Studie über die
Entwicicelung
des Diciiters
Victor Hugo
Hugo vorr^(
Hofmannsthal
V-et . G^r- TC -3. \^
■ Lq 20 — /\. \
STUDIE
ÜBBR DIB
ENTWICKELÜNG des DICHTERS
VICTOR HUGO.
voar
HUGO TON HOFMANNSTHAL
OOCTOR PHILOSOPIUAB.
DEB PHILOSOFHISOaEN FACTILTÄT DER UNIVEBSTTlT WIEN ÜBEBBMGHT
BEHUFS ESLANOUNG DEB VENIA LEGENDI FÜB DAS GEBIET
DEB ROMANISCHEN PHILOLOGIE.
WIEN 1901.
YERLAQ VOM D»- HUGO TON H 0 FM A N MSTU A L.
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DRUCK \ OH JOHARM N. VB&NAY.
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Angabe der Quellen.
Victor Hugo, oeavres complfttos. £ditioa ne varietnr. Paris.
Blograplil8eli*anekdotl8ehes :
Victor Hugo, raeont^ par un tomoin de sa vie. (18Q2bis gegen 1840.)
Victor Hugo avant 1830".
„Victor Hugo et son temps.**
„ Victor Hugo chez lui."
„Victor Hngo intime."
„Zeittafel zuVictor Hugos Leben nndWerken.**
Kdiiiond de Bire;
A. Barbou:
Rivet:
Ch. Asselinean:
K. A. Hartmann:
Oliateaubriand:
äainte Beuve:
Das literarische Gepräge der Epoche:
a) Gleichzeitige Quellen:
Madame de Stael: „De rAlIemagne.*^
„Meraoires d'outre-tombe."
„Critiques et portraits litteraires.* (1832
bis 1839.)
„Portraits eontemporains.** (1846.)
„Caoseries du lundi.** (1851—1862.)
„Le nouTean Ohristianisme."
„De riuiiiiunile."*
„Essay sur rindifferenee."
„Paioles d'on croyant**
„Gespräche mit Goethe.'*
'„Lutetia. Flranzösische Zustände."
1*
Saint-Simon:
Pierre Leroux:
Lamennais:
Eckeimann:
H. Heine:
uiyiiizcü üy Google
— IV ^
Th. Gauticr:
G. Brandes;
b) 8p&tere Darstellungen:
^Histoire du romantisTnc."
„Die HauptströiuuDgeii der Literatur des
XIX. Jahrhunderts.*'
Literarisehe und kritische Monographien:
Emest Dupny: „V. Hngo llioninie et le po^te."
E. Faguet: „V. Hugo (in le XIX"» si^ele)."
Paul de Saiüt-Victor: „V. Hugo."
E. Kig;al: ,,V. TTiigi» poMe «^pique.*
Paul Albert; „Poesie et poetes,"
A. Sarrazin : «Deutsche Stimmen Aber V. Hugo. " (Band Vli
der Abhandinngen)
Ch. A. Swinbume: „A study of V. Hago.«
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Einleitung.
Dazu tiiidet sich unter den Sehrt'il)eii(len und Lesenden nur
geringe Neigung: das Einfache höher zu schätzen als das \'er-
worrene, und lieher nach Übereinstimmung zu snehen, als nach
Cont rasten. So konnte sich Victor Hugo Zeit seines Lebens derer
nicht erwehren, die ihm die Widersprüche seiner Gesinnuntr und
die Sprünge seiner Entwickelung vorwarfen: und er selber, indem
er sie mit Heftigkeit abzuwehren suchte, blieb dennoch in einer
ähnlichen Auffassung seiner selbst befangen: nur erblickte er eine
Läuterung da, wo die anderen ein Herabkonunen, und nannte
Befreiung, was die anderen Abfall und Kenegatenthum. Vermag
man aber dies alles aus einer gewissen Distanz zu sehen, ergibt
sich: es dürfe, wo das Wirken eines Dichters beurtheilt wird,
überhaupt nicht 80 gar viel von Gesinnungen nnd coosequenten
politischen Cberzengnngen gesprochen werden, sondern immer und
durchaus nur von der Bethätigung einer geistigen Kraft, der es,
und dies ist das Wesen der künstlerischen Seelenkräfte, eben nur
darauf ankommt, sich auszugeben, wobei sie ohne tiefes Bewusstr
sein der Ineonsequenz von einem Objeete aufs andere überspringt.
In der That sehen wir das Publicum, die grosse aufnehmende
Menge, solche Widersprüche mit ftusserster Toleranz und Geduld
hinnehmen und, in diesem Instincte den Literaten sehr fiberlegen,
nur das Positive und Harmonische beachten.
In gleichem Sinne werden wir uns an das Einfache und
ObereinsHmmende zu halten haben, um eine grosse nationale Popu-
larität zu begreifen, und sogleich wird für uns, als Fremde, auch
jede Versuchung zu einer Kritik wegfallen: denn die Kritik ebenso
wie die Verherrlichung ist nur da am Platze, wo sie auf Lebendige
und auf ein Lebendiges, den guten Geschmack, einzuwirken irgend
welche Hoffiaang bat; die kritische AUure des Auslftnders aber
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— VI —
Iftuft immer Gefahr, lächerlich zu sein : denn indem sie den Stand-
punkt des Allgemeinen, des Menschlichen geradezu einzunehmen
Terraeintf ist sie doch gerade in den feinsten entscheidenden
Schwebungen des Uitheils durchaus vom Geschmacke ihrer Nation
dictieit nnd niemals frei Ton Beschränktheit
Und insbesondere die Deutsehen sollten sich immer ins
Ckdflehtnis xurdckrufen, dass sie weder der Geist des classischen
Ältertbums, noch das menschliche xax* l^ox^jv sind« sondern eine
Nation wie jede andere.
Man wird in der folgend«! Darstellung die Einzelheit, das
biographische nnd literarhistorische Factum, fast Töllig yermieden
finden: es erschien als anstrebenswert, die leitenden Ideen eines
kflnstierischen und menschlichen Daaeins aufzusuchen, welche freilich
weder Ideen im philosophischen, noch im politischen Sinne sind,
sondern dem ftsthetiseh-etfaischen Gebiete angehören: die indiyi-
duelleu Tendenzen, welche in der Führung des Lebens und in
der dichterischen Froduction sich gleichmftssig geltend raachen,
die aus der Ffille der einzelnen Züge erschlossen, dargestellt aber
im Zusammenbange werden können, und deren Einheitlichkeit und
tiefe Harmonie eben die literarische Person: Individuum, Werk,
Wirkung und Nachwirkung zusammen ausmacht.
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Studie über die Eiitwickelung des Dichtör»
Victor Hugo.
I.
Leben8laHf als Entwickelung der geistigen Form.
A. im hiB 1839.
Dem napoleonisehen OMcier, Oommandeur Joseph Leopold
Sigisbert Hugo wurde 1802 zn Besanfon sein drittes und letztes
Kind geboiBD, Vietor Harle Hugo. Diesem Kind en^flUt sein
Oescfaick frfih die Welt. Der Fünfjährige vird Ober die Alpen nach
dem unteren Italien mitgefOhrt; achlj&hrig Torbiingt er mit der Mutter
und den ftlteren Brfldein ein Jahr in Spanien. Den neapolita-
nischen Aufenthalt des Kindes fallt dies aus: der Vater ist fast
nie da; wochenlang neht man Ihn nicht; für flflchtigO Augenblicke
ist er da« Frau und Kinder zu besuchen, die ein Palast beherbergt;
seine Heiter warten im Hof auf ihn, indess er hastig die Kinder
an sich drflckt; seine Brust ist funkelnder Terschnftrt als frfiher;
er ist nun Oberst; der König, der des Kaiseis Bruder ist, liebt
ihn sehr; er hat ihn zum Goureineur Aber eine ganze Provinz
gemacht; diese Provinz aber macht ein grosser Rftuber unsicher
und diesem muss der Vater mit vielen Soldaten nachjagen, von
Dorf zu Dorf, von Schlucht zu Schlucht. Diesem B&uber aber
wieder haftet ein merkwürdiger Glanz an; man spricht von ihm,
wie von einem grossen Herrn; mm sagt, der König — nicht der
letzige König, dem der Vater dient, sondern der frflhere, der ver-
triebene, der legitime König — habe ihn zum Obersten und Herzog
von Oassano ernannt; aber im Lande nennt man ihn mit einem
andern Namen: Fra Diavolo. In dieses aufregende Erlebnis, in das
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der eigene Vater als Hauptperson veräoehten ist, in jene zwei-
deutige, unheimliche und fonkelnde, ferne nnd nahe Gestalt des
legitimen R&nbers wühlt sieh die Einbildungskraft des Knaben;
sieht sieb dann schnell dem fremden Lande wieder entrückt, an
Burgen und Tfaflrmeu, TbOrmen und Stftdten yorbei nach Hause
geführt; und nach zwei Jahren abermals auf dem Wege, diesmal
Uber die Pyrenften.
Wieder liegen da und dort au der Strasse die Orte, die
freundliehen nnd die finsteren, die blflbenden und die Terfallenen,
und drücken ihr Wesen, verschmolzen zn einer lebendigen Einheit
mit dem fremdartigen Klang ihres Namens, tief in die Phantasie
des Kindes. Das Dorf, wo der Reisewagen auf spanischem Boden
den ersten Halt macht, heisst Ernani.
Auf dieser Reise war es, dass sich dem Knaben Victor Hugo,
in einer alten Stadt am Wege, die Architektur einiger gothischer
Thürme dermassen einprSgte, dass er nach vielen Jahren imstande
war, sie mit allem Detail zu zeichnen, ohne sie je wieder gesehen
zu haben. Es gehörte zur Signatur dieses Knaben, dass ihm das
Bauwerk viel bedeuten sollte. Es sollte sp&ter zur Signatur dieses
Dichters gehören, Bauwerke als ein Lebendiges zu fühlen und
einen mftchtigen Theil seiner Phantasie in architekturalen Er-
schaffungen auszuleben.
In Burgos verlor sieh das Kind in der wundervollen Kathe-
drale und stliunte die Pfeiler hinan; da springt hoch oben in der
Mauer ein Thflrchen auf und ein kleiner Mann tritt hervor, un-
förmlich und scurril, schlagt ein Kreuz, thut drei Schlftge auf eine
Glocke und verschwindet. „Senorito mio, es papamoscas**, sagt
der Kirchendiener, von dem Automaten redend, als wftre es ein
lebendiges Wesen.
Und spftter in Madrid — sie wohnen wieder in einem Palast,
wie in Neapel — sieht Victor von seinem Bett ans in einem
Nebengemacb die goldstarrende Mnttergottes mit den sieben
Schwertern im Herzen;: sieht sie, wie er jene Thürme gesehen
hatte, um das Bild nie wieder zu vergessen. Er verbringt die vielen
unbewachten, unbeschäftigten Stunden, die geheimnisvollen gähnen-
nenden einsamen Stunden eines achtjährigen Kindes, mitten in der
fremden Stadt, in dem fremden Palast, in der Gallerie vor den
alten Familienbildern des Hauses Masserano. In ihren prunkvollen
— 3 ^
Rabmen, in den Gewftndero eindr vergangenen Zeit, hoehmfithig
niederbliekend, nnnahbftr in ihrer Haltong, geheimnisvoll in- den
Geberdeii einer vergangenen Zeit, hanchen diese Spanier eine im-
endliehe Besauherung, einen fieberhaften dumpfen Drang in die .
Seele dee kleinen fransOeisdien Kindes. Der francöalsdie Gislst
empfindet von Zeit za Zeit das spanische Wesen als nahverwandt
nnd doch vor dem dgmn dnieh mne grössere Coneentradon,
irgend einen fremden herben Duft romanischen Blutes ausgezeichnet
Er findet jenes Element sdnes eigenen Wesens vioder, das, swisehen
erhabener Ruhmredigkeit, gascogniseher Anmassung nnd schönem
Formgefflbl schwankend, am besten viellmcht mit dem Ausdruck
„pansche*', als Eigenschaftswort gebraucht, bezeichnet werden
kann: und er findet dieses Element im sp^ischen verstärkt und
zugleich verfeinert, gewissennassen stilisiert wieder. Und nichts
wirkt stärker auf eiu Volk, als eine solche Verklärung einer seiner
Grundeigenschaften. Es ist um dieses kaum definierbaren, aber fast
in jedem Vers fühlbaren Klementes willen, um dieses spanischen
Tones willen, dass um die Mitte des XVII. Jahrhunderts der
„Cid" des grossen Corneille einen Aufruhr des Entzückens her-
vorrief.
Bei frühen Erlebnissen, in welchen ein noch weiches kind-
liches Erkennen Stücke des \V eltwesens erfassen soll, verschwimmt
alles zu einer traumhaften Kinheit; hier wird die Form des Er-
lebnisses ebenso wichtig als ihr Inhalt, das objective Erlebnis. Die
Form des spanischen Er]el)nisses war für den Knaben Huf;*) eine
phantastische. Nicht recht als ein Dazugehöriger und nicht recht
als ein Ausgeschlossener uiusste er sich fühlen in dieser spanischen
aristokratischen Welt; nicht demüthig, denn er gehörte zu denen,
die im Augenblick Herren waren über Spanien, und doch nicht
ganz sicher, nicht ohne Anwandlungen von Scheu und Ehrfurcht.
Wie ein Wrack lag diese prunkvolle, hoehmüthige, adelige und
katliulische Cultur da und zeigte ihr Inneres. Es ist der Blick des
Fremden, des King:edrun,u:enen, des Emporkömmlings, mit dem der
Knabe die marmornen Säle, die mit aufregendem Prunk beladenen
Altäre im Flambovant-Stil, mit dem er die Bildnisse der grossen
Herren umfängt, und von den Wappenschildern, an denen das
goldene Vliess hängt, die asyndetisch aneinandergereihten Titel,
die fasciniereudeo Namen der üerzogthümer, Marquisate, Graf-
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sehafiteii, Bargen und Leben abliest. Welche Nahrung für deu
gfttareiideii Geist eines Knaben! Sich hineinzuträumen iu diese
gebieteoden Gestalten, die Säle und Gallerien in einer pompösen
HaltQDg zu durchschreiten, den Arm in die Hüfte gestemmt, ein
Schauspieler selbstgeschaffener Träume ; ihre grossartipen Titel vor
sich hinzusagen, sie in fieberhaftem Selbstbetrug; als den u^t nen
Namen empfinden: „Dies sind meine Namen, Ihr haht es bislier
nicht gewusst, Ihr stumm aufhorelienden Wände, Ihr starren Ver-
goldungen, Ihr hieltet mich für eiuen Fremden, einen Bedienten,
einen Räuber, vernehmet:
Dieu ni a lait duc de Segorbe et duc de Cardoua,
Mar(|uis de Moiiroy, eomte Albatera, viciunte
De Gor, seigneur de lieux, dout j'ignore le eompte.
Je suis Jean d Aragon, j^iand maitre d'Avis, ne dans Texil . . .
Ja, in diesen kindisclieu Ausschweifungen der Phantasie rührt
sich das, was die geheime innerste Triebkraft ausmachen soll für
jene S})ätereu glänzenden Ausschweifungen der i'hautasie, die man
die Werke des Dichters nennen ynrd: hier werden, unter öcliauderu
einer halbwillkürlichen Träumerei, die Keime jener Gfestalten
empfangen: des Hemani, des Ruy Gomez vor den Bildern seiner
Ahnen. Aus der faseinierenden Antithese dieses Dastehens als ein
Eindringling, dieses Verfluchtenwerdeus in fremde uralte prunk-
Tolle Sckicksale, dieses Fremd- und Daheimseins gehen die Reime
jener berühmten Antithesen hervor, die wir als die Schicksale des
Hernani, des Ruy Blas, des Findlings Didier kennen, jenes Ge-
wühls von Verkleiduügeii, vertauschten und verheindichten Namen,
irrthumlichen Morden uud ergreifenden Erkennungen, alles das
nnn\i»ben mit der Atmosphäre aristokratischen Lebens, einer ge-
heimnisvülleu Etiquette, prunkvoller Gebundenheit. Es ist der
Zauber des als Vergangenheit empfundenen Aneien regime, ein
Zfliilter, ein Keichthnni an Gefühlsuuancen, wie ihn das Ancien
regime als Gegenwart nie ausgeübt hat: denn in den Werken des
XVIII. Jahrhunderts, auch in dem des Hestif de la Bretoune etwa,
die direct d;is Empnrkommen eines Niedrigen in höhere Sphären
luin Gegenstande iiabeii, ist keine Spur von dieser Zauberwelt.
Der spanische Aufenthalt enthält noch ein kleines Erlebnis,
welches zu den t'ormgebenden gehört, zu jenen, die symb(»lisch
wirken und als Symbol im Kopfe weiterleben, bis sie als symbolische
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Oestftlt dichteriflch ausgedrillt worden sind. Victor und seiii Brador
Eugene waren in Madrid für eine Zeit in einem adeligen Eniehnngs-
institat nntergebraelit. Wie sie am ersten Morgen in dem grossen
allgemeinen Schla&aal erwachen, stobt ?or ihrem Bett eine sonder-
bare Gestalt, ein bnckliger Zwerg mit rolhem Gemebt und struppigem
Haar. Er hat eine rothe Leinenjacke, Hosen Ton blanem Sammt
und gelbe Strfimpfe. Er ist im Hause, um den Zöglingen kleine
Handreichungen zu leisten. Und er ist vielleieht dreimal so alt
als diese Zöglinge. Wenn sie mit ihm unzufrieden sind, rufen sie
ihn: Buckel! Corcova! Wenn sie zufrieden sind, rufen sie ihn:
Oorcovita! Er grinst häufig, aber in seinen Augen ist ein tief-
Bchmerzlieher Ausdruck. Welche Welt von einander zerfleischenden
Widersprüchen Hess sich in dieses Geschöpf hiueinträumen! Ks
w;ii- u ic ü:eschall'en, mit jener anderen zwerghaften Figur in eines
zuüauiiiumziiüiessen , mit dem ewiir trippelnden Bewohner der
Kathedrale son Burgus. Hier schwimmen die nebelhaften Umrisse
einer Gestalt, die nach und nach Qnasimodo, Triboulet, Gaucho
heissen soll: hier wird in eiuer vagen Erregung der Phantasie,
die noch keine begriffliche Formulierung gestattet, jene Berechti-
gung des Grotesken, als eines Symbols des Zwiespaltigen in der
Welt, voransempfunden, deren Formulierung in der Vorrede zu
Cromwell achtzehn Jahre später die innerste Triebfeder einer
Revolution des Theaters werden wird. Der spanibche Aufenthalt
findet sein lOnde 1812 mit dem Zusammenbruch der Herrschaft
Joseph Bunapartes.
Die AVohiiuug in Paris, Impasse des Fenillantines, welche
mau nach einjähriger Abwesenheit wieder betrat, war eine gewöhn-
liche Miethwohnung: aber sie hatte einen grossen Garten, einen
üppigen, verwildernden Garten, und in der Erde dieses Gartens
wurzelt die wundervolle Intimität Hugos mit den Bäumen und
den BIrtthen, den Vogelnestern und den Sternen, wurzeln jene
Tauseude von V^rszeilen mit ihrer magistralen Fülle und Gedrängt-
heit, jene Tausend^ von Melaphern, in denen das Leben der Natur
in seiner gesteigerten sinnbildlichen Li iirhtkraft aufgefangen ist.
Ein Garten ist dio grosse Natur a la portt c rines Kindes. Er bietet
den unbriinlich kriechenden Wurm, die lau* riide Spinne, das hin-
husehende Wiesel, die athemlos belauschte nistende Meise: er ent-
hält die uuerschüpfüch geheimnisvollen Geräusche der Zweige^
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— 6 -
des Windes und des Wassers; die Qnergrfindlichen Gerftnsche des
Morgens, des hoben Tages und der Kacht; die grellen Sandstellen,
wo das Übeimaäss des Lichtes eine Art panisehei Trunkenheit
hervornift, und die tiefen Sehattenstellen, die nie ganz leer von
phantastischen Gestalten sind; er verschenkt alle Genflsse der Ein-
samkeit nnd einer unendlichen faunischen Geselligkeit, und nachts
wölbt sich Aber ihm der erhabene dunkelblaue Abgrund, nnd das
starrende Licht der Sterne gleicht dem Niederbücken flbermensch-
lieher Augm. ,
Wenn in dem Kinde, lu dem hier die stamme Oreatnr m
Taus^en von gebrochenen Lauten spricht, das Genie der Sprache
'schlnmmert, so sind dies die Standen, die mit heimlich bildender
Gewalt in seinem Gehirn jene Ooncordauz hervorrufen, die einmal
den Dichter befthigen wird, in der Vocalisation seines Verses alle
Schwankungen von Licht und Schatten auszudrücken, im Rhythmus
nnd in der Zusammenstollung der einen Vers erfüllenden Con-
souanten alle Suggestionen von Weichheit und Härte, von gleitender
und schreitender Bewee;un};, von Gewühl und Aufschwung, von
Wollust und Erhabenheit zu tiiulen.
Eine fast uneuntrulierte Leetüre bevölkert dieses Garteuleben
mit seinem Gewühl von Gestalten: der Neunjaliüge las den Tacitus,
rieht minder geläufig den Vergil und Lucres, dazwischen die
Miirclien der Tausend und einen Nacht. Dem Kiljaliiigen war
eijffentlieh aUes freigegeben: er liest dureheiuaiuier Voltaire und
Kuiisseau, den ganzen, und Diderot, und den Ohevalier Faublas
neben den Reiseu des ('a}»itäns Cook.
Die Verschmelzung zahlloser traumhafter Gestalton mit dem
lebendigen 'J'ranme der Natur, aller dieser Gestalten aus den
Büchern, der erliabenen und der lasciven, der heroischen und
der idyllischen, und jener Gestalten von den Bildern iu Spanien,
und jener kaum-mehr-(»estalteD, der Götter des Lncrez, ihrer aller
Verschmelzung mit der Sehnsucht der Sternenmächte und der Fülle
der Soramertage, mit den Spielen der Sonne und des Schattens:
das mag die Arbeit dieses gähreudeii Kopfes in jenen Jahren ge-
wesen sein: und Fülle der Gestalten, so innig verschmolzen mit
der Fülle der Naturerscheinungen, dass die gemalten Hintergründe
des Theaters zu enge werden, dass dramatische Conceptionen in
episch-lyrischen, manchmal in dithyrambischen Formen sich aus-
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— 7
leben mfisaen: das ist die Signatur der reifeten und machtrolbten
Kunstwerke des DiehterB Victor Hngo. So schHesst sieh hier der
Zanberkreis der Eindlieit, wie er soUr nichts wird später in dem
Manne sein, was nicht in dem Kinde war; es - war hier als ein
dumpfer Drang, als haibwillktbrKehe Hallndnation, als wacher
Traum; und es war hier auch im ganzen, als eine geheime Prägung,
jener Tergleichhar, welche den Samen zwingt, sich zu einem solchen
nnd keinem anderen Gebilde zu entwickeln; jene innere Form,
welche einem fast durch sechzig Jahre nicht versiegenden dichterischen
Hervorbringen seine Richtung zu geben bestinmit war; nicht auf
Gestaltung vor allem hinzustreben, auch nicht auf Verknüpfung,
sondern sieh auszuleben im Schwung der Bede, sich zu ergiessen
in einem rhetorischen Strom von solcher Mächtigkeit, dass' er alle
Zuflfisse der Reflexion auMmmt und mit sich reisst, und in den
glänzenden Wellen der Gleichnisse Himmel nnd Erde im Dahin-
flutra spfegelt.
