DER ZWECK:
SEINE
BEDEUTUNG
FÜR NATUR
UND GEIST
Rudolf Eisler
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DER ZWECK
SEINE BEDEUTUNG FÜR NATUR
UND GEIST
VON
RUDOLF EISLER
M
BERLIN 1914
VERLEGT BEI ERNST SIEGFRIED MITTLER UND SOHN
KÖNIGLICHE HOFBUCHHANDLUNG, KOCHSTRASSE 68-7i
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Alle Rechte aas dem Gesetze vom 19. Juni 1901
sowie dtt Obenetznngsrecht tind vorbehalten
Copyright 1914 by £. & MitÜer Sohn, Berlin.
Vorwort.
Die vorliegfende Arbeit geht darauf aiU| die Bedeutong
des ZwetkhegnBi sowohl für das wissenschaftliche Erkennen
als anch ffir die Welt- und Lebensanschaaung' damüegen.
MeUiodologisches, Ezkenntniskiitisches und Metaphysisches
finden sich in diesen Untersnchungfen vereinig Es handelt
sich nicht um eine Aufzeigung* der Beziehung aller mdglidien
Disziplinen zum Zwedcbegrif^ sondern um die Beleuchtung
der Rolle, welche die Idee des Zwecks in einer Reihe von
Grundwissenschaften stielt, sowie um die Leistung dieser Idee
bei der Deutung des allgemeinen Seins und Werdens. Einzel*
heiten werden hier nur so weit betrachtet, als sie dazu dienen
können, die prinzipielle Bedeutung teleologischer Erklärung
und Beurt«iung ffir die betrefEenden Gebiete zu zeigen. Auf
die Unterscheidung des explikativen und normativen
Zweckbegriffii, der bloßen Deutung und der kritischen Wertung
nach Zwecken, wird Gewicht gelegt.
Die Teleologii^ dwen Grundzflge hier entworfen werden,
hat einen mon istisch- voluntaristischen Charakter. Sie
anerkennt und betont die Geschlossenheit des Kausal»
Zusammenhangs überhaupt und der Naturkausalität, die
Eindeutigkeit des Geschehens wird festgehalten. Die Ziel-
strebigkeit in der Natur wird metaphysisch als Äußenmg oder
Erschdnung eines „Willens** aufgefaßt, der aber nie als
„Ursache" physischer Phänomene, stets nur als ,Jnnmsein'*
solcher gelten darf, und der im Anorganischen nicht mehr
bedeuten kann als ein dumpfes, elementares Streben ohne
Bewußtsein der Erfolge dieses Strebens, wie sie sich objektiv
darstellen. Das Prinzip der „Heterogonie der Zwecke** ( Wunde^,
der ZweckentwlckluDg ist überall von der größten Bedeutung.
Die tatsächlich in der Welt bestehenden Zweckmäßigfkeiten
sind das Ergebnis des Zusammenwirkens äußerer und innerer
Faktoren, also nicht schon ursprüng-lich vorgewußt und vor-
gewollt. Kausalität und Zweck, Mechanismus und Xeleoiogie
bilden keine unüberwindlichen Gegensätze, sondern das an sich
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Vorwort.
einheitliche Geschehen ist je nach seiner Aoftassnng kausal
und zielbedingt zugleich. Die durch unser Denken kausal
verknüpften Vorg-änge bringen einen Zusammenhang von
Strebungen zum Ausdruck, denen „primäre", unmittelbarste»
innere Ziele immanent sind. Es gibt keine besonderen „Zweck-
Ursachen", sondern alle Ursachen sind der Ausdruck ziel-
strebiger Faktoren. Der Zweck selbst ist keine Ursache, sondern
gibt den Ursachen eine Richtung, wobei aber die Abhäng^ig-
keit der Ursachen des Geschehens voneinander zu beachten
ist — Bei der normativ-teleologischen Beurteilung von Taten
und Zustanden handelt es sich um die Entscheidung über
Zweck- und Normgemäßheit, die zwar mit einer kausalen
Erklärung direkt nichts zu tun hat, aber eine solche keines-
wegs ausschließt.
Der Verfasser steht auf dem Boden des Kritizismus,
den er voluntaristisch, aber nicht psychologistisch ausbaut,
indem er scharf zwischen subjektiver Willenstatigkeit und ob-
jektiver Geltung von Willensinhalten (Gewolltem) unterscheidet.
Aus den Ausführungen im Texte wird man ersehen, auf
welche Weise es möglich ist, Voluntarismus und Logis-
mus zu vereinigen, und wie innerhalb des Transzendentalis-
mus, bei strenjTfster Betonung- der apriorischen Voraussetzungen
der Erkenntnis, Platz für eine kritische Metaphysik verbleibt.
Da das Buch auch einem weiteren Leserkreis zu-
gänglich sein soll, so wurden ermüdende Polemiken mit ein-
zelnen Autoren mög-lichst vermieden, ohne dal5 es an kritischen
Auseinandersetzungen und weitreichender Berücksichtigung
anderer Standpunkte und Theorien fehlt. Die historischen
Nachweise dienen nur zur Orientierung- über die typischen
Formen der Teleologie; im übrigen nmß auf die in Aussicht
gestellte Geschichte des Zweckbegriffs von Baumker verwiesen
werden.
Ein reichhaltiges Literaturver7eichnis soll den Leser
mit Schriften bekannt machen, in denen er Material für weitere
Forschungen auf dem Gebiete der Teleologie finden kann.
Wien, Februar 1914*
Der Verfasser.
^ i^uo Ly Google
Inhaltsverzeichnis.
I. Allgemeiner Teil.
Erstes Kapitel: Wesen ond Arten der Teleologie i
Zweites Kapitel: Teleologische Begriffsbestimmungen .... 30
Drittes Kapitel: Kausalität tmd Finalitat 38
Viertes Kapitel: Zielstrebigkeit und Zweckmäßigkeit 55
Fünftes Kapitel: Explikativer und normativer Zweckbegriff ♦ . 65
II. Spezieller Teil.
Sechstes Kapitel: Mechanismus, Psychismus, Finalismus ... 81
Siebentes Kapitel: Der Zweck in der Biologie 101
Achtes Kapitel: Der Zweck in der Psychologie 129
Neuntes Kapitel: Der Zweck in den Geistes- und Kulturwissen -
schaften ; 152
Zehntes Kapitel: Der Zweck in den Sozialwissenschaften . . . 165
Elftes Kapitel: Der Zweck in der Geschichte 19a
Zwölftes Kapitel: Der Zweck in der Ethik 204
Dreizehntes Kapitel: Der Zweck in der Ästhetik 220
Vierzehntes Kapitel: Der Zweck in der Logik und Erkenntnis -
theorie 22Q
Fünfzehntes Kapitel: Der Zweck in der Metaphysik 252.
TJteratnrv«»r7eirhnis . . , , . . . . . . . . . . . . 268
Namenverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . 282
Eitler, Der Zweck.
b
L Allgemeiner Teil
Erstes Kapitel.
Wesen und Arten der Teleologie.
MTeleologie" bedeutet wörtlich Zweckmafiiglceitslehre
(tikews, vollendet), kann aber auch im weiteren Sinne als Lehre
vom Zweck (tiXog) und von dem, was damit ztuanmienliangt, de-
finiert werden.*) Im engsten Wortsinne versteht man unter
einem „Teleologen" einen Anhänger der Lehre, daß die in der
Welt vorhandene Zweckmäßigkeit auf das Wirken von ziel-
strebigen und zwecksetzenden Faktoren zurückzuführen sei»
da0 Zwecke direkt oder indirekt das Geschehen bestimmen und
daher zu dessen Begreiflichkeit dienen. Die so bestimmte Teleo-
logie steht im Gegensätze zur antiteleologischen, rein „kausa-
listischen" oder „mechanistischen" Weltanschauung, nach wel-
cher es keinerlei „Finalitat", keine „Zielstrebigkeit", nur ein
notwendiges Hervorgehen von Wirkungen aus bewirkenden
Ursachen gibt.
Daß in der Welt Zweckmäßigkeitstatsachen bestehen, j^eben
alle, Anhänger wie Gegner der Teleologie im engeren Sinne
zu, mögen sie auch betreffs des Umfanges und Grades derselben
oft bedeutend voneinander abweichen. Aber die Erklärung der
Bedeutung und des Zustandekommens der Zweckmäßigkeit fällt
sehr verschieden aus, je nachdem man eben Teleologc ist oder
nicht. Im ersten Falle behauptet man, Zweckmäßigkeit sei schUeß-
lich nur begreiflich, wenn sie direkt oder indirekt vorgesehen,
beabsichtigt, erstrebt, gewollt ist, wemi es zum mindesten in der
*) Zuweilen bezeichnet man mit „Teleologie" die Zweckmäßigkeit
sdbst
KiiUc, Dw Zwtdt. 1
Weh eine — wenn auch noch so vage — Zielstrebigkeit gibt,
oder wenn das Zukünftige irgendwie die Gegenwart beeinüufit.
Der Zweck ist es, der die Ursachen des Geschehens so be-
einflußt, daß sie bestimmte Wirkungen, welche herauskommen
sollen, im Gefolge haben müssen. Wohl wird, meint man oft,
alles Werden von Gesetzen beherrscht, wohl ist der Kausalnexus
allgemeingültiger Art. Aber alle Notwendigkeit des Geschehens
ist schließlich doch nur eine bedingte, und die Kausalität und
Gesetzlichkeit selbst ist abhängig von Zwecken irgendwelcher
Art, sie dient nur zu deren Erreichung oder Verwirklichung. Die
Ordnung und zweckvolle Gestaltung der Dinge kann hiernach
nicht das Produkt des bloßen ,, Zufalls" sein, auch kann sie
nicht bloß „blinden" Kräften entspring-en ; es ist gegen alle
Wahrscheinlichkeit, daß durch diese allein die zweckvollen Kom-
binationen in der Welt entstehen oder die Oberhand gewinnen
können.
Hingegen bestreitet die Antiteleologie die Notwen-
digkeit und Möglichkeit der Annahme von Zweckursachen oder
Zielstrebigkeiten. Alles, was geschieht, erfolgt naturgesetzlich
als Wirkung von Ursachen, die wieder Wirkungen anderer Ur-
sachen sind, wobei alles Geschehen eindeutig durch die Ver-
gangenheit, durch zeitlich vorangehende Ursachen und Kräfte
bestimmt ist. Der Zweck kann, als etwas, was noch nicht
existiert, sondern erst durch Kräfte ins Dasein gesetzt werden
soll, nichts beeinflussen, gestalten ; er vermag nicht real zu wirken.
Die Zweckmäßigkeit der Dinge, soweit sie ersichtlich wird, ist
nicht das Werk von „Zweckursachen", sondern nur das Produkt
des Zusammenwirkens äußerer und innerer Faktoren, die
keineswegs auf die Erreichung eines Zieles, eines irgendwie anti-
zipierten Erfolges eingestellt sind. Der Kausalzusammenhang
in der Natur ist ein geschlossener, nirgends bleibt i'latz für das
Eingreifen übernatürlicher Agentien. Ja, so wird oft erklärt, auch
das Psychische wirkt nicht auf das Naturgeschehen ein, sondern
geht diesem nur parallel, als das „Innensein" oder als eine Er-
scheinimg oder als eine P>ctrachtungsweise desselben Geschehens,
das von einem anderen Gesichtspunkte sich als physisch, materiell
(bzw. energetisch) darstellt. Als Faktoren der organischen Zweck-
Ent« Kapitd. Wcs» «ad Arten der Tdcelogie.
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mafiigikoten bezeichnet man teils den „Zufall", das gluckliclie
Zusammentreffen gunstiger Bedingungen, teUa die direkte Wir-
kung der Umwelt, teils die Selektion, die natfirUdie Auslese im
Daseinskampfe, teils die aktive Anpassung durch funktiondle
Übung u. dgl. Die Zweckmäßigkeit der Lebewesen und ihrer
Organe ist nicht von vornherein gewollt oder gegeben, sondern
das Resultat einer Entwicklung, das Produkt einer allmählichen
Anpassung an die natürlichen Lebensbedingungen ; sie ist etwas
Gewordenes, ist rein kausal oder mechanisch zu erklären.*)
In schärfstem Gegensatze steht nun dazu diejenige Form
der Tcleologie, welche man als „Nützlichkeitsteleologie"
bezeichnet. Anstatt die Dinge durch Rückgang auf bewirkende
Ursachen und determinierende Naturgesetze zu erklaren, glaubte
ue meist genug getan zu haben, wenn sie angab, wozu die be-
treffenden Dinge da sind oder dienen, wozu sie „bestimmt" sind.
Diese Art der Teleologie hat in der Regel einen anthropozentrischen
Charakter, sie bezieht alles auf den Nutzen des Menschen, um den
sich alles in der Welt dreht {Sokrates, Stoiker u. a.); sie erklart
z.B., wo sie in grober Form auftritt, das Dasein der Sterne daraus,
daß sie dem Menschen bei Nacht leuchten sollen (Chr. WUff), Eine
solche Teleologie wird begreiflicherweise nur zu leicht zu einem
asylum ignorantiae ; sie verdient daher denBeinamen der „faulen"
Teleologie, sofern sie die Kausalerklärung, das Forschen nach
<^ Gegner derTdeoIogie smdJDtemolbrtf, J^pflhir, £«erw, Bowo«, SoMe»,
D&cartea (f Qr die Phjsik im weiteren Sinne), Spinoza (der aber ein uni-
versales Erhaltungsstreben lehrt), Holbach, Ooethe u. a., L. Büchner, Spencer,
Hacckel, Darwin, CameriyStrauß, die mechanistischen Biologen u.a. Typisch
fOr den extremen Antiteleologismus ist die Auffassung A'ietzscAM: „Der Zu-
fall kann die sdKknste llModie erfinden". „In der unendlichen Ffllle von
wirklidken Fallen mftssen anch die gfinsdgen oder zweefanftfligen sein**.
„Jene eisernen Hände der Notwendigkeit, welche den WQrfelbecber
des Zufalls schüttein, spielen ihr Spiel unendliche Zeit, da müssen
Würfe vorkommen, die der Zweckmäßigkeit und Vernünftigkeit jedes
Grades vollkommen Ähnlich sehen" (Werke IV, XII, XV; E. Fönter^
JHefeidk«, Das Leben Mietisehcs, 1895, I, 354 ff.). Aber NUtMtAeM „Wille
anr Macht**, der aUem Geschehen zugrunde liegt, ist doch seibat ein
tdeologisch wirksames Prinzip (vgl. SUttTt Nietzsches ErkcnnUiislehre
und Meuiphysik, 1909).
1*
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I. AUfOddacr TdL
dem "Wie und Wodurch des Geschehens umgeht. Ganz abge-
sehen davon, dafi es in vielen Fällen gar nicht möglich ist, mit
Bestimmtheit zu erkennen, welchen äufieren Zwecken die Dinge
im einzelnen dienen, wozu sie eigentlich da sind.
Die Nützlichkeitsteleologie gehört zur Gattung der „trans-
zendenten" Teleologic. Diese führt die Zweckmäßigkeit der
Dinge auf eine zwecksetzende, intelligente Macht außerhalb der
Dinge zurück. Diese Macht hat etwa die Bestandteile der Welt
einander so angepaßt, daß sie zur Erfüllung des Weltzweckes
zusammenwirken müssen, Gott hat in seinem Geiste die Ur-
bilder (Ideen) aller Dinge, und er hat die Welt nach diesen
Musterbildern oder idealen Typen geschaffen. Die Ordnimg und
Gesetzmäßigkeit des Geschehens in der Welt ist durchaus be-
dingt durch die von Gott gewollten Zwecke. Es besteht femer
eine „Zielstrebigkeit" {K. E. v, Baer) als eine Richtung der Dinge
auf bestimmte Ziele, auf die sie angelegt sind.
Die oberste zwecksetzende Ursache (der „erste Beweger")
hat die „bewirkenden" Ursachen so „disponiert", daß sie so-
wohl auf einander als auf die Vollkommenheit des Weltganzen
hin geordnet erscheinen ; es sind Kräfte und Anlagen (Disposi-
tionen) in ihnen vorhanden, welche sich zielstrebig in bestimm-
ter Richtung- auswirken. Die Weltordnung ist eine vernünftige,
das Weltgeschehen ein planmäßiges, einen , .Weltplan" verwirk-
lichendes. In den erkennenden Wesen erst kommt es zu einem
zweckbewußten Handeln. Hier besteht nicht bloß ein Gerichtet-
sein" der Dinge, Naturkräfte und Bewegungen auf bestimmte,
von Gott beabsichtigte Effekte, sondern auch ein bewußtes Be-
gehren des „Guten", der einem We.sen entsprechenden Vollendung
oder Vollkommenheit, die den „immanenten" Zweck des Wesens
bildet. Der Zweck wird hier in der Vorstellung, durch den In-
tellekt erfaßt, er wird als etwas Wertvolles erkannt, und diese
Einsicht wirkt wieder auf das Begehrungsvermögen, von dem
dann die rein kausale Verwirklichung des erstrebten Zweckes aus-
geht. Von immanenten, inneren, in den Wesen selbst verblei-
benden Zwecken kann aber auch schon bei den nicht erkennenden,
eines Zw^cckbewußtseins nicht fähigen Dingen die Rede sein.
Als teleologische Formel gilt hier allgemein der Satz: Das
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Entes Kapitel. Wesen und Arten der Teleologie.
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Ganze geht ideell den Teilen voran, mag es auch real und der
Zeit nach das Spatere, das Letzte sein. Dieses Ganze ist bei
den Organismen die ihnen dgentfindiche MForm", ihr individnell
besonderter „Typus". Was in den Organismen geschieht, ist
eine Entfaltung von Potenzen, die auf eine Betätigung im Sinne
des Ganzen gerichtet sind. Das ideell vor der Funktion be-
stehende „Wesen" des Dinges, die „Vollkommenheit*' desselben,
realisiert und entfaltet sich selbst durdi den Übergang aus der
Potenz in die Aktualität. Der Zweck, die organische „Idee",
formt den Stoff von innen her, gibt ihm seine Gestalt und ist der
tiefste Grund, aus dem die Bewegung oder Veränderung dies
Dinges erfolgt. Das einzelne Organ ist um einer bestimmten,
der Natur des Wesens angemessenen Tätigkeit willen da, die
wiederum im Dienste des Ganzen steht. Alles ist zielstrebig,
und die Zweckmäßigkeit der Dinge wird nur durch die Endlich-
keit derselben, durch die Widerstände der Materie beschränkt,
oder äußere Umstände sind es, wodurch Unzweckmäfiigkciten
in die Welt kommen.
Im folgenden seien nun einige typische Richtungen
der transzendenten und immanenten Teleologie zur Darstellimg
gebracht. Aristoteles rechnet den Zweck oder das Ziel (r^Aog, av
&»£xcr) zu dien „Prinzipien" oder „Ursachen" {oQxai, altiai, Meta-
physik V, 2). „Anderes ist Ursache der Dinge als Ziel und
als Gutes ; denn das, wofür etwas geschieht, will das Beste und
das Ziel des anderen sein, wobei es gleichgültig ist, ob es das
wirkliche Gute oder nur das erscheinende Gute ist." Alles
Werden erfolgt eines Zieles wegen, und dieses geht logisch dem
Vermögen, es zu erreichen, zu verwirklichen, voran (IX, 8). Die
Wirklichkeit strebt nach der Vollendung des Zieles. Die „Form"
des Dinges ist zugleich dessen immanentes Ziel, dem es als
seinem V'ollendiingszustand zustrebt. Nichts in der Natur ge-
schieht ziellos (jitdrr^v), wenn auch infolge der Hemmungen
seitens des Stoffes nicht alles zweckmäßig ist. Oberstes Ziel
aller Bewcg^nig und Veränderung, aller Verwirklichung von Po-
tenzen, ist die Gottheit, der „unbewegfte Beweger", der durch
Liebe alles bewegt {yuvel wg (Qioufvov) indem alles ihm zustrebt
(XII, 7; De coelo I, 2, 4; De anima III, 12; Physik Ifl.). Die
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I. AUfemdner TdL
Natur ist eine Stufenfolge von Zweckverwirklichungen brw.
von „Entelechien", deren niedere den höheren untergeordnet
sind. Die Seele ist die „erste Entelechie" des Organismus, die
zielstrebige ,J'V)rni"' desselben.
Auf die Fra^e nach dem Ziele der Weltentwicklung verweist
die Scholastik auf das Verhältnis zwischen Welt und Gott.
„Das Geschöpf kann kein anderes Ziel haben als den Ruhm des
Schöpfers. Dieser Ruhm bekundet sich zunächst in der Be-
trachtung des Weltschauspiels durch den unendlichen Geist,
ferner in der Erkenntnis desselben durch andere Geister aus
der Betrachtung der wunderbaren Weltordnung" (M. De Wu
Geschichte der mittelalterUchen Philosophie, 191 3, S. 246).
Nach TJiomas von Aquino z. B. ist der Zweck die „Ursache
der Ursachen". Alles Tätige strebt in seinem Wirken nach
einem Ziele, ist auf einen bestimmten Effekt gerichtet, ist um
eines Guten willen tätig („omne agens agit propter bonum").
Die causa finalis", der ein Agens zur Tätigkeit bestimmende
Zweck, ist die erste unter allen Ursachen. Das Endziel aller
Dinge ist Gott („finis reruni omnium"). Von ihm geht schließ-
lich alles Streben der Dinge („appetere") nach dem ihnen ge-
mäßen Guten oder Vollendungszustande aus (Contra gentiles
III, 2 f f. ; Summa theolog. I — II; vgl. Steinbüchel, Der Zweck-
gedanke in der Philosophie des Thomas von Aquino, 191 2). — •
Nach Stöckl-WohhmUh {Lehrbuch der Philosophie II, 8. Aufl.,
1912, S. 414 ff.) ist Zweck, Ziel oder Finalursache „jene Realität,
welche durch die Tätigkeit der Wirkursachen ins Dasein gescizt
wird und infolgedessen als Effekt oder Terminus bezeichnet
wird . . solange sie nur als Vorstellung gegeben ist und in diesem
idealen Zustande auf die Wirkursache Einfluß übt". Der Zweck
wirkt auf die causa efficiens und versetzt sie in den Akt des
Wirkens, indem er veranlaßt, daß sie ihm selbst das reale Da-
sein verleiht. Der Zweck hat keine „physische Existent', er
ist „intentio, idea", Idee. Er reizt die Wirkursache «1 seiner
Verwirklichung an („allicit"). als yorgestdltes und! begehrtes
Gut, durch Einfluß auf den Intellekt und Willen („appeti"), durch
Erregung von „Liebe".
Nach Leümiz (vgl. Hauptsdiriften tat Grundlegung der
Bnlet Kapild. Wew« rad Ailn der Tdeologie,
7
Philosophie, 2. Aufl. 1904/06) erfolgt alles Geschehen in der Welt
in strenger Gesetzmäßigkeit. Die Natur ist ein gewaltiger Me-
chanismus (als Erscheinung eines Systems immaterieller „Mo-
naden"), eine lückenlose Kette kausal verknüpfter Vorgänge.
Aber die Gesetze des Geschehens selbst sind durch die göttliche
Wahl der bestmöglichen Welt bestimmt, und der Mechanismus
dient der Verwirklichung des Guten. Die Quelle der Mechanik
liegt in der Metaphysik. Leibniz betrachtet das physische Ge-
schehen so, als ob es ein gewisses Ziel verwirklichen sollte, und
betont die methodische Fruchtbarkeit dieser Auffassunj:^, nur daß
er damit auch den Glauben an die reale Bestimmtheit des Ge-
schehens durch den Weltplan verbindet. Alles ist in den Dingen
ein für allemal mit so viel Ordnunc^ und Angemessenheit geregelt,
als nur möglich. ,,Man könnte die Schönheit des Universums aus
jeder Monade erkennen, wenn man alle ihre Falten aufzudecken
vermöchte." Vermöge der „prästabiUerten Harmonie" ist alles
einander angepaßt und führt alles zum Besten, und zwar auf rein
natürHchem, gesetzlichem Wege. In den Monaden, den imma-
teriellen, einfachen Substanzen selbst besteht eine immanente
Zielstrebigkeit, die Tendenz, von einem Zustand zum anderen
stetig überzugehen und sich so innerlich zu entfalten, zu voll-
enden; die Monaden heißen, als ihr Ziel in sich tragend»
„Entelechien".
Nach Chr. Wolff verwirklicht Gott nicht alles, was sein Ver-
stand hervorbringt, sondern nur dasjenige, „was er vorher be-
dacht hat, daß es kommen soll". Gott handelt als vernünftiges
Wesen nach Absichten, die er durch das Wesen der Dinge zu
reaUsieren trachtet. So ist z. B. „die Abmalung der Körper
durch das Auge die Absicht, welche Gott mit dem Auge ge-
habt". In der Welt ist das Vorhergehende ein Mittel zum Folgen-
den, die Welt ist Gottes Mittel, der Mechanismus dient den
göttlichen Absichten. Das Endziel von allem ist aber, daß ,,die
Welt Gottes Vollkommenheiten als in einem Spiegel vorstellet",
denn Gott hat die Welt gemacht, um seine HerrUchkeit zu offen-
baren. (Vernünftige Gedanken von Gott, der Welt und der
Seele des Menschen, auch allen Dingen überhaupt, 7. Aufl., 1738,
Bd. I, S. 1026 ff.)
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T Allgemeiner Teil.
Als eine („ideale") Kategorie des Denkens bestimmt den
Zweckbegriff Trendelenburg. Das Ganze geht den Teilen logisch
voraus, als Idee, Gedanke, Ziel. Die Kräfte stehen im Dienste des
sie durchdringenden Zweckes. In den Organismen treibt der Zweck,
die Idee, der Typus von innen zur Funktion und Entwicklung,
indem er den Widerstand des Stoffes überwindet. Ebenso wirkt
der Zweck im Psychischen; die Seele ist der innere Zweck (die
„Entelechie") des Organismus, der sich in ihm selbst verwirk-
licht. In der Natur ist alle Bewegung und deren Gesetzlichkeit
schon durch den Zweck beding^ ; er gibt den Ursachen die
Richtung und ist das Prinzip der Ordnung, die „inwohnende,
gestaltende Seele der Dinge". An sich ist er durch das schöpfe-
rische, zeitlose Denken Gottes gesetzt, dessen Inhalt sich in der
Welt verwirklicht (Logische Untersuchungen, 3. Aufl. 1870).
Eine objektive Kategorie, welche die „ideale und reale Seite
der Welt zu «dner Einheit" vereinigt, ist der Zweck auch nach
A, Dontr. Der Zweck setzt die Kausalität in Bewegung, ist als
Zweckursache wirksam, realiaert sich beständig mittels der wir-
kenden Ursachen. So ist die Zweckklee im gesamten Orgaids-
mus allgegenwärtig, sie „bestimmt die Eigentümlichkeit der
chemischen Prozesse, dSe Bildung der Gestalt, die ^mtfichen
Funktionen". Es giht objektive, von unserer Wertung unab-
hängige Zwecke (Erkenntnis, Sittlichkeit u. a.). Die einheit-
liche Idee geht dem, was sie bestimmt, nicht zeitlich, aber begriff-
lich voran, und modifiziert diu Geschehen an den Organismen.
Die Kausalverknüpfung selbst findet in der teleologischen Ver-
kettung ihre letzte Begründung. Die Welt ist bestimmt durch
die Zweckidee, die realisiert werden soll, die causa effidens ist
das ausführende Organ dieser Idee. Im Geistesleben wird die
Teleologie bewußt, hier entsteht ein zielbewußtes Handeln und
hier sind Ideale, d. h. oberste Zwecknormen, gültig; sie verlangen
nach ihrer ReaBsterung dttrch die Tat vernünftiger Wesen im
Prozeß der Geschichte (Enzyklopädie der Philosophie, 1910,
S. 238 ff.).
Lott» hingegen betont: „Aber kein Muster, kein Plan, den
wir vielleicht als den Zweck eines Naturprozesses fassen, verwirk-
licht sich von selbst; nur dann wird er sich voUaehen, wenn die
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Entei K«pitd. W<
«nd Altes der Tdeol<^e.
9
Stoffe, in deren Gestaltung- er erscheinen soll, durch eine ur-
sprüngliche Anordnung' ihrer Verhältnisse von selbst genötigt
sind, durch ihre Krälte nach den allgemeinen Gesetzen des Natur-
laufes das hervorzubring-en, was er gebietet. So übt er stets nur
eine scheinbare Macht aus, und so wenig wir die Idee der Un-
ordnung als ein tätiges und treibendes Prinzip in einer regel-
losen Reihe von Veränderungen ansehen, so wenig dürfen wir
die Idee irgendeiner Ordnung als die bewirkende und erhaltende
Ursache eines regelmäßigen Kreises von Ereignissen betrachten.
In beiden Fällen geschieht, w-as nach der einmal gegebenen I->age
der Sachen geschehen mußte, und der Vorzug des letzteren be-
steht nicht in einer stetig handelnden Zwecktätigkeit, sondern
in einer beständig nachwirkenden Zweckmäßigkeit der ersten
Anordnung." „Wohl mögen die Ideen am Anfang der Welt die
bestimmenden Gründe für die ersten Verknüpfungen der Dinge
gewesen sein; in ihrer Erhaltung dagegen sind es die Wirksam-
keiten der Teile, die den Inhalt der Ideen realisieren" (Mikro-
kosmus I, 1869, S. 73 f.; 5. Aufl., 1896 f.). Der gesamte Kausal-
zusammenhang und Mechanismus steht nach Lotze im Dienste
des Weltzweckes, verwirklicht diesen in streng gesetzlicher
Weise.
Nach E. von Hartmann ist der Zweck eine Ivategorie. Er
ist das „ideelle primum movens" und bestimmt das Gesetz, nach
welchem die Kausalität selbst wirkt, die Richtung derselben.
Kausalität und Finalität sind nur ,, verschiedene Aspekte einer
und derselben Sache"; je nachdem man die Glieder der durch
ein Ziel bestimmten Reihe betrachtet, sind sie Ursachen oder
Mittel. In dem gegebenen Weltinhalt ist der Zweck schon mit-
gesetzt, denn das „Logische", die „Idee" bestimmt das „Was"
des Inhalts des „Alogischen", des die Existenz der Welt setzenden
Willens des „Unbewußten". Überall ist eine unbewußte Zweck-
mäßigkeit im Spiele, die zu objektiv zweckmäßigen Ergebmssen
führt (z. B. durch den Instinkt) und in den höheren Wesen be-
wußt wird. Der (rein negativ zu bestimmende) Weltzweck ist
die „logische Venirteilung des Antilogischen", die Rückkehr des
WiUens ans der Aktualität in die Ruhe und Einheit des Ab-
soluten, das. dadurch erlost mrd (Philosophie des Unbewußten,
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I. AIlfeaMiaer T«l.
II. Aufl., 1904; Kategorienlehre 1896; System der Philo-
sophie 1907 f.).
Nach Frariz Erhardt, (Mechanismus und Teleologie, 1896)
gibt es nur bewirkende Ursachen, causae efficientes. Von diesen
aber ist ein Teil teleologisch, der andere nicht. Der
Zweck selbst ist keine „causa" im streng^cn Wortsinn. Ursache
ist eben nur ein bereits Vorliandencs, nie ein Zukünftiges. Nicht
der Zweck wirkt, sondern die aut ihn gerichtete Kraft oder die
Anstrebung des Zweckes. Schon in der anorganischen Natur
sind Kräfte vorhanden, welche auf die Erreichung eines be-
stimmten Zieles hinarbeiten (Kristall). In den Organismen sind
spezifisch organische Kräfte wirksam, die an die organische
Materie gebunden sind und in einer Attraktion und Repulsion
sich geltend machen, in der besonderen Art dieser aber ihre Ziel-
strebigkeit erweisen. Bei der Bildung des Organismus sind
teleologisch wirkende Kräfte beteiligt, die im btiruchteten Ei
selbst Hegen und in: Verein mit äußeren Bedingungen den
Organismus hervorbringen, indem sie die zum Baue desselben
nötigen Materialien von außen an sich heranziehen und in die
Formen bringen, welche dem zukünftigen Organismus als
Exemplar einer bestimmten Art zukommen müssen. Das organi-
sierende Prinzip stellt sich dar als eine Summe ,, teleologisch
spezifizierter, dem sich bildenden Organismus inhärierender
Kräfte der Anziehung und Abstoßung". Die planvolle Anord-
nung der Teile des Keimes ist das Werk der planmäßig wirken-
den Kräfte im Keime selbst. Als Ursachen von Lebensfunk-
tionen kommen auch psychische Faktoren, Bedürfnisse und
Triebe in Betracht, die ebenfalls teleologisch wirken. Auch die
Entwicklung der Organismen ist teleologiscli bedingt. Während
die Materie wegen der Subjektivität der Anschauungsform des
Raumes nur Erscheinung ist, existieren die Kräfte an sich. Die
Gesetze der Mechanik sind allgemeingültig, aber sie sagen nichts
über die besondere Beschaffenheit d<er bewenden Kräfte aus,
sie abstrahieren von diesen. Eine Wechselwirkung zwischen
Psychischem und Ph3rsischem widerstreitet den Gesetzen der
Mechanik nicht.
Nach J. Laehe&er stellt der Zweckbegriff, als Ergänzung
Ekatet Xa|illd.
Md Arten der Tdeologie.
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der die blo8 äufierlich verbundenen Reihen der Erscheinungen
herstellenden Kategorie der Kausalität, einen inneren Zusammen*
hang der Wirklichkeit her. „Die erste Einhdt der Natur war die
rein äufierliche Einheit einer absoluten Mannigfaltigkeit . . .
Aber der wechselseitige Einklang aller Teile der Natur kann nur
aus der Abhängigkeit eines jeden vom Ganzen herrühren; daher
mufi in der Natur die Idee des Ganzen dem Sein der Teile voran-
gegangen sein und es determiniert haben ; kurz, die Natur muB
dem Gesetz der Zweckursachen unterstehen." Auf den finalen Be-
ziehungen beruht die harmonische und systematische Einheit der
Natur. Etwas ist nicht nur als Folge einer Ursache notwendig,
sondern auch, sofern es zur Verwirklichung- eines noch ideellen
Zieles beiträgt; und dies ist ein neuer Grund, der das Auftreten
einer Erscheinung zwar nicht aus absoluter Notwendigkeit, aber
aus einem Prinzip der Ordnung" und Übereinstimmung bestimmt.
Die teleologische Einheit der Wesen ist das wahre „Noumenon"
oder „An sich" der Dinge. „Die wahren Gründe der Dinge sind
die Zwecke, welche unter den Namen von Formen die Dinge
selbst konstituieren." Jede Erscheinung — welche das kausale
Denken als Bewegung auffassen muß — ist „das Produkt einer
auf ein Ziel gerichteten Spontaneität", also die Entfaltung und
Äußerung einer Kraft ; die Finalität kommt in der Tendenz zur
Bewegung zum Ausdruck. In allem Mechanischen ist die
FinaHtät die „verborgene Triebfeder". Die Organisation ist nur
eine besondere Form der Finalität, ein System einheitlich ge-
richteter Kräfte. Das Leben ist die dynamische Einheit des
Gesamtorganismus", die Seele die dynamische Einheit der Be-
wiißtseinsvorgänge. Die Organismen sind Ideen, die durch
inneres Wirken die Form, in der sie sich manifestieren, selbst
hervorbringen (Die Grundlagen der Induktion, 1908).
Einen „Pantelismus" *) auf der Grundlage eines „kritischen
Personalismus" begründet in origineller Weise L. WUUavi Stern
(Person nndSache I, 1906). Alsdas Wesentlichedesmetaphysischen
„Personbegriffs" (im weitesten Sinne) betrachtet er „die Fähig-
*) Lehre von der realen GQlti^eit des Zweekb^griffs fftr alles
Geschehen.
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12
I. AIlgeiBdiier Tdl.
keit zu zielstrcbig^em Tun und die Selbstwertigkeit". Der „Person"
steht die „Sache" gegenüber, die durch die Bestimmungen: Ag-
greg^at, Quantität, Passivität, Mechanismus, indifferente Existenz
charakterisiert wird, während die „Person" Einheit, Qualität,
Aktivität, Telcologie, Selbstzweck einschließt. Die „Person"
ist „ein solches Existierendes, das. trotz der \^iclhcit der Teile,
eine reale, eigenartige und eigenwertige Einheit l)il(let und als
solche, trotz der Vielheit der Teilfunktionen, eine einheitliche,
zielstrebige Selbsttätigkeit vollbringt". Ihre Tätigkeit ist „ziel-
strebig", d. h. „das von ihr ausgehende Geschehen ist so be-
schaffen, daß es geeignet ist, einen bestimmten Zustand herbei-
zufüiiren, welcher für die Person ein relatives Optimum bedeutet.
Zu den Bedingungen ihrer Tätigkeit gehören nicht nur Ver-
gangenheit und Gegenwart, sondern auch die Zukunft". Die
Person ist ferner eigenwertig, d. h. sie ist um ihrer selbst willen
da, sie hat Selbstzweck, ist unersetzbar (hat „Würde"). „Person"
ist „jedes reale Ganze mit einheitlich zielstrebiger Tätigkeit, mag
dieses nun, in anderer Beziehung betrachtet, nur der Teil einer
anderen Person sein, wie die Zelle, oder mag es, wie etwa das
Volk, selbst andere Personen unter sich befassen. Ja auch eine
,Sache' kann . . ,, obgleich sie nicht , Person' ist, aus Personen
bestehen (z. B. : ein Zellklumpen, ein Verein)". Eine Hierarchie,
eine stufenweise Übereinanderschichtung von Personen ver-
schiedener Rangordnung besteht. Die Welt ist ein sinnvolles
System selbsttätiger und zielstrebiger Wesen und stufenweise
übereinander geordneter W^erte, Die Zielstrebigkeit ist eine
immanente: ,,Die Personen wirken als Ganzes auf ihre Teile
und ftmktionieren hierdurch zielstrebig für sich selbst, sich er-
haltend und entfaltend." Die immanente Kausalität ist zugleich
immanente Teleologie. Der Begriff der „Sache" und des Mecha-
nischen wird aus dem Prinzip der „Person", aus dem Teleo-
logischen abgeleitet („Teleomechanik"). Die Kausalität selbst ist
teleologisch aufzufassen (»«teleologische Kausalität"); es gibt
Wirkungsfaktoren, die in ihrer Beschaffenheit selber durch
das zu erreichende Ziel bestimmt sind. Die Naturgesetze
sind an «di nur eine „tdeomedianische Selbsterlialtungs-
norm".
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Entes K«irftd. WcMa md Arten der Tdeologie.
13
Eine immaiiente Teleologie, wie sie sieb auch oft mit
der tranttendenten ver1>indet, finden wir auch im „Vitalismus"
und „Neovitalismus" vertreten. Im Organischen wiricen auBer
den physikalisch-chemischen Kräften besondere Faktoren» Agen-
den zielstrelnger Art Sie sind spezifische» Lebens-
potenzen (bzw. „Lebenskräfte")» die man annimmt, weil das
Eigenartige des Lebensprozesses aus rein mechanischen Be-
dingungen und Kräften nicht abzuleiten sei. Das I^ben wird,
nach vitalistischer Lehre, von einer besonderen Gesetz-
lichkeit regiert, die in der Welt des Anorganischen noch
nicht herrscht ; es besteht eine »Autonomie" der Lebensprozesse
ifinmh). Für Erscheinungen wie die organischen Regula-
tionen, Restitutionen, aktiven Anpassungen, Regenerationen, die
Vererbung, überhaupt für die Fähigkeit, von den Teilen aus unter
normalen oder anormalen Umständen ein sich gleich bleibendes
Ganzes herzustellen, das immer wieder einem bestimmten Typus
entspricht, gibt es hiernach im Anorganischen keine vollwertige
Analogie. Weder die Entstehung und Entwicklung der Orga-
nismen noch die Zweckmäßigkeit ihrer Funktionen läßt sich ohne
die Annahme von Kräften erklären, welche das zu erreichende
Resultat irgendwie vorausnehmen, auf dasselbe gerichtet sind.
Wohl gelten nach dem „Neovitalismus" auch in den Organis-
men die physikalisch-chemischen Gesetze, und vieles geht da
rein mechanisch-energetisch zu; aber die Kausalität der eigent-
lichen Lebensprozessc selbst ist final, ist eine teleologische Kausa-
lität, vom Zweck Ej^clcitet. Die zweckmäßige Struktur der Lebe-
wesen und ihrer Organe („statische Teleologie") ist schon ein
Produkt der Wirksamkeit der vitalen Faktoren („dynamische
Teleologie"), die bereits im Keime des Organismus walten, in-
dem sie dort das vorhandene Material mit „prospektiver Ten-
denz" (Driesch), dem bestimmten Typus gemäß, ausgestalten.
Im fertigen Organismus lenken die zielstrebigen Agentien, mögen
sie mm Richtkräfte", Dominanten" {Reinke) „Entelechien"
{Driesch) oder sonstwie heißen, die dem Lebewesen zur Ver-
fügtmg stehenden Kräfte und Energien, so daß jeweils die er-
strebten, zweckmäßigen Effekte herauskommen, sofern nicht zu
große Störungen und Hemmungen dies verhindern. Diese
14
I. AllgeaelMr TcO.
, Potenzen sollen nicht selbst energetischer Art sein, d. h. mecha^
nische Arbeit verrichten, sie sollen Ruch nicht die Konstanz der
Energie aufheben, sondern nttr die Richtung derselben beein-
flussen oder den Ubergang potentieller in aktuelle Energie
aufhalten, „suspendieren" (bzw. diese Suspension aufheben;
♦) J. Reinke unterscheidet „Kausalbeziehungen" und „Final-
beziehungcn", welche beide räumlich und zeitlich miteinander verbunden
seki können. Eine Maschine ist nnvorstdlbar ohne Finalbeiiehimg der
TeQe anfefaiaader, nnd ihre Tätigkeit ist nnr von einer kausalen Ein-
wirkung der Teile aufeinander zu erwarten. Die Vorgänge der Zdlen-
bildung erhalten erst ihren vollen Sinn und Inhalt, wenn wir erkennen,
„wozu sie geschehen, auf welches Ziel sie sich richten". Die Final-
beziehung ergibt sich aus der harmonischen Vereinigung eines Kom-
plexes von Kausalbezidinngen, die in jener konveigi^ren. Schon in der
^maschinellen Struktur* nnd dem „maschinellen Betriebe" des Organis-
mus zeigt sich ein enger Zusammenhang zwischen Kausal- imd Final-
beziehungcn. Zwar ist das Kausalprinzip biologisch das erste unter den
Forschungsmaximen, aber die Finalverknüpfungen sind in den Orga-
nismen ^nicht weniger «nchtig und dazu meistens viel deutlicher und
sldierer ericennbar als die kausalen*. Bdde Beadnmgen sind fonktionale
Abhängigkeiten von Phänomenen.
In der Biologie sind „Kausalbetrachtung und Finalbctrachtung zwei
gleichberechtigte Methoden für die Erkenntnis und die Beurteilung der
Pflanzenwelt und der Tierwelt''. Beide Methoden stehen als heuristische
Maximen gidchwertig da. Wenn in den Oiganismen der abhängige
Faktor hrflher da ist als der bedingende, sprechen wir von ^Sdatrebig-
keit". FOr den Begriff der „Zweckmäßigkeit*' ist die »Einheitlichkett
der Leistung eines gegliederten Ganzen wichtig". Der Zweck ist im
Oi^anischen objektiv, real wirksam, wir tragen ihn nicht erst in dieses
hinein. In den Organismen gibt es neben den energetischen auch
ifUlchtenergetlsche Kräfte", „Systemkräfte, Dominanten nnd Seden-
kräfte*. Die „Systemkräfte* hängen ab von der Sttuktur, den „System-
bedlngungen" des Organismus; sie sind „mechanische" Kräfte, aber nicht
energetisch, weil sie kein Arbeitsäquivalent und kein Arbeitspotential
besitzen. Es kommt hier auf die Form der Teile an, und diese ist „eine
Qualitätsbezichung, keine Quantitätsbeziehung, wie die Energie". Die
„Dominanten* shid die „selbstbOdenden Kräfte" des Organismas, also
die Kräfte, die -das organische System hervorgebracht haben, die nicht
vorstellbaren Ursachen der spezifischen Systembedingungen in Tieren
und Pflanzen. Sie leisten keine mechanische Arbeit, sondern beherrschen
nur den im Organismus tätigen Energiestrom als „Richtkr&fte*.
Ekltet K*piteL Weten oad Altes da Tdeologie.
15
In anderer WeUe präsentiert sich uns die immanente Teleo-
logic (als „Atttoteleologie", Paufy) bei den Vertretern der „Psycho-
biologie" oder des „Psychovitalismus". Auch hier bestreitet
man die Möglichkeit einer rein kausalen oder mechanistischen
Erklärung des Lebens. Aber man beruft' sich nicht auf die Wirk-
samkeit unbekannter» hypothetisch , angenommener, erdachter,
metaphysischer- Faktoren, sondern nimmt als Prinzipien von
Lebensfunktionen Kräfte an, wie wir sie in uns selbst un>
mittelbar vorfinden, erleben, und wie wir sie dann auf Grund
einer Analogie auch den übrigen Lebewesen zuschreiben. Es
sind das psychische Faktoren, von denen wir bei uns selbst un-
mittelbar wissen, daß sie an dem Zustandekommen zweckmaBiger
Handlungen beteiligt sind. Empfindungen, Vorstellungen, Ge-
fühle, Strebungen, Triebe und Assoziationen, von manchen auch
jyl&teDigaite* Kräfte sind sie, wdl es so aassieht, „als ob* sie wie ehie
Intelligenz wirkten (Philosophie der Botanik, 1905, S. aaff.; Die Wdt
als Tat, 4. Aufl., 1905; Einleitung in die theoretische Biologie, .190X;
Naturwissenschaftliche Vorträge, 1908).
Unter „Entelechie" versteht Driesch die „Eigengesetzlichkeit leben-
der Körper, das in erweitertem Sinne wirkliche elementare Natur-
agens, welches sich an ihnen äußert". Wir kennen sie bis jetzt nur
in Verbindung mit materiellen Dingen, obschon sie keine „Eigenschaft"
des Materiellen ist. Mit der Zcrtrennung der mit ihr verbundenen
Körper teilt sie sich zugleich, bleibt aber dabei „ganz". Sie „benutzt,
nach Art von Kompensationen, die Faktoren des Anorganischen, um
das ihrer jeweiligen Eigenart Entsprechende herzustellen und regnla-
torisch zu erhalten". Ihr eignet ein „Vorwissen*, ein „primäres Wissen
und Wollen", was aber nur analogisrh , nicht psychologisch gemeint
ist. Ihre Leistung besteht in einem regulativen „Kompensieren'* oder
„Nichtkompensieren" von Potcntialdiffcrcnzen des Anorganischen. Den
Bewegungsreaktionen stehen als Entdechien „Psychoide" vor (Der Vita-
lismos als Geschichte Und als Lehre, 1905, S. 937 ff-; Die Bidog^e als
selbstflndige Grundwissenschaft, 1893; Die organischen Regulationen,
1901; Die „Seele" als elementarer Naturfaktor, 1903; Philosophie des
Organischen, 1909; Zwei Vorträge zur Naturphilosophie, 1910; Ordnungs-
lehre, 191a). Weiteres vgl. Kap. 6. — „Neovitalisten" sind ferner Bunge,
lUM4jiu«d^ 0, Samern, Mofmeiater, G, Wolf, B, wn JforteMfm» K, C.
SAmdkr, f. VaMSl .u. a^ denen als .Medianis^* JSwefcd^ Spmeer^
Ytrwomt J. £oe6, Kanovitz, 0. gut Btn»9m, CMdiekmät ZeMer, Abmom,
JSMtcM» n. a. gegenflberstehen.
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16
I. AllgemdMr TcO.
Unterscfaeidungs-, Urteils- und Wahlakte werden liier als tui'
mittelbare Erzeuger organischer Zweckmäfiigkeit betrachtet. Ins-
besondere wird hier den Bedürfnissen und Trieben eine groBe
Rolle zugeschrieben. Alle aktiven Anpassungen beruhen darauf,
daB das Bedürfnis nach Besatigung von Störungen und nach
Herstellung gewisser Zustande den Impuls zu einer Tätigkeit
gibt, die stets zielstrebig („teleokfin", Kohutamm) ist, aber oft
erst nach wiederholten Versuchen wirklich zum Ziele führt Was
erst erfolglos war oder doch nicht ganz zweckmäBig ausfiel, kann
durch, den Einfluß der Übung und des Gedächtnisses vervoll-
kommnet werden und dann selbst die Organe so modifizieren, daB
sogar schließlich, wenn auch oft erst nach vielen Generationen,
neue Arten entstehen. Schon die niedersten Lebewesen verfügen
über ein — wenn auch noch unterbewußtes oder unbewußtes —
Empfinden und Streben; ja sogar den Zellen der Organismen
eignet die Fähigkeit, auf Reize mit psychischen Zuständen zu re-
agieren. Mittels dieser stehen sie dann in einem inneren Zusammen-
hang, auf dem die Solidarität des Verhaltens aller Teile des Organis-
mus beruht. Bei aller „Zufälligkeit" der Mittel, die nicht von
vornherein gegeben, sondern als die richtigen Mittel erst durch
Erfahrung (Assoziation), Übung, Versuch, Erprobung gewonnen
werden (Paw^y, FrancHx. a.), ist also der Tätigkeit der Lebewesen
ein Ziel immanent, welches ihr und der organischen Entwicklung
die Richtung gibt. — Dieser Lehre geht der ältere „Animis-
mus" voran, nach welchem die Seele in unbewußter Weise
ihren Körper aufbaut, gestaltet und lenkt {ArisMelet, Faracelmtt
G. E. Stahl u. a.).
Der Psychovitalismus der Gegenwart unterscheidet sich von
älteren verwandten Anschauungen in verschiedener Hinsicht, so
besonders dnrin, daß er meist die psychische Tätigkeit nicht in
eine einzelne, mit dem organischen Leibe verbundene seelische
Substanz oder Kraft vcrlco^-t, sondern sie in der Regel auf eine
Vielheit von Elementen verteilt, auf l'otenzen, die den Be-
standteilen des Organismus selbst anhaften. Ferner sind nach
neuerer Anschauung die Zwecke, welche die Lebewesen an-
streben, meist nicht von vornherein gegeben, also in keiner
Weise prästabiliert ; sie erwachsen vielmehr erst aus den be-
Öltet Kmpjtd. Wcwa «ad Alten der Teleolojtie.
17
Sonderen Umständen, die durch äufiere und innere Veranden
rungen bedingt sind. Erst aus einer Summierung-- vieler ziel-
strebiger Anstrengungen gehen die zweckvollen Gestaltungen
der Organismen hervor.*)
Von aller „dynamischen" unterscheidet sich die bloß „sta-
tische" Teleologie dadurch, daß sie zwar die Struktur der Or-
ganismen und organischen Elemente als eine teils ursprünglich»
teils rl'irch weitere Anpassung zweckmäßige ansieht, die orga-
nischen Funktionen und Entwicklungen aber auf bloße Kausalität,
auf mechanische Ursachen zurückführt, bzw. auf Kräfte, die
durch die Struktur, die Form des Organischen bedingt sind.
Bestritten wird, daß irgendwelche Zweckursachen die Eindeutige
keit des Kausalzusammenhanges aufheben. Die organischen
*) Nach Ä. PatUy, dem Hanptvertreter dieser Richtung, bestellt
die Zweckmäfli^eitaerzeiigaiig in einer «aktiven Synthese oder Asso-
ziation zweier Erfahrungen, derjenigen eines Bedürfnisses und der
anderen des sie befriedigenden Mittels, welche Assoziation durch ein
Urteil abgeschlossen wird, d. i. durch den Schluß von der Wirkung des
Mittels auf seine Zulänglichkeit zur Befriedigung''. Das Psychische ist
eine besondere Energieart und wirkt als solche anf das Fhysischcy als
«teleölogisclie Ursache*. Der konünnieriiche Regulator aller oiga-
nischen Vorgänge ist das «Zustandsgefühl eines Sabjdda, das sich durch
alle Phasen einer Handlung und durch alle Verkettung von Handluni^s-
reihen hindurch als wirkende Ursache erhält^ als causa efficiens und
finaiis zugleich, also causa iinaliter efficiens". Die organische Zweck-
ntfi^^Eelt also beruht unmittelbsr auf der Wiricung des BedOrfoines
nnd des „urteilenden Prinzips". Das Mittd zur Bedürfnisbefriedigung
wird aber nur durch ein zufälliges Zusammmentreffen mit dem Zweck
in Verbindung gebracht. Die gewonnene Erfahrung von der bestimmten
Wirkung eines Mittels wird zum bleibenden Besitz des Organismus, ,in-
dem er nun weiterhin stets, so oft die Initiajempfindnng einUrtt^ mit
der Erzeugung des abhelfenden Mittds antwortet*. Herausgefunden,
gewildt wird das Ifittel durch eine Art UrteiL Die Zustände der Einzel^
teile des Organismus strrihlen auf andere aus und fixieren sich dort; es
besteht eine „suggestive Korrespondenz" zwischen den illementen des
Organismus, jede Einzelzelle ist ein „dynamisches Abbild des Ganzen",
Die Hauptqnelle der Unzweckmlfilgkeiten bilden die Enge des .Urteils*
und die Gewohnheit Das Leben, das Psychische ist eine |,Welleigen^
Schaft*, und das Physische ist seine Erscheinung (Darwinismus nnd
Lamarckismus, 1905, S. gff; Zeitschr. f. d. Ausbau d. Entwicklungs-
lehre I). Vgl. A. Wagna, Geschichte des Lamarckismus, 1909.
Eitler, Der Zweck. 2
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L AUgcttdacr TcD.
]^feinente besitzen von jelner dn Minimum an Zweckmäßigkeit»
eine primäre Anpa&sung an gewisse Lebensbedingungen. Dam
kommt die Fähigfkeit oder das Bestreben, g^egenüber Stöntngen
die organische Form zu bewahren, wiederherzustellen.
Eine „Maschinentheorie"*) des Lebens stellt . Schultz auf.
Das Leben ist an „Biogene" gebunden, welche seit Ewigkeit
als „Typovergenzmaschinen" bestehen und unter günstigen Um-
ständen zu Organismen werden, infolge der Selektion sich dem
Milieu anpassend. Das F'inale, Teleologische steckt nur in der
Struktur der Wesen (mit deren „Streben zur Form"). Die orga-
nischen Lebens- und Entwicklungsprozesse erfolgen rein kausal,
mechanisch, eindeutig. Das Psychische wirkt nicht auf das Phy-
sische, sondern geht demselben parallel (Die Maschinentheorie
des Lebens, 1909). Die Maschinentheorie denkt jeden noch so zeit-
fern gewählten Grundzustand als bereits geordnet und materiell.
„War aber die Welt von Ewigkeit her sinnvoll, so bedürfen wir
zur Erreichung des heutigen Kosmos weiter keiner Finalität"
(Jahrbücher der Philosophie, 191 3, S. 168). Der maschinelle
Kosmos ist die Erscheinung eines übersinnlichen (S. 187). — Ist
man, wie J. Schultz, Anhänger des psycho-physischen Parallelis-
mus und Panpsychist, so kann man gegen die Annahme von
Strebungen, also immanenten Zielrichtungen, als „Tnnensein" des
Kausalzusammenhangs und Mechanismus selbst, also nicht als
Ursachen physischen Geschehens, eigentlich doch nichts einzu-
wenden haben.
Diese Ansicht ist zum Teil verwandt mit der älteren Theorie,
welche Teleologie und Mechanismus in der Weise zu vereinigen
sucht, daß nach ihr zwar das einzelne Geschehen in der Welt
streng gesetzlich, kausal oder mechanisch erfolgt, aberdochnur auf
Grund einer Weltordnung, vermöge deren alles so zweckmäßig
als möglich verläuft oder doch dem Wcltplan sich einfügt. Die
Gesetze des Geschehens selbst verbürgen die Zweckmäßigkeit
desselben, und die Dinge sind, etwa durch eine „prästabilierte
Harmonie" ^LeUmiz), einander von Anfang an aufs beste ange-
*) Eine Art Maschinentheorie findet sich ferner bei A. Stöhr (Der
Begriff des Lebens, 1910). Einen „Neomechanismus* vertritt M, Chdd-
acKeid (Höherentwicklung und Menschenökonomie I, 1911).
Enici Xi^UL yfuta ud Aitca der Tdeologic.
19
paßt, so daß die von Gott gewollte Weltordnung, die ihm als
Idee vorschwebt, durch sie zur Verwirklichung gelangt. Der
Mechanismus erscheint hier als ein Mittel im Dienste des V/tlt-
Zvftckts (Zeibnü, Lotzen, a.). Daran schließt sich die Theorie, der
zufolge Kausalität und Finalität im letzten Grunde eins sind.
Ebendieselbe Reihenfolge des Geschehens, die wir von einem
gewissen Standpunkt aus als eine kausale bestimmen, ist für eine
Totalitätsbetrachtung, wie wir sie nur Gott zuschreiben können,
zug-lcich ein einheitlicher teleologischer Zusammenhang. Es hat
hiernach jedes Ding und jeder Vorgang in der Welt seine finale
Bedeutung, es ist alles zugleich kausal und final bestimmt, deter-
miniert {Sciielling^ Lotze, v. Hartmann, Sigtcart, Wundt u.a.). Dies
kann etwa in pantheistischer (oder „panentheistischer") Weise be-
gründet werden, muß also keineswegs einenTheismus einschließen.
Man kann etwa lehren, allem Geschehen Hege eine Weltvernunft
bder ein Weltwille zugrunde, und den Inhalt dieses universalen
Prinzips bilde eine „Idee", die sich in der Welt entfaltet, reali-
siert, so daß jedes Moment der W^eltentwicklung dieser Ver-
wirklichung des Weltwillens oder der Weltvernunft dient {Hegel^
V. Hartmann u. a.). Die Dinge sind einerseits Zwecke, anderseits
Mittel, letzteres im Hinblick auf den absoluten Weltzweck, der
den Einzeldingen gegenüber transzendent, dem Universum und
dem Weltwillen aber immanent ist. Mag auch im Einzelnen
vieles unzweckmäßig erscheinen oder auf keinen sichtlichen
Zweck hinweisen, das Ganze ist doch sinnvoll, vernünftig, und so
hat auch schließHch das Einzelne seinen g^ten Sinn, es trägt
irgendwie zum Ganzen bei, hat eine finale Bedeutung.
Die Teleologie hängt aber nicht an der Forderung eines
einheitlichen Weltzweckes, sie läßt sich auch rein plura-
listisch, individualistisch gestalten. Dann sieht man von der
Annahme eines den Dingen gesetzten und durch sie zu reali-
sierenden Universalzweckes, eines obersten Zieles, nach dem
alles strebt, ab und geht von den verschiedenen Zielen aus,
welche die einzelnen Wesen anstreben. Diese individuellen
Zielstrebigkeiten dienen zur Erklärung des Geschehens oder
doch zur Deutung des Sinnes der im übrigen streng kausal ab-
zuleitenden Vorgänge in der Welt. Der Pluralismus im weiteren
2*
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I. AllfaHdiMr Ten.
Sinne aber schließt nicht aus, daB man in den individuellen Ziel-
setzungen etwas Gwnrinschaftliches, Gleichartiges findet und SO
schließlich doch zn einer Einheit kosmischer Zielsetzungen
gelangt. —
Während die universelle Teleologie den Zweckbegriff
auf alle Arten d€s Seienden anwendet, also ihm auch das Gebiet
der Natur und des Anorganischen unterstellt, schränken die
Vertreter einer bloß partiellen Teleolope die Anwendung:
dieses Begriffes auf das Organische und Geistige ein, andere gar
nur auf das Gebiet des geistigen, historisclien und kulturellen
Geschehens. Nach diesen letzteren kann nur da die Rede von
Zwecken und Zweckhandlungen sein, wo ein Bewußtsein und
ein Wollen besteht. In der Welt des Geistes, der Ge-
schichte, der Kultur hat der Zweck seinen Platz, da ist
die teleologische Betrachtungsweise angebracht, die in der
Naturwissenschaft, für die der Zweck ein „Fremdling" bleibt,
nicht verstattet ist (Riehl, L. Stein u. a.). Teils läßt sich
das Geistesleben dadurch verständlich machen, daß man auf
die Absichten, Motive, Tendenzen, Zwecksetzungen zurück-
geht, welche den Handlungen der vernünftigen Wesen zugrunde
liegen, und daß man untersucht, welchen Zwecken die geistigen,
kulturellen Schöpfungen und die sozialen Institutionen dienen.
Teils wird die Teleologie kritisch und normativ, indem geistige,
kulturelle, soziale, historische Gebilde, Funktionen, Taten be-
treffs ihrer Zweckmäßigkeit, ihres Wertes beurteilt werden.
Aber auch hier ergeben sich Unterschiede der Auffassung.
Während manche in der teleologischen Methode etwas für die
Geistes-, Kultur-, Geschichts- oder Sozialwissenschaften in
erster Linie Konstituierendes finden, wenn sie nicht gar in
ihnen reine „Zweckwissenschaften" erbhcken (Stammler, Münster-
berg u. a.), betonen andere den Vorrang der rein kausalen Er-
klärung vor der teleologischen Beurteilung und vor dem nor-
mativen oder wertenden Verfahren, das zur rein kausalen und
explikativen Theorie nur ergänzend hinzutritt. Die strenge
Wissenschaft hat es nur mit dem Sein und mit der mechanischen
oder aber teleolc^sch-kausalen Erklärung des Geschehens, nie mit
dem Sollen, einer Wertung, Zwedcbeuftdlung, Nonnierungzu tun
Entet Kapitd. Wegen «nd Arten der Teleologie. '2|
<jr. Aßit, SünmOr Tämdm, Sombart, :M. WAer u.'su; vgllKip.'^.
Für die Gesduchte kommt die teleologische (bzw. ätiologische
oder die wertbeziehende) Methode in Betracht nach IH^e^,
MBiMfBKhvff, Sideiri u.a. ^ Betreffs de^ ideologischen Erkennt-
nistheorie vgt Kap. 13. —
Eine Zwecknufiigkett ohne Zwecknrsäcfaen ist das Leitmotiv
des Darwinismus.*) Unter den mämugfachen Variationen
der Lebewesen gibt es„zuQilKg" auch solche, die dnem he*
stimmten Naturmiliett am besten entsprechen. ■ Diese relative
Zweckmäfiigkeit (Erhaltungsgemallheit) gewahrt den betreffenden
Wesen einen gewissen Vor^krung; vor den weniger gut aus^
gestatteten. Während die minder tauglichen, schlechter aus-
gestatteten Incüviduen im Kampfe ums Dasein, im Wettbewerb
um die Existenzbedingungen meist den kürzeren riehen, haben
die anderen in der Regel die meiste Aussicht, sich zu erhalten,
zur Fortpflanzung zu gelangen und ihre nützlichen Eigenschaften
auf ihre Nachkommen zu vererben. Indem die\ natürliche Aus-
lese oft immer wieder in der gleichen Richtung wirkt, erfolgt
allmählidi eine Steigenmg der zweckmäßigen, d. h. erhaltungs-
gemäßcn Merkmale. Die Entstehung der schon relativ zweck-
mäßigen Variationen selbst bedarf dann noch einer besonderen
Erklärung. Femer ist zu beachten, daß jede Anpassung an
die Lebensbedingungen zwar in dem Sinne zweckmäßig ist, daß
rie der Erhaltung von Individuen und Arten dient (Erhaltungs-
gemäßheit), daß sie aber nicht notwendig immer einen Fort-
schritt, eine Vervollkommnung bedeutet. Es kann sogar die
Sdektion unter Umständen rückbildend wirken, und es ist erst
genauer zu ermitteln, wann und unter welchen Bedingungen
eine Höherentwicklung erfolgt. Es sind also Zweckmäßigkeit
*) Daß auch der Dorwinismiis eine regulativ-tdeologisehe Gnmd-
läge hat, betont A. Stadler (Kants Teleologie*, z^ia, S. 142 f.). .Welche
Mittel besitzt die Natur, ihre Produkte dem unendlichen Wechsel dieser
Existenzbedingungen gemäß umzugestalten? Teleologische Beobach-
tungen und Analogien mit der menschlichen Zwecktfttigkeit leiten auch
die Gesetze der Anpasatmg.* Die teleologische Seite des Darwinismos
betonen ferner WmmK (ßytttai der FlOkiojBMe l\ 1907), JL OottbcMcl
(Höherentiriekfanig und Mcnschenflkonomie I, 19x1), B, Bmek (L Kant,
19x1) o. a.
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L AMfciMtiMr Ten.
im Sinne der bloBen Erhaltung: und Zweckmäfiigkeit im
Sinne der VenrolUcofnmnuiii:, der Höherentwicklung, tu unter-
scheiden.
Gegen die ,,Mmacht" der Selektion sind wiederholt Bedenken
geäultcrt worden, wobei Darwin selbst, t>esonders in seiner
späteren Zeit, die Bedeutung auch der direkten Anpassung an
das Milieu und auch die Wirkung funktioneller Anpassung an-
erkannt hat, während der Neodarwinismus (Weümann U. a.)
fast alles auf Selektion zurückführt. DaO sich zufällige tdls
positiv, teik negativ gerichtete Variationen der Organe im
Selektionsprozeß das Gleichgewicht halten und daß daher schon
eine bestimmte Richtung des Variierens anzunehmen ist, um
die Entstehung neuer Arten zu erklären („Orthogenesis",
JSimer)^ daß im Darwinismus der Zufall überhaupt eine zu
große Rolle spielt, daß geringfügige Abänderungen keinen
Vorteil im Daseinskampf haben können, daß die Selektion zwar
Unzweckmäßiges zu beseitigen, aber nicht Zweckmäßigkeiten
positiv zu schaffen vermag — diese und andere mehr oder weniger
schwer wiegende Argfumente werden immer wieder gegen den
Selektionismus vorgebracht (Wigand u. a.) und immer wieder
zu widerlegen gesucht, ohne daß man den Streit als erledigt be-
trachten kann. Jedenfalls ist manches in diesen Argumenten
berechtigt, imd es ist daher bet^eiflich, wenn heute der La-
ma r c k i s m u s viele Anhänger fmdet, wenn auch meist mit
Konzessionen an den Darwinismus. Der ,,Neolamarckismus''
betont die Rolle der aktiven, funktionellen Anpassung, der durch
Bedürfnisse ausgelösten Selbsttätigkeit der Lebewesen, der Wir-
kung des Gebrauchs und Nichtgebrauchs der Organe, der Übung
und Mitübung und der Vererbung ihrer Resultate in Form struk-
tureller Anlagen und funktioneller Dispositionen. Die meisten
„Psychobiologen" sind Lamarckisten, aber nicht aller Lamarckis-
mus muß „psychovitalistisch" sein, er kann auch eine mecha-
nistische Form annehmen.*)
Während die „objektive" oder „konstitutive" Teleologie
aller Art das Geschehen oder einen Teil desselben aus Zwecken
♦) Vgl. Kap. 6.
Em» Xapild. W«im mä Ailea der Tdeolegle. 88
oder Zielstrebigkeiten zu erklären sucht, also annimmt, daß der
Zweck ein Faktor der Wirklichkeit selbst ist, beschränkt sich
die rein formale, subjektive oder regulative Teleo-
logie, wenigstens der nicht geistigen Wirklichkeit gegenüber,
darauf, gewisse Erfolge oder Effekte so zu betrachten, als ob
sie Zwecke, Ziele wären. Auf diese Weise ist das Sein und Wer-
den besser zu begreifen, indem da, wo die besonderen Ursachen
der als zweckmäßig betrachteten Wirkungen nicht oder noch
nicht zu erkennen sind, die Vorgänge und Einrichtungen au$
ihrer Bedeutung für die Erreichung eines bestimmten Erfolges
verständlich gemacht werden. Man frag^ hier: wie müssen die
Ursachen beschaffen sein, wenn sie diesen Effekt zur Folge haben
sollen? und gibt damit der Kausalforschung selbst eine Direktive,
durch die sie bereichert und ergänzt wird,
Kant (nachdem ihm zum Teil schon Leibniz hierin voran-
gegangen) erklärt in diesem Sinne : En Ding seiner inneren Form
nach als Naturzweck beurteilen, ist etwas ganz anderes, als die
Existenz dieses Dinges für einen Naturzweck halten. Der formale
Zweckbegriff ist ein Produkt der „Urteilskraft" und zugleich
eine regulative „Idee" der Vernunft. Er ist keine „Kategorie"
und keine Bedingung objektiver Erfahrung, kein Konstituens der
empirischen Realität, aber von höchster Fruchtbarkeit für die
Deutung des Geschehens und für die Kausalforschung, besonders
in der Biologie (Kritik der reinen Vernunft; Kritik der Urteils-
kraft).
Nach Kant müssen die besonderen, empirischen Natur-
gesetze hinsichtlich dessen, was in ihnen durch die allgemeinen,
apriorisch gültigen Naturgesetze unbestimmt gelassen ist, nach
ciuer solchen Einheit betrachtet werden, „als ob. gleichfalb ein
Verstand (wengleich nicht der unserige) sie mm Bdiuf .unserer
Erkenntnisvermögen, um ein System' der Er&hrtmg: nach be-
sonderen Naturgesetzen mögttch zu machen, gegeben hätte".
Die „reflektierende Urteibkraft" Efit uns die Natur so d^en,
„alv ob ein Verstand den Grund der Einheit des Mannigfaltigen
ihrer empirischen Gesetze enthalte". „DaB . . . Dinge der Natur
einander als Mittel zu Zwecken dienen und ihre Möglichkeit
selbst nur durch diese Art von Kausalität verständlich sei, dazu
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2i
I. Allgemeiner Teil.
haben wir gfar keinen Grund in der allgemeinen Idee der Natur
als Inbegriffs der Gegenstände der Sinne . . . Gleichwohl wird
die teleologische Beurteilung, wenigstens problematisch, mit
Recht zur Naturforschung gezogen, aber nur, um sie nach
Analogie mit der Kausalität nach Zwecken unter Prinzipien
der Beobachtung und Naturforschung zu bringen, ohne sich an-
zumaßen, sie danach zu erklären. Der Begriff von Verbindungen
und Formen der Natur nach Zwecken ist doch wenigstens e i n
Prinzip mehr, die Erscheinungen derselben unter Regeln
zu bringen, wo die Gesetze der Kausalität nach dem bloßen
Mechanismus derselben nicht zulangen." Die mechanische Er-
klärung der Dinge muß soweit als möglich vonlringcn, denn
nur die mechanische Kausalität begründet objektiven Natur-
zusammenhang. Zugleich muß man aber auch wenigstens das
Organische aus dem regulativen Gesichtspunkt des Zweckes be-
trachten» wobei es ,,als unausgemacht dahingestellt wird, ob nicht
in dem uns unbekannten, inneren Grunde der Natur selbst die
physisch-mechanische und die Zweckverbindung an denselben
Dingen in anem Prinzip zusammenhängen mögen**. Als Natuf'-
zwecke treten uns die Orgamsmen entgegen, an ihnen ist nicht
UoB eine äußere, relative, sondern eine innere Zweckmäßigkeit
zu erkennen; ihre Tefle sind nur durch ihre Beziehung auf
das Ganze möglich und verbinden sich dadurch zur Einheit eines
Ganzen, daß sie voneinander wechselseitig Ursache und Wirkung
ihrer Form sind. Nur so ist es möglich, daß die Idee des
Ganzen die Form und Verbindung aller Teile besttnune, „nicht
als Ursache — denn da wäre es ein Kunstprodukt ^ sondern als
Erkenntnisgrund der systematischen Einheit der Form tmd
Verbindung ..."
„Man geht also aus von einem gegebenen Gegenstande, lauft
in dessen Kausalreihe aufwärts und bildet eine neue, umgekehrte
Reihe, iiidem man jede Wirkung des realen ,nexus effectivus'
als Ursache in einen idealen ,nextts finaHs' setzt" (Stadürp Kants
Teleok>gie* 1912, S. 114). Nach SkuUtr ist bei Kant die „Ob-
jektive Zweckmäßigkeit" ein Spezialfall, eine empirische An« .
Wendung der allgemeinen „formellen Zweckmäßigkeit" der Natur
<S. 125). Der Zweck „vertritt den Grund der einheitlichen Koia-
Entcs Kapltd. -Wctai nd Ailea der Tdeolofie. 25
bination der Kräfte, welche uns wegen der Unerreichbarkeit der
letzten Gründe zufällig erscheint" (124). Die teleologische
Maxime vertritt die kausale nicht, sondern ,,wirkt in jedem ein-
zelnen Momente der kausalen Forschung" (132).
- „Alle Teilprozesse wienlen nach Kant erst verstandlich
an ihrer Leistung- für den ganzen Organismus. Hat man diese
festgestellt, so läfit sich aus ihr wohl die eine oder die andere ihrer
kausalen Bedingungen rückersdiUefien" {N, Harfynann, Philos.
Grundfragen der Biologie, 191Ä, S. 105). „Ist aber etwas
einmal als zweckmäßig in bezug auf etwas erkannt, so muO es
sich in irgendeiner, wie immer verborgenen Weise auch als ur-
sächliche Bedingung dieses anderen verstehen lassen" (16).
Der teleologische Begriff hat „Antizipationskraft" (106).*)
Nach Wundt ist der Zweckbegriff überall von Be-
deutung, „wo ein kausaler Zusammenhang durch die Regel-
mäßigkeit bestimmter Endeffekte und durch die Verbindungen,
in die diese Endeffekte miteinander treten, zu einer logischen
Antizipation der Wirkungen herausfordert, die den Zusammen-
hang der kausalen Bedingungen selbstverständlich machen soll"
(System der Philosophie P, 1907, S. 314)-
Nach Sigwart ist die teleologische Betrachtung nur „eine
Aufforderung, die kausalen Beziehungen nach allen Seiten zu
verfolgen, durch welche der Zweck verwirklicht wird*'. Hatten
wir eine durchgängige Einsicht in den Kausalzusammenhang der
Welt, so würden sich beide Betrachtungsweisen, die teleologische
und die kausale, vollkommen decken. Ähnlich lehrt nun auch
Wundt. Die subjektiv-teleologische Erklärung von Naturer-
*) Vgl. Sigufortf Logik II*, 1893, S. 252 ff.,, Die rem kausale Betrachtung
gebt von einzelnen wirioMuncn Elementen aus und ontermcht, was ans
ümen bei dieser oder jener Kombination . . . hervorgehen muß . . . Die
Betrachtung unter dem Gesichtspunkt des Zwecks dagegen nimmt
den Erfolg zum Ausgangspunkt und fragt, welche Kombination oder
welcherlei Kombinationen von Ursachen gerade diesen Erfolg hervor-
bringen konnten; was sein ntnfile, wenn dieses Resultaf eintreten sottte^f
„Ans dem Zwecke des Gänsen ergibt «ich die bestfanmte Verknitpf mig
und Wirkungswdse so geformter Teile" (vgl. 4. Aufl. 1911; Kleine
Schriften II). — Vgl. H, Golm, Logik, 1902 (Der Zweck als Kategorie;
Begriff des j^Systems"). '
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I. Allgraipiner Teil.
scheinungen ist nur „eine rückwärts gewandte Betrachtung Icau-
saler Zusammenhänge", sie ergänzt die kausale Betrachtung
und wird durch sie ergänzt. Es handelt sich nur um zwei Be-
trachtungsweisen derselben Sache, wobei die „regressive" Auf-
fassung (von den Wirkungen zu den Ursachen) die Umkehrung
der Kausalbctrachtung bedeutet. Kausalität und Zweck ent-
springen so „aus den zwei einzig möglichen logischen Gesichts-
punkten, unter denen wir das allgemeine Erkenntnisgesetz des
Grundes auf einen Zusamnienliang des Geschehens anwenden
können. Auch das Zweckprinzip ist daher unterzuordnen dem
Satz des Grundes . . . BeimKausalbcgrift wird der Grund zur Ur-
sache, die Folge zur Wirkung; beim Zweckprinzip wird die Folge
zum Zweck, der Grund zum Mittel" (Logik P, 1906; System der
Philosophie l', 1907; Grundzüge der physiolog. Psychologie III*,
1903). Nach Wundt kann prinzipiell jederzeit die kausale in eine
teleologische Form der Verknüpfung umgewandelt werden, eben«
darum aber audi zn jeder teleologischen eine kausale mindestens
gefordert werden, wenn auch empirisch bald die eine, bald die
andere Form vorherrscht (Grundzüge der physiologischen
Psychologie 111% 1903, S. 692); aber es gibt keine »^weck-
Ursachen" neben den bewirkenden. . Final- und mechanische Ur-
sachen .schliefien sich aus» weil eine eindeutige Funktion nicht
ztigleich eine vieldeutige sein kann (S. 728). Das Endglied, von
dem die teleologische („regressive") Betrachtung ausgeht, um
die vorangehenden Prozesse zu begreifen, darf nicht zum An-
fangsglied einer kausalen Verknüpfung gemacht werden (S. 743)*
Auch wo wir berechtigt sind, Zweckmotive als Faktoren, welche
die Triebe der Lebewesen lenken, anzunehmen, sind sie nicht wie
die Vitalkrafte der Vitalisten „Antizipationen ihrer Wirkungen,
so daß alles, was in diesen zum Vorschein kommt, in der ur-
sprünglichen Zweckidee schon gelegen wäre, sondern sie sind
lediglich Ursachen unter anderen, .die zwar dem Ver-
lauf der Erscheinungen dnen zweckmäfiigen Charakter ver-
leihen, ohne daB jedoch jenes Zweckmotiv selbst schon den
schlieBlich erreichten Erfolg als Vorstellung des handelnden
Wesens .in sich enthalt" (S. 747). Das gesamte Geistesleben
wird nach Wundt vom Zweck beherrscht, wobei aber, wie schon
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Entct Kapitel. Wesen und Artea der Teleologie. 27
im OrgBiiilclMD, daa Prinzip dor „Heterofoiile der Zweck»^*)
ta berficknchtljBfen ist —
Nacth P. Caumaim hat die KAOsalitSt zwar „MgSltig'kmV*,
aber nicht „AüeingOltigiceil;". Neben den bloßen Kaoaal- gibt
es anch Finalreüien, welche ans drei Gliedern beBtehen» ans
Antecedens, Medium und Snccedens. Wahrend die bd,den ersten
weclisehi, variabel sind, bleibt das letztere konstant (als typische
oder individuelle Form des Organismns; Etemente der em-
piiischen Teireologfie, 1S98).
Während von mancher Seite die teleologische Betrachtung
des Geschehens nur als eine Art Um kehrung oder als Spezial-
fall der kausalen bestimmt wird» gilt nadi anderen, die
Kausalität als ein der Teleologie untergeordneter, schon von
einer zweckgerichteten Stellungnahme abhängig-er Begriff.
So gibt es nach Fichte eine objektive, materielle Welt mit
kansaler Notwendigkeit nur durdi deren Setzung- seitens des
sittlichen Willens, der die Sinnenwelt als Material der Pflicht-
erfüllung braucht. Wie bei Piaton hat hier, die Idee des
Guten, des Sollens, des Wertes den Vorrang vor dem Sein,
welches durch aie bedingt ist In der Gegenwart hat Mätuterberg
einen Idealismus begrfindet, nach welchem der wertende»
zwecksetzende, „stellungnehmende" WiUe, der ein „Wille zur
Welt" ist, der Setzung einer objektiven Welt mit ihren
kausalen Beziehungen und gesetzlichen Notwendigkeiten zu-
grunde liegt. Am Anfang stehen nicht Tatsachen und daraus
abgeleitete Kausalg-esetze, sondern Zielsetzungen und Wer-
tungen, auf Grund deren erst die Welt des Physischen wie
des Psychischen g-esetzt wird, während ursprünglich die Ding-e
nur als Ziele und Mittel des Willens geg-eben sind. {Grund-
züge der Psych olog-ie I, 1900; Philosophie der Werte, 1908).
Auch in der Schule RickerU (von Windelhand beeinflußt) geht
der Wert, der Zweck, das Sollen dem Sein logisch voran;
der Primat, Vorrang der ^praktischen Vernunft" wird hier
*) Vgl dsrOber <fie AosfOhrungen in den aichsten K^illdn. In
seinen Ergebnissen steht der Verfasser W%mdt am n&cbsten, wenn er
auch in seinen Begründungen zum Teil eigene Wege einschlagt ond
auch sonst, z. B. in der Erkenntnistheorie, von ihm abweicht.
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28
I. AügiemdMr Tdl.
betont. Die Ziele der Hikeontnis sind auf die Gestaltoogf
des Gegenstandes der Wiasenschaften von Einfluß (Der Gegfen»
Stand der Erkenntnis ^ 1904; Die Grenzen delr naturwissen-
schaftlichen Begriffsbildung", 191 3; Abhandlungen in der
Zeitschrift „Logos'').*) Nach K. Joel bestehen die Kausalität
und der Mechanismus nicht an sich, sondern erst in bezug
auf. die Zwecke des Willens, der etwas, ein Geschehen» in
seinen Dienst stellt. „Weil wir wirken wollen, Wirkungen
suchen, müssen wir Ursachen setzen. Der Wille setzt Zwecke,
und damit ist die Kausalität gegeben.** Der Wille ist das
Aktive, Freiem deiM Wesen es ist, Abhängiges, Notwendiges
zu setzen und benronubiingen (Der freie Wille, 1908; Seele
und Welt, 191 2). —
Eine Darstellung der geschichtlichen Entwicklung**) des
Zweckbegriffes liegt außerhalb des Rahmens dieser Arbeit,
Zur Orientierung- diene nur das Folgende. Im Altertum finden
wir teilweise einen Gegensatz zwischen der — schon der
Stufe des naiven Bewußtseins und der primitiven Welt-
anschauung eigenen — Teleologie {Anaxagoras, Sokrates,
Flatofiy Aristoteles, die Stoiker, der Neuplatonism u s) und
dem ausschließhchen Mechanismus (Demohntj JEpikur,
Lticrez u. a.). Die mittelalterliche Philosophie ist fast durch-
gehend teleologisch (Scholastik). In der Renaissance und
neueren Zeit besteht einerseits eine teleologische Richtung
(Paracelsus, Van Helmont, Cudwort/i, H. More u. a.), anderseits setzt
die streng kausal-mechanistische Betrachtungsweise mächtig ein
{Kepler, Galilei, Descartes, Spinoza^ Bacon, Hobbes, Newton u. a.). Ver-
mittelnd lehrt namentlich Leibniz, auch Chr. Wolf. Im neunzehnten
Jahrhundert tritt eineTeleolog-ie auf idealistischer Grundlage auf
(Fichte, Schelling, Hegely zum Teil auch Schopenltauer), der später
andere teleologische Standpunkte folgen (Zote« u. a.), bis dann
der Kausalismus und Mechanismus immer mehr vorherrschend
wird. Nun erfolgt aber wieder eine Wendung zur Teleo-
logie, nicht nur im Lager dualistisch-theistischer Philosophen,
*) VgL die Kapitel über Geschichte und Ober Erkenntnistheorie.
**) Vgl. ZdUr, Über teteologisdie and mechsniscbe Natal»-
erklflrungy 1876.
Eistca Xapitd. Wesen «ml Arten der Tdeelogle.
29
sondern auch, in anderer Form, bei Vertretern einer mo-
nistisch-evolutionktischeii Denkweise, bei Biologeo wie bei
Philosophen*)
Eine Kritik wesentlicher Punkte in den verschiedenen
teleologischen Richtungen ist in den folgenden Gesamt-
ansführungen des Verfassers mit enthalten.
*) Als Teleologen sind ferner zu nennen W. Rofienkrnntz, Carritre,
C. H. Weisse, J. H. Fichte, Ulrici, Chr. FUmck (Logisches Kausalgesetz
und natOrUdie ZweckmSßigkeit, 1877X Barm$, Ä.La8$ou, ZeUer, K^Fttdker,
R,8^/delt Feehner, Pauken, lÄpps, lAAnuam tLa.; C.Nenmaum, JAttvy,
von Haiuiein, K. C. Schneider, W. Schneider, ScheU, üde, Qutberlet, Oeyger,
Fe»ch, Paul Janet, Ladd, Myers, Mc Dou^aÜ, Domett, M, Otto, StoUk,
Naegdi („yervoUkommnongstendenz'*) a. a.
Zweites Kapitel.
Teleologteche B«griflbbattiiiiiiiiiii8eiL
Den Ausg-ang^punkt einer Untersuchungf, wie sie in dieser
Schrift vorzunehmen ist, bildet am besten die Festleg-ung- der
Bedeutung- der hier zu verwendenden Ausdrücke behufs
einer ersten Orientierung über den Inhalt der mit ihnen zu
verknüpfenden Beg-nffe. Wir treiben also zunächst weder
Psycholog"ie noch Erkenntnistheorie, sondern gfehen rein defini-
torisch vor; wir wollen uns einfach darauf besinnen, was wir
eig-entlich meinen oder denken, wenn wir von Zweck, Ziel,
Mittel, Zweckmäßigkeit u. dgl sprechen; wir wollen den
betreffenden Denkinhalt analysieren, um ihn zum vollen Be-
wußtsein zu bringen und in eindeutig bestimmter Weise zu
gebrauchen.
