bär- und Bärenjojeph3 den ganzen Tag.‘ Und dann
Iherzte fie mit Hanjel und drohte ihm: „Daß D’ mir brav bift, wenn der
Joſeph fommt, das jag’ J Dir, ſonſt giebt’3 was!“ Und der Hlettenmaier
und die beften vom Gejind befamen neue Feſtanzüge, die Leute wußten wohl
warım, und Wally litt e8, daß fie drauf herumredeten und wurde nicht böfe. —
Und dann jaß fie wieder till in ihrer Kammer und that ftundenlang nichts
al3 darüber nachdenken, wie das nur gefommen fei, daß der Joſeph jo plößlich
feinen Sinn geändert, und wie fie auch) dachte und dachte, fie konnte e3 nicht
ausdenfen, da3 unverhoffte Glück, das jo plötzlich, jo rei, jo voll über fie
gefommen, und fie blickte jeßt nicht mehr feindjelig, jondern freundlich zu ihren
Heiligen auf und dankte ihnen, daß fie e3 nun doch noch fo gut mit ihr gemacht
hatten. Und wenn fie die Karten anjah, die über dem Bett aufgenagelt waren,
dann lachte fie wohl: „No, was jagt ihr denn jet? Gelt, ihr habt Halt doch
nir g'wußt!“ — umd wie gebannte Geifter, die fein befreiender Zauberſpruch
mehr an’s Licht zieht, ftarrten die Geheimniffe der Zukunft fie unverſtändlich
aus den ſtummen Zeichen an. Wäre die Ludard noch da gewejen, die hätte
jehen können, was die Karten Wally antiworteten — jo aber waren fie ihr ver-
ſtummt, wie eine Ziffernfpradhe, zu der fie den Schlüfjel verloren. Wenn das
die Luckard noch erlebt hätte, wie hätte die fich gefreut! Wally hätte ſich hin—
legen mögen und fortjchlafen bis an Peter und Paul, damit ihr die Zeit nicht
fo lange wurde. Aber davon war feine Nede, fie konnte weder bei Tag noch
bei Nacht ein Auge ſchließen vor Ungeduld, fie mußte immer rechnen: „Seht
noch jo viel Stunden, jet noch) jo viel!”
Endlich war der Tag da! Nach dem Efjen ging Wally auf ihre Kammer
zum Anziehen und wujc und kämmte fi ohne Ende. Wieder war fie Weib —
Mädchen! Wieder ftand fie vor dem Spiegel und ſchmückte fi) und fchaute,
ob jie Schön ſei, ob fie dem Joſeph gefallen werde. Und wieder hatte fie fich
ein neues G'ſchnür kommen laffen, noc reicher ala das erfte, und Kopfnadeln
von Fıligran dazu, und die Schachtel ftand vor ihr auf dem Tiſch und fie nahm
da3 „G'ſchmuck“ heraus und neftelte ſich's an's Mieder, und das feine Silber
war jo weiß wie ihre blendend weißen gefältelten Hemdärmel und Elingelte wie
lauter Hochzeitsglödchen. Und durch die rofenrothen Persvorhängchen fiel ein.
gedämpfter. rofenrother Schimmer herein und übergoß die prangende Geftalt
mit einem zarten Hauch bräutlichen Erglühens. Und als fie fertig war, da
nahm fie aus der Schadhtel eine ſchwer mit Silber beichlagene Meerichaumpfeife,
wie fein Bauer weit und breit eine hatte — ein wahres Vrachtſtück, aber fie
wog es lange prüfend in der Hand, ob es wohl qut genug für Joſeph fei. Und
noch etwas zog fie hervor langjam, faſt ſchüchtern, und Jah nad) der Thür, ob
fie auch gut verriegelt jei: es war ein Kleines rundes Schächtelchen und darin
lag — ein Ring! 63 durchſchauerte fie, al3 fie ihn herausnahm und eine
Ihräne unausſprechlicher Freude und Dankbarkeit trat ihr in's Auge. Sie
Ihloß den Ring in die gefalteten Hände und zum erſtenmal jeit langer Zeit
108 Dentiche Runbdichau.
beugten ſich ihre Knie und es zog fie nieder, über dem Ring zu beten, der den
geliebten Mann an fie fetten jollte für ewig. Und fie hörte nit mehr das
ftolze Raujchen des jeidenen Rocks und das Geflingel der filbernen Anhängſel,
fie betete heiß inbrünftig aufgelöft — fie drängte fi an das Herz Gottes mit
dem Ungeftüm eines dankbaren Kindes, dem der Vater eben feinen glühendften
Wunſch erfüllt hat. —
„Die Bäuerin wird heut nit fertig mit Anpußen,“ jagten draußen die
Mägde, als Wally gar nit zum Vorſchein kam.
Schon zogen die Bauern dem Hirihen zu. Was Füße hatte und einen
Sonntagöfittel, das lief heute mit, denn das ganze Dorf war gejpannt auf das
große Ereigniß, wenn die Höchftbäuerin mit dem Hagenbacher zum Tanz ging.
Die Straße wimmelte von Menſchen und der Hirichwirth hatte diesmal was
drangewendet und Muſikanten von Imſt fommen Laffen.
Die Großmagd Stand oben am Gaupenfenfter und jchaute aus auf den
Weg, von wo der Sojeph kommen mußte.
MWally ftand fertig angethan in der Kammer, das Herz ſchlug ihr wie mit
Hämmern, ihre Wangen glühten, ihre Hände waren eisfalt, fie preßte das
weiße Sadtüchel, das fie jäuberlich zujammengelegt in der Hand hielt, auf:
Herz, es war das Brauttuc ihrer Mutter.
In der Taſche verborgen hatte fie die Pfeife und den Ring für Joſeph.
Sp wartete jie regungslos die Minuten ab und dies ftille Warten, bei dem
ihr faft der Athem ausging vor Ungeduld, war wohl die jchrwerfte Aufgabe
ihres Lebens.
„Sie fommen, — fie fommen!“ jchrie jet die Oberdirn herunter; „der
Joſeph und a Maſſ' andre Buaben, Zwiejelfteiner und Söldener gehen mit
und der Lammwirth von Zwieſelſtein — '3 iS a ganzer Zug!”
Alles auf dem Hof lief zufammen, man hörte ſchon den Lärm der Nahen:
den in Wally's Kammer. et trat Wally hinaus und Alles ftieß ein Ah! der
Bewunderung aus bei ihrem Anblid.
In demjelben Moment erſchien der Zug unter dem. Hofthor, Joſeph ar
der Spitze.
Sie ging ihm entgegen, fittig und doch mit der ganzen ftrahlenden Hoheit
einer Braut, die ftolz ift auf ihren Bräutigam — ftolz, von einem jolden
Mann erwählt zu fein.
„Joſeph — bift da?!“ jagte fie und ihre Stimme Klang jo weich und lieb:
ih, wie fie nie geiprocdhen. — nd Joſeph jah fie an mit einem jeltfamen und
faſt ſcheuen Bli und ſchlug dann die Augen nieder. —
Wally ftußte — war es Abfiht, oder Zufall? Joſeph hatte den Spiel-
hahn verkehrt aufgejeßt, wie es die Burſchen machen, wenn jie Händel ſuchen.
Heute war das aber gewiß nur aus Verſehen geichehen!
Alles ftand um fie her und beobachtete jie — ihr ward jo beflommen, fit
konnte nichts mehr jagen — und er ſchwieg auch. Sie ſchaute ihn an mil
Augen voll feuchter Innigkeit, aber die feinen wichen ihr aus: „er war wohl
in Derlegenheit, wie fie auch!“
„Komm,“ jagte er endlich und bot ihr die Hand. Sie legte die ihre hinein
Die Geier-Wally. 199
und fie Schritten ftill dem „Hirfchen” zu. Die Fremden und da3 ganze Gefind
Ihloffen fi im Zug mit an.
Wie e3 und, wenn wir in die Sonne geſchaut, oft im vollen Tageslicht
ganz dunkel vor den Augen wird, jo warb es jet plößlich der Wally mitten
in allem Glüd ganz dunfel in der Seele — fie wußte gar nicht, was das war,
fie war verwirrt und kannte fich nicht mehr aus. E3 war Alles jo ganz anders,
ala fie gedacht. —
Als fie in den Hirsch eintraten, empfing fie ein jchmetternder Ländler und
Wally hörte, wo fie mit Joſeph durch die Reihen jchritt, Hinter ſich jagen „kein
Ihöneres Paar Menfchen gäb’3 auf der ganzen Welt nicht“.
Sie jah jetzt erft, wie viel Fremde mit Joſeph gefommen waren und alle
abgewiejenen Freier aus der Gegend waren dabei. Wally verglich fie im Stil-
len noch einmal mit Joſeph und fie konnte ſich mit Fug und Recht jagen, daß
aud) nicht Einer darunter war, der fih an Geftalt und Schönheit mit Joſeph
mefjen durfte — er war ein König unter den Bauern, ein Menjch ganz andern
Schlag, als die Menjchen natürlicher Größe, die da herumftanden. Und fie
ließ einen Blick ftillen Entzüdens an der hohen Geftalt niedergleiten von der
breiten Bruft an bis hinab zu den jchlanfen weißen Knieen und Knöcheln. Wer
ihn jo jah, mußte doch begreifen, daß fie nur ihn und feinen Andern wollte.
Als fie aufjhaute, begegnete ihr Blick zwei ftechenden ſchwarzen Augen,
die wie Dolche auf Joſeph gerichtet waren, e3 war VBincenz, der unter der
Menge eingefeilt ſtand — und nicht weit davon ein anderes trauriges Geficht, —
Benedict Klotz, der fie nachdenklich betrachtete. Als fie an ihm vorüberftrich,
hielt fie Benedict ein wenig am Aermel zurück und flüfterte ihr zu: „Nimm
Did in Acht, Wally — fie führen was gegen Did im Schild — % weiß nit
was, aber mir ſchwant nir Gut's!“
Wally zuckte leihthin die Achjeln. Wer konnte ihr was anhaben, wenn
Joſeph bei ihr war!
Die Reihen ftellten fi zum Tanz auf, Wally und Joſeph jollten vortanzen,
man twollte fie miteinander tanzen jehen. Kein Paar war noch je mit fo nei=
diichen Augen betrachtet worden, wie dieje zwei jchmuden auserlejenen Geitalten.
Da aber ließ Joſeph Wally los und trat faft feierlih vor jie Hin:
„Wally“ — Hub er ganz laut an umd die Mufik ſchwieg auf einen Wink des
Lammwirths, der hinter ihnen ftand: „J Hoff do, daß Du mir, ehvor wir
tanzen, den Kuß geben wirſt, den noch Keiner von Deine Freier erobert hat?!“
Wally erröthete und fie jagte leife: „Aber doch nit da, Joſeph, vor alle
Leut!“
„G'rad da vor alle Leut!“ ſagte Joſeph nachdrücklich. —
Einen Augenblick kämpfte Wally zwiſchen Verlangen und holder Verlegen—
heit. Einen Mann zu küſſen vor allen Leuten, das war für ihren keuſchgewöhn—
ten ſpröden Sinn eine ſchwere Ueberwindung. Aber da ſtand er vor ihr, der
herzliebe Mann, der Augenblick — für den ſie Jahre ihres Lebens, ja ihr Leben
ſelbſt freudig hingegeben — war da — und ſie ſollte ihn zurückweiſen um der
paar Zuſchauer willen, die ihr ja nichts anhaben konnten, wenn ſie ihren
Bräutigam küßte. Sie hob das ſchöne Antlitz zu ihm auf und ſeine Augen
Deutſche Rundſchau. 1, 5. 14
200 Deutjche Rundſchau.
bafteten eine Secunde auf den blühenden jchwellenden Lippen, die fich den feinen
näherten, dann ſchob er fie mit einer unwillkürlichen Bewegung fanft von ſich
weg und fagte leije: „Nein, jo nit! 's jchießt kei rechter Jaga a Wild anders
als im Sprung oder im Flug, das hab’ J Dir ſchon amal g’jagt! Abkämpfen
will J Dir den Kup, g’ichenkt will Y ihn nit! Und wenn Ja Mädel wär’
wie Du — thät J mich auch nit jo wohlfeil ergeben! Wehr Dih, Wally,
und mac mir's nit leichter, ala Du's die Andern g'macht haft, jonft ift für
mic kei Ehr’ dabei!“
Eine flammende Röthe der Scham hatte ſich über Wally's Geficht ergoſſen.
Sie hätte in die Erde ſinken mögen! Hatte fie denn jo ganz vergejfen, was
fie ſich ſchuldig war, daß der Freier fie daran erinnern mußte, e8 wurde ihr
förmlich xoth vor den Augen — e3 war, al3 jchlüge ihr eine Blutwelle über
dem Kopf zufammen. Und ſich in ihrer ganzen Größe aufrichtend, maß fie ſich
mit ihm flammenden Blicks: „'s ift recht,“ rief fie, „Du jollft’3 haben. — Du
mußt auch willen, wer die Geier-Wally ift. Sieh’ zu, ob Du den Kuß jet
kriegſt!“
Ihr war zum Erſticken. Sie riß ſich das Halstuch ab und ſtand da in
ihrem ſilbergeneſtelten Sammtmieder und dem weißen Linnenhemd, daß Joſeph's
Augen mit Staunen auf dem wundervollen entblößten Hals hafteten: „Schön
bift — fo ſchön, als Du bös bift,“ murmelte er, und jetzt ſprang er auf fie zu
wie der Jäger auf ein Wild, dem er den G'nickfang geben will und jchlang
den ftarfen Arm um ihren Naden. Aber er kannte die Geier-Wally nit. Mit
einem gewaltigen Rud wat fie frei und ein ſchadenfrohes Gelächter von Allen,
denen e3 einft auch nicht beffer gegangen war, erſcholl, das Joſeph wüthend
machte. Jetzt packte er da3 Mädchen mit Armen von Eifen um den Leib, aber
fie gab ihm einen Stoß auf die Herzgrube, daß er aufichrie und zurüdfuhr.
Neues Gelächter! Mit diefem Stoß, deſſen Wirkung fie fannte, hatte fie ſich
immer gegen Zudringlichleiten gewehrt, denn diefen Stoß hielt Keiner aus,
Sojeph aber verbiß den Schmerz und mit verdoppeltem Grimm warf er ich
nun auf das Mädchen, faßte fie mit beiden Händen bei den Armen und juchte
fo jeinen Mund dem ihren zu nähern, aber im Nu bog ie ſich ſeitwärts ab
und nun entjtand ein athemlojes Ringen hin und her, auf und ab, eine ſchwüle
Stille, nur zuweilen von einem Fluch Joſeph's unterbrochen. Wie eine Schlange
bog und wand fi) das Mädchen in feinen Armen berüber und hinüber, dag
er nie den Mund erreichen konnte. Es ſah nicht mehr einem Liebesfampf —
e3 jah einem Kampf auf Leben und Tod ähnlid. Dreimal hatte er fie zu
Boden gedrückt, dreimal war fie wieder aufgejchnellt, er hob fie in feinen Armen
empor, aber fie drehte ficd) immer jo, daß er die Lippen nicht erreichte. Das
feine Linnenhemd hing in eben herab, das filberne G'ſchnür war in Stücke
zerriffen. Plötzlich kam fie los und floh dem Ausgang zu, er holte fie ein und
riß fie wie im Sturm an fih. Es war eine zornglühende Umarmung. Wie
heißer Dampf umwallte fie jein Athen. Sie lag an feiner Bruft, fie fühlte
fein Herz gegen das ihre ſchlagen, da verlieh fie ihre Kraft, fie brach in die
Knie vor ihm und jagte wie vergehend vor Schmerz und Scham und Liebe:
„Da haft D’ mich!”
Die Geier-Wally. 201
„Ah!“ ein Schwerer Seufzer brach aus Joſeph's Bruft. „Ahr habt's Alle
g'ſehen?“ fragte er laut — bog ſich nieder und drückte feinen Mund auf ihre
heißen zitternden Lippen. Ein Hurrah erſcholl jet aus Aller Mund. Dann
bob er fie auf und faft befinnungslos ſank fie ihm an die Bruft.
„Halt!“ jagte er ftreng und trat einen Schritt zurüd; „mehr braucht'3
nit, 3 ift g'nug an dem einen Hub. Du haſt's jetzt g’jeh'n, daß J Dich
zwingen kann — und weiter will % nix!“
Wally ftarrte ihn an, al3 begriffe fie ihn nicht — fie wurde ganz exrdfahl:
„Joſeph“ — ftammelte fie, „warum bift denn kommen?”
„Haft D’ Dir einbild’t, % ſei fommen, um Di z’freien?“ ſagte er;
„Du Haft neulich auf der Procejfion vor alle Leut g’jagt, die Afra wär’ mei
Chat, weil fie jo leicht z'haben wär! — und der Bärenjojeph hätt’ nit’3
Kuraſch, daß er mit der Geier-Wally anbind’t. Haft D’ wirklich g’meint, daß
a Kerl, der Ehr’ im Leib’ hat, jo was auf fi) und 'n braven Mädel fiten
laßt? J hab’ Dir nur zeigen wollen, daß I's fo gut mit Dir aufnehm’ wie
mit 'm Bären, oder fonft 'm Unthier, und den Kuß, den J Dir abg’nommen
hab’, den bring J der Afra als Sühnungskuß für das Unrecht, das D’ ihr
an'than 5 ft! Set merk Dir’ für 'n andersmal, warn Dich der Uebermuth
twieder jticht! J Hoff, Du laßt Dir’ jet vergehen, arme brave Mädeln öffent»
lich Spott und Schand’ anz'khun — denn Du haft’3 jet amal ſelber g’jpürt,
wie’3 thut, wenn ma ausg’ladht wird!”
Ein jchallendes Gelächter beſchloß von allen Seiten Joſeph's Rede. Der
aber wehrte migmuthig den Beifall ab: „hr habt’3 g’jehen, daß J Wort
ghalten Hab und jet will J noch nad) Ziwiejelftein, die Afra beruhigen, denn
das gute G'ſchöpfl hat g’weint, daß J der Höchſtbäuerin 'n Schabernad anthun
will! B'hüt Gott mitſammen!“
Er ging, aber Alles Tief mit ihm, denn der Spaß war zu Jchön getvefen.
Der Bärenjofeph, da3 war Einer! Der hatte der ſtolzen Höchftbäuerin einmal
den Meifter gezeigt!
„Da3 war ihr g’jund, der Stolzen!“
„Das g'ſchieht ihr recht!“
„Joſeph, das ift Dein beſt's Stück'l!“
„Wenn das 'rum kommt, will ſie Keiner mehr.“
So lachten die abgewieſenen Freier im Chor um Joſeph her und Alles
drängte luſtig plaudernd nach.
Der Tanzboden war leer — nur Zwei waren bei Wally zurückgeblieben:
Vincenz und Benedict. Wally ftand noch immer an derjelben Stelle und regte
fi nit. Es war, al lebe jie nicht.
Vincenz beobachtete fie mit unterjchlagenen Armen. Benedict trat zu ihr
hin und faßte fie leije am Arm: „Wally — nimm Div’ nit jo zu Herzen, —
wir find auch noch da und wollen Dir G’nugthuung verschaffen. Wally! red’
doch — was ſoll'n wir thun — wir find ja zu Allem bereit, fag’ nur, was
D' willſt!“
Da regte ſie ſich und ihre großen Augen leuchteten geiſterhaft in dem
leichenfarbenen Geſicht auf. Sie öffnete und ſchloß ein paarmal die Lippen,
14*
202 Deutiche Rundichau.
ein Wort wollte ſich daraus hervorringen, aber es war, al3 fehle ihr der Athen
dazu. Endlich, als ftieße fie es aus ihrem tiefften Leben heraus, mehr ein
Schrei als ein Wort: „Todt will J'n haben!“
Benedict fuhr zurüd: „Wally — Gott bewahr Di!“
Vincenz aber trat mit funfelnden Augen auf fie zu: „Wally, ift das Dein
Ernſt?“
„Mein blutiger Ernſt!“ Sie hob die Hand zum Schwur auf, die Hand
war ganz ſtarr und die Nägel bläulich, wie abgeſtorben. „Wer Den ſeiner
Afra todt vor die Füß' legt — den heirath' %, jo wahr J die Walburga
Strommingerin bin!“
XI.
In der Nadt.
Durch da3 ftille Tchlafende Haus des Höchſthofs ging ein jeltiames gleich-
mäßiges Dröhnen unaufhörlic) die ganze Nacht hindurch. Die Mägde fuhren
wol zuweilen aus dem Schlaf auf und wußten nicht, was fie hörten, Ychliefen
aber wieder drüber ein. Die Dielen krachten und die Balken waren in einem
beftändigen leifen Schwanten.
63 war Wally, die ohne Unterbredung mit ſchwerem Schritt auf: und
niederging und mit ji, mit dem Schiefjal, mit der Vorjehung rang im Todes—
fampf ihres fterbenden Herzens. Zerriſſen — die Kleider um ſie her, zerſchmet—
tert auf dem Boden die holzgejchnigte heilige Walburga, der Chriftus mit dem
Kreuz, die Heiligenbilder — Alles in Trümmer zerſchlagen — in ohnmädtiger
Wuth.
Sie war halb entkleidet und das aufgelöfte Haar hing ihr zerrauft auf die
nadten Schultern nieder.
Sn dem Lichtftod qualmte ein rothleuchtender Spahn und in dem zittern=-
den Schatten verzerrten fi) die Züge des zerbrochenen Chriftustopf3 am Boden
und jchienen fich zu beleben. Sie blieb im Vorbeijchreiten bei den Trümmern
jtehen: „Ja grinſ' nur — Du hältjt mid immer für Narren. Und Keiner von
Euch! Gößenbilder jeid’3 von Holz und Papier, die Keinem Helfen können! O8
hört’3 fein Gebet und fein Fluch. Und die, die ihr vorjtellt, ſtecken, Gott weiß
wo, und lacheten uns aus, wenn fie'3 jehen könnten, wie wir vor einem Stück'l
Holz Inien!“ Und fie ftieß die Trümmer unter ihr Bett, um nit im Gehen
gehindert zu jein.
Da fiel in der Ferne ein Schuß. |
MWally blieb ftehen und horchte — Mlles war jtil. Sie Hatte ſich mol
getäufcht. Warum nahın ihr das Geräufh den Athem? Sie konnte doch nicht
einmal jagen, ob es nur wirklid ein Schuß war? Wie der Blit fuhr es ihr
durch den Kopf: „Wenn in dem Augenblick der Vincenz den Joſeph erſchoſſen
hätte!” Doc das war ja Unfinn, der Jojeph war ja ruhig daheim — oder
vielleicht gar in Zwieſelſtein bei feiner Afra! —
Sie jhlug den Kopf an die Wand in namenlojer Qual bei dem Gedanten,
und Bilder jtiegen vor ihrer Seele auf, die fie wahnfinnig madten! O, wär’
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2 —
Die Geier-Wally. — >” “or r BEN, N
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er nur todt, todt, daß fie das nicht mehr zu denken
Fenſter auf, um Luft zu Ichöpfen.
Hanzl, der auf einem Spalier vor dem Fenſter geichlaferz
kam Ichlaftrunfen Herbeigeflattert. „OD Du!” rief Wally, ſtreckte ihm die Arme
entgegen und preßte ihn an die Bruft — er war ja ihr Alles, ihr Lebtes auf
der Welt.
Da — ein zweiter Schuß und diesmal deutlicher von der Richtung nad)
Awiefelftern her. Sie ließ den Geier los und fuhr fi mit der Hand nad)
dem Herzen, als habe fie der Schuß jelbft getroffen. Warum nur diejes Er-
ihreden? Der unbedeutende Zufall Hatte ihr plößli die ganze entjetliche
That, die fie geftern heraufbeſchworen, vor die Seele geführt. Sie mußte immer
wieder denfen, wie e3 wäre, wenn der Schuß, den fie eben gehört, Joſeph's
Haupt zerichmettert hätte und eine wilde wahnfinnige Freude überfam fie. Nun
gehörte er ihr, nun konnte er feine Andere mehr füffen. Und wie fie jo darüber
nachdachte, da war es ihr, ala wäre es wirklich geichehen, fie jah ihn in feinem
Blut am Boden, fie kniete bei ihm nieder, fie nahm jein Haupt auf ihren
Schooß und küßte das bleihe Gefiht — das bleiche ſchöne Gefiht — fie ſah
es ganz deutlich vor fih! Aber da — ba überkam fie plößlich ein Mitleid
mit dem armen todten Mann — ein heißes unausſprechliches Mitleid, — fie
tief ihn an mit allen Namen der Liebe, fie Jchüttelte, fie rieb ihn, — umſonſt,
er wurde nicht mehr lebendig! Eine unnennbare Angſt erfaßte fie. Nein,
nein, das durfte nicht geichehen — er durfte nicht fterben — lieber fie jelbft!
Es war, als habe ein Krampf ihr ganzes Herz zuſammengeſchnürt gehabt,
daß fein menschlich warmes Blut mehr durch ihre Adern floß und ala habe
ſich jeßt erft der Krampf gelöft und die warme Welle jtrömte wieder dem Herzen
zu. Sie mußte hinaus, fie mußte jehen, ob Vincenz zu Haufe jei — fie mußte
ihn jprechen, nod) vor Tag — fie mußte ihm jagen, daß das Gräßliche nicht
gejchehen dürfe — fie war wie im Fieber, alle Pulſe jchlugen ihr — fie Hatte
die That gewollt — begehrt — aber ſchon der Gedanke, daß fie geichehen jei,
Lichte ihren Zorn — und fie verzieh!
Sie warf ein Tuch über und eilte hinaus über den Hof, durch die Gärten
dem Haus des PVincenz zu. Wa3 würde er, was würden die Leute von ihr
denken? Ach, das war ja ganz einerlei — was lag jebt noch daran!
Sie erreihhte da3 Haus. In PVincenz’ Kammer zu ebener Erde brannte
Lit — fie Schlich fich heran, fie konnte durch das verichobene Vorhängchen
Hineinfhauen — es nahm ihr faft den Athem — die Stube war leer, der Kien—
fpahn tief heruntergebrannt. Sie ging um's Haus, die Thür war nicht ver-
Ichlofjen. Sie öffnete leiſe und trat hinein, Alles till — wie ausgeftorben.
Die Knechte und Mägde jchliefen noch feit, fie ſchlich durch's ganze Haus, nichts
rührte fih — Vincenz war fort! Eiſeskälte durchriejelte Wally's Glieder. .Sie
ging in feine Schlaflammer, da3 Bett war verlegen, er mußte darin gelegen
haben, aber bald wieder aufgeftanden fein, — die Sonntagskleider hingen am
Kleiderrehen, aber die Werktagskleider fehlten. Auch Fein Hut war da. Gie
ſuchte in der MWohnftube: der Nagel, wo fonjt die Büchſe hing, war leer. —
MWally ftand da wie gelähmt. Sie wußte nicht, wie jie wieder zum Haus
N
204 Deutiche Rundichan.
hinaus fam. Bor der Thür mußte fie fih auf eine Bank jeßen, ihre Füße
trugen fie nicht weiter. Sie verſuchte fi) Troft zuzuſprechen: Er war eben,
unruhig wie er war, auf irgend ein nächtliches Wild gegangen — wa3 jollte
er denn dem Joſeph thun, der jchlief ruhig irgendwo — es jchüttelte fie —
auf einem weichen Pfühl und am Tage, wo Alles auf war, konnte ihm ja
Niemand was thun.
Das war das böje Gewiſſen, da3 ihr ſolche Schreden einjagte und ſie be-
grub das Geficht in den Händen: „Wally, Wally, was ift aus Dir 'worden!“
Beſchimpft, verhöhnt, erniedrigt vor den Menſchen — und vor Gott eine Ver-
brecherin! Wo war Waſſer genug, fie zu reinigen? Da unten, da braufte die
Ache — bie, ja die konnte Alles abwaſchen — wenn fie fi) in dieſe kalte Fluth
hinabftürzte, — dann war Alles weggeſpült, — ihr Weh — und ihre Schuld
— das ganze unfelige Ding, das nur zu Schred und Kampf geichaffen war —
mit Eins vernichtet — vorbei! a, das war Erlöfung — wozu parte fie ſich
nod auf? In Stüde da3 unnütze Gehäus, das die Seele gefangen hielt in
Banden der Schuld und des Schmerzes! Sie jprang auf — aber fie konnte
nicht weiter, fie ſank wieder auf die Bank zurüd. Hing denn dies zertretene
geftorbene Herz immer noch mit einem unfichtbaren Faden am Leben? Da —
Gott jei gelobt — ein Schritt über den Raſen — da fam Bincenz! Jebt
fonnte jie ja mit ihm reden — jet konnte noch Alles gut werden.
„Alle Heiligen!“ jchrie Vincenz auf, ala fie ihm entgegentrat, — „da
bit Du?“ Er ſchaute fie an wie ein Gejpenft. Wally ſah in der Morgen—
dämmerung, daß er bleich und verftört war; den Stuben hatte er über der
Schulter.
„Vincenz,“ ſagte fie leife, „haft was g’ichoffen?“
—
„Was denn?“ ſie ſchaute nach ſeiner Jagdtaſche, ſie war leer.
„Hochwild!“ flüſterte er.
Wally erbebte. „Wo haſt's?“
„In der Ach' liegt er!“
Wally faßte ihn am Arm, ihre Augen ſtierten ihn an wie im Irrſinn. „Wer?“
„Fragſt noch?“
„Der Joſeph?“ ſchrie Wally auf und ſchlug taumelnd an die Wand. —
„'s war harte Arbeit!“ ſagte Vincenz und wiſchte ſich die Stirn; „hab'
ſelber nit g'meint, daß er mir ſo bald vor'n Schuß kommt. Weiß der Deufel,
was Den jo in der Nacht noch umetrieben hat. Hab’ denkt, J wollt' mich
früh aufmachen, dag J am Morgen gleich) in Sölden wär’, eh’ er aufſtünd —
da lauft er mir ſchon beim erjten Schritt in d’ Händ'. Aber ’3 war noch
z finjter, die erſte Kugel hat'n g’fehlt und die zweit’ hat'n nur g’ftreift. Schwind—
lich muß's 'm aber dod) wor'n fein, denn auf'm Steg bat er g’ftrauchelt umd
fih am G’länder g’hoben. Den Augenblid Hab’ % g’nußt, bin von hint' auf'n
g’iprungen und hab'n über's G’länder 'nunter g'ſtoßen!“
Aus Wally's Bruft drang ein Stöhnen wie das Röcheln eines Sterbenden,
und wie ein Geier, der fi) auf feine Beute ftürzt, warf fie fich plößlic auf
Vincenz und padte ihn mit beiden Händen am Hals: „Du lügft — Vincenz,
Die Geier: Mally. 205
Du lügt — 's ıft nit wahr, '3 kann nit jein — ſag', daß's nit wahr ift —
oder J bring’ Dich um.“
„Bei meiner armen Seel’n, ’3 ift wahr! Haft g’meint, der Vincenz b’finnt
fi) lang, wenn’3 was für Dich z'thun gibt?“
„D Mörder, feiger boshafter Meuchelmörder,* ſchluchzte Wally auf und ihr
ganzer Körper bebte: „So hinterrücks, jo heimtückiſch, jo niederträchtig hab’
Ya nit g’wollt! Am ehrlichen Kampf, hab’ J g’meint, follt’ er jterben. Ver—
flucht jeift in Zeit und Ewigkeit — verflucht und verworfen diefjeit3 und jen-
jeits! Was thu' J Dir nur? Mit Nägel und Zähn’ jollt ma Dich zerreißen!“
„Alſo das ijt mein Dank,“ Enirjchte Vincenz; „haft Du's mich nit g'heißen?“
„Und wenn I's Di jo g'heißen hätt! — jo! — Halt Du’s deswegen
thun müfjen?” fieberte Wally. „Ma jagt manchmal was im Zorn, was Ein’
naher reut, — Hätt’ft nit warten könne, bis J zur Bfinnung fomme wär” nad
dem furchtbaren Schlag? Joſeph — Joſeph! bös bin J und wild, aber fer’
Mörderin bin Ynit. O hätt’ft nur g’wartet, nur a paar Stund! Aber die
Bozheit hat Dich trieben und Du Haft’? nit derwarten könne, bis D’ fie haft
auslaffen dürft!“
„Sp recht, ſchieb jen nur Alles auf mich!“ grollte Vincenz, „und haſt
doch Dein Theil Schuld jo gut wie I!“
„sa,“ jagte Wally, „Jhab's und J werd’3 mit Dir büßen. Für un?
zwei gibt’3 kei Erbarmen. Da heißt’3 Blut um Blut“ — knirſchte fie, faßte
Bincenz am Kragen und ri ihn mit fich fort.
„Wally — laß ab von mir — was willft denn? Herrgott, ift das mei
Dank? Erbarmen. Wally, Du erwürgft mid — wohin jchleppft mich denn?“
„Bo twir zwei hin g'hören“ — mar die dumpfe Antwort und fort ging
es, wie wenn ihn ein Sturmwind gefaßt hätte, die Anhöhe hinan bis zum
Steg, wo's jäh in die Ache hinabgeht — wo bie That geichehen war. „Da
hinunter,” war da3 einzige furdhtbare Wort, da3 fie ihm in's Ohr donnerte,
„wir Zwei — mit 'nander!”
„Jeſus Maria!” jchrie Vincenz entjegt auf; „Du haft mir g'ſchworen, daß
Du mei Weib wirft, wenn J die That thu’, und jet willft mich umbringen?!”
Wally ſchlug wieder ihre jchreliche Hohnladde auf: „Du Narr, wenn J
mid mit Dir da ’runter ſtürz' — find wir zwei dann nit vereint auf ewig?
Was? MWillft Dich noch wehren um Dei Wolfsleben?” Und mit Riejenkraft
umklammerte fie ihn und drängte ihn an das niedere Geländer, ihn mit fich
hinabzureißen in die dämmergraue Untiefe.
„Hilfe!“ ſchrie Vincenz unwillkürlich auf und —
„Hilfe!“ tönte es ſchwach — geiſterhaft, wie ein Echo, aus der Tiefe!
Wally ſtand wie verſteinert und ließ von Vincenz ab. Was war das?
War es ein Spuk? „Haſt Du das g'hört?“ frug ſie den Vincenz.
„3 war das Echo!“ ſtammelte der, und die Zähne ſchlugen ihm zuſammen.
„Stil! Noch einmal!”
„Hilfe!“ Hang e8 wieder wie ein Hauch aus dem Abgrund herauf!
„Alle guten Geifter, das ift er — er lebt — er hängt wo — er ruft!
Ja — J komm’, Joſeph, wart’ Joſeph — J komm'!“ jchmetterte fie mit Po—
206 Deutſche Rundichau.
faunenton in die Tiefe hinab und mit Pofaunenftimme jehrie fie die Schläfer
heraus und flog durch's Dorf und ſchlug an alle Thüren. „Zu Hilf! Zu Hilf!
— 's ijt Einer verunglüdt, rettet — helft, um Gottes Barmherzigkeit willen —
’3 geht um Leben und Tod!“
Und der Schredensruf jagte die Leute aus den Betten, die Fenſter wurden
aufgeriffen. „Was ift’3, was ſoll's?“
„Der Joſeph — der Hagenbach ift in 'n Abgrund g'ſtürzt“ — ſchrie
Wally — „Seil! — ſchafft Seil! her — jchnell, nur ſchnell, 's Tann ſchon z’jpät
fein — vielleicht iſt's z'ſpät, bis wir dort find!” —
Und wie der Wind flog fie Allen voran nad) Haufe und in die Scheuer
und raffte zulammen, was da war an Striden und knüpfte die Stüde zuſam—
men mit zitternden Händen, aber wie fie auch fnüpfte, Schnüre und Stränge
und Seile, es war ja immer nicht genug, in die Tiefe hinab zu reichen, in der
er lag — Gott weiß two!
Indeſſen kamen die Männer gerannt, halb noch ungläubig, halb entjeßt
ob der jchredlichen Kunde und brachten Stride und Hafen geſchleppt und La-
ternen, denn es war, als wolle e3 heute nicht Tag werden und es war ein
Tragen und Rufen, eine Rathlofigkeit, denn ſeit Menjchengedenten war bier
oben Niemand verunglüdt und fie waren hier auf der breiten Hochebene nicht
vorgejehen mit Rettungswerkzeugen wie an andern Orten, wo ſchwindelnde Fels—
pfade und tückiſche Klüfte und Spalten alljährlich ihr Opfer fordern. So kamen
fie zu der Unglücöftelle und banges Graufen ergriff die Kaltblütigften, als fie
fi) über das Geländer bogen und Hinabjchauten in die grauverſchwommene
Tiefe, in der nicht3 zu jehen war als wallende Nebel, die über dem Waſſer
brauten. Vincenz war verſchwunden, — es war öde und todtenftill weit und
breit in Höhe und Tiefe. Wally ſchickte einen Juchſchrei hinab, daß die Lüfte
zitterten — Alles lauſchte mit gefpanntem Athem — feine Antwort.
„Joſeph — wo bift?“ rief fie nochmals mit einer Stimme, ala habe der
Angftichrei der ganzen gequälten, verzagenden Menjchheit fich zufammengeballt
in dem einen Ton, — Alles blieb ftill.
„Er antiwortet nimmer — er ift todt,” ſchluchzte Wally auf und warf ji
verzweifelnd zu Boden, „jet ift Alles vorbei!“
„Vielleicht ift er num von fich oder fo ſchwach, daß er nimmer rufen kann,“
tröftete der alte Slettenmaier und raunte Wally in’3 Ohr: „Bäuerin, — bentt
an die Leut'!“
Sie erhob fih und wiſchte ſich das zerraufte Haar aus der Stirn. „Bin
det die Strict z’fammen, fteht nit jo unſchlüſſig da — auf was wartet hr
denn?" Die Männer ſahen ſich zweifelhaft an. „Probirt muß es werden, ob
er nit z'finden wär',“ jagte Klettenmaier.
Die Männer begannen kopfſchüttelnd an den Seilen zu nefteln.
„Wer joll fi an dem Geknüpf 'nunterlaſſen?“ „Wer?“ jagte Wally und
ihre dunkeln Augen leuchteten geifterhaft aus dem bleichen Geficht; „J merd's
thun!“
„Du, Wally — Du biſt nit g'ſcheidt — das tragt kaum Ein'n, noch weniger
Zwei.“ —
Die Geier-Wally. 207
„Es braudt nur Ein’n z'tragen“ — ſagte Wally dumpf und griff mit zu,
daß e3 jchneller ging. „'s ift unmöglid, Wally — Du mußt ja Did und ihn
dran binden, wie jollft denn wieder "rauf fommen?” meinten die Männer und
ließen rathlos die Arme finfen; „da bleibt nix übrig, al3 man ſchickt in die
Dörfer und laßt Seil’ Zjammenholen —“
„Und derweil ftürzt er vollends in die Tiefe, wenn ihn’3 Bewußtjein ver-
laßt und 's ift zu ſpät!“ jchrie Wally in Verzweiflung. „J wart’3 nit ab,
bi3 die fommen — gebt her — widelt das Gefnüpf auf und zeigt, wie lang
's iſt! Auseinander! Vorwärts —“ Sie jhüttelte das Gewirr von Strängen
auseinander und prüfte feine Länge und Stärke und unwillkürlich griffen die
Männer wieder zu, fie wicelten den mächtigen Knäuel auf und die Anjtalten
fingen an, zwedvoll und planmäßig zu werden. Die Männer traten an, die
Kette zu bilden. „Langen fönnt’3 am End’ ſchon — aber ’3 tragt feine Zwei!”
„Wenn's feine Zwei tragt, jo laß J'n allein 'nauf ziehen. Wo er Plab zum
Liegen hat, hab’ J auch Pla zum Stehen. So wie J feiten Fuß g'faßt hab’,
bind’ % mir den Strid los und bind’ ihn dran. Dann ziegt Jhr ihn 'nauf
und J wart’ jo lang unten, bi3 ’3 Seil wieder fommt —“
„Das geht nit, allein kann man ihn nit ’raufbringen, denn wenn er ſchwach
und von ji wär, thät er ja zerichlagen und zerihimden tverden, wenn Nie-
mand bei ihm ift, der'm hilft und ihn von der Felswand abhaltet!”
MWally ftand wie vom Donner gerührt — daran hatte fie nicht gedacht.
So jollte es doch noch Scheitern — fie jollte ihn nicht erreichen, als vielleicht
dort unten im falten Bett der Ache! Zwei trug das Seil nit, das jah fie
Telbft ein. „In Gottes Namen,“ ſagte fie endlich und troß des Fiebers, das
fie jchüttelte, ftand fie jet da, würdevoll gefaßt und gebietend in ihrem feſten
Entihluß, gürtete ji das Seil um den Leib und nahm den Alpftod in die
Hand. „So laßt mich 'nunter, daß JI'n wenigftens ſuch!! Wenn Sn find,
fo bleib’ J jo lang bei ihm und halt ihn, bis Ihr noch Strid z'ſammen bracht
habt und fie uns "runter laßt. J mwart’3 geduldig ab da drunten und wenn J
Stunden lang zwiſchen Erd und Himmel hängen müßt, bis das Seil fäm’!“
Da ftürzte der alte Klettenmaier vor ihr auf die Knie: „Waly — Wally
— thu’3 nit, fie jagen ja Alle, daß das Geknüpf nit ficher ift! Wenn's dann
fein muß, jo laß mi 'nunter, was liegt an mei'm alten Leben — wenn J au
nir helfen kann, man ſieht wenigſtens, ob die Strid feft find und reißen’3, jo
bin’3 nur J, der ’nunterftürzt und nit Du!“
„sa, Wally, hör’ auf ihn,” jagte ein Anderer, „er hat Recht, thu's una
nit an! Wart’ no, b’jinn Di noch, bis Hilf von die Ortichaften kommt!“
Da hob Wally die Arme auf, daß Alles um fie auseinander wich: „Wie
J noch a Kind. war, hab’ J mi nit b’fonne, den Geier aus'm Neft z'holen
über'm Abgrund — und % jollt mi jet b’finne, den Joſeph z'holen? Sag
mir Keiner mehr was, — J will — J muß zu ihm! Macht — tretet an —
wickelt ab — haltet fejt!” Und da war ſie über das Geländer gejprungen und
die Männer, welche die Kette bildeten, mußten ji mit allen Kräften ſtemmen,
fo jäh war der Rud an dem Seil.
„Gott fteh’ uns bei!” bekreuzte fich Slettenmaier und rannte fort, als
208 Deutiche Rundichau.
wäre ihm bei Wally’3 legten Worten etwas eingefallen. Alles ftarrte mit Ent—
fegen ihr nad), wie fie langjam tiefer jant in das Wolkenmeer hinein, bis es
fie verſchlungen hatte und ſich iiber ihr ſchloß, vielleicht auf Nimmerwiederjehen.
Lautlos wie um ein Grab ftanden die Leute um die Stelle herum, wo fie ver—
Ihwand. Das ftraff geipannte Seil allein gab no Kunde von den Bewegun—
gen der todesmuthigen Taucherin in dem Wolfenmeer und alle Augen haf-
teten auf ihm, ob e8 reißt, ob es fie trägt. Und jo oft wieder einer der raſch
geſchürzten Knoten abgewicelt ward, jchlug jedes Herz banger: „Wird er halten?“
Und auf den Stirnen der die Kette bildenden Männer perlte der Schweiß
und unwillkürlich prüften die Hände beim Abwickeln noch einmal den Knoten,
an dem ein Menjchenleben hing. — So ſchlich bleiern ſchwer Minute um Mi—
nute hin, al3 wäre auch die Zeit an ein Seil gebunden, da3 dunkle Mächte
nicht 1o3 ließen. — Immer noch zieht und wuchtet das Seil, no immer muß
ſie hängen, hat noch nicht feiten Fuß gefaßt.
„Es geht zu End',“ ruft der Lebte von der Kette, „es wird nit langen.“
„Jeſus Maria, fteh’ uns bei!” — riefen Alle durcheinander, „'s langt nit!“
Nur noch wenige Ellen find übrig und immer noch fein Zeichen von unten,
daß Wally das Ziel erreiht. Die Männer drängen fi zujammen, jo dicht jie
fönnen, an den Abgrund, fie laffen nad) von dem Seil, jo viel noch möglich. —
Wenn's nicht langte, wenn Alles umſonſt wäre und fie müßten die arme Wally
twieder heraufziehen, um noch einmal den Todesiweg anzutreten! —
Da — da, läßt das Seil plötzlich nad), es wird ſchlaff, — ein furchtbarer
Augenblid! ft es geriffen oder hat jeine Laft Boden gefunden ?
Die Weiber beten laut — die Kinder fchreien. Die Männer fangen an,
langjam aufzuwideln, aber nur ein paar Hände — da miderfteht das Seil!
Es ift nicht geriffen, e3 hält, — Wally hat Fuß gefaßt! Und jetzt — horch!
ein verhallender Ruf aus der Tiefe, — und aus allen Kehlen bricht noch angſt—
zitternd die Antwort. Wieder wird das Geil ſchlaff, fie wideln nad, das
wiederholt fi) ein paarmal, e3 jcheint, Wally Himmt an der Felswand empor.
Mittlerweile ift e8 Tag geworden, aber ein feiner falter Regen riejelt herab
und immer dichter wird das Nebelgemeng dort unten. Jetzt nimmt das Seil
plötzlich eine jchräge Richtung, es zerrt ftark nach rechts, die Männer geben ihm
nad) und ziehen ſich von der linken auf die rechte Seite des Steg, Wally
Icheint immer höher zu fteigen, fie müſſen immer mehr aufwideln. „Gott jei
Dank,” jagten Einige, „er muß nit fo tief g’fallen fein — wenn er noch jo
weit oben liegt, kann er leben!“ „Vielleicht ſucht's 'n nur!” meinten’ Andere.
Jetzt ein Rud am Seil, dann ein plößliches Nachlaſſen und ein markerſchüttern—
der Schrei.
„3 it griffen!” kreiſchen die Leute.
Nein, es ſpannt ſich wieder an — vielleicht war's ein Freudenſchrei —
vielleicht hat fie ihn gefunden! Die Weiber liegen auf den Knien, jelbit die
Männer beten, denn wenn fie auch alle die übermüthige „Höchftbäuerin” gehaßt
hatten — für die opfermüthige Dirn, die da drunten im Chaos in Todesnoth
ſchwebt, bangt Jeder, der ein Menfchenherz in der Bruft trägt. Wenn nur
ein Sonnenftrahl durch den Nebel dringen wollte, nur einen Augenblid! Da
Die Geier-Wally. 209
ftehen fie Alle und jchauen, und können nichts entdeden und müſſen e3 der
Zeit, der langſam jchleihenden, überlaſſen, was ſich enthüllen wird.
Das Seil fteht, aber fein Ton dringt mehr von unten herauf. ft e8
geriffen und hängt nur an einer Felszade, während Wally jchon zerichmettert
in der Ache Liegt? Warum fein Zeichen, fein Juchzer? Und noch Stunden
fönnen vergehen, ehe Hilfe von den Ortſchaften kommt.
Niemand wagt ein Wort zu ſprechen — Alles horcht mit gejpanntem
Athen. Da rennt der Klettenmaier herbei, rufend und mwintend.
„Da ſchaut's, was % bring!“ er trägt ein vollftändiges Rettungsfeil über
der Schulter. „Unjerm Here Gott jei Dank! Wie fie von dem Geier g’jprochen
hat, da ijt mir eing’fallen, daß die Ludard jelig das Seil aufg’hoben hat q’habt,
wodran damal3 der Stromminger die Wally zum Geier ’nunterg’laßt hat —
und da — da hab’ I's richtig g’funden aufm Speicher unter allem alten
G'rümpel raus.“
„Das ift a Fund!“ „Slettenmaier, Dich ſchickt unfer Herrgott!” riefen
die Leute durcheinander. „Gott geb’, daß wir's noch brauchen,“ ſagte der
Dorfältefte und ſah muthlos auf das Rettungswerkzeug; „fie gibt kein Zeichen
mehr!“
„3 zupft am Seil,“ jchrie der Vorderfte von der Kette und zugleich tönte
ein Ruf herauf, jo nahe, daß man e3 verftehen konnte, wenn Alles ftill war:
„Roc kei Seil da?“
„Sa, ja!” fchallt es jubelnd aus Aller Mund. Ein eiferner Widerhafen
wird als Anker an das Tau geknüpft, eine zweite Kette wird gebildet und
num wird e3 hinabgejenft in die undurchdringlich verichleierte Tiefe. Der Dorf-
ältefte commandirt, — denn da3 Aufziehen der beiden Seile muß ftreng zuſam—
men gehen, damit Wally bei dem VBerunglüdten bleiben und ihn unterſtützen
kann. Nicht halb jo tief, wie Wally zuerft gefunfen war, geht das Seil nieder,
da wird es jchon von unten gefaßt und angehalten.
„Nachlaſſen,“ befiehlt der Aeltefte, denn Wally muß ein paar Ellen frei
haben, dem Joſeph das Seil umzugürten. „Genug!“ ſchallt da3 Commando
und wie Soldaten auf dem Anftand ftehen die Deannen und harren des Weiteren.
Wieder ein paar Minuten Paufe, fie muß die Schlinge ficher und bedacht
machen, damit der vielleicht lebloje Körper nicht jo nah am Ziel wieder in den
Abgrund ftürzt.
„Knüpf’z feſt, Wally,“ feucht der Klettenmaier vor fich Hin.
„sa, Jeſus, wenn fie'n nur gut anbind’t,“ wiederholen die Leute.
Ein dreimaliger Rud an beiden Seilen zugleih. „Aufziehen!” befiehlt der
Ueltefte und es ift, ala zittre ihm die Stimme dabei.
Die Mannen beider Ketten ftemmen die Füße feſt in die Erde, an Schenfeln,
Armen und Stimmen jchwellen die Adern auf, weit hinübergebogen ziehen die
nervigen Hände an und das Aufwinden der wuchtigen Laften beginnt — eine
furhtbare, verantiwortungsvolle Arbeit — ein Nachlaſſen, und Alles ift verloren.
„Langſam!“ mahnt der Weltefte: „Aufeinander ſchauen!“
Es ift ein feierlicher Augenblid. Selbſt die Kinder wagen nicht, ſich zu
210 Deutſche Rundichau.
rühren. Man Hört nichts weit und breit, al3 das Stöhnen ber ſchwer arbeiten-
den Männer.
Jetzt — jebt kommt es durch den Nebel — deutlicher, immer deutlicher, —
Wally taucht auf, mit einem Arm den leblojen Körper unterftüßend, der in
dem Rettungsjeil hängt, mit dem andern Arm den Alpftod Eraftvoll gegen die
Felswand ftemmend, um fih und ihn vor dem Zerichellen zu ſchützen. So
gleihjam rudernd fteigt fie aufwärts durch) das Luftmeer. Und jet endlich
find fie da, nah am Rand — nod) einen Rud, und fie können gefaßt werden.
„Feſthalten,“ — commandirt der Neltefte — jeder Athem jtodt — der
letzte Augenblick ift der ſchwerſte, wenn noch in diefem Augenblid das Seil rifje!
Aber nein, die Vorderften der Kette bücken fi), fie paden fie mit ſicherem
Griff, die Hintermänner halten feft an den Striden.
„Auf!“ ſtöhnt's aus dem Munde der Vorderen, fie werden herüber gehoben
— da find fie — auf feftem Boden — und ein heulendes Freudengeſchrei macht
den gepreßten Herzen Luft. Wally ift ftumm über dem Ieblojen Körper Joſephs
zufammengefunfen. Sie hört nicht, fie jieht nicht, wie Alles fich um fie drängt
und fie lobt und preift, — fie liegt mit dem Angefiht auf jeiner Bruft —
ihre Kraft ift zu Ende.
XII
Zum Bater zurüd.
In Wally's Kammer auf Wally’3 Bett Liegt Joſeph leblos außgeftredt.
Es ift ruhig und ftill um ihn her. Wally hat Alles hinausgeſchickt, fie kniet
vor dem Bett, hat das Gefiht in die gerungenen Hände verftedt und betet:
„Herr Gott, mein Gott, erbarm’ Did), und laß ihn leben — nimm mir Alles
— Alles, aber laß ihn leben! J will ja nir mehr von ihm, % will ihn ja
meiden, J will ihn ja der Afra laſſen — nur fterben joll er nit!" Und dann
fteht fie wieder auf und macht ihm frifche Umfchläge auf den Kopf, wo das
Blut aus einer Haffenden Wunde rinnt, und auf die Bruft, die der Feld zer-
riffen hat, und wirft fich über ihn Hin, ala wolle fie mit ihrem Leib die Pfor-
ten jchließen, aus denen fein Leben entjtrömt. „DO Du armer Bua — Du
armer Bua — jo zerſchlagen — zerbrochen — o die Sind, die Sünd! Wally,
Wally, was haft da g'macht — hätt’ft dir nit lieber ſelber's Meſſer in’3 Herz
g’ftoßen, — hätt'ſt'n nit Lieber mit der Afra Hochzeit halten jehen, und wärft
ftill Hing’gangen und g’ftorben, als daß d'n jet daliegen Haft, und mußt'n
verenden jehen, wie a Vieh, was der Metzger jchlecht 'troffen hat?“
So Elagte fie laut hinaus, während fie ihn verband, und wühlte in ihrem
Innern mit derjelben Härte gegen fich jelbft, mit der fie ſich ſonſt an Andern
gerät. Hätte fie gekonnt, fie hätte mit ihren eigenen Händen ihr Herz zer
fleifht in der wilden wahnfinnigen Reue, die fie erfaßte. Da ging Ieije bie
Thür auf. Wally jah fich erftaunt um, denn fie hatte verboten, daß man fie
ftöre. Es war der Pfarrer von Heiligkreuz. Wally ftand da wie vor ihrem
Richter, bleich, bis in's Innerſte erbebend.
„Gott ſei gelobt!“ rief der alte Herr, — „da iſt er ja!“ Er ging auf
Die Geier-Wally. 211
da Bett zu und betrachtete und befühlte Joſehh. „Du armer Tropf! Du
bift übel zugerichtet!”
Wally biß die Zähne zufammen bei diefen Worten, um nicht laut auf-
zuſchreien.
„Wie habt Ihr ihn wieder herauf gebracht?“ frug der Pfarrer, aber Wally
fonnte nicht antworten.
„Run, dem Herrn ſei Dank, daß Er da3 Aergſte verhütete in ſeiner Gnade,“
fuhr der alte Herr fort. „Vielleicht kommt er wieder auf und Du haft dann
wenigftens feinen Mord auf dem Gewiſſen, wenngleich die Abficht vor dem
ewigen Richter To ſchwer wiegt, wie die That!“
Wally wollte jprechen.
„Ich weiß Alles,“ jagte er ftreng; „der Vincenz war auf feiner Flucht bei
mir und hat mir Alles geheichtet, von Deiner Lieb und feiner Eiferſucht. Ich
babe ihm die Abjolution verweigert und ihn in die päpftliche Armee gejchickt,
dort mag er fich durch gute Dienfte für den heiligen Vater die göttliche Ver—
zeihung eriwerben, oder jein Verbrechen mit dem Tode büßen. — Was aber —
jol ih mit Dir anfangen, Wally?“ Er jah fie mit feinen Eugen Augen durch—
dringend und traurig an.
Da ſchlug Wally beide Hände vor’3 Geficht und ſchrie laut auf: „O Hoch—
würden — J bin jo furchtbar g’ftraft, daß mich) fein Menſch mehr ärger ftrafen
kann. Da liegt, wa3 mir da3 Liebjte war auf der ganzen Welt, und jtirbt —
und J muß mir jagen, daß jelber Schuld dran bin! Kann's denn noch ein
gröhßer's Elend geben? Braucht's noch mehr?“
Der Geiſtliche nicte mit dem Kopfe: „So weit haft Du’3 alſo richtig ge-
bradt — ein rohe Scheit Holz bift geworden, mit dem man die Leute todt-
ihlägt! — Wie ich Dir's gejagt habe, fo ift e3 gefommen, Du Haft dem Mefjer
Gottes nicht Macht iiber Did) gelaffen, und nun verwirft Dich der Herr und
läßt das harte Holz im Tegfeuer der Reue brennen!”
„Ja, Hochwürden, jo iſt's — aber J weiß a Waller, was das Teuer Löjcht!
Wenn der Joſeph ftirbt, dann jpring % in die Ach’ 'nunter. Dann iſt Alles
borbei.”
„D über die Thörin! Meinft, das ſei ein Brand, den irdiſches Waller
lichen könne? Meinft wirklid, Du kannt mit dem ixdiichen Leib auch die
unfterbliche Seele erfäufen?- Die würde in Flammenqual ewiger Neue lodern,
und wenn alle Meere jich über Dich ergöffen!”
„Was foll J denn thun?“ ſagte Wally dumpf; „was kann J denn thun,
ala fterben 1"
„Leben und leiden, das ift mehr als fterben!“
Wally jchüttelte den Kopf, ihre dunklen Augen jtarrten ohne Richtung vor
fh Hin, „X kann nit, — J ſpür's, — J kann nit leben, die jeligen Fräulein
flohen mich 'nunter — iſt ja Alles fommen, tie j’ mir's im Traum an’droht
haben: da Liegt der Joſeph zexichmettert und zerichlagen, und J muß ihm nad),
das iſt fo b’ichloffen, und das muß fich jo begeben, dagegen kann kein Menſch!“
„Wally, Wally!“ rief der Pfarrer und ſchlug entſetzt die Hände zujammen,
„Was redet Du! Die jeligen Fräulein? Was felige Fräulein! Um’s Himmels
212 Deutiche Rundſchau.
Willen, leben wir denn in der grauen Heidenzeit, two die Menſchen noch glaub-
ten, böſe Geifter trieben ihr Spiel mit ihnen? Ich will Dir jagen, was bie
jeligen Fräulein find: Deine eigenen Leidenichaften find es! Hätteft Du Deine
maßloje Wildheit bezähmen lernen, wäre der Joſeph nicht in den Abgrund
geftürzt worden. Das ift wohlfeil, die eigene Schuld auf den Einfluß feind-
liher Mächte zu ichieben. Dafür ift der wahre Gott zu und gefommen, um
und erfennen zu lehren, daß wir das Böſe in uns jelbft tragen und es in ums
befämpfen müſſen. Bezwingen wir una jelbjt, fo bezwingen wir aud) die ge:
heimnißvollen Mächte, welche jelbjt die Riejen der Vorzeit zum Untergang trieben,
weil diefe ihnen bei all ihrer Stärke feine fittliche Kraft entgegenzufeßen hatten.
— Und mit jammt Deiner Stärke, ‘Deiner Härte und Deinem Trotz bit Du
doch nur ein armjeliges, ſchwaches Ding, fo lange Du nicht kannſt, was jede
Ihlichte, einfältige Mtagd des Herrn vollbringt, die in ftrenger Kloſterzucht tag-
täglich ihres Herzens liebſte Wünſche auf Gottes Altar opfert und fich jelig
preift! Hätteft Du nur einen Schimmer von foldher Größe in Dir, Du braud-
teft Dich vor feinem „jeligen Fräulein“ mehr zu fürchten, und nicht Deine
dummen Träume ſchrieben Dir Dein Schiejal vor, jondern Dein eigner Elarer,
bewußter Wille! Denf einmal drüber nad, ob das nicht fürnehmer wäre,
und größer?“
Wally lehnte am Bettpfoften, e8 war al3 jei fie gehoben von einer neu=
erwachenden großen Erkenntniß. „Ja!“ ſprach fie kurz und bejtimmt, und
freuzte die Arme über der hochwogenden Bruft, — „Ihr habt Recht, Hochwür—
den — J verfteh’3, wie Ihr's meint, und will's probiren.“
„Ich will’3 probiren” — wiederholte der alte Herr, „das haft Du mir jhon
einmal gejagt, aber nicht gehalten.“
„Dasmal halt’ I's, Hochwürden!“ ſagte Wally, und der Geiftliche bewun—
derte im Stillen den Ausdrud, mit dem fie die wenigen Worte jprad).
„Welche Bürgichaft gibft Du mir dafür?“ fragte er.
Da legte Wally die Hand auf Joſeph's wunde Bruft und aus ihren Augen
quollen zwei große Thränen. — Kein geiprochenes Gelübde konnte mehr Jagen.
Der weile Priefter ſchwieg jett, er wußte, mehr bedürfte es nicht! —
Der Verwundete drehte ji) im Bett um und murmelte einige unverftänd-
liche Worte,
Wally machte ihm einen friſchen Umfchlag auf den Kopf, er öffnete bie
Augen halb, ſchloß fie aber gleich wieder und fiel in feinen todesähnliden
Shlummer zurüd. „Wenn doc nur endlich der Phyſikus käm'!“ jagte Wally
und jeßte fi auf einen Schemel neben dem Bett. „Wie viel Uhr mag’3 denn
fein?" Der Pfarrer ſah nad der Uhr: „Wann haft Du denn nad) ihm gejchieft ?"
„Früh um Fünf.“
„Dann fann er noch nicht da jein. Es ift erſt zehn Uhr, und bis Sölden
find’3 doch drei Stunden.“
„Exit zehn Uhr!“ wiederholte Wally leiſe und den Geiftlichen exbarmte &,
wie fie jo ftil dajaß, die Hände im Schooß gefaltet, während ihr vor Angit
das Herz ſchlug, daß man es hören konnte.
Er beugte fi über den Kranken und befühlte ihm Kopf und Hände. „Ich
Die Geier-Wally. 213
meine, Du künnteft Dich beruhigen, Wally, der fommt mir nicht dor, wie ein
Eterbender.“
Waly jaß unbeweglih und ftarrte vor fi Hin: „Wenn der Phyfikus
fommt und jagt, er könn’ am Leben bleiben, dann wünſch' mir auf dera
Welt nir weiter.“
„Das ift gut gedacht, Wally, das hör’ ich gern!” lobte der Pfarrer. „Und
nun, erzähl’ mir auch, wie es mit Joſephs Rettung gegangen ift — da3 kürzt
und die Zeit ab, bis der Arzt kommt.“
„Da iſt nit viel 3’ erzählen!” erwiderte Wally kurz.
„Run, es iſt immer eine Jhöne That, die den Männern von der Sonnen-
platte alle Ehre macht!” meinte der Geiſtliche; „warft Du denn nicht dabei?“
„Freilich!“
„Nun, ſo ſei doch nicht ſo einſilbig. Ich habe auf dem Herwege mit Nie—
mandem geſprochen und weiß ja noch gar nichts. Wer hat ihn denn herauf
geholt ?*
Pi
„Gott jei mir gnädig! Du Wally, Du jelbft?“ rief der alte Herr und
ſchaute Wally ftarr vor Staumen an.
„Ja — I!“
„Aber wie haſt Du das angefangen?“
„Sie haben mich am Seil 'nunter g'laßt und da hab' J'n g'funden zwiſchen
'n Felſen und 'n Zirbenſtamm einklemmt. Wär' das Bäumel nit g'weſen, wär'
er in die Ach’ 'nunter g'ſtürzt und kei Menſch hätt'n mehr lebendig 'rauf bracht.“
„Kind, das iſt ja eine große That!“ rief der alte Herr ganz außer ſich.
„Ro ja,“ ſagte fie ruhig, faſt hart. „Wenn JI'n hab’ 'nunterſchmeißen
laffen, muß I'n doc auch wieder 'rauf holen.”
„Du Haft Recht, da3 ift nicht mehr ala billig,” jagte der Pfarrer, mit
Mühe feine Bewegung unterdrüdend. „Aber es ift nichts deſtoweniger eine
That der Sühne, die einen Theil der Schuld von Deiner armen Seele nimmt.“
„Das ift Alles nix!“ ſagte Wally kopfſchüttelnd. „Wenn er jtirbt, jo hab’
In doch umbracht.“
„Das iſt wahr, aber Du haſt Leben für Leben hingegeben — haſt das
Deine eingeſetzt, um das ſeine zu retten — damit haſt Du gut gemacht, was
Du verbrochen, ſoweit es in Deinen Kräften ſtand — den Ausgang müſſen
wir Gott überlaſſen!“
Ein tiefer Seufzer drang aus Wally's Bruſt, ſie konnte den Troſt nicht
empfinden, der in den Worten des Prieſters lag. „Den Ausgang müſſ'n wir
Gott überlaſſen!“ wiederholte ſie aus gepreßtem Herzen.
Das Auge des Geiſtlichen ruhte mit Wohlgefallen auf ihr. Dieſe Seele
konnte Gott nicht verwerfen, trotz ihrer ſchweren Mängel und Fehler. So alt
er auch geworden — er hatte nicht ihresgleichen gefunden im Guten wie im
Böſen. Er ſchaute auf den Kranken, der in der Bewußtloſigkeit trotzig die
Fauſt ballte. Er zürnte ihm faſt, daß er das herrlichſte verſchmähte, was die
Erde einem Manne bieten kann: ſolch eine Liebe, daß er durch ſeine Sprödigkeit
214 Deutjche Rundichau.
ein Herz verhärtete, da3 jo edel gejhaffen, jo großartiger Hingebung fähig var.
„Du dummer Bauernbub!” brummte er unmuthig zwiſchen den Zähnen.
Wally jah ihn fragend an, fie hatte ihn nicht verftanden.
Da klopfte ed an die Thür und zugleich trat auch dev Phyfifus herein.
Wally zitterte jo, daß fie ſich am Bettpfoften halten mußte. Das war
der Mann, an deſſen Lippen für fie Erlöfung und VBerdammniß hing. Eine
Menge Leute drängte fi) mit herein, um zu hören, wa3 ex jagen würde, aber
er wies fie kurz zurüd. „Hier ift fein Ort für Neugierige, der Kranke muß
die äußerfte Ruhe haben!“ jagte er ftreng und ſchloß die Thür. Er ſprach
überhaupt nicht viel. Als er dem Kranken die Kopfbinde abnahm, brummte
er nur zwijchen den Zähnen: „Da ift wieder ein Verbrechen im Spiel!“
Wally ftand dabei bleich und ftarr, wie eine Bildjäule, der Pfarrer jah
fie abſichtlich nicht an, er fürchtete, fie aus der Faſſung zu bringen. Die Unter-
ſuchung begann, banges Schweigen herrſchte in dem Heinen Zimmer. Wally
ftand mit abgewandtem Geſicht am Fenſter, während der Arzt den zerfchundenen
Körper unterfuchte und die Sonde einführte. Sie hatte etwa3 vom Boden auf:
gehoben, hielt es zwijchen den Erampfhaft verjchlungenen Händen und brüdte
wie zum Kuß die Lippen darauf, e3 war da3 dornenumwundene Haupt bes
Erlöſers, den fie in der Nacht zertrüimmerte. „Verzeih — verzeih,“ betete fie
in bleicher zitternder Todesangit. „Erbarm' Dich meiner — J verdien's nit —
aber laß Dein Erbarmen größer fein, al3 meine Schuld!" —
„Keine der Wunden ift tödtlich,“ ſagte jebt der Arzt in feiner trodenen
Art; „der Kerl muß Knochen haben wie ein Mammuth.“
Seht verlieg Wally ihre Kraft. Die zu lang angejpannte Sehne riß und
Yaut aufichluchzend ftürzte fie vor dem Bett auf die Knie und begrub da3 Ge-
fiht in Joſeph's Kiffen. „OD, Gott jei Dank! — Gott jei Dank!“
„Was hat denn Die?“ frug der Arzt. Der Pfarrer gab ihm ein Zeichen,
da3 er verſtand.
„Nehmt Euch zufammen, Höchftbäuerin, und Helft mir die Verbände an
legen,“ jagte er.
Sogleich ſprang Wally auf, wijchte die Thränen aus den Augen und griff
hilfreich zu. Der Geiftliche beobachtete fie mit heimlicher Freude, wie fie dem
Arzt an die Hand ging, jo geſchickt und umjichtig, wie eine barmherzige
Schweſter. Sie zitterte nicht, meinte nicht mehr, es war ein ruhiges, ftilles
MWalten, ein rechtes Walten der Liebe. Und eine Verklärung lag dabei auf ihrer
Stirn, eine Verklärung im Schmerz, — daß der Pfarrer fie kaum wieder erkannte.
„Die wird no — die wird!” jagte er glückſelig zu ich jelbft, wie der
Gärtner, der eine aufgegebene Lieblingspflanze plöglich neue Schößlinge treiben
fieht. Als der Verband fertig war und der Arzt alles Weitere angeordnet, ging
der Pfarrer mit ihm hinaus und Wally blieb allein bei Joſeph. Sie jehte
fih auf den Schemel neben dem Bett und ftühte die Arme auf die Anie. Er
athmete jet ruhig und gleichmäßig, jeine Hand lag auf der Dede dicht neben
ihr, fie hätte fie füffen können, ohne ſich von der Stelle zu rühren. Aber fie
that es nicht, ihr war, al3 dürfe fie nun feinen Finger mehr von ihm berühren.
Wäre er fterbend oder todt dagelegen, fie hätte ihn mit Küffen bedeckt wie vor-
Die Geier-Wally. 215
bin, wo jie ihn verloren glaubte — der Todte hätte ihr gehört — an ber
Sebenden aber hatte fie fein Recht! So war er ihr geftorben in dem Augen-
blik, wo der Arzt jagte, daß ex leben würde, und fie begrub ihn mit Todesweh
in ihrem Herzen, während fie die Botjchaft feiner Auferftehung empfing twie
eine Botjchaft der Erlöſung! So jaß fie lange regungslos und ihr Auge haftete
auf Joſeph's ſchönem, bleihem Antlitz — fie litt, was ein Menjchenherz leiden
fan, aber fie litt geduldig. Sie feufzte nicht und Hagte nicht, fie ballte nicht,
vie früher, die Fäuſte im Grimm ihres Schmerzes — fie hatte das Schwerfte
gelernt in diefer Stunde: fie hatte dulden gelernt. Was hätte fie denn nod)
für ein Necht gehabt, fie, die Schuldbeladene, ich zu beklagen — was verdiente
fie denn Beſſeres? Wie hätte fie ihn denn nod für ſich begehren dürfen —
fie, die faft feine Mörderin geworden wäre — wie hätte fie nod das Auge zu
ihm erheben gedurft? Nein, fie wollte ſich nicht mehr beklagen: „Lieber Gott,
laß midh’3 büßen, wie Du magjt, — denn feine Straf’ ift zu groß für jo Eine,
wie J bin!“ betete fie umd neigte das Antlitz demüthig auf die gerungenen
Hände nieder.
Da ward die Thür aufgeriffen und mit dem Schrei: „Joſeph, mein Joſeph!“
fürzte ein Mädchen herein, an Wally vorbei und warf fich weinend iiber Jo—
jeph hin. Es war Afra. Wally war aufgefprungen, ala hätte fie eine Schlange
berührt - einen Augenblic dauerte der Kampf in ihr — der lebte, ſchwerſte
Kampf. Sie umfahte fich gleichjam jelbft mit den Armen, als wolle fie ſich
feithalten, um fich nicht auf das Mädchen zu ftürzen und es von dem Bett —
von Joſeph wegzureißen. So ftand fie eine Weile, während Afra heftig auf
Joſeph's Bruft jchluchzte, dann fielen ihr die Arme wie gelähmt herab und
auf ihrer Stirn perlte kalter Schweiß. Was wollte fie denn? Die Afra war
ja in ihrem Recht!
„Afra,“ jagte fie leife, „wenn Du den Joſeph lieb haft, jo jei ſtill und
ruhig und mad) kei jo G'ſchrei — der Doctor hat g’jagt, der Joſeph müßt’
Ruh' haben!“
„Wer Tanıı da jtill jein, der a Herz im Leib hat und fieht den Buab’n jo
daliegen ?” wehklagte Afra. „Du haft qut reden, Du kannſt ſchon ruhig fein,
Du haſt'n nit jo lieb, wie I'n hab’. Der Joſeph ift mein Alles — wenn mir
der Joſeph ftirbt, dann bin % ganz allein auf der Welt; o Joſeph, Lieber Jo—
ſeph — wach' auf, ſchau mi) an — nur einmal — fag’ nur ein Wört'l —“
und fie jchüttelte ihn in ihren Armen.
Aus Joſeph's Mund drang ein leiſes Stöhnen und er lallte ein paar un-
veritändliche Worte.
Da trat Wally hinzu und faßte Afra feft, aber ruhig am Arm, in ihrem
bleihen Geſicht zuckte feine Muskel.
„Jetzt will J Dir was jagen, Afra! Der Joſeph it da unter meiner
Obhut und J bin verantwortlich dafür, daß Alles jo a’ichieht, wie'3 der Doctor
gejagt Hat, und das ift mein Haus, in dem Du da bit, und wenn Du nit
thuft, was % Dir jag’, und dem Joſeph Ruh laß't, wie's der Doctor will, jo
brauch J mei Hausrecht und ſchick' Di vor die Thür, bi3 Du ſoweit zur
Zeutihe Rundihan. J. 5. 15
216 Deutiche Rundſchau.
Vernunft kommen bift, daß Du die Pfleg’ bei dem Joſeph übernehmen kannit —
nader,“ die Stimme zitterte ihr — „nacher laß Y'n Dir!”
„D Du bös Ding Du —“ rief Afra leidenihaftlih, „zum Haus willft
mid 'nauswerfen, weil J um den Yojeph wein’? Meinft, ’3 haben alle Leut'
jo a hart’3 Herz wie Du, und könne bei jo'me Elend daftehen wie a Stod?
Laß mein’ Arm’ los! J Hab’ a beſſer's Recht an den Joſeph, als Du, und
wenn Du mic nit jchreien hören magft, jo heb’ J mein Joſeph auf und laſſ'
mir'n beimtragen zu mir! Da darf % wenigſtens weine, jo viel % mag! J
bin nur a arme Magd, — aber wenn J mei Lebtag dafiir umjonft diene müßt,
jo will I'n lieber jelber verpflegen, in mei'm Stübel, als daß J mir von Dir
die Thür weiſen lag — Du ſtolze Höchſtbäuerin Du!”
Wally ließ Afra’3 Arm los, fie jtand vor ihr mit dem bleihen Geſicht
und dem Zug von Todesweh um den jtummen Mund, daß Afra beihämt die
Augen niederichlug, als ahne fie, daß fie ihr Unrecht gethan.
„Ara,“ ſagte Wally, „Du brauchſt nit jo g’hällig gegen mich zu jein, J
verdien’3 nit um Dich, denn für Dich hab J'n aus’n Abgrund geholt — nit
für mid) — und für Did wird er leben, nit für mid! Schau’ Afra, noch
vor einer Stund’ hätt’ J Dich eher erwürgt, eh’ J Di an das Bett da ge:
laffen hätt’ — aber jeßt iſt Alles ’brochen, tva8 hart in mir war — mei Troß
und mei Stolz und — mei Herz!” hauchte fie vor fid) Hin. „Und jo mad’ J
Dir freiwillig Pla, denn Did) hat er 'gern und von mir will er nix willen.
Du braucht den kranken Buaben nit forttragen z'laſſen. Bleib’ Du ruhig mit
ihm da — J geh’ ſchon eh’! X wär’ doc) gange! Hs könnt's da auf'm Höchſt—
hof Jein, jo lang ös möcht's — J werd’ das mit Dem, dem er g’hört, feiner
Zeit ſchon ausmachen. Und % werd’ für Euch jorgen in Allem, denn ös ſeid's
alle Zwei arm und könnt's nit heirathen, wenn ö3 nix habt's. Vielleicht jegnet
der Joſeph dann jpäter amal die Geier-Wally.” —
„Wally, Wally!” rief Afra; „Jeſus, was denkſt nur? % bitt' Did —
o Joſeph — Joſeph! wenn % nur reden dürft’!“
„Laß's gut fein,” wehrte Wally, — „ſei till, dem Joſeph z'Lieb — ſei
ftill! Laß mich jet ruhig gehen — und plag’ mid) nit. J muß fort — halt!
mich nit auf! Aber eins bitt! J Dich, für Alles, was J Dir thu': pfleg’ ihn
gut. Gelt, Du verfprichft mir's, daß J ruhig gehen kann?“
„Wally,“ bat Afra, „thu’ mir das nit an, geh’ nit! Jeſus, was twird der
Joſeph jagen, wenn er erfährt, daß wir Dich aus Dei'm eignen Haus ver:
trieben hab'n?!“
„Spar alle Wort, Afra,“ ſagte Wally jtreng; „wenn % einmal was
g’jagt hab’, bleibt’3 dabei, da Könnt’ fommen, was wollt!“
Sie ging zur Truhe und nahm Kleider und Wäſche heraus, die ſchnürte
fie zufammen in ein Bündel und warf e3 über die Schulter. Dann nahm fie
aus einer Schadtel ein Päckchen Linnen: „Schau, Afra,” ſagte fie, „da ift alte
feine Leinwand, die brauchſt zum Verband, und da ift gröbere, die nimmt zur
Charpie, die braucht der Doctor heut’ Abend, wenn er wieder fommt. Schau,
da haft’ die Scheer, da mußt’ jo fingerlange Fleckeln ſchneiden. Mach's pünkt-
Lich, hörſt? Und alle Viertelſtund' mußt ihm’n frifchen Umschlag auf'n Kopf
Die Geier-Wally. 217
machen, daß's d’ Hiten 'rausziegt. Gelt, J kann mich drauf verlafjen, daß
D' nir verfäumft? Denk', wenn J'n rauf g’holt hätt’ aus’m Abgrund — und
3 müßt's erleben, daß Du — Du was verjäumt hätt’ft in der Pfleg' — da
an ſei'm Bett! — Und jhauft, er ſoll alleweil Hoch liegen mit'm Kopf, daß's
Blut abi lauft — ſchütt'l ihm immer recht die Kiffen auf. — Jetzt wird's wohl
Alles jein — jet weiß J nie mehr. Ad Gott, Du wirſt'n nit heben und
nit legen können, wie J — Du haft die Kraft nit! Nimm Dir den Kletten-
maier zu Hilf — der meint’3 treu. Und jo leg’ Y'n denn in Deine Händ',“ —
die Stimme verjagte ihr, ihre Knie zitterten,Kfie vermochte faum das Bündel
zu halten, das fie trug, — einen lebten Blid warf fie nad dem Kranken
hinüber: „B’hüt Gott!” Dann war fie zur Thür hinaus.
Draußen ſprach der Pfarrer mit Klettenmaier.
Wally trat zu ihnen hin.
„Klettenmaier!“ rief fie dem Knecht in’3 Ohr, „geh hinein und hilf der
Afra den Joſeph pflegen. Die Afra ift jet da an meiner Statt. Der Jofeph
bleibt aufm Höchfthof und J geh fort. Os jollt’3 Alle den Joſeph ala Hödhit-
bauern betrachten und ihm folgen, al3 wenn I's wär’, bis % wieder komm’
und weh Euch, wenn er was z'klagen hätt’! Künd's dem G’find’ an!“
Der Klettenmaier hatte verjtanden und jchüttelte den Kopf, aber zu fragen
traute er ſich nit. „Adies Bäuerin,“ jagte er, „kommt bald wieder!“
„Nie!“ ſagte Wally Ieije.
Klettenmaier ging in’3 Haus. Wally ftand vor dem Pfarrer fund hielt
feinen prüfenden Blid aus. „Jetzt ift nix mehr mein eigen, wodran mir mein
Herz hängt, al3 der Geier,” ſagte fie erihöpft, — „aber den gieb J nit her, —
der muß mit mir. Komm Hanjel,” lockte fie den Vogel, der aufgedunjen und
faul auf dem Spalier jaß. Er kam ſchwerfällig zu ihr herangeflogen.
„Set mußt wieder fliegen lernen, Hanjel, 's geht wieder fort.“
„Wally,“ jagte der Geiftliche befümmert, „wa3 haft Du vor?“
„Hohmwürden — J muß fort — die Afra ift drin! Gelt, das ſeht's ein,
daß J da nit bleiben kann? % will ja Alles thun, J will zeitlebens nackt
und bloß auf der Landſtraß' wandern und ihm Alles laſſen, Alles, — aber
nur nit zujehn, wie er die Afra herzt — nur das nit — das fann nit!”
Sie biß die Zähne zujammen, um die neuaufquellenden Thränen zurüd zu halten.
„Und Du willſt ihm wirklich Haus und Hof abtreten? Weißt Du aud,
was Du da thuft, mein Kind?“
„Der Höchfthofgg’hört nimmer mir, Hochwürden — jeit gejtern weiß J,
daß er 'm Vincenz g’hört, wenn er 'n Anſpruch drauf erhebt. Aber mein Ver—
mögen, was J ſonſt noch hab’ — foll dem Joſeph g’hören. Wenn der Joſeph
wegen mir lahm wird und fann jei Brod nit mehr verdienen — iſt's mei
verfluchte Schuldigkeit, daß J fürn ſorg'.“
„Iſt's möglich, wie?” rief der Geiftliche, „Dein Vater hatFDih an Haus
und Hof enterbt?”
„a3 liegt mir noch an Haus und Hof? Das Haus, in das g’hör,
ift immer bereit!” jagte Wally.
15*
218 Deutiche Rundſchau.
= „Kind!” rief der Geiftliche beunruhigt, „ich Hoffe nicht, daß Du Dir ein
Leides thun wirft?!“
„Rein, Hohmwürden — jebt nimmer! J ſieh's jet ein, wie Recht 68 in
Allen habt's, und daß ſich unfer Herr Gott nir abtrogen laßt. Vielleicht —
wann er fieht, daß % ehrlich büß’, erbarmt’3 ihn doch und er gönnt meiner
armen Seel'n Frieden!“
„Nun die Stunde jei gefegnet, wie ſchwer fie auch war, die Deinen harten
Sinn gebrochen hat! Seht, Wally, bift Du wahrhaft groß! Aber, wo gehft
Du hin, mein Kind? Willft Du in ein barmherziges Stift, ſoll ich Dich zu
den Garmeliterinnen bringen?”
„Nein, Hochwürden, das thut’3 der Geier-Wally nit an. J kann’ mid) nit
in Mauern und Zellen einjperren laſſen — unter Gottes freiem Himmel, wie
J g’lebt hab’, will 3 fterben. — J thät meinen, durch jo dide Wänd’ Tim’
unjer Herrgott nit durch. J will büßen und beten wie in der Kirch', aber
Felſen und Wolken muß J um mid) bab’n und der Wind muß mir um die
Ohren ſauſen, jonft halt 3 nit aus! Gelt, das jeht'3 ein?“
„sa, Wally, das jeh’ ich ein und es wäre Thorheit, wollte id Dir Zwang
anthun, aber, wo zieht Du hin?“
„J geh’ wieder zu meinem Vater Murzoll z'rück, — da ift doch mei einzige
Heimath!“
„Thu, was Du nicht laſſen kannſt,“ ſagte der Pfarrer. „In Gottes Namen,
mein Kind! Ich ſehe Dich ruhig ſcheiden, denn wohin Du jetzt auch gehſt, —
Du gehſt zum Vater zurück!“
XIV.
Gunadenbotſchaft.
Hoch oben auf dem einſamen Ferner, bei dem ſteinernen Vater, ſitzt wieder
das ausgeſtoßene, einſame Menſchenkind, als wäre es hierher gebannt, wie ein
Theil des ſchwindelnden Felſens, von dem es hinabſchaut auf die kleine Welt
da unten, die keinen Raum hatte für das große fremde, in Wildniß und Glet—
ſcherſtürmen gereifte Herz. Die Menſchen haben es verjagt und verſtoßen, und
es hat ſich erfüllt, was der Traum verheißen, daß der Berg es annahm an
Kindesftatt. — Den Bergen gehört es; Stein und Gis find feine Heimath —
und dennoch Kann es nicht jelbit verfteinern und das arme heiße Menjchenherz
verblutet ſich ſchweigend hier Oben zwiſchen Stein und Eis!
Zweimal hat die glänzende Mondesſcheibe zu- und twieder abgenommen
jeit dem Tag, da Wally hier die letzte Zuflucht gejucht. Keines Thalbewohners
Antlitz hat fie gejehen. Nur der Pfarrer hatte den alten gebrechlichen Leib
einmal zu ihr heraufgeichleppt und ihr berichtet, daß Joſeph in der Geneſung
ſei. Ferner, daß die Anzeige von Italien gekommen, Vincenz habe ſich bald
nad) ſeiner Einkleidung erſchoſſen und ihr ſein ganzes Beſitzthum vermacht. Da
hatte ſie die Hände über dem Knie gefaltet und leiſe geſagt: „Dem iſt wohl,
der hät's kurz g'macht“ — als beneide ſie ihn.
„Aber was thuſt Du nun mit dem vielen Geld?“ hatte der Geiſtliche
Die Geier-Wally. 219
gefragt, — „wer joll denn Deine unermeßlichen Beſitzthümer verwalten? Zu
Grunde darfſt Du fie doch nicht gehen laſſen.“
„Geld und Gut wie Heu — und was hilft’3 mir — nit ein glückliches
Stündel kann J mir damit kaufen. — Wenn nod) a Zeit drüber hingange ift,
daß J wieder an was denken mag, dann geh’ Je'nunter nad Imſt und mach's
grichtlih, daß mer Sad’ dem Joſeph g’hören joll. % b’halt nur jo viel, daß
J mir weiter unten am Berg a Elein’s Haus fürn Winter bauen fann, aber
jet muß J noch Ruh’ haben — jebt kann J für nix jorgen. Verwaltet's mei
Hab und Gut, Hochwürden, und jorgt’s, daß das G'ſind jet Sach' recht hat —
und gebt die Armen, was fie brauchen; 's ſoll kei Armer mehr auf der Sonnen-
platten jein von heut’ an!“
Sp hatte fie kurz wie am Rande des Jenſeits ihre zeitlichen Angelegenheiten
geordnet; es blieb ihr nur noch zu harren, bis ihre Stunde fomme — die
Stunde der Erlöfung.
Es war, als habe Gott ihr damals durch den Mund des Pfarrers gejagt:
„Du darfft nicht zu mir fommen, als bis ich Dich jelbft hole.“ Und nun
wartete fie, bis ex fie hole, aber wie lange — wie furchtbar lange konnte das
dauern? Sie blickte auf ihren gewaltigen Körper — der war nicht angelegt
auf ein frühes Ende und dod) gab es für fie ja feine Hoffnung mehr, als den
Tod! Sie ſah es ein, daß fie ein Leben nicht gewaltjam enden dürfe, das der
Buße geweiht jein jollte — aber fie date — helfen dürfe fie doch dem
lieben Gott, fie aufzulöjen, wann es ihm gefalle — und jo that fie Alles, was
auch den fefteften Körper zerjtören kann. Das war ja kein Selbjtmord, wenn
fie nur jo viel Nahrung zu fi nahm, als nöthig, um nicht zu verhungern —
Faſten gehörte ja zum Büßen — und wenn jie ji) Tage und Nächte lang dem
Sturm und Regen Preis gab, wo jelbft der Geier fih in eine Felsſpalte ver-
froh, daß allmälig Näſſe, Froft und Mangel die gefunde Natur unterrvühlten.
63 war fein Selbjtmord, wenn jie Felſen erflomm, die wohl nie ein menſch—
licher Fuß beftiegen — nur um dem lieben Gott die Gelegenheit zu geben, daß
er fie hinabftürzen könne — wenn er wolle! Und fie jah mit einer Art grau-
jamer Freude nad) und nad) den jchönen Leib zerfallen, fie fühlte ihre Kraft
erichlaffen — fie ſank oft müde zujammen, wenn fie weit umher geirrt war,
und wenn fie Eletterte, zitterten ihr die Knie und das Athmen wurde ihr jchwer.
So ſaß fie eines Tages müde da, auf einer der höchſten Spiten Murzolls. Um
fie her ragten weiße Zaden und Blöde von Eis übereinander empor, es jah
aus wie ein Kirchhof im Winter, wo die beichneiten Grabjteine in Reihen neben-
einander ftehen, von feiner Ranke, feiner Blume mehr verhüllt. Unmittelbar
ihr zu Füßen das grünſchimmernde Eismeer mit feinen erftarrten Wogen, das
fi hinabzog bis zum Uebergang über das Joch. Tieffte Kirchhofsruhe lag
über der regungslos erftarrten Welt hier oben. Traumhaft von mittäglichen
Dunftichleiern umwoben lag die Ferne mit ihren unermeßlichen Gebirgszügen.
Similaun, das braune Riejenhorn nebenan, ward umjchmeichelt von einer Kleinen,
lihten Wolfe, die fich Eojend an ihn jchmiegte, aufftieg, ſich wieder jenke, um
endlih an den ſcharfen Kanten des furchtbaren Felſens zu zerreißen, zu
zerfließen.
220 Deutiche Rundichau.
MWally lag auf den Ellbogen geftübt und ihr Auge folgte mechaniſch dem
Treiben der Kleinen Wolke. Die Mittagsjonne ſtach herab auf ihren Sceitel,
der Geier jaß nicht weit von ihr, putzte fich gelangweilt das Gefieder und dehnte
faul die Schwingen. Plötzlich ward er unruhig, drehte wie horchend den Kopf,
machte einen langen Hals und flog Freifchend ein Stüd höher hinauf.
Wally erhob ſich ein wenig, um zu jehen, was das Thier erichredte. Da,
mitten über das glatte, riſſige Eismeer kam eine menſchliche Geftalt daher,
gerade auf den Freljen zu, wo Wally ſaß. — Wally erkannte die dunkeln Augen,
den Schwarzen Schnurrbart und jah das freundliche Grüßen und Winken und
hörte den Jodler, den er heraufichiette — wie einjt vor Jahren, da fie ihn von
der Sonnenplatte herab mit dem Fremden durch die Schlucht ziehen ſah — fie
felbft noch ein hoffendes unſchuldvolles Kind — noch nicht vom Vater verflucht
und verftoßen — noch feine Brandftifterin — noch feine Mörderin. Wie eine
ganze Gegend, von einem Blitz erleuchtet, plötlic) mit Höhen und Tiefen aus
dem Dunkel tritt — jo ftand wie mit einem Schlage die Kette des Ver—
hängnifjes vor ihrer Seele und fie überjah mit Schaudern die ganze Tiefe
ihres Falls.
Was war fie damal3 — und was war fie jet? Was fuchte, der fie
damal3 nicht geiucht, was juchte er jeßt bei der Gerichteten — bei der lebendig
Todten?
Sie ſtierte hinab mit unausſprechlichem Entſetzen: „Herr Gott — er
kommt“ — ſchrie ſie ganz laut und klammerte ſich in Todesangſt an den Felſen
an, als wäre es die Hand ihres ſteinernen Vaters. „Joſeph — bleib unten, —
nit darauf — um Gottesbarmherzigkeit willen — kehr um — geh fort — J
kann Dich nit ſehen, J will Dich nit ſehen —“; aber Joſeph hatte im raſchen
Anlauf den Felſen genommen und ſtieg herauf zu ihr. Wally verbarg ihr Ge—
ſicht in dem Geſtein und ſtreckte abwehrend die Hände gegen den Andringenden
aus: „Kann man denn nirgends allein ſein auf dera Welt?" ſchrie fie, am
ganzen Leibe zitternd. — „Hörft denn nit? Du ſollſt mic) laſſen. Mit mir
kannſt nix haben — J bin todt — jo gut wie todt! D, kann % denn nit
amal ruhig fterben?“
„Wally — Wally, bift denn vom Verſtand?“ rief Yojeph und riß fie mit
ftarken Armen vom Felſen los wie ein daran feftgetvachjenes Mood. „Schau
mi an, Wally — um Gotteswillen, — warum willft mich denn nit jehen?
% bin’ ja, der Joſeph, dem Du’3 Leben g’rettet haft, — jo was thut ma doch
nit für 'n Menjchen, den ma nit mag!“
Er hielt fie in den Armen, fie war auf ein Knie geſunken, fie konnte weder
vor noch zurück, fie konnte ſich nicht wehren — fie war nicht mehr die Wally
von einft, fie war matt und entkräftet. Wie ein Opferthier neigte fie das
Haupt gebrochenen Blickes, als habe fie der letzte Streich getroffen.
„Jeſus, Dirnl, wie fiehft aus — ala wollt fterben! ft das noch die
stolze Höchftbäuerin? Wally, — Wally — redt doch was — b’finn Dich
doh! — Das kommt davon, wenn ma lebt wie a Wilde. Da Oben könnt
ma ſcho gar's Neden verlernen. — Du bift ja ganz hinfällig worden, komm,
ſtütz Dich auf mich, J Führe Dich "runter in Dei Hütt'n. J bin zwar g’rad au
Die Geier: Wally. : 22]
nod) fei Held, aber a bißel mehr Kräft' hab’ J doch nody, wie Du. Komm —
da Oben wird’3 eim’ ja ſchwindlich — und J hab’ gar viel mit Dir z’reden,
Wally — gar viel!” Wally ließ ſich faſt willenlos Schritt für Schritt von
ihm herabführen. Ohne zu ſprechen leitete ex ihren unfihern Schritt über das
Eismeer und hinab der Hütte zu. Dort aber war gerade der Hirt, und jo hielt
er an und ließ das Mädchen auf eine Matte von Berggras niedergleiten. Sie
ſaß da mit gefalteten Händen ftill und ergeben. Es war wohl jo Gottes Wille,
dab er ihr auch diefe Prüfung noch jchickte, und fie betete nur um Stand-
baftigfeit.
Joſeph Tagerte ſich neben fie, jtübte das Kinn auf die Hand und ſchaute
ihr mit den glühenden Augen in das verhärmte Gejiht. „J hab viel an Dir
gut z'machen, Wally,“ jagte er ernſt — „und J wär jchon lang komme, wenn
mich der Doctor und der Pfarrer g’lafjen hätt’, aber fie haben g’jagt, 's könnt
mich’3 Leben Eoften, wenn % 3’ früh auf 'n Berg aufi ftieg umd da hab’ J
denkt, 's wär doch ſchad — denn — jeßt möcht % g’rad erſt recht leben,
Wally —” er fahte ihre Hand — „jeit Du mir's Leben g’rettet haft! — denn
wie % das g'hört hab," da hab J g’wuht, wies um Dich fteht — und fo
jteht’3 um mi auch, Wally!“ ex ftreichelte ihr janft die Hand.
Wally riß ihm im jähen Schred die Hand weg, es verjeßte ihr faſt den
Athem.
„Joſeph, jet weiß J, wo D''naus willft! Du meinft jett, weil J Dir's
Leben g’rettet hab’, müßt D’ mich aus Dankbarkeit gern haben und am End
gar die Afra im Stich laſſen! Joſeph, das laß Dir nit beifommen, denn jo
wahr Gott im Himmel lebt — elend bin J und jchlecdht — aber jo jchledht
doh nit, daß Ja Belohnung annehm’, die J nit verdien’ und mir a Herz
ihenfen ließ, wie a Trinkgeld — a Herz, was J noch derzu einer Andern ftehlen
müßt. Nein, das thut die Geierwally doch nit — mie viel jie auch ſchon
than hat! — Gottlob, daß es doch noch was Schlecht’3 giebt, zu dem J nit
fähig wär'!“ fügte ſie leiſe wie für fich jelbft Hinzu. Und ihre ganze Kraft zu—
fammen nehmend, jtand fie auf und twollte der Hütte zugehen, wo der Hirt ſaß
und fich ein Liedel pfiff. Aber Joſeph hielt fie mit beiden Armen feit: „Wally —
hör’ mich doch erft an!“
„Nein, Joſeph“ — jagte fie mit bleichen Lippen, aber ſtolz aufgerichtet, —
„kei Wort mehr — X dank Dir für Dein’ guten Willen — aber Du haft mid)
halt doch nit kennt!“
„Waly, J ſag Dir, daß D’ mid anhörn mußt — verftehft mih? Du
mußt!” Er legte ihr die Hand auf die Schulter und fein Blick haftete jo ge—
bieteriich auf ihr, daß fie wie gebrochen in ſich zuſammenſank.
„So red't,“ jagte fie erſchöpft und jeßte fich weit von ihm auf einen Stein.
„So iſt's recht — jebt jeh J, daß Du aud folgen kannſt,“ jagte er qut-
müthig lächelnd.
Er ſtreckte die Schönen Glieder auf dem Nafen aus, den Tichopen, den ex
ausgezogen hatte, legte er ſich unter den Ellbogen und ftüßte fich darauf. Sein
warmer Athen ftreifte Wally beim Sprechen. Sie ja regungslos mit geſenktem
299 Teutihe Rundſchau.
Blick, allmälig trieb der innere Kampf ihr eine dunklere Röthe in das Gefidt,
aber äußerlich blieb jie ruhig, faſt jtarr.
„Schau Wally — % will Dir g’rad Alles jagen, wie's ift,“ fuhr Joſeph
fort: „Jhab Di nie leiden mögn, ob J Dich jchon nit fennt hab. Sie
haben jo viel von Dir erzählt, wie herb und wild Du jeift, und da hab gar
a jchlehte Meinung von Dir g’habt und hab nie nix von Dir willen g'möcht.
Daß D’ a Ihöne g'ſchmache Dim bift, des hab J alleweil g'ſeh'n, aber J hab's
nit jeh’n wollen! So bin J Dir alleweil aus’m Weg 'gange, bi3 die G'ſchicht
mit der Afra pafjirt iſt, — aber das konnt’ % Dir nit jo hingehen lafj'n! —
Schau, wa3 ma der Afra thut, das thut ma mir — und wenn der Afra a
Leid's g'ſchieht, jo ſchneidt's mir in’s Herz, denn weißt — no — jebt muß es
halt doch aus, — mei Mutter wird mir's im Grab verzeihen: Die Afra it
mei Schweiter!“
Wally zuete zufammen und ftarrte ihn an wie im Traum. Er ſchwieg
einen Augenblid und trodnete fi) mit dem Hemdärmel die Stirn: „'s is mit
reht, daß I's ausplaufh, aber Du mußt's doch wiſſen und Du wirft’3 aud
nit weiter jag'n. Mei Mutter hat mir’3 im Sterben anvertraut, daß fie, eh
fie mein’n Vater fennt hat, drüben im Vintihgau das Kind g’habt hat, und J
hab’3 ihr in d’Hand 'nein verjprochen, daß für das Mädel als Bruder jorgen
will, deßwegen hab’ I's Drüben g’holt und in's Lamm bradt, damit Ys in
der Näh’ hab’. Aber wir G'ſchwiſter hab'n uns 's Wort gegeben, daß wir's
g'heim Halten und unjer Mutter nit noch im Grab verunglimpfen laffen. —
Gelt, da3 fiehft ein, daß J mei Schwefter nit ung’jtraft hab’ kränken laſſen
können und für fie eing’ftanden bin, wenn ihr Eins z'nah treten ift?“
Wally ſaß da wie eine Bildjäule und rang nad) Athem. hr war, ala
drehten ſich alle Ferner und die ganze Welt um fie her. Seht ward ihr Alles
Har — jetzt verftand fie auch, was Afra an Joſeph's Bett geſprochen! Sie
hielt fi mit beiden Händen den Kopf, als könne jie es nicht fallen. Wenn
da3 jo war, wie riejengroß wurde dann erjt ihre Schuld! Nicht den herzlojen
Mann, der fie um einer gemeinen Dirn willen beihimpft — den Bruder hätte
fie tödten laſſen, der nur jeine Pflicht gegen die Schweiter erfüllte, — einer
armen Waije hätte ſie die letzte Stübe im Leben genommen, um einer Wallung
blinder Eiferfucht willen? „Herr Gott, wenn das g’ichehen wär!” jagte fie zu
fich ſelbſt. Ahr Ichwindelte, — fie begrub das Gefiht in den Händen und
ein dumpfes Stöhnen drang aus ihrer Bruft.
Joſeph, der ihre Bewegung nicht beadhtete, fuhr fort: „So is's komme,
dag % mid im Lamm vor alle Leut’ verſchworen hab’, J woll Dir Dein Hoch—
muth austreiben und Dir'n Schimpf anthun wie Du der Afra, und da hab’n
wir den Streich mit anander ausg'heckt, der Afra zum Troß, die 's nit hat
haben woll’n. Und 's is auch Alles ganz gut 'gangen, aber wie wir mit
einander g’rungen haben und Du an mein’'m Herzen g’legen haft mit Deiner
ihönen lieben Bruft und 3 Die) küßt hab’, da war mir's, als hätt! % Teuer
im Leib, J hab's nit Wort hab’n woll’n, weil J Dir jolang Feind
war — aber 's ift von Stund zu Stund ärger worden, und in der Nadt
hab’ J mei Kopfkiſſen im Schlaf an mid) preßt und hab’ g'meint, Du ſeiſt's,
Die Geier-Wally. 223
und wie J dann aufg’wacht bin, da Hab’ % laut 'naus g’fchrien nah Dir
und bin aus’m Bett g’iprunge vor Jaſt und Hit. .
„Hör auf, Du bringft mid) um,“ wehrte Wally wie in Flammengluth
getaucht. Aber er fuhr leidenschaftlich fort: „Deffenttwegen hab’ J mich noch
in der Naht aufg'macht und bin auf d’Sonnenplatten g’wandert. Daß J's
nur g'rad ſag' — J hab’ Dir noch vor Tag woll'n an dei Fenſterl klopfen —
und hab' mir's voller Freuden ausdenkt, wie das ſchön wär', wann'ſt Dei ver—
ſchlafen's G’fichtel zu’n Fenſter außi ſtecken thät'ſt und J thät Dich bei'n Kopf
nehmen und abbußeln und Dich um Verzeihung bitten tauſend — tauſend mal!—
Und da — da fahrt mir a Kugel am Kopf vorbei und glei d’rauf eine in
d'Schulter und wie ftrauchel, jpringt Einer von hint' auf mich und ftürzt
mic über’s G’länder. Und J Hab’ ſchon g’meint, jeßt ſei's mit der Lieb und
mit Allem vorbei. Aber da bift Du komme, Du Engel von a Madel und haft
Dih meiner erbarmt und mid wieder aufi g’holt und für mich g’jorgt, —
oWally!” Er warf ſich vor Wally's Füße Hin und legte ihr die gefalteten Hände
inden Schooß: „Wally, % kann Dir nit jo danken wie J möcht, — aber wenn
ma alli Lieb von alle Menjchen in der ganzen Welt z'ſamm' nähm’, jo gäb’s
nod) nit jo viel, als J Dich lieb hab!”
Gebt brach Wally’3 mühlam behauptete Kraft — mit einem herzzerreißenden
Schrei ſtieß fie Jojeph von ſich und warf fi in wilder Verzweiflung mit dem
Angefiht zur Erde: „DO, jo glücklich hätt’ Jwerden können — und jet ift Alles
hin — Alles, Alles!“
„Wally — um Gotteswillen — J glaub wirflid Du bift irr! Was
joll denn hin jein — wenn Du und J anand gern hab'n, jo iſt ja Alles
gut!" —
„DO Joſeph, Joſeph, Du weißt ja nit! — Mit und zwei kann's nie was
werd’'n, o Du weißt nit, bin verworfen und verurtheilt, J darf nie Dei
Weib jein — tritt mi, ſchlag mich todt — J war’3 ja, die Dich Hat da
nunter werfen lajjen!“
Jofeph fuhr zurüd vor dem furchtbaren Wort — er wußte noch immer
nit, ob Wally nit im Irrſinn ſprach. Er war aufgejprungen und blidte
entiegt auf Wally.
„Joſeph,“ flüfterte Wally und umfaßte jeine Knie: „J hab’ Dich Lieb
g’habt, jeit J Dich kenn und weg'n Dir hat mid mein Vater auf’3 Hochjoch
g'ſchickt, wegen Dir hab’ J ihm’3 Haus anzünd't, wegen Dir hab’ J drei Jahr
in der Einöd 'rumg'irrt und hab’ g’hungert und g’froren und hab’ lieber fterben
wollen, als'n andern Mann heirathen. Und mit der Afra bin % blos jo um-
gange aus Eiferſucht, weil J g’meint hab’, fie jei Dei Schaf und nehm’ Did
mir weg! Und endlich fommft zu mir nach lange, lange Jahr, die Jauf Did)
gwart’t hab’, zieht mich zum Tanz auf wie a Bräutigam und J mein’ ſchon
gar, 's Herz zerfpringt mir vor Freud und laß mich von Dir füffen wie eine
Braut, aber Du — Du verhöhnft mich vor alle Leut — verhöhnft mid —
für alle Lieb und Treu, mit der J auf Dich g'hofft Hab’ — für alle Trübjal,
die für Dich ausg'ſtanden hab’ — da hat ſich's halt in’3 Gegentheil verfehrt
und % hab’ dem Vincenz g’fagt, er ſoll Dich) umbringe.“
224 Deutiche Rundichan.
Joſeph ſchlug ſich beide Hände vor's Geſicht: „Das iſt gräßlich,“ ſagte
er leiſe.
„In der Nacht hab’ J's dann bereut,“ ſprach Wally weiter: „Und bin hin
gange und hab’3 wollen verhindern — aber da war's ſchon g’icheh'n. Und
jeßt jag’ft mir, daß D’ mic) lieb g'habt hätteft, und Alles wär gut, wenn J
mit reinem Gewiffen vor Dix jtehen könnt. Um das Alles hab’ J mich bradt
mit meiner blinden Wuth und Bosheit! DO, J hab’ g’meint, 's gäb fein größer'3
Leid, als das, was Du mir an'than hätt’ft, das ift aber Alles nix gegen
da3, was J mir jelber anthan hab’, aber ’3 g’ichieht mir ganz recht — '3
g'ſchieht mir ganz recht!“
63 war lange ftil. Wally hatte die feuchte Stirn an Joſeph's Knie ge
drückt, ihr ganzer Körper wand ſich in Todesqual. Eine bange Minute ſchlich
über fie hin. Da griff ihr eine Hand unter das Kinn und bob ihr janft das
Gericht in die Höhe, Joſeph's große Augen Ichauten fie mit einem wunderbaren
Ausdrud an: „Du arme Wally!“ jagte ex leije.
„Joſeph, Joſeph, jei nit jo qut gegen mich!“ bebte Wally auf, „nimm Dein’
Stuten und ſchieß mid) z''ſamm' — J will Dir till halten und nit zucken und
Dir danken für die Wohlthat!”
Da hob er fie vom Boden auf in feinen Armen, legte ihren Kopf an jeine
Bruft, ftreichelte ihr das wirre Haar und küßte fie heiß, inbrünftig. „Und
J hab Di doc lieb!“ rief er laut hinaus, dab es jubelnd von den dden
Eiswänden wiederhallte.
Und Wally ſtand da, ihrer Sinne faum mädtig, till, faſt zujammen-
brechend unter der Fluth von Glüd, die über fie hinftrömte.
„Joſeph — ift da3 möglich — kannſt mir verzeihen — kann mir der liebe
Gott verzeihen?” flüfterte fie athemlos.
„Wally! Wer das Alles anhören und Dei vergrämt'3 G'ſichtel anſchauen —
und Dir nod) bös jein könnt — der hätt 'n Stein ftatt 'me Herzen dabrin!
% bin a harter Kerl, aber X kann's nit!“
„O mei Herrgott,“ jagte Wally und Thränen ftürzten ihr aus den Augen:
„Wenn J dent, daß J das Herz hab’ woll’n ftillftehen mach'n —!“ Sie rang
verzweiflungsvoll die Hände: „DO Du guter Bua — je beſſer und lieber Du
mit mir bift), beito furdhtbarer padt mich die Reu! DO, J find nimmer Ruh
auf Erden und im Himmel. Dei Magd will % fein, nit Dei Weib, — auf
Deiner Schwell’'n will J ſchlafen, nit an Deiner Seit’, — arbeiten will 5 für
Did und Dir diene — und Dir thun, was J Dir an die Augen abjeh'n kann. —
Und wannft D’ mich jchlagit, will J Dir d’Hand füffen, und wannft D’ mid
trittit, will % Deine Knie umfaffen, — und bitten und betteln bis D’ wieder
gut biſt! Und wann D’ mir nir gönnft, als’n Hauch von Deim’ Mund und 'n
Bid und a Wort, jo will J zTrieden fein — jo ift’3 ihon mehr, als J
verdien'!“
„And meinst, da dermit wär' J z'frieden?“ ſagte Joſeph glühend, „meinſt.
J hätt' g'nug an 'me Hauch und 'me Blick? Meinſt, J hielt's aus, daß Du
draußen auf dev Schwell'n lägſt — und J drinn? Meinſt, J machet nit’s
Die Geier: Wally. 225
Thür'l auf und holet Did rein? Und meinft! etwa — Du bliebft draußen,
wenn J Dich 'rein rufet?“
Wally wollte ſich von ihm losmachen, ſie verbarg das erglühende Geſicht
in den gerungenen Händen.
„Sei ruhig, liebe Seel'“ — fuhr Joſeph mit ſeiner ſchönen tiefen Stimme
fort und zog fie auf jeine Knie: „Sei ruhig, und nimm's freudig hin, wie's
unſer Herrgott Dir ſchickt — Du darfjt’3, denn Du Haft ehrlich büßt. Plag
Did nimmer mit Vorwürf', denn, bei Gott, hab’ auch Schwer an Dir g’fehlt
und Dich furchtbar g’reizt, hab’ Dir Dei lange Lieb und Treu mit Spott und
Veradtung g’lohnt — da iſt's kei Wunder, daß Dir die Geduld g’riffen ift —
wa3 fannft denn derfür — Du bift halt die Geierwally! Aber ’3 hat Dich
ja gleich g’reut und Du haft mich wieder "raufgeholt mit Todesveradhtung, wo
fer Mann 's Kuraſch derzu a’habt hätt’, und Haft mid) in Dei Stüb’l tragen
laſſen umd in Dei Bett'l g’legt und haft mich 'pflegt, bis die dumme Afra
fommen ift und Dich forttrieben hat, weil D’ glaubt Haft, fie jei d' Meinigte.
Naher bit gange und haft Dei ganz’3 Vermögen uns jchenfen wollen, daß J
die Afra heirathen könnt, — haft g’meint! Und bift da 'rauf zog'n in die Einöd
mit Deiim ſchweren Kummer! DO, Du arme Seel’, jeit D’ mich kennſt, haft
nir al3 Herzeleid g’habt um mid, und % jollt! Dich nit lieb haben und wir
jollten nit glüdlich jein dürfen? Nein, Wally, und wenn Dir die ganz’ Welt
bös wär — J fraget nir danach, J nehm’ Did in 'n Arm und kei Menſch
jol Dir was anhab’n!“
„So ift’3 wirklich wahr, Du willft mich aus meiner Noth und Schand an
Dei Herz nehmen, an Dei gut’3, groß's Herz? Du willft Dich nit jcheuen vor
der wilden Geierivally, die joviel Unheil ang’richtet hat?“
„J mid) jcheuen vor der Geierwally — J der Bärenjojeph? Nein,
Du liebes Kind, und wann’ft noch viel wilder wärft, ala D’ bift, % fürcht'
Dich nit, J zwing Di doch, das hab’ J Dir ſchon amal g’jagt — damals
im Haß — jebt aber ſag 3 in der Lieb! Und warn Y Did auch nit
jwäng und wann J wüßt, daß D’ mi in die nächiten vierzehn Täg umbrächt'ſt,
% ließ do nit von Dir — J könnt’ nit von Dir laffen! % bin Hundertmal
einer Gams nachg'ſtieg'n, wo J g'wußt hab’, daß mi jeder Schritt ’3 Leben
foften kann — und hab's doch nit g'laſſ'n und Du, Du mwunderherrlihe Dirn,
jollteft mix nit jo viel werth jein, wie a Gams? Schau, Wally — für a einzige
Stund, in der Du jo bift, wie heut, und mich jo anjchauft und Dich jo an
mich Ichmiegft, will J gern fterben!" Er preßte fie an fi, daß ihr der Athem
verging: „Heut über vierzehn Tag bift Du mei Weib und dann wirft mi
nimmer umbringe, — Y weiß e3, denn jeßt kenn J Dei Herz!”
Da jprang Wally auf und erhob die Arme zum Himmel: „DO, Du großer
grundgütiger Gott, J will Di loben und preijen mei Leben lang, denn das
ift mehr als a irdiſches Glück, das ift die Gnadenbotichaft, die Du mir
ſchickſt!“
Es war Abend geworden — ein mildes Antlitz ſchaute von da Oben freund—
lich Fauf fie nieder — der volle Mond ſtand über dem Berg. Auf den Thälern
lagen die Abendſchatten — heute war es zu irät, noch hinabzufteigen. Sie
296 Deutihe Rundſchau.
gingen in die Hütte, zündeten ein euer an und jehten jih an den Herd. 63
war ein jelige3 Geplauder nad) jahrelangem Schweigen. Auf dem Dad) träumte
der Geier, er baue fi) ein Net, — der Nachtwind braufte um die Hütte wie
Harjenklang und durch das Kleine Fenſter herein blinkte ein Stern.
Am andern Morgen fanden Wally und Joſeph zur Heimkehr jbereit vor
der Thür der Hütte.
„Bhüt Gott, Vater Murzoll,“ jagte Wally und der erſte Morgenftrahl
ließ eine Thräne auf ihrer Wange erglänzen: „Seht komm J nimmer wieder
zu Dir, da Unten ift jet mei Glüd, aber J dank Dir doch, dat D’ mir fo
lang a Heimath ’geben haft, wo J heimathlos war, — Und Du alte Hütten,
Du bleibft jeßt leer ftehen, aber wann J da drunt' bei mei'm berzlieben Mann
im warmen Stübel ji’, jo will J darauf denken an Di, wie J da Oben
die einfamen Nächt' unter Dei'm Dad g’froren und g’weint hab und will alle
Zeit dankbar und demüthig bleiben!“
Sie wandte fi und legte ihren Arm in den Joſeph's. „So fomm, Joſeph,
daß wir noch vor Mittag bei unjerm lieben Pfarrer in Heiligkreuz find.“
„sa fomm, % führ Dich heim, mein ſchönes Bräutel! — Da ſchaut's,
Ahr jeligen Fräulein, — da hab’ % fie, und fie g’hört mir. — Euch und alle
böjen Geifter zum Trotz!“
Und er ſchickte einen Jodler hinaus in die blaue Ferne, der jchmetterte wie
eine Jubelhymne am Auferjtehungstag.
„S’ ſtill,“ ſagte Wally und legte ihm erjchroden die Hand auf den Mund:
„Forder's nit "raus!" Dann aber lächelte fie mit klarem Blick: „Ach nein!
's giebt ja feine jeligen Fräulein und feine böſen Geifter mehr — 's giebt nur
Gott!" Sie drehte fi noch einmal um. Die ſchneeigen Gipfel der Tyerner
erglühten rings im Morgenſchein. „Schön war’3 doch da Oben!” ſagte fie
zögernden Fußes.
„Thut's Dir leid, daß D’ mit mir runter mußt?“ Trug Joſeph.
„Und wenn D’ mit mir abi ftiegft in ’n tiefften Schadht unter der Erden,
wo fein Tagesihimmer 'neinſchien, jo ging J mit und thät nit fragen, nod
Klagen!” jagte fie und ihre Stimme lang jo wunderbar weich, daß Joſeph die
Augen feucht wurden.
Da raufchte es vom Dad der Hütte herab. „DO, mei Hans'l — Did) hätt!
J faft vergefjen,“ rief Waly. „Du — ?" fagte fie lächelnd zu Joſeph — „mit
dem mußt Dich aber vertragen — 58 jeids jetzt Schickſalsbrüder: J dab’ mir
ja Did vom Felſen g’holt wie ihn!“
So ftiegen fie hinab. E3 war ein Kleiner Brautzug, fein Gepräng, als die
goldenen Brautfronen, die die Strahlen der Morgenfonne um ihr Haupt woben —
fein Gefolge als der Geier, der hoch in den Lüften über ihnen kreiſte, aber ein
ſchwer erfauftes, bewußtes, unausſprechliches Glück in der Bruft.
* *
*
Dort Oben auf der Sonnenplatte in ſchwindelnder Höhe, wo einſt „die
Hochlandwilde Maid verträumt herniederſah“, wo ſie ſich ſpäter in den dämmern—
den Abgrund hinabließ, um den Geliebten zu retten, da ragt jetzt ein einſames
Die Geier-Wally. 227
Kreuz in das Blau des Himmels. Die Gemeinde hat es geftiftet zur Erinnerung
an die Geiervally und den Bärenjofeph, die Wohlthäter der ganzen Gegend!
Wally und Joſeph find früh geftorben, aber ihr Name lebt fort und
wird gepriejen, ſoweit und jo lang die Ache raucht. Der Wanderer, der Abends
ſpät durch die Schlucht zieht, wenn e3 den Segen läutet und die filberne
Mondesjichel über den Bergen fteht, ſieht wohl ein greife Paar dort Oben
fnien. Es ift die Afra und der Benedict Klo, die oft von Rofen herüber fommen,
bei dem Kreuz zu beten. Wally jelbjt hatte einft ihre Herzen zufammengeführt
und fie jegnen heut noch am Rande des Grabes ihr Andenten.
Unten in der Schludt umwallen weiße Nebelgeftalten den Wanderer und
mahnen ihn an die jeligen Fräulein. Bon dem Kreuze herab weht es ihn an
wie eine Klage aus längft verflungenen Heldenjagen, daß auch das Gewaltige
wie das Schwade dahinfintt und vergehen muß, — doc) der Gedanke mag ihn
tröften: das Gewaltige kann fterben, aber nicht ausfterben. Sei es im Strahlen-
panzer der Nibelungen oder im groben Bauernkittel eines Bärenjojeph’3 und
einer Geierwally — immer finden wir e3 wieder!
Hefrarca und BVoccaccio
als Begründer der italienifhen Renaiſſancebildung.
Non
Reit 4. ——
Ein zwiefacher Lorbeerkranz unſcinet das Haupt Petrarca's und Boc-
caccio's. Unfterbliche Dichter, find fie zugleich unfterbliche Männer der Wiſſen—
ſchaft.
Sie, die mit Dante den Ruhm theilen, die Begründer und Meiſter der
neuen, volksthümlich italieniſchen Literatur zu ſein, ſind zugleich die begeiſterten
Wiedererwecker der lang vergeſſenen Alterthumsſtudien, die Begründer und Bahn-
brecher jener gewaltigen Geifteswandlung, die, weil fie mit den Schranken des
Mittelalter? brad) und das Sinnen und Denken der Mtenjchen wieder zu einem
freieren und reineren Menjchheitsideal zurüdführte, von der Geſchichte mit dem
Ehrennamen de3 Humanismus bezeichnet und gefeiert wird.
PBetrarca und Boccaceio Haben nie den Drang gefühlt, fi) über den Grund
und das Wejen diefer denkwürdigen Doppelftellung Rechenſchaft abzulegen. Als
fie im Alter mit ihrem wiſſenſchaftlichen Ruhm die Welt erfüllten, jahen fie
auf ihre Dichtungen vornehm herab wie auf bedauerliche Jugendjünden. Und
dieſe gewaltjame Scheidung der in Jid) einheitlichen Perjönlichkeit ift bis auf
den heutigen Tag in Geltung. Die Geihichtsichreiber der Dichtung halten fich
ausſchließlich an die dichterifche Seite, die Geſchichtsſchreiber der Wiſſenſchaft
ausichlieglih an die hHumaniftiihe. Auch die Freftreden, welche am 18. Juli
diejes Jahres, bei der Freier der fünfhundertjährigen Wiederkehr des Todestages
Petrarca's, in Padua und Avignon gehalten wurden, zerfielen weſentlich in dieſe
zwei Gruppen; die einen ſangen und ſagten von Petrarca, dem großen Dichter,
"die anderen von Petrarca, dem großen Humaniften, und, wie e3 die politiichen
Stimmungen und Zuftände Italiens nahelegten, von Petrarca, dem glühenden
Batrioten. Selbft die Biographen Petrarca's und Boccaccio’3 begnügen fid mit
der rein äußerlichen Nebeneinanderjtellung der dichteriichen und wiſſenſchaftlichen
Thätigkeit, ohne irgend zu fragen, wie beide Seiten miteinander zujammen-
hängen und inwieweit fie einander bedingen.
Und dod) kann für Den, der fid) die dichteriiche Eigenart Petrarca’3 und
Petrarca und Boccaccio ald Begründer ber italienischen Renaifjancebildung. 299
Boccaccio's zu klarer Einfiht gebracht Hat, fein Zweifel fein, daß jich ihre
dichterifchen Stimmungen und Ziele zu ihren humaniftiichen Zielen und Beſtre—
bungen durhaus wie Urſache und Wirkung verhalten, und daß Petrarca und!
Boccaccio nimmer jene großen Humaniften geworden wären, wären fie nicht
jene großen Dichter geweſen.
63 ift wichtig, dieje innere Einheit und Zujammengehörigkeit der jcheinbar
weit auseinanderliegenden Richtungen jcharf ins Auge zu fallen. Indem wir
den Uriprung und die innere Entwidlungsnothivendigfeit der Begründer des
Humanismus belaujchen, belaufchen twir den Urſprung der modernen Bildung,
belaufchen wir den Uebergang des Mittelalters in die neue Zeit.
Die erjten Anfänge der beginnenden neuen Zeit vegen ſich ſchon in der!
zweiten Hälfte des 13. Jahrhunderts. Nur unter langen und jchweren Ent-
wicklungskämpfen vollzog ſich der Uebergang vom Mtittelalter in die neue Ge-
ſchichte. Die höchſte Blüthe des Mittelalters und die Urſachen feines allmäligen
Abwelkens liegen dicht beieinander. Von einer geſchichtlichen Epoche gilt jo
wie von dem Ende des 13. und von dem Anfange des 14. Jahrhundert? das
tiefe Wort Ranke's: „E3 ift zuweilen, al3 träten die Ideen, welche die Dinge
bewegen, die geheimen Grundlagen des Lebens, einander fihtbar gegenüber.“
In Innocenz II. (1198 — 1216) hatte die päpftliche Machtftellung ihren
höchſten Gipfel erreiht. Die efftatiiche Erregung, welche die Abenteuerlichkeit
der Kreuzzüge in den Gemüthern zurüdgelaffen hatte, war eine ſchwärmeriſche
Glaubensinbrunft, wie fie nie zuvor in der Welt gejehen worden. Zu derjelben
Zeit, da das Ritterthum ſich in jeinem ftrahlendften Glanz entfaltete und das
weltliche Epos und Minnelied feine köſtlichſten Blüthen trieb, gründeten der heilige
Franz von Aſſiſi und der heilige Dominicus den Orden der Franciscaner und
Dominicaner. Auf allen Märkten und Straßen predigten wandernde Bußprediger
die Rückkehr zu dem deal entjagender Armuth und weltverachtender Askeſe. Es
erhob ſich die Scholaftif, die ihren Beruf darin juchte, die überkommene Glaubens-
lehre jich durch denfende Erfenntnig zum eigenften jelbfterrungenen Bejigthum
zu vertiefen. Neben die Scholaftik ftellte ſich die chriftliche Myſtik, welche
Goethe treffend die Scholaftif des Herzens genannt hat. Mitten aus diejer
tiefen religiöſen Begeifterung heraus entftand die tief innerlihe hymniſche
ranciscaner-Poefie, von welcher das unfterbliche Stabat mater und das gleich
unfterbliche Dies irae, Dies illa jo herrliches Zeugniß ablegen. Wolfram von
Eſchenbach dichtete jein Epos vom heiligen Gral. Und immer mächtiger ent-
faltete jich jener gewaltige Bauftil, der in feinen erften Anfängen ſchon in der
Mitte des 12. Jahrhunderts in der Abtei von St. Denis hervortrat und jeit-
dem mit wunderbarfter Raſchheit ſich in alle Länder der Chriftenheit, nament-
lich dieffeits der Alpen, verbreitete, der Bauftil der Gothik. Das zerknirſchte
Sehnen aus der Sündhaftigkeit des Fleiſches in die reine KHörperlofigkeit, aus
dem irdiichen Trübjal in die ungetrübte Seligkeit de3 Jenſeits verkörpert ſich
in großartigfter Monumentalität in Bauformen, weldhe die ftarre Maſſe der
Mauer auf das möglichjt geringfte Maß zurücdführen und mit diefer Aufhebung
umd Durchgeiftigung alles blos Mafjenhaften die entjcheidende Betonung der den
Blick zwingend nad) oben führenden Höhenrichtung verbinden. Im Innern die
230 Deutſche Rundſchau.
ergreifende Poeſie der unüberſchaubar großen Raummaſſen, des pulſirend be—
lebten Geflechtes der ſteil aufſteigenden Spitzbogenwölbung, der hochragenden,
myſtiſch durchglühten Fenſter; im kunſtvollen Außenbau das unabläſſige Sich—
ſteigern des kraftvollen Emporſtrebens in den Strebepfeilern, in den zahllos
aufwachſenden Spitzgiebeln und Spitzſäulen, in der ſteilen mächtigen Dachbil—
dung, in den gewaltigen Thurmbauten, die, je weiter die Bewegung nad) oben
dringt, in ihren Formen und Verhältniſſen nur immer fühner und ſchlanker
und leichter werden und deren äußerjte Spiße tief eindringlich in da3 Symbol
des Kreuzes ausklingt.
Sleihwohl war in Italien bereit eine mächtige Gegenftrömung vorhanden.
Die Kämpfe zwilchen dem Papft und dem Kaiſer und zwiichen dem Kaiſer und
den einzelnen Landeshoheiten, die Verfaſſungswirren des republifanifchen Städte-
weſens, die Verbindlichkeiten und Schutzbedürfniſſe des mächtig emporblühenden
Handel3 hatten die Anregung zum emfigften Studium de3 alten römijchen
Rechts gegeben. Auf der Univerfität zu Bologna, welche oft mehr als zehn-
taujfend Studenten zählte, bildete fi) eine berühmte Juriſtenſchule; und bald
traten neben die Univerfität von Bologna die Univerfitäten von Padua und
Neapel. An dem Studium des römiſchen Rechts wuchs und erftarkte das
Studium der römischen Literatur und Geſchichte, das in Italien jogar in den
finfterften Zeiten des Mittelalters niemals völlig erftorben war. Schon
träumte Arnold von Brescia, welcher in begeifterter Sehnſucht nach den Zu—
ftänden des UrchriftenthHums das weltliche Beſitzthum des Papſtes befämpfte,
von Herftellung der alten römiſchen Republik in Rom. Man gewann wieder
Sinn und Liebe für die altrömiſchen Dertlichkeiten und Kunftdentmale Die jo-
genannten Mirabilia Urbis Romae ſind die erften, noch ganz in dad Traum—
leben der Sage gehüllten Anfänge römiſcher Topographie und Archäologie. Man
jammelte Blumenlejen aus römiſchen Dichtern, aus Vergil und Ovid und
Horaz; ja um Bergil jchlang ſich ſogleich die üppigſte Sagenbildung. Es war
die Zeit, in welcher, um mit Dante zu reden, die alten Florentiner in ihren
traulichen Unterhaltungen von Troja und von Fieſole und von Nom fabulirten,
und in welcher Ricordano Malajpini jeine Florentiner Chronik ſchrieb, deren
Grundgedante, wenn wir nad) den neuften Angriffen nod an der Echtheit der-
jelben fefthalten dürfen, darin befteht, den Urſprung der Florentiniſchen Staats-
einrichtungen und Adelsgeſchlechter unmittelbar aus dem Altertum herzuleiten.
&3 war die Zeit der antikilirenden Bauten de3 Baptifterrums und der Kirche
von S. Miniato zu Florenz, der antikifivenden Bildwerke Niccold Pijano’3 an
der Kanzel des Baptijteriums zu Pila, des antikifirenden Decorationzftils der
Gosmaten, der antikijirenden, lateinifch gedichteten Tragödien Albertino Mufjato’s.
Während diejjeit3 der Alpen die Gothit immer mächtiger emporwuchs und
ihre gewaltigjten Werte errichtete, errang fi) in Italien der romaniſche Stil
durch jeine finnige Anlehnung an antife Vorbilder eine Reinheit und Feinheit
der künſtleriſchen Auffaffung und Durchbildung, die man mit Recht al3 Vor—
renaifjance, d. h. als den VBorfrühling des Wiedererwachens der antifen Formen—
welt, zu bezeichnen gewohnt ift.
Lange Zeit gehen beide Richtungen Hand in Hand. Noch immer bleibt
—
Petrarca und Boccaccio ala Begründer der italienischen Renaiffancebildung. 231
die mittelalterliche Kirchlichkeit das Mafgebende. Ja der fromme Eifer der
Franciscaner und jDominicaner weiß jogar der über die Alpen dringenden !
Gothik über die Vorrenatfjance den Steg zu verfchaffen, wenn auch nur unter
dem Zugeſtändniß bedeutender Umbildungen zu Gunften größerer Ruhe und
klarerer Faßlichkeit. Nichtsdeftoweniger war die Enge und Ausfchlieglichkeit des
mittelalterlihen Geiſtes gebrochen. Das Denken und Empfinden der Menjchen
war ieiter, freier, unmittelbar menſchlicher geworden.
Das unvdergänglid großartige Denkmal diefer ringenden Zeitiwirren tft
Dante’3 Göttliche Komödie, deren Entftehung wahrjheinlih in die Jahre
1300—1318 jällt. Der Grundgedanke ift noch durchaus mittelalterlih. Nicht
blos die dogmatiiche Gliederung in Hölle und Fegfeuer und Paradies, jondern
vor Allem auch die ganze Art der Bertheilung und Abwägung der Strafen und
Büßungen und Belohnungen und das begeifterte Aufgehen in der jcholaftifchen
Philoſophie de3 gefeierten Thomas von Aquino. Die antifen Dichter und
Philojophen, jo hoch fie gepriefen werden, verharren im Limbus; und felbft
Bergil, der dem Dichter in den Wanderungen durch die Hölle und das Fegfeuer
Lehrer und Führer war, muß bei dem Eintritt in das Paradies die Führung
an die göttliche Beatrice überlafjen, „weil Der, der nie des Herrn Gejeß er-
tannte, nicht zu dem Sitz der Seligen gelangen darf“. Und doch erklingen bereits
überall die ftolzen Klänge einer neuen Denkart, in welcher der Menſch nad)
langer langer Selbftentfremdung endlich fein eigenes eingeborenes Weſen wieder—
gefunden hat. Wie die herrlichen Sonette und Ganzonen der Vita nuova von
der läuternden Gewalt der Liebe fingen mit einer Gluth und Wahrheit tief-
innerften Erlebnifjes, die der Poeſie der Troubadourd völlig fremd ift, fo ift
aud) die Göttliche Komödie troß all ihrer theologifirenden Färbung wieder das
erſte Gedicht, da von den Idealen des echt und rein Menjchlichen, von ber |
Begeifterung für Liebe und Ruhm und Glüd, für Thatkraft und Leidenschaft,
für Freiheit und Vaterland igetragen und durchglüht if. Ja die Göttliche
Komödie ift faſt mehr noch ala ein religiöjes Gedicht ein politifches Gedicht, !
da3 über die Parteiführer der jüngjten Vergangenheit mit unerbittlicher Strenge
Gericht hält und ſehnſuchtsvoll nach dem rettenden Cäſar ausjchaut, der die
Uebermacht des Papſtthums brechen und da3 verwittwete und jeufzende Italien
wieder zu Größe und Einheit führen joll.
Und neben Dante fteht Giotto, der große Maler; nicht abhängig von ihm,
aber erfüllt von denjelben Stimmungen und Ideen, einer der mächtigften
Geifter aller Kunftgefhichte. Er ift der Begründer und Ahnherr jener großen
Monumentalität, die der unterjcheidende Grundzug der italienijchen Maleret ift;
von einer Macht und Tiefe des Gedankens und von einer feiten Einheitlichkeit
und Folgerichtigkeit in der Erfindung und Anordnung weitausgedehnter chEli-
ſcher GCompofition, die von den Malern der nächſtfolgenden Geſchlechter nur
jelten wiedererreicht und erft von den großen cykliichen GCompofitionen Michel-
angelo’3 und Rafael's überboten wurde. Und zugleich belebt und verinnerlicht
er die hoheitsvollen, ftarren Typen der Byzantiner zu einer Naturwahrheit in der
Geitaltung und Bewegung, zu einer Friiche und Fülle der Motivirung, zu einer
Poeſie der Seelenmalerei, die um jo ergreifender wirkt, je naiv Er fie iſt
Deutiche Rundſchau. I, 5.
232 Deutſche Rundicau.
und je inniger fie bereits, obgleich ihr noch die volle plaftiiche Körperlichkeit
und namentlich in der Gefichtäbildung die volle individualijirende Kraft fehlt,
alle wärmjten Herzenstöne anſchlägt, Fromme Gottergebenheit, ſchalkhaften Froh—
finn, Weh der Verzweiflung.
Bald aber traten Ereignilje ein, welche die mittelalterlichen Gewalten und
Lebensformen von Grund aus in Trümmer jchlugen.
Die enticheidende Wendung ift der Anfang des 14. Jahrhunderts.
Seit dem Sturz der Hohenftaufen — Conradin's Haupt fiel 1268 — war!
die Idee des römiſch-deutſchen Kaiſerthums, die noch das höchſte politijche deal
Dante's war, immer mehr und mehr entwurzelt. In ganz Italien neue Staaten—
bildungen. Monarchiſche Gewaltherrſchaften, in denen Herrſcher war, wer durch
Kraft und Schrecken emporzukommen und ſich zu behaupten wußte; ſtädtiſche
Republiten, blühend durd ein freies und betriebfames Bürgerthum, aber wechjel-
voller als je dem wildeften Parteihader und Verfaffungsftreit preisgegeben. Und
mit der Verlegung de3 päpftlichen Sites nad) Avignon — 1308 unter Ele-
mens V. — war ein großer Theil der Macht und der geheimnißvollen Weihe
des Papftthums geſchwunden. Um jo rettungslojer, je jündhafter das Treiben
am Hofe von Avignon war. Slagelieder und Bußpredigten verfündeten das
Kommen de3 Antichrift.
Es war, als jei den Menjchen der Boden unter den Füßen weggezogen.
Alle Ueberlieferungen, welche bis dahin bindende Kraft gehabt hatten, waren
erihüttert. Der Menſch fieht ſich lediglich auf ſich ſelbſt geſtellt. Thatkraft
und Leidenſchaft find entfeſſelt. Alle unergründlichſten Untiefen des menſchlichen
Herzen3 gewinnen offene Sprache. Es ift eine Zeit ebenjo jehr des höchſten
idealen Aufftrebens wie der ſchrankenloſeſten Ruchlofigkeit.
Ein neue3 Gejchleht war in diejer dDrangjalvollen Zeit erftanden; ein neues
Geſchlecht voll leidenſchaftlicher Kämpfe, voll neuer Hoffnungen, voll neuer Ziele.
Und hier fehren wir wieder zu Petrarca und Boccaccio zurück.
Sie find die Vorkämpfer diejes neuen Gejchlechtes, die Dolmetjcher jeiner
Stimmungen und Empfindungen, die Führer feines raftlos vorftrebenden Bil-
dungsdranges.
Noch ſchrieb Dante an feinem großen Gedidht, als Petrarca und Boccaccio
geboren wurden; Petrarca 1304, Boccaccio 1313. Dennod) ift die Welt Dante's
und die Welt Petrarca’3 und Boccaccio’3 durch eine unermeßlich weite Kluft
geſchieden.
In Petrarca und Boccaccio ſind auch die letzten Nachklänge des Mittel—
alterlihen verflungen. Das ſtolze Selbſtgefühl von dem Recht und der Macht
der eigenen freien Perjönlichkeit, das fi in Dante bereit3 jo bedeutjam ange-
fündigt hatte, hat in Petrarca und Boccaccio feine Erfüllung gefunden. Das
eigenfte Lebensgeheimniß Petrarca’3 und Boccacciv’3, ihrer perſönlichen Eigen—
art ſowohl wie ihres Dichtens, das der getreue Spiegel diefer perjönlichen
Eigenart ift, ift die Beſitznahme des Menjchen von den verborgenen Tiefen
jeines inneren Seelenlebens, das bisher ganz und gar unter der Obmadht der
Kirche gejtanden hatte und unter diefer Obmadt nur zu jehr einjeitiger und
verfümmerter Entfaltung gelangt war, ift das gefteigerte Freiheitsgefühl des
Petrarca und Boccaccio ala Begründer der italieniihen Renaifjancebildung. 233
Einzelmenjchen, das freilich unter dem folgenſchweren Mangel leidet, da e3 in
der Siegeöfreude diejer feiner erjten Erhebung und Selbftbefreiung fich über-
ſtürzt und in ſelbſtſüchtige Sophiftif entartet.
63 iſt überrafchend, daß noch von Niemand die denkwürdige lleberein=?
fiimmung hervorgehoben ift, die die geichichtliche Stellung Petrarca’3 und
Boccaccio’3 mit jener tiefgreifenden Geiftesrevolution hat, welche um die Mitte
de3 vorigen Jahrhunderts von Roufjeau ausging und aladann in Deutjchland
von den Trägern der ſ. g. Sturm- und Drangperiode weitergeführt und zu
glücklich harmoniſchem Abſchluß gebradht wurde. Hier wie dort derjelbe tief-
berehtigte Kampf um das Recht der vollen und ganzen Menjchennatur gegen
die Starrheit althergebradhter überlebter Satzungen, und in dieſem Kampf die-
jelbe ſich überſtürzende Gefühlsphantaftif, diefelbe maßloje Freigeiſterei der Leiden—
ſchaft. Und Hier wie dort dafjelbe ernjte Streben, diefe Irrungen zu über—
winden und durch begeifterte Hingebung an die unverlierbaren Ideale des
griechiſch-römiſchen Alterthums zu feſter Bildungsharmonie zu klären.
Ich ſtehe nicht an, Petrarca und Boccaccio als die Sturm- und Drang- |
periode der italienijchen Literatur zu bezeichnen. Nur von diefem Geſichtspunct
aus gewinnt Leben und Dichtung Petrarca’3 und Boccaccio's die richtige Be-
leuchtung; nur von diefem Gefichtspunct aus erjcheinen die jcheinbar jo weit
auseinanderliegenden Richtungen ihrer dichteriichen und wiſſenſchaftlichen Thätig-
feit al3 die Ergebniſſe folgerichtiger innerer Entwidelungsnothwendigfeit, als
in ji durchaus einheitlich und zufammengehörig.
Petrarca vor Allem ift e8, welcher dem Jahrhundert die Lofung gab.
Als Dichter ift Petrarca am berühmteften geworden durch die Sonette
und Ganzonen an Laura. „Er hat jein Herz entdeckt,“ das iſt das Motto,
da3 ich dieſen Sonetten und Ganzonen am liebjten geben möchte. Unerſchöpf—
ih ift der Dichter in der Schilderung jeines Liebenden Herzens, das in ber
Luft und im Weh der Liebe lat und weint und hofft und bangt, das von der
Liebe nicht laſſen mag, obgleich die Geliebte die Gegenliebe verjagt, und das
unabläjfig in der Wonne der Erinnerung fortlebt, auch nachdem die Geliebte
längft dur den Tod allem ixdiihen Sehnen und Hoffen entrüct ift. Es ift
die warme Herzenziprache Herzgetwinnender Zartheit und Innigkeit, die weihe-
volle Stimmung erlebten Glüdes und erlebten Schmerzes, tief ergreifendes
Seelenleben. Und reizvoll geht durch all dies Leben und Weben der Liebe das
tiefinnige Mitleben der Natur und der umgebenden Landſchaft; von Liebe
ſprechen Welle und Luft und Blüthenpradt, von Liebe klagt die Nachtigall, zur
Liebe ruft das geheimnißvolle Flüftern und Kniſtern der ftillen Waldeinfamfeit,
der feierliche Exrnft der hochragenden Berge. Dazu der unwiderſtehliche Zauber
de3 ſüßen Wohllaut3 der Sprade und des Reims, wie ihn nie twieder ein
Ipäterer italienischer Dichter erreicht hat, und die feine Gejchloffenheit der Kunſt—
form, die jeitdem fefte Norm de3 Sonett3 geworden ift. Aber zu leugnen ift
trogalledem nicht, gar manche diefer Sonette verfallen in ſchwächliche Empfin=
delei. Ja, ift nicht der ganze Zuftand eines Menjchen, der mehr als drei-
hundert Sonette auf eine unertwiderte Liebe dichtet und an dieſe unerwiderte
Liebe mehr als zwanzig Jahre feines beiten Mannesalters jet, ein unverzeihlich
16*
234 Deutſche Rundſchau.
krankhafter? Es iſt Werther, der ſein Herz wie ein krankes Kind hält und
ihm jeden Willen geftattet.
Unter allen Befitungen ift ein eigen Herz die Koftbarfte, und unter Tau-
ſenden haben fie faum Zwei. Diejes bezeichnende Wort der Sturm- und Drang-
periode ift auch die Charakteriftif Petrarca’3, feiner Größe und feiner
Schwäche. Diejelbe überquellende Innerlichkeit und diejelbe kokette Selbft= |
verhätihelung, die der Grundzug jeiner Sonette an Laura ift, ijt der Grund-
zug feines ganzen Wejend. Sein Jh ift ihm jein ftetes und angelegentlichftes
Studium. Nicht blos in vertrauten Freundesbriefen, jondern aud in einer
ganzen Reihe von Schriften, die an die Deffentlichkeit gerichtet find, ſucht er
fih und Anderen über feine geheimften Seelenregungen und deren Widerjprüche
und Räthſelhaftigkeiten Rechenſchaft abzulegen; und in diejer grübelnden Selbft-
betradtung kommt ex nie über das eitle Gefühl hinaus, daß für joldde uner-
gründliche Tiefe und Innerlichkeit in ‚der harten Welt kein Raum ſei. Ed
io son un di quei che il pianger giova. Petrarca, der Ahnherr tieffter Herzen3-
poeſie, ift zugleich der Ahnherr der modernen Empfindjamteit, des Weltjchmerzes,
der modernen Zerriffenheit. Er nennt dieſe ziwiejpältige Stimmung dolendi
voluptas, Wolluft des Schmerzes, oder Acedia, müden Unmuth.
Und diefe ruheloje ringende Gefühlsinnerlichkeit ift auch der Nerv und die
treibende Kraft der wiſſenſchaftlichen Thätigkeit Petrarca’3 und beftimmt deren
Richtung und Ziele. Hier bejonders ift e8, wo uns die Aehnlichkeit mit
Roufjeau jchlagend entgegentritt.
Wie Rouffeau aus der Innerlichkeit feines gefühlsfeligen Herzens ſich eine!
Gefühlsreligion jchafft, die ebenfo gegen die Dürre des Kirchenglaubens wie
gegen die Freigeifterei Voltaire's und der Encyklopädiften anfämpft, jo hat jich
auch Petrarca, unter den Einwirkungen des heiligen Auguftinus eine Gefühls-
religion geidhaffen, die ebenjoweit abjteht von dem herrjchenden Kirchenthum tie
von dem gottesleugneriichen Materialismus, für welchen auch in der abend-
Yändiihen Welt der arabiſche Philojoph Averroes viele Anhänger gewonnen
hatte. Es liegt in Petrarca eine Verinnerlihung des mittelalterlichen Chrijten-
thums, die hauptſächlich den Anftoß gegeben hat, daß die Denker der nächften
Zeit auf eine Verſchmelzung der platoniſchen Philojophie und der chriftlichen \
Slaubenslehre ausgingen.
Und wie Rouffeau im Unmuth über das Elend der Gegenwart in die 7
Träume eines jogenannten Naturzuftandes flüchtete, um aus diejen die Grund-
lagen eine neuen Staats- und Gejellichaftstwejens zu gewinnen, jo flüchtete
auch Petrarca aus dem Verderbniß des politijch zerrütteten Waterlandes und
aus dem Verderbniß der Kirche, die der am Hof zu Avignon Lebende mit
tiefftem Ingrimme als eine spelunca latronum, als eine Mörder: und Diebeshöhle
brandmarkt, in eine reinere und freudvollere Vergangenheit; nur daß er diefe
reinere und freudvollere Vergangenheit nicht in einer phantaftiichen Traumtvelt
juchte, jondern in der großen Welt des römiſchen Alterthums, ala deſſen Entel
er fi fühlte. An der alten römiſchen Macht und Größe will er jein gedrüdtes
Gemüth wieder aufrihten; an den großen Ahnen des Alterthums, „deren
Gleichen niemals auf Erden war”, will er, wie er ſich vielfach und in den ver-
Petrarca und Boccaccio al3 Begründer der italienischen Renaiffancebildung. 235
Ichiedenften Wendungen ausjpricht, Diejenigen vergeffen, mit denen ein ungün-
ftiger Stern ihm zu leben bejchieden.
In getvohnter Weife hat Petrarca jelbft in feinem Briefe an die Nach—
welt, der eine ber wichtigften feiner zahlreichen Selbftbefenntniffe ift, über den
Anfang und da3 Ziel dieſes vielverichlungenen, aber ficher fortichreitenden Bil-
dungsganges Auskunft gegeben. „Mein Geift,” jagt er, „liebte e8 vornehmlich,
fih mit Moralphilofophie und Dichtkunft zu beichäftigen,; doch vernachläſſigte
ih die Dihtung im Lauf der Zeit und wendete meine Neigung mehr der Theo-
logie zu, an deren früher verachteten Annehmlichkeit ich immer mehr Geſchmack NR
fand. Bor Allem aber gab ich mich der Erforichung des Alterthums hin, da“
mir die Zeit, in welcher ich Iebte, jo mißfiel, daß, wenn mir die Liebe zu ben
mir Theuren diefen Wunſch nicht verwehrt hätte, ich oft gewünjcht haben
würde, in einem anderen Zeitalter geboren zu fein und mein Zeitalter ver-
gejfen zu dürfen; und da ich dies nicht konnte, jo ftrebte ich wenigſtens dar-
nad, mid jo oft und jo innig al3 möglich in andere Zeiten zu verjegen.“ |
Petrarca wurde durch denjelben tief innerlihen Drang nad) innerer Selbft-
befreiung und Selbftbefriedigung zur begeifterten Erfaffung des Alterthums ge-
führt, durch welchen auch Goethe und Schiller bei dem Abſchluß ihrer ftürmen? |
den Yugendwirren zur begeifterten Erfaffung des Alterthums geführt wurden.
Mitten aus jeinem tief innerjten IEntwidlungsleben heraus iſt Petrarca
der begeifterte Wiedereriveder der Alterthumsſtudien, der Schöpfer de3 Humanis-
mu3 geworden. Und jein unvergängliches Verdienſt ift, daß er mit unermüb-
lichſtem Eifer Jeine ganze Kraft daran ſetzte, die verjunfenen Schäße der alten
Herrlichkeit wieder an’3 Licht zu fördern. Er ſuchte von der Literatur der
Alten zu retten, wa3 noch zu retten war. Er durchreifte Frankreich, Deutich-
land, Spanien, alle Theile Italiens, um in den Klöftern nad) alten Hand-
ſchriften zu forſchen; er ſpornte durch ausgebreiteten Briefwechjel die Gelehrten
aller Länder zu gleichem Forſcher- und Sammeleifer. Er erwerte Theilnahme
für die wiſſenſchaftliche Erkenntniß der alten Dertlichkeiten und Baudenkmale,
ex wendete feine Aufmerkjamfeit bereit3 auf die alten Münzen und Injchriften.i
Die Wirkung Petrarca’3 war eine unermeßliche. Schnell entzündeten ſich
die Gemüther, die unter dem gleichen Drude jeufzten und das gleiche Bedürf-
niß innerer Erhebung empfanden. Die Donquiroterie Cola da Rienzo’3, welcher
wie einjt Arnold von Brescia die Größe und Herrlichkeit de3 alten Rom aud)
ftaatlich wiederherjtellen wollte, um, wie jein eigner Ausdrucd lautet, Handelnd
auszuführen, was er lejend gelernt Hatte, und die flammende Begeifterung,
welche diefe Donquiroterie nicht blos in Petrarca, jondern bei allen Beften der
Zeit fand, ift das lautredende Zeugniß, wie tief und unmittelbar fich dieje ge-
drüdten und doch jo großen Menjchen als die Enkel ihrer machtvollen Ahnen
fühlten, und melde ftolzen Ideale und Zufunftshoffnungen in ihnen mwogten
und ftürmten.
Stalien feiert mit Vorliebe Petrarca ala glühenden Patrioten. Uns kommt
es zu, Petrarca al3 einen Befreier der Menfchheit zu feiern, al3 einen jener
höchſten Genien, deren Spur nicht in Neonen untergeht.
Boccaccio ift eine durchaus anders geartete Natur ala Petrarca; aber der
236 Deutiche Rundſchau.
Bildungsgang Boccaccio’3 ift mit dem Bildungsgang Petrarca's in denkwür—
digfter Uebereinftimmung. Auch er ift der Dichter jenes gefteigerten Perjönlich-
feitsgefühl3, das wir als die italieniiche Sturm=- und Drangperiode bezeichnet
haben; und auch er wird in jeinem jpäteren Alter der Mann der ftrengen
Wiljenihaft, der die Anregungen feines großen Freundes Petrarca ſelbſtthätig
fortbildet und in jehr mwejentlichen Dingen ergänzt und erweitert.