Es muss nun eine Epoche folgen, wo der Geist, einer inneren
Fälle dumpf versichert, aber jeder Fähigkeit des Ausdruckes bar,
mit unbeholfener Dreistigkeit an alles Hand legt, mit allem, wie
Kinder thun, zum Munde itthrt, was nur sich bietet; was nur ge-
formt ist, meint er, mflsste auch ihm zur Form verhelfen, was
Yon ihm nachempfunden werden kann, auch die erstarrte übervolle
Welt der eigenen Empfindungen entbinden. So entsteht ein Ge-
dränge scheinhafter Hervorbringungen, an denen nichts eigen ist,
als ein staiker eigensinniger Drang. Es fUlen sieh Hefte mit
Tragödien und' Episteln, Madrigalen, Hymnen und Akrostichen;
neben Versen, die von Delille inspiriert sind, findet sich eine
Ines da Castro, ein halbes Puppenspiel mit. Zwischenspielen, kind-
lich dem Oalderon nachgeschrieiben.
Hier aber beschäftigt uns nur, was mit formgebender Ge-
walt an irgend einem Punkte, aus Realität der Erlebnisse hervor-
brechend, sich der werdenden Individualität so stark bemächtigt,
dass es stflckweise und allmählieh ihre Weltanschauung znr
Reife bringt.
So beröhrt uns in allen jenen Heften und Blättern nur die
Aufschrift einer einzigen sonst leergelassenen Seite: „Je veux 6tre
Ohäteaubriand on rien", hingeschrieben 1816. Denn ein grosser
Dichter der mitlebenden Zeit wirkt auf den Knaben, der ein Dichter
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~ 8 —
2tt werdAii bestimmt ist, nicht allein fiterarisoh, sondern tot allem
als eine Macht des Lebens. Ja Tielleieht dflrfte man sogar aus-
sprechen, dass literarisch das, was an ihm sckwftchlieh und ver-
gioglieh ist, einen besonderen Zanber aosflben kann, dass also
auf dem mystischerän Qebiete der Wirkung des Lebendigen auf
den Lebendigen das Eigenste und Wahrste der Individuen auf
einander su wirken kommt.
So wirkten auf Victor Hugo in der Zeit, die auf 1815 folgt,
ja bis gegen 1818 hin, zuerst Chateaubriand und dann Lamartine.
Wie immer geartet die Epoche sei, es pflegt auf dem unreifen,
pbantasievoll angelegten Geist die Gegenwart m lasten; ihre
Qualität des Unmittelbaren wird als Druck empfunden, ihre Viel-
flUtigkeit als quftlende Verworrenheit, ihr Verhältnis sur nädisten
und sur weiteren Vergangenheit als ein nnglilekliehes, Terfehltes:
da werden diejenigen, welche solchen Druck der Verhältnisse für
sich zu flberwinden rerstanden, welche aus solcher Verworrenheit
zu einer eigenen und grossen Form des Dasems zu gelangen Ter-
mochten, recht eigentlich und im Innersten als Befreier erkannt,
und wie sie es anfiengen, aus sich' etwas zu machen, das stellt
sich, aus einer Entfeniung, welche nur mehr die grossen Linien
zeigt, so rein und so schön, so ergreifend und grossartig dar,
dass es, als der rechte MjÜios, zugleich mit der Gewalt der
Wahrheit und der Zaubermacht der exfundeuen Fabel wirkt.
Der Charakter Chateaubriands war ganz auf den Begriff der
GiOsse gestellt. Geboren aus uraltem Geschlecht; eine Jugend,
Ton wilden Stössen des Schicksals hin- und hergeworfen; das
Mannesalter ganz damit erfüllt, Macht zu fiben und Macht mit
jähem Entschluss von sich zu werfen; eine grossartige und hoch-
mfithige Haltung, in jeder Gunst und Ungunst des Schicksals
bewahrt; ein Greisenalter yoU melancholischer Erhabenheit, un-
verhohlener Verachtung der Welt, pompöser Vereinsamuug: so
zeichnete sich diese Gestalt Aber dem Horizont der Heran-
wachsenden ab.
Lamartine's Gestsit daneben: von minder dunklem Metall-
glanz, weicher, verfflhrerischer. Eine glänzend leichte, halb-
vertr&umte Jngend; der ungeheuerste Erfolg an der Schwelle des
Mannesaltm, eine grenzenlose Popularität, in der mch die
heterogensten Elemente vermischeD, ja wie ein verlockender Duft,
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_ 9 _
zusammengemischt aus allen unbestimmten sehwebenden Aspirationen
der Epoche: iiiul den eigenen Hahm, der eigenen Künstlerschaft
gegenGbei eine eigen thfimliehe Haltang: die Haltung eines Dilettanten,
dessen wahre Bestimmimg ganz wo andere liegt; der hinreissendste
Dichter seiner Zeit, umschwebt von der vagen Präsumtion, eigentlich
ihr grösster Staatsmann zu sein, ihr geborener Lenker und Geseti-
geber, Priester, Prophet, König-Philosoph.
Die Grundform nun dieser beiden bedeutenden Talente ist
das Rhetorische. War durch die Revolution von 1789 schon die
Macht des Wortes in einer unerhörten Weise demonstriert
worden, so dass man es auffassen konnte, damals wftren Yon
Tag zu Ta^ Existenzen durch das Wort empoigetragen und
durch das Wort wieder Temichtet worden; es w&re das Wort,
als Träger des Begpriffes, anch der einzige Träger der un-
umschränkten Gewalt gewesen und hätte fortwährend allein über
Tod und Leben entschieden; es wäre das Feindlichste durch Über-
redung für eine zeitlang zusammengehalten und das Nächstr
verwandte durch dämonische Gewalt der Rede auseinandergetrieben
worden — so hatte das Kaiserreich zwar die Wneht der öffent-
lichen Rede fflr eine Zeit lang niedergedrückt, sieh selber aber
einer ganz eigenartigen, eindmcksrollen Rhetorik zu seinen Edicten
und Bulletins bedient, welche einen römischen Ton nachahmte
und die französische Phantasie sehr stark traf; und von der
Restauration an durchdringt das Rednerische erst recht die ganze
Epoche. Die innen Parteien als die fordernden, die anderen als
die zurQckfordemden fühlen sich als Anwalt und Gegenanwalt.
Die grossen Geister der Reaction, Donald, de Maistre sind durchaus
Rhetoren und gleichfalls die jungen Verfechter einer noch kaum
definierbaren Gegenbewegung suchen durchaus m^r zu überreden
als zu überzeugen. Die „Martyre** sind keine Daretellung, sondern
eine Predigt; ,le G4nie du Ohristianisme" ist eine Predigt; und
Chateaubriand hat Donald als den Mann bezeichnet, als dessen
Rivalen er sich fühlte. Unter dem Kaiserreich hatte ein Einzelner,
Paul Louis Courier, der ehernen Redeweise der Gewalthaber mit
einer schwirrenden befiederten Beredsamkeit mnthig entgegen-
gewirkt, schliesslich mit einer Rede über die Freiheit des Redens,
dem „Pamphlet der Pamphlete" sich nnvergesslich gemacht
Nunmehr, wo unabsehbar viel Neues auseinandergelegt, entwickelt.
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— 10 —
▼ertheidigt sein mrolHe, bot sieb TOn England ber das sebßne
Master einer- Tielftltigen, besonnenen, grossen Yersammlangen ge-
mtesen Rbetorik. Von so Tielerlei Seiten strömt zusammen, was
gebört werden will, Aufmerksamkeit erzwingen oder erlisten will:
und so entstebt aus der Vereinigung des Vielfältigen das neuartige
polymorphe Gebilde, die moderne Zeitung. Wie jede neue Form,
Geistiges zu betbätigen, debt aucb diese fflrs erste alle Strebenden,
alle Bebten zu sieb beran. Jede aüsgesproebene Gesinnung,
jede einer individueUen Färbung sieb bewnsste PersOnlicbkeit, ja
aucb das Gedieht drftogt sieb bier beran, will von hier aus sieb
geltend machen. Und so entzieht auch das Gedicht, entzieht auch
der Dichter sieb nicht emer Einwirkung des joumalistisehen Geistes.
Mögen seine Gleichnisse ihn immerhin ans Ewige und Bleibende
knüpfen, dauernde Gedanken Aber den Tag hinausdenten, so will>
er doch mit irgend welcher unmittelbar packender Gewalt aucb
in den Tag hinein wirken und unter den Beredten der vor allen
Beredte sein. Er w&blt den Gegenstand, der in aller Hunde ist:
das Ereignis, das den Tag erf&Ut. Und er lernt es mit jenem
Pomp, jener irdischen Grösse zu bebandeln, die ihren Platz unter
dem Gewfibl des Gegenwärtigen mit Wucht behauptet
So entstehen jene berühmten Oden auf den Hingang des
einen, auf die Krönung des anderen Königs; so jene berahmtere
auf die Sftule des Vendömeplatases; die einen dem „Moniteur" hin-
gerflckt, die andoe dem „Journal des D^bats^; und. wahrhaftig
in beiden Fällen ihrer Umgebung durchaus angemessen: durchaus
der Gegenwart angehOrig, durchaus real, durchaus französisch,
durchaus 1884, 1826, 1827, die wechselnden Stimmungen eines
Cnlinrmittelpnnktes, das Hin- und Widerzüngeln der Flammen
eines Lebensherdes genau Terkllndend; prunkTOller, binreissender
Ausdruck dessen, was viele fühlen, nicht zu tief, um von sehr vielen
erfasst zu w«*den. Indem dm aber ffir Victor Hugo die Form des
ersten Triumphes wird: nicht eben die Gemflther erschottert, nicht
eben die Seelen aufgewfihlt zu haben, sondern eine nunder geheimnis-
volle Leistung von deutlicherer, sinnfälligerer Wirkung: vielen zu
Dank gesprochen zu haben, vielen das Wort von der Zunge ge-
nommen zu haben, so wirkt dieser Triumph wieder zurück, und
Anlage und Erfolg, einander in Wechselwirkung steigernd, rufen
< 'ein starkes Selbstbewusstsein hervor, der gottgesandtc Sptecher
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— 11 —
f&r viele in sein, der Anw<, der Vermittler, der geborene Wort-
ffibrer, der Flrophet, dessen Platz neben oder etva aber dem
Könige ist Wer aber in sieb irgend eine Form der Wirkung
aof die Welt als die Yon Aslage nnd Scbickeal begonstigte er^
kaniit bat, dem ist gleicbsam der Qebranob eines inneren Organes*
erseblossen nnd er ffiblt sieb gedrängt, die erreichbare Wirkung
mit wiederholter Anspannung, mit gesteigerter Sicherheit, allmfthllch
mit Routine berbeiznffihren. Ein allgemeines Bedürfnis anszuspreehen,
einem herrschenden Missbranch sieh entgegenzastellen, einem Ter-
einleiten nngereohten, unTersebuldeten Missgeschick Milderung zu
yersehaffen, dazu ffihlt er sich verpfliobtet und berechtigt Hier
empfindet er eine besondere beglGekende Harmonie, indem er
gleichzeitig seiner eigensten Ennstform, dem rhetorischen, genflgen,
und als ein Handelnder sieh ausleben kann. So 'sehen wir Victor
Hugo mit einem kleinen Buch, halb Pamphlet, halb darstellendes
Kunstwerk — wir meinen jene berühmten „letzten 24 Stunden
emes zum Tode Verurtbeilten'' — diesem doppelten inneren Antrieb
genfige leisten; wir vernehmen, er wftre ein anderesmal um Mitter-
nacht in das Vorgemaeh des Königs eingedrungen, und habe mit
vier Versen, hastig auf einen Bogen Papier hingeworfen, und mit .
der Gewalt seines Namens vom Könige in der ftussersten Stunde
die Begnadigung eines hochsinnigen und edlen politischen Ver-
brechers durchgesetzt, dessen Todesnrtfaeil schon unterschrieben war.
Erlebnis und Erfolg haben die tiefere innere Wirkung, dass
sie dem Einzelnen das Allgemeine aufschliessen, vor allem ihm die
Augen öffnen für das Geistige, Mächtige, welches dem Allgemeinen
lebenerhaltend innewohnt. Indem er wirkt, vermag nun erst, das
Latente auf ihn zu wirken und so kann man sagen,. Oultur fange
ei9t für den zu existieren an, der selber angefangen hat, Cuhur
zu fördern. Mit wachsendem Staunen, mit sich steigernder Ehrfurcht
wird er rings um sich den geistigen Besitz seines Volkes auf?«,
gethflrmt sehen, Überall das Bohe^ das ZufiUlige für ausgeschlossen ^
erkennen, einer grenzenlosen Übereinstimmung zwischen Gehalt
und Form tausendfach auf Tritt und Schritt gewahr werden.
Er wird nun, gleicbsam mit neugeborenem Auge, in den
grossen Dichtem seines Volkes zu lesen beginnen, und was ihn
früher als Form, gewissermassen als eine Umhüllung des Lebens,
mehr belastet als erfreut hat, das wird er nun ak das höchste
t
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Qeitftigifr «tketiDen, als das innere N(HhweDdip:e, worin sich für den
mfindi{:^eii Geist die wahre Gewalt und Wesenheit eines Dichters
ausspricht. Und er ffthlt sich am tiefsten beglückt, wenn er in sich
mit jenen höchsten und höohstgeschätzten Producten eine. Überein"
Stimmung der Grundformen entdeckt, in sieb die Regungen einer
überindividuellen, durch die Jahrhunderle hin Mvnrkenden Geistes--
beschaffenheit lebendig und mftehtig spürt. Beruhigt und gehoben;
ja bis zur Überhiebung aufgemuntert, fühlt er sich jedem Stoff
gevaoliseD, weiss er sich fähig, auch das Unscheinbarste in einer
grossen Manier in b^andeln und aneh ins' Obeigewaltige noeh
Ordnung und Steigenmg bringen xa kfinnen.
- Hnss aber endlich mit Namen genannt werden, welche natio-
nale Orondeigenschaft, wdlche eigentKdb framsOsische vis poetlca.
Victor Hugo in sich fahlen konnte, inwiefern tir sich im Einklang
erkennen durfte mit den grossen siihOpferisehen Geistern seines
Volkes, so' nennen wir die Gabe der Ordnung und des Masses,-
jene Disposition des Geistes, der sich in Symmetrie und Anti-
these äüisllebt; and dies in so' hoheni Masse,' dass die Antithese
allmfthlich zur Grundform seiner dichterischen Gonception, ja zur
Grundform seines Denkens Oberhaupt wird.
Hier nun .s])rioht der die (ieneratiuiien verbindende conser-
Yative Geist dv.i Dichtkim.st, hier führt eine uagebrochene Linie
von Racine und Bossuet, über Montesquieu, über Voltaire zu Hugo.
' Wer gross von sidi denkt, wiU sieb zu allem Grossen in
ein- Verhältnis detsen. Wird dieser Drang einen Deutschen etwa
zur Veraenkung- in die GrOsse der Natur und des Geistes hinleiten,
eüien gross angelegten Englftnder vielleicht vor allem zur Beth&ti-
gung iiä ftusiseren Diseiii' öder zur Oberwindung und Beherrschung,
natürlicher Krftfle antreiben, so ist- im ' französischen Geist der
politisch-historische Begriff des grossen Hannes, des grossen Volkes
80 hoch gesteigert nnd lebendig, dass für jeden hierin der Gegen-
stand leidensehaftlieher Theilnahme itehon offen darliegt. Die Grösse,
der Nation^ im Inneren zu fühlen und vielfach auszusprechen, ist
gleich ein Ausgangspunkt rhetorisch-poetischer Bethfttigung;
endlieh miihr 'Befnkchttaiig ^ der-Phaniitsi^ *abi^r> 'H^bt^die emzelne
grosse Gi»tält, ^ antffkjinnte GfösM, in ^ihren tausend ^ftgen z^
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— 18' —
Mythos erhöht; so steht die Phantasio jener' J^ochß . OAtar^ ddOi'
Zeichen der napoleonischon Gestalt.
Hier irar noeh jene Nähe, noch ein Hauch von.Wirkliidhkeity.
der eine grenzenlose Unmittelbarkeit der Darstellong gestattet; iind
zugleich ein so schnelles Hinschwinden der kaum mehr glanblichen
Bealitftt, ein solches Zurückrücken in eine erhabene historische
Perspective, dass das erhabenste Gleichnis, die kühnste Allegorie
nicht unangebracht erschien. Hier war zugleich ein mysteriöses
Element, und ftusserste Volksthümlichkeit. Man sprach TOn. den
jjMenschen"; der «Sohn des Menschen" war die geheimnisTolI
durchsichtige Bezeichnung für den Herzog von Reichstadt; und
man konnte die Anekdote, das Volkslied hOren, in welcher jener
geheimnisToUe Grosse mit der ftnssersten Vertraulichkeit behandelt
war. So prftgte sich in Millionen Köpfen ein Begriff deir Grösse
aus, an dem die gemeine und die erhabene Phantasie gleich viel
Antheil hatten. Es erhielt von hier aus das Gemeine eine unerhörte
Veredelung und das Sublime eine unglaubliche Realit&t. Was aber
einmal mit Lebendigkeit hegrilfen ist, eine solche Erseheinun^vrirkt
nach allen Seiten hin wie eine Spring wurzel:- die gamse Starrheit
der Vergangenheit, der Geschichte war gelöst und alle darin ein-
geschmolzene menschliche GrOsse bewegte sich empor. Man hatte
in den Schicksalen jener einen Gestalt ein ungeheueres Schauspiel
vor sich, das tansende anderer Schicksale in sich sehloss, tausende
von Lebenslagen enthfillte, alles Menschliche blosslegte. Das Ver-
hältnis des Einzelnen zu der Masse, des Emporkömmlings zum
Hergebrachten, des Herrn zu Dienern, alles zeigte sich in einem
neuen grossartigen Lichte, Die Individuen, die Stände, die Nationen,
im innersten aufgewühlt und durcheinander geworfen,, brachten ihr
Tiefstes zur Geltung; Begeisterung und Undank. hiengen sich mass-
los an jene grosse Gestalt; dieses grandiose Emporkoinmen und
grandiose Hinabsinken, • das tragische Verhältnis zur eigenen Ver-
gangenheit, worin der Keim jenes Unterganges zu suchen -war, bot
das erschütternde Schauspiel, des unentrinnbaren, von innen nach
aussen wirksamen Verhängnisses. . Es ist bekannt geworden, wie
sich Goethe vom Anblick dieses Meteors durehschüttert und er-
hoben fühlte. . .
>• Dem aufgewühlton Boden entstieg nun .flbf»all die -erhabene
V-ergangetiheit; man iirusste, .was GrAsse.war i^kd ^diiaiiate ihre
— u —
Züp:e in viel fachen (testalten. Ja man hat*<' uresehen, wie sich der
einzelne» Äusserung, der einzelnen Handlung des Lebens eine
pompöse und immer unerwartete Grossartiirkeit zntheilen lässt, eine
gewisse abrupte Monumentalität, sehr verschieden von der tradi-
tionell-ceremoniösen Grossartigkeit des ancien rej^ime.
Kin Streben nach solcher Moninnentalität, dies ist das
Treibende, das Formgebende, sobald Hugos Production, das Bereich
des bloss Khetorischen verlassend, auf Gestaltung auszugehen
anfängt. Das frühe Product eines solchen Strebens ist die erste
Fassung des Romanes „Bug-Jargal", ein Werk des achtzehnten
Lebensjahres. Hier ist fast jedes Menschliehe, jedes Mögliche unteiw
drückt: und in einer dünoen gespenstischen Atmosphäre zucken
die aufs äusserste getriebenen Motive der erhabenen Aufopferung,
des heroischen Worthaltens hin und wieder; ja es fehlt nicht an
einem mysteriösen prrossen Hund, in welchem gleichsam die von
der Erhabenheit des Yorgfinges hypnotisierte stumme Creatur sich
ausdrückt, sowie an einer schwarzen Fahne, als ein Kequisit des
dunkelten Schicksais, das doch einen gewissen Pomp der Form
nicht entbehren kann.
Steigen wir aber von dieser kindlichen Conception zu einer
reicheren, reifereu auf, so linden wir in „Notre Dame de Paris"
als adäquaten Ausdruck des Monumentalen gleich ein Monument
selbst in den Mittelpunkt des Ganzen gestellt. Denn die Kathedrale
ist wirklich die Heldin des Werkes; die Erhabenheiten iiirer Arclii-
tektnr sind gleichsam als versteinerte erhabene Handlungen wirksam;
sie redet aus ihren Formen und wirkt gewaltig durch ihr Dasein.
Ja sie hat in der bekannten grotesken Gestalt zugleich ihr Wider-
spiel, ihren Diener und ihren Liebenden.
Findet sich aber endlich in einer glücklichen Epoche die
ganze sonst verstreute Kraft der Phantasie za einem grossen
Werk znsammw, so sehen wir nHemani" entstehen nnd erkennen
die schönste V^einigung vielfacher Elemente: hier ist jener
spanische Ton, in den sich so viel Stolz nnd so viel Farbe
znsammendrftngen Iftsst, der so Tiel pittoreske Kühnheit und so
viel Distanz erlaubt; hier ist in der Qestalt Carl VL jene monu-
mentale Grösso, jenes, mystische Herrscherthum, worin sich die
Farben der Ferne und der Nfthe vermischen, jene Erhabenheit,
deren bewusstes Erwachen wir bekuschen und die sieht in arclu-
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— . 16 —
tekturaU'ii Phantasii'ii austräumt, die Welt als eiu m}stisehes Bau-
werk erkennend; liier ist das Ileral.steijj^en der Gegenwart zu den
erhabenen Gräbern der Vergangenheit: hier ist ein geliLinmisvoller
Kaiser, Deniüthiger der Könige, und in ihm, als die Signatur
seines Wesens: eine ungeheuere Hingabe ffir ein ungeheueres Ziel.
Und diesem gegenüber: (ier edle Kaiilicr, der Unabhängige,
den ein Wort Iiis zur Veraichtung bindet, Hemani, eine Welt von
inneren Antithesen, hineingeworfen in eine Welt von äusseren
Antithesen.
Und als der Dritte, jener gleich widei-spruchsvuUe Greis, mit
seiuer Mundervollen Rede vor den Bildern seiner Ahnen, aus der
der Zauberhauch der Vergangenheit entjregenschlägt.
