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Full text of "Studie über die Entwickelung des Dichters Victor Hugo"

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Studie über die 
Entwicicelung 

des Diciiters 
Victor Hugo 



Hugo vorr^( 
Hofmannsthal 



V-et . G^r- TC -3. \^ 

■ Lq 20 — /\. \ 




STUDIE 

ÜBBR DIB 

ENTWICKELÜNG des DICHTERS 

VICTOR HUGO. 



voar 

HUGO TON HOFMANNSTHAL 

OOCTOR PHILOSOPIUAB. 

DEB PHILOSOFHISOaEN FACTILTÄT DER UNIVEBSTTlT WIEN ÜBEBBMGHT 
BEHUFS ESLANOUNG DEB VENIA LEGENDI FÜB DAS GEBIET 
DEB ROMANISCHEN PHILOLOGIE. 




WIEN 1901. 

YERLAQ VOM D»- HUGO TON H 0 FM A N MSTU A L. 



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DRUCK \ OH JOHARM N. VB&NAY. 



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Angabe der Quellen. 



Victor Hugo, oeavres complfttos. £ditioa ne varietnr. Paris. 



Blograplil8eli*anekdotl8ehes : 

Victor Hugo, raeont^ par un tomoin de sa vie. (18Q2bis gegen 1840.) 

Victor Hugo avant 1830". 
„Victor Hugo et son temps.** 
„ Victor Hugo chez lui." 
„Victor Hngo intime." 
„Zeittafel zuVictor Hugos Leben nndWerken.** 



Kdiiiond de Bire; 
A. Barbou: 
Rivet: 

Ch. Asselinean: 
K. A. Hartmann: 



Oliateaubriand: 
äainte Beuve: 



Das literarische Gepräge der Epoche: 

a) Gleichzeitige Quellen: 

Madame de Stael: „De rAlIemagne.*^ 

„Meraoires d'outre-tombe." 
„Critiques et portraits litteraires.* (1832 

bis 1839.) 
„Portraits eontemporains.** (1846.) 
„Caoseries du lundi.** (1851—1862.) 
„Le nouTean Ohristianisme." 

„De riuiiiiunile."* 
„Essay sur rindifferenee." 
„Paioles d'on croyant** 
„Gespräche mit Goethe.'* 
'„Lutetia. Flranzösische Zustände." 

1* 



Saint-Simon: 

Pierre Leroux: 
Lamennais: 

Eckeimann: 
H. Heine: 



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— IV ^ 



Th. Gauticr: 
G. Brandes; 



b) 8p&tere Darstellungen: 

^Histoire du romantisTnc." 
„Die HauptströiuuDgeii der Literatur des 
XIX. Jahrhunderts.*' 



Literarisehe und kritische Monographien: 
Emest Dupny: „V. Hngo llioninie et le po^te." 

E. Faguet: „V. Hugo (in le XIX"» si^ele)." 

Paul de Saiüt-Victor: „V. Hugo." 

E. Kig;al: ,,V. TTiigi» poMe «^pique.* 

Paul Albert; „Poesie et poetes," 

A. Sarrazin : «Deutsche Stimmen Aber V. Hugo. " (Band Vli 

der Abhandinngen) 
Ch. A. Swinbume: „A study of V. Hago.« 




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Einleitung. 



Dazu tiiidet sich unter den Sehrt'il)eii(len und Lesenden nur 
geringe Neigung: das Einfache höher zu schätzen als das \'er- 
worrene, und lieher nach Übereinstimmung zu snehen, als nach 
Cont rasten. So konnte sich Victor Hugo Zeit seines Lebens derer 
nicht erwehren, die ihm die Widersprüche seiner Gesinnuntr und 
die Sprünge seiner Entwickelung vorwarfen: und er selber, indem 
er sie mit Heftigkeit abzuwehren suchte, blieb dennoch in einer 
ähnlichen Auffassung seiner selbst befangen: nur erblickte er eine 
Läuterung da, wo die anderen ein Herabkonunen, und nannte 
Befreiung, was die anderen Abfall und Kenegatenthum. Vermag 
man aber dies alles aus einer gewissen Distanz zu sehen, ergibt 
sich: es dürfe, wo das Wirken eines Dichters beurtheilt wird, 
überhaupt nicht 80 gar viel von Gesinnungen nnd coosequenten 
politischen Cberzengnngen gesprochen werden, sondern immer und 
durchaus nur von der Bethätigung einer geistigen Kraft, der es, 
und dies ist das Wesen der künstlerischen Seelenkräfte, eben nur 
darauf ankommt, sich auszugeben, wobei sie ohne tiefes Bewusstr 
sein der Ineonsequenz von einem Objeete aufs andere überspringt. 

In der That sehen wir das Publicum, die grosse aufnehmende 
Menge, solche Widersprüche mit ftusserster Toleranz und Geduld 
hinnehmen und, in diesem Instincte den Literaten sehr fiberlegen, 
nur das Positive und Harmonische beachten. 

In gleichem Sinne werden wir uns an das Einfache und 
ObereinsHmmende zu halten haben, um eine grosse nationale Popu- 
larität zu begreifen, und sogleich wird für uns, als Fremde, auch 
jede Versuchung zu einer Kritik wegfallen: denn die Kritik ebenso 
wie die Verherrlichung ist nur da am Platze, wo sie auf Lebendige 
und auf ein Lebendiges, den guten Geschmack, einzuwirken irgend 
welche Hoffiaang bat; die kritische AUure des Auslftnders aber 



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— VI — 



Iftuft immer Gefahr, lächerlich zu sein : denn indem sie den Stand- 
punkt des Allgemeinen, des Menschlichen geradezu einzunehmen 
Terraeintf ist sie doch gerade in den feinsten entscheidenden 
Schwebungen des Uitheils durchaus vom Geschmacke ihrer Nation 
dictieit nnd niemals frei Ton Beschränktheit 

Und insbesondere die Deutsehen sollten sich immer ins 
Ckdflehtnis xurdckrufen, dass sie weder der Geist des classischen 
Ältertbums, noch das menschliche xax* l^ox^jv sind« sondern eine 
Nation wie jede andere. 

Man wird in der folgend«! Darstellung die Einzelheit, das 
biographische nnd literarhistorische Factum, fast Töllig yermieden 
finden: es erschien als anstrebenswert, die leitenden Ideen eines 
kflnstierischen und menschlichen Daaeins aufzusuchen, welche freilich 
weder Ideen im philosophischen, noch im politischen Sinne sind, 
sondern dem ftsthetiseh-etfaischen Gebiete angehören: die indiyi- 
duelleu Tendenzen, welche in der Führung des Lebens und in 
der dichterischen Froduction sich gleichmftssig geltend raachen, 
die aus der Ffille der einzelnen Züge erschlossen, dargestellt aber 
im Zusammenbange werden können, und deren Einheitlichkeit und 
tiefe Harmonie eben die literarische Person: Individuum, Werk, 
Wirkung und Nachwirkung zusammen ausmacht. 




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Studie über die Eiitwickelung des Dichtör» 

Victor Hugo. 



I. 

Leben8laHf als Entwickelung der geistigen Form. 

A. im hiB 1839. 

Dem napoleonisehen OMcier, Oommandeur Joseph Leopold 
Sigisbert Hugo wurde 1802 zn Besanfon sein drittes und letztes 
Kind geboiBD, Vietor Harle Hugo. Diesem Kind en^flUt sein 
Oescfaick frfih die Welt. Der Fünfjährige vird Ober die Alpen nach 
dem unteren Italien mitgefOhrt; achlj&hrig Torbiingt er mit der Mutter 
und den ftlteren Brfldein ein Jahr in Spanien. Den neapolita- 
nischen Aufenthalt des Kindes fallt dies aus: der Vater ist fast 
nie da; wochenlang neht man Ihn nicht; für flflchtigO Augenblicke 
ist er da« Frau und Kinder zu besuchen, die ein Palast beherbergt; 
seine Heiter warten im Hof auf ihn, indess er hastig die Kinder 
an sich drflckt; seine Brust ist funkelnder Terschnftrt als frfiher; 
er ist nun Oberst; der König, der des Kaiseis Bruder ist, liebt 
ihn sehr; er hat ihn zum Goureineur Aber eine ganze Provinz 
gemacht; diese Provinz aber macht ein grosser Rftuber unsicher 
und diesem muss der Vater mit vielen Soldaten nachjagen, von 
Dorf zu Dorf, von Schlucht zu Schlucht. Diesem B&uber aber 
wieder haftet ein merkwürdiger Glanz an; man spricht von ihm, 
wie von einem grossen Herrn; mm sagt, der König — nicht der 
letzige König, dem der Vater dient, sondern der frflhere, der ver- 
triebene, der legitime König — habe ihn zum Obersten und Herzog 
von Oassano ernannt; aber im Lande nennt man ihn mit einem 
andern Namen: Fra Diavolo. In dieses aufregende Erlebnis, in das 



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— 2 — 



der eigene Vater als Hauptperson veräoehten ist, in jene zwei- 
deutige, unheimliche und fonkelnde, ferne nnd nahe Gestalt des 
legitimen R&nbers wühlt sieh die Einbildungskraft des Knaben; 
sieht sieb dann schnell dem fremden Lande wieder entrückt, an 
Burgen und Tfaflrmeu, TbOrmen und Stftdten yorbei nach Hause 
geführt; und nach zwei Jahren abermals auf dem Wege, diesmal 
Uber die Pyrenften. 

Wieder liegen da und dort au der Strasse die Orte, die 
freundliehen nnd die finsteren, die blflbenden und die Terfallenen, 
und drücken ihr Wesen, verschmolzen zn einer lebendigen Einheit 
mit dem fremdartigen Klang ihres Namens, tief in die Phantasie 
des Kindes. Das Dorf, wo der Reisewagen auf spanischem Boden 
den ersten Halt macht, heisst Ernani. 

Auf dieser Reise war es, dass sich dem Knaben Victor Hugo, 
in einer alten Stadt am Wege, die Architektur einiger gothischer 
Thürme dermassen einprSgte, dass er nach vielen Jahren imstande 
war, sie mit allem Detail zu zeichnen, ohne sie je wieder gesehen 
zu haben. Es gehörte zur Signatur dieses Knaben, dass ihm das 
Bauwerk viel bedeuten sollte. Es sollte sp&ter zur Signatur dieses 
Dichters gehören, Bauwerke als ein Lebendiges zu fühlen und 
einen mftchtigen Theil seiner Phantasie in architekturalen Er- 
schaffungen auszuleben. 

In Burgos verlor sieh das Kind in der wundervollen Kathe- 
drale und stliunte die Pfeiler hinan; da springt hoch oben in der 
Mauer ein Thflrchen auf und ein kleiner Mann tritt hervor, un- 
förmlich und scurril, schlagt ein Kreuz, thut drei Schlftge auf eine 
Glocke und verschwindet. „Senorito mio, es papamoscas**, sagt 
der Kirchendiener, von dem Automaten redend, als wftre es ein 
lebendiges Wesen. 

Und spftter in Madrid — sie wohnen wieder in einem Palast, 
wie in Neapel — sieht Victor von seinem Bett ans in einem 
Nebengemacb die goldstarrende Mnttergottes mit den sieben 
Schwertern im Herzen;: sieht sie, wie er jene Thürme gesehen 
hatte, um das Bild nie wieder zu vergessen. Er verbringt die vielen 
unbewachten, unbeschäftigten Stunden, die geheimnisvollen gähnen- 
nenden einsamen Stunden eines achtjährigen Kindes, mitten in der 
fremden Stadt, in dem fremden Palast, in der Gallerie vor den 
alten Familienbildern des Hauses Masserano. In ihren prunkvollen 



— 3 ^ 



Rabmen, in den Gewftndero eindr vergangenen Zeit, hoehmfithig 
niederbliekend, nnnahbftr in ihrer Haltong, geheimnisvoll in- den 
Geberdeii einer vergangenen Zeit, hanchen diese Spanier eine im- 
endliehe Besauherung, einen fieberhaften dumpfen Drang in die . 
Seele dee kleinen fransOeisdien Kindes. Der francöalsdie Gislst 
empfindet von Zeit za Zeit das spanische Wesen als nahverwandt 
nnd doch vor dem dgmn dnieh mne grössere Coneentradon, 
irgend einen fremden herben Duft romanischen Blutes ausgezeichnet 
Er findet jenes Element sdnes eigenen Wesens vioder, das, swisehen 
erhabener Ruhmredigkeit, gascogniseher Anmassung nnd schönem 
Formgefflbl schwankend, am besten viellmcht mit dem Ausdruck 
„pansche*', als Eigenschaftswort gebraucht, bezeichnet werden 
kann: und er findet dieses Element im sp^ischen verstärkt und 
zugleich verfeinert, gewissennassen stilisiert wieder. Und nichts 
wirkt stärker auf eiu Volk, als eine solche Verklärung einer seiner 
Grundeigenschaften. Es ist um dieses kaum definierbaren, aber fast 
in jedem Vers fühlbaren Klementes willen, um dieses spanischen 
Tones willen, dass um die Mitte des XVII. Jahrhunderts der 
„Cid" des grossen Corneille einen Aufruhr des Entzückens her- 
vorrief. 

Bei frühen Erlebnissen, in welchen ein noch weiches kind- 
liches Erkennen Stücke des \V eltwesens erfassen soll, verschwimmt 
alles zu einer traumhaften Kinheit; hier wird die Form des Er- 
lebnisses ebenso wichtig als ihr Inhalt, das objective Erlebnis. Die 
Form des spanischen Er]el)nisses war für den Knaben Huf;*) eine 
phantastische. Nicht recht als ein Dazugehöriger und nicht recht 
als ein Ausgeschlossener uiusste er sich fühlen in dieser spanischen 
aristokratischen Welt; nicht demüthig, denn er gehörte zu denen, 
die im Augenblick Herren waren über Spanien, und doch nicht 
ganz sicher, nicht ohne Anwandlungen von Scheu und Ehrfurcht. 
Wie ein Wrack lag diese prunkvolle, hoehmüthige, adelige und 
katliulische Cultur da und zeigte ihr Inneres. Es ist der Blick des 
Fremden, des King:edrun,u:enen, des Emporkömmlings, mit dem der 
Knabe die marmornen Säle, die mit aufregendem Prunk beladenen 
Altäre im Flambovant-Stil, mit dem er die Bildnisse der grossen 
Herren umfängt, und von den Wappenschildern, an denen das 
goldene Vliess hängt, die asyndetisch aneinandergereihten Titel, 
die fasciniereudeo Namen der üerzogthümer, Marquisate, Graf- 



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— 4 — 



sehafiteii, Bargen und Leben abliest. Welche Nahrung für deu 
gfttareiideii Geist eines Knaben! Sich hineinzuträumen iu diese 
gebieteoden Gestalten, die Säle und Gallerien in einer pompösen 
HaltQDg zu durchschreiten, den Arm in die Hüfte gestemmt, ein 
Schauspieler selbstgeschaffener Träume ; ihre grossartipen Titel vor 
sich hinzusagen, sie in fieberhaftem Selbstbetrug; als den u^t nen 
Namen empfinden: „Dies sind meine Namen, Ihr haht es bislier 
nicht gewusst, Ihr stumm aufhorelienden Wände, Ihr starren Ver- 
goldungen, Ihr hieltet mich für eiuen Fremden, einen Bedienten, 
einen Räuber, vernehmet: 

Dieu ni a lait duc de Segorbe et duc de Cardoua, 

Mar(|uis de Moiiroy, eomte Albatera, viciunte 

De Gor, seigneur de lieux, dout j'ignore le eompte. 

Je suis Jean d Aragon, j^iand maitre d'Avis, ne dans Texil . . . 

Ja, in diesen kindisclieu Ausschweifungen der Phantasie rührt 
sich das, was die geheime innerste Triebkraft ausmachen soll für 
jene S})ätereu glänzenden Ausschweifungen der i'hautasie, die man 
die Werke des Dichters nennen ynrd: hier werden, unter öcliauderu 
einer halbwillkürlichen Träumerei, die Keime jener Gfestalten 
empfangen: des Hemani, des Ruy Gomez vor den Bildern seiner 
Ahnen. Aus der faseinierenden Antithese dieses Dastehens als ein 
Eindringling, dieses Verfluchtenwerdeus in fremde uralte prunk- 
Tolle Sckicksale, dieses Fremd- und Daheimseins gehen die Reime 
jener berühmten Antithesen hervor, die wir als die Schicksale des 
Hernani, des Ruy Blas, des Findlings Didier kennen, jenes Ge- 
wühls von Verkleiduügeii, vertauschten und verheindichten Namen, 
irrthumlichen Morden uud ergreifenden Erkennungen, alles das 
nnn\i»ben mit der Atmosphäre aristokratischen Lebens, einer ge- 
heimnisvülleu Etiquette, prunkvoller Gebundenheit. Es ist der 
Zauber des als Vergangenheit empfundenen Aneien regime, ein 
Zfliilter, ein Keichthnni an Gefühlsuuancen, wie ihn das Ancien 
regime als Gegenwart nie ausgeübt hat: denn in den Werken des 
XVIII. Jahrhunderts, auch in dem des Hestif de la Bretoune etwa, 
die direct d;is Empnrkommen eines Niedrigen in höhere Sphären 
luin Gegenstande iiabeii, ist keine Spur von dieser Zauberwelt. 

Der spanische Aufenthalt enthält noch ein kleines Erlebnis, 
welches zu den t'ormgebenden gehört, zu jenen, die symb(»lisch 
wirken und als Symbol im Kopfe weiterleben, bis sie als symbolische 



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Oestftlt dichteriflch ausgedrillt worden sind. Victor und seiii Brador 
Eugene waren in Madrid für eine Zeit in einem adeligen Eniehnngs- 
institat nntergebraelit. Wie sie am ersten Morgen in dem grossen 
allgemeinen Schla&aal erwachen, stobt ?or ihrem Bett eine sonder- 
bare Gestalt, ein bnckliger Zwerg mit rolhem Gemebt und struppigem 
Haar. Er hat eine rothe Leinenjacke, Hosen Ton blanem Sammt 
und gelbe Strfimpfe. Er ist im Hause, um den Zöglingen kleine 
Handreichungen zu leisten. Und er ist vielleieht dreimal so alt 
als diese Zöglinge. Wenn sie mit ihm unzufrieden sind, rufen sie 
ihn: Buckel! Corcova! Wenn sie zufrieden sind, rufen sie ihn: 
Oorcovita! Er grinst häufig, aber in seinen Augen ist ein tief- 
Bchmerzlieher Ausdruck. Welche Welt von einander zerfleischenden 
Widersprüchen Hess sich in dieses Geschöpf hiueinträumen! Ks 
w;ii- u ic ü:eschall'en, mit jener anderen zwerghaften Figur in eines 
zuüauiiiumziiüiessen , mit dem ewiir trippelnden Bewohner der 
Kathedrale son Burgus. Hier schwimmen die nebelhaften Umrisse 
einer Gestalt, die nach und nach Qnasimodo, Triboulet, Gaucho 
heissen soll: hier wird in eiuer vagen Erregung der Phantasie, 
die noch keine begriffliche Formulierung gestattet, jene Berechti- 
gung des Grotesken, als eines Symbols des Zwiespaltigen in der 
Welt, voransempfunden, deren Formulierung in der Vorrede zu 
Cromwell achtzehn Jahre später die innerste Triebfeder einer 
Revolution des Theaters werden wird. Der spanibche Aufenthalt 
findet sein lOnde 1812 mit dem Zusammenbruch der Herrschaft 
Joseph Bunapartes. 

Die AVohiiuug in Paris, Impasse des Fenillantines, welche 
mau nach einjähriger Abwesenheit wieder betrat, war eine gewöhn- 
liche Miethwohnung: aber sie hatte einen grossen Garten, einen 
üppigen, verwildernden Garten, und in der Erde dieses Gartens 
wurzelt die wundervolle Intimität Hugos mit den Bäumen und 
den BIrtthen, den Vogelnestern und den Sternen, wurzeln jene 
Tauseude von V^rszeilen mit ihrer magistralen Fülle und Gedrängt- 
heit, jene Tausend^ von Melaphern, in denen das Leben der Natur 
in seiner gesteigerten sinnbildlichen Li iirhtkraft aufgefangen ist. 
Ein Garten ist dio grosse Natur a la portt c rines Kindes. Er bietet 
den unbriinlich kriechenden Wurm, die lau* riide Spinne, das hin- 
husehende Wiesel, die athemlos belauschte nistende Meise: er ent- 
hält die uuerschüpfüch geheimnisvollen Geräusche der Zweige^ 



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— 6 - 



des Windes und des Wassers; die Qnergrfindlichen Gerftnsche des 
Morgens, des hoben Tages und der Kacht; die grellen Sandstellen, 
wo das Übeimaäss des Lichtes eine Art panisehei Trunkenheit 
hervornift, und die tiefen Sehattenstellen, die nie ganz leer von 
phantastischen Gestalten sind; er verschenkt alle Genflsse der Ein- 
samkeit nnd einer unendlichen faunischen Geselligkeit, und nachts 
wölbt sich Aber ihm der erhabene dunkelblaue Abgrund, nnd das 
starrende Licht der Sterne gleicht dem Niederbücken flbermensch- 
lieher Augm. , 

Wenn in dem Kinde, lu dem hier die stamme Oreatnr m 
Taus^en von gebrochenen Lauten spricht, das Genie der Sprache 
'schlnmmert, so sind dies die Standen, die mit heimlich bildender 
Gewalt in seinem Gehirn jene Ooncordauz hervorrufen, die einmal 
den Dichter befthigen wird, in der Vocalisation seines Verses alle 
Schwankungen von Licht und Schatten auszudrücken, im Rhythmus 
nnd in der Zusammenstollung der einen Vers erfüllenden Con- 
souanten alle Suggestionen von Weichheit und Härte, von gleitender 
und schreitender Bewee;un};, von Gewühl und Aufschwung, von 
Wollust und Erhabenheit zu tiiulen. 

Eine fast uneuntrulierte Leetüre bevölkert dieses Garteuleben 
mit seinem Gewühl von Gestalten: der Neunjaliüge las den Tacitus, 
rieht minder geläufig den Vergil und Lucres, dazwischen die 
Miirclien der Tausend und einen Nacht. Dem Kiljaliiigen war 
eijffentlieh aUes freigegeben: er liest dureheiuaiuier Voltaire und 
Kuiisseau, den ganzen, und Diderot, und den Ohevalier Faublas 
neben den Reiseu des ('a}»itäns Cook. 

Die Verschmelzung zahlloser traumhafter Gestalton mit dem 
lebendigen 'J'ranme der Natur, aller dieser Gestalten aus den 
Büchern, der erliabenen und der lasciven, der heroischen und 
der idyllischen, und jener Gestalten von den Bildern iu Spanien, 
und jener kaum-mehr-(»estalteD, der Götter des Lncrez, ihrer aller 
Verschmelzung mit der Sehnsucht der Sternenmächte und der Fülle 
der Soramertage, mit den Spielen der Sonne und des Schattens: 
das mag die Arbeit dieses gähreudeii Kopfes in jenen Jahren ge- 
wesen sein: und Fülle der Gestalten, so innig verschmolzen mit 
der Fülle der Naturerscheinungen, dass die gemalten Hintergründe 
des Theaters zu enge werden, dass dramatische Conceptionen in 
episch-lyrischen, manchmal in dithyrambischen Formen sich aus- 



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— 7 



leben mfisaen: das ist die Signatur der reifeten und machtrolbten 
Kunstwerke des DiehterB Victor Hngo. So schHesst sieh hier der 
Zanberkreis der Eindlieit, wie er soUr nichts wird später in dem 
Manne sein, was nicht in dem Kinde war; es - war hier als ein 
dumpfer Drang, als haibwillktbrKehe Hallndnation, als wacher 
Traum; und es war hier auch im ganzen, als eine geheime Prägung, 
jener Tergleichhar, welche den Samen zwingt, sich zu einem solchen 
nnd keinem anderen Gebilde zu entwickeln; jene innere Form, 
welche einem fast durch sechzig Jahre nicht versiegenden dichterischen 
Hervorbringen seine Richtung zu geben bestinmit war; nicht auf 
Gestaltung vor allem hinzustreben, auch nicht auf Verknüpfung, 
sondern sieh auszuleben im Schwung der Bede, sich zu ergiessen 
in einem rhetorischen Strom von solcher Mächtigkeit, dass' er alle 
Zuflfisse der Reflexion auMmmt und mit sich reisst, und in den 
glänzenden Wellen der Gleichnisse Himmel nnd Erde im Dahin- 
flutra spfegelt. 