Ueber Boccacciv, den die Meiften jetzt nur vom Hörenſagen oder höchftens
aus einzelnen jeiner Novellen Eennen, gehen die irrigiten Meinungen. Gr ift
rein Dichter von weit tieferem Gehalt, als man ihm meift zugefteht, und ex ift ein
Dichter von vollendeter fünftleriiher Durchbildung.
Es ijt für die leidenſchaftliche Gefühlswelt, in welcher fi Dante und
Petrarca und Boccaccio bewegen, überaus bezeichnend, daß alle drei in ihrem
dichteriſchen Empfinden und Schaffen bedingt und beftimmt werden durch eine
tiefe Liebe, die ihr Wejen bis in das innerfte Mark durchdringt. Auch für
Boccaccio war die Liebe lange Zeit ausſchließlichſte Herzensangelegenheit ; frei—
lich nicht jene erhabene DBegeifterung, mit welcher Dante zu Beatrice, nicht
jene zarte Innerlichkeit, mit welcher Petrarca zu Laura hinaufſchaut. Einer
der jchönften Männer feiner Zeit, voll Fröhlichkeit und Sinnengluth, überläßt
fi) Boccaccio in jeiner” Jugend allen Lockungen und Irrungen, welche ihm die
herrichende Sittenverwilderung bot und erlaubte. In Neapel, wohin er als
Süngling gefommen, war er (1341) in ein leidenjchaftliches Verhältniß zu einer
vornehmen jungen Frau getreten, fie war die natürliche Tochter de3 Königs
Robert, die Schweiter und Freundin der Königin Johanna, die Gemahlin eines
Neapolitaniichen Großen. Unter dem bedeutjamen Namen Fiammetta wird fie
in allen Dichtungen Boccaccio’3 gefeiert. Die wechſelvolle und ſchickſalsreiche
Liebe zu ihr ift das Grundmotiv all feines Dichtens, ja recht eigentlich der
Urjprung und die Quelle feiner gefammten Empfindung = und Dentweije.
Wie die herbe und düftere Lebensauffaffung Dante’3 ergänzt wird durch
die helle und farbenfrohe Lebensfreudigfeit Giotto’3, fo wird die eintönige Inner—
lichkeit Petrarca’3 ergänzt durch die lichte und vielgeftaltige Beweglichkeit Boccac-
civ’3, welcher in feiner finnenfriichen und leicht erregbaren Seele zwar aud) alle
Nachtjeiten der Leidenſchaft kennt, aber doch immer und immer wieder zu hei—
terem Lebensgenuß hindrängt, ja diefen heiteren Lebensgenuß mit ſchmeichelnder
Sophiftit als einziges und höchftes Gut aller Lebenstunft hinftellt.
Indem die Dichtung Boccaccio’3 aus der Lyrik Petrarca’s in die Breite
und Thatjächlichkeit der epiichen Welt tritt, entfaltet fi) in ihr das Leben der
Zeit und ihrer geheimften Stimmungen und Ziele in einer Allfeitigkeit, welcher
die träumerifhe Melancholie Petrarca’3 jorgfam aus dem Wege geht. Um jo
denfiwürdiger und überrafchender ift e8, daß auch die Dichtung Boccaccio's, und
zwar weit mehr noch al3 die Dichtung Petrarca’3, ung genau diejelben Stim-
mungen und Probleme vorführt, welche fpäter die deutſchen Stürmer und
Dränger, ohne diefen Urfprung und Zufammenhang zu ahnen und zu willen,
wieder aufnahmen und in ihrer Weije vertieften,
Schon die erften Yugenddichtungen Boccaccio's, ſchon der Roman Trilocopo,
dem die alte ſchöne Gejchichte von los und Blankflos zu Grunde Liegt,
Petrarca und Boccaccio ald Begründer der italienischen Renaiffancebildung. 237
und die wohlklingenden Ottaverimen der erzählenden Dichtung Teſeide, die
nah U. Ebert’3 überzeugender Auseinanderjegung (Yahrb. für roman. und engl.
Lit. Bd. 4. ©. 97 ff) einem byzantiniſchen Projaroman aus dem Ende des
5. Jahrh. entlehnt ift, und das Ninfale Finſolano und das Ninfale di Ameto,
Gedichte jener idylliſchen Gattung, welche die Italiener Paftorale nennen, han-
deln von dem Kampf und der Wonne und der läuternden Kraft der Liebe. Allein
die eigenjte Eigenthümlichfeit Boccaccio’3 liegt erft in den jpäteren Dichtungen,
in Fılojtrato, in der Fiammetta und im Decamerone.
63 ift unbegreiflich, wie eine jo herrliche Perle ächtefter Poefie wie Boccacciv’3 |
Filoſtrato vergeſſen ſein kann. Es iſt der laute Jubelruf eines von glüdlichiter
Liebe erfüllten glückſeligen Herzens. Das wunderliche Wort „Filoſtrato“, zu—
ſammengeſetzt aus dem griechiſchen Wort 442006, das hier fälſchlich für die Be—
zeichnung eines Liebenden gebraucht wird, während es doch immer nur einen
Freund bezeichnet, und aus dem lateiniſchen Wort stratus (geſchlagen), bezeichnet
ben Helden al3 einen ganz und gar von der Liebe Gefchlagenen, als einen uomo
vinto ed abbattuto da amore. Als der Dichter dieſes Gedicht dichtete, weilte
Fiammetta, die Geliebte, auf dem Lande. Der Dichter, fern von ihr, jchwelgt
in der Wonne liebender Erinnerung und in der Gewißheit unverlierbaren Be—
fies, ergötzt ſich aber in diefer Gewißheit mit der Furcht quälender Eiferjucht
fein übermüthiges Spiel zu treiben. Dieſes Glüd und diefe Furcht jchildert
er in der alten Sage von Troilus und Creſſida, welche ſich nad) den Yabel-
büchern von Dares und Dictys im Mittelalter ausgebildet, und welche joeben
in der 1287 verfaßten Historia Trojana des Meſſineſen Guido de Colonna eine
neue Bearbeitung gefunden hatte. Und mit wunderbarfter Kunft weiß er die
verblichenen Geftalten der Sage mit feinen eigenften Erlebniſſen zu beleben und
zu durchglühen und damit dem Epilchen eine weſentlich Iyriiche Haltung zu
geben. Die erſte Bekanntſchaft, das endliche Gewinnen der Geliebten, der
glücjelige Rauſch des innigen Ginandergehöreng, der Schmerz des Abjchieds bei
der vom Geſchick verhängten Trennung, das peinvolle Erwachen der Eiferjucht
im Herz de3 Liebenden und die Bethörung zur Untreue im Herz der Ge-
Liebten, die Verzweiflung des DVerrathenen und jein Aufjuchen des Helden-
todes im Schlachtgewühl, find mit einer Wahrheit und Wärme der Em—
pfindung, mit einer Kenntniß aller geheimften Herzenstriebe und Herzens—
irrungen, und zugleich mit einer aus dem Glüdsgefühl des Dichters entſpringen—
den, fein ironiſchen Schalkhaftigkeit erzählt, und über dem Ganzen liegt ein
Zauber der bis in das Einzelnfte abgewogenen Gompofition und des unvergleid)-
lichſten Wohllauts der leicht dahinfließenden Verſe, daß für den, der diejes Ge-
dicht kennt, fein Zweifel ift, daß Pulci und Arioft in Boccaccio nicht blos
ihren Vorgänger, jondern auch ihren Meijter haben. Chaucer, der nach Boccaccio
diefelbe Fabel bearbeitete, hat Boccaccio’3 lyriſche Zartheit verwiſcht; und
Shafejpeare war in feinem bekannten Drama dur) die Natur der dramatijchen
Kunft auf durchaus andere Forderungen und Bedingungen gewiejen.
Yiammetta, ein Roman in der Form von Tagebuchbefenntniffen, hat den=
jelben lyriſchen Zug; aber e3 ift nicht die Lyrik der glüdlichen Liebe, ſondern
der tief unglüdlichen, der in verzehrender Verzweiflung wühlenden. Das Ver—
238 Deutſche Rundſchau.
hältniß zu Fiammetta war durch die Abreiſe des Dichters von Neapel nach
Florenz getrennt. Der Roman iſt der Erguß des tiefen Trennungsſchmerzes und
der nagenden Sehnſucht nach der Wiedererlangung des verlorenen Glücks; aber
ſo, daß der Dichter die Qual des eigenen Herzens in den Mund der Geliebten
gelegt hat, in dem feinen Gefühl, daß ſo ungemeſſene Liebesklage in der Seele
des Weibes eine tiefere Begründung und Rechtfertigung finde als in der Seele
des Mannes. Es iſt ein Seelengemälde von hinreißender Gluth und Farben-
pracht. Die Gefahren der erſten Begegnung, das Glück der tief innigen Liebe,
die unbejchräntbare Allgewalt der Leidenichaft und ihr Kampf gegen alle Stö-
rungen der feindlichen Außenwelt, die Klage über die plöglihe Trennung, das
Verlangen nah) dem Entfernten, das Erwachen der Eiferſucht, das peinvolle
und doc jo ſüße Schwanfen zwijchen der Furcht des Verlierens und der immer
wieder aufdämmernden Hoffnung de3 Wiedergewinnens, der Auffchrei der Ver—
zweiflung nad der Gewißheit des Verluftes, das Anwachſen des dumpf brüten-
den Schmerzed, der um jo ficherer fein Opfer fordert, je williger ſich die
gebrochene Seele ihm Hingiebt, weil ihr jelbft der Schmerz nod) eine ſüße
Erinnerung de3 einftigen Glüdes ift, — das Alles ift mit einer pſychologiſchen
Wahrheit und Tolgeritigfeit und mit einer Zartheit und Innerlichkeit der
Sprache gejhildert, wie fie nur einem großen Dichter zu Gebot fteht, und wie
fie in einer eben erſt werdenden Literatur doppelt beivunderungswürdig ift.
. Keiner wird Boccaccio’3 Fiammetta lejen, ohne unabläſſig an Goethe's Werther
erinnert zu fein. Sicher ift die Dichtung Goethe's von unendlich tieferem Gehalt
al die Dichtung Boccaccio’3. Es fehlt dem Roman Boccaccio's jene gewaltige
Unterlage de3 ununterdrüdbaren Unendlichkeitäftrebens, die die Liebestragödie
Werther'3 zur Tragödie des an der Härte des MWeltlauf3 zerjchellenden Herzens—
idealismus macht; der Roman Boccaccio’3 iſt nichts als die Geſchichte einer
unglüflichen Liebe, der wir Nordländer nicht einmal unjere volle Theilnahme
zuwenden Zönnen, weil bei unjeren glüclicheriveife jtrengeren Begriffen von der
Heiligkeit und Unverleglichkeit der Ehe die Sehnſucht einer verheiratheten Frau
nad) dem fremden Geliebten etwas Abſtoßendes hat. Gleichwohl ift diejer
Roman einer der geichichtlich denkwürdigjten Mtarkfteine. Jene gefühlsſchwel—
geriiche Herzensverzärtelung, die bereits in Petrarca’3 Sonetten jo verhängniß-
voll anklang, Hat hier ihren leidenſchaftlichſten und gejteigertften Ausdrud ge-
funden; Boccaccio’3 Fiammetta ift ganz und gar ein Kind modernfter Empfind-
'jamfeit, deren Urjprung wir meift erft in Sterne und Roufjeau und Goethe
ſuchen.
Das Decamerone, das berühmteſte Werk Boccaccio's, ja das einzige, das
den Namen Boccaccio's im Andenken der Nachwelt noch wachhält, ſcheint weit
abzuliegen von jener überquellenden leidenſchaftlichen Gefühlsinnerlichkeit, in
welcher die Leiden Fiammetta's ihren eigenſten Reiz und zugleich ihre Schwäche
haben. Und doch wurzelt auch) das Decamerone in derjelben Grundjtimmung.
63 ift derjelbe Kampf für das unverbrüchliche Recht der Leidenjchaft und deren
Ungebundenheit und Schrantenlofigkeit. Nur in anderer Richtung und nad)
anderen Zielen. Es find Hundert Novellen; ihre Abfafjung fällt in die Jahre
1349— 1353, aljo in die Zeit des Kräftigften Mannesalters des Dichters. Die
Petrarca und Boccaccio ald Begründer der italienischen Renaiffancebildung. 239
Scenerie ift, daß jieben Mädchen und drei junge Männer während der grauen-
vollen Peft, die im Sommer 1348 in Florenz mehr ala 96,000 Menjchen Hin-
taffte, fi in einen anmuthigen Landaufenthalt zurücdziehen, um ſich dort durch
die Erzählung heiterer und ergötzlicher Gejhichten über die Noth der Gegen-
wart hinwegzufcherzen. An jedem Tag zehn Novellen; daher der Name Deca-
merone (dere, nutga). Mit Recht wird Boccaccio al3 der erſte Novellift aller
Zeiten gepriefen. Nicht nur, daß faft jede einzelne Novelle ein höchftes Mufter
dichterifcher Erzählungskfunft ift; auch die Vertheilung der Erzählungen je nad)
den verjchiedenen Charakteren der Erzählenden, die wirkungsvolle Gegenüber-
ftellung de3 unheimlichen allgemeinen Jammerd und der heiteren Genußfreude
des hier in reizendjter Landſchaft und geiftvolliter Gejelligfeit weilenden Kleinen
Kreijes, die feinberechnete Umrahmung durch die ergreifende Schilderung der Peſt
in der Einleitung und durch die tiefrührende Geihichte von der unbeugjamen
Liebestreue der jchwergeprüften Dulderin Grijeldi3_ am Schluß des Buches,
zeugen von einem Künftler, der die KHunftmittel, die er jich mit höchfter Genia-
Lität ſelbſt erſt geichaffen hat, mit klarſter Einfiht und mit vollfter Sicherheit
beherricht und verwendet. Dennoch ift der innerjte Kern des Buches wurmftichig. !
Einzelne Novellen zwar greifen in tieffte Lebensfragen. Bon Boccacciv hat
Leſſing die herrliche Erzählung Nathans des Weijen von den drei Ringen ent-
lehnt, und Boccaccio ſelbſt macht jhon die Anwendung diejer Erzählung auf
die Forderung religiöfer Duldjamkeit. Won Boccaccio werden die unerbitt-
lichſten Geihelhiebe auf da3 ungeiftliche Leben der Geiftlichkeit, bejonderd der
Mönche und Nonnen gerichtet; das Concil von Trient wußte, was e3 that, als
e3 das Decamerone auf den Inder der verbotenen Bücher ftellte. Aber viele,
ja die meiften diefer Novellen find von einer Ausgelafjenheit und Sinnenüppig-
feit, die durch die allgemeine Sittenlojigkeit der Zeit und durch die alle böfen
Beidenichaften entfejjelnden Einwirkungen der graujen Peſt zwar erklärt, aber
nicht entjchuldigt werden kann; fie wirfen um jo anftöhiger, je mehr der Dichter
jelbft diefen Erzählungen durch die Darftellung des Siegs Jüberlegener Schlau-
heit über argloje Einfalt oder jelbitjüchtige Beichränktheit den Reiz behaglichen
Uebermuth3 und naiver Schalkhaftigkeit zu wahren weiß. Gerade dieſe Seite
aber ift e3, die das Decamerone für die Charakteriſtik der italienischen Sturm-
und Drangperiode jo überaus bezeichnend macht. Sieben Mädchen im Alter
von achtzehn bis zu achtundzwanzig Jahren, und drei junge Männer, deren
jüngfter fünfundzwanzig Jahre alt ift, ſolche Geſchichten fich erzählend und fich
höchlich an ihnen ergößend, und zwar Mädchen und Yünglinge von den durch—
gebildetften Formen feinfter und geiftvollfter Gejelligkeit! Das eigenfte Weſen
des Decamerone iſt diejfelbe jophiftiiche zügelloje Genußlehre, deren Apoftel in
der beutjchen Sturm- und Drangperiode vor Allem Wilhelm Heine’s Arding- |
hello und dann in der Zeit der romantiihen Schule, bis zur Garricatur ver-
zerrt, Friedrich Schlegel’3 Lucinda war. Das jogenannte junge Deutjchland ſprach
von der Emancipation de3 Fleiſches.
Und gleich) Petrarca wurde Boccaccio einer der eingreifendften Begründer
und Förderer der Humaniftiichen Richtung!
Auch in ihm war dieje Wandlung nur das Ergebniß tieffter Entwidelungs-
240 Deutſche Nundichau.
nothwendigfeit. Wie hätte diefer ungeſtüme weltfrohe Sinn Genüge haben
fönnen an der Enge mittelalterlicher Chriftlichfeit? Namentlich die Art, mit
welcher Boccaccio die ftürmende Leidenſchaft Fiammetta's immer und immer wieder
durch Vorbilder und Gleichniffe der alten Götter- und Heldenjage zu rechtfertigen
und zu verflären jucht, bezeugt, daß für die tiefften Stimmungen jeiner Seele,
für jeinen tiefberehtigten, wenn auch noch ungebändigten Drang nad Entfal-
tung der ganzen und vollen Menjchennatur Boccaccio Antwort und Gegenbild
nur in der freien und bewegten Menfchlichkeit der alten Griechenwelt fand.
Als daher Boccaccio in der zweiten Hälfte jeines Lebens mehr und mehr ſich
den begeiftertften Alterthumsſtudien zumendete, trat er in dieje Welt des Alter-
thums nicht al3 ein Fremder, jondern als ein tiefinnerlih Verwandter. Und
durch diefen tiefen Zug innerjter Wahlverwandtichaft brachte er den immer noch
in ihren exften Anfängen ftehenden Alterthumsſtudien eine Erweiterung und
Ergänzung, |die für das Wejen der modernen Bildung entjheidend geworden.
Voigt in jeiner trefflichen Gejchichte des erften Jahrhunderts des Humanismus
| hat Boccaccio ſehr ungerecht beurtheilt, indem er ihn nur als einen Abfall
von der genialen Höhe Petrarca’3 in philologiiche Stleinmeifterei betrachtet.
Boccacciv’3 großes und unentreißbares Verdienft und jein entjcheidender Fort—
jchritt über Petrarca hinaus ift vielmehr, daß, während Petrarca ſich ganz aus—
ſchließlich nur auf das römiſche Alterthum beſchränkt hatte, Boccaccio feine Mühe
und feine Koften jcheute, bis zu den Griechen vorzudringen. Petrarca hatte
zwar auch) bei einem griechijch vedenden Galabrefen Unterricht genommen
und verjucht, mit diefem Plato und Homer zu lejen; aber als ihm ein ange-
jehener Mann aus Gonftantinopel, Nicolaus Sergius, eine vollftändige Abjchrift
der homeriichen Dichtungen zum Gejchent machte, mußte er doch jich blos mit
dem freudeerregenden Anblic diefer Handichrift begnügen, teil, wie er jelbjt an
Sergius jchreibt, fein Ohr für griechiiche Laute noch taub war. Boccaccio machte
fi die griechiſche Sprache nad Kräften zu eigen und fuchte fie auch Anderen
zugänglicy zu machen. Nicht ohne Stolz erzählt ex in den letzten Büchern feiner
Genealogia Deorum, die überhaupt für die Geihichte des beginnenden Humani3-
mu3 von großer Bedeutung find, wie er um 1360 den griechiſchen Galabrejen
Leontius Pilatus durch feine injtändigen Bitten von Venedig nad) Florenz zog
und ihn, den häßlichen mürriſchen unholden Gejellen, jahrelang in feiner dürf-
tigen Wohnung beherbergte, wie er neue Handſchriften Homer’3 aus Griechen-
land ſich verſchaffte, fie mit ihm las und ihn zu einer lateiniſchen Ueberſetzung
veranlaßte, und wie er nicht ruhte und raftete, ala bis er es bei der Florenti—
niſchen Republik durcchgejegt Hatte, daß für Leontius Pilatus ein öffentlicher
Lehrftuhl für die griehiiche Sprade und für die Erklärung Homer’s errichtet
wurde. Die erjte Frucht diefer griehiichen Studien war Boccaccio’3 Handbuch
der Mythologie, die Genealogia Deorum. Statt vornehm über dieſes Buch zu
jpötteln, jollte man ſich Klar machen, aus welch dürftigen Quellen Boccaccio
Ihöpfte und welch unermeßliche Wirkung es auf lange Reihen ftrebjamfter
Menſchengeſchlechter übte. Noch das berühmte Paftorale Luca Signorelli's, da3
It eine Zierde der Gemäldegalerie in Berlin ift, ftammt unmittelbar aus
occaccio.
Petrarca und Boccaccio ald Begründer ber italienischen Renaiffancebilbung. 241
Nur allzufehr hat die Nachwelt vergeſſen, was fie Petrarca und Boccaccio
ſchuldet.
Mit wunderbarer Raſchheit fanden dieſe Anregungen Verbreitung und
Fortbildung. Beſonders Florenz, deſſen regſame Bevölkerung und freies Ver—
faſſungsleben mit den alten Republiken ſo viel Verwandtes hatte, wurde der
Sitz der neuen Bewegung. Gelehrte Byzantiner kamen nach Florenz, junge
Florentiner wanderten nach Byzanz. Das 15. Jahrhundert vollendete, was das
14. Jahrhundert begonnen. Die großen Medicäer, Coſimo und ſein Enkel
Lorenzo Magnifico, ſetzten ihren Stolz darein, nicht blos Führer des Staat3-
weſens, jondern auch Führer der Bildung zu fein. Männer wie Niccold Nic-
coli, Leonardo Bruni, Ambrogio Traverjari, Poggio, Marfiglio Ficino, Lorenzo
Valla, Polizian wmetteiferten in der MWiederentdedung der alten Schriftiteller
und in deren Erklärung und Verbreitung. Auch die Philojophie der Alten wurde
wieder eine lebendige Zeitfrage; in den jogenannten platoniſchen Academich
ftrebten Lorenzo und deſſen Gelehrtenkreije, die Kirchenlehre möglichft den An—
ichauungen Plato’3 und der Neuplatonifer zu nähern. Mit Recht fonnte Poggio
fagen, Athen jei nicht zerftört, jondern nad) Florenz übergefiedelt. Und von
Florenz aus verbreitete fih die neue Richtung durch ganz Stalien. In den
Republifen, in Siena, in Venedig, in Genua; ebenjo an den Höfen des Königs
von Neapel und der Gewaltherricher der Kleinen Fürſtenthümer; ja durch
Nicolaus V. (Tommaſo Parentucelli) und Pius II. (Aeneas Sylvius Piccolo-
mini) und jodann duch Julius II. und Leo X. bemädhtigte fie fi) ſogar des
päpitlichen Stuhles. He einheitliher fi im Mittelalter unter der Obhut der
Kirche die Bildungszuftände aller Länder geftaltet hatten, um jo jchneller erhob
fi) die gleiche Bewegung in Frankreich, in England und ganz bejonder3 auch
in Deutihland. Sogar in Ungarn und Polen finden wir thätige, höchſt an-
gejehene Humanijten.
Aus dem friichen Duell des Alterthums jchöpfte ſich die Menjchheit neue
Kraft, neue Jugend. Bald ftand da3 geſammte Dafein unter der Herrichaft
der neuen Richtung. Nur die Aufllärungsphilojophen des 18. Jahrhunderts
haben eine annähernd eingreifende Stellung gehabt. Im Vollgefühl des Sieges
konnte 2. B. Alberti, einer der gefeiertften und vielfeitigften Männer jener Zeit
lagen: „Wir Philojophen find die Wiſſenden, durch unjere Schriften haben wir |
den Menjchen Geſetze gegeben, und fie belehrt, das Leben frei und vernunft-
gemäß einzurichten.
Ein neues Zeitalter war gefommen; eine neue Weltanjchauung, eine neue
Gefittung. Ein anderer Himmel, eine andere Erde.
Dies ift der Boden, auf welchem die höchſte italieniiche Kunftblüthe er-
wachſen ijt.
Jene freiere, aus dem Studium der Alten entjpringende Richtung, welche |
wir in der Wiſſenſchaft Humanismus nennen, nennen wir in der Kunſt rinas-
citä, rinascimento, renaissance (de l’antiquit6), Wiedergeburt des Alterthums.
Filippo Brimellesco, auf die jorgjamften Mefjungen und Aufnahmen der
alten römischen Baudenkmale geftüht, wird der epochemachende Schöpfer diefer
neuen antikifirenden Richtung in der Baukunſt; 1420 durch die Erbauung der
242 Deutiche Rundſchau.
Kuppel de3 Domes zu Florenz und durch die Erbauung der Kirchen und PBaläfte,
welche fich diejer erften entjcheidenden That anſchloſſen. Nicht eine todte Nach—
ahmung der antifen Formen, jondern ihre geniale Fortſetzung und Umbildung
nad den Aufgaben und Empfindungen der mächtig fortjchreitenden unmittel-
barften Gegenwart und Wirklichkeit. E3 folgte auf den gleihen Grundlagen
und mit den gleichen Zielen die große Epoche der florentiniichen Bildnerei in
ı Donatello, Ghiberti, Berrochio, Luca della Robbia, die große Epoche der floren-
'tinifhen Malerei in der glänzenden, raftlos fich fteigernden Entwidlung3-
reihe von Mafaccio bis hin zu Domenico Ghirlandajo und Leonardo da Vinci
und Michelangelo. Bald ftellte fi) dem großen florentinifchen Kunftleben das
Kunftleben der anderen italieniichen Städte ebenbürtig zur Seite. Nur in ein—
zelnen, dem ftillen Klofterleben angehörigen Künftlern, wie vor Allem in iefole,
erhält jich ein Nachklang jener ausſchließlichen Chriftlicheit, welche in der
Kunft nichts als gemalte Gebete fieht.
Es wird nicht immer genügend hervorgehoben, wie innig ſich die Humaniſten
und die Künftler der Renaifjance ihres gemeinjamen Urjprungs und ihrer tief
inneren Wejensgleichheit bewußt waren und in wie inniger Wechjelwirkung
fie zu einander ftanden. Wie die Humaniften von Anfang an auch den alten
Kunftdenfmalen, joweit diefe zugänglid” waren, die eifrigfte Aufmerkſamkeit
zugewendet hatten und fie auf’3 emjigite jammelten, jo daß Florenz ſchon
damals ſich ftattliher Sammlungen antiker Bildwerke rühmen konnte, jo verfolgten
fie aud) das Schaffen der aufjtrebenden ‚neuen Kunſt, ein Jeder nad) feiner
Stellung und nad) jeinen Kräften, mit wärmfter und förderndſter Theilnahme.
Seonardo Bruni unterftüßte Ghiberti bei der Wahl der Darftellungsftoffe an den
berühmten Erzthüren des Baptifteriums. Niccolo Niccoli war mit Brunellesco,
mit Donatello, mit Ghiberti, mit Luca della Robbia auf'3 innigfte befreundet.
Coſimo, der große Mtedicäer, begnügte fich 'niht mit der mächtigen Einwir—
fung, die er durch jeine großartigen, in der Kunftgefchichte jeit dem Perikleiſchen
Zeitalter unerhörten Aufträge ausübte, er verkehrte, wie mit den Gelehrten,
jo au mit den Künſtlern unausgejeßt auf dem Fuß traulichfter Gleichheit.
Lorenzo Magnifico war der Erſte, welcher eine auf das forgjamjte Studium
der Antike gerichtete Kunftichule gründete, aus ihr find fo treffliche Künftler
wie Lorenzo Gredi und Michelangelo hervorgegangen. Und von Seiten der
Künftler war das gleiche innige Entgegentommen gegen die Humaniften. %.
B. Alberti mahnt ausdrüdlih die Künftler, den Umgang mit Dichtern und
| mit Männern der Wiſſenſchaft zu fuchen, eingedent der Thatjache, daß Phidias
da3 Motiv feines Zeus aus Homer geihöpft habe. Und das Gleiche fordert
‚ Michelangelo, der als Yüngling auf Polizian's Anregung jein großes Gen-
taurenrelief jchuf, in einem Brief aus dem Jahre 1504, der in höchſt elegantem
Latein gejchrieben ift. Die Künftler fürdhteten damals noch nicht, wie e3 wohl
heut zumeilen die Furcht der Künftler ift, durch ernſtes Bildungsftreben ihre
Naivetät und Urſprünglichkeit zu beeinträchtigen. Leo Baptifta Alberti und
ra Giocondo, die großen Baumeifter, waren jelbft gefeierte Humaniften, die
auch in der Gefchichte der Wiſſenſchaft einen unfterblihen Namen gewannen.
Und wie jpäter Rafael mit Gaftiglione und Bembo und Sabolet, jo waren
Petrarca und Boccaccio ald Begründer ber italienischen Renaiffancebildung. 243
auch jet ſchon die Künftler mit den Gelehrten ihrer Zeit durch engfte Freund—
ihaft verbunden. Mantegna malt Filelfo; das Bild Benozzo Gozzolis im
Campoſanto zu Pija, das den Beſuch der Königin Saba bei Salomo darftellt,
enthält die Bildniffe von Marfilius Ficinus, Argyropulos, Bartolomeo Pla-
tina; die Darftellungen Domenico’3 Ghirlandajo’3 aus dem Leben Johannis
des Täufer in der Kapelle Strozzi in S. Maria Novella in Florenz feiern
|
in gleicher Weile Marfilius Ficinus, Chriftophorus Laudinus, Demetrios |
Chalcondylas und Angelo Boliziano.
Die Kiünftler ftanden auf der Höhe der Zeit; darum wurden fie ihr
monumentaler Ausdrud.
Ja bald trat jogar die wunderbare und in der Gejhichte einzig daftehende
Erſcheinung ein, daß die Wiſſenſchaft und die Dichtung, die doch die Grund:
lage und der Anſtoß diejes gewaltigen neuen Aufſchwungs der bildenden Kunft
geweſen waren, von der bildenden Kunft nicht blos an Formenſchönheit, jondern
auch an Gedankentiefe weit überflügelt wurden. Der tieffte Geift jenes großen |
Zeitalter8 liegt nicht in den gelehrten Giceronianern, deren Denken und Trachten
faft ganz und gar in lateiniihen Stilübungen aufgeht, jelbft nicht in Pulci und
Bojardo und Arioſt, die nur dadurch ſich als ächte Kinder der Renaifjance-
bildung erweijen, daß fie mit den abgeblaßten Gejtalten der mittelalterlichen
Sagenwelt ihr nedend ironijches Spiel treiben, aber nirgends den Verſuch
maden, die tiefen Räthiel und Widerſprüche der bewegten Menſchenbruſt in den
Bereich der Dichtung zu ziehen. Der tieffte Geift jened großen Zeitalters liegt viel- |
mehr in den großen bildenden Künftlern, in Brunellesco und Bramante, in Leo—
nardo, Michelangelo, Rafael, Tizian. Die Wiſſenſchaft und Dichtung verfladhte;
e3 rächte ſich, daß fie in Ichaler Vermittlungsſucht und in blafirter Gleichgültig-
feit und Heuchelei nicht den Muth und den unerſchrockenen Erkenntnißdrang
hatte, den Fragen auf den Grund zu jchauen und den unlösbaren Widerſpruch
zwiichen den Schranken der überfommenen Glaubenslehre und den zwingenden
Forderungen der neuen Weltanſchauung in jener durchichneidenden Weije zur
Entiheidung zu bringen, welche jpäter das unverbrüdjliche Weſen und die trei-
bende Kraft der auf die Segnungen der Reformation gebauten protejtantijchen
Wiſſenſchaft und Dichtung wurde. Die bildende Kunft hatte den Bortheil, daß
fie von diejer hemmenden Zwieſpältigkeit unberührt blieb; aus der Poefie und
Idealität der erhöhten jchönheitserfüllten Wirklichkeit zog fie ſich jene Poefie
und Jdealität tieffter Seelenmalerei und jene ftilvolle Hoheit der künſtleriſchen
Formengebung, welche die Blüthezeit der italienischen Renaiffance ebenbürtig
neben die höchſte Blüthezeit der griechiſchen Kunft jtellt.
Nicht ein Mann der Wiljenichaft, nit ein Dichter hat das innerfte
Lebensgeheimniß und die durchgreifende geichichtliche Bedeutung diejes gewal—
tigen Zeitalter in großartigfter Monumentalität ausgeſprochen, fondern ein
bildender Künftler. In der Stanza della Segnatura des Vaticans, in einem
Prachtgemach des päpftlichen Palaftes jelbit, malte Rafael in der fogenannten
Disputa die Berherrlihung der hriftlichen Religion und Theologie, in der jo= |
genannten Schule von Athen die VBerherrlichung der alten Philofophie, in dem ſo—
genannten Parnaß die Verherrlichung der Poeſie und der muſiſchen Künfte, in der
244 Deutſche Rundichan.
‚ Stiftung der römiſchen und canonijchen Rechtsurkunden die Verherrlichung des
Rechtes und des Staates. Neben der geheiligten Offenbarung fteht völlig eben-
bürtig und gleichberechtigt die Bildung des Alterthums und deren freies Denken
und Forſchen, die Weihe der Poeſie und Kunft, die fittliche und Staatliche Ord—
nung. Nur eine Bildung, die mit der Ausjchließlichkeit des mittelalterlihen
Kirchenthums gebrochen hatte, fonnte Religion und Philojophie und Kunſt und
| Recht al3 die vier umerläßlichen und unverbrüchlichen Grundpfeiler des menjch-
lien Daſeins verherrliden; nur eine Bildung, die mit der Ausſchließlichkeit
des mittelalterlichen Kirchenthums gebrochen hatte, konnte den Muth haben,
Plato und Ariftoteles, Homer und Vergil, Apoll und die Mufen auf gleichen
Boden mit den Apofteln und Kirchenvätern zu ftellen.
Ueber die Urt des Reiſens in Afrika.
——ñ De
Don
Dr. Georg Schweinfurth.
— —
Wir leben in einer Zeit, welche den Kampf gegen die Schranken des
Raumes begonnen; der Planet, den wir bewohnen, erſcheint uns nur noch als
das enge „Erdenhaus“, in welchem wir länger keine unbetretenen Stellen dulden
wollen. Dieſen Ausdruck gebrauchte, ſehr bezeichnend für den Geiſt der Zeit,
der Begründer der Deutſchen Afrikaniſchen Geſellſchaft, als er mit einem
öffentlichen Aufrufe zur Vollbringung des großen Werks aufforderte, in welchem
wir eine der unſerem Volke im Wettkampfe mit den übrigen Nationen Europa's
zugefallenen Aufgaben erblicken, die Erforſchung Afrika's.
Im alten Griechenland würde man, — und an Beiſpielen, welche dieſe
Vermuthung zu beftätigen ſcheinen, hat es nicht gefehlt —, derartige Worte
mwahricheinli als einen ftrafbaren Inſult gegen die Majeftät der Gaea be-
trachtet haben. Als der Horizont der geographiſchen Erkenntniß noch im engen
Rahmen einer vom Okeanos umflojjenen Inſel lag, da genügten aber auch
allein die bewegenden Kräfte de3 Waſſers und der Luft, um alle Bedürf-
niſſe de3 Menjchen zu befriedigen, wo feine eigene Kraft nicht ausreichte.
Tauſende von Jahren bereit3 hatte er mit neptunifchen und mit äolifchen
Mitteln gearbeitet, al3 er von der relativen Anficht, die fein erleuchteter Geift
ihm gegeben, da3 pofitive Bild durch eigene Anſchauung in ſich zu verwirklichen
jtrebte, al3 Columbus kam; fie erwiejen ſich als immer unzureichendere, ala
dreihundert Jahre jpäter ein zweiter Columbus kam, der die jogenannte neue
Melt von neuem entdedte. Seht erſt, da auch das Teuer in den Kreis der
bewegenden Glemente getreten, verjüngen fi) vor unferen Blicken die combi-
nirten Schranken der Zeit und de3 Naumes, und Hinderniffe, die früher un—
überwindlich Tchienen, jehen wir immer mehr jich zu bloßen Fragen des Kraft»
und Zeitaufwandes, der Arbeit und des Geldes gejtalten. Durch die voll-
tommenjte Erfindung, der nad) menſchlichem Bedürfniß vollendetjten, durch den
electriihen Telegraphen, jehen wir die entfernteften Räume des Erdballs, —
um den Vergleich mit dem Haufe weiterzuführen, — zur Enge eines
Zimmers zufammenfchrumpfen, in welchem man ji) aus einer Ede in die
246 Deutſche Rundichau.
andere beliebige Worte der Begrüßung zuzurufen vermag. Ein einigendes
Band umſchlingt die Geſammtfläche des Globus und mit gewaltigem Puls—
ſchlag markiren alle Bölferftrömungen ihren jedesmaligen Stand im europäiſchen
Herzen. Nach immer kürzer werdendem Zeitmaße durchmefjen unjere Dampfer
die immenjen Flächen des Weltmeers; die Erdoberfläche bedeckt ſich mit Schienen=
wegen; nur noch in wenigen Ländern Europa’3 find Streden dargeboten, wo man
Tagereifen zu Fuß zurüdgulegen vermöchte, ohne in die Majchen des großen
Eijenbahnnetes zu gerathen, —
„und auf entlegnen Wegen
tönt, wie ein altes Märchenwort,
dad Poſthorn uns entgegen.“
In der That kann die Zeit nicht mehr fern jein, in welcher Leute, die auf
der Achſe noch größere Streden in Europa zurücdgelegt haben, unter uns zu
den größten Seltenheiten zählen werden. Als der Neftor der deutjchen Afrika-
reijenden, Gottfried Ehrenberg, vor mehr ala einem halben Jahrhundert fih in
Trieft zu der epohemadenden Reiſe einjchiffte, welche ihn an der Seite de3
unglüdlihen Hemprich Tängftgefannte Länder des Alterthums von neuem ent-
deden ließ, da hatte er, um dieſen Platz zu erreichen, von welchem heute noch
lange nicht der Beginn einer größeren Unternehmung datirt, allein 15 Tage
per Achſe zurüczulegen gehabt, und erſt 4 Wochen jpäter betrat er die Geftade
Aegyptens. Heute fährt man 30 Stunden auf Schienenwegen nad) Trieft,
wenn man aber noch 20 zugiebt, jo kann man an das äußerſte Ende Italiens
gelangen, und ift drei Tage jpäter an den gaftlichen Ufern des Nils,
Als man dor 300 Jahren das Inſtitut der Reichspoft ſchuf, galt das mit
Recht als ein Fortſchritt, der eine neue Epoche bezeichnete, Afrika hat fih an
demjelben nie betheiligt, und dasjenige Land, welches die ältefte und zugleich
die neueſte Cultur in diefem Welttheile in ſich jchließt, Aegypten ift mit einem
Sprunge aus dem Altertfum in die Neuzeit übergegangen*). Dahinter liegt
da3 echte unveränderte Afrika, dort ift Alles beim Alten geblieben; aber es
fommt immer etwas Neue3 aus Afrika, es bleibt ung eiwig neu. Kann doch
der Gegenſatz zu unſerer Zeit nirgends in grellerem Lichte in die Augen
Ipringen, als in Gegenden, wo wir, um ein heimijches Beijpiel der Reifemanier
geben zu können, bi3 in die Zeiten zurücdzugreifen haben, in welchen das
Nibelungenlied jpielt, und wo die Gejdhichte von Gunther Zuge zum Könige
Etzel uns die DVerhältniffe jchildert, unter welden man nocd inmitten von
Deutihland Waldwildnijfe und menjchenleere Einöden auf twochenlangem Ritte
zu durchwandern hatte,
Der mir zugemefjene Raum würde nicht ausreichen, nad) jeder Richtung
hin die Art des Reifens in Afrika eingehend vor die Augen zu führen. Afrika
ift groß, und wenn auch in ungeheuren Räumen von größter Gleichartigkfeit
feiner phyſikaliſchen Belchaffenheit, jo rufen doch auch hier die Combinationen
der Localverhältniffe eine bedeutende Mannichfaltigfeit in der Art und Weiſe
*) Aegypten befit gegenwärtig 1780 Kilometer befahrener Schienenwege und, im Verhältniß
zur Ginwohnerzahl, mehr Eifenbahnen ala Jtalien oder Oeſterreich-Ungarn. ;
Ueber die Art des Reiſens in Afrita. 247
bervor, in welcher der Reifende mit ihnen zu rechnen hat. Bor Allem will ich
mich daher auf die Art der Ortsbewegung, der Fortſchaffung des Reijenden
vom Plate beichränfen, wobei ich immer ein zu feinem Interhalte ſowie für
feine wiſſenſchaftlichen Reiſezwecke unerläßliches Gepäd von vielen Gentnern
vorausſetze.
Im Großen und Ganzen kann man Afrika nach der Bodenbeſchaffenheit
und den meteorologiſchen Verhältniſſen in vier von einander ſehr verſchiedene land—
ſchaftliche Gruppen eintheilen, die nicht überall einen zuſammenhängenden Anſchluß
ihrer Theile zu erkennen geben, ſondern auf weite Strecken von einander ge—
trennt, in ſehr entlegenen Gebieten des Continents ſich wiederholen können.
Es ſind: erſtlich die Region der Wüſten und Steppen, dann die der Bergländer,
ferner die von minder ausgedehnten Grasflächen unterbrochene Waldregion,
welche dem größten Theil des tropiichen Afrika's, 15 Breitengrade ſüdlich und
faft ebenjoviele nördlih vom Aequator, einen jo gleichartigen Charakter ertheilt,
daß wir von den Ufern des Senegal bi3 zum Zambefi, vom Congo bi3 an den
Gazellenftrom die große Mehrzahl aller Thiere und Pflanzen in völlig iden-
tiſchen Arten antreffen. Dazwiſchen firömen die Flüſſe, welche das beſte
Gulturland angeſchwemmt und an ihren Ufern eine größere Bevölferungsdichtig-
feit hervorgerufen haben.
Diefen vier landihaftlihen Gruppen entiprechend kann man auch die Art,
wie man in den verjchiedenen Gegenden Afrika's reift, die Art ihrer Be—
förderungsmittel unter vier Kategorien zujammenftellen. In den Wüften und
Steppen reift man mit Kameelen, im Berglande mit Pferden, Ejeln und Maul:
tieren, im Waldgebiete mit Trägern zu Fuß und auf den Flüſſen, welche ſich nur
zum geringften Theil der Dampfiifffahrt erjchloffen, mit Segelbarten. Ein
fünftes Beförderungsmittel, das indeß auf das jüdliche Afrika beſchränkt und
mir aus eigener Anſchauung nicht bekannt ift, das Reifen in großen Wagen
mit Ochſengeſpann, kam dieſſeits de3 Aequator in Afrifa noch nirgends zur An—
wendung. In den von mir bereiften Gebieten waren e3 weniger die localen
Berhältniffe der Natur al3 vielmehr die Jndolenz der Bewohner und der Mangel
an europäifcher Jnitiative, welche diejes vorzügliche Beförderungsmittel bisher
noch nicht zum Verſuche gelangen ließen.
Ich beginne das Reifen mit den Ylüffen, denn die Flüſſe, durch welche
die höchſten Punkte im Inneren eines Continents mit den niedrigften an feiner
Küfte in direkte Verbindung treten, find nicht nur die ewigen unveräußerlicyen
Fahrſtraßen des an feiner Weiterbildung unabläjfig fortarbeitenden Erdballs,
als joldhe dienen fie auch dem Menjchen, welcher fich überall die im großen
Haushalte der Natur erworbenen Erfahrungen, gleihjam wie unbewußt, zu
Nuten maht und feine erſte Culturftufe damit zu bezeichnen pflegt, daß er
demjelben die Modelle feiner Kunft entlehnt.
Zur Zeit ihrer Kindheit waren Schifffahrt und Handel auf die Küften be=
ſchränkt, wo fie die Austrittäftellen der natürlichen Arterien des Binnenhandels
auffuchten. An den Mündungen der großen Flüſſe entftanden die Emporien des
Welthandels. In keinem Welttheile indeß ift die den Flüffen zugefallene Rolle
eine geringere geblieben als in Afrifa. Entweder waren die Zugänge zu ihnen
Deutſche Rundſchau. 1,5. 17
248 Deutiche Rundſchau.
in einem Labyrinthe von Mündungsarmen fo verftecte, daß fie von den Seefahrern
Jahrhunderte lang überjehen werden konnten, oder die vorgeſchobenen Sandbarren
geftatteten den Eintritt nur Fahrzeugen der Heinften Art, welche den Anforbe-
rungen der weiten Curſe auf hoher See nicht gewachſen erfchienen. Wo fich
aber bequeme Zugänge eröffneten, da verichloffen gar bald unüberwindliche
Stromſchnellen jede weitere Schifffahrt.
Der Nil ift der einzige afrikaniſche Fluß, welcher bereit3 im Alterthum
als MWaflerftraße für den Welthandel eine gewiſſe Bedeutung errang, fie reichte
indeß nur bis an da3 Ende der großen Kornlammer von Aegypten bei den
erſten Gataracten von Syene, in der Nähe des Wendekreiſes. Dort befanden
fih die Thore der damals befannten Welt; was darüber hinauslag, davon
wußte man nur von Hörenfagen zu berichten. Obgleih nun viele Gataracte
den Lauf des Nilftrom3 auf weite Streden unterbrechen, jo ericheinen fie doch
nicht als abjolut unüberwindbar. Stromabwärts, bei hohem Waflerftande,
fahren alljährlich zahlreiche Barken von Chartum bis Cairo hinunter, beladen
mit den mannichfaltigften Produkten des Sudan. Mit dem nöthigen Aufwande
von Menjchenkräften können jogar Dampfer durch alle Gataracte ftromaufwärts
gezogen werben. Der Verſuch ift bereits öfters geglückt und ſchon Haben ihrer vier-
zehn, darunter Dampfer von über 100 Pferdefräften, alle dieſe Hinderniffe ohne
Unfall überwunden, jo daß diejelben den Hauptftrom faft in feiner ganzen
Länge, von der Mündung bis über den 5. Grad nördlicher Breite hinaus, d. h.
von Alerandria bi3 Chartum und Gondoforro, einer Strede von über 450 deutjchen
Meilen Stromentwidelung, unaufhaltfam zu. befahren vermochten. Auf den
Zwifchenftreden, innerhalb der durch die Cataracte geſchaffenen Unterbrechungen,
herrſcht ein immerhin beträchtlider Barkenverkehr, und oberhalb der Stadt
Berber, in einer Ausdehnung von nahezu 200 deutjchen Meilen, ftellen ſich der
Schifffahrt zu Feiner Jahreszeit andere Hinderniffe in den Weg, als die durch
die außerordentliche Ueppigkeit der Vegetation in den oberen Gewäſſern ge=
ichaffenen. Die jogenannten ſechſten Gataracte bei Schendi find nämlich der
Schifffahrt nicht hinderlich. Zwiſchen Berber und Chartum fommen und gehen
die Barken da3 ganze Jahr hindurch. Mit geringer Mühe find auch die erften
Gataracte bei Aſſuan, dem alten Syene, zu überwinden, erft mit den zweiten
Gataracten, denen von Uadi-Halfa beginnt die große Unterbrechung im Verkehr
ſtromaufwärts jegelnder Barken; diejelbe umfaßt bis zu den fünften Gataracten
eine Strede von ungefähr 115 deutjchen Meilen der Stromlänge, aber auch
innerhalb dieſer Grenzen eröffnet ſich ſtreckenweiſe der Schifffahrt immer noch
ein gewiller Spielraum für die Bedürfnifje des Localverkehrs.
Die erften Gataracte bezeichnen, wie vor 2000 Jahren, auch heute noch die
Thore ber civilifirten Welt, bis dahin iſt eine regelmäßige Dampfidifffahrt
eingerichtet, und fie bilden das gewöhnliche Ziel der alljährlich Aegypten be-
fuhenden Touriſten. Diefer Theil der Flußichifffahrt bedarf daher feiner
näheren Beichreibung; man findet dajelbft mit allem Comfort ausgeftattete
Dampfer, welche einen Vergleich; mit denen des Rheins in feiner Hinſicht zu
Iheuen haben, während die dur ein Zuſammenwirken der Segel und Ruder
Ueber die Art des Reiſens in Afrika. 249
äußerft beiveglihen Dahabien, was Bequemlichkeit der Einrichtung anbelangt,
ihres Gleichen fuchen unter allen Flußfahrzeugen der Welt.
Mit Chartum, diefem großen Sammelplage des ganzen Verkehrs im öft-
lihen Sudan, nimmt nicht nur der Hauptftrom einen durchaus veränderten
Charakter an, — er wird breiter und waſſervoller, — fondern auch die Schiff-
fahrt tritt ung auf demjelben in völlig neuem Gewande entgegen. Die Schwierig:
feit des Transportes durch die Wüften, oder über die Gataracte des mittleren
Stromlaufs jchließt unjer leichtes und gerades Tannenholz vom dortigen Schiffs-
bau aus, die vorhandenen Barken find daher plump und jchwerfällig aus
eilenhartem Acacienholz in ſeltſamer Weiſe zufammengezimmert. Der Reijende
findet auf denjelben feine jener Bequemlichkeiten wieder, mit welchen ihn die Da—
habien Aegyptens verwöhnten. Nur nothdürftig ift auf ihnen der dargebotene
Schuß gegen Wind und Wetter, während die ftet3 erforderliche Mitnahme einer
zahlreichen Bededung den vorhandenen Raum auf’3 Aeußerſte beichräntt. Se
nachdem die localen Hinderniffe der Wafjervegetation das Fortkommen beein -
fluffen, rechnet man von Chartum bis an’3 Ende der Schifffahrt, ſei es auf dem
ſüdlichen oder auf dem öftlichen der beiden Hauptarme de3 Weißen Nils, dem
Bachr-el⸗Gebel und dem Bachr-el-Ghaſal, im günftigften Falle immerhin zwischen
ein und zwei Monate unausgejegter Segelfahrt, bei gutem Nordiwinde. Durch
die unter dem 9. Grade nördlicher Breite angehäuften Maffen ſchwimmender
Grasinjeln des „Sſett“, oder der großen Grasbarre, kann ſich die Fahrt indeß
unter IUmftänden bis um da3 Doppelte und Dreifache des angeführten Zeitmaaßes
verlängern. Durch die im Jahre 1870 vollendete Unterwerfung des großen
Negerftammes der Schilluf unter die Botmäßigkeit der ägyptiichen Regierung
find in leßterer Zeit wenigftens die von Seiten der Uferbewohner dem Reiſen—
den drohenden Gefahren bejeitigt worden; gegenwärtig find e8 nur noch die
Launen des Windgottes, der Waflerftand umd die Grasbarre, welche die hin—
bernden Factoren abgeben, mit denen er zu rechnen hat.
Ueber mehr ala den dritten Theil des afrikaniſchen Kontinents erftreden
fich jene einförmigen, vegetationsarmen und mehr oder minder regenlojen Striche,
welche man MWüfte nennt; theils find es Wüſten im engeren Sinne, — jene
abichredende Dede, die uns die Vorftellung von der Unendlichkeit naherüdt —,
theils find e3 mehr oder minder mit Gras- und Krautwuchs bededte Ebenen,
Gebirge und Thäler, wo die Seltenheit des Regens und die Zerftreutheit der
Trinkwafjerpläße allen Erſcheinungen des Thier- und Pflanzenlebens einen jo
charakteriſtiſch gemeinſchaftlichen Stempel aufprägen.
Die Wüfte mit ihren ungeheuren Entfernungen, mit dem bejtändig drohen
den Mangel an Speije und Trank, würde jeder freien Bewegung des Menjchen
ebenjo Hinderlich entgegentreten, twie auf dem Dcean die immenjen Flächen von
ſalzigem Wafjer, wäre ihm nicht die Dienftbarmahung eines Thieres geglüct,
welches von der Natur mit allen Mitteln zur Bekämpfung diejer Hindernijje
ausgerüftet erjcheint und da3 man daher da3 Schiff der Wüſte nennt.
Dean hat die Domefticirung de3 Hundes als den größten Triumph be=
zeichnet, welchen der Menſch im Kampfe mit der Thierwelt gefeiert; aber fein
geringerer Triumph war es, al3 das PO allem Bernünftigen jo abholde
17*
250 Deutiche Rundichau.
Kameel dazu vermocht wurde, dem Ruf des Führers (einem feinen eigenen
Lauten nadjgebildeten Gurgelton) gehorchend, vor ihm auf die Kniee zu ſinken
und wehrlos feinen ftarfen Rüden der Bürde preiszugeben.
Wie und wo, und wann es dem Menſchen gelang dieſes Thier zu zähmen,
wird vorausfichtlich für immer eins der größten Räthſel in der Geſchichte
menſchlicher Cultur bleiben, und es muß geradezu unbegreiflich erjcheinen, daß
jenes Hausthier, welches dem Menjchen das am allerunentbehrlichften gewordene,
an welches die Eriftenz deffelben ſozuſagen gebunden ericheint, zugleih auch
dasjenige ift, welches ihm von jeher am meiften entfremdet geblieben.
„Noch nie”, bemerkt Brehm, der muftergültige Darfteller des Leben3 der
Thiere, ſehr richtig, „noch nie hat ein Araber e3 verfucht, die geiftigen Eigen-
Ichaften eine3 Kameel3 zu rühmen *), obgleich Hunderte feines Volkes ohne diejes
Thier nicht leben können." Seinen ganzen Ruhm verdankt e8 aber allein der
förperlihen Befähigung, im übrigen ift es das unliebenswürdigfte, dümmſte,
ftörrifchfte und ungemüthlichfte Geſchöpf, welches man fich denfen kann. Doll
Gehäffigkeit oder Gleichgültigkeit gegen feinen Wohlthäter folgt e8 ihm nie im
Guten, nur dur Gewalt wird es zu feiner Pflicht und meift auch nur durch
Gewalt zu allem Dem angehalten, was ihm jelbft frommt und nütlich tft.
Ich verteilte abfichtlich bei diefen abftoenden Eigenichaften des Wüſtenſchiffs,
denn jie find geeignet unſere Betrachtung auf einen Geſichtspunkt zu lenken, welchen
ic) bei Beſprechung de3 Nubens, den da3 Kameel den Afrifareijenden darbietet,
in den Vordergrund ftellen möchte. Der Umgang mit diefem Thiere, defjen
jeltfames Naturell den Reijenden gleihfam dazu zwingt, jeine Geiftesverfaffung
in Einklang zu jeßen mit der jtarren Natur der Umgebung (— wie er denn
aud) den Charakter der menjhlichen Wiftenbewohner dem jeinigen jo ähnlich
gemacht —), diefer Umgang bildet die pafjendfte Vorftudie au den größeren Auf-
gaben, welche er fich geftellt Hat. Keine Art des Neifens übt ihn beffer in
Ausdauer und Standhaftigkeit, gewöhnt ihn mehr an Sonnenbrand und Hibe,
führt ihn leichter ein in die hohe Schule der Geduld — ; Geduld aber ift das
erfte Erforderniß bei jedem Unternehmen zur Erforichung des unbekannten Afrita.
Der Europäer in Indien, jagt ein alter Spruch, lernt nody Geduld, oder
er verliert fie, wenn ex fie bereits bejellen.
Die Körpergeftalt des Kameels deutet auf das Entjchiedenfte darauf hin,
daß dieſes Thier für die Ebene geichaffen ſei. Zwar liegen die Hauptreviere
der Kameelzucht überall in von hohen Bergen umſchloſſenen Thälern; da ſich
aber die Bergwände innerhalb der Wüften- und Steppenregion nur in der
Nähe des Meeres mit Pflanzentwuchs befleiden, im Binnenlande dagegen aus—
nahmslos nadt und öde bleiben, jo ift das Kameel bei feinem Weidegange von
Haufe aus auf die graserfüllte mit Acacien beftandene Thaljohle angewiejen.
Immerhin ift das Thier im Stande, fteile Höhen zu erflimmen, wobei es indeß
eine gewwilje Unbeholfenheit an den Tag legt, namentlich an Stellen, wo der Boden
*) Einer jchmeichelhaften Erwähnung erfreut fich der Name des Kameels in der bilderreichiten
Sprache des Oſtens nur bei Leichenbegängniffen, wenn die Wittwe hinter der Bahre des Ge-
mahls die jtereotypen Worte ausruft: „ja gemmeli“, Du mein Kameel, das mich getragen u. |. w.
Neber die Art des Reiſens in Afrika. 951
mit loderem Gerölle bedeckt jeinen Füßen feinen ſicheren Stüßpunft zu ertheilen
vermag. Beſonders beſchwerlich wird dem Kameel das Bergabjteigen, da es in
feiner Statur jo überbaut erſcheint. Mit gejpreizten Vorderbeinen jieht man
alsdann die hohen Geftalten häufig auf ihren breiten Sohlen ins Rutſchen gerathen,
ein Ausfunitsmittel, welche da3 Kameel bejonders bei der Pafjage von Bächen
mit tiefeingejchnittenem Bette und jchlüpfrigen Uferwänden zu befolgen pflegt.
Es verjuht in ſolchem Falle geradezu auf jeinen breiten Sohlen Schlitten zu
fahren, ein Experiment, welches für das Gepäd des Reijenden jehr verhängniß-
voll werden kann. Die Kraft, welche das Kameel in feinen dünnen aber zähen
Ertremitäten entwidelt und die Sicherheit feiner weichen, plaftiich fich jeder
Unebenheit anſchmiegenden Sohlenballen ift indeß eine jo bedeutende, daß es
auf furze Streden auch jehr fteile und unmwegjame Gebirgspfade im belajteten
Zuftande zu begehen vermag. Als Beijpiel dafür diene meine wiederholte Ueber—
Ichreitung der über 3000 Fuß hohen Bergpäfle im Welten von Suakin, mit
Ichwerbeladenen Kameelen und auf Wegen, welche jelbft den Pferden und Ejeln
außerordentliche Beſchwerden zu verurſachen jchienen. Ohne den geringften Un—
fall und ohne ſonderlichen Zeitaufwand werden diefe fteilen und rauhen Gebirgs-
pfade von allen Karavanen überwunden. Ich glaube daher zu der Annahme
berechtigt zu jein, daß der Grund, weswegen das Kameel in eigentlichen Ge—
birgsländern feine Verwendung findet und feine eigene Gebirgsrafje dejielben
gezüchtet werben konnte, wie von andern domefticirten Vierfüßlern, nur in dem
Umftande zu juchen jei, daß e8 in einem feuchten Klima gegen große Tem-
peraturſchwankungen äußerft empfindlich ift. Dies ift der Fall im abyifinischen
Hochlande; im Zieflande find dieje Schwankungen jehr unbedeutend, während
die nördlichen Wüſten, welche allerdings die größten Ertreme in der Luftwärme
zu erkennen geben, dennoch zu jeder Jahreszeit durch den geringften Feuchtig—
teitägehalt der Luft ausgezeichnet erſcheinen. In den Steppenländern des Sudan
‚werden Rafjen gezüchtet, welche fi an die mehrmonatliche Näfje der Regenzeit
jehr wohl gewöhnt haben, auf der andern Seite jehen wir die Kameele in
Nordafrika jeden Temperaturwechſel ohne Schaden ertragen.
Die Berbreitung des Kameels*), fällt faſt genau mit derjenigen der
arabiihen Sprache zufammen; das einzig arabiſch redende Hirtenvolf in Afrika,
welches feine Kameele beſitzt, find die im Süden von Kordofan und Dar-Fur weite
Steppenjtriche innehabenden Baggara ; aber diefe Gegenden liegen bereits jenjeit3
de3 als faft genaue Südgrenze für die Verbreitung des Kameels in Afrika zu
bezeichnenden 12. Grades nördlicher Breite. Mit Ausnahme von Abyifinien
kann man in Afrifa alle Länder bis zum 12. Grade zu Kameel bereifen, und
am Indiſchen Ocean, die Somali-Küſte entlang, erjtreckt fich diefes Beförderung»
mittel bis über den Nequator hinaus. Im ganzen Hoclande von Abyffinien
und den Galla-Gebieten gehört das Kameel zu den unbefannteften Thieren.
Lebhaft gedenfe ic) nocd des von maßloſem Schred und Staunen zeugenden
Geſchreis einer Sklavenſchaar, die mir in Gallabat, auf der unterften Terrafje
”, Es ift immer nur vom einhöderigen die Rede, welchem allein dieſer Name geziemt
(arabiſch: Gemmel).
252 Deutiche Rundichau.
des Hochlandes, eines Tages begegnete, al3 diefelbe ſich plöglich auf engem Wald-
pfade den häßlichen und jo gejpenftiih einher jchreitenden Thieren meiner
Karavane gegenüber befand.
Es iſt Schon fo Vieles und jo Ausführliches über das Reifen mit Kameelen
zur allgemeinen Kenntniß gelangt, daß wir nicht zu lange bei diejer Reife-
art verweilen dürfen; ich will daher nur auf einige der wichtigften Wortheile und
Nachtheile aufmerkſam machen, welche diejelbe darbietet.
Unter den dargebotenen Vortheilen nimmt die große Tragkraft des Kameels
den oberjten Rang ein. Für weite Reifen gilt als Marimum eine Belaftung von
300 Pfunden. Im Nilthale, deſſen Kameele jich zu denen der Wüſtenſtraßen ungefähr
fo verhalten wie englifche Brauerpferde zu engliſchen Rennern, fteigert fich das Maß
der Belaftung bis auf mehr denn 1000 Pfund; indeß gilt dies nur für kurze
Streden und für Laften von am wenigften compendiöfer Geftalt (3. B. Baufteine).
An jedem Falle kann fich daher auch der Reifende ziemlich umfangreicher Ge—
päckſtücke*) und der großen Bequemlichkeit bedienen, welche ihm feſte Holzkiften, die
indeß nicht länger ala drei Fuß fein dürfen, darbieten. Die geringe Sorge
um die Ernährung und Tränkung der Thiere ift jprihwörtlich befannt. Ein
wohlgenährtes Kameel kann in jeiner Nahrung für eine ganze Reihe von Mo—
naten auf das äußerfte Maaß beſchränkt und jomit auch in den pflanzenleerjten
Gegenden dur Mitnahme von Fräftigem Futter (Korn und Bohnen) vor dem
Verhungern bewahrt werden.
Sehr übertrieben pflegen in der Regel die Borftellungen zu fein, welche
man fi) von jeiner Widerftandsfähigkeit gegen den Durft zu machen beliebt
Wie jedes andere Geihöpf feinen Bedarf an Trinkwaſſer nad) den Graden der
Lufttemperatur richtet, jo au das Kameel. In den fühlen Wintermonaten
der nördlichen Wüſten vermag e3 allerdings einen fiebentägigen Waſſermangel
ohne Anftand zu ertragen. Während der libyſchen Expedition von Gerhard
Rohlf3 wurden feine Kameele, es war auf dem Marſche nad) der Daje Siuah,
im Laufe von 15 Tagen ununterbrochenen Marjches, nur ein einziges Mal,
und auch da nur in halben Kationen abgetränft**. In den Wüſten Nubiens
gelten zur heißen Jahreszeit vier Marjchtage ohne Wafler als die größte Lei—
ftung de3 Kameeld. Zu Statten fommt dabei der Umftand, daß die Kameele
auch jehr bradiges Waſſer, etwa vom Salzgehalte der Dftjee, das fein Europäer
über die Lippen zu bringen vermag, ohne Widertwillen zu fi) nehmen. Einen
mweitern Vortheil eröffnet dem Reifenden die gleichmäßige Gangart des Kameels.
Die Thiere, einmal beladen und in Gang gebracht, jchreiten majchinenmäßig,
ohne die geringfte Stodung im Zuge zu bewirken, des Weges einher, meijt un-
unterbrochen bis der Tagemarjd vollendet ift, der in der Negel 5 deutfche
Meilen oder 9—10 Stunden Weges beträgt (4 Kilometer die Stunde). Unbelaftete
Reittameele können bis zu 10 deutichen Meilen in einem Tage zurüdlegen, und
*) Man hat jchon ganze Segelftangen, zerlegte Dampfmaſchinen u. dal. auf dem Rüden
ber Kameele durch die Wüfte transportirt.
**) Ginen Bericht über dieje Erpedition, von bem führer berfelben, Herren Dr. Gerhard
Rohlis, wird eines der nächften Hefte ber „Deutichen Rundichau* bringen.
Die Redbaction der „D. R.“
Ueber die Art des Reiſens in Afrika. 253
ohne Schaden dieje Anjtrengung für mehrere Tage fortjegen. Im Fall der
Noth kann man auch das Laſtkameel zu den äußerften Anftrengungen beivegen.
Ich bin wiederholt 13 bis 14 Stunden ununterbrohen auf dem Laftfameel
geritten und erreichte das Marimum eines Tagemarjches auf der Strede von
Kofjer nad) Kenneh bei 18 Stunden, e8 war im Auguft des Jahres 1864.
Die Nachtheile, welche das Reifen zu Kameel für den an den Beſitz von
taujenderlei einzelnen Gegenjtänden gebundenen Europäer zur Folge hat, gipfeln
zunächſt in der großen Mühe, welche das tägliche Auf- und Abladen der Thiere
mit fi bringt. Alle Kiften, Ballen und Säde müffen von Striden vielfad)
umſchnürt und in zwei Theillaften halbirt auf dem Nüden der Laftthiere in
frei ſchwankender Ballance erhalten werden. Zehn Pfund Stride find allein
für jede Laft erforderlih. Das unaufhörlihe Auf und Zubinden der während
der Reiſe gebrauchten Gepäckſtücke bereitet dem Reijenden eine harte Geduld3-
probe; eine nicht geringere erwächſt demjelben aus der Unbequemlichkeit des
Ritt. Man muß auf dem Sameele eſſen und trinken, während der Körper
mit viermaliger Anidung den Schrittbewegungen des Thieres bejtändig zu
folgen hat. Auch die Scheuigfeit der meisten Kameele verurjacht vielfachen
Aerger und DVerdruß, namentlich wenn der Reiſende Hunde oder in Käfigen
Lebende Thiere mit fich führen will; an den Anbli der Pferde hat er die
Kameele immer wieder von neuem zu gewöhnen. Nicht jelten kann ein am Wege
liegender fremder Körper die ganze Karavane in die größte Vertvirrung jeßen,
wenn die jcheu gewordenen Thiere mit ihren balancirenden Laften ji in Trab
jegen und nad) allen Richtungen durcheinander laufen. Eine ſchlimme Erfah:
rung der Art ward mir in einem ziemlich dichten Gehölze am Rahad, einem
Nebenfluffe des Blauen Nil, zu Theil, al3 meine Karavane ſich gezwungen jah,
den Marjch im nächtlihen Dunkel fortzufegen. Die Enge des Weges Hatte,
wie das in Sudan meift der Fall ift, meine Laftthiere zum Innehalten einer
langen Reihe genöthigt. Eins hinter dem anderen jchritten die Kameele im
finftern Walde einher. Ein gebleichtes Kameelgerippe am Wege, welches aus
dem Dunkel der Nacht grell hervorſtach, machte das vorderfte der Thiere ftußen,
e3 ſchlug ſich jeitwärts in die Büjche, und im Moment folgten feinem Beiſpiele die
übrigen. Da gab es ein Krachen von aneinander ftoßenden Laften, an den
Baumftämmen prallten fie ab, fielen zu Boden, oder wurden weit in den Wald
an den hängengebliebenen Striden nachgejchleift; das Röcheln und Gejchnaube
der geängfteten Thiere, das Geſchrei der Kameeltreiber, da3 Poltern und
Klappern der berftenden Kaften währte eine halbe Stunde und wir verbrachten
den Reft der Naht im mühevollen Auflefen der Stüde und dem Wiedereinfangen
der zerftreuten Kameele.
Sehr an ein beftimmtes Klima und Futter gebunden, verträgt das Kameel
feinen Wechſel unter ungewohnten Bedingungen. Aus diefem Grunde kann
man die Thiere auch nur für einzelne Theile der Reife gebrauchen, man erhält
fie nie über die Grenzen einer Provinz hinaus auf jehr weite Streden zur
Miethe. Der Ankauf von Kameelen ift meift ein jchlechtes Geſchäft, da die
individuellen Gebrechen bei diefem Thiere weit verftecktere zu fein pflegen als bei
Pferden. Im Verhältniß zu ihren Leiftungen und der Dauerhaftigkeit ihrer Geſund—
254 Deutſche Rundſchau.
heit ſtellen ſich die Preiſe meiſt weit höher als bei europäiſchen Pferden. In den
ſüdlichen Wolgagegenden werden Pferde als Packthiere verwandt, welche man
bis zu 500 Pfund belaſten kann und trotzdem den gewöhnlichen Preis eines
vorzüglichen Laſtkameels (80 bis 100 pr. Thaler) nicht erreichen.
In einem großen Theile der mit Kameelen zu bereiſenden Länder ſind die
Thiere während der Regenzeit abſolut unbrauchbar. Am unbeholfenſten jedenfalls
fühlt ji) das Kameel im naſſen Element, es iſt unter allen Vierfüßlern wahr-
Icheinlich der ungeſchickteſte Schwimmer. Ohne Nahhülfe und Unterftügung des
Denichen kann fein Kameel von einem Ufer des Nils auf das andere gebradt
werden. Auf ichlüpfrigem oder jumpfigem Boden verfagt e3 den Dienft. In
allen von den Sommerregen der Tropen beneßten Steppengebieten de3 Sudan
ſtockt auch deshalb der Handeläverfehr während diejer Zeit volllommen, nur der
Eſel bietet aladann einen gewifjen Erſatz. Rinder werden im ägyptiichen Sudan
nur jelten zum Lafttragen verwandt, obgleich dieſe Thiere auf dem erweichten
Sumpf: und Lettenboden ſich vorzüglich dazu eignen. Nur in der Landſchaft
Gedaref am Atbara dienen Rinder allgemein zum Waflertransport von den
Brunnen zu den Niederlaffungen.
So oft man den Verſuch gemacht hat , Kameele zum Transport in den oberen
Nilländern, im Gebiete der Negervölfer zu verwenden, hat man nur für kurze
Zeit des Vortheils ihrer größeren Tragkraft genofien. Nah Verlauf weniger
Monate find fie immer dem Klima, der ungewohnten Näffe und Luftfeuchtig-
feit, der fremden Koft (denn das Kameel ift Hinfichtlich feines Geruchfinns zur
Unterfcheidung von ſchädlichem und unſchädlichem Futter weit unvolllommener
organifirt als der Ejel oder das Pferd; es frißt von allem, was grün ausjieht),
vielleicht auch den Shädlichen Fliegen erlegen, welche diefen Landftrichen eigen
find, und das Erperiment war in jedem Falle ein jehr koſtſpieliges.
Im gefammten Nilgebiete bi3 an die Grenzen der heidniichen Negerländer
ift für den Perſonen- und Localverkehr innerhalb der Culturdiſtrikte der Eſel
das unentbehrlichſte Hausthier. Pferde find jelten und mit Ausnahme von
Abyffinien nur im Befite von Wohlhabenden. Die Ejelzudt ift vor allem im
nubiſchen Nilthale eine jehr ausgedehnte; in unmittelbarer Nähe der noch heutigen
Tages von der wilden Stammart betvohnten Gebirge entwidelt ſich das Thier vor-
trefflih und man zahlt in Nubien für auserlejene Eremplare mitunter die
höchſten Summen, welde für Kameele der edeljten Art in Gebrauch find.
Gewöhnliche Laft- und Reitejel find dajelbjt überall fiir weit geringere Preiſe
zu erftehen als in Aegypten (im Durchſchnitt 10 pr. Thle.). Für Jeden, dem das
Stameelreiten zu bejchwerlic fällt, wird fich daher das Reiſen zu Ejel mit Be-
gleitung der nöthigen Laſtkameele beſonders empfehlen. Ein bejonderer Vortheil
erwächft dabei dem reifenden Naturforicher durch die Leichtigkeit des Auf- und
Abſihens während des Marjches der Garavane. Indeß Tann man ji) dieſe
Bequemlichkeit nur gönnen, fall3 unterwegs für Waller und Futter gejorgt ift,
wie in den Steppen und Bergthälern des ſüdlichen Nubiens; im entgegen=
gejegten Falle ift das für den Ejel erforderliche Waller und Futter eigens auf
Kameelen mitzunehmen, denn länger ala zwei Tage hält derjelbe zur heißen
Jahreszeit nicht Stand gegen den Durft, e3 jei denn, dab unterwegs frijcher
Ueber die Art des Reiſens in Afrika. 255
Graswuchs als Weide dargeboten wäre, ein Umftand, welcher in diejen Ländern
allen Bierfüßlern, jelbft dem Rindvieh, das Waſſer für weite Strecken entbehr-
Ih madt. Die Mitnahme von Pferden erheiſcht noch größeren Aufwand.
So find 3. B. für jedes Pferd beim Durchzuge durch die große nubijche Wüſte
zwiichen Korosfo und Abu Hammed, einer Strede von acht angeftrengten
Zagereijen, zwei mit Wafjer beladene Kameele eigens erforderlich).
Obgleich nun ein ftarker Ejel bis zu zwei Centnern Gepäd ohne bejondere
Anftrengung fortzufchaffen vermag, jo fann man fich defjelben doch nicht auf
entfernte Streden ohne weiteres als Laftthier bedienen, jelbjt dort nicht, wo Waller
und Futter in Hinreichender Menge zu finden ift, e8 jei denn im äußerjten
Nothfalle; denn feine Störrigkeit und Unlenkſamkeit erheiſcht eine unabläfjige
Beauffihtigung, und letztere würde das Dienftperjonal des Reifenden über die
Gebühr vermehren. Als ih im legten Winter eine Rundtour durch Die
Große Dafe in der Libyſchen Wüſte unternahm, hatte ih, da Kameele dajelbft
nicht aufzutreiben twaren, mein geringes Gepäd auf 6 Ejel geladen. Das den
Thieren eigene Durcheinanderlaufen, ſich gegenjeitig Drängen und Stoßen, das
plötzliche Stehenbleiben u. ſ. w. zu verhindern, reichten dabei faum die zwei Treiber
aus, welche ich eigen3 dazu gedungen hatte und die den 6 Gjeln beitändig zur
Seite gehen mußten. Die mit diefer Reifemanier verbundenen Pladereien waren
in der That unerträglich, und ich nahm mir vor, unter feinen Umftänden einen
ähnlichen Verſuch zu wiederholen.
Aus den angeführten Gründen werden daher auch in Gentral-Afrifa Pad-
eſel nie einen Erſatz für die Träger zu leiften im Stande fein, ganz abgejehen
von den großen Schwierigkeiten ihrer Hinihaffung auf den Barken und der
Unmöglichkeit fie dafelbft zu acclimatifiren. Empfehlenswerth ift die Benußung
de3 Eſels nur für den Reifenden, welcher jein ganzes Gepäd in einem Schnapp—
face mit fich führt, den ex über feinen Sattel wirft. Auf dieſe Manier durch—
ziehen Tauſende kleiner Händler (Gellaba) den mohamedaniihen Sudan in
feiner ganzen Länge von den Ufern des Senegal bi3 an das Rothe Meer.
Eine größere Bedeutung für den MWaarentrandport erlangt der Ejel im
abyifiniihen Hoclande, wo indeß fein Menſch auf demfelben zu reiten pflegt,
denn der Abyffinier ift ein hochmüthiger Geſelle. Das hauptſächlichſte Laft-
thier in diefem Lande iſt aber das Maulthier, welches die Zähigkeit und Un—
veriwüftlichkeit der Eſelnatur mit der bejonnenen Sicherheit des Pferdes ver-
bindet und deshalb in jo vielen Gebirgsländern zu einem unentbehrlichen Be-
gleiter des Menſchen wurde. Das abyſſiniſche Maulthier wird bei der großen
Unwegſamkeit der dortigen Gebirgspfade in der Regel mit höchſtens anderthalb
Gentnern belaftet, dem halben Betrage einer gewöhnlichen Kameelslaft. Die
Kiſten oder Ballen dürfen nicht die Länge von denjenigen erreichen, tveldjhe man
dem Kameele aufbiürdet, daher verurſacht ein Wechjel beider Beförderungsmittel,
wie er am Fuße des Hodlandes Statt zu finden hat, immer viel Aerger und
Verdruß. Daß auch das Reifen mit Maulthieren an ähnliche Ehicane geknüpft
fei, wie wir fie bei Beſprechung der Verwendbarkeit des Ejel3 als Lajtthier
fennen gelernt, wird aus den zahlreichen Reijebejchreibungen, die über Abyjjinien
vorliegen, zur Genüge befannt jein. In friſcher Erinnerung find ja noch die
256 Deutihe Rundſchau.
Erfahrungen der engliijhen Armee auf ihren denfwürdigen Tyeldzuge gegen
Theodor, welcher einen jo beijpiellojen Aufwand an Menſchen zur Leitung der
da3 Gepäd der Soldaten tragenden Maulthiere erforderte.
Das Pferd findet meines Wiſſens in Abyjfinien feine Verwendung als
Zaftthier, obgleich die Menge der für den Bedarf der Hirtenvölfer am Weißen
und Blauen Nil zur Ausfuhr beftimmten ſich alljährlich auf viele Tauſende
beläuft. Reitpferde finden fi) im Beſitze faft eines jeden Abyjjiniers, aber
der größte Theil derjelben dient ausjchlieglic zur Maulthierzucht.
Sp haben wir denn, um in das Innere de3 geheimnißvollen Welttheils
einzubringen, den geradeften Weg verfolgt, denjelben, welchen die große
Mehrzahl aller Forſchungsreiſenden einſchlug, um über die Grenzen der hilto-
riſchen Welt hinaus, auch nad) diefer Richtung Hin den Gefichtsfreis unjeres
engen Erdenhauſes aufzuhellen. Scrittweije jahen wir die Art, in welcher wir
‚reiften, immer mehr de3 gewohnten heimijchen Charakters ſich entkleiden, wie
er in der Erinnerung der Nelteren unter und, die jelbjt noch gewandert und ge—
ritten, fortlebt. Der vermittelnde Boden Aegyptens mit feiner eigenthümlichen
Doppelcultur, die breite Waſſerſtraße des Nils, die Wüften und das Wüſten—
Ichiff liegen Hinter und. Die öden Sand- und Steinflächen, die ſich vor unjeren
Bliden allmählich mit Vegetation zu bededen begannen, wurden zu Steppen;
in den Steppen jammelten fi die Bäume und Sträuder und wurden zum
Buſchwalde. Hier die Berge des tropiichen Oſtafrika zur Seite lafjend ftiegen
wir, ohne es gewahr zu werden, zu den Höhen des inneren Zafellandes hinan,
welche man als das eigentliche, echte Afrika bezeichnen kann, und weldes nad)
jeder Seite Hin von Meeren und Wüften abgegrenzt erjcheint. Im Süden die
Kalahari, im Norden die Sahara, trennen e3 ab, al3 gehörte es gar nidht mehr
zum längftgefannten Nachbarwelttheil. Flüſſe gelten als ſchlechte Grenzen für
Länder und Völker, denn fie dienen ihnen zum Verkehr, auch Meere vermochten
auf die Dauer fie nicht von einander zu trennen, — und welches unter ihnen
hat mehr zur Vereinigung der verjchiedenartigiten Volksſtämme beigetragen als
jenes große binnenländiiche Meer, an deſſen Küften die ältefte Geſchichte bereits
Keime unjerer heutigen Gefittung entjprießen jah. Nur das Meer des Sande
und der Steine, mit feinen drei großen Verbündeten, dem Hunger, dem Durfte
und der Ermattung, diefes Tcheint für immer allen innigeren Wechjelbeziehungen
des Menſchengeſchlechts eine unüberwindlicde Schranke entgegengejtellt zu haben.
Sjenjeit dejjelben betreten wir eine neue Welt, das Land der Schwarzen, eine
Melt, die zwar jeit undenklichen Zeiten gekannt, für fich felbft aber von jedem
Zeitmaße abftrahirt; fie kennt weder Neuzeit noch Altertfum, da giebt e3
weder Geſchichte noh Denkmäler menſchlichen Fleißes, jede Erfahrung erliſcht
mit dem Leben des Individuums, und auch nit um eines Schrittes Weite
vermochte fie den Gulturbeftrebungen der hiſtoriſchen Welt zu folgen.
An den Grenzen diejer ſchwarzen Welt angelangt, da wo ſich Heidenthum
und Yalam, Fetiſchismus und Offenbarungsglaube feindlich gegenüberftehen, hat
der Fremdling mit allen Traditionen von Reije-Art und Reiſe-Gewohnheit zu
brechen. Der Zauber einer gänzlich fremden Umgebung, neue Pflanzen und nie
gejehene Thiere, die nadten ſchwarzen Menjchen, Alles das ftürmt zugleich auf
Ueber die Art des Reiſens in Afrika. 257
ihn ein und Fräftigt feinen Geift zu herzhaftem Entſchluſſe. Zum erften Male,
fönnte man jagen, fteht der Reilende da auf jeinen eigenen Füßen. Vergeblich
ſpäht fein Blick nad) den gewohnten Bierfüßlern, die fein Hab und Gut,
die feinen ermübdeten Körper auf ſich Inden; weder Pferde noch Ejel, weder
Maulthiere noch Kameele wird er gewahr, und wo fie fich finden, treten fie
ihm gegenüber, Fremdlinge gleich ihm ſelbſt, ſchwach und ſiech am Körper ob
der ungewohnten Koft, das Blut vergiftet von ſchädlichen Fliegenftichen, durch
Sumpfluft und Näfje den Keim des Todes in ihrer Bruft: jo erjcheinen fie,
Bilder de3 äußerſten Elends, gleichſam ſelbſt darum bittend, getragen zu werden.
Im eigentlichen Gentralafrifa, in diefem großen Haufe der Knechtſchaft, da
two die Vorrathskammern der Sclaverei, muß ja auch der Menſch herhalten zu
den niedrigften VBerrichtungen, er wird zum Padthier. Vom Gazellenfluß bis
an den Congo, vom Niger bi3 zum Zambefi, giebt e3 feine andere Manier zu
reifen, fein anderes Beförderungsmittel für das Gepäd des Reiſenden, als das—
jenige, welches ihm dev Wollkopf des Negers darbietet.
Smmer werde ich e3 al3 einen denkwürdigen Tag in der Geſchichte meiner
Reifen betrachten, als ih am 25. März 1869 zum erften Dale da3 Wandern.
mit Laftträgern begann, das fi) 27 Monate lang landeinwärt3 vom Gazellen-
ftrome durch die Gebiete verjchiedener Negervölker fortjegen jollte, und lebhaft
gedenke ich noch des Moments, als der Haufen nadter Wilden, um mich abzu=
holen, fich durch die hohen Papyrus-Dichungeln der Barke näherte, die mid
an den Endpunkt der Schifffahrt gebracht hatte. Durch ein Dubend ſchwarze
Köpfe geftüßt, von welchen ein betäubendes Gefchrei, eine Art wilden Kriegs—
gefanges zu meinen Ohren drang, jaß ich da, thronend auf der Bettjtelle, ver-
mittelft welcher fie mich, wie im Triumphe, durch die Uferfümpfe ans trodene
Land Ichafften, um den allgemeinen Sammelplat zum Aufbruch unferer Kara—
dane zu erreichen.
Kaum war der erfte Verſuch gemacht, jo erſchien mir auch jchon die Be—
nußung des Menjchen ala Transportmittel wie ein deal von Bequemlichkeit.
Ein Haupterfordernig dabei für jeden Reifenden in diefem Theile von Afrika
iſt freilich, daß er jelbft ftark fei zu Fuß. Er muß ein Fußgänger erften
Ranges fein und womöglich feine Befähigung dazu auf andauernden Touren in
den Alpenländern Europa’3, pder als pafjionirter Jäger in den weiten Marjchen
des Nordens zuvor erft mühfam errungen haben. Nur in Ausnahmafällen, bei
Bervundung oder Krankheit de3 Neifenden, kann in den oberen Nilländern
derjelbe auch jeine eigene Perjon auf den Köpfen der Träger fortichaffen Laffen;
im Uebrigen hat ex fich nad) Landes-Art und Landes-Sitte zu richten, und dieje
ihließt, jo weit der Islam feinen Einfluß in Afrika geltend macht, das ſich
Tragenlaffen aus. An der ganzen MWeftküfte von Afrika zivar, two durch den
Handel alle weichliden Gewohnheiten des indiihen Culturlebens Eingang
fanden, ift dies die gewöhnliche Manier, in welcher jeder Europäer reift; dem
Araber dagegen, jo wenig Scrupel ex ſich auch über Sclavenhandel und Scla-
berei zu machen getwohnt ift, jo hartherzig und habgierig auch jein Vorgehen
gegen die wehrlofen Negervölfer in der Regel getvejen fein mag, immer erjeint
258 Deutſche Rundſchau.
ihm ein derartiges Reiten des Menſchen auf Menſchen als gottesläſterlicher
Hochmuth, der nie vergeben werden kann.
Ein erfahrener Reiſender wird ſehr bald der großen Vortheile gewahr,
welche ihm die Benubung von Laftträgern darbietet. Die Schnelligkeit und
Präcifion beim Aufbruch, die Leichtigkeit, mit welcher er die Regelung und
Drdnung des Zuges zu bewirken vermag, der noch gleichmäßigere, nad) Belieben
zu unterbrechende Fortmarſch, thun wohl nad) der harten, wochenlang geübten
Geduldsprobe auf dem Rüden der Kameele. Wer die tagtägliche Mijere des
Auf- und Abladens jtörriicher Packthiere erfahren, begrüßt einen derartigen
Wechſel mit gehobenem Gefühle, und fröhlich ſein Wanderliedchen trällernd
macht er ſich auf den Weg, die Schritte dem innerften Afrika zumendend.
Die größten WVortheile diefer Reifemanier genießt der ſammelnde Natur-
foricher, der unaufhörli und aller Orten neue Beute aufzuraffen hat und nun
auch ſtets ängftlid auf die Sicherftellung und Erhaltung des einmal Einge—
heimften bedadht jein muß. Was dem Laftthiere auf den Rüden gebunden
wird, ſoll wohl verichloffen fein in Kiften und Kaften, in Säden und Ballen;
von zahlreichen Striden umwunden bleiben fie während der Wanderung jelbjt
dem Beliter ftet3 unzugänglid. Das Thier, welches nit darauf achten kann,
ob die Laft, die e3 trägt, zerbrecdhlicher Natur jei oder nicht, es ſtößt damit
rückſichtslos an Felſen und Baumftämme, oder e3 drängt fi im Mariche an
die Laften feiner Weggenojfen und bringt diefe zum Sturze. Dergleichen Un-
annehmlichteiten fallen von jelbjt weg, jobald der Reifende nicht mehr von den
Launen feiner Transportkräfte abhängig ericheint. Jederzeit hat man da jeine
fieben Saden zur Hand, man kann überall da3 Beliebige herausholen. Kaum
ift e3 nöthig, wenn anders die Witterung es geftattet, auf den ficheren Verſchluß
der Dedel zu achten; nicht? kann da entwendet werden, was nicht in diejen
entlegenen Ländern jofort den Dieb verriethe, alles liegt offen da. Der reijende
Naturforicher kann ſich außerdem nocd einige Extra-Träger zur Verfügung
halten, denen er während des Mtarjches die gefammelten Pflanzen und Früchte,
die erlegten Thiere u. j. mw. aufbürdet. So geht es nun fort, jeinen ficheren
Meg durch Pfüben und Bäche, durch die Sümpfe und die thautriefenden
Steppen hindurch, gerade wie der Führer e3 will.
Die Art und Weile, in welcher der Neger feine Laft zu tragen pflegt,
richtet ji natürlich nad) den Gewohnheiten der verjchiedenen Völker. Im Al-
gemeinen kann in ganz Afrika als Regel gelten, dat jedes Gepäckſtück, jelbft die
fehr langen Bündel Kupferftangen (das hauptſächlichſte Werthobject) und die
gefrümmten Elephantenzähne, auf der Scheitelhöhe des Kopfes, wenig oder gar
nit von der einen Hand geftüßt, in der Balance erhalten werden. Wo Ab-
weichungen von diefem Modus Statt haben, ift es meift die Form der üblichen
Haartracht, welche dabei ala maßgebend zu betrachten ift. Diejenigen Völker
3. B., — und ihrer find im tropiichen Afrika nicht wenige —, welche ihr
Haupthaar zu einem mehr oder minder aufrecht in die Höhe ragenden Chignon
formen, wollen jelbftverftändlich ihre funftvollen und mit jo großem Zeitauf-
wande hergejtellten Haargebilde nicht der Gefahr des Zerdrücktwerdens Preis
geben; dieje, wie 3. B. die Monbuttu, die Aſchiva und Iſchogo, tragen ihre
Ueber die Art des Reiſens in Afrika. 259
Laſten auf dem Rüden, indem fie fi) dazu genau derjelben Tragkörbe bedienen,
melde wir in Thüringen und anderen Gegenden Deutichlands in Gebraud
fehen. Dieje Tragkörbe, Dtaitai von den Ajchiva des weitlichen Aequatorial-
Afrika genannt, werden vermittelt ziveier Adchjelbinden getragen und durch
einen um die Stimm des Trägers gejchlungenen Gurt unterftüßt. Unter alle
Kopflaften wird ein Kleines rundes Polfter gelegt, welches der Träger aus
Gra3 und Blättern fliht und feinem Scheitelrelief anpaßt. Höchſt jelten, und
wo e3 geichieht, dient e3 nur zur Erholung und Abwechſelung, jieht man die
Laften auf der Schulter tragen. Was die Form der Gepädftüce anlangt, jo
ift die runde, compacte Ballengeftalt die beliebtejte, denn alle harten, unbieg-
famen Laften find dem Neger unbequem. Die Chartumer Kaufleute verpaden
daher den größten Theil ihrer Waaren in jene jadartigen, oben weit offenen
und aus Dattelblättern geflochtenen Körbe, die man in Aegypten „Guffa“
nennt. Dieje werden zwar der Länge nad: zugenäht, ſchützen aber den Inhalt
keineswegs vor Regen. Nichtsdeftoweniger werden in ſolche Guffa's die gegen
Näſſe empfindlichften Dinge geichüttet, jogar Schiegpulver in Papierdüten und
die Patronen, Salz und dergl., Alles nur der bequemen Fortſchaffung zu Liebe,
denn e3 fällt außerordentlich ſchwer den Neger zu einer neuen und ungewohnten
Form jeiner Laft zu beivegen. Die einmal in einer beftimmten Region üblich
gewordene Form der Verpackung muß ſchon aus dem Grunde ftet3 beobachtet
werden, teil jede Neuerung den Träger zu Klagen wegen Ueberlaſtung auffor-
dern wiirde, mögen fie nun begründete jein oder nicht.
Ganz im Gegenjage zu meinen Erfahrungen im oberen Nilgebiete jind bet
den Trägern an der Dftküfte von Afrika lange Collis jehr beliebt , jelbjt die
Beugballen werden daſelbſt zu diefem Behufe in neue alten gelegt und von
Rohrftäben außen zufammengehalten, auch mit Striden umjchnürt, zu 6 Fuß
langen Bündeln umgeftaltet. Da ſich das Gewicht der Laften in jenen Gegenden
bis auf 70 Pfund pro Dann fteigert, jo ift die lange Form eine erwünjchte,
um, wa3 bei ſchweren Laſten ſtets erforderlich jcheint, auch ohne Beihülfe eines
Anderen das aufrecht vor den Mann hin geftellte Stüd auf den Kopf ſchwingen
zu können.
Tür den reilenden Europäer bilden troßdem vierfantige Blechkaſten die ſich
am meiften empfehlende Gepädform. Seit Jahren von engliſchen Retjenden in
allen Zropenländern der Welt benußt, wurden dieſe Blechkoffer aud) bei dem
Unternehmen unſerer Afrikaniſchen Gejellihaft eingeführt.‘ Der Vortheil, den
fie in Folge des abjolut jicheren Schutzes gegen die beiden Hauptfeinde aller
Afrikareifenden, gegen Näffe und Termitenfraß gewähren, liegt auf der Hand.
Mir ſelbſt war diefer WVortheil verjagt geblieben und ich mußte mir, jo
qut e3 eben ging, dur Erjagmittel zu helfen juchen, indem ich Zeuge mit
friſchem Kautſchukſafte waſſerdicht machte, Collis von Rindshaut verfertigte,
oder meine Kiſten und Kaften jelbft zimmerte, Wer, wie ic}, auf jtet3 wech—
jelnde Manier, zuvor über Meere, auf Flüſſen und durch Wüſten zu reifen
hatte, bi3 er dort angelangt war, wo das eigentliche afrifanijche Reifen exit
jeinen Anfang nehmen jollte, der konnte die Formen jeines Gepäds nicht für alle
Falle von vorn herein einrihten. Die Kleinen Blechkoffer hätten beijpielsweile
260 Deutiche Rundſchau.
beim Kameeltransport viele Schwierigkeiten verurſacht, man hätte fie in größe-
ren Kiſten unterbringen müfjen, um fie allen Regeln der Gewichtserſparniß
zum Trotz, zum Beladen diefer Thiere geeignet zu machen.
Das Gewicht einer Trägerlaft richtet fi) natürlich nach der Ausdehnung
der Wanderung und der Körperfraft der zu Gebote ftehenden Negerrafie. In
den oberen Nilgegenden gelten 50 Pfund (25 Kilos) ala das Normalmak eines
nicht überbiürdeten Trägers; am Congo fteigt dafjelbe bi3 auf 75 und jelbft auf
100 Pfunde. Auf weiten Reijen ift ſchon allein aus dem Grunde das niedrigfte
Maß innezuhalten, weil der Marſch durch Tagereifen weite, menfchenleere
Wildniffe ein Mitführen des nothwendigjten Mundvorrath3 für den Träger
erforderlih madt und durch ſolche Zuthat die Laften um bis Y, an Ge-
wicht zuzunehmen pflegen. Ueberall aber hat man gewilje Elite-Träger zur
Verfügung für bejonders ſchwere und untheilbare Laften, wie beifpielaweije die
Elephantenzähne, deren Gewicht nicht jelten bis auf 180 unjerer alten Pfunde
zu fteigen vermag. An einem für fi) allein Schon nicht leichten Baumaſt be—
feftigt, muß ein folder Zahn dennoch von zwei Männern getragen werden
fünnen, da die Natur der afrifaniichen Pfade, wie wir bald jehen werben, eine
größere Theilung der Kraft unmöglich madt. Ä
Die Bewaffnung der Träger ift überall die landesübliche, eine Handvoll
Lanzen oder Pfeil und Bogen ruhen in derjelben Hand, welche ab und zu die
auf dem Haupte ſchwebende Laft zu ſtützen hat, jobald fie ins Schwanken geräth,
die andere Hand theilt frei die Luft vor dem Gehenden.
In der Regel wird alle zwei Stunden eine kurze Raft gemacht, die Dauer
derjelben beträgt indeß höchſtens 10 Minuten. Auch bei diejer Gelegenheit
darf die einmal im Zuge getroffene Anordnung nicht gejtört werden, ſondern
die Träger jammeln ſich gruppenweiſe mit den Anführern ihres heimathlichen
Diftrikts, welche die Zahl der Köpfe unabläffig zu muftern haben, denn fie
haften nicht jelten jelbft mit ihrem Kopfe für die Vollzähligkeit der übrigen.
Was mir in der erften Zeit diefer Wanderungen am meiften auffiel, war bie
Häufigkeit, mit welcher die Neger ihren Durft zu ftillen für nöthig erachteten,
während die mich begleitenden Nubier, wie alle Bewohner von Steppen oder
Wüſten, ftundenlang während der größten Hitze auf jeden Trunk verzichteten.
Die Kleidung trägt das ihrige zu diefer Verfchiedenheit bei und an mir jelbft
fonnte ich eine weit geringere Beeinfluffung durch den Durft wahrnehmen, als
meine nadten Schwarzen zu erkennen gaben. An Trinkwaſſer fehlt e8 zum
Glück im Gejammtgebiete de3 äquatorialen Afrika’ nirgends und der Reiſende
fieht fi) in feiner Gegend weniger veranlaßt, durch Mitnahme eines Vorrathes
feine koſtbaren Tragfräfte zu vermehren.
Eine Hauptaufgabe für jeden Leiter von Expeditionen im Innern von
Afrika ift die Ernährung der Träger. Die Wildniffe jowol, wie die bewohnten
Eulturdiftricte legen beide einer geregelten Verproviantirung die allergrößten
Schwierigkeiten in den Weg. In der Wildniß ift es die Vermehrung der Laſten
durch Mitnahme von Lebensmitteln, welche der Anführer zu vermeiden hat, im
bewohnten Lande find es die ftet3 drohenden Conflicte mit den Eingeborenen.
Beide Mebelftände können nur gar zu leicht dasjenige zur Folge haben, was
Ueber die Art des Reiſens in Afrika. 961
für jeden Afrikareiſenden ala ber Uebel größtes erjcheinen muß: das Davon-
laufen der Träger. An diejer gefährlichen Klippe ift wol die Mehrzahl aller
großartig angelegten Expeditionen gejcheitert, fie wird daher dem Reifenden zur
Nriadhe einer unabläjftgen Angft und Unruhe um das Gelingen des begonnenen
Werks. Die Gefahr des Davonlaufen3 der Träger, das beftändig drohend über
dem Haupte des Neifenden ſchwebende Damoklesſchwert, zu bejeitigen gehört
zu feinen jchtwierigften Aufgaben; fie zu überwinden können nicht alle Reifenden
derartige Mittel in Anwendung bringen, wie diejenigen waren, "von welchen
id profitirte, al3 ic) auf der ficheren Grundlage des in Sachen der Moral nicht
allzu jkrupulöjen „Elfenbeinhandels der Mohamedaner meine geebneten Wege
einherzog. Solche Mittel der Gewalt vermag nur derjenige auszuüben, welcher
felbft Herr ift über Leben und Tod der Seinigen, nicht aber Fremdlinge,
die um Geld und Geldeswerth gedungenen Trägern gegenüber, die bei jeber
Gelegenheit auf ihre freien Menjchenrechte zu pochen wifjen, ſich von hunderterlei
Rüdfihten in ihren Maßnahmen gehemmt jehen und ftet3 bedächtige Ueber—
legung an die Stelle offener Gewalt zu ſetzen haben, wie unjere Sendboten an
der Loango-Füfte.
Ich kann es mir an dieſer Stelle nicht verfagen, einer ſchönen Pflicht der
Gerechtigkeit zu genügen, indem ich da3 deutjche Publicum zur Geduld und zur
Nachſicht gegen die Leiftungen der Lehtgenannten auffordere. Unſere Reijenden
fämpfen daſelbſt gegen eine ganze Welt phyfiicher und moraliicher Hinderniffe,
ich gebe daher zu bedenten, daß die Geduld, in welcher Jene Tag für Tag ſich
zu üben haben, die ſchweren Enttäuſchungen, denen fie wiederholt ausgeſetzt
fein werben, bevor Erfolge ihre Bemühungen krönen, daß diefe ganz außer
jedem Berhältnifje ftehen zu derjenigen Geduld, welche wir, in beredhtigter Er—
wartung eines Erfolges und in hoffnungsvollem Bertrauen in die Leiftungs-
fähigfeit der Reijenden, an den Tag zu legen glauben.
Eine fünfzehnjährige Erfahrung Hatte, al ich jene Gegenden an ber ſüd—
weftlichen Wafjerfcheide des Nils bereifte, die Chartumer Elfenbeinhändler in
den Stand gejeßt, den Trägerdienft auf ihren Beſitzungen zu einem wohlorga—
nifirten Inftitute zu geftalten. Jede Niederlaffung diefer Kaufleute in den
Binnenländern de3 oberen Nilgebiet3 ſtützt fi auf ein entjprechendes, den-
jelben völlig botmäßiges Gebiet, deffen Bewohner zum Unterhalte der ftatio-
nirten Waffenmacht regelmäßige Abgaben an Bodenproducten zu entrichten und
die zu den weitreichenden Handel3zügen nach den eigentlichen Elfenbeinländern
erforderliche Trägerzahl, gleihjam ala Frohndienſt, zu ftellen haben. Soll eine
derartige Unternehmung in? Werk gejeßt werben, jo erhalten die Diftricts-
Aelteften von den Verwaltern der Chartumer Niederlaffung die erforderlichen
Befehle. Es wird denjelben einfach gejagt, an dem oder jenem Tage hätte ein
Seder die von ihm verlangte Zahl kräftiger Männer in die Seriba zu führen.
Die zu ftellende Zahl pflegt man in Geftalt abgezählter Bündel Strohhalme
oder Rohrftäbe dem in diefer Beziehung oft jehr jchmwerfälligen Begriffäver-
mögen der Neger näher zu rüden. Zur feſtgeſetzten Stunde ift aladann der
ganze, oft auf viele Hunderte ſich belaufende Troß vollzählig verfammelt, und
nichts fteht dem Beginn der Reife im Wege.
262 Deutfche Rundſchau.
Zwar werden die Träger durch eine Art Löhnung für ihre Leiftung ent—
ſchädigt, diefe allein jedoh würde fie nie dazu vermögen fönnen, aus freien
Stüden ſich monatelang auf gefahrvollen Wanderzügen von ihren Familien und
Befigthümern zu trennen. Es muß daher nothwendigerweiſe auf fie ein Zwang
ausgeübt werben, der indeß in jedem Falle zu ficheren Rejultaten führt. Da,
wo die Bewohner eine gewiffen Diftrict3 bereit3 feit Jahren in Botmäpigkeit
verharrten, ift ein MWiderftreben gegen diefe Art Dienftheranziehung unerhört,
und aus Gewohnheit fügen fich die Leute ohne Murren ins Unvermeidliche.
Anders, wo es fi um die Nubbarmahung einer erft jeit Eurzer Zeit unter-
johten Bevölkerung handelt, und wo die Männer erft zum Trägerdienfte heran-
gezogen werden müſſen, um ihre Kräfte für die Zwecke des Handel richtig
ausbeuten zu können.
Bor allen Dingen ift ftrenge Ueberwachung der Träger beim Beginn der
Wanderung von Nöthen. Befindet ſich einmal die Karavane auf fremdem
Boden und im Bereiche einer feindlichen Bevölkerung (überall in Central-Afrika
ftehen ſich die Nachbarvölker feindlich gegenüber), aladann muß jeder Träger
die Folgen eines Fluchtverſuchs ala das größere Uebel betrachten. Bald ent-
Ichließt fich derjelbe zum ftandhaften Ausharren, es mag fi) da für ihn er-
eignen, wa3 da wolle, fein Loos kann nie einem zweifelhafteren Glücksſpiele
ausgejeßt jein al3 auf der Flucht, ohne Nahrung und duch ein Land, deſſen
Bewohner nur darauf lauern eines vereinzelten Nachzüglers habhaft zu werden,
ihn zu überfallen, zu tödten, vielleicht aufzufreffen. So find denn befondere
Vorſichtsmaßregeln für die erſten Tagereifen geboten, wenn ein Enttommen der
Träger zu befürchten fteht. Vor allem werden fie Nachts jorgjam übertwacht,
bei Tage, während des Marjches begleiten fie die Soldaten, das Gewehr in der
Hand, zu beiden Seiten de3 Weges der Trägercolonne folgend. Berechtigt das
Verhalten neugetvonnener Träger zu ganz bejonderem Mißtrauen, jo werden wohl
auch Joche und Feſſeln eigens mitgeführt, um die Unzuverläffigften auf dieſe
Art feſtzumachen, bis die gefährliche Grenzwildniß, welche allein ihr Entftommen
begünftigt, im Rüden der Reijenden liegt.
Halbgetwonnenes Spiel hat jederzeit derjenige Führer, welcher e3 verfteht,
feine Leute jatt zu machen, oder Wege anzugeben, auf denen nie großer Mangel
an Speijebedarf eintreten fann. Alles vermag man in diefem alle über die
Negernatur; fein Unglüd ift groß bei vollem Magen. Wer e3 verjtände Sterne
in Brod und das Waſſer in Del zu verwandeln, der würde zweifelsohne über
ganz Gentral-Afrita ala unumfchränkter König bereichen. An der That culmi-
niren alle Schwierigkeiten dajelbft in der Fütterungsfrage. Ich bin feft davon
überzeugt, daß beijpielsweije die Träger unter feinen Umftänden dazu Luft ver-
püren würden ſich aus dem Staube zu machen, jo lange der Reijende noch
über eine Viehheerde zu verfügen hätte, die er mit ſich forttreiben könnte, um
täglich davon zu ſchlachten. Soweit das Gebiet reicht, in welddem man aus—
Ichließli auf den Transport vermittelt Träger angewiejen ift, bieten indeh in
Gentral-Afrifa nur wenige Gegenden ausreichende Gelegenheit zur Acquifition
von Viehheerden dar. Auch in diefer Hinficht eröffnen die Länder am oberen
Nil dem Reijenden eine weit bequemere Bafis zum Vordringen ins tiefere In—
Ueber die Art bes Reifen in Afrika. 263
nere, al3 die öſtlichen und weltlichen Gebiete an der großen Barriere von
Gentral-Afrika.
Die Jagd, To reich) auch an Wild ſtreckenweiſe und zu gewiſſen Jahreszeiten
alle Theile diejes immenjen Gebietes jein mögen, bietet im günftigften Falle einen
nur jehr ſchwachen Erſatz dar für das lebendige, ſich jelbjt von der Stelle be-
wegende Fleiſch, aus dem einfachen Grunde, weil fie zu zeitraubend ift, um mit
ihrer Hülfe die Beditrfniffe einer großen Menſchenmenge zu decken. Wild der
größten Art wird nicht im Handumdrehen bejchafft, kleine Antilopen und Geflügel
fommen für die Mafje der Träger faum in Betracht. Die Jagd, jelbft wo fie
durch die Mitnahme eines eignen Jägercorps und durch richtige Wahl des Weges
eine wohlorganifirte wäre, kann immer nur eine gelegentliche Aushilfe darbieten ;
ihre Erträgniffe fommen meift nur den Kochtöpfen de3 Reifenden und jeiner
nächſten Begleitung zu Gute.
Weit eher empfiehlt es ih Nahrungsmittel von jehr intenfiver Art in
Maſſe mit jich zu führen, und obenan in diefer Hinficht fteht das auch durch
feine größere Haltbarkeit ſich auszeichnende gedörrte Fleiſch. Fleiſch-Extract in
richtiger Weile adminiftrirt, würde eine jehr große Bedeutung für die Fou—
ragirung der Trägerichaaren erlangen, wenn nicht die Beihaffung einer jubjtan-
tiellen Grundlage, welche dieje Koft erfordert, eben jo ſchwierig wäre wie der
Erwerb von Nahrungsmitteln der gewöhnlichften Art. Kornvorräthe, welche
auf meinen Wanderzügen nt jelten für viele Tagereifen mitgeführt werden
mußten, wurden jchnell aufgezehrt, da die Laft eines einzelnen Trägers, knapp
zugemeflen, nur für den Tagesbedarf von zwanzig feiner Genofjen ausreicht,
während eine Laſt gedörrten Fleiſches *) zur Noth (e3 handelt ſich dabei iiberhaupt
nur um das äußerte Maß) Hundert Menſchen für einen Tag zu jättigen
vermag. Das getrodnete Fleiſch wird von den Negern zwiſchen Steinen
gerieben und dann mit gleichgültigen, nur zur Magenfüllung dienenden, un-
Ihädlihen Stoffen vermengt und gekocht. Solche Füllſtoffe finden ſich in
allen afrikaniſchen Wäldern in Menge, fie beftehen aus Wurzeln, Knollen,
Zwiebeln und Blättern verfchiedener Art. Unter den Lebtgenannten ift e3 da3
Zaub vieler Malvaceen und Tiliaceen, welches dem erwähnten Zwecke dient,
auch Kiirbis-Blätter find jehr beliebt.
Welche Art Koft ein Negermagen im äußerften alle zu verwinden im
Stande ift, davon fonnte ich mich beim Durchreifen der afrikanischen Wildniffe
wiederholt überzeugen. Alles, was da auf Erden nur Freut und fleucht,
Eidechſen, Schlangen, Raupen, Exrdjkorpione, Landkrabben, Fröfche, Ameijen, Enger-
linge, Alles gilt ihnen als willtommene Beute. Mäufe und Ratten, Raub- und
Sumpfvögel werden hier jchon zu den felteneren Delicateffen gezählt. Gewöhn—
lich benußen die Träger ihre Naftzeit, und wäre diejelbe auch nur von halb—
ftündiger Dauer, zur Veranftaltung einer Treibjagd, deren Ergebniß mit Hülfe
des Steppenbrandes immer Thiere der verjchiedenften Art in fich zu ſchließen pflegt.
*) Da Dörrfleiih in Europa ſchwer zu beichaffen ift, hat unfere Afrikanische Gejellichaft die
Träger der an der Loangoküſte im Gange befindlichen Expedition mit aus Hamburg bezogenem
Stodfiich verproviantirt.
Deutiche Rundſchau. I, 5. 18
264 Deutihe Rundichau.
Indeß, nicht nur auf lebende Beute ift der wandernde Neger bedacht, auch
da3 todte Fleiſch, wie es namentlich die häufigen Reſte von Löwenmahlzeiten in
den Wäldern darbieten, lenkt jeine Aufmerkſamkeit in gleich hohem Grade auf
ſich. Die Vögel, weldhe man bejtändig über ſolche Stellen in den Lüften kreiſen
fieht, verrathen ihnen von weitem da3 Verſteck, in dem ſolche Refte Liegen.
Schnell find dann die Laften am Boden niedergefeßt und Alles enteilt in Die
Büſche. Bald ift es die gedörrte Haut eines Büffels, welche den Attaquen der
Vögel wochenlang widerftanden, mit Beigabe einiger Rippen und Wirbel,
an welden Faſern und Fleiſchreſte hängen, bald ein mumificirter Antilopen-
fopf; bier liegt noch ein ganzer Fuß, dort das Klauenſtück, aus welchem ſich,
wohlzerhadt noch etwas Suppe (‚„mähi-mini“ d. h. Fleiſchwaſſer) kochen läßt.
Weder Haut noch Knochen werden von den hungrigen Negern liegen ge:
laffen. Das Raubthier verſchmäht joldhe Koft von zähem Leder, der Neger ſengt
über dem Feuer die Haare ab, röjtet die Haut und kocht die zeritampften
Krümel oder die in feine Streifen geichnittenen friſchen Stücke derjelben. Das
Raubthier nagt nur an den weichen, ſchwammigen Gelenkköpfen; der Raub-
meni dagegen zerftampft diejelben zwiſchen Steinen und kocht fie aus, er
ipaltet die Röhrenknochen und jchlürft ihr Dark. Gejpaltene Knochen dienen
daher auf afrikaniſchen Landftraßen noch heute als eben jo jichere Anzeichen von
der Anmwejenheit des Menſchen, wie fie es bei uns in den Höhlen der Stein-
zeit zu jein pflegen; two diejelben nur benagt und im übrigen intact erjcheinen,
verrathen fie die Nähe von wilden Hunden, Hyänen, Löwen und anderen Raub-
thieren.
In bejonders günftigem Falle wird von den Trägern wol aud einmal
eine halbe Antilope mit nocd weichem Fleiſch ausfindig gemacht und jofort,
gleihviel in welchem Zuftande, zerſtückelt und unter einander vertheilt. Ein
bedeutend enttvidelter haut-goAt beeinflußt den Appetit des Neger nicht im
Geringiten. Biele halten jogar das Fleiſch in joldem Zuftande für bejonders
nahrhaft und Fräftigend, auch verräth fi) bei den eigentlichen Negervöltern,
die ich kennen zu lernen Gelegenheit hatte, ein weit größerer Widertwille gegen
den Genuß von rohem Fleiſch, ala gegen den von verweſendem. Rohe Eier
3. B. jelbft weichgefochte, erregen Efel, während angebrütete und faule, wenn
fie nur zuvor gekocht wurden, anjtandslos zum Munde geführt zu werden
pflegen.
War unterwegs nidht3 von animaliſchen Reiten zu finden, oder ftellten die
Jagdverhältniſſe keinerlei Beute in Ausfiht, jo machten fi) die Träger bei
jeder Raftjtelle ans Wurzelgraben. Was zu bitter und unverdaulich erſchien,
wurde während der nächſten Nacht in den ftet3 mitgeführten Töpfen abgebrüht
und duch Auslaugen für den Negermagen genießbar gemadht. An eßbaren
Früchten find die centralafrikaniſchen Wälder arm, und das Wenige, was fie
in diefer Hinſicht produciren, toird von den wilden Thieren vernaſcht.
War ich ein täglicher Zeuge ſolcher culinariichen Ungeheuerlichkeiten, To
bot fih mir auf meinen Wanderungen auch wiederholt die Gelegenheit dar,
Proben von der ftaunenswerthen Befähigung mancher Negerrafjen im Hunger:
ertragen zu erfahren. Als ih im Sommer 1870 von meiner Reiſe zu den
Ueber die Art de3 Reifen? in Afrika. 265
Niamniam zurückehrend die unbewohnten Striche des Bongo-Landes zu durd)-
wandern hatte, blieben meine Träger, die jelbft Bongo waren, ſechs Tage lang
ohne jede andere Koft al3 ſolche, welche ihnen in den wildiwachjenden Wurzeln
und Knollen des Waldes dargeboten wurde. Ungeachtet dieſes Mangels hatten
fie die jchwerften Laften zu tragen, mit den in Folge der eingetretenen Regenzeit
vermehrten Terrainichtwierigfeiten zu kämpfen, tiefe Bäche und reigende Flüſſe
zu überjthreiten. Als wir nun wieder Culturland betreten hatten, war die
Gier diejer Leute jo groß, daß fie fich über die herbeigebrachten Kornkörbe
ftürzten und deren Inhalt ungefoht nad Art der Vögel zu Munde führten,
bis der erfte Hunger getilgt ſchien.
Nicht geringere Schwierigkeiten, al3 auf dem Durchzuge durch unbemwohnte
MWildniffe, bereitet die Ernährungsfrage der Träger in den Gultiregegenden. In
allen heidnilchen Negerländern, joweit ihre Gultur vom Islam unbeeinflußt blieb,
fehlt e8 an Städten und Dörfern in unjerem Sinne. Die großen Negerftädte
de3 mittleren Sudan verdanken ihre Entjtehung allen dem Hanbdelsgeijte arabi-
firter Völker. Kornſpeicher unſerer Art dürften faum in den Wohnfitzen der
größten Könige, welche über Millionen von Seelen gebieten, zu erwarten fein;
two jte jich finden, dienen fie nur zum Unterhalte einer Familie. Gefüllt find
diejelben nur unmittelbar nad) der Erndte. Selbft der König, welcher Hunderte
von Weibern zu ernähren hat (indem ſich der gefammte Harem von Vater auf
Sohn zu vererben pflegt), weift denjelben ein Areal zu, das fie auf ihre eigene
Hand zu bewirthichaften haben; jeine eigenen Kornfammern werben von der nächften
Umgebung de3 Königs in Anjprud genommen. Gelangt nun eine größere
Karavane in bevölferte Gegenden, jo müſſen die erforderlichen Lebensmittel
mühjam von weit und breit zujammengetragen werden. Daß dies nur unter
Vorausſetzung Friedlicher Beziehungen zu den Bewohnern möglich ericheint, wird
Jedem einleuchten, im Falle eines Gonflict3 mit den Letzteren, oder bei un-
günstiger Wendung dev Herrjcherlaune verfiegen diefe hunderte von winzigen
Nahrungscanälen jofort, und die Fremden gerathen in die größte Verlegenheit.
Iſt es nun gar zum offenen Kriege gefommen, veranlaßt duch die Unklugheit
des Führers, oder im Folge eines verrätheriichen Ueberfalls durch die beuteluftigen
Eingeborenen, aladann bieten fich den Fremdlingen feine anderen Mittel zum
Unterhalte dar, al3 diejenigen, welche er mit eigenen Händen zu ergreifen ver-
mag, und dieje find nur zu bald erihöpft. Dörfer und Weiler, two fich jolche
finden, oder die über das Aderland zerftreuten Hütten und Gehöfte der nächiten
Umgegend werden ausgeplündert; weiterhin eröffnet fich eine Wildniß, wie die
foeben durchwanderte, die Cingeborenen haben das Weite gefucht unter Mit-
“ nahme aller beweglichen Habe.
Um den unerläßlichen Frieden zu wahren, iſt zunächſt eine beftändige Be-
auffihtigung der Träger von Nöthen. Man denke ſich einen Haufen von taujend
audgehungerten Negern, die joeben auf drei= oder fünftägigem Marſche eine
Wildniß voll Entbehrung und Anftrengung zurückgelegt haben: jet führt der
Weg durch einen Garten von Pilang, und die prächtigen Fruchtbündel ſchauen
verlodend aus dem Dunkel des großen Blattwerks hervor, oder aber die Kara—
vane durcchichreitet ausgedehnte Mais- und Manioc-Pflanzungen, wo die gold-
13*
266 Deutiche Rundſchan.
gelben Kolben jo appetitlich dem Wanderer entgegenleuchten und wo er mit
einem Handgriff die armädide Knolle der Gaffave aus dem Boden zu reißen
vermag. Die Verfuhung kann in der That nicht lebhafter gedacht werden;
dennoch ift jeder Eingriff fofort und in der Weiſe, daß es die Einwohner jelbft
noch gewahr werden, an Ort und Stelle zu betrafen. Da erhält mancher
Träger, ſich jelbft gewiß nichts Unrechtes bewußt, feine gehörige Tracht
Prügel, und die rauen der Eingeborenen umftehen ſchimpfend und fluchend dieſe
Scene twiderftrebender Gerechtigkeit.
Da, wo bei Gelegenheit früherer Durchzüge, jchon wiederholt Krieg und
Brandſchatzung erfolgte, flieht Alles und verläßt Haus und Hof. Hühner laufen
jwijchen den Hütten umher, die Küchengärten daneben bieten mancherlei zur
Schau, wonad) das Herz der Träger gelüftet, aber weiterhinten ftehen die vor-
jihtigen Bewohner, alles Thun der Fremden mit ängſtlichem Auge übertvachend.
Da heit e3 wieder Enthaltjamfeit üben, nicht3 anrühren, will man anders
die Eventualität eines Ueberfalls von der vorliegenden Wegſtrecke fernhalten.
In der Regel Ichließt der Anführer einer Träger-Karavane mit dem Be—
herricher des betretenen Landes, dem Diftrittächef, oder mit einem andern Macht—
haber einen Vertrag zur Lieferung von Lebensmitteln ab, oder einer der Lebteren
beivegt jeine Untergebenen zu zahlreichem Bejuche des Markts, auf welchem das
Herbeigejchaffte ſtückweiſe im Tauſchverkehr erftanden werden kann. Nicht jelten
aber find alle derartigen Arrangements unzulänglich, oder die eingegangenen
Verpflichtungen werden nicht gehalten.
Während unjeres dreimöchentlichen Verweilens bei der Refidenz des Mon—
buttufönigg Munſa machte die Verforgung von nahezu taufend Köpfen mit dem
nöthigen Lebensbedarf die außerordentlihiten Schwierigkeiten, obgleich da8 Land
ſehr bevölkert war und Producte der mannigfaltigften Art in demjelben zu
Gebote ftanden. Wiederholte Dislocationen der Träger-Colonnen, Entjendung
von Theilen des Troffes nad entfernten Diftricten und dergleichen Manöver
mehr mußten zur Ausführung gelangen, um unjere VBorräthe zu fompletiren.
Auch das unnöthige Umherlaufen der Träger in den Gehöften der Ein-
geborenen hat der Anführer zu verhindern, daraus können nur zu leicht Eonflicte
erwachſen. Außerdem ift in ſolchen Ländern, deren Bewohner mit den benußten
Trägern fraternifiren, two fie mit einander auf verwandtſchaftlichem Fuße ftehen,
eine verdoppelte Wachſamkeit angezeigt, um der Verfuhung zum Treubruche
und dem Entweichen der lebteren von vornherein vorbeugen zu können. Das
Beite, wa3 der Neifende bei längerem Aufenthalte in einer Gegend zu thun
vermag, — und dieje Marime wurde auf meinen Unternehmungen mit größten
Erfolge in Anwendung gebradt —, ift die Errichtung eined durch eine Art
Verhau wohl abgejchloffenen Lagers, verbunden mit dem Ausſtellen von Wachen,
um jeden Berfehr der Schwarzen nur auf das unumgänglich nothmwendig er—
icheinende Maß zu beichränfen.
Soweit e8 die VBerhältnifje geftatten, hat man auch dafür Sorge zu tragen,
daß die Träger von ihren Weibern, welche gleichfall3 zu diefem Dienfte heran-
gezogen werden fünnen, begleitet jeien. In den von mir bereiften Gebieten war
leider dieje, jehr viel zur Zufriedenheit der Mannſchaft beitragende, Vergünfti-
Ueber die Art bed Reiſens in Afrika. 267
gung eine nur in Ausnahmefällen geftattete, da die meiften Frauen daheim, in
Abweſenheit aller tauglihen Männer, der Pflege des Aderbaues obzuliegen
hatten.
Nachdem ich eine Reihe der am meiften in die Augen jpringenden Uebel—
ſtände bejprochen, welche beim Reifen mit Trägern unvermeidlich find, will ic
mic wiederum den Vorzügen und den Annehmlichkeiten zuwenden, welche dieje
Reilemanier dem Wanderer eröffnet. Der Menſch als Locomobil des Gepäds
bat vor dem Lajtthier den großen Borzug voraus, daß er auch jelbjt zur Hin-
wegräumung von Hindernifjen, welche ſich unterwegs entgegenjtellen, jowie zur
eigenen Bequemlichkeit des Reifenden an den Raſt- und Yagerpläßen beizutragen
vermag. Der große Trägertroß, wohlbewaffnet mit Yanzen, Bogen und Pfeilen,
ftellt allein jhon durch jeine Maſſe eine rejpectable Macht vor, welche dem
Anführer, unterftüht durch die Feuerwaffen jeiner Esforte, die den Muth und
die Zuverfiht der Erjtgenannten bedeutend erhöhen, im fremden Lande von
vorneherein eine große Ueberlegenheit zufichert.
Eine der Hauptaufgaben, weldhe auf dem Marjche den Trägern zufallen,
bildet da3 Herrichten eines Obdachs für die Naht. Meinem Tagebucdhe von
1870 entnehme ich nachfolgende Schilderung eines nächtlichen Bivouaks in den
Mäldern des Niamniam-Landes zur vollen Regenzeit.
„Des Zeltes bediente ih mich nicht mehr, denn die Grashütten gefielen
mir weit befjer, jo jehr war ich bereits in der Gewöhnung an die afrifaniichen
Sitten vorgejhritten, auch war id) e8 müde geworden, die Zeltitange bei nächt—
lihem Sturm mit meinen Händen zu ftüßen und um Hülfe rufend das halbe
Lager zu alarmiren. Zum Glüd hatte auch die volle Regenzeit ihre Regeln
und Gewohnheiten, von denen abzumeichen eine gütige Natur ſich nie erlaubte.
Sn den frühen Dtorgenftunden bereits entjcheidet fi das Witterungsprogramın
des Tages, getroft tritt man, jobald der Himmel ſich aufgellärt, den Marſch
an. Neigt ſich die Sonne, und verkündet fernes Gewitterrollen den herannahen-
den Guß für die Nacht, jo wird, etwa gegen 5 Uhr Nachmittags, Halt gemacht
und in der Wildniß für ein paſſend trodenes Logis geforgt. Kaum jind die
Gepäckſtücke zujammengejtellt und mit den Deden belegt, jo werden auch jchon
die Beile und Meſſer hervorgeholt, um die „Hausmacher“ zu bewaffnen. Dabei
berricht folgende Ordnung: „Derbei ihr Diener, ein Jeder an -jeinen Plaß, und
nun wird aufgepaßt, daß die Träger nicht davonlaufen, um ſich der Arbeit zu
entziehen. ch brauche vier Dann, um Gras zu holen, zwei jorgen für lange
Baumäfte, einer genügt, um Baft zu juchen.” Nach Verlauf von kaum zehn Mi—
nuten jind fie mit dem Gewünjchten zurückgekehrt. Da wird das Geſtell er-
richtet, die Gabeläfte an den Holzpfählen läßt man an der Spitze ineinandergreifen,
jo bildet ich ein Korb, der wird mit Rindenbaft umfpannt und nun das Klafter-
lange Gra3 ringsherum angelehnt, angebunden, und zum Schluß eine riefige
Garbe zuſammengeſchnürt, um fie tvie eine Mütze über alles auf die Spibe zu
ftülpen. In weniger als einer halben Stunde ift derart eine jchoberartige Stegel-
hütte geichaffen, allerdings klein wie ein Neft, aber ausreichend für die Nacht
und abjolut regendicht. Draußen tobt der Sturm, Fradhen die Blitze, unbe-
kümmert erfreut ich der miüde Wanderer einer wohlverdienten Ruhe. Beim
268 Deutiche Rundichan.
Schimmer einer kleinen Dellampe, die er fich ſelbſt erjonnen und in welcher
jenes zweifelhafte Fett brennt, defjen Geruch allein ſchon mit Mißtrauen gegen die
Humanität der Bewohner diefer Gegenden erfüllt, jchreibt er die Erlebniſſe des
Tages nieder. Die Neger jcharen ſich um die Lagerfeuer und ſchützen die glim—
menden Kohlen mit ihrer Bruft, während der Rüden von nächtlichem Regen
gepeiticht wird. Dies war der Zujchnitt unſers Lagerlebens während des ganzen
Rückzuges aus dem Lande der Niamniam und eine Nacht glich der andern.”
Unerläßlich ift die Mithülfe einer größeren Menjchenzahl zum Paſſiren der
Flüſſe während der Regenzeit, fall3 Böte auf denjelben nicht zur Verfügung ftehen.
63 müſſen Brüden geichlagen werden, duch Fällung großer Bäume an den
Ufern, oder duch Ausipannen ftarker an Ort und Stelle verfertigter Taue
aus Rindenbaft und wilden Weinreben, vermittelt welcher man eine Art Hänge-
brücke über den Fluß herſtellt. Auf einem derartigen Bauwerk gefährlichſter
Urt überjchritt meine Karavane ohne jeden Unfall den Tondj= Fluß an der
Nordgrenze des Niamniam-Gebiet3.
Sind die Flüſſe zu breit oder fehlt e8 an ihren Ufern an großen Bäumen,
jo werden Flöße aus Schilf und dürrem Graje gebaut, auf welchen man das
Gepäd in Eleineren Parthien geladen und von dem ſchwimmkundigen Theil der
Mannſchaft bugjirt auf das andere Ufer ſchafft. In gleicher Weije werden
aladann auch die Nichtſchwimmer übergeführt. Mit vielem Erfolge haben ſich
bereit3 mehrere Reifende der vermittelt Blajebälge aufzublajenden Kautſchuck—
böte bedient. Auch kann man zur Heritellung einer leicht transportablen Fähre
die im ganzen tropiichen Afrika ehr häufigen Flaſchenkürbiſſe verwenden, welche
man nur in größerer Zahl zujammenzudinden braudht, um ein Floß von be-
deutender Tragkraft zu erhalten.
Wie man einen ſchmalen, aber jehr reigenden Fluß auch ohne Benußung
von Flößen, ohne Böte und ohne zuvor’eine Brüde von Baumftämmen ges
ichlagen zu haben, zu überjchreiten vermag, bewies mir das ebenjo ingeniöfe
als kühne Verfahren, welches die mich begleitenden Nubier, ſämmtlich Schwimmer
ersten Ranges, bei unjerer Paſſage des Sſueh am 13. Juni 1870 in Anwendung
brachten. Die Bongoträger, welche eine bewundernswerthe Gejhidlichkeit darin
bewiejen, aus gewiljen baftreichen Rinden ſtarke Seile zu drehen, indem ihr
jagd- und filchreiches Land einen großen Bedarf an aller Art Wildgarne und
Fiſchnetze Hat, mußten zunächſt für das taugliche Tauwerk jorgen. Gemandte
Schwimmer überjpannten nun den zwar an diejer Stelle jehr verengten, aber
mit einer Geſchwindigkeit von 200 Fuß in der Minute hinftürzenden Fluß der Art
mit den erhaltenen Seilen, daß jie zwei Lagen bildeten, eine unter der Ober-
fläche und eine zweite dicht über der Oberfläche des Waſſers befindliche. Mächtige
Pflöcke an beiden Ufern in den Boden gerammt, dienten al3 Stützpunkte für
dieje Seile, welche die Beitimmung hatten, eine aus zehn Mann formirte Fette
zu tragen, welche ſich die Laften der Träger Stüd für Stüd einander zureichten,
6i3 dieſelben an’3 andere Ufer gelangt waren. Dieje Leute hatten eine derartige
Aufftellung genommen, daß fie mit den Füßen auf den unteren Seilen rubten,
während die obere Lage derjelben ihrer Bruft als Lehne und Stübe diente, jo
daß die Männer der Kette in halb ſchwebender, halb balancirender Stellung
Ueber die Art de3 Reiſens in Afrika. 269
ihräg gegen den Strom ſich ftemmend, der Gewalt des Waljers Widerftand zu
leiften und ſich dennody dabei ihrer Arme frei zu bedienen vermodten. Man
wird der Energie meiner Leute das befte Zeugniß nicht vorenthalten dürfen,
wenn man bedenkt, daß jich in unſerer Karavane Elephantenzähne von 170 Pfund
Gewicht befanden und daß zwei Drittel aller Träger des Schwimmens völlig
unfundig erſchienen.
Sp groß nun auch die Hindernifje find, welche alle Flüſſe zur Regenzeit
dem Bordringen des Reifenden entgegenftellen, jo ericheinen fie doch geringfügig
im Vergleich zu der oft vielmal3 im Verlaufe eines einzigen Tagemarjches ſich
wiederholenden Mijere des Schlammbadens, die der Afrifareifende zu dieſer
Jahreszeit über ſich ergehen lajfen muß. Kein Laftthier wäre im Stande, die
großen Sumpfniederungen im beladenen Zuftande zu durchtwaten, welche allen,
jelbjt den kleinſten, Gewäſſern in dev Nähe der ſüdweſtlichen Wafjericheide des
Nilgebiet3 einen jo eigenthümlichen Charakter aufprägen. Dur) die legten
Tagebücher von Livingſtone find ähnliche Terrainverhältniffe im Gebiete des von
ihm entdedten Lualaba unter ! bi3 5 Grad jüdlicher Breite zur allgemeinen
Kenntniß gelangt. Meine Erfahrungen betreffen ein Gebiet, welches ji) unter
denjelben Graden, aber in nördlicher Breite und ungefähr unter demjelben
Meridiane ausdehnt. Zur Charakterifirung diejer eigenthümlichen Uferſümpfe,
deren Pafjage in der Negel eine halbftündige Anftrengung erheiichte, möge fol-
gende meiner Reiſebeſchreibung entlehnte Schilderung dienen, welche ſich auf den
Mebergang über einen Bad) an der Nordgrenze des Gebiet3 von Uando, eines
Häuptlings der Niamniam, bezieht.
„Set erſt begannen die ernftlichern Chicanen afrikaniſcher Fußwanderung,
denn ſolche Sümpfe mußten durchwatet werden; da wäre fein Wagen, ebenjo
wenig ein Reiter durchgekommen, auch tragen hätte man fic) nicht laffen können,
ohne die bejtändige Gefahr einer weit jchlimmern Unbequemlichkeit, nämlich der,
Kleider und Notizbuch), die man jo jorgjam auf dem Kopfe trug, in den ſchwarzen
Erdſchlamm gebettet zu jehen. Da lagen modernde Baumjtämme, die auf
ichlüpferiger Unterlage beim Betreten ſich drehten wie eine Welle, andere waren
glatt und boten dem Fuß feinen Halt, dann kamen tiefe Löcher von Wajjer
erfüllt, oder von ſchwimmender Begetation verrätheriſcherweiſe überdedte Fall—
gruben, da gab e3 ein Springen von Erdflumpen zu Exrdflumpen, mit Balan-
ciren und Zaften verbunden; vergebens jah ſich die Hand nad) Hülfe um,
ungaſtlich wieſen die jägeartig berandeten Pandanusblätter jeden Händedrud
zurück.
Weithin erſchallten die Einöden einer viele Meilen weit gänzlich unbe—
wohnten Wildniß von dem gellenden Geſchrei und dem Lärm der durch das
Waſſer plätſchernden Träger; des Schimpfens und Fluchens der Nubier und des
Gepolters der Sklavinnen mit ihren Schüſſeln, Kürbisſchalen und Calabaſſen,
wollte es im dichten Gedränge zwiſchen den ſtacheligen Dſchungels kein Ende
nehmen. An vielen Stellen übertönte ein luſtiges Halloh aus hundert Kehlen
den Wirrwarr der Stimmen; das galt dann immer einer Sklavin, die mit
ihrem ganzen Küchenkram in einer Lache verſchwunden war; und die Kürbis—
ſchalen trieben über ihr auf der trüben dicken Flut.
270 Deutiche Rundſchau.
Mit dem An= und Ausfkleiden und Durchwaten war indeß bei jolder Ge—
legenheit nicht alles gethan, denn nad) vollbrachtem Werk blieb noch das noth—
wendige Geichäft einer Reinigung vom ſchwarzen Schlamm und Humusmoder
übrig, der zähe am Körper haftete. Das tückiſche, jedem Eindringling in jeine
Geheimnifje jo abgeneigte Gentralafrifa ſchien da eine förmliche Schadenfreude
zu äußern, den weißen Mann wenigſtens für Kurze Zeit zu einem ebenſo
ſchwarzen Gebilde umzugeftalten wie die übrigen Menſchenkinder, die e3 groß-
gezogen; aus Malice wurden ihm da noch verjchiedene ebenſo ſchwarze Blut-
fauger angehängt. Nadt ftand er da und fröftelnd im Winde, zumal bei
nebeliger Morgenfühle der Regenzeit, bis Hilfreiche Geifter in irgendeiner nod)
unberührt gebliebenen Pfütze reines Wafjer zum Abſpülen entdedt hatten. Dann
wiederum, — eine ſchöne Beſcheerung! — fiel der Blick auf die dicken Blutegel, die
an den Beinen hingen; zum Pulverhorn mußte man greifen, um fie abfallen
zu machen, und die Kleider tränkten ji mit unnüß vergoffenem Blute. Alles
da3 im Getümmel de3 Zugs, bejprikt von den Tritten der Vorüberziehenden,
fauerte man ängjtlid) auf einem Polſter aufgeftapelter Farrnkräuter, oder auf
faulenden Baumftämmen ein trodenes Plätzchen juchend.“
Ich könnte Bände füllen, wollte ich jeden einzelnen Uebergang über Die
Bäche und Flüffe diejes Landes mit gleicher Ausführlichkeit behandeln, wie den
ſoeben geidhilderten.
Dod wenden wir uns nun twieder zu den Obliegenheiten des Trägers, in-
jofern fie der Bequemlichfeit de3 Reijenden in dieſen unwirthlichen Waldein-
öden gewidmet find. Unter die Dienftleiftungen, welche der ermüdete Reijende
von den Hunderten ihm zur Berfügung ftehenden Händen erivartet, gehört noch
das Einjammeln von dürrem Holz für die Lagerfeuer der Naht, das Herbei-
Ihaffen des Trinkwaſſers und auf der Jagd die Hülfe beim Zerlegen und Fort—
Ihaffen des erlegten Wildes. Wenn fih in der Nähe unjeres Pfades Wild
zeigte und die localen Verhältniſſe einer Verfolgung günftig waren, jo eröffnete
ih mit einigen Begleitern die Jagd. War dieje von Erfolg gekrönt, jo durfte -
deshalb noch nicht der lange Zug der Karavane in's Stocken gerathen. Unter-
breddungen der Golonne mußte man unter allen Umftänden zu vermeiden
Juden. Ich ſicherte mir in dieſem Falle meine Beute in der Weile, daß
ich einige Leute zurückließ, twelde das Wild abzuhäuten und zu zerlegen
hatten, während ich der Karavane al3 Nachzügler folgte, um vom Lagerplaße
der fommenden Nacht die zur Abholung des Tzleifches benöthigten Träger zu
entjenden.
In ſolchen Nächten kamen die Träger faum zur Ruhe, fie verbrachten
vielmehr die dem Schlafe abgerungenen Stunden mit dem Dörren des Fleiſches
über dem Teuer, au) war mir einige Male ihre Dienftfertigfeit, jobald es ſich
um etwas Eßbares handelte, bejonders bei der Anfertigung von Fleiſchextrakt
nad der Liebig'ſchen Methode von großem Nuben, indem fie mir die dazu ver-
wandten Maffen auf den mitgeführten Holgbrettern zerhaden mußten. Ueber—
haupt war die nächtliche Unruhe meines großen Reijetroffes eine derartig auf-
regende, daß erſt Wochen vergehen mußten, bevor ich mic) an diejelbe gewöhnt
hatte. Man vergegenwärtige ſich aber auch das grotesfe Bild, twelches die
Ueber die Art be3 Reifen in Afrika, 71
zahlreichen Gruppen der jchmaufenden, tanzenden und jchreienden Neger zur
Nachtzeit, nad) den Strapazen und Sorgen de3 Tages, dem Wanderer in afrifa-
niſcher Waldeinjamfeit vor die Augen führten:
Ein marktartiges Getümmel hat fih im Walde ausgebreitet, wo noch dor
wenigen Minuten der ſcheue Tritt einer flüchtigen Antilope weilte. Das laute
Gejumme der Plaudernden, Geftifulivenden, miteinander Streitenden wird ab
und zu von einem Fräftigen Gommandorufe unterbrochen, hin und wieder lodert
ein neue3 Lagerfeuer hoc) auf und da3 Dunkel des Waldes erjtrahlt von zahl:
loſen Lichtern. Jeder einzelne Träger ſchützt ſich, jo gut er kann, gegen den
falten Thau der Nacht, und die Aſche ift jeine Dede. Rauchwolken umhüllen
die ganze Lagerjcene, ein brennendes Gefühl in den Augen vericheucht jeden
Schlaf und fordert zur Bewunderung des herrlichen Sternenhimmels auf. Um-
floffen vom magiihen Mondihimmer ericheint dem Reijenden alles wie von
einem großen Theaterjchleier verdecdt, der allmälig ſich lüftend, im Hintergrunde
die Hölle ſichtbar werden läßt, mit Hunderten ſchwarzer Teufel, die auf ebenjo
vielen Flammen braten. So beſchaffen war mein tägliches Nachtlager, jo oft
ic von einer großen Trägerzahl begleitet reifte.
Zur Charakteriſtik diefer Art Reifen mögen noch einige Angaben über die
Ordnung des Zuges und die Beichaffenheit der Pfade auf den größtentheils jehr
ebenen Flächen von Gentralafrifa dienen. ch hatte vorhin erwähnt, daß bie
Träger, von ihren Dijtrikt3-Borgejeßten angeführt, an dem zum Aufbruch feit-
gejeßten Tage fih in der Chartumer Niederlaffung zu verfammeln hatten,
Dieſe Diftriftschef3 begleiten diefelben aucd) gewöhnlich während der ganzen Reiſe
als ihre Anführer und Aufſeher. Während des Marſches bilden die Träger
nad) ihrer Herkunft Gruppen, die zur Ordnung des Zuges immer ftrenge inne
gehalten werden müflen. Die mit Feuerwaffen ausgerüftete Söldnerichaar,
welcher auch während des Marſches jelbjt die Sicherftellung der ganzen Kara—
vane gegen feindliche Angriffe obliegt, wird in der Regel in drei Theile getheilt,
ein jeder mit jeiner Fahne an der Spitze. Die erjte Abtheilung eröffnet den
Zug, die zweite jchreitet in der Mitte jeiner Längenausdehnung, wo auch den
rauen ihr Plab angewieſen ift, einher, und die dritte beichließt den Zug. Der
Fahnenträger der Hinterften Abtheilung ift der legte Dann im Zuge und diefer
darf feinen Nachzügler mehr in feinem Rüden dulden.
Bei Alußpafjagen, beim Durchzuge durch dichte Uferwälder und an allen
Stellen, welche durch die Natur ihrer Localbeſchaffenheit eine exrceptionell erhöhte
Gefahr vor unerwarteten Ueberfällen darbieten (leßtere richten jelbjtverjtändlic)
eine Verwirrung ohne Grenzen an, und die Kugeln verfehlen im Waldesdidicht -
ihre Wirkung), werden wol aud) eigene Streifcorps formirt, welchen die Auf-
gabe zufällt, alle Büſche zu Seiten des Pfades frei zu halten.
Die Längenausdehnung der Trägercolonnen iſt in häufigen Fällen eine jo
beträchtliche, daß auf kurzen Tagemärjchen die Tete bereits Halt gemacht haben
fann, während die Queue noch kaum den Rauch der im Rücken gelajienen
Lagerfeuer aus den Augen verloren bat. Diejes eigenthümliche Verhältniß
findet jeine Erklärung in dem Umpftande, daß nach centralafrikaniſchem Reiſe—
brauch alle Träger ftet3 in einer Linie, einer hinter dem andern, wie im Gänje-
272 Deutiche Rundichau.
marjche, des Weges einherzuziehen haben. Die Entwidelung eines jolhen Zuges
bietet zur Morgenzeit, beim Aufbruche, ungeachtet aller Bemühungen der Zug—
ordner, oft ein Bild unbejchreiblicher Verwirrung, namentlich) wenn fi das
Nachtlager inmitten eines dichten Gehölzes befand. Mindeſtens eine halbe
Stunde iſt in joldem Falle erforderlih, um die geichloffene Reihe Herzuitellen.
Nur in wenigen Gegenden nämlich geftattet da3 Terrain im äquatorialen
Afrika ein Nebeneinhergehen in mehreren Reihen, denn der Graswuchs oder die
Bäume und das Unterholz treten jo diht an den Pfad heran, dab in den
meisten Fällen eben nur Raum für eines Mannes Breite frei bleibt. Aus der
Mitte des Zuges heraus die Téte zu gewinnen, war unter jolden Umftänden
fir mid, jo oft ich einen Vorſprung bei den fiir mich durch die nothiwendige
Entkleidung jo zeitraubenden Bach- und Sumpfpaflagen gewinnen wollte, faft
immer ein Ding der Unmöglichkeit. Alle Pfade in Gentralafrifa find von einer
derartigen Schmalheit, daß fie ſich während der Regenzeit wie enge Spalte in
der Prärie ausnehmen; rauſchend theilen ſich vor den Schritten des Wanderer3
die Wogen des Grasmeeres, und der von ihnen abgeitreifte Thau beneßt ſeine
Kleider gleich dem dichtejten Regen.
Selbft nad) erfolgtem Steppenbrande hindern die Stoppeln des ftarren,
oft rohrartig feſten Grajes jedes Fortlommen zur Seite des Pfades. Diefer
iſt gewöhnlid) jo tief ausgetreten, daß er einer Rinne gleichfommt, in welcher,
jo oft e3 geregnet, das angejfammelte Waſſer durch die Raumverdrängung To
vieler Füße in lebhaften Abflug geräth. Faſt aller Orten bejiten ſolche Pfad-
rinnen genau die Breite einer menſchlichen Fußlohle, und es fiel mir anfänglich
ſchwer, meine Gangart, ohne die Füße verftauchen zu machen, mit derjenigen
der Neger in Einklang zu bringen, welche ihre Fußtapfen gerade vor fich Hin
in ein und diejelbe Linie fallen zu laffen pflegen.
Die joeben auseinandergejehte Beichaffenheit der centralafritaniichen Pfade
schließt auch jede Anwendung von zwei- oder vierrädrigen Karren aus. Stanley,
der Livingftone- Finder, welcher ein derartiges Gefährt Probe halber mit auf
die Reife genommen, mußte dafjelbe, wie aus einer Abbildung in jeinem Werte
hervorgeht, Ichließlich auf dem Kopfe eines Trägers davon tragen lafjen. Aus
dem angeführten Grunde würde auch das Tragen von Sänften durch vier Men-
ichen dort zu Lande unmöglich jein, wenn die Träger nit im Stande wären,
in einer Linie hinter einander zu gehen. Zwei Träger genügen aber nicht für
die Laſt einer Bahre, welche den Körper eines ſchweren Menſchen trägt. Im
Nothfalle muß man überihüffige Träger zur Dispofition haben, um einen häufigen
Wechſel der ſchnell Ermüdeten eintreten laffen zu können.
Es giebt indeß ein Gefährt, welches in Gentralafrifa jehr wol zur An-
wendung gelangen und eine große Eriparnig an Trägerfräften zur Folge haben
fönnte. Jedem Reifenden, der China beſucht hat, wird es wolbekannt jein,
daß in jenem Lande ein Fahrzeug im Gebrauch ift, welches fid) auf quten,
feften Wegen außerordentlich zur Fortſchaffung ſchwerer Laften bewährt, obgleich)
zur Bedienung defjelben die Kraft eines einzigen Menſchen genügt. Es ift der
jogenannte hinefiiche Karren, welcher auf einem einzigen großen Rade ruhend,
(das letztere befindet fi) unter dem Schwerpimft der Laft, nicht vor demſelben,
Ueber die Art des Reiſens in Afrika. 273
wie bei unjeren Schiebefarren), da3 von einem Geftell zur Aufnahme der
Laſt überbrüct und überbaut wird und von einem Menjchen, der nur auf die
Wahrung des Gleichgewichts zu achten, im übrigen aber wenig Kraft zu feiner
Fortbewegung aufzubieten hat, vorwärts geichoben werden kann. Der chineitjche
Karren, welcher ſich auch wegen feiner großen Leichtigkeit im leeren Zuftande
für die Paſſage von Flüſſen und Sümpfen bejonders empfiehlt, dürfte aus—
nehmend zur Befahrung der jchmalen, wohl jehr feſten und harten, ftet3 aber
ebenen Pfade von Afrika geeignet erjcheinen. Nach meiner Berechnung würde
ein Reifender, welcher ſich diejes Fahrzeugs zur Fortichaffung jeines Gepäds
bedienen wollte, immer noch mit dem fünften Theil feiner gewöhnlichen Träger
auskommen, jelbjt wenn er zwei Menſchen, d. h. den einen zum Scieben, den
anderen zum Ziehen des Karrens, einipannen müßte.
In der That Hat der hinefiiche Karren bereit3 auf dem letzten Feldzuge
gegen die Aſchanti's Verwendung gefunden, nachdem er mir lange zuvor auf
allen meinen Wanderftraßen in Afrika beitändig als das deal künftiger Ge—
pädsbeförderung vorgeſchwebt hatte*). Zwei ſolcher Karren find vor Kurzem
unferer Afrikaniſchen Gejellichaft jeitens des britiichen Kriegsminifteriums zum
Geichent gemacht worden und nach der Loangoküſte abgegangen.
Ich Habe gleid) am Eingange erwähnt, daß das Reifen mit Ochjengeipannen
und großen ſchweren Wagen, welche eine Laft von über ziwanzig Gentner fort-
bewegen fönnen, im jüdlichen Afrika im Gebrauch ift. Alle Reifen in's
innere werden dajelbjt auf jolhen Wagen ausgeführt, welche ungefähr bis zum
zwanzigiten Grade jüdlicher Breite vorzudringen vermögen. Weiterhin gen
Norden behauptet die Thetſe-Fliege das Feld gegen jede Art Zugthier und der
Menſch tritt als Laftträger an ihre Stelle. Meines Erachtens würden ſich
dem Vordringen diejer Ichwerfälligen, aber überaus dauerhaften Gefährte, inner:
halb des Gebiets des Gazellenftromes bis zum fünften Grade nördlicher Breite,
feine Schwierigkeiten in den Weg ftellen. Auch an den nöthigen Zugthieren
dürfte e3 im jenen Gegenden nicht fehlen, wenn nur Leute vorhanden wären,
die fie abzurichten verftänden und die Wagen ſelbſt an Ort und Stelle geihafft
werden fünnten.
Der Gebraud jeder Art auf Rädern bewegter Vehikel iſt im Gelammt-
gebiete der Nilländer jüdlich vom eigentlichen Aegypten (man kann jagen, jüd-
(ih von Cairo) ein zur Zeit noch völlig unbefannter; jelbjt in Aegypten fehlt
es an Landitraßen, auf welchen Räder rollen, da fein Bedürfniß dazu vor—
handen ift, jo groß auch die Menge von Wagen aller Art in den beiden Haupt-
ftädten de3 Landes erjcheinen mag. Als eine bezeichnende Thatſache kann ich
e3 aufführen, daß zur Zeit meines letztes Beſuchs in Chartum, einer Stadt,
die 40,000 Einwohner zählt, nur ein einziger zweirädriger Karren exiſtirte,
deſſen Räder noch dazu verkehrt aufgeſetzt waren.
Aus den unverrückbar jtabilen Urzuftänden afrikaniſcher Wildniß heraus
hat jomit da3 Rad, diefer wichtige Hebel in der Gejammtceultur der hifto-
) Bol. Banb II, Eeite 323 und 324 meines Reifewerl3 „Im Herzen von Afrika“, woſelbſt
dieſer Gegenftand ausführlicher behandelt worben.
274 Deutiche Rundſchau.
riſchen Welt, unfere Betrachtung wieder den im Eingange berührten
der Neuzeit zugefehrt.
Legen wir uns alfo zum Schluffe noch die Frage vor: Wodurd) laſen ſich
die jetzigen primitiven und unzureichenden Transportmittel Centralafrika's er-
ſetzen, welche den Handel mit den tieferen Binnenländern nur auf die koſtbarſten
Producte, deren es ſo wenige in dieſem Welttheile giebt, beſchränkte und die
dem Vordringen der Forſchungsreiſenden jo unüberwindliche Hindermiſſe ſchaffen?