Das Wort „Zweck" bedeutet ursprünglich einen materiellen
Zielpunkt, nämlich den Stift in der Scheibe, welcher das Ziel
für den Schützen bezeichnet. Dieses Ziel ist der Endpunkt,
der Terminus, zu dem das Geschoß dringt, welches das Ziel
erreicht, und auch im Griechischen {xiloi^) und Lateinischen
(finis) wird beim Zielbegrifif an einen gewissen Abschluß einer
Tätigkeit, an den Endpunkt einer Bewegung gedacht Im
weiteren Sinne bedeutet nun (seit Jakob Böhme) der „Zweck**
einer Tätigkeit, einer Handlung, einer Sache dasjenige, was
durch die betreffende Tätigkeit oder Handlung „erreicht"
werden soll, oder wofür die Sache „bestimmt" ist, wozu sie
dient. Das „Wozu" besagt den Endpunkt, von dem wir an-
nehmen, daß eine Tätigkeit, eine physische oder psychische
Bewegung ihm zustrebt; zugleich bedeutet er einen relativen
Schlußpunkt für unser das Handeln begreifen wollendes
Denken. Wir wissen zunächst unmittelbar, daß unser eigenes
y i.i^L^^ L-y Google
Zweites Kapitel. Teleologische BegriATsbesümmaogeii.
81
Handeln einer bestimmten AbMcbt" Intention) entipriogt,
dafi wir einen gewissen Zustand oder eine gewisse Zostands-
ver&ndemng in oder außer uns »anstreben**, d, h. in der Vor-*
stellnng vorausnehmen, und daft wir diesen Zustand, weil uns
dies Lust bereitet, oder weil uns das Feblen, der Mangel des
Zustandes unangenehm ist, herstellen, »verwirldidien*, d. h. aus
der potentiellen und ideellen in die aktuale, reale Sph&re
bringen wollen. Wir betätigen uns daher so» daß dadurch,
unmittelbar oder mittelbar, der erwfinsehte, gewollte Zustand,
die erstiebte Zustandsveranderung eintritt oder doch eintreten
kann, falls nichts die Erreidiung des Seles verhindert Die
zum Ziele fuhrende oder doch auf dasselbe eingestellte Tatig-
keit nennen wir „Mittel" und bezeichnen mit diesem Worte
dann auch überhi^pt alles, was sich der Herstellung einer
erstrebten Wirkung unteroldnet, also auch eine Sache» eine
objektive Einrichtung oder Anordnung, die durch ihre eigene
Funktion oder durch ihre Beeinflussung seitens imserer Tätig-
keit^ also als Werkzeug, Instrument, dem zu erreidienden
oder zu verwirklichenden Zwecke dient — Treten uns nun
fremde Handlungen entgegen, welche uns nicht als relative
Abschlüsse, als in sich selbst beruhend erscheinen, und deren
„Richtung** uns nicht klar ist, so fragen wir, falls wir sie
verstehen wollen, nach ihrem Zwecke,
Der Zweck ist demnach ein im vorstellenden oder
empfindenden Bewußtsein antizipiertes Etwas, dessen
Verwirklichung oder Erreichung den Inhalt eine»
Strebens bildet Das za Verwirklichende oder zu Er-
reichende kann wieder das Mittel für einen entfernteren Zweck
bilden, und dieser wiederum kann sich einem „Endzweck"
unterordnen, von dem (als Motiv) die glänze „Zweckreihe" ihren
ideellen Ausgangspunkt nimmt. Es können foner außer
einem „Hauptzweck**) noch mehrere „Nebenzwecke" an*
*) „Hauptzweck" (finis principaUs) ist bei einer Handlung das-
jenige, was in erster Linie (wesentlich, vorzugsweise) angestrebt wird,,
weil es (den Umstflnden nach oder flberhaupt) am wiehttgsien ist oder
erscheint, weil es den graßten Wert f flr den I&nddnden hit ,Ncbe n-
nfetkt' läad IKnUenMwed» von aekondirer Bedeätoi^ milgewollte
92 - I* ADg^gadncr TdL
gfestrebt werden, etwa ein materieller, ökonomischer neben einem
idealen Zweck. Liegt das zu Verwirklichende außerhalb des
das Mittel her- oder darstellenden Wesens, so spricht man
von einem äußeren (transzendenten), im g-egenteiligfen Falle
von einem inneren (immanenten) Zweck, so z. B. bei den
Org"anismen, sofern iu diesen das Ganze und die Teile sowie
deren Funktionen einander wechselseitig" dienen. Von den
^Sachen", die zur Benützung für menschliche Zwecke ver-
wendbar sind, unterscheidet man die menschliche „Person''
als „Selbstzweck", sofern sie selbst zwecksetzend ist und nie
als bloßer Zweck für andere dienen soll und darf. Unter
einem „Selbstzweck" versteht man aber auch alles, was auch
ohne Hinblick auf andere, überg-eordnete Zwecke, rein um
seiner selbst willen, wegen des ihm beig'elegten Eig'enweites
ein selbständig-es Willensziel bildet.
Als „Endzweck" ist nicht bloß ein in der Zeitlinie
g-elegeuer Endzustand zu verstehen, dem eine Entwicklung*
sich allmählich zubeweg-t, also nicht ein letztes Ziel, welches
das Werden tatsächlich zur Ruhe bring"t oder abschließt.
Sondern der Endzweck bedeutet auch jenen Zweck, der nicht
mehr als „Mittelzweck^, als Mittel zu einem überg^eordneten
Zwecke dient, also einen Zweck höchster Rangordnung-,
auf den die untergeordneten Zwecke gerichtet sind, durch den
diese ideell (nicht etwa zeitlich) bedingt, bestimmt sind, und
aus dem sie letzten Endes erst begreiflich werden. Ein
solcher Zweck kann auch mitten in der Zeit, im Werden
selbst angestrebt und (annähernd) verwirklicht oder erreicht
werden. Die Mannigfaltig-keit der Zwecksetzungen läßt sich
als Entfaltung des Endzwecks selbst auffassen.
Von „Zielstrebigkeit" (der Ausdruck stammt von
K. E. von Baer) ist da die Rede, wo man glaubt, daß ein
Vorgang, eine Entwicklung, ein Werden eine bestimmte
Richtung verfolgt, die voraus durch einen zu erreichenden
Endzustand festgelegt ist. Auch da, wo noch keine Willens-
tätigkeit oder kein Zweckbewußtsein vorliegt, wie etwa bei
Eifekte, die durch dieselbe Tätigkeit, durch d^gselbc Mittel wie der
Hauptzweck zu erreichen sind. ' .
Zweitet Ka^td. TdeologiidM BcgiiAbcftimainifen.
den niederen Orgfanismen, g-ebraucht man öfter in diesem
Sinne den Ausdruck Zielstrebig^keit. — Wir reden im folg-en-
den von „Zielstrebigfkeit" meist nur in dem Sinne des Ge-
richtetseins eines S(r -bens oder Willens auf ein
Ziel, auf einen zu verwirklichenden Inhalt, in zweiter Linie
erst im Sinne eines durch die Richtung* auf ein Ziel
charakterisierten Prozesses (einer Handlung", Beweg-ung-,
Entwicklung). Eig-entlich ist „Zielstrebig-keit" im psycho-
log-ischen Sinne ein Pleonasmus, denn allem Streben als
solchem ist ja ein Ziel, das erstrebt wird, immanent. Aber
dieser Pleonasmus schadet nicht, und wir können die nur im
unmittelbaren Erleben verständliche Eig-enart des „Auf-ein-
Ziel-Gerichtet-Seins^ (= Streben, Wollen) nicht besser bezeich-
nen, wenn wir das Moment des Zieles mit dem der „Ein-
stellung"" auf ein solches in einem einzig"en Ausdruck ver-
einigen wollen. Auch läßt sich nicht etwa durchgängig für
Zielstrebigkeit der Ausdruck „Richtungsstreben" {GoldscJiei<i)
einsetzen, denn das Streben in einer bestimmten Richtung
bleibt, mag auch dessen Endziel uns nicht bekannt sein, oder
mag ein solches gar nicht anerkannt werden, doch immer auf
irgendwelche Zielpunkte bezogen, sowohl für den Strebenden
selbst als auch für den Standpunkt der Erkenntnis, da ohne
Orientierung an Zielpunkten die „Richtung" des Strebens
nicht bestimmt werden kann. Doch soll damit die partielle
Anwendbarkeit und Nützlichkeit des Begrüfes der „Richtungs-
strebigkeit" keineswegs bestritten werden, noch weniger die
fundamentale Bedeutung des Richtungsbegriffes über-
haupt.*)
„Zweck" und „Ziel" lassen sich in der Regel einander
gleichsetzen. Doch kann man auch den äußeren Zweck eines
*) Über diesen vgl. R. Goldacheid, Annaica der Naturphilosophie VI;
Sü^dimg, Der menschliche Gedanke, 1911. Nach Qddicheid ist das „Ziel"
nur ,,d& Dorchgangsstadiom .des Cesehelieiis''« bzw. die Jeweilige Koii-
stttutionsformel des Wd^anzen in etnem bestimmten Zeltdifferentisl".
Das ,,Gerichtetsein" besteht vor aller KausaUtit, da die Wirklichkeit aus
„Richtungselemcnten" besteht. „Was, von innen gesehen, als Zweck
resp. Ziel erscheint, das ist, von außen erlalit, Richtung" (Annalen d.
Naturphilos. VI, öoff.). .. . • -
Bttler, Der Zwtck. 3
S4 L AUgvneÜMr TdL
Dingfes, einer „Handlung"" vom Ziel eines „Strebens" unter-
scheiden; das Ziel steht hier in eng-erer Beziehung" zum wollen-
den Bewußtsein als der Zweck. Zu unterscheiden sind der an [be-
strebte und der erreichte oder verwirklichte Zweck;
jener ist das erste, dieser das letzte, abschließende Moment
der Zweckhandlung- („finis est primum in intentione, ultimum
in executione", wie die Scholastiker sag"en). „Zweckursache"
{causa finalis) ist ein Ausdruck für den Zweck, sofern dieser
als etwas Ideelles, als Inhalt oder Geg-enstand einer Vor-
stellung" den Willen oder das Streben erreg-t (motiviert) und
vermittelst dieser Beeinflussung" eine zielstrebiire Handlung-
zur Kol^e hat. Das Streben oder Wollen selbst g-ilt als eine
-bewirkende Ursache (causa efficiens). Da aber der Zweck
•auch dann, wenn ein bestimmtes Geschehen bezweckt ist,
•kein Vorg'ang', sondern etwas Ideelles ist und alle wahren
Ursachen reale Vorgäng-e sind, so werden wir es am besten
vermeiden, von einer „Zweckursache" zu reden, auch nicht im
Sinne einer auf ein Ziel gferichteten Ursache einer zielstrebigen
Tätigkeit. Eine Ursache der Handlung psychischer Art ist
die gefühlsbetonte Zweckvorstellung, sofern sie als Bewußt-
seinsvorgang andere Bewußtseinsvorgänge (Streben) und das
Handeln selbst zur Folge hat; ebenso ist eine „Ursache"
der Gehirnprozeß, der die Außenseite oder das physiologische
„Korrelat" der Zweck Vorstellung bildet, und aus dem die
Handlung mit kausaler Notwendigkeit hervorgeht, sofern sie
als physischer Vorgang betrachtet wird. Unter „teleologischer
Kausalität" verstehen wir die Wirksamkeit des zielgerichteten
Bewußtseins und Geschehens.
Nicht jede Wirkung einer zielstrebigen Tätigkeit deckt
sich mit dem angestrebten Zweck, denn sie kann von dem
. Erstrebten, Bezweckten mehr oder weniger abweichen ; um-
gekehrt aber ist der erreichte Zweck inhaltlich eins mit dem
wesentlichen Effekt des Handelns, wenigstens unter Absehen
von allen Nach- und Nebenwirkungen desselben.
Zweckmäßigkeit besteht darin, daß die Wirkung einer
ädstrebig^n Tätigkeit sich mit dem Bezwedcten deckt, d. h.,
daß die Handlung geeignet ist, das angestrebte Ziel zu er-
y i.i^L^^ L-y Google
Zwett« lUpitd. TdeolegiMhe BegrifiEdiMtiniDungen. 35
reichen, den gesetzten Zweck zu verwirkfichen ; oder aber,
daß etwas so eingerichtet^ angeordnet ist, dafi die gewünschten
Efifokte daraus entspringen kdnnen. Das „Zweckmäßige**
(Zweckdienliche) ist oft eins mit dem tauglichen Mittet sa
einem bestimmten Zwedce. Das (absolut) richtige Büttel aber
ist nar das in jeder Beziehung Zweckmäßige. Denn es
gibt Mittel, die wohl in gewisser Hinsicht, in bezug auf gewisse
Ziele zweckmäßig*, in anderer Hinsicht aber, nämlich in bezug
auf andere Zwecke desselben Individuums oder derselben
Gemunschaft oder auf andere Verhältnisse unzweckmäßig oder
gar, wenn sie den betreffenden Zwecken Abbruch tun, zweck-
widrig sind. So kann man etwa ein Verfahren einschlagen,
das wohl zum g-ewünschten Zwecke führt, insofern also sicher-
lieh zweckmäßig ist; aber zugleich schadet vielleicht diese Art
des Vorg-ehens der Gesundheit, oder es ist unökonomisch,
wenn dabei unnötig* Kräfte vergeudet werden, die man ander-
weitig braucht, mit denen man daher sparen muß, es wird
dann dem Ziel der Sparsamkeit, des Haushaltens mit dem ge-
gebenen Energievorrat zuwidergehandelt *) — Zweckmäßigkeit
kann ferner unmittelbar mit einer Zielstrebigkeit oder Zweck-
setzung zusammenhängen; aber einerseits kommt auch viel-
fach eine Zwecksetzung ohne Erreichung des verfolgten Zweckes
vor, etwa infolge der Wahl unzweckmäßiger Mittel oder der
unvollkommenen Beschaffenheit des ausführenden Org-ans,
anderseits gibt es eine Menge von Dingen, die, ohne mit einer
bestimmten Zielstrebigkeit verknüpft zu sein, sich doch „zu-
fällig"" als für gewisse Zwecke geeignet, als zweckdienlich
erweisen. Die handelnden Wesen können immer wieder
Dinge, Zustände, Verhältnisse, z. B. Lebensbedingungen der
Umwelt, vorfinden, die ihre Zwecke fördern, für die Wesen
verwertbar, brauchbar sind, ihrer Erhaltung oder Entwicklung
günstig sind. Es geschieht so manches, was wir nicht
bezweckten, und was doch für uns zweck- oder erhaltungs-
*) V|^. ttber ökonomiiche Zweckverfolgnng die Arbeilen von
B.Qold9cheiä (Begriff der .EntwicklnngiAkonomie''), femer W, (Mwslcb
Begriff des „eneigetiadieii hnperstivs": Vergeade keine Energie, ver-
werte siel
3*
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36
L AUceadacr TdL
gemäß sich gestaltet» Damit aoli der Theorie der Zweck-
mäßigkeit noch keineswegs vorgegriffen werden; die hier
angeführte Unterscheidung verschiedener Arten des Zweck-
mäßigen besteht bei jedweder endgultigeii Deutang der
Weltordnung zu Recht.
Zu unterscheiden ist ferner zwischen objektiver und
subjektiver Zweckmäßigkeit. Die subjektive Zweckmäßigkeit
besteht in der Eignung einer Sache oder Tätigkeit zur unmittel-
baren Befriedigung- eines Wunsches, einer Neigung, eines
subjektiven Bedürfnisses oder Triebes; sie ist subjektive
Bedürf nisg-emäßheit. Unter der „objektiven" Zweckmäßig-
keit verstehen wir die Tauglichkeit einer Sache oder Funktion
nicht nur zur Befriedigung einer Begierde, eines Strebens,
sondern auch zur Förderung eines objektiven Zweckes, d. h.
zur Erreichung einer bestimmten Wirkung, die im Interesse
der Erhaltung oder Entwicklung von Wesen gefordert ist oder
bei richtiger Einsicht gefordert werden könnte und müßte,
mag sie auch unter Umständen von diesen Wesen nicht
begehrt oder vielleicht gar verabscheut werden. So ist
z. B. ein Medikament für die Gewinnung der Gesundheit
objektiv zweckmäßig, obwohl es in bezug auf das dem
Geschmackssinn eigene Begehren subjektiv zweckwidrig sein
kann. Subjektive und objektive Zweckmäßigkeit können,
müssen aber nicht zusammen bestehen. Daß ganz allgemein
etwas für zweck- und bedürfnisgemäß gehalten werden kann,
ohne es wirkUch zu sein, ohne also das zu leisten, was von
ihm erwartet wurde, ist selbstverständlich. Unsere Urteile
über die Nützlichkeit einer Sache, d. h. deren Brauchbarkeit
zur Befriedigung eines Bedürfnisses oder deren Eignung als
Mittel zur Verwirklichung oder Förderung eines objektiven
Zweckes, können auf unzureichenden Erfahrungen oder un-
berechtigten Annahmen uud Erwartungen beruhen und daher
falsch, irrig sein.
„Zweck" und „Motiv" einer Handlung können, müssen
aber nicht inhaltlich zusammenfallen. Ein und derselbe Zweck
kann ja aus ganz verschiedenen Beweggründen und Trieb-
federn angestrebt oder verwirkücht werden. So kann man
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Zwdtet Kapitd. Tdeokcitche BapUribcgüinmiuigeii. 37
2» B. ane Wohltat ans Qgoistischeii oder xein altruistisdieii
Motiven ausüben. Daa Gefölü der Lost und Unlnat ist zwar
die allgfemeine Triebfeder des Handelns^ knüpft sich aber an
die veischiedensten VocBfeellungsinhalte als Beweggründe.
Umgekehrt werden oft ganz verschiedene Zwecke ans gleiehen
Motiven Teifolgt Teilweise nur sind die gesetzten oder za
setzenden Zwecke (etwa die sittlichen) zugleiöh anch Motive
oder Hauptmotive des Handelns (f,Zweckmotiv**). Dnrch
„Motivveischiebang'* können Mitlei zn Zwecken» Zwecke zu
Mitteln werden, }e nach dem Wedisel des Int eress e s»
Drittes Kapitel.
KamaUtät und Ffnalilftt.
Zw^^oa würden wir nichts von irg'endeinem Zweck
wiaaen, wenn wir nicht diesen Begriff uzsprung'lich auf Grund
unserer eigenen Willenserfahr u n g g-ewönnen. Wer Zweck
\ sagft, sagt Wille ; wer von einem Ziele im teleologischen Sinne
spricht, bezieht sich, bewußt oder unbewußt, auf ein Streben,
und ein solches kennt jeder zunächst nur aus seiner inneren,
unmittelbaren Erfahrung. Ohne ein Erlebnis bei der Zielstrebig--
keit und Zwecksetzung- in unserem eigenen Handeln wäre für
uns der Zweckbegriff absolut leer. Rein aus sich heraus kann
diesen Begriff kein Denken erzeugen. Wenn der Zweck, wie
dies anzunehmen ist, ein fundamentaler, auf andere Begriffe
nicht surückführbarer Begriff ist, so teilt er das Los aller
unserer Grundbegriffe, nor an einem Eifahrungsmateiial, wenn
auch nicht aus diesem entspringend, zustande zu kommen.
Gewiß, die Relation von Zweck und Mittel ist als solche erst
durch das primäre, S3mthetische (verknüpfende) Denken gesetzt,
sie ist als Relation nicht in bloßer Wahrnehmung gegeben,
kein passiv sich darbietender Erfahrungsinhalt, sondern wird
an einem solchen erst durch das Denken gesetzt. Aber es
muß eben etwas da sein, was sich in eine solche Relation
bringen, ein Stoff, der sich zu einer solchen denkend ver-
arbeiten läßt, ein Erlebnisinhalt.
Das teleologische Urteil, durch welches eine solche
Relation begrifflich formuliert wird, verknüpft zunächst und
ursprünglich eine Handlung unseres Ich mit einer anderen
oder mit einer äußeren Wirkung in der Weise, daß eine
Zweck- oder Finalreihe entsteht, deren Glieder sich zu-
einander als Mittel und Zweck verhalten. Auf die Frage:
Drittes Kapitd^ KattnUtll aad FinalUlt.
80
Wom geschieht dies und jenes? weisen wir auf etwas liin^
d8A..wir durch unser Hin erreichen oder bewerkstdligen
wollen, auf dnen Voig'ang- oder Zustand in oder außer uns»
in unserem vorsteilenden Bewußtsein (ideell) vorweg)»
genommen wird, und dessen Verwirklichung*, d. h. dessen
Oberfütirung aus dem potentiellen und ideellen in den ak-
tuellen und realen Zustand wir wollen, ansti^ben. Indem wir-
nun die Frage nach dem „Wozu" beantworten, geben wir
einen Grund für die Bestimmtheit unseres Verhaltens an ;
wir machen dieses dadurch als zielstrebig, zweckdienlich,
begreiflich oder verständlidi und ordnen es damit in einen
intelligiblen, rationalen Zusammenhang ein. Unser Handeln
erscheint jetzt als „Folge", der Zweck als „Grund", durch
den diese gesetzt, bedingt ist. Das teleologische Urteil:
ist, damit B ist", enthält ein A als ideelle Folge eines B
als eines ideellen Grundes (Idealgrundes). Unter dem Gesichts-
punkt des Zweckes hat das Denken eine eigenartige Synthese
hergestellt, durch welche dem Postulat nach Begreiflichkeit
oder Verständlichkeit des Gegebenen in einer gewissen Hin-,
sieht Genüge gfetan wird.
Nun läßt sich aber dasselbe Geg-ebone, dieselbe Handlung-
auch rein kausal betrachten. Dann erscheint etwa die Hand-
lung als „Ursache", ihr Hrfolg als „Wirkung". Jetzt ist das,
was im teleologischen Urteil Folge war, Grund, und der frühere
Grund tritt jetzt als Folge auf. Im Kausalurteil: „B ist, weil
A ist", wird der Satz vom zureichenden Grunde so auf ein
Gegebenes angewendet, daß ein Geschehen als, (reale) Folge
eines Realgrundes (= Ursache) bestimmt wird. Das kausale
und das teleologische Urteil widersprechen also einander in
keiner Weise; sie sind durchaus miteinander vereinbar. Es
wird ja nicht etwa im teleologischen Urteil die Ursache zur
Wirkung und die Wirkung zur Ursache, so daß wir eigent»
lieh zwei Ursachen für eine Handlung hätten: einmal das ihr
in der Zeit vorangehende und sie bewirkende Geschehen, dann
auch noch ein künftiges Geschehen, das die Handlung
ebenfalls bewirkt und so der Eindeutigkeit des Kausal-
zusammenhangs Abbruch tut An dem Verhältnis zwischen
40
I» AOgtmkur Teil.
Ursache und Wirkung- wird durch das teleologische Urteil
nichts g-eändert; denn dieses Urteil gibt keine „Ur-
sache" der Handlung- an, sondern macht dieselbe nur
durch die BeziehuDgr auf einen Xdealgrund begreiflich oder
verständlich.
Die oft aufgeworfene Fragte: Wie kann ein noch nicht
Seiendes, Zukünftig-es auf ein Geg-enwärtig-es wirken? ist leicht
zu beantworten, da sie auf einem Mißverständnis beruht. Das
teleologische Urteil enthält ja, wie wir sahen, nichts von einer
solchen Behauptung; es redet gar nicht von bewirkenden
Ursachen, es gibt keine kausale Erklärung. Wohl aber läßt
es sich ohne weiteres in ein kausales — und zwar teleologisch-
kausales — Urteil verwandeln. Aus dem Urteil: ist, damit
B ist", wird dann die Formel: „A ist, weil B erstrebt, gewollt
wird." Hier ist das Erstreben oder Wollen von B, also eine
Zielsetzung, als eine bewirkende Ursache, ein kausaler Faktor
der Handlung bestimmt, und diese Ursache ist nun ein dem
gegenwärtigen zeitlich vorangehender Vorgang wie alle
anderen, nur daß er eben die Qualität der „Zielrichtung-" hat.
Nicht der Zweck oder das Ziel für sich wirkt also als Ursache,
sondern das Erstreben, Setzen des Zieles und die daraus er-
fließende Handlung — beides als ein Vorgang, der eine
psychische und physische (physiologische) Seite hat, die je
nach dem Standpunkt der Erkenntnis in Betracht kommt.
Der Zweck selbst ist wohl von „Euiüuß" auf das Handeln,
aber nicht in kausaler Weise, als ein etwas bewirkendes
Geschehen, sondern er löst durch die Zweckvorstellung, deren
Inhalt er bildet, ein Streben aus, und dieses leitet die Hand-
lung ein, als deren Wirkung die Realisation des Zweckinhaltes
erscheint. Zwecke für sich, als ein Ideelles (Ideales), ent-
falten keine reale Kausalität; sie sind keine Ursachen neben
anderen, keine Kräfte, sondern alles Geschehen hat, kausal
betrachtet, nur bewirkende Ursachen, zu denen auch
zielstrebige Faktoren gehören können.*) Die Bezeich-
•) Vgl. auch die vortrefflichen Ausführungen bei J3". Kdsen, Haupt*
Probleme der Staatsrechtslehre, xpii, und M. Adler, Marxistische
Probleme, 1913.
Drittel Kapitel. Kaonlitftt «ad FinaUtit
41
tamg des Zwecks als «Ursache** <,»Zweckitnache'') ist irre-
fQJu^nd and daher zu vermeiden.
Das teleologisehe Urteil erzeu;^ den Zweck als ein«
y^dee** oder als „Kateg-orie**, welche die Kategorie der
Kausalität ergänzt und mit ihr xnsammen der Hersteliungr
einheitlichen Erfahrungfszusammenhangs dient. Eine
«Idee**, ein bloß regulativer, die Forschung leitender BegrifE
kt der rein formale Zweckbegriff, unter dessen Leitung von
einem bestimmten als Ziel betrachteten Erfolg auf die kausalen
Bedingungen, unter welchen dieser Erfolg sostandekommt,
zurückgegangen wird und gewisse Funktionen aus ihrer
Bedeutung für den Zweck, aus ihren Wirkungen begreiflich
gemacht werden. Aber dabei braucht es nicht sein Bewenden
zu haben, es gilt auch einen objektiven, für die Wirklich-
keit selbst gültigen (konstitutiven) Zweckbegriff, der zunächst
jedenfalls für das Gebiet menschlichen Handelns g'ültig- ist,
aber auch, wie wir sehen werden, eine umfassendere, sich
weiter erstreckende Bedeutung- haben kann. Hier stellt der
Zweck eine Kateg"orie dar, eine Beding"ung' (Konstituierende)
des Wirklichke itsz.usam menhanges selbst als eines
Gegenstandes möglicher Erfahrung.
Verstehen wir unter „Realität" einen einheitlichen Zu-
sammenhang von Gegenständen möglicher Erfahrung, dann
gehört der Begriff und Grundsatz der Kausalität zu den
diesen Zusammenhang konstituierenden, begründenden Be-
dingungen. Mag es sich nun um das körperliche oder seelische
Sein, um physische oder psychische Vorgänge handeln, wir
sind genötigt, sie konsequent nach dem Gesichtspunkt der
Ursächlichkeit miteinander zu verknüpfen, also zu jedem
Geschehen, jeder Veränderung ein anderes Geschehen als
Ursache zu suchen, um eine der logischen Verbindung von
Grund und Folge entsprechende, wenn auch nicht mit ihr
identische Ordnung zu gewinnen, aus der heraus die einzelnen
Arten der Veränderung begreiflich werden. Den einheitlichen
Zusammenhang, den wir das System der Erfahrung nennen,
kann das Denken nur vermittels der kausalen Synthese er-
arbeiten; der Grundsatz der Kausalität ist daher sowohl eine
42
I. AUgemdner Teil.
apriorische, notwendige gültig-e Voraussetzung- als auch ein
unerläßliches Postulat, eine strenge Forderung der Erkenntnis,
wenn auch die einzelnen, konkreten Kausalverbindungen immer
nur an der Hand von Erfahrungsdaten, also nicht durch bloßes
Denken, nicht rein deduktiv sich bestimmen lassen. Das gilt
auch von den Gesetzen des Geschehens, sowohl von den
Naturgesetzen im engeren Sinne als von den psycliologischen
Gesetzen, welche durch eine gedankliche Verarbeitung des
Erfahrungsmaterials erkannt werden, während die Idee der
Gesetzlichkeit überhaupt als solche apriorisch und ^trans-
zendental" (erfahrungsbedingend) ist. In dem auf diese Weise
erstellten Erfahrungssystem finden nun auch Strebungen
und Wollungen, also auf Ziele gerichtete Tätigkeiten
als Ursachen unter anderen Ursachen, ihren Platz, und
zwar überall da, wo ihre Setzung zur Begreiflichkeit des Er-
fahrungszusammenhangs erforderlich erscheint, wo empirische
Kriterien zu ihrer Annahme vorliegen. Das Postulat durch-
gängiger kausaler Ordnung schließt die, wenigstens partielle,
Wirksamkeit „zielstrebiger" Faktoren nicht aus, sondern ein;
nur nimmt hier die Kausalität eine besondere Färbung- oder
Qualität an, sie ui d zu einer teleologischen Kausalität.
Das „Gerichietsein auf ein Ziel" ändert nichts am Kausal-
nexus, es bedeutet bloß eine besondere Beschaffenheit von
Ursachen, ein besonderes Merkmal bestimmter kausaler
Bedingung-en des Geschehens, welches in die besondere
Gesetzlichkeit des betreffenden Tatsach en g-eb i ets
schon von vornherein einzubeziehen ist. Diese Gesetz-
lichkeit ist eben selbst schon durch die Wirksamkeit ziel-
gerichteter Ursachen bedingt, sie gilt immer nur unter der
Voraussetzung dieser. Die Gesetzlichkeit des psychischen,
sozialen, kulturellen Geschehens z. B. resultiert aus dem
Zusammenwirken äußerer Naturfaktoren mit Trieb- und
willensmäßigen Zwecksetzongen als* Faktoren bestimmter,
typischer und individuell verBchtedener Handlungen, Gestal-
tungen und Verhältniase. > Hierbei braucht eine Durch-
brechung des physischen Kausalzusammenhangs keineswegs
angenommen zu werden, wofern man nur, im Interesse streng*
Dritt« Ktpitd. KMMlitftt imd Finalitlt
43
einbeitlielier Erfahroogsverarbeitiing, mit konseqnenteater
Festhaltimg' an dem jeweiligf eingenommenen Stand-
punkt der Betrachtung' ' das einzelne ph3rsi8clie und
physiologiadie Geschehen dem System der anfieren
(sinnlich vermittelten), das psycfaist^e Einzelgeachehen aber
dem System der inneren (unmittelbaren) Erfahrung ein*
ordnet
Eine teleologische Kausalität besteht da, wo als Ursache
eines Geschehens eine auf ein Ziel gerichtete Tätigkeit (als
Ausfluß eines Strebens oder Wollens) anzusetzen Ist Was
▼om rein teleologischen Gesichtspunkte aus ein nMittel" heißt,
ist in kauaal-teleologischer Betrachtung nichts anderes als die
Ursache oder Beding-ung- eines bestimmten Effektes, nur daß
die Eignung zur Herbeiführung- desselben zur besonderen
Charakterisierung* der Ursache dient und daß wir annehmen,
sie habe diese Eignung von Natur aus oder sie sei durch eine
Kombination von Elementen zur Bewirkung des Effektes eist
tauglich gemacht worden. In der (idealen) Beeinflussung- des
Geschehens und Seins durch Zwecke liegt nichts Geheimnis-
volles, wenn man nur immer streng- daran festhält, daß nicht
der Zweck als solcher, als etwas Ideelles, wirksam ist, sondern
das auf das Ziel, den zu bewirkenden, zu modifizierenden odw
2u erreichenden Zustand gerichtete Streben als ein an einen
Vorstellungsinhalt oder eine Empfindung, bzw. ein Gefühl,
eine Wertung sich knüpfender Vorgang. Dem Zusammenhang
von Mitteln und Zwecken entspricht kausal eine Abfolge
bestimmter Willens- oder Triebhandlungen, eine Reihe, in der
das folgende Glied von dem vorangehenden kausal ab-
hängig ist.
Die Frage: Wie ist eine Teleologie möglich, wenn
der Grundsatz der Kausalität allgemeingültig sein
soll? ist hiermit beantwortet. Es gibt in der Tat kein Ge-
schehen in der physischen oder psychischen Natur, in der
Körper- und Geisteswelt, das nicht seine bestimmten Ur-
sachen und Wirkungen hat; nichts erfolgt ursachlos (kausal
oder antikausal), sonst wäre es unbegreiflich und könnte
kein Glied des einheitlichen Krfahrungszusammenhanges
44
L AUscmclMr TeO.
bilden.*) Und noch mehr: di^ Kausalität der physischen Natur-
phänomene iat aU eine geschlossene «zn denken» soll der
einmal ein^nommene Standpunkt der si9olicb vermittelten,
natnrwiflsenschaftlichea Erkenntnis konsequent festgehalten
werden und sollen das aas diesem Standpunkt sich ergebende
Postulat der einheitlichen und universalen quantitativen Be-
stimmung der Veränderungen und das damit zusammen*
hängende Prinzip der Erhaltung oder Konstanz der Energie
zur Geltung kommen. Wird der Forderung der Allgemein-
gültigkeit der Kausalität durch die Kinführunir des Begriffs
der „telcoloßfischen Kviusalität" Genüg-e getan, so lassen
sich die anderen Erkcnntnispostulate so erfüllen: Psychische
Zielstrebigkeiten und Faktoren als solche werden nicht als
Ursachen physischer, physikalisch - chemischer und physio-
logischer Phänomene angesetzt, sondern als das Innen-
oder Fürsichsein physischer Ursachen, d. h. ebender-
selben Wirklichkeit aufgefaßt, die vom Standpunkt äußerer
Erfahrung und deren kategorialer und methodischer Ver-
arbeitung sich als physisch, körperlich, materiell, bzw. als
Bewegung, Kraft oder Knergie darstellt. Nur auf identitäts-
theoretischer Grundlage ist eine mit der strengsten und
einheitlichsten Durchführung des Kausalprinzips vereinbare,
monistische Teleologie möglich, die, wie wir sehen werden,
auch in dem Sinne wahrhaft „monistisch" ist, daß sie sich,
wenn auch nur in metaphysischer Deutung, auf das Gesamt-
geschehen in der Welt anwenden läßt.
Der Zweckbegriff hat nun zunächst eine rein explika-
tive Funktion, er steht im Dienste des Erkenntniswillens.
Einerseits wird das Geschehen, oder wenigstens ein Teil des-
selben, erst durch die Einreihung zielgerichteter Ursachen in
*) Treffend bemerkt R. Ooldacheid (Höherentwicklung und Menschen-
ökonomie I, 191 1, S. 637): „Und wenn wir bei allem Zweckstreben
stets von neuem fragen mflsien, mit welchen Mitteln diese Zwecke
erreicht werden, so dringt ans eben die Teleologie selbst wieder anf
das Prinzip der Kausalität zurück; mit anderen Worten: Je konsequenter
wir teleologisch denken, desto konsequenter kausal mflssen wir zu
forschen suchen."
Drittel I CB f ^ ftl. KimwHWf «ad Fbwlitit.
45
den Kausalsusaminenliaag' im yollen Ma&e begreif lidh« ander-
seits Terhilft die Forschung' nach den Bedingungen des
Zustandekommens zweckmSfiigerElnrichtongen zur Entdeckung
von Ursachen, die sonst nicht oder nicht so vollständig und
gerade nadi dieser Seite ihres Wirleens bestimmt worden
wiren. Von den anf diese Welse zu erforsdieiiden Ursachen
und Faktoren bilden die gefundenen Zielstrebigkeiten und
zielstrebigen Akte ein besondereSi f fir das Verständnis der vor^
gefundenen Zweckmäfiigkeiten wichtiges Ursaohengeblet; aber
eine regulativ-heuristische, die Erkenntnis fördernde Be-
deutung hat die explikative Zweckidee auch dann, wenn eine be-
stimmte Zweckmäßigkeit zu keiner Entdeckung unmittelbarer,
spezifischer Zielstrebigkeiten oder Zwecksetzungen führt In
jedem Falle dient die explikative Zweckidee, wenn sie kritisch
verwendet wird, als Leitfaden bei der Erforschung der Wirksam-
keit zweckmäßiger Gebilde und Funktionen, also als Ergänzung
des Kausalbegriffs. Eine kritische Teleologie darf eben in
keiner Weise die Erkenntnis der Ursachen des Geschehens
umgehen; sie darf auch nicht die neben den besonderen
Zielstrebigkeiten wirksamen Faktoren vernachlässigen, noch
auch imm^ das Zweckmäßige als ein von vornherein in
solcher Form Beabsichtigtes, Bezwecktes betrachten. Er-
kenntnishemmend wird nur jene Teleologie, welche die
Frage nach dem „Wie?", nach den zureichenden Ursachen
und Bedingungen von Zweckmäßigkeiten durch die Forschung
nach den Zwecken der Dinge ersetzen will, statt jene bloß
durch sie zu ergänzen und zu bereichern. —
Es muß gleich hier bemerkt werden, daß selbst die Aus-
dehnung der teleologischen Betrachtung auf das universale
Geschehen, die metaphysische Annahme, daß überall in der
Welt eine immanente Zielstrebigkeit besteht, an der Unter-
scheidung spezifisch zielstrebiger von den sonstigen Ursachen
einer besonderen Zweckmäßigkeit nichts ändert. Alle jene
Strebuiigen und zielstrebigen Tätigkeiten, die nicht auf den
in Frage stehenden besonderen Zweck gerichtet sind, be-
deuten im Verhältnis zu der betreffenden Zweckmäßigkeit
nichtgerichtete Ursachen, mögen sie auch im Hinblick auf
46
t AUgcmeiMr TdL
andere Ziele zur universalen teleologischen Kausalität ge*
hören. So können etwa Kräfte und Aktionen der Umwelt,
die zur cweckmäßigfen Gestaltung* dea Organismus beig'etrag'en
haben, ganz wohl auf eigene Ziele gerichtet sein, während sie
in Beziehung zu dem betreffenden Organismus die Rolle nicht«
gerichteter, rein mechanischer Faktoren spiele Beachten
wir dies genau, so wird uns mit einem Schlage ventandÜchi
wie ein „Pantelismus", die Annahme einer universalen Herr-
schaft des Zielstrebens in der Welt, mit einem „Pankausalis-
mus" durchaus vereinbar ist. Hiemach läßt sich die Mannig«
faltigkeit des Geschehens als ein System von Ursachen und
Wirkungen begreifen, welche in teleologischer Auffassung ins-
gesamt als Ausdruck von Zielrichtungen erscheinen, d. h. als
zielstrebige Reaktionen, die auf andere zielstrebige Reaktionen
notwendig erfolgen und wiederum solche notwendig unaus-
bleiblich zur Folge haben. Hierbei ist nicht etwa jeder Vor-
Cfang- als das Mittel zu einem anderen aufzufassen, denn dies
würde den Tatsachen Gewalt antun. Die Sache steht viel-
mehr so. Alle Vorgänge können aus zielstrebigen Akten
entspringen, aber die Ziele dieser sind zunächst elementarster
Art; sie bestehen etwa in der Beseitig-ung unlustvolier Zu-
stände der Wirklichkeitseiemente. Eine rein teleologische Re-
lation besteht zunächst nur zwischen den Aktionen und deren
immanenten Zielen, die als solche nicht selbst Vorgänge sind,
sondern den ideellen Gehalt des Strebens bilden. Die einzelnen
Aktionen selbst stehen miteinander in bloß kausalem Zu-
sammenhang, wenn sie nicht aufeinander hingeordnet
sind, in einem Finalnexus aber, wenn übergeordnete,
dominierende Zielsetzungen untergeordnete, ihnen
„dienende" zielstrebige Reaktionen bedingen, fordern,
die nun als Mittel zu einem bestimmten gewollten Geschehen
sich darstellen. Es sind also innerhalb des allgemeinen, kos-
mischen Systems zielgerichteter Vorgänge besondere, zu ge-
schlossenen Einheiten des Geschehens sich zusammen-
schließende teh'olojjfische oder finale Reihen zu unterscheiden,
innerhalb deren ein Glied sich als Mittel zum anderen verhält,
wie dies besonders in den Organismen der Fall ist —
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Drittes Kapitel. Xaanlitit nnd Fiaalittt
47
Flnalität und Kausalität stehen also, wie wir Sfesehen haben,
in keinem unüberwindlichen Gegensatz zueinander* Voraus-
j2fesetzt, daß alles Sein seinem innersten Wesen nach ein.-
heitlicher Natur ist, daß alles Physische der Ausdruck, die
objektive Erscheinung" einer der unserig-en zwar nicht gleichen,
aber doch irgendwie analog-en „Innerlichkeit" und Regsamkeit
ist, daß ein Streben, eine „Tendenz" allen Wirklichkeits-
faktoren zukommt, läßt sich jeder Vorg^ang^ zug"leich als
zielstrebig* und als kausal bedingt bestimmen, d. h. ebenso
als Ursache und Wirkungf anderer Vorgänge begreifen wie
als Mittel zu einem eigenen oder fremden (bzw. übergeordneten)
Ziel verstehen. Alle Kausalität erscheint von diesem uni-
versalen Gesichtspunkt aus als teleologische Kausalität, jede
Ursache als final bestimmt, wenn auch nicht durchweg auf
einen bestimmten äußeren Effekt als Zweck gerichtet. Alles
Geschehen hat seinen Real- und seinen Idealgrund, eine
Ursache und einen Zweck, der schon deshalb nie als eigener
kausaler Faktor eingestellt werden darf, weil er der Ursache
selbst immanent ist. Jeder ein Streben bekundende Vor-
gang ist ebenso durch andere zielstrebig-e Vorgänge gesetzt,
bedingt, wie er selbst andere Vorgänge zur Folge hat, so daß
man sagen kann: die kausale Ordnung ist die Er-
scheinung eines Systems finaler Elemente, oder die
Finalität ist der Untergrund der Kausalität, das Innere,
Qualitative zu den als solchen mehr äußerlichen kausalen Re-
lationen des Geschehens. Und da ohne Finalität nichts ge-
schehen wiirde, so ist die Finalität die metaphysische Vor-
aussetzung aller Kausalität. In diesem Sinne geht der Zweck
bzw. die „Idee" allem Geschehen voran, und setzt der Wille
das Sein, dessen Verhältnisse und Ordnungen aus zielstrebigen
Taten, aus finalen Aktionen und Reaktionen erwachsen.
Die kausal-funktionalen Abhängigkeiten der Erscheinungen
voneinander bringen innere, teleologische Zusammenhänge
zwischen den Wirklichkeitsfaktoren zum Ausdruck. In diesen Zu-
sammenhängen haben die kausalen Relationen ihr „Fundament",
ihr Eigen- und Innensein. Die realen Glieder des universalen
Systems ursächhcher Beziehungen sind zielstrebige Faktoren.
48
L Allgcmciiier TcQ.
Fragen wir nun nach der Vorannetzang' der Gültigkeit
dea Zweckdbegriffes und seiner Anwendung; ao ist es klar, daß
die regulativ* he üristia che Bedeutung der teleologischen
Methode im Sinne des Zurfickgehens von den Zwecken zti
den Mitteln als Bedingungen des Zustandekommens bestimmter
Erfolg-e auch dann bleibt, wenn wir diese Erfolge nur so be-
trachten, als ob sie erstrebt, bezweckt wären, wenn die Zweck-
setzung- also eine bloße „Idee" oder gar nur eine „Fiktion*
( Vaihinger) bedeutet Diese rein methodologische Geltung des
„formalen" Zweckbegriffes wird immer mehr anerkannt Soll
aber der Zweckbegriff eine darüber hinausreichende Gültigkeit
haben, also auf den Wert einer objektiven, einen realen Seins»
Inhalt setzenden „Kategorie" Anspruch erheben können, dann
muß die Möglichkeit bestehen, ihn auf ein dem unserigen
analoges, tatsächlich bestehendes Streben und Wollen zu be-
ziehen. Daß in unserem eigenen Seelenleben das Material
zur Anwendung des Zweckbegriffes gegeben ist, daß wir also
das Recht haben, uns selbst als zielstrebige und zwecksetzende
Faktoren zu betrachten, unterliegt Iceinem berechtigten ZwetfeL
Wir können auch nicht umhin, in unseren Nebenmensdhen
solche im Handeln sich nach Zwecken orientierende, nel-
strebige Wesen zu erblicken. Für die geistige, soziale und
kulturelle Welt erscheint also die Geltung des konstitutionell-
explikativen Zweckbegriffes gesichert, so kritisch wir auch bei
der Anwendung desselben im einzelnen verfahren müssen.
Soll nun aber die teleologische Methode auch auf das Seins-
gebiet der übrigfen Lebewesen ausj^edehnt werden, und zwar
in der Weise, daß wir organische Zweckmäßigkeiten als unter
dem Einfluß von Zielsetzungen entstehend und sich entwickelnd
betrachten, dann bleibt uns nichts übrig-, als daß wir schließ-
lich schon den primitivsten Organismen ein „Innensein" in
Form elementarer Strebungen zuerkennen, wobei wir uns
natürlich vor jedem Anthropomorphismus zu hüten haben. Die
Ähnlichkeit der fundamentalen Struktur aller Organismen so-
wie des äußeren Verhaltens derselben mit der Grundbeschalfen-
heit und den Grundreaktionen menschlich-organischer Substanz
gestattet eine solche Einiegung oder JLntrojektion" psychischer
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Drittes Kanitel. KuTOitBWt und FiaaliUtt
Vorgänge in alle Lebewesen, und die Idee der Entwicklang der
hoherent kompliderteren aus niederen, einfacheren Organismen
bestärkt una noch in dem Glaaben an die Berechtigning dieser
Introjektion. Wohl ist mis das tJnnensein** der Organismen
nicht unmittelbar wie unser eig^enes gegeben; es ist relativ, im
psycholog^iscfaen Sinne, nbewußtseinstranszendent", „transsub-
jektiv", d. h* von unserem empirischen, individuellen Ich untM^
schieden und unabhängigf, aber keinesweg-s erfahrungs- oder
erkenntnistranszendent, d. h, nicht etwas, das nicht Gegenstand
mög-licher Erfahrung^ oder Erkenntnis sein kann (wie etwa das
Unendliche, die Gottheit). Unser eigenes Innen- .oder Für-
sichsein ist durchaus erkenntnisimmanent, und wenn wir eine
Vielheit fremden „Fürsichseins" setzen, annehmen, fordern, so
überschreiten wir wohl die Grenzen unserer rein subjektiven,
psycholog-ischen, auf unser Ich sich beziehenden Erfahrung,
nicht aber das Gebiet einer „Er&hrung überhaupt". Wir bilden
also keinen Begfriff von etwas, zu dem uns jedes Erfahmng»-
material fehlt; wir bleiben innerhalb der Grenzen des logfischen
oder transzendentalen „Bewußtseins" als des Inbeg-riffs der Be-
dingungen empirischer Erkenntnis, zu deren Inhalten eben eine
Mannigffaltigkeit von relativ selbständigen Objekten und Sub-
jekten (oder Ichs, strebenden und empfindenden Einheiten)
gehört. Finden sich nun Gründe oder Anhaltspunkte zur
denkenden Ergänzung- des „Außenseins" aller räumlichen Ob-
jekte durch ein in sie hineingelegtes „Fürsichsein", so ist dies
wohl schon Metaphysik, was wir da treiben, aber kritische
Metaphysik, die sich ihres metaphysischen Charakters, der
Voraussetzungen aller Erkenntnis, der Bezog- enheit alles
Erkenntnisinhaltes auf die Gesetzlichkeit des er-
kennenden, logischen Bewußtseins bewußt bleibt und es
vermeidet, sich in das Gebiet des absolut Transzendenten,
des vom „Endlichkeitsstandpunkt" Unerfaßbaren, Unerforsch-
liehen, des „absoluten An sich", zu beg-eben.
Vom erkenntniskritischen Standpunkte läßt sich demnach
gegen die Annahme, daß alles Wirkliche nicht bloß aus einer
Mannigfaltigkeit raumzeillich - kausaler Beziehungen besteht,
sondern auch ein q,ualitativ bestimmtes E^igensein, eine
£iiler. Der Zweck. 4
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50
L Allgemeiner Teil.
^Innerlichkeit*' analog der unserigen besitzt, kanm etwas ein-
wenden; denn ein Hinansgeben aber das eigene subjektive
Ichbewußtsein ist ja schon .mit der Anerkennong eines fremden
Seelenlebens als Ffinichsein unserer Mitmenschen gegeben*)
imd mit der Besinnong auf die logischen, transsendentalen»
ainionschen Bedingungen der Erfohrung durchaus vereinbar.
Vom Standpunkt der ^zelwissenschaften aber w&re die An-
nahme eines universalen Fursichseins nur dann bedenklich,
wenn das Prinzip der geschlossenen Kausalität dadurch
verletzt würde, daß die den Dingren beigelegten ps3rchischen
Regungen als Ursachen physischer Phänomene bestimmt
werden, und daß die Eindeutigkeit der Kausalbeziehung
verloren geht Es würde einen gefihrlicfaen Ruckschritt in
der Wissenscfaaftsentwicklung bedeuten, wollte man physika*
Usch-chemische Vorgänge, Veränderungen an Rauminhalten
nicht immer wieder aus anderen raumzeitlichen, mate-
riellen bzw. dynamisch-energetischen Vorgängen er-
klären, sondern sie als Wirkungren nicht-physischer Kräfte
betrachten, von denen nicht einzusehen ist, wie sie, noch dazu
ohne Aufhebung fundamentaler Grundsätze und Postulate der
Naturwissenschaft, auf etwas Materielles wirken können«*^ Aber
die Setzung eines Innenseins aller Dinge ist, wie g-ezeigt
wurde, mit der größten Konsequenz und Einheitlichkeit der
naturwissenschaftlichen, quantitativen Erklärung des Ge-
schehens durchaus verträglich; denn sie führt keine neuen
Ursachen in das Gebiet der Naturwissenschaft ein, sondern
ergänzt nur die kausalen Relationen durch etwas
Qualitatives, das in ihnen selbst zum sinnfälligen
und objektiven Ausdruck kommt. Es war von jeher der
Grundfehler des dualistischen Spiritualismus, das Innensein
der Dinge zu besonderen „Ursachen" und „Kräften" und diese
zu Gliedern der Reibe der Naturkausalität zu machen, anstatt
bloß der Gesamtreihe der Naturphänomene einen ebenfalls
in sich geschlossraen Zusammenhang qualitativ-finaler Ver-
*) Vgl. W. Jerusalem, Einleitung in die Philosophie, 5.-6. A, 1913.
**) VgL JSMer, Leib und Sed^ igo6; Geist und KOiper, 1911.
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Drittel XapitaL KuHlitlt nnd FfauOillt.
51
änderangen unterzulegen. Der Wille zum einheitlichen Ver-
ständnis des Sinnes alles Geschehens darf das Postulat ein-
heitlicher Begrreiflichkcit der Naturphänomene nicht be-
einträchtig-en, so berechtiget er auch an sich ist
Es steht somit der metaphysischen Annahme, daß alles
Sein, wie es seiner sinnlich vermittelten Erscheinung" nach
schließlich eines Wesens ist, so auch ein im Grunde g"leich-
artigfes, wenn auch reich abg-estuftes „Inneres" besitzt, nichts
im Weg-e, wofern nur die Gesetzlichkeit des Naturg-eschehens
unverbrüchlich bleibt und an den Prinzipien der Naturerklärung"
sich nichts ändert. Die Ergebnisse metaphysischer Deutung
dürfen den Denkmitteln im Dienste des Zweckes der Natur-
erkenntnis keinen Abbrach tun, sie dürfen deren Leistung und
Tragweite in keiner Weise verringern. Daß aber „Innerlich-
keit" als ein elementarstes „Psychisches" dem Realen über-
haupt zukommt, ist nicht bloß deshalb anzunehmen, well so
alles Geschehen einen Sinn bekommt, das spekulative Einheits-
bedürfnis befriedigt wird, das Postulat der Stetigkeit des
Seins zur Erfüllung kommt u. dgl., sondern auch aus dem
bedeutsamen Grunde, weil in keiner Weise abzuseilen ist, wie
das Psychische aus dem Physischen, die Subjektivität aus der
Objektivität, das Bewußtsein aus dein Sein, der Geist aus der
Materie irgend einmal hervorgehen kann. Will man nicht
zugeben, daß das Seelische im Laufe der Entwicklung plötz-
lich und aus nichts entstanden ist, und hält man auch die
Annahme einer Erschaffung desselben durch Gott für keine
innerhalb der Wissenschaft zulässige Erklärungsweise, dann
bleibt eben nichts übrig, als die Voraussetzung: der Keim, die
Potenz zu dem, was auf einer höheren Entwicklungsstufe als
„Geist" im engeren Sinne auftritt, ist schon im Wirklichen
überhaupt vorhanden, etwa als ein noch ganz undifferenziertes,
nicht zentralisiertes „Momentanbewußtsein" {Leibniz» Wundt),
als eine Art „Verspüren" von inneren Veränderungen und als
eine Impulsivität des Reagierens auf erlittene „Störungen", also
als eine rein immanente, äußerer bestimmter Zwecke noch er-
mangelnde, dumpfe Zielstrebigkeit, noch ohne Selbstbewußt-
sein, ohne Wahlfähigkeit, ohne eigentliche Aktivität, ohne
4*
62
I. AlIfemdBcr TeOU
Vorstellung'en und Assoziationen u. 6gL {S<Aopenhauer u. a.). Es
hat demnach das elementare Reale swar noch keine ein^
heitliche Seele, keinen „Geist" im engeren SinDe. aber es
kann g'anz wohl seelische DifEerenziale oder Potenzen besitzen.
Nor das entwickelte seelische Sein setzt eine Orgfanisation
voraus, in der es zum Ausdruck gfelangt und mit der es un-
treimbar verbunden erscheint, während die seelische Potenz
überhaupt, die Fähigkeit, Modifikationen zu verspüren und
triebmäßig auf sie zu reagfieren, weit entfernt, ein bloßes Ent-
wickln ngsprodukt zu sein, am Anfang- aller Entwicklung-
stehen kann, ja stehen muß und der Substanz als solcher
eig-en ist (Fechner, Wundt u. a.). Will mau eine solche Auf-
fassung des Eig-enseins des Realen als „Panpsychismus" be-
zeichnen, so ist dagegen nichts einzuwenden; nur ist dies eben
ein kritischer Panpsychismus, der nicht mit bloßen Phan-
tasiegebilden operiert, der weder den Bäumen, Steinen u. dg-l.
noch auch notwendig den Gestirnen eine besondere, einheit-
Hche Seele zuschreibt, der im Unterschiede vom primitiven
Aniraismus den Dingen keine guten und bösen Absichten bei-
mißt, kurz, der sich von der anthropomorphistisch-animistischen
Weltanschauung des primitiven Menschen und auch vom dog-
matischen „Hylozoismus" scharf unterscheidet. Dieser Pan-
psychismus verleiht nur dem Standpunkt der unmittelbaren,
„inneren" Erfahrung dieselbe Universalität, welche die
Naturwissenschaft für den Gesichtspunkt der „äußeren" Er-
fahrung und der auf sie eingestellten Erkenntnisweise fordert.
Wenn gesagt wird, der Zweck sei „ein Fremdling- in der
Natur*' (Kant, Riehl u. a.), so hat dies seine gewisse Berech-
tigung, nämlich, falls man unter „Natur*' nicht etwa das Uni-
versum, sondern den Inbegriff der nach Naturg-esetzen zu-
sammenhängenden physischen Phänomene als solcher versteht.
Ein Zielstreben im strengen Sinne des Wortes kann unmittelbar
nur einem Wesen mit psychischen Fähigkeiten, einem Subjekt,
nie einem physischen Objekt als solchem, zugeschrieben
werden. So ist es denn auch nicht die physische Natur als
solche, nicht das System der Körper und deren Relationen,
wohin wir Zielstrebigkeit und Zwecksetzung unmittelbar zu
Drittes Kapitel. KaoMlitlt and Fioalitlt
58
verleg-en haben, sondern da» Innen- oder Fiirsichsein eben«,
derselben Wirklichkeit, die vom Standpunkt der äußeren Er-
fahrung' sich als Natur darstellt oder als solche methodisch
bestimmt, g-edacht wird. Und wenn man mit Recht der
„Natur" im Sinne des mehr passiven, reaktiven und ixt"
'wiichsig-en Seins das Reich des Greistes und der Kultur gfegen-
überstellt, in welchem die zweckbewußte Tat zu schöpfenadiem
Wirken und aktiver Gestaltung' des äußeren und inneren Da-
seins wird, und welches das eij^entliche Gebiet der Wertung-
lind Normierung darstellt, so darf man nicht verg'essen, daß,
vom genetischen Standpunkt betrachtet, die Wurzeln dieses
Kulturlebens in das Innensein dessen hinabreichen, was uns
als Natur erscheint, daß es sich der Zeit nach aus einem
solchen Innensein entwickelt hat. Gibt man dem Wort „Geist"
die weiteste Fassung", dann kann man sagen: der Zweck steckt
insofern in der Natur, als diese die Objektivation, Erscheinung,
der Ausdruck, die Verkörperung- eines Geistes ist, der auf einer
g-ewissen Stufe relativ unbewußt, unzusammenhängend, einseitig,
automatisch, stabil, relativ erstarrt ist {Sclielling). Der Geist als
Prinzip aber geht nicht aus der Natur hervor, auch steht er
nicht äußerlich neben ihr, sondern die ganze Natur ist eine
Objektivation, Erscheinung- und, in g^ewisser Hinsicht, zugleich
eine Art Niederschlag des Geistes überhaupt, des universalen
Zusammenhanges von Zielstrebigkeiten, die aller Entwicklung
als innerste Faktoren zugrunde liegen und deren Produkt die
Zweckmäßigkeit in der Natur ist (idealistischer Evolutionis-
mus).*) Der „Geist** im kosmischen Sinne ist unentstanden
und ewig wie die Natur; in allen Gebilden und auf allen
Daseinsstufen derselben ist er wirksam, die ganze Natur ist
seine Manifestation, sein Ausdruck, seine Verkörperung, nicht
bloß die kultivierte Natur. Freilich ist der universale Geist,
der das Innensein des Kosmos bildet, als Einheit und Totalität
nicht erfahrbar, er ist für unser empirisches Erkennen absolut
transzendent. Aber das hindert doch nicht, daß wir wenig-
stens einen metaphysischen Ausbück gewinnen, indem der
*) Ahnlich Ftchner, Wundi, FowOU u. a.
Digitizec i^j *^oogIe
54
I. Allgemeiner Teil.
dieorotiflehe Einheitswflle die Mannigfaltig'kett des Empiriselien
zu einer Synthese höchster Ordnung^ verknfipfen läßt, die
uns zwar kein Eifahrungsobjekt liefert, wohl aber die Idee einer
All-Einheit des Geistigen wie des Physischen bedeutet, die
eine Bedingung größtmöglichen Verständnisses des empiiischen
Seins darstellt Die Gültigkeit des Zweckbegri& für alle
Wirksamkeit in der Welt aber ist unabhängig von aller trans-
zendenten Metaphysik, sie erstreckt sich auf das Gebiet mög-
licher Erfahrung, auf die erkenntnis-immanente Wirklichkeit,
auf die Realität, wie sie in den Formen und in der Gesetzlich*
keit des logischen, transzendentalen Bewußtseins überhaupt
zur Bestimmung gelangt Der universale Psychismus und
Finalismus ordnet sich so dem Logismns und Transzendentalis-
mus unter und ruckt damit von allem Psychologtsmus und
„Metaphysizismus** im dogmatischen Sinne ab.*)
*) Vgl. das vorletzte Kapitel: Der Zweck in der Logik und Er-
kenntnistheorie.
i^iy u^uü i.y Google
Viertes KapiteL
Zielstrebigkeit und Zweckmäßigkeit.
Nicht selten wird gegen die Teleologfie der Einwand er-
hoben, es gebe doch so viel Unzweckmäßiges, Zweckwidrigfes
und Zwe<±lose8 in der Welt, daß von der Existenz and Wirk*
samkeit zielstrebiger Faktoren in der Nator nicht wohl die
Rede sein könne. Gewifi, so wird gesagt, benützen wir
Menschen eine Menge von Dingen für unsere Zwecke, aber
man könne doch keineswegs behaupten, diese Dinge seien
von vornherein daza bestimmt, von uns Menschen verwertet,
in Gebraoch genommen zu werden. Denn es bestehe kein
sichtlicher Zusammenliang zwischen unseren Zwecken und
dem Vorkommen, der Existenz dieser für uns zweckdienlichen
Dinge. Femer sahen wir ja in so vielen Fallen, daß Hand«
Jungen von Lebewesen, organische Funktionen überhaupt^
unzweckmäßig ausfallen, daß Organe nicht so gebaut sind,
wie es der Zweck der Erhaltung der Organismen erfordern
würde, daß es dem Anscheine nach ganz übezflüssige Organe,
ja auch geradezu schädliche Rudimente solcher gibt. Und
ebenso verweist man gern auf die nicht zu leugnenden Un-
voUkommenheiten auf geistigem, kulturellem, sozialem, sitt-
lichem Gebiete, auf die zahlreichen Obel in der Welt
Diese „dysteleologischen***) Argumente {Haeekd u. a.)
haben sicheiliah ihre Bedeutung, insbesondere gegen die
NützUchkeitsteleoIogie und eine gewisse platte Art des „Opti-
mismns**. Zweifellos kommen wir mit einer solchen NützUch-
keitsteleoIogie alten Stiles nicht weit; eine brauchbare Er-
klärung des Seins und Geschehens im einzelnen kann sie uns
*) „Dysteleologie'^ beißt die Lehre vom Unzwecktnäi3igen in der
Natur.
56
h Anfendncr Tefl.
jedenfalls nicht liefern. Ebenso unterlieget es keinem Zweifel,
daß für uns in der Welt vieles nicht so ist, wie es wohl sein
müßte, wenn das Maximum an Zweckmäßigkeit fibendl schon
verwirklicht wäre.
Aber das Vorkommen des Unzweck mäßigten macht die
Annahme oder Anerkennung- einer Zwecksetzungf und Ziel-
strebigkeit keineswegs unmöglich. Zweckmäßigkeit und
Zielstrebigkeit sind scharf zu unterscheiden. Etwas kann
zunächst durchaus zweckmäßig oder zweckdienlich sein
und doch unmittelbar mit keiner spezifischen Zwecksetzung
zusammenhängen. Alle Stoffe, die wir in der Natur vorfinden,
alle Kräfte und Energien, die wir antreffen, können sich
früher oder später als tauglich erweisen, unsere Zwecke zu
fördern; sie sind dann zweckdienlich, haben Eigenschaften,
die in der Richtung dessen liegen, was wir anstreben, be-
wirken, erreichen wollen. Ihre Wirkungen sind so, wie wir
sie wünschen und benötigen, ohne daß sie deshalb schon
einem besonderen Willen, unseren Bedürfnissen abzuhelfen,
uns zu fördern , entsprungen zu sein brauchen. Die ver-
schiedensten Dinge in der Natur eignen sich also zu Mitteln
für die Zwecke der Menschen und der anderen Lebewesen,
aber es ist keineswegs von vornherein bestimmt, was im ein-
zelnen Fall gerade ein solches Mittel für besondere Zwecke
werden wird. Es besteht in diesem Sinne eine „Zufälligkeit**
der Mittel {Pauly), Ferner ist nicht zu leugnen, daß auch eine
Reihe von Handlungen einen zweckmäßigen Charakter be-
sitzt, ohne unmittelbar bezweckt zu sein. Diese Zweck-
mäßigkeit kann rein , .zufälliger" Art sein, indem etwa eine
Reaktion des Lebewesens eine Wirkung hat, die für dasselbe
nützlich, förderlich ist, ohne daß diese bestimmte Wirkung
vorausgesehen, gewollt war. Oder aber es kann eine Variation
von Lebewesen auftreten, die in bezug auf die Umwelt, die
Lebensbedingungen zweckmäßig ist und doch nicht im ge-
ringsten vorgewußt und erstrebt war. Es kann als höchst
bedenklich erscheinen, wenn man alle organische Zweck-
mäßigkeit auf das Walten des bloßen „Zufalls" oder auf rein
mechanische, äuJßere Faktoren zurückführt; aber es besteht
uiyitized by Google
1
Vierte» K«|>iteL Zkblrebif keU «ad Zmchnlfli^L
57
doch eine gfewisae Wahrscheinlichkeit, daß unter den vielen
Mög"lichkeiten der Fonnenbildung- und des Reag-ierens immer
wieder auch Fälle von relativer Zweckmäßigkeit (Erhaltung-s-
gemäßheit) vorkommen werden. Ein anderer Teil des Zweck-
mäßigen beruht wieder auf der Nachwirkung- früherer Zweck-
handlungen. Unter deren Einfluß entstehen zweckmäßige
Orp inc und Einrichtungen; vieles, was einst, zuerst bewußt
zielstrebig, „teleokiin" (Kohnsfamm) verrichtet wurde, läuft nun
automatisch, ohne besonderes Zweckbewulitsein und Wollen
ab und ist dennoch zweckentsprechend, erhaltungsgemäß.
Als Beispiel dafür wären etwa gewisse Ausdrucksbewegungen
und Reflexe anzuführen. Die „Mechanisierung" von Wiliens-
handlungen und damit von bewußten Zweckmäßigkeiten, die
Verwandlung derselben in Triebvorgänge und schließlich in
automatische oder Reflexbewegungen ist von höchster Be-
deutung. Sie selbst ist eine zweckmäßige Erscheinung-, denn
sie bedeutet eine Ersparnis an Energie, eine Entlastung des
Lebewesens, ein Freiwerden zielstrebiger Kräfte für neue
Wirkungen, neues Schaffen, eine Verwertung des in der Ver-
gangenheit Errungenen.
Anderseits gibt es genug zielstrebige Tätigkeiten, die ihr
Ziel verfehlen und somit unzweckmäßig sind. Sie eignen sich
nicht dafür, wozu sie dienen sollen, sei es, daß sie gänzlich
verfehlt, völlig unangemessen sind, sei es, daß ihre Energie zu
gering ist; oder äußere, unvorhergesehene Umstände wirken
der zielstrebigen Tätigkeit hemmend, ablenkend entgegen.
Fehlgriffe aller Art weisen darauf hin, daß die Fähigkeit der
Wesen, zweckmäßig zu handeln, mehr oder weniger begrenzt
ist daß sie der Übung, der Ausbildung, der Entwicklung be-
darf. Wie leicht irren wir bezügücl] der Wege, die ein-
zuschlagen sind, um ein bestimmtes Ziel zu erreichen, einen
Zweck, einen Plan zu verwirklichen! Wie oft bedarf es erst
vielen Probierens und Versuch ens, bis wir „richtig" und
sicher operieren. Nicht anders verhält es sich bei den übrigen
Lebewesen. Erst bemerken wir oft ganz erfolglose Bewegungen
an ihnen; dann werden verschiedene andere Reaktionen pro-
biert, von denen schließlich eine zweckmäßig ist. Nach
58
L Allgemdner Teil.
wenigen Wiederholung-en findet schon öfter die zweckmäßig-e
Bewegfungf mit Sicherheit statt. Hier spielt auch das Ge-
dächtnis oder die „Mneme" {R. Semon) eine wichtige RoUe.
Hat sieb eine der versuchten Tätig^keiteo als zweckmäßig' ex^
wiesen, dann bleibt von ihr eine Spur oder ein Eindruck zu-
rück, der das Streben das nächste Mal bestimmt und der
Reaktion die Richtung- gibt. Wir haben, bei höheren Lebe-
wesen, dann schließlich nicht nur eine Zielvorstellung-, sondern
auch eine durch sie reproduzierte Vorstellung* des Mittels,
etwa eine bestimmte, nach Verwirklichung- dräng-ende Bewe-
gung-svorstellung-. Infolg-e der Übung- kann sich die Handlung-
automatisieren und an Stelle der Vorstellung- des Mittels wirkt
dann eine bloße (psychophysische) „Disposition". Physiolog-isch
entspricht sowohl der Ziel- als der Mittel-Vorstellunt^- ein be-
stimmter Nerven- oder Gehirnprozcß, der auf früheren Reizen
und deren Nachwirkung-en beruht und jetzt durch einen
äußeren oder inneren Reiz ausg-elöst wird. Und ebenso hat
die psychische Disposition ihr physiologisches Korrelat etwa
in einer „Bahnung-", d. h. einer Modifikation der Nerven-
substanz und einer damit zusammenhängenden besseren,
schnelleren, leichteren Weiterleitung- der Erregung. Wie also
Erfahrungen, die wir gemacht haben, unser ferneres Handeln
beeinflussen und es immer zweckmäßiger gestalten, so hinter-
lassen zweckmäßige Bewegungen Spuren („Engramme": Semon)
in der organischen Substanz auch schon der niedersten Lebe-
wesen und passen dadurch die ferneren Reaktionen derselben
immer besser bestimmten Zielen an.
Von höchster Wichtigkeit für die Erklärung des Zustande-
kommens von Zweckmäßigkeiten ist ferner das Prinzip der
,,Heterog-ODie der Zwecke" {Wandt u. a.).*) £s kommt
*) Nach Wundt stellt sich „das Verhältnis der Wirkungen zu den
vorgestellten Zwecken so dar, daii in den erstercn stets noch Neben-
cffdcte gegeben sind, die in den voransgehenden ZweckvorBtellmigea
nicht mitgedacht waren, die aber gleichwohl in neue Motivreihen ein-
gehen nnd auf diese Weise entweder die bisherigen Zwecke umändern
oder neue zu ihnen hinzufügen" (Grundriß der Psychologie ^ 1902,
£. 400). «Der Zusammenhang einer Zweckreihe besteht danach nicht
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Viertel Kapitd Zielsbeblclieit und ZwednnUigkdt 59
Dämlich sehr oft vor, daß Zwecktätigfkeiten Wirkung-en, Folgen
haben, die nicht angfestrebt wurden, ahex doch in der Grund-
richtung' des Strebens liegten, und die nun« nachdem sie sich
als er5;trebenswert, zweckvoil gezeigt haben, selbst zu Zwecken,
zu Zielpunkten des Strebens werden. Das Gleiche g-ilt von
gewissen Neben- und Nachwirkungen einer besonderen Reihe
von Zweckhandlung-en. Daraus ergibt sich nun oft eine Dis-
krepanz, eine g-roße Verschiedenheit zwischen dem ursprüng-
lichen Zweckmotiv und dem aUmählich zum Strebensziel ge-
wordenen Inhalte des Willens. Der ehemalig-e Zweck hat
einem anderen Platz gemacht oder er ist jetzt wenigstens
nicht mehr Hauptzweck, ein bloßer Nebenzweck des Handelns.
Umgekehrt können Nebenzwecke im Laufe der Zeit zu Haupt-
zwecken werden. Ferner ist nicht selten zu bemerken, daß
etwas, was erst ein bloßes Mittel zum Zweck war, später
selbst den Charakter eines Zweckes annimmt; es können
eben äußere und innere Veränderangfen eintreten, die eine
Wert- und Motivverschiebung- zur Folg-e haben, so daß
jetzt der Lustwert des Mittels den des Zweckes überragt oder
die frühere Zweckvorstellung jetzt Unlust, Widerstreben erregt.
Die Wertverschiebung in Verbindung- mit der Heterogonie
der Zwecke läßt aus einer ursprüng^Iich geringen Anzahl von
Zielen allmählich eine große Fülle von Zwecksetzungen und
Zwecken erwachsen, und die Einübung der betreffenden
Zwecktätig^keiten führt schließlich zu vielen Zweckmäßigkeiten,
die anfangs nicht im geringsten vorgesehen und vorgewollt
waren.
darin, daS der znletzt erreichte Zweck schon in den arsprangUchen
Motiven der Handlungen, die sdüiefilich zn ihm geführt haben, als
Vorstellnng enthalten sein muß, ja nicht einmal darin, daß die zuerst
vorhandenen Motive die zuletzt wirksamen selbständig her\'orbringen,
sondern er wird wesentlich dadurch vermittelt, daß der Effekt jeder
Wahlhandlung infolge nie fehlender NebeneinflOsse mit der im Moüv
gelegenen Zweckvorstdlnng un allgemeinen sich nicht deckt Gerade
solche anfierhalb des nraprOni^ichen Motivs gelegenen Bestandteile des
Effekts tonnen aber zu neuen Motiven oder Motivelementen werden,
aus denen neue Zwecke oder Veränderungen des nrsprttngltchen
Zweckes entsprmgen" (E^thik*, S. 266; 4. Aufl. 191a).
60
I. AUgemdaer Teil.
Die Zielstrebigkeit in dem Sinne, daß etwas das Ziel eines
Strebens oder Wollens bildet, darf also keineswegs däza
dienen, alle bestimmte» gfewordane Zweckmäßisfkeit im Op-~
g-anischen und Geist^fmi als eine vorhergfesehene und von
Anfangf an g-ev/ollte zu erklären* Auch die Berufungf auf
(absolut) unbewußte Vorstellung'en oder auf eine „Hell-
sichtig-keit'* des „Unbewußten" (E. v. Hartmann) ist übel an-
g-ebracht und nur gfeeignet, alle Teleolog^ie zu diskreditieren^
Ebenso erregt es gewichtijre und durchaus berechtigte Oppo-
sition, wenn man etwa schon ganz niederen Lebewesen irgend
ein primäres „Wissen" um zweckmäßige Mittel und ein Urteils-
vermögen zuschreibt, wie es auf einer solchen iintwicklungs-
stufe noch nicht anzusetzen ist, weil hier eben die Voraus-
setzungen dazu fehlen. — Es liegen nicht bloß der Entwick-
lung- Ziele und Zwecksetzungen zugrunde, sondern die Zwecke
und Zielstrebigkeiten selbst sind wie das Zweckbewußtsein der
Entwicklung unterworfen. Sie differenzieren und integrieren
sich, stehen im Wettbewerb miteinander; es gibt eine Selek-
tion der Mittel und Zwecke sowie eine Anpassung der Ziel-
strebigkeit und Zwecksetzung an die sich verändernden Ver-
hältnisse. Die Zielstrebigkeit der Wesen ist, weit entfernt,
etwas Starres, Abgeschlossenes zu sein, in verschiedenem
Maße variabler Natur; ihre Richtung ist kerne geradlinige
und nur von innen her determinierte, sondern immer auch
durch äußere Umstände bedingt, denen sie sich anschmiegen,
anpassen muß oder kann.
Die Sache liegt also nicht so einfach, wie manche Teleo-
logen, aber anderseits auch viele Antiteleolog-en glauben.
Wohl ist es richtig, daß nicht jede Zweckmäßigkeits-
erscheinung direkt oder indirekt auf eine besondere Zweck-
setzung hinweist, daß sie insofern rein kausal zustande ge-
kommen sein mag. Ebenso wahr ist es aber, daß das Un-
zweckmäßige nicht schon an sich alle Zielstrebigkeit aus-
schließt. Es ist femer der Zusammenhang zwischen deu
Funktionen der Wesen und deren Tendenzen nicht immer
ein eindeutiger und durchsichtiger; vielfacli liat die besondere
Zweckmäßigkeit eines Organs oder einer Leistung zu der uu-
Digitized by Google
Viertel Xapild. ZidatocUckdl «ad Zwcdmtti^t 61
mittelbaren Zielstrebigkeit, die hier wie in anderen Fällen an*
zunehmen ist, keine direkte Beziehungv Sie ist nicht bloß die
Wirkung dieser besonderen Zielstrebuog, sondern ein Produkt
der Entwicklung und des Zusammenwirkens innerer und
äußerer Faktoren. Aber es gfeht nicht an, alle organisch-
g-eistige Zweckmäßigkeit nur auf das Walten des „Zufalls**
oder bloß äußerer Ursachen zurückzuführen. Ein Minimum
an 2äelstrebigkeit bildet die Voraussetzung für das Znstande*
kommen der Zweckmäßigkeiten und für die Anpassung an
die Veränderungen der Umwelt, mag diese Anpassung auch
zum Teil auf keiner sie voraussehenden Zwecksetzung be-
Zllhen. Und wenn die zweckvollen Reaktionen der Lebe*
wesea vielfach automatisch ablaufen, so darf nicht übersehen
werden, daß die Struktur der Org-anismen ihre zweckmäßige
Einrichtung- schon unter dem Einflüsse zielstrebiger Funk-
tionen und nützlicher Anpassuncfen erhalten hat. Sie ist
g-leichsam ein Niederschlag dieser Funktionen, ist gleich-
sam auf g-esp ei c h e rte Finalität, indem sie die Residuen
derselben in ihrer Form wie in den an sie g-ebundenen
Kräften und Reaktionen enthält. So wird sie zum In-
strument weiterer, höherer Zielstreb ig^keit, die dann
zum Teil ebenfalls sich verkörpert; und dieser Prozeß schreitet
bei den höheren Organismen, insbesondere beim Menschen,
immer weiter.
Wir dürfen auch nicht vergessen, daß Zweckmäßigkeit
stets etwas Relatives ist. Ganz abgesehen davon, daß für
das eine Individuum etwas nützlich sein kann, was für das
andere schädlich ist, und daß oft der Nutzen des einen der
Schaden des anderen ist, ist auf die besonderen Verhält-
nisse zu achten, von denen es abhängt, ob und in welchem
Maße etwas zweckmäßig ist. Organe und Funktionen, die in
einem bestimmten Milieu zweckdienlich, d.h. erhaltungsgemäß
waren, können in einem anderen Milieu nutzlos, ja geradezu
zweckwidrig werden. Es können auch Organismen sich so
verändern, daß Organe, die einst zweckmäßig, nützlich waren,
jetzt zwecklos oder auch schädlich sind (Rudimente). Auf
dem Gebiete des Geisteslebens tritt uns so manches Un-
^ i^ud by Google
62
L AUg CT udi i CT TdL
zweckmäßige entg'egfen, das einst, unter ganz anderen Ve>
liältnissen, seinen Zweck hatte. Das Zweckmäfitgfe der einen
Entwicklungsperiode erweist sich nicht selten als das Un-
zweckmäßigre einer anderen, und es bedarf hier wie auch
sonst im Organischen und Geistigen einer immer neuen
Anpassung- und Regfulierung-. Endlich ist auch der Um-
stand zu beachten, daß das Maximum einer partiellen Zweck-
mäßigkeit zuweilen nur auf Kosten einer partiellen Unzweck-
mäßigkeit oder auch einer gewissen Schädigung des Ganzen
erreicht wird, wenn eben die dem Organismus zur Verfügung
stehenden Energien allzu sehr in den Dienst eines Sonder-
zweckes gestellt werden. Zwecktätigkeiten können einandc»r
ebenso hemmen, stören, beeinträchtig-en wie fördern, unter-
stützen, und die einseitige Entfaltung der Tätigkeit nach einer
besonderen Richtung bedeutet mitunter einen gewissen Still-
stand oder eine Rückbildung nach einer anderen Richtung,
einen Ausfall bestimmter Betätig-un2[-s- oder Entwicklungs-
möglichkeiten. Freilich gibt es auch hier, besonders im
Geistesleben und in der Sphäre kultureller Tätigkeit, aus-
bleichende Repfulationen und Kompensationen. Das Geistes-
leben der Menschheit schreitet so über alle Einseitig-kciten
des Wollens und Handelns hinaus, indem allmählich alle seme
Potenzen zur Entfaltung- gebracht und die Partialtendenzen
immer wieder und immer mehr zur Einheit der Zwecksetzung
verknüpft werden.
Der Anschein, als ob gewissen Leistungen keinerlei
Zwecktätigkeit zugrunde liege, hat seinen Grund darin, daß
man hier nicht an den Unterschied zwischen äußeren (ob-
jektiven) Zwecken und inneren (immauenten) Zielen denkt.
Es muß eben nicht jede Tätip-keit unmittelbar auf die Er-
reichung eines äußeren, objektiven Erfolges eingestellt sein;
sie kann auch bloß der Ausdruck eines Strebens sein, innere
Spannungen zur Lösung zu bringen, gewisse Kräfte zu be-
tätigen, Funktionsbedürfnisse verschiedener Art zu befriedigen
oder innerhalb des Bewußtseins selbst Veränderungen herbei-
zuführen. So fehlt es der Erkenntnistätigkeit und dem künst-
lerischen Schaffen kemeswegs an unmittelbaren, inneren
Digitizeo v^oogle
Viertes Kapitd. ZieUtiebiekcit und Zwecltmttiskeit. 68
Zielen, mögen dann noch äulSere Zwecke dazu kommen oder
nicht, oder mag* zugleich eine objektive Zweckmäßigkeit vor-
liegen. Im Laufe der Entwicklung können aus äußeren innere
Zwecke hervorgehen (z.B. beim Erkenntnisprozeß), oder äußere
Zwecke können die inneren, unmittelbaren Ziele überwuchern
(z. B. das Streben nach Gewinn den primären Zweck des
Spieles). Festzuhalten ist, daß nicht alle Zwecke praktischer
Art sind, daß es rein theoretische (logischoi ästhetische)
Zwecke gibt (etwa „Erkenntnis** als relneTt unmittelbare
Zweck der Erkenntnistätigkeit, des Denkens und Erkennens). .
Auch solche Handlungen, die scheinbar keinen Zweck
haben, können also einer Zielstrebung entspringen. Das Ziel,
dem sie dienen, kann ganz verschwommen, unklar, un-
bestimmt, relativ unbewußt oder unterbewußt sein, es braucht
auch nicht in objektiven, materiellen Wirkungen zu bestehen.
Aber das Ziel fehlt nicht ganz; es ist mindestens in dem Han-
delnden etwas vorhanden, nach dessen Abstellung, Aufhebung
er verlangt, wäre dies auch unter Umständen nicht mehr als
ein Unbehagen, das sich an verworrene Empfindungen knüpft
und ein Streben auslöst, es los zu werden. Ein besonderes,
entfaltetes Zweckbewußtsein ist keinessvt-gs mit aller Ziel-
strebigkeit verbunden, auch ist die Aufmerksamkeit nicht
immer auf deu Umstand gerichtet, daß man überhaupt einen
Zweck mit seinem Handeln verfolgt, so d.iü wir vom „primären",
rein funktionellen das „reflexive" Zweckbewußtsein zu unter-
scheiden haben.
Zu den objektiven Zwecken gehört die Erhaltung und
Vervollkommnung der organischen Individuen und Arten. Es
zeigt sich nun, daß die subjektive Zielstrebigkeit selbst etwas
objektiv Zweckmäßiges ist, denn sie läßt sich als ein Mittel
zur Förderung des Erhaltungs- und Entwicklungszweckes be-
trachten. Wesen, deren Zielstreben intensiver und extensiver,
differenzierter und zugleich zentralisierter ist als das der
anderen, haben in der Regel eine größere Aussicht, im Wett-
bewerb um die Lebensbedingungen, im Kampf ums Dasein
zu obsiegen. Außerdem wirkt die Zielstrebigkeit durch die
an sie geknüpfte größere Übung der Organe direkt im Sinne
Digitized by Google
64 ■ h AUgenetner Teil.
einer Steigerung biologiach wichtiger Funktionen und dient
«a der Höherentwiciclang. Das gilt anch von psychiBclien
Organen, Anlagen und Leistungen, zu deren Entwicklung und
Potenzierung in erster Linie die aktive, bewußte Zwecktatig-
<keit, das plan mäßige Wirken und ScbafEen beiträgt Ziel-
Strebigkeit und Zweckmäßigkeit beeinflussen also einand^
wechselseitig; eine entwickeltere Zielstrebigkeit führt zu einer
größeren Zweckmäßigkeit des Seins und Verhaltens, and um-
gekehrt ermöglicht die zweckmäßigere Gestaltung eines
Wesens eine reichere, aktivere, bewußtere, weitergreif ende
Zielstrebigkeit und Zwecksetzung. Ein Prinzip der „Selbst^
■Steigerung" herrscht so in der organischen Welt und ebenso
auch in der Welt des Geistes, der Kultur. Der Wille er-
arbeitet sich immer mehr und immer tauglichere ^f^ittel zur
Realisierung seiner Ziele, und die so erreichten Zwecke werden
zu Ursachen und Mitteln seiner eigenen Potenzierung.*) Alle
Zweckmäßigkeit in der Welt beruht letzten Endes auf einem
Streben; in dem Maße, als ein Wesen „strebend sich be-
müht", wächst die Zweckmäßigkeit seines Seins und Wirkens,
kann es sich immer mehr von dem Drucke der Weit erlösen.
♦) Nach Wundt macht der Organismus unter der Wirkung der in
ihm mhendoi Willenstriebe in vrachsendem Ifafie die ans der Auflen-
wdt angenommene Energie seinen Lebenszwecken nntertan. „Auf
solche Weise bildet der AuflMin des Organischen das erste Glied in
der Reihe jener Veranstaltungen, durch die der Wille als aktuelle
geistige Macht die Naturkräfte in seine Dienste nimmt, um die Erfolge
des geistigen Wirkens bleibend zu befestigen und neues Material für
die Steigerung dieses Wirkens xn gewhmen." (System d. Pliilos. I*, S. 327.)
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Fünftes Kapitel.
Explikativer und normativer Zweckbegriff.