Es muss nun eine Epoche folgen, wo der Geist, einer inneren 
Fälle dumpf versichert, aber jeder Fähigkeit des Ausdruckes bar, 
mit unbeholfener Dreistigkeit an alles Hand legt, mit allem, wie 
Kinder thun, zum Munde itthrt, was nur sich bietet; was nur ge- 
formt ist, meint er, mflsste auch ihm zur Form verhelfen, was 
Yon ihm nachempfunden werden kann, auch die erstarrte übervolle 
Welt der eigenen Empfindungen entbinden. So entsteht ein Ge- 
dränge scheinhafter Hervorbringungen, an denen nichts eigen ist, 
als ein staiker eigensinniger Drang. Es fUlen sieh Hefte mit 
Tragödien und' Episteln, Madrigalen, Hymnen und Akrostichen; 
neben Versen, die von Delille inspiriert sind, findet sich eine 
Ines da Castro, ein halbes Puppenspiel mit. Zwischenspielen, kind- 
lich dem Oalderon nachgeschrieiben. 

Hier aber beschäftigt uns nur, was mit formgebender Ge- 
walt an irgend einem Punkte, aus Realität der Erlebnisse hervor- 
brechend, sich der werdenden Individualität so stark bemächtigt, 
dass es stflckweise und allmählieh ihre Weltanschauung znr 
Reife bringt. 

So beröhrt uns in allen jenen Heften und Blättern nur die 
Aufschrift einer einzigen sonst leergelassenen Seite: „Je veux 6tre 
Ohäteaubriand on rien", hingeschrieben 1816. Denn ein grosser 
Dichter der mitlebenden Zeit wirkt auf den Knaben, der ein Dichter 



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~ 8 — 



2tt werdAii bestimmt ist, nicht allein fiterarisoh, sondern tot allem 
als eine Macht des Lebens. Ja Tielleieht dflrfte man sogar aus- 
sprechen, dass literarisch das, was an ihm sckwftchlieh und ver- 
gioglieh ist, einen besonderen Zanber aosflben kann, dass also 
auf dem mystischerän Qebiete der Wirkung des Lebendigen auf 
den Lebendigen das Eigenste und Wahrste der Individuen auf 
einander su wirken kommt. 

So wirkten auf Victor Hugo in der Zeit, die auf 1815 folgt, 
ja bis gegen 1818 hin, zuerst Chateaubriand und dann Lamartine. 
Wie immer geartet die Epoche sei, es pflegt auf dem unreifen, 
pbantasievoll angelegten Geist die Gegenwart m lasten; ihre 
Qualität des Unmittelbaren wird als Druck empfunden, ihre Viel- 
flUtigkeit als quftlende Verworrenheit, ihr Verhältnis sur nädisten 
und sur weiteren Vergangenheit als ein nnglilekliehes, Terfehltes: 
da werden diejenigen, welche solchen Druck der Verhältnisse für 
sich zu flberwinden rerstanden, welche aus solcher Verworrenheit 
zu einer eigenen und grossen Form des Dasems zu gelangen Ter- 
mochten, recht eigentlich und im Innersten als Befreier erkannt, 
und wie sie es anfiengen, aus sich' etwas zu machen, das stellt 
sich, aus einer Entfeniung, welche nur mehr die grossen Linien 
zeigt, so rein und so schön, so ergreifend und grossartig dar, 
dass es, als der rechte MjÜios, zugleich mit der Gewalt der 
Wahrheit und der Zaubermacht der exfundeuen Fabel wirkt. 

Der Charakter Chateaubriands war ganz auf den Begriff der 
GiOsse gestellt. Geboren aus uraltem Geschlecht; eine Jugend, 
Ton wilden Stössen des Schicksals hin- und hergeworfen; das 
Mannesalter ganz damit erfüllt, Macht zu fiben und Macht mit 
jähem Entschluss von sich zu werfen; eine grossartige und hoch- 
mfithige Haltung, in jeder Gunst und Ungunst des Schicksals 
bewahrt; ein Greisenalter yoU melancholischer Erhabenheit, un- 
verhohlener Verachtung der Welt, pompöser Vereinsamuug: so 
zeichnete sich diese Gestalt Aber dem Horizont der Heran- 
wachsenden ab. 

Lamartine's Gestsit daneben: von minder dunklem Metall- 
glanz, weicher, verfflhrerischer. Eine glänzend leichte, halb- 
vertr&umte Jngend; der ungeheuerste Erfolg an der Schwelle des 
Mannesaltm, eine grenzenlose Popularität, in der mch die 
heterogensten Elemente vermischeD, ja wie ein verlockender Duft, 



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_ 9 _ 



zusammengemischt aus allen unbestimmten sehwebenden Aspirationen 
der Epoche: iiiul den eigenen Hahm, der eigenen Künstlerschaft 
gegenGbei eine eigen thfimliehe Haltang: die Haltung eines Dilettanten, 
dessen wahre Bestimmimg ganz wo andere liegt; der hinreissendste 
Dichter seiner Zeit, umschwebt von der vagen Präsumtion, eigentlich 
ihr grösster Staatsmann zu sein, ihr geborener Lenker und Geseti- 
geber, Priester, Prophet, König-Philosoph. 

Die Grundform nun dieser beiden bedeutenden Talente ist 
das Rhetorische. War durch die Revolution von 1789 schon die 
Macht des Wortes in einer unerhörten Weise demonstriert 
worden, so dass man es auffassen konnte, damals wftren Yon 
Tag zu Ta^ Existenzen durch das Wort empoigetragen und 
durch das Wort wieder Temichtet worden; es w&re das Wort, 
als Träger des Begpriffes, anch der einzige Träger der un- 
umschränkten Gewalt gewesen und hätte fortwährend allein über 
Tod und Leben entschieden; es wäre das Feindlichste durch Über- 
redung für eine zeitlang zusammengehalten und das Nächstr 
verwandte durch dämonische Gewalt der Rede auseinandergetrieben 
worden — so hatte das Kaiserreich zwar die Wneht der öffent- 
lichen Rede fflr eine Zeit lang niedergedrückt, sieh selber aber 
einer ganz eigenartigen, eindmcksrollen Rhetorik zu seinen Edicten 
und Bulletins bedient, welche einen römischen Ton nachahmte 
und die französische Phantasie sehr stark traf; und von der 
Restauration an durchdringt das Rednerische erst recht die ganze 
Epoche. Die innen Parteien als die fordernden, die anderen als 
die zurQckfordemden fühlen sich als Anwalt und Gegenanwalt. 
Die grossen Geister der Reaction, Donald, de Maistre sind durchaus 
Rhetoren und gleichfalls die jungen Verfechter einer noch kaum 
definierbaren Gegenbewegung suchen durchaus m^r zu überreden 
als zu überzeugen. Die „Martyre** sind keine Daretellung, sondern 
eine Predigt; ,le G4nie du Ohristianisme" ist eine Predigt; und 
Chateaubriand hat Donald als den Mann bezeichnet, als dessen 
Rivalen er sich fühlte. Unter dem Kaiserreich hatte ein Einzelner, 
Paul Louis Courier, der ehernen Redeweise der Gewalthaber mit 
einer schwirrenden befiederten Beredsamkeit mnthig entgegen- 
gewirkt, schliesslich mit einer Rede über die Freiheit des Redens, 
dem „Pamphlet der Pamphlete" sich nnvergesslich gemacht 
Nunmehr, wo unabsehbar viel Neues auseinandergelegt, entwickelt. 



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— 10 — 



▼ertheidigt sein mrolHe, bot sieb TOn England ber das sebßne 
Master einer- Tielftltigen, besonnenen, grossen Yersammlangen ge- 
mtesen Rbetorik. Von so Tielerlei Seiten strömt zusammen, was 
gebört werden will, Aufmerksamkeit erzwingen oder erlisten will: 
und so entstebt aus der Vereinigung des Vielfältigen das neuartige 
polymorphe Gebilde, die moderne Zeitung. Wie jede neue Form, 
Geistiges zu betbätigen, debt aucb diese fflrs erste alle Strebenden, 
alle Bebten zu sieb beran. Jede aüsgesproebene Gesinnung, 
jede einer individueUen Färbung sieb bewnsste PersOnlicbkeit, ja 
aucb das Gedieht drftogt sieb bier beran, will von hier aus sieb 
geltend machen. Und so entzieht auch das Gedicht, entzieht auch 
der Dichter sieb nicht emer Einwirkung des joumalistisehen Geistes. 
Mögen seine Gleichnisse ihn immerhin ans Ewige und Bleibende 
knüpfen, dauernde Gedanken Aber den Tag hinausdenten, so will> 
er doch mit irgend welcher unmittelbar packender Gewalt aucb 
in den Tag hinein wirken und unter den Beredten der vor allen 
Beredte sein. Er w&blt den Gegenstand, der in aller Hunde ist: 
das Ereignis, das den Tag erf&Ut. Und er lernt es mit jenem 
Pomp, jener irdischen Grösse zu bebandeln, die ihren Platz unter 
dem Gewfibl des Gegenwärtigen mit Wucht behauptet 

So entstehen jene berühmten Oden auf den Hingang des 
einen, auf die Krönung des anderen Königs; so jene berahmtere 
auf die Sftule des Vendömeplatases; die einen dem „Moniteur" hin- 
gerflckt, die andoe dem „Journal des D^bats^; und. wahrhaftig 
in beiden Fällen ihrer Umgebung durchaus angemessen: durchaus 
der Gegenwart angehOrig, durchaus real, durchaus französisch, 
durchaus 1884, 1826, 1827, die wechselnden Stimmungen eines 
Cnlinrmittelpnnktes, das Hin- und Widerzüngeln der Flammen 
eines Lebensherdes genau Terkllndend; prunkTOller, binreissender 
Ausdruck dessen, was viele fühlen, nicht zu tief, um von sehr vielen 
erfasst zu w«*den. Indem dm aber ffir Victor Hugo die Form des 
ersten Triumphes wird: nicht eben die Gemflther erschottert, nicht 
eben die Seelen aufgewfihlt zu haben, sondern eine nunder geheimnis- 
volle Leistung von deutlicherer, sinnfälligerer Wirkung: vielen zu 
Dank gesprochen zu haben, vielen das Wort von der Zunge ge- 
nommen zu haben, so wirkt dieser Triumph wieder zurück, und 
Anlage und Erfolg, einander in Wechselwirkung steigernd, rufen 
< 'ein starkes Selbstbewusstsein hervor, der gottgesandtc Sptecher 



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— 11 — 



f&r viele in sein, der Anw&lt, der Vermittler, der geborene Wort- 
ffibrer, der Flrophet, dessen Platz neben oder etva aber dem 
Könige ist Wer aber in sieb irgend eine Form der Wirkung 
aof die Welt als die Yon Aslage nnd Scbickeal begonstigte er^ 
kaniit bat, dem ist gleicbsam der Qebranob eines inneren Organes* 
erseblossen nnd er ffiblt sieb gedrängt, die erreichbare Wirkung 
mit wiederholter Anspannung, mit gesteigerter Sicherheit, allmfthllch 
mit Routine berbeiznffihren. Ein allgemeines Bedürfnis anszuspreehen, 
einem herrschenden Missbranch sieh entgegenzastellen, einem Ter- 
einleiten nngereohten, unTersebuldeten Missgeschick Milderung zu 
yersehaffen, dazu ffihlt er sich verpfliobtet und berechtigt Hier 
empfindet er eine besondere beglGekende Harmonie, indem er 
gleichzeitig seiner eigensten Ennstform, dem rhetorischen, genflgen, 
und als ein Handelnder sieh ausleben kann. So 'sehen wir Victor 
Hugo mit einem kleinen Buch, halb Pamphlet, halb darstellendes 
Kunstwerk — wir meinen jene berühmten „letzten 24 Stunden 
emes zum Tode Verurtbeilten'' — diesem doppelten inneren Antrieb 
genfige leisten; wir vernehmen, er wftre ein anderesmal um Mitter- 
nacht in das Vorgemaeh des Königs eingedrungen, und habe mit 
vier Versen, hastig auf einen Bogen Papier hingeworfen, und mit . 
der Gewalt seines Namens vom Könige in der ftussersten Stunde 
die Begnadigung eines hochsinnigen und edlen politischen Ver- 
brechers durchgesetzt, dessen Todesnrtfaeil schon unterschrieben war. 

Erlebnis und Erfolg haben die tiefere innere Wirkung, dass 
sie dem Einzelnen das Allgemeine aufschliessen, vor allem ihm die 
Augen öffnen für das Geistige, Mächtige, welches dem Allgemeinen 
lebenerhaltend innewohnt. Indem er wirkt, vermag nun erst, das 
Latente auf ihn zu wirken und so kann man sagen,. Oultur fange 
ei9t für den zu existieren an, der selber angefangen hat, Cuhur 
zu fördern. Mit wachsendem Staunen, mit sich steigernder Ehrfurcht 
wird er rings um sich den geistigen Besitz seines Volkes auf?«, 
gethflrmt sehen, Überall das Bohe^ das ZufiUlige für ausgeschlossen ^ 
erkennen, einer grenzenlosen Übereinstimmung zwischen Gehalt 
und Form tausendfach auf Tritt und Schritt gewahr werden. 

Er wird nun, gleicbsam mit neugeborenem Auge, in den 
grossen Dichtem seines Volkes zu lesen beginnen, und was ihn 
früher als Form, gewissermassen als eine Umhüllung des Lebens, 
mehr belastet als erfreut hat, das wird er nun ak das höchste 

t 



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Qeitftigifr «tketiDen, als das innere N(HhweDdip:e, worin sich für den 
mfindi{:^eii Geist die wahre Gewalt und Wesenheit eines Dichters 
ausspricht. Und er ffthlt sich am tiefsten beglückt, wenn er in sich 
mit jenen höchsten und höohstgeschätzten Producten eine. Überein" 
Stimmung der Grundformen entdeckt, in sieb die Regungen einer 
überindividuellen, durch die Jahrhunderle hin Mvnrkenden Geistes-- 
beschaffenheit lebendig und mftehtig spürt. Beruhigt und gehoben; 
ja bis zur Überhiebung aufgemuntert, fühlt er sich jedem Stoff 
gevaoliseD, weiss er sich fähig, auch das Unscheinbarste in einer 
grossen Manier in b^andeln und aneh ins' Obeigewaltige noeh 
Ordnung und Steigenmg bringen xa kfinnen. 

- Hnss aber endlich mit Namen genannt werden, welche natio- 
nale Orondeigenschaft, wdlche eigentKdb framsOsische vis poetlca. 
Victor Hugo in sich fahlen konnte, inwiefern tir sich im Einklang 
erkennen durfte mit den grossen siihOpferisehen Geistern seines 
Volkes, so' nennen wir die Gabe der Ordnung und des Masses,- 
jene Disposition des Geistes, der sich in Symmetrie und Anti- 
these äüisllebt; and dies in so' hoheni Masse,' dass die Antithese 
allmfthlich zur Grundform seiner dichterischen Gonception, ja zur 
Grundform seines Denkens Oberhaupt wird. 

Hier nun .s])rioht der die (ieneratiuiien verbindende conser- 
Yative Geist dv.i Dichtkim.st, hier führt eine uagebrochene Linie 
von Racine und Bossuet, über Montesquieu, über Voltaire zu Hugo. 

' Wer gross von sidi denkt, wiU sieb zu allem Grossen in 
ein- Verhältnis detsen. Wird dieser Drang einen Deutschen etwa 
zur Veraenkung- in die GrOsse der Natur und des Geistes hinleiten, 
eüien gross angelegten Englftnder vielleicht vor allem zur Beth&ti- 
gung iiä ftusiseren Diseiii' öder zur Oberwindung und Beherrschung, 
natürlicher Krftfle antreiben, so ist- im ' französischen Geist der 
politisch-historische Begriff des grossen Hannes, des grossen Volkes 
80 hoch gesteigert nnd lebendig, dass für jeden hierin der Gegen- 
stand leidensehaftlieher Theilnahme itehon offen darliegt. Die Grösse, 
der Nation^ im Inneren zu fühlen und vielfach auszusprechen, ist 
gleich ein Ausgangspunkt rhetorisch-poetischer Bethfttigung; 
endlieh miihr 'Befnkchttaiig ^ der-Phaniitsi^ *abi^r> 'H^bt^die emzelne 
grosse Gi»tält, ^ antffkjinnte GfösM, in ^ihren tausend ^ftgen z^ 



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— 18' — 



Mythos erhöht; so steht die Phantasio jener' J^ochß . OAtar^ ddOi' 
Zeichen der napoleonischon Gestalt. 

Hier irar noeh jene Nähe, noch ein Hauch von.Wirkliidhkeity. 
der eine grenzenlose Unmittelbarkeit der Darstellong gestattet; iind 
zugleich ein so schnelles Hinschwinden der kaum mehr glanblichen 
Bealitftt, ein solches Zurückrücken in eine erhabene historische 
Perspective, dass das erhabenste Gleichnis, die kühnste Allegorie 
nicht unangebracht erschien. Hier war zugleich ein mysteriöses 
Element, und ftusserste Volksthümlichkeit. Man sprach TOn. den 
jjMenschen"; der «Sohn des Menschen" war die geheimnisTolI 
durchsichtige Bezeichnung für den Herzog von Reichstadt; und 
man konnte die Anekdote, das Volkslied hOren, in welcher jener 
geheimnisToUe Grosse mit der ftnssersten Vertraulichkeit behandelt 
war. So prftgte sich in Millionen Köpfen ein Begriff deir Grösse 
aus, an dem die gemeine und die erhabene Phantasie gleich viel 
Antheil hatten. Es erhielt von hier aus das Gemeine eine unerhörte 
Veredelung und das Sublime eine unglaubliche Realit&t. Was aber 
einmal mit Lebendigkeit hegrilfen ist, eine solche Erseheinun^vrirkt 
nach allen Seiten hin wie eine Spring wurzel:- die gamse Starrheit 
der Vergangenheit, der Geschichte war gelöst und alle darin ein- 
geschmolzene menschliche GrOsse bewegte sich empor. Man hatte 
in den Schicksalen jener einen Gestalt ein ungeheueres Schauspiel 
vor sich, das tansende anderer Schicksale in sich sehloss, tausende 
von Lebenslagen enthfillte, alles Menschliche blosslegte. Das Ver- 
hältnis des Einzelnen zu der Masse, des Emporkömmlings zum 
Hergebrachten, des Herrn zu Dienern, alles zeigte sich in einem 
neuen grossartigen Lichte, Die Individuen, die Stände, die Nationen, 
im innersten aufgewühlt und durcheinander geworfen,, brachten ihr 
Tiefstes zur Geltung; Begeisterung und Undank. hiengen sich mass- 
los an jene grosse Gestalt; dieses grandiose Emporkoinmen und 
grandiose Hinabsinken, • das tragische Verhältnis zur eigenen Ver- 
gangenheit, worin der Keim jenes Unterganges zu suchen -war, bot 
das erschütternde Schauspiel, des unentrinnbaren, von innen nach 
aussen wirksamen Verhängnisses. . Es ist bekannt geworden, wie 
sich Goethe vom Anblick dieses Meteors durehschüttert und er- 
hoben fühlte. . . 

>• Dem aufgewühlton Boden entstieg nun .flbf»all die -erhabene 
V-ergangetiheit; man iirusste, .was GrAsse.war i^kd ^diiaiiate ihre 



— u — 



Züp:e in viel fachen (testalten. Ja man hat*<' uresehen, wie sich der 
einzelne» Äusserung, der einzelnen Handlung des Lebens eine 
pompöse und immer unerwartete Grossartiirkeit zntheilen lässt, eine 
gewisse abrupte Monumentalität, sehr verschieden von der tradi- 
tionell-ceremoniösen Grossartigkeit des ancien rej^ime. 

Kin Streben nach solcher Moninnentalität, dies ist das 
Treibende, das Formgebende, sobald Hugos Production, das Bereich 
des bloss Khetorischen verlassend, auf Gestaltung auszugehen 
anfängt. Das frühe Product eines solchen Strebens ist die erste 
Fassung des Romanes „Bug-Jargal", ein Werk des achtzehnten 
Lebensjahres. Hier ist fast jedes Menschliehe, jedes Mögliche unteiw 
drückt: und in einer dünoen gespenstischen Atmosphäre zucken 
die aufs äusserste getriebenen Motive der erhabenen Aufopferung, 
des heroischen Worthaltens hin und wieder; ja es fehlt nicht an 
einem mysteriösen prrossen Hund, in welchem gleichsam die von 
der Erhabenheit des Yorgfinges hypnotisierte stumme Creatur sich 
ausdrückt, sowie an einer schwarzen Fahne, als ein Kequisit des 
dunkelten Schicksais, das doch einen gewissen Pomp der Form 
nicht entbehren kann. 

Steigen wir aber von dieser kindlichen Conception zu einer 
reicheren, reifereu auf, so linden wir in „Notre Dame de Paris" 
als adäquaten Ausdruck des Monumentalen gleich ein Monument 
selbst in den Mittelpunkt des Ganzen gestellt. Denn die Kathedrale 
ist wirklich die Heldin des Werkes; die Erhabenheiten iiirer Arclii- 
tektnr sind gleichsam als versteinerte erhabene Handlungen wirksam; 
sie redet aus ihren Formen und wirkt gewaltig durch ihr Dasein. 
Ja sie hat in der bekannten grotesken Gestalt zugleich ihr Wider- 
spiel, ihren Diener und ihren Liebenden. 

Findet sich aber endlich in einer glücklichen Epoche die 
ganze sonst verstreute Kraft der Phantasie za einem grossen 
Werk znsammw, so sehen wir nHemani" entstehen nnd erkennen 
die schönste V^einigung vielfacher Elemente: hier ist jener 
spanische Ton, in den sich so viel Stolz nnd so viel Farbe 
znsammendrftngen Iftsst, der so Tiel pittoreske Kühnheit und so 
viel Distanz erlaubt; hier ist in der Qestalt Carl VL jene monu- 
mentale Grösso, jenes, mystische Herrscherthum, worin sich die 
Farben der Ferne und der Nfthe vermischen, jene Erhabenheit, 
deren bewusstes Erwachen wir bekuschen und die sieht in arclu- 



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— . 16 — 



tekturaU'ii Phantasii'ii austräumt, die Welt als eiu m}stisehes Bau- 
werk erkennend; liier ist das Ileral.steijj^en der Gegenwart zu den 
erhabenen Gräbern der Vergangenheit: hier ist ein geliLinmisvoller 
Kaiser, Deniüthiger der Könige, und in ihm, als die Signatur 
seines Wesens: eine ungeheuere Hingabe ffir ein ungeheueres Ziel. 

Und diesem gegenüber: (ier edle Kaiilicr, der Unabhängige, 
den ein Wort Iiis zur Veraichtung bindet, Hemani, eine Welt von 
inneren Antithesen, hineingeworfen in eine Welt von äusseren 
Antithesen. 

Und als der Dritte, jener gleich widei-spruchsvuUe Greis, mit 
seiuer Mundervollen Rede vor den Bildern seiner Ahnen, aus der 
der Zauberhauch der Vergangenheit entjregenschlägt. 