ſo muß ſich unſere Aufmerkſamkeit zeitgemäßer Weiſe zunächſt auf die Ver—
wendung der Dampfkraft richten. Sollen die Flüſſe ſchiffbar gemacht, ſollen
Eiſenbahnen erbaut werden?
Wie ſchon angedeutet, droht die den Flüſſen von Afrika zugewieſene Stelle
im Welthandel auch für alle künftigen Zeiten eine geringere zu bleiben, als ſie
es in irgend einem anderen Welttheile geworden. Die Verhältniſſe in den oberen
Nilgewäſſern ſtellen in dieſer Hinſicht ein ebenſo ungünſtiges Prognoſtikon, wie
diejenigen am Niger, welcher letztere bereits ſeit dreißig Jahren auf eine weite
Strecke ſeines Laufes von Dampfern befahren worden iſt. Ueberall fehlen die
Sammelpunkte des Handels an den Ufern, die eigentlichen Stapelplätze Liegen
oft weitab im unzugänglichen Binnenlande, und Europäer wie Araber mußten,
wo jie dem Handel eine erweiterte Bafis geben wollten, fich jelbjt erſt der-
artige Stapelpläße ichaffen. |
Was die vollftändige Erjchliegung des Nils zur ununterbrochenen Waſſer—
ftraße anlangt, jo würde eine Bejeitigung der ungeheuren Gataracte mehr Koften
verurjachen al3 die Anlage vielfaher Schienenwege an feinen Ufern. Die Er-
bauung einer ſolchen befindet ſich allerdings bereit3 im Werke, indem nad) dem
Plane des Ingenieurs Fowler von Uadi Halfa, am Beginn der zweiten Nil-
Gataracte, über Dongola und duch die Bejudafteppe eine Eifenbahn nad) Ehar-
tum im Baue begriffen ift; fie wird eine Länge von Hundert deutjchen Meilen
haben und die Koften find auf hundert Millionen Franken berechnet tworden.
Die Bedeutung des Nilthals für den Welthandel ift indeß, vergleichen wir
damit die übrigen Flußländer Afrika’s, in diefem Welttheile eine jo erceptionelle,
daß man die VBermuthung ausfprechen kann, die Vollendung de3 großen Baues
werde gewiß für lange Zeit ohne Nachahmung bleiben.
In allen Ländern bezeichnen die Eifenbahnen nur einen weiteren Ausbau
bereit3 vorhandener und zu hoher Stufe der VBolllommenheit gebradhter Commu—
nicationsmittel und Kunftftraßen; oder, wo dies nicht der Yall war, wurden
fie doch in Gegenden errichtet, die jich durch die Eröffnung von Schienentwegen
erft mit Menjchen zu füllen hatten, wenn dieje dazu angethan und willens
waren, einen großen Eifer für die Erſchließung der natürlichen Reihthümer zu
befunden. Sole Bedingungen fehlen in Gentralafrifa. Die Fruchtbarkeit
feines Bodens wird meift überſchätzt. Nie aber wird der Europäer fich in diejen
Gegenden zu acclimatifiren vermögen, er wird im günftigften Falle energiſche
Völker des Oftens an die Stelle der paffiven Negerftämme zu ſetzen ſuchen
müſſen, die eventuellen Bodenſchätze Afrika’ einmal von Chinejen- oder Indier—
band heben laſſen.
Ueber die Art bes Reifen in Afrika. 975
Einige Verbeſſerungen, welche fi) unter den gegenwärtig dargebotenen Ver—
hältniffen für die Beförderungsmittel im äquatorialen Afrita empfehlen Tießen,
habe ich bereit3 andeutungsweije berührt; ic) habe des chineſiſchen Karren er—
mwähnt und darauf hingewiejen, daß der Einführung ſüdafrikaniſcher Ochjen-
tagen in einem großen Theile dieſes immenjen Gebiets feinerlei ernfte Schwierig-
feiten im Wege ftänden; daß ſelbſt die Belaftung des Rindviehs in manden
Striden, wo weder Kameele noch Ejel Stand zu halten vermögen gegen die
Einflüſſe des Klima's, al3 ein willlommener Fortichritt in diefer Hinficht zu
begrüßen jein würde, babe ich auch gezeigt. Ich kann nur mit dem Rathe
ihließen, welchen ich ſchon öfters wiederholt habe und der, von maßgebenderer
Seite*) ausgehend, vor Kurzem die Runde durch unjere Zeitungen machte, der
indeß für immer in die Kategorie der „frommen Wünſche“ zu ftellen jein wird,
to lange noch menschliche Gewinnſucht die Gejchicke der Welt beherriht. Der-
jelbe lautet: „Bedient Euch zunächft jener Mittel, welche in diefen Ländern die
Natur Euch jelbft dargeboten, richtet den afrikaniſchen Elephanten ab, wie man
es vor ztweitaufend Jahren gethan, verzichtet auf den nußlojen Tand des Elfen-
beins, tretet dem Vernichtungskriege entgegen, welchen der Menſch diefem hod)-
begabten Geſchöpfe bereitet.“
) Dr. U. Petermann: Die deutſche afrikanische Expedition und ihre Beförderungsmittel.
4
—
41L
— IT.
5 14 ZN
\
Te — — .- — \
TT 21-722 — —.
Wal“ 1 u
nr —
* * *
64 „ui
| u. x
Ni 4
u N Rue Z
— — [3
Ferdinand Salfalle
bor der Agitation.
Bon Georg Brandes.
Flectere si nequeo Superos, Acheronta movebo.
Virgil-Lassalle.
Eins der Ereigniſſe, welche in diefem Jahrhundert Europa am meiften
überrafcht und verwundert haben,-ein Greigniß, da3 zu verftehen man rings in
den verichiedenen europäiichen Ländern immer nod) die mißlungenften Verſuche
macht, ift der Proceß, durch welchen das Deutſchland Hegel’3 fich in das Deutſch—
land Bismard’3 verwandelt hat. Bald ſpricht man, als ſei das alte Geſchlecht
urplößlic) ausgeftorben und der neue Stamm wurzellos in die Höhe geichoflen,
bald, ala habe eine wendiſch-ſlaviſche Pfropfung den Stamm verderbt oder ver-
edelt. Für Einige ift das neue Deutichland der Mann mit der eijernen Maske.
Das alte philoſophiſch-poetiſche Gefiht jei das wahre, und darüber habe ſich
jeßt das Preußenthum gelegt, wie die Maske über jenen unglüdlichen Gefan-
genen. Andere machen die Entdeckung, daß das alte harmlos romantiſche Geficht
eben die Maske gewejen jei, hinter welcher ſich die jet hervortretenden wahren
Züge heuchlerifch verbargen. Die eine diejer Anfichten ift jo unverftändig wie
die andere, und beide beruhen auf derjelben Unkenntniß vom Entwidlungs-
gange des modernen Deutſchlands. Wer diefen in der Literatur ftudirt, wird
Schritt für Schritt verfolgen fünnen, wie die Ideen, die Handlungsweije und
die Lebensanſchauung der neuen Generation ſich organiich aus denen der früheren
entwidelt haben. Die Kluft zwiſchen Hegel’3 und Bismarck's Deutjchland Füllt
ih dann für den Blick allmählich aus, die Phyſiognomien auf diejer und auf
jener Seite der Kluft zeigen verwandte Züge. Einzelne interefjante und ſcharf
marfirte Phyfiognomien, welche fich kräftig vom Hintergrund der Geſchichte ab:
heben, bezeichnen an und für ſich jchon den Uebergang und die Verſchmelzung
des Geiftesgepräges ziweier Generationen. Unter diefen Phyfiognomien hat
Deutichland kaum eine intereflantere und jchärfer geichnittene aufzuweiſen, als
die Ferdinand Lafjalle’3 Gr war geboren den 11. April 1825, und
Ferdinand Laffalle vor der Agitation. 977
ftarb an einer Duellwunde den 31. Auguft 1864. Gr war ein hervorragender
Schüler Hegel’, und man hat ihn feiner Zeit nicht ohne ſcheinbaren Grund
Bismarck's Lehrer genannt; denn läßt ſich eine directe Einwirkung auch nicht
nachweiſen, jo haben doc in der inneren wie in der äußeren Politif die Hand-
lungen des großen Staatsmanns auf entjheidenden Punkten das Programm
des philofophiichen Agitators genau zur Ausführung gebracht.
1
Mer Lafjalle kennen lernen will, muß mit dem Studium feiner Flug—
ichriften beginnen. Man bleibt nicht Kalt bei der Lectüre diefer Proja: ein
außerordentliches Wiſſen wird bier von einer durchaus modernen, ſtreng logiſchen
und ftreng ſachlichen, Beredtſamkeit beherricht, deren verhaltene Begeijterung
mit Feuerſchrift zwiichen den Zeilen ruht, um dann und wann aufzulodern;
eine unbeichreiblihe Kühnheit bei allen Angriffen wird von einer unerſchütter—
lichen, jtahlharten Feſtigkeit bei jeder Vertheidigung unterſtützt; Sprache und
Stil find ein Typus an ih. Bon Declamation keine Spur. Der Autor weiß
und vermag zu Viel, als daß er Luft haben follte, zu declamiren. Aber aud)
feine Spur vom Ballaft der Gelehrſamkeit. E3 ijt ein Schwerbewaffneter, der
bier jeinen Krieg führt; aber jelten ſah man jchwere Waffen jo leicht ge-
tragen. Aus gedrudten Quellen erfährt man nur Wenig über die Perſön—
lichkeit und das Leben diejes Schriftftellers. Wiederholte längere Reifen in
Deutichland haben mich indeß mit einer nicht geringen Zahl von Perjonen,
Männern wie Frauen, zufammengeführt, auf deren Urtheil ich Werth lege, und
die Lafjalle perjönlich gekannt haben. Wie man weiß, haben die öffentlichen
Stimmen über Lafjalle, jeitdem die Angriffe mit jeinem plößliden Tode ver-
ftummten, heut zu Tag einen ganz andern Charakter angenommen, als zu der
Zeit, da er noch am Leben war. Eine offene Anerkennung feiner Bedeutung
und feiner Gaben ift nicht jelten. Die Mehrzahl der Privaturtheile über ihn
lautet dagegen relativ ungünftig. Seine Privatbefannten haben jeine Schriften
meift nur flüchtig gelejen, feine Anfichten jelten oder niemals getheilt. Seine
Schwächen waren erfihtlih von jolder Art, daß man fein Piycholog zu
jein brauchte, um ſie zu entdeden, und der größte Theil des gebildeten Publi-
cums, wie der größte Theil der Privatbefannten öffentlicher Perjönlichkeiten,
heftet jich leicht an in die Augen fallende Schwächen, bejonder3 wenn eine ver-
götternde Anhängerjchaar dieje ganz überſieht. Ich erwartete nicht, von dem
höheren Bürgerſtande liebevolle Urtheile über einen Mann zu hören, der im
Kampfe mit der ganzen bürgerlichen Gejellichaft jeines Vaterlandes ftarb, und
der faſt allein kämpfte, während er die gejammte Preſſe zu Gegnern hatte;
dennoch geitehe ih, daß eine jo allgemeine Entrüftung, eine nad) meiner An-
ſicht fo unvollfommen begründete und nod) jo lebendige Mißftimmung wider
den Todten mir überraichend war. Bermuthlich hat man diefer Mikftimmung
die Schwierigkeit zu verdanken, die es koſtet, jich gegenwärtig eine vollitändige
Kenntniß von Lafjalle zu verichaffen. Cine gute, oder gar eine Geſammt—
Ausgabe jeiner Schriften eriftirt nicht; die meiften derjelben fann man nur von
einem joctaliftiihen Commiſſionär in Leipzig beziehen, deſſen grenzenlofe Unzu—
278 Deutiche Rundſchau.
verläffigfeit Einem die Anſchaffung faſt unmöglid macht; und was er
auf Lager hat, ift nicht nur auf dem erbärmlichften Papier gedrudt, jondern
obendrein durd) grobe und finnentjtellende Drudfehler verunftaltet*). Seltnere
Broſchüren findet man nicht einmal auf der königlichen Bibliothek zu Berlin.
Von biographiichen Aufklärungen und Briefen hat fat Nichts das Licht der
Deffentlichkeit erblickt **). Deütet nun dies Alles, wie bemerkt, auf eine noch
nicht erlojchene Mißſtimmung gegen Laflalle, jo ift diefelbe doch weit entfernt
davon, eine abjolute zu fein. E3 bat mich frappirt, daß man in der Regel mit
um jo mehr Wohlwollen, Anertennung, Wärme, Bewunderung von dem Ver—
jtorbenen jprad, je genauer man ihn gefannt hatte. Das Ipriht in hohem
Grade für Lafjalle; denn wirklich bedeutenden Geiftern ergeht es immer fo.
Während Die, welche nur durch da3 Preftige des Talents oder de3 Rufes blen-
den, wie der Papſt in Rom um ſo weniger gelten, je näher man ihnen kommt
oder fteht, finden bedeutungsvolle Perjünlichkeiten die größte Hingebung bei
Denen, die fie am beiten fennen. Ich babe nun ein Paar Jahre lang all’ dieſe
Urtheile und Aeußerungen jih in meiner Seele befämpfen und ausgleichen
lafjen, während ich aber- und abermals ihren Gegenftand mit demjelben unge-
ſchwächten Intereſſe gründlich ftudirte, und wenn id) mich jet von Neuem in
dies Thema vertiefe, Jo bilden all’ jene Anjchauungen im Verein mit all’ meinen
eigenen früheren und jpäteren Stimmungen und Eindrüden von ihrem Gegen-
jtande eine wunderbar vielftimmige Symphonie in meinem Innern. ch kenne
Laſſalle ſo genau, wie man ihn fennen kann, ohne ihn jemals gejehen oder ge=
hört zu haben; ich hege die zum Verſtändniß erforderliche Sympathie für die
Lichtſeiten ſeines Weſens, und ſehe ſie von den Schattenſeiten deſſelben begrenzt;
dazu müßte man in eben ſo hohem Grade, wie er, in der Philologie, Philo-
jophie, Jurisprudenz und Staatsöfonomie bewandert ſein; aber ich will ver-
juchen, den pſychologiſchen Grundriß für ein Portrait zu liefern.
63 ift jehr viel für und nod) ‚mehr gegen die von Lafjalle in jeinen letzten
Lebensjahren aufgeftellten Theorien gejchrieben tworden. .Mtan hat ihre Richtig-
feit angefochten und conftatirt. Es ift ein äußerſt hitiger Streit über die
Zweckmäßigkeit feiner letzten practiſchen Vorſchläge geführt worden. Das Ur—
theil in dieſem Streite zu fällen, halte ich mich nicht für befähigt, und mich
an demſelben zu betheiligen, ſpüre ich keine Luſt. Was ich aber gethan wünſchte,
und was ich, da noch kein Anderer Neigung dazu bewieſen hat, ſelber zu thun
verſuchen will, das iſt, wie Sainte-Beuve ſagen würde: faire acte de litterature
in Betreff Lafjalle'3, aufklären, was für eine Natur er war, die urjprüngliche
Grundlage feines Wejens, jeine tiefften jeeliichen Eigenſchaften und feine vor—
— Ideen, das Grundgepräge ſeines Geiſtes, die Form ſeines Talentes
*) Nur zwei Beiſpiele ſeien hier angeführt: „Damit fie durch feinen Reſt einer ſittlichen
felbftändigen Staatsanwalt beengt*, ftatt „Staatagewalt*, und: „St es Vorbereitung
zum Hochverrath, wenn ich Jemanden in einen unerlaubten Berein einzutreten auffordere?*
ftatt „in einen erlaubten”. Hochverrathsproceß 1864, ©. 38 und 43.
**) Bekanntlich proteftirte vor nicht gar langer Zeit Rodbertus gegen die Herausgabe feiner
bi Sog mit Yafjalle.
Ferdinand Lafjalle vor der Agitation. 279
aufdeden, mit Einem Wort, ihn ala Schriftjteller dharakterifiren, ohne dieje
Aufgabe mit der jehr davon verjchiedenen zu vermengen, welche Manchem jo
wunderbar leicht fällt: über eine der ſchwierigſten und brennendften Fragen un:
jerer Zeit das Endurtheil zu ſprechen.
Das Leben, welches ich entrollen will, wurde mit einer jo leidenjchaftlichen
Jutenfität und einer jo ftürmifchen Haft geführt, daß es der Mitwelt gleich-
jam vorüber flog, ehe fie zur Befinnung darüber gelangen fonnte. Laſſalle's
ſtreng wiſſenſchaftliche Werke waren feine Lectüre für die gewöhnliche gebildete
Welt, und jeine Flugſchriften fonnten für Die, welche fie lajen, nur theilweije
verjtändlich jein. Als kritiicher Denker fteht er unangefochten da. Keiner, den
jeine Hand getroffen, hat jemals den Schlag verwunden. Es bejagt Wenig, ob
ein ausgezeichneter Mann der Wiſſenſchaft ſich in diefem oder jenem einzelnen
Punkte geivrt hat. Die Fluth der Zeit jpült den Irrthum fort, die Menſch—
heit exbt den Reft.
2
—
Der alte griechiſche Philoſoph Heraklit, welcher ſo lange der Gegenſtand
von Laſſalle's Studien war, bediente ſich einer Menge verſchiedener ſinnbildlicher
Ausdrücke, um ſein Princip zu bezeichnen: Feuer, Strom, Gerechtigkeit, Krieg,
unſichtbare Harmonie, Bogen und Leier; ſie fallen Einem unwillkürlich ein,
wenn man nach einem Symbol ſucht, welches das Lebensprincip Ferdinand
Lafjalle’3 bezeichnen könnte. Irgendwo in einem Briefe, der voll Ungeduld
über die langſame Entwidlung der Ereigniffe ift, gebraucht Laſſalle den Aus—
drud: „meine glühende Seele”; unter Tauſenden, welche eine Redensart tie
dieje, die zur Phraſe geworden ift, anwenden möchten, hat er allein jie ohne
Uebertreibung gebraucht; in jeinem tiefften Innern war wirklich Etwas, das
dem Teuer glih. Seine glühende Liebe zur Wiſſenſchaft und zur Erweiterung
feiner Kenntniſſe, fein Durft nach Gerechtigkeit und Wahrheit, jeine Begeifterung,
fein unbändiges Selbftgefühl, feine tiefe Eitelkeit, fein Muth, jeine Freude an
der Macht: Alles trug denjelben flammenden und verzehrenden Charakter. Ein
Lichtbringer war er und ein Flammenbringer; ein Lichtbringer, verwegen und
trogig wie Lucifer ſelbſt, ein Fackelträger, der gern fich jelber durch den Schein
der Tadel, mit welcher er Klarheit brachte, in volle Beleuchtung ftellte —
grand oseur et grand poseur. — In der Welt Heraklit's waren der Bogen und
die Leier im Verein das herrichende Princip; die Leier ift das Symbol der Har—
monte, d. 5. der vollendeten Bildung, der Bogen mit jeinem tödtlichen Sonnen-
pfeil bezeichnet Thätigkeit und Vernichtung. Auch in Laffalle'3 Geifte herrichten
Bogen und Leier im Verein, die vollendete theoretiihe Bildung und der rajt-
Ioje practiiche Thätigkeitsdrang. Selten ift in der Weltgeſchichte ein folder
Verein theoretischer und practiicher Begabung erblictt worden. Aber Der, wel-
cher Laffalle im Beginn feiner Laufbahn beobachtet hätte, würde, wenn er einen
zugleich ſympathiſchen und vorwärtsjchauenden Blick beſaß, auf ihn die Worte
haben anwenden können, die er jelbft von dem alten neuplatoniihen Denker
Marimos von Tyrus erwähnt: „ch verjtehe den Apollo, Bogenſchütze ift der
Deutſche Rundſchau. T, 5. 19
280 Deutſche Rundſchau.
Gott und der Tonkunſt Gott, und ich liebe ſeine Harmonie, aber ich fürchte
ſeine Geſchoſſe“ *).
Laſſalle war in Breslau geboren; ſein Vater war ein nicht hervorragend
begabter, aber braver und rechtlicher Kaufmann, beide Eltern iſraelitiſch. Der
Sohn war urjprünglic für den Handeläftand beftimmt,; da er jedod) auf der
Handelsichule zu Leipzig nur geringe Fortichritte machte, beſchloß man, ihn
durch Privatunterricht in jeiner Vaterſtadt ji) auf die Univerjität vorbereiten
zu lajjen. Laſſalle war jein ganzes Leben hindurch der Liebevollfte Sohn, und
das Verhältniß zwiſchen ihm und feiner Familie nach jüdiſcher Werje ein ehr
inniges ımd feites. Die Mutter hing während Laſſalle's ganzer Laufbahn mit
größter Begeifterung an dem Sohne, fand fih in Alles, was er unternahm,
und fand zulegt Alles qut. In dem Alter, wo alle Knaben najeweis find und
ſich gern aufjpielen, war Lafjalle ein ungewöhnlich najeweijer und vorlauter
unge. Was er jelbjt in feinem jpäteren Leben jo oft als jeine „Frechheit“
bezeichnete, verrieth jicd) Ihon damals. Wir ftehen hier bei dem Racenmerkmal
in feinem Gemüthe, der Grundform jeines Temperamentes, bei der Eigenſchaft
in ihm, deren Keim am treffenditen durch das jüdiſche Wort „Chutzpe“ be:
zeichnet wird, das zugleich Geiftesgegenwart, Frechheit, Dummbdreiftigfeit, Un—
verihämtheit und Unerjchrodenheit bezeichnet, und das fich leicht als das Ertrem
begreifen läßt, in welches die Furchtſamkeit und die erziwungene Nachgiebigkeit
einer zwei Jahrtaufende lang gequälten und unterdrüdten Race naturgemäß bei
einbrechender Gultur umſchlägt. Wenn Lajjalle bei einem jeiner Griminalpro-
cefje in jeiner Vertheidigungsrede, troß der Drohungen des vorjigenden Richters,
ihm das Wort zu entziehen, den Staatsanwalt verhöhnt, und als ihm das
Wort wirklich entzogen worden ift, ſich das Recht erzwingt, weiter zu reden,
indem er jet eine Discufjion darüber eröffnet, in wie weit es zuläſſig jet, ihm
das Wort zu entziehen, jo ift das „Chutzpe.“ Dieje „Chutzpe“, welche bei ge
wöhnlichen Individuen diefer Race in der Geftalt von Aufdringlichkeit oder un:
berechtigter Sucht, ſich hervorzudrängen, mitunter jo widerlih, als Unverblüfft-
heit und Geiftesgegenwart mitunter jo ergößlich und gejcheit ift, war bei ihm, in
deilen Seele jo große Gaben ſchlummerten, nur das Element, aus welchem fein
perjönlicher Thatendrang ſich entwidelte, und dejlen Farbe jein Thätigkeitseifer
ftets behielt. Sein Drang und feine Fähigkeit, zu handeln, waren nämlich nit
der reine — angelſächſiſche oder amerikaniſche — Unternehmungsgeift, der nur
raftlos und practifch Ichaffen und ordnen will. Es war ein Thätigfeitsdrang,
der Widerftand fuchte, und nur lebte und athmete in der Oppojition. Ein
deuticher Dichter, der Laſſalle nur ein einziges Mal in einem Concerte gejehen
hatte, jagte mir: „Er jah aus wie lauter Troß; aber auf feiner Stirn lag eine
ſolche Thatkraft, daß e3 Einen nicht hätte wundern mögen, wenn er jich einen
Thron erobert hätte.” — Im innerften Kern alſo eine Thatkraft, die Hinder-
niſſe aufjuchte und Hindernijje überwand, und die fich alle Mittel zum Siege,
die in jeinem Gemüth lagen, dienjtbar machte: Kaltblütigleit, Kampfluft, Chr:
*) Laſſalle: Die Philojophie Heratleitos des Dunkeln von Epheſos. Bd. I, ©. 111.
Ferdinand Lafjalle vor der Agitation. 281
geiz, Herrſchſucht, unüberwindliche Sicherheit des Auftretens im entjcheidenden
Augenblid.
Schon als Knabe von fünfzehn bis jechzehn Jahren warf Lafjalle fi in
einer den häuslichen Frieden ftörenden Angelegenheit zum Familienchef auf, trat
Aelteren und Erwachſenen gebieteriich gegenüber, und oxdnete durch jein ener-
giſches Benehmen eine ſchwierige Sache. Als dreiundzwanzigjähriger Jüngling
pflegte er während jeiner erften halbjährlichen Unterſuchungshaft, weit entfernt,
fi der Gefängnigordnung zu fügen, den Schließern Befehle zu erthetlen, und
wollten dieje ihn irgendiwie ihre Autorität empfinden laffen, jo führte das zu
den beftigften Auftritten. Als er erfuhr, daß feine Schwefter ein Gnadengeſuch
für ihn eingereicht Hatte, richtete er jofort ein Schreiben an den König, um ſich
gegen jedes Mißverſtändniß zu ſichern. Es war Etwas von einem Gäfar in
diefem Jüngling, den geängftigte Bürgersleute dereinft für einen Gatilina
halten jollten. Er war für die Macht geichaffen, er war zum Herricher ge-
ftempelt, und da er nicht al3 Prinz oder Edelmann, jondern als Kind des
Mitteljtandes und einer zurückgeſetzten Race geboren war, jo wurde er Denker,
Demokrat und Ngitator, um auf diefem Wege da3 Element zu erreichen, für
das er geihaffen ward. Nicht al3 ob Lafjalle ſich deſſen bewußt gewejen wäre,
Allein Bieles, was dem Bewußtſein ala Ziel vor Augen fteht, ift für die Natur
blos Mittel, und die Natur in ihm dürftete nad) Macht, Geltung, ja jelbit
nad dem Glanze und den Jubelrufen, die dem bedeutenden Führer eines Volkes
oder eines Standes zulommen, und zwar zu derjelben Zeit, wo fie ihn auf der
äußerften Linken geboren werden ließ und ihm al3 Erbtheil die Unfreiheit und
das Unrecht von Jahrhunderten zu rächen gab — mußte er ſich da nicht früh:
zeitig zugleich als Revolutionär und ala Chef fühlen? Dieje Anlagen begegneten
ih mit dem Einfluffe dev modernen Wiljenichaft, und Laffalle war zum Manne
der Wiſſenſchaft angelegt; aber die ganze moderne Wiſſenſchaft arbeitet ihrem
Weſen nad) im Dienste des radicalen Fortichritts, und je tiefer Jemand von
ihrem Geijte ergriffen ift, deſto ftärfer fühlt er fi) zur Oppofition wider Alles
getrieben, wa3 nur die Autorität des lleberfommenen befikt.
Sp früh indeß Lafjalle als Knabe heranreifte, war dieſe frühe Reife doc)
weit davon entfernt, das Kind in ihm zu verwijchen oder zu tödten. Er gehört
nicht zu den Männern, welche niemals Kinder gewejen find; er gehört zu denen,
welche jtet3 etwas Kindliches bewahrten. Man darf fi) nicht durch Spiel-
hagen’3 rein dichteriiche Schilderung des Helden in „In Reih’ und Glied“ zu
der Annahme verleiten lafjen, daß Laſſalle der blafje, ſchweigſame, ewig ernſt—
bafte Knabe wie Leo geweſen jei. Er hatte noch al3 Mann viel Gefühl, viel
Gemüth, beſaß nur wenig Selbftbeherrfhung im Privatleben, ließ der Erbitte-
rung und Herrſchſucht freien Lauf, und fügte ji im nächſten Augenblid mit
vollendeter Liebenstwürdigkeit; er konnte Kind fein und Ninderftreiche verüben,
jo gut wie Einer. Zu dem Kindlichen, ja Kindiſchen bei ihm gehörte jeine Liebe
für alles Glänzende und feine Sucht, zu glänzen. Er, der Demokrat, Eleidete
fi) wie ein Dandy, mit ausgejuchter Gleganz à -quatre Epingles, wenn auch
mit Geihmad. Gr legte Werth darauf, jeine Zimmer geihmacvoll eingerichtet,
ja geihmüct zu jehen. Man fand in jeinem Haufe nicht nur Eleganz, jondern
19 *
282 Deutſche Rundican.
einen Anflug von Decoration. Laſſalle unternahm im Anfang der fünfziger
Jahre zwei Reifen nad) dem Orient und brachte von denjelben Draperien und
Kumftgegenftände heim, mit denen er jeine Wohnung ausftattete. Er war ein
bischen Schauspieler, wie Herrichernaturen es nicht jelten find (man dente an
Napoleon, Byron 2c.). Seine Diner? und Souper3 waren die gewählteften und
feinften in Berlin, zu derjelben Zeit, wo er der Fürſprecher der Arbeiter war.
Hierin liegt keineswegs, was man vielleiht darin jehen möchte, ein directer
Widerſprach, jondern ein Gegenjaß, wie man ihn bei einer reihen und compli-
cirten Natur, bei einem mit lebhaften Schönheitsfinn ausgeftatteten Jakobiner,
bei einem mit prächtig verzierten Waffen kämpfenden Revolutionsjoldaten, bei
einem Manne findet, der noch nicht ganz das Kind abgejchüttelt hat. Es war
zugleich etwas höchſt Modernes und etwas in hohem Grade Antikes in Laſſalle's
Geiftesanlage, und dies Antike war wiederum doppelter Art. Er war ein
Alkibiades an Genußſucht und Fähigkeit, jich in allen Umgebungen zurecht zu
finden, unter Männern der Wiſſenſchaft wie unter Männern der Revolution,
im Gefängnifje wie im Balljaale, der „in feiner Jugend mit derjelben Gleich—
gültigkeit ind Gefängniß ging, wie ein Anderer zum Ball“*), — und er war
ein antiker Römer an Willensftärke, Thatkraft, politiihdem Scharfblid und Talent,
zu erobern und zu organifiren.
Von feiner Begeifterung für die claſſiſche Vorzeit geleitet, begann Laſſalle
auf den Univerjitäten zu Breslau und Berlin Philologie und in Verbindung
damit Hegel'ſche Philofophie zu ftudiren, deren dialektiiche Methode er fich mit
Eifer und Entzüden aneignete. Gleichzeitig jog er die revolutionären Ideen
des jungen Deutjchlands ein. Als er die Univerjität verlaffen hatte, lebte er
al3 junger unabhängiger Privatmann am Rhein, und ftudirte zu Düffeldorf
und während eines Aufenthaltes zu Paris im Jahre 1845 griehiiche Philologie
und Philoſophie.
. In Paris lernte der damals zwanzigjährige Laſſalle Heinrich Heine kennen,
und man befommt einen hohen Begriff von der Genialität des jungen Stu:
denten, wenn man fieht, in welchem Maße er den Ariftophanes feines Zeitalters,
der ſich doch wahrlich jo leicht nicht dupiren ließ, für fi) einnimmt und blendet.
Man befommt ebenfalls einen hohen Begriff von dem pſychologiſchen Scharf:
blict des Dichters, wenn man fieht, mit welchen Ausdrüden er zu und von
Demjenigen fpricht, der ihm gegenüber doch an Geift und Jahren noch wie ein
Kind ericheinen mußte. Laſſalle hat fich erjihtlih mit gewohnter Energie des
franten und verlaffenen Dichter in jeinem Erbichaftsftreite angenommen, und
durch fein Fräftiges Auftreten ihm einflußreiche Verbündete in diefer für ihn jo
wichtigen Angelegenheit verihafft. In den Briefen an Lafjalle**), den Heine
jtet3 „feinen liebften, theuren Freund“, „jeinen theuerften Waffenbruder“ nennt,
ſtößt man auf Neußerungen wie folgende: „Heut bejchränfe ich mich darauf,
Ahnen zu danken; noch nie hat Jemand jo Biel für mich gethan. Auch habe
ich noch bei Niemand jo viel Paſſion und Verftandesklarheit vereinigt im Handeln
*) Proceh in Düfleldorf den 27. Juni 1864, am Schluffe.
**) 9. Heine’3 Briefe, dritter Theil. Briefe vom Februar 1846,
Ferdinand Lafjalle vor der Agitation. 283
gefunden. Wohl haben Sie das Recht, Frech zu jein — wir Andern ufurpiren
blos diejes göttliche Recht, dieſes himmliſche Privilegium. In Bergleichung
mit Ihnen bin ich doch nur eine bejcheidene Fliege.“ — Und an einer anderen
Stelle: „Leben Sie wohl und jein Sie überzeugt, daß id) Sie unausſprechlich
liebe. Wie freut e8 mich, daß ich mich nicht in Ahnen geirrt; aber auch Nie-
manden habe ich je jo viel getraut, — ich, der ih jo mißtrauiſch durch Er-
fahrung, nicht durch Natur. Seit ich Briefe von Yhnen erhielt, ſchwillt mir
der Muth und ich befinde mich beſſer.“ Es wirkt faft rührend, den ſechsund—
vierzigjährigen Mann, den großen, von jo vielen Leiden gebrochenen Dichter
Schuß bei diejer jungen Seele von Eiſen fuchen zu jehen, deren Willen zwanzig
Winter zur Unbeugſamkeit geftählt haben, und der noh Muth für Alle übrig
hat, die um ihn her Hagen und ich beſchweren. Heine, der bei Laſſalle Hilfe
juht — die Antilope, die ih unter den Schuß des jungen Löwen ftellt! —
Eine Andeutung in einem Briefe an Ferdinand's Water beweilt, daß Laſſalle
Heine gegenüber al3 eifriger Atheift aufgetreten ift. Keine „möchte jein Geficht
jehen“, wenn ihm zu Ohren fommt, daß er, der todtfranfe Dichter, ih zum
Deismus befehrt habe. Andere Andeutungen und Necdereien beweiſen, daß
Laſſalle in Paris weiblichen Herzen nicht ungefährlih war. Glücklicherweiſe ift
uns in einem Briefe Heine's an Varnhagen von Enſe (vom 3. Januar 1846)
eine vollftändige Schilderung Ferdinand Laſſalle's aufbewahrt, eine Schilderung,
die nicht mur als ein treffendes Product der ficherften und feinften Feder, welche
Deutichland damals beſaß, denkwürdig, jondern doppelt intereffant ift, weil fie
uns ein Bild von Lafjalle giebt, wie er war, ehe die Deffentlichteit jeine Exiſtenz
fannte, und ehe er jelbjt in der Literatur aufgetreten war. Wir haben bier
einen Yafjalle avant la lettre:
„Dein Freund, Herr Lafjalle, der Ihnen diejen Brief bringt, ift ein junger
Mann von den ausgezeichnetften Geiftesggben: mit der gründlichiten Gelehr-
ſamkeit, mit dem weiteften Willen, mit dem größten Scharffinn, der mir je
vorgekommen, mit der reichjten Begabniß der Darftellung, verbindet er eine
(Energie des Willens und eine Habilite im Handeln, die mid) in Erftaunen
jegen, und wenn jeine Sympathie für mich nicht erliſcht, jo erwarte ich von
ihm den thätigjten Vorſchub. Jedenfalls war diefe Vereinigung von Willen
und Können, von Talent und Charakter, für mich eine freudige Erſcheinung ...
Herr Lafjalle iſt nun einmal jo ein ausgeprägter Sohn der neuen Zeit, die
Nichts von jener Entfagung und Bejcheidenheit wiſſen will, womit wir uns
mehr oder minder heuchleriich in unſerer Zeit hindurchgelungert und hindurch—
gefajelt. — Dieſes neue Gejchleht will genießen und ſich geltend machen im
Sichtbaren; wir, die Alten, beugten uns demüthig vor dem Unfichtbaren, haſchten
nah Schattenküſſen und blauen Blumengerüchen, entjagten und flennten, und
waren doch vielleicht glücklicher, al3 jene harten Gladiatoren, die jo ſtolz dem
Kampftode entgegen gehen.“
Was für Worte! in jeder Zeile das auf den Grund jchauende Künftler-
auge, die Meifterhand und das feine Schaltslädheln, und dann im Schlußſatze
des Sehers prophetiicher Zukunftsblick!
284 Deutiche Rundichau.
Den 11. Auguft 1848 ftand vor dem Aſſiſenhofe zu Düffeldorf, der moralijchen
Mitihuld an einem Cafjettendiebftahl angeklagt, ein Yüngling von einem ftolzen
und einnehmenden Aeußern, das in dem gerichtlihen Signalement folgender-
maßen bezeichnet wird: „Ferdinand Lafjalle, 23 Jahre alt, Privatmann, geboren
zu Breslau, zulegt wohnhaft zu Berlin, 5 Fuß 6 Zoll groß, mit braunen,
fraufen Haaren, freier Stirn, braunen Augenbrauen, duntelblauen Augen, pro-
portionirter Naje und Mund, rundem Kinn, länglidem Geficht und fchlanter
Statur”. Der jo fignalifirte junge Mann hielt an jenem Tage eine Verthei-
digungsrede, deren Gleichen das biedere Gejchtworenengericht niemals gehört
hatte. Gr war angeklagt, vor zwei Jahren zwei andere junge Leute, die aleich
ihm in dem Hatzfeldt'ſchen Scheidungsprocejje eifrigft für die Gräfin Sophie
von Habfeldt Partei genommen hatten, dazu verleitet zu haben, der Geliebten
des Grafen ein Käftchen zu entwenden, in welchem man wichtige Documente ver-
muthete. Das Gericht verurtheilte ihn, aber die höhere Inſtanz caffirte das
Urtheil. Laſſalle's Bertheidigung entwicelt, welches Motiv ihn dazu veran-
laßte, die Sache der Gräfin zu führen:
„Die Yamilie ſchwieg. Aber es heißt: wo die Menjchen ſchweigen, werden
Steine reden. Wo alle Menjchenrechte beleidigt werden, two jelbft die Stimme
de3 Blutes ſchweigt und der hilflofe Menſch verlaffen wird von jeinen geborenen
Beſchützern — da erhebt fih mit Recht der erjte und lebte Verwandte des
Menſchen, der Menſch. Sie Alle kennen und haben mit Empörung gelejen die
entjegliche Gejhichte der unglüdlichen Herzogin von Praslin. Wer von Ihnen
hätte fich nicht beeilt, ihr in ihrem Todeskampfe beizuftehen? Nun wohl, meine
Herren, ic) jagte mir: hier ift zehnmal Praslin. Denn was ift der kurze Todes-
fampf einer Stunde gegen die Qualen eines durch zwanzig Jahre verlängerten
Todesichmerzes! Was find die Wunden, die ein Mefjer jchlägt, gegen den lang:
ſamen Meucdelmord, den man mit raffinirter Grauſamkeit an der ganzen ri:
ftenz eines Weſens begeht, gegen dies ungeheure Weh einer Frau, in der man
zwanzig Jahre hindurch Tag für Tag jedes Lebensrecht mit Füßen tritt, jedes
Recht des Menſchen beleidigt, die man, um fie ungeftraft zu mißhandeln, vor-
her gefliffentlich der Verachtung preiszugeben verſucht hat!“
Der junge Mann, twelcher, in einer jo eigenthümlichen Sadje angeklagt, jo
ritterliche Gefühle an den Tag legte, hatte, neunzehn Jahre alt, zu Berlin die
damal3 etwa doppelt jo alte, aber jchöne und imponirende Gräfin (geborene
Fürſtin) von Habfeldt kennen lernen, und gerührt von ihrem Unglück, ftürzte er
ſich in den Proceß zwiſchen diejer hochftehenden Dame und ihrem Gemahl. Der
in die „Caſſettengeſchichte“ verwickelte junge Dr. Mendelsſohn führte ihn zuerft
bei ihr ein, und vielleicht ift die Annahme nicht zu kühn, daß die bedeutende
Schönheit des blutjungen Mannes, feine elegante Erſcheinung und feine wunder:
ſchönen dunfelblauen Augen einen jehr günftigen Eindrud machten. Ein Freund
Laſſalle's hat mir mitgetheilt, daß Derjelbe, kurz nachdem er die Bekanntſchaft
der Gräfin gemacht, zum Grafen ging und ihn forderte. Als der hochgeborene
Junker in feiner fürftlihen Stellung nur damit antwortete, den „dummen
Ferdinand Laflalle vor ber Agitation. 285
Judenjungen“ auszulachen, beſchloß Laflalle ernftlih, die Sache der Gräfin in
feine Hand zu nehmen. Gr begleitete fie nad Düffeldorf und widmete fortan
Jahre feines Lebens hindurch feine ganze Kraft dem Kampfe für ihre Bermögens-
interefjen und ihre gejellichaftlide Stellung.
Dan begreift, daß die Eltern im erften Augenblid mit Kummer und Sorge
Laffalle aus jeiner Bahn getrieben ſahen, um das Recht einer ihnen ganz fremden
Perjönlichkeit zu verfechten. Er hatte als Philolog frühzeitig die ungewöhn-
lichften Gaben an den Tag gelegt. Männer wie Boeckh und Alerander von
Humboldt verhießen dem jungen Gelehrten, dem „Wunderfinde”, wie Humboldt
ihn nannte, die glänzendſte Zukunft, und die Mutter hätte in dem Sohne gern
einen Profeſſor gejehen. Sie fand ſich jedoch bald in das Gejchehene, zumal
man ihr einleuchtend machte, daß Ferdinand ala Jude doc alle Wege zu einer
Univerfitätscarriöre verjperrt finden würde. Am hHärteften war es gewiß für
ihn ſelbſt, feinen begonnenen Studien entriffen zu werden. Sein großes Werk
über Heraflit, das Anfangs 1846 jchon bis auf einen geringen Theil fertig aus—
gearbeitet war, erblickte durch diefe gewaltfame Ablenkung erſt 1858 das Licht
der Deffentlichkeit.. Er jagt mit Bezug hierauf in jeiner Vertheidigungsrede:
„Auch mein Blick, meine Herren, war jeit je vorzugsweiſe auf die allge-
meinen ragen und Angelegenheiten gerichtet, und ich hätte vielleicht ange—
ftanden, zur Beſſerung eines blos individuellen Mißgeſchickes meine ganze Fähig-
feit zu verivenden, meine ganze Laufbahn wenigftens auf Jahre zu unterbrechen,
obſchon es herzzerreißend ift für einen Menjchen von Herz, einen anderen Menjchen,
den er für qut und edel hält, hilflos untergehen zu jehen mitten in der Givi-
ijation der Gewalt gegenüber! Aber ich ſah in diejer Angelegenheit auch all-
gemeine Standpunkte und Principien verkörpert. Ich ſagte mir, daß die Gräfin
ein Opfer ihres Standes jet, ich jagte mir, daß man nur in der übermüthigen
Stellung eines Fürſten und Millionärs jolche Unthaten, jolche Beleidigung der
Gejellichaft in ihrer fittlichen Tiefe ohne Scheu wage und wagen dürfe... .
Ich verhehlte mir keineswegs die Schwierigkeit dieſes Unternehmens. Ich ah
wohl, welche ſchwierige Aufgabe es jet, dies verjährte, hiftoriich gewordene Un-
recht aufzuklären, wie es, wenn e8 zum Proceß käme, meine ganze Thätigkeit
ausſchließlich erfordern und jomit eine lange Unterbrechung meiner eigenen Car—
riere ernöthigen würde, dieje verwickelten Verhältniffe zu Ende zu führen; ich
wußte recht wohl, wie jchwer es ift, einen falſchen Schein zu beſiegen; ich ver-
hehlte mir nicht, welche furchtbare Gegner Rang, Einfluß und Reihthum find,
und daß nur fie ftet3 und ftet3 Alliancen finden in den Reihen der Bureau
fratie, welche Gefahr jomit ich jelbft dabei laufen fünnte. Ich mwuhte dies,
ohne daß es mich hindern Eonnte. Ich beihloß, dem falſchen Scheine die
Wahrheit, dem Range das Recht, der Macht des Geldes die des Geiftes entgegen
zu jeßen. Die Hindernifje, die Opfer, die Gefahren jchredkten mich nicht; hätte
ich aber gewußt, welche unmwürdige und infame VBerleumdungen mir entgegen
treten, wie man die reinjten Motive mir gerade in ihr Gegentheil verdrehen
und verfehren, und welchen bereittiwilligen Glauben die elendeften Lügen finden
würden, — nun, ich hoffe, mein Entichlug wäre auch dadurch nicht geändert
worden, aber es hätte mir einen ſchweren, einen jchmerzlichen Kampf gefoftet.“
286 Deutſche Rundicau.
Durch die Verhältniffe, durch die Anfpielungen der Anklageacte, durch Ge-
rüchte und Klatjchereien gezwungen, kann Laffalle nicht umhin, der gegen ihn
gerichteten Beſchuldigung zu gedenken, als ftünde er in einem Liebesverhältnifie
zu feiner Clientin. Nichts, jagt er, werde allgemeiner geglaubt, ala dieſe Be-
Ihuldigung. Dagegen zu proteftiren, wäre lächerlich geweſen. Er beruft fich
auf das, was achtungswerthe Zeugen als ihre Meberzeugung von diefem Ber-
hältnifje ausgejprochen, auf vorgelegte Briefe von ihm jelbft, aus welchen da3
Gegentheil hervorgehe. Er erklärt, weshalb er in diefer Sache überall auf Un—
glauben geftoßen jei:
„Es ſprachen mir, meine Herren, jehr angejehene Männer diejer Stadt,
Männer, die mir wohlwollten, Männer, die über meine Verhältniffe Erkundi-
gungen eingezogen und durch die ehrenvollen Aufichlüffe, die fie erhalten hatten,
an einen ſchmutzigen Eigennuß nicht glauben konnten, diefe Männer jpracdhen
mir jelbjt ihre Ueberzeugung aus, daß ich jchlechterdings in einem Liebesverhält-
niffe zu der Gräfin ftehen müſſe! Und als ich mir zu fragen erlaubte, worauf
fie die Annahme gründeten, da wurde mir eben jo offen geantwortet: Auf
Nichts — auf Nichts in der Welt ala darauf, daß ſich jonft eine jo große Auf:
opferung für eine fremde Sache gar nicht erklären ließe! Dieſe Männer, meine
Herren, ich gebe es zu, urtheilten als gereifte Weltfenner und Erfahrungs:
menjchen. Aber fie überfahen Eins. Sie überjahen meine Jugend, und fie über-
jahen, daß, wie jehr auch unjere Zeit die des Egoismus jein mag, die Jugend
doch zu allen Zeiten das Alter der Uneigennüßigfeit, der Begeifterung und Auf:
opferungsfähigfeit geweſen ift und bleiben wird.“
Es liegt in diefen Worten ein gewifjer Accent der Ehrlichkeit und Wahr-
heit, der nicht täufcht. Sn welchem Verhältniſſe Laſſalle auch zur Gräfin ftand,
er fonnte al3 Mann von Ehre gewiß nicht vor der Deffentlichfeit einräumen,
daß ein Liebesverhältniß zwiſchen ihnen beftehe. Aber die Art, wie er es in
Abrede ftellt, beweiſt klar, daß er — unbeſchadet einer perjönlichen Begeifterung
für die betreffende Dame — jih von Anfang an in dies Mteer practijcher
Kämpfe ftürzte, ausichlieglich geleitet von einer glühenden Entrüftung und von
einem rein geijtigen Drange, der alle Bedenklichkeiten überwand, dem Drange,
da3 nadte Recht der Macht entgegen zu jtellen.
Lafjalle'3 Verhältniß zur Gräfin in den nächftfolgenden Jahren hat jeinen
Gegnern zu ftet3 erneuerten Angriffen auf jeine Moralität Anlaß gegeben. Bon
der wahren Beſchaffenheit defjelben iſt jelbftverjtändlih Nichts befannt, und
Nichts jcheint auch die Deffentlichkeit weniger anzugehen. In Lafjalle’3 jpäteren
Lebensjahren war das Verhältniß der Gräfin zu ihm ganz das einer Mutter, und
fie nannte ihn mündlich wie in ihren Briefen immer nur „Kind“. Die Gräfin
Hatzfeldt iſt noch am Leben. — Vielleicht wird es für Manchen wie ein rhe-
torijcher Pfiff ausſehen, wenn Lafjalle behauptet, in diefer individuellen Ange:
legenheit allgemeine Standpunkte und Principien verkörpert geſehen zu haben.
Dies Mißtrauen würde ſicherlich grundlos ſein. Es ift das Kennzeichen her-
vorragender Menjchen, daß fie in dem einzelnen Falle, der ihnen begegnet, und
der taujend Anderen begegnet ift, ohme für etwas Anderes als für ein einzelnes
zufälliges Ereigniß gehalten zu werden, ein allgemeines Schickſal gewahren; fie
Ferdinand Laſſalle vor der Agitation. 287
ahnen durch eine augenblicliche Eingebung, welch eine Menge von Unglüclichen
unter einer ähnlichen Qual wie derjenigen jeufzt, deren Zeugen fie geworden
find; fie forfchen Hinter dem Unrecht nad) der jocialen Urſache des Unrechts und
rihten ihre Angriffe gegen dieſe Urfache, two Andere nur an Denjenigen denken
würden, welcher das Unrecht verübt. Deshalb glaube ich, daß Lafjalle meint,
wa3 er jagt, wenn er die Hoffnung ausſpricht, in jenen Tagen (1848), wo all-
überall das Syftem des Lugs, der Heuchelei und Unterdrüdung zufammen ſtürzte,
müffe nım auch endlich „der Tag der Wahrheit hereinbrechen über ein indivi-
duelles Loos und Leiden, twelches, fo innig e3 ein individueller Fall nur immer
vermag, gleich einem Mikrokosmus, das allgemeine Leiden, die zu Grabe
feuchende Mifere und Unterdrüdung in fich abjpiegelt, und jomit auch über ein
redliches und durch alle Griminal- und andere Verfolgungen unerjchüttertes
Bemühen, mißhandelten Menjchenrechten zur Anerkennung zu verhelfen“ *).
Die Rede, aus welcher ich einige Bruchſtücke mitgetheilt, ift das ältefte
literariſche Erzeugniß, welches von Laſſalle's Hand vorliegt. Das Intereſſe
deſſelben bejteht in dem Einblick, den e3 in des Mannes urfprünglichen Fond
al Jüngling gewährt. Ich habe auf die zu Grunde liegende Echtheit des
Gefühle aufmerkſam gemadt. So Etwas verräth fih im Stil und läßt ſich
nicht nachmachen. Ein fefter Glaube an den Sieg des Rechtes über die Macht
liegt zutiefft in feiner Seele ala warmer, jugendlicher Enthufiagmus. Dicht da-
neben liegt das Selbitgefühl; Lafjalle glaubt weniger an die Macht des Geijtes,
al3 an die Macht feines eigenen Geiſtes, allen Schwierigkeiten zu troßen und
fie zu befiegen. Hier ift Nitterlichkeit und Kampfluft, und in der Yorm noch
Etwas von dem Talent des Advocaten, eine Pofition einzunehmen, eine Situ-
ation auszubeuten und mit grellen Farben zu malen: Menſchenrechte ꝛc. Und
doch iſt das beinahe ſchon zu Viel gejagt. Wenn fidh dergleichen hier findet,
ift es noch jo fein, jo ſchwach, daß es höchftens wie ein ganz flüchtiger Farben—
ton über der Rede ſchwebt. Was aber hier unzweideutig hervortritt, das iſt
noch eine Eigenschaft, eine tiefliegende bei Laſſalle: die Rüdfichtslofigkeit. Die
Rückſichtsloſigkeit ift ein völlig modernes deal. ch entjinne mich, daß Bis-
mark irgendwo in feinen Briefen auf die Anjchuldigung eines alten Lehrers
oder Freundes, daß er gar zu rückſichtslos jei, die aufrichtig gemeinten, jehr
Iehrreichen Worte erwidert: „Ich bin umgekehrt lange nicht rückſichtslos genug,
eher feige“. Die Rückſichtsloſigkeit (ich brauche den Leſer wol kaum erft zu
bitten, dies Wort nicht mit Rohheit, Pietätslofigkeit oder dergleichen zu ver:
wechjeln) ift ein deal der legten Jahrzehnte. Sie war nicht das deal unjerer
Väter. Wie oft haben fie nicht die Worte aus Hamlet’3 Monolog citirt:
Der angebornen Farbe der Entſchließung
Wird des Gedanken: Bläffe angekränkelt;
Und Unternehmungen voll Mark und Nachdrud,
Durch diefe Rüdficht aus der Bahn gelentt,
Derlieren jo der Handlung Namen.
*) F. Laſſalle: Meine Vertheidigungsrede wider die Anklage der Verleitung zum Gajfetten:
Diebſtahl, gehalten am 11. Auguft 1848 vor dem tgl. Aſſiſenhofe zu Köln und den Geſchworenen.
Köln, Wilh. Greven, 1848. — Der Griminalproceh wider mich wegen der Verleitung zum
Gafjetten-Diebftahl, oder: Die Anklage der moraliichen Mitſchuld. Ein Tendenzproceh. Ebendajelbit.
988 Deutiche Rundichau.
Welche Fehler das jet lebende Geſchlecht auch beiten mag, Hamlet’3 Worte
pafjen nicht mehr auf daffelbe. Was wir beichliegen, das führen wir aus, jo
weit äußere Verhältniffe es geftatten. Rückſichtslos auf fein Ziel loszugehen,
ohne reellen äußerlichen Widerftand oder reelle äußerliche Mittel zu ſcheuen, ift
eine rein moderne Tugend und Sünde Die Sadje, welche Laffalle zum erften
Mal auf die Anklagebant führte, war von der Art, daß nur eine früh ent-
wickelte Rücdjichtslofigkeit ihn in diejelbe vertwideln konnte. Den verſuchten
Raub eines der Gräfin gehörenden Documentes ohne Weiteres als Diebftahl
zu bezeichnen, wäre eben jo lächerlich wie albern; aber eine in der Wahl ihrer
Mittel rigoriftiihe Natur würde davor zurüdgefcheut fein. Und bat er ji
auch nicht direct dabei betheiligt,-jo hat er e8 doch indirect durch die Herrſchaft
gethan, die er iiber die Betheiligten ausübte. Es charakterifirt den Herrſcher—
drang jeines Gemüthes, wenn es ausdrüdlich in der Anklageacte heißt, daß er,
obſchon der jüngfte von den Vertheidigern der Gräfin, blinden Gehorjam bei
feinen Genojjen fand.
Seit 1846 aljo führte Laffalle die Procefje der Gräfin. Die Arbeit war
fo colojjal, die Schwierigkeiten fo enorm, daß er, ein Arbeiter jonder Gleichen,
ftatt, wie er 1848 meinte, noch ein Paar Jahre darauf verwenden zu miüj-
jen, faft zehn Jahre jeines Lebens in dieſen Kämpfen verbrachte. Er, wel—
cher fein Jurift von Fach war, gerieth jolhermaßen auf practiihem Wege in
eine Wiſſenſchaft hinein, in welcher er theoretiih Epoche machen jollte. Ein
Mann, welcher lange Zeit faft für den erſten Rechtsanwalt Deutichlands galt,
hat, nachdem er den Proceß ſtudirt hatte, privatim erklärt, daß fein Fachmann
ihn befjer hätte leiten fünnen. Bor 36 Gerichten führte Lafjalle die Sache der
Gräfin. Nur ein Wille wie der jeine konnte einer jo zähen Ausdauer fähig
fein, wie fie hier erforderlid war, — obendrein während er bald, der Mitſchuld
an dem erwähnten Diebftahl angeklagt, in Haft, bald im Gefängnifje jaß, weil
er der Aufforderung, die Verfafiung gegen den Staatsftreid von 1848 mit be-
waffneter Hand zu ſchützen, jhuldig befunden war. Vom Gefängniß aus führte
Laſſalle unverdroffen den Proceß; aus der Haft entlaffen, führte er ihn mit
noch größerer Kraft, während Philojophie, Politik, Volkswirthſchaft, al’ jeine
Studien, all’ jeine Lebenspläne, immer wieder aufgehoben und vertagt, jeiner
Befreiung von diefem undankbaren Geihäft harrten. Endlich war jein Gegner,
der Graf, mürbe und matt. Der „dumme Nudenjunge“ hatte es ihm allzu
bumt gemadt. Ein Urtheil wurde nicht geiprocdhen, es fam zum Vergleich, und
Lafjalle gewann, was er erjtrebt hatte, ein fürftliches Vermögen für die Gräfin.
Sp lange der Proceß währte, hatte er mit ihr die nicht Jehr bedeutende Summe
getheilt, welche ihm jährlich von Haufe zufloß; denn in all’ diejer Zeit war die
Gräfin mittellos; zum Erſatz dafür hatte er ſich contractlid) eine jährliche Rente
ausbedungen, wenn die Sache gewonnen würde. So war er von jebt ab in
pecuniärer Hinficht außer Sorgen und konnte fich abftract wiſſenſchaftlichen,
Nichts einbringenden Studien widmen, ohne Tag * Tag auf die leidige Noth
des Broterwerbs hingewieſen zu ſein.
(Der zweite Theil des Artikels im mnaqien Heft.)
Hhakelpeare-Splitter*)
bon
Heinrih Laube.
Der König Lear mit jeinen großen Zügen wird nie verjagen.
Shafeipeare hat dieſe Züge zu mächtig auf die Scene geworfen, ala daß
fie wirkungslos bleiben könnten auf irgend ein Publicum.
Bekanntlich hat Shakeſpeare faft für alle feine Stüde — die römifchen
ausgenommen — Borlagen gehabt und benützt, großentheila getreu benütt bis
auf ganze Scenen und Reden. Er hat ausgewählt und ausgeführt. Heutigen
Tages iſt man Eleinlich ftreng gegen ſolche Producirung neuer Stüde. Vielleicht
ift man's auch zur Zeit Shafejpeare’3 gewejen, und vielleicht haben deshalb die
damaligen Kritifer jo wenig Notiz genommen von der poetiichen Kraft Shafe-
ipeare’3, jo daß nicht blo3 die Puritaner ſchuld find an der länger als ein Jahr-
hundert dauernden Nichtbeahtung des großen Poeten in England. Nach einem
Jahrhundert hat man nicht mehr die Hilfsmittel vor Augen gehabt, jondern
nur das mächtige Rejultat.
Mie dem auch jei, mir ift es bei der Inſceneſetzung Shakeſpeare's immer
deutlich geworden, daß ſein Genie ſich neben der Charakteriftit vorzugsweiſe in
der fräftigen Auswahl der Scenen für einen beftimmten Zweck kundgiebt. Ex
macht Sprünge und unterläßt Uebergänge.
Nur einmal, und zwar in feinem wahricheinlich letzten Stücde, im Othello
entwickelt er jorgfältig alle Nebergänge, als hätte der verftimmte Theaterdichter
den Zweiflern darthun wollen, daß er auch dies vermöge, two es ihm ange:
bracht jcheine.
Eine kräftige Auswahl der Scenen für einen beftimmten Zweck drängt fich
denn auch dem Inſceneſetzer immer ala Dauptgefichtspunft auf, wenn er eines
der großen Shafejpeareftüde zur Probe bringt.
) Aus dem Bude Heinrich Laube's: „Das Wiener Stadttheater”, welches bie Fort:
jegung bildet zum „Burgtheater und „Norbdeutichen Theater“, und welches in der nächiten
Zeit ericheinen wird.
290 Deutiche Rundſchau.
Wie in den legten Acten des Hamlet, wo der intime Hamlet geradezu mur
hineingeriffen erſcheint in die jchliegenden Begebenheiten, jo wird man aud) von
der zweiten Hälfte des Lear angemuthet.
Mean fühlt ſich überladen von dem Doppelthema Lear und Glofter, und
jucht nach möglichjter VBereinfahung, eingedenk des Unterjchiedes zwiſchen dem
jegigen Publicum und dem Publicum Shafejpeare’s, welches einen großen
Scenenwechjel ohne Verwandlung auf der Bühne hinnehmen mochte, man ſucht
nad) Scenen, welche entbehrlid find für die Haupthandlung.
Unter ihnen ift eine, welche mich auf dem Burgtheater immer gepeiniat
hat, welche ich aber dem alten Herren, Anſchütz, nicht entziehen mochte. Sie ſaß
ihm durch lange Uebung zu feſt in der Rolle. Sie ſchwächte aber feine außer:
ordentliche Learfigur. Er jelbft gab das zu, meinte jedoch, ſich auch darum nicht
zur Weglafjung entichliegen zu dürfen, weil das berühmte Wort „Jeder Zoll
ein König!” damit verloren ginge. Wir haben den Ausbruch des Wahnfinns
gejehen, wir haben das Toben deijelben auf der Haide erlebt, und wir haben
bei der Rückkehr zu Gloſter's Schlojfe noch eine ausführliche Wahnſinnſcene, die
Gerichtsfcene für Goneril und Regan, durchgemacht. Alle Stadien find durchlaufen,
und wenn nun der alte König mit Strohkranz und Steden nochmals geiprungen
fommt, da wird der immer wiederkehrende Wahnfinn peinlich und läſtig. Wie
oft habe ich aufmerkſam das Stüd angejehen, und jedesmal mußte ich einge:
jtehen, daß die Scene überjtändig erichien, daß unjer Publicum ermattet war
und fie nur über fich ergehen ließ. Das geflügelte Wort „Jeder Zoll ein König!“
ift ebenjo gut anzubringen bei der Ankunft Lears vor Glofter’3 Schloffe.
So that ic) denn diesmal, und zu großem Vortheil des Eindruds. Mir
jehen Lear exit wieder im Zelte bei Cordelia, wo er erwacht und in jo rührender
Weiſe zu ſich kommt, eine der jchönften Wirkungen des Stücks, ſicherlich dadurch
erhöht, daß uns der Wahnfinn vorher in jo langen Scenen berechtigt, nicht aber
durch übermäßige Wiederholung ermüdend vorgekommen iſt.
Die vorhergehende Blendung Glofter’3 dagegen, eine durchaus abjchredende
und twiderwärtige Scene für den heutigen Geihmad, bleibt für die Vorftellung
ein Kreuz, welches nicht zu bejeitigen ift. Der Gang der Doppelhandlung im
Stüd macht fie unentbehrlid. Auch bei der wärmjten Aufnahme des Drama’s
wird hier jedesmal das Publicum todtenftill, und fein zuftimmendes Zeichen
läßt ji) vernehmen, wenn der Vorhang fällt. Wir zahlen da eben einen Tribut
für die andern Scenen, welche erichüttern, ohne roh und graufam in leibhaftiger
Marter vor uns binzutreten.
Solche leibhaftige Grimmigfeit hat wahricheinlich die Engländer vor dritt»
halb Jahrhunderten nicht verlegt — find fie doch heute noch dankbar fir ähn—
lih grimmige Dinge auf ihrer Bühne! — und wir nehmen fie ſchweigend hin,
und machen uns ftarf duch hiſtoriſche Kenntniß, welche belehrend unjern Wider:
willen niederhält.
Der lebte Act bedarf eines gewiljen Aufwandes in Scenerie und Statifterie,
um die ſchlachtmäßige, raſche Erledigung zweiter Perjonen leidlich anziehend zu
machen. Namentlic) der Zweikampf zwijchen Edgar und Edmund muß blendend
angeordnet, und eine große Energie muß in alle Wendungen gelegt werden,
Shafeipeare-Splitter. 291
damit wir überjehn, wie die Hauptverſon nur noch epifodiich vorüberhufcht und
exit in der legten Scene wieder nachdrücklich zum Vorſchein fommt.
Nachdrücklich tragiih, um nit zu jagen gemacht tragiih. Denn in
Wahrheit bleibt diejer vielbejprochene und vom Publicum lange beftrittene
Schluß ein nur theoretiiher Schluß.
Dean mag vielleicht der Theorie zugeben, dat Lear nicht am Leben bleiben
fann, und daß Gordelia fterben muß, um das endliche Aushauchen Lear’3 her-
beizuführen. Aber dies letztere, dies Opfern Cordelia’3 wird feinem Publicum
verftändlich, und wirkt bei der Aufführung ftet3 wie ein Mißton. Warum, jagt
man beim Fortgehen, warum muß dies ehrliche, Tiebenswirdige Geſchöpf
fterben? — und die fünftlihe Beweisführung der Dramaturgen überzeugt
Niemand.
Ludwig Tieck jelbft war davon betroffen und jagte: man lafje den Wienern
den mildern Schluß! Er hat dies nicht blo3 gejagt, weil er die eingebürgerte
mildere Form zur Noth beftehen laffen wollte, jondern weil er jelbjt empfand,
daß dieſe intriguenhafte, faft mißverftändlihe Tödtung Cordelia's ungünftig
wirkt. Deshalb wol gab er’3 mit drein, daß für die Wiener auch Lear am
Leben bleiben fünne. Iſt der gebrochene alte Mann nicht geftraft genug, und
ift wirklich jein Tod noch eine nothiwendige Genugthuung?
Ich fand früher auch näher zur theoretiichen Anſchauung des Schluffes,
alfo zur ſchließlichen Tödtung. Lange Beobachtung des Eindruds im Theater
aber hat mid; mehr und mehr von ihr entfernt. Und am Ende haben dod)
Theaterftüce nach der Theaterwirkung zu fragen.
63 iſt der Unterfuhung werth, ob die bei und eingeführte Theorie der
Tragik dem Theater genübt oder gejchadet habe.
Im Weſentlichen ftammt fie doch von unjern Romantikern, die Schlegel
an der Spibe, und der Aerger über die großen Erfolge Iffland's mit dem
bürgerliden Schaufpiele hat die Romantifer geftachelt, die griechiſche Tradition
vom tragiihen Schickſal auch da einzudrängen, wo von feiner Göttermacht die
Rede jein wollte. Das bürgerliche Schauspiel mit feiner nüchternen Wahrheit
jollte um jeden Preis heruntergejegt werden. Etwas Bejonderes und Außer-
ordentliches, da3 Beſondere und Außerordentliche überhaupt war die Parole der
Romantiker, und man hielt ſich die Augen zu, um nicht zu bemerken, daß dies
bürgerlide Schaufpiel eigentlid” doc) die nationale Form des Schauſpiels in
Deutichland wäre. Es ijt nod heute jo troß aller gepredigten Theorie: das
einfahe Schaufpiel mit einfachen, wahrhaftigen Motiven, welches unter rühren-
den Scenen zu einem glüclichen Ausgange führt, ift und bleibt die populärfte
Form in unjerm Theater.
Jene Theorie der Tragik, getragen vom gelehrten Eifer der abjtracten
Schriftfteller, hat gefiegt, hat vielleicht übermäßig gefiegt, und unjer nationales
Bedürfniß faft geächtet. Die jüngere Kritik läuft hinterher auf ererbten Krücken,
und Schlägt mit ihren Krücken neue Stücke darnieder wie Mohnköpfe. Die ge-
bildeten Schaufpieler Schröder und Iffland, welchen unter Theater die populäre
Geftalt verdankt, werden geringichägig bei Seite geſchoben, und ihre allerdings
viel ſchwächeren Nachfolger werden verhöhnt.
292 Deutihe Rundſchau.
Das Theaterpublicum ift nie diefer theoretiihen Meinung gewejen, und
weil es den einfach deutjchen Stüden immer und immer wieder, auch wenn fie
viel geringer waren al3 die von Schröder und Iffland, eine große Theil»
nahme geſchenkt hat, jo wird uns jeit einem halben Jahrhundert von der ge-
lehrten Kritik verfihert: das deutjche Theater jei untergegangen. — Als ob ein Bolt
blo3 von Nektar und Ambrofia leben könnte, und als ob es nicht auch jein
beimathliches tägliches Brod brauchte.
In der That hat die ertreme Theorie unter unfern dramatiihen Talenten
Ihweren Schaden angerichtet. Um der Theorie nur ja zu entiprechen, haben, tie
oft! diefe Talente jprungmäßig und unwahr den tragiichen Ausgang herbeige-
zerrt, und find deshalb mit ihren Arbeiten gejcheitert. Hätten fie ſich nicht vor
dem Banne der Ertremen gefürchtet, hätten fie ehrlich organiſch ihre Stücke bis
zu Ende durchgeführt, und ſich auch nicht vor einem guten Ausgange gejcheut,
wir hätten ſicherlich mehr dramatiihde Schriftfteller und mehr gute Reper-
toireſtücke.
Dem Ausweichen tragiſcher Nothwendigkeit ſoll damit nicht das Wort ge—
redet werden. Man ſoll ſich nur redlich klar machen, was wirklich tragiſche
Nothwendigkeit ſei, und was ein dramatiſches Kunſtwerk zu erſtreben Habe.
Wenn der höhere Gedanke nicht beſtehen kann unter den gegebenen Verhältniſſen
eines Stückes, dann ſoll er den Verhältniſſen nicht nachgeben, ſondern ſeine
höhere Eigenſchaft durch den Tod beſiegeln. Der Tod ſolcher Art wird immer
eine Erhebung mit ſich bringen, und dieſe Erhebung iſt der Zweck des tragiſchen
Kunſtwerks.
Eine ſolche Tragödie, und ſie allein iſt die ächte. Und fie leuchtet auch dem
Publicum ein, jie wird auch populär.
Wem ſoll es denn aber einleudhten, daß auch Gordelia jterben müfje?
Niemand als den extremen Romantikern, welde aud für die Schuld Gordelia’s
fünftlide Gründe zuſammenſuchen. Cordelia hat nur ehrlicd und qut gehandelt.
Sie hat dem überjpannten Vater die Wahrheit gejagt, und als er fie darob
ſchmählich verftoßen, hat jie feinen Augenblick aufgehört, ihn zu lieben, und ift
ihm zu Hilfe geeilt, als er in Noth gerathen. Sind das Gründe, welche den
Tod für fie erheiſchen? Im Gegentheil: ihr Tod verlegt unjer Gefühl für Ge-
rechtigkeit, und beeinträdhtigt den tragiihen Schluß des Lear.
Noch ſchwerer, viel jchwerer ift das Verhältniß der Shakeſpeare'ſchen Luft:
jpiele zu unferem Theater. Ein Lujtipiel hat eben doch viel unmittelbarer mit
der herrichenden Sitte des Zeitalter und des Landes zu thun. Große Gefühle
bleiben jich gleich durch die lange Reihe der Jahrhunderte, und die gejellichaft-
lihen Verhältniffe ändern daran wenig. Das Luftipiel aber lebt lediglich in
den geſellſchaftlichen WVerhältniffen, und aus ihnen bildet es jeine Form. Kann
eine ſolche Form nad Jahrhunderten für eine ganz anders geartete Geſellſchaft
noch pafjen? — Das Wort „Geichmad‘ tritt bei einem Luſtſpiele in erfte Linie,
der Geihmad aber wechjelt ja ungemein.
Daran wird man immer Scharf erinnert, wenn man ein Stücd wie „Viel
Lärm um Nichts“ auf die Scene bringt. Bei der erſten Probe muthet es an
wie die grelle Mtanierirtheit eines geiftvollen Mannes. Allmälig wird es ein
Shateipeare:-Splitter. 293
curiojes hiſtoriſches Bild, welches man dem heutigen Geſchmacke doch nur in
einer ausgeſuchten Geſellſchaft Hiftoriicher Kenner bieten dürfe. Endlich gewöhnt
man fi) an die fünftlichen Reden und an die groben Gontrafte, und erinnert
ih, daß da3 Publicum dafür erzogen worden jei, die Shafejpeare’schen Komödien
zu geftatten, und fi) das heute noch Wirkſame herauszuſuchen. Dieſe Bildung
unſeres Theaterpublicum3 ift gar bemerkenswerth. Wäre ſolch ein Luſtſpiel
nicht durch den Drud bekannt und durch den Namen des Dichter geweiht, er—
ſchiene e8 ohne Vorgeſchichte auf der Bühne als ein neues Stück — weld)’ ein
Schickſal jtände ihm bevor! Ya, aud) als ein altes Stüd von einem minder
wichtigen Autor, aljo nur des Namens Shakeſpeare entkleidet, würde es einer
übeln Behandlung nicht entgehn. Was! — würde man rufen — die eigentliche
Komik diejes Luftipiels ift ja die Komik der Clowns, die wir im Circus finden,
und der Wit der höheren Perſonen ift ja durchweg forcirt, ift eine redjelige
MWortjpielerei mit wenigen guten Körnern! Und daneben läuft eine ganz abenteuer-
liche und ftodernfthafte Handlung, welde ein Mädchen in todesähnliche Ohn-
macht ftürzt, und welche dahin führt, daß dies Mädchen für wirklich todt aus—
gegeben wird. Wir haben aljo einen ſchweren Gontraft vor uns, welcher jeden
behaglichen Uebergang eines Luſtſpiels ausſchließt, und dieſe gröblichen, unver-
mittelten Beſtandtheile ſollen für ein Luſtſpiel ausgegeben werden?
Der ſpätere Molière, der Schöpfer der franzöſiſchen comédie, macht kaum
noch eine Wirkung bei uns, weil der Geſchmack ſeiner Zeit nicht mehr der unfre
ift, weil wir über ſchlimme Perjonen wie Harpagon nicht lachen können, und
weil des Dichters ernithafte Abjichten und Perjonen für uns zu feiner harmo—
niſchen Komödienform verarbeitet find — und dem älteren, noch ferner gelegenen
Shakeſpeare jollen wir eine Luftipielmadht einräumen?
Und doch thun wir’3 bis auf einen gewilfen Grad. In diefem Shafefpeare
pulfirt eben doc ein größerer Geift, eine größere Weltanſchauung, vor allen
Dingen aber eine immer tiefe Charakteriftil. Die ſtarke Kraft Shafejpeare’3 in
der Sharakterzeihnung läßt und wol auch bei jeiner veralteten Luftipielform
mandherlei Genüge finden. ' Nach einiger Zeit, nad öfterer Anſchauung diejer
Stüde verzeihen wir allenfalla den Clownton, wenn auch adhjjelzudend, und
interejjiren uns für die herumfliegenden Geiftesfunfen, vor allem aber für die
mannigfaltigen Charaftere.
So geht e3 mit „Viel Lärm um Nichts“ in der guten Bearbeitung von
Holtei. Neu aufgenommen ftößt e3 zuerft immer auf Zurücdhaltung des Publi-
cums, allmälig aber findet es Theilnahme, nicht leicht aber ein großes Publi-
cum. Das einfach gebildete Publicum erläßt jedoch ſolchen Shafeipeare-Luft-
ipielen nie die obigen Ausrufungen, Ausftellungen und Einwände, es drückt feine
Zuftimmung immer nur mit bejtimmter Rejerve aus.
Solchen Achtungserfolg fanden auch wir jet mit der erften Vorftellung
und verdankten ihn hauptjächlich dem launigen Talente Heren Tewele's, welcher
den Benedikt gut ſprach und lebensvoll jpielte.
Ohne einen wirklich Humoriftiichen Benedikt und eine wirklich humoriſtiſche
Beatrice ift die Wirkung des Stüds unerquidlid. So fehlte damals im Burg»
theater Dawiſon diejer wirklide Humor, und Fräulein Neumann als Beatrice
294 Deutſche Rundichau. ®
trug die Koften allein, wie jet hier Herr Tewele. Später fand ich in Fräulein
Kühle eine treffliche Beatrice, und jo wurde das Stüd im zweiten Jahre ein
ganz gern gejehenes.
Am leichteften gelingt die Wirkung eines Shafejpeare-Luftjpielö da, wo die
Handlung einfah, nit — wie jo oft bei ihm — eine aus mehreren Stoffen
zufammengejegte if. „Die bezähmte Widerfpenftige” aljo ift das ficherfte
Shafejpeare-Luftipiel, und auch das populärfte. Es geht auch darin ſcharf her
für den heutigen Geſchmack, aber natürlich” und geradeaus zu einem Ziele.
Im zweiten Jahre entwidelte eine ſchöne junge Schaufpielerin, Fräulein
Schratt, ein überrajchendes Charakterifirungstalent im tomijchen Genre, und mit
ihr machte die „Widerjpenftige” lebhaftes Glüd.
„Was ihr wollt“ hatte ich noch vor; das Ende meiner Direction unterbrad)
aber die Vorbereitungen. Dieſe drei find die einzigen Shafelpeare-Luftipiele —
wenn man dem „Kaufmann von Venedig“ nicht den Zitel „Luftipiel“ auf-
prägen will —, welche auf unjrer Bühne Stand halten. Die Verſuche mit der
„Komödie der Irrungen“ haben ſich nicht bewährt, und die mit „Wie es Eud)
gefällt“ und „Maß für Maß“ halte ich für ausfichtslos.
Literarifche Ruudſchau.
1. Die Ahnen. Roman von Guftav Freytag. Dritte Abtheilung. Die
Brüder vom dbeutjhen Haufe. Leipzig. ©. Hirzel. 428. 8. 1874.
Als Guſtav Freytag dor zwei Jahren den erjten Band der „Ahnen“ erjcheinen
ließ, war die freude und die Aufregung groß in deutjchen Leſerkreiſen. Ein neuer
Roman vom PVerfafler von „Soll und Haben!“ Und gar ein Roman, der nur als erſte
Anzahlung fich ankündigt auf eine ganze Reihe jolcher Feſtgeſchenke! Die Geichichte
einer urdeutichen Familie, fortgeführt vom jagenhaften Wald- und Kriegsleben der
Vorfahren, bis zur glorreichen Auferftehung des Reiches! Wie mußte da die Kette
der Zeiten fich zufammenfügen, wie verſprach die Dichtung da ihren hohen Beruf
auszuüben als rückwärts gewandte Prophetin, ala Beratherin und Führerin der ein=
beitlichen Volksſeele in den Wechieln des endlojen Bildungslampfes! Zwar, Freytag
hatte fich alle jolche Zumuthungen in feiner vornehm-zurüdhaltenden Art ausdrüdlich
verbeten.. Nur Dichtung, durchaus feine „Gulturgeichichte” wolle er geben. Alfo
etwa Phatafieipiele, oder doch Hiftorische Gejtaltung des rein Menjchlichen ohne Rück—
ſicht auf geichichtliche Beftimmtheit und Begrenzung? Aber wer das dem Berfaffer
der „Bilder aus der deutjchen Vergangenheit“ etwa wunderlicher Weile zugetraut
hätte, den mußte ja jchon ein Blick in den erſten Band eines Beffern belehren. Da
war nicht etwa nur das äußerliche Zeitcoftim meifterlich eingehalten oder hergeftellt.
Die innerfte Anlage des Gedichts erwies fich ebenſo großartig geichichtlich, wie poetifch.
Keine Spur von Tendenz freilich, wenn nicht etwa glühende Liebe zur heimiſchen
Art Schon diefen Namen verdient. Es war ein durchaus verdienter Erfolg diefer
ächt menschlichen, und wir dürfen ja wol Hinzufügen, echt deutjchen Behandlungs-
weile, daß fie noch kürzlich einem namhaften Wortführer franzöfischer Anfchauungen
und Stimmungen (Alfred Reville) ein Zeugniß zu Gunften des poetifch-literarifchen,
jeit dem Kriege jo vielfach verlegten Völferrechtes abrang. Form und Geift diefer
Darftellungen waren fo rein und erntlich auf treuefte Wiedergabe oder Nachichaffung
unferer Vergangenheit gerichtet, daß es befanntlich nicht an jehr befähigten und
keineswegs übelmeinenden Bruchtheilen fehlte, welche der Anficht waren: hier ſei am
Ende doch des Guten zuviel geichehen, namentlich in der Nachahmung, oder jagen
twir lieber der ftylvollen Symbolifirung einer von heutigen Zujtänden himmelweit
entfernten Empfindungs- und Sprachweiſe. Es jebte ſcharfe Lectionen über rhyth—
milche oder gar metrische Profa, über manierirte Wendungen, über auffallende Vor—
liebe für Zoologifche Vergleiche, Für geſuchte Beiwörter und alterthümelnde Phrafen ;
der Claſſiker Freytag mußte neben den Ehren feines literariichen Ranges auch
deſſen Beſchwerden ſich gefallen laſſen, wie ſeine geiſtigen Standesgenoſſen auf andern
Gebieten. Er wußte es; aber freilich, er konnte es auch mit gelaffenem Herzen.
Denn, wie nur Angefichts der allergrößeiten Ereigniffe unferer Literargefchichte, ijt
dad DVerdict der Zeitgenoffen, der engern Gemeinde wie der weitejten, „gebildeten“
Deutſche Rundſchau. I., 5. 20
296 Deutſche Rundſchau.
Kreiſe auf ſeine Seite getreten. Jeder neue Band der „Ahnen“ wird von der Nation
wie ein Feſtgeſchenk begrüßt; die Auflagen wetteifern mit engliſchen, franzöſiſchen,
amerikaniſchen „Erfolgen“ und die literariſche Berichterſtattung, wenn fie nur ein
paar Wochen jäumen muß, wie wir, fieht fich bereits dem fertigen Urtheile von
vielen Taufanden eifriger und ſelbſtdenkender Leſer gegenüber. In ſolchen Fällen
bittet man denn gern um's Wort, jo ficher man auch fein fann, nicht Jedermanns
Meinung zu treffen.
Zunächſt eine Bemerkung über das Geſetz, nach welchem Freytag, wenigjtens
bis jeßt, die zu Jchildernden Epochen zu wählen jcheint. Seine Darftellungen haben
und Nicht? von Hermann, dem Befreier und feinen Cherusfern erzählt, Nichts vom
König Ebel und den Burgunden, Nichts vom Dietrich von Bern oder von Chlodwig,
dem jtolzen Sigambrer. Sie find ebenjo an Karl dem Großen vorübergegangen, an
Heinrih dem Sachſen und den Ottonen, an den glorreichen übermüthigen Saliern jo
wie an dem Büßer von Ganoffa, an Barbaroffa und Heinrich dem Löwen. Römer:
fämpfe, Völferwanderung, Gründung und Blüte des eriten Reichs, Hohenſtaufen
und Welfen: alle dieje jagenummwobenen Hochgipfel altdeuticher Geichichte, dieſe
leichenbejäeten Schlachtfelder unaufführbarer moderner Dramen und unlesbarer Ritter:
romane läßt der Dichter bei Seite, um fich durch das Labyrinth dunkler Uebergangs—
epochen einfame Piade zu ſuchen. Das vierte, das achte, das eilfte Jahrhundert
erhielten bisher den Vorzug und an fie jchließt ſich nun ein Rundgemälde, nicht
aus der Glanzzeit, jondern aus der Abenddämmerung unjerer ritterlich-poetifchen
Epoche. Statt des weltberühmten Kaiſerfeſtes bei Mainz, ftatt des Wartburgkrieges
muß und der Mairitt eines jchlichten Edelmannes, muß uns eine gewöhnliche „Artus:
Runde” beim Ehrentrunt genügen. Nicht die Hochflut, fondern die Schiffstrümmer
der Kreuzzüge, nicht die blendenden Triumphe, jondern die legten, verhängnißvollen
Teldzüge der Staufenpolitif beherrfchen die Lage; und ſtatt der vielbefungenen und
geichilderten Glanz- und Staatsactionen jener merkwürdigen Zeit belaufchen wir den
frühen Verfall der ganzen SHerrlichkeit, der fich naturgemäß in den Schattenpartieen
der Zeitgeichichte vollendet.
Iſt diefe Auswahl nun lediglich als ariftofratiiche Abneigung gegen betretene
Bahnen zu deuten? als fünftleriiche Scheu vor der Zudringlichkeit Tandläufiger, ab»
gegriffener Typen? Ohne Zweifel würde auch diefe Rüdficht zu ihren Gunften in
die Wage fallen. Aber daß auch die Ausgiebigkeit, die Tragweite, das jeffelnde In—
tereffe der culturhijtorifchen Peripectiven bei diefem Verfahren, das freilich einen
Meifter erfordert, gewinnen mußten, iſt leicht zu begreifen. Nicht der Glanz; des
Gewordenen, jondern die leiſe jtille Bewegung des Werden: wie des Vergehens ent
hüllt dem finnigen Auge am beten die Geheimniffe des Lebende. Da fchärft fich der
Blick für die Grundgejege der Dinge, da eröffnen fich jene Ausfichten, die den Sänger
zum Propheten, zum „‚vates‘‘ im alten Sinne machen, da erzeugt fich der ſtimmungs—
volle Zauber der gemischten, ſanft fich abjtufenden fyarbentöne. Und war das Alles
ſchon in den früheren Erzählungen von gewaltiger Wirkung, jo macht es hier noch
weit eindringlicher fich geltend.
Die Handlung der „Brüder vom deutſchen Haufe“ ijt, bei aller Fülle, fait
Ueberfülle des Beiwerks, in der Grundanlage dennoch einheitlicher, überfichtlicher
gruppirt und darum auch wirkungsvoller ala die der „Zaunfönige“. Ivo, der
Sprößling Ingo’, Ingrams, Immo's, waltete im Jahr 1226, noch ala freier Edler,
auf jeinem Hofe Ingersleben, zwifchen Erfurt und der und wohlbefannten Mühlburg.
Unabhängigkeit, ritterliche Ehre, ideale, wenn auch phantaſtiſche Liebe find die Mächte,
denen er huldigt. Er ift mild gegen Geringe, gerecht und verträglich gegen Gleich—
geftellte, jtolz, ja ftarr gegen Höhere; ex bricht Lanzen für feine Dame, macht Verie
mit den fahrenden Schülern, giebt das Letzte her für den freund, für den treuen
Diener. Aber den Herrendienjt verichmäht er, und das trägt ihm denn auch die
entiprechenden Erfahrungen ein. Der Kreuzzug, zu dem er fich 1227 auf Herrmann
von Salza's Andringen entjchließt, zeigte ihm auf der heiligen Erde nur die Orgien
Literarische Rundſchau. 297
des Ehrgeizes, der Ueppigfeit, der Habſucht. Das Mefjer eines Hriftlien und
ritterlihen Meuchelmörders Tieferte ihn für todt in die Hände der Aflaffinen,
der Glaubenzfeinde, die ihn edelmüthig pflegen und retten. Nach jahrelanger Haft
wird er zwar durch einen treuen Diener und Kampfgenoſſen befreit: aber es geht
ihm daheim wie dem Goethe’schen Grafen: „Und als er zuhaufe vom Rößlein ſtieg,
da fand er fein Schlößlein droben, doch Diener und Habe zerjtoben.“ Wol läßt er
nun die zudringlichen, vaubjüchtigen Nachbarn feinen Arm und fein Recht fühlen;
wohl bietet die Dame feiner ritterlichen Jugendträume, des Kaiſers Nichte, als junge,
reiche Wittwe ihm Sand und Herz, Reichtum und Macht. Alles das kann jein
Schikjal nicht mehr wenden; denn im harten Lebenskampfe iſt der phantaftifche
Ritter zum deutjchen Manne gereift; der Seelenadel, die Liebe und Treue einer
Sugendgeipielin, einer einfachen, freien Bauerntochter, hat in feinem Herzen die
glänzende, zmweideutige Weltdame verdrängt; ein jäher Anfturm furchtbarer Gefahr
(es gilt, die Geliebte und ihren Vater aus den Händen der Keberrichter zu retten)
fommt in der Stunde der Verfuchung dem wanfenden Herzen zu Hülfe; Ivo läht
die Herzogin ftehen. befreit die Bäuerin, und ift im Begriff, twie fein Ahn Ingo auf
Idisburg in den Trümmern feiner Burg den Heldentod zu fterben, als — die
Dazwijchenkunft dev deutichen Brüder ihn befreit. Den Geretteten mit feinem jungen
MWeibe empfängt dann das ferne Dftieeland ald Begründer eined preußifch-deutichen
neuen Heldengeichlechts. Der thüringifche Edling wird Burgmann von Thorn.
So die Hauptgeſtalt, in der die wohlbefannten Züge der Ahnen mit dem des
neuen Jahrhunderts fich fein und ftimmungsvoll mifchen. Um fie,gruppiren fich in
reichjter Fülle die Typen der niedergehenden deutichen Geſellſchaft des dreizehnten
Jahrhunderts: der gewaltthätige Bafallenadel, die harten politifchen Zerritorialherren,
die freien, aber jchon hart bedrängten Bauern, der fahrende Sänger, der Prälat, der
Tanatifche Bettelmöndh ; im Hintergrunde der glänzende, aber unberechenbare Staufen-
faifer, für Deutichland ſchon mehr Symbol und Phantom als reelle Macht. Auch
das ferne Morgenland mit feinen Kreuzfahrern und Ordensrittern, feinen Abenteurern
und Lüderlichen Pfaffen, feinen ritterlichen Saracenen und furchtbaren Aflaflinen wird
meiſterlich, wenn auch vielleicht zu farbenreich geichildert. Ein Prachtſtück der
Charakteriſtik aber iſt Bernhard, der freie thüringifche Bauer, in deffen kerndeutſchem
Gemüth fi) Angeficht? der auffommenden Inquifition der erfte Heim des reforma=
toriichen Gedankens regt; und über alles Lob erhaben wirkt endlich für unjer Gefühl
die Auffaffung und Einführung der „Bärtigen“, der deutichen Ordensbrüder, nad)
denen der Roman fich nennt. Wie ein junger kräftiger Eichbaum aus dem Gewirr
faulender Stämme und wuchernden Geſtrüpps erhebt ji) da das Symbol des
ftaatenbildenden deutichen Zukunftsgedankens aus dem Chaos des fich Löjenden Reichs.
Sollen wir noch auf padende Glanzitellen hinweifen? Das gäbe ein langes Regifter;
aber kurz erwähnen wollen wir doch den Weihnachtsumgang Friedrun’d im Dorfe,
ihre Begegnung mit ihrer Nebenbuhlerin Hedwig zu Speyer; Ivo's Getreue, Luk
und Henner, mie fie den verloren geglaubten Herrn erwarten; endlich die ent-
Tcheidende legte Begegnung Jvo's und Hedwig's. — Die Compofition de8 Romans
droht anfangs in Schilderungen und Gulturbildern auseinander zu fließen, hebt fich
Dann, von Ivo's Meairitt an, zu warmem Intereſſe, fommt, beim Gintreten in die
fremde Welt des Morgenlandes, durch eine Meberfülle an ſich trefflicher Einzelbilder
ein wenig ind GStoden, bewegt fich dann aber, von Ivo's Heimkehr an, in auf
fteigender Linie biß zu der wahrhaft großartigen, hinreißenden Wirkung des Schlufjes.
Sin der Sprade ift von den Abfonderlichkeiten der früheren Abtheilungen nur hie
und da eine den zeitgenöfliichen Dichtern fein abgelaufchte Naivetät, oder ein charakte—
riftifches Fremdwort übrig geblieben; ſelten find gezierte Wendungen wie der-
wiederholte Ausruf> „nun kommt ihr ftolzen Knaben”, mit dem die Bauerburſche
zum Ballfpiel und Tanz geladen werden. Von höchjter Meifterichait find Färbung
und Perfpective der Zeitbilder, namentlich des in wirkſamſter Naturſymbolik ver-
anjchaulichten Ueberganges von heiterer, Leichtfiuniger Luft zu dem nüchternen, trüben
20 *
298 Deutſche Rundſchau.
Ernſt und der düſtern Tragik des beginnenden Verfalls. Die Charalteriſtik iſt im
Allgemeinen nicht nur fein, ſondern was mehr werth iſt, marlig und wahr. Nur
über eine Hauptjtelle können wir beim beften Willen nicht hinweg: Ivo erkennt
nämlich, wie ſchon berührt, in einem der Meuchelmörder, die ihn, den geheiligten
Gefandten des Kaifer überfallen, jenen Grafen von Meran, des Kaiferd Schwager,
den Gemahl feiner in ritterlichfter Platonit angebeteten Dame. Er bat, wie wir
ala Augenzeugen wiflen, vor diefem fcheelfüchtigen, niedrig denkenden Politieus nicht
die mindefte Achtung, hat ihm kurz zuvor die jchrofffte, ſchneidendſte Oppofition gemacht.
Was wird er nun tun, da die Ganaille, zu feige zu offenem Kampfe, ihn ſpitzbübiſch
meucheln will? — Nun, er jenkt die Waffe, ruft „Nimm dein Recht” und läßt fich
niederftcchen. Das ſoll urgermanifch ideal, erhaben fein; es ift aber leider jchlimmer
als ſchwach, es iſt theatralifch und unmwahr. Ein fauberes „Recht“ das, und vollends
nach den Begriffen des dreizehnten Jahrhunderts, welches befanntlih im Punkt
ritterlichen Frauendienſtes uns viele Punkte vorgeben kann. Natürlich bleibt die
feltfame Aufopferung im Roman ohne Folgen, aber diefer von den Abfichten der
handelnden Perjonen unabhängige Zufall kann äfthetifch Nichts beflern. — Soviel
der Wahrhaftigkeit zu Liebe und damit doch der fnarrende Venus: Pantoffel nicht
fehlt. Noch an dieje und jene Einzelne mag fich die Kritik vielleicht hängen.
Der dritte Band der „Ahnen“ ift bei alledem ein Kunſtwerk erſten Ranges. Der
Gedanke quillt aus dem innerften Herzen der Zeit und des Volkes, die Sprache ift
ebenſo artijtiich gewaltig, wie edel und rein; die Compofition, obwol nicht von
gleichmäßig feſtem Gefüge, läßt doch die Theilnahme nie ermatten und erhebt fich
am Schluffe zu höchſter dramatifcher Wirkung. — Man hat und vom Auslande ber
oft genug vorgeworfen, daß unfere große nationale Bewegung fich dichteriich nicht
jo fruchtbar erweije, wie politifch und militärisch. Wenn diefer Tadel von vorne
herein auf einem willfürlichen und ungerechtfertigten Anfpruche beruht, jo darf man
ihn jetzt, Angefichts der Freytag’schen „Ahnen“ und des Jordan'ſchen Hildebrand-
liedes auch geradezu als unmwahr bezeichnen.
2. Nachgelaſſene Schriften von Frig Reuter. Erſter Theil. Heraus
gegeben und mit einer Biographie des “Dichter? eingeleitet von Adolf
Wilbrandt. Wismar, Roftod und Ludwigsluſt. Hinftorff’iche Hofbuch—
handlung. 1874. IV u. 96— 235. 8. (Der jämmtlichen Werke vierzehnter
Band.)
So liegt denn diejer jehnlich erwartete Nachlaß unferes lieben Fri Reuter
vor und. Der erite, bis jet vollendete Band umfaßt eine Biographie des Dichters
vom Herausgeber (96 ©.), eine hochdeutſche jatirische Schilderung „Ein gräflicher
Geburtstag”, Briefe des Herrn Inſpector Bräfig an Fri Reuter (S. 52—98), die
hochdeutiche Bejchreibung einer Reife nach Braunjchweig, das Fragment der „Ur
geihichte von Mecklenburg“ und einige plattdeutjche Kriegsgedichte aus dem Jahre
1870; Berhältnigmäßig ſchwach und wol nur don fubjectivem Intereſſe ift Die,
Ichon im „medlenburgiichen Volksbuche“ 1846 gedrudte Satire auf den „gräflichen
Geburtätag”. Sie gilt einer allerdings groteöfen Teitlichteit, welche am 29. und
30, Mai die „regierende Gräfin” Hahn verherrlichen follte, hat in der Sache gewiß
nur zu ſehr Recht, erſetzt aber den oft auögehenden Humor durch directe Ironie,
oft geradezu bittern Hohn und verfümmert fich dadurch die Wirkung. Gewiß trägt
das ernjthafte hochdeutiche Idiom einen Theil der Echuld; aber auch mit „facit
indiznatio versum“ iſt es befanntlich eine eigene und nicht ungefährliche Sache. —
Auf ein ganz anderes, traulicheres Gebiet führt uns das plattdeutfche Bruchjtüd der
„Urgeihichte von Medlenburg“, freilich) auß dem Jahre 1861, -alfo aus Reuter's
bejter Zeit. Der Grundgedante ift auch bier erniter, einfchneidender, ala wir ihn bei
den eigentlichen Meifterjtüden der Reuter'ſchen Muje gewohnt find; er erinnert bie
und da an die Tragit von „Kein Hüfung”. Aber in welcher vollendeten Form it
Siterarifche Rundſchau. 299
der ernſte Segenjtand behandelt, wie mildert ‚der köſtlichſte Humor überall „den
Ihwarzen Affect“, wie benimmt Wohlwollen und Maaß überall jelbjt der Satire
die verletzende Schärfe! Nach einer köftlichen Einleitung empfangen wir die Ur—
geichichte des gejegneten Yandes der Erbweisdeit, von Adam bis auf Japhet, der
uah der Siündflut in Medlenburg einzieht und dem Lande jein berühmtes Grund—
gejeh giebt: „Seiht Kinnings“, jo ſpricht er zum Volle, „dit iS nu all ung, bet
nah Hamborg ’ruppe, dit iS dat gelobte Land Meckelnborg, wat und min jül Bader
Noah vermaft hatt Un ik bünn von Herrgotts wegen als Herr doräwer jet’t un
nem von dije Stun'n den Titel „Dorhläuchten” an, dat mark fit ein jeder Schaps—
fopp, de mit de Zitulaturen noch nicht Bejcheid weit. Un nu — in Gott's
Namen — gah ein Jeder in’t Geſchirr un nem fil dorvon jo vel, as Hei mit de
Zühnen dorvon riten fann“. Danach wird denn nun getheilt und wader regiert,
und Japhet's des Erſten Beiträge zur Löfung der Jocialen und conftitutionellen Trage
machen dem „durchläuchtigen“ Herrn alle Ehre. — Don ganz befonderem Werthe
für das Studium des Reuter'ſchen poetiichen Schaffens find ferner die dem „Unter-
baltungsblatt für Medlenburg und Vorpommern“ (1855 —56) entnommenen „Briefe
des Herrn Infpector Bräfig“. Wir jehen jo zu jagen die Skizze feines berühmteften
und urfprünglichften Charakterfopfes Zug für Zug entjtehen, ediger, derber als in dem
Prachtbilde der „Stromtid“, aber in Haren, fejten Strichen und jchon mit der vollen,
unwiderſtehlichen Geſammtwirkung. — Die „Reife nad) Braunjchweig“, eine ganz
originelle Jugendarbeit des zwölfjährigen Fri Reuter, voll jcharfer Beobachtung
und trodenen Humors, bildet eine jehr willlommene Erläuterung zu der trefflichen,
bei aller warmen Pietät durchaus mäßig, objectiv freimüthig gehaltene Biographie.
Die hübfchen, aber nicht gerade hervorragenden plattdeutichen Kriegslieder find ſchon
aus der Lipperheideihn Sammlung befannt. Der zweite, noch ausftehende Band
joll eine Anzahl in plattdeutjcher Profa gejchriebener „Läufchen“ und eine Reihe
ausgewählter Briefe enthalten. (Alſo nicht ein in Drud gegebener Papierkorb
nah Ludmilla Aſſing's Recept.) Wir jehen ihm mit Verlangen entgegen und jagen
dein Herausgeber für das bis jet Empfangene unfern Herzlichiten Dank.
— L LA GL —
3. Neue Novellen von Paul Heyſe. (Er joll Herr fein. — Eine ungarifche
Gräfin. — Ein Märtyrer der Phantafie.e — Judith Stern. — Nerina.)
Der Novellen zehnte Sammlung. Berlin. Wilhelm Hertz. 1875.
4. Ein neues Novellenbucdh von Adolf Wilbrandt. (Dämonen. —
Die Bande des Bluts. — Die Königin von Gaftilien. — Unſer Rechts—
bewußtfein. — Das Märchen vom erjten Menjchen) Dritte Sammlung
der Novellen. Wien. L. Rogner. 1875.
Wenn wir Paul Heyfe und AU. Wilbrandt hier zufammenjtellen, jo ge
Ichieht e8 nicht etwa aus dent ſehr äußerlichen Grunde, daß der Zufall ihre beiden
neuen Bücher und zugleich in die Hände geführt. Paul Heyfe fteht unbedingt in der
eriten Reihe unfrer Novelliften; Wilbrandt fcheint bis jet auf diefem Gebiete noch
nicht jo allgemein durchgedrungen, wie auf dem des Drama’s. Um fo lieber heben
wir denn an diejer Stelle und nach bejter Ueberzeugung feine eminente Bedeutung
auch als Erzähler hervor. Wilbrandt Hat mit Heyſe den pfychologischen Scharf:
blit und die Grazie des Styls gemeinfam: er weiß auch vorzüglich zu erzählen (was
für einen Deutichen immer noch mehr jagen will als für einen Franzoſen oder Briten)
und feine Erfindungen find immer jpannend, feine Pointen überrafchend und wahr.
Daß er im Allgemeinen, ohne dem Tragifchen eben aus dem Wege zu gehen, gleich
ſeinem Landsmann Fritz Reuter auf geſunden Verhältniſſen und Naturen mit Vor—
liebe verweilt, wird ihm überdies, allem Schopenhauer- und Hartmann-Cultus zum
Trotz, bei der großen Mehrzahl unſerer Zeitgenoſſen nicht zum Vorwurfe gereichen.
300 Deutſche Rundſchau.
So heißen wir denn beide Sammlungen willkommen, womit freilich nicht geſagt
ſein ſoll, daß ſie lauter Gaben von gleichem Werthe enthielten.
Paul Heyſe behandelt in der „Ungariſchen Gräfin“ und im „Märtyrer
der Phantafie” zwei Varianten de alten deutfchen Träumer- Typus, der, bei—
läufig bemerkt, uns an fich feineswegs jympathiich iſt. Der träumerifche Liebhaber
der ungarischen Gräfin könnte beinahe an jpätromantifchen oder jungdeutichen Welt:
ſchmerz erinnern, wenn der Lichter, in feiner ganz gejunden umd modernen Art, jich
nicht entjchieden auf die Seite der berechtigten Lebensgewalten gegen das jubjective
Belieben der ſchönen Geele jtellte. So ift der räthjelhafte, verichloffene, dem einen
Gefühl rücdjichtslos gehorchende Liebhaber intereffant und bedeutend genug für unjere
Iheilnahme, ohne daß eine zweideutige Haltung des Erzählers uns den Schwer—
punkt der Betrachtung und des Urtheils verrüdte. Kühn, echt Heyſiſch ift
die Peripetie: die reife Weltdame, durchaus fittlich Fühlend und von Herzen tugend»
haft, Hofft die wahnfinnige Leidenschaft des genialen, ſchwärmeriſchen jungen Muſikers
zu heilen, indem — fie ſich ihm Hingiebt und ihn dann entfernt. Aber dad Mittel,
unfehlbar bei einem Don Juan, macht den Spdealijten vollends raſend, und die
tödtliche Kataſtrophe enthüllt dann das Geheimniß, daß er wirklich geliebt wurde. —
Der „Märtyrer der Phantafie” zieht weniger an, weil jeine Gejchichte fich in eine
Reihe von Situationen verzettelt, die für die Novelle zu weit angelegt, für den Roman
nicht genug ausgeführt find. Man wird faft verjucht, dem Dichter zu glauben,
daß eine wirkliche Begebenheit zu Grunde liegt. — „Nerina“, die Sage von
Leopardi's tragiicher Jugendliebe, kennen unjere Lefer aus der zweiten Nummer
der Deutjchen Rundſchau. — Ganz trefflich, ergreifend, it Judith Stern. Weib-
(iche Reinheit und Herzensgüte und echte Lebensweisheit des mit fich und der Welt
einigen, ftarfen und milden Mannes find wol nicht Leicht jchöner zur Darftellung ge—
kommen, als hier in der Geichichte de Juwelier? Stern und feiner Schönen, vielumtmorbenen
Gattin Judith. Ein geiftreich-jatanischer Verführer ald „Hausfreund“ und ein ver-
Ihämter, naivsjentimentaler, aber, im Gegenjate zu dem nervöſen Muſikanten der
ungariichen Gräfin, Ferngefunder und braver Liebhaber führen die VBerwidelung
herbei. Die Handlung, ganz Ichliht und einfach angelegt, ermattet doch feinen
Augenblid und führt den Beweis, daß die äfthetiiche Spannung nicht von finnlichen
Aufregungen und Ueberrafchungen abhängt. — Auch die reizende Humoreske „Er
foll dein Herr jein“ bitten wir, nicht ungeleſen zu laſſen. Sie giebt in ein—
dringlichjter Lebendigkeit und befter Laune ein echtes Stüdchen zeitgendffifchen Lebens:
Eine hübſche und reiche baieriiche Majorswittiwe, die Salon-flönigin der Garniſons—
jtadt, amufirt fich damit, mehrere Freier mit graciöfem Uebermuth an ihrem Faden
tanzen zu laſſen. Da macht plößlich der Kriegsruf der Idylle ein Ende: die ganze
männliche Märtyrergejellihaft, vom corpulenten Rittmeiſter bis zum leichtfüßigen
Unterlieutenant, muß jchleunigft aufbrechen, um den Napoleon zu fangen und Paris
zu nehmen. Rührung verjchiedener Art, heroiſch-lyriſch-dramatiſche Aichiedsicenen.
Als Alles vorüber, ſpät am Abend, erjcheint aber noch ein Nachzügler. Ein junger
Bildhauer, der die Spröde ſchon verzweifelnd aufgab, fommt, mit der Einberufungs—
Ordre in der Tafche, im Städtchen an. Noch einmal will er, wenn nicht die Dame,
fo doch ihren Garten, den Schauplaß feiner Leiden fehen. Man erfennt ihn, Zeit
und Gelegenheit thun ihre Wirkung und der leberglüdliche empfängt das ſüßeſte Ver-
iprechen unter einer einzigen, ganz Kleinen und lieblichen Bedingung: Es wird ja
mit der Einnahme von Paris jo gefährliche Eile nicht haben; warum follte der
glüdliche Liebende, deffen Ankunft ja noc Niemand bemerkt hat, nicht exit noch,
(in allen Ehren, verfteht fich) ein paar Tage feiner holden Gebieterin jchenten ?
Dan erräth nun die Löfung. Für einen Augenblid läßt fich das deutſche Mannes-
herz überrumpeln. Aber dann: „DO, wie ruft die Trommel jo laut!” Der Land-
wehrmann übernimmt jtrads das Commando gegen den Liebhaber und — gegen
die Dame; er kann nicht zurücbleiben und fich gütlich thun, während die Kameraden
marjchiren. Natürlich legt ihm der Poet dafür dann auch fein tragifches Opfer
Literariſche Rundſchau. 301
auf und der Siegeseinzug bringt Alles beſtens in Ordnung. Das kleine Lebensbild
iſt ebenſo wahr und warm als launig ausgeführt.
Auch die Wilbrandt' ſche Novellenſammlung beginnt mit einem Zeitbilde, aber
mit einem recht trüben, wenn auch nur zu wahren. Die „Dämonen“ verjeßen
und mitten in die gräulich-krankhaften Erregungen jenes Frühlings, an deſſen
Himmel das längjt grollende Gewitter des „deutichen Kriegs“ nun endlich herauf-
zog. Ein Süddeuticher, Heffen-Darmjtädter, mit einer Preußin ſoeben verlobt, faßt
den patriotiichen Entſchluß — Bismarck zu morden. Unterwegs, in einem Wirths—
hauſe im Odenwald, bringt ein durchreiſender Unbekannter die Nachricht von Blind's
Attentat. Den leidenjchaftlichen Drohungen und Berwünjchungen, die man ihn
hören läßt, jeht der Fremde, in bewußter Manier, fühlen, überlegenen Spott ent=
gegen. Da zwingt ihn der füddeutiche Schwärmer, auf der Stelle Kugeln mit ihm
zu wechieln, trifft ihn und — erkennt in dem Sterbenden den Bruder feiner Braut,
einen richtigen, probemäßigen preußiichen Sandwehroffizier. Die Schlacht bei Laufach
bringt dann, durch eine preußiiche Kugel, die nothiwendige Löſung. Wenn dieje Dinge
von einem glüdlichern Gefchlecht einmal verwunden und vergeffen fein werden, mögen
wißbegierige Nachlommen in jolchen Geichichten nachlefen, wie es uns zu Muthe
war. Das Bild ift nicht erfreulich, aber nur zu richtig. Mit 1870 haben Die
Dichter Schon angenehmere Arbeit.
Weniger innerlich, etwas exotiſch auf den Effect gefärbt, aber fpannend und
ſehr geſchickt erzählt ijt die tragiiche Geichichte des jchönen Don Beltram de la
Gueva und der Königin Juana von Caftilien, feiner Geliebten: ein Stüd hoch—
geipannter Ritter-Romantit aus dem 15. Jahrhundert. — Die Novelle „Unſer
Rechtsbewußtſein“, eine harmloſe, allerliebfte Humoreste, behandelt ad oculos die
alte ungalante Frage, ob unsre fchönern Hälften über die Gemüths- und Inſtincts—
Sphäre hinaus eines wirklichen Rechtsbegriffs fähig find? Das Luftige Gejchichtchen
lieſt ſich wie ein in's Hochdeutiche übertragene Reuter'ſches „Läuſchen“; es ift eine
keche Farbenſtizze, vom Sonnenjchein einer rechten Fyerien-Laune bejtrahlt. — Weniger
glüdlich erfcheint uns die Jdee des „Märchens vom erjten Menſchen“. Man Hat doch
feine liebe Noth mit dem Phantaftiichen, wenn es fich ungenirt in die baare, nüch-
terne Wirklichkeit eindrängt und es fih da bequem macht, al® gehörte es zur
Geſellſchaft. Nur als Guriofität mag allenfalls folch eine Hoffmanniade noch einmal
mit unterlaufen, zumal wenn die Einfleidung, wie hier, mit dev Tendenz nicht Vers
fteden fpielt. Weitauß die Perle der Sammlung endlich, und wirklich eine treffliche
Leiftung, erjcheint uns die piychologiiche Studie „Bande de8 Bluts“. Schon das
Thema ift jo originell als feinfinnig geftellt: Vaterrechte müſſen fittlich erobert
werden; die „Bande de& Bluts“ geben dazu nur Aufforderung und Gelegenheit,
aber fie können die fittliche Leiftung nicht erfegen: Ein reicher älterer Herr, einft
berühmter Schaufpieler, lernt zufällig die Tochter einer feiner verlafjenen Geliebten
fennen, der er bisher nur Geld geſchickt Hat, ohne fich jonjt um fie zu kümmern.
Das Mädchen gefällt ihm, die „Stimme des Bluts“ ſpricht, aber leider nur ein—
feitig. Die im Innerften erbitterte Tochter weift den Mann kurz ab, der daß Leben
ihrer Mutter und ihre eigene Jugend vergiftet. Dagegen läßt fich nun im Augen-
blid Nichts machen. Der Alte zieht fich tief gefränkt zurüd, aber er hält fich be-
trachtend in der Nähe und muß nun fehen, wie ein glänzender Gavalier (ah, Er
kannte diefe Rolle nur zu gut) bei feiner Tochter den uneigennüßigen „Freund“
ipielte. Die Methode, welche er dann anwendet, um den Don Yuan zu entlarven
und die Tochter zu retten und zu gewinnen, ijt jo genial erfunden ala meifterhaft
durchgeführt. Es wird Niemand ohne warme TIheilnahme dieje feine Studie Iefen,
welche tiefſtes deutſches Gemüth mit jener Darftellungskunft vereinigt, auf die andere
Nationen fich jo gern ein Vorrecht zuichreiben möchten. —
—— —
302 Deutſche Rundſchau.
5. Zwölf Balladen von Felix Dahn. Leipzig. Breitkopf und Härtel.
1875.
Felix Dahn hat auf ſeiner Grenzwacht im fernen Nordoſten (er lebt bekanntlich
ſeit einem Jahre in Königsberg) Muth und Stimmung nicht verloren: deſſen haben
wir uns beim Genuß dieſer Balladen wieder recht herzlich gefreut. Dramatiſches
Leben, feſte Zeichnung, kräftiger, gedrängter und dabei doch auch oft genug muſikaliſch
wirkſamer Ausdruck, Heben fie unter einer Menge zeitgenöſſiſcher Leiſtungen ihrer
Gattung Sehr vortheilhaft hervor. In der vorliegenden Sammlung haben uns die
Streuzfahrerlieder der Deutjch-Herrn-Ritter in Preußen bejonders angeiprochen. Welche
prächtigen Charakterbilder: der xheinifche Ritter Rolf, den Liebesweh aus dem fonnigen
Rheingau in's ferne Heidenland verichlug, und ſein Schwertgenoß Guzzo von Gauchen
aus Baierland, den Kaiſer Rudolph zum Kreuzzuge verdammte, weil er — dem
Biſchof von Salzburg nicht nur einen Weintrangport raubte, jondern ihn auch aus
Verſehen dabei todtichlug! Der Rheinländer, auf der Winterwaht, an der ei
Hrachenden Nogat gedenkt jchwermüthig des verlorenen Glücks in der wonnigen
Heimath:
Dein Loos, o Herrin, taujenbfalt
Sei Leben, Glanz und Heil:
Mein Loos wird doch im Föhrenwald
Zuletzt ein Polenpfeil.
Der biedere Baier findet fich Leichter im Norden zurecht:
Doch mir taugt der tapfre Orden:
Gleich im Kampf thut’3 uns der Norben,
Thut's im Trunk uns noch zuvor!
Nur feine Alpen kann er in dem flachen Nordland nicht vergefien:
Aber freilich, ganz vor'm Ende
Möcht’ ich einmal ſchauen noch
Glüh'n im Abendgold:Geblende
Eure ſtolzen Schroffen-MWänbe,
Thorftein und Karwendel: Joch.
Können’3 ihm nicht verdenken, obgleich es auch mit dem „flachen Moorlande“
fo gefährlich nicht ift. — Ein prächtiges Stüd der Sammlung ift noch die „Mette
von Marienburg“, die Sage von dem wadern Schwabenritter Stauf, der mit dem
Opfer feines Lebens den Verrath der Ordensburg verhindert, von dem er durch feine
polnische Geliebte erfährt. — Gin ſchönes und originellee Motiv führt die Ballade
„Nauſikaa“ aus: die fchöne Tochter des Alkinoos ftürzt fich freiwillig in's Meer,
um Odyſſeus zu retten, welchem Aphrodite fichern Untergang verfündigt, wenn nicht
ein freie Opfer für ihn fi dem Tod meiht. — Die Sammlung wird fi) und
dem Dichter Freunde machen. Friedrich Kreyſſig.
Kerliner Chronik.
—— — ꝰ
Die Theater. — Ludwig Deſſoir. — Neue „Buch“ Dramen.
Berlin, 15. Januar 1875.
In den letzten vier Wochen haben jämmtliche Berliner Theater ein wenig er—
freuliches - Schaufpiel geboten. Die Weihnachtszeit vom 10. Dezember bis zum
24., dem „heiligen Abend“ ijt in unferer Stadt dem Theaterbeſuch niemald günjtig
gewejen ; der häusliche Herd, die Familienbeziehungen üben in diefen Tagen die größere
Anziehungskraft aus. Erſt mit dem Beginn des neuen Jahres, wenn die zwölfte
Naht, in der die alten Götter zum letzten Mal in Regenmänteln über die Erde
wanderten, vorüber ift, pflegt fich auf den Bühnen ein frifcheres Leben zu regen.
Diesmal aber ift dor wie nach diefem Tage Alles in bderjelben Dede und Lang—
weiligfeit geblieben. Das Stadttheater und das Refidenztheater haben einige franzö-
fihe Neuigkeiten: „Helene“ von Belot; „Der Sohn der erjten Frau“ von Gadol;
„Die Heine Marquiſe“ von Meilhac und Halevy ohne Glück verjucht, deren nichtiger
und bäßlicher Inhalt ſich der Erwähnung entzieht; die flüchtige Infcenirung, das
überhaftete Spiel der Darfteller thaten das Ihrige, um diefen traurigen Komödien
einen fchnellen Fall zu bereiten. In der Noth Hat das Wallner- Theater zu der
älteren Poffe „Die Mottenburger” von dem verftorbenen David Kalifch gegriffen und
damit wenigſtens ein Tyeittagspublicum gefunden. Neben den Aufführungen claffischer
Werke, unter denen die Schiller’schen und Shafefpeare’schen obenan ftehen, wechjeln
im Repertoire der Hofbühne Brachvogel’3 „Alte Schweden” mit Paul Lindau’s
„Eriolg“ ab. Der letzteren Komödie hat das Liebenswürdige Spiel der Frau Niemann
in der Rolle der Eva eine gewiffe Zugkraft verliehen. Dagegen vermag Moſenthal's
„Sirene“ troß des gefälligen zweiten Acts, den ein poetijcher Hauch durchweht, feine
rechte Wurzel zu faſſen.
Am Sylvejterabend des Jahres bejcheerte und die Hofbühne, einer alten
guten Sitte folgend, eine MWeihnachtsgabe von drei Fleinen, einactigen Gtüden.
Leider war — wie kann es bei ſo ſchlechten und harten Zeiten auch anders
fein? — die Gabe eine ſehr geringe. Eins von den Stüden: „Am Fenſter“
iſt ein alter Faſchingsſcherz von Stein, bei dem die Decoration und die Turnerei
die Hauptfoften zahlen. Aus dem Fenſter des zweiten Stods arbeitet fich ein
derliebter Maler mit der Stridleiter auf den Balcon der Geliebten im erſten Stod
hinab, reitet auf einem Brett von Balcon zu Balcon, um bei einem Gewitter
wegen unter den bdedenden Regenſchirm zu kommen, und fpringt endlich waghalfig
in die Tiefe hinunter. Hr. Dehnide ift der geborene Equilibrift der Hofbühne für
ſolche Stüdchen, er flößt den Zufchauern von vornherein das Gefühl der Sicherheit
en: es wird Alles ohne Bein- oder Armbruch enden. Das zweite Luftipiel des
Abends: „Ihr guter Engel erwartet Sie!“ in defien Befit fich zwei Schrift-
304 Deutiche Rundſchau.
jteller theilen: ein Graf Yan Alerander Fredro, dem die Idee, und Louis
von Sapille, dem die Auaführung angehört, ift eine jener unerquidlihen und
ichwerjälligen Salonplaudereien, in denen die Tranzöfichen Proverbes deutjch-täppiich
nachgeahmt werden. Die deutfche Sprache ift viel jchwieriger zu handhaben, vor
Allem in einer Unterhaltung, die Geijt und Wit in der leichteften und anmuthigſten
Form freigebig austheilen fol, als die franzöfiiche, die zwei Jahrhunderte in uns
unterbrochener Arbeit zu dem glänzendften Werkzeug des gejellichaitlichen Verkehrs
geichliffen haben, das jemals vorhanden war. Es kümmt Hinzu, daß die DVerfafier
unjerer „Salonſtücke“ keineswegs Herren und Meifter der Sprache find, ſondern ſich
meift mit ihr in einem bejtändigen Kriege befinden. Selbjt ein glüdlicher Einfall
tritt nur zu oft linkiſch und bäuerifch auf. Das einzige Stüd des Abends, an deu
man ein herzliches Gefallen haben konnte, war ein Luftipiel von Frau Hedwig
Dohm: „Bom Stamm der Afra”, eine Iuftige Satire und Garrifaturftudie
überijpannter junger Frauen und verliebter Geden. Die Frau eines reichen berliner
Banquiers jehnt fich, gerade weil fie von ihrem „proſaiſchen“ Gatten auf Händen
getragen wird, nach einer romantischen Liebe „bis zum Tode“. Natürlich in allen
Ehren, fie will Alles verweigern, aber fich in dem Gedanken beraufchen, einen Xieb-
baber vom Stamm jener Afra zu befiten, die nach Heine's Gedicht im „Romanzero“
fterben, wenn fie lieben. Sie hat das Glüd, gleich mit zwei Aſra's befannt zu
werden; einer, der in der Schweiz in den Abgrund fpringt, erjcheint im nächjten
Jahre vollfommen geheilt, im Begriff, fich mit ihrer Freundin zu verloben, in Baden—
Baden wieder; der andere will fich vor ihren Augen erichießen, aber die Piltolen
find nicht geladen. Das kleine Stüd Hat eine lange Vorgeſchichte. Den Pijtolen-
Ara fand Frau Hedwig Dohm nad ihrer eigenen Angabe in einer jpanijchen
Komödie von Lara dor, zugleich indeilen findet fich die Figur in einer Scribe’fchen
Komödie: „Ptre aim& ou mourir“, die unter dem Titel „Geliebt oder todt“ wieder-
holt auf der deutfchen Bühne erjchienen if. Wem von den Beiden, ob Scribe oder
‚Zara, die Erjtgeburt gehört, vermag ich nicht zu entjcheiden. Frau Dohm hat dur)
die Verknüpfung der urfprünglichen Idee mit dem Heine'ſchen Gedicht, durch die
fatirifche Färbung, die fie dem Ganzen gegeben, die Zabel reicher und bunter ge
ftaltet. Die Scenen entwideln fich natürlich, die Charaktere find in leichten, aber
beftimmten Linien gezeichnet, bei der Neigung zur poflenhaften Webertreibung der
fomifchen Situation bleibt doch überall die Grenze der Anmuth gewahrt. Sehr an—
zuerkennen ift e8, daß die Dichterin, eine der Leidenschaftlichiten VBorkämpferinnen der
Frauen-Emancipation, die den Mädchen alle Echulen, alle Alademien und Univerfi
täten — das Parlamentshaus ift felbitverftändlich — Öffnen will, in ihrer Komödie
der Wahrheit des Lebens Recht gegeben hat: ihre Helene und ihre Camilla befiten
jene liebenswürdige Unfähigkeit, Geld zu erwerben, die in meinen Augen eine der jchöniten
Eigenschaften und das beſte Privilegium der Frauen ift. „Was wäreſt Du ohne
meine Liebe und mein Geld”, jagt der Banquier lachend zu Helene, die jchwermüthig
an ihren Abgrunds-Aſra denkt. Wie würden ihr diefe Gedanken vergehen, wenn fie
ala „Frauenarzt“ jungiren müßte! Welche Häßliche, ſehr nügliche, aber auch fehr
graue Raupe hätten wir da ftatt des zierlichen Schmetterlings vor uns!
Die Neuigkeit des Friedrih:Wilhelmftädtiichen Theaters, die Operette: „Girofle=
Girofla”“, die Dienftag, den 22. December 1874 zum erjten Male aufgeführt wurde,
wird die richtige Beurtheilung von Seiten des fundigen Mufifreferenten erfahren,
denn viel ſtärker als in den DOffenbach’ichen Opernpofjen tritt in ihr das dramatijche
Element vor dem mufitalifchen zurüd. Das Libretto der Herren Albert Banloo
und Eugene Leterrier ift eine Mifchung von Kinderei und Frivolität; langweilig
dreht fich durch drei Acte der ganze Scherz um eine Braut, die zwei Männer bat.
Girofle und Girofla find ein Zwillingsichweiternpaar, einander fo ähnlich, daß die
Mutter jelbft fie nur durch die verichiedenen Farben ihrer Gewänder unterjcheiden
fann: an einem Tage follen beide verheirathet werden, die eine mit einen reichen
Handelöherrn, die andere mit einem maurifchen Häuptling. — Die Gefchichte jpielt
Berliner Chronik. 305 _
nämlich, des Koſtüms wegen, in Spanien, im dunfelften Mittelalter. Am Tage der
Hochzeit wird Girofla von Korſaren geraubt: Girofle muß fich darein ergeben, zuerjt
dem Kaufmannsfohn, dann dem Mauren — einem burlesfen Othello — ich an—
trauen zu laſſen. Zulegt wird die Geraubte wieder in das Schloß ihres Vaters
heimgebracht und das Ganze endet wie e8 angefangen, kindiſch, aber luſtig. Weit
tritt diefe Yabel vor der Handlung in „Madeinoifelle Angot“ zurüd, die neben einer
gefälligen VBerwidelung ein anziehendes Bild des Parifer Straßenlebeng, der jeunesse
doree, der Ränke und Verichwörungen in den Salons gegen die Regierung des Di-
rectoriums entfaltete. An „neuen“ Decorationen und Koſtümen war in dem ſpani—
ihen Schloß des Don Bolero d’Alcarazas kein Mangel, dagegen fehlte viel daran,
daß dieje mit jehr mäßiger Phantafie entworfenen Koftüme auch nur annähernd die
Gigenthümlichkeit und die Realität der Koſtüme in „Mademoijelle Angot“ gehabt
hätten. Ob die Mufif des Herrn Charles Lecocg in „Giroflé-Girofla“ Fort—
oder Rückſchritte gemacht hat, muß ein Anderer enticheidten Am Allgemeinen wird
man fich der Erkenntniß nicht verjchließen können, daß auch diefe „Blüthe“ am Baum
der dramatifchen Kunſt zu welfen beginnt. Die Offenbadhiade, ein Parijer Kind
aus der Zeit des kaiſerlichen Faſchings, hat ihren Reiz verloren, wie die Berliner
Pofe. Die Perlen des Genre „Orpheus in der Unterwelt“, „Die jchöne Helena”,
„Die Großherzogin von Gerolftein“ fiegten, wo fie erfchienen, anfänglich in jehr be—
Iheidener Ausftattung; ihr Wiß, die Parodie des Erhabenen, die zuweilen darin mit
dämoniichem Hohn ausgeführt wurde, ala wäre in die luftigen Narren des Carnevals
etwas von Mephiftopheles gefahren, die phantaftifche Umkehrung der Welt, die fich
in ihnen vollzog: das erjtaunte, das feſſelte. Scherz und Spott waren ihre bejten
Waffen und wenn die Grazien entflohen oder ſchamhaft ihr Geficht verhüllten, blieb
wenigftens ein Dämon auf der Bühne, ein Dämon, der ein ungeheuerliches, Halb
Rabelais’sches, halb jatanisches Gelächter aufichlug. Die Nachahmer Offenbach's
haben nur feine Leichtfertigkeit, feine zweideutigen Gefchichten, die äußerliche Mache
geerbt, der „Spiritus“ ift weg. Die Giftblume Hat fich zu üppig entfaltet und eins
nach dem andern fallen nun die Blätter ab. Der Aufwand der Ausftattung, die
Schauftellung weiblicher Schönheiten erheitern eine Weile ein genußfüchtiges Pu—
blicum, auf die Sauer halten fie nicht vor.
Mit diefem mageren Bericht über Nichtigfeiten mag ich meine Chronik nicht
ſchließen. Der Leier geftatte mir, ihn an ein Grab zu führen, das fich vor Kurzem,
in den Mittagsftunden des 2. Januar, über eine Berühmtheit der deutjchen Schau-
ipieltunft, über Ludwig Deſſoir geichloffen hat. Im eigentlichjten Sinne des
MWorts war er „unfer”. Gegenüber den umberziehenden Virtuoſen der Schaufpielkunft
gehörte Deffoir zu den jehhaften Künſtlern; zehn Jahre lang 1839—1849 it er
Mitglied der Carlsruher, dreiundzwanzig Jahre 1849 —1872 eine Säule und Zierde
unferer Bühne geweien. Nur als Jüngling ift er hin und ber gewandert, an—
länglich mit umberziehenden Schaufpielergefellichaiten, die in den zwanziger Jahren —
Deffoir ift amt 15. December 1810 in Poſen geboren und hat ald vierzehnjähriger
Knabe zuerft die Bühne feiner Vaterftadt betreten — noch zahlreicher und für die
Entwidlung der Schaufpieltunft bedeutjamer waren, als jet, dann in berjchiedenen
Engagements, in Leipzig, Peſth, auf mancherlei Gaftipielreifen. Vom tragijchen
Helden trat er, als ihn Herr von Küftner am 1. October 1849 an unfere Bühne in
die durch Seydelmann's und Hoppe’3 Tod verwaiſte Stellung berief, in das Fach
des Gharakterfpielerd über. Als Darfteller Richard's III., Othello's, Macduff’s,
Coriolan's in den Shakeſpeare'ſchen, Geßler's, Talbot's und Buttler's in den Schil—
ler'ſchen, Marinelli's und des Derwiſch's in den Leſſing'ſchen Dichtungen, als Herzog
Alba im „Egmont“, Carlos im „Clavigo“, endlich oder vielmehr zuerft als Brach—
vogel's „Narziß“, als die einzig echte und wahre Verkörperung jenes wunderlichen
Geichöpfes, halb der Wirklichkeit, Halb der Phantafie, das Diderot den „Neffen Ra—
meau’3” genannt hat, auf der Bühne, wird Ludwig Deffoir in der Geſchichte der
deutſchen Schauſpielkunſt fortleben. Sein reiches Repertoire umfaßte mehr ala hun—
306 Deutſche Rundſchau.
dert Rollen, die verſchiedenſten Charaktere, doch gehörten nur wenige dem Luſtſpiel
an, der durchgehende Zug war der tragiſche. Ludwig Deſſoir iſt zuſammen mit ſei—
nem Kritiker Theodor Rötſcher groß geworden, in beiden war die Analyje der poeti—
ichen Geftalten, der Scharffinn und Scharfblid des Verſtandes ftärler als die Ein-
bildungsfraft und die Leidenfchaft. Bon der Natur mit mäßigen Mitteln begabt,
weder durch eine hervorragende förperliche Erfcheinung noch durch ein wohlflingendes
Drgan ausgezeichnet, verdankte Deſſoir Alles feinem Geifte. Unmillfürlich beugte ſich
der Zufchauer, vor Allem der gebildete, der geiftigen Weberlegenheit, die ihm in dem
Künjtler entgegentrat. Mit einem rafchen und glüdlichen Zuge wußte er den Umriß einer
Figur zu zeichnen, mit einem Wort, einer Geberde eine Charaktereigenſchaft anzu—
deuten. Wie wenige Schaufpieler, bejaß er die Gabe, uns an die Xeibhaftigfeit
feiner Geftalten glauben zu machen. Nie ftieg in uns ein Zweifel an feinen Ty-
rannen, an feinen Berjchworenen auf; wenn er ala Verrina, als Brutus auftrat,
wehte uns etwad wie der Schauer vor republifanischer Tugend und Düſterkeit
an, gleihwie um feinen Galigula in Halm's „echter von Ravenna“ die ganze
Wolke von Blut und Rauſch, von ungezügelter Genußfucht und imperatoriihem
Größenwahnfinn zu fchweben jchien, welche die Atmojphäre der römischen Kaiſerzeit
bildet. Bergleiht man die Schöpfungen Bogumil Dawiſon's mit denen Deſſoir's —
ihrer Mehrzahl nach gehörten fie demjelben Rollenkreiſe an — So erjcheinen fie jar-
biger, prächtiger, beweglicher, Deffoir malt Grau in Grau; er ift der Gartonzeichner,
dem die richtige Linie, die ideale Auffaffung als das Höchite gilt; Dawijon it Der
Kolorift, der um einen blendenden Tyarbeneindrud zu erzielen bier den Dichter will:
fürlich außlegt und ändert, dort die Einfachheit der Wahrheit durch fünftliche Lichter
und Schatten beeinträchtigt. Defjoir’3 Figuren Hatten immer das Maß und den
Ausdrud, die Form und Haltung, die ihnen die Dichter gegeben: fie lebten wol,
aber ein dürftiges Leben, wie in dev Dämmerung. Darum war er in der Darftellung
von Geitalten, die wie Buttler und Herzog Alba, Talbot und Macduff nicht im
Vordergrund der Dichtung jtehen, jondern troß ihrer Bedeutung im Zuſammenhange
des Ganzen nur eine und die andere Scene erfüllen, im Grunde glüdlicher, friſcher
und vollendeter. Die Farben, die er auf feiner Palette hatte, reichten gerade für
den geringeren Umfang aus. Sein Talent des Zujammendrängene, das Scharfe,
Edige, Schneidige in ihm, die tiefe Annerlichkeit ſeines Weſens und jeiner Kunſt,
die ihm dor Andern den Beinamen eines dentenden Schauspielers verichafft haben,
famen bier zur vollen, zur mächtigjten Geltung. Es trat hier nicht wie bei den
großen Rollen eine gewifje Pauſe zwiſchen den hervorragenden Stellen ein. Neben
Richard III. und Dthello, den ſogar die Engländer, bei einem Gaſtſpiel Deſſoir's
im Jahre 1853 in London, bewundernd der Daritellung ihrer Shalejpeare-Spieler
dorzogen, iſt Narziß die populärfte Figur des Künſtlers geworden. Das Urtheil des
Volkes bat Necht; überall font zeigte fich Defjoir ala ein bedeutendes jchaujpiele
riiches Talent, in Narziß erichien fein Genius. Zwiſchen Narziß Rameau und
Deffoir gab es eine geheime Wahlverwandtichait; aus diefem zerlumpten, witzſprühen-
den, weltverachtenden und zugleich den Genuß und die Schönheit Liebenden Bettler,
der abwechjelnd ein Narr und ein Weiſer, da3 edelmüthigſte und hochfinnigfte Herz
und ein frecher Meaterialift ift, Iprach etwas, das in des Künſtlers Seele einen
wunderbaren Widerhall werte. Aus diefer Wahlverwandtichaft ging eine Geitalt
hervor, in der ſich Natur und Kunſt in jelten glüdlicher Miſchung zu einer harmo—
nischen Einheit durchdrangen. Jahre lang, bevor am 30. Dezember 1874 in der
Morgenfrühe ein Herzichlag dem Leben und der Krankheit Deſſoir's ein Ende machte,
war er der Kunſt geitorben. Don einem jchweren Nervenleiden, das ihn im Jahre
1867 ergriff, hat er fich nie wieder ganz erholt. Seine Thätigkeit erlitt durch die
Anfälle des Uebels bedenkliche Unterbrechungen, fein Organ wurde rauher und
beijerer, feine jonjt jo gedrungene Haltung brach fichtlich zufammen. In der Role
des Talbot hat er am 10. Juni 1872 von der Bühne, die jo lange die Stätte
feiner Triumphe gewefen, für immer Abjchied genommen. Damals haben wir den
Berliner Chronik. 307
Künftler verloren, für den Menſchen war der friedliche und fchmerzlofe Tod eine
ſanfte Erlöfung.
Der geringe Beſuch der Theater, die Theilnahmlofigleit des Publicums gegen-
über Allem, was mit der Bühne in Verbindung fteht, die Unfruchtbarkeit und Lang-
weiligfeit diejes ganzen Treibens, das fich fort und fort in immer audgefahreneren Ge—
leifen bewegt, machen es den Direktoren allmälig zu einer Pflicht der Selbterhal-
tung, fi mehr als bisher um das wichtigfte Erforderniß für ein Theater zu
bemühen, um — jo alltäglich e8 Klingt — neue Stüde. Die Bedenken, die fich vom
praftifchen Standpunkte gegen die Buchdramen-Literatur erheben, habe ich in meinem
jüngften Berichte erwähnt; die Dichter haben jogar gefunden, daß ich zu ftreng
gegen fie gewejen bin. Daß in diefen Dichtungen dramatiiches Gold vergraben liegt,
gefteht Feder gern zu, der einen Blick hineingeworien. Die Commijfion, die den
preußifchen Schiller-Preiß zu ertheilen bat, pflegt, mit einer gewiſſen Ausſchließlich—
keit, in diefem vornehmeren Kreife der dramatifchen Literatur allein ihre Wahlen zu
treffen und das eigentliche, in Eturm und Wetter erprobte Bühnenftüd außer Acht
zu laffen. Nacheinander bat fie Hebbel's „Nibelungen“, Lindner's „Brutus und
Collatinus“, Geibel’8 „Sophonisbe“, Kruſe's „Gräfin“ rühmend hervorgehoben :
Dramen, die über eine mäßige Bühnenwirkfung nicht hinausgefommen find und in
diefer Beziehung auch nicht entfernt einen Vergleich mit Benedir’ „Zärtlichen Ver—
wandten“ oder mit Moſer's „Stiftungsfeſt“ aushalten. Man darf mit Recht auf
die Entjcheidung gefpannt jein, welche die Commiſſion in diefem Jahre treffen wird,
wahricheinlich wird fich wieder der tiefe Gegenſatz offenbaren, der die Anfichten der
Aethetifer von der realen Bühne trennt. Im lebtverfloffenen Triennium haben die
drei Stüde Paul Lindau’s3: „Maria und Magdalena”, „Diana“, „Ein Erfolg“ alle
deutjchen Bühnen beherriht — aber es ijt ebenjo gewiß, daß fie jtrengeren Kunſt—
anforderungen nicht genügen, am wenigjten, wenn man fie mit den bisher gefrönten
Werken in eine Parallele ziehen wollte. Wie Recht hatte Karl Gutzkow, ala er dem
Schiller-Preife jeden Einfluß auf die Wirklichkeit und Praris der Bühne abſprach!
Wenn ich jebt aus der Fülle der Fürzlich erfchienenen Buchdramen einige heraus—
greife, jo geichieht es durchaus nicht in der Abficht, fie zu einer Aufführung zu
empfehlen — ich fühle viel zu tief, daß einem Werfuch diefer Art erſt eine Bearbei—
tung und theilweife Umfchmelzung der Dichtung vorangehen müßte — jondern um
dem Publicum die Gedanken, Gejtalten, Stoffe kurz anzudeuten, in denen fich der
tragische Nachwuchs Schiller’3 bewegt.
Bedeutende Namen finden fich darunter. Heinrich Kruje erjcheint mit einer
fünften Tragödie „Brutus“; von dem bier vorangegangenen find zwei „Die Gräfin“
und „Wullenwever”“ auf der Hofbühne aufgeführt worden, die beiden anderen „König
Erich“ und „Mori von Sachſen“ find bis jetzt Buchdramen geblieben. Mit ſcharfem
Auge und Lebendiger Empfindung für das Hiftoriiche vereint fich in dem Dichter eine
friiche, geftaltende Kraft, der dramatifche Zug. Seine Trauerjpiele find weder No—
vellen in dialogiicher Form noch rhetoriiche Augeinanderjegungen und Zweilämpfe:
es ijt Leben in ihnen und Realität. Daß eins derjelben einen durchichlagenden Er—
jolg errungen hat, finde ich einerjeits in der Wahl der Stoffe und dann in der Ab—
neigung des Iheaterpublicums gegen die Tragödien moderner Dichter. Die alten
Bäume dverfümmern dem Nachwuchs Licht und Luft. An fich betrachtet ift Kruſe's
„Brutus“ eine marfige, von Hiftoriichem Geifte erfüllte Dichtung: in fich geichloffen
ihreitet die Handlung unauihaltfam zum Ziel; im vierten Acte überftürzen fich die
Greigniffe im bunten Scenenwechſel — auf dem Forum, auf einer Ziberinjel, am
Ufer des Hellespont fpielen fie fid ab — aber man verliert die Hauptfigur darüber
doch nicht ganz aus den Augen; die Gharaktere treten plaftiich vor uns Hin, die
Sprache ift edel und ſchwungvoll, im Antonius gar zu modern gefärbt, was meinem
Getühl in der hohen Tragödie mwiderjtrebt; im Ganzen ein wohlgelungenes® Wert.
Aber ich fürchte, den meijten Lejern wird es wie mir ergehen: fie werden die Erin-
nerung an Shafejpeare'3 „Julius Cäfar“ nicht loswerden. Don einer Nahahmung
308 Deutiche Rundſchau.
fann feldjtverftändlich nicht die Rede fein: dem britifchen wie dem deutjchen Dichter
ftanden diejelben Duellen zur Verfügung. Damit ift indeffen auch der neuen Dichtung
die Originalitit verloren gegangen. Diefelbe Handlung wie im Gäfar rollt, mit
kleinen Unterichieden, vorüber, und wenn es Kruſe gegenüber Shafeipeare „nicht geht,
wie Marcus Antonius, der in Cäſar's Gegenwart feinen Geiſt eingejchüchtert und
gedrückt fühlte“ — fo ift dies eine Empfindung, die ich begreifen, aber leider nicht
theilen kann.
Einen ähnlichen Eindrud habe ich von Arnd's „Kriembild“ empfangen, die
jüngft in Weimar, wie man berichtet, -die Feuerprobe einer theatraliichen Aufführung
qut beitanden. Wie Kruſe mit Shatefpeare’3, kämpft Arnd mit Hebbel’8 Schatten.
Seine Tragödie behandelt den lebten Theil der Hebbel’ichen „Nibelungen“. Sie be
ginnt, wie die Hebbel’3, mit der Werbung Etzel's um Kriemhild und fchließt mit
dem Untergang der burgundijchen Helden. Die Dichter vergeffen ganz, daß an ſolchen
vielfach bearbeiteten Stoffen nur Einzelheiten noch zu ändern find, der getwaltige
Blod bleibt immer derfelbe. Bei Hebbel wie bei Arnd fchließt der dritte Act mit
dem Gejang oder dem Geigenfpiel Volker's, die beiden letzten find bei beiden Dichtern
von den Kämpfen zwilchen Heunen und Nibelungen erfüllt, denen meiner Meinung
nach jede tragische Erichütterung fehlt, e& find eben epiſche WVölkerfchlachten, wie die
Gefechte der homeriſchen Helden, wie Kaulbach's Hunnenſchlacht, die Bühne ift mit
Blut überſchwemmt. Betrachtet man dann die fräftige Anlage und fichere Durch:
führung diefer Redengeftalten bei Arnd, die ftraffe Führung der Handlung, der fo
gar, was bei einer Eritlingsarbeit hoch zu ſchätzen ift, ein gewiſſes Talent für theatra-
liiche Effekte nicht abgeht, die gebildete Sprache, die im freien Rhythmus fich im
Allgemeinen ficher und eigenthümlich bewegt: jo bedauert man, daß der Dichter einen
Stoff ergriffen Hat, den feine Kunſt jemald dem modernen Geſchmack und Gefühl
Iympathifch zu machen vermag. Iſt e8 denn fo jchwer, feiner Zeit zu dienen, fo
nutzlos und unrühmlich, ihre Gedanken und Stimmungen zu einem harmonijch vollen:
deten Ausdruck zu bringen ?
Ein jehr merkwürdige Stüd ift Felir Dahn's „König Roderich“. Der
Untergang des wejtgothifchen Reiches in Spanien durch den Anfall der Araber bildet
nur den großartigen Hintergrund, den eigentlichen Inhalt giebt der Streit zwifchen
weltlicher und geiftlicher Gewalt, zwifchen dem König Roderich und dem Erzbificho!
Sindred von Toledo, dem Staate und der Kirche ab. In ihrem Gegenſatz gegen
den König, der Reich und Bolt von dem lebergewicht der priefterlichen Herrſchaft
befreien will, jchreitet die Kirche, der Primas und feine Bilchöfe, big zum Landes
verrath tüdifch und verwegen vor. Sindred überliefert dem mauriſchen Abgejandten
die Pläne aller feſten Städte, die Liſten des Heerbanns; in der entjcheidenden Schladt
verflucht er den König und Taufende von Kirchenlnechten verlaffen das Lager ihres
Volkes, um zu dem Feinde überzugehen. Diefen Priejtern ift der Ungläubige will
fommener, als der ſtarke König, der Islam lieber, ala das Geſetz eines freien Volkes.
Nun ift Freilich diefer Gegenfag im Gothenreich kein hijtoriicher, jondern ein frei erw
fundener, aber der Dichter Hat dadurch den epiichen Charakter jeines Stoffes — bie
Befiegung der Gothen durch die Araber — bis zu einem gewiſſen Grade in einen
tragifchen umgewandelt. Die Sage von der jchönen Gava, der Tochter des Grafen
Sulian, für die der König in leidenschaftlicher Liebe entbrannte, die er verführte,
deren Schmach dann den Vater zum Werrath gegen Fürſten und Vaterland trieb,
ließ fih in leichter Umdichtung dem durchgehenden Motiv einflechten. Wider den
Willen des Vaters tritt, in Dahn's Trauerfpiel, Cava, um nicht einem ungeliebten
Manne die Hand reihen zu müffen, in ein Nonnenklofter: der König entreißt fie,
auf die Klage des Vater gegen den Erzbiſchof Sindred, gewaltfam dieſem Aiyl.
Aber indem er jo dem väterlichen Recht der Kirche gegenüber Geltung verichafft, beugt
er es zu feinen eigenen Gunſten. Trotz Julian's Einſpruch verbindet er fich mit
Cava und erklärt fie zur Königin der Gothen. In Roderich fucht Dahn, unter der
Maske des weitgothijchen Helden, den modernen Staatsgedanken zu verkörpern: kühn,
Berliner Chronik. 309
verichlagen, gewaltthätig weiß Roderich allen Anjchlägen und Liften der Bifchöfe zu
begegnen; er überwindet ihre Schlihe und Lügen, er entgeht den Wurfjpießen ihrer
Mörder, aber der Zorn reißt ihn in diefem Kampfe über die Grenze der Gerechtigkeit
binweg. Diejer Uebermuth des Königthums, die einjeitige Betonung der ftaatlichen
Prliht und des jtaatlichen Recht? machen jeine tragiiche Schuld aus. Schade, daß
der Proceß nicht rein zu Ende geführt wird. Die Ginmifchung der Araber in den
inneren Streit, das Schlachtgewühl bei Xeres de la Frontera find, wie gejchidt fie
auch der Dichter mit jeiner Handlung verbunden Hat, epiiche Momente. Das Ganze
baut fich jtattlich und prächtig auf: Kathedralen, Königspaläfte, weite Plätze, Schlacht:
felder wechjeln mit einander ab. Der VBerfammlung in der Kirche zu Toledo, welche
die Königswahl vollzieht, jchließt fich fajt unmittelbar eine Volksverſammlung vor
den Palafte an. Eine Reihe großartiger Schaufpiele und eigenthümlicher Bilder, in
denen der Gegenſatz der Ritter und der Biichöfe, der Weltlichkeit und der Geiftlichkeit
auch zu einem ergreifenden malerischen Ausdrud kommen könnte, entrollt ſich vor uns.
Unmillfürlich gedenkt man bei der Lektüre der Aufführungen, welche die Meininger
im Friedrich» Wilhelmftädtifchen Theater von Julius Cäſar, Sixtus V., der Blut—
hochzeit veranftalteten ; diefe ebenſo reiche wie hiftorifch treue Ausjtattung, die mächtige
Bewegung der Maffen: all’ dies jchwebte dem Dichter vor. Wie e8 vorliegt, eignet
fih das Trauerſpiel faum zu einer Bühnendarftellung; nicht nur überfchreitet es die
Zeitdauer, die eine Theatervorjtellung in Anfpruch nehmen darf, mit feinem häufigen
und außerordentlich ſchwierigen Decorationgwechjel ftellt e8 auch allzugroße Anfor—
derungen an die Kräfte einer zweiten, der meilten erften Bühnen. Aber e8 verdiente
wol wegen jeine® Gehalts, feiner eigenartigen Charaktere, die gerade dem Schau
jpieler anziehende und „danfbare” Aufgaben bieten, wegen feiner mannigfach be-
wegten, überrafchenden und feffelnden Scenen, daß ein geſchickter Regiffeur e8 der
Bühnentvirklichkeit anzunähern verſuchte. In der Lektüre, glaube ich, wird ed auf
jeden gebildeten Leſer einen nachhaltigen, die Phantafie anregenden Eindrud ausüben.
Karl Frenzel.
Wiener Chronik.
Opern und Goncerte.
Wien, Mitte Januar 1875.
Mufitalifchen Gefprächaftoff bietet derzeit das Hofoperntheater durch das Gaſt—
ipiel von Pauline Lucca und die Aufführung des „Manfred“ ; fodann in kleinerem
Genre dad Garltheater durch Lecocq's Singipiel „Girofl&-Girofla“, endlich die
Komifche Oper durch allerlei neue VBerfuche, ihr Leben zu friften. Bon alledem dürfte
wol Einiges auch für einen entfernteren Leſerkreis von Intereſſe jein.
Pauline Lucca it von der Komijchen Oper nunmehr als Gaft in dad Hof-—
operntheater überfiedelt. Sie hat dajelbjt die Margaretha von Gounod und die
Afritanerin von Meyerbeer gejungen, zwei bedeutende Leiſtungen, groß angelegt,
geiftreich ausgeführt, Alles bis in den Eleinften Zug durchdacht und vortrefflich ge=
madt. Manchmal jchien mir das Durchdachte und Gemachte fogar allzuſtark vor—
zufchlagen. Ich kann nicht leugnen, daß mich Frau Lucca in dem Eleinern Rahınen
der Komiſchen Oper noch volljtändiger befriedigte, in Heiteren Rollen herzlicher erfreute.
Noch unbekannt mit ihren tragischen Parthien, ſprach ich bei Gelegenheit der „Luftigen
Meiber” im vorigen Heft der „Deutichen "undichau” die VBermuthung aus, Frau
Fluth repräfentire allem Anfcheine nach die frifchefte und eigenthümlichite Seite des
Talentes von Frau Lucca. Ihre Zerline und Angela leuchteten ala Strahlenbrechun—
gen dejjelben Lichtes. Im tragifchen Fach entfaltete Pauline Lucca mehr ihre Kunſt,
im heitern mehr ihre Natur. Letztere begegnet in der Großen Oper doch einigen
Heinen Hemmungen. Ganz abgejehen von ihrer nur mittelgroßen Geftalt, welche
eine Zerline getreuer repräfentirt ald eine Selica, hat dad Drgan der Lucca in
Rollen wie diefe, einen großen Kraftaufwand zu beftreiten. Die Stimme dringt
zwar überall kräftig durch, mit ihr aber zugleich ein Zug von Anftrengung, welcher
die hohen Töne von G aufwärts? im Forte häufig jchrill erjcheinen läßt. In der
Komiſchen Oper theilten fich das Heine Haus und die heitere Gattung in das Verdienit,
ſolche Anjtrengung nicht zu veranlaffen. Ferner findet die Neigung der Frau Lucca
zu breiter, nachdrüdlicher Behandlung der Phraje und häufiger Verzögerung des Zeit-
maßes ein weites Feld gerade in den Aufgaben der jeriöfen Oper. Dadurch geräth
manche Stelle ins Schleppende und Forcirt-Pathetiſche. Ich erinnere an ihre auf-
fallend langjamen Tempi in dem Duett mit Fauſt, in den jentimentalen Melodien
der Selica, namentlich im fünften Act. Die Auffaffung der Celica durch Frau
Lucca gilt freilich für eine Art authentijcher Interpretation, da fie die Parthie mit
Meyerbeer jelbit ſtudirte; troßdem darf und muß die Kritik auf den Urtert zurüd-
gehen. Intereſſant und anregend wirken alle Scenen diejer geiftvollen Künftlerin in
der „Airifanerin” wie im „Fauft“. Jedes Detail ift bis zur Beugung des fleinen
Fingers durchdacht, ftudirt, unabänderlich Teftgeftellt; etwas von dieſer abfoluten
Sicherheit gäbe man mitunter gerne Hin für eine kleine Injpiration des Zufalle, für
Wiener Ehronif. 311
den Reiz des Unbewußten. Ob ihre Selica, ob ihr Gretchen den Vorzug verdienen ?