Wie wir sahen, spielt die Zweckidee bei der Erforschungf
und Entdeckuag* der Ursachen, der kausalen Faktoren des
Geschehens, eine wichtige Rolle. Sie dient zur Herstellung
einheitlicher Zusammenhänge, indem unter ihrer Leitung der
Kausalnexus durch neue Glieder bereichert wird. Zu den
eo gefundenen Ursachen gehören insbesondere zielstrebige
Aktionen und Reaktionen, aus deren Zusammenwirken mit
äußeren Faktoren bestimmte Zweckmäßigkeiten sich erklären
lassen. Plierbei ist es nicht notwendig, die betreffenden
Zweckmäßig-keiten selbst stets als direkt ang-estrebt aufzufassen ^
dies würde oft den Tatbestand verfälschen und zu einer Ver-
schleierung der eig-entlichen Faktoren des Geschehens führen.
Aber die Wirksamkeit eines, wenn auch oft nur vagen, all-
gemeinen, unbestimmten Zielstrebens noch ohne feste äußere
Ziele, die Summation solcher Wirkungen sowie die allmähliche
Anpassung der zielstrebigen Funktionen an die Existenz-
bedingungen unter dem Einflüsse teils äußerer Momente, teils
der Erfahrung, Gewöhnung und Übung genügen zur An-
erkennung der teleologischen Kausalität, der Bedeutung
zielstrebiger Faktoren als Ursachen bestimmter Effekte. Soll
aber die Zweckidee der Einheitlichkeit und Geschlossenheit
kausaler Erklärung keinen Abbruch tun, so darf sie nicht im
Sinne der Einführung einer ganz neuen Art von „Zweck-
ursachen" neben anderen Ursachen gebraucht werden. Man hat
vielmehr zunächst so vorzugehen, daß man sich im Reiche
der durch die gedankliche Verarbeitung des Erfahrungs-
materials gewonnenen und noch zu gewinnenden physischen
und psychischen Tatsachen nach solchen Vorgängen umsieht,
Eilte r. Der Zweck. b
66
I. AUsendner Teil.
die als Unachen, Faktoren bestimmter, zweckmäßiger Wir-
kungen gfeeignet sind, diese letzteren zu erklären. Diese zu-
nächst lormale, regulative Funktion des Zweckbegriffs wird
dann überall zu einer „konstitutiven", wo wir Grund zur An-
nahme haben, daß ein wirkliches Streben direkt oder indirekt
dem Sein und Geschehen zugrunde liegt, wie dies sicher auf
geistigem und kulturellem Gebiete, mit gfrößerer oder ge-
ringerer WahrscheinUchkeit auch vielleicht im Organischen,
vielleicht auch schon im Anorg-ani^chen der Fall ist.
Die Erklärung eines Tatbestandes aus der Wirksamkeit
zielstrebiger Faktoren (Trieb- oder Willenshandlungen) leitet
jenen aus einem Realgnind, einer realen Ursache ab, mag
diese nun nach ihrer psychischen Seite und nach ihren
psychischen Momenten oder nach ihrer physischen Erschei-
nung betrachtet werden. Der erreichte Zweck tritt hier als
Wirkung eines Strebens und einer aus diesem entspringenden
Tätigkeit auf, und diese — das Mittel zum Zweck — wird
als die Ursache der Verwirklichung des Zweckes gedacht.
Die Notwendigkeit des Geschehens, die hier herrscht, ist eine
teleologisch-kausale Notwendigkeit. Eine normativ-
teleologische Notwendigkeit ergibt sich erst, wenn man
die Relation von Mittel und Zweck nicht direkt auf ein kau-
sales Verhältnis zurückführt, sondern den Zweck als Ideal-
igrund betrachtet, aus dem das Mittel ideell folsrt. Die
Setzung des Mittels erscheint dann als durch die Setzung des
Zweckes bedingt, gefordert, oder das Urteil über das Mittel
gilt, weil die Setzunqf des Zweckes gültig ist. Es handelt sich
hier um eine Anwendung des Logischen auf eine besondere
Sphäre, um „teleologische Logik" oder Logik des Zweckes.
Die Kausalität kommt hierbei nicht direkt in Betracht. Ist
auch das „Mittel" zugleich eine „Ursache" der Realisierung
des Zweckes, so bedeutet doch die rein teleologische Relation
eine Abhängigkeit besonderer Art. Ebenso sind die Zweck-
gesetze nicht selbst Kausalgesetze, mögen sie auch, direkt
oder indirekt, auf solche hinweisen. Sie bestimmen nur, was
geschehen muß oder müßte, wenn ein gewisses Ziel erreicht,
ein bestimmter Zweck erfüllt werden soll. Das „Müssen" hat
Digitizeo
Fttnllei Kiqplld, Biplünliver vnd normativer Zweckbegriff.
67
hier keine direkt katuale Bedeatuiig; ea bezieht sich nidit
auf daÄ Hervorge&en einer Wirkung aus einer Ursadie»
sondern zunächst auf ein Bedingtsein des Mittels durch den
Zwecfcr Psychologisch betrachtet wird eine Zielvorstellung
zum Motiv, Beweggrund einer Handlungf, und diese erfolgt
dann mit psychologischer Notwendigkeit, die einen kausalen
Charakter hat, sofern die ZielvoxBtellung und das an sie gns-
knüpfte Gefühl als ein Vorgang aufgefaßt wird, der einen
anderen zur Folg-e hat.
Die reine Zwecknotwendigkeit selbst aber ist ebenso-
wenig psychologischer Art wie die rein logische Not-
wendigkeit, d. h. die Abhängigkeit der Geltung eines Denk«
o^er Erkenntnisinhalts von einem anderen. Sowie das jfGe ^
dachte" begh^lich vom Denkvorgang und dessen kausalem
Slsämmenhang mit anderen Denkvorgängen zu unterscheiden
ist, mag es auch keine selbständige „Existenz" haben, so
müssen wir auch zwischen „ G ewolltem" (oder Willens-
inbalt) und NVillensakt sowie zwischen dem „Bezwej:kten"
Tind dem psychischen Vorgang der Zwecksetzung begriff-
lich unterscheiden. Berücksichtigt man nun, daß auch das
Mittel ein Strebensziel darstellt, so ergibt sich die Ein-
sicht, daß der rein teleologische Zusammenhang eine Relation
zwischen gedachten Willensinhalten, zwischen , .idealen Ein-
heiten" {Hunseri), nicht direkt zwischen realen Vor-
gäng-en bedeutet. Und wie der rein logische Geltungs-
zusammenila ng- unabhängig" von der Subjekti%'ität des ein-
zelnen Ich, als Inhalt emes idealen „Denkens überhaupt", mag
dieses nun jeweils tatsächlich vollzogen werden oder nicht,
seinen zeitlosen Sinn bewahrt, so kann es auch Final-
zusammenhänge geben, deren Notwendigkeit unab-
hängig vom Denken und Wollen des Subjekts
ist, die also in diesem Sinne „an sich" oder „absolut" gelten.
Damit ist gar nichts Metaphysisches oder Mystisches gemeint;
denn die absolut gültigen Zweckrelationen haben keine
Existenz in irgendeiner geheimnisvollen realen Sphäre, son-
dern sind auf ein „Zweckbewußtsein überhaupt" bezogen, sind
nur der Abstraktion nach von aller im individuellen oder
5»
68
L AUgemdner TeU.
kollektiven Woll ep Ig bejBdigeP Zwecksetzmig" abf^eaßR^ß^- Sie
gehören dem aogenannten ,4ntten Reich" an, d. h. der neben
der physischen und psychischen Realität oder J^justepz an-
zusetzenden Sphäre der „Idealität" oder der immanenten
Geg-enstände, auf die das "denkende, wollende, weitende Be-
wußtsein genoliljfili ist, und die sich aus dem psychischen
£rlebniszus&iiimenhang', in dem sie individuell bewußt werden,
herauslosen, ffir sich, getrennt fixieren lassen. Sie smd
keih'äi an sich existierenden Geg-enstände, sondern setzen die
Gesetzlichkeit des idealen, überindividuellen, reinen
Bewußtseins voraus.*) Es g-ibt also keine Zwecke, die nicht
dufch irj^endeinen Willen, in iri^endeinem Bewußtsein g*esetzt
älnd oder nicht auf ein zwecksetzendes Bewußtsein, auf ein
zielstrebiges Subjekt zu beziehen sind. Unabhärig-ig- von allem
Wollen und Bewußtsem kann nichts „Zweck" sein; Zweck
und wollendes Bewußtsein sind Korrelate, Aber diese all-
gemeine Willensbezog-enheit der Zwecke schüeßt noch keinen
subJektivistischen Relativismus ein. Denn erstens sind all-
gemeing-ültige, durch das Verhältnis der Wesen zur Umwelt
und zueinander notwendigfc oder geforderte Zwecke anzu-
erkennen, anderseits gfibt es Zweckbeziehungfen, die von aller
(psychologischen) Subjektivität und Willkür unabhängig sind,
schlechthin gelten, eine innere Notwendigkeit und Evidenz
besitzen.
'-"" Die normativ - teleologische Betrachtung-sweise nun
besteht darin, daß ein angestrebter oder anzustrebender
(relativer oder absoluter) Endzweck als Maßstab für die
Beurteilung eines Inhalts oder Mittels dient. Es
handelt sich jetzt nicht darum, eine Zweckmäßigkeit als
Wirkung zielstrebiger Faktoren zu erklären, sondern zunächst
um die Entscheidung der Frage: Ist ein als Willensinhalt
betrachteter Vorgang oder Zustand wahrhaft zweck-
mäßig, ist eine Handlung richtig, ist ein Verhalten
SO, wie es seinem Zwecke nach sein soll? W^ir messen
einen Willensinhalt, das Mittel (den IMittelzwcck) an einem
•) Vgl die Arbeiten von MttMcrl, Meinong u. a., Mickert, Mümtetm
barg, Cohn u. a.
Digitizcd by Goügl«
FOnfiei Kapilel. ExpUkativer «nd noniMtiver ZweekbcgriK
69
Zweck (Endzweck), um zu sdien, ob der eine dem anderen
entspricht, ob er ihm nicht widerspricht, entgegen ist, sondern
vielmehr mit ihm zur Eipheit des teleologischen Be-
wußtseins zusammeng'eht. Es wird die Verträglichkeit
von Zwecksetzungen und ihrer Inhalte miteinander untersucht,
das Mittel auf seine Tauglichkeit im Hinblick auf die Er-
reichung des Zweckes geprüft, sei es, daß es sich überhaupt
erst als ein wirkliches, nicht bloß vermeintes Mittel zu legi-
timieren hat, oder sei es, daß untersucht wird, ob es das in
jeder Hinsicht ricbtig-e, beste Mittel ist. Die Frage nach der
Zweckmäßigkeit oder dem objektiven Wert eines Verhaltens
oder einer Sache zielt also nicht auf eine teleologisch-kausaie
Erklärung- des Geschehens ab, richtet sich nicht auf die Ur-
sachen desselben; es handelt sich hier um einen ganz anderen
Gesichtspunkt als beim explikativen Zweckbegriff, um eine
andere Methode, die direkt mit der teleologisch -kausalen
nichts zu tun hat {Stammler u.a.). Gewiß, die kausale Grund-
lage fehlt auch hier nicht; denn alle Mittel bedeuten zugleich
Bedingungen und Ursachen der Verwirklichung von Zwecken,
und im einzelnen lassen sich konkrete, spezifische Mittel
direkt oder indirekt nur an der Fiand kausaler Erkenntnis
finden, welche uns das Material darbietet, aus dem im Hin-
blick auf gewisse Ziele bestimmte Faktoren als Mittel an-
gesetzt werden. Aber dieser nicht zu bestreitende Zusammen-
hang aller Teleologie mit dem Kausalnexus des Geschehens
hebt doch die Eigenart und Eigengesetzlichkeit der
normativ-teleologischen Beurteilung nicht auf, für
wetehe die Kausalität nicht den Gegenstand der Blick-
einstellung bedeutet. Eine bestimmte Einrichtung und
Wirkungsfähigkeit der als Mittel in Betracht kommenden
Sache ist zwar eine objektive Bedingung normativer Be-
urteilung, aber nicht das „formale Objekt" derselben. Dieses
besteht in dem Gefordertsein des Mittels durch den
Zweck, in einer „Angemessenheit" des Mittels zu dem
Zwecke, die zum Teil auf Grund des tatsächlichen Erfolges
einer Handlung und der Vergieichung desselben mit dem
gesetzten oder zu setzenden Zweck beurteilt wird. Die
70
L Al^^enciiier Teil.
Zweckbeurteilung hat mit einer rein kauaalen oder teleologi-
adbten Erklaning' dea Geacheliena nichts zu tun ; sie will nichts
begreifen, ableiten, sondern den Wert eines Mittels prüfen,
der darin bestellt, daß das Mittel die Eii^nung- besitzt, zu
einem gfewünschten Effekt zu führen. Ist aber die Zweck«
beurteilung* von kausaler Erklärung^ scharf zu unterscheiden^
ao achließt sie eine solche in keiner Weise aus, mög'en nun
g'eg-enwärtig'e oder zukünftig-e Handlungfen in Frag"e kommen.
Die Kategorie der Kausalität ist eine universale, vor keinerlei
Geschehen haltmachende Denkform.*) —
Unter einer Norm darf man nicht bloß ein Gebot, eine
SoUenaregel verstehen. „Normativ" im weiteren Sinne ist
demnadi nicht nur die Methode der Zuordnung* eines Ver-
haltens zu einer solchen Regel, sondern auch das Verfahren
der Bei^eilung eines Inhalts auf dessen Eignung als Mittel
;l ZU einem Zwecke, der hier als Norm, d. h. als Richtmaß
i fungiert Etwas ist ein ^richtiges", taugliches Mittel, wenn es
einem Zwecke, einem Gewollten, Angestrebten entspricht,
wenn es einen Erfolg hat oder erwarten läßt, der mit einem
Willensziel kongruiert, mit ihm sich inhaltlich deckt. Hier
wird noch gar nichts gefordert, weder daß das Ziel erreicht
werden soll, noch daß man das Mittel unbedingt zu ergreifen
habe. Auch wird hier nicht in rein subjektiver Weise ge-
wertet, sondern es wird ein bestimmter Zweck als gegeben,
gewollt vorausgesetzt und etwas als Mittel auf diesen Zweck
bezogen. Das gleiche beziehende Verfahren ohne subjektive
Wertung findet dort statt, wo ein Tun oder Unterlassen im
y Hinblick auf eine imperativische Norm, eine SoUensregel be-
urteilt wird. Die Wertung geht in beiden Fällen nicht bloß
vom Beurteilenden aus, sondern liegt schon der Setzung des
Zweckes oder des iSollens zugrunde; sie ist ihr immanent,
kommt in ihr selbst zum Ausdruck. Der Wert des Mittels
ist bedingt durch den am Zweck haftenden Wert, der wieder
auf einen übergeordneten „Grundwert" hinweisen kann, wenn
er selbst ein Mittel zu einem Endzweck bedeutet. Der Wert
*) Vgl.: Der Zweck in den Sozial Wissenschaften.
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FOnfles Kapitd. Riplftittw und nommtiver Ztreekbegiüt 7],
des Mittels ist immer ein „konsekutiver" oder Wirkungswert,
während der Zweckwert die Bedeutung- eines Eipfen wertes
hat, wenig-stens in Beziehung* auf das Mittel. Der Endzweck
hat unmittelbaren Wert, d. h. er stellt ein an sich, ein um
seiner selbst willen Beg-ehrtes oder Begehrbares dar, weil dieses
die Eignung- hat, ein fundamentales Bedürfnis zu befriedigen
oder weil es einem Grundwillen (etwa dem log'ischen,
ethischen, ästhetischen Willen) gemäß ist.
Im allgemeinen verhalten sich Wert und Zweck so zu-
einander, daß eine ganz unmittelbare, gefühlsmäßige Wertung
allem Wollen und aller Zwecksetzung schon zugrunde liegt;
hier gilt also, daß etwas zum Strebensziel gemacht wird, weil
es primär gewertet wird. Aus der Erkenntnis der Bedeutung
von etwas als Mittel zu einem Zweck ergibt sich dann eine
neue Wertung auf Grundlage der Zwecksetzung, und es ist
dann etwas wertvoll, sofern es zweckdienlich (bzw. auch norm-
gemäß) ist. Doch läßt sich alles, was in einer Hinsicht ein
Zweck ist, in einer anderen als ein Wert auffassen, so daß
die höchsten Zwecke des „idealen" Menschen zugleich die
höchsten Werte der Menschheit sind. Absolute" Zwecke, d.h.
solche Ziele, die den Charakter unbedingt g^cforderter Zwecke
haben, bedeuten auch „absolute Werte", Werte, welche
schlechthin gelten.
Ein wichtiger Unterschied ist derjenige, der zwischen (un-
mittelbarer) Wertung und Werterkenntnis, Zwecksetzung
und Zweckerkenntnis, Normierung und Normerkennt-
nis besteht. Die, apriorische oder empirische, Erkenntnis, daß
irgfendwo oder irgendwann eine Wertung seitens eines In-
dividuums oder einer Gemeinschaft stattfindet oder statt-
gefunden hat, und ebenso die Einsicht, daß unter bestimmten
Umständen etwas für jemanden einen Wert annehmen kann,
■wird oder muß, hat mit eigener, subjektiver Wertung* nichts zu
tun und gehört noch zur explikativen Methode oder zur Tlieorie
im strengen Sinne des Wortes. Ebenso ist die bloße Fest-
stellung des Bestandes gewisser Normen auf irgendeinem
Gebiete und der Nachweis, daß diesen Normen tatsächlich
genügt oder nicht entsprochen wird, nicht mäxon als „norma-
72
I. AUgemdncr Tdl.
tive Methode" zu betrachten. Wie es eine Wertgebung- gibt,
die in einem Werturteil zum Ausdruck kommen kann, im
Unterschiede von dem bloß eine Wertbezog-enheit aussagfenden
Urteil, so ist die Norm^cbung- und das sie formulierende
normative Urteil von dem theoretischen Urteil über die Kxistenz
von Normen zu unterscheiden, von einer Aussage über ein
Sein des Sollens im Gegensatze zum Urteil über das Sollen
selbst als Sollen.*) Nicht normativ ist ferner die Untersuchung*
des Entstehens und der Entwicklung von Normen und
ihrer Zwecke; die kausal-pfenetische und historische Normen-
erkenntnis ist durchaus Sache rein theoretischer Wissen-
schaften.
Die normativ-teleologische (oder teleologisch-norma-
tive) Methode setzt erst da ein, wo wir uns nicht damit be-
gnügen, auf bestimmte Ursachen, Wirkung'en oder Zwecke
hinzuweisen, sondern wo wir mit einem objektiven Wert-
maßstab an die Dinge herantreten, um zu bestimmen, welchen
objektiven Wert oder Unwert sie haben, um die Größe dieses
Wertes abzuschätzen, sie auf ihre Zweckmäßigkeit, Güte hin
zu prüfen, die Richtig-keit eines Verhaltens darzulegen, die
Angemessenheit desselben an ein gewolltes oder geseiltes
Ziel als Norm zu beurteilen. Man geht von einem Zwecl^ als
Norm oder von einer Reihe solcher Normen aus und übt nun
eine Ivritik an dem zu beurteilenden Material, man bewertet
oder beurteilt dieses im Hinbück auf seine teleolog ische Norm-
gemäßheit. So untersucht man etwa bestimmte soziale Ein-
richtungen auf ihre Zweckmäßigkeit, indem man sie an der
Norm der Gemeinschaftsidee oder eines sozialen Ideals mißt
und untersucht, ob und wieweit sie diesem entsprechen. An
diese kritische, wertende Betrachtung- lassen sich dann auch
Vorschläge in der Richtung einer Verbesserung von Ein-
richtungen und Maßnahmen knüpfen, indem man, mit Zuhilfe-
nahme der Erfahrung, allgememe oder zum Teil auch spezielle
Normen für die Wahl der zweckentsprechenden, richtigen oder
doch als richtig erscheiueudeu Mittel aufstellt. Diese Normen
•) M. AHer, Marxistische Probleme, 1913, S. 148 f.
uiyiiized by Google
FOnAei XApitd. Explikilivcr nad naniMtiTer ZvcddKfriff.
78
fußen wohl oft auf einer Wertung-, aber diese braucht k^nes-
wegB rein individuell-subjektiver Art su flein, sondern kann in
einer Erkenntnis wurzeln, die sie zu einer nach Mögflich-
keit sachg'emäßen, objektiven Wertung* macht So kann
die Statuierung' gewisser Mittel als richtig' auch von allen an-
erkannt werden, die eine gleiche Einsicht besitzen. Die Logik
der Wertzusammenhänge hat, wie die teleologische Xogik,
ihre feste Gesetzlichkeit, die innerhalb g-ewisser Voraus-
setzungen und Bcding'ung'en Anspruch auf Allg'emeingültig-
keit, zum Teil sogar auf unmittelbare Evidenz, machen kann.
Durch Anwendung dieser Logik auf das Krfahrangsniaterial
lassen sich normativ - teleologische Erkenntnisse ge-
winnen, die in ihrer Art immer umfassender und zuverlässiger
werden können, auf Grund einer Verarbeitung des Gegebenen
durch die Gesetzmäßigkeit des teleologischen Denkens. Von
der Wertung und Normierung des bloßen Empirikers und
Praktikers unterscheidet sich die wissenschaftlich fundierte
Zwecksetzung und Normengebung durch ihre objektiven Grund-
lagen, ihre strenge Methodik und logische Konsequenz, ihre
kritische Besonnenheit*) und vor allem auch durch den
Willen zur Objektivität bei der Beurteilung des Ziel- und
Normgemäßen.
Es sind aber nicht alle praktischen, angewandten oder
technischen Disziplinen normative Wissenschaften im engeren
Sinne. Die Ermittlung und Ang^abe dessen, was geschehen
♦) Sigwmi (Logik II*, 1893, S. 738f., 4. A. 1911^ bemerkt treffend:
^Um zu sagen, daß eine bestimmte Handlung ein zweckmäßiges Mittel v
für «neu bestimmten Zweck ist nnd darum gew^I^werden i^^ug^ weil \
der Zweck gewollt ist, bedarf es nidit blofi der GewiShell, dafi der \
Zweck im alfgemeinen notwendiger Effekt des Mittels ist, sondern daß
auch unter der Gesamtheit der gegebenen Umstände dieses Mittel den
Zweck hervorbringen wird. Diese Kenntnis ist in den einfachsten Fällen
mit aller erreichbaren Sicherheit vorhanden, in den meisten aber nur
mit größerer oder geringerer Wahrscheinlichkeit; die Gesamtheit der
Prftmissen fdilt, durch welche aus dem Zwecke das geeignetste Mittel
abgeleitet werden könnte, und darum kann für die Praxis nur die
Regel gelten, dasjenige zu ton, was mit der größten Wahrscheinlich-
keit den Erfolg hervorbringt **
kji 1^-^^ L-y Google
74
I. AUgemdner Teil.
mufi, wenn bestimmte Ziele erreicht werden soUeo, bedient
sich der Kausalität, um aus ihr die Mittel zu entnehmen, welche
sie im Hinblick auf das zu Erreichende als die taugflichsten
erkennt. Die Wissenschaften, deren Geg-enstand eine be-
stimmte Art der Praxis bildet, verarbeiten das theoretische
Erkenntnismaterial in der Weise, daß sie an der Hand des-
selben die Beding-ung^en darzulegen vermögen, unter denen
angestrebte Ziele erreicht werden können, ohne aber selbst
diese Ziele zu werten und zu fordern (z. B. in der Medizin):
es wird hier immer nur gesagt: „Wenn B., so A." Es werden
hier teleolo gisch-kausalc Notwendigkeiten in einem
System von Urteilen festgestellt, um damit der Praxis Richt-
linien, einheitliche Grundlagen, feste Gesetzlichkeiten zu
bieten. Von diesen technischen angewandten Disziplinen,
welche bloß die Theorie in den Dienst der Praxis stellen,
wenn auch nicht ohne eine spezifische, kombinatorische, er-
finderische Phantasie- und Denkarbeit, unterscheiden sich
nun die normativen Disziplinen im engeren Sinne da-
durch, daß sie direkt Normen für das Handeln oder Gestalten
aufstellen. Freilich nicht aus eigener Machtbefuq'nis, selbst-
herrlich, sondern auf Grund einer logischen Verarbeitung"
und einer Kritik der auf einem bestimmten Kultur-
gebiet herrschenden Normen, durch begriffliche Heraus-
arbeitung der ihnen immanenten obersten Normen, ihrer
»■ Prinzipien und durch Begründung spezieller aus der Geltung
't* von Grundnormen.*) Auf diese Weise gelangt man zu den
logischen, ethischen, sozialen, ästhetischen Normen, zu deren
einheitlicher Begründung und deren systematischem Zusammen-
hang. Man bleibt nicht bei den tatsächlich vorgefundenen,
' historisch entstandenen Normen stehen, sondern diese müssen
sich vor dem Forum der Kritik und der „Logik der Normen"
legitimieren, indem sie selbst an obersten Grundnormen
gemessen und so auf ihre „Richtigkeit" geprüft werden. W^ir
können auch zwischen „normativen" und „Normenwissen-
*) Vgl. darüber Sigxcart, Logik II*, 1911 („Reduktion" spezieller
auf allgemeine Normen); WimMf Ethik ^ 191a; Simmd, Einleitung in
die Moralwissenschait, 1893.
i- y i.i^L^^ L-y Google
PBnftes Kapild. Explikativer «ad aormatiTer Zireekbegriff.
75
Schäften" unterscheid«!, indem wir beachten, daß „Norm"
zweierlei bedeutet: einmal ein Richtmaß, das zur Beurteilung-,
kritischen Wertung einer Sache oder eines Verhaltens dient,
also ein oberstes Ziel, ein Ideal als Musterbild einer Voll-
kommenheit; dann aber auch eine Vorschrift für das Handeln,
eine Imperativische Soljensreg-el. Hiernach gibt es normative
Wissenschaften, die es nicht mit Normen als Gegenstand zu
tun haben und daher keine Nornienwissenschaften sind (z.B. die
normative Ästhetik, iLbg-ik), und es gibt anderseits Disziplinen,
die als Nornienwissenschaften zu bezeichnen sind, aber dabei
keinen teleologisch-normativen Charakter haben müssen (wie
etwa die dogmatische Rechtswissenschaft). Endlich kann es
Wissenschaften geben — philosophische Disziplinen zum
mindesten — die zugleich Normen- und normative Wissen-
schaften sind, -wie die Rechtsphilosophie und Ethik. In dieser
Gruppe von Disziplinen werden die Normen, die Gebote und
Verbote, die positiven und negativen Sollensregeln, die
Satzungen, Vorschriften, Verpflichtungen, nicht schlechthin
als gültig hingenommen und logisch verarbeitet. Vielmehr
wird geprüft, ob und inwieweit sie sich rechtfertigen lassen,
indem man untersucht, erstens ob durch sie die Ziele, denen
sie dienen wollen und sollen, wirklich erreicht »werden, ob sie
also zweckmäßig auf Grund ihrer eigenen Voraussetzungen
sind, zweitens, ob sie den obersten Zielen des betreffenden
Kulturgebiets und der Kultur überhaupt entsprechen*). Darauf
gründet sich ja der Unterschied zwischen bloß formal-positiver
{relativer) und idealer (absoluter) Richtigkeit einer Norm. Es
gibt nicht nur eine formale Logik der Normen, die, vom Ge-
halt' und den Zwecken derselben abstrahierend, auf einen ein-
heitlich-systematischen Zusammenhang der Normen eines Ge-
bietes ausgeht, sondern es ist auch eine Tcleologie der
Normen möglich und berechtigt, welche aber nicht eigent-
lich kausal und explikativ vorgeht {Kelsen u. a.) und sich nur
auf ein Sein, nicht auf ein Sollen bezieht. Denn die norma-
tive Teleologie will nicht wie die exphkative e^kl^j;en. wie
•) Vgl. die Arbeiten von StamnUer, Natorp, Goidscheid u. a.
76
I. Allgemeiner Tdl.
die Nonnen entstehen und wie sie sich entwickelt haben^
sie will nicht deren Ursachen und auch nicht bloß deren
Zwecke feststellen. Ihre Aufgabe besteht lediglich darin,
• Normen auf ihren objektiven Wert, ihre Zweckdienlichkeit za
,f prüfen und auf kritischem Wege so zu bearbeiten, daß sie
nicht bloß ihren, sondern auch übergeordneten, obersten, idealen
Zwecken möglichst angemessen werden, ohne natürlich damit
schon die Macht zu haben, das ideale Sollen zu einem real
wirksamen zu gestalten, es zur praktischen (etwa politischen)
Geltung zu bringen. Die Wissenschaft als solche kann ja
|i nichts zwingend gebieten, aber sie kann festere, objektivere
Grundlagen für die Normengebunt^- und Norraenentwick-
;| lung bieten, als sie das unmethodische und unkritische
Normieren des bloßen Praktikers besitzt. Im Laufe der
historischen Entwicklung wird aber die Wissenschaft auch
selbst immer mehr zu einer Quelle, aus welcher zum Teil der
die Normen setzende Gesarotgeist den besonderen Inhalt
dieser schöpft.
Das Sollen überhaupt ist freilich nicht auf das bloße
Sein zurückzuführen, es ist eine Art „Kategorie" {Sinimel,
Kelsen u. a.), eine fundamentale und spezifische „Form", auf
einer Grundbeziehung zwischen einem übergeordneten, zu-,
mutenden, fordernden und einem untergeordneten, diese
"Forderung oder Zumutung anerkennenden Willen beruhend,
wobei der das Sollen setzende Wille ein individueller oder
f I kollektiver, ein realer oder idealer, konkreter oder abstrakter
j I ja sogar ein ad hoc konstruierter*) oder fiktiver Wille sein
i kann. Das besondere Sollen geht immer wieder aus einem
anderen Sollen hervor; das oberste Sollen aber wurzelt in
einem Grundwillen, dessen absolute Zielsetzung den
letzten Grund für das ganze System der Forderungen, der
Sollensregel enthält, die endgültige Antwort auf die Frage:
W^aruni soll man dies? Gewiß, Wollen und Sollen sind nicht
dasselbe; wir können etwas wollen und es doch nicht sollen,
und oft soll man etwas, ohne es im geringsten zu ^.wollen.
*) Vgl. Kelsen, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre^ 191X.
y i.i^L^^ L-y Google
Fflaftct Kapitel. •ExpUk>tfyer iwd nonnatlva Zweckbegriff.
77
Aber das Sollen führt doch nrsprüngrlich immer auf einei^ ^
Wil len zlg gckj~stets erscheint das Gesellte alß.<^e Willens- ]
'sietnmg' und rechtfertigt sich schUeßUch nur durch den Hin- /i
weis auf ein mögliches Willenaziel, welches die Forderung* '
ersT zu einer wahrhaft begründeten» yemünftigen, berechtigten
macht
Das „Soüen*' ist ursprünglich rein imperativischer Art, es
bekundet sich in der Anmutungf eines Gebietenden an einen
Gehorchenden,*) eines Verpflichtenden an jemanden, der sidl
Verpflichtet fühlt und daher sagt: Ich soll, oder wenn er der
Pflicht, dem Gebot nicht nachkommt oder nachgekommen ist:
Ich sollte oder hätte sollen. Da#. Sollen ist also arspriing-lich •
der' Ausdruck ^nes Verhältnisses zwischen einem gfebieteri-
sehen und einem sich unterordnenden Willen. Wird nun ein >' ■
'^st '^6n außen an das Individuum herangebrachtes Gebot in
dessen eigenen Willen aulgenommen oder ist dieses In-
dividnom so geartet, daß es aus eigenstem, persönlichem Ge- ^
wissen ein bestimmte«». eigenes, o^er fremdes VerhalteaJ[Q£i^^,
dSnn kann es in seiner Person das ein Sollen setzende und
das diesem sich unterwerfende Subjekt vereinigen. Man weiß
dänn nicht bloß, daß das eigene Wollen und Handeln in
einem besonderen Falle nicht mit dem Gesollteq überein-
stimmt, sondern man verurteilt das eigene Wollen, weil man
— ^ die „bessere Person" in uns — ein gASiZ anderes Wollen |
und Verhalten fordert.
" Als „richtig", „recht", „gut" im weitesten Sinne erscheint
alles Wollen und Verhalten, das einer Norm gemäß ist; es \ ,
wird im Verhältnis zur Norm beurteilt und diese Beurteilung
kann Anspruch auf Allgcmeingültigkeit erheben, auch wenn -
die betreffende Norm selbst nicht gebilligt wird. So ist
z. B. eine Tat, die einem Gesetz zuwider ist, selbst dann
formal als normwidrig, unrecht zu beurteilen, wenn das
betreffende Gesetz als schlecht, ungerecht erscheint oder
der Täter einer gebilligten sittHchen Norm gemäß handelte.
Die Billigung einer Norm selbst nun beruht, wo sie nicht
*) VgL Schkienncu^, Philos. Schriften II, 1838» S. 40X.
78
I« Allgemeiner TeO.
achon automatisiert^ gewohnheitsmäßig' geworden ist, zuhöchst
auf der Einsicht in den ideellen Grund der Norm, in das
Willensziel, aus dem die SoUensreg^el sich ableitet. Jede
spezielle Norm erscheint dann als ein Mittel im Dienste
des Norm Zweckes und ist aus diesem teleolog-isch zu be-
gründen, nicht etwa bloß kausal, als Wirkung der Zweck-
Setzung-, zu erklären. Ist zuerst etwas nur deshalb (formal)
richtig, weil es eben g-esoUt, also nonngemäß ist, so erscheint
es nun deshalb als gesollt, weil es material richtig, d.h. nun
zweckgemäß ist, weil es einem Willensziel entspricht, durch
das es inhaltlich gefordert, gesetzt ist. ,,Da8 soll sein" heißt
nun endgültig: es ist das rechte Mittel zu einem theoretischen
odOT praktischen Zweck und ist im Hinblick auf diesen als
ein notwendig zu Wollendes oder zu Tuendes gefordert, ge-
wollt oder wenigstens gewünscht, wobei es natürlich auch
einen Eigenwert haben kann. Alles Sollen mündet schließ-
Üch in ein das Sollen bedingendes Grund wollen. So erweisen
sich etwa die verschiedenen Sittenregeln als das System der
durch den idealen SittlichkeitswiUen geforderten Wollungen
und Handlungen; und wenn jemand beim menschlichen
Sittlichkeitswillen nicht stehen bleiben will, so kann er sich
etwa auf den göttlichen Willen berufen. Eine oberste Ziel-
setzung gibt dem Sollen die innere Kraft, Geltung, Dignität.
— Wenn nun erklärt wird, das Sollen wende sich keineswegs
immer an einen Willen,*) so ist dies so zu verstehen, daß das
/'Gesollte auch gilt, wenn niemand es gerade befolgen will
"■* ' öder niemand es zurzeit normiert. Indem wir etwas als durch
ein Ziel des Vernunftwillens erfordert und daher als Sein-
sollendes erkennen und im Namen dieses idealen Vernunft-
willens jedem anmuten, gilt diese Anmutung für alles
Wollen überhaupt, unabhängig vom individuellen, em-
pirischen, psychologischen Willen.**) — Ferner gibt es ein
*) Vgl. HuMtrl, Logische Untersnchnngen, 1900, I, S. 43ff.
**) Man kann sagen, es gibt absolut oder allgemein gflltige
Sollcnsrelationen, die zwar auf ein „normatives Bewußtsein ttber-
haupt ' be:?ogen, aber von aller snbjekdven WillkOr und Relativität un-
abhängig sind.
Sollen, das nur den Wunsch oder Willen zu einem Andent-
sein von Verhältnissen ausdrückt, wo alao die Wendungf an
einen anderen Willen völlig^ in den Hintergrund tritt oder
ausg-eschaltet ist oder höchstens nur im Sinne eines nAls ob"
besteht. Auch der das Sollen setzende Wille kann zurück-
treten, und dann bedeutet das „Hs soll" oder „Es sollte"
in erster Linie nnr saviel wie: richtig, regelrecht, in Ord-
uxmg ist oder wäre dies und jenes Sein oder Verhalten;
es wäre, bei genügender Einsicht, zu fordern, zu wollen.
Kurz, ein Wollen im jjsychologiscjien Sinag. muß nicht
hinter allem Sollen stehen, aber ein normierendes Wollen
muß alle Sollensregeln „beg-leiten können", analog dem „Ich
denke", das nach Kant eine Grundbedingung der Erkennt-
nis ist.
Es ist richtig', daß aus der bloßen Konstatierung eines
Seins oder Gewordenseins noch nicht auf das Sollen zu
scTiTIeßen ist. Anderseits lassen sich die konkreten SoUens-
inhalte auch nicht aus einer ganz allgemeinen Norm dedu-
zieren, wenn auch im Hinblick auf ein „normatives A priori"
legitimieren. Besondere Normen, Sollensregeln gewinnen
wir methodisch viehiiehr so, daß wir allgemeinere Normen an
das (wirkliche und niö;^^]iche) Seinsmaterial heranbringen und
nun ein spezielleres Sollen zwar immer im Hinblick auf das
ihm übergeordnete Sollen, aber doch nur an der Hand dieses
Materials (möglicher Kausalverbindunj^'^en) setzen oder formu-
lieren. Das Sollen als reine Form oder Ivategorie folgt nie
aus dem Sein, aber der besoiulere Sollensinhalt kann und
muß am Leitfaden des erfahrbaren und denkbaren Seins er-
arbeitet und gesetzt werden; er ist uns zwar nicht durch
bloße Erfahrung gegeben, aber durch die teleologisch-nor-
mative Stellungnahme zu ihr „aufgegeben." Die Grundlagen
zu allen Normen aber bilden oberste Zielsetzungen und ideale
Zwecke. Von diesen Zwecken aus, wie Wahrheit oder Er-
kenntnis, Sittlichkeit, Schönheit, orientieren wir uns zuhöchst
bei der Bestimmung des „Richtigen" aller Art; sie sind das
A priori aller Normierung und Wertbeurteilung, die
obersten Maßstäbe aller konkreten Normen selbst, die zeitlos
80
I. AUfenciner Teil.
g-ültigen Grundnormen.*) Identisch sind sie mit den
Ideen, welche zur Regullemng' des inneren und äußeren
Handelns dienen, bzw. mit den Idealen, welchen wir unab-
lässigf zustreben. Der so aufg^efaßte „Platonismus** erweist sie
als eine ewigfe Wahrheit, die auch sonst von einer „evolutio-
nistisch" g-efärbten Weltanschauung* anzuerkennen ist. Ideen
als typische Zielpunkte des Strebens und Wollens mani-
festieren sich in der Entwicklung' der Welt, indem sie sich
durch das Streben der Wesen verwirklichen.**) Und Ideen
sind es, welche im Reiche der Kultur zu obersten Normen,
VOL höchsten Maßstäben der Bewertung des Seins und Handelns
sowie der Richtung werden, welidie die Entwicklung nimmt.
*) Nach WindelbandB „tdeologischem Kritizismus", mit dem dieser
Standpunkt verwandt ist, ist die V<Mnuissetzung der krilisdien Methode
der «Glaube an die allgemein gflltigen Zwecke*. Alle Aadome sind
„Mittel zum Zweck der Allgemein gültigkeit*, ihre Anerkennung ist
^durch einen Zweck bedingt, der als Ideal für unser Denken, Wollen
und Erfüllen vorausgesetzt werden muß*. Das ideale „Normbewußt-
sein" ist der oberste WertmaÜstab. Die Geltung der Normen ist nur
teleologisch zu begrOnden, sie dienen der Verwirklichung oberster
Zwedce. (Prftludien, 4. AnIL, 1911.)
**) Vgl. die Schriften von A. FimilUe (Begriff der ,idee-force*,
Kraftidee), auch Q^tm n, a.
DL Spezieller Teil
Sechstes KapiteL
Mechanismus^ Psychismus, Finalismus.
£a besteht, wie wir sahen, kein 'Widenpruch zwischen
• Kausalität und Zielstretaigicelt, weder wenn man den Zweck
nur als regfulatives, die Kausalforachung' selbst erweitenidee
Prinzip betrachtet, noch auch, wenn die ZweckmSAigkelt der
Dinge auf eine ihnen selbst eigene, reale Zielstrebigkeit za-
ruckgeffihrt wird. Der Zweck ist ja nicht eine besondere,
spezifische Ursache oder Kraft, die andere Ursachen und
Kräfte ausschaltet, überflüssig macht, sondern ein' Will«»*
und Erkenntnisinhalt, der uns die Grundlag-e des Kausal»
Zusammenhangs selbst verständlich macht. Gehören zu den
bewirkenden Ursachen des Geschehens Willenskräfte und
sind diese ihrer Nator nach auf Ziele gerichtet, die durch
bestimmte Tätigkeiten erreicht werden können, dann erscheint
es nicht mehr wunderbar, wie der Zweck einen idealen Ein-
fluß auf die Richtung- des Geschehens gewinnen kann.
Die Eindeutigkeit des Kausalzusammenhangs, mag er
nun nach der physischen, mechanisch -energetischen oder
nach der psychischen Seite hin betrachtet werden, erleidet
durch die Einsetzung zielgerichteter Faktoren in die Reihen
des Geschehens keinerlei Einbuße. Die Forderung der ein-
deutigen 2Uiordnang von Vorgangen zu bestimmten anderen,
ans draen sie notwendig hervorgehen, bleibt aufrecht, auch
wenn diese Vorgänge als Ausdruck, Manifestation finaler
Tendenzen erscheinen. Nur gegen eine solche Teleologie,
welche den Zweck zu einer besonderen Ursache neben
£itl«r, I>«r Zweck. 6
i- kji i^L^^ L-y Google
82
II. Spezieller Teil.
anderen macht, besteht der Vorwurf der Aufhebung- des
Pdstulats der Eindeutigkeit des Geschehens zu Recht
Nun wird aber auf die Geschlossenheit der Natur-
kansalität und des Mechanismus hingewiesen, welche
IQr das Eingreifen psychischer Faktoren keinen Platz läßt
Die mechanistische Naturauffassuag in allen ihren Ge-
staltungen, als Mechanismus im engeren Sinne oder als Dyna-
mismus, kann, wenn sie konsequent sein will, in der Tat nur
physische Ursachen und Wirkungen physischer Vorgänge
anerkennen« Jedes Gesch^en in der Natur hängt mit
anderen Naturprozessen zusammen, bildet ein Glied in der
lückenlosen Kette von Phänomenen, wie wir sie vom Stand-
punkt der äufieren, sinnlicdi vermittelten Erfahrung oder der
mittelbaren Erklärung des Erfahrungsinhalts denken müssen,
wollen wir die sonst sich unvermeidlich ergebenden Wider-
sprüche vermeiden. Die Einheitlichkeit der Betrachtungsweise
und des Denkens fordert vollste Konsequenz des einmal ein-
genommenen Gesichtspunktes; in der Wahl desselben sind
wu: zunächst frei, in der Festhaltung des Standpunktes aber
durch unsere eigene Wahl determiniert Das Denken bindet
sieb selbst, wenn es ein bestimmtes theoretisches Ziel verfolgt;
es muß dann diejenigen und nur diejenigen besonderen Denk-
mittel anwenden, die zu diesem Ziele führen. Haben wir also
einmal das Fisychiscfae zurückgestellt, indem wir methodisch
davon ' abstrahieren, um ausschließlich die objektiven
Relationen der Exsdieinnngen ins Auge zu fassen, wie sie
unabhängig von alter psychologischen Subjektivität (als all-
gemeingültige Inhalte des „Bewußtseins überhaupt^} zu denken,
zu setzen sind, dann gilt es, sich davor zu hüten, Glieder
einer ganz anderen, heterogenen Betrachtung»- und Er-
kenntnisweise des Gegebenen in das durch das besondere
Denkziel geforderte S3r8tem einzufügen. Das Vermengen der
naturwissenschaftlichen mit der psydiologisdien Art der Er-
klärung, der „Animismus" im schlechten, dogmatischen Sinne,
das &setzen physischer durch psychische oder metaphysische
Faktoren, war von jeher ein Krebsschaden der Wissenschaft
wie der Philosophie und muß energisch zurückgewiesen werden.
Sechstes Kapitel. Mechanismus, Psychismus, Finalismus.
83
Vom Standpunkt der äußeren Erfahrung' und der ihrer
Richtungf folgenden Denkweise gibt es also nichts anderes
als physisches Geschehen, und diesem Greschehen liegen
Korper, d. h. materielle Substanzen oder Komplexe von raum-
lich lokalisierten Kräften, zugrunde. Das Geschehen selbst
mag" streng* mechanisch als eine Summe von molaren, mole-
kularen und Atombewegungen konstruiert werden oder man
mag es, im Sinne der qualitativen Energetik, als Energie-
Umsetzung* bestimmen — darauf kommt es hier weniger an,
vorausgesetzt, daß Körper, raumliche Gebilde als solche immer
nur mit anderen Körpern, räumlichen Gebilden in Wechsel-
wirkung stehend g^edacht werden. Die Wirkungsweise eines
Raumdinges ist eben eine solche, daß sie wieder ein Raum-
ding brauch^ um überhaupt eine Wirkung hervorbringen zu
können; Wirksamkeiten wie das Bewegen, Erwärmen,
Elektrisdimachen und dergleichen setzen stets Körper vor-
aus, an denen aUein soldie Wirkungen zustande kommen
können. Etwas rein Immaterielles oder rein Geistiges bietet
für derartige Einwirkungen gar keine Handhabe, keine An-
satz^ und AngrÜEspunkte. Umgekehrt läßt sich auch nicht
gut denken, wie etwas Immaterielles, Unränmliches auf dnen
Körper »wirken", seinen Zustand modifizieren soll. Alle Ver^
änderungen, die ein Körper erleidet, erweisen sich als ab-
hängig von Veränderungen an anderen Körpern und sind
durch physikalisch-chemische Naturgesetze eindeutig bestimmt.
Jedes Quantum an physischen Effekten fordert ein Äqui-
valent an physischer Ursächlichkeit, und das Prinzip der
Erhaltung der Energie, das eine apriorische, logische
Wurzel und eine empirische Grundlage hat, und das zudem
von größter methodologischer Fruchtbarkeit ist, macht jeden
Energiezuwachs auf der einen Seite von einem bestimmten
Eneigieverlust auf der anderen Seite abhängig. In einem
geschlossenen materiellen System kann hiemach Energie
weder aus nichts oder Nicht- Energie entstehen noch zu
nichts oder Nicht- Energie werden; die Menge der aktuellen
und potentiellen Energie ist hier konstant, sie ist weder ver-
mehrbar noob, vermtnd»bar. So muß denn auch z. B. ein
6*
84
IL Spezieller Teil.
energetischer Prozeß im Gehirn auf Kosten eines be-
stimmten Energieaufwands im Organismus erfolgen und
wiederum eine bestimmte energetische Veränderung in diesem
zur Folge haben. Auch wenn im Gehirn nur eine Auslösung
latenter Energien oder wenn nur die Ri<ditung von Grehim-
schwingungen und anderen organischen Bewegungen modi^
fiziert wird, gesdiieht dies nicht ohne einen gewissen Energie-
i^braucfa, mag dieser auch unter Umstanden nur sehr ge-
ring» minimal sein. SoUte also das Psychische als solches auf
das Pliymsche „wirken" und von ihm kausal beeinflußt werden
können, so mußte es selbst eine „Energie^* oder energetischer
Natur sein und ein entsprechendes Äquivalent in anderen
Energien haben, in die es sich umsetzt Nun ist dem
aber nicht so. Psychische Vorgänge, Bewnfitseinszustande
als solche betrachtet, sind nichts Materielles, Körperliches,
Räumliches; daher leisten sie auch keine mechanische
Arbeit, überwinden sie keine materiellen Widerstände,
lassen sie sich nicht in andere Energieformen umsetzen«
„Energie" im Sinne der quantitativen Natmrau^ssung ist zu-
nächst ein Intensitäts- und MaßbegrifE (Riehl, Kern u. a.) und
bezieht sich auf die L^stungsfähigkeit von körperlichen
Massen und Massenteilchen in bezug auf andere Rauminhalte.
Der naturwissenschaftliche Begriff der Energie dient von
Anfang an ausschließlich der methodischen Verarbeitung der
Inhalte der äußeren Erfahrung, der Vereinheitlichung und
Beherrschung der Inhalte derselben. Für den Standpunkt
der „inneren" oder unmittelbaren Erfahrung verliert dieser
Begriff seinen Sinn und Erkenntniswert; denn ein Denkmittel,
welches im Dienste der Objektivierung des Gegebenen
steht, muß naturgemäß unbrauchbar werden, sobald es sich
darum handelt, eben dasselbe Gegebene in seiner unmittel-
baren, qualitativen, subjektiven Beschaffenheit zu be-
schreiben, abzuleiten und zu erklären. So wenig wir nach
Abstraktion von den subjektiven Elementen und dem rein
Qualitativen der Wahrnehmung und nach dem „Umdenken**
des Gegebenen zu rdn quantitativ-dynamischen Relationen
zwischen Raumdingen (Körpern) noch etwas Psychisches in
y i.i^L^^ L-y Google
Sedtttes Kapltd. HcdiaalfiiiiiH, Fsyebuimtii F!u]isiiias. 8S
der physischen Welt übrig- behalten, ebensowenig- kann sich
in der subjektiven, unmittelbaren, psychologfischen Erfahrung"
etwas von dem finden, was erst und bloß durch den Stand-
punkt und das Ziel der objektiven Betrachtungsweise der
Naturwissenschaft bedingt und gfefordert ist.*)
Jetzt ist es klar, warum es nicht nur erlaubt, sondern
g-eradezu notwendig- ist, alles Sein und Geschehen in der
objektiven Natur als materiell, mechanisch, räumlich-dynamisch
aufzufassen und keine andere Erklärung- physischer Vor, g-änjre
anzuerkennen als die mechanistisch - dynamische (im weiteren
oder im engeren Sinne). Vom Standpunkte der „äußeren"
Erfahrung erscheint uns notwendig alles in der Welt als
raumhaft, körperlich, materiell, energetisch, und da kann und
darf es keine Ausnahmen geben.**) Also ist auch der Or-
ganismus und ist auch das organische Geschehen für die
quantitative Naturerklärung nichts als ein System räumlicher,
materieller Elemente, die zueinander und zur Umwelt in
dynamisch-energetischen Relationen stehen, und ebenso sind
die Handlungen des Menschen für diesen Standpunkt nichts
anderes als rein physische Prozesse. Als solche stellen sich
auch alle jene Vorgänge dar, die für die unmittelbare Be-
trachtung psychische Erlebnisse bedeuten. Der physische
Kausalzusammenhang im Organismus ist überall ein ge-
schlossener, jedes Glied der Kette des Werdens ist eine Be-
wegung oder ein energetisches Geschehen, jedenfalls eine
Veränderung der räumlichen Relationen ni der Zeit. Physi-
kalisch-chemische Reize lösen im Organismus physikalisch-
chemische Vorgänge aus, welche ebensolche Vorgänge in
anderen Teilen des Organismus zur Folge haben. Erregungen
der Sinnesorgane werden durch die sensorischen Nerven zum
Gehirn geleitet und setzen sich hier in weitere physische
(mtrazerebrale) Vorgänge um, die andere Partien des Gehirns
*) Vgl BSUIer, Leib nnd Sede, 190$; SSM, Zur Einftthnmg in die
Philosophie 1908; Enste, Geist nnd KAiper, 1904; a. A. xgia.
*♦) V^l. die Schriften von B. Kern, welche eine vortreffliche Be-
gründung des „Identitätsstandpunktes" und der doppelten Betrachtungs-
weise des Geschehens enthaitcn.
86
IL SpeiieUer Tdl.
erregfen, worauf dann etwa die motorischen Nerven die Er-
regung^ der Ganglien aufnehmen und an die Glieder sowie
schließlich an die Außenwelt abgeben. Nichts Psychisches
als solches schiebt sich hier für diese Betrachtungsweise da-
zwischen; im (Troben wie ira „Infinitesimalen", im Kleinsten
und im Feinsten sind da nur physische Ursachen und Wir>
kungen im Spiele.
Auch wenn zu niethüdischen Zwecken die Handlungen
der Menschen und der übrigen Lebewesen rein quantitativ-
mechanisch (oder energetisch) erklärt werden, bleiben sie
doch ihrer Form und Kompliziertheit nach vom anorganischen
und künstlichen Geschehen unterschieden. Abgesehen
davon, daß aus den allgemeinen, ganz abstrakten Gesetzen
der Mechanik im engeren Sinne das konkrete, besondere, in-
dividuelle Geschehen nicht restlos abgeleitet werden kann, ist
zu beachten, daß die Wirkungen der Ursachen stets auch von
der Beschaffenheit der Dinge abhängen, auf welche ein-
gewirkt wird. Schon deshalb müssen die Reaktionen der Or-
ganismen anders ausfallen als die anorganischer Körper. Da
die Lebewesen eine Fähigkeit des Zurückbehaltens von Ein-
drücken, eine Art Gedächtnis („Mneme*') besitzen, da viele
Organismen ein Nervensystem haben, welches auf Grund ver-
g'angener, aufgespeicherter und verdichteter Erfahrungen in
Form von feinsten Modifikationen (Anlagen, Dispositionen)
regTilierend auf das Verhalten des Gesamtsystems wirkt, da
jede Art und jedes Individuum eine besondere Vergangenheit
besitzt, die ihre Spuren hinterlassen hat und nun in den orga-
nischen Reaktionen zur Geltung" koniint, so unterscheidet sich
jeder Organismus — und in höchstem Maße der Mensch —
von einem anorganischen Aggregat und ebenso auch von
einer künstlichen Maschine, kurz von allem, was die organi-
schen Eigentümlichkeiten: innere Verbindung und Einheit,
Reizbarkeit, Gedächtnis, Selbstregiilation usw. nicht besitzt
Die Fähigkeiten der Anpassung* und der Reizverwertung, des
„Lernens", der Regulierungf der Funktionen je nach den Um-
ständen, des „Anderskönnens" usw. machen die Organismen
zu relativ selbständigen, eigengesetzlichen Wesen,
Digitizeo v^oogle
Sechstes Kapitel. Mechauiismus, Psychisrnns, Finalismus.
87
deren Tätigkeiten «war, direkt oder Indirekt, ▼on außen aiu-
gfelöst werden, aber doch zogleich von innen ker ihre Rich-
tung erhalten und mehr sind als bloß passive Fortsetzungen
der Aoßenvorgäng-e.
Wenn also die menschlichen Handlungen sich so be-
trachten lassen, als ob sie rein physische Ursachen hätten,
so setzen sie hierbei doch etwas sehr Wichtiges voraus: ein
menschliches Grrofihim, von dessen Struktur und Eigenenergie
sie unmittelbar abhängen. nVon selbst^* wäre natürlich ein
Kunstwerk wie der Goethesche „Faust** nie erstanden; die
Schöpfung eines soldienWerkes setzt eben ein bestimmtes, hoch-
entwickeltes Gehirn mit bestimmten Anlagen und Bahnnngen
voraus, eine individuelle Konstellation, Konfiguration, Struktur
von höchster Seltenheit^ etwas Einmaliges in besag auf seine
Form und Leistung. Und ebenso sind die historischen, sozialen
und kulturellen Begebenheiten auch als rein physische Vor-
gänge von dem Funktionieren besonders beschaffener, en^
wickelt«r Grehime abhängig und also sicher weder als Zufalls-
produkte aufzufassen noch aus allgemeinsten Naturgesetzen
restlos abzuleiten.
Da die exakte Naturwissenschaft die objektive Wirklich-
keit als ein System quantitativ-dynamischer Relationen auf-
bißt, so fällt die unmittelbare Daseinsweise des Gegebenen
einer anderen Gruppe von Disziplinen zu: der Psychologie
und den Geisteswissenschaften. Für diese Wissenschaften
bedeutet nun das menschliche Handeln einen Veränderungs-
komplex, der seine Ursachen in bestimmten Bewußtseins-
veränderungen als solchen, in bestimmten seelischen Vor-
gängen, in gefühlsbetonten Vorstellungen imd Willensimpulsen
hat, die wieder von außen, durch das ,Jnnensein" physischer
„Reize", veranlaßt sein können. Auch hier ist ein geschlossener
Kausalzusammenhang gefordert, innerhalb dessen aber nun
jedes Glied als psychisches Moment eingestellt wird, mag
•es für sich, gesondert zum Bewußtsein gelangen oder nicht,
mag es bewußt, unterbewußt oder relativ unbewußt sein. Die
Einheit und Konsequenz der Betrachtungs- und Erklärungs-
weise muß hier ebenso gfefordert werden wie in der Natm>
88
n. SpoieUtf TciL
Wissenschaft. Das Schema einer Haudlungf ist jetzt so: das
„Innensein" eines als Reiz fung^ierenden Geschehens in der Urn-
welt erregt in uns bestimmte Krapfindungen oder Sinneswahr-
nehmungen; diese reproduzieren gewisse gefühlsbetonte Vor-
stellungen, es finden ferner Assoziations- und Apperzeptions-
prozesse statt; dann erfolgt ein motorischer Willensimpuls, und
an diesen schließen sich Bewegungsempfindiingen und Be-
wegungswahrnehmungen. Den verschiedenen Momenten,
Phasen derWillenshandlung entsprechen bestimmte Abschnitte,
Glieder des physischen bzw. physiologischen Prozesses. Dies
ist ohn« weiteres begzeiflidi; denn es handelt sich hier ja nur
um Z9ni yeisdiiedene Betraditangfsweisen ein und desselben
(jsschehens» das sich vom Standpunkt der unmittelbaren Er-
fahrung und der ihr gemäßen Deutung* fremden Handelns
anders darstellt als von dem der mittelbaren Erkenntnis» der
äußeren Erfahrung. Demnach läßt jede Handlung eine
doppelte Auffassung zu. Wird sie aeXbat als ein physischer
Vorgang unter anderen physischen Vorgangen betrachteti
dann muß sie, wo exakt vorgegangen werden soll, als Wirkung
rein physischer Ursachen bestimmt werden; hingegen ist sie»
wo sie als Ablauf von Bewußtseinsvorgängen betrachtet wird,
auf psychische Ursachen zurückznf fihren, ohne daß deshalb der
Zusammenhang desEsychischen mit auslösenden Naturfaktoren,
mit den Einflüssen der Umwelt vernachlässigt zu werden
braucht
Zwischen den materiell-energetischen Vorgängen und den
psychischen Prozessen besteht demgemäß keine reale Wechsel-
wirkung, sondern ein bloßer Parallelismus,*) in dem Sinne,
daß beide Reihra des Geschehens einand«: zugeordnet, von*
flsnander funktional abhängig, in ihrem Auftreten Wechsel*
seitig aneinander gebunden sind. Der Schein, als ob etwa
der Wille die reale Ursache (nicht bloß Bedingung) der aktiven
Körperbewegung wäre, entsteht nur daraus, daß der Willens-
impuls, der das „Innensein" eines Gehimprozesses bildet, der
*) So nach Spinoza, Schopenhauer, Feckmr, Wundt, Faulaen,
König, Heymans, B^Er^mam, Spencer, Roffding, RieUf Jodl, B^Kvm,
J. SdkMttr n. tu
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Sechste« Kapitel. Mechanismus, Psycbismus, Finalismns.
89
eigfentlichen Handlung- ebenso zeitlich vorausgeht und
diese ebenso kausal bedingt wie der ihm entsprechende
Gehirnvorgang die zeitlich vorangehende Ursache der-
selben Handlung ist, nur daß jetzt diese als physiologischer,
nicht mehr als psychischer Prozeß in Frage kommt. Was
man als „psychophysische Wechselwirkung" ansieht, erweist
sich bei genauerer Betrachtung als eine psy chopsychische
Wechselbeziehung, nämlich als wechselseitige Abhängig-
keit verschiedener Glieder des psychischen Zusammenhangs
selbst, als Wechselwirkung" etwa zwischen dem „Geistigen" im
engeren Sinne, dem Denken, Wollen usw., und dem „Sinnlichen",
welches in Form von (Organ-) Empfindungen, Trieben u. dgl.
das unmittelbare, innere Sein des „Leiblichen" oder das „Phy-
sische** in der weiteren, laxeren Bedeutung des Wortes dar-
stellt Dieser Wechselwirkung entspricht eine Wechselwirkung
zwischen den Bestandteilen und Funktionen des Körpers
einerseits und denen des Nenrenqrstems anderseits, eine physio-
logische Wechselwirkung. Wir können auch sagen: Ein
je nach der Betraditangswelse — sowohl psychischer als phy-
sischer Vorgang bewirkt wieder einen sowohl psychischen als
physischen Vorgang, oder Psychophystsches steht in Wechsel-
wirkung mit Psychophysischem {GcldaMd), und zwar so, daß
die gleichnamigen Seiten der Gesamtreihe mitonander direkt
kausal verbunden sind» während die ungleichnamigen Seiten
einander nur funktionell zugeordnet, nur voneinander abhängig
sind. Dabei darf nie vergessen werden, dafi dieser streng
dnrchzufflhiende methodisch-phänomenologische Dualis-
mus eine monistische Auffassung des Geschehens einsdilie&t.
Es sind nicht zwei Reihen eines an sich heterogenen Ge-
schehens miteinander verbunden, sondern ein und dasselbe
reale Geschehen, das von dem einen Standpunkt als physisch
erscheint, ist seinem unmittelbaren Higenseln nach psychisch.
Was in der unmittelbaren Daseinsweise als Empfindungs-
qualitat, Gef uhlscharakter, Wert, Einheitsbewußtsein usw. auf-
tritt, das kann naturgemäß im Physischen in dieser Art nicht
noch einmal vorkommen. Wohl aber ist anzunehmen, daß
allen Bestimmtheiten imd Unterschieden auf der einen Seite
90
II. Sp^zifüf^r Teil.
Bestimmtheiten und Unterschiede auf der anderen Seite ent-
sprechen. Je einheitlicher, reicher, differenzierter, aktiver, be-
wußter das Seelenleben ist, desto höher entwickelt erscheint
auch das Organsystem, welches die Außenseite, die Objek-
tivation, den sichtbaren Ausdruck, die sinnfällige Erscheinung-
desselben bildet. Die Entwicklung- der Lebewesen g-estaltet
sich im ganzen so, daß zwar schon den niedersten Organismen
ein primitives, noch ganz vages und dumpfes Innenleben eigen
sein mag, ein höheres, düierenziertcs Seelenleben aber erst
in Verbindung mit einem Nervensystem verbunden ist. Die
organische Entwickiui,^ selbst vollzieht sich unter dem Ein-
fluß psychischer Antriebe, welche den Reaktionen der Orga-
nismen auf die Reize der Umwelt die zielstrebige Richtung
gebeu, und die unter diesem EinÜusse cntstaudeue höhere
Organisation der Lebewesen ermöglicht wiederum ein höheres,
reicheres, einheitlicheres Seelenleben. Der Organismus als
Ganzes ist seinem Innensein nach ein System psychischer
Triebkräfte, das sich selbst, wenn auch nur im Zusammen-
leben mit der Umwelt, immer höher gestaltet, steigert. Es
kann nun nach dem, was wir betreffs des Verhältnisses des
Psychiachen zum Physisclien gesagt haben, keinem Miß-
verständnis mehr unterliegen, wenn wir erklären; An den orga-
nischen Prozessen, an den Lebensfonktaonen sind psychische
Faktoren beteiligt Aber nicht, wie dies manche „Psycho-
vitallsten** annehmen, als die Ursachen physischer Phäno-
mene, sondern als das Innensein des Organismus, das in den
physischen (phystologflschen) Reaktionen desselben selbst zum
objektiven Ausdruck gelangt Die Frage „Mechanismus oder
Psychismus?" muß demnach so beantwortet werden: Mecha-
nismus und Psychismus. Vom Standpunkt der äußeren Er-
fahrung ist alles „Leben*' als ein eigenartiger, eigengesetz-
licher Zusammenhang physischer Ptozesse, als ein besonderer
Komplex medianisch-energetischer Vorgänge aufeu&ssen und
als solcher konsequent und allgemein zu erklären, so daß also
nicht irgendwo, etwa for bestimmte Lebensfunktionen kom-
plizierterer Art, von dieser methodischen Regel abgewidien
werden darf. Das hindert aber in keiner Weise die Ergänzung
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Sechstes Kapitel. Mechanismus, Psychismus, Finalismus.
91
dieser rein physiolog-ischen und mechanistisch-energ-etischen Be-
trachtungsweise durch eine psychologische oder „biopsychische"
Deutung der Lebensvorgänge.
Nun können wir noch weiter gehen und metaphysisch
auch das Anorganische im Lichte einer solchen „Identitäts-
theorie" betrachten. Verschiedene Gründe berechtigen wohl
zu der Annahme, daß auch das niclit-ort^anisierte Sein nicht
eines Analogons des Psychischen entbehrt, (rewiß wäre es
hc)chst unkritisch und würde ea einen Rückfall in eine längst
überwundene Weltauffassung bedeuten, wollten wir etwa leb-
losen Aggregaten, etwa einem Felsblock, einem Tische u. dgl.,
eine einheitliche Seele, ein eigenes Ich, ein Selbstbewulitseiu,
einen Eigenwillen zuschreiben. Hingegen hindert uns nichts,
auch schon den einfachsten Wirklichkeitselementen eine Art
„psychisches Differential" zuzuerkennen, etwa in Gestalt eines
dumpfen, vagen Strebens, einer noch ganz undifferenzierten
„Tendenz", eines „Verspiirens" von Einflüssen seitens anderer
Elemente, verbunden mit einer Art Trieb zur Wiederherstellung'
des gestfirten Eigenzustandes. Eine solche Annahme hat gar
nichts , J^hantastisches", sie ist weder bloß poetisch« noch
mystischer Axt und steht in keinem prinzipiellen Gegensatz
zu den Ergebnissen der exakten Wissenschaft, zu methodo-
logischen Prinzipien oder zu erkenntnistheoretischen Grund-
sätzen. Im Gegenteil, gerade aus erkenntniskritischen Er-
wägungen heraus werden wir leicht den Schluß ziehen können,
daß die Dinge nicht bloß ein Sein für andere oder als Objekt
sinnlich vermittelter Erkenntnis, sondern auch ein Für-
sich- oder Eigen sein haben, so daß dem ,r^ufieren'' ein
„Inneres** entspricht. Die Subjektivität ist in jeder Hindcht
das Korrelat zur Objektivität Sie ist so ursprünglich wie
diese, ist aus ihr in keiner Weise abzuleiten. Der Keim zum
Psychischen, zum subjektiven Sein muß, da dieses etwas Ur-
sprüngliches, Prinzipienhaftes bedeutet, urewig Bestand haben.
Es muß im Seienden als solchen wenigstens die Anlage zu
dem stecken, was sidi spater zu eigentlichem, differenziertem
und zentralisieitem Seelenleben entwickelt (WuiuU u. a.). Ist
alles Sein nach seiner äußeren, materiellen und dynamischen
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92
n. Spendier Teil,
Beschaffenheit im Grunde gfenommen einheitlich, so wird
es sich auch innerUch nur gfraduell unterscheiden. Es ist
nicht anzunehmen, daß ein Teil des Geg^ebenen nur physisch
ist, während bei einem anderen plötzlich — man weiß nicht
woher — etwas so fundamental Eig-enartig-es und Neues wie
das Psychische als Eig-enschaft oder Funktion auftritt. Wir
können daher nicht umhin, im Psychischen eine Seite alles
Wirklichen zu erblicken, so energ-isch wir auch jeden Anthropo-
morphismus ablehnen müssen. Die Aussag-en der exakten
Naturwissenschaft über die Ding-e und deren Eig-enschaften
sind unanfechtbar, soweit sie sich auf die äußeren Relationen
mög"licher Erfahrung-sobjekte beziehen. Es ist also nicht
gestattet, die mechanistisch oder energetisch aufg-efaßteu Natur-
vorgäng"e auf psychische Ursachen zurückzuführen. Das
würde in der Tat den „Tod" der Naturwissenscliaft bedeuten
(Kant). Aber der mechanistische Standpunkt der Naturwissen-
schaft ist einseitig und abstrakt; er darf nicht dogmatisch
verabsolutiert werden, er reicht zur Begründung einer der
Gesamterfahrung Rechnung tragenden Weltanschauung
nicht aus und läßt immer noch Platz für seine Ergänzung
durch eine „psychistische" oder idealistische Deutung des
Wekgeschehens.
Man ist nun mit dem \ t-r]ialtnis zwischen dem Psychischen
und dem Physischen y'enügend vertraut, um die Konkordanz
von Finalität und Mechanismus einzusehen und den
Schlüssel zur immanenten Teleologic zu erhalten. Gibt es
beim Menschen und bei den übrigen Lebewesen entschieden
zielstrebige Tendenzen und Handlungen, die sich vom Stand-
punkt der äußeren Erfahrung als mechanisch -energetische
Vorgänge darstellen oder denken lassen, dann wird es viel-
leicht auch möglich sein, das gesamte Geschehen „teleo-
mechanisch'* aufzufassen, d. h. anzunehmen, daß etwas unserer
eigenen Zielstrebigkeit Analoges sich im Mechanismus selbst
manifestiert Nur mässen wir hiw vorsichtig verfahren und
den Parallelismiis zwtsdien FinaUtat und Mechanismus so
durchführen, daß die angenommene Selstretngkeit überall zu
der mechanischen Außenseite des Geschehens möglichst paßt,
Digiiizeü by Google
Sechstes Kapitel. Mechanismus, Psychismus, Fioalismus.
93
daß aie also der Seins- und Entwiddungastufe der Wesen
angemessen ist
Von naufien" gesehen, stellt sidi uns alles Geschehen als
ein geschlossener kausal- mechanischer Zusammenhang- dar.
Durch Drude und Stoß, dnrdi thermische, optische, elek-
trische n. & Kralte, durch chemische Einflüsse werden von
und an den Körpern bestimmte Vorgänge in streng gesetz-
licher Weise hervorgebracht; jede physische Aktion hat eine
physische Reaktion zur Folge. Diese Reaktionen sind yon
der Beschaffenheit, Form, Struktur der Dinge abhangig. Die
Richtung des Geschehens ist also nicht allein durch die
wirkenden Dinge, sondern auch durch die Dinge^ auf die
gewirkt wird, bedingt Ein absolut passives Geschehen
existiert nicht; alle Veränderung in der Welt beruht auf
Wirkung und Gegenwirkung, auf wediselsextiger Reaktivität
Mit dem BegrifFe der Reaktion treten wir nun auch an das
„Innenaein** des Geschehens heran. Jedes WirUichkeitBelement
reagiert auf Einflüsse, die es erleidet^ und strebt nach Erhaltung,
Wiederherstellung des ihm gemäßen Oinormalen*^ Zustandes,
es erstrebt das ihm Passende und widerstrebt der ,3törung**.*)
So erscheint jede Reaktion als der direkte oder indirekte
Ausfluß einer immanenten Zielstrebigkeit und ist doch
zugleidi, in anderer Betrachtungsweise, streng kausal be-
stimmt, d.h. die notwendige Wirkung („Abhängige^ eines
anderen Geschehens. Dieses selbst ist wieder der Ausdruck
einer elementaren Zielstrebigkeit, und so ergibt sich schließ-
lich folgende Annahme: Das Geschehen in der Welt weist,
zwei Seiten auf, eine kausal-mechanische und eine
teleologisch - psychische. Alle Vorgänge in der Welt
sind miteinander kausal verkettet, sie verhalten sidi zu-
einander wie Ursache und Wirkung, lassen sich nach dem
Grundsatz der Kausalität beurteilen. Zugleich aber sind sie
die objektive Erscheinung, der Ausdruck eines „FÜrsich-
seins", einer immanenten Zielstrebigkeit der Wirklichkeits-
faktoren.
•) Ober den Begriff der »Störung« vgl die Sdvifien EeiMt,
XotoM n. a.
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94
IL Spezieller Teil.
Das Mechanische ist somit nicht das Letzte cder nicht
das ontologisch Primare, so universal und ausnahmslos es
gültig sein mag. Es gehört zur ,iAnßens^te** des Wirklichen,
es ist der Inbegriff äußerer Relationen der Dinge, so
wie diese sich in den Formen der sinnlidi bedingten Erfahrung
darstellen. Der Mechanismus bringt die Weohselberiehungen
der Dinge zur Erscheinung. Diese selbst entfalten eine innere
Regsamkeit,*) ein Streben und Gege n streben mit einem
„primären", inneren, ganz unmittelbaren Ziel. Das besondere
Geschehen aber ist stets eine Resultante yerschiedener kon-
kurrierender Zielstrebigkeiten. In allem Geschehen bekundet
sadi also die Tendenz nach Verwirklichung eines Zieles; aber
diese Tendenz muß nicht Erfolg haben oder sich rein durch-
setzen. Die Zielstrebigkeit, die den Reaktionen der Dinge
zugrunde liegt, und die nach Analogie des uns bekannten
Psychischen, keineswegs aber anihropomorphistisch aufzufassen
ist, manifestiert sich in einer ,3o]strebigkeft" der ph3rsischen
Reaktionen; diese besteht in einer bestimmten Richtung
und Form der Bewegung oder des energetischen Ge-
schehens.
Die Eindeutigkeit des Geschehens, wie sie die mecha-
nistische Naturauffassung- fordert, wird durch die Annahme
einer Finalität in den Pingen nicht aufgehoben. Auch die
Gültigkeit der Naturgesetze erfährt durch die teleologische
Ergänzung der mechanistischen Betrachtungsweise keine Be-
einträchtigung. Das Postulat der Gesetzlichkeit überhaupt
ist eine apriorische, notwendige Bedingung objektiver Er-
fahrung- und Erkenntnis. Die besonderen einzelnen Gesetze
sind als solche freilich nicht unabhängig vom Erfahrungs-
inhalt zu finden. Sie sind Formeln für konstante Relationen,,
im engsten Sinne für mechanisch-energetische Abhängigkeiten
der Phänomene voneinander. Sie bedeuten nicht Wesenheiten,-
die über den Dingen schweben, nicht geheimnisvolle Mächte,
welche diese von außen zu etwas zwingen, sondern sie bringen
das gleichmäßige Wirken, Zusammen- und Gegenwirken der
*) So JDeiMr, Bdugfenkamr, Feetmer, NteU$dtet Bofimi, LoUe,
WuMdtf tu a.
Uiyuiz.Cü Oy Google
Sechstes Kapitel. Mechanismus, Psychismas, Finaiismus.
95
Diogfe selbst und die Erhaltangf derselben zum Aosdrock.
Biese Gleichformig'keit der Reaktionen der Dingfe ist eine
Folge der Einheit und Identität, des sich Gleichbleibens
der „Natur** der Wirküchkeitsfaktoren unter gfleichen Be-
dingungen. Es ist notwendig, daß unter gleichartigen Um-
ständen Gleichartiges geschieht. Ebenso ist durch das Zu-
sammensein eines Dinges mit bestimmten anderen die Reaktion
des Dinges bestimmt; sie erfolgt also mit kausaler Notwendig-
keit, bleibt aber dabei stets auch ein Ausfluß des eigenen
Wesens des Dinges selbst Zu diesem „Wesen** gehört nun
als Innensein ein Streben, und den Lihalt dieses Strebens
bildet ein Ziel In den speziellen Naturgesetzen bekundet
sich denmach eine Abhängigkeit der besonderen ZieU
strebigkeiten voneinander; der Kausalnexus ist die Außen*
Seite eines Finalnexus oder auch der Niederschlag zielstrebiger
Reaktionen und deren Verkettungen. Diese teleologische
Weltdeutnng ist monistisch. Denn nirgends stellt sie sich
dem Kausalen entgegen, nie fuhrt sie in die Reihe des
kausalen Zusammenhanges der Phänomene selbst heterogene
Faktoren ein.
Mechanismus und Teleologie schließen also einander in
keiner Weise aus. Einerseits läßt sich das Mechanische und
Mechanisierte als ein Mittel zur Verwirklidiung von Zwecken
auffassen. Die strenge Gesetzlichkeit des Mechanischen und
Energetischen ordnet sich so der teleologischen Gesetzlichkeit
unter, indem mechanische Kräfte und Systeme solcher durch
bestimmte Komplexe anderer Kräfte in ihrer Wirksamkeit
Richtung beeinflußt oder im Sinne dieser Kräftesysteme um-
geformt, transformiert werden. Nicht durch spezifische „Richt-
kräfte" {Reinhe) geschieht dies aber, sondern nur durch ein
besonderes Zusammenwirken ebensolcher Kräfte, wie sie sonst
in der Natur vorkommen, also energetisch-gerichteter Kräfte.*)
Ihr Einfluß auf die Richtung- anorganischer Energien fällt
auch dann nicht aus dem Rahmen der Gesetze der Mechanik,
Dynamik und Energetik heraus^ wenn er aus abstrakten Ge-
*) Vgl die Arbeiten von Wiffüng, JZ. QdkdiMi u. a.
96
IL Spezieller Teil.
setzen allein, ohne Berficksichtigimg der spesifiachen nnd
individuellen Konstellationen oder Systeme, nicht eiidärbar
ist Und wenn diese Kräftesysteme zielstrebig' sind, wenn sie
den Ausdmck einer immanenten Finalität bilden, so wirken
sie auf Kräfte ein, die ebenfalls, nur in anderer WeSao und
Richtung', einen „zielstrebigen** Charakter besitzen. Die Kau-
salität, die in den Dienst von Zwecken irgendwelcher Art
g'estellt wird, ist selbst schon eine teleologische Kausalität,
ma^f de nun in einem anorgfanischen Komplex von Reaktionen,
einer Maschine oder in einem oiganisierten System mch
entfalten.
Dazu kommt nun noch der Umstand, dafi immer wieder
lebendige und variable, aktive ZwecktatigkMt durch öftere
gleichsinnige Wiederholung^ eine feste, einseitifjfe, konstante
Richtung* annimmt, sich automatisiert. Auf diese Weise er-
folgt immer wieder ein Niederschlag von Mechanismen.
Nicht aber, wie manche zu glauben scheinen, als Ver*
Wandlung psychischer in physische Kausalität, sondern auf
der psychischen Seite des Geschehens selbst, die dann auch
ihre physische Erscheinungsweise hat Die „Mechanisierung*'»
von der hier die Rede ist, bedeutet zunächst, primär, eine
Art Erstarrung p^<duscher und org-anischer Reaktionen, ein
Herabsinken dieser auf eine niedere, einfachere Stufe des
Geschehens. Diese Mechanisierung* erweist sich, wenn sie
innerhalb einer gfewissen Grenze bleibt, als zweckmäßig; sie
entlastet den Geist und den Organismus, in dem er nch
manifestiert, sie erspart En^gien für weitere Zwecksetzungen
und Zweckverwirklichungen und bietet für solche eine ent-
sprechende, verwertbare Maschinerie dar.
Der auf den ersten Blick scheinbar unüberbrückbare
Gegensatz zwischen mechanischen, bewegenden nnd be-
schleunigenden Kräften und zielgerichteten Tendenzen erweist
sich hiermit als kein absoluter. Wir müssen auch daran
denken, daß der mechanische Kraftbegriff schoD dadurch
dem Begriffe einer auf ein Ziel gerichteten, psychischen Kraft
nähergerückt erscheint, daß wir zunächst in unseren äußeren
Willenshandlungen, in der Form von Muskelempfindungen
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Sechstes Kapitel. Mechanismos, Psychismus, Fiaaliamus.
97
beflOBden, etwas «leben, was wir in die Objekte der Außen-
welt hiseinlegen, die dann ala Zentren bewegender KrSfee
erBcheinen. Diese iCzSfte sind ursprünglicli nach Analogie
nnserer WiUens- und Muskelkraft gedacht, ond wenn sie auch
im Laufe der wiisenscfaaf tUchen Entwicklung su blofien äußeren
Relationen werden, bei denen das urspränglich Qualitative
der „Kraft** zur&drtxitt, so geht doch der Zusammenhang 4ss
mechanischen mit dem nrsprfingiichen Kraftbegiiff nicht gans
verloren, so daß sogar manche positiviStisdien Denker die
Tendenz zeigen, alle Kraft für etwas MMetaphystsehes** oder
JPetischtstisches** zu halten, weil sie rein nach Analogie des
Strebens gedacht ist und weil von ihr sich in der äußeren
Erfahrung nichts findet Ist nun auch die positivistische
Tendenz, alles Geschehen in der Natur auf äußere Relationen,
Abhängigkeiten der sinnlich vermittelten Erscheinungen zurüdc*
zuführen, vom Standpunkt der möglichst exakten Naturwissen-
schaft, der Physik, berechtigt oder zweckmäßig, so gilt das
nidxt auch für eine umfassendere, der Gesamtheit der uns
zur Verfügung stehenden Erfahrungs- oder Erkenntnisweisen
Rechnung tragende, philosophische Weltbetrachtnng.
Das von der — in dieser Hinsicht abatrakt-einseit^n —
Naturwissensdiaft oder wenigstens Physik methodisch und
zweckmäßig vernachlässigte, nicht verwertbare qualitative
Element oder Moment des Wirklichen, wie wir es in unserem
eigenen Handeln und Reagieren unmittelbar erleben, kann
und muß von der Naturphilosophie und „Metaphysik** wieder
in die W^trechnung eingesetzt werden,"^ wodurdi der Schritt
von der „Nachts zur „Tagesansichtf* (Feehner) getan wird.
Man kann dann nach wie vor den mechanisch -energetisch«!
Kraftbegriff als einen bloßen RelationsbegrifE bestimmen, der
zunächst nur für bestimmte Abhängigkeiten zwischen den
physischen Phänomenen gilt. Diese Auffassung ist aber dahin
zu ergänzen, daß die mechanischen Kräfte selbst als der
äußere, den Formen des physikalischen Denkens gemäße
Auadruck «innerer**, unmittelbarer, Jnr sich** seiender Ten-
*) So auch JFVdlNer, X^ßfi WM^it, LaduMer, Bergton o. a.
Eitler« Der Zwedt. 7
98
IL Spetidler TdL
denzen zu. gelten haben, deren Wechselbezielrangfen sich in
dynamischen Relationen spiegeln, objektivieren. Ohne mit
S^op$nhttU0r in jeder Hinsicht übereinsostimmen und seine
Argamente gutzuheifien, können wir doch gleidi ihm im
Streben, im primären ^WiHen**, zu dem als Inhalt ein imma-
nentes, wenn aach noch so dumpfes und vages Ziel gehört^
das iJnnensein** dessen erblicken, was vom Standpunkt der
äußeren Erfahrung oder besser des ihren Stoff entsprechend
verarbeitenden Denkens sich als Kraft im naturwissenschaft-
lichen, phsnrikalisch-chemischen Sinne darstellt.
Selbstverständlich kann die Physik als solche die mecha-
nisch-energ-etischen Erscheinungen nicht aus dem Streben
oder Willen als solchen, sondern immer wieder nur aus
physischen Manifestationen eines solchen Strebens erklären.
Die Verquickung empirisch-phänomenaler Erklärung mit einer
metaphysischen oder psychistischen Deutung des Gescdiehens
bildet den Krebsschaden der Philosophie wie der 80 ver-
fahrenden Wissenschaft Es kann vor diesem folgenschweren
Fehler, in den auch noch jetzt so mancher sonst sehr scharf-
sinnige Denker verfällt, nicht genug gewarnt Warden, soll die
«Metaphysik" das Ansehen, das sie wieder zu erlangen sucht,
dauernd gewinnen. Nicht als „Ursachen" mechanischer Vor-
gänge dürfen zielstrebige Tendenzen benutzt w^den, sondern,
wie nicht scharf genug betont werden kann, nur als Grund-
lage, als „Fundament" der mechanisch«! Relationen selbst,
als etwas, das sich in ihnen „äußert", sinnenfällig manifestiert,
ohne daß es ein Glied der mechanischen Kausalreihe selbst
bildet.
Ferner darf man nicht etwa meinen, daß die in den
mechanisch-energetischen Prozessen zur Erscheinung gelangen-
den Tendenzen auf bestimmte äußere Effekte, wie wir sie
in den Prinzipien der Trägfheit und der Erhaltung' der Energie
beirnfflich bestimmen, g-erichtet sind. Von diesen, der äußeren
Erfahrung" und Erkenntnis sich darstellenden Effekten weiß
natürlich das zielstrebige AVirklichkeitselement nicht das Ge-
ringste. Erstrebt wird immer nur ein gewisser innerer, un-
mittelbarer Zustand; eine gewisse unmittelbare „Erhaltungs-
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Sechstes Kapitel. Mechanismus, Psychismus, Fiaalismus.
99
tendenz" mag" in den I>iogien aller Art sich geltend machen,
die in Wechseibeziehimg- za den Erhaltangstendenzen anderer
Wirldichkeitselemente steht Die Gesetze der Mechanik und
Energetik aber gelten als solche nur f9r die Art und Weiae,
wie dieWeehseibeziehnngen aller dieser Tendenzen sich vom
Standpunkt der sinnlich vermittelten und entsprechend durch
dss Denken verarbeiteten Erfahrung* bestimmen lassen. Und
wenn auch alles Geschehen in der Welt sich als Manifestation
zielgerichteter Strebungen darstellt, so ist zu beachten, daß
die Folgen der Aktionen der Dinge nicht von den fremde
Elemente beeinflussenden Faktoren gewufit und gewollt sind,
sondern eben Reaktionen anderer, anderen Elementen eigener
Tendenzen bedeuten, die ebenso auf unmittelbare» eigene,
innere Zustande gerichtet sind wie die Tendenzen der ver-
ursadienden Faktoren. Die Zielstrebigkeit der Wirklichkeits-
elemente ist zunächst und primär eine rein immanente
und subjektive, rein qualitativ -intensive.