Und in die einzige weibliche Gestalt alle Süssigkeit, alle
Sehnsucht, die in einer Epoche lebt, zusamraengepresst: in ihr
das Element der Musik, eine Hingebung, die kaum mehr franzö-
sisch ist: nicht Chimene, nicht Athalie, noch viel weniger Celinn-ne:
vielmehr TVesdemona, Imogen, ein Hauch von Fremdheit, und in
ihrer irr(»sseD Scene im V. Act, der ganz ihr gehört, ein unerhörtes
Kiu Iriugen der Natur ins Drama, eine solche lyrische Tninkenheit,
dass die Schauder des höchsten Glückes mit denen des Todes
zusamroenrinneo, und ein etwas, fast wie Musik das Trauerspiel
auflöst.
Und dies alles getaucht in eine Atmosphäre voll kühner
Anachronismen, alles zusammen ein Bild des eigenen Inneren, ein
Bild des Augenblicks, der innere Gehalt der Kpoehe in Gestalten
hingeworfen, ein Bild Frankreichs von 1830, das sich im Lichte
der Poesie zu einem erträumten Weltbild erweitert.
Fragen wir uns aber, hier, wo wir eine Entw ickehing nicht
vom Standpunkt dv-r literarischen Kunstgeschichte, sondern zuerst
vom Standpunkt des Lebens aus betrachten wollen, wessen es noch
bedurfte, um aus dem Jahre, das ein .solches glückliches und
charakteristisches Dichterwerk ans Licht brachte, erst wirklich
Epoche zu machen, um dieses 1830 mit jenem 1650, dem Jahre
der ersten Aufführung des Cid. mi gleicher Bedeutung zu bringen,
so mfis.'^en wir uns sagen: es lebte damals, das Dichterwerk anf-
zunelimen und seine ganze Gewalt auf sich wirken zu lassen, eine
junge Generation. Dies klingt freilich halb geheimnisvoll oder
paradox: denn scheinbar ist fortn'ährend und immer gleichmässig
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— 16 —
"die Mä^se der Lebenden aiiä reifen lind nnreifen, abgeschlossenen
lind' fitorebenden im geistigen Leben
' aber geit^innen Orappen eine grosse Bedeutung, die fQr einen
' kürzen .Zeitraum 'sich zusammenschliessend, das LebensgeffiU einer
bestüDOtm^n Lebensstüfe, vor allem das der Jugend mit Deutlichkeit
und 'Falle aussprechen. Von solchen strömt eine Wftrme in alle
Lebenekreise Uber; neue Wahrheiten werden mit Leidensehaft
erfaisst' und alte als neu begrfisst; die verschiedenen Formen und
Bethfttigutigön des Daseins werden einander wie mit Terjüngten
Augen als Verwandte gewahr, und für einen Augenblick scheint
wirklich die Epoche, nicht die Einzelnen, die Wenigen, vom
Feuer 'dOT Jugend zu glühen. So war die Generation von 1830.
Es ist im jtiefsten Schicksal des Einzelnen, ob' er bestinmit
ist, mit den Höhepunkten solcher geistig-geselliger Ph&nomene
zusammenzutreffen, oder etwa Ihre absinkende Bahn erst zu
durchkreuzen.
Hier war es Victor Hugo bestimmt, mit der Falle seiner
prodiictiten Kraft in die FQlle der Epoche zu treffen; und hier
konnte sich, von einem ungeheueren Wiederklang umtOnt, in ihm
die Vör^telluug deir eigenen geistigen Macht übermftssig steigern.
Er hätte' sich gewöhnt, seine Phantasie auf die Daistellung
des Gibäsen" hinzutreiben j menschliche, endlich göttliche Grösse
KU begreifen, zu' TerkOnden, 'dies lernt er schnell, halb unbewnsst
für seine Pr&rogaüre anseheöa. Nun lebt im' Begreifen das Element
des Ebdringens, SichTcrsinkens, Nachshmeus; völlig Verstehein ist
ein theilweises Sichidentificiereh. Aber jeder solche psychische
Vorgang ist nach beiden Seiten in doppeltem Sinne wirksam:
der. begreifende Geist formt sich sein Weltbild und hier sehen
wir den Dichter stets verfahrt, den dauemdw Gestalten, die er
verherrlicht, ja den erhabenen Ideen, den Emanationen der
^ Gottheit, die er im Universum aufzeigt, zuviel von den eigensten
Attributen seines Wesens zuzuweisen, am meisten von jener Be-
redsamkeit, durch die er sich so gewaltig wirksam fühlt.
So hinterlässt das glänzende Jahr, welches nach innen und
aussen Epoche macht, als bleibende Erbsehaft ein mächtig ge-
schwelltes Bewusstsein: Der Begriff des Dichters von sich selbst
hat etwas muuuiuentales angenommen; die Grösse zu verherrlichen,
■das Allgemeine auszusprechen, fühlt er sich berufen. Vaterland
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T- 1^ —
,und Menschheit, Gerechtigkeit, Freiheit, Schicksal, Dasein, Gott-
heit, diese fast grenisenlosen Begriffe, werden in seiner Dichtung
immer, bedeutender. J>a er in sich al>er die JMtoel^t fühlt, diesen
UBgeheueren aber ragen Worten durch rhetorische, und bildliche
Gewalt der Kede zur Lebendigkeit zu verhelfen, ihnen Wirkungs-
kraft einzohaachea, da er sich gleichsam als der Bildner, als der
Trftger der gewaltige^ Gefösse fühlt, welche das höchste Sittlich-
Oeistig:e der Menschheit enthalten, so ergreift ilin Ehrfurcht, vor
sich sell)st und der Begriff, .des Genius, nicht ganz deutlich von
dem Begriff der eigeuen inspicierteiii Persönlichkeit gesoQdert, yird
ihm, nächst Gott, y.um höchsten.
Von der anderen Seite her ist ihm aber der irdischen Dinge
.Mühsal und La^t sehr wohl bekannt. Er ist ein Arbeiter, wie
wenige, die je gelebt haben. Der riesige Reichthum seines Mate-
rials, die Breite und Tiefe seines Wortschatzes, bedingt eine
Riesenkraft des Zusammenhaltens. Durch ein chaotisches Finstere
sich mit Titanenkräften durchzuwühlen, ans widerstrebendem Ma-
terial Gewaltiges aufzubauen, aufzuthürmen; das Vorschwebende
mit endloser Anstrenirnn^ festzuhalten und m nnerschdpf liehen
Ki\mpfen das Feindliche, W iderstrebende, Verworrene abzuwehren:
solche geistige K&mpfe. sind .da.s eigentliche Medium seines inneren
Lebens. Sie waren ihm die Quelle, piner schn^ikenlosen Metaphorik,
die alle Formen,, gewaltige Kraft auszuüben, in sich schliesst; aus
diesem Grunderlebnis berans, mit dem sein Dasein durch 60 Jahre
erfüllt war, fühlte er sich jeder schaffenden Kraft verwandt, von
der titanisch dumpfen . Erdkraft bis hinauf zu jener höchsten
ordnenden, Gott.
JB. 1830 bis 1851.
Das Gebiet der Künste aber ist ein eingeschrftnktes, und in
breitem Bette fliest die Zeit dahin. Jeder will leben, so mius er
denn händelfi^ und will er für sein Handeln einen Erfolg absehen,
und graut es ihm, Kr&fte und Leben unfruchtbar zu yergeuden,
so muss er schon im geistigen der Epoche sidi orientieren, muss
schon bestrebt sein^-.einß Cbereinstimmung mil^ seiner Zeit, in sich
: herzustellen. Deon, iss ,gibt. keine Frage, des. praküschen Lebens,
..' mUB SfeBlle ;^ie, Boioh so ejn^Busb^ kein j^tSgUches. , nnsebeinbaisB
.' .WMum uimI Wie, 4^ Handjslns, das nicj^t jmit allem JVagGcheu,
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— 18 —
allem Proldcniatisclien der Knoche inilüsHch ziisaniinenliienfje. und
wer seiner Zeit mit Austaud uud Wahrheit tretrenfibprzusteheu
verlangt» den treibt es unerbittlich in die Tiefe der Prableme.
Jene damalige Zeit stand als eine schwankende zwisehen
schwankenden Epochen. Man wird aus grOsseror Entfernung den
Zeitraum TOn 1789 bis 1851 in Frankreich als eine einzige Be-
Tolntion mit Tordringenden und rfiekstrOmenden Momenten er-
blicken, und jene allgemeinen Begriffe, welche das gesellige Denken
und das Verhältnis der Menschen zu einander regieren, in einer
fortwährenden Umformung begriffen. Hier nun wurde die Erschei-
nung zweier Männer unendlich wbksam, Ton denen der eine Aber
die einzelnen Denker nnd Strebenden eine geistige Herrschaft ans-
übte, der andere mit aufregender Gewalt sich der Gemflther
grosser Massen bemächtigte, beide auf einen nOthigen Zusammen-
bruch, allgemeinen Umsturz und die Neubegrfindung des Gebäudes
der Menschheit hindeutend, beide der christlichen geistigen Aus-
drücke und Sinnbilder sich bedienend zur Andeutung von neuen,
noch höchst unbestimmten herbdznführenden Zuständen uud Gesell-
schaftsformen.
Diese Männer waren der Graf \ou Saint-lSiirnju und der
Priester La Mennais.
Saint-Simon war erst am Ende eines abenteuerlichen Lehens
mit jenen Betrachtungen und Doctrinen hervorgetreten, und nach-
dem er 1825 verstorben war, wurde sein Name erst allmählich eine
moralische Macht. Kin bejahendes Temperament war das Medium,
durch welches er die Welt ansah. Er sah im grossen und seine
Zuversicht war gross. Er nannte das abgelaufene Jahrhundert ein
SAflOsendes; das werdende neunzehnte sprach er als ein organi-
sierendes und hervorbringendes an. Bei weitgespannten Analogien
sich beruhigend, fasste er seine Lehren unter dem Namen ^Das
neue Ohristenthum" zusammen. Sucht man unter dem Weitschwei-
figen nach einem Grundgedanken, so wäre es dieser: ,.l)ar Mensch
ist der Verbesserung fähig.". Durchaus und ins Breite gehend,
findet (Vw l iebe, das Vertrauen zum menschlichen Geschlecht Aus-
druck: die üleichstellung der Frau wird hieraus leicht abgeleitet;
über alles aber das Genie gestellt, als die Potw des Hebens-, und
ehrwürdij^eu Meoschlichen, .
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— 19 -
Dieses Tage Oanxe, dem so viel nachwiikeiide Gewalt Aber
eine Generation innewolinen sollte, ist als eine Tendenx aninaehen
und nicht als eine Weltaas&faaaiing. Es ist weder Politik noch
Philosophie, sondern Philosophie der Politik. Seine moralisehe
Macht beruhte darauf, dass es der abstraete Ausdmck f&r diese
tausendfältig in Realen begründete Tendens war. Fftr diese Tendenz
wurde damals ein Name geschaffen, dem alles Fremdartige, Unbe-
friedigende, KOnstliehe eines neugeprägten abetraeten Ausdruckes
anhaftete: Soeialismus. In dem Klang des Wortes, wo wir es in
jen«*r Zeit zuerst gebraucht finden, liegt etwas Doctrinftres, etwas
von gelehrter Ostentation, die es wagt, den realen Mftchten des
Lebeus, dem Staat, der Kirche, eines ihrer Hirngespinste als eine
gleichberechtigte Macht xur Seite su stellen. Es liegt etwas ycm
Id^lpgie darin; ein rager Anklang an die platonischen Gedanken
über den Staat, an die Kirühe als das Reich Gottes auf Erden.
Es kehrt in den Schriften jener Tendens kein Ausdruck so olt
wieder, als ^Organisation**. Man kann sagen, dass dieses Wort
• damals seine Klangfarbe völlig gewechselt hat. Aus dem Bereich
der eontemplatiTen Worte trat er in das der actiTen über. Man
hatte es im Gebrauch gehabt, um sich seiner bei der Betrachtung
des Gewordenen zu bedienen, bei der Bewunderung der Werke
Gottes, der Natur, der Pflanze, des Thiores, des Menschen. Nun
nahm es den Sinn einer mystisch-politischen höchsten Thätigkeit
an, die auszuüben man sieh selbst zumuthete. Von den Zeitschriften
der Strebenden hiess die bedeutendste: ^TOrganisateur", Wollte
man die auf Nächstenliebe gerichteten Tendenzen des Christen-
thums als die abgethane überwundene Form des eigenen Bestrebens
bezeichnen, so einigte man sieli in der Formel: la charitii du
ChristiauisuK u est pas orj^anisable.
Junge Leute waren zuerst die Tr^firer dieser Ideen; ihnen
vereinierten sich verlockend in der Phantasie die Mü|j:liclikeilen
abstracteu Denkens mit den Möglichkeiten schrankenlosen Han-
delns; es war eine von Doctrinären geleitete Revolution, die
sich langsam vorbereitete; die allgemeinen Begriffe, die s«» leer
erscheinen können, sogen sich voll mit allen vagen A^i•lla-
tioncn und Emotionen eines hei anwachsenden Geschlechtes. I ber
allen anderen thürmte sich der Begriflt des „Volkes"' auf, so
vag als aufregend, scheinbar höchst concret, in Wahrheit alle-
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ao —
gonfMÜ. Älh Mftcht» • Ebifureht und liebe, deren eine krltisehe
GfihfQn^' 80: viele andere fiberlieferte Begriffe entblOsst- hatte, sog
dieser. Begniff an sidi. - Allmihlieli wnrde er zu einer- Metastase
des Gottesbegriffes. Alle- lebendige Macht Gottes, - die lebendige
Kraft, liebe einzoflössen nnd Sehreeken zu verbreiten, die- (iQhl-
bare Allmacht, UneischOpflichkeit, -Unzerstörbarkeit, alles das war
•an jene: Sludge Macht abelgegangen, die weder hinwegzulengnen,
noeh an durchschauen^ noch zu begrenzen War: das Volk.
. Welche Atmosphftre fQr den Rhetor, ffir den Dichter: diese
Gfthmng :der Begriffe,) diese Möglichkeit, mit Begriffen sogleich
Gesinnungen hervorzurufen, Krftfte zn entfesseln! Hier bedurfte es
kaum des Contades ^mit einzefaien der Eingeweihten; die Luft war
erlöUt mit. diesen vagen Ideen. Und in einer Prosastelle, nicht
später als 1830, nennt sich Victor Hugo einen „Socialisten**, das
noch halbwegs mysteriöse neue Wort in seiner ganzen Unbestimmt^
heit gebrauchend, dass man es als • den Ausdruck ' einer wissen-
schaftlichen oder etwa einer dilettantischen Anschauungsweise auf-
fassen kann, oder als den Ausdruck .einer gewissen Gläubigkeit,
eines neuen sittlichen Bestrebens, oder als den Ausdruck einer
individuellen Gesinnung, in der er sich vielleicht einsam und
original fühlte, während so viele andere den gleichen Weg giengen.
Erwartung des Umsturzes . und der mystische Hinweis auf
das Volk, als dio rQuelle, von der alle neue Kraft ausgehen werde,
diese Grundelemente des Saint-Simonismus, von so vielen Strebenden
so vielfach ausge»])rochen und ins Breite getrieben, sollte von
einem einzelnen schicksalvollen Mann bei weitem menschlicher und
ergreifender, ausgesprochen werden. Die unbestimmte wissenschaft-
liche Terminologie einer Gruppe, emer Schule, sollte von Lamennais
in einen pathetisch persönlichen Ton fibertrageu werden, der von
den Propheten des alten Testamentes, von den Gleichnisreden des
Evangeliums gefärbt war. und- in welchem, eine starke eifervolle
isoruige Seele vibrierte; Dieser Priester, zuerst dem heiligen Stuhle
■ blindlings ergeben, dann vom heiligen ^Stahle fallen gelassen und
nach der entgegengesetzten Richtung mit Gewalt sieh werfend, er-
fflUte emDeeennium mit dem Wiederhall. seiner geistigen Kämpfe.
Es. war die Art -seines Geistes, dass. er vieles vorans zu T«rkennen
vermochte, was bestimmt ^ War, meh zu vollziehen raber auch i dass
.er den Begriff allmählichee Umgestaltung nicht-' eifasste and alles
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iB dffir ForlD der Kattiströphe .ei)»li<skte.:-Bii9s ist mm rädit eigpttitUsfa
die fioetiaelie Weise^ aidt - dtis tWtttbäd Bu- afiNgeni mid'zDSftBiiii«kt-
sQdiftngeD. Denn der [poetiseh Tetanlagte - CIttst iivitt ' alles, Tto^
scfanldimg und Sfihne, das' Haodfiln und ^seine 'flaseerBltt -Wirkitiig,
in - den Raum dnes Ifenaehenlebenis drängen, :tiiid waa dätfiber
hinausgeht, dafOr ist er ^nmpf. • > - > . :
Wir werden ans nicht wundern, wenn wir * diünsh Neigung
nnd Schicksal schon- fttther Victor Hngo : diesem 'aiüserordeätliclien
.Manne angenähert finden. Die nach dem Anblky^ menschlidier Grösse
begierige Phantasie fand hier Chr^Ksse,- Unabhängigkeit, Unbeugsam-
keit bis zur Wildheit gesteigert; ein Schicksal dmrehaus in gross-
artigen Formen; die AnsSbmlg eines geistigen fleroismns. mit den
gewaltigsten- Wirkungen ; die ganze Epouhe gleicbsain zum Schlacht-
feld umgestaltet, im- Hintergründe ein gewitterachwangerer Himmel,
ans dem schon die ersten Blitze zackten. - . .
So treffen, Ton den' entgegengesetzten Enden de« Horizonts
ausgehend, die Geister in einem Ponkte zosammen: darin sind lede
isieh einig, dass, bei schwer erschfltterten Fandamenten , des geistigen
und sitäfehen Daseins, «n» unbedhigte Ffthrerschaft .dem Genie
zukomme; dass -das Alte, das Tielfiikch Verkettete, fifestflekelt^^
mfihselig Bestehende durehans 'Weichen müsse einem NetteQ,:welchefl
man mit dem Namen „Gerechtigkeit"*, „Freiheit"*, „Fortschritt**,
„Menschlichkeit** für genügsam bezeichnet und umschrieben hielt;
. dass vom Volke alles HeU,: nnd Kraft genug zu den schranken-
losesten Transformatione!^ ausgehe, und dass das Werkzeug, alles
solche durchzufuhren, kein anderes sei als das Wort, das begeisterte,
Irrthümer zerstörende, die Seele mitreissende Wort, das wahre
Vehikel des Geistes, welchem die Kraft innewohnt, das Gestaltlose
zu gestalten, das Todte zu beleben und das Zerstreute zu ver*
eiuigeii. " . - , . • • '
Sülehfii ForderuDtieii und IIotTnimg;en der Zeit kann sich ein
bedeutender SeLriU^teller kaiDi: völli|j: entziehen, ani u^euigsten
dieser. Vielmehr schien gerade üni iiiti alits uul L ine grosse Rolle
hinzudrangen. Genie fühlt er in sich, tuiilt sieh (Il-u meisten über-
legen, den höchsten gleich: dem Aiteu, l'berlieferten steht er mit
• besonderer Freiheit und Kühnheit gegenüber, da er sich vielfach
"darin vmenkt hftt, vieles daraus nuehzuschaften. in sich neu auf-
• zubauen unternommen hat, und so besser als die ^rojise M^nge
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^ 122 -i-
iind boMor als laandier tdlzn kühner RefonDator zu wissen meint,
m» es mit diesen vielTerkänn^n-Mftditen ffir ein Bewandtnis hat
Dem Volk ferner fühlt er sich sebr geneigt: immer naeh einem
grossen Gegenstand begierig, findet er hier den Grössten Tor sich,
gross genug, um alle Kühnheiten der Phantasie zu gestatten, und
doch TOll Gegenwart, ja ganz erfüllt mit der stärksten Aetnalitftt;
diese dumpfe, mit allen Schicksalen trftchtige Masse ist noch Natur
und ist zugleich Inbegriff alles Menschlichen; als Ganzes erscheint
sie so gross, so unzerstörbar, so flbergewaltig, dass sie den herr-
lichen kesmischeii Gewalten beigeordnet werden kann, dass sie
brQderlieh neben der Ehrdkraft, der Kraft des Lichtes, der Grösse
des uralten Meeres empfunden und erblickt werden kann; Ton
ihrem mütterlichen Schosse löst sich das einzelne Schicksal ab,
hier steigt das Genie, der Held empor: so wird das Bild der Welt
gross, einheitlich, mythisch und der Mythos ist, was die schaffende
PhantasÜB niemals entbehren kann.
Des Wortes schliesslich weiss er sich vor allem mftcfatig, ja
hier spflrt er eine Fülle in sich, die ihm den ersten Platz anweist;
denn wenn jeder andere Führende und Fortreissende nur einerlei
Beredsamkeit in sich hat, so ist er sich einer vielföltigen Gewalt
der Bede bewusst: hat er es doch termocht, Tielen Gestalten in
Tielfacher Lage des Schicksals die starken Worte in den Mund zu
legen und macht er doch gar das Unbeseelte redend, verleiht dem
Thier, dem Wald, dem Meere Macht der Beredsamkeit; wie der
gewaltige Strom erseheint er sich selber, in den die anderen
Strebeinden alle, Bftehe und kleinen Flüsse, sieh ergiessen, und in
ihm erst vogt die aDgesammelte Gewalt zum Ziele. So nimmt er
einen bewussten, der eigenen Geiätalt bewus&ten Antheil an der
Bewegung seiner Zeit.
Denn durchaus iMsst sich aus seinen Äusserungen fühlen,
dass er in ^eser zwdt^ Epoche seiner geistigen Wirksamkeit
sich bei allem Thuen der eigenen Person in einer gewissen Stili-
sienmg bewusst ist, ihr fthnlich wie einer fremden oder einer er-
fundenen schonen und maditigen Gestalt gegenübersteht, die Folge
seiner Thaten und Erlebnisse überblickt und von der eigenen be-
deutenden Erscheinung nicht nur ermuthigt und aufrecht gehalten,
sondern auch bewegt und geleitet wird, ein gefährliches Phänomen,
von welchem freilich wohl keine Entwickelung eines Dichters yüllig
uiyiiizcü üy Google
frei geblieben ist: nm dass hier ein gw besondeies niiheimliebe»
NebeneiiutDder und m&ncbmal ineinander der handelnden und der
diuieben schwebenden gespiegelten Gestalt ;8ieh ergab, weU der
TorzQgHchste Gegenstand seiner diehterisehen Darstellong^ das Walten
des Genies in einer bewegten Welt, eben. mit dem Inhalt seines
realen Daseins ihm manchmal TöUig zusammenfloss. Der Zauber
dieses Nebeneinander Ton Eirlebnis und Produetion^ Realitftt und
Poesie — diese auch seinem reiferen Dasein treu. bleibende „roman-
tische'' Atmosphäre — möchte es auch gewesen sein, was diesen
Geist nach einem kurzen, scheinbaren Streben zum Dramatischen,,
immer und TöUig wieder in der lyrischen Form festhielt.