Die Meinungen dürften getheilt fein. Gretchen wirkt infofern ftärfer und gefälliger,
ala die Rolle jeclenvoller, überzeugender, muſikaliſch reiner ift, als die Afrikanerin.
Die Gretchen-Rolle ift jo dankbar, daß fie e8 in höherem Sinne bereits zu fein aufs
hört; es befitt nämlich jede Stadt und jedes Städtchen feine Lieblings- Margarethe,
welche dort für unübertrefflich gilt. Kommt nun eine fremde berühmte Künjtlerin,
jo findet fie gerade als Margarethe die größte Schwierigkeit, den einheimijchen Lieb-
ling zu verdunfeln. Auch auf mich Hat Frau Ehnn mit ihrer üppigen, warmen
' Stimme und ihrer leidenfchaftlicden Innigkeit in den Liebesfcenen des dritten Actes
tieferen Eindrud hervorgebracht, ala die Lucca, deren Vortrag hier, bei aller Kunft,
durch eine gewiſſe Kühle und Weberlegenheit befremdete. Hingegen intonirt Frau
Lucca, zur bejonderen Freude des Muſikers, immer rein und richtig, was man be=
fanntlih von Frau Ehnn nicht behaupten kann. Unübertrefflih wahr und einfach
gibt die Lucca die erite Begegnung mit Fauſt, die jo häufig zu gezierten Minauderien
mit endlojem Sitenbleiben auf „ungeleitet“ u. j. w. mißbraucht wird. Ebenfo jchlicht
und ſchön Elingt aus ihrem Munde das Lied vom König von Thule. Den Glanz-
punkt dramatifcher Wirkung erreicht die Lucca in der Domfcene; die folternde Seelen-
qual des betenden Gretchen kann nicht ergreifender gemalt werden. Nur den jchnei-
denden Aufichrei, mit dem die Lucca plößlich niederftürzt, hätte ich Lieber weggewünſcht.
Er ift allerdings in der Rolle vorgejchrieben (nicht bei Goethe, aber bei Gounod)
und joll wol das Anbrechen des Wahnfinns bezeichnen; der Eindrud bleibt troßdem
nur der eines grellen Theater-Effectes. Meijterhaft jpielt fie die Wahnfinnsjcene im
Kerker. Die dramatijchen Funken und Blite der Selica können gar nicht aufgezählt
werden; häufig gab es auch ein Leuchten ohne innere Wärme. Am hervorragendjten
war das Spiel der Yucca mit Nelusco im Kerker und mit Vasco im vierten Act.
Zu Anfang des fünften Actes hat Frau Lucca die ſchöne Gantilene in C-dur: „Du
Zempel, reich und Herrlich”, wieder rejtituirt, welche hier in der Regel weggelafien
wird. —
Ein theatralijches Greigniß ſeltenſter Art erlebten wir an der vollftändigen
fcenifchen Aufführung von Byron’3 „Manfred“ im Hofoperntheater. Lange
Zeit hindurch war die „Manfred“: Mufit, in welcher Schumann’s bejte Jugendkraft
noch einmal, an der Neige feines Wirkens, groß und geläutert aufflammt, nur in
Goncerten gegeben worden, bis man in Weimar (1852), dann in Yeipzig (1863),
endlich in München (1873) den Verfuch einer theatralifchen Darftellung des Drama’a
wagte. In München geitaltete fich die Wirkung wenigftens theilweije befriedigend,
an den beiden andern Bühnen verjagte fie dergeftalt, daß die Leipziger Mufikzeitung
jeinerzeit von einem „Taft peinlichen Eindruck“ berichten fonnte. Eine vollendete Re—
production diejes Werkes jtellt ganz ungewöhnliche Anjprüche an die declamatorifche,
mufifaliiche und fcenifche Kunft. Nur bei einem Zuſammenwirken jo vieler ausge—
zeichneter Kräfte, wie fie das Wiener Hofoperntheater zu diefem Zwecke vereinigte,
vermag „Manfred“ einen reinen und tiefen Eindrud zu machen; dann aber macht
er ihn ohne Frage. Vom Größten bis zum Kleinjten wurde hier Alles mit rühmens—
werther Sorgialt und Hingebung geleijtet; die erjten Mitglieder des Hojoperntheaterg:
Ehnn, Duſtmann, Materna, Wilt, Dillner, Gindele, dann Bed,
Walter, Rokitansky, Bignio, Mayerhofer und Andere, begnügten ſich
mit Rollen von wenigen Tacten oder Worten. Das größte Lob werden fie wol Alle
dem Director Herbed gönnen, dem trefflichen muſikaliſchen und dramatırgifchen
Seiter des Ganzen. Sein Tactſtab elektrifirte das Orcheſter, welches namentlich die
Ouvertüre, eine der jchwierigiten Inftrumental-Aufgaben, in bisher unerreichter Voll
endung ausführte. Auf der Bühne überragte der Hoffchaufpieler Lewinsky als
Manfred alles Uebrige. Manfred ift nicht nur weitaus die größte, er ift geradezu
die einzige Rolle in diejem jeltfamen Drama; Lewinsky, dafür wie präbeftinirt, fpielt
und jpricht fie bewunderungswiürdig. Seine unvergleichliche Kunjt in klarer Aus—
einanderjegung der Rede, jein xhetorifcher Schwung, der fich niemals zu vrahleriſcher
Dentſche Rundſchau. I, 5. 21
313 Dentiche Rundichau.
Declamation aufbläht, Tondern ftet3 von Herzenswärme durchftrömt, von geiftiger
Kraft getragen ift; fein echtes, von Verzerrung wie von eitler Ziererei gleich unbe:
rührtes Gefühl, feine ganze Perjönlichkeit — Alles wirkte zufammen, um und Man-
fred, diefen unglüdlichen Virtuoſen der Gelbjtquälerei, nicht nur begreiflich, ſondern
ſympathiſch und Liebenswerth zu machen. Schon um diejer Einen Leiftung willen
follte man den „Manfred“ wenigſtens alljährlih Einmal aufführen. Ohne Schu:
mann's Tondichtung dürfte das Drama, troß all feines Gedankenſchatzes, wahrichein-
lich fcheitern; aber diefe Muſik verſchmilzt jo innig mit der Grundftimmung defjelben,
breitet über die bedenklichjten Stellen Hier einen jo berüdenden Glanz, dort ein fo
verflärendes Mondlicht, daß der Eindrud zu den ergreifenditen wird, die wir im
Theater erlebten. Und doch iſt Byron's Gedicht ala Bühnenjtüd fehlerhaft, wunder
lich, abſtrus; kaum daß die Kritik weiß, wo fie mit ihrem gewöhnlichen Rüftzeug
anfangen, wo aufhören joll. Das ganze Drama bildet Einen langen Monolog Man:
fred' 8, den nur zeitweilig ein kurzes Echo bejtätigend oder äffend unterbricht. Blos
in wenigen furzen Sätzen des Anfangs und des Schluffes find es menfchliche Laute,
welche dies Echo jpenden: der Alpenjäger, der Abt, der alte Diener. Im Uebrigen
lauter Geifter abenteuerlichjter Art, mit denen Manfred verkehrt, fie rufend und
meijternd, Halb Menſch, Halb einer der Ihrigen. Ein edler, von räthjelhafter Schuld
bedrüdter, mit Zauberfünjten bewehrter Sterblicher, der jterben will und nicht fterben
fann. Ein Zwillingsbruder Fauſt's, wie ſchon Goethe ſelbſt ihn genannt und aner—
fannt — aber ein Fauft ohne Gretchen, ohne Valentin und Mephifto, ein Fauft ohne
Dfter-Spaziergang, ohne Auerbadh’3 Keller, ohne Frau Martha’ Gärtchen! Nur
eine Walpurgisnacht in noch graufigerer Höllifcher Umgeftaltung finden wir in dieſem
Byron’schen Fauft-:Drama wieder. Von den „zwei Seelen“, die in Fauſt's Bruft
wohnen, hat Manfred nur die eine, die unbefriedigt grübelnde, metaphyfiiche; nichts
von der andern, die in derber Liebesluft die Welt umfaßt mit Elammernden Organen.
Manfred handelt nicht, er wird und wächft nicht vor unjern Augen, faum daß über:
haupt etwas mit ihm vorgeht. Und das foll ein Bühnendrama fein? Gewiß fein
Mufter eines folchen. Aber ein wunderbares Gedicht, das auch von der Bühne herab
dad Gemüth widerftandslos gefangen nimmt, ein Abgrund von Gedanken und Ge-
fühlen, befremdend, abftoßend und doch zugleich dämonifch anziehend und fefjelnd.
Zwei Elemente, die in Byron’ Drama verwirrend und verjtörend wirken, finden
in Schumann's Mufil ein wunderthätig Rettungsmittel. Einmal der große myſtiſche
Apparat von Geiltern und Erjcheinungen, welche Byron mitten in die reale Welt
ftellt, fodann die niederdrüdende Troftlofigkeit der Stimmung. Ohne Hilfe der Muſik,
welche jenen Geifterjput, wo er erjcheint, jofort auf ihren Fittig nimmt und uns
glaubwürdig macht, müßte dies wirre Gejpenfterwejen ung von der Bühne faft wie
eine Maskerade anftarren. Wie nothwendig diefe Muſik dem Drama und wie noth-
wendig wieder das Drama der Schumann’schen Muſik jei, das Haben wir vollftändig
erft aus ber lebendigen Aufführung erkannt. Im Concerte bleiben jämmtliche Ge-
Tangaftüde der „Manfred“-Compofition tief unter dem Eindrude der Orchefternummern.
Aber auf der Bühne! Man Höre da den Geifter-Bannfluch der vier Baßſtimmen!
Welch Ichauriger Eindrud, wenn dieje vier ſchwarzverhüllten Geftalten auf der Fels—
wand Hinter Manfred auftauchen! Die Erfcheinung der filberglänzenden Alpenfee ver-
finnlicht auf das reizendfte das glikernde Tonbild Schumann’s; fie gibt ihm und
empfängt von ihm erft das volle Leben. Auch der Höllendhor vor Ahriman's Thron,
als jelbjtitändiges Concertſtück äußerlich und gezwungen, wirft wie eine grelle Theater:
Decoration vollftändig auf der Bühne Was jenen düſtern Fanatismus der Ver—
zweiflung betrifft, der dad Gedicht Byron's durchwühlt, jo würde er den Hörer er-
barmungslos niederdrüden, legte fich nicht Schumann’3 Muſik wie lindernder Balfam
auf die Wunde. Welcher Zauber ruht in der verflärenden Kraft der Mufif! Ein
zweites Pygmaliong-Wunder, das düftere Marmorftatuen leben und lächeln macht.
Etwas Tröftenderes, Friedlicheres ala die idyllifche Zwiſchenmuſik in F-dur fenne ic)
nicht; die kleinern Orxchefterfäße im erften und im dritten Acte tönen mitten durch
Miener Chronik. 313
die Trauer in verwandter Weife, beglüdend, jegnend. Und über dem Allen die Be-
Ihwörung der Aſtarte! Hier jchlägt Schumann Töne an, wie fie feiner vor ihm oder
nach ihm erdacht; Töne von jo tieffchmerzlicher und dabei doch eigenthümlich feliger
Trauer, daß fie uns fanft das Herz zufammenpreßt und die Thränen ins Auge drängt.
Das Graufige, Schreckhafte der Erſcheinung ift Hier zur jtillen, blaſſen Schönheit
verflärt, der Verweiungsmoder wie von Rofenduft durchzogen. In der Schlußjcene,
beim Sonnenuntergang und dem Tode Manfred's, übt die Mufit anfpruchslos, faſt
unfcheinbar diejelbe Miflion des Tröftens und Verföhnene. Mit Ausnahme der Ouver-
türe, welche das Bild Manfred’3 in feiner ganzen düſtern Größe wiederfpiegelt, wirkt
Schumann’: Muſik, troß aller Schärfe der Charakteriftif, das ganze Drama Hindurch
mildernd und verflärend. Der Fluch) der Melancholie ift e8, der Byron’s Helden
frampfhaft jchüttelt; au8 Schumann’s Muſik blidt uns das Lichtbild derjelben Empfin-
dung an: der Segen der Melancholie Es mag vielleicht unpafjend fcheinen, bei diefen
Tönen an ein anderes Gedicht ala das Byron’sche zu denken; aber der janfte, faſt
friedliche Schmerz, der die kleinen Injtrumentaljtüde der „Manfred“ Mufit durchweht,
verbindet fi mir jtet3 ummillfürlich mit der Erinnerung an ein wenig befanntes
Gedicht Gottfried Keller’, „An die Melancholie“ :
Sei mir gegrükt, Melancholie,
Die mit dem leifen Feenſchritt
Im Garten meiner Phantafie
Zu rechter Zeit an's Herz mir tritt!
Die mir den Muth, wie eine junge Weibe,
Tief an den Rand des Lebens biegt,
Doch dann in meinem bittern Leibe
Doll Treue mir zur Seite liegt !
Die Manfred-BVorftellung fand zum Belten des Penfionsfonds des Hofopern-
theaters ftatt, dem in der Weihnachtswoche und in der Charwoche je zwei aufeinander-
folgende theaterfreie Abende gewidmet find. Die „Zweite Akademie” im Hof-
operntheater zum Bejten des Penfiongfonds war das gerade MWiderjpiel der eriten.
Während am 22. December ein bisher nur in Goncertform gegebenes Drama, „Mans
fred“, zum erftenmale auf feinen rechtmäßigen Plaß, die Bühne, gelangte und damit
zu der vom Dichter beabfichtigten vollen Wirkung, wurden am 23. verjchiedene Frag—
mente aus Opern durch concertmäßige Vorführung entjtellt und entkräftet. Ebenſo
angelegentlich, wie wir Herm Director Herbed um eine Wiederholung des „Dianfred“
erjuchten, wünjchen wir, daß er Opern- Abtödtungen wie die in der zweiten Weib:
nachts = Afademie nicht wieder veranlaffe. Im Goncertfaal mag es fich mitunter
empfehlen, irgend ein muſikaliſches Prachtjtüd aus einer verfchollenen Oper nad
Dratorienweife abzufingen, um Kunftfreunden wenigſtens deſſen rein mufikalifchen
Gehalt, abgezogen von der Bühnenwirkung, darzubringen. Im Theater aber find
wir nicht blos Hörer, ſondern auch Zufchauer, wir wollen und können da nicht auf
Bühnenwirkung verzichten. Der Genius loei ift auch in der Muſik eine Macht, die
nicht mit ſich ſpaßen läßt. Eine wohlbefannte Oper wie „Spohrs Jeſſonda“,
die in unferm Geifte durchweg auf’3 innigjte mit der Darftellung, den Coſtümen und
Decorationen verwachhen ift, läßt man ung auf dev Bühne des Hofoperntheaters
wie ein Oratorium aus Noten vorfingen; Nadori und Dandau im Frad, Jeſſonda
und Amazili in Balltoilette; jeder fteif aus feinem Seſſel ſich aufrichtend, wenn die
Reihe an ihn fommt, und wieder ruhig niederfitend, jobald eine andere Nummer
anhebt — dahinter auf langen Bänken die Herren und Damen vom Chor regungs—
[03 nebeneinandergereiht, mit den Notenheiten in der Hand. „Ja, warum fingen
denn all’ diefe Künftler, die wir jo oft in der „Jeſſonda“ jpielen gejehen, nicht im
Coſtüm?“ To börten wir ringsum fragen. Wozu ladet man uns denn ind Opern-
haus, wenn eine Oper nicht opernmäßig dargeftellt werden ſoll? Ehemals konnte
man fich mit kirchlichen Belleitäten entjchuldigen, welche an gewifjen „Normatagen“
21*
314 Deutiche Ruudſchau.
feine fcenifche Aufführung erlaubten. Das bat aufgehört, und an demjelben Abende,
wo der erjte Act der Jefjonda, Scenen aus „Titus“ und dem „Blitz“ unter die Luft-
pumpe ber Oratorienform gezwängt wurden, fpielte man fchließlich — gleichſam um
ung das Willfürliche des ganzen Vorgangs recht deutlich zu machen — ben vierten
Act aus der „Favorite” im Goftüm, wie e8 fich gehört. Die Lucca entjefjelte ala
Leonore eine hinreißende dramatifche Lebendigkeit und fand in den Herren Rofi-
tansky und Adams vortreffliche Partner. Da athmete denn Jedermann wie nad
langer Gefängnißhaft auf, und die gute Hälfte des Publicums verließ das Haus mit
der Ueberzeugung, Donizetti’3 „Favorite“ jei eine viel befjere Oper als „Jeſſonda“,
„Zitus“ u. ſ. w. Das iſt der unter der Langweile tiefer liegende Nachtheil jolcher
Berunftaltungen, daß fie dem Hörer eine ganz jaljche, verläumbderische Vorftellung
von den aljo gehörten Opern einniften. „Diefe Jeſſonda muß ja eine jchredlich
langweilige Oper jein“ , flüfterten fich die Leute zu. Was nüßt e8, fie des Gegen-
theils zu verfichern ; fie find durch die farb- und lebloſe Goncert-Production abgejchredt
und bleiben ficherlich fern, wenn „Jeſſonda“ (was wir fo lange wünfchen) wieder
einmal ald Oper in's Repertoire eintritt. Aber auch wir Anderen hören die uns
wohlbefannten Opernjragmente nicht blos refignirt, mufifgeduldig, etwa blos mit
dem GEindrud de Ungenügenden, jondern mit wirklichem Verdruß, ärgerlich darüber,
daß wir hier um einen Genuß gebracht werden, auf den und das Hofoperntheater
vollen Anjpruch gewährt. Wenn eine Muſik von der edlen, milden Sentimentalität
der „Jeſſonda“ Losgelöft wird zu dem dramatifchen Knochengerüft, das ihr Kraft und
Miderhalt verleiht, dann muß fie freilich unendlich monoton erjcheinen. Geradezu
unverftändlich werden aber Scenen wie das große Finale aus Mozart's „Titus“,
dieſes dramatifche Haupt» und Glanzitüd der im Uebrigen veralteten und faum mehr
lebengfähigen Oper. Wenn wir da nicht das aufgeregte Volk über die Bühne ftürzen
fehen und da8 brennende Gapitol im Hintergrund, To begreifen wir platterdings nicht,
was eigentlich all’ die fittiamen Herren und Damen jo ruhig aus ihren Notenblättern
abfingen? So hat man der gegenwärtigen Theater» Generation wahrjcheinlich nur
die Meinung beigebracht, daß auch an diefem berühmten Finale „nichts ift“. Der
Bühne entbehren können allenfalls Opernfragmente, in welchen bei jtilljtehender
Handlung fich die Empfindung des Einzelnen lyriſch auäbreitet, aljo Arien und
Romanzen. Darum erzielte auch die von Herrn Walter jehr zart vorgetragene, an
fih unbedeutende Romanze aus Haleévy's „Blitz“ mehr Beifall, ala alle übrigen
Dpernjcenen zufammen, an welche unsre erjten Kräfte gewiß die redlichite Mühe ge
wendet hatten. Die Sopran Arie mit Chor aus Mendelsſohn's unvollendeter
Dper „Loreley“ bildet bekanntlich ein Lieblingsftüdk aller Goncert-Repertoires. Im
Hofoperntheater hätte man dieſe Opernfcene nicht anders als im Goftüm aufführen
jollen; wir würden damit einen neuen jchönen Eindrud gewonnen haben, und Her:
bed im Kleinen ein ähnliches Verdienſt, wie durch feine dramatijche Wiederheritellung
des „ Manfred”. Der einzige Einwand, welchen die Direction gegen unſere Anſchauung
bervorbringen kann, betrifft den Zeitaufwand und die Mühe des Auswendiglernend
bon Opernfragmenten, welche nicht auf dem Repertoire ftehen. Nun wol, jo führe
man in den Akademien des Hofoperntheaterd Acte oder Scenen aus bereit3 einſtu—
dirten Opern auf, in paflender Auswahl und mit glänzender Beſetzung. Das giebt
allerdings auch nur ein Flickwerk, aber die concertmäßige Ausfchrotung von Opern
iſt etwas noch Schlimmeres, fie ijt eine Barbarei.
Sn der Komiſchen Oper, die jeht abwechjelnd Opern und Schaufpiele giebt,
hat jeit meinem legten Bericht nichts muſikaliſch Bedeutendes fich ereignet. Die an-
ziehendfle Vorſtellung, mit welcher neueſtens das MRepertoire bereichert wurde, find
„die beiden Schüßen“ von Lortzing. Wie um ein trautes Kaminfeuer ſaßen
wir da dor der Bühne und wärmten uns an dem bejcheidenen gejunden Humor ber
Handlung, an dem gemüthlichen Frohſinn der Mufil. Das ift jo recht das Genre,
das für unſere Komifche Oper paßt und mit ihren Kräften befriedigend gegeben werden
kann. Die Sänger (Erl, Hermany, Fiſcher, Fride) waren vortrefflich, über die
Miener Chronik. 315
Schwächen des jchwachen Gefchlechts jah man nachſichtig hinweg und Alles unterhielt
fich bei dem alten Eingipiele, das im Großen Opernhaufe wahrjcheinlich ala eine
beleidigende Kinderei aufgenommen und todtgegähnt worden wäre. Neben Lorking’s
„Waffenſchmied“ und „Czar und Zimmermann“ (Hinderman aus München
gaftirt eben wieder darin) haben „die beiden Schüßen“ jet noch das getreuejte
Publicum in dem Theater am Schottenring. Bei diefen Aufführungen Lorking’scher
Opern muß ich unmillfürlich an einen bezeichnenden Ausspruch von Lewes, dem
engliichen Goethe-Biographen, denken. Lewes macht nämlich aus Anlaß des Goethe’-
fchen Luſtſpieles „Der Triumph der Empfindfamleit“ folgende Bemerkung: „Was den
Deutichen außerordentlich komiſch ericheint, darin findet der Yranzoje oder Engländer
faft immer nur einen äußerft Troftigen Spaß. An den eigentlichen Wit, der mit
Feinheit gehandhabt jein will, wagen fich die Deutichen höchſtens mit Handjchuhen.
Die JIronie ift ihnen nicht ein leichter Stoßdegen, ſondern ein mächtiged Schwert;
fie zerhauen das Opfer, wo ein geichidter Stich genügt hätte. Es ijt eine beachtens—
werthe Thatjache, daß fie unter allen Schäßen ihrer Xiteratur nichts eigentlich Ko—
mijches im höheren Sinne befiten.“ Dieje Bemerkung zielt zwar nur auf das Luft-
fpiel, trifft aber auch zugleich unfere komiſche Oper und erklärt, gerade ala Urtheil
eine3 Ausländers, theilweife die ſeltſame Thatfache, daß die vornehmiten Vertreter
der ſpecifiſch deutſchen Opernkomik, Dittersdorf und Lortzing, gar feine Auf-
nahme auf fremdem Boden gefunden Haben. Ein italienischer oder franzöſiſcher
Dperncomponift von dem mufilalifchen Rang diefer Beiden wäre alsbald über die
Grenzen jeines Vaterlandes gedrungen. Es muß weſentlich an dem eng deutfchen
Charakter ihrer Komik liegen. Ditterdorf war feinerzeit, Lortzing ift biß heute der
talentvollfte, beliebtefte Repräjentant unſeres komiſchen Singfpiels; wir ſchätzen den
Erſten und lieben den Zweiten, aber der Ausſpruch von Lewes bleibt wahr, auch für
fie. Der philiftröfe Spaß, die Hein=bürgerliche Komik, die burjchitofen Reden in
diefen Opern heimeln das deutjche Publicum, insbefondere der Kleinen und mittleren
Städte, umvergleichlich an; aber der Franzoſe, Italiener, Engländer kann über der-
gleichen nicht Lachen, und jo jpielen gegen die fosmopolitijche Verbreitung aller
befjern italienischen und Franzöfiichen komiſchen Opern die deutichen eine jehr be=
Icheidene, auf die eigne Nation bejchränkte Rolle. Seit Mozart’3 „Entführung“ und
„Zanberflöte”, die doch nicht gänzlich ignorirt werden konnten, übrigens auch einem
ganz anderen Stoffgebiet angehören, find eigentlich von deutichen komiſchen Opern
nur die Flotow' ſchen in’3 Ausland gedrungen, vermuthlich, weil fie im Grunde
ebenſowenig deutich ala komisch find. Lortzing Hingegen, ein Muſiker friſch und
liebenswürdig, dabei bühnenfundig wie wenige jeiner Gollegen, lebt nur „jo weit
die deutiche Zunge klingt“. Da ift er um fo herzlicher willtommen. Allerdings hat
der graufame Zeitverlauf auch Lorking’8 Repertoire ſtark reducirt; e& erfreuen ſich
außer dem „Czar und Zimmermann“ nur noch drei feiner Opern ziemlicher Pflege
und Beliebtheit, „Der Wildſchütz“, „Der Waffenſchmied“ und „Die beiden Schüben“.
Wo Für die komiſche Oper ein eigenes Theater eriftirt, wie jebt in Wien, dürfte
einiges Andere von Lorking mit Erfolg aufgefriicht werden, 3. B. der in Wien
niemals aufgeführte „Caſanova“. Diefe Oper ijt (gleich den „beiden Schüben“)
nach einem franzöfiichen Luſtſpiel bearbeitet („Die beiden Grenadiere“, „Caſonova
im Fort St. Andre“), deren intereffanten Stoff der Tondichter wol zu Jchäßen ver-
ftand. Lortzing's „Hans Sachs” iſt troß mancher Vorzüge nicht mehr möglich jeit
den „Meifterfingern.“ Die Handlung verläuft zwar bei R. Wagner ganz anders,
aber die Hauptfigur (auch manche Nebenrolle, wie der Lehrjunge) ift die gleiche, und
deutfche wie franzöſiſche Theater-Anjchauung duldet nicht gleichzeitig zwei mufifalifche
Rivalen an demfelben Stoff. Den talienern verichlägt es nichts, daffelbe Libretto
bon zehn verjchiedenen Gomponiften bearbeitet zu hören — eine alte Gewohnheit, die
übrigend auch vor dem Hauch moderner Anfchauungen täglich mehr ſchwindet. In
Deutichland wie in frankreich entbrennt aber in ſolchem Fall jofort der Kampf um's
Dafein, und der Stärfere (dev nicht immer der Tugendhaftere zu jein braucht) ver—
316 Deutſche Rundichau.
nichtet den Schwächern. Sowie Gounod's „Fauft” den Spohr'ſchen, Berdi’a
„Maskenball“ und Donizetti’3 „Liebestrant“ die gleichnamigen Opern von
Auber, Gounod’3 „Romeo“ den Bellini’jchen verdrängt haben, jo muß die
bejcheidene Mittelgröße von Lortzing's „Hand Sachs“ vor der Rieſengeſtalt einer
Wagner’ihen Hauptfigur das Feld räumen. Auch die „Undine“ möchten wir für
Wien nicht empfehlen, fie hat gleich Lortzing's „Großadmiral“ jelbjt unter des Com—
poniften perfönlicher Leitung hier feinen Anklang gefunden. Heute würde alles Un-
genügende und Veraltete noch empfindlicher an diefer „Undine” auffallen, denn die
innerfte Natur Lorking’3 reagirte eigentlich gegen den dujtigen Zauber der Märchen-
welt. Wo in der „Undine” von Snappen, Kellermeiftern, Jägern tüchtig getrunfen,
geſpaßt und geprügelt wird, da ftellt unfer Lorking prächtig feinen Mann; Hingegen
benehmen fich feine Elfen und Undinen als ganz alltägliche, jentimentale Frauen—
zimmer, welche vor dem Publicum von Blumenduft und Mondſchein leben, heimlich
aber ganz gewiß Kaffee trinten. —
Im Garltheater ift am 2. Januar — genau Ein Jahr nach der erften Vor:
ftellung von Lecocq's „Madame Angot“ — die neuejte Operette dieſes Gomponijten
„Girofl&-Girofla“* mit großem Beifall gegeben worden und wird jeither all-
abendlich wiederholt.
Girofle und Girofla find die Namen zweier einander zum Verwechſeln ähnlicher
Zwillingsfchweftern, und ihre wirkliche Verwechjelung ein ganzes Stüd hindurch bildet
den Stoff von Lecocq's neuejter fomifcher Oper. Es giebt viele Luftipiele, die auf
der täufchenden Aehnlichkeit zweier Perjonen beruhen. Der Ahnherr diejes Gejchlechtes
iſt wol der „Amphitryo“ von Plautuß; da nimmt der Göttervater Zeus auf einer
feiner galanten Wanderungen die Gejtalt des thebanifchen Helden an, um deffen
Rolle als Ehemann zu fpielen. Wenn die Aehnlichkeit der Kniff eines Gottes ijt,
dann freilich Haben die Verwechjelungen nicht den Vorwurf der Unwahrfcheinlichkeit
zu fürchten. Plautus ſelbſt in feinen „Menächmen”, Chafejpeare in der „Komödie
der Irrungen“ begründeten die Aehnlichkeit, das Triebrad ihrer poſſenhaften Ver—
wechjelungen, durch Zwillingsbruderjchaft. In neuerer Zeit verwerthet man diejes
Motiv faſt nur noch für die Virtuoſität eine Schaufpielerd. Es war eine der be—
rühmteften Leiftungen unfereg Ficht ner, in Holbein’3 „Doppelgänger” die Doppel:
rolle eines luſtigen und eine jentimentalen Officiers zu jpielen; noch weiter ging der
Stuttgarter Hofſchauſpieler Moritz, der auf feinen Gaftjpielen regelmäßig „Drillinge“
darjtellte. Eine jolche Aufgabe für die Bravour individualifirender Kunft bildet das
Lecocg’ihe Ziwillingsichweiternpaar keineswegs. Mit Ausnahme einer ganz kurzen
Scene der Girofla zu Anfang ift es immer nur Giroflé allein, welche das Stüd hin—
durch fpielt und bald für die eine, bald für die andere Schweiter ausgegeben wird.
Der Dichter verräth zwar anfangs die Abficht, die beiden einander leiblich jo ähnlichen
Schwejtern durch entgegengejegte Temperamente auseinanderzuhalten; er läßt wenigſtens
erzählen, daß die eine lebhaft und Iuftig, die andere jchüchterner Natur ſei. Seltfamerweije
unterläßt der Componift den Verjuch einer muſikaliſchen Charakteriftif ſelbſt an der
einzigen, dafür günftigen Stelle. Die ernfthafte Schwejter präjentirt fi) nämlich
mit dem Gouplet: „Pere adore, c'est Girofle“, worauf die andere, die Luflige, mit
dem zweiten Gouplet folgt: „Petit papa, c'est Girofla‘“, Der Componijt hat für die
gleiche Wtelodie diefer zweiten Schwejter nicht einmal eine höhere Tonſtufe oder ein
rajcheres Tempo zur charakteriftiichen Unterjcheidung gewählt. Wir müflen es für
das DVerdienft von Fräulein Meyerhoff Halten, daß fie troßdem den beiden gleich-
lautenden Strophen eine jehr verjchiedene Färbung verleiht. Bon da an verſchwindet
Girofla, von Piraten geraubt, aus dem Stüde, und Giroflö, die Zurüdgebliebene,
muß bald die Frau des ſanften Kaufmannes Marasquin, bald jene des wüthenben
Mauernhäuptlingg Murzuf fpielen, ein Spaß, der fich doch zu bald erfchöpit. Das
ganze Stüd ift ein Tanz auf dem geipannten Seile der Unwahrjcheinlichkeit; um
unſer Intereſſe zu erhalten, müßte der Gang der Begebenheiten jo raſch fein, daß
man nirgends zur Befinnung käme, Dafür fehlt aber diefer Operette die übermüthige
Wiener Chronif. 317
Laune, das unmwiderftehliche Temperament. Auf der poſſenhaften Vorausſetzung baut
fi) alles Folgende mit einer gewiffen Schwere und Ernithaftigfeit auf; die Eltern,
die Braut, der junge Ehemann kommen nicht aus den ängjtlichen Empfindungen
heraus, ja zum Schluffe droht förmlich die Tragödie Hereinzubrechen, indem Murzuk
in wahnfinniger Eiferfucht Girofl& ermorden will. Da verkündet ein Trompetenftoß
(ganz „Fidelio“!) die Ankunft des fiegreichen Admiral mit der geretteten Girofla,
und nun Hat endlich jeder der beiden Neuvermählten feine eigne Frau für fih. Die
Beichaffenheit des Tertbuches begründet jchon die entjchiedene Inferiorität der „Giroflé““
unter „Madame Angot“ defjelben Componiſten. Letztere ift ein gelungenes Zeit- und
Sittenbild, in welchem eine gutverfchlungene Doppel-Intrigue durch den hiſtoriſchen
Hintergrund Bedeutſamkeit erhält; dazu die Gontrafte zwiichen Salon- und Straßen-
(eben, herzhafte Volksgeſtalten, an denen wir menjchliches Intereffe nehmen, eine ge-
ſchickt angelegte, fich wirkfam fteigernde Handlung. Der Inhalt von „Giroflé“ ift,
kurz gefagt, Unfinn, und die handelnden Perfonen find Garricaturen. Muſikaliſch
bewähet auch „Girofle“ in mehr ala einer Nummer das gewandte, anmuthige Talent
Lecocq's; allein die Erfindung fließt viel fpärlicher und gemijchter ala in der „Ans
got". Die geringere anregende Kraft des Tertbuches auf den Gomponiften mußte fich
bier wol geltend machen. Das muſikaliſch Befte in feiner neuen Operette findet
fih in den Heinen Enappen Formen. Die eriten Couplets des Vaters, der Girofle,
des Marasquin find bei aller Anfpruchslofigkeit jehr gelungen und ganz das, was
fie an diefer Stelle fein ſollen. Im 2. Akt hat fich Lecocq, der ſonſt den beflern
Eigenschaften Offenbach's mit Glück nachfolgt, fich leider auf deffen ſchlimmſte Cancan—
jeite gejchlagen. Die Chöre der Hochzeitägäfte, die Enjembles, das Trinklied u. ſ. w.
das Alles jchlendert in abgegriffenen Polka- und Quadrille-Melodieen recht Liederlich
einher. Im 3. Alt befchränkt fich die mufifalifche Ausbeute auf zwei hübſche Duette
Murzuk's mit Giroflé, von melodiöfem Reiz und diftinguirter Haltung. Director
Jauner hat die Vorftellung der „Girofle“ zu einem Prachtftüd an Zuſammenſpiel
und Auaftattung gemacht; fie ſetzt alle Vorzüge diefer Novität in Helles Licht und
derdeeft für manchen Hörer die Thatſache, daß „Giroflé“ künſtleriſch keinen Vergleich
aushält mit „La fille de Madame Angot“. Es mag grauſam erjcheinen, einen Com—
poniften durch Hinweiſung auf fein gelungenftes erſtes Werk für die geringeren Qua—
litäten eines keineswegs mißrathenen zweiten zu trafen. Aber das Glüd eines fo
unermehlichen Erfolgs, wie der von Lecocq's „Angot“ bleibt jelten ganz ohne gefähr-
lie Folgen. Succös oblige, —
Ich gehe von den Theater-Ereigniffen zu den bemerkenswertheften Concert auf—
führungen der leften vier Wochen über. Das vierte Philharmoniſche Concert
begann mit einer Novität von Leo Grill. Sie nennt fi „Concert-Ouvertüre“
und hat weder Titel noch Motto. Durch beides würde fie nicht beifer, aber wenig—
ſtens verftändlicher geworden fein. Man fragt fich unwillfürlich, was dieje langge=
firedte düftere Ginleitung vorftelle, was der Leidenfchaitliche Kampf und all die
dramatifchen Zudungen im Allegro? Wir fühlen, es müſſe dieſes Tongemälde noch)
etwas außer der Mufit bedeuten wollen, um überhaupt etwas zu bedeuten. Wie fie
vorliegt, ift Grill’8 Concert-Quvertüre eine Gompofition von beträchtlichen Anjprüchen
und Anläufen, denen das Ziel und die Erfüllung fehlen. Kein origineller Gedanke,
fein auß dem Herzen quellender Gefang, feine Nothwendigkeit, nur Geſchicklichkeit.
Ihr Schikjal: ein durchfallverwandter „Achtungserfolg“. — Die renommirte Pianiftin
dräulein Anna Mehlig aus Stuttgart fpielte Rubinftein’3 viertes Concert. Wir
waren ihr dankbar für die Wahl diejes geift- und effeftreihen Virtuojenjtüdes, mag
es an fünftlerifcher Vollendung noch jo weit von dem Halbdußend claffischer Glavier-
Concerte abftehen, deren Reiz durch maßloſe Abnützung jchon jo bedauerlich abge-
ſchwächt erfcheint. Nicht in gleichem Grade war dieſes Goncert eine gute Wahl für
die Künftlerin ſelbſt, deren überaus nettes, reines und ausgeglichenes Spiel der dafür
nötbigen Kraft entbehrt. Man braucht das Stüd nicht einmal von Rubinftein jelbft
gehört zu haben, um dieſe zarte Weiblichkeit hiev ungenügend zu finden. In dem
318 Deutiche Rundſchau.
leichten Aether der Solo-Paffagen flog fie zierlich und behend wie ein Vogel; gegen
den Anjturm des Orchefterd vermochte fie fich jedoch nirgends zu behaupten. Die
Leiſtung Fräulein Mehlig’3 fand die jchmeichelhaftejte Anerkennung; fie war von
tadellojer Glätte und Gorrectheit, nur nach allen Dimenfionen zu klein. — Einem
Guriofum wunderlicher Art begegneten wir in’ Abert’3 Orchefter-Begleitung zweier
Stüde von Sebaftian Bach. Zuerſt Hören wir das Cis-moll-Präludium aus dem
„wohltemperirten Glavier“ (nach D-moll transponirt) in feiner, effectvoller Inſtrumen—
tirung. Hierauf fommt urplößli, wie ein in den Goncertfaal verirrtes Begräbniß,
ein Choral von Abert angeblafen, blog Trompeten, Hörmer und Pojaunen. An dieje
unerwartete „Aufforderung zum Tode“ ſchließt ſich ebenſo unerwartet Bach's Orgel—⸗
fugk in G- moll, in deren ungejtörten Verlauf ſtückweiſe jener Choral hineinjchmettert.
Gounod’3 artiger Einfall, zu Bach’3 C-dur-Präludium eine gejangvolle Biolinjtimme
zu jchreiben, jcheint ſchlimme Nacheiferung zu weden. Schon hat ein deutjcher Gom-
ponift den Gramer’schen Etüden jolche Melodienmüben aufgeftülpt, und nun kommt
unfer geichäßter Freund Abert gar auf die abjonderliche Jdee, der Bach'ſchen G-moll-
Fuge (nad) Art einer jubceutanen Injection) einen fremden Choral einzufprigen.
Abert beſitzt vollftändig die gründliche Bildung, die feine fichere Hand, die für eine
jo fchwierige Mufil-Operation nothwendig ift; gegen die Art diefer Operationen
müffen wir und troßdem entichieden aussprechen. — Den Beichluß des Goncertes
machte Beethoven’3 achte Symphonie, welche unter Deſſoff's Leitung vortrefflich
ausgeführt und mit allgemeinem GEntzüden gehört wurde. —
Das zweite Geſellſchafts-Concert, am 10. Januar, erfreute fich eines
ganz ungewöhnlichen Schmudes durch die Mitwirkung von Joſeph und Amalie
Joachim aus Berlin. Die frohe Botſchaft: „Joachim ift da!” wurde uns von allen
Geiten wie ein Gruß zugeflüftert, und als er ſelbſt vortrat, die Geige in der Hand,
da wollte der Jubel kein Ende nehmen. Sieben Jahre find verfloffen, feit Joachim
zuleßt in Wien gefpielt, und Mancher mochte ihn nicht gleich erfannt haben wegen
des mächtigen Vollbartes, der das ehedem glatte Geficht jet ummwuchert. Aber er
führt den erjten Bogenftrih, und Niemand kann ihn mehr verfennen — jo jpielt
nur Joachim! Und was er heute fpielt, iſt gleichfalls unverfennbarer Joachim, das
„Ungarifche Concert” nämlich, eine prachtvolle Compofition, die nicht blos nach ihrer
Ausdehnung zu den größten Violin-Goncerten gehört. Mit jeder Wiederholung wird
fie dem Publicum vertrauter und lieber, freilich will fie auch mit der ganzen Energie
und Nobleffe, mit der unfehlbaren und durchgeiftigten Bravour Joachim's vorge
tragen fein. Diefe durch Empfindung und vornehmfte Auffaffung geadelte VBirtuofität
bewunderten wir auch in Joachim’ Vortrag einer Phantafie mit Orchefter von
Robert Schumann, ohne uns für die Gompofition lebhafter erwärmen zu können,
als vor fieben Jahren. Die für Joachim gejchriebene Phantafie (das mir vorliegende
Autograph Schumann’s trägt das Datum: Düfleldorf, 7. September 1853) ijt eines
der jpätejten Werke de8 Meifter® und vereinigt auch alle inneren Merkmale jeiner
einem traurigen Ausgang zufteuernden dritten Periode.
Ein neues, bedeutendes und ganz eigenthümliches Werk von Brahms: „Rhap-
jodie für Altfolo, Männerchor und Orxchefter“ (Op. 53), konnte unmöglich günftiger
eingeführt werden, ala durch Frau Amalie Joachim, welche mit unvergleichlichem
Wohllaut der Stimme und ausdrudvollfter Declamation dieje jchwierige Aufgabe Löfte.
Der düjtere Ernjt der Gompofition und das mufifalisch jpröde, ohne Commentar faum
verständliche Goethe’sche Gedicht (ed beginnt fragend mit den fragwürdigen Worten:
„ber abjeits wer iſt's?“) erichweren die Aufnahme diefes Werkes im großen Publicum.
Brahms, der auch in der Wahl feiner Terte fich „abſeits'' von der breiten Iyriichen
Heerjtraße hält, hat aus Goethe's Harzreiſe im Winter“ jenes Fragment herausge.
riſſen, das nach Goethe's Erklärung ſelbſt eine eigene „ſentimental-romanhafte Gejchichte”
bat. Die Brahms’sche „Rhapſodie“ wirkt durch die überaus düjtere Stimmung anfangs
befremdend; recht mufitaliich wird dag Gedicht eigentlich erſt mit der Schlußſtrophe,
Wiener Chronif. 319
welche Troſt und Verſöhnung bringt. Der Eintritt des Männerchors, durch den fich
die Frauenſtimme wie ein weißes Band leuchtend durchichlingt, ift von ergreifender
Schönheit. Der eigenthümlich ethifche Charakter, welcher der Brahms'ſchen Muſik im
Großen und Ganzen aufgeprägt ift und fie in jo nahe Verwandtichaft mit Beethoven
bringt, tritt in der „Rhapfodie‘ mit faſt tendenziöfer Stärke auf und Läßt fie als ein
Seitenftüd zu jeinem „Schickſalslied“ ericheinen. An all dem Vielen und Guten dieſes
Goncertes (auch Mendelsſohn's liebenswürdige Duvertüre zur „Hochzeit des Camacho“
wurde geipielt) trug jchließlih das Auditorium etwas ſchwer und folgte nur mit
Anftrengung der Bach'ſchen Pfingftcantate „O ewiges Feuer!’ Die fchwierigen
Figurationen der Chöre famen nicht mit voller Deutlichkeit heraus, und jo machte
nur die von Frau A. Joachim meijterhaft vorgetragene A-dur-Arie Eindrud.
Joachim veranftaltet noch ein eigenes Concert und wird außerdem im nächſten
„Bhilharmonifchen‘ mitwirken. Die beiten Kreiſe Wiens wetteifern in dem Bemühen,
das liebendwürdige Künftlerpaar zu feiern. —
Eduard Handlid.
Das Wiener Burgtheater.
Wilbrandt'3 „Arria und Meſſalina“.
Mien, 15. Januar 1875.
Die dramatifche Novität, die feit den erften Aufführungen um die Mitte des
December mit ungefchwächten Eindrud das Repertoire des Burgtheater beherrjcht
und in demfelben wol eine geficherte Stellung behaupten wird — iſt Wilbrandt’3
Tragödie: „Arria und Meflalina”. Ein Trauerfpiel — noch obendrein ein Römer:
ſtück mit ducchfchlagender Theaterwirkung: gewiß ein feltener Fall.
Der Dichter hatte die Annalen des Tacitus, dann die Briefe des jüngeren
Plinius vor fich aufgefchlagen — nebenher auch für einige ergänzende Züge den
Div Caſſius. Zwei außgeprägte Frauentypen traten ihm da entgegen: in Mefjalina
der wilde Taumel der Sinnlichkeit, in Arria die zum Qugenderempel präparirte
moralijche Größe; dort das völlig diffolute weibliche Wefen, hier der biß zur Starr
heit zufammengefaßte Heroismusß der Frau. Außer der normalen Weiblichkeit ftehen
beide: die freche Mänade auf dem Gäfarenthron, die mit unerhörtem Raffinement
die ganze Scala des Sinnengelüftes außfoftet, und ebenfo der Blauftrumpf des ab-
ftracten Tugendprincips, die temperamentsloje Stoiferin, die in einer akademiſchen
Stellung zum Tode fich rüftend, ihrem zögernden Gemahl den Dolch Hinreicht. Nur
eine Zeit, die aus allen Schranken getreten war, konnte jolche Extreme in ber
Ichwwelgenden Orgie des Lafterd wie im Pathos der überfpannten Tugend erzeugen.
Für den Dichter hatte nun der Gedanke etwas Beitechendes, jene beiden Frauen—
gejtalten einander gegenüberzuftellen: es paßt dies auch in die Intentionen des mo-
dernen Drama's, das gern direct auf die jcharfen Gontrafte losgeht. Dieſer Gedante
war nım freilich feine poetifche Eingebung, vielmehr ein Anreiz der Reflerion —
ein erjter kluger Einfall, der weitere kluge Einfälle in dem fünftlerifchen Aufbau der
dramatiichen Handlung zeugte. Wielleicht ging der Dichter von folgender Erwägung
aus: da hätte ich zwei Heldinnen, wie gemacht für den wirkſamſten Gegenjaß, die
ebenjo zwei contraftirende Hälften der Action bedingen. Nur in diefem Doppelweien,
in der Gegenüberjtellung find fie überhaupt für ein Stüd brauchbar. Weder Arria,
noch Mefjalina allein ließe fih in den Mittelpunkt einer Tragödie ftellen: jene ift
nur die Heldin einer Anekdote mit einer einzigen tragifchen Attitude, diefe gehört in
die Satyre, wo ihr auch Juvenal einen unfterblichen Pranger anwies, weit mehr
als in die Tragödie. Was der Einen an dramatifchem Leben fehlt, geht der Anderen
auch in größerem Maße an tragifcher Würde ab. Aber im Gontraft, im Herüber-
Ihillern der Farben compenfiren fich diefe Mängel, und der theatralifche Effect ge
winnt wol jogar bei diefer Rechnung auf Theilung, wenn auch die dramatifche Wir
fung im großen, vollen Sinne ausbleiben mag.
So componirte alſo Wilbrandt ein Doppeldrama; die eine Hälfte deflelben
nimmt aus den dunklen Kerkerräumen ihren Ausgang, in denen der kranke Pätus
Das Wiener Burgtheater. 321
wegen feines Antheil3 an der Verſchwörung des Scribonianus fein Schikfal erwartet.
— Die andere jpielt inmitten des blendenden Jrrlichterglanges in den Gemächern
und Luftgärten Meſſalina's. Mit den Perjonen und der Localität ändert fich zu—
gleich der Styl; ſobald wir uns bei Pätus und in ‚dem Hausweſen des biederen
Senator? Barea Soranus befinden, da ftehen wir ganz auf dem Boden des Römer:
jtüds nach älterer Mode, in welchem die Toga ala das rechte Staatäfleid der fteifen,
nüchternen Charaftergröße galt; jobald aber der Sclave „die faiferliche Majejtät“
verfündigt, dann geht es ganz modern, ich möchte jagen — römifch-franzöfifch her,
wie etwa Gerome den Sinnenreiz der Antike auffaßt, und Farben von üppiger Glut
brennen uns ind Auge. Zwiſchendurch fommt noch in den Nebenfiguren, wenn auch
etwas gedämpft, der echt Wilbrandt’sche Luftfpielton Hinzu: er joll wol die Gegenjäte
behaglich vermitteln und uns über die pathetijche Monotonie der Tugendbpartei durch
einige belebende Lichter Hinüberhelfen.
Wie ift nun das tragische Motiv in das Stüd Hineingetragen? Jedenfalls
mußte der Charaktergegenjaß der beiden Frauen zur acuten Höhe des Conflict? ge-
fteigert werden — ſonſt war er im dramatifchen Sinn nicht brauchbar. Da ftellte
der Dichter eine Figur feiner Erfindung — Marcus, den Sohn der Arria — mitten
hinein, al® das nothiwendig Dritte in feiner dramatifchen Regeldetri- Rechnung.
Diejen Jüngling, der nach der ftrengen, altrömischen Pädagogik des Elternhaufes
zum „Sohn der Ehre und der Pflicht” erzogen ift, läht der Dichter in die Schlingen
der kaiſerlichen Buhlerin gerathen, ohne daß er fie kennt oder von ihr gekannt wird.
Im bleichen Mondjchein, umweht von den lauen Lüften der Sommernadht, trafen
die Beiden zufammen; Feuer fiel vom Himmel in fein Blut, er wußte nicht wie.
AL er es erfährt, wie feine Göttin fich nennt, vermag der Wille nichts mehr gegen
feine Leidenſchaft; Meffalinens heiter Athem hat einmal diefen Tugendipiegel ange:
haucht — fie darf mit aller Zuverficht jagen: „Du Sohn der Arria, was Hilft’s
Dir — Du bift mein!” Und Pätus wird für's erſte begnadigt, weil er der Vater
des geliebten Marcus ift, und er wie feine ftrenggefinnte Gattin Arria, die eben erſt mit
zornvollem Blick aus einer Audienz bei der Kaiferin entlajfen worden ift, empfangen
verwundert das Räthſel der Gnade aus Mefjalina’8 Händen.
Aber für und giebt e& noch der Räthjel mehr; fie Liegen zunächſt in dem leiden-
Ichaftlichen Verhältniß, welches fich jo raſch zwiſchen Marcus und Mefjalina ent-
widelt. Der frivole Gedanke fommt uns da leicht bei: der junge Herr jcheint zu
Haufe ohne Rüdjicht auf die erwachenden Regungen der Jugend, mit zu ftrenger
Gaftität erzogen worden zu fein. ine andere Deutung läßt fich dem nächtlichen
Abenteuer des Marcus kaum geben. Das Weitere ergiebt fih von ſelbſt. Es
ift nicht die Poefie der Liebe, nur der Taumel der aufgeregten Sinnlichkeit, der ihn
zu Meſſaling hinzieht: ein Raufch, auf den ganz ficher der Habenjammer folgen muß.
Bon der eifigen Höhe der Grundjäße taucht er hinab in den brodelnden Qualm der
Leidenſchaft; wieder der greifbare Gegenfaß, der Hier wie überall in der Dichkung
Milbrandt’3 eintritt. „Jh rühr Di ja nur an, fo zitterft Du und jehnit Dich
her zu mir“ — fo jagt Mefjalina, die Virtuofin der fjeruellen Sünde, und weiß
genau, was fie da jagt. Zum Meberfluß beleuchtet fie im zweiten Act (dev Die
Schwelgerei im finnlichiten Genuß uns fcenifch mehr verdeutlicht, als eben nöthig
und fchielich ift) ihr Boudoir und die Gärten des Palafteg mit einem twogenden
Zauberihimmer von Flämmchen — flüjternd weiche Töne, „gliederlöjende“ Muſik von
Flöten Eingt lodend herein — und endlich zeigt jich Hinter den gelüfteten Vorhängen,
auf dem Lotterbette plaſtiſch-ſchön Hingeftredt, die Göttin jelbjt, die Venus vulgivaga
des Gäfarenpalaftes mit ihrem bejtridenditen Lächeln. Zuviel für den zum erften
Male, aber gleich jo wirkungsvoll verführten Jüngling! Daß ihm die Sinne ver:
gehen, wäre aljo eigentlich fein Räthſel — mehr dies, daß die größte Buhlerin
Roms, die in jedem Genuß fich nach neuer Begierde jehnte, hier mit einer vollen
Stätigfeit der Liebe ihren lüfternen Blid zu einer jchönen Jünglingsſtirn erhoben,
mit ungetheilter Leidenſchaft für einen Marcus empfunden, jeinetwegen den Siliuß ab-
322 Deutiche Rundichau.
gedankt haben joll. Wir können ihr dies unmöglich auf ihr Geficht Hin glauben,
in deſſen Züge wir, durch die Dämmerung langer Yahrhunderte zurüd, Dank der
Portraitkunſt eine Tacitus und Juvenal, ganz deutlich und ſcharf ſchauen ... Ein
verführter Marcus wäre für Meffalina nie mehr gewejen ala eine flüchtige Epifode,
und Siliuß hätte einen ſolchen launenhaften Trieb eben jo wenig zu fürchten gebraucht,
wie wenn ein andermal ein Gladiator, ein Zwerg oder ein Tänzer ihr gefallen mochte.
Für das verbuhlte Weib paßte zu längerem Verkehr nur der routinirte Mann mit
pifanten Gigenjchaften, gerade wie Silius e8 war — nicht ſolch' „affenjunges“ Blut
aus langweiligeguter Familie. Um jo mehr muß es und wundern, daß Meſſalina
diefem "Jungen gegenüber zur Liebesfchwärmerin wird, daß fie auf den Knieen ala
ihren Herrn und Kaiſer ihn begrüßt, daß jene Leidenfchaft, mit der ihr irrer Blid
ihn noch jpäter im Schattenreiche aufjucht, fich bei ihr zuleßt zur vollen Höhe des
tragischen Wahnſinns ſteigert . . . Das iſt nicht die richtige Meffalina mehr! Dies
drängt unwillfürlich bei der Entwidlung des Charakters in der Tragödie ſich uns
auf, jo jehr wir auch das glänzende und geiftvolle Detail des für die Zwede ber
Dichtung modificirten Charakterbildes bewundern mögen.
Der zweite Act aljo führt uns in die petite maison der Meflalina, in den
Venustempel des finnverwirrenden Laſters — aber vorher noch in die richtigjte Be
hauſung der Tugend, zu Barea Soranus, dem Gaftfreund des Pätus. Der Dichter
hatte mit dem leßteren jeine Noth, um ihn zu einem Anjchein von dramatijcher
Geltung emporzubeben; iſt er doch im Leben wie im Tod nur „der Mann jeiner
Frau“, die geradezu im Haufe das ftoilche Tugendregiment führt. Krank läßt ihn
der Dichter auftreten und als Patient durch das ganze Stüd hinwanken, denn in
diejer phyfifchen Gebrechlichkeit braucht er ihn für die Führung der Sterbejcene im
fünften Act, Damit er aber jonjt dramatifch etwas vorjtelle, muß das Volk bei
jeinem Austritt aus dem Kerker für ihn Partei nehmen; durch die Straßen jchallt
allerort3 der Ruf: „Pätus werde Gäfar! Nieder mit Claudius und Mefjalina!“
Schon träumt er fi) als den künftigen Befreier Roms; im dritten Act finden wir
ihn am Schreibtifche jtatt im Bett, jehr eifrig mit Staatdcorrefpondenz beichäftigt.
Gin Patient als politischer Projectenmacher ift eine klägliche Erfcheinung auf der Bühne;
zudem macht er durchaus nicht den Eindrud geiftiger Bedeutjamteit.
In den zweiten Aufzug nun, der mit einer Familienſcene zwilchen Pätus und
Arria jehr friedlich beginnt, Fällt bereits die erfte enticheidende Peripetie des Drama’.
Aus dem Kaijerpalaft befommt Arria einen anonymen Brief: „Dein einziger Sohn
it Mefjalina’s Liebfter — und d’rum verzeihbt man Dir und Deinem Pätus.“ Der
weitere Inhalt des Billets ladet fie ein, fich noch diefe Nacht in Mefjalina’8 Gärten
perjönlich davon zu überzeugen. Der Brief fam von Narciß, dem vielgewaltigen
Treigelaffenen, dem Leiter jeder Palaftintrigue auf dem Palatin — der jelbjt das
verliebte Stelldichein der Kaiferin mit frecher Störung zu unterbrechen wagt. Draußen
erhepe fich der Aufftand für den neuen Volkskaiſer Pätus, indeß Meflalina Hier mit
feinem Sohne fofe! Von allen Römern wehrt ihr Narciß feinen, als nur Den!
Der grimmigjte Zornesblid Meflalina’3 drängt ihn hinaus, indeß Marcus ala dummer
unge dabei jteht, und höchſtens „o Jupiter“ oder „Du wagſt es“ ausruft. Nar—
ciſſus aber geht ftehenden Fußes nach Oſtia zu dem Kaiſer, den er völlig beherricht,
um dort die Sataftrophe Meflalina’3 vorzubereiten. Nun folgt der theatralifche
Schlußeffect des Actes. Eben wirft ſich Meffalina vor ihrem Xiebling hin — ba
hört man hinter der Scene den Aufichrei „Marcus!* und vor dem erleuchteten
Hintergrunde des Gartens ericheint Arria’3 dunkle Geftalt. Ein Iheatereffect im
Dperngeihmad.
Der dritte Act ift entichieden der jchwächfte des Stüde. Wenn fi) Marcus im
zweiten Act fo ftark echauffirt hat, daß „fein Blut, in Wellen fiedend, ihm an bie
Rippen ſchlägt“, To joll jeht eine ganze Sturzflut moralifcher Abkühlung darauf
folgen. Er zieht den Vorhang feines Lagers zurüd, — da fit Arria auf feinem
Bett und fieht ihn, ohne fich zu rühren, mit furchtbarem Ausdrud an. Das ijt ihr
*
Das Wiener Burgtheater. 323
zweiter Effect. Wie ihn die Blitze aus Meſſalina's feuchten Venusauge verſengten,
fo durchbohrt ihn nun der jtrafende Tugendblid der Mutter, und foltert ihn moralifch
in den Tod hinein. Marcus entreißt ihr zulegt den Ring, den fie einft für den
legten jchlimmen Fall mit Gift gefüllt hatte, und ruft noch im ZTodesfampf: „So
jterbend bin ich wieder des Pätus und der Arria Sohn!” Dergejtalt endet im
dritten Act bereitö dad ZTrauerjpiel von Marcus. Der Dichter jagt ihn gewaltjam
in den Tod, denn er braucht feine Leiche für die große Hauptjcene zwiſchen Arria
und Meſſalina, in welche nach jener erſten Kataſtrophe die zweite Peripetie des Stüds,
die Vorbereitung der Haupt» und Schluffataftrophe fällt. — Todt ift Marcus für
die dramatiiche Wirkung noch weit mehr werth als lebend. Im Uebrigen ift er
eine Figur ohne individuell belebende Züge, eine bloße Hirngeburt der Reflerion. Er
ift weder Held, noch richtiger Liebhaber, nur das geborene dramatijche Opfer, über
das die weitere Führung des Gonflictes ihren Weg nimmt.
Bu einer jehr bedeutenden Höhe fteigert fih nun der 4. Act, in welchem die
ftärfften Pulſe der Tragödie fchlagen. Die grandiofe Begegnung der beiden rauen
an der Bahre des Marcus gehört zu den wirkſamſten Scenen der modernen Dra=
matif überhaupt und ift nach der meijterhaften Erpofition der zweite hellleuchtende
Glanzpunkt des Drama’d. Ganz verloren in ihren Schmerz tritt Mefjalina an den
theuren Todten und zieht die Hille von. feinem fchönen, falten Antlig hinweg. „Du
Follft nicht todt fein — ruft fie ſchwärmend — „ih, die Kaiferin, will's nicht!
Wach' auf — und wedt dich meine Stimme nicht, jo ruf’ ich mit dieſem letzten
Kuß dich noch zurüd!” Und Arria, fich dazwiſchen werfend, fchleudert ihr das Wort
entgegen: „Eh' will ich fterben, eh’ dein Mund ihn füßt, der noch im Tod ihn mir
entehrt! Mir gab er fich im Tode, und nur die Mutter darf noch um ihn weinen!‘
Der Uebergang in den 5. Act Hinein ift dem Dichter wieder nicht jonderlich
geglüdt; bier war er ſogar genöthigt, am meilten zu Fünfteln. Im dem gejchicht-
lichen Hergang fand er die beiden KHataftrophen vor, in die er mit feiner Handlung
Hineinfteuern mußte: den Doppeltod de Pätus und der Arria und das Ende der
Meflalina, wie e8 Tacitus im 11. Buche der Annalen erzählt. Zwilchen den vorans
gehenden vier Acten, in denen die Erfindung des Dichters frei waltet, und dem
tragiichen Ausgang, wie ihn die Gefchichte fertig vorgedichtet Hatte, galt es nun einen
BZulammenhang herzuſtellen; es fam darauf an, die fingirte Verwidlung in die
Hijtoriich gegebene Kataftrophe gleichjam richtig einzuhängen — aber da eben ilt die
Stelle, wo die Hafen nicht recht pafjen und zufammenjchließen wollen. Sehen
wir jelbit.
Da wäre zuerjt die fünftliche Motivirung des Bacchanals und der Frechen Hoch-
zeitäfarce mit Silius. Was nach der Gefchichte nur der Ausbruch eines zügellos
mwüjten Naturell3, die letzte Beſiegelung der Vernichtung aller Sitte war, erhält bei
Wilbrandt eine merkwürdig raffinirte Deutung. Der Schmerz um Marcus bringt
Meſſalina dem Wahnfinn nahe. Sie fit und nagt die Unterlippe, daß das Blut
in ihren Buſen rinnt. Dann fpringt fie auf und ruft mit frampfigem Lachen: „den
Silius, den Lebendigen, ruft mir her! Was ift mir Marcus, daß ich, die Meflalina,
um ihn weinen jollte® Wenn er mir zu den Schatten hinab entfloh, jo lach’ ich
fein, jo ruf’ ich Bacchus! Evo&! her ihr Lebendigen, und hinab ihr Todten!“ Und
fie läbt den Haruſpex fommen, und veicht dem früher abgedankten Buhlen Silius
die Hand als das ihm anvermählte Weib, indeß der Trauergejang um Marcus am
Fuß des Palatin’s, über die Gärten des Gäfarenpalajtes hinüberjchallend, die Mufik
zu ihrer Hochzeit macht. Es ift der äußerſte Parorismus verzweifelten Schmerzeg,
der ſich bei Wilbrandt’3 Meifalina in tollen, geheuchelten Lebensübermuth verkehrt;
jo gebärdet fich nur, wer felbjt reif zum Tode ift. Diefe ganze Motivirung ijt geift-
voll, wie jo Vieles in dem Stüd, aber wir geben es Jedem zu überlegen, ob dieje
fünftlich geſtellte pſychologiſche Majchinerie in einen Charakter von jo antiker Deut»
lichkeit, von fo typischen Umriffen wie der der Mefjalina wirklich hineinpaßt.
324 Deutſche Rundſchau.
Noch bedenklicher iſt die andere Künſtelei, die die Schulanecdote von dem Tode
der Arria und des Pätus in den dramatiſchen Zuſammenhang hereinzieht. Von der
Bahre des Marcus, von welcher Arria die jammernde Kaiſerin zurückwies, ſchied
diefe mit den drohenden Worten: „Ich Tag’ dir — ftolze Mutter diefeg Todten —
der ſchöne, troßige, kalte Jüngling ift noch nicht der letzte Schmerz, den ich dir ſchuf.
Küß' meine Küffe ihm hinweg! Die Schande, daß ich ihn liebte, waſch' mit deinen
Thränen von jeinem Angefiht — bald wirft du noch andern Kummer füllen und
beweinen!“ Pätus ift da gemeint; des Volkes rebellifche Zurufe geben einen ge-
nügenden Vorwand zu feiner BVerurtheilung. Gar willlommen ift Meflalina die
Botſchaft, daß Pätus durch den Schmerz um den Sohn jo völlig gebrochen ſei —
„ein umgeworjenes Bild des früheren Mannes, nur eine Toga, doch fein Römer
drin‘. In diefer Verfaffung jcheint er völlig geeignet zu fein für einen unwürdigen
Tod. „Er falle noch heut“ — ſo ſpricht Meffalina ihr Urtheil — „hier vor
meinem Antlig falle er! ch will ihn fterben jehen! Begnadigt ift er, nach eigener
Mahl, von eigener Hand zu jterben. Sch will jehen, und fie, fein Weib, mit
mir — wie dieſer Schatten, ihr zerbrochner Gott, unmännlich und mit Schande
ftirbt. Sie foll dann für ihn erröthen und in Schmach verfinfen, wie ich vor ihr
verſank!“ Wie gefucht und graujam zugleich, was für eine außgerechnete, jpib-
findige Sophiftif der Nahe! Das Gejchraubte und Gedrehte des Motivs zeigt
fih ſchon darin, daß es einer jo umftändlichen Erklärung bedarf. Die Menjchen
MWilbrandt’3 brauchen meiftens viel Worte, um und deutlich zu machen, wie und
weshalb fie gerade jo denken und wollen. Und nun geht die wohlbefannte Anechote
vor und in Scene; die Abficht Mefjalinens wird zu Schanden, indem Arria ihrem
lebensmatten, aber doch nicht jterbemuthigen Gatten das berühmte, heroiſche Vor—
bild im Tode giebt und ihm jo die Kraft einflößt, ala Held ihr nachzujterben. Jene
Anecdote jelbft wirkt nur durch ihre Kürze; das oft citirte Wort „Paete, non dolet“
ift fnapp und jcharf, wie die Spite des Hingereichten Dolches ſelbſt — Hier werden
zwei ausführliche Scenen (der 4. und 5. Auftritt des letzten Actes) voll breiter
Rhetorik daraus. Sterbend triumphirt auch Arria über Meſſalina — mit brechen-
dem Blick richtet fie an fie dad Wort: „Ich bin auch jeht noch glüdlicher ala Du!“
Gleich darauf erſcheint Narciſſus an der Spitze einer Schaar von Prätorianern, um
auch mit Mefjalina ein Ende zu machen. Die Schande des feigen Sterben, die fie
Anderen bereiten wollte, trifft fie nun felbit.
Mie wir aus diejer eingehenden fritiichen Analyfe entnehmen können, iſt das
Stück Wilbrandt's in Anlage und Durchführung voll wolberechneter Abfichten, voll
feinen und complicirten Calcüls. Allerdings gehört die „Abficht“ im höhern Sinn,
wie auch Leſſing in feiner Dramaturgie (34. Stüd) ausdrüdlich betont, zu den erften
Erforderniffen eine dramatijchen Kunſtwerks — aber fie muß in der Teleologie der
Dichtung wie der geheime Zwed im Schöpfungsplan gleichjam verborgen liegen, und
fi mehr der vollen Empfindung, ala dem nachwuchernden Berjtande ankündigen.
In Wilbrandt’3 dramatiichen Gonceptionen — namentlich aber in diefer Tragödie —
begegnet man der Abficht, und zwar der deutlichen und bejtimmten, auf Schritt und
Tritt. Die Zettelfäden des reichen, jchillernden Gewebes rühren unverkennbar von
der Reflerion ber, nur der Einfchlag von der dichtenden Einbildungskraft. Wilbrandt
befißt manche von den Qualitäten, die den Dichter machen — die lebhaft angeregte
Empfindung, den Kennerblid für den fruchtbaren Stoff, den jtarfen Drang des Pro—
ducirend. ber oft fommt es mir vor, ala ob er das Gejchäft des Dichtens jeden
Augenblid von der Anſchauung und Phantafie auf andere vicarirende Geelenträfte,
als auf den Ejprit, den Berftand, jogar den anempfindenden Geſchmack übertragen
fönnte. Bei ihm darf man faft — jo parador e8 klingt — von einem productiven
Zug in feiner Bildung fprechen, und ich weiß es faum zu unterfcheiden, wie weit
fie dem echten Dichtertalente Hilft oder e8 wol gar erſetzt. Er hat die Entite-
hungsart, den jchöpferiichen Hergang bedeutender Dichtungen forgfam und feinfinnig
ftudirt, wie wir aus jo manchen feiner Literarifchen Efjay’3 entnehmen — und jo
> ©
Das Wiener Burgtheater. 325
verfuchte er es jeit jeher und mit einem gewillen Glüd, an der Handhabe diefer
Studien ſelbſt auch zu produciven. Dazu hat er, ohne jcharfe Eigenthümlichkeit der
eigenen poetijchen Ausdrudsweife, ein ungemein feine® Ohr für die Echolaute der
ſtark entwidelten Dichterfprache, die er in finnreichen Nüancen bald da bald dort
nachhallen läßt; in ſolchen Dingen ift er ein ganz fubtiler Hörer und Merker. Go
ftreift er in „Arria und Meſſalina“ am häufigiten an den eigenfinnigepoetijchen Aus—
drud Heinrich dv. Kleiſt's heran, mit dem er fich gar eingehend beichäftigt hat, bie
und da flingen auch Leſſing'ſche Töne von fern an, nämlich an jenen Stellen, wo
der moraliſche Standpunkt und die Gefinnung vor allem ein Wort braucht — an
anderen Worten wird auch ein Klein wenig jhafejpearifirt. Aber gleichviel — da
wir der Talente von rein abgeſchloſſener Eigenthümlichkeit in unferer modernften
Literatur jo wenige haben, jo können wir immer an einer jo noblen, ernft jtreben-
den Begabung, wie die Wilbrandt’3 ung erfreuen, und haben jogar die VBerpflich-
tung, fie nach Gebühr anzuerkennen. Er Hilft uns über die unproductivfte Epoche
unferer Dramatif mit großem, unläugbarem Verdienft hinaus — ja noch mehr ala
dieß, er legt auch das volle Gewicht eines bedeutenden Inhalt in feinen beſten Pro—
ductionen, wie in Gracchus, der Arria ac. ſehr nachdrüdlich in die Wagjchale.
Die Burgtheater» Vorftellung der Wilbrandt'ſchen Tragödie ift eine ganz glän-
zende. Da wirkt Alles zu einem harmoniſchen und bedeutenden Eindrud zuſam—
men: die geſchmackvolle Pracht der Infcenirung und der Goftüme bei jo viel archäo-
Iogifcher Treue, als fie die richtig ertvogene Bühnenconvenienz verträgt, eine künft-
lerifch gewiflenhafte Behandlung jeder einzelnen Rolle, vor allem aber die außeror-
dentliche Leiftung des Fräulein Wolter als Meffalina, die diefe Geftalt aus der
Wurzel ihres jchaufpielerifchen Talentes herausgeftaltet, und Wirkungen ihr abgewinnt,
die vielleicht den Dichter jelbft mit überrafchen mochten.
Joſef Bayer.
Politifhe Rundſchan.
—ñ———
Berlin, den 15. Januar.
Noch kurz vor der Jahreswende, die im Uebrigen einen ſo wohlthuenden Rück—
blick auf die Entwickelung und Befeſtigung der deutſchen Verhältniſſe geſtattete,
tauchte urplötzlich aus dem ſonſt wenig bedenklichen Fahrwaſſer unſeres politifch-par-
lamentariſchen Lebens eine Klippe auf, an der man einen Moment lang Gefahr lief,
anzuprallen. Die unerwartet während der Seifion verfügte, aber immerhin auf Grund
eines rechtskräftigen Urtheild erfolgte Verhaftung des Abgeordneten Majunfe, war
von der Mehrheit des Reichstages für einen Eingriff wenn nicht in die Rechte, jo
doch in die Sicherheit des Haufes gehalten worden. „Verletztes Rechtägefühl“, wie
die Einen, „unzeitgemäße Sentimentalität“, wie die Anderen behaupteten, hatten die
reichstreue Majorität bewogen, die Sache des ultramontanen Führers zu der ihrigen
zu machen. Dies mußte für die Regierung, namentlich aber für den leitenden
Staatömann um fo peinlicher fein, als diefer Vorgang anjcheinend das ihm jonjt jo
ergebene Parlament in Gegenfag mit ihm jelbjt zu ftellen jchien und als, was ſchlim—
mer war, die ultramontane Partei den jcheinbaren Bruch zwijchen Bismard und den
nationalen Patrioten in ihrem Sinne auszubeuten, nur zu jehr in der Lage war.
In der Wilhelmsſtraße, wo man fich auf die Volfäfeele verjteht, war man feinen
Augenblid darüber in Zweifel, welch” mächtiger Agitationshebel den Gegnern
der KReichspolitif durch eine Gegenfählichkeit geboten wurde, in die, wie man dort
wenigſtens meinte, fich die National-Liberalen, durch die ſchlaue Ausnützung der preu—
Biichen GConflicts-Reminiscenzen Seitens des intriguengewandten Windthorft, gewiffer-
maßen „babe Hineinjegen“ Laffen. Im nationalen und liberalen Lager war man indeß
weit entjernt, die Sache jo tragifch zu nehmen. Man wollte die Gerechtjame des Parla-
mentes wahren, man jah fich einer „Lücke“ der Hausordnung gegenüber und wenn auch
in der Gonjtatirung einer „Lücke“ eine bedenkliche Erinnerung an vergangene Tage
liegen mochte, jo dachte doch Niemand unter denen, welche für eine Ergänzung des
$. 31 jtimmten, daran, durch ihr Votum einen Act der Oppofition gegen den Reiche-
fanzler oder gar eine abfichtliche Unterjtüßung der ultramontanen reichgfeindlichen
Strebungen zu vollziehen.
Der Reichskanzler freilich, welcher fich ftetS der ungeheuren Verantwortlichkeit
bewußt bleibt, die auf ihm Laftet, hatte ein Recht, die Angelegenheit politijcher oder,
wenn man jo jagen darf, perjönlicher aufzufaſſen. Wer gerecht jein will, muß aner-
fennen, daß jeit dem Jahr 1866 exit in Preußen und dann im deutjchen Reich ver—
hältnißmäßig von Seiten des Kanzlers jehr viel geichah, um die Stellung und Würde
der Bolfsvertretung zu erhöhen. Herr don Bismarck erjah im Parlamente jein
vornehmſtes instrumentum regni und er wußte ſehr wohl, was Beide fich gegenjeitig
zu danfen hatten. Gerade aber weil ex fi) bewuht war, der Würde des Hauſes
jtets nach Kräften Vorſchub geleiftet zu haben, durfte ev e8 als einen Mangel ftaats-
u
Politische Rundichau. 327
männiſchen Einblides in die wahre Natur umferer politifchen Berhältniffe bitter
empfinden, in jo unerwarteter Weile fich von demjelben Elemente im Stich gelafjen
zu jehen, auf das er fich bisher vorzugsweiſe geftüßt. Und fo reifte in jeiner Seele,
welche eine bedingte Parteigenofjenfchait nicht anerkennen mag, der Gedanke eines
RNüdtritts. Jedermann kennt den glüdlichen Verlauf der Krifis, zu deren jchneller
Beendigung derjelbe Windthorjt, allerdings umwiffentlich, die Handhabe bot, ala er
noch jeines legten Gieges voll, am anderen Tage die „geheimen Fonds“ des aus—
wärtigen Amtes zu beanjtanden vorichlug. „Qui trop embrasse, mal étreint.“ Windt-
horſt Hatte dies in feiner Triumphatorlaune zu wenig bedacht und jo ward er der
Promotor eines glänzenden Vertrauensvotums Seitens des Reichstages für den Kanzler,
welchem wiederum die Heftigfeit der Reaction innerhalb der Majorität ein vollgül-
tiger Beweis Tür ihre Aufrichtigkeit fein mußte. Dies fcheint mir der pfychologifche
Hergang eines Zwijchenfalls, zu deſſen Erläuterung man wahrlich nicht der famoſen
und nunmehr fajt in's Fabelreich gehörigen Hofintriguen, de Ausgangs des Arnim
Prozeſſes und aller jener Klatichgeichichten bedurfte, welche man von verfchiedenen
Seiten bei diejem Anlaß eine höchit geheimnißvolle und einflußreiche Rolle jpielen
ließ. Für gewöhnlich ift Jchlechterdings die einfache Wahrheit uns zu fchlicht, ala
daß der arbeitenden Phantafie nicht allerhand kühn combinirte Gabalen- Märchen will-
fommen jein jollten.
Leider hat auch hier übertriebener Dienjteifer infpirirter Federn des Guten nicht
jelten gar zu viel gethan. Und wer Fürſt Bismard nur einigermaßen kennt, der
muß auch wiffen, daß die brutale Verkeßerung namentlich des Abgeordneten Lasker,
welche fich mehrfach an diefen Vorfall ſchloß, kaum feiner augenblidlichen Erregung,
geichweige denn feinen innerjten Intentionen zu entiprechen vermochte. Für jolche
und ähnliche Vorkommniſſe jollte die officiöje Preſſe ftets des Pfeffel'ſchen Fabelwortes
eingedenf bleiben: „Blinder Eifer ſchadet nur!“
Wenige Tage nach den patriotifchen Bellemmungen, welche diefer Vorfall jedem
Vaterlandsfreunde abpreßte, — war doch jogar einen Moment lang die Auflöjung
des Reichdtages mit allen ihren aufregenden Conſequenzen allen Ernftes in Frage
gewejen — brachte das Urtheil des Berliner Stadtgericht? die leidige Arnim
Affaire wenigitend zu vorläufigem Abjchluß. Ganz abgefehen von perjönlichen
Rechtsanihauungen, muß conftatirt werden, daß dies Verdict in allen außerdeutichen
Landen dem preußiichen NRichterftande zur höchſten Ehre angerechnet wurde. Und
nach diefer Richtung wirkte die Urtheilsverfündigung für den deutjchen Namen wie
eine Eluge, patriotifche und zugleich politifche That. Denn e8 war den Gegnern
Deutichlands jo wohl gelungen, die Unabhängigkeit des preußiichen Richterftandes
allüberall dergeftalt zu verdächtigen, daß der männliche Freimuth des Richterſpruchs
abermal® das gejammte Ausland zu dem Rufe zwang: „I y a des juges A
Berlin !**
Bor allen Dingen aber hat der Arnim-Prozeß noch die eine Folge gehabt, auch
den nicht in die diplomatijchen Geheimniffe Eingeweihten einen Begriff von dem Un—
terfchiede zu geben, welcher zwifchen der mikroskopiſchen Beobachtung de Ge—
jandten in fremden WRegierungscentren und jener teleskopiſchen Beobachtung
beiteht, welche der Leiter der auswärtigen Politit im Mittelpunfte des heimifchen
politiichen Lebens durchzuführen Hat. Diefer Unterfchied allein berechtigt denn auch
den Minifter, jeine Auffaſſung zur Richtſchnur für den Untergebenen zu machen und
erklärt gar manches font unverftändlich bleibende Factum. Die Veröffentlichung der
Papftwahl-Depeiche des deutſchen Reichskanzlers d. d. 14. Mai 1872 ftand befannt-
lich mit diefen Vorgängen in engjtem Zufammenhange. Dem Politiker von Fach war diefe
Publication jchlechterdings Feine Enthüllung ; höchſtens, daß die Energie des Ausdruckes
im Bismarck'ſchen Uctenjtüde dem Laien imponiren konnte, Eine bejtimmte Verabredung
Seitens der Gabinete hat übrigens dieſes merkwürdige Actenftüd nicht zur Folge
gehabt. Einzelne der kleineren Regierungen, wie beiſpielsweiſe die Schweiz, reagir-
ten gar nicht auf das Document, jo jehr fie auch jonjt der Kirchenpolitif = deutfchen
Deutliche Rundſchau. I, 5.
328 Deutiche Rundichau.
Reiches beipflichten mochten. Gerade die Eidgenoſſenſchaft meinte, daß ſie ſich von
der Behandlung diefer Frage abjeit3 zu halten habe, weil von den zwei Fünitheilen
ihrer Einwohnerſchaft, welche fich zu dem römijch-fatholiihen Kultus befennen, mehr
als die Hälfte fih ultramontanen Ginflüfterungen als ganz unzugänglich erwiejen
habe. Bon den Großmäcdhten war e8 vor Allem Dejterreich, das fich nicht ohne
Meiteres auf den Standpunkt zu ftellen vermochte, die künftige Papſtwahl, ob ihrer
Gültigkeit, vorerjt zu prüfen und danach die Anerkennung oder deren Verweigerung
auszufprechen. Graf Andraffy Hatte j. 3. jchon den Delegationen in diefer Beziehung
erklärt, daß er dem Kaiſer Franz Joſeph niemals den Rath ertheilen werde, auf
eines der ihm zujtehenden Rechte zu verzichten, und zu diejen Rechten gehört auch
dagjenige der Erclufide im Gonclave, welches befanntlih vom römifchedeutichen
Kaiſer auf den Kaifer von Dejterreich übergegangen ift.
Anzwilchen ging im Reichstag die parlamentarische Arbeit fort und die An-
nahme des Landſturmgeſetzes, wie die Beratung der Givilehe:-Borlage
zeigten, wie ernſt es dieje KHörperichaft mit ihren Pflichten und Aufgaben nimmt.
Daß das Landſturmgeſetz Eeinerlei Provocation des Auslandes bedeuten könne,
war Sedermann, der jehen wollte, klar, wenngleich nicht geleugnet werden joll, daß
diefe Reform der alten Landjturmverfaflung Preußens und deren UWebertragung auf
das Reich — in ihrer Art ein Ähnlich bedeutiames Werk, wie die Mtilitär-Reorgani:
lation der 60er Jahre, — zunächit hervorgerufen worden war, duch die Art und
Weiſe, in welcher Gambetta, vermöge der levde en masse, Armeen aus der Erde zu
ſtampfen gewußt Hatte.
Der Tod des „lebten Kurfürſten“ und die fich daran fnüpfende Ausjöh-
nung der kurheſſiſchen Agnaten mit der preußiichen Krone hat fich ohne jenes jen-
jationelle Beiwerk vollzogen, auf welches von gewiller Seite für diefen Fall gerechnet
worden war. Der alte Fürft war mit allen feinen Fehlern immer ein ccht heifticher
Charakterkopf und die grollende Würde, mit welcher er fein Unglüd zu tragen ver:
ſtand, hat mehr als einen feiner Gegner mit dem „Menſchen“ verföhnt. In der
That waren auch die jprichwörtlich gewordene Mäßigkeit, Nüchternheit und Selbit-
abhärtung, die er an fich fo ehern beobachtete, wie er jie von Anderen verlangte,
Eigenjchaften, welche ihn nicht nur von manchen feiner Vorfahren vortheilhait aus-
zeichneten. Er bat den Glauben an jeine Wiedereinjegung bis zum letzten Athem-
juge bewahrt, war er doch jchon einmal in jeinen YJugendjahren Zeuge ähnlicher
Neftauration geweſen. Dennoch hielt er von KXoyalitäts-Verficherungen, namentlich
wenn fie aufdringlih an ihn herantraten, nicht eben viel und darin zeigte ex einen
Hareren Blick als die meilten feiner depofjedirten Echidjalägenofjen. Kein Freund
deutjcher Einheit wird fein Gejchik bedauern, Niemand aber auch wird ihm den Zoll
der Achtung verjagen, den jeine Faſſung im Unglüd heiſcht.
Die Beihiehung einer mecklenburgiſchen Brigg an der cantabrijchen Küſte
durch carliftifche Strandräuber hat auch im letzten Monat wieder die deutiche aus:
wärtige Politit in den Vordergrund geitellt. Ein folcher Unfall gehört zu jenen
Dingen, welche fich nicht wohl vorherjehen laſſen. Deshalb find auch alle jene Vor—
würfe jchwerlich begründet, welche daß deutiche Marineamt trafen, ob der vorzeitigen
Abberufung der beiden im biscayiſchen Meere jtationirten Kanonenboote. Man hat
fich jchleunigjt bemüht, die entjernten Schiffe zurücdzjubeordern und es hat ganz den
Anfchein, als jei eine größere Erpedition dazu auserjehen, den ‚Garlijten für künftig
dad Bombardement von Fahrzeugen unter deutjcher Flagge zu verleiden.
Der an diefer Stelle jchon in der lebten Rımdichau angedeutete Wechjel der
Dinge in Spanien hat fich inzwiſchen auf unblutige und doch auf die landesüblich
militärische Weije volljogen. Der jugendliche König Alphons XII. ift in Madrid
eingezogen. Seine Perfon bot noch die einzige Yöjung, welche in dem zerflüfteten
und der ewigen inneren Nuhelofigfeit müden Yande einige Ausficht auf Erfolg bejaß.
Don Alphons, ein modern=gebildeter Bourbon, betritt den mit bejten Vorſätzen ge—
pflajterten KHönigsweg. Mit demjelben glatten Material ift freilich auch der Weg
Politische Rundſchau. 329
nach weniger glüdfeligen Endzielen gedielt. Es ift ein Glück, daß die Mutter des
jungen Monarchen fich wenigjtens vorläufig jernhält. In der Günftlingswirthichaft,
von welcher die vielgefhmähte Frau fich niemals Hat ganz trennen können, ijt die
größte Gefahr für ihren Sohn zu erbliden. Nicht ohne Humor erjcheint die Yage
des heiligen Vaters gegenüber den beiden jpanifchen Legitimitäten; hat er doch erſt
diejenige de Don Garlos und neuerdings diejenige Alphonjo’3 mit jeinem Segen be—
dacht. Für welche joll er fich entjcheiden, da beide legitim doch find? Die Sym-
pathien der päpftlichen Gamarilla, des Jeſuitismus, find freilich entjchieden auf car-
tiftifcher Seite. Dies dürfte wol jchließlich den Ausſchlag geben.
Die Stellung der Mächte ift dem jungen Souverän möglichſt günftig. Die
deutiche Reicharegierung Hat ſich alsbald diplomatifch mit den Gabinetten von
Wien und St. Peteräburg ind Einvernehmen gejegt und beide find geneigt, gemein-
ichaftlich die Anerkennung des neuen Regime’3 in Spanien auszufprechen, jobald
daflelbe erit im Stande jein wird, eine regelmäßig geordnete Regierung zur Vor:
Htellung zu bringen. Begreiflicherweije ift man in St. Petersburg einigermaßen
ftolz darauf, daß man „Vorausſicht“ genug bejeilen, die Erecutivgewalt Serrano’3
gar nicht anzuerkennen. Indeß in Berlin, wie in Wien lebt man der lleber-
zeugung, daß man mit der Anerkennung Serrano’3 gewilfermaßen erit der monarchi—
ichen Reftauration, die man jebt freudig begrüßt, den Weg geebnet Habe. Nament-
ih in Defterreich fieht man den jchnellen Triumph Alphonſo's faſt wie einen
eigenen Sieg an, denn in Wien war es ja, wo ber junge Königsſproß feine eigent-
lihe Erziehung erhielt. Er wird nun zu zeigen haben, ob er den Wiener Jugend-
bildnern Ehre maht. Den in Defterreich gleichfalls zahlreich vertretenen Freunden
des Carlismus ift diefer gelungene Alphonfijtiiche Staatzftreich überaus empfindlich.
Haben doch ſofort die höchſten Fürjtlichen Gönner, welche die Sache des Don Carlos
bisher jo reichlich und freigebig unterjtüßt, von der Wiederheritellung der Monarchie
in Spanien Anlaß genommen, ihre Sand vom Prätendenten des „Throne und des
Altars“ abzuziehen. Sie erklärten, daß ihre Beihülfe lediglich dem Kampfe gegen
die Republik gegolten habe und daß fie jet, nachdem das Königthum wieder herriche,
feinen Grund mehr Hätten, dem Garlismus materielle Opfer zu bringen. Die bisher
dem Moloch der Legitimität aus Dejterreich allein anheimgefallenen Gaben laſſen fich
auf etwa 10 Millionen Franken beziffern.
Graf Andraſſy für feine Perfon hat freilich von den fchlechten Ausfichten, die
fh feinen feudalen MWiderfachern eröffneten, noch wenig Nuten zu ziehen vermodht.
Die Angriffe gegen ihn wurden mit verdoppelter Wucht Tortgejegt und namentlich
die ungarische Brochure Asboth's, die feine Thätigkeit ald ungarischer Minifterpräfi-
dent einer bösartigen Kritik unterzieht, muß ihn jchmerzlich berührt haben, denn in
Ungarn find die jtarfen Wurzeln feiner Kraft. Allen diefen Kabalen ſetzt der Graf
freilich eine unzerſtörbare „sérénité“ entgegen, die auf dem Gefühl feines redlichen
Strebens und feiner — Unentbehrlichkeit bafitt. Doch werden ihm mitunter auch
harte Opfer zugemuthet !
Inzwiſchen ift aber in ganz Cisleithanien und weit darüber hinaus die
Aufmerkfamkeit der öffentlichen Meinung lediglich auf den Rieſenproceß concentrirt,
welcher jich vor den Wiener Gefchworenen gegen den Ritter Ofenheim von Ponte
euzin, den ehemaligen Generaldirector der Lemberg⸗Czernowitzer Bahn, abjpielt. Der An—
geflagte verdient nicht nur als Einzelweſen, jondern auch bejonders ala Typus der
Diener Finanz und Gründerwelt hervorragendes Intereffe. Für ihn und jeines
Gleichen ift Alles erlaubt, was nicht im Strafcoder ausdrücklich verboten ift und die
Bereicherung auf Koften der Andern („la bourse c'est l’argent des autres“) wird
mit einer Gonfequenz, Kühnheit und Wifjenfchaftlichkeit ala Lebensaufgabe betrieben,
die manchem befjeren Felde menjchlichen Strebens zu wünfchen wäre. Dazu kommt,
daß Dfenheim perfönlich durchaus nicht der erſte Beſte, jondern ein fcharfer Kopf und
von jchlagfertiger Beredtjamleit ift. Und jo entrollt er in feinem Cynismus ein er-
Ihredendes Bild von der jocialen Fäulniß der Wiener Geldariftofratie, welche die
22%
330 Deutjche Rundichau.
höchſten Regierungskreiſe und jelbjt das Parlament in einzelnen jeiner Vertreter bereits
in Mitleidenjchaft gezogen hat. Unter diefen Umftänden und bei dem etvigen Refrain der
Verhandlungen: „‚cosi fan tutti‘ ift es kaum zu verwundern, daß fich wie im Handumdrehen
die Sympathien der öjterreichiichen Bevölkerung in der großen Maſſe dem Angeklagten
zugewendet haben, der denn in der That eine dialectifche Gewandtheit, ein ſtaunens—
werthes Gedächtniß und eine überlegene allgemeine Bildung mit einer jchaufpieleri-
chen Fertigkeit verbindet, welche auch einem minder naiven Publicum imponiren
müßte. Dennoch ift an feine Freiſprechung kaum zu denken. Er ift für die öfter
reichiiche Finanzwelt, was Bazaine für die franzöfiichen Heerführer des letzten Krieges
gewejen. Gr muß die ganze Welt von Sünden auf fich nehmen, an welcher Jeder
fein Theil Hat, für die aber nur Einer zu büßen berufen ift.
Der Proceß gegen den ehemaligen Generaldirecfor der Lemberg-Czernowitzer
Eifenbahn hatte namentlih in England einen mächtigen Widerhall, weil es vorzugs—
weile englifche Gapitaliften gewejen, welche die Schienenwege nach dem jchwarzen
Meere durch ihre materielle Beihülte mit zu Stande gebracht. Sonſt war es in
jenem Inſellande politifch ziemlich ftill; wenn man nicht die Klagen über die zu—
nehmenden Dejertionen aus der britifchen Armee zu einer Frage erjiten Ranges
hinaufichrauben will. Freilich macht fi in wirthichaftlicher Beziehung ein beachtens-
werthes Phänomen bemerkbar: die conjequent in faſt allen Zweigen der englichen
Induſtrie durch die Arbeitgeber herbeigeführte Herabjegung der Löhne für die Arbeit:
nehmer. An diefer Stelle genügt es, das Gintreten diefer unaußbleiblichen Reaction
gegen die fortwährend fich fteigernden Anſprüche der Arbeiter zu conjtatiren. Der
engliiche Vorgang dürfte auch Für den Gontinent nicht ohne rückwirkende Kraft bleiben.
Schon ſetzte fich eine ähnliche Bewegung in den belgifchen Bergwerksdijtricten in
Scene. Die belgiichen Arbeiter, die ſich ohne Weiteres dem ehernen ökonomiſchen
Geſetze, welches gegen fie zur Anwendung gebracht wurde, nicht fügen wollten, hatten dir
taft rührende Naivetät, von König Leopold II. Hülfe und Schub gegen die Abfichten
der Arbeitgeber zu erbitten; ein Vertrauen in feinen Einfluß, dem der conftitutionelle
Monarch jchlechterdings nicht gerecht werden konnte.
Inzwiſchen bot Frankreich, in feinem innerpolitiichen Verfall, ein betrübendes
Schaufpiel dar. Der Präfident dieſes monarchiſch vegierten und republicaniich
repräjentirten Staates hatte feinen Herzenswunſch, die verfafjungsmäßige Organifation
des Geptennat3, durch die Verjailler National-Berfammlung noch immer nicht be:
rüdfichtigt geliehen. Ihm und feinen perjönlichen Freunden — welche in diejem Mo:
ment faft ausichließlich im orleanijtifchen Lager zu juchen find — fam e3 vor Allen
darauf an, eine zweite Kammer, einen Senat, in’® Leben zu rufen, mit deſſen Hülfe
man das gegenwärtig tagende Parlament endlich auflöjen Fönne und der auch, was
die event. Lebertragung der Gewalten, nach Ablauf des Septennat3, anbetrifft, als
dann über die zukünftige Staatsform ein enticheidendes Wort mitzufprechen habe.
Dies hieß mit anderen Morten, dem „allgemeinen Stimmrecht“ die Enticheidung
über die Gefchide des Landes edcamotiren und man begreift, daß wenn ein jolcher
Tan auch den Intereſſen der Orleans entſprach, er weder dem Gefchmad der Re:
publicaner noch demjenigen der Bonapartiften zufagen konnte. Was aber die Legitt-
miften betrifft, jo waren fie natürlich jeder Ordnung der Dinge feindlich gefinnt,
welche irgend ein geſetzliches Hinderniß für die fofortige Rüdfehr und Reftauration
Heinrichs V. — heute, morgen, übermorgen — organifch in's Leben rief. Es ge
hörte viel Muth dazu, diefe Lage zu verfennen. Allein Marichall Mac Mahon
wappnete fi mit der dazu nöthigen Kühnheit, nachdem er noch die Worficht ge:
habt, fich im längeren, eingehenden Conferenzen mit den NRepräfentanten der drei
Hauptfractionen der Nationalverfammlung die für jeine Rolle unumgänglichen Miß—
verftändniffe zu eigen zu machen. Dies gelang ihm denn auch über Erwarten. Er
ignorirte vollftändig, daß die Republicaner, unter Gambetta, miemals einer
andern Gonjtituirung feiner Gewalten ihre Stimme geben würden, als derjenigen,
durch welche, auch für das Ablaufen der Septennatäfrift, die republicanijche Staats
Bolitiiche Rundichau. 331
form als einzig gejegmäßiger Zuftand des Landes ein für alle Mal jeftgejegt werden
fonnte. Er jchien nicht zu ahnen, daß die Gruppe der Bonapartiften, unter
Rouher, niemal3 ein Verfaſſungsgeſetz votiren mochten, welches darauf ausging,
den Schwerpunkt nicht in den Appell an das Bolt, jondern in einen von der Re—
gierung ernannten Senat und in ein durch beeinflußte Wahlen zu Stande gefommenes
Abgeordnetenhaus zu legen. Der Marichall jah nicht oder wollte nicht jehen, daß
heute die Legitimiften, unter Belcaftel, weil er jein Septennat ernſt nimmt,
gegen ihn und feine Gonfolidirung feindfeliger gejtimmt find, als fie e8 jemals gegen
Thiers geweien, deffen Sturz fie doch mitherbeigeführt und er bemerkte jchlieklich
nicht, daß dad linke Gentrum, unter Thiers, alles Andere eher wünfchen durfte,
als durch jeine Zuftimmung zu dem Senatägejeß die Kaftanien für die Glieder der
Familie Orleand aus dem Feuer zu holen. Als nun der Marjchall-Präfident auf
diefe Art, in Folge der abgehaltenen Konferenzen, die wahre Situation gründlich er=
fannıt hatte, trat er mit einer Botjchaft vor dad Haus, deren Ton jo ziemlich einem
militärifchen ZTagesbefehl abgelaufcht war. Allein hier rächte fich die Verblendung
des Präfidenten und jeiner Ratbgeber. Die Majorität, allerding® aus der ungejunden
Goalition Gambetta-Rouher-Belcajtel-Thiers hervorgegangen, verwarf den
minifteriellen Antrag, das Senatsgeſetz auf die Tagesordnung zu ſetzen und Thiers
befaß endlich, wonach er jo lange gelechzt, jeine Revanche für die Coalition vom
24. Mai 1873, die ihn zu alle gebracht. Die Niederlage des Gabinets hatte
natürlich eine Minifterkrifis zur Folge, die natürlich nicht, d. h. in Frankreich von
heute natürlich nicht, zum Vortheil einer der fiegenden Fractionen dieſer Gelegenheits-
Majorität enden Eonnte. Im Gegentheil, Marihall Mac Mahon jchloß fich fefter
ala je an feinen orleaniftiichen Rathgeber, den Herzog von Broglie, an und diefer,
icheint e8, ſoll auch berufen fein, an der Spitze des neuzubildenden Gabinets, die alte
parlamentarische Majorität von jenem 24. Mai, allerdings mit Berleugnung des
jüngften Mac Mahon’schen Verfaffungsprogrammes, abermals zufammenzujchweißen.
Schlimm ift nur, daß bei all diefem Pro und Contra der Einfluß des Herzogs
Decazes einigermaßen gelitten hat, weil man ihm die Schuld für die Mißverſtänd—
niffe beimißt, welche den Marjchall-Bräfidenten in eine jo jchiefe Lage gebracht. In
der That hatte der Herzog auch die Verhandlungen mit dem linken Gentrum zu
leiten gehabt und das geringe Glück, welches ihm dabei beichieden gewelen, wird von
feinen Widerjachern im orleaniftifchen Lager, die in ihn nur einen Halben, und jeden-
falls umficheren Bundesgenofjen erbliden, weil fie ihn republicanifcher Anwandlungen
bezichtigen, stark gegen ihn ausgebeutet. Der neuen Minijtercombination wird er
ficherlich noch angehören, aber an feinem Prejtige Hat er bedeutend eingebüßt.
So ift denn die augenblikliche Lage Frankreichs eine überaus precaire, deren
Gefahren nicht durch den Umſtand vermindert werden, daß den Bonapartiften durch
den geglüdten Staatsjtreih zu Gunften Don Alphonjo’3 in Spanien der Kamm gerade
in dem Moment wieder ſtark gejchwollen ift, in welchem Prinz Louis, der Sohn
Napoleons III., die Militairfchule von Woolwich abjolvirt.
Faſt Elanglos fuhr in den Orkus Hinab, gerade während diefer aufregungsvollen
Zeit, der alte, freilich zahnlos gewordene Tribun, Ledru-Rollin, vor defien
Wort einjt das Julikönigthum erbebte, vor deffen Zorn auch der dritte Napoleon in
feinen Tuilerien zitterte. Der einst jo machtvolle Agitator, dem republicaniſche Pietät
in der Nationalverfammlung ein Mandat vejervirt hatte, war nicht mehr im Stande
gewejen, in dieſer neuen Zeit eine Rolle zu fpielen. Sein font jo zündendes Wort
fand fein Echo mehr und die Popularität jüngerer Gefinnungsgenofjen raubte ihm
den Plaß, den er einjt im Herzen der franzöfichen Demokratie bejefien. Er Hatte,
jelbjt für feinen Ruhm innerhalb der Parthei, viel zu lange gelebt.
Das italienijche Minifterium, welches jo hoffnungsfreudig in die neue Par-
laments-Seffion eingetreten war, fängt an, die Flügel hängen zu laſſen. Seine
Stellung erfcheint ſchwer gefährdet und, wie man jagt, wäre eine Bluttransfufion in
332 Deutiche Rundſchau.
naher Ausficht, durch welche auch Lanza und Sella wieder in das Gabinet gelangten.
Sedenfalls hindert die den Minifter des Auswärtigen, Herr Bisconti-Benofta nicht,
jein Augenmerk den ernſten handelapolitiichen Fragen zuzuwenden. Italien befigt
wirkliche Handeläverträge mit Defterreich-Ingarn, Frankreich und der Schweiz. Die
anderen Mächte erfreuen fich nur der KHlaufel der meiſtbegünſtigten Nation. Nun ift
man neuerdings auf der apenninifchen Halbinjel von den freihändlerifchen Principien
einigermaßen zurüdgefommen, zu denen fich Gavour aus politifchen Rüdfichten für
Frankreich und England befannt und die auch nach feinem Tode maßgebend geblieben
waren. Der Vertrag mit Oeſterreich muß bis zum 30. Juni diejes Jahres gekündigt
oder verlängert fein. Das Verhältniß zu Frankreich erfordert gleichiall® baldige
Neu-Regelung. Man ift deshalb zu dem Entjchluffe gelangt, ſowol mit Wien, als
auch mit Parid und Bern in Unterhandlungen zu treten, um eine Revifion der be
ftehenden Tarife gleichzeitig durchzufeßen, damit dann auch die andern „meiftbegün-
ftigten“ Staaten ebenfo gezwungen würden, die alfo jchußzöllnerifch zu modificirenden
Derträge für fich gelten zu lafien. Bis jet ift jchlechterdings wenig Augficht vor-
handen, dieje Projecte von Erfolg gekrönt zu jehen, allein Bisconti-Benofta ift nicht
der Mann, fich durch einen ernjten Mißerfolg beirren zu Laffen.
Die Situation Garibaldi’3 und feiner Weigerung, die Nationalbelohnung ans
“ zunehmen, welche Parlament und Regierung für ihn in Ausfiht genommen, ift
ebenfalls eine Verlegenheit für da8 Gouvernement. Der alte Streiter hat fich be
wogen gefühlt, neuerdings mitzutheilen, daß er im Jahre 1872 nicht gegen Deutſch—
land, fondern nur für die Demokratie die Waffen ergriffen. Den tapfern bei
Dijon und Beaune gegen jeine Schaaren gefallenen Deutichen wird dies zweifelsohne
auch noch nad) dem Tode ein erhebendes Bewußtfein werden. Mir Icheint, die De
mofratie hat feine ſchlimmeren Widerfacher, ala jolche Parthei⸗ Fetiſche wie Garibaldi,
Ledru⸗Rollin, Victor Hugo, deren unbedingte Verehrung ſich in ihren Reihen von
Generation zu Generation als Dogma vererbt.
Sn den Vereinigten Staaten von Nordamerika find die neuejten Vorgänge
in Zouifiana ein erneuter Beweis für die bereit? an diejer Stelle ausgeiprochene An—
fiht, daß der große Bürgerkrieg der jechziger Jahre die fociale Frage, um die es
fi dort, zwifchen Nord und Süd und Weiß und Schwarz handelt, keineswegs ge
löſt hat. Auf beiden Seiten wird dort gefündigt, wenn auch diesmal das ſchwerere
Unrecht auf der Seite der reichſstreuen Unionsmänner zu finden iſt. Freilich in dieſen
Dingen darf man nicht doctrinair nach Recht und Unrecht fragen, wo das höchſte Gut
der Nation, die Einheit, in vorderſter Reihe in Frage fteht. General Grant hinter
läßt jeinem Nachfolger in der Präfidentichaft ficherlich in diefem Punkte eine jchwer
zu ordnnende Erbichait.
Berlag von Gebrüder Paetel in Berlin. Drud der 5538 Hofbuchdrucerei in Altenburg.
Für die Rebaction verantwortlid: in Baetel in Berlin.
Unberechtigter Rahdrud aus dem Inhalt diefer Zeitichrift unterfagt. Ueberfebungsrecht vorbehalten.
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sgigenthbum.
Novelle
von
Marie von Olfers.
Eines ſchickt ſich nicht für Alle!
Sehe Jeder, wie er's treibe,
Sehe Jeder, wo er bleibe,
Und wer ſteht, daß er nicht falle.
Gocthe.
I.
Adam an Yambert.
„Lieber Freund! Seit gejtern bin ich Hier in meinem Heimathsort! —
Wie hat ſich Alles verändert! — Nicht ala ob's mich erftaunte, daß des Schelmen
Bungert Naſe in höherer Potenz glüht, oder daß aus dem rundivangigen Gun-
delchen eine nette Jungfer geworden, das ift Alles naturgemäß und mußte jo
fommen — nein! ich ftaune, wie Menſchenhand — was find zehn Jahre, Lam
bert? — aus tieffter Waldeinjamfeit dies Weltgeipühl geſchaffen. Vertauſcht ift
der Ort! — verwandelt, um ihn nie wieder herauszufinden — herauszufinden,
was er mir war, Lambert.
63 hing ein Stüdchen meiner Eriftenz daran! Von Hier aus ftredte ich
ala Kind die Wurzeln meines Daſeins weit — weit — jog mid) feft, an ber
bolden Mutter Erde. — Bon hier aus!
Du würdeſt lächeln, wenn Du jählt, wie ich hier auf einem abgerißnen
Stückchen Haidegrund fie, um das in Mahnung alter Zeit vergeßne Blumen
dangen — fite und traue, wie die Juden einft auf den Trümmern Jeru—
ſalem's.
Trümmer! würdeſt Du rufen — Du träumſt! — Trümmer hier, wo
Alles vor Neuheit blitzt, wo ſelbſt die Natur als proper aufgeräumte Kammer
erſcheint!
Du haſt Recht — ich träume — und träumen iſt hier wahrhaftig nicht
an der Zeit. Raftloje Sägemühlen arbeiten ſich kreiſchend ab — Schlot an
Schlot übergualmt die Gegend, Duntel füllt die Luft — ekler un Wolken,
Deutſche Rundſchau. 1, 6.
334 Deutihe Rundichan.
die nicht vom Himmel ftammen. Hat er nicht genug in Bereitihaft für uns ?
Müffen wir uns noch das bischen freien Aether unjrer nordiſchen Natur jo
ſchmählich verräucdhern laſſen? Wahrhaftig! es zieht ein höchſt widerwärtiger,
unharmoniſcher Ton durch dieſe Gegend — unharmoniſch ſelbſt für weniger
empfindliche Nerven, als es die meinigen find. Mir greift er ſie bis auf das
Aeußerſte an. — Sollen alle Naturſtimmen überſchrieen werden? Soll dieſe
Teufelsmaſchinerie das letzte Wort behalten, dann macht auch andre Menſchen,
als wir es ſind. — O Lambert! mir iſt wie Einem, den man um ſein Theuerſtes
gebracht hat! — Mein Kinderparadies war's — mir gehörte, was hier zerftört
worden, denn mit meiner Seele, mit allen Gedanken hatte ich Beſitz genommen
von dieſer wonnigen Umgebung. Barbaren der Neuzeit! giebt es nicht genug
garftige Flecke auf Erden, wo ihr eure alten Knochen-, Papier-, Lumpen- und
andre Mühlen, eure Brauereien, Brennereien, Färbereien hinbauen könnt? Mit
denen ift die Gegend verpeftet und vergiftet! Mußtet ihr diefen heiligften Tempel
der Natur wählen? diefe hehren Buchenhallen, dieje janften Abhänge, gekränzt
mit Grün, zwiſchen dem, wie jpielende Kinder, luftige Bäche dahinliefen?
Alles, was Geift heit — nimm das Wort, für wa3 Du willft — Alles, was
ich gute Geifter nennen würde, hat diefen verwünjchten Ort verlaffen — er iſt
eingereiht in das Rechenexempel de3 Lebens, bei dem die Null jet eine jo große
Rolle jpielt. Vetter Lorenz trägt ſtolz jeinen dien Bauch herum — der Schöpfer
einer Welt könnte nicht ftolger jein, als er auf jeine Fabrit. Wa3 würde er jagen,
wenn er wüßte, daß ich hier von Entbehrung jpreche, hier, wo alles nach Geld
riecht, nach Geld ſchmeckt, nach Geld geſchätzt wird in jtroßendem Reichthum;
hier von Zerftörung, wo feine handfejten Schornfteine wie Fingerzeige der Ord—
nung gen Himmel zeugen. Für ihn bin ich der Troglodyte, der Barbar. —
Seine Eultur und meine Cultur liegen fich beftändig in den Haaren. Meine
hat eine wahre Anbetung vor dem alten Baum; feine jchaudert, wenn
das Nutzholz darin überjtändig wird. Meine ſchwärmt für den blumigen Wiejen-
rain, den verftreuten Blüthenbuſch — feine reißt Alles aus, wäs nicht directen
Nuten bringt. Jedes Eckchen wird eingepfercht, ausgepreht, bis auch der be-
Icheidenfte Spa fein freies Körnchen findet. Es ift unglaublich, two man alles
nicht gehn, nicht ftehn darf; könnten ſie's, es würden gewiß Sonne, Mond,
Sterne, ja das Stüdchen Himmel, unter dem wir athmen, für Geld verpadhtet.
Dennoch kann ic) mic) eines gewiffen Reſpects dor diejer neuen Aera nicht
ertvehren — Rejpect vor diejer großen eijernen Fauſt, welche ein ſolches Reich
zuwege gebracht und zufammen hält. — Nur mein Neid) ift es nicht. — Wenn
ich unſre Hände nebeneinander jehe, Lambert — es ift zum Lachen! — wirklich
naturhiftoriich merkwürdig. — Zwei ganz verjchiedene Species, und die jollen
zujammen kommen? |
Armes Gundelchen! was haft du verbrodhen, daß du auf diefe Weiſe ver-
handelt worden bift?
Jene paar Thaler, die mein Vater dem ihrigen vorſchoß, künnten ihr
theuer zu jtehn fommen. — Hätte das gute Kind nım den geringiten Wider:
tillen gegen mich, ich könnt’ es ihr nicht anthun. Der Mutter halber geſchieht's.
Eigenthum. 335
Meine arme Mutter, die jo viel um mich ertragen, joll, wenn ich es verhüten
fann, nie wieder Mangel leiden.
Sch Handle in diefer Sache ganz nach meinem Herzen, und doch iſt's mir
mandhmal, als regte ſich das thörichte, um andre Auskunft zu geben. Leben,
wie ich’3 verftehe, werd’ ich hier nie! Es mag mir gejund fein — bis jeßt
fühl’ ich mich aber frank, Frank nad) meinem alten Kreis, nach den gleich-
gejinnten Gefährten. — Eines Wegs zogen wir, glüdlih, unbekümmert, eine
Sprache ſprechend, demjelben gelobten Lande zu. — Weh' mir! daß ich mit
engverwandten Seelen bi3 jett leben durfte! Es ift die größte Verwöhnung, die
dem Menjchen widerfahren kann.“
Rambert an Adam.
„Alter Freund, ich habe Deine Jeremiade erwartet. — Du bift nicht un-
geftraft unter Palmen gewandelt! Aber jobald Du Di nur ein wenig akklima—
tifirt haft, fannft Du ja Deine Hiefigen Haine, in denen dann nur etivas beſſer
gegeſſen wird, wieder aufrichten. Ich habe die Dichtkunſt von jeher für ein
ſchlechtes Metier gehalten und e8 Dir nie verſchwiegen, troß deffen find wir uns
qut geblieben von Kindesbeinen an. Weshalb jollte es mit Vetter Lorenz nicht
eben jo gehn? hr Sonntagsfinder der Menjchen braucht in euren lichten
Sommerröden ein derbes Unterfutter, wie wir e8 find. Doc abgejehen davon —
giebt es etwas Poetifcheres, al3 wenn Einen das Glüd aus joldhen freundlichen
Mädchenaugen anlacht? — Heirathe das gute Kind, dad Dich liebt, ſchon weil
es gewohnt ift, Dich den ihr Beitimmten nennen zu hören — Gewohnheit ijt
eine mächtige Alliirte. — Du verachteſt das Geld — gut, verachte es, aber
Künstler müſſen e3 erit haben, um e3 zu verachten. — Glaube mir, Geld iſt
ein recht poetijcher Gegenstand, fage nur Gold. — Welcher Mann liebte e3 nicht,
nur unter verjchiedenen Namen: Macht, Ehre, Anfehn, genug, all’ die Dinge,
die wünſchenswerth exicheinen auf diefer Promenade im Staub, die man Leben
nennt. — Der Hund jogar jieht, ob man’3 hat, und zerrt den Bettler Fläffend
am Yumpen. Wir haben e3 ja miteinander durchgemacht: ein zerriffener Rod,
ein verfuuffter Hut, und die Manneswürde ift jo gut wie dahin.
O ich wollte, ich könnte e3 mit vollen Händen ausjtreuen — wie ic) es ver-
achten wollte! Warum mix diefer feine Sinn für einen gebildeten Luxus, für
raffinirten Genuß des Lebens, der jo viel Neichen abgeht?
Du bift beneidenswerth, Adam! — Noch kürzlich), hier in der Stadt, Jah
ich Dein Goldfiichchen mit ihren großen, immer erftaunt ausjehenden Augen —
blaue Augen voll himmliſcher Dummheit. — Einfalt ift etwas Selt'nes in
dieſer Nera juperkluger Frauenzimmer, die den Mann nie zur wohlverdienten
Geijtesruhe in Schlafrod und Pantoffeln gelangen laffen. — Was zögerit Du?
Mag der Quell Deiner Lieder vom Parnaß fommen, Goldkörner führt ex nicht
nit fi. — Wer hat jet Zeit und Luft, Verfe zu lefen — Du müßteft denn
den Gouräzettel in Reime bringen.
Mit Scheuflappen geht ihr, mein Lieber, da, Du erſt jet bemerkit, daß man
aus dem Kinderparadies heran muß. — Erft das Nothivendige, dann kommt
auch das Plaijir wieder.”
23*
336 Deutiche Rundſchau.
Adam an Yambert,
„Du haft Recht! Erſt das Nothiwendige — für die Mutter muß gejorgt
werden. Nur im Fall meiner Heirath kann fie hier bleiben — hier, wo fie
Alles hat, was ihr elender Zuftand fordert. Mir graut, wenn ih an die
Tage denke, in denen fie wirklich Mangel litt; Du haft e8 nur halb mit mir
durchlebt, denn e3 giebt Miferen, die jagt man Niemand.
ch jchrieb mir die Finger wund. Ich wollte ja gern meine Kunſt herab:
ftimmen, erniedrigen, um fie in gangbare Münze zu verwandeln — ebenjogut
fönnte man fi) eine andre Naſe machen. Nie traf id, was diejer Zeit, deren
Kind ich doch bin, paßte und mundreht war. Mit all’ meiner Arbeit, mit
all’ den durchwachten Nächten, mit der Kraft, mit der Gewalt, mit dem Reid)
thum, den id) in mir jpürte, gelang es mir nicht, dies eine arınjelige Leben
behaglich auszuſchmücken.
Das war bittre Zeit für mich, Lambert! Verachtung meiner Kunſt gewann
mich. — Plötzlich ſchien in Nebel zu verrinnen meine Welt, in der ich lebte —
eine Welt, die mir ſo wirklich ſchien, ſo berechtigt als euch die Eure. — Der
Boden unter meinen Füßen begann zu ſchwanken; ſcheel, voll Neid ſah ich auf
das Treiben der Menjchen, deren Hände fi oft durch einen Federſtrich mit
Gold füllten. — Geld! ſchrie ih auch, wie ich e8 um mich hörte — Geld iſt
die Hauptjahe — das Kriterium aller Dinge — Zeit und Zweck des Lebens —
es packte mich wie ein Gehirnfieber.
Da kam Vetter Lorenz und rettete mid — fein Glüd war im Auffteigen.
Er nahm meine Mutter zu ſich und die endliche Löſung follte die Heirath mit
Gundelchen jein. Mir war Alles recht, ich fühlte damals nichts — nichts, als
daß ich für den Nugenblid frei war. — Frei! — Noch bejinne ih mich auf
den Tag. In frifcher Jugend ftand die Natur. Ach wanderte vor das Thor,
legte mid) in das Gras, über mir den blauen Himmel, zu dem ic) wieder auflah,
mit freiem Aug’.
Wie fröhlich wir dann die Welt durchzogen, al3 gehöre fie uns! Cage,
Lambert, hat uns im Ernſt je etwas gemangelt? Wenn man jung und gejund
ift, Lebt ſich's ſo leicht! — Warum konnte es nicht jo bleiben? Warum tritt
das Leben immer mit Fragen an und heran, die uns das Herz zerreißen umd
die wir nicht zu beanttworten wiſſen?
Ich Ichiebe die Entjcheidung von Tag zu Tag auf. Wetter Lorenz ift die
Güte jelbft — er behandelt mic) wie einen Kranken, bei dem der Gefunde nicht
begreift, daß ihm die gute Koft widerjteht. Er liebt mich ganz und voll, mit
aller Kraft jeines rehtichaffenen Herzend. ch aber, Lambert, bin wie Einer,
der heimlich noch einen Schaf bei Seite bringt. In meiner Seele ift eine Fund:
grube, die ih ihm nicht öffnen kann — nit kann — ihm nicht und Gundula
nicht, jo viel ich auch daran arbeite — und in diefer verjchloffenen Kammer
ruht meine befte Kraft. Werde ich nicht zum Betrüger an ihnen, Lambert?
nehme Echtes und gebe Falſches dafür?
Ich frage den Vetter oft: ‚vertrauft du mir auch dein Mind nicht leidht-
jinnig an? Werd’ ich es glücklich machen?‘ Er lacht dann mit feiner dröhnenden
Eigenthum. 337
Stimme und antwortet: ‚Lieber Junge, was willſt du denn ſonſt mit ihr
machen? ein braver Sohn giebt immer einen guten Mann. Ich Hab’ dich
erpreß ausgejucht fir mein Gundelchen, denn wo Honig ift, kommen viele Fliegen.
Das Kind ift wahrhaftig nicht bösartig; da müßte der Teufel die Hand im
Spiel haben, jollte das nicht gehn. Du haft doch Fein andres Herzensinterefje ?‘
‚seines als die Kunft,‘ entgegne ih. ‚Auf die Mufe,‘ meint er, ‚find wir
nicht eiferfüchtig, tweder Gundel noch ich. Schreib’ diefer apokryphen Perſon fo
viel Liebeöbriefe, als du willft. — Ich kann die Wichtigkeit deiner Tintenklererei
nicht einjehn, du nicht die meiner Mafchinen — in Einem treffen wir wieder zu—
jammen, in der Achtung vor einander, wie wir num einmal find.‘ Er hat Recht,
Lambert, ich achte dieje tüchtige Natur von Grund meiner Seele.“
Nambert an Adam.
„Better Lorenz ift der Ichlauefte von Euch) beiden! — Leben und leben
laſſen. — Wie bequem er Dir’3 macht, wie vorſichtig er ſich dabei jein Terrain
rejervirt. Wirklich erft miteinander bildet ihr den vollftändigen Menjchen. Du
braudft mit Deinem feinen Geihmad Einen, der Dir die Trüffeln aufgräbt,
defto bejjer, wenn es mit diefer Grazie und jo con amore geſchieht. — O id
würde joldhen Schwiegervater zu ſchätzen willen! — Schaf Dir eine Eriftenz,
wie fie jeßt bei großen Künftlern Mode wird. Mit welch’ liebenswürdiger
Leichtigkeit und Anmuth trägt die Kunft heut zu Tage Lurus und Reichthum.
Bereite Deiner Mufe ein commodes Abjteigequartier auf Erden; zu mehr reicht
es doch nicht, denn es giebt zu viel Unannehmlichkeiten in der Welt, welchen
auf feine Weile beizufommen ift. Weh’ den Idealen, die uns das tägliche Brod
verihaffen jollen; jie laufen fi) die Füße wund und richten nicht? aus. Es
ift Häglich, rote fie herumziehn mit ihren gedachten Schäßen, jedem Windftoß
der Kritik, jedem Winkelzug der Mode ausgeſetzt. Was heut’ unſchätzbar jchien,
gilt morgen nicht3 mehr — man lebt jet raſch. Nette Dich und preife Dich
glüdlich, aus den Sorgen herauszulommen, neben Dir ein treues, einfaches Kind,
tie Dein Gundelden.”
Adam an Lambert.
„Einfach! — was iſt einfach jetzt in der Welt, Lambert? Mir ſcheint
Gundula ſehr complicirt — unter ſieben Malen verſtehn wir uns kaum ein
Mal!
Du nennſt fie einfach! — Mein Himmel, ihr gegenüber könnte ich eher jo
Heißen. Schon ihr Anzug, ihr Haarpug, Alles Räthjel! — ein wunderwür—
diger Bau, bei dem ich die Wirklichkeit ihrer Heinen Perjon kaum herausfinde —
nie herausfinde, was Kunft und wa3 Natur ift. — Vol ihr Köpfchen von all’
der Weltmweisheit, die Du an mir vermißt. Du weißt wol nicht, daß fie in
der Penfion war? was lernen da die Mädchen nicht Alles! — Wenn ihre
Freundinnen aus der Stadt zum Kaffeefränzchen bei ihr verfammelt find, Du
follteft da8 Gezwitjcher hören, wie ein Neft junger Vögel. Eine Eule könnte
nicht ſcheuer und mißmuthiger dazwiſchen fiben, als ich c3 thue. Aus dem
ganzen Kram meiner Gedanken wußt' ich Fein paſſendes Wörtchen einzufügen.
338 Deutiche Rundichau.
Bin ic allein mit ihr, verftummt fie au) — und wir zwei, die fi jo wenig
zu jagen wiſſen, follen die große Lebensfrage miteinander löſen?
Better Lorenz jagt: ‚Freu' di, wenn deine Frau dir gegenüber den Mund
halten kann; ich wollt’, meine hätte das auch verftanden.‘ — Mir aber, Lambert,
ift das Todte, dad Stumme verhaft, mit mir muß Alles reden, jelbft Buſch
und Wald. — Eine Uhr, die fteht, ein Vogel, der nicht fingt, ein Menſch, der
nicht mit mir fpricht, machen mid; melancholiſch. Bin ich auf rechtem Weg? —
Bin ih ein Schlafwandelnder, den man ab und zu beim Namen ruft und der,
aus dem Traum gejchredt, jih am Abgrund fieht?
MWeshalb demüthigt mich mein kleiner WVerdienft, den ich wie einen Tropfen
neben diejem dicken Stromgewinn ſich verlieren ſehe? Weshalb ſchäme ich mich
deſſen? — it meine Arbeit nicht die ihre werth? ft nicht jeder Dann an
feiner Stelle, der fühlt, daß er die Schulter anfeßt, um die gemeinjame Laſt
de3 Lebens leichter zu machen? — Thue ic das nit? — Schafft nicht ein
Wort, das wie ein befruchtender Keim in die Seele fällt, oft mehr, ala all’
dies gewichtige Wirken? — Und dennoch verwirrt’3 mir den Blid — lenkt ihn
hinab von der Höh’ auf die Erde. — Wie faßbar, wie greifbar diefer Nuben. —
Hab’ ich im Irrthum gelebt? Liegt der Schwerpunkt unferer Eriftenz doch nur
in diefem körperlichen Schaffen, in diefer zwingenden Wirklichkeit?“
Rambert an Adam.
„Laß' ihn doch liegen, wo er will — Jeder nimmt ihn an, wie es ihm
grad’ paßt. — Es wundert mid) nicht, jollte etwa Fräulein Gundula verftummen
vor jolden Fragen. Wie kannſt Du ein Echo verlangen, wenn’ Du gar nidt
in ihre Gegend hineinrufſt. Uebrigens Haft Du immer gejagt: Dichter er-
warten ihre Antwort von der Welt. Wenn ihr mit flammenden Zungen redet,
wer joll das Zeug im gewöhnlichen Leben verftehn? Galimatias bleibt’3 für
noch ganz andre Leute al3 dies harmloſe Kind. Vetter Lorenz hat wieder Redt,
im täglichen Verkehr ift’3 ganz qut, wenn nicht jo viel geſprochen wird.
Willft Du durchaus nicht vernünftig glüclih werden? Was follen all
dieje Scrupel? — Nimm doch an, Du lebteft im Land Deiner Träume, ohne
Sorge, ohne Arbeit. Anderes wird ja nicht von Dir gefordert. Konnteft Du
do ſonſt tagelang an grünenden Abhängen liegen und nichts thun, es war
fogar eine Stärke von Dir. Woher plößlich dies Verlangen nach einer Laft? —
Genieße Dein Leben, das ift auch eine Kunft.“
Adam an Lambert.
« „Genießen! — was ſoll ich Hier genießen? die verwüftete Gegend? — dieje
projaische Gewerbsthätigkeit, in der die Menſchheit fich abhett, abjagt, abarbeitet,
bis fie nicht mehr ift als Mafchine oder Thier? Mein Land der Träume it
nicht inmitten diefes glänzenden Elends, wo neben dem Ueberfluß Mangel und
Entwürdigung aus Hungrigen, neidifchen Augen auf den Bevorzugten jehn.
Ich entfinne mich eines Tags. — Wir waren unferer drei in einer halb:
verjunfnen, epheuumrankten Stadt. — Durch heiße Gluth waren wir gewan⸗
Eigenthum. 339
dert, doppelt labte da3 üppige, feuchtüberglängte Grün. Entzückt lagerten wir
und — hie und da leuchtete Waſſer erquidlih auf. Blüthen, Blätter, Alles
jo materiell jatt von Sonnenſchein und befruchtender Feuchtigkeit. Genuß
juchend, die zitternde Gluth mit ſchimmerndem Flügel durchfächelnd, ſchwirrten
unzählige Leben um und her — Alles in volliter Seligkeit unſchuldigſter
Griftenz. Da — inmitten der Wonne aller Creatur fam etwas von diejem
pflihtlofen paradiefiihen Glüd über mich. Jedes Geſchöpf reich, jedes verjorgt,
und ich jchlief ein wie ein Kind, nahe der Erde und zugleich nahe Gott. —
Hier beim Vetter könnt’ ich nicht ruhn, nicht unthätig jein. — Fremd bin ic,
Freund! unnüß hier, unbrauchbar!
In jene verjunfne Stadt gehör' ih; auf diefem Fleck ift eine neue ent-
ftanden, in der ich, fürcht' ich, nie Bürger werden kann.“
ll.
Das Stübchen der Mutter Adam’3 lag jo weit ab vom Weltgetriebe wie
möglid. Eins aber war doch mit hinein geichlüpft: der Egoismus. —
Krankheit, wenn nicht durchleuchtet vom Unirdiſchen, ift eine rechte Stätte dafür.
Dben an fteht das Eörperliche Wohlbefinden, deſſen der Kranke überhaupt noch
fähig ift. Wer will damit reiten? Leiden kann man nicht meſſen. Glücklich
Tcheint von dort aus jeder Gejunde. Warum zögerte der Sohn, das Haus des
Vetter zum eigenen zu machen? Ihr erſchien der Preis, den er dafür zahlte,
die Heirat mit dem hübjchen reichen Kinde, wahrhaftig nicht hoch. Auch
Better Lorenz konnte nicht beffer die Schuld abtragen, die er damal3, durd)-
aus nicht mit ihrem Willen, gegen ihren Mann eingegangen war. Sie hatte
Adam's Vater geliebt, aber nie gebilligt — der Sohn gli ihm auf ein Haar.
Beide hielt fie für Schwärmer, denen man ben rechten Weg in der Welt zeigen
müſſe. Ihre Arbeit — der rollende Stein des Siſyphus. Geld zerrann in joldyer
Hand, wie dem Kinde Sand durch die Finger. Niemandem konnten fie etwas
abichlagen; darum, al3 Better Lorenz, ein blutjunger armer Burſch, fam, um
ein Darlehn zu bitten, gab der Bater Adam’3, was er gerade hatte. Bei ihm wär’
es verflogen wie Spreu, hier fiel e8 auf guten Boden. Aus Kleinem Keim ent—
fteht der große Baum, aus Heinem Anfang oft ein großes Vermögen.
Adam vergötterte diefen Vater — ihm dünkte er der Inbegriff alles Herr-
lichen; wäre plößlich ein goldner Schein um fein Haupt exichienen, das Kind
würde es nicht vertwundert haben. Er nahm ihn mit jich, auf weiten Gängen
durch Wald und Feld, zeigte ihm die taufend Wunder der Natur in poetiichem
Licht — oder mid’ gelaufen, jeßten jie fi) in die tiefgrüne Einſamkeit, und das
Kind laujchte andächtig, wenn der Vater mit beredter Kippe Verſe alter Meifter
jagte, deren Klang ihm höhere Muſik dünkte, indem, ohne daß er es verftand,
unbewußt ihre hehre Schönheit jeine Seele berührte und entfaltete wie das
Licht des Himmels die Knospe. — Aus der Dürftigkeit ihrer engen Wohnung
traten fie in dieje grünen Hallen, als wär's ein Palaft. Hatte er mandmal
verlangend nad) dem Spielzeug begüterter Kinder gejehn, Hier glaubte er ſich
reicher ala fie alle. An andern Abenden las der Vater vor, umdrängt von
340 Deutiche Rundſchau. »
Zuhörern. Eines Abends bejonders entfarın ex fi) — über ihnen volle Lindenkronen,
in deren duftftreuenden Blüthenbüjcheln traumtrunfene Bienen furrten. Flam—
mend verjant die Sonne hinter dem Wald, aber ihm mar, als jäh’ er nod)
lang’ ihr Licht leuchten auf des Vaters Antlit. Wie er ihn liebte! ihm zu-
jauchzte, al3 die Stimme des Beifalla ihn umklang. — Ein König ſchien er
dem Finde. — Solch' ein Zauberreih wollte er fi) auch einmal erobern;
alles Andre kam ihm nichtig, unwichtig, untoirklich dagegen vor — und nun
jollte er endigen in Vetter Lorenz’ Fabrik!
Verworren lagen feine Pflichten vor ihm. — Welche war die größte? —
Konnte er der Mutter die Hülfe verfagen, die fie von ihm verlangte?
Ihre ftete Rede war auch Heut’: „Wie weit bift Du mit Gundula? Du
thuft, als hätte ich noch viel Zeit, um auf dieje letzte Freude zu warten.“
Er küßte ihre welfe Hand. — „Könnte ich fie Dir allein bereiten, Du hätteft
fie längſt!“
„An dem SKinde liegt es nicht,” jagte jie bitter, „da3 wartet nur darauf.“
„Das Kind,“ wiederholte er, „weiß nicht, was es thut. ch weiß es und
glaube, ihrer nicht werth zu ein.“
„Ad was,” entgegnete fie, „bald dünkſt Du Dich höher als die ganze Welt,
und num nicht qut genug für ſolch' Kleine Dirne. Das find wieder Deine
Träume, Hirngeipinnfte, Adam!“
„Träume der Seele fommen oft vom Himmel, Mutter!”
„Sind aber für die Erde nicht ftichhaltig, mein Sohn. Scaffe mir end:
lih das Recht, hier zu liegen; es ift wahrhaftig nicht meine kleinſte Prüfung,
al3 kranker Gaft aus Barmherzigkeit verpflegt zu werden. AM die Tangen
Jahre hab’ ih auf Erlöfung gewartet. — Soll ich auch elend umkommen, wie
Dein armer Vater?“
Vor Adam’3 Seele tauchte der Todestag des PBerlorenen auf. Freilich
rings umher Armuth, doch in ſolchem Moment verſchwimmt der reichfte Hinter-
grund zu elender Nichtigkeit. Er ſah den Sterbenden vor fidh Liegen, in der
ganzen Majeftät eines edlen Dahinſcheidens. Konnte man leuchtender enden —
wie ein Stern verliiht im Himmelsblau. — Lang’ war ihm der Glanz in
der Seele geblieben.
„Sch wollte, ich könnte leben und fterben wie er,“ jagte der Yüngling,
„brauchte nicht die Hand wie ein Bettler nad) Reichthum auszuftreden, von
dem ich glaube, daß er mir nicht gebührt.“
„Immer die alte Geſchichte,“ entgegnete die Mutter, „und ih muß unter
Euren überfpannten Ideen zu Grunde gehn.“
„Nein!“ rief er, „ich will thun, was Du verlangft, mein innerftes Sein
aufopfern und in Deinem Glüd, in Deiner Befriedigung die meine juchen.“
IH.
Adam an Yambert.
„Es ift vorüber — ich Habe mein Wort gegeben. — Das gute, herzen:
gute Kind! — Ymmer werd’ ih in ihrer Schuld bleiben, denn womit bezahlt
man Liebe, wenn nicht mit Liebe? Sollte der Menſch aber jo wenig über jeine
* Eigenthum. 341
Seele vermögen, daß ihr nicht ein Gefühl abzuringen wäre, welches man haben
will, haben muß?
Wie gejagt, das würde wunderbar zugehn, wenn Zwei, die nicht bös find
und fich lieben wollen, es nicht fertig brächten.
Anders freilic) hatte ih mir den Tag geträumt, Lambert, eine Vermäh—
lung der Seelen — ihr Kranz ein Sternenkranz. Wir, fürcht' ich, bringen nur
künſtliche Blumen auf.
Sonderbar, was jo Glüd heißt in der Welt! — Mitten im tiefften Schmerz
hatt’ ich manchmal einen Schimmer davon, und nun?
D, das Undankbarſte am Menſchen ift doch das Herz! Wenn e8 nicht Alles
g’rad’ jo befommt, wie e3 ſich's geträumt, wendet ſich's troßig ab und mag
nichts — jollte es darüber verſchmachten, nicht von Jedem Tann es das Wafler
des Lebens, genannt Liebe, annehmen.
Die Sache ging vor im Gärten — denn jie haben hier Gärten, Lam—
bert! Gärtchen, ala hätte fie nicht der liebe Gott, jondern der Zuderbäder
gemadt. Alle jo prächtig auf ihre Manier, nad) meiner jo dürftig! Gol-
dene Zäune, mageres Grün; das Hauptftüd große jilberne Kugeln, in denen
die Welt zu unterft, zu oberſt erſcheint.
Scattige Bäume find verbannt, Alles Fahl wie ein gejchorener Pudel,
Bäume find ja weit bejjer am Pla in der Sägemühle — Der Schlange gleich,
die nad) Waſſer lechzt, wich ich der brennenden Sonnengluth aus. Eine Art
Bude, nenn’3 Tempel, wenn e3 die Götter nicht beleidigt, nahm uns auf.
Wir jagen darin, wie in einem Vogelbauer. — Das nennen die Leute hier
frifhe Luft! — Uns gegenüber die blißende Kugel, nad) der die’Sonne feurige
Pfeile ſchoß — vor uns der gelbe Kies, über den eine große Schnede zögernd
309. — — Welchem Schickſal ging fie entgegen? welchem ih — wer wußte e3
beſſer! — Ich hing ihr meine philojophiichen Betrachtungen auf und dachte:
ift fie an jener Blume, oder an jenem Gras, jo ſprech' ich. — Sie machte aber
plöglidy mitten drin Kehrt. — Trotz dieſes böjen Omens faßte ich ein Herz
und jagte Gundula Alles, jo klar und wahr ich konnte.
Sie hatte eine bunte Stickerei vor, einen Goldfajan, der fommt mir immer
in den Sinn, wenn ic an den Augenblid denke. Ruhig ließ fie mich aus—
reden, dann blickte fie auf und lachte mir in das Gefiht. — Du weißt, das
fteht ihr jo gut, fie lacht wie ein Kind — aber zum Lachen findet ſich nicht
immer Gelegenheit im Leben; recht kenn' ich den Menſchen exit, wenn ich ihn
habe weinen jehn. —
‚Gut auswendig gelernt!‘ jagte jie und lachte wieder. Ich fühlte mich ge-
troffen — — denn es war Alles vorher bedacht und zurecht gelegt.
‚Hätteft Du's noch wenigftens in Verſen gemacht,‘ fuhr fie luftig fort, ‚aber
freilich, zum Andichten paff’ ich nicht. — Warum wollen wir uns derlei Faxen
vormahen? Wir heirathen uns, wie gute Kinder, die thun, was die Eltern
jagen, die jchlechtefte Manier ift es noch nicht — Du nimmft mid) der Mutter
wegen und ich — — fie ſtockte, das Blut ftieg ihr in das Gefiht — ‚weil ich
Dir gut bin, Adam.‘
Darauf küßten wir uns. — Als ich aufblickte, Du wirst lachen, Lambert,
342 Deutiche Rundſchau.
aber mich verftimmte e3, jah ich unſer Bild verzerrt in der Kugel — es iſt
eben etwas fchief an der Sache.
Dem Gemith nach paffen wir wol zuſammen. Wenn fie mich mit ihren
guten Eindiichen blauen Augen jo Lieb anfieht, ftrömt ein Gefühl wonniger
Wärme über in mein troßiges Herz. Könnt’ ich fie mit mix nehmen, heraus
aus diefem Barbaren-Lurus, aus dieſer Bildung, die doch feine ift. — Könnten
wir miteinander in einem ftillen Eckchen Ieben, nah’ der Natur; meinethalb
einen Krautgarten bau'n. Was und am meiften trennt, ift die Wucht diejes
Befies, der mir nur als Laſt erjcheint, dev mit dem lauten Getöje feiner
Betrieb3arbeit alle holden Geifter verſcheucht, denen ich dienen möchte.“
Lambert an Adam.
„Jh wünjche Dir Glüd zu dem Unglüd, ein reizendes Mädchen zu hei-
rathen, und hoffe, die Laft de3 Reichthums wird immer die jchwerfte fein, die
Du tragen mußt.
Bergieb, wenn etwas von dem in diefem Brief auf die Oberfläche kommt,
da3 bitter wie Galle an meinem Herzen frißt.
Du ſprichſt vom Geld, wie der Satte vom Eſſen; ich aber bin ein Hung—
iger! Du wirft nicht die Beleidigung hinzufügen, dies für einen Bettelbrief
zu halten. Selten xejpectirt die Gefühle der Armuth, wer den Mangel nicht
am eignen Herd fiten hat. — Alter Freund, von meinem Standpunkt jehen
Deine Leiden wie Kindereien aus. Sie find ein Luxus, den fih Deine Seele
geftatten darf. Als ob man nicht mit Geld der Poefie ebenjo gut wie allem
Andern unter die Arme greifen könnte, jedes Verhältniß, jelbft das der Liebe
verſchönen. Proſaiſch ift der Mangel — barbariſch die Noth; ein Elend, das
jammervolle, menjchenunwürdige Miſere wird. — Wenn Du mich jählt!
Manches ift zum Lachen, wenn e3 nicht für den, den es trifft, zum Schreien
wäre — wie ic) mic) winde, um meiner ſchäbigen Eriftenz noch eine anftändige
Seite abzugewinnen. — Mit Fäuften möcht’ ich dreinichlagen, mir mein
Menſchenrecht in diefer civilifirten Welt zu wahren, welche nur nad) Geld
rechnet.
Bis jebt hab’ ich es nur zu moraliſchen Keulenjchlägen gebracht, aber fie
treffen ihren Mann und können ihn Dir ebenfo vernichten. Dies ift das Beit-
alter der Schonungslofigkeit, des geiftigen Fauſtkampfs, Jeder ſchafft fi mit
jeinen Ellbogen Pla. Warum joll ich's nicht au thun? Die Macht, zu
ichaden, ift die einzige, die mir zu Gebot fteht; ſoll ich fie ungenußt Lafjen ?
Genug, ic pfujche Dir in das Handwerk, obgleich, was ich jchreibe, wol
Niemand Poeſie nennen wird. Ich habe Ion den Vortheil dabei, etwas von
dem Gift los zu werden, das ſich bei ſolchem KHundedafein in der Seele an-
jammelt.“
Adam an Yambert.
„Wir find und bleiben Egoiften! Eh’ wir e8 ung verjehn, ftehn wir uns
wieder jelbft gegenüber, verſunken, allein beſchäftigt mit dem eignen Geſchick.
Armer Freund! Was ich Dir anbieten werde, kann Dich in feinerlei Art
Eigenthum. 343
verlegen. Wir brauchen Dich ebenfo jehr, als Du uns. In Allem, worin Du
Dich verfucht, bift Du gejchickt gewejen. Von dem Fabrikweſen gingſt Du ja
eigentlich aus, und nur unglücdliche Verhältniffe drängten Di von diefen Weg
immer wieder ab. — Hier iſt eine Stelle offen. Komm! Hilf uns! — Bon
bier aus wirft Du Dich leicht wieder emporarbeiten. Du thuft uns damit
einen großen Dienft, denn Leute mit jo anjchlägigem Kopf, ala der Deine, find
jelten, das weißt Du ſelbſt. Noch kurze Zeit, dann feiere ich Hochzeit, und ic)
wüßte mir feinen lieberen Gaft dazu als Did.“
° IV.
Im ftattlichen Fabrikhaus wurden überall Anftalten zur Hochzeit getroffen.
Geſchäftsfreunde famen von verjchiedenen Seiten herzugereift. Verwandte gab
es außer Adam und feiner Mutter nicht.
Better Lorenz, von fernher al3 junger Burſch eingewwandert, fünf Thaler
in der Tajche, wußte faum noch von ihnen. Losgelöſt — der Familie ent-
fremdet, als hätte ex nie eine gehabt. Keine zarte Erinnerung an Vater und
Mutter bejuchte ihn je. — Bon früh an auf fich jelbft geftellt, fühlte ex nur
den eignen Werth, errungen in jchwerem Kampf mit äußeren Dingen. Seine
Freunde Menſchen vom ſelben Kaliber, voll wuchtigen Gefühls der Kraft, die
in ihnen war. Mit ihnen beſprach er, worüber ex jonjt ſchwieg. Adam lernte
ganz neue Seiten an ihm fennen, eine Herzendwärme, die er ihm nie zugetrant.
Sie bildeten mit einander eine Phalanx, die er nicht durchbrechen fonnte; immer
ftand er draußen, mochte er machen, was er wollte. — Er, ein Weſen ganz
andrer Art, unter andrer Sonne gediehen — verichieden wie Weiße und Neger. —
Keine Brüde, welche die Seelen zueinander führte — fein Verkehr. — Ihre
Geſpräche verftand er nicht, mit ihren Zahlen rechnete er nit. — — Auch
Gundula wurde ihm mehr und mehr entrüdt — die Töchter, Freundinnen aus
der Penfion, wedten die ganze Wonne dev Mädchenfreundichaft. — Geheimniß-
thuerei, Geflüfter, Gelächter ohne Ende. — Adam jah aud fie fich erſchließen
in ganz andrer Fülle als vor ihm. Es war ein luftiges Leben friiher Wirk—
lichkeit in diejen jungen Gemüthern, ein kindiſches Treiben, dem er umjonft
jucdhte nahe zu fommen. Zum erften Mal erichien er fi alt. Eine Art Seelen-
müdigfeit überfam ihn, eine Art Abjpannung der Lachmuskeln. — E3 ging ihm
wie dem Tauben, der den Scherz nicht faſſen kann, über den alle Andern vor
Heiterkeit beriten wollen. Er jchrieb dem Freund: |
„Mit mir geht eine Wendung vor — ich möchte jein, wie hier Alle find,
und ſuche mich ihnen anzupafjen, two ich kann. Meine Meinung ift hier’ feine
Meinung; taujchten wir unfre Ideen, es gäbe ein neues Babylon. Man muß
fi aber nad) dem Klima des Landes, in dem man exiftiven will, richten. Sie
jehen auf mich herab, weil im Leben der, welcher es praktiſch anfaßt, für den
Augenblid immer die Oberhand behält, er behält jogar Recht für eine Weile, —
nur fragt ſich's, wie lange. —
Bald hier, bald da mad’ ich einen Verſtoß — Gundula lacht mid) aus.
Mag ſie's immerhin, es greift mir nicht an meine Würde, die ſuch' ich in an—
—
344 Deutiche Rundſchau.
dern Dingen, aber die Uebrigen jollen es nicht thun. Unbehaglichkeit legt ſich
wie ein grauer Himmel über Alles — Eins kann ich nicht ertragen: Seelen:
Einſamkeit, dieſen Zwielpalt, in dem ich lebe. ch brauche die volle Sym-
pathie Derer, die um mich find — wär's auch nur ein Hund, ich Könnte
nicht eriftiren ohne einen gewiffen Rapport mit ihm. Ich mill die Mauer
durchbrechen, die mich umgiebt, warum follte ich nicht auch auf ihre Art glück—
lich werden können? Glücklich aber will ich fein. Täglich arbeite ich mit dem
alten Bungert in der Fabrik, lerne Rechnungsweien, Buchführung. Ach will
wach tverden, denn wirklich, e3 jcheint, ich habe geträumt.“
Nambert an Adam.
„Run jeh ih, Du brauchſt im Ernſt meine Hülfe -- id komme Du
verloren für die Kunſt! — lächerlich! Am heiligen Teuer Deiner Seele läßt ich
nicht die geringfte Suppe im ordinären Leben kochen. Ueberlaß das Andern,
mein Lieber. Du könnteſt wohl einen paſſablen Dichter, aber einen höchſt
elenden Geſchäftsmann abgeben.
Sei nicht jo hochmüthig, zu denken, daß alle Garrieren Dir offen ftehn.
Seder hat jeinen Weg, und aus den vielen Verirrungen entiteht da3 meiſte Un—
glüd. — Heirathe doch nur erft Fräulein Gundula, alle® Andre wird ſich
finden, geh’ doch mit ihr jofort auf Reifen in Dein gelobtes Land. Better
Lorenz umd ich werden Ion Haus halten. Der Menſch ift doch ein geborner
Rebell, das Schickſal mag noch jo gütig gegen ihn jein, ex bringt e3 fertig, ihm
das Spiel zu verderben.“
%
Der Tag der Hochzeit var vor der Thür. — Gundula hatte unter dem
fröhlichen Zuruf ihrer Gejpielen eine Herrlichkeit nad) der andern probirt.
Ganz verjunten in al’ den jeidenen und andern Fähnchen, die wie ein lockender
Vorhang vor ihrer Zukunft hingen, blieb fie jo zu jagen in der Ausftattung
hängen und fam erſt mit ihren Gedanken zu ihrem Verlobten zurüd, als fie
merkte, daß Adam g’rad’ jo wenig, al3 fie zu viel, an dieje äußeren Dinge
dachte. Für ihn brauchte es ganz andrer Vorbereitungen zu dem Feſt.
Sie nahm ihn dor. — „Mer Adam, Du Haft ja Niht3 — gar Nichts,
worin Du getraut werden Fannft.”
„Nichts?“ wiederholte ex erftaunt, — „ich habe ja eine Menge Sachen.“
„Nichts Neues,” ergänzte fie, „Alles uralt, verregnet, aus der Mode. Zu
jolhem Tag muß man einen neuen Menjchen anziehn.“
„Ich wußte nicht, daß der im Frack beſtehe.“ —
„Freilich,“ entgegnete fie hitzig, „Für Did rechnet das Aeußere nie mit.
Jemand, der mit einem Hemd und einer Bürfte in der Taſche durch die Welt
reift, hat kein Gefühl dafür! Aber von uns erwarten ſich die Leute etwas und
haben auch ein Recht darauf. — Mein Brautkleid ift die jchwerfte Seide und
eine halbe Elle länger als der Lieſe ihres aus der Zuckerfabrik; es ftände zur
Noth ganz allein am Altar.“
Eigenthum. 345
„Nun, das fannft Du aber doch nicht beides von meinem rad ver-
langen!..“ —
„Wir verftehn uns wieder nicht,” jagte fie empört. „Wenn ih Spaß
made, joll ich ernſt jein, und bin ich ernft, machſt Du Spaß.“
Darauf brachte fie es doc zu einer Einigung in diejer wichtigen Angelegen-
beit und tröftete ihn.
„Du wirft den Anftand ſchon gewohnt werden, laß uns nur erft in unfrer
Villa ſitzen mit den Prachtmöbeln. Ich Hatte auch vor der Penfion einen
Zug, lieber in der Küche aus dem Topf, ala im Salon aus Kryftall zu trinken;
aber das verliert ſich.“ |
Das Haus war feftlih anzujehn, von den Arbeitern über und über mit
grünen Guirlanden behangen. Inwendig lange Tafeln gedeckt, nichts geſpart.