Soll die Teleologfie den mechanischen Vorgängen und
deren Gresetzmäffigkdt gerecht werden, so muß sie gleichsam
infinitesimal begründet werden und das medianiscfae Ge-
schehen als Objektivation einer Verbindung elementarster und
minimalster Zielstrebigkeiten auHassen, deren Gesamtwirkungen
nicht selbst ein Ziel des Strebens bilden. Nur im Sinne des
regulativeD, der Erweiterung der Kausalforschung' dienenden
ZweckbegrifEs läßt sich von diesen Gesamtwirkungen als einem
gedachten, als ein solches betrachteten Ziel ausgehen und das
Geschehen so denken, als ob es etwa die Tendenz hatte,
dem Trägheits- oder Energiegesetze zu entsprechen.
Im Anorganischen bleibt die Finalität ganz elementar,
die Tendenzen verschiedener Wirklichkeitsfaktoren ver-
binden sich nur äußerhch miteinander, ohne inneres Band.
Die Verbindung^ Komplexe der Wirklichkeitselemente als
solche, als Ganzes sind hier nicht eigene Strebungszentren,
sie verfolgen also keine eig'enen Ziele, die wieder auf die
Partialziele von Einfluß sind. Keine innere Verbindungs*
einheit bedingt die Richtung des anorganischen Geschehens,
und der Ablauf der Reaktionen hinterläßt keine die späteren
7*
Oigitizec l,;, *^oogle
100
II. Spezieller Teil.
Reaktionen meildich beeinflnasenden Spuren. Es gibt in der
anocganiaciben Welt ao gut wie kein wLemen**, kein Vei^
werten von Er&hmngen, kein eigentliches Gredachtnia» kein
Ftobieren, Versudien.
Alles dies findet sich nun, in verschiedenem Maße^ im
Reiche des organischen Lebens. Mag dieses aus dem An-
organischen hervorgegangen sein oder mögen Organisches
und Anorganisches divergierende Entwicklungsprodnkte sein,
denen ein noch indifferentes ^rotorganisches**, das zugleich
ein nProtanorganisches** war, vorangegangen ist, mögen
ferner aUe Dinge aus den gleichen Grrundstoffen und 6rrund-
kräfton bestehen:, der formale Unterschied zwischen einem
Organismus und einem anorganischen Aggregat oder einer
kOnstUdien Maschine ist unverkennbar. Wohl unterliegt das
einzelne Geschehen an den Organismen den gleichen Natm>
gesetzen, wohl verliert hier kein Prinzip der Naturwissenschaft
seine Greltung, aber wir finden hier einen besonderen Ablauf
einen besonderen Zusammenhang des Reagierens, der von
der besonderen Verbindungseinheit des Organismus un-
mittelbar abhangig ist und daher in der übrigen Natur, wo
diese Einheit, dieses eigenartige „System** {Cdkm u. a.) fehlt,
nicht in der völlig gleichen Weise zu konstatieren ist*)
*) zur ErgffBzong dieses Kspitdt das 7. and 15. EspiteL
Digiii^uü üy Google
Siebentes Kapitel
0er Zweck in der Biologie.
Der Kampf für und g-egen die Teleolopfie ist es zumeist,
was die Biologen und Naturphilosophen in die Partei der
„Vitalisten" und die der „Mechanisten" scheidet. Die ersteren
(bzw. die „Neo vitalisten") bestreiten jede Möglichkeit, die
eigfentlichen Lebensfunktionen aus rein mechanischen Ur-
sachen, also bloß aus physikalisch -chemi';rhen Kräften abzu-
leiten; sie g-ehen auf spezifische, nicht-mechanische Faktoren
zurück, die, mögen sie nun als besondere „Lebenskräfte",
„Dominanten", „Entelechien" und dergleichen oder aU
psychische Potenzen bestimmt werden, insgesamt die Eigen-
schaft der Zielstrebigkeit, des Gerichtetseins auf ein Ziel haben,
die sich den unter ihrer Leitung stehenden organischen Re-
aktionen, Regulationen, Regenerationen und Entwicklungen
mitteilt. Was bei diesen Funktionen schheßlich herauskommen
soll, das Zweckmäßige, das wird, in gewissem Ausmaße, von
den vitalen Potenzen vorweggenommen und angestrebt; diese
lenken mit unbewußter Intelligenz, einer Art Vorwissen, die
Reaktionen der Lebewesen so, daß sie zweckmäßig ausfallen,
der Erhaltung dienen, eine bestimmte Form, einen „Typus"
aufbauen oder immer wieder herstellen. Die Vertreter der
rein mechanistischen Biologie hingegen wollen von einer
Annahme zielstrebiger P'aktoren nichts wissen. Sie verwerfen
alle zwecktätigen Agentien, schreiben auch dem Psychischen
keinerlei Einfluß auf den Ablauf der Lebensprozesse und die
Entwicklung der Arten zu. Die Zweckmäßigkeit des Organi-
schen wird von ihnen als Produkt rein kausaler und mecha-
nischer Faktoren betrachtet, meist als Resultat der (passiven
oder aktiven) direkten Anpassung an die Umwelt oder als
102' ' n. Speiiellcr Tdt
Wirkung- der natürlichen Auslese im Kampfe ums Dasein
und der durch sie bedingten indirekten Anpassung.
Es läfit sich aber auch ein vermittelnder Standpunkt
einnehmen, und zwar ohne schwächliche Konzessionen. An
der Universalität des Kausalismus und Mechanismus braucht
nicht im geringsten gezweifelt zu werden, „Ausnahmen" kann
es für eine konsequente, methodisch strencfe Naturwissenscliaft
und Biologie nicht geben. Demnach ist für jede organische
Funktion oder Reaktion, so komphziert sie auch sein mag-,
zunächst ein physisches Geschehen außerhalb und inner-
halb des Organismus als Ursache anzusetzen. Ob es sich
nun um Assimilation, Wachstum, Regeneration und Restitution
von Or;^anteilen, Regulationen von Störungen, Vererbung u.dg-1.
handelt, in jedem Falle führen diese Prozesse auf physi-
kalisch-chemische Faktoren zurück, und zwar wirken
diese Faktoren eben in der Weise zusammen, daß die den
Lebewesen eigenen, spezifischen Reaktionen herauskommen.
Ohne das spezifische „Gefüge" oder „System", als welches
der Organismus erscheint, würden jene Reaktionen nicht zu-
stande kommen; sie sind abhängig von der Struktur, der Kon-
figuration der als besondere „Transformatoren von Energie"
(Ostwald) und „Katalysatoren" fungierenden Organismen. Stets
ist zu beachten, daß Prozesse, die als unmittelbare, rein passive
Effekte äußerer Ursachen unbegreiflich wären, sofort ver-
ständlich werden, wenn diese Ursachen als bloße Auslöser
innerer aufgespeicherter, bereitliegender Kräfte fungieren.
Durch diese letzteren stellt das organische System ein selb-
ständiges Kraftzentrum dar, das die Fähigkeit besitzt, äußere
Energien spontan zu beeinflussen und ihnen eine dem orga-
nischen System gemäße Richtung- zu g^eben. Störungen des
organischen Betriebes wirken ebenfalls auslösend; sie funk-
tionieren als innere Reize, welche zu einer Regulation im
Sinne der Wiederherstellung des gestörten Gleichgewichts des
Organismus den Anstoß geben, wobei, chemisch betrachtet, un-
gesättigte Affinitäten ins Spiel treten. Das Streben nach
Erhaltung oder Wiederherstellung der organischen Form, des
strukturellen Zusammenhangs, der Einheit der Lebewesen,
Digitizeo v^oogle
103
kommt in einer Reihe von regulativen Prozessen zum Aus-
druck, die im einzelnen einen physikalischen oder chemischen
Charakter aufweisen und zu welchen es nicht an Vorbildern
oder Ansätzen im Anorganischen fehlt.*) Eig-enartig- bleibt
aber der besondere Ablauf und Zusanimenhangf dieser Pro-
zesse, die „Solidarität" der Elemente und Funktionen des Or-
ganismus, die Wechselbedingthcit der Teile und des
Ganzen, das Verhältnis der Unterordnung- der Partial-
funktionen unter die Einheit des Ganzen, die „Konvergenz"
jener nach einer Richtung- des Wirkens. Der Organismus ist,
im Unterschied von anorganischen Aggregaten, ein inneres
Ganzes, ein „System", eine „Totalitat" des Seins und Wirkens,
etwas in sich Geschlossenes, das als spezifisch -individuelle
Einheit reagiert, so daß das Einzelgeschehen am Organismus
nur aus dieser Einheit und Ganzheit zu begreifen ist**)
Analogien der organischen Selbsterhaltung u.dgl. auf anorgani-
schem Gebiete weist z. B. Wundt auf. Der Stabilität organischer Ele-
mentarteile Shneln sdir Jene Selbsterhaitnngen chendsdier Verbin-
dungen, die abwechselnd dnreii die Kontalctwirkungen mit ihnen in
Berührung tretender Stoffe zersetzt werden und dann durch die anf
solche Weise frei werdenden Affinitäten ihre Konstitution wieder her-
stellen." So gibt es auch im Anorganischen Systeme, die nicht nur bei
stetem Wechsel ihrer Bestandteile sich selbst erhalten, sondern auch,
wenn sie sich in Teile spalten, diese l^en8Cfaaf*> wieder anf diese Tdle
übertragen (z. B. bei der Teilung eines Tropfens, bei bestimmten
chemischen Verbindungen mit Restitution des Spaltungsprodukts). Vgl.
J. Schultz, Die Mnschincntheorie des Lebens, 1909, der viele Beispiele
bringt, die Arbeiten von J. Loebf Ostwald, CMdscheid u. a.
**) Als .Gelage", „System* n. dfß. bestimmen den Oiganismtis
LaßwUz, Qoldieknä, MSffdmgt Cdhtn, ilT. Sartmann n. a »Der form-
bildende oder morphogenetische Prozeß ist es, der die lebendige
Form von der unlebendigen unterscheidet" {N. Hartmann, Philos. Grund-
fragen d. Biologie, 1912, S. 3). Der Organismus ist ein sich — unter
äußeren Bedingungen — selbst erbauendes System von Formungen
and formbüdenden Prozttsen (S. 4> Die spezifische WirknngiBweiBe
des lebendigen Systems ist bereits wesentliche Bedingung fOr sein
eigenes Zustandekommen and Fortbestehen. Die Eigengesetzlichkeit
des Lebens liegt in dessen tibergreifender Einheit (S.45). Die Stabilität
des organischen Gleichgewichtes beruht durchweg auf einer Sclbst-
regulation, wobei die chemische Dissimilation selbst immer wieder ziun
„Anreiz* der Assimilation wird (S. 49). Der Organismus ist ein „regu-
Digltizec v^oogle
104
IL Spezieller TeO.
Dazu kommt die Leistung der „Mneme" (Semon) oder des „or-
ganischen Gedächtnisses" (Hennef), als Beeinflussung" der Re-
aktionen der Lebewesen durch die Einwirkung"en, die sie
früher erhtten haben, durch die Spuren der Vergangen-
heit, durch die aufgespeicherten „Erfahrungen" des In-
dividuums und der Vorfahren (Vererbung), welche eine ge-
wisse Konstanz und Stetigkeit des Verhaltens des Organismus
gegenüber der Umwelt bedingen, die organische Form fixieren
und Bildungsprozesse abkürzen, indem sie auf bloße Aus*
lösuDgen hin ganze Reihen von Reaktionen automatisch ab-
laufen lassen.
D«r Ejreislanf der physisdien ProxesM Im Organismus ist
ab ein geschlossener su betradifen. Vom Standponkfc der
äußeren Eifahrung katm die Biologie also immer wieder nur
medbaxiisch-energetische Vorgänge als Uisachen und Wir-
Iningen ansetzen. Es darf für diesen Standpunkt nicht etwa
gewisse Lebensfimktionen geben, die auf nicht- physische^
metaphysisdie oder psychische Ursachen zurückgeführt werden.
Es geht nicht an, einen TeO des Naturgeschehens inkonsequent
zu behandeln, wie dies der Vital ismus oB: zu tun pflegt Alle
Einheitlichkeit der NaturerklSrung geht in die Bruche^ sobsld
zweierlei Arten von Kräften odef Agentien unterschieden
werden, von denen die einen zielstrebiig sind, die anderen
nicht, die einen nicht-enetgetische, die anderen eneigetischci
Kräfte sind. Auch ein , J^sychovitalismus", der eine Wechsel-
laüvcs System" (S. 53). Nach Möffding entstehen durch Verbindung
von aRiGfatangstendenzen* und „Richtungen* der KrBfte «mehr oder
weniger hannonische Systeme von Kausalitätsreihen*, „Totalitäten" oder
„Richtungssysteme" (Der menschliche Gedanke, 1911, S. 238 ff.). Nach
R. Ooldscheid ist die „Richtungsintensität" ein Urphänomen, eine Be-
stimmtheit jeder Kraft, so daß es keiner besonderer Richtkräfte in
den Organismen bedarL Im Organismus liegt eine „Richtungs-
k<»iiplexioD* vor, als Produkt dner »MatnaUtSt" der Teile, ohne vor-
hergehendes Erhaltungs- oder Zielstreben. Die Erhaltungsgemäßheit
der Organismen beniVit auf deren „Synergismus" und deren kn"
passung an das Naturmilieu (Höherentwicklung und Menschenökonomie I,
1911, S. 103 ff.). G. vertritt einen biologischen „Neomechanismus^, der
sehr beachtenswert iit ~ Vgl. E, Kromr, Zweck mid Gesetz in der
Biologie, 1913.
Digiiizeü by Google
Sebedtoi KapHd. Der Zwedt in der Biologie.
Wirkung" zwischen dem psychischen und physischen Geschehen
annimmt und g-ewisse Lebensfunktionen ledig-lich aus seelischen
Faktoren erklärt, setzt sich ernsten Bedenken aus. Ander-
seits ist es eine Tatsache, daß wenigstens ein Teil der or-
ganischen Reaktionen, der Lebensprozesse unter dem „Einfluß'*
seelischer Triebkräfte verläuft. Denn die menschlichen Hand-
lungen sind uozweifelhait solche psychisch bedingten Re-
aktionen.
Nachdem wir schon früher uns das Verhältnis des Psy-
chischen zum Physischen begrifflich so zurecht gelegt haben,
daß sowohl den Erfahrungstatsachen als den Prinzipien und
Postulaten der Wissenschaft möglichst Genüge getan wird,
können wir zugeben, daß an den organischen Funktionen
psychische Faktoren mit beteiligt sind, ohne der Kon-
sequenz der mechanistisch -energetischen Erklärung des Ge-»
schehens im geringsten Abbruch zu tun. Mit den psychischen
Faktoren als „Innensein" organischer Regulationen sind auch
schon die zielstreb ig-en Agentien gegeben, welche dem
organischen Geschehen die Richtung erteilen, ohne daß der
Kausalität entgegengewirkt wird oder das Gesetz der Er-
haltung der Energie eine Ausnahme erleidet. Ebendasselbe
Geschehen, das als mechanische Reaktion (im weiteren Sinne)
auf mechanische Reize erscheint, ist seinem Fürsichsein nach
eine zielstrebige, psychisch bedingte Handlung. Die ver-
schiedenen „Tropismen" etwa,*) wie der Geo-, HeUo- oder
Chemotropismus, lassen sich einerseits als rein physische Re-
aktionen (Auslösungen) auffassen, anderseits beruhen sie
wohl meist auf Strebangen nach einem bestimmten Zustand,
die durch spezifische Reize voanlaßt sind. Ebenso Tcurhält
es ^ch mit allen Regenerationen, Restitutionen usw. Sie
stellen sich sowohl als (eigenartige) Abläufe physikaHseh«
chemischer Prozesse wie als Tätigkeiten dar, die ein be-
stimmtes Ziel haben, die Wi^erheratellung eines gestörten
Zostandes. Nichts hindert uns, von „bedür&isgemäßen^ Re*
aktionen der Organismen zu sprechen, wenn nur damit nicht
*) VgL die Arbeiten von Darwin, J. Loeb, Jenninga, Haberlandt,
Ifeffer tt. tu
106
IL Speiidkr Tdl.
die im'g-e Meinung" verbunden wird, als ob dies eine mecha-
nistische Erklärungf ausschlösse. Gemäß dem Prinzip des
„psycho-physischen Parallelismus" entsprechen ja den psychi-
schen Vorg-ängen bestimmte physische Phänomene, und so
müssen wir denn auch annehmen, daß demjenig-en, was sich
innerlich als Streben, Bedürfnis, Zielstrebigkeit, Zwecksetzung
darstellt, eine Veränderung" auf der physischen Seite ent-
spricht Sowie nun im Anorganischen die Richtung" des Ge-
schehens eine Resultante des Zusammenwirkens der Ding"e
ist, deren individuelle, aber im Wesen gleichartig-e Zielstrebig-
keit in jener Richtung zum sichtbaren Ausdruck gelangt, so
ist die Richtung der organischen Reaktionen zugleich von
außen und von innen her bestimmt. Nur daß hier die ganze
dynamische Verß-angenheit des Lebewesens und seiner Gattung
einen EinfluC auf den Ablauf des Geschehens, die Entwicklung
ausübt und die Eigenrichtung des Organismus, der ein-
heitlichen Ganzheit seines Kräftesystems, besondere Bedeutung
erhält Diese Eigenrichtung ist der Ausdruck des einheitlichen
Zusammen- und Wechselwirkens der Elemente des Organis-
mus und der Veibindung der partiellen Zielstrebig^keiten jener
« zu einem Gesamtstreben, dessen Ziele das Verhalten der
Teile beeinflußt Die Teile „dienen" dem Ganzen, unterordnen
sich der höheren Einheit desselben und das Ganze wirkt im
Dienste der Teile. Was diese orleiden, madit sich mehr oder
weniger dem einheitlidieQ Ganzen fühlbar, und die Schicksale
des letzteren wieder teilen sic^ in irgendeiner Weise den
ersteren mit Das gilt, auch wenn nicht alle individuellen
Erwerbungen neuer Eigenschaften sidi direkt vererben, son-
dern höchstens soldie, die tiefer eingreifen oder die eine
größere Anzahl von Generationen hindurch stattfinden {Wundt
u. a.). Die „Ziele** des Gesamtoxganismns sind aber ursprüng-
lich nicht bestimmte, objektive, äußere Effekte, von denen er
ja im vorhinein gar nichts wissen kann, sondern sie bestehen
zunächst in der Herstellung eines als lustvoll empfun-
denen bzw. in der Abwehr eines unlustvollen Zn-
standes.*) Sind aber infolge günstiger Umstände, vielleicht
*) Vgl. Jodl, Lehrbuch d. Psychol. II*, 443.
Siebentes Kqntd. Der Zwedc in der Biologie.
107
erst nach öfterer Wiederholung, nach manchem Tasten,
Probieren und nach Terachiedenen Fehireaktionen, die ziel-
strebigen Anstrengungfen des Organismus erfolg-reich ge-
worden, dann können sie entweder automatisch -zweck-
mäßige Funktionen zur Folge haben oder es können die
zweckmäßig gewordenen Reaktionen von nun an direkt als
Mittel zum Zweck der Herstellung des erwünschten Zustandes
angestrebt werden.*) Das Automatischwerden zwecktätiger
Handlungen bedeutet nicht etwa, daß sie nun rein physische,
mechanische Prozesse geworden sind, sondern nur, daß sie
nicht selbst ein besonderes vStrebensziel, bloß ein Glied des
totalen Strebungszusammenhangs bilden. Die „primäre" Ziel-
strebigkeit des Lebewesens, die zunächst ganz allgemeiner,
vager, zuständHcher Natur ist, differenziert oder spezialisiert
sich erst infolge der Einflüsse, denen es seitens der Umwelt
ausgesetzt ist, durch die es zu immer ausgeprägteren Re-
aktionen genötigt wird. Weder bloß von innen noch von
außen allein ist die objektive Zweckmäßigkeit, die sich an
den Organismen findet, zu erklären. Sie ist vielmehr ein
Resultat des steten Zusammenwirkens der primären, all-
gemeinen, fundamentalen organischen Zielstrebigkeit und der
Faktoren der Umwelt.
Der Pflügersche Satz: „Die Ursache des Bedürfnisses ist
auch die Ursache der Befriedigung des Bedürfnisses", ist so-
wohl teleologisch als mechanisch von hoher Bedeutung.
Teleologisch und psychobiologisch betrachtet stellt sich die
Sache so dar: Eine durch einen äußeren oder inneren Reiz
bedingte Störung des subjektiven Zustandes des Lebewesens
erregt ein gewisses Unbehagen, eine Unlust (,,Bt;dürfnis"); es
erfolgt nun zugleich infolge desselben Reizes und der als
*) „Indem die Willenshandlungen durch die sie begleitenden Ver-
änderungen der lebenden Substanz bleibende Nachwirkungen hinter-
lassen, gewinnt diese Substanz die Fähigkeit, auf Außere wie auf innere,
chemische Reize^ die durdi die Lebensprozesse entstehen, im selben
Sinne zwedcmifiig, aber ohne begleitende Zweckvorstdlung za
reagieren" {Wundt, GnmdzQge der pbynoL Fsycbologie IIP, 1903, S.753).
„Indem sich nun aber an die so gewonnenen mechanisierten Willens-
vorgänge neue, bewußte Willensaktc anschließen, steigert sich fortan
der zweckmäßige Charakter der Erscheinungen'' (ibid.;.
Digitizec v^oogle
108
IL Spesidlcr TcQ.
weherer, innerer Reiz fungierenden Störung* ein Streben und
eine Reaktion, welche, entweder sogleich oder aber erst nach
verschiedenen Versuchen, zur Abstellung der als störend
empfundenen Modifikation des org'anischen Zustandes führt.
Diese Reaktion ist eine bedürfnisg^emäße, zielstrebige
Tätigkeit, ein Strebens- oder Triebvorg-angf, der ebenso teleo-
logisch aus seinen immanenten 7iplen verständlich wird, als
er sich kausal aus anderen ihm vorangehenden biopsychischen
Vorgängfen erklären läßt. Von „außen" gesehen, d. h, vom
Standpunkt der sinnlich vermittelten Erfahrung- betrachtet,
stellt sich nun dieselbe Reaktion als ein mechanisch -ener-
getischer, physikalisch-chemischer Prozeß dar, der durch eine
bestimmte Änderung in der strukturell -energetischen Ver-
fassung von Teilen des Organismus ausgelöst wurde und der
so verläuft, daß die ihn einleitende Störung des dynamischen
und chemischen Gleich g^ewichts wegfallen, behoben werden
kann. Das „Bedürfnis" sowohl wie die „Befriedigung^' des-
selben, die empfundene Spannung" wie die gefühlte Lösung,
das Initialmoment der Unlust, das Streben und das
Endmoment der Lust — sie haben alle ihre physischen
Korrelate, ihre rein physiologische Daseinsweise. Denn es
handelt sich hier nur um eine verschiedene Betrachtungs-
weise eines im Grunde, an sich identischen Geschehens. Eine
„teleologische Mechanik" besteht hier, aber nicht etwa, wie
manche meinen, weil die zielstrebigen nicht-physischen Fak-
toren direkt auf das Mechanische kausal einwirken und es
entsprechend modifizieren, richten. Sondern sie besteht deshalb,
weil erstens alles Mechanische der sichtbare Ausdruck, die Er-
scheinung* bzw. der Niederschlag eines Kig-enseins ist, welches
unserem psychisclien Sein analog zu denken ist; zweitens,
weil die besondere Seinstuie organischer Komplikation auch
in besonderen Modifikationen physikaUsch-chemischer Ablaufs-
reihen zum Ausdruck kommt. So ist ja auch schon in einer
künstlichen Maschine die Bedingung für eine bestimmte,
eigene Form und Richtung des physischen Geschehens ge-
geben, nur daß hier eben von einem einheitUchen Streben
nach Formerhaltung, vQn einer lebendigen» spontanen, durch
^ i^uo Ly Google
Siebentel Kapitel. Der Zweck in der Biologie.
109
die ganze Versfangenhett bedingten Sölbatregulation keine
Rede sein kann, wilirend der Organismos in allen seinen
Elementen als ein Gansee einheitlicli reagiert
In den Organismen stehen die bedürfnisgemSfien Funk*
tionen in einem inneren Zusammenhang; eine gewisse mSoU«
daritat** herrwht hier, vermöge deren Störungen, die an einer
Stelle empfunden wurden, an andere Teile signalisiert werden,
welche nun ebenfalls in Tätigkeit treten, auslosend oder
hemmend, besdbleunigend oder verzögernd, kurz untostützend
und kompensierend, wie die Situation es jeweilig mit sich
bringt Eine Mitteilung, Weiterleitung der Zustande des Lebe-
wesens, eine Art organischer Kommunikation, Influenz
oder Resonanz besteht, welche sich physiologisch wie
psychologisch (als eine gewisse „Sympathie", ein Miterleben)
interpretieren laßt {Wundt, Paubf u. a.). Der physischen
Wecitsehrirkung der Teile und Funktionen des Organismus
entspricht eine psychische Wechselbeziehung zwischen
den verschiedenen Zuständen, welche das ,Jjinen8ein" dieser
Teile und Funktionen bilden, wobei allerdings nur eine Reihe
von Zuständen und deren Zusammenhängen gesondert und
deutlich zum Bewußtsein kommt, während viele derselben
unterbewußt oder relativ unbewußt bleiben, indem sie
nur als Glieder, Momente, Elemente des psychischen Gesamt-
vorlaufs am Bewußtsein teilhaben. Das gfilt insbesondere für
die vegetativen Funktionen der höheren Organismen, deren
ninnensein" nur etwa in der Form eines MGremeingefiihls" oder
auch zum Teil vager „Organempfindungen" zum Bewußtsein
kommt Ein Bewußtsein im Sinne des Gewußtseins oder der
klaren und deutlichen Abhebung einzelner Inhalte aus der
Totalitat des organischen Innenseins (Apperzeption) kommt
immer nur einer beschränkten, kleineren Anzahl von Re-
aktionen zu. Man nmß sich also vor dem groben Miß-
verständnis hüten, als ob etwa diese „psychistische" Deutung
der Lebensfunktionen alle organischen Prozesse aus einem
entwickelten, deutlichen, bestimmten Zweckbewußtsein ableiten
wollte oder als ob sie ihnen allen einen aktiven, von Vorstellungen
geleiteten, zielbewußten Willen zugrunde legen würde. Es
110
n. Spendier TeiL
handelt sieh vielmehr meistens nur um rein triebhafte,
impulsive^ einfache 'Willensreaktionett, die zum Teil sogar
völlig' automatisiert sind und nur noch ein Mimmalbewußt-
sein daxstellen. Es gibt auch eine mechanisierte» stabili-
sierte, gleichsam erstarrte Zielstrebigheit und ziel*
strebige Reaktion, und diese tritt in den Oiganismen
beständig in Wechselbeziehung mit der aktiveren,
leben dig^eren Finalität, aas der sie immer wieder als
eine Art Niederschlag hervorgeht, um dann die Grund-
lage für neue, höhere Zielstrebigkeiten zu bilden.
Es darf ferner auch die Rolle nicht vergessen werden,
welche das uns schon bekannte Prinzip der Heterogonie
der Zwecke spielt. Eine ganze Reihe von Zielstrebigkeiten
und Zweckmäßig'keiten ist auf die Weise zustande gekommen,
daß erst ein elementares, vages Streben des Organismus voi^
lag, dessen Neben- oder Nachwirkungen oder nicht gewollte
Resultate später selbst zum Ziel genommen wurden, weil sie
in der Richtung- des organischen „Grundwillens" lagen. In-
dem dieser Prozeß im Laufe der Zeit immer wieder stattfindet,
so daß es immer von neuem zu einer Verwandlung bloßer
Wirkungen und Folgen von Willenshandlungen und Zweck-
set^ungen in Ziele oder auch von Mitteln in Zwecke kommt,
häuten sich nach und nach immer mehr Zwecksetznngen
und Zweckmäßigkeiten an, mit einem Minimum an Voraussicht
und Vorherwollen und doch nicht ohne alle (immanente)
Finalität. Die Zielstrebigkeit selbst differenziert sich so
immer mehr, sie entfaltet sich allmählich nach bestimmten
Richtungen und paßt sich so immer mehr den Anforderungen
der Umwelt an, indem sie ihren konkreten, objektiven Inhalt
in Wechselwirkung- mit den Einflüssen dieser und an der Hand
der Erfahrung-en des Lebewesens gewinnt und entfaltet.
Das S abstrat für die Verwirklichung seiner Ziele muß sich
der orcranische Wille erst schaffen; er ist g-enötig-t, sich das-
selbe in hartem Kampf mit der Umwelt zu erarbeiten, und
es bedarf oft einer langen Entwicklung, bis der Organismus
so eingerichtet ist, daß er sicher, rasch und gleichmäßig das
Bedürfnisgemäße zu leisten vermag. Daß er aber dazu er-
Digitizeo v^oogle
Siebentes Kapitel. Der Zweck in der Biologie.
111
zogen, herangebildet, gezüchtet wird, daran hat das Bedürfnis
selbst und das ihm entspringende Streben, welches za immer
erneuter nnd schließlich oft gelingender Betätigung im Sinne
der Befriedigung des Bedürfnisses fahrt, seinen bedeutsamsten
Anteil, so wichtig die Einflüsse und die auslösenden Reize
der Umwelt auch sind und so wenig das bloße Bedürfnis
imstande ist, Zweckmäßigkeiten aus dem Nichts hervorzu-
zaubern«*) So manche Bedürfhisie können erst dann zu zweck-
mäßigen Reaktionen führen, wenn frühere Bedürfnisse im Vez^
ein mit äußeren Bedingungen die Organisation so gestaltet
haben« daß diese in ihrem Innen- wie in ihrem Außensein
dazu vorbereite^ disponiert ist In den Organismen ist so
die Vergangenheit stets am Werk; durch die Dispositionen
(Anlagen), welche die frohere Arbeit der Individuen wie ihrer
Vorfahren hinterlassen hat, erstreckt sich das Vergangene,
Erlebte, Erarbeitete lebendig in die Gegenwart hinein und ist
hier noch „wirklich", sofern es wirksam ist. In der Struktur
der Organismen haben wir die objektive Erscheinung' einer
gleichsam verdichteten, konzentrierten, aufg^espeicherten Ziel-
strebig-keit und ihrer Erfolge vor uns. Zugleich ist hier ein
Teil der Zukunft oder des zukünftigen Geschehens und Seins
gewissermaßen schon vorweggenommen; er ist potentiell in
einer Reihe von Tendenzen angel^jjt, vorbereitet, in der Form
von potentiellen Energien, Spannungen wirksam, deren Lösung
die Oberführung eines Möglichen in ein Wirkliches, eines
noch nicht Seienden in ein gegenwärtig Existierendes bedeutet.
Die Organismen gehen mit der Zukunft schwanger, wie dies
Leihniz von den »Monaden" sagt —
*) Es ist, mit Wundt, gegenüber manchen Vertretern des psycho-
bidlogisdieii Lamarekismtts au betonen: „Wenn die Moskda durch be-
stimmte Arbeitsleistungen sich selbst verändern und modifizierend auf
Skeletteile und andere Organe, namentlich auch auf die sie be-
herrschenden Nervenzentren, einwirken, so liegen diese Effekte außer-
halb der vorgestellten Zwecke, so innig beide aneinander gebunden
sein mögen. So ist auf jeder Stufe die Veränderung, in der sich die
objektive Zweekmflfiigiceit ehier organischen Bildnng ftufiert, durchaus
veTBCbieden von den subjektiven Zweckvorstellungen, die jene hervor^
tHTSchten* (S^rstem der Plülcksophie I', S. 326).
112
U. Spesidkr Tdl.
Die „Richtkräfte" und „Entelecfaien**, von denen der Neo-
▼italismiis apriclit, sollen den Organismus auf Grund der
gegebenen Stoffe aufbauen und dem Lebensprozefi die sweck-
mäßige Richtung geben. In der Weise aber, wie diese Be«
griffe gfepragt und gfebraucbt werden, stehen sie einer ein-
heitlichen, exakten Erklärung der Lebensprozesse entgegen.
Eine n^ntelechie** als Agens in Wechselwirkung mit mecha^
nisch-enei]getisdien Vorgängen {Driedeh) oder eine nicht-
enei^fetisohe ,,Richtkiaft" dJ^ominante^: iSrnnib«) sind Faktoren,
deren Aufteilung weder notwendig" noch brauchbar ist*) Die
„Richtung** aller Bewegungen ist durch das Zusammen-, Gegen-
und Wecfaselwirken physikalisch-chemischer Kräfte eindeutig
bestimmt Jede Beeinflussung der Richtung einer Bewegung* setzt
einen — wenn auch minimalen — Energieaufwand voraus, und
ebenso erfordert die Suspension, Hemmung* eines Geschehens
(einer Energdeumsetzung) einen gewissen Energieverbrauch.
Man sollte doch endlich von dem vergeblichen Bemühen ab-
lassen, nicht-energetischen Agentien einen kausalen Einfluß
auf das physische, energetische Geschehen zuzuschreiben, im
Glauben, damit nicht das Prinzip der Erhaltung der Energie
zu verletzen. Dann erst könnte das Haltbare in den neo-
vitalistiscben Begriffen zur Geltung kommen. Was zunächst
die „Richtkräfte** betrifift, so haben wir ja schon anerkannt,
daß der Organismus ein System von Elementen ist, durch
dessen Form der Ablauf der Reaktionen des Organismus be-
dingt ist Die physischen Kräfte selbst, die hier als Resultanten
der innig verbundenen, einheitlich ausgerichteten, kon*
veigterenden Partialkrälte wirksam sind, genügen, um die be-
sondere Richtung, welche das organische Geschehen und
Werden aufweist, befriedigend zu erklären, insbesondere wenn
man, bei den höheren Organismen, den Einfluß der im Nerven^
System aufgespeicherten Kräfte berücksichtigt, welche sie su
selbständigen Aktionszentren machen.
In diesem Zusammenwirken innerer, an die Organisation
*) VgL die treffenden AntfOhningen S. CMdaMd» g^gm die
Richtkräfte (Annalen der NattuphikMophie, 1906; HAherentwicUnog und
Mcnschenökonomie I, 191z).
Digitizeo v^oogle
Siebente* Katpitd. Der Zwe^ in der Bido^e.
118
gebundener Kräfte zur Einheit wurzeln aach die sogen. „En-
telechien" des Vitalismus. Die „prospektiven" (auf die typisdie
organische Form ein gestellten) Potenzen und Tendenzen, die
„harmonische Äquipotentialität", die Fähigkeit der Umgestal-
tung von Bruchteiien eines Org-anismns zu einem verkleinerten
ganzen Organismus als Restitutionserscheinung nach einw
(künstlichen oder natürlichen) Teilung des Organismus, die
organischen Regulationen, die Regenerationen (nach Ver-
letzungen) — sie nötigen nach einer Richtung des Neovitalismus
{Drieaeh) zur Setzung einer „Individualitätskonstante", einer
„intensiven Mannigfaltigkeit", einer „Entelechie" als Quelle
ttberentng^tischer, unräumlicher, aber Räumliches gestaltender
Leistung-en. Die „Entelechie" ist ein Prinzip naturhafter Art,
welches dem Psychischen analog ist und insofern als ,,Psychoid"
bezeichnet wird, ein d«is Ziel der Erhaltung und Gestaltung
der organischen Form in sich bergendes, auf dieses Ziel ohne
Bewußtsein gerichtetes Agens, das mit der körperlichen Natur,
dem Mechanismus, in Wechselwirkung steht und die Macht
hat, Enerq-ieumsetzungen so lan^e zu suspendieren, aufzuhalten,
als es dies für seine Zwecke nötig- hat, ohne aber den Energie-
verrat in der Natur zu vermehren oder zu vermindern. — (xegen-
iiber einer zu rohen, starren, einseitigen, grob mechanistiscliea
Biologie, welche die Bedingtheit der Lebensfunktionen und
der Entwicklungsprozesse durch das „Gefüg-e" oder „System",
durch die typische und individuelle „Form" des Organismus
sowie die historische Reaktionsbasis" (Driesch), d.h. die ganze
Vergangenheit, die früheren Schicksale des Lebewesens und
seiner Vorfahren nicht genug berücksichtigt, weiß dieser Neo-
vitalismus manches Triftige*) vorzubringen. Er kann jedenfalls
zur Verfeinerung der biologischen Mechanistik und f-Cnergetik
beitragen, wie ja schon verschiedene Versuche zu einem bio-
logischen „Neo-Mechanismus" {GoidacJieid, Ostwald, J, Schultz,
Siölir u. a.) unternommen werden.
Wohl sind wir noch nicht in der Lage, alle Lebensprozesse
*) Wie z. B. auch N. Hartmann, ein GqpEier des Vitalismus, an-
erkennt. Vgl. Laßwitz, Seelen und Ziele, 1907; Clu Morgan, histinkt
und Erfahrung, 1913, S. iiaff.
Eis ler. Der Zweck, 8
Digltizec v^oogle
114
0. Spciidler TdL
restlos nach mecliaiiiscIi-eQergetischen Prinzipien za erklären;
»bar es zeigt sich doch immer mehr, da0 prinzipieU einer
Zurückfühning' anch der kompliziertesten Lebensvors^äng'e auf
Znsammenhänge physikalisch-chemischer Vorgfängfe nichts im
Wege steht. Die Annahme besonderer Natnrkräfte als der
wahren Ursachen des Lebens ist nur geeignet^ bahnsperrend
zu wirken, die Suche nach den mechanisch-energetisc^eo (bzw.
nach psychischen) Faktoren und Beding-ung-en org-anischer
Reaktionen zu unterbinden und sich dort bei Pseudoerklarungen
beruhigen zu lassen, wo die biologische Analyse immer weiter
vordringen sollte. Die formale Eigenart des organischen
Systems gegenüber einem anorganischen Aggregat oder auch
einer künstlichen, nur beschränkte, einseitige Funktionsmög-
lichkeiten darstellenden, wenig plastischen Maschine*) kann
man ja ruhig zugeben, ohne deshalb schon zu über mechanischen
vnd überenergetischen, vitalen Kräften seine Zuflucht nehmen
zu müssen, die weder in der Erfahrung gegeben noch durch
die denkende Verarbeitung derselben gefordert sind und die
entweder das, worauf es ankommt, doch nicht erklären oder
aber der Geschlossenheit und Einheit biologischer, natur-
wissenschaftlicher Erkenntnis Abbruch tun. Zwei wichtige
Forschungsprinzipien dürfen auch in der Biologie nicht ver-
nachlässigt werden. Erstens der Grundsatz: „Principia praeter
necessitatem non sunt multiplicanda" und das damit verwandte:
„Hypotheses non finge" {Xeivton), wobei der Nachdruck auf
das ,, finge", das künstliche, unnötige Ersinnen von Faktoren
des Geschehens, zu legen ist. Gewiß, die BegrÜfe, deren sich
der Neovitalismus bedient, sind keineswegs ohne allen Wert,
aber freilich zunächst nur als reg ulativ - heuristische
Prinzipien, welche zur Verfeinerung und Bereicherung-
der Biomechanik, Bioenergetik und Biochemie dienen
*) Es gibt allerdings, wie z. B. Lotze betont, auch Maschinen „mit
einer Reihe solcher giacklicher Einrichtungen, daß äußere Störungen
in ihnen eine Rfldcwirkong hervormfen müssen, durch welche der
schädliche Einfluß der Störung wieder ausgeglichen wird* (Grundzüge
der Naturphilosophie, i88^ S. 8a). J. SelniUs, Die Maschinentheorie
des Lebens, 1909.
Digiiizeü by Google
Sebentes Kapitel. Der Zwe^ in der Biologie^
115
können,^ ohne neae^ ans den Bedingungen objektiver Er-
fahrung nicht eifliefiende Agentien dem Kausalnexna des
Geschehens selbst als Glieder einznfögen. Solcher Agentien
bedarf es ffir die Wissenschaft nicht; aie sind höchstens
Surrogate für die wahren, realen Faktoren des Lebens und
der Entwicklung.
Wenn aber der Neovitalismus eine dynamische Teleo"
logie für unentbehrlich hält, mindestens als naturphüosophische
Ergänzung- der biologischen Kausalerklärung, so ist er im
Rechte, Aber eine solche Theologie ist, wie wir gesehen
haben, mit einem strengen Kausalismus und Mechanis-
mus durchaus vereinbar. Es ist nirgends notwendig, be>
sondere Zweckursachen neben -und über den bewirkenden
Ursachen anzunehmen oder ein besonderes Reich zielstrebiger
•Faktoren zu setzen, welche mit den absolut nicht-zielstrebigen
Ursachen in Wechselwirkung treten. So wie es keine eigenen, be-
sonderen „Richtkräfte" gibt, da alle Kräfte in der Natur eine
„Richtung" haben {GoldnAeidf Böfding, Laßtßitz)^ so brauchen wir
auch keine besonderen, spezifischen, zielstrebigen Agentien,
weil alle Ursachen in der Welt ihrem „Innensein" nach auf
ein immanentes Ziel gerichtet sind oder ein subjektives ^el-
streben zum objektiven Ausdruck bringen. Nur daß eben im
organischen Geschehen eine besondere Verbindung, Einheit
und Ganzheit des Strebens und Wirkens vorliegt, die den
organischen Reaktionen eine solche Richtung gibt, wie sie
anorganische Vorgänge, energetische Um Setzungen zwischen
anorganischen Komplexen nicht aufweisen können, weil hier
die Strukturbedingungen dazu fehlen.
Der Grundmang-el der vitalistischen Teleologie besteht
in ihrem dualistischen Charakter, der sie dazu verführt, die
Finalität mitten in die Kausalreihe des Geschehens zu ver-
legen, statt sie dort anzusetzen, wohin sie in Wahrheit gehört:
•) Treffend bemerkt N. Hartmann (Die philosophischen Gnmd-
lagen der Biologie, 191a, & iio): ^Der Vittdismns hfllt den
Medumismns dauernd m Schach und zwingt ihn, immer wieder
Uber seine eigenen Errangenschaften hinanszogelien.'' Vgl. Jloryafi,
s. a. O.
8*
i- kji 1^-^^ L-y Google
116
n. Spesldlcr TeiL
in das Innen- oder Füiricihsein der Dinge, in die Sphäre des
nach Analogie der inneren Erfahrung gedachten unmittelbaren,
„subjektiven** Seins der Dinge als Grundlage ihrer objektiven
£rBcheinung. Die ,3ntelechien", von. denen geredet wird,
können ihren guten Sinn haben, aber nicht als besondere
Natuxfaktoren unter anderen, sondern als das Eigen- und
Innensein der organischen Systeme selbst. Jetzt erst
verstehen wir den „überenergetischen" Charakter der En-
telechien, Richtkräfte, Dominanten und ebenso deren „unräum-
liches** Wesen. Denn alles Innensein'* des Physischen
ist ja als solches etwas Unräumliches und Nicht-
energetisches, mag- es auch immer eine räumliche
und energetische Erscheinungsweise haben oder sich
als solche betrachten, denken lassen. Mit einem Schlage
wird es nun klar, wie die „vitalen Faktoren" zielstrebig und
zweckmäßig lenkend tätig sein können, ohne das Prinzip der ge-
schlossenen Naturkaosalitat und der Energiekonstanz zu verletzen.
Jetzt begreifen wir, wie sie an den Kegulationen, Restitutionen,
Regenerationen, Anpassung-en wirksam beteiligt sein können,
ohne daß die Eindeutigkeit des Kausainexus verloren geht. Nun
braucht man sich nicht mehr den Kopf zu zerbrechen, wie es
denn sein kann, daß nicht-mechanische und nicht-energ-etische
Kräfte auf die Materie, das Körperliche, das räumlich Aus-
gedehnte und räumlichen Widerstand Leistende, Energetische
gestaltend, bewegend, hemmend, richtend, lenkend einwirken,
und wie sie seitens dos Materiellen oder Energetischen
Wirkungen zu empfangen vermögen. Die Bestimmung der
„Entelechie" als , intensive Mannigfaltigkeit" erweist sich jetzt
als durchaus gerechtfertigt, wenn man bedenkt, daß eben alles
Innensein, alles Psychische im weitesten Sinne nichts Ex-
tensives, sondern rein qualitativer und intensiver Natur
ist, obzwar ebendasselbe Wirkliche, welches für sich eine
„Entelechie" oder ein System von „Kntelechien" ist, vom
Standpunkt der sinnhch vermittelten Erfahrung als extensiv
und energetisch sich darstellt. Will man endlich das relativ
unbewußte Innensein der Organismen und der Dinge von der
eigentlich bewußten Selbsterscheinung derselben unterscheiden,
Siebentes Kqplfd. Dar Zweck in der Bielogie.
117
80 kann die Bezeichnung des erat e r e n als „Psyclioid,"*) für
zweckmäßig" gelten.
Mit dem allen soll aber nicht etwa eine Schwenkung zum
Neovitalismus gfemach^ sondern es soll nur dargfetan werden,
daß und wie sich dessen Prinzipien auf die Grrundsätze einer
monistischen Teleolog'ie, einer Teleologie auf identität»»
tibeoretischer und parallelistischer Grundlage, zurückführen
lassen, wobei das Brauchbare im teleolog-ischen Vitalismus ge-
bührend anerkannt wird, wenn er auch als Gesamttheorie, als
eine sich zum Mechanismus in Gegensatz stellende Lehre ent>
schieden abzulehnen ist. Der Scharfsinn und die nicht geringe
spekulative Kraft so mancher seiner Vertreter, namentUch
Driesch, sei aber rückhaltlos anerkannt —
Nicht dadurch also unterscheidet sich das Organische vom
Anorganischen, daß jenes von zielstrebigen Agentien getrieben
wird, während dieses letztere rein kausal und mechanisch er-
klärbar ist, sondern beide Seinsstufen sind zugleich finaler
und mechanischer Natur und nur formal unterschieden.
Nicht die zielstrebige Kraft oder das psychische Innensein
überhaupt ist es, was den Organismen die besondere Stellung-
in der Natur verleiht, sondern nur die Besonderung, Ver-
bindung und Komplikation der Zielstrebigkeiten, die ihre
materielle und dynamische Außenseite in der Struktur und
im Kräftesystem der Organismen hat. Eine „Entelechie" ist
der Organismus selbst, insbesondere seinem zielstrebigen Innen-
sein nach, als Totalität von Aktionen, die alle nach der
Richtung der Erhaltung eines einheitUchen Zustandes kon-
vergieren. Die der „Entelechie" wie den „Richtkräften" zu-
geschriebenen Fähigkeiten sind gar nicht anzuzweifeln, aber
sie sind Potenzen der organischen Struktur selbst, die eben
anderer Art ist als das Gefüge einer künstlichen Maschine.
Aus der Reaktion der Strebungen des Organismus auf die
Reize der Umwelt sind, phylogenetisch, bestimmte Zweckmäßig-
keiten hervorgegangen. Dem entspricht dann eine struktureile
Beschaffenheit des Individuums, welche von Anfang
*) Vgl. aber das uPsychoid" auchi«. Qübart, Neue Enersetik, 1911;
J. SehuUz, a. a. O.
118
n. Spaidlw TeU.
an eine mehr oder wenig-er bestimmt g-erichtete Ent-
wicklung desselben bedingt, vorausg-esetzt, daß keine
hemmenden, störenden Einflüsse stattfinden. Diese Entwicklung
ist „zielstrebig" in dem Sinne, daß der Ablauf der organischen
Reaktionen unter normalen Umständen zu ganz bestimmten,
in den „Anlagen** des Organismus begrilndetcaa Zuständen und
Formen führen muß und oft auch unter anormalen Um-
ständen dazu fuhrt Der artliche und individuelle Typus
bringt sich selbst zur Entfaltung, aber nicht in einer dem
Mechanismus widersprechenden Weise, sondern, unmittelbar,
durch die psychischen Tendenzen, welche das Innensein
des Lebewesens bilden und die, in objektiver Betrachtung, als
bestimmte phylogenetisch (von der Gattungf) erworbene,
materiell-dynamische Dispositionen (des Keiinplasma)
siVh darstellen. Geg-enüber störenden, modifizierenden Ein-
flüssen von außen besitzt der Organismus vermöge der in ihm
angelegten, bestimmt gerichteten Kräfte eine mehr oder
weniger große Plastizität. Das für die Lebewesen charakte-
ristische Moment ist die Eigenschaft der „Selbststeuerung"
oder „Seibstregulation". Auf dieser Eigenschaft beruhen zwei
einander entgegengesetzte Fähigkeiten des Organischen: einer-
seits die Fähigkeit, die artliche und individuelle Eigenform
immer wiederherzustellen, durch eine dem „Typus" ent-
sprechende Assimilations- oder Transformationsarbeit; ander-
seits auch die Fähigkeit, sich veränderten Umständen, Lebens-
bedingungen bis zu einer gewissen Grenze anzupassen und
so zu variieren, sich weiterzuentwickeln. Konstanz und
Variabilität haben so einen gemeinsamen teleolo-
gisch-kausalen Faktor. —
Was nun die Entwicklung der organischen Arten
betrifft, so scheint vieles dafür zu sprechen, daß verschiedene
Faktoren an ihr beteiligt sind, wobei bald der eine, bald der
andere eine überwiegende Bedeutung besitzt. Sicherlich ist der
extreme Selektionismus(TFeiswan«,Ti'a//acßu.a.) einseitig und
unzulänglich; eine „Allmacht" der Naturzüchtung ist nicht an-
zuerkennen, es ist kaum möglich, alle Zweckmäßigkeit und
alle Entwicklung der Lebewesen aus der bloßen Auslese „zu-
Digitizeo v^oogle
SidMntei Kftpitd. Der ZwtA in der Biolo|^
119
^lUg-er" Vaxiationen zu erklären. Aber unberechtigt ist die
Behauptung*, die natürliche Selektion könne ganz und gfar
nichta begreiflich machen. Wohl mag ein großer Teil der
organischen Zweckmäßigkeiten aus dem bloßen Walten der
natürlichen Auslese nicht hinlänglich erklärbar sein. Sicher ist
aber zum mindesten dies, daß unzweckmäßige Variationen
durch sie leichter, schneller zur Ausmerzan^ gelang-en können,
und daß relativ zweckmäßige Eigenschaften im Wettbewerb
um die Lebensbedingungen und im Kampfe ums Dasein den
Organismen vielfach besondere Aussichten zum Überleben
und zur Fortpflanzung ihrer nützlichen Eigenschaften verleihen.
Aber die Anpassung der Organismen an die Umwelt, das
„MiHeu" durch die natürliche Auslese ist sicherlich nicht die
einzig mögliche und einzig bestehende Anpassungsform. Ihr
geht eine primäre Anpassung der Lebewesen voraus, und
diese ist eine direkte, unter dem unmittelbaren Einfluß des
Naturmilieu erfolgte und zum Teil noch immer erfolgende
Anpassung. Veränderungen des Milieu*) bilden nicht nur
einen Anlaß für das Wirken der Selektion. Sie können auch
ganz unmittelbar Variationen von Arten zur Folge haben. Die
Anpassung der Organismen an die Lebensbedingungen kann
ferner eine „passive" oder „aktive" sein, mögen auch beide
Anpassungsarten bloß graduell verschieden sein. Die aktive
Anpassung beruht wesentlich auf der Veränderung von Organen
durch gesteigerte Inanspruchnahme, Leistung derselben, nament-
Kch durch die Übung („funktionelle Anpassung"). Man darf
wohl das lamarckistische Prinzip des Gebrauchs und Nicht-
gebrauchs der Organe nicht in seiner Tragweite überschätzen;
aber dieses Prinzip dürfte doch einen bedeutsamen Ent-
wicklungsfaktor darstellen, teils als vorbereitende Grundlage
für die natürliche Selektion oder als Unterstützung dieser,
teils aber auch in Verbindung mit einer direkten Vererbung
individuell erworbener Eigenschaften, für deren wenigstens
partielle MögUchkeit manches spricht.
*) Vgl. über die Bedeutung des natürlichen Milieu die trefflichen
Ausführungen R.Goldscheids (Höherentwicklung und Menschenökonomicl,
1913), der die Einseitigkeiten des Selektionismus scharf bekämpft.
120
n. Spendier TeiL
Wie immer die Entwicklungf im einzelnen sich g-estalten
mag, daran ist wohl nicht mehr zu zweifeln, daß sie daa
Resultat des Zusammenwirkens äußerer und innerer Fak-
toren, mit Überwiegen bald der einen, bald der anderen ist.
Ohne eine Auslösung der organischen Kräfte oder lüiergien
durch die Einflüsse der Außenwelt, ohne immer erneuerte
Determination der in den Organismen angelegten weiteren
und engeren Möglichkeiten durch die Einflüsse des Xatur-
milieus würde eine Entwicklung ebensowenig zustande kommen,
wie bei Wegfall allgemeiner und besonderer Anlagen, Dis-
positionen, Tendenzen, Potenzen der Lebewesen. DieRichtung
der organischen Entwicklung hat also mehrere Determinanten.
Sie ist weder von außen noch von innen allein her „prädeter-
miniert", sondern bedeutet eine Anschmiegung des Inneren
an das Außere, eine Anpassung, die je nach dem Milieu
und den Umständen eine relative Zweckmäßigkeit besitzt, auch
wenn sie etwa im Hinblick auf die Gesamtentwicklung und
deren Zielpunkte einen gewissen „Rückschritt" darstellt. Denn
es kann ja in gewissen Verhältnissen nützüch, zweckvoll sein,
einen schon erreichten Zustand größerer Differenzierung und
Komplizierung, der in der Regel einen Vorteil bedeutet und
seinen Träger zu einem „vollkommeneren" Wesen macht, wieder
einzubüßen. Die Selektion aber kann erst einsetzen, wenn
schon unabhängig von ihr neben unzweckmäßigen auch eine
Reihe relativ zweckmäßiger Variationen und Anpassungen
aufgetreten ist Ein Grundstock an Zw^eckmäßigkeiten muß
allen Organismen, die sich überhaupt zu erhalten und zu ent-
wickeln vermochten, von Anlang an zu eigen gewesen sein.*)
Teleologisch betrachtet, ist die organische Entwicklung
das Produkt zielgerichteter Reaktionen der Lebewesen,
mögen nun diese Reaktionen jeweils durch die auüeren
Faktoren abgenötigt sein, oder mögen sie mehr spontan,
aus bestimmten Eigentendenzen entspringen. Triebe und Be-
dürfnisse, in denen sie wurzeln, das Streben nach Erhaltung
oder nach Beseitigung von Zuständen lustvoller bzw. unlust-
*) Vgl J. SchuUz, a. a. O.
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^ebeotes Kapitel. Der Zweck in der Biologie.
121
voller Art» Assoziationen der Triebe mit £mpfindang«n oder
Vorstellung-en bilden das „Innensein** dieser Reaktionen,
Eine innere Zielstrebig^keit oder vielmehr ein einheitlicher Kom-
plex von Zielstrebififkeiten bekundet sich bei den Orgfanismen
von Anfang* an. Aber es muß immer wieder betont werden:
Die speziellen, objektiven Zweckmäfiigfkeitetti die wir an den
Org-anismen finden, sind nicht alle voraosg-esehen und voraus-
erstrebt, sondern sie sind eist unter dem Einfluß der primären,
allgemeinen, vag-en Strebungen entstanden, auf Grund der
Verwertung der durch die Verhältnisse gfebotenen Anpassungs-
möglichkeiten.
Bei den höheren Organismen erst darf nuun eigentliche
Zweckvorstellungen als Entwicklungsfaktoren annehmen.
Erst der Mensch vollends ist im Besitze einer artikulierten Sprache,
die ein abstraktes, unanschauliches, begriffliches, streng logisches
Denken ermöglicht. Von einem planmäßigen Vorhersehen,
Vorherwissen, von einer aktiv-bewußten Zwecksetzung kann
bei den niederen Lebewesen absolut nicht die Rede sein; es
dürfen ihnen keine eigentlichen Urteils-, Schluß- und Wahl-
akte, höchstens gewisse Analoga solcher zug-eschrieben werden.
Insbesondere hat man sich vor dem oft beg-ang-enen Fehler zu
hüten, Instinkthandlung en auf bewußte IntelHgenzakte zu-
rückzuführen.*) Gewiß fehlt es auch bei diesen Handlungen
nicht an immanenten Zielstrebigkeiten. Aber diese sind ganz
elementarer Art, sie werden durch innere Reize ausgelöst,
gehen bloß auf die Lösung verspürter Spannungen u. dg].,
und wenn sie bestimmte zweckmäßige Funktionen und Gebilde
zur Folge haben, so beruht dies vorwiegend auf Anlag^en, die
phylogenetisch seitens der Gattung erworben wurden und sich
nun im Individuum meistens automatisch betätigen. Es handelt
sich hier meist um mechanisierte Triebhandlungen der
Vorfahren, die ihren Niederschlag in der organischen Struktur,
in bestimmten Koordinationen hinterlassen haben. Manches
an den Instinkthandlungen ist sogar nur Reflexbewegung.
Dafür beruht wieder anderes auf lebendigen Trieben und auf
*) VgL C. L. Morgan, Instinkt and Erfahrung, 1913, der dies betont.
122
n. Speddler Teil.
einzelnen Vorstellungfen oder Assoziationen. Daß Instinkte teil-
weise durch, abnorme Verhältnisse und durch individuelle Er-
ahruDg'en beeinflußt, modifiziert werden können, ist ja bekannt
Betreffs der Entwicklung der organischen Individuen wie
der Arten der Lebewesen ist also dreierlei auseinanderzuhalten:
erstens die Wirkung der äußeren Faktoren, zweitens der
Einfluß der inneren Zielstrebigkeiten und drittens die
Nachwirkung der letzteren. Nicht darin besteht der Fehler
der teleologischen Betrachtun, qfsweise. daß sie die Zweckmäßisf-
keit der Organe und der Organisiiien zu zielstrebigen Tendenzen
und Reaktionen in Beziehung setzt, sondern daß sie oft das
Besondere, objektiv Zweckmäßige für einen unmittelbaren
Effekt dieser Tendenzen und Tätigkeiten hält, während in
Wirklichkeit die organische Zweckmäßigkeit vielfach erst all-
mählich entsteht, durch Vererbung erhalten, fixiert wird, wo-
bei die in den Individuen wirksamen zielstrebigen Tendenzen
(bzw. deren physiologische Korrelate) nur als Auslöser eines
bereitliegenden Koordinationskomplexes, eines be-
stimmten Kraftsystems dienen. Es ist wohl anzunehmen, daß
der „Wille" im weitesten Sinne (als Streben und Trieb) der
innerste Motor der Entwicklung und der Req-ulator des Lebens-
prozesses ist.*) Aber die Resultate dieser wahren „Lebens-
schwungkraft" [Bergson) sind nicht durch sie aliein bedingt, noch
weiß das Streben im vorhinein etwas von ihnen. Erst nach-
träglich, nach bestimmten Erfolgen werden sie zu eigenen
Zielen des Strebens, und schließlich spielen sich die zweck-
mäßigen Funktionen und Reaktionen rein impulsiv-auto-
matisch ab, d.h. ohne daß es eines besonderen, eigens auf
sie gerichteten Willens bedarf. —
Nicht alle organische Evolution ist eine Höher-
entwicklung.**) Die „Zweckmäßigkeit" der Anpassung der
Lebewesen an die Lebensbedingungen ist zunächst nur danach
zu beurteilen, ob ein Individuuni oder eine Art imstande ist,
sich unter bestimmten gegebenen Umständen zu erhalten.
*) Besonders gut von TFurntt dargetan (System der Philosophie U',
1907).
**) JZ. Goldscheid, Höherentwicklung und Menschenökonomie 1, 1913.
Siebentes Kapild. Der Zvede ia der Biologie. 128
Was In bezug auf ein bestimmtes Miliea „nützlich" ist^ kann
in einer anderen Umwelt schädlich, onsweckmäßigf sein oder
es kann seinen früheren Wert einbüfien, und es sind dann
oft ganz andere Higensdiaften, die einen Vorteil im Daseins*
kämpfe bieten können. Auch kann unter Umständen die
Anpassung an bestimmte Verhältnisse geradezu eine Ver-
kummerungf einzelner Organe und Funktionen nach sich ziehen
oder auch die Anpassungsfähigfkeit an neue Lebensbedingfungen
erschweren, wo nicht gar völlig aufheben, so daß dann die
Entwicklung abbricht, erstarrt Es gibt so etwas wie Sack-
gassen der Entwicklung; diese wird mitunter regressiv, sie
bleibt auch oft stationär.*) Der Wirkungsspielraum aller Ent-
wicklungsfaktoren ist eben ein begrenzter. Insbesonderit ist
mit der Unveränderlichkeit des Naturmilieu die Tendenz sur
Stabilisierung der Entwicklung verbunden.
Wonach beurteilen wir nun die Höhe der organischen
Entwicklung? Im allgem«nen nach dem Maße der Dilferen-
sierung der Lebewesen, vorausgesetzt, daß mit ihr eine ent-
• sprechende Integrier ung und Zentralisierung (Vereinheit-
lichung) verbunden ist. Die Differenzierung der Organe und
Funktionen und die Arbeitsteilung, die durch sie ermöglicht
ist, gestattet eine bessere, ökonomische Ausnutzung und
Transformation der Naturenergien durch den Organismus,
eine genauere Selbstregulierung, ein zweckmäßigeres Funktio-
nieren der Kräfte, welche der Erhaltung und Förderung der
Organismen dienen. Ein differenzierterer Organismus ist gleich-
sam auf die verschiedensten Vorgänge in der Umwelt feiner
abgestmimt. Kr besitzt ein größeres Quantum Macht über
die lebensfördernden und lebenshemmenden Faktoren. In der
Regel erweist sich denn auch eine größere Differenziertheit
als ein für den Daseinskampf und die Selektion günstiges
Moment; sie gewährt meist besondere Aussichten im Wett-
bewerb um die Lebensbedingungen.
Je höher wir die Stufenleiter der Lebewesen hinaufsteigen,
desto differenzierter huden wir sie denn auch zumeist. Ins-
*) Vgl Bergson, L'dvoiation cröaUice % 19x0 (deutsch 1913).
Digitizec v^oogle
124
n. Speddlcr TtXL
besondere gfehört zu dieser Differenzierung' der Besitz eines
Nervensystems, welches das Substrat, die Grundlage für
Reaktionen darstellt, die den jeweUigen Veränderungen aofi^
und innerhalb des Organismus besser und schneller Rechnung
tragen können und der Erstarrung- entgegenwirken.'*') Im
Nervensystem schafft sich der Wille ein besonderes Organ»
welches die Nachwirkungen zweckmäßiger Reaktionen auf-
speichert und sie, in der Form von Dispositionen, Anlagen
für das weitere, künftig^e Verhalten bereithält, verwertbar
macht. Die Fähigkeit, Störung-en zu versp&ren und die ver>
schiedenen Reizungen, die der Organismus erfährt, zu untere
scheiden, das Vermögen, bedürfnisgemäß zu regulieren, aus-
zugleichen und die verschiedenen Regulationen einheitlich zu
koordinieren, zu verknüpfen, die Fähigkeit der Verwertung von
Erfahrungen und der daran anknüpfenden Voraussicht der
Zukunft, sie kommen in einem Zentralnervensystem, zuhöchst
in einem menschlichen Großhirn zum objektiven Ausdruck,
zur Erscheinung. Das Gehirn ist die Außenseite eines be-
sonders differenzierten Innenseins, einer psychischen Organi-
sation von relativ hoher Vollkommenheit. Es repräsentiert
eine relativ große Selbständigkeit, Aktivität, Freiheit
des Lebewesens, die es unabhängiger von den Wechselfällcn
des Daseins und vom Druck der Umwelt, der mechanischen
Notwendigkeit macht. Es ersetzt den Mangel an Organen
und Funktionen, die sonst nicht oder doch schwerer zu ent-
behren wären, und es gibt auch damit der Selektion eine
andere, neue Richtung.
So entwickelt sich insbesondere die menschliche Gattung
wesentlich nur noch nach der Seite der Nervendifferenzierung
und der mit ihr zusammenhängenden Eigenschaften und
Leistungen. Vermöge seines hoch entwickelten Hirnes steht
der Mensch der Natur ganz anders gegenüber als die übrigen
Lebewesen. Er hat sich so immer mehr von dem Zwang der
Umwelt emanzipiert. In immer höherem Maße vermag er
die Umwelt sich selbst, seinen Bedürfnissen, Tendenzen und
♦) Vgl. dazu die Arbelten von H. Bei-gson, dessen geistvolle Dar-
legungen aber erst in rein monistischer Deutung haltbar werden.
y i.i^L^^ L-y Google
Sebeatei Kmpilel. Der Zwick in der Biologie.
125
Zielen aktiv anzapaasen, indem er die Natur so ertragreidi
als möglich gestaltet, ihre Kräfte in seinen Dienst stellt, ihnen
die gewünschte Richtung gibt, indem er seine Feinde in der
Tierwelt yemichtet, einschränkt oder ihnen abwehrend be-
gegnet, usw.
Es wird also aucb beim Menschen die naturliche Auslese
nicht unwirksam, aber immer mehr vermag die Menschheit,
insbesondere durch ihre Technik (im weitesten Sinne)
und durch ihre soziale Vereinigung und Kooperation,
sie zu beeinflussen. Die menschliche Rasse braucht deshalb
keineswegs zu degenerieren, biologisidi zu verfallen. Die
Verbesserung der Lebensbedingungen kann aUmählidi die
Qualität der Menschen durch Ausmerzung so vieler sie
herabsetzender Faktoren in hohem Maße steigern, und
schließlich bleibt die Einsicht, daß nicht unter allen Be-
dingungen Nachkommen in die Welt gesetzt werden dürfen,
auch nicht unwirksam, indem sie das individuelle und soziale
Gewissen aufrüttelt. Die Menschheit bekommt es immer mehr
in die Hand, den Lebensprozeß aktiv zu regnU«ren, zu be-
herrschen. Ihre Entwicklung wird dann immer öko-
nomischer,"^ sie kostet nicht mehr so viele durch ihre An-
lagen und Funktionen oft sozial wertvolle Individuen, die bei
rein passiver Hingabe an die brutale Naturauslese verloren
gehen würden. Die Erhaltung auch biologisch schwächerer
Individuen bringt der Menschheit nicht immer nur Schaden,
sondern teilweise sogar einen nicht geringen Gewinn. Teils
durch die geistigen, kulturell wertvollen Qualitäten, die sich
oft gerade bei solchen Individuen finden und die übrigens
auch biologisch, für die Züchtung produktiver Gehirne selektiv
wertvoll sind. Teils durch die sozialen und kulturellen An-
strengungen,, welche zur Erhaltung solcher minder kräftigen
*) In scharfsinniger, tief eindringender Weise hat R. Goldscheid die
Prinzipien einer „Entwicklungsökonomic" dargelegt, welche er durch die
«Menschenökononiie'' ergflnzt Er bekämpft dea Malthosianismiis im
Darwinismtis und den extremen Selektionismns und vertritt einen aktiven
Evolutionismus. — Vgl. E. Becker, Der Darwinismus und die soziale
Ethik, 1909; ferner die Schriften von ünold, MMm-'Lytr, (htwali u. a.
126
n. spendler Tdl.
Menschen nötig' sind. Endlicli durch die Steig'ernng' der
menschlichen Solidarit&t, w^che eine Bedingung' der
Humanität und, wie die soziale Gemeinschaft überhaupt, ein Vor*
teil im Kampf ums Dasein, einSelektions- und Entwicklung»*
faktor von nicht geringer Bedeutung ist*) Was aber den Da^
seinskampf innerhalb der Gesellschaft betrifft, so ist ja nicht zu
leugnen, daß neben sittlich wertvollen auch oft ethisch niedrig-
stehende Eigenschaften dem Individuum zum Vorteil gereichen
können. Dem kann eben nur dadurch abgeholfen werden,
daß mit der Zeit die sozialen und kulturellen Lebens-
verhältnisse immer mehr so gestaltet werden, daß nur
das kulturell und sittlich Wertvolle selektorisch
begünstigt wird, so daß dann das sittlich Minderwertige
zurücktreten muß. Wir sehen, von einer besonn enen,akti vistLsch-
evolutionistischen Betrachtungsweise menschlichen Seins und
Verhaltens ist nicht das Geringste für den kulturellen und
sittlichen Fortschritt zu befürchten. Der Aktivität, Freiheit,
Verantwortliclikeit des Menschen geschieht durch sie kein
Abbruch. Nur hat man immer wieder zu beachten, daß die
„Gesetze** der Entwicklung nichts Starres sind und daß sie
immer schon selb^ von der erreichten Entwicklungshöhe ab-
hangen. Weit entfernt, ein Sklave der Natur und ihrer Ge-
setze zu sein, konstituiert der Mensch durch sein Verhalten
selbst einen TeU der Entwicklungsgesetzlicbkeit**) Die aus
ihr sich ergebende „Notwendigkeit" ist kein unentrinnbarer,
äußerer Zwang, sondern gründet sich auf Faktoren, zu denen
vor allem auch die menschlich-organischen Reaktionen und
*) ^Sl* J^ropotkin, Gegenseitige Hilfe in der Entwicklung, 1904.
»Der bewußte, denkende Wille des Menschen ist nicht bloß
Produkt der Welt, londem auch Fakten*, ieine Kraft unter anderen
Kräften. Die Evolution des Menschen ist nicht . . . das Werk blinder
Naturkräfte . . ., sondern das Ergebnis stetigen Zusammenwirkens der
blinden Naturkräfte mit den sehend gewordenen Naturkräften, d. h.
menschlichen Zweckgedanken" {Jodl, Lehrbuch der Psychologie I', 1909;
Zufall, Gesetzmäßigkeit, Zweckmifiigkeit, 1911). Vgl. CMdtMd, Ent-
wicldungswerttheoiie, 1908; Grundlagen zu einer Kritik der Willenskraft,
1905 (die „Wülcnskritik" fordert, „daß wir nicht eher ruhen, bis wir die
Zweckmäßigkeit des Geschehens bewerkstelligt haben").
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Siebentel Kftpitd. Der Zweck in der Biol<^e.
127
Alctioneii gehören. Die Richtung' der menschlichen Entwick-
lung ist also weder psychisch noch physisch in einem fata^
listischen Sinne determiniert Mag ne auch hinterher als streng
kauaal bedingt, als notwendig erscheinen, so ist dies doch kein
Einwand gegfen die Möglichkeit einer immanent-teleologischen
AufCassnng dieser Entwicklung. Denn als Ursachen und Krifte
derselben sind stets auch die zielstrebigen Tendensen und
Funktionen und zum Teil auch die zweckbewußten Handlungen
der Menschen selbst anzusetzen.*)
Die wohlverstandene biologische Gesetzlidikeit bildet^
weit entfernt, eine „aktivistische'* und idealistische Lebens^
au{£assnng unmög^ch zu machen, geradezu eine Stutze fSur
dieselbe; sie bedingt keineswegs einen kulturhemmenden,
passivistischen Naturalismus. Ideen und Ideale, theoretische
und praktische oder sittliche Imperative und Normen, Pflichten,
SoUensregeln aller Art können und mSssen das menschliche
Leben auch vom biologischen Standpunkte beeinflussen, denn
sie sind Inhalte psychischer Akte, welche das Innensein
physiologischer Prozesse bilden, die als Faktoren der orga-
nischen Entwicklung in Betracht kommen und deren Richtung
mitbestimmen. Auch das normgemäße Verhalten hat, wie
die Normg^ebung selbst, eine biologisch-physische Seite. Zu
den Bedürfnissen, welche für die organische Selbstregulation
und Evolution von Bedeutung- sind, g*ehören eben auch soziale,
kulturelle und sittliche Bedürfnisse. Die Eig-enart der
menschlichen Entwicklung gegenüber der Evolution anderer,
niederer Arten ist durchaus an 7:11 erkennen; die „Art ihrer Er-
haltung" {R. GoUktheid) wurzelt in besonderen Verhältnissen,
und nicht alles, was für andere Lebewesen gilt oder nützUch
ist, besteht auch hier zu Recht. Freilich, aus dem allgfemeinen
Rahmen biologischer und evolutionistischer QesetzUchkeit fallt
auch die menschliche Entwicklung" nicht heraus, sie nimmt nur
eine besondere Modifikation an, die namentlich auf der Org-ani-
sation des menschlichen Zentralnervensystems und auf der
sozialen Kooperation der Menschen beruht. Die Entwicklung
*) Vf^ M. AUiBft Alarzistische Probleme, 1913.
Digitizec v^oogle
128
IL SpcHdkr Teü.
der menschliclieii Gattung ist letzten Endes nicht mehr in*
dividual-, sondern nur sozial- und kulturbiolog'isch zu
interpretieren. Im Menschen, Insbesondere im Kulturmenschen,
kommt der Lebensprozefi teils direkt, teils indirekt znm Selbst-
bewußtsein, Die fortschreitende Menschheit erlangt immer
mehr Macht auch Uber das eigeneLeben; sie vermag immer mehr
dieRichtung desselben und derEntwicklang aktiv und planmäßig
zu beeinflussen. Aus der Erkenntnis der Bedingungen eines kraft-
vollen I^ebens und der Höherentwicklung der menschlichen Art
gewinnt sieUnteriagen und Direktiven für ihren aktiven Lebens-
und EntwickiungswiUen, für ihren Kampf mit der Natur, für
die Anpassung dieser an ihre Ziele. Im Dienste solcher Ziele
stehen alle Maßnahmen, welche sich unter dem Namen der
„Biotechnik" zusammenfassen lassen, wie „Eugenik" {Galtonu^a^
Hygiene, Greburtenregulation, Mutter- und Kinderschutz usw.,
Rassenverbesserung überhaupt. Der kollektiv, sozial g-ef iihrte
Daseinskampf aber entlastet das Individuum. Er gibt ihm
neue Erhaltungs- und Entwicklungsmöglichkeiten, er ist ein
Faktor der Befreiung desselben von brutalen Naturnotwendig*-
keiten, der Steigferungf der Individualität und ihrer Macht
über die Natur, endlich des Aufstiegs der Gattung Mensch zu
immer höheren Lebensstufen. So dient er dem „Willen zur
Macht" {Nietzsche) und dem „Willen zur Freiheit'* (iC Lange},
SO ist er ein Mittel zur Verwirklichung von Ideen, ein Faktor
der Geistes- und Kulturentwicklung.
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Achtes Kapitel
Der Zweck in der Payehologie.
Das Psychische, den Inbegriff von Bewußtseinsvorg-äng-en als
solchen, haben wir als „Innensein" des Physischen und Physio-
logischen bestimmt. Alles Geschehen läßt sich auf zweierlei
Weise betrachten, denken, erklären und erforschen. Einmal
als Gegenstand der sinnlich vermittelten, äußeren Erfahrung"
und mittels der zur Verarbeitung, Verknüpfung und Ver-
einheitlichung des Stoffes dieser Erfahrung (der Sinnesdaten)
dienenden Formen, Begriffe und Grundsätze. Dann aber auch
als Ablauf von Bewußtseinszuständen, welche das betreffende
erlebende Subjekt auf sich bezieht — als unmittelbare Modi-
fikationen seiner selbst und von denen es annimmt und mit
Fug annehmen darf, daß sie nicht die einzigen „seelischen"
Vorgänge in der Welt sind , sondern daß ihnen analoge
„Innenzustände" in anderen Subjekten entsprechen. Da die
physischen bzw. physiologischen Phänomene nur eine Seite
desselben Geschehens und Reagierens darstellen, welches
seiner unmittelbarsten, eigensten Beschaffenheit nach den
Charakter des Psychischen, des „Erlebens" hat, so kann von
einer eigentlichen Wechselwirkung zwischen Seelischem und
Körperlichem (als solchem) nicht die Rede sein, so sehr auch
der Bestand einer wechselseitigen „Abhäng["ig"keit'* des einen
von dem anderen anzuerkennen ist.
Man darf aber durch diese Auffassung des Verhältnisses
von Geist und Körper, Seele und Leib, Psychischem und
Physischem sich nicht zu einer Leugnung der (immanenten)
psychischen Kausalität verleiten lassen und etwa das
Seelische als ein bloßes „Epiphänomen" der Nervenprozesse
auffassen, als eine rein passive, schattenhafte Begleiterscheinungf
Bia1«r, Der Zuidc. 9
180
n. Speddlar Tcfl.
ohne eigene Wirksamkeit ohne Aktivität Das Psychische
g-eht nicht wie ein Schatten neben dem Phjrnschen oder den
Gehirnphänomenen einher, wobei nicht zu begreifen wäre,
woher es eig-entlich kommt, wie es entsteht Sondern es ist
selbst etwas Wirkliches und Wirksames. Die einzelnen Glieder
des psydiischen Greschehens stehen miteinander in kausalem
Zusammenhang, sie lassen sich miteinander kausal yer-
knüpfen, ordnen, haben ihre psychischen Ursachen und
Wirkung-en, sie beeinflussen einander. Haben wir einmal
das Geschehen als etwas Psychisches betrachtet, bestimmt^
dann müssen wir es unweig-erlich nach dem allgemeingültigen,
apriorischen Grundsatz der Kausalität beurteilen, genau so
wie das als physisch oder physiologisch aufgefaßte Geschehen
die Anwendung der Kategorie der Kausalität erfordert.
Die psychische Kansalität*) bekundet sich in dem Ein-
fluß der Bewußtseinsvorgänge aufeinander, in der Abhängig-
keit bestimmter seelischer Zustände oder Veränderungen
von bestimmten anderen seelischen Zuständen, ferner in der
Erzeugung psychischer Gebilde durch psychische Funktionen
und in psychischen Entwicklungen und Gesetzmäßigkeiten.
Bestimmte Vorstellungen z. B. erregen bestimmte Gefühle
oder Affekte, das „Interesse" wirkt auf die Aufmerksamkeit,
diese (bzw. die „Apperzeption") auf die Klarheit, Bewußtheit
der Vorstellungen, Die Analyse, die psychische Synthese,
das Beziehen u. dgl. haben ihre bestimmten Wirkung-en inner-
halb des Bewußtseins selbst. Aber der seehsche Zusammen-
hang resultiert nicht aus einer äußerlichen Verbindung selbst-
ständiger, getrennt existierender Elemente, sondern er setzt
schon einen gewissen primären Zusammenhang {DilUiey^
BergsoHy James u. a.), eine psychische ,,Org-anisation" voraus.
Aus dieser entspringen die einzelnen Reaktionen des Subjekts,
die sich dann zu einem immer neu sich gliedernden, in
mannigfaltige Elemente und Momente zerlegbaren, dabei aber
einheitlichen Zusammenhang abgeleiteter Art verbinden.**) In
dem einheitlich-stetigen Zusammenhang bewußter und unter-
*) Vgl. die psychologischen Schriften Wundtt»
**) VgL Maler, Das Wirken der Seele, 1909.
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Aebtet Kapitel. Der Zweck in der Ftychologie.
131
bewoßter (relativ unbewußter) Erlebnisse kommt die «Seele^
selbst sur Entfaltung* ibres Ihbalts, auf Grrund primirer, er-
erbter, angeborener, sowie sekundärer, individuell erworbener
Dispositionen, Anlagen, Potenzen. Die Erlebnisse der Seele
wirken beständig* auf die Organisation derselben surfick; sie
modifizieren diese immer wieder, so daß ^ Vergangenbeifc
des Subjekts in der Axt seines Reagierens auf Reize mebr
oder weniger zum Ausdruck gelangt {Wmdtf Bttgtoti^, Das
Seitenstuck dazu findet sich in der Entwicklung des phy-
sischen Organismus, insbesondere des Gehirns als des sinn-
fälligen Ausdrucks oder der objektiven Erscheinung der
seelischen Organisation und als der Statte physiologischer
Dispositionen.
Vom Standpunkt der kausalen Betrachtang «rweisen dch
die einzelnen Momente des seelischen Prozesses und Zu-
sammenhangs als Wirkungen früherer Momente oder Phasen
desselben, natürlich unter Berficksichtig-ung der die psychischen
Vorgänge auslösenden Faktoren der Außenwelt, der „Rei2e'S
von denen die Empfindungen und Vorstellungen abhängig sind.
Ebendieselbe Entwicklung- aber läßt sich auch unter dem
Genchtspunkt der Finalität, also teleologisch, auffassen und
verstehen. Eine solche Betrachtungsweise vermag- sog-ar dem
konkretmi, lebendigen Ablauf des psychischen Greschehens,
d&t Bewußtseinsreaktionen teilweise noch mehr gerecht zu
werden. Dieses Greschehen setzt sich aus Reihen ziel-
strebiger Aktionen und Reaktionen zusammen, es er-
folgt bewußt oder relativ unbewußt, unwissentlich — im Hin-
blick auf gewisse Ziele, es hat eine bestimmte „Richtung^*
{Höf ding, DilÜiey, Lipps^ Bergwn vu a.). Dies ist sehr begreif-
lich, denn der vollständige, ungebrochene, ungehemmte
psychische Vorgang ist stets und überall ein einfacher oder
zusammengesetzter Willensvorgang; er schließt also ein
Streben und damit ein Ziel ein. Das seelische Geschehen
ist keine bloße „Summe" selbständig wirkender Elemente,
sondern die Elemente des Bewußtseins g-ewinnen wir, wie die
verschiedenen Seiten desselben (Vorstellung-, Gefühl usw.), nur
durch einen Prozeß der Analyse und Abstraktion, durch den
Digitized by Google
182
n. SpesicJler TcQ.
sie aus dem stetigen Floß des Bewußtseinsablaufes heraus^
gelloben werden. Dieser MStrom des Bewußtseins" (JamM)
gewinnt seine Richtung aus der Verflechtung* der ziel-
gerichteten Tendenzen, als welche die Seele selbst sich
darstellt, so daß die ^»psychisclie Dynamik" im Grunde eine
Teleodynamik ist.
Auf der Basis eines Strebens 7a:]aufen zunächst die „intel-
lektuellen" Prozesse, ebenso die Assoziationen und die all-
gemeinen „apperzeptiven", unter dem Einfluß der Aufmerk-
samkeit erfoig-enden Verbindungfen der Bewußtseinsinhalte,
mag- auch das Streben selbst teilweise nicht für sich, ge-
sondert, deutlich zum Bewußtsein kommen. Aber schon der
primitivste seelische Prozeß ist nicht etwa eine bloße, „reine"
Empfindung, ans der dann erst ein Gefühl und ein Streben
äuß^lich hervorgehen, sondern ein Triebvorgang (If^iuM^t u. a.),
der die Empfindung als ein ihn auslösendes Moment einschheßt
und in einer (inneren oder äußeren) Handlung endigt. Erst
später differenzieren sich aus diesem primären, elementaren
Willens Vorgang- die Empfindung und Vorstellung in der Weise
heraus, daß die übrigen Momente des Vorg"angs abgeschwächt
oder gehemmt werden und zug"leich die intellektuelle Seite
desselben in den Vordergrund tritt oder eine gewisse Selb-
ständigkeit erhält. Das rein „theoretische", intellektuelle Ver-
halten ist nicht das, womit das Seelenleben ursprünglich ein-
setzt, sondern dieses bekundet sich ursprünglich und vielfach
auch später in biologisch bedeutsamen Handlung-en
Es dient zunächst der Lebenserhaltung, der Aufsuchung
und Findung des für das Lebewesen Notwendigen, Förder-
lichen, der Vermeidung und Abwehr des Schädlichen und
Feindlichen; es ist also ein Mittel im Daseinskampfe und ein
Faktor der Anpassung an die Lebensbedingungen, indem es
zur Orientierung in der Außenwelt und betreffs der Eigen-
schaften der Dmge verhilft. In diesem Sinne wirken etwa
die Aufmerksamkeit, die Erwartung, die Assoziation, das Ge-
dächtnis, die Beobachtung, das Interesse, der Schmerz teleo-
*) Vgl. die Arbeiten von Ebbinghaus, W. Je-ntfinlem, Baldimm, JotU,
Bibotf Sj^cer, Höff'ding, James, F. C. 8. Schiüer, Bergion u. a.
y i.i^L^^ L-y Google
Achtet Kapitel. Der Zweck in der Psychologie.
133
logfiscb, als Fnnktiooen, die zunächst im Dienste der Selbst
erhaltung und Entwicklung' stehen. Der primitivste psychische
Vorg'ang' aber ist die triebmäßige Reaktion eines Oiigfanismus
infolge eines Bedürfnisses, etwa eines als unlustvoli emp-
fundenen Zustandes, den er zu beseitigen strebt Hat sich eine
Assoziation zwischen einem erreichten, bestimmten Zustand und
einer an ihn geknüpften Lust gebildet, dann kann dieser Zustand
selbst zum besonderen Zielpunkt des Strebens werden. Im
Laufe der individuellen wie der Gattungfsentwicklung- schieben
sich immer mehr Zwischeng-lieder zwischen die eine Reaktion
oder Handlung auslösenden Reize oder Eindrücke und die zu
verwirklichenden Endziele. Die verschiedensten Bewußtseins-
inhalte fung-ieren dann als mittelbare Zwecke. Die besonderen
Zielrichtungen des Strebens und Wollens sind also nicht von
Anfang an gegeben, sondern sie bilden sich erst nach und
nach heraus, wobei Gedächtnis, Erfahrung, Phantasie und
Denken (Reflexion) eine wichtige RoUe spielen und das Prinzip
der wHeterogonie der Zwecke" sich immer wieder als wirk-
sam erweist. Doch ist zu beachten, dafi diese Entwicklung
des Willens und Zweckbewußtseins nicht auf äußerliche und
rein zufällige Weise erfolgt; sie unterliegt vielmehr von An-
fang bis zum Ende dem Einfluß des Strebens und Wollens,
der Zielrichtung selbst. Der „Grundwille" des Subjekts macht
sich stetig in ihr geltend, ist als Hauptfaktor ilirer Richtung
in Betracht zu ziehen.