• Je tiefer sich der Geist mit den Problemen des äusseren
Daseins eingelassen hat« desto stärker betrifft ihn das, was nun-
wirklich geschieht; denn indem er die Angelegenheiten der Epoche
zu seinen eigenen gemacht hat, kann er sich auch den bitteren
Folgen nicht entziehen, wenn er grosse Anl&nfe im nichtigen Ter«*
laufen sieht, wenn er ericennt, wie unter einem übermächtigen
Gewirr Ton Worten und unsicheren Begriffen sich das Lebendige,
allein Anstrebenswerte leise wegstiehlt, wie. nach einigen heftig«i,
Zuckungen alles Wesentliche beim alten bleibt und nur jener
Zauberhauch entschwunden ist, der früher das Kommende um-
witterte. So terliefen jene grossen gewaltsamen Ereignisse von
1848, in deren Anfängen eiu so starker, so vielfacher Drang sich
bis an die Steine erhoben hatte*
Denn ans dem Gewaltsamen, dessen Ziel geistig, nan und :
▼on Tager Bestimmtheit war, entsprang unmittelbar das neue Ge-
waltsame, das, nar auf Gegenwirkung ausgehend, ein niedriges
und deutliches Ziel schnell erreichte. 1848 TCrlief wie ein Fieber-
traoffl ; in der kurzen Spanne Zeit Tom Februar bis Jnni zerschellteu
reine Bestrebungen, geistige Welten an dem Druck der Luft wie
Seifenblasen; 1849, 1850 schienen noch voll Lebens und doch
war es ein unendliches Absinken Ton dem, was „vorher" vor-
geschwebt war, als möglich, als sicher erschienen war: da war
auch schon 1851 da und zerflogen jenes Geistige, siheinbar;
Herrschende; es herrschte aufs neue ein brutales, ohne innere;
Kothwt ndigkeit Be.stehendes, ein mühselig Gestückeltes, von der
uialerit'Uen Wucht des Au{j::eDblicks geslüt/t, von der Vergangenheit
halbM'ahreü Schein erLprg«ud. : .
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24: —
Hier hatte Victor Hogo das grosse Ereignis seines Liabens
gefunden. - Mit allen Krftlken hatte er an dem Woriie theiigdBOHUneD,
das ein ümi^es zu werden verheissen hatte: in einem Sinne
hatte er tonsend Zeiehen gedeutet, nach einer Biebtang sein ganzes
Wesen znsfimmengefasst, hier wollte er die Sanime seines Lebens'
riehen. Und hier war er unterlegen und mit ihm unterli^n alle,
die so dachten wie er, alle, die seine Träume begriffen hatten,
alle, deren Übereibstiramung ein Deeennium hindurch den reichen
ZnscmaieBklang einer geistigen Welt gegeben hatte. Wie das
Meer naeh Mner iSpringflat sank das Volk wiederum surflck.
Die Fahrer, die gemeint hatten, es Hesse s^h Geist und Gewalt,
Idee nnd Realit&t Tereinen, die traf Gewalt und Betrug, Tod,
Gef&ngiiis, Verbannung.
Ks war wirklich^ eine Welt durch eine andere verdr&ngt
und das durchaus Entgegengesetarte kam zur Herrsehaft. Es war
die ToNkommenste Antithese, eine tausendgliederige Antithese, wie
keine Rednergabe den Aihem h&tle, sie auszumalen; und diese
war Wirklichkeit und Erlebnis. Und das Erlebnis traf in den
Reifspunkt des Lebens. Vom secfasundvierzigsten bis gegen das
neunundTierzigste Lebensjahr hin erstrecken sich diese mit leiden-
schaftlicher 'Dieilttahme durchlebten Ereignisse, über einen Zeitraum,
in welchem dieser ^buste' Geist sich gleich weit entfernt von den-
Fiebern der Jugend wie von der ErmQdnng des Alters fflhlte.
Was ihn -hier traf, traf ihn in der Ffllle seines Daseins; er konnte
nicht daran yorbei, wie Jugend sieh' der Wucht des Schicksals
entaieht, indem sie ins Allgemeine anssdiweift; und er war nicht alt
genug, es nur betrachtend aofzunehmen und Yielem Erlebten su-
zurechnen. indem er sich mit der ^nzen Gewalt seines Wesens
der inneren Gegenwirkung hingab, erhielt er hier die unyerlierbare
Formung seines Geistes. Hier formte sich für immer sein Welt-
bild. Was er mit solcher Wucht erlebt hatte, das war ihm der
Lauf der Welt. Er war tief genug hineingerisseii worden, um mit
aller der Hefe, deren sein Geist fähig war, itte tragischen Elemente
des Daseins zu spüren; er war reif genug, um die Zusammenhinge
20 durchschauen. Sc wurde ihm alles rund; er hatte einen Punkt,
TOn wo er das Weltbild, wenn nicht eindringlich, doch in grossenr
Linien zu'- erblicken Yermoehte, so'dass sich alles^^^was sein Auge*
erkannte, hirieiufflgen Hess.
Und dass er es in grosse GegenflAtzen erblickte, war Anlage
und auisgebildete Geisteaform: er sah taii der einen. Seito: aiöhc
selbst luid Alles Gute, aaC - der - anderen die. -eömpkzen IkOsenl *
Mftebte, denen er unterlegen war. ,
Nun folgte die lange Zeit des Exils, nahezu zwanzig Jahre,,
ein grosser Theil des menschlichen Lebens; hingebracht auf eise.
Insel, umgeben von ruheyollen Felsen« im Angesicht des ewigen
Meeres, im Bewusstsein eines ' bedeutenden, tragisch erfüllten.
Schicksals. Dies ist die Zeil eisiiier reifsten und grössten Werke. :
Wie er von der einsamen Klippe hinOberblickt, der Verbannte/
nach den grossen schicksalsrollen Lftndem, so blickt er hinab m:
die Vergangenheiten der Völker, und erblickt ftberall und tausend-,
flltig die Gleichnisse des eigenen Erlebnisses; Er trfigt. .sich>
und seine Geschicke hin^n in die FfiUe der Geschehnisse und sie
werden ihm lebendig und yeHUessen mit dem Dasein der natfirlichen.
Mftchte, ndt dem. Meere, den yerwittemden Felsen j den treibenden
Wolken und den anderen Erhabenheiten, die ein einsames und
mhiges Leben im Verkehr mit der Natur enthüllt. So entsteht
jene lyrische Epik, die mit nichts Terglichen werden kann und
mit der die Daner seines Namens yerknöpft ist»
Sind wir nun dem. Gange dieses reichen Leben» nach-
gekommen, durch eine phaafietische Kindheit zuerst, eine glftozende
und angespannte Jugend, ein tlifttig parteilich bewegtes Mannes-
alter, bis an die Sehwelle eines majestätischen und fruchtbaren
Greisenalters, Unmer nur den grossen Linien folgend und bestrebt,
das auszudrfieken, was zur .geistigen Form dieses sDaseins gehören
dürfte, dort aber innezuhalten, wo das so gesehfttzte anekdotisch
Lebendige einzusetzen pflegt, .so ist doch noch von einem. Umstand
Bechenschaft zu geben, der durch das ganzo: Leben, vom zwanzigsten
Jahre an, durchgeht, und die Persönlichkeit mit solcher Ent-
schiedenheit mitbestimmt, wie einer r ihrer unlösbaren elementaren
Beisätze: Victor Hugo ist, fast .vom. Jünglingsalter an, ?als Gatte
und Vater im Leben gestanden. Diese menschlichen ßeziehungen,
auf denen alle übrigen, . als auf ihrem Fundamente, .aufrnhen,
durchweben sein Bewusstsein immer und ^ immer; me . sind: das
F«este,,^wa8 ihm iren der iNatnr gegeben war, ,wie< sein<l< Lebens<i
kxsift, und atune- >Begiibinig. :^Ec bedusflbBs keines i Orients, ,ium
„Patriarehenltdft zu kosten*^.. Diese Atmosphifife, Tpm'. Idyllischen.
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26 —
bii zum Erhabenen wechselnd, nmgab ihn stets ungezwungen. Sie
war der Quell einer stetigen und niemals trivialen Inspiration.
Das Subject seiner lyrisehen Erregung war niemals ein ganz
egoistisches, niemals ganz entblösst von einer wenn auch an-
ansgesproclunien Generositftt; und dem Hörer sagte ein untrügliches
Qeffihl, dass hier einer sprach, dem das stärkste Menschliche
immer gegenwärtig war. Und M^enn sich Goethe einem Vertraaten
gegenüber nut grossartif^er Ruhe in der berühmten Wendung auf-
sehliessen durfte; „Meine Sachen können nicht populär werden;
sie sind nicht für die Masse geschrieben, sondern nur für einzelne
Mensehen, die etwas Ähnliches wollen und suchen", so gilt fflr
Victor Hugo fast das gerade Gegeutheil. Der Einzelne wird nur
das Allgemeinste seines Daseins hier ausgesprochen finden, aber
die grosse Menge wird sich immer nnd wieder in ihm zusammen*
finden, der mit wunderroUer Beredsamkeit auszudrücken gewnsst
hat, was allen gemeinsam ist nnd keinem Töllig fremd bleiben kann.
II
Das Weltbild in den Werken.
Poesie ist Weltgefflhl; es wird in den Werken eines poe-
tischen Genies immer ein Bild der Welt enthalten sein, freilieh
aber dürfen wir darin nicht nach philosophisehen oder politischen,
systematischen Ideen suchen, sondern nur naeb poetischen. Auf
jene Gewalt der Phantasie kommt es an, vor der keine Amorphie
bestehen bleibt, der alles lebendig, alles zum Sinnbilde wird, jene
mythenbildende Gewalt, Ton welcher der platonische Sokrates
schmerzlich bekennt, dass sie ihm mangle.
Der Mensch ist es, der auf den Menschen am stärksten wirkt,
und er nimmt auoh hier die Mitte des Weltbildes ein. Mensch-
liche Grösse zu verherrlichen, darauf geht Hugos poetischer In-
stinet schon in den ersten unsicheren Versuchen. Was er als die
Grundform menschlicher Superiorit&t erkennt, ist dne eigenthfim-
liehe Vermengung handelnder Genialität mit rhetori^h-pbetischer.
Das ßlement des Rhetorischen ist in ihm so mächtig« dass er fast
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— 27 -
alle gmiidk)66ii Äiudeniiq;«!! der Seele damit ausstattet. In seinen
Figuren entlädt sieh Überlegenheit der Seele in Überlep^onheit der
Rede. Seine grössten [»syelmlojrischen C«)ncef)tion(»n sind nicht
Liebende, nicht eigentlich Handelnde, nicht Märtyrer, sondern
Redner. Ja anch die gegen den Mensehon wirkenden Naturgewalten
sind mit der Gewalt der Rede ausgestattet, und sein Begriff von
Gott ist der: das Wesen, welches das letzte Wort behält. Und
dies alles abgesehen von den Dramen, in welchen es natürlich ist,
dass .sich Hie Figuren in Rede und Gegenrede ausleben niMsseii.
Mau fühlt es, wie das Ich des Dichters zugleich mit seiner
ganzen Sympathie in jene Gestalten überströmt, aus deren Mund
sich die crhiiliene, mit Gleichnissen geschmückte, ungeheuere
Beredsamkeit ergiesst.
Sie sind seinesgleichen ; war er doch vuu früh an der Wort-
führer, der Prediger, der Anwalt: ist doch der schönste Theil des
Buches ,.Les ( 'onteinjjhitious" sein unausgesefzt es Reden mit' Gott;
das ganze Hucii ^Ulialiments*', seine einzige zornvolle, glühende
Rede, mit kleinen Einschnitten, Pausen, um Athem zu schöpfen
oder um <ieii Standort zu w echseln, die Tribüne mit ditv ßarricade,
die Barricade mit der Insel des Kvils zu \ erlauschen.
In der Lri^ende des sieclfs lOst ein solcher den auderea ab.
Weif, üastellan vun (»shor, eine einsame, fast mythische Gestalt,
liiiii vun der Zinne seines Thurmes herah eine Iluranguo, die sich
über eine unten lagernde Armee, über den Kaiser, Könige und
Herzoge entlädt^ wie ein furchtbares Gewitter über einem Kornfelde.
Ein paar Seiten später tritt Kleiis auf, ein Redner, da- noih
eine Stufe über Weif steht. Das Gedicht heisst: „Les «jiuitres juurs
d'Eleiis". Der Kaiser Otto III. hat gelobt, jeden Voriiiiergeheudeu
anzuhören :
Deutend re. d'ecouter, lui (Jesar tout-puissant
Tout ee quo lui dirait uiuijorte quel passant,
Devant les dunze ruis et hi };iirde romaine,
Cet honinie |>arlat-i! pendant uue semaine.
Und nun hebt Klciis au, ein erhabener Greis, und spricht
durch vier Tage, jeden Tag vom frfdien Morgen bis zum Abend:
und jeden Abend, wenn er fertig ist, sagt der Kai.ser erstaunt:
„Schon!" Die.se Rede geht vor sich wie das Aust<dHjn einer nn-
gttheueren Naturkraft. Die Fülle ist so gross, ein so grenzenloses
3
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" 28 —
Ziistrdmea Ton Atheni und Worten, dass es Eleiis nicht ver-
schmAbti zwOlfmal dasselbe za sagen, so sieher ist er, es immer
mit noch st&rkerem Tone, in einer noch gewaltigeren Zusammen-
stellung der Worte sagen 20 kdnnen. Er spricht gegen die Könige;
er sagt, dass die grossen und mächtigen KOnige sterben mfissen
nnd unter der Erde elend Terstauben; and er nimmt zwölf KOnige
beim Namen her und sagt es von einem jedem, bis die Wucht
dieses Giessbaches von Worten den Hörer ängstigt; es ist das,
was er gewollt hat.
Oder Zim-Zizimi. Der orientalische Despot anf einem Throne,
an den zehn goldene Sphingen angebracht sind. Zuerst spricht die
eine Sphinx zu dem Despoten, dann die nftchste^ alle zehn nach-
einander. Wie sie zu Ende sind, wirkt das Schweigen unheimlidi
nnd nun redet Zim-Zizimi seinen goldenen Becher an:
Viens ma coupe, ■
Moi, le ponmr, et toi, le Tin, cansons tous denx.
Und der Becher kanzelt ihn ab. Nachher spricht er die
goldene Lampe an. Und die Lampe antwortet, ebenso wie der
Becher, ebenso wie die - Sphingen, mit der Beredsamkeit aller
Sibyllen nnd Propheten.
Ein anderes, sehr grossartiges Gedieht ist nichts als ein ge^
waltiges Gegeneinanderreden zweier Adler, des freien wilden Adlers
hoch in den Wolken und des heraldischen, Yon Juwelen strotzenden
doppelkOpfigen Adlers im kaiserlichen Wappcnschilde.
Die Strafreden des Cid an seinen wortbrachigen König bilden
ein Buch für sich. Der grosse Justiciero übt mit dem Munde eine
fürchterlichere Strafgewalt aus, als mit dem Schwert; auch sein un-
ermüdlicher Arm w&re nicht imstande, so lauge das Schwert zu
schwingen. Denn diese Reden sind über dem Niveau menschlicher
Beredsamkeit, sie sind wie Naturgewalten, Wildbäche, Eruptionen,
die mit schwindelnder Heftigkeit eine ungeheuere Masse mit sich
fortreissen. Die Vehemenz des Geistes, welche eine solche Masse
von Worten vor sieh hertreibt, wärkt an sich schon wie ein grausiges,
erhabenes Schauspiel. Wir glauben, mitzufühlen, wie ein Wille,
ein athmendes Wesen sich in die Wucht der Materie einbohrt,
mit titanischer Energie von innen heraus das Ubergewaltige er-
schüttert, emportreiht, durch die Masse hindurchkommt, das Un-
glaubliche Yollbringi. In der That hat sich das oft erneuerte
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^. 29 —
Kilolmisgefühl dieser ungeheueren geistigen Anspannung in Victor
Hugo von innen nach aussen fi:e wandt und ist zu einer grandiosen
sinnlichen Anscliauiinjr titaniscluT Krnrtküütuugeu geworden. Eine
davon bildet den Kern des Rmnanes „Les travailleurs de la mer".
Iiier verrichtet ein einzelner Mensch, nur veisehen mit einer S»\ge
und eineiu Handbeile, die Arbeit eines hiindertarnii^cii Titanen.
Er rettet eine Scliifrsniaschine, die nach dem St liiffbrucho hoch
zwischen Felsklippcn eingeklemmt hängen j;eldielten ist. Die
schwindelnde lluiie, die Härte des Gesteins, das \uillii.üde Meer,
der Smnii, der Nebel, alles wirkt ihm entgegen. Die kostbare
Maschine selbst, die er wegscliatfea will, verzehnlaclit seine
Mühen: denn sie ist ebenso eniplindlich als von ungeheuerer
SeliwerfiiUigkeit, und er brauelit nin:h hundertmal mehr Aufwand
von Geduld und Schlauheit, um sie nicht zu verletzen, als er Vor-
k(?iirungen braucht, um ihre Masse zu heben. Er vervielfacht sich
seliger, indem er ein ganzes System von Balken und Hebeln, Kollea
und Krähnen auflhürmt; uud er siegt.
Der Titan der „Legende des siccles" lebt im lichtlosen Erd-
iunern. Die Götter babeu Berge über ihn gethürmt; aber ein Yer-
langeu, das Licht zu sehen, überkommt ihn, und er wühlt sieh
durch und bricht aus der jenseitigen Kruste der Erde, die (h'Ui
Empvrenm zugekehrt ist, mit dem Kopfe hervor. Sein Durch-
wühlen, die dumpfe Wucht des Willens im Kampf mit der dninpleu
Wucht der Materie, füllt zweihundert Verse: und indem immer
neue Wortmasseii an uns lierandrängeu, sieh zu Selilfjnden auf-
thun, in unsicherem Liebte uns lastend umgeben, wird die Allegorie
wirklieli zur Matne und lässt uns, ia einem anderen Medium, das
Dargestellte selber erleben.
Man wird auch bei solehou Conceptioueu nie au eine bewnsste
Alleijorie denken dürfen: sondern unwillkürlich strömen die Kräfte
der Phantasie zur Darstellung dessen zusammen, was starken
inneren Erlebnissen analog; ist, und machen aus der äusseren Weit
ein Gleichnis der inneren.
Wenn man sich erinnert, dass Balzac sein Gefühl ]»eim
Arbeiten mit dem gleichen Gleichnis ausgedrückt hat: ^leh sjirinue
in die (^rube hinein, lasse mirh verschütten, und dann seiiaufie ieh mirh
wieder heraus," so wird man erkennen, dass die Arbeit für diese
grossen Energien das centrale Erlebnis war, die Arbeit, in welcher
Z*
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— 30 —
sich sehr hetero.ü:ene Elemente uiiteinander versi-limelzen und sehr
verschiede 11 artifre Formen dem Dasein |?eG;enül »erstellen, eine moralische
Kinheit bilden. l)enn der Arbeiter l'ilhlt sich als das Atom im
Zweikampf mit der Lueiidlichkeit, und iViliii sich doeh jeder
schöpferischen Kraft verwandt, fühlt sich als cm Analogun des
Schöpfers seiher. Sein Dasein ist eben so sehr mit den sittlichen
M&chten verkniipft, als mit den elementaren Gewalten, und indem
er sich seinem Thun ganz hingibt, verschmilzt ihm die änsserste
Ans}>annnug und heroische Selbstentausserung in eins mit dem
scliraukenlosen Geniessen der Welt, mit einer Orgie, die kein
anderer keuut. Dieses dithyrambische Element ist in dem M'erke
Hugos nicht seltener und nicht minder grossartig ausgedrückt, als
jenes heroische. Vielleicht am grandiosesten an der Stelle in
„Notre-dame de Paris", wo geschildert ist, wie Quasimodo die
Glocken läutet.
Dem, der wirkt, erschliesst sich die AVeit und er begreift
das Tiefere; den Dünkel geistiger Anmassung lehnt er ab und steht
dem Elementaren mit wachsender Ehrfurcht gegenüber. Denn hier
sieht er Kräfte, die fiber sein Begreifen hinausgehen, die der Zer-
legung spotten; vor ihnen sich zu demilthigen, befriedigt ihn, denn
da demüthigt er sich vor einem höheren, das er auch in den Tiefen
des eigenen Wesens wirksam fühlt.
In der niedrigeren Oreatur, dem Thier, in der vom Leben
unberührten Oreatnr, dem Kind, in der Vielheit der Creatur, dem
Volli:, ruht sich seine Betrachtung ans von allen schmerxlichen
Empfindungen der eigenen Disharmonie und Unzniftnpflichkeit.
Die Thiere sind in diesen Werken durchaus als ÖvmlHdti des
Instinotiven in der Mensclieunatur verstanden: sie sind die „Larve
des MeiisclioTr: ihre Reffumren sind dumpf. ungcbn)chen, gross-
artig: sie seilen Gott dort, wu der iMenseh ihn nicht sieht; sie
wittern das, was über menschliches Begreifen hinau.sgeht; sie
tragen ein dumpfes sittliches Gesetz in sich und in ihren Augen
ist die Unendlichkeit. In der That hat der thierischc Blick etwas
Vages, das ergreifend und schauerlich ist.
Schon in dem Gedicht: „Ce qne dit la bouche d'ombre'*
findet sich diese Stelle:
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— 31 —
Hommel
Pendant qae ta te ttens en debois de la loi,
Copiaot lös dedaüis inquiets ou robustes
De ces sages qu*on Toit r^Ter dans les vieux bastes
Et qae tu dis: «Que sais-je?** Amer, froid» m^r^ant,
Pfostitnant ta bonebe au rire du nöant,
A trayeis le taillls de Ja nature Enorme
Fialrant NternttiS de son museau difforme,
lA dans rombie, k tes pieds, bomme, ton ebien roit Dien.
Und dies ist ein Gnindgiedanke, der in der „Legende'* oft
wiederkebrt und auf den eines der postbumen BOcber: „L'Äne" ganz
aufgebaut ist.
♦
Die wiridicbe Sebildemng des Kindes, kann man sagen, bat
vor Victor Hugo in der franzOsiseben Literatur niebt existiert.
Rabelais bringt den kleinen Gargantua, aber das ist kein menseb-
liebes Kind und bat wenig Ton einem solcben. Der kleine Astyanax,
bei Radne, ist kaum mit einem Strich angedeutet; es war niebt
die Art des ancien regime, auf ein Kind als solcbes einzugeben;
man sab in ibnen Wesen, denen eine gewisse Fftbigkeit zu re-
präsentieren fast mit dem Gebenlemen eingeflösst werden musste.