Auf dem Anger große Tiihe für die Leute. Wetter Lorenz hatte ein liberales
Herz ; Ichmedte es ihm, wünſchte er Andern das Gleiche und juchte das auch,
jo weit an ihm mar, möglich zu machen. — Für Adam ging er weit in den
freigebigften Einrichtungen; nur eine Bedingung knüpfte er an Alles: nie
durfte die Fabrik verkauft werden! Als ein Wahrzeichen jeiner Kraft jollte fie
von Kind auf Kindeskinder gehn. Kein Mtajoratäftifter konnte die Sache feier-
licher nehmen. Ueber al’ die Bedenken und Klaufeln, um e3 unauflöslich zu
machen, rückte der Hochzeitstag heran, eh’ das Actenftüc fertig war. Die
ünftlerifchen Baupläne Adam’3 betrachtete der Vetter mit mitleidigem Lächeln.
„Meinethalb,” rief er, „baut euch ſolchen verzierten Affentaften, wie's jet an der
Mode iſt. Mich befommt ihr in dies heidniiche Gebäude nicht hinein, ich paſſe
für den alten, ehrenfeften, vierſchrötigen Bau, zum Nuten hergerichtet ohne alle
Kinkerlitzchen.“
Lambert ſollte heut' als am Vorabend kommen. — Adam war ihm bis
zum wilden Haideplatz entgegen gegangen. Das Fleckchen lag vergeſſen am
Waldrand. — Schäumende Waſſer ſtürzten darüber hinweg und riſſen zer—
ſtörungsluſtig ein Stück Grund nach dem andern mit ſich fort — erſt ſchien
es zu verſinken mit all' ſeinen Blüthen, dann aber ſtemmte ſich die friſche Natur
dagegen, aus der verſchwemmten Erde Inſeln bildend, auf denen in gewaltigem
Trotz mächtige Kräuter, die Wurzeln zum Schutz ineinander geſchlungen, re—
belliſch emporſchoſſen. Selbſt die zerklüftete Weide ſchickte, Zeugen inneren
Lebens, maigrüne Schößlinge empor. Begierig reckten ſie ſich aufwärts, tranken
Licht und Luft, Alles keimend und wachſend, unnütz, üppig, aber in der ganzen
Pracht göttlicher Verſchwendung. — Auch hier ſchon dröhnte ab und zu der
Boden, und an den hohen Kieferſtämmen vorüber zog die vielgliedrige ſchwarze
Schlange durch das Paradies der Wildniß.
Adam lag tief im Haidekraut, den Blick hinaufgewandt wie damals zum
klaren blauen Himmel — frei nicht mehr. — Morgen war der Tag. — Er
hatte ihn faſt unbewußt heranſchleichen laſſen, wie ein Träumer, der er war,
und nun fiel ein Strahl in ſeine Seele, der ihn erſchrecken ließ. Zurück konnte
ex nicht mehr. — Er lag ſtumpf und dumpf da mit dem Gefühl einer Schuld,
die er nicht von ſich abwälzen fonnte. Am liebſten wäre er todt geweſen.
Währenddeſſen nahte ſich durch die ſengende Mittagsgluth, ſein Päckchen in
346 Deutiche Rundſchau.
der Hand, Lambert, ftaubbedect, müde, verftimmt. Der Fußgänger jpielt in
Hitze und Staub feine erhebende Nolle auf der Landſtraße. Mißmuthig meinte
er: „Wär' ich reich, hieße man mich ganz anders willlommen, darauf fommt
doc Alles an.“ Mit neidiichen Augen überfah er die üppige Fabrikgegend,
eine der bedeutenditen Niederlaffungen die de3 angelehenen Better Lorenz, hod)-
gelegen, gleichſam eine Burg der Neuzeit.
In langen Reihen ftanden die Häufer der Arbeiter, ohne die geringite
Charakteriftit, ob Hinz oder Kunz darin wohne. Es gab der Gegend den lang-
weiligen Ausdrud, den Adam haßte.
„Ich wollt’, ih wär’ an jeiner Stelle,“ jeufzte — wie oft! — Lambert;
„ih würde jchon verftehn, mir hier Annehmlichkeiten zu verichaffen, neben dieſem
großen Nuten. Solche Arbeit lob’ ic) mir, trägt ihren Lohn jofort, wie der
Halm die Aehre, und um Lohn, das joll mir Keiner ausreden, wird jede Arbeit
gethan, auch die idealfte. Wenn nur das Gold jo dick fommt, daß man eine
Aureole daraus mahen kann. Nun,” jagte ex, jein Päckchen neben den Freund,
dem er jich unbemerkt genähert hatte, in da3 Gras werfend, — „hier ijt der
arme Schluder, um demüthig fein Almofen aus Deiner Tülle zu empfangen,
die Brojamen von des Neichen Tiſch.“
„Laß una doch endlich da3 leidige Geld vergefjen, Lambert,“ rief Adam, ihn
herzlich begrüßend. -— „Zwiſchen das reinste Gefühl drängt es ſich wie ein
Dämon. Körperliche Hülfe ift doch mehr, und die wird fich Keiner fcheuen, an-
zunehmen, wenn er ftrauchelt. — Uebrigens ift hier der Vortheil auf unjrer
Seite, wir brauden Dich.“
„Deſto beſſer,“ antivortete Lambert, „ich will ſchon jorgen, daß auch für
Di) mehr herausfommt. Du greifft die Sache immer noch nicht beim rechten
Zipfel an.“
„Für mid) hat fie überhaupt feinen,” entgegnete Adam, „am Beften, id
ließe die Hand ganz davon. Wozu mir Geld? — ich brauche keins.“
Lambert lachte laut. —
„Nimm mir’ nicht übel, aber das ift barbariſch. Dieje jouveräne Ver—
achtung kann nur ein Urmenſch im Urwald haben. Deine Güter liegen wol
auch im Mond?”
„Richt gerade,“ entgegnete Adam nun auch lächelnd, „aber wahrhaftig in
anderem Glanz als die Euren. Ich haſſe nun einmal allen Luxus, alle Ele-
ganz mit ihren vergoldeten Unbequemlichkeiten — Plüjchmeubles — Damen-
ichleppen, weiße Kravatten und was jo zur Mode gehört, mir Alles ein Greuel. —
Die Seele verhungert dabei — joll fie immer leer ausgehn? was fällt ihr.von
dem Allen zu? Sie it eben jo wirklich, als der Körper, für fie verlang’ ich
Leben und Reihthum. Aber laß uns gehn, Better Lorenz erwartet Dich.” —
Auf der Landitraße kam, in wilder Haft, ein Neitender dahergejagt. Erft
als er nah war, erfannte Adam durch die aufgewirbelten Staubwolfen einen
Knecht aus der Fabrik. — Erihroden rief er ihn an. — Athemlos berichtete
der Mann, e3 jei ein Unglück gejchehen, ein Keffel geſprungen an einer der Ma—
Ihinen. Er reite zum Arzt — es gäbe viel Verwundete, wie viel wäre nod)
Gigenthum. 347
gar nicht abzuſehn; zum Glück ſei g’rad’ die Mittagsftunde angegangen und
ihon Mancher hinaus geweſen. Haftig eilten Adam und Lambert der Fabrik zu.
rauen und Kinder ftanden in Haufen vor den Käufern in ihrer Lauten,
finnlofen Art‘ klagend und fchreiend.
Geheul erfüllte die Luft. — Die Verwirrung, doppelt jehredllich, doppelt
troftlos unter diefem Elaren, ftillen Sonnenhimmel, in diejer jonft jo geordneten
Umgebung.
Dichtgedrängt, eine ſchwarze Maffe, belagerten die Männer den Eingang
der Fabrik — drohend — jeder neue Vertuundete wurde mit Grimm empfangen.
„Auf unjfer Eins fommt’3 nit an,” hieß es. — „Einer mehr — Einer weniger.
Aber werden wir Krüppel, wollen wir fie jchon zwingen, uns zu ernähren,
denn unfre gefunden Glieder find unſer einziger Beſitz. — Sie jollen ihn theuer
bezahlen! — Bei ſolchen Proben fünnten doch wenigſtens die Herren anweſend
ein“ — umd fie jahen mißwollend Adam und Lambert fi hindurchdrängen.
Den Beiden war e3 unglaublid, daß Better Lorenz nicht dabei geweſen jein
jollte.e Auf ihre wiederholten Fragen befamen fie feine Antwort. Plötzlich
verftummte die murrende Menge. — Eine Bewegung erjchitterte die troßige
Maſſe — ehrerbietig wurde Pla gemacht. Die Majeftät des Unglüds erfennt
Jeder an. — Better Lorenz war auf feinem Poſten geweſen. Sie brachten ihn
verbrannt, verftümmelt heraus wie die Andern — noch am Leben, aber ein
Krüppel. „Freilich,“ ſagte Einer gleich neben ihm, — „er ift rei, er hat es
doch beijer, wie unjer Eins —“ aber e3 jagte Niemand Ya dazu. —
Bewußtlos lag der mächtige Mann da, wie ein im vollen Laub gefällter
Eichſtamm. Der Arzt gab Hoffnung, ihn zu erhalten, doch nur als Schatten
jeiner jelbit.
em erjcheint das Leben nicht, wenn es entfliehn will, ala das höchite
Gut? Erſt unter jchweren Schmerzen erfährt man, daß e3 anders fein und daß
ſelbſt diefer edeljte Befit fich verwandeln kann in der armen, ſchwachen Menſchen—
hand zu Jammer und Noth, zum Schlimmiten, zur Lat. —
v1.
Adam durchfuhr eine Bewegung der Freude beim Ausſpruch des Arztes.
Sambert übernahm auf jeine Bitte jofort unter Beihülfe der Freunde das
Kommando in der Fabrik. Wie ein Teldherr griff er ein, nie jchonend, aber
gereht. Die Leute, erihüttert und bejänftigt, da ihr Herr das Scidjal der
Unglücklichen theilte, folgten ſchweigend.
Adam Schnitt e3 durch das Herz, wie er ein junges Dafein nad) dem an-
dern, ſchlimmer als todt, an ſich vorübertragen jah. Auf dem Schlachtfeld
hatte er doch eine andere Empfindung gehabt. |
Sie trugen Vetter Lorenz auf einer Bahre nah) Haus. Gundelchen ftand
zitternd vor der Thür, jie ging nicht mit hinein, fie floh, ihr wurde ganz übel
und weh, wenn fie nur an die jchredlichen Wunden dachte. Auch ihre Ge-
Iptelinnen waren verftummt, hiezu wußte feine ein Wort zu jagen. So bald
al3 möglich verließen die Gäfte das Haus. Leder ſchien nöthig daheim. Bon
bloßem Rath hielten diefe Männer der That nicht viel. Wer kann überhaupt
348 Deutſche Rundichau.
helfen im Augenblid, wo das Unglück vernichtend auf uns niederfährt glei
dem Blitz? Halb befinnungslos, ala jei jein Kleines Geſchick ein Weltunter-
gang, erleidet e8 der Getroffene, fein Andrer mißt jeinen Berluft nad) dem
Maßſtab, den er anlegt, und jo bleibt ihm nichts, als allein zu leiden, bis
ex fich wieder einreiht in die Allgemeinheit und fieht, daß er — nicht die
Melt war.
Bald wurde da3 vorher überlaute Haus ftill wie das Grab. Zerrifien
flatterten die halbfertigen Kränze darum her, die ſonſt pedantifch gehaltene Ord—
nung ein verjtörtes Chaos, beherrſcht vom Tyrannen Krankheit.
Gundula, verfhüchtert, bedrüdt, jaß zwiſchen al’ ihren Ausſtattungs—
ihäßen — eine Verarmte.
„Es ift g’rad’, als ob’3 nichts mehr werth jei!” jeufzte fie, „und hat doch
Unjummen gefoftet. Alles wird unmodern, wer weiß, wo Einem der Puff
fiten muß, wenn id) nun zum Heirathen fomme.“
Ihre ganze Erjcheinung änderte ſich in der verdüfterten Atmoſphäre des
Haufes. Der künſtliche Lodenbau verſchwand, die Haare hingen ihre jchlaff
und wirr um dad Geficht, ein nachläſſiges Sichgehnlaffen trat an die Stelle
der früheren Steifheit.
Adam ergriff grade bei diefem Anbli ein Mitleid, nah der Liebe — er
zog fie zu ſich heran, er fing an ſich nad) ihr zu bangen, wenn fie nicht da
war und lodte fie oft an das Bett des Vaters, welches er nur jelten verlieh.
Der Aufenthalt in der dunklen Kammer blieb ihr ein Grauen. Wie ein
ertappter Vogel in der Gefangenſchaft, jaß ſie an der einzigen Lichtſpalte der
Vorhänge und wartete jehnjüchtig auf den Augenblid der Erlöfung, in dem fie
mit Anftand das Zimmer verlafjen konnte.
Oft bat jie ihn inftändigft — „Komm doc mit mir hinaus in das freie,
hier fann man ja nicht athmen! Draußen blüht und duftet Alles. — Der
Vater merkt’3 nicht einmal und kann es Dir nicht danken, daß Du Dich jeinet:
halb einfperrft. — Auf die Art hat Keiner etwas vom Leben.“ —
Er blieb aber in der dunklen Stube und fie ging allein hinaus. Im Gärt-
hen ftand ſie, ſchwatzte mit Diefem und Jenem, ab und zu gab’3 doch wieder
ein Wörtchen zum Lachen, befonders wenn Lambert herüber fam aus der Fabrik,
fie war das Betrübtjein todtmüde.
VII.
Es vergingen Wochen und Monate. — Die Fabrik arbeitete fort, als ſei
nichts gejchehen, und gewann Tauſende und wieder Tauſende. Ihre armen
Opfer litten und ftarben, wurden vergefjen, krochen jo fort wie halbtodte Flie—
gen, und dennoch drängte man fi, ihren Pla einzunehmen.
Adam lebte nur in der Sorge um den Vetter. Davor ſchwieg der ſchwere
Kampf der letten Wochen in jeiner Seele. Jeder eigenfühtige Wunjd er
ftarb. — Seine Kunft zurüdgedrängt, in Nebel zerronnen — ein Traum vor
ſolch' jammervoller Wirklichkeit — unbezweifelt ihre Herrichaft, die Herrſchaft
des Körpers — Elend jein Purpur — Leiden jeine Krone.
Lange war der Sinn des Kranken umwölkt. Der Arzt fürchtete bleibende
Eigenthum. 349
Schwäche für das Gehirn, aber jetzt fing Vetter Lorenz doch wieder an, Ge—
danken in Worte zuſammenzufügen. Alle galten der Fabrik. Adam beruhigte
ihn mit Lamberts Anweſenheit. — Fortwährend drang er darauf, ihn zu ſehn,
mißtrauiſch empfing er ihn, wollte alles ſelbſt anordnen. Als aber Lambert
mit Büchern und Rechnungen vor ihm erſchien, verwirrte ſich ſein armer Kopf
von Neuem und ein Ausbruch maßloſer Heftigkeit, der wieder für ſein Leben
fürchten ließ, machte der Sache ein Ende. „Er ſei Herr der Fabrik, ſein Wille
der einzig geltende,“ ſchrie er ohne Aufhören. Man beruhigte ihn, ſo gut es
ging, und Lambert führte die Geſchäfte weiter, die unter ſeiner Hand ſich immer
günſtiger entfalteten. Endlich kam aber die Zeit, in der Vetter Lorenz anfing
auf Krücken zu gehn — der Körper geſundete, doch über den Geiſt wollte keine
vollftändige Klarheit kommen. Es blieb ein Gemiſch von Bewußtſein und Ver—
wirrung, aus dem nicht herauszufinden war. Nie konnte man ſicher ſein, wo
Eins aufhörte und das Andre begann. Wilde Heftigkeit, zur Wuth geſteigert,
beherrſchte ihn — wäre er nicht körperlich unfähig geweſen, man hätte ihn
fürchten müſſen. Jeder ſchonte ihn, wich ihm aus. Mit Herzklopfen hörte
Gundel ſeinen lahmen Schritt ſich ihr nähernd auf dem Gang. Schnell ſchob
ſie den Riegel der Kammerthür vor, ſie hatte nicht die Langmuth der Liebe,
ihn zu ertragen.
Am Schlimmſten war's, als er anfing, ſich in die Fabrik hinüber zu
ſchleppen. Ein jammervoller Anblick, wenn ex dort drohte, anordnete, wider—
rief, ſich verwickelte in ſeinen eignen Plänen. Zuletzt immer der Schluß: .
„Noch ſei er Herr und däs wolle er zeigen, ſo lang' noch ein Athem in ihm
wär.” —
Auch Lambert hatte keine Geduld mit ihm.
„Blödſinniger alter Greis,“ murmelte er oft hinter ihm her, „du all—
mächtiger Herr! Der Beſitz fällt dir ja aus der Hand, wie dem Kinde das zu
ſchwere Spielzeug.“
Adam ſuchte ihn zu beſänftigen, aber er wollte nichts hören.
„Iſt er von Sinnen,“ antwortete er, „ſo erklärt ihn auch dafür! Sollen
ſich die Vernünftigen nach den Launen eines Unzurechnungsfähigen richten? —
Wer iſt hier Herr? er doch ſicher nicht mehr — Du biſt es. — Heirathe und
mache dieſem unerträglichen Zwiſchenzuſtand ein Ende.“
„Meine Heirath ändert darin Nichts. — Nie würd' ich mich, wie die Sachen
jetzt ſtehen, als Herr hier fühlen.“
„Narren pflegt man unter Curatel zu ſtellen,“ brummte Lambert in ſich
hinein, „aber hier iſt leider mehr als Einer. Das allerliebſte Gundelchen iſt
die einzig Vernünftige, mit der iſt doch noch etwas anzufangen; ich werde
mich an ſie wenden und ihr den Kummer, der bei ihr eigentlich Langeweile iſt,
vertreiben.”
63 gelang über Erwarten. Lächelnd, rothwangig fing fie mit ihren Freun—
dinnen die unterbrochnen Kaffeefränzchen wieder an. Adam freute ich, wie man
fich freut, wenn eine Blume, die zu vergehn jcheint, das Haupt erfriicht auf:
richtet; aber nicht von ihm war der Strahl ausgegangen, der ihr neues Leben
bradte.
Deutiche Runbidan. I, 6. 24
350 Deutſche Rımdichau.
Ein fremdes, wehmüthiges Gefühl beſchlich ihn deshalb — er war ihr von
Herzen gut geworden, nicht umjonft war er ein Stüd Wegs im Leben mit ihr
gegangen. Nun ftand er wieder allein und alle unruhigen Geifter erwachten
in feiner Bruft. Raſtlos wanderte er weite Streden, um jein Gemüth ftille
zu befommen, aber es ſchwieg nit. — Wie vor dem Sturm unbeilverfündend
ein Seufzen durch die Natur geht, regten fich jeine Gedanken Elagend in jeiner
Seele. Zeit zum Schreiben hätte er gehabt, jie half ihm nichts — ihm war
wie Einem in heißer Wüfte, dem die Zunge am Gaumen flebt und der nicht
reden kann.
Eines Nachmittags drang er durch den Wald bi3 an das Meer. — Dort
entftand, halb Fiſcherdorf, halb Villenjtadt, halb wild naturwüchſig, halb ele-
gant, je nachdem die Zugvögel waren, die jich niederließen, ein Heiner Badeort.
Eichwaldungen Fränzten die Ufer, ab. und zu guckte nadt die gelbe Düne
hervor mit blauen Stadheldifteln und verweht zerriffenen Halmen. Er juchte
die dürrſte, einfamfte Stelle und legte fi) in den von der Sonne durchglühten
Sand. Das Meer, noch bewegt, aufgerührt vom vergangenen Sturm, braufte
donnernd. — Hocgehende Wellen, bald verdunfelt durch Wolkenſchatten, bald
opalleuchtend im Licht, jchütteten ihre Brillanttropfen vor ihm aus.
Es that feiner durftigen Seele wohl. — Ganz nah ließ er fie herankriechen
und jah ihnen jehnjüchtig nad), wenn fie zurüctollten, den Strand ſchimmernd
verlaffend. Wie jchön war das Alles — mie reih! — Warum kam ihm arm
dagegen vor, was Andre doc ala Reichtum ſchätzen würden — jein Loos —
der Bejiß, der ihn erwartete ?
Er lag dort, bis aus klarem Blau ſich Stern an Stern hervorarbeitete,
klein erſt — kaum gejehn, dann ftrahlend, funkelnd in unerreihbarer Pradt.
Ueber dem ſchwarzen Wald ftieg eine jchlanfe Mondfichel empor. Warum
fam ihm vor, als jei ex fremd geworden diejer herrlichen Natur, al gehöre
ihm nichts von diefem Naften, Ruben und Träumen, als lebe er jet heraus-
getrieben aus der Märchenwelt in herber, nadter Wirklichkeit? — Plötzlich, als
hätte die zaubriiche Nacht eine Stimme befommen, erhob ſich der Ton einer
Geige, bald jauchzend, bald Elagend, aus reinem Aether kam der lang und doch
wieder ſchien er nah, als Klänge er dicht vor jedem Ohr und jedem Herzen —
gejund, Friich für diefe Welt und doch nicht von diefer Welt.
Adam Horte hoch auf; - ihm rief dieje Stimme; das war feine Sprache,
die Sprache, die er verjtand, nach der er ſich gejehnt hatte, wie man ſich jehnt
nad dem Heimathslaut im fremden Land. — Berfunfen, verlöſcht vor ihr all’
die verwirrenden Laute, die ihn in leßter Zeit bald hierhin, bald dorthin ge-
zogen. — Bolle Harmonie umgab und erquidte feine Seele. — Er folgte dem
Klang, als jei eö der Ruf einer lang’ verlornen, lang’ entbehrten Geliebten.
Auf der Veranda des Gafthaujes fand er den Spieler, einen ärmlichen,
alten Mann, neben ihm ein Mädchen von etwa dreizehn Jahren, dürftig, küm—
merlich wie er. Sein jpärliches weißes Haar flatterte im Winde, die Lichter
warfen zitternde Scheine über die Beiden und bildeten im Dunkel eine Glorie
um jie her, während der magische Ton feiner Geige zu dem Sternhimmel auf-
Eigenthum. 351
ſchwebte; ala der letzte verklang, brach ein Beifallsjubel los, braujend, gewaltig,
wie das Meer.
Adam ftand im dichteſten Knäuel, jo nah als möglich. Nach langer Zeit
ging ihm da3 Herz wieder auf. Die duftenden Wliederbüfche, die flimmernden
Sterne, der Jubel umher, Alles beraufchte ihn. — Er hätte jchreien mögen:
„Ich gehöre zu euch! was geht mich die andre Seite der Welt an!“
„Es wird wol fein Schwanengejang fein,“ jagte Einer neben ihm, „alt,
blind, wie er ift, und die rechte Hand ſchon einmal gelähmt; jolche Leute können
das Zigeunerleben nicht vergeffen. Zu einer anderen Zeit hätte er Gold aus
jeinem Talent münzen fönnen.“
Adam jah ſich empört um — neben ihm ftand Lambert, erhitt, aufgeregt,
einen xothen Fleck wie von einem Schlag auf der Wange.
„sh ſuchte Dich,“ ſagte er, „man wies mich hieher. Wach’ auf! — derlei
ift jet nichts für Did. — Du wirft Did) am Ende jebt doch um Deine Sachen
Telbjt kümmern müfjen. Dein Vetter hat mich behandelt wie einen Hund, aber
ich liebe die Hand nicht, die mich ſchlägt; es ift wirklich für Did ein Unglüd,
daß er das bischen Verſtand nicht auch verloren hat. Entſchließe Did! nimm
die Zügel und ich diene Dir weiter. Willſt Du aber nicht Herr fein, jo geh’
ih — Mißhandlungen der Art können nicht mit jchönen Redensarten bezahlt
werden. Sch habe jetzt wieder genug Geld, um nicht vor jo Einem zu kriechen.“
Adam jehte ſich mit ihm abjeit3 in eine Laube von Flieder, deſſen duftige
Büſchel wie eine Erinnerung ihn ummehten. Den Geigenjpieler bewirtheten
Freunde und Bewundrer an fejtlih geichmückter Tafel; ab und zu — fern
Hangen begeijterte Zurufe von dort herüber.
„Faſſe einen Entſchluß, verkaufe die Fabrik,“ jagte Lambert.
„Wie fann ich verkaufen, was mir nicht gehört?“
„Sobald Du heiratheft, ift fie Dein. — Ein Kind kann jehn, daß der
Alte unzurehnungsfähig und Du nit im Stand, ſolchen großartigen Betrieb
zu leiten.“
„Ich gab mein Wort, fie nie zu verkaufen,“ antwortete Adam.
„Solche Berjprechen gelten nicht3 vor Gericht und pafjen gewöhnlich nur
am Tag, wo fie geiprochen find. Mean kommt über Manches jet fort, als
wär's nie gejagt worden, wird mit Gewiſſen und Anficht umgekehrt wie ein
Handſchuh, übergefahren von diejer Jaggernaut, genannt Neuzeit.“
„Mögt Ihr Euch diefem Göben beugen,” rief Adam, „ih jtehe feft und
rühre mid nicht.“
„Als ob man das könnte! — Fortgeriſſen wirft Du — wenn nicht durch
Dein eignes Geſchick, durch das Derer, die Div angehören.“
„Du haft Recht,“ jeufzte Adam — „Nichts ift mehr ficher in diejer ver-
worrenen Welt, die jeden Boden unterwühlt. Keiner fann mit Gewißheit jagen,
dies thue ich, dies thue ich nicht. Wenn Du uns verläßt, muß ich, jo gut ich
kann, dem Better beiftehn, die Fabrik zu halten. Mic) wenigftens zwilchen ihn
und den Schurken Bungert ftellen, denn der jaugt den unglüdlichen Arbeitern
alles Lebensmark aus. Genug, ih muß mein Schidjal auf mich nehmen.“
„Da3 hat ſchon Mancher gejagt und ift daran zu Grunde gegangen — e3
24*
352 Deutiche Rundichau.
weht jcharfe Luft in diejen Arbeiterfragen. Lege Dih nicht auf den Welt:
verbeijerer. Das ift einer der unausführbarften Poetenträume Man muß die
Sache nehmen, wie fie ift, und Vortheil ziehn von der Stelle, an der man
fteht. — Wage Dich nicht mit der Fahne der Ydealität in das Gedränge der
MWeltkinder, in diefen Kampf um die Eriftenz — der Eine frißt dort den Andern
ebenjo gut wie der Fiich den Wurm, e3 kommt nur darauf an, weilen Maul
da3 größere ift. Halte Dich fern davon, Adam, fie würden Div andre Güter
abverlangen, al3 die geiftigen, die Du bieteft, und Dir eine Rechnung machen,
die zulegt nur mit Blut zu zahlen wäre.“
Sie trennten fi) fühl, Jeder blieb bei jeiner Anficht.
„Morgen in der Früh',“ jagte Lambert, „Ichüttle ih mir den Staub von
den Füßen und beneide Euch nit um Eure Situation. Das Elendeite ift, wenn
man Geld bat und es nicht zu brauchen weiß.“
IX.
Adam konnte fich nicht entjchließgen, jofort nah Haus zu gehn. Er nahte
fich dem Tiſch, an dem der Geigenjpieler jaß; die Tafel ſchien faſt aufgehoben,
da die meisten Gäfte der nahen großen Stadt gehörten und die Eijenbahn ihrer
Begeifterung feinen weiteren Raum geftattete.
Nach langer Zeit betrat der alte Künftler jeine- Geburtsftätte, hatte im
fernen Süden feine Frau begraben und war mit diefem zarten Töchterchen,
welches ausjah, al3 ob es wärmerer Lüfte bedürfte, wieder heimgefehrt.
Sonft hatte er immer behauptet, er jei überall zu Haus, wo er jeine Geige
babe; aber wie mit Geifterhänden nahmen die langbefannten Gegenden der
Kinderzeit im Alter Bejit von feiner Seele — zogen ihn zurücd mit lodenden
Bildern der Erinnerung, bis die Vergangenheit wirklicher für ihn wurde, als
die Gegenwart.
Adam erkannte in dem Alten den liebften Freund jeines Vaters, einen aus
jeiner ihm heiligen Tafelrunde.
‚Die herrlichen Abende ftiegen wieder vor ihm auf — er noch Kind, Laufchend
im Eckchen, halb jchlaf-, halb wonnetrunfen.
Der Blinde fuhr auf bei feiner Stimme, nannte ihn mit des Vaters Namen
und ein friiher Glanz ging über fein Geſicht.
„Es ift der Sohn,” wurde ihm gejagt.
„Sein echter Sohn,“ meinte ex befriedigt, während jeine Hände liebkoſend
über die wohlbefannten Züge glitten, „er muß ihm ähnlich fein.“
Adam war, als träte er in der Liebe des Verehrten eine reiche Erbſchaft
an, die wie verborgner Schaf dort geruht und die er nun im Namen des Vaters
erhoben.
„Dichter ift er auch,” ſagte Einer, „von der unfichtbaren Gemeinde, die die
blaue Blume jucht.“
„Ein Abtrünniger,” rief lachend der Zweite, „ein Götbendiener, heirathet
diejer Tage des reihen Fabrikanten Lorenz Tochter und verkauft feine Seele
dem Mammon.“
Eigenthum. 353
„Als ob Geld etwas jchadete,” entgegnete ein Andrer, — „uns muß Alles
unterthan werden. — Man ift großer Herr nebenbei — dieſe Kunſt verftehn
die Künftler auch. Sie verträgt fi ganz gut mit der andern. Kunſt, Wiljen-
ſchaft regiert die Welt, heute und morgen und in Ewigfeit — der Geiſt.
Left doch Geſchichte. Was find ihre Helden? Alles Künftler! freilich Einige
jo zu jagen Bildhauer, die der Zeit die Phyfiognomie zurechthaun. — Der
Geijt joll leben! VBermodern muß, was ohne diefen Götterathem auszukommen
denkt!”
Alles fiel jubelnd ein, und dann blieb Adam allein zurücd bei dem alten
Mann und dem Kind, |
„Sie haben die Wahrheit gejagt,“ fing ex betrübt an, „ich breche aus der
Bahn und übernehme die Fabrik. Ich kann nicht anders. Ein ehrlicher, recht-
Ihaffner Menſch, denk’ ich, ift immer an jeiner Stelle.” Und er erzählte dem
alten Freund jeine Jchwierige Lage. „O, ich möchte diefem trägen Körper der
Arbeit Flügel machen,” ſchloß er, „damit auch fie, grade niedre Arbeit, ihr Ideal
fände, befreit vom Drud, den der Materialismus auf fie ausübt, um feine
elenden Zwecke zu verfolgen.”
„Ich fürchte, Du bift nit der Mann dazu, Adam, “ antwortete der
Geigenjpieler. „Den Künftlern ift e8 leicht, mit der Phantafie eine Brücke zu
ichlagen zwiſchen Himmel und Erde, aus wirklichen Backſteinen ift es noch
Keinem gelungen.“
Das Töchterhen hatte ji diht an den Water gedrängt und ſchloß ihm
den Roc wegen der Abendluft.
„Wie ſich Alles umdreht im Leben,“ * er. „Noch vor Kurzem ſorgt'
ic) für fie, jet forgt fie für mid. Nur wenn Einer auf den Andern angewiejen
it, weiß man, was es heißt, fi) angehören. — Erde und Pflanze könnten nicht
enger verbunden jein — wer giebt? wer nimmt? wir rechnen nicht! Nicht wahr,
Greicentia ?“
Das Mädchen umſchlang ihn ſtürmiſch.
„Wenn ich rechnen wollte, wie es jetzt Sitte in der Welt, würde mich auch
der Geldteufel in ſeine Gewalt bekommen haben,“ fuhr er fort; „Jeder hat eine
ſchwache Seite, bef der er ihn packen kann. Sorge um das Kind war die meine.
Dermögen konnt' ic” meiner Grejcentia nicht ohne Erniedrigung erringen. —
Manchem ift es num einmal nicht beftimmt, aber etwas Beſſeres hinterlaffe ich
ihr, Adam: einen Namen, um den fich Viele jchaaren, Alle, die ich mit meiner
Kunft gewann. Ihre Familie wird das fein!... Man ſpricht fo viel vom
Ruhm der Kunft: die Liebe, die fie uns ertvirbt, gibt taujfendmal mehr — ob
auch arm jonft, daran bin ich e3 nie geweſen. Grejcentia wird in der Hinficht
eine reihe Erbſchaft haben.“
„Wenn ic) Dich verliere,“ rief das Mädchen leidenschaftlich, „habe ich nichts
mehr. Jetzt bin ich reich.“
„Armes Kind!” jagte er, fie ſtreichelnd.
„Arm — wir arm!” wiederholte fie — „was fehlt uns? Sagſt Du nicht
felbft, ich habe Gold in der Kehle?“
354 Deutſche Rundichau.
Damit murmelte fie eine melodiihe Strophe, daß es war, als erwache die
Nachtigall in den Büſchen.
Der Künſtler nidte entzüct, nahm die Geige, begleitete, und num entitand
ein zaubriicher Wechjelgefang auf der jchweigfamen Düne, der zum Dreiflang
wurde duch das rhythmiſche Anſchlagen der Wellen.
Adam war in höheren Sphären, allen irdiichen Sorgen entrüdt; erſt als
der lebte Ton verflang, kam er auf die Erde zurüd.
Das Mädchen führte den Vater hinein, der zärtlid) vom Sohn des Freundes
Abſchied nahm. Sie reichte Adam die Hand, ihr Auge ftrahlte ordentlich in
dem blaſſen Gejicht.
„Wer darf uns arm und unglücklich nennen?“ jagte jie ftolz.
Er ſaß noch lang’ am Meer — für ihn war e8 der Gefang der Sirenen
gewwejen. — Ob er wirklich die Fabrik verkaufen könne? mit Gundula all’ dem
Treiben entfliehn ?
ern von dort würde jie eher die Myfterien jeines Seelenleben3 verftehn;
ganz allein miteinander, würde die Liebe, die wie ein zarter Keim in ihnen
Beiden lag, ſchnell großwachſen. Herrlich malte er es fih aus. — Warum
follte ex die Widerwärtigfeiten eines verfehlten Daſeins auf ſich nehmen, wenn
er nad) Lambert das Recht hätte, jich eins zu jchaffen, das beneidenswerth ſein
mußte? Durfte er glücklich ſein? —
Xx.
Unruhig ging er hin und her am Strand; die Wellen rauſchten in geheim—
nißvollem Dunkel; nirgends Klarheit; die Schiffe ſelbſt ſahen im Nebel wie
Geſpenſterſchiffe aus; nur droben die Sterne, die änderten ſich nicht.
Oft übernachtete er in einer alten Burgruine, an deren edlem Bau ſich eine
kleine Gaſtwirthſchaft, wie ein Schwalbenneſt am gigantiſchen Fels, angeheftet
hatte. — Hoch oben lag's und in grünen Abhängen neigte ſich der Hügel bis
zum Meer. — Als er hinaufſteigen wollte, ſah er wie einen grauen Geiſt auf
umgeſtürztem Boot einen alten Mann ſitzen, in welchem er den Wirth von
droben erkannte. —
„Was macht Ihr hier, Joſias, im Nebel, in der Nacht?“ redete Adam ihn
erftaunt an.
„Ich warte auf den Tod,” antwortete der Greiß und jah ihn mit blöden
Augen an,
„Der fommt jchon früh genug ungerufen, und Jhr erwartet ihn weit befler
droben in Eurer netten Kammer.“
„Meine Kammer,“ wiederholte ev — „in der wohnt jeßt der Sohn mit
Frau und Kindern. Dort ift fein Pla für mid.“
„Sie jollten ſich Ihämen, Euch herausgeftoßen zu haben!”
„Nu, nu,” jagte der Alte, ihn wieder etwas verwirrt anfehend, „io war's
nicht, e3 ift ganz in der Ordnung und ging ganz ſachte. Arbeiten kann id
nicht mehr, bin zu nichts nuß, fie müſſen mid) grad’ durchfüttern und thun das
auch mit guter Manier; aber jeht, ic) merke doch, daß das Unterholz wachſen
möchte und Plat haben, deshalb — warte ich auf den Tod.“
Gigenthum. 355
Adam führte den Alten hinauf.
Eine junge Frau öffnete, hinter ihr Jchreiend, fie gebieteriſch am Rockzipfel
zerrend, ihr Bübchen, offenbar dem Bett entlaufen.
Sceltend ließ fie den alten Mann an.
„Run, Bater, kommt Ihr wieder, da Alles aufgegeilen ift? Für Euch möchte
man immer allein ſerviren.“
Damit job jie ihn Hinein.
„Shämt Euch, Bärbchen,“ jagte Adam, der fie von Kind auf kannte; „hr
tolltet mehr Achtung vor dem Alter haben.“
„Was wollt Ihr?“ anttwortete jie erröthend — „er ift gar zu unbequem,
überall im Weg. — Wir Jungen haben jet die Wirthihaft — er hat lang’
genug gewettert und commandirt — Jeder hat jeine Zeit — man muß dod)
jehn, daß man die nicht verpaßt — jpäter verdrängt uns wieder der da" —
damit deutete fie auf den borftigen Kleinen Kerl an ihrer Schürze, „das ift nun
einmal Lauf der Welt.“
„Das Nüblichkeitsprincip ift doch ein barbarifches,” dachte Adam, ala er
fich auf fein Lager legte; „nach ihm thäte man befjer, die alten Leute todt zu
Ichlagen. — Ich verkaufe nicht die Fabrik.“
Morgens ging er am Abhang entlang. — Die Sonne blitte und funfelte
im Waſſer; übermüthig, jauchzend tummelte fich die Bubenfchaar der Umgegend
in den Wellen.
Vor ihnen jaß ftumpf und blöde der alte Joſias, Keiner kümmerte ſich um
ihn, Keiner redete ihn an. „Ueber ein Kurzes ift dieje frifche Jugend auch jo
weit,” dachte Adam, „und wird dann mol eine andre Anſicht von Alt und
Jung haben.”
Das Meer lag heut’ regungslos da — Klar, blau, ſcharf, ohne all’ die
geheimnißvollen Schleier von geſtern. — Sein Weg lag ebenjo vor ihm. Er
Tand Gundula auf der Bank im Gärtchen.
„Gundula,“ jagte er, „ich möchte ernfthaft mit Dir reden.“
„Ad, fang’ Du doc nicht auch noch jo an,“ rief fie verzweifelt, „es ift ja
Ihon Alles ſchwarz wie em Ofenloch. Nun geht auch noch gar der Lambert,
das war noch das einzige Plaijir.“
„Wenn e3 Dir recht ift, wollen wir verjuchen, wieder fröhlich zu werden,
und ein Feſt feiern, nämlich Hochzeit machen.“
„Ah ja!” rief fie, ihn umfchlingend, „laß uns eilen, daß wir endlich aus
all’ den Wirren heraustommen. Erlöſe mich aus dieſer Hölle, in der ich jet
lebe — rechts die ewig flagende Mutter, links der zankende Vater — tragen
kann ich's länger nit — wir wollen fort, uns die Welt anſehn — jung ift
man nur einmal — die Alten find ja gut verforgt — jpäter, wenn wir
frank und verdrießlich werden, ınag man uns auch fißen lafjen.“
„Rein, Gundula, jo war e3 nicht gemeint; wenn ich heirathe, muß ich hier
bleiben und nad) der Fabrik ſehn. Du weißt, der Vater kann es nicht, der
Schurke Bungert joll es nicht, und verkaufen ift unmöglich.” —
Sie ließ den Kopf hängen. — „Lambert hat Recht, Du wirft nie in diefem
Punkt vernünftig werden.“
356 Deutfche Rundichau.
„Nein,“ jagte ex, „wie Ihr e3 meint, nie.“
Er juchte jeine ganze Energie auf die neue Thätigfeit zu richten, aber wo
nicht der Zug der Seele hingeht, ift ihrer Kraft die Spibe abgebrochen. Seine
Natur arbeitete immer gegen ihn. — Jeder Baum, der fiel, erbarmte ihn, jede
romantijche Stelle, welche verſchwand. Die Fabrik fraß wie ein großes Unge—
heuer die Wälder der Nähe und Ferne. Er konnte den Klang der fallenden
Bäume, der kreifchenden Säge faum ertragen — der Geruch der Knochenmühlen
machte ihn förmlich krank. Bungert jtand ihm von Anfang wie ein Feind
gegenüber. Für alle Mißhandlungen des Vetters Lorenz hatte er einen unter-
thänigen Katenbudel in Bereitihaft, den er fich natürlich theuer bezahlen ließ.
Dei übergroßem ‚Reihthum giebt e3 viel Schmarogerpflanzen. Es jagte einmal
Jemand von dergleichen: Ich bin ſchon zufrieden, wenn nicht er, jondern ich
das größte Stück erwiſche. Hier wurde e3 bald umgekehrt. Adam griff in das
Wespenneft — aber um e3 zu vernichten, war ex zu barmherziger Natur; denn
jelbft böje Beltien thaten ihm unter Umftänden leid, wenn er fie mit eigner
Hand erwürgen jollte.
Das MWohlleben des Haufes verſchwand. Die eigentlichen Beſitzer litten
den Mangel, der ſolcher Wirthichaft eigen ift, während Bungert und Familie
alle Vorzüge des Ueberfluſſes an fi zogen. MUebrigens ftand Bungert nicht
allein mit dem Begehr, ſich die Taſchen auf Koften des Herrn zu füllen. Ein
heimlich unterwühlender Kampf begann. Die Arbeiter murrten. Mit fernem
Donner bereitete fi ein ſchweres Gewitter vor.
Nicht lange, und Alle ftellten die Arbeit ein, durchzogen jchreiend umd
lärmend die Gegend, zerichlugen die Majchinen, richteten taujenderlei Unheil an.
Adam wwiderftand es, den harten Felſen zu fpielen, an dem dieſe aufge:
rührten Schlammimogen braden.
Bungert ließ Hilfe aus der Stadt fommen. Nach wenig Tagen evjeßte
eine fremde Arbeiterichaar die Einheimiſchen. Diefe jahen es mit dumpfem
Grimm. Grenzenlojes Elend begann Plat zu gewinnen. Krankheit kam dayı.
Meutereien zwijchen den Parteien tauchten auf. — Es wurde immer jchwerer,
Recht zu Tprechen, denn das Unrecht war auf beiden Seiten.
Adam fühlte, die Saite der Gewinnjuht war zu hoch geipannt, fie mußte
endlich mit jchneidender Diffonanz Ipringen. „Wer kann jein Glück,“ dachte
er, „in einem Beſitz finden, den er mit joldhen Mitteln vertheidigen muß?
Dagegen jcheinen Fauftlämpfe edel — roh wie jene ift diefe Zeit, nur daß
Gewalt jet Geld heißt, Geld! — und ift es nicht zuleßt auch in ihren Händen
ein Schatten, verſchwindet, verjinkt vor ihren gierigen Blicken, jobald das Ber:
trauen fehlt?“
XI.
Manchmal Abends, wenn Alles ſtill und dunkel war, ging er nach ſeiner
Lieblingsſtelle am Waldrand. Heut’ ſchien der Mond hell. Die Leuchtwürmchen
Ihwärmten in der warmen Sommernadt, Rehe kamen furdhtlos trinfen aus
dem Klaren Duell. Die Ruhe that ihm wohl. — Als er fich eben erhob, er-
friſcht, geftärkt, Enifterte e8 neben ihm in den Büſchen und eins der verworfenften
Eigenthunn. 357
Subjecte, angetrunfen wie faft immer, kroch zu ihm hindurch, einer Kröte gleich,
die iiber eine Blüthenftelle Frieht. Adam war ihm aus Mitleid doch dann und
wann freundlich gewejen, er hatte ein Herz für allen Jammer, jogar für den
bäufigften, den felbjtverjchuldeten.
„Was treibit Du Schlimmes, Kilian?” rief er ihn an. „Laß Dich nicht
im Wald treffen — bit wieder im Wirthshaus geweſen, während Weib und
Kind verhungern?”
„Die Frau ift todt,“ antwortete er grinjend, „das Kind wird bald nach—
folgen — e3 ift auch befjer — wir müffen ja, wenn's nad) gewiſſen Leuten geht,
alle wie Ungeziefer verenden. — Ya, wenn wir nur nicht jchlauer wären! —
Werdet jchon jehn, was dabei herausfommt. Es iſt eine ganze Portion von ung
im Wald .... Alles Leute von Ihrer Partei, Herr Adam!“
„Ich weiß von feiner Partei,“ entgegnete er angewider. „Mit Eures:
gleichen hält e3 fein ehrlicher Mann.“
„Das verlangen wir auch nicht — thut nur hochmüthig, Vorgeſetzte müſſen
die Finger rein behalten; aber unjer eins muß doch das Unfaubre anfaſſen,
wenn’3 fort ſoll.“
„sh verſteh' Dich nicht,“ ſagte Adam, ſich abwendend. „Noch einmal,
nehmt Euch in Acht; ich trete für Keinen mehr ein.“
ALS er zurückkam, fand er Alles im Aufruhr, feine Mutter fterbend. Der
Dorgang im Wald erlojch davor und die Begegnung mit dem Gefährlichen kam
ihm au3 den Gedanken. —
Am nächſten Tag aber ging wie ein Lauffeuer die Kunde durch das Dorf,
Bungert läge mit zerichlagenem Schädel, ermordet in der Haibde.
Dom Bett der Sterbenden mußte Adam an die Unterfuhung gehn, ex ver-
ſchwieg nicht Kilian’s Ericheinen im Wald. Ihn war, als habe er jelbjt Blut
an den Händen. Elende Gejellihaft war zuſammengehetzt — Schuldige und
Unſchuldige, ein jammervoller Anblid, ein Wirrfal von Noth und Berbrechen.
Better Lorenz wurde durch den Schreden von einem neuen Anfall betroffen
und lag bewußtlos. Der Arzt ging von Einem zum Andern. Adam’3 Mutter
quälte fi) noch ein paar Tage und ftarb. Er war bei ihrem Tode nicht zu-
gegen, ſie hatte auch nicht nach) ihm verlangt. Als er fremd und ſcheu an die
Leiche Herantrat, fiel e3 ihm wie ein Schleier von den Augen. Wie nah hatten
fie fi) geftanden, al3 er in der engen Kammer fie hin- und hergetragen, gepflegt,
mit höchjter Anftrengung ihr dieje, jene Stärkung verſchafft — und nun? —
Kalt, thränenlos jtand er an ihrem Bett.
„Arme Mutter, vergieb!” rief er; „ich glaubte Alles für Dich zu thun und
babe Nichts gethan — nicht reich — arm hab’ ih Dich und mich gemadt. —
Die bitterfte Noth, der herbſte Schmerz ift, mit ſolcher ftarren Kälte an Deinem
Zobdbette ftehn, das mir meine Freiheit wieder giebt. Nein, nicht wieder giebt!
denn mit taufend Fäden bin ich verwidelt in ein Verhängniß, aus dem id)
nicht heraus kann. — Ob mid) Gundula liebt, ih weiß es nidht, aber mein
liebedurftiges Herz hat ſich ihr genähert in den ſchweren Zeiten, die wir mit-
einander durchlebt. E3 war ja das Einzige, woran ich noch fühlte, daß ich
lebte.“
358 Deutſche Rundicau.
Eben jhlih das Mädchen ſcheu an der Thür vorüber — er zog die Wider:
ftrebende herein.
„Es graut mid,” fagte fie; „was hab’ ich mit der Leiche zu thun? Giebt
es denn Nichts mehr, als Schreden für mic auf der Welt?“
Aber ex ließ fie nicht.
„Angefichts des Todes, Gundula, wollen wir Ear werden. — Sprid die
Wahrheit — nichts Andres. Liebft Du mich?“
Sie zitterte wie Espenlaub und jchwieg.
Bor ihnen lag das erftarete Antlit, welches jetzt hinter das große Geheim-
niß des Lebens und Sterbens gefommen war und Schein von Wirklichkeit zu
trennen wußte.
Schluchzend juchte das Mädchen Adam’3 Hand.
„Wie follte man Did) nicht Lieb haben?” jagte fie. „Jeder, der Dich ficht,
ift Dir ja gut. — — Ad, warum haft Du mich nicht ſchon lang’ zu Dir ge:
nommen — damals, ala id) jo einſam, jo elend, jo troftbebürftig war, mein
Herz wie Wachs in der Hand deffen, der e3 nehmen wollte; warum haft Du
ed Andern überlafjen?“
Er verftand fie. „Was ift zwifchen Div und Lambert vorgefallen?“ frug
er herb.
Da zog fie aus der Taſche ein Bündelchen oft geleſ'ner Briefe hervor, löfte
mit zitterndem Finger das bunte Band, welches die Blätter umfchlang, und
gab fie ihm.
Er jah nur in das eine hinein, dann reichte ex ihr das Päckchen ftumm
zurück, warf fib am Lager der Todten nieder und verbarg das Geficht in den
Händen.
Bebend ftand fie dabei. „Veracht' mich nicht!“ fing fie an, „Du haft fein
Recht dazu. — Lang’ hab’ ich Dir meine Liebe nachgetragen, aber es war Dir
nicht der Mühe twerth, die Hand danach auszuftreden. — Was das Vermögen
anbetrifft, jo wird ſich Lambert gewiß mit Dir abfinden.“
„Geh',“ jagte er, fie fortwintend; „laß mid) allein. Ich will nichts von
Euch, ic) weiß am beften, daß ich fein Recht darauf habe und dag Nichts in
diefem Haufe mehr mein ift.“
XI.
Noch am jelben Tag jchrieb Adam an Lambert:
„Der Weg ift frei, fomm. Bungert todt — Better Lorenz bewuhtlos im
Krankenzimmer. Du kannſt ungehindert Deine Zwecke weiter verfolgen; id
werde Dir fein Hinderniß jein.“
In der nächſten Woche kam Lambert, erſt etwas gedrücdt, beſchämt, aber
nicht lange.
„Du bift ganz allein Schuld,” jagte ex dem Freund; „ich nahm mir, was
nicht mehr Dein war, warım jollte ich den fojtbaren Stein, der verachtet am
Weg’ lag, nicht einſtecken? Nebrigens, Du hätteft nie verftanden, hier das Glüd
nah Deinem Geſchmack zuzujchneiden.“
Mit dem ihm eignen Organifationstalent brad)te er die Fabrik wieder in
Eigenthum. 350
Gang, löfte den verworrenen Knäuel der Anjprüche und Forderungen, der
Pflihten und Rechte. Freilich hieb er hie und da durch, aber mit jo fichrer
Hand, daß Keiner zum Weberlegen kam, ob e3 hätte anders fein fünnen.
Noch einmal fing eine Art Glück an aufzublühn in Vetter Lorenz’ Nähe. —
Er konnte ſchon wieder im Gärtchen ſitzen. Als er Lambert twiederjah, überzog
dunkle Röthe jein Gefiht, ihm mochte wol etwas von jener ſchlimmen Scene
auftauchen, die jie getrennt Hatte — erſchreckt reichte ex ihm die Hand, wie ein
Kind, das ſich verjühnen möchte; jeine Heftigkeit durch die übergroße Schwäche
gedämpft. Man juchte ihm begreiflicd zu machen, daß Lambert jein Sohn
werden wolle, und er und Gundula Schmeichelten dem Alten, bis er mit Allem
zufrieden war, bejonder3 weil durch diefen Bund da3 Wohlergehn der Fabrik
gefichert jchien — die Fabrik, das Einzige, wofür er noch Intereſſe und eine
Art Verſtändniß Hatte.
Gundula lebte Hchtlih auf, juchte ihre buntejten Kleider hervor, hielt ihre
Iuftigften Kaffeekränzchen, in denen bei den Klängen eines verftimmten Spinet3
getanzt wurde. Lambert war die Seele von Allem. Er verjtand vortrefflich, ſich
Gundelchens Wejen anzupaffen, behandelte fie wie ein Kind, das fie war umd
immer bleiben würde, jelbjt al3 Matrone, eins von den Weſen, die nie er-
wachſen, wie es Knospen giebt, die ji) nie entfalten. Lange findet man es
reizend, endlich merkt man dod), daß etwas mangelt und e3 nicht das. Rechte war.
Ihre Gefpielinnen jagten ihr taufend Mal, ſie begriffen nicht, wie fie je
Adam den Vorzug hätte geben können, und zulet begriff fie es jelbjt nicht mehr.
Zu Glüd und Frieden hoffte fie Adam zurüczulaffen, als er eines Morgens,
wie damals der Freund, das Bündel in der Hand, auf der Landſtraße jtand.
Den Hochzeitstag wollte er nicht abwarten, wenngleich er an der Ruhe jeines
Gemüths merkte, daß auch jeine Zuneigung nichts werth gewejen war — Alles
Schein. — Verdorrend hatte dieje Zeit jeine Seele geftreift, fein Blättchen war
daran ergrünt, feine Knospe geweckt für die Zukunft. — Arm und dürftig, mit
einer elenden Empfindung, ala hätt’ er dort weder Echtes empfangen, noch ge=
geben, ftand ex an diefem Grenzitein jeines Lebens. „Wofür,“ jagte er ſich, „ift
man oft drauf und dran, jeiner Seele innerjtes Leben zu verpfänden? Dann ringt
uns da3 Scidjal den Lohn aus der Hand und jpriht: Armer Tropf, du
machteft die Rechnung ohne den Wirth!“
Ein liter Septembertag hatte ſich den Nebeln entrungen.
Al er auf dem Hügel ftand, verließ ihn zuerft das dumpfe, gedrücte Ge—
fühl, welches ihn beherrichte.
Neben ihm, über ihm lagen auf Büſchen und Bäumen gleihlam unermeß-
liche Schäte funkelnder Thaubrillanten ausgebreitet und zwiſchen goldenen Sonnen—
ftrahlen blißten die filbernen Bäche.
„Willkommen,“ vief er entzüct, „ihr glißernden Zeugen meines Reihthums !
Fortan gedenk' ich wieder auf Wolken zu wandeln und auf dem Regenbogen in
den Himmel zu jpazieren. Wenn auch Yambert meint, man könne nicht von
der Luft leben, friſche Luft ift eine Hauptnahrung mitunter! Wer weiß, wie
nah meine Zeit, eine ideale Zeit, die den ganzen materiellen Plunder Jener über
den Haufen wirft. So etwas fommt oft mit einem Schlag, wie der Frühling.
360 Deutiche Rundichau.
Ich bin doch froh, daß mir die Flügel nicht gejtußt find und ich fie noch hab’,
um ihr entgegen zu fliegen.“
Muthig ging er der Stadt zu, die jet mit ihren Thürmen zu flimmern
und funfeln begann, wie ein Gold» -Galifornien.
„Poeten,“ ſagte er fi, „müſſen im dichteſten Gewühl, oder in der tiefſten
Einſamkeit ſein. Ich denke, ich probire Beides.“
XIII.
Sechs volle Jahre hörten die Freunde nichts von einander. Adam benutzte
die wiedergewonnene Freiheit, um wie ein Zugvogel immer dahin zu gehn, wo
ihm ein Frühling blühte. Für die Anſprüche, die er machte, genügte ſeine Ein—
nahme. Er kam ſich öfter reich, als arm vor. Seit einiger Zeit war er wieder
auf deutſchem Boden. Er ſchrieb an Lambert:
„Da bin ich und will mir nun auch von Euch ein Stückchen Sonnenſchein
holen. Es iſt mir übrigens ſehr gut gelungen, mich mit den Schätzen, die mir
zur Verfügung ſtehn, auf dieſer reizenden Erde einzurichten. ch bedarf gar
feiner Weisheit dazu. Von den Dingen, die mich erfreun, hat man die meiften
umjonft, oder vielmehr, man kann fie nicht faufen. Dieje Luftbarkeiten fommen
direct aus Gottes Hand. Entzieht er fie mir eine Weile, jo lieg’ ich auf dem
Trocknen, wie die Seemujchel bei der Ebbe, und freue mich doppelt, wenn die
Fluth zurückkehrt. Von Hier au hab’ ich ein Buch in die Welt geichiekt, für
da3 ich, nach Deiner Art zu rechnen, gute Beweije habe, daß man es Lieft. Ach
lache mir in's Fäuftchen, denn ich habe da manches zündende Wort eingeſchwärzt,
das allerlei heilige Flammen ſpeiſen jolk, von denen die Menjchheit glaubte, fie
babe jie endlich exftickt mit dem nafjen Lappen des BVerftandes. Iſt es Dir
begegnet? Was haltet Ihr davon?" —
Nambert an Adam.
„Was ich von Deinem Bud dente? Daß Du viel Glüd gehabt, weil Dein
in die Trompete Stoßen mit günftigen Umftänden zuſammen traf, jonft wäre
Dir ftatt der Glorie, die Dich jet umftrahlt, leicht ein Dornenkranz zugefallen.
Aber der Erfolg ftempelt die Sade. Nun bift Du der Held des Tages und
man fann ſtolz auf Dich jein. — Auch ich halte etwas von der Kunft, nur auf
meine Art, die freilich nicht die Deine ift. ch Habe mir immer die Pofition
eines- Mäcens gewünſcht. Wie weit es mir gelungen, wirft Du jehn, wenn Du
kömmſt. — Gundelchen bittet Did) mit mir, fie hat Dir auch etwas zu zeigen,
nämlich unfern prächtigen Jungen. — Mag der meinethalb Dichter werden, er
wird genug Geld haben, um fich den Spaß zu maden, und wenn er es jo qui
trifft, wie Du, ift es auch feine jchlechte Stellung. Glück muß man zu Allem
haben. Komm, wir erwarten Did) mit Ungeduld.“
AV,
Ueber einige Zeit wanderte Adam auf dem Waldweg, der Fabrik zu.
Sie ftand noch ftolz, die Gegend beherrichend, dafjelbe Treiben um fie her —
Eigenthum. 361
grad’ als ſei er geſtern fort gegangen. Die alten Bäume waren freilich nun
alle gefallen, ein junger Aufſchlag wuchs dürftig an ihrer Stelle. Die kleinen
Tannen mit ihren duftenden Schößlingen ſchienen aber jo hoffnungsgrün, neuen
prächtigen Wald verheißend, daß Adam ein Wohlgefühl überſchlich.
„Deine Schönheit ift ungerftörbar, Liebe Erde,“ jagte er, ſich auf das Haide—
kraut niederlaffend, in dem e3 auch ſchon wieder wucherte und blühte; „wir find
rechte Kinder, die meinen, wenn man ihnen an einer Stelle da3 Gärtchen zer—
ftört, e8 jet aus mit aller Herrlichkeit.“ Als er die Höhe überjchritten hatte,
blieb ex ftaunend ftehn — von Neuem vertaufcht war der Dt.
Das hüglige Land, geichickt benußt, bildete grüne Terraffen, welche in treppen=
förmigen Abſätzen zu einer mächtigen Villa führten, die wie ein über Nacht
entftandner Märchenpalaft dor jeinen Augen in einem Lichtmeer ruhte. Mar:
morne Säulen mit klaſſiſchem Gapitäl trugen Hallen, Balcone, ein tiefgrüner
Park gab den Hintergrund. Das luſtige, jprudelnde Waſſer lag hier ala See,
dort raufchte es auf im gewaltigen Fontainen, an andrer Stelle jchlüpfte
es flüfternd und riejelnd zwiſchen lieblihen Blumen. Ausländiſche Pflanzen
breiteten ihre großen, üppigen Blätter und Blüthen aus zu Seiten der mäd)-
tigen Freitreppe, die in dag Haus führte. Es war ein mwundervoller Anblid,
wol gemacht, einen Sinn, wie den Adam’3, zu entzüden. Er ftand, die Arme
verichräntt, und juchte umſonſt, das alte Bild hervorzuloden und zu faſſen, wie
das Alles in jo kurzer Zeit entftanden fein konnte — da jchlug ihm Einer auf
die Schulter, e3 war Lambert.
„Willkommen!“ jagte er, „nun, gefällt es Dir bei uns? Siehft Du, da3
it Alles mit Geld gemadt; man muß nur verftehn, e3 anzumenden. Sollte
man nicht denten, ich twäre ein Künftler? Mögen e3 Andre für mich fein, wenn
ih nur den Genuß davon habe.“
„Der höchſte Genuß,“ antwortete Adam, „ift das Schaffen; aber trotzdem
bit Du ein glüdlicher Menſch, hier wohnen zu fönnen, inmitten al’ diejer
Schönheit, bei der man nicht weiß, ob Kunſt oder Natur da3 Beſte gethan.“
„Sieh nur erſt meine Galerie, hör! meine Mufiker,“ fuhr Lambert ftolz
fort, „Alles erſten Ranges, Alles mein, denn ich kann e3 bezahlen; Du dachteſt
wol, ich follte ein plebejifches Arbeitspferd werden? Nein, eine Hunt verfteh’
ih, und die angenehmfte, nämlich zu genießen. Schade, daß nur zuleßt fein
Magen, weder der geiftige noch der leibliche, Alles verdauen kann, wa3 Einem
geboten wird, wenn man reich ift. Einen Kummer hab’ ih — ich werde
did.” — .
Adam lachte. „Wenn das Dein größter ijt!”
„Und krank,” jehte Lambert Hinzu.
Set exft bemerkte Adam feine aufgedunfene, verſchwommene Gejtalt, nicht
die markige Fülle des Fräftigen Arbeiters Vetter Lorenz, eine bleiche, krank—
hafte Maſſe.
„Du mußt etwas für Dich thun!“ ſagte er.
„sh thue nur zu viel,“ ſeufzte Lambert, „man ſchickt mich immer von
einem Bad in das andere.”
Sie gingen durch den Park. — Der Gärtner zeigte ihnen jeine koſtbarſten
362 Deutiche Rundſchau.
Lieblinge in den Treibhäufern, erzählte, daß er fie heraufgezogen mit Sorg' und
Müh' wie die Kinder.
„Er thut grad’, ala ob's feine wären, der hochmüthige Menſch,“ jagte Lam:
bert unzufrieden, al3 fie heraustraten.
„Durch Pflege nimmt die Seele Beſitz,“ antwortete Adam. „Uebrigens, ift
eg nicht einerlei, wen dieje himmlischen Roſen gehören? Seh’ ich ſie doch wie
Du, athme ihren Eöftlihen Duft.“
„Es ift ärgerlich genug,“ meinte Lambert, „daß man fein Eigenthum nicht
mehr für fi allein haben kann.“
Sie ftiegen die Marmortreppen im Haufe hinan. Edle griehijche Götter:
bilder, für Adam alte Bekannte, ftanden zu beiden Seiten und grüßten ihn ver-
traut, erzählend von hohen Lorbeerhainen, oder Marmorjälen, wo er ſie zum
erften Mal mit entzücter Seele gejehn.
„Und er glaubt, er beſitzt euch!” rief er innerlich, „euch, die er weder
achtet, noch fennt, nicht verjteht, kaum anblidt — deren Schönheit ihm ver-
hüllt ift, ala wärt ihr nicht da. Arme Verbannte, was wollt ihr hier? Es
giebt Güter, die nicht Yeder fallen und halten kann; in ſolcher Hand wird ihr
Gold zu Staub.“
Wo ihn auch Lambert zwijchen feinen idealen Schäßen herumführte, Galerie,
Bibliothek, Adam blieb der Eindrud: und ob er es mit Gold aufwog, ihm ge
hört nicht ein Atom davon. Die hehren Götterbilder, ald der Sommenftrahl
fie traf, ſchienen dafjelbe zu meinen und über die Armuth, in der fie fich be
fanden, zu lächeln.
„Komme, wie Du willft, zu Tiſch,“ jagte Lambert; „Dichter find, was
Toilette anbetrifft, meift Barbaren, man muß ein Auge zudrüden. Wir haben
einige Gäſte. Meine Frau ift jchon jeit einer Stunde bei der Toilette, das ift
eine wahre Arbeit in jeiger Zeit.“
Adam ftand beftaubt von der Reife, ungemüthlic im fremden, raffinirt
eleganten Zimmer. Er trat an das Fenſter, wo eben ein herrlicher Sonnen
untergang feine Feier vorbereitete, mit Gluthwolken und grüngoldnen Büſchen.
„D heilige Natur,“ dachte er, „zu deinen hehren Feſten ift das zerlumptefte
Kind gepußt genug; aber wenn die Menjchen die ihren feiern, welch' ein Auf-
wand von Zuthaten!“
Auf dem grünen Plan ja eine Wärterin mit einem Kinde. Das Lleine
Ding rollte fi), uneingedenk des geſtickten Röckchens, übermüthig zwiſchen Blumen
und Gras herum. Sein goldnes Gelod ſchmückte es weit mehr ala der koſt—
bare Anzug. Oft ftürzte es ſich voll ſtürmiſcher Zärtlichkeit auf die häß—
liche Alte.
Mit eigenthümlihem Gefühl erkannte Adam in dem Knaben Gundula’s
Kind — Better Lorenz’ Enkel, dem er glich in jeiner kräftigen Schönheit.
Gundula trat jeßt herzuz es gab einen Kampf, eh fie des Kleinen mächtig
wurde, welcher nicht von der Wärterin laffen wollte. Nur auf Zureden der
Letzteren trug fie ihn endlich al3 Beute davon.
Bald darauf Elopfte es leis an Adam’s Thür. Er öffnete und Gundula
ſtand davor, ihren goldgelodten Jungen auf dem Arm. Sie war in vollem,
Gigenthum, 363
etwas gewagtem Pub, den fie offenbar trug, als gehöre ex nicht zu ihr. Be-
ſonders die endloſe Schleppe wollte fich Feiner ihrer Bewegungen mit Grazie
anjchließen. Dunkle Gluth überzog ihr Geficht, als fie zum erften Mal Adam
wieder gegenüber ftand. Ihm war fie fremd geworden.
„sh wollte Dir doch meinen Jungen zeigen,“ jagte fie; „nachher, wenn
die Gäfte fommen, geht e3 nicht — meinen goldenen Schaf” — und fie füßte
das Kind zärtlich), welches ſich nım mit MWiderftreben dieſe Liebkoſung gefallen
ließ. „Beſäß' ih ihn nur mehr,“ fuhr fie fort; „die Kinderftube liegt jo weit
ab, ganz auf dem andern Flügel, Lambert kann feinen Kinderjpectafel vertragen —
die Wärterin hat ihn weit mehr als ih, eigentlich immer, wenn ich ihn mir
nicht ftehle.“ — Damit hieß fie ihn als große Vergünftigung für Adam ein
Patihhändchen geben.
„Es ift das Beſte, was ich unter allem Schönen hier gejehn habe,“
jagte er.
„Richt wahr, es iſt ſchön hier!“ rief jie. „Haben wir nicht alles Mögliche
aus dem alten Gerümpel gemaht? Bon weit fommen die Leute, e3 zu jehn,
und doch fonnte es dem Vater nicht gefallen, nicht leiden mochte er den Anblid
diefer herrlichen Hallen, diejer jchattigen LYaubgänge, ihm war Alles ein Dorn
im Auge.“
„Alte Bäume verjegt man ſchwer, Gundula — Du wirft ihn nicht fort-
bringen von der Fabrik.“
„Weißt Du nicht, daß er todt iſt?“ antwortete jie tieferröthend.
„Zodt!" rief Adam — „jeit wann? warum jchrieb, warum jagte es Lam—
bert nicht?“
„Deich wundert, daß er es nicht erwähnte,” meinte fie zögernd; „in dieſen
Tagen wird's vier Wochen. Er ftarb ganz plößlid — Mir hatten ihm bier
Alles jo ſchön eingerichtet, fürſtlich, Zimmer, wie für einen Prinzen, aber er
blieb nicht. Niemand konnte ihn halten, jelbjt dev Wärter nicht, den wir ihm
geben mußten. Jeden wußte er zu überliften, jchli heimlich zu dem be-
fannten Platz, wol zwanzig Mal am Tag. Das alte Haus wurde abge-
TURN 00 —
„Abgeriſſen! Gundula!“
„Die Fabrik war verkauft,“ ſagte fie, dem kleinen Burſchen wehrend, der
mit ſiegreichem Jauchzen ein Zerſtörungswerk an ihrer Friſur vornahm. „Wir
hofften, durch das Einreißen der alten Wohnung ihn am Beſten von den
früheren Verhältniſſen zu löſen; — als wir aber ſahn, wie er ſich's zu Herzen
nahm, hielten wir ein.“
„Wie konnte Lambert die Fabrik verkaufen!“
„Das find Geihäftsjachen,” antwortete fie ausweichend, „davon verſteh' ich
nichts. Lambert hat viel leiden müſſen unter dem Vater, mehr als wol zu
ertragen var, bis fie den Unglüdlichen unter Guratel ftellen mußten. Gott weiß,
ich wollte, es wäre anders gelommen. Ich habe Feine Freude jeitdem an all’
diefer Pradt. Schon des Jungen wegen wollt’ ich, wir könnten es ungejhehn
machen. Man wird klüger, wenn man Mutter ift, und wol auch ettwas befjer,“
fuhr fie fort, des Mleinen dicke Händchen küſſend, „verfteht die Eltern mehr —
364 Deutiche Rundſchau.
mehr worauf e3 ankommt zum Glüd. — Sie verfihern zwar Alle, der Vater
wäre nicht bei Sinnen geweſen, al3 wir die Fabrik verkauften, aber dennoch —
ic kann die jchlimmen Gedanken nicht los werden.“
„Armer Better!” rief Adam, „du glaubtejt die Fabrik feſt gegründet in
deiner Familie, und num verichtwindet fie ſchon in der erften Generation!...
Vielleiht, Gundula, war Dein Bübchen geichaffen, den Pla einzunehmen, der
ihm beftimmt war; dem Großvater ift er aus den Augen geichnitten. Das
habt Ihr nun verjcherzt. Nehmt Euch in Acht! Wer weiß, es rächt fi an ihm,
daß Ihr die Fabrik verfauft habt.“
„Sprich nicht jo,“ rief fie erfchredt. — „Manchmal fürcht' ih es auch.
Oft ift mir, als jäh’ er mich vorwurf3voll grad’ mit des Vaters Augen ar.
O, ich wollte, ex lebte noch.“
Wagen auf Wagen xollte vor — haftig ftand Gundula auf. „Die Gäfte
fommen,“ jagte fie, „auf Wiederfehn bei Tiſch.“
„Laß mich bier,“ antwortete Adam, „ich kann jet keine fremden Leute
jehn, ich muß zu viel an den Tod des Vetter denken.”
„Mir ift die Geſellſchaft, ſchon nach vier Wochen, auch nicht recht,“ ſagte
fie entjchuldigend ; „aber Lambert verträgt feine Einſamkeit.“
Damit gab fie das Kind der Wärterin und verſchwand mit ihren rauſchen—
den Gewändern in den erleuchteten Sälen.
Adam blieb verftimmt zurüd. Es war ihm unheimlich dort. Fröhlicher
Lärm ſcholl zu ihm empor.
„Erit vier Wochen todt,” dachte er, „und dies wirkliche, für die Erde ge
ihaffne Dafein, verwiſcht, verlöjcht in feiner Eigenthümlichkeit, dat faum Einer
die Spur findet... . Seine Wohlthaten vergeſſen; wenn ihrer gedacht wird,
nur noch im Vorwurf. AM jeine Arbeit, all’ jeine Enthaltjamfeit, fein Fleiß,
um dieje giftige Blüthe des Genuffes zu treiben, in der troß aller Schönheit
etwas Verweſendes liegt, das Körper und Seele tödtet.“
Sein Entihluß wurde feft, fortzugehn. Er jchrieb diefen Zettel an
Lambert:
„Berzeih, wenn ich mich fortſchleiche — vermiffen werdet ihr mich nicht
lang’. Es ift beifer, wir jehen uns grade jeßt nicht wieder. Ich war dem
armen Better viel Dank ſchuldig. Wie weit Du an ihm gefehlt, ich weiß es
nicht, will mich auch nicht zu Deinem Richter aufiwerfen. Für alle Schäße
der Welt wäre mir diejer Preis zu hoch geweſen.“
XV,
As das Thor fi hinter ihm Schloß, ftiegen weiße Nebel zwiſchen den
Büſchen auf, das goldne Licht auf Blüth’ und Blatt verfant — Grau in Grau,
geipenftiih, im Dämmerlicht, lag die Fabrik und warf einen dunklen Schatten
über die Gegend. Das alte Haus des Vetter, halb zerftört, umweht von
Tapetenfetzen wie von Geifterfahnen, lag ruinenhaft vor ihm, geftreift vom Nacht:
geflügel. Eine Ede daran mit Stroh gedeckt, al3 habe nothdürftig dort Jemand
Unterkunft gefucht. AM die Niedlichkeiten des Gartens zerbrochen, zeriprungen
die jilbernen Kugeln am Boden, Häglich zerfallen, wie Spielwert, das feine
Eu
Eigenthum. 365
Zeit gehabt. Vor der Thür des Vetters alter Hund. Mühſelig ermannte er
ih zu winſelndem Gebell, al3 Adam näher fam. Er wies die Zähne und
fnurrte, obgleich ex ihn erkannte, denn er traute jelbft Freunden nicht mehr.
Hinter ihm erſchien eine andre Geftalt aus jenen Tagen, ein invalider Diener
des Vetters, dem man bier das Gnadenbrod gab.
„Sie ſind's, junger Herr!” rief der alte Mann; „wie oft haben wir an Sie
gedacht! Manches wäre anders gefommen, wenn Sie hätten bleiben fünnen. Es
ift hiex nicht zum Miedererfennen; ein alter Gehirnfaften durfte darüber wol
in Berwirrung geraten. Freilih für jolde Pracht konnte man jchon die
Fabrik, und was drum und dran hing, hingeben.“
„Wer ift jet der Beſitzer?“ frug Adam.
„Sie ift ſchon im dritter Hand,“ berichtete der Alte, „'s ift fein Glück
und Stern dabei, Einer betrügt immer den Andern und vergißt, daß zuleßt
Ale betrogen find. Nur der Herr Lambert — der verfteht’3, fie über das Ohr
zu haun, der hat jein Schäfchen im Trocknen — was thut’s, wenn Andre darüber
zu Schaden fommen! Mein armer, alter Herr! ch er durch die Krankheit jo
heftig wurde, war’3 doc) ein quter Herr. Seht, ſein Ende hätte einen Stein
erweichen können. Dan jagt droben, er verjtand nicht, was geſchah. Manches
verstand er doch noch recht gut; ein Kind verſteht's, wenn man ihm jein Lieb-
Iingsftüd mit Gewalt aus der Hand reißt. — Ich war die lette Zeit um ihn
und weiß am Belten, wie es ftand. Es litt unſern Herren nicht dort unter
ihren Spiegeln und Plüfhmöbeln; er war ein einfacher Mann, und das Kleid,
daß fie ihm anzwängen wollten, für ihn nicht commoder als eine Zwangsjade.
Gr bat, er drohte, er weinte gar — es war jammervoll anzuſehn. Nach Haus
wollte ex, endlich einmal wieder nah Haus. Wenn er fonnte, machte er fid)
fort, trieb ſich zerriſſen, beiymußt in der Gegend herum — 's war unangenehm fir
den reichen Herrn, den Schwiegerpapa vagabondiren zu lafjen. Man ſchloß ihn ein,
aber es machte das Nebel noch ärger. Ein Tobſüchtiger ift erſt gar nicht zu ver:
bergen. Sie ließen ihn frei und begannen das Haus einzureißen, weldes ihm
immer in Gedanken jtand, in jeinem Herzen war's aber eingemauert. Die
Stelle hätt’ er geiucht, und die konnten ſie dod) nicht vom Erdboden vertilgen. —
Sie ftellten aljo das Einreißen ein, machten ihm ein Zimmer zurecht, für uns
Beide nothdürftig Quartier. Stundenlang jaß er Elagend in dem alten Gebäu,
bejah die zerriffenen Tapeten, fügte zuſammen, jprach, als ſäh' ex noch wie ehe-
dem Alles um fi), und wäre Herr der Fabrik; auc mit Ihnen ſprach er, Herr
Adam; das Herz wendete fid) Einem vor Mitleid im Yeibe um. Manchmal
fam die Wärterin mit dem Bübchen, dem Eleinen Lorenz, aus dem Schloß, um
ihn zu zerftreuen. Ex liebte das Kind, drüdte e3 an fich, und jprad), indem er
auf die Trümmer wies, ftolz: ‚Alles dein, ich hab's erworben für did.‘ Ein
Mal aber wollte er den Kleinen nicht wieder aus den Armen laſſen, nur mit
Gewalt rifjen fie ihn fort umd brachten ihn nicht wieder. — Von da ab war
unjer Herr verloren — fommen Sie, wollen Sie die Stelle ſehn?“
Adam folgte ſchweigend. Der Alte ging mit unficher fladernder Leuchte
voran. Geſpenſtiſch jchien ſich Alles zu bewegen, und doc) war es nur der
Deutſche Rundſchau. I, v. 23
366 Deutiche Rundichau.
Schein des Lichts, — Im altbefannten Zimmer des Wetter Lorenz blieb
er ſtehn.
„Hier jaß der arme Herr zum legten Dial,“ jagte er, „ich Hatte ihm jelbft
binaufgeholfen. Dann mußt’ ich ihn allein laſſen, er vertrug feines Menſchen
Nähe mehr. — Man hielt es auch für ungefährlid. Wer hätte dieſem
zerftörten Körper jo viel Kraft zugetraut! Die Verzweiflung gab fie ihm.“
Der Diener öffnete die Thür, das roftige Schloß widerftand erſt. Adam
bliette hinab — two ſonſt eine Stiege geweſen, jah man jet in ſchwindelnde
Tiefe. Widrig rauſchte und fluthete unheimlich düftres Waller. Schaurig
Hagend ſchlug es an die jtehengebliebenen Pfoften.
„Möglich,“ jagte der Alte, „daß unjer Herr die wohlbefannte Treppe ge:
ſucht. Möglih! Im Schloß werden fie wol dergleichen wo nicht glauben, dod)
erzählen — genug, bier fand er, oder machte er feiner Noth ein Ende, und
Jeder kann fi) das Seine darüber denken . . .“
Erihüttert wendete Adam dem Haus des Vetter Lorenz den Rüden.
Der alte Hund heulte hinter ihm ber, und die Käuzchen riefen ſich im
Mondjcein.
In der Burgruine fand er ein Obdach. Das Meer brachte ihm den erjten
friſchen Athemzug.
„Es geht Jeder jeinen Weg,“ dachte er, „aber die Wenigften erreichen aud
nur annähernd das Ziel, das fie fich geftedt haben. Verjchlagen vom Hafen
oft, Angeficht3 des Landes, weicht dann Alles wie Schatten vor uns zurüd,
wir jelbft wenig mehr als ein Schatten.“
XVL
Der Morgen gab ihn fich jelbft wieder — er frug die junge Frau nad
Manchem, als fie ihm das Frühſtück brachte, auch nach dem Künſtler, der ja
ein Kind des Orts war.
Sie antwortete darauf, wie Gundula. „Willen Sie nicht, daß er todt ift?
das weiß ja die halbe Welt!“
„JH war ſechs Jahre fort,” antwortete Adam, „und das ift lang’ für die
Menjchen.“
„Beſonders wenn fie alt find,“ fuhr fie fort — „ihn aber hielt man für
ewig jung — e3 war etwas Friſches, wie Immergrün, in feiner Natur. Sehn
Sie, den hätte Jeder noch gern behalten — als ber ftarb, war's, al3 ginge ein
großer Baum ein, unter deifen Schatten ſich's Viele wohl fein ließen. — €
ift eben ein Unterjchied zwijchen Alt und Alt. Wer unnüß ift, jteht auch jung
Jedermann im Weg. Auf diefer Stelle ftarb er, den Blid hinaus auf das
Meer, janft, wie ein Kind einchläft. Für das Mädchen aber war's hart —
fie glaubte nit, daß es ein End’ haben fünnte Wir befamen fie gar nidt
vom Boden auf — abjolut wollte fie auch fort — auch fterben — nun, man
kann Jemand doch nicht lebendig mit in das Grab legen, und jo mußte fie fih
ermannen und mit dem, was ihr geblieben war, abrechnen. Gefehlt hat e
ihr leiblih an Nichts, dazu hatte er zu viel Freunde. Sie wird zum Gejang
ausgebildet werden, man läßt ihr nur noch ein wenig Zeit, um fich im das
I na rrr
—
neue Leben zu finden. Meiſtens ift fie im Wald mit m east Hr Se)
und die liebe Natur thun das Beite in joldem Fall. . R
Adam bog bald darauf in den Waldweg ein. Meiſen, 7
luſtigen Gejellen,- hüpften plaudernd vor ihm her, als wollten ſie ihm den Weg
zeigen; hie und da glänzte, ein ſchimmerndes Geheimniß, blaufunkelnd das Meer
durch die zierlichen Zweige. Plötzlich öffnete ſich der Wald und vor ihm lag,
gleich erſtarrten Wellen, ein andres Meer, welches das Leben verſchlingt. Hügel
an Hügel reihte ſich — ſchattige Buchen, tiefdunkle Tannen umftanden tie
Hüter den Platz. Dazwiſchen ſpielte neckiſches Sonnenlicht und jagte ſich
ordentlich durch die rauſchenden Blätter. An den vielen Kränzen und Roſen,
die es bedeckten, erkannte er von fern das Grab des Lieblings der Menſchen.
Schaaren bunter und weißer Schmetterlinge flatterten wie befreite Seelen auf
und ab — goldne Strahlen woben ſchimmernde Verbindung zwiſchen Himmel
und Erde.
Auf dem ſonnendurchwärmten Gras jaß Grescentia, hatte den Kopf in die
Hand gelegt und jummte die Strophe, die Adam von ihr und dem Vater gehört,
am Meer — e3 Flang wie eine frage, aber die Antwort fehlte darauf, war
verftummt für immer. Neben ihr taumelte fi im Uebermuth, zwiſchen den
hochaufgeſchoſſenen Blumen und Kräutern, da3 wilde Bürſchchen. Sie wehrte
ihm nicht — lächelte aber auch nicht, jo viel es ſchmeichelte und fie mit feiner
tindifchen Luft zu verloden juchte. Ihr Ausjehn fein und dürftig tie damals,
fie jelbft faft noch ein Kind.
Als Adam herankam, ſchreckte fie auf — erkannte ihn, juchte zu fliehen —
bejann fi) aber, trat jcheu auf ihn zu, gab ihm die Hand und frug:
„Weißt Du no, was ich damals jagte? Jetzt bin ic) arm dagegen, arm,
weil ich viel hatte. — Mag man bier noch jo reich jein — ein Augenblid —
die Hand ift leer und man wird zum Bettler. — Gehört uns denn Nichts —
gar Nichts in diefer Welt, haben wir an Nichts Eigenthumsreht? Vor unjern
dürftenden Lippen verwandelt ſich plößli der Trunf in Gift. — Um uns
Sonnenjhein, wir aber, mit der Nacht in den Augen, können ihn nicht jehn.
Sag’ mir nichts von Troft — Troſt widert mid an — verſuche nicht, den
Schmerz zu tödten, Schmerz ift ja das Einzige, worin ih ihn noch behal-
ten fann.“
Damit ſetzte fie jich nieder in das Gras, verbarg das Geſicht, kümmerte
fich weder um Adam, noch um den Kleinen, und jchlucdhzte, als jollte ihr das
Herz breden. Starr hörte das Kind auf zu ſpielen — es war jonft nicht ihre
Art — erichredt durch die Gewalt ihres Kummers; der Gedanke, es jei Unrecht,
ſchlich durch fein Kleines Gewiſſen.
„Du ſei ſtill,“ flüſterte es ihr zu, fie küſſend — „der hört es, da
drunten.“
Sie aber weinte fort troſtlos, um ſie her Alles wunderbar froh und er—
quickend, dicht neben ihr die volle Luſt der Natur, und doch für ſie uner—
reichbar.
Stumm ſetzte ſich Adam, den Kleinen an ſich lockend, auf einen Baum—
ftamm. Das Kind kroch dicht heran, wurde zutraulich, flüſterte mit ihm, zeigte
25*
Eigenthum.
368 Deutiche Rundichau.
ihm allerlei Spiele, die e8 von dem Dahingegangenen gelernt, dem Kinderfreund,
erzählte von ihm, Adam antwortete, Grescentia hatte den Kopf erhoben und
laute. Da begann er die jchöne Zeit Hervorzurufen, in der ihr Vater dem
jeinen nah gejtanden. Sie erwiderte mit den jeligen Tagen ihrer Kindheit,
bi3 zuleßt aus taufend Kleinen Zügen des Verlorenen liebenswürbige Geftalt
zwiſchen ihnen emporſtieg — wirklich, lebendig, als wär’ er in irdiſcher Gegen:
wart zu ihnen getreten.
Das Mädchen hörte auf zu weinen, ja dann und wann jtridh bei der
Grinnerung wonniger Zeiten ein ſcheues Lächeln über ihre Züge — die Gedanken
an ihn weckten den ſonnigen Schein, den er immer, wo er auch war, über das
Leben gebreitet hatte.
„Crescentia,“ ſagte Adam, „fühlſt Du, daß er uns jetzt näher iſt, als im
Schmerz?“
„sh fühl's,“ antwortete fie.
Und das Kind jauchzte, ſie wieder freundlich zu ſehn.
„Wo Macht und Reichthum ſonſt ein Ende hat,“ fuhr Adam fort, „hat
ſein Geiſt noch Fülle und Kraft, zu beglücken . . . Wer mit ihm gelebt, kann
ihn nie verlieren.“
„Sch verſteh',“ jagte fie, den Kopf jenkend und das Bübchen an fich ziehend;
„aber e3 ift doc nur ein Schatten von dem, was mein var.”
„Selbft ſolch ein Schatten,” rief er, „it oft wirklicher, näher, beglücender,
al3 manches Dafein, welches in vollem Leben neben uns hergeht, Hohl und
ftumm wie ein Schemen. Das Grab ift es nicht, wo ic) ihn ſuche — mit uns,
in jedem Herzichlag, in jedem Gedanken, da will ich ihn finden. Ihm nad
wollen wir, Grescentia, auf dem jelben Weg zujammentreffen, — jcheinbar arm —
wirklich reich — — los vom Beſitz — los vom Irdiſchen, und doch feſtgewurzelt
auch ſchon auf Erden in dem, was ewigen Werth hat — mit heißem Begehr
das Gold juchend, twelches in der Seele geprägt wird, jei es durch Luft oder
duch Schmerz, aber echt in Beiden.“
Das Mädchen nickte, duch Thränen lächelnd, und reichte ihm die Hand.
Lang’ jah er fie noch ftehn, wenn er fi) umwandte, beglänzt von der
Sonne, das Knäbchen im Arm, — eine lichte Verheißung der Zufunft!
Zerdinand Salfalle
bor der Agitation.
— nu
Bon Georg Brandes.
4.
Zuerft und vor Allem kehrte Lafjalle jeßt zu ſeinem „Heraklit“ zurüd.
ie das Buch gedruckt vorliegt, ift e3 für den aufmerffamen Lejer nicht ſchwer,
gleihjam zwei Hände darin zu jpüren. Der reife Mann hat redigirt und her-
ausgegeben, was der Jüngling erforſcht und gefunden hatte. Unverkennbar hat
eine geichichtlichere Auffaffung im Laufe der Jahre die frühere ftreng metaphy—
ſiſche und rein hegelianijche abgelöft. Nichtsdeftoweniger giebt das Buch ein
verhältnigmähig getreues Bild von Laſſalle's wiſſenſchaftlichem Leben in jeinen
jüngeren Jahren. „Die Philojophie Herakleitos des Dunkeln“ ift eine Studie
in Hegel’ihem Geifte, eine Studie zur Geſchichte der Philojophie. In Laſſalle's
Drganifation war Etwas, das ihn mächtig zu der in feiner erften Jugend ab-
ſolut fiegreihen Hegel’ihen Philoſophie hinziehen mußte: die dialektiſche Anlage
feiner Natur und fein Drang, in den Beſitz eines Schlüffels oder Dietrichs zu ge-
langen, mittel3 defjen ex fi) den Weg zu jenem Verſtändniß und Willen ver-
Ichaffen könne, welches Macht iſt. Was verhieß nicht die Hegel'ſche Philofophie
ihren Pflegern! Daß Laſſalle ein bejonderes Intereſſe für Heraflit empfand, .
war, wie fich ſchließen läßt, zunächſt in dem Leidenichaftlichen Hange jeines
Geiftes begründet, ſich mit Schwierigkeiten abzugeben, die jeden Anderen zurüd-
Tchreden würden — jeit dem grauen Alterthum führte Heraklit ja den Beinamen
des Dunklen, und was von ihm erhalten war, beftand nur aus wenigen zer:
ftreuten Fragmenten und erforderte gründlichfte Kenntniß der ganzen clafftichen
Literatur, um ergänzt und verjtanden zu werden; — jodann jpürte unver—
fennbar der begeifterte Hegelianer Luft, einen Geift zu ſchildern, der ihm als
ein früher Vorläufer Hegel's jelbft und als ein ſolcher erichten, der eben wegen
feiner Verwandtichaft mit dem modernen Meifter unverftanden geblieben war; —
endlich fühlte der junge ſtürmiſche Apoftel der Gegenwart fich hingezogen zu
370 Deutihe Rundſchau.
einer Größe des Altertdums, melde nach mandem uns aufbewahrten Charafter-
zuge mit Eigenſchaften und Eigenthümlichkeiten ausgeftattet war, die er in
jeiner eigenen Seele gähren fühlte. Auch von Heraklit hieß es ja, „er habe alle
Ruhe und Stillftand aus der Welt verbannt, die ihm nur abjolute Bewegung
geweſen“, und mit welcher Genugthuung ruft Laſſalle einmal aus: „Dan fiebt,
daß Heratlit weit entfernt war von jener Apathie, welche den ethijch-politifchen
Raifonnementz der jpäteren Stoiker eine jo tiefe Langweiligkeit einflößt. Cs
war Sturm in diefer Natur!” *)
Wie fait alle Schriften Lafjalle'3 einen Proteft wider den Irrthum ent-
halten, eine einzelne Dizciplin oder eine einzelne Wiſſenſchaft in geiftlofer Iſo—
lirtheit betrachten zu wollen — ein Zug, in welchem ſich fein angeborener Blid
für das Ganze und Große offenbart —, jo beginnt auch dies Werk mit der
Betonung des Sabes, daß „jebt, wo die Geſchichte der Philojophie aufgehört
habe, für eine Sammlung von Curiofi3 zu gelten, wo aud der Gedanke als
ein Hiftorifches Product und die Gejchichte der Philofophie als die Darftellung
feiner continuirlichen Selbftentwiclung begriffen werde, die Zeit kommen müfle,
two die Geichichte der Philojophie eben jo wenig, wie diejenige der Religion,
der Kunſt, des Staats oder der Lebensformen. der bürgerlichen Gejellichaft, als
eine iſolirte Disciplin werde aufgefaßt und dargeftellt werden”. tan darf fi
indeß durch den Nachdruck, der hier auf eine hiftorifche Entwidlung gelegt
wird, nicht verleiten lafjen, Laſſalle's Standpunkt in diefem Werke für minder
hegelianiſch und mehr modern zu halten, als derjelbe in Wirklichkeit if. Das
Vorwort, welches dies Hiftoriiche jo ſcharf accentuirt, gehört ja unzweifelhaft
zu den allerlegten Partien des Werkes. Im Uebrigen ift der Standpunkt rein
metaphyſiſch. Wird der wiſſenſchaftliche Gedanke hier auch ein Hiftorifches Pro-
duct genannt, jo werden die Kategorien des Gedankens doch als ewige meta-
phyſiſche Welenheiten betrachtet, deren Selbftbewegung und „Umſchlag“ die Ge:
ichichte erzeugen. Die Philojophen werden nicht nad) ihrer totalen pfychologifchen
Entwidlungsftufe, jondern nad dem Plate geordnet, den die Kategorie, als
deren Repräjentanten fie aufgefaßt werden, im Syftem einnimmt. ‚Heraklit ent-
Ipriht dem Werden, Parmenides dem Sein; folglich wiſſen wir a priori, daß
Parmenides, wie hoch er auch al3 Geift über Heraflit ftehe, vor und unter ihn
gejtellt wird **).
Hiemit joll jedoch nicht im entjernteften angedeutet werden, daß Laffalle
Heraflit nicht verftanden habe. Im Gegentheil. Gerade die hegeliſch-meta—
phyſiſche Methode ſchlug vortrefflih an, wo e3 das Verſtändniß eines Denkers
galt, deifen Stärke und Originalität in einer bis zur Grenze der Sophiſtik ent:
wicelten Dialektik lag. Ich mochte mid in diefem Punkte nicht auf mein
eigenes Urtheil allein verlafjen; ich habe daher einen Mann, welcher auf diefem
Gebiet eine Autorität iſt — einen Profefjor der Philologie an der Berliner
Univerfität — gefragt, wie weit Laſſalle nad) jeiner Anficht Heraklit verftanden
*) Lafjalle: Herakleitos, Bb. I, ©. 51, und Bd. II, ©. 43. —
*) Laſſalle: Herafleitos, Bd. I, ©. 35. Bal. Lazarus er Steinthal: Zeitichrift für Voller:
piychologie und Spracdtunde, Bd. II, ©. 332.
Ferdinand Lafjalle vor der Agitation. 371
habe, und ich erhielt die charakteriftiiche Antwort: „Gewiß hat er ihn ver-
fanden. Ein normal angelegter Philolog wird Heraklit nicht verftehen, ja darf
ihn gar nicht verftehen. Aber man fann nicht leugnen, daß Laſſalle ihn ver-
ftanden hat, und daß fein Buch ein ausgezeichnet tüchtiges Werk ijt“.
In der Auffaffung und Wiedergabe von Heraklit's Metaphyſik ſpürt man
den Tchulgerehten Hegelianer: „Der Begriff des Werdens, die Identität des
großen Gegenjabes von Sein und Nichtſein ift das göttliche Geſetz. Die Natur
jelbft ift nur die verkörperte Verkündigung diejes ihre innere Seele bildenden
Geſetzes von der dentität des Gegenjaßes. Der Tag ift nur diefe Bewegung:
ich zur Nacht zu machen, die Naht nur dies: zum Tag zu werden, der Sonnen—
aufgang ift nur ein ununterbrochener Niedergang x. Das AL ift nur die jicht-
bare Verwirklichung diefer Harmonie des ſich Entgegengejegten, die durch alles
Seiende hindurchgreift und es regiert” .... „Diejer verſöhnte Widerſpruch, das
daſeiende Nichtjein, ift der Kern und die ganze Tiefe (sie!) jeiner Philojophie.
Dan fanrı vorläufig jagen, daß dieje in dem einzigen Satze befteht: Nur das
Nichtſein tft.“ *)
Sit alſo die Methode, welche Laſſalle bei jeiner hiftoriich - philojophiichen
Forihung anwendet, rein hegelianifch, jo erhellt andererjeit3 eben jo deutlich,
dat das Hauptintereffe an dem Gegenftande jeiner Forſchung für ihn darin lag,
jeinen großen Meifter hier vorgebildet zu jehen. Wäre Hegel gegen den Schluß
des jechiten Jahrhunderts vor unjerer Zeitrehnung im aſiatiſchen Griechenland
geboren, jo wäre er Heraklit geworden. Bon Heraklit hatte man ja ſchon im
Alterthume bemerkt, dab er, welcher die Gegenſätze als Urprincip jege, mit dem
Sabe des Widerſpruchs nicht einverftanden ſei (Bd. I., ©. 119). Heraklit hatte
ja jhon mit einer an Spinoza's Pantheismus erinnernden Wendung erklärt,
dag „dem Gotte Alles ſchön und gerecht ei, die Menjchen aber das Eine ala
ungerecht, das Andere als gerecht angenommen haben“ (Bd. I, ©. 92). Und
bei Heraklit ſchon fand ſich die philoſophiſche Neigung, welche zur Blüthezeit
des Hegelianismus jo vorherrichend war, bei jeder Gelegenheit dem gefunden
Menichenverjtande unangenehme Wahrheiten zu jagen. Lafjalle bemerkt ſelbſt
(Bd. IL, ©. 276): „Wenn eine moderne Philojophie ſich darin gefiel, wieder:
holt hervorzuheben, daß gerade das ſcheinbar Befanntefte und Alltäglichite, was
Jedermann ganz von jelbft zu wiſſen glaube, dennocd vielmehr gerade am
wenigften gewußt werde und von einer dem reflectirenden Verſtande ſchlechthin
unfaßbaren Natur jei, jo ift es Heraklit geweſen, der, al3 erfter Verfünder einer
wahrhaft Ipeculativen und ſich als ſolche erfaßt habenden dee, auch zuerſt diejen
*) Laſſalle: Heratleitos, Bd. I, ©. 24 und 35. — Ganz hat Lafjalle den Hegel’ichen Jargon
nie überwunden. In feiner Tragödie „Franz von Sickingen“ ſpricht Karl V. von feinen Zwecken,
und fagt dann rein hegelianifch:
Wenn Ihr die meinen
Zu Eures Wollens Inhalt machen könnt —
Dann, Franz, dann jollt Ihr fteigen.
Rod in feiner legten größeren Schrift: „Capital und Arbeit“ „Ichlagen die Begriffe um“. Vgl.
au im „Spftem der erworbenen Rechte‘, Bd. II, S. 9, die Ausführung von der „bialektiichen
Ihätigfeit des Begriffs“.
372 Deutihe Rundichau.
jelben Ausſpruch über die Ohnmacht des unjpeculativen Denkens und des jub-
jectiven Verſtandes gethan hat“.
Heraklit’3 Ethik, jagt Lafjalle (Bd. IL, ©. 431), faßt fi) in den Einen
Gedanken zujammen, der zugleich der ewige Grundbegriff des Sittlichen felbft
ift: „Hingabe an das Allgemeine“. Das ift zugleich griehifch und modern;
aber Laſſalle kann fich das Vergnügen nicht verjagen, in der ſpeciellen Aus-
führung dieſes Gedankens bei dem alten Griechen die Nebereinftimmung mit
Hegel's Staat3philojophie nachzuweiſen (Bd. II, ©. 439): „Wie in der Hegel’
ihen Philoſophie die Geſetze gleichfalls aufgefaßt werden als die Realijation
des allgemeinen jubjtantiellen Willens, ohne daß bei diefer Beſtimmung im
geringiten an den formellen Willen der Subjecte und deren Zählung gedacht
wird, jo iſt auch das Allgemeine Heraklit's gleich jehr von der Kategorie der
empiriichen Allheit entfernt“.
Do nicht nur wegen der Analogie mit Hegel, jondern wegen der: Leber:
einftimmung mit Zafjalle's innigfter politifcher Neberzeugumg hebt er dies Mo—
ment hervor. Seit jeiner früheften Jugend hatte ja auch er im Staatsgedanken
Moral und Recht und Vernunft incarnixt gefehen. Die Begeifterung für dieje Idee,
der Glaube an die Miffton des Staates nicht nur als Beſchützer, jondern als
Förderer von Recht und Gultur, geht durch alle feine Schriften. Man jpürt
jte ın feinen gelehrten wifjenjchaftlichen Arbeiten, wie hier in „Heraklit“; fie
offenbart ſich ftärker, wierwohl nur ftellenweife aufbligend, in jeinem großen
juriftiichen Werte („Syitem der ertvorbenen Rechte“, Bd. IL, ©. 47; Bd. II,
©. 603 ff.), bis fie endlih in jeinen politiichen und öfonomijchen Agitations-
broſchüren mit leidenschaftlicher Polemik wider die Manchefter-Theorie und mit
all’ jener Wärme der Ueberzeugung verkündet wird, die ihn als Redner umd
Schriftfteller jo geliebt und gefürchtet machte.
Der Gegenjat zwiſchen Heraklit und Lafjalle ift auf diefem Punkte nur der,
daß man aus der Staatötheorie des griechischen Denkers ſehr wohl begreift, wie
er, troß jeines Reſpects für das Allgemeine, in den Ihärfften Gegenjat zu der
Mafjenherrichaft in feiner Vaterſtadt Epheſus treten mußte, daß man aber weit
ſchwieriger einfieht, wie Lafjalle aus feinem analogen Grundbegriffe vom Staate
zu practiichen Gonfequenzen gelangen fonnte, die eher von Roufjeau als von
Hegel jtammen. Hier fand jedoch bei diejer intereffanten Individualität eine
_ innere Spaltung von der Art ftatt, wie fie uns bei hervorragenden Geiftern jo
häufig begegnet. Aus Inſtinct und kraft feiner Grundprincipien war Lafjalle
ein Vergötterer der ntelligenz, der objectiven Vernunft und daher ein leiden-
ihaftlicher Gegner und Verächter der öffentlichen Meinung und der Zahl. Aus
leberzeugung dagegen und kraft feiner politifchen und practiſchen Principien
war Lafjalle bekanntlich ausgeprägter Demokrat, conjequenter und fiegreicher
Dertheidiger des allgemeinen Stimmrechts, Vorkämpfer für eine Art von
Maſſenherrſchaft, die die Geſchichte zuvor nicht gejehen hat. Geiftesariftofrat
und Socialdemofrat! größere Gegenjäße, als diefe, kann ein Menjchenherz um—
faffen, aber man hegt fie nicht ungeftraft in feinem Gemüth. Was mir
bier berühren, ift in der Welt der Principien derjelbe Gontraft, ber rein
äußerlich zu Tage trat, wenn Lafjalle mit feiner ausgefucht eleganten Mleidung,
Ferdinand Laffalle vor der Agitation. 373
jeinev ausgejucht feinen Wäſche und feinen Ladftiefeln in und zu einem Kreiſe
von SFabrilarbeitern mit rußiger Haut und jehwieligen Händen jprad).
Aber beftand nun auch im diefer Hinficht ein gewilfer Contraſt zwifchen
Laſſalle und dem von ihm beiwunderten Griechen, jo fühlt man doc die Aehn—
lichkeit, jo bald man die Schilderumg von Heraklit's Perjönlichkeit mit feinem
unglaublichen Selbftgefühl und feiner Menjchenveradhtung lieſt. Welche Vor:
ftellung von feinem Werthe muß ein Mann gehabt haben, der, wie Heraflit,
mehr al3 einmal (Bd. II., S. 269 u. 281) äußerte, „daß die Menjchen jchlecht-
hin undernünftig feien, und daß er allein wilje, während alle Anderen wie im
Schlafe handeln“, oder der von feinen Mitbürgern nit nur im Allgemeinen
jagte, „fie verdienten, gehenft zu werden, da die Maſſe ſich doch nur mäfte wie
das Vieh”, ſondern der bei einem beftimmten einzelnen Anlafje, der Vertreibung
jeines Freundes Hermodoros, bemerkte (Bd. II. ©. 442): „Den Ephefiern ge-
bührt, wie fie erwachſen find, Allen, erwürgt zu werden, und den Unmündigen,
die Stadt zu verlaflen, da fie den Hermodoros, den Trefflichiten von ihnen,
vertrieben haben, jagend: Bei und joll Keiner der Trefflichite fein; ift aber
Einer ein Solcher, jo jei er e3 anderätwo und bei Andern”. Wer maq daran
zweifeln, daß diefe Worte oftmals Laſſalle in den Sinn gefommen find, als er
ein Jahr vor feinem Tode ſich überall gehaßt und verleumdet jah, jahrelange
Ginterferung ala Perjpective vor Augen Hatte, und von Obrigkeit und Preffe
verfolgt, auf Lauheit bei dem größten Theil Derjenigen ftieß, denen ex helfen
wollte und denen er jeine Ruhe opferte. Man dürfte kaum eine treffendere
Parallele zu jenen verzweiflungsvoll- jelbjtbewuhten Neuerungen Heraklit's
finden, die von einer wahrhaft timonijchen Bitterkeit und Menſchenverachtung
zeugen, als Lafjalle’3, übrigens glänzend gejchriebene, „melandyoliiche Meditation“
am Schluſſe feiner Schrift „Capital und Arbeit“:
„Und diefe abjolute Berfimpelung des Bürgertfums — in dem Lande
Leſſing's und Kant's, Schiller'3 und Goethe's, Fichte's, Schelling’3 und Hegel's!
Sind dieje geiftigen Heroen wirklich nur wie ein Zug von Kranichen über unfern
Häuptern dahin geraufcht? Fit von der immenjen geiftigen Arbeit, von der in-
nerlihen Weltwende, die jie vollbracht, Nichts, Nichts, gar Nichts auf die
Nation gekommen, und befteht der deutſche Geift wirklih nur in einer
Reihe einjamer Individuen, welche, jeder das Erbtheil feiner Vorgänger
treu übernehmend, ihre einfame und für die Nation fruchtloje Arbeit in bit-
terer VBeradtung ihrer Mitwelt fortjeen? Welcher Fluch Hat das
Bürgerthum enterbt, daß von all’ den gewaltigen Gulturarbeiten, die in jeiner
Mitte geſchahen, daß aus diejer ganzen Atmojphäre von Bildung fein ein-
ziger Tropfen befruchtenden Thaues in jein immer mehr vertrodnendes Gehirn
gefallen? .... Der Bürger feiert unſern Denkern Feſte — Mmeil er niemals
ihre Werke gelefen! Er würde fie verbrennen, wenn er fie gelejen hätte...
Er ihwärmt für unfere Dichter, weil er einige Verſe von ihnen citiren kann
oder dies und jenes Stüd von ihnen gejehen und gelefen, aber fih niemals
in ihre Weltanſchauung hineingedadht hat!“
Noch eine Mebereinftimmung, die letzte zwischen Heraklit und Lafjalle, bildet
der troß des Selbftgefühlse und des Stolzes jo leidenihaftliche Drang nad)
374 Deutiche Rundſchau.
Ruhm und Ehre, nad) der Bewunderung und dem Lobe Anderer. Heraklit hat
das oft citirte Wort geſprochen (Bd. IL, ©. 434): „Die größeren Schidfale
erlangen das größere Loos“. Und er hat gejagt, was das rechte Licht auf diefen
Sak wirft (Bd. II, ©. 436), „daß die Menge und die ſich weile Dünkenden
den Sängern der Völker folgen und die Geſetze um Rath fragen, nicht wiſſend,
daß die Mtenge jchlecht, Wenige nur gut, die Beften aber dem Ruhme nad)-
folgen. Denn“, fügt er hinzu, „es wählen die Beften Eins ftatt Allem, den
immermwährenden Ruhm der Sterblichen“. Ruhm war für Heraklit alfo gerade
jenes größte Loos, welches das größere Schickſal erlangen kann; fein Trachten
nad) Ehre war nicht nur das unmittelbare, welches im Blute liegt, jondern
ein durch Reflerion und Philojophie begründetes. „Der Ruhm“, jagt Lafjalle,
„it in der That das Entgegengejegte von Allem, das Entgegengejeßte gegen die
Kategorie de3 unmittelbaren realen Seins überhaupt und jeiner einzelnen Zwecke.
Er ift Sein der Menichen in ihrem Nichtjein, reine Fortdauer im Untergang
der ſinnlichen Eriftenz ſelbſt, er ift darum erreichte und wirklich gewordene Un:
endlichkeit des Menſchen“, und mit Wärme fügt er hinzu: „Wie dies der Grund
ift, weshalb der Ruhm ſeit je die großen Seelen jo mächtig ergriffen und über
alle Kleinen und beſchränkten Zwecke hinausgehoben hat, wie dies der Grund ift,
weshalb Platen von ihm fingt, daß er erft annahen kann „Hand in Hand mit
dem prüfenden Zodesengel“, jo ift e8 auch der Grund, weshalb Heraklit in ihm
die ethijche Realifirung jeines jpeculativen Princips erblickt“.
Mag diefe Schäßung von Ehre und Ruhm nun aud; noch jo jehr mit
Heraklit's metaphyſiſchem Syſtem übereinftimmen, jo fteht doch feſt, daß es
ein ſtarker logiſcher Widerſpruch iſt, dies Trachten nach Anderer Bewunderung
mit jener tiefen Verachtung des Urtheils der Anderen zu verbinden. Aber was
ſich logiſch nicht vereinigen läßt, das läßt ſich, wie die geringſte Weltkenntniß
lehrt, pſychologiſch ganz trefflich verſöhnen, und deshalb können wir auch
bei Laſſalle einen Stolz, der nie das Spiel verloren giebt, noch ſich beugt, eng
gepaart finden mit einem unwiderſtehlichen Drange, Lob und Complimente zu
ernten und fremde Bewunderungs- oder Beifallsäußerungen einzuſtreichen. Miß—
verſtehe man mich nicht! Nichts iſt natürlicher, Nichts menſchlicher, als ſich
über den Beifall und das Lob der Beiten zu freuen. Wer für dergleichen völlig
gleihgültig wäre, der würde nicht leicht Schriftfteller werden, nicht leicht in
irgend einer Richtung Hervortreten. Ya, man kann weiter gehen und fagen:
für den Schriftfteller und für den Redner ift ein gewiſſes Maß von Aner-
fennung geradezu eine Nothwendigkeit, ift die Bedingung, ohne welche er als
jolher nit Athem holen kann. Er kann ſich jedoch, wenn die Strömung
twider ihn geht, wie es bei Laſſalle der Fall war, mit Privatbemweijen der Aner-
fennung begnügen, und er müßte ſich jehr ungern und faum einmal unter der
ihlimmften Verkennung auf ſolche Privathuldigungen berufen. Allein diefer
Verſuchung konnte Lajjalle nicht widerjtehen, dazu reichte jein Stolz nicht aus;
er beruft ſich am unrechten Orte und ohne wahres Taktgefühl auf Privatanerten-
nungen jeines Strebens. Es ift mehr al3 ein oratorischer Fechtergriff bei ihm, e3
ift eine Sade, die ihm ganz natürlich fällt: Ich meine hier nicht den Umftand,
daß er dann und wann mit aufbraufendem Selbftgefühl ausipricht, was die
Ferdinand Lafjalle vor der Agitation. 375
reine Wahrheit ift und was er all’ den Lügen und Entftellungen gegenüber, die
wider ihn vorgebracht wurden, mit Fug und Recht jagen durfte, daß er fein
Dilettant, jondern ein Mann der Wiſſenſchaft, und ein bedeutender, ein über-
legener Dann der Wiſſenſchaft jei, welcher dauernde Werke, ja ein epodhe-
machendes Hauptwerk gejchaffen habe. ch meine vielmehr feine unjelige Vor—
liebe für den Lärm und Trommelſchall der Ehre, für ihre Pauken und Trom—
peten, die ex jelbft bei geringen Anläſſen forderte oder fich zuſprach. Was joll
man dazu jagen, daß er fi Arbeitern gegenüber rühmt *), in einer literarijchen
Satire einen befannten Journaliſten und Literarhiftorifer angegriffen zu haben
„unter dem rauichenden Beifall der größten Gelehrten und Denker Deutihlands,
die mir dafür mündlich und brieflich die Hand jchüttelten“. Die Herausgabe
des erwähnten wißigen und übermüthigen, aber durchaus formlojen Pamphlets
verivandelt ji für ihn in eine geiftige Großthat. Und wie tief diejer Charak—
terzug bei Laſſalle liegt, fühlt man erſt recht, wenn man denjelben auch dort,
wo er frei dichtet, bei jeinem Lieblingshelden Ulrich von Hutten in dem Drama
„Franz von Sickingen“ hervortreten ſieht. Mit einem Pathos, das tief aus
Laſſalle's Innerſtem kommt, ſchildert Mxich, wie ihm zu Muthe ward, als „die
finftre Glaubenstyrannei” wieder ihr Haupt in Deutichland erhob, als die feit-
geichlofjene Phalanz der Dunkelmänner wider die neu erwachte Wiſſenſchaft auf:
ftand, und Köln, „die deutiche Reſidenz der Priejtertüce”, Reuchlin und feine
Schriften verfegerte. Der Anlauf ift vorzüglich, jelbjt das Lärmende und Pol-
ternde der Diction ift an jeinem Plate, bis wir endlich wieder auf das unjelige
Appellicen an den Applaus ftoßen:
Sch wußte jetzt, wozu ich ward geboren,
Wozu jo hart gehämmert in des Unglüds Efje!
Wie fih in's Meer die Woge tojend jtürzt,
Wie Brandung von dem Ufer widerichlägt,
So ftürzte ich mich flammenfprühnden Auges,
Zitternd vor Leidenschaft, vor Wolluft rafend,
Kopfüber in den ungeheuren Streit.
Des Zornes Art, des Spottes Stachelfeule
Schwang ich zermalmend auf der Gegner Haupt,
Unter Europas lautem Beifallklatſchen
Und feines ſchallenden Gelädhters Wudt
Ihr Jammerdafein auf der Parodie
Schaubühne an den offnen Pranger ſchlagend.
Doch eine Welt von Haß erzeugt’ ich mir,
Die mit mir ringt, der ich entgegen ringe
Auf Tod und Leben, Bruft an Bruft gedrängt!
Nach der hier gegebenen Darftellung wird es vielleicht minder überrajchend
ericheinen, als man auf den erften Blick finden möchte, daß Laſſalle einen jo
großen Theil feiner Jugend auf das Studium eines Geiftes verwandt hat, der
uns an Zeit und Gultur jo fern liegt. Man wird bemerkt haben, daß jener
Denker nit nur in feiner logiſchen Anlage und feiner dialeftiichen Tendenz,
ſondern au in jeiner Ethik mit ihrem Anpreifen des Staates und der Auf-
*) Die Feſte, die Prejie und der Frankfurter Abgeordnetentag.
370 Deutiche Rundſchau.
opferung für das Allgemeine, ja jelbft in jeinen perſönlichen Eigenichaften,
Tugenden ſowohl wie Laftern, ganz auffällig mit dem jungen Betwunderer über:
einftimmte, deifen Eroberung er ein Paar taujend Jahre nad) feinem Tode
machte, kraft deſſelben Geſetzes, welches Sofrates einen Jo leidenichaftlichen Ber:
ehrer in Sören Kierkegaard erihuf*).
’
>
Ach habe ſchon erwähnt, daß der Zeitraum von Laſſalle's Leben, welcher
durch das Studium Heraklit’3 und durch die Proceije der Gräfin Habfeldt in
Anſpruch genommen ward, auch jein erftes politifches Auftreten und deſſen
Folgen umfaßt.
Wenige Monate nah dem Kölner Procefje finden wir Lafjalle wieder auf
der Anklagebank, diesmal zu Düffeldorf, und nach jeinem eigenen Ausdrude „jo
geſpickt mit Griminalverfolgungen, wie der Panzer eines Kriegers mit Pfeilen”.
Die große jocial-politiiche Bewegung des Jahres 1848 Hatte ihn mit Gewalt
einem Privatfampfe entriſſen. Troß jeiner Jugend war er eins der einfluß-
reichiten und thätigften Mitglieder der damals in Deutichland jo zahlreichen
republikaniſchen Partei; troß jeiner Jugend war er ein Führer. Er hielt poli-
tiſche Verfammlungen und ſprach dort, er ließ Placate an den Straßeneden an«
ichlagen, in denen ex zu bewaffnetem Widerftande aufforderte, als die preußiſche
Regierung im November 1848 durch einen Verfaſſungsbruch die Nationalver:
jammlung für aufgelöft erklärte. Verhaßt durch die Hatzfeldt'ſche Affaire, ge:
fürdhtet wegen ſeines entſchloſſenen und unerſchrockenen Auftretens, ward er, jo:
bald die Contrerevolution ſich im Beſitze der Uebermacht fühlte, in's Gefängniß
getvorfen, und durch jede erdenkliche Chifane ließ man die Unterſuchungshaft
und die Vorunterſuchung jich über ein halbes Jahr hinaus erjtreden.
Die Rede, welche Lafjalle jetzt vor feinen Richtern hielt, ift nach meiner
Anſicht eins der beivunderungstwürdigften Zeugnifie von Mannesmuth und
Beredtſamkeit bei einem Yüngling, welche die Weltgeihichte aufweift. Wüßte
man es nicht, jo würde fein Menſch glauben, daß ein junger Mann von drei:
undzwanzig Jahren dieje Rede gehalten. Hier ift Laſſalle ſchön. Hier fteht er
bejeelt und von innen her beleuchtet von dem edeljten, reinften Pathos, das ein
Menjchenherz erfüllen kann, ohne daß man eine einzige Secunde an der Echt—
heit und Tiefe des Gefühls zweifelt. Hier führt er die Klinge des Wortes mit
einer Kraft und Kunft, einer Eleganz und Wucht, die jich überhaupt nicht über:
treffen läßt, und zwar ohne einen Augenblid mit jeiner Gewandtheit zu prunten.
Hier ftebt er zum erſten Mal licht und jchön auf der Höhe feines Wejens.
Diefe Rede hat den ganzen friſchen Farbenſchmelz der erjten Jugend, ohne an
einer einzigen Stelle jugendlich blümerant oder Ihmwülftig zu fein. Orla Leb:
mann's Beredtjamfeit ſcheint, mit diejer verglichen, um ein halbes Jahrhundert
zurück zu liegen. Aber wie joll man eine politiiche Rede jchildern, deren Kennt:
*) Neber diejen geiftvollen Denker findet man Näheres in N. Strodtmann's Buche: Das
geiftige Zeben in Dänemarl, ©. 95 fi.
Die Rebaction der „Deutichen Rundichau“.
Ferdinand Laſſalle vor der Agitation. 377
niß man nit bei Jedem vorausjegen kann, und deren Stärke jo gleihmäßig
über alle Punkte vertheilt ift, daß man fie ganz kennen muß, um fie richtig zu
würdigen? Dean kann und muß einige Gitate herausheben — natürlich, aber
das Gitat giebt nur eine ſchwache Vorftellung von dem bewegten Leben der
Rede, ein Eimer Waſſer ift feine Welle mehr.
Höchſt harakteriftiic beginnt die Rede mit der Erklärung, jie wolle jich
nicht mit der Vertheidigung al3 ſolcher befaſſen, welche der Defenjor geführt
habe, jondern mit der Anklage, — der Anklage, welche der Redner dem gegen
ihn gerichteten Verbrechen entgegen jchleudern wolle, deſſen Corpus delicti der
Anklageact bilde. Nocd) charakteriftiicher beginnt Laſſalle mit den Worten, er
werde jtet3 mit Freuden bekennen, daß ex jeiner inneren Ueberzeugung nach auf
durchaus revolutionärem Standpunkt ftehe, daß er „ein Nevolutionär aus
Prineip“ jei. Doc will ex jeine Verteidigung nicht von diefem Standpuntte
herab führen, da die Regierung denjelben naturgemäß nicht anerfenne. Dan
kann, jagt er, feinen Gegner ernfthaft treffen und verwunden, wenn man auf
weſentlich verjchiedenem Standpunkte mit ihm jteht. Die Waffen erreichen jid)
dann nicht und Jeder ficht in’s Leere. Man kann einen Gegner von diametral
verfhiedenem Standpunkt aus wohl widerlegen, indem man die Unwahrheit
feiner Grundprincipien aufzeigt; aber man fann ihn dann nit beihämen,
ihm keine Inconſequenz, keinen Verrath an den Principien nachweijen, zu denen
er fich jelbft befennt oder jcheinbar doch bekennen muß. „Im Intereſſe des
Angriffs alſo und jeiner jchneidenden Schärfe will ich mich herbeilaffen, auf den
Standpuntt herabzufteigen, auf weldhem jelbjt zu ftehen der Staatsprocurator
als Behörde in einem conftitutionellen Staate mindeſtens äußerlich behaupten
muß, auf den ftreng conftitutionellen Standpunkt, und meine Vertheidigung rein
von diefem Boden zu führen“.
Verweilen wir zunächſt bei dieſem Ausdrude „Revolutionär aus Princip“,
der jo oft bei Lafjalle vorfommt, der, jo häufig von ihm erklärt, dennoch ftets
wieder mißverjtanden worden ift, und der in gewiljer Art den Stern jeiner
ganzen politiichen und jocialen Lebensanſchauung bezeichnet*). So oft man ihn
Revolutionär nennt, antwortet er, daß er die thatſächliche Wahrheit dieſes
Vorwurf3 in der Wahrheit jeines Wejens Hundertmal zugegeben habe, wo immer
auch er ihm gemacht worden jei, dor der Deffentlichkeit, in jeinen Werken,
jeinen Reden, ja zu wiederholteften Malen ſelbſt vor den Gerichten. Es fragt
ih alfo nur, was er darunter verjteht. In feiner „Aſſiſenrede“ macht er nach—
drüclichft geltend, daß die Negierung ſelbſt „die moriche, lahme Krücke des
Rechtsbodens“ verloren habe, und er jagt: „Es ift im Völkerleben der Rechts—
boden ein jchlechter Standpunkt, denn das Geſetz ift nur der Ausdrud und ge-
ihriebene Wille der Gejelihaft, nie ihr Meifter. Hat fich der gejellichaftliche
Wille und das Bedürfniß geändert, jo gehört der alte Codex in das Muſeum
der Geſchichte, an feine Stelle tritt da3 neue Abbild, das neue Konterfei der
) Man vergl. in Betreff dieſes Ausdruds: Affifenrede, ©. 32 und 49. Arbeiterprogramm,
ſ. 7. An die Arbeiter Berlin's, S. 13. Hochverrathsproceß, ©. 12. Die Wiſſenſchaft und
die Arbeiter, S. 41,
378 Deutiche Rundichau.
Gegenwart“. Deshalb ruft er jeinen Richtern an einer anderen Stelle der Rede
zu: „Mögen die rheinifchen Gerichtshöfe fih offen als Revolutiontri-
bunale proclamiren, — und ich bin bereit, fie anzuerkennen und ihnen Rede
zu ftehen. Revolutionär von Princip, weiß ich, welche Art von Berechtigung
eine fiegreihe Macht, wenn fie offen und unvertappt auftritt, beanſpruchen darf.
Aber ich werde nie ohne Widerfpruch dulden können, daß man die janglantefte
Gewalt in der jcheinheiligen Form Rechtens verübe, daß man unter der Aegide
des Gejeßes jelbft das Gejet zum Verbrechen und das Verbrechen zum Geſetz
jtempele”.
Wie jehr indeß diefe Worte auf eine Vorliebe für die Anwendung gewalt-
ſamer Mittel deuten, hat Laſſalle doch jein ganzes Leben hindurch die rein wiſſen—
ihaftlicde Bedeutung des Wortes „Revolution“, wie er dafjelbe anwendet, be:
tont. Seine Reden wimmeln von jpöttiichen Gloſſen über Die, welche das Wort
Revolution nicht lejen oder hören können, ohne „geſchwungene Heugabeln“ vor
ihren Augen zu jehen. „Revolution heißt Umwälzung, und eine Revolution ift
jomit ftet3 dann eingetreten, wenn, gleichviel ob mit oder ohne Gewalt — auf
die Mittel fommt e3 dabei nicht an, — ein ganz neues Princip an die Stelle
des bejtehenden Zuftandes gejet wird. Reform dagegen tritt dann ein, wenn
das Princip des beftehenden Zuftandes beibehalten und nur zu milderen oder
conjequenteren und gerechteren yorderungen entiwidelt wird. Auf die Mittel
fommt e3 wiederum dabei nidht an. Eine Reform kann ſich durch Inſurrection
und Blutvergießen durchjegen, und eine Revolution im tiefften Frieden“. Die
ſchrecklichen Bauernkriege, welche Lafjalle auch immer als eine durchaus nit
revolutionäre Bewegung bezeichnet hat, waren der Verſuch einer durch Waffen—
gewalt zu erziwingenden Reform. Die Erfindung der Baumwollenſpinnmaſchine
von 1775 und überhaupt die friedliche Entwidlung der modernen Induſtrie hat
Laffalle immer al3 eine gigantiſche Revolution charakterifirt. E3 handelt ſich
aljo hier, wie bei jo mander anderen Gelegenheit, zuerft und vor Allem um
das richtige Verſtändniß. Kein denkender Lejer kann daran zweifeln, daß Lafjalle
tief empfunden hat, wa3 er einmal ausruft*): „Wie? Es hat fih Jemand in
einem fauftiichen Trieb mit der zäheften, ernfteften Mühe durchgearbeitet von
der Philojophie der Griechen und dem römischen Rechte durch die verichiedenften
Fächer hiftoriicher Willenjchaft bis zur modernen Nationalöfonomie und Sta:
tiftit, und Sie könnten im Ernſte glauben, er wolle dieſe ganze lange Bildung
damit ſchließen, dem Proletarier eine Brandfadelin die Hand zu
drüden? Wie? bat man jo wenig Kenntnig und Einficht in die fittigende,
civilifirende Macht der Wiſſenſchaft, daß man dies auch nur für möglich halten
kann?“ Da die Möglichkeit, Lafjalle'3 Vorliebe für die Gewaltmittel dadurd
zu erklären, daß er diefe Perjpective vor Augen gehabt habe, jomit ganz aus:
geichloffen ift, müffen wir, um diejelbe recht zu verftehen, tiefer in jeinen Ge—
dankenkreis eindringen, als wir es bis jetzt gethan haben.
Wenn man die Frage an mich richtete: Was war der Grundgedante in
Lafjalle'3 Jdeengang? Um welches Problem drehte ſich jein Geift? jo würde ich
—
*) Die indirecte Steuer, S. 117.
Ferdinand Lafialle vor der Agitation. 379
antworten: Macht und Recht waren die zwei Pole, um welche diefer Stern
freifte. Die Grundthätigfeit feines Geiftes war unzweifelhaft die Erwägung,
wie Reht und Macht fich zu einander verhielten. Das gewöhnlide Mißver—
jtändniß ift das, als habe er überhaupt die Macht an die Stelle des Rechtes
gejeßt. Wie weit dies von der Wahrheit entfernt ift, und was Anlaß zu dem
Mißverſtändniſſe gegeben hat, wird ſich bald zeigen. In feiner einzigen dich—
teriſchen Arbeit, die als dramatijches Kunſtwerk ziemlich werthlos, aber als Aus-
druck des reihen Gedanken und Gefühlslebens ihres Verfaſſers höchſt intereffant
it, hat Laffalle ein Wechſelgeſpräch geichrieben, das bejondere Aufmerkſamkeit
verdient (Franz von Sidingen, ©. 85):
Decolampadius. Glaubt Ihr, das Heilige,
Das Licht der Wahrheit und Vernunft, das uns
Iſt aufgegangen, könnte jemals in
Dem Zeitenlauf der Unvernunft erliegen,
Und würde nicht fich durch fich jelbft verbreiten?
Hutten. Ehrwürd'ger Herr! Schlecht kennt Ihr die Gejchichte.
Ihr habt ganz Recht, es ift Vernunft ihr Inhalt,
Doch ihre Form bleibt ewig — die Gewalt!
Decolampadius. Bedenkt, Herr Ritter! Unfre Liebeslehre
Wollt Ihr durch's Schwert, das blutige, entweih'n?
Hutten. Ehrwürd'ger Herr! Denkt befjer von dem Schwert!
Ein Schwert, geihwungen für die Freiheit, ift
Das fleichgeword’ne Wort, von dem Ihr predigt,
Der Gott, der in die Wirflichfeit geboren.
Das Chriſtenthum, e8 ward durch's Schwert verbreitet,
Durch's Schwert hat Deutichland jener Karl getauft,
Den wir noch heut den Großen jtaunend nennen!
65 ward durch's Schwert das Heidenthum gejtürzt,
Durch's Schwert befreit des Welterlöjers Grab!
Durch's Schwert aus Rom Tarquinius vertrieben,
Durch's Schwert von Hellas Xerres heimgepeiticht,
Und Wiſſenſchaft und Künſte uns geboren.
Durch's Schwert jchlug David, Simjon, Gideon!
So vor- wie jeitdem ward durch's Schwert vollendet
Das Herrliche, das die Geichichte jah,
Und alles Große, was fich jemals wird vollbringen,
Dem Schwert zuleht verdankt es jein Gelingen!
In diefer Replit zeigt fi und zum erften Male der aus voller Bruft
fundgegebene Reſpect Lafjalle'3 vor der Macht und Gewalt, welcher jeinem
Geifte ein jo eigenthümliches und jo modernes Gepräge verleiht. An den ver-
ihiedenften Stellen des Stüdes und im Munde verjchiedenartigfter Perſonen
ftoßen wir auf Aeußerungen, welche diejelbe Freude an der Macht als der Stüße
de3 Recht3 ausdrüden. So erzählt Balthafar (S. 2) von Franz von Sidingen:
Und wie nun jein Verwenden Worms verlachte,
Sich mir zu Rechtens nicht erbieten wollte,
Nahm er jo ein zehntaufend gute Gründe, —
Ich meine Pidelhbauben, Fräulein, — zog
Damit vor Worms, und gab fih Euch jetzt an
Ein Demonftriren und ein Diftinguiven, —
%a, Fräulein, Der verſteht's!
380 Deutiche Rundichau.
Und Alrich von Hutten jagt in feierlicherem Stile (©. 92):
68 ijt die Macht das höchjte Gut des Himmels,
Wenn man fie nüßt für einen großen Zwed;
Ein elend Spielzeug, wenn zum Flitterſtaate
Sie nur die Hand bejchwert, in der fie ruht.
Es kommt nicht jelten vor, daß ein Lieblingswort eines Schriftftellerd oder
ein Lieblingsgleihniß den Charakter jeines Ideals andeutet. Laſſalle's Lieblings»
wort ift das Wort „Eijen“, „ehern“. Lange Jahre zuvor, ehe „Eijen und
Blut“ eine politifhe Lojung ward, hat Laflalle die „ehernen Looſe“ ange-
rufen. Kein Bild ift häufiger bei ihm. Das Eijen erjcheint jeiner VBorftellung
al3 die wohlthuende Macht, als der Hieb, welcher den Weg reinigt, der Schnitt,
welcher den Schaden entfernt, der Kaiferjchnitt, welcher die jchmerzlichen Wehen
der Zeit abkürzt und die jchwierige Geburt des Ideales einer neuen Epodje be-
fördert (©. 62 und 140). Das Eijen preift Franz von Sidingen (S. 207) als
den „Gott des Mannes“, als die „Zauberruthe, die feine Wünjche in Erfüllung
ihlägt“, als „letzten Hort, der in Verzweiflungsnacht ihm ftrahlt“, als „feiner
Freiheit höchſtes Pfand“. Und noch bezeichnender, noch Tafjalleanijcher weift
Franz auf die Gewaltenticheidung hin, als der Herold des Kaiſers im Auftrage
jeine Herrn ihm die Wahl geftellt hat, ſich zu unterwerfen und volles Recht
vom Reichsgerichte zu erwarten, oder in die Reichsacht erklärt zu werden. jedes
Wort it hier bedeutungsvoll (S. 151):
Herold, zieh’ hin und fünde Deinem Herrn:
Vorüber ift die Zeit der Worte jebt,
Und inhaltsſchwer klopft der Enticheidung Stunde
Mit eh'rnem Finger an das Thor der Zeit!
In Zudungen liegt diefes Reich am Boden,
Nicht durch Gefekesflosfeln mehr wird abgethan
Der Streit, der e8 bewegt! — Schau’ dorthin, Herold!
Siehft Du die Donnerbüchen, die Karthaunen fteh'n ?
Aus ihren Mündungen jchöpft dieje Zeit
Ihr ungeftümes Recht — ich führe jelbjt
Das Reichsgericht in meinem Lager mit,
Will eine neue Ordnung machtvoll gründen
Und eines Thuens mich erfrechen, defjen
Kein röm’scher Kaiſer je ich unterfing !
Schon als Yüngling Hatte ex in jeinen erjten Procefjen betont, dat er das
Recht gegenüber der Gewalt vertrete, und, jeltjam genug, häufig mit Ausdrüden,
welde, dort in herabwürdigendem Sinne gebraudt, hier zu Lob und Preis
angewandt werden. So heißt es ſpöttiſch in jeiner „Aſſiſenrede“ (S. 16):
„Warum, da man doch entichlojfen war, das Recht einzig und allein aus
den Kanonenmündungen zu Jjhöpfen, warum löfte man die Bürgerwehr
nicht einfach) ohne Angabe jedes weiteren Grundes auf?" Und mit Ausdrüden,
deren Balthajar ji in dem Stücde bedient, um Bewunderung auszufprechen,
die aber in Laſſalle's Munde der bitterjten Entrüftung das Wort lieben, jagte
er damals (©. 26): „Hatte man fein Recht, jo hatte man Befjeres, ala das.
Man hatte in Berlin den Belagerungszuftand, Wrangel, 60,000 Mann Soldaten
Ferdinand Lafjalle vor der Agitation. 381
und ſo und ſo viel hundert Kanonen. Man hatte in Breslau, Magdeburg,
Köln, Düſſeldorf jo und jo viel Soldaten, jo und jo viel Kanonen. Das find
Gründe, eindringliche, die Jeder begreift!" Mit der Beredtjamkeit der Leiden-
ſchaft hatte Lafjalle in dieſer friſchen und ſtolzen Rede den Standpuntt des
Gejees gegenüber demjenigen der Gewalt betont (S. 25): ©, Gleichwohl Löfte
man die VBerfammlung auf, ja, ftatt eine neue auf Grund deſſelben Wahlgeſetzes
zujammen treten zu laffen, octroyirte man eine Verfaffung, d. 5. man. caffirte
den ganzen öffentlichen Rechtszuftand mit Einem Strid, man mar e3 milde,
den Necht3organismus des Landes langjam zu rädern, indem man ihm ein
Glied nad) dem anderen, Geſetz für Gejeß in Stüde brach. Mit Einem Griff
warf man ihn in die Rumpellammer und jebte offen an jeine Stelle das sic
volo, sie jubeo und die Beredtjamfeit der Bajonette.“ Und in welchem abjon-
derlihen Widerſpruche jcheint es endlich” mit feiner Verherrlichung des Eiſens
und des Schwertes zu jtehen, wenn er damal3 ausrief (S. 48): „Der Säbel ift
zwar der Säbel, aber er ift nie da3 Recht. In Richtern, welche ſich dazu her-
beilaſſen würden, Bürger deshalb, weil fie die Gejege vertheidigen wollten, auf
Grund eben der Geſetze, deren Schuß fie ſich weihten, zu verfolgen; in Richtern,
welde einer Nation den Schuß ihrer Gejege zum Verbrechen anrechnen, werde
ih nicht mehr Richter, jondern — und mit mir vielleicht die Nation — nur
noh Seiden der Gewalt erbliden können. . . ch werde in meinem Kerker
Alles erdulden, wa3 der Säbel, die Formen des Rechts entweihend, iiber mid)
verhängt; ich werde Lieber dulden, daß mein Proceß die nachtheiligite Geftalt
für mic annehme, al3 durch Ertheilung von Antworten und jonftige Bollziehung
irgend einer Procedurförmlichfeit meinerjeit3 eine Rolle in dem Rechtsgaukel—
ſpiel übernehmen, welches der Gewalt aufzuführen beliebt.“
Ale dieje und zahlreiche verwandte Aeußerungen deuten auf ein lebhaftes
Rechtsbewußtſein und einen eben jo lebhaften Haß der brutalen Gewalt ala
Stellvertreterin des Rechts.
Allein in der Seele des früh gereiften und frühzeitig practiſchen jungen
Redners fand fic zugleich ein eben jo lebhaftes Gefühl von der Machtloſigkeit
des ideellen Rechts, wenn dafjelbe nicht von practijchen Geiftern, von kräftigen
Willen geltend gemacht wird, welche die rechten Mittel und Maßregeln zu jeiner
Verwirklichung einzujchlagen verjtehen. Und wie hätte ein junges Genie, deſſen
tiefftes Charaktermerkmal und innerfter Beruf practiſch waren, dies bei der ge—
iheiterten, und jo kläglich gejcheiterten, deutichen Revolution von 1848 nicht
fühlen und erkennen jollen! Wie hätte jene Stirn, in welcher jo viel Thatkraft
ausgeprägt lag, nicht ihr Theil denken jollen, wenn fie da3 Recht jo jammer-
voll unterliegen ſah aus idealiftiicher Scheu vor jeder anderen Waffe al3 der des
Wortes, aus angeerbter Furcht vor der bewaffneten Autorität, aus perjönlicher
Feigheit bei dem Einen, perjönlicher Unjchlüjfigkeit bei dem Andern, aus theo=
retiſchem Gefajel und Hamlet’Ihem Zaudern. Wer in Karl Marx' „Neuer
Rheinifcher Zeitung” vom Jahre 1850 den Aufjab von Friedrich Engel3 über
„Die deutiche Reichsverfaſſungs-Campagne“ geleſen hat, der begreift, daß auf
dies planloje und undisciplinirte Gejchleht eine Generation folgen mußte, die
ftets darauf bedacht wäre, ihren Idealen einen tüchtigen Harniſch und ein Fräftiges
Deutſche Rundſchau. I, 6. 26
382 Deutihe Rundichau.
Schwert zu geben, und der das edle Metall des Rechts nur dann als eine
gangbare Münze erſchiene, wenn e3 durch den Kupferzufa der Macht verſtärkt
wäre. Zuletzt ſchmolz das edle und das unedle Metall faft zuſammen für den
Blick dieſes Geſchlechtes; es jah ein, daß die ehernen Würfel die härteſten und
beiten jeien, und wie Brennus warf es fein Schwert in die Wagichale.
Man lefe in jener Rede die Klage Lafjalle'3 darüber, daß die National:
berfammlung nicht rechtzeitig eine wirkliche Bürgertwehr zum Schuß der Ber:
fafjung ſchuf. Dean leſe feinen blutigen Spott über die Aufforderung der
Nativnalverfammlung zu „paljivem Widerftande“ gegen die Uebergriffe der Re:
gierung (©. 33 ff.): „Der paffive Widerftand, meine Herren, dag müſſen wir
felbft unjerem Feinde zugeben, der paſſive Widerftand der Nativnalverjamm:
lung, er war jedenfall3 ein Verbredden. Bon zwei Sachen Eine! Entweder
die Krone war bei jenen Makregeln in ihrem Rechte — und dann war die
Nationalverfammlung, indem fie ſich dem gejeglichen Rechte der Krone wider—
jeßte und die Ziwietradht in's Land warf, allerdings eine Rotte von Auftwieglern
und Empörern, oder aber jene Maßregeln der Krone waren unrechtmäßige Ge
walt, — dann mußte die Tyreiheit des Volkes activ mit Leib und Leben
geihüßgt werden, dann mußte die Nationalverfammlung das Land Laut zu den
Waffen rufen! Dann war jene jeltfame Erfindung des paſſiven Widerftandes
ein feiger Verrath an dem Volke, an der Pflicht der Verſammlung, die Rechte
des Volkes zu ſchützen . . . Der Einzelne, meine Herren, wenn ihm von einem
Staat, von einer Maſſe Gewalt geichieht, ich, wenn ich von Ahnen verurtheilt
würde, fann mit Ehren pafjiven Widerſtand leiften, ic) kann mich in mein
Recht einwideln und proteftiren, da ich die Macht nicht habe, e8 zur Geltung
zu bringen.... Ein Volk kann unterliegen der Gewalt, wie Polen
unterlag, — aber e3 erlag nicht, ehe das Schlachtfeld das Blut feiner edelften
Söhne getrunfen hatte, bi3 jeine lebte Kraft danieder gemäht war!... Dann,
wenn alle Kraft gebrochen, dann kann ein ſolcher Völkerleichnam fich begnügen
mit dem pafjiven Widerjtand, d. 5. mit dem Rechtöproteft, mit Dulden und
Tragen, mit dem Groll in der Bruft, mit dem tief verjchlofjenen ſtillen Haß,
der mit gefreuzten Armen wartet, bis ein rettender Augenblid die Erlöfung
bringt. Diejer pajfive Widerftand Hinterher, nachdem alle Mittel des activen
Widerftandes gebrochen find, das ift der höchſte Grad des ausharrenden Herois—
mus! Aber der palfive Widerftand von vorne herein, ohne auch nur einen
Schwertjtreich zu wagen, ohne einen einzigen Augenblid an die frijche Kraft zu
appelliven, das ift das Schmählichite, der höchfte Unverftand und die größte
Teigheit, die man je einem Wolfe zugemuthet hat. Der paffive Widerftand,
meine Herren, Das ift der Widerjpruch in fich jelber, e3 ift der duldende Wider:
ftand, der nicht widerftehende Widerftand, der Widerftand, der kein Widerftand
it. Der paſſive Widerftand, Das ift wie Lichtenberg’3 Meſſer ohne Stiel, dem
die Klinge fehlt; Das ift wie der Pelz, den man waſchen foll, ohne ihn nah
zu machen. Der pajjive Widerftand, Das ift der bloße innere Wille ohne
äußere That.... Der paſſive MWiderftand ift das Product von folgenden
Factoren: Die Har erkannte Schuldigkeit, pflichtmäßig widerftehen zu müſſen,
und die perjönliche Tyeigheit, nicht widerftehen zu tollen, dieje beiden Potenzen
Ferdinand Laffalle vor der Agitation.' "383
erzeugten in efelerregender Umarmung in der Naht vom 10. November da3
ſchwindſüchtige Kind, die hektiſche Geburt des pajfiven Widerftandes.“
Kann e8 nun Wunder nehmen, daß Der, weldher ala dreiundziwanzigjähriger
Süngling jo nachdrücklich wider Thatſchwäche und Machtabftumpfung geredet
hatte, zehn Jahre jpäter das Eijen alö den Gott des Mannes preift?
Und das Verhältniß zwiſchen Macht und Recht fährt fort, Laflalle zu be-
ihäftigen. Tiefer und tiefer dringt; er in das Wechſelwirkungsverhältniß
zwiſchen ihnen ein, und ftudirtfimmer gründlicher ihre Bedingtheit durch ein-
ander.
1862 hält ex inmitten der preußiichen Verfaſſungskämpfe zu Berlin einen
Portrag „über Verfaſſungsweſen“. Er ſucht hier (S. 9) die Idee einer Ver—
faffung oder eine Grundgejeßes zu erörtern und feftzuftellen. Dur Analyje
de3 Namens „Grundgejeg“ findet er: 1) Ein ſolches Geſetz muß tiefer Liegen,
al3 eine gewöhnliche Gejetesbeftimmung; dies zeigt der Name Grund; 2) es
muß, dba e3 den Grund der anderen Gejeße bilden joll, in ihnen fortzeugend und
fortwirkend thätig fein; 3) e8 muß eben jo jein, wie es ift; denn in der Vor—
ftellung de8 Grundes liegt der Gedanke einer thätigen Nothwendig-
feit, einer wirkenden Kraft.
Wenn alfo die Berfaffung das Grundgejeß eines Landes bildet, jo wäre fie
„eine thätige Kraft, welche alle anderen Gejete und rechtlichen Einrichtungen
des Landes mit Nothwendigfeit zudem madt, was jie eben find“;
und Laſſalle fragt weiter: Giebt es denn aber wirklich ſolch eine beftimmende
thätige Kraft? „Ei freilich,“ Tautet die Antwort, — „die thatjählidhen
Mahtverhältnifje, die in einer gegebenen Gejellihaft beftehen. Die that-
ſächlichen Machtverhältnifje find die lebendige Kraft, welche alle Gejehe und
tehtlihen Einrichtungen dieſer Gejellichaft jo beftimmt, daß fie im MWefentlichen
gar nicht anders jein können, als fie eben find.”
Um jeine Meinung ganz Elar zu machen, bedient Lafjalle ſich eines erläu-
ternden Beiſpiels. Sehen wir den all, jagt er, daß eine große Teuersbrunft
alles geichriebene Gejeg in Preußen vernichtete, das Land alfo durch diejes Un—
glük um alle feine Geſetze gekommen wäre, jo bliebe ihm gar Nichts übrig, als
fh neue Gefete zu madhen. „Glauben Sie nun,” fährt er fort, „daß man
in diefem all ganz beliebig zu Werke gehen, ganz beliebige neue Gejege machen
könnte, wie Einem da3 eben convenixt? Wir wollen jehen. — Ich ſetze alſo
den Fall, Sie fagten: Die Geſetze find untergegangen, wir machen jeßt neue
Gejete, und wir wollen hiebei dem Königthum nicht mehr diejenige Stellung
gönnen, die e8 bisher einnahm, oder jogar: wir wollen ihm gar feine Stellung
mehr gönnen. Da würde der König einfach Jagen: Die Gejehe mögen unter-
gegangen fein; aber thatſächlich gehorht mir die Armee und marſchirt auf
meinen Befehl, thatſäch lich geben auf meine Ordre die Gommandanten der Zeug
häufer und Kafernen die Kanonen heraus und die Artillerie rückt damit in bie
Straße, und auf diefe thatjächliche Macht geftübt leide ich nicht, daß ihr mir
eine andere Stellung madt, ala ich will.” Und Lafjalle ſchließt: „Sie jehen,
meine Herren, ein König, dem da3 Heer gehorht und die Kanonen, — das ift
ein Stüd Verfaſſung!“ — Dann folgt mit ähnlicher Motivirung: „Ein Abel,
26 *
384 Deutſche Rundicau.
der Einfluß bei Hof und König hat, — das ift ein Stüd Verfaſſung!“ — Oder
geiegt, König und Adel einigten ſich unter fi), die mittelalterliche Zunftver—
faffung wieder einführen zu wollen, jo daß 3. B. der Hattundruder keine Färber
beihäftigen und fein Meifter in irgend einem Gewerbszweige mehr als eine
beftimmte Anzahl von Arbeitern halten dürfte, daß mit anderen Worten die
große Production unmöglid würde. Was dann? In ſolchem Fall würden die
großen Fabrikanten, die Herren Borfig, Egells ꝛc. ihre Fabriken jchließen, jo:
gar die Eifenbahn-Directionen würden ihre Arbeiter entlaffen, und dieje ganze
Volksmaſſe würde, nah Brot und Arbeit rufend, durch die Straßen wogen,
angefeuert durch die große Bourgeoifie, und e3 würde ein Kampf entjtehen, in
welchem feinesweges der Sieg dem Heere verbleiben könnte. „Sie jehen alfo,
meine Herren, die Herren Borfig und Egells, die großen Anduftriellen über-
haupt, — die find ein Stück Verfaffung.“ Wermöge des Bedürfnifjfes der Re
gierung nad) großen Geldmitteln find die großen Banquiers, die Börje über-
haupt, gleichfalls ein Stüd Verfaſſung. Geſetzt wiederum den Tall, die Regie:
rung wollte 3. B. ein Strafgejeß erlaſſen, welches, wie es deren in China giebt,
wenn Einer einen Diebjtahl begeht, feinen Vater dafür beftraft, — jo entdedt
man, daß in gewifjen Grenzen auch das allgemeine Bewußtfein, die all:
gemeine Bildung ein Stück Verfaſſung iſt. Oder endlich, geſetzt den Wall, die
Regierung wollte dem Kleinbürger und Arbeiter nicht nur jeine politiſche, ſon—
dern auch jeine perjönliche Freiheit entziehen, ihn für leibeigen oder hörig er:
klären, — jo entdedt man, daß in gewifjen alleräußerften Fällen der ge
meine Mann, auch ohne die großen nduftriellen Hinter ſich zu Haben, ein
Stück Verfaſſung ift. |
Haben wir ſolchermaßen gejehen, wa3 die Verfaſſung eines Landes ift, näm—
lich die thatſächlichen Mactverhältniffe, und fragen wir nun, wie e8 fid
denn mit der rechtlichen Berfaffung verhalte, jo jehen wir jet jofort, wie
diejelbe entfteht: „Dieje thatſächlichen Machtverhältnifje jchreibt man auf ein
Blatt Papier nieder, giebt ihnen jchriftlihen Ausdrud, und wenn fie mın
niedergejhhrieben worden find, jo find fie nicht nur thatſächliche Macht—
verhältniffe mehr, jondern ſie find jet auch zum Recht geworden, zu recht—
lihen Einrichtungen, und wer dagegen angeht, wird beftraft.” — Die Dar:
ftellung jchließt mit dem Nachweiſe, wie eine Veränderung in den wirklichen
Macdtverhältniffen (in der Adelsmacht, — im Anwachſen und Aufblühen der
Städte, in dem Verhältniſſe zwiichen der Einwohnerzahl der Hauptftadt umd
der Größe des Heeres) ſtets von einer entjprechenden Aenderung in der Ber:
faſſung begleitet ift. Findet ein allzu großes Mißverhältniß zwiſchen der ge:
ichriebenen und der reellen Berfaffung ftatt, und wird dies Mißverhältniß
drüdend, jo tritt wirklich jene Feuersbrunſt ein, welche als Exempel fingirt
wurde, 3. DB. in Geftalt der Märzrevolution 1848; und — hier fommt Laſſalle
auf jeine alte Klage in der Affifenrede von 1849 zurück — da geſchah es, daß
da3 fiegreiche Volk, ftatt eine Fräftige Bürgeriwehr aus Kleinbürgern und Pro:
letariern zu jchaffen und ſolchergeſtalt die wirkliche Verfaſſung zu ändern,
thörichterweife eine neue und machtloſe zu ſchrei ben begann, welche daher nidht
den mindeften Werth hatte. „Wenn Sie, meine Herren, in Ihrem Garten einen
Ferdinand Lafjalle vor der Agitation. 385
Apfelbaum haben, und hängen nun an denjelben einen Zettel, auf den Sie
ſchreiben: Dies ift ein Feigenbaum, ift denn dadurch der Baum zum Tyeigen-
baum geworden? Nein, und wenn Sie Ihr ganze Hausgefinde, ja alle Ein:
wohner de Landes herum verjammelten und laut und feierlich beſchwören
ließen: Dies ift ein eigenbaum — der Baum bleibt, was er war, und im
nächſten Jahre da wird ſich's zeigen, da wird er Wepfel tragen und feine
Feigen.“
„Verfaſſungsfragen“, ſchließt Laſſalle, „find alſo urſprünglich nicht Recht s—
fragen, ſondern Machtfragen; die wirkliche Verfafſung eines Landes exiſtirt
nur in den reellen thatſächlichen Machtverhältnifjen, die in einem Lande be=
ftehen; gejchriebene Verfaffungen find nur dann von Werth und Dauer, wenn
fie der genaue Ausdrud der wirklichen, in der Gejellichaft beftehenden Macht—
verhältnifje find.“
Sollte man’3 glauben! dieje Entwidlung wurde gleich von den Blättern
der liberalen Partei als eine Theorie, wonach Macht vor Recht gehen jolle,
haracterifirt; ja, Graf Schwerin erklärte mit Rückſicht hierauf unter dem Jubel
der Kammer, daß im preußiichen Staate Neht vor Macht gehe. Ein
Blatt nah dem andern verweigerte Lafjalle die Aufnahme eines furzen, ganz
fahlich gehaltenen Artikels „Macht und Recht“, in welchem er das Mißverſtänd—
niß aufflärt, und er jah ſich genöthigt, denjelben ala Flugſchrift zu veröffent-
lichen. Er jagt hier treffend und nahdrudsvoll: „Wenn ich die Welt gejchaffen
hätte, jo ift es höchſt wahrſcheinlich, daß ich fie ausnahmsweiſe in diefer Hin-
ft nach den Wünjchen der „Volkszeitung“ und des Grafen Schwerin und
alſo jo eingerichtet hätte, daß Recht vor Macht geht. Denn e3 entjpricht
died ganz meinem eigenen ethiſchen Standpunkt und meinen Wünſchen.