Und in die einzige weibliche Gestalt alle Süssigkeit, alle 
Sehnsucht, die in einer Epoche lebt, zusamraengepresst: in ihr 
das Element der Musik, eine Hingebung, die kaum mehr franzö- 
sisch ist: nicht Chimene, nicht Athalie, noch viel weniger Celinn-ne: 
vielmehr TVesdemona, Imogen, ein Hauch von Fremdheit, und in 
ihrer irr(»sseD Scene im V. Act, der ganz ihr gehört, ein unerhörtes 
Kiu Iriugen der Natur ins Drama, eine solche lyrische Tninkenheit, 
dass die Schauder des höchsten Glückes mit denen des Todes 
zusamroenrinneo, und ein etwas, fast wie Musik das Trauerspiel 
auflöst. 

Und dies alles getaucht in eine Atmosphäre voll kühner 
Anachronismen, alles zusammen ein Bild des eigenen Inneren, ein 
Bild des Augenblicks, der innere Gehalt der Kpoehe in Gestalten 
hingeworfen, ein Bild Frankreichs von 1830, das sich im Lichte 
der Poesie zu einem erträumten Weltbild erweitert. 

Fragen wir uns aber, hier, wo wir eine Entw ickehing nicht 
vom Standpunkt dv-r literarischen Kunstgeschichte, sondern zuerst 
vom Standpunkt des Lebens aus betrachten wollen, wessen es noch 
bedurfte, um aus dem Jahre, das ein .solches glückliches und 
charakteristisches Dichterwerk ans Licht brachte, erst wirklich 
Epoche zu machen, um dieses 1830 mit jenem 1650, dem Jahre 
der ersten Aufführung des Cid. mi gleicher Bedeutung zu bringen, 
so mfis.'^en wir uns sagen: es lebte damals, das Dichterwerk anf- 
zunelimen und seine ganze Gewalt auf sich wirken zu lassen, eine 
junge Generation. Dies klingt freilich halb geheimnisvoll oder 
paradox: denn scheinbar ist fortn'ährend und immer gleichmässig 



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— 16 — 



"die Mä^se der Lebenden aiiä reifen lind nnreifen, abgeschlossenen 
lind' fitorebenden im geistigen Leben 

' aber geit^innen Orappen eine grosse Bedeutung, die fQr einen 
' kürzen .Zeitraum 'sich zusammenschliessend, das LebensgeffiU einer 
bestüDOtm^n Lebensstüfe, vor allem das der Jugend mit Deutlichkeit 
und 'Falle aussprechen. Von solchen strömt eine Wftrme in alle 
Lebenekreise Uber; neue Wahrheiten werden mit Leidensehaft 
erfaisst' und alte als neu begrfisst; die verschiedenen Formen und 
Bethfttigutigön des Daseins werden einander wie mit Terjüngten 
Augen als Verwandte gewahr, und für einen Augenblick scheint 
wirklich die Epoche, nicht die Einzelnen, die Wenigen, vom 
Feuer 'dOT Jugend zu glühen. So war die Generation von 1830. 

Es ist im jtiefsten Schicksal des Einzelnen, ob' er bestinmit 
ist, mit den Höhepunkten solcher geistig-geselliger Ph&nomene 
zusammenzutreffen, oder etwa Ihre absinkende Bahn erst zu 
durchkreuzen. 

Hier war es Victor Hugo bestimmt, mit der Falle seiner 
prodiictiten Kraft in die FQlle der Epoche zu treffen; und hier 
konnte sich, von einem ungeheueren Wiederklang umtOnt, in ihm 
die Vör^telluug deir eigenen geistigen Macht übermftssig steigern. 

Er hätte' sich gewöhnt, seine Phantasie auf die Daistellung 
des Gibäsen" hinzutreiben j menschliche, endlich göttliche Grösse 
KU begreifen, zu' TerkOnden, 'dies lernt er schnell, halb unbewnsst 
für seine Pr&rogaüre anseheöa. Nun lebt im' Begreifen das Element 
des Ebdringens, SichTcrsinkens, Nachshmeus; völlig Verstehein ist 
ein theilweises Sichidentificiereh. Aber jeder solche psychische 
Vorgang ist nach beiden Seiten in doppeltem Sinne wirksam: 
der. begreifende Geist formt sich sein Weltbild und hier sehen 
wir den Dichter stets verfahrt, den dauemdw Gestalten, die er 
verherrlicht, ja den erhabenen Ideen, den Emanationen der 
^ Gottheit, die er im Universum aufzeigt, zuviel von den eigensten 
Attributen seines Wesens zuzuweisen, am meisten von jener Be- 
redsamkeit, durch die er sich so gewaltig wirksam fühlt. 

So hinterlässt das glänzende Jahr, welches nach innen und 
aussen Epoche macht, als bleibende Erbsehaft ein mächtig ge- 
schwelltes Bewusstsein: Der Begriff des Dichters von sich selbst 
hat etwas muuuiuentales angenommen; die Grösse zu verherrlichen, 
■das Allgemeine auszusprechen, fühlt er sich berufen. Vaterland 



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T- 1^ — 

,und Menschheit, Gerechtigkeit, Freiheit, Schicksal, Dasein, Gott- 
heit, diese fast grenisenlosen Begriffe, werden in seiner Dichtung 
immer, bedeutender. J>a er in sich al>er die JMtoel^t fühlt, diesen 
UBgeheueren aber ragen Worten durch rhetorische, und bildliche 
Gewalt der Kede zur Lebendigkeit zu verhelfen, ihnen Wirkungs- 
kraft einzohaachea, da er sich gleichsam als der Bildner, als der 
Trftger der gewaltige^ Gefösse fühlt, welche das höchste Sittlich- 
Oeistig:e der Menschheit enthalten, so ergreift ilin Ehrfurcht, vor 
sich sell)st und der Begriff, .des Genius, nicht ganz deutlich von 
dem Begriff der eigeuen inspicierteiii Persönlichkeit gesoQdert, yird 
ihm, nächst Gott, y.um höchsten. 

Von der anderen Seite her ist ihm aber der irdischen Dinge 

.Mühsal und La^t sehr wohl bekannt. Er ist ein Arbeiter, wie 
wenige, die je gelebt haben. Der riesige Reichthum seines Mate- 
rials, die Breite und Tiefe seines Wortschatzes, bedingt eine 
Riesenkraft des Zusammenhaltens. Durch ein chaotisches Finstere 
sich mit Titanenkräften durchzuwühlen, ans widerstrebendem Ma- 
terial Gewaltiges aufzubauen, aufzuthürmen; das Vorschwebende 
mit endloser Anstrenirnn^ festzuhalten und m nnerschdpf liehen 
Ki\mpfen das Feindliche, W iderstrebende, Verworrene abzuwehren: 
solche geistige K&mpfe. sind .da.s eigentliche Medium seines inneren 
Lebens. Sie waren ihm die Quelle, piner schn^ikenlosen Metaphorik, 
die alle Formen,, gewaltige Kraft auszuüben, in sich schliesst; aus 
diesem Grunderlebnis berans, mit dem sein Dasein durch 60 Jahre 
erfüllt war, fühlte er sich jeder schaffenden Kraft verwandt, von 
der titanisch dumpfen . Erdkraft bis hinauf zu jener höchsten 
ordnenden, Gott. 

JB. 1830 bis 1851. 

Das Gebiet der Künste aber ist ein eingeschrftnktes, und in 
breitem Bette fliest die Zeit dahin. Jeder will leben, so mius er 
denn händelfi^ und will er für sein Handeln einen Erfolg absehen, 
und graut es ihm, Kr&fte und Leben unfruchtbar zu yergeuden, 
so muss er schon im geistigen der Epoche sidi orientieren, muss 
schon bestrebt sein^-.einß Cbereinstimmung mil^ seiner Zeit, in sich 
: herzustellen. Deon, iss ,gibt. keine Frage, des. praküschen Lebens, 
..' mUB SfeBlle ;^ie, Boioh so ejn^Busb^ kein j^tSgUches. , nnsebeinbaisB 
.' .WMum uimI Wie, 4^ Handjslns, das nicj^t jmit allem JVagGcheu, 



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— 18 — 



allem Proldcniatisclien der Knoche inilüsHch ziisaniinenliienfje. und 
wer seiner Zeit mit Austaud uud Wahrheit tretrenfibprzusteheu 
verlangt» den treibt es unerbittlich in die Tiefe der Prableme. 

Jene damalige Zeit stand als eine schwankende zwisehen 
schwankenden Epochen. Man wird aus grOsseror Entfernung den 
Zeitraum TOn 1789 bis 1851 in Frankreich als eine einzige Be- 
Tolntion mit Tordringenden und rfiekstrOmenden Momenten er- 
blicken, und jene allgemeinen Begriffe, welche das gesellige Denken 
und das Verhältnis der Menschen zu einander regieren, in einer 
fortwährenden Umformung begriffen. Hier nun wurde die Erschei- 
nung zweier Männer unendlich wbksam, Ton denen der eine Aber 
die einzelnen Denker nnd Strebenden eine geistige Herrschaft ans- 
übte, der andere mit aufregender Gewalt sich der Gemflther 
grosser Massen bemächtigte, beide auf einen nOthigen Zusammen- 
bruch, allgemeinen Umsturz und die Neubegrfindung des Gebäudes 
der Menschheit hindeutend, beide der christlichen geistigen Aus- 
drücke und Sinnbilder sich bedienend zur Andeutung von neuen, 
noch höchst unbestimmten herbdznführenden Zuständen uud Gesell- 
schaftsformen. 

Diese Männer waren der Graf \ou Saint-lSiirnju und der 
Priester La Mennais. 

Saint-Simon war erst am Ende eines abenteuerlichen Lehens 
mit jenen Betrachtungen und Doctrinen hervorgetreten, und nach- 
dem er 1825 verstorben war, wurde sein Name erst allmählich eine 
moralische Macht. Kin bejahendes Temperament war das Medium, 
durch welches er die Welt ansah. Er sah im grossen und seine 
Zuversicht war gross. Er nannte das abgelaufene Jahrhundert ein 
SAflOsendes; das werdende neunzehnte sprach er als ein organi- 
sierendes und hervorbringendes an. Bei weitgespannten Analogien 
sich beruhigend, fasste er seine Lehren unter dem Namen ^Das 
neue Ohristenthum" zusammen. Sucht man unter dem Weitschwei- 
figen nach einem Grundgedanken, so wäre es dieser: ,.l)ar Mensch 
ist der Verbesserung fähig.". Durchaus und ins Breite gehend, 
findet (Vw l iebe, das Vertrauen zum menschlichen Geschlecht Aus- 
druck: die üleichstellung der Frau wird hieraus leicht abgeleitet; 
über alles aber das Genie gestellt, als die Potw des Hebens-, und 
ehrwürdij^eu Meoschlichen, . 



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— 19 - 



Dieses Tage Oanxe, dem so viel nachwiikeiide Gewalt Aber 
eine Generation innewolinen sollte, ist als eine Tendenx aninaehen 
und nicht als eine Weltaas&faaaiing. Es ist weder Politik noch 
Philosophie, sondern Philosophie der Politik. Seine moralisehe 
Macht beruhte darauf, dass es der abstraete Ausdmck f&r diese 
tausendfältig in Realen begründete Tendens war. Fftr diese Tendenz 
wurde damals ein Name geschaffen, dem alles Fremdartige, Unbe- 
friedigende, KOnstliehe eines neugeprägten abetraeten Ausdruckes 
anhaftete: Soeialismus. In dem Klang des Wortes, wo wir es in 
jen«*r Zeit zuerst gebraucht finden, liegt etwas Doctrinftres, etwas 
von gelehrter Ostentation, die es wagt, den realen Mftchten des 
Lebeus, dem Staat, der Kirche, eines ihrer Hirngespinste als eine 
gleichberechtigte Macht xur Seite su stellen. Es liegt etwas ycm 
Id^lpgie darin; ein rager Anklang an die platonischen Gedanken 
über den Staat, an die Kirühe als das Reich Gottes auf Erden. 
Es kehrt in den Schriften jener Tendens kein Ausdruck so olt 
wieder, als ^Organisation**. Man kann sagen, dass dieses Wort 
• damals seine Klangfarbe völlig gewechselt hat. Aus dem Bereich 
der eontemplatiTen Worte trat er in das der actiTen über. Man 
hatte es im Gebrauch gehabt, um sich seiner bei der Betrachtung 
des Gewordenen zu bedienen, bei der Bewunderung der Werke 
Gottes, der Natur, der Pflanze, des Thiores, des Menschen. Nun 
nahm es den Sinn einer mystisch-politischen höchsten Thätigkeit 
an, die auszuüben man sieh selbst zumuthete. Von den Zeitschriften 
der Strebenden hiess die bedeutendste: ^TOrganisateur", Wollte 
man die auf Nächstenliebe gerichteten Tendenzen des Christen- 
thums als die abgethane überwundene Form des eigenen Bestrebens 
bezeichnen, so einigte man sieli in der Formel: la charitii du 
ChristiauisuK u est pas orj^anisable. 

Junge Leute waren zuerst die Tr^firer dieser Ideen; ihnen 
vereinierten sich verlockend in der Phantasie die Mü|j:liclikeilen 
abstracteu Denkens mit den Möglichkeiten schrankenlosen Han- 
delns; es war eine von Doctrinären geleitete Revolution, die 
sich langsam vorbereitete; die allgemeinen Begriffe, die s«» leer 
erscheinen können, sogen sich voll mit allen vagen A^i•lla- 
tioncn und Emotionen eines hei anwachsenden Geschlechtes. I ber 
allen anderen thürmte sich der Begriflt des „Volkes"' auf, so 
vag als aufregend, scheinbar höchst concret, in Wahrheit alle- 



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ao — 



gonfMÜ. Älh Mftcht» • Ebifureht und liebe, deren eine krltisehe 
GfihfQn^' 80: viele andere fiberlieferte Begriffe entblOsst- hatte, sog 
dieser. Begniff an sidi. - Allmihlieli wnrde er zu einer- Metastase 
des Gottesbegriffes. Alle- lebendige Macht Gottes, - die lebendige 
Kraft, liebe einzoflössen nnd Sehreeken zu verbreiten, die- (iQhl- 
bare Allmacht, UneischOpflichkeit, -Unzerstörbarkeit, alles das war 
•an jene: Sludge Macht abelgegangen, die weder hinwegzulengnen, 
noeh an durchschauen^ noch zu begrenzen War: das Volk. 

. Welche Atmosphftre fQr den Rhetor, ffir den Dichter: diese 
Gfthmng :der Begriffe,) diese Möglichkeit, mit Begriffen sogleich 
Gesinnungen hervorzurufen, Krftfte zn entfesseln! Hier bedurfte es 
kaum des Contades ^mit einzefaien der Eingeweihten; die Luft war 
erlöUt mit. diesen vagen Ideen. Und in einer Prosastelle, nicht 
später als 1830, nennt sich Victor Hugo einen „Socialisten**, das 
noch halbwegs mysteriöse neue Wort in seiner ganzen Unbestimmt^ 
heit gebrauchend, dass man es als • den Ausdruck ' einer wissen- 
schaftlichen oder etwa einer dilettantischen Anschauungsweise auf- 
fassen kann, oder als den Ausdruck .einer gewissen Gläubigkeit, 
eines neuen sittlichen Bestrebens, oder als den Ausdruck einer 
individuellen Gesinnung, in der er sich vielleicht einsam und 
original fühlte, während so viele andere den gleichen Weg giengen. 

Erwartung des Umsturzes . und der mystische Hinweis auf 
das Volk, als dio rQuelle, von der alle neue Kraft ausgehen werde, 
diese Grundelemente des Saint-Simonismus, von so vielen Strebenden 
so vielfach ausge»])rochen und ins Breite getrieben, sollte von 
einem einzelnen schicksalvollen Mann bei weitem menschlicher und 
ergreifender, ausgesprochen werden. Die unbestimmte wissenschaft- 
liche Terminologie einer Gruppe, emer Schule, sollte von Lamennais 
in einen pathetisch persönlichen Ton fibertrageu werden, der von 
den Propheten des alten Testamentes, von den Gleichnisreden des 
Evangeliums gefärbt war. und- in welchem, eine starke eifervolle 
isoruige Seele vibrierte; Dieser Priester, zuerst dem heiligen Stuhle 
■ blindlings ergeben, dann vom heiligen ^Stahle fallen gelassen und 
nach der entgegengesetzten Richtung mit Gewalt sieh werfend, er- 
fflUte emDeeennium mit dem Wiederhall. seiner geistigen Kämpfe. 
Es. war die Art -seines Geistes, dass. er vieles vorans zu T«rkennen 
vermochte, was bestimmt ^ War, meh zu vollziehen raber auch i dass 
.er den Begriff allmählichee Umgestaltung nicht-' eifasste and alles 



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iB dffir ForlD der Kattiströphe .ei)»li<skte.:-Bii9s ist mm rädit eigpttitUsfa 
die fioetiaelie Weise^ aidt - dtis tWtttbäd Bu- afiNgeni mid'zDSftBiiii«kt- 
sQdiftngeD. Denn der [poetiseh Tetanlagte - CIttst iivitt ' alles, Tto^ 
scfanldimg und Sfihne, das' Haodfiln und ^seine 'flaseerBltt -Wirkitiig, 
in - den Raum dnes Ifenaehenlebenis drängen, :tiiid waa dätfiber 
hinausgeht, dafOr ist er ^nmpf. • > - > . : 

Wir werden ans nicht wundern, wenn wir * diünsh Neigung 
nnd Schicksal schon- fttther Victor Hngo : diesem 'aiüserordeätliclien 
.Manne angenähert finden. Die nach dem Anblky^ menschlidier Grösse 
begierige Phantasie fand hier Chr^Ksse,- Unabhängigkeit, Unbeugsam- 
keit bis zur Wildheit gesteigert; ein Schicksal dmrehaus in gross- 
artigen Formen; die AnsSbmlg eines geistigen fleroismns. mit den 
gewaltigsten- Wirkungen ; die ganze Epouhe gleicbsain zum Schlacht- 
feld umgestaltet, im- Hintergründe ein gewitterachwangerer Himmel, 
ans dem schon die ersten Blitze zackten. - . . 

So treffen, Ton den' entgegengesetzten Enden de« Horizonts 
ausgehend, die Geister in einem Ponkte zosammen: darin sind lede 
isieh einig, dass, bei schwer erschfltterten Fandamenten , des geistigen 
und sitäfehen Daseins, «n» unbedhigte Ffthrerschaft .dem Genie 
zukomme; dass -das Alte, das Tielfiikch Verkettete, fifestflekelt^^ 
mfihselig Bestehende durehans 'Weichen müsse einem NetteQ,:welchefl 
man mit dem Namen „Gerechtigkeit"*, „Freiheit"*, „Fortschritt**, 
„Menschlichkeit** für genügsam bezeichnet und umschrieben hielt; 
. dass vom Volke alles HeU,: nnd Kraft genug zu den schranken- 
losesten Transformatione!^ ausgehe, und dass das Werkzeug, alles 
solche durchzufuhren, kein anderes sei als das Wort, das begeisterte, 
Irrthümer zerstörende, die Seele mitreissende Wort, das wahre 
Vehikel des Geistes, welchem die Kraft innewohnt, das Gestaltlose 
zu gestalten, das Todte zu beleben und das Zerstreute zu ver* 
eiuigeii. " . - , . • • ' 

Sülehfii ForderuDtieii und IIotTnimg;en der Zeit kann sich ein 
bedeutender SeLriU^teller kaiDi: völli|j: entziehen, ani u^euigsten 
dieser. Vielmehr schien gerade üni iiiti alits uul L ine grosse Rolle 
hinzudrangen. Genie fühlt er in sich, tuiilt sieh (Il-u meisten über- 
legen, den höchsten gleich: dem Aiteu, l'berlieferten steht er mit 

• besonderer Freiheit und Kühnheit gegenüber, da er sich vielfach 
"darin vmenkt hftt, vieles daraus nuehzuschaften. in sich neu auf- 

• zubauen unternommen hat, und so besser als die ^rojise M^nge 



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^ 122 -i- 

iind boMor als laandier tdlzn kühner RefonDator zu wissen meint, 
m» es mit diesen vielTerkänn^n-Mftditen ffir ein Bewandtnis hat 
Dem Volk ferner fühlt er sich sebr geneigt: immer naeh einem 
grossen Gegenstand begierig, findet er hier den Grössten Tor sich, 
gross genug, um alle Kühnheiten der Phantasie zu gestatten, und 
doch TOll Gegenwart, ja ganz erfüllt mit der stärksten Aetnalitftt; 
diese dumpfe, mit allen Schicksalen trftchtige Masse ist noch Natur 
und ist zugleich Inbegriff alles Menschlichen; als Ganzes erscheint 
sie so gross, so unzerstörbar, so flbergewaltig, dass sie den herr- 
lichen kesmischeii Gewalten beigeordnet werden kann, dass sie 
brQderlieh neben der Ehrdkraft, der Kraft des Lichtes, der Grösse 
des uralten Meeres empfunden und erblickt werden kann; Ton 
ihrem mütterlichen Schosse löst sich das einzelne Schicksal ab, 
hier steigt das Genie, der Held empor: so wird das Bild der Welt 
gross, einheitlich, mythisch und der Mythos ist, was die schaffende 
PhantasÜB niemals entbehren kann. 

Des Wortes schliesslich weiss er sich vor allem mftcfatig, ja 
hier spflrt er eine Fülle in sich, die ihm den ersten Platz anweist; 
denn wenn jeder andere Führende und Fortreissende nur einerlei 
Beredsamkeit in sich hat, so ist er sich einer vielföltigen Gewalt 
der Bede bewusst: hat er es doch termocht, Tielen Gestalten in 
Tielfacher Lage des Schicksals die starken Worte in den Mund zu 
legen und macht er doch gar das Unbeseelte redend, verleiht dem 
Thier, dem Wald, dem Meere Macht der Beredsamkeit; wie der 
gewaltige Strom erseheint er sich selber, in den die anderen 
Strebeinden alle, Bftehe und kleinen Flüsse, sieh ergiessen, und in 
ihm erst vogt die aDgesammelte Gewalt zum Ziele. So nimmt er 
einen bewussten, der eigenen Geiätalt bewus&ten Antheil an der 
Bewegung seiner Zeit. 

Denn durchaus iMsst sich aus seinen Äusserungen fühlen, 
dass er in ^eser zwdt^ Epoche seiner geistigen Wirksamkeit 
sich bei allem Thuen der eigenen Person in einer gewissen Stili- 
sienmg bewusst ist, ihr fthnlich wie einer fremden oder einer er- 
fundenen schonen und maditigen Gestalt gegenübersteht, die Folge 
seiner Thaten und Erlebnisse überblickt und von der eigenen be- 
deutenden Erscheinung nicht nur ermuthigt und aufrecht gehalten, 
sondern auch bewegt und geleitet wird, ein gefährliches Phänomen, 
von welchem freilich wohl keine Entwickelung eines Dichters yüllig 



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frei geblieben ist: nm dass hier ein gw besondeies niiheimliebe» 
NebeneiiutDder und m&ncbmal ineinander der handelnden und der 
diuieben schwebenden gespiegelten Gestalt ;8ieh ergab, weU der 
TorzQgHchste Gegenstand seiner diehterisehen Darstellong^ das Walten 
des Genies in einer bewegten Welt, eben. mit dem Inhalt seines 
realen Daseins ihm manchmal TöUig zusammenfloss. Der Zauber 
dieses Nebeneinander Ton Eirlebnis und Produetion^ Realitftt und 
Poesie — diese auch seinem reiferen Dasein treu. bleibende „roman- 
tische'' Atmosphäre — möchte es auch gewesen sein, was diesen 
Geist nach einem kurzen, scheinbaren Streben zum Dramatischen,, 
immer und TöUig wieder in der lyrischen Form festhielt. 