Yielleicbt nur bei Lafontaine finden wir da und dort den flficbtigen
Umriss eines Kindes, mit etwas Natflrlichkeit, zwiseben einer Katze
und einem Wiesel. Rousseau bat in imile einen Automaten ge-
schaffen und kein Kind. Das Werk Victor Hugos aber ist erfüllt
mit diesen Gestalten von einer Frtsebe, einem Schmelz, der un-
Tergteichlicb ist Da und dort tauchen sie in den Gedichten auf,
in jedem der Romane kommen sie vor, in der ^^L^nde", in dem
schönen Buch „Groupe des idylles" nehmen sie ihren wichtigen,
erhabenen Platz ein, und endlich existiert ein ganzes Buch nur
durch sie und fflr sie: »UArt d*Stre grand-pire.**
Es ist nichts nngescbildert geblieben: ihr Stammeln, ihr
Lallen, ihr Lftcheln, ihr Stannen, ihr Schweigen, ihr ganzes un-
erseböpllieb riktbselbaftes Verhältnis zur Welt, zum Dasein, zu der
Unendlichkeit, aus der sie beizustammen schien und deren Ab-
glanz sie noch eine Weile umsehwebt.
Aber das dumpfgewaltige Thier, das grösser gesinnt ist als
der Mensch, und das schuldlose Kind, dessen Einfalt Gott beschützt,
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- 32 —
sind wiederum nur wie Symbole fflr die grGsste der dumpfen
Mftchte, fflr das Volk. Ja es wfirden sieh, das ganze Werk Victor
Hugos hindurch, hunderte Von Symbolen finden lassen, die das
Volk Terherrlieben. Denn da seine Symbole nieht mit dem Ver-
stand gefunden, sondern ans der Ffille der mit Bildliehkeit ge-
schwängerten Erregung geboren sind, so fand er, wenn eine grosse
Saehe seine Phantasie erfQlIte, flberall im Universum verwandte
Vibrationen, und gab sie mit solcher Kraft wieder, dass der Hörer
sich mit Entzflcken und Schauder der nngeheneren Ooncordanzen
des Daseins bewusst wird. Das ist die geheimnisToUe Kraft seiner
Poesie; denn seine Weltanschauung ist ftnnlieb, Tag und fast
trivial, wenn man sie abstract formulieren will; aber doch ist sein
Weltbild grossartig, indem es mit genialem Instinot das geistige
mit dem Materiellen verknfipit; und niemals durch das Gedank-
Uehe eiogeengt, trftgt diese Phantasie ans den Erscheinungen der
ganzen Welt das ihr Oemfisse zusammen und verfthrt da so wie
die menschliche Lebenskraft selber, die nns dnreh das nnendlicbe
Gewirr der Widerspräche des Daseins durchleitet, ohne dass wir
zugrunde gehen. So entzieht sich sein Weltbild völlig der Kritik;
denn wie bei einem Menschen im Leben, Iftsst sich auch bei der
Betrachtung dieser Phantasie niemals mit Sicherheit sagen, wie
tief sie sich, in ihrem * unerschöpflichen metaphorischen Drange,
mit dem Einzelnen eingelassen hat. Denn sie geniesst im Einzelnen
immer den Abglanz eines Allgemeineren, im Geistigen ein ver-
geistigtes Materielles, im Materiellen em versinnlichtes Geistiges.
Je näher wir das Gewebe dieses riesigen poetischen Lebens-
werkes betrachten, in desto höheren, desto unbestimmteren Ideen
glauben wir es erfassen zu müssen. Da scheuen wir nns fast zn
sagen, es sei die Idee des „Volkes^, welche einen so grossen
Platz einnimmt und in zahllosen Symbolen ausgedrückt wird. „Buy
Blas" ist ein solches Symbol, der Diener, den das Schicksal in das
Gewand eines Granden steckt, der in eine unbekannte Welt sich
gestellt sieht, um in ihr zu befehlen. Und der Titan ist ein solches
Symbol, der sich aus seinem untorirdisehen Gefängnis, seiner licht-
losen Höhle durchwühlt und mit gewaltig dröhnenden Schritten vom
ienseitigen Abhang der Erde heraufgestiegen kommt und su gewaltig
sein Haupt über den Band der Erde hebt, dass alle Götter er-
bleichen. Und der Sat) r, der zu Gast in den OU uip kommt und
33 —
Tor den Göttern ein Lied zu singen anfängt und dabei wächst
und wftebst, zugleich mit der Gewalt seines Liedes anwächst zu
einem ungeiieueren Wesen, an dessen Hfiften die gewaltigsten
Ströme der Erde herabrinnen, zwischen dessen Fingern wandernde
Völker sich verirren, um dessen Lippen die Adler hinkreisen M'ie
um die Hänge der riesigen Gebirge. Ja, in sulchen Gestalten (irütkt
sich der erhabene Sehander aus, mit dem der Dichter sich dio
Möglichkeit ausmalte, es könne die unerniessliche frebnudene Kraft,
jener dumpfe Inbegriff aller Kräfte, der ihm das Volk war, sich
erheben, könne seiner bewusst werden, sich aufrichten wie eine
einzige Kiesengestalt, der der ülynip nicht an die Knie reiclit, und
könne den erbleichenden llerr.scheni der Welt seineu Namen zu-
lukü, wie jener Sat)r den schaudernden Göttern zuruft: „Ich bin
der grosse l*an!"
Aber dass eiue politische Aspiration seiner Zeit sich bei ihm
in eine so ungeheuere luvthische Concepliun umsetzt, dariu verrath
es sicii ja schon, dass seine Phautasie in Welt und Epoche baust,
wie eiue drühuende Stimme in einem hallenden Gewölbe. Ihm gab
die Realität verstärkt die Erregung wieder, mit der er sich ihr
annäherte. So liegt in diesen gigautischen Verherrlichungen
einer sich enthüllenden Riesenkrali ebensoviel, was von einem
ausströmt, als was «ich auf aussen bezieht. Mau könnte sagen,
er hat bei diesen Dithyramben ebensoviel an das Erwachen des
eigenen Genies gedacht als au das Aufwaeheu des Volkes. Aber
es wäre nicht richtig, dcun er hat gewiss weder an das eine
noch an das andere mit scharfer liestimmtheit gedacht, sondern,
die vage Idee der Kraft, der Kraft, die sich entfesselt, diese in
ihrer Grösse, Einfachheit und Unbestimmtheit fast in usikal isch-
thematische Idee lebte in ihm und trieb ihn im Leben jenen Ge-
dankenkreisen und Erlebnissen, in der Poesie jenen erhabenen
liiidem und (junce}>tiünen zu, in denen sie sich ausdrücken konnte.
Indem es diese einfachen vagen Ideen siud, die dem Dichter
vorschweben, findet er Cbereiustimmung in vielen Erschciuuugeu
des Lebens, hält sich wenig bei den historischen und politischen
Scheidungen auf, uud so geräth er in jene scheinbaren Wider-
sprüche mit sich selber, jene äusseren luconseijuenzen der Ge-
sinnung, die der Mitwelt so viel zu schallen machen, ihm selber
erscheinen diese Widersprüche so leicht aufzulösen, diese Wand-
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— 3* —
lungen so venceihlich. Denn das ist ihm ja ^^erade vom Geschick
verliehen, dass er das Gemeinsame in den widerstreitenden Ten^
denzen eikennen kann, das Element des I^bens, ohne welches
keine Gesinnung je bestehen und dauern könnte. Und darauf be-
ruht aueh seine Wirkung ins Breite; denn im Grunde sind die
Menschen nicht parteilich, sondern freuen sich der gemeinsamen
Gefflhie.
Ein solcher Geist, der fiberall zusammenfasst und simplificiert
macht die G^nwart flbersichtlieh und die Vergangenheit geniessbar.
Ihrer beider bedient er sich souverto und Iftsst Qberall das Über-
einstimmende herrorleuchten. Er treibt alles ins Grosse und die
nationalen Neigungen und Lieblingsgedanken wird er auszusprechen
nicht müde. Nun liegt dem französischen Geist nichts so nahe
als der Begriff der Grösse und alle Relationen, welche i^ch yon
Begriffe ableiten lassen: wie Überlegenheit und Inferiorität,
St&rke und Sdtwftche, Kang, Gehör und Usurpation. Diese Relationen
und die in ihnen enthaltenen Möglichkeiten menschlichep Schicksale
sind der Angelpunkt des ganzen Werkes Ton Victor Hugo.
Situationen auszubrüten, in denen der relative Begriff der Sn-
perioritftt das Grundthema ist, welches in einer neuen und unerwarteten
Weise behandelt wird, dies ungeßthr ist der grösste Genuss, in
welchem diese Phantasie sich auslebt. Ähnlieh wie man es als
den tiefen Grundtrieb von Goethes Phantasie aussprechen kann,
den Verlauf eines Gesetzmässigen und die Verkettung der Gesetze
fflbibar zu machen
V^ictor Hugo hat die Superiorität in allen Formen verherrlicht,
welche sie annehmen kann: zuerst als dus Anerkuunte, Traditiuu,
Legitimität, Königthuui, «reoffenbarte Keligion: dann als das
autokratische Walten des Genies, in der Gestalt des ersten
Kapoleon, dann in jener va^^en Fii^ur des Volkes, in sieh selber,
iu der sittlichen Tberlet^enheit des nnbeug;sanieu Verbannten, des
erhabenen Vertulgteu, in allen Natiirkrüften und wiederum in der
Einfalt, im Kinde, im stummen Thiere. Er hat alle Formen be-
griffen und aeeeptiert, in denen sich Selbstbewusstsein äussert,
so sehr erseheint es ihm als der Gnindtrieb der menselilichi;ii Natur.
Es ist unersidiopflicli, Slol/^ und Selbstpreffihl auszudrfieken und
schwellet im Erlinden solcher Situationen, wu tlieses sich iu jähem
Umschwung des l^chlcksals mit besonderer luleusität äussern kann.
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Der Kern seiner dramatiseheii tSituationeii ist eine solehe Peripetie,
in veleher der die Oberhand gewinnt, der früher unten war.
Darauf sind alle seine conps de th^Atre gestellt: in „Emani" das
ganse Verhältnis Emanis 2um KOnig und zu Silva; im «Ruy Blas"
das ganze Schicksal des Ray Blas; in den ^Burgraves^ der erste
Act, wo der Bettler sich als der Kaiser enthilUt und alle ihm zu
Ffissen fallen.
Eines der berfibmtesten Gedichte derL^gende heisst „ Suprematie"
und ist ganz auf die &usserste Zn^itzung dieses Motivs gestellt:
ein Unbekanntes, Unbegreifliches offenbart sich und demütbigt die
drei obersten Götter, Indra, Agni und Vajon.
Ein anderes Gedicht enth< einen Dialog der Gestirne, die
miteinander an Glanz wetteifern und sich ihres Glanzes, ihrer
Unvergäugliehkeit, ihrer unermesslichen Grösse fiberheben; eines
fiberbietet das andere in wundervollen Versen, zuletzt aber sagt
Gott nichts als diesen einen Vers:
Je n'anrais qu*& souHler et tont serait de Tombre.
Das Dichterwerk will immer das grosse Ganze des Daseins
abspiegeln. Aber dem jugendlichen Geist sagt das Einzelne zu;
Einzelnes ergreift ihn, Einzelnes hebt ihn fiber die Last des
Daseins hinaos, in Einzelnem seheinen sieh ihm die Ideen zu
offenbaren. Diesem Eänzelnen stellt er gern das Übrige als das
Gewöhnliche, das Gemeine, das Feindliche gegenfiber; zur grossen
Materie des Lebens steht er noch in keinem Verhältnis. Allm&hlich
aber stellt das Verstftndnis der Zusammenhänge sich ein; man
erkennt, «n Wesen, ein Ding bedinge das nächste und so ringsum
in unbegrenzter Wechselwirkung; das Gebiet des Darstellbaren
erweitert sich, fast ins Grenzenlose, und damit erweitert sich
auch die Manier der DarsteUung.
So sind bei Victor Hugo die Werke der ersten lyrischen
Epoche durchaus auf die Darstellung des Einzelnen gestellt. „Odes et
ballades^, „Feuilles d'autonine", „Cliantsdu cr^puscule", „Voii int«i-
rieures" haben ihre vage Einheit nur in den Gesinnungen des Autors, in
seinen allgemeinen Gefühlen. Das Weltbild ist in ihnen sehr
wenig präcisiert. Ein unerfahrenes Gemüth könnte sich aus ihnen
nicht über die Zusaiiiiiieiibiinge des Daseins unterrichten. Die
Eiuhcitlielikeit doö Buches „Orieutules" ifet grösser; aber sie liegt
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durchaus iiu Pittoresken und Ölüistischeii und gehört darum auf
ein anderes Gebiet.
Hierauf fulgen die vierzehn Jahre dramatischer Productton,
etwa 1829 bis 1843, von der Concoption des ^Oronivelh bis zu
dem definitiven ^lisserfulgder „Burgraves". Schon die Gesc hlosseulieit
dieser Periode des SchalTens l&sst ein gewisses Kiemeut des Ge-
waltsamen, der innerlich aasgeflbten Willkür errathen. In der
That haftet der in den Dramen ausgedrückten AVeltauschanung
etwas Kilnstliches an. Sie ist einer noch unreifen Erfahrung mit
einiger Gewaltsamkeit abgerungen; sie ist einem einzigen Begriff
mit Gewalt unterworfen: dem Begriff des Gegensatzes. Die Antithese,
dieses Grundelement der französischen Diction und Composition,
ist hier Eins und Alles der Conceptiou geworden; sie beherrscht
Inneres und \nsseres, Psychologie und Mechanismus, die dramatische
Fabel und den dramatischen Vers.
Es wird in diesen Dramen ausgedrückt, dass der Meusch eiu
aus Contrasten zusammengesetztes Wesen ist, dessen Schicksal in
j&hen Antithesen immer das Unei u artetste realisiert; und dass alle
menschlicheu Hegriffe vom Ablaufe des Lebens die eitelsten und
nichtigsten sind, weil jeder Begriff seinen Gegensatz und also den
der Erwartung entgegengesetzten Verlauf ht ibi iruft. Dieses merk-
würdige, unlieiniliche und conceutrierte Weltbild aber hat selt-
samerweise keinen Einfluss auf die Figuren dieser Dramen. Sie
sind sieh, als Menschen genuunuen, in keiner Weise der Gesetze
des Daseins bewusst, unter welchen sie leben und welche sie selber
verkörjjern. Und nur diese gesi)enstische Unbewussthelt macht es
möglich, dass sich ihre Schicksale in der Weise, wie es eben ge-
schieht, zu tragischen Vorgängen Terknflpfen. Könnte sich einer
von ihnen jemals umwenden, so müsste er sehen, dass die anderen
alle nur vorne bemalte Figuren sind und nach der Breite keinen
Durchschnitt haben; dass es Figuren von Papier sind. £ine einzige
nach allen Dimensionen reale Gestalt, eine Gestalt wie Hamlet,
eine Figur wie Goetz, mfisste, wenn sie in eines dieser Dramen
verwickelt würde, durch ihr blosses Dabeisein die ganze Handlung
zersprengen.
Man ahnt, dass hier eine Welt aus der Phantasie des Genies
und doch nicht aus der Fülle der Wahrheit heraus geschaffen ist,
eine seltsame Abbreviatur des Weltbildes. Im Gewände des Ban-
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ditcn verbirgt sich die Seclu üinos Helden : der (ireis triiirt die
jligeDdlieh widerstreitenden Gefiilile inderBnist: Hass undi^iehe;
der Lakai siüht sich von der Königin anji:eltetet : den Solm treibt
CK, die Mutter zu tödten; in dem Nanen, deui bucklij^en, ver-
achteten, tückischen Geschöpf wohnt greuzenhxse Yaterliebe, und
mit seinem prauzen ziisammenfi:erafftea Oelde bezahlt er den Deg:en-
stoss, der ihm das cimv^e Kind tüdtet; der Verbannte, Geächtete
erwirl»t das Weib, das den kuui^:, dem Kai.^er versagt blieb: aber
die Liebesnacht wird zur Nacht des Todes und die Lichter, die
dem Ilochzeitsfest angezündet waren, beleuchten zwei Leiehen; der
Mäc-hiij;e ist ohnmächtig; der Karr ist traurig und weise; der
sterbende Uardiual bringt noch mit einem W orte seiner entfärbten
Lippen den jungen blühenden Didier um seinen Kopf; die Dirne
liebt, wie keine zweite zu lieben vermag: Cromwell, der seinem
Könige das Haupt abschlagen Hess, zittert vor seiner Frau und vor
den Keden eines Kindes ... so ist diese Welt.
Dem aber, welcher diese Welt ins i)aseiu gerufen hatte, sollten
erst zu Ende dieser Epoelie wahrere, einfachere Gesetze des Lebens
durch ein schmerzlielies Erlebnis aufgehen. Ich raeine das Erlebnis
von 1843, den Tod seiner innigst geliebten ältesten Tochter. Sie
ertrank in der Seine, wenige Tage nach ihrer Hochzeit, ihr Manu
mit ihr. Dieser Tod des geliebten blühenden Wesens, dieser jähe
und grosse Sehmerz war das erste wirklich grosse Eingreifen
des Scliicksals in eine bisher nicht anfL'-ewühlte Existeua, und er
übte auf die Seele des Dichters die lieimlich bildende Gewalt der
grossen Schmerzen aus. Indem er sich durchaus weh fühlte, em-
pfand er die Grenzen seiues Wesens; eine etwas gednnsene Vor-
stellung von sich selbst, die einen übermässigen Kaum in der
Welt eingenommen hatte, schrumpfte zusammen. Und das Dasein
selbst gliederte sich ihm: mit dem geliebten jungen I^pben .schien eine
^\ elt ausgestorben, und doch umgab ihn noch eine Welt. Zwischen
den beiden gähnte die Gruft, ein unermessliclier Abgrund. So ent-
steht jenes l»edeuten(ie Huch ,,(Joutemplations", welches die Ge-
diclite von zwei Jaiirzehnten umfasst und doch von grösserer Ein-
heitiiclikeit ist, als eines jener früheren, rasch entstandenen. Hier
ist die Persönlichkeit bei weitem kräftiger ausgesprochen, das Ver-
hältnis zur Welt ist unvergleichlich weniger vag. Der Schmerz ist
die wahre Einfüliruiig ins Dasein, und indem er dem Gemüthe die
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Zusainmeiihftiige fühlbar maaht, ermöglicht er der scliaiTeDden
Phantasie die ersten Ans&tze wirklieber Compositiou, dieses Wert
in seinem lidehsten Sinne verstanden.
Der Schmers jenes Erlebnisses trieb Hugo in die Politik. Es
folgt die Epoche, deren geistiger Gehalt oben festznbalten gesucht
wurde. Und hier spitzt sich schliesslich alles wiedemni zn einem
schuierzliehea Erlebnisse zu: dem Erlebnisse von 1851. Hier ver-
wandelte sich das Geistigste in die brutalste Realität. Der Kampf
der Ideen wurde mit Kanonen ausgefochten. Eine reactionäre
Weltanschauung hatte die Oberhand gewonnen und mau kam zum
BeM'usstsein dieser Thatsache, indem mau Gewehrläufe auf sich
gerichtet fühlte, iudem man seine Freunde iu Blut liefreu sah,
indem man bei Nacht und Nebel ins Ausland fluchten musste.
Revolution und Ge^enrevulutidu ist immer die Realisierung von
Tendenzen. Es ^n]»t kein ^ruusjiineres Erlebnis für den unter-
liegenden Theil. denn es ist das völlige Znsanmienbrechen der
inneren und äusseren Welt: aber es gibt zugleich kein befruch-
tenderes Erlebnis für die Phantasie, eben weil es eine solche Ver-
knüpfung der äusseren und inneren Welt enthält, eben weil sich
hier die Realität durcluuis symbolisch verhält, lu solchen Zeiten
geht dem erregten Geist ein Weltbild von grenzenloser Fülle auf;
er sieht, dass nichts, was sieh vollzieht, bedeutungslos ist und, trunken
von Zorn und Leid, schallt er zum erstenniale ein Werk, das alle
früheren an Conipositiou bei weitem übertrifft. Die „Ohatimeuts" sind
dieses Werk, dessen Einheitlichkeit ebenso bewundernswert ist, wie
seine Lebendigkeit. Denn sie sprciheu die ganze Fülle der Emo-
tionen aus. die ein grosses, die Allgemeinheit, wie den Einzelnen
treffendes Ereignis hervorruft; sie geben die Fülle der Realitäten,
aus denen sich das Ereignis zusammensetzt und geben iu hunderten
von Symbolen, die aus allen (lel)ieten des Lebens herstammen, den
geistigen Gehalt des Ganzen. Diese acbtunditeuuzig (Jedicdite, die
gleich zornvollen tobenden Wellen zwischen dem l'roldg Nox und
dem Epilog Lu.\ einlierfliessen, geben durch ihre Anordnung, durch
die Rettexe, die sie eins von anderen empfangen, die Suggestion
einer räumlichen Einheit, einer erhabenen svmbolischen Schau-
bülme. und man darf hier, bei allem Abstand, an Dante denken.
Nun hatte der Dichter, aus der W'irkliehkeit heraus, einen grossen
BegriiT von der Einheiiiichkeit des Daseins gewonnen; Thun und
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Leiden hatte er als die Synthese der äusseren und inneren Welt
erkannt; nud so eine fp'osse Manier der DarstdUinp^ sich ange-
eignet: die Formen dor u;rüsseii Kunst vergangcuur Zeiten werden
iluii durchsichtig: diu iiiicher des alten Testamentes, die antiken
Tragiker, Dante. Es geht ihm auf, wie man dazu gelangen kann,
die Geschehnisse der Zeiten so lebendig zu erblicken, in ihnen
den Atheni Gottes ebenso zu spüren, wie er ihn in emeiii Ge-
schehnisse der eigenen Zeit zu spüren bekommen hatte. Hier
k(üünien zwei Elemente zuhilfe: der grosso architekturale Zug
seiner PluinUisie und der Zug seiner Zeit zur Hist4»rie. Denn der
ßegriir des liisturischen beherrscht die erste liälfto des ueunzekuteu
Jahrhunderts.
So entsteht jene Vision einer ungeheueren Mauer, die zu-
sammengesetzt ist aus den menschlichen Geschlechtern und ihren
Schicksalen. Und so entsteht das grosso Buch, das zusammen-
gesetzt ist aus Gedichten eines grussjen Stils, die etwas vom Kjxts
haben und etwas von der Allegorie, etwas Hymnisches und etwas
Chronikluit'tes: die Legende der . Jahrhunderte. Diese Knnstforni ist
einzig; es sind in ihr alle Elemente des grossen Stils amalganiieit,
die uns überliefert sind: aber sie sind völlig amalganiiert, Es wird
für einen Augenblick der Ton der Proi»keteu autblitzen oder der
Ton der chausoüs de geste: Pindar wird von Luerez abgelöst
werden und dieser in Vergil überfliessen; es ^\inl der innere
Khvtlmius des Dante anklingen und im nächsten Augenblick von
jenem spanischen Ton übertönt werden, den auch ('orneille gekannt
hat. Aber dieses Ganze bewahrt eiae Einheit, durch die es fort-
leben wird.