Der Wille ist also das eigentliche Agens, die Triebkraft
des seelischen Lebens, welches sich als ein stetiger Zusammen-
hang von Willensreaktion auffassen läßt (Voluntarismus). FAn
bedeutsamer Unterschied ergibt sich ahor daraus, daß der Wille
als passiver (reaktiver) ,, Triebwille" und als ein dem Zentrum,
der einheitlichen Totalität des Ich entspringender aktiver Wille
auftritt. Die Triebhandlungen werden von momentanen, be-
ständig- wechselnden Eindrücken ausgelöst und entbehren des
klaren und deutlichen Zieibewußtseins; sie sind impulsiver
Natur, werden dem Ich gleichsam abgenötigt. Es gibt nun
nicht bloß äußere Willenshandlungen , das heißt einfache
Wiliensakte motorischer Art, die auf eine Veränderung in
n. Spaidlcr TcQ.
der Außenwelt, zu der auch der eigene Körper g-ehören
kann, gerichtet sind, sondern auch innere Willenshandlung'en,
deren Ziel eine Bewußtseinsmodifikation als solche bildet. Die
Aufmerksamkeit z.B. ist in jedem Falle eine innere Willens-
handlung'. Sie ist ein Verhalten des Subjekts, durch welches
ein Inhalt des Bewußtseins vor anderen bevorzugt wird, indem
er mit besonderer Konzentration ergriffen und festgehalten
wird, während andere gleichzeitige Eindrücke vernachlässigt
werden; die Wirkung davon ist die größere Klarheit und
Bewußtheit des aufmerksam Erlebten, das Zurücktreten des
bloß „Perzipierten", nicht „Apperzipierten". Während nan
bei der passiven Aufmerksamkeit das Wissensstreben von
außen geweckt oder von einzelnen, intensiven oder gefühls-
betonten Erlebnissen erzwungen wird, kommt bei der aktiven,
willkürlichen Aufmerksamkeit das Interesse, der Wissenswille,
den Kindrücken spontan entgegen und bringt jene Inhalte,
die angestrebt werden, zur besonderen Klarheit des Bewußt-
seins. Hier liegt eine bewußte Zwecksetzung vor, die einen
Einfluß auf den Ablauf und den Zusammenhang der seelischen
Inhalte ausübt. Was für den Wissenswillen keine Bedeutung
hat oder zu haben scheint, wird g-ehemmt oder vernachlässigt,
so daß nun bloß ganz bestimmte, direkt oder indirekt gewollte
Bewußtseinsinhalte sich miteinander verbinden oder sich in
bestimmter Weise gliedern. Alles Vergleichen und Beziehen,
alle Analyse und bewußte Synthese , alle Begriffsbildung,
alles Urteilen und Schließen, kurz, der gesamte Prozeß
des Denkens ist eine innere Willenshandlung, ein Ausfluß
des aktiven Wissenswillens. Das Denken ist demnach eine
zielstrebige Tätigkeit.*) Ein zweckbewußter Wille erweist
sich hier als richtend, lenkend, reguUerend, organisierend, in
gewissem Maße als schöpferisch, indem er Verbindungen, Zu-
sammenhänge herstellt, die von selbst meist nicht zustande
kämen, und zwar Verbindungen, die mehr sind als die bloßen
Summen ihrer Bestandteile (Wundf). Eine analoge Tätigkeit
übt der Wille in den Leistungen der aktiven Phantasie
♦) Das zeigt vortrefflich jF'. C. S. Srhiller (Humanismus, Xj^i)* VgL
Yaihingtr, Die Philosophie des Als ob. a. Aufl. 1913.
Digiiizeü by Google
Achtel Kftidld. Oer Zwedc In der F^ehologie.
185
aus, die also ebenfalls zielstrebig" gerichtet sind. Durch
die Einstellung" des Willens auf bestimmte „Zielvorstellung-en"
erhält die Reproduktion der Vorstellungen eine eigene
Richtung; es findet unter ihnen eine gewisse Auswahl statt,
vermöge deren nur diejenigen Glieder von Assoziationen
lebendig werden und sich verbinden, welche in der Richtung
der Zielvorstellung und des Willens liegen*) Mit Recht hat
man wiederholt auf den „selektiven" Charakter der Psyche,
"des Bewußtseins, der Wahrnehmung hingewiesen {James,
EhhinqhauSy Jerusalem^ Bergson u. a,). Das Ich kann nicht alle
Eindrücke, die sich ihm darbieten, gleichmäßig aufnehmen und
verarbeiten; es wendet sich stets nur jenen zu, die geeignet
sind, sein theoretisches oder praktisches Interesse wach-
zurufen. Selbst eine Fähigkeit und Funktion, die scheinbar mit
dem Willen nichts zu tun hat, nämlich das Gedächtnis bzw. die
Erinnerung, läßt den Einfluß des Strebens und Wollens auf
das Bewußtsein deutlich erkennen. Unter normalen Umständen
merken wir uns dasjenige, das uns interessiert, das wir uns
merken wollen, besonders gut, jedenfalls besser, genauer,
länger, als wenn es uns völlig gleichgültig wäre. Der Wert,
den es für uns hat, verleiht ihm eine größere psychische
Energie , es regt öfter unser Streben an , es über die
Schwelle des Bewußtseins zu heben, es reizt zu seiner Re-
produktion, Wiederbelebung. Der Wille, einen Inhalt in die
Erinnerung zu rufen, gibt direkt oder indirekt (vermittels
der Assoziation) der Reproduktion von Vorstellungen die
gewünschte Richtung. Auch ohne daß wir darum zu
wissen brauchen, sind in uns beständig mannigfache Ten-
denzen, Strebungen**) rege, die dem Strome des Bewußt-
seins die Richtung geben. Diese unterbewußten und relativ
unbewußten Faktoren des Seeleniebens spielen in ihm eine
•) Über die Fankticm des WQleiis im Psychischen vgl die Arbeiten
von TTtmdf, Pouben, HSfdmg, Staiet, Jerutabm, Knibig, JoO, FoiOU»,
Lipps, Loßkij a. a. Über „ZidvOfstellungen" and deren „determinierende
Tendenzen" vgl. die Arbeiten von N. Ach.
**) ^'gl die in diesem Punkte noch zu wenig gewürdigten Arbeiten
Benekes, auch die Schriften Fortiages, J. S. FicMts u. a.
186
TL l^ieiiener Tdl.
nicht g-ering-e Rolle; sie insbesondere stellen die Stetig'keit
und Einheit desselben her.
Auch die Assoziationsprozesse (assoziativen Ver-
bin dungren) kommen nicht ohne alle Beteilig^ung- unterbewußter
Strebungfen zustande, so wenig* sie mit der aktiven Willkür*
liehen Gcistestätig"keit zusammenhäng"en. Treten Vorstellung-en
auf, die mit bestimmten anderen Vorstell ungfen wiederholt im
Bewußtsein verbunden waren, so erreg"en sie den freilich meist
nicht deutlich bemerkbaren, oft mechanisierten Trieb aach
Reproduktion*) derjenig"en Elemente, mit denen sie ein
Ganzes bildeten („Gesetz der Totalität"). Es fehlt also auch
hier nicht an einer g'ewissen Zielstrebigkeit, so passiver (re-
aktiver) Art sie auch sein magf, wie etwa im bunten Gewirr
der Traumbilder, deren Richtung- übrig^ens durch verschiedene
Triebe und Tendenzen beeinflußt wird, zum Teil, wenn auch
nicht durchweg", durch positive oder negative Wünsche
{Freud u. a.). Auch in psychopathischen Zuständen machen
sich verschiedentlich unterbewußte Zielstrebigkeiten geltend,
zum Teil auch solche, die auf normale Weise sich nicht reali-
sieren („abreagieren") lassen und nur einen symbolischen
Ausdruck erhalten, wie dies die „Psychoanalyse" (Freud, Breuer^
Bleuler, P/her, Adler, Sterkel, Schrerker u. a.) an den Tag legt.
Das seelische Leben weist also ein fortwährendes Zu-
sammenspiel aktiv bewußter und relativ unbewußter, nur in
ihren Wirkungen zum Bewußtsein kommender teleologischer
Prozesse auf. Infolge ererbter und erworbener Anlagen,
Dispositionen als Nachwirkungen genereller und individueller
Übung, Erfahrung, Einsicht, Fertigkeit, sowie auch als Aus-
fluß des Grundstrebens des Subjekts und der aus ihm ent-
springenden Sondertriebe sind in der Seele bestand ig ziel-
strebige Tendenzen (als Modifikationen der Seeleneinheit selbst)
rege. Vielfach wirkt der Versuch, diese meist minder- oder
relativ unbewußte Wirksamkeit im vollen Lichte der Bewußt-
heit und willkürlich auszuüben, störend, hemmend. Der
sichere Fortgang der seelischen Arbeit wird dadurch beein-
*) Vgl. Schopetüiauer, Winddband, Wundi u. a.
uiyui^ed by Google
Achtes Kapitd. Der Zweck in der Fiqpciiologic.
187
trächtigft, sie gferät leicht ins Stocken, verlangsamt und ver-
schlechtert sich leicht. So manches, was wir in aktiv- be-
wußter, willkürlicher Weise nicht oder nur mit den größten
Schwierigkeiten zu bewältig-en vermög-en, gelingt der unter-
oder unbewußten Zielstrebigkeit dem „instinktivon" und „in-
tuitiven" Operieren der Seele vortrefflich. Der Forscher wie
der Künstler — letzterer in besonders hohem Maße — schöpft
immer wieder aus dem, was in den tieferen Schichten des
Bewußtseins intuitiv produziert und gestaltet wird *) angeregt
durch bestimmte Zielvorstellungen oder durch ein zunächst
mehr oder weniger unbestimmtes, verschwommenes Ziel-
bewußtsein, welches dann auch eine vollbewußte und aktive
Produktivität auslöst, ein bewußtes Suchen nach den besten
Mitteln zur Lösung der gestellten Aufgabe.
Nicht bloß das praktische, auch das rein theoretische
latereme**) wirkt als Kristallisationspunkt, als Attraktions-
zentrum sowohl in relativ unbewußter als auch in bewußter
Weise, Es bekundet sich im logischen Denkwillen als der
aktivsten Form des allgemeinen Wissens- und Erkenntnis-
strebens. Mag dieses, wie schon bemerkt, ursprüngflich völlig
im Dienste der Lebenserhaltung und Lebensförderung- stehen
und auch später vielfach von der Praxis in Beschlag* ge-
nommen werden, so erhält es doch auch selbständige Be-
deutung, indem schon beim Kinde ein Trieb nach Erkenntnis
um ihrer selbst willen (als Neug"ierde mindestens) nicht zu
verkennen ist. Dieser reine Erkenntnistrieb erreicht bei
einzelnen Individuen eine besondere Stärke und zeitig^t den
Tvpus des „Theoretikers". Die im Menschen angelegten
intelh'ktuellen Bedürfnisse und Triebe verlangen ihre Be-
friedigung und reizen die Aufmerksamkeit zu spontaner Be-
tätigimg.***) Das Streben nach Ausfüllung von Lücken im
*) Vgl. B, Erdmann, Die Rolle der Phantasie. 2. Auflage 19 13;
Loewenfeld, Bewnßtaein u. psychisches Geschehen, 1913.
**) VgL Kreibig, Die inteUektuellen Fonkdonen. 190^ (Memuum,
Das Interesse 3 Auflage 191a.
***) Vgl. Jmualem, Einleitung in die Philosophie. 5.-6. Auf-
lage. 1913.
Digitizec v^oogle
188
if spendier TcO.
Bewußtsein, nach Ergänzung- fragmentarischer Erlebnisse und
Erfahrung'en, nach Beseitigung- von Widersprüchen und Her-
stellung eines einheitlich geordneten Zusammenhanges der
Wahrnehmungs- und Denkinhalte äußert sich m den Prozessen
des Denkens und Erkennens. der „synthetischen" Bewußtseins-
tätigkeit, Der Wille zur Begreiflichkeit des Gegebenen, zur
Rationalisierung desselben durch dessen Unterwerfung unter
die Gesetzlichkeit des Intellekts, das Streben nach Verein-
heitlichung, Harmonisierung des gedanklich Erarbeiteten sind
die innersten Triebkräfte des Denk- und Erkenntnisprozesses
(vgL Kapitel 13).
Eine teleologische Bedeutung hat ferner das Gefühls-
leben, die j.emotionale'' Seite des Bewußtseins. Die an
Empfindungen oder Vorstellungen sich knüpfenden Gefühle
der Lust und Unlust sind rein subjektive Zustände, nicht
etwa verworrene Erkenntnisse der Eigenschaften der Dinge
oder der in der Außenwelt bestehenden Verhältnisse. Sie be-
deuten die Art und Weise, wie das Subjekt auf seine Er-
lebnisse zentral, ganz unmittelbar reagiert, wie es diese Er-
lebnisse aufnimmt und verarbeitet, sich zu ihnen stellt. Sie
leiten Strebungen und Willensakte ein oder sind auch Zeichen,
Symptome eines (befriedigten oder unbefriedigten) Strebens.
Sie wirken als „Triebfedern" des Handelns, bilden eine Seite
der „Motive" desselben. Die Regel ist nun, daß das Lust-
gefühl das zweckmäßige, günstige, entsprechende, normale
Verhältnis eines Reizes, einer Erregung zur Organisation des
Subjekts anzeiget, während im Gefühle der Unlust sich eine
relativ unzweckmäßige, unangemessene, störende Erregung
der Psyche ankündigt, bemerkbar macht Was vermöge
seiner Qualität, Intensität, Richtung oder Form der jeweiligen
Verfassung der psycho -physischen Organisation besonders
gemäß ist, die Kräfte und Energien dieser in rechtem Maße
anregt und bescbäfligt, das wird in der Regel als lustvoll
(angenehm), das Gegenteilige alt nnlustvoll (unangenehm)
empfunden. Zu beachten ist aber, dafi zwar im lAiife der
oxgamscben Entwicklung die Gefühle vielfach hol subjektiven
Anzechen objektiv-zweckmäßiger iSnstände das Organismus
Digitized by Google
Aditcfl Ki^JÜd. Der Zwede in der Pafchoto^pe.
189
g-eworden sind, daß jedoch auch Abweichungfen von der
Regel oder wenigstens scheinbare Ausnahmen vorkommen.
Sie erklären sich darana, daß erstens manches, was für den
Gesamtorgfanismus unzweckmäßig ist, doch in Beziehung
zu bestimmten Zuständen bestimmter Organe bedOrfnis-
oder tnebgemäß sein kann und daher Lust erregt, daß
zweitens abnorme Zustände des Organismus diesen in abnormer
Weise reagieren, fühlen lassen, daß zunächst immer nur der
momentane Zustand, ohne Hinblick auf künftig-e Folgen, auf
Nach- und Nebenwirkung"en des Zustandes das Gefühl der
Lust auslöst. Ein Fortschritt besteht in der Richtung-, daß
mit der Zeit immer mehr Assoziationen zwischen total und
dauernd, konstant zweckmäßigen Zuständen und Lustgefühlen,
sowie zwischen schädlichen Dingen und Unlustg^efühlen zu-
stande kommen. Auch der Intellekt und die durch ihn er-
worbene Erkenntnis der späteren Folgen, welche sich an
Lust- und Unlustvolles knüpfen, beeinflussen vielfach den
Gefühlston. Bis zu einer gewissen Grenze lassen sich die einer
zweckmäßigen Regulation von Funktionen dienenden Gefühle
selbst regulieren, unter dem Eindruck, den die früher oder
später zutag-e tretende Unzweckmäßigkeit von Gefühlen,
Affekten und Leidenschaften im Bewußtsein hervorruft. Die
Einwirkung- der Vernunft", des Denkens ist hierbei selbst
durch ein Gefühl vermittelt
Die Förderung oder Schädigung, welche das Gefühl an-
zeigt, kann sich auf die physische oder die psychische Er-
haltung und Entwicklung beziehen. So erregt nicht bloß
eine erheblichere Störung des normalen Ablaufs der vitalen
Funktionen Unlust, sondern auch jede Hemmung, jedes
Stocken, jede Verwirrung des Vorstellungsablaufs, ebenso alles,
was nicht in die Richtung und den Zusammenhang des Er-
lebens oder Denkens paßt. Während in der Regel die
Herabsetzung der psychischen Energie und die Schwächung
des Ichbewußtseins, des Selbstgefühls, unangenehm empfunden
wird, kommt die harmonische Betätigung psychischer
Kräfte in besonderen Lustgefühlen zum Ausdruck. Der
Überschuß sinnücher, intellektueller, emotioneller und voli-
Digitizec v^oogle
140
n. Speddler TdL
tioneller Energie verlangt nach Entladung^; diese ist last-
betont, weil sie, ohne ein Zweckbewußtsein einzuschließen,
immanent-zielstrebig ist. Zug^leich weist die „Funktionslust"
aber auch auf eine objektive Zweckmäßigkeit hin, denn die
Betätigung funktioneller Bedürfnisse trägt zur Erhaltung und
Entwicklung, zur besseren Ausbildung der Organe bei; beim
Kinde insbesondere bekundet sich diese in den verschiedenen
Spielen wirksame Funktionsübung als höchst bedeutsamer
Entwickln ng-sfaktor, als Vorbereitung für den Emst und Kampf
des Lebens.*)
In den Gefühlen der Lust und Unlust macht sich eine
ganz unmittelbare Wertung- von Zuständen und Dingen
geltend. Diese Wertung ist aber nicht durchaus zuverlässig;
sie ist auch von Momenten abhängig, die g-eeig-net sind, unter
Umständen auch Unzweckmäßiges lustvoll und Zweckmäßiges
unlustvoll empfinden zu lassen. Der „Wert" einer Sache
besteht in der Bedeutung-, die sie für das Bewußtsein an-
nimmt, wenn sie als taug-lich zur ßefriedig-ung- eines Bedürf-
nisses, zur Verwirklichung- eines Zweckes und daher als begehr-
bar erscheint. Das unmittelbare Wertg-efühl knüpft sich nun
zunächst an eine bestimmte Beschaffenheit oder Wirkung-s-
fähigkeit der Sache, die partiell bedürfnis- oder zweckg-ernäß
sein kann, obzwar sie mitunter unzweckmäßige Folgen hat.
Erst das auf Grund genügender Erfahrung- oder Reflexion
erwachsende Werturteil wird dann der wahren, objektiven
Zweckmäßigkeit der Ding-e g-erecht. „Richtig" ist ein solches
Urteil, erstens, sofern es sich auf etwas wahrhaft, wirklich zur
Befriedigung eines bestimmten Bedürfnisses Dienendes bezieht,
mag dieses Bedürfnis selbst wie immer geartet sein; zweitens,
wenn es sich auf etwas einem normalen, wahren Bedürfnis
Dienendes, das heißt auf ein solches, das möglichst frei von
bedürfnis- und zweckwidrigen Nach- und Nebenwirkungen ist,
bezieht. Direkt oder indirekt steht also alle Wertung mit einer
Zielstrebigkeit im Zusammenhang, mag diese nun individueller
*) Vgl. die Arbeiten von £. Qroo*; femer die Schriften von DöHngf
Jei^vsalem u. a.
Aelitci Xai^. Der Zwedc in der Fq^dlogle.
141
oder allg'emeiner (sozialer) Art sein. Das unmittelbari an sich,
oder mittelbar» wegen seiner Wirkungen, Gewectete wird zum
Gegenstand des Strebens, des Willens, also zum Willens-
ziele, und das Zieigfemäße wird, sofern es als solches erfaßt,
erkannt wird, zu einem Wertobjekt. Im Laufe der Ent-
wicklung wird die Beziehung- auf das Gefühl und Streben in
immer umfassenderer Weise durch die empirische und
rationaie Erkenntnis der Eigenschaften und Wirkungen der
Dinge, der Folgen von Handlungen, also intellektuell ver-
mittelt.
Die Bezogenheit aller Werte, auch der „absoluten**,
schlechthin gültigen, auf ein wertendes Bewußtsein, auf über-
individuelle, ideale Ziele, auf einen stellungnehmenden Willen
überhaupt steht der Objektivität der Wertung und Wert-
erkenntnis durchaus nicht im Wege. Es gibt eine allgemein-
gültige, von subjektiv-individueller Willkür unabhängige Be-
stimmung von Relationen aller Art, abo auch von Wert-
relationen. Das theoretische, logische „Bewußtsein über-
haupt" hat sein Seitenstück in einem „Wertungfsbewußtsein
überhaupt", auf dessen idealen, überindividuellen Standpunkt
man sich stellt, wenn man richtig, objektiv, sachgemäß, das
heißt so wertet, wie man bei vollster Beriicksichtig-ung- der
in Betracht kommenden Bcdingung'en , Wertgrundlagen
werten soll.*) Es ergeben sich so gewisse Normen der
Wertung, welche aussagen, wie gewertet werden soll, wenn
man objektiv, allgemeingültig werten will. Das gilt für die
verschiedensten Wertgebiete, nicht etwa bloß für die sittliche
Wertung. Die Rede von „absoluten" Werten, von Werten
„an sich" [Münsterberg, Rickert u. a.) hat ihren guten Sinn, wenn
sie nichts anderes ausdrückt als die Tatsache, daß es Werte
gibt, die, mögen sie von diesen oder jenen Individuen oder
auch sozialen Gemeinschaften zurzeit nicht erfaßt, nicht er-
kannt oder anerkannt sein, doch ihre Gültigkeit für den
idealen Standpunkt eines wertsetzenden Bewußtseins über-
*) Eine ähnliche Auffassung der objektiven Werte findet sich bei
Kreibigt Archiv für systemat. Philos. XVUL
142
n. Spendler TeiL
hanpt haben. Wie es unbedingte, absolute UrteüsnotwencUgf*
keiten gibt ^»Wahrheiten an sich"), so gibt es auch als
Korrelat der „absoluten**, sohledithin gültigen Werte ab-
solute Wertungsnotwendigkeiten, die ihr „Fundament"
in dem Verhältnis des Gegebenen su möglichen und not-
wendigen oder gelorderten Willenszielen haben. Die Be>
aehung auf ein Willensziel überhaupt freilidi fehlt auch den
„absolttten** und objektiven Werten nidit; unabhängig von
ihr kann wohl eine objektive Wertgrundlage, nicht aber
der „Wert" einer SacÄie als solcher Bestand haben. Der
Wert ist eben kein »Ding an sich**, ebensowenig wie die
Wahifaeit; beide schließen eine Relation ein, wenn auch
nnt«: Umstanden eine objektiv oder absolut gültig-e Relation.
Diese im Wesen des Wertes liegende fundamentale Relation
hat selbstverständlich nichts mit der Relativität und Sub-
jektivität einer Reihe von Werten im Sinne ihrer Abhängig-
keit von individuellen, ethnischen, sozialen, historischen,
kulturellen Bedingungen, also nichts mit dem Wandel der
Wertung im Wechsel der Zeiten zu tun. In aller psycho-
logischen, sozialen, kulturellen, historischen Entwicklung gü>t
es konstante, bleibende, fundamentale Bedurfnisse, Tendenzen,
Zielstrebigkeiten. Ihnen entsprechen konstante Wertungen
und Werte von überhistorischer Geltung, welche nicht ein
bloßes Produkt der Entwicklung- sind, sondern selbst zu
Entwicklungsfaktoren werden und als Mafistabe, Normen
der Beurteilung der Entwicklung, des Seins und Werdens,
dienen. Ferner gibt es neben den auf rein individuelle, sub-
jektive Bedürfnisse und Ziele sich beziehenden Werten „inter-
subjektive** (soziale) Werte, welche auch dann g-elten, wenn
sie von einzelnen Mitgliedern der Gemeinschaft nicht erkannt
oder anerkannt werden und welche soziale Zweckmäßigkeiten
bleibender oder wechselnder Art zur Grundlage haben. Die
„absolute" Geltung von (logischen, ethischen u. a.) Werten
aber ist auch von der sozialen Allgemeinheit des Wertens zu
unterscheiden. Sie ist durch die absoluten, höchsten Ziele des
Wollens und durch den Zusammenhang von Mittel und Zwecken
gesetzt. Sie bedeutet die Notwendigkeit bestimmter Wert-
uiyiiized by Google
Achtes Kapitel. Der Zweck in der Psychologie.
143
setsungfen und bestimmter, durch die »Logik der Werte** ge-
forderter Wert- und Wertongszusammenhänge, analog dem
rein logischen, theoretischen Geltongszusammenhang.*)
Geffihle der Lust und Unlust sind Momente der Willens-
handlungen selbst Sie bilden die Triebfeder solcher, die sub-
jektive Seite des Motivs, dessen intellektuelle Komponente
die als Beweggrund wirksame Vorstellung bildet {Wimdfy,
Überdies ist das Handeln von Gefühlen begleitet, und auch
der Erfolg desselben pflegt einen Gefuhlston zu haben. Der
Zweck einer Handlung aber ist in der Regel ein bestimmter
äußerer oder innerer Effekt^ eine gewisse physische oder
psychische Veränderung. Dieser Zweck wird angestrebt, ver-
folgt, weil, unmittelbar oder mittelbar, ein unlustvoU«' Zustand
dazu antreibt, oder auch deshalb, weil das Angestrebte Lust
verheißt, oder endlich, weil die Unterlassung der Handlung
schon in der bloßen Vorstellung davon Unlust^ Unbehagen
erweckt, so z. B. wenn es sich um eine zu eif&llende Pflicht
handelt. Keineswegs aber steht die Sache so, wie ein extremer
nHedonismus" oder subjektiver nEudämonismus" sie darstellt,
nämlich als ob etwa stets und überall die Gewinnung von
Lust oder Glfick den einzigen wahren Zweck menschlichen
Handelns bildete. Gewiß kommt es zuweilen vor, daß etwas
rein nur aus dem Lust- oder Glücksstreben heraus gewollt
und getan wird, oder daß der Genuß als solcher das Willens-
ziel, den Zweck des Handelns bildet In der Regel jedoch
wird nicht ein bloßer Gefühlszustand, sondern etwas, woran
nch ein solcher heftet, erstrebt, bezweckt, sei dies auch nur
eine gewisse Kraftbetätigung, wie bei den funktionellen Be-
dürfnissen. Triebfeder und Zweck der Handlung sind also
nidit immer identisch. Das im Streben selbst lieg-ende,
treibende Gefühlsmoment ist von dem Strebung-sziel wohl zu
unterscheiden, mag es auch an dasselbe als Zeichen oder Folge
*) Vgl. thm den Wertbegiriff die Arbeiten von Bmefee, Ekitnfela,
Mantmgt Krabig, Mo», ChUMuid, (MuM, WMObani, Biekert,
B. Ckristiamen, J. Cohn, Mümterberg, F, Krüj^, F. fiMd, EöUßämg,
Mbkut, Mdiemann, OnKUmo, Hiebsaehe tt. a.
Ijiyiiizca by GoOglc
144
n. Spesddler TcO.
geknüpft sein. Die Lust an oder zu etwas in der Vorstellungf
Vorweggfenommenem ist nicht identisch mit dem Zweck der
Handlung, ist nicht das Wülcnszicl selbst. Aber Lust und
Unlust ieblen in keiner Wülensbandlung; die bloße Vorstellung
oder das reine Denken genügt noch nicht» um den Willen
auszulösen, anzutreiben. Ein Gefühlselement ist für die Moti-
vation des Willens unerläßlich, so schwach es auch mitunter
sein mag. 1^ muß aber nicht gerade sinnliche Lust oder
Unlust sein, vas zum Handeln antreibt, auch „geistige", ideelle
Vorstellungs- oder Urteilsgefühle können als Xriebfedeni im
„Wettstreit der Motive" zur Geltung gelangen, und neben
egoistischen erweisen sich vielfach auch altruistische und
soziale, sowie „ideale" Gefühle ethischer, religiöser und anderer
Art als wirksam. Das Streben nach Lust schlechthin oder
nach „Glück" ist nur ein Spezialfall des auf verschiedene
Ziele eingestellten, niannig-fache Zwecke verfolgenden Willens,
ebenso das Streben nach Freisein von Unlust. Da nicht alles,
was Lust erregt, wahrhaft, objektiv zweckmäßijr ist, und da als
Mittel zum Zweck auch vielfach Unlustvolles mitg-ewollt werden
muß, so iieg"t es auf der Hand, daß ein universales Streben
nach Lust schlechthin, nach Lust um jeden Preis oder nach
Abwehr jeder Unlust sowohl in individueller wie in genereller
und sozialer Hinsicht unzweckmäßisr- ist, im Gegensatze zur
Erhaltungs- und Entwicklungstendenz steht, ja oft das, was es
erreichen will, die Lust oder das ,,Glück*', verfehlt.*)
In den Trieben, welche der Erhaltung und Entwicklung
der Lebewesen dienen, machen sich gewisse Bedürfnisse geltend.
Sie erzeugen einen Drang nach ihrer Befriediq-ung-. Diese
Bedürfnisse sind Zeichen für Mängel, Störungen, Hemmungen,
für zu schnellen, starken oder aber zu langsamen, geringen
*) Nach Wundt ist die Lust nicht der Zweck, sondern das nächste
Maß des Wertes oder Grades d«r Gftter und zugleich eine onentbehr-
Uche Triebfeder zur Erstrebung dersdben. „Aber das Gut ist ni^
deshalb ein Gut, weil es erfreut, sondern es erfreut, weil es ein Gut
ist" (System der Philosophie II *, 1907, S. 231). Vgl. die Arbeiten von
l^auisen, Thiüy, Unold u. a. Manche guten Argumente für den EudämoiUB-
mus bringt E. Becher, Die Grundfrage der Ethik, 1908.
Digltizeo v^oogle
Achtet Kftpitd. Der Zwedi in der Pa^diolocle.
145
Eaergieverbrauch, und die aus ihnen entspxing'enden Triebe
zielen auf die Beseitigung- der subjektiv empfundenen orga»
nischen Unzweckmäßig'keiten ab. Die Entwicklung* der Gattung
wie des Einzelwesens hat eine im ganzen objektive Zweck-
mäßigkeit der Triebe und ihrer Wirkungen zur Folge. Da-
neben aber gibt es auch Triebe, welche ihr Ziel verfehlen
lassen oder welche durch ihre einseitig sich vordrängende
Gewalt g-eradezu schädlich werden, indem sie anderen lebens-
fördernden Trieben Abbruch tun oder durch ihre Wirkungen
die Erhaltung oder Entwicklung der psychisch-physischen
Organisation gefährden. Das normale Verhältnis kehrt sich
hier um: anstatt der psychisch-organischen Einheit des Gesamt-
organismus zu dienen, dem Erhaltungs- und Entwicklungs-
streben desselben sich einzugliedern, werden solche einseitig
oder übermäßigf hervortretenden Triebe zu eigenen Strebens-
Zentren, die den Org-anismüs und dessen „Gruudwillen" unter-
jochen und zuweilen sog"ar zerstören. Wo dies der Fall ist,
da fehlt es an einer gfenüg-enden Kraft psychischer Selbst-
regulierung, der Beherrschung, Lenkung, Hemmung, Ab-
leitung übermäßiger Triebe durch den auf die harmonische
Einheit und Ganzheit der Lebensentfaltung gerichteten aktiven
Willen, der im Gegensatz zu den blinden Trieben die Fähig-
keit der Voraussicht hat und Erfahrungen verschiedenster Art
zu verwerten weiß. Es handelt sich natürlich nicht um die
völlige Unterdrückung der für den Lebensprozeß unentbehr-
lichen Triebe, sondern um eine möglichste Beseitigung der
ungünstigen Verhältnisse, unter denen sich abnorme, einseitige
Triebe bilden, sowie um die zweckvolle Anpassung der
Triebe aneinander und an den Grundwillen des Sub-
jekts. Die bei verschiedenen Menschen in verschiedenem
Maße auftretende Fähigkeit, sich durch die eigenen Triebe,
das eigene Wollen nicht einseitig binden zu lassen*) und die
Ziele des „Vernunftwiilens" auch starken Impulsen gegenüber
aufrechtzuerhalten und durchzusetzen, bildet den Kern dessen,
was mau unter Willensfreiheit zu verstehen hat, und ist
*) Vgl. A'. Jod, Der freie WiUc, iy>8.
Eisler, Der Zveck.
10
146
n. SpedeOcr TeO.
ein höchst bedeutsamer Entwicklungsfaktor. Der bewußte
„Wille zur Freiheit" setzt sich das Maximum der Herr-
schaft des Ich über seine Triebe und EinzelwoUung-en
zum Zweck und verwirklicht so immer mehr die Idee der
l?'reiheit. —
Was nun die Psychologie des Zweckbewußtseins als
solchen betrifft, so entwickelt es sich aus einem erst ganz
vag"en, dumpfen Streben, welches auf (Trundlage eines als
störend, unangemessen, unbehaglich, unangenehm empfundenen
Zustandes auftritt und auf die Beseitigung oder Abwehr dieses
Zustandes gerichtet ist. Erst dann, wenn die Beseitigung der
Störung oder Spannung gelungen ist und infolge der ziel-
strebigen Reaktion ein Gefühl der Lust oder der Lösung auf-
tritt, kommt es auf Grund einer Assoziation des Strebens
oder Triebes mit einer bestimmten Empfindung oder Vor-
stellung zur Richtung des Strebens und der Reaktion auf ein
bestimmtes, objektives Ziel. Das Kmd begehrt nun etwa die
Nahrung, weil deren Vorstellung die Erwartung der Befriedi-
gung des Sättigungstriebes durch das Verzehren derselben
auslöst. Die seelische Entwicklung nimmt dann einen solchen
Verlauf, daß die Reihe der Mittel und Zwecke immer größer
wird, daß sich immer neue Zwischenglieder in dieselbe ein-
schieben, daß aus Zwecken Mittel zu entfernteren Zwecken
werden, wobei alle objektiven und äußeren, mittelbaren immer
auch mit subjektiven, inneren, unmittelbaren Zielen zusammen-
hängen und das (sinnliche oder geistige) Gefühlsmoment die
Rolle zwar meist nicht des Zweckes, wohl aber der allgemeinen
Triebfeder alles Strebens und aller Zwecksetzung spielt. An
die Stelle bloßer Assoziationen treten später apperzeptive
Verbindungen. Das Empfinden und Vorstellen wird durch
ein Denken und Schließen ergänzt, welches gestattet,
größere Zweckreihen geistig zu umspannen, zielbewußt
und planmäßig zu verfahren, nicht uhne bedeutsamen An-
teil der kombinierenden und produktiven Phantasie. Aus
der dumpfen, vagen, impulsiven, elementaren, primären Ziel-
strebigkeit geht so die reflexive, vollbewußte, aktive
Zwecksetzung und Zweckhandlung, die auf denkender Ver-
^ i^uo Ly Google
Adiles Kapitd. Der Zweck in der Ftydwiogie. 147
arbcitungf von Erfahrung'en und auf einem Vorausblick in
zukünftige Möglichkeiten und Notwendigkeiten, auf der Er-
kenntnis der Gesetze des Geschehens in der äußeren . und
inneren Natur beruhende, planmäßige Verwirklichung von
sinnlichen und geistigen, inateriellen und ideellen oder idealen
Zielen hervor. Das teleologische Denken ist nun wirk-
sam; es richtet sich auf immer weitere Gebiete des Handelns
und wird immer feiner, genauer, zutreffender, richt^fer. Man
reagiert nun nicht bloß auf eine momentane, unerwartete, von
außen sich ergebende Situation, sondern das Ich setzt sich
jetzt spontan, aktiv, ohne erst durch einen äußeren Reiz dazu
genötigt zu werden, Zwecke und denkt über die tauglichsten
Mittel zu deren Erreichung nach. Es stellt sich bestimmte,
mehr oder weniger komplizierte, theoretische oder praktische
Probleme. So gestaltet es sein Leben aktiv und frei, aus
der ganzen Fülle und Kraft seiner einheitlichen, zentrali-
sierten Org-anisation heraus. Nun ist nicht mehr der bloße
Triebwille wirksam, sondern der von Wertgedanken, Ideen,
Idealen, Normen geleitete aktive Vernunftwille, der regu-
lierend und dirigierend das äußere und innere Leben be-
einflußt und es, soweit ps die Verhältnisse ermög-lichcn, zweck-
mäßig gestaltet.*) Der Vernunftwille unterordnet das Handeln
den Gesetzen der Logik, der teleologischen Logik ins-
besondere, welche einheitlichen Zusammenhang der
Zwecksetzungen untereinander gebieterisch fordert und
das subjektive Wollen und Handeln in die Sphäre des
Allgemeingültigen , Objektiven erhebt. Die Autonomie,
Selbstgesetzgebung des idealen Vernunftwillens erweist sich
so als der tiefste Grund , die Forderung desselben als
der oberste Maßstab der Normalität des Wollens und
Handelns.
Die Seele verdient als Ganzes den ihr von Aristoteles
beigelegten Namen der „ersten Entelechie". Sie ist die Ein-
heit von Tendenzen, die ihr Ziel in sich haben und auf dessen
Realisierung gerichtet sind. Sie ist weder eine vom leiblichen
*) Vgl P. Natorp, Stanunier n. a.
10*
Digitizec v^oogle
148
n. SpeiieUer Teil.
Oxganismus getrennt existierende, atomistisc^-emfache Sub-
stanz oder Kraf^ noch die bloße Summe oder ein bloßer
Komplex oder ein nBündel" elementarer, für sich bestehender
und wirk<;amer Vorgange. Die psychischen Geschehnisse sind
nicht selbständig wirJcBame Kräfte, gewissermaßen selbst kleine
Seelen, sondern wir sind genötigt, sie als Funktionen einer
aktualen Einheit zu denken. Diese hat allerdings nicht vor
oder hinter ihnen Bestand, sondern ist eine Einheit, die sich
in dem stetigen Zusammenhang und Ablauf der Bewußtseins-
zostande selbst entfaltet, setzt und erhält. Sie „setzt" sich als
das aktuelle „Subjekt", das sich von den Objekten seiner
Tätig"keit unterscheidet, und das die Mannig-faltigkeit seiner
Erlebnisse (direkt oder iudirekt, rein funktional oder reflexiv)
auf seine in diesen selbst zur Geltung- kommende Identität
und Permanenz bezieht, indem es sie immer wieder zur Ein-
heit des Ich zusammenfaßt. Die Einheit der Seele bedeutet
also nicht mathematische Einfachheit, nichts numerisch Ein-
heitliches, sonderu schließt eine Mannigffaltig-keit von Momenten
und Zuständen ein. Sie ist eine Einheit formaler Art, aber
freilich nicht bloß eine gedachte passive Einheit wie die der
Objekte der äußeren Erfahrung, sondern eine sich unmittelbar
selbst setzende, denkende, aktiv-reaktive Einheit, nach deren
Muster wir dann auch die Einheit des fremden „innenseins"
denken und fremde Seelen oder Subjekte denkend setzen.
Der seelischen Einheit entspricht auf der physischen Seite
des Organismus die Einheitlichkeit des organischen
Verbandes und sein er Funktionen, deren stetiger Ablauf
das Seitenstück zur Stetigkeit des psychischen Zusammenhanges
bildet. Teleologisch betrachtet, ist die Seele ein einheit-
licher Zusammenhang zielstrebiger Reaktionen und
Aktionen,*) welche Momente, Phasen einer „Selbstentwick-
, . •) Nach DiUhey ist der „seelische Strukturzusammenhang" ein Zu-
sammenhang, welcher IjebensfOUe^ Triebbefriedigung und Glftck m ei^
wirken die Tendenz hat, ein ^weGkauammenhang", den wir als solchen
nnmittelbar erleben, und nach dessen Analogie wir das fremde Geistes-
leben deuten, verstehen. — Nach Münsterberg besteht die volle geistige
Realität aus stellungnehmenden, wollenden, zwecksetzenden Subjekten,
Digitizeo
Achtes Kapitel. Der Zweck ia der Psychologie.
149
lung*' sind, einea unnnterbroclieneii, stetigen Fortschreitens
von einem Ziele zum anderen, so aber, daß spezielle Ziele
erat im Laufe dieser Entwiddung und schon durch sie be-
dingt, gezeitigt auftreten. Die Seele rankt sich gleichsam an
ihren Zielen und Erfolgen empor; sie ist ein Prinzip der
Selbststeigerung, sie formt sich selbst in einer als „schöpfe-
risch'* zu bezeichnenden Weise; sie wachst gleidisam von
innen aus» wenn auch immer wieder von aufien angeregt und
bestimmt. Sie organisiert, differenziert und integriert oder
synthetisiert sich bis zu einer gewissen Hohe, und diese p«y'
diische Selbstgestaltung, die natürlich schon eine gewisse
Qrganisationsstufe zur Bedingung hat, kommt zugleich in einer
Steigerung der physischen Organisation, insbesondere der
Struktur und Leistungen des Zentralnervensystems, zum sicht-
baren Ausdruck, zur Exschdnung, zur Objektivation. Ein Prozeß
abwechselnder Evolution und Involution {Wundt^ findet hier
statt, demzufolge immer wieder mehr oder weniger bewußte
und aktive Zielsetzungen durch Gewohnheit und Übung auto-
matisch, relativ unbewußt werden, und umgekehrt auf Grund
mechanisierter Prozesse neue Zielstrebigkeiten erwachsen. Aber
das Finale, Zielstrebige fehlt der psychischen Entfaltung nie-
mals;*) alles geschieht in der Seele auf dem Unteigrunde von
deren Verhalten wir lediglich durch Interpretation und Wertbeorteiloiig
ihrer Ziele und Meinungen verstehen können.
*) Das immanent-teleologische Moment des Psychischen betonen
Schopenhauer, «. Mmtmann, Steinthal, SiguMori, Spencer, MmaneB, Jamet,
8UnU, Baldwin, Dexcey, F. C. S. Schüler, FouilUe, Bibot, Bergeon, Lttcquet,
Dilthey, J. Schultz, Kohnstamm, Pauly, Ebbinghaus, Jerusalem, Avenariu»,
Mach, H. Maier, Jodl, Wundt, Driesch u. a. So besonders auch Vaihinger,
welcher erklärt, s&mtliche psychischen Prozesse seien zweckmäßig
(Die Philosophie des Als Ob, igir, S. iff., s. Aull. 191^ „Die Ptoyehe
ist eine organische Gestaltungskraft, welche das Aufgenommene
'^elb'^Ondig zweckmäßig verarbeitet und ebensosehr das Fremde sich
anpaßt, wie sie sich selbst dem Neuen anzupassen vermag." — Vgl.
dagegen K. 0. Bai^, Der Zweckbegriff im psychologischen und er-
kenntniatheoretischen Denken, Wissensch. Beilage der PhÜot. GeseD-
sduift zu V^en, 1910 (treffende Bemerkongen gegen eine elnseitit^
Teleologie, aber in der Negiemng aller Bedeutung des c^likativen
ZwecUx^riffs zu weit gehend).
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150
n. Spezieller Teil.
Tendenzen, die beständig* auf etwas gerichtet sind, mögen sie
und ihre Ziele nun zu deutlichem, gesondertem Bewußtsein
kommen, oder mögen sich diese Tendenzen nur als dumpfer,
verworrener Drang* oder nur durch ihre Gefühlswirkungen be-
merkbar machen. Der wStrom des Bewußtseins" hat stets eine
bestimmte Richtung, die eine Resultante der Partialtendenzen
des seelisdien Lebens ist, selbst aber wieder die psjrchischen
Reaktionen beeinflußt. Diese Partialtendenzen stehen in be-
standiger Wechselwirkung^ miteinander. Teils hemmen sie,
teils unterstutzen und verstärken sie einander; sie wirken «n-
ander entg^^en, durchkreuzen sich, oder sie gehen Ver-
bindung-en ein, aus denen qualitativ neue Grebilde entspringen.
Wie denn überhaupt im Ablauf des seelischen Lebens keine
spatere Phase völlig* den früheren g-leicht, so daß man mit
Recht von einer «ysohöpferischen Synthese" und einem „Wachs*
tum geistiger Energie" (TFwuft) oder von „schöpferischer Ent-
wicklung" (J^ Ber^to») spricht, indem man dem Aoftreten
immer neuer Formen, Qualitäten und Werte durch die
^)aychische) Entwi<^ung des einzelnen wie der Gattung
Rechnung* trägt —
Eine besondere Rolle spielt der Zweckbegriff in der
ang'ewandten Psycholog'ie als einer JPsychotedinik".
Hier handelt es sich um die Verwntung* psychologischer Er-
kenntnisse im Dienste bestimmter praktischer Zwecke, welche
mit psychischen Mitteln verwirklicht werden sollen. Die
Psychotechnik als angewandte Wissenschaft hat zu zeig-en,
„wie g'e wisse Ziele, die dem Menschen wertvoll sind, dorch
die Beherrschung* des seelischen Mechanismus beherrscht
werden können" {MUnstarberg), Ob jene Ziele selber richtig,
wertvoll sind, kümmert die angewandte Psychologie nicht
Sie sagt nur, was man tun muß, wenn man ein bestimmtes
Ziel erreichen will, welches also als gegeben betrachtet wird.
Auf diese Weise lassen sich, gestützt auf psychologische
Experimente, wertvolle Fingerzeige für die verschiedensten
Tätigkeiten geben, für das Erlernen eines Stoffes wie für das
Lehren desselben, für die möglichst sichere und schnelle, dem
„energetischen Imperativ" gemäße, psychophysische Arbeit
Achtes Kapitel. Der Zweck Id der Psychologie.
151
ersparende Herstellang' yoD Gutenit für das zweckmäßigste
Veifahren auf wlrtschaftlichein Grebiete usw.") Diese „Psycho-
technik" ist dne Riditung der Zweckbetätigimg, die im
Dienste der Kultoridee, als der Idee aktiver Formung des
Gegebenen, stdit.
*) Vgl. Mümterberg, Psychologie nnd Wirtschaftsl^CQ, zpia; Stern,
Differentielle Psychologie, 1911.
üiyiiizca by GoOglc
Neuntes Kapitel.
Der Zweck in den Geistes- und Knltarwigsensdiaften«
Das Geistesleben im enteren, höheren Sinne ist zwar
ivie alles Psychische das „Innensein'* derjenigfen Wirklichkeit,
die vom Standpunkt äußerer Erfahrung* sich als körperlich
darstellt, also nicht eine zweite Welt im Sinne des meta-
physischen Dualismus, die getrennt von allem Physischen zu
bestehen und zu wirken vermag*. Aber es bedeutet dieses
Geistesleben doch auch so noch eine eigene, besondere Sphäre
des Seins und Wirkens, einerseits g'eg-enüber der äußeren
Natur, der Welt der Objekte sinnlich vermittelter Erfahrung*
und unmittelbarer Erkenntnis, wie sie als ein Inbegriff von
Koipem und phjnnschen Vorg-ang-en g^edacht wird, anderseits
im Unterschiede von allem naturhaft Psychischen selbst, vom
Sinnlichen, Triebhaften, rein Assoziativen, vom bloß reaktiv
und automatisch g*ewordenen, mechanisierten Psychischen.
Mit diesem sowie mit dem assoziativen, reaktiven Seelenleben
steht das Geistige in Wechselwirkung- : es wird von den sinn-
lichen, triebhaften Regfungen, von den Empfindung'en, Wahr-
nehmungfen, Erinnerung-svorstellung-en , von den sinnlichen
Gefühlen, von unterbewußten und relativ unbewußten Zuständen
und Vorg-äng-en kausal beeinflußt und es modifiziert selbst den
Ablauf und die Richtung des niederen seelischen (xeschehens.
Der Geist als Inbegriff aktiver Bewußtseinstätigkeiten, wie sie
in der produktiven Phantasie, im analytisch - synthetischen
Denken und im zielbewußten, vernünftig-en Wollen, in der
g-estaltenden, wissenschaftlichen, technischen, künstlerischen,
sittlichen Aktivität sich bekunden, steht so in einem gewissen
Geg-ensatz zur „Psyche", dem Seelenhaften im engeren Sinne,
demgegenüber er zwar keine eigene Substanz oder real ver-
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Neuntn K«pitd. Der Zweck in den Gcistei' nnd KdtmnriMeiudMfteii. 153
schiedene Potenz, aber eine beaondefe Tätig^keits-, Daseins-
und Entwicklnngsatufe bedeutet Wie alles Psychische im
weitesten Sinne hat der Geist seine physische Aufiensdte
oder Erscheinung-. Durch diese steht er direkt mit der
äußeren Natur in Wechselwirkung', während er zugfleich — vom
Standpunkt der inneren Erfahrung- und der ihr gemsSen.
Deutung- des Seins als Fürsichsein — mit dem Innensein
ebenderselben Natur in kausalem Verkehre steht Der Greist
wirkt auf dieses Innensein des Physischen und wird von
diesem beeinflußt
Teleologisch betrachtet ist der „Geist" ein Zusammenhang*
von aktiven Zwecksetzungen und von zielstrebigen Tätig-
keiten, deren Erzeugnisse und Resultate, in ihrer Unmittel-
barkeit genommen, ebenfalls etwas „Geistiges" sind. Der
Begriff der Kausalität aber verliert in den Geisteswissen-
schaften keineswegs seine Bedeutung; denn die geistigen
Akte und deren Produkte lassen genau so wie die Vorgängie
in der Natur eine Zurückführung auf bestimmte Ursachen 2tt»
sei es auf andere Geistestätigkeiten, sei es auf innere und
äußere Faktoren, aus deren Zusammenwuicen die Entstehung-
g-eistiger Gebilde und Errungenschaften zu erklären ist
Neben den rein psychischen Ursachen geistiger Taten und
Veränderungen sind auch die naturhaften und sozialen Be-
dingungen dieser aufzuzeigen; es ist in allen Fällen ein
methodologisches Postulat, soweit als möghch die Tatsachen
des Geisteslebens , des individuellen wie des kollektiven
(sozialen), in einen kausal geordneten Zusammenhang
zu bringen. Der Umstand, daß hier Zwecksetzungen,
Wertungfen und Norinierung"en teilweise eine große Rolle
spielen, tut nicht das geringste zur Sache, hebt die Allgemein-
gültigkeit der Kausalität keineswegs auf. Bevor wir daran
gehen, geistige Leistungen und Gebilde zu werten, kritisch
zu beurteilen, können und müssen wir auch ein Interesse
daran haben, das Geistesleben überhaupt und in seiner Spe-
ziahsierung so zu erkennen, wie es tatsächlich ist, es zu
analysieren, in seinem Werden, in seiner Entwicklung zu
verfolgen und nach den konstanten und variablen Faktoren
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154
n. Speddlcr Tdl.
dieses Werdens zu fragen. Es mögen sich auf geistigem Gre-
biete aucli nicht so viele und so exakt formnUerbare, strenge
Gesetze wie in der Natur entdecken lassen, weil hier die
Komplikation und Dorchkreuzung- des Geschehens, femer
irrationeile Faktoren wie die mehr hervortretende Individua-
lität, der „Zufall", die Rückwirkung der Wirkungfen und
Produkte des Geiste"^ auf ihn selbst, die „schöpferische Ent>
Wicklung" und das Wachstum geistiger Energie mehr Varia-
tion in das Geschehen bringen und dieses weniger der Voraus-
sicht zugänglich machen. Aber es fehlt doch auch hier nicht
die Möglichkeit, immer mehr und immer umfassendere Gesetz-
mäßigkeiten, Regelmäßigkeiten und Entwicklungstendenzen
durch methodische Verarbeitung des Erfahrungsmatenals nach
dem Leitfaden der Kausalität zu finden.
Daß ein großer Teil der geistigen ££Eekte das Ziel eines
mehr oder weniger bewußten Strebens und Wollens bildet,
wobei aber das Prinzip der Heterogonie der Zwecke wohl
zu beachten ist,*) ändert nichts an der ursächlichen Bedingt-
heit alles geistigen Schaffens und Handelns. Gewiß, „ver-
stehen'' können wir den Sinn und innersten Grund geistigen
Wirkens nur aus dessen Zielen und Motiven, aber erklären
müssen wir es zugleich durch den Nachweis der Zustände
und Vorgänge t3rpischer oder besonderer Art, auf welche
jenes Wirken mit psychologischer Notwendigkeit erfolgt.
Das theoretische, logische Bedürfnis, für alles Geschehen
einen zureichenden Realgrund zu suchen und zu finden, um
einen einheitlich geordneten Zusammenhang der Erfahrungs-
inhalte zu gewinnen, regt sich gebieterisch auch dann, wenn
es sich um g-eistig^e Vorgänge oder Akte handelt. Die teleo-
logische BetrachtunjTswcisc, die ja g"e\viß in den (xelsteswissen-
schaften eine noch größere Rolle als in den Naturwissen-
*) Es verbinden sich, nach Wiindt, die einzelnen Zwcckhandlungen
zu einer „Zweckreihe, in der die Erfolge fortan qualitativ und quantitativ
sn Umfang teflndunen, weil zwischen die dnzehien Glieder Immer
wieder eine inteUektuelle Verarbeitimg der erreichten Erfolge sich ein-
schiebt, die aus ihnen neue inhaltreichere Motive entspringen lifit".
(System der Philosophie I*, 1907, S. 336f.)
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Neuntes Kapitel. Der Zweck in den Geistes- und Kulturwissenschaften. X55
Schäften spielt; stellt dem geisteswissenschaffiliclieii Kausalis-
mufl nicht im Wege. Wir wissen ja bereits, daß äe, als ex-
plikative Teleologie, geradezu dazu dient, die Kansal-
forachung' zu fordern, und daß sie den Begriff einer teleo*
logischen Kausalität zeitigt, dem gemäß als kausale
Faktoren des Geschehens direkt oder indirekt zielstrebige Akte
einzusetzen dnd. Das Reich des Geistes ist ein Reich, in
welchem Stellungnahmen, WoUungeo, Zwecksetzungen die
Herrschaft haben; aber diese Akte haben auch alle ihre be-
dingenden und aualosenden „Ursachen" und stehen selbst
miteinander in einem kausalen Znsammenhang, auch da,
wo sie als Mittel zur Verwirklichung von Zwecken bettachtet
und aus diesen Zwecken heraus gedeutet werden. Die Frage
nach dem „Wozu**, nach dem nSinn** des geistigen Wirkens
und Seins, nach dem Gehalt und der Bedeutung, dem Wert
desselben bringt eine fundamentale, eigene Methode der
Untersuchung mit sich, aber sie macht die Forschung nach
dem kausalen Warum nicht überflüssig, so scharf sie auch
von dem Gesichtspunkt der Kausalität, audi der teleologischen,
unterschieden ist
Die Betrachtung des geistigen SchafEens und Handelns
unter dem Gesichtspunkt der Kausalität und kausalen Gesetz-
lichkeit ist keineswegs eine bloße Übertragung naturwissen-
schaftlioher Denk- und Forschimgsweise auf das Geistesleben,
sie bedeutet keinen, der Eigenart und Eigengesetzlichkdt
des letzteren nicht genügend Rechnung tragenden, „Naturalis-
mus**. Der Grundsatz der Kausalität ist nicht erst aus der
naturwissenschaftlidien Erfahrung oder Erkenntnis geschöpft,
sondern er ist selbst eine apriorische Bedingung dieser Er-
fahrung und ihrer Objekte, und ebenso bildet er eine logische
Voraussetzung der psychologischen und geisteswissenschaft-
lichen Erfahrung und Erkenntnis. Er ist ein Postulat, welches
das Denken an alles Material des Forschens heranbringt, und
edmhsic dieses immer wieder fügt. Aber nur der allgemeine
Satz, daß jedes Geschehen eine Ursache in bestimmten anderen
Vorgängen haben muß, ist apriorisch und allgemeingültig.
Die einzelnen, besonderen, konkreten Ursachen lassen sich
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156
IL Spendier Teil.
nur durch denkende, mediodisolie Verarbeitung' des Erfahmng«-
matetialB erkennen, bestimmen. Die BesdiaSenheit dieser
Ursachen und der Gesetzlichkeit ihrer Verknüpfung mit den
Wirkungen richtet sich ganz nach der Besen derung* dieses
Materials. Die geisteswissenschaftliche Erfahrung' unteF-
scheidet sich nun von der naturwissenschaftlichen in wichtigen
Punkten, und dies ist auch ohne eine dualistische Wel^
anschauung sehr begreiflich. Denn sie ergibt sich aus einem
gfanz anderen Stand- und Zielpunkt der Betrachtung des Ge-
g'ebenen, welches in seiner qualitativen Unmittelbarkeit und
als Glied von Bewußtseinszusammenhängen, bzw. als Erzeug^nis
des Bewußtseins, aufg'efaßt und verarbeitet wird. So kommt es,
daß sich hier von den quantitativen, mechanisch oder energetiscdi
kausalen Relationen, auf welche die Naturwissenschaft ge-
nötigt ist, das Gegebene zurückzuführen, nichts findet, also
auch nichts von eoei^etischer Äquivalenz und Konstanz u. dgl.,
welches alles eben nur für die physische Außenseite, für die
Objektivation des Geistigen gilf**)
Dazu kommt nun aber noch der wichtige Umstand, daß
das geistige Wirken im engeren Sinne, das theoretisch^
praktische und künstlerische Schaffen, eine Aktivität, Frei-
heit, Planmäßigkeit aufweist, die wir in der äußeren, unter-
menschlichen Natur nicht finden, die eine besondere seelische
Organisation voraussetzt und nicht in der anorganisch-
mechanischen, sondern nur in der organischen Kausalität
(als einer höheren Form der Naturkausalität) ihr physisches
Korrelat besitzt. Berücksichtigen wir die Kig-engesetzlich-
keit dieser organischen Kausalität, insbesondere in ihrer
spezitisch menschlichen Form und vollends g-ar :ii deren
individueller, personaler Ausprägung, dann sehen wir em, wie
die Aktivität und Freiheit, die Autonomie des Geistes sowie
die schöpferische Wirksamkeit desselben keinen Widerspruch
zur theoretischen Unterordnung- des geistigen Geschehens
und seiner Außenseite unter das formale Prinzip der all-
gemeinen Kausalität büden. Es braucht im Geistesieben
*) So besonders Wtmdt.
NeuDMi Kiqpitd. Der Zveek In den Geiitet- nad KultorwiMenidwfteii. 157
keineswegs bloß die äußere Notwendigkeit des mechanischen
„Zwanges**, des blinden Müssens ta. walten, es bleibt Raum
für ein Wollen und Tun auf Grund ideengemäßer, selbst-
eigener, autonomer Wertung, Zielsetzung, vernünftiger Er^
wäg^g, Voraussicht Die geschlossene Einheit des rdifen,
entfalteten, aktiven Selbstbewußtseins kann änßeren und
innren Reizen und Motiven sich wirksam entgegensetzen,
durchsetzen, ohne daß dies an der Bedingtheit alles geistigen
Geschehens durch Faktoren, die als (auslösende) Ursachen zu
bestimmen sind, etwas ändert Aktives und passives Ver-
halten, Freiheit und Zwang sind Gregensätze, die zusammen
unter den ihnen allen übergeordneten oder gemeinsamen
Begriff der Kausalität überhaupt fallen.
Wenn man nun dem Sein das Sollen entgegenstellt,
welches eine andere Gesetzlichkeit einschließt, die eine nicht
«
kausale, sondern normativ - teleologische Notwendig-
keit bedeutet, so ist man ja damit vollkommen im Rechte,
aber die konstituierende, grundlegfende Bedeutung- der Kau-
salität für die geisteswissenschaftliche Erfahrung bleibt trotz-
dem gewahrt Denn das Bewußtsein des Sollens ist wie die
SoUensforderung selbst ein geistiger Vorgang, der seine kau-
salen Bedingungen und, als psychische Ursache, seine
Wirkungen hat, indem das Normbewußtsein unter günstigen
äußeren und inneren Verhältnissen als Motiv zu Willens-
handlungen antreibt, durch die das Sein modifiziert werden
kann.*) In ebensolcher Weise erhalten Ideen und Ideale
Einfluß auf die Richtung des individuellen und sozialen Lebens;
der Wille, dessen Ziele sie bilden, wird zur Ursache von
ideengemäßen Veränderungen in der Außen- oder Innenwelt
in der Geschichte, Gesellschaft usw. Es gehört eben zum
Wesen des Geistigen, auf ein Ideelles und Ideales gerichtet
zu sein, und es hat infoige seiner, auch physisch zum Aus-
druck kommenden Organisation die Macht, Ideen, Ideales zu
realisieren. Gewolltes, Bezwecktes, Gewertetes, Gefordertes,
*)Vg|L Wwiddbmii, PrSludien« 1911; M. Adkr, Manüitiiehe
Probleme, 19x3.
158
n. SperieUer Tdl.
kurz alle Arten eines noch nicht real, aktuell Existierenden,
aber in der Idee, im Bewußtsein Antizipierbaren ins reale
Dasein zu setzen, zu verwirklichen oder, genauer, das Seiende
nach idealen Musterbildern möglichst konform su
gf estalten.*) Was erst sein wird oder auch was nie war
mid ist, aber zeitlos g^ilt und Wert hat, kann so, als Inhalt
des individuellen oder des Gesamtgfeistes, das Sein oder die
Richtung" des Werdens bestimmen. Es selbst, das Ideale
als solches, untersteht freilich nicht der Kausalität, die ja
immer nur für physische oder psychische Vorgänge gilt ; es ist
nicht „bewirkt" und es bewirkt nichts direkt, es ist ein „In-
tellijribles", gehört dem „dritten Reich" {Simmel). einer eipfenea
Sphäre reiner Gcistesinhalte an, an welchen wir das
Sein und Wirken messen, das uns also als Norm zur Be-
wertung des Seienden und als Richtpunkt für das Handeln
und Gestalten, für die gesamte Kulturtätigkeit dient Aber
diese idealen Inhalte bestehen nicht etwa außerhalb des
Geistes überhaupt, sie haben keine von diesem getrennte
„Existenz"; sie sind dem Geiste immanent, der ja selbst
schon und nur dadurch „Geist" ist, daß er sie zum Inhalt
und Gegenstand hat. Der Geist stellt em lebendiges System
von Zielverwirklichungen dar, gleichsam einen Fokus, der das
Licht der Ideen auffängt, sammelt und dann reflektiert, indem
er seine eigene, spezifische Kausalität in den Dienst des
Idealen, des Rechten, Guten, Seinsollenden stellt So ver-
schieden die normative Blickeinstellung von der explikativen
ist, so gibt es doch Brücken zwischen den beiden, vor allem
dadurch, daß die Bewertung des Seienden und die normierende
Regelung desselben selbst zu einem bedeutsamen kausalen
Faktor des Geschehens und der Entwicklung wird. Der
Geist, dessen ideale Ziele als Normen fungieren, wird
zum Verwirklicher dieser Normen, zum Transformator
des Idealen in Reales.
Die Formung eines Naturhaften, Gegebenen, eines Phy-
sischen oder eines Psychischen, im Sinne menschlicher Be-
*) Vgl. V. d. Ffordien, Konfonnismoi, 19x1*
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Neontes Kaphd. Der 2w«ck in den Gtjrtcs» ttod Kaltanriweeiidiaften. 159
dorfoisse, Tendenzen, Ziele, Ideen oder Ideale ist das, was
unter der Kultur im aktiven Sinne sa Teistehen ist, wahrend
Kultar im Direktiven Sinne den Inbegfnff der Produkte und
Resultate dieser Kultnrtatigktit und den Zusammenhang der
Kultuzprodukte oder Kulturwerte bedeutet Kultivierung* ist
Formung', Veredelung-, Vervollkommnung^ der äußeren oder
inneren Natur, der Dingfe und deren Wirkungen und Eigen-
schaften wie auch (dadurch oder direkt) des menschlichen
Seins und der menschlichen Potenzen, Kräfte, Anlagen,
Leistungen selbst. Je nach den Kuiturobjekten gibt es eine
Sach- und eine Personalkultur, eine naturale und Menschheits-
kultur, äußere Kultur (oder Zivilisation), Real- und Idealkultur,
technische, ökonomische, ethische, ästhetische, relij^iöse, soziale
Kultur u. dgL Femer ist von der Halb- die Vollkultur, von
der Partialkultur die Gesamtkultur zu unterscheiden. Die An-
lagen zur Kultur sind nicht bei allen Menschen g-Ieich, wenn
auch das Naturmüieu eine gewisse Rolle spielt. Während die
„Naturvölker" über gewisse Kulturansätze nicht hinauskommen,
weil ihr Geistesleben wenig differenziert ist, das Triebhafte,
Passive, Reaktive, Impulsive, Assoziative überwiegt, die Zukunft
in geringem Maße antizipiert wird, das Streben immer nur
auf nächste Ziele sich richtet und die planmäßige Fürsorge
rudimentär bleibt, findet sich bei den Kulturvölkern ein
viel aktiveres Verhalten. Der Wille tritt hier dem bloß Trieb-
haften entgegen; er wkrkt hemmend, regfuUerend, dirigierend;
er setzt aktiv das Denken in Bewegung, welches immer mehr
das Handeln durchdringt; er tritt insbesondere als schaffender
Arbeits- und Gestaltungswille auf, der seiner immer be-
wußter und immer stärker wird, und der immer mehr Gebiete
des Seins sich zu unterwerfen sucht.*) Immer mehr werden
Wirkung-en der kulturellen Tätig^keit, die anfangs nicht vor-
hergesehen und vorgewollt werden konnten, selbst zu Kultur-
zwecken. Zugleich erstarken das Kulturbewußtsein und der aktive
Kulturwille immer mehr; dieser verlangt immer energischer
*) Vgl Ä. Vierkandt, Naturvölker and KoltanrOlker, 1896; JISBm^
Lyer, Phasen der Kultur, 19x11
Digitizec v^oogle
160
TL Spciidler TeU.
nach Verwirklichung- der Ktütiirziele. In dem Maße, als die
Kultur, die Durchdring-unsf der Natur durch den Geist, die
Vemanft, die aktive Anpassungf der Natur an die Ziele
des Menschengfeistes, fortschreitet, werden immer neae
Bedingfung-en g'eschaffen, welche die kulturelle Entwickluogf
beschleunigen und oft JErfolgB ermöglichen, die noch kurz
vorher g-anz undenkbar sein mußten. Zugleich werden die
Unzuträglichkeitent die als Folgen und Nebenwirkungen
partieller Kultur und in Übergangszeiten leicht auftreten,
immer mehr selbst zu Motiven der Kulturtätigkeit. Es
macht sich nun die kompensatorische, kulturelle Selbst-
regulation geltend; der kulturelle Einheitswille fordert
gebieterisch die Beseitigung kultureller Widersprüche und
Einseitigkeiten, die Einheit und harmonische Totalitat der
Kultur nach allen ihren Richtungen („Kulturkonvergenz":
Ostwald), Es ist überhaupt eine höchst bedeutsame Er-
scheinung, daß die Kultur aus einer Reihe von Bedürf-
nissen und Zielstrebigkeiten erwächst, um dann selbst immer
neue Bedürfnisse und Zwecksetzungen , aber auch die
Mittel zur Befriedigung der ersteren, zur Erreichung der
letzteren zu zeitigen. Die Kultur schläg-t mitunter mehr
oder weniger schwere Wunden , aber schließlich ist sie
es nur, die diese Wunden zu heilen vermag; dazu bedarf
es immer besserer, immer umfassenderer Kultur, einer
unaufhörlichen kulturellen Reg-ulation und Kompensation.
Vor allem bedarf es aber einer wahren Menschenkultur,
der harmonischen Ausbildung aller produktiven, wertvollen
und wertschaffenden Anlagen und Kräfte des Menschen,
der Steigerung des intellektuellen , emotionellen und voli-
tionellen Lebens der Menschen , ihrer Individualität und
Persönlichkeit wie ihrer Sozialität, ihres Gemeinschaftslebens
als der beiden Grundfaktoren aller höheren , vollen Kultur
und zug-leich schon als Resultate der Kultur überhaupt.
Der äußeren Kultur oder Zivilisation muß eine Verinner-
lichung des Lebens stets das Gleichgewicht halten , soll
das reine Kulturideal, größtmögliche Harmonie innerhalb
reichster Mannigfaltigkeit des äußeren un4 inneren DaseinSf
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N«nitei KiptteL Der Zweck in de» Gditei* nnd KnltiinriiMBMliilleB. 151
die mensdiUcbe Entwicklung' leiten, soll diese sich aufwärts
bewegren.
Es gibt also eine kulturelle Finalität, einen historisch
sich entfaltenden Zusammenhang- von Zielstrebig-keiten, von
Tendenzen, welche Kultur teils unmittelbar zum Zielpunkt, teils
zum ungewollten Resultat haben, auf dessen Grundlag-e dann
neue Kulturtendenzen erwachsen, gemäß einem Prinzip der
Heterogfonie der Kulturzwecke. Die Summe der als objektive
Kultur zu bezeichnenden Kulturgüter ist das Erzeugnis einer
wesentlich tcleolog-ischen Kausalität, der Wechselbeziehungen
zwischen zielstrebigen Aktionen und Reaktionen der Individuen
und der Gesamtheiten, zu denen sie sich vereinigen. Der
aus der Wechselwirkung- der Individualgeister erwachsende,
aber ihnen gegenüber etwas Neues, Einheitliches, Selb-
ständiges, Übergeordnetes, Autonomes darstellende Gesamt-
geist, dessen Ziele in den großen Persönlichkeiten, den
„führenden Geistern" zu besonderer Bewußtheit gelangen
und durch sie angebahnt und bereichert werden, erzeugt die
Kultur.
Die Kulturwissenschaften haben wie alle anderen
Disziplinen nach den Ursachen und Bedingungen kultureller
Produktionen zu forschen, die kulturelle Kausalität in allen
ihren Verzweigungen aufzuspüren, die Kulturvorgänge in einen
einheitlichen kausalen Zusammenhang zu bringen und mög-
lichst auch die auf kulturellem Gebiete waltenden Gesetze,
Rhythmen, Tendenzen, also das relativ Konstante neben dem
Variablen und Individuellen in der Kultur aufzufinden, wenigstens
sofern es sich nicht um rein historische Disziplinen handelt.
Die explikativ -teleologische Betrachtungsweise dient dazu,
erstens, die kausalen Faktoren der Kulturbewegung vollständiger
und genauer zu ermitteln, zweitens auch, das kulturelle Sein
und Geschehen aus dessen Zielen und Zwecken einheitlich
verständlich zu machen, sinnvoll zu deuten. Es muß also
untersucht werden, welches die allgemeinen und besonderen
Ursachen wissenschaftlicher, technischer, ästhetischer, religiöser,
wirtschaftlicher, sozialer u. a. Leistungen und Gebilde sind,
unter welchen Umständen sie zustande kommen, welche
Kitler, Der Zweck. 11
162
n. Spcliellcr TdL
'V^klincren sie haben, wie sie einander gegeoaeitig beein-
flussen. Es muß aber ebenso g'efragt werden, wozu Kultxu:-
gfebilde dienen, welchen Sinn, welchen Zweck sie besitzen
oder einst grehabt haben, oder zu welchen Zwecken sie noch
verwendet werden können, welche teleologischen Möglichkeiten
in ihnen stecken, auf welche Ziele die kulturelle Entwicklung
gerichtet ist, welche Tendenz sie hat Kultarerklärang* im
kausalen Sinne und Kulturdeutungf erg-änzen einander
wechselseitig; die letztere führt zur Erkenntnis derzielstrebigfen
Tätigkeiten, ans welchen kulturelle Schöpfungen direkt oder
indirekt entspring-en, und die Einsicht in die Ursachen der Ent-
stehung* und Entwicklung von Kulturgebilden fördert die Erkennt-
nis der wahren, ursprünglichen und sekundären Zwecke der-
selben, trägt also zur richtigen Deutung der Kulturgebilde bei.
Von* den Kulturzwecken ausgehend, gelangt man einer-
seits zur Erforschung- der Ursachen kultureller Taten, ander-
seits zu den Kultur ii o rm en. Und da ist nun wieder zu be-
tonen, daß die Wertung, Kritik, Normierunjj^ teils in impulsiver,
teils in reflexiv bewußter Form selbst zu den kausalen Fak-
toren der Kulturentwicklung gehört. Seitens der Individuen,
der sozialen Gesamtheit und der en;:T-eren Gruppen innerhalb
dieser wird immer wieder das Verhalten der Menschen und
die Güte ihrer Leistungen sowie der Wert der durch die Ge-
samtheit der Generationen geschaffenen Kulturgebilde be-
urteilt. Es bilden sich auf den verschiedensten Lebensgebieten
Normen heraus, die zum Teil ausdrücklich formuliert werden,
und denen das menschliche Verhalten, Wollen und Handeln
sich unterordnen soll. Ohne Beziehung der Kulturentwicklunt^-
auf die sie historisch bestimmenden Zwecke, Werte und Normen
bleibt sie absolut unverständlich. In diesem Sinne kann man
sagen, das Sollen bestimmt nicht nur das Sein, sondern auch
die Erkenntnis des kulturellen Seins und Werdens. Die Er-
forschung der Ideen und Ideale der Menschheit hat nicht nur
für die Praxis Wert, sondern ist auch von hoher Bedeutung
für die Theorie der Kultur, für die Erforschung der Richtung
des Kulturwiliens in allen seinen Verzweigungen und Sonder-
gebieten.
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Neuntes Ki^d. Der Zwedc ia den Gditet- und
163
Wenn die normative Kulturwissenschaft oder die normatlTe
Kultorphilosophie nun selbst daran geht, Geschehnisse, Maß-
nahmen, Leistung-en, Erzeugnisse auf deren kulturellen Wert
zu. prüfen und Fingerzeigfe für eine aktive Werterhöhung*
von Kulturgebilden zu geben, so stützt sie sich, will sie mdg>-
hchst objektiv sein, auf die Einsicht in die festen, allgemeinen
Ziele des Kulturschafifens aller Art, auf die Erkenntnis der
dieses leitenden Werte, Ideen und Ideale, an denen sie die
Zweckmäßigkeit und Normgemäßheit des Seienden mißt Es
bleibt hierbei nicht an^ daß die Wissenschaft oder Philosophie
auf Grund ihrer umfassenden Analysen und Synthesen, ihrer
besseren und tieferen Erkenntnis der Kulturziele und der ihnen
dienenden Mittel zu Normen gelangt, die mit der 2^t selbst
das kulturelle Leben beeinflussen. Es gehören dann eben die
Schöpfer dieser Normen mit zu den führenden Geistern,
welche immer wieder die Richtung der Kulturbewegung'
modifizieren, indem sie der Gesamtheit ihr Wissen um das
Richtige oder Bessere mitteilen und ihr den Impuls zur
Verwirklichung desselben geben. Als oberster Maßstab der
Beurteilung aber muß in jedem Fall die reine Kulturidee
dienen, die Idee einheitlicher, harmonischer, totaler Kultur
als idealer Zielpunkt einer höchsten kulturellen Synthese.
Denn man kann nicht, wenigstens nicht als Philosoph, bei
der Beurteilung der im Verlaufe der Kulturentwicklung ent-
standenen Gebilde und Verhältnisse aus deren bloßen Partial-
zwecken oder historisch gewordenen Zielen stehen bleiben,
sondern muß schließlich auch fragen, wie sich die Kultur-
objekte zur Idee und den Zielen der Voll- und Gesamtkultur
verhalten, was sie zur Vervollkommnung, Bereicherung, Er-
weiterung-, Erstarkung, Verinnerlichung, zur Differenzierung
und Harmonisierung des menschlichen Seins"') beitragen, ob
*) „Wir fassen alle den Menschen auszeichnende Leistung in den
Begriff der Kultur «uftmmen; was aber ist Kultur, wenn sie den
Menschen nicht eine sdbst&ndlge SteUnng gegenftber der Natur ge-
währt, wenn sie nicht eigene Ziele aafstellt, die doch nur aas einem
neuen l ("hcn kommen können? Schließlich ist die Haupttriebkraft der
Kultur das Verlangen der Menschheit nach einer neuen Art des Seins
11*
Digitizec v^oogle
164
n. Spedeller Tdl.
sie nicht etwa, statt positive Kulturwerte zu sein, vielmehr
nur Auswüchse oder Veriming'en des Kulturstrebens bedeuten,
der Reinheit des Kulturwillens, des Kulturideals widersprechen
oder g9t die Vonussetnmgen aller wahren Kultur aufheben.
gegenüber der bloßen Natur; die Kultur wird notwendig flach und leer,
wenn sie das Streben des Menschen nur nach außen, nicht durch alles
Äußere hindurch gegen sich selbst kehrt und zu einer Erhöhung des
eigenen Wesens wendet; wahr und krflftig ist die Knltttnurbeit nor,
wenn in ihr der Mensch sein eigenes, wahres und abschlieflendes Selbst
sucht" {Euchen, Grundlinien einer neuen Lebensanschauung, 1907, S. 106).
Die Anerkennung einer selbständigen, uns innerlich gegenwärtigen
Geisteswelt konstituiert erst die echte Geisteskultur, die über die bloße,
naturhafte Menschenkidtor hinansragt (a. a. O. S. 255 f.). — Vgl zu dem
ganzen Kapitel die Arbeiten von DSäiey, Biete, O. Braun, L. Zieglar,
Linde, Simmel, Kneck, DtUemm», L. Stein, Ostwald, Jodl, Goldscheid,
Koigen, Birkert, H. Leser u. a.; auch die Zeitschriften jfLogos* und
„Annalen der Natur- und KultuiphUosophie".
Zehntes Kapitel.
Der Zweck in den Sorialwissenscliaften.
Wo immer wir ein Geschehen oder irgendwelche Ver-
ändenmgfen vorfinden, da sind wir gemäß der Gesetzlichkeit
des erkennenden Bewußtseins genötigt, nach den Ursachen
dieses Geschehens, dieser Veränderungen zu fragen. Das gilt
natürlich auch betreffs des sozialen Geschehens, der Ver*
änderungen gesellschaftlicher Art. Der Umstand, daß zu diesem
Geschehen menschliche Tätigkeiten und Handlungen ge-
hören, also zielstrebige Akte, ändert daran nichts. So aktiv
und irei gewollt oder ideengemäß eine Handlung axush sein
mag) so müssen wir sie doch als Glied eines Kausalzusammen-
hanges bestimmen können, und zwar nicht bloß als Ursache
bestimmter Wirkungen, sondern auch als bedingt durch kau«
sale Faktoren, durch die sie hervorgerufen oder ausgelöst wird.
Das soziale Leben setzt sich ans Aktionen und Reaktionen,
aus Trieb- und WiUenshandlungen zusammen, die miteinand^
in Wechselwirkung stehen und als die nächsten unmittelbaren
Ursachen der Entstehung und Entwicklung sozialer Gruppie-
rungen, Gebilde und Verhältnisse aufzufassen sind, die einander
ebenfalls wechselseitig beeinflussen. Eine beständige Wechsel-
wirkung besteht femer zwischen den Individuen und der Ge-
samtheit, indem erstere von Anfang bis zum Ende aus der
letzteren Impulse, Anregungen, Regelungen für ihr Denken,
Fühlen, Wollen, für ihr Werten und ihre Zwecksetzungen er-
halten, während sie selbst, besonders die ausg-esprocheneren,
kräftigeren Individualitäten und Persönlichkeiten, den sozialen
Gesamtgeist modifizieren, bereichern. Es ist für das soziale
wie für das geistig-e and auch schon für das organische Leben
charakteristisch, daß immer wieder die Wirkungen der kau-
166
n. Spexieller Tdl.
aalen Faktoren des Gesch^eiis auf diese selbst zurückwirken,
daß insbeeondere die Menschen durch ihre im sozialen Zu-
sammenleben und Zusammenwirken erzeugten Gebilde und
Verhaltnisse, deren Inbegriff den „objektiTen Geist" (Meff^
Jodl u. a.) darstellt, verändert, geformt werden.
In den Gebilden des objektiven Geistes, in den socialen
Produkten, Verhältnissen und Institutionen, sind innere und
äußere Willenshandlung'en der in Gemeinschaft lebenden
Mensdien verkörpert und verdichtet Sie sind der Nieder-
schlag des Denkens» Fuhlens und Strebens der Individuen und
der Verbindungen dieser und lösen selbst wieder Willens-
tendensen und Handlungen aus oder beeinflussen die Richtung
derselben. In diesen Wirkungen der Gebilde und Formen des
Gremeinschaftslebens (Recht, Sitte, Sittlichkeit, Religion usw.)
auf die Menschen und aufeinander, sowie in der Funktion des
Zusammenwirkens der Menschen bei der Erzeugung der
sozialen Gebilde und bei der Gestaltung* der sozialen Ver-
bältnisse besteht wesentlich das, was man als die soziale
Kausalität bezeichnen kann.*) Eine besondere Sphäre
der Gesetzlichkeit eröffnet sich hier, die wohl nicht die
Strenge der Naturgesetzlichkeit erreicht, aber doch eine ge-
wisse Konstanz und einen typischen Charakter spezifischer
Relationen und Vorgäng-e bedeutet. An dieser Konstanz sind
insbesondere psycholog-ische, aber auch biologische und andere
Gesetze beteiligt, ohne daß sich aber die Gesetzmäßigkeit des
sozialen Lebens restlos auf diese Grundlagen zurückführen
läßt, um so wenig-er, als die psychologischen und biologischen
Gesetzmäßigkeiten und Tendenzen selbst unter dem Einfluß
des sozialen Lebens teilweise Modifikationen erleiden, in-
dem sie zu sozialpsychologischen und soziaibiologischen Ge-
setzmäßigkeiten werden.
Soziale Kausalität und Notwendigkeit sind, weit entfernt,
in absolutem Gegensatz zur Aktivität und psychologisch-sitt-
lichen Freiheit des Willens zu stehen, durchaus mit ihr ver-
einbar, ja sie resultieren zum Teil geradezu aus der Wechsel-
*) Vgl. £Mer, Soziologie, 1903; M. Aäieff Marxistische Probleme, 1913.
Zehntes K^teL Der Zweck in den Soäalwiaentdiaften.
167
Wirkung* von Wollungfen, die in der zentralen Einheit des
Ich der handelnden Menschen wurzeln und frei von allem
mechanischen Zwange sind. Auch ist das Individuum keines-
Wega ein rein passives Atom (Gumploiincz), ein bloßer Kreuzungfs-
pankt sozialer Kräfte. Mag- der einzelne auch vielfach den
Einflüssen der Gemeinschaft ausgesetzt und vom Inhalt des
Gesamtgeistes durchdrungen sein, ao ist doch an allem, was
er tut und unterläßt, in erster Linie und unmittelbar sein
eigenes Streben, Begehren und Wollen beteiligt, und es bleibt
genug Raum für aktive, ja schöpferische Zwecksetzungen und
Maßnahmen der Individuen übrig. Die soziale Statistik zeigt
wohl eine gewisse Regelmäßigkeit menschlichen Verhaltens
unter bestimmten gesellschaftlichen Bedingungen, aber mit
mechanischem Zwange hat dies nichts zu tun, nur mit einer
relativ konstanten Motivation des Willens der Glieder der
Gesellschaft, im Sinne eines pS3''chologisch-sozialen Determinis-
mus, der die Wahl und die Wahlfreiheit und die Autonomie des
vernünftigen Willens keineswegs ausschließt. Die soziale Kau-
salität geht eben nicht über die Köpfe der Menschen hinweg,
sondern vollzieht sich immer und überall durch das Medium
des Willens, des reaktiven und aktiven, spontanen, überlegten,
ideengeleiteten, zielstrebigen und teilweise auch zweckmäßigen
Handelns der Individuen. Triebwille und Vernunftwille sind
die unmittelbaren Faktoren, die Triebkräfte sozialer Wirkungen
und Gegenwirkungen. Gewiß, alles soziale Geschehen erfolgt
für unsere kausale Erkenntnis notwendig und gesetzlich; wir
könnten auf Grund der Einsicht in alle Bedingungen desselben
lurteilen, es habe dies und jenes so und nicht anders kommen
müssen, und es werde unter bestimmten Umständen notwendig
sein und nicht anders sich abspielen. Aber diese soziale Not-
wendigkeit und Gesetzmäßigkeit setzt das trieb- und willens-
gemäße Reagieren von Zwecke verfolgenden, Ideen reali-
sierenden, einem Sollen gehorchenden, ein noch nicht Seiendes
ins Sein überführenden Menschen schon voraus. Sie hat die
menschliche Aktivität und Freiheit zur Grundlage, sie ist durch
diese gesetzt, bedingt und entstammt also nicht einem blinden
Schicksal, dem die Menschen nicht entgehen können, mögen
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168
n. Speüäht TeD.
sie wollen und handeln oder untätig zuaehen. Gresetze sind
wie Notwendigkeiten nicht vor und hinter den Dingfen, sondern
nach und in ihnen, d. h. sie sind ein Ausdruck für die Resul-
tate der Wechselwirkung derselben, um dann freilich auch
einen Rahmen zu bilden, innerhalb dessen weitere Wirkungen
erfolgen. Die sozialen Notwendigkeiten und Gesetze gehen
dem Wollen und Handeln der vergesellschafteten Menschen
nicht voran, sondern bauen sich erst auf dem Kausalzusammen-
hang reaktiver und aktiver Willensvorgänge auf, um dann die
Richtung solcher mehr oder weniger zu beeinflussen. — Die
Erkenntnis gewisser sozialer Notwendigkeiten oder Tendenzen
kann selbst, durch die an diese mch knüpfenden Gefühle,
Wertungen und Entschlüsse, zu einem Faktor der sozialen
Entwicklung* werden, sie kann diese Tendenzen fördern, be-
schleunigen. So kann auch das Bewußtsein des sozialen
Sollens das soziale Sein und Werden mehr oder weniger
beeinflussen; es muß dann auch als ein die soziale Kausalität
und Notwendigkeit bestimmender Faktor mit in Anschlag ge-
bracht werden, wenn man die Richtung der sozialen Ent-
wicklung- erfassen will. Es kann und muß also ein bestimmter
sozialer Zustand erreicht werden, weil und wofern ein Wissen
um das, was sein soll, sowie ein tatkräftig^er, orgj-anisierter
Wille zum Seinsollenden auf Grund bestimmter, historisch g-e-
wordener Verhältnisse und der allgfemeinen Beschaffenheit der
menschlichen Natur lebendig werden und das soziale Werden
beeinflussen.*)
Als Inhalt des individuellen wie des kollektiven Willens
werden Ideen verschiedener Art, wirtschaftliche, technische,
pohtische, religiöse, sittliche Ideen, zu Faktoren des sozialen
Werdens, die einander wechselseitig* beeinflassen, so aber, daß
jede Idee in einer eigenen Richtung des Willens und Bewußt-
seins wurzelt und ihre eigene Entwicklungstendenz besitzt Es
ist nicht so, daß etwa, wie die extrem ökonomische Gesell-
schafts- und Geschichtsauf fassun g (der streng e M a r x i s m us) lehrt,
die Produktionsweise die soziale und „ideologische*' Entwicklung
*) Vgl. JS. Q<M8cheid, Entwickloogswerttheorie, is^oB.