• Je tiefer sich der Geist mit den Problemen des äusseren 
Daseins eingelassen hat« desto stärker betrifft ihn das, was nun- 
wirklich geschieht; denn indem er die Angelegenheiten der Epoche 
zu seinen eigenen gemacht hat, kann er sich auch den bitteren 
Folgen nicht entziehen, wenn er grosse Anl&nfe im nichtigen Ter«* 
laufen sieht, wenn er ericennt, wie unter einem übermächtigen 
Gewirr Ton Worten und unsicheren Begriffen sich das Lebendige, 
allein Anstrebenswerte leise wegstiehlt, wie. nach einigen heftig«i, 
Zuckungen alles Wesentliche beim alten bleibt und nur jener 
Zauberhauch entschwunden ist, der früher das Kommende um- 
witterte. So terliefen jene grossen gewaltsamen Ereignisse von 
1848, in deren Anfängen eiu so starker, so vielfacher Drang sich 
bis an die Steine erhoben hatte* 

Denn ans dem Gewaltsamen, dessen Ziel geistig, nan und : 
▼on Tager Bestimmtheit war, entsprang unmittelbar das neue Ge- 
waltsame, das, nar auf Gegenwirkung ausgehend, ein niedriges 
und deutliches Ziel schnell erreichte. 1848 TCrlief wie ein Fieber- 
traoffl ; in der kurzen Spanne Zeit Tom Februar bis Jnni zerschellteu 
reine Bestrebungen, geistige Welten an dem Druck der Luft wie 
Seifenblasen; 1849, 1850 schienen noch voll Lebens und doch 
war es ein unendliches Absinken Ton dem, was „vorher" vor- 
geschwebt war, als möglich, als sicher erschienen war: da war 
auch schon 1851 da und zerflogen jenes Geistige, siheinbar; 
Herrschende; es herrschte aufs neue ein brutales, ohne innere; 
Kothwt ndigkeit Be.stehendes, ein mühselig Gestückeltes, von der 
uialerit'Uen Wucht des Au{j::eDblicks geslüt/t, von der Vergangenheit 
halbM'ahreü Schein erLprg«ud. : . 



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24: — 



Hier hatte Victor Hogo das grosse Ereignis seines Liabens 
gefunden. - Mit allen Krftlken hatte er an dem Woriie theiigdBOHUneD, 
das ein ümi^es zu werden verheissen hatte: in einem Sinne 
hatte er tonsend Zeiehen gedeutet, nach einer Biebtang sein ganzes 
Wesen znsfimmengefasst, hier wollte er die Sanime seines Lebens' 
riehen. Und hier war er unterlegen und mit ihm unterli^n alle, 
die so dachten wie er, alle, die seine Träume begriffen hatten, 
alle, deren Übereibstiramung ein Deeennium hindurch den reichen 
ZnscmaieBklang einer geistigen Welt gegeben hatte. Wie das 
Meer naeh Mner iSpringflat sank das Volk wiederum surflck. 
Die Fahrer, die gemeint hatten, es Hesse s^h Geist und Gewalt, 
Idee nnd Realit&t Tereinen, die traf Gewalt und Betrug, Tod, 
Gef&ngiiis, Verbannung. 

Ks war wirklich^ eine Welt durch eine andere verdr&ngt 
und das durchaus Entgegengesetarte kam zur Herrsehaft. Es war 
die ToNkommenste Antithese, eine tausendgliederige Antithese, wie 
keine Rednergabe den Aihem h&tle, sie auszumalen; und diese 
war Wirklichkeit und Erlebnis. Und das Erlebnis traf in den 
Reifspunkt des Lebens. Vom secfasundvierzigsten bis gegen das 
neunundTierzigste Lebensjahr hin erstrecken sich diese mit leiden- 
schaftlicher 'Dieilttahme durchlebten Ereignisse, über einen Zeitraum, 
in welchem dieser ^buste' Geist sich gleich weit entfernt von den- 
Fiebern der Jugend wie von der ErmQdnng des Alters fflhlte. 
Was ihn -hier traf, traf ihn in der Ffllle seines Daseins; er konnte 
nicht daran yorbei, wie Jugend sieh' der Wucht des Schicksals 
entaieht, indem sie ins Allgemeine anssdiweift; und er war nicht alt 
genug, es nur betrachtend aofzunehmen und Yielem Erlebten su- 
zurechnen. indem er sich mit der ^nzen Gewalt seines Wesens 
der inneren Gegenwirkung hingab, erhielt er hier die unyerlierbare 
Formung seines Geistes. Hier formte sich für immer sein Welt- 
bild. Was er mit solcher Wucht erlebt hatte, das war ihm der 
Lauf der Welt. Er war tief genug hineingerisseii worden, um mit 
aller der Hefe, deren sein Geist fähig war, itte tragischen Elemente 
des Daseins zu spüren; er war reif genug, um die Zusammenhinge 
20 durchschauen. Sc wurde ihm alles rund; er hatte einen Punkt, 
TOn wo er das Weltbild, wenn nicht eindringlich, doch in grossenr 
Linien zu'- erblicken Yermoehte, so'dass sich alles^^^was sein Auge* 
erkannte, hirieiufflgen Hess. 



Und dass er es in grosse GegenflAtzen erblickte, war Anlage 
und auisgebildete Geisteaform: er sah taii der einen. Seito: aiöhc 
selbst luid Alles Gute, aaC - der - anderen die. -eömpkzen IkOsenl * 
Mftebte, denen er unterlegen war. , 

Nun folgte die lange Zeit des Exils, nahezu zwanzig Jahre,, 
ein grosser Theil des menschlichen Lebens; hingebracht auf eise. 
Insel, umgeben von ruheyollen Felsen« im Angesicht des ewigen 
Meeres, im Bewusstsein eines ' bedeutenden, tragisch erfüllten. 
Schicksals. Dies ist die Zeil eisiiier reifsten und grössten Werke. : 
Wie er von der einsamen Klippe hinOberblickt, der Verbannte/ 
nach den grossen schicksalsrollen Lftndem, so blickt er hinab m: 
die Vergangenheiten der Völker, und erblickt ftberall und tausend-, 
flltig die Gleichnisse des eigenen Erlebnisses; Er trfigt. .sich> 
und seine Geschicke hin^n in die FfiUe der Geschehnisse und sie 
werden ihm lebendig und yeHUessen mit dem Dasein der natfirlichen. 
Mftchte, ndt dem. Meere, den yerwittemden Felsen j den treibenden 
Wolken und den anderen Erhabenheiten, die ein einsames und 
mhiges Leben im Verkehr mit der Natur enthüllt. So entsteht 
jene lyrische Epik, die mit nichts Terglichen werden kann und 
mit der die Daner seines Namens yerknöpft ist» 

Sind wir nun dem. Gange dieses reichen Leben» nach- 
gekommen, durch eine phaafietische Kindheit zuerst, eine glftozende 
und angespannte Jugend, ein tlifttig parteilich bewegtes Mannes- 
alter, bis an die Sehwelle eines majestätischen und fruchtbaren 
Greisenalters, Unmer nur den grossen Linien folgend und bestrebt, 
das auszudrfieken, was zur .geistigen Form dieses sDaseins gehören 
dürfte, dort aber innezuhalten, wo das so gesehfttzte anekdotisch 
Lebendige einzusetzen pflegt, .so ist doch noch von einem. Umstand 
Bechenschaft zu geben, der durch das ganzo: Leben, vom zwanzigsten 
Jahre an, durchgeht, und die Persönlichkeit mit solcher Ent- 
schiedenheit mitbestimmt, wie einer r ihrer unlösbaren elementaren 
Beisätze: Victor Hugo ist, fast .vom. Jünglingsalter an, ?als Gatte 
und Vater im Leben gestanden. Diese menschlichen ßeziehungen, 
auf denen alle übrigen, . als auf ihrem Fundamente, .aufrnhen, 
durchweben sein Bewusstsein immer und ^ immer; me . sind: das 
F«este,,^wa8 ihm iren der iNatnr gegeben war, ,wie< sein<l< Lebens<i 
kxsift, und atune- >Begiibinig. :^Ec bedusflbBs keines i Orients, ,ium 
„Patriarehenltdft zu kosten*^.. Diese Atmosphifife, Tpm'. Idyllischen. 



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26 — 



bii zum Erhabenen wechselnd, nmgab ihn stets ungezwungen. Sie 
war der Quell einer stetigen und niemals trivialen Inspiration. 
Das Subject seiner lyrisehen Erregung war niemals ein ganz 
egoistisches, niemals ganz entblösst von einer wenn auch an- 
ansgesproclunien Generositftt; und dem Hörer sagte ein untrügliches 
Qeffihl, dass hier einer sprach, dem das stärkste Menschliche 
immer gegenwärtig war. Und M^enn sich Goethe einem Vertraaten 
gegenüber nut grossartif^er Ruhe in der berühmten Wendung auf- 
sehliessen durfte; „Meine Sachen können nicht populär werden; 
sie sind nicht für die Masse geschrieben, sondern nur für einzelne 
Mensehen, die etwas Ähnliches wollen und suchen", so gilt fflr 
Victor Hugo fast das gerade Gegeutheil. Der Einzelne wird nur 
das Allgemeinste seines Daseins hier ausgesprochen finden, aber 
die grosse Menge wird sich immer nnd wieder in ihm zusammen* 
finden, der mit wunderroUer Beredsamkeit auszudrücken gewnsst 
hat, was allen gemeinsam ist nnd keinem Töllig fremd bleiben kann. 



II 

Das Weltbild in den Werken. 

Poesie ist Weltgefflhl; es wird in den Werken eines poe- 
tischen Genies immer ein Bild der Welt enthalten sein, freilieh 
aber dürfen wir darin nicht nach philosophisehen oder politischen, 
systematischen Ideen suchen, sondern nur naeb poetischen. Auf 
jene Gewalt der Phantasie kommt es an, vor der keine Amorphie 
bestehen bleibt, der alles lebendig, alles zum Sinnbilde wird, jene 
mythenbildende Gewalt, Ton welcher der platonische Sokrates 
schmerzlich bekennt, dass sie ihm mangle. 

Der Mensch ist es, der auf den Menschen am stärksten wirkt, 
und er nimmt auoh hier die Mitte des Weltbildes ein. Mensch- 
liche Grösse zu verherrlichen, darauf geht Hugos poetischer In- 
stinet schon in den ersten unsicheren Versuchen. Was er als die 
Grundform menschlicher Superiorit&t erkennt, ist dne eigenthfim- 
liehe Vermengung handelnder Genialität mit rhetori^h-pbetischer. 
Das ßlement des Rhetorischen ist in ihm so mächtig« dass er fast 



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— 27 - 



alle gmiidk)66ii Äiudeniiq;«!! der Seele damit ausstattet. In seinen 
Figuren entlädt sieh Überlegenheit der Seele in Überlep^onheit der 
Rede. Seine grössten [»syelmlojrischen C«)ncef)tion(»n sind nicht 
Liebende, nicht eigentlich Handelnde, nicht Märtyrer, sondern 
Redner. Ja anch die gegen den Mensehon wirkenden Naturgewalten 
sind mit der Gewalt der Rede ausgestattet, und sein Begriff von 
Gott ist der: das Wesen, welches das letzte Wort behält. Und 
dies alles abgesehen von den Dramen, in welchen es natürlich ist, 
dass .sich Hie Figuren in Rede und Gegenrede ausleben niMsseii. 

Mau fühlt es, wie das Ich des Dichters zugleich mit seiner 
ganzen Sympathie in jene Gestalten überströmt, aus deren Mund 
sich die crhiiliene, mit Gleichnissen geschmückte, ungeheuere 
Beredsamkeit ergiesst. 

Sie sind seinesgleichen ; war er doch vuu früh an der Wort- 
führer, der Prediger, der Anwalt: ist doch der schönste Theil des 
Buches ,.Les ( 'onteinjjhitious" sein unausgesefzt es Reden mit' Gott; 
das ganze Hucii ^Ulialiments*', seine einzige zornvolle, glühende 
Rede, mit kleinen Einschnitten, Pausen, um Athem zu schöpfen 
oder um <ieii Standort zu w echseln, die Tribüne mit ditv ßarricade, 
die Barricade mit der Insel des Kvils zu \ erlauschen. 

In der Lri^ende des sieclfs lOst ein solcher den auderea ab. 
Weif, üastellan vun (»shor, eine einsame, fast mythische Gestalt, 
liiiii vun der Zinne seines Thurmes herah eine Iluranguo, die sich 
über eine unten lagernde Armee, über den Kaiser, Könige und 
Herzoge entlädt^ wie ein furchtbares Gewitter über einem Kornfelde. 

Ein paar Seiten später tritt Kleiis auf, ein Redner, da- noih 
eine Stufe über Weif steht. Das Gedicht heisst: „Les «jiuitres juurs 
d'Eleiis". Der Kaiser Otto III. hat gelobt, jeden Voriiiiergeheudeu 
anzuhören : 

Deutend re. d'ecouter, lui (Jesar tout-puissant 
Tout ee quo lui dirait uiuijorte quel passant, 
Devant les dunze ruis et hi };iirde romaine, 
Cet honinie |>arlat-i! pendant uue semaine. 
Und nun hebt Klciis au, ein erhabener Greis, und spricht 
durch vier Tage, jeden Tag vom frfdien Morgen bis zum Abend: 
und jeden Abend, wenn er fertig ist, sagt der Kai.ser erstaunt: 
„Schon!" Die.se Rede geht vor sich wie das Aust<dHjn einer nn- 
gttheueren Naturkraft. Die Fülle ist so gross, ein so grenzenloses 

3 



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" 28 — 



Ziistrdmea Ton Atheni und Worten, dass es Eleiis nicht ver- 
schmAbti zwOlfmal dasselbe za sagen, so sieher ist er, es immer 
mit noch st&rkerem Tone, in einer noch gewaltigeren Zusammen- 
stellung der Worte sagen 20 kdnnen. Er spricht gegen die Könige; 
er sagt, dass die grossen und mächtigen KOnige sterben mfissen 
nnd unter der Erde elend Terstauben; and er nimmt zwölf KOnige 
beim Namen her und sagt es von einem jedem, bis die Wucht 
dieses Giessbaches von Worten den Hörer ängstigt; es ist das, 
was er gewollt hat. 

Oder Zim-Zizimi. Der orientalische Despot anf einem Throne, 
an den zehn goldene Sphingen angebracht sind. Zuerst spricht die 
eine Sphinx zu dem Despoten, dann die nftchste^ alle zehn nach- 
einander. Wie sie zu Ende sind, wirkt das Schweigen unheimlidi 
nnd nun redet Zim-Zizimi seinen goldenen Becher an: 
Viens ma coupe, ■ 

Moi, le ponmr, et toi, le Tin, cansons tous denx. 

Und der Becher kanzelt ihn ab. Nachher spricht er die 
goldene Lampe an. Und die Lampe antwortet, ebenso wie der 
Becher, ebenso wie die - Sphingen, mit der Beredsamkeit aller 
Sibyllen nnd Propheten. 

Ein anderes, sehr grossartiges Gedieht ist nichts als ein ge^ 
waltiges Gegeneinanderreden zweier Adler, des freien wilden Adlers 
hoch in den Wolken und des heraldischen, Yon Juwelen strotzenden 
doppelkOpfigen Adlers im kaiserlichen Wappcnschilde. 

Die Strafreden des Cid an seinen wortbrachigen König bilden 
ein Buch für sich. Der grosse Justiciero übt mit dem Munde eine 
fürchterlichere Strafgewalt aus, als mit dem Schwert; auch sein un- 
ermüdlicher Arm w&re nicht imstande, so lauge das Schwert zu 
schwingen. Denn diese Reden sind über dem Niveau menschlicher 
Beredsamkeit, sie sind wie Naturgewalten, Wildbäche, Eruptionen, 
die mit schwindelnder Heftigkeit eine ungeheuere Masse mit sich 
fortreissen. Die Vehemenz des Geistes, welche eine solche Masse 
von Worten vor sieh hertreibt, wärkt an sich schon wie ein grausiges, 
erhabenes Schauspiel. Wir glauben, mitzufühlen, wie ein Wille, 
ein athmendes Wesen sich in die Wucht der Materie einbohrt, 
mit titanischer Energie von innen heraus das Ubergewaltige er- 
schüttert, emportreiht, durch die Masse hindurchkommt, das Un- 
glaubliche Yollbringi. In der That hat sich das oft erneuerte 



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^. 29 — 



Kilolmisgefühl dieser ungeheueren geistigen Anspannung in Victor 
Hugo von innen nach aussen fi:e wandt und ist zu einer grandiosen 
sinnlichen Anscliauiinjr titaniscluT Krnrtküütuugeu geworden. Eine 
davon bildet den Kern des Rmnanes „Les travailleurs de la mer". 
Iiier verrichtet ein einzelner Mensch, nur veisehen mit einer S»\ge 
und eineiu Handbeile, die Arbeit eines hiindertarnii^cii Titanen. 
Er rettet eine Scliifrsniaschine, die nach dem St liiffbrucho hoch 
zwischen Felsklippcn eingeklemmt hängen j;eldielten ist. Die 
schwindelnde lluiie, die Härte des Gesteins, das \uillii.üde Meer, 
der Smnii, der Nebel, alles wirkt ihm entgegen. Die kostbare 
Maschine selbst, die er wegscliatfea will, verzehnlaclit seine 
Mühen: denn sie ist ebenso eniplindlich als von ungeheuerer 
SeliwerfiiUigkeit, und er brauelit nin:h hundertmal mehr Aufwand 
von Geduld und Schlauheit, um sie nicht zu verletzen, als er Vor- 
k(?iirungen braucht, um ihre Masse zu heben. Er vervielfacht sich 
seliger, indem er ein ganzes System von Balken und Hebeln, Kollea 
und Krähnen auflhürmt; uud er siegt. 

Der Titan der „Legende des siccles" lebt im lichtlosen Erd- 
iunern. Die Götter babeu Berge über ihn gethürmt; aber ein Yer- 
langeu, das Licht zu sehen, überkommt ihn, und er wühlt sieh 
durch und bricht aus der jenseitigen Kruste der Erde, die (h'Ui 
Empvrenm zugekehrt ist, mit dem Kopfe hervor. Sein Durch- 
wühlen, die dumpfe Wucht des Willens im Kampf mit der dninpleu 
Wucht der Materie, füllt zweihundert Verse: und indem immer 
neue Wortmasseii an uns lierandrängeu, sieh zu Selilfjnden auf- 
thun, in unsicherem Liebte uns lastend umgeben, wird die Allegorie 
wirklieli zur Matne und lässt uns, ia einem anderen Medium, das 
Dargestellte selber erleben. 

Man wird auch bei solehou Conceptioueu nie au eine bewnsste 
Alleijorie denken dürfen: sondern unwillkürlich strömen die Kräfte 
der Phantasie zur Darstellung dessen zusammen, was starken 
inneren Erlebnissen analog; ist, und machen aus der äusseren Weit 
ein Gleichnis der inneren. 

Wenn man sich erinnert, dass Balzac sein Gefühl ]»eim 
Arbeiten mit dem gleichen Gleichnis ausgedrückt hat: ^leh sjirinue 
in die (^rube hinein, lasse mirh verschütten, und dann seiiaufie ieh mirh 
wieder heraus," so wird man erkennen, dass die Arbeit für diese 
grossen Energien das centrale Erlebnis war, die Arbeit, in welcher 

Z* 



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— 30 — 



sich sehr hetero.ü:ene Elemente uiiteinander versi-limelzen und sehr 
verschiede 11 artifre Formen dem Dasein |?eG;enül »erstellen, eine moralische 
Kinheit bilden. l)enn der Arbeiter l'ilhlt sich als das Atom im 
Zweikampf mit der Lueiidlichkeit, und iViliii sich doeh jeder 
schöpferischen Kraft verwandt, fühlt sich als cm Analogun des 
Schöpfers seiher. Sein Dasein ist eben so sehr mit den sittlichen 
M&chten verkniipft, als mit den elementaren Gewalten, und indem 
er sich seinem Thun ganz hingibt, verschmilzt ihm die änsserste 
Ans}>annnug und heroische Selbstentausserung in eins mit dem 
scliraukenlosen Geniessen der Welt, mit einer Orgie, die kein 
anderer keuut. Dieses dithyrambische Element ist in dem M'erke 
Hugos nicht seltener und nicht minder grossartig ausgedrückt, als 
jenes heroische. Vielleicht am grandiosesten an der Stelle in 
„Notre-dame de Paris", wo geschildert ist, wie Quasimodo die 
Glocken läutet. 

Dem, der wirkt, erschliesst sich die AVeit und er begreift 
das Tiefere; den Dünkel geistiger Anmassung lehnt er ab und steht 
dem Elementaren mit wachsender Ehrfurcht gegenüber. Denn hier 
sieht er Kräfte, die fiber sein Begreifen hinausgehen, die der Zer- 
legung spotten; vor ihnen sich zu demilthigen, befriedigt ihn, denn 
da demüthigt er sich vor einem höheren, das er auch in den Tiefen 
des eigenen Wesens wirksam fühlt. 

In der niedrigeren Oreatur, dem Thier, in der vom Leben 
unberührten Oreatnr, dem Kind, in der Vielheit der Creatur, dem 
Volli:, ruht sich seine Betrachtung ans von allen schmerxlichen 
Empfindungen der eigenen Disharmonie und Unzniftnpflichkeit. 

Die Thiere sind in diesen Werken durchaus als ÖvmlHdti des 
Instinotiven in der Mensclieunatur verstanden: sie sind die „Larve 
des MeiisclioTr: ihre Reffumren sind dumpf. ungcbn)chen, gross- 
artig: sie seilen Gott dort, wu der iMenseh ihn nicht sieht; sie 
wittern das, was über menschliches Begreifen hinau.sgeht; sie 
tragen ein dumpfes sittliches Gesetz in sich und in ihren Augen 
ist die Unendlichkeit. In der That hat der thierischc Blick etwas 
Vages, das ergreifend und schauerlich ist. 

Schon in dem Gedicht: „Ce qne dit la bouche d'ombre'* 
findet sich diese Stelle: 



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— 31 — 

Hommel 

Pendant qae ta te ttens en debois de la loi, 

Copiaot lös dedaüis inquiets ou robustes 

De ces sages qu*on Toit r^Ter dans les vieux bastes 

Et qae tu dis: «Que sais-je?** Amer, froid» m^r^ant, 

Pfostitnant ta bonebe au rire du nöant, 

A trayeis le taillls de Ja nature Enorme 

Fialrant NternttiS de son museau difforme, 

lA dans rombie, k tes pieds, bomme, ton ebien roit Dien. 
Und dies ist ein Gnindgiedanke, der in der „Legende'* oft 
wiederkebrt und auf den eines der postbumen BOcber: „L'Äne" ganz 
aufgebaut ist. 

♦ 

Die wiridicbe Sebildemng des Kindes, kann man sagen, bat 
vor Victor Hugo in der franzOsiseben Literatur niebt existiert. 
Rabelais bringt den kleinen Gargantua, aber das ist kein menseb- 
liebes Kind und bat wenig Ton einem solcben. Der kleine Astyanax, 
bei Radne, ist kaum mit einem Strich angedeutet; es war niebt 
die Art des ancien regime, auf ein Kind als solcbes einzugeben; 
man sab in ibnen Wesen, denen eine gewisse Fftbigkeit zu re- 
präsentieren fast mit dem Gebenlemen eingeflösst werden musste. 
Yielleicbt nur bei Lafontaine finden wir da und dort den flficbtigen 
Umriss eines Kindes, mit etwas Natflrlichkeit, zwiseben einer Katze 
und einem Wiesel. Rousseau bat in imile einen Automaten ge- 
schaffen und kein Kind. Das Werk Victor Hugos aber ist erfüllt 
mit diesen Gestalten von einer Frtsebe, einem Schmelz, der un- 
Tergteichlicb ist Da und dort tauchen sie in den Gedichten auf, 
in jedem der Romane kommen sie vor, in der ^^L^nde", in dem 
schönen Buch „Groupe des idylles" nehmen sie ihren wichtigen, 
erhabenen Platz ein, und endlich existiert ein ganzes Buch nur 
durch sie und fflr sie: »UArt d*Stre grand-pire.** 

Es ist nichts nngescbildert geblieben: ihr Stammeln, ihr 
Lallen, ihr Lftcheln, ihr Stannen, ihr Schweigen, ihr ganzes un- 
erseböpllieb riktbselbaftes Verhältnis zur Welt, zum Dasein, zu der 
Unendlichkeit, aus der sie beizustammen schien und deren Ab- 
glanz sie noch eine Weile umsehwebt. 