Wer mit grossem, vereinfachendem Blick die weclist'hiden
Formen des menschlichen Daseins überschaut, und wem dazu das
Erblicken des Gegensat/es als eine Grundforni seines (ieistes ge-
gegeben ist, über den wird jene Vorstellungs\s eise eine grosso
Krat'tgeu innen, welche in dem Vorsjiiel zum Buche Hiob" symbolisch
ausgedrückt ist: die \'(»rstcihing, dass das gute und das bOse Princip
eine Art Wette über den N erlaut" der menschliehen Existenz im
einzelnen und im allp-nuMncn aliicesclilossen halten. Diese dualistisch-
religiöse \'orstellung erlaul't Victor Hugo, in den gr(jssen (joncejitiouen
seiner reifen E))oche ülier die Darstellinig der Menschheit noch
binauszugehen, ohae sich doch völlig ins Vage zu verlierea. Su
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waren, die Legende der Jahrhunderte ans Ewige zu knüpfen, noch
zwei Bücher geplant: „La Fiii de Satan" und „Dieu". Mensch-
heit, Begren/.tluMt und riiciidlichkeit sullleu iu den gewaltigsten
Symbokm iiusf::edrückt werden.
Aber wer vieles schuf und sich oftmals gross fühlte, dem
wird aueh das eigeue Schatfeu ein gewaltiges, die netrachtiing
fesselndes Schauspiel. Kr demüthigt sich und erhöht sich, indem
er die Wirksamkeit seines (Jeistes dem Walten der Naturgewalten
vergleicht. So entsteht das Buch „Les (piatre vents de Tesprit".
Die vier ürundfonieu der eigenen Inspiration, die lyrische, die
satirische, die epische und die dramatische leben sich aus, jede
ein Buch füllend.
Noch ist ein letztes Wort auszusprechen diesem reichen
Greisenalter, das sich selbst ein monumentales Grabmal mit er-
habenen Statuen setzt, vorbehalten. Die Insphaiion dieses poetischen
Genius trieb auf Antithe5?e hin, der Verlauf des Lehens spitzt« dies
.so zu, dass Parteil ii likcit sein wahres Element bleiben musste.
Iiiiiuer sah er irgentiu») das Schlimme incamiert und irgendwo
das Gute, und mit mvthenbildender Gewalt, Vergangenheit und
Gegenwart aufwühlend, setzte er sein iiiromu und sein Paradiso
nebeneinander, nicht ganz ohne den Einfliiss jenes erhabenen Vor-
bildes, diiü ich hier andeute, und doch aus einer so ganz anderen
(leistesverfassung heraus, sehr entfernt von der ehrwürdigen Ge-
schlossenheit, tiefsinnigen Verkettung des grossen Vorliildes. Indessen
hatte ein Decennium das andere abgelöst, und den rednerisch
historisclieu Drang der ersten Hälfte des Jahrhunderts vertrieb
das naturwissenschaftliclie Streben der zweiten Hälfte. Von diesem
neuen Licht angeglüht, si»richt ein Werk des Greisenalters den
Geist tiefen Begreifens und mitleidsvoller Zurechnung aus.
In ..La }»itie supreme'* ist die Gestalt Ludwig XV., auf die
an anderen Stelleu mit allegorisieronder Wnclit alle Züge des
iiuseu gehäuft sind, mit einem Blick angesehen, der alle Verzerrungen
auflöst und im „Bosen" ein menscliliches S liI ksal sieht.
Und noch ist eiues ahziiiliuen. Wer die (Josehiehte der
Menschheit durchwühlt hat, Generationen über Geuerationen thürmt,
durch die Geschichte hindurch ins Dickicht der Lehrende dringt,
das (iewühl ihn- l'ntergegangeneu mit dem Blick durchstreift hat
und die auf die einzelnen Töne eines uueudiich verworrenen Ge-
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rftusches zu horchen bestrebt, war, dessen Phantasie ist bis ^nr
Ermattung belastet mit der Vielfalt des mensehliehen Denkens
und Wähnens. Der eingeathmete Dunst dieser Myriaden von ab-
gestorbenen Gedanken mnss ausgeathmet werden, die Kraft der
Phantasie muss dieses Chaos einen Äugenbliek zusammenballen,
um es dann fOr immer tou sich wegstossen zu können.
Dies ist das Buch „L'Ane". Die Eänkleidung ist ein para-
bolischer Gedanke, den schon die „U^gende" enthAlt, in dein Stttek:
„Dieu inrisible au phiiosophe/ Der Prophet, der assyrisch und
arabisch, persisch und hebr&isch .yersteht, weiss nichts. Er starrt
in die Nacht hinein und brfltet tlber dem Rftthsel des Daseins.
Auf einmal, wie er in seinen Gedanken durch den Wald reitet,'
stuixt sein Esel und steht starr. Die stumme Oreatur hat Gott
gesehen, den der Prophet zu erblicken sich vergeblieh mfiht.
In dem Gedicht «rine** tritt an Stelle der vier Sprachen,
welche der Prophet Tersteht» die ganze Wirrnis des aufgehäuften
überlieferten Wissens:
Tous ees textes qni font le silence autour d*eax
Et d*oii Todeur des ans et des peuples s'exhale . . .
Ton einem minder bedeutenden aber elgenai-tigen Dichter
der auf Victor Hugo folgenden Generation ist das Wort gesagt
und wiederholt worden, seine Eigenart beruht darauf, dass für
ihn die siehtLare Welt existiere. Diese Eigenschaft, die im Ilin-
streben der Poesie noch der Seite der Malerei andeutet, besitzt
aber Hugo vor allen und in einem solchen Grade, dass alle
nachher Kommenden nicht unabhängig von ihm gedacht wertlen
können. Die künstlerische Stärke seines Weltbildes ist das Bild
der siclitbaren Welt. Dies geht soweit, dass ihn fast immer und
fast überall das Sichtbare iiielir interessiert als das Seelische.
Ein berühmtes Gedicht „TriBtesse d'Oiympio" enthalt Khii^en übi-r
die Vergänglichkeit der irdischen Dinge und über das Hinschwiudea
der Liebe. Diese Klagen werden in einem Park ausgesprochen
und die Schilderung dieses Parks, der doch nichts als der Rahmen
des seelischen Vorganges sein soll, ist so herrlich, dass das Gedicht,
sehr wenig rflhrend, aber unendlich descriptiv wirkt. Der Ideen-
gehalt der Orientales ist nicht sehr gross. Aber alles Pittoreske
in diesem Buch ist unvergleichlich und eigentlich besteht das Buch
aus nichts anderem. Er sieht die Länder, die er nie gesehen bat.
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und er sieht sie mit mehr Lebendigkeit vielleicht als Tansende,
die dort gelebt haben.
La ville an ddmes d'or la blanche Navarin
Sur la eoUine assise entre lee tdrSbinthes.
Und Korinth mit seinem steilen Vorge))irge und die Inseln
mit ihren leuchtenden Klippen, und den Hflgel von Sparta, und
den Teich Ton Arta, nnd die seltsam geformten Fahrzeuge, die
sich auf den Wellen schaukeln, und die Pferde mit wilden
Mähnen, mit den farbigen Sfttteln, an denen die grossen scharf-
kantigen Steigbügel herabhängen,
et le Klephte h roeil noir, au long fnsil scü]|ite,
er sieht sie, sieht alles, sieht den grossen Orient und jenen anderen
Orient, das maurische Spanien ...
Qnand la lune k trayers les mille aiceaux arabes
Sfeme les mnrs de tr^es blaues . . .
So sieht er, in anderen Bflchem, die Stadt des Mittelalters,
den Dom, den Thurm, die Burg, sieht dies alles so, dass man
sagen kann, er lebt darin, lebt in diesen arehitektnralen Oon«
ceptionen stftrker als in seinen menschlichen Gestalten, empfindet
ihr stummes Dastehen, ihre Mftchtigkeit, ihre eoneentrierte, gleichsam
in ein einziges nie auszuspreehmdes Wort zusammesgepresste
AnsdrucksfiUiigkeit, ihre Schatten nnd Lichter, ihr Wuchten und
Emporstreben, ihre Melancholie und ihrai Stolz besser als die
* Regungen der menschliehen Seele.
Und so sieht er seine Mensehen, sieht sie ror allem, beror
er sie fühlt. Er empfangt durchs Auge suggestive Vermuthungen
Ober ihr Inneres. Eine erhabene Gestalt tritt bei ihm unnach-
ahmlich auf:
Comme sort de la brume
Un severe sapin, vieilli par TAppenzell
A rhouro üü le malio, au souffle nniversel
Passe, des bois profonds balayant la lisiere,
Le preux ouvre son casque, et hors de la visiere
Sa longue barbe blanche et tranquille apparait.
Und die Schilderung ihres Thuns und Lassens, alles was
naclikommt, viMiiinii: \)ft nicht den Eindruck einer solchen ersten
Vision /AI erliüheii, in welcher das Pittoreske durch seine Intensität
symbolisch wirkt.
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Die EntWickelung der dichterischen Form bei Hugo.
Stil und Ausdruclc.
Dem Deutsehen ist es geläufig, eine bis zar Haltlosigkeit
getriebene Freiheit des poetischen Stiles sich gefallen zn lassen.
Ihm tritt bei Betrachtung der französischen Dichtkunst m allem
der Begriff einer strengen Continuit&t entgegen. Dem fhinzödschisn
Autor YOn Bedeutung sind die grossen Vorgänger, die er in semer
poetischen Oattung besitzt, gleich lebendig, ob sie der eben hiur
geschwundenen Generation oder einem weit abliegenden Jahr-
hundert angehören. Man kann sagen, dass eine glflekliche und
prägnante Wendung, ein mnstergiltiger Vers in dieser durch-
gearbeiteten Sprache sieh fiar immer wirksam und lebendig erh<
nnd dem, der ihn geschaffen, ein in Ewigkeit nicht verfallendes
Anrecht anf eine gewisse Betrachtung sichert. Daher vollziehen
sich dort alle Bevolntlonen des poetischen Stiles unter heftigem
Widerstand und allgemeiner Aufinaerksamkeit, wovon bei uns nichts
zu bemerken ist.
Unter den gewaltigen Umwälzungen, welche die Zeit von
1789 bis 1815 erfüllten und weder eine der öffentlichen Formen,
noch die intimen Lebensformen unberührt Hessen, war die literarische
Form das einzige, was sich un verletzt erhalten hatte, sowohl in
Bezug auf die Strenfre des Versbaues als auf die Sonderung der
Wörter in solche, die zum Gebrauch der gehobenen poetischen
Diction geeignet schicneu, und solche, die hievon auszusehliessen
waren. Man \vird die Vor- und Nui litheile dieser traditionellen
Strenge mit einem Blick überschauen: das grosse Talent wurde
freilich herabgedrückt und in der Kühnheit seiner Krjxicssun,ü:eii
gehemmt, die kleinen Talente aber, deren Productiun immer die
Masse ausmacht, konnten jrar nicht unter eine ^^e w isse anständi<re
Gleichmässigkeit und Getrat;enht'it des Tones hinabsinken. Für
dies alles hatte sich im Puhlicum eine äusserste reint'üliligkeit
festgesetzt und von Generation zu Geucratiuu urlialtcu, und auch
dieser Siun überdauerte die aufgeregten Zeiten. In den ersten
Decennien des neuen Jahrhunderts war er ungeschwächt wirksam.
Bei der Aufführung des „Cid"' von Lebruu erregte das Wort
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€hanO>ro ein niisstalliges Geiiiuruiel. ,J»tello", in eiuer Cbersetzuu.c^
von Allrs'd Vi'jTiv, liel wepon des Wortes moiichoir, desseu
Erwähnung' in der Iragüdie als uoerträ^2;liLdi berührte.
Solchen Gesinnungen, so festgewurzelt und verbreitet, stellt
sich nicht ein Einzelner mit Erfolg entgegen: aber einer ganzen
Generation, die sich reich an iunereni Erlebnis, vielfältig im Er-
fassen des Weltbildes und beengt in ihren Au-sdrueksuiitteln fühlt,
sind diese künstlieben Schranken endlich keine Schranken mehr,
liier kommt der EinÜuss auswärtiger Literaturen zur Geltung: die
Jugend erfasst das Fremde mit Sehnsucht und Leidenschaft, und
von fragmentarischen Andeutungen, trübe äbenoittelt, kann dennoch
eine ungeheure W irkung ausgehen.
Die stärkste Verniittelnng geschah durch das Buch „deTAlle-
mf^e''. Von einer bedeutenden Frau zu politischen Zwecken ge-
schrieben, in hewusster Analogie zu jener gleichnamigen Flug-
schrift des Tacitus, bat dieses merkwürdige Buch noch mehr und
anhaltender im literarischen Sinne gewirkt als im politischen und
moralischen. Indem es die Einheit von Charakter und Genie mit
Entschiedenheit hervorhob, drängte es alle „formalen*' Probleme in
den Hintergrund und Hess die Gesichtspunkte des guten Gescbmackes
als klein und ])edanti.sch erscheuien. Es that einen grossen Horizont
auf: das Erhabene, das Vage, das Leidenschaftlich-Schrankenlose
ist hier in einer anderen Beleuchtung gesehen, als die traditionelle
französische. Die Schwäche der nationalen Diction, des nationalen
Verses wird mit klaren Worten ausgesproehen: „Le despotisme
des alexandrins force souvent ä ne point mettre en yefs ce qui
serait pourtant de la veritable po^e: cette forme dt vers appelle
sin^^ences et les antith^ses, qui ne presentent Jamals les id^es
ui les images daus leur parfaite sincerite, ni dans leurs plus
ezactes nuances**. Indem mit X ichdruck auf die reichere Sensibi-
lität, die grössere Phantasie der Deutschen hingewiesen wird,
kommen von selbst die Nachtlieile eines beengten Vocabulars wax
Sprache. Es. wird geklagt: „Wie konnten wir es Tersuehen, ein
Gedicht yon dem geistigen Reichthnm, der bunten Fülle der
, Glocke" zu fibersetzen, da wir uns . vom Gemeinen unablässig
beängstigt fühlen! . . .'^
Sollte aber eine völlige £eTolution des. poeti^faen Sprach-
gebranehes zustande kompien, so musste eine grosse Steigerong
^ed by CjOOQie
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des SelbfitgdflQhles in den poetisch Sdhaffeüden VoTäBSgidh^; denn
nur wer sicli alles Grossen roll fflhlt, wagt es, sieh über ererlrte
Traditionen hinwegzusetzen. Nnn war in der 'Tbat der Bögriifder
diehterisßhen Persönlichkeit nnd ihrer Bedeutung, der sich in den
leisten Perioden jenes' „auflösendön'' XVin. Jahrhunderts wirklich
fast völlig aufgelöst hatte, indem seine eigen^eh kflnstlerischen
Elemente sich zu der trockenen Glitte und Geringfflgigkeit eines
Delille niederschlugen, seine Geistes^ und Lebenselemente sich aber
in Philosophie nnd praktisch-politische Specnlation umsetzten,
dieser synthetische Begriff „DichteigrOsse** war wieder lebendig
nnd machtroU geworden; nnd hier sehen wir uns au& neue zn
jenen beiden grossen Namen Oh&teaubriand und Lamartine zurück-
geführt. Chateaubriand, yoJl des Gefühles der eigenen bedeutenden
Persönlichkeit und einer grossartigen Manier der Darstellung in
jedem Augenblicke sicher, scheute nicht davor zurück, auch ein
solches Element in den Kreis der Poesie zu ziehen, welches bis^
her, als die Wurzel des geistigen Lebens nnd der Angelpunkt der
Weltanschauung selbstverständlich betrachtet, von jeder Art der
poetischen Darstellung durchaus ausgeschlossen war: das Element
des christlichen Glaubens. Indem er zwei der grössten Erschei-
nungen vergangener Epochen instinctmässig für seinesgleichen im
Range erkannte, Bossuet nnd Voltaire, trieb ihn sem Genie, mit
dem einen zn rivalisieren und den andern zu vernichten. Und hatte
die „Art podtiqne* des Boilean die Religion als Stoff ausgeschlossen,
de la foi d'un chr^tien les terribles mystäres
der labilen Darstellung durch 'den Poeten entziehend^ so sehen
wir Gh&teaubriand gerade diesen Complex seelischer Erlebnisse
mit instinetiver Begierde nach dem grössten, lebendigsten Stoffe in
den Mittelpunkt seiner Werke stellen. Hierdurch erfolgte eine un-
geheuere Lockerung, ein ungeheueres Entschleiern von inneren
Abgründen, eine ungeheuere Befruchtung der Phantasie. Dieser
Stoff hieog durch seine Wurzeifasem mit allen, völlig mit allen
Theilen nnd Theilchen des Seelenlebens zusammen; hier gewann
in einer neuen helldunklen Beleuchtung alles Seelische ein neues
Ansehen und die früheren starren Bogriffe von Bedeutend und
Niedrig, Würdig und Gemein, konnten sich nicht lange aufrecht
erhalten. Analogisch wirkte dieses Thema auf alle Betraehtimg
des Seelischen, überallhin aufwühlend, verwirrend nnd bereichernd.
4*
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Daüoben trat Lamartine und brachte eine andere Bereicherung
der Scala des f'mp Hudens: er drückte Regungen aus, die wegen
ihrer Weichheit, ihrer Unbestimmtheit bisher für die Poesie sozu-
sagen nicht existiert hatten. Die verfliessenden Stimmungen sanfter
Resignation, träumerischer Befriedigung, vager Melancholie wurden
nun reichlich empfunden, seit sie so glücklich ausgedrückt waren,
und theilten sich der ganzen Generation mit.
Unter diesem doppelten Einiluss entwickelte sieh derGenins
Victor Hugos. Es war sein eingestandener Ehrgeiz, den einen
dieser grossen Dichter zu erreichen, es dem andern gleichzuthnn.
So mnsste er zuerst Von seinem Genius das verlangen, was sie
besassen; Ton selber und nngemfen stellte sich, mit reifender Krait,
das ein, was ihn von ihnen unterschied.
Aber das war das Erste, das das Ziel eines wortlosen inneren
Nachstrebens, Auempiiudeiis ; den grossen Ton des Einen mit der
W eichheit des Anderen zu verbinden. Nun ist aber dies das Be-
sondere des gro.ssen Talentes: dass es immer neue, scheiubar
widerstreitende Elemente der Bildung; in bich iinf/unehmen und
(las vielfältig Unverwandte zu einer glänzenden Einheit zu ver-
schmelzen vermag. Zu jenen jugendlichen Aspirationen, deren Geist
im allgemeinen ein ein istlieber, einigermassen germanischer zu
nennen ist, liudel sieh {tlotzlicli ein unerwartetes Vorbild hierzu,
dessen Form und Gesinnung; völlig lateinisch, ja antik und heidnisch
ist. Im Jahre 1819 war, so unerwartet als aufsehenerregend, das
glänzende Dichterwerk des Amlrt'- ( lu-nier au den Tag gekommen,
dessen Name bisher nur (liircii wenige bei seinen Eebzeiten ver-
öti'entliehtr (iedielite nnd durch die Thatsache seines frühen und
gewaltsamen Todes eine gewisse Publicität besass. Und nun, ein
Menseliemilter nai-h seinem Tode, irelans^'ten diese Eleiz:ien nnd
'IIvnuK'n, diese HnielistiU'ke nml l'lierbleilisi'l in die Iljiude eines
gi'wisscnhal'teu Ileraust^ebcrs, luul (li'aiiiien so^lcii-h in die üffent-
lielikt'it, mit ihrem wahrhaft antikiseluMi (üanz uud ihrer unver-
welklich l»Iumenhat"ten Anmiith, als An- Hinterlassenschaft eiues
auf der (iiiiliotiiie in hlnliender .Tunfiid Ilinirestorbenen, doppelt
geisierhat't ergreil'eml. Hier war eine volistamliLn-. eitrentbrimliehe
und verführerische A'ision der Antike: in einem ^piei;ei die Weit
des Homer, des Uesiod und des Moschos aufgclungeu.
^ed by CjOOQie
— 47 —
Was man hier in den Hftnden hielt, war so sehr, so durehaus
Poesie, wie lange nichts, was die französische Sprache hervor*
gebracht hatte; hier lebte nndgl&nste in jedem Vers jenes OoXipöv^
jenes blumenhafte frische Wesen, die „novitas florida*^ des Lncrez,
Hier war die ftusserste Kflnstliehkeit mit einer tiefen Henliehkeit
vereint; alles aus sveiter Hand und doch alles von einer thau-
frischen Lebendigkeit. War man ganz unter dem Zauber des
Grossen, des Vagen, des Sehnsüchtig-Grenzenlosen, der finsteren
Erhabenheit, des düsteren Pnmkes gestanden, so gieng von diesen
Gedichten die nicht minder intensive Fascination der vollkommenen
Klarheit, der süssen freudigen Vollkommenheit, der zauberhaft
geschlossenen antiken Welt aus. Victor Hugo fühlte sich stark
genug, dieses neuen Zaubers sich zu bemächtigen, ohne auf jenes
andere Element zu verzichten. Aber man wird den Einlluss, den
Gh6nier auf ihn geübt hat, kaum je zu hoch anschlagen können.
Denn er empfieng von ihm das liebliche antike Weltbild als Aus-
druck der idyllischen und elegischen Stimmung; er empfieng von
ihm ein lebendiges sinnlich-geistiges Verhältnis zur Mythologie,
ein tiefes natursymbolisches Verstehen dieser erstarrten poetischen
Gebilde; und nicht zuletzt die Fülle und Anmuth des Verses, die
mit den glücklichsten Bildungen Vergils wetteifernd, zugleich dem
.Ohr ein Rhyl^inisch-Ganzes, dem Auge ein gedrängtes Bild und
dem Geist die Mittheilung eines bedeutenden und schönen Vor-
ganges bietet. Überall dort, wo Victor Hugo Reichthum und Ge-
lassenheit, symbolische Kraft mit erhabener Einfachheit vereinigt,
immer in jener unvergleichlichen Kunstform der heroischen Idylle,
mit der er einmal, in „Booz endormi**, den Höhepunkt seiner ganzen
Prodnction erreicht hat, schwingt etwas mit von dem Geis Ohlers.