Leider aber bin ich nicht in der Lage geweſen, die Welt zu jchaffen, und muß
jede Verantwortlichkeit, jo Lob wie Tadel, für ihre wirkliche Einrichtung ab-
lehnen.“ Er erklärt dann, daß er nicht Habe entwideln wollen, was fein jollte,
jondern was wirklich ift, daß nicht eine ethifche Abhandlung, fondern
eine hiſto riſche Unterſuchung feine Abſicht geweſen fei. Und fo zeigt ſich's,
daß, während ganz gewiß Recht vor Macht gehen jollte, in der Wirk—
lichkeit do immer Macht vor Recht geht, bis das Recht num auch jeinerjeits
eine hinreichende Macht hinter ich gefammelt hat, um die Macht des Unrechts
zu zerjchmettern. Er entwidelt, wie die preußiſche Verfaſſungsgeſchichte ſeit
1848 aus einer Reihe von Rehtsbrüchen beftehe, und jagt: „Was bedeutet aljo
der Fromme Jubel, mit welchem die Kammer die Erklärung de3 Grafen don
Schwerin aufnahm, daß im preußifchen Staate „Recht vor Macht” gehe?
Fromme Kinderwünſche und weiter Nichts! Denn eine feierlichere Bedeutung
würde er nur bei Männern haben, die entjchloffen wären, auch die Macht Hinter
das Recht zu ſetzen. Es Hat kein Menjch im preußiichen Staate das Recht,
vom „Recht“ zu ſprechen, ala die Demokratie, die alte und wahre Demokratie.
Denn fie allein ift es, die ftet3 am Recht feftgehalten und fich zu feinem Com—
promiß mit der Macht erniedrigt hat.“ —
Die Frage nach dem Verhältniß zwiſchen Macht und Recht war aljo bei
Laſſalle eine Frage nad) dem Thatſächlichen, nach der Wirklichkeit. Was er
386 Deutiche Rundſchau.
hierüber bemerkt hat, ift treffend wahr und wird von Niemand erjchüttert wer-
den. In welchen Fällen das Recht Macht hat, und in welden Fällen nidt,
warn die Macht zum Recht und warın fie zum Unrecht wird, hat er verftanden
und begriffen, wie fein Anderer.
Und nicht nur in Betreff des Thatjählichen, ſondern noch tiefer in Betreff
des Rechtlichen hat er das Wechjelverhältnig zwiſchen der Macht des alten
Rechts, welche die Konfervativen vertheidigen, und dem Rechte der neuen Geiftes-
macht, welches die radicalen Parteien geltend machen, unterſucht und begriffen.
Das alte Recht ift das erworbene Recht. Die neue Macht ift das neue Rechts—
betwußtjein. Wie verhält fich das neue Rechtsbewußtſein zum erworbenen Redhte?
Das neue Rechtsbewußtſein will Rechte ertheilen und Rechte entziehen, aber
tie weit darf es in diefer Hinficht gehen? Welche Rechte find wohlerworben,
unantaftbar erworben? Sind alle alten Rechte das, jo find wir bei der Stag-
nation angelangt, jo tödtet die Vergangenheit da3 Leben der Gegenwart. Kann
umgefehrt Niemand auf ein feft erworbenes Recht bauen, jo ſchlägt die Gegen-
wart die Vergangenheit todt. Hier ftehen wir aljo vor dem Begriff des „er
worbenen Rechtes“, von welchem Lafjalle’3 großes Hauptwerk handelt.
(Der Schluß des Artikels folgt.)
Meine Antwort an Hern Darwin.
ww *
Von
Profeſſor Mar Müller in Orford.*)
Während des verfloffenen Jahres war meine ganze Mußezeit jo jehr durch
die Beendigung meiner Ausgabe des Rig-Veda mit jeinem alten Sanskrit—
Kommentar in Anſpruch genommen, daß ich nothgedrungen meine Augen faft
gegen Alles, was in der willenjchaftlichen Welt vorging, verſchließen mußte.
Fünf und zwanzig Jahre hatte ich an diefem Werke gearbeitet, und die Stim—
men der Ungeduld unter meinen Studiengenofjfen wurden in den lebten Jahren
jo laut, daß ich mich entſchloß, vor allen andern Arbeiten, dieje meine Lebens
aufgabe zum Abſchluß zu bringen. Wenn ich bier erwähne, daß ich, troß
mancher Unterbredjungen, die das Leben eines Jeden mit ſich bringt, während
diejer fünf und zwanzig Jahre jedes Jahr von diefer Editio princeps des
älteften Werkes der Sanskrit-Literatur, gegen 35 Bogen drudfertig gemacht
habe, jo werden es meine Freunde und Collegen wol begreifen, daß ich mid)
namentlich in der jüngften Vergangenheit von andern wiſſenſchaftlichen Verhand—
lungen, jo jehr fie mic intereifirten, entfernt halten mußte. Jetzt erſt fange
ich an, wieder freier zu athmen, und genieße meine Muße, indem ich eines nad)
dem andern von den Büchern zur Hand nehme, die ich bisher nothgedrungen
bei Seite legen mußte. Vieles ift mix während meiner wifjenichaftlichen Faſten—
zeit namentlich von der journaliftiichen Koft in den lebten Jahren verloren
gegangen, und jo traf e3 ſich, daß ich nie gehört, daß meine Kritik der Darwin-
ihen Spradphilofophie, wie ich jie im Jahre 1873 in meinen Vorlefungen an
der Royal Institution in kurzer Ueberſicht vorgetragen, eine Antikritif von com—
petentefter Seite hervorgerufen hatte. Als ich eben im Begriff war, dieje Vor-
lefungen Leber die Sprade, al3 die wahre Grenze zwiſchen Thier
und Menſch, vollſtändig auszuarbeiten, erfuhr ic von einem Freunde, daf
eine Entgegnung von Darwin erihienen jei, vom Sohne geſchrieben, aber vom
*) Dieſer Aufſatz, der in der Januar-Nummer der „Contemporary Review“ in England
erſchienen, iſt hier vom Verfaſſer für das deutſche Publicum überſetzt und umgearbeitet.
388 Deutiche Rundſchau.
Vater injpirirt, und daß ich diejelbe unmöglich unbeadhtet laſſen könne, Es
war wol zu entjchuldigen, daß mir diefelbe entgangen war, denn wie hätte id
unter dem Zitel: „Professor Whitney on the Origin of Language: by G.
H. Darwin“, die Antwort auf meine Vorlefungen über Darwin's Sprachphilo—
jophie errathen Können? Am liebften hätte ich allerdings meine Rückantwort
bis zur Veröffentlihung meiner VBorlefungen aufgejhoben; da aber eine Erwibde-
rung erwartet wird, — nun gut, hier ift fie.
Die nächſte Veranlafjung zu der Darwin'ſchen Schrift ſcheint ein Aufiak
in der legten Nummer der „Quarterly Review“ gewejen zu jein. An diejem
Aufſatz bin ich jo unfchuldig, ‚daß ich jelbft von feiner Eriftenz nichts wußte,
bis ic) Darwin’3 Entgegnung in der Contemporary Review vom leßten No-
vember zu Geficht befam. In dem Aufjaß der Quarterly Review heißt es
nun unter Anderm:
„Wenige Erſcheinungen auf dem Gebiete der Wiſſenſchaft find in jüngjter
Zeit überrafchender gewejen, ala die Unwiſſenheit, welche die hervorragendften
Vertheidiger der moniftiihen Hypotheje in Bezug auf die einfachſten, aber wich—
tigiten Principien der Sprachwiſſenſchaft bewiejen haben. Herr Darwin 3. 2.
zeigt auch nicht die geringite Spur davon, daß er fie nur begriffen hat.“
Wenn Herr Darwin meine Vorlefungen, oder irgend Etwas, was ich ge
Ichrieben, gelefen hat, jo konnte ex leicht willen, daß dies nicht der Ton ift, in
welchem ich jchreibe, am wenigften, wo ich von Männern jpreche, die fich jo
ausgezeichnetes Verdienft in der Wiljenjchaft erworben haben, ala der berühmte
Reijende und Naturforfher. Im Gegentheil, mir waren die wenigen Seiten,
welde Herr Darwin der Betradhtung des Problems der Sprache gewidmet
bat, vom größten Intereſſe, da fie deutlich zeigten, zu welchen Schlüffen in Bezug
auf das Weſen und den Urſprung der Sprache die philoſophiſche Schule,
welche er jo ruhmreich vertritt, nothwendig hingetrieben wird. Ueberſetzt man
aber, wa3 oben gejagt ift, in angemefjenere Worte, jo glaube ich nicht, daß «3
irgendiwie anftößig fein würde, zu jagen, daß Herr Darwin die Rejultate der
Sprachwiſſenſchaft nur aus zweiter Hand kennt, und daß die Anfichten, die er
über Sprachliches vorträgt, jo interefjant fie find, weil fie eben von ihm kom—
men, dennoch in feiner Weije eine unabhängige Autorität beanſpruchen können.
63 iſt ein großer Uebelftand, daß Männer, welche fi) das Recht erworben
haben, über einen oder den andern Gegenftand mit Autorität ihr Urtheil ab:
zugeben, oft im Gange ihrer Unterſuchungen auch über Dinge abſprechen müſſen,
mit denen fie nur wenig vertraut find. So wenig fie es jelbft beabfichtigen,
jo iſt e8 doch gar nicht zu vermeiden, daß dergleichen Urtheile von andern
Leuten, namentlich von ſolchen, die ein Intereſſe dabei Haben, mit einer Autorität
befleidet werden, auf welche fie nicht den geringften Anſpruch haben. Es ift ein
Uebelftand, der nicht zu vermeiden ift; aber deshalb follte auch weder der Papft,
wenn er ein Urtheil über aftronomijche Fragen abgegeben, noch jelbft der große
Reichsfanzler, wenn er über ein Kunſtwerk den Stab gebrochen, ſich wundern,
wenn die andern Sterblichen nicht nur das Urtheil, ſondern auch die Gründe
dafür zu wiſſen verlangen. Kein Philolog, der fi in feinen Mußeftunden mit
Orchideen beihäftigt und zu Anfichten über ihre Befruchtung gelangt, die von
Meine Antwort an Herrn Darwin. 389
den Darwin’schen abweichen, würde fich beklagen, wenn man ihm jagte, daß
feine Anfichten zwar Talent, aber durchaus nicht die Sicherheit und vollkom—
mene Beherrſchung des Gegenftandes bethätigen, welche nur der erwirbt, welcher
jem ganzes Leben diejen Studien widmet. Läge e3 dem Philologen nur an
einem zeitweiligen Triumph vor den Augen der Welt, jo wäre gewiß nichts
leiter für ihn, al3 unter den vielen Gegnern Darwin’s einen zu finden, der
mit ihm übereinftimmte, diejen ald einen Mann von Bedeutung hinzuftellen,
um dann mit Befriedigung darauf hinzuweiſen, wie er, ein bloßer Laie in der
Botanik, durch bedeutende Gelehrte vom Fach in feinen Anfichten unterftüßt
werde. Aber wozu nüben ſolche Künſte? Wird die wahre Willenichaft dadurd)
um einen Schritt vorwärts gebraht? Was beweiſt e3 3. B. für die Wahrheit
der Darwin’schen Anfichten über den Urjprung der Sprade, wenn der Sohn
mit folgenden Worten einen fremden Schild feinem Vater vorhält: „Herr Pro-
feffor Whitney,“ jagt er, „iſt der erfte Philolog von Bedeutung, der es ſich
ausgejprochener Weile zur Aufgabe gemacht hat, gegen die Anjihten Mar
Miüller’3 zu kämpfen; und da die Anfichten des leßteren mit vollem Recht die
mweitefte Anerkennung in England gefunden haben, jo glauben wir englifchen
Lefern einen guten Dienft zu erweiſen, wenn wir ihre Aufmerkjamfeit auf diejen
kräftigen Angriff, und, wie wir meinen, erfolgreiche Widerlegung der etwas
dogmatischen Anfichten unſeres Orxforder Linguiften lenken.“
Zunächſt, was kann einen umrichtigern Eindrud hervorrufen, al3 zu behaup-
ten, Herr Profeſſor Whitney jei der erjte Philolog von Bedeutung, der meine
Anfihten über den Urjprung der Spradhe bekämpft habe? Im Lager der
Sprachphiloſophen fieht es jo wenig friedlich) aus, al3 im Lager der Naturphilo-
jophen. Mit Profejjor Pott anfangend, könnte ich eine lange Reihe der berühm-
teften Philologen in Deutſchland, Frankreich, Ytalien, und ich dächte doch auch
in England anführen, die meine ſprachwiſſenſchaftlichen Anfichten weit gründ-
licher geprüft haben, al3 der Herr Profeffor Whitney in Amerika. Wäre e8 nun
aber auch wirklich; die Wahrheit, wäre Herr Profefjor Whitney wirklich der
einzige Philolog von Bedeutung, -der meine Anfichten über jprachliche Probleme
befämpft und die Anfichten de3 Herrn Darivin vertheidigt hätte, wie würde
das im Entfernteften die Haltbarkeit der Darwin'ſchen Anfichten beweijen? Wie
leicht könnte ich daffelbe Spiel jpielen, und mich 3. B. auf die Autorität des
berühmten DBerfafler der „Principes de la Nature“, des Herausgebers der
Critique Philosophique, M. Renouvier, berufen, der meine Kritif der ganzen
Darwin’ichen Philojophie nicht als eine bloße Polemik darftellt, jondern ihr
den vollftändigen Charakter eines „redressement“ zuerfennt. Würde Herr Darwin
fi dadurch beunruhigt fühlen? Würde er fi) vor bloßer Autorität beugen?
Ich muß nun geftehen, daß ich die VBorlefungen des Heren Profeſſor Whitney
über Sprachwiſſenſchaft, die im Jahre 1867 in Amerika erichienen, obgleich ich
viel von ihnen in den Zeitungen gehört, nie gelejen hatte, und ich bin Heren
Darwin zu bejonderm Dante verpflichtet, daß er mich gezivungen hat, e3 jeßt
zu thun. Ich habe felten ein Bud, mit größerer Spannung, ja id) kann wol
jagen, mit größerm Vergnügen gelefen. Es war mir bei der Lectüre zu Muthe,
als erginge ic mic) in alten heimathlichen Wegen, al3 hörte ich Melodien, die
390 Deutiche Rundſchau.
mir von Alterd her befannt waren, ohne daß ich mir jagen fonnte, wo id) fie
ihon einmal gehört; bis endlich hie und da die ipsissima verba meiner eigenen
Vorleſungen mi aufrüttelten, meine Aufmerkſamkeit feffelten, aber dann twieder
Alles, wie das Thema in einer umgekehrten Fuge, plötzlich in das Gegentheil
umſchlug. Diejelben Werke und Abhandlungen, die ich durchgearbeitet, waren
jorgjam benutzt; faſt auf jeder Seite traten mir diejelben Zweifel und Schwie-
rigfeiten entgegen, die mir don der Ausarbeitung meiner eigenen Vorleſungen
ber noch in der Erinnerung waren. Die Einkleidung, die Reihenfolge der deen,
die Einwürfe, die Erwiderungen, Alles Hang wie ein Märchen aus alten Zeiten.
Ich will damit Herren Profeffor Whitney nicht etwa einen Vorwurf maden.
im Gegentheil, ic bin ihm dankbar, daß er mir nad Jahren diejen Spiegel
vorgehalten, worin ich meine eigenen Schwächen und Fehler beffer ala je vorher
erkannt. Auch glaube man nicht, daß jeine Vorlefungen nicht ihren eigenen
und jehr eigenthümlichen Charakter haben. Sie waren für große Verſamm—
lungen in Walhington und andern Städten Amerika's berechnet. Sie jollten
populär jein, und es wäre äußerft ungeredht, von einem Schriftfteller etwas
Anderes zu verlangen als eben das, was er jelbft geben will. Die Behandlung
des Gegenjtandes ift natürlich weder wiſſenſchaftlich methodiſch noch erichöpfend,
aber fie veriweilt defto länger bei den Tragen, die für ein großes Publicum
von wahrem Intereſſe find, und wenn fie zuweilen nach unjerem Geſchmack
zu ausführlich werden, wenn fie, wie man etwas najeweis gejagt, zu viel Wat:
tirung enthalten, jo bedenfe man eben, zu welchem Zweck fie geichrieben waren.
Auh in Bezug auf die erwähnten Reminiscenzen aus meinen VBorlejungen
hat Herr Profefjor Whitney volllommen Recht, wenn er jagt, daß die haupt-
ſächlichſten Facta, auf denen jeine Anfichten begründet find, jchon lange zu
den Gemeinpläßen der vergleichenden Philologie gehörten und feineswegs ein
perjönliches Anerkenntniß verlangten; ja, es verdiente alle Anerkennung, daß er
in jehr ehrenwerther Weije eine Ausnahme zu meinen Gunften macht und zu:
gibt, „einige Jluftrationen” aus meinen Vorleſungen entlehnt zu haben.
Was nun meine eigenen Anſichten über Sprachwiſſenſchaft betrifft, jo freue
ih mid), auch hier conftatiren zu können, daß er bei allen wahrhaft wejentlichen
Punkten viel häufiger meine Anficht billigt, ja fie durch neue Beweiſe und
Erläuterungen unterftüßt, ald daß er fie angreift oder gar widerlegt. Wo er
eine Widerlegung anftrebt, geichieht es meift jo, daß, wo ich das Tür umd
Wider unparteiiſch darzuftellen ftrebte, er mit fühnem Muthe jein Schwert in
die eine Schale wirft, und denen, die an der Schtwere dieſes Galliſchen Gewichtes
zweifeln, gar harte Worte entgegen ruft. In Bezug auf ſolche harte, ja, man
kann wol jagen beleidigende Worte ift man in Amerika jehr nachfichtig,
und e3 ift für den Sprachforſcher intereffant und belehrend zu beobachten, wie
Ausdrüde, die in England entjchieden ala offenſive gelten, in Amerika durch häu-
figen Gebraud) abgejchliffen find und Zulaß in den achtbarſten Zeitjchriften finden. Es
ift dies ein jehr interefjanter Beweis für die jogenannte „dialektiiche Entwickelung“
und verdient jedenfalls die Aufmerkſamkeit der Sprachforfcher in hohen Maße.
Nehmen wir zum Beweis des im Vorigen Gejagten die Behandlung, melde
die in jüngfter Zeit jo oft beiprochene Frage, ob man der Sprache „natürliche
Meine Antwort an Herrn Darwin. 391
Entwidelung“ oder „hiſtoriſchen Wechſel“ zujchreiben dire, in meinen und in
Herrn Profeffor Whitney’3 Borlefungen erfahren hat. Nach den einleitenden
Gedanken der erften Vorlefung, die im Weſentlichen mit denen meiner erften
Vorleſung parallel laufen, widmet er jeine zweite Vorlejung, ebenjo wie ich,
der Trage, ob die Sprachwiſſenſchaft zu den Hiftoriichen oder zu den Natur-
wilfenichaften gehöre. Die Gründe für und wider find, wenn ich mich nicht
jehr täufche, genau diejelben, die ich in meiner zweiten Vorleſung vorgebradht.
Nachdem ich aber Alles angeführt, was man etwa geltend machen kann, um
den Namen „Gejchichte” auf die allmälige Entwidelung der Sprache auszudehnen,
jo verfuchte ich darzuthun, daß die Anwendung diejes Namens denn doch nicht
ganz präcis jein würde. „Die Art und Weije,“ hatte ich gefagt, „wie die Sprache
ſich jeht und wieder zerjeßt, vereinigt die zwei entgegengejeßten Factoren der
Nothwendigkeit und der Freiheit. Obgleich es den Anjchein Hat, als fei ber
Einzelne der Hauptfactor in der Hervorbringung neuer Worte und neuer gram—
matifcher Formen, jo iſt er es doch nur, indem jeine einzelne Thätigkeit in der
vereinten Thätigkeit der Familie, des Stammes, des Volkes aufgeht. Für fi
ſelbſt allein vermag er nichts, und obgleich natürlich der erfte Anftoß zu jeder
neuen Geftaltung in der Sprade von dem Einzelnen gegeben werden muß, jo
geichieht doch auch jelbft dies meift ohne Vorbedadht, ja man fünnte jagen, in
unbewußter Weile. Der Einzelne, al3 jolcher, ift machtlos, und ſelbſt die Wir-
fungen, die er anjcheinend fich jelbft zuſchreiben könnte, hängen von Geſetzen ab,
die mächtiger find als er, und von der Mitwirkung Derer, die zujammen eine
Glafie, einen Körper, ein organiſches Ganzes bilden.“
Nachdem ich Alles, was man für die eine und die andere Anficht geltend
maden kann, jo vollftändig als möglich in Betracht gezogen, ſchloß ich mit
folgenden Worten ab:
„Dan kann gar nicht ſorgſam genug im Gebrauch der Worte jein. Genau
genommen paßt weder „Geſchichte“ noch „Entwidelung“ auf die wechſelnden
Beränderungen in der Oberfläche der Erde, wie fie die Geologie nachweift und
erklärt. Geſchichte gilt zunähft nur von den Handlungen freier Individuen,
Entwidelung von dem natürlichen Entfalten organiſcher Weſen. Wir miljen
jedod in der Geologie, was wir jagen wollen, wenn wir von der Gejchichte
der Erdoberfläche ſprechen; und e3 ift in einer ſolchen Bedeutung, aber durchaus
nicht al3 wenn wir von der Entwidelung und dem Wadhsthum eine? Baumes
ſprechen, daß man diefe Ausdrücke füglich auch auf die Sprache ausdehnen kann.“
Was finden wir nun in Herrn Profeffor Whitney’3 zweiter Borlefung ?
Er erklärt fi) in limine dagegen, das Wachsthum der Sprade mit dem
Wachsthum eines Baumes zu vergleichen, „es jei denn, daß wir uns diejer Me—
tapher der Kürze und der Lebendigkeit des Ausdrucks wegen bedienen.“ (p. 35.)
Was hatte ich gejagt ?
„Seit den Tagen de3 alten Horaz hat man ſich daran gewöhnt, die Ver—
änderungen der Spradhe mit dem Wachsthum eines Baumes zu vergleichen.
Aber Vergleiche find verrätheriiche Dinge, und obwol wir nicht umhin können,
bier und da uns in Metaphern auszudrücken, jo jollten wir doch dabei ſtets jehr
auf unferer Hut fein, ꝛc.“
392 Deutiche Rundſchau.
Sp weit gehn wir zufammen in boldjeliger Eintracht. Plötzlich aber erhebt
fi ein Gewitter. Man muß doch dem amerikaniſchen Publicum zeigen, daß
man auch jeine eigenen Anfichten haben fann. Was thut man aljo? Man
reißt einen Faden aus dem jorgjamen Gewebe heraus, und wo ich nachzuimeijen
fuche, in welchem Sinne e3 falſch wäre, dem Einzelnen einen directen Einfluß
auf die Sprache zuzumefjen, dreht man den Spieß gegen mid) und ruft trium—
phirend aus, daß ich offenbar den Einfluß, den der Einzelne auf die Entwicke—
fung der Sprache ausübt, entweder verfannt oder verleugnet hätte. Ich Hatte
im Verlaufe der Discuffion Folgendes gejagt:
„Es ift nit in der Macht des Menfchen, eine Veränderung in der Sprade
zu bewirken oder zu verhindern. Man könnte eben jo gut verjuchen, die Gejeße,
welche den Kreislauf unjeres Blutes beftimmen, abzuändern, oder unjerer Größe
einen Zoll zuzujeßen, als die Gejege der Sprache zu ändern, oder neue Worte
nah unjerm Belieben zu erfinden.“
Der Nahdrud lag, wie Jeder fieht, auf nah unjerm Belieben, umd
um dies noch klarer zu machen, berief ih mich auf die befannten Anekdoten
vom Kaijer Tiberius und vom Kaiſer Sigismund, erwähnte aber zu gleicher
Zeit auch, die puriftiichen Beitrebungen des Protagoras und anderer Sprad)-
verbejlerer als ebenjo lächerlih. Hier bricht der Zorn des amerifanijchen Re-
publifanerd au. Er erklärt mir zunächſt, daß, was ich wirklich jagen wollte,
eigentlich Folgendes jet:
„Wenn eine jo hohe und mächtige Perjünlichkeit als ein Kaiſer nicht eine
jo kleine Sache durchſetzen konnte, als das Geſchlecht oder die Endung eines
einzigen Wortes zu verändern, um wie viel weniger können gewöhnliche Sterb-
liche eine ſolche Aenderung herbeizuführen hoffen!“
Dann ruft er aus:
„Die gründliche Lächerlichkeit, eine ſolche Anfiht von einem ſolchen Paar
von Vorfällen herzuleiten, ja von taufend ſolchen Vorfällen, ift wirklich zu
bandgreiflid, ala daß es fich der Mühe verlohnte, fie nachzuweiſen .... Hoher
politifher Rang gibt wahrlich nicht das Recht, Sprache zu ſchaffen oder zu
vernichten.“
jeder Lejer, wenn er auch nur diefe aus dem Zujammenhang herausgeril-
fenen Säße gejehen hat, wird bemerft haben, wie hier die ganze Richtung meiner
Schlußfolgerung, ich will nicht jagen abfihtlih, aber denn doc in jehr auf:
fallender Weiſe überjehen ift. Ich legte den Nahdrud auf „nah unjerm
Belieben“ und führte alfo zunächft ſolche Fälle auf, two Perfonen, die in
andern Dingen da3 Recht haben zu jagen: car tel est mon plaisir, in Bezug
auf Sprache jo machtlos find, wie die Bettler auf der Straße. Die Erzählun-
gen vom Tiberius und Sigismund haben außerdem noch ein eigenthümliches
Intereſſe für den Sprachforſcher, indem fie zeigen, in wie früher Zeit ſich das
Bewußtſein entwicelt Hatte, daß die Sprache über alle willkürlichen Eingriffe
erhaben jei. Ich Hätte natürlich noch manches andere Hierhergehörige beifügen
fönnen, namentlich die Anekdote über carrosse; ic) überließ e3 aber meinen
Gegnern, wenn fie Luft hätten, diefe Fälle gegen mich geltend zu machen. Ueber
den Einfluß, den ein lebendiger, und jelbft ein todter Häuptling auf die Sprade
Meine Antwort an Herrn Darin. 393
jeineg Stammes ausüben kann, habe ich an anderer Stelle geſprochen. Doch
beihränkte ich mich, wie gefagt, durchaus nicht auf gefrönte Häupter, ſondern
führte Protagorad und andere ungefrönte Puriften an, und zwar alles dies
ganz einfach, um zu zeigen, daß fein Einzelner, jei ex Kaijer oder Bettelmann,
einen willfürlichen Einfluß auf die Spradhe ausüben könne. Würde irgend ein
Kritiker, e8 jei denn, daß ex eben gar feine andere verwundbare Stelle finden
könnte, feine Pfeile auf ein jo harmlojes Glied in meiner Beweisführung ge-
richtet haben?
Dazu kommt, daß Profefjor Whitney in der Sache jelbft ganz meine Mtei-
nung theilt, daß nämlic der Einzelne gegen die Sprache machtlos ift. Ja troß
de3 lauten Betonens ſeines Widerſpruchs gebraucht er hier und da jogar die-
jelben Worte, welche ich gebraucht. ch hatte gefagt: „Selbft wenn der erfte
Anftoß zu einer neuen Bildung in der Sprade von einem Einzelnen gegeben
ift, jo geihieht dies meift, wenn nicht immer, ohne Vorbedadt, ja unbe-
wußt. (p. 45.) Mein Gegner jagt: „Was der Einzelne thut, geſchieht un-
vorbedähtlid, oder gleihjam unbewußt.“ Während ich gejagt hatte,
daß wir jo wenig unjere Sprache selon notre plaisir, verändern können, ala
unjerer Größe einen Zoll zufügen, bedient fich Herr Profefjor Whitney eines
andern Vergleichs und jagt: „Die facta der Sprache find faft ebenjotwenig das
Merk des Menſchen, als die Form jeines Schädels.“ (p. 52.) Wo ift denn
num der große Abftand zwiichen ihm umd mir, den er dem amerifanijchen
Publicum mit jolcher Beredtjamkeit darzulegen ſucht?
Und man glaube nur nicht, daß der amerifanijche Lecturer von dem Wachs—
thum oder ber natürlichen Entwidelung der Sprache weniger häufig ſpricht, ala
ich jelbft. Es finden ſich Stellen, in denen er diefe Worte mit jo wenig Rüd-
halt und Vorſicht gebraucht, daß ich, der ih die Sprachwiſſenſchaft eher zu
den Naturwiſſenſchaften, al3 zu den Hiftorischen Wiffenjchaften zu rechnen wünjche,
mi hüten würde, Ddiejelben ohne manche Beihränfungen zu unterjchreiben.
So heißt e3 p. 46: „In diefem Sinne ift die Spradje ein Wachsthum“; p. 46:
„eine Sprade ift, ebenjo wie ein organiicher Körper, nicht nur ein Aggregat
von ähnlichen Theilen; fie ift ein Gompler von verwandten und gegenjeitig be=
hülflichen Theilen“; p. 50: „Sprache wird jehr paffend mit einem organijchen
Körper verglichen“; p. 51: „im Bergleih mit ſolchen Dingen ift Sprade ein
wirkliches Gewächs“ zc. ac. ıc.
An Allem, was Herr Profeffor Whitney über diefe quaestio vexata vor—
bringt, ift nicht ein einziger neuer Standpunkt geivonnen, und der wahre Unter:
ſchied zwiſchen feinen und meinen Borlefungen ift der, daß er, indem ex alle
Zugeftändniffe machen muß, die ich verlangt hatte, ſchließlich jeine Vorliebe aus—
ipricht, der Sprachwiſſenſchaft eine Stelle unter den hiftoriichen, ftatt unter den
Naturwiſſenſchaften zu reſerviren. Wer wird ihm dies verwehren wollen? Je—
der, der ſich mit ſolchen Dingen beichäftigt, tweiß, daß e3 fich hierbei vor Allem
um Terminologie und Eare Definitionen handelt. Was die Hauptſache ift, daß
nämlich die Methode der Sprachwiſſenſchaft diejelbe ift und fein muß, als die
der Naturwiflenichaften, leugnet ſelbſt Here Profeſſor Whitney nicht (p. 52);
alles Uebrige ift Sache der techniichen Definition. Mache den Kaften der Natur—
394 Deutſche Rundichau.
wiſſenſchaft groß, und die Sprachwiſſenſchaft geht hinein; mache ihn Elein, und
fie fann nur mit Mühe oder gar nicht Hineingequetiht werden. Mache den
Kaften der Hiftorifchen Wiſſenſchaften groß, und die Spradhmwifjenichaft aeht
hinein; made ihn klein, und fie fann nur mit Mühe oder gar nicht hinein-
gequeticht werden. Das find alte befannte Dinge, die wirklid) unter Freunden
fih von jelbjt verftehn. Mir lag vor Allem daran, recht Elar hervorzuheben,
dat die Sprachwiſſenſchaft etwas Anderes jei, ala bloße Philologie; daß fie die
Sprade nicht ſowohl als Vehikel der Literatur, fondern an fi, in ihrer natür-
lichen Entftehung und Entwidelung betrachte, und daß fie fich in ihrer Methode
gar nicht fireng genug auf inductivem Wege halten könne. Viele Dinge, die,
als ich meinen erſten Curſus von Vorleſungen hielt, noch heftigen Widerſpruch
erfuhren, find jet ganz allgemein angenommen, und ich kann wol begreifen,
daß jüngere Lejer ſich über die Ausführlichkeit wundern, mit der ich 3. B. noch
zu beweijen hatte, daß die Sprachwiſſenſchaft mit gutem Recht zu den Natur:
wiſſenſchaften gezählt werden könne. Man leſe aber nur Bücher aus derfelben
Zeit, und man wird leicht jehen, wie ernft ſich die beften Denker damals mit
diejen Fragen beſchäftigten. ch jchrieb in England und zunächſt für engliſche
Leſer, und hielt es daher für angemefjen, mich, jo viel ich konnte, in die geiftige
Atmojphäre meines Publicums hinein zu verjegen. In Bezug auf die Elaffification
ber Wifjenichaften Ichloß ich mich daher zunächſt an Dr. Whewell an. Er war
der Erſte, der der Sprachwiſſenſchaft, ala ſolcher, eine unabhängige Stelle zu:
erkannt hatte; und zwar jeßte er fie als eine der jogenannten palätiologiichen
MWillenihaften an. Er macht jedoch noch einen Unterſchied zwiſchen palätiolo-
giichen Wiſſenſchaften, welche ſich mit rein materiellen Dingen bejchäftigen, wie
die Geologie, und andern, die ſich mit den Erzeugnifjen beſchäftigen, welche aus
der Einbildungskfraft oder den jocialen Begabungen der Menſchen entipringen.
Die Sprachwiſſenſchaft rechnet er zu den letztern, fügt aber, während er diejelbe
nod von den Naturwillenichaften ausſchließt, folgende Bemerkungen bei:
„Wir haben gejehn, wie die Biologie uns zur Piychologie hinüberführt,
wenn wir diefem Wege folgen wollen; und jo bat ſich der Uebergang vom
Materiellen zum Jmmateriellen auf einem Punkte ſchon offenbart. Wir jehen
aud ein, daß große Gebiete der Forſchung, welche fi) auf Gegenftände der im:
materiellen Natur des Menſchen beziehen, von denſelben Geſetzen beherrſcht
werden, als wirkliche Naturwiljenichaften. Wir wollen jet nicht bei den wei—
tern Fernſichten verweilen, welche unjere Philofophie unjerer Betrachtung er-
öffnet, aber, auf diejer letzten Stufe unfrer Pilgerfahrt durch die Grundlagen
der Naturwilfenichaften, dürfen wir uns wenigftens durch den Lichtftrahl er-
quiden und ermuthigen lafjen, der uns, wenn auch nur leife, aus einer höhern
und jchönern Welt entgegenftrahlt.”
Die Naturwiſſenſchaften haben in den lebten Decennien jo viel neue Namen
und neue Ideen hervorgebradht, daß wir uns faum noch der hohen Stellung
bewußt find, welche Dr. Whewell zu feiner Zeit zwijchen den philojophiichen und
theologischen Parteien in England behauptete. Merkwürdig aber ift es, daß
jeine Hoffnung auf einen möglichen Uebergang vom Materiellen zum Imma—
teriellen und jein Verſuch, der Sprachwiſſenſchaft, wenn auch noch unter vielen
Meine Antwort an Herrn Darwin. 395
DVerwahrungen, einen Pla unter den palätiologiihen Wiſſenſchaften einzu-
räumen, noch jet den Zorn der Orthodorie erregen kann. Anknüpfend an Dr.
Whewell ſuchte ich nachzuweiſen, daß die Sprachwiſſenſchaft noch mit weit
größerem Recht, ala er geglaubt, ihren wahren Plat unter den Naturwiſſenſchaften
findet, und dachte damal3 wol faum, daß, wa3 ein Doctor der Theologie in
Cambridge und ein deutſcher Profefjor in Oxford ungeftraft ausſprechen konnten,
nad) Fahren die Rechtgläubigfeit eines amerikaniſchen Profejjors in Feuer und
Ylammen jeßen würde.
Und doc, jo geſchah's. Zu Anfang läßt Herr Whitney den Gelehrten
ſprechen und macht die Zugeftändniffe, die ein Menſch machen muß, der, wie
er, auf einer deutichen Univerfität geweſen; dann aber bricht die lange zurüd-
gehaltene orthodore Galle dur), und ich erhalte die folgende Standpredigt:
„Es gibt eine Schule moderner Philojophen, die fich bemühen, alle Wiljen-
Ihaft zu materialifiren, den Unterjchied zwijchen der Natur, dem Geift und der
Moral wegzuichaffen, die Freiheit des menjchlichen Willens für Nichts zu er—
flären, und die ganze Gefchichte der Schickſale der Menjchheit in eine Reihe von
rein materiellen Wirkungen aufzulöfen, welche durch nachweisbare phyſiſche Ur-
ſachen hervorgebracht, durch Antecedentien erflärbar, und für die Zukunft vorher
beftimmbar find durch eine genaue Kenntniß der Urfachen, und durch eine An—
nahme der Action compulforifcher Motive auf die paſſiviſch folgjame Natur des
Menſchen. Mit ſolchen Menſchen wird natürlich) auch die Sprade mit allem
Uebrigen zu einem Naturproduct und die Sprachwiſſenſchaft zu einer Natur-
wiſſenſchaft. Mit ſolchen Leuten kann man in diefem Punkte nicht rechten, jo
jehr wir auch von ihrer allgemeinen Glaffification abweichen. Aber von denen,
die noch die großartige Unterſcheidung fefthalten, u. j. w., u. ſ. w.“
Dies iſt gut gebrüllt; aber was ift denn nun das Ende vom Liede? Nach—
dem Alles gejagt ift, bleibt die ganze Frage eben in statu quo. Die Sprad)-
wiſſenſchaft ijt eine Naturwiflenichaft, wenn wir die Bedeutung des Wortes
Natur jo weit ausdehnen, daß fie die menjchliche Natur wenigftens in gewiljen
Sphären ihres Wirkens einjchließt, nämlich da, wo der einzelne Menſch nicht
mit voller Freiheit handelt, fondern ſich bedingt fühlt durch die nothiwendige
Mitwirkung der Gejammtheit. Die Sprachwiſſenſchaft ift eine hiſtoriſche
Wiſſenſchaft, oder, wenn Herr Profeffor Whitney e3 vorzieht, eine moralijche
Wiſſenſchaft, wenn wir die Bedeutung des Wortes Geſchichte ſoweit ausdehnen,
dab aud Handlungen, welche der Einzelne „unvorbedächtlich oder gleichjam un—
bewußt” vollbringt, und die ſich demnach allem moraliichen Urtheil entziehen,
mit inbegriffen werden.
&3 hat leider viel Zeit gefoftet, wenigſtens an einem Beiſpiel darzuthun,
was denn der Antagonismus zwiſchen Heren Profeffor Whitney und mir
eigentlich bedeutet. Die Sade an fi mag unbedeutend jcheinen, aber bei
der großen Verehrung, die ich für Herrn Darwin hege, lag mir daran, ehe
ich die von ihm und feinem Sohne gemachten Einwürfe beantworte, ihm
zu zeigen, weß Geiftes Kind Herr Profeffor Whitney jei, und aus welchem
Arjenal er feine Waffen geborgt. Heren Profeſſor Whitney's Artikel habe
ich nicht zu Geficht befommen, und Tann aljo nur die Einwürfe beantworten,
396 Deutihe Rundichau.
weldhe Herr Darwin zu den feinigen gemadt. Ohne Darwin’3 Signatur
hätte ich diejelben mit demjelben Schweigen vorüberfaujen laſſen, wie jo Man—
ches, was Herr Profeflor Whitney über den atlantiichen Ocean herübergedon-
nert. Ich will nicht ungerecht gegen diefen amerikaniſchen Gelehrten fein. In
jeinen Vorlefungen zeigt er fi als einen fleißigen und jcharflinnigen Dann.
Es find Abſchnitte in denjelben, 3. B. wo er über jemitijche und über amerita-
niſche Sprachen handelt, die meine vollfte Anerkennung verdienen. Ginige jeiner
jogenannten Jluftrationen find jehr gut gewählt und von einem gewifjen
poetijchen Feuer durchdrungen. In gewiſſen Abjchnitten, two er ji) mehr auf
der Oberfläche hält, hat er feinen Gegenjtand entjchieden anziehender und popu—
lärer gemacht, ala ich es zu thun verftanden. Dan vergejje aber nicht, daß dieſe
populäre Behandlung ihre großen Schwierigkeiten und Gefahren hat. Wer es
je verfucht hat, einen wiljenjchaftlichen Gegenftand auf das Niveau der allge
meinen Intelligenz zu erheben, der weiß, ob es leichter ift, fich feinen Fach—
genojjen, oder der ganzen Welt verftändlich zu machen. Nicht jorglojere, jon-
dern jorgfältigere Behandlung, nicht oberflächliches, jondern wahrhaft gründ-
liches und ſicheres Willen wird dazu verlangt. Und wer glaubt, in einem po-
pulären Vortrag Dinge jagen zu können, die er fich vor jeinen Fachgenoſſen zu
jagen jcheute, der Mann hat feine wiſſenſchaftliche, feine moraliſche Ehre im
Leibe. Ich wundere mich deshalb, in Heren Profeſſor Whitney’3 Borlefungen
Behauptungen zu finden, wie, daß die Inſchrift der Columna Rostrata aus dem
Jahre 263 ftamme (p. 219). Hier mußten die von Ritihl und Mommſen ge:
fennzeichneten künftlichen Achaismen berüdjichtigt oder widerlegt werden. Den
Namen Ahura- Mazda dur) „Mächtigen Geift“ zu überjeßen (p. 222), iſt, nad)
Benfey’3 Unterfuhungen, mehr als fühn. Den terminus technicus für Pro—
nomen, im Sanskrit sarvanäman, dur) „Wort für Alles“, „allgemeine Bezeid):
nung“ wiederzugeben, war, nad) dem, was wir von indijchen Gelehrten darüber
willen, und nad) dem, was deutjche Gelehrte, wie Böhtlingk und Roth, darüber
gejagt, nicht ganz zu rechtfertigen. Wern man bedenkt, daß Rougé's Aufſatz wol
über 15 Jahre erſchienen ift, jo wundert man fi), das phönizijche Alphabet nod
immer al3 den Urquell aller Alphabete bezeichnet zu jehen. Solche Fehler jedod),
jo zahlreich fie auch find, können in ſpäteren Ausgaben corrigirt werden; aber was
nie corrigirt werden kann, ift der beflagenswerthe Ton, welchen Herr Profeffor
Whitney in feinen Schriften angejchhlagen hat. Mean glaubt wirklich), es jei
jein Hauptziwed bei Allem, was er fchreibt, jeinen Landsleuten zu beweijen,
daß er Männern wie Bopp, Renan, Schleicher, Steinthal, Bleek, Haug, ganz
ebenbürtig ift, ja, daß er weit höher fteht ala fie. Wenn er ihre Anfichten
auseinanderjeßt, wenn er ihre Schwächen darlegt, wenn er ihre Beweggründe
herauszufinden jucht, jo ift er ein wahrer Ritter sans peur, und verläßt fid
auf nichts jo jehr, als auf das alte Sprüchwort, semper aliquid haeret. Ich
habe mich oft gefragt, woran liegt da3? Es ift nicht amerikanisch. Amerika
hat ausgezeichnete Sprachforſcher beſeſſen, befitt fie noch jebt, und diefe Männer
fennen ihren Werth und ihre Stellung, ohne immer zeigen zu wollen, daß fie
jo gut jind wie Englijche oder Deutjche Gelehrte. Die Vorlefungen von
Mr. Marſh über engliihe Sprache find in England als claſſiſch anerkannt.
Meine Antwort an Herren Darwin. 397
Ueber Heren Profeflor March, den Verfaſſer der angeljähfiihen Grammatik,
Ipricht ſich Jedermann mit vollfter Anerkennung aus. ch könnte noch manche
andere amerikaniſche Gelehrte nennen, die, was wirklich originelle Arbeit
betrifft, wahrhaftig nicht gegen Herrn Profeſſor Whitney zurücitehen. Aber
nirgenda finden wir bei ihnen diefe Verkleinerungsjucht in Bezug auf Andere,
diefe VBergrößerungsfucht in Bezug auf fich jelbft. Wo Herr Profeffor Whitney
unabhängig gearbeitet hat, wie 3. B. in feinem Prätisäkhya, da ift er erträg-
licher; aber je weniger er wirkli mit einer Sade vertraut ift, defto Yauter
Ipriht er, und da es dann natürlich an wirklichen Beweisgründen fehlt, jo
bricht die Fluth der Epitheta ornantia, wie werthlos, einfältig, abſurd, lächer—
lich, oberflächlich, ungeheuer, anmaßend, unehrlich, falſch u. ſ. w. in vollen Strömen
aus. Ich glaube, es ift feine unter allen diefen Schaumünzen, die er nicht auch
mir zu wiederholten Malen überreiht hat; ja, er ift jo weit gegangen, daß er
logar das foftbare Del feines Lobes iiber mein armes Haupt auögegoffen. Quand
on se permet tout, on peut faire quelque chose. ber was ift das Refultat?
63 gilt jet ala Ehre, zur „edlen Schaar jeiner Märtyrer” zu gehören; wäh—
rend, wer von ihm gelobt wird, mit Phocion murmelt: ov dr zuov To uaxov
Alyow Euavrov Ahr da.
Dies find traurige Erfahrungen in der Wiſſenſchaft, und wenn die, welche
jo überfallen werden, nicht den Muth haben, jchweigend weiter zu gehen, im
Vertrauen auf fich jelbft und auf das richtige Urtheil der Leer, jo erleben wir
dann Scenen, wie fie fürzlich zwijchen diefem amerifanifchen Gelehrten und
Herrn Profeſſor Steinthal in Berlin vorgefallen. In feinen früheren Schriften
hatte Herr Profeffor Whitney Heren Profefjor Steinthal als einen eminenten
Meifter in der Sprachwiſſenſchaft hingeftellt und anerkannt, daß er aus deſſen
Schriften die größte Belehrung und innere Erleuchtung geihöpft. Diefe Com-
plimente fcheinen unerwidert geblieben zu fein, und mit der Zeit wurden die
freundlichen Beziehungen zrviichen dem Harwarder und dem Berliner Profefjor
immer gefpannter, bis endlich Herr Profeffor Steinthal fich jo entrüftet fühlte
über die VBerfälihung der Thatjadhen und den anmaßenden Ton de3 amerika—
niſchen Linguiften, daß er in einem Augenbli der Aufregung ſich hinreißen
ließ, mit denjelben Geſchoſſen, die der Amerikaner gebraucht, zurückzuſchießen.
Mas das für prähiftoriiche Gejchoffe find, mag man aus folgenden Beijpielen
erjehen*): „Der Eitle will genannt und gerühmt ſein;“ „Er jchilt wie eine
teifende, beleidigte Coquette;“ „Der Eniffige Advocat;“ „Der Tolpatſch;“ „Der
Geck;“ „Der Jeſuit;“ „Ueberall bei ihm gähnt mich hohle Leere an, überall
grinft mid) hohmüthige Eitelkeit an,“ „Herr Whitney lügt.“ Worte fünnen
wahrlich nicht weiter gehen, jet kann nur noch ein Kampf auf Tomahawf und
Krupp’iche Kanonen folgen.
Wa3 bleibt nun den Gelehrten übrig, die ein begründetes Borurtheil gegen
den Gebrauch jolder Waffen, jei es zum Angriff oder zur Abwehr, haben? Sie
tönnen nichts thun, als was ich ſeit Jahren gethan habe, jtill ſchweigen, das
) Antikritit. Wie Einer den Nagel auf den Kopf trifft. Berlin 1874.
Deutſche Rundſchau. 1, 6. 27
398 Deutſche Rundſchau—
Gute, was ſich etwa in Herrn Profeſſor Whitney's Schriften findet, dankbar
annehmen, das Uebrige zu vergeſſen ſuchen.
Sollten aber nicht gerade Sprachforſcher, die doch wiſſen, aus welchem
Stoff Worte gemacht find, und wie billig es iſt, ein ganzes Lexicon von Schimpf-
mwörtern zu faufen, eine gewiſſe Scheu vor ſolchem Mißbrauch fühlen? Wer
Willen befißt und beweijen kann, bedient ſich ſolcher Mittel nicht, die nichts
beweiſen al3 den Groll des Herzens und das Fehlen wahrer Kenntniß. Wahre
Willen, wahre Liebe zur Wahrheit, wahre Sympathie mit unjern Berufs-
genofjen, die zeigen ji) in ganz anderer Weile. Es gab alte Philojophen in
Griechenland, die meinten, daß die Sprache nicht Menſchenwerk jein könne, weil
Worte, als Flüche angewandt, jo fürchterliches Unglück verurfachten. Herr Pro-
feſſor Whitney meint, die Sprache ſei eine menſchliche Einrichtung, fie eriftire
HEoeı, nit pioeı; und doch hat er denjelben Aberglauben in Bezug auf die
Tolgen der Worte. Er beklagt jich bitterlich, daß die, welche er ausgeſchimpft,
ihn nicht wieder ſchimpfen. Er ift ganz verwundert, daß Niemand ihn wider-
legt, und e3 wird nicht lange mehr dauern, jo glaubt er, daß er unwiderleg—
bar, ja unfehlbar if. Was Herr Darwin jun. von einem ſolchen Bundes:
genofjen denkt, weiß ich nicht; dies aber weiß ich, daß Herr Darwin jen. ganz
andern Geiftes iſt, und daß er, wenn er nur ein paar Seiten des amerikaniſchen
Gelehrten gelejen, ausrufen würde: Non tali auxilio,
Was find denn nun die Haupteinwürfe, welche Herr Darwin als wirt:
lich haltbar au dem Aufſatz des Herrn Profefjors Whitney hervorgeholt? Ich
werde fie seriatim durchnehmen, jei es nun, daß Herr Whitney, oder Herr
Darwin, oder beide dafür verantwortlich find.
Die Sade fängt an mit dem gewöhnlichen Exordium, das ſchon mander
junge Advocat jeit Gicero’3 Zeiten benußt hat, um, ohne auf Einzelnheiten ein-
zugehen, dem Gegner im Allgemeinen jedivede Competenz abzufpredhen.
„Es ift nie ganz leicht,“ bemerkt Herr Profeffor Whitney, „eine Discuffion,
wie jie Mar Müller führt, in ein Skelett von logiſcher Darftellung zu verwan—
deln, denn er kümmert ji nicht um logiſche Folge und Verkettung. Er liebt
eö, fi) über feinen Gegenftand auszujchütten in einem Strom gemüthlicher Be-
hauptungen und interejjanter Illuſtrationen.“
Wo ijt denn die Widerftandskraft eines ſolchen Sabe3? Haben wir hier
etwas Anderes al3 ein bloßes Ausihütten von Behauptungen, nur ohne inter-
eſſante Illuſtrationen, und auch nicht gerade jehr gemüthlich? Das Einzige, was
im Sabe jtedt, ift, daß Herr Profefjor Whitney es nicht leicht findet, meine
Abhandlung in ein logiſches Skelett zu verwandeln. Ob dies num aber meine
Schuld oder feine ift, das ift eben die Frage. Es gibt Abhandlungen, die ein
ſehr kräftiges Rückgrat befißen, ohne daß die logiſchen Rippen überall durch das
Fleiſch hervorſtechen; es gibt andere, die mit Logik übertüncht find, „inwendig
aber voller Todtenbeine”.
63 gilt 3. B. al3 einer der erften Grundjäße der Logik, daß man von
demjelben Gegenftand nicht etwas und zugleich das Gegentheil von diefem Etwas
ausſagen dürfe. E3 iſt das bekannte Principium exclusi medii inter dua con-
tradietoria. Bei der Lectüre von Herrn Profeſſor Whitney’3 Vorleſungen
Meine Antwort an Herren Darivin. 399
über Sprachwiſſenſchaft fam es mir vor, ala ob er oft recht nahe auf dieſe
Klippe Iosgejegelt. Nichts wäre leichter, wenn man fid) diefelbe Freiheit im
Dlumenlejen erlaubte, die der amerifaniiche Kritiker, wie wir oben Jahen, für
erlaubt hält, al3 eine Reihe von einfachen Widerfprüchen zufammen zu jtellen.
Zu Anfang lejen wir oft, daß „es ſinnlos und thöricht jein würde, Die Ver—
Ichiedenheit der Sprachen und ſprachliches Wachsthum direct auf phyjiiche Ur—
ſachen zurüdführen zu wollen“ (p. 152). Kommen wir aber jpäter zu der merf-
würdigen Mannigfaltigkeit der amerikanischen Sprachen, da lejen wir, „daß ihre
Differenzirung durch den Einfluß der VBerichiedenheit des Klima's und der Lebens—
art begünftigt worden iſt“. Auf Seite 40 lernen wir, daß „ein großer Genius
hier und da ein neues Wort prägen kann“. Auf Seite 123 werden wir belehrt,
daß „es nit wahr fei, daß ein Genius der Sprache eine wahrnehmbare
Wirkung aufprägen könne”. Auf Seite 177 werde ich und Renan ausgejcholten,
weil wir den jehr ernitlichen Fehler begangen haben, „die Dialekte als die
frühern Zuflüffe nationaler oder claſſiſcher Sprachen gelten zu laſſen“. „Es ijt
faum der Mühe werth,“ heißt es dort, „jeine Zeit an die Widerlegung einer
ſolchen Anficht zu verjchiwenden.“ Auf Seite 187 leſen wir: „Ein gewiſſer
Grad von dialektiicher Verjchiedenheit ift vom Weſen jeder Sprade untrennbar.”
Dies ift nicht meine Art, ein Buch zu zerrupfen und zu zerzaufen. Ich
gebe nur dieje paar Beijpiele, um zu zeigen, wie leicht e8 wäre, nad) Art des
Heren Profeffors Whitney nachzuweiſen, daß feine Vorlefungen fi nicht ganz
leicht in ein logiſches Skelett verwandeln laſſen.
Jetzt Scheint Herr Darwin jun. ein Wort hinzuzufügen.
„Indem Mar Müller zu den Waffen greift, ift es ganz klar, daß er von einer
übermannenden Furcht getrieben ift, daß der Menſch jeine ftolze Stellung in
der Schöpfung verlieren möchte, wenn feine thieriiche Abftammung bewieſen
würde.“
Was ſoll man zu ſolchen Bejhuldigungen jagen? Ich würde mid) gar
nit Ihämen, wenn ich wirklich eine jolche Befürchtung gehegt; ob mich aber
die Furcht übermannt hat, darüber mögen meine Leſer urtheilen. Ich will nur
eine Stelle aus meinen Borlejungen zu meiner Vertheidigung anführen:
„Db der Glaube monftrös jei, daß thieriiche Welen, die jo weit von einan—
der abftehen, wie der Menich, der Affe, der Elephant, der Paradiesvogel, die
Schlange, der Froſch und der Fiſch, von denjelben Aeltern entſproſſen find, wie
man gejagt hat, das geht ung gar nichts an. Die Frage ift einfach, ift es
wahr oder nicht? Wenn es wahr ift, jo werden wir es bald verdauen lernen.
Es ift ebenjo ungehörig, an den Stolz al3 an die Demuth de3 Menjchen zu
appelliren, von wiſſenſchaftlichem Muth oder von religiöjer Frömmigkeit zu
ſchwatzen.“
Wenn dieſe Ausſprüche von „übermannender Furcht“ inſpirirt ſind, dann
hat Talleyrand Recht, daß die Sprache geſchaffen wurde, um unſere Gedanken
zu verbergen. Und, ich darf wol hinzufügen, wenn ſolche Beſchuldigungen, wie
die obige, gemacht werden können, ſo werden wir bald Alle mit einem noch
berühmteren Diplomaten jagen müſſen: Was iſt Wahrheit! Solche tollkühne
Ueberfälle mögen heroiſch ausſehen, aber es gilt von ihnen, was einſt von der
27*
400 Deutiche Rundſchau.
Charge von Balaklava gejagt wurde: C'est magnifique, sans doute, mais ce
n'est par la guerre.
Die nächſte Anklage gegen mich, ich weiß nicht, ob von Heren Profeſſor
Whitney oder don Herrn Darwin, oder von Beiden ausgehend, ift, daß ich den
merkwürdigen Sat aufgejtellt, daß, wenn e3 eine „unmerfbare Gradation zwiſchen
Affen und Menſch gäbe, ihr Geift identiich jein müßte”.
Was ich wirklich gejagt, kann ich Hier nicht wiederholen, es betrifft die
ganze dee einer „unmerkbaren Gradation“, eine vage “dee, die jegt von vielen
Philoſophen ausgebeutet wird, ohne daß fie fich der Widerſprüche bewußt wer—
den, welche fie enthält. Jedenfalls hätte doch aber Herr Darwin erklären jollen,
was er unter Geiſt und wa3 er unter identifch verfteht. Hält Herr Darwin
den Geijt für eine Subftanz, für einen Agenten, der mit den duch die Sinne
empfangenen Eindrüden wie ein Maurer mit Backſteinen verfährtt? Nun, in
dem alle würde jein Bater jagen, daß der eine Baumeifter eine Hütte bauen
mag, der andere einen Dom, aber, kraft ihres Urjprungs, find beide fubftantiell
identifh. Oder verjteht Herr Darwin unter Geift die Art und Weije, in der
die Sinnegeindrüde fommen und ſich jeen, was man etwa das Gejeb ihrer
Gravitation nennen könnte? Auch in diefem alle würde ihm jein Vater jagen,
daß das Geſetz dafjelbe jei für Menſch und Thier. Und diefe Folgerung iſt
nicht etwa gegen jeines Vaters Wunſch und Willen aus deſſen Prämifjen her—
geleitet. Im Gegentheil, er vertheidigt fie ausdrüdlih. Er hat. die inter-
efjanteften Beobachtungen nit nur über die erften Triebe der Sprache, jondern
über die Keime äfthetifcher und moralijcher Gefühle unter den Thieren gefammelt.
Ya e3 jcheint mir, daß, wenn Herr Darwin jun. anderd hierüber denkt, wenn
er meint, daß der Geift des Menjchen jubjtantiell nicht identiſch mit dem Geift
des Thiers jei, daß e3 irgendiwo in der Stufenleiter vom Protogenes bis zum
erften Menjchen einen Bruch gäbe, wir dann zu der Anficht zurückkehren müßten,
welche die alten Weiſen in ihrer Sprache jo ausdrüdten: „Und Gott der Herr
machte den Menjchen aus einem Erdenkloß, und er blies ihm ein den lebendigen
Ddem in feine Naſe. Und aljo ward der Menſch eine lebendige Seele.”
Iſt dies die Anficht des Herin Darwin?
Die nächſte Charge ift, daß meine Beweisführung auch den Unterjchied
zwiſchen Schwarz und Weiß, Heiß und Kalt, einem hohen und niedrigen Ton,
wegleugnen würde. Dies klingt natürlich ſehr ſchlimm, es Hat faft das Anjehn eines
logiſchen Steletts. Aber nur feine Furt vor Worten, jondern immer gerade auf
die Sache los. Schwarz und Wei find allerdings jo verjdhieden, ala zwei
Dinge nur fein können; ſchon weniger Heiß und Kalt, oder ein hoher und ein
tiefer Ton. Aber was ift denn nun der wirkliche Unterjchied zwiſchen dem
höchſten und dem tiefften Ton? Ganz einfach die größere oder Kleinere Anzahl
von Schwingungen in einer beftimmten Zeit. Man kann diefe Schwingungen
zählen, und es ift bekannt, daß mit der zunehmenden Schnelligkeit der Schwin-
gungen unjer Gehörjinn von Zeit zu Zeit einen neuen Ton vernimmt. Wir
haben es aljo bier mit Unterſchieden zu thun, die man in der alten Logik Grad»
unterjchiede nannte, um fie den Artunterjchieden entgegen zu jtellen. Was von
den hohen und niedrigen Tönen gilt, gilt au) von Hite und Kälte, und von
Meine Antwort an Herrn Darwin. 401
den verſchiedenen Arten des Lichts, die wir Farben nennen. Bei allen diefen
Unterjchieden bleibt, was die Logifer die Subſtanz nannten, diefelbe, ganz in
derjelben Weile wie, nach der Anficht der Evolutionäre, die Subftanz im
Menſchen und Thiere ein und diefelbe if. Wenn demnach der Menſch vom
Affen nicht anders verjchieden ift, als eine hohe von einer niedrigen Note, oder
auch, vice versa, wenn eine hohe von einer niederen Note nicht anders ver-
fhieden ift, al3 der Menſch vom Affen, jo würde meine Beweisführung denn
doch ganz feſt auf ihren zwei oder vier Beinen ftehen, troß aller Worte, bie
man darüber „ausgeſchüttet“.
Was num mich jelbjt betrifft, jo will ih nur, um nichts unklar zu Laffen,
noch bemerken, daß meine Hinweifung auf die Gradunterſchiede der Töne und
der Tyarben einen ganz anderen Ziwed im Auge Hatte. Ach wollte die Auf-
merkſamkeit auf jene merkwürdigen Grenzlinien hinlenken, weldje die Natur
jelbft gezogen, jei e8 im Subject oder im Object, und die es und möglich
machen, troß der jogenannten unmerflichen Reihenfolge, breite Stufen der Töne
wahrzunehmen, welche wir Noten nennen; breite Stufen des Lichts, welche wir
Farben nennen; breite Stufen der Hitze und Kälte, für welche unjere gewöhn—
lihe Sprade nur jehr unvolllommene Bezeichnungen beſitzt. Dieje Grenzlinien
ſowie die höhern Grenzlinien zwiſchen Ton, Licht und Wärme, haben
bi3 jeßt aller Erklärung widerftanden. Warum wir 3. B. von einer gewiffen
Anzahl Schwingungen den angenehmen Eindrud von C haben, und dann
beim Wachjen der Schnelligkeit verworrene Tonempfindungen, bis wir zu Cis
fommen, dies ift ein reines Myſterium, das auch in feiner einfachen mathe-
matiſchen Form vollflommen unerklärlich bleibt. Für Evolutionäre jchien mir
dies ein Problem, das ihre volle Aufmerkfamkeit verdient, da es andeutet, wie
die Natur, oder wie wir jonft jagen wollen, denn doch durch das Chaos der
unmerflichen Reihenfolge hindurch hier und da ſehr ſcharfe und fefte und merkliche
Grenzlinien gezogen hat.
Nun kommt eine neue Behauptung, die in ihrer vagen Faſſung halb wahr,
halb falſch it. Ich ſoll die unbezweifelte Thatfache überjehen haben, daß in
der Natur die Arten, die Species, ji verändern. Wenn man Worte wie
Specie3 aus der alten Rumpellammer der jcholaftiichen Philojophie borgt, jo
muß man jie mit logiſcher Schärfe definiren, und namentlich jebt, two Alles
darauf ankommt, was man unter Species verfteht, das Wort nicht fo leichthin
al3 Flingende Münze gebrauchen. Wenn wir die alte jcholaftiihe Sprache
Iprechen, jo wiſſen wir wohl, daß fi Individuen verändern, nie aber zu an—
deren Individuen werden. Individuen find uns gegeben, Species machen wir
felbft, und was wir früher unter Species verftanden, war eine Gejammtheit
bon Individuen, deren Wejen es war, daß fie ſich nicht zu einer anderen Spe-
cie8 verändern fonnten. Das mag natürlid” Alles nur jaljcher antiquixter
Scholaſticismus fein, aber jo lange wir jcholaftiiche Ausdrücke gebrauchen, müffen
wir fie mit jcholaftiicher Präcifion gebraudden. In einem gewiffen Sinne hat
man jehr richtig bemerkt, daß Darwin’3 Werk „On the Origin of Species“ den
Zweck hat, den Begriff Species aus unjerem philofophifchen Lexicon zu ftreichen,
oder ihm eine Bedeutung zu geben, die er früher nicht hatte. Niemand hat
402 Deutiche Rundichau.
das Verdienst, welches fih Darwin durch eine neue Prüfung diejes alten und
etwas verrofteten Denk-Werkzeugs ertvorben, freudiger anerkannt, als id
jelbft, in meinen Borlefungen über Sprachwiſſenſchaft“*); aber wir müſſen deshalb
nur um jo vorfichtiger im Gebrauch diejes Wortes fein, und nicht meinen, da
wir e3 in beiden Bedeutungen, in der Tcholaftiichen und in der evolutionären,
zugleich gebrauchen können.
Die Staubwolken werden immer dider und dicker. Man hält mir vor, „daR
meine Beweisführung beweifen würde, daß die Natur eines Mannes und eines
Kindes identifch jei, weil dad Kind durch alle Grade paffire, indem es von der
einen zu der anderen Statur gelange. „Niemand könne jo etwas behaupten,“
heißt es, „der die Lehre der Continuität und des Calculus differentialis be
griffen habe.” ch glaube, man kann diefen Schlag pariren, auch ohne den
Caleulus differentialis zum Secundanten zu haben. Es find wieder die böjen,
böjen Worte, die, wenn man fie nicht ſcharf im Zügel hält, jo gern mit und
durchgehen. Das Kind ift dad Subject, Statur fieht aus, wie ein Subject, ift
aber nur ein etwas verhillltes Prädicat. Alfo, auf einfach Deutſch, wenn ein
Kind durch unmerklide Grade oder Wahsthum zur Statur eines Mannes
fommt, jo bleibt das Subject dafjelbe, nur feine Prädicate wechjeln. Seine
Statur ift verändert, möglicherweije auch fein Gewicht, die Farbe feines Haars
u. ſ. w.; aber was die alten Scholaftifer jeine Subſtanz nannten, oder was
wir jeine Individualität, feine Perfon, kurz, was wir den Mtenfchen jelbft
nennen, das iſt und bleibt in allem Wechjel.
Und nun nad) all’ diefen Abſchweifungen zurüd zur Sache! Wenn die
Evolutionäre wirklich behaupten, daß der Unterſchied zwiſchen Menſch uud
Thier von derfelben Art jei, al3 der zwiſchen einem erwachſenen Manne und
einem Finde, dann ift Alles, was ich wollte, zugegeben, und zwar in einer
Vollftändigkeit, die ich faum erwartet hatte. Die Frage ift nur: Wird Herr
Darwin jen. die Zugeftändniffe von Herrn Darwin jun. unterzeichnen ?
Nun weiter! Man jagt mir, meine wahre Abficht jei geweſen, „in der
Sprade eine Begabung nachzuweiſen, die feine Analogien, keine Vorbereitungen,
felbft nicht bei den Wejen habe, welche dem Menſchen am nädjften ftehen, die
alfo durch feinen Proceß der Entwidelung erklärt werden könne.“
Nun, das ift im Ganzen richtig, nur daß ich mich etwas vorjichtiger aus»
gedrückt. Es ift nämlich befannt, daß gerade die Weſen, welche dem Menſchen
am nächſten ftehen, jehr unvollfommene Sprachwerkzeuge befiten, und es wäre
alfo nicht pafjend, gerade auf dieje Wejen hinzuweiſen. Nun erwartete ich aber
zur Antwort einen Nachweis, daß ich mich überhaupt in diefer Anficht voll:
fommen geirrt habe; ich hoffte auf einige neue Thatjachen, oder wenigftens auf
eine neue Erklärung alter Thatſachen. Bon alle dem feine Spur, fondern nur
die Verficherung, „daß ic) meine Sache nit mit Mäßigung noch mit Scharf
finn verfochten, nicht auf ftreng wiſſenſchaftlichem Boden, nicht nad) ftreng wiſſen—
Ihaftlichen Methoden ꝛc.“ Das mag ja nun Alles wahr fein. Niemand fühlt
mehr als ih, wie unerreihbar mir die ftreng wiſſenſchaftliche Methode
*) Borlefungen über die Wiflenichaft der Sprache (Leipzig, Engelmann.) Bd. II, ©. 339.
Meine Antwort an Herrn Darwin. 403
ift. Aber wenn nicht für mich, jo wäre es doch des europäilchen Publicums
wegen wünfchenswerth, einmal zu zeigen, was für grobe Denkfehler ich begangen
habe. Nun, man höre! Mein Unrecht ift, die Sprache ala die ſpecifiſche Diffe-
renz zwiſchen Menſch und Thier hingeftellt zu haben, während Andere andere
Dinge als ſpecifiſche Differenzen betrachten. Wenn es mehr fpecifiiche Diffe-
renzen gibt, deſto befjer für mid. Aber wie zeigt e8 Mangel an Mäßigung,
daß ih, als Sprachforſcher, mi auf die Sprache beſchränke? Wie zeigt e3
Mangel an Scharffinn, daß ich es Anderen überlaffe, das zu behandeln, was
fie viel bejjer verftehen, ala ih? Sehen wir uns nun aber einmal die bunt
zujammengewürfelten ſogenannten ſpecifiſchen Unterfchiede an, die ich alle hätte
behandeln jollen, wenn ih eine Spur von wiſſenſchaftlicher Methode und
Scharfſinn beſäße. Man wird leicht jehen, wie fie in zwei Glaffen zerfallen;
ſolche, die duch Sprache bedingt find, und folche, die Darwin jelbft in feinen
Werken als unbaltbar bewieſen hatte:
1) Der Menich allein, heit es, ift einer fort: Dies ift theild durch Darwin widerlegt, theil:
Ichreitenden Entwidelung fähig. weis ift e3 aber durch die Sprache allein,
daß jede neue Generation der‘ Menjchheit auf
ben Grrungenichaften der früheren Genera:
tionen fortbauen fann.
2) Der Menſch allein benubt Werkzeuge und Das Erfte widerlegt durch Darwin, dad Zweite
Teuer, richtig.
3) Der Menſch allein zähmt andre Thiere. Widerlegt durch Darwin, 3. B. bei den Ametjen.
4) Er allein befikt Eigenthum. Widerlegt durch jeden Hund, der einen Knochen
hat und ihn vertheidigen fann.
5) Er allein gebraucht Sprache. . Richtig.
6) Kein anderes Thier ift jelbitbewußt. Richtig oder falſch, je nad) der Definition des
Wortes, und auch dann nicht direct beweisbar.
7) Er allein hat die Gabe der Abſtraction. Richtig, durch Sprache bedingt.
8 Er allein befikt allgemeine Begriffe. Richtig, durch Sprache bedingt.
9) Er allein hat Sinn für Schönheit. Don Darwin dur Geſchlechtswahl widerlegt,
oder unwahrſcheinlich gemadht.
10) Er allein hat Gaprice. Durd jedes Pferd, jeden Ochſen, jeden Maul—
ejel wiberlegt.
11) Er allein ift dankbar. Miderlegt durch den Hund.
12) Er allein hat das Gefühl des Myſteriöſen. Cela me passe.
13) Er allein glaubt an einen Gott. Richtig.
14) Er allein hat ein Gewiffen. Don Darwin geleugnet.
Hiermit ift die Lifte fertig. Und num frage ih, war es denn jo thöricht,
daß ich mich auf die Sprache, und zwar im weiteften Sinne des Wortes, be-
ſchränkte, und dieſe al3 den greifbaren und unleugbaren jpecifiichen Unterjchied
zwiſchen Menſch und Thier Hinzuftellen ſuchte? Man ſehnt ſich ordentlich nach
einem Gegner, der einmal tüchtig zuſchlagen kann, nicht mit Worten, ſondern
mit Beweiſen; aber in dieſem ſchwächlichen Tone geht es fort und fort, von
Seite zu Seite.
Ich hatte geſagt, daß, wenn es irgendwo eine terra incognita gäbe, die
alles poſitive Wiſſen ausſchließt, es der ſogenannte Thiergeiſt ſei. Da kommt
denn natürlich die Frage, woher mein Wiſſen von unſerem Nichtwiſſen, und
woher der Beweis, daß die Thiere durch die Sinne wahrnehmen und keine Spur
404 Deutiche Rundſchau.
eine Vermögens zu abftrahiren und allgemeine Begriffe zu bilden befiten? Ich
erinnere mich noch der Zeit, wo ich in Leipzig bei Drobiſch, Lotze, Weihe phi-
loſophiſche Vorlejungen hörte, und wo, wenn Jemand gewagt hätte, ſich auch
nur beiſpielsweiſe auf da3 zu beziehen, was im Geifte der Thiere vorgeht, man
ihm bedeutet hätte, daß die transcendente Wilddieberei jei. Ich habe mich in
meinen Borlefungen, jo viel ich konnte, von dieſem Gebiet entfernt gehalten.
„Rad den ftrengen Regeln der pofitiven Philojophie,“ ſagte ich (p. 46), „haben
wir fein Recht, irgend etwas in Bezug auf den jogenannten Thiergeift zu be
jahen oder zu verneinen.“ Wenn ic) nun troßdem mein Nichtwiffen jo weit
vergeſſen, daß ich gejagt, die Thiere nehmen durd die Sinne wahr, ſo geſchah
e3 in einer ſchwachen Minute, two ich glaubte, daß, wenn ich einem Hund die
Augen zubielt, er nicht jehen könne. Und nod ein anderes Mal bin ic in
meinem Nichttwiffen von meinem Nichtwiffen jo weit gegangen, zu bemerken, daß,
da der Menſch durch die Sprache allein zur Vernunft komme und allgemeine
Begriffe bilden könne, kein Thier aber bis jeßt gefunden jei, das Sprache befike,
die Thiere feine allgemeinen Begriffe befäßen. Dies, ich geftehe es, war ein Ber-
gehen gegen den ftrengen Agnoſticismus. ch ſprach als ein Menſch, und das
war unrecht. &3 wäre eben jo faljch, als wenn ich jagen wollte, die Menſchen
befäßen nur fünf Sinne ch befige nur fünf Sinne, das ift richtig; aber eben
deshalb, weil ih nur fünf Sinne befite, wie kann ich willen, daß andere
Menſchen nicht jehs Sinne haben? Wie gejagt, ic bin ganz mit diejen con:
ftitutionellen Beſchränkungen einverftanden; aber was wird dann aus all’ den
Ihönen Anekdoten von der Vernunft der Thiere, was aus den Frorjchungen
über die Thierjeele, wenn die philojophiiche Polizei diefe Thüre endlich wieder
zumanert!
Die Darwinianer jelbft werden damit jehr unzufrieden fein, und jo führt
denn auch Herr Darwin jogleic) den Eintwurf des Herren Profeſſors Whitney an:
Menn die Thierjeele eine terra incognita ift, ift e8 dann nicht auch die Menjchen-
jeele? Jeder, der ſich mit Piychologie beichäftigt hat, wird dies Herrn Profefior
Whitney jehr gern zugeben. Wenn er fich jelbft etwas mit Piychologie be-
Ihäftigen wollte, jo würde er auch jehen, wie man über diejen rein fubjectiven
Standpunkt hinwegkommt, ja Herr Darwin jelbft gibt ihm einen Kleinen Finger:
zeig, indem er feinem Mitkämpfer in’3 Ohr flüftert, daß beim Menſchen die
Sprache ein Mittel zur Erkenntniß fei, welches die Thiere nicht beſitzen. Gibt
Herr Darwin dies zu, jo gebe ih ihm gern alles Andere in den Kauf, und
beftreite nicht im Geringften, daß das Pferd einen anderen Eindrud vom Grün
haben mag, ja daß jelbft ex einen anderen Eindrud vom Grün haben mag als
ich, und was ſonſt noch Alles in alten Handbüchern über Daltonismus, Tyarben:
blindheit u. j. w. zu leſen ift*).
Nach diefen gegenjeitigen Zugeftändniffen wird e3 denn aud nicht mehr
nöthig fein, alle die amüfanten Anekdoten, die beweiſen jollen, daß Thiere be-
griffliches Wiffen beſitzen, in wiſſenſchaftliche Phrafeologie zu überſetzen. Für
wiſſenſchaftliche Zwecke ift über fie feit lange der Stab gebrochen. Ich Tann
*) Fiske, Outlines of Cosmic Philosophy, vol. I. p. 17.
Meine Antwort an Heren Darwin. 405
aber Herrn Darwin verjichern, daß, wenn ihn jein Weg einmal nad) Oxford
führt, ih ihm in meinem eigenen Hunde Waldmann viel überrafchendere Proben
von Scharfjinn zeigen will, ala alle, die er erwähnt hat. Ich fürchte nur, fein
Agnofticismus wird dann wieder in Anthropomorphismus umjchlagen.
Jetzt Folgt ein neuer Aufruf ad populum. Ich hatte gejagt, daß heutzutage,
to Einem jo viele alte philojophiiche Gerichte als die neueften Refultate der
Wiſſenſchaft vorgejeßt werden, Nichts den jungen und aud) den ältern Philojophen
mehr zu empfehlen jei, al3 ein fleißiges Studium der Geſchichte der Philoſophie.
63 gibt eine Kontinuität, nicht nur in der Natur, fondern aud) im Fortſchritt
de3 menjchlichen Geiftes, und diefe Continuität zu ignoriren und immer wieder
mit Thales und Democritus anzufangen, ift für den Philoſophen ebenjo an-
greifend und ermiüdend, al3 eine neue tägliche Schöpfung für den Naturforicher
jein würde. Evolutionäre jcheinen zu glauben, e8 gebe Evolution überall, nur
nicht für die Evolutionsphilofophie. Was würden Naturforicher jagen, wenn
jeder junge Chemiker immer wieder mit der phlogiftiichen Theorie anrückte,
jeder Geolog mit dem Vulkanismus, jeder Aftronom mit dem Ptolemäifchen
Syitem? ch verlangte übrigens gar nicht viel, ih bat nur um ein wenig
Rückſicht für die Geiftesarbeit, welche ſolche Rieſen wie Lode, Hume, Berkeley
und Kant für uns vollbradt. Ich ſprach die Hoffnung aus, daß gewiſſe Tragen
entweder al3 abgeichlofjen betrachtet werden möchten, oder, wenn nicht, daß man
die Gontroverje wenigftens an dem Punkte wieder aufnähme, wo ſie in ber
legten hiſtoriſchen Debatte ftehen blieb. Aber Hier geht e3 mir jchledt. Das
fei nur ein Verſuch, heißt es, meine Gegner todtzumachen, und mich dabei auf
Kant, Hume, Berkeley und Lode zu berufen. Der junge Volkstribun wird immer
lebendiger und jchließt mit folgender Dithyrambe: „Glücklicherweiſe leben wir
in einem Zeitalter, das fi (mit Ausnahme weniger Rücfälle) gar wenig um
die frommen Gründer von Syftemen kümmert, jondern verjucht, jelbjt zu urteilen.“
Ich Tage gern Bravo zu ſolchen braven Gefinnungen, erlaube mir nur zu
bemerken, daß ich bisher, wenn ich Jemand todtichlagen wollte, dies gewöhnlich
auf eigene Hand, ohne Helferähelfer, gethan. Herr Darwin mag aud immer
Recht haben, dat Kant, Hume, Berkeley, Lode längft antiquirt find; ich möchte
nur bemerken, daß e3 nüßlich fein würde, fie erjt wenigftens zu lejen, ehe wir
fo jehr ficher erklären, daß wir fie übertvunden haben. In Bezug hierauf kann
ih mir die Genugthuung nicht verjagen, einige jehr wahre und jehr zu beherzi-
gende Worte von Huxley zu citiren:
„Es ift ſchwer, dies zu beantivorten, wenn man mit feinen Zeitgenoſſen
auf gutem Fuße leben will, aber ich muß doch jagen, daß die Yortjchritte der
Naturwifjenihaften in letter Zeit jo fabelhaft jchnell gewejen find, daß die,
welche mit den Beften Schritt halten wollen, nur ſchwer die Vergangenheit be-
rückſichtigen können, ja fih daran gewöhnen, fie zu verachten. So natürlid)
aber dies auch jein mag, jo ift es doch ſehr bedauerlih. Der Geift leidet
darunter, denn e3 gibt in der That feine wirkſamere Methode, unfere eigenen
been in Bezug auf irgend einen Gegenftand aufzuklären, als ihn gleidh-
ſam mit Männern von wahrer Geiftesfraft und Wiſſenſchaft zu beiprecdhen,
die denjelben früher von einem andern Standpunkt aus behandelt haben. Die
406 Deutiche Rundichau.
zeitlihe Parallaxe hilft uns ebenjo die wahre Stelle einer dee zu finden, als
die örtliche Parallare die wahre Stelle eines Stern3. Aber nicht nur der Geift,
fondern auch der moraliſche Charakter leidet darunter. Es ift uns Allen gut,
uns zuweilen von dem aufgeregten Treiben der Gegenwart wegzuwenden und
mit Dankbarkeit und Ehrfurdt uns der Verdienfte jener mächtigen Männer,
die vor und Waren, zu erinnern, Männer, die mit ihren Kriegswaffen in die
Gruft hinabgeftiegen, die aber in ihrem Leben die herrlichften Siege über die
Unwiſſenheit errungen haben.“
Vielleicht wird Herr Darwin diefe Worte, da jie von Huxley fommen, meht
beherzigen, al3 was ich jagen könnte. Auf Herrn Profeſſor Whitney erden
fie ſchwerlich viel Eindruck machen. Ich hatte einige von Lode’3 Beweisführungen
in Bezug auf den Unterſchied zwijchen dem Menjchen- und Thiergeift einfad)
recapitulirt. Dafür wird mir bedeutet, daß Lode jehr wenig von diefen Dingen ver-
jtanden habe, während im Gegentheil das bis auf den legten Faden abgenukte
Argument vom Geifte der Taubjtummen von Neuem aufgebürftet wird. Ich
fann bier nur wiederholen, was ich jchon früher gejagt, daß, wenn man nidt
irgendwelche neue Beobachtungen über das geiftige Leben der Taubſtummen zu
Tage fördert, ih in Bezug auf diefen Gegenftand taub und ſtumm bleiben
muß.
Nun kommt endlich der lebte und entjcheidende Angriff. Ach hatte gejagt,
daß, wenn die Sprachwiſſenſchaft irgend etwas bewieſen habe, es dies jei, daß
begriffliches oder discurſives Denken nur vermittelt Worte möglid
ſei. Auch hier hatte ich eine Reihe tüchtiger Autoritäten angeführt, nicht um
die freie Forſchung todtzufchlagen, ich bin gar nicht jo blutdürftig, ſondern ganz
einfach um die Unterfuchung in das richtige Hiftorifche Geleiſe zu bringen. Ich
hatte mich auf Lode, auf Schelling, Hegel, W. von Humboldt, Schopenhauer,
in England auf Manjel berufen, ich hatte Philofophen gewählt, die in andern
Dingen fih wie Tag und Nacht ehtgegenftehen, die aber alle darin über
einftimmen, daß begriffliches Denken ohne Sprache, im weiteften Sinne dei
Wortes, unmöglich jei. ch hätte noch manche andere Philojophen und Dichter
anführen können. Profejjor Huxley hat den Unterſchied zwiſchen Gedantentetten
und Gefühlsfetten vollkommen begriffen, indem er fagte: „Obgleich Thiere in
Ermangelung der Sprache feine Gedankenketten haben können, jo haben fie doch
Gefühlsfetten, und haben jomit ein Bewußtfein, welches mehr oder weniger
dem unſrigen entſpricht.“ Poetiſch, und doch mit voller Schärfe und Klarheit,
ſagt Yean Paul:
„Mich dünkt, der Menſch würde fich, jo wie das ſprachloſe Thier, das in
der äußern Welt wie in einem dunklen, betäubenden Wellenmeere ſchwimmt,
ebenfalls in dem vollgeftirnten Himmel der äußern Anſchauung dumpf verlieren,
wenn er das verivorrene Leuchten nicht durch Sprache in Sternbilder abtheilte,
und jich durch diefe das Ganze in Theile für das Bewußtſein auflöfte.“
Diefen Gegenftand habe ich jo volljtändig in meinen Vorlefungen behandelt,
daß ich mic Hier begnügen muß, die Einwände zu beanttvorten, welche Her
Darwin gemacht hat. Es thut mir leid, ihm jagen zu müfjen, daß die meiften
derjelben den Kern der Sache gar nicht berühren, und es ift wunderbar, daB,
Meine Antwort an Herrn Darwin. 407
wenn Gelehrte, wie Herr Darwin und Herr Profeffjor Whitney, Männern wie
Rode, Hegel, Humboldt die Einderleichteften Einwürfe machen, ſie ſich nicht jelbft
lagen, daß dieje Einwürfe doch wol jchon von jenen nicht ganz mit Blindheit
geichlagenen Forſchern in's Auge gefaßt worden find. Was würden wir jagen,
wenn man uns ſolche Blindheit zutraute, und find wir denn fo viel bejjer ala
unfere Väter? Es bleibt aber nichts übrig, als die Einmwürfe nad) der Reihe
durchzunehmen, und da manche etwas unglaublich Klingen, wird e8 am Sicherſten
fein, fie wörtlich mitzutheilen. Herr Darwin entgegnet mir:
1) „Begriffe können gebildet werden, ohne daß fie vor das Bewußtſein de3
Begreifers geftellt werden, jo daß er realifirt, was er thut.“
Soll dies heißen, daß der Begreifer Begriffe bildet, ohne fie zu begreifen?
Dann frage ich, wen gehören dieſe Begriffe? Wo find fie? Und wie werden
fie Schließlich realifirt, das heißt doch wol, zum Bewußtſein gebracht? Iſt Be—
greifen ein active oder paſſives Verbum? Darf ich vielleiht Kant citiren,
jelbft auf die Gefahr hin, wieder des Todſchlags der freien Forſchung bezichtigt
zu werden? Kant jagt: „Begriffe begründen ſich auf der Spontaneität des
Denkens, wie finnlihe Anſchauungen auf der Receptivität der Eindrücke.“
2) ‚Verwickelte Gedanken find wol allerdings nit ohne Symbole möglich,
ebenfo wenig als die höhern Zweige der Mathematik.“
So, find etiva die tiefern Zweige der Mathematik ohne Zahliymbole mög-
ih? Wie kann man nur jolde Dinge Ichreiben? Und mit Bezug auf verwickelte
Gedanken, wo ijt denn die Zauberlinie, welche einfache von vermwidelten Ge—
danken jcheidet? So manche Leute haben jchon von diejer Linie gefabelt, als
ob Jedermann wüßte, was und wo fie wäre. Alles hängt von einer jolchen
Linie ab. Sie würde auf einmal die Fehler zu Tage bringen, die fih Humboldt
und Andere haben zu Schulden fommen laſſen. E3 würde möglicherweile die langge—
ſuchte Linie jein, welche den Menſchengeiſt zu dem macht, was er ift, und vom
Thiergeift jcheidet. Und diefe Linie, auf die Alles ankommt, wird jo nebenhin
erwähnt, ohne alle Präcifion, al3 ob Jedermann wüßte, wo fie zu finden jet.
So treibt man feine Philojopbie, und bis Jemand diefe magijche Linie von
Anfang bis zu Ende genau bejchreibt und definirt, ift fie für mid, ala ob fie
nicht wäre.
3) „Wir wiſſen, daß Hunde zweifeln und unſchlüſſig find und fich endlich
zu handeln entſchließen, ohne irgend welche äußere beftimmende Einflüffe.”
Wenn nicht äußere, warum nicht innere? Hat Jemand dem Hund Ge-
dächtniß abgeiprodhen? Was ein Hund, ja was ein Menſch ohne irgend welches
begriffliches Denken leiften fan, das möge Herr Darwin in Hurley’3 lettem
Aufſatz: „Die Hypotheje, daß Thiere Automaten find,“ nachlejen. Taufendmal
ihon habe ih, wenn ich mich Abends ankleide, meine Uhr zum zweiten Mal
aufgezogen, oder plößlich eingehalten, wenn ich meine weiße Halsbinde jah.
Hält Herr Darwin ſolche Geiftesproceße für begriffliches Denken?
4) „Herr Profeſſor Whitney erläutert die Unabhängigkeit des Gedankens
von der Sprade jehr ingeniös, indem er unjern Geifteszuftand in Betracht
nimmt, to mir oft in der offenjten Weiſe nach neuen Ausdrüden, nach neuen
Formen der Kenntniß juchen, oder Unterjchiede machen, oder Schlüffe vorbe-
408 Deutiche Rundſchau.
reiten, die dann durch Worte gededit werden, die entiveder erweitert oder ver-
engert worden find.“
Glaubt denn Herr Darwin wirklih, daß Humboldt und Andere dieje un«
ausſprechlichen Dinge nicht in Betracht gezogen? Seine Vorftellung von Sprade
ift offenbar von jeiner eigenen Sprache gebildet. Unſere jetzige Sprache aber
ift etwas rein Traditionelles, und das Problem, welches Humboldt beichäftigt,
fängt da an, wo die Sprache aufhört traditionell zu jein, d. h. wo fie entfteht.
Wie oft lernen wir Worte lange ehe wir ihre Bedeutung kennen. War dad
möglich in Zeiten, wo diefe Worte zum erften Mal gebildet werden murRten?
Bemerkt Herr Darwin denn gar nicht, da wir von ganz verichiedenen Dingen
Iprechen, er von der Geologie der Sprade, und zwar von der letten Schicht
der tertiären Periode, ich von der Chemie der Sprache, wenn ich mid) jo aus—
drüden darf, um einem Naturforjcher verftändlich zu werden? Aber nehmen
wir ſelbſt die Schwierigkeit jo, twie fie fich ihm darftellt.e Zeigt nicht ſchon die
Form feiner Frage, was die Antwort fein muß? Wenn wir neue Bezeichnungen,
neue Formen der Kenntniß brauchen, jagen wir damit nicht offen aus, daß
wir alte Formen, alte Bezeichnungen, nur etwa unvolltommene, haben? Was
geihieht in unjern modernen Spradhen? Entweder, die alten Worte werden
langjam erweitert, indem unfere Kenntniß ſich erweitert, oder, wenn fie fid
nicht weiter ziehen lafjen, wenn fie ſpringen, jo werfen wir die alten Worte
weg und borgen ung ein neues, entiweder von umjerer eigenen oder jelbft von
einer fremden Sprade.
Herr Darwin jagt: „Es ift der befte Beweis, daß mir die dee der
Tertur und Natur eines muſikaliſchen Tones begriffen hatten, noch che wir ein
Wort dafür Tannten, denn twir hatten das franzöfiihe Wort timbre zu
borgen.“
Aber wie begriff denn Herr Darwin dieſe Idee? Hatte er keine alten
Worte dafür? Begriff er die Idee nicht unter „Eigenſchaft“, oder, wie er ſelbſt
ſagt, „Textur,“ „Natur?“ Wußte er nicht, daß ſie das Reſultat vom Vor—
handenſein oder Fehlen gewiſſer harmoniſcher Nebentöne war? Sind das feine
Begriffe? keine Worte? Was thaten wir denn im Deutſchen? Wir zogen und
dehnten ein altes Wort, das Wort „Farbe“, fo lange, bis es, als Tonfarbe, Alles
begriff, was es begreifen jollte. Im Engliſchen borgten wirtimbre vom Fran—
zöſiſchen, ebenjo wie wir ftatt eines Pfundes vingt cing franes jagen fönnten. Aber
die Franzoſen jelbft dehnten ihr altes Wort tympanum, und fanden, daß
auch diejes Alles dedte, was es deden follte.
5) „Wenn man Mar Müller ein ganz neues Thier vorführte, und er dann
feine Augen jchlöffe, würde er finden, daß er jehr leicht das Bild des Thieres her-
borrufen könnte, ohne irgend welchen begleitenden Namen ?“
Menn doch die Herren einmal auf das wirkflide Schlachtfeld kommen
wollten. Dies Alles Liegt meilenweit davon entfernt. Nun ja, es tft ganz
richtig, wenn ich in die Sonne jehe und dann die Augen jchließe, jo bleibt das
Bild der Sonne eine Zeit lang fichtbar; ich ſehe e8, ohne zuerft zu willen, was
es ift, und woher es fommt. Weiter, es ift ganz richtig, daß ich durch Ein-
bildungskraft ſinnliche Eindrüde zurückrufen kann; ja, in einem Anfall von
Meine Antwort an Heren Darwin. 409
Fieber, haben fich ſolche finnliche Eindrüde oft ohne meinen Willen eingeftellt.
Aber wie hängt dies Alles mit begrifflihem Denken zufammen? So bald ala
ich willen will, wa3 für ein Thier ich heraufbeſchwöre oder durch meine Ein-
bildungsfraft mir vorftelle, jo brauche ich dazu entiweder, der Kürze wegen, jeinen
tehniihen Namen, oder aber ich muß des Thieres durch diefen oder jenen
Begriff Habhaft werden, durch feine Farbe, ſeine Ohren, feine Beine,
feinen Schwanz, immer aber durch etwas, was ich nennen und begrifflich
denken kann.
Hiermit ift die ganze Lifte fertig, alle Anklagen, kommen fie nun vom
Herren Darwin oder Herrn Profeflor Whitney, beanttwortet. Es ift zwar eine
alte Stlugheitäregel: Ne Hercules contra duos, aber wa3 war unter den Um—
Händen zu thun? Schon au3 Rejpect vor feinem Namen, anderer Rüdjichten zu
geſchweigen, fonnte ih Herrn Darwin nicht unbeadhtet laſſen, und wie fonnte
ih ihm antworten, ohne zugleih, wenn auch jehr gegen meinen Willen, mit
Heren Profefjor Whitney hHandgemein zu werden? Wenn ich jage, ich Habe Alles
beantwortet, wa3 Herr Darwin contrafignirt Hat, jo meine ih damit nicht,
da ich auch auf jede amerifanijche Patrone mit einer leeren Patrone geant—
mwortet habe. Dazu war weder Pla noch Zeit. Wenn 3. B. Herr Profefjor
Whitney, wie ed aus Heren Darwin's Artikel hervorzugehen jcheint, gejagt Hat,
daß ich „die Theorie der Antecedenz der dee vor dem Worte” nie begriffen
babe, jo fann ich da3 wol unbeantwortet laſſen. Es ift ja eben die Theorie,
die Jeder hat, der jeine Anfiht vom Urfprung der Sprade ganz einfach) aus
jeiner eigenen Erfahrung bildet, der alle Probleme der Sprachwiſſenſchaft ge-
löft zu haben meint, wenn er fid) erklärt hat, wie wir unjere eigene, vom Vater
dem Sohn überlieferte Sprache lernen und fpäter uns jogar, bis auf einen
gewiſſen Grad, eine fremde Spradhe aneignen. Das wahre Problem der
Sprachwiſſenſchaft ift aber nicht, wie Sprachen, wenn jie einmal da find, gelernt
werden, jondern wie Sprache fi) urjprünglich entwidelt. Alle wahre Sprachwiſſen—
ichaft fängt da’an, wo die des Herrn Whitney aufhört. Wollten wir unjere
Ideen vom UÜrjprung der Sprache aus unſerer Kinderftube lernen, jo könnten
wir unjere Ideen vom Urjprung des Alphabet3 aus der ABC-Schule holen, und
dann ungläubig lächeln, wenn ein Mann wie De Rougsé es uns klar macht,
daß, wenn wir 3. B. F jchreiben, wir in den beiden obern Linien die leßten
Ueberbleibjel der Hörner de3 Geraftes, und in dem Verbindungsſtrich des H
die letzten Weberbleibjel der das Sieb durchkreuzenden Linien zeichnen. Man
betrachte den Cartouche des Königsnamens Chufu oder Cheops, und man wird
darin die erften Anſätze unſeres H und F erkennen.
Philojophie will ftudirt werden, ebenjo wie Philologie, und mit allem
Reipect vor dem gemeinen Mtenjchenverftand, da wo er am Plate ift, ift die
Philoſophie ihrer Natur nad) oft das gerade Gegentheil defjelben. Hier ijt ein
Thema für ein Presto furioso in irgend einer amerikanischen Zeitjchrift! Um
jedoch Herrn Darwin zu zeigen, was wahre Bhilojophen in Deutjchland von
Herren Profeſſor Whitney's Sprachphilojophie denken, jo will ich nicht Profefjor
Steinthal citiren, jondern einen unferer gelehrteften und berühmteften Philoſophen,
den Profeffior Moriz Carriere in Münden, einen Freund des Herrn Profeflor
410 Deutiche Rundſchau.
Whitney, oder wenigſtens einen Freund feiner Freunde. Mit aller Anerkennung,
die jeinen Vorlejungen über Sprachwiſſenſchaft gebührt, bemerkt Profejlor
Garriere: „Philojophiiche Ziefe und Schärfe der piychologiichen Analyje find
feine Sade nit. Wer ſich mit der deutichen Sprachwiſſenſchaft vertraut
gemacht, erfährt kaum etwas Neues.“ „Die Sprade ift etwas mehr ala
eine Einrihtung, um für fich fertige Gedanken auch Andern mitzutheilen; fie
ift das Mittel der Gedankenbildung jelbjt, und jo ift der Gedanke durch fie
erft in unferem Gelbjtbewußtjein, wie in der Aeußerung für Andere wirklich ...
Die Prägung des Wortes ift die Urphilofophie und Urpoefie der Menjchheit;
was die Intelligenz von den Dingen wie vom Geifte erkennt, da3 drückt die
Phantaſie in articulirten Lauten aus.” „Begehren, fühlen, anſchauen können
wir ohne Sprade, denken nicht.“ „Der Menſch jpricht, weil er denkt, aber er
denkt in Worten. Das hat Whitney nicht recht eingefehn; er ift da etwas
trivial geblieben und meint jelbft: man werde feine Anficht eine niedrige nennen,
aber e3 ſchade nichts, wenn man, niedrig zielend, die Scheibe trifft. Er nennt
die Sprache recht platt eine menſchliche Einrichtung,” u. ſ. w.
Gegen die Anficht des Heren Profejfor Whitney, daß die Spradhe etwas
MWillkürliches und Conventionelles, ebenjo wie gegen die entgegengefeßte, oben
aud von mir verworfene Anſicht, daß fie inftinctmäßig fei, citirt Profeffor
Garriere den glüdlichen Ausdruck Renan’s: „La liaison du sens et du mot
n’est jamais necessaire, jamais arbitraire, toujours elle est motivee.“ Hier
ift der Nagel auf den Kopf getroffen. Profefjor Garriere hat feine eigene
Sprachphiloſophie, er jchreibt durchaus nit ala ein Vertheidiger meiner
Anfichten; aber er hielt es für feine Pflicht, Proteft gegen ein gewiſſes jour—
naliftiiches Treiben einzulegen, das auch ſchon an andern Orten in Deutjchland
Aufmerkſamkeit erregt hatte.
Zum Schluß muß ic noch Herren Darwin jun. und fen. bemerken, daß,
wenn Herr Profeſſor Whitney jeit der Abfaſſung feiner Vorlefungen nit einen
merkwürdigen Tag von Damascus erlebt hat, ex ſchwerlich ein zuverläffiger Bundes-
genofje und eifriger Vertreter der Darwin’schen Anficht über Urſprung umd
Weſen der Sprade jein wird. Zu Ende feines Aufſatzes bemerkt ſchon Herr
Darwin, daß nicht Alles geheuer ift. „Herr Profeffjor Whitney,“ jchreibt er,
„mache ein jehr gefährliches Zugeftändniß, wenn er jagt, daß wir nie etwas von
den Mebergangsformen wiſſen können, durch welche die Sprache hindurch gegangen,
und er giebt feinem Freunde und Bundesgenofjen den guten Rath, ein vor Kurzem in
England erſchienenes Bud) von Count G. A. de Goddesard Liancourt u. G. Pincolt,
„Primitive and Universal Law of Language“ zu leſen, wo er viel Licht und
Belehrung über den wahren Urjprung der Wurzeln finden werde.“ Wie Jemand,
dem es an Wahrheit liegt, jagen kann, daß ein Zugeftändnig gefährlich jei,
begreife ich nicht. Der Papſt mag jo etwas jagen, oder ein Advocat ; ein wahrer
Freund der Wahrheit Eennt keine Gefahr. Jedenfalls ift aber in dem guten
Rath, den Herr Darivin dem Herrn Profeſſor Whitney giebt, eine abjichtsloje
Ironie, die wol der amerifaniiche Gelehrte ſchweigend beherzigen wird.
In jeinen Vorlefungen, wie gejagt, proteftirte Herr Profeffor Whitney jehr
laut gegen Darwin'ſchen Materialismus; doc das mag jekt anders jein. Er
Meine Antwort an Heren Darwin. 411
befennt ſchon jelbft, daß er jich jebt Halb zur Bau-bau= und Pah-pah- Theorie
befehrt habe, und zeigt dadurch, wie unwiſſend ic) war, wenn ich meinte, daß
diefe Theorien unter den vergleichenden Philologen des 19. Jahrhunderts feine
Anhänger mehr hätten. Er ſcheint jetzt jogar geneigt, etwas jchonender von
den Bertheidigern des Dingdongismus (Bimbammelei) zu jprechen, da er fid) end-
lich überzeugt hat, daß ich nicht daran glaube. Wer weiß aljo, ob er, nachdem
er meine Vorlefungen über „die Sprache al3 die wahre Grenze zwiſchen Menſch
und Thier“ gelefen, er fih nicht noch ſchließlich von Bleek und Haedel, „den
tollen Darwinianer“, wie er ihn nennt, taufen lafjen wird.
Neben der komiſchen Seite hat jedoch diejes Getreibe, jo viel ich jehen kann,
auch einen jehr ernſten Charakter. Warum denn all dies Hin- und Herftreiten,
ob der Menſch von einem niederen Thier abſtammt oder nit? Es iſt eine
Frage der Wiſſenſchaft und jollte im Geifte der Wiſſenſchaft ohne alle Neben-
gedanken behandelt werden. Weshalb erdenft man fich künſtliche Grenzlinien,
wenn feine wirklien da find? Weshalb verjuht man die wirklichen wegzu—
leugnen, wenn fie num einmal da find? Gejchehe, was wolle, wir bleiben doch
genau, was wir find. Die Trage iſt einfach genug, und nur indem man fie
in die graue Vorzeit zurückweiſt, tritt fie au dem Focus de Klaren Denkens
heraus und wird dunkel und verwirrt. Doc haben Raum und Zeit nur wenig mit
der wahren Löjung des Problems zu jchaffen. Bleiben twir bei der Gegenwart,
jo jagen uns die Darwinianer, und namentlih die Erforſcher der tiefjten
Tiefen der Menjchheit, daß es Wilde giebt, deren Sprache nicht beſſer ift, ala
das Glucjen der Hühner und das Zwitjchern der Vögel, und die in vielen
Punkten tiefer jtehen, al3 die höhern Thiere. Nun gut, angenommen es ſei jo,
jo jteht nichtsdeftoiweniger feit, daß, wenn man ein neugeborenes Kind diejen glud-
jenden und zwitjchernden Eltern wegnimmt und es mit Kindern der höchſtgebildeten
Nationen auferzieht, dasjelbe deutich, franzöſiſch, engliſch ſprechen lernt wie ein deut-
ſches, franzöſiſches oder englijches Kind. Man mache denjelben Verſuch mit dem Baby
eines der höchſt gebildeten Thiere, zweifüßig oder vierfüßig, und er wird mißlingen.
Die Dispofition, eine Sprache, fie jei welche fie wolle, zu lernen, fan in unjerem
Falle nicht duch „fejtgewordene Newvenftructur, die ſich congenitalifch fort-
pflanzt,“ bedingt fein, denn nach dem Zeugniß der Agriologen gludien ja Vater
und Mutter wie Hühner. Hier iſt ein Factum, das entweder dur Ex—
perimente widerlegt, oder von den Darwinianern erklärt werden muß.
Rehmen wir nun an, daß vor Myriaden Jahren au den Miyriaden von
lebenden Wejen eins und nur eins den erſten Schritt that, der ſchließlich zur
Sprache führte, während die ganze übrige Schöpfung ftumm blieb; was hätte
das zu bedeuten? Dies eine Wejen müßte damal3, jcheint mir, wie das Kind
des glucjenden Wilden heutzutage, Etwas bejejfen haben, man nenne e3, wie
man wolle, einen Keim, eine Gabe, eine Anlage, jedenfalls ein Etwas, das
für ihn und für alle jeine Sprößlinge eine Arteigenheit bildet. Ob wir jagen,
daß dieſes Etwas von jelbjt kam, oder das Refultat der Umgebung war, oder
die Gabe eines Welens, in dem wir leben und weben, macht in der Sache ſelbſt
wenig Unterſchied. Alles dies find, vom menſchlichen Standpunkte aus, nur
verſchiedene Ausdrüde für das Unbekannte. Wenn diejer Keim des Logos wirt:
412 Deutiche Rundichau.
lich exft durch taufend Formen vom Protogenes zum Adam hindurch zu gehen
hatte, ehe er fich erfüllen konnte, was ift das für uns? Beflagen wir uns über
unjere Zuftände vor unferer Geburt? Fühlen wir uns durch unjere Zuftände
nad dem Tode herabgejegt? Der Logos war da vom Anfang an, im Keime,
potentia, oder wie wir e3 jonft nennen tollen; und weil er da war, deshalb
äußert er fih, da wo er war, im Menſchen, aber nie, da wo er nicht war,
im Thier, welches Thier war und Thier blieb, vom Anfang bis zu Ende, oder
wenigſtens bis jeßt.
Wahrlich, wenn auch alle Schulphilofophie jet abgejchafft werden muß,
wenn der wahre Philojoph fich jet nur dadurch bethätigen Tann, daß er zuerft mit
allem Wiffen der Vergangenheit tabula rasa madt, jo werden doch wol ein
paar Leuchtthürme von der Sündfluth verichont bleiben. Dürfen wir uns nit
mehr auf „Ex nihilo nihil fit“ berufen, ohne in den Verdacht zu gerathen, die
freie Forſchung durch Autoritäten todtjchlagen zu wollen? Nun, Sprade ift
Etwas, fie ſetzt Etwas voraus, und eben da3, was fie vorausjeßt, das, woraus
fie entjprang, wie e8 nun auch in feinem vorhiftorijchen, vorweltlichen Zuftand
gewejen fein mag, muß von dem verjchieden geweſen fein, woraus fie nicht ent-
fprang. Da fragen dann die Leute jehr bejorgt, aber war diejer Keim von
jelbft entwickelt, oder von der Gottheit eingepflanzt? Dies werden Lojungsworte
der Parteien, man theilt fih in zwei feindliche Lager, man lärmt und ftürmt
und tobt, während, wenn man feine Gedanken und Worte feſt anpaden wollte,
man leicht jehen würde, daß beide Ausdrücke nur dialektiſch verjchieden find.
Daß es im Menſchen eine thieriſche, eine beftialiiche Natur gibt, ift
nicht zu leugnen. Leugnet man es, jo nimmt man die Grundpfeiler aller
Piyhologie und Moral hinweg, Wir jollten nie vergeflen, daß wir das Ma-
terial all’ unjeres Wiſſens mit den Thieren gemein haben; daß wir, tie fie,
mit finnlichen Eindrüden beginnen, und dann, wie wir jelbft und nur wie wir
felbft, fortfchreiten zur Kenntniß des Allgemeinen, des Ueberfinnlichen, des Ide—
alen. Wir follten nie vergefien, daß wir in vielen Dingen wie das Thier find,
aber daß wir, wie wir und nur wie wir jelbft, und über unjer thierijches Selbft
erheben und nach dem, was nicht jelbftiich ift, nach dem Guten, dem Göttlichen
ringen können. Weiſe Männer der Vorzeit nannten den' Flügel, der uns über
das finnliche Wiſſen erhebt, den Logos; den Flügel, der uns über die finnlice
Begierde erhebt, das Daimonion. Sorgen wir, namentlich wenn wir im Tempel
der Wiſſenſchaft ftehen, daß wir nicht durch Mißbrauch der Sprache oder durch
Verachtung der Stimme des Gewiffens dieſe beiden Flügel der Seele knicken,
und durch unfere eigene Schuld noch tiefer ſinken, als die Gorillas, die wir als
unfere Ahnen jo ängftlich perhorresciren.
Zur Geburt des Wankgefekes.
Bon
Ludwig Bamberger. *)
— — —
Die Vorgeſchichte eines neuen Geſchöpfes bis zum Momente ſeiner Geburt zu
erzählen, möchte für weit ſchwieriger gelten, als deſſen Entwickelung zu ver—
folgen vom Tage an, da es das Licht der Welt erblickte. Mit unſerm Bank—
geſetz jedoch verhält ſich die Sache umgekehrt. So lange die Seele der Reichsbank
noch zukunftsungewiß im Teiche der ungeborenen Kinder ſchwebte, ſtritten ſich
blos zweierlei Geiſter um ſie. Schließlich beſiegte der unwiderſtehliche Zauber,
der in dem Begriffe „Reich“ liegt, die großen und kleinen Hexenmeiſter, welche
das Kindlein in der Geburt zu erſticken gedacht hatten, und als es einmal laut
und kräftig die vier Wände beſchrien hatte, ſuchte Jeder, gute Miene zum böſen
Spiel zu machen. Schlaue Leute wollten ſogar wiſſen, die preußiſche Finanz—
politik habe von der erſten Stunde an nur deshalb Hinderniſſe in den Weg
geſchoben, um deren Beſeitigung recht theuer zu verkaufen. Man muß an—
erkennen, daß ſie, wenn ſolches ihre Abſicht geweſen, ſich wenigſtens nichts
darauf zu Gute thut, ſie durchgeſetzt zu haben. Im Gegentheil, der Finanz—
miniſter ließ es ſich ganz gerne gefallen, daß man zum Eingang der zweiten
Leſung ihm nachſagte, er ſei es, welcher den Grundriß zur Reichsbank in den
urſprünglichen Entwurf aufgenommen, welcher Alles ſo eingerichtet habe, daß
nur „eine Wand von dünnem Fachwerk“ wegzuräumen geweſen wäre, um die
Preußiſche zur Reichs-Bank zu erweitern. Ob er die Huldigung eincaſſirte,
weil Eincaſſiren, wie er mit Recht behauptet, ſeines Amtes iſt, oder weil
er für räthlich hielt, lächelnd die goldene Brücke zu betreten, die man einem
auf dem Rückzug befindlichen Gegner baut — von Gold war ſie jedenfalls,
die Brücke; denn, bei Lichte beſehen, ließ ſich Preußen dafür, daß es ſeinen
fond de boutique an's Deutſche Reich abtrat, vergüten, was folgt: fünf
Millionen Thaler baar, fünf weitere Millionen in Geſtalt der zwanzig Tauſend
an die alten Antheilseigner zu hundert Procent überlaſſenen Antheilsſcheine, die
einen Minimalwerth von hundertfünfundzwanzig Procent beſitzen; macht zu—
*) Siehe im 4. Heft vom 1. Januar d. J. den Aufſatz: „Zur Embryologie des Bankgeſetzes“.
Deutſche Rundfchan. I, 6. 98
414 Deutſche Rundſchau.
ſammen zehn Millionen; dazu eine fünfzigjährige Annuität von 621,000 Thalern,
die zu 41, Procent capitalifirt einen heutigen Werth von 12,232,000 Thalern
repräfentirt: Summa Summarum einen Kaufpreis von mehr al3 zweiund—
zwanzig Millionen Thalern für die Zubringung eines Geſchäfts, das ohne Zu-
ftimmung de3 Reichstags nicht einen Tag über den 1. Januar 1876 hinaus
fortgejeßt werden durfte, und nach Gapitalöverdoppelung, Gontingentirung und
veränderter Gemwinnvertheilung an Einträglichkeit viel weniger Ausficht bietet,
al3 das frühere der Preußiſchen Bank, welches bei dem Verlauf als Maßſtab
angenommen wurde. Die Mitglieder des Reichstages aber jagten ſich, beziehungs—
weile die der Commiſſion, daß nun an fie die Reihe gelommen jei, zum böjen
Spiel gute Miene zu machen, und daß es vor Allem gelte, topp! zu jagen.
Sin der That traten dieſe Zifferfragen, wie groß immer, ald Nebendinge zurück
hinter die mannigfaltigen und verwidelten Aufgaben, deren Löſung in kürzeſter
Zeit zu bewältigen war. Es galt nicht nur, die gefammten Berhältnifje des
Zettelbankweſens von Grund aus auf neue Unterlagen und nad) neuen Gefidhts-
punkten aufzubauen, jondern innerhalb des Reformplanes auch noch die Gegen-
feitigfeit3 = Verhältniffe zwiſchen dem Reich und feiner künftigen Gentralbant,
zwiſchen diefer und den beftehenden Privatbanken, möglichft rationell zu ordnen.
Um zu ermefjen, wie viele und wie bunte Fäden hier durcheinander liefen,
ftelle man fich gegenüber diejer thatjädhlichen Aufgabe eine parlamentarijche Ver—
fammlung vor (einerlei ob Reichstag oder deſſen Spiegelbild: die Commiſſion
der Einundzwanzig), deren Elemente von den allerverichiedenften Standpunften
aus an die Löſung herantraten.
Da waren zunächſt die Mitglieder der Gentrumspartei, von Haufe aus
politiich der Schaffung einer Reich3-Anftalt und namentlich einer von jo hervor—
ragender Bedeutung durchaus widerſtrebend; daher natürlid; darauf bedacht,
was ihnen im Großen und Ganzen aus der Hand gewunden war, im Kleinen
und Einzelnen wieder an ſich zu reißen, und — da einmal Bayern den Grund-
ftock des Centrums liefert — bejonders ängſtlich darüber wachend, daß bayrifche
Verhältniffe möglichft wenig von den bevorftehenden Neuerungen berührt werden
möchten.
Neben diefer — in der Hauptjache reformmwidrigen — Strömung des Centrums
lief, weniger breit vertreten, aber nicht weniger energiſch, die der jogenannten
Agrarier her. it das centrale Element wejentlich bayriſch gefärbt, jo trägt das
agrare ein vorwiegend altpreußiiches Golorit. Manchmal tritt es mit der
gottesfürchtigen Miene auf, welche überhaupt in der Entwidelung von Handel
und Induſtrie nur wachſendes Teufelswerk fieht; gemeinhin beichräntt es ſich
auf das offenherzige Gejtändnig, daß es den Gewinn, welchen Handel und
Induſtrie erzielen, al3 einen Raub am Aderbau betrachtet. Mit den franzöfiichen
Phyſiokraten haben die betreffenden Pommerſchen und Märkifchen Junker den
Standpunkt allerdings gemein, daß fie den Ertrag des Bodens für die alleinige
Duelle der Production anjehen, und daß fie — ihrem wohlverftandenen nterefje
zu Liebe — auch Freihändler find für ſolche Dinge, die fie brauchen, Dagegen
möchten fie Alles, was den Geſchäftsumſatz im Innern des Landes befördert,
hemmen und belaften bis zum Brechen. Möglichft wenig oder gar feine Steuer
Zur Geburt des Bankgeſehzes. 415
auf den Grundbeſitz und möglichft viel auf die beweglichen Güter und nament—
lich auf die Bewegung der Güter. Ueber das, was aus den Geſchäften gewonnen
wird, herrſcht in diefen Kreifen jo ungefähr die VBorftellung, welche ein altes
Witzwort bezeichnete mit dem Sprüchlein: „les affaires c'est l’argent des
autres.“ Was der Kaufmann mehr einnimmt al3 ausgibt, ijt eigentlich nur
einer künftlichen Preiserhöhung zu verdanken, oder kurz gejagt: erlaubter Dieb-
ftahl. Mit welchen Augen dieje Welt die der Finanzen und gar die der Börje
anfieht, mag Jeder von ſolchen Vorausſetzungen aus fich jelbjt ableiten. Dean
will willen, es ftede in diefem Mißgefühl ein guter Theil Aerger über die
äußeren Vortheile, welche eine Legion von Emporkömmlingen davongetragen,
während ein ahnenftolzer Landadel im Nacheifer um erhöhten Glanz und Genuß
de3 Lebens feinen väterlihen Befig mit Schulden belaftet habe. Mit -jolchen
Anklagen joll man vorfichtig fein, fie werfen zu leicht den Gerechten mit dem
Ungerechten zujammen; aber entjchuldigt werden fie, wenn man in einem Theil
der agrariihen Preffe auf den ordinärften Gapuzinerton ftößt, welcher feinen
noch jo niedrigen Angriff auf die Kreife des Geldgejchäftes verſchmäht. Das
Wunderlichſte an der Signatur dieſer agrariſchen Gejellichaft ift, daß fie ſich
einbildet, fie würde billigeres Geld erhalten, wenn anderen Leuten da3 Geld
vertheuert würde. Wie fie fich ausrechnen, daß man ihnen billigere Hypotheken
machen würde, wenn der Zinsfuß am Kapitalmarkt höher wäre, das ift ihr Geheim-
niß. Thatſache ift, daß fie Allem, was auf Flottmachung der Gapitalfräfte eines
Landes hinarbeitet, ihren intimjten Haß widmen. Auf Wechjel, auf Actien,
auf Prioritäten, auf Börjenumjäße vollends himmelhohe Steuern zu wälzen,
ift ihre deal. Denn, wenn Niemand in der Stadt Geld oder Credit befommen
kann, werden, jo bilden fie fich ein, alle Reichthümer zu ihnen auf ihren Landfit
wallfahrten, wobei nicht ausgejchloffen fein joll, daß mit einem großen Mangel
an Umjagmitteln dennod) hoher Preis für die Bodenproducte Hand in Hand gehe.
Für diefen Geihmad ift eine Bank überhaupt fein Lederbiffen, und bejon-
der3 nicht eine Zettelbant, welche bekanntlich, allen guten Grundſätzen nad),
vorab nit auf Hypothefen leihen darf. Iſt aber einmal eine Bank unvermeids
lich, fo muß fie jedenfall3 vor dem Unglüd bewahrt werden, die Welt des
beweglichen Capitals und der finanziellen Geſchicklichkeit zu bereichern.
Das Centrum hatte es auf die Reichsbank abgejehen, die agrariiche Nechte
auf die Banken insgefammt. Aber da viel mehr freie Hand war, die erft zur
Ichaffende Reichsbank zu faſſen als die beftehenden Zerritorialbanten, jo jollte
jene zunächft die Zeche bezahlen. Dergeftalt war es beiden bis jet gejchilderten
Elementen vergönnt, manche Strede Hand in Hand zu wandern. Die Mgrarier
hätten für's Leben gerne das Privatvermögen von der Betheiligung am Grund-
capital der Bank ausgejchloffen. Aller Gewinn, den ihre erzürnte Phantajie
fih in wilden Zügen auf das blanke Feld der fommenden Zeiten hinmalt, ſoll
in da3 Staatsjädel fließen, den Steuerzahler erleichtern, der Speculation für
immer entzogen fein. Gelingt es nicht, die Reichsbank zu einem reinen Staats-
unternehmen zu machen, jo joll auf jede denkbare Weife verhindert werden, daß
die Privatbetheiligung einen Gewinn ziehe, der als ungebührlich angejehen wird.
Daher joll nicht blos der Gewinn der Antheileigner auf eine verſchwindend
28 +
416 Dentiche Rundichau.
Heine Möglichkeit jenjeit3 mäßiger Zinjen bejchränkt werden, jondern auch an
Steuern aufgelegt, was aufzulegen ift.
Aber jo weit mitzuthun, hatte wiederum das Gentrum feine Luft. Zwar
die Reichsbank auf möglichſt ſchmale Koft zu jegen, wäre ihm jchon recht
gewejen; aber dem Reich directe Einnahmen aus einer Steuer zufließen laſſen,
welche ebenfoviel der unbequemen Matricularumlagen entbehrlich macht, das
Budget des Reichs von dem der Einzelregierungen loslöſt, das paßt nicht in
diefe Rechnung. Um die Auflage von Ein Procent auf alle ungededten Noten
durchzuſetzen, mußten alfo die Agrarier fi) an andere Bundesgenoffen wenden.
Und fie fanden fie, wenn auch die vereinten Anſtrengungen ſchließlich nicht
zum Siege führten. Sie fanden auf der Linken al3 theilweijen Erſatz für die
Alliirten, die fie im Mittelpunkt verloren, diejenigen Nationalliberalen , welche
entweder im Notenmwejen überhaupt oder nur, ſoweit e3 ſich um die Reichsbank
handelte, zum Grundjaß ftrenger Enthaltjamkeit in Sachen künſtlicher Zahlungs-
mittel ich befennen. Bedentt man, daß in dieſen Reihen jich Solche befinden,
welchen eine nicht mit vollem Metall gededte Note an jich ein Gräuel ift,
und, von diefen fich ftufenweije abjchattirend, eine anjehnliche und einflußreiche
Schaar, welche den Wegen der Geſchäftswelt mit unmwilligen und mißtrauiichen
Blicken folgt, jo ift man darauf vorbereitet, daß jede Lebenserſchwerung, welche
der Bank bereitet werden follte, hier Stüßpunkte zu finden hoffen durfte. Am
Ichärfften trat die Gonftellation aller aus den verſchiedenſten Himmelsgegenden
zuſammenſtrömenden Influenzen hervor, al3 e3 ſich darum handelte, die Mitgift
der Reichsbank an ungededten Noten zu begrenzen. Alles, was aus irgend
einem Grunde der Reichsbank übel wollte, war natürlich dabei, die Grenze
möglichit eng zu ziehen; dazu kam an Reichöfreunden Alles, was feine Noten
mag, Alles, was, wie die Agrarier, der Gejchäftswelt abhold if. Das ganze
Heer gruppixte ſich Hinter die Linie derjenigen Gombattanten, welche mit der
Neichsregierung die vorgejchlagene Ziffer von 250 Millionen Mark aus rein ſach—
lichen oder theoretifchen Gründen für die richtige hielten. Der beträchtliche Nachtrab
erkannte wohl den Vortheil, damit alle jeine heterogenen Beftandtheile unter
die Fahne der Tugend und Enthaltjamkeit zu ſchaaren. Diejenigen dagegen,
welche, aus mindeſtens ebenjo objectiven Gründen wie die Unbefangenften ihrer
Gegner, etwas mehr Lebensluft für die Reichsbank verlangten, erichienen in
zweideutigem Lichte lüfterner Begehrlichkeit nad) ungerechtem Gewinn.
Die geringe Frage eine Mehr oder Weniger von fünfzig Millionen
Mark ungededter Reichsbanknoten verdiente durchaus nicht die Ehre, zu einem
Principienftreit erhoben zu werden; und in der That jtanden Vorkämpfer des
ganzen Geſetzes beinahe in allen Stüden engverbunden zufammen, die im
diefem Punkt jich vorübergehend trennten. Aber gerade das war das Charaf-
teriftiihe an dem bejonderen Kal, daß über jeiner Grörterung etwas von
der Ungunſt laut wurde, welche der deutſche Parlamentarismus nicht zwar dem
Handel, aber der Handeläwelt entgegenträgt. Man muß jich hüten, das Eigen-
thümliche dieſer Erjcheinung in's Schwarze zu malen, und man ift jchuldig, das,
was berechtigt an ihr ift, auch zu verjtehen. Gleichwohl iſt zu befennen: die
Angelegenheiten des Kaufmannsftandes finden auf unjerem parlamentariichen
Zur Geburt des Bankgejehes. fr —— | a7 N
Boden nicht die freie und gleiche Beurtheilung, wie auf Bem/anderer Natior ef. J
Es hängt dies ohne Zweifel zufammen mit dem ganzen Entwiekkuigägtung per Bent >
ſchen Nation. Die große Zeit unjerer Handelsblüthe, der tauıfmäimtfihene. beamer.
von Nürnberg und Augsburg im Süden, der politiih mächtigen Hanſa im
Norden war längft dahin, ala im jiebzehnten und adtzehnten Jahrhundert
Holländer, Engländer und Franzoſen den Weg ihrer commerziellen Exoberungen
betraten. Damit zujammenhängend blieb im Ganzen, auch gejelichaftlidy, der
Handelsjtand in geringerer Lage als anderwärts. Adel, Dfficiere, Beamte und
Gelehrte blickten und blicken zum Theil noch heute auf ihn herab.
Ein Umftand, der vielleicht dazu beiträgt, unfere jungen Kaufleute geſchäfts—
tauglier zu machen, al3 ihre Genofjen fremden Uriprungs, trägt dazu bei,
ihnen gefellichaftlih zu ſchaden, nämlich ihre realiſtiſche Vorbildung. Das
Syftem der Realjchulen ift nirgends jo verbreitet und ausgebildet al3 in Deutſch—
land; die claſſiſche Schulbildung für die Erziehung der zum Kaufmannzftande
Beitimmten iſt bei uns die Ausnahme, in Frankreich und England die Regel.
Ob das gut oder Schlecht Sei, ift eine Frage fr ſich. Aber e3 wirkt, wie
eö bei uns liegt, nicht günftig für die Nusrottung des Hochmuths, mit dem die
ftudirten Leute auf die unftudirten herabſchauen. Der deutihe Kaufmann ift
im Auslande mehr geachtet als zu Haufe. Vor Yahresfrift ging durch die eng—
liſchen Blätter und namentlih dur die Spalten der Times monatelang ein
ftehender Artikel iiber die Gefahr, in allen überjeeiihen Ländern vom deutjchen
Großhandel überflügelt zu werden. In allen Weltpläßen behaupten deutjche
Häufer den erften Rang. Die jociale nferiorität, die dem Stande, wie wenig
immer, daheim anhaftet, ijt nicht gemacht, ihn zurüdzuloden. Naturgemäß ift
der Stand jelbjt mitihuldig. Die lächerlide Gewohnheit, um die Raths-Titel
zu werben, mitteljt derer reihe Kaufleute in den büreaukratiſchen Tſchin ein-
gereiht werden, als höchſte Belohnung, und welche die höfiſche Sitte ihnen frei-
gebig Ipendet, eben um fie einzurangiren, hat bei andern Nationen nichts
Analoges aufzuweilen. Freilich gehen ihnen unjere Univerfitätsprofefforen in
ihrem tichinefiihen Bedürfnit nad) dem Hof- und Geheimen Hofrath3-Titel mit
gutem Beijpiel voran; doc liegt diejen al3 Beamten und auch aus ſonſtigen
Gründen die Verführung näher. War es jonft nur ein Mehr oder Weniger
von äußerer Ehre, um welde der Kaufmannsſtand zu kurz kam, jo brachte
das Börſenweſen aud) im Punkte des jittlihen Inhalts beträchtlichen Schaden.
Es konnte nit ausbleiben, daß die Gejammtheit Titt unter den Vor—
mwürfen, denen die Einzelnen in großer Zahl ſich ausjeßten; und, was nod)
viel ſchlimmer iſt, aber der Unparteilichleit zu Ehren offen gejagt werden
muß: aud) die guten und foliden Kaufleute haben voriibergehend bei ung ver-
geilen, an den Lehren der Nüchternheit und Enthaltſamkeit feft zu halten, denen
fie ihre Auffommen verdanken. Der kritiſche Geift der Berliner Börfenwelt,
der zu ſprüchwörtlicher Anerkennung gelangt war, hielt dem Sturm der Gründer-
periode gegenüber nicht Stich. Es giebt jolche Zeiten, in denen unberechtigte
Mächte dermaßen an Gewalt zunehmen, daß fie auch den Beſten an feinem
Glauben irre machen. Rechnet man dazu, welche Gefühle im unbetheiligten
Publicum das Schaujpiel finanzieller Feuerwerkskünſte weckt, wie natürlich es
418 Deutihe Rundſchau.
ift, daß man ſich für beifer hält ala den Nädhften, der dem Mammon mit Er-
folg räuchert — nimmt man das Alles zufammen, fügt man noch den Bei-
geſchmack Hinzu, welchen breite ſocialiſtiſche Propaganda dem öffentlichen Urtheil
zuſetzt, jo wundert man ſich jchließlich nicht mehr, wenn man e3 auch bedauert,
daß oft commercielle Wünſche nur mit einer Art verlegenen Stammelns vor
die Geſetzgebung Hinzutreten wagen. Die Zahlen jelbft der parlamentarijchen
Bertretung jprechen laut davon, wie geringfügiger Antheil an ihr dem Kauf:
mannzftande eingeräumt ift. Alles zuſammen gerechnet, ehemalige und jeige
Kaufleute, Ynduftrielle, Landwirthe, die nebenher ein Agriculturgewerbe betreiben,
Verleger, Gaftwirthe u. dgl. mehr inbegriffen, weiſt das VBerzeichnig der Reichs—
tagabgeordneten jechsundvierzig Perjonen auf, welche zu diefer Kategorie ge—
zählt werden können: aljo nicht den achten Theil der Gejammtheit. Erwägt
man, daß über ein Drittheil davon auf’3 Centrum kommt, dejjen Mitglieder
itet3 nach einheitlicher Direction und kirchlich politifchen Motiven ſtimmen, jo
gelangt man zu dem merkwürdigen NRejultat, daß die Vertheidigung der In—
duftrie- und Handelswelt, joweit fie Sachverſtändigen und Fachgenoſſen anver-
traut ift, auf etwa zwei Dutzend Köpfen ruht. Und faht man diejenigen in's
Auge, welche in der Debatte mit der Sprache herausrüden, jo find es jolche,
die vormal3 ftudirt haben, urjprünglich einem andern Stande angehörten und
erft in jpäteren Lebensjahren den Gejchäften fih zumandten. Dentt man an
die Zeit zurüd, in welcher die Hanjemann, Camphauſen, Bederrath ihren Plat
im politifchen Leben des deutjchen Volkes neben den MWelder, Gagern und
Dahlmann einnahmen, jo fühlt man fich verfucht, zu fragen: hat der Geift des
Handelsjtandes, der Geift der deutjchen Politik oder da3 Gegenfeitigkeitsverhältnig
zwiſchen dem Volk und den Männern de3 faufmänniichen Berufs dieje Wand—
(ung herbeigeführt? Wie dem immer jei: die Ehre wie das Intereſſe der Ge—
ihäftswelt muß aus ſolchen Betrachtungen die dringende Aufforderung jchöpfen,
fih nicht von den Rechtsgelehrten, Fachpolitikern, Gutsbefigern und Beamten
aus der großen Politik und der großen Volksvertretung abdrängen zu laſſen;
und wenn die Beten des Standes ihren Sinn darauf richten wollten, die ver-
lorenen Bahnen der höchften öffentlichen Ehren wieder zu finden, jo würden fie
damit aud einen Compaß gewinnen, deſſen Zeiger ihre Barke davor bewahrt,
in die Stromjchnellen jchtwindelhafter Bewegungen zu gerathen. Die Art, wie
jeßt in unferem Parlamente von ihnen gejprochen twird, kann ihnen unmöglich
gleichgültig fein, und die einzige gute Art, fich zu rächen, befteht in der männ—
lichen Wiedereroberung des verlorenen Poſtens. Denn übel geriug fommen fie weg.
Zwar jehlt e8 nicht an Lippenbefenntnifjen abftracter Huldigung bei Jedem, der
fie angreift; aber alle dieje eingefchalteten Chrenerflärungen verhallen wirkungs—
los gegenüber dem wegtwerfenden Gejammtton, der nicht blos von einzelnen
Rigoriften, jondern vom Durchſchnitt der Redner, ja gar nicht jelten von den
Miniftern und ihren Alfiitenten angejchlagen wird. Wie oft wurde in der
Bankdebatte ausgejprochen: die Kaufleute dürfe man natürlich nicht hören, denn
dieſe möchten das Gejeß jo zurecht jchneiden, daß ihnen die fetten Broden davon
auf Kojten aller Klugheit und Vorficht zufielen! Wenn Männer wie Camp—
haufen, Michaelis, E. Richter und v. Unruh (Magdeburg) dergleichen als jelbft-
Zur Geburt des Bantgejehes. 419
verftändlich Hinwerfen , jo kann man doch nicht jagen: das find asketiſche Per—
tönlichkeiten, die dem praftiichen Leben fern ftehen. Und doch enthalten dieſe
Ausiprüche, jo beiläufig eingeflochten, eigentlich die härtefte Verurtheilung nicht
blos gegen die Moralität, jondern auc gegen die Einfiht des Kaufmanns—
ftandes. Denn tar will behaupten, das wahre und bleibende Intereſſe des—
jelben jei verträglich mit einem gebrechlichen, ja verderblihen Bankſyſteme? —
Wer will leugnen, daß ein jolider und verftändiger Kaufmannzftand mehr ala
jeder andere an der Erhaltung zuverläjfiger Zahlungsmittel und fefter Werth:
ſätze betheiligt jei? Nur wer die ganze Geſchäftswelt als eine Gejellichaft von
Sobbern und Wechslern anfieht, kann ihr Intereſſe an ſchwankender Valuta zu—
trauen; und Sentenzen, wie die von obigen Rednern gefällten, lafjen feine andere
Wahl, als die Mehrheit der commerziellen Bevölkerung für liederlich oder ver:
blendet, wenn nicht für beides zugleich, zu halten. — Wer doch ließe jonft ſich
beikommen, wenn die Angelegenheiten eines bejondern Berufs unterfucht werden,
die Angehörigen defjelben auszuichliegen, ihren Gutachten entgegen zu halten:
fie feien nur von thörichtem Gigennuß eingegeben? Hieß man die Prefje Schweigen,
al3 von der Abſchaffung des Zeitungsftempels die Rede war? Und doc), wozu hat
all’ das damal3 verjprüzte Pathos genüßt, als die Tajchen der Zeitungsverleger zu
füllen, welche dem Publicum nichts von ihrem Mehrgewinn, auch nur an bejjerem
Papier oder Drud, zufließen lafien? Gewiß, man joll nicht die unmittelbar
Betheiligten allein hören, und gewiß, fie laſſen e8 an einfeitigen und über-
triebenen Borftellungen nicht fehlen (man denke nur an den furor saxonicus -
in Allem, was Papiergeld berührt); aber für diejenige Kritik, welche gegen un—
berechtigten Einfluß nöthig ift, bleibt auch no) Raum genug, wenn in öffent-
lichen Verhandlungen von dem deutſchen Handelsftande, einem der erſten der
Welt, mit größerer Achtung als bisher gejprochen wird. ft diejer jelbjt ſich
ſchuldig, die Schwächen abzuftreifen, welche ihn in dieje üble Stellung zu bringen
beitrugen, jo haben auch grade die Männer des öffentlichen Wirkens, welche ihn
zu heben wünjchen, die Pflicht, ihn nicht mit Antipathie und Verbitterung zu
erfüllen. Sonft möchte fich eines jener ſchlimmen WVerhältniffe daraus ent=
wideln, die auf gegenjeitiger Verachtung beruhen.
Gejunder dealismus, der im Leben fteht und dem Leben dient, wächſt
nicht in der Emöde der Wurzeln und Kräuter, von denen der Eremit lebt.
Sittenprediger, welche mit Geringihäßung auf den Erwerb herunter jchauen,
erweden in den Kindern der Welt nur den Gedanken, daß jie die Welt nicht
fennen und treiben, als falſche KRepräjentanten des deals, zur böjen Schluß:
folgerung hin, daß für die wahre dealität in der wirklichen Welt fein Raum
jei. Der cynijche Realismus, welder die höchſten fittlichen und geiftigen Güter
verlacht, ift die unausbleiblie Antwort auf den diogeniſchen Armuthsſtolz.
Der „heilige Durft nach Gold“ bewegt die Welt, indem er der Menjchen
Kräfte in Bewequng fetzt; und es jündigt wider dies Urreglement des Lebens
nicht nur der, welcher ſich zur Garicatur macht, indem er es leugnet, fondern
aucd wer ihm die Wege vorzeichnen will aus einer Empfindung heraus, die
fih zur Ehre rechnet, daß ihre Wege nicht jeine Wege find,
Die einprocentige Steuer war bejeitigt. 63 war ein Glüd für die fünftige
420 Deutſche Rundichan.
Reichsbank, daß in diefem Kapitel es nicht gut anging, fie anders zu behandeln
al3 die Privatbanfen. Hätte fie diejem Steuergelüfte gegenüber allein in der
Melt geftanden, jchwerlid wäre fie ihm entronnen. Denn Alle vereint, die
enttveder das Reich oder die Noten oder da3 Monopol oder daS Gapital oder
die Börje oder die Matricularumlagen nicht mögen, Alle Bereint hätten ſich
ſchwerlich des Vergnügens beraubt, um noch einen Aderlaß anzubringen, fi
denjenigen anzuſchließen, welche den einzigen vertretbaren Geſichtspunkt verthei-
digten: daß ein Notenprivilegium mit einer Abgabe bezahlt werden müfle. Ihre
Rettung verdankte die Reichsbank dem Umstand, daß man fie nicht erreichen
fonnte, ohne die lieben Kleinen, die Territorialbanfen, mit zu treffen, für welche in
den Reihen der meiften Fyractionen doch jo manches twarme Herz ſchlug. Darum
wendete ſich auch das Blatt, jobald die Enticheidung wegen der Gommunal-
fteuern zu treffen war. Der Gejeßentwurf der Regierungen hatte hier weislich
und belegt mit triftigen Gründen die Ziweiganftalten eines zum allgemeinen
Nuten eingefegten Inſtituts frei gelaffen, welches als Gegenleiftung gegen jein
Privileg dem Reiche die Hälfte, beziehungsweife drei Viertheile jeines Gewinns
überläßt. Aber die Commune, welche umbergeht, quaerens quem devoret, hatte
hier leichtes Spiel. Die Beitimmung wegen der Befreiung von Communal-
feuern ftand einzig und allein im Titel, der von der Reichsbank handelt; die
Freunde der Privatbanfen hatten aljo hier nichts zu fürchten und nichts zu
hoffen. Die, welche dem Reich feine Einnahmen gönnen, waren gleichfalls un-
betheiligt. Es ſchien geradezu thöricht, nicht zugreifen zu wollen, und unter
alljeitigem Hallali ward das Wild erlegt. Dem erfinderiichen Geift der Stadt-
väter ift e3 für die Zukunft anheimgegeben, wie viel Blut fie dem Einfommen
des Reichs und der Antheilseigner glauben abzapfen zu können, vhne die
Bank aus ihrem MWeichbild zu verſcheuchen. Hat man ihr das Leben gegönnt,
jo Hat man's ihr jedenfall3 möglichft theuer verkauft. |
Endlich), als der die Strih in der Berathung überjehritten wurde, welcher
den Titel der Privatbanten von dem der Reichsſsbank trennt, da konnte man
jehen, twie „neue Triebe, neue Schmerzen“ aufleimten. Nichts merkfwürdiger für
den Piychologen des öffentlichen Lebens, als zu beobadhten, wie bier die Dur-
tonart catonijcher Strenge plötzlich in ſanftes Moll überging. Ob es gelingen
kann, dem nicht mit allen Einzelheiten diefer Materie vertraute Leſer das Ver—
Händni für den menſchlich jo intereffanten Vorgang zu erſchließen? Leider
muß man, um den Ariftophanes oder Homer mit vollem Genuß zu lejen, auch
die feinſten Regeln der griechiſchen Grammatik und Syntar in ſich aufgenommen
haben; und jo fteht zu fürchten: wer nicht unfere jüngſte Gejeßgebungsarbeit
in allen ihren Windungen verfolgt hat, wird Mühe haben, aus der Blumenlefe
der Erſcheinung, die ſich Hier bieten läßt, den Honig der Menſchenkenntniß zu
Ichlürfen. Doc) ſei die Bitte an ihn gerichtet, nicht von vornherein zu verzweifeln.
Der vierundvierzigfte Paragraph) ift im Bankgeſetz Dasjenige, was im erften
Buch Moſe das Cap. 2, Vers 18. Er handelt von den Bäunien de3 Gartens,
von deren Früchten einer Bank zu eſſen erlaubt ift, wenn ſie am Leben bleiben
will. Unter allen Bäumen aber, deren Genuß nad göttlichen und menjdh-
lien Rechten ſeit hundert Jahren den Zettelbanfen verboten gemwelen, war
Zur Geburt des Bankgeiehes. 421
feiner jo ftrenge verpönt, als der, anf welchem die gewagteften oder ſchwerbeweg—
lichten Geſchäftsarten wachen. Die laute und berechtigte Klage, welche
gegen eine Reihe deutjcher Zettelbanfen umlief, der Hauptanftoß, der zur Re—
form drängte, lag eben darin, daß folche Inſtitute, welche ihre Zettel wie
baares Geld im Lande curjiren ließen, ihre Activa zu Dingen verwendeten,
deren Schickſal Jahr aus Jahr ein entweder den wildeften Wogen des Geſchäfts—
getriebe3 anvertraut oder umgekehrt an jchiverbeivegliche Güter gefeilelt war,
an jolche, welche der Verkehr nur langſam in ihren Werth umfeßt. Von indu-
ftriellen Unternehmungen, von hypothekariſchen Anlagen — fo gilt es allgemein —
follen Banken fern bleiben, die jeden Moment ihrem Zettelgläubiger mit baarem
Gelde Rede zu ftehen haben. Ein Kind begreift’3; Adam Smith hat’3 ſchon vor
hundert Jahren gepredigt; und da er der Vater der Mancheſtermänner ift, fo
wird man ihn nicht für einen übertriebenen NRigoriften halten. Gleichwohl
wurde der Verſuch gemacht, und wäre beinahe gelungen, eine ſolche Ketzerei in
das Geſetz einzuführen. Hätte das ein angeblicher Latitudinarier glei) unfer
Einem unternommen, jo wäre eg minder befremdlich geweſen. Allein das Eigen-
thümliche der Ericheinung lag eben darin, daß Einige von der ftrengften Rich—
tung die Schaaren befehligten, welche die heiligiten Grundjäße des Bankweſens
von oben nad) unten zu fehren verlangten. Waren fie blos ihrer eignen Ein-
gebung gefolgt, indem fie vorangingen? Hatten Andre befunden, daß e3 nüß-
Lich fei, ftrenge Puritaner an die Spike der Kinder Baal3 zu ftellen? Hier
beginnt das Reich der bloßen Vermuthungen, dem möglichft fern ‘zu bleiben
immer das Befte iſt. Um einigermaßen den Zuſammenhang der Dinge zu ver-
ftehen, muß man aber willen, was in der Commiſſion vorgegangen war.
Der Paragraph 44 des urjprünglichen Gejegentwurfs hatte denjenigen
Banken, welche ihre Notenausgabe Hinfüro auf ihr Grundcapital bejchränken zu
wollen erklärten, die Licenz gelaffen, daß fie alle erdenklichen anſtößigen Ge—
Tchäfte machen durften, welche bei der Reichsbank auf's Strengfte verpönt fein
Tollten. Als diefe Beltimmung in der Commijjionsberathung an die Reihe kam,
erhob fi) vor Allem dagegen der Abgeordnete Laster und verlangte, dieje Be—
ftimmung geftrichen zu jehen. Andre Stimmen pflichteten ihm bei, und die
Gegentede des Regierungscommiſſärs richtete ich viel mehr darauf, zu erklären,
warum urjprünglich eine jolche Beſtimmung in’s Geſetz gekommen, al3 zu be-
haupten, daß fie jet noch ftehen bleiben müſſe.
Damals, als noch Feine Reichsbank geichaffen war, der man überlaffen
konnte, Zucht und Ordnung bei den Stleinen zu erhalten, mußte ein Köder ge-
ichaffen werden, welcher eine Zahl von Banken, die ein Privileg zur uneinge-
ſchränkten Notenausgabe hatten, verloden konnte, auf dies Privilegtum zu ver-
zichten. Man räumte ihnen Dispenz ein von Beobachtung derjenigen Regeln
der ESolidität in der Geihäftsbehandlung, welche ſowohl vor der Wiſſenſchaft,
twie dor der Praris feitjtehen, auch für die Neichsbant, wie für die übrigen
Privatbanten in Zukunft gelten jollen. Als Gegenleiftung für dieſen Dispens
Tollten die gedachten wenigen Banken ihre Notenausgabe Künftig nit über die
Höhe ihres Grundeapitals ausdehnen können. Daß dieje Grenze in der Ziffer
des Gapitals gefunden wurde, ift viel mehr aus der Nothwendigkeit zu erklären,
422 Deutiche Rundſchau.
irgend eine Grenze zu finden, ald aus dem logiſchen Zujammenhang zwi-
ihen Capital und Notenausgabe. Jedenfalls war diejer Zujammenhang nie=
mal3 weniger von Bedeutung, als in dem Augenblid, da man den betreffenden
Banken einen Freibrief ausftellte, ihr Capital nad) Herzenäluft in die allerun=
jolideften Gejchäfte zu jteden. Die Motive des urjprünglichen Entwurfs be-
mühten ji), für diefe ganze Kombination ein rationell jein jollendes Syſtem
aufzubauen, defjen Ausführung (Seite 16 in Nr. 27 der Drudiachen des Reichs—
tags) man nur zu leſen braucht, um auf den erften Blick das Gefünftelte und
Gezwungene der Sache zu erfennen. Es gehörte aber zu den Kennzeichen des
uriprünglichen Entwurfs, daß er, um das natürliche Erforderniß einer Reichs—
bank fich herumdrücdend, auf Auswege verfallen mußte, die fi) nur mit jchola=
ftiichen Spielereien begründen"ließen, wie der angebliche Zufammenhang zwiſchen
den Grenzen einer Notenausgabe und den Grenzen eines, jeder Controle ent=
zogenen Gapital3, oder die faum veritändliche Unterjcheidung zwiſchen Local—
banfen und Landesbanken, oder endlich gar die lediglich in's Reich der Fiction
fallende Schöpfungstheorie für die Banken von Gotha, Gera und Büdeburg,
welchen nad) Ausfage des Tertes „von der zuftändigen Landesgewalt im öffent-
lichen Intereſſe (!) die Sorge für die Regelung des Zahlmittelbedarf3 im
Lande, namentlicd für einen, dem jeweiligen reellen Bedarf ji anſchließen—
den Umfang des Zahlungsmittel-Imlaufs und für Verhütung von Aus—
ichreitungen der Speculation durch Borenthaltung oder VBertheuerung des in
Noten zu gewährenden Gredits, und mit diejer Sorge die discretionäre Be-
fugniß übertragen worden, nad den Geſichtspunkten der Verkehrspolizei
die für den reellen Bedarf erforderlichen künſtlichen Zahlungsmittel jeweilig
zu Ichaffen und auszugeben!“
Es konnte nicht ausbleiben, daß, nachdem in vielleicht gehn Sitzungen durch
vierzig Paragraphen hindurch die Commiſſion fi die Köpfe zerbroden, wie
nur auf jede möglihe Weile das Bankſyſtem auf Grund der allerftrengjten
Solidität aufgebaut, mit allen erdenklichen Riegeln und Schlöffern gegen Aus—
ichreitungen verjehen werden jollte, es konnte nicht ausbleiben, daß, am Schluß
de3 dieje Aufgaben nod einmal reſumirenden umftändlichen Paragraphen an—
langend, die Commiſſion mit Schreden und Erjtaunen gewahrte, was hier geſchehen
war. Nämlidy ganz am äußerften Ende des Syſtems war eine Breſche gelegt, durch
welche zunächſt die bewußten fünf Banken (außer den drei genannten nod die
jächfiiche und die Leipziger — die jechite, die preußiiche, war von jelbjt weggefallen)
wieder ganz bequem in's Freie zu entjpringen eingeladen wurden, und, was noch
viel ſchlimmer, außer diejen fünf noch jede andere, welche, ohne von Haufe aus
zu umbegrenzter Notenausgabe privilegirt zu fein, doch für qut befinden mochte,
ih auf die Ziffer ihres Capitals zu beichränfen, um damit Carte blanche für
ihre Geſchäfte zu erhalten. Dieſe Gefahr lag um jo näher, als die Luft, über
eine gewiſſe Ziffer hinaus zu gehen, durch die fünfprocentige Steuer ihnen in
der Hauptſache genommen war, und dieſe Grenze faft bei allen dieſſeits der
Gapitalgrenze liegt.
Als daher in der Commiſſion der Abgeordnete Laster mit dem Anfinnen
hervortrat, den im Schluß des Paragraph 44 enthaltenen Freibrief zurückzu—
Zur Geburt des Bantgejehes. 423
ziehen, ftieß er num auf vereinzelten Widerftand. In Wahrheit mochte beim erften
Auftauchen der Frage Vielen die Wichtigkeit der wie in einem Winkel und unter
Einſchaltung einer ganz beicheidenen Ziffer (1) verſteckten Clauſel entgangen jein.