Aber das dumpfgewaltige Thier, das grösser gesinnt ist als 
der Mensch, und das schuldlose Kind, dessen Einfalt Gott beschützt, 



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- 32 — 



sind wiederum nur wie Symbole fflr die grGsste der dumpfen 
Mftchte, fflr das Volk. Ja es wfirden sieh, das ganze Werk Victor 
Hugos hindurch, hunderte Von Symbolen finden lassen, die das 
Volk Terherrlieben. Denn da seine Symbole nieht mit dem Ver- 
stand gefunden, sondern ans der Ffille der mit Bildliehkeit ge- 
schwängerten Erregung geboren sind, so fand er, wenn eine grosse 
Saehe seine Phantasie erfQlIte, flberall im Universum verwandte 
Vibrationen, und gab sie mit solcher Kraft wieder, dass der Hörer 
sich mit Entzflcken und Schauder der nngeheneren Ooncordanzen 
des Daseins bewusst wird. Das ist die geheimnisToUe Kraft seiner 
Poesie; denn seine Weltanschauung ist ftnnlieb, Tag und fast 
trivial, wenn man sie abstract formulieren will; aber doch ist sein 
Weltbild grossartig, indem es mit genialem Instinot das geistige 
mit dem Materiellen verknfipit; und niemals durch das Gedank- 
Uehe eiogeengt, trftgt diese Phantasie ans den Erscheinungen der 
ganzen Welt das ihr Oemfisse zusammen und verfthrt da so wie 
die menschliche Lebenskraft selber, die nns dnreh das nnendlicbe 
Gewirr der Widerspräche des Daseins durchleitet, ohne dass wir 
zugrunde gehen. So entzieht sich sein Weltbild völlig der Kritik; 
denn wie bei einem Menschen im Leben, Iftsst sich auch bei der 
Betrachtung dieser Phantasie niemals mit Sicherheit sagen, wie 
tief sie sich, in ihrem * unerschöpflichen metaphorischen Drange, 
mit dem Einzelnen eingelassen hat. Denn sie geniesst im Einzelnen 
immer den Abglanz eines Allgemeineren, im Geistigen ein ver- 
geistigtes Materielles, im Materiellen em versinnlichtes Geistiges. 

Je näher wir das Gewebe dieses riesigen poetischen Lebens- 
werkes betrachten, in desto höheren, desto unbestimmteren Ideen 
glauben wir es erfassen zu müssen. Da scheuen wir nns fast zn 
sagen, es sei die Idee des „Volkes^, welche einen so grossen 
Platz einnimmt und in zahllosen Symbolen ausgedrückt wird. „Buy 
Blas" ist ein solches Symbol, der Diener, den das Schicksal in das 
Gewand eines Granden steckt, der in eine unbekannte Welt sich 
gestellt sieht, um in ihr zu befehlen. Und der Titan ist ein solches 
Symbol, der sich aus seinem untorirdisehen Gefängnis, seiner licht- 
losen Höhle durchwühlt und mit gewaltig dröhnenden Schritten vom 
ienseitigen Abhang der Erde heraufgestiegen kommt und su gewaltig 
sein Haupt über den Band der Erde hebt, dass alle Götter er- 
bleichen. Und der Sat) r, der zu Gast in den OU uip kommt und 



33 — 



Tor den Göttern ein Lied zu singen anfängt und dabei wächst 
und wftebst, zugleich mit der Gewalt seines Liedes anwächst zu 
einem ungeiieueren Wesen, an dessen Hfiften die gewaltigsten 
Ströme der Erde herabrinnen, zwischen dessen Fingern wandernde 
Völker sich verirren, um dessen Lippen die Adler hinkreisen M'ie 
um die Hänge der riesigen Gebirge. Ja, in sulchen Gestalten (irütkt 
sich der erhabene Sehander aus, mit dem der Dichter sich dio 
Möglichkeit ausmalte, es könne die unerniessliche frebnudene Kraft, 
jener dumpfe Inbegriff aller Kräfte, der ihm das Volk war, sich 
erheben, könne seiner bewusst werden, sich aufrichten wie eine 
einzige Kiesengestalt, der der ülynip nicht an die Knie reiclit, und 
könne den erbleichenden llerr.scheni der Welt seineu Namen zu- 
lukü, wie jener Sat)r den schaudernden Göttern zuruft: „Ich bin 
der grosse l*an!" 

Aber dass eiue politische Aspiration seiner Zeit sich bei ihm 
in eine so ungeheuere luvthische Concepliun umsetzt, dariu verrath 
es sicii ja schon, dass seine Phautasie in Welt und Epoche baust, 
wie eiue drühuende Stimme in einem hallenden Gewölbe. Ihm gab 
die Realität verstärkt die Erregung wieder, mit der er sich ihr 
annäherte. So liegt in diesen gigautischen Verherrlichungen 
einer sich enthüllenden Riesenkrali ebensoviel, was von einem 
ausströmt, als was «ich auf aussen bezieht. Mau könnte sagen, 
er hat bei diesen Dithyramben ebensoviel an das Erwachen des 
eigenen Genies gedacht als au das Aufwaeheu des Volkes. Aber 
es wäre nicht richtig, dcun er hat gewiss weder an das eine 
noch an das andere mit scharfer liestimmtheit gedacht, sondern, 
die vage Idee der Kraft, der Kraft, die sich entfesselt, diese in 
ihrer Grösse, Einfachheit und Unbestimmtheit fast in usikal isch- 
thematische Idee lebte in ihm und trieb ihn im Leben jenen Ge- 
dankenkreisen und Erlebnissen, in der Poesie jenen erhabenen 
liiidem und (junce}>tiünen zu, in denen sie sich ausdrücken konnte. 

Indem es diese einfachen vagen Ideen siud, die dem Dichter 
vorschweben, findet er Cbereiustimmung in vielen Erschciuuugeu 
des Lebens, hält sich wenig bei den historischen und politischen 
Scheidungen auf, uud so geräth er in jene scheinbaren Wider- 
sprüche mit sich selber, jene äusseren luconseijuenzen der Ge- 
sinnung, die der Mitwelt so viel zu schallen machen, ihm selber 
erscheinen diese Widersprüche so leicht aufzulösen, diese Wand- 



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— 3* — 



lungen so venceihlich. Denn das ist ihm ja ^^erade vom Geschick 
verliehen, dass er das Gemeinsame in den widerstreitenden Ten^ 
denzen eikennen kann, das Element des I^bens, ohne welches 
keine Gesinnung je bestehen und dauern könnte. Und darauf be- 
ruht aueh seine Wirkung ins Breite; denn im Grunde sind die 
Menschen nicht parteilich, sondern freuen sich der gemeinsamen 
Gefflhie. 

Ein solcher Geist, der fiberall zusammenfasst und simplificiert 
macht die G^nwart flbersichtlieh und die Vergangenheit geniessbar. 
Ihrer beider bedient er sich souverto und Iftsst Qberall das Über- 
einstimmende herrorleuchten. Er treibt alles ins Grosse und die 
nationalen Neigungen und Lieblingsgedanken wird er auszusprechen 
nicht müde. Nun liegt dem französischen Geist nichts so nahe 
als der Begriff der Grösse und alle Relationen, welche i^ch yon 
Begriffe ableiten lassen: wie Überlegenheit und Inferiorität, 
St&rke und Sdtwftche, Kang, Gehör und Usurpation. Diese Relationen 
und die in ihnen enthaltenen Möglichkeiten menschlichep Schicksale 
sind der Angelpunkt des ganzen Werkes Ton Victor Hugo. 

Situationen auszubrüten, in denen der relative Begriff der Sn- 
perioritftt das Grundthema ist, welches in einer neuen und unerwarteten 
Weise behandelt wird, dies ungeßthr ist der grösste Genuss, in 
welchem diese Phantasie sich auslebt. Ähnlieh wie man es als 
den tiefen Grundtrieb von Goethes Phantasie aussprechen kann, 
den Verlauf eines Gesetzmässigen und die Verkettung der Gesetze 
fflbibar zu machen 

V^ictor Hugo hat die Superiorität in allen Formen verherrlicht, 
welche sie annehmen kann: zuerst als dus Anerkuunte, Traditiuu, 
Legitimität, Königthuui, «reoffenbarte Keligion: dann als das 
autokratische Walten des Genies, in der Gestalt des ersten 
Kapoleon, dann in jener va^^en Fii^ur des Volkes, in sieh selber, 
iu der sittlichen Tberlet^enheit des nnbeug;sanieu Verbannten, des 
erhabenen Vertulgteu, in allen Natiirkrüften und wiederum in der 
Einfalt, im Kinde, im stummen Thiere. Er hat alle Formen be- 
griffen und aeeeptiert, in denen sich Selbstbewusstsein äussert, 
so sehr erseheint es ihm als der Gnindtrieb der menselilichi;ii Natur. 
Es ist unersidiopflicli, Slol/^ und Selbstpreffihl auszudrfieken und 
schwellet im Erlinden solcher Situationen, wu tlieses sich iu jähem 
Umschwung des l^chlcksals mit besonderer luleusität äussern kann. 



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— 35 



Der Kern seiner dramatiseheii tSituationeii ist eine solehe Peripetie, 
in veleher der die Oberhand gewinnt, der früher unten war. 
Darauf sind alle seine conps de th^Atre gestellt: in „Emani" das 
ganse Verhältnis Emanis 2um KOnig und zu Silva; im «Ruy Blas" 
das ganze Schicksal des Ray Blas; in den ^Burgraves^ der erste 
Act, wo der Bettler sich als der Kaiser enthilUt und alle ihm zu 
Ffissen fallen. 

Eines der berfibmtesten Gedichte derL^gende heisst „ Suprematie" 
und ist ganz auf die &usserste Zn^itzung dieses Motivs gestellt: 
ein Unbekanntes, Unbegreifliches offenbart sich und demütbigt die 
drei obersten Götter, Indra, Agni und Vajon. 

Ein anderes Gedicht enth&lt einen Dialog der Gestirne, die 
miteinander an Glanz wetteifern und sich ihres Glanzes, ihrer 
Unvergäugliehkeit, ihrer unermesslichen Grösse fiberheben; eines 
fiberbietet das andere in wundervollen Versen, zuletzt aber sagt 
Gott nichts als diesen einen Vers: 

Je n'anrais qu*& souHler et tont serait de Tombre. 

Das Dichterwerk will immer das grosse Ganze des Daseins 
abspiegeln. Aber dem jugendlichen Geist sagt das Einzelne zu; 
Einzelnes ergreift ihn, Einzelnes hebt ihn fiber die Last des 
Daseins hinaos, in Einzelnem seheinen sieh ihm die Ideen zu 
offenbaren. Diesem Eänzelnen stellt er gern das Übrige als das 
Gewöhnliche, das Gemeine, das Feindliche gegenfiber; zur grossen 
Materie des Lebens steht er noch in keinem Verhältnis. Allm&hlich 
aber stellt das Verstftndnis der Zusammenhänge sich ein; man 
erkennt, «n Wesen, ein Ding bedinge das nächste und so ringsum 
in unbegrenzter Wechselwirkung; das Gebiet des Darstellbaren 
erweitert sich, fast ins Grenzenlose, und damit erweitert sich 
auch die Manier der DarsteUung. 

So sind bei Victor Hugo die Werke der ersten lyrischen 
Epoche durchaus auf die Darstellung des Einzelnen gestellt. „Odes et 
ballades^, „Feuilles d'autonine", „Cliantsdu cr^puscule", „Voii int«i- 
rieures" haben ihre vage Einheit nur in den Gesinnungen des Autors, in 
seinen allgemeinen Gefühlen. Das Weltbild ist in ihnen sehr 
wenig präcisiert. Ein unerfahrenes Gemüth könnte sich aus ihnen 
nicht über die Zusaiiiiiieiibiinge des Daseins unterrichten. Die 
Eiuhcitlielikeit doö Buches „Orieutules" ifet grösser; aber sie liegt 



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— 36 — 



durchaus iiu Pittoresken und Ölüistischeii und gehört darum auf 
ein anderes Gebiet. 

Hierauf fulgen die vierzehn Jahre dramatischer Productton, 
etwa 1829 bis 1843, von der Concoption des ^Oronivelh bis zu 
dem definitiven ^lisserfulgder „Burgraves". Schon die Gesc hlosseulieit 
dieser Periode des SchalTens l&sst ein gewisses Kiemeut des Ge- 
waltsamen, der innerlich aasgeflbten Willkür errathen. In der 
That haftet der in den Dramen ausgedrückten AVeltauschanung 
etwas Kilnstliches an. Sie ist einer noch unreifen Erfahrung mit 
einiger Gewaltsamkeit abgerungen; sie ist einem einzigen Begriff 
mit Gewalt unterworfen: dem Begriff des Gegensatzes. Die Antithese, 
dieses Grundelement der französischen Diction und Composition, 
ist hier Eins und Alles der Conceptiou geworden; sie beherrscht 
Inneres und \nsseres, Psychologie und Mechanismus, die dramatische 
Fabel und den dramatischen Vers. 

Es wird in diesen Dramen ausgedrückt, dass der Meusch eiu 
aus Contrasten zusammengesetztes Wesen ist, dessen Schicksal in 
j&hen Antithesen immer das Unei u artetste realisiert; und dass alle 
menschlicheu Hegriffe vom Ablaufe des Lebens die eitelsten und 
nichtigsten sind, weil jeder Begriff seinen Gegensatz und also den 
der Erwartung entgegengesetzten Verlauf ht ibi iruft. Dieses merk- 
würdige, unlieiniliche und conceutrierte Weltbild aber hat selt- 
samerweise keinen Einfluss auf die Figuren dieser Dramen. Sie 
sind sieh, als Menschen genuunuen, in keiner Weise der Gesetze 
des Daseins bewusst, unter welchen sie leben und welche sie selber 
verkörjjern. Und nur diese gesi)enstische Unbewussthelt macht es 
möglich, dass sich ihre Schicksale in der Weise, wie es eben ge- 
schieht, zu tragischen Vorgängen Terknflpfen. Könnte sich einer 
von ihnen jemals umwenden, so müsste er sehen, dass die anderen 
alle nur vorne bemalte Figuren sind und nach der Breite keinen 
Durchschnitt haben; dass es Figuren von Papier sind. £ine einzige 
nach allen Dimensionen reale Gestalt, eine Gestalt wie Hamlet, 
eine Figur wie Goetz, mfisste, wenn sie in eines dieser Dramen 
verwickelt würde, durch ihr blosses Dabeisein die ganze Handlung 
zersprengen. 

Man ahnt, dass hier eine Welt aus der Phantasie des Genies 
und doch nicht aus der Fülle der Wahrheit heraus geschaffen ist, 
eine seltsame Abbreviatur des Weltbildes. Im Gewände des Ban- 



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— 87 — 



ditcn verbirgt sich die Seclu üinos Helden : der (ireis triiirt die 
jligeDdlieh widerstreitenden Gefiilile inderBnist: Hass undi^iehe; 
der Lakai siüht sich von der Königin anji:eltetet : den Solm treibt 
CK, die Mutter zu tödten; in dem Nanen, deui bucklij^en, ver- 
achteten, tückischen Geschöpf wohnt greuzenhxse Yaterliebe, und 
mit seinem prauzen ziisammenfi:erafftea Oelde bezahlt er den Deg:en- 
stoss, der ihm das cimv^e Kind tüdtet; der Verbannte, Geächtete 
erwirl»t das Weib, das den kuui^:, dem Kai.^er versagt blieb: aber 
die Liebesnacht wird zur Nacht des Todes und die Lichter, die 
dem Ilochzeitsfest angezündet waren, beleuchten zwei Leiehen; der 
Mäc-hiij;e ist ohnmächtig; der Karr ist traurig und weise; der 
sterbende Uardiual bringt noch mit einem W orte seiner entfärbten 
Lippen den jungen blühenden Didier um seinen Kopf; die Dirne 
liebt, wie keine zweite zu lieben vermag: Cromwell, der seinem 
Könige das Haupt abschlagen Hess, zittert vor seiner Frau und vor 
den Keden eines Kindes ... so ist diese Welt. 

Dem aber, welcher diese Welt ins i)aseiu gerufen hatte, sollten 
erst zu Ende dieser Epoelie wahrere, einfachere Gesetze des Lebens 
durch ein schmerzlielies Erlebnis aufgehen. Ich raeine das Erlebnis 
von 1843, den Tod seiner innigst geliebten ältesten Tochter. Sie 
ertrank in der Seine, wenige Tage nach ihrer Hochzeit, ihr Manu 
mit ihr. Dieser Tod des geliebten blühenden Wesens, dieser jähe 
und grosse Sehmerz war das erste wirklich grosse Eingreifen 
des Scliicksals in eine bisher nicht anfL'-ewühlte Existeua, und er 
übte auf die Seele des Dichters die lieimlich bildende Gewalt der 
grossen Schmerzen aus. Indem er sich durchaus weh fühlte, em- 
pfand er die Grenzen seiues Wesens; eine etwas gednnsene Vor- 
stellung von sich selbst, die einen übermässigen Kaum in der 
Welt eingenommen hatte, schrumpfte zusammen. Und das Dasein 
selbst gliederte sich ihm: mit dem geliebten jungen I^pben .schien eine 
^\ elt ausgestorben, und doch umgab ihn noch eine Welt. Zwischen 
den beiden gähnte die Gruft, ein unermessliclier Abgrund. So ent- 
steht jenes l»edeuten(ie Huch ,,(Joutemplations", welches die Ge- 
diclite von zwei Jaiirzehnten umfasst und doch von grösserer Ein- 
heitiiclikeit ist, als eines jener früheren, rasch entstandenen. Hier 
ist die Persönlichkeit bei weitem kräftiger ausgesprochen, das Ver- 
hältnis zur Welt ist unvergleichlich weniger vag. Der Schmerz ist 
die wahre Einfüliruiig ins Dasein, und indem er dem Gemüthe die 



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— »8 — 



Zusainmeiihftiige fühlbar maaht, ermöglicht er der scliaiTeDden 
Phantasie die ersten Ans&tze wirklieber Compositiou, dieses Wert 
in seinem lidehsten Sinne verstanden. 

Der Schmers jenes Erlebnisses trieb Hugo in die Politik. Es 
folgt die Epoche, deren geistiger Gehalt oben festznbalten gesucht 
wurde. Und hier spitzt sich schliesslich alles wiedemni zn einem 
schuierzliehea Erlebnisse zu: dem Erlebnisse von 1851. Hier ver- 
wandelte sich das Geistigste in die brutalste Realität. Der Kampf 
der Ideen wurde mit Kanonen ausgefochten. Eine reactionäre 
Weltanschauung hatte die Oberhand gewonnen und mau kam zum 
BeM'usstsein dieser Thatsache, indem mau Gewehrläufe auf sich 
gerichtet fühlte, iudem man seine Freunde iu Blut liefreu sah, 
indem man bei Nacht und Nebel ins Ausland fluchten musste. 
Revolution und Ge^enrevulutidu ist immer die Realisierung von 
Tendenzen. Es ^n]»t kein ^ruusjiineres Erlebnis für den unter- 
liegenden Theil. denn es ist das völlige Znsanmienbrechen der 
inneren und äusseren Welt: aber es gibt zugleich kein befruch- 
tenderes Erlebnis für die Phantasie, eben weil es eine solche Ver- 
knüpfung der äusseren und inneren Welt enthält, eben weil sich 
hier die Realität durcluuis symbolisch verhält, lu solchen Zeiten 
geht dem erregten Geist ein Weltbild von grenzenloser Fülle auf; 
er sieht, dass nichts, was sieh vollzieht, bedeutungslos ist und, trunken 
von Zorn und Leid, schallt er zum erstenniale ein Werk, das alle 
früheren an Conipositiou bei weitem übertrifft. Die „Ohatimeuts" sind 
dieses Werk, dessen Einheitlichkeit ebenso bewundernswert ist, wie 
seine Lebendigkeit. Denn sie sprciheu die ganze Fülle der Emo- 
tionen aus. die ein grosses, die Allgemeinheit, wie den Einzelnen 
treffendes Ereignis hervorruft; sie geben die Fülle der Realitäten, 
aus denen sich das Ereignis zusammensetzt und geben iu hunderten 
von Symbolen, die aus allen (lel)ieten des Lebens herstammen, den 
geistigen Gehalt des Ganzen. Diese acbtunditeuuzig (Jedicdite, die 
gleich zornvollen tobenden Wellen zwischen dem l'roldg Nox und 
dem Epilog Lu.\ einlierfliessen, geben durch ihre Anordnung, durch 
die Rettexe, die sie eins von anderen empfangen, die Suggestion 
einer räumlichen Einheit, einer erhabenen svmbolischen Schau- 
bülme. und man darf hier, bei allem Abstand, an Dante denken. 
Nun hatte der Dichter, aus der W'irkliehkeit heraus, einen grossen 
BegriiT von der Einheiiiichkeit des Daseins gewonnen; Thun und 



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— 80 — 



Leiden hatte er als die Synthese der äusseren und inneren Welt 
erkannt; nud so eine fp'osse Manier der DarstdUinp^ sich ange- 
eignet: die Formen dor u;rüsseii Kunst vergangcuur Zeiten werden 
iluii durchsichtig: diu iiiicher des alten Testamentes, die antiken 
Tragiker, Dante. Es geht ihm auf, wie man dazu gelangen kann, 
die Geschehnisse der Zeiten so lebendig zu erblicken, in ihnen 
den Atheni Gottes ebenso zu spüren, wie er ihn in emeiii Ge- 
schehnisse der eigenen Zeit zu spüren bekommen hatte. Hier 
k(üünien zwei Elemente zuhilfe: der grosso architekturale Zug 
seiner PluinUisie und der Zug seiner Zeit zur Hist4»rie. Denn der 
ßegriir des liisturischen beherrscht die erste liälfto des ueunzekuteu 
Jahrhunderts. 

So entsteht jene Vision einer ungeheueren Mauer, die zu- 
sammengesetzt ist aus den menschlichen Geschlechtern und ihren 
Schicksalen. Und so entsteht das grosso Buch, das zusammen- 
gesetzt ist aus Gedichten eines grussjen Stils, die etwas vom Kjxts 
haben und etwas von der Allegorie, etwas Hymnisches und etwas 
Chronikluit'tes: die Legende der . Jahrhunderte. Diese Knnstforni ist 
einzig; es sind in ihr alle Elemente des grossen Stils amalganiieit, 
die uns überliefert sind: aber sie sind völlig amalganiiert, Es wird 
für einen Augenblick der Ton der Proi»keteu autblitzen oder der 
Ton der chausoüs de geste: Pindar wird von Luerez abgelöst 
werden und dieser in Vergil überfliessen; es ^\inl der innere 
Khvtlmius des Dante anklingen und im nächsten Augenblick von 
jenem spanischen Ton übertönt werden, den auch ('orneille gekannt 
hat. Aber dieses Ganze bewahrt eiae Einheit, durch die es fort- 
leben wird. 