Der Kreis, den die Inspiration Ghiteaubriands und die Inspiration
Ch^niers umspannen soll, ist nicht klein, aber hier bereitete sich
eine Synthese vor, die dem Ausdruck jeder menschlichen Regung
gewachsen sein sollte. So war noch ein Ton aufzunehmen, männ-
lich, stolz, durchaus französisch, französich mit einem Anhauch
spanischen Geistes: der Ton des grossen Corneille. In der Vor-
rede zu „Cromwell" findet sich diese Erinnerung an Corneille, die
alles zusammenfasst, was über ihn hier auszusprechen ist: „C*est
.apr^ avoir et4 rompu d^ son premier jet, que ce genie tout
moderne, tout nourri du Moyen-ige et de PEspague, force de
— 48 —
inentir h lin-niHiiie et de se jeter dans ranti'fuit«' uuus donna eette
l\ome casliliaue ..." 1q einem solchen Smne (^onieille zu lesen,
au dem llüchmuth seiner Gesinnung, dem Stolz seiner Diction sieh
zu berauschen, sein feodales. sein s]iaiiisches Element ihm naeh-
zufühleu, ffleichsam seine perstitlirlu^ Fiber unter der Hülle elassi-
cierender Form emporzuwühlen, dieü heisst sich in ihn einleben,
und wo die geniale Kraft der Assimilation vorhanden ist, lieisst
es jenes Tones sich lieinaehtigen und ihn fortan zu besitzen. Denn
so eignen sieh die Geister einer produetiven Epoche alles an, was
ihnen aus früheren Zeiten lebendig erseheint. Sie sind ohne Gelehr-
samkeit; aber eine heftige liegierde, zu erobern, die Kunst in sieh
zu bereichern, treibt sie in jede Richtung. Sainte-Beuve hat es
für die Generalion von 1827 schon ausgesprochen: „Chaeun alors
prenait l'initiation oü il le pouvait; ou saisissait uu point et Von
devinait le reste. — Surtout dans l'ordre lyrique, les demi^res
sources trop frequentees du XVIII"° sihcle etaieni taries et ^puisees;
le style etait entrave et gene: l'etendre, enrichir la palette, ajouter
quelques notes aux accents counus, voilä . . ."^
Und dies ist eine der Goticordanzen, an -^elohen, irie oben
angedeutet wurde, eins produetive Epoehe Teich ist: es brachten
die einen das ans Licht, was die andern brauchten. Wollte man
Aber Oomeille hinaus, seinen Ton zu bereichem, wollte man „nne
fibre h^roique et m&le un peu com^lienne k TaTanee'*, und dazn
eine anhaltende Erhabenheit des Tones, eine majest&tische Fülle,
eine gewaltige Breite des Vortrages, so gab es wohl eine ver-
schollene, einst hochberühmte Dichterkraft, die alles dieses dar-
zubieten vermochte. Und gerade diesen Halbversehoilenen brachte
Sainte-Beuve mitten in jenen an Inspiration und Leben reichen
Jahren mit Glanz an den * Tag - nnd bereicherte mit einer Antho-
logie aus den Werken des Ronsard den geistigen Besitz der
Epoehe, Stil- und Spraehgefühl mächtig belebend (1828). Die
Diction Victor Hugos tr> hie und da in ihrem Gefüge den
Ronsard*schen Charakter, hier und da aber auch an ihrer Ober-
fl&che, in einer einzelnen Kühnheit, die wie ein Glanzlieht auf-
gesetzt ist Hiezu rechne ich den reichliehen Gebrauch des sub^
stantivierten Th&tigkeitswortes, eine Fomposit&t, die Ronsard so
eigen ist:
uiyiii^Cü Ly Google
- 49 -
Je .siti« le regardeur iolini.
■ . ^ .(Lügende, kSaprcmatie.)
Ce cher$heur d'ayentares sublimes.
(Ibidem. Erirodniis.)
Ferner aber jene besondere und wirksame Kühnheit des Ge-
brauches, cinnial den Eit^eniuimen als Gattungsnamen zu setzen,
wudureh ein eigentliünilich legeiidi'irer übergrosser Zu^ in die Dar-
stelhmt^ kommt, ein näehstesmal den (Tattunji:snamen oder das
abstiaete Substantiv mit jäher l'ersouilicatiou gleichsam als einen
EigeiiiiiiiuLU hinzusetzen :
N est il pas l'heritier deOesar? le Philippe
Doul l ouibre immense va des Gange au Pausilippc . . .
(Legende, Kose de Tlüfante.)
oder mit noch kühnerer Verwendung:
Oompl^te ta grandeur par de la Sib6ne.
(Lea quatre Tents de TEsprit.)
und anderseits:
Et tes denx boueliers? J^i mcprls et dMai*».^
(Ibidem.)
Auch wird man den Einfluss von Ronsard nicht verkennen,
wenn luuu bei Hugo einen sehr starken Gebrauch des substanti-
vierten xVdjectivs wahrnimmt.
Quand de VinaccessibU il fait Vimxpugnahle.
{\^ petit roi de Gaüce.)
Les Celestes n'ont rien de plus que ies funebres.
(Le Orapaud.)
Le stupide attendri sur Vaffreuae se pencbant.
(Ibidem.)
Noch mehr aber schmeckt die Wortzusammensetzung nach
jener heiDisehcn Diction des Ronsard, welche der gedrungenen
If'ülle der Griechen nachstrebte:
L'itmnmc'dUvre ebloui regarda ses pieds nus.
(Le iSatjre.)
Briy l*kimme'S^ßiilere, o Fiaace, ressQscite.
(Les Ob&timents.)
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— 60 —
ün euteud dons les pins que 1 uge use et mutile
Lutter le rocher-kydi c et le iorrent-reptile.
(Le petit roi de Galice.)
Beziehen sich ftUe diese Eänflfisse im grossen und ganzen
auf die Strnctur der poetischen Rede, so ist nicht minder eioes
Pementes zu gedenken, welches mit jener Epoche eigentlich zum
erstenmal Oberhaupt in die Poesie eintritt nnd vielleicht das Aus-
zeichnende des XIX. Jahrhunderts bildet: die Farbe. Hier nun
liegt fast nichts in der Tradition, wovon sich Besitz ergreifen
liesse; aber die Epoche selber war erfüllt von dieser Fascinnation
und so drang es denn gewaltig in die Poesie. Was ytelfach empor-
quillt und andringt, ist schwer an einzelne Namen zu knapfen.
Immerhin werden zwei vor allem zu nennen sein: Walter Scott»
der die mittlere und halbvergangene Zeit zum grenzenlosen Be-
hagen, ja zum tiefen Entzücken ganzer Generationen als ein Ganzes,
mit ihrem Thun und Lassen, ihrer Tracht und ihrer Baukunst her-
Torzürufcn wusste, und abermals Andr^ Ohenier, dessen gl&nzend-
liebliches und so abgeschlossenes Gemftlde der antiken Welt einen
ähnliehen und etwa noch' intensiveren Zauber ausflbte, freilich nicht
so ins Breite, sondern auf die Einzelnen, am meisten auf die Dichter
und ihre Nahestehenden. Des Namens Byron blosse Erw&hnung
wird genügen, um zurückzurufen, wie gewaltig dieser grosse Dichter
im gleichen Sinne wirksam war : die uugeheuere Sonnen- und Farben-
welt des Orients in romanntischen Perspectiven aufznschliessen.
Hier müssen wir Ton einein deutlichen Hinstrebeii der Poesie
naeb dem Oeltiete der bildenden KiLpste sprechen, einer bedeutenden
Einwirkun;^ des Auges auf die Ausbildung der i'hautiisie. l ud dieses
neuartige fulgenreiehe Streben werden \\ ir keiner Nation stärker
zurechnen dürl'eii als der tVanzusischen, wie denn iiberliau})t vuni
siebzelinteu Jalirliundert an bis auf unsere Zeit den Franzosen in
der Pflege jener Künste ganz allein eine wahrhafte Continnität be-
sehieden war, wovon auch allein ein wirklicher Einfliiss auf den
Geschmack und die (Toistcsriehtung der breiteren Menirf ausgehen
kann: denn das Vereinzelte bleibt immer ohne Wirkung auf die
Masse, es möge noch so bedeutend sein und auf einzelne noeli
so tief wirken. Es ist das Verhältnis des frauzosisehen Volkes
zu den Producten der bildenden Künste, vor allem aber zur Archi-
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61 —
tektur, ein glüeklicheres und lebhafteres; was die Malerei hervor-
bringt, existiert für mehrere, und der Sinn ded Sehens ist nicht so
gar wenigen verlieben.
So musste, in einer Epoche, die alles aufwühlte und jedes
neuartige Andersstreben begünstigte, auch das pittoreske Element
des Daseins mit Gewalt in die Poesie Hugo's eindringen: ihm be-
deuteten diese Künste viel ; das Alte in ihnen war ihm lieb und
das Neue nicbt verschlossen, ^Vüh für ihn der Zauber der ver-
gangenen Zeiten ausmachte, war hauptsächlich das, was sich durchs
Auge überliefert: die Bauwerke, die Bildwerke erschlossen ihm das
Mittelalter und die späteren Jahrhunderte. Franz I. und sein Hof,
das waren ihm vor allem Menseben, die Tizian gemalt hat; die
spanischen Habsburger, das waren ihm vor allem die unendlich
suggestiven Gesichter von den Velasquezbildem; das Mittelalter,
das waren ihm die Thürnie mit den Spitzbogen, die Portale mit
den tausenden von mystischen und grotesken Gestalten, die dicken
Mauern, die Yerliesse, die Erkerstuben: von hier gieng er aus und
errieth von hier aus mit synthetischer Kraft Geist und Gemüth einer
Epoche. Die Malerei seiner eigenen Zeit aber war bedeutend genug,
um ihn nicht im Stich zu lassen, wenn er ein schönes und glü-
hendes Weltbild der Gegenwart erfassen wollte. Hier ist vor allen
Delacroix zu nennen, der nahezu unbegrenzt war im Ausdruck des
Leidenschaftlichen und Farbig^Gewaltigen. Ihm gab zuerst der
Anblick des Orients den grossen Anstoss; der Genius Kubens*
wirkte im ^^leiehen Sinne. Zuerst zogen ihn erhabene Stoffs an,
die in das Helldunkel der grossen I'oesie schon gehüllt waren:
die Barke mit Dante und Vergil, oder das „Gemetzel auf Chios",
oder Orgie von Scharlach, Feuer und Wolkendunkel, eine Byron-
sche Atmosphftre. Allmählich aber wurde ihm jeder Stoff erhaben
und grossRTtig. Er sah überall die grandiosen Antithesen und die
grandiosen Harmonien der Farbe. Das gelbe Ziegenfell, das einen
TOtbhaarigen, am Flusse trinkenden Hirten einhüllt, gegen den tief-
blauen Himmel ; zwei in einander verschlungene kämpfende Thier-
leiber, braun und grau, unter der glObenden Abendröthe; das Roth
eines Mantels, ein blutbespritzter leuchtender Menschenleib, das
Braun eines Pferdes und das Dunkelblau einer Felsensehlucht: aus
solchen Harmonien war für sein Auge die Welt zusammengesetzt
und er war unermüdlich, sie festzuhalten. Neben ihm legte G^ri-
— 62 —
cault Grösse und pitoreske Gewalt in die Darstelhnig der mensch-
lichen, der thierischen Gestalt; Decamps ersah mit grossem Blick
das Erhabene der Landschaft. Es war, um nicht noch viele zu
nennen, eine malerische Atmosphäre grosser Art vorhanden, und
der Dichter, „für den die sichtbare Welt existierte'' brauchte nicht
^Icin ans sich zu schöpfen, um sich vor dem Vagen zu sichern,
und den Vor- und UintergcuDden seiner Vision eine grosse Bestimmt-
heit zu geben. .
Indem er aber dem inneren Ange viel bietet, so will er doch
nicht bloss fürs Auge schaffen, sondern wendet sieb noch an einen
höheren Sinn: Er will doch ausdraeken,' und irgendwie atusehauUch
machen, was sich der Anschauung eigentlich entzieht: was noch
fiber den Gedanken hinausgeht, die Idee. Hier kommt ihm das
Symbol zu Hilfe, tausendfach überliefert, w^enn auch freilich erstarrt
und entgeistert, l ud .ihn. der eigenen Epoche fühlt er sich von
Lebenden, Denkenden umgeben, denen es Bedürfnis ist, für das
Tiefste ihres Daseins nach dem wahrsten Ausdruck zu streben,
um ihren Geist und ihr Gemüth von der beäugstigendcn Ver-
worrenheit zu befreien. Diese schaffen dem Vocabular einer Sprache
seine höchsten geistig-sittlichen Elemente . indem sie das Über-
kommene in ernstem Sinne erfassen und Neues hinzubilden, dem
ihre vieltaltige geistige Erregung tiefere und zarte Schwebungen
mitgibt. So wirkte jene Gruppe von Strebenden, die, zuerst als
Saint-Simonisten, im weiteren Verlaufe als Socialisten bezeichnet,
ein neues sittliches Ganze, dem ursprünglichen Ohristenthum ähnlieh,
aber weit vollkommener, in der Welt hervorzurufen gedachten.
Erfüllt von vagen Strebungen, die sie für Ideen nahmen, bemäch-
tigten sie sich mit Kühnheit und Leichtigkeit aller Terminologien
yergangmr Epochen. Alles frühere Streben schien ihnen nur anf
das jetzige hinzudeuten, und es schien ihnen ein leichtes, die Aus-
drucksweise des Piaton und die der Evangelien, nicht minder die
indische oder persische und noch sonstige Terminologien als die
Dialecte einer einzigen Sprache zu erfassm. Bei ihnen gieng alles
durchaus auf eine kühne und leichte Synthese aus. War Saint-
Simon der Urheber dieses vagen, zuweilen parabolischen Tones,
so ist Pierre Leroux sein hauptsächlichster Vertreter. Sein be-
deutendstes Werk, „de rHumanit^'*, den- Entwickelungsgang der
Menschheit im Ganzen umfassend, überblickt alles mit Lei^htig^
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— &8 —
keit,- stellt überall Goncordanzea her, und weiss den nngebeneren,
ia verzweifelten Stoff mit der trtIgHehen Sieheriteit einw NMht^
Wandlers eu durebschroiteo^ '
Jean Beynaud, liidb-Biefater, halb Dectrinftr, stand diesen
Geistern nahe. Gleich ihneh, Verfiäng er sieh in den Verwiekeluigen
des Jahres 184B. Aneh er glaubte sich befthigt, das Gesammte
des Daseins in einer Schrift' zn '' umspännen. „Terre et ciel" nannte
er ein Buch, welches einen vagen Pantheismus ausspricht und
worin die sittlichen Fragen näit einer Sicherheit erörtert sind, wie
sie nnr ein solcher aufbringen kann, dem niemals Zweifel an
der Sprache, als einem höchst trfiglichen Aüädmeksmttte!, ge-
kommen sind.
Dies war eine geistige Atmosphäre, in welcher die Kritik
abstracter Begriffe nicht tief gieng. Man legte in die das Geistige
bezeichnenden Worte mehr Emphase und Tendenz, als geistigen
Reichthura. So muss der Gebrauch des Abstractum in der Diction
Victor Hugos verstanden werden. Wenn das Abstractum bei Dante
aus der tiefsten, durch das seelische Erlebnis gewonnenen krystall-
khiieii Überzeugung^ hervorjjeht, wenn es bei Goethe das lebens-
volle Ajz^rej^at der Erfahrung ist," ein glöckliclies, aus dem In-
dividuum liervorblitzendes Apereu, eiue Neuschüiilun- jedesmal,
so ist dem gegenüber das Abstractum bei llugu eiu cuuveutiöneJles
Gebilde, an dessen iuiiali der Antheil des Dichters nicht gross ist.
Da wir aber doch irgendwo im Schatz der Sprache die fühl-
bare Einwirkung einer so mächtigen dichterischen Kraft suchen
müssen, so sehen wir uns auf jene Worte zurückgeführt, denen
malende Kraft im weitesten Sinne innewohnt.
Diesen Worten gegenüber besass er alle jene geistige Freiheit
und schöpferische Kühnheit, die ihn gegenüber dem Abstractum
im Stiche liess: w führt ein Wort Ton Schattierung sn Sehat-
tiemng, treibt es in einem immer geistigeren, nneigentlicheren,
grandioseren Gebrauch hinein.
Aus diesen reichlichen Kühnheiten des Sprachgebrauches
konnte Arstoe Darmesteter die schönen Beispiele schöpfen, welche
das nie erstarrende »Leben'' der Worte so deutlich illustrieren.
Sei an amrei Adjectiven diese Kunst gezeigt, durch die Verwendung
mit immer anderen VorsteUungselementen den Inhalt des einaelnen
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— 64 —
Wortes vom sch)irr-l>estimmteu Sninlichen ziiiii |z;t?heiiiinisvo!l Meta-
phorischen hinüherzufuhren. (couf. Darmesteter „La vie de mots" .)
Deniere eux cheminait la mort, sqiiellette chaiive.
11 .scinblait qu'anx nasaux de leur cavale /auve
Oü entendit Ja mer ou la foret gronder.
Hier )iat fauee die ursprUngUch conciete Bedeutung: mit
falbem Fell, rothgelb.
Oa Tante Eviradnus . . .
Quand il sooge et s'acconde, on dirait Gharlemagne
BAdant, tont h^riss^, dn bois k la montagne^
Velu, fauvef il a Tfur d'nn loiip qni serait bon.
Hier ist Jauve inmitten zwischen der Bedeutung rothhaarig
und einer ^geistigeren : etwa faroiiche.
Lud in dem ful^M iulen Beispiel nimmt es eine ganz neue
ausserürdentHche Bedeutung an:
Corbus, triste, agonise. Pourtant
L'hiver lui plait, rhiver, sauYage combattant.
II se lefait,. avec les convulsions somhres
Des nuages hagards eroulant sur les decombres
Avec r^clair qui frappe et fuit comme un larron,
Avec les soutHes noirs que' sonnent du clairon,
Une Sorte de vie effrayante a sa taiile.
La tempdte est la soeur de la fauve bataille.
So ist ihm „hagard* ein Ausdracksmittel alier Nuancen des
Sohauerlieben geworden:
L Asie est moustrueuse et fiiuve; eile regarde
Toute TEurupe avec uue face hagarde.
(Legende. Les trois Cents.)
Le supplices hurlanls daus la hrunie hayordc
(Ibidem: Les IMcrcenaires.)
La, pas d'astre, et jiourtaut on ne sait quel regard
Tombait de ce chaus inmiubile et hagard.
(Le Parricide.)
Hagardf il d^touina la roue inexorable.
(Le Orapaud,)
uiyiiized by Google
- 66 ^
L'agonie ^teignit la pranelle hagarde.
(Vision de Dante.)
Und hief sind noch andere Beispiele für diese so ftasserst
ihichtbare Kähnbeit, das Adjectiv ans der sinnlichen Sph&re in
die sittliche zn rflcken, wo ihm dann alle suggestiTe Gewalt seiner
mitschwebenden metaphorischen Elemente anhaftet:
k TEmperenr Othon qni fiit un prince oibli^,
(4 jouTS d'EIciis.)
Cet huiiiiiie niarchait pur, Inin des sentiers obliques^
Vetu de probite candide et de lin yanc . . .
(Ruth et Booz.)
Eine gleiche Freiheit — und dies sind die wahren ScbOpfnngen,
dies die wahren Bereicherungen des Sprachschatzes — dem 8nb-
stantivurn gegenflber.
y^Gouffre'* znr Bezeichnung des nnermesslichen Himmels.
Laissez-moi m'en aller dans vos 0<mffres sublimes.
(Les Mereenaires.)
„Ombre*^ znr Bezeichnung des Makrokosmos.
Vmbre a tont Touragan, Täme a toute la lyre.
(Le quatre Tents.)
So wirkt ein f^rosscr Spinclitreiiius belebend auf eine Sprache:
denn in ilcr S])rfiehe ist aUcs inet:i]>hnrisph nnd die sul»tilere
Metaphorik der Iki^rilTsübertragung ist das unausgesetzte heim-
liehe Leben der Sprache.
IV.
Rhythmus und Reim.
a) Rhythmus.
Herr Emile Fagaet von der Acad^mie fran^aise hat es in
seiner schönen Studie über Victor Hugo geradezu ausgesprochen :
wer die Kunst des französischen Verses zu seinem Stadium macht,
könne sich darauf beschränken, Lafontaine und Victor Hugo zu
lesen; die übrigen dflrfe er vernachlässigen.
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66 —
So treffen wir denn hier bei Victor Hugo jenes schrankenlos
reiche Zuströmen und nnfehlbar sichero Müsshalten, jenes Nie-zuviel
und Nie-ziiwenig:, ^wio es eben im glücklichsten Gebiet einer grossen
Begabung sich fimh [ Oenn hier liefet seine Stärke: dies war er
vor allem: ein {grosser, unvergleichlicher Künstler des Verses.
Ihm ist — lind dies ist eine grosse, ursprüngliche Gabe,
eine innerliche Musik — ihm ist ein Wort nicht ein Zeichen, nicht
ein Bild, sondern vor allem auch ein Ton. Diese angeborene Gabe,
die Concordanz der Worte mit den tausendfachen Lauten der
Natur zu spüren, ist ebenso selten, als sie fruchtl>ar ist. Man hat
daran erinnert, M'ie sehr der melodische Larmartine von diesem
Instinct zuweilen in Stich gelassen wurde. Man hat von ihm diese
Verse citiert:
Cehi qui, respirant son haleiae ador^
Sentirait ses cheTeux, soulev^s par les vents
Oaresser en pässant sa paupi&re efflenr^e
Otr rouHer sur s<m front' leurs avneavx ond&yanis . . .
und man hat mit' Hecht bemerkt,*) dass die Vocalisation des
letzten Verses mit ihren dumpfen « und o nngef&hr das Oegentheil
dessen ausdrüekt, was sie ausdrücken soll, n&mlich hauchende^
dnfUge Leichtigkeit.
Vielleicht dass von allen älteren Dichtem nur der unrergleieh-
Hche Liafontaine jenen musikalischen Instinct ffir den Tongehalt
der Worte besessen hat, er, der mit einem solchen Verse, funkehid
und schmetternd wie grelles Licht auf Harnischen und Trompeten,
die Schilderung eines Kampfes absehliesst:
Linsecte du conihr4 sc retire avec glö/rc:
Comnie il suun« \i\ charge, il sonne hi victo/re.
Von hier führt ein einziger Schritt zu Victor Hut;*» und zu
solchen wundervoilen Cumbiuatioueu der Vucale und Consonanten,
wie diese:
C'etait le grand cheval de gloire
Ne de la mer comiiie Astarff'.
k qui raurorc dunuc d Loire
Dans les urues de la clarte**)
*) Fagnet 1. c. £tade nur Lamartine.
**) Cfaaiiioii« des ru» et des bols. Pfologne.
— M
Oder diese, in ireleher ein überraschender, in den Reim ge-
drängter geistiger GUuiz noch den lautlichen Glanz der . von
Liquiden eingeschlossenen hellen Diphthongen erhöht: . •
Iblis leva les ffeux, et tout ä eonp Tinfime -
Ebloui, se courba sous Tabime vermeil:
Car Dieu de l'araignee avait fait le soleil *)
Oder die^;o, ein Beispiel aus vielen gowi^t, worin die H&ufung
des H ein eindhnglich sehnsüchtiges Element der Stimmung gibt:
Eschvle errait ä la hrune
En Sicile, et s'enivrait •
Des flüies du elair de lune
Qu'on entend dans la for^t.**)
Ich bin niclit der erste, der mit unbegrenzter Hewnndwung
für die Sprachgewalt, welche ohne Wechsel des Rhythmus eine
solche Veränderung des Tones herbeizuführen imstande ist, die
folgenden Strophen der XII. Ballade***} copiert und iu'1»ftneinander-
setzt, von deuen die eine das spitzgiebeligc, vielthürmige Bild
der gothischen Stadt ebenso wundervoll hinmalt, wie die andere,
massig und dröhnend, das dampfe Getöse des Stadtinneren aus-
' ■ Cette ville
All lunj^s cris '
(}ui proüle
8on front gris,
Des toits freies
Cent tourelles
Cloehers grßles,
Cest l'aris!