Lasker jedoch, obgleich fein Sachverftändiger von Profeifion, hatte mit der ihm
eigenthümlichen Fähigkeit, die Eſſenz einer Sache herauszugreifen, jofort die ganze
Tragweite des unfcheinbaren Nachjates erkannt. Er beantragte, daß der Sat
geftrichen werde, welcher die jih auf Gapitalshöhe bei der Notenausgabe be-
Ihräntenden Banken von den Vorfichtsregeln der Anlage befreite. Der Re—
gierungscommiffär bemühte fich viel mehr, zu zeigen, warum er zur Zeit, ala
noch feine Reichsbank geichaffen werden jollte, zu jenem Nothbehelf feine Zu-
Flucht hatte nehmen müſſen, ala Widerftand gegen den Streihjungsantrag zu er—
heben; ja jogar, er erklärte ausdrücklich, dat dem Antrag Lasker's fein Bedenken
entgegenftehe. Darauf ward derjelbe gegen die Oppofition nur einer einzigen
Stimme in erfter Lefung angenommen! In zweiter Leſung unter ganz paſſivem
Verhalten der Regierung bejahte eine ſtarke Mehrheit diejelbe Entſcheidung, troß-
dem bereit3 derjenige Widerftand diesmal auftrat, der bis zu den Berathungen des
Plenums jo gewaltig anjchwellen jollte.
Zwiſchen dem Abſchluß nämlich der Kommilfionsverhandlungen und dem
Anfang der zweiten Berathung im Reichstag hatte das Mutterauge der Privat»
banten jehr wohl erkannt, welches die unabjehbare Tragweite des Freibriefes
jei, den die Aufrechthaltung der unjcheinbaren Ziffer 1 im Schlußſatze des Para-
graphen 44 ihnen aushändigte. Während nun ein Sturmlaufen auf alle maß-
gebenden Kreife begann, anjehnliche Perjonagen, die an der Spike von Banken
ftehen, auf dem Plate erſchienen, um ihre Sache zu vertheidigen, verbreitete
fid — ganz leije, leije, fromme Weife — unter den Abgeordneten die An—
Ihauung, daß mit der Befeitigung der Nummer 1 an der betreffenden Stelle
eigentlich ahnungalos von der Commiſſion ein großes Verjehen begangen worden
jei, jelbftverftändlich dieNtummer in’3 Geſetz zurücdgeführt werden müffe. Unter
diefem Eindruck trat die Sache an’3 Haus heran und gab zu dem hitigen Gefechte
Anlaß, welches, aller Erwartung zuwider, dem Freibrief, den man jchon geborgen
wähnte, nur die Hälfte der Stimmen plus oder minus 1 verjchaffte, je nachdem
man die Stimme eines aus Irrthum in eine faljche Thür gerathenen Ab—
geordneten zur einen oder zur anderen Geite zählen will — ein Grgebniß,
welches glücklicher Weiſe zu einer für das Geſetz ehrenrettenden Transaction führte.
Aus dieſem Kleinen Vorfall ift eine dreifältige Ausbeute für die parla=
mentarifche Anthropologie zu gewinnen. Grftens, daß bier neben dem Abge-
ordneten Lasker, welcher überall die ftrengen Grundjäße vertrat, und in eifrig-
ften Anftrengungen mit ihm verbündet, ſolche Abgeordnete auftraten, twelche bei
der Reichsbank eine höhere Gontingentirungsziffer verlangt hatten und darob
al3 Latitudinarier geicholten worden waren, während auf der Gegenjeite eine
Anzahl Mäpigkeitsapoftel ftanden, die fich beim betreffenden Paragraphen (9)
nicht wenig auf ihre enthaltiamen Gefühle zu Gute gethan hatten. Schade war
es, daß der preußilche Finanzminifter nicht mehr zugegen war, al3 der Para—
graph 44 zur Berathung jtand. Er hatte vielleicht für jeine Anweſenheit fein Bedürf-
niß mehr gefühlt, nachdem die dem Reichsfiscus zugejchnittene größere Gewinn-
424 | Deutiche Rundichau.
portion an der Reichsbank unter feinem ermuthigenden Zuruf in Sicherheit ge-
bracht worden war. Vielleicht ahnte auch er nicht, daß ein Theil derjelben Stimmen,
welche feinen Abftinenzpredigten bei der Gontingentirungsziffer der Reichs—
bant mit dem Bruftton der Meberzeugumg zugejubelt hatten, nun bei dem Zitel
der Privatbanken für höchfte Licenz eintreten würden. Logijch genommen, konnte
er es gar nicht ahnen: denn um die bloße Möglichkeit einer Dtehrausgabe von
fünfzig Millionen ungedeckter Noten bei einer unter Reich3aufjicht jtehenden
Bank fi erhiten, dagegen aber der Privatverwaltung freien Spielraum zu
beliebigen Geſchäftsgebahrungen lafjen, das heißt für Jeden, der eine Ahnung
von Zettelbantwejen hat, Mücden feigen und Elephanten verjchluden.
Das zweite der interefjanten Phänomene war, daß der im Saale geblie=
bene Regierungsredner im Gegenſatz zu zweimaligem Verhalten in der Com—
miſſion nun eifrig für die Recht3erweiterung der Provinzialbanken Partei er-
griff, und zwar mit Argumenten, die an diefer Stelle nagelneu waren. Drei-
mal hatte die Reichsregierung Gelegenheit gehabt, ihre Anficht zu diejem Punkt
zu motiviren. Dreimal hatte fie e3 nicht anders gethan als auf Grund des
Bedürfniffes, ein Gegengewicht gegen die Möglichkeit unbegrenzter Notenausgabe
zu ſchaffen. Niemals war ihr in den Sinn gefommen, ſich auf das Inter—
eſſe Derer zu berufen, welche in der fraglichen Beftimmung nur die Erlaubnig
fahen, eine Reihe von Geſchäften weiter zu treiben, die nach dem grundlegenden
Sinne der neuen Gejeggebung ihnen verjagt jein jollten. Hatte der „Drud von
Außen“, welcher jo mächtige Proportionen in wenigen Tagen annahm, aud) die
Regierungskreife eingeſchüchtert? Angeſichts der verwirrenden Gegenjäße, die hier
auf einander ftoßen, ijt die Frage erlaubt, wenn auch die Antwort nicht zu
beſchaffen.
Die merkwürdigſte von allen Curioſitäten war aber als dritte darin
zu beobachten, daß die Vorkämpfer der Licenz in dieſem ihrem Act ſelbſt ſich
die Miene gaben, auch hier noch als die Advocaten Gottes gegen die Advocaten
des Teufels zu plädiren. Sie behaupteten, daß es ihnen nur gelte, das Un—
glück zu verhüten, welches bevorſtehe, wenn die fünf mehrbeſagten Banken nicht
auf ihr unbegrenztes Notenrecht verzichteten, und gingen darin ſo weit, ihre
Gegner zu beſchuldigen, dieſelben handelten im Ernſt für unbegrenzte Noten—
ausgabe. Sie vergaßen dabei nur drei Dinge:
Erſtens, daß ihre Gegner entweder aus ſtrengen Contingentirern beſtanden,
wie Unruh und Lasker, oder aus Anhängern der Reichsbank, welche für die
Privatbanten Eeinerlei Gunft übrig hatten, am wenigften für die von Bücke—
burg und Sonderöhaufen. Sie vergaßen zweitens, daß man die Leute in
Fleisch und Bein hatte herumlaufen jehen, welche weder dem Syſtem der Ge-
feßgebung noch dem abjtracten Gemeingeift zu Liebe die Reife nady Berlin un—
ternommen hatten. Sie vergaßen aber drittens und haupfſächlich, daß fie jelbft
in den gedructen Motiven ihres Antrags (Siemens) in der größten Naivität
geftanden, ſchwarz auf weiß beurfundet hatten, worum e3 ihnen zu thun ar,
nämlih darum, daß eine Anzahl Banken, an die der Gejeßgeber bei Ab—
fafjung feines Tertes nicht im Traume gedadht hatte, den bewuhßten Freibrief
erhielten.
Zur Geburt des Bantgefeßes. 425
Und das ift eben die „Moral von der Geſchicht'“; denn auch diefe, wie die
von der Embryologie, hat ihre Moral und eine picantere als jene. Fürſt Bis—
mard hat einmal im Reichstag von der Nothwendigkeit der politifchen Heuchelei
geſprochen. Mancher Biedermann nahm daran ehrliden Anftoß, aber am
lebhafteften proteftirten gewiß Die, welche, in dunkler Ahnung ihres inneren
Untergrundes, die Aufrichtigfeit nicht jo weit getrieben haben wollen, daß man
auch die Nothwendigkeit des Heuchelns eingeftehe. Freilich darf nur ein Menſch
von Bismard’3 heroiſcher Gewalt ſich den Luxus eines ſolchen Geftändniffes er-
lauben. Stleine Leute würde man moraliſch todtichlagen, wollten fie ein jolches
Wagniß unternehmen. Und nit bloß würden fie einen leichtfinnigen politi=
ſchen Selbſtmord durch Hebung ſolcher Offenherzigkeit begehen, fondern e3 rächt
fich Schon allemal im Kreis des öffentlichen Lebens der Grad von mittelbarer
Aufrichtigkeit, welcher verſchmäht, in ausdrüdlichen Betheuerungen den großen
und nothiwendigen Grundjäßen zu huldigen, welche die Theile zum Ganzen zu—
fammenhalten. Denn der Menſch, welcher angeblich fich durch dad Lachen vom
Thier unterjcheidet, verliert diefen Vorzug und wird zur „ernften Beſtie“, jobald
er aus der Vereinzelung und VBergänglichkeit feines Individuums heraus tritt
und mit der Gejammtheit ſich zu verftändigen hat. Das bedeutet der viel ver-
ipottete „Cant“ der Engländer, welche nit umſonſt unſre Zehrmeifter in poli=
tiſchen Dingen geworden find. Auc wir, wie alle Völker, haben unjren par=
lamentarijden Gant, und wer deifen Ton nicht anjchlagen kann, wird ſtets
Ginbuße an Wirkſamkeit dafür zu leiden haben. Am glüdlichiten arbeitet der
in der Deffentlichkeit, welchem Natur zu Berftandes- und Charaktergaben den
unerihütterliden Glauben an fih und fein Verhältnig zur Welt mit auf den
Meg gegeben. Doch aud) die, welche nur aus dem Inſtinct der Selbiterhal-
tung heraus fi) angetrieben fühlen, bei allem Thun und Lafjen die Hand auf
die Bruſt zu legen, haben für den Erfolg ein großes Stüd voraus. In alles
dem waltet weile Ordnung der Welt.
„Du, mein Sohn, bit fromm und Elug,
Gottesfürchtig, jtark genug,
Und e8 wird dir wohl gelingen,
Jenen Joab umzubringen.“
Als ich beobachtete, mit welcher Andacht zugehört wurde, während einige
ſtrenge Contingentirer in feierlichem Ton ihre lockeren Grundſätze in Sachen der
Privat-Zettelbanken vortrugen, fiel mir, zu meinem Unglück, wieder eine alte
Geſchichte ein von einem Gascogner und einem Normannen. Der Normanne
trug eine gewaltige Aufſchneiderei vor. „Ach,“ ſeufzte der Gascogner, „ſind Sie
glücklich, mein Herr! Ich, mit meinem Accent, könnte niemals wagen, der—
gleichen zu erzählen.“
Hatte die Zeit zwiſchen dem Abſchluß der Commiſſionsberathung und der
zweiten Leſung dem Einfluß der beſonderen Intereſſen, dem Druck von Außen
gehört, ſo gewann nach der lebhaften Debatte im ganzen Hauſe wieder das
Bewußtſein und das Gewiſſen des großen Ganzen die Oberhand, und das Gefühl
drängte ſich auf, daß man im Begriff geweſen war, etwas recht Unverantwort—
426 Deutjche Rundichan.
bares zu thun. Daraus auch allein ift zu erklären, daß der Bundesrath, gegen
feine Gewohnheit und gegen alle Regeln der Klugheit, ſich dazu bergab, den
Fehler ſich aufhaljfen zu laffen, zu welchem fein Redner die eine Hälfte des
Hauſes mit hatte verleiten helfen. Die Breſche ward nicht vollendet, melche
der Antrag Siemens in’3 Bankgeje zu legen gemeint hatte. Statt ihrer
ward nur eine Hinterthür angebracht, zu welcher der Schlüfjfel dem Bundesrath
anvertraut iſt. Wird diejer jein Pförtneramt gewiflenhaft verwalten? Wenn es
ihm gelingt, jo verdient er, daß man ihm ein Compliment made. Denn wir
haben e3 ja eben exlebt, daß e3 nichts Kleines ift, dem Andrang der compacten
Privatintereffen Widerftand zu leiften. Nicht etwa, weil ntegrität dazu ge-
hört! Denn wer wollte glauben, daß, wie in parlamentariichen jo auch in gou—
vernementalen Gebieten, die Privatintereffen bei uns anders wirken al3 duch
atmoſphäriſchen Drud auf die Empfindung und Vorjtellung der von ihnen Be-
lagerten? Aber gerade diefem Drud zu mwiderftehen, möchte der Reichsregierung
um jo ſchwerer fallen, weil jeden Augenblid die Verſuchung twiederfehren wird,
durch ein finanzwirthichaftliches Zugeftändnig an einen Kleinftaat irgend eine
politiſche Conceſſion von demjelben zu erfaufen.
Man Hat e3 vielfah mit Anerkennung conftatiren hören, daß in der
Bankfrage die politiichen Gegenfäße ſich vollftändig durcheinandergewürfelt fan—
den, und man hat daraus fchließen zu müſſen geglaubt, daß die rein fachliche
Beurtheilung die Haltung des Einzelnen beftimmt habe. Zur Illuſtration der
Schattirungen, unter deren Vorbehalt diefe Auffaſſung gelten darf, diene ein
perjönliches Erlebniß. In der Vorhalle des Situngsfaales erging ſich ein be-
ſonders heißſporniges Mitglied des Centrums mit mir im Gejpräd über die
Tagesfrage der Verhandlung und malte mir noch einmal privatim feinen Ab—
ſcheu vor Allem, was Banknote fei, in den blutigften Farben. — „Aber mein
Beiter,” frug ich ihn, „wenn Sie jo ftrenge Grundfäße haben, wie konnten Sie
dann für den Antrag Siemens ftimmen?” — „Ad, College,“ — erwiderte er —
„willen Sie, wenn doc) einmal ſolche Papieren gemacht werden jollen, jo mögen
doch auch die guten Leute auf dem Lande etwas davon haben, die Hypotheken
auf ihre Güter brauchen.” —
— — —
Das Bankgeſetz, trotz der Ausſtellungen, welche von dieſer oder von jener
Seite im Einzelnen an ihm gemacht werden mögen, bezeichnet einen der größten
Fortſchritte in dem Geſammtleben der deutſchen Nation. Der Vorwurf, daß es
zu raſch gefördert worden wäre, kann als ganz unbegründet zur Seite geſchoben
werden. Seit dem Ende des Jahres 1871, welches uns das Geſetz über die
Einführung der Goldwährung brachte, bis zum Ende des Jahres 1874, volle
drei Jahre hindurch, hat das Problem dieſer Löſung unabläſſig dem Nachfinnen
aller dazu Berufenen vorgeſchwebt als die nothwendige Form des Abſchluſſes
für die ganze Ordnung des deutſchen Verkehrsſyſtems. Während der letzten
ſechs Monate hat daſſelbe Problem unaufhörlich die Kräfte aller Betheiligten
in Spannung gehalten. Zwei Monate lang unterlag es der parlamentariſchen
Behandlung. Daß ein ſo vorbereiteter Stoff nur gewinnen kann, wenn der
Zur Geburt des Bantgejehes. 427
legte Guß ſchließlich in eifriger Anftrengung mit größter Schnelligkeit vollzogen
wird, mag nur dem entgehen, der nicht weiß, wie nad) Langer, vorjichtiger Be-
reitung eine Materie defto beffer in die Form gelangt, je mehr die Mafje in
Fluß gebracht und das Fliegende, jo lange es noch glüht, feſt geftaltet wird. Alles,
was auch die längfte Zögerung hätte herbeiführen können, ift in die Erwägun—
gen aufgenommen, und wer da meint, langjam leiften ſei viel leiften, zeigt
wenig Vertrautheit mit den bejonderen Kräften, die zur fruchtbaren geiftigen
Arbeit vertvandt werden.
Mit dem Bankgeſetz ift der dreifache Kreis gejchloffen, in dem das Geld-
ſyſtem des deutjchen Reichs ruhen und fich entwideln jol. 3 vollendete im
Januar 1875, was die Goldwährung und die Münzeinheit durch die Geſetze vom
4. December 1871 und vom 23. Juni 1873 begonnen und fortgejeßt hatten.
Allerdings fehlt zu diefem Bau noch das MWichtigfte, der Theil der Aus—
führung, welcher erſt durch Verkündung der vollen Goldwährung in’3 Leben
tritt und feinen Ausdruc findet in dem erften Abjat de3 Artikel 9 des Münz—
geſetzes, Tautend:
„Niemand ift verpflichtet, Reichsfilbermüngen im Betrag von mehr
al3 zwanzig Mark und Nidel- und Kupfermünzen im Betrag von
mehr ala einer Mark in Zahlung zu nehmen.“
So lange diefe Beftimmung nicht in volle Kraft gejeßt, ftehen unjer Münz-
wie unfer Banfgejeß, ihrer Wejenheit nach, nur auf dem Papier.
Die Reichsregierung Hat die Aufgabe, diefen Zeitpunkt zu bejtimmen, trägt
die VBerantwortlichkeit für die Wahl dieſes Augenblicks.
Hat fie bis jet darin mit dem richtigen Blick geurtheilt und gehandelt?
Der Finanzminifter von Preußen, welcher offenbar das größte Gewicht in die
Wagſchale zu werfen hat, glaubte im Beginn der jüngften Debatte der von ihm
nicht allzuihonjam behandelten Gefäftswelt den Vorwurf machen zu jollen,
fie jei „leichten Herzens” in die Goldwährung hineingegangen. Im Laufe der-
jelben Debatte ift es ihm jedoch geichehen, daß ihn die Gewohnheit, ſich
ſelbſt zu citiven, auch zur WVorlefung einer Rede verführte, in der er jelbft am
8. Mai 1873 von der „Ipielenden Leichtigkeit“ geiprocdhen, mit welcher Die
Münzreform in manden Beziehungen (und hier konnte doch nur die Goldan-
Ihaffung gemeint jein) auszuführen jet. Ob nicht auch ihm das Herz nad
und nach ein wenig ſchwer geworden? Ob der Moment der „Ipielenden Leich—
tigkeit“ von ihm wahrgenommen und mit der richtigen Thatkraft ausgenützt
worden? — Das muß man ihm einräumen, daß er Einen Gedanken jtets
feftgehalten:
Der preußiſche Finanzminifter ift nämlich, jeitdem ex dem großen Werke
der Münz- und Bankreform von Ende 1871 an vorfteht, offenbar von der An
nahme ausgegangen, daß, um dem auszumünzenden Golde Pla zu maden,
nur das umlaufende ‘Papier zu vermindern fei, kaum aber, wenn überhaupt,
da3 Silber. Doch auch hier hat er wieder eine Ausnahme eingejchaltet zu
Gunften des Staatöpapiergeldes. Seine Mäßigkeitsgrundjäte haben diejes ver-
Ihont und ihr ftrenges Antli nur den Banken: zugelehrt. Er hat ji) dem
498 Deutſche Rundſchau.
Glauben überlaſſen, daß unſer Vorrath an Silber nicht zu groß ſei, um künftig
nad Inkrafttretung des Art. 9 des Münzgejeßes als Scheidemünze im Lande
zu bleiben.
Damit verbunden war natürlich die für ihn lodende Ausfiht, wenig
Silber an’3 Ausland verfaufen, wenig Verluft gegen das nominale Verhältniß
von 15°/, zu 1 im Umtaufch gegen Gold erleiden zu müſſen. Gonjequenter
Weiſe wurde daher auch verſchmäht, anfehnlihe Partien Silber zu verkaufen,
al8 deifen Preis noch bedeutend höher ftand, wie jebt; wol auch hing mit dem
Glauben an dies fortdauernde große Bedürfnig nad) Silber zufammen die An-
fiht, daß man fich wegen der zu beihaffenden Goldvorräthe nicht allzuſehr an-
zuftrengen brauche. Der Schnitt in die Bapiercirculation der Banken, die
Begrenzung ihrer Noten auf den Minimalbetrag von Hundert Mark und die
fünfprocentige Contingentirung follten im Wejentliden die Unfoften der Münz—
reform beftreiten.
Es muß fich jeßt zeigen, ob die Rechnung richtig war. Die Banknoten
find befeitigt, und nad) dem Syitem, welches beliebt worden, ift fein Grund
mehr vorhanden, die Inkraftſetzung des Art. 9 des Münzgeſetzes noch lange zu
verzögern.
Diefe Vollendung der Dinge ift um jo ficherer herbeizurufen, als, auch
für den Fall, daß die zu Grunde gelegte Rechnung nicht ſtimmen möchte, die
ftärkjten Motive dazu drängen, aus dem verhängnißvollen Proviſorium heraus-
zukommen, deſſen unbeftimmte Dauer nur wachſende Mißſtände und Verwirrung
der Dinge heraufbeſchwören kann.
Stimmt die Rechnung des preußiichen Finanzminifters, jo ift Anfang 1876
der Moment gefommen, ihr Reſultat zu ziehen; ftimmt fie nicht, jo kann nur
die Probe auf die Wirklichkeit der lebendigen Verhältniffe ihn und uns eines
Anderen belehren und zu denjenigen Maßregeln hinführen, welche der Reichätag
im Auge hatte, al3 ex behufs Durchführung dev Münzreform einen — unbe-
nüßt gebliebenen — Credit von fünfzig Millionen Thalern eröffnete, weil er,
abweichend von dem preußiichen Finanzminiſterium, zu der Anficht neigte:
die Zahl der umlaufenden Papiere auf das richtige Maß zurüdzuführen, werde
es nur eines Geſetzes bedürfen; zur richtigen Reduction des Silber? und An-
Ihaffung des Goldes aber bedürfe es großartiger und entichlojfener Operationen,
bei denen mit dem Sparſyſtem allein nit auszukommen jei.
Die wahre Probe auf das Vertrauen, daß wir nicht zu viel Silber befigen,
ift zu liefern dadurch, daß man den Artikel 9 des Münzgeſetzes in volle Wirk—
ſamkeit bringt, deſſen zweiter Abjah, in Ergänzung des bereits erwähnten er-
ften, lautet:
„Bon den Reichs- und Kandescaffen werden Silbermünzen in jedem
Betrage in Zahlung genommen. Der Bundesrath wird diejenigen
Kaſſen bezeichnen, welche Reihsgoldmünzen gegen Einzah—
lung von Reichsſilbermünzen in Beträgen von minde-
ftens 200 Mark oder von Nidel: und Kupfermünzen ın
Beträgen von mindeſtens 50 Mark auf Verlangen ver-
Zur Geburt des Bantgejehes. 429
abfolgen. Derjelbe wird zugleich die näheren Bedingungen des
Umtauſches feitjegen.“
Lebt die im Reiche maßgebende Autorität des Glaubens, daß nicht, auf
Grund der durch obige Beftimmung gegebenen Möglichkeit, überſchüſfige Silber-
münzen zu einer über die Vorräthe hinausgehenden Einwechſelung ſich heran-
drängen und damit die Reichskaſſe in VBerlegenheit bringen können, jo muß jie
e3 beweijen, indem fie den Artikel 9 des Münzgejehes feinem ganzen Umfang
nad für den 1. Januar 1876 publiciven d. 5. das Münz- und Banfgejeß bis
dahin zur vollen Wahrheit werden läßt. Mit Gewißheit vorauszufagen, ob
fie im Wahren oder im Irrthum jei, tft nicht möglich, wird auch von ihr jelbft
nicht beanſprucht. Einiges Wagniß wird ftet3 mit einfließen müfjen. Aber
da3 Gelingen ift jo jehr zu wünjchen, daß man nicht ſich joll beikommen laffen,
ihm mit Zweifeln den Weg zu vertreten.
Deutſche Runbihau. 1, 4. 29
— ah u.
Aeber Geſchmack und Gerd,
Bon A. Fik,
Profeffor der Phyfiologie in Würzburg.
—ñN
Wenn der Phyſiolog ſich die ſchwierige Aufgabe ſtellt, ein Thema ſeiner
Wiſſenſchaft vor einem größeren Kreiſe Gebildeter gemeinfaßlich zu behandeln,
ſo bieten ſich ihm wohl kaum paſſendere Gegenſtände dar, als ſolche aus der
Phyſiologie der Sinne. Er hat hier einmal den Vortheil, an allgemein be—
kannte Erſcheinungen anknüpfen zu können, dann aber findet er in anderen Ge—
bieten der Phyſiologie ſchwerlich einen Gegenſtand von jo allgemeinem Intereſſe
als jene bewundernswürdigen Werkzeuge, welche jeder beſtändig mit vollem Be—
wußtſein gebraucht, um mit ihrer Hülfe die Welt der Erſcheinungen aufzu—
bauen. Die Leſer dieſer Zeitſchrift haben daher Alle gewiß ſchon reichlich Ge—
legenheit gehabt, in allgemein verbreiteten Schriften oder in öffentlichen Vor—
trägen manches über den Geſichts-, Gehörs- und Taſtſinn zu erfahren. Weniger
vielleicht über Geruch und Geſchmack und ich möchte mir daher erlauben, ihre
Aufmerkſamkeit gerade einmal auf diefe wenig beachteten Stieffinder der Dar-
ftellung zu richten.
Zwar können ſich dieje beiden Sinne mit ihren drei Geſchwiſtern nicht
mefjen an Wichtigkeit für die Erfenntniß, aber ihre Betrachtung bietet doc) da-
durch Intereſſe, daß fi) an ihnen manche allgemeine Sätze der Sinneslehre be-
ſonders gut anſchaulich machen Lafjen.
Wenn wir uns vor Allem die Frage vorlegen, was überhaupt unter einem
Sinne und einem Sinneswerkzeug zu verſtehen ſei, ſo ſtellen wir uns am zweck—
mäßigſten auf den Standpunct der unbefangenen Selbſtbeobachtung. Sie ergiebt
uns als fundamentalſte Thatſache den Wechſel der Empfindungen. So bezeichnen
wir bekanntlich Zuſtände unſeres Bewußtſeins, die ſich in Worten nicht näher
definiren laſſen, die aber auch keiner Definition bedürfen, da ſie uns aus innerer
Anſchauung vollſtändiger bekannt ſind, als irgend etwas Anderes.
Unter den Empfindungen ſind nun einige dadurch ausgezeichnet, daß mit
ihnen der Verſtand ſofort die Vorſtellung von einem äußeren Objecte verknüpft,
deſſen Gegenwart als Urſache der Empfindung geſetzt wird.
Bu
Ueber Geijhmad und Gerud). 431
Diefe befondere Art von Empfindungen nennen wir Sinnesempfindungen.
Um dies deutlicher zu machen, brauche ich nur beiſpielsweiſe zu erinnern an
den Unterjchied zwiichen der Empfindung des Hunger? und einer Lichtempfin-
dung. Jene faßt der Verſtand nicht auf als Wirkung eines äußeren Objecteg,
twol aber dieje; daher die Lichtempfindung unter den Begriff der Sinnegempfin-
dungen fällt, jene, die Empfindung de3 Hungers, nicht.
63 bedarf feiner eingehenden phyſiologiſchen Studien, es genügt vielmehr
ſchon oberflächliche Beobachtung, um einzufehen, daß Sinnesempfindungen alle-
mal entjtehen, wenn in den Nerven ganz beftimmter Organe etwas vorgeht,
was man gerade nicht genauer zu erörtern braucht, das man aber unbedenklich
al3 Reizung, Erregung oder ſchlechtweg Thätigkeit bezeichnen kann, denn es ift
unzweifelhaft irgend ein Bewegungszuſtand der Hleinften Theilchen, der nur aus
bejonderen Beranlafjungen eintritt. So tritt 3. B. eine Lichtempfindung auf,
wenn die Nervenelemente der Netzhaut des Auges in Thätigkeit verjeßt wer—
den, eine Schallempfindung, wenn die Nerven des Ohres in Erregung kommen.
Diefe bejonderen Nerven, deren Erregung zu den Sinnesempfindungen führt,
nennt man deshalb die Sinnesnerven. Ihre peripheriichen Enden find mit be-
fonderen Apparaten verknüpft, welche verjchieden eingerichtet find, jo daß zu
jedem Sinneönerven in der Regel nur ein bejonderes äußeres Agens Zutritt
finden kann, welches man als den adäquaten Reiz de3 Sinnes bezeichnet. So
find 3. B. die Enden der Sehnerven befanntlih im Augenhintergrunde aus-
gebreitet und davor liegen die durchſichtigen Körper dieſes Organes, jo daß
regelmäßig nur die jogenannten Lichtftrahlen, welche jene durchfichtigen Körper
faft ungeſchwächt durchdringen, die Enden der Sehnerven reizen können.
Die Enden der Gehörnerven find im Inneren de3 Ohres fo gelagert, daß
fie in der Regel nur von den jogenannten Schallſchwingungen wirkſam können
getroffen twerden. Es iſt aljo für den Gefichtäfinn der Lichtftrahl, für den Ge-
hörfinn die Schallwelle der adäquate Reiz, fir andere Sinne werden wir fie
noch genauer kennen lernen,
Die naide Auffaffung wird geneigt jein,- anzunehmen, daß hierauf die
qualitative Verichiedenheit der Sinnesempfindungen beruhe, daß das erregte
Auge Licht, das erregte Ohr Klänge empfinde, weil jenes von Strahlen leuch—
tender Körper, diejes von Schwingungen der Luft erregt werde. Dies ift aber
eine grobe Täufhung. In der That, was hat der Empfindungszuftand, den wir
Klang nennen, gemein mit der Vorjtellung de3 Erzitterns der Luft, oder die
Empfindung des Hellen, Rothen u. }. w. mit jenen Bewegungen eines feinen,
überall verbreiteten Mediums, welche die Phyfif uns unter dem Namen des
Lichtes kennen lehrt.
Wer übrigens in diefen Abftractionen Schwierigkeit finden jollte, kann ſich
durch alltägliche Beobachtungen an fich jelbjt überzeugen, daß die Beichaffenheit
des Empfindens gar nichts zu thun hat mit der Art, wie der betreffende Sinn
gereizt werde. Bekanntlich) fommt 3. B. die Empfindung des Hellen geradejo
gut zu Stande durch einen Stoß auf das Auge, wie dur) die Strahlen eines
29*
432 | Deutiche Rundichau.
leuchtenden Körpers. Sie fommt eben allemal zu Stande, wenn der Sehnerv
gereizt wurde, ganz gleichgiltig, durch welches Mittel er gereizt wird.
Die Endapparate der Sinnesnerven Haben noch eine merkwürdige Eigen-
thümlichkeit. Sie find nämlich durch ganz außerordentlich leife Anftöße er—
regbar. Wir müſſen daher annehmen, daß fie aus anderen Stoffen gebildet
find, als die eigentlichen Nervenfajern, denn dieſe brauchen verhältnißmäßig
ſchon einen tüchtigen Puff, um gereizt zu werden. Die Stoffe, aus denen die
Endapparate der Sinnesnerven gebildet find, müſſen etwa den explodivenden
Körpern ähnliche Eigenjchaften bejiten. Es müſſen nämlih in ihnen durch
ganz minime Anſtöße befonderer Art verhältnigmäßig beträchtliche Kräfte ausge-
Löft werden, die dann erjt als Reize auf die damit zujammenhängenden Ner—
venfajern einwirken. Mir werden davon im weiteren Berlaufe Beilpiele
fennen lernen.
Mit diefen allgemeinen Grundbegriffen ausgerüftet, können wir an die Be—
trachtung des Gejchmades und Geruches herantreten. Die Nervenfajern, deren
Erregung Gejhmadsempfindungen zur Folge hat, endigen in einem Theile der
Zungen= und Gaumenjchleimhaut. Ihre legten Enden find eigenthümliche, nur
mit dem Mikroſkope fichtbare Gebilde, welche an der freien Oberfläche der
Schleimhaut zu Tage liegen und daher in der Mundflüſſigkeit gebadet find.
Die ſpecifiſche Eigenthümlichkeit diefer Gebilde befteht nun in folgendem:
Mechaniſche Anfulten, Stoß, Drud, Erhitung, Abkühlung, Lichtſchein der
heftigften Art läßt jie in Ruhe, ſowie aber die kleinfte Menge gewiſſer, in der
Mundflüfjigkeit gelöfter Stoffe chemiſch auf fie einwirkt, jo gerathen fie in .jene
(uns freilich ihrem Wejen nad) unbefannte) innere Bewegung, welche ſich da—
durch zu erkennen giebt, daß die mit ihnen verknüpften Geichmadsnervenfajern
in Erregung kommen, daß eben eine Gejhmadsempfindung entjteht.
Ich Tagte joeben, daß nur auf einem Theile der Zungen- und Gaumen-
ichleimhaut die Geſchmacksnervenenden beſchränkt find. Es wird qut fein, das
Gebiet genauer zu umgrenzen, da gemeiniglid;) Zunge und Gaumen im Ganzen
für Site des Gejchmades gehalten werden. In Wahrheit ift e8 nur die Zun-
genwurzel, dann ein jchmaler Streif am Rande der Zunge beiderjeit3 bis zur
Spike und endlich ein ſchmaler Streif an der Oberfläche der von der Zungen-
twurzel zum Gaumen auffteigenden Schleimhautfalten der fogenannten Zungen
gaumenbögen. Es erfordert indefjen einige Uebung in der Beherrſchung der
eigenen Muskeln und in der Selbſtbeobachtung, ſich davon zu überzeugen, daß
man mit dem mittleren Theile des Zungenrückens und mit dem größten Theile
de3 Gaumen nicht ſchmeckt. Man muß nämlich zur Prüfung die veridjiede-
nen Stellen der Mundſchleimhaut mit entjchieden ſchmeckbaren Körpern, 3. B.
mit Zucerlöjung, betupfen und die Zunge vollftändig ftill halten, jo daß feine
Ausbreitung des ſchmeckbaren Stoffes ftattfindet, was bei der befannten
Ziügellofigfeit diejes Kleinen Dinges nicht leicht ift. Gebraucht man aber dieje
Vorſicht, jo wird man ſich überzeugen, daß beim Betupfen der Mitte des
Zungenrückens oder des harten Gaumens mit ſchmeckbaren Stoffen eine Ge—
ihmad3empfindung ebenſowenig zu Stande kommt, al3 wenn man dieje Stoffe
Neber Geſchmack und Gerud). 433
mit der Lippen- oder Wangenjchleimhaut oder mit irgend einem andern jonft
empfindlichen Körpertheil in Berührung bringt.
Zu den Stoffen, deren Berührung die Gejchmadönervenenden erregen und
die man darum ſchmeckbare Stoffe nennt, gehören unter Anderem der Ejfig, das
Kochſalz, Zuder, Chinin. Jedermann weiß, daß die beijpieläweije genannten
Körper zu Gejchmadsempfindungen von ganz verjchiedener Qualität führen.
Eſſig ſchmeckt jauer, Kochſalz ſchmeckt jalzig, Zuder ſüß, Chinin ſchmeckt bitter.
Es wird vielleicht Mancher ſogleich bei der Hand ſein mit der Erklärung:
Eſſig ſchmeckt ſauer, weil er eben ſauer iſt, und Zucker ſüß, weil er ſüß iſt.
Dieſer naiven Auffaſſung iſt indeſſen die vorhin ſchon geltend gemachte Er—
wägung entgegen zu halten: was hat die Beſchaffenheit eines Zuſtandes unſeres
Bewußtſeins, denn eine ſolche iſt doch die beſtimmte Geſchmacksempfindung
„ſauer“ für Aehnlichkeit oder wie iſt ſie nur überhaupt vergleichbar mit der
chemiſchen Zuſammenſetzung eines beſtimmten Stoffes, des Eſſigs? Ueberdies
iſt bekannt, daß die Geſchmacksempfindung „ſauer“ auch auf ganz anderem
Wege zu Stande kommen fann, 3. B. wenn man einen eleftriihen Strom
durch die Zunge leitet.
Nach dem vorhin ſchon angedeuteten Principe hat die Phyfiologie nur eine
mögliche Erklärung für die qualitative DVerjchiedenheit der Gejhmadsempfin-
dungen. Es muß unter den zahlreichen Gejchmadsnervenfafern verſchiedene
Gattungen geben, die eine Gattung muß — wie aud) immer — erregt, ſei
e5 durch Eſſig, jei e8 durch den elektriſchen Strom, die Empfindung des Sauren
hervorbringen, die andere die Empfindung des Süßen, eine dritte die Empfin=
dung des Bittern und vielleicht eine vierte die Empfindung des jalzigen Ge—
ihmades. 63 müfjen aber auch die Endapparate dieſer verjchiedenen Faſer—
gattungen von einander verjchieden jein, jo daß die einen vorzugsweile durch
diefe, die andern vorzugsweiſe durch jene Stoffe erregt werden. So muß 3.2.
der Eſſig nur die Enden der fauer ſchmeckenden Faſern erregen, während er die
Enden der ſüß jchmedenden Fajern in Ruhe läßt, denn fonjt würde er jauer
und Tüß zugleich ſchmecken.
Es ift übrigens gut zu bemerken, daß es zahlreiche Stoffe giebt, die wirt:
lich zwei oder vielleicht aud) mehrere Gefhmadsempfindungen zugleich erregen.
So finde ich 3. B. ganz entjchieden, daß Schwefeljäure in gewiljen Verdün—
nungsgraden zugleich ſüß und ſauer ſchmeckt. Ganz befannt ift auch, daß das
unter dem Namen des Bitterjalzes befannte Salz zugleich bitter und ſalzig ſchmeckt.
Dies find dem Phyfiologen jehr willftommene Beijpiele von Körpern, die nad)
unſerer Auffafjungsweife ſowohl auf die eine als die andere Art der Endap-
parate einwirken fünnen. Und in der That wäre e3 geradezu erſtaunlich, wenn
jeder Körper gerade nur auf eine Art der Gejchmadsnervenenden ganz aus—
ſchließlich wirken jollte.
Die vier zunächſt blos als Beiſpiele aufgeführten Qualitäten des Ge—
ſchmackes, jauer, jalzig, ſüß und bitter erſchöpfen höchſt wahrſcheinlich voll
ftändig die ganze Mannigfaltigkeit auf dem Gebiete unſeres Sinnes, jo un-
erichöpflich diefelbe auch erjcheint, wenn man an die unglaubliche Fähigkeit
mancher Feinſchmecker denkt, unzählige Stoffe durch die Eindrüde zu unter:
434 Deutiche Rundſchau.
ſcheiden, twelche fie beim Verſchlucken hervorbringen. Vermag doh Mander an
einem Schluck Wein zu erfennen, wo und wann derjelbe gewachſen ift. Um
diefe Thatjache mit der Behauptung in Einklang zu bringen, daß der Geſchmack
nur die vier namhaft gemachten Grundqualitäten befißt, muß man Folgendes
bedenfen: Erſtens läßt fi aus diejen vier Grundqualitäten eine umendliche
Mannigfaltigkeit gemijchter Empfindungen zufammenjegen. So kann fi 3. B.
der ſüße Geſchmack mit dem bitteren verbinden und je nachdem bald der jühe,
bald der bittere mehr vorherrſcht, ergeben ih ſchon unzählige Schattirungen
de3 bitterfühen Geſchmackes.
Zweitens aber gejellen fi den Geſchmacksempfindungen faft regelmäßig
nod andere Sinnesempfindungen bei, indem die ſchmeckbaren Stoffe nicht blos
die Gejhmadsnervenenden, jondern auch benachbarte Enden anderer Sinnes-
nerven mit erregen. Diejen Sa muß ich noch etwas näher erläutern. Zwilchen
den Gejchmadsnervenenden find auf der Zungenoberflädhe noch zahlreiche Enden
von Zaftnerven vertheilt. Ihre Erregung bedingt Gefühle von derjelben Art
wie die Erregung der überall in der Hautoberfläche endigenden Nerven, und
man weiß ja, daß eben darum die Zunge aucd ein jehr empfindliches Taftorgan
bildet, ähnlich wie die Fingerſpitzen. Da die Enden der Taftnerven der Zunge
aber nicht von einer trodenen verhornten Zellenſchicht überzogen find, jo find
fie auch den chemiſchen Angriffen in der Mundflüffigkeit gelöfter Stoffe aus-
gejeßt. Sie verhalten fich in diefer Beziehung ähnlich wie die Taftnervenenden,
an einer Hautftelle, welche durch ein Blajenpflafter ihrer Oberhaut beraubt ift.
E3 kann daher nicht auffallen, wenn mande Stoffe, welche einerjeits die Ge—
ſchmacksnerven reizen, zugleih auch die Taftnerven der Zunge erregen. Die jo
erzeugten Taftgefühle werden aber im Bemwußtjein unauflöslich verfnüpft mit
den gleichzeitig vorhandenen Geihmadsempfindungen und der Gompler wird
in der Sprache de3 gemeinen Lebens al3 der Geihmad des betreffenden Stoffes
bezeichnet. So jpriht man wol von dem zufammenziehend bittern Ge-
ſchmacke der Metallfalze, 3. B. des Kupfervitriold, von dem ftehend fauren
Geihmade der Schwefeljäure ꝛc. Die brennende Empfindung, welche manche
Stoffe auf der Zunge erregen, wie 3.8. der gemeine und bejonders der joge-
nannte jpanijche Pfeffer, find jogar reine Taftenpfindungen und doch bezeichnet
fie der gemeine Sprachgebrauch als Geſchmack. Man ſieht, daß diefe Ber-
fnüpfung von Zajtgefühlen mit Gejhmadsempfindungen unjere Fähigkeit
erheblich fteigern muß, verichiedene Körper zu unterjcheiden nad) den Eindrücken,
welche fie auf der Zunge hervorbringen.
In noch weit höherem Maße aber gejhieht dies durch die weitere Ver—
fnüpfung dee Geſchmacks mit Gerudhsempfindungen. Der Sprad-
gebrauch jagt von unzähligen Stoffen man ſchmecke fie, die man in Wahrheit
rieht. Manche Dialekte der deutſchen Sprache, 3. B. der ſchweizeriſche, kennen
daher das Wort „riechen“ gar nicht, jondern reden überall nur von ſchmecken.
Da heißt e8: die Roje ſchmeckt prächtig oder es ſchmeckt nah Gas u. ſ. f.
Zur Beltätigung meiner Behauptung kann ich die allgemein bekannte Er-
fahrung anführen, daß man beim Schnupfen, wie man zu jagen pflegt, nicht
Ueber Geſchmack und Geruch. 435
fein „ihmedt“. Dean jollte beſſer jagen, man riecht nicht fein; denn die
eigentlihen Geſchmacksempfindungen jauer, jalzig, ſüß, bitter, werden troß des
Schnupfen3 ebenjo wahrgenommen wie jonft; aber e3 entgeht einem der Duft
des Bratenz, da3 Arom der Gemüfe und die Blume des Weines.
Wer durch diefe Erfahrung noch nicht überzeugt fein ſollte, dem empfehle
ih, folgenden, ihn vielleicht überrafchenden Verſuch anzuftellen. Er laſſe ſich bei
zugehaltener Naje und gejchlofjenen Augen von einem Andern auf die Zunge
bringen 3. DB. einen Tropfen Zwiebeljaft oder einen Tropfen Banilleabfud oder
von jonft einer jogenannten aromatiſchen Flüſſigkeit. Trotz alles Prüfens wird
er Ichiverlich erkennen, was er im Munde hat. Sowie er aber die Nafe öffnet,
wird jeder Zweifel ſchwinden, weil nun die Geruchgempfindung ſich der Ge-
Ihmadsempfindung zugejellt.
Sp zeigt fi) al3 unzertrennlicher Zwillingsbruder des Geſchmacksſinnes
der Gerud, dem wir nunmehr unjere Aufmerkſamkeit zuwenden wollen. Der
Nerv, deijen Erregung die Geruchsempfindungen bedingt, geht, wie jedermann
befannt, in die Najenichleimhaut, jedoch ift jeine Ausbreitung auf ein Kleines
Stüd derjelben im oberjten Theil der Najenhöhle beichräntt.
Die Endapparate der Geruchsnervenfafern find feine, Härchenartige Gebilde,
welche über die Oberfläche der Schleimhaut in den Luftraum der Najenhöhle
hervorzuragen jcheinen. Sie haben ähnliche, nur noch jeltfamere Eigenjchaften,
als die Apparate an den Enden der Gejhmadsnerven. Wie dieje jcheinen fie
durch mechanijche und viele andere Einwirkungen nicht in jenes innere Erziltern
verjegt werden zu können, das ſich auf die damit verknüpften Nervenfafern als
Erregung fortpflanzt. Wenigftens hat man bis jet noch nicht mit Sicherheit
beobachtet, daß durch mechaniſche oder eleftriiche Einwirkungen oder durch An-
wendung von Wärme und Kälte auf die Nafenjchleimhaut Geruchsempfindungen
zu Stande gebracht werden könnten.
Auch chemiſche Einwirkungen Lafjen die Geruchsnervenenden ungereizt, wenn
fie ausgeübt werden von Stoffen im flüjfigen Aggregatzuftande. Um dies zu
beweijen, hat man die Nafjenhöhle gefüllt mit Wafjer, in welchem jonjt ent—
ichieden wirkſame Stoffe gelöft waren. Nicht die mindefte Geruchsempfindung
fand in ſolchen VBerfuhen Statt. Sowie aber gewilje gasfürmige Stoffe in der
die Najenhöhle ducchftreichenden Einathmungsluft enthalten, mit den Gerud)3-
nervenenden in Berührung fommen, gerathen diejelben in die heftigfte Erregung,
die, den Nerven mitgetheilt, lebhafte Geruchsempfindung bedingt.
Gegen manche Körper zeigen die Geruchönervenenden eine wirklich mär-
henhafte Empfindlichkeit. Obenan fteht in dieſer Beziehung der Moſchus.
Es ift allgemein befannt, twie geringe Mengen diejes Stoffes ein ganzes Haus
mit jenem Geruche erfüllen können. Wie Klein eine Moſchusmenge fein müſſe,
damit fie durch den Geruch unmwahrnehmbar werde, hat man durch Verſuche
gar nicht ermitteln Können; denn die feinfte chemiſche Wage zeigt nicht den Ge-
wichtöverluft, den eine Moſchusmenge erleidet, wenn fie ein ganzes Zimmer
mit ihrem Duft erfüllt. Jedesfalls ift ein Milliontel Milligramm Moſchus
mehr al3 ausreichend, um ein gefundes Geruchsorgan merklih zu afficiren.
436 Deutſche Rundſchau.
Es giebt kaum eine andere Erſcheinung, durch welche ſich der vorhin aus—
geſprochene Satz jo anſchaulich beweiſen läßt, daß die Endapparate der Sinnes—
nerven durch ganz außerordentlich leiſe Anſtöße beſonderer Art in den ihnen
eigenthümlichen Beregungszuſtand verſetzen laſſen, der zur Erregung der Sinnes—
nerven führt.
Wir könnten noch zahlreiche andere Stoffe nennen, die ebenfalls ſchon !tı
außerordentlich Kleinen Mengen den Geruchsfinn erregen, wenn auch feine nit
dem Moſchus zu wetteifern vermag. So genügt von Rofenöldampf ein zwarzig—
taufjendftel Milligramm, um gerochen zu werden, von Schwefelwafjerftof ein
dreitaufendftel u. f. f.
Welche chemiſche Eigenjchaften ein Stoff haben müſſe, damit er die Ge-
ruchönervenenden afficire — mit andern Worten riehbar fei: das iſt leider
noch gänzlich unbekannt. Sedesfalls find nicht bejonders energifche Verwandt—
ihaftsfräfte für andere befannte Körper erforderlih. Das Roſenöl und der
Moſchus beijpielsweife ſcheinen ſonſt chemiſch ſehr imdifferente Körper zu fein.
Da3 Ammoniak dagegen, das bekanntlich auf viele Stoffe jehr energiſch einwirkt,
fteht an Wirkung auf den Geruchsſinn Hinter ihnen bedeutend zurüd. Es ift
ſchon in 33,000facher Verdünnung mit Luft nicht mehr riechbar.
Ein Schimmer” von” Ausſicht auf eine zukünftige Erfenntniß der Eigen
ſchaften, welche einen Stoff zum riehbaren maden,Zdämmert vielleiht aus
folgender Betrachtung. Ich habe vorhin ſchon erwähnt, daß die riechbaren Stoffe im
allgemeinen nur dann die Geruchsnervenenden afficiven , wenn fie in der Einath-
mungsluft enthalten find. Ich kann noch hinzufügen, daß vorzugsweiſe die Theile
der Einathmungsluft den Geruchsſinn erregen, welche durch die Spiben der Naſen—
löcdher aufgenommen werden. Verſchließt man dieje Spitzen und athmet allein
durch Die hinteren Theile der Najenlöcher ein, jo kommt gar feine oder doch nur
eine ſchwache Geruchgempfindung zu Stande, jelbjt wenn riehbare Gaje reichlich
vorhanden find. Auch kann man fich leicht überzeugen, daß man durch bejondere
Muskeln die Spiten der Najenlödher recht weit öffnet, jedesmal dann, wenn
man expreß zum Zwecke des Riechens einathnet, eine Bewegung, die man Spüren
oder Schnüffeln nennt. Dieſe Erſcheinung ift leicht zu erklären aus der bejon-
deren Geftaltung der Najenhöhlenwände, welche dahin wirkt, daß die durch die
hinteren Theile der Najenlöcher eingehende Luft vorzugsweile die unteren Par-
thieen der Nafenhöhle durchzieht, wo feine Geruchönerven vorhanden find.
Ebenſo bringt es die Geftaltung diefer Wände mit fi, daß der Ausath-
mungsluftftrom gar nicht mit dem eigentlihen Site des Geruchsſinnes in Be-
rührung fommt. Daher rührt die allgemein bekannte Erſcheinung, daß beim Aus—
athmen nicht? gerochen wird, jelbft wenn die Ausathmungsluft riehbare Stoffe
in Menge enthält. Die beſchriebenen Erſcheinungen ftehen in engem Zuſammenhange
mit einer anderen, ebenjo merkwürdigen als alltäglichen, die aber gleichwohl, wie mir
jcheint, bei den Phyfiologen noch nicht die gebührende Beachtung gefunden hat.
Ich meine die jedem Lejer gewiß befannte Thatjache, daß die Geruchsempfindung
nur dauert, fo lange der Einathmungsluftitrom in Bewegung ift. Somie er
Ueber Geſchmack und Geruch. 437
ſtille ſteht, hört die Empfindung auf oder finkt wenigſtens auf ein Minimum
der Stärke herab, die uns umgebende Luft mag mit noch ſo großen Mengen der
ſtärkſt riechenden Stoffe beladen ſein. Man ſollte doch meinen, die in der
Naſenhöhle in Ruhe zurückbleibende Luft müßte von den riechbaren Stoffen noch
einen hinlänglichen Vorrath führen, um die Erregung der Geruchsnervenenden zu
unterhalten. Dean könnte nun etwa daran denken, das Aufhören der Geruchs—
empfindung rühre von der Ermüdung des riechenden Nervenapparates her.
Dies erweiſt fih aber als unzuläjlig dadurch, daß man diefen Apparat
beim Beginne des neuen Athemzuges jofort wieder bereit findet, ſeine Funk—
tion zu verrichten. Er ift aljo feineswegs ermüdet. Folgende Hypotheſe ift
vielleicht geeignet, eine Erklärung der Sache anzubahnen. Wir wollen anneh-
men, die Riechbarkeit eines Stoffes beruht darauf, daß derjelbe von den Riech—
nervenenden begierig abjorbirt wird, in ähnlicher Weije etwa, wie da3 Am—
moniaf vom Waſſer begierig aufgefogen wird. Wir müſſen dann zweitens ans
nehmen, daß der Akt der Abjorption jelbft den eigentlichen Reiz für das Nerven-
ende bildet und daß ein Theilchen irgend eines riechbaren Stoffes nicht mehr
reizend wirkt, ſowie feine Abjorption vollendet ift. Dieje Ietere Annahme
wiirde Schon mehr al3 eine bloße Hypotheſe jein, denn es iſt, wie ich ſchon
anzuführen Gelegenheit hatte, durch Verſuche erwieſen, daß riechbare Körper,
jowie fie einmal in wäflerigen Flüffigkeiten gelöft find, Teine reizende Wirkung
mehr ausüben. Daß dieje beiden Annahmen verbunden, die in Rede ftehende Er-
ſcheinung erklären, ift jet leicht zu jehen. Der Luftraum, welchen die eigentlich
tiechenden Theile der Naſenſchleimhaut begrenzen, ift nämlich ein ſchmaler jpaltför-
miger Raum beiderjeit3 zwijchen der Najenicheidetvand und der Seitenwand der
Najenhöhle. Dadurch wird die Berührung der Luft mit den Wänden jehr ausgiebig
und man begreift, daß die in dieſem Raum enthaltene Luft, wenn jie ruht,
durch die hypothetiicy angenommene lebhafte Abjorption der Nervenendapparate
an Riechftoffen raſch erichöpft fein muß, und dann alſo die Geruchsempfindung
aufhört. Wenigftens werden die an die Schleimhaut angrenzenden Schichten
ſehr bald erſchöpft fein, und wenn die Luft ruht, findet feine Miſchung derjelben
mit andern Schichten ftatt, welche noch Niechftoff enthalten. So lange aber
der Einathmungsſtrom im Gange ift, jo lange werden immer neue und wieder
neue, mit Riechftoff noch reichlich beladene Luftmengen mit der Schleimhaut in
Berührung gebracht — und jo lange wird alſo fortwährend der Abjorptionsaft
und damit der Anreiz zur Geruchgempfindung erneuert werden. Unſere An—
nahmen würden aljo die räthjelhafte Ericheinung erflärlic machen, daß mit dem
Stilleftehen des Einathmungsftromes die Geruchsempfindung aufhört, mit einer
neuen Ginathmung aber jofort wieder beginnt. Wir können auch umgekehrt
jagen, dieſe Erſcheinung hat uns zu einer Annahme geführt, welche ung geftattet,
einftweilen freilid) blos verjuchsiweile, eine Eigenſchaft Hinzuftellen, die allen
riehbaren Stoffen gemeinjam jein müßte, die Eigenichaft nämlich: begierig ab-
jorbirt zu werden von den Stoffen, aus welchen die Endapparate des Geruchs—
nerven gebildet find.
Außer dem Einathmen giebt es noch einen Akt, bei welchem Geruchsempfin-
dungen zu Stande fommen fünnen — e3 ift der Schlingakt. Es ift allgemein
438 Deutſche Rundſchau.
bekannt, daß wir den Geruch mancher Körper, z. B. des Weines, vieler Gewürze
und anderer aromatiſcher Nahrungsmittel, beſonders in dem Augenblicke wahr—
nehmen, wo wir fie verjchluden. Es ift dies auch unter ſolchen Umftänden der
Tall, wo gar nicht daran gedacht werden kann, daß dieſe Körper nod) gasfür-
mige Ausftrömungen dur) die Nafenlöcher zur Riechſchleimhaut jenden. Wir
müſſen daher nothiwendig annehmen, daß, vermöge eines anatomiſch noch nicht
ganz aufgeklärten Mechanismus, die riehbaren Dünfte des Speiſebiſſens beim
Schlingalt von hinten her aus dem jogenannten Rachenraum in die oberen
Theile der Nafenhöhle getrieben werden.
Die dunkelſte Erjcheinung auf dem Gebiete des Geruchsfinnes ift die Ent-
ftehung der verjchiedenen Geruchsqualitäten. Man wird auch hier an eine
urfprüngliche Verjchiedenheit von Faſergattungen im Bereiche des Geruchsnerven
denken müſſen, aber mit vier verfchiedenen Faſergattungen — wie auf dem Ge-
biete des Geſchmacksſinnes — würden wir ſchwerlich ausreichen. Der Geruchs—
ſinn ift nämlich an wejentlich verfchiedenen Qualitäten unendlich viel reicher als
der Geihmadzfinn. Wie viele man allermindeftens annehmen müßte, um die
wirklich erjtaunliche Mannigfaltigkeit der Gerüche zu erklären, läßt ſich nicht
angeben.
Als Hauptergebniß dieſes freilich ganz flüchtigen Ueberblickes über einige
Haupterjcheinungen des Geſchmacks- und Geruchsſinnes können wir den Saß
binftellen, daß die Eindrücde, welche die Körper auf dieje beiden Sinne maden,
abhängig find von der ftofflichen — oder, um den Kunftausdrud zu gebrauchen,
von der chemiſchen Beſchaffenheit der Körper. Damit ftellen jich dieſe beiden
Sinne in einen bemerfenstwerthen Gegenjaß gegen die drei andern. Der Taft-
ſinn zunächft belehrt uns über die mechaniſche Beichaffenheit der mit der äußeren
Haut in Berührung gebraten Körper — dann darüber, ob fie kalt oder warm
find, und endlich befißt er in hohem Grade die Fähigkeit, die räumlichen Be—
ziehungen verjchiedener gleichzeitig gegenwärtiger Körper zu einander und zum
eigenen Leibe zu beurteilen, er ijt ein geometriſcher Sinn.
In diefer Thätigkeit ift dem Taſtſinne befanntlic) noch weit überlegen der
Gejihtsjinn; mit feiner Hilfe find wir im Stande, nicht nur von ganz
nahen, jondern auc von weit entfernten Körpern, jofern fie nur Lichtftrahlen
ausjenden, die gegenfeitigen räumlichen Beziehungen zu beurtheilen. Mit Hilfe
diejer beiden geometriichen Sinne bauen wir daher unjere Vorftelung von der
uns umgebenden Erjcheinungswelt im Raume auf.
Eine verhältnigmäßig einjeitige Fähigkeit befitt der Gehörjinn. Er
belehrt uns befanntlich nır darüber, ob die und umgebende Luft jene eigenthüm-
lien Kleinen Schwingungen ausführt, welche wir Schallidwingungen nennen.
Da ſolche Schwingungen regelmäßig von bewegten Körpern ausgehen, ijt der
Gehörfinn den damit begabten Thieren von Nutzen als Warner vor heranna-
henden Feinden. Zu unjerer theoretiichen Kenntnig von den uns umgebenden
Körpern und zur Regelung unjerer Bewegungen unter denjelben fann er wenig
beitragen. Er könnte 3. B. bei einem Blinden den Taſtſinn nicht erfeßen. Seine
unberechenbare Bedeutung für den Menjchen gewinnt der Gehörfinn erft dadurch,
daß er das Medium der geiftigen Mittheilung von Perfon zu Perjon bildet.
Ueber Geſchmack und Gerud). 439
Taftfinn, Gefihtsfinn und Gehörfinn bilden hiernach die Grundpfeiler der
theoretiichen Erkenntniß und des geiftigen Lebens überhaupt. Dazu liefern der
Geruchs- und Geſchmacksſinn nur verhältnigmäßig geringe Beiträge. Ihre Wid;-
tigkeit Tiegt auf dem Gebiete des leiblichen Lebens. Schon ihre anatomische
Lage giebt ihren Zweck zu erkennen,
An die Eingangspforten der Wege, auf welchen fremde Stoffe in den Körper
eingehen, find fie als Wächter geftellt, die nichts Hineinlafjen jollen, was ihm
ihädlich ift. Zu diefem Dienfte befähigt die beiden Sinne eine allgemein befannte
Eigenſchaft, daß nämlich ihre Empfindungen durchweg mit den Zuftänden ent-
weder des Wohlgefallens oder des Abjcheues verknüpft find. Es giebt faum
eine Geſchmacks- oder Gerudhsempfindung, die uns ganz gleichgültig wäre, was
bei den Empfindungen der drei übrigen Sinne eigentlich die Regel iſt. Iſt daher
ein Körper im Begriffe, durch Mund oder Naje in unjern Körper einzudringen
und erregt er den Geihmads- oder Geruchsſinn, jo finden wir uns entweder
durch das Wohlgefallen an der Empfindung veranlaßt, fein Eindringen zu be=
fördern, oder wir finden uns durch den Abſcheu veranlaßt, den Körper zurück—
zuweijen. Wir meiden Orte, wo widrig riechende Gaje vorhanden find. Nebel
ſchmeckende Stoffe jpeien wir aus, angenehm jchmedende verichluden mir.
Sind aber — jo müſſen wir jet fragen — unfere Thürhüter auch wirklich
treu? Können wir uns auf ihre Ausfage verlaffen? it, was fie gut finden,
wirklich dem Leben förderlich, was fie ſchlecht finden, nachtheilig? Der gemeine
Ptann beantwortet dieje Frage unbedingt mit ja; ex meint, was gut ſchmeckt,
muß auch gejund jein. Er hat im Allgemeinen unzweifelhaft vet. In der
That hat ſich ja das Menjchengejchleht, wie alle anderen mit Geruchs- und
Geihmadsfinn begabten Thiergejchlechter, jeit jo vielen Jahrtaujenden von diejen
beiden Sinnen bei der Auswahl der Nahrung und der Luft zum Athmen leiten
laffen und fie find qut dabei gefahren, aljo müjjen die Führer doc wohl im
Allgemeinen den rechten Weg gezeigt haben.
Noch vor wenigen Jahren mußte man in diefer Fähigkeit des Geruches
und Geihmades, das Paſſende auszuwählen, etwas Geheimnißvolles jehen. Seit
uns aber Darwin die Binde von den Augen genommen hat, ift dieje Fähigkeit
etwas Selbitverftändliches. Wie es heute noch einzelne Individuen von verfehrter
Geſchmacksrichtung giebt, jo mag es deren immer gegeben haben, 3. B. folche, denen
der bittere Geſchmack der Alkaloide lieblich dünkte. Im Naturzuftande werden dieje
mit Vorliebe Schierling, Bilfenkraut und andere Giftpflanzen genoffen haben, twelche
folche bitter ſchmeckende Stoffe reichlidy enthalten. Ihrem Leben wurde dann
frühzeitig eine Grenze gejeßt und die verkehrte Geihmadsrichtung hatte wenig
Ausſicht ſich auf eine reichliche Nachlommenjchaft zu vererben. Das Umgekehrte
gilt natürlich von Individuen, welche mit einer den phyfiologischen Bedürfniſſen
entiprechenden Geihmadsrihtung ausgerüstet waren. Mit einem Worte: es
mußte jih im Laufe der unzähligen aufeinander folgenden Generationen der
Geruchs- und Geihmadsjinn durch natürliche Zuchtwahl jo entwideln, daß die
gefunden Nahrungsmittel einen angenehmen, die ungefunden und gefährlichen
Körper einen unangenehmen Eindruck auf jene Sinne maden.
440 Deutihe Rundichau.
Es ſei mir geftattet, einige Beiſpiele des Wohlgefallens und Widerwillens
no etwas näher zu erörtern, die mit dem aufgeftellten allgemeinen Safe nicht
zufammen zu ftinmen ſcheinen. Befanntlid machen Ammoniaf, Schtvefelwaffer:
jtoff und einige andere gasartige Waflerftoffverbindungen einen bejonders widrigen
Eindruck auf die Geruchsorgane aller normal begabten Menjchen. Dieje Gafe
find allerdings ſämmtlich in größeren Mengen eingeathmet giftig; aber e3 kann
unmöglih angenommen werden, daß auf diefer Eigenſchaft die Heranzüchtung
des MWiderwillens gegen diefe Gasarten beruhte. Die Natur bietet fie dem
Menſchen nämlid faum jemals in ſolcher Concentration dar, daß häufig In—
dividuen durch fie hätten vergiftet werden können, weil fie fein Widerwille
vor ihnen warnte. Es ift hier offenbar ein ganz anderer Umftand maßgebend.
Die genannten Gasarten fteigen regelmäßig auf von faulenden Körpern. Solde
aber find für den menjchlichen Organismus eine Shädliche Nahrung und die von
ihnen auffteigenden Dünfte enthalten neben den, im verdünnten Zuftande ziemlid
harmlojen Gasarten, jene unfichtbar Heinen organijchen Keime der fogenannten
Bakterien, zu denen die Anſteckungsſtoffe vieler gefährlicher Krankheiten ge
hören. Individuen, welche gegen den Geruch von Ammoniak, Schwefelwaſſerſtoff
und dergleichen keinen Widertvillen hatten, waren alſo ftets der Vergiftung durd
faulende Nahrungsmittel und der Infektion mit Sumpffieber und anderen Krank—
heiten mehr ausgefeßt und jo konnte und mußte jener Widerwille herangezüchtet
werden. Die Zeit, in welcher dies geſchah, Liegt vielleiht noch nicht jo unge:
heuer weit hinter uns. Wenigſtens jcheinen die Bewohner der berühmten bel-
giſchen Höhlen noch feinen jehr intenfiven Widerwillen gegen die Ausdünftungen
faulender Körper gehabt zu haben. In einem Berichte über den internationalen
Gongreß der Anthropologen zu Brüſſel fand ich folgende in diefer Beziehung
merkwürdige Stelle: „Die abgegefjenen, bisweilen angebrannten Knochen und
lämmtliche andere Speifeabfälle blieben in der Höhle liegen, und geſetzt aud,
daß deren Verweſung bei der herrfchenden niedrigen Temperatur die Geruchs—
nerven weniger afficirt, jo mußten fie doch die Luft hinreichend verpeften, um
den Aufenthalt für ung unerträglich zu maden.“ Die Folgen diefes Mangel?
an Efel ſcheinen übrigens auch damals nicht ausgeblieben zu fein. Der eben
eitirte Bericht fährt nämlich fort: „Daß die Höhlenwohnungen ſowohl aus
diefem Grunde, ald wegen der Feuchtigkeit höchſt ungefund geweſen, bezeugen
die gefundenen menſchlichen Ueberreſte, die theils Spuren krankhafter Affectionen,
theil3 eine große Sterblichkeit unter den Kindern und erwachſenen Perſonen
jüngeren Alter anzeigen.” Da hätten wir denn gleich ein Hiftoriiches Zeugniß
von der Heranzüchtung des Widerwillend gegen die Ausdünſtungen faulender
Körper vor Augen.
Höchſt räthielhaft vom Standpunkte der Zweckmäßigkeit oder befjer vom
Standpunkte der natürlichen Zuchtwahl muß der allgemein verbreitete Wohl-
gefallen am Dufte vieler Blumen und anderer jogenannter aromatijcher Körper
ericheinen. Es ift nämlich nicht abzufehen, wozu uns das Ginathmen folder
Düfte nüglich fein follte und wie mithin die Luft an ſolchen Düften dem In—
dividuum eine Waffe im Kampfe um’3 Dafein wäre.
Neber Geſchmack und Gerud. 441
Ich bin weit entfernt, behaupten zu wollen, daß ich das hier vorliegende
Räthſel vollftändig löſen Könnte; aber eine Vermuthung auszujprechen kann ich
mir nicht verfagen. Bor Allem muß ich daran erinnern, daß vererbliche Eigen-
ſchaften unſeres Körpers nicht in Jahrhunderten, jondern in Taufenden von
Generationen erworben und ebenjo auch jehr langſam wieder verloren werden.
Eine Eigenihaft braucht aljo gegenwärtig nicht Waffe im Kampfe des Lebens
zu jein und Tann doch als jolde in einem früheren Zuftande des Dtenfchen-
geichleht3 durch natürliche Zuchtwahl erworben fein.
Die Wiege des Menjchengeichlehts hat nun ohne Zweifel nicht unter unfern
nordilchen Tannen, ſondern unter den Palmen der Tropenwelt, oder wenigftens
eines tropiihen Klima’3, geftanden. Unfere dort lebenden Vorfahren waren
höchſt wahrjcheinlich vorzugsweije auf Früchte als Nahrung angewiejen. Dieje
Früchte — man denke nur an Orangen, Ananas und dergleichen — haben aber
großentheil3 einen aromatichen Duft und das Wohlgefallen daran war aller-
dings für den Urmenſchen eine Waffe im Kampfe um’3 Dajein. Uns ift als
bloßes Erbſtück dies Wohlgefallen geblieben, und wir haben in unjerem Klima
weniger Gelegenheit es an Früchten zu üben al3 an Veildden, Rojen und anderen
Blumen, deren Düfte mit. jenen Fruchtaromen Aehnlichkeit haben.
Wenn wirklich, wie ich behaupte, der Widerwille und das Wohlgefallen an
Geruchs- und Gejhmadsempfindungen durch natürlihe Zuhtwahl im Kampfe
um’3 Dafein erivorben ift, dann läßt ſich noch folgende bemerfenswerthe Fol—
gerung ziehen: Der Sat, daß Wohlichmedendes und Wohlriechendes gejund,
Uebelſchmeckendes und Uebelriechendes ungefund fei, gilt mit Gewißheit nur von
denjenigen Körpern, welche fi dem Menjchen im Naturzuftande reichlich dar-
boten. Selten vorfommende Körper oder gar Kunftprodufte konnten auf die
Zuchtwahl feinen Einfluß haben. Ob über die Nüblichkeit und Schädlichkeit
ſolcher Körper der Geruh und Geſchmack richtige Ausfagen macht, muß nad
unferem Princip reiner Zufall fein. Sollten aber etwa auch) für joldhe Körper
die Ausjagen des finnlichen Wohl- und Mißfallens erfahrungsmäßig ausnahmslos
richtig jein, dann müßten wir unſer Princip Lieber fallen lafjen und zur An—
nahme einer myſtiſchen Zulammenftimmung zurücdgreifen.
Glücklicherweiſe liegt in den Thatſachen feinerlei Nöthigung dazu. Unter
den dem Naturmenjchen unbekannten Kunftproduften find übelſchmeckende theils
ihädlich, theil3 harmlos, und wohlſchmeckende ebenfo. Zwei Beilpiele werden
genügen, dies zur erläutern. Auf das Wohlgefallen am Geihmad des Kochſalzes
fonnte diefer Sinn im Naturzuftande unmöglich gezüchtet werden, denn die
Natur bot dem Menſchen wenigftens im Binnenlande fein Nahrungsmittel dar,
das hinlängliche Mengen von Kochjalz enthält, um ihn jeinen Geſchmack kennen
zu lehren. Erſt im Gulturzuftande konnte er fich dieſen Stoff reichlicher ver-
ihaffen. Sein Geſchmack jcheint jogleih der Mehrzahl jehr behagt zu haben,
denn er wurde von Alters her als Gewürz jehr hoch geihäßt. Die Phyjiologie
zeigt nun, daß dieſer Liebling der Zunge auch ein nüßlicher Zufa zu unferer
Nahrung ift.
Daß wir e8 aber hier eben nur mit einem rein zufälligen Zufammentreffen
zu thun haben, lehrt ein zweites Beijpiel, ein Stoff, gleichfalls dem Natur-
442 Deutiche Rundſchau.
menjchen unbefannt, der aber, fobald er bekannt wurde, den Meiften gar lieblich
dünkte, und der doch eine der furchtbarſten Geißeln unſeres Gejchlechtes ift —
ich meine den Alkohol. Er ijt bejonders geeignet, das hier in Rede ftehende
Princip Har zu machen. Obgleich ein Beweis durch Erfahrung unmöglich ift, läßt
ſich doch mit ftreng mathematischer Sicherheit folgender Sat behaupten. Wenn fid)
unferen Voreltern im Naturzuftande alkoholiſche Getränte, Wein, Bier oder derglei=
chen in demjelben Maße dargeboten hätten, wie Waſſer, dann wiirde und der Gerud)
und Geſchmack diejer Flüſſigkeiten mwidrig und efelhaft fein. Alle Individuen
nämlich, die an den alkoholifchen Getränken Luft hatten, wären unfehlbar als—
bald den Säuferfrankheiten zum Opfer gefallen und nur folche, die zufällig einen
Miderwillen gegen den Alkohol hatten, konnten überleben und Nachkommenſchaft
hinterlajfen. Da aber Geihmadsridhtungen, wie andere Körpereigenichaften im
Allgemeinen vererblich find, jo ift einige Wahrjcheinlichkeit, daß auch dieſe Nach—
fommen mit jenem nützlichen Widerwillen begabt gewejen wären. Natürlich
würde fich der all oft genug ereignet haben, daß einzelne Nachkommen aus
der Art jchlugen. Dieje waren aber dann wieder den Gefahren der Vergiftung
ausgejeßt und wurden, ohne Nachkommen zu hinterlafjen, ausgerottet. So hätte
fi) der Widerwillen immer mehr und mehr feitgejeßt und gefteigert und jebt
würden die Liebhaber alkoholiſcher Getränke eben jo jelten Franfhafte Ausnahmen
fein, wie e8 etwa in Wirklichkeit die unter Geiſteskranken auch vorlommenden
Trinker von Miftjauche find.
63 fünnte jcheinen, als hätte der joeben nur fingirte Vorgang auch im
Gulturzuftande wirklich ftattfinden müſſen; hiergegen läßt ſich indefjen allerlei
einwenden. Erſtens ift die Cultur überhaupt und die reichliche Erzeugung alko—
holiicher Getränfe noch nicht jo alt, daß fich während ihrer Dauer Körpereigen-
Ichaften de3 Menichen dur Zuchtwahl wejentlich hätten ändern können.
Zweitens bieten fich die alkoholiſchen Getränke den Meiften doch nit in dem
Maße dar, wie wir es vorhin vorausgejeht haben. Drittens endlich wählt im
Gulturzuftande der Menſch jeine Nahrung nicht ausjchliegli unter Leitung des
Geruchs- und Geſchmacksſinnes. Er meidet da3 Uebermaß ſolcher Speifen und
Getränke, von denen er nachtheilige Wirkungen erfennt, wenn fie ihm auch noch
jo angenehm jchmeden.
Diefe Thatjache legt uns noch eine Betradhtung nahe über die Zukunft,
welcher die beiden Sinne, von denen ich Ipreche, möglicherweije entgegen geben.
Da wir eben heutzutage unjere Nahrungsmittel nicht mehr im Walde juchen,
londern auf dem Markte faufen, wo eine gute Polizei unjerer Naje die Mühe
part das Schädliche fern zu halten, jo ift Schärfe des Geruches und Geſchmackes
feine Waffe mehr im Kampfe um's Daſein. Was eine ſolche nicht iſt, das kann
fi) aber am organischen Leibe wahrjcheinlich auf die Dauer nicht halten. Wenn
daher nicht neue Verhältniſſe auftreten, welcde dem Geruch und Geſchmack wieder
mehr Werth verleihen, jo ift es wohl denkbar, daß wir, wofern das Mtenjchen-
geichleht und die Cultur noch einige Jahrtaufende dauern jollten, dem Geruch
und Geihmad den Abjchied geben müßten. .
Fritz Reuter auf der Feſtung.
Nebſt bisher ungedruckten Briefen des Gefangenen an ſeinen Vater.
Von
Otto Glagan.
ws
In meinem, Herbft 1865 erjchienenen Buche „Fri Reuter und feine
Dichtungen“ habe ich einen kurzen Abriß von dem Leben des Dichter gegeben,
wobei id in der Hauptjadhe jeine eigenen Aufzeichnungen benußte In allen
Schriften Reuter’3 finden fich perjönliche Erinnerungen und Rückblicke, Anfpie-
ungen auf feine Schickſale verjtreut; denn er jtedt nah Humoriftenart häufig
den eigenen Kopf vor, und er miſcht ſich gern unter feine Helden. Außerdem
hat er in einem zu der Sammlung „Schurr-Murr” gehörigen Aufſatze „Meine
Vaterftadt Stavenhagen“ die Geſchichte feiner Kindheit ziemlich ausführlich
erzählt; und in dem Buche „Ut mine Feſtungstid“ Yiefert er eine Reihe theils
föftlich launiger theils erſchütternd ernster Bilder aus feiner ftebenjährigen Ge-
fangenſchaft. Doc find diefe Erzählungen von der Feſtung nicht immer buch—
ftäblich zu nehmen, jondern in ihnen verichlingen ſich Dichtung und Wahrheit,
wirkliche Erlebnifje mit mandherlei Erfindungen und poetifchen Arabesken, nament-
lich was die heitern, luftigen Partien betrifft; und der Dichter hat dies in der
Zueignung an feinen „biedern Freund und treuen Leidensgenofjen Hermann
Grashof“ ausdrüdlic angedeutet. Im Großen und Ganzen aber entjprechen
auch diefe Schilderungen den hiſtoriſchen Thatſachen, was ich ſchon damals
controliren konnte, denn Fritz Reuter machte mir unterm 15. März 1865 ein-
gehende biographiſche Mitteilungen und bejchloß diejelben mit den Morten:
„sh bitte Sie jedoch, wenn Sie von dieſen Notizen Gebrauch machen, nicht
ausdrücklich zu erwähnen, daß das Material von mir jelbjt geliefert iſt; es hat
dies Schreiben in eigener Angelegenheit für mid) ftet3 etwas Empfindliches,
Widerſtrebendes.“ Selbftverftändlich bin ich diefem Verlangen nachgekommen.
Auch Hatte ich damals noch andere Rücfichten zu nehmen. Manches, was mir
von dritten, durchaus eingeweihten und zuverläſſigen Perſonen berichtet worden ;
Manches, was wie ein offenes Geheimniß in Aller Munde war, habe ich doc)
verſchwiegen oder nur zart angedeutet, weil der Dichter noch unter uns lebte.
444 Deutiche Rundſchau.
Jetzt, nach jeinem Tode, fallen diefe Rückſichten fort, zumal die Publicationen
über ihn ſich drängen, und merfwürdigerweije von mehr oder weniger ununter:
richteter Seite; jet gehört Fri Reuter der Literaturgefhichte an, und darum
ift die reine, volle Wahrheit geboten.
Inzwiſchen haben fich mir, durch Nachforſchungen an den Orten, wo
der Dichter gelebt und aufgewachſen, neue Quellen erſchloſſen; hat ſich mir ein
großes, bisher völlig unbenutztes Material geboten. Es ift dies der Brief—
wechſel zwiſchen Fritz Reuter und feinem Vater, der von 1824 bis
1845 reiht, von da ab, wo der 14jährige Knabe da3 elterlicdhe Haus verlieh
und das Gymnafium zu Friedland in Medlenburg-Strelit bezog, bis zum Tode
des Daterd. Während dieſes Zljährigen Zeitraums bat der Bürgermeifter
Reuter, ein äußerft penibler, ordnungsliebender Mann, jeden Brief, jedes Schrift:
ftüc von, an und über jeinen Sohn gejammelt; und diefer Papierftoß befindet
fi) in den Händen der einzig noch lebenden Schwejter des Dichterd, der ver-
wittweten Frau Sophie Reuter geb. Reuter in Stavenhagen, woſelbſt
ih ihm eingefehen habe. Auch ift mir duch die Güte der Dame eine Reihe
von Briefen zur Benubung überlaffen worden, Briefe Frib Reuter's aus jeiner
Schul-, Univerfität3- umd Feſtungszeit. Es find kürzlich, nachdem die neue
völlig umgearbeitete Auflage meines Buchs angekündigt worden, "zwei Biogra—
phien de3 Dichters erjchienen: die eine von einem Herrn Ebert in Güftrom, und
die andere, im Auftrage des Werleger3 der Reuter’ichen Schriften, von Adolf
MWilbrandt, womit diejer die Herausgabe von Fri Reuter’3 „Nachlaß“ einleitet.
Aber beiden Biographen ift jener ganze Briefwecjjel fremd geblieben; Beide
bringen nur Einen Brief Fri Reuter’3 d. d. Silberberg den 31. October 1836,
der auch mir zufam bei meiner Anmwejenheit in Neu-Brandenburg, dem frühen
Wohnort des Dichters, wo er in Abjchrift umlief.
Auf Grund der von mir gefammelten Dtaterialien habe ich jenen biogra-
phiichen Abriß aus der erften Auflage meines Buchs zu einem ausführlichen
Lebenzbilde erweitert, und will nun bier den Gelbitbericht des Dichterd „U
mine Feltungstid“ ergänzen und illuftriren, kurz zufammenftellen, was in
Betreff der jiebenjährigen Haft de3 „Demagogen“ bisher noch nicht befannt ge:
worden it.
Michaeli 1831 bezog Fritz Reuter, 21 Jahre alt, die Landesuniverfität
Roftod, um nad dem Willen de3 Vater die Rechte zu ſtudiren; was er jedod
nur dem Namen nad that. Dftern 1832 ging er nad) Jena, das ſchon lange
Ziel feiner Sehnſucht geweſen, und blieb hier ein knappes Jahr. Er warf jetzt
das Jus völlig bei Seite und führte ein ziemlich wildes Leben. Fechtübungen,
Duelle und Trinkgelage füllten die Zeit aus, und er trieb’3 nad dem alten
Sprücdjlein: „Gelder muß der Vater haben, wenn der Sohn ftubiren joll!"
Jahre lang, nachdem er Jena verlafjen, liefen von hier bei dem Water noch
immer Schuldfcheine und Rechnungen ein, und der Bürgermeifter hat fie alle
ſorgſam geheftet und alle bis auf den legten Heller bezahlt. Daneben beichäftigten
den flotten Studenten die Angelegenheiten der Burſchenſchaft. Er trat in die
Verbindung „Germania“, die in erfter Neihe eine politiiche Tendenz verfolgte,
die „Herbeiführung eines freien und einigen Lebens in Deutjchland”. Arnold
Fritz Reuter auf der Feſtung. 445
Ruge, ber damal3 als junger Doctor in Jena privatifirte, ftellt der „Ger-
mania“ ein jehr ungünftiges Zeugniß aus.*) Cr jehildert fie als eine Gefell-
ſchaft von „Raufbolden” und „Iyrannen”, die „wahrhaft ruffiiche Gedanken“
begten und die „alte Rohheit der Landsmannſchaften“ wieder aufleben ließen,
indem fie ihre körperliche Weberlegenheit gegen Schwächere und Anderögefinnte
„Ihändlic mißbraudten.“ Die „Germania“ entwidelte unter dem Drange der
Beitereigniffe eine ſtürmiſche Thätigkeit. Man beſchickte das Hambacher Feſt
(27. Mai 1832), feierte die Gedächtnißtage der franzöfiſchen Juli-Revolution
und des polniſchen Aufſtandes; vor Allem lieferte man den „Arminen“, deren
„Halbheit“ man nicht tief genug verachten konnte und die man als „Schwanen—
ritter” verhöhnte, förmliche Schladten. In Folge diefer und anderer Exceſſe
rüdte am 23. Januar 1833 ein Militair- Commando in Jena ein, und e8 ge-
Ihahen zahlreiche Verhaftungen und Ausweijungen. Auch Fri Reuter erhielt
von der akademiſchen Behörde das Confilium. Mitte Yebruar mußte er Jena
verlaffen, während jeine Sachen Schulden halber zurüdblieben, und ging nad)
dem nahen Städten Camburg im Meiningifhen, ohne davon nad) Haufe bie
geringfteT Nachricht zu geben. Er hatte lange Zeit überhaupt nicht? von fich
hören lafjen, er war immer ein träger Briefſchreiber, und der bejorgte Vater
erließ nun einen öffentlihen Aufruf, worin der Studiojus F— R— aus
Mecklenburg dringend zur Heimkehr aufgefordert wurde. Endlich, da ihm ber
Credit ausgegangen war, meldete fi) Fritz Reuter; er bat um Geld und erklärte,
nad München gehen zu wollen, um dort fein Studium fortzujegen. Der Vater
hieß ihn nad) Haufe kehren, und er mußte gehorchen. Er verbrachte den Sommer
theils in Stavenhagen, theil3 auf einem Kirchdorfe, bei jeinem Obeim, dem
Paftor Reuter in Jabel.
Inzwiſchen ereignete fi) das unfelige Frankfurter Attentat. Am 2. April
1833 rotteten fi in Frankfurt a. M. eine Anzahl Jünglinge zufammen, ftürmten
die Hauptivadhe, um einige politiiche Gefangene zu befreien, und gedachten jogar
den Bundestag aufzuheben. Unter den jungen Brauſeköpfen, deren man bald
Herr wurde, befanden fi) auch Jenenſer „Germanen“. Diejer knabenhafte
Kratvall verjeßte die deutjchen Regierungen in Furcht und Rachſucht, ließ die
„Partei der Ordnung” eine neue große Demagogenhaß veranftalten. Neben der
Gentralbehörde zu Frankfurt a. M. bildeten fich in den verfchiedenen Staaten
noch Special- Unterfugungscommilfionen, und die Verhaftungen erfolgten aller
Orten mafjenhaft, vorzugsweiſe aus der Zahl der ehemaligen Burjchenichafter.
An Fri Reuter jhien Niemand zu denken, und dadurch ficher gemacht,
ließ er ſich's einfallen, Medlenburg zu verlafjen. Im October 1833 fam er
nad Leipzig und ſuchte bei der Univerfität die Immatriculation nad), wurde
aber als „verdächtig“ abgewiefen. Wieder rief ihn der Vater nach Haufe, und
er trat die Rückreiſe an, wieder ohne Koffer, der troß des kurzen Aufenthaltes
in Verſatz blieb. Er ging über Berlin und verweilte hier mehrere Tage, troß
der Warnungen, die ihm von verjchiedener Seite zugingen. Da ereilte ihn fein
Schickſal.
*) Arnold Ruge, Aus früherer Zeit, Bd. 8, S. 326 ff.
Deutſche Runbſchau. I, 6. 30
446 Deutiche Rundicai.
Herr Ebert weiß hiervon in jeinem Buche „ri Reuter. Sein Leben und
feine Werke“ (S. 143) eine ganz romantiſche Geichichte zu erzählen. Er läßt
den Süngling wie ein gehebtes Wild Hin und her irren, „fich bald bei diejem,
bald bei jenem Freunde bergend“;, er läßt ihn endlich arretirt werden „in einer
Droſchke, welde ihn dem Bahnhof zuführen jollte*. Man denke:
nad Herrn Ebert gab es im Herbſt 1833 bereit3 einen Bahnhof in Berlin,
und noch dazu einen joldden, von wo aus man nah Medlenburg fahren
fonnte!
In Wahrheit verhielt jich die Sache weit projaifher. Damals weilte in
Berlin ein Better Fritz Reuter’3, der mit ihm zuſammen erzogen war, und der
auch jpäter feine jüngere Schwefter Sophie heirathete — der Apotheker Ernit
Reuter. Diefer berichtet in zwei mir vorliegenden Briefen an den Bürger:
meifter Reuter über die Verhaftung, und darnach ergiebt fich Folgendes: Erſt
al3 unter feinen Augen frühere Kameraden ergriffen wurden, entichloß fich Frik
Reuter zum Aufbruch; erft als der Vater in Ahnung der Gefahr die Abreiie
beeilen hieß, wurde diefe von den beiden Vettern feftgejegt. Mit dem Omnibus,
der damals zwijchen Berlin und Strelitz curfirte, jollte Fri Reuter die Fahrt
machen, und jchon befand fich in den Händen des Fuhrmanns fein Tornifter.
Der Better Ernft jelber hatte dieſen hingefhafft, und auch dem Bürgermeiſter
bereit3 die Ankunft des Sohnes gemeldet. Um am Thor nicht etwa auf ein
Hinderniß zu ftoßen, gedachten die beiden Yünglinge die Stadt zu Fuß zu vers
laſſen, jollte ri Reuter den Omnibus erſt eine Strede hinter Berlin befteigen.
Ernft Reuter ſaß in feinem Zimmer und wartete auf den Vetter, bi3 ihm ein
Polizift einen offenen Zettel von SJenem überbrachte. Zuerft meinte er, die Ver-
haftung wäre „wegen Streitigkeiten“ gejchehen, und in diefem Glauben beftärkte
ihn auch noch der Viertels-Commiſſarius; ſehr allmälig erfuhr ex die eigent:
liche Urſache.
Fri Reuter ward am 31. October 1833 früh in feinem Quartier ergriffen
und in die „Stadtvoigtei“ gebradt, two man ihn im jein Loch zu allerhand
Gejindel warf, bis er durch Vermittelung jeines Vetters eine eigene Zelle, aud)
Bücher und Schreibmaterialien erhielt. Er jaß bier zwei Monate und kam
Neujahr 1834 in die „Hausvoigtei“, in das Gefängniß für die „Privilegirten“,
zu denen hauptſächlich Juden, ſpitzbübiſche Beamte und „Hochverräther“ gehörten.
Man nahm ihm jet Bücher und Schreibzeug, und die Haft ward eine harte.
Die Unterfuhung führte der jeitdem jo berüchtigt getvordene Criminalrath
Dambach, der die Jünglinge wie eine Citrone auspreßte, fie durch Drohungen
und Verheigungen, Weberredung und Schmeichelei zu Ausjagen zu bewegen wußte,
wie er jie gerade brauchte. „Sie find ein philofophijcher Kopf,“ ſprach er zu
dem Einen, „Sie können das Object der Unterfuchung in feiner ganzen Totali—
tät umfaſſen und überjehen.“ Das wirkte, wie Fritz Reuter bemerkt. Er nennt
den Betreffenden Schr... und wirft ihm vor, den „Denuncianten‘ gemadt
und jeine ehemaligen Gouleurbrüder {verrathen zu Haben. Er traf mit dem
„Denuncianten‘ noch einmal auf der Feſtung Graudenz zufammen, und entwirft
von feinem Wejen und Charakter eine höchſt unvortheilhafte Schilderung. — —
Fritz Reuter anf der Feſtung. 447
Hier unterbreche ich die Zufammenftellung, um eine Eleine Geſchichte ein-
zufchalten:
Als damals, vor neun Jahren, ſich mein Buch noch unter der Preſſe befand,
veröffentlichten die mit der „Gartenlaube“ verbundenen „Deutichen Blätter‘
nad) den Aushängebogen ein Stüd unter dem Titel „Aus Fri Reuter’3 Feſtungs—
zeit”. Diejen Auszug las der „Denunciant“, der ala Baftor an einer deutfchen
Kirche in New-York lebte. Erſt durch diefen Auszug erfuhr er wieder von Fritz
Reuter, deijen Bücher und deſſen Garriere al3 Schriftfteller ihm völlig unbe-
fannt geblieben waren. Er richtete nun an den Dichter einen Brief, den er
durch Bermittelung der Redaction der „Gartenlaube“ mir in Abjchrift mittheilte,
und worin er fi) zu entſchuldigen und zu rechtfertigen fucht. Er jagt u. A.:
„Du weißt jo gut wie ich, daß Alle, Alle (und Viele bei ganz guter Gefundheit)
ausgejagt haben, was fie irgend wußten, und Viele aud) das, was fie nicht
wußten — im Gedränge jenes abjcheulichen Verfahrens.” — „Wer von uns
fannte 3. B. auch nur den Tenor des Verbindungszwecks, geichtveige den joge-
nannten Grläuterungsparagraphen?" — „Das Alles hat Einer aus feinem
enormen, von Dambad) flattirten Gedächtniß und Combinationsvermögen wörtlich
ad acta dictirt, und Alles, was er wußte, bis etwa in's Jahr 1827 zurück; und
wir mußten uns zu Allem befennen, denn wir waren eben körperlich und geiftig
zuinirt.” — Schr... verlangt gewwiffermaßen eine Ehrenerflärung von Fritz
Reuter und ſchließt mit den Worten: „Ich habe ein Recht, wenigſtens das von
Dir zu fordern, und ich Hoffe zu Gott, Dir noch einmal in diefem Leben Auge
in Auge zu ſchauen.“ — Wirklich fam Schr... ein Jahr oder ein paar Jahre
jpäter nah) Europa. Er fam nad Eifenah und verlangte Fri Reuter zu
Iprechen. Der aber lag krank, und die Frau empfing ihn. Sie erklärte, daß
ihr Gatte bei dem, was er gejchrieben, verbleibe, daß er nicht3 zurücknehmen
fönne und nöthigenfalla das Zeugniß verjchiedener noch lebender Leidenzgefähr-
ten anrufen wolle. Schr... widerjprad und ging mit der Ankündigung, daß
er twiederfommen twerde, hat aber nicht weiter von fich hören laſſen. So
erzählte mir im September v. %. die Wittiwe des Dichters.
Fritz Reuter fand Herr Dambach weniger gefügig, und als er an ihm
feine Künſte verſchwendet Hatte, geriet er in Zorn. Es dauerte lange, bis der
Gefangene einen feiner Angehörigen ſah. Die Schweiter Sophie durfte ihn
endlich bejuchen, aber die Unterredung fand in Gegenwart de3 Herrn Dambad
ftatt. „Ihr Bruder ift der verftoctefte Menjch, der mir vorgekommen,“ rief er
dem jungen Mädchen zu; „Sagen Sie da3 Ihrem Vater!“ Fri Reuter
erwiderte raſch: „Mit Ihrer Erlaubniß, Herr Criminaltath, wird meine
Schweſter unjerm Vater jagen, daß ich Niemanden verrathe!” So etwas konnte
„Onkel“ Dambah, wie ihn die Exftudenten nannten, nicht vertragen; ex
peinigte den Widerjpenftigen auf's Neußerjte, und er ließ ihn noch nad) Jahren,
als Fri Reuter, auf dem Transport von Magdeburg nad) Graudenz, Berlin
paflirte, jeine gemeine Rache empfinden. Die „Hausvoigtei“ wurde dent Ge-
fangenen zur Hölle, und um „Onkel“ Dambad)’3 willen war jein ganzes Wünſchen
und Sehnen nur auf einen anderen Kerker gerichtet.
Juſtiz-Commiſſionsrath Kunowsky war der Vertheidiger Fritz Reuters,
30*
448 Deutſche Rundſchau.
den man ihm von Gerichts wegen beſtellt hatte, und er machte ſeinem Clienten
zuerſt die beſten Hoffnungen. „Laſſen Sie ſich nicht bange werden, Sie müſſen
ausgeliefert werden!“ tröſtete er ihn wiederholt. Und im Schlußverhör ſchlug
er das preußiſche Landrecht auf und zeigte dem Inquirenten die betreffende
Stelle. Herr Dambach meinte: es wäre eine neuere Verordnung erlaſſen. Und
als Kunowsky entgegnete: ein ſpäter herausgekommenes Geſetz könne niemals rüd-
wirkende Kraft haben, erklärte „Onkel“ Dambach: er wolle das ihm, dem Ver—
theidiger, ſchon noch auseinanderſetzen. Dieſe „neuere Verordnung“ war die
Frucht der „Wiener Conferenzen.“ Im Herbſte 1834 hatte man in Wien be—
ſchloſſen, daß jeder Staat die in ſeinen Grenzen aufgefangenen „Hochverräther“
behalten und aburtheilen ſolle — ein Beſchluß, der als rückwirkend nie geſetz—
liche Sanction erhalten hat und nur die gröbſten Inconſequenzen herbeiführte.
Während Mecklenburg ſeine Gefangenen mit ſechs Monaten, andere Staaten
die Angeklagten gar nicht beſtraften, wurde in Preußen auf lebenslaͤngliches
Gefängniß, auf Beil und auf Rad erkannt!
Nach einjähriger Unterſuchungshaft kam Fritz Reuter am 15. November
1834 mit einer Anzahl Kameraden nach dem Silberberg in Oberſchleſien. Das
Erkenntniß erfolgte erſt zwei Jahre, die Entſcheidungsgründe erſt drei Jahre
ſpäter, nach faſt vierjähriger Haft. Auf dem Silberberg hatte es Fritz
Reuter nicht zu ſchlecht, viel beſſer als in der Berliner „Hausvoigtei“. Seine
Lage wurde mannigfach verbeſſert durch den Platzmajor, der ein geborener Meck—
lenburger war, und mit dem der Bürgermeijter Reuter einen Briefwechſel an-
fnüpfte. Doch erkrankte der Gefangene in Folge der ungewohnten Lebensweiſe,
und al3 in den niedrigen, düftern Kajematten jeine Augen litten, beantragte er
jeine Verſetzung, worauf er im Februar 1837 nad Glogau und dann nad)
Magdeburg transportirt wurde.
Kurz dor jeinem Abgang von Silberberg wurde ihm das Erkenntniß pu—
blicirt, da3 er auf heimlichem Wege ſchon ein halbes Jahr früher erfahren hatte.
Das Berliner Ausnahmegeriht, an deſſen Spite Herr von Kleiſt ftand —
ri Reuter nennt ihn den „Blutigen“ — verdammte von 204 Angeklagten
39 zum Tode, und zwar 35 zum Beile und 4 zum Rade! Die Lehteren wur—
den zu lebenswierigem, die erfteren, darunter Fri Reuter, zu dreißigjährigem
Gefängniß „begnadigt“.
In Glogau, wo er zu feinem Leidwejen und zu feinem Unheil nur ſechs
Wochen blieb, fand er einen Gönner und Beihüber in dem zweiten Comman—
danten der Feltung, Major von Wichert. Diejer edle, wahrhaft humane
Mann, den Tri Reuter in feinen Erinnerungen Oberft B. nennt, erwies ihm
eine Reihe, von Liebesdienften, und feine junge ſchöne Tochter lieh dem Gefan-
genen, der fie nur einmal, bei einem Spaziergange auf dem Walle erblidte,
aber fie nie wieder vergeifen hat, aus ihrer Kleinen Bibliothek Goethe's Fauſt,
Egmont und Wilhelm Meifter.
Vor der Abreife nah Magdeburg fchrieb Fritz Reuter folgenden Brief, der
bier zum erften Male veröffentlicht wird:
Fritz Reuter auf der Feſtung. 449
Glogau d. 11ten März 1837.*)
Mein lieber guter Vater.
Wenn ich je an Deiner Liebe und Deinen für mich fo beruhigenden und für
Dich mit fo vielen Unbequemfichkeiten verknüpften Bemühungen gezweifelt hätte, fo
würden Deine jüngften Briefe nicht allein durch ihre Zahl als auch durch ihren
Anhalt mir das Gegentheil vor mein Gewiſſen rüden. Um nun diefe Bemühungen,
jo viel an mir liegt nicht fruchtlos zu machen, werde ich darnach trachten Deine
Briefe, die ich jet alle erhalten Habe, einen nach) dem andern zu beantworten und
mich über die wichtigsten Punkte, die darin berührt find, außfprechen. Für's erſte
muß ich Dich Über die Ermahnungen, mich nicht der Verjweiflung zu überlaflen,
beruhigen. Dieje Grife ift längjt vorüber und gut oder übel überjtanden, nicht allein
um meinetwillen ijt fie eingetreten, ſondern hauptjächlich weil ich den böfen Eindrud
auf Dich und die Deinigen fürchtete; ich wußte mein Urtheil jchon unter der Hand
um Michaelis und ſann nur darauf Deine um diefe Zeit jo ſehr erhöhten Hoffnun—
gen zu mäßigen, da kam der unglüdliche Brief aus Berlin**), der abfichtlich des—
halb gefchrieben zu fein fcheint, damit die Täufchung dejto bitterer auf Dein Herz
einwirken möchte, lie ihn noch einmal aufmerkſam durch, er ift vom 25ſten Novem—
ber und mein Urtheil, das dem Schreiber jchon befannt fein mußte, ift vom 4ten
Auguft, die Begnadigung auf 30 Jahre jedoch erſt vom Alten December. Ich kann
Dich verfichern, daß ich jet, da Du das Schlimmfte weißt, ziemlich ruhig bin und
alles anwende um es noch mehr zu werden, Nun werde ich verfuchen noch einmal
über mein mehr oder weniger Inculpirtfein Dih aufzuklären: In dem Briefe aus
Berlin heißt es: der junge Reuter gehört zu den weniger Gravirten; das ift das
einzige Wahre in dem Briefe, doch das läßt fich auch nicht verbergen, da es durch
die Acten feſtſteht. Man hat bei diefer Unterfuchung folgende Kathegorien gebildet
und darnach verurtheilt. Man hat eingetheilt in: nicht gravirte Verbindungen und
in gravirte Verbindungen. Zu den erfteren gehören alle Burjchenichaiten vor dem
Jahre 32 und e& find die Mitglieder derfelben mit 6 Jahren verurtheilt, wie es
denn auch im Frühlinge vorigen Jahres veröffentlicht wurde; dieje find begnadigt
entweder ganz oder zu Strafen bis zu einem Jahre. Darauf folgen die Breslauer,
deren Tendenz nicht jo jchroff ausgeſprochen war, ala die auf andern Univerfitäten;
fie erhalten: 6—8— 10, und die Gravirten in ihrer Verbindung haben erhalten 12
bis 16 Jahre. Zu den gravirten Verbindungen gehören alle Burfchenichaften mit
Ausnahme der Breslauer, die im Jahre 32 und 33 eriftirten zu Heidelberg, Bonn,
Jena, Tübingen, Erlangen, Würzburg, Greifswald, Halle und Kiel. Diejenigen, die
nicht in den Verbindungen aufgenommen waren jondern GCommentburfchen genannt
wurden erhielten 6 Jahre Feitungsarreft, der jedoch durch die Gnade Sr. Majeftät
auf 6 Monate gemildert wurde. Zu den nicht***) gravirten wirklichen Mitgliedern
diejer gradirten Verbindungen gehöre ich mit allen Medlenburgern, mit Ausnahme
von Frank, Schmidt aus Wismar und Nauwerk, welche man, den erfteren gewiß,
vielleicht zu den gravirten gerechnet haben dürfte; und diefe Gathegorie ift durch die
Bank zu dem Beile verurtheilt worden und zu 30 Jahren begnadigt worden. Die
Sravirten diefer Verbindungen find zu dem Rade verurtheilt und zu lebenslänglicher
Feſtungsſtrafe begnadigt worden, wie das Urtheil eines gewilfen Otto zu Stettin be-
zeugt. Bei meiner Unterjuchung habe ich mich bejchränft die Wahrheit von That-
ſachen einzugeftehen, die jchon eingeftanden waren und jo umftändlich eingeftanden
waren, daß ich mit dem beiten Willen nichts neues anzuführen wußte, ja von einigen
—
) Die Briefe find nad Orthographie, Interpunction, und auch mit den grammatifalis
ſchen Schnikern, genau wiedergegeben.
**) Diefer Brief ift von dem damaligen Preubiichen Juftiz:Minifter, dem als Demagogen:
Verfolger gleichfalls jo übel berüchtigten Herrn von Kamptz, bekanntlich einem geborenen Med:
lenburger, an einen Gönner und Freund des Bürgermeifter Reuter gerichtet.
*) Soll wol heißen, weniger gravirten.
450 Deutihe Rundſchau.
Sachen durchaus feine Kenntniß hatte, welches daher kam, daß ich nicht zu dem
Gingeweihten gehörte. Won dem Frankfurter Attentat konnte ich feine Kenntniß
haben, da ich fchon am 18. Februar Jena verließ und feit Mitte de8 Januar frei—
willig au& der Berbindung ausgetreten war. Thörichte Redensarten habe ich auch
nicht ausgeſtoßen, weil mir nicht folche Fragen, wie Du deren anführft, vorgelegt
find. Der ganze traurige Unterfchied in der Beitrafung der Medlenburger mit 1
Jahre und meiner mit 30 Jahren liegt in der Verſchiedenheit der Gefege und in
der Gonfequenz des preußifchen Gerichtähofes; betrachtet man mich ala Preußen oder
ala einen, der gegen den preußiichen Staat gefündigt hat, jo habe ich mich nicht
über Härte der Strafe zu bejchweren, da alle daflelbe erhalten haben, die dafjelbe
gewollt haben, denn gethan haben wir nichts. Nun zu der Anwendung des eben
Gefagten: Du fiehit, wir find alle nach gewiſſen Grundſätzen in Claſſen getheilt und
darnach verurtheilt; diefem gemäß werden auch die Gründe für das Erfenntniß ab-
gefaßt werden, und man wird dabei daffelbe Verfahren beobachten, welches man im
Frühlinge v. 9. bei den zu 6 Jahren Verurtheilten beobachtete, nämlich” man wird
fie uns nicht allein nicht vorenthalten, fondern fie jogar dem Publico veröffentlichen;
wie lange fich dies noch Hinzieht, ift ungewiß. Dann erſt könnte das Rechtsmittel
der weiteren DVertheidigung eingelegt werden, wenn ich es überhaupt thäte; aber ich
bin anderer Meinung als die medlenburgiichen Juriſten. Höre meine Gründe:
fürs erfte, geht mit diefer Vertheidigung wieder ein Jahr und drüber Hin, unb das
Rejultat derjelben kann nur höchjt zweifelhaft ausfallen. Bei diefem Prozeſſe ijt
mit dem Urtheil fogleich die Begnadigung erjchienen, eine Anomalie, bei deren Ab»
faſſung gewiß die Möglichkeit der Refultate der weitern Vertheidigung berüdfichtigt
ift, und zwar jo, daß man uns durch die Gnade Seiner Majeftät daB hat gewährt,
was wir vielleicht auf dem Wege der weiteren Vertheidigung erreicht Hätten. Wer
fih unmittelbar an die Gnade Sr. Majejtät wendet, kann doch wohl mit Gewißheit
darauf rechnen, daß jein Vertrauen nicht getäufcht wird und daß er wenigſtens die—
jelbe Milderung der Strafe erhält, welche diejenigen erhalten, die fich weiter verthei—
digen laſſen; ja die Erfahrung hat dies fchon Hinlänglich beftätigt; dv. Sprewit wird
fich weiter vertheidigt haben und hat 7 Yahre gejeffen, dahingegen Schliemann aus
Gnoien nur 5 Jahre in Haft geweſen ift. Alle meine Freunde in Gilberberg find
diefer Meinung und ich glaube auch diejenigen in Magdeburg die ich bald darüber
iprechen werde, indem ich morgen dahin abreife, weshalb ich heute noch diefen Brief
beendige, damit Du Deine Briefe an die dortige Hochlöbliche Commandantur jendeft.
Die KHleidungsftüde und Bictualien habe ich erhalten und bin nicht jo jehr in
Betreff der erjteren in Verlegenheit, wie Du es glaubjt. Einen Theil des Geldes
werde ich auf der Reife zur Verpflegung gebrauchen, welches mir ſehr noth thut, da
ich jonft in Gefängniffen Nachtquartier machen müßte und mit 5 Sgr. leben müßte.
An Magdeburg werde ich es jchlecht haben, wie wir es von allen Seiten in Silber-
berg erfahren haben, doch denfe ich wird es wohl gehen. Hier in Glogau Hätte ih
e3 mit der Zeit gewiß recht gut gehabt, da der zweite Commandant der Herr Major
von Wichert jowie aud) der Herr Plat- Major Kurz fich meiner beitgütigjt angenome
men haben, erjterer hat mich während meines Hierſeins mit Lectüre, worunter auch
landwirthſchaftliche Werke fich befinden verfehen. Bon Glogau jelbft habe ich gar
nicht3 zu jehen befommen, fo wie ich auch eine hiejelbjt befindliche Runfel- Rüben-
Zuder » Fabrit nicht in Augenschein nehmen konnte, was ich freilich gern gethan
hätte.*) Mus Frankenſtein ift noch nichts, nicht einmal eine Antwort oder ein Auf-
ihluß Hier angelommen wogegen ich die von Dir nach Silberberg gejendeten zwei
Briefe erhalten habe auch alle drei fpäteren mit 40 rth. im Ganzen. Sch wüßte
jet nicht®, was ich noch zu beantworten Hätte, denn über die Zweckmäßigkeit der
*) Für folche Fabriken, die damals in Aufnahme famen, intereffirte fich jehr ber Bürger:
meifter Reuter, ein intelligenter, vielfeitiger Mann, der auch mancherlei Induſtriezweige culti:
virte und ſich dadurch um Medlenburg verdient gemacht hat.
Fritz Reuter auf der Feitung. 451
Schritte, die Du zu meiner Auslieferung gethan halt, babe ich nur eine jehr unbe-
deutende Meinung, da ich es zu wenig beurtheilen kann, ob überhaupt ein Rejultat
erfolgen wird; aber mache es jo wie Du im lebten Briefe angiebjt, warte erjt die
Entſcheidung der Preußiichen Regierung in Betreff der Requifition ab und wenn dies
gethan ijt und feine Erfolge fich zeigen, jo wende Dich an Serenissimum, ob der
etwas für mich thun will. Wenn ich nur erſt in Dömig*) wäre! Ob wie verän-
dern fich die Wünjche der Menjchen, hätte ich dies vor 4 Jahren in Deiner Gegen
wart gewünjcht, gelt Du Hätteft mich auf den Sachſenberg““) zu Schwerin geichidt;
und das ſchlimmſte bei diefer unglüdlichen Sache bleibt immer der ungeheuere Ver—
luft der Zeit, der Zeit in der ein junger Mann feines Glüdes Schmidt ijt. At fugit
interea, fugit irreparabile tempus. Vier Jahre will ich noch ruhig ausharren und
werde fie noch ertragen, ift dann noch fein Ziel, dann lebe wohl Hoffnung auf Er-
denglüd, dann werde ich grenzenlos unglücklich werden. Heute ift ein jchöner Tag,
wenn meine Reife jo begünftigt wird, To glaube ich wird fie mir, wenn fie anders
auf bderjelben Art wie von Silberberg Hierher vollführt wird ***), viel Vergnügen
machen. Was unjere Familie betrifft, jo wechjelt dort ja Freude und Trauer auf
eine für mich jehr ergreifende Art. Großmutter und die Tante in Jabel, beide dem
Tode nahe, beide ein paar ausgezeichnete Frauen, die eritere erzog meine Mutter,
mit welchen Mitteln und wie! — Die andere, ja da muß ich mit Schiller antwor-
ten: nicht dem Guten gehöret die Erde, er ift ein Fremdling und wandert aus und
Tuchet ein unvergänglich Haus. Karl und Mtariet), nun dieje beiden werden gewiß
glüdlich werden; beide haben unendlich viel Gemüth, und darauf beruht wenigjtens
die Zufriedenheit und das Glüd der innern Bruft, für das äußere, da jorge Gott
und jo viel an Dir liegt — — — tr) Was ich hierüber fchreibe, Lieber Vater, ſage
es feinem, auch) Lifetten fr) und — — — tF) nicht; ich will nicht Umruhe erzeugen und
nicht Unrecht thun; und deßhalb mache dieſe leiten Zeilen gleich, nachdem Du fie
gelejen, unlejerid — — — P).
Wie ich eben höre, veife ich morgen noch nicht, jchreibe jedoch nur den nächſten
Brief nah Magdeburg und ſorge nicht zu viel um mich, es greift Dich zu jehr an;
in der Stimmung, worin ich jebt bin, jchlage ich mich fchon durch (ich habe fie
arößten Theils dem Herrn Major von Wichert zu danken), jorge lieber aud) für den
alten treuen Emjt.*7) Nun lebe wohl und denke ruhiger an
Deinen
Sohn %. Reuter.
Fri Reuter's Aufzeichnungen „Ut mine Teftungstid“ beginnen erſt mit
Glogau, im Februar 1837, nachdem er jchon über drei Jahre gejejfen, und
ziehen ji) dann bis zu jeiner Entlajjung im October 1840, In Magdeburg,
wo er im April 1837 bei graufigem Schneetreiben eintraf, fand er die böjen
Gerüchte, die ihm zu Ohren gefommen waren, vollauf bewahrheitet. Wiewol
auf Feftungshaft erkannt war, wurden die politiichen Gefangenen doc) in das
Inquiſitoriat geſteckt, ein höchſt ungeſundes Zellengefängniß, in welchem jie
*) Kleine Feſtung in Mecklenburg, wohin endlich Fritz Reuter in der That ausgeliefert
wurbe.
**) Hier befindet fich die Irrenanſtalt.
+++) Nämlich in kurzen Tagereiſen, wie es auf Anordnung des Major Wichert auch dies:
mal geichah. Vgl. „Ut mine Feſtungstid“ ©. 35.
7) Couſin und Goufine von Frik Reuter, die im Begriff ftanden, einander zu heirathen.
rt) Drei verſchiedene Stellen find unlejerlich gemacht.
rrr) Liſette, die ältere, jetzt auch jchon verftorbene Schwefter Fritz Reuter's.
*5) Der jchon erwähnte Neffe und Pilegefohn des Bürgermeifterd, ipäter deſſen Schwie—
gerjohn.
452 Deutſche Rundſchau.
faſt alle erkrankten und dahinſiechten. Der erſte Commandant, Graf Haak,
war wie „Onkel“ Dambach eine gemeine Seele und verübte gleich dieſem an
den armen Jünglingen die elendeſten Quälereien. Fritz Reuter berichtet dar—
über eingehend in Capitel 7 bis 11 ſeines Buches. In Magdeburg erhielten
die Gefangenen auch endlich die Entſcheidungsgründe. Wie dieſelben beſchaffen
waren, erhellt aus dem nachſtehenden Briefe:
Lieber Vater,
Dielen Dank für Deinen Brief, worin Du mir den Erfolg der Verwendung
unſeres Hofes meldeft, oder vielmehr unferer Regierung. Es ift wahr, die Sadıe
ift nicht beffer und nicht fchlimmer dadurch geworden und das Rejultat dürfte am
Ende doch nur eine abjchlägige Antwort fein. Mir ift vor einigen Tagen das Ur
theil mit den Entjcheidungsgründen vorgelefen worden, wodurch ich jedoch um michts
flüger geworden bin, e8 war eine Gefchichtsergählung, die zum Schluffe mit einigen
Bemerkungen verjehen war, in denen es unter Andern hieß: Jch wäre geftändig ge
wefen, das Lied „Fürften zum Land hinaus“ gefungen zu haben, läugnete aber den
Ders über Sr. Majeftät den König zu kennen, da mir die nicht zu glauben jei, jo
würde ich doch der Majejtätsbeleidigung jchuldig erkannt; ich läugnete ferner im der
Verfammlung zugegen gewefen zu jein, in welcher die revolutionaire Tendenz ausge—
prochen wäre; das wäre mir auch nicht zu glauben u. ſ. w. Es war nur alle
pro forma und ich erwartete auch nichts anderes und nahm meine Appellatio zurüd.
Ich Habe nun ein Begnadigungs-Gejuch aufgejeht und jende Dir die Abjchriit des—
jelben zu. Das Deine habe ich gelefen und bitte es jo zu lafjen und nur noch hin:
zuzufügen, daß Du gehört habeft, wie ſchon Wiek aus Schleswig und Kleekamp aus
Kiel, die eben jo betheiligt wären wie ich, im Sommer 1834 nad Holftein ausge
liefert worden wären; ich glaube dies anzuführen paßt fich befler für Dich als
für mid,
Hier folgt mein Geſuch:
s.T
So ſchrecklich fich auch in der gejeglichen Beurtheilung dad Wejen meiner Ver:
gehung entfaltet Hat, indem ich durch Erkenntniß des Königl. Kammergerichts
„wegen Theilnahme an der hochverrätheriichen Berbindung der Bur—
ichenschaft zu Jena zur Todesjtrafe, welche durch die Allerhöchite Gabi:
net3-Ordre in SOjährige Feltungsftrafe verwandelt worden ift,*
verurtheilt worden bin, jo drängt mich doch mein eigenes Bewußtjein zu dem Trofte,
daß nie in meinem Leben ein wirkliches Verbrechen das Ziel meiner Beftrebungen war.
Leichtfinnige Erfaffung des Augenblids, Mangel an ernftlicher Erwägung der Dinge
und ihrer Folgen und jugendliche flüchtige Begeifterung für alles Gute konnten wohl
manches jaljche Ideal für eine Zeit lang vor meinen Bliden feffeln, aber niemals
bin ich mir bewußt gewejen den verbrecheriichen Unternehmungen, wie fie mir zur
Laſt gelegt werden, mein Herz oder meine Hand zu leihen. Von diefem tröftlichen
Gedanken ermuthigt, wage ich es, von der Gnade Ew. Majeftät eine Milderung der
ſchweren, von dem Geſetze mir zuerfannten, Strafe zu Hoffen, und flehend darum
mich dor Allerhöchft dero erhabenen Throne niederzuwerfen. Schon feit fat 4 Jahren
büße ich die leichtfinnigen Verirrungen meiner Jugend in einer ftrengen Gefangen-
Ihaft, und es war mir vergönnt den Ernſt zu jammeln, der dem jumgen Manne zur
Befeftigung von richtigen Grundfäßen und zur Erfüllung feiner Lebensaufgabe nöthig
ift. Ich Habe um fo jchmerzlicher diefe Strafe empfunden, als ich fie fern von mei—
nem Vaterlande ertragen mußte, und e8 mir nicht unbekannt ift, daß in demjelben
die Beurtheilung unferer Vergehungen viel gelinder, und die darüber verhängte
Strafe bei weitem derjenigen nicht gleich fommt, welche ich bereits erbulbet habe.
Dürfte e8 mir erlaubt jein zu bemerken, daß ich, ein Medlenburger von Geburt, mie
in den Königlichen Staaten Ew. Majeftät, zu ftudiren das Glüd gehabt, und id
Fri Reuter auf der Feftung. 453
mid — nur durchreifend in denjelben verhaftet — um jo weniger der unmittelbaren
Schuld einer Verletzung diegjeitiger Gejege theilhaftig jehe, jo kann ich mich nur
ſchwer auch diejer Stüße meiner Hoffnung berauben, daß es Em. Königlichen Maje-
ftät Gnade und Huld gefallen wolle, meine bereit? überftandene Strafe allergnädigjt
anzujehen, und mich um jo eher meinem geliebten Waterlande und den Armen mei-
ner trauernden Familie wieder zu ſchenken. Ich bin durchdrungen von dem fejten
Bertrauen, daß auch der Ausländer vor dem väterlichen Throne Eines Allverehrten,
Allergnädigften Königs nicht verftoßen werde, wenn er demüthigſt in den Reihen
Gnade flehender Unterthanen erſcheint und ich wage es mit nicht minderer Aufrich—
tigkeit in den Geſinnungen der tiefſten Ehrfurcht und Ergebenheit zu —
Magdeburg. E.
——
Dieſe Bitte werde ich von hier aus ſo bald wie möglich — damit ſie
noch dor dem 3ten Auguft*) zur Sprache kommt, denn indem ich fie nicht direct an
Sr. Majeftät jenden kann, fondern an die Minifterial-Gommiffion, jo kann leicht eine
ziemliche Zeit damit vergehen.
Daß ich die 25 th. von M. und 10 erhalten habe, habe ich Dir gemeldet,
auch find die 30 rth. richtig angelangt, doch von dem bewußten Rod hat fich noch
nicht verlauten laſſen. Ich bin gefund und wohl und jchide und drüde mich, fo
gut, wie’3 gehen will. Wenn Du nun noch den fetten Verſuch machſt, indem Du
Dih an Serenissimum wendeſt wenn er im Auguft nach Blerlin) geht, jo glaube ich
hat man Alles gethan, was fich thun läßt und man fann dann alles dem Himmel
anheim jtellen. Du verlangjt die Namen der Herren, die hier meine Vorgeſetzten
find, zu wiffen. Der erſte Gommandant ift der Herr General-Lieutenant Graf von
Haal, der zweite Gommandant der Herr Major Bol, und der Plah- Major Herr
Hauptmann Singer. Ich glaube, daß ich in diefen Angelegenheiten auch öfter ala
zweimal jchreiben darf und werde ich, wenn es nöthig fein jollte, den Herrn Pla»
Major darum bitten. Binnen 8 bis 10 Tagen ift mein Geſuch abgegangen und da
wäre es wohl gut, weun Dein auch einginge. Bleibe gejund und — an
einen
Sohn F. Reuter.
Magdeburg d. 30ften May 1837.
Niemand wird das Gnadengeſuch des einft jo freiheitäbegeifterten, nun
aber durch die lange Haft gebeugten und mürbe gemadten Jünglings ohne
Rührung leſen; allein es hatte ebenjo wenig Erfolg wie dasjenige, welches der
Vater abjandte, und dem diefer im Laufe der Zeit noch verfchiedene folgen ließ.
Der zweite Commandant, defjen Fritz Reuter im obigen Brief erwähnt, Major
Bock — in jeinem Buche nennt er ihn Oberft von B. — war im Gegenjahe
zum Grafen Haak ein gutwilliger Dann, aber aus Furcht vor feinen Vorgeſetzten
that er für die Gefangenen auch nichts. Erſt auf dem Sterbebette — er folgte
den Grafen jchnell in das Grab — beſchwor er den Plakmajor, dafür zu
jorgen, daß die jungen Leute verſetzt würden, weil fie jonft ſämmtlich „vor die
Hunde gehen müßten“. Hauptmann Singer, der Plakmajor, endlich bewies
den „Demagogen“ ſoviel Nahficht und Erleichterung, als die Umftände geftatteten,
und verkehrte mit ihnen, wie aus Fri Reuter’3 Schilderungen hervorgeht, in
faft freundichaftliher Weile. Die Correfpondenz der Gefangenen ging jelbft-
verftändlich durch die Hände des Commandanten. Mancher Brief wurde ihnen
*) Bekanntlich der Geburtätag Friedrich Wilhelm's III.
454 Deutſche Rundſchau.
vorenthalten oder ſie erfuhren den Inhalt nur mündlich. Sie ſelber durften
nicht zu oft ſchreiben, nur etliche Mal im Jahr; es ſei denn, daß es ſich um
dringende Fälle und wichtige Angelegenheiten handelte. Briefe, die man bean—
ſtandete, wurden ihnen zerſchnitten zurück gegeben. Trotzdem fanden ſie Mittel
und Wege, heimlich zu correſpondiren. Verſchiedene Briefe Fritz Reuter's ſind
in zerſchnittenem Zuſtande an ſeinen Vater gelangt, exiſtiren noch heute, und ich
habe fie bei der Schweſter des Dichters eingeſehen.
Meder Mauern noch Schlöſſer, weder Wachen noch Aufſeher konnten den Ver-
kehr der Gefangenen unter einander und mit der Außenwelt verhindern. Sie waren
auf den verſchiedenſten Feſtungen vertheilt, aber Jeder hatte von den Andern,
namentlich von ſeinen nähern Bekannten, fortlaufend Kunde, genaue Nachrichten
von ihren Leiden und Freuden, Hoffnungen und Ausſichten. Sie hielten alle
wie leibliche Brüder zuſammen; wer da plauderte oder ſich ausholen lieh,
war geächtet, war fortan allein; Niemand ſprach mit ihm, Niemand ſah ihn
mehr an. Faſt von jeder Feſtung entflohen Etliche, ſo namentlich von Silber—
berg, Glogau, Kolberg, Magdeburg ꝛc.; die Zurückbleibenden waren ſtets im
Complot oder ſie wußten doch darum, aber alles Inquiriren half nichts, man
leugnete einfach oder man blieb ſtumm. Während Fritz Reuter in Magdeburg
ſaß, entflohen von hier zwei junge Mediciner, Namens Wagner und Rein—
hard. Unter dem Beiſtande eines früheren Kameraden Br., der erſt vor einem
Vierteljahr frei gefommen, jet dieje Freiheit wieder auf's Spiel ſetzte, ent-
famen fie glüdlih nad England. Mit ihnen verließ der edle Br. Vater und
Vaterland. Frit Neuter läßt ihn ſpäter al3 einen der beliebteften Schriftiteller
in Wien leben. Mir jedoch hat man jet mitgetheilt, daß der Betreffende —
fein eigentlicher Name ift-Braun geweſen — 1840 in Folge der Amneftie,
welche Friedrich) Wilhelm IV. erließ, zurückkehrte und das Gut jeines Vaters
bei Schievelbein in Hinter» Pommern übernahm, wo er dor einigen Jahren
geftorben ift. Wagner und Reinhard meldeten dem Grafen Haak ihre glückliche
Ankunft auf Helgoland in einem jpöttiichen Briefe, und ſchon am nächften Tage
eireulirte eine Abjchrift diejes Briefes unter den Gefangenen. Auch Fri Reuter
dachte mehrmal3 an Entfliehen, aber der Bürrgermeifter wollte davon nichts
hören. Bon diefer heimlichen Correjpondenz zwiſchen Vater und Sohn bekam
da3 „gottgefegnete” Preußiſche Minifterium Wind und ließ, um den Vermittler
zu entdeden, auf einen gewiljen Brief fahnden. Da erzählt nun ri Reuter
voll Freude und Anerkennung, wie fein „Krätending von lütt Swefter”, jeine
jüngere Schwefter Sophie, durch ihre Geiftesgegenwart „einen braven Dann“
vor großem Schaden bemwahrte.*)
Don jeinen Kameraden in Magdeburg nennt Fri Reuter noch: Gr. . .
das iſt Hermann Grashof zu Lohe in Weftphalen, dem er „it mine
Teftungstid‘ gewidmet hat; ferner W...., das ift Wahsmuth, jpäter
Kreisgerichtsrath zu Groffen, und M...., der ſchon katholiſcher Priefter und
im Beſitz der drei erften Weihen geweſen, das ift der nachher jo bekannt gewor-
*) „Ut mine Feſtungstid“, ©. 97 u. 98,
Fritz Reuter auf der Feſtung. 455
dene Jeſuitenpater Haslacher. Zwei Andere, mit ihren Spitnamen „der
Kapitän’ und „der Franzoſe“ geheißen, kommen jpäter in Betracht.
Fritz Reuter war eine jo elaftijche Natur, ein jolch leichtblütiges Menſchenkind,
daß er auch im Kerker nicht die Luft und Freude am Leben verlor, und daß er unter
der langen Haft überhaupt, körperlich wie geiftig, weit weniger litt al3 die meiften
jeiner Kameraden. Nach der Berliner Hausvoigtei war das Magdeburger
Inquifitoriat3-Gefängniß der jchredlichfte Aufenthaltsort, aber der Yüngling
gewann auch hier bald jeine frohe Laune twieder, zumal als ihm auf Anordnung
des Plakmajors jein Zeichengeräth twieder zugejtellt wurde.
Zum Herbjt 1837 geriethen die Gefangenen in Bewegung; man fing an,
die Tage zu zählen, und jah jedem neuen Tage mit großer Spannung und
außerordentliher Erwartung entgegen, bis dann völlige Enttäufhung und
tiefe Niedergejchlagenheit Pla griff. Das Nähere ergiebt der folgende Brief:
Lieber Bater,
Du wirſt vielleicht jchon einen Brief von mir erwartet haben, doch hatte mein
Stillfchweigen eimen guten Grund; ich ſage guten, injofern nämlich die bloße Hoff:
nung gut ift und das ift fie doch wohl, jelbjt wenn fie getäufcht werden follte. Es
verbreitete fich nämlich ein Gerücht, welches jelbjt in unſerm Kerker wiederhallte, daß
Sr. Majeftät 40jähriges Regierungs-Fubiläum (am 16. d. M.) den politifchen Ge-
fangenen eine günftige Veränderung bringen würde, ja man jprach don einer gänz-
lichen Amneftie, und da dachte ich denn bei mir, warum ſollſt du dieſes glücliche
Greigniß nicht abwarten und dich dann ftatt des Briefes auf die Post ſchicken; doch
wie jehr auch die Hoffnungen von Tage zu Tage wuchſen, wie jehr auch die Pläne
zur Reife berathen wurden, die Amneſtie blieb aus, und fo dachte ich, es fei wohl
beffer, wenigftens einen gejchriebenen Boten in die Heimath zu jenden. Eine Hoff:
nung haben wir alle noch, nämlich wenigftens auf die Gitadelle zu fommen, da näm—
ih ſchon hier eine Commiffion zur Unterfuchung der Gefängniffe gewejen ift, um zu
bejtimmen, ob diejelben gefund find, und da ift denn berichtet worden, — doch was
berichtet worden ift weiß ich nicht und wenn ich es wüßte dürfte ich e8 doch nicht
jchreiben, aljo warten wir die Enticheidung, die, da jchon 7 Wochen vergangen find,
wohl bald eintreffen wird, ab und beruhigen wir uns bis dahin. Mit meiner Ge-
jundheit ſteht es gut und durch die Güte des Heren — *) wird auch für meinen Unter:
halt geiorgt, jchade, daß ich den Herrn micht jprechen darf. Die Cholera ift ung
gnädig dorbeigegangen und Hat überhaupt hier nicht jo böſe gehauft, wie fie in
Berlin gehauft haben joll; aber dennoch find leider viele von uns jehr kränklich.
Meine Beichäftigungen find die alten, nur mit dem Unterjchiede des weiter
Vorgerücktſeins; denn beim Zeichnen bin ich fo fühn geweſen mich an die Pajtell-
zeichnerei zu machen und porträtire alles, was fich von mir porträtiren laſſen will
und alle, die mit mir Umgang haben können; ich glaube faft ich könnte, bei einiger
größerer Hebung jchon ala Maler fungiven; aber halt nun fällt mir ein, daß ich
Dir zum Trofte doc) fchreiben muß, daß ich deßhalb doch nicht die Deconomie ver-
geſſen habe, doch kann ich wirklich, beim bejten Willen nicht alles verjtehen, den Koppe
weiß ich auswendig und wenn ich die Encyelopädie, die beiläufig gejagt ftärfer ift
als das Gonverfationstericon auch nicht auswendig weiß, jo ift mix doch jo ziemlich,
mit Ausnahme der Kaninchen- und Ziegenzucht u. dgl. auch dort dag meijte befannt ;
aber wie joll ich hier die Eintheilung der verjchiedenen Aderklaffen kennen lernen,
wie joll ich beurtheilen können ob jeßt Zeit ift zu wenden oder ob ed noch zu naß
u, ſ. w., da ich nicht? anderes Feld jehe ald den Sand im Spudfaften und fein
*) Der Name ift unleferlich gemadht.
456 Deutiche Rundſchau.
anderes Pierdegefchirr ald wenn zum Gaudium unferer Najen die Düngergruben aus-
geiahren werden. In der Hoffnung, daß Du wohl von der Hochzeit*) zurüdgelehrt
bift, und überhaupt vergnügt bift, fchließe ich heute, um der guten Lifette auch noch
ein paar Worte zu jchreiben. Lebe wohl
Dein
Sohn F. Reuter.
Magdeburg d. 29ſten November 1837.
Zeichnen und Malen trieb Fri Reuter von Kindesbeinen an. Mande
feiner Porträts, die fich noch vorfinden, wurden mir als gelungen bezeichnet;
manche jollen von unzweifelhafter Aehnlichkeit fein. In Stavenhagen jah id
eine Kreidezeihnung von Fri Reuter, das Bildniß feines Vaters, ein unſchönes
griesgrämiges Geficht, das die Schwefter des Dichters nicht recht gelten lafien
wollte. Das Talent des Jünglings verſchaffte ihm manchen Freund und
Gönner, auch unter Kerkermeiftern und vorgejegten Officieren, und der Gedanke,
fih der Kunft zu widmen, drängte fi ihm wieder ftärker auf. Der Vater
aber mahnte und trieb, das Brodftudium nicht Tiegen zu laffen, fleißig im
Corpus juris, in Höpfner’3 Jnftitutionen und Thibaut's Pandekten zu leſen.
Er wollte aus dem Sohne durchaus einen Juriften machen, ihn womöglid als
Nachfolger in feinem Amte ſehen. Fritz Reuter machte auch von Zeit zu Zeit
gewaltjame Verſuche und Anftrengungen, um dem Wunſche des Vater nachzu—
fommen. So jchreibt er ihm einmal von Graudenz: „Die Yurispruden
treibe ich des Morgens fleißig und werde fie noch mehr treiben als bisher, da
ih geftern mir einen Wedapparat eingerichtet habe, der jet in Wirkjamteit
getreten ift, und wodurch ich den Abend, die Zeit der Erholung, abkürze, den
Morgen, die Zeit der Arbeit, verlängere.” Das find indeifen jchöne Worte ge-
blieben. E3 fehlte ihm nie an gutem Willen, wohl aber an Geduld und Stetig-
feit. In der Skizze „Eine heitere Epifode aus einer traurigen Zeit‘, die Frih
Reuter in dem von ihm Oftern 1855 bis dahin 1856 herausgegebenen „Unter:
haltung3blatt für beide Medlenburg und Pommern“ veröffentlichte, und welche
die Vorarbeit ift zu feinem nachherigen Buche „Ut mine Feſtungstid“ läßt er
ſich über feine juriftiichen Studien auf der Feſtung jo vernehmen: „Ih wart
mich auf's Bett und las in Höpfner's Commentar. — — Ich hatte gerade
eine halbe Drachme Fauftpfand eingenommen und ſchaute, die Wirkung ſchon
halb verjpürend, auf die löfchpapiernen Blätter meines Exemplars, wie man
an Herbftabenden in den grauen Nebel zu ſchauen pflegt unter dem halb fröfteln-
den, halb wohlthuenden Gefühle, daß man jo wunderfhön im Trodenen ſiht.“
— Er befennt, daß er Höpfner’3 Kommentar regelmäßig als Schlaftrunt ge
braucht Habe, und erzählt, wie ihm der alte Göttinger Profeffor im Traume
erihienen jei, um ihn zu höhnen und zu martern.
Außer der Jurisprudenz, die der Vater verlangte, und der Malerei, die
der Wunſch des Sohnes war, gab es num noch ein Drittes, welches die beiden
Parteien gewiſſermaßen vereinigte — die Landwirthſchaft. Der Water mußte
fürchten, daß der Sohn, wegen der langen unabjehbaren Haft, zum Juriften
doch zu alt werden könne und Fritz Reuter wieder mochte an feinen Ber
*) Hochzeit einer Goufine in Jabel.
Fri Reuter auf ber Feſtung. 457
zum Maler nicht zu feft glauben. Wenn es aljo mit der Malerei nicht ginge,
wollte er’3 mit der Landwirthſchaft verſuchen. Zwar ftellte der Bürgermeifter
den jtudirten Beamten hoch über den Landwirth; zwar bezweifelte er ſtets, daß
der Sohn zu diefem Stande fi eigne — und die Folgezeit hat ihm nur zu
jehr Recht gegeben: aber er fügte fich jcheinbar. Es kam ihm darauf an, den Sohn
nicht jo unthätig zu wiſſen, ihn etwas ernfthafter beichäftigt zu jehen, und
darum ließ er die ökonomiſchen Studien geichehen. Wie unfruchtbar fie aber
gewejen, und daß fie in der Gefängnißzelle einen faſt lächerlichen Anftrich
hatten, bezeugt ri Reuter in dem leßten Briefe jelber. Er trieb aljo nichts
von Bedeutung: ein wenig Jurifterei und ein wenig Landwirthſchaft, bald ab-
wechſelnd, bald gleichzeitig, und jeine eigentliche Beichäftigung während der
ganzen fiebenjährigen Gefangenihaft bildeten Zeichnen, Malen und allerhand
Spielereien. Merkwürdiger Weiſe Tcheint es auch zu poetiſchen Ergüffen nur
jelten gefommen zu fein, und wa3 davon befannt geworden, ift herzlich unbe-
deutend. Dichtkunft und SchriftitellertHum lagen ihm auf der Feſtung noch jehr
ferne. Daß aber die Liebhaberei für Stift und Pinjel ihm fpäter, als er end-
lich jeinen wahren Beruf einſchlug, von dem allergrößten Nuten geweſen, fteht
wol außer Trage. Die realiftiihe Darftellung, die ſcharfe Charakteriftif, die
friichen, gejättigten und oft brennenden Farben, welche wir in den Werfen des
Dichters bewundern, find zurüdzuführen auf den Maler-Dilettanten.
Die Unterfuhungs-Commijfion, deren Fri Reuter im letzten Briefe gedenkt,
berichtete von dem Inquiſitoriats-Gefängniß die allerichlimmiten Dinge, Graf
Haak ſtarb plößli, und der neue Kommandant, wenngleich ein Pietift, bezeigte
den „Demagogen” etwas mehr Fürſorge und jogar ein wenig Mitleid. Trotz—
dem benußte Fri Reuter eine Gelegenheit, die fi ihm darbot, und ließ ſich
verjegen. Nach etwa zehnmonatlidem Aufenthalt jchied er von Magdeburg
und wurde Februar 1838 nad) Graudenz geſchafft. Sein Begleiter war „der
Capitän“, dejjen wahrer Name Schulte ift, damals Gerichtsauscultator, heute
Juſtizrath in Mejerit. Bei jchneidender Kälte ging die Reife über Berlin, wo
man in der Haudvoigtei Station machte. Wiederum waren die beiden Jüng—
linge der väterlichen Obhut von „Onkel“ Dambach übertviejen, und er ließ fie
vier Nächte, vier bitterfalte Nächte in der ungeheizten Zelle auf dem bloßen
Fußboden liegen. Dazu kam eine große Angft. Sie kannten nicht das Ziel
ihrer Reife, und der Gedanke, daß fie wol gar bei „Onkel“ Dambad) bleiben
jollten, brachte fie der Verzweiflung nahe. Fritz Reuter jchildert dieſe Scenen
in dem Gapitel „Berlin un de Husvagtei (Ni taum irften, ne! taum annern
Mal)“, das mit das ergreifendfte des Buches ift.
Gommandant von Graudenz war Generalmajor von Zoll, ein alter
braver Weftphale, der ſchon unter Napoleon als Oberft in Spanien und
in Rußland gedient Hatte. Er nahm die Ankömmlinge gut auf und gewann
jofort ihr Vertrauen. Bald trafen noch mehrere Kameraden ein, darunter
„Kopernitus”, jonft Bogler geheißen und jeines Zeichens ein Referendar, ſo—
wie „der Franzoſe“. Diefer, deffen eigentlider Name Guitienne lautete, ein
großer ftattliher Jüngling, kam von der Berliner Charite. Seit der Verkün-
digung des Todezurtheils hatte fein Geift gelitten; nun war er genejen, und man
458 Deutſche Rundſchau.
ſetzte ihn wieder auf die Feſtung. Dieſe Vier: „der Franzoſe“ und „Koper-
nikus“, „der Capitän“ und „Charles douze*“ — das iſt Fritz Reuter ſelber —
hielten eng zuſammen und führten in den alten, düſtern Kaſematten ein fun:
weiliges, fideles Leben. Wiewol Fri Reuter nicht länger al3 fünf Vierteljahr
in Graubdenz blieb, ift doc die Hälfte ſeines Buchs diejer Feſtung gewidmet;
und dem greijen Gommandanten jeßte er in dankbarer Erinnerung nod ein
bejondere3 Denkmal in der köſtlichen Geſchichte „Ut de Franzoſentid“, wo der
franzöjiihe Colonel, der fein geborner Weſtphale ift, auf dem Rückzuge aus
Rußland nad) Stavenhagen kommt und hier zunächſt viel Verwirrung und
Schrecken anrichtet.
Inzwiſchen Hatte der Bürgermeifter Reuter wegen des Sohnes Himmel und
Erde aufgeboten. Immer wieder ſetzte er die medlenburgiiche Regierung in
Bewegung, die dreimal von Preußen die Auslieferung des Landeskindes ver-
langte. Ja, die Großherzogin Alerandrine jelber verwandte fich für Fritz Reuter
bei ihrem Vater, aber gleihfall3 umjonft. Endlich gab der König von Preuken
den Bitten jeines Schtwiegerjohnes nad, und der Gefangene ward dem Groß—
herzog Paul Friedrich ausgeanttwortet, der num wider feinen Willen den Kerker-
meifter machen mußte.
Im Juni 1839 kam Fri Reuter auf die medlenburgifche Grenzveite
Dömitz, und hier geftaltete ſich fein Loos jo günftig, wie er jelber nur wünſchen
fonnte. Er durfte in Feftung und Stadt frei umhergehen, er konnte jeht ſon—
der Aufficht correfpondiren mit wen er wollte, und bald empfing er den Be
ſuch des Vaters. Der Commandant, Oberftlieutenant von Büllom, ein origi-
neller Herr von achtzig Jahren, zog ihn in feine Familie, die aus der Gattın,
einer guten freundlichen Dame, und aus einem „ganzen Neft voll Töchter, eine
immer jchöner ala die andere”, beftand. E3 erging ihm jo gut, daß er nach—
gerade die Gejellichaft des Commandanten, imit dem er fajt Abend für Abend
Schach jpielen mußte, etwas Yäftig fand und fich mit dem alten Herrn über:
warf. Er bejuchte lieber die Wirthichaften in der Stadt und gab hier zu
mancherlei Beſchwerden Anlaß. In Dömitz war er ein Gefangener nur noch
dem Namen nad), und vier Monate nach dem Tode Friedrich Wilhelms II. jhlug
ihm endli die Stunde völliger Freiheit.
Auf Fritz Reuter’3 Feſtungszeit folgen "feine 3,,Strom-“ oder Wanderjahre
— Wanderjahre im buchſtäblichen Sinne. Die nähern Schilderungen derjelben
nebft den Belegen enthält mein allernächitens erjcheinendes Buch.
das Mufiklehrerihum und das Vublicum.
— — —
Ein Wort an den Cultusminiſter.
— ——
Es hat in jüngſter Zeit nicht an den mannigfachſten Verſuchen gefehlt, das
muſikaliſche Urtheil des Publicums in die rechte Bahn zu lenken, und Dr.
W. Langhans hat ſchon vor zwei Jahren zu dieſem Zweck den Vorſchlag ge—
macht, den Muſikunterricht, auch den theoretiſchen, obligatoriſch in die Schulen
einzuführen*). Der Verfaſſer ging von der irrigen Vorſtellung aus, jeder Menſch
beſäße ein Minimum von muſikaliſcher Anlage. Jeder, der ſich mit der muſi—
kaliſchen Theorie lehrend beſchäftigt hat, weiß nun aber, daß ſich bald nach
den erſten Anfängen ein wenn auch noch ſo geringer Grad muſikaliſchen Vor—
ſtellungsvermögens als Vorausſetzung unabweislich herausſtellt. Dieſer geringſte
Grad muſikaliſcher Phantaſie iſt aber durchaus nicht allgemein. Es gibt nicht
nur Individuen, ſondern ganze Familien, denen dieſe Kunſtanlage abſolut fehlt.
Die obligatoriſche Einführung des Muſikunterrichts in die Schule, ſowie der—
ſelbe über das übliche Chorſingen hinausgeht (und auch hier wird bekanntlich
zu Dispenjationen geſchritten), würde alſo nur das unendliche Volumen der
Bildungselemente um ein neues vermehren, ohne irgendwie ins Gewicht fallende
Reſultate zu erzielen. Die Maſſe des in den Schulen zu bewältigenden wiſſen—
ſchaftlichen Materials iſt ſchon ſo verwirrend groß, daß es geradezu leichtſinnig
wäre, fie noch um eine Disciplin zu vermehren, welche jo fragwürdig iſt und
jo gar nicht autochthon. Wer Muſik treiben will, dem ftehen nur zwei Wege
offen, die Kunſtſchule, wenn er fich zum Künftler, der Privatunterricht, wenn er
fih zum Dilettanten ausbilden will. Wer die Muſik berufsmäßig treiben will,
findet wohl Mittel und Wege ſich zu orientiren; für den Dilettanten hat die
Wahl eines Lehrers aber ihre großen Schwierigkeiten. Keine Kunft vielleicht
wird von einer jo underhältnigmäßig großen Maſſe Unberufener gelehrt wie die
Tonkunſt. Alle durch irgend einen Bankerott, ein Mißgeſchick oder einen Na-
turſchaden aus ihrer Bahn gelenkten Exiſtenzen ftürzen ſich mit verziweiflungs-
vollem Sprung in die jeder Kontrolle entbehrende Garriere de3 Mufiklehrer-
thums. Durchgefallene Candidaten, Nenegaten und Verkommene aller Art
) „Das mufifalifche Urtheil und feine Ausbildung durch die Erziehung.”
460 Deutiche Rundſchau.
bilden eine unheimliche Quote de3 gefammten Mufiflehrerthums großer Städte.
Zu ihnen ftößt ala gefährlichftes Element der verpfujchte Mufiter ſelbſt. Er
bläft vielleicht die Flöte in einem Kleinen Orcheſter, unterrichtet aber nebenbei
im Gefange oder Glavierjpiel. Es ift nicht feine Schuld, daß es jo wenig
Flöten gibt, aber ift es die unfre?
Das Publicum ift übel daran. Hat Jemand einen Prozeß zu führen, jo
geht er gewiß in den jeltenjten Fällen zu einem Winfeladvocaten; er wendet
ih an Männer, denen der Staat die Advocatur übertragen hat, wie man nicht
zum Quadjalber, jondern zum promovirten Arzt geht, wenn man frank ift. In
allen Kreifen des Lebens giebt es Garantien gegen völlige Jgnoranz und Un—
fähigkeit, in der Kunft allein nit. Wer in dieſer nicht zufällig orientirt ift,
hat fein Mittel in Händen, den Künftler vom Charlatan zu untericheiden. Das
Nebel, welches durch jolche Rathlofigkeit erzeugt wird, ift namenlos. Jeder
Mann von Fach weiß, daß ſchlechter muſikaliſcher Elementarunterricht faft un—
ausrottbar ift. Es bleiben jchlehte Gewohnheiten, Oberflächlichkeiten und Ge—
Ihmadslofigkeiten zurüd, die der geſchickteſte Meifter oft nicht mehr zerftören
kann. Es muß aljo eine Sicherheit gegen da3 unberufene Haufiren mit Kunſt
geihaffen werden, und diefe Sicherheit kann nur der Staat geben. Gehört die
Muſik einmal zum Refjort des Eultus, jo muß fie auch denjenigen gejeßlichen
Schutz genießen, den jedes allgemeine Gulturelement beanſpruchen Tann. Die
Form dafür wäre unjchwer zu finden. Eine Commiſſion der ausgezeichnetften
Zonkünftler aller Fächer verfammelte fi) ein oder zwei Mal im Jahre zum
Zweck einer Gramination. Jeder Muſiker von allgemeiner Bildung hätte das
Recht fi von ihr in der Muſikwiſſenſchaft, alfo in Harmonielehre, Contra-
punft, Formen- und Inftrumentationglehre, in der Geſchichte feiner Kunft, vor—
zugsweiſe aber in dem Fach prüfen zu lafjen, welches er ala Unterrichtäztveig
erwählt. Dem die Staatsprüfung Bejtehenden würde ein „Grad“ verliehen,
über deifen Ausdruf man fich leicht verftändigen könnte. Wielleiht wäre
„Doctor der Muſik“ hier das Natürlichfte. Alle näheren Erwägungen müßte
die Commiſſion bei ihrer Conftituirung ins Auge faſſen. Hier jollen nur
einige Andeutungen gegeben werden. Will Jemand fich ala Lehrer des Ge-
ſanges oder eines bejtimmten Ynftrumentes habilitiren, jo wäre eine compoſi—
toriſche Anforderung an ihn nicht zu ftellen. Nur feine Bekanntſchaft mit den
Compofitionsmitteln, nicht aber den bejonderen Beruf für ihre Anwendung
hätte er nachzuweiſen. Umgekehrt würde derjenige gerade Proben feine? Com—
pofitionsgejchicles beizubringen haben, welcher das theoretifche Fach zu feiner
Hauptthätigkeit erwählt, denn e3 wird Niemand die Geheimnifje einer Kunſt
lebendig zu lehren verftehen, der fie nicht auch praktiſch und mit einigem Er—
folg an ſich jelber erprobt hat. Dagegen wäre bei ihm auf einen hohen Grab
techniſchen Gejchices in der Behandlung eines Anftrumentes zu verzichten. Man
fann ein jehr großer Componift fein, ohne doc) auf irgend einem Anftrumente
eine erhebliche Tyertigkeit zu befigen, wie dies durch Cherubini, Berliog und
Wagner bewieſen wird. — Alles Detail der inneren Einrihtung eines ſolchen
Prüfungsconjeils, der Modus der Abftimmung ſowie die mandherlei techniſchen
ragen, die dabei zur Sprache kommen, müßte, wie gejagt, einer Vereinbarung
Tas Muſiklehrerthum und dad Publicum. 461
der Commiſſionsmitglieder anheim gejtellt werden. Als natürlichites Vor—
bild empfähle jich Hier die Verfaſſung einer wiſſenſchaftlichen Sraminationg-
commilfion.
Als unmittelbare Wirkung einer ſolchen Einrichtung würden ſich folgende
Erjcheinungen einftellen. Alle jüngeren Kräfte, welche jih dem Mtufiklehrer-
thum zu widmen gejonnen wären, würden halb aus Ehrgeiz, halb aus Noth-
wendigfeit gezivungen werden, die Staatsprüfung zu beſtehen. Mit ihrer Ab-
folution würden jie eine gewilje Würde ihrer äußeren Stellung dem Publicum
gegenüber gewinnen und dieſes bei der Gewähr einer bejtimmten künſtleriſchen
Bildung, welche die Verleihung des „Grades“ beurkundete, des ſchlimmſten
Theil jeiner Rathlofigkeit überhoben jein. Sehr bald würde der gefammte
Meufitunterriht nur noch in den Händen jachfundiger Männer jein und alle
diejenigen Elemente, welche jebt ihr unerfanntes Verderben in die Familien
tragen, über kurz oder lang genöthigt jein, auf andere Erwerbsmittel zu finnen
und ihren heillojen Beruf mit einem gejünderen zu vertaufchen. Wie viele unter
denen, welche jet durch Handiwerfsmäßige und unberufene Arbeit im Fache der
Kunfterziehung nur Verderben ftiften, würden auf einem Bureau oder in irgend
einer anderen praktiſchen Thätigfeit ganz an ihrem Plaße fein. Man wende
nicht ein, daß eine Reform wie die hier geplante, indem ſie einer Reihe von
ſchiefen und trügeriichen Lebensftellungen den Garaus machte, auch mand) ein
Interregnum der bitterften Noth hervorrufen könnte. Wo es fih um eine
Maßregel von allgemeinem Nuten, um eine Sicherftellung der Gejellichaft in
einer für fie immerhin wichtigen Frage handelt, Tann das zeitlid) gejchädigte
Intereſſe eines Einzelnen nicht in Betracht fommen. Die Gultur hat mit dem
Kriege die Rüdjichtslofigkeit gemein; wo fie neue Gebiete erftreitet, verbindet
fie leicht mit der Gonfolidirung ihrer Macht die politifche Grauſamkeit der
Annerion. Nicht einmal läßt je ji wie die janfte Eroberungsmoral unferer
Tage auf den bedenklicden Ausgleihungsverjud der Option ein. Es gilt vor—
wärt3 oder unter die Räder zu fommen.