Wer mit grossem, vereinfachendem Blick die weclist'hiden 
Formen des menschlichen Daseins überschaut, und wem dazu das 
Erblicken des Gegensat/es als eine Grundforni seines (ieistes ge- 
gegeben ist, über den wird jene Vorstellungs\s eise eine grosso 
Krat'tgeu innen, welche in dem Vorsjiiel zum Buche Hiob" symbolisch 
ausgedrückt ist: die \'(»rstcihing, dass das gute und das bOse Princip 
eine Art Wette über den N erlaut" der menschliehen Existenz im 
einzelnen und im allp-nuMncn aliicesclilossen halten. Diese dualistisch- 
religiöse \'orstellung erlaul't Victor Hugo, in den gr(jssen (joncejitiouen 
seiner reifen E))oche ülier die Darstellinig der Menschheit noch 
binauszugehen, ohae sich doch völlig ins Vage zu verlierea. Su 



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— 40 - 



waren, die Legende der Jahrhunderte ans Ewige zu knüpfen, noch 
zwei Bücher geplant: „La Fiii de Satan" und „Dieu". Mensch- 
heit, Begren/.tluMt und riiciidlichkeit sullleu iu den gewaltigsten 
Symbokm iiusf::edrückt werden. 

Aber wer vieles schuf und sich oftmals gross fühlte, dem 
wird aueh das eigeue Schatfeu ein gewaltiges, die netrachtiing 
fesselndes Schauspiel. Kr demüthigt sich und erhöht sich, indem 
er die Wirksamkeit seines (Jeistes dem Walten der Naturgewalten 
vergleicht. So entsteht das Buch „Les (piatre vents de Tesprit". 
Die vier ürundfonieu der eigenen Inspiration, die lyrische, die 
satirische, die epische und die dramatische leben sich aus, jede 
ein Buch füllend. 

Noch ist ein letztes Wort auszusprechen diesem reichen 
Greisenalter, das sich selbst ein monumentales Grabmal mit er- 
habenen Statuen setzt, vorbehalten. Die Insphaiion dieses poetischen 
Genius trieb auf Antithe5?e hin, der Verlauf des Lehens spitzt« dies 
.so zu, dass Parteil ii likcit sein wahres Element bleiben musste. 
Iiiiiuer sah er irgentiu») das Schlimme incamiert und irgendwo 
das Gute, und mit mvthenbildender Gewalt, Vergangenheit und 
Gegenwart aufwühlend, setzte er sein iiiromu und sein Paradiso 
nebeneinander, nicht ganz ohne den Einfliiss jenes erhabenen Vor- 
bildes, diiü ich hier andeute, und doch aus einer so ganz anderen 
(leistesverfassung heraus, sehr entfernt von der ehrwürdigen Ge- 
schlossenheit, tiefsinnigen Verkettung des grossen Vorliildes. Indessen 
hatte ein Decennium das andere abgelöst, und den rednerisch 
historisclieu Drang der ersten Hälfte des Jahrhunderts vertrieb 
das naturwissenschaftliclie Streben der zweiten Hälfte. Von diesem 
neuen Licht angeglüht, si»richt ein Werk des Greisenalters den 
Geist tiefen Begreifens und mitleidsvoller Zurechnung aus. 

In ..La }»itie supreme'* ist die Gestalt Ludwig XV., auf die 
an anderen Stelleu mit allegorisieronder Wnclit alle Züge des 
iiuseu gehäuft sind, mit einem Blick angesehen, der alle Verzerrungen 
auflöst und im „Bosen" ein menscliliches S liI ksal sieht. 

Und noch ist eiues ahziiiliuen. Wer die (Josehiehte der 
Menschheit durchwühlt hat, Generationen über Geuerationen thürmt, 
durch die Geschichte hindurch ins Dickicht der Lehrende dringt, 
das (iewühl ihn- l'ntergegangeneu mit dem Blick durchstreift hat 
und die auf die einzelnen Töne eines uueudiich verworrenen Ge- 



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41 — 



rftusches zu horchen bestrebt, war, dessen Phantasie ist bis ^nr 
Ermattung belastet mit der Vielfalt des mensehliehen Denkens 
und Wähnens. Der eingeathmete Dunst dieser Myriaden von ab- 
gestorbenen Gedanken mnss ausgeathmet werden, die Kraft der 
Phantasie muss dieses Chaos einen Äugenbliek zusammenballen, 
um es dann fOr immer tou sich wegstossen zu können. 

Dies ist das Buch „L'Ane". Die Eänkleidung ist ein para- 
bolischer Gedanke, den schon die „U^gende" enthAlt, in dein Stttek: 
„Dieu inrisible au phiiosophe/ Der Prophet, der assyrisch und 
arabisch, persisch und hebr&isch .yersteht, weiss nichts. Er starrt 
in die Nacht hinein und brfltet tlber dem Rftthsel des Daseins. 
Auf einmal, wie er in seinen Gedanken durch den Wald reitet,' 
stuixt sein Esel und steht starr. Die stumme Oreatur hat Gott 
gesehen, den der Prophet zu erblicken sich vergeblieh mfiht. 

In dem Gedicht «rine** tritt an Stelle der vier Sprachen, 
welche der Prophet Tersteht» die ganze Wirrnis des aufgehäuften 
überlieferten Wissens: 

Tous ees textes qni font le silence autour d*eax 
Et d*oii Todeur des ans et des peuples s'exhale . . . 

Ton einem minder bedeutenden aber elgenai-tigen Dichter 
der auf Victor Hugo folgenden Generation ist das Wort gesagt 
und wiederholt worden, seine Eigenart beruht darauf, dass für 
ihn die siehtLare Welt existiere. Diese Eigenschaft, die im Ilin- 
streben der Poesie noch der Seite der Malerei andeutet, besitzt 
aber Hugo vor allen und in einem solchen Grade, dass alle 
nachher Kommenden nicht unabhängig von ihm gedacht wertlen 
können. Die künstlerische Stärke seines Weltbildes ist das Bild 
der siclitbaren Welt. Dies geht soweit, dass ihn fast immer und 
fast überall das Sichtbare iiielir interessiert als das Seelische. 
Ein berühmtes Gedicht „TriBtesse d'Oiympio" enthalt Khii^en übi-r 
die Vergänglichkeit der irdischen Dinge und über das Hinschwiudea 
der Liebe. Diese Klagen werden in einem Park ausgesprochen 
und die Schilderung dieses Parks, der doch nichts als der Rahmen 
des seelischen Vorganges sein soll, ist so herrlich, dass das Gedicht, 
sehr wenig rflhrend, aber unendlich descriptiv wirkt. Der Ideen- 
gehalt der Orientales ist nicht sehr gross. Aber alles Pittoreske 
in diesem Buch ist unvergleichlich und eigentlich besteht das Buch 
aus nichts anderem. Er sieht die Länder, die er nie gesehen bat. 



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— 42 — 



und er sieht sie mit mehr Lebendigkeit vielleicht als Tansende, 
die dort gelebt haben. 

La ville an ddmes d'or la blanche Navarin 
Sur la eoUine assise entre lee tdrSbinthes. 
Und Korinth mit seinem steilen Vorge))irge und die Inseln 
mit ihren leuchtenden Klippen, und den Hflgel von Sparta, und 
den Teich Ton Arta, nnd die seltsam geformten Fahrzeuge, die 
sich auf den Wellen schaukeln, und die Pferde mit wilden 
Mähnen, mit den farbigen Sfttteln, an denen die grossen scharf- 
kantigen Steigbügel herabhängen, 

et le Klephte h roeil noir, au long fnsil scü]|ite, 
er sieht sie, sieht alles, sieht den grossen Orient und jenen anderen 
Orient, das maurische Spanien ... 

Qnand la lune k trayers les mille aiceaux arabes 
Sfeme les mnrs de tr^es blaues . . . 
So sieht er, in anderen Bflchem, die Stadt des Mittelalters, 
den Dom, den Thurm, die Burg, sieht dies alles so, dass man 
sagen kann, er lebt darin, lebt in diesen arehitektnralen Oon« 
ceptionen stftrker als in seinen menschlichen Gestalten, empfindet 
ihr stummes Dastehen, ihre Mftchtigkeit, ihre eoneentrierte, gleichsam 
in ein einziges nie auszuspreehmdes Wort zusammesgepresste 
AnsdrucksfiUiigkeit, ihre Schatten nnd Lichter, ihr Wuchten und 
Emporstreben, ihre Melancholie und ihrai Stolz besser als die 
* Regungen der menschliehen Seele. 

Und so sieht er seine Mensehen, sieht sie ror allem, beror 
er sie fühlt. Er empfangt durchs Auge suggestive Vermuthungen 
Ober ihr Inneres. Eine erhabene Gestalt tritt bei ihm unnach- 
ahmlich auf: 

Comme sort de la brume 
Un severe sapin, vieilli par TAppenzell 
A rhouro üü le malio, au souffle nniversel 
Passe, des bois profonds balayant la lisiere, 
Le preux ouvre son casque, et hors de la visiere 
Sa longue barbe blanche et tranquille apparait. 
Und die Schilderung ihres Thuns und Lassens, alles was 
naclikommt, viMiiinii: \)ft nicht den Eindruck einer solchen ersten 
Vision /AI erliüheii, in welcher das Pittoreske durch seine Intensität 
symbolisch wirkt. 



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— 48 ^ 



Die EntWickelung der dichterischen Form bei Hugo. 

Stil und Ausdruclc. 

Dem Deutsehen ist es geläufig, eine bis zar Haltlosigkeit 
getriebene Freiheit des poetischen Stiles sich gefallen zn lassen. 
Ihm tritt bei Betrachtung der französischen Dichtkunst m allem 
der Begriff einer strengen Continuit&t entgegen. Dem fhinzödschisn 
Autor YOn Bedeutung sind die grossen Vorgänger, die er in semer 
poetischen Oattung besitzt, gleich lebendig, ob sie der eben hiur 
geschwundenen Generation oder einem weit abliegenden Jahr- 
hundert angehören. Man kann sagen, dass eine glflekliche und 
prägnante Wendung, ein mnstergiltiger Vers in dieser durch- 
gearbeiteten Sprache sieh fiar immer wirksam und lebendig erh&lt 
nnd dem, der ihn geschaffen, ein in Ewigkeit nicht verfallendes 
Anrecht anf eine gewisse Betrachtung sichert. Daher vollziehen 
sich dort alle Bevolntlonen des poetischen Stiles unter heftigem 
Widerstand und allgemeiner Aufinaerksamkeit, wovon bei uns nichts 
zu bemerken ist. 

Unter den gewaltigen Umwälzungen, welche die Zeit von 
1789 bis 1815 erfüllten und weder eine der öffentlichen Formen, 
noch die intimen Lebensformen unberührt Hessen, war die literarische 
Form das einzige, was sich un verletzt erhalten hatte, sowohl in 
Bezug auf die Strenfre des Versbaues als auf die Sonderung der 
Wörter in solche, die zum Gebrauch der gehobenen poetischen 
Diction geeignet schicneu, und solche, die hievon auszusehliessen 
waren. Man \vird die Vor- und Nui litheile dieser traditionellen 
Strenge mit einem Blick überschauen: das grosse Talent wurde 
freilich herabgedrückt und in der Kühnheit seiner Krjxicssun,ü:eii 
gehemmt, die kleinen Talente aber, deren Productiun immer die 
Masse ausmacht, konnten jrar nicht unter eine ^^e w isse anständi<re 
Gleichmässigkeit und Getrat;enht'it des Tones hinabsinken. Für 
dies alles hatte sich im Puhlicum eine äusserste reint'üliligkeit 
festgesetzt und von Generation zu Geucratiuu urlialtcu, und auch 
dieser Siun überdauerte die aufgeregten Zeiten. In den ersten 
Decennien des neuen Jahrhunderts war er ungeschwächt wirksam. 
Bei der Aufführung des „Cid"' von Lebruu erregte das Wort 

4 



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— 44 — 



€hanO>ro ein niisstalliges Geiiiuruiel. ,J»tello", in eiuer Cbersetzuu.c^ 
von Allrs'd Vi'jTiv, liel wepon des Wortes moiichoir, desseu 
Erwähnung' in der Iragüdie als uoerträ^2;liLdi berührte. 

Solchen Gesinnungen, so festgewurzelt und verbreitet, stellt 
sich nicht ein Einzelner mit Erfolg entgegen: aber einer ganzen 
Generation, die sich reich an iunereni Erlebnis, vielfältig im Er- 
fassen des Weltbildes und beengt in ihren Au-sdrueksuiitteln fühlt, 
sind diese künstlieben Schranken endlich keine Schranken mehr, 
liier kommt der EinÜuss auswärtiger Literaturen zur Geltung: die 
Jugend erfasst das Fremde mit Sehnsucht und Leidenschaft, und 
von fragmentarischen Andeutungen, trübe äbenoittelt, kann dennoch 
eine ungeheure W irkung ausgehen. 

Die stärkste Verniittelnng geschah durch das Buch „deTAlle- 
mf^e''. Von einer bedeutenden Frau zu politischen Zwecken ge- 
schrieben, in hewusster Analogie zu jener gleichnamigen Flug- 
schrift des Tacitus, bat dieses merkwürdige Buch noch mehr und 
anhaltender im literarischen Sinne gewirkt als im politischen und 
moralischen. Indem es die Einheit von Charakter und Genie mit 
Entschiedenheit hervorhob, drängte es alle „formalen*' Probleme in 
den Hintergrund und Hess die Gesichtspunkte des guten Gescbmackes 
als klein und ])edanti.sch erscheuien. Es that einen grossen Horizont 
auf: das Erhabene, das Vage, das Leidenschaftlich-Schrankenlose 
ist hier in einer anderen Beleuchtung gesehen, als die traditionelle 
französische. Die Schwäche der nationalen Diction, des nationalen 
Verses wird mit klaren Worten ausgesproehen: „Le despotisme 
des alexandrins force souvent ä ne point mettre en yefs ce qui 
serait pourtant de la veritable po^e: cette forme dt vers appelle 
sin^^ences et les antith^ses, qui ne presentent Jamals les id^es 
ui les images daus leur parfaite sincerite, ni dans leurs plus 
ezactes nuances**. Indem mit X ichdruck auf die reichere Sensibi- 
lität, die grössere Phantasie der Deutschen hingewiesen wird, 
kommen von selbst die Nachtlieile eines beengten Vocabulars wax 
Sprache. Es. wird geklagt: „Wie konnten wir es Tersuehen, ein 
Gedicht yon dem geistigen Reichthnm, der bunten Fülle der 
, Glocke" zu fibersetzen, da wir uns . vom Gemeinen unablässig 
beängstigt fühlen! . . .'^ 

Sollte aber eine völlige £eTolution des. poeti^faen Sprach- 
gebranehes zustande kompien, so musste eine grosse Steigerong 



^ed by CjOOQie 



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des SelbfitgdflQhles in den poetisch Sdhaffeüden VoTäBSgidh^; denn 
nur wer sicli alles Grossen roll fflhlt, wagt es, sieh über ererlrte 
Traditionen hinwegzusetzen. Nnn war in der 'Tbat der Bögriifder 
diehterisßhen Persönlichkeit nnd ihrer Bedeutung, der sich in den 
leisten Perioden jenes' „auflösendön'' XVin. Jahrhunderts wirklich 
fast völlig aufgelöst hatte, indem seine eigen^eh kflnstlerischen 
Elemente sich zu der trockenen Glitte und Geringfflgigkeit eines 
Delille niederschlugen, seine Geistes^ und Lebenselemente sich aber 
in Philosophie nnd praktisch-politische Specnlation umsetzten, 
dieser synthetische Begriff „DichteigrOsse** war wieder lebendig 
nnd machtroU geworden; nnd hier sehen wir uns au& neue zn 
jenen beiden grossen Namen Oh&teaubriand und Lamartine zurück- 
geführt. Chateaubriand, yoJl des Gefühles der eigenen bedeutenden 
Persönlichkeit und einer grossartigen Manier der Darstellung in 
jedem Augenblicke sicher, scheute nicht davor zurück, auch ein 
solches Element in den Kreis der Poesie zu ziehen, welches bis^ 
her, als die Wurzel des geistigen Lebens nnd der Angelpunkt der 
Weltanschauung selbstverständlich betrachtet, von jeder Art der 
poetischen Darstellung durchaus ausgeschlossen war: das Element 
des christlichen Glaubens. Indem er zwei der grössten Erschei- 
nungen vergangener Epochen instinctmässig für seinesgleichen im 
Range erkannte, Bossuet nnd Voltaire, trieb ihn sem Genie, mit 
dem einen zn rivalisieren und den andern zu vernichten. Und hatte 
die „Art podtiqne* des Boilean die Religion als Stoff ausgeschlossen, 

de la foi d'un chr^tien les terribles mystäres 
der labilen Darstellung durch 'den Poeten entziehend^ so sehen 
wir Gh&teaubriand gerade diesen Complex seelischer Erlebnisse 
mit instinetiver Begierde nach dem grössten, lebendigsten Stoffe in 
den Mittelpunkt seiner Werke stellen. Hierdurch erfolgte eine un- 
geheuere Lockerung, ein ungeheueres Entschleiern von inneren 
Abgründen, eine ungeheuere Befruchtung der Phantasie. Dieser 
Stoff hieog durch seine Wurzeifasem mit allen, völlig mit allen 
Theilen nnd Theilchen des Seelenlebens zusammen; hier gewann 
in einer neuen helldunklen Beleuchtung alles Seelische ein neues 
Ansehen und die früheren starren Bogriffe von Bedeutend und 
Niedrig, Würdig und Gemein, konnten sich nicht lange aufrecht 
erhalten. Analogisch wirkte dieses Thema auf alle Betraehtimg 
des Seelischen, überallhin aufwühlend, verwirrend nnd bereichernd. 

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- 40 — 



Daüoben trat Lamartine und brachte eine andere Bereicherung 
der Scala des f'mp Hudens: er drückte Regungen aus, die wegen 
ihrer Weichheit, ihrer Unbestimmtheit bisher für die Poesie sozu- 
sagen nicht existiert hatten. Die verfliessenden Stimmungen sanfter 
Resignation, träumerischer Befriedigung, vager Melancholie wurden 
nun reichlich empfunden, seit sie so glücklich ausgedrückt waren, 
und theilten sich der ganzen Generation mit. 

Unter diesem doppelten Einiluss entwickelte sieh derGenins 
Victor Hugos. Es war sein eingestandener Ehrgeiz, den einen 
dieser grossen Dichter zu erreichen, es dem andern gleichzuthnn. 
So mnsste er zuerst Von seinem Genius das verlangen, was sie 
besassen; Ton selber und nngemfen stellte sich, mit reifender Krait, 
das ein, was ihn von ihnen unterschied. 

Aber das war das Erste, das das Ziel eines wortlosen inneren 
Nachstrebens, Auempiiudeiis ; den grossen Ton des Einen mit der 
W eichheit des Anderen zu verbinden. Nun ist aber dies das Be- 
sondere des gro.ssen Talentes: dass es immer neue, scheiubar 
widerstreitende Elemente der Bildung; in bich iinf/unehmen und 
(las vielfältig Unverwandte zu einer glänzenden Einheit zu ver- 
schmelzen vermag. Zu jenen jugendlichen Aspirationen, deren Geist 
im allgemeinen ein ein istlieber, einigermassen germanischer zu 
nennen ist, liudel sieh {tlotzlicli ein unerwartetes Vorbild hierzu, 
dessen Form und Gesinnung; völlig lateinisch, ja antik und heidnisch 
ist. Im Jahre 1819 war, so unerwartet als aufsehenerregend, das 
glänzende Dichterwerk des Amlrt'- ( lu-nier au den Tag gekommen, 
dessen Name bisher nur (liircii wenige bei seinen Eebzeiten ver- 
öti'entliehtr (iedielite nnd durch die Thatsache seines frühen und 
gewaltsamen Todes eine gewisse Publicität besass. Und nun, ein 
Menseliemilter nai-h seinem Tode, irelans^'ten diese Eleiz:ien nnd 
'IIvnuK'n, diese HnielistiU'ke nml l'lierbleilisi'l in die Iljiude eines 
gi'wisscnhal'teu Ileraust^ebcrs, luul (li'aiiiien so^lcii-h in die üffent- 
lielikt'it, mit ihrem wahrhaft antikiseluMi (üanz uud ihrer unver- 
welklich l»Iumenhat"ten Anmiith, als An- Hinterlassenschaft eiues 
auf der (iiiiliotiiie in hlnliender .Tunfiid Ilinirestorbenen, doppelt 
geisierhat't ergreil'eml. Hier war eine volistamliLn-. eitrentbrimliehe 
und verführerische A'ision der Antike: in einem ^piei;ei die Weit 
des Homer, des Uesiod und des Moschos aufgclungeu. 



^ed by CjOOQie 



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Was man hier in den Hftnden hielt, war so sehr, so durehaus 
Poesie, wie lange nichts, was die französische Sprache hervor* 
gebracht hatte; hier lebte nndgl&nste in jedem Vers jenes OoXipöv^ 
jenes blumenhafte frische Wesen, die „novitas florida*^ des Lncrez, 
Hier war die ftusserste Kflnstliehkeit mit einer tiefen Henliehkeit 
vereint; alles aus sveiter Hand und doch alles von einer thau- 
frischen Lebendigkeit. War man ganz unter dem Zauber des 
Grossen, des Vagen, des Sehnsüchtig-Grenzenlosen, der finsteren 
Erhabenheit, des düsteren Pnmkes gestanden, so gieng von diesen 
Gedichten die nicht minder intensive Fascination der vollkommenen 
Klarheit, der süssen freudigen Vollkommenheit, der zauberhaft 
geschlossenen antiken Welt aus. Victor Hugo fühlte sich stark 
genug, dieses neuen Zaubers sich zu bemächtigen, ohne auf jenes 
andere Element zu verzichten. Aber man wird den Einlluss, den 
Gh6nier auf ihn geübt hat, kaum je zu hoch anschlagen können. 
Denn er empfieng von ihm das liebliche antike Weltbild als Aus- 
druck der idyllischen und elegischen Stimmung; er empfieng von 
ihm ein lebendiges sinnlich-geistiges Verhältnis zur Mythologie, 
ein tiefes natursymbolisches Verstehen dieser erstarrten poetischen 
Gebilde; und nicht zuletzt die Fülle und Anmuth des Verses, die 
mit den glücklichsten Bildungen Vergils wetteifernd, zugleich dem 
.Ohr ein Rhyl^inisch-Ganzes, dem Auge ein gedrängtes Bild und 
dem Geist die Mittheilung eines bedeutenden und schönen Vor- 
ganges bietet. Überall dort, wo Victor Hugo Reichthum und Ge- 
lassenheit, symbolische Kraft mit erhabener Einfachheit vereinigt, 
immer in jener unvergleichlichen Kunstform der heroischen Idylle, 
mit der er einmal, in „Booz endormi**, den Höhepunkt seiner ganzen 
Prodnction erreicht hat, schwingt etwas mit von dem Geis Ohlers. 
Der Kreis, den die Inspiration Ghiteaubriands und die Inspiration 
Ch^niers umspannen soll, ist nicht klein, aber hier bereitete sich 
eine Synthese vor, die dem Ausdruck jeder menschlichen Regung 
gewachsen sein sollte. So war noch ein Ton aufzunehmen, männ- 
lich, stolz, durchaus französisch, französich mit einem Anhauch 
spanischen Geistes: der Ton des grossen Corneille. In der Vor- 
rede zu „Cromwell" findet sich diese Erinnerung an Corneille, die 
alles zusammenfasst, was über ihn hier auszusprechen ist: „C*est 
.apr^ avoir et4 rompu d^ son premier jet, que ce genie tout 
moderne, tout nourri du Moyen-ige et de PEspague, force de 



— 48 — 



inentir h lin-niHiiie et de se jeter dans ranti'fuit«' uuus donna eette 
l\ome casliliaue ..." 1q einem solchen Smne (^onieille zu lesen, 
au dem llüchmuth seiner Gesinnung, dem Stolz seiner Diction sieh 
zu berauschen, sein feodales. sein s]iaiiisches Element ihm naeh- 
zufühleu, ffleichsam seine perstitlirlu^ Fiber unter der Hülle elassi- 
cierender Form emporzuwühlen, dieü heisst sich in ihn einleben, 
und wo die geniale Kraft der Assimilation vorhanden ist, lieisst 
es jenes Tones sich lieinaehtigen und ihn fortan zu besitzen. Denn 
so eignen sieh die Geister einer produetiven Epoche alles an, was 
ihnen aus früheren Zeiten lebendig erseheint. Sie sind ohne Gelehr- 
samkeit; aber eine heftige liegierde, zu erobern, die Kunst in sieh 
zu bereichern, treibt sie in jede Richtung. Sainte-Beuve hat es 
für die Generalion von 1827 schon ausgesprochen: „Chaeun alors 
prenait l'initiation oü il le pouvait; ou saisissait uu point et Von 
devinait le reste. — Surtout dans l'ordre lyrique, les demi^res 
sources trop frequentees du XVIII"° sihcle etaieni taries et ^puisees; 
le style etait entrave et gene: l'etendre, enrichir la palette, ajouter 
quelques notes aux accents counus, voilä . . ."^ 

Und dies ist eine der Goticordanzen, an -^elohen, irie oben 
angedeutet wurde, eins produetive Epoehe Teich ist: es brachten 
die einen das ans Licht, was die andern brauchten. Wollte man 
Aber Oomeille hinaus, seinen Ton zu bereichem, wollte man „nne 
fibre h^roique et m&le un peu com^lienne k TaTanee'*, und dazn 
eine anhaltende Erhabenheit des Tones, eine majest&tische Fülle, 
eine gewaltige Breite des Vortrages, so gab es wohl eine ver- 
schollene, einst hochberühmte Dichterkraft, die alles dieses dar- 
zubieten vermochte. Und gerade diesen Halbversehoilenen brachte 
Sainte-Beuve mitten in jenen an Inspiration und Leben reichen 
Jahren mit Glanz an den * Tag - nnd bereicherte mit einer Antho- 
logie aus den Werken des Ronsard den geistigen Besitz der 
Epoehe, Stil- und Spraehgefühl mächtig belebend (1828). Die 
Diction Victor Hugos tr&gt hie und da in ihrem Gefüge den 
Ronsard*schen Charakter, hier und da aber auch an ihrer Ober- 
fl&che, in einer einzelnen Kühnheit, die wie ein Glanzlieht auf- 
gesetzt ist Hiezu rechne ich den reichliehen Gebrauch des sub^ 
stantivierten Th&tigkeitswortes, eine Fomposit&t, die Ronsard so 
eigen ist: 



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Je .siti« le regardeur iolini. 
■ . ^ .(Lügende, kSaprcmatie.) 