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Zehntel Kepitd. Der Zweck ia den Sorial-wiMffmfihaften.
169
piimär oder gar ausschlieBlich bestimmt, mag aie aacfa immer
wieder aul die besondere Richtoogf des sozialen Werdens von
größerem oder geringerem Einflufi sein. Sondern der halt-
bare Kern im soziologiscben ökonomismns liegt darin, daß
wirtschaftliche Prozesse, die zum Teil selbst von )4deologi8dien**
Faktoren, wie Sitte und Sittlichkeit oder Religion, Welt-
anschauung abhangig sind, bestimmte Verhältnisse schaffen,
die sich zum Teil wieder im Bewußtsein der Mens<^en spiegeln
und als Motive das Wollen und Handeln der Individuen und
Gesamtheiten, der Gesellsdiait und des Staates mit bestimmen,
manchmal freilich in ganz besonderem Maße, niemals aber
allein, ausschließlich ohne Mitwirkung anderer Motive, Bedürf-
nisse, Tendenzen. Der einseitige soziologische Ökonomismus be-
geht denselben Fehler wie der doktrinär werdende Manchester-
Hberalismus: beide machen aus der an sich frachtbaren, einen
heuristischen Wert besitzenden Fiktion des »homo oecono-
micus^, des rein durch wirtschaftliche EinflQsse und Motive
geleiteten Menschen, der ja in der konkreten Wirklichkeit
nicht vorkommt, eine selbständig-e Realität, nur daß die
Manchestertbeorie individualistisch und psychologisch, der
Marxismus aber kollektivistisch und objektivistisch denkt
und erklärt. Die Bedeutung des rein wirtschaftlichen Mo-
ments wird von beiden Richtungen überschätzt, die Sonder-
kraft und Eig-engfesetzlichkeit der übrigen Gesellschaftsfaktoren
untersdiatzt Die Besonneneren unter den Marxisten fühlen
dies auch, und so versuchen sie es mit mehr oder weniger
Glück, die Lehre ihres Meisters, die ja eine gewisse Umbiegung
verträgt, weniger schroff und einseitig* zu gestalten, indem
sie etwa das Ökonomische als bloße „Bedingung'*, nicht Ur-
sache des sozial-historischen Geschehens bestimmen und eine
Higenrichtung der ideologischen Faktoren anerkennen (so be-
sonders Max Adler), Die Auffassung, als ob das Ideologische
ein bloßer «Reflex" der Produktionsverhältnisse wäre, lehnen
diese Neo* oder Jung-Marxisten entschieden ab, und auch
sonst kommen sie der idealistischen oder real-idealistischen
(voluntaristischen) Geselischafts- und Geschicbtstheorie ent-
gegen, um so mehr, als sie zum Teil auch die immanente
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170
II. Speddler TeiL
Teleolo^ie des Sozialen zugfeben. Daß alles soziale Ge-
schehen aus den StrebuDgpen, Zwecksetzung-en und Handlungen
der Menschen resultiert, dafi es das Medium des vorstellenden,
fühlenden, begehrenden, normierenden Bewußts^s passiert,
dafi also die Einstellung des Willens auf Ziele wesentlich mit
zur sozialen Kausalität und Gesetzlichkeit gehört, das ist nach
ihnen durchaus mit der Notwendigkeit der sozialen £ntwicklimg'
vereinbar.*)
Wenn nun seitens des Neo-Marxismus die Vereinbarkeit
von Kausalität und Finalität im Sozialen anerkannt, der Be-
griff einer teleologischen Kausalität akzeptiert und mit
vollstem Recht betont wird, daß die Kategorie der Kausalität
ebenso auf wirkliche und schon erfolgte als auf mögliche»
künftige Vorgänge angewandt werden kann und muß, sofern
diese Vorgänge denkend oder wollend antizipiert werden, so ist
dagegen nicht das geringste einzuwenden. In der Tat weist
die teleologische Betrachtung aller Arten von Handlungen,
weit entfernt, die Kausalität auszuschließen, geradezu auf einen
Kausalnexus hin, innerhalb dessen das auf ein zu erreichendes
Ziel, einen zu verwirklichenden Inhalt gerichtete Streben oder
Wollen von Menschen als eine Ursache wirksam ist oder das
Innensein der als Ursache eines Effekts jreltenden psvcho-
physischen Aktivität bildet. Aber wir meinen damit nicht
etwa, daß das Primäre, eigentlich Reale die physische Kau-
salität ist, die im Zielbewußtsein ihre Spiegelung oder ihre
bloße Begleiterscheinung, ihr „Epiphänomen" hat, sondern die
Sache steht so, daß umgekehrt die Zielstrebigkeit das un-
mittelbare Eigensein dessen bildet, was vom Standpunkt
äußerer Erfahrung als physische Kausalität sich darstellt. Und
ebenso setzen wir nicht eine äußere soziale Kausalität und
Notwendigkeit als das Primäre und Absolute an, das im
Menschen als teleologische Kausalität bewußt wird, sondern
wir betrachten die Wechselbeziehungen der Willens-
tendenzen und Zielstrebigkeiten der Menschen als das
*) Vgl. M. Adler, Marxistische Probleme, 1913, der sich teilweise
mit Recht schon auf Marx und Engei» selbst beruft
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Zehntes Kapitel. Der Zweck in den Sozial wissenschaflen.
171
soaale lonenaem, dessen NiedersdUag', Auadrack, EracheinuDg'
die Sodale Kausalität und Notwendigkeit ist Das soziale
,,Sein**, das sich im Bewußtsein der Menschen „spiegelt", be-
ruht selbst schon auf einem primären Bewußtsein im
weitesten, rein funktionalen Sinne, d. h. nicht als Wissen,
sondern als Zusammenhang der psychischen Aktionen und
Reaktionen der in Verbindung lebenden Menschen. Auf
immer neuen Stufen bedingt das soziale Bewuflts^ das
soziale Sein und Werden, und dieses beeinflußt wieder das
soziale Bewußtsein; beide setzen sich immer wieder ineinander
um, so aber, daß der gesamte soziale Zusammenhang eine
immanente Finalität zum Ausdruck bringt tmd zur Grund-
lage hat*)
♦) Nach Rudolf Stammler ist die soziale Gesetzlichkeit nicht kau-
saler, sondern rein teleologischer Art, und zwar im normativen Sinne.
Auf die VorBtaUung von kOnftigen nur mfl^^ichen Handlungen und auf
den Gedanken einer Wahl zwtscfaoi ihnen findet nach ihm <ia8 Prinz^
der Kausalität gar keine Anwendung. „Menschliche Handlungen unter-
liegen der Betrachtung nach dem Kausalitätsgesetz erst dann, wenn sie
Erscheinungen der Sinnenwelt geworden sind." Eine erst in der Zu-
kmift durch den Willen zu setzende Handlung ist nicht als kansal not-
wendig, sondern nur unter dem Gesicht^unkt des Zwecks zn be-
trachten, der als ein richtiger gewertet wird, wenn er sich der Einheit
der Zwecksetzung widerspruchslos einfüiit (Wirtschaft und Recht,
2. Aufl., 1906; Die Lehre vom richtigen Recht, 1902; Theorie der
Rechtswissenschaft, 1911). Daß die explikativ- teleologische Betrachtung,
die von der normativen zu schaden ist, die kausale Eridimng auch
des erst zn Bewirkenden nicht aosschlleflt, begrOadet in scharfsinniger
Weise gegen Stammler Max Adler in seinen auf kritizistischer lud
marxistischer Grundlage stehenden Schriften: Kausalität und Teleologie,
1904, und besonders: Marxistische Probleme, 1913. Treffend bemerkt
er; „Nicht bloß die in ihrer kausalen Notwendigkeit noch nicht ein-
gesehenen sttkfinf tigen mensdüichen Handlungen, sondern ebenso auch
die kausal anfgekUrten vergangenen Handlangen können ans stets nur
als durch einen Willen, der sie bewirken sollte, verständlich werden;
so daß, weit entfernt, daß Willenshandlungen den Begriff der Kausalität
als widersprechend ausschließen, wir sie gar nicht anders kausal be-
greifen, als wenn wir sie in ihren Zwecken verstanden haben."" Die
Voratdlong ein«r za bewiricenden Handlang ist nar die Form, in der
die Kausalität willensmflßig erscheint. Die Zwecksetzong als bloSe
Form der psychischen Kansalitflt weist noch keine notwendige Be-
Digltizec v^oogle
172
n. Spcddler TdL
Schon die allgfemeinste soziale Tatsache, die Vereinigimg'
von Individaen zu Gruppen, das soziale Zusammenleben und
Zusammenwirken überhaupt, ist vom Zweck beheirscht. Be-
düifnisse, Instinkte und Triebe, also zielstrebig-e Faktoren, die
freilich durch äußere Reize ausgelöst werden, fuhren die
Individuen zueinander oder lassen sie mehr oder weniger fest
zusammenhalten. Selbstverständlich entsteht aber das soziale
Leben nidit dadurch, daß von Anfang an den Individuen der
Nutzen der sozialen Assoziation klar bewußt ist, sondern
instinktiv oder triebhaft scharen sich die Menschen zusammen
oder bleiben sie vereinigt^ und erst durch die Gewohnheit
des Zusammenseins entstehen neben den sozialisierenden die
(sekundären) sozialen Triebe undTendenzen. DieErfahrungen>
welche die Individuen betrefEs der wohltätigen Wirkungen
des gesellschaftlichen Lebens, der Kooperation, machen, be-
einflussen dann auch die Starke und Ausdehnung der sozialen
Verbindungen. Schließlich erwächst auf höheren Entwicklungs-
stufen ein als solcher bewußte Wille zur sozialen Verbindung»
Die Konvention, der Vertrag, von dem sich am An£su]g der
sozialen Evolution noch nichts findet, wird erst später zu einem
sozialisierenden Faktor neben andezea. Mannigfache Gesell*
schaftsgntppen bilden sich schon vorher auf Grund ge-
meinsamer Erfordernisse und Bedürfnisse, Interessen, Ziele
materieller und ideeller Art Diese Grruppen stehen vielfach
Ziehung auf dne Beurteilung der Zweckbeziehung ntdi einem obersten
Gesichtspunkt auf, die Frage nach der Berechtigung; eines Zweckes
taucht hier noch gar nicht auf. Die normative Betrachtung ist über-
haupt nicht Sache der Wissenschaft, sondern ergänzt die kausal-
nkecfaanische und kansalteleologische ErUftmng. — .Es ist", betont auch
JET. Kdun, «nicht einzusehen, welcher Unterschied darin gelegen sein
soll, daß in dem einen Falle die künftige Handlung als kausal bewirkt^
in dem anderen als von mir zu bewirkend vorgestellt wird." „Eine
künftige Handlung kann ich als durch mich zu bewirkend nur insofern
vorstellen, als ich mich als Ursache (im streng kausalen Öinne) dieser
kflnftigen Handlang vorstdle. In allen Fällen ist das Bewirkte oder
als ent zu bewiricend Voi^^estdlte nicht anden als notwendig^ d. h.
kausal durch eine Ursache bewirkt oder zu bewirkend zu denken*
(Hauptprobleme der Staatsrechtslehre, 19x1, S. 59).
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Zehntes Kapitel. Der Zweck in den SomlwiaMmduiflen.
173
im Kampfe mit anderen Gruppen« Sie haben entweder nur
walirend dieses Kampfes Bestand, oder aber sie erhalten sich
fLber den Kampf hinaus. Sie weisen ein lockereres oder
ein festeres Gefuge auf. Sie verbinden sich mit and«en
Gruppen zu umfassenderen Gemeinschaften (Stammen) und
werden zum Teil unter der Herrschaft mächtiger Persön-
lichkeiten und Stande zu VoUcs- und Staatsverbänden zu-
sammengeschweißt
Verbindungen sozialer Art finden- sich schon bei einer
Reihe von Tieren und erweisen sich schon hier als ein Mittel
der Selbsterhaltung, als ein durch die Selektion be-
■ gunstigter Entwicklungsfaktor, der die betreffenden Arten
im Kampf mit anderen Arten und im Wettbewerb um die
Lebensbedingungen fördert*) Ein soziales, durdi seine Organi-
sation für das Gemeinschaftsleben prädestiniertes Wesen ist
besonders der Mensch, der erst in der Gesellschaft sein volles
Menschentum entfalten kann. Aus kldnen Hordoa, die durch
natürliche, verwandtschaftliche Bande ebenso zusammen«
gehalten werden wie durch das Bedürfnis nach mög-lichst
kräftiger Abwehr von Feinden aller Art, gehen im Laufe der
Zeit umfassendere Gemmnschaften hervor, in die sich immer
mehr auch fremde Gruppen eingliedern, oft auch solche, mit
denen man erst lange und heftige Kämpfe geführt hatte.
Innerhalb der so entstehenden Gesellschaften bilden sich dann,
nach erfolgter Arbeitsteilimg und sozialer Differenzierung,
Sondergruppen, die durch gemeinsame Interessen und Zwecke
besonders verbunden sind. Stets ist es die Gemeinsamkeit
von Zielstrebungen, was den unmittelbaren Faktor der
Sozialität bildet, mag nun die Zielstrebigkeit den Menschen
durch äußerere Verbältnisse abgenötigt werden oder mögen
aktive Zwecksetzangen die Menschen sich vereinigen lassen.
Nicht nur das Zusammenwirken der Menschen, auch die soziale
Wechselwirkung in friedlicher oder Kampfform beruht auf
bedurfius> und zielgemäßeo Tendenzen, die in den gesellsciiaft-
*) Vgl. EUler, Soziologie^ 1903; RrqpoOsm, Gegenseitige H&fe ia
der Entwicklung, 1904.
Digitizec v^oogle
174
n. SpeddlerTcO.
lachen Phänomenen der Konkurrenz, der Über- und Unt^
Ordnung; der Wirkung der Autorität, des Prestige, der Kach-
ahmung, der Sitte, Mode usw. zum Ausdruck kommen.*)
Die sozialen Verbindung-en als solche haben einen be-
sonderen Zweck, nämlich die Förderungf der besonderen
Zwecke, denen das Gemeinschaftsleben dient. Dieses
Zusammenwirken, nicht die bloße Wechselwirkung, ist die
soziale Kategorie als Kategorie der Gemeinschaft. In diesem
Zusammenwirken bezieht das Denken die Individuen als Mit-
glieder der Gemeinschaft aufeinander und auf die Einheit
der Gemeinschaft. Das Soziale bildet aber auch schon einen
Teil des Bewußtseinsinhalts der Gesellschaftsglieder selbst,
indem es ihr Streben, Fühlen und Denken durchzieht und
färbt und auch ein besonderes Bewußtsein der Zugehörigk^t
der Individuen zur Gruppe erzengt, weiches ihr Tun und
Unterlassen beeinflußt, regelt.
In Beachtung des Prinzips dor „Ueterogonie der Zwecke"
muß man stets nach den nächsten und ursprünglichen Zielen
sozialisierender und sozialer Tendenzen forschen, um dann
weiter zu sehen, welche Wirkungen oder Folgen zielstrebiger
Aktionen und Reaktionen im Laufe der Zeit selbst zu Zwecken,
zu Zielpunkten des Willens geworden sind oder noch werden
können. So manche sozialen Gebilde, die einst einen be-
stimmten Zweck hatten, haben später diesen Zweck mit einem
anderen vertauscht oder sind als Formen erhalten geblieben,
denen jetzt ein eigentlicher Gehalt fehlt. In verschiedenen
Sitten und Gebräuchen tritt der eine oder andere Fall zutage.
Einrichtungen, Verhältnisse, Kooperationen, die erst nur in-
folg-e äußerer Bedingungen, „zufällig" oder rein zwang-smäßig
entstanden sind, werden, wenn ihre Wirkungen in der Richtung
möglicher und wünschenswerter Ziele Herren, zu sozialen
Zwecken. Umgekehrt automatisieren sieb oft soziale Zweck-
handlungen zu trieb- und gewohnheitsmäßigen Vorgängen.
Es kommt ferner vor, daß soziale Formen, die zuerst nur den
Zweckeu einzelner Grruppeu oder Klassen dienten, Wirkungen
*) Vgl. Simmel, Soziologie, 1908; die Schriften von Tardc
Zdmtet Kaj^td. Der Zweck in den SodalwiMentchefteo.
175
haben, die sie dazu geeignet machen, die Ziele der Getamt-
hat zu fördern, ao daß aie dann immer mehr den Qiarakter
aUgemeiner Inatitationen annehmen. So sehen wir, wie der
Staat, der mit seinen Gesetzen vielfach erst den Interessen
mächtiger Individuen und Gruppen (Klassen) dient, schließlich
in einen wahren Volksstaat übergeht, zur zentralisierten
Organisation der Gesellschaft wird, indem er zugleich auB
einem bloßen Machtstaat zu einem Rechts- und Kulturstaat
sich entwickelt. Die Tendenz, Gemeingut der Gesellschaft,
der Gesamtheit zu werden, ist einer ganzen Menge von Dingen
eigen, die längere Zeit hindurch das Privilegium bevorrech-
teter oder begünstigter Klassen bildeten und nicht für die
Zwecke der Gesamtheit bestimmt waren, v.ie das Heer, die
Post, verschiedene technische Errungenschaften usw. Von
besonderer Wichtigkeit ist natürlich der Umstand, daß, infolge
der im Laufe der Zeit sich verändernden Lebensverhältnisse
und der Weiterentwicklung der Menschen und ihres Geistes»
zustandes sowie der aligemeinen Kulturlage, soziale Formen,
die erst ihrem Inhalte angemessen und daher relativ zweck-
mäßig waren, später völlig unzweckmäßig, ja oft höchst zweck-
widrig werden. Dies geschieht um so leichter, als diese
Formen oft eine starke Beharrungatendenz aufweisen. Soll
das, was einst eine Wohltat war, nicht schUeßlich zur un-
ertri^lif^en Plage werden, so muß die sozicde Form, die Art
der sozialen Regelung sich immer aufs neue der sozialen
Materie und den veränderten Umständen anpassen. In der
Tat weist die soziale Evolution solche wiederholten Neu-
anpassungen auf; es besteht eine Art sozialer Selbst-
regulierung, welche darauf abzielt, Störung-en, Disharmonien,
Widersprüche zwischen Form und Inhalt sowie zwischen
verschiedenen sozialen Gebilden zu beseitigfen, zu kompensieren
und möglichste Einheit im sozialen Leben herzustellen. Je
weiter die Gesellschaftsentwickluncr fortschreitet, desto be-
wußter, aktiver, planmäßig-er, umfassender j^estaltet sich dieser
Prozeß sozialer Selbstregulierung- oder „Dialektik", der natür-
lich, da die Lebens- und Kulturverhältnisse sich immer weiter-
entwickeln, nie völlig abgeschlossen sein kann. Ais Fort-
176
n. Spoidler Tdl.
schritt ist dieser Prozeß eine „Idee**, er ist der Gesellschaft
aufg-egfeben. —
Bei der Erklärung- sozialer Tatsachen sind also — außer
den rein naturhaften, in der physischen Umwelt lieg-enden Be-
ding-ung-en, von denen übrigens das g"esellschaftliche Leben
immer weniger abhänp^ig" wird, sowie außer den biolog-ischen
Faktoren und außer den einzelnen sozialen Gebilden, die in
ständiger Wechselwirkung- miteinander stehen und auf die
soziale Struktur, zurückwirken — in erster Linie psychische
Faktoren zu berücksichtig-en , die zu Momenten ziel-
strebiger Aktionen und Reaktionen werden. Es
handelt sich hier teils um eine durch die Verhältnisse und
triebmäßig- sich äußernde Bedürfnisse fast zwangsmäßig aus-
gelöste Finahtät, teils um aktivbewußte Zwecktätigkeit, um
ein aktives Verwirklichen von Zielen materieller und ideeller
Art, wobei neben wahrhaft kollektiven, sozialen auch viel-
fach egoistische oder doch partikuläre Interessen und
Zwecke ins Spiel treten. Willensziele der Individuen und
der Gesamtheit als solcher sind in Anschlag- zu bringen,
soll ein einheitliches Verständnis des sozialen Geschehens
erlangt werden. Der Zweckbegriff kommt hier zunächst
wieder in rein explikativer Hinsicht zur Geltung, und ein
Gegensatz zur kausalen Auffassung des Geschehens besteht
hier ebensowenig wie in der Naturwissenschaft. Unter
der Leitung der Zweckidee suchen wir nach den Ursachen,
durch welche in der Gesellschaft Wiilensziele direkt oder in-
direkt realisiert werden, sowie nach den naturhaften und
sozialen Bedingungen dieser Realisierung, Die Zweckidee
dient also zur Herstellung eines möglichst vollständigen
sozialen Kausalzusammenhanges und zugleich zum Ver-
ständnis des Sinnes, der Bedeutung sozialer Gebilde, In-
stitutionen und Haiidlung-en. — Ein Teil der Wirkungen dieser
Ursachen bildet zuerst den Inhalt der als wesentliche soziale
Ursachen gefundenen Willensakte; er tritt zuerst als ein
Ideelles, im Bewußtsein Antizipiertes auf. Es ist nun ohne
weiteres verständlich, wie Ideen und Ideale im sozialen Leben
von Einfluß werden können, wie das, was noch nicht ist,
y i.i^L^^ L-y Google
Zdttics Kapitd. Dar Zw«ek Ia des SosialvinenidialleB.
177
sondern erst werden selli das Zukflnftige, Ideelle, das Sein
und Werden zu modifizieren vermag'* Soziale Ideen und Ideale
sind typische Willensziele und setzen sicdi, wenn die
Willenskraft genügend stark ist und die bistoriacb gewordenen
Verhältnisse es g-estatten, in soziale Taten um, deren Nieder-
schlag wieder ein entsprechend verändertes gesellschaftliches
Sein ist. Nur müssen diese Ideen und Ideale aus wahren
Bedürfnissen und Zielen heraus geboren sein, gewisse „Ent-
wicklungstendenzen" müssen hinter ihnen stehen oder sie be-
gfÜDstigen. Vielfach bedarf es auch einer organisierten
Macht, um sie zn verwirklichen. Soziales Sein und Bewußt-
sein bedingen also einander immer wieder« wobei aber nicht
zu vergessen ist, das ein rein funktionales, unreflektiertes Be-
wußtsein im Sinne eines Komplexes von Strebungen und Vor-
stellung-en schon dem primären gesellschaftlichen Sein im-
manent ist, welches von Anfang bis zum Ende auf Wechsel-
beziehungen zwischen strebenden, wollenden, Ziele verfolgenden
Menschen sich gründet. Einers^ts spiegeln sich in den Ideen,
im ,4<leologi8chen" schon soziale Verhältnisse, anderseits
kommen diese selbst bereits teilweise unter dem Einflüsse von
Ideen und Idealen zustande. Das „Ideologische", also der In-
begriff relig-iöser, sittlicher und anderer Inhalte des Bewußt-
seins und Strebens, ist schon ursprünglich ein selbständiger
Faktor der sozialen Entwicklung und beeinflußt auch von
Anfang- an das wirtschaftliche Verhalten, mit dem zusammen
es aus einer gemeinschaftlichen Wurzel, aus der psycho-
physischen Organisation des Menschen und deren An*
lagen und Tendenzen, der Zeit nach entspringt.
Die Notwendigkeit und Gesetzlichkeit der sozialen Ent-
wicklung bildet keinen Einwand gegen die Möglichkeit einer
Beeinflussung durch den Willen und durch aktive Zweck-
setzung. ,,Von selbst", über die Köpfe der Menschen hinweg,
g'eschieht im sozialen Leben nichts, stets kommen hier mensch-
liche Strebungen, Handiung-en und deren Resultate m Betracht,
die dann wieder auf das Handeln und Streben zurückwirken.
Die Notwendigkeit des gesellschaftlichen Werdens ist eine
Resultante äußerer und innerer Faktoren, nicht aber etwas
Eitler, Der Zweck. 12
178
tL SpcdcOcr TcO.
rein von außen Gegfebenes, Auf gedrungenes, kein mediani-
achar Zwaag; Gewi0 hat daa aoiiale wie daa individoelle
Wollen und Tun seine Sdinnken und Grensen, ea kann
nickt alles und nidit jedes an jeder Zeit Terwixkliclien, auch
iat ea ateta dmch die gegebenen, gewordenen Verhiltniase
bedingt, also nidit absolute WillkSr. Aber aidieriidi iat daa
soziale Werden selbst vom Willen und Handln der Menschen
in dem Sinne abhängig, daß ea nidit erfolgen oder anders
anafollen würde^ wenn der Wille, die Tat fehlte oder anderea
bezweckte. In der Richtung der gesellachafllidien Ent-
wicklung bekundet sich immer das Zusammenwirken einer
Mannigfaltigkeit von Willenskräften in deren Reaktion auf
beatimmte naturhafte, soziale, historisch gewordene Verhält-
nisse. Wenn auch nicht alles und jedes Wollen nnd. alle
aktive Gestaltung die Macht und Freiheit hat, diese Richtung'
nachhaltig* zu beeinflussen, so ist sie doch anderseits niemals
in solchem Maße prädeterminiert, daß nicht ein zielbewußtes
und der richtigen Mittel sich bedienendes kraftvolles Handeln
Erfolg haben könnte. Nichts berechtigt daher zu einem
sozialen Passiviamus und Fatalismus; vielmehr zeigt uns die
historische Erkenntnis und die Besinnung auf das Wesen der
Gesellschaftsentwicklung, daß der kritische Aktivismus oder
aktivistische Idealismus im Realen fest verankert ist
Der Zweckbegnff hat aber in den Sozialwissenschaften
nicht bloß eine explikative Bedeutung. Er ermöglicht auch
eine Wertung, Kritik und Normierung sozialen Ver«
haitens und socialer Gebilde.'*) Indem wir uns auf die Ziele
*) Der Streit um das Sein und Sollen in den Sozialwissen-
schaften wird jetzt heftig geführt und ist noch nicht zum Abschluß ge-
kommen. Rein logisch ist er wohl kanm zn erledigen, schließlich
kommt es darauf an, was man noch als „Wissenschaft** gelten lassen
will. Für die normative (bzw. wertende, „axiologische") Methode sind
Stami)der, Natorp, Kichert, Münsterberg, Windelband, Schmoüer, Ad.Wagner,
i'hüippovich, Goldscheid u. a.; dagegen M. Weber, W. Sombart, Tönnie»,
M. AMtr u. a. — Nach QMMA sind unsere Zwecke sdorch das Ver-
bfilmia unserer Anlagen za den Natorenergien, wenn auch nicht in-
dividuell, so doch interindividuell vorgezeichnet, und wir können sie
feststellen, indem wir dieses Verhftltnis auf das genaueste studieren.*
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Zehntes Kapitel. Der Zweck in den SozialwissenichaAen.
179
und Zwecke, denen diese Gebilde dienen, besinnen, betrachten
wir sie daraufhin, ob sie wirklich geeig-net sind, diese ihre
Zwecke zu erreichen, und ferner auch, ob dies jeweils auf
die bestmög-liche Weise, mit den richtigen Mitteln geschieht.
Es wird untersucht, ob das Maximum des Erstrebten^
Bezweckten mit dem Minimum unzweckmäßiger
Nebenwirkung-en und Folgen bewerkstelligt wird.
Die Bewertung* eines sozialen Gegebenen richtet sich nach
dem Ergebnis dieser teleologischen Prufung^ und kann
•ehr wohl ein hohes Maß von Objektivität erreichen. Anf
jeden Fall ist sie von der rein subjektiven, gefühlsmäßigen,
impulsiven Wertung so^er Tatsadhen s^tens des bloßen
Praktikers scharf zu unterscheiden.
Man mag* mit Fug verlangen, daß die Sozialwissen.
Schäften zunächst in der Form streng theoretisch-explika-
tiver, analytisch-genetischer, kansal-teleologischer Disziplinen
auftreten, die ausschließlich untersuchen, wie die Dinge sind
und geworden sind, wie sie sich entwickelt haben und wie
sie miteinander kausal zusammenhängen, wobei aber die
zielstrebigen Faktoren des sozialen Seins und Werdens nicht
vemachlasrigt werden dürfen. In den letn theoretischen
Sozialwissenschaften hat die normativ-teleologische Methode
noch nichts zu suchen, das „Es soll^ oder »Es ist gut,
schlecht^ darf hier noch nicht seine Stimme ertönen lassen.
Aber so berechtigt dieses methodologische Postulat sein
mag, so unbegründet erscheint die Behauptung, die teleo-
logische Betrachtungsweise sei überhaupt völlig unwissen-
schaftlich, komme nur der Praxis zu. So steht die Sache
denn doch nicht Außer den theoretischen Wissenschaften
im engsten Sinne des Wortes gibt es angewandte, tech-
nische, praktische, normative Disziplinen, außer der
Praxis selbst gibt es noch eine Theorie der Praxis. Die
angewandten Wissenschaften fußen auf den Ergebnissen der
streng theoretischen Disziplinen und verwerten die von diesen
.Das tdeologische Urteil ist die Darstellnigsfum der aktivistttch ge-
wendeten Wissenschaft" (EntwiddmigBwerttheorie, 1906, S. X74ff.)b
12*
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IBO
n. SpoMlIer TdL
io f Ihtfindigf^ri gsox e^raer Wesse. Sure Pkobleme fatdani
^beMMidmGdMeMttitade: entens die FiUgfcail^ Mi die
Wirkungen der Dinge klar vor Angen m halten, die teleologi-
•dien Relationen, die ZnsumnenhSnge von Büttel nnd Zweck
za eigrfinden; zweitens eine kombinatorisdie nnd adiopferiadie
PhantasM^ welche Musterbilder Inr die richtige Praxis
za liefern vermag. Die Grundfrage in den ai^pewandten
Diiiq>linen lautet stets: Wie maß etwas sein oder g^eschehen,
wenn dieser bestimmte Zweck erreicht werden soll ? Es wird
ontefSQcht, ob and inwieweit das Seiende oder Werdende
dem Sollen entq>hcht, and dann werden Regeln für das
richtige. zweck> und normgemäfie Verhalten aufgestellt oder
doch Fingerzeige xa einer besseren, riditigeren, zweck»
mäßigeren Praxis gegeben. Widersprüche und Fehler ver-
schiedener Art, wie sie in der Praxis auftreten, werden auf-
gezeigt, and der Versuch wird gemacht, vollste Einheit des
praktischen Verhaltens durch sachgemäße Regelung desselben
zu erzielen.
Nun muß die normative Sozialwissenschaft aber nicht
bei der Beurteilung der Angemessenheit zu den jeweils er-
strebten Zielen stehen bleiben. Sie kann, mag sie auch da-
durch schon einen philosophischen Charakter erhalten, also
zur Sozial-, Wirtschafts- oder Rechtsphilosophie sich gestalten,
noch weiter gehen, indem sie die Ziele und Zwecke wie die
Normen der Praxis selbst der Prüfung- und Wertung unter-
zieht. Es ist dann zu ermitteln, ob diese Ziele richtige
Ziele sind, ob sie mit den ihnen bei- und überg^eordneten
sozialen und kulturellen Zwecken und schließlich mit dem End-
ziel des sozialen und kulturellen Handelns vereinbar sind,
ob sie zu voller Einheit menschlicher Zwecksetzun g-
zusammengehen (Sünnmler). Es mag wohl die Ausmalung
einer „idealen" Gesellschaftsordnung den Rahmen der bloßen,
strengen Wissenschaft überschreiten, aber sie kann auf wissen-
schaftlicher Basis erfolgen und in großem Umfange sich
wissenschaftlicher Begründungsmethoden bedienen. Jedenfalls
lassen sich aber gewisse Normen aufsteilen, denen soziale
^ i^uo Ly Google
Zdialct K^iitd. Dar Zwedi in den SorialwiMemdiiftwi.
181
ZofltSnde und Institationeii entspredhen mfisson, wenn sie
waluliaft sweckmifiig' sein sollen, Nonnen von objektiver
Gültigkeit im Sinne des berechtigten Anspruchs auf allgemeine
Anerkennung, wenigstens bei allen jenen, die betreffs der
obersten Swle des Gremeinschaftslebens fibereinstimmen. DaS
infolge der Bescdiranktheit menschlicher Erkenntnis und w^fen
der Kompliziertheit des Gesellschaftslebens oft Irrtümer in
der Kritik und Normierung desselben begangen werden
können, ist kein Einwand gegfen den wenigstens partiell
wissenschaftlichen Charakter der kritisch - teleologischen
Methode in der Sozialwissenschait und Sozialphilosophie.
Die Normen der Regelung sozialer Lebensverhältnisse
durch Sitte und Recht werden zunächst in der Praxis ge-
setzt und kommen mit Rücksicht auf Interessen, Bedürfnisse,
Forderun g-en» Zwecke der Gesamtheit oder einzelner Gruppen
innerhalb derselben zustande*) Aus diesen Normen, ins-
besondere den Gresetzen des Staates, folgen nun bestimmte
*) „Die an sich gewiß unleugbare Tatsache, daß die Normsetzung zu
bestimmten Zwecken geschieht, unter dem Zweckgesetze steht, mit anderen
Worten teleologischer Natnr ist, kann in keiner Weise präjudiziell sein fflr
die Natar der auf der Norm beruhenden Begriffe, aus der Norm ab-
gdeiteten Korollarien" (Kehni, Hauptprobleme der Staatsrechtslehre,
1911, S. 92f.). Die Jurisprudenz hat es nur mit dem Recht als Form, Mittel
zu tun. Gegen G. Jeüinek, nach welchem eine rein formale Rechts»
konstruktion unmöglich ist, betont K4»m den rein formal>normativen
Charakter der Juri^rudenz, die er ak eine Art „Geometrie der totalen
Reehtseradieinung" bezeichnet (S. 93f.). Die Jurisprudenz geht nicht
auf das Was, Hm Inhalt, den Zweck sozialer Tatsachen, sondern aiif
deren „Wie" oder Form. — Allerdings lassen sich gegen die rein formale
Methode der Jurisprudenz wenigstens insoweit Bedenken erheben, als
sie vidleicht in der Praads doch nnr mivoUkonunen dnrchftttirbar ist
nnd flberaU da versagen kann, wo es sich darum handelt, LOdcen des
Gesetzes atiszufQllen oder veränderten sozialen VerhAltniaaen und einem
fortgeschrittenen Rechtsbewußtsein Rechnung zu tragen. Da aber die
Rechtsetzung, Gesetzgebung selbst, auch nach dieser formalistischen
Theorie, vom Zweck beeinflußt ist und die rein formale Betrachtungs-
weise eist und nnr fttr das schon gesetzte Recht gilt, so ist allerdings
auch hier fflr einen Fortschritt der Reehtsentwiddnng Rsmn gdaaaen,
also fflr die umfassendste Berflcksichtigung sozialer Interessen
sdtens der Gesetzgebung; ja auch im Sinne der modernen „Freirechts-
DigitizeG v^oogle
182
n. SpakJIcr TeU.
juridische Zurechnung-en, und diese sind insofern rein formaler
Art, als sie nicht unmittelbar auf den sozialep Lebensinhalt,
auf die Zwecke der Normen oder „Gesetzgeber** oder des
Rechtes zurückgehen. So kommen für die dofifmatische Juris-
prudenz, für die systematische Rechtswissenschaft, für
die Rechtsdefinitionen und juristischen Konstruktionen und
BegrifFsbildung-en die sozialen Zwecke, denen die Rechts^
normen dienen, nicht mehr direkt in Betracht. Sie können
und müssen wohl vorausgesetzt werden, bestimmen aber
nicht unmittelbar die aus der Norm selbst abgeleiteten
Konsequenzen. Die rein formal -juristische Methode hat es
nur mit dem immanenten Rechts willen zu tun, aus dem
sie ihre Begriffe ableitet, und dessen Normen sie logisch ver-
arbeitet. Die Gesetzgebung- selbst hingegen kann und muß
sozial-teleolog-isch orientiert sein, und auch die historische
Entwicklung- des Rechts läßt sich teleologisch betrachten.*)
Es ist aber nicht zulässig oder notwendig, die dogmatische
Rechtswissenschaft mit der (materialen) Rechtsphilosophie
zu identifizieren; diese läßt sich sehr wohl, z. T. auf einer sozio-
logischen Basis, kritisch durchführen und wird so zu einer
normati v-teleologischen Beurteilung des Rechts und der
Rechtsgesetze, zu einer Prinzipienlehre, welche die Normen
und idealen iVlaßstäbe zur Bewertung und Auf Stellung
von Rechtsnormen bietet. Es handelt sich hier nicht etwa,
wie in der historischen Soziolog-ie, nur um eine Erklärung
der Entstehung und Entwicklung des Rechts aus zielstrebigen
Faktoren, sondern um die Frage, ob und inwieweit
Stehendes Recht der Rechtsidee, dem reinen, idealen
Schule" (Kantormie* vu a.) kftnnte wohl trete dieses FormaUsmos judi-
ziert werden.
*) Die Rolle des Zwecks im Recht betont besonders R. Jhering, nach
welchem „der Zweck der Schöpfer des Rechtes" ist, indem es den
Bedttffilisaen, Interessen der Gesellscliaft dient (Geist des rSmisclien
Rechts, 5.-6; Anflsge, zS^fft Der Zwedc im Recht, 4. Anflsge, 1904!).
Doch bekämpft Jhering zuweilen die teleologische Begriffsbildung in
der Jurisprudenz. Sozialteleolo^isch orientiert ist z. B. die moderne
Strafrechtsschale (0. LUzt u. a.).
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Zchale* Ktpitd. Der Zweck in den SoMMmmuibtitea, 188
RechtswiUen entspricht, und nach welchen oberaten
Gesichtspunkten das Recht zu setzen ist, wenn es
den Postulaten der Rechtsvernunft g-enüg-en, also
roaterial richtigfes Recht sein soll Gefordert wird hier
aber nicht eine Deduktion von einzelnen Gesetzen aus
einem eigenen, selbständig-en Natur- oder Vernunftrecht oder
aus apriorisch aufpfestellten Rechtsnormen, sondern nur eine
Kritik der Gesetze und der Gesetzg-ebung* auf Grund der
Rechtsidee, eine Leg-itimation der Rechtsnormen.*)
Die positiven Rechtsnormen lassen sich in zweifacher Weise
normativ-teleologisch betrachten. Erstens können sie darauf-
hin geprüft werden, ob sie zweckmäßig im Sinne des Willens
der betreffenden Gemeinschaft und Gesetzgebung sind, ob
durch sie alles das, was man mit ihnen erreichen wollte,
wirklich erzielt werden kann, oder ob sie etwa Folgen und
Nebenwirkungen haben, die den Zielen, den Intentionen der
Gesetzgebung zuwider sind. Schon aus einer solchen Rechts-
kritik werden sich Normen für die Beurteilung und eventuelle
Abänderung bestehender Gesetze erg-eben. Zweitens ist zu
untersuchen, ob und inwieweit die Rechtsnormen samt deren
positiven Zielen dem reinen Rechtszwecke oder dem
Rechtsideal gemäß sind, ob sie in der Richtung- des Fort-
schrittes zu diesem liegen, das heißt: ob sie zur Herstellung^
von sozialen Verhältnissen beitragen, die dem reinen Gern ei n-
schaftswillen, als der obersten Quelle richtigen Rechts,
entsprechen (Stammler u. a.). Hier handelt es sich um die
soziale Zweck- und Normmäßigkeit der Rechtsordnung im
höchsten Sinne, um die ideale Funktion des Rechtes, eine
möglichst vollkommene Gesellschaftsordnung- zu
*) Bei Kelsen fällt die teleologisch -normative Methode sozusagen
unter den Tisch, denn er kennt nur die kausal-teleologische (explikative)
und die normative Methode als Normenlehre, als Logik der Normen.
If. Adbr bsl nicht nnredit, wenn er (ManiBtiscbe Probleme, tgs^,
S. 149) bemerkt, es wäre zu untersuchen, inwiefern Kelsens „normative**
Rechtslehre, die „bloß das Sein der Nonnen" betrachtet, „nicht etwa
dem Charakter einer formalen Wissenschaft entspräche, wie die
Mathematik", wie dies Kelsen übrigens selbst zugibt
184
n. Spesidler TdL
konstituieren, das heißt, eine solche Ordniuig', bei der eine
volle Solidarität mög^lichst kraftvoller, in ihrer positiven, schaffen-
den Betätigfunff freier und entwicklungsfähiger Individuen mög-
lich ist Mag auch die dogmatische Jurisprudenz als solche sich
nur oder in erster Linie um die rein formale Richtigkeit der
Rechtsableitung und der Rechtsverwirklichung kümmern, die
(materiale) Rechtsphilosophie kann nicht umhin, auch die
soziale und ideale Zweckmäßigkeit der Rechtsnormen und
deren Wirkungen ins Auge zu fassen. Sie kann sogar auf
das Gebiet der Ethik hinüberschweifen, indem sie schließlich
das Recht zu den höchsten Zielen der Menschheit in Be-
ziehung setzt, ohne aber den Unterschied zwischen Recht
und Moral verkennen zu dürfen. Zu fordern ist jedenfalls,
daß die Rechtsnormen mit den sittlichen Normen möglichst
im Einklang stehen, daß sie ihnen nicht widersprechen; dies
gebietet die Einheit des Kulturwillens wie auch die des
reinen Gemeinschaftswillens, auf dessen ideale Ziele sich alle
praktische und normative Philosophie zu besinnen hat. Eine
Philosophie des Rechts muß jedenfalls auf einem höheren
Niveau stehen als eine bloße Rechtspolitik, so sehr auch
diese sozial -teleologisch und ethisch orientiert sein kann
und muß.
Daß nur das historisch gewordene, positive Recht, das
zum Teil aus der Rechtssitte hervorgegangen ist imd im
Staate zu einem kodifizierten Gesetzesrecht sich gestaltet
hat, Geltung im Sinne der Zwangsgewalt besitzt, und daß
sich kein von aller Rechtserfahrung und Rechtsentwicklung
unabhängiges „Naturrecht" als Rechtssystem konstruieren
läßt, das ist seit dem Aufkommen der historischen Rechts-
schule die weitaus überwiegende Meinung geworden. Gibt
es aber kein Natur- oder Vernunftrecht als System gültiger
Rechtsnormen, so besteht doch eine Rechtsvernunft, als
Anwendung der allgemeinen Vernunftgesetzlichkeit auf das
Rechtsgebiet. Zunächst kommt hier die theoretische Ver-
nunft zur Anwendung, indem die Rechtsnormen, wie sie
durch die Gesetzgebung erstehen, in einen logischen Zu-
sammenhang gebracht werden müssen, aus dem heraus sie
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Zdmtes KapHd. Der Zweck In den Sottalwuteacdiaften.
185
auf ibxe rein formale Richtigfkeit beurteilt werden können
(Logik dee ReditB). Die Einheit dee Rechtawillens muß in
der Mannigfaltigkeit der Reclitanomien zur Geltang' kommen
und gewalurt bleiben, und so maß anch im fiinselfall ent-
achieden werden, wie su urteilen iat, damit die Forderunsr
der Einheit dea Rechtszuaammenhang'ea erfallt wird.
Aber damit ist noch nicht alles g^etan. Denn auch die
„praktische Vernunft" verlangft ihre Realisation im Recht
Die Rechtsnormen sollen» heißt dies, „vernünftig" auch in dem
Sinne sein, daß sie den Zweck, zu dem sie bestimmt sind, oder
dem sie dienen sollen, auch tatsächlidi erfüllen. Ist das nicht der
Fall, so werden sie als schlecht, unzweckmäßig- beurteilt und
schließlich auch abgeändert werden müssen. Wenn der Unwert
solcher dem Rechtszweck widersprechenden Gesetze nicht
von selbst erkannt wird, so muß eventuell die normative
oder kritische Rechtswissenschaft der Gesetai^bung auf-
klärend, leitend, normierend vorangehen. Bis zn einer ge-
wissen Greoze kann man hier ja noch durchaus auf dem
Boden der zurzeit geltenden Rechtsordnung stehen bleiben;
aber schließlich wird sich immer wieder die Notwendigkeit
ergeben, fortgeschritteneren Entwicklungstendenzen der Ge-
sellschaft Rechnung zu tragen und das bestehende Recht in
der Richtung der Idee des nicht bloß formal, sondern auch
material richtigen Rechts gedanklich za modifizieren, um
so die Rezeption dieses sozialvernünftigen oder besseren
Rechts seitens der die Gesetze schaffenden Macht anzubahnen.
Der nächste immanente Zweck des Rechts ist die Fest-
legung der Machtsphäre der einzelnen und der Gesamtheit,
des Staates, die Sicherung der Freiheit beider vermittelst
einer gewissen Bindung derselben, die Herstellung- g-eord-
neter Verhältnisse zwischen den Mitgliedern der Gemein-
schaft. Die durch das Recht reg-uüerte Machtsphäre und
Freiheit bestehen aber schheßlich nicht bloß in der Betätigung
nach der Richtung- der Selbsterhaltung überhaupt, sondern
zuhöchst in einer Erhaltung und Entwicklung in menschen-
würdiger, der Humanitätsidee angemessener Weise. Es ist
also das höchste Rechtsideal dahin zu interpretieren, daß als
18«
n. Speiidkr TdL,
material richtig nur eine solche Rechtsordming* gelten kann»
bei der die Möglichkeit menschlich - kultureller
Existenz und Höherentwicklung besteht Tatsächlich
zeigt die Geschichte des Rechts eine gewisse Tendenz nach
der Ausbildung, Durchsetzung eines immer reineren Kultur-
rechts, so daß einerseits der Zweck des Rechts erweitert
und höher gesteckt wird, anderseits auch der reine Rechts-
zweck in immer umfassenderem Maße die Recditsentwicklung
leitet Und so wird vielleicht die Zeit kommen, da wirklich
alle Rechtsetzung ein Versuch zur Setzung richtigen Rechts
ist (Stammler). Die Idee des Rechts verwirklicht sich im
Prozeß der historischen Rechtsentwickiung selbst Das
geltende paßt sich immer wieder und immer besser dem ge-
sellten, vom idealen Rechtswillen geforderten Recht an.*)
Der Zweck ist also nicht bloß für das Verständnis des
Rechts, für die Erkenntnis der Entstehung und Entwicklung
von Recht und Staat bedeutsam, sondern auch für die Be-
urteilung- beider erstens im Hinblick auf ihre nächsten,
immanenten, spezifischen Zwecke, zweitens aber auch mit
Rücksicht auf die obersten Zwecke der Menschheit,
denen sich schließlich die Rechts- und Staatszwecke unter-
ordnen müssen, indem sie aus relativ selbständig-en, eig-en-
wertigen Zwecken zu Mittelzwecken werden. Analog- verhält
es sich nun mit der Wirtschaft, dem Inbegriff oder System
der zur Befriedig-ung- materieller Bedürfnisse unmittelbar
dienenden Funktionen und Gebilde. Alles Wirtschaften geht
von bestimmten Zielstrebig-keiten und Zwecksetzungen aus.
Es steht im Dienste der Lebenserhaltung-, der Lebensfürsorge,
und entwickelt sich von der Beschaffung- des momentan
Gebrauchten zur weitsichtigen und planmäßigen Arbeit im
Dienste künftiger Bedürfnisse. Ursprünglich wirtschaftet man
nur, um Güter für den Konsum, Verbrauch zu gewinnen;
*) Vgl. sndi &. M Fecdbco, Der Fortsduitt im Recht, Archiv fttr
Rechts- wid Wirtsdiaflsphilosophie VI, H.3, 19x3; n concetto dd diritto,
191a. — Vgl. die Arbeiten von Hegel, Chr. Krause, TrenddBnbwrg, Daknt
A. Lasson, J. H. Fichte, Köhler, Berohheimer, Bierlin^f Sr* SUm, Mad~
In'wht Cohen, Natorp, Kornfeld, Goldscheid, Bozi u. a.
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ZcbntM KapHd. Der Zircdc in dea Soihihristenwbdtoi.
187
dann aber entsteh^ gemäß dem Prinzip der »^eterogonie der
Zwecke** und dem Gesetz der „Motivversefaiebong'S der Wille
zur Bereicherung, zur Aufstapelung von Gütern, von Kapi-
talien, die dem Menschen größere Macht über die Natur und
zugleich eine JMacht in der Gesellschaft gewähren, in manchen
Fällen sog-ar fast zum Selbstzweck werden. Zugleich unter-
liegt die Wirtschaft einer gewissen Kultivierung und Ratio-
naiisieruDgf. Die Tendenz zum ökonomischen, mit dem klein-
sten Kraftaufwand den größtmög-Iichen Effekt erzielenden
Verfahren findet auf die Güterproduktion immer mehr An-
wendung und wird auch maßgebend für die Beurteilung der
formalen Zweckmäßigkeit der Wirtschaft
Der ökonomische Gedanke erreicht seinen Höhepunkt,
sobald erkannt wird, daß der Mensch selbst als produ-
zierender Faktor, als Arbeitskraft ein „organisches Kapital"
bedeutet, dessen unökonomische, es vorzeitig erschöpfende
Ausbeutung" der Gesellschaft und dem Staate einen enormen
Schaden bringt. So wird die Forderung nach einer „Menschen-
ökonomie" {Goldscheid) laut, der gemäß die Arbeitenden aller
Art betreffs ihrer Arbeitsweise, Arbeitszeit, ihrer Arbeits-
und Lebensbedingungen so gestellt sein müssen, daß sie,
statt vorzeitig abg-enützt zu werden und dann der Gesell-
schaft und sich selbst zur Last zu fallen, möglichst noch
„organischen Mehrwert" gewinnen.*) Dieses theoretisch er-
arbeitete Postulat des Wirtschaftens an und mit dem
Menschen ergänzt die allmählich zur Geltung kommende
Idee, daß von einer wahren Sozial- und Volkswirtschaft
erst dann die Rede sein kann, wenn die Güterproduktion
nicht nur bevorzugten Schichten der Bevölkerung oder
*) Nach R. Goldscheid ist es unsere entwickltuigsOkonomische Auf-
gabe, „die Arbeitskraft jedes Menschen in solcher "Weise aufzubrauchen,
daß durch sie Kntwicklungs werte geschaffen werden, ohne daß er
selbst in seinem Kntwicklungs wert beeinträchtigt wird" (Entwicldungs-
wertüieorie, 1908, S. 52). Die Mcnschenftkonomie ist die I.ehre vom
oi^nisdien Ki^ital; sie hst dnen rein theoretischen and dnen
angewandten, kritischen, nonnstiven Teil (HOherentwiddimg und
Menschenökonomie I, 1911).
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188
II. SpeiieUer Tdl.
gar nur wenigen Individuen dient, sondern so reguliert
wird, daß für alle Mitglieder der Gesellschaft eine
menschen* und kulturwurdige Existenz möglich ist.
Mit anderen Worten: Die Frage nach der sozial richtigen
Produktion erglänzt die Frage nach der vom soaal-
kohurellen Standpunkt richtigen, zweckmäßigen GClter«
verteilang und Konsumtion.
Die Anwendung des ZweckbegzifiiEi auf wirtschaftliche
Phänomene bedeutet also keineswegs schon oder bloß ein
Hineintragen rein ethischer Gesichtspunkte in die National-
und Sozialökonomie. Durchaus berechtigt ist zunächst die
Forderung, die rein theoretische Nationalökonomie habe sich
der Wertung und Normierung des Wirtschaftlichen zu ent-
halten, sie habe nur den Kausalzosammenhang und die Ent-
wicklung des wirtschaftlichen Seins, nicht das wirtschaftliche
Sollen zn bestimmen {M. Weber u. a.). Aber dieser Kausal-
zusammenhang selbst kann nur dann möglichst vollständig und
richtig hergestellt und die wirtschaftlichen Prozesse können nur
dann gedeutet, verstanden werden, wenn man von der Idee
erstrebter Ziele und gesetzter Zwecke zu den Ursachen ihrer
Verwirklichung geht und unter diesen Ursachen wesentlich
zielgerichtete Aktionen und Reaktionen von Individuen und
sozialen Gruppen findet. Auch die ökonomische Kau-
salität erwächst auf dem Grunde einer immanenten
Finalität, sie schhußt zielgerichtete Faktoren als Glieder
und Momente ein. Die Wirtschaftsentwicklung vollzieht sich
auf der Basis von Wechsehvirkungfen zwischen individuellen
und kollektiven Zielstrebigkeiten, um dann freilich immer
wieder diese selbst zu beeinflussen, deren besondere Richtung
zu modifizieren.
Neben der theoretischen Nationalökonomie g-ibt es nun
auch eine praktische, angewandte Nationalökonomie. In
dieser Disziplin, welche auf den Ergebnissen der Wirtschafts-
theorie fußt, ihr selbst aber auch wertvolle Fingerzeige für
die Forschung zu geben vermag, stellt man sich nicht die
Aufgabe, das wirtschaftliche Geschehen zu beschreiben, zu
analysieren und kausal-teleologisch zu erklären, sondern man
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ZAaUa Kapitd. Der Zweck in den Soxialwisaenschaflai. 189
gibt hier die Mittel an» welche angewendet werden müssen
und sotten, wenn man beitimnite wiitachaftlidie Zwecke er-
reichen will, ohne aber die Berechtigung, die Gute, den Wert
dieser Zwecke selbst zu beurteilen. Gewertet und normiert
wird hier in erster Linie nur im Hinblick auf die von der
Wirtachaftstiieorie erkannten immanenten, unmittelbaren Ziele
der Individual* und Volkswirtschaft, wobei zum Teil allerdings
auch die Entwicklungstendenzen des wirtschaftlichen und
sozialen I^bens und die Forderungen, die aus ihnen ent-
springen, zur Gdtomg kommen können.
Die Wirtschaftsphilosophie endlich, die zuhöchst
auch eine Anwendung der Ethik auf das Ökonomische
einschließt, beurteilt das gesamte wirtschaftliche Sein aus
dem Gresichtspnnkte der obersten, sozialen und kulturellen
Zwecke des Menschen und untersucht, inwiefern die be-
stehenden Wirtschaftsformen diesen Zwecken entsprechen,
um dann auch anzudeuten, in welcher Richtung sich die
Wirtschaft entwickeln mfifite oder sollte^ um möglichst der
Idee der wahrhaft guten, richtigen, vollkommenen Wirt-
schaft, dem kulturmenschheitlichen Wirtschafts-
ideal, zu genfigen. Als „richtige" Wirtschaft kann hier
nur jene gelten , die mit den anderen sozial - kulturellen
Gebilden zur Einheit reiner und voller Kultur
zusammengeht, die also geeignet ist, die menschlich-geistige
Höherentwicklung zu fördern oder die Unterlagen zu einer
solchen zu bieten. Ks beruht also das Normativ - Teleo-
logische hier wie in den anderen normativen Disziplinen
keineswegs auf rein subjektiven, individu^en, willkürlichen
Annahmen, Wertungen und Forderungen, sondern einerseits
auf der Grundlage der Theorie, der kausal-teleologischen Er-
kenntais des wirtschaftlichen Wollens, Handelns und der Ziele
desselben, welche die Handhabe zur Kritik und Regelung
der Mittel zu diesen Zielen gibt, anderseits auf der Einsicht
in die Zwecke des sozialen, kulturellen, menschheitlichen
Lebens und in die aus ihnen zu gewinnenden Normen. Gewiß
können hier zum Teil verschiedene Beurteilungen neben-
einander gehen, eine Einigkeit bezüglich aller dieser Ziele
Ijiyiiizca by GoOglc
n. Speridlcr TdL
und Mittet wird aich nlolit ao leicht erzieleii lassen wie be-
treib der Unachen dea Geadiehena Aber wenn man aadi
nidit eine .»exakte** Wiasenaoliaft vom SeinaoUenden atatniert»
ao kann man liier wie sonst doch immerhin anerkennen, daß
«ne wissenadiaMch and philolcphiadi fondierte Theorie
nnd Kritik dea Sollens mosflich ist, deren teilweise
hypothetischer Charakter keineswegs alle Objektivität ans-
schlieflt Diese Objektivität wird um so g-rößer sein, je mehr
es' gelingfen wird, bei der Wertung* und Normierung sich aul
einen überindividnellen, universalen, idealen Standpunkt zu
stellen, den eines „sozialen Bewußtseins überhaupt^*.
Es kann nicht die Angabe der praktischen, angewandten
Soziolog'ie oder der normativen Sozialphilosophie sein, in
allen Einzelheiten Vorschriften für die Reg-elung- der sozialen
Verhältnisse zu geben. Die Leistungsfähigkeit der teleo-
logischen und normativen Methode ist eine be^enzte, so
wertvoll und notwendig auch die auf gründlicher soziologischer
Erkenntnis beruhende Darlegung* von Maßnahmen zur Er-
reichung- bestimmter sozialer Zwecke erscheint, so wichtig das
sozial - kritische Denken und Forschen als Ergänzung
und Abschluß der sozialen Theorie ist Aber dies wird man
von einer normativen Soziologie oder Sozialphilosophie
mindestens verlangen dürfen und müssen, daß sie am Leit-
faden der obersten sozialen Ziele, Ideen und Werte allgemeine
Gesichtspunkte zur Beurteilung und Kritik des sozialen Seins
gewinnt und die Grundnormen aufstellt, die für die aktive,
rationelle Weiterg-estaltung sozialer Verhältnisse richtunggebend
sein können oder müssen. So gibt es denn eine drei-
fache soziologische Erkenntnis: Erstens die Erkenntnis
des sozialen Seins und Werdens, zweitens die Erkenntnis des
in gesellschaftlicher Beziehung Notwendigen, des sozial-
teleologischen Müssens, drittens die Erkenntnis des sozialen
Sollens, soweit eine solche möglich ist. Man kann und soll
diese drei Erkenntnisarten reinlich auseinanderhalten, also nicht
etwa da, wo es sich nur um die exakte Feststellung eines
sozialen Tatbestandes oder -um die Erklärung sozialer Komplexe
und Zusammenhänge handelt, kritisieren und werten oder
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Z^tes Kastel Der Zweck in den SonalwtMewrfuften.
191
Voncfaläge für eine Änderung' der sozialen Verliältnisse der
GeaeUscIiaftsordnimg' machen. Die Berechtigung einer aozial-
technifldien und aozialphilosophiaGfaen, normierenden Wiasen»
achaft aber wird dadurch nicht angetaatot» mag man auch als
„atreng«" Wissenschaft nur die reine Theorie, die reine Seina-
wissenschaft ansehen und die kritisdi-nonnative Beurteilung
philosophischen Disziplinen überlaaaen. —
Gesellschaft und Staat erfüllen einen doppelten Zweck.
Etatens dienen sie der Erhaltung- und Entwicklung, der Föi^
derung der Individuen und ihrer persönlichen Zwecke, die
durch die zentralisierte Organisation des Gemeinschaftslebens
allein zu verwirklichen sind. Zweitens aber sind sie die alles
geist^ie Wirken und alles kulturelle Schaffen zusammen-
fiueenden und fördernden Vermittler des g-eistig-kulturellen
Entwicklungfsprozesses, die Faktoren der Erzeugung* über-
individuell gültiger, allgemeiner Werte und Guter.
Sie sind dies zunächst ihrer Idee nach und sollen es sein.
Aber die Geschichte zeigt zugleich, daß sie sich tatsächlich
immer wieder und immer mehr in der Richtung nach diesem
Ideal und Endzweck ausgestalten lassen. In diesem Sinne ist
die soziale wie die geistige und kulturelle Entwicklung ziel-
strebig; in der Mannigfaltigkeit ihrer Zielsetzungen entfaltet
sich ein einheitlicher, universaler, alle Sonderzwecke in sich
beschließender und aus sich entlassender sozial- historischer
Endzweck, wie dies in genialer Weise besonders M^/d erfaßt
hat. Alles Wirkliche ist zwar nicht schon von vornherein
(im empirisch -phänomenalen Sinne) „vernünftig", aber es hat
die Tendenz, immer vernünftiger, zweckmäßiger zu werden —
nicht „von selbst" freilich, sondern durch den tatkräftigen
Willen der Menschen.*)
*) Vgl. zu dem ganzen Kapitel die Arbeiten von Comte, Spencer,
P. Barth, Schäffk, LUienfeld, R Worm», Qidding», L. JP. Ward, Espinas,
De Bttbertif, lÜMf Gftmyloioier, BotrenAofer, H Ogpenheimerf Eulmbiirg,
Wundt, JeruMim, JDufWieim, de Greef, Tarde, 8immd, 0. Spann, L. Stein,
Tonniea, Vaccaro, Comejo, SchaOmayer, 0. Amman, MaUat, Qoldsekeid,
Natorp, M. Adler, P. Steffen u. a.
Elftes Kapitel.
Der Zweek In der Geschichte.
In den letzten Jahren ist von verschiedener Seite {DiltJiey^
Windelhand j Rickerl u. a.) betont worden, daß die Geschichte
keine „Gesetzeswissenschaft" sei. Wir wollen uns hier nicht
auf eine Erörterung- der Streitfrag-e einlassen, sondern ohne
weiteres zugeben, daß es gewiß nicht die eigentliche Aufgrabe der
rein geschichtlichen Betrachtung oder Geschichtswissenschaft
sein kann, Gesetze des Geschehens zu finden. Damit ist natür-
lich nicht gesagt, die Geschichte habe nur einfach darzustellen,
was sich im Leben der Völker und Staaten zu verschiedenen
Zeiten tatsächlich ereignet hat, sie habe nur zu schildern, zu
erzählen. Keine Wissenschaft — und eine solche will und
kann die Geschichte meist doch sein — begnügt sich mit
der bloßen Aufzählung dessen, was auf irgendeinem Gebiete
möglicher Erfahrung festzustellen ist Man fordert von jeder
wissenschaftlichen Disziplin, sie solle uns die Tatsachen, mit
denen sie sich beschäftigt, erklären, begreiflich machen, in
ihren Zusammenhängen aufweisen. Das ist aber nicht ohne
Heranbringung des Begriffs der Kausalität an das Er-
fahrungsmaterial möglich, und so ist es klar, daß ohne Er-
mittlung der Ursachen des historischen Geschehens und der
Wirkungen desselben eine wissenschaftliche Geschichts-
forschung nicht betrieben werden kann. Nun kann man ja
mit Recht von einer „historischen Kausalität" sprechen
{Richert, S.Hessen u.a.), von einmaligen, sich nicht wieder-
holenden ursächlichen Zusammenhängen im Unterschiede von
dem konstanten und allgemeinen Kausalnexus, wie er in
einem Naturgesetze formuliert wird, zum Ausdruck kommt.
Volle Begreif lichkeit des historischen Geschehens ist aber
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Elftes Kapitel. Der Zweck in der Geschichte.
193
doch erat dadurch za enideii, daft man den immer wieder za
emeuemden Verauch maobti die nngvlären Kaasalzusammen»
hänge und Abfolgen in der Geachidite eines KnltuigebÜdeSt
eines Volkes, der Menschheit möglidist auch ans der Geltung
allgemeiner, relativ universaler Gesetze einheitlieh zu begreifen.
Die historischen Ereignisse sind also wenigstens als gesetz-
mäßig darzustellen, wenn es auch vielleicht nicht mogfich ist^
besondere, spezifisch historische Gesetze zn ermitteln, oder
wenn es auch richtig ist, daß die Erforschung solcher Gesetze
nicht den Gegenstand der reinen Geschichtschreibung büdet.^
Daß die Beleuchtung der geschichtlichen Vorgänge durch
biologische, psychologische^ soziologische, kulturelle Gesetzlich-
keiten hohen Erkenntniswert f&r die Geschichtswissenschaft
besitzt, wird auch derjenige zugeben können, der weiß, daß
historische Ereignisse sich niemals restlos aus solchen und
anderen Gesetzlichketten ableiten und erklaren lassen. Es
bleiben stets gewisse irrationale Faktoren übrig, wie die
Individualität der führenden Geister, der „Zufall" als ein
ZusammentreiBfen von Bedingimgen, das außerhalb aller Be-
rechnung Hegt, und anderes. Doch darf die „Einmaligkeit**,
die Singularität des Historischen auch nicht allzusehr über-
trieben werden. Es fehlt nicht an einem Rhythmischen,
Typischen, relativ Konstanten in der Greschidite, es lassen
sich gewisse geschichtliche Tendenzen allgemeiner Art auf-
weisen, und es ist jedenfalls ein berechtigtes Ideal, das
historische Irrationale auf ein möglichstes Minimum zu bringen.
Die in der Geschichte waltende Kausalitäf^ schwebt
nun nicht gleichsam über den Menschen, sondern wurzelt in
den menschlichen Handlungen selbst, mögen diese andi
durch das natürliche und soziale Milieu ausgelöst und be-
einflußt sein. Die Geschichte rollt nicht von selbst automatisch
ab, die Menschen in ihren festen Bann zwingend, in einer
von vornherein bestimmten, von außen unabänderlich fest-
•) So maa, Smmd, Wmät, €MäMdtM u. a.
**) Vgji. Eisler, Wille und Notwendif^eit In der Geschichte^ Annalea
fOr Nator- und Kaltaiphilosophie, 1914.
Bttler, Oet Zweck. 13
194
II. SpcKteUer Teil.
g-elegften Richtixn; sich bewegend, unbeemfloOt von mensch-
lichem Wollen and Handeln. Sondern za den unmittelbaren
Faktoren der Getchidite gehören vor allem die Akttonen
nnd Reaktionen der Menschen selbst, und zwar vor allem auch
der gesellschaftlich verbundenen Mensdien, der menschlichen
Gemeinschaften, innerhalb deren grofie, hervorragende Per-
sönlichkeiten zu führenden Geisteni werden, indem sie durch
ihre besondere Einsicht, Initiative, Eiieigie, durch ihre
Bichtungs- und Zielbewußtheit eine Autorität über die Maasen
gewinnen und sie früher oder spater, oft nach harten Wider-
standen, mitreiAen. Aus den Wechsel- und Gegenwirkungen
der Menschen, ans menschlich- dynamischen Relationen geht
alles geschiditUche Leben kausal hervor. Die historisch ge-
wordenen Zttstindlichkeiten und Verhältnisse bedingen und
beeinflussen wohl die besondere Art und Weise, den be-
sonderen Inhalt menschlichen WoUens und Verhaltens, aber
sie selbst entstehen primär durch die Wirksamkeit mensch-
licher Aktivität nnd Reaktivität (gegenüber der Natur wie
dem historisch Gewordenen selbst) und sind in diesem Smne
ein Niederschlag dessen, was die Menschen wollen, ersdeben.
Die historische Entwicklung ist die Resultante der
menschlichen Wechselwirkungen, und die individual- und
sozialpsychische Gesetzlichkeit menschlichen Wollens
und Handeins selbst verieiht ihr eine aller Wülkfir sich ent-
ziehende Notwendigkeit. Diese historische Notwendigkeit
ist also nicht im Sinne eines fatalistischen, pasdvistischen,
naturalistisGiien Determinismus zu verstehen. Die Geschichte
läuft nur deshalb so und nicht anders ab, weil die und die
bestimmten Willens- und Triebimpulse bestimmte Aktionen
und Reaktionen bedingen, und weil das eigene Wesen indi-
viduellen und sozialen Wollens in den historischen Er-
eignissen zur Erscheinung-, Äußerung-, Entfaltung gelangt.
Der Charakter, „der Grundwille** der Menschen und
der Menschheit selbst manifestiert sich im einheit-
lichen Zusammenbangfe des geschichtlichen Pro-
zesses und gibt diesem die Gesamtrichtunj^. Die Ge-
schichte ist nicht ein Werk der Natur außerhalb des
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Elftes Kapitel. Der Zweck in der Gesdiidite.
195
Menschen, sondern sie ist bei allem Eiogfebettetsein in den
Strom des kosmischen Geschehens und in die Gesetzlichkeit
des Alls in erster Linie ein Produkt menschlicher Energie,
menschlichen Geistes, menschlichen Willensi der sich in einen
reaktiven Triebwillen und einen aktiv-bewußten Willen im
engeren Sinne gliedert
Die Notwendigkeit der geachichtiHchen Entwicklung
bedeutet nicht» daß wir im ▼orhinein mit Bestimmtheit be-
urteilen können, was geschehen wird, weil es von selbst
so gesdiehen muß, sondern nur, daß einerseits das Ge-
schehene infolge der entstandenen Verhältnisse und der
menschlichen Willensreaktionen and Maßnahmen nicht anders
ausfallen kann, und daß anderwits alles künftige Geschehen
durch äußere und besonders innere Bedingungen bestimmt
ist, die wir aber, da sie sich beständig verschieben und
durch das geschichtlich Gewordene sich verändern, nicht
als absolute Konstanten einsetzen können. Richte ist es,
daß keine individuelle Willkür an dem Gesamtverlauf und
der Grundrichtung der Greschichte etwas ändern kann.
Aber dieser Gesamtverlauf, diese Grundrichtung selbst ist
durch die Willenstätigkeit der Menschen begrnndet und be-
dingt, und ein Teil der menschlichen Willenskraft ist auf eine
Beeinflussung, Abänderung der Verhältnisse gerichtet, ja solche
aktive Grestaltung und Modifikation des Gegebenen gehört
geradezu zum Inhalt und Wesen der Weltgeschichte. Gewiß»
nicht jede individuelle Velleität kommt in der Geschichte zur
Geltung, auch muß die Zeit erfüllt sein, es müssen gewisse
Voraussetzungen in bezug auf Kultur, Macht, Organisation
gegeben sein, soll der historische Schöpferwille seine Ziele
verwirkUchen können. Aber nicht bloß die Geschwindigkeit
des geschichtlichen Prozesses läßt sich dann beschleunigen,
sondern auch eine neue, von der bisherigen abweichende
Teilrichtung kann ihm gegeben werden, ohne daß deshalb
die Grundtendenz des historischen Werdens der Einheit und
Konsequenz zu ermangeln braucht. Historische Notwendig-
keiten haben, das muß betont werden, nichts mit bloß mecha-
nischem Zwang zu tun, sie sind djorchaus mit der psycho-
13*
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196
II. Spezieller Teil.
logischea und sittlicheii Willenstreiheit^ mit der FahiglEeit des
Menfcheii, vemunftigf-alttltchen Wertungen, Ideen und Nonnen
gemiß zu woüen und su handeln, vereinbar. Die Eigen*
gesetaliclikeit, die Autonomie des Willens, zuliöolist des Ver*
nnnftwillens, kommt in der Geschidtte su ihrem Rechte, in
um so höherem Maße, je weiter die Menschheit lortschxeiteL
Zur Gesetzlichkeit der Gesdiichte gehört die wachsende
Selbstbefreiung des Menschen von der Natur, die Steigerung
der Macht, menschliche Willensziele zu verwirklichen.
Die Geschichte ist also kein aus dem Walten bloß
änßwer Naturfaktoren ableitbarer Prozeß, sie resultiert vielmehr
aus der Wechselwirkung, dem Zusammen- und Gegenwirken
strebender, wollender, tätiger Menschen.*) Die unmUtelbaren
Ursachen historischer Begebenheiten und Umwälzungen sind
stets Handlungen, die der Historiker mit anderen, gleichzeitigen
und vorhergegangenen Handlungen kausal verknüpft, wobei
er zugleich auf die Verhältnisse, Umstände, Bedingfungen,
Zustände naturhafter, sozialer, kultureller Art Rücksicht nehmen
muß. Um alle diese Handlungen nicht bloß miteinander zu
verknüpfen, sondern auch zu „verstehen*', muß der Geschichts-
forscher sich in das Seelenleben der wollenden und handelnden
Mensch«! einfühlen, er muß imstande sein, sie zu deuten,
indem er die Motive, die Triebfedern und Beweggründe,
denen die historischen Aktionen und Reaktionen entquellen,
richtig erfaßt. Bestimmte Verhältnisse lösen als historisch-
soziale „Reize" bestimmte Vorstellungen aus, an diese heften
sich bestimmte Gefühle und Strebungen, die in bestimmten
Handlung-en sich entladen, zum Ausdruck kommen; diese Hand-
lung-en erregen wieder bestimmte psychische Vorgänge, die
in weiteren Handlung-cn sich objektivieren und dadurch in-
direkt zu neuen Verhältnissen führen. Das relativ Konstante
in diesem bunten Spiel von Aktionen und Reaktionen bildet
die Gesetzlichkeit des individual- und sozialpsychischen Lebens,
die Gleichartigkeit eines Grundstocks von Anlagen, Be-
*) Vgl. M. Aähr, Marxistische Probleme, 1913; .EMer, GnmdUigen
der Philosophie des Geisteslebens, 190B; Soziologie, 1903; QMäaMi»
Kriük der WUlenskraf«, 1905.
y i.i^L^^ L-y Google
dfia Kapitd. Der Zweck in der Gcaehidrte.
197
durfnissen, Trieben, Intereaaen, Wertungen, 2Uel8trebig^keiten»
Zwecksetzungfen.
Damit gelangen wir zur historischen Finalität. Der
Kausalnexus, in dem historisches Geschehen steht, umfafit siel*
strebige Aktionen und Reaktionen. Zu den Ursachen und
Wirkungen, aus denen das geschichtliche Leben resultiert, ge-
hören Trieb- und Willenshandlungen, und diese haben zum Inhalt
Ziele, welche verwirklicht, Zwecke, welche erreicht werden
sollen. Der historische Zusammenhang- ist wohl kausaler Art,
aber ein Kausalnexus, dessen Glieder direkt oder indirekt eine
Finalität zur Grundlag-e haben. Als Ursachen wie als Wir-
kungen treten uns hier Akte entg-eg-en, die einem Streben
entspringen, und die nur so verstanden werden können, daß
wir sie als Mittel zn bestimmten Zwecken auffassen. Freilich
muß hier wieder an das Prinzip der Heterogfonie der
Zwecke erinnert werden: es darf nicht der Fehler begang-en
werden, alles Historische als vorgewußt und von vornherein
gewollt, beabsichtigt zu betrachten. Sondern es verhält sich
so, daß immer wieder bloße Wirkungen, Folgen von Zweck-
handlungen unter gewissen Bedingungen selbst zu Zielen und
Zwecken werden, und daß erst aus der Integrierung, Anein-
anderreihung ursprünglicher und historisch gewordener Ziele
umfassendere Zweckzusammenhänge, historische Zweck-
reihen erwachsen. Es besteht hier, wie schon in der Natur, eine
Kombination elementarer Zielstrebig keiten zu Gesamtwu'kungen
auf dem Wege der Beeinflussung anderer zielstrebiger Sub-
jekte. Es sieht oft so aus, als ob diese Gesamteffekte direkt
erstrebt worden wären, obzwar in Wirklichkeit zuuäclist nur
einzelne, nächste Veränderungen, etwa die Beseitigung
unerträglicher Zustände, die Lösung gewisser Spannungen,
die Befreiung von unerträglichem Druck, das Strebensziel der
Menschen bildeten und die tatsächlich sicli ergebenden neuen
Verhältnisse mit ihren Zweckmäßigkeiten und ihrem positiven
Gehalte das Produkt einer kürzeren oder längeren Entwicklung
sind. Teilweise kommt aber das, was in der großen Masse
der Völker gärt und hier nur als dumpfe, verworrene, un-
klare Strebung sich regt, in eminenten, führenden Persönlich-
198
n. Spetidler TeO.
keiten zu hellerem, deutlicherem Zweckbewußtsein. So wird
der historische Fortgang* immer wieder beschleunigt, und es
kommt in das historische Geschehen mehr Zielsicherheit, mehr
Initiative, Aktivität und Planmäßigkeit Ferner g"ibt es eine
Reihe von Faktoren, welche ein Wachstum der Zwecke
und Zweckmäßigkeiten in der Geschichte ermöglichen.
Das geistige Leben differenziert sich immer mehr, es er-
füllt sich mit immer neuen Inhalten und gewinnt an Fähig-
keit, die Mannigfaltigkeit der Erfahrung und der Gedanken
einheitlich zu verknüpfen, zu ordnen und zu verwerten. So
ist für die kulturschaffende Tat eines immer mehr im Bewußt-
sein seiner obersten Ziele und der richtigen Mittel zu ihrer
Verwirklichung erstarkenden Vernunftwillens die Voraussetzung
gegeben. Das bloß Triebmäßige, Impulsive, das um die Folgen
wenig bekümmerte Streben macht immer mehr, auf immer
mehr Lebens- und Kulturgebieten dem Zielbewußten Platz,
die Selbstregulation im Sozialen und Kulturellen wird immer
sicherer und zweckmäßiger, einheitlicher, methodischer. Immer
besser gelingt es, die Natur und das Naturhafte zu ver-
geistig-en und zu rationalisieren, den Bedürfnissen und Zielen
der sich cutwickelndcu Menschheit anzupassen, auf Grund-
lage der Erkenntnis, der Wissenschaft und Technik sowie
der Einsicht in das, was das rein und voll Menschliche ver-
langt und benötigt, also aus einer immer bewußteren richtigen
Wertung heraus.
Ideen und Ideale sind von Anfang an in der Geschichte
wirksam, nicht als blasse Schemen, sondern als typische
Willensziele, alsRichtpiinktedes Wollens, Wertens, Denkens
und Gestalteiifl. Sie sind der Aosdrack fündamratsler Ten-
deasen der menschlidien Organisation und der Stmktiir des
Geistes, und sie treiben immer wieder die Menschen an, sie
SU realisieren. Sie verkörpern sicli in den Gebilden ond
Institutionen des Gesamtgeistes, in Wirtschaft und Recht,
Wissenschaft und Technik, Kunst und Religion, sittlichen
und sozialen Einrichtungen und Verhältnissen, im „objektiven
Greist^, der aus den Wechselbezieihungen der Einzelgeister
entspringt und diese zugleich beeinflußt. Im Verlaule der
Elftes Kapitel. Der Zweck in der Geschichte.
m
geschichtlichen Entwicklung" steigert sich die Bewußtheit
dieser Ideen. Sie kommen immer reiner und umfassender
zur Geltung, und wie sie in der Einheit der Organisation
des Menschengeistes wurzeln, so differenzieren sie sich
nicht bloß immer mehr, sondern sie beeinflussen einander
stets, aber so, daß der Wille zur Einheit der Ideen, der
historischen Ziele und Zwecke immer kräftiger und immer
mehr seiner selbst bewußt wird. Es ist eine Folge der histo-
rischen Entwicklung, daß Widersprüche in den Zweck-
setzungeri und zwischen den Mitteln, die ihnen dienen, immer
mehr bemerkt und iiimier unerträglicher werden, so daß der
menschliche Kulturwille in immer höherem Maße nach Be-
seitigung des Irrationalen streben muß.
Es fehlt gewiß nicht an Perioden relativer Stagnation,
auch bleiben Rückschläge nicht aus, aber im ganzen weist
doch die Menschheitsgeschichte einen wahren Fortschritt
auf, der bei genügender Erstarkung und Aasbreitang des
Kulturbewußtseint und auf der Grundlage einer umfassenden
Organisation der Kultormenacdilieit unanfhaltiam ist, wo-
fern nicht nocli furchtbare Umwälzungen in der Natur die
Menaohheit vernichten oder veik&mmem luaea werden.
Hat einmal der bewufite Fortschrittswille eine gewisse
Intensität und Extenaität erreicht und sich entsprechend
organisiert, dann besteht die höchste Wahrscheinlidikeit für
ein immer stetigeres Aufateigen der in der Idee und zu-
gleich immer mehr auch im realen Wirken vereinigten,
kooperierenden Menschheit. Das Fortschreiten, die Höher*
entwicklung im Sinne immer vollkommenerer Beherrschung der
Natur und immer feinerer und umfassenderer Kultivierung
und Humanisiemng menschlichen Seins und menschlicher
Schöpfungen, ist selbst eine der Ideen, die den Willen zu
ihrer Realisierung antreiben und die aidi vermittelst der Tat*
kraft der Menschen immer besser verwirklichen lassen. Ist
auch nicht alles Wurkliche vernünftig und alles Vernünftige
wirklich, heizscfat auch nicht in der Gesdiichte die reine
Logik, so kann doch der GreschichtsphOoaoph, der die einzelnen
Momente und Phasen des historischen Gesdiehens zur Einheit
200
II. Spezieller Teil.
einer Idee zusammenfaßt, mit gfuteii Recht von einer Tendenz
in der Geschichte sprechen, die „Vernunft", das wahrhaft und
allgemein Menschlich-Zweckmäßige zu reahsieren, dem „Logos"
immer ungetrübter zur Herrschaft zu verhelfen. Und zwar so,
daß das ,HA.logische'S die blinde Leidenschaft und der be-
schränkte Trieb, immer wieder in den Dienst des „Telos", des
idealen Ziels, gestellt werden, also nicht von außen her,
sondern durch den I^zeß historischer Selbstregulation und
Kcmpensatton („Dialektik:**). Individuen und Völker erscheinen
80, wie dies Hegel gezeigt hat, als Trager von Ideen, zuhöchst
der reinen Men8chbeit8*> ond Kulturidee, die den Inhalt und
Zielpunkt des humanen Gesamtwillens bildet
Wir sehen also, eine historische Teleologie ist mög*
lieb, die, weit entfernt^ die strenge Kausalitit des Geschicht-
lichen zu leugnen oder zu vernachlässigen, yielmehr betont, daft
alle Zielstrebigkeit und Zwecksetzung in der Geschichte, ganz
abgesehen von ihrer nicht zu übersehenden Beeinflussung durch
Natnrbedingungen, auch in den Rahmen des Kausalzusammen«
hangs Ebendieselben Aktionen und Reaktionen, die sich
uns ab zielstrebig zeigen, sind fOr die kausale Betrachtung Ur-
sachen und Wirkungen, und umgekehrt sind die Ursachen
geschichtlicher Veränderungen direkt oder indirekt selbst
finaler Art, ohne daß die Notwendigkeit der kausalen Relationen
irgendwie aufgehoben oder lockerer wird. Auf Grundlage
bestimmter Verhaltnisse erfolgen aus der Natur der gesell-
schaftlich verbundenen Menschen bestimmte Reaktionen, die
weitere Reaktionen zur Folg« haben, und der Kausalnexus
zwischen allen diesen Akten wird durch den Umstand, daß
sie auf etwas gerichtet, also in diesem Sinne zielstrebig
sind, nicht im geringsten berührt. Wie in der Natur, nur noch
viel deutlicher und unmittelbarer, erweist sich in der Geschichte
die Finalität als die Innenseite der Kausalität, des äußeren
Kausalnexus, der phänomenal-kausalen Relationen. Gehen
wir von den Zielen aus^ die in der Geschichte angestrebt
werden, dann weiden ebendieselben Akte^ welche Glieder des
Kausalzusammenhanges bilden, zu Mitteln, also zu Momenten
eines Finalzusammenhanges; die Eindeutigkeit des Geschehens,
Elftes Ki^td. Der Zweck ia <ler Gcwliidite.
201
soweit sie für uns mög-lich ist, wird dadurch nicht beeinträchtiget.