Nun wird man mit einigem Recht fragen, wie es fi) denn mit den Titeln
und Auszeichnungen verhält, welche jeit einiger Zeit jo reihlih an Tonkünſtler
geipendet werden, und ob diejelben nicht ſchon die Signatur bildeten, nad) der
hier exft gefucht werden ſoll? Ich kann mir nicht denken, daß es unter den
jo Ausgezeichneten einen jo befangenen Mann geben jollte, der das Zufällige
und oft Willkürliche in der Vertheilung diefer Ehrenbezeugungen nicht zugeben
würde. Schon das Halbdunfel der Bewerbungsprocedur, welches doch den
meijten unter ihnen vorangeht, giebt ihnen etwas Schemenhaftes, das fie von
der einfahen Würde eines wiſſenſchaftlichen Diploms jehr unvortheilhaft unter-
icheidet. In feinem Fall wird die Höhenfarte künftleriicher Intelligenz auch
nur annähernd treu durch fie ſchraffirt. Auch wird es immer Männer geben,
denen das halb heimliche Werben um einen Titel nicht zujagt, während fie fich
ſehr gern einer fachgemäßen Prüfung unterwerfen würden, die ihnen eine
Diftinction verliche, welche unter Freunden und Feinden den gleichen Cours
genöfle.
Was fich gegen die Staatzeinmiihung anführen ließe, wäre im Weſent—
Deutſche Rundſchau. J, 6. 31
402 Deutihe Rundſchau.
lichen Folgendes. Die Kunft Jol frei jein; jede Approbation könnte ala ein
Widerſpruch gegen ihre innerfte Natur aufgefaßt werden. Man könnte von
Entheiligung ihres göttlichen Urjprungs, von Maßregelung ihrer Freizügigfeit
ſprechen. Es könnte endlih die Unmöglichkeit der Differenzirung jo heikler
Qualitäten betont und dergleichen Halbreifeg mehr eingewendet werden. Was
heißt denn ein Eramen ablegen? Heißt es etwas anderes al3 eine beftimmte
Summe von Kenntniffen nachweiſen? Der Genius eines Menjchen läßt fid
freilich nicht eraminiren, jo wenig wie der Reiz, den eine künſtleriſche Perſön—
lichkeit ausübt. Heine behält alfo volltommen Recht, wenn er jagt:
„Mein Freund, man fann ein tragischer Dichter,
Und doc) ein dummer Teufel jein.‘
Der „dumme Teufel“ mag bejtehn, wenn in diefem Fall nur der „tragilde
Dichter” nachgetwiefen wird. Mir jeheint, alle diefe Erwägungen haben nichts
mit dem Vorſchlage gemein, eine grobe, Allen erkennbare Grenzlinie zwiſchen
der Ignoranz und dem Willen zu ziehen und demgemäß eine Garantie gegen
das künſtleriſche Zigeunertfum zu ſchaffen. Wäre der Einzelne in feiner Wahl
denn dadurd irgend beſchränkt, hätte er ein Recht von Bevormundungsſyſtem
zu jprechen, wo es doch ganz in feine Hand gegeben wäre, den Schäfer dem
Arzte vorzuziehn? Solche Leute Hat es zu allen Zeiten gegeben; für fie it
nicht auszuſorgen, denn unter allen Formen der Dummheit ift die des Aber:
glaubens die dauerhaftefte und unzugänglichite.
Eine andere jet vielfach ventilirte Frage, die Frage nach der Gleichberech—
tigung der Frauen, wird hier aber ernjtlich zu berücfichtigen fein. Daß viele
unter ihnen für die ausübende Tonkunft unzweifelhaften Beruf haben, beweift
der flüchtigfte Bid in die Kunſtgeſchichte. Es Hat zu allen Zeiten nicht nur
vortrefflihe Sängerinnen und Spielerinnen, jondern auch Lehrerinnen gegeben.
Ich erinnere hier nır an Namen wie die der Biardot, der Shumann, der
Ungher-Sabatin. Wenn fih nun aud im Allgemeinen nicht verhehlen
läßt, daß der Mann auf diefem Felde wie auf allen übrigen den Vorzug grö—
Berer Productivität und univerjellerer Bildung haben wird, jo kann der durd):
Ichnittlich geringere Grad des weiblichen Intellects doch reichlich durch mora-
liſche Activa erjegt werden, welche die Bilanz in anderer Weife ausgleichen.
Zum Lehren gehören zwei Eigenjchaften, die ihrer Natur nad) mehr weiblid
al3 männlich find, Geduld und Liebe. Sie fpielen, namentlich bei der &-
ziehung von Kindern, eine jehr wichtige Rolle. Nichts könnte alſo thörichter
und ungerechter zugleich fein, al Frauen von einem Beruf auszuſchließen, dem
fie außer ihrer fünftlerifchen Befähigung noch die bejonderen Vortheile ihrer
geſchlechtlichen Eigenthümlichkeit entgegenbräcdhten. Nicht ohne Grund wird bei
dem Elementarunterricht daher oft die Lehrerin dem Lehrer vorgezogen. Nun
denke ich, ließe fich ein modificirtes Eramen auch für Frauen leicht einrichten.
Auszufhliegen wären von ihm Contrapunkt und Inſtrumentationslehre, weil
beide Materien zu jehr dem Gebiete des höheren Tonkünſtlerthums angehören.
Unerläßlich jedoch blieben Kenntniffe in der Harmonie-, Formenlehre und der
Geſchichte der Mufil. Eine Lehrerin, welche dieſe Gebiete nicht beherriäite,
würde nur einjeitig wirken können. Die Form des Prädicat3 wäre zu über:
Das Mufiklehrerthum und das Publicum. 463
legen; „geprüfte Murfiklehrerin” würde genügen, Elingt aber etwas nüchtern.
Bielleiht Tieße fih ein artiger, nicht affectirter Titel finden. Die Wirkung
würde unzweifelhaft auch Hier fein, daß man eben jo wenig ungeprüfte Muſik—
lehrerinnen engagiren würde, wie man wiflenichaftliche Lehrerinnen und Gou—
vernanten nimmt, wenn fie nicht ihr Lehrerinneneramen beftanden haben.
Und nun erlaube man mir zum Schluß ein Wort, welches vielleicht über-
flüſſig ift, ein Wort über die Wichtigkeit, welche die Tonkunſt im Leben der
meiften Menſchen hat. Sie iſt die Befinnung auf uns jelbft, auf das Reinfte
und Befte, was wir in uns tragen. Gie ijt die geheimnißvolle Macht, welche
unjeren Schmerz mildert und unfere Freude heiligt. Ihr unverlierbarer Troft
ftärft die Seele faft mit der Kraft der Religion, und ich weiß nicht, ob die
Gewalt, mit der fie uns über ung ſelbſt erhebt, im Reich der Zauber ihres
gleichen hat. Alles, was wir im Leben jonjt ala Glück erkennen, trägt den
Eilberftempel eines beftimmten Werthes. Mit ihm verknüpft fich ein eben jo
beftimmtes Eigenthumsgefühl. Die Kunft, und vor Allem die Tonkunft in
ihrer weltabgewandten Höhe, weiß nicht3 mehr von dem begrenzten Erwerb der
einzelnen Seele. Nur was uns allen gehört oder gebricht, drückt fie in der
„wunderſamen Melodei” ihrer Spradhe aus, von der wir nicht wiſſen, von
wannen fie fommt. Mit ihren Blüthenkränzen umfchlingt fie unfere Feft- und
Trauertage, an allem theilnehmend, was unjer Dafein Beglüdendes und Be—
trübendes birgt. Sie ift vielleicht die fittlichjte unter allen Künften, weil fie
das Unfittliche eigentlich nicht ausdrüden fann. Wohl kann fie gemißbraucht
werben, da3 Gemeine zu ſchmücken, fie jelbjt aber bleibt rein, wie das Kind
rein bleibt, da3 eine unlautere Hand führt. — Das ift die Kunft, deren Lehre
hier zu ſchützen verſucht werden ſollte. Kein reines Evangelium ohne reine
Jünger! Kein Willen ohne Wiffende! Auch die Kunftgeihichte ift das Kunſt—
gericht, und — vergeſſen wir e3 nit — die Geſchichte einer Kunft macht nicht
der Künftler allein, jondern Welt und Zeit mit ihm. Der Scaffende bedarf
des Empfangenden jo nothivendig, daß er ohne ihn nur ala ſchöner Wahnfinn
zu denfen wäre. Daher überall, wo wahre Kunft zu Haufe ift, in ihrer Um:
gebung aud wahres Verſtändniß und wahre Pflege. Beides ihr zu bereiten,
ift die forgenvolle, kluge Pfliht der Erziehung. Bleiben wir ihr ſolchen Tribut
nicht ſchuldig. Louis Ehlert.*)
*) Mir wollen an biefer Stelle bemerfen, daß Herr Ehlert zwar, wegen Verlegung feines
Wohnſihes aus Berlin nah dem Süden, die regelmäßige Berichterftattung für die „Deutiche
Rundihau* Hat aufgeben müffen; daß er aber nicht aufhören wird, auch in der Ferne für die—
felbe thätig zu fein, und daß wir hoffen, manchen weitern Beitrag aus feiner Feder unſern
Zejern mittheilen zu können.
edaction der „Deutichen Rundſchau“.
—— &
EBEN
J ”
31*
£iterarif che Rundſchau.
— —
1. Geſchichte der europäiſchen Staaten. Herausgegeben von A. 9.8
Heeren, F. A. Ukert und W. v. Gieſebrecht. — SechBunddreiigfte
Lieferung. Geſchichte Polens v. Dr. 3. Caro, Band 4; Geſchichte
Schwedens von Friedrih Ferdinand Garlfon, Band 5. Gotha,
Friedr. Andre. Perthes. 1875.
Mehr ala ein halbes Jahrhundert ift verfloffen, jeit Friedrich Perthes den
Plan der „Staatengefchichte” erfann, in jenem großartigen, ächt nationalen und ächt
wiſſenſchaftlichen Sinne, der das ganze Wirken diejes jeltenen Mannes Tennzeichnet.
Die Zeit ſchien ihm gekommen, unjerer Gejchichtjchreibung über die Bedürfniffe der
eigentlichen TFachgelehrten hinaus ernſte Aufgaben Für die ftaatsbürgerliche Erziehung
des Volkes zu ftellen. Umbeirrt durch den augenbliklichen Niedergang des öffent-
lichen Lebens (e8 war im Jahre 1822, drei Jahre nach. den Carlsbader Beichlüffen),
verſprach er fi) von den ungeheuren Greignifien der vergangenen Jahrzehnte eine
ernftliche Vertiefung und VBerallgemeinerung des geichichtlichen Sinne. Es ſchien
ihm unzweifelhaft, „daß die großen Erfahrungen, die Keinem erſpart geblieben waren,
„Allen einen weitern Blid, einen höhern Standpunkt für die Betrachtung der Böl-
„tergeichichte gegeben hätten.” Auf Geſchäftsmänner jeden Ranges, zu jelbjländigem
Eingreifen in die Gejchichte berufen, glaubte er rechnen zu dürfen, indem ex feinen
fühnen und weitausjehenden Plan Hiftorifcher Belehrung entwarf, und den abmah-
nenden Freunden (Rift und Prel) jehte er ein freudiges Vertrauen auf die Nation
entgegen, „die beiler jei als ihre Schriftiteller.” So gewann er fich zuerſt den ge—
feierten Namen und den unjchäßbaren Beirat) des alten Heeren, des Neſtors unserer
eulturhiftorisch-philofophiichen Gefchichtichreibung, dann die rüftige Arbeitskraft und
Gelehrſamkeit Ukert's, und 1827 konnte dann die Ankündigung, 1828 die Aufior-
derung zur Subjeription, 1829 die erjte Lieferung ericheinen. Sie umfaßte den eriten
Band von Pfiſter's Gefchichte von Deutjchland und die beiden erften Bände von
Heinrich Leo's Geſchichte der italienischen Staaten.
Das war der Anfang diejes in feiner Art einzigen Unternehmens, dem die Be
gründer eine Arbeitserfordernig von S—10 Jahren, einen Umfang von höchſtens 40
Bänden in Ausficht ftellten. Jetzt Liegen, die neueſte Lieferung eingerechnet, 73
Bände vor, nach 47jähriger Arbeit; Heeren hat uns 1842, Friedrih Perthes
1843, %. U. Ukert 1857 verlafien, und dem Charakter, der innen Beichaftenheit
des von ihnen in Angriff genommenen Monumtentalbaues deuticher, gediegener Bil-
dung iſt es nicht anders ergangen, als den Zeit und Größenverhältnifien der eriten
Anlage: ex ift längjt aus dem urjprünglichen Rahmen heraus gewachjen und bezeugt
vielfältig die Abhängigkeit menjchlicher Pläne von der Zeit und den Dingen. Aus
den überfichtlichen, populären Darjtellungen des eriten Entwurfs ift eine ftattliche
Reihe grümdlicher, zum Theil glänzend gejchriebener, aber in Ton und Behandlungs-
weije keineswegs übereinjtimmender Specialgejchichten geworden. Nur zum Theil
Literarische Rundichau. 465
haben die VBerfafjer, im Sinne des Perthes’ichen Planes, „das Hauptaugenmerk von
den Herrichern auf die Beherrfchten gewendet;“ nicht überall gleichmäßig „iſt die Frie—
dend= und Kriegshiftorie, die Haupt: und Staatsaction zurüd getreten gegen das,
wodurch Staat und Nation erft Staat und Nation find, gegen die Gejchichte der
Sitten, der Arbeit, des Nechts, der fortjchreitenden Gultur.“ Auch hat die Reihe
der Mitarbeiter natürlich häufig Erja befommen, wie ein Regiment vor dem Feinde.
Planmäßig vollendet liegen vor uns nur Pfifter’3 Deutichland (bi8 1800, fortge-
ſetzt von Bülau bis 1830), Stenzel's Preußen, Böttiger’d, von Flathe
ſchon in zweiter Auflage bearbeitete und erweiterte Geſchichte von Sachſen, v. Kam-—
pen's Niederlande, die ruffiiche Geſchichte von Strahl (Band 1—2) und Herr—
mann (Band 3—7), die öjterreichiiche von Mailath (5 Bände), die portugiefiiche
von Schäfer (5 Bände), die franzöfiihe von Schmidt und Wachsmuth (je
4 Bände), die türkifche von Zinkeifen (7 Bände). Dagegen harren Stalien (Leo),
Spanien (lembfe und Schäfer), Schweden (Geijer und Garljon), England
(Xappenberg und Pauli), Dänemart Dahlmann), Polen (Röpell und
Garo) noch der Vollendung, die, wie man jieht, in mehreren Fällen dem erjten Un—
ternehmer durch das Schidjal verjagt wurde; und die Schweiz, Griechenland, Baiern,
Würtemberg ſtehen, überhaupt erjt in Ausficht. So Hat die Umberechenbarfeit menſch—
licher Dinge denn auch bier ihre Geltung bewährt; was aber unter allen Wechjeln
feine recht erfreuliche Beftätigung gefunden hat, das ift des trefflichen Perthes’ Ver—
trauen auf den hiſtoriſchen und willenjchaftlichen Sinn der deutichen Lejewelt. Die
über alle Berechnung gewachlene Ausdehnung der Staatengeihichte Hat eine bejtändig
zunehmende Theilnahme des Publicums nicht verhindert; ſchon längft fehlt „Heeren
und Ukert“ jo leicht in feiner öffentlichen deutichen Bibliothek, bis auf bejcheidene
Schulbibliothefen herab, und jede neue Fortſetzung wird von Taujenden wie ein lange
erwarteter lieber Gajt begrüßt. Steht da nicht mit Grund zu erwarten, daß die
gegenwärtige Yluthwelle unſers nationalen Geiftesleben® auch diejes jtolze Orlogſchiff
deutscher Wiſſenſchaft endgültig heben und dem Hafen der Bollendung zuführen
wird? Ein bewährter Steuermann ift in dem neuen Herausgeber gefunden, und wenn
auch der Arbeit noch recht viel übrig bleibt, jo darf doch an einem glüdlichen und der
Sache würdigen Abjchluffe wol nicht mehr gezweitelt werden. Möge es dem um
unfere ältere Gejchichte jo Hoch verdienten v. Giefebrecht vergönnt fein, die Geſammt—
arbeit jo vieler Wadern unter Dach zu bringen; zu dem mächtig und fichtlich wach:
jenden Bildungsbedürfniffe unferer bejjern Stände verjehen wir uns der Hoffnung,
daß bald auch wohlhabende Privatleute in einer größeren Zahl es fich zu bejonderer
Ehre machen werden, jolche Hauptjtüde unferer nationalen Geiftesrüftung in ihrer
Bibliothek zu befiten.
— — ——
2. Culturgeſchichte in ihrer natürlichen Entwickelung bis zur Gegenwart. Von
Friedrich von Hellwald. Augsburg, Lampart u. Comp. 1874.
„Aufgabe der Wiſſenſchaft iſt es, alle Ideale zu zerſtören und zu zeigen, daß
„Gottesglaube und Religion Trug, daß Sittlichkeit, Gleichheit, Liebe, Freiheit und
„Menſchenrecht Lüge ſind, und gleichzeitig die Nothwendigkeit der Ideale, des Got—
„tesglaubens, der Religion, Sittlichkeit zc., kurz all’ dieſer Irrthümer für die Cul—
„turentwickelung zu behaupten. Die Wiſſenſchaft beweiſt jedoch mit gleicher Kraft
„(allerdings!) die Nothwendigkeit aller jener Erſcheinungen, welche gewöhnlich als
„Culturhemmniſſe betrachtet werden, 3. B. der Sclaverei, Knechtſchaft, Despotie,
„Tyrannei, des Geiftesjoches der Kirche u. ſ. w, denn die einen wie die andern find
„Erfindungen des Menjchen zum Zwed der Selbijterhaltung, nämlich
„Waffen im Kampf um's Dajein“ (p. 569). Aeußerungen ähnlicher Art finden fich
an berichiedenen Stellen des Werkes und laſſen erkennen, wie der Verf. dienatür-
Lie Entwidelung der Gulturgefchichte verjtanden haben will. Er zieht die jchroff-
466 Deutiche Rundſchau.
jten Yolgerungen der rein materialiftifchen Weltanfchauung („moniftifch“ zu jagen,
wäre bier jchon Schönfärberei), faßt das organifche Leben lediglich ala eine compli-
cirte Bewegungsjorm der Materie, den Menjchen als das beanlagtefte Raubthier,
läßt alle „jogenannten“ moralifchen Borftellungen aus den thieriichen Bedürfnijjen
und Anlagen fi ohne Sprünge entwideln und verurtheilt mit fchneidendem Hohn
vom Standpunkte dieſer „wiſſenſchaftlichen“ Betrachtung alles Gerede von Sittlich—
keit, Recht, Freiheit, Liebe, kurz alles Ideale. Den entjcheidenden Schlag gegen die
ideale Lebensauffaſſung führt diefe Philofophie mit dem Hinweis darauf, daß aud
dad Menjchengeichlecht einmal ein Ende nehmen werde, wie e8 ja einen Anfang ge
nommen, „Einſt wird die Erde, ihrer Atmojphäre und Lebewelt beraubt, in mond-
gleicher Verödung um die Sonne freifen wie zuvor, dad Menjchengefchlecht aber,
jeine Gultur, fein Ringen und Streben, feine Schöpfungen und Ideale find ge-
wejen. Wozu?” So ſchließt das Werk, und die Moral bemerkt: „Nur wer eine
furze, unzweideutige, peremptoriiche Antwort auf diefe Fundamentalfrage zu ertheilen
vermag, wird die Grundanjchauung meines Werkes anfechten können.“ Nun, twir
wollen diefe Antwort verfuchen. Unferer Anficht nach ift daS Leben dazu da, daß
ein Jeder feine Schuldigfeit thue, d. H., daß er an jeinem Theile und nach jeiner
Einfiht und Kraft die allgemeine Vernunft in feiner Perfon undsjeinem Leben zum
Ausdrud bringe: wobei denn auch die Liebe fich nicht als eine Lüge und ein Fall
ftrid, jondern „ala des Geſetzes Erfüllung“ erweilt. In jeder redlichen Forjchung,
in jeder freien, fittlichen That, in jeder Geftaltung des Schönen wird der Weltzwed
endgültig erreicht, und ob auf der gegebenen Stelle des Weltalls fich nachher in alle
Ewigkeit Aehnliches vollzieht oder das organijche Leben auf diefem Pünktchen des
unendlichen Raumes einmal auf eine Weile, auf ein oder ein Paar Weltenjahre aui-
hört, das kann an dem einmal Gejchehenen Nichts ändern. Wer fich dabei nidt
beruhigen will und das MWeltgericht in der Weltgefchichte nicht fieht, der mag die
Sterne fragen und mit den andern — Forichern auf Antwort warten. — Das find
nun, wie Sedermann fieht, altmodiſche Borftellungen; aber H. giebt ja ſelbſt zu
(p. 799), daß e& ftet? Ideale, d. h. nothivendige Irrthümer geben wird und muß,
jo lange Menschen auf Erden wandeln. Ex wird aljo hoffentlich mit unjerer Schwach—
heit Mitleid haben und unfern angeerbten Irrthum verzeihen. Beſonders wenn wir
hinzufügen, daß wir E. Haedel, dem diefe Culturgeichichte gewidmet ift, aufrichtig
verehren, daß D. %. Strauß, der in der Vorrede Gefeierte, jtetd ein Gegenjtand un
jerer warmen Zuneigung und aufrichtigen Bewunderung war, und — daß wir an
der Hellwald’schen Eulturgejchichte, troß principiellen und ſcharfen Widerſpruchs, den
Muth der Meinung, die jelbjtändige Verarbeitung des Stoffes und eine gewifie
Ichlagfertige, anregende Friſche der Darjtellung gern anerkennen.
————
3. Die deutſche Nationalliteratur im 18. und 19. Jahrhundert.
Hiſtoriſch und äſthetiſch-kritiſch dargeftellt von Joſeph Hillebrant.
Band 1—3. Dritte Auflage, durchgejehen und vervollftändigt von Karl
Hillebrand. Gotha, Fr. Andre. Perthes. 1875.
63 giebt zwei gleich berechtigte Methoden, Literaturgefchichte zu jchreiben. Die
eine verſetzt uns mitten in die Entwidelung und läßt aus deren Gingelheiten den
zufammenfaffenden Gedanken fich erheben. Die andere ſchwebt jo zu jagen im der
Dogelihau über dem Stoffe, erfpäht feine Verhältniffe und beleuchtet ihn mit ihrem
äfthetifch-kritifchen Urtheile. Auf dem einen Wege belaufchen wir das jchafjende
Leben, betheiligen uns im Herzen an feinen Kämpfen, Fehlgriffen und Siegen, und
mit der Erfenntniß der zum Schönen führenden Wege regt fich in uns die Luft, dieſe
Wege zu gehen, jelbft zu jchauen, was aus dem Spiegel der Seele des Berichterftat:
terd una anmuthend lodte. Die andere Form der Darftellung dagegen wirkt weniger
anregend, ala Elärend, orbnend, vertiefend;; fie jeßt die Anfchauungen voraus, veranlaßt
aber, fie auf ihren Werth und ihre Bedeutung zu prüfen, und zeigt diefer Prüfung
Literarifche Rundſchau. 467
die einzufchlagende Richtung. Sie wendet ſich mehr an den Verſtand, als an Phan-
tafie und Gemüth, und muß fich daher mit langfamerer und weniger lebhafter Wir-
tung begnügen; wenn fie aber auf der Höhe ihrer Aufgabe fteht, fo mag die Dauer
und Nachhaltigkeit des Erfolges immerhin für jenen Mangel entfchädigen. Was
nm Joſeph Hillebrand angeht, fo ift e8 feinen zahlreichen Schülern und Leſern
wehlbefannt, daß er ftet3 diefe zweite Methode befolgte; fie willen aber auch und
danken es ihm, mit welcher Wahrhaftigkeit, Gediegenheit und ehrlichen Objectivität
er jeine Aufgabe erfaßte, und der Umſtand, dak ihre Theilnahme diefe neue, dritte
Auflage nöthig gemacht hat, mag uns die Fortdauer guter Ueberlieferungen be=
jeugen, deren Untergang im modernen Realismus und Senfationsbedürfniß oit
voreilig beflagt wird. Die neue Auflage Hat den urfprünglichen Charakter des Wertes
wie billig unverändert gelaflen, nur Ginzelnes berichtigt und die bibliographijchen
Anmerkungen zwedmäßig erweitert. Wer aljo feiner Zeit, dor jebt beinahe 30
Jahren, an Hillebrand’3 ächt proteftantifcher Denkweile, an feinem Cultus des freien
Gedankens, an feinem gemäßigten, gewiflenhaften Urtheil und an feiner, wenn nicht
genialen, jo doch durchaus geſunden äfthetifchen Auffafjung fich erfreut hat, der wird
bier dem alten Freunde mit Vergnügen wieder begegnen. — Wenn die Zufäße des
Herausgebers nicht in dem gleichen Maße der Gegenwart gerecht werden, wie bie
älteren Theile des Werkes es der claffiichen ımd romantischen Epoche geworden find,
wenn manche Leer wol hie und da einen Liebling vermiffen oder ein Urtheil zu
hart und abfällig finden dürften, jo mögen fie eben bedenken, daß die Methode des
Werks an ſich nur auf abgefchloffene Zeiträume mit Bortheil anwendbar jcheinen
möchte und daß es für den Mitlebenden immer eine mißliche Sache bleibt, dem
Siebe der Zeit vorzugreifen. Damit joll übrigens vielen Urtheilen die Schärfe und
Gründlichkeit, und der Gefammthaltung auch diefes Abjchnittes das Streben nad)
Dbjectivität keineswegs abgefprochen werden. Das ganze Werk jei auch in der neuen
Geitalt dentenden und mit dem Stoffe vertrauten Literaturfreunden als ge=
diegene Anregung zu Ordnung und Prüfung ihrer Urtheile empfohlen.
— — ——
4. J. J. Honegger. Kritiſche Geſchichte der franzöſiſchen Cultureinflüfſe in
den letzten Jahrhunderten. Berlin, R. Oppenheim. 1875.
„Alſo der Styl! Das Urtheil über den Punkt iſt Geſchmacksſache; ich befinde
„mich ganz gut bei meiner Weiſe und werde fie nicht ändern; jedenfalls ift dafür
„gejorgt, daß mein Styl nicht current wird.” So der Verf. auf p. X der Vorrede.
Wir theilen mit ihm die zuleßt ausgejprochene Hoffnung von ganzem Herzen: aber
follte es wirklich bei Hochdeutfchen Schriftftellern je Sitte werden können, 3. B.
„darauf abzustellen, daß ihr Urtheil ein felbftftändiges ſei?“ Sollten gebildete
Deutiche je unempfindlich werden gegen eine Logik des Styls wie diefe: „In der vor—
„liegenden Schrift handelt fich’8 durchaus nicht um die Vorführung neuer Thatjachen,
„die etiva durch archivalifche Forichung gefunden wären; beides (?) liegt dem Zweck
„und der Darftellungsweife des Verf. gleich fern.“ Das find jo ein Paar gleich im
Anfange fich darbietende Beifpiele. „Der Verf. befindet fich jehr gut bei diefer Weije,“
die mitunter, oder vielmehr recht oit, im weiteren Inhalt feiner Schrift eine ver-
zweifelte Nehnlichkeit mit der Form von Auszügen und hingeworfenen Bemerkungen
annimmt, wie man fie wol beim Xejen oder Nachdenken flüchtig aufzeichnet, nicht in
der Abficht, fie druden zu laffen, jondern fie zu einem Buche zu verarbeiten. Wir
gönnen ihm jenes Wohlbefinden von Herzen, glauben aber, daß feine Lefer fich beffer
befinden würden, wenn er dem fo eifrig ftudirten franzöſiſchen Einfluffe in Bezug auf
Formgebung weniger hartnädig twiderftanden hätte. Doch wie dem fei: auf alle
Fälle find diefe Auszüge und culturhiftoriichen Materialien mit Fleiß, jelbftftändigem
Denken und in tüchtiger, geſunder deutjcher Gefinnung zufammengeftellt; und wer
fich nicht ſcheut, diefe und jene nicht eben tieffinnige Stelle zweimal zu lejen, um
auf des Verf. Meinung zu kommen, der wird ihm für vielfache Anregung, für manchen
468 Deutiche Rundſchau.
guten Fingerzeig, Tür viel brauchbares Material zu Dank verpflichtet werden. Auf
originale und bahnbrechende Auffafiungen möge man allerdings nicht rechnen. Heißt
es 3.8. Tranzöfiiches Weſen erklären, wenn man jcheinbare oder wirkliche, weltbetannte
Gegenfäbe einfach aufzählt? „Unveränderlichkeit ſeit Jahrtaufenden, daneben die
„außerjte Beweglichkeit und ewig ruhelofer Wechjel; das Hängen an Herd und Gr
„wohnheit und das Hinausfchweifen über alle Gränzen; Freiheit und Knechtichatt,
„Gehorſam und Widerfpruchägeift, Fügſamkeit und Empörung wunderlich fich miſchend;
„Zalent, Begabung und Heldenmuth aufbietend und doch nur im Kriege unbeitritten
„groß (??!), nah Schein und Phantafiegebilden jagend und nur in coloffalen Ent-
„wären lebend.“ (S.400.) Abgejehen von dem weniger ala problematifchen Werbe
der Behauptungen (wir find 3. B. der Anficht, und glauben fie beiveilen zu können,
daß die wirkliche, unbeftreitbare Meberlegenheit der Franzofen über die germaniſche
Art auch entfernt nicht in etwaiger größerer Kriegstüchtigfeit liegt, fondern Lediglich
in der celtiich-romanifchen Begabung für gute, gefällige Form), was denkt ſich denn
eigentlich der Verf, wenn er nun fortfährt: „Darin liegt der Schlüfjel zur räthiel-
und wideripruchsvollen Gefchichte diefer Nation.“ Alſo, die Franzoſen haben wider:
ipruchsvoll gehandelt, weil fie wideripruchgvoll find! Unferes Erachtens kam es viel-
mehr darauf an, das Geſetz diefer jcheinbaren Widerfprüche zu ſuchen, wobei fich denn
die treibenden Kräfte diefer ganzen, jehr Logifchen und ſehr veritändigen Entwidelung
in richtiger Grwägung des römischen, maßgebenden Einfluffe® auf den celtiichen
a und die germanifche Beimiſchung der Nation jehr Leicht herausgeitellt
ätten.
5. Erlebnijje und Studien in der Gegenwart. Bon Yudwig
Robert. Leipzig, Breitlopt u. Härtel. 1875.
Das Büchlein enthält Auffäge und Aphorismen aus der Feder eines mol
orientirten, gut deutich gefinnten, an Maß und gute, bequeme Form gemwöhnten
Weltmannes. Den Schwerpunkt möchten wir in den pifanten „Federzeichnungen aus
Frankfurt a. M.“ fuchen. Diefelben jchildern, zu gutem Theil offenbar aus eigener
Anſchauung und durchweg mit Sach- und Ortskenntniß, das ſtille Wachjen und
Wirken des Bismarck'ſchen Geiftes inmitten der bundestäglichen Diplomatenwelt in
den Sahren 1851—59; nächſtdem den freundlichen Carnevalsſcherz des Fürſten—
congreſſes von 1863, endlich die jchijalsfchweren Junitage von 1866. Das eigent-
lich ftädtifche, einheimifche Leben Frankfurts wird nur in feinen Spitzen berührt, wo
e3 mit der Diplomatie fich verquidte; auf die letztere aber und die ihr nahe flehenden
Kreiſe fallen vielfach höchſt überrafchende Schlaglichter. Neu und bezeichnend war
ung folgender, für den Mann und die Lage gleich charakteriftiicher Zug: Bei Gelegenheit
eines erzherzoglichen Beſuchs befand fich v. Bismard, mit feinen Orden gejchmüdt,
in jeiner befannten Güraffieruniform auf der Parade. Der Erzherzog ſprengt au
ihn zu mit der „verbindlichen und gutmüthigen“ Frage: „Berzeihen’s, Ercellenz, haben’s
alle dieſe Decorationen vor dem Feinde erhalten?" — „Jawol, Kaiferliche Hoheit!"
lautete die blifchnelle Antwort; „alle vor dem Feinde, alle hier in Frantfunt!”
Wenn der Verf. übrigens, Angefichts der Frankfurter Opferwilligkeit und Wohlthätigfeit
in den Jahren 1870—71, mit dem vertrauensvollen Worte ſchließt: „Wir glauben,
Frankfurt ift num unfer geworden,” jo hat er diefes „unſer“ hoffentlich nur für
„deutſch“ geichrieben. Andern Falles wäre die Auffaſſung ftart optimiftisch, wenngleich
es mit der Kernbildung auch einer ehrlich preußifchen Partei in der alten Reichsſtadt
jeine Richtigkeit hat. — Sehr anziehend und belehrend ift fodann auch der „Streit
zug nach Dänemark“, eine gedrängte, aber lebendige und warme Schilderung der
Sandichait, der Geſellſchaft, des Geifteslebens jenfeits der Belte. Daß dabei der
dänischen Betriebfamkeit, Leichtlebigkeit, Gaftlichkeit und glühenden Vaterlandsliebe
volle Gerechtigkeit widerfährt, ift nur in der Ordnung. Den Nationalhaß gegen uns
glaubt der Verf. neuerdings abnehmen zu jehen: möge er Necht behalten! Gebr
Literariihe Rundſchau 469
hübſch find die Mittheilungen über die Perfon und die yamilienverhältniffe des
jebigen Königs, des glüdlichen Vaters ummwiderftehlicher Töchter. Zum „Schwieger-
vater Rußlands und Englands“ haben fie ihn ſchon gemacht; wer weiß, für wen
die dritte dieſer jchönen „dänischen Roſen“ noch blühen mag?
— — —
6. Veröffentlichungen des „Allgemeinen Vereins für deutſche Lite—
ratur“ Berlin, A. Hofmann u. Comp. 1874—75.
Unter dem Protectorat des Großherzog: von Sahjen- Weimar und des
Prinzen Georg von Preußen hat fih im vorigen Jahre befanntlich ein Verein
gebildet, der fih Anregung jchriftjtellerifchen, einer allgemeinen höheın Geiftesbildung
dienenden Schaffens und Beförderung des Eines für edlere, geiftige Unterhaltung zur
Aufgabe macht. Die Mitglieder zahlen jährlich 30 Reichsmark Beitrag und erhalten
dafür je eine Jahresferie von fieben Werfen, im Umfange von je 20—23 Bogen,
die, beiläufig, im freien Buchhandel nur zu bedeutend höheren Preifen abgegeben
werden. Die Auswahl der Schriftjteller und reſp. der Themen liegt in der Hand
eine Guratoriums von 5 Mitgliedern, gewilfermaßen mit der Redaction eine® perio-
diſchen Organs zu vergleichen, defjen Effays den Umfang von Bänden annähmen und
dejlen Programm feine Beichränfung nad Stoff und Tendenz duldete, jondern nur
einerjeits die Fachgelehrſamkeit, andererfeit3 das Unbedeutende und Oberflächliche aus—
ichlöffe. Daß ein folches Unternehmen, unter dem Patronate erlauchter und populärer
Namen, eine große, geiftige Macht werden Tann, liegt am Tage, fo wie, daß die
Bürgichaft für eine jegensreiche Wirkfamfeit diefer Macht Lediglich in den Leitenden
Perfonen und in der Gonjequenz der bereit$ vorliegenden Leijtungen zu fuchen fein
wird. Nach beiden Richtungen bin dürfte nun im vorliegenden Falle auch der
Borfichtigite nur Grund zum Bertrauen finden. Das Guratorium ſetzt fih aus
den Profefjoren Gneift und Werder, aus Graf Uſedom, dem Schloßhaupt-
mann dv. Dahröden und dem Gtadtrath A. Hagen in Berlin zufammen;
die erfte Jahresjerie brachte von Bodenftedt „Aus dem Nachlaffe Mirza Schaffy's“,
von dv. Sybel „Vorträge und Aufſäte“, von Adolf Schmidt „Epochen
und Satajtrophen“ (Perikles, der Nika= Aufruhr unter Juftinian, Philipp und
Don Carlos), von v. Löher „Der Kampf um Paderborn“, von Hanslid
„Die moderne Oper“ (ganz vortrefflih!), von Reitlinger „freie Blide“
(meift naturwifjenfchaftliche Auffäge), von Ed. Ofenbrüggen „Die Schweizer
Daheim und in der Fremde“. Kür die zweite Serie werden Arbeiten von Berthold
Auerbach, E. Gutzkow (Rüdblide auf mein Leben), Garus Sterne (Zur Ger
Ihichte der Schöpfung), H. M. Richter (Aus dem Zeitalter der Aufklärung),
paul Heyje Giuſeppe Giufti), F. Bodenftedt (Shakejpeare’3 Frauengeitalten),
Paul Lindau (Beaumardhais) in Ausficht geſtellt; demnächſt Werke von 9. No
(Yebensbilder aus Jtaliens Infelwelt), Mar Lehmann (Scharnhorft), R. Gofche
(Sonathan Swift), Julius Rodenberg Elſäſſiſche Gejchichtsbilder), Louis
Büchner (Aus dem Geiftegleben der Thiere), 3. C. Bluntſchli (Kirche und
Staatsmänner jeit der Reformation), J. Yippert (Böhmische Dörfer). Dieje Mit-
theilungen dürften vor der Hand genügen, um jeden Gebildeten, der in Literarifchen
Dingen nicht ganz fremd ift, über Geift und Richtung des Unternehmens zurechtzu—
weilen, namentlich über die beiden wefentlichiten Punkte: Fernhaltung excluſiver
Parteitendenzen und gewiſſenhafte Sorgfalt in Auswahl wirklich bewährter Kräite.
Auf einzelne Werke der Sammlung einzugehen, behalten wir uns nach Gelegenheit
vor; daß das Ganze einjt in der Gejchichte der zeitgenöffifchen Bildungsfthiömung
einen bedeutjamen Pla einnehmen twird, Tteht ſchon jet außer Frage.
470 Deutiche Rundichau.
7. Allgemeine deutijhe Biographie Auf Beranlafjung und Unter-
ftüßung ©. M. des Königs von Bayern Marimilian II. heraußgegeben durch
die hiſtoriſche Commiſſion bei der K. Akademie der Wiſſenſchaften. — Leipzig,
Dunder und Humblot. 1875. Xief. 1.
„Den nationalen Sinn der deutjchen Mit- und Nachwelt zu befriedigen durch
„die Freiheit eines leichten Verkehr mit der Fülle bedeutender Geftalten unjerer Vor—
„welt, die nun auch insgeſammt hereintreten wollen in die geiftige Gemeinfchaft,
„weiche die lebendigen Glieder unſeres Volkes verbindet.” So bezeichnet die An—
fündigung den Zwed diefes nicht nur für die Gelehrten, fondern ganz augdrüdlich auch
für alle Gebildeten unſeres Volkes beftimmten Sammelwerks. Es wird befonders
betont, daß die Allgem. dt. B., bei ftrengfter Wiffenfchaftlichkeit, auch als Duelle Lite:
rariſchen Genufles und menfchlicher, fittlicher und patriotifcher Erhebung dienen ſoll;
fie foll aller verjtorbenen Deutjchen gedenken, welche in Staat und Kirche, in
Wiſſenſchaft und Kunſt, in Handwerk und Gewerbe, in irgend einer Richtung des
Leben? Nachwirkendes geleiftet haben; auch wird die Arbeit fich nicht auf die
jehigen politifchen Grenzen des Reiches beſchränken, jondern fich auf die ganze große
deutjche Familie erftreden, die, von den Vogeſen und den Alpen bis zu den Kar—
pathen zur Dftfee und Newa, im deutjchen Reiche ihren geiftigen Mittelpunkt hat. Mit
wie aufrichtiger Freude wir diefe neue und glänzende Bethätigung de nationalen
Zeitgedanfen® begrüßen, bedarf nicht der Ausführung. Für den Geift des Unter—
nehmens bürgen die Namen der Anreger, Leopold dv. Ranke in Berlin und
v. Döllinger in Münden, fo wie die der Herauägeber, vd. Liliencron in
Münden und Wegele in Würzburg. Er wird der der Gründlichkeit, de8 um—
fihtigen Maßhaltens, der gerechten Objectivität nach allen Richtungen fein. Was die
in Ausficht geftellte Wärme und Lebendigkeit der Darftellungen anbetrifft, jo wird
man bei einem Sammelwerfe, das folche Mafjen vereinigt, zufrieden fein müfler,
wenn die kurz gedrängten chronologifchen, bibliographifchen und ſonſtigen Notizen nur
bie und da durch ein wirkliches, künftlerifch angelegtes Lebenzbild unterbrochen werden,
und Für ſolche Unterbrechungen jcheinen eben in der Mitarbeiterlifte Namen wie
Guſtav Freytag, Riehl, GCarriere, Felir Dahn, v. Giejebredt, Hett—
ner, Mar Müller, Wilhelm Scherer, Ludwig Spad, dv. Sybel ꝛc.
reichlich Bürgichaft zu leiften. Zu wünjchen bleibt nur, daß der in Ausſicht ſtehende
jehr große Umfang des Werkes (20 Bände à 50 Bogen, im Gejammtpreife von
240 Reichsmark, in zehn Jahren zu liefern) der Theilnahme unferes großen gebildeten
Publicums nicht zuviel zumuthet. Unter den Biographien der erjten, vorliegenden
Lieferung (Aa— Ahlefeldt) heben fih, neben andern, die von Thomas Abbt
(Prefiel), von Abelen (Wieſe) und Adelung (W. Scherer) vortheilhaft durch
zweckmäßige und anziehende Behandlung hervor; doch liegt es in der Natur der
Sache, daß ein ausreichender Maßſtab für diefe Seite der Leiftung erft ſpäter an
den Biographien von Männern erften Ranges zu gewinnen fein wird. Unter allen
Umftänden verdient das Unternehmen, neben der ihm geiftig verwandten Fortſetzung
der Heeren-Ukert'ſchen Sammlung, den warmen Dank jedes gebildeten Deutichen.
— — —
8. Das literariſche Centralblatt für Deutſchland, herausgegeben
von Dr. Fr. Zarncke (Leipzig, Avenarius), hat im Januar d. J. feinen ſechsund—
swangzigften Jahrgang eröffnet. Wer das Hinter uns liegende Bierteljahrhumdert mit
Bewußtſein durchlebt Hat, fi) der Zuftände von 1850 und der ungeheuren ſeitdem
aufeinander gefolgten Wandlungen erinnert, der wird leicht ermeſſen, was es bedeutet,
ein rein wiſſenſchaftlich kritiſches Organ charaktertreu, mit fefter Hand durch ſolche
Wogen geiteuert zu haben. Als der Plan zum Gentralblatte von Georg Wigand
gejagt wurde, waren unfere berühmten, großen Literaturzeitungen an der Ungunft
der Berhältniffe zu Grumde gegangen, die wiflenjchaftliche Kritit war in Fachblättern
zerjplittert oder in der Tagesjournalijtit der literariſchen Betriebſamkeit preisgegeben ;
Literarifhe Rundſchau. 471
nur allmälig jammelte fich das verfchüchterte und zeriahrene öffentliche Bewußtfein
nach den Aufregungen und Enttäufchungen der tollen Jahre und die Ausſicht auf
mübjames Ringen mit ungewifjem Ausgange war noch das Beſte, was don unfern
Hoffnungen übrig blieb. Unter ſolchen Umftänden mußte ein neues Organ unpar=
teiifcher, ſtreng wifjenjchaftlicher, Enapper, präcifer Kritik an jeine Mitarbeiter Anz
jprüche jehr ernfter Selbjtverleugnung, jehr uneigennüßiger Liebe zur Sache ftellen
und fich von vorne herein mit dem Gedanken an mühfame und zweijelhafte Erfolge
vertraut machen. Wie dann in der einen Richtung das Vertrauen auf die ungebrochene
Subſtanz des deutjchen Weſens fich bewährte, in der andern die Zeit mehr leijtete,
al3 fie zu verfprechen jchien, das wird uns zu unſrer innigen Genugthuung durch die
Mittheilungen des Herausgebers betätigt. Die in der Jubiläumsnummer mitgetheilte
Lifte der (befanntlich meift anonym fchreibenden) Mitarbeiter umfaßt eine ſtolze Reihe
von eriten und hier wirklich einmal uneigennüßig thätigen Größen der deutjchen
Wiſſenſchaft. Und auch das Publicum, über die ftreng fachmänniſchen Kreiſe hinaus,
hat fich für die jchlichte, fnappe Sprache der Sachkenntniß und der Wahrheitäliebe
nicht unempfänglich gezeigt. Das Literariſche Gentralblatt ijt ein integriven-
der Theil jedes anftändigen Lejeinjtituts, jeder Bibliothet geworden, ein Sprechjaal
für ernfte geiftige Intereſſen aus der ganzen Weite der nationalen Bildung, und
dem unermüdlichen Herausgeber ift der Dank jedes geijtig mitarbeitenden Deutjchen
gefihert. Wir begleiten die Eröffnung des zweiten Vierteljahrhunderts mit unjern
berzlichjten Wünſchen.
8. Kreyſſig.
Berliner Chronik.
ey we
Theodor Döring's Jubelfeier. — Die Thenter. — Zur Erinnerung an
Nadıel Felir.
— — —
Berlin, 15. Februar 1875.
Das theatraliſche Ereigniß der letzten Wochen, welches die gebildete Geſellſchaft
der Stadt mehr als jedes neue Stück anregte und in Spannung hielt, war das fünf—
zigjährige Künftlerjubiläum Theodor Döring’3 am 25. Januar. An dieſem
Tage war er im Jahre 1825 zum erjten Male in Bromberg auf die Bühne getreten,
in einer unglüdlichen Kleinen Liebhaberrolle im „Armen Poeten“, und ausgelacht
worden. Welch’ ein Weg von jener Niederlage bis zu dem jegigen Triumph! Mit
welch’ gerechtem Stolz kann der Künftler in feinem hohen Lebensalter — er ift am
9. Januar 1803 in Warihau, das damald zu dem preußiichen Antheil aus der
lebten Theilung Polens gehörte, geboren worden, der Sohn eines preußiichen Salz-
infpectord Namens Häring — mit welcher Freude auf die durchmeſſene Bahn zurüd-
bliden! Sie hat ihn zu dem Ziele des Nuhmes geführt, wo die Muje den Kranz
auf feine Stirne drüdt und die Mitftrebenden neidlo8 dor dem Sieger zurüditehen.
Theodor Döring ift weit über die Grenzen unferer Stadt hinaus gekannt, geliebt
und verehrt, eine Zierde der deutichen Schäufpielfunft; unter uns aber ijt er im
beiten Sinne des Worts eine populäre Perjönlichkeit. Nicht umſonſt pflegt er in der
altberühmten Weinftube, wo Ludwig Devrient und der Gejpenjter-Hoffmann, wenn
nicht in glüdlicheren, doch in gemüthlicheren Zeiten ihren phantaſtiſchen Spuf trieben,
mit guten Freunden Morgeniprache zu Halten; nicht umſonſt ift fein Leben mit dem
unferer Stadt taufendfädig verknüpft. Nach Hendrichs' Tode, nach Deſſoir's Scheiden
von der Bühne jteht Döring als der lebte Nepräjentant unjerd alten,, ruhmvollen
Theaterlebens da, er vermittelt in fich Gegenwart und Vergangenheit; zwiſchen der
alten, wejentlich declamatorifchen, einzig auf die Wahrheit und Genauigkeit der Zeich-
nung gerichteten Schule und der neuen, die in der Natürlichkeit des Vortrags und
in der charakteriſtiſchen Farbengebung das deal jucht, hält er die Mitte; den älteren
Zuſchauern im gefüllten Theaterfaal erneut er die Erinnerung an die lebhafteiten
Gindrüde, die fie in der Jugend von der Bühne her empfingen, den jüngeren im—
ponirt die Sicherheit feines Auftretens, die Unverwüftlichkeit feiner Kraft und die
Munterkeit feines Spiele. Soll ich hier, wo es fich mehr um einen Weitbericht, als
um eine Kritik handelt, dennoch ein perfönliches Urtheil wagen? Bei aller Bewun-
derung der proteusartigen VBerwandlungstähigkeit Döring’s fühle ich mich doch inniger
zu feinen humoriftiichen, drolligen und grotesfen Figuren Hingezogen, als zu feinen
tragischen. Sein Falftaff ift mir immer leibhaftiger und wahrer erichienen, als fein
„ago; feſter glaube ich an das verliebte Abenteuer feines Dorfrichters Adam, als
an das feurige Element, in dem fich fein Mephifto bewegt. Aber wer wollte ſolche
Berliner Chronif. | 473
feine Unterjchiede, Tolch” ein Abwägen des Guten gegen da3 Beſſere an dem Ehren—
tage des Künſtlers anftellen! Da drängt fich nur der Reichthum feiner Schöpfungen,
die quellende Gedanfenfülle, die feiner lebendigen Phantafte, feiner jcharfen Beobach—
tung, feinem jchaufpieleriichen Genius entiprangen — fo leicht und mühelos dem
Scheine nach, wie Strauß um Strauß aus dem unerfchöpflichen Zauberhut fliegen —
dem Betrachter auf.
In diefer Stimmung befand fich das Publicum, das, Kopf an Kopf gedrängt,
bis auf den lebten Plab, den Saal des föniglichen Schaufpielhaufes am 24. Januar,
ſchon im Voraus beifallsfreudig, einnahm. Das altmodijche, aber immer noch gern
geſehene Töpfer'ſche Lujtipiel: „Rojenmüller und Finke,“ mit feiner etwas
hausbadenen Gegenüberjtellung des Soldaten- und des Kaufmannsſtandes, bot dem
Yubilar eine günftige Gelegenheit, in der Rolle de3 reichen Kaufherrn Timotheus
Bloom jeinen fauftifchen Humor, das Schillernde feiner Laune in allen Farben und
Tönen jpielen zu laffen. Bon der Stimmung des Publicums getragen, von dem
Genius de3 Tages angeregt, ging die Darftellung munter und frifch vorwärtd. In
dem Beifall, in der Spende von Blumenfträußen und Zorbeerfrängen, die fie Theodor
Döring unaufhörlich darbrachte, gab ſich die Verſammlung gleichſam jelbjt ein Feſt.
Am nächſten Tage, in den Mittagsſtunden des 25. Januar, wurde im „engeren
Kreiſe“ die eigentliche Jubelfeier begangen. Eine durch den General-Intendanten
von Hülſen eingeladene Geſellſchaft, aus Schriftſtellern, Künſtlern, Gelehrten, Theater—
freunden beſtehend, bildete im Parquet und in den Logen des erſten Ranges die
auserwählte Corona für das Schauſpiel, das ſich auf der Bühne vollzog. In einem
prächtigen, reich mit Blattpflanzen geſchmückten, verſchwenderiſch erleuchteten Saal
hatten ſich das geſammte Perſonal der königlichen Theater und eine große Zahl De—
putationen eingefunden, um dem verehrten Künſtler ihre Huldigungen darzubringen.
Der deutſche Kaiſer, der Kaiſer von Oeſterreich, die Könige von Bayern und Württem—
berg, der Großherzog von Sachſen-Weimar, die Herzöge von Sachſen-Meiningen
und Sachſen-Gotha ehrten ihn durch die Verleihung ihrer Orden. Im Uebrigen
möchte ich ſagen, daß es in dieſer Stunde Lorbeern geregnet. Aus der Nähe und
aus der Ferne waren goldene und grüne Kränze gekommen, Geſchenke aller Art,
Adreſſen, Albums erdrückten die Tiſche. Wol an hundert deutſche Theater hatten
ſich mehr oder minder, alle in derſelben Gefinnung der Liebe und Verehrung, ſo
daß es diesmal in der Sphäre der Kunſt „kein Oben oder Unten“ gab, an der
Feier betheiligt. Wie der General-Intendant von Hülſen, der zuerſt das Wort
nahm, drückten alle andern Redner und Rednerinnen, denn es waren auch Daphne's
da, „aus Lorbeerbüjchen lauſchend“, dem Yubilar ihre Bewunderung und den aus
Aller Herzen kommenden Wunſch aus, ihn noch lange der Kunſt erhalten zu jehen.
Wie bereitwillig fann der Schaufpieler, der jo voll und ganz wie der Jünger feiner
andern Kunft der Gegenwart genießt, die Kränze verfchmerzen, welche — vielleicht,
vielleicht auch nicht — die Nachwelt feinem Namen fvendet !
Gin anderes Greigniß, das ich auch eine Art AJubelfeier, eine Wiedergeburt
nennen möchte, jchließt fich diefem KHünftlerfejte würdig und in fich noch bedeutungs—
voller an. In einer Bearbeitung von Rudolph Genée — gedrudt ift fie jchon
1871 in Berlin, bei Franz Lipperheide, erichienen — hat Heinrich von Kleiſt's
dvaterländiiches Drama „Die Herrmannsſchlacht“ auf der Bühne des Schau-
ipielhaufes einen auferordentlichen Erfolg errungen. Am 19. Januar zum erſten
Male aufgeführt, hat das Stück in häufigen Wiederholungen feine Zugkraft immer
aufs Neue bewiejen und, um einmal in der Theaterjprache zu reden, „außverkaufte
Häufer“ gemadt. Oefters ift der Verfuch einer Aufführung des Drama's gewagt
worden, zuleßt, wenn ich nicht irre, in Dresden mit einer Bearbeitung der Dichtung
durch Feodor Wehl: ſtets ohne nachhaltigen Erfolg, mehr Beiremden ala Theilnahme
erregend. ch gehöre nicht zu Denen, welche den geſchickten Einrichter und Bearbeiter
einer dramatiichen Dichtung mit dem Dichter jelbjt verwechjeln und ihm das Lob
jpenden, das jenem gebührt; aber auf der andern Seite joll dies Verdienſt nicht
474 Deutſche Rundichau.
gering geichägt und Hochmüthig befvittelt werden. Daß Kleiſt's Drama, wie es vor:
liegt, fi) der fcenifchen Darftellung entzieht, Liegt jedem Kundigen klar. Außer
manchem übertreibenden, ja rohen Zuge ift die Scene, in der Thusnelda, im Schmerz
bitterſter Kränkung, mit der Wuth eines barbariichen Weibes, den jungen Ventidius
von einer hungrigen Bärin zerreißen läßt, auf der Bühne undenkbar, und die ganze
Dertheilung des Stoff? in die einzelnen Acte leidet an einem jchweren organifchen
Fehler, der eine beſſernde Hand nothwendig macht. Kleiſt hat drei fnappe, für fich
betrachtet vortreffliche erjte Acte, ohne Wandel der Decoration ein jeder, in fich ab»
geichlofjen, mit bedeutjamem Ausklang. Dafür find die beiden letzten Acte um fo
voller; der vierte hat 3, der fünfte Act gar 5 Scenenwandlungen, an Umfang über-
treffen fie die erften drei Aufzüge. Genée's Bearbeitung bat den großen Vorzug,
daß fie den Stoff gleichmäßiger ordnet, das Auftreten des Barus mit dem Römer
heer jchon in den zweiten Act verlegt, auß dem vierten Act bei Kleiſt ben
dritten macht und den fünften im zwei faft gleiche Hälften theilt. Dadurch
wird eine Steigerung der Theilnahme bei den AZufchauern gewonnen; immer
mächtiger und ſtrenger fchreitet der Kothurnfchritt der Tragödie vorwärts, immer
großartiger entwidelt fich der Held des Ganzen. Mit den Milderungen des Bear-
beiterd, mit feinen Strichen bin ich wenigſtens, bis auf geringe Abweichungen,
durchaus einverjtanden und Halte fie, von dem theatraliichen Standpunkt aus, für
eben jo zwedmäßig wie feinfühlig. Die gräßliche Rache, die Thusnelda an Ventidius
nimmt, wird uns nur erzählt; die Scene Herrmann’3 mit Septimius iſt ganz ge
ftrichen, wie fein Geſpräch mit Thusnelda, in dem er fie beinahe zur Verführung
des Ventidius auffordert. Bedenklicher erfcheint mir die Ummwandlung, die Gence mit
dem Untergang des Varus vorgenommen hat. Genée bringt Kleiſt gegenüber die
römische Sage wieder zu Ehren, fein Varus fchlägt fi in das Gebüfch, um fich
römifcheconventionell in fein Schwert zu ftürzen. Um wie viel charakteriftifcher ift
Kleijt! Rings wie den gejagten Hirfch Haben die deutfchen Häuptlinge Barus um-
jtellt; er fann ihnen nicht entfliehen. Alle geizen nad) der Ehre, ihn, den Stellver-
treter des Imperators, die Verkörperung der römischen Weltmacht und Majeftät,
niederzuftreden. Herrmann will auf ihn eindringen, da wirft fih ihm Fuft, der Fürft
der Gimbern, der bisher ein Bundesgenoffe der Römer geweſen und erſt während der
Schlacht im Teutoburger Walde von ihnen abgefallen ift, entgegen. „Varus,“ xuft
er wüthend, „hat in Schmacd und Schande mich geftürzt, an Deutichland, meinem
Daterlande, der Mordknecht, zum Verräther mich gemacht: den Schandfled waſch' ich
ab in feinem Blute, das hab’ ich heut, das mußt Du willen, geftredt am Boden,
beulend, mir gelobt!” Das zerbrochene Schwert in der Hand muß Varus dem
Kampf der beiden Deutjchen um den Ruhm, ihm den Todesftoß zu geben, mit anfehen;
Herrmann wird am Arm verwundet. „Sch will's zufrieden fein,“ jagt er zu Fuſt;
„Dein Schwert fällt gut. Da nimm ihn Hin; man kann ihn Dir vertrau’n.* Trium-
phirend ftürzt fich Fuft auf Varus und tödtet ihn nach kurzem Gefecht. Gewiß,
diefe Scene iſt barbariſch, und die griehiiche Mufe der Tragödie —
ne pueros coram populo Medea trucidet,
aut humana palam coquat exta nefarius Atreus —
würde ihr Haupt davor verhüllen, aber welch’ befjere, jprechendere Vignette könnte
man für das Trauerjpiel des Nationalhaffes finden?
Denn nichts mehr und nichts weniger will Kleiſt's Dichtung, ala den unverföhn-
lichen Krieg gegen den Erbieind predigen, als den unfterblichen Haß verberrlichen, der
die deutiche Volksſeele gegen das weliche Weſen erfüllt. Da Hilft feine Großmuth,
feine Tugend, feine Tapferkeit; der edeljte Römer it Herrmann der verhaßteite, weil
er ihm das Gefühl verwirrt, weil er auf einen Augenblid einen Streit zwifchen Abſcheu
und Bewunderung in feinem Herzen erregt. Der Sturz Preußen? am Tage von Jena,
die Unterdrüdung und Plünderung Deutichlands durch Napoleon’3 Marſchälle und
Soldaten, der jchmähliche Abfall der ſüddeutſchen Fürften zum Landesfeind, der
böhnifche Uebermuth der Sieger: das Alles hat den patriotifchen Zorn, den Schmerz
Berliner Ehronif. 475
und die Verzweiflung des Dichter? aufgewühlt; wie auß dem empörten Vulkan jtürzt
die glühende Lava hervor. Trüb ift die Gegenwart, dunkel die Zukunft — aber
in dem Bilde, das er aus der Urzeit feines Volkes heraufbeſchwört, fieht er wie in
einer Bifion den endlichen Sieg der Deutfchen auch über die Franzojen. Indem er
die Adler des Varus niederwirft, ftürzt er die Adler Napoleon’3. Unter der römifchen
Maske jchildert er die Franzoſen; feine Häudtlinge der Ubier, Sicambrier, Brutterer,
was jind fie anders ald die Fürjten des NRheinbundes? In dem troßigen, jtolzen
Ariftan vermuthe ich den damaligen König von Württemberg, den innigjten Bewun—
derer Napoleon’3. Der Zwilt zwilchen Herrmann und Marbod um die Hegemonie
über die deutichen Stämme ift das Sinnbild der Eiferfucht Oeſterreichs und Preußens;
der „Staatenbund”, von dem Marbod redet, erinnert halb an die alte VBerjafjung
des deutjchen Reichs, Halb an den Fürftenbund, den zu errichten Friedrich II. fich
bemühte. Zuleßt wird, unter Marbod’3 Namen und Gejtalt, Preußen gefeiert: es
erringt den höchiten und edelften Sieg über fich ſelbſt. Obgleih Marbod der mäch—
tigfte Herr unter den Deutjchen ift ‚und die ftärkjten Legionen des Römerheeres ver-
nichtet hat, beugt er dennoch jein Knie vor Herrmann: „Heil, ruf’ ih, Herrmann,
Dir, dem Retter von Germanien! Und weil die Krone jonft, zur Zeit der grauen
Väter, bei deinem Stamme rühmlich war: auf deinen Scheitel falle fie zurück!“ Die
Verſöhnung Preußens mit Defterreich verjagt die eingedrungenen Feinde und ſtellt in
Herrlichkeit und Würde das alte Reich wieder her. Es find die Gedanken, welche in
den Jahren 1808—1815 die deutjchen Patrioten bewegten.
Der Haß ift die bewegende, dämoniſche Gewalt der Dichtung. Dadurch erhält
der im Grunde rein epifche Stoff eine ftarfe Iyrifche Ergriffenheit und in der Figur
Herrmann’3 einen Träger der Handlung und Empfindung. Nicht an ihm, ſondern
an den Römern erfüllt fich ein tragifches Geſchick. Sie find, nach der Anficht des
Dichters, ohne Noth, von den Deutichen nicht gefränkt und verlegt, aus Herrichbegier
und „Dämonenftolz“ in Germanien eingefallen und erleiden die gerechte Strafe für
ihren Uebermuth. Ich geftehe, daß mir diefer römiſche Hochmuth, die Gewaltthätig-
feit der Proconfuln, die Knechtung der Barbaren in Grabbe’3 „Herrmannsjchlacht”,
troß der wunderlichen, oft burlesfen und an die Puppenlomödie erinnernden Form,
lebendiger, jaßlicher entgegentritt, als in Kleiſt's Dichtung. Hier fehlt das Bolt
ganz, nur die Fürſten reden, verhandeln, jchlagen. Bon den Gräueln der Römer
wird wol berichtet, aber außer dem Frevel an Theuthold's Tochter jehen wir nichts,
weder „bon der erjten“ noch von der letzten „Plage, mit Hohn auf uns herabgejchidt“
— ja, wir find nicht ficher, daß Herrmann den größeren Theil der Schandthaten
abfichtlich herbeigeführt hat, um die Cherusfer gegen die Römer aufzuhegen. Aber
Lug und Betrug, der ganze „Wi eine Wilden“, wie der fterbende Varus die
Handlungsmweije Herrmann's mit tragifcher Ironie nennt, al’ diefe Hinterlift kön—
nen für uns Herrmann’3 große Seele nicht verdunfeln. Weit über das Menjch-
liche hebt ihn der Haß gegen das Römerthum, die Liebe für fein Vaterland hinaus.
Er will nichts für ſich; was er thut, vollendet er ded Ganzen wegen, zur
Befreiung Germaniend. Da gilt ihm fein Mittel zu niedrig oder zu abfcheulich,
. er ift wie Roftopfchin, der mit überlegter Abficht Moskau in Brand ftedt. „Ganz
Teutoburg ſiehſt du in Schutt und Aſche,“ ſagt ihm klagend Eginhardt. „Mag
fein,“ antwortet er ihm gelaffen, „wir bauen uns ein jchön’res auf.“ Der Held in
ihm ift eben in der entjcheidenden Stunde größer und gewaltiger, als der liftige
Barbar, jeine Begeifterung ergreift und und reißt und mit fich fort in die Römer:
ſchlacht. Schwerer findet man fich in den Charakter Thusnelda’s. Kleiſt denkt fie
fih im Anfang als eine norbdeutjche Edeldame, jchön, gutmüthig, ein wenig beichräntt,
die raſch, wie er ed nur zu oft erfahren haben mochte, von den Leidenfchaitlichen
Liebesbetheuerungen eines jungen franzöfifchen Officiers bethört wird; fie nimmt diefe
Art Huldigung, die für ihn eine Kurzweil und eine Ausfüllung müßiger Stunden im
Standquartier ift, ernſthaft. Im dieſer Herzensirrung liegt der Anfah zu einem
tragiſchen Conflict. Daß nun aber diefe gute, blonde, übernaive Thusnelda —
476 Deutſche Rundſchau.
Herrmann nennt ſie bezeichnend „Thuschen“ — ſich plötzlich, weil Ventidius die ihr
geraubte Locke als „Probe ihrer Haare“ der Kaiſerin Livia nach Rom ſchickt, in
eine gräßliche Furie verwandelt, die den verliebten Jüngling von einer Bärin zerreißen
läßt, iſt mehr eine Umdichtung als eine Entwickelung des Charakters. Die naive
Schöne war nur eine Maske, aus der Verhüllung tritt uns die heroiſche Barbarin
mebufengleich entgegen.
Ueber die Erwartungen der Freunde der Dichtung hinaus — und wer bewunderte
nicht ihren lyriſchen Schwung, die emergifche Kraft in der Zeichnung der Haupt:
figuren, die Tiefe und Gewalt einzelner Scenen, die über den geringen dramatifchen
Gehalt des Ganzen den Leſer wie den Zufchauer hinwegtragen? — war der Eindrud
der erſten Borftellung ein überwältigender. Seit dem Abend, wo Brachvogel’s
„Narziß“ zum erſten Male auf unjerer Bühne erichien, entfinne ich mich feines
Trauerfpiel®, das eine ähnliche Wirkung hervorgebracht hätte. Mit den Haupt:
darftellern konnte man, nach dem Make ihrer Kraft, nach ihrer Perfönlichkeit, wol
zufrieden fein. Herr Berndal gab feinem Marbod in der Scene mit Herrmann’s
Kindern eine Würde, eine WVäterlichkeit, eine jo glüdlihde Miſchung von Weberlegung
und Vertraulichkeit und darauf, als er den Verrath der Römer erfährt, in dem Aus:
bruch des Zorns eine Schredlichkeit, wie fie beffer und natürlicher der Dichter jelbit
von feinem Schaufpieler hätte fordern fünnen, eine ebenfo lebenswahre wie wirkung:
volle Leiftung. Herrn Ludwig fehlt es als Herrmann zu jehr an der überragenden
Größe und Stattlichkeit der Erfcheinung, hier und dort trat die naive Schlauheit, der
Wit des Barbaren und die Freude darüber, jo Eluge Gegner wie die Römer zu über:
lijten, vor der bewußten Staatsklugheit zu jehr zurüd, dafür Jchlug in andern Momenten
die heroiſche Empfindung mächtig duch. Den erjten Scenen mit Thusnelda wußte
der Darfteller den Schein des Scherzhaften und Spielenden mit vielem Gefchid, ohne
Üebertreibung und Verlegung, zu bewahren. Mit vortrefflichem Spiel fam ihm hier
Fr. Erhartt zu Hülfe, der die Thusnelda noch überzeugender und gleichlam wirk—
licher anftehen würde, wäre ihr Goftüm wmalerifcher und barbarifch prächtiger geweien,
hätte eine doppelt und dreifach jo üppige Fluth vothgoldenen Haares die Fürſtin von
Cheruska umfloffen. Im Ausdrud de Zornes und der Wuth jucht Fr. Erhartt
jet ihres Gleichen auf der deutjchen tragiichen Bühne, und jo gelingt ihr denn der
Ausruf und die Geberde des namenlofen Erjchredens und der unterdrüdten Empörung,
als fie den Verrath und die Schuld des Ventidius aus feinem Briefe an die Kaiferin
gelefen, in ergreifender Weife. Herr Kahle zeichnete feinen Varus zu jehr in die
Defioiriche Schablone des Talbot hinein, eine Figur voll Anftand, aber ohne tielere
Eigenart. Im Enfemble famen die Scene zwiſchen der Alraune und dem römiſchen
Feldherrn, der Bardengejang, die Ermordung des deutjchen Mädchens, troß des Bei—
falls, den fie fanden — fie tragen eben etwas Unverwüſtliches in fi”) — nach meinem
Gefühl nicht zur vollen Leibhaftigkeit; dem erſten Aufritt gebrach es an Schauer, den
beiden andern an tragiicher Größe. Sie waren von einem komödiantenhaften
Zuge angefränktelt. Die „jühen Alten“, die jo gemüthlich wie nur je ein Opernchor,
von Fadeln beleuchtet, zufammenfigen und ihren Gejang anheben, würden, ohne Kleiſt's
herrliche Worte, ftatt unferer Bewunderung unfer Gelächter herausfordern. Für die
Ausftattung war nach Möglichkeit geforgt; drei neue Decorationen find ein ungewöhn—
licher Yurus für ein „Eaffiiches“ Dranıa. Eine gewiſſe Wahrheit läßt fich der ganzen
Einrichtung nicht abjprechen, wir empfangen wenigitens eine ungefähre, nur im Ein—
zelnen nicht forgiam und künſtleriſch genug durchgebildete Vorftellung von Land und
Wohnung, Sitte und Tracht unferer Ahnen. Gegenüber der früheren Nachläffigteit
in diefen Dingen, der Geringichägung der Aeuherlichkeiten, die fich noch dazu in bie
Bruft warf und für „ideale Hunftanjchauung” ausgab, ift ein großer Fortichritt zum
Beſſeren geichehen. Unverfennbar wirkt der Einfluß der Meininger nad).
Die übrigen Theater haben fich wieder mit den Gaben aus der fremde begnügt.
Für den Betrachter in ermüdendet Eintönigkeit wechielt im Friedrih-Wilhelm:
jtädtifchen Theater „GirofléGirofla“ mit der „Fledermaus“ und „Mamjell Angot“
Berliner Chronif. 477
ab, und als ſei es an Einer Bühne für die Opernpojje noch nicht genug, gr jetzt
auch) das Wallner- Theater, Abend für Abend, eine Offenbadiade: „Schön:
röshen”, auf. Das ganze Stüd ſcheint einzig einer Ausfleideicene wegen da zu ſein,
die nach den erjten Aufführungen indeilen feine Gnade vor der Sittenwächterin, der
Polizei, fand und jeßt leidlich unjchuldig und harmlos verläuft. Ich bedauere, daß dieie
Stätte unferer Localpoſſe nun auch von der franzöfischen Cancan-Muſe erobert worden iſt.
Seit Moſer's „Ultimo“, das im März des vergangenen Jahres einen jo wohlverdienten
Erfolg gewann, hat die Leitung des Wallner-Theater Hin und her getajtet, ohne eine
Neuigfeit zu finden, welche den alten Traditionen des deutjchen Luſtſpiels, der Ber—
liner Poſſe getreu, mäßigen Ansprüchen des guten Gejchmads genügte und das
Publicum dauernd zu fefleln vermöchte. Das Stadttheater hat Sardou’3
„Onkel Sam“, eine Satire der nordamerifanifchen Zujtände, das Rejidenz-
theater Dctave Feuillet's „Dalila“ aufgeführt. Sardou’s Stüd läßt den
geiftvollen Berfafler der „Fernande“ kaum wiedererfennen; eine Reihe von Scenen,
die loſe und unwahrſcheinlich verknüpft find, jchildert übertreibend die politifchen und
gejellichaitlichen Sitten und Gewohnheiten der Yankee's, mit der fichtbaren Abficht,
die franzöfiiche Ritterlichkeit und Treue ihnen gegenüber in das jchönfte Licht zu
ſetzen. „Onkel Sam“ wie „Rabagas“ gehören zu den jatirifchen Komödien; der
ariftofratifche Dichter verhöhnt die Demokratie in jeglicher Gejtalt; zuweilen denkt
man dabei an Nriftophanes. Leider ift das Gewebe der Fabel gar zu dünn, der
Aufbau des Ganzen zu loder. Feuillet's Dramen: Dalila, Montjoye, Redemption,
Le Sphinr, machen auf mich den Eindrud von Novellen, die ein eigenfinniger Künſtler
in die dramatifche Form gezwängt hat. Ueberall treten Brüche in dem Verlauf der
Handlung, Charalterummwandlungen hervor, deren genauere Erklärung der Dichter
dem gerälligen Zuichauer überläßt. Zwiſchen dem vorleßten und dem lebten Act
liegt dann ein Zeitraum, den fich Jeder nach feinem Temperament länger oder fürzer
vorftellen fanı, um die Verwandlung des „eijernen Mannes“ Montjoye in den jentimen-
talen petit papa, des jtrebenden, lebensluftigen Künſtlers Roswein in den fiechen und
blafirten „Garnichts“ ich vollziehen zu laſſen. Für mic) beruht der eigenjte Reiz
der FFeuillet’schen Schöpfungen in der Harmonie, der Glätte und Feinheit ihrer
Sprache; an dramatifcher Kraft und Kühnheit halten fie feinen Vergleich mit den
Werken des jüngeren Dumas, Augier's und Sardou's aus. Es iſt Orangenblüthen-
wafjer, fein Blut in ihnen. Die jchöne Dame, die durch ihre „Liebe“ in „Dalila“
einen jungen Künftler zu Grunde richtet, hat von den großen Berführerinnen nur die
Worte geborgt — eine junge kokette vornehme Frau, die heute diejen, morgen jenen
Xiebhaber nimmt und eben flug genug ift, immer nur weibijche Männer, niemals
einen Mann zu wählen. Trifft fie nun auf folchen blöden Thoren, wie diefen Ros—
wein, jo braucht fie feine befonderen Dalila-Künſte, um diefen Miniatur-Simjon feiner
Soden zu berauben. Mir geht e8 mit diefem Drama, wie mit Paul Heyſe's Novelle
von der „ungariichen Gräfin“ ; ich begreife die vielummworbenen jchönen und lebens»
gewandten Frauen nicht, die an jo unbedeutende, nicht einmal hübjche und gefällige
Burichen Zeit und Huld verichwenden. Der Ausgang ift dann in jedem alle, ob
der Yüngling oder die Frau nach der Meinung des Dichters „vernichtet“ wird —
in der Wirklichkeit pflegen Beide nach jolchen Abenteuern gelafjen weiter zu leben —
für den Zufchauer kläglich und langweilig zugleih. In der Erzählung wird der
unbehagliche Eindrud durch die eingehende feine pſychologiſche Entwidelung gemildert,
durch die Alivesco: Dtalerei des Drama’s wird er verſtärkt bis zur Unerträglichkeit.
Intereſſanter als diefe Aufführungen war der Verſuch, den das Reſidenz—
theater mit der Darftellung einer Komödie, Bulwer Yytton’S „Geld“, am
30. Januar gemacht hat. Gin gutes Mtenjchenalter hat das Luſtſpiel hinter ſich,
aber die frage, die e& behandelt, veraltet nie. Immer wieder, in den verjchiedenjten
Formen, bricht fie durch; wie die alte regiert fie die neue Welt. Sein Philoſoph
wird den Inhalt, den der Begriff „Geld“ in fe: x Alljeitigfeit und Unvergänglich-
feit umfaßt, ergründen, fein Dichter das Chamäleontiſche des „Geldes“ jchildern
Teutſche Rundſchau. 1,0. 32
478 Deutiche Rundſchau.
fönnen. Es ift zugleich die ewig rubende Sphinr, die dem Menſchen das Räthiel
des Leben? ftellt, und die ftetö bewegliche Chimäre, die und mit all’ unfern Hoff—
nungen und Wünfchen auf ihrem Rüden dahinträgt. Der Mangel der Bulwer'ſchen
Komödie liegt vor Allem darin, daß die Fabel nicht tief genug gegriffen iſt. Ein
armer, begabter junger Mann, Alfred Evelyn, der fich bisher im Haufe eines
reicheren Verwandten gleihfam „herumgeftoßen“ hat, wird unerwartet durch das
Teſtament eines PVetterd zu einem der reichiten Männer Englands. Leute, die ihn
früher nie beachtet, vergöttern ihn nun; wie der Honig die Fliegen, zieht fein
Reichthum die Menjchen an. Aber zu einer ergreifenden und hinreißenden Schilderung
der dämonifchen Macht des Geldes, wie fie uns in Gealäfield’3 „Morton“ entgegen-
tritt, fommt es nicht; Bulwer hat fich mit einer Yiebesintrigue begnügt. Gin armes
Mädchen, Clara Douglas, Hat Alfred's Bewerbung, troß ihrer Neigung für ihn,
zurüdgewieien: fie glaubt nicht an eine glüdliche Ehe inmitten der Armuth und Noth;
halb aus Verzweiflung, Halb von dem Schein des Edelmuths und der Uneigennütig:
feit getäufcht, verlobt ſich Alfred mit einem andern Mädchen. Dieje Verbindung
zu löſen und die beiden Liebenden aus Jrrung und Mißverſtändniß wieder zu einander
zu führen, ift der Inhalt der Komödie. Nicht die erfte, nur die zweite Rolle jvielt
das „Geld“ in diefer Fabel. Beſſer find dem Dichter einzelne Vorgänge, jo die
Teftamentseröffnung im erjten, die Elubfcenen Im vierten Akte, mit charakteriitiichen
Nebenfiguren voll Humor, gelungen. 63 iſt ein launiges, friſches Yebensbild aus
der vornehmen englischen Gejellichaft, wie Bulwer fie zu malen liebt, nicht ohne
farkaftiiche Züge, im Ganzen wahr und fein beobachtet, in den Frauengeſtalten voll
Anmuth und Zartheit. Leider blieb die Darftellung hinter meinen Erwartungen zu:
rück; Sr. Keppler machte aus Alfred Evelyn ein Mittelding zwiichen Hamlet und
Timon, nad) der Haaſe'ſchen Schablone für ſolche Rollen; die Andern ſpielten die
Bulmwer’ichen Ladie8 und Gentlemen doch gar zu jehr in die norddeutiche Spieh-
bürgerlichkeit hinunter.
Stelle ich die Geduld des Leſers vielleicht auf eine zu harte Probe, wenn ich
in dieſer Berliner Chronik von einer Schauſpielerin plaudere, die im Grunde nur in
eine Pariſer Chronik gehört, von Dingen, die überdies vergeſſen ſind? Denn wohin
iſt der Ruhm der Rachel Felix, der einſt ſo laut die Welt erfüllte; wohin ſind ihre
Phädra's, Hermione's, Camilla's, Roxane's! Mais oü sont les neiges d’antan? Es
gilt jedoch, eine franzöſiſche Berühmtheit gegen einen Franzoſen zu vertheidigen, die
ihren ſtolzeſten Tag in unſerer Nähe, im Garten des Neuen Palais zu Potsdam, er—
lebte, als der damalige Herrſcher der Welt, Nicolaus von Rußland, ihr vor dem ganzen
Hofe die Hand küßte. Neulich veröffentlichte dev „Temps“ einen lehrreichen, mannigfach
anregenden Vortrag des Akademikers Ernejte Legouvé über „Samjon und feine
Schüler“. Samfon war ein mittelmäßiger, jehr brauchbarer und in zweiten Rollen
gewandter Schaujpieler des theätre frangais, dagegen ein unübertrefflicher Lehrer und
„Bortragsmeifter”, um das Laube’sche Wort zu gebrauchen. Jedermann weiß, daß
Rachel Felix feine größte Schülerin geweien, eine dankbare Schülerin, die nie ange
ftanden hat, die Hälfte ihres Ruhms ihm zuzuſchreiben. Legouvé erörtert num in
feinem Vortrage unter Anderm auch die frage, ob die Rachel nur ein unvergleichlic)
großartiges virtuojes Talent, ob fie ein fchöpferifches Genie geweien? „Daß fie die
Königin der Virtuoſen geweien,“ Fährt er fort, „Niemand beftreitet es. Aber war
fie, wie Lekain“ — der, nebenbei bemerkt, in Ericheinung und Spielweiſe unjerem
Deffoir geglichen haben muß — „eins jener nachdenklichen und begeifterungserfüllten
Genies, die fih, nachdem fie einmal die Regeln ihrer Kunſt erlernt haben, von ihrem
Lehrer trennen und allein ihren Weg gehen? Oder hat im Gegentheil ihre Snfpiration,
fo mächtig fie war, immer eines (Führers bedurft?“ Legouvé entjcheidet fich für die
letztere Anficht. Nah ihm war Rachel Felix nichts ohne Samjon. Es bedarf nicht
des Hinweijes, daß er als Akademiker feine Behauptung in fo zierliche Redewendungen
einkleidet, daß ein Pariſer faum einen Anjtoß daran nehmen kann. Mich fünmern
aber feine vortrefflich ftilifirten Ginjchräntungen nicht, ſondern nur der Kern jeiner
Berliner Chronif. 479
Meinung. Die meine ift der jeinen durchaus entgegengejeßt.: Rachel Felix war ein
geborenes, ein urjprüngliches tragiiches Talent, das größte, das ich jemals auf der
Bühne gefehen. In Samfon’® Schule hat ihr Genius vielleicht diefe und jene
Wendung gelernt, die anders ausgefallen wäre, wenn jtatt Samfon etwa Talma ihr
Lehrer gewejen. Aber ihr Weſen wurde von den guten Lehren des Schulmeijters
nicht berührt. Zur Stüße jeiner Behauptung führt Legouve folgende Anekdote an.
Eines Tages kömmt ein Freund zur Rachel: er findet die Künſtlerin aufgelöft in
Thränen. Sie Hat fi) mit Samſon entzweit, fie will das Theater verlaffen. Der
Freund verjucht, fie zu beruhigen und erinnert fie an ihr Genie. „Ach was, mein
Genie!” Ich jehe fie vor mir, wie fie diefe Worte mit einer unnachahmlichen Ge-
berde der Verachtung gerufen haben mag. „Sch bin nichts ohne Samfon. Ich finde
wol einzelne Effecte, Naturlaute der Leidenichaft, den Ausdruck der Wahrheit, aber
dad Ganze.einer Rolle erjchredt mi. Samſon mit jeinem Scharffinn führte mich,
ohne mich je dabei zu hindern. Er gab mir Gedanken, die andere Gedanken erzeugten;
Telbft entfernt von ihm, arbeitete ich noch mit ihm. Unaufhörlich wiederholte ich
mir, was er mir gejagt hatte; und des Abends, auf der Bühne, fielen mir feine
Betonungen ein, und ich brachte fie in meiner Weile und wie durch Eingebung her-
dor.” Und dies Geftändniß, in dem ich nichts als die Lauterkeit eines dankbaren
Herzens erkennen kann, wird gegen den Genius der Rachel in’s Gefecht geführt.
Rachel Felir etwa. auf dem Standpunkt der Charlotte Wolter! Birtuofin in ein-
zelnen Augenbliden, unfähig, eine Rolle zu beherrfchen und durchzuführen! Man kann
nicht Schiefer urtheilen. Signora Riftori war die PVirtuofin, die Rachel war der
Genius; die erite eine Nachtigall im Fliedergebüſch, die andere ein Adler, der zur
Sonne fliegt. Niemald Hat die Riftori jene tragifche Erhabenheit zu verfinnlichen
vermocht, troß der wunderbaren Plaſtik ihrer Bewegungen und ihrer melodifchen
Sprache, wie die Rachel; wie weit jtand ihre Phädra Hinter der ihrer großen Neben
bublerin zurüd! Sch Habe es jchon einmal an einem . andern Orte gejagt, daß wir
Deutiche den Genius der Rachel viel richtiger erfaßt und viel verftändnikinniger ge—
würdigt haben, als die Franzofen. Freilich, wenn man Theodor Rötſcher's Recenfionen
über die Darftellungen der Rachel mit denen Jules Janin’s über fie vergleicht —
wie grau und dürftig nimmt fi) in Hinficht auf die vollendete, künſtleriſch abge-
rundete, blühende und tönende Rede der deutjche Bericht neben dem Franzöfifchen aus:
eine Domenhede gegen einen Roſenſtrauch! Wägt man aber die Gedanken, wie unbe-
deutend erjcheint da das „geiltveiche” Geplauder des Königs der Tyeuilletoniften !
Rötjcher num gehörte wahrlich nicht zu Denen, die der finnliche Eindrud, die Virtuofität
einer jchaufpielerifchen Leiſtung blendet und hinreißt; aber derjelbe Zauber, der mich
bezwang und nach faſt fünfundzwanzig Jahren noch in der Erinnerung unter feinem
Banne feithält, rührte den trodenen, ein wenig pedantifchen Hegelianer. Nein, die
Rachel war nicht das Echo Samſon's; fie hatte von ihm gelernt, wie Rafael vom
Perugino, fie hatte einzelne jeiner Töne, jeiner Farbengebungen, gewiſſe Anfchauungen,
weil fie ihrem Wejen verwandt waren, von ihm angenommen und mit ihrem Selbit
derichmolgen, fie mochte den geübten Praftifer oft und gern um Rath fragen, weil
fie, hitzig und jtürmifch, ihrem Urtheil mißtraute — aber was fie auf der Bühne den
entzüdten, den eritarrten Zuſchauern zu jehen und zu hören gab, das war nicht
Samjon’3, das war ihr Eigentum, das war der Gott, der in ihr waltete, fein
Papagei, den, wie Legouve uns weismachen will, ein „Vortragsmeiſter“ Corneille
und Racine jprechen gelehrt.
Karl Frenzel,
32*
Aus dem Berliner Öpernhaufe,
w — —
Berlin, Mitte Februar 1875.
Das Repertoire der königlichen Bühne meint es dieſen Winter gut mit der ein—
heimiſchen Production. Dem Taubert'ſchen „Ceſario“ iſt als zweite Novität der
Saiſon Richard Wüerſt's dreiactige komiſche Oper „A-ing-fo-hi“ gefolgt,
ebenfalls das Werk eines in unſerer Mitte lebenden Componiſten, deſſen nun ſchon
durch dreißig Jahre fortgeſetzte emſige Thätigkeit über alle Gattungen der Kunſt ſich
erſtreckt. Von ſeinen dramatiſchen Arbeiten ſtehen der „Stern von Turan“, in wel—
chem einſt Pauline Lucca geglänzt, und der „Faublas“, der im Friedrich-Wilhelm—
ſtädtiſchen Theater eine ganze Reihe von Wiederholungen erlebte, beim Berliner
Publicum in freundlichem Andenken. Nichts fällt einem deutſchen Muſiker ſeltener
in die Hand, als ein brauchbares Libretto. Die neue Wüerſt'ſche Oper kann ſich
eines ſolchen Glücksfanges rühmen. Das Textbuch — Ernſt Wichert, der Autor
von „Ein Schritt vom Wege“, iſt der Verfaſſer — trägt durchweg den Stempel
bühnengewandter Sicherheit und Schlagfertigkeit. Franzöſiſchen Muſtern, namentlich
Scribe’3 erfindungsreicher Muſe, der unermüdlichen Arbeitsgenoſſin Auber's, hat es
manche Vortheile abgeſehen: das ſorgloſe Scherzando der Handlung, die nachgiebige
Biegſamkeit der Charaktere, die flotten Wechſel der Situationen. Einer italieniſchen
Novelle von Barrili iſt der Stoff entlehnt. Die erſte Scene zeigt uns ein geräuſch—
volles Gelage, bei dem auch das ſchöne Gejchlecht nicht fehlt. Die Gäſte rüften fich
eben zum Aufbruch; fie Haben fich offenbar weit befjer unterhalten, ala ihr Wirth,
der reiche genuefiiche Advocat Fenoglio, ein bereit3 etwas blafirter Yunggejelle in
mittleren Jahren. Er trägt die Maske eines Mandarinen. Bedächtig öffnen fich
feine müden Lippen zu jenen chinefiichen Lauten, die der Oper den Namen gegeben.
Als fcherzhafte Parole machen fie ſpäter die Runde unter jämmtlichen Perjonen.
Endlich iſt der Urheber des Feſtes allein mit feiner Zangenweile. Gähnend wiederholt
er fich die Lehren, die er als Summe aller Lebensweisheit eben aus dem Munde
feines jungen Freundes Felir vernommen. Er joll unbelümmert die Gunft des Zus
falls walten laffen, mit ihm Blindekuh jpielen. Kaum hat er die Augen geſchloſſen,
als ihn ein plößlicher Lärm aufichredt. Sich gegenüber exblidt er eine Unbefannte
und an der Thür zwei Polizeidiener. Sene, Felir’ jchöne Goufine Laura, hat unter
dem Schuke der Nacht ihre Freundin Grminia, die Tochter eine nach London ge=
flohenen Mazziniſten, befuchen wollen und, von den Beamten der Öffentlichen Sicher:
heit verfolgt, fich in das erfte bejte Haus geflüchtet, das fie noch offen gefunden. Eie
gleicht auf ein Haar der Angela im jchwarzen Domino, die ein ganz Ähnliches
Abenteuer beiteht. Wenoglio, raſch in's Einverjtändniß gezogen, ftellt den unerwar-
teten Gaft ala jeine ihm eben vermählte junge Frau vor. Die Häfcher kehren un—
verrichteter Sache heim, und in dem Schlußduett des eriten Actes knüpft fich ſchnell
Aus dem Berliner Opernhauie. 481
ein Band zwijchen dem Herzen des durch die Laune des Zufalls zufammengeführten
Paares. Der Advocat begehrt den Namen feiner anmuthigen Glientin zu willen, fie
entzieht fich ihm jedoch mit der Verheißung, der Zufall werde jchon Alles in's Klare
bringen. Im zweiten Act wiederholt jich dafjelbe Spiel mit Erminia. Der Polizei—
director Gallefi und Felix find diesmal die Getäufchten; von jenem, der, durch jeine
Leute don der nächtlichen Scene unterrichtet, die jungen Eheleute begrüßen will, em-
pfängt Laura’3 Freundin Glüdwunfh und Strauß. In einer Gonfultation mit
Fenoglio überrafcht, weiß fie kein andere Mittel, um allen läſtigen Nachforichungen
zu begegnen. Felix hat aber in ihr die Geliebte feiner Jugend wiedergefunden und
glaubt fich jchnöde verrathen. Der letzte Act löft, wie es feine Schuldigfeit ift, alle
Irrungen und Mißverjtändniffe. Noch einmal Freuzen fi Laura’ und Angela’s
Wege. Als Dienerin verkleidet, erjcheint die erftere auf einem von ihr veranftalteten
Gartenfeit, zu dem auch Fenoglio geladen worden. Er läßt fich nicht abhalten, ihr
Hand und Herz zu bieten, und erndtet den verdienten Lohn für feine Treue und Un—
eigennüßigfeit. Felix jchließt die gerechtfertigte Erminia in feine Arme.
Dbwol der Genius unjeres Volkes fich die Welt der Töne fo völlig zu eigen
gewonnen, wie der feines anderen, find doch jeit jeher die Blüthen ſehr jpärlich ge-
wejen, welche die komiſche Oper auf deutſchem Boden getrieben. Was fie ihm inner-
halb diejes Jahrhunderts verdantt, ft mit den drei Namen Lortzing, Flotow und
Nikolai zufammengefaßt. Die Gottesgabe des Humors, blieb fie etwa unferen
Mufikern verfagt? Wahrlih nein, ihre Werke bezeugen das Gegentheil. Warum
find wir denn aber jo reich an heiteren Zongebilden jeder Art und doch jo arın an
fomifchen Opern, daß wir uns die leßteren beinahe immer aus Jtalien oder Paris
holen mußten? Genau aus demfelben Grunde, der unfere Theater genöthigt, fait
ihren gefammten Luftfpielbedarf der Tranzöfifchen Bühne zu entlehnen. Aber auch
jenjeit3 der Alpen und der Vogejen ift es immer ftiller geworden. Hier wie dort
bat die Heitere Muſik ihr Antlitz verhüllt, Donizetti und der langlebige Auber find
die legten gewejen, deren Haupt fie mit ihren bunten Kränzen gejhmüdt. Ye Lauter
und augjchließlicher die Oper in unſeren Tagen vom Kampfgetümmel der Leiden
Ichaften widerhallt, um jo mehr muß man es willftommen beißen, wenn fie einmal
ihre Stirn entrungelt und zu Klängen der Luft und freude die Lippen dffnet.
Ein raſch und mühelos geftaltendes Talent hat der Wüerſt'ſchen Partitur jeinen
Stempel aufgedrüdt. Zwar einen ausgeprägten Charakterkopf zeigt ung der Com—
ponift nicht. Der Erfindung fehlt bei aller Rührigfeit jede prägnantere Eigenart.
Die Formen, in denen fte fich bewegt, find knapp und eng, der Weiſe des Singſpiels
jugewandt. Seiner der drei Acte hat ein im größeren Stil auögeführtes Finale.
Sehr leicht getvogen find zumeiſt die Motive, welche den einzelnen, durch gejprochenen
Dialog getrennten Mufilftüden zu Grunde liegen. Weit mehr Situationsmalerin ala
Ceelenfünderin, umſpielt die Tonfprache die Oberfläche der Handlung, ohne irgendwo
den Verſuch zu machen, in die Tiefe zu dringen. Sie hat indefjen ein gutes Gewiſſen
und ein ehrliches Geficht, Liebkoft nicht die niedrigen Neigungen der Maſſen und will
ebenjowenig durch gezierte Vornehmheit, durch künſtlich aufgebaufchtes und gejpreiztes
Weſen uns imponiren. Nirgends verleugnet fie ihre zwanglofe Natürlichkeit. Zu
Ioben ift vor Allem die Führung des Orchefterd, daB mit klugem Berftändniß den
Vorgängen auf der Bühne fic) anjchmiegt, fie mit feinen Yäden umſpinnt, feine Ge—
legenheit zu allerlei jchalfhaften Deutungen und Illuſtrationen ungenußt läßt. Nur
auf glatten, freundlichen Wegen wandeln die Stimmen, ihr Element ift die gegliederte
Gejangsmelodie. Am reichſten ausgeftattet ift der zweite Act, drei Treffer find auf
ihn gefallen, nämlich die Iuftige Arie des Dieners Filippo, der fleine muntere Zwie—
gefang zwifchen ihm und feinem Herrn und ein fpäter zum Terzett fich erweiterndes
Duett. Die — Galanterie, redſelige Biederkeit und geſpreizte Würde des
Polizeidirectors, der dabei die Hauptrolle ſpielt, find auf's Artigſte perſiflirt. Der
erfte Act muß fich mit einem Färglich bemefjenen muſikaliſchen Pflichttheil begnügen,
der dritte bejcheert uns einen zierlichen Walzer und ein anmuthiges, Mendelsſohn
482 Deutiche Rundſchau.
zugeeignetes Frauenduett. Um die Ausführung machten fich namentlich die Herren
Salomon, Bet und Krolop, die Danıen Lehmann und Kupfer-Berger verdient. Das
Publicum nahm die neue Gabe mwohlwollend entgegn. Am Schluß rief e8 den
Somponijten und die Hauptbdarfteller. Auf jeder Eleineren Bühne würde das harm-
loſe Werk noch eine viel beffere Figur gemacht haben, ala in unferem Opernhauſe.
Zu kämpfen hatte e8 hier nicht allein mit der Mißgunſt der akuftifchen Verhältnifie,
die 3. B. den gefprochenen Dialog geradezu erdrüdte, jondern überhaupt mit dem
ihm und feinesgleichen unfreundlichen genius loci. Wie heimathlos erſchien es in
dem großen, anfpruchsvollen Rahmen.
Verdi's „Aida“ Hat fi im Repertoire einen geficherten Pla gewonnen.
Ueberwiegend günftig war der Eindrud gewefen, den mir die erſte Bekanntſchaft mit
dem Werk Hinterlaflen, und das wiederholte Hören hat ihn nicht Lügen geftrait.
Schon durch ihren Tert unterfcheidet fich die „Aida“ vortheilhaft von den älteren Ge-
ſchwiſtern. Die an den Zujchnitt der alten Opera seria erinnernde Handlung ver
läuft jchlicht und natürlich. Nur mufilalifch geartete Situationen bot fie dem Ton—
jeßer dar. Wol geht ihr der Reiz ſpannender Gegenfäße ab, allein fie verzichtet dafür
auch auf jene Romantik des Häßlichen, die uns in den Geftalten des Trovatore,
Rigoletto, der Traviata angrinft. Die Perjonen, mit denen wir es zu thun haben,
find geiftig und phyfiich von geradem, gefundem Wuchſe. Es fehlt ihmen jeder
pathologifche Zuſatz, weder durch die fcharfe Würze des Verbrechens, noch durch das
Grauenhafte der äußeren Ericheinung, oder die in Folge körperlichen Siechthums der
Seele angelräntelten Züge des Leidens werben fie um unjere Theilnahme. Reinere
Luft weht auch in den Tönen, fie befleifigen fich einer vornehmeren, gemefleneren
Haltung. Der an der Schwelle des Greifenalters ftehende Componiſt bat es nicht
verichmäht, feine Phantafie in eine ftrengere Zucht zu nehmen, ihr die rohen Triebe
und Fahrläffigeren Gewohnheiten zu wehren. Es find Stimmen laut geworden, welde
diefe Belehrung zum Stichblatt ihres Spottes gemacht. Mich dinft fie in hohem
Grade rühmlih, ſowol in Nüdficht auf diefelben Charaktereigenſchaften, die fie vor—
ausſetzt, wie auf die werthvollen Früchte, die fie gezeitigt. Verdi hat übrigens bier
feineswegs jein fünftlerifches Glaubensbefenntniß gewechjelt. Die muſikaliſche Subftanz
blieb diejelbe, wie in den früheren Arbeiten, Lediglich die Zubereitung ift Torgfältiger
und ftilvoller. Die Etimmen und Inftrumente befleißigen fich milderer Sitten, gehen
gegenüber dem Sinn der Worte achtjamer und feinfühliger zu Werke. Bor Allem
gewahrt man einen erheblichen Fortjchritt in dem Aufbau der großen Enjemblejäte,
in der Gruppirung des jo weitichichtigen mufifalifch-dramatifchen Apparat3 zum im-
pofanten Gefammtgefüge. Aus der Verbindung national-italienifcher und franzöſiſcher
DOpernelemente ift der Verdi’jche Stil hervorgegangen. Auch die „Aida“ trägt durchaus
dies Gepräge. Zwar entlehnt fie dem Lohengrin ein paar melodifche Wendungen
und die Vorliebe für die Leitmotive, aber bei jolchen rein äußerlichen Beziehungen
hat e3 fein Bewenden. Um fo inniger ift ihr Verhältniß zu Meyerbeer und in-
ſonderheit zur Afrikanerin, deren Einfluß fich auf Schritt und Tritt bemerflich macht.
Die erite Hälfte des Werkes jcheint mir bei Weitem bevorzugt. Sie enthält faum
eine einzige, gänzlich werthlofe Nummer. In fajt ununterbrochener Reihe folgen
einander gefällig anmuthende oder dramatijch-bedeutiame Tongebilde. Allenthalben
iprudeln friſche Quellen des Wohllauts, jo in Aida’s weich bingegoffener Arie, 10
weiterhin in dem kräftig einjchlagenden Sat: „Zu des Niles heiligen Ufern“, endlich
in der den eriten Act krönenden Schlußfcene. Die reichite Fülle von Farben und
Geftalten, zum harmonischen, jtimmungsvollen Gefammtbild verfchmolzen, breitet
diefes Finale vor und aus. Sein erotifcher Anhauch erhöht den Reiz. Ein paar
Anklänge an alt-ägyptifche Weilen jollen hier, wie im Beginn des dritten Actes, em
geflochten jein.. Von glüdlichjter Wirkung ift der Wechfel zwifchen Moll und Dur,
Chor⸗ und Sologefang, Frauen und Männerftimmen. Weder an Mannigjaltigteit
des Inhalts und des Ausdruds noch an Sicherheit und Feitigkeit der Formen fteht
das zweite Finale Hinter dem eriten zurück. Auch in ihm zieht das bewegtefte Leben,
Aus dem Berliner Opernhauſe. 483
zu einem. gewaltigen Strom zufammengefaßt, an uns borüber. Nie hat die Hand
des Componiſten lieblichere Klänge gewedt, ald in dem melodijchen Wechfelgefang
zwischen der Pringzeffin und ihren Sclavinnen. Die legten beiden Acte bekennen fich
mehr zur älteren Weiſe Verdi's. Auch in ihnen jehlt e8 nicht an Zügen der Charak—
terijtit, wie fie nur einem Tondichter von herborragenditer. dramatiicher Begabung
ſich darbieten, aber dazwiſchen Liegen breite, unmwirthbare Streden. In den Vorder:
grumd geftellt ift das Bravourbedürfniß der Stimmen, ihnen immer von Neuem zum
lautejten Trompetengeſchmetter des Ausdruds das Signal gegeben. Dem äußeren
Glanz der Klangwirkung, auf den Hier allenthalben gezählt worden, bleibt die Aus—
führung bei uns Manches ſchuldig. Für die Wiedergabe der Titelrolle befikt der
zartbejaitete Sopran der Frau Mallinger zwar alle nur wünjchenswerthe Weichheit,
Anmuth und Süßigfeit, aber feineswegs die erforderliche Macht und Fülle. Nament-
Lich der Tiefe fehlt jede Kräftigere Rejonanz. Nur bleiche, ſchwankende Tonjchatten
find ed, welche der Künjtlerin in der unteren Hälfte der eingeftrichenen Octave zu
Gebote ftehen. Der Radames des Herrin Niemann muß aber vor der hohen Lage
feiner Partie die Waffen ftreden. Lediglich die erjten beiden Acte kommen deshalb
auf unferer Bühne zu ihrer vollen Geltung, während die lette Hälfte de Werks
nach allen Seiten hin Einbußen erleidet.
Eine anachroniftiiche Laune des Repertoires war der Berfuch, Verdi’ „Ernani“
wieder zurückzurufen unter die Yebendigen. Als das Werk vor einunddreißig Jahren
in die Deffentlichkeit trat, machte es in Deutichland ein gewiſſes Aufjehen. Deutlich
fund that fich in ihm ein ungewöhnliches Talent für den padenden Theatereffect, das
jreilich noch aller mufitaliichen Zucht und Sitte unbelümmert in’3 Angeficht jchlug,
in dem rohſten Kraftſtil, den wildejten Grimafjen des Ausdruds fich tummelte. Mit
finfter gerungelter Stirn erichien die Muſe des Cumponiften, ſelbſt ihre Schmeicheleien
hatten einen äßenden Beigeſchmack. Wie lauter Wehrufe, Verwünſchungen, Flüche
klang die Sprache, die fie redete. „Was ſie ſinnt, iſt Schrecken, und was ſie blickt,
it Wuth,“ konnte man von ihr behaupten. Sie war das leibhaftige Kind jenes
Italiens, das unter dem Drud der Fremdherrſchaft zu lächeln verlernt, gab Zeugniß
von dem Stimmungscharatter einer Periode voll gährender Unzufriedenheit, heimlicher
Verſchwörungen und revolutionärer Gewalttaten. In den fpäteren Arbeiten Verdi's
ift nicht allein feine Technik ungleich gelenker, auch die Erfindung jtrömt voller und
weicher. Freche Marche und Tanzrhytmen, tobjüchtiges Unifono der Stimmen,
dröhnendes Blechgejchmetter oder armjeliges Guitarrengeflimper der Begleitung und
ähnliche Ohrenplagen find im „Ernani“ bis zur Unerträglichkeit gehäuft. Allenthalben
begegnet man melodiſchen Zwangsanleihen bei der „Lucia“ und „Lucrezia“. Schwerer
als die ganze Partitur wiegt das eine Quartett im „Rigoletto“ oder das Miferere
im „Zrovatore“. Hält man den jugendlichen Wildling und die „Aida“ gegeneinander,
jo jtaunen wir über den glänzenden Sieg, welchen zäher Fleiß und eiferne Willens—
fraft einer von Haus aus jo jpröden, unbändigen Künftlernatur abgerungen.
Bereitö zweimal war das Werk im Laufe der Jahre auf unferer königlichen
Bühne erjchienen, um nach wenigen Abenden wieder zu verichwinden. Bei feiner
erneuerten Darbietung hatte man die vier Acte in drei zufammengezogen und die
blutige Schlußkatajtrophe bejeitigt. Das jchtvergeprüfte Paar wurde nicht mehr durch
den rachlüchtigen Silva aus der Seligkeit der Flitterwochen aufgejchredt, es durite
einer langen, gelegneten Ehe entgegen jehen. Nichts konnte dem Charakter der Hand—
lung und Muſik mehr widerjprechen, ala eine folche Löſung, welche den von jenen
in Bewegung geliebten tragiichen Gewalten die ihnen verfallenen Opfer unterjchlug.
Wenig Dank gewann fich Herr Niemann in der Titelrolle, welche feiner Meifterichaft
in den Künſten des declamatoriichen Gejanges jeden Spielraum verfagte. Schwer
trug er an der Bürde einer Aufgabe, die jeine beiten Vorzüge veritedte, dagegen die
Unbotmäßigfeit des hohen Regiſters wie manches andere Deficit erbarmungslos blos-
jtellte, Herr Betz häufte auf die Partie des Königs Carl alle Kraft und Fülle feines
begnadigten Barytond. Das Publicum Hatte mit feiner Iheilnahme die Aufführung
484 Deutſche Rundſchau.
des „Ernani“ gänzlich im Stich gelaſſen. Von einem Jahr zum anderen geräth unſer
Dpernrepertoire immer mehr in die Enge. Bei der dürftigfidernden Production der
Gegenwart reicht der Zuwachs an Neuem lange nicht Hin, den durch Abnutzung des
Alten verurſachten Ausfall zu deden. Groß iſt die Verlegenheit, eine Bühne zu ver-
forgen, die zehn Monate hindurch faſt Tag für Tag bejchäftigt werden muß. Philo—
ſophiſche Gleichgültigkeit gegen leere Zuhörerräume wird ihr gewiß Niemand zumuthen.
Daß fie aber nicht bei jeder Gabe auf volle Häufer rechnen darf, Liegt auf der Hand.
Da ihr doch viel mehr Abende zur Verfügung ftehen, ala zugfräftige Werke, jollte fie
es fich nicht nehmen lafjen, an jolchen Partituren Großmuth zu üben, welche durch
den inneren Werth die ihnen erwiejene Gunft verdienen. Das Bewußtjein der guten
That, die Mehrung des fünftlerifchen Anjehens würden dann wenigſtens für den
bejcheidenen äußeren Erfolg einigen Grjaß gewähren. Spontini und Marjchner fehlen
3. B. ſchon längſt in unferer Tagesordnung. Wäre es nicht recht und billig, ihnen
einmal wieder dad Stichwort zu geben?
Auf's Ueppigfte wuchern in unferer Zeit der Eifenbahnen und Telegraphen die
Gaſtſpiele. Für eine Menge von kleinen Theatern find fie im täglichen Kampf um's
Daſein das einzige Rettungsmittel. Sie liefern den Directoren die Kaflenmagnete,
welche ihnen den ganzen, zur Herſtellung eine® wohlgeordneten Gefammtorganismus
erforderlichen Aufwand an Sachkunde, Mühe und Koften abnehmen. Aber auch Tür
die größeren Bühnen find Gaftjpiele eine Nothwendigkeit, nur haben fie hier einen
anderen Zwed, es pflegt fich bei ihnen zumeiſt um die Prüfung neuer Kräfte zu
handeln, bevor fie endgültig dem Perſonalbeſtand eingereiht werden; je zahlreicher
der leßtere it, um ſo häufiger bedarf er der Ausbeſſerung und Ergänzung. Diejer
ununterbrochene Stoffwechjel macht der Verwaltung viel zu fchaffen, nöthigt fie, aller-
wärt3 die Augen und Obren zu haben, immer von Neuem ihre Nebe nad) leiſtungs—
fähigen Stimmen auszuwerfen und den eingefangenen Gelegenheit zu geben, fich dem
Publicum vorzuftellen. Seit Diener’3 Abgang ift Niemann unfer einziger Helden—
tenor. Der Umfang des ihm zugewiejenen Fachs heifcht dringend eine Arbeitstheilung.
In der Perfon des Herrn Ernſt präjentirte fi ein Bewerber, dem von Leipzig aus
ein guter Ruf voranging. Er wies in der That eine Reihe vecht ſchätzenswerther
Eigenichaften auf. Seine Stimme hat jenen barytonähnlichen Klang, wie er noth-
wendig zur glaubwürdigen Vertretung aller Tenorpartien gehört, deren Attribut nicht
allein die Xeyer, jondern zugleich dad Schwert iſt. Dazu kommt eine fichere Jntonation,
Reinheit und Deutlichkeit der Ausſprache, Fleiß und Sauberkeit der muſikaliſchen
Gejtaltung. Das Organ ift indeflen nicht verſchwenderiſch mit finnlihem Reiz aus—
geitattet. Als Baryton hatte es feine Theatercarriere begonnen und wurde erſt nach—
träglich in die Tenorlage hinaufgerückt. Wie ftets in ſolchem Fall ift der Ton etwas
zu ſtumpf, dunkel und gededt. Er vermag weder, durch fernhin jtrahlenden Glanz
dem Obre zu imponiren, noch ihm durch ſüßen Wohllaut zu jchmeicheln. Die Stimme
muß ihre Kraft vorfichtig zu Rathe halten, gegenüber den erbarmungslojen Dimen-
fionen unſeres Opernhaufes hat fie einen ſchlimmen Stand. Leicht fommt fie in
Gefahr, don dem vereinigten Klanggewoge des Orcheſters und Chors überfluthet zu
werden. Ihr höchſtes Regiſter it fein Gnadengeichent der Natur, jondern ein be-
hutjam zu veriwendender Erwerb der Bildung. Alle diefe Dinge feileln dem Vortrag
gerade bei den enticheidenden Höhepunften der Handlung einigermaßen die Schwingen.
Unfer, an Niemann's eminent dramatiichen Stil gewöhntes Publicum fand die Ge-
ftalten, in welchen der Gaft vor ihm erjchien (e8 waren der Adolar in der Euryanthe,
Walter von Stolgingen in den Meifterfingern und Manrico im Trovatore), zu matt
und unanjehnlih. Dennoch hat die Intendanz Herrn Emft in das Perfonal der
königlichen Bühne aufgenommen und, wie ich glaube, wohl daran gethan.
Auch das Gajtipiel des Fräulein Minnie Hauf (fie erichien als Mignon,
Mozart'ſche Zerline, Rofina und Gretchen vor dem Berliner Publicum) ift fein frucht-
loſes geweſen. Die Intendanz ließ die reich begabte Sängerin nicht ziehen, ohne
ſich ihrer fir die nächjte Saifon verfichert zu haben. Manche, feit dem Abgang der
Aus dem Berliner Opernhauſe. 485
Lucca verwaifte Oper wird durch die neue Primadonna dem Repertoire zurüdgewonnen
werden. Die Stimme ift namentlich in der oberen Hälfte von großem Weiz, dem
leidigen Tremoliren gänzlich abhold und in Sachen der Intonation äußerjt genau.
Man könnte die Behandlung des Tons mufterhaft nennen, wenn er nicht in der
Tiefe bisweilen aus der Art jchlüge, fich gelegentlich darin gefiele, feinen natürlichen,
keineswegs unkräftigen Wuchs durch ein Fünftliches Embonpoint zu entjtellen, ihm
gleichfam eine bauſchige Grinoline umzuhängen. Dieje Ueberkreibung des Bruftregifters,
unter unjeren Sängerinnen Heut zu Tage Jo verbreitet, it das Seitenftüd zu dem
füßlichen Faljettiren der Tenore und Bäſſe. In dem einen Wall macht fich die
weibliche Stimme zur Garricatur der männlichen, im andeven gejchieht das Umgefehrte.
Hier wie dort ijt e8 die gleiche Umnatur, gegen welche der feinfühligere äſthetiſche
Sinn Widerfpruch erhebt. Minnie Hauf verfügt über eine jehr anfehnliche Virtuo-
fität. Sie hat das Piano, Crescendo, Decrescendo, Legato auf's Emfigfte gepflegt
und nicht minder die Coloratur. Die lettere ift bei ihr fein müßiges Spielzeug einer
geläufigen Kehle, Tondern ſtets charakteriftiich gefärbt. Die Künftlerin nimmt e&
mit ihren dramatifchen Obliegenheiten jehr jorgfältig und gewiſſenhaft. Voll Geift
und Leben find immer ihre Geftalten, wenn auch der wägende und wählende Ver—
ftand mehr Theil an ihnen Haben mag, als die ummittelbare Empfindung, und
auf die realiftifche Handgreiflichleit des Ausdruds Hin und wieder ein zu großes Ge-
wicht gelegt wird.
Dtto Gumpredt.
Politifhe Rundſchau.
— —
Berlin, den 15. Februar.
Der deutſche Reichstag hat jeine Arbeiten geſchloſſen. Das Bankgeſetz, die
Givilehevorlage und das Landſturmgeſetz find die Zeugen der nie ermattenden Arbeit=
ſamkeit unferer Volksvertretung. Was namentlich das Bankgejeß betrifft, jo iſt ihm
bereit3 an anderer Stelle dieſes Heites gebührende Würdigung geworden.
Inzwiſchen fand die Eröffnung des preußiichen Landtags unter den denkbar
günftigften Aufpicien jtatt. Die Thronrede, in all’ ihrer Nüchternheit, war eine vollitän-
dige Muſterkarte conftitutionelleerfreulicher Ankündigungen. Bor Allem erichien das Fi—
nanzerpoje des Vicepräfidenten des Minijterraths, Gamphaufen, als ein nmerjchöpfliches
Füllhorn. Das gegenwärtig politifch thätige Gefchlecht Preußens iſt unter der wirth-
Ichaftlich-Tpartanifchen Zucht jener Tage heran gereift, in welchen das Land noch die
Laſten einer militärifchen Rüſtung zu -tragen hatte, deren Ausdehnung für den Schuß
des ganzen deutſchen Vaterlandes berechnet war. Man lebte Inapp und jparfam in
allen Dingen, welche nicht mit der Wehrhaftigkeit der Nation in directem Zuſammen—
bange jtanden. Heute beginnt man den Lohn für die jahrelange Entjagung einzu»
heimſen. Die preußifchen Finanzen find nicht nur im geordnetiten, jondern auch im
blühendſten Zuftande; fie geftatten nicht mehr blos eine Berüdfichtigung des unbedingt
Erforderlichen, fondern auch die Gewährung des Angenehmen, des „„Superflu‘‘, welches
dem ftaatlichen Leben gewiffermaßen erſt eine fünftleriiche Weihe verleiht. Freilich,
jollten abermals Tage fommen, von denen es heißt, fie gefallen ung nicht — und
welche Nation ift dagegen gejichert? — jo würde die Entwöhnung von der holden
Hülle, deren man jett genießt, gewiß manche traurige Reminiscenz hervorrufen —
aber die Verwendung jener Mittel, iiber welche man gegenwärtig verfügt, ijt eine
Bürgſchaft dafür, daß auch in diefem Falle die Widerſtandskraft Preußens, wie die
Reichthümer feines Bodens, feiner Bevölkerung und jeiner Staatswirthichaft überhaupt
fich entiprechend bewähren würden.
Dazu trägt natürlich auch ihr vollgemefjenes Theil jene Reihe von Gejegentwürfen
bei, welde ala Verwaltungsreform im edelften Sinne die Grundlagen der großen
Stein'ſchen Gejehgebung aus den Jahren der tiefften Erniedrigung gegenwärtig zum
vollen Ausbau bringen. Auf die neue Kreisordnung folgt jebt die Provinzial»
Ordnung als fihtbare Krönung des Selbjt-Regierungs-Gebäudes, welches in Preußen
nunmehr zur ftattlichjten Aufrichtung gelangen ſoll. Kein jchöneres Zeugniß für Die
politiiche Reife de3 Volkes, ala dieje neue Stufe der Selbftverwaltung, die an den
Gemeinfinn und die Aufopferungsfähigkeit der Bürger jo hohe Anforderungen ftellt.
Die Ausdehnung diefer wichtigen Reform auf alle Theile der Monarchie, praktiſch
vielleicht nicht ohne Bedenken, entipricht doch zu jehr den Forderungen der Billigfeit,
als daß man nicht über einzelne bureaufratiiche Einwürfe hinweggehen ſollte. Wenn
diefe neue Verwaltungs = Einrichtung volles Leben gewonnen haben wird, dann darf
dem preußiichen Volke das glänzendite Zeugniß nicht verjagt werden. In Frankreich,
mag nun die herrichende Staatsform republifaniich oder monarchiich fein, wäre eine
Politiſche Rundſchau. 487
ſolche Theilung der Regierungsgewalt, wie ſie hier zwiſchen der Executive und dem
Bürgerthum ſtattfinden wird, abſolut undurchführbar, wie es denn auf dem europäiſchen
Continent keine andere Großmacht giebt, die ein ſolches Experiment ungeſtraft für
ihre ſtaatliche Cohäſion wagen dürfte.
In den auswärtigen Angelegenheiten Hatte auch in der jüngft ver—
floffenen Perivde die deutjche Politik ihr Wort in die Wagichaale zu legen. Zwar
ertvied fich die Depejche von der Landung deutjcher Marinetruppen in Zarauz, um
an den KHarliften für die Guftan- Affaire Vergeltung zu üben, al3 irrig; aber es ift
nicht recht erfichtlich, welche Gründe, abgejehen von der geringen Zahl der damals
an der cantabrifchen Küfte überhaupt verfügbaren militärifchen Kräfte, Deutfchland
hätten abhalten follen, fich jelbjt jene Genugthuung zu verichaffen, welche die Madrider
Regierung jedenfalls zu jchwach war, dem auf Tpanifchem Territorium Beleidigten
fofort zur Verfügung zu ftellen. Es jcheint nicht, daß alle maritimen Mächte
diefe Angelegenheit in jo unverfänglicher Art aufgefaht hätten. Man ſoll im Gegen-
theil von diefer und jener Seite die deutſche „Interventionsluſt“ ziemlich deutlich
„perhorregcirt” haben. Daß an feine Feitfeßung der deutichen Macht an irgend
einem jpaniichen Punkte zu denken jei, wie dies etwa englifcherfeits gerade in Spanien
auf Gibraltar oder neuerdings erft noch bei Aden geſchehen, durfte doch billig nicht
überjehen werden. Glüdlicherweije zeigten fich alle die freundichaftlichen Beſorgniſſe,
welche bei diefem Anlaß zum Borjchein kamen, als gegenſtandslos. Die Regierung
des Königs Alphons XII. beeilte ſich, noch vor ihrer Anerkennung, allen jenen
Forderungen Erfüllung zu veriprechen, welche man füglich an fie jtellen konnte.
Die Anerkennung Don Alphonſo's ſelbſt gab den diplomatijchen Kanzleien
mancherlei zu jchaffen. Die Führerrolle war diesmal dem Wiener Kabinette
zugefallen. Allein jo günftig auch in Berlin die Dispofitionen für den Sohn Iſabellens
gewejen jein mochten, jo hatten doch die erſten Acte feiner Regierung, welche als
eine Beeinträchtigung der den Protejtanten gemwährleijteten Gewiſſensfreiheit angejehen
werden mußten, einigermaßen erfältend gewirkt. Auch eine gewiſſe Langſamkeit in der
Bereiterflärung zur Regelung der Guftav-Affaire ließ in der Wilhelmsſtraße frojtigere
Gefühle auffommen, als man fie in Wien am Ballhausplat hegte. So fam es, daß
mehrere Borfchläge von hüben und drüben fich kreuzten, ehe man zu dem erwiünjchten
Einvernehmen gelangte, dem fih dann auch Rußland anſchloß. So iſt jeit dem
1. Februar Alphons XI. als von den drei nordiſchen Großmächten amtlich anerfannt
zu betrachten.
Was Rußland jpeciell anbetrifit, jo hatte man am Peteröburger Hofe gewiſſe
Strömungen conftatiren wollen, welche die für jebt abgethane Richtung der Panjla-
wijten durch die etwas veränderte Tendenz der Slawophilen erſetzen wollte.
Dieje Slawophilen ftrebten namentlih eine Ausjöhnung des Ruſſenthums mit dem
Polonismus an, und die Verfuche des neuen Generalgouverneurs in Warſchau, des
Herrn don Kobebue, fich in feinem Wirkungsfreife beliebt zu machen, wurden ent-
Iprechend ausgebeutet. Dieje jlawophile Strömung ging in Peterdburg Hand in Hand
mit den Anhängern der franzöfiich-ruffiichen Allianz, die wol einfahen, daß fie für fich
zu ſchwach feien, die enge Freundſchaft ernftlich zu exfchüttern, welche Deutjchland
mit Rußland verbindet. Dean ließ es nicht an allerlei Ausftreuungen fehlen. Und
als die Ablehnung des englifchen Minifters, fich an der neuen Kriegsrechtsconferenz
in St. Peteräburg zu betheiligen, in der befannten jchroffen Form erfolgte, als fich
die Bermittlungs-Verjuche, welche Fürft Bismarck zwiſchen der englischen Anfchauung
und dem ruffiichen Standpunkte in Scene gejeßt, ala nicht erfolgreich erwiefen
hatten, konnte es nicht nur gefchehen, daß man dem bdeutfchen Kanzler weder in
London noch in St. Petersburg Dank für feine Bemühungen wußte (dergleichen pflegt
Dermittlern nicht jelten zu geichehen!), ſondern es fam ſelbſt dahin, daß man in der
wuffiichen Hauptftadt das Streben des Fürjten Bismarck überhaupt zu verdächtigen
fi angelegen jein ließ, wobei fich jlamwophile und franzofenfreundliche Einflüffe in
diefer unterirdiichen Arbeit gegenfeitig unterjtüßten. Die Sendung des Herrn von
488 Deutiche Rundichau.
Nadowik nad St. Petersburg, eines Diplomaten, der unter den jüngeren verwend—
baren Kräften des deutichen auswärtigen Amtes eines bejonderen Rufes genießt,
mußte jelbjtveritändlich genügen, um fchnell all’ diejes Fünjtlich zufammengeballte
Gewölk zu zeritreuen. Allein, daß diefe Miffton, die fich ſchließlich vielleicht zu einer
permanenten Sendung auswächſt, während der Krankheit des deutichen Botſchafters
nothwendig erichien, ift ein bedeutfames Anzeichen für die Tortgejeßte Minirthätigfeit
der MWiderjacher Deutichlande.
Dennoch hatte ſich das gute Ginvernehmen der drei Höfe von Petersburg,
Wien und Berlin noch ganz neuerdings in orientaliichen Dingen zu bewähren
gehabt. Freilich war in dieſen Fragen das deutiche Gabinet in zweiter Reihe ge=
blieben. + Der öſterreichiſch-ungariſchen Regierung Hatte man auch der
Piorte wie Spanien gegenüber, im Berein mit Rußland, den Vortritt gelaffen. Die
Todgorita-Affaire drohte einen Moment lang das Zündhölzchen zu werden, mit
welcher der Orient in Brand gejtedt werden fonnte, und, die Wahrheit zu jagen,
ſelbſt nach einer vierwöchentlichen Arbeit der europäiichen Löſchmannſchaften ijt dieſe
Gefahr noch immer nicht ganz vorüber. Denn es handelt fi im Grunde viel
weniger um die Mebeleien von Podgorika und die Beitrafung der in diefelbe mit
verwidelten Montenegriner und Türken auf montenegriniichem oder türkiichem Gebiet,
fondern vielmehr um die völferrechtlic” noch immer in einige® Dunkel gehüllte
Stellung des Fürſtenthums der jchwarzen Berge zur ottomanischen Pforte. In Kon—
ftantinopel gedachte man, getreu dem einzigen in der lebten Zeit vom Sultan be=
barrlich Tejtgehaltenen Principe, die Oberherrlichleit des Großherrn über Montenegro
ganz in derjelben Weile auszudehnen, wie über die immerhin doch als Vaſallen—
ftaaten unzweifelhaft anerfannten Länder an der unteren Donau, Montenegriner
hatten Türken getödtet, folglich waren fie zu verurtheilen; da der Todtichlag auf
türkiſchem Territorium erfolgt war, hatte die gerichtliche Verhandlung, nach der Auf—
fafjung des Divans, vor türkifchen Richtern und auf türkiſchem Boden zu erfolgen.
Fürſt Nikita von Montenegro feinerjeits verlangte zunächſt die Beſtrafung jener
Türken, welche das Blutbad angerichtet, und als die Urtheile gefällt waren, aber
das jemitifche „Aug’ um Auge, Zahn um Zahn‘ vermiffen ließen, forderte er die
Umwandlung der verhängten Freiheitäftrafen in Todesurtheile. Er jeinerjeits erklärte
fi) bereit, jeine compromittirten Landsleute auch dor ein montenegrinifches Gericht
zu ftellen; jelbft, wenn es fein müßte, in Gegenwart türfifcher Beiſitzer gegen
fie zu verhandeln. Aber die PVollftredung der ZTodesjtrafe an den verurtheilten
Zürfen habe von Seiten der Prorte das Verfahren einzuleiten. Deilen aber weigerte
fi die Pforte, weil ihr wohlbefannt war, daß Fürft Nikita nicht im Stande jei,
in entiprechender Art gegen die zu verurtheilenden Montenegriner vorzugehen; denn
in der Landsgenoſſenſchaft der ſchwarzen Berge eriftirt gejetlich die Todesſtrafe nicht.
Und jo ftand man nach mühjeligen Verhandlungen, Interventionen und VBermittelungen
Ichließlih genau da, von wo man ausgegangen. Dejterreich-Ungarn hatte fich
namentlich angelegen jein laffen, mäßigend in Gettinje und am goldenen Horn zu
wirken. Es war darin oftenfibel von Rußland, rüdhaltlo8 vom deutjchen Reich
unterftüßt worden. Graf Andrafiy hatte feinerlei Intereſſe daran, an der Dftgrenze
der Monarchie einen Zwilt ſich entipinnen zu Sehen, deflen Lofalifirung nicht für
alle Zeit möglich jchien. Selbſt die Kojten und Mühſale der Aufftellung eines
event. Beobachtungscorps blieben befler vermieden. Dennoch wuchs zuſehends die
Gährung und übertrug fich von Montenegro auf das ſtammverwandte Serbien, wo
eben das Minifterium Marianovicd feinen friedlichen Strebungen und ſeinem Ente
gegenfommen für das benachbarte Defterreich-Ungarn zum Opfer gefallen war. In—
deſſen wirkſamer noch, man muß es geftehen,* als der gütliche Zufpruch der Mächte
in Montenegro und die ernjten Borftellungen derjelben in Sonjtantinopel, wirkte
mäßigend der ungemein jtrenge Winter, welcher ſelbſt den aufgeregteiten Söhnen
der Ichwarzen Berge die Luſt zu einer Wintercampagne vergällen mußte. So blieb,
cahin-caha, wie der Franzoſe jagt, der Friede wenn nicht gefichert, jo doch ungeftört.
Politiſche Rundſchau. 489
Schlechterdings fühlte ſich die Pforte ſchwer verletzt durch die etwas cavaliöre Weiſe,
in der man mit ihr umſprang, und der leiſe Anhalt, den die türkiſchen Staatsmänner
bei England fanden, welches in dem gemeinſamen Vorgehen der drei Nordmächte, zu
Gunſten der relativen Unabhängigkeit Montenegros, jene Scheu vor der Antaſtung der
Verträge vermißte, welche es namentlich in orientaliſchen Dingen ſtreng beobachtet
zu ſehen wünſchte, erhielt den Sultan in ſeiner Verſtimmung.
Allein es ſtellte ſich bei dieſer Gelegenheit heraus, was dem größeren Publicum
bis dahin unbekannt geblieben, daß die Drei-Kaiſer-Zuſammenkunft doch
ganz beſtimmte Vereinbarungen gerade in Bezug auf die orientaliſche Frage gezeitigt
hatte. Man war in Wien wie auch in St. Petersburg darüber im Klaren, daß
ein freundſchaftliches Zuſammengehen der beiderſeitigen Politik nur im Orient auf
Schwierigkeiten ſtoßen konnte. Es galt alſo, da man ſich in Friedensliebe zufammen-
gefunden, ein Programm auszuklügeln, welches alle orientaliſch-möglichen Steine des
Anſtoßes, wenigjtend für die Dauer des gegenjeitigen Friedensbedürfniſſes, vorfichtig
aus dem Wege räumte. Zu diefem Behuf fand man es zmwedmäßig, alles das
einer gemeinfamen Durcchfiht und Gommentirung zu unterziehen, was von dem
Pariſer Friedensvertrage von 1856 noch allgemein al3 gültig anerfannt wurde. So
ward eine Reihe von Sätzen aufgeftellt, welche den drei Mächten, denn Deutjchland
gehörte natürlich mit zum Concert, in allen die Türkei betreffenden Fragen als
Richtſchnur dienen jollten. Diefes Syſtem culminirte durchaus nicht in der Erhal—
tung des Status quo, wie ihn England vertrat, jondern beftand vielmehr darin,
allen Lebenstähigen Unterftügung angedeihen zu laffen, alles Abjterbende aber mit-
leidlos bei Seite zu ſchieben. So war wenigjteng eine vorläufige „Entente“ hergeftellt,
Sie hatte fih dann auch, außer in Montenegro, noch in Serbien zu be-
währen, wo gambettijtiicher Einfluß nicht nur die nationalsfriegeriihe Stimmung
zu ſchüren Juchte, ſondern auch Gelegenheit fand, gewiffe Trümpfe gegen das deutjche
Reich direct auszuſpielen. Die Angelegenheit des bdeutichen General: Gonjuls
Dr. Rofen ift männiglich befannt. Es bedurfte nicht blo8 einer demonftrativen Ab—
reife des deutjchen Vertreterd, um die jerbiiche Negierung zur Umkehr zu zwingen —
denn der don einzelnen Staaten ertheilte und feitgehaltene Titel” „Diplomatifcher
Agent“, gegen deijen Vorrang Dr. Rojen reagirt Hatte, jchmeichelte den Belgrader
Unabhängigfeit3- Träumen zu jehr, als daß man jo leichten Kaufs darauf ver:
zichtet hätte — ſondern es war auch ganz entfchieden Einwirkung von Wien und
St. Petersburg nothwendig, um Remedur eintreten zu lafjen, was dem Fürjten Milan
durch einen theiltweifen Minifterwechjel einigermaßen erleichtert wurde.
Graf Andrajfy war übrigens ſchon ſeit einiger Zeit von der unausgeſetzten
Verfolgung jeiner orientalifchen Pläne durch die fich überftürzenden parlamentarifchen
Ereigniſſe in feiner engeren Heimath, in Ungarn, abgezogen worden. Dort Hatte fich
eine rein finanzielle Steuer: und Budgetbedeckungsfrage in eine parlamentarifche Kriſe
erften Ranges verwandelt. Die Vorſchläge des deafiftifchen Minifteriums Bitto
waren im Abgeordnetenhaufe zu Peſt auf die wol nur zufällig combinirten, aber
darum nicht minder erjchütternden Angriffe eines ſeltſamen Trios geftoßen. Zuerit
hatte der ehemalige Tavernifus von Ungarn, Baron Sennyey, ein Dealift „du
lendemain“, zum Sturm geblafen, indem er namentlich feine oft angezweifelte Ver:
taffungstrene betonte. Dann hatte der Führer des linken Gentrums, Koloman Tisza,
Breiche geſchoſſen und jich gewiffermaßen der Fahne der Deakpartei bemächtigt, indem
er jeine ſtaatsrechtliche Oppofition gegen den Ausgleih von 1867, als unter den
obwaltenden Umjtänden unzeitgemäß, mit Eclat aufgab und jo mit einem Male
regierungsfähig wurde. Und jchließlih war Graf Melchior Lonyay, das böje
Finanzgenie Ungarns, mit detaillirten Rettungsplänen Hervorgetreten, denen jelbjt
jeine Gegner eine gewilfe Berechtigung nicht abjprechen fonnten. Damit war das
Minifterium Bitto in jeinen Grundveiten erſchüttert, und es blieb demjelben nichts
übrig, als abzutreten, was ihm fogar mit allen Kriegschren gelang; denn man gab
ihm noch eine Art von Vertrauensvotum mit auf den Weg, indem man das von
490 Deutſche Rundſchau.
ihm vorgelegte Budget mit ungeheurer Majorität als Grundlage für den Eintritt in
die Specialberatdung annahm. So mußte — ein Unicum in der parlamentari-
ſchen Gejchichte — ein jchließlich fiegreiches Gabinet feine Entlafijung geben, um einer
neuen Gombination Plab zu machen, von welcher Jedermann, man weiß jelbjt nicht
auf Grund welcher Vorausjehungen, die ungeheuerjten Dinge erwartet. Die Projecte
zu diefer neuen GCombination wechjelten in Peſt während jeden Tages, den die Kriſis
währte, wol vier und zwanzig Mal. Graf Andrafiy, der jelbjt einjt zum Sturze
Lonyay's die Hand geboten, wollte nicht jelbft dazu beitragen, dem ihm innerlich noch
Srollenden wieder zu Macht und Anſehen zu verhelfen, die derjelbe dann vielleicht
gegen ihn jelbjt angewendet Hätte. Noch unlieber jähe er Baron Sennyey, der jeit
Jahren fein principieller und perjönlicher Gegner gewejen, in die ungariſche Regierung
eintreten. Nur mit Tisza vermochte er fich einigermaßen zu befreunden, da diejer
geiftig der am wenigſten Bedeutende der drei Streber war, und da die Möglichkeit
blieb, ihn in einem Knäuel deakiſtiſcher Cabinets-Collegen ebenjo unjchädlich zu
machen, wie die mit Ghyczy der all geweien war, der ja auch aus einem aus—
gleichfeindlichen Saulus jchließlich ein ganz zuverläffigegouvernementaler Paulus ge-
worden. Wugenblidlich liegt die Enticheidung bei dem Monarchen.
Dieſe eigenthümlichen ungarischen Vorgänge, verbunden mit den aufregenden
Peripetien des bereits an dieſer Stelle gefennzeichneten, riefigen Ofenheim-Pro—
cejjes, in welchem gewejene und gegenwärtige Minifter Dejterreichd eine feines»
wegs beneidenswerthe Rolle jpielten, Hatten in Gisleithanien eine jeltfjame, nervöſe
Aufregung hervorgerufen. Man jah in Ungarn fich Elemente zur Macht drängen,
welche nicht im Rufe ° - ıden, der diefjeitö der Leitha herrjchenden Berfafiungspartei
freundlich gefient zu ‚ın. Dan erlebte es, daß im Gerichtsjaale ein Minifter vor
der Drohung eines jungen gewandten Advocaten verjtummte, man las es gebrudt,
wie diejes jelbe Mitglied des Gabinettes Aueräperg jeine Ehre in den „Eingejandts”
der Zeitungen zu vertheidigen hatte. — Alles das machte die Gemüther vebelliich.
Das Gabinet Hatte fich überdies in eine mehr und mehr conjervative Haltung hin—
einbrängen lafjen, während der Reichsrath, fich bewußt, daß er feine zweite Garnitur
regierungsfähiger Männer in den Reihen der Verfafjungspartei befite, feinem Aerger
über die eigene Ohnmacht in einer Reihe von „Nabdelftichen“ Luft machte, welche er
dem Minijterium applicirte.
Und in die Tohuvabohu von Wünjchen, Beichwerden, Kabalen, halben Aus—
jöhnungen und ganzen Verhetzungen jchlug die Brojchüre des jugendlichen
Erzherzogs Johann Salvator von Toscana, die für eine ganze Reihe
altöfterreichiich-patriotifcher Gemüther geradezu befreiend wirkte. Die antideutjche
Gefinnung, welche die interefiante Flugſchrift neben allerlei fachmänniſch jehr belebten
artilleriftiichen Aperçu's entwidelte, war nicht nur manchent hochgeitellten Dtanne
„aus der Seele geſprochen.“ Die Maffe des Volkes freilich will eben jo wenig von
den Plusfolgerungen des Erzherzogs etwas willen, als die gegenwärtig regierenden
Regionen; aber dazwiichen liegen große und einflußreiche Schichten, welche noch
heut von der deutjchen Miſſion Defterreichd träumen oder doch zum mindejten anti-
preußifchen Tendenzen ganz rüdhaltlos Huldigen. Bon ihnen droht einzig und allein
unter Umjtänden dem guten Verhältniß Gefahr, welches Graf Andraſſy und Fürft
Bismard herzujtellen gewußt, und ihr offenes und heimliches Wirken, dem der Erz—
herzog Sprache geliehen, will weder hüben noch drüben unterjchäßt fein.
Den intimen Beziehungen der drei nordiichen Mächte gegenüber hatte in jüng-
jter Zeit eine fühlbare Entfremdung diefer Cabinette zur engliſchen Politik
nahezu ergänzend gegenübergejtanden. England fühlte fich jchon verlegt durch das
sans gene, mit welchem DOejterreich die befannte rumänische Handelsconventions-Auge—
legenheit, jelbit gegen den Einſpruch der Türkei, verfolgte Die Möglichkeit einer
maritimen Intervention Deutjchlandg in Spanien hatte in London gegen die Berliner
Regierung verjtimmend gewirkt. Die Fortſchritte Rußlands in Mittelaften waren ein
fortgejegter Gegenjtand britiicher Beſorgniſſe. Das Vorgehen der drei Mächte endlich
J
Politische Rundſchau. 491
in der Podgorita-Affaire gab den engliichen Staatdmännern erwünjchte Gelegenheit,
ihre Mißbilligung ziemlich nachdrüdlich zu betonen... Und jo war man denn im
Gabinet von St. James erfreut, eine Gelegenheit zu Haben, auch jeinerjeit3 dieſen
Mächten, namentlich; Rußland, Anlaß zum Mißvergnügen zu gewähren. Die ruffi-
iche Einladung zu der nach St. Petersburg einzuberufenden Fortſetzung der interna=
tionalen Kriegärechts:Gonferenz lieferte den gediegenjten Vorwand. Lord Derby be-
nüßte ihn ohne Zögern. Die Thronvede, mit welcher das Parlament eröffnet wurde,
jowie eine Note des foreign office vom 20. Januar 1875, in welcher die ruffische
Einladung mit brusfer Motivirung zurüdgewiejen wurde (fiehe oben), ließ über die
Dispofitionen der britifchen Regierung feinen Zweifel. Der Continent wird fi nun
feine Kiegsnormen auch ohne Englands Betheiligung ſchaffeu müſſen, und die dazu
erforderliche Form dürfte in St. Peteräburg jchließlich doch gefunden werben.
Daß im Uebrigen das Tory-Cabinet mit feiner Ablehnung ganz im Geijte der
Öffentlicden Meinung Großbritaniens gehandelt, joll Hier nicht in Abrede geftellt
» werden. Auch die Whigs würden jchwerlich anderd aufgetreten fein. Wie denn
überhaupt der alte Parteiunterfchied mehr und mehr geſchwunden und die frühere
Spaltung allmählig ihre „raison d’ötre“ verliert. Aehnlichen Erwägungen muß fich
auch Gladjtone Hingegeben haben, als er fich entichloß, in jener fprunghaften Weife,
die ihm eigen, auf die Führerſchaft der Whigs urplößlich zu verzichten. Eine zwin—
gende äußere Nöthigung zu diefem überrajchenden Schritte lag nicht vor, und die
Beftürzung feiner Parteigenofien war feine geringe. Ein eigentlicher, die Partei
geijtig beherrfchender und überragender Whig ift nicht vorhanden, denn Bright paßt
doch nicht ganz in die alte Parteijchablone, und die Wahl Marquis of Hartington
zum parlamentarichen Führer der Oppofition im Unterhau,. bemweiit die große Ver—
legenheit, in welche Gladſtone's „depit“ jeine bisherigen Parteifreunde geflürzt.
Natürlich haben die Torieg alle Veranlaffung zu jubiliren, und Disraëli war wol
berechtigt, eim ſchadenfrohes Bedauern auszuſprechen, als er feinen gejährlichiten
Gegner aus den Kampfreihen fich zurüdziehen jah.
Frankreich gab unterdeflen der Welt ein ſeltſames Schaufpiel der Ein und
Umkehr. Der jo lange vergeblich gejuchte politifche Stein der Weiſen, die Fuſion
der Gentren, wurde gefunden, wenn auch nur für einen Moment. Was feine patrio-
tiiche Erwägung vollzogen, die Furcht vor der überhandnehmenden Propaganda des
Bonapartismus, dem fich alle confervativen Gemüther mehr und mehr anzujchließen be=
gannen, brachte dieſes Wunder zu Stande. Aber in Frankreich darf man weniger ala anders»
wo den Tag vor dem Abend loben. Man nahın ein Verfaffungsgejeg an, welches die
Regierung zunächſt als republifanifch organifirte, welches aber auch das Insleben—
treten dieſer Gonftitution erjt don der vorgängigen Annahme eine® Senatsgeſetzes
abhängig machte. Für die jonjtigen Bedenken jener Orleaniften vom rechten Gentrum,
welche jih nur mit jchwerem Herzen diejes Zugejtändniß an die Nepublif abgerungen,
war durch die reservatio einer Revifionsfähigfeit der neuen Verfaſſung ausdrüdlich
gejorgt, jo daß, wenn etwa einjt nad) Mac Mahon der Herzog von Aumale, al® von
beiden Kammern gewählter Gandidat den Präfidentenftuhl befteigen jollte, alle Hinter—
thüren geöffnet blieben, um mit Hülfe diefer Revifionskflaujel die orleaniftiiche Mo—
narchie wieder einzuichmuggeln. Allein die Freude der Patrioten auf der Linken und
der Intriguanten vom rechten Centrum jollte nur furz fein. Die Eriftenz der
Republit war an das Vorhandenfein eine® Senatögefehes ausdrücklich gebunden.
Als man nun zu deflen Berathung fchritt, glaubten die Republifaner, noch umnebelt
vom Giegesmuth, auf die Bedenken feine Rüdficht nehmen zu dürfen, welche das
rechte Gentrum gegen die Wahl der Senatoren durch das allgemeine Stimmrecht
geltend machte. Denn die Orleans verfahen ſich für ihre Separatpläne des Guten
wenig von einem Senat, deſſen Mitglieder das suffrage universel ernenne. War ihnen
doch dieſer Wahlmodus, der jich ftet3 nur für die ertremen Gegenfäte, faſt niemals
aber für die abgeblaßten Mittelparteien ausfpricht, jederzeit nur in geringem Grade
dienjtwillig geweſen. Hier jegten nun die Bonapartiften, die fich jchon einem Staats-
492 Deutiche Rundſchau.
jtreiche näher geglaubt, al3 man im Allgemeinen annimmt, und die um alle ihre
Hoffnungen betrogenen Legitimijten den Hebel ein. Erſt jtimmten fie mit der Linken
und verhalfen jo jenen Amendements zur Mehrheit, welche fich auch in diefem Falle
für das allgemeine Stimmrecht ausſprachen; dann aber, als es fih um Annahme
oder Verwerfung des Senatögejeges in feiner Gefammtheit handelte, warfen fie fich
auf die Seite des rechten Gentrums, und jo ward die Vorlage überhaupt zurückge—
wiefen. Nun fehlte das Senatögejeß, und mit ihm war das auf fein VBorhandenjein
bafirte republifanifche Verfaſſungsgeſetz mindeſtens wieder in Trage gejtellt. „Tout
est à recommencer!“
Die auswärtigen Beziehungen Frankreichs waren troftreicher, ala dieſe inneren
Vorgänge. Auch die Beziehungen zum deutjchen Reiche gejtalteten fich angenehmer,
wozu die maßvolle Politit des Herzogs Decazed im Orient fowol, namentlich in
Belgrad, ala auch das Entgegentommen beigetragen haben mag, welches man der
neuen ſpaniſchen Regierung bethätigte. Denn jede Unterjtügung,, die es gelang dem
Karliamus abwendig zu machen, enthielt einen jühlbaren Stich für die Jeſuiten und
Abfolutiften im Vatikan.
Sclechterding® war der jugendliche jpanifche König wenig im Stande, die
mancherlei ftrategifchen Hoffnungen zu verwirklichen, die man auf ihn gejeßt. Seinem
Feldzug gegen die Karliften gebot eine Schlappe, welche der jpanifchen Nordarmee
zugefügt wurde, ein jchnelles Halt. Auch ſonſt war Alfons XII. nicht immer wohl»
berathen, und daß er feinen Vertreter am Wiener Hofe mit der Ueberreichung jeiner
Notificationsjchreiben in München und Stuttgart betraute, war ein nicht wegzu—
leugnender ZTactjehler, Tür den man freilich feine Wiener, unter den Auſpicien des
alten Großdeutichen Schmerling vollzogene, Erziehung verantwortlich machen darf.
Garibaldi’3 Anmwejenheit in Rom ift gar bald aller der Schreden entkleidet
worden, mit der vorahnende Gerüchte fie umgaben. Der General giebt fich praftifcher,
als feine radicalen Freunde wünſchen mögen, und feine Ameliorationg-Beftrebungen
der Campagna Romana verdienen die Tebhaftefte Unterftüßung aller italienifchen
Parteien.
In der Türkei fchließlih fand man troß aller Podgorita =» Häfeleien dennoch
Zeit, eine Frage von eminenter Bedeutung für den Orient auf's Tapet zu bringen.
Die Pforte war den Beichlüffen der internationalen Poftconferenz von Bern beige-
treten, und fie nahm nun folgerichtig das Privilegium für fih in Anſpruch, fortan
auf ihrem Gebiet nur ein einziges Poftinftitut, das kaiſerlich türkifche, Tortbeftehen zu
laſſen. Damit hätten alle jene ftaatlichen Separat-Pojtbeförderungen in Wegfall zu
fommen, welche die europäischen Mächte, kraft der alten Gapitulationen, noch heute
im ottomanifchen Reiche unterhalten. Im Principe war dagegen nichts einzuwenden,
aber thatfächlich jah es doch um die Ordnung und Negelmäßigkeit eines türkifchen
Poſtdienſtes jehr jchlimm aus. Es ftehen nun mit dem Divan — und gleichzeitig
auch mit dem Khedive von Egypten, welcher Für fich diefelbe Forderung angemeldet —
Verhandlungen in Ausfiht, und man jcheint geneigt, ohne auf das Vorrecht der
Gapitulationen ganz zu verzichten, die probeweiſe Initallation einer ausſchließlich
türkiſchen Pot, die ihre Zulänglichkeit in mehrjähriger Verjuchzzeit zu bewähren
hätte, dem Sultan zuzugeftehen. Unter diefen Umftänden brauchte fich ein moderner
„beiliger Stephan“ in jenen Gegenden nicht mehr vor Steinigung zu fürchten!
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Geiſterſtunde.
Die Mitternacht ift längſt vorbei,
Zur Neige brennt mein Licht;
Ob aud) e3 Zeit zum Schlafen jei,
Kommt mir der Schlummer nit.
Don Naht und Dede rings umftarrt,
Bin ich allein noch wach,
Doch fühl ich "was wie Gegenwart
Von Geiftern im Gemad).
Die Fenſterſcheiben peitieht der Sturm
Und heult durch Haus und Flur,
Es jchrillt und knarrt die Fahn' am Thurm,
Eintönig pickt die Uhr.
Was im Verborg'nen webt und Ichafft,
Wagt jih an's Licht hervor,
Die Diele kracht, geipenfterhaft
Schwankt der Gardine Flor.
Mein eig’ner Schatten an der Wand
Treibt, ſcheint's, mit mir fein Spiel,
Vergebens zwingt die ftarre Hand
Zum Dienft den flücht'gen Kiel.
Zu laut der Geifter Ruf eriholl,
In's Leere ſchweift mein Blick,
Und in den Stuhl gedankenvoll
Sintt mir da3 Haupt zurüd.
Das ift die Zeit, wo fi) der Bruft
Geheimftes Dir enthüllt,
Mo Did des Tages Schmerz und Luft
Noch einmal ganz erfüllt;
Wo Du Dein felber inne toirft,
Den Lug vom Herzen ftreifit,
Und wie Du wandelft, wie Du irrſt,
Dich prüfend, erſt begreifit.
Dtto Braun.
Deutiche Rundſchau. I, 6. 33
Berlag von Gebrüder Paetel in Berlin. Drud der Pierer'ſchen Hofbuchbruderei in Altenburg.
Für die Rebaction verantwortlih: Elwin Paetel in Berlin.
Unberechtigter Nachdruck aus dem Inhalt biefer Zeitfchrift unterfagt. Ueberſetzungsrecht vorbehalten.
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