Ce cher$heur d'ayentares sublimes. 

(Ibidem. Erirodniis.) 

Ferner aber jene besondere und wirksame Kühnheit des Ge- 
brauches, cinnial den Eit^eniuimen als Gattungsnamen zu setzen, 
wudureh ein eigentliünilich legeiidi'irer übergrosser Zu^ in die Dar- 
stelhmt^ kommt, ein näehstesmal den (Tattunji:snamen oder das 
abstiaete Substantiv mit jäher l'ersouilicatiou gleichsam als einen 
EigeiiiiiiiuLU hinzusetzen : 

N est il pas l'heritier deOesar? le Philippe 

Doul l ouibre immense va des Gange au Pausilippc . . . 

(Legende, Kose de Tlüfante.) 

oder mit noch kühnerer Verwendung: 
Oompl^te ta grandeur par de la Sib6ne. 

(Lea quatre Tents de TEsprit.) 

und anderseits: 

Et tes denx boueliers? J^i mcprls et dMai*».^ 

(Ibidem.) 

Auch wird man den Einfluss von Ronsard nicht verkennen, 
wenn luuu bei Hugo einen sehr starken Gebrauch des substanti- 
vierten xVdjectivs wahrnimmt. 

Quand de VinaccessibU il fait Vimxpugnahle. 

{\^ petit roi de Gaüce.) 

Les Celestes n'ont rien de plus que ies funebres. 

(Le Orapaud.) 

Le stupide attendri sur Vaffreuae se pencbant. 

(Ibidem.) 

Noch mehr aber schmeckt die Wortzusammensetzung nach 
jener heiDisehcn Diction des Ronsard, welche der gedrungenen 
If'ülle der Griechen nachstrebte: 

L'itmnmc'dUvre ebloui regarda ses pieds nus. 

(Le iSatjre.) 

Briy l*kimme'S^ßiilere, o Fiaace, ressQscite. 

(Les Ob&timents.) 



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ün euteud dons les pins que 1 uge use et mutile 
Lutter le rocher-kydi c et le iorrent-reptile. 

(Le petit roi de Galice.) 

Beziehen sich ftUe diese Eänflfisse im grossen und ganzen 
auf die Strnctur der poetischen Rede, so ist nicht minder eioes 
Pementes zu gedenken, welches mit jener Epoche eigentlich zum 
erstenmal Oberhaupt in die Poesie eintritt nnd vielleicht das Aus- 
zeichnende des XIX. Jahrhunderts bildet: die Farbe. Hier nun 
liegt fast nichts in der Tradition, wovon sich Besitz ergreifen 
liesse; aber die Epoche selber war erfüllt von dieser Fascinnation 
und so drang es denn gewaltig in die Poesie. Was ytelfach empor- 
quillt und andringt, ist schwer an einzelne Namen zu knapfen. 
Immerhin werden zwei vor allem zu nennen sein: Walter Scott» 
der die mittlere und halbvergangene Zeit zum grenzenlosen Be- 
hagen, ja zum tiefen Entzücken ganzer Generationen als ein Ganzes, 
mit ihrem Thun und Lassen, ihrer Tracht und ihrer Baukunst her- 
Torzürufcn wusste, und abermals Andr^ Ohenier, dessen gl&nzend- 
liebliches und so abgeschlossenes Gemftlde der antiken Welt einen 
ähnliehen und etwa noch' intensiveren Zauber ausflbte, freilich nicht 
so ins Breite, sondern auf die Einzelnen, am meisten auf die Dichter 
und ihre Nahestehenden. Des Namens Byron blosse Erw&hnung 
wird genügen, um zurückzurufen, wie gewaltig dieser grosse Dichter 
im gleichen Sinne wirksam war : die uugeheuere Sonnen- und Farben- 
welt des Orients in romanntischen Perspectiven aufznschliessen. 

Hier müssen wir Ton einein deutlichen Hinstrebeii der Poesie 
naeb dem Oeltiete der bildenden KiLpste sprechen, einer bedeutenden 
Einwirkun;^ des Auges auf die Ausbildung der i'hautiisie. l ud dieses 
neuartige fulgenreiehe Streben werden \\ ir keiner Nation stärker 
zurechnen dürl'eii als der tVanzusischen, wie denn iiberliau})t vuni 
siebzelinteu Jalirliundert an bis auf unsere Zeit den Franzosen in 
der Pflege jener Künste ganz allein eine wahrhafte Continnität be- 
sehieden war, wovon auch allein ein wirklicher Einfliiss auf den 
Geschmack und die (Toistcsriehtung der breiteren Menirf ausgehen 
kann: denn das Vereinzelte bleibt immer ohne Wirkung auf die 
Masse, es möge noch so bedeutend sein und auf einzelne noeli 
so tief wirken. Es ist das Verhältnis des frauzosisehen Volkes 
zu den Producten der bildenden Künste, vor allem aber zur Archi- 



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61 — 



tektur, ein glüeklicheres und lebhafteres; was die Malerei hervor- 
bringt, existiert für mehrere, und der Sinn ded Sehens ist nicht so 
gar wenigen verlieben. 

So musste, in einer Epoche, die alles aufwühlte und jedes 
neuartige Andersstreben begünstigte, auch das pittoreske Element 
des Daseins mit Gewalt in die Poesie Hugo's eindringen: ihm be- 
deuteten diese Künste viel ; das Alte in ihnen war ihm lieb und 
das Neue nicbt verschlossen, ^Vüh für ihn der Zauber der ver- 
gangenen Zeiten ausmachte, war hauptsächlich das, was sich durchs 
Auge überliefert: die Bauwerke, die Bildwerke erschlossen ihm das 
Mittelalter und die späteren Jahrhunderte. Franz I. und sein Hof, 
das waren ihm vor allem Menseben, die Tizian gemalt hat; die 
spanischen Habsburger, das waren ihm vor allem die unendlich 
suggestiven Gesichter von den Velasquezbildem; das Mittelalter, 
das waren ihm die Thürnie mit den Spitzbogen, die Portale mit 
den tausenden von mystischen und grotesken Gestalten, die dicken 
Mauern, die Yerliesse, die Erkerstuben: von hier gieng er aus und 
errieth von hier aus mit synthetischer Kraft Geist und Gemüth einer 
Epoche. Die Malerei seiner eigenen Zeit aber war bedeutend genug, 
um ihn nicht im Stich zu lassen, wenn er ein schönes und glü- 
hendes Weltbild der Gegenwart erfassen wollte. Hier ist vor allen 
Delacroix zu nennen, der nahezu unbegrenzt war im Ausdruck des 
Leidenschaftlichen und Farbig^Gewaltigen. Ihm gab zuerst der 
Anblick des Orients den grossen Anstoss; der Genius Kubens* 
wirkte im ^^leiehen Sinne. Zuerst zogen ihn erhabene Stoffs an, 
die in das Helldunkel der grossen I'oesie schon gehüllt waren: 
die Barke mit Dante und Vergil, oder das „Gemetzel auf Chios", 
oder Orgie von Scharlach, Feuer und Wolkendunkel, eine Byron- 
sche Atmosphftre. Allmählich aber wurde ihm jeder Stoff erhaben 
und grossRTtig. Er sah überall die grandiosen Antithesen und die 
grandiosen Harmonien der Farbe. Das gelbe Ziegenfell, das einen 
TOtbhaarigen, am Flusse trinkenden Hirten einhüllt, gegen den tief- 
blauen Himmel ; zwei in einander verschlungene kämpfende Thier- 
leiber, braun und grau, unter der glObenden Abendröthe; das Roth 
eines Mantels, ein blutbespritzter leuchtender Menschenleib, das 
Braun eines Pferdes und das Dunkelblau einer Felsensehlucht: aus 
solchen Harmonien war für sein Auge die Welt zusammengesetzt 
und er war unermüdlich, sie festzuhalten. Neben ihm legte G^ri- 



— 62 — 



cault Grösse und pitoreske Gewalt in die Darstelhnig der mensch- 
lichen, der thierischen Gestalt; Decamps ersah mit grossem Blick 
das Erhabene der Landschaft. Es war, um nicht noch viele zu 
nennen, eine malerische Atmosphäre grosser Art vorhanden, und 
der Dichter, „für den die sichtbare Welt existierte'' brauchte nicht 
^Icin ans sich zu schöpfen, um sich vor dem Vagen zu sichern, 
und den Vor- und UintergcuDden seiner Vision eine grosse Bestimmt- 
heit zu geben. . 

Indem er aber dem inneren Ange viel bietet, so will er doch 
nicht bloss fürs Auge schaffen, sondern wendet sieb noch an einen 
höheren Sinn: Er will doch ausdraeken,' und irgendwie atusehauUch 
machen, was sich der Anschauung eigentlich entzieht: was noch 
fiber den Gedanken hinausgeht, die Idee. Hier kommt ihm das 
Symbol zu Hilfe, tausendfach überliefert, w^enn auch freilich erstarrt 
und entgeistert, l ud .ihn. der eigenen Epoche fühlt er sich von 
Lebenden, Denkenden umgeben, denen es Bedürfnis ist, für das 
Tiefste ihres Daseins nach dem wahrsten Ausdruck zu streben, 
um ihren Geist und ihr Gemüth von der beäugstigendcn Ver- 
worrenheit zu befreien. Diese schaffen dem Vocabular einer Sprache 
seine höchsten geistig-sittlichen Elemente . indem sie das Über- 
kommene in ernstem Sinne erfassen und Neues hinzubilden, dem 
ihre vieltaltige geistige Erregung tiefere und zarte Schwebungen 
mitgibt. So wirkte jene Gruppe von Strebenden, die, zuerst als 
Saint-Simonisten, im weiteren Verlaufe als Socialisten bezeichnet, 
ein neues sittliches Ganze, dem ursprünglichen Ohristenthum ähnlieh, 
aber weit vollkommener, in der Welt hervorzurufen gedachten. 
Erfüllt von vagen Strebungen, die sie für Ideen nahmen, bemäch- 
tigten sie sich mit Kühnheit und Leichtigkeit aller Terminologien 
yergangmr Epochen. Alles frühere Streben schien ihnen nur anf 
das jetzige hinzudeuten, und es schien ihnen ein leichtes, die Aus- 
drucksweise des Piaton und die der Evangelien, nicht minder die 
indische oder persische und noch sonstige Terminologien als die 
Dialecte einer einzigen Sprache zu erfassm. Bei ihnen gieng alles 
durchaus auf eine kühne und leichte Synthese aus. War Saint- 
Simon der Urheber dieses vagen, zuweilen parabolischen Tones, 
so ist Pierre Leroux sein hauptsächlichster Vertreter. Sein be- 
deutendstes Werk, „de rHumanit^'*, den- Entwickelungsgang der 
Menschheit im Ganzen umfassend, überblickt alles mit Lei^htig^ 



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— &8 — 



keit,- stellt überall Goncordanzea her, und weiss den nngebeneren, 
ia verzweifelten Stoff mit der trtIgHehen Sieheriteit einw NMht^ 
Wandlers eu durebschroiteo^ ' 

Jean Beynaud, liidb-Biefater, halb Dectrinftr, stand diesen 
Geistern nahe. Gleich ihneh, Verfiäng er sieh in den Verwiekeluigen 
des Jahres 184B. Aneh er glaubte sich befthigt, das Gesammte 
des Daseins in einer Schrift' zn '' umspännen. „Terre et ciel" nannte 
er ein Buch, welches einen vagen Pantheismus ausspricht und 
worin die sittlichen Fragen näit einer Sicherheit erörtert sind, wie 
sie nnr ein solcher aufbringen kann, dem niemals Zweifel an 
der Sprache, als einem höchst trfiglichen Aüädmeksmttte!, ge- 
kommen sind. 

Dies war eine geistige Atmosphäre, in welcher die Kritik 
abstracter Begriffe nicht tief gieng. Man legte in die das Geistige 
bezeichnenden Worte mehr Emphase und Tendenz, als geistigen 
Reichthura. So muss der Gebrauch des Abstractum in der Diction 
Victor Hugos verstanden werden. Wenn das Abstractum bei Dante 
aus der tiefsten, durch das seelische Erlebnis gewonnenen krystall- 
khiieii Überzeugung^ hervorjjeht, wenn es bei Goethe das lebens- 
volle Ajz^rej^at der Erfahrung ist," ein glöckliclies, aus dem In- 
dividuum liervorblitzendes Apereu, eiue Neuschüiilun- jedesmal, 
so ist dem gegenüber das Abstractum bei llugu eiu cuuveutiöneJles 
Gebilde, an dessen iuiiali der Antheil des Dichters nicht gross ist. 

Da wir aber doch irgendwo im Schatz der Sprache die fühl- 
bare Einwirkung einer so mächtigen dichterischen Kraft suchen 
müssen, so sehen wir uns auf jene Worte zurückgeführt, denen 
malende Kraft im weitesten Sinne innewohnt. 

Diesen Worten gegenüber besass er alle jene geistige Freiheit 
und schöpferische Kühnheit, die ihn gegenüber dem Abstractum 
im Stiche liess: w führt ein Wort Ton Schattierung sn Sehat- 
tiemng, treibt es in einem immer geistigeren, nneigentlicheren, 
grandioseren Gebrauch hinein. 

Aus diesen reichlichen Kühnheiten des Sprachgebrauches 
konnte Arstoe Darmesteter die schönen Beispiele schöpfen, welche 
das nie erstarrende »Leben'' der Worte so deutlich illustrieren. 
Sei an amrei Adjectiven diese Kunst gezeigt, durch die Verwendung 
mit immer anderen VorsteUungselementen den Inhalt des einaelnen 



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— 64 — 



Wortes vom sch)irr-l>estimmteu Sninlichen ziiiii |z;t?heiiiinisvo!l Meta- 
phorischen hinüherzufuhren. (couf. Darmesteter „La vie de mots" .) 

Deniere eux cheminait la mort, sqiiellette chaiive. 
11 .scinblait qu'anx nasaux de leur cavale /auve 
Oü entendit Ja mer ou la foret gronder. 

Hier )iat fauee die ursprUngUch conciete Bedeutung: mit 
falbem Fell, rothgelb. 

Oa Tante Eviradnus . . . 

Quand il sooge et s'acconde, on dirait Gharlemagne 
BAdant, tont h^riss^, dn bois k la montagne^ 
Velu, fauvef il a Tfur d'nn loiip qni serait bon. 

Hier ist Jauve inmitten zwischen der Bedeutung rothhaarig 
und einer ^geistigeren : etwa faroiiche. 

Lud in dem ful^M iulen Beispiel nimmt es eine ganz neue 
ausserürdentHche Bedeutung an: 

Corbus, triste, agonise. Pourtant 
L'hiver lui plait, rhiver, sauYage combattant. 
II se lefait,. avec les convulsions somhres 
Des nuages hagards eroulant sur les decombres 
Avec r^clair qui frappe et fuit comme un larron, 
Avec les soutHes noirs que' sonnent du clairon, 
Une Sorte de vie effrayante a sa taiile. 
La tempdte est la soeur de la fauve bataille. 

So ist ihm „hagard* ein Ausdracksmittel alier Nuancen des 
Sohauerlieben geworden: 

L Asie est moustrueuse et fiiuve; eile regarde 
Toute TEurupe avec uue face hagarde. 

(Legende. Les trois Cents.) 

Le supplices hurlanls daus la hrunie hayordc 

(Ibidem: Les IMcrcenaires.) 

La, pas d'astre, et jiourtaut on ne sait quel regard 
Tombait de ce chaus inmiubile et hagard. 

(Le Parricide.) 

Hagardf il d^touina la roue inexorable. 

(Le Orapaud,) 



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- 66 ^ 



L'agonie ^teignit la pranelle hagarde. 

(Vision de Dante.) 

Und hief sind noch andere Beispiele für diese so ftasserst 
ihichtbare Kähnbeit, das Adjectiv ans der sinnlichen Sph&re in 
die sittliche zn rflcken, wo ihm dann alle suggestiTe Gewalt seiner 
mitschwebenden metaphorischen Elemente anhaftet: 

k TEmperenr Othon qni fiit un prince oibli^, 

(4 jouTS d'EIciis.) 

Cet huiiiiiie niarchait pur, Inin des sentiers obliques^ 
Vetu de probite candide et de lin yanc . . . 

(Ruth et Booz.) 

Eine gleiche Freiheit — und dies sind die wahren ScbOpfnngen, 
dies die wahren Bereicherungen des Sprachschatzes — dem 8nb- 
stantivurn gegenflber. 

y^Gouffre'* znr Bezeichnung des nnermesslichen Himmels. 
Laissez-moi m'en aller dans vos 0<mffres sublimes. 

(Les Mereenaires.) 

„Ombre*^ znr Bezeichnung des Makrokosmos. 
Vmbre a tont Touragan, Täme a toute la lyre. 

(Le quatre Tents.) 

So wirkt ein f^rosscr Spinclitreiiius belebend auf eine Sprache: 
denn in ilcr S])rfiehe ist aUcs inet:i]>hnrisph nnd die sul»tilere 
Metaphorik der Iki^rilTsübertragung ist das unausgesetzte heim- 
liehe Leben der Sprache. 



IV. 

Rhythmus und Reim. 

a) Rhythmus. 

Herr Emile Fagaet von der Acad^mie fran^aise hat es in 
seiner schönen Studie über Victor Hugo geradezu ausgesprochen : 
wer die Kunst des französischen Verses zu seinem Stadium macht, 
könne sich darauf beschränken, Lafontaine und Victor Hugo zu 
lesen; die übrigen dflrfe er vernachlässigen. 



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66 — 



So treffen wir denn hier bei Victor Hugo jenes schrankenlos 
reiche Zuströmen und nnfehlbar sichero Müsshalten, jenes Nie-zuviel 
und Nie-ziiwenig:, ^wio es eben im glücklichsten Gebiet einer grossen 
Begabung sich fimh [ Oenn hier liefet seine Stärke: dies war er 
vor allem: ein {grosser, unvergleichlicher Künstler des Verses. 

Ihm ist — lind dies ist eine grosse, ursprüngliche Gabe, 
eine innerliche Musik — ihm ist ein Wort nicht ein Zeichen, nicht 
ein Bild, sondern vor allem auch ein Ton. Diese angeborene Gabe, 
die Concordanz der Worte mit den tausendfachen Lauten der 
Natur zu spüren, ist ebenso selten, als sie fruchtl>ar ist. Man hat 
daran erinnert, M'ie sehr der melodische Larmartine von diesem 
Instinct zuweilen in Stich gelassen wurde. Man hat von ihm diese 
Verse citiert: 

Cehi qui, respirant son haleiae ador^ 

Sentirait ses cheTeux, soulev^s par les vents 

Oaresser en pässant sa paupi&re efflenr^e 

Otr rouHer sur s<m front' leurs avneavx ond&yanis . . . 

und man hat mit' Hecht bemerkt,*) dass die Vocalisation des 
letzten Verses mit ihren dumpfen « und o nngef&hr das Oegentheil 
dessen ausdrüekt, was sie ausdrücken soll, n&mlich hauchende^ 
dnfUge Leichtigkeit. 

Vielleicht dass von allen älteren Dichtem nur der unrergleieh- 
Hche Liafontaine jenen musikalischen Instinct ffir den Tongehalt 
der Worte besessen hat, er, der mit einem solchen Verse, funkehid 
und schmetternd wie grelles Licht auf Harnischen und Trompeten, 
die Schilderung eines Kampfes absehliesst: 

Linsecte du conihr4 sc retire avec glö/rc: 
Comnie il suun« \i\ charge, il sonne hi victo/re. 

Von hier führt ein einziger Schritt zu Victor Hut;*» und zu 
solchen wundervoilen Cumbiuatioueu der Vucale und Consonanten, 
wie diese: 

C'etait le grand cheval de gloire 
Ne de la mer comiiie Astarff'. 
k qui raurorc dunuc d Loire 
Dans les urues de la clarte**) 

*) Fagnet 1. c. £tade nur Lamartine. 
**) Cfaaiiioii« des ru» et des bols. Pfologne. 



— M 

Oder diese, in ireleher ein überraschender, in den Reim ge- 
drängter geistiger GUuiz noch den lautlichen Glanz der . von 
Liquiden eingeschlossenen hellen Diphthongen erhöht: . • 
Iblis leva les ffeux, et tout ä eonp Tinfime - 
Ebloui, se courba sous Tabime vermeil: 
Car Dieu de l'araignee avait fait le soleil *) 
Oder die^;o, ein Beispiel aus vielen gowi^t, worin die H&ufung 
des H ein eindhnglich sehnsüchtiges Element der Stimmung gibt: 

Eschvle errait ä la hrune 
En Sicile, et s'enivrait • 
Des flüies du elair de lune 
Qu'on entend dans la for^t.**) 
Ich bin niclit der erste, der mit unbegrenzter Hewnndwung 
für die Sprachgewalt, welche ohne Wechsel des Rhythmus eine 
solche Veränderung des Tones herbeizuführen imstande ist, die 
folgenden Strophen der XII. Ballade***} copiert und iu'1»ftneinander- 
setzt, von deuen die eine das spitzgiebeligc, vielthürmige Bild 
der gothischen Stadt ebenso wundervoll hinmalt, wie die andere, 
massig und dröhnend, das dampfe Getöse des Stadtinneren aus- 

' ■ Cette ville 

All lunj^s cris ' 

(}ui proüle 

8on front gris, 

Des toits freies 

Cent tourelles 

Cloehers grßles, 

Cest l'aris! 