Der kausale Zusammenhang- der Handlungfen selbst ist ein
Ausdruck, eine Objektivation der Wechselbedingtheit, der
g'egfenseitig'en Abhäng^ig-keit von Tendenzen, deren Inhalt Ziele
bilden. Die telcolog-ische Notwendig"keit im eng-eren Sinne
aber, das Beding"t- oder Gefordertsein der Mittel durch die
Zwecke findet ebenfalls seinen kausalen Ausdruck, nämlich
in der „determinierenden Tendenz" des Zielwillens, die ein
Wollen des Mittels zur Folg-e hat, wobei zugleich der
Willenszusammenhang" seine physische Seite, sein physio-
logisches Korrelat hat. Wie in den übrigfen Wissenschaften
ist auch in der Geschichte die Kategorie der Kausalität all-
gemeingültig,*) aber sie wird durch die Idee der Finalität
ergänzt, und zwar so, daß die an sich einheitliche, identische
Reihe des Geschehens die Anwendung beider Gesichtspunkte
der Betrachtung zuläßt.
Die Geschichte ist eine Kausal- und eine Zweckwissen-
SChaft zugleich. Letzteres freilich nicht im normativen Sinn.
Versteht man aber unter ,,Xorm" bloß einen objektiven Maß-
stab des Wertens und der Beurteilung, dann laßt sich natür-
lich die normative Beurteilung auch an die Tataachen der Ge-
schichte heranbringen. Diese Art teleologischer Betrachtungs-
weise allerdings hat weder hier noch in den Sozial- und
Kulturwissenschaften mit der Kausalität direkt etwas zu tun.
Die Bewertung^ und Beurteilung historischer Begebenheiten
und Verhältnisse, die Einschätzung der Bedeutung geschicht-
licher Ereignisse, der Schöpfungen, Leistungen von Person*
licUceiten und VoUcern erfolgt axd Grund der ericsmiten
historifldien Ideen und Ziele. Zunädhat in den partiatkaltaiellen
Gebietes, wie Politik, Wirtschaft, Religion usw., nnd nach
„relativen Wertmafistäben", das heiflt auf Grund der historisch
angestrebten Sonderziele,''"'') sodann aber auch, wenigstens für
den Geschichtsphilosophen, vom Standpunkt der univexsalen
Kultur« und Menschheitsidee, im Hinblick auf die obersten
*) Anders Mimsterberg, der die Geschichte als rein teleologische
Wissenschaft auffaßt
**) Vgl. 0. Zoremr, Die Geschichtswissenschaft, 1886.
202
II. Spezieller Teil.
Ziele und Werte des Menschen- wie des Geisteslebens überhaupt.
Diese Wert- und Zweckbezügfe ermogflichen auch eine gewisse
Auswahl unter dem Material zu einer Geschichte, zum Zwecke
der Hervorhebung" des historisch Bedeutsamen und als eine
entsprechende Gruppierung und Ordnung des Materials.*)
Historisch bedeutsam ist aber alles, was zur Herstellung
des hislorisclieii Zusammenhanges dienen kann, was eine Stelle
innerhalb desselben einnimmt, was zur Begreiflichkeit und
zum Verständnis der historischen Entwicklung beiträgt. Diese
Bedeutsamkeit bekommt ein Vorgang einerseits als Ursache
bestimmter Ereignisse, anderseits als Mittel zu einem Zweck,
der selbst wieder als Mittel zu einem anderen Zweck dienen
kann, schließlich als Glied des teleologischen Gesamt*
Zusammenhanges der Geschichte, als ein Moment im Prozeß
der Realisierung von Ideen und Zielen, die zur Einheit einer Ge-
samtidee, etDCKi wenigstma fonnalen Eadadea «laammengehen.
Im Veriaufe der geschiditlicfaen Entwickinn^ wird die
Keihe der von den Menschen gesetzten Zwecke immer mannig-
faltiger. Immer neue Ziele werden erstrebt, teils direkt in-
folge der geänderten Verhältnisse, teils gemafi dem Prinzip
der Heterogonie der Zwecke, nach wdchem aus "Wirkungen
von Willenahandlungen eigene Zwecke werden, teils endlich
durch Umwandlung bloBer Mittel in Zwecke^ Überblicken wir
aber die Gesamtrichtnng der geschichtlichen Entwicklung, so
finden wir, daß trotz aller „Zufälligkeiten** der Zweckentstehnng
nnd trotz alles Unvorheigesehenen und Unvorgewollten in
der Geschichte im ganzen doch immer wieder eine Tendenz
nach einem idealen Zielpunkt besteht. Jedeniblls laßt sich
die Greschichte der Menschheit besser verständlich machen,
vereinheitlichen, wenn man sie am Leitfaden der Idee einer
einheitlichen Richtung betrachtet und dann untersucht, ob
*) Vgl. Bidtert, Die Grenzen der naturwissenschaftlichen Begriffs-
bildung, a. AniL I9i3> Nach Rlckert ist die historische Begriffsbildniig
iftdedogisch*, das hdßt sie erfolgt dtireh „Wertbeziehang', durch Aus^
wsU der dnrdi Beziehung auf einen allgemeinen, absoluten „Kultur-
wert* (Religion, Sittlichkeit usw.) bedeutungsvollen „historischen Indi-
viduen". Vgl. H. Engert, Teleologie und KausalitAt, 1911; i^VMcAewe»-
Köhler, Archiv f. systemat. Philos. XII— XIII.
Elftes KapHd. Der Zweck in der Getdildtte.
203
und auf welche Weise die Annäherung' an das in der Idee
vorweggenommene geschichtliche Endziel empirisch, tatsach-
lich bewerkstelliget wird.*)
Dieses Endziel schwebte nicht etwa von Anfang an den
Menschen als ein bewußt erstrebter Inhalt vor; aber man kann
doch, ohne unkritisch zu werden, sagen, daß in den mensch*
liehen A n 1 a g e n , in den Potenzen der menschlichen Orgfanisation,
welche in das bestimmte Milieu der Erde gfestellt und hier be-
stimmten Einflüssen ausgesetzt ist, die Ziele und der Endzweck
der Geschichte potentiell begründet, vorbereitet sind. So, daß
schliefilich in der Geschichte — wie auch in der Natur — nur
das g-eschieht, was geschehen sollte, wozu die Wesen in ihren
Beziehung*en zueinander „bestimmt" sind, bestimmt nicht
bloß durch die Umwelt, sondern in erster Linie durch nch
selbst, durch die Eig'enrichtung' ihres Strebens and
Handelns, durch den „Wesenswillen" (Tönnies), Zu dieser
„Bestimmung-" der Menschheit in der Geschichte gehört vor
allem auch die Setzung immer neuer und höherer
Zwecke und deren aktive Verwirklichung in der
Kulturentwicklung, als Entfaltung der Menschheitsidee
in der Zeit und als Realisierung der Freiheit und Kig-en-
gcsetzlichkeit des Geistes, der in der Menschheit eine
besondere Daseins- und Wirkungsform hat, und dessen innerstes
Wesen die Geschichte immer mehr zur Bewußtheit und
Geltung bringt fllegelj**)
*) So Kant. Vgl. P. Mens», Kants Lebre von der Ditwicklmig in
Natnr und Geschichte, 191 1.
**) Vgl. zu dem Ganzen die geschichtsphilosophischen Schriften
von Ttco, Seräett Kant, Fichte, Hegd, Chr. Krause, Lotze, C. ffwrmoi m
(Philos. der Geschichte, 1870), iVe^ (Die Entfaltung der Idee des
Menschen durch die Weltgeschichte, 1870), Th. Idndner, K. Breyiigf
Larnprerht, L. Harimann u a.; femer die Arbeiten Ober die ökonomische
(„materialistische'*) Geschichtsauffassung von Plechanow, Kautsky, WoU-
mann, Ma»aryk, F. Barth, 0. Lorenz, Weiset^prün, Semmacher, Charasoff,
CMOusheid, M^ASUr, Bmaltim, CSdmidt, O. Bauar o. a. Ferner DüfJhay,
Der Aufbau dar geschidiffiehen Welt in den GeisteswIsseiiSGhaften,
1910; Frischeiten-KShkr, Archiv für systemat Philos. XII, igo6; Groten-
feld, Die Wertschätzung in der Geschichte, 1903; Bemhehn, Lehrbuch
der historischen Methoden und der Geschichtsphilosophie, 1908.
Zwölftes Kapitel.
Der Zweck in der Ethik.
Die sicherste Tatsache der Ethik ist, daß wir eigfene und
fremde Willenshandlungfen und Gesinnungfen in einer spezi-
fischen Weise beurteilen, werten, und daß menschliche Indi-
viduen und Verhältnisse als sittlich oder unsittlich betrachtet
werden. Eine Reihe von Eigenschaften und Tendenzen g-ilt
als sittlich „gfut", wir billigten sie, loben sie unter Umständen.
Das Sittliche wird g-efordert, das Unsittliche verdammt;
ersteres soll sein, letzteres soll unterlassen werden. Es be-
stehen also bestimmte moralische Werturteile und sitt-
liche Normen'*') oder Imperative. £s zeigt sich ferner, daß
♦) Die wissenschaftliche Ethik kann die sittlichen Normen nicht
aus eigener Willkür geben. Sie findet zunächst solche Normen im
geschichtlich -sozialen Leben vor, ausdrflcklich formuliert oder nur in
gewitten Wartongeii und Reaktionen sidi gdtend madiend, nnd sie
hat non vorerst „die tatsächlich geltenden Nonnen des sittlichen
Lebens auf ihren Inhalt und ihren Ursprung za pröfen" (Wnjidt). Sie
ist wie die Jurisprudenz eine Normenwissenschaft als Wissenschaft
von tatsächlich geltenden Normen, die sie logisch -systematisch be-
arbdt» mnfi. Sie arbeitet die in der Mannigfaltigkdt der sitlüehen
Nonnen sidi entfaltenden ethischen Grandnonnen bq^rißUch heraas
und begründet die einzelnen Moralpflichten als Feigen ans diesen, die
ihnen ideell, wenn auch nicht zeitlich vorangehen. Der Logik des
Rechts ist so eine Logik der Sittlichkeit an die Seite zu stellen.
Aber wie die Rechtsphilosophie bleibt auch die philosophische Ethik,
im Unterschiede von der positiven lloralimenschaft, nicht bei der
Erforschnng, BegrOndnng nnd Systematisierang ihres Nonnenmaterisis
stehen. Sie flbt auch Kritik an den sittlichen Normen imd wertet sie
nach ihrer Tauglichkeit zur ErfOllung der sittlichen Zwecke, die sie
durch Besinnimg auf den innersten, letzten Sinn der Sittlichkeits-
forderungen erkennt und dann als obersten Maßstab zur Beurteilung
Digilizeü by Googl(
ZwölRes Kapitel. Der Zweck in der Ethik.
205
bei Terachiedenen Rassen und Völkern und zu verschiedenen
Zdten eine gewisse Verschiedenheit in den sittlichen An-
schauungen und Wertungen zu finden ist, aber auch ein
Grundstock gleicbartig-er Sittengfesetze ist zu konstatieren,
ein Komplex sittlicher Daumnormen.
Den sittlichen Normen entsprechen sittliche Pflichten,
Verhaltungsweisen, die unbedingt gefordert sind, und die wir
in derRagel selbst von uns fordern, mindestens in der Weise,
daß unser „Gewissen" uns die Vemachlässigfung von Pflichten
mahnend oder tadelnd vorhält. Auf die Frage: Wamm
sollen wir denn so handeln, wie das Sittengebot, die Norm,
die uns etwas zur sittlichen Pflicht macht, es verlangt? kann
man mm verschiedene Antworten geben. Man sagt etwa dem
uns so fragenden Kinde: Gott, der Allweise und Allgütige,
hat solche Gebote und Verbote erlassen. Oder man weist
auf die Gesellschaft hin, die von ihren Mitgliedern ein be-
stimmtes Verhalten fordern müsse, oder es werden die Folgen
des Handelns dargetan, oder man begnügt sich damit, den
Wert oder Unwert, die nicht weiter ableitbare Güte oder
Schlechtigkeit, Schönheit oder Häßlichkeit von Handlungen
und Gesinnungen zu betonen. Jedenfalls treten die sittlichen
Normen als solche an das jugendliche Individuum zuerst
meist von außen heran; durch die Erziehung-, das Beispiel,
die Lektüre, persönliche Krlahrung-en verschiedener Art wird
der Mensch mit den in der Gesellschaft herrschenden mora-
lischen Wertungen und Forderungen vertraut.*) Allmählich
gehen sie ihm aber in Fleisch und Blut über, es wird ihm
selbstverständlich, so zu werten und zu handeln, zumal wenn
außer der Gewohnheit noch die eigene sittliche Urteilsfähigkeit,
der GQte konkreter ethischer Normen verwendet. Die Mannigfaltigkeit
derselben muß zur Einheit des sittlichen Endzweckes, des obersten
Zielpunktes des sittlichen Grundwillens zusammengehen. Daraus ergibt
sich eine entsprechende Korrektur einzelner bestehender moraUscher
Wertnngen und Forderongen, eiae partidle ethkdie Umwertung und
Umnormienuig ans dem Gebt« rdn ethisdier Gesetzlichkeit heraus,
die hier auf besondere Fälle ihre Anwendung findet
*) Vfs^ JeruBoUm, Emleitong in die Philosophie, 5.-6. Aufl. 1913.
206
n. Spcridkr Tctt.
die selbständige sittliche Wertung' zur GeUnng kommt, die
freilich mitunter in einen gewissen GegenBatz zur herkömm*
liehen, konventionellen, historisch gewordenen Moral tritt.
Betrachten wir nun die sittlichen Wertungen, wie sie
durch die Erziehung dem einseln«! beigebracht und von ihm
selbständig vorgenommen werden, so bemerken wir, daß sie
znnächst so und nicht anders erfolgen, weil das gewertete
Verhalten schlechthin als ein geseiltes erscheint. Der sitt-
hßh. Wertende halt etwas für gut, er billigt es, weil er fühlt
oder urteilt, es sdle so sein, das Gegenteil sei verwerflich,
XU mißbilligen, zu vemrteilen. Das Gate ist also „gut 'S weil
es Pflicht ist oder normgemäß, weil wir wissen, daß wir so
zu wollen und zu handeln haben. Es mag eine Handlung
oder Unterlassung als solche material unlustvoll sein oder
unangenehme Folgen für uns haben, dennoch kann sie von
uns selbst als gut gewertet werden, wenn wir nur darauf
achten, daß sie sittlich gesollt, gefordert ist Die Unlust, die
an eine Handlung oder Unterlassunjj- sich knüpft, kann
übrigens überwogen werden durch die Gewohnheit sittlichen
Handelns oder durch die Unlust aus dem Bewußtsein einer
Pflichtverletzung oder durch die (ideelle) Lust aus der Vor-
stellung der Pflichterfüllung, also durch das spezifisch sitt-
liche Gefühl, welches eine eigene, oft sehr starke, allen
Reizungen begegnende Motivationskraft besitzt.
Es besteht auch ein besonderer Wille zur Pflicht, ein
Streben, so zu wollen und sich so zu verhalten, wie die Pflicht,
die Norm es gebietet Und eine Tatsache ist es, daß der Wille
zur Pflicht, zu dem als gut, gesollt Erkannten oder Gefühlten,
oder die sittliche Gesinnung als solche, höchsten sitt-
lichen Wert hat. Das Gute, Sittliche, Pflichtgemäße um
seiner selbst willen, ohne Rücksicht auf persönliche Vor-
teile oder Nachteile, auf Unlust, Schmerz, Lohn oder Strafe
zu wollen und auszuüben, gilt als das Kennzeichen eines
wahrhaft guten, sittlichen Charakters, einer wertvollen Per-
sönUchkeit, einer reifen, vollendeten Sittlichkeit, die also sehr
wohl eine „Neigung", nämlich die Neigung zum Guten als
solchem, einschließen kann, mag sie auch unter Umständen
Zwölftes KapitcL T)rr 7wf-ck in der p-thik.
207
zn andereiit etwa sinnlichen, egoistischen, manchmal aber
audi »altnxistiflcheii*' Keigungen und Trieben im Gegensatz
stehen.
Sittlioli wollen und handeln heißt also »inidhst, sich
Yom Pflichtbewußtsein leiten lassen, dem Willen zum
Guten und damit der sittlichen Norm gehorchen. Mag
auch ursprünglich der Erfolg der 'Willenshandlttng vor
allem in Frage kommen, so gehört es sicherlich zur Sittlicfa-
keitsentwicklung, daß schließlich die reine, sittliohe Ge-
sinnung als solche aufs hÖdiste gewertet wird, mag
auch im emzelnen Fall der gewünschte Erfolg des Handelns
ausbleiben oder gar teilweise ein objektiv schädlicher sein«
Eine an sich objektiv gute Tat kann ans sittlich indifEe-
renten oder selbst aus unsittlichen Motiven entspringen,
und ein Mensch, der so handelt, braucht daher noch nicht
einen guten Charakter, ^nen guten, sittlichen Willen zn
haben. Der äußere Erfolg des Handelns steht nicht immer
in der Macht des Menschen, und so muß man sich oft mit
dem gut«i und ernsten Willen begnügen. Vor allem aber
gibt uns erst die sittliche Gednnung die Gewähr, daß der
betreffe n de Mensch auch in Fällen, wo die Handlung gegen
den Vorteil und die Neigung des Handelnden ist, sittlich zu
wollen und zu handeln vermag. Erat ein Mensch mit dner
solchen Gesinnung, mit einem sittlichen Dauerwillen, mit
der Fähigkeit, den Pflichtwillen zur Dominante seines Strebens
und praktischen V^haltens werden zu lassen, «scheint uns
als ein ethisch vollwertiges Wesen. Es darf freilich nicht
der Fehler bogangen werden, die sittliche Gesinnung mit der
bloßen »guten Absicht** zu verwechseln, die sich oft nicht zu
einem wirklichen, kräftigen Willensentschlufl erhebt und sich
um die Folgen des Handelns wenig kümmert Der Wille,
das Gute zur Tat werden zn lassen, wo immer dies nur
möglidi und zu fordern ist, bildet schon einen integrierenden
Bestandteil des sittlichen WoUens.")
Die Pflicht aber, mag sie nun erst von außen an das
*) Oohm, Ediik, s. A., 1907.
208
n. Spttieller TeU.
Individttttm herangetreten sein oder aus der SteUungnahme
desselben zam Leben unmittelbar als solcbe gefülilt, gewertet
und gewollt werden, muß steh als wahre Pflicht legitimieren,
rechtfertigen lassen, so richtig es auch ist, dafi wir im konkreten
FaU meist nicht erst nach dem Gnmde, geschweige nach den
letzten Granden und Zwecken der sittlichen Fordemng fragen,
und daß erst in schwierigeren, komplizierteren, heikleren
Fällen die Besinnung auf die Voraussetzungen und Zwecke
sittlichen Verhaltens erwacht und notwendig wird. Schließlich
aber können wir uns nicht damit begnfigen, einfach auf die
Norm, das Sollen, die Pflicht zu verweisen, ohne darzutun,
wamm und wozu etwas gesollt ist Zu welchen Ergebnissen
die Ethik auch gelangen mag, die Frage nach dem Sinn, der
Idee des Sittlichen, nach dem sittlichen Zweck, nach dem,
worauf die sittlichen Normen abzielen, ist schließlich nicht
abzuweisen, jedenfalls nicht für den Ethiker.
Die Relativität einzelner Sittengebote, die Abhängigkeit
dieser von bestimmten sozialen Faktoren, von der Struktur
der Gesellschaft und den Bedürfnissen derselben sowie von
der Entwicklungshöhe der Gefühle, Wertungen und der Er-
kenntnis, der Einsicht, von der Kulturlage überhaupt^ den
Wandel sittlicher Anschauungen, Wertungen und Normen in
der Gesdiichte wird wohl niemand mehr bestreiten, auch nicht
der besonnene Vertreter des ethischen Formslismus und
Apriorismus. Was im besonderen eine Tugend oder ein
Laster ist, moralisch gebilligrt oder mißbilligt wird, das unter-
liegt zum Teil einer Entwicklung,*) das ist nicht durchweg
für alle Zeiten konstant, nicht absolut gültig. Aber die Sitt-
lichkeit als solche ist etwas a priori Gültiges**) und etwas All-
*) Vgl. die Arbttten von i^penoer, L. Stephen, Wiüiams, SutheHand,
Chiffau, Joß, MSffäAng, Weitematdt vu a.
•♦) Die „Aprioritäf des Pflichtbewußtseins als solchen, des sitt-
lichen Sollens überhatipt, ist mit der Tatsache, daß der Inhalt besonderer
sittlicher Normen teilweise einer Entwicklung unterliegt, durchaus ver-
einbar. Was sich nicht entwickelt, nicht bloß historisch bedingt ist,
das ist die sittliche Form, das Spezifische, Formale des Ethischen, die
dttliche Normalität als solche, die sittliche Forderung als Aiisllafi des
reinen Sittlidikeitswilleiis, die durch die ganze Menschheitsgeschichte
y i.i^L^^ L-y Google
Zwölftes X^ntd. Der Zweck in der Ethik.
209
g^emeines, dessen Wurzeln schon im Tierreich angelegt sind,
und das schon im Keime beim primitiven Menschen, soweit
dieser gfesellschaftlich lebt, zu finden ist Aus der Ursitte
hat sich einerseits das Recht, anderseits die Moral differenziert
( Wundt). Die Sitte selbst aber schließt schon eine der eig-ent»
lieh moralischen analogfe Regelung- des Verhaltens der Menschen
zueinander und zum Ganzen ihres sozialen Verbandes ein.
Es wird hier wenigstens so von der Gesamtheit g'eg'en deren
Mitglieder reag-iert, verfahren, als ob schon sittUche Normen
für das Verhalten derselben beständen.
Vergleichen wir nun die verschiedensten Gemeinschaften
miteinander und fragen wir uns: Was ist denn das Gemein-
same ihrer undifferenzierten oder ausgebildeten sittlichen
Wertungen und Normen? so finden wir: Gebilligt und
gefordert wird stets ein solches Verhalten, wie es für die
Zwecke der Gemeinschaft erforderlich ist oder erscheint.
Stets und überall ist das sittlich gute Verhalten und später
der sittlich gute Wille identisch mit dem Handeln und
Wollen im Sinne des Gemeinschaftswillens und in der
Richtung der Förderung oder Nichtschädigung der Ziele dieses
Willens. Die Entwicklung* der Sittlichkeit besteht nun darin^
daß die Gemeinschaft, deren Zielen sich die einzelnen unter-
ordnen, hingeben sollen, immer weiter, umfassender wird,
immer mehr den partikularistischen und ausschließenden
Charakter verliert, bis schließlich die Menschheit, vorläufig- in
der Idee oder im Bewußtsein großer, die sittliche Entwicklung
antizipierender Persönlichkeiten, sich als eine universale Ge-
meinschaft konstituiert, die sich den einzelnen Geaellschafts-
geht und gleichsam flberhlstorischen Charakter besitzt Sittlichkeit ist,
wie Wahrheit und Schönheit, nicht bloß „Empirisches", sondern einr
Idee, die als Maßstab des Empirischen und historisch sich Entwickelnden
dient. Sittlichkeit ist kein bloßes Produkt des Seins, sondern einer
Stellungnahme zum Sein, eine ideale WiUenMeiziaig und dn aas
Ihr erfliefiendes Sollen. Nur was im besonderen gesollt Ist, richtet sldi
nach dem Sein, nicht aber daß überhaupt gesollt wird. Vgl. Simmel,
lünleitang in die Moralwissenschaft, 1893; M. Adler, Marxistische
Probleme, 1913, S. isgff., ferner die Arbeiten von Cohen, Natorp,
P. Mensel, Ä. Messer, Uenouvier u. a.
BUIer, ]>er Zuwek. 14
8t0 ». Speddler Tc».
grnppen uberordnet , indem sie dieselben als relativ be-
rechtigte und wertvolle, ja onentbehriicbe Einheiten aniHrkennt.
- Die sittlichen Normen erfließen somit logisch aus dem
reinen Gemeinschaftswillen und geben dem individuellen
Handeln eine überindividuelle Richtung. Je höher die Ziele
sind, die eine Gemeinschaft verfolgt, desto höher steht die Moral
ab Syatem aittücher Nonnen, als Inhalt des objektiven Geistes»
und so gewinnen wu: einen objektiven Maßstab für die Be-
wertung der historisch gewordenen und werdenden Sittlichkeit^
der natürlich die Wertung der subjektiven Sittlichkeit nach
der Reinheit der Gesinnung nicht im geringsten aus-, sondern
vielmehr einschließt. Auch ist diese Erklärung des Sittlichen
keineswegs eine „heterogenetische*' und „heteronomische":
denn die Normen, welche festsetzen, was sittlich gut und böse
ist, gehen von den zur Gemeinschaft verbundenen und die
Gemeinschaft wollenden Menschen, von dem ihnen selbst
immanenten Gemeinschaftswillen aus, an dem sie teilnehmen,
mögen auch die Normen den Individuen zunächst von außen
her zum Bewußtsein gebracht werden.
Der „Gesamtwille", dessen Erzeugnis die Sittlichkeit ist,
hat zwar einen allgemeinen, überindividuellen Inhalt, auch ob-
jektiviert er sich in Normen, Gebilden und Institutionen, die
von den Individuen relativ unabhängig sind, aber er ist doch
immer nur in den etwas Gemeinsames wollenden Menschen
selbst lebendig. Wenn auch die sittlichen Normen als
Forderungen des Gesamtwillens zum Teil auf den Widerstand
individueller Neigungen stoßen, so wurzeln sie doch ursprünglich
in Gefühlen und Trieben der gesellschaftlich lebenden Indivi-
duen, werden immer wieder von diesen seelischen Vorgängen
bestimmt und setzen sich beständig in solche um. Das Soziale
wird so zu einem Teile des eigenen Wesens der Individuen.
Auch darf man nicht glauben, das Objekt, der Zielpunkt
des sittlichen Handelns sei nur die Gesellschaft als solche. Zu
den ethischen Forderungen gehört auch eine richtige, norm-
gemäße Behandlung anderer Individuen sowie auch des eigenen
Ich, welches Pflichten gegen sich selbst hat. Wenn die In-
dividuen die Zwecke der Gemeinschaft fördern sollen, so
Zwölftes Kapitel. Der Zweck in der Ethilc.
211
rnSaten sie ihre eigenen Anlagen und Kräfte so ausbilden
nod eibaiten, da0 sie mögliclist wertvolle, kraftvolle, tiiditige
Glieder der Gemeinschaft daxiteUen, weldie allerdings ver-
langt, daß die individüetten Eneigien möj^lichst im Sinne des
GreröonschaftswiUens, jedenfaUs aber nie im gegensätsHchen
gebraiidit weiden. Ein Ideal ist es« daß die £ntfa]tang der
Persdnlicbkeit nicht änf Kosten der Solidarität, die So-
zialität aber auch nidit anl Kosten der Persönlichkeit snr
Geltung kommt. £s ist also im eigensten Interesse der
Gesellschaft, Mitglieder za besitzen, die ihre Individualität
entfalten, wofern diese nur nidit Egoisten im schlechten
Sinne des Wortes sind, sondern die Ziele des Cresamtwillens
such zu den ihren macheiL Eine Vernachlässigung des
eigenen Ich, wofern sie nicht durch ganz besondere Um-
stiude gestattet und gerechtfertigt ist, ist antisozial und ethisch
verwerflich. Zuhochst widerstreitet aber die Vernachlässigung
der Peiaonltchkeit der Idee der Kultur und der reinen
Humanitätsideeb
Alle die Eigenschaften und Handlungen, die als sittlich,
als gut gelten, alle Tugenden weisen das Gemeinsame auf,
daß sie zur Konstituierung, Erhaltung und möglichst auch
zur Höherentwicklung des Gemeinschaftslebens dienen, welches
das Leben der Individuen einschließt. Umgekehrt gilt alles
als schlecht oder böse, was die Tendenz hat, dem Gemein-
schaftsleben und dessen Zielen Abbruch zu tun. Es gibt
nun Tugenden und Pflichten, die Bedingungen jeglichen
Gemeinschaftslebens sind, während andere wwtlos, ja sdiäd-
lieh werden, wenn die sozialen Verhältnisse und das kulturelle
Milieu sich geändert haben. Solche Tugenden und Pflichten
erhalten sich wohl noch infolge einer Art Behairungs-
vermögens eine Zeitlang, schließlich aber kommen sie außer
Geltung, und neue Tugenden und Pflichten treten an ihre
Stelle. Aber auch die konstanten und allgemeinen Tugenden
sind nicht absoluter Selbstzweck, sondern Mittel für die Verr
wirklichung der obersten sittlichen Zwecke, so sehr ihnen auch
ein relativer Eigenwert zukommt Der „absolute" Wert haftet
schließlich nicht an ihnen, sondern an der Sittlichkeit über-
14*
i- kji 1^-^^ L-y Google
212
U. Spnkller Tdl.
haupt und an den obersten sittlichen Zielen. Diese Uefern
den Maßstab für die endgültige Bewerttmg' des WoUens und
Handelns in objektiver Hinsicht.
Die sittliche Gesinnung- bemißt sich danach, ob man das
Gute nicht aus unethiachen Motiven will und tut, mit anderen
Worten danach, ob der sittliche Zweck selbst das Motiv, den
Beweg'gTund des Handelns bildet*) Aber von allen und jeden
Zwecken läßt sich im Ethischen nicht abstrahieren, auch nicht
vom Standpunkt einer ,/ormalistiscben" PflichtenmoraL Denn
auch hier fehlt der Zweck keineswegs. Kr besteht hier in der
Verwirklichung- des formalen Sittengebotes, in der Krfüllung
der Pflicht, der die sittliche Handlung dient. Wenn wir dem
„kategorischen Imperativ" gehorchen, so setzen wir uns den
Zweck, allgemeingültig oder als (irlied eines „Reichs der Zwecke"
zu wollen und zu handeln, in uns und anderen die Würde reiner,
autonomer Menschlichkeit zu betätigen, oder den Menschen
nie als bloßes Mittel zu praktischen Zwecken, nie als bloße
„Sache", stets auch als „Person", als Eigenwert und Selbstzweck
zu behandeln. Wie jeder Wille, ist also auch der sittliche
Wille auf ein Ziel gerichtet, und dieses sittliche Ziel erst
macht ihn zu einem guten Willen, mag er auch zuweilen in
der Wahl der Mittel zur Realisierung des Zieles nicht glücklich
sein. Man kann nun sehr wohl die Pflichterfüllung als solche,
abgesehen von ihrer näheren Bestimmung, als unmittelbares,
ideales Ziel des sittlichen Willens betrachten. Aber man kann
nicht dabei stehen bleiben, sondern muß auch fragen, was
denn nun eigentlich Pflicht ist.
Da bleibt nun kein anderer Weg als die Darlegung der
verschiedenen, besonderen Pflichten als Glieder eines Systems
von Verhaltungs weisen , die durch den Gemeinschaft-swilien
und dessen Ziele gefordert sind. Den „Willen zur Pflicht"
*) „Der wiridiche Sachverhalt bestdit vielmehr darin, daß die
subjektive Wertadiitzimg mensdiUcher Handlungen inuner von
Zweck nnd Motiv zugleich bestimmt md . . . Sittlich sind ... die
Motive, wenn das erstrebte Gut nur um seiner selbst willen,
nicht wegen irgendwelcher Nebenzwecke gewollt wird'* (IFMmi^^Sjrstem
der Philosophie II *, 1907, S. ^6).
Zwölftes Kapitel. Der Zweck in der Ethik.
213
liaben, bedeutet dano, da6 man befeit ist, solche sittlichen
Ziele sa eigenen Zwecken zu erheben und ihnen niedere,
minderwertige Ziele unterzuordnen oder zu opfern. Der
kategorisdie Imperativ laßt sich dann etwa so formulieren:
Wolle und handle nach Kräften und bester Einsicht so,
daß du dich durch dein Wollen und Handeln zu einem
möglichat wertvollen Gliede der Gremeinschaft, znhochst der
menschlichen Kulturgemeinschaft, des kulturellen „Reichs *
der Zwecke** machst Oder: Wolle und handle im Sinne des
reinen Gemeinschaftswillens, den Bedingungen einer mög-
lichst umfassenden Menschengemeinschaft gemä& Die im
katagoriachen Imperativ erhobene Forderung, so zu handeln,
daß die Maxime, der Grundsatz unseres Willens zum
Prinzip einer allgemeinen Gesetzgebung gemacht werden
könne — also das Postulat allgemeingültigen Wollens und
Handelns — ist etwas genauer zu begründen, als dies bei Xaid
geschieht, der hieibei sogar einmal in den von ihm ao per>
horreszierten Eudämonintras, ja E^ismus zuräckföUt Der
wahre Sinn des kat^orischen Imperativs ist, daß nur jene
WiUenshandlung als wahrhaft sittlich zu werten ist, von der
aich denken läßt, daß sie dem Willen zur Gemeinschaft
entspricht, daß sie also mit der Zugfehörigkeit des
Wollenden zu einer Gemeinschaft frei wollender, per-
sonaler Wesen vereinbar, ja durch sie geradezu g-efordert ist.
Der kategorische Imperativ ist gleichsam die Stimme des
reinen Gemeinschaftswillens in uns, der uns „Achtung**
einflößt, uns aber auch „Würde" verleiht, da wir ja selbst ein
Glied dieser Gemeinschaft sozialer und humaner Art sind und
als solches nicht bloß Gesetze, Nonnen empfangen, sondern
auch selbst geben und gutheißen. Dies hat ja Kant selbst,
wo er vom „Reich der Zwecke" spricht, vortrefflich (nur mit
«ner Schwenkung ins Metaphysische) dargetan.*)
*) Vgl. Grundiegang zur Metaphysik der Sitten, 1785. Femer
O0A«N, Ksms Bcgrflndnng der Etlilk, a. AniL 1911; K, Vorlänäer, Der
FormaUsmus der Ksntschen Ethik, 1893; Ä, Mmtr, Ksnts Ethik, 1904,
J^. 8kmdmfftr, Das Sttengesetz, a. AnlL 1897; Bmmvkrf La acience de
la morale, 2908.
214
IL Sreama Tefl.
Im ninen Gemeiiischaftswineii od«r Wüleii tnr Gremetfif
achaft liegt, daß wir unsere Uttmeofdieii als gleichbeieclitigl»
GUeder der GremeiDechaft» der aozialen wie der humanen, tu
behandeln haben; e« ergeben sich ans diesem Wollen also
die Gxundpflichten gegen den Nächsten, als Beding-ung-en
eines einheitlichen Gemeinschaftslebens. Weiten
Pflichten sind jene gegen uns selbst und die Pflichten gegeo
die Gesamtheit als solche, gegen deren Organisationaformen,
gegen die Nation, den Staat usw. Nun hat aber das soziale
and staatliche Gemeinschaftsleben, so wertvoll und zweckvoU
es selbst ist, nicht die Bedeutung- eines absoluten Endzwecka.
£s dient teils dem Zwecke der Erhaltung und Entwicklung
der Individuen, teils überindividu^en, objektiven Zwecken,
die es im Laufe der Gesdüchte immer bewußter und aktiver
setzt und verfolgt. Das soziale Gemeinschaftsleben ist die
Form, die Organisation, die das menschliche Geistesleben an-
nimmt, um sich in der möglichst intensiven und vollkommenen
Weise zu entfalten und zu immer höheren Stufen empor-
zusteig-en. Es ist zuhöchst eine Org-anisatiou des Kultur-
will ans, des Willens zur Erzeugung von Gebilden, Zuständen
und Verhältnissen, die der Ausdruck, die Objektivation und
Realisation geistiger Tendenzen, Werte, Ideen, Ideale sind,
zugleich eines Willens zur Höherentwicklung des mensch-
lichen Lebens in dessen höchsten Potenzen, in allem, was es zu
einen) Verwerter und Beherrscher des Naturhaften, des außer-
und innerhalb des Menschen Gegebenen macht Je höhere Ziele
der Menschengeist sich im Verlaute seiner historischeu Ent-
wicklung setzt, je mehr er sich über seine, in seiner ureignen
Gesetzlichkeit wurzelnden obersten Zwecke klar wird, desto
mehr erkennt er die Notwendigkeit und Zweckmäßigkeit
eines universalen Zusammenschlusses, einer Vereinheit-
lichung menschlicher Tendenzen und Kräfte, und desto mehr
breitet sich die Idee der alle Sondergemeinschaften um-
spannenden humanen, rein menschlichen Gemeinschaft aus. Die
Humanitätsidee — die Idee reiner MenschUchkeit und der
Zusammengehörigkeit aller Menschen zu einem idealen „Reich
der Zwecke", in welchem jedes Glied seine Funktionen und
Zwölftet Kapitel Der Zweck In der Ethik.
SM
seine Pflichten, aber auch seine Menschenrechte hat, und io
wdehem jeder Wirkende, Schaffende direkt oder indirekt^
aber nur der sittUche Charakter durch seinen eig-enen Willen,
zur Verwirklichung der Menschheitsziele beiträgt — liefert den
obersten Wertmaßatab für die Sittlichkeitshöhe nicht bloß der
IndividuMi, sondern auch der Sondergemeinscliaften nad ihrer
Institutionen, die sich schließlich den rein humanen Zwecken,
den Zwecken vollmenschlischer, idealer Kultur unterordnen
müssen.*) Und diese Idee ermösflicht zugleich die Kritik der
historisch gewordenoit positiven Moral, sie wird snr Norm
fär die Beurteilung* der positiven sittUchen Normra, wie ne
auch in der geschichtlichen Entwicklung selbst immer wieder
/u einer wenigstens partiellen Umwertung von Moralwerten
oder doch zu einer gewissen ethischen Wertverschiebung führt.
Die als sittlich zu wertenden Handlungen müssen also
einerseits einer sittlichen Gesinnung entspringen, anderseits
aber können sie nur dann vollen Anspruch auf objektive
Sittlichkeit machen, wenn diese Gesinnung- eine Bedingung
zur Verwirklichung' des objektiv Guten, d. h. des im ethischeti
Sinne Wert- und Zweckvollen ist. Die Gesinnung ist eine
gute, wenn sie sich als Wille zur Pflicht, zum Seinsollenden
erweist, als ein Wille zur Realisierung von Zwecken, die der
reine Gern ein schafts- und Menschheitswille unbedingt und all-
gemeingültig setzt, aufgibt, und aus denen die Pflichten für
jeden einzelnen und jede Sondergemeinschaft mit logisch-
teleologischer Notwendigkeit erwachsen, unabhängig von den
Privatzwecken, Sonderneiguugeii und Sonderinteressen der
Verpflichteten. In diesem Sinne ist das Sittliche wahrhaft
Selbstzweck, und so wird auch dem ethischen „Rigorismus^*
sein relatives Recht gewahrt.
Die einzelnen Pflichten und Tugenden aber sind ihrem
Inhalte nach nicht absolute, letzte Zwecke und Werte, sondern
. Der letzte Zweck sittlicher Entwicklung besteht aacfa nach WmM
in der „Hcnrtelhuig einer allgemeinen Willensgemeinschsft der
Menschheit, als der Grundlage ftkr die möglichst große Entfalnug
menschlicher Geisteskräfte zur Hervorbringung geistiger Gttler*^ (System
der PhUosophie II*, 1907, 8.332; vgl. Ethik*, 191a).
216
IL SpesieUcr Tdl.
die Mittel zur Verwirklichung' der aittlicheu Zwecke und
keineswegs alle für immer, von vornherein festgelegt.
Immer wieder müssen sie sich als die sittlich richtigen
Mittel bewähren, legitimieren oder aber müssen sie besseren»
tauglicheren Mitteln weichen. £s besteht ein Kampf um
die sittlichen Werte, eine Art „moralische Selektion**» eine
Anpassung sitUicher Gebilde, Werte und Normen an die
fortgeschrittenen ethischen Bedürfnisse und die vervoll-
kommnete ethische Einsicht. Die sittliche Vervollkommnung
als solche wird schUeßlich selbst zu einem höchsten Ziele
des SittUchkeitswillens und damit zu einem Bestandteil der
obersten Kulturziele der Menschheit.*) Die Förderung der
sittUchen Gesinnung und des sittlichen Verhaltens der einzelnen
wie der sozialen Gemeinschaften wird dann bewußt an-
gestrebt, und es bildet sich eine eig^ene Moral- und Sozial-
pädagogik aus, welche in Verbindung" mit einer Reihe von
Institutionen zur aktiven Regulierunpf der Moral der einzelnen
wie der Gesamtheit beitragen kann.**)
Welches sind nun die obersten Zwecke der Menschheit,
die im System der besonderen sittlichen Zwecke sich ent-
falten? Sie gehören zu den reinen Kulturzwecken. Der
Wille zur Schaffung von Kulturwerten und zur Fördenxng von
Kulturzwecken, zu denen auch die innerliche Versittlichung,
die ethische Kultur der Menschen selbst gehört, trägt das
System der sittUchen Normen und legitimiert sie zuhöchsL
Der Endzweck des Sittlichen ist keineswejjfs die ,,Lust" um
jeden Preis» wenn auch immer nur etwas gewollt, zum Zweck
gesetzt wird, dessen Vorstellung direkt oder indirekt lustbetont
ist. Noch weniger läßt sich der bloße Genuß als Endzweck des
Handelns überhaupt, also auch nicht des sittlichen, betrachten.
Die Menschen streben in der Regel objektive Zwecke an,
nicht bloße Gefiihlszustände, wenn auch jene Zwecke auf
subjektive Bedürfnisse individueller oder interindividueller Art
sich beziehen, mit inneren Zielen verknüpft bleiben. In der
•) So besonders FicJde und Wundi.
**) Vgl. P. Natorp, SozialpftdAgogik *, X909.
uiyiiized by Google
ZvSlflct Kapitd. Der Zweck in der Ethik.
217
Mflnachheit schlummern verschiedene^ den rein menschlichen
Charakter konstituierende Anlagen und Potenzen, teils von
Anfang an, teils durch die Entwicklung und Geschichte der
Menschhext eist geschaffen. In der immer grofieren Dif>
ferenzieruog und sugleich Vereinheitlichung- dieser allmählich
•zur Entfaltung kommenden Anlagen durch die zielstrebige
Tätig-keit der Menschen selbst besteht das innerste Wesen
der Menschheitskultur, deren Ziele nur innerhalb der Mensch-
heitsgfemeinschaft zu erreichen sind.
Indem die Menschheit einen immer mehr wachsenden
Reichtum an Werten odw Gütern produziert, realisiert sie
zugleich ihre eigene Idee, die Idee einer nur im rastlosen
Fortschreiten ihr Glück suchenden und findenden Gattung
von Wesen, deren „Hndzweck" in der unablässigen Setzung
immer höherer und umfassenderer Ziele selbst liegt. Es
„wächst der Mensch mit seinen höheren Zwecken'*;* im Streben
nach diesen entfaltet und betätigt er sein wahres, volles,
reines Menschentum, erfüllt er seine „Bestimmung'', die ihm
durch die einheitliche Weltordnung gesetzt ist. So betrachtet»
steckt in dem Glauben, sittlich handeln heiße im Sinne des
göttlichen Willens handeln, heiße den Willen der Gottheit
erfüllen, eine ewigfe Wahrheit, die dem SittUchen zwar nicht
die Grundlage, aber die religiöse oder metaphysische Weihe
gibt, iodein sie die Menachheitszwecke den kosmischen
Zwecken einordnet.
Auf die so oft gestellte Frage, was denn der Zweck
oder Sinn des menschlichen Lebens sei? ist zu ant-
worten: das Leben seibst."*) Das Leben als Ganzes, £in-
*) „Der Mensch lebt, well es seine Bestimmimg ist, zn leben. Die
Besttnimnog dieses Lebens aber besteht in dem, was es seinem
eigensten Wesen nach hervorbringt. Dieses eigenste Wesen des
Lebens ist geistiges Leben. Auf die Erzeugung geistiger Schöpfungen
ist daher immittelbar oder mittelbar alles Leben gerichtet" {Wttndtf
System der PhSosopliie Jl\ 1907, S. 338 f.). — „Dss Leben hat nnr in-
sofern einen Wert und efaie Bedeotnng, als vric sie ihm geben. Das
ist das Wesen und Insiegel des Geistes, daß er schaffe, daß er pro-
duktiv sei. Und das ist das Vorrecht des Menschen unter den Ge-
schöpfen , daß er ein Leben des Geistes leben könne . . . Der Geist
218
IL SpoicUcr Tdl.
heitliches besteht ja in einem stetigen Zusammenhangfe von
Zielstrebigkeiten und Zwecksetzungen, es ist ein Passieren
von immer neuen Zielpunkten und ein Verwirklichen von
subjektiven und objektiven Zielen. Nur muß man die ver-
schiedenen Phasen des Lebensprozesses von dem Leben als
Geaanitschaffen und Gesamtresultat, als Idee unterscheiden
und nicht glauben, das physische, sinnliche, triebhafte, ego-
istische Leben sei das ganze, volle, höchste Leben. Auch
das geistige, kulturelle, das auf ein Allgemeines, Ober-
individuelles, Objektives gerichtete, opferfähige Leben ist in
Anschlag zu bringen, ja es bildet die höchste Stufe und Form
des Lebens. Dieses höhere schöpferische Leben hat den
Endzweck, die Idee seiner selbst durch seine Zweck-
setzungen zu realisieren, sich selbst, seinen Wesensgehalt in
der Zeit zu entfalten und zu steigern, die in ihm latenten
Möglichkeiten zur Tat zu machen. Die Bestimmung des
Menschenlebens ist, möglichst viel Werte zu produzieren
und so am Bau der Welt mitzuarbeiten, zunächst in seiner
besonderen Sphäre, für sich und die Mitmenschen, durch
seine Nachwirkungen aber auch ins Weiteste und Fernste,
im Sinne des Goetbeschen Ausspruchs: „uns zu verewigen
sind wir ja da".
Die individuellen ordnen sich den sozialen und humanen
Zwecken unter (WundtJ, aber damit erschöpft sich der Sinn
des Lebens noch nicht. In irgendeiner Weise und in irgend-
einem Maf5e füjrt sich das menschliche Leben wie das Wirken
aller übrigen Wesen dem kosmischen System der Zwecke
ein, dessen Glied es bildet, und auf das es durch alle Zeit
hindurch bezogen bleibt. Sich bewußt, willig und kraftvoll
in den Dienst des universalen Lebens zu stellen, sich ihm
hinzugeben, das ist das Höchste, was uns die Ethik als Auf-
gabe stellen kann, als eine das Bewußtsein des un-
verlierbaren Wertes aller Tat erweckende Idee. So
wirkt and bildet, seinem Ideale gemäß; was sein soll, nicht was ist,
schwebt ihm als Zweck seines Daseins vor " ( Fettrhtersleben, Aphorismen,
nebst der „Diätetik der Seele" herausgegeben von R. Eisler, Deutsche
Bibliothek, 1913, S. 189).
Zwölftel Kapitel. ]>er Zweck in der EOiik.
219
erweitert sich das EtiüsGihe ins Kosmische und Metaphyaisoiie*
Die Menschheit Wüt sich dann bestimmt zu einer ihr durch
die immanente Weltosdnongf gesetzten Aaf|rabe, sie hat eine
Mission zu erfüllen, nach Kräften alles das, was an produktiven
Potenzen in ihrem Wesen schlummert, zu entfalten und zu
steigfem, um das All-Leben dadurch zu bereichem. So dient
alles Leben dem Leben selbst, das niedere, engere dem
höheren, umfassenderen, das reale, zeitliche Leben der ewigen
Idee des Lebens.
Freilich, eine sichere Erkenntnis dessen, wozu wir Men sdien
und die anderen Wesen letzten Endes „bestimmt" sind, steht
uns nicht zu Gebote, eine solche Erkenntnis reicht schon
stark ins Transzendente. Hier muß der Glaube das Wissen
erginzen, aber nicht als ein blinder, rein autoritativer Glaube,
sondern als ein Glaube, der ebenso auf die Vernunft und das
Wissen sich stützt und in dessen Richtung weiteigeht, als er
Bedürfnissen des Gemütes und Willensforderung-en entspricht.
Der „richtige" Glaube, das wird stets der Glaube sein, der
uns theoretisch und praktisch fördert, kräftigt, weiterbringt,
der die Menschheit über die Niederungen des endUchen Da-
seins erhebt, der, ohne jemandem das geringste Opfer an
Vernunft und einheitlichem, wissenschaftUchem Denken zu-
zumuten, den Lebensmut und die Lebensfreudigkeit steigert,
indem er uns so wollen und handeln läßt, als ob wir genau
wüßten, daß wir für alle Ewigkeit wollen und handehn.*)
*) Vgl- 2" dem ganzen Kapitel die Schritten von Fwhte, Hchkier-
»uicher, HegtL, Comte, Spencer, S. Alexander, L. Stephen, Sidgwick, Nietzsdie,
Omifoiu, Bergenumn, U»M, W. Stern, Jodl, Höffding, Fuuktn , TMOff,
Okydn, E, Dürr, SMrrAy, K Bedter, Lijtp», WeiM^, FoutOie, Ehrenfd»,
Domer, Warndt, E. v. Bcertnumn, Royce, Cohen, Natorp, A. Mester, M. JMtr,
aimmA, M, JL Stern, KauUky, Batzenhof er, Goldacheid, Oaheald, Mndcen a. a.
Dreizehntes KapiteL
Der ZwedL in der Ästhetik.
Ist die Ästhetik eine axiolog-isch-normative Wissen*
schalt oder hat sie nur ZQ beschreiben, zu erklaren, m ana-
lysieren und sich der genetischen Methode zu bedienen?
Darüber wird immer wieder gestritten.*) Die Gegfner der
normativen Ästhetik betonen, es ließen sich keine allgemeinen
Normen fär das künstlerische Schaffen oder das ästhetische
Genießen, den Geschmack aufstellen, diese Normen seien
immer relativ oder gar willkürlich und einseitig, sie würden
der Mannigfaltigkeit, dem Reichtum der ästhetischen Gebilde
nicht gerecht.
Um die Frage nach der normativen Methode in der Ästhetik
zu beantworten, müssen wir zunächst .sehen, ob und inwieweit
der Zweck im ästhetischen Schaffen, Werten und Genießen
eine Rolle spielt. Zweifellos haben nun diejenigen völlig recht,
welche (wie Kant, Schopenhauer u. a.) die Uninteressiertheit
im Ästhetischen, das Fehlen äußerer praktischer Interessen,
Zwecksetzungen und Zweckbezogenheiten beim ästhetischen
Genießen und auch beim rein künstlerischen Produzieren be-
tonen. Das ästhetische Gefühl oder die ästhetische Wertung
beruht nicht auf der Vorstellung einer äußeren, materialen
Zweckmäßigkeit, einer „Nützlichkeit" des ästhetischen Ob-
jekts. Dieses erregt nicht Lust um eines äußeren Zweckes
*) Vgl. Cohn, Allgemeine Ästhetik, 1901; H. Cohen, Ästhetik des
reinen Geftthlst 1912; Dmaitt Ästhetik und allgemeine Kimstwiwen^
Schaft, 1906; GrwM, Der ästhetische Genuß, 190a; Ästhetik, in: Die
Philosophie im Beginn des 20. Jahrhunderts, 1905; MuUer- Freien f da,
Psychologie der Kunst, 19x2; K ütäM, Die Fonktioiisfreuden im ftsdie-
tischen Verhalten, 191 1.
y i.i^L^^ L-y Google
DtdacfeatM Kapllel. Der Zwedr te der AiUielik.
221
wülen, dem es als lifittel diente sondern es gefällt in der An-
schanimg' unmittelbar um seiner selbst willen; das An-
schauen und geistige Verarbeiten desselben befriedigt als
solches schlechthin, ohne daß eine materielle Begierde
sich regt Freilich ist der Zustand des ästhetischen Genießens
keineswegs ein absolut willenslreier (wie Schopenkantr
flUeint); das Wollen ist aucb^hier nicht aasgeschaltet, aber es
ist hier der asthetisdieD Betrachtung, der Ansf^uung selbst
völlig- hingeg-eben und richtet sich immer wieder auf diese,
es ist ein „Wille zur Schau*', zur Aufnahme, Festhaltung und
phantasiemäßigen Verarbeitung- der empfangenen Eindrfidce,
ein Wille zum reinen, ästhetischen Erleben, aus der an
dieses Erleben sich knüpfenden „reinmi'S von fremdartigem
Begehren freien Lust heraus.
Werten wir also etwas als „schön" u. dgL, so denken
wir nicht an einen durch das Wertungsobjekt zu verwirk»
lichenden äußeren Zweck, wenigstens nicht primär; denn die
Vorstellung des Zweckes, dem etwa ein Bauwerk dient, kann
ja im Bewußtsein mitsdiwingen und auf die ästhetische
Wertung von Einfluß sein. Welches ist nun der Grund des
ästhetischen Gefallens und Genusses, das „Fundament" der
ästhetischen Wertung? Wir finden ihn auf dem Wege
einer objektiven in Verbindung mit einer subjektiven Ana-
lyse. Erstere läßt uns an den ästhetischen Objekten ge-
wisse allgemeine Merkmale, Eigenschaften entdecken, ver-
möge deren sie tauglich sind, das ästhetische Bedürfnis
und Interesse mehr oder minder vollkommen zu befriedigen.
Mag- es sich nun um bestimmte Qualitäten und Intensitäten
von Sinneseindriicken (Farben, Töne), um gewisse Formen
und Gestalten, um Symmetrie, Rhythmus, Harmonie, Kon-
sonanz, um bestimmte Verhältnisse oder Relationen an-
schaulicher Inhalte des Vorsteilens oder um die bestimmte,
eigenartige Formung eines Stoffes zu einem bedeutsamen
Gebilde handeln, stets kommen hier auch objektive Faktoren
in Betracht, die vorhanden, gegeben sein müssen, soll ein
ästhetisches Gefallen und Werten möglich sein.
Anderseits kann man nicht sagen, etwas sei absolut, an sich
222
II. SfMttdlcir T«».
oltne alle BeziAhnng anf ein fOhlADdea, weitendes Snbjekt über-
haiipt aatbetifldi odersdios. Vtehtiehr kommt der asl^etisohe
Charakter, das ästhetische Sein nur dadurch zustände, daß
ein mit gewissen Eigenschaften bdiaftetes Objekt in Besiehnng
zn «inem entsprechend reagierenden Bewußtsein tritt oder
doch treten kann. Relativ sich'* besteht ja immer nur
das Fundament, die objektive 0nindIage von Wertungen,
nkiht diese selbst Denn auch die „absoluten**, sddeohthin
gfiltigen Werte bleiben auf Wertungsmögliohkeiten, auf ein
Wertnngsbewußtsein überhaupt bezogen, so fundamentaler
und universaler Art diese Werte audi sein mögen. So gibt es
denn zwar objektive ästhetische Werte, sow«t die Möglichkeit
und Notwendigkeit einer bestimmten Wertungsreaktion gegen-
über bestimmten Objekten obwaltet, aber unabhängig von
allem Bewußtsein kann etwas weder positiv noch negativ
ästhetisch, weder schön noch häßlich sein; an sich bleibt
es jenseits von beiden Werten. Damit ist natürlich noch
keineswegs einem extremen ästhetischen Subjektivismus oder
Relativismus das Wort geredet, denn es gibt objektive
Grundlagen ästhetischer Werte und sachlich begründete oder
begrundbare ästhetische Wertungen. Es fehlt nicht an Be-
dingungen allgemeingültigen Wertens auch auf dem ästhe-
tischen Gebiete, und auch eine gewisse Gleichartigkeit oder
Konstanz des ästhetischen Reagierens, wenigstens innerhalb
bestimmter Rassen, Kulturkreise oder Kulturpezioden, läßt
sich feststellen und auch begreiflich machen.
Wenn nun gewisse Eicfcnschaften den ästhetischen Ob-
jekten oder ,, Reizen" ihren objektiven Wert verleihen, so
fragt es sich weiter: Worauf beruht denn die Wertung dieser
Eigenschaften seitens des ästhetisch genießenden Subjekts?
Was ist es, das sie seitens des Subjekts als lustvoll empfinden
und das Objekt als schön beurteilen läßt, in der Erwartung,
daß auch andere Subjekte ähnlich reagieren und ur-
teilen werden? Hier liegt, wie Kant sich treffend ausdrückt,
eine „Zweckmäßigkeit ohne Zweck" vor. Worin besteht
aber diese rein ästhetische Zweckmäßigkeit? Wohl
zuletzt darin, daß das ästhetische Objekt das Bewußtsein
Dreizehntes Kapitel. Der Zweck in der Ästhetik.
223
in einen Zustand veraetst oder doch zn venetsen ▼ermag',
der als einheitliches Zusammenspiel einer Mannig*
faltig'keit seelischer Regung'en m. charakterisieien ist,
als Zusammengehen von ErlebniBsen zur Einheit des
schauenden Bewußtseins. Dazu kommt dann noch die
asthetiache ' „Einfühlung** und anderes, was hier nicht zu
erörtern ist, da es si6h uns nur um die allgemeine Zweck-
mäfligkeit im Ästhetischen, nicht um die vollständige Er-
klärung desselben, nicht um eine Theorie des Ästhetischen
handelt.
Das Ästhetische ist bedürfnisgemaß und auf ein im-
manentes, inneres Ziel bezogen, dessen Verwirklichung
Lust erweckt, und das dem sie auslösenden, bedingenden
Objekte seinen ästhetischen Wert verleiht Schön nennen
wir etwas, was Qualitäten besitzt, die in besonderer Weise
geeignet sind, gleichsam alle Fasern der Seele zu erregten,
schwingen zu lassen, aber so, daß die Eindrücke einheitlich sich
miteinander verbinden, in ungehemmter, günstiger Weise sich
zusammenschauen, anschauend verknüpfen lassen. Man kann von
einer „ästhetischen Apperzeption" sprechen, von einer ästhe-
tischen Einheitsfunktion des Bewußtseins, die durch das
ästhetische Objekt ausgelöst und mehr oder weniger zweck-
mäßig erfüllt wird, indem es ihr einen passenden Stoff zur
Betätigung darbietet. Was immer auch im ästhetischen Zu-
stand an Komponenten enthalten sein mag, jedenfalls ist er
deshalb lustvoll, weil durch ihn gewisse Tendenzen der Seele
befaiedigt werden, die in der Regel nicht zu klarem Be-
wußtsein kommen, aber auch als starkes ästhetisches Be-
gehren sich geltend machen können. „Funktionsbedürf-
nisse*' spielen hier eine Rolle, wenn sie auch nicht allein zur
Erklänmg des ästhetischen Genusses ausreichen,*) Es kommt
darauf an, daß die erstrebten Funktionen der Sinne, des
Intellekts, der Phantasie, des Gemüts und des Willens im
harmonischen Zusammenspiel der beteiligten seelischen
*) Vgl. die Arbeiten von Ditbos, Döring, Jerusalem, Einleitting in
die Philosophie 1913 u. a.; UHtz, Die Fonktionsfreuden, 191 1.
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224
n, Speridicr TcU.
Energien aicli vollziehen.*) Nicht die Erregung' und seelische
Betatigiing' schlechthin bildet ein 2Uel des ästhetischen Willens,
sondern die einheitlich sich zusammenschließende
Mannigfaltigkeit seelischer Erreg-ungen.
Der ästhetische Zustand unterscheidet sich von der prak-
tischen Stellungnahme zu den Dingen sowohl als von der
des Erkenntniswillens. Es handelt sich hier weder um ein
Streben nach Besitzergreifung' und Benützung von Objekten
noch um ein Bcc!"ehrcn nach Wissen. Die ästhetische Lust
haftet unmittelbar an dem Zusammenspiel der durch das
ästhetische Objekt ausgelösten seelischen Regungen, an der
Tätigkeit der den Intentionen des Objekts folgenden An-
schauung und der ihre Daten unter Mitwirkung des Denkens
verarbeitenden Phantasie. Diese Auffassung des ästhetischen
Zustandes ist aber keine rein formalistische. Denn ein tiefer
befriedigendes Spiel der ästhetisch genießenden Phantasie ist
nur möglich, wenn sich ihr ein in irgendeinem Maße be-
deutsamer Inhalt zur Verarbeitung darbietet Die unmittel-
bare, anschauhch- gefühlsmäßige Beziehung der ästhetischen
Daten auf einen solchen, auf eine durch das ästhetische
Objekt, insbesondere durch ein Kunstwerk repräsentierte
„Idee", d. h. auf einen einheitlichen Sinn, der dem Ästhe-
tischen den Charakter des Typischen verleiht, gibt dem
ästhetischen Erlebnis erst seinen Gehalt. Diese Idee kann
in einer bloßen Stimmung gegeben sein, sie kann ferner der
Wirklichkeit, dem realen Leben direkt entstammen oder erst
in die Wirklichkeit hineingeschaut sein. Aber niemals kann
sie ganz fehlen, stets bringt das Ästhetische etwas Typisches,
Einheitliches, dabei aber Konkret- Anschauliches zum indi-
viduellen Ausdruck. Dieser Ausdruck ist um so gelungener,
zweckmäßiger, je mehr die Form des Ästhetischen, des Kunst-
werkes dem Inhalt angemessen ist. Der ästhetische Gegenstand
ist eine ideale Wirklichkeit, d. h. „die Wirklichkeit selbst in
ihrer durch den Geist des Künstlers oder des in ästhetischer
*) Vgl. I[. Jäger. Die gemeinsame Wurzel der Kunst, Moral and
Wissenschaft, 1909; Eisler, Krit. EinfOhr. in die Philos. 1905.
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Dreizehntes Kapitel. Der Zweck in der Ästhetik.
225
BetrachtansT veraenkten Zuschaueis vennittelten Auffassung".
Und ein Lebensinhalt ist eben dann ein bedeutsamer, „wenn
in ihm Ideen zum Ausdruck gelangen, die von dem An-
schauenden in der Form des phantasiemaßigen Denkens nach*
gedacht» und deren begleitende Gefühle von ihm nachgefühlt
werden können".*) Ein Gebilde ist in dem Idaße schön, als
die Form seiner Erscheinung 6er in ihr zur Darstellung ge-^
langenden Idee angemessen, adäquat ist, als sie die an-
schauliche Beziehung der Eindrücke auf die de sinnvoU
gestaltende Einheit und Ganzheit spielend sich vollziehen laßt.
Wie im ästhetischen Genießen unmittelbare Zide des
Strebens verwirklicht werden, so ist auch die künstlerische
Tätigkeit zielstrebig.**) Mag auch der Künstler oft keine
äußeren, objektiven Zwecke verfolgen, so fehH: es doch auch
hier nicht an ein^ ästhetischen ^Istrebigkeit Der Wille
zur Gestaltung dessen, was die Künstleiseele mächtig enregt
und bewegt, d. h. der Wille zur adäquaten Darstellung, zur
packenden Ausdruckgebung, ist in ihr wirksam. Die
Fülle der Gesichte, der Schauungen der Phantasie, der
künstlerischen „Ideen** und der durch sie ausgelösten Gefühle
treibt, zunächst unterbewußt, in den Tiefen des Bewußtseins,
zur äsÜiettBchen Produktion, die dann im Lichte der Reflexion
sich vollendet (GüM^ Das Kunstwerk ist somit eine Ob-
jektivation zielstrebiger Tendenzen eigener Art, es spiegdt
die Reaktion der Künstlerseele auf deren Erlebnisse.
Es ist zunächst rem subjektiv zweckmäßig, insofern es ein
Mittel im Dienste der den Schaltenden bewegenden Gefühle
und Strebungen ist, deren Ausdruck und Niedersdilag es
bildet. Mit dem Spiel ist die Kunst in der Hinsicht ver-
wandt, daß tte, wie dieses, eine Tätigkeit ohne bewußten
äußeren Zweck, ein um seiner selbst willen lustvolles und
erstrebtes Tun bedeutet {Otoot u. a.). Freilich geht sie auch
*) Wunät, System der Philosophie II", 1907, 5. afiaf.; v^ YcHMt,
Asdietik.
**) Vgl. VolkeUt Zeitschrift fOr Astheük VI; £. Lange, Der Zweck
der Kunst, 1912.
Killer, I>«r Zweck. 15
226
n Spendier Teil.
Aber das blofie Spiel Idnaos. Denn der Künstler wüt
•diUefilich nicht bloß dem, w9b ihn im Innezsten bewegt^
lebendigen und anachanliehen, kraftvollen Auadmck geben,
er viU anch in der Regel auf die Gemüter und die Fhantaaiet
der Menschen wirken, er will ähnliche Znstinde, wie er sie
hegt, In fremden Seelen anslöaen, welche ao schauen, fühlen,
werten sollen wie er, er will sieb ihnen mitteilen, einen
Widerhall, Sympathie bei ihnen finden und dadurdi sein Ich
et weitem»
Von den der Kunst immanenten, inneren Zielen sind die
inSexen Zwecke zu unterscheiden, welchen die Kunst zu dienen
Tsnnag', und denen sie tatsächlich, teils schon ursprOng^di,
teils, gemäß dem Prinzips der Heterog'onie der Zwecke, erst
(oder wieder) später dient. So finden wir, daß die primitive
Kunst innigf mit der Religion (bzw. dem Mythus und Kultus)
verknüpft ist, indem sie z. B. als Zaubermittel dient ; ferner hat
sie teilweise eine soziale Bedeutung*, etwa als Ausschmiickunj^
des Körpers und der Waffen als Zeichen besonderer Würde;
auch entwickelt sich eine künstlerische Tätigkeit aus der
Rhythmisierung der Arbeit, welche diese erleichtert {K. Bücher),
Und auch auf höheren Entwicklung^tufen wird die Kunst
nicht nur um ihrer selbst willen geschätzt, sondern auch als
Mittel im Dienste religiöser, sozialer,'^) sittlicher, kultureller,
technischer Zwecke. Da von ihr Wirkungen ausgehen, welche
geeignet sind, bald diesen, bald jenen äußeren Zweck zu fördern,
so bleibt es nicht aus, daß immer wieder diese Wirkungen
der Kunst zu Willenszielen werden, teilweise sogar bei den
Künstlern selbst. Zunächst muß allerdings der rein ästhetische
Zweck erfüllt werden, soll ein Gebilde künstlerischen Schaffens
auf rein künstlerisch-ästhetischen Wert Anspruch machen
können, und dieser Zweck muß mit rein künstlerischen Mitteln,
nicht mi Sinne einer schlechten Tendenzkunst, erreicht werden.
Ist aber auch die Kunst nicht zur Erweck ung religiöser oder sitt-
licher Geiühle da, hat sie auch ihren Eigenwert und Eigenzweck
*) E. jRdch, Kunst und Iii«»!], zgoi; Quifau, Die Knnit sla soziolo-
gisches PhAnomen, xpix«
^ i^uo Ly Google
DittudulM K^üd. Der Zwe^'in der Aithetik.
227
neben Religion, Moral und 'Wissenschaft, so kann, caeteiis
{ftaribm, die Knnst nicht an Wert verlieren, wenn de anBer
der Fordemngf, welche dem Menschen dnrch den reinen Kunst-
gennfi als solchen unmittelbar zuteil wird, auch noch andere
gfinsdg« Wirkungen für die kulturelle Entwicklung der
Menschheit besitzt und anstrebt. Nur darf ihr Hauptsweck,
die isthetiscfae Eizegung der Menschenseele, die dadurch
bewirkte Ausweitung, Bereicherung, Erhöhung derselben, die
Befreiung des Menschen vom Druck des Wirklichen und
dessen Eihebung in die Region des „Scheins", der „reinen
Formen'* und des reinen, begierdelosen Fühlens*) nie
Mater die Nebenzwecke der Kunst zurücktreten. Es mofi
stets beachtet werden, daß Kunst und Kunstgenuß selbst
schon ein Stück Kultur bedeuten und daß an ihnen ein un-
mittelbarer Kulturwert haftet.
Nun sind wir imstande, die Zulässig-keit der normativen
Methode in der Ästhetik und Kunstwissenschaft entschieden
zu bejahen. Die psychologische Analyse des ästhetischen
Zustandes und des Kunstschaffens ist allerdingfs eine un-
erläßliche Vorarbeit, auf die sich die normativ-teleolog^ische
Betrachtungsweise zum Teil stützen muß. Wir müssen femer
ent wissen, weldhen formalen Bedingungen etwas genfigen
muß, um Anspruch auf das Prädikat des Ästhetischen, des
Schönen, Erhabenen usw. überhaupt zu machen, welches die
Voraussetzungen der rein ästhetischen Wertung sind, welches
objektive und subjektive Fundament diese besitzt, welche
Eigenschaften ein Objekt besitzen muß, um einen ästhe-
tischen Zustand allgemeiner und spezieller Art auszulösen,
um sich als taugliches Mittel für den ästhetischen Zweck zu
erweisen.
♦) ,Es ist die Aufgabe der Kunst, die Wirklichkeit in der Fülle ihrer
bedeutsamen Formen in die Sphäre jener reinen Betrachtung zu er-
heben, von der jedes der Versenkung in den Gegenstand selbst fremde
Begdana weit abliegt, and die danun unter alleii in der linnlidm
Wirklichkdt denkbaren Genossen die dauerndste Befriedigting gewlhrt*
{Wundt, System der Philosophie II', 1907, S. alSisf.) Vgl. S^openhmier,
Die Welt als Wille ond Vorstellung, I— IL
15»
228
n. ^tendier TdL
Die Fragte: Wie sind ästhetische Urteile mög-lich, wie
können sie auf eine gewisse Allg-emeing-iiltig-keit Anspruch er-
heben? (Kant) ist auf dem Weq-e einer Kritik des „ästhetischen
Sinnes", des „Geschmacks" zu orledigfen. Zugleich ist aus der
Kunstgeschichte an der Hand der Schöpfungen der Meister, der
künstlerischen Genies zu entnehmen, welche künstlerisch-tech-
nischen Mittel verwendet wurden und werden, um allgemeine
und auch besondere ästhetische Effekte zu erzielen. Aus dem
allem lassen sich dann durch logische Verarbeitung seitens des
kritisch - teleologischen Denkens gewisse Normen ableiten,
gegen welche in der Regel Kunstwerke nicht verstoßen
dürfen, wenn sie bestimmte ästhetische Wirkungen haben
wollen und sollen.*) Es handelt sich in der Ästhetik natürlich
nicht um detaillierte Regeln für das künstlerische Schaffen,
nicht um beengende Vorschriften für das Genie, sondern in
erster Linie nur um Grundnormen, welche zur kritischen
Beurteilung von Kunstwerken aller Art dienen, von Normen,
welche sich hauptsächlich auf die fundamentale Gesetz-
lichkeit des ästhetischen Bewußtseins stützen, die aber
ganz wohl auch der Entwicklung des Geschmacks und der
Verschiedenheit der Geschmacksrichtungen, wenigstens soweit
sie t\^pischer Art ist, Rechnung tragen und dem Kunst-
geniuljenden gewisse Anhaltspunkte dafür geben können,
ob und inwieweit sein ästhetischer Geschmack eine gewisse
Kulturhöhe erreicht hat.
*) Vgl E. Bemkemur, Philosophische Kunstwisseiiscfaaft, 1913.
Digitizeü v^oogle
Vierzehntes Kapitel.
Der Zweck in der Logik und Erkenntnistiieorie.
Es ergab sich bereits die Gelegenheit, zu zeigen, daß das
Denken als geistige Tätigkeit ein zielstrebiger Akt» eine
innere Willen sbandlung ist.*) Es besteht ein eigener „Denk*
wille" ißiffwartjy mag dieser nun durch bestimmte» momentane
Anlässe uns abg^enötigt werden, oder mag er spontan aus der
Tiefe auftaachen und in aktiver Weise die Denkarbeit ins Werk
setzen lassen. Das Denken selbst freilich, dies sei zur Ver-
hütung von Mißverständnissen betont, ist kein bloßes WoUen»
sondern ein besonderer Frozeß der Ordnung, Gliederung, Ver*
knüpfung, der Setzung und In-Beziehung-Setzung. Insofern
aber diese Geistesarbeit durch ein den Vorstellungaverlauf
und die Bewußtseinsrichtung beeinflussendes Wollen ausgelöst
wird, erweist sie sich als eine echte, innere Willenshandlung,
als eine Richtung der Willensbetätigung, die freilich wie
andere Willenshandlungen durch Übung triebmäßig, automa-
tisch, mechanisiert oder assoziativ werden kann. Ferner darf
man nicht glauben, daß diese „voluntaristische" Auffassung
des Denkens der rein subjektiven Willkür Raum gewährt.
Gewiß spielt ja auch die sog-en. „Willkür" eine gewisse,
nicht wenig bedeutsame Rolle**) im Denken, so etwa bei der
Definition mancher wissenschaftlichen Begriffe, bei manchen
Axiomen und zum Teil in der Hypothesenbildung. Aber
dies macht das Denken noch keineswegs zu einer un-
gebundenen, gesetzlosen Tätigkeit Denn, wenn wir denken»
•) Vgl. Kap. 8.
**) Vgl die Arbeiten von iVineorl, Le Boy, Dnikm o. a.; Dki^,
Die Grundlagen der Naturphflosoplü^ 1913; TP. FoOaA, Fhilos. Grund»
bgen der philos. Forschung; 1907.
230
n. Spedälmc Tdl.
einen Denkzusammeohang- herstellen wollen, so mfissen wir
die tauglichen Mittel zur Erreichung' des Denkzieles wollen,
d. h. wir müssen so denken, dafi der reine Denkwille aeine
Erfüllung- finden kann.
Der Denkwille bindet sich gleichsam selbst, er stellt an
seine Akte bestimmte Anf orderung-en. Die Aktivität und
Freiheit des Denkens*) schließt daher die Notwendig'kttt und
Gesetzlichkeit des Denkens nicht ans, sondern ein. Diese
Denkg^esetzlichkeit stammt nicht von außen, tte erfließt
aus der Autonomie, der Selbstgesetzgebung des reinen
Denkwillens, ist durch das unmittelbare Ziel desselben be-
dingt und gilt, als konstituierende Bedingung* eines logischen
„Denkens überhaupt", a priori und absolut. Das Denken als
psychische Funktion ist allerdings zunächst eine subjektive
Tätigkeit, eine Betätigung individueller (psychologischer) Sub-
jekte. Die Richtung des logischen Denkens aber ist eine
objektive; es macht Anspruch auf strenge und allgemeine
Geltung, auf Gültigkeit für alles, was nur je Inhalt oder Gegen-
stand des Denkens werden kann. Ja, das Denken setzt und
bestimmt selbst, wenn auch zunächst an der Hand sinnlicher
oder empirischer Daten, die Gegenständlichkeit, die objek-
tive Realität des zur Erkenntnis Aufgegebenen. Das logische
Denkziel ist eben nichts Subjektives. Die Gewinnung- eines
Allgemeinen, Objektiven, von der Willkür und Subjektivität
der einzelnen Denkenden Unabhängigen, im logischen (nicht
etwa ontologischen, metaphysischen) Sinne „an sich" oder
„absolut", d. h. schlechthin Gültigen bildet das immanente
(theoretische) Ziel des Willens zum Denken, des „reinen Denk-
willens überhaupt", in welchen Subjekten, Individuen oder zu
welchen Zeiten er sich auch immer verwirklichen mag. Daß
keine „subjektiven", d. h. hier unsachlichen und unlogischen
Momente (Affekte, Leidenschaften, Wünsche, Vorurteile u. dg-l.)
auf die Richtung des Denkprozesses Einfluß erhalten, daß der
reine Denk- und Erkenntniswille zu voller, ungehemmter und
ungetrübter Geltung und Auswirkung gelange, ist eine For-
•) Vgl Sigwart, Wundt u. a.
yienehiites Ka^td. Der Zweck in der Logik nad Elrkeimtotelheoile. 88t
derung", die der rationelle, kritische (nicht alog"ische oder anti-
logische) Volontarismus unbedingft stallen muß. So schliofl^
er den „Logismus** und „Objektivisniiu" (bzw. den H^ogischeii
Absolutismus") ein.
Die Auffassung* des Denkens als eines zielstrebigcen Pro-
zesses ergibt eine teleologische Interpretation der
Logik.*) Die logischen Axiome oder Denkgesetze sind hier-
nach nicht bloße Naturg'esetze des Denkens, es handelt sich hier
nicht um eine bloß psychologische, wiewohl um eine geistige,
ideelle Gesetzmäßigkeit. Die Logik als solche („reine" Logik)
hat es nicht mit dem individuell, subjektiv variierenden, teils
richtigen, teils falschen Denken zu tun, sondern mit dem
richtigen Denken überhaupt, mit dem Denken, wie es sein
soll, mit dem idealen, normmäßigen Denken. Sie zeigt,
welchen obersten Bedingungen jedes beliebige Denken
g-enügen muß, wenn es ein richtiges, d. h. das immanente Denk-
ziel verwirklichendes Denken sein will, und welche Fehler es
vermeiden muß. Sie stellt die Voraussetzungen für die gültige
Setzung von gedankhchen Relationen auf, auf welchen Inhalt sie
sich immer beziehen, und von wem immer sie gedacht werden
mögen. Sie hat es mit Geltungszusammenhängen, mit
Abhängigkeiten der Denksetzungen oder Denkinhalte von-
einander zu tun, mit der Vereinbarkeit solcher miteinander,
mit gedanklicher Folgerichtigkeit und Notwendigkeit. Diese
rein logische Notwendigkeit ist nicht die eines psychologisch-
kausal bedingten Denkenmüssens, sondern eine andere Art
von Abhängigkeit. Sie äußert sich als eine besondere teleo-
logische Notwendigkeit, insofern als die obersten Normen
oder Postulate, welche die Gültigkeit der Denksetzungen be-
gründen (die Prinzipien der Identität, des Widerspruches, des
ausgeschlossenen Dritten, des zureichenden Grundes), sich aus
dem reinen Denkziel als die durch es g^eforderten Mittel
zu dessen Verwirklichungf erg'eben .♦*)
*) Vgl. aigwart, Logik«, 191 1; ITuM», Logik P, 1906; snch z.T. LtttB,
Logik, 1881, F. C. S. Schiüer, Dewey n. a.
**) Von den immanenten, inneren Zielen des Erkennens und
Denkens ist der äußere Zweck zu unterscheiden, dem die Erkenntnis
Digitizec v^oogle
282
n. SpMielkr TciL
Der Wille zu den einheitlichen Zusammenhängen, in
welchen Wahrheiten als eine Reihe richtiger, allg-emein und
sachlich gültiger Urteile gewonnen werden , schließt den
Willen und die Forderung ein, einheitlich, stetig, konsequent
das in einem Denkbezuge Gesetzte als gültig festhaltend,
von einer Denksetzung zur anderen fortzuschreiten, um
nicht das angestrebte, gewollte Denkziel preiszugeben. Der
logische Wille ist eine Richtung des allgemeinen Einheits-
willens. Die logische Gesetzlichkeit ist durch diesen
Willen gefordert, als Bedingung des zielgemäßen Denkens,
als die ein solches begründende, konstituierende Form.
In der Logik kommt das Denken zum Selbstbewußtsein
seiner eigenen Gesetzlichkeit und Gesetzgebung, die zu-
gleich eine für alles Gedachte, für alle Denkobjekte als
solche geltende Gesetzhchkeit ist; denn alles Denken ist
Denken, Setzen eines Inhalts und Betätigung an einem Inhalt,
von dem sich der „Denkakt" nur in der Abstraktion trennen läßt.
Die logischen Axiome gelten a priori, streng not-
wendig, weil ohne sie ein logisches, richtiges, einheitlich zu-
sammenhängendes Denken nicht möglich ist, weil sie die
Wesensform desselben zum Ausdruck bringen. Ihre Gültig-
keit lalit sich nicht aufheben, denn sie bedingen die Geltung
eines jeden Argumentes, einer jeden Begründung, eines jeden
Beweises; sie erweisen sich als Voraussetzung jedes kritischen
Denkens, das über sie zu Gericht sitzt. Jeder Versuch ihrer
Aufhebung, Negierung, Auzweifluntr hebt sich selbst auf,
führt sich selbst ad absurdum, legt unfreiwillige Zeugenschaft
für ihre absolut notwendige Geltung und ihre Unentbehrlich-
keit ab. Man kann wohl gegen die Denkgesetze verstoßen.
dienstbar gemacht werden k&nn, und welcher selbst nicht ein unmittel-
bares Erkenntniaael, sondern em Ziel des praktischen Wollens
ist, fOr den dann die Erkenntnis und Wissenschaft ein Mittel be-
deutet Die Rlcht^keit, der theoretische Wert des Denkens und Er-
kennens bemißt sich nicht nach diesem äußeren Zweck, sondern nach
dem immanenten, theoretischen Ziel, dem „reinen Erkenntniszwecke"*.
Das Denken und Erkennen hat eine eigene, selbständige Normalität, die
dvrdk keine heterotgenen Zwecke modülaerbar sein darf.
Vjendmtes Kftjdtd. Der Zwede üi der Logilc aad Exkeantiiiittieone. 283
aber nur daon, wenn man die Fehler und Widersprüche, die
man hierbei begeht, nicht bemerkt, sich ihrer nicht bewußt
wird. Die log-ischen Denkg-esetze sind zugleich Postulate,
die im Namen des reinen Denkwillens überhaupt an jedes
mögliche Denken sich richten. Sie besagen, wie gedacht \:
werden soll, sind also nicht bloß empirische, durch Abstrak- Ii
tion von der Erfahrung* oder durch Induktion aus besonderen
Fällen gewonnene Gesetze. Jeder Versuch, sie aus der Er-
fahrung begründend abzuleiten, ist selbst schon ein ihre
Geltung voraussetzendes Denken. Zum Bewußtsein kommen
uns die Denkgesetze durch Besinnung auf die allgemeinsten
Voraussetzungen gültiger Denksetzungen und Denkzusammen-
hänge, durch eine Analyse der Struktur des als gültig anzu-
erkennenden Denkens, durch die Reflexion des Denkens auf
seine eigenen Ansprüche und Ziele. Indem der Denkwiile
sich zum vollen Bewußtsein seines Zieles erhebt, gewinnt er
auch ein reflexives Bewußtsein der allein zu diesem Ziele
führenden, durch dieses gesetzten Mittel, welche als logische
Denkgesetze formuliert werden.
Die dem Denken immanente Gesetzlichkeit beherrscht
nun auch den Erkenntnisprozeß, der über das bloß formale
Denken hinausgeht. Entscheidungen über ein objektives Sein
brauchen nicht immer erst auf dem Wege eines Schlußver-
fahrens gewonnen zu werden; sie sind oft Denksetzungen
unmittelbarer Art, sie kommen direkt am Anschauungsmaterial
zustande, sind durch den Erfahrungsinhalt unmittelbar ver-
anlaßt oder abgenötigt, folgen nicht erst aus anderen Denk-
setzungen. Dem Logischen im engereu Sinne, dem begriff-
lich-syllogistischen Denken geht immer wieder ein primäres,
konkretes, unmittelbares Denken voraus, durch dessen
Setzungen und Bestimmungen erst das, was wir objektiven
Erfahrungszusammenhang nennen, erarbeitet und begründet,
konstituiert wird. Die obersten Gesichtspunkte, nach welchen
dieses „synthetische" Denken*) das ihm geg-ebene Ezfabrungs-
material ordnet nnd verknüpft, aind die Grnmdformen des
*) Im Sinne KatUs, Cohens, Natorps u. a.
234
n. Spciicller Teil.
g-egfenständlichen , auf objektive Erfahrung- eingestellten
Denkens überhaupt, die Kateg-orien nebst den aus ihnen
erfließenden Grundsätzen und Postulaten des Erkennens. Das
Denken rein nach diesen Gesichtspunkten, bzw. die durch
sie bedingte Gesetzlichkeit der Herstellung, Setzung eines
objektiven Erfahrungszusammenhanges, ist das „reine Denken"
(das „Transzendental-Logische" im Unterschiede vom analytisch-
formalen Logischen). Alle Erkenntnis ist für uns nur in den
Formen dieses, objektive Erfahrung bedingenden, ermöglichen-
den Denkens gegeben; m diesem Sinne ist ihr das „Logische"
immanent, gehört es zu ihrer Struktur, zu ihren Gniodlagen
und Voraussetzungen.*)
Aber, wenn auch das bloß Formallog-ische nicht die erste
Grundlage des Erkenntnisprozesses bildet, sondern immer schon
ein primäres, synthetisches Denken und Erkennen vor sich hat,
so spielt es doch sofort eine Rolle, sobald es sich darum
handelt, die gewonnenen, am Anschauungsmaterial erarbei-
teten Erkenntnisse miteinander zu verknüpfen und vermittels
des folgernden Denkens neue Einsichten und Erkenntnisse aus
Urnen zu erzielen. Ja, auch primäre, unmittelbare Denk-
Mtzongen, die ab riditig, walir, als echte Erkenntnis ange-
sprochen werden, müazen sich oft vor dem Forum der formalen
Logik daraufhin legitimieren, ob de den iogiscfaen Geaetwn
gemäß nnd, ob me nicht anderen, anerkannten Denksetzungen
widersprechen. Denn die Forderung des Einklangs aller
Urteile miteinander erstreckt sich natürlich auch auf das Ver>
hältnis von unmittelbaren (primären) zu anderen unmittel-
baren und zu mittelbaren (abgeleiteten) Denksetzungen. So
ist denn die Erkenntnis der Tatsachen zwar nicht ein reines
Denkprodttkt, aber wie sie einerseits das „Transzendental-
logische'* zur Grundlage hat, so untersteht sie auch der all-
gemeinen logischen Gesetzlidikeit, die für sie ein Kriterium
bUdet
SicheiUch muß sich das Denken an und in der Er-
fahrung bewähren, es muß seine Grültigkeit ffir sie dadurch
*) Vgl. Biekl, Hönigwald u. a.; B. Bauch, Stadien zur Philosophie
der exakten Wisseiisduften, 191 1.