Le vieux Inm re!
Large et lourd
II ne s'ouvre
Qu*au grand jour.
Emprisonne
La cou rönne
Et bourdonne
Dans sft tour.
*) La legende des si^cles. Iblis.
**) ('yiriTifnn;^ des ruea et des bois.
♦**) üdes et baUades.
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— 68 —
Es gibt tausende seiner Verse, die, mit dem Einschnitt au
der traditionellen Stelle, ohne durch den Contrast der syntactischen
Gliederung den Rhythmus zu durchkreuzen und zu heieben, dennoch
voll Lebens nnd voll Besonderheit sind,« nur durch den Tongehalt
und die Anordnung der Wörter. Durch diese Durchkreuzung aber
erst, durch die geniale Variation des „freien Einschnittes", hat er
dem Alexandriner einen Keichthum gegeben, den dieses Versmass
unter den Händen keines früheren Dichters liat ahnen lassen. Und
er hat niemals vergessen, dass der nngewöhnlidie Einschnitt seinen
l^eiz nur solange ansähen kann, als er vereinzelt zwischen regel-
mässig gebauten Versen auftritt; dass eine übermässige Anwendung ^
dieses Eunstmittels eine Yergendiing seines Zaubers ist und eine
Keihe von Versen in pure Prosa auflöst.'*')
Versuchen vir es nun, die Typen des Alexandriners neben-
einander zn stellen, die er durch eine höchst kunstvolle Ver-
theilnng der ^conpes" geschaffen hat, so Mrerden vir dabei nicht
einen Augenblick vergessen, dass es sich bei so grosser Kunst
dennoch kaum um ein Kunstmittel, kaum um ein bevnsstes Vor-
gehen handelt, sondern um ein glückliches instinctives Wollen,
dem das Material der Sprache sich im Augenblick des Sehaffens
widerstandslos unterordnet und von selbst in rhythmischen Wellen
anschwillt und abklingt.
Er hat vor allem um ihrer EindiinglichkeiT. ihrer angespannten
Fülle wegen diese Form des Alexiiniiriners geliebt, welche in drei
Abschnitte von je vier tdiuuden Silben zerfällt, und die den
Olassikern nicht unbekannt war:
Ces yeux tendres — ces yeux per^ants — mais amonrenz.
(Corneille Psyeh4.)
Ilirer hat er sich bedient, um eine dreifache Stei^erun'»' zu
geben, um mit einer nach drei Hicluuim:eii weisenden Fülle der
£Ilemeute die descriptive Gewalt der Antithese zu übertreffen;
J'ai vtt le jour — j'ai vu la foi - j'ai vu rhonneur.
Les fleurs au front — la boue auz pieds — la haine au coenr.
*) Wie vielfach hei Hiuset, bei Th^ophUe Oantier (Albertos), bei
Verlaine (Sagesse).
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— 59 -
Durch Nebeneinschnitte bat er es vermocht, diesem drei-
theiiigeu Vers ein Gefüge zu geben, das noch grössere Spannung
erregt:
Moi, le pouvoir — et toi, le vin — causons tous deux.*)
Ein einzigesmal geht er noch weiter und, die Dreitheiligiceit
des Verses verlassend, drängt er, durch Einschnitte nach jedem
Wort, in einem einzigen Vers ein ganzes philosophisches System
zusammen: Antithese als Definition, Ableitung daraus, ein voll-
ständiges dualistisches Schema:
Koi for^at, rhonniii, espni, pense, et. matieie, iiiangL'.**)
Um aber dem nationalen Verse eine fast schraiikenluse
VariabilitÄt zu Lreben, handelt es sicli nicht bloss darum, ihn
noch feiner zu durch gliedern, sondern liuü im inuern ülier die
Oasur hin, nach aussen filter den Versschluss luaans die Schleusen
zu öffnen. Dieses scli(3ne Überströmen iia Innern herbeizuführen,
kounnt abermals der unregelmässige Kinschnitt znliilfe. lu der
Vorrede zu „Crom well" steht der Ausruf: Malheur au poete si son
vers fait la petite bouche! Der Einschnitt nach dem sechsten Fuss
ist es, der für das Ohr den Vers verlängert, gleichsam in ihm
einen grossen Horizont aufschliesst.
Es muss gesagt werden, das« Lafontaine auch dieses Element
metrischer U irkung gekannt hat:
Nous cultivions en paix d'henreux chanips — et nos mnius
Etaient propres aux arts ainsi qu an lab(inr:i«?e.
Aber davon einen eigentlichen külmen und reichen Gebrauch
zu machen, das Gebot der svutaklischeu fiisnr wie das der
syntaktischen Pause am Versschluss zu durchbrechen, und das
ganze Gebäude jener von Malherbe erfundenen, durch Binleans
Einfluss befestigten äusserlicheu, das Leben des Verses unter-
bindenden Regeln für immer ausser Existenz zu setzen, das war
Victor Hugo Tiubelialten.
Das riuMstronien des Verses über die Oäsur wird erzielt,
indem ein Kpitlieton unnnttelbar an das Substantiv tritt, welches
den sechsten Fuss schliesst, so dass wir gezAvungen sind, den
Einschnitt weiter nach rückwärts zu verlegen, wie in dem obigen
Vers von Lafontaine, z. B.:
*) Legende des sifccles: Zim-Zizüni.
"^j Contempl&tions: Ce q.oe dit la boache duinbre.
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Une frateniite vi'neraVle — geriuftit,
Plein de la rdverie immense — de Is Inne . . .
Voit dans Is transparenee obscnre — du sommeil . . .
Das ÜberBtrCmen des syntaktisch Verbttndenen Aber den Reim
wird von Andr^ Gh^nier mit der schönen discieten Sicherheit an-
gewandt, mit der seine Hand das Elfenbein der Sprache bearbeitete.
Man kennt diesen Vers von ihm fiber die Flucht eines Hirsches,
in welchem das Enjambement eine grosse tonnuUende Gewalt hat:
L'animal, ponr tromper leur course suspendoe,
Bondii, s^^carte, fuit, et la trace est perdue.*)
Aber dergleichen konnte aneh nach den Regeln von Malherbd
noch ffir erlaubt, zumindest ffir eine erlaubte Freiheit gelten. Das
Enjambement, welches gleich die erste Zeile von Hemani enthält,
erregte den wflthraden Widerspruch von hunderten von Franzosen,
deren Ohr sieh beleidigt fohlte.
Serait-ee dejä lui? C'est bien h Tescalier
D^robe —
Bei diesen Worten der Dnenua brach ein Sturm los. «Wie,
ist die Orgie schon mit dem ersten Worte so weit? Man zerbricht
die Verse und wirft sie zum Fenster hinaus!"**)
Und eben von diesem ,. Gipfel der L&cherlichkeit", von diesem
„einem schimpf liehen RAckschriit huldigenden System*****) sollte
eine wahre Verjuiigiiu^ des nationalen Verses datieren, eine nie
vorher {geahnte Bereicherung seiner Ausdrueksfithigkeit
Das Enjambement Aber den Reim hinaus^ oder die Combination
der beiden Kunst mittel, des ftusseren und inneren Enjambements
das sehlafTt die unerhörte Fülle des Uugu'sehen Vers4;s, begründet
die Möglichkeit, den breit dahinrollenden Strom plötzlich zusammen-
zudrängen, der wuchtigen Masse das bedeutende Detail kflhn
entgegenzuwerfen, die äusserste Folgerung, den jähen Contrast
dominierend herauszuhebea. Tritt aber noch das unvergleichliche
Kunstmittel jener im Innern des Verses mit ftusserster Feinheit
und VersatiKtftt vertheilten Pausen und Einschnitte hinzn, so ent-
steht eine AnsdrucksDihigkeit, die eigeutlich keine Grenzen mehr
*) Citiert bei Labarsch, a. a. 0., 8. 448.
**} Bericht über die erste Anfffthnmg nm „Hemani" bei Th. (iaatier,
Hifituirti du KmnaTitisine, S. <09.
Qnicherat. i. c. Cha)). VJ., über d&a j:^iijamWint!nt.
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hftt; et> ist ein \ t i s der das An sieh linltf^n i iiso ausdrfickt.
wie das feieriu-lie lliuströinen, der im (ilt it- n ebenso zu maieu
vermag wie im Schreiten, im Huschen, im Stürmen, im Sichaufthnen.
im Anschwellen, im Abklingen: der alle Regungen des Seelischen
herzugeben imstande ist, den St il/. die l'rahlerei, die Erbitterung,
die Naivetät, die Sinnlichkeit, die Grazie, und der die Monotonie
nicht kennt, es sei denn, wo er sie mit Absicht herbeiruft, nm
sich auch ihrer, wo es noththut, als eiueis Ausdrucksmittels zu
bedienen. Hiefür in den Werken des Dichters Beisjjiele aufzufinden,
sie zu häufen und zu wiederliolen, ist unendlich leicht; aber es
wird schwer, unter einer solchen Fülle das Typische auszuwählen.
Denn jeder sehr grosse Reiehthura gleicht dem Keichthum der
Natur, deren Formen, grenzenlos viei^tigf unmerklich ineinander
übergehen.
Das unerwartete Sichöffnen eines ungeiieueren liintergruudes
in diesem Enjambement:
L'aurore apparaissait. Quelle aurore? ün abtme
Eine waebsende Unruhe, die in den nftchsten Yen hinflber-
geworfenen Verstheile immer grosser werdend, bis sie zuletzt einen
ganzen Vers ausffiUen:
Tons les monstres aeulpt^ sur rddifioe 4pars
GmuktU, et les lions de pierre des remparts
Mordend 2a hmme tair et f oiufe, et les tarasqnes
BtUtent äe V<UU au srnffU hwrible des hmrreuqueg.
Die Malerei einer unheimlichen Wirrnis in diesem rejet:
I/anbe est pale, et Ton voit se tordre les serpents
Des hranches sur Vanrore horribles et rampmis,
(>der diese Verse aus „Marijuise Zabeth*' (Les (piatre vents
de TEsprit), in welchen das Enjambement, auf zwei durch den
trivialsten Gebrauch untrennbar gewordene Wörter gestützt, der
Diction die gewollte cynische Leichtfertigkeit gibt:
Avant vu tout ä cmip, (juand je rßvais la butte
Montniiurtre, oü dix moulins fout au ciel leur culbute,
Surgir avec neige augnste la Yungfrau . . .
So ist es möglieh, die getrene Malerei eines wechselnden Ge«
rftusches zu erreichen; „in lÖ Versen, zuerst in FlOstertdoen: dann
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in deutlicheren, über weichen und veifliessünden Lauten; dauu in
schärferen, leMiaftereii: dann in gezogenen, in erstickten Tönen,
immer mit Hille der ausdrucksvollsten Einschnitte, ein Geräusch
zu malen, das kommt — näher kommt — den Kaum erfüllt —
uuschwillt — abbricht.**)
Ecoulez! — Oomiiio im nid (\\u muimure invisible
Un bruit coufiis s"a])pn)ehe, et des nres — des roix —
Des pas — sortent du lond vertigineux des bois.
Et voiei (|irä travers la graiide forel hrunc
i^n emiilit la reverie immense de la lune
<in entend frissunner et vibrer moUemrnt
Communiquant aux bois son duiix fremfsscnicnf,
La guitare des monts d'Inspruck, recotinaiffsahlr
Au grelot de son mancbo on sniine iin grain de sohle;
II s'y inele la voix d'nn komme; et ce frisson
Preud UD sens — et devieat uue vague cluinsotu
La melodie eneore quel^ies instants $e ira$ne
Bous les arbres bleuis par ia lune sereine
Vms'trcmblet puU wpire; et la voix qui ehantait
S'&emt Gomme un oiseau se po (se;) tont se tait.**)
Das Btumme e, welches io der letzten Zeile die Gewalt des
Einschnittes Teistürkt,' indem es ihn ums doppelte verlAngert, ist
ein Geheimmittel, durch welches Hugo rhythmische Schönheiten
des höchsten Ranges erreicht hat.
Im letzten Act von «Marion de Lonne" findet sich die Stelle
an welcher Didiers Träumereien, an der Schwelle des Todes, jfth
durch den- Eintritt der das Todesurtheü verkündenden Gerichts-
person unterbrochen werden. Das rhythmische Bild dieser unheim-
lichen Contrastwirkung ist das folgende, eingerahmt von einem
umschliessenden Reimpaar:
Gest l aftaiie du corps, mais que mimporte ä moi!
Lorsque la lourde tombe a clos notre paupi^re,
L'dme li've du doigt le couvercle de pierre
Et seuvo [le!] , . . „Monsieur le conseiller du Roi!"
*) Faguet. n a, 0 S. 8i6.
**) L^nde d. g. Jsiviradniw.
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Die fibor j^de bewusste Technik hinaiisgeheDde, einem glflek-
lielien Inetinet gehorchende Abweehs)nng zwischen regelmftssig nnd
uniegehnftseig . gebauten Veisen, das Wiedeikommen eines nnge-
wöhnlichen Einschnittes, der sich dem Ohr eingeprägt hat, alle
diese Möglichkeiten lassen schon aus einer Kette Ton Alexandrinern
ein Btrophenartiges Gebilde entstehen. Und nun hat sich noch Hugo
der eigentlich lyrischen Vers- und Sliophenformen, man enrfttb, mit
welchem Beichthum, welcher Goschmeidigkeiti bedient. Man kann
sagen, dass er hier durchaus nnd immer, in so vielen hunderten
Ton Gedichten, die zum Theil aus früher Jugend und zum Theil
aus dem hohen Greisenalter datieren, mit Ast Wahl des Rhythmus
das erreicht hat, was er ausdrücken wollte.
Er hat die alte sehuiie Strophe aus zehn achtsilbigeu Versen,
(liti Strophe von Kousard und Malherbes, um zwei Zeilen ver-
längert, ihr a]»er dabei die f-leiche gediegene und imerschütterlielie
Stnictiir imd einen utK'h R-iciiereu und ausdrucksvoiiereu Wurt-
klang gegelteu als jene grossen Älteren.
Er hat den monotonen Rhythmus der gleichmftssig eiuge-
schnittenen, paarweise gereimten Verse „rythme trop traditionnel**,
durch welchen geringere Dichter unser Ohr ormfiden, weil sie ihn
immer und überall bringen, gebraucht, um mit seiner Monotonie
die Gleichförmigkeit des befriedigten Wunsches od« die Ruhe
sanfter Melancholie ^u malen. (Chants du cr^puscule ZXV. Contem-
plations L, 2. 5. ff). Er hat in. der Oombination der Rhythmen
mnerhalb der Strophe mit souTeräner Sicherheit gegeben, was er
geben wollte: ein Festes, Wurzelndes, durch eine starke unver-
Saderliche C&sur, oder ein Gleitendes durch eüien gleitenden
Rhythmus; einen muthigen, fortreissenden Ton ebenso wie einen
absinkenden, resignierten. Hier die Beispiele hftufen zu wollen,
hiesse die fifinde seiner lyrischen Werke copieren.
liier ist ein Ton der eifervollen Gehobenheit, ein tyrtäischer
mächtiger Ton:
Vous laissez passer la foudre et la hrnme,
Les vents et les eris;
AflTrontez Vorage, affrontez T^ume
lioehers et pruscritsi
Eier ist ein Rhytiirnns, eine nmiftcliahmlielie Seelenmalerei:
J'ETftis doQse EDS; eile en aTait bien seize
Elle ^tait grande, et moi, j'ötais petit
Poar loi parier |le soir] plns k mon aise.
Moi, j'attendids qoe sa m^re sorttt.
Pnis je yenais [m'asseoir'] pi^ de sa ebaise
Ponr Ivi parier \\e soir] plns k mon aise.'*)
Das Hinaufgehen des Rhythnius in der zweiten Vershälfte,
das verstohlene Einschiebsel dreimal an corresjxiiuiierender Stelle
(le soir, uia.sseoir, le soir), darin lieert so viel Jiigeiulliehkeit,
muthwillige Stimme, die sieh nieht zimu-kimiteu kann, haU» un-
willkürliche Indiscretion, dass der Sinn der Worte fast das „äiisser-
licbe" scheint, so viel Seele ist schon in den „formalen" Elementen.
ß) Reim.
Man hat Hugo oft den Vorwurf gemaebt , **) dass er
mit einer gewissen Ostentation reich und prunkvoll gereimt
habe, als ob es «gegolten hätte, das Ohr von irgend welchen
Schwächen seioer Rhythmik abzulenken! Das einzige, was richtig
ist, ist dies, dass er in seinen spätesten Producten unter einer ge-
wissen unausi»leiblichen Erniüdune^ gerne das gesnchte und seltene
Wort in den Reim gestellt hat und dass, in diesen letzten Dieh-
tuugen, die häufigen Iveinic auf Eigennamen und Fremdworte ein
empfindliches Ohr etwus iiitgeduldij; machen können.
Im übrigen und insbesondere von der ganzen riesigen Pro-
duclion seiner Mannesjahre, kann man sagen, da.ss er, wie im
Rythraus so im lieiai, niemals gesucht, sondern mit ])l()tzlifher
Leichtigkeit gefunden hat, dass er keinerlei Osteutation in den
prunkvollen oder seltenen Keim gelegt hat, sondern nur bestrebt
war, hinreiciiend zu reimen, dass er aber, weil der sogeiiauale
„genügeude" Reim in der That dem Ohr nicht genügt, um t'iu
klangreiches rhythmisches Gebilde zu umklammem und zu tragen,
fast durchwegs eben reich gereimt hat.
Man hat, in dem ganzen grossen Lebensw erk cini.Lre schwächere
Conventionelle Keinn oinlunationen aufgedeckt . in den ersten
Büclieni : einige Reimpaare, die sich durch häutige Wiederholung
*; Coiitemplations. Llse.
**) Z. B. Quicherot a. a. 0. und viele andere.
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unaiij^enehiii fühlbar macheu (z. B. abime— sublime : onibre — suinbre:
oder etwa spectre — Electre, cuii Keim, den mau zu sehr festhält,
Ulli ihm '^ern öfters zu bege^ueui: einige wenige Fälle der rime
noruuuide ( iiit r blasphemer, in Contemplations II. 4. 15); abep
im g;jiiizeu, in diesen tausenden von reimenden Versen, was für
eiue nnfassliche Fülle harmoniseber Zusanmieustellnngen !
liier uehnieu drei Werke, die doeli einen Zeitriinm von aeht-
undvierzig Jahren iinispannen,*) vielleieht die erste Stelb» ein!
Die „Orientales-', in welchem zum ersteunial der Dichter uud
mit ilim sein Leser sich dem reichen Genuss neuer uud wohl-
thuender Gleichklänge ganz- hingibt; dann die „Chatimeuts", in
welchen die gewaltige Inspiration des Zornes auch dem Reim eine
unerreichte Wucht und Energie verleiht, mit denen er die wider-
st reitendsten Worte zn einem gegeneinander knirschenden Gespann
zusanimeukoppelt, und endlich „l'Art d'etre grand pere,'* worin eine
cont«raplative Gelassenheit und Fülle der Erfahrung die wunder
sebonen, aus einem weltumspannenden Wortreichthum emporquellen-
den Kombinationen erstehen lassen.
In diesen \\ erkeu, und in allen \\ erken dieses langen Zeit-
raumes, klingen die im Reim zusammentreffenden Worte nicht nur
voll und schön gegeneinander oder schmiegen sich sanft und schön
aneinander, sondern die ^ orstellungen, M elche durch diese Worte
hervorgernfen werden, sind in ihrem Zusammenkommen über-
raschend lind voll vom Zauber des Laerwarteten, und doch nicht
Erzwungeiit'ii.
La jüuruee etait buuue, et les liles des lamcs
Serpentaieut dans les champs pleius de sonibres sUcnccs.
Et Knill ne savaii point ce (jiie Dien voulait d'ellc
Un frais parfum sortait des touti'es d'aspfiodele,**)
La laiiii fait rever les grands coups moroses^***)
I^a riviere court, le nuage fuit.
Derriere le vitre on la lampe luit
Les petits enfants out des t^tes roses.
*) lftl9— 1877.
**) Leg. da« aildM.
***) L*Art d'dtre grand'ptee: Choses du soir.
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Eine glflckliche Ooiiibination wie dieser letzte Reim übt auf
Generationen hinaus einen schwer zu detinierenden Zauber: ein
solcher Reim hat auf eine lebendige Pliautasie so viel suggestive
Kraft, dass er mit einmaligem Gebrauch keineswegs erschöpft
scheint, und so tiuden wir z. B. diesen hier bei Verlaine melir
als einmal wiederholt.
In den Werken der letzten Epoche ist üun \uiklich der
Keim dvuis gequält: nicht eine schöne und überraschend sich
eiilliülleude innere ('(»nsonauz ruft ihn hervor, souderu ein ziemlich
willkürlicher Gedankensprung.
Vületant vaguement de la Trappe h Faphos,
Mouche heurtaut de Taile au suupirail du faux.
(L'Aue.)
Et Tous me le foarrez dans un U^Debieuz eloUrtf
On lui eolle un gros livre au menton comme nn ßoUrc.
(Ibid.)
Oder die folgenden Reimpaare aus „Les quatre vents de
TEsprit^: traeasse— Boceaee , Satan-— Sultan , cordon— C^ladon,
sicambres — chambres, paladins bravachos— je trais les vaches . . .
Aber wie Ruinen erst völlig die Oonceptionen einer grtMiseu
Architektur enthüllen, so belehrt hier der Anblick des Verfalles
erst fiber die Mächtigkeit der Erscheinung: und es wird uns
klar, dass dieses unreigleiehliehe poetische Lebenswerk auf dem
* ungeheueren Fundament des gesammten nationalen Spraehschatxes
aufgebaut war, und dass es fast kein Wort des französischen
Vocabulars gibt, welches nicht aufgerufen war, hier an einem ge-
steigerten glänsenden geistigen Dasein theilzunehmen.
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STUDIE
VtBRH DIK
ENTWICKELÜNG des DICHTEKS
VICTOR HUGO.
VON
HUGO VON HOFMANNSTHAL
DOCrni; l im oSorTIIAK.
I>ER PHILOSOPHISCHEN FACULTÄT DER UNFVEHSITÄT WIEN ÜBERREICHT
DEHüFS ERIANGÜNG DER VENIA LEGENDI FÜR DAS GEBIET
DER ROMANISfMlEX PIIILOLOGIE.
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I
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DRUCK VON JOHANN N. V E K N A V.