Le vieux Inm re! 
Large et lourd 
II ne s'ouvre 
Qu*au grand jour. 
Emprisonne 
La cou rönne 
Et bourdonne 
Dans sft tour. 



*) La legende des si^cles. Iblis. 
**) ('yiriTifnn;^ des ruea et des bois. 
♦**) üdes et baUades. 



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— 68 — 



Es gibt tausende seiner Verse, die, mit dem Einschnitt au 
der traditionellen Stelle, ohne durch den Contrast der syntactischen 
Gliederung den Rhythmus zu durchkreuzen und zu heieben, dennoch 
voll Lebens nnd voll Besonderheit sind,« nur durch den Tongehalt 
und die Anordnung der Wörter. Durch diese Durchkreuzung aber 
erst, durch die geniale Variation des „freien Einschnittes", hat er 
dem Alexandriner einen Keichthum gegeben, den dieses Versmass 
unter den Händen keines früheren Dichters liat ahnen lassen. Und 
er hat niemals vergessen, dass der nngewöhnlidie Einschnitt seinen 
l^eiz nur solange ansähen kann, als er vereinzelt zwischen regel- 
mässig gebauten Versen auftritt; dass eine übermässige Anwendung ^ 
dieses Eunstmittels eine Yergendiing seines Zaubers ist und eine 
Keihe von Versen in pure Prosa auflöst.'*') 

Versuchen vir es nun, die Typen des Alexandriners neben- 
einander zn stellen, die er durch eine höchst kunstvolle Ver- 
theilnng der ^conpes" geschaffen hat, so Mrerden vir dabei nicht 
einen Augenblick vergessen, dass es sich bei so grosser Kunst 
dennoch kaum um ein Kunstmittel, kaum um ein bevnsstes Vor- 
gehen handelt, sondern um ein glückliches instinctives Wollen, 
dem das Material der Sprache sich im Augenblick des Sehaffens 
widerstandslos unterordnet und von selbst in rhythmischen Wellen 
anschwillt und abklingt. 

Er hat vor allem um ihrer EindiinglichkeiT. ihrer angespannten 
Fülle wegen diese Form des Alexiiniiriners geliebt, welche in drei 
Abschnitte von je vier tdiuuden Silben zerfällt, und die den 
Olassikern nicht unbekannt war: 

Ces yeux tendres — ces yeux per^ants — mais amonrenz. 

(Corneille Psyeh4.) 

Ilirer hat er sich bedient, um eine dreifache Stei^erun'»' zu 
geben, um mit einer nach drei Hicluuim:eii weisenden Fülle der 
£Ilemeute die descriptive Gewalt der Antithese zu übertreffen; 

J'ai vtt le jour — j'ai vu la foi - j'ai vu rhonneur. 
Les fleurs au front — la boue auz pieds — la haine au coenr. 



*) Wie vielfach hei Hiuset, bei Th^ophUe Oantier (Albertos), bei 
Verlaine (Sagesse). 



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— 59 - 



Durch Nebeneinschnitte bat er es vermocht, diesem drei- 
theiiigeu Vers ein Gefüge zu geben, das noch grössere Spannung 
erregt: 

Moi, le pouvoir — et toi, le vin — causons tous deux.*) 

Ein einzigesmal geht er noch weiter und, die Dreitheiligiceit 
des Verses verlassend, drängt er, durch Einschnitte nach jedem 
Wort, in einem einzigen Vers ein ganzes philosophisches System 
zusammen: Antithese als Definition, Ableitung daraus, ein voll- 
ständiges dualistisches Schema: 

Koi for^at, rhonniii, espni, pense, et. matieie, iiiangL'.**) 

Um aber dem nationalen Verse eine fast schraiikenluse 
VariabilitÄt zu Lreben, handelt es sicli nicht bloss darum, ihn 
noch feiner zu durch gliedern, sondern liuü im inuern ülier die 
Oasur hin, nach aussen filter den Versschluss luaans die Schleusen 
zu öffnen. Dieses scli(3ne Überströmen iia Innern herbeizuführen, 
kounnt abermals der unregelmässige Kinschnitt znliilfe. lu der 
Vorrede zu „Crom well" steht der Ausruf: Malheur au poete si son 
vers fait la petite bouche! Der Einschnitt nach dem sechsten Fuss 
ist es, der für das Ohr den Vers verlängert, gleichsam in ihm 
einen grossen Horizont aufschliesst. 

Es muss gesagt werden, das« Lafontaine auch dieses Element 
metrischer U irkung gekannt hat: 

Nous cultivions en paix d'henreux chanips — et nos mnius 
Etaient propres aux arts ainsi qu an lab(inr:i«?e. 

Aber davon einen eigentlichen külmen und reichen Gebrauch 
zu machen, das Gebot der svutaklischeu fiisnr wie das der 
syntaktischen Pause am Versschluss zu durchbrechen, und das 
ganze Gebäude jener von Malherbe erfundenen, durch Binleans 
Einfluss befestigten äusserlicheu, das Leben des Verses unter- 
bindenden Regeln für immer ausser Existenz zu setzen, das war 
Victor Hugo Tiubelialten. 

Das riuMstronien des Verses über die Oäsur wird erzielt, 
indem ein Kpitlieton unnnttelbar an das Substantiv tritt, welches 
den sechsten Fuss schliesst, so dass wir gezAvungen sind, den 
Einschnitt weiter nach rückwärts zu verlegen, wie in dem obigen 
Vers von Lafontaine, z. B.: 

*) Legende des sifccles: Zim-Zizüni. 
"^j Contempl&tions: Ce q.oe dit la boache duinbre. 

5 



— 60 — 



Une frateniite vi'neraVle — geriuftit, 
Plein de la rdverie immense — de Is Inne . . . 
Voit dans Is transparenee obscnre — du sommeil . . . 
Das ÜberBtrCmen des syntaktisch Verbttndenen Aber den Reim 
wird von Andr^ Gh^nier mit der schönen discieten Sicherheit an- 
gewandt, mit der seine Hand das Elfenbein der Sprache bearbeitete. 
Man kennt diesen Vers von ihm fiber die Flucht eines Hirsches, 
in welchem das Enjambement eine grosse tonnuUende Gewalt hat: 
L'animal, ponr tromper leur course suspendoe, 
Bondii, s^^carte, fuit, et la trace est perdue.*) 
Aber dergleichen konnte aneh nach den Regeln von Malherbd 
noch ffir erlaubt, zumindest ffir eine erlaubte Freiheit gelten. Das 
Enjambement, welches gleich die erste Zeile von Hemani enthält, 
erregte den wflthraden Widerspruch von hunderten von Franzosen, 
deren Ohr sieh beleidigt fohlte. 

Serait-ee dejä lui? C'est bien h Tescalier 
D^robe — 

Bei diesen Worten der Dnenua brach ein Sturm los. «Wie, 
ist die Orgie schon mit dem ersten Worte so weit? Man zerbricht 
die Verse und wirft sie zum Fenster hinaus!"**) 

Und eben von diesem ,. Gipfel der L&cherlichkeit", von diesem 
„einem schimpf liehen RAckschriit huldigenden System*****) sollte 
eine wahre Verjuiigiiu^ des nationalen Verses datieren, eine nie 
vorher {geahnte Bereicherung seiner Ausdrueksfithigkeit 

Das Enjambement Aber den Reim hinaus^ oder die Combination 
der beiden Kunst mittel, des ftusseren und inneren Enjambements 
das sehlafTt die unerhörte Fülle des Uugu'sehen Vers4;s, begründet 
die Möglichkeit, den breit dahinrollenden Strom plötzlich zusammen- 
zudrängen, der wuchtigen Masse das bedeutende Detail kflhn 
entgegenzuwerfen, die äusserste Folgerung, den jähen Contrast 
dominierend herauszuhebea. Tritt aber noch das unvergleichliche 
Kunstmittel jener im Innern des Verses mit ftusserster Feinheit 
und VersatiKtftt vertheilten Pausen und Einschnitte hinzn, so ent- 
steht eine AnsdrucksDihigkeit, die eigeutlich keine Grenzen mehr 

*) Citiert bei Labarsch, a. a. 0., 8. 448. 

**} Bericht über die erste Anfffthnmg nm „Hemani" bei Th. (iaatier, 

Hifituirti du KmnaTitisine, S. <09. 

Qnicherat. i. c. Cha)). VJ., über d&a j:^iijamWint!nt. 



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81 — 



hftt; et> ist ein \ t i s der das An sieh linltf^n i iiso ausdrfickt. 
wie das feieriu-lie lliuströinen, der im (ilt it- n ebenso zu maieu 
vermag wie im Schreiten, im Huschen, im Stürmen, im Sichaufthnen. 
im Anschwellen, im Abklingen: der alle Regungen des Seelischen 
herzugeben imstande ist, den St il/. die l'rahlerei, die Erbitterung, 
die Naivetät, die Sinnlichkeit, die Grazie, und der die Monotonie 
nicht kennt, es sei denn, wo er sie mit Absicht herbeiruft, nm 
sich auch ihrer, wo es noththut, als eiueis Ausdrucksmittels zu 
bedienen. Hiefür in den Werken des Dichters Beisjjiele aufzufinden, 
sie zu häufen und zu wiederliolen, ist unendlich leicht; aber es 
wird schwer, unter einer solchen Fülle das Typische auszuwählen. 
Denn jeder sehr grosse Reiehthura gleicht dem Keichthum der 
Natur, deren Formen, grenzenlos viei^tigf unmerklich ineinander 
übergehen. 

Das unerwartete Sichöffnen eines ungeiieueren liintergruudes 
in diesem Enjambement: 

L'aurore apparaissait. Quelle aurore? ün abtme 

Eine waebsende Unruhe, die in den nftchsten Yen hinflber- 
geworfenen Verstheile immer grosser werdend, bis sie zuletzt einen 
ganzen Vers ausffiUen: 

Tons les monstres aeulpt^ sur rddifioe 4pars 
GmuktU, et les lions de pierre des remparts 
Mordend 2a hmme tair et f oiufe, et les tarasqnes 
BtUtent äe V<UU au srnffU hwrible des hmrreuqueg. 

Die Malerei einer unheimlichen Wirrnis in diesem rejet: 

I/anbe est pale, et Ton voit se tordre les serpents 
Des hranches sur Vanrore horribles et rampmis, 

(>der diese Verse aus „Marijuise Zabeth*' (Les (piatre vents 
de TEsprit), in welchen das Enjambement, auf zwei durch den 
trivialsten Gebrauch untrennbar gewordene Wörter gestützt, der 
Diction die gewollte cynische Leichtfertigkeit gibt: 
Avant vu tout ä cmip, (juand je rßvais la butte 
Montniiurtre, oü dix moulins fout au ciel leur culbute, 
Surgir avec neige augnste la Yungfrau . . . 
So ist es möglieh, die getrene Malerei eines wechselnden Ge« 
rftusches zu erreichen; „in lÖ Versen, zuerst in FlOstertdoen: dann 

5* 



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- 62 — 



in deutlicheren, über weichen und veifliessünden Lauten; dauu in 
schärferen, leMiaftereii: dann in gezogenen, in erstickten Tönen, 
immer mit Hille der ausdrucksvollsten Einschnitte, ein Geräusch 
zu malen, das kommt — näher kommt — den Kaum erfüllt — 
uuschwillt — abbricht.**) 

Ecoulez! — Oomiiio im nid (\\u muimure invisible 

Un bruit coufiis s"a])pn)ehe, et des nres — des roix — 

Des pas — sortent du lond vertigineux des bois. 

Et voiei (|irä travers la graiide forel hrunc 

i^n emiilit la reverie immense de la lune 

<in entend frissunner et vibrer moUemrnt 

Communiquant aux bois son duiix fremfsscnicnf, 

La guitare des monts d'Inspruck, recotinaiffsahlr 

Au grelot de son mancbo on sniine iin grain de sohle; 

II s'y inele la voix d'nn komme; et ce frisson 

Preud UD sens — et devieat uue vague cluinsotu 



La melodie eneore quel^ies instants $e ira$ne 
Bous les arbres bleuis par ia lune sereine 
Vms'trcmblet puU wpire; et la voix qui ehantait 
S'&emt Gomme un oiseau se po (se;) tont se tait.**) 

Das Btumme e, welches io der letzten Zeile die Gewalt des 
Einschnittes Teistürkt,' indem es ihn ums doppelte verlAngert, ist 
ein Geheimmittel, durch welches Hugo rhythmische Schönheiten 
des höchsten Ranges erreicht hat. 

Im letzten Act von «Marion de Lonne" findet sich die Stelle 
an welcher Didiers Träumereien, an der Schwelle des Todes, jfth 
durch den- Eintritt der das Todesurtheü verkündenden Gerichts- 
person unterbrochen werden. Das rhythmische Bild dieser unheim- 
lichen Contrastwirkung ist das folgende, eingerahmt von einem 
umschliessenden Reimpaar: 

Gest l aftaiie du corps, mais que mimporte ä moi! 

Lorsque la lourde tombe a clos notre paupi^re, 

L'dme li've du doigt le couvercle de pierre 

Et seuvo [le!] , . . „Monsieur le conseiller du Roi!" 

*) Faguet. n a, 0 S. 8i6. 
**) L^nde d. g. Jsiviradniw. 



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- 68 — 



Die fibor j^de bewusste Technik hinaiisgeheDde, einem glflek- 
lielien Inetinet gehorchende Abweehs)nng zwischen regelmftssig nnd 
uniegehnftseig . gebauten Veisen, das Wiedeikommen eines nnge- 
wöhnlichen Einschnittes, der sich dem Ohr eingeprägt hat, alle 
diese Möglichkeiten lassen schon aus einer Kette Ton Alexandrinern 
ein Btrophenartiges Gebilde entstehen. Und nun hat sich noch Hugo 
der eigentlich lyrischen Vers- und Sliophenformen, man enrfttb, mit 
welchem Beichthum, welcher Goschmeidigkeiti bedient. Man kann 
sagen, dass er hier durchaus nnd immer, in so vielen hunderten 
Ton Gedichten, die zum Theil aus früher Jugend und zum Theil 
aus dem hohen Greisenalter datieren, mit Ast Wahl des Rhythmus 
das erreicht hat, was er ausdrücken wollte. 

Er hat die alte sehuiie Strophe aus zehn achtsilbigeu Versen, 
(liti Strophe von Kousard und Malherbes, um zwei Zeilen ver- 
längert, ihr a]»er dabei die f-leiche gediegene und imerschütterlielie 
Stnictiir imd einen utK'h R-iciiereu und ausdrucksvoiiereu Wurt- 
klang gegelteu als jene grossen Älteren. 

Er hat den monotonen Rhythmus der gleichmftssig eiuge- 
schnittenen, paarweise gereimten Verse „rythme trop traditionnel**, 
durch welchen geringere Dichter unser Ohr ormfiden, weil sie ihn 
immer und überall bringen, gebraucht, um mit seiner Monotonie 
die Gleichförmigkeit des befriedigten Wunsches od« die Ruhe 
sanfter Melancholie ^u malen. (Chants du cr^puscule ZXV. Contem- 
plations L, 2. 5. ff). Er hat in. der Oombination der Rhythmen 
mnerhalb der Strophe mit souTeräner Sicherheit gegeben, was er 
geben wollte: ein Festes, Wurzelndes, durch eine starke unver- 
Saderliche C&sur, oder ein Gleitendes durch eüien gleitenden 
Rhythmus; einen muthigen, fortreissenden Ton ebenso wie einen 
absinkenden, resignierten. Hier die Beispiele hftufen zu wollen, 
hiesse die fifinde seiner lyrischen Werke copieren. 

liier ist ein Ton der eifervollen Gehobenheit, ein tyrtäischer 
mächtiger Ton: 

Vous laissez passer la foudre et la hrnme, 

Les vents et les eris; 
AflTrontez Vorage, affrontez T^ume 

lioehers et pruscritsi 



Eier ist ein Rhytiirnns, eine nmiftcliahmlielie Seelenmalerei: 
J'ETftis doQse EDS; eile en aTait bien seize 
Elle ^tait grande, et moi, j'ötais petit 
Poar loi parier |le soir] plns k mon aise. 
Moi, j'attendids qoe sa m^re sorttt. 
Pnis je yenais [m'asseoir'] pi^ de sa ebaise 
Ponr Ivi parier \\e soir] plns k mon aise.'*) 

Das Hinaufgehen des Rhythnius in der zweiten Vershälfte, 
das verstohlene Einschiebsel dreimal an corresjxiiuiierender Stelle 
(le soir, uia.sseoir, le soir), darin lieert so viel Jiigeiulliehkeit, 
muthwillige Stimme, die sieh nieht zimu-kimiteu kann, haU» un- 
willkürliche Indiscretion, dass der Sinn der Worte fast das „äiisser- 
licbe" scheint, so viel Seele ist schon in den „formalen" Elementen. 

ß) Reim. 

Man hat Hugo oft den Vorwurf gemaebt , **) dass er 
mit einer gewissen Ostentation reich und prunkvoll gereimt 

habe, als ob es «gegolten hätte, das Ohr von irgend welchen 
Schwächen seioer Rhythmik abzulenken! Das einzige, was richtig 
ist, ist dies, dass er in seinen spätesten Producten unter einer ge- 
wissen unausi»leiblichen Erniüdune^ gerne das gesnchte und seltene 
Wort in den Reim gestellt hat und dass, in diesen letzten Dieh- 
tuugen, die häufigen Iveinic auf Eigennamen und Fremdworte ein 
empfindliches Ohr etwus iiitgeduldij; machen können. 

Im übrigen und insbesondere von der ganzen riesigen Pro- 
duclion seiner Mannesjahre, kann man sagen, da.ss er, wie im 
Rythraus so im lieiai, niemals gesucht, sondern mit ])l()tzlifher 
Leichtigkeit gefunden hat, dass er keinerlei Osteutation in den 
prunkvollen oder seltenen Keim gelegt hat, sondern nur bestrebt 
war, hinreiciiend zu reimen, dass er aber, weil der sogeiiauale 
„genügeude" Reim in der That dem Ohr nicht genügt, um t'iu 
klangreiches rhythmisches Gebilde zu umklammem und zu tragen, 
fast durchwegs eben reich gereimt hat. 

Man hat, in dem ganzen grossen Lebensw erk cini.Lre schwächere 
Conventionelle Keinn oinlunationen aufgedeckt . in den ersten 
Büclieni : einige Reimpaare, die sich durch häutige Wiederholung 

*; Coiitemplations. Llse. 
**) Z. B. Quicherot a. a. 0. und viele andere. 



— 66 — 



unaiij^enehiii fühlbar macheu (z. B. abime— sublime : onibre — suinbre: 
oder etwa spectre — Electre, cuii Keim, den mau zu sehr festhält, 
Ulli ihm '^ern öfters zu bege^ueui: einige wenige Fälle der rime 
noruuuide ( iiit r blasphemer, in Contemplations II. 4. 15); abep 
im g;jiiizeu, in diesen tausenden von reimenden Versen, was für 
eiue nnfassliche Fülle harmoniseber Zusanmieustellnngen ! 

liier uehnieu drei Werke, die doeli einen Zeitriinm von aeht- 
undvierzig Jahren iinispannen,*) vielleieht die erste Stelb» ein! 

Die „Orientales-', in welchem zum ersteunial der Dichter uud 
mit ilim sein Leser sich dem reichen Genuss neuer uud wohl- 
thuender Gleichklänge ganz- hingibt; dann die „Chatimeuts", in 
welchen die gewaltige Inspiration des Zornes auch dem Reim eine 
unerreichte Wucht und Energie verleiht, mit denen er die wider- 
st reitendsten Worte zn einem gegeneinander knirschenden Gespann 
zusanimeukoppelt, und endlich „l'Art d'etre grand pere,'* worin eine 
cont«raplative Gelassenheit und Fülle der Erfahrung die wunder 
sebonen, aus einem weltumspannenden Wortreichthum emporquellen- 
den Kombinationen erstehen lassen. 

In diesen \\ erkeu, und in allen \\ erken dieses langen Zeit- 
raumes, klingen die im Reim zusammentreffenden Worte nicht nur 
voll und schön gegeneinander oder schmiegen sich sanft und schön 
aneinander, sondern die ^ orstellungen, M elche durch diese Worte 
hervorgernfen werden, sind in ihrem Zusammenkommen über- 
raschend lind voll vom Zauber des Laerwarteten, und doch nicht 
Erzwungeiit'ii. 

La jüuruee etait buuue, et les liles des lamcs 

Serpentaieut dans les champs pleius de sonibres sUcnccs. 

Et Knill ne savaii point ce (jiie Dien voulait d'ellc 
Un frais parfum sortait des touti'es d'aspfiodele,**) 

La laiiii fait rever les grands coups moroses^***) 
I^a riviere court, le nuage fuit. 
Derriere le vitre on la lampe luit 
Les petits enfants out des t^tes roses. 

*) lftl9— 1877. 
**) Leg. da« aildM. 

***) L*Art d'dtre grand'ptee: Choses du soir. 



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— 66 - 



Eine glflckliche Ooiiibination wie dieser letzte Reim übt auf 
Generationen hinaus einen schwer zu detinierenden Zauber: ein 
solcher Reim hat auf eine lebendige Pliautasie so viel suggestive 
Kraft, dass er mit einmaligem Gebrauch keineswegs erschöpft 
scheint, und so tiuden wir z. B. diesen hier bei Verlaine melir 
als einmal wiederholt. 

In den Werken der letzten Epoche ist üun \uiklich der 
Keim dvuis gequält: nicht eine schöne und überraschend sich 
eiilliülleude innere ('(»nsonauz ruft ihn hervor, souderu ein ziemlich 
willkürlicher Gedankensprung. 

Vületant vaguement de la Trappe h Faphos, 
Mouche heurtaut de Taile au suupirail du faux. 

(L'Aue.) 

Et Tous me le foarrez dans un U^Debieuz eloUrtf 

On lui eolle un gros livre au menton comme nn ßoUrc. 

(Ibid.) 

Oder die folgenden Reimpaare aus „Les quatre vents de 
TEsprit^: traeasse— Boceaee , Satan-— Sultan , cordon— C^ladon, 
sicambres — chambres, paladins bravachos— je trais les vaches . . . 

Aber wie Ruinen erst völlig die Oonceptionen einer grtMiseu 
Architektur enthüllen, so belehrt hier der Anblick des Verfalles 
erst fiber die Mächtigkeit der Erscheinung: und es wird uns 
klar, dass dieses unreigleiehliehe poetische Lebenswerk auf dem 
* ungeheueren Fundament des gesammten nationalen Spraehschatxes 
aufgebaut war, und dass es fast kein Wort des französischen 
Vocabulars gibt, welches nicht aufgerufen war, hier an einem ge- 
steigerten glänsenden geistigen Dasein theilzunehmen. 




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STUDIE 

VtBRH DIK 

ENTWICKELÜNG des DICHTEKS 

VICTOR HUGO. 

VON 

HUGO VON HOFMANNSTHAL 

DOCrni; l im oSorTIIAK. 

I>ER PHILOSOPHISCHEN FACULTÄT DER UNFVEHSITÄT WIEN ÜBERREICHT 
DEHüFS ERIANGÜNG DER VENIA LEGENDI FÜR DAS GEBIET 
DER ROMANISfMlEX PIIILOLOGIE. 




12 



I 



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DRUCK VON JOHANN N. V E K N A V.