^ i^uo Ly Google
'^cnduites Kapitd. Ikr Zweck ia der Loflk und Erkeaittiiiitlieorie. 235
«rproben, däfi keine neue Erfabrang' oder kein neues Er&Iirnngv*
denken es widerlegt Aber uingfekebrl muß aucb die Erfahrongf
selbst sich als wahrhafte und objektive^ allgemeine Erfahrongf,
die mehr ist als bloße Aussage über ein subjektives» indivi-
duelles Erlebnis, leg-itimieren, und das geschieht nur unter
•der Kontrolle des Denkens und seiner unverbrüchlichen Ge-
^tse. Die „Tatsachen**, mit denen das Denken „übereinzu-
stimmen", denen es zu „entsprechen" hat, werden selbst dorch
ein Denken erstellt, bestimmt, als objektive Tatsachen gesetzt
und anerkannt Sie sind uns nicht fertig* „gegeben", sondern
der Erkenntniswilie setzt sich die Aufgabe, solche Tatsachen
zu gewinnen. Er erreicht sein Ziel durch aktive, der Gesetz-
lichkeit des erkennenden Bewußtseins gemäße Verarbeitung,
Synthese von Daten, die zu den Inhalten unserer Erlebnisse
gehören.
Die so vom Denken, besonders vom Denken der Wissen-
schafib, gewonnenen „Tatsachen" sind durch die Gesetzlichkeit
und das oberste Ziel des erkennenden Bewußtseins bedingt
und bleiben insofern insgesamt auf ein ideales, logisches, „trans-
zendentales" (nicht psychologisch-subjektives) Bewußtsein be-
zogen, dessen Gegenstände sie sind. Von den einzelnen
(psychologischen) Subjekten aber sind sie nach ihrer Existenz,
ihren konstanten Bestimmtheiten, Relationen und Gesetzen
unabhängig: sie bilden eine (relativ) selbständige Außen-
welt, die den „Innenwelten" der verschiedenen Ichs als ein
Gemeinsames, Allgemeingültiges gegenübersteht.*) Die
Welt der Objekte und der fremden Subjekte ist also im Ver-
hältnis zum eigenen (psychologischen) Ich transsubjektiv
(oder „relativ transzendent"), d. h. mehr als bloß subjektives
Erlebnis. Zugleich aber ist sie der möglichen Erfahrung und
dem rein logischen, transzendentalen Bewußtsein (als Inbegriff
der Geltungen, Formen, Erfahrungsbedingungen, welche zu-
gleich Bedingungen der Erfahrungsobjekte sind) immanent.
Die Unabhängigkeit der wirküchen Dinge, die Selbständig-
keit ihres Seins und Wirkens gegenüber der Existenz und
*) Vgl. Cohen, Cassirer, Baitch, Rickert, Frwhem^-Köhler, Banmgtr
(Philosophie des Jbjrkennens, 1911) u. a.
296
JL Spetidler TdL
Wirksamkeit der erlebenden und wollenden Individuen, die
„empirische Realität" (Kant) der einen wie der anderen ist
keine Inkonsequenz des kritischen (transzendental - logischen)
Idealismus, sondern im Gegenteil g-erad^u dnich ihn gesetzt,
geordert. Denn eben die Kategorien, von denen alle Er-
fabrungsobjekte abhängig sind, und die ihnen den Charakter
von „Ersch^nungen für ein Bewußtsein überhaupt" verieiben,
machen sie zu relativ selbständijjren Einheiten neben
und außer den Subjekten, zu denen sie in kausal-dyna-
mische Beziehung treten, indem sie (durch ,3>cize") in ihnen
Empfindungen und Wahrnehmungen auslösen und sie zu Hand-
lungen veranlassen. Die Objekte sind also nicht bloße Er-
zeugnisse der erlebenden Subjekte, deren empirische Exi-
stenz, d. h. Enthaltensein im Zusammenhange möglicher Er-
fahrung-, ja keine konstituierende Beding-ung der Realität
der Objekte darstellt. Indem diese letzteren als „existierend",
„real", „wirksam" usw. g-esetzt werden, sind sie damit schon
vom rein subjektiven Dasein unterschieden, haben sie eine
eigene „Dig-nität".
Völlig unabhängig vom erlebenden (ps^^cholog-ischen) Ich
ist ferner das „Fürsichsein" oder „Innensein" desjenigen, was
sich als Objekt der äußeren, sinnlich vermittelten Erfahrung
darstellt, die der eigfenen analog zu deutende „Subjektivität"
der Dinge oder der Keim zu einer solchen, der in den höher
stehenden Wesen zu einem „Ich" wird. Das fremde Ich ist
hinsichtlich seiner „empirischen Realität" unserem Ich völlig
gleichwertig gedacht. Denn die Setzung oder Anerken-
nung eines solchen fremden Ich hat ja den Sinn, uns eine
Einheit gegenüberzustellen, die ebenso ein aktiv-reaktives
Zentrum von Erlebnissen und Stellungnahmen, ein Erleben-
des, Wollendes, Zwecksetzendes ist wie wir. Diese Einheit
hat ein eigenes, individuelles, von dem unseren ge-
schiedenes Bewußtsein, das als solches niemals zum Inhalt
unseres (empirischen, psychologischen) Ich werden kann, weil
es sonst eben zu diesem selbst gerechnet werden müßte.
Von unserem eigenen Ich und dessen subjektiven, indivi-
duellen Erlebnissen oder Vorstellungen und der rein psycho-
uiyiiized by Google
Vicndintes Kapitel. Oer Zweck ia der Logik und Erkenatniidieorie. 237
iQgisclien Cresetzmäfiigkeit des Auftretens, des Kommens imd
Gehens dieser sind also die Welt der physischen Objektivität
ond die der fremden Sabjektivitat, das Außen« und Linensein
der Dinge und der gesetzliche Zusammenhang derselben begriff-
lich scharf za anterscheiden, ohne daß dieser „empirisch-phäno-
menale Dualismus** einen „Kfonismus** der Weltanschauung aus-
schließt Mag auch die absolute Wirklichkeit einheitlich, iden-
tisch, eines Wesens sein, so ^d wir doch genötigt^ sie in zwei-
facher Weise zu betrachten und zu erforschen; je nachdem wir
eben den Standpunkt der inneren „unmittelbaren" Erfahrung
einnehmen, von dem aus die Wirklichkeit als eine Welt von
Subjekten oder subjektiven Vorg-äng-en zu denken ist, oder aber
dem Standpunkt der äußeren, sinnlich vermittelten Erfahrung
Rechnung tragen, der zur Setzung- einer Welt von physischen
Objekten, von quantitativ-dynamischen Zusammenhäng-en oder
Relationen nötigt Der „metaphysischen" Deutung bleibt es
dann unbenommen, etwa das objektive, physische, materielle
Dasein als Manifestation, Erscheinungf, Ausdruck eines dem in
ans unmittelbar bekannten Innen- oder Fürsiohseins, einer der
unseligen analogen „Subjektivität" aufzufassen, um so in unsere
Erkenntnis möglichste Einheit zu bringen. Eine solche „kri-
tische Metaphysik" ist mit dem transzendentalen Idealismus oder
Ideal-Realismus wohl vereinbar, denn sie setzt sich nirgends
über die Bezogenheit alles äußerlich und innerlich Erfahr-
baren auf ein logisches Bewußtsein als dessen Geltungsbasis
hinweg. Sie unterscheidet auch zwischen dem Fürsichsein,
als der „Selbsterscheinung**, dem „relativen An sich" des
Wirklichen, und dem absolut Transzendenten, d. h.
der über alle Formen des Erkennens und über alle Re-
lation erhabenen Seinsweise eben dessen, was sich für den
„Endlichkeitsstandpunkt" in eine Welt des Objektiven und
Subjektiven und eine Mannigfaltigkeit von Beziehungen
gliedert.
Die Bedeutung- des Zweckbegriffs für die Erkenntnistheorie
erhellt also auch aus der Hinsicht, daß die Setzung einer von
unseren subjektiven Erlebnissen unabhängigen Welt objektiver
Relationen schon eine zweckgemäße Funktion, eine ziel-
238
n. SpcdcOcr TdL
•trebigfe Tat ist*) Der Ericenntaiswine ist ein Wille zum
einlieitliclien Begreifen, znr Einlieitasyntheae des dem
Bewußtsein gegfebenen Mannigfaltigen« zur Heistellnttg
eines einheitlichen Zusammenhanges aller Wahr-*
nehmnngsdaten oder Erlebnisinbalte, insbeawdere eines
objektiven, allgemeingültigen Erfahrangssystems. Die
Fonnen der Erkenntnis nun, die Kategorien, sind nichts
anderes als die konstitutiven und regulativen Mittel im
Dienste des Erkenntniswiilens („Voluntaristischer Kritizismus").
Das oberste Ziel desselben erfordert mit apriorisch-teleo-
logischer Notwendig-keit die in den Kategorien und
Grundsätzen selbst voriiegeoden Einheitssynthesen, die
diesen gemäße Ordnung und Verknüpfung des Erfahrungs-
materials. Nur dadurch, daß — an der Hand der Erlebnis-
daten und im einzelnen von diesen beeinflußt — das Denken
feste, konstante Einheiten und räumlich -zeitlich- kausale
Relationen zwischen diesen setzt, schaät es zureichende
Gründe, ans welchen sich das von unserem Willen unab-
hängige, allgemeine Auftreten und Verschwinden der Wahr-
nehmungsinhalte einheitlich begreifen läßt Dieses „Umdenken'*
des Gegebenen zu einem System allgemeingültiger, objektiver
Einheiten und Relationen, das als g-emeinsame Außenwelt das
Korrelat zu den erlebenden Subjekten bildet, ist schließlich
nur teleologisch zu verstehen.
Die Kateg-orien und die apriorischen Grundsätze der
Wissenschaft legitimieren sich letzten Endes als Mittel für
den reinen Erkenntniszweck, so wie die log-ischen Gesetze
sich als Mittel für den reinen Denkzweck legitimierten. Da
durch die Kategorien (Substanz, Kausalität usw.) erst das
ersteht, was wir von den unmittelbaren Erlebnissen als „Wirk-
lichkeit", als objektive Realität unterscheiden, so g-eht es nicht
an, von einer „Verfälschung" der Wirklichkeit — die nicht
mit dem Empfindung-smaterial identisch ist — durch die
Kategorien als „Denkzutaten" zu sprechen oder sie als
bloße, wenn auch praktisch zweckmäßige „Fiktionen" zu be-
*) VgL MiUuterbarg, Philosophie der Werte, 1908.
Digitizcd by Google
Vicizchnlcä Kapitel. Der Zweck in der Logik und Erkenntaistheorie. 239
loicbnen.*) Die Zweckm&ßtgkett der Kategorien ist nicht
bloß eine praktiadie, d. Ii. ilize Anwendtmsr fördert nicht
blo6 die Lebenserhaltung* {Nkta^t das Handeln» auch haben
sie nicht bloß eine „denkökonomiscfae**, Denkarbeit ersparende
Funktion (ütuA). Sondern ihre Zweckmäßigkeit ist vor allem
rein theoretisch*logisoher Art, die von der praktischen,
biologischen und psychologischen Zweckmißigkeit scharf sn
unterscheiden ist**) Zweckmäßig' sind die Kategorien in erster
Linie deshalb, weil und sofern sie der Herstellung eines
einheltlich-geordneten ErCahrnngszusammenhanges dieneui der
das Ziel des reinen Erkenntniswillens bildet^ eines Erfahrungs-
zusammenhanges, in welchem allein die objektive WirkUch-
kett sich dem erkennenden Subjekt entfaltet
Daß die Wissenschaft ursprünglich im Dienste prak-
tischer Bedürfnisse steht, und daß sie auch dann, wenn sie
einem besonderen Eikenntnistrieb Genüge leistet, immer wieder
vonjder Praxis Direktiven für das su Erforsdiende erhält, daß
sie in mannigfachster Weise die Praxis bedlnflußt, steht fest
Der Wille zur Erhaltung* des Daseins und zur Höherentwick-
lung; der in der Geschichte als Wille zur Kultur wirksam ist,
Verwertet unablässig- die Ergebnisse wissenschaftlicher Er-
kenntnis und fordert, daß die Wissenschaft dem Leben diene,
daß sie planmäßig darauf ausgehe, Tatsachen und Kausal-
zusammenhänge zu finden, die von der Praxis zweckvoll sich
anwenden lassen. Die Wissenschaft hat also nicht nur einen
Eigenwert indem sie rein theoretischen Bedürfnissen dient
und zur inneren Kultur des Menschengeistes beiträgt, sondern
auch einen Wirkungswert, im Hinblick auf die praktischen
Ziele, die sie zu fördern yennag. Sicherlich bleibt auch die
Orientierung des Erkennens auf die Praxis oder die Lebens-
beherrschuDg hin nicht ohne Einfluß auf die F'ormen und die
Richtung desselben, auf die Auswahl und Gliederung des
Erkenntnisstoffes. Aber dieser Einfluß der Praxis auf die Theorie
^ So Fsttln^, Die Hiilosophie des Als ob, a. Anfl* 1913. Den
meÜiodischen Wert vider Fikdooen hat aber VaHütger trefflich dar-,
getan.
**) Vs^. S, DingleTf Die Grundlagen der Naturphilosophie, 1913.
240
n. Spendier Tca.
darf nicht übencbätzt werden. Grundlegend ffir das System
der Eikenntnis sind in anter XJnie die reinen Erkenntnis-
ziele. Diese bedingen a priori, mit strenger Notwendigkeit
die Formen und Methoden der Erkenntnis als die reinen Er-
kenntnismitteL Der Wille zu einheitlich - geordnetem , all-
gemeingfiltigem Zusammenhang möglicher Erkenntnisinhaite
bestimmt als theoretisdier Imperativ, wie im Dienste des imma-
nenten Erkenntniazieles gedacht, geforsdit und das Erforsdite
verknüpft werden soll
Die Grundsätze der Erkenntnis gelten unabhängig von
der Praxis, auch wenn die Erkenntnis ein Glied im System
menschlicher Zwecksetzungen bildet and sich praktischen
Zielen unterordnet. Gerade, wenn sie einen praktischen
Wert haben will, wenn sie die Wirklichkeit SO erforschen
will, daß die Eigenschaften und Beziehungen der Dinge
für das Leben dienstbar gemacht werden können, muß die
Wissenschaft unbeirrt auf ihr theoretisches Ziel blicken, vor
allem wahre, objektive Erkenntnis anstreben und rein von
dem Gesichtspunkt einer solchen sich leiten lassen. Der be-
ständige Ausblick auf praktische Bedürfnisse kann sogar für
die Praxis selbst, nicht bloß für die immanenten Ziele der
Wissenschaft schädUch werden, denn sie kann von der For-
schung nach Daten und Zusammenhängen abhalten, deren
Kenntnis, ohne daß sich dies voraussehen läßt, einmal für die
Praxis wertvoll sein kann. Es ist, wie J. Schultz treffend be-
merkt, zuweilen das Praktischste, von der Praxis zu abstra-
hieren und an das nächste, theoretische Erkenntnisziel zu
denken. Wie immer es aber um die praktische Brauchbar-
keit von Erkenntnissen oder Gedanken stehen mag, in jedem
Falle ist diese Brauchbarkeit von der Geltung der reinen Er-
kenntnismittel, der Grundbegriffe und Grundsätze des Erkennens
scharf zu unterscheiden. Auch ist das Urteil über eine solche
praktische Zweckmäßigkeit nicht wieder aus praktischen
Gründen gültig, sondern vermöge einer rein theoretischen
Einsicht. Der erkenntnistheoretische Voluntarismus und Teleo-
logismus hat seme Berechtigung, aber nur dann, wenn er
den Logismus einschließt, wenn er den Eigenwert rein
^ i^uo Ly Google
Vimduitet KMfiUL Der Zveclc in der Logik oad Erkenatoiitheorie 241
tlieoietischer Gettung' von Urteilen oder Sätzen anerkennt.
Der Wille im JSrkennen maß ale logischer, theoretischer WiUe
eich durchfuhren, als reiner £rkenntni8wille, der amne «genen
Normen setzte autonom ist Die Entwicklung der Erkenntnis
und die Geschichte der Wissenschaft zeigt, wie die Auto-
nomie dieses Willens an einem immer neu zuflutenden Idateiial
sich betätigt und zur Anpassung desselben an das Erkenntnis-
ziel treibt, zu einer Anpassung freilich, die den Intentionen
des „Gegebenen** im einzelnen Rechnung trägt
Damit haben wir auch zur teleologischen Erkenntnistheorie
des „Pragmatismus"*) kurz Stellung- genommen. Die ^rag*-
matistische Lehre, „Wahrheit" bedeute nicht eine Oberein-
stimmung- des Vorstellens oder Denkens mit einer an sich
bestehenden Wirklichkeit, sondern nur die Fähigkeit eines
Urteils oder einer Annahme, die Lebenserhaltung" oder die
„Praxis" aller Art, das Handeln oder das Denken oder den
Fortschritt von einer Erfahrung zur anderen zu fördern und
sich in der Erfahrung zu bewähren, ist in ihrer extremen
Form nicht haltbar, so wertvoll der Hinweis auf die teleo-
log-ische Natur des Denkens, die Zielstrebigkeit und
die WillensgTundlage desselben, ist. Richtig ist in dieser
Lehre aber folgendes. Die Wissenschaft, besonders die Natur-
wissenschaft, greift öfters zu Hypothesen oder Fiktionen, um
in der denkenden Verarbeitung des Erfahrungsmaterials
besser fortzukommen. Der Wert dieser Annahmen bemißt
sich nach dem Maße ihres „Nutzens" für die Denk- und
Erkenntnispraxis, also nach ihrer theoretischen Arbeits-
leistung-. Aber auch diese „Nützlichkeit" von Annahmen
ist noch keineswegs identisch mit dem, was wir in der Regel
unter objektiver Wahrlieit verstehen.
Fiktionen zunächst sind ja als solche von vornherein
frei von jedem Anspruch auf Wahrheit, so zweckmäßig sie
im einzelnen für die geistige Beherrschung des Gegebenen
*) Jörne», F, C* S, SdMBer, Dewey o. a.; vgl die Arbeiten von
IT. Jtntdem, der dem Prsgmatismos sehr nahe steht, aber auch die
theoretische Bedeutung der Wahrheit durchaus anerkennt (vgL
Deutsche LiteraturzeitUDg, 1913, S. ao6ff.).
Eitler, Der Zweck. 16
242
n. Speridicr TeiL
sein mögen. Hypothesen aber können trotz aUer Nfitztich-
keit nnd trotz eines gewissen objektiven Erkenntni^febaltes
sich schließlicli doch als unhaltbar erweisen, weil nnd sofern
die Erfahrung' und die weitere Verarbeitung derselben durch
das methodisch ▼erfahrende Denken mit ihnen nicht mehr
fibersinsttmmt oder zu einer anderen Ergänzung nStigt.
Anderseits kann wohl in manchen Fällen die Nützlichk^t
einer Annahme zug-leich ein Zeichen und eine Folge davon
sein, da8 die Annahme objektiv richtig- ist; dann fördert sie
das Denken und ist zugleich ein als richtig, wahr im ob-
jektiven Sinne anzuerkennender Satz, ohne daß auch hier
die Nützlichkeit und Wahrheit des Urteils identisch sind,
^Eusammenfallen. Daß femer gewisse Annahmen und Urteile
der Lebenserhaltung" und der Praxis dienen, uns im Kampf
ums Dasein fördern können, ist ja nicht zu bestreiten. Aber
diese Urteile sind nicht bloß weg-en dieser ihrer „Führunjr"
und nur in diesem Sinne wahr, sondern sie fördern uns und be-
währen sich schließlich doch nur deshalb praktisch, weil sie eben
objektiv wahr, richtig sind und uns deshalb die Wirklichkeit,
der wir uns und unser Denken anzupassen haben, oder die wir
unseren Zwecken anpassen wollen, besser bestimmen, er-
kennen lassen. Mag auch zuweilen die Nützlichkeit*) von
Annahmen ein Motiv für unser Fiirwahrhalten derselben abgeben,
so bildet doch nie eine solche Nützlichkeit das Wesen, die
Idee, den Sinn der Wahrheit selbst. Stillschweigend muß
ja auch der Praqfmatismus eine rein log-isch-theoretische Wahr-
heit anerkennen, so z. B. seine eigene Wahrheit und die
Geltung alles dessen, was er bei seiner Wahrheitslehre
voraussetzt, und womit er deren unbedingte Richtigkeit zu
beweisen sucht.
Immerhin ist der vom Pragmatismus herangezogene Be-
griff der „Fruchtbarkeit** des Denkens auch für den Stand-
*) Zweckmflßigkeitsgrflnde nicht rein logischer Art sind fQr ge-
wisse nmthcmaiischc nnd phywkslisehe Theorien maftgebend, wddie
sich als ^beqam" oder „denkAkononüsch" darstellen und nur des-
halb vor anderen Theorien bevonnigt werden (Afoelk, Fcineari, Xe üoy,
Duhem Q.a.).
uiyiiized by Google
Vierzehntes Kapitel. Der Zweck in der Logik und Erkenntnistheorie. 243
pnnkt des Kritizismus nicht oline Bedeutung.*) Nur mnfi er
im engsten Sinne einer zunächst rein theoretisch-logischen
nFrucfatbarkeit'S d. h. einer Forderung des reinen, immanenten
Denk- und Erkenntniszwecks (d. h. zunächst des Denkens und
der Erkenntnis ats Resultat des Denk- tmd Erkenntnisprozesses)
selbst aufgefaßt werden. Urteile und Annahmen werden oft,
wenn sie auch nicht alle wahr oder richtig sind, jedenfalls
schon einen gewissen Erkenntnis wert haben, wenn sie sich
als fruchtbar für die Erklärung der Phänomene erweisen,
wenn sie uns theoretisch ,4fihren*', im Denken, Erfahren,
Erkennen weiterbringen, wenn sie zur geistigen Beherrschung
oder Harmonisi^nng des Gegebenen dienen.**) Damit sie aber
zugleich auch Anspruch auf objektive Wahrheit madien können,
müssen Urteile die Eignung haben, mit anderen Urteilen zur
Einheit eines allgemeingültigen Erfahrungs- und Er-
kenntniszusammenhangs sich verknüpfen zu lassen; sie
dürfen also den Gesetzen des das Erfahrungsmaterial ver-
arbeitenden Denkens und den methodisch gerechtfertigten
Setzungen desselben nicht widersprechen, müssen diesen ^kon-
form" sein.
Die Wahrheit eines Urteils besteht freilich nicht in
der Obereinstimmung einer Vorstellung mit einer außerhalb
alles (log-ischen) Bewußtseins belegenen, durch sie abge-
bildeten Wirklichkeit; dies gibt der Kritizist dem Pragmatis-
mus gern zu. Auch ist das objektiv Seiende, Reale, an dem
wir die Wahrheit unserer Urteile messen, nicht fertig, unab-
hängig vom Erkennen gegeben, sondern „aufgegeben**; es
ersteht für uns erst im und durch den Erkenntnisprozeß selbst.**^
Die Bestimmung: „Wahr ist ein Urteil, das der Wirklichkeit
gemäß ist", verliert aber ni<^t jeden Sinn. Mag auch die ob-
jektive Realität dar Dinge erst und nur in einem allgemein-
gültigen Zusammenhange oder System von Inhalten oder
Gegenständen des logischen (bzw. wissenschaftlichen) Bewußt-
*) Vgl. Th. Lorentz, Kantstudien, 1909.
••) Vgl Dcirey, Fr. C. S. SchiUer, Vaihinger, G. Jacoby, Eöffding u. a.
***) So auch Cohm, Natarp, Cauker, Kinkel u. a. «Neukantianer".
244
n. Spcsdkr TciL
amuM v(Mrlieg<eii, ao bleibt doch immer noch der Untnadiied
zwischen dem rtnzelnen, subjektiven Urteil und den objektiven
mitRechtab »real** gesetzten und anzuerkennenden, methodisch
gewonnenen Urteilainhalten, in welchen die Objekte der
ihhrung nach ihren festen Bestimmtheiten und Relationen sich
dantellen, und mit welchen die Urteile der Einzelsubjekte iibeiw
einstimmen müssen, um wahr zu sein. Unsere individuellen
Urteile mfissen, heifit dies, ihren Geg^enstand jeweils so setzen
und bestimmen, wie es durch die Normen allgfemeingrultig'er
Hrfohrungsurteile gelordert ist; sie müssen diesen „WiikUch-
keitssetzungcn** entsprechen, dürfen ihnen nicht widersprechen.
Keine Denksetzung darf die Einheit des Erfahrung-s- und
Erkenntniszusammenhanges aufheben, jede muß sich diesem
einfügen lassen. Das ist das oberste Kriterium aller
materialen Wahrheit, zugleich aber auch alles denkend zu
setzenden und anzuerkennenden Seins. Ebendasselbe, was
die wahre, normgemäße Erkenntnis, die Wahrheit konstituier^
das konstituiert auch die Gegenstände des Erkennens, das
objektive Sein, die Wiridichkeit als objektiv-empirische Reap
litat Das gilt, auch wenn wir nicht das Sein mit allen
s^en Bestimmtheiten aus dem reinen Denken ableiten
können, sondern anerkennen müssen, daß die einen objektiven
Erfahrungszusammenhang schaffenden Denksetzungen an einem
anschaulichen Material erfolgen, das wohl auch für das Denken,
aber nicht bloß durch dasselbe gegeben ist
Ein Urteil ist von ,, primärer" Wahrheil, sofern es eine
solche Setzung enthält, wie sie durch die Erkenntnisgesetzlich-
keit in deren Anwendung auf einen besonderen Fall, auf ein
bestimmtes Gegebenes, auf methodisch zu verknüpfende Daten
gefordert ist. Es muß also dem anschaulich Gegebenen gerecht
werden, sich lu gewissem Sinne ihm anpassen, zugleich aber
das Gegebene der reinen Denkgesetzlichkeit, den Erkenntnis-
normen gemäß formen. Die von uns gefällten Urteile gelten
von den Objekten und für sie, weil die Objekte der Erkennt-
nis selbst — als solche wenigstens — eben die zu den denkend
gesetzten Bestimmtheiten gehörigen Einheiten und Zusammen-
hänge bedeuten, die im nie abgeschlossenen Prozesse des £r-
^ i^uo Ly Google
Viendmtcs K«plld. Der Zw«ek ia der Logik vnd Erironntiilitheorfe. 245
konnena iniiner ▼olbtändigar und genauer, nach immer mehr
Seiten zur Bestimmung' gelangen.
Parallel mit der Verarbeitung der Daten der Sinneawalur*
nehmung zum Zwecke der Gewinnung des objektiven £r^
lahmngszusammenhanges der „Nator** erfolgt die Setzang eines
Systems von Subjekten, auf die als besondere Einheiten die
Daten der inneren oder unmittelbaren Wahrnehmung, also die
Vorstellungen, Gefühle, Denk- und WilJensakte, die Bewufit-
seinsfunktionen als solche und deren Zusammenhäng-e bezogfen
werden. Psychologisch betrachtet, erscheint das Denken als
Funktion, Tätig-keit eines einzelnen Ich; erkenntnistheo-
retisch auf g-efaßt, wird dieses Idi ZU einer Denksetzung unter
anderen, aber nicht etwa zu einem reinen Denkerzeug-nis,
sondern nur auf Grund von primären Erlebnissen, welche das
Denken zwar verarbeiten, verknüpfen, bestimmen, aber nicht
ans sich produzieren kann."') Während das auf Erstellung
eines einheitlichen objektiven Erfahrungszusammenhanges g-e-
richtete Denken schließlich sein Ziel nur dadurch erreicht, daß
es alles Unmittelbar-Qualitative des Geg-ebenen auf quantitativ-
kausale Relationen zurückführt, läßt das psychologisch und
geisteswissenschaftlich orientierte Denken das ihm Gegebene
in seiner qualitativen Unmittelbarkeit bestehen; es wendet
seine Kateg"orien nur so an, wie sie zur Begreiflichkeit, Syn-
these des Psychischen, der Erlebnisse als solchen erforderlich
sind. Die Verschiedenheit des Erkenntnisziel es bcdincft eine
partielle Verschiedenheit im Gebrauch der J^rkenntnismittel.
So wird es verständlich, warum die quantitative, mechanistische
(oder dynamistisch-energ-etische) Betrachtung-s- undErklärung-s-
weise des Geschehens vom Standpunkt der äußeren, objektiven
Erfahrung- allseitig-, ausnahmslos g-ültig- und theoretisch zweck-
mäßig ist, während sie auf dem rein psychologischen oder g-eistes-
wissenschaftlichen Standpunkte allen Sinn, allen Arbeitswert
verliert. Wohl läßt sich alles Geg^ebene als materiell-energ-e-
tisch betrachten oder dem kausalen Zusammenhang physischer
Erscheinungen einordnen, aber immer nur vom Standpunkte
*) Vgl Ftiacheisen-Kolder, Wissenschaft and Wirklichkeit, 191a.
246
n. Spesidicr Tdl.
des auf die allgemein g-iilti gen Erfahrungfsobjekte gerichtetea
Erkennens, welches schließlich der Ergänzung^ durch das die
Welt der inneren, unmittelbaren Erfahrung bestimmende
Denken bedarf. Für dieses Denken ist dasKeale, Wirkliche
also nicht eine Summe von Körpern, Bow^fungen, Energien usw.,
sondern es stellt sich jetzt dar als eine Mannig'faltig^keit von
Bewußtseinseinheiten, von Zentren aktiver oder reaktiver Be-
wußtseinsfunktionen, von »Subjekten", nicht mehr als materielle
„Substanz".
Unser „Subjektsein" ist weder ein bloßes Erlebnis, etwas
rein intuitiv Gegebenes, noch ein reines Denkprodukt, sondern
das Denken setzt es auf Grund von Bewußtseinsbestimmt-
heiten, die zur Unterscheidung eines „Nichtich" von einem
„Ich" (,, Selbst"), d. h. der Objekte der Erfahrung, des Denkens
und des Willens von der Tätigkeit des Erfahrens, Denkens und
Wollens von Objekten nötigt. Das erkennende Bewußtsein
in uns „dirimiert", spaltet sich in ein Objekt- und Subjekt-
bewußtsein, in welchen beiden je ein anschaulicher und ein
gedanklicher Faktor steckt oder ein auf ein Anschauliches
oder ein Erleben bezogenes Denken enthalten ist. Die fremden
Subjekte werden analog dem eigenen gesetzt und bestimmt,
wobei ihre Setzung, mag sie auch zunächst eine psycho-
logische Wurzel haben („Ein füh hing"), als Mittel zur Verständ-
lichung von Erlebnisinhalten, zur Deutung ihres Sinnes auch
eine logische Funktion erfüllt und dadurch ihre Gültig'keit
erhält
Wenn endlich die „metaphysische Spekulation'' schließlich
die Einseitigkeiten der objektivierenden und subjektivierenden
Denkw^eise dadurch zu überwinden sucht, daß sie das objek-
tive und subjektive oder das physische und psychische Dasein als
zwei , .Seiten" (Aspekte) einer einheitlichen, identischen Wirk-
hchkeit, als das Außen- und Innensein dieser bestimmt, so
bedeutet dies kein unkritisches Dogmatisieren, sondern eine
im Rahmen der Erkenntnisgesetzlichkeit verbleibende
Denksetzung zum Zw^eck umfassendster Begreiflichkeit der
Gesamterfahrung. Die Herstellung eines einheitlichen
Zusammenhanges zwischen den in sich selbst zusammen-
Digitizeo v^oogle
Vicndmtei Kapild. Der Zweck in der Logik uad Erkmirtniühciirie. 247
häng'endeo Reihen der äußeren und inneren Krfahrung berulit
auf einer Synthesis höchster Ordnung, die man als „meta-*
physische Synthese" bezeichnen kann und die nur die kon-
sequente Durchführung* der synthetischen Einheitsfunktion des
Bewußtseins bedeutet.
Das denkend bestimmte Iniieu- oder Fürsichsein der Wirk-
lichkeit, wie CS an der Hand unmittelbarer Erlebnisse von dem
System der Raunidinge und ihrer Relationen unterschieden
wird, als eig^ene wie als fremde „Innerlichkeit", wird, sobald
die Idee der Entwicklung" auf dasselbe zur Anwendung- g-e-
langt, zu einer Stufenfolge von relativ selbständigen Erlebnis-
zentren, vom „Monientanbewußtsein" und der triebhaften Re-
aktivität der niedersten Wesen ang-efangen bis zu den selbst-
bewußten, aktiv- wollenden Einheiten; hierbei ist überall das
Phänomen der „Mechanisierung" oder Automatisierung von
Bewußtseins- und Willensvorg"ängeu und die Entwicklung-
höherer Stufen aus niederen ebenso wie der gegensiunige
Prozeß zu berücksichtigen.
Das Denken, welches, rein erkenntnistheoretisch, log^isch,
transzendental betrachtet, ein zeitloser Zusammenhangs von
Setzungen, Geltung-en, Ideen, Normen, Urteilsinhalten ist,
setzt sich nun selbst bewußt als eine geistig-reale Tätig-
keit unter anderen. Es ist nun nicht mehr ein Inbegriff
von Geltungen als Mitteln zu einem theoretischen Ziel,
sondern eine zielstrebige Funktion, wie auch die Momente
des gesamten Erkenntnisprozesses es jetzt sind. Diese Ein-
ordnung des Denkens und Erkennens in den als „Innen-
welt" charakterisierten psychischen Zusammenhang gehört
selbst zu den Mitteln, welche dem Erkenntnisziel der Be-
greiflichkeit des Gegebenen, der einheitlichen Ordnung des
Krkenutuismaterials dienen. Das Denken, welches vom rein
logischen Gesichtspunkt aus eine Sphäre des Idealen, gleich-
sam ein „drittes Reich" neben dem physischen und psychischen
oder psychologischen Dasein und Geschehen begründet, bildet
nun vom Wirklicbkeitsstandpunkt einen eigenartigen Teil
des Geschehens der in der Zeit erfolgenden Entwicklung und
hat dann auch wie ein jeder Weltbestandtetl eine physlaohe Seite
Digitizec v^oogle
248
n. Spcdelkr Tefl.
oder Erscheinung-sweise (etwa als Koordinations- und Regfula-
tionsvorgangf im Gehirn). Die Psycholog^ie, Biolog-ie und
Soziolog'ie des Denkens und Krkennens und die genetische
Betrachtung" desselben treten nun in ihre Rechte, ohne allen
„Psychologismus" und Subjektivismus, ohne Übersehen der
logischen oder transzendentalen, apriorischen Voraussetzungen,
Bedingungen, Grundlagen aller, also auch der psychologischen,
biologischen und soziolog-ischen Geltungen selbst*) Die psy-
chologisch-teleologische Erklärung ergänzt die trans-
zendental-teleologische Deduktion oder Legitimation des
Logischen, als eine besondere, aus einem bestimmten Er-
kenntnisziel sich ergebende Methode **)
So beherrscht denn der Zweck den ganzen Erkenntnis-
prozeß, er gibt ihm die fundamentale Richtung und er be-
gründet dessen Methoden, soweit sie nicht durch die besondere
Erkenntnismaterie bedingt, aufgegeben sind. Das ideale Ziel
einheitlich geordneten Zusammenhanges möglicher Erfahrungs-
inhalte, in welchem uns eine objektive, allgemein gültig be-
stimmte Welt ersteht, legitimiert die Formen unseres Er-
kennens als die Mittel zu Erreichung dieses reinen Erkenntnis-
zwecks und daniit als Bedingungen der empirischen Realität
der Erkenntnisobjekte. Der ideale Wille zur Erkenntnis und
damit zur Objektivität, zu allgemein gültigem Sein, diktiert
uns die Gesetzlichkeit des Verfahrens zur Verarbeitung des
gegebenen P>kenntnismaterials; er setzt die Normen für die
Erkenntnismethodik, er bestimmt, wie wir im Denken und Er-
kennen vorgehen sollen. Nicht ein ,, transzendentes Sollen"
(wie Rickert meint) bedingt das Erkennen, wohl aber ein trans*
*) Vgl. JZ&fart, Kant^tadien XI, 1909; ferner Din^, tu a. O.,
2Vk8cA q. a.
••) Man kann also durchaus auf dem Boden des Transzendentalismus
und Logismas stehen und dennoch auch die biologisch-psychologische,
iiniiuuient>tdeologische Sdte des Ericemneiui und dessen EntwicUnng
gdten lassen. Der Apiiorismns ist keinesw^ «bahnqierrend" (wie
IT. Jtruatätm meint); nur unterscheidet er mit Recht sdiarf zwischen
der Frage nach der Geltang von Erkcnntnisbcdingungen und der Frage
nach der Entwicklung des Zrkennens und Denkens, deren Beantwortung
jene Geltung schon voraussetzt.
^ i^uo Ly Google
Vienebatet Kapitel. Der Zvcek Ja der Logik «ad EAenntabÜiBorie. 249
zendentalea SoUeOf and dieses Sollen, diese feste Normienuig'
geht ai38 von dem allem subjektiven Bewnfitsein immanenten,
in ihm sich geltend machenden, den historisch sich ent-
wickelnden &kenntnisprozefi leitenden reinen Erkenntnis-
willen.*)
*) Die teleologische Seite des Denkens und Erkennens betonen
aofier den Vertretern des Pragmatismus (oder „Instrumentalismus**,
weil die Wahrheit als Mittel für eine Praxis gilt) und Humanismus alle
diejenigen „Aktivisten", welche der Wissenschaft die Aufgabe zuweisen,
dem Leben und dem Handeln 2n dienen, wie Mach, OBtuMäd, JentMokm,
CMUtduid, Vaüimigar n. s., znmTdlsnchBto^gfWM» nach wdehem im bteresse
des Handelns der wissenschaftliehe Verstand den an sich stetigen Flnfi
des Werdens stabilisiert, in homogene Elemente zergliedert und ver-
räumlicht, während die „Intuition" sich in das „Absolute", das innere
Wesen des Werdens, der „schöpferischen Entwicklung" des universalen
Lebens einfühlt nnd das Wirkliche von hmen ans onmittelbar erfafit
Einen „teleologischen Kritlzisrnns' vertreten in vertchiedener Wdse
Windelband, nach welchem die obersten Ziele des Bewußtseins die
Grundsätze der Erkenntais, des Handelns und Schaffens legitimieren,
RickeH, nach welchem im Urteil ein praktisches, billigendes oder miß-
bilUgendes Verhalten steckt, die Sieilungnahmc zu einem Wert; die
Wahrheit sdbet ist eüi Wert, der in der Anerkennung einer Norm,
eines das Urteil bestimmenden SoUens sich beknndet; dem Erkennen
liegt, wie nach Winddband, der WiUe zur Wahrheit zugrunde. Kritisch
ist nach Rickert das Verfahren, welches „zwischen wertvollen und wert-
losen Zielen der Erkenntnis unterscheidet und mit Rücksicht auf sie
die Geltung der za ihrer Erreichong notwendigen Erkenntnismittel be-
gründet*. Femer smd hier zu nennen J. Cakn, nach welchem das ideale,
fiberindividuelle Ich tmd der fQr dieses geltende allgemeine Urteils-
zusammenhan«^ das Ziel der Erkenntnis bildet, Münstcrher;';, nach
welchem Zielsetzungen und Postulatc sowie Wertungen die Erkenntnis
bedingen, so aber, daß es uns logisch wertvoll sein muß, in der Natur-
Wissenschaft die Welt als wertfrei, als streng kansalen Zusammenhang von
Objekten zu denken, J*. Bof/u, nach welchem alle Logik ehie Logik des
Willensimd die Wahrheit ein Mittel zur Erreichung des Zieles alles mensch*
liehen Wollens ist, so aber, daß es absolute Wahrheiten als reine
Willensformen gibt, it. Joel, nach welchem die Setzung eines kausal-
gesetzlichen Zusammenhangs schon durch unser Willensziei bedingt
ist, Dirkieh („Ordnong** sls 2id), Siadtar n. s. — JZ. GMadtdi betont:
„DieWeltwollnng ist es, die unsereWeltanschsnung dirigiert
Wenn wir Falsches wollen, mQssen wir notwendig auch zu falschen
Forschungsmethoden gelangen oder in solchen verharren. Darin ist
250
O. SpesieUer Teil.
Das £rkeimeii als zmtlicher Prozeß, als Leistung' der In-
dividuen und des Gesamtgfelstes, macht eine Entwicklung- durch,
infolg^e deren es immer zweckmäßig'er wird, indem die Idee
der Erkenntnis sich immer vollkommener verwirklicht. Der
Erkenntniswille treibt zu immer neuen Formongvn des £r-
fahrung^smaterials, zu unablässig-en Berichtigxing"en der an der
Hand dieses Materials t^ efäUteo Urteile und Annahmen. Wenn
aber auch im Verlaufe der wissenschaftlichen Entwicklang*
die Gesetzlichkeit des erkennenden Bewußtseins sog^ar in den
GrundbegrifEen sich differenziert,"') so behalten doch die ober-
sten Voraussetzungen aller oder wenigstens der wissenschaft-
lichen Erkenntnis in dieser Entwicklung- ihre apriorische
Geltung, weil diese eben durch die Erkenntnisidee ein für
allemal gesetzt, durch das Erkenntnisziel zeitlos gefordert ist
Für ein endliches, „diskursives" Bewußtsein wenig^stens ist ein
einheitlicher Krfahrung'szusamnienhang- nicht ohne die Geltung
gewisser oberster Voraussetzungen, ohne die Anwendung- funda-
mentaler, das Geq-ebene ordnender, vereniheitiichender, ob-
jektivierender Erkenntuismittel möglich. Es braucht wohl nicht
betont zu werden, daß diese Erkenntnismittel nicht „angeborene"
Begriffe bedeuten, daß sie der Erfahrung nicht zeitlich voran-
gehen, sondern sie rem logisch bedingen. „Ursprüngüch" sind
sie nur in dem Sinne, daß sie aus der Gesetzlichkeit des er-
kennenden Bewußtseins, bzw. der „wissenschaftlichen Vernunft"
(Cohen) entspringen oder vielmehr diese Gesetzlichkeit selbst
in deren Besonderungen darstellen. Und ferner ist das, was
der Menschengeist unter der Leitung dieser Vernunft, dieses
„Logos'* als real setzt und findet, zwar durch die Formen der
reinen Vernunft bedingt. Aber eben durch diese Formung
erhebt es sich über den Fluß des subjektiven Erlebens als ein
fester, vom Wechsel der Sinneswahrnehmung und von der
Verschiedenheit der wahrnehmenden Subjekte durchaus unab-
snch die tiefinnere Korrelatkm zwischen KsnsalitU und Tdeologie ver*
ankert* (HöherentwicUang und MenschenOkonomie I, SJCXV). — Vg^.
auch zu dem Kapitel die Arbeiten von Potom^ L, SMn, Simmd (Archiv
L systemat, Philos. 1895) u. a.
•) So auch Cohen, Natorp, t'assvr&r usw.
^ i^uo Ly Google
Vicnehntes Kapitel. Der ZweA ia der Lofik vad EiiieutiriiaMoHe. 251
hangiger, gesetzludi zuaammenliängender Wirklichkeits-
bestand, als ein System von Beziehungen, von denen
die Relation der Anfiendinge zu erlebenden Subjekten nur
einen Spezial&Il bildet*)
Weit entfernt also, von den subjektiven Bewußtseins»
erlebnissen der Individuen abhängig oder mit ihnen als solchen
identisch zu sein, enthalt dieses Wirklichkeitssystem vielmehr
die objektiven, transsubjektiven Bedingungen für das Kommen
und Grehen der subjektiven Wahrnehmunqfsinhalte sdbst.
Die transsubjektive Realität bildet so das Korrelat zu dem
in seinen Setzungen selbst sich verwirklichenden, über-
individuellen (»Bewußtsein überhaupt",**) dem idealen Be-
ziehungspunkt für die objektive Erfahrung. — Diese Er-
fahrung besteht darin, daß wir die Wirklichkeit so erkennen,
wie sie sich vom Standpunkte jenes Bewußtseins notwendig
und allgemein darstellt. Und es bildet das ständige Ziel aller
Wissenschaft, das Denken auf einen solchen Standpunkt'"**)
zu erheben, von dem aus alle subjektiven Differenzen neutrali-
siert und aufgehoben erscheinen, auf den Standpunkt äber^
individueller, allgemeingültiger Seinsbestimmung.
*) Vgl. Ca$8irer, Jahrbacher der Philosophie I, 1913.
**) Vg). M, Amrhem, Kants Lehre vom Bewnfltaein Oberhaupt, 1909.
***} Vgl. J, Cohn, Voraossetzimgen imd Ziele des Eiketmens, 1906.
Fünfzehntes KapiteL
Der Zweck in der Metaphysik.
Eine Metaphysik als strenge Wissenschaft vom absolut
Transzendenten, von dem, was mög-liche (denkbare, eig"ene
und fremde) Erfahruncf überschreitet, muß für jeden, der auf
dem Boden des kritischen Erkenntnisbegriffs steht, ein Ding
der Unmöglichkeit bedeuten, auch wenn er nicht alle Lehren
Kants, des eigentlichen Begründers des Kritizismus, in
Bausch und Bogen, ohne jede Fortbildung übernimmt. Wir
können die objektive Wirklichkeit nicht so erfassen, wie sie
in ihrem, alle durch unser Denken bestimmten Relationen
überragenden, absoluten Sein besteht. Wir erkennen sie
immer nur vom Endlichkeitsstandpunkt, d. h. nicht in
ihrer ungebrochenen Einheit und Totalität, in der die Gegen-
sätze von Subjekt, Geist und Materie, FinaUtät und Kausalität
völlig aufgehoben sind. Wir gelangten zu diesem absolut
transzendenten „Übersein" — als Einheit von Sein und Werden
oder als überzeitlicher Seinsart dessen, was vom Endlichkeits-
Standpunkt sich in eine endlote Reihe zeitlicher Monxente und
raomzeitiicher Relationen auseinanderlegt — nur als zn einem
Grensbegriffi der allen spekulativen Dogmatismus aufhebt
und uns vodiindert, das für die empirische Welt gesonderter
Dinge und deren Relationen Gültige, Wahre und insofern
durchaus Objektive (von unserer Subjektivität Unabhängige)
auf das Allsein als ungebrochene Einheit zu übertragen.
Wenn wir im Folgenden von „Metaphysik" sprechen, so
meinen wir damit kune Wissenschaft „höhwer" Art, sondern
etwas Bescheideneres.") Nämlich bloß den Versuch, auf Grrnnd
*) Vgl. über „kritische Metaphysik* O. JAebmann, Zur Analysis
der Wirklichkeit, 4. Aufl. 1911.
PHaftelmto Kapitd. Der Zweck ia der Metaphysik.
253
der eikenntnistheoretiscfaen Bednnnog' und der »spekiilativen*',
dvrdtk die philosophische Phantasie vermittelten Sjmthese des
Erkenntnismaterials zu einer höchsten Einheit des Denkens,
wennschon nicht exakter Erkenntnis» das Weltgeschehen in
einen umfassenden Zusammenhangf zu bringen nnd es auf
einheitliche Faktoren zurückzuführen, aus deren Zusammen-
wirken es begreiflich wird. Und da, wie gezeigt wurde, der
Kausalzusammenhang des Geschehens erst dadurch einen
Sinn erhält, verständlich wird, daß wir zielstrebige Faktoren
als das Innensein oder Fundament desselben ansetzen, so
bildet es eine Hauptaufgabe kritischer Metaphysik, das ge-
samte Weltgeschehen als Ausfluß einer ihm immanenten
Finalität zu deuten, um so das möglichste Verständnis für
dasselbe wie für die Glieder und Momente des Weltprozesses
zu gewinnen. Kritisch ist diese metaphysische Deutung
deshalb, weil sie nicht aus dem Rahmen der Gesetzlichkeit
des Denkens und Erkennens überhaupt herausfällt und nichts
aussagt, was sich nicht auf das Material möglicher Erfahrung
und möglichen Denkens bezieht. Denn die Zielstrebigkeit,
aus der sich das Geschehen verständlich machen läßt, gehört
noch mit zu dem denkend verarbeiteten Erfnbranj^sinhalt,
hat also eine , .anschauliche" Grundlage, so daß die Zweck-
idee nicht absolut ,,leer*' ist. Sie bleibt auf ein dem
logischen, transzendentalen Bewußtsein Immanentes bezogen,
ist nicht absolut transzendent.
Vom Standpunkte der durch die Sinne vermittelten Er-
fahrung stellt sich uns die Welt als eine Vielheit von räum-
lichen Dingen, von Körpern, räumlichen W^iderstand leisten-
den Kraft- und Energiezentren dar, welche zueinander in
dynamisch-energetische Beziehungen treten, die das Denken
zu einem in sich geschlossenen Kausalzusammenhang ver-
knüpft. Die Glieder dieses Zusammenhanges fungieren als
aktuelle Ursachen und Wirkungen, und diese sind, genauer
bestimmt, Vorgänge an den Dingen, die vonemander nach
bestimmter Gesetzlichkeit eindeutig abhängig sind, so daß an
das Auftreten der einen das der anderen unausbleiblich, nach
einer festen Regel geknüpft ist. In den als solchen be-
254
n. Spendier TcO.
währten Naturgesetzen kommt die Konstanz dieser Ver-
knüpfang zu zahlenmäfiigem Ausdruck; sie sind Formeln, in
denen wir das typische Wirken (Reagieren) der Dinge, das,
was ans deren Wesra od^ „Natur** unter bestimmten Be-
dingungen folgt, einheitlich und zugleich möglichst „denk-
ökonomisch'* festlegen. Wir „erklaren** einen Votgang, indem
wir ihn auf eine bekanntere^ einfachere, allgemeinere Klasse
von Geschehnissen zurückführen oder ihn als Folge bestimm-
ter allgemeiner Faktoren begreifen. Wir suchen stets nach
solchen Faktoren, die als Realgründe oder „Ursachen** die
Notwendigkeit des Auftretens von Veränderung-en begreiflich
machen. Dazu bedarf es einer entsprechenden Ordnung des
ErfahruDgfsmaterials durch das Denken, einer gewissen, nach
dem Grundsatz der Kausalität erfolgenden Auswahl aus dem-
selben.
Ein ähnliches, nur entsprechend modifizi^tes Verfahren
findet auch statt, wenn man den Standpunkt der inneren oder
unmittelbaren Erfahrung einnimmt, wie dies in der Psycho-
logfie und in den Geisteswissenschaften der Fall ist, welche
das Sein und Geschehen so betrachten, wie es in seiner un-
mittelbar qualitativen Beschaffenheit und in seiner Abhängig-
keit von erlebenden und stellungnehmenden, strebenden und
g-eistig tätigen Subjekten sich darstellt und denken läßt. Auch
hier wird das Material zu einer möglichen Erfahrung so ver-
knüpft, g-eordnet, verarbeitet, daß daraus ein einheitlicher Zu-
saiiuneuhang* von Ursachen und Wirkunj^en nebst den dazu-
gehörigen BediniTur:e''"n und Umständen wird. Kurz, mit Hilfe
des Kausal itätsprmzips erarbeitet sich das Denken methodisch
die empirische Realität des Physischen und des Psychischen,
der Natur und des Geistes, der Welt der räumlichen Objekte
sowie der erlebenden und wollenden Subjekte und ihrer
Schöpfung*en,
So bekommen wir zwei Reihen des Seins und des Ge-
schehens, deren jede in sich g^eschlossen ist und ihre Souder-
gesetzlichkeit hat. Nun kann das Denken aber bei dieser
empirisch-phänomenalen Dualität nicht stehen bleiben; der
philosophische Einheitswille regt sich angesichts der zahl-
Digitizeo v^oogle
FinfiMlttitet Kapild. Der ZwwA in. der Metephytik.
255
reichen Abhängig'keiteii, welche die beiden Reihen in ihrem
Verhältnis zueinander aufweisen. Und so kommt man denn
dazu, zunächst bei uns Menschen selbst, diese Dualität der
Erscheinungfen dadurch su überbrücken, dafi man annimmt,
die beiden Reihen hängfen im Grunde zusammen, sie sind
nur -versdiiedene, vom besonderen Standpunkt der Betrach-
tung* des Seienden abhängige Erscheinungsweisen einer ein-
heitlichen Wirklichkeit, eines an sich «identischen'*. So läßt
sich jedenfalls, zwar nicht alles, aber doch vieles begreiflich
machen, begreiflicher mindestens, als es der endgultigfe,
metaphysische Dualismus vermag, der das Psychische und
das Physische als zwei real geschiedene, gegfensätzliche, mit-
einander in Wechsel wirkunj:^ stehende Seinsarten auffaßt. Er
stößt auf die größten Schwierig-keiten, wenn er sich mit
fundamentalen und jedenfalls für die Erkenntnis höchst zweck-
mäßigen Grundsätzen lud Postulaten des wissenschaftlichen
Denkens in Einklang setzen will. Wie wir bereits früher dar-
g^tan haben, steht der Ausdehnung- der bei uns selbst sta-
tuierten Einheit beider Reihen des Geschehens auf alle Dinge,
alle realen Faktoren der W^elt nichts im Wege. Hiernach
ist es wenigstens der Metaphysik gestattet, die körperliche,
physische Natur als Außensein, Erscheinung, Objektivation,
einer der bei uns selbst unmittelbar erlebten analogen Inner-
lichkeit zu deuten. Als Ausdruck eines „Fürsichseins", das
von der vStufe eines bloßen, unzusammenhäng-enden, nicht
zentralisierten Monientanbewußtseins und eines dumpf trieb-
haften Reagierens auf Eindrücke sich zu einem aktuellen
Bewußtsein und Selbstbewußtsein erhobt. Aus dem Jnnensein
der Natur, in dem er schon potentiell angelegt ist, geht
so unter günstigen Bedingungen der endliche Geist im
engeren Sinne hei'vor, der dann die äußere, naturhaftc Wirk-
lichkeit nach seinen Zielen umformt, sie zum Mittel für seine
Zwecke macht und verarbeitet und so ein Reich der Kultur,
eine kulturelle Geisteswelt erschafft.
Teleologisch betrachtet, stellt sich so das Weltgeschehen
als ein unermeßliches System von Zielstrebigkeiten und
zielstrebigen Aktionen und Reaktionen dar.
256
U. Spatdkr Teil.
Jeder Vorgang* lat von einem anderen kanaal abhangig, aber
fagleich o&nbart sich in ihm eine „Tendenz*', ein Streben
nadi etwas. Die kauaalen Abhäng^igkeiten sind nur das luißere
Zeichen der zwischen den zielstrebigfen Tendenzen selbst be-
stehenden inneren Abhängigkeiten, denen zufolge sich
die einen nach den anderen gleichsam richten. Alles in der
Welt geht kausal und alles in der körperlichen Natur mecha-
nisch-energetisch zu, aber die Quelle des Kausalen und Mecha-
nischen selbst liegt in der Finalität, welche gleichsam die
von innen erfaßte Kausalität ist. Nichts in der Welt geschieht
absolut ziellos, auch da nicht, wo wir keine äußeren Zwecke
zu erkennen Yermögen oder wo die Ziele nicht erreicht
werden, oder wo Unzwedcmäßiges sich findet. Alles Ge-
schehen ist innerlich „gerichtet", und zwar deshalb, weil es
die Resultierende von teils konvergierenden, teils divergieren-
den Tendenzen ist, die sich in einer Mannigfaltigkeit von
Bewegxingen und Energieumsetzungen manifestieren. Von
diesen Bewegungen und allen anderen objektiven Verände-
rungen und Effekten ist natürlich den elementaren Wirklich-
keitsfaktoren selbst nichts bekannt, ja selbst ein großer Teil der
Organismen weiß nichts von ihnen. Erstrebt werden zunächst
immer nur innere Zustände, als eine Reaktion auf „Störungen",
die aus dem „Zusammen" mit anderen Wirklichkeitsfaktoren
sich ergeben. Es dürfte ungefähr so zugehen, wie dies etwa
IjOtze dartut: „Die räumliche Wechselwirkung der Welt ist
daher der durch unsere geistige Natur uns notwendig gemachte
Ausdruck der immer unter den Wesen unter sich und mit
uns stattfindenden inneren Wechselwirkungen, also ein Effekt
ihres Wirkens." „So wie die nihit^'^e Lagerung der Dinge im
Räume der Ausdruck ihrer inneren Gegenwirkungen ist, so
wird auch ihre uns erscheinende räumliche Bewegung Folge
und Ausdruck ihrer inneren Zustände sein. Wir kennen diese
letzteren nicht, aber als selbstverständlich dürfen wir doch
ansehen, daß jede Veränderung, die ein Element durch das
bereits in Gang gesetzte Geschehen erleiden soll, in ihm eine
Rückwirkung hervorruft, die sich als Selbsterhaltung deuten
läßt, d. h. die darauf ausgeht, die ursprüngliche Natur des
Digitizeo v^oogle
Fünfieelintei Kapitel. Der Zweck in der lletaphyiik.
257
Elements und seinen bestehenden Zustand g-egen Verände-
rung' zu verteidigen." ao entstehende Bewegung wird
daher nicht einer sogenannten bewegenden Kraft an sich zu
verdanken sein, d, h. einem Bestreben der anderen Elemente,
Bewegung sozusagen als ihren Zweck hervorzubringen, son»
dern sie wird nur die gewissermaßen beiläufige Form sein,
welche das Bestreben aller Wesen nach einem Gleichgewicht
ihrer inneren Zustände für unsere Anschauung annimmt."*)
Es liegt also allem Geschehen in der Welt eine Ziel-
strebigkeit zugrunde, denn alles Streben bedeutet ein „Ge-
richtetsein auf etwas*'. Der äußere Kausalnexus ist der sicht>
bare Ausdruck der in Wechselbeziehungen stehenden finalen
Tendenzen, die insgesamt auf die Beseitigung und Erreichung
von Zuständen der Wesen gerichtet sind, als Reaktion auf
die von anderen Wesen erlittenen „Störungen" {Herbart, Lotze)
oder Hemmung-en. Es sind überall pfewisse ,,Spannung-en"
vorhanden, die nach einer Lüsang" dräng^en, und deren Besei-
tipfuntr die MerstellunK'- oder Erhaltung eines inneren Gleich-
gewichtszustandes, einer gewissen Einheit oder Identität be-
deutet. Wenicrstens laßt sich die fundamentale Reaktion der
Dinge in dieser Form deuten, verstäüdUch machen, wenn wir
auch nie wissen können, was in ihnen eigentlich vorgehL
Mehr als ein einheitliches Verständnis, als einheitliche Deu-
tung des Sems und Werdens kann ja die Metaphysik weder
anstreben noch erzielen.
Im Anorganischen gibt es jedenfalls noch keine
Konvergenz des Zielstrebeus , keine Vereinheitlichung
und Zentrierung, keine „Synergie" und Solidarität der
finalen Tendenzen. Auch übt die Vergangenheit der Re-
aktionen noch keinen erheblichen Einfluß auf die späteren
Reaktionen und deren Ablauf aus, es werden noch keine
„Erfahrungen" gesammelt, die für die Zukunft verwertet werden
könnten. Es bestehen hier keine „Totalitäten", keine ein-
heitlichen, als Ganzes funktionierenden und wirksamen, Ener-
gien transformierenden „Systeme", denen als Fiirsichsein ein
*) Gnmdzüge der Naturphilosophie, 1883, S. 3s f.
Bialer, Der Zirack. 17
8S8
n. Spcrfdkr Tdl.
die Einzdreaktionen beding-endes einheitliches Gesamt«
streben entspricht. Zu äußeren ZwecksetzungfeQi za eigent-
lichem Handeln auf Grund der ideellen Vorwegnähme be*
stimmter Efiekte kommt es hier noch nicht, daher auch nicht
za besonderen, in sich geschlossenen Finalreihen, in wel-
chen die Glieder nach dem Verhältnis von Mittel und Zweck
sich ordnen. Die tatsächlich erfolgenden Wirkung'en des Ge«
schehens sind nicht als solche erstrebt, sondern sie sind je>
weils die Resultante der Wechselbeziehung zwischen den
finalen Tendenzen verschiedener Wirkiichkeitselementei deren
Ziele rein zuständlicher Art sind.
Erst in den Organismen besteht gleichsam eine Synthese
oder Integrierung der teleologisch enDiff er enziale, ein
Zielstreben als Ausfluß innerlich verbundenerSysteme, auf Grund
einer Entwicklang, einer Geschichte" solcher. Das Erhal-
tungsstrebeii differenziert sich hier immer mehr zu einem
Kntwicklungsstreben, das im Menschen immer bewußter
und aktiver wird. In ihm erreicht die Fähigkeit der Verwand-
lung von Wirkungen in besondere Zwecke ein relatives Maxi-
mum, namentlich in seiner geistigen, kulturellen, historischen
Entwicklung. Immer mehr wächst die Freiheit, als Macht
über die äußere und innere Natur, als Emanzipation von jenen
starren Notwendigkeiten, welche andere Wesen binden, als
Fähigkeit aktiver, von der Vernunft, von Ideen und Idealen
geleiteter, eine Fülle von realen und idealen Relationen zu-
sammenfassender und vorwegnehmender Zwecksetzung. Die
Idee des Seinsollenden, des dem Menschen durch seine
Stellung in der Welt Aufgegebenen, Gebotenen und auch
von ihm als ein solches Erkannten und Gewollten, leitet die
kulturelle Entwicklung der Menschheit trotz aller Hemmungen
und Abbiegungen im einzelnen. Der „Geist" kommt, wie
Hegel dies in genialer Weise dargetan hat, immer mehr zu
sich selbst; er bringt immer mehr seine Ziele und damit sein
ureigenstes Wesen zur Entfaltung- und Geltung, er befreit
sich immer mehr nicht bloß vom Drucke der äußeren Natur,
sondern auch von den Schlacken, die seine eigene, oft ein-
seitige Arbeit hinterläßt, von den Fesseln, in die er sich, be-
FOnMnttt Kifitd.- Der Zirwk fai der Metaphysik. 259
I
sonders auf niederen Stufen seiner Entfaltungf, immer wieder
selbst verstrickte. In seinem dunklen Drangfe ist sich der
Geist des rechten Weges wohl bewußt, auch wenn ihm mdit
alle Ziele und Mittel seines Schaffens von vornherein zum
Gegenstand des Wollens und Wissens werden. Und es ist,
wie Hegel sagt, die »,List der Vernunft", daß sie die Leiden-
schaften, die selbstsüchtigen Interessen der Menschen und
Völker in ihrem Dienste wirken läßt, so daß sie, von Stufe
zu Stufe aulsteigend, oft auch ohne, ja gegen ihren Willen
die in ihnen angelegten Zwecke erfüllen.
Indem wir das Streben für einen Grundziig- alles Wirk-
lichen halten und das Innensein der Welt als wWillen** im all-
gemeinsten Sinne des Wortes bestimmen, nehmen wir den
Standpunkt des metaphysischen Voluntarismus ein*)
Mag auch das absolute An -sich des Seins unerkennbar sein,
magf uns die Wirklichkeit nur in den Formen des erkennenden
Bewußtseins überhaupt zugänglich sein, so hindert uns doch
auch alle erkenntniskritische Reserve nicht, den äußeren Re-
lationen der Dinge ein qualitatives Eigen- oder Fürsichsein,
mne ^Inii^i^^^cbkeit" analog der uns selbst eigenen zu suppo-
nieren. Dadurch vermögen wir einerseits den Standpunkt
der unmittelbaren Erfahrungsweise konsequent, einheitUch
durchzuführen, anderseits das Weltgeschehen nicht bloß zu
begreifen, sondern auch zu verstehen. Ebendieselbe Wirk-
lichkeit also, die ihrer äußeren Erscheinung nach, als „Außen-
welt", ein System körperlicher Dinge und dynamischer Rela-
tionen zwischen solchen bedeutet, ist in ihrer „Selbsterschei-
nung'*, in ihrer Unmittelbarkeit Wille. Dieser Wille darf aber
niemals als eine Ursache materieller Phänomene g-elten; ein
Animismus, wie ihn der primitive Mensch und auch noch eine
frühere Entwicklungsstufe der Wissenschaft und Philosophie
vertritt, ist durch die quantitative, mechanistische oder dyna-
mistische Naturerklärung unmöglich geworden. Der Wille ist
*) Vgl. die Schriften von S^epemkaiter, BoAmwi, E. «. Sortmmn,
O. FOerip JMBIanr, Sdtdbnen, NietzBche, E. Eomeffer, PauUtn, Wundt,
Lipps, Mümterberg, FritzBche, Wengig, £iUMMMmi^ Drenler, I^ro^Kckf
Lachdier, FouiiUef Bergeon u. a.
17*
Digitized by Google
260
n. Spesidler TeO.
etwas Psychisches, and dieses kann als solches keine Bewegfungf
als solche hervorbringen oder beeinflussen oder mechanische
Arbeit verrichten.
Wiederholt haben wir die Geschlossenheit des ph^'^sischen
Kausal zusammenhang's betont, und auch an dieser Stelle sei
es, um jedem Mißverständnis entschieden zu beg'egnen, g'esagt:
Das Psychische als solches hat immer nur wieder psychische
Uisachen und Wirkung-en, sowie das Physische als solches
immer nur das Glied eines physischen Kausalnexus bildet.
ISst anderen Worten: Betrachten wir ein Geschehen in der
Welt vom Standpunkt der unmittelbaren od«r inneren Er-
fahrung-, dann müssen wir, wo wir exakt denken, jeden Vor-
gang, zu dem wir jenes Geschehen in eine direkt kausale
Beziehung setzen, ebenfalls so betrachten; das Analoge gilt
von der naturwissenschaftlichen Betrachtungsweise der Dinge,
Demgemäß ist der Wille, den wir als universales Prinzip an-
setzen, nicht eine Kraft, aus der physische Veränderungen
entspringen, sondern er ist die Unmittelbarkeit, das Innen-
sein ebendesselben Geschehens, das wir vom Standpunkte
der äußeren Erfahrung als einen physischen Kausalzusammen-
hang denkend ordnen. Das physische Geschehen ist nicht
die Wirkung des Willens, sondern dessen Objektivation,
dessen sinnfälliger Ausdruck.
So kann es nicht mißverstanden werden, wenn wir, mit
Wundi, im Willen den Schöpfer aller Zweckmäßigkeit er-
blicken. Es geht hierbei in keiner Weise mystisch zu, die
Einheit der wissenschaftlichen Erkenntnis und des natur-
wissenschaftUchen Weltbildes bleibt völlig aufrecht. Der Wille
zaubert die Zweckmäßigkeit der Dinge nicht aus dem Nichts
hervor, er bewirkt nichts ohne oder gegen die Naturkausalität
und den Mechanismus des Geschehens, sondern auch das ziel-
gemäße Wirken und Gestalten hat seine mechanische und
energetische Seite oder Erscheinungsweise. Was wir als
Mechanismus bezeichnen, ist selbst schon der Niederschlag
der Beziehungen zwischen den primitivsten Strebungen, der
sichtbare Ausdruck solcher elementaren finalen Relationen,
das Ergebnis ihres Zusammenspiels. Auf der Basis dieser
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fliiftrtmtfi XapIteL Der Zweck in der Metaphysik.
261
pzimSren Teleomedumik kommt es zur EntwidduDg- höherer
Zielsetsangen und Zweckmäßigfkeiten, verbunden mit immer
neuen Automatisierimgen oder Mechanisierung-en. Und das
alles erfolgt so, daß vom Standpunkt der äußeren Erfahrunsf
immer und überall nichts als kausal verknüpfte Beweg^ungen
und Energieumsetzungen, kurz, nichts als physische Ver-
änderungen zu finden ist
Es ist demnach gegen eine noch so strenge Betonung
des universalen KausaUsmus und Mechanismus nichts einzu-
wenden, es muß sogar unbedingt stets der Versuch gemacht
werden, auch die höchsten Zweckmäßigkeiten auf das Zu-
sammenwirken rein physischer, mechanisch-energetischer Kräfte
zurückzuführen. Die Welt muß und kann sich so betrachten
und erforschen lassen, als ob sie nichts als ein Riesenmecha-
nismus wäre. Nur darf dies nicht zu einem Dogmatismus
fahren; man darf nicht vergessen, daß das Weltbild der quan-
titativen und mechanistischen Naturwissenschaft einseitig
ist wnd einer Ergänzung bedarf, die teils von der Psycho-
logie und den Geisteswissenschaften, t^ls von der Philosophie
als Metaphysik geliefert wird. Wozu noch die erkenntnis-
kritische Besinnung auf die Bedingtheit des naturwissenschaft»
liehen Weltbildes durch die Gesetzlichkeit des erkennenden
Bewußtseins kommt*)
Die Zwecke und Ziele des Geschehens sind aber den Dingen
nicht von außen her gesetzt; es ist nicht so, daß die Dinge
irgendwie auf sie zugetrieben würden.**) Zwecke sind nichts
vor den Dingen Existierendes, für sich Bestehendes, sondern
sie erstehen immer erst im Prozeß des Werdens, der Ent-
wicklung selbst, sie werden in immer neuer Weise durch das
Streben der Wirklichkeitsfaktoren gesetzt, erzeugt. Wille und
Zweck sind untrennbare Korrelate. Kein Wille ohne Ziel,
aber auch kein Zweck ohne einen Willen, dessen Inhalt er
bildet, mag nun dieser Wille ein individueller oder ein all-
*) Vgl. dazu F. A. Lange, Geschichte des UaterisUsmus, S^edmer,
J%. Lipps, Münsterherg, Wundt, Stern u. a,
**) So auch Bergson, L'^voluüon cr^atrice. S. S4ff.
262
n. Spcndkr TdL
gemeiner, ein Geaamtwille aein, der dem Zwe<± eine ftber*
individuelle (xfiitigkeit verleiht.
Ebenso ist die Zweckmäßigkeit der Dinge und Funk-
tionen nicht von einer aufieren zweckaetzenden Macht bewid±,
aber auch nicht von besonderen, auf diese Zweckmäßigkeit
im vorhinein eingestellten „Krälten**. Die teleologisch wir*
kende, gestaltende, lenkende „Vernunft", auf welche man sich
so oft beruft, ist keine bloße Illusion, aber sie muß anders
aufgefaßt werden, als dies seitens dualistischer Teleolog-en zu
geschehen pflegt Sie besteht in dem Inbegriff und in der
Resultante aller der im Laufe der individuellen und Gattungs-
entwicklung wirksamen zielgerichteten Tendenzen der Wesen
selbst, die insgesamt ihre physisch-dynamische „Außenseite"
haben, und sie entwickelt sich selbst auf der Grundlage ihrer
Resultate. Die teleologische Vernunft steckt nicht irgendwo
in der Welt, um von einem bestimmten Punkte aus zu wirken,
sondern sie entfaltet und manifestiert sich in der TotaUtät der
im Universum sich verwirklichenden Zielstrebigkeiten selbst;
sie steht nicht hinter diesen, geht ihnen auch nicht voran,
sondern ist ihnen immanent Die Ziele, die von den Wesen
angestrebt werden, ergeben sich zunächst und unmittelbar
aus dem eigenen Streben dieser Wesen, aus deren besondere
Beschaffenheit und Struktur. Nun existieren aber die Wesen
nicht in völliger Isoliertheit, sie sind hineingestellt in eine
engere und weitere Umwelt, von welcher sie beständig Ein-
flüsse erfahren, d. h. nach denen sie sich richten müssen.
Dadurch kommt in das Streben der Dinge eine Determi-
nation, die Richtung desselben differenziert sich je nach der
Art und Weise, wie die Ding"o zur Umwelt in IVziehunof
stehen. So tlielien die Zwecke der Dinge zwar immer aus
deren ureij^enem Wesen, aber zugleich besondern sich diese
Zwecke immer auch in Anpassung- an die Umwelt. Es ist
nun in keiner Weise miüzu verstehen, wenn wir sagen, daß
den Wesen ihre Ziele letzten Endes durch die Allheit des
Seins, durch das Gesamtsystem des Kosmos gesetzt sind,
daß die Funktion jedes Wesens oder der Inbegriff seiner
Funktionen durch die Totalität des Ailzusammenhangs gegeben
1^-^^ L-y Google
FflaftehnUt Kapttd. Der Zvedi in der Mdapliynk.
203
oder vielmehr aufgfegfeben ist Damit ist die größtmögliche
Aktivität und Freiheit, die vollste Autonomie hoch-
entwickelter Wesen vereinbar, wenn auch eine grundlose
Willensfreiheit im Sinne eines unhaltbaren Indeterminismus
nicht anzunehmen ist. Freiheit und Notwendij:Tkeit, die nicht
mit Zwang" zu verwechseln ist, sind keine absoluten Geg"en-
sätze. Das Notwendig-e kann frei, aus eig-enster Initiative
gewollt und getan werden, und das aus freiem, vernüuftigcoi
Entschlüsse entspringende Wollen und Handeln kann not-
wendig sein, und zwar sowohl teleologisch als metaphysisch
notwendig, d. h. bedingt durch einen selbstgesetzten Zweck,
wie auch durch den Weltzusaramenhang, der eben die
freie, aktive ZwecksetzuDg und Zweckeriüllung mit ein-
schließt.
Die Frage nach einem Weltzweck ist dahin zu beant-
worten, daß er jedenfalls nicht als außerhalb des Welt-
prozesses zu denken ist. Alle nur mögüchen Zwecke und
Ziele fallen in den Weltzusamnienhang selbst, sie bilden
Glieder oder Momente desselben und stellen Reihen dar,
die ins Unendliche weitergehen, da wir kein Recht haben,
sie in irgendeinem Zeitpunkt als abgeschlossen zu be-
stimmen. Der „Weltzweck" Hegt also keinesfalls außerhalb
der unendlichen Zweckreihen, deren Allheit das Universum
nach seiner Innerlichkeit bedeutet, sondern er geht gleich-
sam durch die Unendlichkeit dieser Reihen hindurch, er
ist mit ihr gesetzt, oder sie läßt sich als seine Entfaltung
denken. Überall in der W^elt, wo Ziele angestrebt und ver-
wirklicht werden, hat das Geschehen einen Sinn, eine innere
Bedeutung. In der reichen, unendlichen Mannigfaltigkeit
dieser Zielsetzungen und Zweckverwirklichungen erfüllt sich
in jedem Moment der „Sinn" der Welt, der in der Reali-
sierung der in ihr beschlossenen Potenzen, in der Ver-
wirklichung des ewigen, zeitlosen Weltgehalts (der
„Idee") besteht.
Als ein unendliches Reich der Zwecke läßt sich das
All der Dinge auffassen, als ein System zielstrebiger Einheiten,
die zueinander im Verhältnis der Unter- und Überordnung
264
n. Spodencr TdL
stehen, and die za dem gewaltigen Bau der Welten ZQsammen»
wirken, auch wo sie zueinander in einem Gegensatz stehen«
Aus diesem Gegensatz und der relativen Selbständigkeit der
Partialzwecke ergeben sich die verschiedenen Un Zweck-
mäßigkeiten der Dinge, die ebenso relativ sind wie deren
Zweckmäßigkeiten. Das „Dysteleologische" bezieht sich nicht
auf das All, die einh^tliche Totalität des Seins, die keinen
Mangel haben kann, da sie nichts außer sich hat, und da die
GegensatzUchkeit des Negativen und Positiven der Dinge in
ihr aufgehoben ist. Was wir als „Übel" empfinden, und was
für die von ihm betroffenen Wesen in der Tat Unzweck-
mäßigkeiten bedeutet, das läßt sich metaphysisch als die not-
wendige Folg-e der Vereinzelung der Dinge auffassen, mit der
sofort ihre Spannungen zueinander gfegfeben sind. Ohne daß
Konflikte zwischen den verschiedenen Strebensrichtung'en oder
Willenseinheiten entstehen, kann eine Vielheit relativ seib-
ständiger Wesen nicht bestehen. Wenn man die Übel der
Welt auf eine metaphysische „Urschuld" zurückgeführt hat,
so war das nicht ganz unbegründet, sofern nur diese Schuld
nicht im ethischen Sinne verstanden wird. Eine Schuld kon-
trahieren die Einzelwesen eben durch ihre Vereinzelung, durch
ihren Besonderung-swillen, durch ihr fundamentales Streben
nach Erhaltung eines individuellen Daseins, das auf Kosten
anderen Seins Bestand hat, bis es schließlich in seinem Kampfe
mit diesem fremden Sein nachgeben und zerfallen muß. In
diesem Kampfe mit der Umwelt erwachsen den Wesen
die Übel, die sie um so stärker empfinden, je differenzierter
sie sind. Dafür erwerben die höher entwickelten Wesen
die Möglichkeit, in immer größerem Umfange und mit
immer bessereu Methoden die sie bedrohenden Übel ab-
zuwehren.
Auch zeigt es sich, daß im allgemeinen die Empfindung des
Übels auch zweckmäßig wirkt, indem sie zu erhaltungsgemäßen
Regulationen antreibt und die Rolle eines bedeutsamen Ent-
wicklungsfaktors spielt. Kosmozentrisch betrachtet, erscheinen
alle Übel nur als Durchgangsphasen der Weltentwicklung, als
durch diese selbst immer wieder aufgehobene Momente, die
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FiafiMdmtc* Kapitd. D«r Zwcdc ia der Meuphysik.
265
nie bloß negativ und destruktivi immer auch poaitiv und ge-
staltend wirken. Ein absolut Schlechtes oder Böses gibt es
nichts alles hat einen Wirkungvwert, durch den es sich in
den Allzusammenhang des Werdens eingliedert, dem es dienen
muß, es mag wollen oder nichts wie dies am besten CtoeAe
im „Faust** snm Ausdradc gebradit hat Als Totalität, als un-
endliche Einheit ist das Universum weder gut noch schlecht,
es ist vielmehr über diesen wie über jeden anderen Gegen-
satz erhaben.'*')
Der „teleologfische Beweis" für das Dasein Gottes**) geht
von der Annahme aus, da& die in der Welt herrschende
Zweckmäßigkeit und Ordnung nicht anders zu begreifen sei
als durch die Weisheit eines göttlichen Welterschaffers oder
Weltbaumeisters. Für eine monistische Teleologie hat dieser
Beweis keine Kraft, denn es besteht, wie gezeigt wurde, die
Möglichkeit, die Zweckmäßigkeit der Dinge auch ohne die
Annahme eines Weltordners zu begreifen, ohne daß damit
schon die Idee der Gottheit als solche als völlig \ees abzu-
weisen ist Mag es einen Gott geben oder nicht, genau so
wie der Kausalzusammenhang des Geschehens für die Wissen-
schaft und Philosophie ohne die geringste Berufung auf das
Walten göttlicher Kräfte erklärt werden muß, ebenso muß
der Finalzusammenhang in der Welt so erforscht und be-
stimmt werden, als ob es keinen Gott gäbe. Die Gottheit
und deren Walten ist kein Geg-enstand der Erkenntnis, mag
sie auch durch das Denken oder durch den Glauben als seiend
gesetzt werden. Weder ist also die Existenz (jottes aus der
Zweckmäßigkeit des Daseins, noch diese aus dem Wirken der
Gottheit abzuleiten.
Gerade weil wir allen Grund haben, eine elementare Ziel-
*) Vgl. über „Theodizee" Platan, die Stna, Plotin, Augustinus, Thomas
von Aquino, Leibniz, Shaftesbury, SchiUer, Hegel, Schopenhauer, v. Hartmann,
VoOcelt, OekeU-Newin u. a., sowie die Arbeiten von Kremer, Lindau, Jjcmp,
Weguur u. u,
••) Er findet sich bei JPlaton, Aristoteles, Cicero, Augtigtinus, Thoma$,
Leibniz, Rerhart, Drdbitdt u. s. VgL Ktmt, Kritik der reinen Vemunft,
Redam, S. 4891
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266
n. Speiieller Teü,
atrebig-keit allem, auch dem einfachsten Sein zuzuschreiben,
und weil wir in der Finalität ein ewigfes Attribut des Wirk-
lichen erblicken, bedürfen wir keines Demiurgen, der die
Dingfe zweckvoll hergCvStellt und ang-eordnet hat. Für unsere
rein immanente Teleolo^ie erwächst alle Zweckmäßig"keit
und Ordnung- in der Welt aus dem Zusammenspiel einer un-
endlichen Mannig-faltigkeit von Tendenzen in allmählicher
Entwicklung-, innerhalb deren immer neue Zwecke und Ziele
aus Wirkung-en und Folgen von Zwecktätigkeiten hervor-
gehen. Die Welt selbst ist durch die ihr immanente Finahtät
auf Zweckmäßigkeit angelegt; diese ist das Produkt immer
neuer gegenseitiger Anpassungen der Wirklichkeits-
elemente, die sich immer wieder so anordnen müssen, daß sie
miteinander verträg-Iich, kompossibel sind, wobei das nicht
Erhaltungsfähige beständig ausgemerzt, d. h. umgeformt, um-
geordnet wird.
Das Ordnungsprinzip, auf welches sich so viele Teleo-
logen berufen, erweist sich so als eine dem Zusammenhange
der Dinge immanente Tendenz, aus der heraus dieser Zusam-
menhang immer neu gestaltet wird. Man könnte ganz wohl
von einer „kosmischen Selbstregulation" reden, durch welche
die jeweils größtmög-liche Harmonie in der Welt her-
gestellt wird, die aber nie einer völligen Stabilität*) gleich-
kommt und daher zu beständiger Fortentwicklung nötigt,
treibt. Immer neue „Differenzierungen", verbunden mit immer
neuen „Integrieningen" {Spencer), ein ewiges Aus- inandertreten.
Sichentfalten und Vereinheitlichen des Seinsiuliaites, das ist
das Allgemeine, Gleiche, Beständige im Wechsel, der immer
auch eine Krhaltun^r des Alten im Neuen einschließt
Der universalen Tendenz zur Besonderung hält eine
ebenso universale Vereinheitlichungstendenz das Gleich-
gewicht Einheit in der möglichsten Fülle des
**) Auch die „Entropie'', die immer mehr sich ausbreitende Ans-
gleichung der Intensitätsunterschiede zwischen den Energien, erreicht
wohl nur im Unendlichen, d. h. niemals, ihr Maximum; es wirken ihr
wohl auch andere Tendenzen entgegen. Vgl. Arrheniua, Das Werden
der Welten', 1908, Auerbach u. a.
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Flnfiduites Kapitd. Der Zweck in der Bfeteplqriik.
267
Mannig^faltig-en — das ist daa durch alles Werden gehende,
allgfemeine Ziel des Geschehens; wenigstens läßt sich das
kosmische Werden so auffassen, als ob es ein solches
Ziel hätte.
Vom „Absoluten" aber können wir, einen Ausspruch
tSdälen und Hegels variierend, sagen : Aus der Fülle der ihm
immanenten Zielsetzung'en und Zielverwirklichungen nSchaumt
ihm die Unendlichkeif*.
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115, 119, 122, 125, 126, 127, 143,
164, 168, 178, 186, 187, 191, 193,
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S.
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ScballtDayer 191.
Schdl. H. 29.
ScbeUing 19, 28, 88.
Schellwien 259.
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Schiller, F c. s. 132, 134» 149. 281,
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Schleicrmacher 77, 219.
Schmidt, C. 203.
Schmoller 178.
Schneider, K. C. 15.
Schneider, W. 29.
Schopenhauer 28, 52, SU, 94, 98, 136,
149, 220, 221, 887, 8S9, 865.
Schrecker 136.
Schultz, J. 18, 88, 103, 113, 114, 117,
120, 122, 125, 149. 840.
Semon, R. 15, 38, 104.
Scydel. R. 29.
Shaftesbury 265.
Sidgwick 219.
Sigwart 19, 25, 73, 74, 149, 228, 230,
231
Simmel'21. 74, 158, 164, 174, 191,
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Somlo, F. 143.
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Stadler 21, 24, 249.
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Stammler, R. 20, 69, 78, 147, 171,
178, 180.
StraSMo, «ir, 0. 15.
Staudiogcr 218.
Stecke! 136.
Steffen, G. 191.
Stein, L. 20, 164, 191. 250.
SteiBl>adiel 6.
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i Stephen. L. 208, 219.
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Stöckl 6.
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Stülzlc 29.
Storriiifi: 219.
Stout 29, 149.
Strauß, D. Fr. 3.
Sutberlaad 208.
T.
Tarde 174, 191.
ThiUy 144, 819.
Thomas von Aquino 0, 259, 265.
TSonies 21, 185, 178. 191. 203.
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U.
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UexkUU, V. 15.
Ulrid 29.
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Vaccaro 191.
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Verworn, M. 15.
Vico 203.
Vierkandt 189.
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W.
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Weismana 22, 118.
286
NmcBvoiddiiiii.
Weific, C. H. 29.
Wentscher, M. 219.
Wensig 259.
Wigand 22.
WUliams 208.
Windelband, W. 27« 80> 126, 148,
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WoUr, G. 15.
Weltmann 203.
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Wondt, W. 19, 21. 25. 26, 51, 52, 53,
58» 64, 74, 88, 91, 94, 97, loa,
106, 107, 109. III. 122. 181, 182,
184, 13ß, 143, 149, 150, 154, 156,
164, 191, 193, 204, 209, 212, 215,
216. 217, 219, 885, 287, 880, 281.
250.
Z.
Zehnder 15.
ZeUer 28, 29.
Ziegler 164.
JE. S. Mittler * Sohn, BerUn SW 68. Kochatr. 68—71.
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